Studien zu den
Volksmärchen
der Deutschen
von J.K.A.
Musäus
Richard Andrae
I
J?arbart College Utfcrary
THE GIFT OF
FREDERICK ATHERN LANE,
OF NEW YORK, N. Y.
(Clas8 of 184g.)
a»s, 0 0.
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Studien
zn den
Volksmärehen der Deutsehen
von
J. K. A. Musäus.
Eine litterar -historische Untersuchung.
Inaugural-Dissertation
zur
Erlangung der Doktorwürde
vorgelegt der
Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Marburg
von
Riehard Andrae
aus Frankfurt/Oder.
Marburg.
Buchdruckerei Fr. Sömmering
1897.
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Von der philosophischen Fakultät als Dissertation angenommen
am 22. Februar 1897.
in
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' Gewidmet
meinem Vater und dem Andenken
meiner zweiten Mutter.
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Einleitung.
Volksdichtung und Knnstdichtung stehen unter wechselseitigem
Einfluss. Sie tauschen ihre Gegenstände, Motive und Formen gegen
einander aus, sie geben das Entlehnte zurück und lassen es fortbilden,
um es wieder zu entlehnen. 1 ) So gilt, was vormals die Kunst als ihre
Blilte gezeitigt hat, einer späteren Zeit vielleicht als Trödelware. Wie
es natürlich ist, wenn derselbe Gegenstand, vom Volke und vom Künstler
behandelt, ein ganz verschiedenes Aussehen gewinnt, so können doch
auch die Unterschiede fallen, und die Volksdichtung vereinigt sich mit
der Kunstdichtung zu einer schönen Erscheinung. Aber in Zeiten, wo
die litterarisch Gebildeten sich vom Volke schroff absondern und eine
„Republik 4 ' in der Nation zu bilden bemüht sind, findet sich für solche
Werke nur ein magerer Boden. Da die folgende Arbeit zur Märchen-
litteratur ein Kapitel beitragen will, so möge an die Zeit erinnert
werden, als die berühmteste Sammlung „Kinder- und Hausmärchen"
erschien. Es waren die Jahre der Napoleonischen Unterdrückung, deren
Härte die gesonderten Kreise enger aneinander schloss. Um nicht zu
sagen, jene Sammlung war ein Ausfluss der Zeit, so darf sie »ins doch
als ein Wahrzeichen der Angleiehung von Masse und Gebildeten gelten.
Damals sprach der Gelehrte nicht mehr für den Hörsaal allein. Und
wir können die Märchen der Brüder Grimm von 1812 als eine
Gegengabe bezeichnen, die das Volk durch Vermittlung zweier Ge-
lehrten den Gebildeten seiner Nation überreichte.
Bekanntlich ist das Märchen auch schon vor 1812 litterarisch
ausgebeutet worden, am meisten von den Romantikern. Aber nur
einem Alteren war es bestimmt, bis auf den heutigen Tag im Volke
als Märchenerzähler lebendig zu bleiben. Das ist der, dem vorigen
Jahrhundert auch als Romanschriftsteller bekannte Joh. Karl Aug.
') Reinhold Köhler: Aufsätze zum deut. Märchen. Hg. von Bolte
und Er. Schmidt, Berlin 1894.
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— a —
Musäus. 1 ) Don grossen Unterschied zwischen dem Werke dieses Mannes
und dem der Brüder Grimm bezeichnet schlagend ein einziger Umstand.
Dem Lebensalter, für welches eigentlich Märchen bestimmt sind, wagt
man nur die Grimmschen Märchen vorzulegen, wie 6ie die Brüder
selbst geschrieben haben. Musäus aber hat zu vielen Überarbeitungen
herausgefordert. Es genügt vorläufig anzuführen, dass zwischen beiden
Märchenwerken 25 Jahre liegen. Bedeuten die kurzen, leicht nach-
zuerzählenden Geschichtchen der Brüder Grimm die Krone dieser Er-
zählungsgattung, so steht Musäus mit seinen zu Novellen ausgespon neuen
Märchen am Anfang ihrer Entwicklung.
Vor ihm gab es kein litterarisch gewürdigtes deutsches Märchen.
Man hatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kein Bedürfnis
nach einer Dichtungsart, die sich rein aus der „Einbildungskraft" er-
zeugte und im „Wunderbaren" gründete. Zwar findet man schon in
der einflussreichen Abhandlung Bodmers „von dem Wunderbaren in
der Poesie' 4 einen wohlwollenden Ausblick auf Phantasiegestalten wie
„weise Frauen, Aelfen, Feyen, Wasser- und Luftgeister, Genien, Berg-
nymphen, Geister von Verstorbenen." Aber der vollständige Titel der
Schrift betonte schon die Verbindung des Wunderbaren' mit dem „Wahr-
scheinlichen." Und da Bodiner vor allem die Wunder des Himmels,
die Engel seines Milton poetisch zu rechtfertigen unternimmt, so ge-
schieht es auch ganz in diesem Sinne, und im Sinne der Zeit, mit
der Begründung „weil sie ja als wirkliche Wesen in der Natur sind",
weil „eine Hälfte der Menschen an die Engel gränzt." „Belustigungen
des Verstandes und Witzes" behielten vorerst noch die Oberhand; und
zur Belustigung im heutigen Sinne des Wortes diente bezeichnend
genug das Märchenhafte zuerst den Dichtern der komischen Romanze.
Sie greifen bereits Stoffe auf, die uns später als deutsche Märchen
und Sagen ganz vertraut werden. Gleim, der Vater dieser Romanzen,
schreibt eine „schöne Melusine"; Schiebeier einen „Rübezahl"; Löwen
und Miller befassen sich mit dem Grafen von Gleichen, um von
Romanzen zu schweigen, die im Bänkelsängerton Aberglauben und
Spukgeschichten vortragen. Das Wunderbare, besonders aber das
Grausige, was der Stoff enthält, erzeugt mit dem leierhaften Vortrag
und vielen Beziehungen auf den Zuhörer die gewünschte lächerliche
Wirkung. Diese Sänger wollten vom Volke lernen und stellten sich
') Auch Reinh. Köhler findet nur ihn allein vor Grimm der Er
wähnung wert.
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vor (Gleim ganz entschieden), dass man im Volke ihnen nachsingen
würde. Aber sie dichteten von ihrer Höhe herab und noch Hölty
war es in den 70er Jahren unverständlich, dass man eine Romanze
anders als komisch vortragen wolle. 1 )
In Goethes Jugendzeit verkauften herumziehende Trödler kleine „auf
das schrecklichste Löschpapier fast unleserlich gedruckte" Schriftchen,
die, wie Goethe (Dicht, und Wahrh. I, 1) selbst mitteilt „in der folgenden
Zeit unter dem Titel: Volksschriften, Volksbücher, bekannt und sogar
berühmt geworden." Was vielfach einer früheren Zeit als Kunstdichtung
gegolten hatte, verbreiteten sie in fabrikmässigem Zuschnitt für billiges
Geld unter kleinen Leuten und Kindern. Die Büchelchen erfreuten
sich „grossen Abgangs." Sie enthielten hauptsächlich Märchen und
Sagen (die vier Haymonskinder, die schöne Melusine, die schöne Magelone,
Fortunatus etc.). Goethe nennt sie „schätzbare Oberreste der Mittelzeit",
und so trugen sie auch ein altertümliches Gewand, besonders in ihrer
Sprache. Die Gebildeten fanden an dieser Lektüre keinen Geschmack,
wohl aber erfroute es sie, wenn graziöse Verse und Reime mit dem
I altfränkischen Stoff ein lustiges Spiel trieben. So überreichte eine
i'-
-
l ) Koberstein. Grundriss d. deut. Litt. V, 36. Camillo von Klenze:
D. kom. Romanze im 18. Jh. Mbg. Diss. 1892. — In der Arbeit von
Kleny.es findet man noch mehr Romanzen mit sagen- oder märchen-
haftem Inhalt zusammengetragen (z. B. Gotters „Blaubart"; Bürgers
„Weiber v. Weinsberg"; 2 Bearbeitungen des „Dr. Faust"). Nur wäre
es vielleicht hier am Platze, 2 Arbeiten Zacharias, die Koberstein wie
von Klenze derselben Rubrik einordnen, von der kom. Romanze abzu-
trennen.
Ihr Titel lautet:
Zwei schöne neue Mährlein
als
l. Von der schönen Melusinen II. Von einer untreuen Braut,
einer Meerfey. die der Teufel hohlen sollen.
Der lieben Jugend,
u. dem ehrsamen Frauenzimmer zu beliebiger Kurzweil, in Reime verlasst.
Leipzig 1772.
(Anonym hg. zu finden in d. Berl. Kgl. Bibl. unter: Romanzen Yl 7586,)
Den Bearbeitungen fehlt die, für jene Romanzen erforderliche
sangbare strophische Form. Sie sind in vierhebigen Reimpaaren ge-
schrieben, ihre Länge überschreitet das gewöhnliche Mass der andern
Diehtungsart. Nach dem Vorbilde der Volksbücher, die in Kapitel zer-
fallen, zerlegte Z. die Erzählung 1 in mehrere Gesänge mit Ueberschriften.
An einigen Stellen ist der Ton der komischen Romanze angeschlagen.
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Dame dem Dichter Zachnriä zwei solcher Volksbücher mit den Worten :
„dies möchte ich einmal anders gemacht haben." — „Wie anders"
(antwortete Z.). — „Ach, fingen Sie mich nicht lange! das wissen Sie
ja wohl! Wie Sie wollen! Aber anders." Zachariä machte daraus
zwei komische epische Gedichte (vgl. d. An in. oben).
Das eigentliche Märchen in Prosa, das vor Musäus in Deutsch-
land eifrig gelesen wurde, war französischer Abkunft. Die Gräfin
d'Aulnoy und Perault hatten zuerst die Erzählungen des Volkes der
Litteratur erschlossen; und mit ihren heimatlichen Wundergebilden
verband sich die farbenreiche, orientalische Märchenwelt, als Galland
1704— 8 die arabische Sammlung „Tausend und eine Nacht" übersetzte.
Diese rühmlichen Leistungen sind auch den Deutschen des 19. Jahr-
hunderts nicht verloren gegangen. Ihre massenhaften Nachahmungen
stehen alle auf einer viel tieferen Stufe. Pädagogische Absichten, Ten-
denzen, der Einfluss modern-schäferlicher Liebesgeschichten machen
sich bemerklich; die Phantasterei artete in Albernheiten aus. All-
mählich bildete sich ein komplizierter Apparat von Feen und Geistein
heraus, den jeder Schriftsteller meistern musste. Dieses Kennzeichen
der französischen Erzählungen trug ihnen den Namen „Feenmärchen"
ein. 1 ) Deutsche lasen sie in der Ursprache (Wieland) und in Über-
setzungen. Seit 17G5 stellte Heinr. Raspe in Nürnberg eine Aus-
wahl der Feenmärchen in seinem „Kabinet der Feen" zusammen. 2 )
Auch die „Bibliothek der Romane" (hg. von Reichard) hatte diese
Gattung in ihr grosses Programm aufgenommen. Die Übersetzung von
„Tausend und eine Nacht" stammt von Voss.
Dem Märchen als einem fremden Kunstprodukt schenkte man
also in den GOer und 70 er Jahren grosse Beachtung, aber der Reichtum
des eignen Volkes blieb so lange im Verborgenen, als man gering-
schätzig auf das Geistesleben „der Kanaille", des „Pöbels" herabsah.
Dieser vornehmen Verblendung trat zuerst Herder entgegen. Er
geisselte die vornehme, antikisierende Richtung des deutschen Schrift-
stellers und verwies denselben, indem er auf Kraft und Ursprünglichkeit
der Poesie drang, an die gemeine Volkssage, Märchen und Mythologie.
Während nun er und andere sich bemühten, die nationale Forderung
auf dem Gebiete der Lyrik zu erfüllen, bleibt es das Verdienst des
') Grimm: Märchen III, S. 348—358. K. Otto Meyer: Viertelj. f.
Litt. V. „Das Fei'.nmäiThen bei Wicland."
! ) Vgl. die Rezension in der Allg. Deut. Bibl., Bd. VI, S. 309, 1768.
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Musäus, auf dem Gebiete der prosaischen Volksüberlieferung den ersten
Versuch gemacht zu haben. 1 )
Die nachfolgende Arbeit stellt eine Untersuchung an, wie weit
Musäus als Märchenschriftsteller gelten darf, ob andere Absichten, die
seine Thätigkeit beherrschten, oder die eigne Persönlichkeit ihm
förderlich oder hinderlich waren. Am besten geht wohl einer ein-
gehenden Betrachtung der Volksmärchen die Schilderung des Verfassers
und seiner früheren schriftstellerischen Thätigkeit voraus.
') Herder: Ueber d. Ähnlichkeit der mittl. engl, und deutsch.
Dichtkunst. 1777.
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Die Persönlichkeit des Musäus. 1 )
Ein Blick über die Lebensstationen des Musäus zeigt, wie eng
dieser Mann mit einem bestimmten Volksstamm verwachsen sein musste.
In Jena wurde er 1735 geboren, erhielt nur kurze Zeit in Allstadt,
hauptsächlich in Eisenach, seine erste Erziehung, studierte wieder in
Jena, verheiratete eine Schwester nach Gotha, wohnte und wirkte bis
an sein Lebensende (1787) in Weimar. Die Mehrzahl der genannten
Orte liegen heute an einer fast schnurgeraden, schnell zurückgelegten
Bahnstrecke. Nur kurze Vergnügungsreisen führten den Wanderlustigen
hin und wieder abseits von diesem Wege. Vielleicht hat er, wie
Pröhie 2 ) vermutet, das Riesengebirge besucht, wahrscheinlicher aber
den Rennsteig überschritten und sich in Franken umgesehen. Er ver-
steht wenigstens den fränkischen Dialekt und ahmt ihn bei Gelegenheit
nach. Jedenfalls aber kannte der Thüringer sein kleines Ländchen,
seine Stammesgenossen, ihre Natur, Gebräuche, guten und schlimmen
Gewohnheiten, wie vor allem ihren Dialekt und Humor vorzüglich.
Der Thüringer ist redselig und es wäre ein Wunder, wenn Musäus
nicht schon, bevor er sich absichtlich darum bemühte, eine Menge von
Sagen und Märchen gehört hätte.
Nun stammte er zwar aus einer Gelehrtenfamilie, die sich auch
durch Schriften bekannt gemacht hatte; sein Grossvater war Theologe,
sein Vater Jurist, sein Oheim Weissenborn, bei dem er in Allstedt und
Eisenach erzogen wurde, war Superintendent. Musäus selbst studierte
erst Theologie, verscherzte sich aber durch einen Tanz die Gnade seiner
zukünftigen Bauerngemeinde, Farnrode bei Eisenach; er wurde Schul-
mann und erhielt 1763 nach seiner ersten schriftstellerischen Leistung
die Stellung des Pagenhofmeisters bei Hofe, 17G9 eine Professur am
Gymnasium. Anna Amalia zog ihn in ihren Kreis, er zeigte sieh
•) Vgl. Muncker. Allg. D. B. 23. 84-90; M. Müller: J. K. A. Musäus,
Jena 1867.
*) 2. Vorrede zu seiner Ausgabe: Alxinger, Musäus, MülJer v. Itzehoe.
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brauchbar für ihr Liebhabertheater. Aber einmal kann man bei der
Engherzigkeit der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt
annehmen, diese Beziehungen werden seinen kleinbürgerlichen Sinn
nicht erweitert haben. Und dann zeigen seine Scliriften, dass sich sein
Gedanken- und Gefühlsleben ganz in der Sphäre bürgerlicher Leute
bewegte. Unter ihnen fühlte er sich behaglich, unter ihnen glaubte
er die Wahrheit wiederzufinden, welche die Überschwänglichkeit der
litterarisch gebildeten Gesellschaft verscheuchte. Aber Neigung und
Begabung führte ihn selbst zur litterarisehon Beschäftigung. Es war
unter diesen Umständen nicht zu verwundern, dass er in eine oppo-
sitionelle Stellung geriet. Wenn wir von den kleineren Erzeugnissen
seiner Feder, der komischen Oper: „das Gärtnermädchen", allem, was
er sonst in Versen verfasst hat, auch von den Straussfedern, für die
er nur noch seinen berühmten Namen, aber keinen Geist mehr übrig
hatte, wenn wir von all diesem absehen, so sind seine drei Haupt-
werke, auch das letzte, aus litterarischer Opposition hervorgegangen.
Das erste, ein Roman: „Grandison der Zweite oder Geschichte des
Herrn von N**, in Briefen entworfen 1 ' erschien zu Eisenach 1760 — 62.
In dieser Erzählung hat sich ein Edelmann, bei der Lektüre der Romane
Richardsons und namentlich über ^dem Grandison, diesem Ideal von
Tugend und Keuschheit, den Kopf so verwirrt, dass er beschiiesst, ein
zweiter Grandison zu werden. Schalkhafte Zwischenträger bestärken
ihn in der Überzeugung, dass sein Vorbild ein wirkliches Dasein habe,
und so tritt er mit dem Romanphantom in schriftlichen Verkehr. Alle
Albernheiten der Nachahmung und der Widerspruch zwischen erträumter
Würde und wirklicher Lebensführung treten in der lächerlichsten Weise
zu Tage, eine harte Demütigung für die verzückten deutschen Leser,
an Don Qnixote erinnert zu werden, dessen Verstand über den Ritter-
romanen der Wirklichkeit entfremdet wurde.
Seit 1772 eroberte sich Lavaters Physiognomik Deutschland. Die
damals, in einer kleinen Broschüre und mehr noch seit 1775 in den
Fragmenten ausgesprochenen Anschauungen brachten den Wert des
Menschen mit seiner Physiognomie in ein so enges Verhältnis, dass
sich daraus bedenkliche Konsequenzen ergaben. Manche Gegenden
Deutschlands waren wie Lichtenberg, Sommer 77, schreibt: „von einer
Raserey für Physiognomik befallen". Musäus führte jene Konsequenzen
in einem Romane vor, der 1778 herauskam und sich „Physiognomische
Reisen" nannte. Hier sind es die eifrigsten Leser Lavaters, die dem
Betrüge und der Selbsttäuschung durch ihren Glauben an die physio-
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— 8 —
gnomischen Grundsätze anheimfallen. Wiederum also traf Musäus nicht
den Schriftsteller, nicht das Werk, sondern ihre Opfer, die Leser,
Nachahmer und Schwärmer. Lichtenberg, Helfrich Peter Sturz griffen
die Sache, die Grundsätze und Folgen der Physiognomik an, Klinger
im Faust (1790) sogar den Urheber, freilich auch das sonderbare j
Treiben der „Physiognomisten". Lediglich die in der Irre gehenden
blinden Verehrer Lavaters geisselte Musäus. Er sah mit der Ver-
stiegenheit der Schwärmer zugleich den Hochmut gepaart, seine, allem
Extremen abgeneigte Natur wurde zur Satire herausgefordert, wenn
romanhafte Gebilde dauernde Herrschaft über die Stimmung der Leser
erlangten. Hierin liegt auch, was den ersten Roman betrifft, der
Hauptuntersehied zwischen Musäus und Fielding. Denn Fielding ging
nicht den Lesern, sondern den Tugendhelden Richardsons selbst zu leibe
durch Personen, die mit aller Leidenschaftlichkeit, auch der sinnlichsten
ausgestattet sind.
Das Treiben der litterarisch interessierten und beschäftigten Leute
konnte der Dichter aus nächster Nähe betrachten, als erst Wieland,
dann Goethe nach Weimar kam, und durch die Anwesenheit des letz-
teren noch eine kleine Schar himmelstürmcnder Talente herbeigelockt
wurde, mit einem Wort, als für Weimar die Geniezeit begann. Musäus
war schon zu alt, zu reif für das seltsame Treiben dieser Natur-
menschen. Aber eine enge Begrenztheit der Natur führte ihn dahin,
auch nur die Auswüchse und Verkehrtheiten im Gebahren der jungen
Genies zu sehen. Er verschloss sich ihnen, weil sie jung und über-
mütig waren und verkannte auch den grössten unter ihnen. Niemals
hat er in seinen Briefen ein Wort des Beifalls für Werke, welche in
seiner Nähe entstanden und grossen Einfluss erlangten. Nur Wieland
gegenüber macht er eine Ausnahme (vgl. d. Vorbericht zu d. Volks-
märchen); sie begegneten sich beide in einer heiteren, nicht sehr tiefen
Lebensauffassung. Grosse Ereignisse machten nur einen vorübergehen-
den Eindruck auf ihn. Das Alltägliche lag ihm weit mehr am Herzen.
Die Grossen der Welt kümmerten ihn weniger als seine Freunde,
die Schüler und die Familie. Herder hat ihn als Lehrer gewürdigt,
den Freund und Familienvater lernt man aus den von Kotzebue
herausgegebenen hinterlassenen Schriften kennen. Mit rührender Pünkt-
lichkeit überreicht er seiner Frau an jedem Geburtstag den gereimten
Glückwunsch. Er nimmt an den Familienverhältnissen auch der ent-
ferntesten Freuiule herzlichen Anteil; die Briefe sind immer lang und
weitschweifig, sie handeln meist von den kleinen Erlebnissen im engsten
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Kreise der Familie, einem Fest, einem Besuch, einer Reise, von kleinen
Unfällen in der Kutsche, von den Schicksalen der Ilm und des Gartens.
Keine Spur von einem litterarischen Briefwechsel. Fast nur geschäftlich
spricht er einmal vorübergehend von den eigenen Schriften. Ein
öffentliches Ereignis, die Geburt einer Prinzessin, den Schlossbrand,
weiss er zur persönlichen Angelegenheit zu machen.
Mit seinem Familiensinn hängt die Freude am Kleinen und Neben-
sächlichen zusammen. Alles in seiner Umgebung hatte einen kleinen
Zuschnitt. Die Stadt war noch einem Landstädtchen vergleichbar, dfü-
herzogliche Hofstaat machte keine grossen repräsentativen Anstrengungen,
und der Dichter selbst führte eine sehr bescheidene Haushaltung.
Denn seinen schönen Titeln entsprach das Einkommen nicht. Man
stelle sich die Räumlichkeiten vor, in denen zum grossen Teil unsere
Dichter im vorigen Jahrhundert gehaust haben. Die Zimmer sind,
mit unseren Verhältnissen verglichen, meist sehr niedrig und bald
durchschritten. Musäus aber arbeitete noch dazu oft mit Weib, Magd
und Kind zusammen. Kindergeschrei und „die Symphonie der Schnapp-
weife und des Spinnrades' 1 begleiteten zuweilen seine Arbeit. Auf den
klingenden Lohn der schriftstellerischen Thätigkeit wurde stark ge-
rechnet. Wieland soll ihn mit beziig darauf ein „Laststier" genannt
haben (Bottichen Lit. Zust. u. Zeitgenossen. I. S. 177.).
Aber diese Verhältnisse drückten ihn nicht, er war geduldiger
als seine Frau, die, wie es scheint, mehr Temperament, aber auch
mehr wirtschaftlichen Sinn besass. Musäus wusste in diesem seinem
kleinen Reich den geringsten Dingen Bedeutung abzugewinnen. Sein
Ideal war, einen Garten zu besitzen, den er nach Belieben bestellen
konnte.
Von Muckertum gänzlich frei, vertrat er die Spiessbürgerlichkeit
von ihrer liebenswürdigsten Seite; während bereits die jungen Stürmer
und Dränger mit ihrer, aus künstlerischen Prinzipien verkündeten
Emancipation des Fleisches auf die freie Romantik der neunziger Jahre
hinstrebten, namentlich Heinse und Klinger, hielt er fest an seiner, auf
biblischer Grundlage beruhenden Anschauung, suchte den Mittelpunkt
des christlichen Lebens in der Familie, wie Luther, und ordnete das
Weib streng dein Manne unter. Er hatte, was gar nicht mehr im
Sinne der Zeit, seinen Spott mit Juden und Katholiken und berief sich
gar zu gern auf die gute, alte Zeit, als deren Vertreter er sich auch
durch einen altmodischen Rock und den „modischen Lebenslauf eines
unmodischen Weltbürgers'' bekannte. Frivol war er nicht, macht seine
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Leser niemals lustern oder aufgeregt (wie Heinse und Wieland), aber
unbefangen streift sein Witz zuweilen an die Grenze des Lascivnen
und er redet (vor allen Dingen in seinen Briefen) wie ein verheirateter
Mann zu verheirateten Frauen reden durfte.
Die Summe seiner Persönlichkeit ist eine heitere, doch etwa nicht
spielerische Lebensanschauung, wie die eines Mannes, dem es wohl
geht und dem die Arbeit angenehm gelingt. Das liest man aus den
Zügen seines Portraits. 1 ) Die Physiognomie ist fleischig und stark-
knochig, tr«lgt aber ein paar beobachtende und zuversichtliche Augen.
Wenn ein Widerspruch in ihm angetroffen wird, so geschieht es, weil
den Ausdruck seiner kindlich einfachen Natur die Einfälle des ge-
lehrten, viel belesenen und in einer aufklärerischen Zeit gross gewor-
denen Mannes durchkreuzen: Sein Leben war geteilt zwischen Familie
und Büchern. Auf jener beruhte, gefestigt und begrenzt, seine ewig
gleiche Gesinnung, an diesen erfrischte sich seine Phantasie und sein Witz.
Die Volksmärehen der Deutsehen. 2 )
Musäus veröffentlichte seine „Volksmärchen der Deutschen 11 in
den Jahren 1782—87. Sie erschienen zu Gotha in 5 Teilen.
Den Titel hat er vielleicht den 1774 zusammengestellten „Romanzen
der Deutschen* 1 nachgebildet. Die Volksmärchen stellten sich durch
ihren Namen also den bisher in Deutschland verbreiteten Feenmärchen
als nationale Erzeugnisse entgegen. Sie wurden aber andererseits grade
dadurch veranlasst, dass in jener Zeit das französische Märchen aufs
neue den Geschmack für diese Litteratur anregte. Musäus schreibt
an Frau Gildemeister, seine Freundin in Duisburg: „Die Feereyen
scheinen wieder recht in Schwung zu kommen; Rector Voss und Amt-
mann Bürger vermodernisieren die Tausend und eine Nacht um die
Wette, selbst die Feenmärchen sind in Jena das Jahr wieder im Nürn-
bergischen Verlag von neuem gedruckt worden. Ich will mich an
') Vgl. das Bild des Dichters in den nachgelassenen Schriften, hg.
v. Kotzebuo 1791: die Büste in d. Gro8sh.Weim.Bibl. u. das Denkmal
auf d. St. Jaeobskirchhof, beide von Martin Klauer.
■) Die Citate beziehen sich auf die Ausgabe von Moritz Müller.
Leipzig. Brockhaus 1868. Der Text dieser Ausgabe schliesst sich eng
an die von Musäus z. t. noch selbst besorgte 2. Auflage der Volks-
märchen au und ist mit dem der 1. Aufl. genau verglichen worden.
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die Rotte anhängen." Seinem Unternehmen giebt er hier noch den
Titel: „Volksmärchen, ein Lesebuch für grosse und kleine Kinder."
Aber während der Arbeit verwandelte sich seine Idee derart,
dass er im Vorbericht die Erklärung geben zu müssen glaubte: die
Volksmärchen seien keine Kinderraärchen, denn ein Volk bestehe haupt-
sächlich aus grossen Leuten. Wie uns nun der Vorbericht weiter
belehrt, war es vor allem eine künstlerische Absicht, die ihn leitete.
Er fand, dass jene Bearbeiter fremder Märchenstoffe erfindungsarm
kunstlos „ohne Zuthat der geringsten Specerei" (V. M. I, 7) nach-
bildeten. Er legte Gewicht auf „Wesen, Form, Ton und Haltung der
Erzählung" (I, 9). Er erhob den Anspruch, dass „Anordnung und Über-
einstimmung und handfeste Composition die Gerätschaft der Deutschen
und ihre Dichtungen" auszeichnen (I, 9). Wir werden hiernach keines-
wegs einfache, naive Nacherzählung, sondern planmässig abgerundete,
durch den Ton der Darstellung eigenartige Geschichten zu erwarten
haben. Aber mehr als die Form schien dem Dichter der Geist seines
Werkes am Herzen zu liegen. Deutlich spricht es der Vorbericht aus,
dass sich Musäus wieder zu einer litterarisch oppositionollen That
anschickte. Seine Opposition richtete sich diesmal gegen die senti-
mentale Schwärmerei, die seit einiger Zeit durch Romane genährt
wurde, und, wie Thatsachen beweisen, Unheil stifteten.
Wie es demnach der Vorbericht selbst nahe legt, wird man die
Volksmärchen nach ihrer Composition, ihrer Sprache und ihrem
Stimmungsgehalt zu prüfen haben, um ihrer Eigentümlichkeit auf die
Spur zu kommen.
Composition der Volksmärehen.
Die beiden Romane des Musäus zeigen eine sehr bequeme Methode
der Erfindung. Der Dichter bezog sich auf Werke, die viel gelesen
wurden, und er fragte sich nur, wie die darin gebotenen Motive nutzbar
zu machen seien. Indem nun der erste Roman (Grandison) seinen
Helden von Nachahmung zu Nachahmung, der zweite den physiogno-
mischen Wanderer von Ort zu Ort und zu Erlebnissen führt, die alle
irgend eine Anregung Lavaters voraussetzen, entstehen episodenhaft
zusammengesetzte Erzählungen von unbegrenzter Dehnbarkeit. Eine
recht starke Enttäuschung und Bekehrung der Schwärmer wurde zu
einem endlichen Abschluss aufgespart. Die Neigung zur Episoden-
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— 12 —
erzählung vorleugnet sich aueh nicht in den Volksmärchen, nber in
<ler Hauptsache haben diese den Vorzug- einer geschlosseneren, kunst-
volleren Com position, die also nicht immer beliebige Anschwellungen
verträgt,
Die ersten Faktoren, welche die Composition einer Dichtung be-
einflussen, sind ihre Quellen oder Vorbilder. Es fragt sich, ob Musäus
sich an solche angelehnt oder aus freier Phantasie geschöpft habe.
Er schreibt in jenem, schon erwähnten Briefe an Frau Amelie Gilde-
meister: „Ich sammle die trivialsten Ammenmärchen, die ich aufstutze
und noch zehnmal wunderbarer mache als sie ursprünglich waren."
Über die Art, wie er sammelte, spricht sich Kotzebue, der fast täglich
um ihn war, folgendermassen aus 1 ): „Wenigen ist vielleicht bekannt,
dass, als er den Gedanken fasste, Volksmärchen der Deutschen zu
schreiben, er wirklich eine Menge alter Weiber mit ihren Spinnrädern
um sich her versammelte, sich in ihre Mitte setzte, und von ihnen
mit ekelhafter Geschwätzigkeit vorplaudern liess, was er hernach so
reizend nachplauderte." Eben so hätte er Kinder, und wen er sonst
aufgreifen konnte, zu sich gerufen und erzählen lassen. An diesem
Hcricht ist nicht zu zweifeln, und wir werden die Aufgabe haben, den
Spurcn der mündlichen Überlieferung aus den Volksmärchen nachzu-
gehen. Nur einer einzigen Erzählung, der Libussa, im 3. Teil, ist eine
Quellenangabo vorausged ruckt, und die ihrem Charakter nach auffallend
isolierte Darstellung lässt mit ziemlicher Sicherheit erkennen, dass
Musäus sich nirgend so eng einer gedruckten Vorlage anschloss, wie
dort, wenn er überhaupt sonst eine solche benutzt haben sollte. Jene
Märehenerzähler aber wird er sich wohl von der Strasse zur Mitarbeit
herangezogen haben, nicht mir, um ihnen den Stoff abzulernen, sondern
um auch den formalen Charakter seiner Darstellungen danach zu bilden.
Denn als erster Erzähler deutscher Märchen in der Sprache des 18. Jahr-
hunderts war er gezwungen, sich erst in den geeigneten Stil zu finden.
Wenn wir nun den Spuren der Volksüberlieferung nachgehen, so
findet sich, dass dieselben vier Gebieten angehören, dem Märchen, der
Sage, der Legende und dem, was wir unter Aberglauben zusammen-
fassen wollen. Alle Erzählungen setzen sich aus diesen Elementen in
manchmal bunter Mischung zusammen. Wir führen zunächst diejenigen
Erzählungen auf, bei denen es gelungen ist, die Grundlagen ihrer Er-
findung auf bekannte Vorbilder zurückzuführen, verzichten aber darauf,
') Nachgelassene Schritten des vcrstoibenen Prof. Musäus, hg. v.
seinem Zögling Aug. v. Kotzebue, Leipz. 1791. S. 14. 15.
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die Ausgestaltung dieser Vorbilder bei Musäus genauer zu erörtern, da
wir nichts Bestimmtes über die Form wissen, in der sie Mus. kennen
lernte.
I, 11 ff.: „Die Bücher der Chronika der drei Schwestern". Diese
Erzählung handelt von einem Grafen, der sein Gut verprasst und, um
sein lieben zu erhalten, die Tochter an einen Bären, einen Aar, einen
Delphin, 3 verzauberte Prinzen, verkauft. Diese Prinzen sind gut und
schön in Menschengestalt, die jeder nach einer bestimmten Frist einmal
annehmen darf; wenn sie aber wiederum Tiere geworden sind, darf
ihnen kein Mensch ungestraft nahen. Ein spät geborner Sohn des
Grafen, Reinald, macht sich auf, die Schwestern zu suchen, jeder
einzelne Schwager ist eine Gefahr für sein Leben; verwandelt aber
nehmen sie ihn freundlich auf und jeder giebt ihm beim Abschied ein
Mittel, womit Reinald den Entfernten zu Hilfe rufen könne, der Bär
drei Haare, der Aar eine Feder, der Delphin eine Schuppe. Er macht
von diesen Geschenken in der Not Gebrauch, es gelingt ihm, den bösen
Zauberer Zornebock zu erschlagen, und damit wird nicht nur den Ver-
zauberten ihre Menschengestalt für immer zurückgegeben, sondern noch
dazu eine schöne Prinzessin aus der Gefangenschaft des Zauberers erlöst
und von Reinald heimgeführt.
Im Auslande finden wir dieses Märchen wieder. VVilh. Grimm
verweist im 3. Teil der KHM. auf die Lieder von Rosraer Hafmand
(Kämpe Viser I, S. 218 — 233) und auf ein damit übereinstimmendes
schottisches Märchen bei Janiieson. Im alten Epos des Firdnsi Schah-
namech reicht der Riesenvogel Simurg dem Knaben Sal eine Feder
für den Fall der Not. Am ähnlichsten zeigt sich eine Erzählung des
Italieners Basile: Li tre Yri anemale. Liobrecht II, 29 ff. (die drei Könige:
Pentamerone IV, 3 vgl. KHM. III, S. 309). Hier sind die verwandelten
Könige ein Hirsch, ein Falke, ein Delphin, zurückgewiesene Freier.
Nicht wie bei Musäus kommt ihnen die Leichtlebigkeit eines lieblosen
Vaters zu Hilfe, sie erzwingen sich ihre Bräute durch Verherung des
Landes. Ein spät geborener Bruder löst auch hier den Zauber dadurch,
dass er eine Königstochter von einem Drachen befreit, Zornebock
scheint, nach Grimm, eine Erfindung des Dichters zu sein. Diese
Gestalt hat er noch später einmal in die Erzählung Libussa hinein-
gezogen. 1 )
•
') Piöhle führt das Volksbuch : „Reinald, das Wunderkind" an; es
sei aber möglicher Weise ein Nachdruck. Vgl. Prohle: Kinder- und
Hausmärchen No. 1 S. 1 — 5; Heyscs Bücherschatz No. 1750.
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„Richilde", das zweite Märchen, I, 43, ist ans „Schneewitchen"
erwachsen. Aber mehr als die unschuldig leidende Stieftochter inter-
essierte es den Mtisäus, den Charakter und die Schicksale ihrer Ver-
folgerin, der Richilde, zu entwickeln. Dieses Weib ist von Natur zur
Eitelkeit angelegt. Sie will die schönste sein und bleiben. Ein Zauber-
spiegel, ihr Pathengeschen k von Albertus Magnus, tröstet sie darüber.
Er zeigt auf die Frage, wer die schönste sei, allein ihr Bild; er zeigt
ihr auch den schönsten Mann und es gelingt ihr, diesen, da er ver-
heiratet ist, seinem Weibe abwendig zu machen. Dieser Mann hat
aber schon eine Tochter, und eines Tages belehrt der Spiegel die rat-
fragende Richilde, dass sie ihrer Stieftochter unterliege. Nun versucht
sie auf die aus dem Märchen bekannte Weise, das Mädchen ums Leben
zu bringen, und es fehlt nicht das Ende, dass sie in glühenden Schuhen
auf der Hochzeit der Geretteten sich zu Tode tanzen muss.
Der bekannte Inhalt der 5 Rübezahllegenden (I, 100 ff.) ist, in
Überschriften znsammengefasst, folgender:
1. Rübezahl entführt die Prinzessin Emma und wird von ihr
beim Rübenzählen betrogen und verlassen.
2. Rübezahl straft einen Handwerksburschen, der ihn verspottet,
und bringt es dahin, dass dieser dem peinlichen Halsgericht verfällt.
Er rettet aber noch den Unschuldigen und spielt den Richtern einen
Schabernack.
3. Rübezahl leiht einem Manne Geld und erlässt ihm die Schuld,
als dieser ehrlich am Zahltage wiederkommt.
4. Rübezahl schenkt einer braven Mutter einen Korb voll Laub,
das sich in Gold verwandelt und straft ihren selbstsüchtigen Mann,
dem er seine Glasladnng durch einen Sturm vernichtet.
5. Rübezahl befreit eine vornehme Dame aus den Händen eines Be-
trügers, der die Gestalt des Berggeistes angenommen. Er führt sie auf
sein Schloss und lässt die Dame, die an keinen Rübezahl glaubt, nach-
träglich erfahren, wessen Gesellschaft und Gastfreundschaft sie genossen.
Über die Rübezahlsagen ist viel gehandelt worden. Die Legenden
2, 3, 4 sind bereits in den kurzen Schwänkon wiederzuerkennen, die
Prätorius in seiner Dämonologia Rubinzalii sammelte. Auch die
. r >. Legende hat entfernte Ähnlichkeit mit einer Episode, die bei Prä-
torius die Überschrift führt: „Rübezahl zwingt eine Gbi istin bei ihm
zu schlafen." Die Untersuchung darüber findet sieh in der 1. zu
llohenelbe 1884 erschienenen Preisschrift (von L. Kr. Richter). Die
erste der Legenden scheint keine echte zu sein, sondern aus der
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Phantasie des Dichters als Variante zu den Sagen vom betrogenen
Teufel zu stammen. Auch zum Inhalt der 2. Legende existiert eine
Parallele in der 13. Teufelssage bei Vernalekcn: „Mythologie und
Bräuche des Volkes in Oesterreich", 1859, p. 378 ff. Vgl. Lincke:
„Die neueste Rübezahlforschung". Dresden, 189G.
Bei der Erzählung „die Nymphe des Brunnens" (II, 1), hatte der
Dichter das Märchen von Aschenputtel vor Augen (Grimm, M., I, 112).
Von den vielen Variationen, die Grimm (III, 37 — 41) zum Aschen-
puttel mitteilt, bringt keine das, für Musäus so wesentliche Motiv einer
Brunnenfee, die nicht nur eine Freundin von Mathildens (al. Aschen-
puttels) rechter Mutter ist, sondern auch für das väterliche, gräfliche
Schloss die Rolle eine)- Schutzheiligen spielt. Das Versiegen ihres
Bronns bedeutet den Untergang des Schlosses. Aber näher berührt
sich damit ein Märchen: „Aschengrittel", das Dr. Ernst Meyer mitteilt
(Deutsche Volksmärchen aus Schwaben, Stuttgart 1852, S. IG). Hier
bewohnt der Wohlthäter Aschengrittels, ein Zwerg, auch einen Brunnen,
und das Mädchen muss, wenn es Wunsche an ihn zu richten hat,
dreimal mit einem goldnen Stäbchen an seine Behausung klopfen. —
Die Person der Stiefmutter hat Musäus in zwei verschiedene Frauen
aufgelöst. Die erste, eine wirkliche Stiefmutter plagt das Kind bis
zum Untergang des Schlosses, den nur Mathilde überlebt Zu der
zweiten gelangt Mathilde, als schmutzige Magd verkleidet. Diese ist
die hässliche keifende Wirtschafterin eines Komthurritters. Das Pathen-
geschenk der Nymphe des Brunnens, ein Bisamapfel, schenkt dem
Mädchen zweimal mit kostbaren Kleidern eine herrliche Erscheinung
und gewinnt ihr den eignen Herrn zum Gemahl.
Libussa, II, 23, schliesst sich, wie gesagt, eng an gedruckte Vor-
lagen an, und es soll später eingehend darüber gehandelt werden. „Der
geraubte Schleier", II, 73, enthält das Motiv der Schwanjungfrauen,
denen in Grimms Mythologie ein längerer Abschnitt gewidmet ist.
Unter andern) erzählt Grimm eine schwedische Sage, wie ein Jüngling
3 Schwäne sich am Strande niederlassen sah; sie legten ihre Schwanen-
hemden ab und wurden schone Jungfrauen. Sie badeten, legten das
Hemd wieder an und entflogen. Es gelang dem Jüngling, bei ihrer
Wiederkohr, der jüngsten das Hemd zu entwenden. Da konnte sie
nicht wieder heimfliegen, sie musste ihren Jäger heiraten. Aber nach
7 Jahren zeigte er ihr das verborgene Hemd. Kaum hat sie es in
der Hand, so entfliegt sie als Schwan zum offenen Fenster hinaus.
Kurze Zeit darauf starb der traurige Gatte. (Gr. D. Myth. 1, 354- 5.)
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— iß ^
Musaus verlegt, seine Geschichte in die Gegend um Zwickau, weil
alte Chronisten erzählen, die Stadt sei durch Cygnus, Sohn oder Enkel
des Heracles, gegründet und nach ihm Cyngnavia, verdeutscht Schwan-
feld (oder Cygnau) genannt worden.») Der Chronist nennt die Ur-
enkelin des Cygnus eine gewisse Schwanhildis. Musäus scheint nun
jene Soge von der Schwanhilde haben erzählen hören; denn sein Held
weiss, „dass eine gewisse Schwanhilde vor langen Jahren hier auch
ihren Schleier verloren, dafür aber einen getreuen Liebhaber gefunden".
Jedenfalls lässt er die kurze Sago sehr anschwellen, macht zwei Liebes-
romane daraus, von denen der eine in Griechenland beginnt und in
Deutschland endet, der andere in Deutschland beginnt und in Griechen-
land endet. Dem einen Liebhaber glückt es nicht, das Schwanenhemd
zu erhaschen, seinem Nachfolger tun so besser; aber am Hochzeitstage
verrät die geschwätzige Mutter der Schwiegertochter den Ort des
Schleiers und die Sehwanenprinzessin entkommt. Aber so traurig wie
jene Sage endet Musäus' Erzählung nicht. Diese bringt die Getrennten
am Schlüsse wieder glücklich zusammen.
Unter den folgenden sieben Erzählungen schliessen sich nur noch
zwei ihrer Grundlage nach bekannten Überlieferungen an: Bei „Dämon
Amor" darf man nicht von der Überschrift auf eine Verwandtschaft
mit der französischen Novelle „Teufel Amor" (Reichards Bibliothek der
Romane) schliessen, obwohl Musäus den „Teufel Amor" kannte, was
sich aus einer Anspielung auf Biondetta, die Heldin dieses Romans
(Geraubter Schleier) ergiebt. Das Hauptmotiv im ,,Däraon Amor 4 er-
innert vielmehr an den Zauberring der Höhle Xa-Xa, den man dreht,
um Geister zu zitieren; nur leistet bei Musäus der Geist im Ring
ausser andern Diensten zuletzt noch den Dienst des Liebesgottes.
„Meloehsahv- (III, 73) behandelt die Erlebnisse des Grafen von
Gleichen, den der Kreuzzug nach dem Morgenlande und in die Gefangen-
schaft der Muselmänner führte. Er musste dort die schwersten Arbeiten
verrichten; aber die Gunst und Liebe der schönen Tochter des Sultans
verschaffte ihm die Freiheit. Sic entfloh mit ihm nach dem Abend-
lande. Der Graf erwirkte zum Dank vom Papste einen Dispens sich
neben seiner ersten Gemahlin eine zweite beizulegen und führte die
Saracenin heim. Jene erste Gemahlin war glücklich über seine Rück-
kehr und teilte gern mit der Fremdon ihre ehelichen Rechte.
„Stumme Liel>e" (N, 1 1 2) führt einen, nur stumm liebenden, verarmten
Kaufmannssohn auf Abenteuer, deren letzteres ihm einen Schatz und
') Chronik der Stadt Zwiekau. Dr. Em. Herzog. 1839. S. 4, 5.
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i?
die Braut einbringt. Untersuchen wir zunächst die Abenteuer. Ein
heftiger Platzregen zwingt Franz, den Helden des Märchens, auf einer
Burg im öden Westfalen einzukehren bei Eberhard Bronkhorst, einem
Ritter, von dein man sich erzählt, dass er „keinen Wandersmann
ungerauft von sieh lasse." Sein männliches Betragen verschont ihn
vor dieser sehnöden Behandlung. Weiterhin empfiehlt ihm ein schaden-
froher Wirt ein verödetes Schloss zum Aufenthalt. Im Schlafe stört
ihn ein umgehendes Gesj>enst, das ihn mit stummen Gebärden nötigt,
sich rasieren zu lassen und danach die Miene hat, als wolle es selbst
rasiert werden. Hurtig geht Franz ans Werk und erlöst damit die
Seele eines Mannes, der bei seinen Ijebzciten jeden einkehrenden Pilger
zum Schabernack glatt und kahl geschoren hatte. Zum Dank erhält
er darauf die Anweisung, wie er in seiner Heimat einen Schatz heben
könne.
Im 16. Buch des abenteuerlichen Simplicissimi, Kap. 15, wird
ein, dem letzteren überraschend ähnliches Abenteuer erzählt; freilich
sind es vier umgehende Seelen, die hier olein Simplicius mit allem
„Zugehör" erscheinen, „die ein Barbierer zu brauchen pfleget." Sie
reden auch von ihrer Erlösung, und schliesslich ist der Grund ihres
Banns ein anderer.
Aber doch sieht es aus, als habe Musäus grade diese Vorlage
benutzt. Einzelheiten lassen darauf schliessen. „Der ernte, so h in-
eintrat ^ war eine ansehnlu-he graritetische Person mit einem langen
weissen Barl, auf die untiquitetische Manier mit einem langen Talar
. . . Itekleidet." Musäus: ,,Da trat herein ein langer hagerer Mann
mit einem schwarzen Bart, in alter Tracht . . ., die Augenbrauen senkten
sich zu tiefem Ernst von der Stirn herab:' Weiterhin heisst es im
Simpl.: „salzten einen Stuhl in die Mitte des Zimmers und gaben mit
Wimken und Deuten zu /erstehen, dass ich mich aus dem Bette be-
geben etc. etc." Musäus: „rückte einen Stuhl zurechte und winkte mit
ernster Miene . . .'•
Entscheidend ist aber, dass auch das erste Abenteuer durch diese
Stelle angeregt sein kann. Schon einmal war unserm Simplex sein
jetziger Wirt begegnet, hatte ihn gruselig machen wollen, aber nur
Schläge davongetragen. Wie nun Simplicissimus rumoren hört meint
er: „so werden sie dich gcwi-sslich wieder karbatschen lassen, dass du
eine weile daran daurn hatten trirsf." Daraus dürfte der Prügel-
ritter konzipiert sein.
2
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— 18 -
Im Simplicissiraus lesen wir nicht, dass die Störung der Nacht-
ruhe von den Nachtgespenstern durch die Anweisung auf einen Schatz
aufgewogen worden sei. Dieser Zug deckt sich vielmehr mit einem
Abenteuer, das Abraham a Santa Clara in „Judas der Erzschelm" 1 )
überliefert, und das aller Wahrscheinlichkeit nach die Grundlage der
übrigen, die Abenteuer umrahmenden Erzählung bildet. Abraham erzählt
dort, dass ein Gesell zu Dotrecht in Holland durch Schlemmerei alles
verschwendet habe. Um seinen Gläubigern zu entgehen, hasste er wie
die Fledermaus den Tag, liess sich nicht sehen und verfiel in Melancholie.
Da träumt ihm von einem Manne, der ihn nach der Stadt Kempen wies;
dort werde er auf der Brücke einen Menschen antreffen, der ihm gewisse
Mittel, wieder reich zu werden, angeben könnte. Der Verarmte folgt
der Traumerscheinung und wartet einen ganzen Tag in Kempen auf der
Brücke. Schliesslich fragt ihn ein Bettler nach dem Grunde seines
Umherschlenderns. Und als der Bettler diesen hört, verspottet er ihn,
auch ihn hätte so ein Frauenbild einmal nach Dotrecht gewiesen, dort
einen Schatz zu graben. Und während er genau Ort und Stelle des
Schatzes angiebt, erkennt der andere, dass seines Vaters Garten ge-
meint sei, geht hin, gräbt nach und findet wahrhaftig, was er suchte.
So verarmt auch Franz bei Musäns und zieht sich von der Welt
zurück, und wie jener Verschwender bei Abraham, erlebt er ein gleiches
Abenteuer auf der Weserbrücke. Nur flieht Musäus in die Geschichte
seiner Verarmung eine Liebesgeschichte ein, die der ganzen Erzählung
den Namen giebt. Übrigens dürfte die Behandlung der Liebeserlebnisse
überhaupt auch in anderen Märchen unseres Dichters eigenste Erfin-
dung sein.
Ausser diesen grösseren und einflussreicheren Motiven lassen sich
eine Menge von kleineren Zügen nachweisen, die uns einen Dichter
zeigen, der fleissig im Volke sammelte und suchte. Da aber Musäus
auch stark belesen war, so haftete in soinem Gedächtnis noch manches,
was er niemals im Volke gehört hatte; manches sucht er sich aus
Geschichtsbüchern, Chroniken und Reisebeschreibungen zusammen, viel-
leicht mehr als aus den eignen Anmerkungen zu ersehen ist. Wir
wollen uns aber begnügen, nur die Elemente der Volksüberlieferung
aufzusuchen und die litterarischen Motive, die er in seine Märchen
aufnahm, bei Seite lasseR. Was nun jene betrifft, so sprach er die
Absicht aus, das Wunderbare noch wunderbarer aufzustützen ; das lässt
') Kürschner: D. N. L. (hg. v. Bobertag) S. 15 — 17.
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_ lö -
erwarten, dass wir die Elemente der Volksphantasie durchaus nicht
rein und unvermischt wiederfinden werden. Aus diesem Grunde
wünschte Ludw. Fr. Richter, Musäus möchte im Interesse der gelehrten
Sagenforschung weniger geistreich gewesen sein, um die Ursprüng-
lichkeit auch aller Einzelzüge erkennen zu lassen.
Wie schon erwähnt, gehören diese Einzelzüge den vier Gebieten
des Aberglaubens, der Legende, der Sage und des Märchens an.
Die meisten Spuren von Aberglauben sind weit verbreitetes Gemein-
gut: das Auslegen von Träumen (II, 136; II, 125; III, 113 etc.), das
reichlich zur Motivierung der Handlungen angewandt ist; das Alp-
drücken, das eine festere Gestalt in dem, von Libussas neidischen
Schwestern ausgesandten Würgengel gewonnen hat (II, 50); die Irr-
lichter, welche den Grafen von Gleichen in die Einöde locken (III, 80);
das unbetrügliche Sieb (II, 38) ; der Spuck bei Grabstätten, wie in dem
Märchen „Liebestreue" beim Monument des Grafen (III, 21, 22); das
Praegnostikon, wonacli vom Geburtsmonat auf den Charakter geschlossen
wird; so wie die Vorstellung (II, 129), das Weinen einer Braut sei
von übler Vorbedeutung (II, 99). Landesüblich in Thüringen sind die
Wetterprophezeiungen der Schäfer im Schatzgräber, „aus der Laune,
mit welcher Maria übers Gebirge gegangen war (III, 131), aus dem
heitern und trüben Adspect des Siebensch läfers und aus der Blüte des
Haidekrauts." Wenn es am 2. Jidi regnet, am Tage Mariä Heim-
suchung, dann regnets gleich 40 Tage um und um, und 7 Wochen,
wenn es am Siebenschläfer, dem 27..Iuni. regnet (III, 1 2 7 ). 1 ) Auch
das Jugendabenteuer der Schäfer, wie sie den grimmigen Wärwolf 2 )
durch den kräftigen Andreassegen weggescheueht haben (III, 129), ist
nur eine kleine Spur der alten „Sagen- und Zauberformeln", die sich
in Thüringen erhalten hatten. 3 ) Das Amulet oder Agnus dei gegen
Fräsch und Herzgespan (Richilde) (I, 20) erinnert an die thüringische
Volksmedizin. 4 )
Es sind nur winzige Züge, aber poetisch fein verwertet. Oft
verschwindet uns die Empfindung des Aberglaubens vor einer andern
tieferen, der er zum Ausdruck verhilft; also etwa, wenn Todesfälle
sich anmelden. Musäus kannte dafür den Ausdruck „es eignet sich. 1 '
*) Regel II, 2, 709. Thüringen. Jena 1895.
7 ) Grimm D. Myth. 620 ff.
s ) Regel Th TI, 2, 718. Aus: Segen und Zauberformeln gesamm.
in Thüringen.
4 ) Regel II, 2.
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Hier versinnlicht der Aberglaube nur die bange Ahnung. Jene Gräfin
von Hallermunde (Liebestreue), die ihrem Gemahl Treue bis über den
Tod hinaus geschworen hatte, wartet auf den Grafen; er ist fern im
Kriege und kehrt nicht zurück. Traurige Mienen sieht man überall,
alles hängt ängstlichen Gedanken nach, und die überreizten Sinne
warten förmlich auf Anzeichen. Da eignete es sich sogar am hellen
Tage: Der Trinkbecher des Grafen zersprang mit lautem Klirren ; der
Tod des Grafen war allen offenbar. Jutta vergisst nach langer Trauer-
zeit in den Armen ihres hübschen Knappen den Schwur der Treue;
die Hochzelt soll vor sich gehen, und der Brautzug wälzt sich der
Kapelle zu. ,,Abcr hoch auf dem Dache sass eine ächzende Weh-
klage/' l ) Dazu hört man das Geheul der Hunde und Eulengeschrei l )
„aus dem düstern Winkel eines alten Turmes." Oder man vergegen-
wärtige sich auch die Szene aus der 2. Rübezahllegende, in der das
schuldige Klärchen seinen Unglückstag herandäramern sieht; hier noch
schwarze Nacht, dort der erste blutrote Schein der Morgenröte, und
im Kämmerchen das erlöschende Lämpchen — das bange, beladene
Bewusstsein sieht nicht die „Rose guter Vorbedeutung.' 12 )
Den Aberglauben macht sich also der Dichter für poetische
Wirkungen zu nutze; dagegen hat die Heiligenlegende ihren sittlichen
Gehalt fast überall dem Humor opfern müssen. Die heiligen 11 000
Jungfrauen werden zum Vergleiche herangezogen, wenn Meta in ihrem
neuen Leibrock prangt (LI, 121). — Die Übermacht der Sarazenen
überwand den Grafen von Gleichen wie gemeiner Sage nach eine
Mäuserotte einen Erzbischof überwältigen können, davon der Mänse-
turm im Rhein, laut Hübnern, kundig Zeugnis giebt (III, 82). —
Der heilige Christoph (Stumme Liebe), der wegen seiner gigantesken
Natur alle Geschäfte mit seinen Pfleglingen nur vom Fenster aus
abmacht, muss den eitlen Wünschen eines protzigen Hopfenkönigs
dienen; aber Christoph führt ihn irre (II, 125). — Selbst das, mit
Behagen erzählte Wunder von den Rosen der heiligen Elisabeth be-
kommt seinen burlesken Abschluss. Elisabeth trägt unter der Schürze
den Armen Nahrungsmittel zu; der Gemahl, der es ihr verboten, herrscht
sie an, zu sagen, was sie da trage. Sie antwortet: „Rosen 1 '; und zu
ihrem Staunen haben sich die Gegenstände alle in Rosen verwandelt.
Der Landgraf schämt sich seines Verdachts und steckt zum Triumph
') Grimm. D. Myth. 3 , S. 1088.
*) Grimm. D. Myth. Aberglauben, No. 252. Brennt das Licht abends
Rosen, so kommt des andern Tages Geld oder sonst ein Glück.
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— 21 —
ihrer Unschuld eine Blüte an den Hut; „die Geschichte meldet aber
nicht, ob er den folgenden Tag eine verwelkte Rose oder eine Schlack-
wurst darauf fand." (IH, 77.) Diese Behandlung der Legende ist für
den Dichter charakteristisch.
Einflussreicher als Aberglaube und Heiligenlegende wurden für
die Erfindung Züge und Typen aus Sagen und Märchen. Eine Anzahl
von blossen Anspielungen: auf den Vogel Greif, den ewig laufenden
Juden, das Sandmännchen und die Siebenschläfer; eine Gestalt wie die
des Wachtmeister lieutenants (Entführg.), der sich fest machen, Geister
citieren kann und jeden Tag einen Freischuss hat, lassen eine ziemliche
Kenntnis erraten. Zuweilen sind Spuren in einem Satz zu erkennen:
„ich uriltere Menschen fleisch" (I, 23); „wer klopft, wer klojift an meinem
Hause?" (I, 72), zuweilen in einem einzigen Wort: Rübezahl zog seine
„Ehrkhsstrasse a l ) (I, 101). In diesen Ausdruck hat sich die ganze
thüringische Iringssage zusammengezogen.
Gehen wir nun zu den wichtigeren Elementen über, so wird sich
dabei manches über die Erfindung der Erzählungen ergänzen lassen.
Unter den Märchengestalten ist eine in Thüringen besonders be-
liebt: die Hexe mit den stehenden Attributen von Hässlichkeit und
einem unglaublich hohen Alter. Mit ihnen werden Katzen meistens
so in Verbindung gebracht, dass sich die Hexen selbst diese unheim-
liche Tiergestalt geben. 2 ) Musäus sagt: „das höchste Ideal der Schönheit
ist ein Weib und das höchste Ideal der Hässlichkeit ist auch ein
Weib" (I, 70). Bei seiner Neigung zur Karrikatur verwandte er bei-
nahe mehr Ausführlichkeit, das Ideal der Hässlichkeit im Weibe zu
schildern, und die Erscheinung einer Hexe war ihm in diesem Sinne
sehr willkommen. Drei Mal ist Hexen in seinen Märchen eine nicht
unwichtige Rolle zuerteilt, einmal in „Rolands Knappen" und zweimal
in „Ulrich mit dem Bühel" (in Erzählungen, denen wir keine bekannten
Seitenstücke nar-h weisen konnten). Jene leben alle drei im Walde,
haben für den blossen Anblick etwas Schaudererregendes, zeigen sich
aber durchgehends als Wohlthäter der Menschheit. Die Mutter Drude
in „Rolands Knappen" sieht dem gewöhnlichen Bilde am ähnlichsten.
Die Knappen stossen auf sie, als Roland gefallen war, und sie führerlos
') G. D.Myth.' 298. Widukind : Rerum Saxon. libritres lit. I, Kp.9— 13.
*) Emil Sommer: Sagen, Märehen und Gebräuche aus Sachs., aus
Thüringen. Halle 1896. S. 57.
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im Walde umherirrten. 1 ) Das Weib erscheint als lebendiges Skelett,
„ein Furchtgerippe", ein steinaltes Mütterchen im langen Talar, in der
Hand eine Mistelstaude; sie siedet sich einen Igel, um mit seinem
Fett ihre Pergamenthant zu salben, eine schwarze Katze ist der Ge-
selle ihrer hundertjährigen Einsamkeit. Zum Dank für die Aufnahme
sollen die warmblütigen Burschen das Lager mit ihr teilen. Das giebt
ihr wieder Lebenskraft auf lange Zeit.
Und nun mischt Musäus die Motive : auch die drei Wundergaben,
welche die Drude ihren Gästen beim Abschied überreicht, sind keine
Neuheiten. Das Märchen und das Volksbuch kennen: ein Tischchen
deck dich, einen unerschöpflichen Säckel und eine Tarnkappe. An
den „Säckel dos Fortunatus u erinnert Musäus selbst bei einer Seiner
Gaben, sonst an die Wunderflasche des heiligen Remigius und den
Ring des Gyges. Es ist aber zu beachten, wie seine, in einer be-
stimmten Richtung arbeitende Phantasie den Wert dieser Dinge herab-
setzt, um durch die Unscheinbarkeit der Geschenke einige niedliche
Episoden zu gewinnen. Die Wunderflasche wird ein Tellertuch, der
Säckel ein verrosteter Pfennig, die Tarnkappe oder der Ring des Gyges
ein Däumling, also ein Fetzen von einem Handschuh (I, 78 ff.). Das
gab zuerst grosse Enttäuschung und Schimpfen auf die Kargheit der
alten Vettel, dann die Neckerei des Vernünftigsten, der die Kraft seines
Däumlings entdeckte, und schliesslich die Freudenszenen, die sich bei
der Entdeckung der andern Wunder abspielen, besonders die leckere
Mahlzeit: ein Bild immer erfrischender als das andere. Vorher die
ärmsten Schlucker, haben sie jetzt die Mittel zu grossem Reichtum
und Einfluss in Händen, und Musäus macht es sich im weiteren Verlauf
zur Aufgabe, sie in ihrem neuen Zustand zu zeigen; wie sie nicht
einig bleiben können, wie sie hoch hinaufstreben und schliesslich in
die Falle einer, an Ränken ihnen weit überlegonen Königin Uracka
geraten.
Die beiden anderen Hexen, von denen die Rede war, erheben die
Erzählung von „Ulrich mit dem Bühel kt ins Reich der Wunder. Hier
hält eine unglückliche Frau bei einer Hexe im Walde ihr Wochenbett,
und das Geschenk, das ihr dieser Aufenthalt einbringt, ist eine Henne,
die goldene Eier legt. Sommers Sammlung (S. 63 ff.) enthält mehrere
') Einige Ähnlichkeit mit der Exposition hat das bei Sommer
S. 108 mitget. Märchen: das so beginnt: Ein Unteroffizier, ein Tambour
u. ein gemeiner Soldat wurden darüber einig, dass es besser sei, gut
essen und trinken, als sich im Kriege zum Krüppel schiessen zu lassen.
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Nachrichten von goldenen Gänsen oder Enten, die auf goldenen Eiern
brüten. Aber das Märchen schweigt im weitern Verlauf der Begeben-
heiten. Lukrezia, das damals im Walde geborene Kind, steht im
Mittelpunkt. Sie ist eine stolze Hofdame geworden, der es gefällt, ihre
Freier zu äffen. Ulrich mit dem Bühel verspricht sie spöttisch ihre
Hand für den Fall, dass er seines Buckels ledig werden könne. Betrübt
zieht er in die Welt, aber eine zanberkundige wälsche Gräfin macht
das Unmögliche möglich, und Lukrezia hält nun gern ihr Wort.
Aus einem einzigen Märchenmotiv scheint sich die umfangreiche Ge-
schichte vom Schatzgräber zu entwickeln: Es ist die Sage von der Spring-
wurzel. Sie besteht aus zwei Hauptmomenten, der Gewinnung und Verwer-
tung der Springwurzel. 1 ) Zum ersten gehört, dass man einem Grünspecht
das Nest mit einem Keil verschliesst; der weiss dann die Springwurzel
zu finden. Bringt er sie herbei, so muss man ihn mit Lärmen oder
einem roten Tuch erschrecken, dann lässt er sie fallen. Zum zweiten
Moment der Verwertung dieses „mythischen Schlüssels" gesellen sich
allerdings Schwierigkeiten. Will nämlich der Besitzer solcher Spring-
wurzel einen Schatz heben, so wird er durch Getöse, einen schwarzen
Hund mit feurigen Augen oder andere Erscheinungen in Furcht gesetzt.
Vor allein darf er nach der Hebung des Schatzes das Beste, die Wurzel
selber nicht vergessen, sonst beraubt er sich einer zweiten Gelegenheit,
Schätze zu heben. Von diesen Momenten nutzt Musäus nur das erste
einigermassen aus. Besonders originell ist die Art, wie der künftige
Schatzgräber, Peter Bloch, ein einsamer Trinker, hinter dem Ofen im
Wirtshaus sitzt und aus dem Munde alter Schäfer erlauscht, wo und
wie ein Schatz zu heben sei; ebenso die erste Probe, die Peter an
dem Geldschrank seiner Frau macht, eh' er sich heimlich auf die Reise
begiebt. Sonst legt Musäus wenig Gowicht auf das Motiv. Haupt-
sache war ihm, das Familienleben des heruntergekommenen Stadtkochs,
Peter Bloch, drastisch zu schildern, wie er von seiner Frau zu leiden
hat, demütig hinvegetiert, wie er Kinder erzieht, im Becher Trost
sucht und so tief sinkt, dass er das einzige Glück seines Daseins, die
geduldige und aufopferur.gsfähige Tochter verhandeln will; wie aber
schliesslich der gutmütige, schwache Mann die ganze Familie glücklich
macht.
') Vortrag v. Dr. Köhler: Zwei myth. Schlüssel und ein Compass.
Jahresber. des Voigtl. altert, forsch. Ver. zu Hohenelbe 5152. Gr.D. S.
I, 10 (mündl. v. einem Schäfer auf d. Kösterberg).
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»
Die Entführung (I, 167) beruht auf Berichten' von einem um-
gehenden Nonnengespenst, das sich in bestimmten Zeitabschnitten
unheimlich vernehmen lässt. 1 ) Wahrscheinlich hat unsern Dichter
Bürgers Lenore gelehrt, das Gespenst in ein grausiges Liebchen zu ver-
wandeln; die Schilderung ist gar zu ähnlich: kaum hat der Entführer
die als Nonne verkleidete, vermeintliche Braut in den Wagen gehoben,
so geht's fort „über Stock und Stein, Berg auf, Thal ein. Die Rosse
brausten und schnoben, schüttelten die Mähnen, wurden wild und ge-
horchten nicht mehr dem Stangen gebiss". Dann rollt mit jähem Ab-
sturz das Gefährt in die Tiefe.
Sagen sind nur zweimal Grundlage einer ganzen Erzählung, zur
Libussa und Melechsala. Als Episode greift die Erzählung von „Herzog
Heinrich mit dem Löwen" ein (HI, 83), der in einer Nacht vom
lybischen Gestade gen Braunschweig vom Teufel getragen wurde, um
grade noch zu verhindern, dass seine Gemahlin mit einem andern
Hochzeit hielt. Halb episodenhaft beeinflusst schon mehr den Gang
der Ereignisse die Erscheinung des Albertus Magnus (1,43). Denn,
wenn er der Richilde einen verhängnisvollen Spiegel schenkt, so ist
dies ein weiterwirkendes Moment, wenn aber bei dieser Gelegenheit
von seinen faustischen Kunststücken vor Kaiser Friedrich IL berichtet
wird, so ist dies nur ein Tribut, den der Dichter seiner Heimat zollt,
wo Albert eine beliebte Sagengestalt ist. 3 ) Manchmal liegen die Sagen-
motive thüringischen Ursprungs ziemlich versteckt. Wenn Mathilde
(Nymphe des Br.) beschuldigt wird, sie ermorde, um die Liebe ihres
Mannes und die eigne Schönheit zu erhalten, die eignen Kinder mit
einer Demantnadel, so erinnert dies an die scheussliche That der Gräfin
von Orlamünde, die einem Burggrafen von Nürnberg zu liebe ihre
Kinder aus erster Ehe mit Nadeln umbringt. 3 ) In der Richilde heisst
es von Gottfried von Ardenne, dem Sohne Teutcbalds des Wüterichs,
dass er in den Flammen des Fegefeuers wohl gepeinigt ward, seiner
Frau dreimal im Schlaf erschien und bat, sie mochte ihn mit der
') Aug. Wit/sehel. Sagen aus Thüringen, Wien 1888, (T. I.S.III,
T. II, 92, D. gebannte Nonne in Mildenfurt); vgl. darin: Orts- und
Volkssagen No. 106 Das Lindingsfräulein mit dem rasselnden Schlüssel-
bund. Bechstein (Thüring. Sagen II) hörte etwas Ähnliches in Ohrdruf.
Regel II, 2, S. 754.
•') Grimm. D. S. II, S. 170.
s ) A. Witzsehel. S. aus Thür. Unter: Gesch. Sager». I, S. 46 ff.:
1) wie es der Seele des Landgrafen erging; 2) eine andere Sage von
Ludwigs Seelenpein.
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heiligen Kirche aussöhnen. Der Sohn unternimmt behufs dessen
eine Pilgerfahrt (I, 04). So weiss auch der Thüringer zu erzählen 1 ),
wie fürchterlich ein Landgraf Ludwig und ein Landgraf Hermann
haben in der Hölle schmoren müssen, und wie sehr die frommen Söhne,
Ludwig der Milde und Ludwig der Fromme, benachrichtigt von diesem
Leiden, sich um das Seelenheil ihrer Väter bemühten.
Trotz dem überwiegend Märchenhaften in den Motiven der Be-
gebenheiten waltet bei Musäus in der Behandhing derselben eine
entschiedene Tendenz zur Sage vor von Anfang bis zu Ende. Für das
Märchen giebt es keine Grenzen in Raum und Zeit, aber gerade diese
Grenzen sucht der Dichter fest zu stecken. Überraschend wird nur
in der ersten, vielleicht der märchenähnlichsten Erzählung am Schluss
der historische Zusammenhang hergestellt. Albert der Bär kauft As-
kanien und gründet Bernburg. Edgar der Aar baut Aarburg an der
Aar; und nach Ufo dem Delphin nennt sich das Delphinat (I, 42).
Damit ist das Land der Wunder aufgegeben. Das Schicksal der
Knappen Rolands nimmt seinen Ausgang von der unglücklichen Schlacht
bei Ronceval; das Schicksal Friedbert des Schwaben (d. geraubte Schi.)
von der Schlacht bei Lucka, in der Markgraf Friedrieh mit dem Biss
über Kaiser Albrecht siegte. So werden durch eine Schlacht, einen
Reichstag, ein Fest, durch historisch bekannte Personen die Leser
stets an wirklich Geschehenes erinnert, und wo es an einer solchen
Stütze mangelt, wie in den meisten Rübezahl legenden, da verbürgt der
Erzähler durch genaue Ortsangabe die Treue seines Berichts. Die
meisten Erzählungen beginnen mit örtlicher Orientierung. Nur selten
schweift der Dichter in ferne Lande (Melechsala, der geraubte Schleier,
Rolands Knappen), und auch in solchen Fällen wird der Zusammenhang
mit deutschem Boden nicht aufgegeben. In Deutschland selbst ziehen
sich die Kreise möglichst eng um Thüringen. Das Voigtland, Fichtel-
gebirge, der Harz, die Gegend zwischen Weser und Leine ist dem
Dichter noch heimatlich; etwas südlicher schweifend betritt die Er-
zählung Rotenburg an der Tauber, Dinkelshühl in Sehwaben und Bamberg,
greift nach Meissen (Zwickau) und Schlesien hinüber und berührt auch
entferntere Gegenden, Bremen, Pommern etc. Sie umfasst zwar mit
Libussa, Dämon Amor und der fünften Legende von Rübezahl den
grossen Zeitraum vom dunkelsten Heidentum bis zum aufgeklärten
Zeitalter Voltaires und sucht nicht nur durch direkte Zeit- und Orts-
') A. Witzschel. S. aus Thür. Unter: Gesch. Sagen. 1, S. 53: D.
Landgr. Hennann im Fegefeuer.
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angaben, sondern auch durch Kostüm, Speisen, Gebräuche etc. das
8. Jahrh. etwa und die jüngere Zeit zu differenzieren, bewegt sich
aber doch mit ihren historischen Bildern am liebsten in den Anschauungen,
welche das 18. Jahrhundert sich von dem sogenannten „schwäbischen
Zeitpunkt" machte. Darin stehen die Märchen im engen Zusammen-
hang mit dem Ritterdrama und Ritterroman, und so konnte sich Lands-
knecht8raässige8, Ritterliches und die Romantik des Eremiten in einer
Gestalt (dem Schwaben Friedbert im geraubten Schi.) vereinigen. Immer
ist der Blick rückwärts auf Vergangenes gerichtet und in vielen Er-
zählungen lebt eine Zeit wieder auf, von deren kernigem und thaten-
frohem Leben das Zeitalter des Zopfes sich idealische Vorstellungen
machte.
Den Elementen der Composition entsprechend tragen auch die
Formen der Composition manchen Zng vom Charakter der
Märchen- und Sagenüberlieferung. Den längeren Volksmärchen wie
auch anderen Volkserzählungen ist es vielfach eigen, dass sie einen
Helden auf Abenteuer ausschicken oder dass sie, allgemein gesagt,
an eine Person eine Anzahl von Geschichtehen anreihen. Diese ein-
fache Technik begegnet sich mit der Erzählnngsmethode, die Musäus
in seinen Romanen beobachtet hatte, und äussert sich auch hier in
den Volksmärchen durch drei Formen: die Einschachtelung, die Drei-
teilung und die Rahmenerzählung.
1. Einschachtelung. Der Darsteller bekümmert sich einen
Augenblick nicht um den Gang und das Ziel der Hauptbegebenheiten
und schweift auf andere Dinge ab. So sind zu Anfang der dritten
Rübezahllegende, um einen an die Spitze gestellten Satz zu demon-
strieren, knapp wie das frühere Rübezahlbücher thaten, eine Anzahl
Anekdoten der Haupthistorie vorausgeschickt. In Melechsala nimmt
der Landgraf Ludwig an dem eigentlichen Vorgang keinen Anteil;
dennoch war er zu erwähnen, und dies genügte, umständlich seine
Gesinnung und sein Verhältnis zur Gemahlin durch die breit aus-
gesponnene Legende von den Rosen zu illustrieren. Ähnlich spielt
nachher die Sage von Herzog Heinrich hinein. Solche Stücke wären
leicht abzulösen.
2. Dreiteilung. Geschichtchen in der Geschichte zu bilden
und doch streng bei der Handlung zu bleiben, ermöglichte sich Musäus
durch eine Märchentechnik, die wir kurz das Prinzip der Dreiteilung
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nennen wollen. Wir sehen es in einer Reihe der ersten Märchen zur
Anwendung gebracht. In den „drei Schwestern" knüpfen sich an die
Dreizahl der Schwestern 3 Abenteuer ihres Vaters im Walde, 3 Ent-
führungen, 3 Besuche des Bruders Reinald; als Rest bleibt nur die
Lösung des Zauberbannes. 1 ) Die Einteilung der Richilde wird durch
die dreimalige Wiederholung des „Sprüchleins":
Spiegel blink, Spiegel blank etc.
gekennzeichnet. Am meisten ausgebeutet ist das Dispositionsmittel in
Rolands Knappen: 3 Knappen verlangen 3 Geschenke der Waldfrau,
dreifache Begebenheiten und Abenteuer auf dem Wege und bei Hofe,
eine dreifache Buhlschaft der Königin Uracka und dreimal eine Über-
tölpelung der dummen Kerle. Ähnlich wirkt noch im 2. Teile der
Bisaraapfel, an den sich drei Wünsche knüpfen.
3. Rahmenerzählung. Kunstvoller gestaltete dieses Verfahren,
Gest-Ii ich tchen in der Geschichte zu erzählen, eine Art Rahmenerzählung
„Stumme Liebe", nur in einem anderen Sinn als man mit den Rahmen-
erzählungen des Decamerone und der orientalischen Märchen verbindet
Jene beiden schon oben erörterten Abenteuer, jedes eine wohlabgerundete
Erzählung für sich, sind der Haupthandlung so symmetrisch ein-
gegliedert, dass der ersten Hälfte der Erzählung das eine, der zweiten
das andere angehört, dass der Held auf seiner Reise nach Antwerpen
das eine, auf seiner Rückkehr das andere erlebt. Aber beide Ereignisse
könnten für sich bestehen und wiederum unbeschadet des Ganzen
entfernt werden. Ganz Jose ist nur das 2. Abenteuer mit dem Fort-
gang der Haupterzählung verflochten.
Als Musäus seinen ersten Roman zum ., deutschen Grandison"
umarbeitete, schrieb er zur Hauptgeschichte eine Vorgeschichte
hierzu und zeigte darin, wie sein Held bereits durch die Robinsonaden
zum Narren geworden war. Diese Methode nun, die eigentliche Er-
zählung um eine Vorgeschichte zu erweitern, behielt der Dichter jetzt
bei und wandte sie auf die Volksmärchen an. Es empfahl sich, in
der Vorgeschichte die Hauptperson noch zurücktreten zu lassen und
wie in Biographien mit den Eltern anzuheben; dann liess sich dort
vielleicht schon das treibende märchenhafte Element hineinmischen
') Die Zahl 3 und 7 sind im Märchen wohl am meisten sanktioniert:
vgl. die 7 Zwerge (Schneewittchen); die 7 Raben; die 7 jungen Geislein
und die vielen Griinm'schen Märchen, die schon in der Uebcrschrift die
Zahl „3" tragen. In den 3 Schwestern ist der erste Prinz 7 Tage, der
zweite 7 Wochen, der dritte 7 Monate dem Zauber unterworfen.
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und ein Zusammenhang zwischen Haupt- und Vorgeschichte war her-
gestellt.
Schon die 2. Geschichte zeigt einen ziemlich breit angelegten
Unterbau. Hier werden wir teils durch die Eltern, teils durch Albertus
Magnus beschäftigt; das Märchenelement ist der Zauberspiegel.
Die Nymphe des Brunnens tritt nur im ersten Teil der Erzählung
dieses Namens auf und mit ihr verschwinden eine Reihe von Personen,
die uns alle lebhaft interessieren. Mit Mathildens Wanderschaft be-
ginnt eine völlig neue Geschichte, aber das Geschenk der Fee, der
Bisamapfel, wirkt weiter.
Die Vorgeschichte zum geraubten Schleier ist in den Mund des
Einsiedlers gelegt: die Geschichte seiner Liebe zu einer Fürstin Zoe.
Auch sie giebt durch den Hinweis auf den Schleierraub dem Verlauf
der Erzählung den Weg an.
Ebenso geht in Ulrich mit dem Bühel dem Hauptinhalt, der
Lukrezia zum Mittelpunkte hat, das Schicksal ihrer Mutter voraus und
jenes Abenteuer im Walde, das sie in den Besitz der Wunderhenne
bringt.
Die Libussa lässt uns aus deutlichen Symptomen erkennen, dass
der Dichter diese Art Unterbau durchaus nicht aus seinen Vorbildern
entnahm, sondern seinem eignen Fabulieren verdankte.
Überhaupt ermöglicht uns die Erzählung Libussa am besten durch
einen Vergleich mit ihren fest bestimmten Vorlagen, der Eigentüm-
lichkeit und künstlerischen Absicht des Musäus auf die Spur zu kommen.
Excurs: Vergleiche der Libussa mit ihren Quellen.
Der ausgesprochene litterarische Zweck der Volksmärchen strebt
freilich grade in der Libussa auf einem andern Wege nach seiner Ver-
wirklichung als in den übrigen Märchen. In den übrigen verbirgt sich
eine ernste Lebensmeinung überwiegen« l hinter fröhlichen Gestalton und
oft komischen Situationen, hier spricht der Optimismus des Verfassers
in den ernsten Tönen der Weissagung und sittlichen Erhebung. Aber
hier wie dort zeigt Musäus als oberstes Prinzip, das heisst als sein
innigstes Interesse, die Gestalten der Sagen und Märchen, die fast
entmenschlichten, wieder wie Menschen, die dem modernen Verständnis
zugänglich sind, sprechen und handeln zu lassen.
Jede Seite der Schriften von Musäus bekundet den engsten
Zusammenhang mit der Tageslektürc, und weil die Volksmärchen un-
verkennbar den Einfluss der modernsten, volkstümlichen Bestrebungen
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auf dem Gebiete der Lyrik verraten, wie die Stilbetrachtung ergeben
wird, so darf man wohl die erste Anregung zur Li hussa dem, in
Herders Volksliedern 1778 veröffentlichten Gedicht: „die Ffirstentafcl"
zuschreiben. 1 ) Schon die 1. Erzählung von Musäus, die 1782 er-
schien, knüpfte das Schicksal des Zauberers Zornebock an die Fürstin
Libussa aus dem Feengeschlecht Herder arbeitete nach einem anderen
Werke*) als Musäus, aber der Charakter seines Gedichtes scheint
nachhaltig auf das Volksmärchen gewirkt zu haben. Musäus benutzte:
Job. Dubravii Historia Bohemica und Aenea Sylvii Cardinalis de
Bohemorum origine ac gestis Historia, das zweite Werk aber nur zu
winzigen Ergänzungen oder Änderungen, wie z. B. diese, dass er ffir
die Tetcha des Dubravius den Namen Therba ans Aen. Sylv. einsetzte.
Musäus gab selbst in 3 Anmerkungen Proben der lateinischen Vor-
lagen; sie sollten die quellenmässige Treue seiner Erzählung besiegeln,
eine Autorenschlauheit, der man nicht allzusehr trauen darf.
Schon Dubravius scheint sich gesagt zu haben, dass man einen
Mythos nicht im trocknen Ton der Historie erzählen dürfe. Einen
poetischen Schimmer verleiht er der Erzählung durch den rhetorischen
Schwung in den Reden seiner Figuren. Der Stil weist Reminiszenzen
auf aus der klassischen Lektüre. Nur wenn hier und da ein Sprich-
wort, eine Parabel, eine Prophezeiung vorkommt, stammt sie wahr-
scheinlich aus älteren böhmischen Poesien.
Die Komposition bei Dubravius ist die denkbar einfachste: die
Reihenfolge der Oberhäupter im Böhmenreich gieht die Einteilung an,
jeder Teil könnte für sich bestehen, nirgends verschwindet ein Ereignis,
das später wieder auftaucht und l>eendet sein will.
Die Besiedlung Böhmens durch den ,,Croaten u Creehius und die
Herrschaft des Crocus bildet den Inhalt der beiden ersten Teile. Sie
schildern:
I. Die Einsamkeit des Landes, das mehr von Viehherden als von
Menschen beherrscht war,
die friedliche Besitzergreifung; dann aber als Crechius starb und
ein Status popularis versucht wurde:
die einreissende Anarchie, das varium et miitabile vulgus.
') Herder (Suphan). 25. S. 452—458.
*) Wcntzeslai Hagek a Liboczau. Annales Bohemorum ft bohemica
editione latini redditi et notis illnstrati etc. Fid. P. Gelasius a S. Cha-
terina 1763.
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IL Die einmütige Wahl des Crocus verhütet den Verfall. Seine
Tugenden und seine Sehergabe haben auf ihn aufmerksam gemacht. —
Trotz grosser Uneigennützigkeit ist er der reichste. Er herrschte nach
den Sitten und der Gewohnheit des Volkes, niemals absolut (ex suo
arbitrio). Ein Tribunal wird von ihm eingesetzt; nicht er, das Volk
scheint Richter (magis aliquante transactio popularis, quam iudiciura
videbatur).
Der Ruf des Crocus dringt weit, und sogar Polen laden ihn ein,
ihre Verhältnisse zu ordnen. Bei dieser Thätigkeit stirbt er. Der
Name Krakau ehrt sein Andenken.
III. Die Geschichte der Libussa:
1.
Die Einleitung enthält 1) ihre und ihrer Schwestern Charakteristik
als fatidicae vel magae potius; 2) die Walü der Libussa und ihre Be-
gründimg; sie sei freigebiger, ihre Weissagung weniger trügerisch und
vor allem unentgeltlich gewesen.
2.
Das Gericht: Ohne sich weiter auf die Regierung der Libussa
einzidassen, erzählt Dubravius sofort die Einzelhamllung-, welche die
Stellung der Fürstin wankend macht: ihre schiedsrichterliche Ent-
scheidung. Im Streite zwischen einem Reichen und einem Geringen
urteilt Libussa zu Ungunsten des ersten. (Ditior condemnatus est
Non tenuit is infra dentium Septem iracundiae vocem.) Der Beleidigte
schilt die Weiberherrschaft etwas Schimpfliches, das Weib gehöre an
den Spinnrocken. Libussa beruft sich auf die Wahl des Volkes und
auf die fleckenlose Geschichte ihrer Regierung. Damit kann sie nicht
verhindern, dass ihr Feind durch Umtriebe eine starke Gegenpartei
ins Leben ruft. Die Ifürstin empfängt die Unzufriedenen auf ihrer
Burg und verteidigt sich beweglicher und wortreicher mit denselben
schon vorher angeführten Gründon. Darauf der Hohn des feindlichen
Führers: Die Kuh verlasse ungern die heiteren Weideplätze. Libussas
Fabel von den Tauben, die sich den Habicht zum Oberhaupt gewählt,
und schwer hatten büssen müssen, wirkt nicht Sie bittet schliesslich,
die Entscheidung den Göttern anheim zu stellen.
Der Götterspruoh : Am nächsten Morgen verkündigte sie den
Götterspruch: Ihnen sei ein Fürst, ihr ein Gemahl bestimmt, mit
Namen Primislav; 10 Boten sollten, von Libussas weissem Rosa ge-
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fuhrt, ihn aufsuchen und das Ross würde vor einem Pfluger Halt
machen, der an eisernem Tische speise.
Primislav: Primislav hält grade Mahlzeit auf seiner Pflugschar,
als die Gesandtschaft eintrifft. Auf das Gebot löst er die fleckenlosen
Stiere ab, die in zarte Luft zerfliessen, und stösst den Stab in die
Erde. Plötzlich grünt der Stab aus 3 Sprossen, und zwei verdorren
auf der Stelle. „Hättet Ihr mich doch erst zur Mehrung des Reiches
das Feld umpflügen lassen" ruft Primislav geheimnisvoll.
Auf dem Ritt verlangt er nach seinem Mantel und den hölzernen
Schuhen, den Denk- und Ehrenzeichen seines Gesclüechts, und erklärt
das Wunder des Stabes: Von 3 Söhnen seines Bluts würden 2 sterben,
der dritte das Geschlecht fortführen.
Nach der Vermählung hat Libussa immer noch die Zügel der
Regierung in Händen. Ihre letzte That ist die Gründung Prags.
Herders Gedicht im fünffüssigen Trochäen vers, das mit der Gerichts-
scene einsetzt und mit einer persönlichen Klage schliesst, unterscheidet
sich in den Hanptstücken und in der Anordnung der Begebenheiten
von der vorangestellten Erzählung fast gar nicht, aber den mythisch
heiligen Charakter der Libussa, die hier viel einsamer zwischen den
Menschen und den Göttern steht, steigert der fremdartig anmutende
Vortrag, der den Charakter slavischer Dichtung wiedergeben soll:
„Wer ist jene, die auf grüner Heide
„Sitzt in Mitte von 12 edeln Herren?
„Ist Libussa, ist des weisen Kroko
„Weise Tochter, Böhmenlandes Fürstin.
„Sitzet zu Gericht und sinnt und sitzet."
Der geheimnisvolle Anfang und auch der weitere Verlauf, wenn
die Göttin Klimba der Libussa „öffnet Reithes Zukunft" und ihr zuruft:
„eile, Tochter, Schicksalsstunde eilet", zeigt schon in der Sprache
etwas Starres, Ceremonielles durch ungebräuchliche Unterdrückung des
Pronomens oder Artikels, wie durch formelhafte Wiederholung der
Worte, Wendungen und Reden.
Weiler die Heilige noch die Zauberin interessierte Musäns in dem
Masse, dass er sie zur Heldin der Haupterzählung gemacht hätte.
Obwohl auch seine Libussa Züge von beiden trägt, ist sie doch in
erster Linie ganz ein menschlich fühlendes Weib, mit der Besonderheit,
dass sie auf stolzer Höhe, bescheiden einer stillen Liebe nachhängt,
deren Gegenstand in Niedrigkeit verborgen lebt. Dieses Liebesverhältnis
wurde das orste für die Umgestaltung der Compositum wesentliche Prinzip.
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Was hatte in der Überlieferung Libussa mit Primislav zu schaffen?
Ein Götterspruch führt sie zusammen; der eiserne Tisch und das
Geheimnisvolle verdrängte dort das Interesse an den Menschen. Musäus
legte lange vor dem Götterausspruch die Entscheidung in die Brust
des Weihes. Darum gehörte nach ihm die Erscheinung des Primislav an
den Anfang der Geschichte. Er zeigte den Primislav in seiner unver-
schuldeten Niedrigkeit, gab ihm einen kühnen, aber kindlichen und
gehorsamen Sinn und liess ihn der Lihussa so geschickt begegnen,
dass dabei zugleich auch Libussas erste That bekannt wird.
Diese Vorbereitung und Verfeinerung des Schicksalsspruches war
für eine dichterische Phantasie mindestens einfacher als die neue
psychologische Grundlage, die Musäus dem Konflikt gab. Bei Dubravius
wird der Konflikt durch einen reichen und darum mächtigeren Mann
heraufbeschworen, weil seine Willkür durch Libussas Gerechtigkeit
gebunden wurde. Jene folgenschwere Gerichtsszene nahm auch Musäus
an, aber sie bildet nur ein mittleres Glied in einer Kette von Motiven:
Zwei Herren trifft der Vorwurf der Gewalttätigkeit, den vornehmen
Magnaten Wladomir und den Ritter Mizisla. Der gerichtlichen Ent-
scheidung türmen sich schwere Bedenken entgegen. Einmal sind die
Frevler in so hohem Ansehen, dass die ohnmächtigen Kläger nur in
Parabeln ihren Vorwurf anzubringen wagen. Vor allem aber ist die
Richterin selbst den Beschuldigten verpflichtet. Sie soll über die
urteilen, die früher bei Gefahr ihres Lebens die furchtsame Menge
zur Wahl der Libussa begeisterten, die sie unentwegt mit ihrer Liebe
umwarben und erst, enttäuscht und geärgert durch Libussas ablehnendes
Verhalten, in einem wilden Leben Vergessenheit suchten. —
Die Entscheidung selbst ist bedeutend interessanter als das blosse:
,ditior conderanatus est'. Libussa befiehlt ihnen, durch einen ritter-
lichen Krieg gegen den unholden Fürsten der Sorben, Zornebock, ihre
Gnade wiederzugewinnen. War manchmal in der Rolle abgewiesener
Liebhaber Gelegenheit gegeben, über die beiden zu lächeln, so zeigt
sich hier, wie hübsch Licht und Schatten verteilt sind ; denn nun sind
jene wieder ganz böhmische Helden, die „durch die Geschwader wie
Sturm und Wirbelwind dahinflogen". Aber das Gedicht ist auch noch
nicht letzte Ursache des Konfliktes. Erst als Libussa die sieggekrönten
Liebhaber noch immer nicht erhört, ja ihrer sogar durch einen Zank-
apfel zu spotten scheint, da „traten sie miteinander in Verein zu Trutz
und Schutz und machten sich einen Anhang im Lande'. Die Auf-
ständischen verlangen, sie solle sich einen Gemahl wählen.
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Nim erscheint am Ende der Erzählung der göttliche Befehl als
eine List, die nur darum ganz frei von aller Frivolität ist, weil Libussa
dem Frieden des Volkes zu liebe ihr Herz längst zum Schweigen
gezwungen hatte und jetzt nur klug einem, von Trotz eingegebenen
Verlangen begegnete.
Die Vorgeschichte zu diesen Ereignissen knüpft sich natürlich
an die Person des Crocus, an den Vater der Libussa. Aber charakte-
ristisch ist, wie wenig Musäus sich mit den bei Dubravius überlieferten
Thatsachen begnügt. Er erfindet schon dem Crocus eine Liebesgeschichte
so ausführlich, so wenig Skizze, dass man hinter dieser Geschichte
kaum noch etwas Neues erwartet. In der That hat ein Schriftsteller
unserer Tage, anknüpfend an ein Bild Moritz von Schwinds, das Crocus
und seine geliebte Fee am Eichbaurae darstellt, diese Vorgeschichte
allein zur Grundlage eines Gedichtes gemacht. 1 )
Musäus entging nicht der Gefahr, manches aus der Haupthandlung
vorwegzunehmen. Hier wie dort geniesst ein einfacher Mensch die
Gunst eines höher begabten Weibes und gelangt durch seine Liebe
ans dienender Stellung zur Herrschaft. Und nicht nur finden wir in
der Libussa manchen Zug ihrer Mutter wieder, auch Crocus und der
Günstling der Libussa, die doch nichts mit einander gemein haben,
ähneln sich in vielen Stücken. Crocus rettet den Baum seiner Fee,
Primislav leistet der Libussa auf der Jagd entschlossene Hülfe. Crocus
ist der bescheidene Mann, der Ruhm und Reichtum für Minneglück
zurückweist; auch Primislav verzichtet auf Thaten und geht wieder
dem Pfluge nach. Beide erhalten die Gabe der Weissagung. Auch
erscheint manches Wort über die Regierung der Libussa wie ein leises
Echo aus den Zeiten des Crocus. Die Vorgeschichte ist eng mit der
Hauptgeschichte verflochten: denn Libussa und Primislav begegnen,
sich, lange bevor wir von Crocus Abschied nehmen.
Die Sprache der Volksmärehen.
Ein Zusammenhang, wie er sich in der Composition zwischen
den früheren Hauptwerken des Musäus und den Volksmärchen fand,
wird sich auch, was den Stil der Sprache anbetrifft, leicht nachweisen
lassen. Wir wissen aber aus dem Stande deutscher Märchenlitteratnr,
') Sehorcrs Familienblatt Jlng. IV, 88/89, Hft. 3 S, 142: „Die Elfen-
eiche* von Wilh. Röscler.
3
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^ u ~*
dass Mu8äus sich erst den geeigneten Stil finden sollte. Er toraühte sich
darum. Das Resultat war ein künstliches Sprachprodukt. In erster
Linie werden wir erwarten, dass er eine möglichst märchenhafte Sprache
reden müsste, und die erste Zeile der Volksmärchen scheint dies zu
bestätigen: „Ein reicher, reicher (h'af vergeudete sein Gut und Habe."
Kann man mehr Eigentümlickeiten der Märchensprache in einen so
kurzen Satz zusammendrängen? Das Märchen liebt die Unbestimmtheit
der Person, daher: ein Graf; es stellt gern grossartig dar, daher: ein
reicher, reicher Graf; gern formelhaft und poetisch, daher: Gut und
Habe. — Abgesehen nun von dem Ausserlichsten, den Reimen im
Prosatext, ist die Märchen spräche des Musäus von vielen andern echten
Elementen durchsetzt, aber sie ist nicht schlicht genug, sondern ein
Conglomerat verschiedener Stilarten, die, wie sich ergeben wird, einander
beeinträchtigen. Dem Titel „Volksmärchen" jedoch entspricht es ganz,
wenn unter diesen Stilarten das Volkstümliche, dem Märchenhaften,
wenn das Poetischo, der Tendenz zur Sage, wenn das Altertümliche
vorherrscht. Oft sind diese Elemente rein zu geniessen, sehr oft dienen
sie alle nur dem Humor, vielfach decken sie sich gegenseitig; denn
poetisch, volkstümlich und altertümlich zu schreiben, war grade in
den 70er und 80 er Jahren des vorigen Jahrhunderts, für viele ein und
dasselbe.
Das Altertümliche.
Bei Beurteilung des Altertümlichen im Stil des Musäus muss
man sich an die Originalangaben der Volksmärchen halten. Will man
einen archaisierenden Schriftsteller, der selbst schon archaisch geworden
ist, herausgeben, so darf man allenfalls das modernisieren, was vom
Dichter selbst nicht archaisch gemeint war, aber nicht, wie z. B. in
der Hempelschen Ausgabe (Hcmpel V. M. III, 91) zu lesen ist,
Geschlechtsgliederung für Gesohlechtsklittenmg (II, 43) einsetzen, l ) für
ein Wort, das mit andern Zeugnis ablegt, wie gern sich Musäus der
Ausdrücke des 16. Jahrhunderts bediente. Dagegen gehörten folgende
Einzelheiten, wenn sie auch hin und wieder schon im Kampfe mit
neuen Bildungen begriffen sind, durchaus noch der Zeitsprache an:
') Vergl. auch endlich oder ende lieh. Hempel I, 80.
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Worte mit älterem Lautstand: Reuter, Heuraten, Dreistigkeit;
Gebürge, wurklich; ungenüssbar. Sammlen; Canzelleyen. Küehen-
zeddel. Mädgen, Gässgen (mehr orthographisch).
In der Flexion liebt Musäus vor allem vollere Formen als heute
gebräuchlich sind: setzet, stellet, leget. Dann hat er die alten Praeterita:
Stund, verdung, und die im 17. Jahrhundert durchgehends ge-
bräuchlichsten: riefe, sähe usw.; proraiscue sind mit diesen die
moderneren Formen: stand, rief, sah usw. im Gebrauch. — Beim
Zahlwort finden sich nach den Geschlechtern unterschieden: zwene,
zwo, zwei.
Von syntaktischen Abweichungen fallen zwei Constructionen auf:
heissen (= befehlen) und liebkosen mit dem Dativ „hiess ihr an-
schüren"; „sie liebkoste ihm". Liebkosen steht auch mit dem Accusativ.
Was die Wortwahl anbetrifft, so sind namentlich eine Anzahl von
häufig wiederkehrenden Adverbien und Conjunctionen zwar noch zeit-
gemäss, aber doch schon in der Anwendung beschränkt: anoch,
fürohin, sintemal, weiland. So bemerkt Adelung in seinem Lexikon
(1780) IV, 48G, zu „Sintemal": ,,In der edleren Schreibart des Hoch'
deutschen ist es veraltet, als welche es gern den Canzelleyen Überlässet,
wo man die Wörter und Parti Icein nicht rielMlbig genug bekommen
und daher wohl gar ein sintemal und alldieweil zusammensetzt"
Wer damals archaisieren wollte, fand vielseitige Anregung und
Schulung. Seit Bodmer 1 ) bemühte man sich, Werke der mlid. Zeit
einem weiteren Kreise verständlich zu machen; die Genossen des
Hains übten sich namentlich, die Töne des Minnesangs zu treffen.
Gleichzeitig mit Bodmers Veröffentlichungen (1757) begann Gottscheds
„Nötiger Vorrat zur deutschen dramatischen Dichtkunst" zu erscheinen,
und gewohnte das Ohr an die Sprache einer vergangenen Zeit. Das
10. Jahrhundert fing an, das litterarische Interesse zu beschäftigen.
Die Fabeldichter hielten sieh zwar zuerst allein an die Stoffe, ohne
sich von der Sprache beeinflussen zu lassen. Zachariä versprach
dagegen wenigstens etwas mehr, wenn er „Fabeln in Burkhard Waldis
Manier" herausgab. Aber Altertümliches findet man noch wenig auch
bei ihm. Dagegen arbeiteten für die Erschliessung des IG. Jahrhunderts
im grösseren Masssfcibc Zeitschriften wie: der teutsche Merkur und
mehr noch das deutsche Museum. Für einen weiteren, weniger an-
') Bodmer: 1757. Das Nibelungenlied.
w 1758. Sammlung von Minnesängern.
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spruchsvollen Leserkreis sorgte auch in diesem Sinne Reichards
Bibliothek der Romane mit ihren Fragmenten aus alten Volksromanen
und Volksbüchern, die sich durch ihren alter tümelnden Ton empfahlen.
Die Vorkämpfer aber der neuen Zeit unterstützten durch die archai-
sierende Redeweise den Ausdruck ihrer Kraft und Begeisterung. Goethe
wurde der Wiedererwecker des Hans Sachs; und Herder, dem bei
diesem Streben die Krone gebührt, schrieb damals „Über den Geist
der hebräischen Poesie" und „Über die Ähnlichkeit der mittleren
englischen und deutschen Dichtkunst"; zündender wirkten aber seine
Volkslieder, in deren Vorrede er das Symbol dieser Ideen: „die alte
Chronik", den Lesern nahe legte.
Von allen den Werken, welche hervorgeholt, erneuert nach-
geahmt und sprachlich ausgenutzt wurden, hat keins eine solche Be-
deutung erlangt, wie die schon immer wirksame Bibelübersetzung'
Luthers. Durch die Luthersprache haben denn auch die Volksmärchen
vorzugsweise ihr altertümliches Gepräge erhalten.
Zunächst erinnern uns eine Anzahl oft vereinzelter, oft wieder-
kehrender Ausdrucke, Wörter und Wendungen an die Bibel: Klein-
mütig, allzumal, eitel (Tand und Thorheit), Schnur, Wittib, Speise-
meister, holdselige Jungfrau, verziehen (= warten lassen), Heulen
und Zähneklappen, Splitterrichter; die alttestamentliche Anrede:
„Lieber"; länger Wendungen, wie z. B.: „Im Schweisse deines
Angesichts sollst du dein Brot gewinnen" (II, 91). vgl. 1. Mos. 3, 19.
. . . „verhüllte sie ihr Gesicht und weinte bitterlich" (II, 4. I, 2f>).
vgl. Matth. 2C, 75. „Weils ihm an Öl gebrach" (I, 125). vgl. Ev.
Joh. II, 3. „Gürtete seine Lenden" (I, 130). vgl. 1. Könige 18, 46
und schliesslich jenes leicht missverständliche Wort endelich (dass
du gelangest im Gebirge endelich I, 125). Damit übersetzt Luther
(Luc. 1, 39): fiera onovdrjs eilig. *) Aus andern Schriften Luthers
stammt: „Des Herrgotts Affe" (III, 84); mit diesem Ausdruck be-
zeichnet Luther den Teufel ; vgl. Diez, Wörterbuch zu Luther (I, 1 50).
An den Katechismus klingt an: „Ohne das Gesetz der Keuschheit
weder mit Gedanken, Worten oder Werken im mindesten zu ver-
letzen" (I, 78). „Zum Beweis, dass fromm Gesinde auch gut
Jicgiment, gut Wetter, fromme und getreue Oberherren macht" (II, 14).
Luthers berühmtestes Kirchenlied gab die Zeile: „Lass faiiren dahin"
(I, 142), und für „hinrichten" die Umschreibung: „den Leib töten"
') Hempel verstaud: endlich. Vgl. Uempel V. M. 104.
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(das peinliche Gericht hielt dafür, dass es nun an der Zeit sei, den
Leib zu töten I, 127). „Gross Schrecken" für: „grosser Schrecken"
(II, S9). (Luther: Gross Macht und viel List.)
Das alles sind immerhin nur vereinzelte Reminiscenzen. Wirk-
samer treffen einige mehrfach wiederkehrende syntaktische Formen
den Ton der Luthersprache.
Das finale Verhältnis wird auffeilend oft durch „dass u , seltener
„auf dass" statt durch das moderne „damit" ausgedrückt; vgl.
Mos. 1, 19, 5: „Führe sie heraus zu mir, dass wir sie erkennen"
Mos. 1, 27, 21: „Tritt herzu, 1 ) mein Sohn, dass ich dich begreife,
ob du seiest mein Sohn Esau etc" Bei Musäus desgleichen meist
nach dem Imperativ: „Sag an deinen Traum, dass ich ihn ausdeute"
(II, 22): „ivo weilt er, dass ich mich aufmache" (III, 121).
Die hypothetische Beziehung giebt vielfach „so" statt wenn.
Vgl. Matthäus 0, 14: „Denn so ihr den Menschen ihre Fehler ver-
rjrbet, so wird euch etc." Mnsäus: „So ich's vermag, will icJi's enden"
(II, 35). „So der zu mir spricht, weiche hic, weiche da etc." (II, 35).
„So ihm das Beginnen gedeihen würde" (III, 90).
„Sintemal", die kausale Conjunction, nach Adelung ungebräuchlich,
ist biblisch bei Musäus: „Was kümmert Euch mein Schmerz, sintemal
mir nicht zu helfen steht" (I, 120). „Sintemal sie mit einem andern
hochxeitct" (III, 84).
Für das coinpnrative Verhältnis dient „als" oder „so" statt wie:
.... mit alten Lumpen .... als man pflegt in die Erbsen zu
stellen (I, 128). So mir auch trefflich gelungen ist (III, 90).
Tempoml findet sich hin und wieder „da" angewandt: Da das
dein Vater .... angesagt ward: da sie so klagte und die Hände
rang, vernahm sie (II, 3).
Eins der Mittel, durch welche Musäus seine Sprache so klangvoll
und flicssend gestaltet, ist die Stellung der Wörter. Und auch hier
zeigt sieh der Einfluss der Lutherbibel.
Das Neuhochdeutsche setzt in Aussagesätzen, die nicht durch ein
Adverbium eingeleitet werden, der Regel nach das Subject vor das
Prädicat. In der Luthersprache findet sich dagegen wiederholt die
Inversion: vgl. Samuel 2, 15. 26: „Spricht er aber also" . . . .
Matth. 2G, 7: „Trat zu ihm ein Weib" .... Musäus: „Trat Jwrein
der weiland hocliberühfnte Arzt."
*) „Tritt herzu" wörtlich: Libussa. II, 34.
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Doch dieser Fall steht in den Volksmärchen vereinzelt da. Eine
wichtigere Erscheinung enthällt dasselbe Beispiel in der Stellung des
Adverbiums „herein". In einfacher Prosa lösen wir das Adverb oder
die Präposition zusammengesetzter Verba ab und stellen sie ans Ende
des Satzes. (Da trat der Arzt herein.) Die Bibel empfindet häufig
diesen Factor der Zusammensetzung als den bedeutenderen und hebt
ihn durch ungewohnte Stellung hinter dem Verbum hervor: Mos. 1,
12. 19: „und zog aus gegen Mittag"; Mos. 1, 31. 12: „Hebe auf
deine Augen und siehe." Bei Musäus: „trocknete ab ihre Thränen"
(I, 142); „Time auf deinem Manne" (I, 147); „da trat hervor Gimxelin"
(1, 69); „da quoll hervor ein Stück seidenen Tuches" (II. 16).
Alle diese Züge geben an ihrer Stelle der Sprache eine besondere
Kraft. Mehr eine blosse Manier scheint die der Bibel abgelernte Art,
in Nebensätzen, wo doch das Prädicat ans Ende des Satzes gehört,
diesen Satzteil näher an den Anfang zu rücken, vgl. Mos. 1, 18. 1:
„da er sass an der Thür seiner Hütte"; Mos. 1, 3. 22: „Nun aber,
dass er nicht ausstrecke seine Hand"; Jesaias 62, 1. 2: „bis dass ihre
Gerechtigkeit aufgehe wie ein Glanz". Musäus: „bis du gelangst zu
Ratibor, meinem Sprossen" (I, 111); „dass ich unschuldig bin an dem
Raube" (I, 118); „bis er ihn brachte gen Hirscliberg an die Thür der
Herberge" (1, 117).
Der von einem Wort abhängige Infinitiv umschliesst sonst alles,
was von ihm abhängig ist. Die Bibel aber sagt Psalm 119, 4 : „Du
hast geboten, fleissig xu füllten deine Befehle" ; Psalm 119, 10: „lass
mich nicht fefden deiner Gebote". Musäus: „Hess dareinflicssen einen
starken IÄquer" (1, 59).
Wenn Lavater. Hamann, Herder die Sprache der Bibel redeten,
so gerieten sie, ihrem Wesen und der Anlage ihrer Werke ent-
sprechend, in den Ton des Propheten. Musäus erinnert im grossen
ganzen mehr an den epischen Stil der Schrift, er wendet diesen Stil
vorzugsweise in den Reden seiner Mensehen an, massvoller in der Er-
zählung selbst. „Libussa" aber neigt mehr zur Sprache der Propheten,
namentlich an Stellen, wo wirklich geweissagt wird. Fast gegen
Ende heisst es (II, 67): „Da fiel der Geist der Weissagung auf den
entzückten Pflüger; er that seinen Mund auf und sprach: Ihr Boten
der Fürstin Libussa . . vernehmt dir Worte Primisla's. des Sohnes
Mnatha's . . . Wenn dann hervorgeht der Göttersohn, der seines
Pflügers Freund ist und ihn entledigt der Selarenkctten, Aftcrwctt
merke darauf! so wirst Du Dein Schicksal segnen."
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Die Bibel drängte sich so stark dem Gefühl des Erzählers auf,
dass er sogar eine alttestamentliche Sitte einführt. Als Crocus
(Libussa) das Ende seiner Gemahlin erfuhr, „zerriss er sein Kleid".
Aber wir wollen es aufgeben, immer die Bibel vergleichsweise heran-
zuziehen. Zum Zeichen, dass Musäus auch sonst in älterer Litteratur
erfahren ist, dienen Anspielungen in Redensarten wie: „Geschlechts-
klitterung" (II, 53), „Rollwagengesellschaft 1 ' (I, 137) und die Gegen-
sätze: „Schimpf" und „Ernst" (II, 148).
Durchgehende Erscheinungen sind, dass die Verba der 2. Ab-
lautsreihe älteren Lantstand aufweisen: fleuch (I, 110), verdreusst
(I, 13G), sehleuss auf (II, 79), gebeutet (II, 35); dass neben vollen
Formen, die alten, ohne „ge" gebildeten Participia: brachst (II, 19),
fanden (II, 23), kommen (I, 125 u. II, 24) gebraucht werden, und
dass eine Menge von Adverbien auftreten, die zum Teil ganz un-
gebräuchlich sind, zum Teil nur veraltet in der bei Musäus an-
gewandten Bedeutung, wobei nicht ausgeschlossen ist, dass sie noch
dialektisch fortleben: schier = sehneil; traun (I, 100); zu handen
(II, 24); bei handen (so sehier ich immer konnte II, 88). Zu diesen
kommen vier von der Bedeutung „sehr": Bas (I, 116) und gar, bei
Adv. und Adject. gebraucht, bei Verben: fast und viel (gl. den rahd.
und aueh heut noch dialektisch üblichen Adverbien): „So muss ich
eure Wirtschaft fast rühmen" (II, 135). (Vgl. 1. Mos. 12, 4: dass
sie fast schön war.) „O holde, zarte Frau, viel schlimm ist diese
Botschaft" (I, 71). Vgl. III, 8.
Man kann nicht entscheiden, ob alle diese Elemente mehr Reminis-
cenzon aus der Bibel oder aus dem Volksliede waren; jedenfalls aber
sind mehr auf die Einwirkung des letzteren die mit „lieh" und „sam"
gebildeten Adjectiva und Adverbien zurückzuführen, die nicht jedes
einzeln genommen, aber in ihrer Massenhaftigkeit und als vielfach eigen-
tümliche Neubildungen die beabsichtigte Wirkung hervorrufen:
tugendlich, züchtiglieh, gemeiniglich, geflissentlich, bänglich,
strät-klieh, vornehmlich, sichtbarlich, getreulich, trüglich, bitterlich,
mildiglich, kühnlich, ininniglich, männiglich.
genugsam, allgenugsam, sattsam, gemachsam, tugendsam, horchsam,
lauersam, gesprächsam, deutsam.
Das steigernde „gar" pflegt man nirgends häufiger als im Volks-
liede mit seinen Nachahmungen zu hören.
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Diese altertümlichen Elemente der Sprache verstärkten die Farben
in dem ^eitbilde der Erzählungen, man findet sie in den Volksmärchen,
die sich der Zeit des Verfassers näherten, etwa in der 5. Rübezahl-
legende, seltener.
Das Volkstümliche.
Es wird noch später auszuführen sein, wie Musäus in der
Charakteristik seine Idee verfolgte, das unverdorbene gesunde Volk
einer verbildeten und eingebildeten Welt gegenüber zu Worte kommen
zu lassen. Es war natürlich, dass er bei einem solchen Ziel den
Ausdruck des Volkes ehrte und sich denen anschloss, die ihn litteratur-
fähig zu machen suchten, einem Adelung aber, der sich auf ein vor-
nehmes Schriftdeutsch (meissnerisch zugeschnitten), ohne alle Bei-
mischung volkstümlicher, gar dialektischer Elemente versteifte, nicht
zu Gefallen arbeiten konnte (Adelung, 1781: Über den deutschen Stil).
Sonst ist wohl in der Sprache ein Unterscheidungsmittel zur Charakte-
ristik Gebildeter und Ungebildeter gesucht worden, wie sich Wieland
im „Don Sylvio" für seinen Diener Pedrillo eine niedere und doch
nicht gerade unkünstlerische Redeweise geschaffen hat : durch Umständ-
lichkeit der Rede, weites Ausholen, beteuernde und verschwörende
Unterbrechungen: Potz Herrich; Potz Velten — Ich will zu einem
Kohlhaupte werden; durch Wortverdrehung: Artischokeles für Aristoteles
und durch manche „Circuraherumschweifungen".
Musäus aber wählt den Ausdruck des Volkes als den kraftvolleren.
Darum sind in erster Linie die Geräusche dialektisch wiedergegeben.
Der Wächter „karjohlt" (III. 84) aus der rauhen Muramenkehle ein
verjährtes Brautlied; ein Zorniger „rausaunt" (I, 140); die Minnesprache
des Katzengeschlechts ist „miaulen" (I, 74); ein böswilliger Kater
„queilt" (I, 74); Mäuse „kraspeln" (III, 8G). Grob ist eine „grölzende''
Stimme (III, 133). Gleiche Anschaulichkeit und Eindeutigkeit haben
die Wörter: blinzen (II, 9C) und glosen (II, 89); flennen, maulen (III, 79),
(durch Blick oder Wink) jemanden ankörnen (II, 80), von koketten
Mädchen gesagt, versclinanben, schmorgen (I, 121) (= sich abdarben),
„kehrisch" (II, 129) für einen flatterhaften Gesellen (Müller, unter der
Anmerkg. II. 173) vgl. Henipel II, 62: kürisch.
Das Volk lebt in den Bezeichnungen, die aus dem Gebiete seiner
Thätigkeit, seines Gewerbes entnommen sind. Franz „heuert" (II, 118)
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(d. h. er kauft, mietet) einen Spiegel. Rübezahl „bosselt" (I, 161) mit
einem Studenten (er schiebt Kegel; derselbe Ausdruck auch bei Prä-
torius). Aus der Jägersprache stammt: „er horchte und windete" (III, 80);
„Brahne" (I, 16) für Waldrand; vom Bergbau: „Lachter (I, 100),
Schürf (III, 135) und Schwaden« (I, 100); vom Garten- und Landbau :
„ein Blumenstock ist beklieben" (III, 102) (d. h. er hat gut angesetzt),
Graslasten sind hochgepanst (I, 141) (Banse ist die Schranke, hinter
der in der Scheune das Getreide aufgespeichert wird), die Sensen
werden getängelt (II, 10); der Handwerksbursche trägt seinen „Wad-
sack" l ) (III, 148) (Kleider-, Rucksack); der Schneider sitzt in seiner
„Hölle (I, 126) oder Höllbank" (I, 147) (= Schneidertisch); vor allen
Dingen fehlt hier nicht das Handzeug der Hausfrau: Spindel, Weife,
Spinnstock und Hechel. Entgegen der geheimnisvollen ärztlichen
Diagnose haben die Leute ihre bestimmten Bezeichnungen für gewisse
Krankheiten: Fräsch, Herzgespann (I, 45), Kriebelkrankheit (I, 164);
Tiere, Blumen und Bäume tragen ihre landesüblichen Namen: Kolk-
rabe (I, 102) und Hipplein (I, 141); Liebstöckel, Mannestreue (II, 90),
Masliebchen, Weymuthskiefer, Eibenbaum und die rot gesprenkelten
Fohren (I, 30). Die grösste Mannigfaltigkeit herrscht in der Münz-
bezeichnung; es giebt: Engelgroschen (II, 152), Gutfreytagsgröschel,
Sechsgrotstücke (II, 153), Buchhorner Heller (U, 97), Dickthaler (1, 142)
u. 8. f. Nationalspeisen erkennt man wohl in: „Apfelkröbsen (II, 153),
Krüselbraten (II, 113), Raspelsemraeln (I, 81), Biermus (II, 134), Strözel
und Butterkringel 1 ' (I, 142). „Kränzeljungfrauen" (I, 113) begleiten
die Braut bei ihrem schönsten Fest; der „Hochzeiter 14 (HI, 85) hat sie
mit dem „Mahlschatze" (III, 152) erworben.
Wurden so „Mannsen und Weibsen" an ihre Arbeit und Erholung,
an das Alltägliche und Festliche erinnert, so hörten sich weiterhin die
Leute wie sie unter einander „kosen" (= freundlich sich unterhalten)
und schelten. Im freundlichen Verkehr nennt man sich „Meister
Schwimmart (I, 105), Mutter Ilse (I, 148), Freund Theophrast (n, 88),
Vater Martin (III, 135, 136), Nachbar Blas" (III, 136); ein kräftiges
Kind ist „ein Junge wie 'n Daus" (I, 139). Aber beim Schelten heisst
es: „Du Schadenfroh (I, 145), Springinsfeld, du treulose Metze, du
Galgenaas (III, 129), Trödlerin (III, 160), Gauch, Saufbold, Land-
fahrer (III, 161), Balg (III, 41), Schlemmer (III, 146), Vollzapf,
Lungerer, Trunkenbold (III, 145), Halunke (I, 145), Lump (I, 158).
') Hempel: II, 118 Watsack.
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Zur Derbheit gesellt sich Lebendigkeit. Volkstümliche Inter-
jektionen wie: Husch (war sio an der Thür) (I, 12G), Gemach (edler
Ritter) (II, 25), (Und) zack, zack (war er zum Thore hinaus, nämlich
ein Reiter) (II, 137), Topp, murmelte der Bär, topp sprach der Graf (I, 12),
gemahnen auch liier an die Eigentümlichkeit der damals modernen
Volksdichter (vgl. Bürgers Manier: „Und hurre, hurre, hopp, hopp,
hopp." „Sasa Gesindel, husch, husch, husch' 4 ).
Nicht zuletzt aber verraten eine Unzahl von Sprichwörtern, von
denen zuweilen drei, vier in einem Satze stehen (I, 130), wie der
Mann aus dem Volke über Gut und Böse denkt. Sie weisen auf ver-
lorene bessere Zeiten: Andre Zeiten, andre Sitten, Heut zu Tage giebt
es keine klugen Kinder mehr (II, 9)'); loben die Pfiffigkeit: Einer
hat den Beutel, der andre das Geld (I, 158), Not kennt kein Gebot (1, 102).
Wer bei der Schüssel sitzt und nicht zugreift, der mag darben (I, 158);
empfehlen ruhig Blut: Blinder Eifer schadet nur (I, 75), Vorgethan und
nachbedacht hat in die Welt viel Unheil bracht, Zum Laufen hilft
nicht schnell sein (III, 87); zeigen heimatlichen Stolz: Hinter dem
Berge wohnen auch Leute; und guten Glauben an das Glück: Wer
nicht wagt, der nicht gewinnt (I, 158), Es geht mehr als ein Weg
durchs Holz (III, 123), wer s Glück hat, führt die Braut heim (III, 161).
Es ist wohl keine imwahrscheinliche Vermutung, dass Musäus selbst
diese Sätze recht oft im Munde geführt haben mag. Verschiedene,
namentlich der letzte, finden sich in sindern Schriften von ihm wieder,
und er glaubte, was er mit dem Sprichwort sagt: „Es treibt sich
keine Rede im Volke um, es liegt ein Körnlein Wahrheit darinnen 11 (1, 138).
Eine Vorschrift dieser Weisheit von der Gasse scheint aber das Motto
seines Lebens gewesen zu sein, darum führt er diese „goldne Regel"'
in dem Volksmärchen an, wie sie „drei weise Nationen wegen ihrer
Brauchbarkeit so kurz und rund in drei Worte eingeschlossen haben' 1 :
Ne quid nimis. Rien de trop.
Allzuviel ist ungesund (I, 93).
Wo unter den vorher angeführten Ausdrücken des Volksmundes
Dialektisches vorkam, ist es natürlich thüringisch. Manchmal stellt
es sich dem Thüringer von selbst ein; mitteldeutsche Formen wie:
kömmt (II, 135), förder (IT, 141), sönnete (I, 138)2): Bildungen mit
er-: erlustigt (I, 104), ersterben (I, 127, 8) (mit denen namentlich
') „Kluge" fehlt bei Hcmpel III, 45.
*) Doch uur in 1. Aufl.
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Otto Ludwig dialektische Färbung erstrebt) sind selten. Ein Satz
wie: „'Hab eine Bitt' an Euch, lieber Fremdling" (II, 103) ist nicht
als dialektisch aufzufassen, sondern als Rest einer litterarischen Manier,
die Lichtenberg spöttisch den böotischen Dialekt nannte.
Niemals war das Mundartliche, wo es vorkam, bestimmten Per-
sonen zur Unterscheidung in den Mund gelegt. Dies geschieht nur
an wenigen Stellen. Wie sich Peter Bloch übor seinen hungrigen
Sprössling erbarmt, redet er gutmütig bittend" „in seiner fränkischen
Mundart": „W'eibelä gib' doch dem Bübelä ä Schlägelä von dem
Hennelä" (III, 138). Und Juden reden immer ihr Judendeutsch. Einer
beteuert: „Soll mir Gott!" (III, 107). Ein andrer schreit: „Au weih
mir! Wie geschieht mir — hat die Kunst falliert, so ist die Ursach
davon, was ich nicht weiss" (I, 60, 61).
Das Poetische.
Die poetischen Elemente der Sprache lassen sich nicht so stark
aus dem Wortschatze allein herauslesen, wie die altertümlichen und
volkstümlichen, da die Worte erst in ihrer Verbindung mit andern und
in ihrem Verhältnis zum Gedanken poetischen Wert erhalten. Man
kann aber den meisten altertümelnden Wörtern (wenn sie nicht humo-
ristischen Zwecken dienen) poetischen Gehalt beilegen, da sie nur in
gehobener Sprache zur Anwendung zu kommen pflegen, ebenso Wörtern,
von denen man bestimmt weiss, dass sie ausschliesslich einem höhern
Stile angemessen sind, wie „harren" (II, 45), das Diminutivum
„Bettlein" (I, 121), „Beilager" für Hochzeit, „Buhle" (I, 122) für Lieb-
haber und „Fein Liebchen" (I, 121, 126), von denen uns die meisten
aus der Volksdichtung geläufig wurden. Als poetische Elemente werden
wir fernerhin alle Anklänge an bekannte Dichtungen betrachten, wofern
sie nicht andern als poetischen Zwecken dienen. Neben jenen An-
klängen an Luthers Lyrik lassen sich aus Bürgers Lenore anführen
die Wendungen: hin ist hin (tot ist tot) (I, 65); hilf Gott (welch ein
Gesicht) (III, 24); wie von Kusses Hufen (II, 44)": „Pater Graurock":
Bürgers „Bruder Graurock und die Pilgerin". 1 ) Von der Strasse her
dringt das Kinderlied hinein: „Hast I^edor und keinen Leisten
') Vgl. auch d. Motiv dieses, aus dem Engl, geschöpften Ged. mit
d. 2. Rübezahlleg.
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dazu" (I, 158); dazu Weisses viel gesungenes: „Ohne Lieb' und ohne
Wein, was wär' unser Leben" (II, 70); und die erste Zeile des noch
viel verbrei toteren Liedes: „Malbrough s'en va-t-en guerre" l ) (III, 94).
Ebenso beginnt mit einem Kirchenlied ein Absatz in der „Stummen
Liebe": „Hinunter war der Sonnenschein, die finstre Nacht brach stark
herein, als Franz mit einer Laterne in der Hand" etc. (Johann Porst,
Geistl. und Liebliche Lieder. 1792 No. 662.) (II, 143).
Aber Anklänge an Poesien und Citate aus denselben machen eine
Darstellung noch nicht poetisch. Wir begnügen uns darum, auf diese
Spuren nur hinzuweisen. Mehr hingegen spricht sich die Neigung
zum poetischen Stil in durchgehends wiederkehrenden Formen aus.
Auf eine vom Prosaischen abweichende Stellung der Wörter führte
schon der Vergleich mit der Bibelsprache Luthers. Es lassen sich
jenen Beobachtungen noch hinzufügen:
1. Die Stellung des Genitivattributs vor seinem Beziehungswort:
„In der Venediger Dienst" (I, 143), „des Tages Schimmer" (I, 38),
„keines Menschen Freund" (II, 148) etc. etc.
2. Nachstellung des unflectierten attributiven Participiums: „da der
Greis sich auf sein Lager streckte, von dürrem Laube zubereitet" (II, 91).
3. Die Libussa enthält kunstvolle Kreuzstellungen innerhalb einer
Periode: „Kannst Du auch dem Sturmwind wehren, wenn er sich
aufmacht, seine Äste zu entblättern? oder wenn ein verborgener Wurm
in seinem Marke nagt, kannst Du ihn hervorziehen und zertreten?" (II, 40).
„. . . . Die weibliche Hand ist sanft und weich, gewohnt, mit dem
Wedel nur kühle Luft zu fächeln; aber sehnig und rauh ist der männ-
liche Arm" (II, 59).
Als poetisch sehr einfacher Mittel, wie sie echten Volksmärchen
eigen sind, bedient sich Musäus der formelhaften Wiederholungen und
Aufzählungen, vor allem gern in den Reden der Menschen:
I. Emma sendet (1. Legende von Rübezahl) (I, 110) die Biene
aus: „Fleuch, liebes Bienchen, gegen Aufgang", sprach sie, „zu Ratibor,
dem Fürsten des Landes, und sumse ihm sanft ins Ohr." Als die
Botschaft vereitelt wurde, sandte sie die Grille (I, 110): „Hüpfe, kleine
Grille, über das Gebirge zu Ratibor, dem Fürsten des Landes und
zirpe ihm ins Ohr." Hier besteht die Wiederholung nur in einem
Parallelismus der Worte. Buchstäbliche Wiederholungen zeigen andere
') Vgl. über d. Einfl. der Worte dieses Liedes Klees Ausgabe d.
V. M. 1897, S. 650 Spalte 1.
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Stellen; aus der Nymphe des Br. (II, 2): „Kleinhänsel, schau aus!
Was rauscht durch den Wald? Was trappelt im Thal? Wo wirbelt
der Staub? Trabt Wackerraa nn an?" — Kleinhänsel antwortet: „Nichts
regt sich im Wald, nichts reitet im Thal, es wirbelt kein Staub, kein
Federbusch weht" Zweimal hört man in derselben Erzählung die
Frage der Mathilde (II, 20, 27): „Amme, wo habt Ihr mein Kindlein?"
Zweimal die Antwort: „Edle Frau, das zarte Herrlein ist in Euem
Armen." l )
II. Aufzählungen enthalten die 3. Rübzahllegende (I, 130): „Einer
sprach: Junges Blut, spar Dein Out; der andre: Iloffahrt kommt vor
dem Fall; der dritte: Wie Difs treibst, so geht's; der vierte: Jeder
ist seines Glückes Schmied — " und Libussa (II, 48): „Der eine lobte
ihre Sittsamkeit, der andre ihre Bescheidenheit, der dritte ihre Klugheit,
der vierte ihre Unfehlbarkeit — , der fünfte ihre Uneigennützigkeit
gegen Katfragende, der zehnte ihre Keuschheit, andre neunzig ihre
Schönheit und der letzte ihre Häuslichkeit". 2 )
Allein diese immerhin selten angewandten Formen würden nicht
den Ausschlag geben. Dazu gesellen sich nun aber andere Formen,
die viel häufiger, in allen Märchen vorkommen und den poetischen
Eindruck erhöhen: das Hendiadyoin in Zwillingsformeln, vielfach ver-
stärkt durch Allitteration und Binnenreim, und der Vergleich.
Dieser letztere durchwandelt den Weg von seiner knappesten
Form bis zur homerischen Ausführlichkeit und lässt schön erkennen,
wie deutliche und reizende kleine Bilder Musaus mit seinem geistigen
Auge sah und wie namentlich sein Sinn mit den Erscheinungen in
der Natur vertraut war.
In der ersten Form, der Zwillingsformel, treffen wir neben Neu-
bildungen die bekanntesten Wendungen: In Schutz und Schirm, steif
und starr, Gut und Geld, frank und frei, flugs und fröhlich, bergab,
bergan, über Stock und Stein. Oede und wüste, weder Ziege noch
Böcklein, wider Willen und Dank, vor Gram und Harm, Mühe und
1 ) Vgl. (I, 121) „Wenn der Apfelbaum zum 3. Male blühet und die
Schwalbe zu Neste trägt, kehr' ich heim von der Wanderschaft
Nun blühete der Apfelbaum zum 3. Male und die Schwalbe nistete."
Darin ist zugleich die poetische Umschreibung von Zeitangaben be-
merkbar: vgl. „zur Zeit, wenn Tag und Nacht im Herbst sich gleichen"
(II, 159). „Nachdem sie neunmal neun Sommer verlebt hatte."
2 ) Vgl. K. H. M. I. Snewittchen S. 230 (Keclam) die Fragen der
Zwerge: Der erste sprach: Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?
der zweite: Wer hat usw. bis zum siebenten.
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Arbeit, Thun und Wesen, Art und Natur, Wunsch und Hoffnung,
Tück und Ränke, zu Nutz und Frommen, Leben und Odem. Schmorgen,
sorgen (I, 121), der eine war verdorben, der andre war gestorben
(I, 37), er schämte sich nicht und grämte sich nicht (II, 114), mussten
Köpfe und Töpfe entgelten (II, 13).
Grade diese Form bekundet die Redseligkeit, die Weitschweifigkeit
eines behaglichen Erzählers; sie erfährt darum zuweilen starke An-
schwellungen: Prunk und Pracht und Reichtum (II, 159); bangt und
ängstigt und presst das Herz zusammen (I, 124); die Türme der
Kirchen und Klöster in Städten und Flecken (I, 116); Katzen und
Marder, die sich beissen und balgen (II, 144).
Da sich zu diesem Hendiadyoin der Wörter auch das des Ge-
dankens, wenn man so sagen darf, hinzufindet, indem nämlich ein
Gedanke um einen ähnlichen oder stärkeren vermehrt wird, so kann
die Erzählung zuweilen kaum den Eindruck des Pleonasmus vermeiden.
Gelinde tritt das noch in folgendem Beispiel hervor: „Schweige Deine
Zunge und bewahre unser Geheimnis" (III, 162). Aber vollkommene
Tautologie liegt in den Worten: „Darum bin ich kommen, Dich aus
dem Kerker zu reissen und der Bande zu entledigen" (I, 125); „Man
trug sich mit allerlei Gedichten und munkelte dies und das" ; . . .
„Von niemand abzuhängen und keinem Menschen eine Verbindlichkeit
schuldig zu sein" (II, 116).
Durch diese Fülle des Ausdrucks soll der Satz voller erklingen ;
es erinnert die Form aber auch an den Parallelisnius der Psalmen,
besonders in folgenden Zeilen: „Dein Wink ist die Richtschnur meines
Ganges, meine Füsse laufen, wohin Du sie leitest, und meine Hand
hält fest, was Du ihr vertraust" (III, 96).
Indem so die Sprache einer rhythmischen Gliederung zustrebt,
ist der Schritt von der Prosa zur völlig gebundenen Rede nur ein
kleiner, er wird um so unmerklicher, je mehr die Sätze rhythmisch
wohlklingend gerundet sind. Jenes bei Gelegenheit der formelhaften
Wiederholung angeführte Beispiel lässt sich leicht in jambisch-
anapästische Verse abteilen:
Kloinhdnsel. schau aus!
Was rauscht durch den Wald?
Was trappelt im Thal?
Wo wirbelt der Staub ?
Trabt Wäokermann an?
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- 4? -
Ebenso die Antwort. Aber leichter und häufiger fliessen dem
Erzähler Jamben aus der Feder und schliessen sich zu regelmässigen
oder ungleich langen Taktreihen aneinander: „Heran, wer treu bei
Herzog Heinrich hält | und auf Verräter Fluch und Dölch", ruft jener
Herzog, wie er unter die Hochzeitsgäste seiner Gattin fährt (III, 85).
In der allerersten Erzählung sucht Edgar der Aar die ihm bestimmte
1 2 3 4 1 2
Braut (I, 15): „Ich sehe Dich, ich suche Dich | fein Liebchen, ach
3 4 1 2 3 4
verbirg Dich nicht; | rasch schwing' Dich hinter mich aufs Ross | Du
1 2 3
schöne Adlerbraut. ||
Manchmal fallen einzelne Glieder eines Satzes liedartig heraus:
„Die goldnen Sterne funkelten noch hell am nächtlichen Himmel, der
Zug ging über Stock und Stein, Berg auf, Bergab, durch Wüsten und
Wälder, über Steppen und Felder, sonder Ruh noch Rast, im vollen
Trab" (I, 27); und man sieht, dass sich auch der Reim dazu gesellt.
Gereimten Versen begegneten wir in Form einer Reminiscenz schon
einmal (Hinunter war der Sonnenschein). Ähnlieh schliesst ein
Absatz: „Der Schnee zerfloss, die Rebe schoss, es grünte der Wald
und in der Kirche wurde das veni creator intoniert" (III, 7).
Auf diese Weise dringen Rythmos und Reim sogar in den
epischen Teil der Märehen, wie viel mehr aber in Reden, Fragen und
Antworten der darin auftretenden Personen, um dadurch einer allgemein
märchenhaften Eigentümlichkeit zu entsprechen! Und naturgemäss
nehmen die im Märchen so beliebten Zauber- und Beschwörungs-
formeln die erste Stelle ein: „Winde Dich wie ein Knäuel | Und
runde Dich wie ein Plauel" (III, 53); damit verunstaltet eine zauber-
kundige Dame ihren aufdringlichen Gast.
Das Geschenk des Albertus Magnus hört auf folgenden Spruch:
Spiegel blink, Spiegel blank,
Goldner Spiegel an der Wand,
Zeig mir an die schönste Dirn in Brdbant. (I, 49 etc.)
Mathilde bringt den Bisamapfel zu einer Wirksamkeit, die in ihren
Worten liegt : Hinter mir Nacht, vor mir Tag, dass mich niemand
sehen mag" (II, 12). „Die Augen zu, bleibt alle in Ruh'» (II, IG).
Dazu kommen Schimpfverse:
Vollbrechts Ilse, Niemand will sc
Die böse Hülse; Da kam der Koch,
Peter Bloch, Und nahm sie doch (III, 137)
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48
und andere Verse, denen man zwar nicht anmerkt, dass sie so direkt
wie die letzten von der Strasse aufgefangen sind, die aber doch bald
wie Märchen = bald wie Volksliederverse anmuten: Mathildens
Einführungsrede: „Bin eine Waise, Mathilde ich heisse etc." (II, 13).
Aus Liebestreue: „Ach, möchtest Du bald bei mir sein, Jutta, Herz-
geliebte mein« (III, 10).
Aus d. Stummen Lieder: „Spinn Töchterlein, spinn, Der Freier
sitzt darin" (II, 161). Aus der Entfuhrung : „Ich habe Dich, ich halte
Dich, nie lass ich Dich; || fein Liebchen, Du bist mein, fein Liebchen,
ich bin Dein — mit Leib und Seele usw." (I, 175).
Seltener sind poetische Dichtungsgattungen in prosaischer Fassung,
die Rätsel, Fabeln und Parabeln. Sie beschränken sich eigentlich
auf die Libussa und gehen zum Teil auf die Vorlage zurück. Von
poetischer Kraft, sind sie ausserdem zur Motivierung ausgenutzt.
Nur vergleichsweise wird im Schatzgräber die Parabel vom Sonnen-
schein, der stärker ist als der Sturmwind, herangezogen (III, 143);
in einer Anekdote der dritten Rübezahllegende steht das Rätsel, ob
der Eichbaum früher war oder die Eichel (I, 129). Als Elemente
didactischer Poesie könnten eine Anzahl sentenziöser Aussprüche
gelten, die sich vielfach dem Wesen und der Form des Sprichwortes
nähern.
Das Humoristische.
Wo Musäus alle diese Elemente des Stils, die altertümlichen,
volkstümlichen und politischen, in eine ihrem Wesen entgegengesetzte
Beziehung bringt, da treffen wir den Kern seines Humors. Jean Paul
definiert den Humor in seiner Aesthetik als das „umgekehrt Erhabene".
Diesen, etwas gezwungenen Ausdruck kann man vielleicht an Musäus
deuten, da Jean Paul sich mehrmals in der „Vorschule zur Aesthetik 1 '
auf Musäus als einen trefflichen Huraoristen beruft.
Musäus bethätigt seinen Humor hauptsächlich darin, dass er etwas
Bedeutendes als Gemeines, oder etwas Gemeines als Bedeutendes be-
handelt. Das lag in der Natur seines Wesens und seiner Zwecke: er
musste ernüchtern und wollte ernüchtern. In dieser Hinsicht wirken
nun am meisten die Charaktere der vorgeführten Menschen und die
Situationen, in welchen sich diese befinden, aber auch der Sprache
drückte jene Geistesrichtung ihren Stempel auf.
Sehr auffallend macht sich das gleich darin bemerkbar, wie Musäus
zu vielen Fragen des socialen und litterarischen Lebens bald in kleinen,
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bald in ausgeführten, aber in immer ziemlich directen Anspielungen
Stellung nahm. Mochte sein Verfahren jener und der nächst folgenden
Zeit musterhaft erscheinen, spätere Generationen fühlen die Anspie-
lungen als einen Mangel seines Stils; je weiter ihr Gegenstand in die
Vergangenheit rückt um so unverständlicher werden sie und ihre Würze
geht verloren. Schon Wieland erklärte sich für unfähig (in seiner
Vorrede zur Ausgabe des M. 1804/5), alles zu deuten, aber er hütete
sich wohl, an den Märchen zu ändern. Die Ausmerzung jener Eigen-
tümlichkeit verlangt die grösste Feinheit und Vorsicht, wenn dem
Eindruck nicht Abbruch geschehen soll. Heinrich Meissner hat in
einer Auswahl von Volksmärchen jene Ausmerzung vollzogen; dem
Gemeinverständnis sind die Erzählungen dadurch näher gerückt, aber
für den Eingeweihten erscheint die Bearbeitung an manchen Punkten
ziemlich flach. Meissner erzählt z. B.: Denn Rübezahl, müsst ihr
wissen, ist ein launenhafter Gesell, heute ungestüm, roh, stolz, eitel,
störrisch, morgen gutmütig, edel, empfindsam. — Diese Prädikate
hätte Musäus seinem Rübezahl in solcher Anzahl und Auswahl
niemals beigelegt, zumal da sie gar nicht alle mit den folgenden
Sehilderungen dieses Berggeists übereinstimmen; aber er verfolgte
seinen Nebenzweck und sagte: Freund Rübezahl, sollt ihr wissen, ist
wie ein Kraftgenie — und dann macht er in einer Flut von kräftigen
Attributen einem Unbehagen Luft, das die Kraftgenies ihm lange ver-
ursacht hatten.
Wir wissen, dass „Kraftgenie'' ein sehr gebräuchliches Schlag-
wort war und bemerken damit an Musäus eine Richtung seines Witzes,
die er mit allen gut belesenen Köpfen teilt, indem er nämlich durch
Schlagwörter, die ähnlich wie Citatenwitze wirken, den Sinn der
Leser aufmerksam macht. Gewöhnlich haben diese Schlagwörter in
den Ohren der Zeitgenossen einen grossen Klang, den die Anwendung
zerstört. Musäus erwähnt, dass der schwer beleibte Friesländer des
Grafen von Gleichen kein „Hypogryph" gewesen sei (III. 81); einen
handfesten Waldritter, der seine Gäste mit einer Tracht Prügel ent-
lässt, nennt er einen Menschenfreund (II, 133). Und das ist ein
Titel, den man grade in jenen Jahren den Edelsten und Besten auf
ihr Monument setzte. ') Die Menschenliebe zu befördern, masste sich
') In Frankfurt/Oder stehen zwei Denkmäler aus dem vorigen
Jahrhundert. Das eine rühmt an Leopold von Braunschweig die
Menschenliebe; auf dein andern bezeichnet ein Spruch der Karschin
Ewald v. Kleist als deu Menschenfreund, den weisen Kleist.
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— 50 —
ausserdem der Physiognomist Lavater an. Mit dem Prädikat physiog--
nomisch" treibt der Dichter vielen Spott. Ein Bettler auf der Weser-
brücke (Stumme Liebe) nimmt jeden aufs „physiognomische Korn",
ob von dem etwas zu erwarten sei (II, 163). Weil Lavater seine
Physiognomik in „Fragmenten" herausgab, so ist Steffens, wie er seine
zerbrochenen Glasscheiben zusammenliest, ein unglücklicher „Frag-
mentensammler" (I, 146). Rübezahl wird durch die Liebe zum
romantischen Schwänner, zu einem „Gartengenie" und „Wald-
mysanthropen" (I, III). Miaulende Katzen sind lästige „Minnesänger"
(I, 74). Hier vernichtet der Zusammenhang die Bedeutung des
litterarisch bekannten Wortes; andererseits vernichtet dieses Wort die
Zartheit eines Gedankens, mit dem es im Znsammenhang steht, wie
das der von Thümmel aufgegriffene Ausdruck inoculierte Liebe thut.
(Vgl. I, 103 der inoculierte Berggeist.) Namen wie „Mnrner" für
einen Kater, einem komischen Heldengedicht Zacharias entlehnt
(„Murner in der Hölle"); „Freund Hein" (I, 20), den, nach Gödeeke,
zuerst Claudius für den Tod eingeführt hat; weitere Ausdrücke wie:
„Von deutscher Art und Kunst (II, 1 15); Haupt- und Staatsaktion
(II, 136), Schnaken, Schnurren und Charakterzfige" ') (IH, 158),
zeigen, wie Musäus solche litterarische Worte auch nur um der
Reminiscenz willen anwandte.
Diese Manier widerstrebt natürlich der volkstümlichen Tendenz
im Stile der Volksmärchen, und mit ihr die Anwendung einer Anzahl
von Fremdwörtern. Darin hat nun wieder Wieland einiges bessern
wollen; aber grade innerhalb der an volkstümlichen Tönen so reichen
Sprache üben diese durch den Kontrast eine grosse humoristische
Wirkung aus. Das Fremdwort ist entweder vornehm; dann muss es
nur niedern Dingen und Verhältnissen beigelegt werden. Ein Tölpel,
der noch niemals hatte kochen können, wird aufgefordert, sofort ein
cochon farci en haut goüt anzufertigen (I, 86); ein Jude zeigt grosse
Prädilection für die edleren Metalle (I, 63). 2 ) Oder das Fremdwort
ist kalt, ein technisches, praktisches Hülfsmittel von prägnanter Farb-
losigkeit; dann dringt es bei Musäus, mit andern Ausdrucksmitteln
aus praktisch-technischem Gebiet in die Welt des Gemüts und der
Ideen zersetzend ein: So kann man sich bei Musäus „über Herzens-
angelegenheiten expectorieren" (II, 160). „Die irdische Masse" des
l ) Titel einer Schrift von J. J. A. v. Hagen. Berlin 1783. 2 Bd.
anonym.
* 2 ) Hempel III, 59: „Vorliebe".
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Landgrafen Ludwig wurde von der Heiligkeit seiner frommen Bett-
hälfte dergestalt „irabibiert" (III, 76), dass er sogar den Ehrentitel
eines Heiligen erhält. Das Herz „verweigerte seinen 'Assent' zu allen
Motiven dos Sprechers im Oberhause u (aus der Parlamentssprache) (I, 50).
„Eine reine und unbeflekte 'Politur 1 des Gewissens."
Im ähnlichen Sinne wirken auch deutsche Ausdrücke, wenn Liebes-
gelöbnisse mit einem „Salzhandel" (I, 129) verglichen werden, und
die Liebe selbst „mechanisch wie ein Flaschenzug" arbeitet.
An Gerichtswesen, Canzlei und Verwaltung erinnert Musäus in
seiner Sprache am liebsten: „Die Lebensmittel waren aufgezehrt;
darum setzte sie den dritten Tag zum peremptorischen Termin", wo
sie im „Nichterscheinungsfalle" der Alten sich ihre „liegende und
fahrende Habe" als „verlassenes Gut" anzumassen vornahm (HI, 31).
Richilde findet „die Anfrage", wer die schönste Dirn in Brabant
sei, so „gerecht und billig", dass sie kein Bedenken trug, „solche an
die Behörde" gelangen zu lassen" (die Behörde ist der Spiegel) (I, 48). —
„Die vertrauliche Session wurde aufgehoben (nämlich Melechsala und
der Graf von Gleichen stellten ihr Liebesgespräch ein), ohne dass in
Ansehung des strittigen Punktes etwas entschieden wurde" (III, 112). —
Im geheimen Konklave des Grafen hatte der flinko Kurt „Sitz und
Stimme" (III, 112). — Ks beruhte nur darauf, ob Vater Gregor in Bonn
seine „Benediktion" zu dieser „Matrimonialanomalie" zu erteilen geneigt
sei (III, 122).
Die Fülle sind zu zahlreieh, um mehr von ihnen anzuführen.
Necken sich die Anspielungen auf moderne Zustände samt den Schlag-
wörtern mit dem altertümlichen Gepräge des Stils, und durften wir
das Fremdwort .als den Gegensatz des Volkstümlichen bezeichnen, so
zeigt sich grade diese letzte Art als echtes Widerspiel der poetischen
Elemente.
Die Vereinigung eines Höheren mit einem Niedrigeren zu einem
komischen Bilde sieht man nicht nur in den verschiedenartigsten Wen-
dungen wie: „der kaiserliche Bauch" (I, 45); Symphonie der Schnapp-
weise und des Spinnrades — sondern mehr noch in der allgemeinen
Behandlung der Antike und der biblischen Persönlichkeiten: Die eitle
Richilde kritisiert die Frauen des Altertums: „die schöne Judith war
zu plump und vierschrötig, wenigstens nach dem Malerkostüm, das
ihr von undenklichen Zeiten her die robuste Gestalt eines Schlächter-
weibes attribuiert, wenn sie den krausbärtigen Kapitän Holofernes ent-
gurgelt; die schöne Esther war zu rachsüchtig, weil sie die 10 hübschen
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Jungen des Exministers Haman — henken Hess; von der schönen
Helena hiess es, sie sei ein artiger Rotkopf gewesen und habe aller
Vermutung nach Sommersprossen gehabt u. s. f. (I, 49).
Diese Art mit ehrwürdigen Namen des Altertums zu verfahren,
hatte vorher Bürgers „Frau Schnips" berühmt gemacht. l ) Die Travestie
und die komische Romanze wagten sich mehr an die Personen des
klassischen Altertums als an die der Bibel.
Die Zerstörung des Nimbus geschieht, wie man aus den an-
geführten Beispielen ersieht, schon durch einen dem alten Namen bei-
gelegten modernen Titel oder irgend ein andres ernüchterndes Wort:
Dame Penelope (I, 49), Vetter Roland (I, 70), Mama, Papa (I, 15).
Da ja die Personen der Erzählungen dem Bereich der Sage angehören,
so wirkte es schon allemal komisch, wenn sie salonmässig behandelt
wurden: „Wem soll sich Madame mitteilen?" (I, 106) heisst es von
der Prinzessin Emma im unterirdischen Reiche Rübezahls. „Dame
Richilde" nennt Musäus die Heldin der zweiten Geschichte (I, 57).
Es ist dies eine Spur von der Eigentümlichkeit Wielands, moderne
Lebensart auf die Verhältnisse vergangener Tage zu übertragen.
Humoristen sind vielfach sehr wortschöpferisch. Bei Musäus treten
aber Neubildungen nicht auffallend hervor. Einige ungewöhnliche
Worte: „Matrimonialanomalie" (IH, 122), „Furchtgerippe" (I, 76) und
eine Anzahl der Adjective und Adverbien auf lieh und sam scheinen
seines Ursprungs zu sein. Nach einer allgemeinen Art der humoristischen
Wortschöpfung werden aus Substantiven und besonders aus Namen
neue Bildungen hervorgebracht. Es entsteht so ein „übelhumoristischer
König" (I, 86). Als ein Arzt zu Rübezalü sagte, Rübezahl sei ein
Hirngespinst, ein Nonsens, da fährt ihn der Berggeist wütend an : „Hier
ist Rübezahl, der Dich nonensen wird" (I, 129). — Wackermann ülil-
finger hat manchen so „zerbasedowt", „wie Armbrecher R(eich), der
Menschenfreund, den Erzvater der Philanthrophisten" (II, 1). (Basedow
soll nämlich jenem Reich eine Ohrfeige versetzt und der Geschlagene
versichert haben, ihm die Arme dafür zu knicken.)
Mit diesen Ausführungen soll nicht die Untersuchung über die
litterarischen Einflüsse, welche auf die Sprache der Volksmärchen
wirkten, abgeschlossen sein. Es sei nur zusammenfassend wiederholt,
dass die Sprache Luthers, vor allem seiner Bibelübersetzung, den
') An ihre Lästerzuge erinnert Musäus einmal, um die böse Ilse
zu kennzeichnen.
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Verfasser am meisten beherrscht. Sie deckte sich vielfach im Wort-
schatze und in der Wortbildung mit der Sprache des Volksliedes, das
vielleicht weniger durch sich selbst als durch seine Nachbildungen
einen Einfluss ausübte. Bürger konnte nicht nur hierfür mit seiner
Balladendichtung, sondern auch als Vertreter der komischen Romanze
zur Erklärung humoristischer Eigenarten herangezogen werden. Hier
begegnete uns auch Wieland, auf dessen Einfluss häufig verwiesen
zu werden pflegt Wir dürfen ihn aber nicht zu hoch anschlagen,
was die Sprache betrifft. Selbst der gefällige Periodenbau, der beiden
gemein ist, bietet keine Berührungspunkte. Musäus gestaltete in seinem
ersten Roman, also zu einer Zeit, wo ihn Wieland noch gar nicht
interessierte, die Perioden viel weitschweifiger nach dem klassischen
Stil als nachher in seinen Volksmärchen. Sie berühren sich stärker
in der feinen Ironie, durch die sie ihre subjektive Teilnahme an den
Menschen ihrer Erfindungen verbergen. Aber auch dieses ist mehr
ein Zug von Geistesverwandtschaft oder es weist auf eine neue litte-
rarische Persönlichkeit hin, die Wieland und Musäus gleichmässig
anzog, auf Sterne mit seinem „sentimentalen" Humor. (Vischer: Aesthetik
I, 4G8.) Wir werden uns mit dieser Ironie in dem Kapitel über den
Stiminung8gehalt der Volksmärchen auseinanderzusetzen haben.
Es steht gewiss fest, dass Musäus die lebendige Rede des Volkes
studiert, in sich aufgenommen hatte und wiederzugeben verstand, aber
dem viel belesenen Mann gestaltete sich seine Sprache zu einem
mannigfach beemflussten Kunstprodukt.
Stimmungsgehalt der Volksmärehen.
Musäus erklärte, wie es schon an einer früheren Stelle erwähnt
werden musste, er sei auf seine Märchenschriftstellerei durch den
Geschmack der Zeit selbst gelenkt worden. Dieser Zufall richtete es
wenigstens so günstig ein, dass der Dichter grade im Märchen das
geeignetste Mittel fand, einen eingewurzelten persönlichen und litte-
rarischen Gegensatz zum Ausdruck zu bringen. Nach Fr. Th. Vischer
(Aesthetik 3, II, 5. S. 1299) schafft die Einbildungskraft im Märchen
ein Weltbild, „in welchem das Naturgesetz zu Gunsten des Begriffs»
des Gutes sich lüftet. Das Gut im Unterschiede vom Guten ist
Grundinhalt des Märchens". Vischer trifft damit den wesentlichsten
realistischen Charakterzug dieser Gattung. „Die Natur wird flüssig
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und kommt dem Wunsch entgegen, der Mensch bewegt sich frei von
„„den Bedingungen, zwischen welchen er eingeklemmt ist" u (Goethe).
Allerdings zieht sich nun in den Begriff des Gutes auch der des
Guten herein. Das Wunder kommt — wohl gerne dem ver-
folgten Guten zu Hülfe, doch nicht sowohl der thätigen männlichen
Tugend, als vielmehr der kindlichen Unschuld, Gutmütigkeit, dem
holden Leichtsinn und der lustigen Schalkhaftigkeit, besonders gern
aber der rührenden, schönen, poetischen Dummheit, in welcher ein
Göttliches, eine grosse Anlage dunkel schlummert; — — — der
ahnungsvolle geisterhafte Hauch vereinigt sich daher gerne mit dem
Humor." Es ist aus dem Zusammenhang nicht zu ersehen, wie weit
Vischer unter dem Eindruck der Märchen von Musaus gestanden hat.
Wenn jene Darstellung wirklich das Wesen des Märchens trifft, so
kam es der Anlage und den Absichten des Musäus sehr entgegen
und stand im Widerspruch zu jener Sentimentallitteratur, die den Un-
willen des optimistisch Gesinnten erregte. Im Vorbericht hatte der
Verfasser der Volksmärchen die hierauf zielendo Absicht seiner Arbeit
mit folgenden Worten ausgesprochen: es wäre an der Zeit, „die Herz-
gefühle eine Zeitlang ruhen zu lassen, das weinerliche Adagio der
Empfindsamkeit zu endigen, und durch die Zauberlaterne der Phantasie
das ennuyierte Publikum mit dem schönen Schattenspiel an der Wand
zu unterhalten" (I, 5). Genauer noch lernen wir aus einer Stelle der
„Stummen liebe" die Gattung, welche er angreift, in einzelnen Exem-
plaren kennen (II, 115). Dort weist er rühmend auf eine Zeit zurück,
wo man noch den Dietrich von Bern, Hildebrand, den gehörnten
Seyfried, den starken Rennewart und den ehrwürdigen Theuerdank
las: „Es gab noch keine empfindsamen, pädagogischen, psychologischen,
komischen Volks- und Hexenromane, keine Robinsonaden, keine Familien-
noch Klostergcschichten, keine Plimplamplaskos, keine Kakerlaks, und
die ganze fade Rosenthalsche Sippschaft hatte ihren Hökerweibermund
noch nicht aufgethan, die Geduld des ehrsamen Publikums zn ermüden."
Eine Anzahl der hier angedeuteten Romane kam erst 1784 an die
Oeffentlichkeit („Kakerlak oder die Geschichte eines Rosenkreuzers aus
dem vorigen Jahrhundert" — „Geschichte der Familie Rosenthal" —
„Klärchen Rosenthal, eine abenteuerliche Geschichte", alle 3 der senti-
mentalen Sphäre angehörig). Damals jedoch, als Musäus anfing zu
schreiben, 1782 machte bereits 6 Jahre lang ein Werk seinen Einfluss
geltend, das viel bedeutender als alle mit Namen genannten, den Aus-
gangspunkt und zugleich den Höhepunkt der jene beherrschenden
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Stimmung bildet Es war der „empfindsame" Roman Joh. Martin
Millers: „Siegwart, eine Klostergeschichte". Freilich ist auch dieses
Werk erst aus dem tiefen Eindruck hervorgegangen, den Goethes
Werther auf Miller machte. Da man aber thatsäohlich dem Siegwart
nachher grössere Beachtung schenkte, und weil er einerseits noch nicht
allzu unwürdig ist, andrerseits die Schwächen des sentimentalen Romans
in sich zusammenfaßt, so sei er uns ein Behelf, vergleichsweise die
grossen Gegensätze zwischen Musäus und der empfindsamen Welt zu
verdeutlichen. Merkwürdig scharf, als hätte dem Musäus der Siegwart
besonders vor Augen geschwebt, ja manchmal werk würdig äusserlioh
sogar werden diese Gegensätze zutage treten.
Um kurz die Erfindung des „Siegwart" zu kennzeichnen, so sei
hier einiges vom Inhalt vorausgeschickt. Miller will das Leiden schöner
Seelen unter der Rohheit und den Standesvorurteilen der Mitmenschen
schildern. Hiermit waren ihm gleich scharfe Gegensätze gegeben-
Er erfindet zwei Freunde, Siegwart, den bürgerlichen, und von Kronhelm,
den adligen; Kronhelm liebt Siegwarts Schwester und hat infolge-
dessen den Zorn seines rohen, eigenwilligen Vaters zu tragen. Siegwart
liebt die Tochter eines Hofraths Fischer in Ingolstadt, Marianne, nnd
scheitert an dem Dünkel dieses titelstolzen Mannes. Kronhelm nnd
die Schwester Siegwarts gelangen schliesslich zum Frieden, weil der
Vater Kronhelms stirbt. Marianne aber wird ins Kloster getrieben.
Siegwart folgt ihr auf diesem Wege der Entsagung nach und geniesst
nur noch das Glück, auf dem Grabe seiner Geliebten, seelisch ver-
schmachtet, den letzten Seufzer auszuhauchen.
Die Erzählung spielt in den Kreisen der gebildeten oder doch
höheren Gesellschaft. Ein adliger Gutsherr, ein Hofrat, ein Amtmann,
die Kinder dieser Herren und gelehrte, wohlredende Klosterbrüder sind
die herrschenden Persönlichkeiten; das Volk, Bauern, Diener, Jäger,
Juden werden mitleidig oder verächtlich behandelt. Der Gegensatz
steigert sich in der Auffassung des Menschen, die scharf in Schafe
und Böcke geteilt sind. Der Hofrat verbirgt hinter feinen Formen
ein eiskaltes Herz, er fordert von seinen Kindern bedingungslose Unter-
werfung, schlägt die schon erwachsene Tochter, beraubt sie der Freiheit
und sieht sie lieber verkümmern, als gegen seinen Willen glücklich
werden. Schon äusserlich noch roher giebt sich der bayrische Gutsherr
von Kronhelm, der Saufen, Hunde und Waidmannslust gegen die stillen
Bedürfnisse des Geistes höhnisch geltend macht ; er plagt die Bauern,
beurteilt den Mann nach seinem ersten Flintenschuss, und schiesst
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selbst nach dem eignen Sohne, weil dieser seine Herzensneigungen
nicht nach dem väterlichen Befehl einrichtet. Seine Sprache ist durchweg
dialektisch, bayrisch.
Mit ihnen haben sich nun jene andern reinen und gefühlvollen
Naturen auseinanderzusetzen, die bei jeder Roheit zusammenzucken
und in glücklich-trauriger Gefühlsseligkeit sich selbst zerfleischen.
Einseitig wird bei ihrer Schilderung die Ausbildung des Geistes und
Herzens betont ; die Leute erziehen sich zur Humanität, sie lesen viel,
schreiben viel; Verse eines Gleim, Kleist und Klopstock führen sie
gern im Munde, sie citieren, treiben Salonmusik, korrespondieren
fleissig, führen Tagebücher und dichten. Man sieht in ihnen Gestalten,
die damals ganz modern waren. Frisches, kerniges Leben ist leider
nur einigen Bösewichtern geschenkt, die Edlen sind durchweg Schwäch-
linge, oder wenigstens Leidende, deren überaus reizbares Gefühl jeden
Augenblick bereit ist, sich in Thränen aufzulösen. Die Nachtigall, die
Freundin der Thränen, der Mond, die stille Nacht, die kleinen Blümchen,
alle Spiegelbilder zarter Empfindungen, welche die Natur erschuf, regen
diese Seelen krampfhaft auf. „Hell scheint der Mond, aber traurig,
ach ich sah ihn wohl, wie er hinter die Wolke trat und weinte."
Wenn ein Klosterbruder seine Erinnerungen erzählt, wenn er einem
rohen Ehemann ins Gewissen redet, wenn man spielt „schmelzend,
bebend, wimmernd", sogar wenn bei Tafel die Gläser klingen, fliessen
Thränen. Verzücktes Schweigen ist der Gipfelpunkt der Ueberschweng-
lichkeit. Viel Leiden, wenig Thaten; viel Beschäftigung, aber kein
Geschäft!
Lieben heisst Schmachten und Dulden. Der Verfasser erschöpfte
sich in den kleinlichsten Symptomen der Leidenschaft. Es ist etwa
ein Triller, der Marianne hinreisst, ihren Siegwart „schmachtend und
beweglich" anzuschauen, oder ein Druck von ihrer zarten Hand, „der
durch Mark und Knochen schauderte". Auch die Freundschaft redet
diese Weibersprache. Vom Familienleben sieht man nicht viel Erquick-
liches. Die Familie ist meist gespalten. Wo sich Eltern und Kinder
nicht gegenüberstehen, teilen sich die letzteren regelmässig in kindlich
denkende und selbstsüchtige Naturen. Die Tendenz des Schriftstellers,
die Eltern sollen das Herz der Kinder berücksichtigen, führt über die
damals herrschenden Zustände hinaus. Die Litteratur jener Jahre
nahm sich gern der Kinder an und suchte sie bei der Entscheidung
über ihre Hand selbständiger hinzustellen. Das Eheweib kommt im
Millerschen Roman nicht recht zur Geltung, von Gattenliebe ist wenig
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zu sehen, nur die Liebe und Ergebenheit der Kinder wird warm und
schön ausgemalt
Moralisches Verhalten und sanfter Ausdruck kennzeichnet die Guten.
Schelten, Spässe machen, zornig werden ist Sache roher Naturen, am
profansten aber der Gedanke, nächtlich zu vagabundieren oder sinn-
lichen Liebesgenuss zu suchen.
Zur selben Zeit übten bereits die Naturlaute des Volksliedes ihre
Gewalt aus, und dieser Siegwart schauderte, wenn Ingolstädter Stu-
denten im Postwagen singen:
„Das Mädel lob ich mir vor allen,
„Das Leib und Seele kann erfreun. 4 '
Eine solche Poesie führte zur Entsagung und lenkte auch ohne den
Hinweis auf die stillen Klostermauern das Gemüt vom Leben ab:
„Komm Gedanke des Todes und küsse mich statt seiner" (des Ge-
liebten) (Sophiens Tagebuch. Sgwt. 1. Tbl.). Aber der Tod kommt sehr
langsam. Der Leser ist genötigt, ein qualvolles Hinsterben über viele,
viele Seiten hin mitzuerleben. Den erlösten Seelen verspricht der
Dichter den Himmel.
Der geistige Gehalt des Romans ist nichts weniger als volkstümlich.
Er ist das Resultat, welches Herder (Schriften 25, 12) der „hohen,
Aetherischen, unsinnlichen, ganz Duft-, Gewürz- und Moralvollen Er-
ziehung", wie sie seine Zeit gab, zuschreibt, und steht in schlechtem
Einklang mit dem, was er die „sinnliche, wenn auch einfältige aber
sichere, kurze, starke Rührung- und Inhaltvolle Denkart eines Volkes"
nennt. Zwar auch die Stimme des Volkes hat (Zueignung der Volks-
lieder. Schrift. 25, 645): Klagen, ermattendes Ächzen der Verstossenen,
verhaltenen Schmerz, verspotteten Gram, aber auch Liebe, Hoffnung
und den geselligen Trost, den unschuldigen Scherz, den fröhlichen
Spott und die helle Lache des Volkes über erhabenen Dunst, über
verkrüppelnden Wahn.
Nicht jedes dieser Prädikate lässt sieht auf jedes Produkt der
Volkspoesie anwenden, aber der Geist, der in den Volksmärchen weht,
entspricht ihnen in ihrer grössten Anzahl. Der fundamentalste Gegensatz
zum Siegwart ist nun der: Jener Roman war eine Welt der Thränen ;
Resignation, schmerzliche Ergebung in das Schicksal war seine Forde-
rung: die Volksmärchen sind eine Welt der Heiterkeit; hier herrscht
die Zuversicht auf das Glück.
Eine Eigentümlichkeit erschwert hin und wieder die klare Er-
kenntnis, wo die Sympathie, wo die Abneigung des Dichters liege:
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es ist die Ironie des Humoristen. Kein Ding und keine Person ist
zu hoch oder zu niedrig, er scheint sein neckendes Spiel damit zu
treiben. Er verfährt mit den Menschen wie Rübezahl, jener Kobold,
den er selbst heraufbeschworen hat, aus reiner Freude am Schabernack
die Menschen in Verlegenheit zu setzen und zu quälen. Am deut-
lichsten offenbart sich der ironische Zug in der Art, wie das Wesen
der Menschen und ihr Schicksal kontrastieren. Das wetterwendische
Glück macht ans tapfern, derben Haudegen, dumpfen Sinnes, aus
Rolands Knappen: eitle, neidische, lächerliche Trabanten einer listigen
Königin; es verwandelt einen deutschen Edelmann der ritterlichsten
Art, den Grafen von Gleichen in einen Gärtner, der einen romantisch
wilden orientalischen Park nach fränkischer Mode aufstützen soll; einem
verwegenen Liebhatier (im geraubten Schleier) zieht er die Kutte des
Heiligen an, und das Volk strömt nach seinem Tode herbei, Zahnstocher
zu kaufen, die der schlaue Erbe aus dem Stabe des Heiligen anfertigt ;
ein flotter Offizier denkt sein Liebchen zu entführen (die Entführung),
er umarmt aber das Gerippe einer verwunschenen Nonne ; schliesslich
jene oben genannte Königin, die eitle, unzüchtige üracka vermeint, der
Geisterkönig Dämogorgon solle sich ihr enthüllen — da nimmt Knapjie
Sarron seinen unsichtbar machenden Däumling ab und vor ihr steht,
„welcher Kontrast zwischen Original und Ideal, einer von den gewöhn-
lichen Menschen, dessen Physiognomie weder Genieblick noch Sentiraental-
geist verriet". Nur eine einzige Erzählung, Libussa, ist fest gänzlich
frei von dieser Ironie; die Behandlung der Nebenpersonen Hess auch
hier freilich die alte Neigung erkennen. Entstellt nun aber die Ironie
auch einerseits, so ist sie doch auf der andern Seits gerecht und sie
verteilt parteilos Vorzüge und Mängel unter die Menschen. Dieser
Gegensatz zum Millerschen Roman soll später erläutert werden.
Treten wir nun in die Parallele ein, so ist es abermals angebracht,
einen Satz aus Vischers Aesthetik (III 2, S. 1315) an die Spitze zu
stellen: „Der Stoffsphäre nach vereinigt sich das Komische mit der
volkstümlichen oder bürgerlichen Opposition gegen den aristokratischen
Roman."
Wir bewegen uns bei Musäus in einer durchaus bürgerlichen
Welt. Die bunte Menschheit des Volksmärchen gehörten in der grössten
Mehrzahl der Masse des Volkes an : Ärzte, Kaufleute, ein Glashändler,
Barbier, Beutelmacher, Schneider, ein verlumpter Stadtkoch, Schäfer,
Ackerbürger, Juden u. dgl. Der Ritter, der Graf, die Dame des Salons,
die Königin, sogar die Kaiserin fehlen nicht. Aber diese vornehme
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Gesellschaft macht Musäus bieder und namentlich dem einfachen Volke
gleich, oder sein Witz packt sie grade bei ihrer vornehmen Schwäche.
In der fünften Rübezahllegende müssen sich eine Gräfin und ihre
zarten schamhaften Töchter entstrumpfen und sich Blut abzapfen lassen ;
in der allerersten Geschichte sieht man eine Gräfin in der Küche
stehen, mit den Töchtern, und Kartoffeln kochen, weil sie nichts
Besseres verstehen. Die Ritter und Grafen aber sind meistens rauho
Gesellen, die ihre Fäuste zum Dreinschlagen benutzen, dem Kriege,
dem Raube, dem edlen Waidwerk ergeben, nichts weniger als frauenhaft.
Die vornehmeren Gestalten unter ihnen sind entweder wie der Komtur-
ritter in der Nymphe des Brunnens farblos ausgefallen, oder sie treten
wie Primislav (Libussa) bescheiden in den Hintergrund.
Die Lieblinge des Musäus kennzeichnet, welchem Stande sie auch
angehören, vor allem andern eine entschiedene Abneigung, sich mit
Nachdenken oder Lektüre zu befassen. Der Stand geistiger Ausbildung
ist ein tiefer ; alle Interessen der modernen höhern Gesellschaft werden
abgelehnt. Von Peter Bloch, der durch einen glücklichen Fund zum
reichsten Manne wird, hören wir: „die Addition und die Multiplikation
wollten ihm nie ein und mit der Division hatte er sich all sein Lebtag
nicht zu befassen gewusst" (III, 139). Was gewinnt nicht vor dem
fanatischen Seelsorger der zweiten Rübezahllegende Bendix, der arme
Schustergeselle, der unwissende Laie, der den Engelsgruss und das
Paternoster stets durcheinandermengt. Friedbert, der treuherzige, nicht
sehr kriegerische Schwabe, „schlichten und flachen" Sinnes „hat das
Glück und führt die Braut heim u , die schönste griechische Prinzessin.
Das „schlicht und flach" und andere Ausdrücke, die für den geistigen
Fond eines Menschen sonst nicht empfehlend wären, dienen hier meist
nur als Gegensatz zur Überbildung. Zum Ersatz für den Mangel an
Kenntnissen schenkt Musäus seinen Lieblingen andere Gaben, vor allen
Dingen: Mutterwitz und eine Gradheit des Charakters, die wenig von
Grobheit unterschieden ist. Franz, der Held in der „Stummen Liebe'',
der seine Jugend verschlemrat und nichts erlernt hat, um sich die
Langeweile zu vertreiben, Lektüre überhaupt verabscheut, bewährt sich
grade im Verlauf der Erzählung als ein männlich, kerniger Charakter
und gelangt zum Ziel. „Er sagte rund und deutsch heraus, was ihm
zu Sinne war, wie's der Bremer Art ist" (II, 138), auch dann, wann
er die grösste Ursache hat, sich vor Prügel zu fürchten. Er weiss,
dass der Waldritter, bei dem er eingekehrt ist, die Gepflogenheit hat,
seine Gäste erst gut zu bewirten, dann aber, bevor er sie verabschiedet,
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tüchtig auszuhauen. Aber dessen ungeachtet greift Franz beim Abend-
essen herzhaft zu, verlangt Wein und sagt „dass er schlecht sei"; er
hat überall auszusetzen und lässt sich „bedienen wie ein Bassa". Grade
dadurch entgeht er dem erwarteten Schicksal. Jenen ehrlich rauhen
Mann ärgert nur, wenn ihn die Gäste foppen und äffen mit Knie-
beugungen und Bücklingen, alle ihre Worte auf Schrauben stellen, viel
Reden machen ohne Sinn und Salz, sich zu jedem Dinge nötigen lassen,
thät schier not noch zum Stuhlgang (II, 138). Deutlicher kann man
der feinen Form nicht den Krieg erklären als durch diesen Prügelritter.
Also gesellschaftliche Bildung haben diese Leute so wenig wie
grosse Kenntnisse oder litterarisches Interesse. Nächst dem Stande
ihrer Bildung berücksichtigen wir nun, nach jenem Einblick in den
Siegwart, das Empfindungsleben der Personen in den Volksmärchen,
und es wird uns zunächst die Frage interessieren, welche Bedeutung
gewinnt bei ihnen der Schmerz und die Thräne.
Gerne widmet Musäus dem Schmerze einmal schöne einfache
Worte. Jener biblische Satz: „Sie verhüllte ihr Gesicht und weinte
bitterlich" (II, 41) genügte, um die Sorge eines treuen Eheweibes aus-
zumalen, dem der Gatte verhehlt, in welche Gefahren er sich begiebt
(Nymphe des Brunnens). Aber oft genug will seine Laune auch den
berechtigten Schmerz nicht respektieren und gestaltet durch den blossen
Ausdruck oder die Schilderung des Schmerzes ein Zerrbild. Frau
Jutta (Liebestreue) hört den Tod ihres Mannes, „die Erzählung wirkte
auf die Thränendrüsen" (III, 10). Graf Ernst von Gleichen nimmt
traurigen Abschied von den Seinen : „der Mund verzog sich sichtbarlich
in die Breite, wobei er laut aufschluchzte" (III, 75). Zum Glück sind
solche, etwas geschmacklosen Verirmngen seiner Laune nicht sehr
häufig. Wenn in den Volksmärchen Thränen fliessen, so ist allemal
ein triftiger Grund vorhanden, und sie werden getrocknet. Niemals
weint man in der Überschwenglichkeit eines glücklichen Gefühls. Statt
des sentimentalen Schmerzes herrscht in den Märchen sein lustiger
Bruder, der Ärger. Diese Stimmung kumuliert in Rübezahl, der mit
„Spleen und Menschenhass" sich in den Mittelpunkt der Erde begräbt.
Grosse Erregungen waren dem Musäus unbequem, er dämpft sie durch
irgend eins der ernüchternden Mittel, die in dem Kapitel über den
Humor ihre Stelle fanden. Bezeichnend ist, dass nur eine einziga
Erzählung: „Liebestreue" traurigen Ausgang hat.
Die Liebe, welche im Millerschen Roman ein alles bewegender
Faktor ißt, hat bei Musäus nicht jedes andere Leben und Erleben auf-
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gesogen, spielt aber doch eine wichtige Rolle. Musäus zeigt unter
seinen Frauen : kokette, spröde, wankelmütige, wollüstige neben scham-
haften und scheuen; kalte und heissblütige Naturen; unter den Lieb-
habern kecke, aufdringliche, stürmische, auch sehr geduldige und
bescheidene; solche, die kurzen Prozess lieben, und solche, die ihre
Dame beharrlich umkreisen, „wie der Mond die Erde". Er hat unter
beiden Teilen Seufzende und Schmachtende. Aber diejenigen, mit
denen er es selbst gut meint, entkleidet er so sehr aller Sentimentaliät,
dass er sie direkt den modernen Liebhabern entgegenhält, deren Brauch
es sei (nach I, 49), „zu weinen, zu girren, zu winseln, trübsinnig in
den Mond zu schauen, zu rasen, vor Liebeswut Gift zu fressen, den
Hals abzustürzen — — — oder ehrsamer eine Kugel sich durchs
Hirn zu jagen". Musäus schildert fruchtloses und glückliches Liebes-
w erben, das Erwachen und Absterben der Liebe, weniger die Freund-
schaft, im höhern Masse das Verhältnis in der Familie.
Wo ein Weib nur Zerstreuung und Befriedigung ihrer Wollust
sucht, wie Uracka (Rol. Knappen); wo eine Richilde aus Eitelkeit den
Besitz des Schönsten erstrebt und kein Mittel scheut, alle Schöneren
neben sich zu unterdrücken; wo eine Lukrezia (ülr. m. d. Bühel) alle
Künste der Koketterie aufbietet, nicht um ihr Herz zu befriedigen,
sondern um sich selbst an ihrem Triumph und an enttäuschten Opfern
zu weiden, da kann er mit bitterbösen Worten spöttisch und ernsthaft
über sie herfallen. Die erste heisst bei ihrer Prunksucht: „die lebendige
Musterkarte der Residenz"; die zweite „Giftnatter 1 ' muss unter grimmiger
Schadenfreude des Erzählers den bekannten Tanz in glühenden Schuhen
machen. Lukrezia ändert zwar ihren Sinn, aber erst nachdem durch
eine Kaiserin der „Balg, die arglistige Schlange, die freche Dirne 4 ' tief
gedemütigt ist. Jutta (in Liebestreue) ist die sentimentale Liebende;
grade sie aber straft ihr empfindsames Verhalten zuletzt Lügen. Nur
wo Musäus Liebe schildert, die es ehrlich meint, weiss er warme und
reine Töne anzuschlagen. Am keuschesten hat er ein Liebesverhältnis
in der Libussa, am lieblichsten in der Melechsala geschildert, in zwei
Frauengestalten, zu denen man nur noch die Frau des Glashändlers
Steffen (4. Rübezahllegende) hinzuzunehmen braucht, um die weiblichen
Ideale des Dichters bei einander zu haben. Libussa lernteu wir bereits
kennen. Melechsala ist ein Zeugnis dafür, dass Musäus auch die
sinnliche Natur der Liebe, zart, doch ohne eindruckslos zu werden,
darzustellen vermochte. Graf Ernst und Melechsala sind beide ernste,
sittliche Gestalten; er männlich und treu; sie naiv und unerfahren in
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den Gefühlen, die sie bestürmen. Aber eins hat Melechsala im Harem
gehört, dass die Blume Muschirumi Liebesgenuss erfleht und ihre
Annahme ihn verspricht. Graf Ernst weiss nichts dergleichen; er will
mit der schönen Blüte seiner Wohlthäterin eine Freude machen; sie,
über seine Kühnheit aufs höchste verwirrt, nimmt die Blume und
erkrankt im Widerstreit ihrer Gefühle. So überhob der Zufall sinnreich
die Verlegenen einer Aussprache. Sie beide finden denn auch den
Endreim auf Muschirumi. Eine Melechsala wäre bei Miller nicht zu
denken.
Also nichts weniger als platonische Liebe! Das Sittliche geht
dabei nicht verloren. Musäus findet es in der Treue. Auch der Graf
von Gleichen ist keinen Augenblick unentschieden, dass er Melechsala
aufgeben müsse, da seine Frau noch lebt. Erst die eigene Zustimmung
der Gattin und der Dispens des Papstes führen die Vereinigung herbei.
So weit es sich um diese eheliche Treue und die Pflichterfüllung in
der Familie handelt, steht im allgemeinen bei Musäus das Weib höher
als der Mann, wenngleich auch hier Ausnahmen vorkommen (Uracka).
Es liegt hierin ein gut Teil der, dem Musäus eigenen Selbstironie.
Am schönsten ist die Gattin und Mutter charakterisiert in dem Weibe
des egoistischen Steffen, jener dritten weiblichen Heldengestalt. Ihre
ganze Grösse kommt in einer Scene, in einer straff geführten Unter-
redung mit Rübezahl zu einer wunderbar einfachen, aber anschaulichen
Darstellung (I, 139 ff.). Das geplagte Weib bietet, um die Kinder
zu schützen, Rübezahl sein Leben dar, und ihr Zorn darüber, dass
der Unhold ihre Kinder in Schrecken setzte, klingt noch lange in den
entschiedenen und gereizten Antworten nach.
Der Bube ist ihr nicht um Schätze der Welt feil. — Kinder
machen Überlast aber auch manche Freude. — Alle Arbeit und Mühe
versüsst ein einziger, freundlicher Anblick, das holde Lächeln und
Lallen der kleinen, unschuldigen Würmer. Steffen behandelt sie roh
und mürrisch, aber sie ist ihm ergeben, weil er ihrer Kinder Vater
ist. Rübezahl, der alte Heide, kann diese Demut nicht begreifen. Er
antwortet, als die Mutter meint, ihre Kinder würden sie einst für alle
Trübsal entschädigen: „Werden Dir die Jungen den letzten Heller aus
dem Schweisstuche pressen, wenn sie der Kaiser zum Heer schickt
ins ferne Ungarland, dass die Türken sie erschlagen." Das Weib : „Ei
nun, das kümmert mich auch nicht; werden sie erschlagen, so sterben
sie für den Kaiser und fürs Vaterland in ihrem Beruf, können aber
auch Beute machen und die alten Eltern pflegen."
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Darin liegt eine grosse Gesinnung, die nicht nachdenkt über das
Recht und nur die Pflicht fühlt. Daraus geht hervor, dass Musäus
zu den Frauen ein hohes Zutrauen besass, und es ändert daran nichts
die gelegentliche Frage, die er einen Eifersüchtigen an sein Weib stellen
lässt, ob sie die einzige deutsche Frau wäre, die ihren Mann nicht zu
täuschen vermöchte (I, 32).
Die Männer in den Märchen haben starken Hang zur Loiehtlebigkeit ;
sie saufen, schlemmen, gehen ihrem Vergnügen nach, vernachlässigen,
versetzen unter Umständen ihre Töchter, sind brummig und ver-
schwenderisch. Dafür mögen der Graf der ersten Geschichte, Peter
Bloch, der eben genannte Steffen, der „immer mehr Bauch werdende
Vater 1 der letzten Geschichte als beste Beispiele dienen. Musäus
bemüht sich eben, bei aller Verehrung der Familie, durchaus nicht,
dieselbe so darzustellen, als wenn nur immer jeder neue Tag neue
Freuden brächte und keine Not und keine Verstimmung. Es geht in
seinen Familien, schon bei so gearteten Männern recht derb zu; der
Humor aber hilft uns über Scenen hinweg, die ohne ihn abstossen
würden. Darum ist der Humor zur Milderung mancher realistischen
Derbheit ein unentbehrliches Mittel. Wie der in einen Bären ver-
wandelte Gemahl der Wulfild (Büch, der Chron. etc.) den versteckten
Bruder wittert und sich nicht beschwichtigen lässt, fasst sie sich ein
Herz und versetzt ihm einen so nachdrücklichen Fusstritt in die Lenden,
dass er ganz demütig auf seine Spreu kroch, sich niederthat, brummend
an den Tatzen zog und seine Jungen leckte (I, 23). Der an sich grobe
Vorgang wird schon dadurch, dass der Gemahl gerade seine ungeschlachte
Bärengestalt hat und vor allem durch das niedliche Bild am Sehluss ästhe-
tisch geniessbar gemacht. Als der flinke Kurt (am Ende von Melechsala)
sein Eheweib nach langer Trennung wieder aufsucht, werden ihm statt
Freudenthränen und Umarmungen Rippenstösse zu teil, und die Unter-
haltung bewegt sich in Ausdrücken wie: „Du Galgenaas 1 '; „du schänd-
licher Gauch" etc. Im allgemeinen aber werden kleine Zwiste leicht
beigelegt. Selbst in dem traurigsten Ehedrama, das sich zwischen
Ilsen, der bösen Hülsen, und dem unglücklichen Opfer ihres Pantoffels
abspielt, kommt eine leidliche Aussöhnung zu stände. Die Gräfin der
Erzählung: Bücher der Chronika etc. klagt zwar ihren Mann bitter
an, dass er sie der Kinder beraube, aber ihre Leichtfertigkeit zehrt
unbekümmert mit von dem Kaufgelde. Die Schuld ruht bei solchen
Zwisten immer auf beiden Seiten. Manchmal ist die eine, manchmal
die andere mehr belastet, aber das Glück entscheidet, mit welcher wir
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uns freuen. Das Glück ist in den Märchen ein wesentliches Moment
Und man muss gestehen, der Glaube an das Gluck und bescheidene
Unterwerfung unter seine krause Laune stimmt das Gemüt sorglos und
heiter, wenngleich das trübselige Nachdenken über die Gerechtigkeit
des Schicksals zur tieferen Weltanschauung führt. Bei dem Dichter
selbst war die Gesinnung, die ihm so zu schreiben gebot, mehr als
Glaube an das Glück, sie war Religion, aber im Gegensatz zu der im
Siegwart gepriesenen Religion, die den Leidenden mit dem Himmel
vertröstet, eine praktische, die den Gesunden zum Leben aufmunterte.
Sie gab ihm auch den erhabenen Standpunkt, von welchem aus er die
Menschen sittlich einander viel ähnlicher sah, als der Verfasser des
Siegwart, der die Menschheit so scheidet, dass hier Engel und da
Teufel stehen. Das verleiht den Volksmärchen einen versöhnlichen Zug
trotz mancher Ironie, mancher Satire, mancher Entstellung. Darum
sind jene oben geschilderten leichtsinnigen und oft harten Väter auch
wiederum gutmütig und lassen an ihrem Glücke teilnehmen; darum
kann man sogar an einem so vollendeten Gauner (in der letzten Rübezahl-
legende) wie der arme Kurt ist, helle Fi-eude haben: er zeigt sich
pfiffig und gefasst, durchtrieben und dabei harmlos in der Auffassung
seiner Übelthaten, und schliesslich geht es ihm doch herzlich schlecht;
darum können neben einem Primislav noch andere Ritter bestehen.
Am freundlichsten berührt dieser versöhnliche Zug bei dem Ausgang
des Märchens: „Rolands Knappen". Im Unglück, betrogen durch eigene
Schlechtigkeit und gegen einander verübten Verrat, treffen sie verarmt
wieder zusammen; sie ziehen den für Musäus so bezeichnenden Schluss,
„dass das Los der Freundschaft allein dem goldenen Mittelstande zu-
gefallen sei, und sich schwerlich mit Glück und grossen Talenten
vertrage". Dann sterben sie, tapfer gegen die Sarazenen kämpfend,
„insgesamt den Tod der Helden". Wie seine Freunde ein schnelles,
fröhliches, womöglich schicksalsreiches Leben führten, so gönnte ihnen
Musäus, wo er dessen Erwähnung thut, eigentlich immer einen leichten,
ehrlichen und raschen Tod, so dass er sich sogar einmal (beim Tode
von Richildens Mutter) zu dem lustigen Ausdruck versteigt: „sie kämpfte
flugs ihren Todeskampf und verschied" (I, 4G). Ein zwar geahnter,
aber plötzlicher und leichter Tod hat auch dem Leben des Dichters
ein Ende gemacht.
Die sentimentale Litteratur hatte einen Begriff von Sittlichkeit
aufgestellt, der über die menschliche Natur hinausging, und hatte dem
Gefühl ein schädliches Übergewicht bei der Selbstbestimmung des
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Menschen zuerteilt. Die Auflehnung hiergegen von Seiten eines Cannes,
der die Menschen zwar optimistisch, aber auch realistisch nach ihrem
natürlichen Vermögen abschätzt, gab den Volksmärchen ihre eigen-
tümliche Stimmung. Was sonst an direkten oder versteckten An-
spielungen mit unterläuft, hat zwar auch seinen guten örund in der
Persönlichkeit des Dichters und in seinen Erfahrungen, hat aber für
die Volksmärchen nur die Bedeutung eines nebensächlichen Aufputzes.
Diese Anspielungen beziehen sich auf öffentliche Zustände, Tagesereignisse,
Moden, neue Entdeckungen, auf Erziehung, Gelehrsamkeit wie vor allem
auf die zunächst liegenden litterarischen Erscheinungen. Sie sind nur
stilistisch zu fassen, beeinträchtigen zuweilen das Stimmungsbild, aber
beherrschen es nicht. Man kann in ihnen die Abstufungen der witzigen
Bezugnahme beobachten von der persönlichen Satire an, über die mehr
objektive Polemik, über stimmungsvollen Humor lunweg bis zu der,
dem Wortwitz gleich zu achtenden scherzhaften Tändelei.
Dass er unter all den angeführten Gegenständen die empfindsame
Litteratur am häufigsten und schärfsten trifft, bedarf kaum der Er-
wähnung. An dieser Stelle müssen wir die Bemerkung einschränken,
als habe Muaäus mit seiner Feder niemals verletzen können. Es liegt
in manchen Anspielungen sehr viel Hohn. Musäus wird manchmal
so persönlich, dass die Betreffenden deutlich fühlen raussten, wenn sie
gemeint waren. Ein Ausfall z. B. wie der gegen die Kraftgenies kann
nicht mehr als Humor betrachtet werden, wenn es von ihnen heisst,
sie seien launisch, ungestüm, sonderbar; bengelhaft, roh. unbescheiden;
stolz, eitel, wankelmütig; heute die besten Freunde, morgen fremd
und kalt; zu Zeiten gutmütig, edel und empfindsam, aber mit sich
selbst in stetem Widerspruch, albern und weise, oft weich und hart
in zween Augenblicken, wie ein Ei, das in siedend Wasser fällt etc.
(I, 100, 1).
Freundlicher zeigt er sich in seiner Stellung zur Physiognomik
und ihren Vertretern, ja beinah spielerisch erscheint er unter der Zahl
der andern Schriftsteller, die sich mit Physiognomik befassten, und zum
teil polemisch, zum teil ebenfalls satirisch auftraten: Lichtenberg schrieb
in der Tendenz ernst, mit witzigen und scharfen Excursen; Helfrich
Peter Sturz ist lebhaft interessiert aber unentschieden; Klinger, der am
spätesten noch darauf zurückkommt, heissblütig und gehässig. Musaus
hätte auch niemals ernstlich auf die Förderung von Menschenkunde
und Menscheiüiebe schmähen können, obwohl er auch auf diese Be-
strebungen ironische Streiflichter fallen lässt.
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Der sentimentale Roman, die Genies und die Physiognomik sind
die Hauptgegenstände, die den Satiriker interessierten. Wie gesagt,
werden viele andere Verhältnisse berührt, aber die Bemerkungen sind
neutraler; sie werden zu Scherzen. „Der Scherz kennt kein andres
Ziel als sein eignes Dasein." x ) Die Pädagogik, die Kleidertracht, neue
Bücher, die Gartenkunst erhalten ihr Teil, nur weil sie auf der Tages-
ordnung der gesellschaftlichen Unterhaltung stehen ; Vestris, den grossen
Tänzer in Paris, Franz Finatzi, den dicken Mann aus Pressburg von
488 Pfund Fleischgewicht, Pinetti und Philadelphia, zwei berühmte
herumreisende Taschenspieler, findet man in den Zeilen der Volks-
märchen neben Gassner, Basedow, dem Schulmann Hübner und Hirsch-
feld, dem Schriftsteller über Gartenkunst, genannt, vor allem auch neue
Erfindungen, von denen die des Luftballons (1783), mit den Abenteuern
und Helden, die sie erzeugte, die Gemüter in heftige Aufregung ver-
setzte. (Gustav Freytag: Bilder aus neuer Zeit. S. 29C. Wieland und
Goethe schreiben über Pilatre de Rozier und Bergrat Buchholz führte
den Weiinaranern das Schauspiel einer Luftreise vor.) Einzelne Heraus-
geber haben sich der Mühe unterzogen, die Anspielungen dem Leser
zu deuten. Wieland erklärte nur, was er zufällig wusste. Ausführ-
licher sind die Anmerkungen zu der Ausgabe von Dr. Moritz Müller 1867
und zu der Prachtausgabe von 1847.
Grade die Mehrzahl dieser Anspielungen zeigte, dass die Stimmung,
welche in den Volksmärchen herrscht, durch litterarische Opposition
nicht zum wenigsten beeinflusst wurde, und wir dürfen es nicht zu
hoch anschlagen, dass in einer Zeit, wo die Anspielungen noch aktuell
waren, durch sie der Eindruck der Erzählungen nicht verkümmert,
sondern gehoben wurde. Schon gleich nach dem Tode des Verfassers
inusste eine neue Ausgabe besorgt werden. Und nicht lange darauf
stellten sich auch die Nachahmer ein. Die „neuen Volksmärchen der
Deutschen" von Christiane Benedict* Naubert erschienen in den
Jahren 1789—93. V. 8. Karl Müller schrieb 1791—92 seine „Er-
zählungen nach Musäus' 4 . 2 ) Ob er aber stofflich von grösseren und
bekannteren Dichtern ausgenutzt wurde, ist mir nicht bekannt. Paul
Heyse scheint durch Musäus zu seinem niedlichen Drama: „Rolands
l ) Jean Paul, Vorschule zur Aesthetik. I. S. 165.
s ) Auch Otmars: „Volkssagen des Harzes" 1800 sind nach Pröhle
eine Nachahmung des Musäus.
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Schildknappen oder Die Komödie vom Glück" 1 ) angeregt zu sein,
obwohl er schon dadurch, dass die Zahl der Knappen um einen ver-
mehrt ist, wichtige Änderungen in den Ereignissen eintreten lässt.
Auch das Ausland interessierte sich für ihn; es existieren zwei
französische Übersetzungen: Contes populaires des Allemands traduits
par J. Lefevre 3. vol. I^eipz. 56, — und die ältere: Contes de Musäus,
prec6d6s d'une notice par Paul de Kock. Paris 1826. Dieser erlaubte
sich Änderungen, wenn nach seiner Meinung Musäus in seinen Scherzen
zu weit ging.
Den Engländern hat kein geringerer als Thomas Carlyle Proben aus
Musäus, und Nachrichten über ihn mitgeteilt im : German romance 1827. 2 )
Am meisten interessiert es uns aber, dass einer der grössten
Märchenerzähler unseres Jahrhunderts, der Däne Hans Christian Andersen
bis 1830 etwa stark unter dem Einfluss des Musäus stand, stilistisch
freilich zu seinem Schaden. In seiner Zeit, und in seiner Sprache
erschienen die nicht seltenen litterarischen Abschweifungen in der
Manier unseres Dichters, in der That als „kreischende Misstöne". 8 )
An den deutschen Ausgaben und Bearbeitungen der Volksmärchen
bestätigt sich der meiner Arbeit vorausgeschickte Satz über den Aus-
tausch von Kunst und Volksdichtung nicht ganz aber ungefähr. Denn
alsbald hat man einzelne, vielleicht die beliebtesten der Märchen in
die Masse jener löschpapiernen „Volksbücher" einzuschmuggeln unter-
nommen. Alle wenigstens, die ich vor Augen bekommen habe, zeigen
unbedingte Abhängigkeit von Musäus, so sehr sie entstellt wurden. Am
häufigsten begegnen: die drei Rolandsknappen, die drei Schwestern,
der wegen seiner kurzweiligen Poesien merkwürdige schlesische Rübezahl,
Geschichte der Libussa, einer Elfentochter und ehemaligen Herzogin
von Böhmen.
Der Verfasser eines Rübezahlbuches giebt es direkt an, dass
Musäus sein Vorbild, sein Gewährsmann sei.
Die Ursprünglichkeit des Volksbuches: „Reinald das Wunderkind",
das Pröhle anführt, stellt er selbst in Frage.
*) Volksmärchen in 3 Akten und einem Vorspiel. 1865. 1895. Berlin.
Herz. — Paul Heyse. Dramat. Dichtungen. 28 Bändchen.
*) Abgedruckt auch in d. Miscellaneous essays.
•) Vgl. Georg Brandes: Moderne Geister. Litterarische Bildnisse
aus d. 19. Jahrh. 2. Aufl. Frft./M. 1887: Hans Christian Andersen.
5*
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Marbach nimmt in seine grosse Sammlung und Bearbeitung von
Volksbüchern l ) auch die 3 ersten Märchen von Musäus auf, erzählt
aber die zweite (Richilde) ursprünglicher unter dem Titel ,>Schnee-
Weisschen". Die Herausgeber nehmen einen sehr verschiedenen Stand-
punkt ein, je nachdem sie sich Kinder, Erwachsene oder sogar litterarisch
Interessierte als Leser vorstellten. Die ersteren zeichnet ihre, mit •
Originalität streitende Willkür bei der Umarbeitung, die letzteren nicht
immer das richtige Verständnis für einen wissenschaftlichen Text aus.
(Hempel.)
Die besten wissenschaftlichen Ausgaben sind die von Klee 1847;
und von Müller 1867.
Die Märchen erscheinen in der einfachsten und in der schönsten
Ausstattung, daher zu den billigsten Preisen, wie sie Reclams Bücher
repräsentieren, und zu ziemlich hohen: die grosse Prachtausgabe von
Klee kostet 36 Mk. Künstler haben die Hand dazu hergegeben, die
Ausgaben zu verschönen. Von Moritz von Schwind kenne ich nur
jenes oben erwähnte Bildchen. Ludwig Richter illustrierte mit 3 anderen
Künstlern die Ausgabe von Klee. Mir scheint aber, das Schönste habe
erst in unseren Tagen Hermann Vogel erreicht, der offenbar die glück-
liche Geraütsanlage besitzt, noch im Erwachsenen das Kind zu sehen.
*) Leipzig 1838.
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Lebenslauf.
Der Verfasser dieser Dissertation, Richard Andrae, wurde als Sohn
des Lehrers Heinrich Andrae am 14. Februar 1873 in Frankfurt a. d. Oder
geboren und evangelisch getauft. Er verHess im Sommer-Semester 1892
das humanistische Gymnasium seiner Heimatstadt und studierte der
Reihe nach an den Universitäten: München, Berlin und Marburg die
Fächer: Deutsch, Geschichte und Geographie.
Seine Lehrer waren folgende Herren Professoren und Dozenten:
von Below, Birt, Carriere, Cohen, Dessoir, Geiger, Golther, Th. Fischer,
Frohschammer, Heusler, Liesegang, Kayser, Köster, Kühnemann,
Maass, Muncker, Natorp, Naude, Niese, Paul, Rödiger, von der Ropp,
Scheffer-Boichhorst, Er. Schmidt, Edw. Schröder, vonSybel, vonTreitschke,
Weinhold, Wrede.
Allen gebührt grosser Dank, besonders Herrn Prof. Alb. Köster für
die Unterstützung, welche diese wissenschaftliche Erstlingsarbeit bei ihm
gefunden hat.
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Inhalt
Seit«
I. Einleitung 1
II. Die Persönlichkeit des Musäus 6
III. Die Volksmärchen der Deutschen 10
1. Composition der Volksmärchen 11
a) Elemente der Erfindung 12
b) Formen der Composition 26
c) Excurs: Vergleich der Libussa mit ihren Quellen ... 28
2. Die Sprache der Volksmärchen 83
a) Das Altertümliche 34
b) Das Volkstümliche 40
c) Das Poetische 43
d) Das Humoristische 48
3. Stimmungsgehalt der Volksmärehen 53
IV. Schluss 66
:
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