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Full text of "Grundriss der Geschichte der Philosophie"

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Grundriss  der 


Geschichte  der 
Philosophie: 
Th.  Die  Neuzeit 


Friedrich 


Ueberweg,  Max 
Heinze 


HARVARD  COLLEGE  LIBRARY 

Ffotn  tbc  Libfüfy  of 

JOHN  LIVINGSTON  LOWES 

Professor  of  English  191 8-1930 
Francis  Lee  Higginson  Professor  of  English 
Literaturc  1930-1945 


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Friedrich  Ueberwegs 
Grundriss 

der 

Geschichte  der  Philosophie. 

Dritter  Theil. 

Die  Neuzeit. 


Siebente,  mit  einem  Philosophen-  und  Litteratoren-Register  versehene 

Auflage, 

bearbeitet  und  herausgeben 
von 

Dr.  Max  Heinze, 

ordentl.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  Leipzig. 


Berlin  1888. 
Ernst  Siegfried  Mittler  und  Sohn 

Künigliche  Hofbuchhandlung 
Kocbstrssae  G*-7u. 


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Friedrich  Ueberwegs 
Grundriss 

der 

Geschichte  der  Philosophie 

der  Neuzeit 

von  dem  Aufblühen  der  Alterthumsstudieü 
bis  auf  die  Gegenwart 


Siebente,  mit  einem  Philosophen-  und  Litteratoren-Register  versehene 

Auflage, 

bearbeitet  und  herausgegeben 

* 

von 

Dr.  Max  Heinze, 

ordentl.  Professor  der  I'hilo'opbie  an  .1er  Universität  Leipzig. 


Berlin  1888. 
Ernst  Siegfried  Mittler  und  Sohn 

Königliche  Hofbuchhandlung 
Kochstnus«  68  -  70. 


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Da*  Recht  der  Uebersetzung  bleibt  vorbehalten. 


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V  o  r  w  o  r  t. 


In  dieser  neuen  Auflage  finden  sich  wieder  sehr  viele  Aenderungen 
und  Erweiterungen.  Auch  die  Eintheilung  ist  zum  Theil  eine  andere 
geworden:  die  Zahl  der  Paragraphen  ist  um  zwölf  vermehrt.  Die 
hauptsächlichsten  Umgestaltungen  betreffen  die  Philosophie  der  lieber- 
gangszeit  und  der  Gegenwart,  doch  habe  ich  auch  sonst  vielfach  ein- 
gegriffen. Die  Anlage  des  Ganzen  ist  die  frühere  geblieben,  da  sich 
dieselbe  bewährt  hat.  So  habe  ich  auch  die  Litteratur  in  derselben 
Weise  wie  bisher  aufgeführt,  und  ich  bemerke  nur,  dass  die  vorzüg- 
licheren Arbeiten  durch  gesperrten  Druck  gekennzeichnet  sind,  sowie 
dass  ich  auf  Vorträge  und  Abhandlungen  in  populären  Zeitschriften 
nur  ausnahmsweise  Rücksicht  genommen  habe. 

Einigen  philosophischen  Schriftstellern  bin  ich  für  kürzere  Bei- 
träge und  auch  für  längere  Bemerkungen,  die  diesem  Bande  zu  Gute 
kommen,  zu  aufrichtigstem  Danke  verpflichtet. 

Im  März  1888. 

Max  Heinze. 


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Inhalts  -  Verzeichniss. 


Die  I>hiloaophie  clei»  christlichen  Xeit . 

Dritt«  Pftriodp. 

Die  Philosophie  der  Neuzeit. 


Mit 

§    1.    Die  Philosophie  der  Neuzeit  in  ihren  vier  Hauptabschnitten  .    .  1—3 


Krater  Abschnitt. 
Die  Zelt  des  Uebergnngs  zu  selbständiger  Forschung. 

§  2.   Der  erste  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit   4 

§  3.   Die  Erneuerung  des  Platonismns  und  anderer  Doctrinen  des 

Alterthums   4—18 

§   4.   Der  Protestantismus  und  die  Philosophie   18—24 

§    5.    Bekämpfung  des  Aristoteles  und  Versuche  tu  einer  Reform  der 

Philosophie   24-28 

t;    >>.    Naturphilosophie  and  Theosophie     2*— 43 

§    7.    Anfange  der  Rechts-  und  Staatspliilosophic   43— 4g 


Zweiter  A  bschnitt. 

Die  neuere  Philosophie  oder  die  Zelt  des  ausgebildeten  Gegen- 
satzes zwischen  Kniplrisimis.  DoginatiMims  und  Skcptieismus. 

$   8.    Der  zweite  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit   48—60 

§   9.   Fraucis  Bacon   50—56 

§  10.    Hobbes  und  andere  englische  Philosophen  seiner  Zeit        ...  56 — 62 

§  11.   Descartes,  Anhänger  und  Gegner   62 — 78 

§  12.   Geulincx  und  Malebranche    .   .    78 — 82 

§  13.    Spinoza   82—114 

8  14.   Locke  •   114-125 

S  15    Berkeley  und  andere  englische  Philosophen   120—132 

S  16.    Englischer  Deismus   132—134 

8  17.   Shaftesbnry  and  andere  englische  Moralphilosophen    ...  134 — 139 

S  IS.    Leihniz  und  gleichzeitige  Philosophen   139  —  107 

yj  19.    WoltT,  seine  Gegner  und  Anhänger   107 — 175 

§  20.    Die  deutsche  Aufklärung  und  Populuxphiloaophie   175—183 

$  21.    Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert   183 — 194 

§  22.   Der  hnmesche  Skepticismns  und  seine  Bekämpfer:  Reid,  Beattie  etc.  195 — 204 


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Dritter  Abschnitt. 

Die  neueste  Philosophie  oder  die  Kritik  und  Spekulation 

seit  Kant- 

§  23.   Der  dritte  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit   206—207 

S  24.   Kants  Leben  and  Schriften   207—229 

S  25.    Kants  Kritik   der  reinen  Vernunft  und  metaphysische  Anfangs- 
gründe der  Naturwissenschaft     229— 268 

§  26.    Kanta  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  Religion  in  den  Grenzen 

der  blossen  Vernunft,  Tugendlehre  und  Kechtslehre    ....  268 — 280 

§  27.    Kants  Kritik  der  Urteilskraft   28Q-2H* 

§  28.    Schüler  und  Gegner  Kants.    Reinhold,  Schiller.  F.  H.  Jacobi, 

Fries.  Heck,  Bardiii  u  A   289—303 

B  29.    Fichte  und  Fichteaner   804-317 

§  30.    Sendling   317-381 

§  31.    Schöllings  Anhänger  und  Geistesverwandte.  Pken,  Solger,  Steffens. 

Baader.  Krause  u.  A   331—343 

S  32.   Hegel   343-357 

§  33.    Schleierrnacher   357— 36i> 

§  34.    Schopenhaoer   369-388 

8  36.   Herbart   383-402 

§  36.    Beneke   402-  413 


Vierter  Abschnitt. 
Die  l'hilo>o|>hie  der  Gegen  wart. 

§  37.  Der  vierte  Abschnitt  der  Philosophie  der  Nenzeit   413—416 

8  38.    Anhänger  Hegels   416—432 

§  39.   Gegner  Hegels  und  specnlativer  Theismus   433—443 

g  40.    Anhänger  Herbarts   443—463 

§  41.    Anhänger  Schleiermachers,  Schopenhauers,  Benckes   463 — tflO 

§  42.    Rückgang  auf  Aristoteles  und  andere  Philosophen   460—46-1 

§  43.    Kuckkehr  auf  Kant,  Neukantianer   464-  473 

§  44.    Der  Materialismus  und  die  Naturwissenschaften  .......  473— 4K4 

§  45.    Neue  Systeme.    Lotze,  Fcchner,  Hartmann  u.  A   484—  503 

§  46.    Philosophie  in  Frankreich  und  Belgien   503—517 

§  47.    Philosophie  in  England  und  Nordamerika   517 — 527 

§  48.   Philosophie  in  Italien   527-534 

§  49.   Philosophie  in  Holland,  Dänemark,  Schweden,  Norwegen  u.  and. 

Ländern   534—  540 

Nachträge  und  Berichtigungen  ....   541 

Register   542—668 


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Dritt«  Periode  der  Philosophie  der  christlichen  Zeit. 

Die  Philosophie  der  Neuzeit. 


§  1.  Die  Philosophie  der  Neuzeit  ist  die  Philosophie  seit 
der  Aufhebung  des  (die  Scholastik  charakterisirenden)  Dienstver- 
hältnisses gegen  die  Theologie,  in  ihrem  stufenweisen  Fortgange  zur 
freien,  durch  die  vorangegangenen  Bildungsformen  bereicherten  und 
vertieften,  mit  der  gleichzeitigen  positiv- wissenschaftlichen  Forschung 
und  dem  socialen  Leben  in  Wechselwirkung  stehenden  Erkenntniss 
des  Wesens  und  der  Gesetze  der  Natur  und  des  Geistes.  Ihre  Haupt- 
abschnitte sind:  1.  die  Uebergangszeit  seit  der  Erneuerung  des  Plato- 
nismus,  2.  die  Zeit  des  Empirismus,  Dogmatismus  und  Skepticismus 
von  Bacon  und  Descartes  bis  auf  die  Encyclopädisten  und  Hume, 
3.  die  Zeit  des  kantischen  Kriticismus  und  der  aus  demselben  hervor- 
gegangenen Systeme,  von  Kant  bis  zur  Gegenwart,  4.  die  Philosophie 
der  Gegenwart. 

Ueber  die  Philosophie  der  Neuzeit  handeln  ausser  den  Verfassern  der  um- 
fassenden, Theil  I,  §  4  (7.  Aufl.  S.  8  ff.)  citirten  Geschichtswerke  (Brucker,  Tiedcmann, 
Buhle  in  seinem  Lehrbuche  der  Gesch.  der  Philosophie,  Tennemann,  Knut  Reinhold, 
Ritter,  Hegel,  Lewes,  von  dessen  Geschichte  d.  Philos.  v.  Thaies  bis  Comte,  Bd.  2, 
d.  Gesch.  d.  neueren  Philos.  Berl.  1876  deutsch  erschienen  ist,  u.  A.)  insbesondere 
Folgeude : 

Joh.  Gott  fr.  Buhle,  Gesch.  d.  neuer.  Philosophie  seit  d.  Epoche  der  "Wieder- 
herstellung d.  Wissenschaften,  Gotting.  1800—1805,  vergl.  Grundr.  Th.  I,  S.  9  f. 

Im.  H.  Fichte,  Beiträge  x.  Charakteristik  d.  neueren  Philos.,  Sulzb.  1830; 
2.  Aufl.  1840. 

Joh.  Kd.  Krdmann,  Versuch  e.  wissenschaftl.  Darstellung  d.  Gesch.  d.  neueren 
Philog.,  Riga  und  Leipzig  1834—53;  vergl.  den  zweiten  Band  von  Erdmanns  Grundriss 
d.  Gesch.  d.  Philos.,  Berl.  186G,  3.  Aufl.  1S78. 

Barchou  de  PenhoCn,  Histoire  de  la  philos.  allemande  depuis  Leibniz  jusqu'ä 
nos  jours,  Paris  1836. 

Herrn.  Ulrici,  Gesch.  u.  Kritik  d.  Principien  d.  neuern  Philosophie,  Leipz.  1845. 

J.  N.  P.  Oischingcr,  speculative  Entwickelung  der  Hauptsysteme  der  neuern 
Philos.,  von  Descartes  bis  Hegel,  Schaffhauson  1853—54. 

üeberweg- Heime,  UrnndriM  III.  7.  Anfl.  | 


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2 


§  1.   Die  Philosophie  der  Neuzeit  und  ihre  drei  Hauptabschnitte. 


Kuno  Fist  her,  Gesch.  d.  neuern  Philos.,  Mannheim  u.  Heidelb.  1854  fl\;  2.  Aufl. 
1865  ff.;  3.  Aufl.  1.  Bd.,  1.  u.  2.  Th.  (Descartes  u.  s.  Schule),  München  1878  u.  1880, 
3.  u.  4.  Bd.  (I.  Kant  u.  s.  Lahre),  1882;  2.  Aufl.  2.  Bd.  (Leibniz  u.  s.  Schule)  1867, 
5.  Bd.  (J.  G.  Fichte  u.  seine  Vorgänger),  1884;  l.  Aufl.  C.  Bd.  (Schcllin«),  1872—77. 
Die  Darstellung  behandelt  die  Metaphysiker  von  Descartes  an  bis  Schelling  inclusive. 
Als  Ergänzung  zu  diesem  Werke  dient:  Franc.  Bacon  und  seine  Nachfl"..  Entwickclungs- 
gcschichte  der  Erfahrungsphilosophie,  2.  Aufl.,  Lpz.  1875. 

Carl  Schaarschmidt,  der  Entwickelungsgang  der  neueren  Speculation,  als  Ein- 
leitung in  die  Philos.  der  Geschichte,  krit.  dargestellt,  Bonn  1857. 

Ed.  Zeller,  Gesch.  d.  deutsch.  Philos.  seit  Leibolz,  Münch.  1872  (im  XIII.  Bde. 
der  Gesch.  d.  Wiss.  in  Deutschland),  2.  Aufl.  1875. 

R.  Natale,  storia  della  filosofia  moderna  da  Cartesio  a  Kant.   Vol.  I.  Roma  1872. 

F.  Papillon,  histoire  de  Ja  philosophie  moderne  dans  ses  rapports  avec  le  deve- 
loppement  des  sciences  de  la  nature,  Paris  1876. 

F.  Bowen,  modern  philosophy  from  Descartes  to  Schopenhauer  and  Hartmann, 
London  1877. 

W.  Windel  band,  die  Geschichte  der  neueren  Philosophie  in  ihrem  Zusammen- 
hang mit  der  allgemeinen  Cultur  D,  d.  besonderen  Wissenschaften.  1.  Bd.,  v.  d.  Re- 
naissance bis  Kant,  Lpz.  1878,  2.  Bd.,  die  Blüthezeit  d.  deutsch-  Philos.  1880. 

G.  M.  Bertini,  storia  della  filosofia  moderna,  parte  prima  dal  1596  al  1690, 
Vol.  L,  Torino  1881. 

A.  Stöckl,  Gesch.  der  neueren  Philos.  von  Baeo  u.  Cartesius  bis  zur  Gegenw-, 
2  Bde.,  Mainz  1883,  vgl.  dazu:  Thdr.  Weber,  Stöckls  Gesch.  d.  n.  Ph.,  e.  Beitrag  zur 
Beurtheil.  des  Ultramontanismus,  Gotha  1886. 

R.  Falckenberg,  Gesch.  der  neuer.  Philos.  v.  Nikolaus  v.  Kues  bis  zur  Gegenw., 
Lpz.  1886. 

R.  Eueken,  Beiträge  zur  Gesch.  der  neueren  Philos.,  vornehml.  der  deutschen, 
Hdlb.  1886. 

Auf  besondere  Richtungen  in  der  Philosophie  beziehen  sich: 

W.  v.  Reichenau,  d.  monistische  Philosophie  von  Spinoza  bis  auf  unsere  Tage, 
Cöln  1881. 

G.  Barzellotti,  il  razionalismo  nella  storia  della  filos.  moderna  sino  al  Leibniz, 
Roma  1881. 

Von  der  Geschichte  der  Naturphilosophie  seit  Bacon  handelt  Jul.  Schaller, 
Leipz-  1841 — 44,  J.  Soury,  de  hylozoismo  apud  recentiores,  Paris  1881,  auch  deutsch 
übers,  in:  Kosmos,  Bd.  X,  1881/82.  Ueber  die  Lehren  von  Raum,  Zeit  und  Mathe- 
matik in  der  neuern  Philos.  handelt  Jul.  Bau  mann,  Berlin  1868—69;  vergl.  auch 
August  Tabulski,  über  den  Einfluss  der  Mathem.  auf  die  geseh.  Entw.  d.  Philos.  bis 
auf  Kant,  Jenens.  Inaug.-Diss.,  Leipzig  1868.  Ueber  die  Realität  der  Aussenwelt  in 
der  Philos.  v.  Descartes  bis  Fichte  H.  Kcferstein,  Co.'then  1883.  Ueber  die  christ- 
lichen Mystiker  seit  dem  Reformationszeitalter  handelt  Ludw.  Noaek,  Königs!».  1853; 
über  die  englischen,  französischen  und  deutschen  Freidenker  handelt  derselbe,  Bern 
1853 — 55.  Ueber  die  rationalistische  Denkart  in  Europa  handelt  Will.  Edw.  Hartpole 
Lecky,  history  of  the  rise  and  influence  of  the  spirit  of  rationalism  in  Europa,  1.  u. 
2.  Aufl.,  London  1865,  3.  Aufl.  1866  (deutsch:  Gesch.  d.  Aufklärung  etc.  von  Heinr. 
Jolowicz,  2  Bde.,  Leipzig  1867—68,  2.  Aufl.  1870-71).  Vergl.  H.  Dean,  the  history 
of  civilisation,  New-York  and  London  1869.  Geschichte  der  christl.  Religions- 
phil os.  seit  der  Reformation,  1.  Bd.  bis  auf  Kant,  2.  Bd.  v.  Kant  bis  zur  Gegenw., 
von  G.  Ch.  B.  Pünjer,  Braunschweig  1880,  83.  O.  Pfleiderer,  Religionsphil,  auf 
geschichtl.  Gründl.,  2.  Aufl.,  1.  Bd.:  Gesch.  d.  Religionsphilosophic  v.  Spinoza  bis  auf 
d.  Gegenw.,  Berl.  1884.  Ueber  die  Gesch.  der  Beweise  f.  d.  Dasein  Gottes  von  Car- 
tesius  bis  Kant  handelt  A.  Krebs,  Jena  1876.  S.  auch  G.  Runze,  der  ontolog.  Gottesbew. 
Krit.  Darstell,  seiner  Gesch.  seit  Anscliu  bis  auf  d.  Gegenw.,  Halle  1881  (auch  in  d. 
Zeitschr.  f.  Philos.  u.  philos.  Kritik  1880  und  1881). 

Die  Geschichte  der  Psychologie  betrifft:  Louis  Fern,  la  psychologie  de  l'association 
depuis  Hobbes  jusqu'ü  nos  jours,  Paris  1883.  Ueber  die  Geschichte  der  Ethik  in  der 
Neuzeit  handeln  insbesondere:  J.  Matter,  hist.  des  doctrines  morales  et  politiques  des 
trois  derniers  siecles,  Paris  1836.  H.  F.  W.  Hinrichs,  Gesch.  der  Rechts-  und  Staats- 
prineipien  seit  der  Reform.,  Leipzig  1848 — 52.  Vict.  Cousin,  Cours  d'histoire  de  la 
Philosophie  morale  au  XVIIP  siede.  5  vol.,  Paris  1840—41.  I.  H.  Fichte,  die  philos. 
Lehren  v.  Recht,  Staat  u.  Sitte  seit  d.  Mitte  d.  18.  Jahrb.,  Leipz.  1850.  F.  Vorländer, 
Gesch.  d.  philos.  Moral,  Rechts-  und  Staatslehre  der  Engländer  und  Franzosen  mit 
Einschluss  des  Macchiavell,   Marburg  1855.     Simon  S.  Laurie,  notes  expository  and 


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§  1.    Die  Philosophie  der  Neuzeit  und  ihre  drei  Hauptabschnitte. 


3 


critical  on  certain  british  theories  of  morals,  Edinburg  1868.  F.  Jodl,  Geschieht«  der 
Ethik  in  d.  neuem  Philo«.,  1.  Bd.,  (bis  zum  Ende  de«  18.  Jahrh.s),  Stuttg.  1882.  Auch 
auf  die  philosophische  Staatslehre  gebt  Hob.  v.  Mo  hl  ein  in  seiner  Gescb.  u.  Litt.  d. 
Staatswissenschaften,  in  Monographien  dargest.,  Bd.  I — III,  Erlang.  1 8f)5  —  5H,  ebenso 
J.  C.  Bluntschli,  Gesch.  des  allgem.  Staatsrechts  u.  d.  Politik  seit  d.  16.  Jahrb.  bis 
zur  Gegenw.,  Münch.  1804  (Gesch.  d.  Wiss.  in  Deutschland  in  d.  neuern  Zeit,  Bd.  I). 
Die  Gesch.  der  Aesthetik  in  Deutschland  stellt  Herrn.  Lutze  dar  im  VII.  Bande  der 
Gesch.  d.  Wiss.  in  Deutschland,  München  1868.  K.  Hnr.  v.  Stein,  d.  Entstehung 
der  neueren  Aesthetik.  Stuttg.  1886. 

Wesentliche  Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  enthalten  auch  mehrere 
litteraturgesehichtliehe  Werke,  wie  die  von  Gervinus,  Hillebrand,  Julian  Schmidt,  Aug. 
Koberstein,  besonders  Herrn.  Hettner,  Litteraturgesch.  des  18.  Jahrh.s,  in  drei  Theilen: 
die  englische  Litt,  von  1660  bis  1770,  die  französ.  Litt.  u.  d.  deutsche  Litt,  im  18.  Jahr- 
hundert, der  letzte  Theil  in  4  Bänden,  ferner  Werke  über  die  Geschichte  der  Pädagogik, 
wie  von  Karl  v.  Räumer,  Karl  Schmidt,  Frdr.  Paulsen  (Gesch.  des  gelehrt.  Unterrichts 
auf  d.  deutsch.  Schulen  u.  Universitäten  vom  Ausgang  des  Mittelalters  bis  zur  Gegenw.) 
u.  A.,  der  Staats-  und  Rechtsichre,  der  Theologie  und  der  Naturwissenschaften.  Reich- 
haltige litterarische  Nachweise  findet  man  besonders  bei  Gumposcb,  die  philos.  Litt, 
der  Deutschen  von  1400  bis  1850,  Regensburg  1851,  wie  auch  in  den  anderen  oben, 
Theil  I,  §  4,  citirten  Schriften.  Die  bloss  auf  einzelne  Zeitabschnitte,  insbesondere 
auf  die  neueste  Philosophie  seit  Kant  bezüglichen  Schriften  werden  unten  Erwähnung 
finden. 

Einheit,  Dienstbarkeit,  Freiheit  sind  die  drei  Verhältnisse,  in  welche 
nacheinander  die  Philosophie  der  christlichen  Zeit  zu  der  kirchlichen  Theologie 
getreten  ist.  Das  Verhältniss  der  Freiheit  entspricht  dem  allgemeinen  Charakter 
der  Neuzeit,  welcher  in  der  aus  den  mittelalterlichen  Gegensätzen  wiederherzu- 
stellenden harmonischen  Einheit  liegt  (vergl.  Grdr.  I,  §  5  und  IX  §  2).  Die  Freiheit 
des  Gedankens  nach  Form  und  Inhalt  wurde  von  der  Philosophie  der  Neuzeit 
stufenweise  errungen,  zuerst  unvollkommen  mittelst  des  blossen  Wechsels  der 
Autorität  durch  Anlehnung  an  Systeme  des  Alterthums  ohne  die  Umbilduug, 
welche  die  Scholastik  mit  dem  aristotelischen  vollzogen  hatte,  dann  vollständiger 
mittelst  eigener  Erforschung  der  Natur  und  endlich  auch  des  geistigen  Lebens. 
Die  Uebergangszeit  ist  die  Periode  des  Aufstrebens  zur  Selbständigkeit  Die 
Zeit  des  Empirismus  und  Dogmatismus  charakterisirt  sich  durch  methodische 
Forschungen  und  umfassende  Systeme,  die  auf  dem  Vertrauen  beruhen,  mittelst  der 
Erfahrung  und  des  Denkens  selbständig  zur  Erkenntniss  der  natürlichen  und 
geistigen  Wirklichkeit  gelangen  zu  können.  Der  dritte  Abschnitt  wird  angebahnt 
durch  den  Skepticismns  und  begründet  durch  den  Kriticismus,  der  die  Erforschung 
der  Erkenntnisskraft  des  Subjectes  für  die  nothwendige  Basis  alles  streng  wissen- 
schaftlichen Philosophirens  hält  und  zu  dem  Resultate  gelangt,  dass  das  Denken 
die  Wirklichkeit,  wie  sie  an  sich  selbst  sei,  nicht  zu  erkennen  vermöge,  sondern 
auf  die  Erscheinungswelt  beschränkt  bleibe,  über  welche  nur  das  moralische  Be- 
wusstsein  hinausführe;  dieses  Resultat  wird  von  den  folgenden  Systemen  negirt. 
Doch  sind  diese  sämmtlich  dem  kantischen  Gedankenkreise  entstammt,  der  auch 
für  die  Philosophie  unserer  Gegenwart  von  wachsender  unmittelbarer,  nicht  bloss 
von  historischer  Bedeutung  ist.  (Vgl.  A.  Helfferich,  d.  Analogien  in  d.  Philos., 
e.  Gedkblatt  auf  Fichtes  Grab,  Berl.  1862.  Conr.  Hermaiui,  d.  pragm.  Zshang  in 
d.  Gesch.  d.  Phil.,  Dresd.  1863;  der  Gegensatz  des  Classischen  u.  Romantischen  iu 
d.  neueren  Philos.,  Lpz.  1877.  Kuno  v.  Reichlin-Meldegg,  d.  Parallelism.  d.  alt.  u. 
neu.  Phil.,  Leipz.  u.  Heidelb.  1865.) 


1* 


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§  2.   Der  erste  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit. 


Erster  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzelt. 

Die  Zeit  des  Uebergangs  zu  selbständiger  Forschung. 


§  2.  Den  ersten  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit 
charakterisirt  der  Uebergang  von  der  mittelalterlichen  Gebundenheit 
an  die  Autorität  der  Kirche  und  des  Aristoteles  erst  zu  selbständiger 
Wahl  der  Autoritäten,  dann  zu  Anfangen  eigener,  autoritätsfreier 
Forschung,  jedoch  noch  ohne  völlige  Befreiung  der  neuen  philosophischen 
Versuche  von  der  Herrschaft  des  mittelalterlichen  Geistes  und  ohne 
streng  methodische  Ausbildung  selbständiger  Systeme. 

Uebcr  die  geistige  Bewegung  in  der  Uebergangszeit  handeln  Mor.  Carrtere,  d.  Welt- 
anschauung d.  Reformationszeit,  Stuttg.  u.  Tüb.  1847,  2.  Aufl.  Lpz.  1887;  Jules  Joly, 
histoire  du  mouvement  intellectuel  au  IG"  siecle  et  pendant  la  premiere  partie  du  I7e, 
Paris  1860.  Albert  Desjardins,  les  moralistcs  francais  du  XVI«  siecle,  Paris  1870.  Ch. 
Waddington,  les  antecedents  de  la  philos.  de  la  renaissance,  Par.  1873.  Vgl.  die  zu 
§§  3— C  citirten  Schriften. 

§  3.  Unter  den  Ereignissen,  welche  den  Uebergang  vom  Mittel- 
alter zur  Neuzeit  herbeigeführt  haben,  ist  das  früheste  das  Auf- 
blühen der  classischen  Studien,  negativ  veranlasst  durch  die 
Einseitigkeit  und  immer  grössere  Dürre  der  Scholastik,  positiv  durch 
die  Reste  antiker  Kunst  und  Litteratur  in  Italien,  die  mehr  und  mehr 
bei  wachsendem  Wohlstande  einen  empfänglichen  Sinn  fanden  (Dante, 
Petrarca,  Boccaccio),  und  durch  die  engere  Berührung  des  Abend- 
landes, besonders  Italiens,  mit  Griechenland,  zumeist  seit  der  Flucht 
vieler  gelehrten  Griechen  nach  Italien  zur  Zeit  der  von  den  Türken 
drohenden  Gefahr  und  der  Einnahme  Constantinopels.  Es  entstand 
so  der  Humanismus,  welcher  die  erstrebte  rein  menschliche  Bildung 
aus  den  Werken  der  classischen  Schriftsteller  des  Alterthums  gewinnen 
zu  können  glaubte.  Die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  erleichterte 
die  Verbreitung  litterarischer  Bildung.  Die  Bekämpfung  des  scho- 
lastischen Aristotelismus  durch  die  wieder  bekannt  gewordene  und  mit 
enthusiastischem  Interesse  aufgenommene  platonische  und  neu- 
platonische Doctrin  war  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  das  erste 
wesentliche  Resultat  der  erneuten  Beziehung  zu  Griechenland.  Ge- 
mi8tos  Plethon,  der  leidenschaftliche  Bestreiter  der  aristotelischen 
Lehre  und  begeisterte  Platoniker,  der  gemässigtere  Platoniker  Bes- 
sarion  und  der  verdienstvolle  Uebersetzer  des  Piaton  und  des  Plotin 
Marsilius  Ficinus  sind  die  bedeutendsten  unter  den  Erneuerern  des 
Piatonismus.  Ihren  Mittelpunkt  fand  diese  Richtung  in  der  pla- 
tonischen Akademie  zu  Florenz  unter  dem  besonderen  Schutze  und 


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§  3.  Die  Erneuerung  des  Platoniamus  und  anderer  Doctrlnen  des  Alterthums.  5 

eigener  Betheiligung  der  Mediceer.  —  Die  Autorität  des  Aristoteles 
bekämpfte  auch  Laurentius  Valla,  der  in  der  Ethik  den  Epikureismus 
vertrat,  während  Faber  Stapulensis  in  Paris  und  Agricola  den 
Aristoteles  aus  den  Quellen  zu  verstehen  suchten  und  sich  zu  ihm 
bekannten. 

Die  aristotelische  Doctrin  wurde  überhaupt  durch  Rückgang 
auf  den  Urtext  und  durch  Bevorzugung  griechischer  Commentatoren 
vor  arabischen  in  grösserer  Reinheit,  als  durch  die  Scholastiker,  von 
classisch  gebildeten  Aristotelikern  vorgetragen.  Um  Uebersetzungen 
der  Schriften  des  Aristoteles  bemühte  sich  besonders  der  Wissenschaften 
und  Künste  fördernde  Papst  Nicolaus  V.  Namentlich  in  Oberitalien, 
wo  seit  dem  vierzehnten  Jahrhundert  die  Deutung  des  Aristoteles  im 
Sinne  des  Averroes  (Ibn  Roschd)  üblich  war,  wurde  das  Ansehen 
dieses  Commentators  von  einem  Theile  der  Aristoteliker  zu  Gunsten 
griechischer  Interpreten,  vorzüglich  des  Alexander  von  Aphrodisias, 
bekämpft.  Jener  behauptete  sich  jedoch,  freilich  in  beschränkterem 
Maasse,  besonders  zu  Padua  bis  gegen  die  Mitte  des  siebenzehnten 
Jahrhunderts.  Die  averroistische  Doctrin,  dass  nur  die  Eine  dem  ganzen 
Menschengeschlechte  gemeinsame  Vernunft  unsterblich  sei,  kam  mit 
der  alexandristischen ,  welche  nur  den  weltordnenden  göttlichen  Geist 
als  die  active  unsterbliche  Vernunft  anerkannte,  in  der  Aufhebung 
der  individuellen  Unsterblichkeit  überein;  doch  wussten  die  meisten 
Vertreter  des  Averroismus,  besonders  in  der  späteren  Zeit,  denselben 
der  Orthodoxie  in  dem  Maasse  anzunähern,  dass  sie  nicht  mit  der 
Kirche  in  Widerstreit  geriethen.  Die  Alexandristen,  unter  denen 
Pomponatius  der  bedeutendste  ist,  neigten  sich  zum  Deismus  und 
Naturalismus  hin,  unterschieden  aber  von  der  philosophischen  Wahr- 
heit die  theologische  Wahrheit,  welche  von  der  Kirche  gelehrt  werde, 
der  sie  sich  zu  unterwerfen  erklärten;  die  Kirche  jedoch  lehnte  die 
Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit  ab. 

Ausser  der  platonischen  und  aristotelischen  Doctrin  wurden  auch 
namentlich  später  andere  Philosophien  des  Alterthums  erneut.  Auf 
die  selbständigere  Naturforschung  des  Telesius  und  Anderer  hat  die 
ältere  griechische  Naturphilosophie  einen  beträchtlichen  Einfluss  geübt. 
Den  Stoicismus  haben  Lipsius  u.  A.,  den  Epikureismus  Gassendi, 
den  Skepticismus  Montaigne,  Charron,  Sanchez,  Le  Vayer  und 
Andere  erneut  und  fortgebildet. 

Eine  qnellcnmässige  Darstellung  der  Erneuerung  der  russischen  Litteratur  in  Italien 
enthalten  die  betreffenden  Abschnitte  des  Werkes  von  Girol.  Tiraboschi,  Storia  della 
letterat.  italiana,  13  Bde.,  Modena  1772—82;  Ausg.  in  16  Bdn.,  Mailand  1822—26: 
besonders  in  Tom.  VI,  1  und  VII,  2  (Vol.  VII.  und  XI.  der  Mailänder  Ausgabe). 
Ferner  handeln  darüber  A.  Hm.  Lw.  Heeren,  Gesch.  d.  Stud.  d.  class.  Litt,  seit  d. 
Wiederaufleben  d.  Wissenschaften,  2  Bde.,  Gört.  1797  —  1802  (vergl.  dessen  Gesch.  d. 
class.  Litt,  im  Mttlalt.).    Ernst  Aug.  Erhard.  Gesch.  d.  Wiederaufblühens  wiss.  Bildung, 


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G    §  3.  Die  Erneuerung  des  PlatonismuB  und  anderer  Doctrinen  des  Alterthums. 

vornehmt,  in  Dtsehld.,  Magdeb.  1828—32.  Karl  Hagen,  Deutschlands  litt,  und  relig. 
Verhältnisse  im  Reformationszeitalter,  Erlang.  1841 — 44,  neu  herausg.  von  Herrn.  Hagen, 
3  Bde.,  Frankf.  a.  M.  1868.  Ern.  Ken  an,  Averroes  et  l'AverroYsme,  Paris  1852.  S.  255  ff. 
Guill.  Favre,  Melange»  d'hist.  litt.,  Geneve  1856.  G.  Voigt,  die  Wiederbeleb,  d. 
.  lu--.  Alterth.  od.  das  erste  Jahrhundert  des  Humanismus,  Derl.  1850,  2.  umgoarb.  Aufl., 

I.  Bd.,  Berl.  1880,  2.  Bd.  1881.  Jao.  Burckhardt,  d.  Cultur  d.  Renaiss.  in  Italien  (bes. 
Abschn.  III.:  die  Wiedererweekg.  d.  Alterth.),  Basel  1860,  4.  Aufl.,  besorgt  v.  L.  Geiger, 
Lpz.  1886.  Joh.  Friedr.  Sehröder,  d.  Wiederaufblühen  d.  elass.  Studien  in  Dtschld. 
im  15.  und  zu  Anf.  d.  16.  Jahrh.s,  Halle  1864.  Fritz  Schnitte,  Gesch.  d.  Phil.  d. 
Renaiss.,  Bd.  I.  Geo.  Gem.  Plethon  u.  s.  reformat.  Bestrebgn.,  Jena  1874.  L.  Geiger, 
Renaissance  u.  Humanism.  in  Ital.  u.  Deutschi.,  Berl.  1882.  S.  aucb  H.  v.  Stein,  sieben 
Bücher  zur  Geschichte  des  Piatonismus,  Bd.  3:  Verhältnis«  des  Piatonismus  zur  Philos. 
der  christl.  Zeiten,  Göttingen  1875. 

Ueber  die  Lehre  von  der  zweifachen  Wahrheit  handelt  Max  Maywald, 
Berlin  1871. 

Ueber  Dantes  Weltanschauung  handeln  Ozanam,  Wegele,  auch  Hugo  Dolff, 
Dante  Aligh.,  Leipz.  1869  (der  Beziehungen  Dantos  zum  Piatonismus  und  zur  Mystik 
nachzuweisen  sucht),  J.  A.  Scartazzini,  Dante  AI.,  s.  Zeit,  s.  Loben  u.  s.  Werke. 
Berlin  1869,  C.  Vasallo,  Dante  A.  lilosofo  o  padre  della  letteratura  ital.,  Asti  1872  u.  A. 
(s.  Grundr.  II,  §  33,  7.  Aufl.,  S.  237  f.). 

Ueber  Petrarca  vgl.  J.  Bonifas,  de  Petrarcha  philosopho,  Par.  1863;  Moggiolo 
de  la  philos.  morale  de  Petrarque,  Nancy  1864.  Im  Allgem.  s.  über  ihn:  Gust.  Koer- 
ting,  P.s  Leben  u.  Werke,  Lpz.  1878. 

Ueber  Boccaccio  s.  Gust.  Koerting,  B.s  Leben  u.  Werke,  Lpz.  1880. 

Ueber  die  f lorentinische  Akademie  handelt  R.  Sieveking,  Gött.  1812.  Ueber 
Plethon  handeln:  Leo  Allatius,  de  Georgiis  diatriba,  in:  Script.  Byzant.,  Par.  1651, 
XIV,  p.  383—392,  wiederabg.  in  Fabric.  Bibl.  Gr.  X,  Hamburgi  1721  (de  Georgiis 
S.  549—817),  S.  739—758,  ed.  nov.,  curante  Gottl.  Christ.  Harless,  XII,  Hamburg  1809 
(de  Georgiis  S.  1  — 136),  S.  85 — 102.  Boivin,  querelle  dos  pbilosophes  du  XV°  siecle, 
in:  Memoir.  de  litt,  tires  des  Registres  de  l'Acad.  R.  des  lnscript.  et  bell,  letu  tome 

II,  715  ff.,  deutsch  in  Hissmanns  Magazin,  Bd.  I,  Göttingen  u.  Lemgo  1778,  S.  215 
bis  242.  W.  Gass,  Gennadius  und  Pletho,  Aristotelism.  und  Platnnisni.  in  d.»griech. 
Kirche,  nebst  e.  Abb.  üb.  d.  Bestreitung  d.  Islam  im  Mittelalt.:  2.  Abth.:  Gciinadii  et 
Plethonis  scripta  quaedam  edita  et  inedita,  Breslau  1844.  Ferner:  ll>jj{h»voc  vöuwy 
ovyyyatfiji  rd  ato^öfjit'u ,  Plethon,  tratte  des  lois,  ou  rocueil  dos  fragments,  on  partie 
inedits,  de  cet  ouvrage,  par  C.  Alexandre,  traduction  pur  A.  Pellissier,  Paris  1858,  und 
A.  Füssen,  Analokton  d.  mittel-  und  neugriech.  Litt.  IV,  2:  Plethons  Denkschriften 
über  den  Peloponnes,  Leipz.  1860.    Fritz  Schnitte,  Geo.  Gomistos  Plethon,  s.  o. 

Bessarionis  Opera  omnia,  ed.  Mignc  (Patrol.  graee.  T.  CLXI),  Par.  1866  (enthält 
nicht  alle  gedruckten  Schriften  des  B.).  Ueber  ihn  handeln:  AI.  Bandinius,  de  vita 
et  rebus  gestis  Bessarionis  commentarius,  Rom  1777,  Hacke.  Hartem  1840,  0.  Raggi, 
Rom  1844,  Wolfg.  v.  Goethe,  Siud.  u.  Forschungn.  üb.  d.  Leb.  u.  d.  Zeit  des  Cardi- 
nals  B.,  L.  Heft,  als  Mscpt.  gedr.,  Jona  1874,  H.  Vast,  Le  eardinal  Bessarion.  etude 
sur  la  chretiente  et  la  rcnaissanco  vers  le  miliou  du  XV*  siecle,  Puris  1878,  Sadov, 
Bessarion  de  N.,  son  röle  au  concile  de  Ferrara-Florence,  ses  oeuvres  theologiques  et  sa 
place  dans  Ihistoire  de  l'humanisme,  St.  Petersburg  1883.  Vergl.  auch  Boissonade, 
Anecd.  gr.  V.  p.  454  ff.  Des  Marsilius  Ficinus  Uoborsetzung  dos  Piaton  ist  Flor. 
1483 — 84,  des  Plotin  1492  zuerst  erschienen,  seine  Schrift:  Theologia  Platonica  Flor. 
1482,  seine  sämmtlichen  Schriften  mit  Ausnahme  der  Uoborsetzung  des  Piaton  und  des 
Plotin  Basil.  1576.  Vgl.  über  ihn:  Leop.  Galeotti,  saggio  intorno  alla  vita  od  agli 
seritti  di  Marsilio  Ficino,  in  Archivio  storico  Italiano,  nuova  serie  1859,  L.  Forri,  di 
Mars.  Ficino,  in:  La  filos.  delle  sc.  Italiane,  1883,  Vol.  28;  dere.  Platonismo  di  Ficino, 
obend.  1884,  Vol.  29.  Die  Schriften  des  Jobann  Pico  von  Mirandola  sind  zu  Bo- 
nonia  1496,  die  des  Johann  und  seines  Neffen  Johann  Franz  zusammen  zu  Busel  1572 
bis  1573  und  1601  erschienen.  Vergl.  Georg  Dreydorff,  das  System  des  Jobann  Pico 
von  Mirandola  und  Concordia,  Marburg  1858.  Calori  Cesis,  Giov.  P.  della  Mirandola 
detto  la  feniee  degli  ingegni,  2.  ed.,  Bologna  1872.  Vincenzo  di  Giovanni,  Pico  della 
Mirandola,  filosofo  platonico,  Firenze  1882. 

Ueber  Reuchlin  handeln  Meyerhoff,  Berlin  1830.  L.  Geiger,  Leipz.  1871.  Ueber 
Hutten  handelt  D.  F.  Strauss,  Leipz.  1858—60.  Die  beste  Ausg.  s.  Schriften  bat 
Böeking  besorgt,  Leipz.  1858 — 59,  nebst  Index  hibliogr.  Huttenianus,  Leipz.  1858.  Die 
Schrift  des  Agrippa  von  Nettesheim  de  oeculta  philos.  ist  Colon.  1510,  1531—33, 


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§  3.  Die  Eraenerung  des  Platonismas  und  anderer  Doctrinen  des  Alterthums.  7 

und  die  Schrift  de  incertitndine  et  vanitate  scientiarium  Oed.  1527  und  1534,  Par.  1529, 
Antw.  1530  erschienen,  seine  Werke  sind  zu  Lyon  1550,  auch  1600  und  deutsch  zu 
Stuttgart  1856  gedruckt  worden.  Eine  Lebensbeschreibung  des  Agrippa  ist  enthalten  im 
ersten  Theile  von  F.  J.  v.  Bianco,  die  alte  Universität  Köln,  Kfdn  1858.  Chr.  Sigwart, 
C.  A.  v.  Nettesheim,  in:  Kl.  Schrift.  L,  S.  1—24. 

Des  Laurentius  Valla  Werke  sind  Bas.  1540 — 43,  einzelne  Schriften  schon 
früher  gedruckt  worden.  Vergl.  über  ihn  Joh.  Vahlen,  Lorenzo  Valla,  ein  Vortrag 
(gehalten  1864),  2.  Abdr.,  Berlin  1S70.  A.  Paoli,  Lor.  V.,  ovvera  la  filosofia  della 
politica  nel  rinaseimento.  Parte  I,  Koma  1872.  D.  G.  Monrad,  L.  V.  u.  das  Concil 
zu  Florenz,  aus  dem  Dünisch,  von  A.  Michelsen,  Gotha  1882.  Ucber  Valla's  dialecticae 
disputationes  referirt  Prantl,  Gesch.  d.  Log.  IV,  Lpz.  1H70,  S.  161—67.  Ueber  Angelus 
Politianus  handeln  Jacob  Mähly,  Angelus  Politianus,  ein  Culturbild  aus  der  Re- 
naissance, Leipz.  1864. 

Die  Werke  des  Agricola  sind  cura  Alardi,  Col.  1539,  2  Bde.,  erschienen. 
Ausser  seinen  Erklärungen  zu  Boethius,  de  consolat  phil.  ist  besonders  zu  erwähnen 
<lie  Schrift  de  inventione  dialectica,  1480,  wieder  gedruckt  I-ovan.  1515,  Argcnt.  1522, 
Colon.  1527,  Par.  1538,  Colon.  1570,  im  Auszug  Colon.  1532.  Ueber  ihn:  Joannes 
Saxo  (Phil.  Melanchthon),  oratio  de  vita  R.  A.,  1539.  J.  P.  Tressling,  vita  et  merita 
R.  Agricolac,  1830. 

Gesammtausgube  der  Schriften  des  Erasmus,  veranstaltet  von  Beatus  Rhenanus, 
erschien  in  9  Foliobänden,  Basel  1540  —  41,  vermehrt  ist  die  Ausgabe,  welche  Clericus 
besorgte,  Leiden  1703 — 1706,  10  Foliobände.  Ueber  Erasmus  handeln  F.  O.  Stil  hardt, 
Leipz.  1870,  Phil.  Woker,  Diss.,  Paderb.  1872,  am  ausführlichsten  H.  Durand  de  Laur 
(Erasme.  precurseur  et  initiateur  de  l'esprit  moderne,  2  vols.),  Par.  1872  und  R.  B.  Drum- 
mond  (E.,  his  lifo  and  character  as  shown  in  his  correspondence  and  wnrks),  Lond.  1873. 

Pomponatii  de  immort.  animne,  Bonon.  1516,  Ven.  1524,  Basil.  1634.  ed.  Chr. 
G.  Bardiii,  Tub.  1791;  Apologia  (gegen  die  Angriffe  Contarinis),  Bonon.  1517;  Defen- 
sorium  (contra  Niphum),  Bonon.  1519;  de  fato,  libero  arbitrio,  praedest.,  provid.  Dei 
libri  quinque,  Bonon.  1520,  Basil.  1525,  1556,  1567;  de  namralium  effeemum  admiran- 
dorum  causis  s.  de  incantationibus  über,  verfasst  1520,  Basil.  1556,  1567;  de  nutritione 
et  augmentatione,  Bonon.  1521.  Ueber  ihn  handeln  Francesco  Fiorentino,  Pietro  Pom- 
ponazzi,  Florenz  1868,  G.  Spicker,  Inaug.-Diss.,  München  1868,  Ludw.  Muggenthaler, 
Inaug.-Diss.,  München  1868,  B.  Podestä,  Bologna  1868.  L.  Ferri,  Firenze  1872 
(estratto  dall'  Archiv,  stor.  Italiano),  la  psicologia  di  P.  Pomponazzi  (commento  al  de 
anima  di  Aristotele),  Roma  1877,  Ad.  Franck  in  seinen  Moralistes  et  Philosophes, 
Par.  1872,  S.  85 — 136.  Ueber  Cesare  Cremonini  handelt  Mabilleau,  etude  historique 
sur  la  phil.  de  la  renaiss.  en  Italie,  Paris  1881. 

Gassendi,  Exercitationum  paradoxicarum  adv.  Aristoteleos,  1.  I.  Gratianopol. 
1624,  1.  II.  Hag.  Com.  1659;  de  vita,  moribus  et  doctr.  Epicuri,  Lugd.  Bat  1647,  . 
Hag.  Com.  1656;  animadversiones.  in  Diog.  L.  de  vita  et  philos.  Epic,  Lugd.  Bat.  1649; 
syntagma  philos.  Epicuri,  Hag.  Com.  1655,  1659;  Petri  Gassendi  opera,  Lugd.  1658 
und  Flor.  1727.  Einen  Abriss  seiner  philosophisch.  Ansichten  giebt  sein  Freund  Franc. 
Bernier,  abrege  de  la  phil.  d.  G.,  8  vol.,  Lyon  1678  u.  1684.  Vgl.  über  ihn  Ph.  Damiron 
in  seiner  histoire  de  la  philos.  «u  XVII«  siede,  Paris  1840,  u.  Lange,  Gesch.  des  Materia- 
lismus, Bd.  1.  Ueber  Senncrt  s.  unt  S.  38.  Magnenus,  Democritus  reviviscens  sive 
de  atomis,  mit  einem  Anhange:  de  vita  et  philosophia  Democriti,  Pavia  1646,  Leydeu 
1648,  Haag  1658,  Lond.  1688.  Maignanus,  cursus  philosophicus,  Tolosae  1652,  u. 
Lugd.  1673. 

Montaigne,  Essais,  Bordeaux  1580,  und  seitdem  bis  auf  die  Gegenwart  sehr 
häufig;  neuerdings  avec  Ies  notes  de  tous  Ies  commentateurs  choisies  et  completees  par 
M.  J.  V.  Le  Clerc,  et  une  nouvelle  etude  sur  M.  par  Prevost-Paradol,  Paris  1865; 
ferner  M.  Montaigne,  Essais,  texte  original  de  1580,  avec  Ies  variantes  des  editions  de 
1582  et  1587,  publ.  par  R.  Dezcimeris  et  H.  Barckhausen,  Bordeaux  1870;  aecom- 
pagnes  d*nnc  notice  sur  sa  vie  et  ses  ouvrages,  d'une  etude  bibliographique  etc.  par 
E.  Courbet  et  Ch.  Royer,  Par.  1872;  reimprimes  sur  l'edit.  orig.  de  1588  par  H.  Motheau 
et  D.  Jouaust,  Par.  1873.  Ueber  ihn  handeln  u.  A.:  Eugene  Bimbenet,  Ies  Essais  de 
M.  dan8  lenrs  rapports  avec  la  legislation  moderne,  Orleans  1864.  A.  Leveau,  Etude 
sur  les  essais  de  Montaigne,  Paris  1870.  H.  Thimme,  der  Skepticismus  Montaigne». 
I.  D.,  Jena  1876.  Arend  Henning,  der  Scepticism.  M.s  u.  seine  geschichtl.  Stellung, 
I.  D.,  Jena  1879. 

Charron,  de  la  sagesse,  Bordeaux  1601  u.  C,  herausg.  von  Renouard,  Dijon 
1801  (das  skeptische  Hauptwerk  Charrons;  die  frühere  Schrift:  trois  verites  contre  tous 
athees,  idolatrcs,  juifs,  Mohametans,  heretiques  et  schismatiques,  Paris  1594,  ist  dog- 


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8    §  3.  Die  Erneuerung  des  Platonismus  uud  anderer  Doctrinen  des  Alterthums. 

niatischer  gehalten).  —  Sanctius,  tractatus  de  multum  nobili  et  prima  universali 
seientia,  quod  nihil  seitur,  Lugd.  1581  u.  ö.;  tractatus  philosophici,  Rotterdam  1649. 
Ueber  ihn  handelt  Ludwig  Gerkrath,  Wien  1860.  —  Le  Vayer,  cinq  dialogues  faits 
a  Fimitatiun  de«  amiens  par  Horatius  Tuben»,  Möns  1673  u."  ö.;  Oeuvres  (ohne  jene 
Dialoge),  Par.  1654 — 56  u.  ö.  —  Simon  Foucher,  histoire  des  Aeademiciens ,  Paris 
1600;  de  philo«.  Academica,  Paris  1692.  Ueber  ihn  handelt  F.  Itabbe,  l'ahbe  Simon 
Foucher,  chanoine  de  la  Sainte  Chapelle  de  Dijon,  Dijon  1867. 

Ueber  die  Geschichte  des  Skepticismus  der  neueren  Zeit  handelt:  H.  Was, 
geschiedene  van  het  Scepticisme  der  zeventiende  eeuw  in  de  vornamste  Europeesche 
Staaten.    1.  afl.  Geschiedenis  van  het  Scepricisme  in  England,  Utrecht  1870. 

In  dem  Maassc,  wie  durch  Gewerbefleisa  und  Ilandel  der  Wohlstand  zunahm, 
Städte  entstanden  und  ein  freier  Bürgerstand  aufkam,  der  Staat  sich  consolidirte 
und  an  den  Höfen,  bei  dem  Adel  und  unter  den  Bürgern  neben  den  Kriegen  und 
Fehden  auch  für  die  Ausschmückung  des  Lebens  durch  die  Künste  des  Friedens 
Müsse  blieb,  erwuchs  eine  weltliche  Bildung  neben  der  geistlichen.  Dichter  priesen 
Kraft  und  Schönheit;  der  Mannesmuth,  der  sich  in  hartem  Kampfe  bewährt,  die 
Zartheit  des  Gefühls  in  der  Minne  W'onne  und  Leid,  die  Innigkeit  der  Liebe,  die 
Gluth  des  Hasses,  der  Adel  der  Treue,  die  Schmach  des  Verraths,  jedes  natür- 
liche und  sittliche  Gefühl,  das  sich  in  der  Gemeinschaft  des  Menschen  mit  dem 
Menschen  entwickelt,  fand  in  weltlicher  Dichtung  einen  tief  das  Gemüth  ergreifen- 
den Ausdruck.  Diese  humane  Bildung  erschloss  auch  den  Sinn  für  antike  Dich- 
tung und  Weltanschauung.  Am  frühesten  erwachte  in  Italien  wiederum  die  niemals 
ganz  erloschene  Liebe  zu  der  alten  Kunst  und  Litteratur.  An  die  politischen  Partei- 
kämpfe knüpfte  sich  Verständniss  und  Interesse  für  die  altrömische  Geschichte; 
das  sociale  Leben  des  emporblühenden  Bürgerstandes  und  der  zu  Reichthum  und 
Macht  gelangten  edlen  Geschlechter  gab  Müsse  und  Sinn  für  eine  Wiederbelebung 
der  erhaltenen  Beate  antiker  Cultur.  Die  Beschäftigung  mit  der  römischen  Litte- 
ratur rief  das  Bedürfniss  nach  Kenntniss  der  griechischen  hervor,  die  in  Griechen- 
land selbst  sich  noch  grossentheils  erhalten  hatte.  Man  begann  dieselbe  dort  auf- 
zusuchen schon  lange,  bevor  das  Herannahen  der  Türken  und  die  Einnahme 
Constantinopels  (1453)  gelehrte  Griechen  zur  Auswanderung  nach  Italien  bestimmte. 
Man  würde,  sagt  Heeren  (Gesch.  des  Studiums  der  class.  Litt,  seit  dem  Wieder- 
•  aufleben  der  Wissenschaften,  Bd.  I,  S.  283),  die  griechischen  Musen  nach  Italien 
geholt  haben,  wenn  sie  sich  nicht  dahin  geflüchtet  hätten. 

Dante  Alighieri  (1265—1321),  dessen  kühner  Dichtung  vom  Weltgericht  die 
scholastische  Verflechtung  der  christlichen  Theologie  mit  der  aristotelischen  Welt- 
ansicht zur  theoretischen  Grundlage  dient,  hat  seinen  Sinn  für  poetische  Form 
besonders  an  Virgil  gebildet.  Francesco  Petrarca  (20.  Juli  1304  bis  18.  Juli 
1374),  der  Sänger  der  Liebe,  hegte  die  mächtigste  Begeisterung  für  die  alte  Litte- 
ratur; er  war  mit  der  römischen  innig  vertraut  und  hat  sich  durch  eigene  Samm- 
lung von  ManuBcripten  und  durch  den  Eifer  zur  Aufsuchung  und  zum  Studium 
der  Werke  der  Alten,  womit  er  Andere  zu  erfüllen  wusste,  ein  unschätzbares 
Verdienst  um  die  Erhaltung  und  Verbreitung  derselben  erworben.  Petrarca  liebte 
den  Aristoteles  nicht  und  sprach  sich  ziemlich  rücksichtslos  über  ihn  aus,  den 
Piaton  verehrte  er  dagegen.  Doch  kannte  er  Beide  nur  wenig.  Obgleich  er  eine 
Reihe  der  platonischen  Dialoge  im  Urtext  besass,  konnte  er  sie  doch  idcht  lesen. 
Er  hasste  den  ungläubigen  Averroismus.  Ein  populäres  und  paränetisches  Philo- 
sophiren in  der  Weise  des  Cicero  und  des  Seneca  zog  er  der  aristotelischen  Schul- 
philosophie vor.  In  seinen  Schriften  wie  im  Leben  wollte  er  ein  Stoiker  sein.  Von 
seinen  philosophischen  Tractaten  ist  der  bedeutendste  de  contemptu  mundi  colloqn.  III, 
und  secretum  suuin  (auch  de  secreto  couflictu  curarum  suarura  genannt),  eine  Art 
Confessionen,  in  denen  er  Btrebt,  durch  rückhaltlose  Offenheit  den  Frieden  der  Seele 


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§  3.  Die  Erneuerung  des  Piatonisraas  and  anderer  Doctrinen  des  Altertbums.  9 


zu  finden.  Sodann  sind  za  erwähnen:  de  remediis  atriasqae  fortanae  11.  IT,  de  vita 
solitaria  11.  II,  de  vera  sapientia  11.  II.  Unbedeatender  ist  sein  Fürstenspiegel: 
de  repablica  administranda  et  de  virtatibas  et  de  officiis  iraperatoris.  In  der  griechi- 
schen Sprache  hat  ihn  Bernhard  Barlaam  (gest.  1348)  unterrichtet,  den  wohl 
weniger  die  Liebe  zu  der  Sprache  und  den  Werken  des  Homer,  Piaton  und  Euklid 
als  ehrgeiziges  Streben  aus  Calabrien,  in  dessen  Klöstern  die  griechische  Sprache 
niemals  unbekannt  geworden  war,  nach  Griechenland  geführt  hatte,  von  wo  aus  er 
als  Gesandter  des  Kaisers  Andronikus  des  Jüngeren  an  den  Papst  Benedict  XII 
nach  Avignon  kam.  Der  Unterricht,  den  er  hier  im  Jahre  1339  dem  Petrarca  er- 
theilte,  blieb  zwar  wegen  der  Kürze  der  Zeit  unzureichend,  ist  aber  dennoch  durch 
die  Anregung,  die  Petrarca  empfing  und  verbreitete,  höchst  einflussreich  geworden. 
Von  Hnr.  Canisius  in  Lectionum  antiqu.  T.  YI,  1604  ist  herausgegeben:  Ethica 
secundum  Stoicos  composita  per  I).  Barlaamum,  auch  in  der  Biblioth.  scr.  eccl 
T.  XXVI,  Leiden  1675,  wieder  abgedruckt 

Mit  Petrarca  war  Giovanni  Boccaccio  (Johann  von  Certaldo,  1313—1375) 
befreundet,  der  von  Barlaams  Schüler  Leontius  Pilatus,  dem  Uebersetzer  des 
Homer,  in  den  Jahren  1360 — 63  das  Griechische  etwas  gründlicher  als  Petrarca 
erlernte.  Freilich,  einen  griechischen  Schriftsteller  zu  verstehen,  war  auch  Boccaccio 
nicht  im  Stande.  Bei  ihm  verband  sich  bereits  mit  dem  Interesse  am  Alterthum 
die  Gleichsetzung  des  Cbristenthums  als  einer  nur  relativ  wahren  Religion  mit 
anderen  Religionen;  sein  (sittlich  höchst  frivoles)  Decamerone  enthält  (1.  Nov.  3) 
die  (später  von  Les3ing  im  Nathan  erneute  und  modificirte)  Geschichte  von  den 
drei  Ringen,  deren  Grundgedanke  bereits  in  der  Philosophie  des  Averroes  liegt. 
Auf  Boccaccios  Empfehlung  wurde  Leontius  von  den  Florentinern  an  ihrer  Uni- 
versität als  öffentlicher  Lehrer  der  griechischen  Sprache  mit  einem  festen  Gehalt 
angestellt.  Seine  Leistungen  entsprachen  zwar  nicht  ganz  den  Erwartungen,  aber 
das  Beispiel  war  gegeben  und  fand  auch  an  anderen  Universitäten  Nacheiferung. 

Mit  grossem  Erfolg  lehrte  Johannes  Malpighi  aus  Ravenna,  ein  Zögling 
des  Petrarca,  die  lateinische  Litteratur  zu  Padua  und  seit  1397  zu  Florenz. 
Sammlung  von  Handschriften  ward  mehr  und  mehr  den  Reichen  und  Mächtigen 
zur  Ehrensache,  und  die  Liebe  zu  Alterthumsstudien  entzündete  sich  in  immer 
weiteren  Kreisen  an  der  Leetüre  der  claasischen  Werke.  Manuel  Uhry  soloras 
aus  Constantinopel ,  gest.  1415  zu  Kostnitz,  ein  Schüler  Plethons,  war  der  erste 
geborene  Grieche,  der  als  öffentlicher  Lehrer  der  griechischen  Sprache  und 
Litteratur  in  Italien  (zu  Venedig,  dann  zu  Florenz,  Pavia,  Rom)  auftrat.  Er 
lieferte  eine  wortgetreue  Uebersetzung  von  Piatons  Republik.  Durch  ihn  haben 
sein  Neffe,  der  zu  Constantinopel  und  auch  in  Italien  lehrende  Joh.  Chrysoloras. 
Leonardas  Aretinus,  Franciscus  Barbaras,  Guariuus  von  Verona  u.  A.,  durch 
Johannes  Chrysoloras  Franz  Philelphus  (1398—1481),  der  Vater  des  (zu  Constanti- 
nopel 1426  geborenen,  zu  Mantua  1480  gestorbenen)  Marius  Philelphus  (über  den 
Guillaume  Favre  a.  a.  0.  S.  7  ff.  ausführlich  handelt)  u.  A.  ihre  Bildung  erhalten. 
Leonardas  Aretinus  (L.  Bruni  aus  Arezzo,  gest.  1444  als  Staatskanzler  zu 
Florenz),  der  bedeutendste  Schüler  des  Manuel  Chrysoloras,  hat  in  den  Jahren 
1397  und  98  zu  Florenz,  Rom  und  Venedig  zuerst  ein  dauerndes  Interesse  für 
das  Studium  der  griechischen  Sprache  begründet.  Er  hat  platonische  Schriften, 
den  Phaedon,  Gorgias,  Kriton,  die  Apologie,  die  Briefe,  den  Phaedrus,  sodann 
aristotelische  Schriften,  insbesondere  die  nikomachische  Ethik  und  die  Politik  (die 
letztere  nach  einem  Codex,  den  Palla  Strozzi  aus  Constantinopel  erhalten  hatte; 
vielleicht  benutzte  Bruni  zugleich  die  Handschrift,  die  der  ihm  befreundete  Fran- 
cesco Filelfo  aus  Constantinopel  1429  mitgebracht  hatte)  ins  Lateinische  übersetzt, 
wodurch  Moerbeckes  durch  Thomas  von  Aquino  veranlasste  wörtliche,  geschmack- 


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10  §•  3.  Die  Erneuerung  des  Piatonismus  und  anderer  Doctrinen  des  Alterthums. 

und  verständnisslose  Uebersetzung  verdrängt  ward.  Die  Politik  des  Aristoteles 
ist  ihm  ein  opus  magnificum  ac  plane  regium.  Seine  Uebersetzungen  der  aristo- 
telischen Schriften  in  klarer  und  edler  Sprache,  aber  frei  gehalten,  fanden  ausser- 
ordentlichen Beifall  und  standen  lange  Zeit  in  höchstem  Ansehen,  da  man  in  ihnen 
den  wahren  Aristoteles  endlich  erhalten  zu  haben  glaubte.  In  seiner  Schrift  de 
disputationum  usu  (hrsg.  von  Feuerlin,  Nürnberg  1735)  bekämpft  er  die  scholastische 
Barbarei  und  empfiehlt  neben  Aristoteles  (dessen  Text  er  für  sehr  corrumpirt  hält) 
besonders  Varro  und  Cicero.  Ein  Isagogicon  moralis  philosophiae,  worin  er  der 
epikureischen  Ethik  die  stoische  gegenüberstellt,  die  letztere  aber,  die  er  mit  der 
christlichen  ausgleichen  will,  bevorzugt,  ist  nicht  gedruckt.  Mit  ihm  war  gleich- 
gesinnt Aeneas  Sylvins  Ficcolomini  (Papst  Pius  II.,  gest.  1464;  über  ihn  handelt 
Georg  Voigt,  3  Bde.,  Berlin  1856—63).  Zu  Mailand  und  anderen  Orten  lehrte 
Constantinus  Lascaris  aus  Constantinopel  die  griechische  Sprache.  Sein  Sohn 
Johannes  Lascaris  (1446 — 1535)  hat  als  Gesandter  des  Lorenzo  von  Medici 
(geb.  1448,  gest.  1492)  an  Bajcsid  II.  den  Ankauf  vieler  Manuscripte  für  die  medi- 
ceische  Bibliothek  vermittelt.  An  der  aldinischen  Ausgabe  griechischer  Classiker 
hat  sich  besonders  sein  Schüler  Marcus  Musurus  eifrig  betheiligt. 

Am  Hofe  des  Cosmus  von  Medici  (geb.  1389,  gest.  1464)  lebte  eine  Zeit- 
lang (8eitl438)  Georgios  Gemistos  Plethon  aus  Constantinopel  (geb.  um  1355, 
gest.  im  Peloponnes  1450),  der  einflussreichste  Erneuerer  des  Studiums  der  plato- 
nischen und  neuplatonischen  Philosophie  im  Occidente.  Er  änderte  seinen 
Beinamen  reuiaiog  (der  Vollgewichtige,  den  er  wahrscheinlich  wegen  Beiner  Gelehr- 
samkeit auf  den  verschiedensten  Gebieten  erhalten  hatte)  in  den  gleichbedeutenden, 
attischeren  und  an  nkartay  anklingenden  Namen  lV.r,#wv  um.  Obwohl  er  zu  der 
lsagoge  des  Porphyrius  und  den  Kategorien  und  der  Analytik  des  Aristoteles  Er- 
läuterungen schrieb,  so  verwarf  er  doch  mit  grösster  Entschiedenheit  die  aristotelische 
Lehre,  dass  die  Individuen  die  ersten  Substanzen  seien,  das  Allgemeine  aber  ein 
Secundäres,  fand  die  Einwürfe  gegen  die  platonische  Ideenlehre  unzutreffend  und 
bekämpfte  die  aristotelische  Theologie,  Psychologie  und  Moral.  Er  setzte  in  seinem 
Corapendium  der  Dogmen  des  Zoroaster  und  des  Piaton,  welches  vielleicht  ein 
integrireuder  Theil  seines  umfassenden  Werkes:  vautov  ovyyQaq-q  war  (das  in  Folge 
der  Verdammung  durch  den  Patriarchen  Gennadius  nur  bruchstückweise  auf  uns 
gekommen  ist),  auch  in  seiner  um  1440  zu  Florenz  verfassten  Abhandlung  über 
den  Unterschied  zwischen  der  platonischen  und  aristotelischen  Philosophie  (ntql 
'AQHtToTtXqc  7tQ<iq  Hkänova  StatftQerm ,  gedruckt  Par.  1541,  lat.  Bas.  1574)  und 
in  anderen  Schriften  der  aristotelischen  Hinneigung  zum  Naturalismus  die  theo- 
sophische  Richtung  des  Piatonismus  lobpreisend  entgegen,  ohne  freilich  Piatons 
Lehre  von  der  neuplatonischen  zu  unterscheiden  und  ohne  die  Abweichung  einzelner 
platonischer  Philosopheme  von  den  entsprechenden  christlichen  Dogmen  (insbesondere 
der  platonischen  Lehren  über  die  Präexistenz  der  menschlichen  Seelen  vor  dem 
irdischen  Leben,  über  die  Weltseele  und  die  Gestiraseelen ,  mancher  ethisch- 
politischen Lehren,  auch  der  neuplatonischen  Annahme  der  Ewigkeit  der  Welt) 
sonderlich  in  Anschlag  zu  bringen.  Das  Christenthum  war  für  ihn  nicht  der  Maass- 
stab für  die  Wahrheit  des  Piatonismus,  sondern  musste  sich  diesem  eher  unter- 
ordnen. Neben  Piaton  stellt  er  Pythagoras,  Timaeus,  Parmenides,  Iamblichus  u.  A. 
Vieles  schöpfte  er  aus  Proklus,  den  er  freilich  nie  nennt,  und  neigte  sich  sogar 
der  Theurgie  und  Dämonologie  zu.  Es  wurde  ihm  der  Vorwurf  gemacht,  er  wolle 
einen  Polytheismus  im  , philosophischen  Gewände"  einführen. 

Durch  Plethons  Vorträge  ist  Cosmus  von  Medici  für  den  Piatonismus  mit 
warmer  Liebe  erfüllt  und  zur  Gründung  der  platonischen  Akademie  zu  Florenz 
veranlasst  worden,  deren  erster  Vorsteher  Marsilius  Ficinus  war.   Diese  Akademie 


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§  3.  Die  Erneuerung  des  Platonismus  und  anderer  Doctrinen  des  Alterthums.  1 1 


war  weniger  eine  fest  organisirte  Gesellschaft  als  eine  freie  Vereinigung  solcher, 
welche  das  Studium  Piatons  und  die  Vorliebe  für  diesen  verband.  Von  Cosmus  von 
Mediei  vererbte  sich  die  Begeisterung  für  Piaton  auf  alle  Mediceer.  Ihre  Blüthezeit 
erreichte  die  Akademie  unter  den  jugendlichen  Lorenzo  und  Guiliano  von  Mediei ; 
nach  Loreuzos  Tod  verfiel  sie  allmählich.  Von  ihr  aus  verbreitete  sich  das  Studium 
Piatons  nicht  nur  über  Italien,  sondern  über  das  ganze  gebildete  Europa. 

Bessarion  zu  Trapezunt,  1403  geb.,  1436  Erzbischof  von  Nicaea,  das  er  freilich 
nie  gesehen  hat,  begleitete  den  Kaiser  Johannes  VII.  Palaeologus  nach  Italien  und 
brachte  die  Glaubensunion  zu  Florenz  1439  zu  Stande,  die  aber  nicht  von  langer 
Dauer  war.  Er  selbst  trat  zur  lateinischen  Kirche  über,  wurde  vom  Papst  Eugen  IV. 
zum  Cardinal  erhoben,  fungirte  fünf  Jahre  als  päpstlicher  Legat  zu  Bologna,  wäre 
nach  Nicolaus'  V.  Tode  beinahe  Papst  geworden,  hatte  seinen  Wohnsitz  später  in 
Rom  und  starb  den  19.  Novbr.  1472  zu  Ravenna.  Zehn  Jahre  nach  der  Eroberung 
Constautinopels,  1463,  hatte  er  von  Papst  Pius  II.  den  Titel  eiues  Patriarchen  von 
Constantiuopel  erhalten.  Ein  Kreis  von  griechischen  und  lateinischen  Gelehrten 
umgab  ihn.  Als  ein  Schüler  des  Plethon  vertheidigte  er  gleich  diesem,  jedoch  mit 
grosserer  Mässigung  und  Unparteilichkeit,  den  Platonismus.  Seine  bekannteste 
Schrift:  ,adversus  calumniatorem  Platouis",  Rom  (1469),  Venet.  1503  und  1506, 
ist  gegen  des  Aristotelikers  Georg  von  Trapezunt  Comparatio  Aristotelis  et  Pia- 
tonis gerichtet,  der,  durch  Plethons  Angriff  auf  den  Aristotelisraus  gereizt,  in 
leidenschaftlicher  Weise  den  Platonismus  bekämpft  hatte.  In  einem  Briefe  vom 
19.  Mai  1462  an  Michael  Apostolius,  einen  noch  jungen  und  leidenschaftlichen 
Vertheidiger  des  Platonismus,  der  den  Aristoteles  und  den  Aristoteliker  Theodoras 
Gaza,  einen  Bekampfer  des  Plethon,  geschmäht  hatte,  sagt  Bessarion:  tue  Je  fft- 
XoCfta  uev  la'Ji  Ilkürwyrr,  qiXovfra  J"  'AgtaioTe).rt  xai  u>(  aoqtoTarut  atjioutvov  exaitgtu. 
Er  tadelt  selbst  an  dem  von  ihm  hochgeachteten  Plethon  die  Heftigkeit  der  Be- 
kämpfung des  Aristoteles;  den  Michael  aber  ermahnt  er,  mit  Achtung  zu  jenem 
grossen  Philosophen  des  Alterthums  aufzuschauen,  jeden  Kampf  aber  nach  dem 
Vorbilde  des  Aristoteles  mit  Mässigung,  nicht  durch  Schmähungen,  sondern  durch 
Argumente  zu  führen.  Bessarions  Uebersetzung  der  xenophontischeu  Memorabilien, 
der  Metaphysik  des  Aristoteles  und  des  erhaltenen  Fragments  der  theophrastischen 
Metaphysik  sind  durch  strenge  Wörtlichkeit  oft  unlateinisch  (obschon  nicht  mehr 
in  dem  Maasse,  wie  frühere,  von  den  Scholastikern  benutzte  Uebersetzungen),  haben 
aber  bessere  Leistungen  Späterer  vorbereitet 

Marsilius  Ficinus  (Marsiglio  Ficino),  geb.  zu  Florenz  1433,  durch  Cosmus 
von  Mediei  als  Lehrer  der  Philosophie  an  der  Akademie  zu  Florenz  angestellt, 
gest.  daselbst  1499,  hat  sich  besonders  durch  seine,  soweit  es  damals  möglich  war. 
zugleich  treue  und  elegante  Uebersetzung  der  Werke  des  Piaton  und  Plotin,  auch 
einiger  Schriften  des  Porphyrius  und  anderer  Neuplatoniker,  ein  bleibendes  Ver- 
dienst erworben.  In  seinem  Hauptwerke:  Theologia  Platonica  neigt  er  sich  dem 
Mysticismus  zu. 

Johann  Pico  von  Mirandola  (1463-94)  hat  mit  dem  Neuplatonismus 
kabbalistische  Doctrinen  verschmolzen.  Er  stellte  900  Thesen  auf,  über  die  er  in 
Rom  zu  disputiren  gedachte  (gedr.  Rom  14136,  Colon.  1619);  doch  ward  die  Dispu- 
tation untersagt.  Seine  Richtung  theilte  sein  Neffe  Johann  Franz  Pico  von 
Mirandola  (gest.  1533). 

Auch  ein  Jude,  Judah  Abarbanel,  bekannter  unter  dem  Namen  Leo  Hebraeus 
(geb.  zu  Lissubon  zwischen  1460  und  1463,  hatte  viel  unter  seinem  Glauben  zu 
leiden,  ist  aber  wahrscheinlich  nicht  zum  Christenthum  übergetreten;  gest.  zwischen 
1520  und  1535,  vielleicht  in  Ferrara),  ist  hier  zu  erwähnen,  da  auf  ihn  der  Pla- 
tonismus bedeutenden  Einfluss  gewann,  so  dass  er  begeisterte  Gespräche  über  die 


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12  §  3.  Die  Erneuerung  des  Piatoniemus  und  anderer  Doctrinen  des  Alterthums. 

Liebe  (Dialogi  di  araore,  Roma  1535,  Vened.  1541  u.  6.)  schrieb.  Die  philo- 
sophische Theorie  verwandelte  sich  ihm  in  die  Liebe  und  zwar  in  die  .intellectuale 
Gottesliebe*.  S.  üb.  ihn  Beruh.  Zimmels,  L.  II.  ein  jüd.  Pb.  der  Renaissance, 
Lp*.  1886.   Vgl.  auch  Qrundr.  II,  7.  Aufl.,  §  29,  S.  219. 

Durch  Ficinus  und  Pico  ist  Johann  Reu chlin  (1455 — 1522)  für  deu  Neuplato- 
nlsmus  und  die  Kabbala  gewonnen  worden  Er  schrieb  Capnion  sive  de  verbo 
mirifico  (Raa.  1494,  Tüb.  1514,  eine  Unterredung  zwischen  einem  Heiden,  Juden 
und  Christen)  und  de  arte  cabbalistica  (Hagenau  1517;  1530).  In  der  letzteren 
Schrift  sagt  er:  in  mente  datur  coincidere  contraria  et  contradictoria,  quae  in  ra- 
tione  longissime  separantur.  Beschäftigung  mit  Mathematik  und  Physik  tritt  ein, 
nachdem  die  Seele  des  Sturms  der  Leidenschaften  Herr  geworden  und  zur  Gemüths- 
rube  gekommen  ist.  Mit  dem  Studium  der  cla&sischen  Sprachen  verband  Reuchlin 
das  der  hebräischen;  gegen  den  Fanatismus  kölnischer  Dominicaner,  welche  die 
Verbrennung  der  ausserkanonischen  jüdischen  Litteratur  beabsichtigten,  bat  er 
diese  gerettet  Sein  Kampf  gegen  die  „Dunkelmänner",  an  dem  sich  namentlich 
auch  Ulrich  von  Hutten  (1488—1523)  betheiligte,  hat  der  Reformation  vor- 
gearbeitet. 

Heinrich  Cornelius  Agrippa  von  Nettesheim  (geb.  1487  zu  Cöln,  gest.  1535 
nach  einem  abenteuerlichen  Leben  zu  Grenoblc),  der  an  Reuchlin  und  an  Raymundns 
Lullus  sich  anschloss,  verband  neuplatonischen  Mysticisraus  und  Magie,  sowie  das 
Streben,  sich  die  Natur  zu  unterwerfen,  mit  Skepticismus.  Gott  hat  das  All  aus 
nichts  geschaffen  nach  dem  Vorbild  der  Ideen  seines  Geistes.  Gleichsam  vou  ihm 
ausgehende  Strahlen  sind  seine  vielen  Namen,  die  Götter  der  Alten,  die  Sephiroth 
der  Kabbalisten,  die  göttlichen  Eigenschaften  der  Neueren.  Drei  Welten  bilden 
das  All:  das  Reich  der  Elemente,  die  himmlische  Welt  der  Gestirne,  die  intelli- 
gible  Welt  der  Engel.  Vermittelst  der  in  allen  Dingen  wohnenden  Seele,  des 
spiritus  mundi,  des  fünften,  den  anderen  vier  übergeordneten  Elements  (Aether 
des  Aristoteles),  wirkt  jede  höhere  Welt  auf  die  niederen  ein.  Dieser  spiritus 
mundi  ist  die  samenentfaltende  Kraft,  die  alles  Wachsthum,  alle  Erzeugung,  alle 
Veränderung  hervorbringt  und  bedingt,  ähnlieh  dem  loyoe  arttnuarixoi;  (den  Keim- 
formen) der  Stoiker.  Der  Mensch  steht  im  Mittelpuukt  der  drei  Welten;  da  Alles 
in  ihm  sich  vorfindet,  kann  er  auch  Alles  erkennen.  Auf  den  Zusammenhang  der 
drei  Welten  gründet  sich  die  Magie,  in  welche  die  occulta  philosophia  ausläuft; 
der  menschliche  Geist  vermag  die  in  den  Dingen  ruhenden  Kräfte  zu  erkennen  und 
vermittelst  derselben  die  höheren  Mächte  zu  seinem  Dienst  zu  gebrauchen.  In  der 
kleinen  Schrift  de  triplici  ratione  cognoscendi  deum  legt  er  dar,  dass  in  der  Er- 
keuutniss  und  Liebe  Gottes  die  wahre  Gerechtigkeit,  Weisheit  und  Glückselig- 
keit ruhe. 

Unter  den  Aristotelikern  des  fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhunderts 
i-t  Georgius  Scholarius  mit  dem  Beinamen  (den  er,  wie  es  scheint,  als  Mönch 
annahm)  Gennadius,  geb.  zu  Constantinopel ,  eine  Zeitlang  (seit  1453)  unter  dem 
Sultan  Mohammed  Patriarch,  gest.  um  1464,  als  Gegner  des  Plcthon  aufgetreten, 
den  er  besonders  auf  Grund  der  Schrift:  t'öuiov  avyyQarptj  (die  er  zur  Vernichtuug 
verurtheilte)  des  Ethnicismus  beschuldigte,  nachdem  er  Bchon  früher  seinen  Plato- 
nismus  bekämpft  und  den  Aristotelismus  vertheidigt  hatte.  Ausser  Plethons  Ab- 
weichungen von  christlichen  Dogmen  mussten  seine  Angriffe  gegen  das  entartete 
Mönchthum,  seine  (der  platonischen  Polemik  gegen  orphische  Sühnpriester  nach, 
gebildeten)  Aeusserungen  gegen  solche  Opfer  und  Gebete,  durch  welche  Gott  zu 
einem  nicht  gerechten  Verhalten  bestimmt  werden  solle,  gegen  ihn  reizen.  Des 
Gennadius  Schrift:  xnrd  iä>t>  flXijSwyo^  änoQKÖy  in  ^QiOToriXei  ist  durch  M.  Minas 
Par.  1858  edirt  worden.    Gennadius  hat  einen  Commentar  zu  des  Porphyrius 


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§  3.  Die  Erneuerang  des  Piatonisraus  und  anderer  Doctrinen  des  Alterthums.  1 3 


Isagoge  und  zu  logiseben  Schriften  des  Aristoteles  verfasst  und  scholastische 
Schriften,  insbesondere  des  Thomas  von  Aquino  und  u.  a.  auch  den  Tractat  des 
Gilbertus  Porretauus  de  sex  prineipiis  (s.  Grdr.  II,  7.  Aufl.,  §  25,  S.  177),  der  als 
Ergänzung  der  aristotelischen  Schrift  über  die  Kategorien  galt,  ins  Griechische 
übersetzt.  Auch  wird  ihm  in  mehreren  Handschriften  eine  Uebersctzung  des 
grössten  Theiles  des  logischen  Compendiums  des  Petrus  Hispanus  zugeschrieben, 
die  jedoch  nach  Anderen  bereits  Maximus  Plauudes  (um  1350)  angefertigt  haben 
soll,  wogegen  derselbe  griechische  Text  in  einer  münchener  Handschrift  und  hier- 
nach auch  in  der  Ausgabe  von  Ehinger,  Wittenberg  1597,  als  eine  Schrift  des 
(im  11.  Jahrh.  lebenden)  griechischen  Philosophen  Psellus  bezeichnet  wird,  aus 
welcher  demnach  das  Compendium  des  Petrus  Hispanus  übersetzt  sein  mus^ 
(s.  Grdr.  U,  §  27). 

Georgius  Trapezuntius,  geb.  1396,  wahrscheinlich  auf  Candia,  gest.  1484, 
gegen  den  Bessarions  oben  erwähnte  Schrift  gerichtet  iBt,  lehrte  za  Venedig  und 
Rom  die  Rhetorik  und  Philosophie.  Er  tadelt  in  seiner  Comparatio  Piatonis  et 
Aristotelis  (gedr.  Venet  1523)  die  Richtung  des  Plethon  uls  unchristlich,  wirft 
ihm  vor,  er  habe  eine  neue  Religion  zu  gründen  beabsichtigt,  die  weder  die  christ- 
liche, noch  die  mohammedanische,  sondern  die  nenplatonisch-heidnische  sei,  und 
behandelt  ihn  wie  einen  neuen  und  gefährlicheren  Mohammed.  Nicht  bei  Piaton, 
sondern  nur  bei  Aristoteles  findet  Georg  von  Trapezunt  bestimmte  und  haltbare 
philosophische  Sätze  In  lehrhafter  systematischer  Form.  Seine  Schrift  de  re 
dialectlca  (gedr.  Lugdun.  1559  u.  ö.)  bekundet  bei  der  Reproduction  der  aristo- 
telischen Schultradition  den  Miteinfluss  des  Cicero.  Mehrere  aristotelische  Schriften 
sind  von  ihm  übersetzt  und  commentirt  worden.  Auch  die  Gesetze  Piatons  hat  er 
ins  Lateinische  übertragen.  Seine  üebersetzungen  sind  aber  flüchtig  und  ungenau 
angefertigt. 

Theodorus  Gaza,  geb.  zu  Thessalonich,  gest.  1478,  kam  um  1430  nach 
Italien  und  lehrte  griechische  Sprache  und  Litteratur.  Er  war  ein  gelehrter 
Aristoteliker,  Gegner  Plethons,  jedoch  mit  Bessarion  befreundet.  Er  hat  besonders 
naturwissenschaftliche  Schriften  des  Aristoteles  und  des  Theophrast  übersetzt 

Laurentius  Valla  (Lorenzo  della  Talle),  geb.  1407,  wahrscheinlich  zu 
Piacenza,  obwohl  er  sich  selbst  einen  Römer  nannte,  gest.  in  Rom  am  L  August 
1457,  der  Uebersetzer  der  Ilias,  des  Herodot  und  des  Thukydides,  Feind  der  Tra- 
dition und  der  Autoritäten,  hat  die  Unkritlk  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  und 
die  geschmacklose  Subtilität  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  scharf  und  erfolg- 
reich bekämpft  Aua  Cicero,  an  dem  er  freilich  auch  viel  auszusetzen  findet,  und 
Quintilian  sowie  aus  eigenen  Beobachtungen  des  Denkens  und  Sprechens  entnimmt 
er  logische  und  rhetorische  Normen.  Seine  Dlalecticae  disputationes  contra  Aristo- 
telicos,  zuerst  1499  gedruckt  sind  ein  Lehrbuch  der  Logik  als  einer  scientia 
ratlonalis,  die  zugleich  sermociualis  ist.  Die  aristotelische  Lehre  von  den  Kategorien 
und  Substanzen  greift  er  heftig  an,  sowie  er  auch  in  des  Aristoteles  lehren  von 
der  Ewigkeit  der  Welt  und  dem  Wesen  der  Seele  Widersprüche  aufdeckt.  In 
seinem  Dialoge  de  voluptate,  den  er  als  Lehrer  der  Rhetorik  au  der  Hochschule  zu 
Pavia  1431  veröffentlichte  (später  arbeitete  er  ihn  etwas  um  und  gab  ihm  den  Titel 
de  summo  bono;  in  dieser  Umarbeitung  mit  der  Schrift  de  libero  arbitrio  gedruckt 
Lovanii  1493),  vertrut  er  ziemlich  unverblümt  die  Ansicht,  dass  die  Lust  das  wahre 
und  sogar  einzige  Gut  sei,  und  Hess  die  sinnliche  Natur  zu  ihrem  Rechte  kommen.  * 
Wegen  dieser  Vertretung  der  epikureischen  Lehre  wurde  er  hart  augegriffen. 

Johannes  Argyropnlus  aus  Constantinopel ,  gest  zu  Rom  i486,  lebte  am 
Hofe  des  Cosinus  von  Medlci,  dessen  Sohn  Peter  und  Enkel  Lorenz  er  im 
Griechischen  unterrichtete,  und  war  dann  noch  bis  1479  Lehrer  der  griechischen 


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14  §  3.  Die  Erneuerung  des  Piatonismus  und  anderer  Doctrinen  des  Alterthums. 

Sprache  an  der  Akademie  zu  Florenz,  in  welchem  Amt  ihm  Demetrius  Chalco- 
condylas  (1424—1511),  ein  Schüler  des  Theodorus  Gaza,  folgte.  Von  den  Schriften 
des  Aristoteles  hat  Johannes  Argyropulus  das  Organou,  die  Auscultationes  phys., 
die  Bücher  de  coelo,  de  anima  und  die  Ethica  Nicom.  ins  Lateinische  übersetzt 
oder  doch  ältere  Uebersetzungen  revidirt. 

Angclus  Politianus  (Angelo  Poliziano,  1454  —94),  ein  Schüler  des  Christoph 
Landinus  in  der  römischen  und  des  Argyropulus  in  der  griechischen  Litteratur,  hielt 
zu  Florenz  Vorlesungen  über  Schriften  des  Aristoteles,  übersetzte  auch  das  Enchi- 
ridion  des  Epiktet  und  Piatons  Charmides,  war  aber  mehr  Phitolog  und  Dichter  als 
Philosoph. 

Hermolaus  Barbaras  (Ermolao  Barbaro)  aus  Venedig,  geb.  1454,  gest. 
1493,  ein  Neffe  des  Franz  Barbarus  und  Schüler  des  Guarinus,  hat  Schriften  des 
Aristoteles  und  Commentare  des  Themistius  übersetzt,  auch  ein  Competidium  scien- 
tiac  naturalis  ex  Aristotele  verfasst  (gedruckt  1547).  Er  gehört  zu  den  hellenistischen 
Antischolastikern;  ihm  gelten  Albert  und  Thomas  gleich  wie  Averroes  als  .barbari 
philosophi*. 

Einen  quellenmässigen  Aristotelismus  hat  Jacobus  Faber  (Jacques  Lefevrc 
aus  Etaples  in  der  Picardie,  Faber  Stapuleusis.  geb.  1455,  gest.  1537)  an  der 
pariser  Universität  mit  vielem  Beifall  gelehrt.  Er  kam  jedoch  mit  der  Sorbonne 
und  den  Mönchen  in  Streit,  so  dass  er  verketzert  wurde  und  von  Franz  1.  und 
Margaretha  von  Navarra  in  Schutz  genommen  werden  musste.  Er  hat  aristotelische 
Schriften  durch  lateinische  Paraphrasen  erläutert.  Reuchlin  sagt:  Gullis  Aristotelem 
Faber  Stapulensis  restauravit.  Zugleich  aber  war  derselbe  ein  eifriger  Mathe- 
matiker und  Verehrer  und  Herausgeber  der  Schriften  des  Nicolaus  Cusanus,  dessen 
Richtung  noch  grösseren  Eiufluss  auf  Fabers  Schüler  Bovillus  (s.  unten  §  5)  ge- 
wonnen hat.  In  der  Logik  verfolgte  er  eine  den  Termi nisten  (s.  Grundr.  H,  §  36, 
S.  262)  verwandte  Richtung,  in  der  sich  die  in  Frankreich  und  Deutschland  ziem- 
lich verbreitete  Schule  der  Fabristen  ihm  anschloss. 

In  ähnlicher  Weise  wie  Valla  bekämpfte  Rudolph  Agricola  iRolef  Huys- 
mann,  geb.  zu  Baflo  bei  Groeuingen  1442,  gest.  1485)  die  scholastische  Geschmack- 
losigkeit. Er  studirte  zu  Löwen  scholastische  Philosophie,  genoss  aber  später  in 
Italien  den  Unterricht  classisch  gebildeter  Griechen,  besonders  des  Theodorus 
Gaza,  hielt  sich  die  letzten  Jahre  seines  Lebens  in  Heidelberg  und  Worms  auf, 
eingeladen  von  seinem  Gönner,  dem  kurpfälzischen  Kanzler,  Bischof  Johann  von 
Dalberg.  Es  kommt  nach  ihm  darauf  an,  prudentia  und  eloquentia  sich  zu  erwerben, 
d.  h.  über  die  Dinge  treffend  zu  urtheilen  und  sich  gewandt  auszudrücken.  Nur 
durch  Kenntuiss  der  alten  Schriftsteller  ist  dies  Ziel  zu  erreichen,  sie  haben  alles 
Wisscnswerthe  in  richtiger  Form  vorgetragen.  Lebensweisheit  lernt  man,  abgesehen 
von  der  geoffenbarten  Schrift,  aus  Aristoteles,  Cicero,  Seuecn.  Auch  für  die  Natur- 
wissenschaften reichen  die  Griechen  aus.  Durch  Benutzung  der  alten  Schriftsteller 
kann  man  auf  methodische  Art  zu  eigenen  Erfindungen  gelangen,  d.  h.  man  muss 
erst  sammeln  und  dann  Wahrheiten  analysiren,  um  Besitztümer  des  eigenen 
Geistes  zu  entdecken.  Freilich  in  die  wahren  Unterschiede  der  Dinge  und  in  ihr 
eigentliches  Wesen  ausser  unserem  Geiste  vermögen  wir  nicht  einzudringen.  Aus 
den  Schriften  des  Aristoteles  entnahm  er  eiuen  reineren  Aristotelismus  und  legte 
seine  philosophischen  Ansichten  in  reinerem  Latein  dar.  Melanchthon,  der  sich 
vielfach  an  Agricola  anschloss,  sagt  über  die  logisch-rhetorische  Schrift  de  in- 
ventione  diabetica  (worin  Agricola  auf  Aristoteles.  Cicero  und  Quinctiliau  fusst): 
nec  vero  ulla  extant  recentia  scripta  de  locis  et  usu  diulectices  meliora  et  locu- 
pletiora  Rudolphi  libris.    Auch  Ramus  hat  günstig  über  diese  Schrift  geurthcilt. 


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§  3.  Die  Erneuerung  des  Piatonismus  und  anderer  Doctriuen  dea  Alterthuras.  1 

Von  Agricola  leitet  sieh  der  Humanismus  der  Niederlande  und  theilweise  Deutsch- 
lands her. 

Desiderius  Erasmus  (1467 — 1536),  der  den  Agricola  sehr  hoch  schätzte, 
hat  durch  Bekämpfung  scholastischer  Barbarei  und  positiv  theils  durch  die  von 
ihm  mitbesorgte  Ausgabe  des  Aristoteles,  theils  und  besonders  durch  Begründung 
der  Patrologie  mittelst  seiner  Ausgaben  des  Hieronymus,  Hilarius,  Ambrosius, 
Augustinus  auch  für  die  Geschichte  der  Philosophie  Bedeutung,  ohne  dass  er  selbst 
tiefere  philosophische  Neigungen  gehabt  hätte.  Er  sagt:  Omnis  fere  rerura  scientia 
a  Graecis  auctoribus  petenda  est,  philosophiam  optime  docebit  Plato  et  Aristoteles, 
cosmographiam  brevissime  tradet  Pomponius  Mela,  doctissime  Ptolemaeus. 

Die  Humanisten  hassten  den  scholastischen  Aristotelismus  und  zumeist  den  in 
Oberitalien,  besonders  zu  Padua  und  Venedig,  herrschenden  Averroismus  als  bar- 
barisch. Viele  von  ihnen,  namentlich  die  Platoniker,  bekämpften  den  Averroismus 
auch  als  den  Feind  religiöser  Gläubigkeit.  Bald  aber  kamen  andere  Gegner  des 
Averroismus  auf,  die  auf  den  Text  des  Aristoteles  und  auf  die  Schriften  griechischer 
C'ommentatoren,  insbesondere  des  Alexander  von  Aphr od isian,  zurückgingen,  um 
an  die  Stelle  der  mystisch-pantheistischen  Interpretation  eine  deistisch-naturalistiache 
zu  setzen,  welche  übrigens  in  der  Negation  der  Wunder  und  der  individuellen 
Unsterblichkeit  mit  dem  Averroismus  übereinkam.  Letzterer  behauptete  die  Ein- 
heit des  unsterblichen  Intellects  in  dem  ganzen  Menschengeschlechte,  so  dass  der 
vernünftige  Theil  der  Seele  in  die  allgemeine  Vernunft  zurückkehre  und  in  dieser 
unsterblich  sei;  die  Alexandristen  dagegen  nahmen  an,  dass  auch  dieser  Theil  der 
Seele  beim  Tode  untergehe.  So  kam  es,  dass  die  Vertheidiger  des  christlichen 
Glaubens  und  der  platonischen  Lehren,  wie  Marsilius  Ficiuus,  J.  A.  Marta,  Casp. 
Contarini,  später  Anton  Sirmond,  beide  zugleich  bekämpften,  und  ein  Lateranconcil 
(in  der  Sitzung  vom  19.  Dec.  1512)  beide  verdammte  und  den  Professoren  die 
Pflicht  auferlegte,  Irrthümer,  wenn  sie  dieselben  in  den  zu  interpretirenden  Schriften 
vorfänden,  nicht  ohne  Widerlegung  zu  lasseu,  indem  es  zugleich  die  Unterscheidung 
einer  zweifachen  Wahrheit  verwarf  und  Alles,  was  der  Offenbarung  widerstreite, 
für  falsch  erklärte.  Uebrigens  gab  es  auch  zu  Padua  reine  Aristoteliker,  die  nicht 
Alexandristen  waren,  sondern  die  Unsterblichkeit  der  Seele  annahmen,  wie  Nicolaus 
LeonicuB  Thomaeus  (geb.  1456),  der  daselbst  seit  1497  lehrte.  Aber  vor- 
herrschend war  doch  zu  jener  Zeit  in  Oberitalien  der  Averroismus  und  bei  den 
peripatetischen  Bekämpfern  desselben  der  Naturalismus,  der  sich  an  Alexanders 
Deutung  des  Aristoteles  hielt.  Marsilius  Ficinus  sagt  in  der  Vorrede  zu  seiner 
Uebersetzung  des  Plotin,  freilich  nicht  ohne  rhetorische  Ueberspannung :  Totus 
fere  terrarum  orbis  a  Peripateticis  occupatus  in  duas  plurimum  soctas  divisus  est, 
Alexandrinara  et  Averroicam.  Uli  quidem  intellectum  nostrum  esse  mortalem 
existimant,  hi  vero  unicum  esse  contendunt,  utrique  religionem  omnem  funditus 
acque  tollunt,  praesertim  quia  divinum  circa  homines  providentiam  negare  videntur 
et  utrobique  a  suo  etiam  Aristotele  defecisse. 

In  der  Schule  zu  Padua  hat  von  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  an 
bis  gegen  die  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  der  A verroismus  geherrscht,  freilich  zu 
den  verschiedenen  Zeiten  in  sehr  verschiedenem  Sinne.  Die  heterodoxen  Elemente 
der  averroistischen  Doctrin  wurden  zwar  von  einzelnen  Averroisten  hervorgekehrt, 
von  andern  aber  gemildert.  Im  Anfange  des  16.  Jahrhunderts  erschien  der  Aver- 
roismus im  Vergleich  mit  dem  Alexandrinismus  als  der  kirchlichen  Lehre  ver- 
wandter; in  der  Zeit  der  kirchlichen  Reaction  reducirte  sich  derselbe  auf  sorgsame 
Benutzung  der  Commentare  des  Averroes  zur  Erklärung  der  aristotelischen  Schriften 
unter  mildernder  Umdeutung  der  von  dem  kirchlichen  Glauben  abweichenden  Sätze. 
Viele  deuteten  die  Einheit  des  Intellects  auf  die  Identität  der  obersten  Vernunft- 


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1(5  §  3.  Die  Erneuerung  des  Piatonismus  und  anderer  Doctrinen  des  Altertbums. 

sitze  (des  Satzes  vom  Widerspruch  etc.),  ja  die  Averroisten  der  späteren  Zeit 
wollten  zugleich  gute  Katholiken  sein.  Allmählich  wurde  Averroismus  Sache  der 
Gelehrsamkeit  und  trug  nicht  mehr  einen  offensiven  Charakter.  Zahlreiche  Ab- 
drucke averroistischer  Commentare  bekunden  das  andauernde  Interesse.  Die  erste 
Ausgabe  des  Averroes,  welche  zu  Padua  1472  erschien,  reproducirto  die  alten,  im 
13.  Jahrhundert  entstandenen,  lateinischen  Uebersetzungeu;  später  wurden  auf  Grund 
hebräischer  Uebersetzungen  neue  lateinische  veranstaltet,  die  zu  der  Ausgabe  von 
1552  -  53,  welche  jedoch  auch  einzelne  ältere  Uebersetzungeu  enthält,  verwendet 
wurden. 

Die  averroistische  Lehre  von  der  Einheit  der  unsterblichen  Vernunft  in  dem 
gesammten  Menschengeschlechte  trug  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  15.  Jahrhunderts 
Nicoletto  Vernias  vor,  der  den  Lehrstuhl  zu  Padua  von  1471  bis  1499  einnahm; 
in  eeinera  Alter  aber  bekehrte  er  sich  zu  der  Anerkennung  der  Unsterblichkeit  jeder 
einzelnen  Seele.  Seit  1495  trat  neben  ihm  als  Lehrer  der  Philosophie  Petrus 
PomponatiuB  (geb.  zu  Mantua  1462,  gest.  zu  Bologna  1525)  auf,  der  in  seinen  Vor- 
trägen und  in  seinen  Schriften  die  averroistische  Doctrin  verwarf,  die  thomistischen 
Argumente  gegen  dieselbe  als  widerlegungskräftig  anerkannte,  keineswegs  aber  mit 
Thomas  in  der  Vielheit  unsterblicher  Intellecte,  sondern  in  der  Sterblichkeit  der 
menschlichen  Seele  mit  Einschluss  ihrer  Vernunftkraft  die  wahre  Meinung  des 
Aristoteles  fand  und  sich  für  diese  Deutung  auf  Alexander  von  Aphrodisias  berief, 
der  den  activen  unsterblichen  Intellect  mit  dem  göttlichen  Geiste  identificirt,  die 
individuelle  Vernunft  eines  jeden  Menschen  aber  für  sterblich  erklärt.  Der  mensch- 
liche Verstand  erkennt  das  Allgemeine  nur  im  Besondern,  das  Denken  kann  niemals 
ohne  das  Vorstellungsbild  (tfayraeua)  sein,  das  in  der  Wahrnehmung  wurzelt  und 
niemals  raumlos  und  zeitlos,  daher  auch  stets  an  das  leibliche  Organ  gebunden  ist 
und  mit  diesem  vergeht.  Die  Tugend  ist  von  dem  Glauben  an  Unsterblichkeit  unab- 
hängig; sie  ist  am  reinsten,  wenn  sie  ohne  Rücksicht  auf  Lohn  und  Strafe  geübt 
wird.  Die  Freiheit,  diese  Lehre  vorzutragen,  suchte  sich  Pomponatius  durch  die 
Unterscheidung  einer  zweifachen  Wahrheit,  der  philosophischen  und  der  theologischen, 
zu  sichern  (wodurch  er  gleich  andern  Denkern  des  Mittelalters  und  der  Uebergangs- 
zeit  auf  eine  für  das  nächste  Bedürfniss  zureichende,  aber  philosophisch  noch  unent- 
wickelte Weise  die  moderne  Unterscheidung  zwischen  symbolischem  Vorstellen  und 
speculativem  Denken  anticipirte).  In  der  Consequeuz  des  philosophischen  Gedankens 
liegt  nach  ihm  die  Sterblichkeit  der  menschlichen  Seelen;  aber  in  den  Kreis  der 
theologischen  Glaubenssätze  passt  nur  die  Unsterblichkeit.  In  gleicher  Art  behandelte 
Pomponatius  die  Lehre  vom  Wunder  und  von  der  Willensfreiheit. 

Zu  Padua  und  seit  1509  zu  Bologna  kämpfte  mit  Pomponatius  Alexander 
Achill ini  (gest.  1518),  der  an  der  averroistischen  Lehrform  im  Allgemeinen  fest- 
hielt, ohne  freilich  die  Einheit  des  Intellects  im  antikirchlichen  Sinne  behaupten 
zu  wollen. 

Ein  Schüler  des  Vernias,  Augustinus  Niphus  (Suessanus,  Agostino  Nifo, 
1473—1546;  er  schrieb  Commentare  zu  Aristoteles  in  14  Foliobänden  und  Opuscula 
moralia  et  politica,  Pur.  1654),  der  sich  anfangs  zu  der  averroistischen  Doctrin  von 
der  Einheit  des  Intellects  bekannte,  später  aber  seinen  Averroismus  zu  mildem  und 
mit  der  Kirchenlehre  in  Einklang  zu  setzen  wusste,  1495—97  die  Schriften  des 
Averroes,  jedoch  nicht  ohne  widerlegende  Bemerkungen  an  manchen  Stellen  beizu- 
fügen, herausgab,  verfasste  im  Auftrage  des  Papstes  Leo  X.  eine  Widerlegungs- 
schrift gegen  das  Buch  des  Pomponatius  de  immortalitate  animae.  Da  man  »ich 
aber  am  römischen  Hofe  für  diese  Verhandlungen  lebhaft  interessirte,  so  konnte 
Pomponatius  unter  dem  Schutze  des  Cardinais  Bembo  (und  unmittelbar  des  Papstes 
selbst)  sein  Defensorium  contra  Niphum  verfassen.    Das  philosophische  Interesse 


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§  3.  Die  Erneuerung  des  Piatonismus  und  anderer  Doctrinen  des  Alterthums.  17 


führte  damals  den  römischen  Hof  über  die  Grenzen  seines  kirchlich-politischen 
Interesses  hinaus;  der  am  Hofe  des  Papstes  herrschende  „ Unglaube',  der  mit  Sitten- 
losigkeit  gepaart  war,  gereichte  Luther  und  anderen  Gläubigen  zum  Anstoss  und 
ward  zur  Mitursache  der  Kirchentrennnng,  welche  durch  die  bald  von  Seiten  späterer 
Päpste  erfolgende  Heaction  im  Sinne  strengster  kirchlicher  Gläubigkeit  nicht  rück- 
gängig gemacht  werden  konnte. 

Simon  Porta  aus  Neapel  (gest.  1555,  zu  unterscheiden  von  dem  um  die  Physik 
verdienten  Giambattista  Porta  aus  Neapel,  der  von  1540 — 1615  lebte  und  besonders 
durch  die  Schrift :  Magia  naturalis,  Neapel  1589  u.  5.,  berühmt  ist),  ein  Schüler  des 
Pomponatius,  schrieb  gleich  diesem  selbst  im  alexand ristischen  Sinne  über  die  Un- 
sterblichkeitafrage  (de  rerum  naturalibus  principiis,  de  nntma  et  mente  humana, 
Flor.  1551).  Gasparo  Coutarini  (1483—1542),  gleichfalls  ein  Schüler  des  Pompo- 
uatius,  bekämpfte  dessen  Doctrin.  Um  die  Erläuterung  des  Textes  des  Aristoteles 
und  des  Averroes  machte  sich  der  gelehrte  Zimara  aus  Neapel  (gest.  1532)  ver- 
dient; seine  Noten  sind  in  die  späteren  Ausgaben  des  Averroes  aufgenommen  worden. 
Jacob  Zabarella  (geb.  zu  Padua  1532,  Lehrer  der  Philosophie  ebendaselbst  von 
1564  bis  zu  seinem  Tode  1589)  folgte  in  der  Deutung  des  Aristoteles  grösstenteils 
dem  Averroes,  schloss  sich  in  der  psychologischen  Doctrin  dem  Alexander  an,  hielt 
aber  dafür,  dass  der  individuelle  Intellect,  obwohl  seiner  Natur  nach  vergänglich, 
indem  die  göttliche  Erleuchtung  ihn  vervollkommne,  der  Unsterblichkeit  theilhaftig 
werde.  Zabarella  wurde  von  Franz  Piccolomiui  (1520—1604),  einem  Anhänger 
des  Zimara,  bekämpft  Andreas  Caesalpinus  (1519—1603,  Leibarzt  des  Papstes 
Clemens  VIH.)  vollzog  die  naheliegende  Umbildung  des  Averroismus  zum  Pantheis- 
mus; sein  Gott  ist  „nnima  universalis*!  ohne  dass  wir  ihn  mit  den  Formen  unseres 
Denkens  fassen  könnten.  Er  ist  weder  endlich  noch  unendlich,  weder  bewegt  er 
sich,  noch  ruht  er,  und  soll  als  Geist,  unvermischt  für  sich  seiend  gedacht  werden. 
Uebrigeus  betrieb  er  eifrig  die  Naturwissenschaften  und  hat  sich  um  Thier- 
nnd  Pflanzenphysiologie  sowie  um  Mineralogie  wesentliche  Verdienste  erworben. 
(Quaestiones  perip.,  Venet.  1571;  daemonum  iuvestigatio  peripat.,  ib.  1583). 
Zabarellas  Nachfolger  auf  dem  Lehrstuhle  zu  Patina,  Cesare  Cremonini  (geb. 
1552,  gest.  1631),  war  der  letzte  bedeutende  Repräsentant  des  mit  alexandristischer 
Psychologie  versetzten  averroistischen  Aristotelismus. 

Den  Stoicismus  hat  namentlich  Justus  Lipsius  (1547—1606)  zu  erneuern 
gesucht  in  seiner  Manuductio  ad  Stoicam  philosophiam,  Physiologia  Stoicorum  und 
anderen  Schriften.  Auch  Casp.  Schoppe  (Scioppius),  Thomas  Gataker  und  Daniel 
Heinsius  haben  sich  um  Erläuterung  der  stoischen  Doctrin  bemüht. 

Den  Epikureismus  hat  Pierre  Gassendi  (1592—1655)  gegen  ungerecht- 
fertigte Vorwürfe  zu  vertheidigen  und  in  Bezug  auf  die  Naturlehre  als  die  vorzüg- 
lichste Doctrin  zu  erweisen,  jedoch  die  christliche  Theologie  damit  zu  vereinigen 
gesucht.  Die  erste  Ursache  von  Allem  ist  Gott,  welcher  von  vornherein  eine  be- 
stimmte Anzahl  von  Atomen  geschaffen  hat.  Diese  bilden  die  Samen  aller  Dinge. 
In  der  Erklärung  der  Natur,  des  Entstehens  und  Vergehens  der  Dinge  hat  man  es 
dann  nur  mit  secundären  Ursachen  zu  thun  und  braucht  auf  Gott  nicht  wieder 
zurückzugreifen.  Unumwunden  gesteht  Gassendi  die  Unmöglichkeit  ein,  zu  erkläreu, 
wie  aus  blossen  mechanischen  Vorgängen  Empfindung  entstehen  könne,  und  beruft 
sich  hierfür  nur  auf  die  Thatsache,  dass  es  so  sei.  Durch  die  Anknüpfung  an  die 
neuere  Naturforschung  hat  seine  Erneuerung  des  Epikureismus  eine  ungleich  grössere 
Bedeutung  gewonnen,  als  die  Erneuerung  irgend  eines  anderen  antiken  Systems. 
Nicht  mit  Unrecht  betrachtet  F.  A.  Lange  (Gesch.  des  Materialismus)  Gassendi 
als  den,  der  die  ausgebildete  materialistische  Weltanschauung  in  der  Neuzeit  wieder 
aufgebracht  hat,  —  Wie  Gassendi  an  Epikur,  so  hatten  sich  der  Arzt  und  Physiker 
Ceb*>rweg-IK'inze,  Grnn-iris»  III,  T.Avfl.  2 


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18 


§  4.   Der  Protestantismus  und  die  Philosophie. 


Daniel  Sennert  in  Wittenberg  (s.  mit.  §  6,  S.  38)  und  Magnenns  (Mitte  des 
17.  Jahrhunderts,  geb.  in  der  Franche  Comte,  dann  längere  Zeit  Professor  in  Pavia) 
in  ihren  Reformbestrebungen  und  auf  dem  Gebiete  der  Physik  schon  vor  Gassendi 
au  die  Atomistik  des  Alterthums  angeschlossen,  letzterer  hielt  sich  an  Demokrit 
und  hatte  durch  seinen  Democritus  reviviscens  Einfluss  auf  Gassendi  ausgeübt. 
Maignan  ging  mehr  auf  Empedokles  zurück. 

Der  Skepticismus  der  Alten  wurde  erneut  und  zum  Theil  in  eigentbüra- 
licher  Weise  fortgebildet,  mehr  oder  minder  auch  auf  christliche  Lehren  mitbezogen, 
schliesslich  jedoch  in  der  Regel  durch  eine  —  sei  es  ehrliche  oder  kluge  —  An- 
erkennung der  gerade  um  der  Schwäche  der  Vernunft  willen  dem  Menschen  unent- 
behrlichen Offenbarung  mit  der  Theologie  in  Einklang  gebracht,  zunächst  durch 
den  geistreichen  Weltmann  Michel  de  Montaigne  (1533—92,  von  Manchen,  z.B. 
von  de  Lamettrie,  für  den  ersten  Franzosen  erklärt,  der  zu  denken  gewagt 
habe).  Sein  Schüler  und  Freund,  der  Geistliche  Pierre  Charron  (1541—1603), 
ging  in  der  Schrift:  de  la  sagesse  etwas  systematischer  zu  Werke.  Nicht  unsere 
Sinne  sind  im  Stande,  uns  Erkenntniss  zu  geben,  sondern  die  Kräfte  der  Seele,  die 
freilich  noch  nicht  dazu  hinreichen,  die  im  Schoosse  Gottes  wohnende  Wahrheit 
zu  finden.  Die  Weisheit  beruht  darin,  dass  man  das  Urtheil  suspendirt  und  sich 
frei  von  jeder  Leidenschaft  hält.  Die  Sittlichkeit  soll  nicht  durch  Frömmigkeit 
und  Religion  erzeugt  werden,  sie  ist  vielmehr  von  Natur  in  den  Menschen  gepflanzt, 
und  man  kann  sie  nicht  vernachlässigen,  ohne  gegen  das  eigene  Sein  und  die  eigene 
Bestimmung  zu  Verstössen.  Die  Sittlichkeit  ist  das  Erste,  die  Religion  das  Zweite; 
eine  Frucht  der  Sittlichkeit  soll  die  Religion  sein.  Die  Religion  ist  etwas  An- 
gelerntes, Offenbarung  und  Unterricht  haben,  sie  uns  gegeben,  und  sie  kann  deshalb 
das  Natürliche,  die  Sittlichkeit,  nicht  hervorbringen.  —  Ausserdem  sind  als  Skeptiker 
zu  nennen:  der  Lehrer  der  Mediciu  und  Philosophie  Franz  Sanchez  (Sanctius, 
geb.  1562,  gest.  Toulouse  1632),  der  die  Zweifelsgründe  der  alten  Skeptiker  ins- 
besondere auf  die  Theologie  anwendende  und  diese  auf  den  blossen  Glauben  ein- 
schränkende Francois  de  la  Mothe  le  Vayer  (1586—1672),  seine  Schüler  Sam. 
Sorbiere  (1615—1670),  welcher  des  Sextus  Empir.  Hypotyposes  Pyrrhoueae  über- 
setzte, und  Simon  Foucher,  Canonicus  von  Dijon  (1644—1696),  der  die  akademische 
Skepsis  empfahl  und  des  Malebranche  Recherche  de  la  verit6  einer  skeptischen 
Kritik  unterwarf,  ferner  Joseph  Gl  an  vi  He  (gest.  1680),  der  Abt  Hieronymus 
Hirnhaym  (gest.  zu  Prag  1679),  Pierre  Daniel  Huet  (1633—1721)  und  dessen 
jüngerer  Zeitgenosse  Pierre  Bayle  (1647—1706),  von  denen  die  letzten  Wer  noch 
in  dem  zweiten  Hauptabschnitte  zu  erwähnen  sind. 

§  4.  Dem  Rückgang  der  gelehrten  Bildung  vom  Scholasticismus 
auf  die  altrömische  und  griechische  Litteratur  steht  der  Rückgang 
des  religiösen  Bewusstseins  von  der  Kirchenlehre  auf  die  biblischen 
Schriften  als  Analogon  zur  Seite.  Indem  mit  der  Tradition  gebrochen 
wird,  erscheint  das  Ursprüngliche  als  das  Reine,  Echte  und  Wahre, 
der  Fortgang  aber  nicht  als  Fortgang  zum  Höheren,  sondern  als 
Abschwächung  und  Entartung;  doch  wird  thatsächlich  über  die  Re- 
pristinatiou  der  älteren  Form  zu  einer  neuen  reformatorischen  Ent- 
wicklung hinausgegangen,  für  welche  die  Negation  der  zunächst  voran- 
gegangenen Bilduugsform  den  freien  Raum  schafft.  An  den  biblischen 
Urkunden  und  an  den  Dogmen  der  ältesten  Kirche  principiell  fest- 
haltend, verwirft  der  Protestantismus  die  mittelalterliche  Hierarchie 


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I 


§  4.    Der  Protestantismus  und  die  Philosophie.  19 

und  die  scholastische  Rationalisirung  des  Dogmas.  Das  Gewissen 
des  Subjectes  findet  sich  im  Widerstreit  mit  dem  von  der  Kirche 
vorgezeichneten  Wege  zum  Heil,  auf  dem  es  nicht  zum  inneren  Frieden 
und  nicht  zur  Versöhnung  mit  Gott  gelangt,  nicht  zur  Ueberwindung 
des  Gegensatzes  zwischen  Gesetz  und  Sünde,  den  die  in  den  Mönchs- 
gelübden culminirende  Moral,  welche  die  sittliche  Bedeutung  der 
Arbeit,  der  Ehe,  der  Selbständigkeit,  aller  natürlichen  Grundlagen 
des  geistigen  Lebens  unterschätzte,  unlösbar  gemacht  hatte,  und  den 
der  AblasB  und  andere  Sühnmittel  verdeckten,  nicht  hoben,  und  seine 
religiöse  Ueberzeugung  findet  sich  nicht  gekräftigt,  sondern  geschädigt 
durch  die  Schulvernunft.  Nicht  das  kirchliche  Werk,  sondern  der 
persönliche  Glaube  beseligt:  die  menschliche  Vernunft  widerstreitet 
dem  Glauben,  den  der  heilige  Geist  wirkt.  In  der  ersten  Hitze  des 
Kampfes  erscheint  dem  Reformator  das  Oberhaupt  der  katholischen 
Kirche  als  Antichrist  und  Aristoteles,  das  Haupt  der  katholischen 
Schulphilosophie,  als  eine  „gottlose  Wehr  der  Papisten".  In  3er 
Consequenz  dieser  Anschauungen  lag  die  Aufhebung  aller  Philosophie 
zu  Gunsten  der  Unmittelbarkeit  des  Glaubens.  In  dem  Maasse  aber, 
wie  der  Protestantismus  Bestand  gewann,  trat  mit  der  Notwendig- 
keit einer  neuen  kirchlichen  Ordnung  zugleich  die  Notwendigkeit 
einer  festen  Lehrordnung  hervor. 

Luthers  Genosse,  Melanchthon,  erkannte  die  Unentbehrlichkeit 
des  Aristoteles  als  des  Meisters  der  wissenschaftlichen  Form,  und 
Luther  gestand  den  Gebrauch  des  Textes  aristotelischer  Schriften  zu, 
sofern  dieselben  nicht  durch  scholastische  Commentare  beschwert  seien. 
So  kam  auf  den  protestantischen  Universitäten  zunächst  ein  neuer 
Aristotelismus  auf,  der  sich  durch  Einfachheit  und  Freiheit  von 
leeren  Subtilitäten  von  der  Scholastik  unterschied,  durch  die  Not- 
wendigkeit aber,  die  naturalistischen  Elemente  der  aristotelischen 
Doctrin,  insbesondere  der  aristotelischen  Psychologie,  in  einem  dem 
religiösen  Glauben  conformen  Sinne  umzubilden,  derselben  wiederum 
annäherte.  Die  Bildung  einer  neuen,  selbständigen  Philosophie  auf 
Grund  des  verallgemeinerten  protestantischen  Princips  blieb  einer 
späteren  Zeit  vorbehalten. 

Luthers  Werke  sind  im  Ganzen  sechsmal  gedruckt  worden:  1.  zu  Wittenberg, 
19  voll.  fol.  1539—1558,  2.  zu  Jena,  12  voll.  fol.  1555—58,  3.  zu  Altenburg,  10  voll, 
fol.  1661—64,  4.  zu  Leipzig,  23  voll.  fol.  1729—40,  5.  zu  Halle  (Walchsehe  Ausgabe), 
24  voll.  4°,  1740—53,  6.  zu  Krlangcn  (bei  Carl  Heyder,  später  bei  Heydcr  und  Zimmer 
in  Frankfurt  a.  M.),  1826  ff,  noch  nicht  ganz  vollendet,  berechnet  auf  ca.  105  Bde.  in  8°. 
»Seit  1883  erscheint  zu  Weimar  eine  kritische  Gesammtausgabe  mit  Unterstützung  der 
preussischen  Regierung,  herausgeg.  v.  H.  Knaake.  Unter  den  zahlreichen  Schriften  über 
ihn  mag  hier  um  der  philosophischen  Beziehungen  willen  Chr.  H.  Weisse,  Mart.  Luth. 
Lips.  1845,  und:  die  Christologic  Luthers,  Leipz.  1852,  erwähnt  werden,  ferner  Moritz 
Carricre,  üb.  d.  philosopb.  Weltanschauung  der  Rcformationszeit.  Stuttg.  u.  Tüb.  1847, 
2.  Aufl.,  Lpz.  1887,  daneben  auch  eine  ältere  Abhandlung:  J.  H.  Stuss,  de  Luthero 
philosopho  eclectico,  Gotha  1730.     Luthers  Philos.  von  Theopbilos,  Hannov.  1870. 

2* 


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§  4.   Der  Protestantismus  und  die  Philosophie. 


Frdr.  Nitzsch,  L.  ü.  Aristoteles,  Fest-schr.,  Kiel  1883.  E.  Elster,  L.s  Steltang  zur  Ph., 
in:  Ztschr.  f.  kirchl.  Wissenseh.  u.  k.  Leb.,  1883,  S.  582—588.  —  Melanehtbons 
Werke,  von  seinem  Schwiegersohn  Peucer,  Wittenb.  15G2 — 64  hrsg.,  haben  neuerdings 
Bretschneider  und  Bindseil  im:  Corpus  reformatorum,  Halle  und  Braunschw.  1834  ff.  in 
28  Bänden  veröffentlicht,  woran  sieh  Annales  vitae  et  indiecs,  1860,  schliesten;  Bd.  XIII. 
enthält  die  philosophischen  Schriften  mit  Ausnahme  der  ethischen,  die  in  Bd.  XVI. 
stehen:  auch  in  Bd.  XI.  findet  sich  unter  den  Declamationen  und  in  Bd.  XX.  unter 
den  Scripta  vani  argumenti  einzelnes  Philosophische,  z.  B.  über  die  alte  Philosophie, 
über  den  Nutzen  der  Philosophie  etc.  Ueber  Melanchthon  handeln  u.  A.:  Jouch. 
Camerarius,  de  vita  Mel.  narratio,  1560,  von  Georg  Tb.  Strubel  1777  und  von  Augusti 
1819  neu  hrsg.  Buhle,  Gesch.  d.  n.  Philos.  II,  2,  Gött.  1801,  S.  478  ff.  Friedr.  Galle, 
Charakteristik  M.s  uls  Theologen ,  Halle  1840.  Karl  Matthe»,  Ph.  M.,  sein  Leb.  und 
Wirk..  Altenburg  1841.  Ledderhose,  M.  nach  s.  süss.  u.  inn.  Leb.,  Heidelb.  1847. 
Adf.  Planck,  Mel.  praeeeptor  Germaniae,  Nördlingen  1860.  Coust  Schlottmann,  de 
Phil.  Melanchthone  reip.  litterariae  reformatore  comm.,  Bonnao  1860.  Bernhardt,  Ph. 
Mel.  als  Mathematiker  u.  Physiker,  Wittenb.  1865.  Pansch,  Mel.  als  Schulmann,  Eutin 
1868.  Arth.  Richter,  M.s  Verdienste  um  den  philosoph.  Unterricht,  Leipz.  1870.  Chr. 
E.  Luthardt,  Melanchthons  Arbeiten  im  Gebiete  der  Moral.  Lpz.  1885. 

Ueber  die  Beschaffenheit  der  Logik  und  Metsphysik  bei  den  sogen,  reinen  Peri- 
patetikern  handelt  W.  L.  G.  von  Eberstein,  Halle  1800,  und  insbesondere  über  den 
Aristotelismus  unter  den  Protestanten  J.  IL  ab  Eiswich,  de  varia  Aristotelis  in  scholis 
Protestantium  fortuns  schediasms,  bei  der  von  ihm  Viteb.  1720  neu  herausg.  Schrift 
von  Launov,  de  varia  Arist.  fortuns  in  Acsd.  Psrisiensi  (s.  o.  Grdr.  II.  7.  Aufl.  §  19, 
S.  128). 

Auch  die  Philosophie  hielt  Luther  (10.  Nov.  1483  bis  18.  Febr.  1546)  der 
Reformation  für  bedürftig.  Er  sagt  1518  (Epist.  t.  I,  64  ed.  de  Wette,  vgl.  F.  X. 
Schmid.  Nie.  Taurcllus,  S.  4):  Credo,  quod  impossibile  sit  ecelesiam  reformari, 
nisi  funditus  canones,  decretales,  scholastica  theologia,  philosophin,  logica,  ut  nunc 
habentur,  eradiceutur  et  alia  iustituautur.  Aber  diese  Philosophie  soll  nicht  raaass- 
gebend  für  die  Theologie  sein.  Luther  sagt:  „die  Sorbonne  hat  die  höchst  verwerf- 
liche Lehre  aufgestellt,  dass  das,  was  in  der  Philosophie  ausgemachte  Wahrheit  sei, 
auch  in  der  Theologie  als  Wahrheit  gelten  müsse",  und  nimmt  keinen  Anstoss 
daran,  dass  theologisch  etwas  wahr  und  philosophisch  zugleich  falstfi  sein  könne. 
Die  Vernunft  ist  in  Allem,  was  das  Heil  unserer  Seele  betrifft,  stockblind,  höchstens 
in  zeitlichen  Dingen  sollte  sie  genügen.  Mit  dieser  Verachtung  des  Lichtes  der 
Vernunft  verband  sich  bei  Luther  die  Neigung  zur  Mystik,  namentlich  zu  eck- 
hartschen  Anschauungen.  Er  hält  dafür,  dass  keineswegs  der  Rückgang  von  dem 
scholastischen  Aristoteles  auf  den  wirklichen  Aristoteles  genüge;  jeuer  sei  eine 
Wehr  der  Papisten,  dieser  aber  naturalistisch  gesinnt,  leugne  die  Unsterblichkeit 
der  Seele;  seine  Ethik  sei  pessima  gratiae  inimica,  nicht  einmal  zur  Natur- 
erkenntniss  können  seine  Subtilitäten  dienen.  Luther  erwartet  von  Aristoteles  nicht 
nur  keine  Hülfe,  sondern  perhorrescirt  ihn  in  dem  Maasse,  dass  er  urtheilt:  Aristo- 
teles ad  theologiam  est  tenebrae  ad  lucem. 

Auch  Melanchthon  (16.  Febr.  1497  bis  19.  April  1560)  wurde  eine  Zeit- 
lang einigermaassen  in  Luthers  Stimmung  hineingezogen.  Aber  auf  die  Dauer 
konnte  die  Reformation  nicht  ohne  Philosophie  bestehen;  man  machte  die  Erfahrung, 
dass  man  ihrer  bedurfte.  Mit  der  blossen  Berufung  auf  die  frühesten  Urkunden 
des  Christenthums  hatte  man  zwar  eine  dem  religiösen  Bewusstsein  adäquate 
Autorität  für  die  Negation  der  späteren  kirchlichen  Entwickelung  gewonnen;  da 
aber  die  wirkliche  Herstellung  vergangener  Formen  nur  bei  einer  (dem  Pharisäer- 
thum analogen)  Erstarrung  möglich  gewesen  wäre,  wovon  gerade  die  Reformation  in 
ihrem  ersten  Stadium  am  allerweitesten  entfernt  war,  so  Hess  sich  mit  dem  blossen 
Rückgang  auf  den  Keimzustand  keine  Kirche  bauen.  Wurde  mit  der  Forderung 
Ernst  gemacht,  so  entstanden  schwärmerische  Secten,  wie  die  Bilderstürmer  und 
die  Anabaptisten.   Ein  entwickeltes  theologisches  Lehrgebäude  und  ein  geordneter 


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§  4.    Der  Protestantismus  und  die  Philosophie. 


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Lehrgang  war  auch  für  eine  protestantische  Kirche  eine  Lebensbedingung,  blieb 
aber  ohne  Hülfe  philosophischer  Begriffe  und  Normen  unerreichbar.  Eine  neue 
Philosophie  Hess  sich  nicht  leicht  schaffen.  Luther  war  ein  religiöses,  nicht  ein 
philosophisches  Genie,  und  Melanchthon  eine  reproductive  und  ordnende,  nicht  eine 
productive  Natur.  Also  musste  man,  da  man  die  Philosophie  nicht  entbehren 
konnte,  unter  den  Philosophien  des  Alterthums  wählen.  M.  sagt  (in  einer  1536 
gehaltenen  Bede,  in:  Corp.  Bef.  XI,  S.  282):  unum  quoddam  philosophiae  genus 
eligendum  esse,  quod  quam  minimum  habeat  sophistices  et  justam  methodum  re- 
tineat:  talis  est  AriBtotelis  doctrina.  Er  fand  die  Epikureer  zu  gottlos,  die  Stoiker 
zu  fatalistisch  in  ihrer  Gotteslehre  und  zu  überspannt  in  ihrer  Ethik,  Piaton  und 
die  Neuplatouiker  theils  zu  unbestimmt,  theils  zu  häretisch,  die  (mittleren)  Aka- 
demiker zu  skeptisch;  der  einzige  Aristoteles  entsprach  dem  Bedürfniss  der  jungen 
Kirche,  wie  er  dem  der  alten  entsprochen  hatte,  als  Lehrer  der  Form,  der  „justa 
docendi  et  discendi  ratio".  Somit  erkannte  M.:  „carere  raonumentis  Aristotelis 
non  possumus."  .Ego  plane  ita  sentio,  magnam  doctrinarum  confusionem  secuturara 
esse,  si  Aristoteles  neglectus  fuerit,  qui  unus  ac  sulus  est  methodi  artifex."  „Quam- 
quam  is,  qui  ducem  Aristotelem  praecipue  sequitur  et  uuam  quandam  simplicem 
uc  minime  sophisticam  doctrinam  expetit,  interdum  et  ab  aliis  auctoribus  sumere 
aliquid  potcst."  Aristoteles  stimmt  nach  ihm  auch  meist  mit  der  Offenbarung 
übereiu;  wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  inuss  man  ihn  verlassen.  Auch  Luther  lenkte 
ein.  Schon  im  Jahre  1520  giebt  er  zu,  dass  die  Bücher  des  Aristoteles  über  die 
Logik,  Bhetorik  und  Poetik,  falls  sie  ohne  scholastische  Zuthaten  gelesen  werden, 
nützlich  sein  können,  Junge  Leut  zu  üben  wohl  reden  und  predigen".  In  dem 
(Luthers  und  Melanchthons  gemeinsame  Ansichten  enthaltenden,  von  dem  Letzteren 
niedergeschriebenen)  .Unterricht  der  Visitatoren  an  die  Pfarrherrn  im  Kurfürsteu- 
thum  zu  Sachsen"  1527,  und  dem  »Unterricht  der  Visitatoren  an  die  Pfarrherrn 
in  llerzog  Heinrichs  zu  Sachsen  Fürstenthum*  1539  (bei  Walch  im  X.  Bde.;  vgl. 
Trendelenburg,  Erläut.  zu  den  Elementen  der  arist.  Logik,  Vorwort)  wird  gefordert, 
dass  dem  grammatischen  Unterricht  der  dialektische  und  rhetorische  folge.  Der 
dialektische  Unterricht  aber  konnte  nur  auf  Aristoteles  fussen. 

Melanchthon  verfasste  zum  Unterricht  trefflich  geeignete  philosophische 
Lehrbücher,  die  in  vielen  Auflagen  erschienen  und  durchgehends  auf  deutschen  ge- 
lehrten Schulen  lange  Zeit  gebraucht  wurden,  so  dass  er  mit  Becht  „Praeceptor 
Germaniao"  genannt  wird.  Classisch  gebildet,  Bchon  in  früher  Jugend  von  Erasmus 
Boterodamus  öffentlich  gepriesen,  mit  Beuchlin  verwandt  und  befreundet,  auch 
au  dessen  Kampf  gegen  die  Dominicaner  bereits  mitbeteiligt,  konnte  er  nicht, 
an  der  geschmacklosen  Subtilität  der  Scholastiker  Gefallen  ßnden;  er  giug  nach 
dem  Beispiele  des  Valla  und  des  Bud.  Agricola  auf  den  Text  des  Aristoteles  zurück, 
schwächte  freilich  auch  die  aristotelischen  Gedanken  ab;  seine  Darstellung  ist  mehr 
klar,  wohlgeordnet  und  elegant  als  tief.  Im  Jahre  1520  erschien  zu  Leipzig  seine 
erste  Bearbeitung  der  Logik:  Compendiaria  dialectices  ratio  (1522  die  erste  Ausg. 
der  Loci  theologici,  die  in  den  speeifisch  reformatorischen  Dogmen,  insbesondere 
der  Lehre  von  der  Erbsünde  und  Prädestination,  strenger,  in  der  Trinitätslehre 
und  andern  aus  der  katholischen  Kirche  überkommenen  Dogmen  minder  streng  ist, 
als  die  späteren  Ausgaben),  1527  die  Dialectica  Ph.  M.  ab  auetore  adaueta  et 
recognita,  auch  Hag.  1528  und  in  dritter  Ausg.  1529:  de  dialectica  libri  quatuor, 
auch  1533  u.  ö.,  endlich  1547  zu  Wittenberg  die  Erotemata  dialectices,  auch  1550, 
1552  u.  ö.  Melanchthon  deBnirt  (Dial.  L  L  init)  die  Dialektik  als  ars  et  via 
docendi;  nicht  auf  die  Methode  der  Forschung  (da  das  Wesentlichste  theils  durch 
angeborene  Principien,  theils  durch  Offenbarung  gegeben  ist),  als  vielmehr  auf  die 
des  Unterrichts  fällt  ihm  das  Hauptgewicht.    Er  handelt  (gemäss  der  Folge: 


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§  4.    Der  Protestantismus  und  die  Philosophie. 


Isagoge  des  Porphyrius;  Categ.,  de  interpret.,  Analyt,  Top.  im  Organon  des  Aristo- 
teles) zuerst  von  den  fünf  Praedieabilia:  species,  genus,  differentia,  proprium,  aeci- 
dens,  dann  von  den  zehn  Kategorien  oder  Praedicamenta :  substantia,  quaiititas, 
qualitns,  relatio,  actio,  passio.  qnando,  ubi,  situs,  habitus,  dann  (im  zweiten  Buch) 
von  den  Arten  der  Sätze,  demnächst  von  der  Argumentation  (Buch  III)  und  endet 
mit  der  Topik  (Buch  IV).  Das  Hauptgewicht  legt  er  auf  die  Lehre  von  der 
Definition,  von  der  Eintheilung  und  von  der  Argumentation.  Melauchthon  huldigt 
entschieden  dem  nominalistischen  Grundsatz:  omne  quod  est,  eo  ipso  qnod  est, 
singulare  est.  Er  definirt  die  species  als  nomen  commune  proximum  individuis, 
de  quibus  praedicatur  in  quaestione  quid  sit,  das  genus  als  nomen  commune  multis 
speciebus  etc.  Er  preist  die  Dialektik  als  eine  edle  Gottesgabe.  Erotemata 
dialectices,  epist.  dedicatoria  p.  VII:  .ut  uumerorum  notitia  et  donum  Dei  ingens 
est  et  valde  necessaria  hominum  vitae,  ita  veram  doceudi  et  rationandi  viam  sciamus 
Dei  donum  esse  et  in  exponenda  doctrina  coelesti  et  in  inquisitione  veritatis  et  in 
aliis  rebus  necessarinm".  Die  letzten  Gründe  sind  ihm  nach  Aristoteles  Gott, 
Materie,  Beraubung,  oder  nach  Piaton  Gott,  Materie,  Idee,  indem  er  meint,  die 
beiden  Philosophen  ergänzten  sich  hier.  Die  drei  Bücher  über  die  Rhetorik  er- 
schienen Wittenberg  1719. 

Die  Ethik  des  Aristoteles  hielt  Melanchthon  sehr  hoch,  weil  sie  gemässigte 
Meinungen  liebe,  die  Wahrheit  erforsche  und  nicht  auf  Zänkereien  ausgehe.  Die 
Schrift:  Philosophiae  moralis  Epitome  erschien  zu  Wittenberg  1537,  nachdem 
Melanchthon  schon  früher  zur  aristotelischen  Ethik  (Witt.  1529)  und  zu  einzelnen 
Büchern  der  Politik  (ebd.  1530)  einen  Commentar  veröffentlicht  hatte.  Später 
(Witt.  1550)  erschien  die  Schrift:  Ethicae  doctrinae  elementa  et  enarratio  libri 
quinti  Ethicorum  (Aristotelis).  Melanchthon  schlicsst  sich  auch  hier  meist  an 
Aristoteles  an,  giebt  aber  besonders  in  der  letztgenannten  Schrift  derselben  eine 
mehr  theologische  Wendung,  indem  ihm  der  Wille  Gottes  als  das  oberste  Moral- 
gesetz gilt,  und  die  Tugend  in  der  Gotteserkeuntniss  und  im  Gehorsam  gegen  Gott 
besteht. 

In  dem  Commentarius  de  anima,  Wittenberg  1540,  1542  u.  ö.,  wie  auch  den 
Initia  doctrinae  physicae,  dicta  in  academia  Witebergensi,  ebend.  1549,  legt  Melan- 
chthon die  aristotelischen  Begriffe  zu  Grunde.  M.  hält  an  der  arist.-ptolemäischen 
Lehre  vom  Weltgebäude  fest,  auch  nach  dem  Hervortreten  der  copernicanischen;  er 
hält  die  letztere  für  eine  „böse  und  gottlose  Meinung"  und  erklärt  die  Übrigkeit  für 
verpflichtet,  dieselbe  zu  unterdrücken.  (Auch  Luther  betrachtete  die  copcrnicanische 
Doctrin  als  eine  eitle  Neuerung,  die  der  Bibel  widerstreite,  welche  ihm  nicht  bloss 
für  .christliche  Heilswahrheiten",  sondern  nach  ihrem  gesammten  Inhalt  als  Norm 
galt.  Der  protestantische  Theolog  Osiander,  der  sich  mit  der  Doctrin  des  Copernicus 
befreundete,  half  sich,  wie  später  die  Jesuiten  in  Rom,  durch  Abschwächung  der- 
selben zur  blossen  Rechnungshypothese  mittelst  des  die  materielle  Wahrheit  hinter 
die  formelle  Exactheit  hintansetzenden  Satzes:  „neque  enim  necesse  est  eas  hypo- 
theses  esse  veras,  immo  ne  verisimiles  quidem,  sed  sufficit  hoc  nnum,  si  calculum 
observationibus  cougruentem  exhibeant4*.)  Den  Gestirnen  schreibt  Melanchthon 
Einfluss  nicht  nur  auf  die  jedesmalige  Temperatur  (ortus  Pleiadum  ac  Hyadum 
regulariter  pluvias  affert  etc.),  sondern  auch  auf  die  menschlichen  Geschicke  zu. 
Die  Naturursachen  wirken  mit  Notwendigkeit,  sofern  nicht  Gott  den  modus  agendi 
ordinatus  unterbricht  (interrumpit).  Die  Autorität  des  Aristoteles,  sofern  dieser 
die  Ewigkeit  der  Welt  lehrt,  erkennt  Melanchthon  nicht  an.  In  der  Definition  der 
Seele  vertheidigt  er  die  falsche  Lesart  iv&tkixtia  gegen  Amerbach  (1504—  57, 
1.  quatuor  d.  anima,  Arg.  1542),  den  der  Kampf  um  <>«;.£>£<«  schliesslich  zum 
Weggang  von  Wittenberg  und  zum  Katholisch  werden  veranlasst  hat.    Das  Seelen- 


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§  4.   Der  Protestantismus  und  die  Philosophie. 


23 


leben  theilt  M.  nnch  den  drei  aristotelischen  Hauptstnfen  in  das  vegetative  (das 
&Q€nnx6y  des  Aristoteles),  sensitive  mit  Einschluss  der  vis  appetitiva  und  loco- 
motiva  (idoSqnxoy,  opexnxoV,  xtvrjixoy  xurd  to.w)  und  rationale  (yoijrtxoy).  Der 
anima  rationalis  gehört  der  iutellectus  und  die  voluntas  an.  M.  rechnet  zu  den 
Actionen  des  intellectus  (hierin  von  Aristoteles  abweichend)  auch  die  memoria, 
wodurch  er  auch  dieser  an  der  (von  Aristoteles  dem  yovs  notrjtxos  zugesprochenen) 
Unsterblichkeit  Antheil  vindicirt.  Die  Aimahme,  dass  Begriffe,  wie  die  von  Zahl 
und  Ordnung,  auch  von  den  geometrischen,  physischen  und  moralischen  Principien, 
angeboren  seien,  möchte  er  nicht  fallen  lassen,  halt  aber  dafür,  dass  durch  die 
Sinne  der  Intellect  zur  Bethätigung  angeregt  werde,  und  dass  die  meisten  Begriffe 
aus  den  Sinnen  stammen.  Von  den  philosophischen  Beweisen  des  Piaton,  Xenophon 
und  Cicero  für  die  Unsterblichkeit  sagt  er:  haec  argumenta  cogitare  prodest,  sed 
tarnen  sciamus,  patefactiones  divinas  intuendas  esse.  Zu  der  sinnlichen  Erfahrung, 
den  Principien  des  Intcllects  und  der  Schlussfolgerung  tritt  als  viertes  und  oberstes 
Criterium  die  göttliche  Offenbarung  in  den  biblischen  Schriften  hinzu.  —  Philo- 
sophischen Umdeutungen  theologischer  Begriffe  war  M.  nicht  hold;  die  Beziehung 
der  drei  Personen  in  Gott  auf  mens,  cogitatio  und  voluntas  (in  qua  sunt  laetitia 
et  amor)  lasst  er  nur  als  einen  einigermaassen  zutreffenden  Vergleich  gelten.  Der 
Miturheber  der  Reformation  hat  die  Hinrichtung  von  Häretikern  gebilligt;  er  nennt 
die  Verbrennung  des  Antitrinitariers  Servet  durch  die  Calvinisten  in  Genf  „pium 
et  memorabile  ad  omnem  posteritatem  exemplum". 

Die  peripatetische  Doctrin  herrschte  auf  den  protestantischen  Schulen  bis  zum 
Aufkommen  der  cartesianischen  und  leibnizischen  Philosophie.  Sie  war  vertreten 
von  zahlreichen  Docenten,  wie  Joach.  Camerarius,  dem  Freund  Melanchthons, 
(1500—1574)  in  Leipzig,  Jac.  Schegk  (1511-1587,  s.  C.  Sigwart,  Jac.  Schegk, 
Prof.  d.  Philos.  u.  Mediz.,  in:  Besondere  Beilage  des  Staatsanzeigers  f.  Württemb., 
No.  5,  1883,  S.  65 — 79)  in  Tübingen,  der  in  Aristoteles  die  höchste  Vollenduug 
des  menschlichen  Geistes  erblickte,  auf  die  Interpretation  von  dessen  Schriften 
grossen  Fleiss  verwandte  und  mit  P.  Bamus  in  heftigen  Streit  gerieth,  David 
Chytraeus  in  Rostock,  Victorin  Strigel,  dem  Schüler  Melanchthons  in  Jena,  Phil. 
Scherbius  (gest  1605  in  Altorf),  Cornelius  Martini  (1568-1621)  in  Helrastädt,  wo 
nach  den  Statuten  die  Schriften  des  Aristoteles  und  Melanchthons  für  den  philo- 
sophischen Unterricht  gebraucht  werden  mussten,  Jacob  Martini  (1570 — 1649)  in 
Wittenberg  etc.  Nur  wenig  beschränkt  wurde  der  Aristotelismus  durch  den  Ramis- 
mus, dem  manche  sich  vollständig  hingaben,  andere  wenigstens  Concessionen  machten 
(3iehe  unten  §  5).  Doch  fanden  sich,  abgesehen  von  den  Ramisten,  einzelne  Gegner 
des  Aristoteles,  die  Luthers  anfängliche  Polemik  wieder  aufnahmen,  wie  namentlich 
Nicol.  Taurellus  (s.  unt.  §  5).  Sollte  aber  das  Motiv  der  Befreiung  des  Geistes  von 
jeder  äusseren,  ungeistigen  Macht  und  seiner  positiven  Erfüllung  mit  dem  höchsten 
Wahrheitsgehalte  auf  allen  Gebieten  seines  Lebens  zur  vollen  Geltung  gelangen,  so 
bedurfte  es  einer  Verallgemeinerung  und  Vertiefung  des  protestantischen  Princips,  die 
dasselbe  über  die  bloss  religiöse  Sphäre  hinausführte  und  auch  innerhalb  dieser  selbst 
die  ihm  hier  noch  anhaftenden  Schranken,  die  je  länger  je  mehr  die  reformatorische 
Bewegung  hemmten  und  fälschten,  aufhob,  und  dieser  Fortgang  konnte  sich  nicht 
durch  eine  blosse  immanente  Entwickelung  der  historischen  Anfänge  des  kirch- 
lichen Protestantismus,  sondern  nur  durch  das  Mithinzutreten  anderer  Momente 
vollziehen. 

Die  Scholastik  der  thomistischen  Form  führte  in  die  Neuzeit  herüber  Franz 
Suarez,  geb.  1548  in  Granada,  gest.  1617  zu  Lissabon,  der  eine  grosse  Reihe  von 
Schriften  verfasste  (Gesammtausgabe  23  Foliobände,  Vened.  1740).  Das  vorzüg- 
lichste philosophische  Werk  des  gelehrten  Jesuiten  sind  seine  Disputationes  meta- 


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24  §  5.  Bekämpfung  des  Aristoteles  und  Versuche  zu  einer  Reform  der  Philosophie. 

physicae,  1605  u.  ö.  Seine  Darstellung  ist  eine  wohlgeordnete  und  zeichnet  sich 
durch  Klarheit  aus.  So  machte  sich  dem  protestantischen  Peripatcticismus  gegen- 
über der  scholastische  auf  den  katholischen  Universitäten  wieder  geltend. 

§  5.  Den  scholastischen  Aristoteles  bekämpfte  der  Spanier  Jo- 
hannes Ludovicus  Vi  ves,  der  in  der  Metaphysik  sich  an  die  wirkliche 
Lehre  des  Aristoteles  zwar  noch  anschloss,  auf  ethischem  Gebiete  sich 
aber  mehr  dem  Platonismus  und  Stoicismus  näherte,  im  Ganzen  aber, 
und  namentlich  in  der  Psychologie,  eine  die  Traditionen  des  Alterthums 
verlassende  Erfahrungswissenschaft  anstrebte  und  so  mit  dieser  neuen 
Methode  die  selbständige  philosophische  Forschuug  vertrat.  In  ähn- 
licher Weise  betonte  Marius  Nizolius  die  Erfahrung  und  den  Weg 
der  Induction  und  hob  ferner  gegenüber  der  Metaphysik  die  Rhetorik 
hervor.  An  Vives  hat  sich  vielfach  angelehnt  der  heftige  Feind  des 
Aristoteles  Petrus  Ramus,  der  den  Versuch  zu  einem  selbständigen 
System  der  Philosophie  machte  und,  namentlich  für  seine  Logik,  zahl- 
reiche Anhänger  fand,  so  dass  sich  eine  Schule  der  „Rainisten4'  bildete. 
—  Diese  drei  wollten  alles  Sachliche  aus  der  Logik  entfernt  haben. 

Vielleicht  war  durch  Ramus  Nicolaus  Taurellus  beeinflusst. 
der,  von  der  Voraussetzung  ausgehend,  dass  Philosophie  und  Theologie 
sich  nicht  widersprechen  dürften,  selbständig  eine  Philosophie  als 
Grundlage  für  die  Theologie  zu  linden  suchte. 

Die  Worki>  des  Ludovicus  Vives  sind  in  2  Foliohänden  1555  zu  Ba*el  er- 
schienen mit  einer  Dedicationssehrift  von  Ulr.  Coccins,  in  S  Folioliänden  sind  sie  von 
Don  Gregor  Majans  herausgegeben,  Valencia  1782  — 1790.  Im  1.  Bande  dieser  letzteren 
Ausgabe  findet  sieh  eine  vom  Kditor  verfasste  vita  Vivis.  Das  Hauptwerk  Vives"  de 
disciplinis  erschien  zuerst  15J51  zu  Brügge,  in  demselben  Jahre  auch  zu  Antwerpen, 
später  öfter  gedruckt.  VergL  über  ihn  Sehaumann,  de  L.  Vive,  Halae  175*2,  A.  J.  Nu- 
meche.  Memoire  sur  la  vie  et  les  ecrits  de  Jean  Louis  Vives,  in:  Memoire«  couronnes 
par  lue.  rovale  des  sc.  et  des  belies  1.  de  Bruxelles,  T.  XV,  prem.  partie,  Brüx.  1S41, 
F.  A.  Lunge  in  d.  Kncyklopädic  des  gesammten  Erzichungs-  und  Unterrichtswesens, 
herausg.  von  K.  A.  Sehmid.  B.  9,  S.  7:17  — 814.  Leber  Nizolius  handelt  am  aus- 
führlichsten H.  Bitter  in  seiner  Gesch.  d.  Ph.  IX,  S.  445—471.  Die  Schriften  des 
Nizolius  s.  im  Text. 

Eine  Gesammtausgabe  der  Schriften  des  Ramus  giebt  es  nicht.  Ucber  ihn  handeln 
Ch.  Waddington,  de  F.  Bami  vita,  scriptis,  philosophiu,  Faris  1*49.  Ders.,  Burnus,  sa 
vie,  ses  ecrits  et  ses  opinions,  Faris  IS")."»  (in  diesen  beiden  Monographien  linden  sich 
Register  der  50  Schriften  des  Ramus).  Charles  Destnaze,  F.  IL,  professeur  au  College 
de  France,  sa  vie,  ses  ecrits,  sa  mort,  Faris  18(54.  M.  Cantor,  Petrus  Bantus,  ein  wiss. 
Märtvrer  des  IG.  Jahrh.s,  in:  Geizers  prot.  Monatsbl.  Bd.  :10,  1867,  S.  129—142. 
W.  Schmitz,  F.  R.  als  Sehulmann,  in:  N.  Jahrb.  f.  Piniol,  u.  Päd.  Bd.  98.  LS68, 
S.  567 — 574  u.  als  Anh.  in  seiner  Schrift:  Fruneisc.  Fabrie.  Marcoduranus,  Köln  1871. 
Bcnj.  Chagnard,  Ramus  et  ses  opinions  religieuses,  Strassburg  1869.  K.  Prantl,  üb. 
Fetr.  Ramus,  in:  Sitzungsber.  d.  Kgl.  bayer.  Akademie  der  Wissensch.,  Philo«,  phil. 
hist.  CI.  187S.  F.  Lobstein,  F.  Ramus  als  Theologe,  Strassburg  1878.  Schriften  seines 
Gegners  Carpentarius  sind:  Animadversiones  in  II.  III  institutionum  dialecticarnm 
Petri  Rami.  1554,  Descriptio  universue  naturae  ex  Aristotele,  1562,  Orationes  contra 
Ramum  1566,  Piatonis  cum  Aristotele  in  universa  philosophia  comparatio,  1573. 

Den  Triumph  der  von  dem  Aristotelismus  befreiten,  mit  der  Theologie  harmo- 
nirenden  Philosophie  feiert  Taurellus  in  <ler  Schrift:  Philosophiae  triumphus,  hoc  est, 
methaphysiea  philosophandi  methodus.  qua  divinitus  inditis  menti  notitiis  humanae 
rationes  eo  dedueunmr,  nt  firmissimis  inde  eonstruetis  demonsrrationihus  aperte  rei  veritas 
elucescat  et  quae  diu  philosophorum  sepulta  fuit  authoritate  philosophia  vietrix  erumpat: 


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§.  5.  Bekämpfung  des  Aristoteles  und  Versuche  zu  eiuer  Reform  der  Philosophie.  25 


quaestionibus  enim  vel  sexeentis  ea,  quibus  cum  revelata  nobis  Verität«1  philo*ophia 
pugnare  videbatur,  adeu  vere  conciliantur,  ut  BOB  tidei  solum  servire  dkvnda  sit,  sed 
ejus  esse  fundamcntuni,  Basil.  1573.  ,  Gegen  Caesalpin  ist  seine  Schrift  gerichtet:  Alpe« 
caesae,  hoc  est,  Andreae  Caesalpini  Itali  monstrosa  et  superba  dogmata  discussa  et  cx- 
cussa,  Franeof.  1597.  Eine  polemisch.»  Schrift  ist  auch  Synopsis  Arist.  Metaphvsice * 
ad  normam  Uhristianae  religionis  ex  plicata  e,  emendatae  et  complctae.  Hanoriae  1596; 
de  mundo,  Ambergae  1603;  L'ranologia,  Auib.  16<>3;  de  reruui  aeternitate;  metaph. 
universalis  partes  quatuor,  in  quibus  placita  Aristotclis,  Vallesii,  Piccolooiinei,  Caecal* 
pini,  soeietatis  Conitnbricensis  alioruinquc  discutinntur,  cxaminantiir  et  refntantur, 
Mnrpurgi  1604  etc.  Ueber  Taurel  lua  handeln  insbesondere:  Jac.  Wilh.  Feuerlin,  diss 
Apolug.  pro  Nie.  Taurello  philosopho  Altdorlino  atheisiui  et  deismi  injuste  accusato  et 
ipsius  Taurelli  Synopsis  Arist.  metaphysices  recusa  cum  annot.  editoris,  Norimb.  1734. 
F.  X.  Schmidt  aus  Schwarzenberg,  Nie.  Taur.,  der  erste  deutsche  Philosoph,  aus  den 
Quellen  dargest.,  Erlangen  1S60,  n.  Ausg.  1864. 

Ueber  Bovillus  handelt  insbesondere  Jos.  Dippel,  Versuch  einer  systcniat.  Darstell, 
der  Philo*,  des  C.  B.  nebst  einem  kurzen  Lebensabriss,  WQrzb.  1865. 

Als  Antiacholastiker  hat  Joh.  Ludovicus  Yives,  geb.  zu  Valencia  1492,  von 
1523  bis  1528  jedes  Jahr  einige  Zeit  in  London  sich  aufhaltend,  am  Hofe  beschäftigt, 
theilweise  wahrscheinlich  als  Lehrer  der  Prinzessin  Maria,  gest.  zu  Brügge  gegen 
1540,  ein  jüngerer  Zeitgenosse  und  Freund  des  Erasmus,  durch  viele  Schriften  für 
eine  auf  die  Erfahrung  gegründete  Wissenschaft  kräftig  gewirkt  und  kann  als 
Vorläufer  von  Descartes  und  Fr.  Bacon  gelten.  In  einer  kleinen  Schrift  ans  dem 
Jahre  1518:  de  initiis,  sectis  et  laudibus  philosophiae,  giebt  er  eine  Uebersicht 
über  die  Geschichte  der  alten  Philosophie,  wohl  die  erste,  die  wir  aus  der  neueren 
Zeit  besitzen.  In  seiner  Flugschrift  gegen  die  Pseudodialektiker  aus  dem  Jahre 
1519  deckt  er  die  Gebrechen  der  scholastischen  Sophistik  schonungslos  auf.  Nach- 
dem er  schon  in  dem  Dialoge  Sapiens,  1512,  die  einzelnen  Wissenschaften  in  ihrer 
damaligen  Verfassung  streng  gegeisselt,  übt  er  eine  scharfe  und  ausführlichen« 
Kritik  derselben  in  seinem  gross  angelegten  encyclopädischen  Werke;  De  disci- 
plinis,  1531,  dessen  erster  Theil  die  7  Bücher  de  causis  corruptarum  artium, 
der  zweite  die  5  Bücher  de  tradendis  diseiplinis  enthält.  Als  dritter  Theil  wird 
in  den  älteren  Ausgaben  noch  eine  Anzahl  logischer  und  metaphysischer  Abhandlungen 
bezeichnet,  so  die  3  BB.  de  prima  philosophia,  de  censura  veri,  de  instrumento 
probabilitatis  u.  a.  Zunächst  bringt  er  treffende  allgemeine  Bemerkungen  über  den 
Verfall  der  Wissenschaften,  indem  er  besonders  über  den  Mangel  an  Wahrheitssiuu, 
über  Hochmuth,  Sucht  nach  dem  Ruhme  eines  Erfinders,  über  die  Dunkelheit  in 
den  Schriften  der  Alten,  vor  Allen  des  Aristoteles,  klagt.  Von  den  Kritiken  der 
einzelnen  Disciplinen  ist  hier  hervorzuheben  die  der  Dialektik,  in  welcher  er  die 
Vermengung  von  Logik  und  Metaphysik  namentlich  tadelt  und  den  Gedanken  einer 
formalen  Logik  klar  und  sicher  durchführt.  Bei  der  Besprechung  der  Natur- 
wissenschaften, der  Medicin  und  Mathematik  verwirft  er  die  Beschränkung  auf 
Aristoteles  und  will  an  dessen  Stelle  selbständige  Forschung,  schweigende  Betrachtung 
der  Natur,  an  die  Stelle  der  metaphysischen  Erörterungen  Beobachtung  der  Er- 
scheinungen und  Nachdenken  über  dieselben  gesetzt  wissen.  Nur  durch  directe 
Untersuchung  auf  dem  Wege  des  Experiments  ist  die  Natur  zu  erkennen.  Die 
echten  Schüler  des  Aristoteles,  lehrt  er,  befragen  die  Natur  selbst,  wie  auch  die 
Alten  dies  gethan  haben.  In  der  Metaphysik  hält  sich  Vives  viel  an  Aristoteles, 
lässt  aber  manche  von  diesem  betonte  Begriffe  zurücktreten  und  stellt  in  den 
Mittelpunkt  die  Lehre  von  Gott  und  seiner  Schöpfung,  indem  er  freilich  öfter  die 
Unzulänglichkeit  des  menschlichen  Geistes  für  die  Lösung  dieser  Probleme  hervor- 
hebt und  die  theoretischen  Beweise  für  das  Dasein  Gottes  sowie  auch  für  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  nicht  hochschätzt,  dagegen  auf  das  sittliche  Bedürfniss  in 
beiden  Beziehungen  schon  bestimmt  hinweist.   In  der  Ethik  nimmt  er  die  aristo- 


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26  §  5.  Bekämpfung  des  Aristoteles  and  Versuche  zu  einer  Reform  der  Philosophie. 

telische  Lehre  von  der  Glückseligkeit  und  deren  Inhalt  nicht  an  und  rieht  die 
sokratisch-platonische  und  stoische  vor,  die  auch  nach  seiner  Ansicht  mit  dem 
Christenthum  näher  verwandt  sind.  Wichtig  sind  noch  seine  3  Bücher  de  anima 
et  vita,  1539,  in  denen  er  es  tadelt,  dass  man  sich  in  der  Lehre  von  der  Seele 
bisher  mit  dem  begnüge,  was  das  Alterthum  biete.  Um  nun  weiter  zu  kommen 
benutzt  er,  zum  Theil  mit  Erfolg,  die  eigene  Beobachtung.  Nicht  was  die  Seele 
sei,  solle  man  zu  erforschen  suchen,  sondern  welche  Eigenschaften  sie  habe 
und  wie  sie  wirke.  Er  wird  in  Folge  dieser  Principien  und  der  Durchführung 
derselben  in  dieser  Schrift  nicht  mit  Unrecht  von  Alb.  Lange  als  Vater  der  neueren 
empirischen  Psychologie  bezeichnet.  —  Aus  seinen  Schriften  haben  Viele  geschöpft, 
ohne  ihn  zu  neimen. 

Marius  Nizolius  aus  Bereello,  geb.  1498,  lehrte  zuerst  in  Parma,  dann  an 
der  Universität  zu  Sabbioneta,  wo  er  1576  starb.  Er  hat  die  Scholastik  bekämpft 
in  seinem  Thesaurus  Ciceronianus  und  besonders  in  seinem  Antibarbarus  sive  de 
veris  principiis  et  vera  ratione  philosophandi  contra  pseudo-philosophos,  Parin. 
1553,  den  O.  W,  Leibniz  hochgeschätzt  und  deshalb  Francof.  1670,  auch  1674 
wieder  herausgegeben  hat.  Nizolius  stellt  in  Abrede,  dass  wir  unter  den  Alten 
einen  sicheren  Führer  in  der  Philosophie  haben.  Die  Schriften  des  Aristoteles 
besitzen  wir  nur  in  fragmentarischer  und  nicht  in  der  echten  Gestalt,  und  deshalb 
eifert  Nizolius  gegen  die  Schule  der  Peripatetiker.  Den  Cicero  hält  er  für  zu 
skeptisch.  Die  Rhetorik  ist  ihm  die  allgemeine  Wissenschaft,  welche  die  Fähigkeit 
giebt,  über  Alles  zu  urtheilen,  die  übrigen  Wissenschaften  liefern  ihr  den  Inhalt 
für  ihre  Formen.  Die  Philosophie,  die  es  mit  dem  Stoffe  zu  thun  hat,  ist  theils 
Physik,  theilB  Politik.  Er  vertritt  die  nominalistische  Doctrin,  dass  nur  die  Indi- 
viduen wirkliche  Substanzen,  die  Arten  und  Gattungen  aber  subjective  Zusammen- 
fassungen seien:  Nostra  universa,  nt  sunt  a  natura  facta  sine  ulla  abstractione  nihil 
aliud  esse  dicimus,  nisi  omnia  singularia  unius  cuiuslibet  generis  simul  compre- 
hensa.  Seine  neue  Methode  nennt  er  comprehensio;  sie  ist  actio  quaedam  Bive 
operatio  intellectus,  qua  mens  hominis  singularia  omnia  sui  cuiusque  generis  simul 
et  semel  comprehendit.  Alle  Erkenntniss  muss  aber  von  der  Wahrnehmung  aus- 
geben, die  allein  unmittelbare  Gewissheit  hat. 

Nicht  bloss  die  Scholastik,  sondern  auch  die  dialektische  Doctrin  des  Aristo- 
teles selbst  ist  von  Petrus  Ramus  (Pierre  de  la  Kamee)  bekämpft  worden,  der, 
geb.  1515  in  Vermandois,  zum  Calvinismus  übertrat  und  in  der  Bartholomäusnacht 
1572,  wahrscheinlich  auf  Anstiften  seines  scholastischen  Gegners  Charpentier  (Ja- 
cobus  Carpentarius),  ermordet  wurde.  Zu  Paris  hatte  er  lange  Zeit  gelehrt,  einige 
Jahre  sich  auch  in  Deutschland  aufgehalten.  In  den  Animadversiones  in  dialecticam 
Aristotelis,  Paris  1534  u.  ö.,  warf  er  der  Logik  des  Aristoteles  vor,  dass  dieselbe 
die  dem  menschlichen  Geiste  eingeborene  Logik  nicht  treu  darstelle,  sondern  diese 
vielmehr  durch  Künste  der  Scholastik  verdürbe.  Hieran  schloss  sich  der  wenig 
bedeutende  Versuch  einer  verbesserten  Logik  in  den  Institutiones  dial.,  Par.  1543, 
indem  er,  an  Cicero  (und  Quintilian)  anknüpfend,  die  Logik  mit  der  Rhetorik  ver- 
einigt, und  er  nennt  diese  Wissenschaft  „ars  disserendi",  was  schon  durch  die  sokra- 
tisch-platonische Bezeichnung  „ Dialektik*  wiedergegeben  sei.  Der  erste  Theil  (de 
inventione)  umfasst  die  Lehre  von  dem  Begriff  und  der  Definition,  der  zweite  (de 
iudicio  —  daher  Secunda  Petri  gleich  Urteilskraft ,  z.  B.  noch  bei  Kant  — )  die 
Lehren  vom  Urtheil,  vom  Schluss  und  von  der  Methode.  Diese  Reihenfolge  ist 
dann  von  den  Logikern  bis  auf  die  Gegenwart  meist  beibehalten  worden.  Will 
man  sich  über  eine  Frage  klar  werden,  so  ist  zuerst  Erfindung  nöthig,  d.  h.  man 
muss  einen  Grund  suchen,  aus  dem  man  die  Frage  lösen  kann,  sodann  Urtheil, 
d.  h.  man  hat  den  Beweis  für  den  Satz  zu  bilden.  Um  die  Erfindung  zu  erleichtern 


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§  5.  Bekämpfung  des  Aristoteles  und  Versuche  zu  einer  Reform  der  Philosophie.  27 


werden  Gemeinplätze  aufgestellt,  loci,  aus  welchen  man  Beweisgründe  entnehmen 
kann.  Die  hauptsächlichsten  derselben  sind  die  Division  und  Definition.  Bei  dem 
Urtheil  werden  drei  Stufen  unterschieden:  1)  der  Syllogismus,  bei  dem  es  darauf 
ankommt,  den  Grund  mit  einer  Frage  so  zu  verbinden,  dass  daraus  Wahrheit  oder 
Falschheit  des  Satzes  folgt;  2)  das  System,  indem  eine  Kette  von  Schlüssen  ge- 
bildet uiiv*  eine  Anordnung  mit  einander  zusammenhängender  Lehrsätze  getroffen 
wird ;  3)  es  werden  die  Wissenschaften  alle  auf  Gott  bezogen,  zu  dem  wir  uns  aus 
dem  Sinnlichen  erheben,  und  so  kommen  wir  zur  Kenntniss  der  Idee.  Ramus  stützt 
sieh  hier,  freilich  nur  sehr  äusserlich,  auf  Piaton,  den  er  weit  über  Aristoteles 
stellt  Auch  auf  physikalischem  und  metaphysischem  Gebiet  bestritt  er  den  Aristo- 
teles in  seinen  Scholarum  physic.  11.  Otto,  Par.  1565,  und  seinen  Scholarum  metaphys. 
11.  quatuordeeim,  Par.  1566.  Während  Ramus  in  jugendlichem  Eifer  gesagt  hatte: 
Quaecunque  ab  Aristotele  dicta  sunt,  commenticia  sunt,  schrieb  er  übrigens  gegen 
Ende  seines  Lebens  eine  Defeusio  pro  Aristotele  adversus  Jacobum  Schecium,  in 
der  er  behauptet,  der  einzig  wahre  Aristoteliker  zu  sein. 

Die  Logiker  schieden  sich  lange  Zeit  in  Ramisten  und  Antiramisten.  Be- 
günstigt wurden  die  ramistischen  Lehren  durch  den  bekannten  Pädagogen  Johannes 
Sturm  in  Strassburg  {1507 — 1589),  und  namentlich  traten  für  sie  in  Deutschland 
ein  zwei  Schüler  des  Ramus:  Thomas  Freigius,  Proftssor  in  Altorf  (gest.  1583), 
und  Franz  Fabricius,  Reetor  des  Düsseldorfer  Gymnasiums  (gest.  1573),  so  dass 
es  bald  auf  fast  allen  deutschen  Universitäten  Ramisten  gab,  obwohl  die  neue 
Lehre  auf  manchen,  z.  B.  in  Leipzig  und  Helmstädt,  verboten  wurde.  Als  An- 
hänger derselben  sind  noch  zu  nenneu  Ad.  Seribonius  und  Audomur  Talaeus.  Unter 
den  Antiramisten  zeichneten  sich  neben  Carpeutarius  ans:  Nie.  Fri schiin  und 
die  schon  genannten  Aristoteliker  Coro.  Martiui,  Schegk  und  Scherb.  Eine  Ver- 
mittelung  zwischen  der  aristotelischen  Dialektik,  wie  sie  Melanchthon  vertrat,  und 
der  des  Ramus  versuchten  die  Se miramisten,  unter  denen  sich  auszeichneten 
Joh.  Hnr.  Alstedt  (15SH — 1638),  längere  Zeit  Professor  in  Herborn,  und  Rud. 
Goclenius  in  Marburg  (1597—1628),  Verfasser  einer  Reihe  logischer,  psycho- 
logischer und  ethischer  Schriften,  auch  eines  für  die  damalige  Zeit  brauchbaren 
Lexicon  philosophicum,  quo  tunquam  clave  philosophiae  fores  aperiuntur,  Francof. 
1613.    Die  eine  Art  des  Kettenschlusses  hat  von  ihm  ihren  Namen. 

In  protestantisch-kirchlichem  Sinne  hat  Nicolaus  Tanrellus  (geb.  1547  zu 
Mömpelgard,  gest.  zu  Altdorf  1606)  nicht  nur  den  averroistischen  Aristo telismus 
und  Pantheismus  des  Caesalpin,  sondern  den  Aristotelismus  überhaupt  und  jegliche 
menschliche  Autorität  in  der  Philosophie  bekämpft  („maximnm  philosophiae  macu- 
lam  inussit  authoritas")  und  ein  neues  Lehrgebäude  aufzuführen  unternommen,  in 
welchem  zwischen  der  philosophischen  und  theologischen  Wahrheit  kein  Wider- 
streit sein  soll.  Tanrellus  will  nicht,  während  er  christlich  glaubt,  heidnisch  denken, 
nicht  Christo  den  Glauben,  dem  Aristoteles  aber  die  Einsicht  verdauken.  Er  hält 
dafür,  ohne  den  Sündeufall  würde  die  Philosophie  genügen  (dicam  uno  verbo  quod 
res  est :  si  peccatuin  non  esset,  sola  viguisset  philosophia),  in  Folge  des  Sündenfalls 
aber  ward  die  Offenbarung  erforderlich,  welche  unsere  philosophische  Erkenntnis» 
durch  das,  was  den  Stand  der  Gnade  betrifft,  ergänzt.  Das  Sittengesetz  erhalten 
wir  durch  die  Vernunft,  aber  wir  erfahren  durch  sie  nichts  über  die  Heilsabsichten 
Gottes,  da  muss  die  Offenbarung  mit  der  Lehre  von  der  Gnade  und  Erlösung  ein- 
treten. Die  Lehre  von  der  zeitlichen  Entstehung  der  (in  Atome  gegliederten)  Welt 
(im  Gegensatz  zu  der  Annahme  einer  Schöpfung  der  Welt  von  der  Ewigkeit  her), 
wie  auch  das  Dograa  der  Trinität  sieht  Taurellus  nicht  (mit  den  Aristotelikern) 
als  bloss  geoffenbarte  und  theologische,  sondern  (mit  Piatonikern)  als  auch  philo- 
sophisch begründbare  Sätze  an.    Gott  hat  die  Welt  so  geordnet,  dass  sie  einen 


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28 


§  G.    Naturphilosophie  und  Theosophie. 


gcsetzmässigen  Gang  einhält:  der  Schöpfer  braucht  nicht  im  Einzelnen  wieder  ein- 
zugreifen, sondern  das  Uhrwerk  läuft  zufolge  der  ursprünglichen  Einrichtung  ab. 
Nicht  die  Krkenntniss,  sondern  die  Liebe  zu  Gott  ist  das  höchste  zu  erstrebende 
Ziel  des  Menschen  —  Das  Christenthuni  des  Taurellus  knüpft  eich  übrigens  an  die 
Fundamentaldogmeu :  er  will  nicht  Lutheraner,  noch  Calvinist,  sondern  Christ 
heissen.  Die  Ergreifung  des  Heils  in  Christo  ist  ihm  Sache  der  menschlichen 
Freiheit.  Die  sich  überzeugen,  dass  Christus  für  sie  gestorben  sei,  werden  selig, 
die  Uebrigen  auf  ewig  verdammt  werden.  Die  Aristoteliker  Schegk  und  dessen 
Schüler  Scherbius  halten  die  peripatetische  Doctrin  gegen  Taurellus,  wie  gegen 
llamu.s,  vertheidigt;  Goclenius  dagegen  war  ihm  günstig  gesinnt.  Im  Allgemeinen 
fand  Taurellus  bei  seinen  Zeitgenossen  wenig  Anklang.  Leibuiz  hat  ihn  als  geist- 
vollen Denker,  dem  er  sich  in  Manchen»  verwandt  fühlte,  hochgeschätzt  und  mit 
Scaliger,  dem  scharfsinnigen  Bestreiter  des  Cardanus,  verglichen. 

Im  katholisch-kirchlichen  Sinne  hatte,  an  Nicolaus  Cusanus  anknüpfend,  der  auch 
als  Mathematiker  nicht  unbedeutende  Curolus  Do  vi  Uns  (Charles  Douille,  geb.  um 
1470  oder  1475  zu  Sanconrt  in  der  Nähe  von  Amiens,  gest.  um  1553,  ein  unmittel- 
barer Schüler  des  Faber  Stapulensi*.  s.  o.  §  3,  S.  14)  eine  philosophisch-theologische 
Doctrin  entwickelt. 

§  C.  Nicht  nur  auf  die  dänische  Litteratur  des  vorchristlichen 
Alterthuui3  und  auf  die  biblischen  Offenbarungsschriften  ging  der 
von  der  Scholastik  unbefriedigte  Geist  der  Neuzeit  zurück,  sondern 
wandte  sich  auch,  an  die  Wissenschaften  des  Alterthuuis  anknüpfend, 
mehr  und  mehr  einer  selbständigen  Erforschung  der  natür- 
lichen und  geistigen  Wirklichkeit,  wie  auch  einer  von  äusseren 
Normen  unabhängigen  sittlichen  Selbstbestimmung  zu.  Auf  den 
Gebieten  der  Mathematik  und  Mechanik,  der  Geographie  und  Astro- 
nomie wurde  die  Wissenschaft  der  Alten  zunächst  wiederhergestellt, 
dann  aber  auch,  theils  in  allmählichem  Fortschritt,  thcils  durch  rasche 
und  kühne  Entdeckungen  und  Theorien  wesentlich  erweitert:  an  die 
gesicherten  Ergebnisse  der  Forschung  schlössen  sich  mannigfache, 
grossentheils  phantastisch-tuniultuarische,  begeisterte  Versuche  einer 
auf  dem  Grunde  der  neuen  Wissenschaft  ruhenden  Gottes-  und  Welt- 
anschauung, welche  vielfach  Keime  zu  späteren,  gereifteren  Doctrinen 
enthielten.  Mehr  oder  minder  war  die  Naturphilosophie  der  Ueber- 
irangsperiode  mit  einer  Theosophie  verschmolzen,  die  sich  zunächst  an 
den  Neuplatonismus  und  an  die  Kabbala  anlehnte,  allmählich  aber, 
besonders  auf  dem  Boden  des  Protestantismus,  zu  selbständigerer  Ge- 
staltung gelangte. 

Noch  mit  der  Scholastik  verbunden,  der  kirchlichen  Lehre  nicht 
widerstreitend,  aber  auf  der  neuen  Uasis  mathematischer  und  astro- 
nomischer Studien  ruhend,  erscheint  die  mit  Theosophie  verflochtene 
Naturphilosophie  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  in  Nicolaus 
Cusanus,  der  an  den  Piatonismus  und  Pythagoreismus  und  auch  an 
die  Mystik  Meister  Eckharts  auknüpft,  die  verschiedenen  Richtungen 
und  Strömungen,  die  später  auseinandergingen,  in  sich  vereinigt  und 


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§  6.    Naturphilosophie  nnd  Theosophie. 


20 


einen  pantheistischen  Mystieismus  vertritt,  freilich  auch  von  dualistisch- 
mystischen Elementen  nicht  frei  ist.  Aus  ihm  hat  später  Giordano 
Bruno  die  Grundzüge  seiner  kühneren  und  freieren  Doctrin  entnommen. 
Im  16.  und  demnächst  noch  im  17.  Jahrhundert  wurde  die  mit  Theo- 
sop"hie  verschmolzene  Naturphilosophie  ausgebildet  durch  den  Arzt 
Paracelsus,  den  Mathematiker  und  Astrologen  Cardanus,  durch 
den  Gründer  der  naturforschenden  Academia  Consentina  Bernardinus 
Telesius  und  seine  Anhänger,  durch  den  averroistischen  Aristoteliker 
Andreas  Caesalpinus,  durch  die  antikirchlichen  Freidenker  Giordano 
Bruno  und  Lucilio  Vaniui  und  durch  den  gelehrten,  kirchlich  gesinuten 
Antiaristoteliker  Thomas  Campanella.  Unter  ihnen  ist  der  be- 
deutendste Giordano  Bruno  (1548 — 1600),  der  manche  Gedanken 
Späterer  vorausgriff  und  für  seine  wissenschaftliche  Ueberzeugung  den 
Märtyrertod  erlitt.  Voll  edelster  Begeisterung  für  die  Natur  und  die 
neuen  naturwissenschaftlichen  Gedanken,  von  heisser  Liebe  für  das 
Ideale  und  das  Unendliche  erfüllt,  sich  aber  doch  vielfach  an  die 
griechische  Philosophie,  namentlich  an  Epikur,  an  die  Stoiker  und 
Neuplatoniker  anlehnend,  hat  er  die  verschiedensten  Elemente  zu  einem 
pantheistischen  System  aufgenommen,  in  welchem  sich  reiche  dichte- 
rische Phantasie  zeigt,  die  Gegensätze  aber  nicht  zu  voller  Einheit 
verarbeitet  sind.  Auch  der  individualistischen  Richtung  suchte  er 
gerecht  zu  werden.  Der  durch  seine  Verdienste  in  der  Physik  mehr 
als  durch  die  in  der  Philosophie  bekannte  Galileo  Galilei  leitete 
die  Betrachtung  der  ganzen  Natur  als  eines  Mechanismus  ein,  indem 
nur  durch  Quantitäten  eine  Erkenntnis*  möglich  sein  sollte.  Auch 
für  die  Methode  der  Forschung  ist  er  nicht  ohne  Bedeutung,  und 
seine  Einwirkung  auf  die  spätere  Entwicklung  der  Philosophie  ist 
nicht  unbeträchtlich. 

Das  religiöse  Element  prävalirt  bei  den  protestantischen  Theologen 
Schwenckfeldt  und  Valentin  Weigel  und  bei  dem  Theosophen  Jakob 
Böhme  (1575—1624),  zu  dessen  Anhängern  II.  More,  John  Pordage, 
Pierre  Poiret  und  in  neuerer  Zeit  St.  Martin  gehören,  und  an  dessen 
Principien  Baader  und  auch  Schelling  bei  seinem  Uebergang  von  der 
Naturphilosophie  zur  Theosophie  sich  angeschlossen  haben. 

Ueber  mehrere  Naturphilosophen  der  Ucbergangspe  riode  handeln  Thadd. 
Ans.  Rixner  und  Thadd.  Siber  in  ihren  Beiträgen  zur  Geschichte  der  Physiologie 
im  weiteren  und  engeren  Sinne  (Leben  und  Meinungen  berühmter  Pysiker  im  16.  und 
17.  Jahrh.),  7  Hefte,  Sulzbach  1819 — 26.  Kurd  Lasswitz,  d.  Lehre  v.  d.  Elementen 
während  des  Uebergangs  v.  d.  scholast.  Philosophie  zur  Corpusculartheorie,  G.  Pr., 
Gotha  1882.  Vgl.  die  Schriften  über  die  Gesch.  der  Naturwissenschaften.  Alb.  Errera, 
saggio  sui  precursori  italiani  (aus  d.  Atti  del'  instituto  veneto  di  scienze  ecc.  vol.  XIX, 
ser.  IH),  Ven.  1869. 

Die  Werke  des  Nicolaus  Cusanus  sind  schon  im  15.  Jahrh.,  vermuthlich  zu 
Basel,  dann  durch  Jacob  Faber  Stapulensis  Par.  1514,  ferner  Bas.  1565  herausgegeben 
worden:  eine  deutsche  Uebcrsettung  seiner  wichtigsten  Schriften  hat  F.  A.  Scharpff, 


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30 


§  6.    Naturphilosophie  und  Theosophie. 


Freiburg  1862  veröffentlicht.  Ueber  ihn  handeln:  Harzheim,  Vita  N.  de  C,  Trevir.  1730. 
»F.  A.  Scharpff,  der  Card.  N.  v.  C,  Mainz  1843:  d.  Card.  u.  Bisch.  N.  v.  C,  als  Re- 
formator in  Kirche,  Reich  und  Phil.  d.  15.  Jahrh.,  Tüh.  1871.  Fr.  J.  Clemens,  Gior- 
dano  Bruno  und  Nie.  Cus  ,  Bonn  1846.  Joh.  Martin  Düx,  der  deutsche  Card.  N.  v.  C. 
und  d.  Kirche  s.  Zeit,  Regensh.  1848.  Roh.  Zimmermann,  der  Card.  Nie.  Cusanus 
als  Vorgänger  Leibnizens,  aus  d.  Sitzungsber.  d.  Wiener  Akad.  d.  WiM.  v.  1852  bes. 
abg.,  Wien  1852,  auch  in  Z.s  Stud.  u.  Kr.,  I,  S.  61—83  wieder  abgedr.  Jäger,  der 
Streit  des  Cardinais  N.  C.  mit  dem  Herzoge  Sigismund  von  Oesterreich,  Innsbruck  1861. 
T.  Stumpf,  d.  pidit  Ideen  des  Nie.  von  Cues,  Köln  1865.  Vgl.  Martini,  das  Hospital 
Cues  und  dessen  Stifter,  Trier  1841.  Kraus,  Verzeichn.  d.  Handschrftn.,  die  N.  C.  besass, 
in  Naumanns  Serapeum  1864,  Heft  23  und  24,  und  1865,  Heft  2 — 7.  Jos.  Klein,  über 
eine  Hdschr.  des  Nie.  v.  Cues,  Berl.  1866.  Clem.  Frid.  Brockhaus,  Nie.  Cus.  de  concilii 
universalis  potestate  sententia,  diss.  inaug.,  Lips.  1867.  L.  Ferri,  il  cardinale  N.  di  C. 
e  la  filosofia  della  reli,rione,  in:  Nuova  Antdogia  di  scienze  ecc.  Anno  VII,  Vol.  XX, 
1872,  100—125.  J.  B.  Lewicki.  de  cardinalis  N.  C.  pantheismo,  Diss.  Mfinst.  1873. 
Storz,  d.  specul.  Gotteslehre  des  N.  C.  in:  Theo!.  Quartalschrift.  Tüb.  1873,  S.  1—57, 
220—285.  Schanz,  d.  astron.  Anschauungen  des  N.  v.  C,  Rottweil  1873.  R.  Eucken, 
Nicolaus  v.  Cues,  in  Philos.  Monatsh.  Bd.  14,  1878,  S.  449—470,  auch  in  d.  Beiträgen  z. 
G.  d.  n.  Ph.  Rieh.  Falckenbcrg,  Grundzfige  der  Philos.  des  Nicol.  Cusanus  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  der  L.  vom  Erkennen  (ein  Theil  davon  vorher  als  Jenens. 
Habilitationsschr.  erschienen),  Bresl.  1880.  J.  Uibinger,  Philosophie  d.  N.  C,  I.-D., 
Würzb.  1881. 

Ueber  Leonardo  da  Vinci  s.  Herrn.  Grothe,  L.  d.  V.  als  Ingenieur  und  Philo- 
soph; von  Prantl,  L.  d.  V.  in  philosophischer  Beziehung,  in:  Sitzungsber.  d.  königl. 
bayer.  Ak.  d.  W.,  philos.-philol.  GL,  1885,  S.  1—26. 

Die  Werke  des  Paracelsus  sind  Bas.  1589,  Strassb.  1616—18,  Genf  1658  er- 
schienen. Ueber  ihn  handeln:  J.  J.  Loos  im  1.  Bande  der  von  Daub  und  Crcuzer 
hrsg.  Studien.  Kurt  Sprengel  im  3.  Theile  s.  Gesch.  der  Physich,  Sulzb.  1819.  M.  B. 
Lessing,  Par.,  sein  Leb.  und  Denken.  Berl.  1839.  Emil  Schmeisser.  d.  Medicin  d.  Par. 
im  Zshg.  mit  s.  Philos.  dargest ,  I.  D.,  Berlin  1869.  H.  Mook.  Tb.  P.,  Würzbg.  1876.  R. 
Eucken,  des  Par.  Lehren  v.  d.  Entwickelung,  in:  Philos.  Monatsh.,  1880.  S.  321 — 338, 
auch  in  d.  Beitr.  z.  G.  d.  n.  Ph.  Chr.  Sigwart.  Th.  Parac,  in:  Kl.  Sehr.  I.  S.  25—48.  R. 
Stanelli,  d.  Zukunftsphilos.  des  Parac.  als  Grundlage  einer  Reformat.  f.  Medicin  u.  Natur- 
wissenschaften, Wien  1884.  E.  Schubert  und  K.  Sudhoff,  Paracelsus-Forschungen,  H.  I, 
1887.  F.  Hartmann,  the  life  of  P.  and  substanecs  of  bis  teachings,  Lond.  1887.  Roh. 
Fludd,  hist.  macro-  et  microcosmi  metaph.,  physica  et  technica,  Oppenheim  1617.  Philos. 
Mosaica,  Gudae  1638.  Bapt.  Helmont,  opera,  Anxt.  1648  u.  ö.  Franc.  Merc.  Hel- 
mont,  opuse.  philos.,  Amst.  1690.  Vgl.  über  J.  B.  v.  Helmont  Rixner  und  Sibers  Beitr. 
Heft  VII.  Spiess,  H.s  System  der  Medicin,  Frankf.  1840.  M.  Rommelaere,  etudes  sur 
J.  B.  Helmont,  Brüx.  186S.  Joh.  Marc.  Marci  a  Kronland,  ideumm  operatricum 
idea  s.  hypothesis  et  deteetio  illius  occultae  virtutis,  quae  semina  foecundat  et  ex  iisdem 
corpora  organica  producit,  Prag  1634:  philosophia  vetus  restituta:  de  mutationibus,  quae 
in  universo  fiunt,  de  partium  universi  constitutione,  de  statu  hominis  secundum  naturam 
et  praeter  naturam,  de  curatione  morborum,  Prag  1662.  Ueber  Marcus  Marci  handelt 
Guhrauer  im  XXI.  Bde.  der  Fichteschen  Zeitschr.  für  Ph.,  Halle  1852,  S.  241—259. 

Cardans  Schrift  de  subtilitate  erschien  zuerst  1552,  de  varietate  rerum  1556,  die 
Arcana  aeternitatis  erst  nach  seinem  Tode  in  der  Sammlung  seiner  Werke:  Hieronymi 
Cardani  Mediolanensis  opera  omnia  cura  Caroli  Sponii,  Lugduni  1663.  Die  cardanische 
Regel  zur  Auflösung  von  Gleichungen  des  3.  Grades  findet  sich  in  der  1543  erschienenen 
Schrift:  Ars  magna  s.  de  regulis  algebraicis.  Cardan  hat  eine  Selbstbiographie  verfasst, 
welche  schon  Bas.  1542,  dann  fortgeführt  ebd  1575  erschienen  ist.  Seine  Naturphilosophie 
wird  ausführlich  dargestellt  in  den  oben  citirten  Beitr.  zur  Gesch.  der  Physiol.  von 
Rixner  und  Siber.  Heft  II.  Scaligers  gegen  Cardans  Schrift  de  subtilitate  gerichtete 
Exercitationes  exotericae  erschienen  Par.  1557:  Cardan  hat  dagegen  eine  Apologia  ver- 
fasst, die  den  späteren  Ausgaben  seiner  Schrift  de  subtilitate  beigefügt  ist. 

Von  des  Telesius  Hauptwerke:  de  natura  juxta  propria  prineipia  sind  zwei 
Bücher  zuerst  zu  Rom  1565  erschienen,  die  ganze  aus  neun  Büchern  bestehende  Schrift 
(die  ersten  vier  Bücher  dieser  Ausgabe  bestehen  aus  den  früher  edirten  zwei  Büchern) 
zu  Neapel  1586,  dann  auch  zu  Genf  1588  zugleich  mit  Andr.  Caesalpins  Quaestiones 
peripateticae,  einzelne  Abhandlungen  des  Telesius  sind  in  einer  Sammlung  zu  Venedig 
erschienen.  Ueber  ihn  und  seine  Naturphilos.  handeln:  Fr.  Bacon,  de  prineipiis  et 
originibus  secundum  fabulas  cupidinis  et  coeli,  s.  de  Parmenidis  et  Telesii  et  praeeipue 


§  6.   Naturphilosophie  und  Theosophie. 


31 


Democriti  philosophia  tractata  in  fabula  de  Cupidine,  in  den  Gesammtausgg.  der  Werke 
B.s.  C.  Bartholmess,  de  B.  T.,  Pari*  1850.  Das  3.  Heft  der  oben  citirten  Beiträge  von 
Rixner  u.  Siber.  F.  Fiorentino,  Bernardino  T.,  ossia  studi  storici  sull'  idea  della 
natura  nel  risorgimento  italiano,  2  voli.,  Firenze  1872—74.  L.  Ferri,  la  filos.  della 
nat.  e  le  dottrine  di  B.  T.,  Torino  1873. 

Franeiscus  Patritius  hat  den  Commentar  des  Philoponus  Ober  die  Metaphysik  de» 
Aristoteles  übersetzt,  auch  den  Hermes  Trismegistus  und  die  Orakel  des  Zoroaster.  Seine 
eigene  Doctrin  entwickelt  er  in  der  Schrift:  Nova  de  universis  philosophia,  in  qua 
Aristotelica  methodo  non  per  motum,  sed  per  lucem  et  lumina  ad  priniam  causam  ascen- 
ditur,  deinde  propria  Patritii  methodo  tota  in  conteinplationem  venit  divinitas,  postremo 
methodo  Platonica  rerum  nniversitas  a  conditore  Deo  deducitur,  Ferrar.  1591,  Ven.  1593, 
Lond.  1611.    Ueber  ihn  handeln  Rixner  und  Siber  im  4.  Heft  der  oben  cit.  Beiträge. 

Sebastian  Basso,  philos.  natur.  adv.  Arist.  libri  duodeeim,  Par.  1621,  auch  ebd. 
1649.  S.  Ob.  ihn  K.  Lasswitz,  S.  46—55  des  Artikels:  Giordano  Bruno  u.  d.  Atomistik, 
Vierteljahrsschr.  f.  wissenseh.  Ph.  8,  1884.  C.  G.  Berigardus,  Circuli  Pisani  seu  de 
veterum  et  peripat.  philosophia  dialogi,  Udin.  1643—47.  Par.  1661.  Sennerti  Epi- 
tome  scientiae  naturalis,  Viteb.  1618,  Physica  hvpomnemata,  Viteb.  1636,  opera  omnia, 
Par.  1633,  1645,  Venet.  1641,  1645,  1651,  Lugduni  1650  u.  ö.  Vgl.  K.  Lasswitz,  die 
Erneuerung  der  Atomistik  in  Deutschland  durch  D.  S.  und  sein  Zusammenhang  mit 
Asklepiades  von  Bithynien,  in:  Vierteljahrsschr.  für  wissensch.  Ph.,  1879,  S.  408 — 434. 

Unter  den  Schriften  Giordano  Brunos  sind  die,  in  welchen  er  zumeist  sein 
System  entwickelt,  in  italienischer  Sprache  verfasst:  unter  denselben  ist  die  bedeutendste: 
de  la  causa,  prineipio  ed  uno,  Venet.  (oder  London)  1584,  woraus  F.  H.  Jacobi  einen 
Auszug  seiner  Schrift  üb.  die  Lehre  des  Spinoza  (Werke,  Bd.  IV,  Abth.  1)  beigefügt 
hat:  deutsch  übers,  u.  m.  erläut.  Anm.  versehen  v.  Adf.  Lasson  in  Kirchmanns  phil. 
Bibl.  Heft  151,  152,  Berl.  1872;  in  demselben  Jahre  erschien:  de  l'infinito,  universo 
e  mondi.  Weniger  philosophischen  als  allegorisch-mystisch-satirischen  u.  astronomischen 
Inhalts  sind:  spaccio  de  la  bestia  trionfante,  Parigi  (London)  1584,  la  cena  delle  ceneri, 
Parigi  (London)  1584;  degli  eroici  furori,  Parigi  (London)  1585.  Unter  den  lateinischen 
Schriften  sind  hervorzuheben:  Jordani  Bruni  de  compendiosa  architectura  et  eoniple- 
mento  artis  Lullii,  Venet.  1580;  Par.  1582:  de  umbris  idearum  et  arte  memoriae,  Par. 
1582.  Während  er  sich  in  diesen  beiden  auf  Raymundus  Lullus  stützt,  entwickelt  er 
seine  eigenen  Gedanken  in:  de  triplici  minimo  (d.  h.  über  das  mathematieche,  physi- 
kalische und  metaphysische  Minimum)  et  mensura  ad  trium  speculatirurum  scientiarum 
et  multarum  artium  prineipia  libri  quinque,  Francof.  1591;  de  inonade,  numero  et  figura 
Uber,  item  de  inuumerabilibus,  immenso  et  infigurabili  seu  de  universo  et  mundis  libri 
octo.  Francof.  1591.  Die  italienischen  Schriften  hat  Ad.  Wagner,  Leipz.  1829,  heraus- 
gegeben, die  lateinischen  theilweise  (insbesond.  die  logischen)  A.  F.  Gfrörer,  Stuttg. 
1834,  neuerdings  v.  Fiorentino  u.  A.:  Bruni  Nolani  opera  latine  conscripta,  vol.  I  u.  II, 
Napoli  1880  u.  86.  Jord.  Br.  de  umbris  idearum  ed.  nov.  cur.  Salvator  Tugini,  Ber- 
lin 1868. 

Ueber  Bruno  handeln  ausser  F.  H.  Jacobi  a.  a.  O.  und  Schelling  in  seinem  Ge- 
spräch: Bruno  od.  üb.  d.  natürl.  U.  göttl.  Princip  der  Dinge,  Berlin  1802,  insbesondere 
Rixner  u.  Siber  in  d.  ob.  angef.  Beitr.,  Heft  5,  Sulzb.  1824.  Steffens  in  den  nachge- 
lassenen Schriften,  Berl.  1846,  S.  43 — 76.  Falkson,  G.  Bruno  (in  der  Form  eines  Ro- 
mans verfasst),  Hamb.  1846.  Chr.  Bartholmess,  Jordano  Bruno,  Par.  1846 — 47. 
F.  J.  Clemens,  Giordano  Bmuo  und  Nicolaus  v.  Cusa,  Bonn  1847.  M.  Carriere,  die 
philos.  Weltansch.  d.  Reformationszeit,  Stuttg.  1847,  S.  365  ff.  und  in  der  Zeitschrift 
f.  Philos.  N.  F.  54,  1869,  S.  128—134.  Schaarschmidt,  Descartes  u.  Spinoza,  Bonn 
1850,  S.  181  ff.  Job.  Andr.  Scartazzini,  Giordano  Bruno,  ein  Blutzeuge  des  Wissens, 
Vortrag,  Biel.  1867.  Domenico  Berti,  vita  di  G.  Bruno  da  Nola,  Turin  1868.  Matth. 
Koch,  Vierzig  Sonette  von  G.  Br.  übers.,  erläutert  u.  mit  e.  Einleit.  versehen,  Gymn. 
Pr.,  Stolp.  1870.  Hugo  Wernekke,  Giord.  Brunos  Polemik  geg.  d.  Aristotel.  Kosmo- 
logie (Lpz.  Diss.),  Dresd.  1871.  N.  Corrazini,  di  alcuni  grandi  Italiani  dimenticati  e 
di  G.  Bruno,  Firenze  1873.  Pietro  Bionda,  Giord.  B.,  discorso,  Lecce  1873.  A.  Colocci, 
Giordano  Bruno,  Cenni  biografici  con  documenti,  Roma  1876.  C.  S.  Barach,  üb.  die 
Philos.  des  G.  Br.,  in  den  Philos.  Monatsheften,  Bd.  13,  1877,  S.  40—57,  179—196. 
E.  Br.  Härtung,  Grundlinien  einer  Ethik  bei  Giordano  Bruno,  besonders  nach  dessen 
Sehr,  lo  spaccio  della  bestia  trionfante,  I.-D.,  Lpz.  1879.  D.  Berti,  documenti  intorno 
a  G.  Br.  di  Nola,  Roma  1880.  Chr.  Sigwart,  d.  Lebensgesch.  G.  Br.s,  Universitätsprogr., 
Tübing.  1880,  Umarbeitung  dieses  Pr.s:  G.  B.  vor  d.  Inquisitionsger.,  in:  Kl.  Sehr., 
I,  S.  49-124.    K.  H.  v.  Stein,  üb.  d.  Bedcut.  des  dichterisch.  Elements  in  d.  Philos. 


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32 


§  6.    Naturphilosophie  und  Theosophie. 


des  G.  Br.,  I.-D.,  Halle  1881.  R.  Mariano,  G.  Br.,  la  vita  e  l1  uomo,  Roma  1881. 
Herrn.  Brunnhofer,  G.  Br.s  Weltanschauung  u.  Verhängnis»,  Lpz.  1882.  H.  v.  Stein, 
Ueb.  L.  u.  Person  G.  Br.s,  in:  Internationale  Monateschr.,  Bd.  1,  1882,  H.  1—3.  A. 
Lasson,  G.  B.,  in:  Preuss.  Jahrbb.,  52,  1883,  S.  559—678.  K.  Lasswitt,  G.  Br.  u.  d. 
Atomistik,  in:  Vierteljahrsschr.  f.  wissenseh.  Ph.,  8,  1884,  S.  18—55.  Tb.  Dufonr,  G. 
Br.  a  Geneve,  Geneve  1884.  Tbom.  Whittakcr,  G.  Br.,  in:  Mind,  IX,  1884,  S.  236 
bis  2C4.  Feliee  Tocco,  G.  Br.  Confereuza  tcnuta  nel  circolo  philologieo  di  Firenze, 
Firenze  1886.  Paris  Zejin,  G.  Br.  y  su  tienipo.  Ricardo  Fuente,  la  intoleranza  reli- 
giosa,  Madrid  1886.  Levi,  Giordano  Br.  o  la  religione  del  pensiero:  l'uomo,  l'apostolo, 
il  martire,  Torino  1887.  J.  Frith,  life  of  G.  Br.  the  Nolan,  revised  by  M.  Carriere 
(engl,  and  foreign  philos.  library),  Lond.  1887. 

Ueber  Galileo  Galilei  handeln  u.  A.:  Max  Parehappe,  Galilee,  Paria  1866.  Emil 
Wohlwill,  der  Inquisitionsprocess  des  G.  G.,  Berlin  1870.  Die  Litteratur  über  den  Pro- 
eess  Galileis,  die  in  den  letzten  Jahrzehnten  sehr  angesehwollen  ist,  ist  angegeben  von 
Sehanz  in  d.  Liter.  Handweiser,  1879.  S.  auch  dens.,  Galileo  Galilei  u.  sein  Process, 
Würzb.  1878.  Th.  Henri  Martin,  Galilee,  les  droits  de  la  seienre  et  la  methodc  des 
scienees  phvsiques,  Par.  1868.  S.  auch  von  denis.  Verf.  einen  längeren  Art.  üb.  Galilei 
im  Dictionnaire  des  scienees  philosophiques,  2.  ed.,  Par.  1875.  Ciavarini,  della  filosofia 
di  G.,  Firenze  1860.  C.  Prantl.  Galilei  u.  Kepler  als  Logiker,  in:  Sitzungsber.  der 
baver.  Ak.  d.  Wissensch.,  phil.  bist.  Cl.,  1875.  P.  Natorp,  G.  als  Philosopb,  in: 
Philos.  Monatsh.  1S82,  S.  193—229.  Karl  v.  Gebler,  G.  G.  u.  d.  röm.  Curie,  2  Bde., 
Stuttg.  1877.    H.  Grisar,  Galileistudien,  Regensb.  1882. 

Campanella  hat  in  Paris  eine  (unvollendet  gebliebene)  Gesammtausgabe  seiner 
Werke  veranstaltet;  neuerdings  sind  die  opere  di  Tommaso  Campanella,  Torino  1854, 
von  Alessandro  d'Ancona  mit  einer  vorangeschickten  Abhandlung  über  C.s  Leben  und 
Lehre  herausgegeben  worden.  Ueber  ihn  handeln:  Rixner  und  Siber  im  6.  Heft  der 
ob.  angef.  Beitr.  Baldarhiui,  vita  e  filosoßa  di  Tommaso  Campanella,  Neapel  1840 — 43. 
Mamiani  in  seinen  Dialoghi  di  seienza  prima,  Par.  1846.  Spaventa.  in:  Carattere 
e  sviluppo  della  ßlos.  ital.  dul  secolo  XVI.  sino  al  nostro  tempo,  Modena  1860.  Sträter, 
Briefe  üb.  ital.  Philos.,  in  d.  Zeitscbr.:  der  Gedanke,  Berl.  1864-65.  Silv.  Centofanti 
im  Archivio  stor.  Italiano,  Ser.  3,  T.  IV.  Parte  I,  p.  1,  1866.  Chr.  Sigwart,  Thomas 
Camp.  u.  seine  polit.  Ideen,  in:  Preuss.  Jahrb.  1866,  Bd.  18,  S.  516—546,  wieder  auf- 
genommen in:  Kl.  Sehr.,  I,  S.  125—181.  D.  Berti,  nuovi  documenti  di  T.  C,  Roma 
1881.  Luigi  Amabile,  Fra  Tommaso  C.  e  la  sua  congiura,  i  suoi  processi  e  la  sua 
pazzia,  3  vol.,  Napoli  1883. 

Vaninis  Ampbitheatrum  aeternae  providentiac  erschien  Lugd.  1615;  de  admirandis 
naturae  reginae  deaeque  mortalium  arcanis  libri  quatuor,  Par.  1616.  Ueber  ihn  bandelt 
W(ilh).  D'av).  F(uhrmann),  Leben  und  Schicksale,  Cbarakt.  u.  Meinungen  des  L.  V  , 
e.  Atheisten  im  17.  Jahih.,  Lpz.  1800;  ferner:  Emile  VaTsse,  L.  V.,  sa  vie,  sa  doctrine, 
sa  mort,  Extrait  des  Menioir.  de  l'Acad.  imp.  des  sc.  de  Toulouse.  J.  Toulan,  etude  sur 
Lueilio  Vanini  condamne  et  execute  u  Toulouse  le  9  Fevrier  1619  comine  coupable 
d'atdeisme,  Strassb.  1869.  A.  Baudouin,  histoire  critique  de  Jul.  Ces.  V.,  dit  Lueilio, 
in:  Rev.  philos.,  Bd.  8,  1B79,  S.  49— 71,  157—178,  259—290,  387—410.  G.  Cattaneo, 
Idee  di  V.  sulf  origine  ed  evoluzione  degli  organismi,  in:  Rivista  della  fil.  scienüfica, 
vol.  IV,  1885. 

Jak.  Böhmes  1612  verfasste  Hauptschrift  ist  unter  d.  Tit:  „Aurora  oder  die 
Morgenröthe  im  Aufgang'"  zuerst  1634  im  Auszüge,  vollständiger  Amsterdam  1656  u.  ö. 
gedruckt  worden.  Alle  anderen  Schriften  hat  Böhme  1619 — 24  verfBSSt.  Zuerst  ist, 
noch  zu  B.s  Lebzeiten,  der  »Weg  zu  Christo",  Görlitz  1624,  erschienen.  Böhmes 
Schriften  sind  grösstentheils  zu  Amsterdam  einzeln  gedruckt  worden,  gesammelt  durch 
Gichtel,  ebd.  1682,  wiederabg.  Hamburg  1715  und  s.  I.  1730,  neuerdings  heraus- 
gegeben durch  K.  W.  Schiebler,  Leipzig  1831—47,  2.  Aufl.,  1861  ff.  J.  Böhme,  sein 
Leb.  u.  seine  theosoph.  WW.  in  geordnet.  Auszuge  mit  Einleitung,  u.  Erläuterung, 
durch  J.  Ciaassen,  1  Bd.,  Stuttg.  1886.  Mehrere  Schuften  Böhmes  sind  durch  Louis 
Claude  St.  Martin,  der  von  1743 — 1804  lebte,  ins  Französische  übersetzt  worden; 
l'aurore  naissante,  les  trois  prineipes  de  l'essence  divine,  de  la  triple  vie  de  l'homme, 
auch  quarante  questions  sur  l'äme,  avec  une  notice  sur  J.  B.,  Paris  1800.  (Ueber 
St.  Martin,  dessen  Dichtungen  F.  Beck,  München  1863,  übersetzt  und  erläutert  hat, 
handelt  Franz  v.  Baader  im  12.  Bde.  seiner  sämmtl.  Werke,  herausg.  v.  Frhr.  v.  Osten- 
Sacken,  Leipzig  1860,  ferner  Matter,  St.  Martin,  le  philosophe  inconnu,  Par.  1862, 
2.  ed.  1864.)  —  Ueber  Jak.  Böhme  handeln:  Ahr.  Calov,  Anti-Böhmius,  Witt.  1684. 
Erasm.  Francisci,  Gegenstrahl  der  Morgenröthe,  Nürnberg  1685.    Adelung  in  s.  Gesch. 


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§  6.   Naturphilosophie  und  Theosophie. 


33 


der  menschl.  Narrheit,  II,  8.  210  ff.  J.  G.  Ratze.  Blunienlese  aus  B.s  Schriften,  Leipz. 
1819.  A.  E.  Unibreit,  J.  B.,  Heidelb.  1835.  W.  L.  Wullen,  J.  B.*  Leb.  u.  Lehre, 
Stuttg.  1836;  Blüthen  aus  B.s  Mystik,  Stuttg.  1838.  Fr.  v.  Baader,  Vöries,  über  B.» 
Theologumena  und  Philosopheme,  in  Baaders  sümmtl.  Werk.,  III.  357 — 436.  Vöries,  u. 
Erläut.  äb.  J.  B.s  Lehre,  hrsg.  v.  Hamberger,  in  B.s  sämnitl.  W.,  XIII.  Hamberger, 
d.  Lehre  des  deutsch.  Philosophen  J.  B.,  Münch.  1844  (im  Anschluss  an  Baader  ver- 
fasst).  Mor.  Carriere,  d.  phil.  Weltansch.  d.  Relormationszeit,  S.  607 — 725.  Chr.  Ferd. 
Baur,  z.  Gesch.  d.  prot.  Mystik,  in:  Theol.  Jahrb.  1848,  S.  453  ff.,  1849,  S.  85  ff. 
H.  A.  Fechner,  J.  B.,  s.  Leb.  u.  s.  Schriften,  Görlitz  1857.  Alb.  Peip,  J.  B.,  der 
deutsche  Philosoph,  d.  Vorläufer  christl.  Wiss.,  Leipz.  1850.  Adolf  v.  Harles«,  J.  B. 
und  d.  Alchymisteu,  nebrt  e.  Anhang  über  J.  G.  Gichteis  Leben  und  Irrthümer. 
Berl.  1870,  2.  Ausg.  Leipz.  1882.  E.  Elster,  J.  B.,  in:  Ztechr.  der  ges.  luth.  Theol., 
35.  Jahrg.,  1874,  S.  264—276.  M.  Schönwälder.  Rede  (aus  d.  „ Neuen  Lausitzischen 
Magazin",  Bd.  52),  Görlitz  1876.  C.  Henrich  Scharling,  J.  Böhmes  Theosophie,  en 
religionsphilos.  og  dogmatisk  undersogelse,  Kjbnh.  1879.  H.  Martensen,  J.  B..  Thensoph. 
Studien,  deutsche  Ausg.  v.  A.  Micbelscn,  Lpz.  18S'_\ 

Nicolaus  der  C usaner  (Nicol.  Chrypffa  oder  Krebs),  geb.  1401  zu  Kues 
au  der  Mosel  im  Trierscheu,  also  ein  Deutscher,  erhielt  seine  Jugendbildung  zu 
Deveuter  bei  den  Brüdern  des  gemeinsamen  Lebens,  studirte  zu  Padua  die  Rechte 
und  die  Mathematik,  wandte  sich  dann  aber  der  Theologie  zu,  bekleidete  geistliche 
Aemter,  nahm  am  Concil  zu  Basel  Theil,  ward  1448  Cardinal,  1460  Bischof  von 
Brixen,  starb  1464  zu  Todi  in  Umbrien.  Er  nimmt  eine  Mittelstellung  zwischen  der 
Scholastik  und  der  Philosophie  der  Neuzeit  ein.  Mit  der  Scholastik  vertraut,  jedoch 
aach  voll  regen  Antheils  an  dem  neuaufkommenden  Studium  des  classischen  Alter- 
thums, insbesondere  des  Piatonismus,  steht  er,  wie  grossentheils  schon  die  Nomi- 
nalisten, nicht  mehr  in  der  Ueberzeugung  der  Beweisbarkeit  theologischer  Fundamen- 
talsätze durch  die  schulmässig  ausgebildete  Vernunft.  Seine  Weisheit  ist  die 
Erkenntniss  des  Nichtwissens,  die  er  in  der  (1440  verfassten)  Schrift  de  docta 
ignorantia  darlegt  (der  Ausdruck  docta  ign.  findet  sich  schon  bei  Bonaventura). 
In  der  sich  an  dieselbe  anschliessenden  Schrift  de  conjecturis  erklärt  er  alles  mensch- 
liche Erkennen  für  ein  blosses  Vermutheo.  Mit  den  Mystikern  geht  er  über  den 
Zweifel  und  über  das  Unadäquate  menschlicher  Begriffe  in  der  Gotteslehre  hinaus 
durch  die  Annahme  einer  unmittelbaren  Erkenntniss  oder  Anschauung  Gottes 
(intuitio,  speculutio,  visio  sine  comprehensione,  comprehensio  incomprehensibilis), 
indem  er  sich  au  die  neuplatonische  Doctrin  von  der  Erhebung  über  die  End- 
lichkeit durch  Ekstase  (raptus)  anschliesst.  Er  lehrt,  dass  die  intellectuelle  An- 
schauung (intuitio  intellectualis)  uuf  die  Einheit  des  Entgegengesetzten  gehe  (welches 
in  der  pseudo-dionysischeu  Mystik  angelegte  Princip  Bchon  in  Eckharts  Schule 
hervortritt  und  später  auch  von  Bruno  wieder  aufgenommen  wird).  Aber  auch  mit 
der  skeptischen  und  mystischen  Richtung  verbindet  sich  bei  Nicolaus  die  auf  Be- 
obachtung und  Mathematik  basirte  mechanische  und  astronomische  Forschung;  in 
deren  Eiufiuss  auf  seine  philosophische  Gedankenbildung  ist  die  wesentliche  Gemein- 
schaft seiner  Doctrin  mit  der  Philosophie  der  Neuzeit  begründet.  Schon  1436  hat 
Nicolaus  eine  Schrift  de  reparatione  Calendarii  verfasst,  worin  er  eine  der  grego- 
rianischen analoge  Kalenderreform  vorschlägt;  seine  astronomische  Doctrin  enthält 
den  Gedanken  einer  Axendrebung  der  Erde,  durch  den  er  ein  Vorläufer  des 
Copernicus  geworden  ist  (dessen  Schrift  de  revolutionibus  orbium  coelestium 
mit  einer  Vorrede  von  Oslander  und  der  Widmung  au  den  Papst,  Paul  III.,  zu 
Nürnberg  1543  erschien;  vgl.  über  ihn  u.  A.  Franz  Hipler,  Nie.  Cop.  u.  Martin 
Luther,  Braunsberg  1868.  D.  Berti,  Copernico  e  le  viceude  del  sistema  copernicano 
in  Italia  nella  seconda  metä  del  secolo  16°  e  nella  prima  del  17°,  con  documenti 
inediti  intomo  a  Giordano  e  Galileo  Galilei,  Roma  1876,  Natorp,  die  kosmolog. 
Reform  des  Cop.  in  ihrer  Bedeut.  f.  d.  Philosophie,  in:  Preuss.  Jahrbücher,  Bd.  49, 

f«borweK-H.-intp,  (hmdiisi  III.  7.  Aufl.  3 


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34 


5  6.    Naturphilosophie  and  Theosophie. 


S.  356—375,  Leop.  Prowe,  Nie.  Coppernicus.  I.  Bd.,  2  Theile,  das  Leben,  Berl. 
1883,  2.  Bd.,  Urkunden,  1884).  Im  Zusammenhang  mit  der  Doctriu  der  Erdbewegung 
gelangte  der  Cusaner  zu  der  Annahme  einer  zeitlichen  und  räumlichen  Uh- 
begrenztheit  des  Universums,  wodurch  er  die  mittelalterliche  Gebundenheit 
der  Weltanschauung  an  die  Grenze  des  anscheinenden  Fixsterngewölbes  überschritt. 

In  der  philosophischen  Ausführung  seiner  Gottes-  und  Weltlehre  achliesst 
sich  Nicolaus  Cusanus  vielfach  an  die  pythagoreische  Zablenspeculation  und  an  die 
platonische  Naturphilosophie  an.  Gott  ist  das  absolute  Maximum,  er  umfasst  als 
das  Grösste  Alles,  wird  durch  nichts  begrenzt,  Raum,  Zeit,  Bewegung  finden  sich 
nicht  an  ihm.  Er  ist  auch  zugleich  das  Minimum,  indem  er  in  Allem  ist.  Er  bildet 
die  Substanz  der  Dinge,  das  an  ihnen,  was  wahrhaft  ist.  Es  kommt  ihm  absolut«* 
Nothwendigkeit  zu,  während  alles  Andere  von  ihm  abhängt.  Er  ist  dreifache 
Ursache  für  alles  Seiende  (causa  efficiens,  formalis,  finalis,  deus  est  tricausalis),  er 
ist  die  reine  Wirklichkeit  (purissimus  actus,  infinite  actualites),  immateriell,  er  ist 
Einheit  ohne  Anderheit  (das  JrV,  das  ravW  ohne  das  ertQov),  aber  dreieinig,  da  er 
zugleich  denkendes  Subject,  Denkobject  und  Denken  (intelligens,  intelligibile,  in- 
telligere)  ist.  Als  unitas,  aequalitas  und  connexio  ist  er  Vater,  Sohn  und  Geist . 
Ab  unitate  gignitur  unitatis  aequalitas;  connexio  vero  ab  mutete  procedit  et  ab 
aequalitete.  Da  Gott  Alles  in  sich  fasst,  hat  er  auch  die  Gegensätze  in  sich,  er  ist 
die  complicatio  omnium  etiam  contradictoriorum ,  er  ist  die  oppos Horum  coin- 
cidentia.  Er  ist  das  absolute  Können,  d.  h.  die  Allmacht  (possibilitas  absolute), 
absolutes  Wissen,  absolutes  Wollen,  jegliche  Tugend.  Er  ist  die  Wahrheit  und  das 
höchste  Gut  für  die  Menschen.  Aber  er  ist  dies  Alles  eher  nicht,  als  dass  er  es  ist. 
Nach  der  negativen  Theologie,  die  Nicolaus  bevorzugt,  ist  er  nur  unendlich 
(negationes  sunt  verae,  affirmationes  inBufficientes  in  theologicis).  Sein  wahreH 
Wesen  ist  nicht  zu  fassen,  nicht  auszusprechen  (sapientia  non  aliter  scitur,  quam 
quod  ipsa  est  omni  scientia  altior  et  inscibilis,  ineiTabilis,  iuintclligihilis,  im- 
proportionabilis,  inapprehensibilis  etc.),  er  überragt  das  Seiende,  den  Geist,  das 
Eine.  Nur  durch  Nichtwissen  wissen  wir  ihn  (non  accedi  potes  deus,  qui  es  in- 
finites, nisi  per  illum,  qui  seit  se  ignorantem  tui).  Hier  tritt  das  unmittelbare 
Schauen  ein,  in  Betreff  dessen  sich  aber  manche  Widersprüche  in  den  Schriften 
des  Cusanus  finden. 

Was  nun  die  Gottheit  complicirt  enthält,  das  zeigt  die  Welt  explicirt  (expli- 
catio):  sie  ist  die  veränderte  in  Vielheit  getheilte  Einheit.  Die  Zahl  ist  dem  Nico- 
laus Cusanus  die  ratio  explicate.  Er  sagt:  rationalis  fabrica  naturale  quoddam  postu- 
lans  prineipium  numerus  est.  Auch  die  Körperwelt  ist  die  Entfaltung  des  Punktes. 
Die  ganze  Welt  ist  ein  Abbild  Gottes,  sogar  die  Dreieinigkeit  spiegelt  sich  in  ihr 
ab  (mundus  trinus:  foecundites,  proles,  amor),  sowie  in  dem  Geiste  (trinites  intel- 
lectualis:  foecundites,  notitia  seu  coneeptus,  amplexus  seu  volnntas);  und  mit  Piaton 
hält  er  die  Welt  für  das  Beste  unter  dem  Gewordenen;  auch  jedes  einzelne  Ding 
ist  in  seiner  Art  vollkommen.  Die  Welt  ist  ein  beseeltes,  gegliedertes,  fortlaufendes 
Ganzes,  und  Gott  ist  mit  der  Fülle  seiner  Kraft  überall  gegenwärtig.  In  der  Welt 
ist  jedes  Einzelne  an  seiner  bestimmten  Stelle,  nimmt  eine  bestimmte  Stufe  ein  und 
kann  durch  nichts  ersetzt  werden.  Jedes  Ding  spiegelt  an  seiner  Stelle  das  Uni- 
versum; es  enthält  der  Anlage  nach  die  ganze  Realität  und  kann  sieh  ins  Unend- 
liche entfalten,  und  jedes  Wesen  bewahrt  sein  Dasein  vermöge  der  Gemeinschaft 
mit  den  andern.  Alles  ist  In  allem  und  jedes  in  jedem,  es  ist  jedes  Ding  eine  be- 
sondere Contraction  des  Ganzen  (omnis  res  acte  existens  contrahit  uni  versa,  ut  sint 
acte  id  quod  est).  Vollkommener  als  in  den  übrigen  Wesen  spiegelt  sich  in  dem 
Menschen  die  Welt:  dieser  ist  in  Wahrheit  ein  parvus  mundus.  Unsere  Aufgabe 
ist  die  Selbstvervollkommnung,  d.  h.  zur  Entwicklung  zu  bringen,  was  in  uns 


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§  »J.    Naturphilosophie  and  Theosophie. 


35 


potentiell  enthalten  ist,  den  Lebensinhalt  immer  reicher  zu  entfalten.  Da  dies 
Streben  nie  zu  Ende  gelangt,  werden  wir  durch  dasselbe  der  Unsterblichkeit  des 
Geistes  sicher.  Daneben  kommt  es  darauf  an,  ein  Jegliches  nach  seiner  Stelle  in 
der  Stufenordnung  des  Ganzen  zu  lieben.  Auch  die  Sehnsucht  nach  dem  Absoluten 
erfüllt  uns.  Liebe  zu  Gott  ist  Einswerden  mit  Gott.  In  dem  Gottmenschen  ist  der 
Gegensatz  des  Unendlichen  und  Endlichen  vermittelt. 

Bedeutung  für  die  Naturwissenschaften,  namentlich  für  Mechanik  und  Optik, 
hat  Leonardo  da  Vinci  (1452—1519),  der  auch  in  der  Erkenntnisslehre  vorge- 
schrittene Ansichten  äussert.  Alle  unsere  Erkenntniss  beruht  nach  ihm  auf  Er- 
fahrung: jedoch  sind  die  Sinneseindrücke  nur  das  Material,  das  durch  Vernunft  zu 
Erkenntnissen  verarbeitet  wird.  Die  betrachtende  Vernunft  steht  ausserhalb  der 
Sinne.  Zur  Sicherheit  kommt  das  Wissen  nur  da,  wo  sich  Mathematik  anwenden 
lässt,  und  die  Mechanik  ist  das  Paradies  der  mathematischen  Wissenschaften. 
Materie  und  mathematische  Beweise  bilden  den  Bestand  der  Naturwissenschaften, 
indem  man  bald  von  den  Ursachen  auf  die  Wirkungen,  bald  umgekehrt  schliesst. 
Von  L.s  sachlichen  Lehren  sei  nur  die  erwähnt,  die  wir  dann  bei  Telesius  und  bei 
Spinoza  als  bedeutungsvoll  kennen  lernen  werden,  dass  jedes  Ding  sich  in  seinem 
Sein  zu  erhalten  trachtet  (naturalmente  ogni  cosa  desidera  mantenersi  in  suo  essere). 

Bei  den  Piatonikern  der  nächstfolgenden  Zeit,  namentlich  bei  denen,  die 
auch  die  Kabbala  hochhielten,  wie  bei  Picus  von  Mirandola  und  Reuchlin  und 
besonders  bei  Agrippa  von  Nettesheim,  auch  bei  Franciscus  Georgias  Venetus 
(F.  G.  Zorzi  aus  Venedig),  dem  Verfasser  einer  Schrift:  de  harmonia  mundi  totius 
cantica  (Ven.  1525),  giebt  sich  ein  Miteinfluss  der  neuaufkommenden  Mathematik 
und  Naturforschnng  kund,  obschon  die  durch  Naturkenntnisa  vermittelte  Ein- 
wirkung auf  die  Natur  sich  meist  (namentlich  bei  Agrippa)  in  die  Form  der  Magie 
kleidet.  Auch  dem  damals  sich  weit  verbreitenden  astrologischen  Glauben  (den 
auch  Melanchthon  theilte)  lag  das  in  mystische  Form  sich  kleidende  Bewusstsein 
einer  von  Gott  in  die  Dinge  gelegten  Naturcausalität  zu  Grunde.  Die  Verbindung 
von  selbständiger  Naturbetrachtung  und  Theosophic  erscheint  aber  zu  jener  Zeit 
am  ausgeprägtesten  bei  Philippus  Theophrastus  (Bombast)  Höhener  oder  von  Hohen- 
heim, der  sich  (den  Namen  Höhener  oder  von  Hohenheim  übertragend)  AureoluB 
Theophrastus  Paracelsns  nennt  (geb.  1493  zu  Einsiedeln  in  der  Schweiz,  gest.  1541 
zu  Salzburg).  Er  trennt  sehr  bestimmt  die  Philosophie,  die  nur  erkannte  .unsichtige" 
Natur  ist,  von  der  Theologie.  Als  Quelle  für  letztere  gilt  ihm  nicht  das  natürliche 
Licht,  sondern  die  Offenbarung  in  der  heiligen  Schrift.  All  unser  Wissen  ist  nichts 
als  Selbstoffenbarung  der  Natur,  es  kommt  darauf  an,  die  Natur  zu  belauschen. 
Er  legt  deshalb  viel  Werth  auf  Experimente,  zu  denen  freilich  die  ecientia.  die 
Speculation,  hinzutreten  muss,  damit  eine  wahre  experientia  daraus  werde.  Gegen- 
stände des  Wissens  sind  die  grosse  (Makrokosmus)  und  die  kleine  Welt  (Mikro- 
kosmus), der  Mensch.  Dieser  ist  das  Letzte  in  der  Schöpfung,  Gottes  eigentliche 
Absicht,  und  man  kann  die  Welt  nur  erkennen,  indem  man  aus  dem  Menschen  die 
Geheimnisse  der  Natur  herausliest.  Andererseits  ist  er  wieder  nur  durch  die  Welt 
zu  verstehen.  Alle  Wesen,  und  so  auch  der  Mensch,  bestehen  aus  einem  elemen- 
tarischen, irdischen,  sichtbareu  und  einem  himmlischen,  astralischen,  unsichtbaren 
Leib,  welcher  letztere,  spiritus  genannt,  aus  dem  siderischen  Reiche  stammt  Dieses 
ist  selbst  unsichtbar,  hat  aber  an  den  sichtbaren  Sternen  seinen  Körper.  Alle 
Kunst,  alle  weltliche  Weisheit  hat  in  dem  spiritus  ihren  Sitz.  Bei  dem  Menschen 
kommt  zu  diesen  beiden  noch  die  von  Gott  (aus  der  „dealischen*  Welt)  stammende 
und  im  Herzen  ihren  Sitz  habende  Seele  hinzu,  auf  deren  Entscheidung  die  mora- 
lische Qualität  des  Menschen  beruht.   Die  Med i ein,  welche  Paracclsus,  indem 

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§  6.   Naturphilosophie  und  Theonophie. 


er  den  Galen  and  Avicenna  bekämpfte,  vornehmlich  zu  reformiren  sachte,  ist  nach 
ihm  die  höchste  Wissenschaft,  da  sie  das  Wohl  des  Menschen  zu  befördern  strebt, 
und  muiis  zu  Grundpfeilern  haben  die  drei  Wissenschaften  der  Philosophie,  der 
Astronomie,  der  Theologie,  da  der,  Mensch  den  erwähnten  drei  Welten  angehört. 
Die  Medicin  ist  aber  nicht  nur  Theorie,  sondern  auch  Praxis,  and  so  muss  sie  su 
viert  auf  eine  Wissenschaft  sich  gründen,  die  praktische  Anweisungen  giebt;  diese 
ist  die  Alchymie,  die  eine  grosse  Rolle  spielt,  und  in  deren  Betreiben  Paracelsus 
nicht  nur  za  Abenteuerlichkeiten  kam,  sondern  auch  theil weise  wohl  zum  Charlatau 
wurde.  —  Die  Elemente  sind  dem  Paracelsus  nicht  einfacher  Natur,  sondern  be- 
stehen aus  drei  Grundsubstanzen,  die  in  alehymistischen  Schriften  als  solche  ge- 
nannt werden,  aus  Mercurius,  Sal,  Sulphur.  Während  in  den  Elementen  eine  Natur- 
kraft, Vulcanus,  herrscht,  durch  welche  die  einzelnen  Dinge  entstehen,  waltet  in 
jedem  dieser  wieder  eine  besondere  Kraft,  Archeus,  „Regierer*,  genannt,  nicht  als 
persönlicher  Geist,  vielmehr  unbewusst  wirkend.  Die  Krankheiten  sollen  nuu  viel- 
mehr durch  Anregung  und  Kräftigung  dieses  Lebensprincips  iu  seinem  Kampfe 
gegen  das  Krankheitsprincip  und  Entfernung  der  Hindernisse,  als  durch  directe 
chemische  Gegenwirkungen  geheilt  werden.  Es  soll  nicht  das  Kalte  durch  das 
Warme,  das  Trockene  durch  das  Feuchte  bekämpft,  sondern  die  schädliche  Wirkung 
eines  Princips  durch  seine  wohlthätige  vernichtet  werden  (eine  Anticipation  der 
homöopathischen  Doctrin).  Die  paracelsische  Richtung  theilt  im  Ganzen  u.  A. 
Robert  Fludd  (de  Fluctibus),  geb.  1574,  gest.  1637,  ferner  der  bedeutende  Chemiker 
Joh.  Baptista  van  Helmont,  geb.  1577,  gest.  1644  in  Vrilvorden  bei  Brüssel. 
Nach  ihm  geschieht  in  der  Natur  nichts  durch  äussere  Ursachen,  sondern  Alles 
durch  innere,  und  zwar  giebt  es  deren  zwei:  die  äussere  Materie,  der  fluor  geue- 
rativus  als  Substanz  aller  Dinge,  das  initium  ex  quo,  und  als  das  gestaltende  Princip 
die  unvergängliche  Zeugungskraft  der  Elemente,  aus  welcher  die  allen  Dingen  ein- 
wohnende aura  seminalis  entsteht,  das  initium  per  quod.  —  Für  den  dritten  Aggregat- 
zustand hat  er  das  Wort  „Gas*  eingeführt.  —  Er  nähert  sich  in  seinen  Ansichten 
schon  der  Corpusculartheorie.  Sein  Sohn  Franc.  Mercurius  van  Helmont,  geb. 
1618,  geet.  nach  einem  abenteuerlichen  Leben  1699  in  Berlin,  stellte,  polemisirend 
gegen  Descartes  und  Spinoza  eine  vielfach  an  die  Monadenlehre  Leibnizens  er- 
innernde Doctrin  auf,  der  freilich  der  wissenschaftliche  Zusammenhang  fehlt  Alles 
besteht  den  letzten  Theilen  nach  aus  Monaden,  die  aber  auf  verschiedenen  Stufen 
der  Entwickelung  stehen.  Die  Seele  umfasst  viele  Monaden  und  beherrscht  diese 
als  Ceutralgeist.  Monaden,  die  erst  Theile  eines  Leibes  waren,  können  allmählich 
zu  dem  Range  von  solchen  Centren  gelangen.  Zu  nennen  ist  hier  noch  Marcus 
Marci  von  Kronland  (gest  1665  in  Prag?),  der  die  platonisch-stoische  Doctrin  der 
ideae  operatrices,  oder  semiualcs,  erneuerte. 

Hieronymus  Cardanus  (1501—1576),  Mathematiker,  Arzt  und  Philosoph, 
schlichst  sich  in  der  Verschmelzung  der  Theologie  mit  der  Zahlenlehre  an  Nicolaus 
Cusanus  an.  Er  schreibt  der  Welt  eine  Seele  zu,  die  er  mit  Licht  und  Wärme 
identificirt.  Alles  soll  durch  natürliche  Causalität  erklärt,  also  auf  Naturmechanismus 
zurückgeführt  werden.  Elemente  giebt  es  nur  drei:  Waaser,  Erde,  Luft.  Das  Feuer 
ist  keine  Substanz,  sondern  nur  ein  Accidens.  Es  wird  durch  die  Wärme,  diese  aber 
durch  die  Bewegung  hervorgebracht.  Dem  Cardanus  gilt  die  Wahrheit  als  nur 
Wenigen  zugänglich.  Die  Menschen  theilt  er  in  drei  Classen  ein:  bloss  Betrogene, 
betrogene  Betrüger  und  nichtbetrogene  Nichtbetrüger.  Die  letzten  sind  die  Weisen. 
Dogmen,  die  ethisch-politischen  Zwecken  dienen,  soll  der  Staat  durch  strenge  Ge- 
setze und  harte  Strafen  aufrecht  erhalten;  denkt  das  Volk  über  die  Religion  nach, 
so  entstehen  daraus  nur  Tumulte.  (Nur  die  Offenheit  des  Bekenntnisses  zu  dieser 
Doctrin  ist  dem  Cardanus  eigenthümlich;  thatsächlich  hat  jede  ideell  überwundene, 


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§  6.    Naturphilosophie  und  Tbeosophie. 


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äußerlich  aber  noch  herrschende  Macht  dieselbe  befolgt)  Den  Weisen  freilich  binden 
diese  Gesetze  nicht;  für  sich  selbst  folgt  Cardanus  dem  Grundsatze:  veritas  omnibus 
anteponenda  neqne  impium  duxerim  propter  illara  adversari  legibus.  Uebrigens  war 
Cardanus  ein  Visionär  und  voll  kindischen  Aberglaubens  und  sucht  auch  die 
Geistererecheinungen  in  den  Zusammenhang  der  Naturgesetze  einzureihen.  Sein 
Gegner  Julius  Caesar  Scaliger  (1484— 1558),  ein  Schüler  des  Pomponatias,  urtheilt 
über  ihn:  eum  in  quibusdam  interdum  plus  homine  sapere,  in  plurimis  minus  quovis 
puero  intelligere. 

Bernardinus  Telesius.  geb.  zu  Cosenza  1508,  gest.  ebend.  1588,  ist  einer 
der  Begründer  der  Philosophie  der  Neuzeit  geworden  durch  sein  Unternehmen,  die 
aristotelische  Philosophie  nicht  zu  Gunsten  des  Piatonismus  oder  eines  andern  antiken 
Systems,  sondern  eigener  Naturforschung  zu  bekämpfen;  jedoch  lehnte  er  sich  bei 
demselben  an  die  vorsokratische,  besonders  an  die  von  Parmenides  (freilich  nur  als 
Lehre  vom  Schein)  aufgestellte  Naturphilosophie  an.  Lediglich  auf  Erfahrung  soll 
die  Erkenntniss  sich  gründen,  da  der  reine  Verstand  durch  sich  selbst  zu  ihr  nicht 
kommen  könne.  Das  Erkennen  durch  Schlüsse  gilt  ihm  höchstens  als  Vorahnung  der 
Wahrheit,  für  welche  die  Verificirung  durch  die  Erfahrung  noch  verlangt  wird. 
Freilich  wandte  er  selbst  diese  Principien  bei  seiner  Construction  der  Natur  nicht 
hinreichend  an.  Die  Erfahrung  lehrt  nach  Telesius  zunächst  den  Gegensatz  zwischen 
dem  Himmel  mit  seinen  Wärme  ausstrahlenden  Gestirnen  und  der  Erde,  von  der 
nach  Sonnenuntergang  Kälte  ausgeht.  So  giebt  es  zwei  thätige  Principien,  nämlich 
Wärme  und  Kälte,  ausser  diesen  noch  ein  Körperliches  (corporea  moles),  das.  der 
Quantität  nach  stets  gleich  bleibend,  der  Ausdehnung  und  Verdünnung  durch  die 
Wärme,  der  Verdickung  und  Zusammenziehung  durch  die  Kälte  ausgesetzt  ist.  Die 
Wärme  erzeugt  alles  Leben  und  alle  Bewegung,  die  Kälte  Starrheit  und  Ruhe. 
Diese  beiden  Principien  stehen  fortwährend  im  Kampfe  mit  einander:  zuerst  ent- 
standen auf  diese  Art  Himmel  und  Erde,  sodann  alle  übrigen  Dinge.  Der  Geist 
(spiritus)  in  dem  tbierischen  und  menschlichen  Körper,  welcher  die  einzelnen  Theile 
zusammenhält  und  Bewegung  hervorbringt,  ist  ein  feiner  Stoff,  aus  Wärme  be- 
stehend, der  sich  vermittelst  der  Nerven  durch  den  ganzen  Körper  verbreitet,  im 
Gehirn  aber  seinen  eigentlichen  Sitz  hat.  Bei  dem  Menschen  kommt  noch  als 
, forma  superaddita*  die  unsterbliche,  unmittelbar  von  Gott  gegebene  Seele  hinzu, 
welche  die  Form  des  Leibes  und  des  Geistes  zugleich  ist.  Doch  wird  die  Lehre 
von  dieser  Seele  nicht  organisch  mit  dem  sonstigen  System  des  Telesius  verbunden. 
—  Auf  ethischem  Gebiete  stellt  Telesius  Sätze  auf,  die  stark  an  den  Naturalis- 
mus Spinozas  erinnern:  das  ganze  Streben  des  Menschen  geht  nach  Selbeterhal- 
tuug,  um  derentwillen  er  alles  Andere  begehrt.  Freude  ist  das  Gefühl  der  Selbst- 
erhaltung, Liebe  entsteht  zu  dem,  was  die  Selbsterhaltung  fördert,  Hasa  gegen 
das,  was  sie  hindert.  Die  Cardinaltugenden :  sapientia,  solertia,  fortttudo,  benignitas, 
zeigen  sich  darin,  dass  der  Mensch  nach  verschiedeneu  Seiten  seines  Wesens  den 
Trieb,  sich  selbst  zu  erhalten,  erfüllt.  —  Telesius  gründete  zu  Neapel,  wo  er  lange 
Jahre  gelebt  hat,  eine  naturforschende  Gesellschaft,  die  Academia  Tel  es i an a 
oder  Consentina,  nach  deren  Muster  später  viele  andere  gelehrte  Gesellschaften 
sich  gebildet  haben.    Fr.  Bacon  nennt  ihn  den  Ersten  unter  den  Neuen. 

Franciscus  Patritius,  geb.  zu  ClisBa  in  Dalmatien  1529,  1576—93  Lehrer 
der  platonischen  Philosophie  zu  Ferrara,  gest.  zu  Rom  1597,  hat  den  Neuplatouis- 
mus  mit  telesianischeu  Ansichten  verschmolzen,  hat  aber  selbst  nur  ein  unklares 
ins  Mystische  hinüberspielendes  System  aufgestellt,  dessen  Hauptgedanke  der  von 
der  Belebtheit  des  Universums  ist.  In  seinen  Discussiones  peripateticae,  quibus 
Aristotelicae  pbilosophiae  universae  historia  atque  dogmata  cum  veterum  placitis 
collata  eleganter  erudite  declarantur,  pars  I— IV,  Venet.  1571-81,  Baail.  1581, 


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§  6.    Naturphilosophie  und  Theouophie. 


erklärt  uud  bekämpft  er  zugleich  die  aristotelische  Doctrin.  Viele  als  aristotelisch 
uberlieferte  Schriften  hält  er  für  unecht.  Er  hegte  den  Wunsch,  dass  der  Papst 
durch  seine  Autorität  den  Aristotelismus  unterdrücken  und  den  modificirten  Platonis- 
mus,  die  von  ihm  ausgebildete  Lichtemanationsdoctrin,  begünstigen  möge. 

In  der  Bekämpfung  der  aristotelischen  Physik  und  Metaphysik  und  dem  Ver- 
such einer  Reformation  dieser  Doctrinen  kommen  mit  Telesius  und  Patritius  in 
etwas  späterer  Zeit  unter  Andern  auch  überein:  Sebastian  Basso  (Philosophie 
naturalis  adv.  Aristotelem,  Geneve  1621),  dessen  mathematische  Atomistik  sehr  an 
die  Giordano  Brunos  erinnert,  Claude  Guillermet  de  Berigard  (oder  Bauregard, 
der  noch  um  1667  eine  Professur  zu  Padua  bekleidete,  Circuli  Pisani  seu  de  veteri 
et  Peripatetica  philosophia  dialogi,  Utini  1643).  Dan.  Sennert  (1572—1637,  s. 
ob.  §  3,  S.  18)  stellte  eine  Art  Corpusculartheorie  schon  auf.  Er  unterscheidet  die 
atoma  corpuscula,  welche  so  weit  getheilt  sind,  als  es  die  Natur  zulässt,  und  aus 
denen  die  zusammengesetzten  Körper  entstehen,  von  den  Elementaratomen,  deren 
es  vier  Arten  nach  den  vier  Elementen  giebt.  Die  ersteren  sind  die  prima  mixta, 
und  man  muss  sich  die  Ansicht  Sennerts  wohl  so  vorstellen,  dass  diese  aus  Ele- 
mentarst ui  neu  bestehen,  wiewohl  er  dies  nicht  klar  ausspricht.  Alle  Atome  haben 
nun  bestimmte  Formen  oder  Gesetze  von  vornherein,  die  unveränderlich  sind,  und 
nur  auf  der  Bewegung  der  Atome  oder  Corpuscula  beruht  alle  Veränderung,  auch 
die  scheinbar  qualitative.  Und  zwar  ist  die  Ursache  für  die  Vereinigung  der 
Atome  in  den  Formen  zu  sehen,  in  denen  Gott  diese  von  Anfang  an  so  gestaltet 
hat,  dass  ihnen  gemäss  die  kleinsten  Theilchen  zusammenpassen.  Gegen  den  blinden 
Zufall,  durch  den  die  Atome  zusammengeführt  werden  und  die  Einzeldinge  bilden, 
spricht  sich  Sennert  bestimmt  aus. 

Unter  den  oben  (§  3,  S.  12—17)  genannten  Aristotelikern  ist  hier  als  selb- 
ständiger philosophischer  Forscher  der  den  averroistischen  Aristotelismus  zum 
Pantheismus  fortbildende  Andreas  Caesalpinus  (1519—1603)  von  Neuem  zu  er- 
wähnen. 

Giordano  Bruno,  geb.  1548  zu  Nola  im  Neapolitanischen,  hat  die  Doctrin 
des  Cusanere  in  einem  antikirchlichen  Sinne  fortgebildet.  In  Neapel  erhielt  er  den 
Jugendunterricht  in  den  Humanitätsstudien  und  in  der  Dialektik.  In  den  Dominicaner- 
ordeu  eingetreten,  verliess  er  denselben,  als  er  zu  einer  dem  Dogma  widerstreitenden 
Ueberzeugung  gelangt  war,  1576,  begab  sich  ins  Genuesische,  du  hu  nach  Venedig, 
bald  darauf  nach  Genf,  dessen  reformirte  Orthodoxie  ihm  jedoch  ebensoweiüg  wie 
die  katholische  zusagte,  dann  über  Lyon  nach  Toulouse,  Paris,  Oxford  und  London . 
Ein  von  ihm  während  seines  Aufenthalts  in  London,  der  von  1583—86  dauerte,  ver- 
fasstes  Lustspiel  -II  Candelajo"  und  vielleicht  auch  andere  Schriften  Brunos  hat 
nach  der  Annahme  von  Falkson,  G.  Bruno,  S.  289,  und  von  Benno  Tschischwitz, 
Sh.s  Hamlet,  Halle  1868,  Shakespeare  kennen  gelernt  und  einzelne  Gedanken  Brunos, 
wie  über  Unzerstörbarkeit  der  Elementarthelle  und  über  die  Relativität  des  Uebels, 
dem  dänischen  Prinzen  in  den  Mund  gelegt.  Bruno  reiste  danach  über  Paris  nach 
Wittenberg,  von  dort  nach  Prag,  Helmstädt,  wo  er  wie  in  Wittenberg  Vorlesungen 
hielt,  hierauf  nach  Frankfurt  am  Main,  wo  er  nur  kurze  Zeit  blieb,  dann  nach  Zürich 
und  Venedig.  Hier  am  23.  Mai  1592  auf  die  Denunciation  des  Verräthers  Mocenigo 
hin  von  der  Inquisition  verhaftet,  ward  er  1593  nach  Rom  ausgeliefert,  erduldete 
hier  noch  eine  siebenjährige  Gefangenschaft  im  Kerker  der  Inquisition  und  wurde, 
da  seine  Ueberzeugung  ungebrochen  blieb  und  er  eine  heuchlerische  Unterwerfung 
mit  edler  Wahrheitstreue  verschmähte,  zum  Scheiterhaufen  verurtheilt  (mit  der  ge- 
wöhnlichen lügnerischen  Formel,  er  werde  der  weltlichen  Obrigkeit  übergeben  mit 
der  Bitte,  ihn  bo  gelinde  wie  möglich  und  ohne  Blutvergiessen  zu  strafen).  Bruno 
erwiderte  seinen  Richtern:  Ihr  mögt  mit  grösserer  Furcht  das  Urtheil  fällen,  als 


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§  6.   Naturphilosophie  und  Theoeophie. 


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ich  es  empfange.  Er  ward  zu  Rom  auf  dem  Campofiore  am  17.  Februar  1600  ver- 
brannt Zeit  seines  Lebens  ein  unstäter  Geist,  wurde  er  ruhelos  von  Ort  n  Ort  ge- 
trieben, stand  überall  im  Kampfe  mit  dem  Bestehenden,  ist  wohl  auch  nicht  frei- 
zusprechen von  Ruhmsucht.  Das  befreite  Italien  hat  ihn  durch  eine  Statue  in 
Neapel  geehrt,  vor  welcher  am  7.  Januar  1865  Studenten  die  päpstliche  Encyclica 
vom  8.  December  1864  verbrannten. 

Mit  dem  copernicanischen  Weltsystem,  dessen  Wahrheit  ihm  zur  Ge- 
wissheit geworden  war,  fand  er  das  Dogma  in  dessen  kirchlicher  Fassung  unver- 
träglich, wie  auch  andererseits  bald  hernach  (am  5.  März  1616)  durch  die  Index- 
Congregation  die  copernicanische  Doctrin  (die  anfangs  von  Seiten  der  kirchlichen 
Autorität  nicht  mit  Ungunst  aufgenommen  worden  war)  bezeichnet  wnrde  als  eine 
Meinung,  die  sich  zu  verbreiten  beginne  »in  perniciem  catholicae  veritatis"  und  als 
„falsa  illa  doctrina  Pythagorica,  Divinaeque  Scripturae  omnino  adversans«.  Bruno 
erweitert  die  copernicanische  Doctrin.   nun  ist  das  Universum  unendlich  nach 
Zeit  und  Raum  (vgl.  schon  Nicolaus  Cusanus),  unser  Sonnensystem  eine  Welt  neben 
unzähligen  (für  welche  Lehre  er  sich  auch  auf  Epikur  und  Lucretiua  beruft),  Gott 
ist  die  dem  Universum  immanente  erste  Ursache;  Macht,  Weisheit,  Liebe  sind  seine 
Attribute.  Die  Gestirne  werden  nicht  durch  einen  primus  motor,  sondern  durch  die 
ihnen  selbst  innewohnende  Seele  bewegt.    Bruno  bekämpft  den  Dualismus  von 
Materie  und  Form;  nach  ihm  fallen  im  Organismus  nicht  nur  Form,  bewegende 
Ursache  und  Zweck  unter  einander,  sondern  auch  mit  der  Materie  in  Eins  zusammen. 
Der  unendliche  Aether,  welcher  den  unendlichen  Raum  erfüllt,  birgt  in  sich  selbst 
das  Ziel  aller  Entwickelung,  die  Keime  aller  Einzeldinge,  und  lässt  letztere  aus  sich 
nach  bestimmten  Gesetzen,  aber  auch  bestimmte  Ziele  verfolgend,  also  nach  festen 
Begriffen  hervorgehen,  wie  der  Urstoff  in  der  stoischen  Philosophie  auch  die  sich 
später  nach  Gesetzen  der  Vernunft  entwickelnden  Keime  in  sich  trägt.  Formen 
ohne  Materie  haben  kein  Sein,  nur  in  der  Materie  entstehen  und  vergehen  sie,  die 
Materie  allein  ist  die  Quelle  aller  Actualität.   Die  Form  ist  die  den  Dingen  inne- 
wohnende Seele  oder  der  Geist,  und  so  findet  sich  in  allen  Dingen  Geist,  Seele, 
Üben.   Von  Gott,  d.  h.  der  höchsten  Ursache,  dem  Princip  und  dem  Einen,  muss 
Alles  ohne  Unterschied  ausgesagt  werden:  in  ihm  sind  alle  Gegensätze  zu  finden, 
alles  Denkbare  und  Mögliche  ist  in  jedem  Punkte  seines  Wesens.  Er  ift  das  Maximum, 
weil  Alles  aus  ihm,  und  das  Minimum,  weil  Alles  in  ihm  ist,  er  ist  das  Einfache 
und  das  Mannigfaltige.    Begreifen  kann  ihn  ein  endlicher  Geist  nicht,  weil  ein 
solcher  die  Gegensätze  nicht  vollständig  zu  überwinden  vermag,  sondern  nur  zu 
einer  species  intelligibilis  von  ihm  gelangen.  Diese  kommt  nur  dadurch  zu  Stande, 
dass  die  Vernunft  sich  selbst  betrachtet  und  dann  die  Einheit,  die  sie  in  sich 
wahrnimmt,  auch  in  der  objectiven  Welt  als  vorhanden  denkt.  Die  drei  „Personen" 
der  Gottheit  reducirt  Bruno  auf  die  drei  Attribute:  Macht,  Weisheit,  Liebe.  Das 
Dogma,  dass  die  zweite  Person  menschliches  Fleisch  angenommen  habe,  gilt  ihm 
uls  philosophisch  unverständlich;  aber  er  nimmt  eine  Gegenwart  göttlichen  Wesens 
in  dem  Stifter  des  Christenthums  an,  wofür,  mehr  als  die  Wunder,  das  Sittengesetz 
des  Evangeliums  zeuge.   Die  Welten  hat  Gott  nicht  durch  einen  Act  der  Willkür, 
sondern  mit  innerer  Nothweudigkeit,  eben  darum  aber  auch  ohne  Zwang,  also  mit 
Freiheit,  aus  sich  hervorgehen  lassen;  sie  sind  die  gewordene  Natur  (natura  naturata), 
Gott  ist  die  wirkende  Natur  (natura  naturans).   Gott  ist  in  den  Dingen  so  gegen- 
wärtig, wie  das  Sein  dem  Seienden,  die  Schönheit  den  schönen  Objecten.  Jede  der 
Welten  ist  in  ihrer  und  jedes  Wesen  in  seiner  Art  vollkommen;  es  giebt  kein  ab- 
solutes Uebel:  nur  in  Bezug  auf  Anderes  besteht  der  Unterschied  zwischen  gut  und 
übel.  Alle  Einzelwesen  sind  dem  Wechsel  unterworfen,  das  Universum  aber  bleibt  in 
seiner  absoluten  Vollkommenheit  stets  sich  selbst  gleich.  Bruno  selbst  war  von  edler 


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§  6.    Naturphilosophie  und  Theosophie. 


und  tiefster  Begeisterung  für  das  Universum  oder  die  Natur  ergriffen.  Mit  dem 
Aufgehen  in  das  All  ist  nach  ihm  das  seligste  Entzücken  verbunden.  Liebt  ein 
Weib,  ruft  er  aus,  wenn  ihr  wollt,  aber  vergesst  nicht,  Verehrer  des  Unendlichen 
zu  sein.  Die  elementaren  Theile  alles  Existirenden ,  die  nicht  entstehen  und  nicht 
vergehen,  sondern  sich  nur  mannigfach  verbinden  und  trennen,  sind  die  Minima 
oder  Monaden,  die  sich  Bruno  als  punctuell  und  doch  nicht  schlechthin  unausge- 
dehnt, sondern  als  sphärisch  vorstellt,  sie  sind  psychisch  und  materiell  zugleich. 
Die  Seele  ist  eine  Monade,  sie  ist  unsterblich,  wie  auch  die  Körper  ihrer  Substanz 
nach  unvergänglich  sind;  sie  ist  nie  ganz  ohne  einen  Körper.  Gott  ist  die 
Monade  der  Monaden.  —  Wer  nun  danach  ringt,  in  dem  Mannigfaltigen  das 
Gemeinsame,  in  dem  Vielen  das  Eine  zu  erkennen,  wer  eine  möglichst  vollkommene 
Anschauung  des  Absoluten  erstrebt,  der  ist  der  wahre  furioso  eroico,  der  heroische 
Enthusiast.  Freilich  kann  er  nie  das  Ziel  seiner  Sehnsucht  voll  erreichen;  er 
empfindet  Quulen  darüber,  wird  auch  von  seinen  Mitmenschen  verkannt  and  verfolgt, 
aber  er  hat  doch  die  Seligkeit  des  Bewusstseins,  seiner  Bestimmung  nachzuleben, 
sich  selbst  zu  vervollkommnen,  dem  Urquell  aller  Wahrheit,  Güte  und  Schönheit 
sich  immer  mehr  zu  nähern.  —  Die  Ethik  Brunos  finden  wir  vornehmlich  in  der 
-Austreibung  der  triumphirenden  Bestie'*,  einem  allegorischen  Romane,  grossentheils 
dialogischer  Form,  in  dem  auch  viel  Religionsphilosophisches  vorkommt,  und  in 
dem  „heroischen  Enthusiasmus1*,  einem  Werke,  das  aus  71  Sonetten,  3  Cahzonen 
und  längeren  erklärenden  Dialogen  besteht  und  die  Liebe  zum  Göttlichen,  die  Sehn- 
sucht des  Herzens  nach  dem  Ideal  der  Schönheit  schildert. 

Dem  Scholasticisrous,  also  dem  Aristoteles,  feindlich  gesinnt,  wollte  sich  Bruno 
lieber  an  Pythagoras,  Piaton,  die  Stoiker,  sogar  an  Epikur  anschliessen,  hielt  aber 
auch  die  Versuche  zu  neuer  Gedankenbildung  hoch,  die  er  bei  RaymunduB  Lullus 
und  bei  Nicolaus  dem  Oasaner  vorfand.  Er  trug  oft  die  raymundsche  Kunst  vor, 
wenn  die  Möglichkeit  des  Docirens  an  das  Betreten  eines  neutralen  Bodens  geknüpft 
war.  Von  Nicolaus  Cusanus,  von  dem  er  das  prineipium  coincidentiae  oppositorum 
angenommen  hat,  redet  er  mit  hoher  Achtung,  ohne  jedoch  zu  verschweigen,  dasn 
anch  ihn  der  Priesterrock  beengt  habe.  Er  freut  sich  der  neuen  von  Telesius  er- 
öffneten Bahn,  hat  jedoch  dieselbe  nicht  durch  eigene  Einzelforschung  verfolgt.  Er 
will,  dass  wir  von  dem  Untersten,  Bedingtesten  aufsteigend  uns  stufenweise  bis 
zum  Höchsten  erheben,  ohne  jedoch  selbst  diesen  methodischen  Gang  streng  ein- 
zuhalten. Seine  Virtuosität  liegt  in  der  phantasievollen  Ergänzung  der  ersten 
naturwissenschaftlichen  Errungenschaften  der  Neuzeit  zu  einem  dem  Geiste  der 
modernen  Wissenschaft  gemässen  Gesammtbilde  des  Universums.  Nach  ihm  mnss 
der  Philosoph  ein  Dichter  sein,  wie  denn  auch  seine  eigenen  Werke  zum  Theil  in 
poetischer  Form  verfasst  sind.  Zu  starke  Phantasie  und  mystische  Unklarheit 
bilden  die  Schwächen  seiner  Philosophie.  Jedoch  birgt  seine  Lehre  Keime  mancher 
späteren  philosophischen  Systeme  in  sich,  so  namentlich  des  spinozistischen  und 
leibnizschon,  sowie  neuerer  panthe istischer. 

Galileo  Galilei  (1564—1641)  hat  durch  die  Erforschung  der  Fallgesetze  sich 
nicht  nur  um  die  positive  Wissenschaft,  sondern  auch  um  die  Naturphilosophie  ein 
bleibendes  Verdienst  erworben.  Er  ist  es  namentlich,  durch  den  die  aristotelisch- 
scholastische Physik  ihre  Geltung  verlor,  und  durch  den  die  neue  mechanische  Physik 
begründet  wurde.  Ohne  Demokrit,  wie  er  selbst  versichert,  gekannt  zu  haben,  ge- 
langte er  zu  einer  ähnlichen  Weltanschauung  wie  dieser.  Alle  Veränderung  ist 
nichts  als  Umstellung  der  Theile,  ein  Entstehen  und  Vergehen  im  strengen  Sinne 
giebt  es  nicht.  In  einer  Schrift.  Jl  saggiatore"  (Goldwage)  betitelt,  lehrt  er,  wenn 
auch  etwas  vorsichtig,  die  Subjectivität  der  sinnlichen  Qualitäten  (Geschmack, 
Geruoh,  Farbe  u.  s.  w.)  und  führt  dieselben  auf  Quantitätsunterschiede  zurück.  — 


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§  6.    Naturphilosophie  und  Theosophie 


41 


ßeachtenswerth  sind  auch  seine  methodologischen  Anforderungen:  Verwerfung  der 
Autorität  in  Fragen  der  Wissenschaft.  Zweifel,  Basirung  der  allgemeingiltigen 
Sätze  auf  Beobachtungen  und  Experimente,  Aufsuchen  der  Beweisgründe  für  die 
Schluassätze  nach  analytischer  Methode  (metodo  risolutivo).  sodann  das  synthetische 
Verfahren  in  dem  Bilden  regelrechter  Schlüsse  (metodo  compositivo  i.  .Sensate 
esperienze'  müssen  jeder  wissenschaftlichen  Erörterung  zu  Grunde  liegen.  Das 
wahre  Buch  der  Philosophie  ist  nach  ihm  das  Buch  der  Natur,  das  stets  auf- 
geschlagen vor  uns  liegt,  nur  iBt  es  in  anderen  Buchstaben  geschrieben,  als  in  denen 
unseres  Alphabets,  nämlich  in  Triangeln,  Quadraten,  Kreisen,  Kugeln  und  sonstigen 
mathematischen  Figuren.  Zum  Lesen  desselben  ist  also  Mathematik  nothig.  Auf 
den  Einwurf  gegen  die  Induction,  dass  dieselbe  nicht  Alles  in  erschöpfender  Weise 
durchlaufen  kann,  erwiderte  er  schon  sehr  richtig,  wenn  sie  dies  thun  müsse,  so  sei 
«ie  entweder  unmöglich  oder  unnütz,  ereteres,  weil  das  Einzelne  sich  unendlich  oft 
wiederhole,  letzteres,  weil  dann  der  Schlusssatz  zu  unserer  Erkenntniss  nichts  Neuen 
hinzubringen  würde.  Doch  huldigt  Galilei  nicht  dem  rein  sensualistischen  Empiris- 
mus, da  er  lehrt,  dass  wir  die  Wahrheit  der  nothwendigen  Erkenntniss  von  uns  aus 
wissen  müssen.  Die  Einsicht  der  Mathematik  kann  nicht  aus  blosser  sinnlicher  Er- 
fahrung sich  herleiten,  sondern  beruht  in  einem  Wissen  von  sich  ans  (da  per  se), 
und  Galilei  nimmt  hier  sogar  die  platonische  Lehre  von  der  Wiedererinnerung  zu 
Hülfe.  Freilich  ist  er  zu  einer  vollen  Klarheit  und  Sicherheit  in  den  Principien 
der  Erkenntnisstheorie  kaum  gelangt.  Der  Astronom  Joh.  Kepler  (1571—1630), 
um  diesen  hier  sogleich  zu  erwähnen,  war  metaphysischen  Untersuchungen  nicht  ab- 
geneigt und  stellte  pythagorisirend  den  Begriff  der  Weltharmonie  an  die  Spitze.  Es 
sollen  dieser  feste  mathematische  Proportionen  zu  Grunde  liegen,  und  Alles  lässt 
sich  nach  quantitativen  Verhältnissen  darstellen.  Soll  die  Welt  Harmonie  sein,  so 
muss  sie  ein  Ganzes  sein,  als  einem  Ganzen  kann  ihr  aber  Unendlichkeit  nicht  zu- 
kommen. Indem  er  die  Harmonia  mundi  begründen  wollte,  fand  er  die  nach  ihm 
genannten  berühmten  drei  Gesetze,  streng  inductiv  zu  Werke  gehend.  In  seiner 
Apologia  Tychonis  contra  Ureum,  die  gegen  des  Ureus  Schrift  de  hypothesibus 
astronomicis,  Prag  1597,  gerichtet  war,  giebt  er  eine  Art  Monographie  über  den 
Begriff  und  die  Bedeutung  der  Hypothese.  Sein  vorzüglichstes  Werk  ist:  Astronomia 
nova  seu  Physica  coelestis  tradita  commentariis  de  motibus  stellae  Martis,  Pragae 
1609.  (Vgl.  über  ihn  und  Galilei  als  Logiker  Prantl  in  den  Sitzungsber.  der  bayer. 
A.  d.  W.,  phil.  hist.  OL,  1875,  Chr.  Sigwart,  Joh.  K.,  in:  Kl.  Sehr.  I,  S.  182-220, 
R.  Eucken,  K.  als  Philoa.,  in:  Ph.  Monatsh.  1878,  S.  30-45,  auch  in  d.  Beitr.  z. 
G.  d.  n.  Ph.) 

Thomas  Campauella,  geb.  zu  Stilo  in  Calabrien  1568,  gest.  zu  Paris  1639, 
war  ein  streng  kirchlich  gesinnter  Dominicaner  und  Schwärmer  für  eine  katholische 
Uni versalmonarchie,  entging  jedoch,  weil  er  als  Neuerer  auftrat,  nicht  dem  Verdacht 
und  der  Verfolgung.  Von  1599 — 1626  wurde  er,  einer  Conspiration  gegen  die 
spanische  Regierung  angeklagt,  in  strenger  Haft  gehalten,  danach  kam  er  drei  Jahre 
lang  in  die  Gefängnisse  der  römischen  Inquisition;  endlich  freigegeben,  brachte  er 
^eine  letzten  Lebensjahre  (seit  1634)  in  Paris  zu,  wo  er  eine  ehrenvolle  Aufnahme 
fand.  Campanella  erkennt  eine  zweifache  göttliche  Offenbarung  an,  in  der  Bibel  und 
in  der  Natur.  Die  Welt,  sagt  er  in  einer  (von  Herder  übersetzten)  Canzone,  ist 
das  zweite  Buch,  darin  ewiger  Verstand  selbsteigene  Gedanken  schrieb,  der  lebendige 
Spiegel,  der  uns  Gottes  Antlitz  im  Reflexe  zeigt;  menschliche  Bücher  sind  nur 
todte  Copien  des  Lebens,  voll  Irrthum  und  Trug.  Er  polemisirt  insbesondere  gegen 
das  Studium  der  Natur  aus  den  Schriften  des  Aristoteles  und  verlangt,  dass  wir 
(mit  Telesius)  selbst  die  Natur  erforschen  (de  gentilismo  non  retinendo ;  utrum  liceat 
novam  post  gentiles  condere  philosophiam;  utrum  liceat  Aristoteli  contradicere : 


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§  6.   Naturphilosophie  und  Theosophie. 


utrum  liceat  jurare  in  verba  magistri,  Par.  1636).  Die  Grundlage  aller  Krkenntnias 
ist  die  Wahrnehmung  und  der  Glaube;  aus  diesem  erwächst  die  Theologie,  aus 
jener  die  Philosophie  durch  wissenschaftliche  Verarbeitung.  Campanella  geht  (wie 
Augustin  und  mehrere  Scholastiker,  besondere  Nominalisten,  und  wie  später  Des- 
cartes)  von  der  Gewissheit  der  eigenen  Existenz  aus,  um  daraus  zuerst  auf  das 
Dasein  Gottes  zu  schliessen.  Aus  unserer  Gottes  Vorstellung  sucht  er  Gottes  Existenz 
zu  erweisen,  aber  nicht  ontologisch  (mit  Anselm),  sondern  psychologisch:  als  end- 
liches Wesen,  meint  er,  kann  ich  nicht  die  Idee  eines  menschlichen,  die  Welt  über- 
ragenden Wesens  selbst  erzeugt,  sondern  nur  durch  eben  dieses  Wesen,  das  darum 
wirklich  ßein  muss,  dieselbe  erhalten  haben.  Campanella  erkennt  auch  eine  unmittel- 
bare Erfassung  des  Göttlichen  durch  einen  „tactus  intrinsecus*  an  und  preist  diese 
als  die  wahre,  lebendige  und  werthvollste  Erkenntniss.  Das  unendliche  Wesen  oder 
die  Gottheit,  deren  „Primalitäten"  Macht,  Weisheit  und  Liebe  sind,  hat  die  Ideen, 
die  Engel,  die  unsterblichen  Menschenseelen,  den  Raum  und  die  vergänglichen  Dinge 
producirt,  indem  mit  seinem  reinen  Sein  immer  mehr  das  Nichtsein  sich  mischt. 
Diese  Wesen  alle  sind  beseelt;  es  giebt  nichts  Empfindungsloses.  Der  Raum  ist 
beseelt;  denn  er  scheut  die  Leerheit  und  begehrt  nach  Erfüllung;  die  Pflanzen 
trauern,  wenn  sie  welken,  und  empfinden  Freude  uach  erquickendem  Regen;  auf 
Sympathie  und  Antipathie  beruhen  alle  freien  Bewegungen  der  Naturobjecte.  Die 
Planeten  kreisen  um  die  Sonne,  diese  selbst  aber  um  die  Erde.  Mundus  est  Dei 
viva  statua.  Alle  Vorgänge  sind  durch  die  Wechselwirkung  zwischen  allen  Theilen 
der  Welt  bedingt.  Unsere  Erkenntniss  ist  eine  sehr  eingeschränkte.  Campanellas 
Staatslehre  ruht  (in  der  Civitas  Solis)  auf  der  platonischen  Rep. ;  doch  werden  von 
ihm  die  zur  Herrschaft  berufenen  Philosophen  als  Priester  betrachtet,  und  so  Bchliesst 
sich  ihm  an  diese  platonische  Doctrin  (in  seinen  späteren  Schriften)  der  Gedanke 
einer  universellen  Herrschaft  des  Papstes  an.  Er  fordert  Unterordnung  des  Staates 
unter  die  Kirche  und  Verfolgung  der  Ketzer  in  dem  Sinne,  wie  Philipp  U.  von 
Spanien  sie  geübt  hat. 

An  den  Alexandrismus  des  Pomponatius  anknüpfend,  hat  der  Neapolitaner 
Lucilio  Vanini  (geb.  um  1585,  verbrannt  zu  Toulouse  1619)  eine  naturalistische 
Doctrin  entwickelt.  Das»  er  der  Kirche  sich  zu  unterwerfen  erklärte,  bat  ihn  nicht 
vor  einer  —  mehr  grauenhaften  als  tragischen  —  Verurtheilung  geschützt. 

In  England  hat  den  Kampf  gegen  die  Scholastik  vor  Allen  Bacon  von  Ve- 
rulam  (1561 — 1626)  erfolgreich  geführt.  Bacon  steht  auf  der  Grenze  der  Ueber- 
gangsperiode,  mag  jedoch,  theils  weil  er  das  theosophische  Element  abstreift  und 
eine  Methodologie  für  reine  Naturforechung  sucht,  theils  weil  mit  ihm  eine  neue, 
wesentlich  moderne  Entwickelungsreihe,  die  in  Locke  culminirt,  in  wesentlichem 
Zusammenhange  steht,  unten  (§  9)  die  angemessenere  Stelle  finden. 

In  der  Naturphilosophie  aller  bisher  genannten  Denker  liegen  mehr  oder  minder 
auch  theosophische  Elemente.  Prävalirend  aber  ist  die  Theosophie  besonders  bei 
Valentin  Weigel  und  Jakob  Böhme.  Valentin  Weigel  (geb.  1533  in  Hayna  bei 
Dresden,  gest.  nach  1594;  vgl.  über  ihn  Jul.  Otto  Opel,  Leipzig  1864)  hat  sich  an 
Nicolaus  Cusanus  und  an  Paracelsus,  zum  Theil  auch  an  den  eine  Vergeistigung 
des  Lutheranismus  anstrebenden  Caspar  Schwenckfeld  aus  Ossing  (1490 — 1561) 
angeschlossen.  Durch  die  Bibel  und  durch  die  dogmatische  Theologie  seiner  Zeit, 
durch  Paracelsus  und  Weigel  und  durch  astrologische  Schriften  iBt  der  görlitzer 
Schuster  Jakob  Böhme  (1575  in  Alt-Seidenberg  geb.,  von  1594  an  in  Görlitz,  viel 
im  Kampf  mit  der  starren  Orthodoxie,  f  1624)  angeregt  worden,  der  durch  den  ihm 
inmitten  des  dogmatischen  Streits  über  die  Erbsünde,  das  Böse  und  den  freien 
Willen  auftauchenden  Gedanken  eines  (ewig  ins  Licht  verklärt  werdenden)  finstern 
negativen  Princips  in  Gott  (worin  ihm  die  eckhartache  Lehre  von  dem  an  sich 


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§  7.    Anfänge  der  Rechte-  und  Staatephilosophie. 


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unoffenbaren  Absoluten  umschlug)  eine  philosophische  Bedeutung  gewonnen  und 
insbesondere  auch  der  Speculation  Baaders,  Schelliugs  und  Hegels,  welche  eben 
diesen  Gedanken  wieder  aufnahm,  einen  willkommenen  Anknüpfungspunkt  geboten 
hat,  übrigens  aber  in  der  Durchführung  seiner  Theosophie  theils  nur  religiös-erbau- 
lich verfährt  (wobei  er,  nach  Harless*  Urtheil,  .den  Christus  für  uns  strich  und  nur 
den  Christus  in  uns  stehen  Hess*),  theils,  sofern  er  philosophiren  will,  in  Phantasterei 
verfällt,  unverstandene  chemische  Termini  psychologisch  und  theosophisch  deutet, 
Mineralien  mit  menschlichen  Gefühlen  und  göttlichen  Persönlichkeiten  identificirt. 
Gott  ist,  sagt  Böhme  im  Mysterium  magnum,  keine  Pereon,  als  nur  in  Christo.  Der 
Vater  ist  der  Wille  des  Ungrunds,  des  Nichte,  das  nach  dem  Etwas  hungert,  der 
Wille  zum  Ichte  (Etwas),  der  fasset  sich  in  eine  Lust  zu  seiner  Selbstoffenbarung. 
Und  die  Lust  ist  des  Willens  gefasste  Kraft,  und  ist  sein  Sohn,  Herz  und  Sitz,  der 
erste  ewige  Anfang  im  Willen;  der  Wille  spricht  sich  durch  das  Fassen  aus  sich 
aus,  als  ein  Aushauchen  oder  Offenbarung,  als  der  Geist  der  Gottheit.  Der  Ungrund 
führt  sich  durch  seine  eigene  Lust  in  eine  Imagination  ein,  in  welcher  das  Nichte 
zum  Etwas  wird.  Es  ist  In  allen  Dingen  Böses  und  Gutes;  ohne  Gift  und  Bosheit 
wäre  kein  Leben  noch  Beweglichkeit,  auch  wäre  weder  Farbe,  Tugend,  Dickes  oder 
Dünnes  oder  einigerlei  Empfindniss,  sondern  es  wäre  Alles  ein  Nichte.  Ohne  Gegen- 
wurf ist  keine  Bewegung.  Das  Böse  gehört  zur  Bildung  und  Beweglichkeit,  das  Gute 
zur  Liebe  und  das  Strenge  oder  Widerwillige  zur  Freude.  Das  Böse  ursachet  das 
Gute  als  den  Willen,  dass  er  wieder  nach  seinem  Urständ  als  nach  Gott  dringe, 
und  das  Gute  als  der  gute  Wille  begehrend  werde ;  denn  ein  Ding,  das  nur  gut  ist 
und  keine  Qual  hat,  begehrt  nichts,  denn  es  weiss  nichts  Besseres  in  sich  oder  vor 
sich,  danach  es  könne  lüstern.  Das  Gute  wird  in  dem  Bösen  empfindlich,  wollend 
und  wirkend.  Sofern  die  Creatur  im  Lichte  Gottes  ist,  so  macht  das  Zornige  oder 
Widerwillige  die  aufsteigende  ewige  Freude;  so  aber  das  Licht  Gottes  erlischt, 
macht  es  die  ewige  aufsteigende  peinliche  Qual  und  das  höllische  Feuer.  Die  zwei 
Welten  als  Licht  und  Finsterniss  sind  in  einander  als  eine.  Alle  Dinge  bestehen 
in  Ja  und  Nein,  es  sei  göttlich,  teuflisch,  irdisch  oder  was  sonst  genannt  werden 
mag.  Das  Eine  als  das  Ja  ist  eitel  Kraft  und  Leben  und  ist  die  Wahrheit  oder 
Gott  selber.  Dieses  wäre  aber  in  sich  selbst  unerkennbar,  es  wäre  da  keine  Würde 
oder  Erheblichkeit  ohne  das  Nein.  Das  Nein  ist  der  Gegenwurf  des  Ja  oder  der 
Wahrheit,  und  so  ist  die  Wahrheit  selbst  etwas,  darinnen  ein  Contrarium  ist. 

§7.  Die  Lehre  vom  Rechte  und  vom  Staate  wurde  iu  einer 
selbständigen,  von  der  aristotelischen  und  kirchlichen  Autorität  unab- 
hängigen und  mehr  den  veränderten  politischen  Verhältnissen  der 
Neuzeit  entsprechenden  Weise  entwickelt.  —  Nicolo  Macchiavelli 
schätzte  einseitig  die  politische  Macht  zu  hoch  und  ordnete  ihrer  Er- 
langung und  Aufrechterhaltung  alle  anderen  Lebenszwecke  unter,  hielt 
aber  für  die  Aufgabe  des  Politikers  die  Hebung  der  nationalen  Macht 
und  Selbständigkeit  namentlich  gegenüber  der  Alles  beanspruchenden 
Kirche.  ThomasMorus  sah  besonders  auf  Verminderung  der  socialen 
Ungleichheit  und  Milderung  der  Härten  in  der  Gesetzgebung  und 
stellte  in  seiner  Utopia  einen  Idealstaat  auf.  Jean  Bodin  lehrte  auf 
Grund  geschichtlicher  Betrachtung  den  Vorzug  monarchischer  Staats- 
form und  vertheidigte  religiöse  Toleranz,  während  Joh.  Althusius 
die  Majestätsrechte  ganz  und  gar  dem  Volke  zuschrieb.  Albericus 


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§  7.    Anfinge  der  Rechte-  und  Staatephilosophie. 


Geutilis  lehrte  schon  in  liberaler  Weise  Naturrecht,  und  Hugo  Grotius 
betonte  neben  dem  positiven  geschichtlichen  Recht  das  in  der  Natur 
des  Menschen  liegende  überall  gleiche  und  ewige  Recht  und  begründete 
die  Theorie  des  Völkerrechts. 

Ueber  Rechtsphi losophcn  und  Politiker  der  V ebergaugsperiodc  handelt 
insbesondere  C.  von  Kaltenborn,  die  Vorläufer  des  Hugo  Grotius,  Leipzig  1848.  Vgl. 
auch  Job.  Jac  Schmauss,  neues  Systema  des  Rechts  der  Natur,  Gött.  1754,  Buch  I. 
S.  1— :V70:  Historie  des  Rechts  der  Natur  (von  besonderem  Werth  für  die  Zeit  vor 
Grotius)  und  die  betreffenden  Abschnitte  bei  L.  A.  Wamkönig,  Rechtsphil,  als  Natur- 
lehre d.  Rechts,  Freiburg  i.  Br.  18:59  (neue  Titelaufl.  1854),  bei  H.  F.  W.  Hinrichs, 
Gesch.  d.  Rechts-  und  S:aatsprineipicii  seit  d.  Reform..  Leipz.  1848—52,  bei  Roh.  v.  Mohi, 
Gesch.  u.  Litt.  d.  Staatswissenschaften,  Krlang.  1855  —  1858,  ferner  in  Wheatons  Gesch. 
d.  Völkerrechts  und  in  anderen  die  Geschichte  des  Rechts  und  der  Rechtsphilosophie 
und  der  Politik  betreffenden  Schriften. 

Macchiavcllis  Werke,  zuerst  zu  Rom  1631 — 32  veröffentlicht,  sind  bis  auf  die 
neueste  Zeit  sehr  häufig  gedruckt,  auch  öfters  ins  Französische  u.  Englische  übersetzt 
worden,  ins  Deutsche  von  Ziegler,  Karlsruhe  von  1832 — 41.  Das  Buch  vom  Fürsten, 
il  Principe,  ist  zuerst  italienisch  1515  in  Venedig  erschienen,  nachher  öfter,  lateinisch, 
mit  Anmerkung,  von  Conring.  Helmstedt  1643.  Ins  Deutsche  ist  es  mehrere  Male  Ober- 
setzt worden,  schon  1580  Frank  f..  in  den  letzten  Jahrzehnten  von  Alfr.  Eberhard  übers, 
und  erläut.,  Berl.  18(58,  auch  von  W.  Grützmacher  in  der  hist.-polit.  Bibl.  (worin  auch 
Friedrichs  II.  Antimacchiavell,  übers,  von  L.  B.  Förster,  nebst  zwei  kleineren  polit. 
Aufs.  F.s  aufgenommen  ist).  Berlin  1870.  Die  Litteratur  über  II.  stellt  Rob.  v.  Muhl, 
Gesch.  u.  Litt.  d.  Staatswissemch.,  Bd.  III,  Erlang.  1858,  S.  610—591  zusammen  und 
Riebt  mit  «rossem  Organisationstalent  üb.  die  mannichfachen  Ansichten  der  verschiedenen 
Autoren  eine  lichtvolle  Uebersicht.  Besonders  bemerkenswert»!  ist  unter  den  Wider 
legungsversuchen  Friedrichs  des  Grossen  Jugendschrift:  Anti-Macchiavelli,  s.  darüber 
ausser  Mohl  (der  hier  einseitig  urtheilt,  indem  er  an  eine  Schrift,  die  als  historische 
Würdigung  und  Widerlegung  M.B,  wofür  freilich  Friedrich  selbst  sie  ansah,  sehr  schwach, 
als  ethisch-politische  Retlexion  über  das  Verhalten,  das  einem  Fürsten  bei  schon  ge- 
sicherter Herrschaft  zieme,  und  Selbstorientirung  über  die  künftig  einzuhaltenden 
Regierungsmaximcn  aber  sehr  uchtungswerth  ist.  ausschliesslich  den  ersteren  Maassstab 
anlegt,  was  durch  Friedrichs  eigene  Nichtunterscheidung  beider  Aufgaben  nicht  gerecht- 
fertigt wird)  besonders  Trendelenburg,  M.  und  A.-M.,  Vorträge  zum  Gedächtniss  F.s  d. 
Gr.,  geh.  25.  Jan.  1855  in  der  k.  Akad.  d.  Wiss.,  Berl.  1855,  und  Theod.  Bernhardt, 
Macchiavcllis  Buch  vom  Fürsten  und  F.s  d.  Gr.  Anti-Macchiavelli,  Braunschw.  1864. 
Vgl.  ferner  Karl  Twesten,  M.,  in  d.  3.  Serie  der  Sammig.  gemeinverständlicher  Vorträge 
ii.  Abhandl.,  Berl.  1868  u.  d.  Schrift  von  C.  Giambelli  über  M.,  Turin  1869. 

lieber  Tlioman  Morus  handeln:  Rudhardt,  Nürnberg  1829,  2.  Aufl.  1855.  James 
Mackintosh,  Life  of  Sir  Tb.  M.,  London  1830,  2.  ed.,  ebd.  1844.  W.  Jos.  Walter, 
Sir  Th.  M.,  his  life  and  times,  Philadelphia  1839,  trad.  de  l'anglais  par  Aug.  Savagner, 
5.  ed.,  Tours  1868.  R.  Baumstark,  Th.  Morus,  Freiburg  i.  Br.  1879.  Lina  Heger, 
Timm.  Morus  und  Plato.  I.  Ein  Ueberblick  über  d.  piaton.  Humanismus,  Bern.  I.-D., 
Tübing.  1879. 

Joh.  Bodin,  six  livres  de  la  republique,  Pur.  1577,  dann  lateinisch  Par.  1584. 
Von  dem  Colloquium  heptaplomeres  de  abditis  rerom  sublimium  arcants  hat  Guhrauer 
einen  Auszug  in  deutscher  Sprache  (nebst  partiellem  Abdruck  des  lateinischen  Textes) 
Berl.  1841  veröffentlicht;  vollständig  ist  der  Originaltext  ans  einem  Manuscript  der 
Bibliothek  zu  Giessen  durch  Ludw.  Noack,  Schwerin  1857,  edirt  worden.  Eine  Notiz 
zur  Geschichte  des  Werkes  hat  auch  schon  E.  G.  Vogel  im  Serapeum  1840,  No.  8—10 
gegeben.  Ausführlich  handeln  über  Bodin  IL  Baudrillart,  J.  B.  et  son  temps,  tableau 
des  theories  politiques  et  des  idees  economiques  du  seizieme  siede,  Paris  1853,  und 
N.  Planchenault,  etudes  sur  Jean  Bodin,  magistrat  et  publiciste,  Angers  1858. 

Johannis  Althusii  Politica  methodicc  digesta  et  exemplis  sacris  et  profauis 
demonstrata,  Herborn  1603,  sehr  verändert  und  erweitert  Gröning.  1610,  später  noch 
öfter  gedruckt.  Dicaeologiae  II.  tres,  totum  et  Universum  jus,  quo  ntimur  methodice 
complectentes,  Herbom  1617.  Der  Vergessenheit  hat  den  Althusius  entrissen  Otto 
Gierkc,  Joh.  Althusius  u.  d.  Entwickelung  der  naturrechtlichen  Staatsf heorien ,  in: 
Untersuchungen  zur  deutsch.  Staats-  u.  Rechtsgesch.,  Bresl.  1880. 


♦ 


§  7.    Anfänge  der  Rechts-  and  Staatsphilosophie. 


4b 


Des  Hugo  Ürotius  Hauptwerk:  de  jure  belli  et  pacis,  ist  Paris  1625,  1632  u.  ö. 
erschienen.  Seine  ausgedehnten  biblischen  Studien  sind  besonders  in  den  Annot.  in 
N.  T.,  Amst.  1641—45  u.  ö.,  und  Annot.  in  V.  T.,  Par.  1644  u.  ü.,  enthalten.  Der 
Kanzler  Samuel  Cocceji  gab  1751  in  5  Quartbänden  seinen  und  seines  Vaters  Commentar 
zu  Grot.  de  jure  belli  ac  pacis  heraus.  Ueber  Grotius  handeln  in  neuerer  Zeit  namentlich 
H.  Luden,  H.  G.  nach  s.  Schicksal,  u.  Schrift,  Berl.  1806.  Ch.  Butler.  Life  of  H.  Gr.. 
Lond.  1626.  Friedr.  Creuzer,  Luther  und  Grotius  od.  Glaube  u.  Wissensch.,  Heidelb. 
1846.  Vgl.  auch  Ompteda,  Litt.  d.  Völkerrechts.  Bd.  I,  S.  174  ff.;  Stahl,  Gesch.  d. 
Rechtsphil.,  S.  158  ff.:  v.  Kaltenborn,  Krit.  d.  Völkerrechts,  S.  37  ff.:  Hob.  v.  Mohl. 
d.  Gesch.  u.  Litt.  d.  Staatswiss.,  I,  S.  229  f.  Hartenstein,  in:  Abh.  der  Büchs.  Gea,  d. 
Wiss.  I,  1860,  auch  in  H.s  hist.-philos.  Abb.,  Leipz.  1860.  Ad.  Franck,  du  droit  de 
la  guerre  et  de  la  paix  par  Grotius,  im  Journal  des  Sav.  1867,  p.  428 — 441.  C.  Broere, 
H.  G.  Rückkehr  z.  kath.  Glaub.,  aus  d.  Holland,  v.  Ludw.  Claras  (pseud.  für  Wilh. 
Volk),  hrsg.  v.  F.  X.  Schulte,  Trier  1871.  Das  Hauptw.  des  Grotius  ,vum  Recht  des 
Kriegs  und  Friedens*  hat  v.  Kirchmann  übers,  und  erlauf,  in  der  phil.  Bibl.,  Bd.  16. 
Berl.  1869. 

Auf  dem  Gebiete  der  Rechts-  und  Staatslehre  hat  zuerst  Nicolo 
Macchiavelli  (geb.  zu  Florenz  1469,  gest.  1527),  der  Verfasser  der  Istorie  Fio- 
rentine  1215  bis  1494  (Florenz  1532,  deutsch  von  Reamont,  Leipzig  1846,  vgl. 
darüber  u.  A.  Ranke,  zur  Kritik  neuerer  Geschichtschreiber,  Berl.  und  Leipzig 
1821),  ein  wesentlich  modernes  Princip  zur  Geltung  gebracht,  indem  ihm,  zunächst 
im  Hinblick  auf  Italien,  die  nationale  Selbständigkeit  nnd  Macht  und,  soweit 
sie  jedesmal  mit  denselben  vereinbar  ist,  die  bürgerliche  Freiheit  als  das  Ideal 
gilt,  welches  der  Politiker  darch  die  zweckentsprechendsten  Mittel  zu  erstreben 
habe.  In  einseitiger  Begeisterung  für  dieses  Ideal  misst  Macchiavelli  den  Werth 
der  Mittel  ausschliesslich  an  ihrer  Zweckdienlichkeit  ab  mit  Unterschätzung  der 
moralischen  Würdigung  des  Charakters,  den  dieselben,  an  und  für  sich  selbst  und 
im  Hinblick  auf  andere  sittliche  Güter  betrachtet,  tragen.  Macchiavcllis  Fehler 
liegt  nicht  in  der  Ueberzeugung  (auf  welcher  unter  anderm  jede  sittliche  Recht- 
fertigung des  Krieges  allein  beruhen  kann),  dass  ein  Mittel,  an  welches  sinnliche 
und  sittliche  Uebel  unvermeidlich  sich  knüpfen,  dennoch  aus  sittlichen  Gründen 
gewollt  werden  müsse,  wenn  der  allein  durch  eben  dieses  Mittel  erreichbare  Zweck 
durch  die  in  ihm  liegenden  sinnlichen  und  sittlichen  Güter  jene  Uebel  aufwiegt 
und  überwiegt,  sondern  nur  in  der  Einseitigkeit  der  Abschätzung,  die,  durch  den 
Einen  Zweck  bestimmt,  alles  Uebrige  bloss  in  seiner  Beziehung  zu  diesem  würdigt. 
Diese  Einseitigkeit  ist  das  relativ  nothwendige  entgegengesetzte  Extrem  zu  der- 
jenigen, die  von  Vertretern  des  kirchlichen  Princips  geübt  wurde,  der  Würdigung 
aller  menschlichen  Verhältnisse  ausschliesslich  aus  dem  Gesichtspunkte  der  Be- 
ziehung zu  der  mit  der  absoluten  Wahrheit  ideutificirten  kirchlichen  Lehre  und  zu 
der  mit  dem  Reiche  Gottes  gleichgesetzten  kirchlichen  Gemeinschaft.  Macchiavelli 
befeindet  die  Kirche  als  das  Hinderniss  der  Einheit  und  Freiheit  seines  Vaterlandes: 
er  zieht  der  christlichen  Religioii,  die  den  Blick  von  den  politische!)  Interessen 
ablenke  und  zur  Passivität  verleite,  die  altrömische  vor,  welche  die  Mannhaftigkeit 
und  politische  Activität  begünstige.  Macchiavellis  Weise,  jedesmal  gegen  den  einen 
Zweck,  den  er  verfolgt,  alles  Uebrige  hintanzusetzen,  hat  seinen  verschiedenen 
Schriften  einen  verschiedenen  Charakter  aufgeprägt;  von  den  beiden  Seiten  seines 
politischen  Ideals,  nämlich  der  bürgerlichen  Freiheit  und  der  Unabhängigkeit. 
Grösse  und  Macht  des  Staates,  wird  in  den  Discorsi  sopra  la  prima  decade  di  Tito 
Livio  (über  die  Grundsätze  für  die  Erhaltung  eines  Staates)  jene,  in  der  Schrift 
41  Principe"  (über  die  Möglichkeit,  einen  verderbten  Staat  wiederherzustellen)  aber 
diese  hervorgehoben,  und  zwar  so,  dass  im  „Principe"  die  republikanische  Freiheit 
der  absoluten  Fürstenmacht  mindestens  zeitweilig  geopfert  wird.  Doch  mildert 
Macchiavelli  die  Discrepanz  durch  die  Unterscheidung  verdorbener  Zustände,  welche 


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4H 


§  7.   Anfange  der  Rechts-  und  Staataphilosophie. 


despotischer  Heilmittel  bedürfen,  und  echten  Gemeinsinnes,  der  die  Freiheit  bedinge. 
An  sich  ist  die  republikanische  Staatsform,  die  sich  in  Sparta,  Rom,  Venedig 
glänzend  bewährt  hat,  die  beste.  Aber  für  besonders  entartete  Zustände,  wie  die 
zur  Zeit  Macchiavellis,  ist  ein  unbedingt  herrschender  Fürst,  der  sogar  tyrannische 
Mittel  nicht  verschmäht,  am  Platze.  .Wer  mit  Grausen  Ms  Buch  vom  Fürsten 
liest,  darf  nicht  vergessen,  dass  M.  vorher  lange  Jahre  hindurch  sein  heissgeliebtes 
Vaterland  unter  den  Söldnerschaaren  aller  Nationen  bluten  sah  und  vergeblich  in 
einem  besonderen  Buch  die  Einführung  von  Milizheeren  aus  Landeskindern  empfahl.* 
(Karl  Knies,  das  moderne  Kriegswesen,  ein  Vortrag,  Berlin  1867,  S.  19.) 

Piatons  Idealstaat  frei  nachbildend,  hat  Thomas  Morus,  geb.  zu  London 
1480,  enthauptet  1535,  in  seiner  Schrift:  de  optimo  reip.  statu  deque  nova  inaula 
Utopia  (Lovan.  1516,  dann  sehr  oft  lat.  und  in  engl.  Uebstzg.  gedr.,  am  besten 
hrsg.  von  E.  Arber,  Lond.  1869,  deutsch  v.  Oettinger,  Leipz.  1846,  H.  Kothe. 
Leipz.  1874)  philosophische  Gedanken  über  Entstehung  und  Aufgabe  des  Staates 
in  phantastischer  Form  geäussert.  Er  fordert  u.  A.  Gleichheit  des  Besitzes  und 
religiöse  Toleranz. 

Die  philosophische  Rechts-  und  Staatslehre  ist  zu  jener  Zeit  bei  Katholiken 
und  Protestanten  im  Wesentlichen  die  aristotelische,  bei  jenen  durch  die  Scho- 
lastik und  das  kanonische  Recht,  bei  diesen  besonders  durch  biblische  Sätze  mo- 
dificirt.  Luther  hat  nur  das  Criminalrecht  im  Auge,  indem  er  sagt  (in  einem 
Schreiben  an  den  Herzog  Johann  von  Sachsen):  „Wenn  alle  Welt  rechte  Christen 
wären,  so  wäre  kein  Füret,  König,  Herr,  Schwerdt,  noch  Recht  nöthig  oder  nütze. 
Denn  wozu  sollte  es  dienen?  Der  Gerechte  thut  von  sich  selbst  alles  und  mehr, 
denn  alle  Rechte  fordern.  Aber  die  Ungerechten  thun  nichts  recht,  darum  bedürfen 
sie  des  Rechts,  das  sie  lehre,  zwinge  und  dränge,  wohl  zu  thun."  Die  Grundzüge 
des  jus  naturale  finden  Melanchthon  (im  zweiten  Buch  seiner  Schrift:  philosophiae 
moralis  libri  duo,  1538),  Joh.  Oldendorp  (tifaywyq,  sive  elementaris  introduetio 
juris  naturalis,  gentium  et  civilis,  Colon.  Agr.  1539),  Nie.  Hemming  (de  lege 
natura,  methodus  apodictica  1562  u.  ö.),  Benedict  Winkler  (prineipiorum  juris 
libri  quinque,  Lips.  1615)  u.  A.  im  Decalog,  Hemming  insbesondere  in  der  zweiten 
Ge.ietzestafel,  wogegen  die  erste  ethischer  Art  sei  und  die  vita  spiritualis  betreffe. 
(Oldendorps,  Hemmings  und  Winklers  naturrechtliche  Schriften  sind  im  Auszuge 
wieder  abgedr.  in  v.  Kaltenborns  oben  citirtem  Werke.)  Wie  in  der  Ethik,  so  be- 
tonen auch  in  der  Rechts-  und  Staatslehre  Protestanten  die  göttliche  Ordnung, 
Katholiken  und  zumeist  Jesuiten  (wie  Ferd.  Vasquez,  Lud.  Molina,  Mariana, 
Bellarmin,  auch  Suarez  u.  A.)  den  Mitantheil  menschlicher  Freiheit.  Der  Staat  ist 
(gleich  wie  die  Sprache)  nach  scholastisch-jesuitischer  Doctrin  von  menschlichem 
Ursprung.  Nach  Bellarmin  hat  das  Volk  das  Recht,  dem  Fürsten  die  Macht  zu 
entziehen,  da  es  ihm  dieselbe  erst  verliehen  hat,  und  der  spanische  Geschicht- 
schreiber  Mariana,  wie  Bellarmin  Jesuit,  lehrte  in  seinem  Buche  de  rego  et  regis 
institutione,  Toledo  1599,  das  Volk  dürfe  den  König  zur  Rechenschaft  fordern,  und 
werde  er  tyrannisch,  so  sei  es  sogar  erlaubt,  ihn  zu  beseitigen  oder  zu  tödten. 
Luther  nennt  die  Obrigkeit  ein  Zeichen  der  göttlichen  Gnade:  denn  ohne  Regiment 
würden  die  Völker  mit  Morden  und  Würgen  sich  unter  einander  Belbst  hinweg- 
richten. Die  Obrigkeit  kann  in  ihrem  Amt  und  weltlichen  Regiment  ohne  Sünde 
nicht  sein,  aber  Luther  billigt  weder  Selbsthülfe  der  Verletzten,  noch  kennt  er 
eonstitutionelle  Garantien,  sondern  will,  dass  man  Gott  für  die  Obrigkeit  bitte. 
Die  altprotestantische  Doctrin  begünstigt  einen  (durch  das  Bewusstsein  der  Verant- 
wortlichkeit gegen  Gott  zu  Gerechtigkeit  und  Milde  geneigten)  politischen  Absolutis- 
mus, ist  aber  der  socialen  und  religiösen  Freiheit  des  Individuums  förderlich. 


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§  7.    Anfänge  der  Rechts-  und  Staatsphiloaophie. 


47 


Das  Verdienst,  den  verschiedenen  Confessionen  im  Staate  die  Gleichberechtigung 
vindicirt  und  Naturrecht  und  Politik  auf  die  Völkerkunde  und  Geschichtsbetrachtung 
gegründet  zu  haben,  hat  vor  Allen  Jean  Bodin  (geb.  zu  Angers  1530,  gest.  15% 
oder  1597)  sich  erworben  durch  seine  Bücher  über  den  Staat.  Nach  Prüfung  der 
in  der  Geschichte  hervorgetretenen  Staatsverfassungen  kommt  er  zu  dem  Ergebniss. 
dass  ein  durch  Gesetze  eingeschränktes  erbliches  Königthum  die  beste  Verfassung 
sei,  in  welcher  der  Monarch  den  Gesetzen  Gottes  oder  der  Natur  zu  gehorchen 
habe  und  nur  Gott  gegenüber  verantwortlich  sei.  Sein  Colloquium  heptaplomeres 
ist  ein  unparteiisch,  von  sieben  verschiedenen  Religionspartcien  angehörenden  Per- 
sonen gehaltenes  Gespräch  über  die  einzelnen  Religionen  und  Confessionen,  welches 
durch  die  Anerkennung  relativer  Wahrheit  in  einer  jeden  derselben  die  Forderung 
der  Toleranz  begründet.  Blosse  Vernunft  und  das  Naturgesetz  genügen  zur  Er- 
langung des  Heils  und  der  Glückseligkeit,  dazu  bedarf  es  nicht  unzähliger  Gesetze 
der  heidnischen  und  der  geoffenbarten  Religionen.  Das  Colloquium  galt  lange  Zeit 
für  höchst  gefährlich  und  konnte  nur  in  Abschriften  heimlich  weiter  verbreitet 
werden.    Bodins  Moral  ruht  auf  deistischcm  Grunde. 

Im  Gegensatz  zu  Bodinus  steht  entschieden  auf  der  Seite  der  „Monarcho- 
machen*  Johannes  Althusins  (Althus,  Althusen,  geb.  1557  zu  Diedenshausen 
in  der  Grafschaft  Witgenstein-Berleburg,  seit  1586  Lehrer  des  Rechts  in  Herborn, 
seit  1604  Syndicus  in  Emden,  gest.  1638).  Der  Staat  ist  nach  ihm  eine  universalis 
publica  consociatio,  qua  civitates  et  provinciae  plnres  ad  jus  regni  —  habondum, 
constituendum,  exercendum  et  defendendum  se  obligant.  Das  Volk  ist  durchaus 
souverain,  und  die  Träger  der  Regierungsgewalt,  wenn  sie  auch  Macht  über  die 
Einzelnen  empfangen  haben,  bleiben  stets  der  souverainen  Gesammtheit  unterthan. 
Der  Regent  oder  summus  magistratus  wird  durch  die  Ephoren  entweder  in  völlig 
freier  oder  durch  die  Verfassung  beschränkter  Art  gewählt;  sein  Verhältniss  zum 
Volke  ist  ein  beiderseitig  beschworener  und  bindender  Contract,  es  ist  ihm  nur  ein 
widerruflicher  Auftrag  ertheilt.  Bricht  das  Volk  den  Contract,  so  ist  der  Regent 
frei  von  seinen  Pflichten,  bricht  der  Herrscher  ihn,  so  kann  sich  das  Volk  einen 
neuen  Regenten  wählen.  Die  Ephoren  haben  als  die  Mitglieder  der  verschiedensten 
Behörden  die  Rechte  des  Volkes  dem  Regenten  gegenüber  zu  wahren.  In  manchen 
grundlegenden  Gedauken  erinnert  der  contrat  social  Rousseaus  auffällig  an  die 
Politica  des  Althusius. 

Albericus  Gentiiis  (geb.  1551  in  der  Mark  Ancona,  gest.  als  Professor  zu 
Oxford  1611)  ist  besonders  durch  seine  Schriften:  de  legationibus  libri  tres,  Lond. 
1585  u.  ö.,  de  jure  belli  libri  tres,  Lugd.  Bat.  1558  u.  Ö.,  de  justitia  bellica  1590, 
worin  er  aus  der  Natur,  insbesondere  der  menschlichen,  das  Recht  ableitet,  mit 
Morus  und  Bodinus  für  Toleranz  eintritt  und  u.  a.  auch  Freiheit  des  Verkehrs  zur 
See  fordert,  ein  Vorläufer  des  Hugo  Grotius  geworden. 

Hugo  Grotius  (Huig  de  Groot,  geb.  zu  Delft  1583,  gest.  1645  zu  Rostock) 
hat  sich  theils  durch  die  Schrift:  Mare  liberum  seu  de  jure,  quod  Batavis  competit 
nd  Indica  commercia,  Lugd.  Bat.  1609,  worin  er,  um  den  Niederländern  die  Freiheit 
des  Handels  nach  Ostindien  zu  vindiciren,  die  Grundzüge  des  Seerechts  philosophisch 
entwickelt,  theils  durch  sein  rechtswissenschaftliches  Hauptwerk:  de  jure  belli  et 
pacis,  Paris  1625,  1632  n.  ö.,  ein  bleibendes  Verdienst  um  das  Naturrecht  erworben 
und  das  internationale  oder  Völkerrecht  wissenschaftlich  begründet.  Eine  volle 
Scheidung  zwischen  Moral  und  Recht  ist  bei  Grotius  in  Wahrheit  nicht  durch- 
geführt, wie  schon  aus  der  Deflnition  des  natürlichen  Rechtes  hervorgeht,  welches 
nach  ihm  ein  Gebot  der  Vernunft  ist  und  anzeigt,  dass  einer  Handlung  wegen  ihrer 
Uebereinstimmung  oder  Nichtübereinstimmung  mit  der  vernünftigen  Natur  selbst 
eine  moralische  Notwendigkeit  oder  Hässlichkeit  innewohne.  Wie  bei  dem  Rechte 


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48 


§  8.   Der  zweite  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit. 


der  Personen,  so  unterscheidet  Grotius  auch  bei  dem  der  Völker  oder  dem  inter- 
nationalen Rechte  das  jus  naturale  und  das  jus  voluntarium  (oder  civile);  das 
letztere  beruht  auf  positiven  Bestimmungen,  das  erstere  aber  flieset  mit  Notwendig- 
keit aus  der  menschlichen  Natur.  Unter  dem  jus  divinum  versteht  Grotius  die  Vor- 
schriften im  alten  und  neuen  Testament;  er  unterscheidet  davon  das  Naturrecht  als 
ein  jus  humanum.  Der  Mensch  ist  mit  Vernunft  und  Sprache  begabt,  daher  zum 
Leben  in  der  Gemeinschaft  bestimmt;  was  zum  Bestehen  der  Geraeinschaft  erforder- 
lich ist,  ist  natürliches  Recht  i  und  auch,  was  die  Annehmlichkeit  des  socialen  Lebens 
fördert,  gehört  als  jus  naturale  laxius  zum  Naturrecht  im  weiteren  Sinne).  Aus 
diesem  Geselligkeitsprincip  ergiebt  sich  die  vernunftgemässe  Entscheidung,  mit 
deren  Resultat  das  Herkommen  bei  gesitteten  Völkern  zusammenzutreffen  pflegt, 
welches  in  diesem  Sinne  ein  empirisches  Kriterium  des  natürlichen  Rechtes  ist. 
Die  Staatsgemeinschaft  beruht  auf  freier  Einwilligung  der  Betbeiligten,  also  auf 
Vertrag.  Das  Strafrecht  steht  dem  Staate  nur  insoweit  zu,  als  das  Princip  der 
custodia  societatis  es  fordert,  also  nicht  als  Vergeltung  (quia  peccatum  est),  sondern 
nur  zur  Verhütung  der  Gesetzes- Uebertretungen  durch  Abschreckung  und  Besserung 
(ne  pecceturl  Grotius  fordert  Toleranz  gegen  alle  positiven  Religionen,  Intoleranz 
aber  gegen  die  Leugner  der  auch  von  dem  blossen  Deismus  anerkannten  Sätze  von 
Gott  und  Unsterblichkeit.  Doch  vertheidigt  er  in  seiner  (1619  erschienenen)  Schrift 
de  veritate  religionis  christianae  auch  die  den  Confessionen  gemeinsamen  christ- 
lichen Dogmen. 


Zweiter  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit. 

Die  neuere  Philosophie  oder  die  Zeit  des  ausgebildeten 
Gegensatzes  zwischen  Empirismus,  Dogmatismus  und 

Skepticismus. 

§  8.  Den  zweiten  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neu- 
zeit charakterisirt  der  ausgebildete  Gegensatz  zwischen  Empirismus 
und  Dogmatismus,  neben  welchen  Richtungen  auch  der  Skepti- 
cismus zu  selbständigerer  Entwicklung  als  in  der  Uebergangs- 
periode  gelangt.  Der  Empirismus  ist  die  Einschränkung  der 
Methode  der  philosophischen  Forschung  auf  Erfahrung  und  Combi - 
nation  von  Erfahrungstatsachen  und  des  Bereichs  der  philosophischen 
Erkenntniss  auf  die  durch  diese  Methode  erkennbaren  Objecte,  ohne 
die  philosophischen  Specialdoctrinen  auf  eine  philosophische  Erkennt- 
niss des  absoluten  Princips  zu  basiren.  Der  Dogmatismus  ist  die- 
jenige philosophische  Richtung,  welche  durch  das  Denken  den  ge- 


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§  8.   Der  zweite  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit. 


49 


sainmten  Kreis  der  Erfahrung  und  der  Analoga  der  Erfahrung  über- 
schreiten und  zur  Erkenntniss  des  absoluten  Principe  gelangen  zu 
können  glaubt  und  auf  die  Erkenntniss  des  Absoluten  alle  andere 
philosophische  Erkenntniss  gründet.  Der  Skepticismus  ist  der 
principielle  Zweifel  an  jeder  Gewissheit,  mindestens  an  der  Gültigkeit 
aller  den  Erfahrungskreis  überschreitenden  Sätze  (ohne  dass  von  ihm, 
wie  es  durch  den  kantischen  „Kriticisinus"  geschieht,  vermittelst 
einer  Kritik  der  menschlichen  Erkenntnisskraft  ein  unserer  Vernnnft- 
erkenntniss  unzugängliches  Gebiet  methodisch  abgegrenzt  wird). 

Man  kann  mit  demselben  Rechte  diese  Periode  auch  eharakteri- 
siren  durch  den  Gegensatz  des  Empirismus,  der  alle  Erkenntniss 
ihrem  Ursprung  nach  aus  der  Erfahrung  ableitet,  und  des  Rationa- 
lismus, der  in  der  Vernunft  die  Quelle  aller  Erkenntniss  sieht.  Der 
letztere  deckt  sich  ungefähr  mit  dem  Dogmatismus.  In  diesen  beiden 
Richtungen,  der  empiristischen  und  der  rationalistischen,  zeigt  sich 
überhaupt  der  erkenntnisstheoretische  Charakter  der  neueren 
Philosophie. 

Ueber  die  Philosophie  dieses  Zeitabschnittes  vgl.  ausser  den  betreffenden  Abschnitten 
der  oben  (S.  1 — 2)  angeführten  umfassen  deren  Geschichtswerke,  wie  auch  der  Gesell, 
des  18.  Jahrh.s  von  Schlosser  und  anderen  historischen  Schriften,  insbesondere  no«  h 
Ludw.  Feuerbach,  Gesch.  d.  neuer.  Phil,  von  Bacon  bis  Spinoza,  Ansbach  1833,  2.  Aurl. 
Leipz.  1844,  nebst  dess.  Specialschriften  Aber  Leibniz  und  Bavle.  Damiron,  Essai  sur 
Ihist.  de  la  philos.  au  XVII«  siecle,  Par.  1846;  au  XVIII»  siecle,  Par.  1858—64. 
G.  N.  Roggero,  storia  della  filosotia  da  Cartesio  a  Kant,  Torino  1868  (67).  J.  Tulloch, 
rational  Theology  and  Christian  philosophy  in  England  in  the  1 7th  Century,  2  vols., 
Lond.  1872.  P.  Kannengiesser,  Dogmatismus  und  Skepticismus.  Eine  Abhandl.  üb.  d. 
methodolog.  Problem  in  d.  vorkant.  Philos.,  I.  D.,  Strassburg  1877.  Hans  Ueussler,  d. 
Ratiunalism.  des  17.  J.s  in  s.  Heziehungen  zur  Entwicklungsl.,  Breslau  1855.  Nourissnn, 
Philosophes  de  la  nature.    Bacon,  Bayle,  Toland,  Buffon,  Par.  1887. 

Ueber  die  englische  Philos.  besonders  handelt  Ch.  de  Remusat,  Histoire  de  la  Philo- 
sophie en  Angleterre  depuis  Bacon  jusqu'a  Locke,  T.  I.  u.  II,  Paris  1875. 

Die  ersterwähnten  Begriffsbestimmungen  sind  die  k  antischen.  Diu  Charakte- 
ristik, welche  Kant  von  den  seiner  eigenen  Philosophie  zunächst  vorangegangenen 
philosophischen  Richtungen  gegeben  hat,  erweist  sich  auch  dann  noch  als  historisch 
zutreffend,  wenn  der  philosophische  Standpunkt  Kants  nur  als  relativ  (den  nächst 
vorangegangenen  Richtungen  gegenüber)  berechtigt  und  nicht  als  die  absolute  philo- 
sophische Wahrheit  und  als  der  absolute  Maassstab  der  Würdigung  philosophischer 
Richtungen  gilt.  —  Kants  Kriticismus  schränkt  nicht  die  Krkenntniss  mittel  der 
Philosophie  auf  reine  Empirie,  aber  ihre  Erkenntnissobjecte  auf  den  Erfahrungs- 
kreis ein. 

Allerdings  verfährt  auch  der  Empirismus  »dogmatisch*  in  dem  allgemeineren 
Sinne,  dass  er  auf  der  Zuversicht  beruht,  die  Objecte  seien  unserer  Erkenntniss 
nicht  schlechthin  unzugänglich,  sie  seien  vielmehr  eben  insoweit  erkennbar,  als  die 
Erfahrung  und  die  auf  ihr  fussenden  Schlüsse  und  Combinationen  reichen.  Aber 
darum  fällt  doch  nicht  der  Empirismus  unter  den  Begriff  des  Dogmatismus  in  dem 
oben  näher  bezeichneten  Sinne,  den  mit  diesem  Worte  zu  verknüpfen  seit  Kant  üblich 
ist.  Ebensowenig  trifft  gegen  die  obige  Bezeichnung  der  Einwurf  m,  der  Begriff 
des  Empirismus  sei  zu  enge,  weil  er  nur  auf  die  Richtung  passe,  welche  von 
Bacon  bis  auf  Locke  herrsche;  denn  auch  der  condillacsche  Sensualismus  und 

Ueberweg-Heinxe,  Grundriss  III.  7.  Aufl.  4 


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50  §  9.    Francis  Bacon. 

der  holbachsche  Materialismus  schränken  die  philosophische  Erkenntnis«  nach 
Form  und  Inhalt  auf  Empirisches  ein.  „Realismus*  und  „Idealismus"  aber  sind 
Ausdrucke,  die  zur  Bezeichnung  der  Unterschiede  in  dieser  Periode  sich  nicht  in 
irgend  einem  klar  und  scharf  bestimmbaren  Simie  verwenden  lassen  <  weshalb  auch 
v.  Kirchmann,  ph.  Bibl.,  Bd.  32,  S.  VI,  mit  Recht  sagt,  dass  „die  Principien  des 
Descartea  und  Bacou  nicht  in  dem  Gegensatze  von  Idealismus  und  Realismus  stehen*). 

Der  empiristischen  Richtung  gehören  an:  Bacon,  der  nicht  als  blosser 
Schüler  Bacons  zu  bezeichnende  Hobbes  und  mehrere  ihrer  Zeitgenossen,  Locke 
und  die  an  ihn  mehr  oder  weniger,  sei  es  zustimmend  oder  auch  polemisch,  an- 
knüpfenden englischen  und  schottischen  Philosophen,  der  französische  Sensualismus 
und  Materialismus  des  achtzehnten  Jahrhunderts  und  zum  Theil  auch  die  deutsche 
Aufklärung.  Die  Koryphäen  der  dogmatistischen  sowie  der  rationalistischen 
Richtung  sind:  Cartesius,  Spinoza  und  Leibniz.  Der  Skepticismus  erreicht 
seinen  Höhepunkt  in  Hume.  Der  historische  Zug,  der  sich  in  der  Zeit  des  Huma- 
nismus in  dem  Zurückgehen  auf  die  Alten  so  mächtig  zeigte,  tritt  in  dieser  Periode 
zunick,  und  die  Naturwissenschaft  gewinnt  auch  für  die  Philosophie  namentlich 
in  methodologischer  Beziehung  mehr  und  mehr  an  Bedeutung.  Der  Kampf  gegen 
die  scholastischen  Formen  des  Denkens,  besonders  gegen  den  Syllogismus,  durch 
den  man  ein  neues  Wissen  nicht  erlangen  könne,  wird  von  der  empiristischen  so- 
wohl als  von  der  rationalistischen  Seite  aus  geführt,  und  an  Stelle  der  scholastischen 
Methode  wird  von  der  ersteren  Richtung  die  Induction,  von  der  zweiten  die  mathe- 
matische Deduction  betont. 

Da  die  Philosophen  der  verschiedenen  Richtungen  einen  wechselseitigen  wesent- 
lichen Einfluss  auf  einander  geübt  haben,  so  kann  nicht  wohl  eine  jede  der  Haupt- 
richtungen in  ununterbrochener  Folge  vollständig  für  sich  dargestellt  werden,  sondern 
die  chronologische  Ordnung  ist,  sofern  sie  dem  genetischen  Verhältniss  entspricht, 
die  angemessenere. 

§  9.  Durch  Abstreifung  des  theosophischen  Charakters,  den  die 
Naturphilosophie  in  der  Uebergangsperiode  an  sich  trug,  durch  Ein- 
schränkung ihrer  Methode  auf  Erfahrung  und  Induction  und  durch 
die  Erhebung  der  Grundzüge  dieser  Methode  zum  philosophischen, 
von  der  Gebundenheit  an  irgend  einen  einzelnen  naturwissenschaft- 
lichen Forschungskreis  befreiten  Bewusstsein  ist  Francis  Bacon, 
Baron  von  Verulam  (1561 — 1626),  der  Begründer  —  zwar  nicht  der 
empirisch-methodischen  Naturforschung,  wohl  aber  —  der  empiris ti- 
schen Entwickelungsreihe  der  neueren  Philosophie  geworden. 
Bacons  höchstes  Ziel  ist  die  Erweiterung  der  Macht  des  Menschen 
vermittelst  des  Wissens.  Wie  die  Buchdruckerkunst,  das  Pulver  und 
der  Compass  das  Culturleben  umgestaltet  haben  und  den  Vorzug  der 
Neuzeit  vor  jedem  früheren  Zeitalter  begründen,  so  soll  durch  immer 
neue  und  fruchtreiche  Erfindungen  die  betretene  Bahn  mit  Bewusst- 
sein weiter  verfolgt,  was  diesem  Ziele  dient,  gefördert,  was  von  iht* 
ablenkt,  gemieden  werden.  Religionsstreitigkeiten  schaden.  Die 
Religion  soll  unangetastet  gelassen,  aber  nicht  (nach  der  Weise  der 
Scholastiker)  mit  der  Wissenschaft  vermengt  werden;  die  Einmischung 
der  Wissenschaft  in  die  Religion  führt  zum  Unglauben,   die  Ein- 


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§  9.    Francis  Bacon.  51 

mischung  der  Religion  in  die  Wissenschaft  zur  Phantasterei.  Vom 
Aberglauben  und  von  Vorurtheilen  jeder  Art  muss  der  Geist  befreit 
sein,  um  als  reiner  Spiegel  die  Dinge  so,  wie  sie  sind,  aufzufassen. 
Mit  der  Erfahrung  muss  die  Erkenntniss  anheben,  von  Beobachtungen 
und  Experimenten  ausgehen,  dann  stufenweise  mittelst  der  Induction 
erst  zu  Sätzen  von  geringerer,  dann  zu  Sätzen  von  höherer  Allgemein- 
heit methodisch  fortgehen,  um  endlich  von  diesen  aus  zu  dem  Ein- 
zelnen wieder  herabzusteigen  und  zu  Erfindungen  zu  gelangen,  welche 
die  Macht  des  Menschen  über  die  Natur  erhöhen.  In  der  Bezeich- 
nung wesentlicher  Ziele  und  Mittel  der  Neuzeit,  in  der  kräftigen 
(obschon  einseitigen)  Hervorhebung  des  Werthes  echter,  selbst- 
errungener Naturerkenntniss ,  in  der  Beseitigung  des  scholastischeu 
Ausgehens  von  vermeintlich  unmittelbar  in  der  Vernunft  liegenden 
Begriffen  und  Sätzen  und  der  darauf  basirten,  empirielosen  Streit- 
wissenschaft, und  in  der  Bezeichnung  der  Grundzüge  der  Methode 
empirisch  basirter  inductiver  Forschung  liegt  Bacons  historische  Be- 
deutung. Die  nähere  Ausführung  der  methodischen  Grundsätze  hat 
neben  einzelnem  Bedeutenden  vieles  Verfehlte,  und  die  von  Bacon 
unternommenen  Versuche,  durch  eigene  Naturforschung  die  von  ihm 
auf  ihren  allgemeinsten  philosophischen  Ausdruck  gebrachte  Methode 
zur  praktischen  Anwendung  zu  bringen,  sind  grösstenteils  sehr  un- 
vollkommen und  halten  nicht  den  Vergleich  mit  den  Leistungen 
älterer  und  gleichzeitiger  Naturforscher  aus.  An  Bacon  hat  sich  die 
Einseitigkeit  der  Hochschätzung  der  materiellen  Culturmittel,  die  blosse 
Unterwerfung  unter  traditionelle,  ihm  selbst  äusserlich  bleibende  Dogmen 
und  das  ehrgeizige,  um  den  Werth  der  Mittel  wenig  bekümmerte 
Streben  nach  Macht  durch  Mangel  an  sittlicher  Kraft  und  Würde 
gerächt. 

Barons  Schrift:  de  dignitate  et  augtnentis  scientiarum  ist  in  englischer  Sprache 
unter  dem  Titel:  the  two  book-  of  Francis  Bacon  on  the  proficicnce  and  advancement 
of  learning  divine  and  human,  Lond.  1605,  latein.  (vollständiger  ausgeführt)  ebd.  1623, 
ferner  Lugd.  Bat.  1652,  Argent.  1654  u.  ö.  ersch.,  ins  Deutsche  übers,  v.  Joh.  Herrn. 
Pfingsten,  Pesth  1783.  Im  Jahre  1612  erschien  die  Schrift:  Cogitata  et  visa,  welche 
später  zu  dem  Novnm  Organum  scientiarum  umgearbeitet  wurde,  das  zuerst  Lond.  1620, 
dann  sehr  häufig  erschienen  ist,  neuerdings  auch  Leipz.  1S37  und  1839,  ius  Deutsche 
übers,  v.  G.  W.  Bartholdy  (unvollendet),  Herl.  1793,  v.  Brück,  Leipz.  1830,  und  von 
J.  H.  v.  Kirchmann,  mit  Erläut.,  „ph.  Bibl.",  Berl.  1870.  Die  Essays  moral,  economical 
and  political,  zuerst  1597  erschienen,  haben  neuerdings  u.  a.  W.  A.  Wright,  Lond. 
1862,  Bich.  Whately,  6.  edit.,  London  1864,  F.  Storr  and  C.  H.  Gibson,  Lond.  1885, 
edirt;  in  latein.  Uebersetzung  tragen  sie  den  Titel  Sermone»  fideles.  Kleinere  Schriften 
ins  Deutsche  übers,  u.  erläutert  v.  J.  Fürstenberg,  1884.  Cf.  A  harmony  of  Lord  Bacons 
essays  etc.  (1597 — 1638)  arranged  by  Edw.  Arber,  Lond.  1871.  Die  Werke  Bacons 
sind  gesammelt  durch  William  Rawley,  mit  beigefügter  Lebensbeschreibung  Bacons, 
Amst.  1663  hrsg.  worden,  auch  abgedr.  zu  Frankf.  a.  M.  1665,  vollständiger  von  Mallet, 
gleichfalls  mit  e.  Biogr.  des  Bacon,  Lond.  1740  und  1765  Latein.  Ausg.  der  Werke 
sind  Francof.  1666,  Amst.  1684,  Lips.  1694,  Lugd.  Bat.  1696,  Amst.  1730  ersch.,  eine 
franzos.  v.  F.  Riaux,  Oeuvres  de  Bacon,  Paris  1852.  In  neuerer  Zeit  haben  die  Werke 
edirt:  Montague,  London  1825 — 34,  Henry  G.  Bohn,  London  1846,  und  R.  L.  Ellis, 
J.  Spedding  und  D.  D.  Heath,  London  1857—59,  wozu  als  Ergänzung  (voll.  VIII— Xll 

4* 


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52 


§  9.    Francis  Bacon. 


der  Werke)  gehört:  Lette«  and  Life  of  Fr.  Bacon,  including  all  his  occasional  works, 
newly  collected,  revised  and  «et  out  in  chrunulog.  order,  with  a  comnientary  biugrph. 
and  histor.  by  James  Spedding,  I — VI,  London  1862 — 72.  Auszug  daraus  :  J.  Spedding, 
Account  of  the  life  and  titues  of  Fr.  B.,  2  vols.,  Lond.  1879. 

Von  den  zahlreichen  Schriften  Ober  Bacon  sind  hervorzuheben:  Analyse  de  ia 
Philosophie  du  chancelier  Fr.  B.,  avec  sa  vie,  Leyden  1756  und  1778.  J.  B.  de  Vau- 
zelles,  bist,  de  la  vie  et  des  ouvrages  da  Fr.  B.,  Paris  1833.  Jos.  de  Maistre,  examen 
de  la  phil.  de  B.,  Par.  1836,  7.  ed.,  Lyon  et  Paris  1865,  9.  ed.  ebd.  1873.  Macaulay, 
in:  Edinb.  Review,  1837,  deutsch  von  Bülau,  Leipz.  1850.  John  Campbell,  the  live«  öf 
the  Lord  Chancellors  of  England,  vol.  II,  Lond.  1845,  chap.  51.  M.  Napier,  Lord  B. 
and  Sir  Walter  Raleigh,  Cambridge  1853.  Charles  de  Remusat,  B.,  sa  vie,  son  temps, 
sa  philos.  et  son  influence  jusqu'a  nos  jours,  Par.  1854,  auch  1858  und  1868.  Kuno 
Fischer,  Fr.  B.  von  Verulam,  die  Realphilos.  und  ihr  Zeitalter,  Leipz.  1856,  2.  Aufl., 
1875,  ins  Engl,  übers,  v.  John  Oxenford,  London  1857;  vgl.  J.  B.  Meyer,  B.s  Utilismus 
nach  K.  Fischer,  Whewell  und  Ch.  de  Remusat,  in:  ZUchrft.  f.  Ph.  u.  ph.  Krit.,  N.  F., 
Bd.  36,  1860,  S.  242—247.  C.  L.  Craik,  Lord  B.,  his  writings  and  his  philosophy, 
new  edit.,  Lond.  1860.  H.  Dixon,  the  personal  hist.  of  Lord  B.,  from  unpublishcd 
letters  and  documents,  Lond.  1861,  ein  Versuch  der  Vertheidigmig  des  Charakter!» 
Bacons,  worauf  entgegnet  wird  in  der  Schrift:  Lord  Bacons  life  and  writings,  au  ans  wer 
to  Mr.  H.  Dixons  per»,  hist.  of  L.  B.,  Lond.  1861.  Adolf  Lasson,  Montaigne  u.  Bacon, 
in:  Archiv  f.  neuere  Spr.  u.  Litt.,  XXXI,  259 — 276;  Qber  B.s  Wissenschaft!.  Principien, 
Progr.  d.  Louisenst.  Realsch.  z.  Berlin,  1860.  Just.  v.  Liebig,  üb.  Fr.  B.  v.  Verulam 
u.  d.  Methode  der  Naturforschung,  Münch.  1863.  Lasson  und  Licbig  bekämpfen  {zum 
Theil  nach  dem  Vorgange  von  Brewster,  Whewell  u.  A.)  die  Ansicht,  als  habe  Bacon 
die  Methode  der  modernen  Naturforschung  begründet,  geübt  oder  auch  nur  zutreffend 
bezeichnet.  Was  Beide  an  Bacon  tadeln,  wird  fast  durchgängig  mit  Recht  von  ihnen 
getadelt,  aber  das  Werthvolle,  Bacons  Bekämpfung  der  Scholastik,  Hervorhebung  der 
Bedeutung  der  Naturwissenschaft  für  das  gesammte  Culturleben  und  seine  Bezeichnung 
der  Grundzüge  induetiver  Forschung,  ist  mit  gleichem  Recht  von  Andern  betont  worden. 
C.  Sigwart,  e.  Philosoph  u.  e.  Naturforscher  über  B.,  in  den  preuss.  Jahrb.  Bd.  XII, 
1863,  S.  93—12*.),  vgl.  dessen  Antwort  auf  e.  in  d.  Augsb.  Allg.  Zeitg.  enthalt.  Entgegn. 
Liebigs  in  den  preuss.  Jahrb.  XIII,  1864,  S.  79—89.  Heinrich  Böhmer,  üb.  B.  u.  d. 
Verbindung  d.  Phil.  m.  d.  Naturwiss.,  Erlang.  1864  (1863).  E.  Wohlwill,  B.  v.  V.  und 
d.  Gesch.  d.  Naturwissenschaft,  in:  D.  Jahrb.  f.  Pol.  u.  Litt.,  Bd.  IX,  1863,  S.  383 
bis  415  und  Bd.  X,  1864,  S.  207—244.  Georg  Henry  Lewes  sagt  in  seiner  Schrift 
über  Aristoteles  (London  1864,  deutsch  v.  J.  V.  Carus,  Leipzig  1865,  S.  115):  .so 
grossartig  Bacon  die  verschiedenen  Ströme  des  Irrthums  bis  zu  ihren  Quellen  verfolgt, 
so  wird  er  doch  von  denselben  Strömen  mit  fortgezogen,  sobald  er  die  Stellung  eines 
Kritikers  verlässt  und  die  Ordnung  der  Natur  selbst  zu  untersuchen  unternimmt*. 
Albert  Desjardins,  de  jure  apud  Franciscum  B.,  Par.  1862.  Const.  Schlottmann,  B.s 
Lehre  v.  d.  Idolen  und  ihre  Bedeutung  f.  d.  Gegenwart,  in  Geizers  prot.  Monatsbl., 
Bd.  21,  1863,  S.  73—98.  Tb.  Merz,  B.s  Stellung  i.  d.  Culturgesch.,  ebd.  Bd.  24,  1864, 
S.  166 — 196.  H.  v.  Bamberger,  über  B.  v.  V.  bes.  vom  medie.  Standp.,  Würzburg 
1855.  Ed.  Chaigne  et  Ch.  Scdail,  l'influence  des  travaux  de  B.  d.  V.  et  de  Descartes 
sur  la  marche  de  l  esprit  humain,  Bordeaux  1865.  Karl  Grüninger,  Liebig  wider  Bacon, 
G.  Pr.,  Basel  1866.  Aug.  Dorner,  de  Baconis  philosophia,  diss,  inaug.,  Berolini  1867. 
Pensees  de  Bacon.  Kepler,  Newton  et  Euler  sur  la  relig.  et  la  morale,  rec.  par  Emery, 
Tours  1870.  J.  H.  v.  Kirchmann,  B.s  Leb.  und  Schriften,  in:  philos.  Bibl.  Bd.  32,. 
Berlin  1870,  S.  1 — 26.  P.  Stapfer,  qualis  sapientiae  antiquae  laudator,  qualis  interpres 
Fr.  B.,  extiterit,  thesis,  Par.  1870.  Ders.,  B.  et  l'antiquite,  in:  Biblioth.  univers.  et 
Revue  Suisse,  1871,  XLII,  161—182,  426—458.  Max  Müller,  B.  in  Deutschland,  in 
sein.  Essays,  deutsch  übers,  v.  Fei.  Liebrecht,  Leipz.  1872,  S.  186—201.  A.  E.  Finch^ 
on  the  induetive  philosophy,  including  a  parallel  between  Lord  B.  and  A.  Comte  as 
philosophers,  Lond.  1872.  M.  Walsh,  Lord  Bacon,  Lpz.  1875.  E.  A.  Abbott,  Bacon 
and  Essex.  A  sketch  of  Bacon's  earlier  life,  Lond.  1877.  W.  H.  Laing,  Lord  B.s 
philosophy,  a  criticism,  Lond.  1878.  Angelo  Valdarini,  prineipio,  intendimento  e  storia 
della  classifieazione  delle  umane  conoscenze  secondo  Franc.  Bacone,  2.  ed.,  Firenze 
1880.  Thoni.  Fowler,  Bacon  (Englisch  philosophers),  London  1881.  E.  A.  Abbott, 
Fr.  B.,  an  aecount  of  bis  life  and  works,  Lond.  1885.  Eugen  Reichel,  Wer  schrieb 
das  „Novum  Organon*  von  Francis  Bacon?  Stuttgart  1886. 


§  9.   Francis  Bacon. 


53 


Geboren  am  22.  Januar  1561  zu  London  als  der  zweite  und  jüngste  Sohn  des 
Grosssiegelbewahrers  von  England,  Nicolaus  Bacon,  durch  Studien  in  Cambridge 
und  durch  einen  zweijährigen  Aufenthalt  in  Paris  als  Begleiter  des  englischen  Ge- 
sandten vorgebildet,  widmete  sieb  Francis  Bacon  der  juristischen  Praxis,  ward 
ausserordentl.  Kron-Advocat,  trat  1595  in  das  Parlament,  ward  1604  ordentlicher 
und  besoldeter  Rechtsbeistand  der  Krone,  1617  Grosssiegelbewahrer,  1618  Lord- 
kanzler und  Baron  von  Verulam,  1621  Viscount  von  St.  Albans,  verlor  aber  in 
demselben  Jahre,  durch  das  Parlament  wegen  empfangener  Bestechungen  verurtheilt. 
seine  sämmtlichen  Aemter  und  lebte  dann  in  der  Zurückgezogenheit.  Er  starb  xu 
Highgate,  dem  Schloss  des  Grafen  Arundel  bei  London,  am  9.  April  1626  an  den 
Folgen  einer  Erkältung,  die  er  sich  beim  Ausstopfen  eines  Huhns  mit  Schnee,  um 
die  Wirkung  auf  die  Verzögerung  der  Fäulnisa  zu  beobachten,  zugezogen  hatte. 
Bacon  war  von  wirklicher  Liebe  zur  Wissenschaft  erfüllt;  aber  noch  mächtiger  war 
In  ihm  der  politische  Ehrgeiz  und  die  Prachtliebe.  Er  war  kein  grosser  und  reiner 
Charakter,  doch  sind  oft  die  Anschuldigungen  gegen  ihn  überspannt  worden.  Die 
Anklage  gegen  den  Grafen  Essex,  seinen  früheren  Gönner,  zu  erheben,  nachdem 
dieser  sich  in  verrätherische  Verhandlungen  mit  König  Jakob  von  Schottland  gegen 
.  Elisabeth  eingelassen  hatte,  war  er  als  Kron-Advocat  amtlich  verpflichtet.  Es  ist 
nicht  zu  rechtfertigen,  dass  Bacon  als  Oberrichter  Geschenke  seitens  der  Parteien 
und  als  Lord-Kanzler  seitens  der  Bewerber  um  Pateute  und  Licenzen  angenommen 
hat.  Er  hat  sich  in  seiner  schriftlichen  Antwort  auf  die  ihm  vom  Oberhause  im 
April  1621  zugestellte  Anklage-Acte  bei  sämmtlichen  28  Punkten  derselben  als 
schuldig  bekannt,  jedoch  nur  in  dem  Sinn,  dass  er  die  Geschenke  stets  erst  nach 
entschiedener  Sache  erhalten  habe,  was  durchgängig  wahr  zu  sein  scheint,  und  dass 
er  (was  freilich  bezweifelt  werden  mag)  durch  die  Erwartung  derselben  sich  niemals 
zu  einer  parteiischen  Entscheidung  habe  verleiten  lassen.  Die  Annahme  solcher  Ge- 
schenke fand  freilich  damals  so  häufig  statt,  dass  durch  den  herrschenden  Missbrauch 
die  Schuld  des  Einzelnen  zwar  keineswegs  aufgehoben  wird,  aber  doch  als  gemindert 
erscheint;  denn  ein  gerechtes  sittliches  Urtheil  wird  nur  gewonnen,  wenn  nicht  bloss 
die  absolute  Norm,  sondern  auch  das  Durchschnittsmaass  des  sittlichen  Verhaltens 
der  Zeitgenossen  in  Betracht  gezogen  wird. 

Das  Ziel  bei  Bacons  Philosophiren  ist  ein  durchaus  praktisches.  Nicht  für 
eine  Schule,  nicht  für  beliebige  Ansichten  will  er  arbeiten  sondern  für  den  Nutzen 
und  die  Grösse  der  Menschheit  sucht  er  neue  Grundlagen.  Der  Mensch  muss  so 
viel  als  möglich  wissen,  um  die  Herrschaft  über  die  Aussenwelt  zu  erwerben. 
Wissenschaft  und  Macht  fallen  so  zusammen.  Tantum  possumus  quantum  seimus. 
Sein  Plan  einer  Neugestaltung  der  Wissenschaften  umfasst  zuvörderst  die  allge- 
meine Umschreibung  des  Gebietes  der  Wissenschaften  (des  globus  intellectualis,  es 
soll  bei  jeder  Wissenschaft  gezeigt  werden,  was  sie  noch  zu  wünschen  übrig  lasse)! 
dann  die  Methodenlehre,  endlich  die  Darstellung  der  Wissenschaften  selbst  und 
ihrer  Auwendung  zu  Erfindungen.  Demgemäss  beginnt  das  Gesammtwerk,  dem 
Bacon  den  Titel  Instauratio  magna  gegeben  hat,  mit  der  Schrift  De  dignitate 
et  augmentis  scientiarum;  daran  schliefst  sich  als  zweiter  Haupttheil  das 
Novum  Orgauon.  Zu  der  Darstellung  der  Naturgeschichte  aber  (die  dem  Bacon 
als  verae  induetionis  supellex  sive  sylva  gilt)  und  zu  der  Naturerklärung,  wie  auch 
zu  einem  Verzeichniss  der  schon  gemachten  Erfindungen  und  einer  Anleitung  zu 
neuen,  hat  Bacon  nur  einzelne  Beiträge  geliefert.  Zur  Naturgeschichte  gehört  ins- 
besondere die  erst  nach  seinem  Tode  von  seinem  Secretair  William  Rawley  ver- 
öffentlichte Sylva  sylvarum  (Sammlung  mehrerer  Materialiensammlungen)  sive  historia 
naturalis,  zur  Naturerklärung  seine  Theorie  der  Wärme,  die  eine  Art  der  Bewegung 
sei  (nämlich  expansive  Bewegung,  aufwärts  strebend,  durch  die  kleineren  Theile 


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§  9.   Francis  Bacon. 


des  Körpers  sich  erstreckend,  gehemmt  und  zurückgetrieben,  mit  einer  gewissen 
Schnelligkeit  erfolgend). 

Die  Eintheilung  der  Wissenschaften  beruht  bei  Bacon  auf  einem  psychologischen 
Princip.  So  viele  seelische  Kräfte  die  wirkliche  Welt  vorstellen  können,  in  so 
viele  Haupttheile  zerfällt  das  Gesammtbild  des  Universums.  Auf  das  Gedächt- 
nis» gründet  sich  nach  Bacons  Ansicht  die  Geschichtskunde,  auf  die  Einbil- 
dungskraft die  Poesie,  auf  den  Verstand  die  Philosophie  oder  die  eigent- 
liche Wissenschaft.  Die  Gesehichtskunde  theilt  Bacon  in  die  historia  civilis  und 
naturalis  ein;  bei  jener  bezeichnet  er  namentlich  die  Literaturgeschichte  und  die 
Geschichte  der  Philosophie  als  Desiderata.  Die  Poesie  theilt  er  in  die  epische, 
dramatische  und  allegorisch  didaktische  ein.  Die  Philosophie  geht  auf  Gott,  den 
Menschen  und  die  Natur.  Philosophiae  objectum  triplex:  Dens,  natura  et  homo; 
percutit  autem  natura  intellectum  nostrum  radio  directo,  Deus  autem  propter  medium 
inaequale  radio  tantum  refracto,  ipse  vero  homo  sibimet  ipsi  monstratnr  et  exhibetur 
radio  reflexo.  Sofern  die  Erkenntnis»  Gottes  aus  der  Offenbarung  fliesst,  ist  sie 
nicht  ein  Wissen,  sondern  ein  Glauben.  Dass  Gott  existirt,  kann  allerdings  aus 
der  Natur  erkannt  werden,  und  so  reicht  die  natürliche  oder  philosophische  Theologie 
zur  Widerlegung  des  Atheismus  aus,  da  die  Erklärung  aus  physischen  Ursachen 
der  Ergänzung  durch  die  Zuflucht  zur  göttlichen  Vorsehung  bedarf.  Bacon  sagt 
(de  augm.  sc.  I,  5):  leves  gustus  in  philosophia  movere  fortasse  ad  atheismum,  sed 
pleniores  haustus  ad  religionem  reducere.  Die  dem  Christentum  eigenthümlichen 
Wahrheiten  sind  freilich  nicht  durch  Vernunft  zu  finden,  und  Glauben  und  Wissen 
werden  scharf  von  einander  getrennt.  Der  Sieg  des  Glaubens  ist  um  so  glänzender, 
wir  erweisen  Gott  um  so  mehr  Ehre,  je  ungereimter  ein  göttliches  Geheimniss  ist. 
das  wir  als  wahr  annehmen.  Wir  finden  demnach  bei  Bacon  die  Lehre  von  der 
zweifachen  Wahrheit  gebilligt  Ebenso  wie  Gott  ist  nach  Bacon  auch  der  von 
Gott  dem  Menschen  eingehauchte  Geist  (epiraculum)  wissenschaftlich  nicht  erkenn- 
bar; nur  die  physische  Seele,  die  ein  dünner,  warmer  Körper  ist,  ist  ein  Object 
wissenschaftlicher  Erkenntniss.  Die  Begriffe  und  Sätze,  welche  allen  Theilen  der 
Philosophie  gleichmässig  zum  Grunde  liegen,  wie  die  Begriffe  Sein  und  Nicht- 
sein, Aehnlichkeit  und  Verschiedenheit,  das  Axiom  von  der  Gleichheit  zweier 
Grössen,  die  einer  dritten  gleich  sind,  entwickelt  die  philosophia  prima  oder 
scientia  universalis.  Die  Naturphilosophie  geht  theils  auf  die  Erkenntniss,  theils 
auf  die  Anwendung  der  Naturgesetze,  ist  demnach  theils  speculativ,  theils  operativ. 
Die  upecnlative  Naturphilosophie  ist  Physik,  sofern  sie  die  wirkenden  Ursachen, 
Metaphysik,  Bofern  sie  die  Zwecke  betrachtet.  An  die  Stelle  der  causae  efficientes 
im  einzelnen  Fall  sollen  nicht  die  causae  finales  treten,  aber  schliesslich  muss  die 
Natur  doch  teleologisch  erklärt  werden,  da  durch  blosses  Znsammentreffen  von 
Atomen  ohne  voraussehenden  Verstand  die  Welt  nicht  gebildet  sein  kann.  Die 
operative  ist  als  Anwendung  der  Physik  Mechanik,  als  Auwendung  der  Metaphysik 
natürliche  Magie.  Die  Mathematik  ist  eine  Hilfswissenschaft  der  Physik.  Die 
Astronomie  soll  nicht  bloBs  die  Erscheinungen  und  Gesetze  mathematisch  construiren, 
sondern  auch  physikalisch  erklären.  (Zur  Erfüllung  der  letzten  Forderung  versehloss 
ihr  freilich  Bacon  dnrch  Verwerfung  des  copernicanischen  Systems,  das  er  für  einen 
abenteuerlichen  Einfall  hielt,  und  durch  Unterschätzung  der  Mathematik  den  Weg.) 
Die  philosophische  Lehre  vom  Menschen  betrachtet  denselben  theils  als  Einzelneu, 
theils  als  Glied  der  Gesellschaft;  sie  ist  demnach  theils  Anthropologie  (philosophia 
humana),  theils  Politik  (philosophia  civilis).  Die  Anthropologie  geht  theils  auf 
den  menschlichen  Leib,  theils  auf  die  menschliche  Seele.  Die  Seelenlehre  be- 
trachtet zunächst  die  Empfindungen  und  Bewegungen  und  ihr  gegenseitiges  Ver- 
hältuis8.   Bacon  schreibt  allen  Körperelementen  Perceptionen  zu,  die  sich  durch 


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§  9.    Francis  Bacon. 


55 


Anziehaugen  und  Abstossungen  bekunden;  die  (bewusstcn)  Empfindungen  der  Seele 
unterscheiden  sich  von  den  blossen  Perceptionen ;  er  will,  das«  die  Natur  und 
der  Grund  dieses  Unterschieds  genauer  untersucht  werde.  Hieran  sehlieast  sich 
die  Logik  als  die  Lehre  von  der  auf  die  Wahrheit  gerichteten  Erkenntniss  und 
die  Ethik  als  die  Lehre  von  dem  auf  das  Gute  (das  individuelle  und  das  Gemein- 
wohl) gerichteten  Willen.  Logica  ad  illuminationis  puritatem,  ethica  ad  liberae 
voluntatis  directionem  servit.  —  Ut  manus  instrumentum  instrumentorum,  et  an  im» 
humaua  forma  est  formarum,  sie  istae  duae  scientiae  reliquarum  omnium  sunt 
claves.  Die  Ethik  geht  auf  die  bouitas  interna,  die  Politik  (philosophia  civilis) 
auf  die  bouitas  externa  in  conversationibus,  negotiis  et  regimine  sive  imperio. 
Bacon  will  die  Politik  von  Staatsmännern,  nicht  von  blossen  Schulphilosophen,  noch 
auch  vou  einseitigen  Juristen  behandelt  wissen. 

Die  Methodenlehre  entwickelt  Bacon  in  dem  Novum  Organon.  Er  will 
zeigen,  wie  zur  Erkenntniss  der  Naturgesetze  zu  gelangen  sei,  dereu  Auwendung 
die  Macht  des  Menschen  über  die  Natur  erweitere.  Ambitio  (sapientis)  reliqnll 
sanior  atque  augustior  est:  humani  generis  ipsins  potentiam  et  imperium  in  rerum 
universitatetn  instaurare  et  amplificare  conari  artibus  et  scientiis,  cujus  qnidem 
potentiae  et  imperii  usum  sana  deinde  religio  guberuet.  —  Pbysici  est,  non  dispu- 
tando  adversarium,  sed  naturara  operando  vincere.  Die  Wissenschaft  ist  das  Ab- 
bild der  Wirklichkeit.  Scientia  nihil  aliud  est,  quam  veritatis  imago:  nam  veritas 
essendi  et  veritas  cognoscendi  idem  sunt,  nec  plus  a  se  invicem  differuut,  quam 
radius  directus  et  radius  reflexus.  —  Ea  demum  est  vera  philosophia,  quae  mundi 
ipsius  voces  quam  fidelissime  reddit  et  veluti  dictante  mundo  conscripta  est,  nec 
quidquam  de  proprio  addit,  sed  tantum  iterat  et  resonat. 

üm  die  Natur  getreu  zu  iuterpretiren ,  muss  der  Mensch  sich  zuvorderst  der 
Idole  (Trugbilder)  entledigen,  d.  h.  der  falschen  Vorstellungen,  die  nicht  aus  der 
Natur  der  zu  erkennenden  Objecte,  soudern  nur  aus  seiner  eigenen  geflossen  sind. 
Die  in  der  Nutur  eines  jeden  Menschen  begründeten  trügerischen  Vorstellungs- 
weisen (insbesondere  die  Anthropomorphismen),  z.  B.  die  Ersetzung  der  causae 
efficientes  durch  causae  finales  in  der  Physik,  nennt  Bacon  idola  tribus,  die  iu  der 
Eigenthümlichkeit  Einzelner  wurzelnden  idola  specus  (der  Höhle,  in  welche  das 
Licht  nur  unvollkommen  eindringt),  die  durch  den  menschlichen  Verkehr  mittelst 
der  Sprache  verursachten  idola  fori,  die  auf  Ueberlieferung  beruhenden  idola 
theatri.  Die  Lehre  von  den  Idolen  hat  iu  Bacons  neuem  Organon  eine  ähnliche 
Bedeutung  wie  bei  Aristoteles  die  Lehre  von  den  Trugschlüssen;  die  Lehre  von 
den  , idola  tribus-  antieipirt  in  gewissem  Maasse  den  Grundgedanken  vou  Kants 
Vernunftkritik. 

Der  von  den  Idolen  gereinigte  Verstand  muss,  um  zur  Naturerkenntniss  zu 
gelangen,  auf  Erfahrung  fussen,  aber  nicht  auf  blosse  Erfahrungen  sich  einschränken, 
sondern  methodisch  dieselben  combinireu.  Wir  sollen  weder,  wie  die  Spinnen 
ihre  Fäden  aus  sich  ziehen,  bloss  aus  uns  unsere  Gedanken  schöpfen,  noch,  wie  die 
Ameisen,  bloss  sammeln,  sondern,  wie  die  Bienen,  sammeln  und  verarbeiten.  Es 
sind  zuerst  durch  Beobachtungen  und  Versuche  Thatsachen  zu  coustatireu,  dann 
sind  diese  übersichtlich  zu  ordnen,  endlich  ist  mittelst  gesetzmäßiger  und  wahrer 
Induction  von  den  Experimenten  zu  Axiomen,  von  der  Erkenntniss  der  That- 
sachen zu  der  Erkenntniss  der  Gesetze  fortzuschreiten.  Diejenige  Induction,  welche 
Aristoteles  und  die  Scholastiker  lehrten,  bezeichnet  Bacon  als  induetio  per  euume- 
rationem  simplicem;  ihr  fehle  der  methodische  Charakter  (den  freilich  auch  Bacon 
mehr  erstrebt,  als  wirklich  erreicht).  Neben  den  positiveu  Instanzen  sind  die 
negativen  zu  berücksichtigen,  ferner  die  Gratlunte rschiede  zu  bestimmen;  die  Fälle 
von  entscheidender  Bedeutung  sind  als  prärogative  Instanzen  vorzugsweise  zu  be- 


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§  10.    Hobbes  und  andere  englische  Philosophen  seiner  Zeit. 


achten;  von  dem  Einzelnen  ist  nicht  sofort  zum  Allgemeinsten  gleichsam  im  Flage 
hinzueilen,  sondern  erst  zu  den  mittleren  Sätzen,  den  Sätzen  von  geringerer  Allge- 
meinheit, aufzusteigen,  die  gerade  die  fruchtbarsten  sind.  Obwohl  Bacon  auch  den 
Rückweg  von  den  Axiomen  zu  neuen  Experimenten,  insbesondere  zu  Erfindungen, 
fordert,  so  hält  er  doch  den  Syllogismus  (in  welchem  Aristoteles  das  methodische 
Mittel  der  Deduction  erkannt  hat)  nicht  hoch;  derselbe  reiche,  meint  Bacon,  an  die 
Feinheit  der  Natur  nicht  heran  und  diene  mehr  den  Disputationen  als  der  Wissen- 
schaft. Diese  Verkennung  des  wissenschaftlichen  Werthes  des  Syllogismus  hängt 
mit  Bacons  Unterschätzung  der  Mathematik  aufs  Engste  zusammen.  Die  Theorie 
der  Induction  hat  Bacon  wesentlich  gefordert,  obschon  nicht  vollständig  und  rein 
durchgeführt;  die  Lehre  von  der  Deduction  aber  ist  bei  ihm  nicht  zu  ihrem  Rechte 
gelangt.  In  der  Hochschätzung  des  Experiments  ist  Bacon  besondere  dem  Telesius 
gefolgt. 

Bacon  hält  dafür,  dass  nach  seiner  Methode  nicht  nur  die  Naturwissenschaft, 
sondern  auch  die  Moral  und  Politik  zu  begründen  sei,  ist  jedoch  auf  diese  letztere 
Aufgabe  nicht  in  zusammenhängender  Lehrcntwickelung,  sondern  nur  durch  geist- 
reiche Aphorismen  eingegangen,  in  denen  er  häufig  an  Montaigne  sich  anschliesst. 
Allerdings  hebt  er  schon  als  die  Haupttriebfedern  des  menschlichen  Handelns  das 
Streben  nach  dem  eigenen  Wohl  und  das  nach  dem  Gesammtwohl  hervor  und  scheint 
das  letztere  als  die  eigentliche  Quelle  des  Sittlichen  anzusehen,  so  dass  er  hiermit 
die  Richtung  späterer  englischer  Ethiker  schon  angegeben  hätte.  Ebenso  legt  er 
Werth  auf  das  Studium  der  Affecte  und  spricht  den  Satz  schon  aus,  der  dann 
durch  Spinoza  bekannter  wurde,  dass  ein  Affect  nur  durch  einen  Aflect  zu  be- 
herrschen sei.  Einen  Versuch  naturgesetzlicher  Auffassung  des  Staates  hat  Bacons 
jüngerer  Zeitgenosse  und  Freund,  Thomas  Hobbes,  gemacht. 

§  10.  Nicht  sowohl  im  Anschluss  an  Bacons  Prinoipien,  als  viel- 
mehr an  Galileis  Physik,  lehrt  der  mit  Bacon  befreundete  Hobbes 
(1588  —  1679)  einen  consequenten  Sensualismus,  bezeichnet  zwar  die 
Philosophie  als  Körperlehre,  da  auch  der  Staat  ein  künstlicher  Körper 
ist,  nähert  sich  aber  mehr  als  dem  Materialismus  der  Lehre,  dass  wir 
nur  Phänoineua  erkennen,  indem  er  die  Emptinduugsqualitäteu  als 
subjectiv  ansieht.  Auch  auf  das  Gebiet  der  Psychologie  wendet  er 
die  mechanische  Causalität  an.  Von  der  Naturerklärung  werden  alle 
Zwecke  fern  gehalten.  Alles  Geschehen  ist  Bewegung.  Das  Princip 
der  Ethik  ist  Selbstsucht,  die  Begriffe  „gut"  und  „schlecht"  haben 
nur  relative  Geltung.  Am  bekanntesten  sind  Hobbes'  politische 
Theorien,  nach  welchen  der  Staat  auf  unbedingter  Unterwerfung  der 
Handlungen  und  selbst  der  Gesinnungen  unter  den  Willen  eines  ab- 
soluten Monarchen  beruht.  In  der  Gewaltherrschaft  desselben  findet 
Hobbes,  unter  Verkennung  der  Kraft  des  politischen  Gemeinsinues, 
der  die  Vereinigung  von  Freiheit  und  Einheit  ermöglicht,  das  einzige 
Mittel  zum  Heraustreten  aus  dem  Naturzustande,  dem  Kampf  Aller 
gegen  Alle.  Des  Hobbes  älterer  Zeitgenosse  Herbert  von  Ch erb ury 
begründet  einen  aus  den  positiven  Religionen  eine  allgemeine  oder 
Naturreligion  abstrahlenden  und  in  dieser  allein  das  Wesentliche  der 
Religion  erkennenden  Rationalismus. 


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§  10.   Hobbes  and  andere  englische  Philosophen  seiner  Zeit. 


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In  der  nächstfolgenden  Zeit  herrscht  unter  den  englischen  Philo- 
sophen, namentlich  in  der  Cambridger  Schule,  ein  erneuter  Piato- 
ni smus  vor,  der  sich  von  der  aristotelischen  Scholastik  ebensowohl 
wie  von  dem  hobbesschen  Naturalismus  entfernt,  dem  Mysticismus 
aber  und  zum  Theil  auch  dem  Cartesianismus  befreundet  ist.  Er  bildet 
mit  dem  Naturalismus,  den  er  selbst  heftig  bekämpft,  die  Opposition 
gegen  den  religiösen  Dogmatismus  der  Puritaner  und  vertritt  das 
intellectualistische  oder  rationalistische  Princip.  Der  vorzüglichste 
Repräsentant  dieser  Richtung  ist  Ralph  Cudworth.  Einzelne,  wie 
Joseph  Glanville,  huldigen  in  der  Wissenschaft  dem  Skepticismus, 
um  den  religiösen  Glauben  gegen  jeden  Angriff  zu  sichern. 

Die  Schriften  des  Hobbes  sind  lateinisch  in  einer  durch  ihn  selbst  veranstalteten 
Sammlung  Am-t  1668  erschienen;  die  erste  engl.  Gesamintausg.  seiner  moral.  u.  polit. 
Werke  Lond.  1750.  Opp.  philosophica,  quae  latine  scripsit,  ed.  Moleswurth,  5  vol. 
Lond.  18:}!)— 1845,  und  Englisli  Works,  edited  by  Molesworth,  10  vol.,  in  vol.  XI  In  lex, 
Lond.  1839 — 45.  Notizen  über  das  Leben  des  Hobbes  finden  sich  theils  in  seinen 
eig.  Schriften,  insb.  in  seiner  Selbstbiogr.  (fhe  life  of  Thomas  Hobbes,  wriiten  by  him- 
self  in  a  latin  poem  and  translated  into  etiRlish,  Lond.  16*0),  theils  in  dem  von  Radulph 
Bathurst  herausgegebenen  Sammelwerk:  Th.  H.  Angli  Malmesburicnsis  vita,  C'arohpoli 
apud  Eleutherius  Anglicum  1681.  Ueber  Hobbes'  Leb.  u.  Schriften  und  Lehre  handeln 
besonders  Buhle,  Gesch.  d.  neuer.  Philo».,  Bd.  III,  Gott.  1802,  S.  '223— 325  u.  Charles 
de  Remusat  in:  Revue  des  deux  mondes,  T.  88,  p.  162 — 187.  Eine  Monographie  über 
Hobbes'  Staatstheorie,  virfasst  von  Heinr.  Nuscheier,  hat  Kym,  Zürich  1865.  heraus- 
gegeben. F.  Tönnies,  Anmerkungen  üb.  die  Philo«,  des  Hobbes,  4  Artikel,  in:  Viertel- 
jahrsschr.  f.  wissenseh.  Ph.  1879 — 1881.  (T.  sucht  namentlich  die  Eutwickclung  von 
Hobbes  nachzuweisen.)  V.  Jeanvrot,  de  l'origine  et  des  principe«  des  lois  d'apres  Th. 
H,  Par.  1881.  V.  Mayer,  Th.  H.  Darstell.  u.  Kr.  seiner  philo«.,  Staatsrecht!,  und 
kirchenpolit.  Lehren,  Freib.  i.  Br.  1886.  George  Croora  Robertson,  Hobbes  (philos. 
das«.  —  ed.  by  W.  Knight.  vol.  X),  Edinb.  and  London  1886.    Beruh.  Gühne,  über 

H.  's  naturwissenschaftl.  Ansichten  u.  ihren  Zusammenh.  mit  der  Naturphil,  seiner  Zeit, 

I.  D.,  Lpz.  1886.    F.  Tonnies,  Leibniz  u.  IL,  in:  Philos.  Monatsh.  1887,  S.  557-573. 

Geboren  am  5.  April  1588  zu  Malmesbury  als  Sohn  eines  Laudgeistlichen, 
studirte  Thomas  Hobbes  in  Oxford  insbesondere  die  aristotelische  Logik  und 
Physik  and  eignete  sich  die  nominalistische  Doctrin  an.  In  seinem  zwanzigsten 
Lebensjahre  ward  er  Erzieher  und  Gesellschafter  in  dem  Hause  des  Lord  Cavendish, 
nachmaligen  Grafen  von  Devonshire,  nahm  an  Reisen  nach  Frankreich  und  Italien 
theil;  nach  der  Rückkehr  hatte  er  mit  Bacon  Verkehr.  Im  Jahre  1628  übersetzte 
er  den  Thukydides  ins  Englische,  in  der  ausgesprochenen  Absicht,  von  der  Demo- 
kratie abzuschrecken.  Bald  hernach  studirte  er  in  Paris  Mathematik  und  Natur- 
wissenschaften, worin  er  später  den  nachmaligen  König  Karl  II.  unterrichtete;  in 
Paris  Btand  er  mit  Gossendi  und  mit  dem  Franciscanerrnönche  Merseune  in  bestän- 
digem Verkehr.  Hobbes  bat  die  Lehren  des  Copernicus,  Kepler,  Harvey  und 
namentlich  des  Galilei,  welchen  letzteren  er  auch  1636  höchst  wahrscheinlich  besuchte, 
nach  ihrem  vollen  Werthe  zu  schätzen  gewasst.  Kurze  Zeit  vor  dem  Beginn  des 
langen  Parlaments  (1640)  verfasste  er  in  England  die  Schrift:  Elements  of  law 
natural  and  politic,  ohne  jedoch  dieselbe  sofort  erscheinen  zu  lassen.  Sie  wurde 
wider  sein  Wissen  von  einigen  seiner  Verehrer  zehn  Jahre  später  als  zwei  getrennte 
Werke  unter  den  Titeln:  Human  nature  und  De  corpore  politico,  veröffentlicht,  so 
auch  noch  in  der  letzten  Ausgabe  seiner  Schriften.  In  Paris  entstanden  die  Haupt- 
werke: Elementa  philos.  de  cive,  zuerst  Paris  1642,  dann  erweitert  1647  zu  Amster- 
dam gedruckt  (ins  Französische  durch  Sorbiere  übersetzt  1649;  deutsch  von 
J.  H.  v.  Kirchmnun,  Lpz.  1873),  und  Leviathan  or  the  matter,  form  and  authority 


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§  10.   Hobbes  und  andere  englische  Philosophen  seiner  Zeit. 


of  government,  Lond.  1651,  lateln.  Amst  1668,  deutsch  Halle  1704-95.  Nach 
England  kehrte  Hobbes,  durch  den  Leviathan  mit  Katholiken  und  Protestanten 
verfeindet,  1652  zurück.  In  London  erschienen  die  schon  erwähnten  zwei  Schrifteu, 
ferner:  Qnaestiones  de  libertate,  necessitate  et  casu,  1656;  Elcmentoram  philosophiae 
Sectio  prima:  de  corpore,  englisch  London  1655,  Sectio  secunda:  de  homine,  englisch 
London  1658,  beide  Sectionen  lateinisch  Amst.  1668  (in  der  von  Hobbes  selbst  ver- 
anstalteten Sammlang  seiner  Schriften);  die  Sectio  tertia  ist  das  Werk  de  cive. 
Hobbes  starb  zu  Hardwioke  am  4.  December  1679. 

Hobbes  defiuirt  die  Philosophie  als  die  Erkcuntniss  der  Wirkungen  oder 
der  Phänomene  aus  den  Ursachen  und  andererseits  der  Ursachen  aus  den  beobach- 
teten Wirkungen  vermittelst  richtiger  Schlüsse;  ihr  Ziel  liegt  darin,  daas  wir  die 
Wirkungen  voraussehen  und  von  dieser  Voraussicht  Gebrauch  im  Leben  machen 
könuen.  Hobbes  kommt  demnach  mit  Bacon  in  der  Annahme  einer  praktischen 
Abzweckung  der  Philosophie  überein,  bat  aber  mehr  die  politische  Anwendung  als 
technische  Erfindungen  im  Auge;  er  theilt  Hacons  mechanistische  Weltansicht  und 
fusst  auf  Erfahrung,  will  aber  im  Unterschiede  von  Bacon  ebensowohl  wie  die 
methodus  resolutiva  sive  analytica  auch  die  methodus  compositiva  sive  synthetica, 
deren  Werth  er  besondere  durch  seine  mathematischen  Studien  erkannt  hatte,  in  der 
Philo  sophie  zur  Anwendung  gebracht  wissen  (s.  Galilei,  ob.  S.  40  f.).  Gegenstand 
der  Philosophie  ist  jeder  Körper.  Den  Begriff  des  Körpers  aber  fasst  Hobbes 
als  identisch  mit  dem  der  Substanz;  eine  unkörperliche  Substanz  ist  ihm  ein  Un- 
ding. Wird  dagegen  gesagt,  Gott  existire  doch  und  sei  Geist,  so  antwortet  Hobbes 
darauf,  Gott  sei  kein  Object  der  Philosophie,  und  ausserdem  habe  es  Behr  fromme 
Männer  gegeben,  die  Gott  Körperlichkeit  zugesprochen  hätten.  Die  Körper  sind 
natürliche  oder  künstliche,  unter  den  letzteren  ist  der  Staatskörper  (Staatsorgauismus) 
der  wichtigste.  Die  Philosophie  ist  hiernach  theils  natural,  theils  civil  philosophy. 
Den  Ausgang  nimmt  Hobbes  von  der  philosophia  prima,  die  sich  ihm  auf  einen 
Inbegriff  von  Definitionen  der  Fundamcntalbegriffe ,  wie  Raum  und  Zeit,  Ding  und 
Qualität,  Ursache  und  Wirkung,  reducirt.  Hieran  schliesst  sich  die  Physik  und 
Anthropologie  an,  dann  folgt  die  Politik. 

Die  Körper  bestehen  aus  kleinen  Theilen,  die  jedoch  nicht  als  schlechthin 
untheilbar  zu  denken  sind.  Es  giebt  nicht  eine  durchaus  unbestimmte  Materie; 
der  allgemeine  Begriff  der  Materie  iBt  eine  blosse  Abstraction  von  den  bestimmten 
Körpern.  Hobbes  reducirt  alle  realen  Vorgänge  auf  Bewegungen.  Was  Anderes 
bewegt,  muss  auch  selbst  bewegt  sein,  mindestens  in  seinen  kleinen  Theilen,  deren 
Beweguug  sich  zu  entfernten  Körperu  nur  durch  Medien  fortpflanzen  kaun,  eine 
unmittelbare  Wirkung  in  die  Ferne  giebt  es  nicht.  Die  Sinne  der  Thiere  und 
Menschen  werden  durch  Bewegungen  afficirt,  die  sich  nach  innen  zum  Gehirn,  von 
da  zum  Herzen  fortpflanzen;  vom  Herzen  geht  daim  eine  Rückwirkung  aus,  welche 
Rückbewegung  und  Empfindung  ist.  Die  Empfiudungsqualitäten  (Farben, 
Touempfindungen  etc.)  sind  demnach  als  solche  nur  in  den  empfindenden 
Wesen.  Das,  was  man  sinnliche  Eigenschaften  nennt,  sind  nichts  als  Modificationen 
des  afficirteu  Subjects.  So  heisseu  sie  denn  mit  Recht  ideae,  phaenomena.  Auch 
Undurchdringlichkeit,  Ausdehnung  sind  ihm  bisweilen  nur  unwirkliche  Accidentien 
der  Körper,  ja  in  der  Schrift  de  corpore  erklärt  er  das  Bewegtsein  auch  für  ein 
Accidena,  so  dass  von  der  Wirklichkeit  ausser  uns  nichts  übrig  bliebe  als  der 
blosse  Begriff  eines  Körpers  oder  einer  Substanz,  als  das  letzte,  um  überhaupt 
noch  Dinge,  die  für  sich  existiren,  bestehen  zu  lassen.  In  der  Regel  sieht  aber 
Hobbes  die  Bewegung  als  etwas  Reales  an,  und  er  erklärt  zwar  den  Raum  als: 
Phantasma  rei  existentis,  quatenus  existentis,  i.  e.  nullo  alio  eius  rei  accidente 
considerato  praeterquam  quod  apparet  extra  imaginantem,  aber  diese  subjective 


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§  10.   Hobbes  und  andere  englische  Philosophen  seiner  Zeit. 


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Vorstellung  ist  doch  dorch  die  im  Raum  wirklich  existirenden  Dinge  vermittelst 
sinnlicher  Wahrnehmung  hervorgebracht:  nur  sind  wir  im  Stande,  von  der  besondern 
Qualität  dieser  Dinge  abzusehen  und  das  Allgemeine  des  Ausserunsseins  uns  vorzu- 
stellen. Wahrnehmung  oder  Empfindung  haben  wir  nur,  wenn  auf  die  Wirkung 
des  äusseren  Gegenstandes  der  Sinn  reagirt;  diese  Reaction  hat  aber  mit  den  Be- 
wegungen im  Gegenstande  oder  gar  mit  dem  Gegenstande  Belbst  gar  keine  Aehn- 
lichkeit.  Alle  Materie  trägt  übrigens  die  Anlage  zu  Empfindungen  in  sich.  Aus 
den  Empfindungen  erwächst  alle  Erkenntniss  Von  der  Empfindung  bleibt  die  Er- 
innerung zurück,  die  wieder  hervortreten  kann,  indem  die  Affection  des  Sinnesorgans, 
wenn  auch  die  Einwirkung  von  aussen  aufgehört  hat,  noch  fortdauert.  Sentire  se 
sensisse  est  memoria.  Der  Inhalt  unseres  Gedächtnisses  ist  die  Erfahrung.  Es  geht 
dies  alles  auf  mechanische  Weise  vor  sich,  auch  die  Ideenassociation  wird  mechanisch 
erklärt. 

Die  Erinnerung  an  Wahrgenommenes  wird  bei  den  Menschen  uuterstützt  und 
die  Mittheilung  nn  Andere  möglich  gemacht  durch  Zeichen,  die  wir  mit  deu  Vor- 
stellungen der  Objecte  verknüpfen:  hierzu  dienen  uns  insbesondere  die  Namen,  die 
Worte,  die  also  nichts  als  erfundene  Zeichen  zu  den  angegebenen  Zwecken  sind. 
Das  nämliche  Wort  dient  als  Zeichen  für  viele  einander  ähnliche  Objecte  und  ge- 
winnt hierdurch  deu  Charakter  der  Allgeraeinheit,  welcher  immer  nur  Worten, 
niemals  Dingen  zukommt,  und  so  ist  das  Allgemeine  ein  künstliches  Product  des 
Menschen.  Es  steht  bei  uns,  welche  Objecte  wir  jedesmal  durch  das  nämliche 
Wort  bezeichnen  wollen;  wir  erklären  uns  darüber  mittelst  der  Definition.  Alles 
Denken,  das  Urtheilen  und  auch  das  Schliessen,  ist  ein  Verbinden  und  Trennen, 
Addiren  und  Subtrahiren  von  Namen,  d.  h.  Zeichen  der  Vorstellungen;  Denken  ist 
Rechnen.  Werden  bewiesene  Sätze  mit  einander  verbunden  so  entsteht  die  Wissen- 
schaft. Da  die  Worte  Erfindung  der  Menschen  sind,  so  haben  sie  für  den  Weisen 
nur  den  Werth  von  Rechenpfennigen,  für  den  Narren  sind  sie  aber  Gold. 

Mit  den  Empfindungen,  je  nachdem  die  Eindrücke  unsern  Blutundauf  fördern 
oder  hemmen,  ist  Lust  und  Unlust  verbunden,  uud  werden  diese  auf  Zukünftiges 
bezogen,  so  entsteht  Begehren  und  Abscheu.  Von  Freiheit  ist  bei  dem  Menschen 
nicht  die  Rede;  jeder  Willensakt  geht  aus  den  vorhergehenden  Bewegungen  mit 
Notwendigkeit  hervor.  Hobbes  hält  den  Menschen  nicht  (gleich  der  Biene, 
Ameise  etc.)  für  ein  schon  durch  Naturinstinct  geselliges  Wesen  (Züoy  nnXtnxö*), 
sondern  setzt  den  Naturzustand  der  Menschen  in  einen  Krieg  Aller  gegen  Alle, 
indem  die  menschliche  Natur  nur  von  der  Selbstsucht  ursprünglich  getrieben  wird, 
sich  selbst  zu  erhalten  und  Genuss  zu  haben.  Der  Mensch  bat  von  Natur  ein 
Recht  auf  alle  Dinge,  wünscht  freilich  nur  das,  was  ihm  gut  ist.  Ein  solcher 
Zustand  des  allgemeinen  Krieges  ist  aber  für  den  Einzelnen  nicht  vortheilhaft, 
deshalb  muss  man  aus  ihm  heraustreten.  Es  kann  dies  geschehen  theils  durch 
Affecte,  theils  durch  Vernunft.  Die  Affecte,  welche  den  Menschen  zum  Frieden 
bringen,  sind  Furcht  vor  dem  Tode,  Verlangen  nach  Dingen,  die  zu  einem  bequemen 
Leben  nothwendig  sind,  Hoffnung,  diese  durch  Arbeit  sich  zu  verschaffen.  „Die 
Vernunft  unterscheidet  schickliche  Friedeusartikel ,  auf  Grund  deren  die  Menschen 
zum  Frieden  gebracht  werden  können."  Diese  bestehen  in  der  vertragsmässigen 
Unterwerfung  Aller  unter  die  Obmacht  eines  absoluten  Herrschers,  dem  Alle 
unbedingten  Gehorsam  leisten,  um  dagegen  von  ihm  Schutz  zu  erhalten  und  eben 
dadurch  erat  die  Möglichkeit  eines  wahrhaft  humanen  Lebens  zu  gewinnen.  Das 
Naturstreben  des  Einzelnen  nach  Selbsterhaltung  und  nach  möglichst  viel  Lust 
wird  durch  die  Gesetze  der  menschlichen  Gesellschaft  erst  befriedigt,  und  so  sind 
die  letzteren  eigentlich  als  natürliche  anzusehen.  Ausserhalb  des  Staates  findet 
sich  nur  Herrschaft  der  Affecte,  Krieg,  Furcht,  Armuth,  Schmutz,  Vereinsamung, 


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§  10.   Hobbes  und  andere  englische  Philosophen  seiner  Zeit. 


Barbarei,  Unwissenheit,  Wildheit,  im  Staate  aber  Herrschaft  der  Vernunft,  Friede, 
Sicherheit,  Reichthum,  Schmuck,  Geselligkeit,  Zierlichkeit,  Wissenschaft,  Wohl- 
wollen. (Hiernach  ist  die  Behauptung  falsch,  dass  der  Staat  des  Hobbes  .ohne 
allen  idealen  und  ethischen  Inhalt"  sei  und  nur  Sicherheit  des  Lebens  und  sinn- 
liches Wohlsein  bezwecke.)  Der  Herrscher  kann  ein  Monarch  oder  auch  eine 
Versammlung  sein ;  die  Monarchie  aber  ist  als  die  strengere  Einheit  die  vollkommenere 
Form,  und  alle  republikanischen  Staatstheorien  werden  verworfen.  Der  Krieg  ist 
ein  Rest  des  Urzustandes.  An  das  Zusammenleben  im  Staat  knüpft  sich  der 
Unterschied  von  Recht  und  Unrecht,  Tugend  und  Laster,  Gutem  und  Bösem.  Was 
die  absolute  Macht  im  Staate  sanctionirt.  ist  gut,  das  Gegentheil  verwerflich. 
Etwas,  das  an  sich  gut  oder  schlecht  wäre,  giebt  es  nicht.  Das  öffentliche  Gesetz 
ist  das  Gewisseu  des  Bürgers.  Er  Boll  nicht  um  des  vergangenen  Bösen,  sondern 
um  des  zukünftigen  Guten  willen  gestraft  werden;  die  Furcht  vor  der  Strafe  soll 
die  Lust,  die  Jemand  von  der  durch  den  Staat  verbotenen  That  erwartet,  aufzu- 
wiegen vermögen;  nach  diesem  Princip  ist  das  Strafmaass  zu  bestimmen.  Religion 
und  Aberglaube  kommen  darin  überein,  dass  sie  Furcht  vor  erdichteten  oder 
traditionsmässig  angenommenen  unsichtbaren  Mächten  sind;  die  Furcht  vor  den- 
jenigen unsichtbaren  Mächten,  welche  der  Staat  anerkennt,  ist  Religion,  die  Furcht 
vor  solchen,  welche  derselbe  nicht  anerkennt,  ist  Aberglaube.  Religiöse  Privat- 
überzeugung dem  sonctionirten  Glauben  entgegensetzen,  ist  ein  revolutionäres 
Treiben,  welches  den  Staatsverbaud  auflöst.  Die  Gewissenhaftigkeit  besteht  in  dem 
Gehorsam  gegen  den  Herrscher. 

Die  Vertragstheorie  (die  freilich  nicht  sowohl  den  historischen  Entstehungs- 
grund des  Staates  bezeichnet,  als  vielmehr  eine  ideale  Norm  zur  Messung  bestehen- 
der Zustände  aufstellt)  konnte  mit  gleicher  und  grösserer  Consequenz  zu  entgegen- 
gesetzten Resultaten  führen,  die  später  von  Spinoza,  Locke,  Rousseau  und 
Anderen  vertreten  wurden. 

Nicht  bis  zu  der  (hobbesschen)  Negation  der  inneren  Berechtigung  aller 
Religion  gingen  andere  Denker  in  jener  und  der  nachfolgenden  Zeit  fort,  sondern 
hielten  sich  an  eine  bloss  auf  Vernunft  zu  gründende  Religion,  namentlich  schon 
Hobbes'  älterer  Zeitgenosse,  Lord  Eduard  Herbert  of  Cherbury  (1581— 1648), 
der  als  Politiker  auf  der  Seite  der  parlamentarischen  Opposition  stand  und  lange 
ein  abenteuerliches  Leben  als  herumziehender  Ritter  führte.  Sein  Hauptwerk  ist: 
Tractatus  de  veritate  prout  distinguitur  a  revelatione,  a  verisimili,  a  possibili  et 
a  falso,  Paris  1624  u.  ö.;  auch  schrieb  er:  de  religione  gentilium  errorumque  apud 
eos  causis,  Theil  I,  Loud.  1645,  vollständig  Lond.  1663  und  Amst.  1670,  ferner: 
de  religione  laici  und  historische  Schriften.  Er  nimmt  an,  dass  alle  Menschen  in 
gewissen  communes  notitiae  einstimmig  seien,  und  will,  dass  diese  als  Kriterien  bei 
allen  Religiousstreitigkeiten  dienen.  Er  findet  fünf  solcher  Wahrheiten:  1)  das 
Dasein  eines  höchsten  Wesens,  2)  die  Pflicht,  dieses  höchste  Wesen  zu  verehren, 

3)  Tugend  und  Frömmigkeit  sind  die  vorzüglichsten  Bestandtheile  dieser  Verehrung, 

4)  die  Forderung  der  Reue  über  Unterlassen  dieser  Verehrung  und  Vergehen,  5)  die 
aus  der  Güte  und  der  Gerechtigkeit  Gottes  folgende  Belohnung  und  Bestrafung  in 
diesem  und  in  jenem  Leben.  Auf  Grund  dieser  allgemeinen  Sätze  sollte  eine  all- 
gemeine Religion  geschaffen  werden,  durch  welche  die  positiven  Religionen  über- 
flüssig würden.  —  Herbert  wird  oft  als  Urheber  des  englischen  Deismus  angesehen. 
Seine  Doctrin,  sowie  die  mehr  oder  minder  durch  dieselbe  bedingte  Lehre  späterer 
Freidenker  (worüber  besonders  Victor  Lechler,  Gesch.  des  engl.  Deismus,  Stuttg.  u. 
Tüb.  1841,  eingehend  handelt)  ist  jedoch  mehr  für  die  Geschichte  der  Religion  als 
der  Philosophie  von  Wichtigkeit.  Da  sie  im  Gegensatz  zur  Offenbarungslehre  die 
Religion  auf  die  menschliche  Vernunft  allein  gründet,  kann  man  sie  auch  als 


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§  10.    Hobbes  und  audere  englische  Philosophen  seiner  Zeit.  61 

Rationalismus  bezeichnen.  Vergl.  Charles  de  Remusat,  Lord  Herbert  de  Cher- 
bury,  sa  vie  et  ses  oeuvres,  ou  les  origines  de  la  philos.  du  sens  commun  et  de  la 
theologie  naturelle  en  Angleterre,  Par.  1873. 

Bis  auf  die  Zeit  Locke«  gewann  an  den  englischen  Schulen  der  Empirismus 
nicht  die  Herrschaft;  die  Scholastik  ward  beschränkt,  aber  zunächst  zu  Gunsten 
tht-ils  des  Skepticismus,  theils  eines  erneuten  Piatonismus,  Neuplatoidsmus  und 
Mysticismus.  Dem  Skepticismus  huldigte  Joseph  Glanrille  (Karls  II.  Hofkaplan, 
gest.  1680),  der  in  seinen  Schriften  (Scepsis  scientifica  or  confessed  ignorance,  the  way 
to  science,  an  Essay  of  the  vanity  of  dogmatizing  and  confident  opinion,  London 
1655,  und  de  incrementis  scientiarum,  London  1670)  besonders  den  aristotelischen 
und  cartesianischen  Dogmatismus  bekämpft.  Er  bemerkt,  dass  wir  die  Causalität 
nicht  erfahren,  sondern  erschliessen,  aber  nicht  mit  Sicherheit:  nam  non  sequitur 
necessario,  hoc  est  post  illud,  ergo  propter  illud. 

Der  bedeutendste  Platoniker  unter  den  englischen  Philosophen  jener  Zeit  ist 
Ralph  (Rudolph)  Cudworth  (1617—1688,  seit  1639  Professor  in  Cambridge),  der 
den  durch  die  Lehre  des  Hobbes  begünstigten  Atheismus  bekämpfte,  die  Zweck- 
ursachen auch  der  Physik  vindicirte  und  zur  Erklärung  des  Organismus  (gemäss 
der  aus  der  platonischen  Ideenlehre  hervorgegangenen  aristotelischen  Lehre  von  den 
Entelechien  und  stoischen  Lehre  von  den  koyot  ontQuanxoi)  eine  bildende  Kraft, 
eine  plastische  Natur  annahm.  Er  will  den  Piatonismus  in  religiöser  Hinsicht  ge- 
messen wissen  an  der  Norm  des  Christenthums  im  Gegensatz  zu  Plethon.  Sein 
Hauptwerk  ist:  the  true  intellectual  system  of  the  univeree,  wherein  all  the  reason 
and  the  philosophy  of  atheism  is  confuted,  London  1678,  auch  1743,  ins  Lat.  übers, 
von  Joh.  Laur.  Mosheim,  Systema  intellectuale  huius  universi,  mit  Anmerkungen, 
Zusätzen  und  einer  Biographie  Cudworths  versehen,  Jena  1733,  auch  Lugd.  Bat.  1773. 
Erst  1731  wurde  von  dem  Bischof  Chandler  sein  Treatise  concerning  eternal  and 
iramutable  morality  veröffentlicht,  auch  von  Mosheim  als  Anhang  zu  dem  Systema 
übersetzt.  Das  Sittliche  und  seine  verbindliche  Kraft  sind  nicht  aus  dem  Natür- 
lichen herzuleiten,  sondern  haben  ihre  Quelle  im  göttlichen  Geiste,  der  als  Intelligenz 
gedacht  wird.  Die  sittlichen  Grundsätze  haben  dieselbe  Giltigkeit  wie  die  mathe- 
matischen Wahrheiten.  Zu  ihrer  Erkenntniss  kommt  der  menschliche  Geist  durch 
ursprünglichen  Besitz  und  nicht  auf  sensualistische  Weise.  Die  sittlichen  Ideen 
sind  dem  Menschen  also  angeboren.  Vgl.  über  ihn  H.  v.  Stein  in:  Sieben  BB.  zur 
Gesch.  des  Piatonismus,  Bd.  3,  S.  160  ff. ;  C.  E.  Lowrey,  the  philosophy  of  Ralph 
Cudworth,  New -York  1885.  Auch  Sam.  Parker  (gest.  1688)  bekämpfte  die 
atomistische  Physik  und  gründete  (in  seinen  Tentamina  physico-thoologica,  Lond. 
1669,  1673,  und  anderen  Schriften)  den  Glauben  an  das  Dasein  Gottes  haupt- 
sächlich auf  die  in  dem  Bau  der  Naturobjecte  sich  bekundende  Zweckmässigkeit. 
Mit  dem  Cabbalismus  verschmolz  Henry  More  (1614—87;  H.  Mori  Cantabrigiensis  » 
Opp.  omnia,  tum  quae  latine,  tum  quae  anglice  scripta  snnt,  nunc  vero  latinitate 
donata,  2  voll.,  Lond.  1679;  unter  den  philosophischen  Schriften  sind  die  be- 
deutendsten: Enchiridion  metaphysicum,  in  quo  agitur  de  existentia  et  natura  rerum 
incorporearum ;  Enchiridiou  ethicum  praecipua  philosophiae  moratis  rudimenta  com- 
plectens.  das  letztere  auch  besonders  herausgeg.  Nürnberg  1668.  S.  üb.  ihn  Rieh. 
Ward,  the  life  of  the  learned  and  pious  Dr.  H.  M.,  Lond.  1710,  Rob.  Zimmermann, 
H.  More  u.  d.  vierte  Dimension  des  Raumes,  aus  d.  Sitzungsber.  der  Ak.,  Wien 
1881)  den  Piatonismus.  Alle  Körper,  auch  die  physikalischen,  sind  von  Geistern 
durchdrungen,  welche  auf  den  unteren  Stufen  keimkräftige  Formen,  auf  den  höheren 
Seelen  heissen.  Alles  ist  erfüllt  vom  Weltgeist,  der  aber  nicht  Gott  selbst,  sondern 
nur  dessen  Werkzeug  ist.  Um  auf  dem  praktischen  Gebiet  die  Vermittelung  zwischen 
Vernunft  und  Trieben  herzustellen,  nimmt  er  ein  eigenes  Vermögen  an,  das  er 


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§11.   Descartes,  Anhänger  and  Gegner. 


honiform  faculty  nennt,  obwohl  er  der  Vernunft  auch  noch  praktische  Bedeutung 
zuschreibt  Das  Sittliche  schliesst  nicht  nur  die  Tugend  sondern  auch  die  Glück- 
Seligkeit  ein.  Theophilua  Gale  (1628—77;  Philosophia  universalis  und  Aula  deorum 
gentilium,  Lond.  1676)  leitete  alle  Gotteserkenntniss  aus  der  Offenbarung  ab,  und 
sein  Sohn  Thomas  Gale  (Opuscula  mvthologiea  etc.,  Cambridge  1682)  edirte 
Documente  theologischer  Dichtung  und  Philosophie.  Der  Richtung  Jakob  Böhmes 
huldigten  John  Pordage  (1625—98),  sein  Schüler  Thomas  Bromley  (gest.  1691) 
und  Andere. 

§11.  An  der  Spitze  der  dogmatischen  oder  rationalistischen 
Entwickelungsreihe  der  neueren  Philosophie  steht  die  cartesianische 
Lehre.  Rene*  Descartes  (1596—1650),  in  einer  Jesuitenschule  ge- 
bildet, kam  durch  Vergleichung  der  verschiedenen  Anschauungen 
und  Sitten  unter  verschiedenen  Nationen  und  Parteien  und  durch 
allgemeine  philosophische  Betrachtungen,  insbesondere  durch  die 
Erkenntniss  des  weiten  Abstandes  aller  Demonstrationen  in  der 
Philosophie  und  anderen  Doctrinen  von  der  mathematischen  Gewiss- 
heit, zum  Zweifel  an  der  Wahrheit  aller  überlieferten  Sätze  und  fasste 
den  Ent8chluss,  durch  eigenes  voraussetzungsloses  Denken  zu  ge- 
sicherten Ueberzeugungen  zu  gelangen.  Das  Einzige,  woran  sich, 
wenn  alles  Uebrige,  auch  Raum  und  Zeit,  bezweifelt  wird,  nicht 
zweifeln  lässt,  ist  das  Zweifeln  selbst  und  überhaupt  das  Denken  im 
weitesten  Sinne  als  die  Gesammtheit  aller  bewussten  psychischen 
Processe.  Mein  Denken  aber  hat  meine  Existenz  zur  Voraus- 
setzung: cogito  ergo  sum.  Ich  finde  in  mir  die  Gottesvorstellung, 
die  ich  nicht  aus  eigener  Kraft  gebildet  haben  kann,  da  sie  eine  vollere 
Realität  involvirt,  als  ich  in  mir  selbst  trage;  sie  inuss  Gott  selbst 
zum  Urheber  haben,  der  sie  mir  einprägte,  wie  der  Architekt  seinem 
Werke  seinen  Stempel  aufdrückt.  Auch  folgt  schon  aus  dem  Gottes- 
begriff Gottes  Existenz,  da  das  Wesen  Gottes  die  Existenz  und  zwar 
die  ewige  und  nothwendige  Existenz  involvirt.  Zu  den  Eigenschaften 
Gottes  gehört  die  Wahrhaftigkeit  (veracitas):  Gott  kann  mich  nicht 
täuschen  wollen ;  daher  muss  alles,  was  ich  klar  und  bestimmt  erkenne, 
,  wahr  sein.  Aller  Irrthum  beruht  auf  dem  Missbrauch  der  Willens- 
freiheit zu  einem  vorschnellen  Urtheil  über  solches,  was  ich  noch 
nicht  klar  und  bestimmt  erkannt  habe.  Neben  der  Gottheit,  als  der 
Substanz  im  höchsten  Sinne,  die  keines  andern  Dinges  zu  ihrer 
Existenz  bedarf,  giebt  es  noch  zwei  Substanzen  zweiter  Ordnung,  die 
nur  Gottes  zu  ihrer  Existenz  bedürfen.  Ich  kann  nämlich  die  Seele 
als  denkende  Substanz  klar  und  bestimmt  auffassen,  ohne  sie  als 
ausgedehnt  vorzustellen;  das  Denken  involvirt  keine  an  die  Aus- 
dehnung geknüpften  Prädicate.  Ich  muss  andererseits  den  Körper  als 
ausgedehnte  Substanz  denken  und  als  solche  für  real  halten,  weil 
ich  durch  die  Mathematik  eine  klare  und  bestimmte  Erkenntniss  von 


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§11.    Descartes,  Anbänger  und  Gegner. 


G3 


der  Ausdehnung  gewinnen  kann  und  mir  zugleich  der  Bedingtheit 
meiner  Sinnesempfindungen  durch  äussere,  körperliche  Ursachen  klar 
bewusst  bin.  Figur,  Grösse,  Bewegung  kommen  als  Modi  der  Aus- 
dehnung den  Aussendingeu  zu;  die  Empfindungen  der  Farben,  der 
Töne,  der  Wärme  etc.  aber  existiren  ebensowohl  wie  Lust  und  Schmerz 
nur  in  der  Seele  und  nicht  in  den  körperlichen  Objecten.  Nur  durch 
Druck  und  Stoss  werden  die  Körper  bewegt.  Denken  uud  Ausdeh- 
nung sind  vollständig  verschieden.  So  werden  denn  auch  die  beiden 
Lehren,  die  sich  auf  sie  beziehen,  nichts  miteinander  gemein  haben, 
so  dass  weder  die  Physik  aus  der  Geistesphilosophie,  noch  umgekehrt 
die  Geistesphilosophie  aus  der  Physik  abgeleitet  werden  kaun.  Die 
Seele  steht  mit  dem  Körper  in  unmittelbarer  Beziehung  und  Wechsel- 
wirkung nur  an  einem  einzigen  Punkte  inmitten  des  Gehirns,  und 
zwar  in  der  Zirbeldrüse.  —  In  der  Ethik  schloss  sich  Descartes  den 
Alten,  namentlich  den  Stoikern,  an. 

Von  den  Schriften,  die  Descartes  veröffentlicht  hat,  ist  die  früheste  der  Dis- 
cours de  la  methode,  pour  bien  eonduire  la  raison  et  chereher  la  verite  dans  le* 
sciences,  der  zugleich  mit  der  Dioptrique,  den  Meteore»  und  der  Geometrie  unter  dem 
Titel  Essays  philosophiqucs,  Leyden  1637,  erschien,  in  lateinischer,  vom  Abbe  Ktienue 
de  Courcelles  angefertigter,  von  Descartes  durchgesehener  Uebersetzung,  Specimina 
philosophica,  Amst.  1644.     (Die  hierin  nicht  mitenthaltene  Geom.  hat  van  Schnuten 
übersetzt,  Lugduni  Bat.  1649.)     In  lateinischer  Sprache  hat  Descartes  die  Medita- 
tiones  de  prima  philosophia,  ubi  de  Dei  existentia  et  animae  immortalitate;  bis 
adjunctae  sunt  variae  objectiones  doctorum  virorum  in  istas  de  Deo  et  anima  demon- 
strationes  (nämlich  1.  von  Caterus  in  Antwerpen,  2.  von  pariser  Gelehrten,  gesammelt 
von  Mersenne,  3.  von  Hobbes,  4.  von  Arnauld,  5.  von  Gassendi,  6.  von  verschiedenen 
Theologen  und  Philosophen)  cum  responsionibus  auctoris,  Paris  1641  veröffentlicht  und 
der  Sorbonne  zu  Paris,  deren  Ansehen  er  für  seine  Lehre  zu  gewinnen  wünschte,  ge- 
widmet.   Die  zweite  Ausgabe  ist  zu  Amst.  1642  unter  d.  Tit.:  Meditationes  de  prima 
philosophia,  in  quibus  Dei  existentia  et  animae  humanae  a  corpore  distinetio  demon- 
stratur,  erschienen;  zu  den  objectiones  und  responsiones  der  ersten  Aul!,  sind  hier  noch 
als  objectiones  septimae  die  Einwürfe  des  Jesuiten  Bourdin  nebst  den  Antworten  des 
Descartes  hinzugekommen:  eine  französ.  Uebersetzung  der  Meditationen  durch  den  Herzog 
von  Luynes  und  der  Einwürfe  und  Antworten  durch  Clerselier,  von  Descartes  durch- 
gesehen, erschien  1647,  auch  1661,  eine  andere  von  Rene  Fede  ausgearbeitete  Ueber- 
setzung 1673  und  1724.   Die  systematische  Darstellung  der  gesammten  Doctrin  erschien 
unter  d.  Tit.:  Kenati  Descartes  Principia  philo sophiae  zu  Amsterdam  1644  u.  ö., 
die  französ.  Uebersetzung  von  Picot.  Paris  1647,  1651,  1658,  1681.   Eine  Streitschrift: 
Kpistola   Renati  Descartes  ad  Gisbertum  Voetium  erschien  Amst,  1643,  eine  zweite: 
Notae  in  progrumma  quoddam  sub  linem  anni  1647  in  Belgio  editum  (anonym*  aber 
höchst  wahrscheinlich  von  Regius).  Amst.  1648,  die  psychologische  Monographie:  Lei 
passions  de   l'ame,  Amst.  1650.    Mehrere  Abhandlungen  und  Briefe  wurden  nach 
Descartes'  Tode  aus  seinem  Xachlass  herausgegeben,  namentlich  durch  Claude  de  Cler- 
selier Fragmente  der  von  Descartes  selbst  wegen  der  Verurtheilung  Galileis  nicht  ver- 
öffentlichten Schrift:  Le  monde  ou  traite  de  la  lumiere,  zuerst  Paris  1664.  dann  besser 
Paris  1677;  ferner,  gleichfalls  durch  Clerselier:  Traite  de  l'homnie  et  de  la  formation  du 
foetus,  Par.  1664,  lat.  mit  Noten  von  Louis  de  la  Forge,  1677,  Briefe,  Par.  1657— 67, 
lat.  Amst.  1668  und   1692;  später  wurden  auch  die  Regulae  ad  directionem  ingenü 
(Regle»   pour  la  direction  de  l'esprit)  und:    Inquisitio  veritatis  per  lumen  naturale 
(Recherche  de  la  verite  par  les  lumieres  naturelles),  zuerst  in  den  Opera  posthuma 
Cartesii,  Amstel.  1701,  veröffentlicht.     (Die  Entstehung  der  auch  im  11.  Bande  der 
cousinschen  Ausgabe  der  Werke  des  Descartes  ahgedr.    „Regeln  für  die  Leitung  des 
Geistes"   setzt  Baumann  in  der  Zeitschr.  f.  Philos.  N.  F.  Bd.  53,  18««,  S.  188—20.,, 
in  die  Zeit  vom  23.  bis  32.  Lebensjahre  Descartes'  und  betrachtet  sie  als  ein  Document 
des  Entwicklungsganges  des  Philosophen.)  Latein.  Gesammtausgaben  der  philos.  W  erke 


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§11.   Descartes,  Anhänger  und  Gegner. 


des  Descartes  sind  AmsL  1650  u.  ö.  erschienen;  in  französ.  Sprache  sind  die  Werke 
Par.  1701,  1724  und  durch  Victor  Cousin  1824—26  herausg.  worden,  die  philos.  Werke 
durch  Garnier,  Paris  1835,  durch  Alme-Martin,  Paris  1882.  Einiges  früher  Unveröffent- 
lichte hat  Foucher  de  Careil  herausg.:  Oeuvres  iuedites  de  Descartes,  precedees  d'une 
preface  et  publice*  par  le  comte  F.  d.  C,  Par.  1859—60.  Desc,  lettres  ined.  prec 
d'une  inirod.  par  E.  de  Bude,  Par.  1868.  Sehr  häufig  sind  bis  auf  die  neueste  Zeit 
eftuelne  Schriften  und  Sammlungen  der  philosophischen  Hauptwerke  erschienen,  u.  a.  der 
Discours  de  la  methode,  hrsg.  v.  Em.  Lefranc,  Paris  1866,  G.  Vapereau,  die  Medi- 
tationen, hrsg.  v.  S.  Barach,  Wien  1866.  Oeuvres  de  Desc,  nouv.  edit.,  collationnee  sur 
les  meillcurs  textes  et  precedee  d'une  introd.  par  Jules  Simon,  Par.  1868  u.  6.  Ins 
Deutsche  hat  Kuno  Fischer  den  Disc,  die  Med.  und  den  ersten  Theil  der  Princ.  philos. 
des  Descartes  übertragen  und  mit  einem  Vorwort  begleitet,  Mannheim  1863,  v.  Kirch- 
mann (in  der  „philo*.  Bibl.*)  die  sammtlichen  philos.  Schriften  (nämlich  ausser  Disc, 
Med.  und  den  vollständigen  Princ.  philos.  auch  noch  de  pass.  aniiuue)  abersetzt  und 
commentirt,  Berlin  1870.  Der  Discours  de  la  methode,  erklärt  von  F.  C.  Schwalbach, 
Berlin  1879. 

Die  Hauptzüge  aus  Beinern  Entwickelungsgange  hat  Descartes  selbst  in  seinem 
Discours  de  la  methode  mitgetheilt.  Kurze  Biographien  erschienen  schon  bald  nach 
Hrinem  Tode,  eine  ausführliche,  von  A.  Baillet  verfasst,  unt.  d.  Tit.:  la  vi»  de  Mr. 
des  Carte«,  Par.  1691,  im  Auszuge  1693.  Eloge  de  Rene  Descartes,  par  Thomas,  Par. 
1765  (von  der  pariser  Akademie  mit  dem  Preise  gekrönt).  Eloge  de  Rene  Descartes  par 
Gaillard,  Par.  1765;  par  Mercier,  Geneve  et  Par.  1765.  In  den  Werken  über  die  Ge- 
schichte der  neueren  Philosophie  und  in  manchen  Ausgaben  von  Schriften  des  Descartes 
findet  man  Skizzen  seines  Lebens-  und  Entwickelungsgange*,  u.  a.  auch  im  ersten 
Bande  der  Hist.  de  la  Philos.  Cartesienne  par  Francisquc  Bouillier,  Par.  1854,  3.  Aufl. 
1868;  in  den  Oeuvres  inorales  et  philoaophiques  de  Descartes,  precedees  d'une  notice 
sur  sa  vie  et  sea  ouvrage*  par  Amedee  Prevost,  Paris  1855  etc.  Eine  anziehende 
Schilderung  seine*  Lebensganges  giebt  Kuno  Fischer,  Gesch.  d.  neuer.  Philos.  I,  1, 
3.  Aufl.,  München  1878,  S.  147 — 270.  J.  Millet,  Desc,  sa  vie,  ses  travaux,  se» 
decouvertes  avant  1637,  Paris  1867,  und  Desc,  son  hist.  depuis  1637,  sa  phil.,  son  röle 
dans  le  mouvement  general  de  l'esprit  humain,  Par.  1870.  Paul  Janet,  Descartes,  in: 
Rev.  d.  deux  mond.  t.  73,  1868,  S.  345—  369.  Ch.  Jul.  Jeannel,  Desc.  et  la  princesse 
palatine,  Par.  1869.  W.  Ernst.  Desc.  sein  Leb.  u.  Denk.,  Skizze,  Böhm.  Leipa  1869. 
Foucher  de  Careil,  Desc.  et  la  princesse  Palatine,  Par.  1862;  der*..  Desc,  la  princesse 
Elisabeth  et  la  reine  Christine  d'apres  des  lettres  inedites,  Paris  1879. 

Ueber  die  Geschichte  des  Cartesianismus  ist  da*  Hauptwerk:  Histoire  de 
la  philosophie  Cartesienne  par  Francisque  Bouillier,  Paris  1854,  3.  ed.  1868  (eine 
Erweiterung  der  bereits  1843  veröffentlichten,  von  der  Acad.  des  scienc  moral.  et  polit. 
gekrönten  Preisschrift:  Histoire  et  critique  de  la  revolution  cartesienne);  vgl.  die  be- 
treffenden Abschnitte  bei  Damiron,  Histoire  de  la  philosophie  du  XVII.  siede,  auch 
E.  Saisset  precurseurs  et  disciples  de  Desc,  Paris  1862,  Ad.  Franck,  moralistes  et 
philosophes,  Par.  1872,  p.  157—227.  F.  Papillon,  de  la  rivalite  de  l'esprit  Leibnizien 
et  de  l'esprit  CarteMen  au  XVIII.  s.,  Orleans  1873.  Georges  Monchamp,  Hist.  du 
Cartesianisme  en  Belgique,  1887. 

Von  den  zahlreichen  neueren  Abhandlungen  und  Schriften  über  den  Cartesianis- 
mus sind  folgende  zu  erwähnen:  H.  Kitter,  üb.  d.  Einfluss  d.  Cart.  auf  die  Ausbildg. 
d.  Spinozism.,  Leipz.  1816.  H.  C.  W.  Sigwart,  üb.  d.  Zsmhng.  d.  Spinozism.  mit  der 
Cartesian.  Philos.,  Tübing.  1816.  H.  G.  Hotho,  de  philos.  Cart.  diss.,  Berol.  1826. 
P.  Knoodt,  de  Cartesii  seutentia;  cogito  ergo  sum,  diss.,  Breslau  1845.  Carl  Schaar- 
schmidt, Oes  Cartes  und  Spinoza,  urkundl.  Darstellg.  der  Philos.  Beider,  Bonn  1850. 
J.  N.  Huber,  die  Cartesian.  Beweise  vom  Dasein  Gottes,  Augsb.  1854.  Joh.  Hr.  Löwe, 
d.  specul.  Syst.  de*  Rene  Desc,  seine  Vorzüge  u.  Mängel,  Wien  1855  (aus  den  Ber. 
der  Akad.,  phil.  hist.  CK,  Bd.  XIV,  1854).  X.  Schmid  aus  Schwarzenberg,  R.  D.  und 
seine  Reform  d.  Philos.,  Nördl.  1859.  E.  Melzer,  Augustini  atque  Cartesii  placita  de 
mentis  humanae  sui  cognitione  quomodo  inter  se  congruant  a  seseque  differant,  quaeritur, 
diss.  in.,  Bonnae  1860.  Chr.  A.Thilo,  die  Religionsphilos.  de*  Desc,  in:  Ztschr.  f.  ex.  Ph.  III. 
1862,  S.  121—182.  Jul.  Baumann,  doctrina  Cartesiana  de  vero  et  falso  explicata  atque 
examinata,  diss.  inaug.,  Berol.  1863.  Ldw.  Gerkrath,  de  connexione,  quae  intercedit 
inter  Cart.  et  Pascalium,  Progr.  des  Lyceum  Hos.,  Braunsberg  1863.  Gust.  Th.  Schedin, 
är  Occasionalismen  en  konsequent  utveckling  af  Cartestanismen?  Akad.  Afhdl.,  Upsala 
1864.  Jac  Guttmann,  de  Cartesii  Spinozaeque  philosophiis  et  quae  inter  eas  intercedit 
ratio,  diss.  inaug.,  Vratisl.  1868.  P.  J.  Elvenich,  die  Beweise  für  d.  Dasein  Gottes 
nach  Cart.,  Breslau  1868.    Charl.  Waddingtun,  Desc  et  le  Spiritualisme,   Paris  1868. 


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§  11.   Descartes,  Anhänger  und  Gegner. 


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F.  Volkmer,  d.  Verhältnis«  v.  Geist  u.  Körper  im  Menschen  nach  Cart.,  Breslau  1869. 
E.  Bus«,  Montesquieu  u.  Cart,  in:  ph.  Monatsh.  IV,  1869,  S.  1 — 38.  Bertrand  de  St.  Ger- 
main, Desc.  considere  comme  physiologiste  et  comme  medecin,  Paris  1870.  Lud.  Carrau, 
expos.  crit.  de  la  theorie  des  passions  dans  Des»-.,  Malebranche  et  Spinoza,  these, 
Strassb.  1870.  M.  Heinze,  d.  Sittenlehre  des  D.,  Lpz.  1872.  E.  Grimm,  D.s  Lehre  Ton 
d.  angeb.  Ideen,  Jena  1873.  E.  Boutroux,  de  veritatibus  aeternis  ap.  Cartesium,  Paris 
1 875.  Jahnke,  Ober  d.  ontolog.  Beweis  vom  Dasein  Gottes  mit  besond.  Bez.  auf  Anselm 
u.  Descartes,  G.  Pr.,  Stralsund  1875.  W.  Cunningham,  Descartes  and  Englisb  specu- 
lation.  Influence  of  Descartes  on  nietaphysical  speculation  in  England,  London  1875. 
S.  Paulus,  Ueber  Bedeutung,  Wesen  und  Umfang  des  cartesianischen  Zweifels,  L  D. 
Jena  1875.  Gust.  Glogau,  Darlegung  und  Kritik  des  Grundgedankens  der  Cartesianisch. 
Metaphysik,  in:  Ztschr.  f.  PhU.  u.  phü.  Kr.,  Bd.  73,  1878,  S.  209—263.  P.  Mahafty, 
Descartes  (philosophical  Classics  for  engl,  read.),  Lond.  1880.  Vict.  Brochard,  Desc. 
Stolcien,  in:  Rev.  phil.,  1880,  Bd.  9,  S.  548—552.  L.  Liard,  la  methode  de  D.  et  la 
mathematique  universelle,  in:  Rev.  phil.,  1880,  Bd.  10,  S.  569 — 600.  Ant.  Koch, 
die  Psychologie  Descartes',  systemat  u.  historisch-kritisch  bearbeitet,  München  1881. 
E.  Duboux,  la  physique  de  Descartes,  Lausanne  1881.  L.  Liard,  Descartes,  Par.  1882. 
P.  Natorp,  Descartes'  Erkenntnisstheorie,  eine  Studie  zur  Vorgesch.  des  Kriticism., 
Marb.  1882.  E.  Krantz,  essai  sur  l'esthetique  de  D.,  Par.  1882.  Fonsegrive,  les 
pretendnes  contradictions  de  D.,  in:  Rev.  philos.,  XV,  1883,  S.  510—532,  643—657. 
Rud.  A.  Meincke,  D.s'  Beweise  vom  Dasein  Gottes,  L  D.,  Ueidelb.  1883.  Grg. 
Bierendempfel,  D.  als  Gegner  des  Sensualism.  u.  Material.,  Jen.  I.  D.,  Wolfenbüttel 
1884.  Alex.  Barthel,  Desc.s'  Leben  u.  Metaphysik,  I.  D.,  Erlang.  1885.  Adam,  de 
methodo  ap.  Cartesium,  Spinozam  et  Leibnitium,  Par.  1885.  Krl.  Hnr.  v.  Stein,  üb.  d. 
Zusammen!».  Boileaus  mit  D.,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.  86,  1885,  S.  199—275. 
Wilh.  Kahl,  d.  L.  vom  Primat  des  Willens  b.  Augustinus,  Duns  Scotus  u.  Descartes, 
Straasb.  1886.  K.  Lasswitz,  zur  Genesis  der  cartesischen  Corpuskularphvsik,  in: 
Vierteljahrsschr.  f.  wissensch.  Ph.,  X,  1886,  S.  166—189.    S.  auch  um.  b.  Locke. 

Pascal,  lettres  provinciale«,  Cologne  1657  u.  ö.,  zuletzt  von  Franc,  de  Neuf- 
chäteau,  Par.  1872,  deutsch  von  J.  J.  G.  Hartmann,  Berl.  1830:  Pensees  sur  sa  reli- 
gion,  1669,  Amst.  1697,  Par.  1720  n.  ö.,  hrsg.  v.  Faugere,  Par.  1844,  v.  J.  E.  Astie, 
Par.  et  Lausanne,  1857,  von  Vict.  Rocher,  Tours  1873;  deutsch  von  C.  F.  Schwarz, 
Lpz.  1844,  1865,  und  von  Friedr.  Merschmann,  Halle  1865.  Oeuvres,  a  la  Haye  1779, 
hrsg.  von  Bossut  in  6  Band.,  Par.  1819:  Opuscules  philos.,  Par.  1864,  65,  66,  par  Fei. 
Cadet,  Par.  1873.  Ueber  ihn  handeln  u.  A.  Herrn.  Reuchlin.  P.s  Leb.  u.  d.  Geist 
seiner  Schriften,  Stuttg.  u.  Tübing.  1840.  A.  Vinet,  Emdes  sur  P.,  Paris  1848,  2.  ed. 
1856.  A.(  Neander  (in  N.s  wiss.  Abh.  hrsg.  von  J.  L.  Jacobi,  Berl.  1851,  S.  58  ff.). 
Cousin,  Etudes  sur  P.,  5.  ed.  Par.  1857.  Havet  (Pensees  publ.  dans  leur  texte 
authent.  avec  une  inrroduct,  des  notes  et  des  remarques,  par  M.  E.  Havet,  Par.  1866). 
Märcker  in  der  Zeitschr.:  der  Gedanke,  Bd.  IV,  1863,  8.  149—160.  Ose.  Ulbrich,  de 
Paacalis  vita,  diss.  inaug.,  Bonnae  1866.  Habersang,  Essai  sur  P.,  Progr.,  Bückeb. 
1868.  J.  Tissot,  Pascal,  refl.  sur  ses  Pensees,  Dijon  et  Par.  1869.  J.  G.  Dreydorff, 
Pascal,  s.  Leben  u.  s.  Kämpfe,  Leipz.  1870  (69),  Pascals  Gedanken  üb.  d.  Religion, 
Lpz.  1875.  Theophil  Wilh.  Ecklin,  Bl.  Pascal,  ein  Zeuge  der  Wahrheit,  Basel  1870. 
Herzog  in  d.  Zeitschr.  f.  d.  hist.  Theol.,  1872,  S.  471— 513.  K.  Jetter,  P.s  Erkenntniss- 
theorie, in:  Jahrb.  f.  deutsche  Theol.  XVII,  1872,  S.  280—320.  M.  Cantor,  Blaise  P., 
in:  Preuss.  Jahrb.,  32,  1863,  S.  212—237.  Nourrisson,  P.  physieien  et  philosopbe, 
Par.  1886.  Edouard  Droz,  Etüde  sur  le  seepticisme  de  P.  considere  dans  le  livre 
des  pensees,  Par.  1886. 

Poiret,  cogitationes  rationales  de  Deo,  anima  et  malo,  Amst.  1677  u.  ö.;  Oecon. 
div.,  Amst.  1687;  de  eruditione  triplici:  solida,  superficiaria  et  falsa,  Amst.  1692  u.  ö.; 
fide*  et  ratio  collatae  ac  suo  utraqne  loco  redditae  adversus  prineipia  Jo.  Lockii,  Amst., 
1707;  opera  posthuma,  Amst.  1721. 

Ueber  Huet  handeln:  C  Bartholmess, t  Huet,  eveque  d'Avranches  on  le  seepti- 
cisme theologique,  Paris  1850.  A.  Flottes,  Etudes  sur  Dan.  Huet,  Montpellier  1857. 
K.  Sigm.  Barach,  Pierre  Dan.  Huet  als  Philosoph,  Wien  und  Leipzig  1862. 

Ueber  Bayle  handeln:  De«  Maizeaux,  la  vie  de  P.  B.,  Amst.  1730  u.  ö.  L.  Feuer- 
bach, P.  B.  nach  seinen  für  d.  Gesch.  d.  Philos.  u.  Menschh.  interessantesten  Momenten, 
Ansbach  1838,  2.  Aufl.  Leipzig  1844.  Em.  Jeanmuire,  essai  s.  la  critique  relig.  de 
P.  B.,  Sirassb.  1862.  A.  Deschamps,  la  genese  du  seepticisme  erudit  chez  Bayle, 
Liege  1879. 

Ueberweg-Heinze,  Grandriu  III.  7.  Aufl.  5 


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§11.    Descartes,  Anhänger  und  Gegner. 


Geboren  am  31.  März  1596  za  Lahaye  in  Touraine,  erhielt  Ren6  Descartes 
(ans  der  früheren  Form:  de  Qnartis;  Renatus  Carte  sius)  in  der  Jesuitenschule 
zu  Lafleche  in  Anjou  seine  Jugendbildung  (1604 — 12),  lebte  dann  meist  in  Paris, 
hauptsächlich  mit  mathematischen  Studien  beschäftigt,  diente  (1617—21)  als  Frei- 
williger erst  unter  Moritz  von  Nassau,  dem  Sohne  des  Prinzen  Wilhelm  von  Orauieu, 
dann  (seit  1619  i  unter  Tilly  und  Boucquoi  und  war  bei  dem  Heere,  das  die  Schlacht 
bei  Prag  gegen  den  König  von  Böhmen,  Friedrich  V.  von  der  Pfalz,  gewann,  dessen 
Tochter  Elisabeth  später  Descartes'  Schülerin  wurd.  (S.  üb.  Elisabeth:  Guhrauer, 
in  Räumers  histor.  Taschenb.,  1850  u.  1851;  M.  Heinze,  Pfalzgräf.  El.  u.  Desc, 
ebend.,  1886,  S.  257—304.)  Die  nächsten  Jahre  brachte  Descartes  auf  Reisen  zu, 
führte  1624  eine  Wallfahrt  nach  Loreto  aus,  die  er  vier  Jahre  zuvor  für  eine  Lösung 
seiner  Zweifel  gelobt  hatte,  nahm  auch  an  der  Belagerung  von  la  Rochelle  (1628) 
Theil.  Mit  der  Ausbildung  seines  Systems  und  der  Abfassung  seiner  Schriften  be- 
schäftigt, lebte  Descartes  (1629  —  49)  au  13  verschiedenen  Orten  der  Niederlande 
ganz  unabhängig,  meist  verborgen,  nach  dem  Grundsatze :  Bene  qui  latuit  bene  vixit, 
nur  mit  seinem  vertrauten  Freude  Mersenne  (geb.  1588,  gest.  1648  zu  Paris,  vom 
Orden  der  fratres  minimi)  in  regelmässigem  schriftlichen  Verkehr,  aber  doch  mehr- 
fach im  Kampfe  mit  der  orthodoxen  Geistlichkeit.  Einem  Rufe  der  Königin  Christine 
von  Schweden  folgend,  siedelte  er  1649  nach  Stockholm  über,  wo  er  der  Königin 
Unterricht  crtheilte,  auch  eine  Akademie  der  Wissenschaften  begründen  sollte,  aber 
bereits  am  11.  Februar  1650  dem  für  ihn  zu  rauhen  Klima  erlag.  —  Obwohl  ein 
edler  Charakter  und  ganz  der  Wissenschaft  lebend,  scheute  er  doch  vor  dem  philo- 
sophischen Märtyrerthum  zurück.  So  erkannte  er  die  copernicanische  Lehre  als 
richtig  an,  wagte  es  aber  nicht,  sie  öffentlich  zu  vertreten.  Nach  der  Verurtheilung 
Galileis  arbeitete  er  sogar  Manuscripte,  die  er  damals  fertig  hatte,  wieder  um. 

Descartes  ist  der  Sohn  einer  Zeit,  in  welcher  die  confessionellen  Interessen 
zwar  bei  der  Menge  des  Volkes  und  bei  einem  Theile  der  Gebildeten  noch  ihre 
alte  Macht  behaupteten,  aber  nicht  nur  von  Fürsten  und  Staatsmännern  fast  durch- 
gängig politischen  Zwecken  entschieden  nachgesetzt  wurden,  sondern  auch  bereits 
bei  Vielen  hinter  die  Macht  der  freien  wissenschaftlichen  Erkenntniss  zurücktraten. 
Die  Unterscheidungslehren  waren  das  Product  der  vorangegangenen  Generationen, 
die  sich  in  ihrer  Ausbildung  einer  neuen  Geistesfreiheit  erfreut  hatten;  in  der 
damaligen  Zeit  aber  waren  bereits  die  überkommenen  Resultate  scholastisch  fixirt, 
der  Kampf  wurde  schon  längst  nicht  mehr  mit  der  ursprünglichen  Frische,  aber 
mit  um  so  grösserer  Bitterkeit  geführt  und  hatte  sich  mehr  und  mehr  iu  Subtili- 
täten  verloren,  der  Riss  war  klaffend  und  uuheilbar  geworden,  und  zugleich  musste 
mehr  als  in  der  früheren  Zeit  das  Leid  der  Spaltung  in  unablässigen,  den  Wohl- 
stand und  die  Freiheit  der  Länder  vernichtenden,  Rohheit  und  Laster  aller  Art 
begünstigenden  Kriegen  empfunden  werden.  So  bildete  sich  eine  Richtung  aus, 
welche  zwar  mit  scheuer  Ehrfurcht  zu  der  Kirche  aufschaute,  Collisionen  mit  ihren 
Vertretern  fürchtete  und  nach  Möglichkeit  mied,  aber  ohne  positives  Interesse  für 
die  kirchlichen  Dogmen  war  und  Befriedigung  für  Geist  und  Gemüth  nicht  iu 
ihnen,  sondern  nur  theils  in  allgemeinen  Sätzen  der  rationalen  Theologie,  theils  in 
der  Mathematik,  Naturforschung  und  psychologisch  -  ethischen  Betrachtung  des 
Menschenlebens  fand.  Auf  diesem  Standpunkte  war  die  Verschiedenheit  der  durch 
Geburt  und  äussere  Verhältnisse  bedingten  Confession  kein  Hinderniss  inniger 
persönlicher  Freundschaft,  die  sich  an  die  Gemeinschaft  des  wesentlichen  Lebeus- 
interesses,  des  Studiums  und  der  Erweiterung  der  Wissenschaften  knüpfte.  Ob 
Kriegsdienste  bei  Katholiken  oder  bei  Protestanten  genommen  wurden,  hing  weniger 
von  der  Confession,  als  von  äusseren  politischen  und  specifisch  militärischen  Rück- 
sichten ab.   Die  gewohnten  religiösen  Gebräuche  hafteten  fester  als  die  Dogmen; 


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§  11.   Descartes,  Anhänger  und  Gegner. 


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aber  sie  bestimmten  nur  die  Außenseite  des  I*ebens,  dessen  geistiger  Gehalt  ein 
wesentlich  neuer  ward.  Die  Philosophie  des  Descartes  ist  nicht  eine  katholische 
und  nicht  eine  protestantische  Philosophie,  sondern  ein  selbständiges  Streben  nach 
Wahrheit  auf  dem  Grunde  und  nach  dem  Vorbilde  der  apodiktischen  Gewissheit 
der  mathematischen  und  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Erkeuntniss.  Den 
.verites  revälees"  macht  er  seine  Reverenz,  aber  hütet  sich  sorgsam  vor  jeder 
näheren  Berührung.  Bosauet  sagt:  „M.  Descartes  a  toujours  craint  d'etre  not« 
par  1  ßglise  et  on  lui  voit  prendre  sur  cela  des  precautions  qui  allaient  ju&qa'ä 
Pexces."  Der  Uebertritt  der  Tochter  Gustav  Adolfs  zum  Katholicismus  soll  seinen 
ersten  Anlass  in  dem  Umgang  dieser  Fürstin  mit  Descartes  gehabt  haben.  Dass 
nicht  ein  directer  Einfluss  im  Sinne  einer  »Proselytenmacherei*  stattgefunden  habe, 
ist  selbstverständlich;  aber  im  Sinne  einer  Vergleichgültigung  der  confessionellen 
Unterscheiduugslehren,  welche  die  natürliche  Folge  der  neuen  Erkenntniss  war,  und 
etwa  noch  positiv  durch  Descartes'  Betonung  der  menschlichen  Freiheit,  die  besser 
zum  katholischen  als  zum  protestantischen  Dogma  stimmte,  ist  ein  Einfluss  des  Des- 
cartes wenigstens  möglich. 

Descartes  ist  nicht  nur  als  Philosoph,  sondern  auch  als  Mathematiker  und 
Physiker  von  hervorragender  Bedeutung.  Sein  mathematisches  Hauptverdienst  ist 
die  Begründung  der  analytischen  Geometrie,  welche  die  räumlichen  Verhältnisse 
durch  Bestimmung  der  Entfernungen  aller  Punkte  von  festen  Linien  (Coordinateu) 
auf  arithmetische  zurückführt  und  mittelst  der  (algebraischen)  Rechnung  mit 
Gleichungen  geometrische  Aufgabeu  löst  und  Lehrsätze  beweist.  Auch  die  Be- 
zeichnung der  Potenzen  durch  Exponenten  wird  ihm  verdankt.  Als  Physiker  hat 
er  sich  um  die  Lehre  von  der  Refraction  des  Lichtes,  um  die  Erklärung  des  Regen- 
bogens, um  die  Bestimmung  der  Schwere  der  Luft  verdient  gemacht.  Der  funda- 
mentale Irrthum  des  Descartes,  die  Materie  nur  durch  Druck  und  Stoss  und  nicht 
durch  innere  Kräfte  bewegt  zu  denken,  ist  durch  die  Newtonsche  Gravitationslehre 
berichtigt  worden;  andererseits  enthält  die  Lehre  des  Descartes  vom  Licht  und  von 
der  Entstehung  der  Weltkörper  manche  Ahnungen  des  Richtigen,  welche  von  den 
Newtonianern  verkannt  wurden,  aber  durch  die  von  Huyghens  und  Euler  vertretene 
Undulationstheorie  und  durch  die  von  Kant  und  Laplace  aufgestellte  Lehre  von 
der  Entstehung  des  Weltgebäudes  wieder  zu  Ehren  gekommen  sind.  Auch  auf  dem 
Gebiete  der  Anatomie  hat  Descartes  mit  Erfolg  gearbeitet. 

Der  Discours  de  la  metho de  zerfällt  in  sechs  Abschnitte:  1.  considerations 
touchant  les  sciences;  2.  principales  regles  de  la  methode;  3.  quelques  regles  de  lu 
murale,  tirees  de  cette  methode:  4.  raisons  qui  prouvent  Pexistence  de  Dieu  et  de 
Paine  humaine,  ou  fondement  de  la  metaphysique ;  5.  ordre  des  questions  de  physique; 
€.  quelles  choses  sont  requises  pour  aller  plus  avant  en  la  recherche  de  la  uature. 
In  dem  ersten  Abschnitt  erzählt  Descartes,  wie  ihn  in  seiner  Jugend  alle  Wissen- 
schaften ausser  der  Mathematik  unbefriedigt  gelassen  haben.  Von  der  Philosophie, 
die  er  in  dem  Jesuitencollegium  gelernt  hat,  weiss  er  nur  zu  rühmen,  dass  sie 
„donne  moyen  de  parier  vraisemblablcment  de  toutes  choses  et  se  faire  admirer  des 
moins  savants";  er  hält  alles  in  ihr  für  zweifelhaft.  Er  ist  darüber  erstaunt,  dass 
man  auf  die  so  feste  Basis  der  Mathematik  nichts  Höheres  als  die  mechanischen 
Künste  gebaut  habe.  Die  überlieferten  Wissenschaften,  sagt  Descartes  in  der  zweiten 
Abhandlung,  sind  grösstentheils  nur  Conglomerate  von  Meinungen,  ebenso  unförm- 
lich, wie  Städte,  die  nach  keinem  einheitlichen  Plane  gebaut  sind.  Was  ein  Ein- 
zelner planmässig  schafft,  wird  in  der  Regel  weit  besser,  als  was  sich  ohne  Plan 
und  Ordnung  historisch  gestaltet  hat.  Es  wäre  zwar  nicht  wohlgethan,  den  Staat 
von  Grund  aus  umzubilden  ,en  le  renversaut  pour  le  redresser",  denn  die  Gewohn- 
heit lässt  die  üebelstände  leichter  ertragen,  der  Umsturz  wäre  gewaltsam  uud  der 

5* 


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§11.    DeBcartes,  Anhänger  and  Gegner. 


Nenbaa  schwierig;  aber  die  eigenen  Meinungen  sämmtlich  aufzuheben,  nm  methodisch 
ein  wohlgegründetes  Wissen  zu  gewinnen,  dies  setzt  Descartes  sich  zur  Lebensauf- 
gabe. Die  Methode,  welche  Descartes  befolgen  will,  ist  durch  dos  Vorbild  der 
Mathematik  bedingt.  Er  stellt  vier  methodische  Grundsätze  auf,  die,  wie  er  glaubt, 
von  der  aristotelischen  Logik,  insbesondere  der  Syllogistik,  welche  mehr  dem  Unter- 
richt als  der  Forschung  diene,  und  noch  viel  mehr  vor  der  lullischen  Kunst  zu 
schwatzen,  den  Vorzug  verdienen.  Diese  vier  methodischen  Grundsätze  sind: 
1.  Nichts  für  wahr  zu  halten,  was  nicht  mit  Evidenz  als  wahr  erkannt  sei,  indem 
es  sich  mit  einer  jeden  Zweifel  abschliessenden  Klarheit  und  Bestimmtheit  dem 
Geiste  darstellt  (si  clairement  et  si  distinetement,  que  je  u'eusse  aueune  occasion  de 
le  mettre  en  doute).  2.  Jedes  schwierige  Problem  möglichst  in  seine  Theile  zu  zer- 
legen. 8.  Ordnungsmässig  zu  denken,  indem  vom  Einfacheren  und  Leichteren 
successive  zum  Complicirteren  und  Schwierigeren  fortgegangen,  und  selbst  da,  wo 
nicht  durch  die  Natur  des  Objects  eine  bestimmte  Ordnung  gegeben  ist,  um  des 
geordneten  Fortschritts  der  Untersuchung  willen  eine  solche  angenommen  wird. 
4.  Durch  Vollständigkeit  in  den  Aufzählungen  und  Allgemeinheit  in  den  Ueber- 
sichten  sich  zu  vergewissern,  doss  nichts  übersehen  werde»)  In  dem  dritten  Ab- 
schnitt des  Discours  de  la  methode  theilt  Descartes  einige  moralische  Regeln  mit, 
die  er  provisorisch  (so  lange  nicht  eine  befriedigende  Moralphilosophie  begründet 
sei)  zu  seinem  eigenen  Gebrauch  sich  gebildet  habe.  Die  erste  ist,  die  Gesetze  und 
Gewohnheiten  seines  Landes  zu  befolgen,  an  der  Religion,  in  der  er  erzogen  sei, 
festzuhalten  und  im  praktischen  Leben  durchweg  die  gemässigtsten  und  verbreitetsten 
Maximen  zu  befolgen;  die  zweite  geht  auf  Consequenz  im  Handeln,  die  dritte  auf 
Mässigung  der  Ansprüche  an  das  äussere  Leben;  die  vierte  ist  der  Entschluss,  sein 
Leben  der  Ausbildung  seiner  Vernunft  und  der  Entdeckung  wissenschaftlicher  Wahr- 
heiten zu  widmen.  In  dem  vierten  und  fünften  Abschnitt  giebt  Descartes  die  Grund- 
züge der  Doctrin,  die  er  später  (in  den  Medit.  und  den  Princip.  philos.)  entwickelt 
hat,  und  verbreitet  sich  im  sechsten  über  das  zur  Förderung  der  Physik  und 
erweiterten  Anwendung  derselben  auf  die  Heilkunde  einzuhaltende  Verfahren. 

In  den  Meditationes  de  prima  philosophia  sucht  Descartes  das  Dasein 
Gottes  und  die  selbständige,  vom  I^eibe  trennbare  Existenz  der  menschlichen  Seele 
darzuthun.  In  der  ersten  Meditation  zeigt  Descartes,  dass  sich  an  Allem  zweifeln 
lasse,  nur  nicht  daran,  dass  wir  zweifeln,  also,  da  das  Zweifeln  ein  Denken  ist,  nicht 
daran,  dass  wir  denken.  Von  meiner  Jugendzeit  an,  sagt  der  Verfasser  (zum  Theil 
im  Anschluss  an  Charron  und  andere  Skeptiker),  habe  ich  eine  Menge  überlieferter 
Ansichten  als  wahr  angenommen  und  darauf  weiter  gebaut;  was  aber  auf  so  un- 
sicherem Grunde  ruht,  kann  nur  sehr  ungewiss  sein;  es  thut  daher  noth,  sich  irgend 

*)  Diese  Regeln  betreffen  das  subjective  Verhalten  des  Denkenden  als  solches, 
nicht  die  durch  das  Verhältniss  des  Denkens  zur  Objectivität  bedingten  Denkformen 
und  Denkgesetze,  welche  die  aristotelische  Logik  durch  Analyse  des  Denkens  zu 
verstehen  sucht:  sie  sind  daher,  so  zweckmässig  sie  in  ihrer  Art  sein  mögen,  doch 
nicht  im  mindesten  dazu  geeignet,  die  aristotelische  Logik  zu  ersetzen;  schon  die 
aus  der  Schule  des  Descartes  hervorgegangene  Schrift:  La  logique  ou  l'art  de  penser, 
Paris  1662  u.  ö. ,  hat  vielmehr  diese  cartesiauischen  Regeln  mit  einer  modincirten 
aristotelischen  Logik  verbunden.  Auf  den  Gang  des  Denkens  im  Verhältniss  zur 
Objectivität  bezieht  sich  die  von  Descartes  der  aristotelischen  Schule  entnommene 
Unterscheidung  der  analytischen  Methode,  die  von  dem  Bedingten  zum  Be- 
dingenden, und  der  synthetischen  Methode,  die  umgekehrt  von  dem  Bedingenden 
zum  Bedingten  fortgeht.  Doch  hat  Descartes  auch  dieser  Unterscheidung  eine  sub- 
jectivere  Wendung  gegeben,  indem  er  die  analytische  Methode  als  die  der  Erfindung, 
die  synthetische  als  die  der  didaktischen  Darstellung  bezeichnet,  was  höchstens 
a  potiori,  aber  keineswegs  durchgängig  zutrifft. 


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§11.   Descartes,  Anhänger  und  Gegner. 


einmal  im  Leben  von  allen  überkommenen  Meinungen  loszumachen  und  vom  Funda- 
ment an  einen  Neubau  aufzuführen.  Die  Sinne  täuschen  oft;  ich  darf  ihnen  daher 
in  keinem  Falle  unbedingt  trauen.  Der  Traum  täuscht  mich  durch  falsche  Bilder; 
ich  finde  aber  kein  sicheres  Kriterium,  um  zu  entscheiden,  ob  ich  in  diesem  Augen- 
blick schlafe  oder  wache.  Vielleicht  ist  unser  Körper  nicht  so,  wie  er  sich  unseren 
Sinnen  darstellt  Dass  es  überhaupt  Ausdehnung  gebe,  scheint  sich  freilich  nicht 
wohl  bezweifeln  zu  lassen;  jedoch  weiss  ich  nicht,  ob  nicht  vielleicht  ein  höheres 
böswilliges  Wesen  oder  auch  ein  guter  Gott  bewirkt  habe,  dass  zwar  in  der  That 
keine  Erde,  kein  Himmel,  kein  ausgedehntes  Object,  keine  Figur,  keine  Grösse,  kein 
Ort  existirt,  und  dass  ich  nichtsdestoweniger  die  sinnlichen  Vorstellungen  habe,  die 
mir  die  Existenz  aller  dieser  Objecte  vorspiegeln,  dass  ich  sogar  in  der  Addition 
von  zwei  und  drei,  in  der  Zählung  der  Seiten  eines  Quadrats,  in  den  leichtesten 
Schlüssen  mich  täusche  Meine  Un Vollkommenheit  kann  so  gross  sein,  dass  ich  mich 
immer  täusche.  Wie  Archimedes,  sagt  Descartes  in  der  zweiten  Meditation,  nur 
einen  festen  Punkt  forderte,  um  die  firde  bewegen  zu  können,  so  werde  ich  grosse 
Hoffnungen  fassen  dürfen,  wenn  ich  glücklich  genug  bin,  auch  nur  einen  Satz  zu 
finden,  der  völlig  gewiss  und  unzweifelhaft  ist  In  der  That  ist  Eins  gewiss,  während 
mir  Allee  als  ungewiss  erscheint,  nämlich  eben  mein  Zweifeln  und  Denken  selbst 
und  daher  meine  Existenz.  Gäbe  es  auch  ein  mächtiges  Wesen,  welches  es  darauf 
angelegt  hätte,  mich  zu  täuschen,  so  muss  ich  doch  existiren,  um  getäuscht  werden 
zu  können.  Indem  ich  denke,  dass  ich  sei,  so  beweist  eben  dieses  Denken,  dass  ich 
wirklich  bin.  Der  Satz:  ich  bin,  ich  existire,  ist  allemal,  da  ich  ihn  ausspreche 
oder  denke,  notwendigerweise  wahr.  Cogito,  ergo  sum.  Nur  das  Denken  ist 
mir  gewiss,  ich  bin  eine  res  cogitans,  id  est  mens  sive  animus  sive  intellectus  sive 
ratio.  Die  res  cogitans  ist  eine  res  dubitans,  intelligens,  affirmans,  negans,  volens, 
nolena,  imaginans  quoque  et  sentiens.  (Nämlich  als  »cogitandi  modos*  habe  ich 
gewiss  auch  sinnliche  Empfindungen,  obschon  die  Beziehung  zu  äusseren  Objecten 
und  Affection  der  Sinne  zweifelhaft  sein  mag.)  Nonne  ego  ipse  sum  qui  jam  dubito 
fere  de  Omnibus,  qui  nonnihil  tarnen  intelligo,  qui  hoc  unum  verum  esse  affirmo, 
nego  caetera,  cupio  plura  nosse,  nolo  decipi,  multa  vel  invitus  imaginor,  multa  etiam 
tamquam  a  sensibus  venientia  animadverto?  Ich  kenne  mich  selbst  als  denkendes 
Wesen  besser,  als  ich  die  Aussendinge  kenne.  Diesen  Fundameutalsatz  für  einen 
Schluss  anzusehen,  dagegen  verwahrt  sich  Descartes  selbst  Er  soll  eine  eigen- 
tümliche Wahrheit  sein,  die  sich  der  Seele  ohne  Hülfe  eines  allgemeinen  Satzes 
und  ohne  alle  logische  Ableitung  durch  eine  einfache  Intuition  aufdrängt,  ist  aber 
eine  klare  und  deutliche  Perception.*)    Das  Wesen  der  Seele  besteht  im  Denken. 


*)  Die  Aehnlichkeit  mit  dem  Ausgangspunkte  des  augustinschen  Philosophirens 
und  mit  Sätzen  des  Occam  (Grdr.  ft,  §  16,  S.  106  u.  §  36,  S.  263)  und  des 
Campanella  (s.  o.  §  6,  S.  42)  ist  augenfällig.  Descartes  führt  die  res  cogitans,  also 
die  Anwendbarkeit  des  Substanzbegriffs,  wenn  auch  das  Wesen  der  Substanz 
ganz  im  Denken  bestehen  soll,  und  das  ego,  also  die  Individualität,  die  Einheit  des 
Bewusstseins  in  sich  und  Verschiedenheit  von  anderem,  ohne  Ableitung  mit  in 
seinen  Fundamentalsatz  ein.  Lichtenberg  hat  geurtheilt  Descartes  habe  nur  schliessen 
dürfen:  Cogitat,  ergo  est  Descartes  bringt  selbst  (Inquis.  verit  p.  lum.  nat)  den 
Einwand,  um  so  zu  folgern,  wie  er,  müsse  man  vorher  wissen,  was  Zweifeln,  was 
Denken  und  was  Existenz  sei.  Allein,  antwortet  er  darauf,  dies  wisse  ein  Jeder, 
nicht  durch  eine  Definition,  sondern  viel  gewisser  und  unmittelbarer  durch  eigene 
Erfahrung,  durch  das  Bewnsstsein  und  das  innere  Zeugniss,  das  er  in  sich  finde,  wenn 
er  die  Sachen  prüfe.  —  Mit  Kant  kann  in  Frage  gestellt  werden,  ob  das  Bewusstsein, 
das  wir  von  unserem  Denken,  Wollen,  Empfinden,  überhaupt  von  unsern  psychischen 
Functionen  haben,  diese  Functionen  so,  wie  sie  an  sich  sind,  auffasse  oder  mit  einer 
Form  behaftet  sei,  die  nur  der  Selbstauffassung  und  nicht  dem  Aufzufassenden  an 
sich  zukomme,  in  welchem  Falle  die  durch  den  .innern  Sinn*  vermittelte  Selbst- 


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§11.   Descartes,  Anhänger  und  Gegner. 


deshalb  kann  eigentlich  von  einer  Fähigkeit  derselben,  zu  denken,  nicht  gesprochen 
werden,  quia  mens  Semper  actu  cogitat 

In  der  dritten  Meditation  geht  Descartes  zur  Gotteserkenntnisa  fort  Ich 
bin,  sagt  er,  dessen  gewiss,  dass  ich  ein  denkendes  Wesen  bin;  aber  weiss  ich  nicht 
auch,  was  dazu  gehört,  irgend  einer  Sache  gewiss  zu  sein?  In  der  ersten  Erkenntnis«, 
die  ich  gewonnen  habe,  hat  nichts  Anderes  mich  der  Wahrheit  vergewissert,  als 
die  klare  und  bestimmte  Perception  dessen,  was  ich  behaupte,  und  diese  würde 
mich  nicht  der  Wahrheit  haben  gewiss  machen  können,  wenn  es  geschehen  könnte, 
dass  irgend  etwas,  das  ich  mit  solcher  Klarheit  und  Bestimmtheit  auffasse,  falsch 
wäre;  hiernach  darf  ich  wohl  als  allgemeine  Regel  annehmen,  alles  sei  wahr,  was 
ich  sehr  klar  und  bestimmt  percipire  (jam  videor  pro  regula  generali  posse  statuere, 
illud  omne  esse  verum,  quod  valde  clare  et  distincte  percipio).  Nur  die  Möglichkeit, 
dass  ein  Wesen,  welches  über  mich  Macht  habe,  mich  in  Allem  täusche,  könnte  die 
Gültigkeit  dieser  Regel  einschränken.  Ich  habe  duher  Anlass,  zunächst  das  Dasein 
Gottes  zum  Gegenstand  meiner  Untersuchung  zu  machen.*)  Meine  Gedanken,  sagt 
Descartes,  indem  er  sich  zur  Untersuchung  über  das  Dasein  Gottes  wendet,  sind 
theils  Vorstellungen  (Ideen,  d.  h.  in  meine  Seele  aufgenommene  Formen,  ei'Sri,  von 
Dingen),  theils  Willensacte  und  Gefühle,  theils  Urtheile.  Wahrheit  und  Irrthum 
ist  nur  in  den  Urtheilen.  Das  Urtheil,  dass  eine  Vorstellung  einem  Object  ausser 
mir  conform  sei,  kann  irrthümlich  sein;  die  Vorstellung  für  sich  allein  ist  es  nicht. 
Unter  meinen  Vorstellungen  erscheinen  mir  die  einen  angeboren,  andere  von  aussen 
gekommen,  andere  durch  mich  selbst  gebildet  zu  sein  (ideae  aliae  innatae,  aliae 
adventitiae,  aliae  a  me  ipso  factae  mihi  videntur).  Zu  der  ersten  Klasse  bin 
ich  geneigt,  die  Vorstellungen  des  Dinges,  der  Wahrheit,  des  Denkens  zu  rechnen, 


erseheinung  ebenso,  wie  durch  die  äusseren  Sinne  vermittelte  Erscheinung  räumlicher 
Objecte,  von  dem.  was  eben  diese  Erscheinungen  veranlasst,  z.  B.  unser  Bewusstsein 
über  unser  Zweifeln,  Denken,  Wollen  von  dem  wirklichen  innern  Vorgang  beim 
Zweifeln,  Denken,  Wollen  verschieden  und  mit  demselben  ungleichartig  sein  würde. 
(Doch  wird  diese  letztere  Frage  zu  Gunsten  der  descartesschen  Ansicht  entschieden 
werden  müssen,  s.  Ueberwegs  Syst.  der  Log.  §  40.)  —  Uebrigens  weist  dieser 
Fondamentalsatz  Descartes'  schon  auf  Kants  reine  Apperception  „Ich  denke*, 
die  aller  unsrer  Erkenntniss  zu  Grunde  liegt,  hin.  U  enn  auch  die  Vorstellung 
„Ich*,  welcher  alle  meine  sonstigen  Vorstellungen  verknüpft  werden,  ganz  inhaltsleer 
ist,  so  bezeichnet  sie  doch  nach  Kaut  eine  „Wirklichkeit  schlechtweg". 

*)  Descartes  übersieht  hierbei,  indem  er  in  der  Klarheit  der  Erkenntniss  das 
Kriterium  ihrer  Wahrheit  findet,  die  Relativität  dieser  Begriffe.  Ich  muss  aller- 
dings jedesmal  dasjenige,  was  ich  klar  und  bestimmt  zu  erkennen  überzeugt  bin, 
als  wahr  annehmen;  aber  ich  soll  auch  eingedenk  bleiben,  dass  eine  anscheinend 
klare  Erkenntniss  bei  einer  vertieften  Betrachtung  sich  als  ungenügend  und  irrthüm- 
lich erweisen  kann.  Wie  die  Wahrheit  der  klaren  und  sinnlichen  Anschauung,  z.  B.  vom 
Himmelsgewölbe,  durch  eine  klare  wissenschaftliche  Einsicht  eingeschränkt  und  auf- 
gehoben werden  kann,  so  kann  wiederum  die  Gültigkeit  einer  Stufe  des  Denkens 
durch  eine  höhere,  insbesondere  die  Gültigkeit  des  unmittelbar  auf  die  Objecte  ge- 
richteten Denkens  durch  ein  erkenntnisstheoretisches  Denken  eingeschränkt  und  auf- 
gehoben werden.  Es  ist  falsch,  die  vollere  Wahrheit,  die  der  höheren  Stufe  eignet, 
einer  niederen,  die,  so  lange  noch  keine  höhere  erreicht  ist,  in  natürlicher  Selbst- 
täuschung für  die  höchste  gehalten  wird,  zu  vindiciren  und,  falls  sie  sich  dort  nicht 
findet,  von  malitiöser  Täuschung,  von  verwerflichem  Trug  zu  reden.  —  In  formellem 
Betracht  involvirt  das  cartesianische  Kriterium  eine  Zweideutigkeit,  indem  es  ent- 
weder auf  die  Deutlichkeit  der  Vorstellung  als  solcher  oder  auf  die  Deutlichkeit  des 
Urtheils,  dass  gewissen  Vorstellungen  oder  Vorstellungsverhältnissen  objective  Gültig- 
keit zukommt,  bezogen  werden  kann.  Im  ersten  Fall  ist  das  Kriterium  falsch;  im 
zweiten  Fall  aber  schiebt  es  die  Frage  nur  zurück,  indem  unentschieden  bleibt, 
worauf  die  Deutlichkeit  der  Ueberzeugung  von  der  objectiven  Realität  des  Vor- 
gestellten beruhe.  Diese  Mängel  des  Kriteriums  bekunden  sich  augenfällig  in  der 
Anwendung  desselben  auf  das  Verhältniss  von  Leib  und  Seele  (s.  unten). 


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§11.   Descartes,  Anhänger  and  Gegner. 


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die  ich  aus  meinem  eigenen  Wesen  schöpfe  (ab  ipsamet  mea  natura,  wobei  von 
Descartes  kein  Unterschied  zwischen  dem  Angeboreusein  einer  Vorstellung  als 
solcher  und  dem  durch  Abstraction  vermittelten  Ursprung  einer  Vorstellung  aus  der 
innern  Wahrnehmung  der  psychischen  Functionen,  zu  denen  die  Fähigkeit  uns 
angeboren  ist,  gemacht  wird.  In  den  notae  in  programma  quoddam  sagt  er  freilieh, 
der  Geist  bedürfe  keiner  Ideen,  quae  sint  aliquid  diversum  ab  eius  facultate  cogi- 
tandi,  so  dass  es  sich  also  bei  den  ideae  innatae  nicht  um  einen  ursprünglichen 
Besitz  von  Erkenntnissen  handeln  würde,  sondern  um  eine  Anlage,  gewisse  Vor- 
stellungen zu  bilden).  Der  zweiten  Klasse  scheinen  die  sinnlichen  Wahrnehmungen, 
der  dritten  aber  Fictionen,  wie  die  einer  Sirene,  eines  Flügelrosses  etc.  anzu- 
gehören. Es  giebt  einen  Weg,  aus  dem  psychischen  Charakter  einer  Idee  selbst  zu 
schliessen,  ob  sie  von  einem  realen  übjecte  ausser  mir  herstamme.  Die  verschiedenen 
Ideen  haben  nämlich  ein  verschiedenes  Maas»  von  realitas  objectiva.  d.  h.  sie 
participiren  als  Vorstellungen  an  höheren  oder  geringeren  Graden  des  Seins  oder 
der  Vollkommenheit.  (Unter  dem  Objectiven  versteht  Descartes  uoch  ganz  wie 
die  Scholastiker  das,  was  als  Vorstelluug  im  Geiste  ist.  nicht  das  äussere  Object, 
die  res  externa;  unter  dem  Snbject  aber  jedes  Substrat,  vnoxttfityoy )  Ideen, 
durch  welche  ich  Substanzen  vorstelle,  sind  vollkommener  als  solche,  die  nur  Modi 
oder  Accidentien  repräsentiren ;  die  Vorstellung  eines  unendlichen,  ewigen,  unver- 
änderlichen, allwissenden,  allmächtigen  Wesens,  des  Schöpfers  aller  endlichen  Dinge, 
hat  mehr  Vorstellungsrealität,  als  die  Vorstellungen,  welche  endliche  Substanzen 
repräsentiren.  Nun  aber  kann  in  einer  Wirkung  nicht  mehr  Realität  sein,  als  in 
der  vollen  Ursache;  die  Ursache  muss  alles  Reale  der  Wirkung  entweder  formaliter 
oder  eminenter  (d.  h.  entweder  die  nämlichen  Realitäten  oder  andere,  die  noch  vor- 
züglicher sind)  in  sich  enthalten.  Daher  kann  ich,  falls  die  Vorstellangsrealität 
irgend  einer  meiner  Ideen  so  gross  ist,  dass  sie  das  Maass  meiner  eigenen  Realität 
überragt,  schliessen,  ich  sei  nicht  das  einzige  existirende  Weseu,  sondern  es  müsse 
noch  irgend  etwas  Anderes,  das  die  Ursache  jener  Idee  sei,  existiren.  Da  ich 
endlich  bin,  so  könnte  in  mir  nicht  die  Idee  einer  unendlichen  Substanz  sein,  wenn 
nicht  diese  Idee  von  eiuer  wirklich  existirenden  unendlichen  Substanz  herstammte. 
Ich  darf  nicht  die  Vorstellung  des  Unendlichen  für  eine  blosse  Negation  der  End- 
lichkeit halten,  wie  ich  Ruhe  und  Finsterniss  nur  durch  Negation  der  Bewegung 
und  des  Lichts  percipire;  denn  im  Unendlichen  liegt  mehr  Realität,  als  im  End- 
lichen.*) Zu  diesem  Argument  für  die  Existenz  Gottes  fügt  Descartes  folgendes 
hinzu:  Ich  selbst,  der  ich  jene  Idee  habe,  könnte  nicht  existiren,  wenn  nicht  Gott 
wäre.  Wäre  ich  durch  mich  selbst,  so  würde  ich  mir  alle  möglichen  Vollkommen- 
heiten gegeben  haben,  die  ich  doch  thatsächlich  nicht  besitze.  Bin  ich  durch 
Andere,  durch  Eltern,  Voreltern  etc.  so  musa  es  doch  eine  erste  Ursache  geben, 
die  Gott  ist;  ein  regressus  in  infinitum  ist  um  so  weniger  anzunehmen,  da  auch 
mein  Fortbestehen  von  einem  Augenblick  zum  andern  nicht  von  mir  selbst  und 
nicht  von  endlichen  Ursachen  meines  Daseins,  sondern  nur  von  der  ersten  Ursuche 
abhängig  sein  kann.  Die  Gottesvorstellung  ist  mir  ebenso  eingeboren,  wie  die  Vor- 
stellung, die  ich  von  mir  selbst  habe,  mir  eingeboren  ist.  Die  Art  des  Augeboren- 
seins  lässt  Descartes  ziemlich  unbestimmt;  er  sagt:  et  sane  non  mirum  est,  Deum 

*)  Descartes  hat,  indem  er  in  Abrede  stellt,  dass  die  Vorstellung  des  Unend- 
lichen eine  blosse  Negation  sei,  die  successive  Idealisirung,  durch  welche  der 
positive  Inhalt  dieser  Vorstellung  gewonnen  wird,  zu  wenig  beachtet  und  nicht 
erwogen,  ob  auch  das  Hiuausschreiteii  über  das  auf  diesem  Wege  erreichbare 
Maass  von  vorgestellter  Vollkommenheit  noch  einen  positiven  Vorstellungsinhalt 
hinzufüge  oder  auf  eine  durch  blosse  Abstraction  zu  vollziehende  Negation  aller 
Schranken  hinauslaufe. 


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72 


§  11.   Descartes,  Anhänger  und  Gegner. 


me  creando  ideam  illam  mihi  indidi&se,  ut  esset  tamquam  nota  artificis  operi  sno 
impressa,  nec  etiam  opas  est,  at  nota  illa  sit  aliqaa  res  ab  opere  ipso  diversa,  sed 
ex  hoc  ano  quod  Dens  me  creavit,  valde  credibile  est  me  quodammodo  ad  imaginem 
et  similitudinera  ejus  factum  esse,  illamque  similitudinem,  in  qua  Dei  idea  continetur, 
a  me  percipi  per  eandero  facultatem,  per  quam  ego  ipse  a  me  percipior,  hoc  est, 
dum  in  me  ipsum  meutis  aciem  converto,  non  modo  intelligo  me  esse  rem  in- 
completam  et  ab  alio  dependentem  remque  ad  majora  et  majora  sive  meliora 
indefinite  aspirantem,  sed  simul  etiam  intelligo  illum,  a  quo  pendeo,  majora  ista 
omnia  non  indefinite  et  potentia  tantum,  sed  re  ipsa  infinite  in  se  habere,  atque 
ita  Deum  esse,  totaque  vis  argumenti  in  eo  est,  quod  agnoscam  fieri  non  posse  ut 
ex  is  tarn  talis  naturae,  qualis  sum,  uempe  ideam  Dei  in  me  habens  uisi  re  vera  Deus 
etiam  existeret.  Zu  den  nothwendigen  Eigenschaften  Gottes  gehört  die  Wahrheits- 
liebe. Gott  kann  nicht  täuschen  wollen.  Velle  fallere  vel  malitiam  Tel  imbecilli- 
tatem  testatur  nec  proinde  in  Deum  cadit. 

Aus  dieser  Eigenschaft  Gottes,  der  veracitas,  zieht  Descartes  in  den  folgenden 
Meditationen  Schlüsse.  Die  Ursache  aller  meiner  Irrthümer,  sagt  Descartes  in  der 
vierten  Meditation,  liegt  darin,  dass  meine  Willenskraft  weiter  reicht,  als  meine 
Einsicht,  und  ich  die  Anwendung  jener  nicht  so  einschränke,  wie  das  Maass  meiner 
Einsicht  es  fordert,  sondern  auch  über  das,  was  ich  nicht  einsehe,  statt  mich  des 
Urtheils  zu  enthalten,  ein  Urtheil  zu  fällen  mir  anmaasse.  Was  ich  klar  und 
bestimmt  erkenne,  dem  darf  ich  zustimmeu;  denn  dass  die  klare  und  bestimmte 
Erkenntnis»  wahr  sein  muss,  folgt  aus  Gottes  Wahrhaftigkeit.*)  Zu  den  deutlichen 
Erkenntnissen  rechnet  Descartes  iu  der  fünften  Meditation  die  der  räumlichen 
Ausdehnung  summt  allen  mathematischen  Sätzen.  In  derselben  Weise  aber,  wie 
aus  dem  Wesen  eines  Dreiecks  folgt,  dass  die  Summe  seiner  Winkel  gleich  zwei 
rechten  Winkeln  sei,  folgt  aus  der  Natur  Gottes,  dass  er  existire;  denn  unter  Gott 
ist  das  schlechthin  vollkommene  Wesen  zu  verstehen,  zu  den  Vollkommenheiten  aber 
gehört  die  Existeuz,  die  Existenz  ist  also  von  Gottes  Wesen  untrennbar,  also 
existirt  Gott.**)  In  der  sechsten  Meditation  folgert  Descartes  aus  der  klaren 
und  bestimmten  Erkenntniss,  die  wir  von  der  Ausdehnung  und  den  Körpern  haben, 


*)  Freilich  hat  Descartes  eben  dieses  auf  Gottes  Wahrhaftigkeit  gestützte  Kri- 
terium schon  zu  dem  Beweis  für  Gottes  Dasein  brauchen  müssen;  soll  dasselbe  durch 
eine  Erkenntniss,  die  von  ihm  selbst  abhängig  ist,  gesichert  werden,  so  ergiebt  sich 
unleugbar  ein  Cirkelschluss,  den  bereits  Hobbes  mit  Recht  getadelt  hat. 

**)  Descartes  begeht  hier  den  gleichen  Fehler  wie  Anselm,  die  Bedingung  jedes 
kategorischen  Schlusses  aus  der  Definition,  dass  nämlich  die  Setzung  des  Subjectes 
anderweitig  gesichert  sein  müsse,  zu  vernachlässigen.  Dieser  Vorwurf  wird  ihm  von 
dem  die  thomistische  Widerlegung  des  anselmschen  Argumentes  gegen  ihn  kehrenden 
Caterus  in  den  Objectiones  primae  mit  Recht  gemacht;  seine  Vertheidigung  ist 
unzutreffend.  Descartes'  Prämissen  führen  logisch  nur  zu  dem  nichtssagenden 
Schlüsse,  dass,  wenn  Gott  ist,  die  Existenz  ihm  zukommt,  und  wenn  Gott  fingirt 
wird,  er  als  seiend  fingirt  werden  muss.  Zudem  hat  die  cartesianische  Form  des 
ontologischen  Argumentes  einen  Mangel,  von  dem  die  anselmsche  frei  ist.  dass 
nämlich  die  Prämisse:  das  Sein  gehört  zu  den  Vollkommenheiten,  eine  sehr  be- 
streitbare Auffassung  des  Seins  als  eines  Prädicates  neben  anderen  Prädicaten 
involvirt,  während  Anselm  eine  bestimmte  Art  des  Seins,  nämlich  das  nicht  bloss 
in  unserem  Geiste,  sondern  auch  ausserhalb  desselben  statthabende  Sein,  als  etwas 
Vollkommeneres  bezeichnet  hatte.  Nur  wenn  Gott  selbst  und  unser  Gottesbegriff 
identificirt  würde,  könnte  in  dem  Gottesbegriff  als  solchem  die  Bürgschaft  des  Seins 
Gottes  gefunden  werden;  denn  dass  der  Gottesbegriff,  indem  wir  ihn  denken, 
eben  vermöge  dieses  Denkens  in  uns  ist  oder  Existeuz  hat,  ist  freilich  unleugbar 
uud  sogar  selbstverständlich;  aber  jene  Identificirung  ist  eben  nicht  cartesianisch, 
da  Descartes  unter  Gott,  dem  Schöpfer  der  Welt,  zwar  das  durch  unseren  Gottes- 
begriff gedachte  Object  (ens),  aber  nicht  dieseu  Begriff*  selbst  versteht. 


§11.   Descartes,  Anhänger  und  Gegner. 


73 


und  ans  unserem  deutlichen  Bewusstsein  des  Bestimmtwerdena  unserer  Vorstellunga- 
fähigkeit  durch  eine  äussere  und  zwar  körperliche  Ursache,  daas  die  Körper  (aas- 
gedehnten Substanzen)  wirklich  existiren  und  wir  nicht  durch  die  Vorstellung  einer 
Körperwelt  getäuscht  werden,  da  sonst  der  Qrund  der  Täuschung  in  Gott  selbst 
liegen  müsste;  die  Farbenempfindung  aber  und  Tonempfindung,  Geschmacks» 
empfindung  etc.  gilt  ihm  ebensowohl,  wie  die  Lust  und  der  Schmerz  für  bloss 
subjectiv.  Daraus  aber,  dass  wir  eine  klare  und  bestimmte  Vorstellung  von  dem 
Denken  im  weitesten  Sinne  (mit  Kinschluss  des  Bmpöndens  und  Wolleus)  haben, 
ohne  dass  darin  Körperliches  mitvorgestellt  werde,  folgert  Descartes  die  von  dem 
Leibe  gesonderte  selbständige  Existenz  unserer  Seele.*) 

Die  Gedankenentwickelung  in  den  Meditationen  bezeichnet  Descartes  selbst 
als  eine  analytische  (das  thatsächlich  Gegebene  zerlegende  und  so  die  Principien 
aufsuchende),  die  der  Weise  der  Erfindung  gemäss  Bei;  die  synthetische  Dar- 
stellung (die  von  den  allgemeinsten  oder  principiellen  Begriffen  und  Sätzen  ausgeht) 
eigne  sich  für  metaphysische  Betrachtungen  weniger,  als  für  mathematische.  Des- 
cartes macht  einen  Versuch  synthetischer  Darstellung  in  einem  Anhang  zu  seiner 
Beantwortung  der  zweiten  Reihe  von  Einwürfen,  ohne  jedoch  darauf  grosses  Ge- 
wicht zu  legen. 

Die  systematische  Hauptschrift:  Principia  philosophiae,  handelt  in  vier 
Abschnitten  de  principiis  cognitionis  humanae,  de  principiis  rerum  materialium,  de 
mundo  aspeetabili,  de  terra.  Nach  einer  Recapitulation  der  in  den  Meditatiouen 
aufgestellten  Grundsätze  folgt  in  synthetischer  Entwickelung  das  philosophische 
System,  insbesondere  die  Naturlehre  des  Descartes.  Das  vollkommenste  Wissen  ist 
die  Erkenntniss  der  Wirkungen  aus  ihren  Ursachen,  der  beste  Weg  des  Philo- 
sophirena daher  die  Erklärung  der  gewordenen  Dinge  aaf  Grund  der  Erkenntniss 
Gottes  als  ihres  Schöpfers.  In  den  grundlegenden  Betrachtungen  zu  Anfang  der 
«Principia"  ist  insbesondere  die  Ordnung  der  Beweise  für  das  Dasein  Gottes  ge- 
ändert, indem  (wie  auch  schon  in  der  synthetischen  Darstellung  bei  der  Antwort 
auf  die  obj.  secandae)  das  ontologische  Argument  den  übrigen  vorangestellt  wird; 
im  Begriffe  Gottes,  sagt  hier  Descartes,  liege  die  nothwendige,  ewige  und  voll- 
kommene Existenz,  wogegen  im  Begriff  der  endlichen  Dinge  nur  die  zufällige  Existenz 
enthalten  sei.**)  Bemerkenswerth  sind  die  Definitionen,  die  in  den  Princ.  philo«,  in 
grösserer  Zahl  und  zum  Theil  mit  grösserer  Präcision,  als  in  den  Medit,  auftreten. 
Von  fundamentaler  Bedeutung  sind  die  Definitionen  der  Klarheit  und  Bestimmt- 
heit und  der  Substanz.  Descartes  sagt  Princ.  ph.  I,  45:  Ad  perceptionem,  cui 
certum  et  indubitatum  judicium  possit  inniti,  non  modo  reqairitur  at  sit  clara,  sed 
etiam  ut  sit  distincta.  Ciaram  voco  illam,  quae  menti  attendenti  praesens  et  aperta 


*)  Hierbei  bleibt  jedoch  sehr  fraglich,  ob  nicht,  die  titpttiutatf  mit  dem  /«üy»ffuof, 
die  abstractio  mit  der  realis  distinctio  verwechselt  werde;  mit  Recht  haben  Gaasendi 
und  Andere  in  ihren  Einwürfen  die  descartessche  Verwechselung  zweier  Sätze 
gerügt:  a.  ich  kann  das  Denken  vorstellen,  ohne  die  Ausdehnung  mitvorzustellen, 
b.  ich  kann  nachweisen,  dass  das  Denken  thatsächlich  bestehen  bleibe,  wenn  das  aus- 
gedehnte Wesen,  mit  dem  es  verbunden  erscheint,  zu  bestehen  aufhört.  Gaasendi 
wendet  ferner  ein,  es  erhelle  nicht,  wie  in  einem  unausgedehnten  Wesen  Bilder  des 
Ausgedehnten  existiren  können.  Descartes  hat  diesem  Einwurf  gegenüber  zwar  die 
Körperlichkeit  der  Bilder  geleugnet,  aber  die  Thatsache  ihres  Ausgedehntseins  in 
drei  Dimensionen  unberührt  gelassen. 

**)  Dies  ist  freilich  nur  unter  der  Voraussetzung  richtig,  dass  die  objective 
Notwendigkeit  von  der  subjectiven  Gewissheit  der  Existenz  streng  unterschieden 
werde;  dann  aber  lässt  sich  immer  nur  folgern:  falls  es  einen  Gott  giebt,  so  ist 
seine  Existenz  eine  ewige,  an  sich  selbst  nothwendige  und  nicht  durch  Anderes 
bedingte. 


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74 


§11.   Descartes,  Anhänger  und  Gegner. 


est,  sicut  ea  clare  a  uobis  videri  dicimus,  quae  oculo  intaenti  praesentia  satis  fortiter 
et  aperte  illum  movent;  distinctam  antem  illam,  quae  quum  claru  Bit,  ab  omnibus 
aliis  ita  sejuncta  est  et  praecisa,  ut  nihil  plane  alind,  quum  quod  darum  est,  in 
se  contineat.  Zur  Erläuterung  führt  Descartes  das  Beispiel  des  Schmerzes  an:  ita 
dum  quis  maguum  aliquem  sentit  dolorem,  clarissima  qnidem  in  eo  est  ista  perceptio 
doloris,  sed  non  semper  est  distincta;  vulgo  enim  homines  illam  confundunt  cum 
obscuro  suo  jndicio  de  natura  ejus,  quod  putant  esse  in  parte  dolente  simile  sensui 
doloris,  quem  solum  clare  percipiunt.  Was  wir  percipiren.  Bind  theils  res  und 
rerum  affectiones  (sive  raodi),  theils  aeternae  veritates,  nullam  existentiam  extra 
cogitationem  nostram  habentea.  Zu  den  aeternae  veritates  rechnet  Descartes  Sätze, 
wie:  ex  uibilo  nihil  fit;  impossibile  est,  idem  simul  esse  et  non  esse;  quod  factum 
est,  infectum  esse  nequit;  is  qui  cogitat.  non  potest  non  existere,  dum  cogitat. 
Die  res  theilt  er  in  zwei  oberste  Genera:  unum  est  rerum  intellectualium  sive  cogi- 
tativarum,  hoc  est  ad  mentem  sive  ad  substantiam  cogitantem  pertinentium ;  aliud 
rerum  materialium  sive  quae  pertinent  ad  substantiam  extensam,  hoc  est  ad  corpus. 
Der  denkenden  Substanz  gehören  an:  perceptio,  volitio,  omnesque  modi  tarn  per- 
cipiendi  quam  volendi,  der  ausgedehnton  Substanz  aber:  magnitudo  sive  ipsa  extensio 
in  longum,  latum  et  profundnm,  figura,  motus,  situs,  partium  ipsarum  divisibilitas, 
et  talia.  Von  der  Vereinigung  (unio)  des  Geistes  mit  dem  Körper  gehen  aus  die 
sinnlichen  Begehrungen,  Gemüthsbewegungen  und  Empfindungen,  die  der  denkenden 
Substanz,  sofern  sie  mit  dem  Körper  verbunden  ist,  angehören.  Dieser  Classification 
(Princ.  ph.  I,  48—50)  lässt  Descartes  die  Definition  der  Substanz  nachfolgen 
(ib.  51).  Per  substantiam  nihil  alind  intelligere  possumus,  quam  rem  quae  ita 
existit,  ut  nulla  alia  re  indigeat  ad  existendum  Er  fügt  bei  (ib.  51—52):  Et  quidera 
substantia,  quae  nulla  plane  re  indigeat,  unica  tantum  potest  intelligi.  nempe  Dens; 
alias  vero  omnes  non  nisi  ope  concursus  Dei  existere  posse  percipimus;  atque 
ideo  nomen  substantiae  non  convenit  Deo  et  Ulis  univoce,  ut  dici  solet  in  scholis, 
hoc  est,  nulla  ejus  nominis  significatio  potest  distincte  intelligi,  quae  Deo  et 
creaturis  sit  communis;  possunt  autem  substantia  corporea  et  mens  sive  substantia 
cogitans  creata  sub  hoc  communi  conceptu  intelligi,  quod  sint  res,  quae  solo  Dei 
concursu  egent  ad  existendum.  Ans  jedem  Attribute  kann  auf  eine  res  existens 
oder  substantia,  der  es  zukomme,  geschlossen  werden;  aber  jede  Substanz  hat  eine 
praecipua  proprietas,  quae  ipsius  naturam  essentiamque  constituit  et  ad  quam  aliae 
omnes  referuntur;  nempe  extensio  in  longum,  latum  et  profundum  substantiae  cor- 
poreae  naturam  constituit,  et  cogitatio  constituit  naturam  substantiae  cogitantis; 
nam  orane  aliud,  quod  corpori  tribui  potest,  extensionem  praesupponit  estque  tantum 
modus  quidam  rei  extensae,  ut  et  omnia  quae  in  mente  reperimus,  sunt  tantum 
diversi  modi  cogitandi.  Figur  und  Bewegung  sind  Modi  der  Ausdehnung;  Ein- 
bildung, Sinnesempfindung,  Wille  sind  Modi  des  Denkens  (ib.  53).  Die  Modi 
können  in  derselben  Substanz  wechseln;  die  jedesmalige  Beschaffenheit  ist  die 
Qualität  der  Substanz;  was  nicht  wechselt,  ist  nicht  eigentlich  als  Modus  oder 
Qualität,  sondern  nur  mit  dem  allgemeineren  Ausdruck  als  Attribut  zu  bezeichnen 
(ib.  56).  Diese  Definitionen  sind  besonders  auf  die  Doctrin  des  Spinoza  von  maass- 
gebendem  Einfluss  gewesen. 

Das  Einzelne  der  in  den  Princ.  philos.  dargestellten  Doctrin  ist  mehr  von 
naturwissenschaftlichem  als  eigentlich  philosophischem  Interesse.  Mit  Ausschluss 
der  Zwecke  (causae  finales)  sucht  Descartes  nur  die  wirkenden  Ursachen  (causae 
efficientes)  zu  erkennen  (Pr.  ph.  I,  28).  Der  Materie  legt  er  nur  Ausdehnung  und 
Modi  der  Ausdehnung,  keine  inneren  Zustände,  keine  Kräfte  bei;  Druck  und  Stoss 
sollen  zur  Erklärung  der  Erscheinungen  ausreichen  Die  Materie  besteht  aus  kleinsten 
Körperchen  von  verschiedener  Gestalt  und  Grösse,  deren  Theilung  durch  Gott  freilich 


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§11.    Descartes,  Anhänger  und  Gegner. 


75 


immer  noch  denkbar  sein  soll  (Corpusculartheorie).  Das  Quantum  der  Materie  und 
der  Bewegung*),  das  von  Gott  ursprünglich  herrührt,  bleibt  im  Universum  unver- 
ändert (Princ.  philos.  II,  §  36*.  Descartes  setzt  die  Bewegungsgrösse  gleich  dem 
Product  ans  Masse  und  Geschwindigkeit  fmv.).  Deu  Beweis  für  die  Constanz  dieses 
Productes  im  Weltall  führt  Deacartes  theologisch:  aus  Gottes  Eigenschaft  der 
Unwaudelbarkeit  folge  die  Unwandelbarkeit  seiner  Gesammtwirkung.  Die  Seele 
kann  nur  die  Richtung  von  Bewegungen  bestimmen,  aber  das  Quantum  derselben 
weder  vermehren  noch  vermindern.  Die  Weltkörper  können  betrachtet  werden  als 
entstanden  aus  Wirbelbewegungen  einer  chaotischen  Materie.  Wo  Raum  ist,  ist 
auch  Materie;  diese  ist  gleich  dem  Räume  ins  Unendliche  tbeilbar  und  sie  erstreckt 
sich,  wenn  nicht  ins  Unendliche  in  infinitum),  jedenfalls  unbestimmbar  weit  hin  (in 
indefiuitum).  Dass  mit  Aufhebung  der  Voraussetzung  eines  kugelförmig  begrenzten 
Universums  auch  die  Annahme  einer  periodischen  Rotation  desselben  um  die  Erde 
aufgehoben  ist,  ist  selbstverständlich.  Doch  scheut  sich  Descartes,  zu  der  coperni- 
canischen  Doctrin  (vgl.  oben  S.  22,  S.  33  und  S.  39),  um  deren  willen  Galilei  ver- 
dammt ward,  sich  offen  zu  bekennen;  er  hilft  sich  durch  die  Wendung,  die  Erde 
ruhe,  wie  jeder  Planet,  in  dem  bewegten  Aether.  wie  der  schlafende  Reisende  in 
einem  bewegten  Schiffe  oder  wie  ein  nur  vom  Strome  getriebenes  Schiff  in  diesem. 
Aus  den  Gesetzen  des  Druckes  und  Stosses  allein  sucht  Descartes  nicht  nur  die 
physikalischen  Erscheinungen  (wie  er  z.  B.  die  magnetische  Anziehung  durch  Wirbel- 
bewegungen schraubenförmiger  Moleküle  erklärt),  sondern  auch  die  Pflanzen  und 
Thiere  zu  begreifen.  Er  spricht  den  Pflanzen  das  (von  den  Aristotelikern  ange- 
nommene) Leben8princip  ab,  da  nur  die  Ordnung  und  Bewegung  ihrer  Theile  die 
Vegetation  bewirke,  und  er  ist  auch  nicht  geneigt,  den  Thieren  Seelen  zuzugestehen. 
Was  im  menschlichen  Seelenleben  an  die  Beziehung  der  Seele  zum  Körper  geknüpft 
ist,  erklärt  Descartes  durchaus  mechanistisch,  z.  B.  die  Ideenassociation  aus  be- 
harrenden materiellen  Veränderungen,  die  das  Gehirn  bei  der  Affection  der  Sinne 
erleide,  und  aus  der  Bedingtheit  der  späteren  Vorstellungsbildung  durch  diese  Ver- 
änderungen. Leib  und  denkende  Seele  sind  einander  entgegengesetzt.  Zwar  ist 
ihre  Verbindung  in  dem  Menschen  anzuerkennen,  sie  ist  aber  eine  gewaltsame,  und 
in  der  Maschine  des  Leibes  wird  nichts  geändert,  wenn  die  denkende  Seele  hinzu- 
tritt. Descartes  ist  in  Folge  dieser  Ansicht  als  einer  der  Urheber  der  materialistisch- 
mechanischen  Richtung  in  anthropologischer  Beziehung  zu  betrachten,  wie  sich 
de  Lamettrie  auch  mit  Vorliebe  auf  ihn  beruft.  Als  unausgedehntes  Wesen  kann 
die  Seele  sich  mit  dem  Leibe  nur  an  einem  Punkte  berühren  und  zwar  im  Gehirn 
(Princ.  philos.  IV,  189,  196,  197),  nämlich  (Dioptr.  IV,  1  ff,  Pass.  anim.  I,  31  ff.) 
in  der  Zirbeldrüse  (glans  pinealis),  als  dem  Organ  inmitten  des  Hirns,  welches 
einfach  und  nicht,  wie  die  meisten  Theile,  doppelt,  sowohl  rechts  als  links,  vorhanden 
ist.**)  Die  Einwirkung  der  Seele  auf  den  Leib  und  des  Leibes  auf  die  Seele  setzt 
Gottes  Beihülfe  (concursus  oder  assistentia  Dei)  voraus.  Dass  übrigens  die  gegen- 
seitige Einwirkung  durch  die  völlige  Verschiedenheit  des  Wesens  nicht  ausgeschlossen 

*)  Allerdings  bleibt  das  Quantum  der  Materie,  aber  nicht  nothwendig  das 


Kraft"  und  .Spannkraft"  zu  nennen  pflegt,  im  Universum  unverändert.  S.  darüber 
insbesondere  Helmholtz,  über  die  Erhaltung  der  Kraft  in  „ Populäre  wissensch. 
Aufsätze",  H.  2,  Braunschw.  1876. 

**)  Dieser  Ansicht,  dass  die  Seele  einen  punctuellen  Sitz  habe,  steht  die  {Joctrin 
des  Spinoza  gerade  entgegen,  aber  die  leibnizische  Lehre  von  der  Seele  alsMoimue 
beruht  auf  ihr.  Der  Annahme,  dass  die  Zirbeldrüse  der  Sitz  der  Seele  sei,  wider- 
streitet die  Thatsache  der  Fortdauer  des  Seelenlebens  in  dem  Fall  einer  Zerstörung 
jenes  Organs. 


Quantum  der  Be 


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76 


§11.    Descartes,  Anhänger  and  Gegner. 


werde,  hat  Descartes  schon  in  seinen  Antworten  auf  die  Einwürfe  des  Gaasendi 
gegen  seine  Meditationen  behauptet. 

Die  Abhandlung  über  die  passiones  animae  ist  ein  physiologisch-psycho- 
logischer Erklärungsversuch  der  Affecte  im  weitesten  Sinue  nach  den  in  den  Principia 
philos.  entwickelten  Grundsätzen.  Von  sechs  primitiven  Affecten :  Bewunderung,  liebe, 
Hasa,  Verlangen,  Freude  und  Traurigkeit,  sucht  er  alle  anderen  abzuleiten.  Der 
vollkommenste  aller  Affecte  ist  die  intellectaelle  Liebe  zu  Gott  Nur  gelegentlich 
hat  Descartes  ethische  (den  aristotelischen  und  den  stoischen  verwandte)  Ansichten 
geäussert,  namentlich  in  dem  Briefe  de  summo  bono  an  die  Königin  Christine.  Als 
Ziel  wird  die  Glückseligkeit  aufgestellt,  und  diese  geht  hervor  aus  dem  consequenten 
guten  Willen  oder  der  Tugend.  Der  Wille  hängt  aber  von  der  Vorstellung  ab,  und 
so  kommt  auf  letztere  wieder  alles  an.  Deutliche  und  klare  Vorstellungen  sind 
die  Grundlage  für  das  wahre  sittliche  Leben.  Die  Unfreiheit  der  Seele,  welche  in 
der  Abhängigkeit  von  den  AfTecten  besteht,  muss  überwunden  werden  und  zwar 
durch  die  Weisheit,  welche  die  Lust  an  vernunftgemässer  Thätigkeit  aller  niederen 
Lust  vorzieht. 

Zu  den  Anhängern  des  Cartesius  gehören  Renerius  und  Regius  in  Utrecht, 
Raey,  Heereboord,  der  freilich  mehr  die  jüngere  aristotelische  Scholastik  ver- 
tritt, Heidanus  in  Leyden  und  andere  holländische  Gelehrte,  ferner  in  Frankreich 
Claude  de  Clereelier  der  Herausgeber  der  Opera  postbuma  Descartis,  gest.  1686, 
viele  Oratorianer  und  Jansenisten,  deren  AugUBtinismus  sie  für  die  neue 
Doctrin  empfänglich  machte.  Unter  den  Jansenisten  der  Abtei  Port-Royal  (worüber 
Herrn.  Reuchlin,  Geschichte  von  Port-Royal,  Hamb,  und  Gotha  1889—44  und 
St.  Beuve,  Port  Royal,  3.  ed.  Paris  1867,  handeln)  ist  der  namhafteste  Freund 
der  cartesianischen  Richtung  der  im  Einzelnen  manche  Bedenken  erbebende,  die 
carteaiauische  Gewissheitsregel  auf  Wissensobjecte  einschränkende  Verfasser  der  Ob- 
jectiones  quartae  Anton  Arnauld  (1612—94;  oeuvr.  complet.,  Lausan.  1776—83), 
s.  üb.  ihn:  F.  R.  Vicajee,  Antoine  Arnauld,  his  place  in  the  history  of  Logic, 
Bombay  1881.  Zu  den  bedeutenderen  Cartesianern  gehören  ferner:  Pierre  Silvain 
Regia  (1632—1707;  cours  entier  de  la  philos.,  Paris  169$  Amst.  1691),  Pierre 
Nicole  (1625 — 95;  essais  de  morale,  Paris  1671—74  u.  ö.;  oeuvres  mor.,  Par.  1718) 
u.  A.  Von  Arnauld  und  Nicole  wurde  unter  Benutzung  einer  Abhandlung  von 
Pascal  die  Logik  von  Port-Royal  ,1'art  de  penser*  1662  herausgegeben,  die  im 
Ganzen  als  cartesianisch  gelten  kann  und  heutigen  Tages  noch  nicht  antiquirt  ist. 
S.  ob.  S.  68  Anm.  Unter  den  deutschen  Cartesianern  ist  zu  nennen:  Balthasar 
Bekker  (1634—98;  de  philos.  Cartesiana  admonitio  Candida  et  sincera,  Wesel  1668), 
der  sich  besonders  durch  Bestreitung  des  Unwesens  der  Hexenprocesse  in  seiner 
Schrift:  die  verzauberte  Welt  (holländisch:  betoverde  Weereld,  Leeuwarden  1690 
und  Amst.  1691—93,  in  viele  Sprachen  übersetzt)  verdient  gemacht  hat.  Da 
Geistiges  auf  Körperliches  nicht  einwirken  kann,  ist  alle  Zauberei  unmöglich  (vgl. 
von  Gegenschriften  u.  A.:  Fürstellung  vier  neuer  Weltweisen,  namentlich  R.  des 
Cartes,  Th  Hobbes,  Ben.  Spinoza,  Balth.  B.s,  nach  ihr.  Leb.  und  fürnehmst. 
Irrthüm.,  1702).  Ferner  huldigen  der  Lehre  Descartes'  Joh.  Clauberg  (1625— 65), 
Lehrer  zu  Duisburg  (Logica  vetus  et  nova  etc.  Duisb.  1656;  opera  philos.,  Amst. 
1691),  Sturm  in  Altdorf  u.  A.  Für  England  vermittelte  die  cartesianische  Lehre 
Antoine  Le  Grand  aus  Douay,  später  in  England  lebend,  durch  seine  Schriften: 
Philosophia  veterum  e  mente  Renati  des  Cartes,  Loud.  1671,  Iustitutiones  philo- 
sophiae  secundum  principia  R.  d.  C.  nova  methodo  adomatae,  Lond.  1672  u.  1678, 
oft  wieder  aufgelegt,  Apologia  pro  Cartesio  contra  Sam.  Parkerum,  Lond.  1672, 
Nürob.  1681.    Auch  in  Italien  erwarb  sich  trotz  des  päpstlichen  Verbotes  die 


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§11.    Descartes,  Anbänger  und  Oegner. 


77 


I/ehre  Descartes'  Anhänger.  Einer  der  letzten  war  der  Cardinal  Gerdil,  gest.  1802. 
der  später  noch  zu  erwähnen  ist. 

Von  den  Gegnern  des  Descartes  stehen  Hobbes  nnd  Gassendi  (ausser 
den  Objectiones,  s.  ob  S.  63,  anch  IHsquisitiones  Anticartesianae,  1643)  auf  natu- 
ralistischem Standpunkt  Unter  den  vielen  zum  Theil  höchst  scharfsinnigen  und 
treffenden  Einwürfen  des  Gassendi,  in  denen  er  alle  Fundamentalsätze  Descartes', 
namentlich  auch  die  Möglichkeit  des  absoluten  Zweifels,  die  volle  Verschiedenheit 
der  körperlichen  und  der  denkenden  Substanz,  angreift,  findet  sich  gerade  derjenige 
nicht,  der  oft  allein  erwähnt  wird,  der  aber  nur  von  Descartes  in  seiner  Antwort 
dem  Gassendi  in  den  Mund  gelegt  worden  ist:  es  könne  auch  aus  dem  Spazieren- 
gehen das  Sein  erschlossen  werden.  Gassendi  sagt  nur,  aus  jeder  Action  könne 
das  Sein  erschlossen  werden,  und  missbilligt  die  cartesianische  Subsumtion  aller 
psychischen  Actionen  unter  .Cogitare".  Vom  Standpunkte  theologischer  Orthodoxie 
und  aristotelischer  Philosophie  haben  besonders  der  Protestant  GisbertusVoetius 
und  die  Jesuiten  Bourdin  (der  Verf.  der  Objectiones  septimae),  Daniel  (voyage 
du  monde  de  Descartes,  Par.  1691,  lat.  Amst.  1694;  nouvelles  difficultes  proposees 
par  an  Peripateticien,  Amst.  1694,  lat.  ebend.  1694)  u.  And.  den  Cartesianismns 
bekämpft.  Die  Synode  zu  Dortrecht  im  Jahre  1656  hat  denselben  den  Theologen 
verboten;  zu  Rom  wurden  1663  Descartes'  Schriften  auf  den  Index  librorum  pro- 
hibitorum  gesetzt,  und  1671  wurde  durch  königlichen  Befehl  auf  der  pariser  Uni- 
versität der  Vortrag  der  cartesianischeu  Doctrin  untersagt. 

In  einem  theilweise  befreundeten,  theilweise  gegnerischen  Verhältnisse  standen 
zum  Cartesianismns  mystische  Philosophen,  wie  Blaise  Pascal  (1623  —  62), 
Pierre  Poiret  Der  Grundgedanke  Pascals  ist:  la  nature  confond  les  Pyrrhouiens 
et  la  raison  confond  les  dogmatistes;  nous  avons  une  impuissance  ä  prouver  invin- 
cible  ä  tout  le  dogmatisme,  nous  avons  One  id£e  de  la  v£rite  invincible  ä  tout  le 
Pyrrhonisme,  Pens6es,  art.  XXI.  Das  religiöse  Gefühl  nimmt  für  sich  Erkenntniss 
in  Anspruch,  Erkeuntniss  der  Gottheit  und  der  Gnade.  Le  coeur  a  ses  raisons  que 
la  raison  ne  connait  pas.  Die  Vernunft  schwankt  immer  zwischen  Zweifel  und 
Gewissheit,  doch  ist  die  positive  Erkenutniss  bis  zu  einem  bestimmten  Grade  noch 
möglich.  Die  volle  Wahrheit  kanu  die  Vernunft  nicht  ans  ihren  eigenen  Mitteln 
finden,  aber  sie  vermag  das  im  Christeuthum  gegebene  Heil  zu  erkennen  und  an- 
zunehmen. Poiret  (1646  zu  Metz  geb.,  einige  Jahre  in  Hamburg  Prediger,  starb 
in  Rhynsburg  bei  Leyden)  veröffentlichte  1677  eine  an  Cartesius  anknüpfeude  Schrift: 
Cogitationum  rationalium  de  Deo,  anima  et  malo  11.  IV;  später  huldigte  er  theo- 
sophischen  Anschauungen,  in  denen  er  sich  vielfach  an  Jac.  Böhme  anschloss,  dessen 
Grundlehren  er  in  einer  anonym  veröffentlichten  Schrift  zusammenfasste :  Idea 
theologiae  Christianae  juxta  principia  Jacobi  Bohemi  philosophi  teutonici  brevis 
et  methodica,  1687.  Seine  mystische u  Ansichten  hat  er  niedergelegt  in :  L'economie 
divine  ou  Systeme  universel  et  d6montr6  des  Oeuvres  et  des  desseins  de  Dieu  envers 
les  hommes  1687.  Gegen  Locke  ist  die  Schrift  gerichtet:  Fides  et  ratio  collatae 
ac  suo  utraque  loco  redditae  adversus  principia  Lockii,  1707.  Ferner  sind  hier  zu 
erwähnen  die  Platoniker  Ralph  Cudworth  (s.  ob.  §  9,  S.  61)  und  Andere,  ins- 
besondere der  Platoniker  und  Cabbalist  Henry  More,  der  im  Jahre  1648  mit 
Descartes  selbst  Briefe  gewechselt  hat  (abgedr.  im  X.  Bde.  der  cousinschen  Aus- 
gabe der  Werke  des  Descartes),  worin  er  u.  A.  den  Begriff  einer  immateriellen 
Ausdehnung,  die  Gott  und  den  Seelen  zukomme,  gegen  Descartes  behauptet  und 
Descartes'  exclusiv-mechanistische  Naturlehre  bestreitet  (S.  auch  üb.  ihn  ob.  §  9 
S.  61).  Der  in  der  Theologie  orthodoxe  philosophische  Skeptiker  Bischof  Hu  et 
(1630-1721)  schrieb  eine  Censura  philosophiae  Cartesianae,  Paris  1689  u.  ö.,  die 
mehrere  Gegenschriften  von  Cartesianern  hervorrief,  ferner  (anonym)  Nouveaux 


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78 


§  12.   Geulincx  und  Malebranche. 


Mcmoir.  pour  servir  ä  l'hist.  du  Cartesianisme,  Par.  1692  a.  ö.  Aach  der  Skeptiker 
Pierre  Bayle  (1647 — 1705;  Dictionnaire  biatoriqae  et  critique,  zuerst  Rotterdam 
1695  u.  97  in  2  Bden.  erschienen,  dann  1702  verbessert  und  vermehrt,  am  voll- 
ständigsten von  Des-Maizeaux  herausgegeb. ,  4  Bde.,  Amsterd.  u.  Leyden  1740; 
Oeuvr.  divers,  ä  la  Haye  1725-31,  aus  seinem  Nachlasse  1737  Systeme  de  la  philo- 
sophie,  in  dem  er  eine  kurze  Darstellung  der  Grundgedanken  der  cartesianischen 
Philosophie  giebt)  hat,  obschon  der  cartesianischen  Philosophie  nicht  abgeneigt, 
doch  derselben,  wie  jeglichem  Dogmatismus,  seine  skeptischen  Argumente  entgegen- 
gehalten. Er  behauptete  von  der  menschlichen  Vernunft  überhaupt,  was  von  seiner 
individuellen  Vernunft  galt,  dass  sie  stark  sei  in  der  Entdeckung  von  Irrthümern, 
schwach  in  der  positiven  Erkenntnis*.  Das  altprotestantische  Princip  des  Wider- 
streits zwischen  Vernunft  und  Glauben  beutete  er  zur  Aufzeigung  von  Absurditäten 
in  der  orthodoxen  Glaubenslehre  aus.  Er  verwirft  den  Satz  der  Deisten,  dass 
die  Religion  nichts  Widervernünftiges  sondern  Uebervernünftiges  bringe.  Die 
religiösen  Sätze  seien  durchaus  widerveruünftig,  und  nur  unter  dieser  Voraus- 
setzung sei  es  ein  Verdienst,  an  sie  zu  glauben.  Bayle  ist  mit  seinem  zersetzenden 
Zweifel  von  bedeutendem  Einfluss  auf  die  ganze  geistige  Entwickelung  des  18.  Jahr- 
hunderts gewesen. 

§  12.  Bei  dem  dualistischen  Verhältniss,  welches  Descartes  zwischen 
Leib  und  Seele  annahm,  indem  er  beide  für  völlig  heterogen  ansah 
und  keine  Mittelstufen  anerkannte,  ward  die  von  ihm  behauptete, 
obschon  durch  Gottes  Assistenz  gestützte  Wechselwirkung  zwischen 
beiden  schwer  denkbar,  weshalb  der  Cartesianer  Geulincx  nach  dem 
Vorgang  Anderer  den  Occasionalismus  ausbildete  oder  die  Lehre, 
dass  bei  Gelegenheit  des  seelischen  Vorgangs  der  entsprechende  leib- 
liche und  bei  Gelegenheit  des  leiblichen  der  psychische  einträte.  Diese 
Uebereinstimmung  wird  auf  einen  höheren  Willen  zurückgeführt,  Gott 
hat  sie  so  geordnet.  Der  höchste  Grundsatz  der  Sittenlehre,  welche 
Geulincx  viel  mehr  als  Descartes  berücksichtigte,  ist:  Wo  du  nichts 
vermagst,  da  wolle  auch  nichts.  Als  erste  Tugend  gilt  ihm  die 
Demuth,  d.  h.  die  Einsicht  in  unsere  Ohnmacht  und  die  volle  Ergebung 
in  die  Macht  Gottes.  Doch  betont  er  nachdrücklich  die  Pflicht,  mit 
deren  Erfüllung  auch  das  höchste  Glück  verbunden  ist,  und  huldigt 
keineswegs  dem  Quietismus. 

Malebranche  (1638—1715),  der  für  den  zweitgrössten  Meta- 
physiker  Frankreichs  gilt  und  auch  an  Descartes  anknüpfte,  stellte  die 
mystische  Lehre  auf,  dass  wir  alle  Dinge  in  Gott  schauen,  welcher 
der  Ort  der  Geister  sei,  wie  der  Raum  der  Ort  der  Körper.  Gott 
fasst  auch  die  Ideen  der  Körper  in  sich,  nach  denen  die  ganze  Körper- 
welt geschaffen  ist.  Da  die  Geister  nun  mit  Gott  geeinigt  sind,  ist 
es  ihnen  möglich,  diese  Ideen  zu  erkennen. 

Arnold  i  Geulincx  Logica  fundanienti-  suis,  a  quibus  hactenus  eollapsa  fuerat, 
restituta,  Lugd.  Bat.  1G62,  Amst.  1698;  Metaphysiea  vera  et  ad  meutern  Peripateti- 
corum,  Amst.  1691.  Ueber  die  Ausgaben  der  Ethik  8.  namentlieh  die  unt.  angeführte 
Abb.  v.  E.  Zeller.  Zuerst  erschien  1664  Lugd.  Bat.  eine  Disputatiu  etbica  de  virtute 
et  primis  eius  proprietatibus,  welche  Jac.  van  Hoogemade  uuter  Geulincx'  Präsidium 


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§  12.    Geulincx  und  Malebrauche. 


79 


vertheidigte.  Ausgearbeitet  wurde  dieser  kurze  Entwurf  als:  Arnoldi  Geulincx  Ant- 
verpieusis  De  virtute  et  primis  eius  proprietatibus,  quae  vulgu  Virtutes  cardinales  vocantur. 
Tractatus  Ethicus  primus,  Lugd.  Bat.  1665.  Sechs  Jabre  nacb  Geulincx'  Tode  wurde 
das  Werk,  vervollständigt  durch  weitere  5  Abbandlungen  und  sonstige  Ergänzungen 
aus  den  Heften  Geulincx'  herausgegeben  unter  dem  Titel:  rrtoitt  aeuvinv,  sive  Arn. 
Geulincs  —  Ethica.  Post  tristia  autoris  fata  oninibus  suis  partibus  in  lucem  edita  per 
Philarethum,  Lugd.  Bat.  1675  (der  Pseudonyme  Herausg.  war  der  holländische  Arzt  u. 
Philo«.  Cornelius  Bontekoe),  dann  wieder  abgedruckt  Lugd.  Bat.  1683,  Anisterd.  1091. 
1696,  1709  (die  letzten  beiden  Ausgaben  von  Job.  Elender,  Rector  u.  Prof.  in  Zütphen 
bes«>rgt).  Pbysica  vera,  1698;  ausserdem  Annotata  (praecurrentia  und  majora)  zu  Des- 
cartes*  Prineipien  der  Philosophie,  Dordraci   1690  und   1691.    Ueber  ihn  bandeln: 

E.  Grimm,  Arnold  Geulincx*  Erkenntnisstheorie  uud  Occasionalismus,  Jena  1875.  Ed- 
mund Pfleiderer,  A.  G.  als  Hauptvertreter  der  occasionalist.  Metapb.  u.  Eth.,  Univ. 
Pr.,  Tübing.  18S2,  s.  dazu  Rud.  Eucken,  Leibniz  u.  Geulinx,  in  Philos.  Monatsh.,  1883, 
S.  525 — 543.  dann  wieder  Edm.  Pfleiderer,  Leibniz  u.  Geulinx  mit  besonderer  Bez.  auf 
ihr  beiderseitiges  Uhrengleichniss,  Univ.  Pr.,  Tübingen  1884;  ders.,  Noch  einmal  Leibniz 
u.  Geulinx,  in:  Philos.  Monatsh.,  1885,  S.  20 — 39.  E.  Göpfert,  Geulinx'  ethisches 
System,  Breslau  1883.  E.  Zeller  üb.  d.  erste  Ausgabe  von  Geulincx'  Ethik  u.  Leibniz' 
Verb,  zu  Geulincx'  Occasionalismus,  in:  Sitzungsber.  d.  Ak.  d.  VV.  zu  Berlin,  1S84, 
S.  673 — 695.  Gust.  Samtleben,  Geulincx  ein  Vorgänger  Spinozas,  Halle  1885.  J.  P. 
N.  Land,  Arn.  Geulincx  te  Leiden  (1658 — 1669),  Amsterd.  1886  (aus  d.  Verslagen  u. 
Mededeelingen  der  Koningk.  Akad.  van  "Wetensch.).  Victor  van  der  Haeghen, 
Geulincx.  Etüde  sur  sa  vie,  sa  philos.  et  ses  ouvrages,  Gent  1886.  —  Ldw.  Stein,  zur 
Genesis  d.  Oceasionalismus,  in:  Arch.  d.  Gesch.  d.  Phil.,  I,  1887,  S.  53 — 61. 

Nie.  Malebranche,  de  la  recherche  de  la  verite  oii  Ton  traite  de  la  nature,  de 
l'esprit  de  l'homme  et  de  l'usage  qu'il  doit  faire  pour  eviter  l'erreur  dans  les  seienets, 
Par.   1675   u.   ö.:  am   vollständigsten    1712,   nouvelle  ed.   avee  une   introduetion  de 

F.  Bouillier,  Paris  1880;  Conversations  tnetaphvsiques  et  chretiennes,  1677;  Traite  de  la 
nature  et  de  la  gräee,  Amst.  1680;  Traite  de  niorale.  Rotterd.  1684;  Meditations  metapb. 
et  chretiennes,  1684  ;  Entreriens  sur  la  metapb.  et  s.  la  relig.  (eine  compendiarisehe 
Darstellung  seiner  Doctrin)  1688;  Traite  de  l'amour  de  Dieu,  1697:  Entretiens  d'un 
philosophe  chretien  et  d'un  philosophe  chinois  sur  la  nature  de  Dieu,  Par.  1780; 
Oeuvres,  Par.  1712;  nouv.  edit.  collat.,  sur  meilleurs  textes  et  preced.  d  une  introd.  par 
Jul.  Simon,  4  vols.,  Par.  1871,  nicht  die  sämmtlichen  Schriften:  es  fehlt  der  Traite  de 
inorale,  der  besonders  herausgegeben  ist  von  Henri  Jolv,  Par.  1882.  Vgl.  den  betreffenden 
Abschnitt  bei  Bouillier,  bist,  de  la  philo«.  Cartesienne  und  in  and.  Geschichtswerken, 
femer  Blampignon,  etude  sur  Mal.  d'apres  des  documents  manuscrits,  suivie  d'uue  cor- 
respond.  ined  ,  Par.  1863.  (Jh.  A.  Thilo,  üb.  M.s  religions-philos.  Ansichten,  in:  Ztschr. 
f.  ex.  Ph.  IV,  1863,  S.  181  —  198  u.  S.  209—224.  Aug.  Damien,  etude  sur  la  Bruyere 
et  Malebranche,  Paris  1866.  B.  Bonieux,  expenditur  Malebranchii  sententia  de  causi« 
occasionalibus,  diss.  Lugdunensi  litt.  fac.  propos.,  Clermont  1866.  I^eon  Olle-Laprunc, 
la  phil.  de  M.,  2  vol.,  Paris  (1870—72),  vgl.  P.  Janet,  rapp.  s.  le  concours  rel.  a  l'exain. 
de  la  phil.  de  M.,  in  den  Mein,  de  l'acad.  des  sc.  mor.  et  pol.  de  l  inst,  de  France, 
T.  Xlll.  1872,  p.  221 — 255.  E.  Grimm,  Malehranches; Erkenntnisstheorie  u.  deren  Verb, 
zur  Erkenntnisstheorie  des  Desc,  in  Zeitscbr.  f.  Philos.  u.  phil.  Kr.,  Bd.  70,  1S77,  S.  15 
bis  55.  Sebast.  Turbiglio,  le  antitesi  tra  il  medioevo  e  l'etä  moderna  nella  storia  della 
lilosotia  in  ispecie  nella  dottrina  morale  di  Malehranche,  Roma  1877.  P.  Stany,  üb.  d. 
Sinne  nacb  Malebr.,  Posen  1882.  George  Zeehalas,  l'oeuvre  scientifique  de  M.,  in:  Revue 
philos.  18,  1884,  S.  293—313.  Emile  Farny,  etude  sur  la  morale  de  M.,  Cbaux  de 
Fonds  1886.  Andre,  de  la  vie  de  R.  P.  Malebranche,  pretre  de  l'oratoire  avec  l'histoire 
de  ses  ouvrages,  publice  par  Ingold,  Par.  1886. 

Der  cartesianische  Dualismas  stellte  Mens  uud  Corpus  als  zwei  völlig 
heterogene  Substanzen  nebeneinander.  Er  sprach  der  Seele  die  (von  Aristoteles 
derselben  zugeschriebenen)  vegetativen  Functioneu  ab,  um  dieselben  dem  Leibe, 
insbesondere  den  durch  denselben  verbreiteten  Lebensgeistern  (spiritus  vitales)  die 
eine  feine  Materie  seien,  zu  vindiciren;  er  sprach  andererseits  der  Materie  alle 
inneren  Zustände  ab.  Eben  hierdurch  wurde  die  thatsächliche  Beziehung  zwischen 
psychischen  und  somatischen  Vorgängen  unbegreiflich.  Ein  natürlicher  Einfluss 
(influxus  physicus)  des  Leibes  auf  die  Seele  und  der  Seele  auf  den  Leib  liess  sich 
bei  absoluter  Verschiedenartigkeit  beider  consequeutermaasseu  nicht  wohl  annehmen, 


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§  12.   Genlincx  and  Malebranche. 


obschon  Descartes  gegenüber  Gassendi  einen  solchen  für  möglich  hielt;  nar  Gottes 
Wirksamkeit  allein  blieb  als  Erklärungsgrund  übrig.  So  trat  denn  Arnould 
Genlincx  (auch  Geulinx,  Geulincs,  Genlings,  Genlinck  geschrieben,  1625 — 69, 
geb.  zu  Antwerpen,  längere  Zeit  Lehrer  a.  d.  Universität  zn  Löwen,  dann  zu 
Leyden,  wo  er  vom  Katholicismns  zur  calvinischen  Confession  übertrat!  mit  der 
Lehre  auf,  Gott  rufe  bei  Gelegenheit  des  leiblichen  Vorganges  in  der  Seele  die 
Vorstellung  hervor,  und  bei  Gelegenheit  des  Wollens  bewege  Gott  den  Leib,  eine 
Consequenz,  die  theilweise  schon  von  Clauberg,  Louis  de  la  Forge  (Traite  de 
1'esprit  humain,  1661)  und  Cordemoy  (le  discernement  de  Tarne  et  du  corps  en  six 
discours,  1666)  erkannt  war.  Wovon  man  nicht  weiss,  wie  es  bewirkt  wird,  das 
bewirkt  man  auch  nicht  (impossibile  est  ut  is  faciat  qui  nescit,  quomodo  fiat),  ist 
einer  der  Haupt&ätze  von  Genlincx.  Nicht  der  Körper  ist  Ursache  für  die 
bewusste  Empfindung  im  Geiste,  nicht  der  Wille,  der  in  der  Seele  entsteht,  ist 
unmittelbar  Ursache  für  die  Bewegung,  sondern  der  Reiz  im  Körper  und  der 
innere  Wille  sind  nur  gelegentliche  Ursache,  occasio,  causa  occasionalis,  um  eine 
Empfindung  in  der  Seele,  eine  Bewegung  im  Leibe  hervorzubringen.  Daher  der 
Name  Occasionalismus.  Ob  Gott  bei  jeder  gelegentlichen  Ursache  selbst  ein- 
greift, also  eine  unmittelbare  Einwirkung  desselben  stattfindet,  oder  ob  die  Ueber- 
ein8timmung  zwischen  diesen  beiden  Seiten  von  Gott  als  dem  ersten  Urheber  von 
vornherein  geordnet  ist,  darüber  kommt  es  bei  Geulincx  zu  keiner  widerspruchslosen 
Klarheit.  Dem  ersteren  neigt  sich  Geulincx  in  den  Stelleu  zu,  nach  welchen  Gott 
die  Wahrnehmungen  interventu  corporis  cuiusdam  hervorbringt  oder  sich  der 
Körper  als  Werkzeuge  für  die  Wahrnehmungen  bedient.  Für  das  Letztere  spricht 
das  später  bei  Leibniz  weiter  angewandte  Gleichnis*  von  zwei  Uhren,  die  einen 
gleichmässigen  Gang  haben,  zu  gleicher  Zeit  schlagen  und  die  Stunden  angeben, 
ohne  irgend  eine  gegenseitige  causak  Abhängigkeit,  sondern  lediglich  in  Folge  der 
Geschicklichkeit  des  Künstlers,  der  sie  angefertigt  hat  (idque  absque  ulla  causali- 
tate,  qua  alterum  hoc  in  altero  causat,  sed  propter  meram  dependentiam,  qua 
utrumque  ab  eadem  arte  et  simili  industria  constitutum  est,  Eth..  Track  I,  Sect.  II, 
§  2,  nota  19).  So  soll  es  auch  z.  B.  mit  meinem  Willen  zu  sprechen  und  der  Be- 
wegung meiner  Zunge  sein.  Sie  sind  beide  von  einem  und  demselben  höchsten 
Künstler  zur  Uebereinstimmung  unter  sich  gebildet. 

Geulincx  geht  wie  Descartes  von  der  Gewissheit  des  Selbstbewusstseins  aus, 
das  einfach  ist,  in  dem  man  aber  doch  verschiedene  von  ihm  unabhängige  Gedanken 
findet.  Diese  müssen  von  einem  Anderen,  und  zwar  einem  bewnssten  Willen  her- 
rühren, dieser  ist  aber  die  Gottheit.  Die  einzelnen  Körper  sind  modi  des  unend- 
lichen und  an  sich  untheilbaren  Körpers,  wie  unsere  Geister  modi  des  Geistes 
sind.  Nicht  absolute  Geister  sind  wir,  sondern  begrenzte,  und  wir  gehören  nicht 
wesentlich  zu  dem  Geiste:  sumus  igitur  modi  mentis,  si  auferas  modum,  remanet 
ipse  deus.  Können  wir  selbst  nichts  thun,  sondern  sind  nur  Zuschauer  dessen,  was 
Gott  in  uns  wirkt,  so  kann  ethisch  nur  gefordert  werden  demüthige  Ergebung  in 
den  Weltlauf,  die  humilitas,  zu  deren  Besitz  die  Selbsterkenntnis  (yvwHi  atwiöv) 
nothwendig  ist,  inspectio  et  despectio  sui.  Sum  igitur  nudus  spectator  huius 
machinae.  Ita  est,  ergo  ita  sit!  In  der  Körperwelt,  zu  der  die  Seele  in  gar  keiner 
wirklichen  Beziehung  steht,  darf  nichts  begehrt  werden :  Ubi  nil  vales  ibi  nil  velis. 
Statt  der  Resignation  Gott  gegenüber  will  Geulincx  lieber  die  volle  Hingabe  an 
Gottes  Abbild,  die  Vernunft,  setzen,  die  entsteht,  wenn  wir  die  Wertlosigkeit 
alles  Endlichen  eingesehen  haben.  So  ist  ihm  die  Tugend  gleich  Liebe  zu  Gott 
und  zur  Vernunft  und  besteht  vor  Allem  in  dem  Ablegen  aller  Selbstsucht  und  in 
Betrachtung  des  ganzen  Daseins  vom  Standpunkte  der  Pflicht  aus.  Werthvoll  ist 
allein  die  Gesinnung,  der  Wille.    Lohn  und  Strafe  sind  ans  der  Ethik  ganz  zu 


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§  12.    Geulincx  und  Malebranche. 


81 


entfernen,  aber  in  der  Hingabe  an  die  Vernunft  oder  an  Gott  liegt  doch  das  wahre 
Gluck,  auf  das  wir  nur  bei  der  Ausübung  der  Tugend  keine  Rücksicht  nehmen 
dürfen.  Als  Cardinaltugenden  gelten  dem  Geuliucx  die  diligentia,  Fleiss  im  An- 
hören der  Gebote  der  Vernunft,  obedieutia,  Gewissenhaftigkeit  in  der  Befolgung 
der  Gebote,  iustitia  und  die  humilitas. 

Etwas  anders  fasste  den  Occaeionalismns  Nicole  Malebranche,  geb.  1638  zu 
Paris.  Schon  im  22.  Jahre  trat  er  in  die  Congregation  der  Väter  des  Oratoriums  Jesu. 
Diese  Congregation  war  von  einem  Freunde  Descartes',  dem  Cardinal  Herulle,  ge- 
gründet und  bezweckte  wissenschaftliche  Ausbildung  der  Kirchenlehre.  Sie  hielt 
sich  mehr  au  Augustin  als  an  Thomas,  und  hierdurch  war  die  Annäherung  an 
Descartes  schon  gegeben.  MalebrancheB  Hauptwerk  wurde  viel  gelesen,  er  zog  sich 
aber  durch  dasselbe  auch  mancherlei  Streitigkeiten  zu,  namentlich  mit  Arnauld. 
der  als  rein  rationalistischer  Cartesianer  sich  mit  mystischen  Anschauungen  nicht 
befreunden  konnte.  Malebranche  starb  1715,  wie  es  heisst  in  Folge  «1er  Aufregung, 
in  die  er  durch  eine  Unterredung  mit  dem,  seinen  eigenen  Ansichten  sich  vielfach 
nähernden  Berkeley  gekommen  war.  Er  sah  es  bei  seinen  Speculationen  auf  die 
Einheit  von  Religion  und  Philosophie,  von  Metaphysik  und  Christentham  ab.  Das 
unmittelbare  Object  unserer  Seele,  also  das  ursprünglichste  Element  unseres  Wissens, 
sind  nach  Malebranche  die  Ideen,  aber  Gegenstand  der  Ideen  ist  die  Ausdehnung 
des  Unendlichen,  Uebersinnlichen,  Unveränderlichen,  aus  dessen  Anschauung  wir 
bilden,  was  wir  immer  in  und  ausser  uns  anschauen.  Obiectum  (generale)  omnium 
idearum  est  extensio  tov  infiniti,  intelligibilis,  immutabilis  et  incommensurabilis,  ex 
cuius  intuitu  formamus  quiequid  aspiciraus  sive  intra  sive  extra  nos.  Da  nun  dus 
Unendliche  Gott  ist,  so  ist  das  Bewusstsein  von  Gott  das  erste  Element  unseres 
Wissens,  und  wir  schauen  so  alles  in  Gott.  Dann  sind  wir  uns  unserer  selbst  als 
eines  Theils  des  göttlichen  Wesens  bewusst,  indem  wir  uns  in  derselben  unmittel- 
baren Anschauung  mit  Gott  zugleich  umfassen.  Gottes  Unendlichkeit  ist  das 
a allgemeine  Gesichtsfeld",  in  dem  uns  alle  Dinge  erscheinen,  und  so  ist  es  auch 
erklärlich,  wie  wir  ein  allgemeines  Wissen  von  den  Dingen  haben  können,  ehe  wir 
sie  durch  die  Erfahrung  kennen  lernen.  Spiritus  creati  quaecunque  vident  et 
cognoscunt,  in  deo  cognoscunt,  in  quo  continentur  et  cuius  substantia  totum  mundum 
seu  universnm  ipsis  exhibet,  unde  etiam  liquet,  quomodo  possideamus  qnandam 
notitiam  generalem  lanticipatam)  de  omnibus  entibus,  antequam  adhuc  enrundem 
experientiam  fecerimus.  Gott  hat  alle  Dinge  geschaffen  und  wirkt  auch  allein.  Ehe 
aber  die  Dinge  geschaffen  wurden,  hat  Gott  in  sich  eine  Welt  der  Ideen,  welche 
Limitationen  des  Unendlichen  genannt  werden.  Und  zwar  giebt  es  zwei  Grund- 
ideen, Denken  und  Ausdehnung,  nach  denen  die  Körper  und  die  Geister  geschaffen 
sind.  Die  geschaffenen  Körper  fasst  nun  Gott  nicht  in  sich,  sondern  nur  deren 
Ideen,  aber  wohl  die  geschaifenen  Geister,  nicht  nur  deren  Ideen.  Er  wird  der 
Ort  der  Geister  genannt,  und  so  ist  es  möglich,  dass  die  Geister  die  Ideen,  auch 
die  der  Körper,  erkennen.  In  der  Körperwelt  geschieht  nun  alles  von  Gott,  so  dass 
die  Körper  selbst  nicht  aufeinander  wirken,  und  ebenso  in  der  Geistcswelt,  so  dass 
Irrthum  und  Sünde  eigentlich  auch  auf  Gott  zurückgeführt  werden  müssten.  Jedoch 
wird  hier  die  Freiheit  plötzlich  eingeführt,  die,  freilich  nnerklärbar.  ein  Mysterium 
sein  soll.  Zunächst  werden  uns  die  Ideen  gegeben,  die  uns  erleuchten,  und  daiui 
die  sinnlichen  Empfindungen,  beides  aber  auf  Anlass  einer  gelegentlichen  Ursache. 
Bei  den  Ideen  ist  dies  die  Aufmerksamkeit,  welche  von  unserem  freien  Willen  ab- 
hängt, so  dass  es  also  auf  uns  ankommt,  ob  wir  durch  Ideen  erleuchtet  werden  oder 
nicht.  Bei  der  sinnlichen  Empfindung  ist  lüngegen  die  gelegentliche  Ursache  die 
körperliche  Bewegung,  die  von  Gott  als  dem  sie  Bewirkenden  wieder  abhängt.  Das 
Anschauen  von  Ideen,  d.  h.  von  Modifikationen  der  Ausdehnung  des  Unendlichen 

Ueberwcff-Heinzt?,  GrunJriss  III.  7.  Aufl.  Q 


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82 


§  13.  Spinoza. 


und  Intelligibeln  giebt  uns  Wissen  und  Wahrheit.  Die  Empfindungen  sind  Modifi- 
cationen  unseres  eigenen  Subjecta  und  geben  uns  also  nur  subjective  Erfahrung. 
Jedoch  sind  die  sinnlichen  Empfindungen  für  die  Erkenntniss  nicht  ganz  unbrauchbar 
wie  bei  Descartes.  Nämlich  auch  die  sinnlichen  Bilder  sind  Modificationen  der 
Ideen  der  Ausdehnung,  nur  dunkel  und  verworren,  während  die  Ideen  der  einzelnen 
Figuren  selbst  klar  und  deutlich  sind.  Uebrigens  sind  es  nur  die  Ideen  der  Körper, 
welche  uns  wirkliches  Wissen  gewähren;  die  Idee  der  Auadehnung  und  ihre  Modifi- 
cationen erkennen  wir  klar  und  deutlich.  Dagegen  haben  wir  eine  solche  Erkenntniss 
des  Geistes  nicht,  und  demnach  wird  uns  die  Idee  des  Geistes  auch  nicht  durch 
Erleuchtung  von  Gott  zu  Theil 

Sind  alle  Dinge  nur  Modificationen  Gottes,  so  muss  alles  Streben,  worauf  es 
auch  gehe,  zuletzt  Streben  nach  Gott,  d.  h.  Gottesliebe  sein.  Auch  in  dem  sinnlich 
Guten  lieben  und  suchen  wir  schliesslich  Gott  Aber  freilich  darf  über  dem  Ein- 
zelnen das  Ganze  nicht  vergessen  werden,  dessen  Modification  das  Einzelne  ist.  So 
wird  denn  das  ethische  Ziel  sein  die  Liebe,  die  auf  das  Ganze  geht,  welche  das 
Einzelne  hinter  sich  lässt  Der  Gegenstand  dieses  Strebens  ist  Gott,  und  das  Streben 
ist  erfüllt,  wenn  Gott  erkannt  ist. 

So  viel  Aehnlichkeit  diese  Lehre  mit  der  Spinozas  hat,  so  hebt  Malebranche 
doch  nicht  unzutreffend  als  Hauptunterschied  zwischen  seiner  und  Spinozas  Philo- 
sophie hervor:  Nach  ihm  sei  das  Universum  in  Gott,  nach  Spinoza  Gott  im 
Universum. 

§  13.  Baruch  Despinoza  (Benedictas  de  Spinoza),  geb.  zu 
Amsterdam  1(532,  gest.  im  Haag  1677,  wandte  sich,  unbefriedigt  durch 
die  talmudische  Bildung,  der  Philosophie  des  Cartesius  zu,  bildete 
aber  den  cartesianischen  Dualismus  zu  einem  Pantheismus  um,  dessen 
Grundgedanke  die  Einheit  der  Substanz  ist.  Seine  Methode  ist  die 
streng  mathematische,  indem  aus  wenigen  Elementen  alles  Uebrige 
synthetisch  abgeleitet  wird,  und  zwar  ohne  Zuhülfenahme  der  Erfah- 
rung aus  reiner  Vernunft,  so  dass  Spinoza  sich  zum  vollen  Rationa- 
lismus bekennt.  Unter  der  Substanz  versteht  er  das,  was  in  sich  ist 
und  aus  sich  zu  begreifen  ist.  Es  giebt  nur  Eine  Substanz,  diese 
ist  Gott,  und  Gott  ist  gleich  der  Natur.  Die  Substanz  hat  zwei 
uns  erkennbare  Grundeigenschaften  oder  Attribute,  nämlich  Denken 
und  Ausdehnung,  ausserdem,  da  sie  unendlich  in  jeder  Beziehung 
ist,  noch  unzählig  viele  uns  unerkennbare  Attribute.  Es  giebt  nicht 
eine  ausgedehnte  Substanz  neben  einer  denkenden  Substanz.  Zu  den 
unwesentlichen,  wechselnden  Gestaltungen  oder  Modis  dieser  Attribute 
gehört  die  individuelle  Existenz.  Diese  kommt  Gott  nicht  zu,  denn 
sonst  wäre  er  endlich  und  nicht  absolut;  jede  Determination  ist  eine 
Negation.  Gott  ist  die  immanente  (nicht  eine  aus  sich  heraustretende) 
Ursache  der  Gesammtheit  der  endlichen  Dinge  oder  der  Welt.  Gott 
wirkt  nach  der  inneren  Notwendigkeit  seines  Wesens;  eben  hierin 
liegt  seine  Freiheit.  Er  bewirkt  alles  Einzelne  nur  mittelbar,  durch 
anderes  Einzelnes,  womit  es  im  Causalnexus  steht.  Es  giebt  kein 
unmittelbares  Wirken  Gottes  nach  Zwecken,  sondern  die  Dinge  müssen 


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§  13.  Spinoza- 


83 


in  streng  mathematischer  Weise  aus  Gott  abgeleitet  werden,  und  es 
ist  demnach  auch  für  Gott  die  Möglichkeit  genommen,  etwas  willkür- 
lich zu  thun  oder  zu  unterlassen.  Es  giebt  auch  keine  von  dem 
Causalitätsverhältniss  eximirte  menschliche  Freiheit.  Es  wirkt  immer 
nur  ein  Modus  der  Ausdehnung  auf  einen  andern  Modus  der  Aus- 
dehnung und  ein  Modus  des  Denkens  auf  einen  andern  Modus  des 
Denkens  ein,  so  dass  Spinoza  den  reinen  und  strengen  Determinismus 
lehrt.  Zwischen  dem  Denken  und  der  Ausdehnung  dagegen  be- 
steht kein  Causalnexus,  sondern  eine  durchgängige  Ueber- 
einstimmung;  die  Ordnung  und  Verbindung  der  Gedanken  ist  mit 
der  Ordnung  und  Verbindung  der  ausgedehnten  Dinge  identisch,  indem 
jeder  Gedanke  immer  nur  die  Idee  des  zugehörigen  Modus  der  Aus- 
dehnung ist.  In  dieser  Identität  des  Psychischen  im  weitesten  Sinne 
(Seelischen,  Geistigen,  Kraft)  mit  dem  Ausgedehnten,  das  als  Materielles 
percipirt  wird,  ist  ein  strenger  Monismus  von  Spinoza  aufgestellt, 
der  neben  dem  Dualismus,  Spiritualismus,  Materialismus,  Kriticismus 
als  eine  der  grossen  und  beachtenswerthen  philosophischen  Hypothesen 
angesehen  werden  muss  und  besonders  für  die  Anthropologie  von 
grosser  Tragweite  ist. 

Es  giebt  nach  Spinoza  eine  Stufenfolge  in  der  Klarheit  und  dem 
Werthe  der  menschlichen  Gedanken  von  den  verworrenen  Vorstellungen 
bis  zu  der  adäquaten  Erkenntniss,  die  alles  Einzelne  aus  dem  Ganzen, 
die  Dinge  nicht  als  zufällige,  sondern  als  notwendige  unter  der  Form 
der  Ewigkeit  (sub  specie  aeternitatis)  auffasst,  d.  h.  sie  auf  Gott  be- 
zieht. An  das  verworrene,  am  Endlichen  haftende  Vorstellen  knüpfen 
sich  die  Affecte  (die  leidenden  Zustände  der  Seele),  deren  es  drei 
ursprüngliche  giebt,  auf  die  alle  übrigen  zurückgeführt  werden,  nämlich 
Begierde,  Freude,  Traurigkeit,  und  von  diesem  verworrenen  Vor- 
stellen hängt  auch  ab  die  Knechtschaft  des  Willens.  An  die  höchste  Art 
der  Erkenntniss  knüpft  sich  aber  die  intellectuelle  Liebe  zu  Gott, 
die  entsteht,  wenn  wir  Freude  haben  in  der  adäquaten  Erkenntniss,  in 
der  Zurückfuhrung  der  Dinge  auf  Gott.  In  der  inteilectuellen  Liebe 
liegt  unsere  Freiheit,  unsere  Tugend,  unser  Glück.  Nicht  ein  der 
Tugend  beigegebener  Lohn,  sondern  die  Tugend  selbst  ist  die  Seligkeit. 
Das  ethische  Leben  ist  beherrscht  durch  den  Trieb  nach  Selbst- 
erhaltung, der  in  dem  Wesen  des  Geistes  liegt.  Alle  Affecte  sind 
durch  dieses  Streben  bedingt,  sind  theils  Hemmungen,  theils  Förderungen 
desselben,  auch  alle  Tugend  beruht  auf  ihm.  In  der  inteilectuellen 
Liebe  zeigt  sich  trotz  des  ausgesprochenen  Rationalismus  die  Hin- 
neigung Spinozas  zur  Mystik. 

Q* 


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§  13.  Spinoza. 


Die  Schriften  Spinozas  in  ihren  verschiedenen  Atisgaben  und  die  Schriften  über 
Spinoza  giebt  am  vollständigsten  und  mit  bibliographischer  Ausführlichkeit  und  Exaet- 
heit  an:  Ant.  van  der  Linde  in  seiner  Schrift  Benedictus  Spinoza,  Bibliographie 
(holländ.)  s'Gravenhage  1871. 

Unter  den  Schriften  des  Spinoza  ist  am  frühesten  herausgegeben  seine  (durch 
mündlichen  Unterricht  an  einen  Privatschüler  veranlasste)  Darstellung  der  cartesianischen 
Lehren  nach  mathematischer  Methode:  Kenati  desCarte»  Prineipiorum  philoso- 
phiae  pars  I  et  II,  more  geometrico  demonstratae,  per  Benedictum  de  Spinoza  Amstelo- 
damenscm,  aceesserunt  ejusdem  Cogitata  metaphysica,  in  quibus  difficiliores,  quae 
in  I^etaphysices  tarn  parte  generali  qaam  speciali  circa  ens  eiusque  afTectiones,  Deum 
eiusque  attributa  et  mentem  humanam  occurrunt,  quaestiones  breviter  explicantur, 
Amstelodami  apud  Johannem  Rieuwertsz,  1663.  Demnächst  erschien:  Tractatus 
theologico  -  politicus,  continens  dissertationes  aliquot,  quibus  ostenditur  libertatem 
pbilosophandi  non  tantum  salva  pietate  et  reipublicae  pace  posse  concedi,  sed  eandem 
nisi  cum  pace  reipublicae  ipsaque  pietate  tolli  non  posse,  mit  dem  Motto  au9  dem  ersten 
Johannesbriefe:  per  hoc  cognoscimus  quod  in  Deo  manemus  et  Deus  manet  in  nobis, 
quod  de  spiritu  stio  dedit  nobis,  Hamburgi  apud  Henricum  Künraht  (Amst.,  Cristoph 
Conrad)  1670.  Es  existiren  noch  drei  weitere  Drucke  des  Traetats  mit  der  Jahreszahl 
1670.  Der  eine  apud.  Henr.  Künraht,  welcher  da«  Druckfehlcrvcrzeichniss  der  ersten 
Ausgabe  beibehält,  aber  im  Text  einen  Theil  der  Fehler  corrigirt  hat,  die  beiden  andern: 
apud  Henr.  Künrath,  von  denen  der  letzle  das  Druckfehlerverzeichniss  gar  nicht  mehr 
hat.  Dieser  vierte  ist  von  den  Herausgebern  dieses  Jahrb. s  benutzt.  Paulus  lässt  bei 
den  Citaten  aus  dem  alten  Test,  den  hebräischen  Text  weg.  In  den  drei  letzten  Drucken 
mit  der  Jahreszahl  1670  sind  einige  neue,  zum  Theil  sinnentstellende  Fehler  hinzu- 
gekommen. Es  ist  nun  sehr  unwahrscheinlich,  dass  in  dem  Jahre  des  Erscheinens  vier 
Auflagen  dieses  Werkes  uöthig  waren,  und  man  ist  deshalb  geneigt,  anzunehmen,  dass 
die  augenscheinlich  späteren  Drucke  erst,  nachdem  das  Buch  verboten  worden  war, 
veranstaltet,  aber  vorsichtiger  Weise  mit  der  Jahreszahl  1670  versehen  worden,  um  sie 
nicht  als  neue  Drucke  erkennen  zu  lassen.  Vgl.  J.  P.  N.  Land,  over  vier  drukken  met 
het  jaartal  1670  von  Spinoza's  Tract.  theol.  polit.,  Amsterd.  1881  (overgedrukt  uit  de 
Verslagen  en  Mededcelingen  de  Kon.  Akad.  van  Wetcnsehappcn).  Eben  dieser  tractatus 
theologico  -  politicus  wurde,  nachdem  er  mit  Beschlag  belegt  war,  1673  zweimal  zu 
Amsterdam  und  einmal  zu  Leyden  unter  falschen  Titeln  ausgegeben,  dann  sine  loco 
1674  wiederum  als  Tractatus  theologico -politicus  bezeichnet  mit  angehängtem  neuen 
Abdruck  der  zuerst  Eleutheropoli  (Amst.)  1666  veröffentlichten  (von  Spinozas  Freunde, 
dem  Arzt  Ludw.  Meyer  verfassen)  Schrift:  philosophia  scripturae  interpres.  Randglossen 
Spinozas  zu  dem  Tractatus  theologieo-politicus  sind  mehrfach  veröffentlicht  worden,  theil- 
weise  schon  in  der  1678  erschienenen  französischen  Uebersetzung  eben  dieses  Tractatus 
durch  St.  (»lain,  zum  anderen  Theil  durch  Christoph  Theophil  de  Murr,  Hagae  Comiftim 
1802,  u.  And.  Aus  einem  von  Sp.  an  Clefmann  geschenkten,  jetzt  in  der  Wallenrodt- 
schen  Bibliothek  zu  Königsberg  befindlichen  Exemplar  hat  Dorow,  Berlin  1835,  Noten 
edirt,  die  von  den  anderweitig  veröffentlichten  nur  unwesentlich  abweichen.  Erst  nach 
Spinozas  Tode  erschien  sein  philosophisches  Hauptwerk,  die  Ethik,  zugleich  mit  kleineren 
Tractaten  unt.  d.  Tit.:  B.  d.  S.  Opera  posthuma,  Amst.  bei  Job  Rieuwertsz  1677. 
Inhalt:  Praefatio  von  dem  Mennoniten  Jarig  Jellis  holländisch  abgefasst,  von  Ludwig 
Meyer  ins  Lateinische  übersetzt.  —  Ethica,  ordine  geometrico  demonstrata  et  in  quinque 
partes  distineta,  in  quibus  agitur  I.  de  Deo,  II.  de  natura  et  origine  mentis,  III.  de 
origine  et  natura  affectuum,  IV.  de  Servitute  humana  seu  de  affectuum  viribus,  V.  de 
potentia  intellectus  seu  de  libertate  humana.  (Vgl.  J.  P.  N.  Land,  over  de  uitgaven  en 
d.  Text  der  Ethica  von  Sp.,  Amsterd.  1881,  overgedrukt  uit  de  Verslagen  en  Mede- 
dcelingen der  Kon.  Ak.  van  Wetensch.).  —  Tractatus  politicus,  in  quo  demon- 
stratur,  quomodo  soeietas,  ubi  imperium  monarchicum  locum  habet,  sicut  et  ea,  ubi 
Optimi  imperant,  debet  institui,  ne  in  tyrannidem  labatur,  et  ut  pax  libertasque  eivium 
inviolata  mnneat.  —  Tractatus  de  intellectus  emendatione,  et  de  via,  qua  op- 
time  in  veram  rerum  cognitionem  dirigitur.  —  Epistolae  doctorum  quorundam  virorum 
ad  B.  de  S.  et  auctoris  respotisiones ,  ad  aliorum  ejus  operum  elucidationem  non  parum 
facientes.  (Vergl.  J.  P.  X.  Land,  over  de  eerste  uitgaven  der  Brieven  van  Sp.,  Amsterd. 
1879,  Verslag.  en  Mededeeling.  de  Kon.  Ak.  van  Wetensch.)  —  Compendium  gram- 
maticae  linguae  Hebraeae. 

Neuaufgefundenes  haben  Böhmer  und  van  Vloten  veröffentlicht:  Ben.  de  Sp. 
Tractat.  de  Deo  et  nomine  ejusque  felicitate  lincamenta  atque  adnotationes  ad 
tractatum  theol. -polit.  ed.  et  illust.  Ed.  Boehmer,  Hulae  1852,  und:  Ad  B.  de  Sp.  opera 
quae  supersunt  omnia  supplcmentum,  contin.  tractatum  hncilique  ineditnm  de  Deo  et 


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§  13.  Spinoza. 


85 


homine,  tiaetatulum  de  iridc,  epistolas  nonnullas  ineditas  et  ad  eas  vitamque  philosophi 
Collectanea  (ed  J.  van  Vloten),  Amst.  1862.  Vgl.  darüber  H.  Ritter  in:  Gött.  gel.  Anz. 
1862.  St.  47.  Chr.  Sigwart,  Sp.s  neuentdeckt.  Tract.  von  Gott,  dem  Mensch,  u.  des«. 
Glückseligk.  erläut.  u.  in  s.  Bedeutg.  für  da*  Verständnis»  d.  Spinozism.  unter».,  Gotha 
1866.  Paul  Janet,  Sp.  et  le  Spinozisme  d'apres  les  travaux  reeents.  in:  Kev.  d,  deux 
mond. ,  Par.  1867.  Trendelenburg,  üb.  d.  anfgefund.  Krgänzgn.  zu  Sp.s  Werken  und 
deren  Krtrag  für  Sp.s  Leb.  und  Lehre,  im  3.  Bd.  von  Trcndelenburgs  „hist.  Beitr.  t. 
Philos.",  Berl.  1867,  S.  277—398.  Rieh.  Avenarius,  üb.  d.  beid.  erst.  Phasen  des  Sp. 
Pantheismus  (s.  unten).  Der  Tractatus  de  Deo  et  hom.  ejusque  felicitate  ist  nicht  im 
lat.  Original,  welches  verloren  zu  sein  scheint,  sondern  in  einer  holländ.  Uebersetzung 
aufgefunden  worden  (Körte  Verhandeling  van  God,  de  Mensch  en  deszelvs  welstand); 
nach  einer  jüngeren  Handschrift  hat  van  Vloten  (im  Supplem.,  Amst.  1865),  nach  einer 
älteren  aber  Sehaarschmidt  den  holländ.  Text  herausg.  und  eine  Vorrede  de  Sp.  philos. 
fontibus  beigefügt,  Amstel.  1869;  ins  Deutsche  übersetzt  von  Schaarschmidt  ist  dieser 
Tractat  in  der  v.  Kirchmann  herausg.  «philos.  Bibl.*,  Bd.  18,  Berlin  1869.  erschienen. 
Mit  dieser  Schaarschinidtschen  Uebersetzung  ist  gleichzeitig  erschienen:  Chr.  Sigwart, 
B.  d.  Sp.s  kurz.  Tractat  von  Gott,  dem  Mensch,  u.  dessen  Glückseligk.  auf  Grund  e. 
neu.  v.  Dr.  Antonius  van  der  Linde  vorgenomm.  Verglchg.  der  Ildsrhrftn.  ins  Dtsehe. 
übs.,  m.  e.  Eiuleitg.,  krit.  u.  sacbl.  Erläutergn.  begleit.,  Tüb.  1870,  2.  Ausg.  1881. 

Gesammtauagaben  der  Werke:  Benedicti  de  Spinoza  opera  qnae  supersunt 
«iiniiia,  iterum  edenda  curavit,  praefationes ,  vitam  auctoris  nee  non  notitias,  quae  ad 
historiam  scriptorum  pertinent,  addidit  Henr.  Kberh.  Gottl.  Paulus,  Jenae  1802 — 3 
B.  d.  Sp.  opera  philos.  oinnia  ed.  et  praef.  adjec.  A.  Gfrörer,  Stuttgardiae  1830.  Renati 
des  Cartes  et  B.  de  Sp.  praeeipna  opera.  philos.  recognovit,  notitias  hist.  philos.  adj. 
Car.  Riedel,  Lips.  1843  (Cartesii  Medit.,  Sp.  diss.  philos..  Sp.  Eth.).  B.  de  Sp.  opera 
quae  supersunt  omnia  ex  editionibus  prine.  denuo  ed.  et  praef.  est  Carol.  Herrn.  Bruder 
(mit  zahlreichen  bibliographischen  Angaben),  3.  voll..  Lips.  1843  —  46.  Ethik,  Brief- 
wechsel, Theologisch-polirischer  Tractat,  und  die  unvollendeten  lateinisch.  Abhandlungen, 
herausgegeben  und  mit  Einleitungen  versehen  von  Hugo  Ginsberg,  4  Bde.,  Leipz.,  später 
Heidelberg,  1875  —  1882.  (Auch  in  dieser  Ginsbcrgseh.  Edit.  ist  der  Tract.  de  Deo 
et  hom.  etc.  nicht  enthalten.)  Die  vollständigste  Ausgabe  ist:  B.  de  Sp.  opera  quotquot 
reperta  sunt.    Recognover.  J.  van  Vloten  et  J.  P.  N.  Land,  2  Voll.,  Hagae  1882,  83. 

Ins  Holländ.  sind  die  nachgelass.  Werke  bereits  1677  (von  Jarrig  Jellis)  übersetzt 
worden.  Eine  schon  bei  Spinozas  Lebzeiten  angefertigte,  aber  damals  seinem  Wunsche 
gemäss  unveröffentlicht  gebliebene  Uebersetzung  des  Tract.  theol.-polit.  ist  unt.  d.  T.: 
De  rechtzinnige  Theologant,  Hamburg  by  Henricus  Koenraad  (Amsterdam)  1693  herausg. 
worden.  Eine  franz.  Vebers.  des  tract.  theol.-pol.  (wahrscheinl.  von  St.  Glain)  ist  unter 
verschiedenen  verbergenden  Titeln  1678  erschienen.  In  neuerer  Zeit  hat  Emile  Saisset 
die  Oeuvres  de  Sp.  ins  Frunzös.  übersetzt,  Par.  1842,  1861,  zuletzt  3  vol.  1872.  Den 
Tractatus  politicus  (von  dem  Tract.  theol.-pol.  wohl  zu  unterscheiden)  hat  J.  G.  Prat 
ins  Franz.  übersetzt:  Traite  politique  de  B.  de  Spinoza,  Paris  1860.  Oeuvres  completes, 
traduites  et  annotees  par  J.  G.  Prat,  Paris  1863  ff.  Ins  Engl,  übers,  erschien  der  Tract. 
theol.-pol.  London  1869,  1737,  auch  wiederum  London  1862,  2.  Aufl.  1868.  Ins 
Deutsche  übersetzt  (von  Job.  Lorenz  Schmidt)  ist  die  Ethik  des  Spinoza  zugleich  mit 
Chr.  Wölfls  (aus  dessen  Theo!,  nat.  p.  post.,  Frkf.  u.  Leipz.  1737,  p.  672—730  ent- 
nommener Widerlegung)  Frankf.  und  Leipz.  1744  erschienen.  Seine  Abb.  über  die 
Cultur  des  menschl.  Verstandes  u.  üb.  die  Aristokratie  und  Demokratie  hat  S.  H.  Ewald 
übersetzt,  Lpzg.  1785,  und  derselbe  auch  seine  „philosoph.  Schriften*:  Bd.  I:  Bd.  v.  S. 
üb.  h.  Schrift.  Judenth..  Recht  der  höchsten  Gewalt  in  geistl.  Dingen  u.  Freiheit  zu 
philosophir.  (theol.-polit.  Tractat).  Gera  1787;  Bd.  FI  und  III:  Sp.s  Ethik,  Gera  1791 
bis  93.  Die  theol.-polit.  Abhandlung  hat  auch  C.  Ph.  Conz,  Stuttg.  1806  und  J.  A.  Kalb, 
Münch.  1826,  die  Ethik  F.  W.  V.  Schmidt,  Berlin  1812,  die  sämmtl.  Werke  Berth. 
Auerbach  ins  Deutsche  übers.,  5  Bde.,  Stuttg.  1841,  2.  verm.  Aufl.,  2  Bde.  1872.  In 
der  «philos.  Biblioth.-  sind  erschienen:  B.  v.  Sp.s  sämmtl.  philo».  Werke  übs.  v.  J.  H. 
v.  Kirchmann  u.  C.  Schaarschmidt  in  2  Bdn. 

Von  den  in  Sp.s  Werken  mitabgedr.  Briefen  sind  1 — 25  zwischen  Sp.  und 
Oldenburg  gewechselt  worden,  26 — 28  zwischen  Sp.  und  Simon  de  Vries,  den  29.  Brief 
hat  Sp.  an  Ludw.  Mayer  gerichtet  (ad  virum  doctiss.  experriss.  L.  M.  pbilos.  med.  que 
doetorem),  den  30.  an  Peter  Balling;  Br.  31  —  38  ist  der  Briefwechsel  Sp.s  mit  Willi, 
van  Blyenbergh  (Brief  38  von  Sp.  am  3.  Juni  1665  geschrieben);  Br.  39  —  41  sind 
wahrscheinlich  an  Chr.  Huyghens,  Brief  42  ist  wahrscheinlich  an  den  Dr.  med.  Joh. 
Bresser  in  Amsterdam  gerichtet,  Brief  43  an  Joh.  van  der  Meer,  Br.  44  —  47  an 
Jarrig  Jellis;  Brief  48  ist  ein  Sehreiben  Lamberts  van  Velthuysen  an  Isaac  Orobius 


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86 


§  13.  Spinoza. 


de  Castro  (Jon.  Oosten?),  Br.  49  von  8p.  an  Tsaac  Orobius  de  Castro  (Joh.  Dosten?), 
Br.  50  von  Sp.  an  Jarr.  Je! Iis,  Br.  51  von  Leitmiz  an  Sp.,  Br.  52  von  Sp.  an  Leibniz, 
Br.  53  Ludw.  Fabritius  an  Sp.,  Br.  54  Sp.  an  Ludw.  Fabritius,  Br.  55—60  an  u.  von 
Hugo  Boxel,  Br.  61—72  Briefweehs.  m.  Tschirnhausen,  Br.  73  Albert  Burgh  an  Sp„ 
Br.  74  Sp.  an  Albert  Burgh.  Einen  Brief  Sp.s  an  Lambert  van  Velthuyscn  vom  Jahr 
1675  hat  1843  H.  W.  Tydemann  herausg.;  einige  andere  Briefe  sind  zuerst  in  dem 
oben  angef.  Supplem.  veröffentlicht  worden.  In  <L  neuesten  Ausg.  finden  sich  83  Briefe. 
Die  wichtigsten  dieser  Briefe,  soweit  sie  zum  besseren  Verständnis*  von  Sp.s  Schriften 
dienen,  sind  übers,  von  Kirchmann  in  der  „philos.  Bibliothek".  Alfr.  Stern  äb.  einen 
bisher  unbeachtet.  Brief  Sp.s  u.  d.  Corresp.  Sp.s  und  Oldenburgs  im  J.  1665  fefr.  Works 
of  Rob.  Boyle,  Bd.  V.,  London  1744,  p.  339)  in  den  Gotting.  Nachricht.,  1872,  No.  26. 

Die  Hauptquelle  unserer  Kenntnitts  des  Lebens  Spinozas  bildet  nächst  Sp.s  eigenen 
Schriften  und  Briefen,  die  von  dem  luther.  Pfarrer  Joh.  Colerus  verf.  Biogr. ,  die. 
holländ.  1705  ersch.,  französ.  a  la  Haye  1706  nnd  1733  (auch  in  den  Opera  ed.  Paulus 
n.  in  dem  Briefwechsel  des  Sp.,  herausgeg.  von  Ginsberg,  abgedruckt),  deutsch  Frankf. 
u.  Leipz.  1733,  auch  von  Kahler  übers.,  Lemgo  1734.  Minder  zuverlässig  sind  die  An- 
gaben in:  La  vie  et  fesprit  de  Mr.  Benoit  de  Spinoza  (Amst.)  1719  (vom  Arzt  Lucas 
im  Haag);  neue  Ausg.  des  ersten  Theils:  la  vie  de  Spinosa.  par  un  de  ses  disciples, 
Hamb.  1785,  wie  auch  die  in  der  Schrift  des  Christian  Kortholt;  de  tribus  impostoribus 
magnis  (Herbert  von  Cherbury,  Hobbes  und  Spinoza),  Hamb.  1700.  Schon  früher  (1696) 
hatte  Bayles  Wörterb.  Notizen  üb.  Sp.s  Leben  gebracht,  die  in  holländ.  Uebersetzung 
nebst  beigefügten  Abhdlgn.,  Utrecht  1698  (m.  neu.  Titbl.  1711)  erschienen,  französ.  ab- 
gedr.  in  der  Ausg.  des  Theologisch- politisch.  Tractats  von  Ginsberg.  Die  von  Colerus 
verfasste  Lebensbeschreibung  ist  nebst  Notizen  aus  der  von  einem  Freunde  Sp.s  (Lucas) 
verfassten  Vie  de  Spinosa  der  Schriftensammlung  beigedruckt  worden:  Refutation  des 
erreurs  de  Benoit  de  Sp.  par  Mr.  de  Fenelon,  par  le  P.  Lami  Benedictin  et  par  le 
Comte  Boullainvilliers,  Brüx.  1731.  H.  F.  v.  Dietz,  Ben.  von  Sp.  nach  Leb.  u.  Lehren 
Dessau  u.  Lpz.  1783.    M.  Philipson,  Leben  B.s  Spinosa,  Leipz.  1790. 

Unter  den  neueren  Schriften  über  Spinozas  Leben  und  Werke  ist  hervorzuheben 
die  Hist.  de  la  vie  et  des  ouvrages  de  B.  de  Sp.,  fondateur  de  l'exegese  et  de  la  philos. 
moderne,  par  Amand  Saintes,  Par.  1842.  Die  spärlichen  überlieferten  Angaben  über 
Sp.s  Leben  hat  Berth.  Auerbach  poetisch  zu  ergänzen  gesucht  in  der  Schrift:  Spinoza, 
ein  histor.  Roman,  Stuttg.  1837,  in  2.,  neu  durchgearb.,  stereotyp.  Aufl.;  Spinoza,  ein 
Denkericben,  Mannh.  1855,  in  den  gesamm.  Schriften,  Stuttg.  1863,  64,  Bd.  10,  11. 
Conr.  v.  Orelli,  Sp.s  Leben  u.  Lehre,  2.  Ausg.,  Aarau  1850.  Zu  den  preisenden  Dar- 
stellungen Spjs  bildet  ein  Gegenstück  die  Einleitung  des  Ant.  van  der  Linde  EU  seiner 
Schrift:  Sp.s  Lehre  und  deren  erste  Nachwirkgn.  in  Holland,  Gött.  1862,  der  nicht 
nur  jeder  poetischen  Idealisirung  des  wissenschaftlichen  Stilllebens  Sp.s  sich  abgeneigt 
zeigt,  sondern  über  Leben  und  Lehre  des  Philosophen  herabsetzend  urtheilt.  Durch  neu 
aufgefundenes  Material  ist  von  Werth:  J.  van  V loten,  Baruch  d'Espinoza,  zyn  leven  en 
Schriften,  Amst.  1862,  2.  verm.  dnik,  Schiedam  1871.  Vergl.  Ed.  Böhmer,  Spinozana, 
I— IV,  in:  Zeitschr.  f.  Philos.,  Bd.  36,  1860,  S.  121—166,  ebd.  Bd.  42,  1863,  S.  76—121, 
ebd.  Bd.  57,  1K70,  S.  240 — 277.  Anton  van  der  Linde,  zur  Litt,  des  Spinozismus,  ebd. 
Bd.  45,  1864,  S.  301—305.  J.  B.  Lehmans,  Sp.,  sein  Lebensbild  u.  s.  Philos.,  Inaug.- 
Diss.,  Würzb.  1864.  Ein  mit  Liebe  gezeichnetes  historisches  Charakterbild  liefert  Kuno 
Fischer,  Baruch  Sp.s  Leben  und  Charakter,  e.  Vortrag,  Mannheim  1865,  und  in  seiner 
Geschichte  d.  neuer.  Phil.,  3.  Aufl.  Bd.  I,  Theil  2,  S.  116—185.  S.  S.  Coronel,  Bar. 
d'Espinoza  in  de  lyst  van  zyn  tyd,  Zalt-Bommel  1871 ;  deutsch,  Basel  1873.  H.  Gins- 
berg, Leben  und  Charakterbild  B.  .Spinozas,  Lpz.  1876.  Fred.  Pollock,  Spinoza,  his 
life  and  philosophy,  Lond.  1880.    Jam.  Martineau,  a  study  of  Sp.,  London  1882. 

Die  Lehre  des  Spinoza  (Über  deren  Geschiebte  Antonius  v.  d.  Linde  in  der  oben 
angef.  Schrift  und  P.  Schmidt  in  seiner  Schrift  Sp.  u.  Schleiermacher,  Berl.  1868,  eine 
Uebersicht  geben)  wurde  bald  nach  ihrer  Veröffentlichung  in  mehreren  Schriften 
bekämpft,  u.  A.  durch  Rappolt  in  Jena  (oratio  contra  naturalistas),  von  Blyenburg  (de 
verit.  reiig.  christianae,  Amst.  1674),  Musäus  (Traet.  theol.-pol.  ad  veritates  lumen  exami- 
natus,  Jenac  1674).  Von  dem  remonstrantischen  Prediger  im  Haag,  Jacob  Vateler, 
wurde  gegen  den  theologisch-politischen  Tractat  die  Schrift  verfasst:  Vindiciac  miracu- 
lorum,  per  quae  divinae  religionis  et  fidei  Christianae  veritas  olim  confirmata  fuit,  ad- 
versus  profanum  auetorem  tractatus  theol.  •  polit.  B.  Spinosam,  Amst  1674.  Ferner 
erschien  als  opus  posthnmum  Regneri  a  Mansfelt  (Prof.  zu  Utrecht)  adv.  anonymum 
theologo  -  politicum  über  singularis,  Amsterdam  1674.  Der  rotterdamer  Collegiant  Joh. 
Bredenborg  schrieb  eine  (manche  spinozistischen  Sätze  zugebende)  Enervatio  tractatus 


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§  13.  Spinoza. 


87 


theol.  - polit. ,  una  cum  demonstratione  geometrico  online  disposita,  natural.«  non  esse 
Deum,  Roterod.  1675.  Auf  socinianischen  Anschauungen  ruht  die  (eine  volle  Ceber- 
einstimmung  zwischen  Bibel  und  Vernunft  behauptende)  Schrift:  Art  ana  athcistni  revclata, 
philosophice  et  paradoxe  refutata  examine  tract.  theol.-pol.  per  Franciscun»  Cuperum 
Amstelodamensem,  Roterod.  1676.  Aber  die  bahnbrechenden  historisch- kritischen  Ge- 
danken des  theol.-polit.  Tractats  haben  auch  schon  früh  einen  positiven  Einfluss  auf  die 
Schrifrforschung  christlicher  Theologen  gewonnen.  Von  verwandter  Art  ist  bereits  die 
Forschung  des  Katholiken  Richard  Simon  (über  den  A.  Bernus,  Lausanne  186»)  handelt, 
besonders  in  dessen  histoire  critique  du  Vieux  Testament,  Par.  1678.  Zu  den  frühen 
Bekämpfern  des  Spinozismus  gehören  auch  der  Mystiker  Poiret:  fundamenta  atheismi 
eversa,  in  seinen  Cogit.  de  Deo,  anima  et  malo,  Amst.  1677  u.  ö.,  und  der  Skeptiker 
Bayle.  Gegen  den  Tract.  theol.-pol.  und  die  Ethik  schrieb  der  Cartesiauer  Lambert 
Velthuvsen,  de  cultu  naturali  et  origine  moralitatis,  Rot.  1680,  gegen  die  Ethik  der 
Cartesianer  Christoph  Wittich:  Anti -Spinoza  sive  Examen  Ethices  Ben.  de  Spinoza, 
Amst.  1690.  Von  Einigen,  wie  Allheit  de  Verse  (Albertus  Versaeus),  l'impie  convaiucu, 
Amst.  1684,  und  Joh.  Regius,  Cartesius  verus  Spinozismi  architectus,  Leeuwarden  1713, 
auch  von  Vr.  C.  Pappo,  Spinozismus  detectus,  Weimar  1721,  wurde  mit  dem  Spino- 
zismus zugleich  auch  der  Cartesianismus  als  dessen  Quelle  bekämpft;  von  Auderen  da- 
gegen (wie  von  Ruardus  Andala,  Cartesius  verus  Spinozismi  eversor,  Franequerae  1717) 
wurde  die  Solidarität  des  Cartesianismus  mit  dem  Spinozismus  bestritten.  Auf  Spinoza* 
Doctrin  ruht  die  anonyme  Schrift  des  Abrah.  Job.  Cuffeler:  Specimen  artis  ratioeinandi 
naturalis  et  artificialis,  ad  pantosophiae  principia  manuducens,  llamburgi  apud.  Hcnr. 
Künraht  (Amst.)  1684:  Principiorum  pantosophiae  p.  II,  III,  ib.  1684.  Das«  die  Lehren 
der  Ethik  des  Spinoza  mit  kabbalistischen  Sätzen  übereinstimmen,  versucht  Johanu 
Georg  Wächter  nachzuweisen,  zuerst  in  seiner  Schrift:  der  Spinozismus  im  Judenthum 
oder  die  von  dem  heutigen  Judenthnm  und  dessen  geheimer  Cabbala  vergötterte  Welt, 
an  Mose  Germano,  sonsten  Joh-  Pet.  Speeth,  von  Augsburg  gebflrtig,  befunden  und 
widerlegt  von  J.  G.  Wächter,  Amsterd.  1699;  hieran  schloss  sich  später  Wächters  Schrift: 
Elucidarius  Cabbalisticus,  Rom  1706.  Leibniz  schrieb  zu  dieser  letzteren  Schrift  animad- 
versiones  ad  J.  G.  Wachtcri  librum  de  recondifa  Hebraeorum  philosophia  (eine  Kritik 
spinozistischer  Doctrinen  vom  Standpunkte  der  Monadologie) ;  diese  Bemerkungen  blieben 
nngedruckt,  bis  sie  in  neuester  Zeit  A.  Foucher  de  Careil  in  den  Archiven  der  K. 
Bibliothek  zu  Hannover  auffand  und  unt.  d.  Tit.:  Refutation  inedite  de  Spinoza  par 
Leibniz,  Par.  1854,  veröffentlichte  (vgl.  Leibn.  Theod.  II,  §  173,  §  188;  III,  §  372  und 
§  373).  Christ.  Wolff  bekämpft  in  einem  Abschnitt  seiner  Theologia  naturalis  (pars 
poster.  §  671 — 716)  den  Spinozismus;  diese  Bekämpfung  erschien  mit  der  Ethik  des 
Spinoza  zusammen  ins  Deutsche  übersetzt,  Frankf.  u.  Leipz.  1744.  Ueber  das  System 
des  Sp.  und  über  Bayles  Erinnerungen  gegen  dasselbe  handelt  de  Jariges  in:  Histoire 
de  l'Academie  Royale  des  sciences  et  belies  lettres  de  Berlin,  annee  1745,  tome  I.  IL, 
deutach  in:  Hissmanns  Magaz.  f.  die  Philos.  und  ihre  Gesch.,  Bd.  V.  Gört.  u.  Lemgo 
1782,  S.  3—72.  M.  Krakauer,  zur  Gesch.  des  Spinozism.  in  Dcutschl.  während  der 
I.  Hälfte  des  18.  Jahrh.,  Breslau  1881. 

In  Deutschland  wunle  die  Aufmerksamkeit  auf  den  Spinozismus  besonders  durch 
den  Streit  zwischen  Jacobi  und  Mendelssohn  über  Lessings  Beziehung  zu  dieser  Doctrin 
gelenkt.   Fr.  H.  Jacobi,  über  d.  Lehre  d.  Sp.,  in  Briefen  an  Mos.  Mendelssohn,  Lpzg. 

1785,  2.  Aufl.  Bresl.  1789;  Werke  Bd.  IV,  Abth.  1.  Mos.  Mendelssohn,  Morgenstunden 
od.  Vorlesgn.  üb.  d.  Das.  Gottes,  Berl.  1785  u.  ö.,  an  die  Freunde  Lessings,  Berliu 

1786.  F.  H.  Jacobi,  wider  Mendelssohns  Beschuldigungen,  betreffend  die  Briefe  über 
die  Lehre  des  Spinoza,  Leipz.  1786.  Herder,  Gott,  einige  Gespräche  über  Spinozas 
Syst.,  nebst  Shaftesburys  Naturhymnus,  Gotha  1787,  2.  Aufl.  1800,  in  der  Cottaschen 
Gesammtausgabe  der  Werke,  Bd.  XXXI,  1853,  S.  73 — 218  (ein  Versuch,  den  Spino- 
zismus nicht  mit  Jacobi  als  einen  Pantheismus  oder  als  Atheismus,  sondern  als  einen 
Theismus  zu  deuten).  Goethe,  aus  meinem  Leben,  Dichtung  und  Wahrheit,  in  III.  und 
IV.  (vgl.  Wilh.  Danzel,  üb.  Goethes  Spinozism.,  Hamb.  1843.  K.  Heyder,  üb.  das  Ver- 
hältniss  Goethes  zu  Spinoza,  in  der  Zeitschr.  f.  d.  ges.  luth.  Theol.  u.  Kirche,  27,  Leipz. 
1866,  S.  261—283,  auch  E.  Caro,  la  philosophie  de  Goethe,  Paris  1866,  2.  ed.  1881. 
Jos.  Bayer,  G.s  Verhältniss  z.  relig.  Fragen,  Prag  1869.  G.  Jellinek.  die  Beziehungen 
Goethes" zu  Spinoza,  Wien  1878.  G.  Suphan,  Goethe  u.  Sp.  1783—1786,  1882.)  —  P.  Jam  t, 
le  Spinozisme  en  France,  in:  Revue  philos.,  XIII,  1882,  S.  109—132. 

Von  den  Schriften  und  Abhandlungen,  welche  die  Philosophie  Spinozas  im 
Ganzen  oder  einzelne  Theile  derselben,  ihre  Quellen  oder  ihren  Einfluss  auf  spätere 
Lehren  behandeln,  seien  folgende  genannt: 


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§  13.  Spinoza. 


G.  S.  Francke,  üb.  d.  neuer.  Schicksale  d.  Spinozism.  u.  seinen  Einfl.  auf  d.  Philos. 
übhpt.  u.  d.  Vernunfttheol.  insbes.,  Preisschrift,  Schleswig  1808  u.  1812.  H.  Ritter,  über 
den  Einfl.  d.  Philos.  des  Cartesius  auf  d.  Ausbildg.  der  des  Spinoza,  Leipz.  u.  Altenb. 
1817.  H.  C.  W.  Sigwart,  üb.  d.  Zsinhg.  des  Spinozism.  m.  d.  cartesian.  Philos.,  Tüb. 
1816;  vgl.  dessen  Beiträge  z.  Erläutrng.  d.  Spinozism.,  Tüb.  1838:  der  Spinozism. 
histor  u.  philos.  erläut.,  Tüb.  1839;  Vgleiohung.  d.  Rechts-  u.  Staatstheorie  des  B.  Sp. 
und  des  Tb.  Hobbes,  Tüb.  1842.  Car.  Rosenkranz,  de  Sp.  philosophia,  Hai.  et  Lips. 
1828.  K.  Thomas,  Sp.  als  Metaphysiker,  K«sbg.  1840.  (TboSUW  schreibt  dem  Spinoza 
einen  Pluralismus  zu,  indem  er  die  noniinalistisch- individualistischen  Elemente  hervor- 
hebt, die  allerdings  in  Spinozas  Doetrin  enthalten,  jedoch  nur  neben  dem  herrschenden 
pantheistischen  Monismus  nebenbei  mitenthalten  sind.) 

J.  A.  Voigtländer,  Spinoza  nicht  Pantheist,  sondern  Theist,  in:  Theol.  Stud.  u. 
Kritiken,  1841.  Heft  3.  F.  Baader,  üb.  d.  Nothwendigk.  der  Revision  der  Wissensch, 
in  Bez.  auf  spinozist.  Systeme,  Erlang.  1841.  Vgl.  auch  die  den  Spinozismus  betreffenden 
Abschnitte  bei  Bouillier,  Hist.  de  la  philos.  Cartesienne,  und  bei  Damiron,  Hist.  de 
la  philos.  du  XVII.  siede,  und  Victor  Cousin,  des  rapports  du  Cartesianisme  et  du 
Spinozisme,  in:  Fragments  de  philos.  Cartesienne,  Paris  1852.  Ad.  Helfferich,  Sp.  u. 
Leibniz  od.  d.  Wes.  d.  Idealisni  u.  d.  Realism.,  Hamb.  u.  Gotha  1846.  F.  Keller,  Sp.  u. 
Leibniz  üb.  d.  Freih.  d.  menscht.  Willeus,  Erlang.  1847.  J.  E.  Erdmanu,  d.  Grund- 
begriffe des  Spinozism.,  in:  Verm.  Aufs.,  Leipzig  1848,  S.  118 — 192.  C.  Sch a a rschm  i  dt , 
Des  Cartes  u.  Sp. ,  urkundl.  Darstellg.  der  Philos.  Beider,  nebst  e.  Abhdlg.  v.  Jae. 
Bernays  üb.  Spinozas  hebr.  Grammatik,  Bonn  1800.  C.  H(eble)r,  Sp.s  Lehre  vom 
Vhältn.  d.  Substanz  zu  ihr.  Bestimmtheiten,  Bern  1350;  Hebler,  Lessing-Studicn,  Bern 
1802,  S.  116  ff.  R.  Zimmermann,  üb.  einige  logische  Fehler  d.  spinozist.  Ethik,  im 
Octoberheft  1850  und  Aprilheft  1851  d.  Sitzungsher.  d.  philos.-bist.  Cl.  der  knis.  Akad. 
d.  Wiss.,  auch  in  Z.s  Studien  u.  Kr..  Wien  1870  wieder  abgedruckt.  J.  E.  Horn,  Sp.s 
Staatslehre,  Dessau  1851,  2.  A.,  Dresd.  1863. 

A.  Trendelenburg,  üb.  Sp.s  Grundgedank.  u.  dess.  Erfolg,  aus  den  Abhndlng.  der 
K.  Akad.  d.  Wiss.  im  II.  Bd.  der  Hist.  Beiträge  z.  Phil.,  Berl.  1855,  S.  31—111; 
vgl.  dess.  Abb.  üb.  d.  letzt.  Unterseh.  der  philos.  Systeme,  in  den  Beitr.  II.  S.  1—30; 
ferner  über  die  aufgefundenen  Ergänzungen  etc.  (s.  oben,  S.  85).  (, Entweder  steht  die 
Kraft  der  wirkenden  Ursache  vor  und  über  dem  Gedanken,  oder  der  Gedanke  steht 
vor  und  über  der  Kraft,  oder  endlich  Gedanke  und  Kraft  sind  im  Grunde  dieselben:  — 
in  Spinoza  erscheint  der  Gegensatz  von  Gedanke  und  blinder  Kraft  als  Denken  und 
Ausdehnung,  cogitatio  und  extensio,  und  Spinoza  fasst  beide  ohne  Ueberordnung  und 
Unterordnung  in  Eins",  —  so  bezeichnet  Trendelenburg  Sp.s  Grundgedanken,  wobei 
jedoch  —  auch  abgesehen  davon,  dass  die  Disjunction  der  mögliehen  Standpunkte 
den  Kriticismus  (im  kantischen  Sinne)  nicht  mitumfasst,  der  jenen  Gegensatz  nicht 
für  real,  sondern  für  bloss  unserer  subjectiven  Auffassung  angehörig  hält  —  in  Be- 
zug auf  Spinoza  selbst  sehr  fraglich  ist,  ob  die  Identificirung  der  Ausdehnung  mit 
„blinder  Kraft4  im  Sinne  des  Spinoza  zutreffend  sei.  und  nicht  vielmehr  nach  Spinoza 
innerhalb  der  Cogifatio  selbst  „blinde"  Kraft  und  höhere,  bewusste  und  zuhöchst  geistige 
Kraft  als  niederer  und  höherer  Grad  der  Beseeltheit  (vgl.  Eth.  II,  prop.  13:  ,omnia, 
quamvis  diversis  gradibus,  animata  sunt")  zu  unterscheiden  seien,  denen  innerhalb  der 
Ausdehnung  die  elementare  Form  und  Bewegung  und  die  complicirtere  (die  letztere 
insbesondere  im  Gehirn)  entsprechen.  Es  ist  falsch,  dass  „wo  das  Denken  nicht  auf  die 
Ausdehnung  wirken  und  sie  nicht  nach  einer  im  Voraus  vorgestellten  Wirkung  richten 
kann,  der  Zweck  unmöglich"  sei.  Nicht  auf  die  „Ausdehnung",  sondern  auf  die  unter- 
geordnete Kraft  wirkt  das  Denken,  und  die  dem  Denken  zugehörige  Bewegung  wirkt 
auf  die  jener  Kraft  entsprechende  Bewegung:  der  Intellectus  infinitus  geht  dem  endlichen 
Intellect,  und  dieser  wiederum  den  niederen  bewussten  und  unbewussten  Kräften  in  der 
Weltordnung  überhaupt  und  insbesondere  in  der  sittlichen  Ordnung  bestimmend  voran, 
und  in  diesem  Sinne  vermag  der  Mensch,  aber  freilich  nicht  Gott,  der  als  unendliche 
Substanz  nicht  eine  Person  sein  kann,  nach  Zwecken  zu  handeln.) 

Th.  Hub.  Weber,  Sp.  atque  Leibnitii  philos.,  comm.  Bonn.  1858.  F.  E.  Bader, 
B.  de  Sp.  de  rebus  singularibus  doctrina,  Berol.  (Pr.  der  Kgsst.  Realscb.)  1858.  J. 
H.  Löwe,  üb.  d.  Gottesbegr.  Sp.s  u.  dess.  Schicksale,  als  Anh.  zu  Lowes  Schrift  üb. 
die  Philos.  Fiehtes,  Stuttg.  1862.  (Löwe  sucht  durch  Hervorhebung  des  Unterschieds 
zwischen  der  „cogitatio"  als  unpersönlichem  Attribut  der  Substanz  und  dem  „infinitus 
intellectus  Dei"  als  unmittelbarer  Wirkung  der  Substanz  diesem  unendlichen  Intellect 
ein  absolutes  Selbstbewusstsein,  eine  persönliche  Einheit  zu  vindiciren  und  so  den 
Gottesbegriff  des  Spinoza  dem  theistischen  anzunähern.    Ueber  dieselbe  Frage  vgl.  n,  A. 


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§  13.  Spinoza. 


89 


Ed.  Böhmer,  Spinozana,  III,  in  Z.  f.  Pb.,  Bd.  42,  1863,  S.  92  ff.  und  Lehnians  a.  a.  O. 
S.  120—125.  Knill-  Saisset,  Maimonide  et  Spinoza,  in:  Rev.  d.  deux  Mond  ,  37,  1862, 
S.  290-334.) 

Spinoza  et  la  Kabbale,  par  le  rabbin  Elie  Benamozegh,  Paris  1864  (Extrait  de 
l'Univers  israelite).  N.  A.  Forsberg,  Jemförande  Betraktelse  c»f  Spinozas  oeh  Male- 
branchc's  metafysika  prineip.,  Akad.  Afbandl.,  L'psala  1804.  P.  Krämer,  de  doctr.  Sp. 
de  mentc  humana,  diss.  inaug.,  Halae  1865.  Chr.  A.  Thilo,  über  Sp.s  Religionsphil., 
in:  Ztsehr.  f.  exacte  Phil.,  Bd.  VI,  1805,  S.  113—145;  Bd.  VI,  1800,  S.  389 — 109: 
Bd.  VII,  1860,  S.  60—99.  A.  v.  Üettiugeu,  Sp.s  Ethik  u.  d.  moderne  Materialism.  in: 
Dorpater  Zeitechr.  f.  Theol.  u.  Kirche,  Bd.  VII,  Heft  3.  Nourisson,  Sp.  et  le  natura- 
lisme  contemporain,  Par.  1866.  M.  Joel,  Don  Chasdai  Creskas  religionsphilos.  Lehren 
in  ihr.  gesch.  Einflüsse  dargest.,  Bresl.  1S66,  wo  besonders  Berührungen  Spinozas  mit 
diesem  von  ihm  Epist,  29  pr.  tin.  erwähnten,  um  1400  lebenden  Talmudisten.  welcher 
der  nominalistiseheu  Zeit  und  Richtung  angehörte  und  dem  Determinismus  huldigte,  auf- 
gezeigt werden,  die  jedoch  nicht  sehr  weit  greifen.  Beträchtlicher  mag  Sp.s  frühe, 
besonders  durch  Gersonides  (Levi  ben  Gerson,  s.  Grd.  II,  §  27)  vermittelte  Vertrautheit 
mit  dem  Averroismus  gewesen  sein  Paul  Janet,  Sp.  et  le  Spinozisme  dapres  les 
travaux  recents,  in:  Rev.  d.  deux  mond.,  t.  70,  1807,  S.  470 — 198.  C.  Siegfried,  Sp. 
als  Kritiker  und  Ausleger  des  alt.  Testam.  Portenser  Progr.,  Naumb.  1867.  Wäldern. 
Hayduck,  de  Sp.  natura  naturata,  diss.  inaug.,  Bresl.  1867. 

Mor.  Dessauer,  Sp.  und  Hobbes,  Inaug.  Diss..  Bresl.  1S68;  der  Sokrates  der  Neuzeit 
und  sein  Gedankenschatz,  Göthen  1877.  Ad.  Gasparv.  Sp.  u.  Hobbes,  Inaug.  Diss.. 
Berl.  1873.  Sah  Rubin,  Sp.  u.  Maimonides,  Wien  1868.  P.  Schmidt,  Sp.  u.  Schleier- 
macher,  Berl.  1868.  F.  Urtel.  Sp.  de  voluntute  doctr.,  Hai.  1868.  Rieh.  Avenarius,  üb. 
d.  beid.  erst.  Phasen  des  Spinozist.  Pantheism.  u.  d.  Vhältn.  der  zweit,  z.  dritt.  Pbase, 
nebst  e.  Anh.  üb.  Reihenfolge  u.  Abfassungszeit  der  Sit.  Schriften  Sp.s,  Lpz.  1808. 
(Avenarins  bält  es  für  wahrscheinlich,  dass  die  Dialoge,  die  sich  in  dem  Tract.  de  Deo 
et  hom.  finden,  um  1051  verfasst  seien,  dieser  Tractat  selbst  1654 — 1055,  der  Tract.  de 
int.  emend.  1055—56,  der  Tract.  theol.-pol.  1057—01.  Mit  Sigwart  übereinstimmend 
nimmt  Avenarius  an,  dass  der  synthetische  Anhang  zu  dem  Tructatus  de  Deo  et  homiue 
im  Jahre  1001  verfasst  worden  sei.  Kr  unterscheidet  eine  „naturalistische,  theistische 
und  substanzialistische  Phase«  der  Allcinheitslehre  Spinozas  und  findet  die  erste  in  den 
Dialogfragmenten  des  Tract.  de  Deo  et  hom.,  die  zweite  in  diesem  Tractatus  selbst.) 

J.  H.  v.  Kirchmann,  Krläutrgn.  zu  Sp.s  Ethik  (als  Anh.  zur  Vebersetznng  der 
Ethik,  eine  Kritik  der  Doetrin  Sp.s  von  Kirchmanns  „realistischem"  Standpunkte  aus), 
in  der  .philos.  Bibl."  Willi.  Liebrieh,  examen  crit.  du  tratte  th.-pol.  de  Sp.,  Strassb. 
1809.  Jos.  Hartwig,  üb.  d.  Vhältn.  des  Spinozism.  z.  Cartesianisch.  Doetrin.  Inaug. 
Diss.,  Bresl.  1809.  Is.  Misses,  Sp.  u.  d.  Kabbala,  in  der  Zeitschr.  f.  ex.  Philos.  VIII. 
1S69,  S.  359—367.  (Nach  Misses  ist  als  Ausgangs-  und  Anhaltspunkt  des  Spinoza  die 
kabbalistische,  dem  Maimonides  und  andern  jüdischen  Philosophen  fremde  Benennung 
Gottes  als  des  Unendlichen,  En  Soph,  anzusehen,  die  zum  Pantheismus  dränge;  Gott 
wird  auch  von  Kabbalisten  als  immanente  Ursache  und  Wesen  aller  Dinge  betrachtet 
und  das  Verhältnis«  des  Universums  zu  Gott  mit  dem  der  Falten  eines  Kleides  zum 
Kleide  selbst  verglichen,  also  ähnlich  wie  von  Spinoza  das  der  Modi  oder  der  Affec- 
tionen  Gottes  zu  Gott  selbst  gedacht  wird.  Die  Lehre,  dass  alles  beseelt  sei,  selbst  der 
Stein,  ist  von  Kabbalisten  bereits  aufgestellt  worden,  ebenso  die  Lehre  von  einer  par- 
tiellen Unsterblichkeit  der  Seele:  die  Lehre  Spinozas  von  den  Attributen  stimmt  zwar 
nicht  zu  der  kabbalistischen  Vereinigung  der  extensio  von  der  Gottheit,  findet  aber  doch 
einen  Anknüpfungspunkt  in  der  kabbalistischen  Doetrin  von  dem  unendlichen  Licht,  das 
aus  dem  Unendlichen  durch  eine  erste  Concentration  geworden  sei  und  bereits  den 
Keim  der  in  dem  Einen  an  sieh  nicht  vorhandenen  Verschiedenheit  enthalte,  und 
worauf  allein  der  Name  Jehovah,  der  stets  Wirkende  passe.  Die  spinozistische  Negation 
der  menschlichen  Willensfreiheit  ist  nur  eine  von  der  Kabbala  nicht  gezogene,  folgerechte 
Systemcon»equenz.  Auf  die  neuplatonischen  und  gnostischen  Quellen  der  Kabbala  selbst 
weift  Misses  hin  in  seiner  Schrift:  Zofnath  Paaneach,  Darst.  und  krit.  Beleuchtung  der 
jfid.  Geheimlehre.  Krakau  1862 — 63.  Ausser  Ibn  Gebirol  hat  auch  der  von  Spinoza 
geschätzte  biblische  Kritiker  Ibn  Esra  manche  neuplatonischen  Gedanken  reproducirt.  — 
Doch  möchten  diese  Ähnlichkeiten  wohl  nur  zum  geringsten  Theile  genetische  Be- 
deutung haben.  In  der  Opposition  des  Spinoza  gegen  die  dualistische  Psychologie  des 
Cartesius  liegt  wohl  unzweifelhaft  die  Quelle  seiner  Identificimng  der  ausgedehnten 
und  denkenden  Substanz.) 


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90 


§  13.  Spinoza. 


Mor.  Braach,  B.  v.  Sp.s  System  der  Philos.  nach  d.  Ethik  n.  d.  übrig.  Traetaten 
desselben  in  genet.  Entw.  darg.  mit  c.  Biogr.  Sp.s,  Berlin  1870.  R.  Willis,  Ben. 
de  Spinoza,  his  Ethics,  Life,  Lettre»  and  Influence  on  modern  religious  thought,  Lond. 
1870.  E.  Albert  Fraysse,  l'idee  de  Dieu  dans  Spinoza,  Paris  1870.  M.  JoPI,  Sp.s 
th.-pol.  Track  auf  seine  Quellen  geprüft,  Bresl.  1870;  z.  Genesis  der  Lehr«  Sp.s  mit 
bes.  Berücksichtigung  d.  kurz.  Tractats  „von  Gott,  d.  Mensch,  u.  dess.  Glüekseligk.*, 
ebd.  1871.  E.  Bratuschek,  worin  besteh,  d.  nnzähl.  Attribute  d.  Substanz  bei  Sp.?  in: 
phil.  Monatshft.  VII,  193—214.  Hnr.  Kratz,  Sp.s  Ansicht  üb.  d.  Zweokbegr.,  Gotting. 
Inaug.-D.,  Neuwied  u.  Lpz.  1871.  Reinh.  Walter,  üb.  d.  Vhltn.  d.  Subst.  z.  ihr.  Attri- 
buten in  d.  Lehre  Sp.s  m.  besond.  Berficks.  der  Auffassg.  degselb.  bei  Kuno  Fischer, 
Erdmann  u.  Trendelenburg.  Erlang.  Inaug.-D.,  Ntirnb.  1871.  S.  K.  Löwenhardt,  B.  v.  Sp. 
in  s.  Vhältn.  z.  Philos.  u.  Naturforsehg.  d.  neuer.  Zeit,  Berl.  1872  (71).  Joh.  Volkelt, 
Pantheism.  u.  Individualism.  im  Syst.  Sp.s,  Leipz-  1872.  Marc.  Dienstfertig,  d.  menschl. 
Freih.  nach  Sp.,  Inaug.-D.,  Bresl.  1872.  P.  Wetze!,  d.  Zweclcbegr.  bei  Sp.,  Lpz.  1873. 
G.  Busolt,  die  Grundznge  der  Erkenntnisstheorie  n.  Metaphys.  Sp.s.  Berl.  1875. 
Reinh.  Albert,  Sp.s  L.  üb.  d.  Existenz  Einer  Substanz,  R.  S.  Pr.  Dresden  1875. 
Henke,  d.  L.  v.  d.  Attributen  b.  Sp.,  R.  S.  Pr.,  Perlebcrg  1875.  S.  Turbiglio,  Bened. 
Sp.  e  le  trasformazioni  del  suo  pensiere,  Roma  1875.  A.  Gordon,  Sp.s  Psychulogie 
der  Affecte  mit  Rücksicht  auf  Descartes,  Jena  1875.  F.  G.  Hann,  die  Ethik  Sp.s  u.  d. 
Philos.  Descartes',  Innsbruck  187G.  J.  H.  Gnnning,  Sp.  en  de  idee  der  persoonlijkheid, 
Aldaar  1876.  Opitz,  Sp.  als  Monist,  Determinist  u.  Realist,  in  Philos.  Monatsh.  Bd.  12, 
1876,  S.  193—204.  T.  Caraerer,  d.  L.  Spinozas,  Stuttg.  1877.  Rothschild,  Sp. 
Zur  Rechtfertigung  seiner  Philos.  u.  Zeit,  Lpz.  1877.  F.  Acri,  una  nuova  esposizione 
del  Systeme  dello  Sp.,  Firenze  1877.  W.  Windelband,  Zum  Gedächtniss  Spinozas,  in 
Vierteljahrsschr.  f.  wissensch.  Philos.,  Bd.  I.  1877,  S.  419—440.  M.  Heinze,  Zum 
Gedächtniss  Spinozas,  in  Ztschr.  Im  neuen  Reich,  1877,  I,  S.  337— 351.  C.  Sarchi,  della 
dottrina  di  Bened.  de  Sp.  e  di  Giov.  B.  Vico,  Milano  1878.  Geo.  Kriegsmann,  die  Rechts  - 
u.  Staatstheorie  des  B.  v.  Sp.,  Pr.,  Wandsbeck  1878.  M.  C.  L.  Lotaij,  Sp.s  Wijsbegeerte, 
Amsterd.  1878.  H.  Sommer,  d.  Lehre  Sp.s  u.  der  Materialismus,  in  Ztschr.  f.  Philos., 
Bd.  74,  1879,  S.  1—30,  209—238.  J.  Frohschammer,  üb.  d.  Bedent.  der  Einbildungs- 
kraft in  der  Philos.  Kants  u.  Spinozas,  München  1879.  Rieh.  Kalischek,  üb.  die  drei 
in  d.  Ethik  Sp.s  behandelt.  Formen  der  Erkenntnis.«,  Lpz.  I.-D.,  Namslau  1880.  Edm. 
Polsenet,  de  mentis  essentia  Spinoza  quid  senserit,  Dissert.,  Par.  1880.  W.  R.  Sorley, 
Jewish  mediaeval  philosophy  and  Spinoza,  in:  Mind,  Bd.  5,  1880,  S.  3G2— 384.  Rieh. 
Salinger,  Sp.s  Lehre  v.  d.  Selbsterhaltung.  I.-D.,  Berl.  1881.  Mor.  Eisler,  die  Quellen 
des  spinozistiseh.  Systems,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  1882,  Bd.  80,  S.  250—265. 
John  Dewey,  the  Pantheism  of  Spinoza,  in:  the  Journal  of  spec.  phil.,  1882,  XVI,  3, 
S.  249 — 257.  F.  Tönnies,  Studie  zur  Entwickclungsgesch.  des  Sp.,  in:  Vierteljahrsschr. 
f.  wissensch.  Phil.,  VII,  1883,  S.  158—183,  334—364.  H.  J.  Bete,  Spinoza  en  Kant, 
s'Gravenhage  1883.  Spinoza,  Four  essays  by  Land,  Kuno  Fischer,  J.  van  Vloten  and 
E.  Renan,  ed.  hy  Prof.  Knight,  Lond.  1883.  Lesbareille«,  de  Logica  Spinozae,  Par. 
1884.  C.  Lülmann,  üb.  d.  Begr.  amor  dei  intellectualis  b.  Sp.,  I.-D.,  Jena  1884. 
Metellus  Meyer,  die  Tugendl.  Sp.s.  I.-D.,  Flensb.  1885.  V.  F.  Schindler,  üb.  d.  Begr. 
de»  Guten  u.  Nützlichen  bei  Sp.,  I.-D.,  Jena  18S5.  Ludw.  Busse,  üb.  d.  Bedeut.  der 
Begriffe  „ essentia*  u.  „existentia"  bei  Sp..  e.  Beirr,  zur  Entwickclungsgesch.  Sp.s,  in: 
Vierteljahrsschr.  f.  wissensch.  Ph.,  X,  1886,  S.  283—306:  ders.,  Beitrag«  zur  Ent- 
wickclungsgesch. Sp.s,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  90,  1887,  S.  50—88.  J.  Berg- 
mann, Sp.,  Vortr.,  in:  Ph.  Monats  h.  1887,  S.  120 — 164.  J.  Nenitescu,  d.  Affectenl. 
Sp.s,  Lpz.  1887.  J.  Freudenthal,  Sp.  u.  d.  Scholastik,  in:  Philos.  Aufsätze,  Ed. 
Zeller  zu  sein.  50jähr.  Doctorjub.  gewidmet,  Lpz.  1887,  S.  83—138.  Fr.  weist  nach, 
dass  die  Quellen  für  Spinoza*«  Cogitata  metaphysica  vorzüglich  in  der  christlichen 
Scholastik  späterer  Entwicklung  zu  linden  sind,  dass  aber  auch  in  das  eigentliche 
System  Spinozas  gar  Manches  aus  der  Scholastik,  wie  sie  in  der  damaligen  Zeit  noch 
dominireuden  Kinflusa  ausübte,  übergegangen  ist 

Die  Abhandlungen  über  neuaufgefundene  Ergänzungen  zu  Sp.s  Werken  etc.  sind 
schon  oben  Seit«  83  bei  der  Anführung  von  Sp.s  Schriften  erwähnt  worden. 

Zur  Geschichte  der  Beurtheilung  der  Doctrin  Spinozas  kommen  ausser  den  Mono- 
graphien die  gelegentlichen  Aeusserungen  in  den  Werken  von  Schleiermacher,  J.  G. 
Fichte,  Schelling,  Baader,  Hegel,  Herbart  (besonders  Schriften  zur  Metaph.,  Werke, 
III,  S.  158  ff.)  und  anderen  Philosophen  in  Betracht,  ferner  die  Darstellung  und  Kritik 
seiner  Lehre  in  den  Geschichten  der  (neueren)  Philosophie  von  Brucker,  Buhle,  Tenne- 
mann, Ritter,  Feuerbach,  Erdmann,  Kuno  Fischer  u.  A.,  auch  in  Specialschriften  über 
die  Geschichte  des  Pantheismus,  wie  Buhle,  de  ortu  et  progressu  pantheism)  indo 


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§  13.  Spinoza. 


91 


a  Xenophane  usque  ad  Spinozam,  in:  Comm.  soc.  sc.  Gott.  vol.  X.,  1791;  Jäsche,  der 
Panthcism.  nach  sein.  verseh.  Hauptfonuen,  Berl.  182G — (vgl.  H.  Kittcr,  die  Halb- 
kantianer u.  der  Pantheism.,  Berl.  1827);  J.  Volkmuth,  der  dreieinige  Pantheism.  von 
Thaies  bis  Hegel  (Zeno,  Spinoza,  Sehclling),  Köln  1 in  den  der  Kritik  philosophi- 
scher Standpunkte  gewidmeten  Werken  und  Abhandlungen  von  I.  Herrn.  Fichte,  Ulri.  i, 
Sengler,  Weisse,  Hanne  etc.  und  in  vielen  religionsphilosophischen  Schriften,  z.  B.  bei 
Pfleiderer,  in  dem  Werke  von  Pünjer. 

Baruch  Despinoza  (das  z  ist  als  s  zu  sprechen),  geh.  zu  Amsterdam  am 
24.  Nov.  1632,  stammte  aus  einer  der  jüdischen  Familien,  die,  um  den  Bedrückungen 
in  Spanien  und  Portugal  zu  entgehen,  nach  den  Niederlanden  ausgewandert  waren. 
Er  erhielt  seine  erste  Bildung  unter  dem  berühmten  Talmudisten  Saul  Levi  Morteira, 
lernte  auch  die  Schriften  des  Maimonides  kennen,  den  er  hochhält,  ebenso  uuch 
Schriften  des  Gersonides  (der  dem  Averroismus  nahe  steht!  und  anderer  jüdischer 
Gelehrter  und  Denker  des  Mittelalters,  ferner  auch  kabbalistische  Schriften,  von 
denen  er  zwar  selten  redet  und  bei  denen  er  Klarheit  vermiest,  mit  denen  er  aber 
doch  in  einigen  Grundgedanken  übereinkommt.  Lateinischen  Unterricht  genoss  er 
bei  dem  gelehrten  naturalistisch  gesinnten  Arzte  Franz  van  der  Knde  (nicht  bei 
dessen  Tochter  Clara  Maria,  die  im  Jahre  1696  erst  zwölfjährig  war).  Nachdem 
er  den  Lateinischen  mächtig  war,  wandte  er  Bich  dem  Studium  der  Theologie  zu, 
d.  h.  wohl  der  damals  noch  mächtigen  aristotelischen  Scholastik,  wie  sie  in  Holland 
und  Deutschland  vertreten  war  durch  Jacob  Martini,  Burgeredijck,  Heereboord  u.  A. 
und  namentlich  auf  Suarez  zurückging.  Dann  trieb  er  eifrigst  Naturwissen- 
schaften, bis  ihm  die  Schriften  Descartes'  in  die  Haud  kamen.  Am  6.  August  1656 
wurde  er,  nachdem  vorher  sogar  ein  Mordversuch  auf  ihn  gemacht  worden  war, 
wegen  „schrecklicher  Irrlehren"  aus  der  jüdischen  Gemeinschaft  gänzlich  aus- 
geschlossen und  der  Bannfluch  über  ihn  ausgesprochen.  Er  schloss  sich  hierauf 
keiner  religiösen  Gemeinschaft  wieder  an.  Von  1656-60  oder  1661  wohnte  Spinoza, 
mit  dem  Studium  der  cartesianischen  und  der  Ausbildung  seiner  eigenen  Philosophie 
beschäftigt,  in  der  Nähe  von  Amsterdam  bei  einem  arminianisch  gesinnten  Freunde, 
später  in  Khynsburg,  wo  die  (das  dogmatische  Element  hinter  das  erbauliche  und 
sittliche  zurücksetzende)  Seele  der  C'ollegianten  ihren  Hauptsitz  hatte,  von  1664  bis 
1669  in  Voorburg  beim  Haag,  dann  im  Haag  Belbst  in  Pension  bei  der  Wittwe 
van  Velden,  dann  seit  1671  bei  dem  Maler  van  der  Spyck  bis  zu  seinem  am 
21.  Februar  1677  erfolgten  Tode.  Durch  Glasschleifen  gewann  er  wenigstens  theil- 
weise  seinen  Lebensunterhalt  Vermuthlich  hat  das  häufige  Einathmen  des  Glas- 
staubes bei  schwindsüchtiger  Anlage  das  frühe  Ende  seines  Lebens  mit  herbeigeführt. 
Einen  im  Jahre  1673  an  ihn  ergangenen  Ruf  nach  Heidelberg,  wo  Karl  Ludwig 
von  der  Pfalz  ihm  eine  Professur  der  Philosophie  antragen  Hess,  schlug  er  aus, 
um  sich  nicht  in  der  Freiheit  des  Philosophirens,  obschon  diese  ihm  zugestanden 
wurde,  durch  unvermeidliche  Collisionen  behindert  zu  finden.  Persönlichen  Umgang 
hatte  er  nicht  viel.  Zu  seinen  näheren  Freunden  gehörte  der  Arzt  Ludwig  Meyer 
aus  Amsterdam,  der  sich  auch  um  die  Ausgabe  seiner  Werke  verdient  machte,  und 
Heinrich  Oldenburg  aus  Bremen,  mit  denen  er  in  lebhaftem  Briefwechsel  stand. 
Auch  Tschirnhausen  stand  in  persönlichem  Verkehr  mit  ihm,  und  Leibniz  hatte 
auf  seiner  Durchreise  durch  den  Haag  mehrere  zum  Theil  lange  Unterredungen 
mit  Spinoza.  In  seinem  Leben  zeigte  sich  Spinoza  uls  wahrer  Philosoph  und  liess 
seine  Lehre  in  seiner  Individualität  concreto  Gestalt  gewinnen.  Herr  seiner  Leiden- 
schaften, nie  übermässig  fröhlich  oder  traurig,  im  Verkehr  mit  Anderen,  auch 
geistig  viel  tiefer  Stehenden,  voller  Wohlwollen,  über  äussere  Ehren  und  äusseren 
Besitz  erhüben,  zwar  nicht  asketisch  gesinnt,  aber  doch  ein  Mann  von  sehr  wenig 
Bedürfnissen,  sein  ganzes  lieben  der  Erkenntniss  widmend  und  in  der  durch  die 


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§  13.  Spinoza. 


Erkenntnis*  geschaffenen  Liebe  aufgebend,  so  ist  er  das  Musterbild  eines  Weisen. 
—  Am  14.  Sept.  1880  ist  ein  Standbild  Spinozas  im  Haag  enthüllt  worden. 

Der  Tractatns  de  Deo  et  homine  ejusque  felicitate,  der  vor  dem 
September  1661,  vielleicht  schon  1G54  oder  1655  verfasst  worden  ist  und  einen 
synthetischen,  im  Jahre  1661  verfassten  Auhang  hat,  ist  ein  Entwurf  des  Systems, 
der  sich  als  eine  Vorstufe  der  „Ethik*  bekundet.  Eingefügt  sind  in  dem  2.  t'apitel 
des  Tractatus  ziemlich  unvermittelt  zwei  Dialogfragmente,  in  welchen  Spinoza  von 
dem  Begriff  der  Natur  als  der  ewigen  Einheit,  als  dem  Unendlichen,  ausgeht.  In 
dieser  Weise  ist  aber  die  Natur  bei  Giordano  Bruno  gefasst,  und  es  ist  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  hierbei  Spinoza  an  Bruno  anknüpft.  Gottes  Existenz  gehört 
nach  der  Abhandlung  selbst  zu  seinem  Wesen.  Auch  setzt  die  Gottes-Idee,  die  in 
uns  ist,  Gott  als  ihre  Ursache  voraus.  Gott  ist  das  vollkommenste  Wesen  (ens  per- 
fectissiinum).  Gott  ist  ein  Wesen,  von  welchem  unendliche  Eigenschaften  ausgesagt 
werden ,  deren  jede  in  ihrer  Art  unendlich  vollkommen  ist.  Jede  Substanz  muss 
(mindestens  in  ihrer  Art)  unendlich  vollkommen  Bein,  weil  sie  weder  durch  sich, 
noch  durch  ein  Anderes  zur  Endlichkeit  determinirt  sein  kann;  es  giebt  nicht  zwei 
einander  gleiche  Substanzen,  da  solche  einander  einschränken  würden;  eine  Substanz 
kann  nicht  eine  andere  Substanz  hervorbringen  und  nicht  von  einer  anderen  Substanz 
hervorgebracht  werden.  Jede  Substanz,  die  in  Gottes  unendlichem  Verstände  ist, 
ist  auch  wirklich  in  der  Natur;  in  der  Natur  aber  sind  nicht  verschiedene  Sub- 
stanzen, sondern  sie  ist  nur  Ein  Wesen  und  identisch  mit  Gott,  wie  derselbe  oben 
definirt  worden  ist.  —  Sp.  geht  hiernach  in  diesem  Tractat  nicht  vou  einer  Definition 
des  Substanzbegriffs  aus,  um  zum  Gottesbegriffe  zu  gelangen;  aber  der  Gedanke, 
dass  Gott  sei  und  alle  Realität  iu  sich  vereinige,  ist  auch  hier  bereits  das  Beweis- 
mittel der  Lehre,  dass  nur  eine  Substanz  existire  und  Denken  und  Ausdehnung 
nicht  Substanzen,  sondern  Attribute  seien.  Daneben  weist  Sp.  durauf  hin,  dass  wir 
iu  der  Natur  die  Einheit  sehen,  dass  insbesondere  in  uns  Denken  und  Ausdehnung 
vereinigt  seien;  da  nun  Denken  und  Ausdehnung  ihrer  Natur  nach  keine  Gemein- 
schaft mit  einander  haben  und  jedes  ohne  das  andere  klar  gedacht  werden  kann 
(was  Sp.  dem  Cartesius  zugiebti,  so  ist  ihre  thatsächliche  Vereüügung  und  Wechsel- 
wirkung in  uns  nur  dadurch  möglich,  dass  sie  beide  auf  die  nämliche  Substanz  be- 
zogen sind.  Den  positiven  Religionen  gegenüber  vertritt  Sp.  auch  hier  schon  den 
Rationalismus,  in  dem  es  in  religiöser  Beziehung  auch  nur  auf  eine  adäquate, 
d.  h.  klare  und  deutliche  Erkenntniss  ankommt.  Die  Erkenntniss  Gottes  muss  aber 
in  uns  Liebe  zu  ihm  erwecken,  und  in  dieser  Hingebung  an  das  Höchste  ist  zu- 
gleich unsere  persönliche  Glückseligkeit  gegeben,  zu  deren  Verwirklichung  es  nicht 
äusserer  Güter  bedarf.  —  So  tritt  auch  hier  schon  der  praktische  Standpunkt 
Spinozas  deutlich  hervor.  —  Es  lässt  sich  annehmen,  dass  neben  der  durch  die 
Erziehung  im  Judenthum  festgewurzelten  religiösen  Ueberzeugung  von  der  strengen 
Einheit  Gottes  und  der  Anlehnung  an  altere  jüdische  Philosophie  auch  die  psycho- 
logischen Betrachtungen,  die  damals  in  der  cartesianischen  Schule  mit  besonderer  Leb- 
haftigkeit über  die  Wechselbeziehung  zwischen  Seele  und  I^eib  augestellt  wurden,  und 
dass  insbesondere  die  unverkennbare  Naturwidrigkeit  des  aus  den  cartesianischen  Prin- 
eipien  mit  Notwendigkeit  herfliessenden  Occasionalisraus,  den  namentlich  Geulincx 
ausgebildet  hatte,  auf  Sp  s  Lehre  von  der  Einheit  der  Substanz  den  beträchtlichsten 
genetischen  Einfluss  geübt  haben.  Dazu  kam  andererseits  Sp.s  Bekanntschaft  mit 
neuplatonischen  Doctrinen,  sei  es,  dass  diese  durch  die  Kabbala  oder  durch  Schriften 
Giord.  Brunos  oder,  was  das  Wahrscheinlichste  ist,  durch  beides  vermittelt  war. 
Die  hieraus  stammenden  poetisch-philosophischen  Anschauungen  hat  Sp.,  indem  er 
sie  in  wissenschaftliche  Begriffe  umzusetzen  unternahm,  mit  den  Resultaten  ver- 
schmolzen, die  sich  ihm  aus  der  Kritik  des  Cartesianismus  ergaben.   Ein  vor  der 


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§  13.  Spinoza. 


93 


Kritik  liegendes  Stadium  in  diesem  EntwickelungBfortgang  bezeichnet  der  Tract. 
de  Deo  etc.  (s.  Sigwart  a.  a.  O.  S.  131  ß.)  Zwischen  die  Abfassungszeit  der  in  den 
Tractatos  mit  aufgenommenen  zwei  Dialoge,  oder  doch  des  ersten  derselben,  und 
die  Abfassungszeit  des  Tractatns  selbst  fällt  das  Studium  der  cartesianischen  Doctrin, 
zwischen  die  Abfassungszeit  eben  dieses  Tractatus  und  des  Tractatus  .le  intellectus 
emendatione  aber  das  Studium  der  Lehre  Bacons.  Von  den  Unterschieden  zwischen 
dem  Tractat  und  der  Ethik  sind  die  wichtigsten,  dass  im  Tractat  der  Begriff  Gottes 
als  des  vollkommensten  Wesens  vorangeht,  in  der  Ethik  der  Begriff  der  Substanz 
als  des  in  und  durch  sich  Seienden,  und  dass  in  dem  Tractat  zwischen  Denken  und 
Ausdehnung  trotz  ihrer  völligen  Unglcichartigkeit,  wonach  sie  begrifflich  nichts 
miteinander  gemein  haben,  ein  reales  Causalverhältniss  angenommen  wird,  wogegen 
die  Ethik  alle  Causalität  an  Gleichartigkeit  bindet  und  daher  zwischen  Denken  und 
Ausdehnung  kein  Causalverhältniss  annimmt. 

Der  vielleicht  schon  1655  oder  1656  oder  doch  vor  1662  verfasste  (Fragment 
gebliebene)  Tractatus  de  intellectus  emendatione  führt  Gedanken  über  die 
Methode  aus,  die  in  dem  Hauptwerk,  der  Ethik,  den  Grundzügen  nach  gleichfalls 
enthalten  sind.  Die  Güter  der  Welt  befriedigen  nicht  Die  Wahrheitserkenntnies 
ist  das  edelste  Gut.  Auch  hier  findet  sich  die  praktische  Richtung  Spinozas,  indem 
die  ganze  Untersuchung  geführt  wird,  um  zu  erforschen,  ob  es  ein  Gut  gebe,  das 
fortdauernde  und  höchste  Freude  gewähre.  Postquam  me  experientia  docuit  omnia, 
quae  in  communi  vita  frequeuter  occurrunt,  vaua  et  futilia  esse  — ,  constitui  tandem 
inquirere,  an  aliquid  daretur,  quo  invento  et  acquisito  continua  ac  summa  in  aeternum 
fruerer  laetitia. 

Der  Tractatns  theologico -politicus,  auf  frühen  Studien  beruhend  (in 
seinen  Grundzügen  nach  Avenarius'  Vermuthung,  die  an  sich  nicht  unwahrscheinlich, 
obschon  nicht  durch  directe  Anzeichen  unterstützt  ist,  bereits  1657—61  aufgezeichnet, 
für  den  Druck  bearbeitet  1665—70),  ist  eine  beredte,  von  persönlicher  Erfahrung 
getragene  Vertheidigung  der  Denk-  und  Redefreiheit  auf  dem  Gebiete  der  Religion 
(^quandoquidem  religio  non  tarn  in  actionibus  externis,  quam  in  animi  simplicitate 
ac  veritate  consistit,  nullius  juris,  neque  autoritatis  publicae  est").  Sein  Haupt- 
inhalt ist  in  dem  längeren  Titel  schon  angegeben.  Er  ruht  in  seiner  speculativen 
Doctrin  auf  dem  Grundgedanken  der  wesentlichen  Verschiedenheit  der  Aufgabe  der 
positiven  Religion  und  der  Philosophie.  Keine  von  beiden  dient  (ancillatur)  der 
andern,  sondern  jede  hat  ihre  eigenthümliche  Aufgabe.  Sp.  scheint  an  Maimonides 
in  seiner  eigenen  Gedankenbildung  kritisch  angeknüpft  zu  haben,  indem  er  von 
der  Annahme  des  mittelalterlichen  Philosophen,  der  zum  philosophischen  Denken 
hinleiten  wollte,  das  Gesetz  sei  nicht  bloss  zur  Uebung  des  Gehorsams,  sondern 
auch  als  Offenbarung  der  höchsten  Wahrheiten  den  Juden  gegeben,  zu  der  entgegen- 
gesetzten, dem  Tract  theol.-polit.  zu  Grunde  liegenden  fortging,  die  dem  Bedürfniss 
dient,  bei  gesichertem  Interesse  an  philosophischem  Denken  dasselbe  von  der  nur 
zeitweilig  wohlthätigen  Gebundenheit  zu  befreien:  die  Religion  ziele  nicht  auf 
Wahrheitserkenntniss  als  solche,  sondern  auf  Gehorsam  ab  (wie  später  im  gleichen 
Interesse  Mos.  Mendelssohn  dem  Judenthum  Freiheit  von  bindenden  Dogmen  vindi- 
cirte  und  Schleiermacher  die  Religion  als  beruhend  auf  dem  Gefühl  und  die  Philo- 
sophie als  das  Streben  nach  objectiv  gültiger  Erkeuntniss  von  einander  sonderte 
und  einander  coordinirtc).  Ratio  obtinet  regnnm  veritatis  et  sapientiae,  theologia 
autem  pietatia  et  obedientiae.  Demgemäss  soll  weder  (mit  Maimonides)  die  Bibel 
zur  Uebereinstimmuug  mit  unserer  Vernunft  gedeutet,  noch  (mit  Jehuda  Alpakhar 
und  anderen  Rabbinen)  die  Vernunft  der  Bibel  unterworfen  werden;  die  Bibel  will 
nicht  Naturgesetze  offenbaren,  sondern  Sittengesetze  aufstellen.  Sobald  die  Religion 


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§  13.  Spiuoza. 


sich  die  Herrschaft  über  die  Philosophie  anmaasst,  so  zeigt  sich  sogleich  fanatischer 
Glaabenseifer,  und  mit  dem  Frieden  ist  es  zu  Ende.  Hiermit  sind  die  Grundlagen 
des  Staates  untergraben,  und  demnach  darf  dieser  seines  eigenen  Bestandes  wegen 
diese  Uebergriffe  nicht  dulden.  Aber  die  Freiheit  der  Wissenschaft  liegt  auch  im 
Interesse  der  Religion  selbst.  Wenn  nämlich  dem  Glauben  es  nicht  mehr  zusteht, 
in  Sachen  des  Denkens  zu  richten,  so  liegt  es  ihm  auch  fern,  anders  Denkende  zu 
verfolgen.  Und  erst  dann  kann  das  wahrhaft  religiöse  Leben  sich  entwickeln,  das 
in  Liebe  und  Frömmigkeit  besteht.  Durch  sein  Princip,  dass  wir  nicht  die  wahre 
Deutung  einer  Schriftstelle  mit  der  Wahrheit  der  Sache  verwechseln  dürfen,  gewinnt 
Sp.  die  Möglichkeit  einer  nicht  an  dogmatische  Voraussetzungen  gebundenen  historisch 
kritischen  Betrachtung  der  Bibel,  besonders  des  Alten  Testaments,  die  er  dann,  zum 
Theil  im  Anschluss  an  den  im  11.  Jahrh.  n.  Chr.  lebenden  Ibn  Eara  im  Einzelnen 
durchführt.  Er  hat  wenigstens  die  Probleme  für  die  ganze  biblische  Kritik  richtig 
gestellt,  und  er  ist  so  als  „Vater  der  biblischen  Kritik"  zu  bezeichnen,  wenn  er 
auch  in  seinen  Einzeluntersuchungeu  nicht  immer  glücklich  war.  Beraerkeuswerth 
ist  der  Vorrang,  den  Sp.  (Tr.  th.-pol.  c.  1)  Christo  vor  Moses  und  den  Propheten 
darum  einräumt,  weil  er  nicht  durch  Worte,  wie  Moses  sie  vernahm,  und  nicht  durch 
Visionen  Gottes  Offenbarung  empfangen,  sondern  dieselbe  unmittelbar  in  seinem 
Bewusstsein  gefunden  hübe,  bo  dass  in  ihm  in  diesem  Sinne  die  göttliche  Weis- 
heit menschliche  Natur  angenommen  habe.  Sp.s  philosophisches  System  ist  in  dem 
Tract.  theol.-pol.  nicht  als  solches  entwickelt:  viele  Voraussetzungen  stimmen  nicht 
zur  Ethik  und  können  nur  als  Accommodatioucn  gelten.  —  Die  Bestimmtheit,  mit 
der  Spinoza  in  dieser  Abhandlung  die  Freiheit  der  wissenschaftlichen  Ueberzeugung 
gefördert  hatte,  zog  ihm  eine  Fluth  von  Angriffen  und  Verwünschungen  zu.  Jüdische 
und  christliche  Theologeu  und  ebenso  Cartesiauer  äusserten  sich  entsetzt  über  den 
irreligiosissimus  autor,  den  gottlosesten  Atheisten,  der  je  gelebt,  und  selbst  seine 
Freunde  wurden  durch  den  Freirouth  bedenklich  gemacht,  so  dass  sie  ihn  nicht 
mehr  zur  Veröffentlichung  anderer  Schriften  aufmunterten. 

In  den  „Principien  der  Philosophie  des  Descartes*  nebst  den  ange- 
hängten „Cogitata  metaphysica*,  geschr.  im  Winter  1662—63,  stellt  Sp.  nicht  seine 
eigene  Doctrin  dar,  was  er  in  der  Vorrede  (durch  den  Herausgeber,  seinen  Freund 
L.  Meyer)  ausdrücklich  erklären  lässt.  Das  Werk  war,  wenigstens  in  einem  Theil, 
zum  Behuf  des  Unterrichts  eines  jungen  Mannes,  Alb.  Burgh,  abgefasst,  den  Spinoza 
nicht  für  reif  hielt  für  seine  eigene  Philosophie.  Auf  Zureden  seiner  Freunde 
setzte  er  es  später  fort  und  liess  es  herausgebeu.  Er  war  zur  Zeit  der  Abfassung 
im  Wesentlichen  bereits  zu  den  in  den  späteren  Schriften  entwickelten  Ueber- 
zeugungen  gelangt.  Die  Cogitata,  deren  Inhalt  aus  dem  ausführlichen  Titel  hervor- 
geht, sind  nach  Freudenthal  „eine  vom  Standpunkte  des  Cartesianismus  aus  ent- 
worfene, in  den  Formen  der  jüugeren  Scholastik  sich  haltende  gedrängte  Darstellung 
von  Hauptpunkten  der  Metaphysik.* 

In  dem  (von  Sp.  kurz  vor  seinem  Tode  verfassten,  aber  unvollendeten)  Trac- 
tatus  politicus  tritt  Sp.,  so  sehr  er  im  Uebrigeu  des  Hobbes  Grundauschauungen 
billigt,  doch  der  absolutistischen  Theorie  desselben  scharf  entgegen.  Um  aus  dem 
bellum  omnium  contra  omnes,  das  er  mit  Hobbes  als  den  ursprünglichen  Zustand 
ansieht,  herauszukommen,  ist  nicht  der  Despotismus  das  richtige  Mittel,  sondern 
ein  Gemeinwesen,  das  sich  auf  die  freie  Zustimmung  der  Staatsbürger  gründet  und 
dann  gesetzlich  peordnet  ist,  denn  auch  das  Recht  der  Übrigkeit  muss  Grenzen 
haben.  Die  Regierung  soll  die  Handlungen,  aber  nicht  die  Ueberzeugungcn  der 
Menschen  zur  Einstimmigkeit  bringen.  Thut  sie  den  Ucberzeugungen  Zwang  an, 
so  provocirt  sie  den  Aufstand.   Männer  aus  dem  Volk,  aber  durch  die  Regierung 


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§  13.  Spinoza. 


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aasgewählt,  sollen  der  Regierung  bei  der  Gesetzgebung  und  Verwaltung  zur  Seite 
stehen.*) 

In  dem  Compendium  grammatices  linguae  Hebraeae  hat  man  die  Vor- 
liebe des  Substanzlehrers  für  das  Substantivum  bemerkenswerth  gefunden.  Vgl.  dariib. 
besond.  die  ob.  (S.  88)  angef.  Abh.  von  Jac.  Bernays,  im  Anh.  zu  Schaarsehmidts 
Schrift,  Bonn  1850,  und  Ad.  Chajes,  d.  hebr.  Gramm.  Sp.s,  Bresl.  1869. 

Die  Ethik  ist  ihrem  Hauptinhalt  nach  in  den  Jahren  1662—65  verfasst  worden, 
scheint  aber  bis  zu  Sp.s  Tod  immerfort  überarbeitet  worden  zu  sein.  1665  war 
noch  der  Gesammtinhalt  in  drei  Bücher  vertheilt,  die  später  zu  fünf  Büchern 
erweitert  wurden.  Sp.  geht  hier  von  der  cartesianischen  Definition  der  Substanz 
aus,  die  er  consequenter  durchführt,  als  von  Descartes  selbst  geschehen  war.  Des- 
cartes  hatte  die  Substanz  schlechthin  defimrt  als  res  quae  ita  existit,  ut  nulla  alia 
re  indlgeat  ad  existendum.  die  substantia  creata  aber:  res,  quae  solo  Dei  concursu 
eget  ad  existendum.  Sp.  definirt  (Eth.  p.  I,  def.  3):  per  substantiam  intelligo  id, 
quod  in  se  est  et  per  se  concipitur,  hoc  est  id,  cujus  conceptus  non  indiget  conceptu 
alterius  rei,  a  quo  formari  debeat.**) 

Was  zunächst  die  Methode  Spinozas  anlangt,  so  wollte  er  seine  Lehre  zu 
mathematischer  Gewissheit  erhoben.  Diese  konnte  aber  auf  keine  andere  Weise 
besser  erlangt  werden,  als  nach  Art  der  Mathematiker  selbst.  Deshalb  wandte  Sp. 
in  seiner  Ethik  den  mos  geometricns,  das  synthetisch-mathematische  Beweis- 
verfahren, im  Gegensatz  zu  dem  syllogistischen,  an.  Er  eröffnet  demnach  seine 
Ethik  mit  einer  Reihe  von  Definitionen,  indem  zunächst  die  Begriffe,  mit  denen 
operirt  werden  soll,  genau  und  klar  bestimmt  werden  müssen.  Sodann  werden 
unangreifbare  Sätze  aufgestellt,  durch  welche  das  Folgende  begründet  wird,  die  selbst 
aber  nicht  weiter  begründet  werden  können,  das  sind  die  Axiome.  Aus  diesen 
Definitionen  und  Axiomen  werden  nun  die  Lehrsätze,  die  propositiones,  vermittelst 
besonderer  Beweise  abgeleitet.  Dann  folgen  auch  noch  Corollarien,  die  sich  un- 
mittelbar aus  den  Lehrsätzen  ergeben,  und  Scholien,  d.  h.  Ausführungen,  um  den 
Beweis  noch  zu  erläutern.  Aus  wenigen  Elementen  wird  nun  das  ganze  Gebäude 
der  Metaphysik,  Physik  und  Ethik  fertig  gebracht,  und  zwar  kann  man  in  der 
Methode  schon  die  metaphysischen  Grundgedanken  Sp.s  entdecken.    Es  muss  ja 


*)  Ein  zu  Spinozas  Substantialismus  ebenso,  wie  Rousseaus  Volkssouveräuität 
mit  Parteieuvertretung  und  antagonistischer  Lähmung  zu  desseu  Individualismus 
passender  Vorschlag 

**)  Spinoza  sowohl  wie  Descartes  habeu  iu  der  Definition  der  Substanz  die 
beiden  Kategorien  nicht  auseinander  gehalten,  die  Kant  als  Subsistenz  (wozu  die 
Inhärenz  der  Prädicate  das  Correlat  bildet)  und  Causalität  (wozu  als  Correlat  die 
Dependenz  der  Folgen  gehört)  unterscheidet;  die  owtitt  des  Aristoteles  wird  mit 
der  wirkenden  Ursache  gleichgesetzt.  Da  nun  Gott  von  Beiden  als  die  einzige 
Ursache  alles  Seienden  anerkannt  lobschon  nicht  durch  fehlerfreie  Beweise  dar- 
gethan)  wird,  so  folgt  sofort,  dass  er  Beiden  auch  als  die  einzige  Substanz  gelten 
muss.    Dass  Descartes  Substanzen  annimmt,  die  unter  seine  Definition  der  Substanz 


der  Gott  als  die  einzige  Substanz  bezeichnet  u  ml  Alles,  was  nicht  Gott  ist,  auch 
nicht  als  eine  Substanz  anerkennt.  Ist  in  die  Definition  der  Substanz  die  Nicht- 
inbärenz  und  die  Nichtdependenz  zugleich  aufgenommen  worden,  so  folgt  daraus 
jedoch  immer  noch  nicht,  dass  Bedingtes,  wenn  es  gleich  nicht  Substanz  genannt 
werden  darf,  nur  als  etwas  Inhärentes  existiren  könne,  sondern  es  folgt  nur,  dass 
noch  ein  anderer  Terminus  erforderlich  sei,  um  solches  zu  bezeichnen,  was  Träger 
des  Inhärirenden  und  doch  als  Bedingtes  von  Anderen  abhängig  ist;  falls  aber  die 
Bildung  eines  solchen  Terminus  nicht  erfolgen  soll,  dann  muss  die  Definition  der 
Substanz  in  einer  Weise  gebildet  werden,  welche  die  Unterscheidung  der  beiden 
wesentlich  verschiedenen  Verhältnisse :  Inhärenz  und  Dependenz,  involvirt.  Andern- 
falls ist  der  vermeintliche  Beweis  eine  Subreptiou. 


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§  13.  Spinoza. 


wenn  sich  die  Welt  nach  dieser  Methode  begrifflich  ableiten  und  begreifen  lasst, 
die  Ordnung  in  der  Welt  selbst  mathematisch  sein.  Wie  in  der  Mathematik  Alles 
nothwendig  ist,  Alles  in  dem  Verhältuisa  von  Grund  und  Folge  steht,  so  auch  in 
der  Welt  der  Dinge.  Wie  aus  dem  Wesen  einer  mathematischen  Figur  alle  näheren 
Bestimmungen  über  dieselbe  sich  ergeben,  so  muss  auch  das  Einzelne  in  der  Welt 
Alles  aus  dem  Urgründe  folgen.  Die  Mathematik  kennt  aber  keine  Zwecke,  und  so 
ist  aus  der  Natur  auch  der  Zweck  entfernt.  Ferner  ist  das  Causalverhältniss  um- 
gewandelt in  das  Verhältniss  von  Grund  und  Folge,  und  causa  ist  bei  Spinoza  von 
ratio  nicht  verschieden.*) 

Der  erste  Theil  der  Ethik  handelt  von  Gott  und  beginnt  mit  der  Definition 
der  Ursache  seiner  selbst,  welche  lautet:  Unter  Ursache  seiner  selbst  verstehe  ich 
das,  dessen  Wesen  die  Existenz  einschliesat,  oder  das,  dessen  Natur  nur  als  exi- 
stirend  vorgestellt  werdeu  kann  (per  causam  sui  intelligo  id,  cujus  essentia  in- 
volvit  existentiam  sive  id,  cujus  natura  non  potest  concipi  nisi  existens.**) 


*)  Spinoza  glaubt,  durch  seine  Methode  für  seine  Doctrin  mathematische  Ge- 
wissheit zu  erzielen.  Aber  dieses  Unternehmen  ist  illusorisch.  Euklids  Definitionen 
treten  zwar  zunächst  als  Nominalcrklärungen  auf  (die  nur  bestimmen,  was  unter  den 
betreffenden  Ausdrücken  verstanden  werden  soll),  erweisen  sich  aber  nachträglich 
als  Realerklärungen,  die  auf  mathematisch-reale  Objecte  gehen,  indem  sie  für  die 
Anschauung  construirt  werden.  Spinoza  dagegen  hat  den  Nachweis  der  Realität 
der  Objecte  seiner  Definitionen  nicht  wirklich  erbracht.  Euklids  Definitionen  haben 
Klarheit  und  Anschaulichkeit,  die  Spinozas  Definitionen  fast  durchgängig  fehlt  oder 
bei  dem  Gebrauch  bildlicher  Ausdrücke  (wie  in  se  esse  etc.)  nur  illusorisch  ist.  Er 
setzt  so  bei  seinen  Begriffen  stillschweigend  voraus,  was  Euklid  der  AnBehauung 
vorführt,  d.  h.  die  reale  Existenz.  Euklid  gebraucht  die  Termini  durchgängig  nur 
in  dem  durch  die  Definition  festgestellten  Sinne;  Spinoza  führt  mitunter  Argumen- 
tationen so,  dass  das  eine  Glied  derselben  (z.  B.  dass  die  Substanz,  weil  sie  nicht 
durch  Anderes  entstehen  könne,  causa  sui  sei)  durch  den  Gebrauch  der  Ausdrücke 
im  Sinne  des  gewöhnlichen  Sprachgebrauchs  plausibel  wird,  dann  das  andere  Glied 
(z.  B.  dass  die  Substanz,  weil  sie  causa  sui  sei,  die  Existenz  involvire),  dieselben 
Ausdrücke  in  dem  durch  seine  (willkürliche)  Definition  bestimmten  Sinne  wiederholt 
und  somit  der  Schlusssatz  durch  einen  Paralogismus,  die  quaternio  terminorum 
mittelst  Verwechselung  einer  „synthetischen*  Definition  mit  einer  .analytischen* 
(vgl.  Ueberwegs  System  der  Logik,  ö  <31  und  §  126)  gewonnen  wird.  Spinozas  Ethik 
ist  demnach  keineswegs  (wie  namentlich  F.  II.  Jacobi  gemeint  hat)  theoretisch  un- 
widerlegbar, sondern  es  sind  vielmehr  (wie  Leibniz,  Herbart  und  Andere  mit  Recht 
geurtheilt  haben)  manche  Paralogismen  in  ihr  aufzuweisen.  —  Einwendungen  gegen  die 
fundamentalen  Sätze  werden  hier,  um  nicht  die  Uebersicht  über  die  Folge  der  Sätze 
zu  beeinträchtigen,  in  den  nachfolgenden  Noten  unter  dem  Text  gegeben.  Die 
Tendenz  strenger  Beweisführung  ist  achtungswerth,  die  Meinung  aber,  dass  Spinoza 
für  seine  Grundlehrcn  unanfechtbare  Beweise  geführt  habe,  ist  ein  Vorurtheil,  das 
Widerlegung  verdient.  Seine  Theorien  sind  im  Ganzen  besser  als  seine  Argumen- 
tationen. 

**)  Der  Begriff  .causa  sui",  der  sich  bei  den  Patristikern  und  Scholastikern, 
namentlich  auch  bei  Suarez,  sowie  bei  Descartes  findet,  ist,  nach  dem  Wortsiuue 
verstanden,  ein  Unbegriff;  denn  um  sich  selbst  zu  verursachen,  müsste  ein  Object 
da  sein,  ehe  es  ist  (dasein,  um  überhaupt  irgend  etwas  verursachen  zu  können;  ehe 
es  ist,  weil  es  selbst  erst  verursacht  werden  soll).  Der  Ausdruck  geht  nach  Spinozas 
Absicht  auf  das  Bedingtsein  der  Existenz  durch  die  Essenz;  die  Essenz  über  kann 
nicht  die  Existenz  verursachen,  ohne  bereits  zu  existiren,  wouach  also  das  schon 
da  ist,  was  verursacht  werden  soll;  ist  aber  nicht  die  Essenz  selbst,  sondern  nur 
(in  der  Definition)  unser  Gedanke  der  Essenz  (die  ideu,  nicht  das  ideatum)  gegeben, 
so  involvirt  dieser  Gedanke  zwar  seine  eigene  psychische  Existenz,  verursacht  aber 
nicht  die  objectiv-reale  Existenz  der  essentia.  Die  nur  durch  Abstraction  mögliche 
Sonderung  der  essentia  und  existentia,  so  dass  diese  jene  voraussetze,  jene  aber 
diese  bedinge  oder  verursache,  hat  Spinoza  nach  der  Weise  mittelalterlicher  Rea- 
listen fälschlich  objectivirt.   Zulässig  wäre  der  Terminus  , causa  sui*  nur  als  eine 


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§  13.  Spinoza. 


97 


Die  zweite  Definition  lautet:  Derjenige  Gegenstand  heisst  in  Beiner  Art  endlich , 
der  durch  einen  andern  derselben  Natur  begrenzt  werden  kann  (ea  res  dicitur  in  suo 
genere  finita,  quae  alia  ejusdem  naturae  terminari  potest).  Als  Beispiele  führt 
Spinoza  an,  ein  Körper  sei  endlich,  sofern  sich  stets  ein  anderer  grosserer  Körper 
denken  lasse;  gleichermaasseu  sei  ein  Gedanke  endlich,  sofern  derselbe  durch  einen 
anderen  Gedanken  begrenzt  werde;  aber  es  werde  nicht  ein  Körper  durch  einen 
Gedanken  oder  ein  Gedanke  durch  einen  Körper  begrenzt.*) 

Hierauf  folgen  die  Definitionen  der  drei  Begriffe,  welche  in  der  Philosophie 
Spinozas  grundlegend  sind,  der  Substanz,  des  Attributs  und  des  Modus.  Unter 
Substanz,  heisst  es,  verstehe  ich  das,  was  in  sich  ist  und  durch  sich  vorgestellt 
wird,  das  heisst  das,  dessen  Vorstellung  nicht  der  Vorstellung  eines  anderen  Gegen- 
standes bedarf,  von  der  sie  gebildet  werden  müsste  (per  substantiam  intelligo 
id,  quod  in  se  est  et  per  se  concipitur,  hoc  est  id,  cujus  conceptus  non  indiget  con- 
ceptu  alterius  rei,  a  quo  formari  debeat».  Unter  Attribut  verstehe  ich  das,  was 
der  Verstand  an  der  Substanz  auffasst,  als  ihr  Wesen  ausmachend  (per  attributum 
intelligo  id,  quod  intellectus  de  substantia  percipit  tamquam  ejus  essentiaro  con- 
stituens:  „constituens*  ist  hier  Neutrum,  auf  quod  zu  beziehen,  vgl.  Def.  VI.:  sub- 


ungenaue  Bezeichnung  für  das  Ursachlose,  wobei  der  hier  allein  adäquate  negative 
Ausdruck  in  einen  inadäquaten  positiven  Ausdruck  umgesetzt  wird. 

Der  Ausdruck,  der  dem  Spinoza  zur  Definition  von  .causa  sui"  dient,  nämlich 
„essentia  involvens  existentiam"  oder  „non  posse  concipi  nisi  existens*  involvirt 
den  Fehler,  der  in  dem  ontologischen  Argumente  liegt  (s.  oben  bei  Anselm  und 
bei  Descartes).  Dass  jeder  Beweis  aus  der  Definition  die  anderweitig  feststehende 
Existenz  des  Definirten  zur  Voraussetzung  hat,  ist  ein  logisches  Gesetz,  gegen 
das  Spinoza  eben  so  wie  Anselm  und  Descartes  verstösst.  Durch  die  Berufung 
auf  das  Involvirtsein  der  Existenz  in  der  essentia  wird  das  in  willkürlichen 
Definitionen  zum  Theil  naturwidrig  Gedachte  (insbesondere  die  Verschmelzung 
unendlich  vieler  Attribute  zu  einer  Substanz)  mit  dem  trügerischen  Scheine  der 
Kealität  versehen  und  dadurch  der  Blick  auf  das  thatsächlich  Reale  vielfach 
getrübt. 

*)  Diese  Definition  des  in  seiner  Art  Endlichen  und  Begrenzten  ist  nur  in- 
sofern zutreffend,  als  sie  auf  solche  Objecte  ^res)  beschränkt  bleibt,  neben  welchen 
andere  gleichartige  existiren  können,  und  bei  welchen  das  Zusammenbestehen  eine 
gegenseitige  Einschränkung  involvirt;  sie  verliert  jede  Bedeutung,  wenn  sie  nicht 
auf  solche  res,  sondern  aui  Naturen  oder  Attribute  bezogen  wird,  wie  z.  B.  wenn 
gefragt  würde,  ob  die  quadratische  Natur  oder  das  Wesen  des  Quadrats,  d.  h.  das 
Begrenztsein  einer  ebenen  Figur  durch  vier  einander  gleiche  gerade  Linien  bei 
lauter  rechten  Winkeln,  in  suo  genere  finita  oder  infinita  sei,  oder  ob  die  menschliche 
Natur,  die  Adlernatur,  die  Löwennatur  etc.  begrenzt  oder  unbegrenzt  sei.  Und 
doch  macht  Spinoza,  nachdem  einmal  die  Definition  im  Hinblick  auf  die  von  ihm 
angeführten  Beispiele,  auf  deren  erstes  wenigstens  sie  passt,  zugegeben  worden  ist, 
später  von  ihr  eben  den  unzulässigen  Gebrauch,  bei  welchem  die  angegebene  Grenze 
ihres  Sinnes  und  ihrer  Gültigkeit  vergessen  wird.  Dieser  Gebrauch  knüpft  sich  an 
den  irreführenden  Ausdruck:  substantia  unius  naturae,  der  die  Vorstellung  einer  von 
der  Natur  oder  dem  Attribute  selbst  unterschiedenen  concreten  Existenz  hervorruft, 
welche  Vorstellung,  nachdem  sie  (in  der  Demonstratio  zu  Propos.  VIII. :  oranis 
substantia  est  necessario  infinita)  den  Paralogismus  vermittelt  hat,  von  Spinoza 
durch  Recurs  auf  seine  Definitionen  (wonach  die  Substanz  mit  der  Gesammtheit 
ihrer  Attribute,  also  eine  substantia  unius  naturae  mit  eben  dieser  natura  selbst 
wieder  identisch  ist)  wieder  abgeworfen  wird  Der  Paralogismus  aber  hat  zu  einem 
Satze  geführt,  durch  welchen  Spinozas  Verfahren,  nur  solches,  was  unbegrenzt  ist 
(die  Ausdehnung)  oder  sich  allenfalls  als  unbegrenzt  betrachten  lässt  (die  cogitatio) 
als  ein  Attribut  oder  eine  natura  gelten  zu  lassen,  und  alles  Uebrige  unter  die 
Affectionen  oder  Modi  zu  verweisen,  anscheinend  gerechtfertigt  wird.  (Auf  das 
gleiche  Resultat  führt  dann  auch  die  mit  dieser  Definition  der  Endlichkeit  eng 
zusammenhängende  Definition  der  Affection  oder  des  Modus  durch  den  Terminus: 
„in  alio  esse*,  siehe  unten.) 

Ceberweg-Heinie.  tirtmdma  III,  T.Aull.  7 


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§  13.  Spinoza. 


stantiam  constantem  infinitis  attributis  und  Eth.  II  prop.  VII,  Schol. :  quidquid 
ab  infinito  intellecta  percipi  potest  tarn  quam  substantiae  esaentiam  constituens). 
Unter  Modus  verstehe  ick  die  Zustände  der  Substanz  oder  das,  was  in  einem 
Anderen  ist,  durch  das  es  auch  vorgestellt  wird  (per  modum  intelligo  substantiae 
affectiones  sive  id,  quod  in  alio  est,  per  quod  etiam  concipitur).  Hiernach  begründet 
das  in  se  esse  und  in  alio  esse  den  Unterschied  zwischen  der  Substanz  und  den 
Affectionen  oder  modis;  die  Attribute  aber  machen  in  ihrer  Gesammtheit  die  Sub- 
stauz  aus.  (Modus  braucht  Spinoza  nach  Descartes  an  Stelle  des  in  den  Schulen 
gewöhnlichen  accidens,  s.  darüber  Cogit  met  I,  1,  11). 

Durchweg  verbindet  in  diesen  Definitionen  Spinoza  die  Angabe,  wie  ein 
Jedes  sei  und  wie  es  vorgestellt  werde  (nämlich  im  adäquaten  Begreifen,  welches 
mit  dem  Sein  übereinkommt).  Man  hat  die  Definition  des  Attributs  in  einer  Weise 
zu  verstehen  gesucht,  die  den  Unterschied  des  Spinozismus  vom  Kantianismus  ver- 
wischen würde,  dass  nämlich  nur  unser  Veratand  den  Unterschied  der  Attribute 
setze  und  denselben  in  die  Substanz  hineintrage,  wie  unserm  Auge  eine  an  sich 
weisse  Fläche  blau  oder  grün  erscheint,  wenn  sie  von  uns  durch  ein  blaues  oder 
grünes  Glas  betrachtet  wird.  Aber  diese  I  subjectivistische)  Auffassung  stimmt  nicht 
zu  dem  (objectivistischen)  Gesammtcharakter  der  Doctrin  des  Spinoza  und  auch  nicht 
zu  seiner  ausdrücklichen  Aussage,  dass  die  Substanz  aus  den  Attributen  bestehe 
(vgl.  die  Definition  Gottes  als  substantia  coustans  infinitis  attributis,  und  Eth.  I 
prop.  IV,  wo  es  heisst,  dass  die  Attribute  extra  intellectum  gegeben  sind,  sowie 
Eth.  I,  prop.  IX  und  Ep.  27,  wo  gesagt  wird,  dass  je  mehr  Realität  etwas  habe, 
desto  mehr  Attribute  ihm  beizulegen  seien).  Die  Attribute  sind,  wie  wir  annehmen 
müssen,  realiter  in  der  Substanz  zwar  nicht  von  einander  geschieden,  aber  doch 
verschieden,  und  unser  Verstand  erkennt  nur  die  au  sich  bestehende  Ver- 
schiedenheit an;  das  Dasein  unseres  Verstandes  setzt  ja  selbst  bereite  das  Dasein  des 
Attributes  cogitatio  und  die  reale  Unterschiedenheit  desselben  von  der  extensio 
voraus.  Nur  die  Isolirung  des  einzelnen  Attributes,  die  Heraushebung  desselben 
aus  der  an  sich  ungeschiedenen  Einheit  aller  Attribute  zum  Behuf  gesonderter 
Betrachtung  (daher  das  „quateuus  consideratur")  ist  etwas  bloss  durch  uns  Voll- 
zogene«. Was  zu  der  subjectivistischen  Auffassung  der  Attribute  Anlass  geben 
kann,  ist  im  Sinne  des  Spinoza  auf  verschiedene  zusammengehörige  Momente  im 
Objecte  selbst,  woran  sich  nur  eine  entsprechende  Verschiedenheit  in  unserer  sub- 
jectiven  Auffassung  knüpfe,  zu  bezichen.  Diese  drücken  jedoch  sämmtlich  (gleich 
verschiedenen  Definitionen  des  Kreises  etc.)  das  ganze  Object  aus,  weil  sie  mit  allen 
übrigen  untrennbar  zusammenhängen  (wie  besonders  Spinozas  Vergleich  der  Attribute 
mit  der  Glätte  und  der  Weisse  Einer  Fläche,  oder  mit  Israel,  dem  Gotteskämpfer, 
um!  Jacob,  dem  Ergreifer  der  Ferse  seines  Bruders,  dieses  Verhältniss  bekundet, 
s.  Epist.  27,  vgl.  Trendelenburg,  hist.  Beit.  III,  S.  368).  Die  Substanz  ist  die 
Gesammtheit  der  Attribute  selbst,  die  Modi  dagegen  sind  ein  Anderes,  Secundäres, 
weshalb  Spinoza  auch  sagen  kann  (im  Corollar  zur  Propos.  VI),  es  existire  nichts 
als  Substanz  und  Aflectionen,  nicht  als  ob  die  Attribute  nicht  Existenz  hätten  und 
erst  durch  unsern  Verstand  geschaffen  würden,  oder  als  ob  sie  nicht  realiter  von 
einander  verschieden  wären,  sondern  weil  ihre  Existenz  durch  die  Erwähnung  der 
Substanz  bereite  mitbezeichnet  ist.  Nicht  als  ein  Positives  kommen  die  Modi  zu 
der  Substanz  hinzu,  sondern  sie  bilden  blosse  Einschränkungen,  Determinationen 
und  daher  Negationen  („omnis  determinatio*,  sagt  Spinoza,  „est  negatio"),  wie  ein 
jeder  mathematische  Körper  vermöge  seiner  Begrenztheit  eine  Determination  der 
unendlichen  Ausdehnung  (eine  Negation  des  ausser  ihm  Liegenden)  ist  Die  Modi 
oder  Affectionen  sind  nicht  Bestandteile  der  Substanz ;  die  Substanz  ist  ihrer  Natur 
nach  früher  als  ihre  Affectionen  (nach  Propos.  I,  die  unmittelbar  aus  den  Definitionen 


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>;  13.  Spinoza. 


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abgeleitet  wird)  nnd  muss,  um  der  Wahrheit  gemäss  betrachtet  zu  werden,  ohne 
die  Affectionen  und  in  sich  (Demonst  zu  Propos  V:  depositis  affectionibus  et  in  se 
considerata)  betrachtet  werden.  Hiernach  kann  Spinoza  unter  der  Substanz  nicht 
ein  concretes  Ding  verstehen,  da  ja  dieses  niemals  ohne  alle  individuellen  Bestimmt- 
heiten (die  doch  Spinoza  zu  den  Affectionen  rechnet)  bestehen  kann  und  nicht 
„depositis  affectionibus"  wahrhaft  oder  seiner  wirklichen  Existenz  gemäss  betrachtet 
wird.  Unter  der  Substanz  kann  bei  ihm  nur  das  durch  den  abstractesten  Begriff 
(des  Seins)  Gedachte  zu  verstehen  sein,  dem  er  aber  Existenz  zuschreibt,  die  freilieh 
von  dem  Sein  nicht  wohl  getrennt  werden  kann.*) 

Die  sechste  Definition  lautet:  Unter  Gott  verstehe  ich  das  unbedingt  unend- 
liche Wesen,  d.  h.  die  Substanz,  welche  auB  unendlichen  Attributen  besteht,  von 
denen  ein  jedes  eine  ewige  und  unendliche  Wesenheit  ausdrückt  (per  De  um  intelligo 

quoruni 

unumquodque  aeternam  et  infinitam  essentiara  exprimit).  Der  Ausdruck  absolute 
infiuitum  wird  in  der  beigefügten  Explicatio  durch  den  Gegensatz  zu  in  suo  genere 
intinitum  erläutert;  was  nur  in  seiner  Art  unbegrenzt  oder  unendlich  ist,  ist  dies 
nicht  hinsichtlich  aller  möglichen  Attribute,  das  absolut  Unendliche  aber  in  Betracht 


*)  Bei  der  Bestimmung  des  Unterschiedes  zwischen  der  Substanz  und  den 
Affectionen  verkennt  Spinoza  die  Bildlichkeit  der  von  ihm  gebrauchten  Ausdrücke: 
in  se  esse,  in  alio  esse,  und  die  Unfähigkeit  derselben,  zu  Kriterien  des  entweder 
attributiven  oder  Modus  -  Charakters  irgend  welcher  Elemente  eines  Objectes  zu 
dienen.  Warum  die  Attribute  nicht  in  "der  Substanz  seien,  die  aus  ihnen  besteht, 
wird  nicht  klar.  Bei  fortschreitender  Determiuation  des  abstraeten  Begriffes  des 
Seins  wird  ganz  in  gleicher  Weise  von  dem  Abstractesten  zu  dem  minder  Ab- 
straeten ,  wie  von  diesem  zu  dem  Individuellen  (d.  h.  von  der  Substanz  zu  den 
Attributen,  wie  von  diesen  zu  den  Modis)  herabgestiegen,  so  dass  das  „inesse*, 
wenn  einmal  der  logische  Vorgang  hypostasirt  wird,  ebensowohl  von  den  Attri- 


auefa  von  beiden  Verhältnissen  gl  eich  wenig.  Das  inesse  UvvnaQxtiv)  ist  aller- 
dings auch  eine  aristotelische  Bezeichnung,  aber  sie  hat  bei  Aristoteles  ihren 
guten  Sinn,  da  diesem  die  Substanzen,  denen  vorzugsweise  der  Name  Substanz 
zukomme  (die  nQÜiuu  ovaiai)  die  Einzeldinge  sind,  in  welchen  solches  ist,  was 
sich  von  ihnen  aussagen  lässt;  von  den  Einzeldingen  kann  nicht  gesagt  werden, 
dass  sie  .depositis  affectionibus"  (also  nach  Abstraction  z.  B.  von  Figur  und  Be- 
grenztheit unter  blosser  Festhaltung  des  Attributs  der  Ausdehnung  und  nach 
Abstraction  von  allem,  was  ein  denkendes  Wesen  von  anderen  unterscheidet,  unter 
blosser  Festhaltung  des  Attributs  des  Denkens)  „vere*,  d.  h.  nach  ihrem  wirklichen 
Sein  betrachtet  werden;  dies  Letzere  setzt  jene  andere  Bedeutung  der  Substanz 
nnd  des  Substantiellen  voraus,  wonach  darunter  die  essentia  und  das  Essentielle 
(Wesentliche)  verstanden  wird,  was  Aristoteles  durch  den  Terminus  ij  xnid  Xöyov 
uvaln  bezeichnet  und  wovon  er  einerseits  das  ov/ußtfrxde  xa»'  aiVd  (das  .Attribut* 
im  Sinne  der  Aristoteliker),  andererseits  das  ov,ußtßrix6s  im  engeren  Sinne  (das 
„Accidentielle")  unterscheidet.  Es  bedarf  einer  schwierigen  Untersuchung,  um  den 
Unterschied  des  Substantiellen  als  des  Wesentlichen  von  dem  Unwesentlichen  durch 
allgemeine  Kriterien  festzustellen;  Spinoza  führt  diese  (allerdings  auch  von  deu 
Aristotelikern  nicht  gründlich  in  Angriff  genommene,  sondern  durch  Aulehnung  an 
grammatische  Unterschiede  cludirte)  Untersuchung  nicht,  sondern  ersetzt  sie  durch 
Beibehaltung  der  nur  bei  jener  ersten  Bedeutung  von  „Substanz",  welche  nicht  die 
von  ihm  festgehaltene  ist,  einigermaassen  zutreffenden  Ausdrücke:  „in  se  —  in  alio 
esse",  und  diese  Unkritik  hat  dann  nothwendigerweise  eine  totale  Verwirrung  zur 
Folge.  Die  erste  Bedeutung  von  „Substanz*  wird  thateächlich  aufgegeben,  obschon 
die  Fassung  der  Definition  an  sie  zu  denken  veranlasst;  die  zweite  wird  corrumpirt, 
indem  nur  solches  als  der  Substanz  angehörend  gilt,  worin  das  „Darinsein*  einen 
wirklichen  Sinn  hat  (d.  h.  die  Ausdehnung)  oder  wobei  es  sich  zur  Noth  deuten 
lässt  (d.  h.  die  cogitatio),  alles  Uebrige  aber  (z.  B.  das,  was  dem  Quadrat  wesentlich 
ist,  um  Quadrat  zu  sein,  dem  Menschen,  um  Mensch  zu  sein  etc.)  als  unwesentlich 
zu  den  Affectionen  oder  Modis  gerechnet  wird. 


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§  13.  Spinoza. 


aller  Attribute.*)  Was  unter  diesen  unendlichen  (der  Zahl  nach)  Attributen  zu 
verstehen  sei,  das  macht  Spinoza  nicht  klar. 

Die  siebente  Definition  ist  die  der  Freiheit.  Dasjenige  heisst  frei,  was  aus 
der  blossen  Notwendigkeit  seiner  Natur  existirt  und  von  sich  allein  zum  Handeln 
bestimmt  wird;  nothwendig  aber  oder  vielmehr  gezwungen,  was  von  einem  Andern 
bestimmt  wird  zum  Existiren  und  Handeln  in  einer  festen  und  bestimmten  Weise 
(ea  res  libera  dicitur,  quae  ex  sola  suae  naturae  necessitate  existit  et  a  se  sola 
ad  agendum  determinatur.  Necessaria  autem  vel  potius  coacta  quae  ab  alio 
determinatur  ad  existendum  et  operandum  certa  ac  determinata  ratione).**) 

Die  achte  Definition  knüpft  den  Begriff  der  Ewigkeit  an  den  ontologischen 
Beweis.    Unter  Ewigkeit  verstehe  ich  die  Existenz  selbst,  soweit  sie  vorgestellt 


*)  Mit  dieser  Definition  . Gottes"  ist  es  Spinoza,  der  dieselbe  mittelst  des 
Begriffs  „essentia  involvens  existentiam*  durch  den  ontologischen  Beweis^  zu  realer 
Gültigkeit  erheben  kann,  nicht  schwer,  alles  factisch  Vorhandene  in  die  Einheit  der 
Substanz  hineinzuziehen  (wobei  jedoch  selbstverständlich,  wie  bei  allen  seineu 
Faralogismen,  ihm  keineswegs  irgend  eine  sophistische  Absicht,  sondern  nur  eine 
unbewusste  Selbsttäuschung  zur  Last  zu  legen  ist).  Dass  »Gott*  als  .Substanz" 
doch  zugleich  auch  „ens*  genannt  wird,  ist  ein  irreführender  Ausdruck,  der  die  der 
spinozistischen  Definition  der  Substanz  widerstreitende  Vorstellung  einer  concreten 
Existenz  nahelegt  Entweder  existirt  ein  Gott  im  Sinne  des  religiösen  Bewusstseins 
als  ein  persönliches  Wesen,  oder  er  existirt  nicht;  in  keinem  Falle  ist  das  Wort 
.Gott*  umzudeuten  und  am  wenigsten  auf  etwas  so  ganz  Heterogenes,  wie  die  «Sub- 
stanz" (weit  eher  wäre  eine  pantneistische  Umdeutung  auf  Ideelles,  wie  Wahrheit, 
Freiheit,  sittliche  Vollkommenheit,  zulässig).  Existirt  ein  persönliches  Wesen  als 
Weltechöpfer  mit  absoluter  Macht,  Weisheit  und  Güte,  so  ist  der  Theismus  gerecht- 
fertigt; existirt  kein  solches  Wesen,  so  ist  es  eine  Pflicht  der  Ehrlichkeit,  entweder 
den  Atheismus  zu  bekennen,  die  Gottesvorstellung  nur  als  Dichtung  zuzulassen  und 
wissenschaftlich  etwa  durch  den  Begriff  der  ewigen  Weltordnung  zu  ersetzen,  oder 
auf  theologische  Fragen  überhaupt  nicht  anders  als  historisch  einzugehen.  Die 
spiuozistische  Umdeutung  religiöser  Termini  aber  ist  irreführend  (obschon  theils 
durch  die  damals  herrschende  Intoleranz,  die  in  dem  Atheismus  ein  .Verbrechen" 
fand  und  Dogmen  durch  Strafgesetze  schützte,  theils  und  zumeist  durch  die  Macht, 
welche  die  altgewohnte  Vorstellung  über  Sp.  selbst  behauptete,  erklärbar  und  ent- 
schuldbar). Welche  Trübungen  des  Denkens  und  der  Gesinnung  aus  solcher  Um- 
deutung der  Worte  entstehen,  zeigt  die  Geschichte  des  deutschen  Spiuozismus  nach 
dem  leidigen  fichteschen  Atheismus- Streit  (z.  B.  die  Umdeutung  der  kirchlichen 
Dreieinigkeitslehre  auf  die  hcgelsche  Dialektik,  mit  der  seltsamen  Behauptung,  dass 
die  Momente  dieser  Dialektik  dem  Inhalte  nach  mit  den  durch  das  religiöse  Be- 
wusstsein  vorgestellten  göttlichen  Personen  identisch  und  nur  der  Form  nach  davon 
verschieden  seien). 

**)  Der  erste  Theil  der  Definition  der  res  libera  involvirt  denselben  Irrthum, 
wie  der  positive  Gebrauch  des  Ausdrucks  causa  sui,  nämlich  die  Verwechselung 
der  Ursachlosigkeit  des  Ewigen  und  Primitiven  mit  einem  Verursachtsein  durch 
sich  selbst,  einer  durch  die  eigene  Natur  (als  ob  diese  —  sei  es  auch  unzeitlich 
—  realiter  der  Existenz  vorhergehen  könnte)  gesetzten  Existenz.  Der  zweite  Theil 
derselben  kommt  eher  zum  Ziele,  weil  sich  die  Freiheit  in  der  That  auf  das 
Handeln  und  nicht  auf  das  Eiutreten  in  die  Existenz  bezieht,  rückt  aber  das  in 
dem  gesummten  Kreis  der  Erfahrung  allein  vorliegende  Verhältnis«  aus  den  Augen, 
dass  jedes  Geschehen  auf  einem  Zusammenwirken  mehrerer  Factoren  beruht  und 
dass  es  sich  bei  der  Freiheit  nur  um  das  Verhältniss  des  inneren  Fuctors  zu  dem 
äussern  handelt.  Die  Definitionen  der  Nothweudigkeit  und  des  Zwanges  aber  hätten 
von  einander  gesondert  und  nicht  durch  ein  „vel  potius*  amalgamirt  werden  sollen. 
Mit  Recht  findet  übrigens  Spinoza  den  eigentlichen  Gegensatz  der  Freiheit  nicht 
in  der  Nothweudigkeit  überhaupt,  sondern  nur  in  einer  bestimmten  Art  der  Noth- 
weudigkeit, nämlich  dem  Zwange,  der  als  die  nicht  aus  dem  Wesen  selbst,  sondern 
aus  irgend  etwas  dem  Wesen  Fremden  (mag  dies  nun  immer  noch  dem  Innern 
angehören  oder  der  Aussenwelt)  herfiiesseude  und  das  aus  dem  Wesen  selbst  hervor- 
gehende Streben  überwältigende  (und  den  Wunsch  vereitelnde)  Nothweudigkeit  zu 
uefiniren  ist. 


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§  13.   Spinoza.  101 

wird  als  nothwendig  folgend  aas  der  blossen  Definition  des  ewigen  Gegenstandes 
(per  aeternitatem  intelligo  ipsam  existentiam ,  quatenus  ex  sola  rei  aeternae 
definitione  necessario  seqoi  concipitur). 

Den  acht  Definitionen  lässt  Spinoza  sieben  Axiome  nachfolgen. 

Das  erste  Axiom  lautet:  Alles,  was  ist,  ist  entweder  in  sich  oder  in  einem 
Andern  (omnia,  qaae  sunt,  vel  in  se  vel  in  alio  sunt).*) 

Das  zweite  Axiom  lautet:  Was  nicht  durch  ein  Anderes  begriffen  werden  kann, 
mnss  durch  sich  begriffen  werden  (id  quod  per  aliud  non  potest  concipi,  per  se 
concipi  debet).**) 

Das  dritte  Axiom  lautet:  Aus  einer  gegebenen  bestimmten  Ursache  folgt 
nothwendig  eine  Wirkung,  und  umgekehrt,  wenn  es  keine  bestimmte  Ursache  giebt, 
so  ist  es  unmöglich,  dass  eine  Wirkung  folge  (ex  data  causa  determinata  necessario 
sequi  tu  r  effectus,  et  contra:  si  nulla  datur  determinata  causa,  impossibile  est,  ut 
effectus  sequatur).***) 

Das  vierte  Axiom  lautet:  Die  Kenntniss  der  Wirkung  hängt  von  der  Kenntniss 
der  Ursache  ab  und  schliefst  sie  ein  (effectus  cognitio  a  cognitione  cansae  dependet 
et  eandem  involvit),  indem  nur  in  subjectiver  Wendung  (in  Bezug  auf  unsere 
Erkenntniss)  das  ausgesprochen  wird,  was  das  vorangehende  Axiom  objectiv  aus- 
spricht. 

Das  fünfte  Axiom  besagt:  Dinge,  die  nichts  mit  einander  gemein  haben,  können 
auch  durch  Bich  gegenseitig  nicht  erkannt  werden,  oder  die  Vorstellung  des  einen 
schliesst  nicht  die  Vorstellung  des  anderen  in  sich  (quae  nihil  commune  cum  se 
invicem  habent,  etiam  per  se  invicem  intelligi  non  possunt,  sive  coneeptus  unius 
alterius  coneeptum  non  involvit),  woraus  in  Verbindung  mit  den  vorangehenden 
Axiomen  (in  Prpos.  III)  gefolgert  wird,  dass,  wenn  zwei  Dinge  nichts  mit  einauder 
gemein  haben,  das  eine  nicht  die  Ursache  des  andern  sein  könnet) 

Im  sechsten  Axiom  sagt  Spinoza:  Die  wahre  Vorstellung  rauss  mit  dem  vor- 
gestellten Object  übereinkommen  (idea  vera  debet  cum  suo  ideato  convenire).ft) 


*)  Durch  dieses  Axiom  im  Verein  mit  der  dritten  und  fünften  Definition  wird 
(in  der  Demonstration  zum  vierten  und  im  Corollar  zum  sechsten  Lehrsatz)  die 
Ajinahme  begründet,  dass  es  in  Wirklichkeit  nichts  gebe,  als  Substanzen  und  deren 
Affectionen. 

**)  Hierbei  ist  ein  Zweifaches  ausser  Acht  gelassen:  1)  dass,  sofern  das  Be- 
greifen auf  den  Causalnexus  geht,  jedes  Causalverhaltniss  aber  auf  einer  Beziehung 
zwischen  zwei  oder  mehreren  Elementen  beruht,  nicht  sowohl  das  „ Entweder  — 
Oder",  das  concipi  per  aliud  oder  concipi  per  se,  als  vielmehr  das  «Sowohl  — 
Als  auch"  Baehgemäss  war,  das  Begriffenwerden  aus  der  Beziehung  des  Einen 
zum  Anderen,  indem  nur  je  nach  der  Verschiedenheit  des  Falles  auf  das  Eine 
oder  Andere  das  grössere  Gewicht  fällt;  2)  dass  nicht  ohne  Weiteres  die  Be- 
greiflichkeit von  Allem  vorausgesetzt  werden  darf,  sondern  in  Frage  zu  stellen  ist, 
ob  es  Schranken  unserer  Erkenntniss  gebe,  welche  Frage  wiederum  sich  in  die 
(kantisebe)  Frage  nach  etwaigen  absoluten  Schranken  der  menschlichen  Erkenntniss 
und  die  (für  die  jedesmalige  Bestimmung  der  nächsten  wissenschaftlichen  Aufgaben 
maassgebende  Frage)  nach  der  zur  Zeit  bestehenden  Grenze  der  Begreiflichkeit  und 
den  nächstnothwendigen  Schritten  zur  Erweiterung  dieser  Grenze  gliedert. 

***)  Dieses  Axiom  ist  nur  dann  richtig,  wenn  der  Begriff  der  Ursache  richtig 
gefasst  und  die  Ursache  nicht  als  etwas  Einfaches  gedacht  wird. 

t)  Bei  diesem  Satze  gelten  wiederum  die  obigen  Bemerkungen  über  das  Cau- 
salitätsverhältniss.  Dass  das  Causalverhältniss  etwas  Gemeinsames  voraussetze, 
sucht  Spinoza  (wohl  mit  Recht)  in  dem  vierten  seiner  Briefe  auch  durch  die  Be- 
merkung zu  begründen,  dass  andernfalls  die  Wirkung  alles,  was  sie  habe,  aus  nichts 
haben  müsse. 

ft)  Es  hätte  hier  keines  Axioms  bedurft,  sondern  nur  einer  Definition  der 
Wahrheit.  Allerdings  ist  die  Wahrheit  im  eigentlichen,  theoretischen  8iune  dieses 
Wortes  die  Uebereinstimmung  zwischen  dem  Gedanken  und  derjenigen  Wirklichkeit, 


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102 


§  13.  Spinoza. 


Das  siebente  und  letzte  Axiom  lautet:  Alles,  was  als  nicht  existirend  vor- 
gestellt werden  kann,  dessen  Wesen  achliesst  nicht  die  Existenz  in  sich  (quidquid 
ut  non  existens  potest  concipi,  ejus  essentia  non  involvit  existentiara). 

An  die  Definitionen  iukI  Axiome  schliesaen  sich  die  Lehrsätze  (proposi- 
tiones)  an. 

Die  propositio  prima,  aus  den  Definitionen  III  und  V  unmittelbar  gefolgert, 
lautet:  Die  Substanz  ist  früher  als  ihre  Affectionen.  Der  zweite  Lehrsatz  besagt, 
dass  zwei  Substanzen,  deren  Attribute  verschieden  seien,  nichts  mit  einander  gemein 
haben,  was  aus  der  Definition  der  Substanz  abgeleitet  wird.*)  Daraus  wird 
gefolgert,  dass  eine  Substanz  nicht  Ursache  einer  Substanz  mit  einem  von  dem 
ihrigen  verschiedenen  Attribute  sein  könne;  Spinoza  behauptet  aber  ferner  (in 
Propos.  V),  es  gebe  nicht  zwei  oder  mehrere  Substanzen  mit  dem  nämlichen 
Attribut  (weil  ihm,  wie  oben  bemerkt,  die  Substanz  mit  ihren  Attributen  identisch, 
also  für  alle  Individuen  derselben  Art  die  Substanz  die  nämliche  ist),  so  dass 
auch  nicht  eine  Substanz  Ursache  einer  andern  Substanz  mit  einem  dem  ihrigen 
gleichen  Attribut  sein  kann;  also,  schliesst  er,  kann  eine  Substanz  überhaupt 
nicht  Ursache  einer  andern  Substanz  sein  (Propos.  VI).  Eine  Substanz  kann 
nicht  von  einer  andern  Substanz,  und  daher,  da  es  nichts  Anderes  als  Substanzen 
und  deren  Affectionen  giebt,  überhaupt  nicht  von  irgend  etwas  Anderem  hervor- 
gebracht werden  (Corollar  zur  Propos.  VI).  Da  eine  Substanz  nicht  von  einer 
andern  hervorgebracht  werden  kann,  so  muss  sie,  sagt  Spinoza  (in  der  Demon- 
stratio zur  Propos.  VII),  Ursache  ihrer  selbst  sein,  d.  h.  nach  der  ersten  Definition, 
ihr  Wesen  (essentia)  involvirt  ihr  Sein  (existentia),  oder  es  gehört  die  Existenz  zu 
ihrer  Natur  (Propos.  VII:  ad  naturam  substantiae  pertinet  existcre). 

Der  für  die  Propos.  VIII:  Jede  Substanz  ist  nothwendig  unendlich,  geführte 
Beweis  stützt  sich  auf  die  Einzigkeit  jeder  Substanz  von  Einem  Attribute.**) 

auf  welche  der  Gedanke  gerichtet  ist.  Aber  sie  ist  dies  nur  bei  einem  Gedanken, 
der  die  Voraussetzung,  dass  solche  Uebereinstimmung  bestehe,  involvirt;  daher  ist 
nicht  die  vereinzelte  Vorstellung  (idea)  wahr  oder  falsch,  sondern  nur  die  Verbin- 
dung von  Vorstellungen  zu  einem  Urtheil  (einer  Aussage):  wenn  eine  Vorstellung 
nicht  in  irgend  eine  Behauptung  eingeht,  so  besteht  nicht  (oder  doch  nur  implicite, 
nicht  explicite)  das  Verhältniss  der  Wahrheit  oder  Falschheit.  Diese  richtige  Be- 
merkung des  Aristoteles  hat  Spinoza  hier  unbeachtet  gelassen. 

*)  Diese  Argumentation  trifft  nur  bei  totaler  Verschiedenheit  der  Attribute  zu, 
nicht  unter  der  Voraussetzung,  die  Spinoza  nicht  znlässt,  dass  verschiedene  Attribute 
generisch  gleich  und  nur  speeifisch  verschieden  seien. 

**)  Dieser  Beweis  ist  ein  Scheinbeweis,  weil  die  Def.  2,  worauf  er  sich  stützt, 
eine  falsche  Voraussetzung  involvirt  Die  Einzigkeit  und  Nichtbegreuzbarkeit  durch 
einen  Doppelgänger  ihrer  selbst  (der  nicht  vorhanden  sein  kann)  bestimmt  nichts 
über  die  Grösse  des  Verbreitungskreises  einer  „Substanz".  Ist  z.  B.  jeder  Gedanke 
als  solcher  jedem  andern  Gedanken  gleichartig,  giebt  es  also  nur  Ein  „Denken 
überhaupt",  so  folgt  daraus  eine  Unbegrenztheit  und  ein  Allverbreitetsein  dieses 
Denkens  ebensowenig,  wie  daraus,  dass  jeder  Adler  an  der  Einen  Adlernatur  Theil 
hat  (oder  um  nach  Analogie  der  Weise  des  Sp.  zu  reden,  in  der  Adlernatur  ist), 
gefolgert  werden  kann,  dass  die  Adlernatur  unbegrenzt  und  allverbreitet  sei.  Der 
von  bp.  im  ersten  Schol.  beigefügte  kürzere  Beweis,  der  sich  auf  die  blosse 
Propos.  VII  (ad  naturam  substantiae  pertinet  existere)  stützt,  jede  Substanz  müsse 
unendlich  sein,  weil  das  Endliche  in  Wahrheit  „ex  parte  negatio"  sei  und  das 
Unendliche  .absoluta  affirmatio  existentia  alieujus  naturae"  (was  mit  dem  Satze 
Spinozas:  „omnis  determinatio  est  negatio*  übereinkommt i,  involvirt  eine  petitio 
prineipii,  indem  die  Unendlichkeit  alles  Primitiven  schon  vorausgesetzt  werden 
muss,  um  die  Endlichkeit  als  eine  theilweise  Negation  dieser  primitiven  Realität 
bezeichnen  zu  dürfen ;  wer  Atome  oder  endliche  Monaden  oder  wer  etwa  eine  endliche 
Welt  als  primitiv  annähme,  wäre  nicht  genöthigt,  den  spinozistischen  Satz  zuzugeben, 
und  könnte  durch  denselben  nicht  widerlegt  werden.    Es  ist  begreiflich,  dass  auf 


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§  13.  Spinoza. 


103 


Aus  der  Definition  des  Attributs  folgert  Spinoza  den  neunten  Lehrsatz:  Je 
mehr  Realität  oder  Sein  jedes  Ding  hat,  um  so  mehr  Attribute  kommen  ihm  zu» 
und  aus  derselben  Definition  im  Verein  mit  der  Definition  der  Substanz  den 
zehnten  Lehrsatz:  Jedes  Attribut  einer  Substanz  muss  durch  sich  vorgestellt 
werden.*) 

Prop.  XI :  Gott  oder  die  aus  unendlich  vielen  Attributen  bestehende  Substanz, 
von  denen  jedes  eine  ewige  und  unendliche  Wesenheit  ausdrückt,  existirt  nothwendig 
(weil  in  seiner  Bssentia  das  Sein  liegt).  Mit  der  aus  der  Definition  gezogenen 
Argumentation  für  das  Dasein  der  unendlichen  Substanz,  welche  Spinoza  als 
Demonstratio  u  priori  bezeichnet,  verbindet  er  (in  ähnlicher  Art  wie  Descartes)  eine 
andere,  auf  die  Thatsachu  unserer  eigenen  Existenz  basirte  Demonstration,  durch 
die  Gottes  notwendiges  Dasein  a  posteriori  erwiesen  werde:  Es  können  nicht  bloss 
endliche  Wesen  existiren,  denn  sonst  würden  dieselben  als  nothwendige  Wesen 
mächtiger  als  das  absolut  unendliche  Wesen  sein,  da  das  posse  non  existere  eine 
impotentia,  das  posse  existere  dagegen  eine  potentia  ist**) 


einen  Leibniz  Spinozas  Argumente  keinen  günstigen  Eindruck  machten.  (Cou- 
siderations  sur  la  doctrine  d  un  Esprit  universel  in  Erdmanns  Ausgabe  der  philos. 
Sehr.  S.  179.) 

^  *)  Der  letztere  Lehrsatz  steht  freilich  zu  der  Definition,  Substanz  sei  das,  was 
in  sich  sei  und  durch  sich  zu  begreifen  sei,  in  einem  bedenklichen  Verhältuiss,  da 
füglich  gefolgert  werden  könnte,  das  Attribut  müsse  als  per  se  coneipiendum  (  welche 
Bestimmung  zu  dem  in  se  esse  bei  Sp.  nicht  als  ein  zweites  von  dem  ersten  trenn- 
bares Merkmal  der  Substanz  hinzutritt,  sondern  gemäss  der  Congruenz  von  Denken 
und  Sein  wesentlich  das  Gleiche  besagt)  auch  Substanz  sein,  oder  jede  Substanz 
könne  nur  Ein  Attribut  haben.  Sp.  weist  in  einem  Scholiou  diese  Folgerung  als 
unzulässig  ab,  weil  sie  dem  Inhalt  des  neunten  Lehrsatzes  widerstreiten  würde,  ohne 
dass  es  ihm  jedoch  gelänge,  ihre  formale  Gültigkeit  und  Nothwendigkeit  aufzuheben ; 
der  Unterschied  zwischen  Attribut  und  Substanz  kann  mit  dem  jedem  Attribute 
zugeschriebenen  per  se  coneipi  nicht  zusammen  bestehen,  und  bei  dem  neunten  Lehr- 
satz  ist  die  Voraussetzung  selbst,  dass  eine  Substanz  mehr  Realität  und  Sein,  als 
die  andere,  haben  könne,  ungerechtfertigt  geblieben.  Entweder  besteht  das  sog. 
Attribut  für  sich,  so  ist  es  eine  Substanz;  —  oder  es  ist  mit  andorn  sog.  Attributen 
von  der  Substanz  zu  prädicireu,  so  ist  es  in  der  Substanz  und  nur  durch  die  Substanz 
zu  denken,  also  nicht  ein  Attribut,  sondern  ein  Modus.  Consequenter  als  die  An- 
nahme einer  Vielheit  von  Attributen  möchte  die  Annahme  des  Bestehens  Einer 
Substanz  mit  Einem  Attribut  oder  auch  vieler,  vielleicht  unendlich  vieler  Substanzen 
mit  je  einem  Attribut  (so  dass  Substanz  und  Attribut  durchgängig  identisch  wären) 
sein,  wo  dann  bei  Substanzen  keine  Unterscheidung  zwischen  höherer  und  geringerer 
Realität,  noch  auch  zwischen  einem  Unendlichsein  in  seiner  Art  und  einem  absoluten 
Unendlichsein  zulässig  wäre. 

**)  Dass  in  dieser  letzteren  Argumentation  unsere  (subjective)  Ungewissheit  über 
die  Existenz  oder  Nichtexistenz  mit  einer  Ohnmacht  des  Objects  (dessen  Existenz 
eben  hiermit  schon  präsumirt  wird)  unkritisch  verwechselt  werde,  leuchtet  sofort 
ein.  Spinoza  hat  hier  wiederum,  wie  er  pflegt,  die  (von  dem  Nominalismus  und 
noch  mehr  von  dem  kantischen  Kriticismus  hervorgehobene)  Verschiedenheit  des 
subjectiven  und  objectiven  Elementes  in  unserer  Erkenntniss  ganz  unbeachtet 
gelassen  (nach  der  Weise  des  einseitigen  .Realismus*  und  des  „Dogmaticismus", 
obschon  in  anderem  Betracht  Spinozas  Doctrin  auch  nominalistische  Elemente 
enthält,  da  er  nicht  die  ganze  tabula  logica  hvpostasirt,  sondern  nur  den  ab- 
~t raetesten  Begriff  und  die  zunächst  angrenzenden;  es  blieb  Schelling  vorbehalten, 
die  Kluft  zwischen  der  Substanz  mit  ihren  Attributen  und  den  Individuen  durch 
die  platonischen  Ideen  auszufüllen).  Nachdem  Spinoza  seiner  Definition,  die  alle 
Realität  in  .Gott"  hineinzieht,  mittelst  des  ontologischen  Paralogismus  eine 
anscheinend  objective  Gültigkeit  verschafft  hat,  folgt  nunmehr  gar  leicht  der 
Satz:  es  existire  gar  nichts  Anderes  als  »Gott"  allein  und  die  Modi,  die  in 
ihm  sind. 

Herder  sagt  in  einem  (bei  Düntzer  u.  Herder,  »aus  Herders  Nachlass*  II, 
251-56,  abgedruckten)  Briefe  an  F.  H.  Jacobi,  es  sei  das  tiowtov  iptvÖos  der 


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104 


§  13.  Spinoza. 


Die  Substanz  ist  als  solche  untbeilbar;  denn  unter  einem  Theil  der  Substanz 
würde  nichts  Anderes  verstanden  werden  können,  als  eine  begrenzte  Substanz, 
was  ein  Widerspruch  ist.  Neben  Gott  existirt  keine  andere  Substanz;  denn  jedes 
Attribut,  wodurch  eine  Substanz  bestimmt  werden  kann,  fallt  in  Gott  hinein,  und 
es  giebt  nicht  mehrere  Substanzen  mit  dem  nämlichen  Attribute.  Es  ist  nur  Ein 
Gott;  denn  es  kann  nur  Eine  absolut  unendliche  Substanz  existiren.  Es  gehören 
nicht  nur  alle  Attribute  Gott  an  (indem  die  Substanz  aus  den  Attributen  besteht), 
sondern  es  sind  auch  alle  Modi  als  Affectionen  der  Substanz  in  Gott:  quidquid 
est,  in  Deo  est,  et  nihil  sine  Deo  esse  neque  concipi  potest  (Propos.  XV).  Aus- 
führlich rechtfertigt  Spinoza  (im  Seholion  zur  Propos.  XV)  die  Mitaufnahme  der 
Ausdehnung  in  das  Wesen  Gottes.  Aus  der  Nothwendigkeit  der  göttlichen  Natur 
folgt  unendlich  Vieles  auf  unendlich  viele  Weisen;  Gott  ist  daher  die  wirkende 
Ursache  (causa  efficiens)  alles  dessen,  was  unter  den  unendlichen  Intellect  fallen 
kann,  und  zwar  die  schlechthin  erste  Ursache.  („Ursache"  freilich  nur  in  einem 
sehr  uneigentlichen  Sinne,  da  er  niemals  ohne  Modi  war,  die  in  ihm  sind.)  Gott 
hundelt  nur  nach  den  Gesetzen  seiner  Natur  und  von  Niemandem  gezwungen,  also 
mit  absoluter  Freiheit,  und  er  ist  die  einzige  freie  Ursuche.  Gott  ist  aller  Dinge 
immanente  (,inbleibendefc)  nicht  transscendente  (in  Anderes  hinübergehende)  Ursache. 
(Dens  est  omnium  rerum  causa  immanens,  non  vero  transiens,  Propos.  XVIII;  vgl. 
Epist.  XII,  ad  Oldenburgium :  Deum  omnium  rerum  causam  immanentem,  ut  ajunt, 
non  vero  transeuntem  statuo.  Omnia,  inqam,  in  Deo  esse  et  in  Deo  raoveri  cum 
Paulo  affirmo  et  forte  etiam  cum  omnibus  antiquis  philosophis,  licet  alio  modo,  et 
anderem  etiam  dicere,  cum  antiquis  omnibus  Hebraeis,  quantum  ex  quibusdam 
traditionibus,  tametai  multis  modis  adulteratis,  conjicere  licet.)*) 


Gegner  Spinozas,  dass  sie  dessen  Gott,  das  grosse  ens  entium,  die  in  allen  Er- 
scheinungen ewig  wirkende  Ursache  ihres  Wesens,  als  einen  abstracten  Begriff 
ansehen,  wie  wir  ihn  uns  formiren;  das  sei  er  aber  nach  So.  nicht,  sondern  das 
allerreellste,  thätigste  Ens,  das  zu  Bich  spreche:  ich  bin,  der  ich  bin  und  werde 
in  allen  Veränderungen  meiner  Erscheinung  sein,  was  ich  sein  werde.  Allerdings 
ist  nach  der  Absicht  Sp.s  der  Begriff  der  Substanz  nicht  blosH  eine  subjective  Ab- 
stractJon;  aber  thatsächlich  ist  derselbe  dies  doch.  Durch  die  Hypostasirung  dieser 
Abstraction  gelangt  Sp.  nicht  wirklich  zu  der  Erkenntnis»  eines  realen  göttlichen 
Wesens  (so  wenig,  wie  die  Neuplatouiker  durch  ihre  Hypostasirung  von  Abstractioneu 
zur  Erkenntniss  wirklich  existirender  Götter  gelangt  sind).  Das  Sein  in  allem 
Dasein,  das  Denken  in  allen  Gedanken,  das  Ausgedehntsein  in  allen  Körpern  ist 
nicht  ein  Ens,  das  zu  sich  sprechen,  ein  Bewusstsein  um  seine  Unveränderlichkeit 
haben  und  Gegenstand  der  \  erehrung  und  intellectuellen  Liebe  sein  könnte. 

Es  würde  über  die  Grenzen,  innerhalb  deren  die  Darstellung  in  diesem  Grund- 
riss  sich  bewegen  muss,  hinausführen,  wenn  durchgehends  in  gleicher  Weise,  wie 
bisher,  die  logischen  Fehler,  die  zumeist  bei  den  ersten,  mitunter  jedoch  auch  noch 
bei  den  späteren  Schritten  in  der  „Ethik"  von  Sp.  begangen  werden,  einzeln  auf- 
gezeigt werden  sollten.  Die  bisherige  Ausführlichkeit  mag  sich  durch  die  Wichtigkeit 
einer  genauen  Erwägung  der  Fundamente  der  spinozistischen  Doctrin  und  durch 
die  verhältnissmässige  Seltenheit  einer  ins  Einzelne  der  Demonstrationen 
genau  eingehenden  Kritik  rechtfertigen.  Von  nun  an  möge  eine  blosse  Ueber- 
sicht  über  den  fernereu  Gang  der  Gedankenentwickelung  genügen. 

*)  Ueber  die  Unterscheidung  der  Arten  der  Ursachen  bei  Spinoza  und  bei 
holländischen  scholastischen  Logikern,  wie  Burgersdijck  und  Heereboord,  an  die  er 
sich  hierbei  zunächst  anschliesst,  s.  Trendelenburg  histor.  Beitr.  III,  S.  316  ff.; 
freilich  ist  eine  über  die  aristotelische  Unterscheidung  der  vier  <*qx«1'.  Stoff,  Form, 
bewirkende  Ursache,  Zweck,  hinausgehende  Specificirung  der  causae  (womit  Ari- 
stoteles selbst  schon  durch  Unterscheidung  von  Arten  der  Zwecke,  auch  von  Arten 
der  Ursachen,  wie  Rhet.  I,  6,  Gesundsein,  Nahrungsmittel  und  Leibesübungen  als 
„Ursachen"  unterschieden  werden,  namentlich  von  ttQXal  tyvnaQXovaal  an(T  txrog, 
Metaph.  IV,  1 ;  1013  a  19  u.  XII,  4,  1070  b  22,  begonnen  hat)  in  der  Logica  mo- 
dernorum  bei  Petrus  Hisp.  u.  A.  zu  finden,  wo  insbesondere  „de  causa  materiali 


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§  13.  Spinoza. 


105 


Gottes  Existenz  ist  mit  seinem  Wesen  identisch.  Alle  seine  Attribute  sind 
unveränderlich.  Allee,  was  aus  der  absoluten  Natur  irgend  eines  göttlichen  Attri- 
buts folgt,  ist  gleichfalls  ewig  und  unendlich.  Das  Wesen  der  von  Gott  hervor- 
gebrachten Dinge  involvirt  nicht  die  Existenz;  Gott  ist  die  Ursache  ihres  Wesens, 
ihres  Eintritts  in  die  Existenz  und  ihres  Beharrens  in  der  Existenz.  Die  Einzel- 
objecte  sind  nichts  Anderes,  als  Affectionen  der  Attribute  Gottes  oder  Modi,  durch 
welche  Gottes  Attribute  auf  eine  bestimmte  Weise  ausgedrückt  werden  fCorollar 
zur  Propos.  XXV :  res  particulares  nihil  sunt,  nisiDei  attributorum  affectiones,  sive 
modi.  quibus  Dei  attributa  certo  et  determinato  modo  exprimuntur).  Alles  Ge- 
schehene, auch  jeder  Willensact,  ist  durch  Gott  determinirt.  Alles  Einzelne,  das 
eine  endliche  und  begrenzte  Existenz  hat,  kann  zur  Existenz  und  zum  Handeln  nur 
mittelst  einer  endlichen  Ursache  und  nicht  unmittelbar  durch  Gott  determinirt 
werden,  da  Gottes  unmittelbare  Wirksamkeit  nur  Unendliches  und  Ewiges  schafft 
(wodurch  nach  spinozistischem  Lehrbegriff  das  Wunder  im  Sinne  eines  unmittel- 
baren Eingreifens  Gottes  in  den  Naturzusammenhang  ausgeschlossen  wird).  Gott, 
in  seinen  Attributen  oder  als  freie  Ursache  betrachtet,  wird  von  Spinoza  (nach 
dem  Vorgange  theils  von  Scholastikern,  welche  Gott  natura  naturalis,  das  geschaffene 
Dasein  aber  natura  natu  rata  nannten,  theils  und  wohl  zunächst  von  Giordano  Bruno) 
natura  naturalis  genannt;  unter  natura  naturata  aber  versteht  Spinoza  alles  das. 
was  aus  der  Nothwendigkeit  der  göttlichen  Natur  oder  eines  jeden  der  Attribute 
folgt,  d.  h.  alle  Modi  der  Attribute  Gottes,  sofern  sie  als  Dinge,  die  in  Gott  sind 
und  nicht  ohne  Gott  sein  noch  begriffen  werden  können,  betrachtet  werden.  Der 
Intellect,  der  im  Unterschiede  von  der  absoluta  cogitatio  ein  bestimmter  modus 
cogitandi  ist,  der  von  anderen  Modis,  wie  voluntas,  cupiditas,  amor,  verschieden 
ist,  gehört  sowohl  als  unendlicher,  wie  auch  als  endlicher  Intellect  zur  natura 
naturata,  nicht  zur  natura  naturans.  Voluntas  und  intellectus  verhalteu  sich  zur 
cogitatio  so,  wie  motus  und  quies  zur  extensio.  Der  unendliche  Intellect  darf  nur 
als  die  immanente  Einheit,  somit  nicht  als  die  Summe,  sondern  als  das  Prius  der 
endlichen  Intellecte  gedacht  werden,  indem  auch  auf  intellectus  und  voluntas,  quies 
und  motus,  Spinozas  Hypostasirung  des  A  bstracten  sich  mitbezieht;  aber  im  Unter- 
schiede von  der  Cogitatio  absoluta  ist  jener  Intellect  eine  explicite  oder  actuelle 
Einheit;  jeder  Intellectus  ist  etwas  Actuelles,  eine  Intellectio.  Eth.  V,  prop.  40. 
schol. :  „Mens  nostra,  quatenus  intelligit,  aeternus  cogitandi  modus  est,  qui  alio 
aeterno  cogitando  modo  determinatur  et  hic  iterum  ab  alio  et  sie  in  infinitum,  ita 
ut  omnes  simul  Dei  aeternum  et  infinitum  intellectum  Constituante  In  dem  Trac- 
tatus  de  Deo  etc.  nennt  Spinoza  den  Intellectus  Dei  infinitus  Gottes  eingeborenen 
Sohn,  in  welchem  von  Gott  das  Wesen  aller  Dinge  in  ewiger  und  unveränderlicher 
Weise  erkannt  werde ;  diese  Doctrin  ist  die  ihrerseits  durch  die  philonische  Logos- 
lehre bedingte  plotinische  Lehre  vom  yov$,  in  welchem  die  Ideen  seien.  Eine 
jüdische  Umbildung  dieser  plotinischen  Lehre  unter  Mitaufnahme  eines  christlichen 
Elementes  ist  der  Adam  Cadmon,  den  die  Kabbalisten  den  eingebornen  Sohn  Gottes 
und  den  Inbegriff  der  Ideen  nennen;  vielleicht  hat  Spinoza  aus  kabbalistischen 
Schriften  jene  Begriffe  entnommen,  ohne  dass  darum  im  Uebrigen  seine  Doctrin 
aus  der  Kabbala  abgeleitet  werden  dürfte.  Die  „Himmelspforte*  des  Rabbi  Abraham 
Cohen  Irira,  der,  aus  Portugal  ausgewandert,  in  Holland  1631  starb,  kann  eine 
Vermittelung  dafür  gebildet  haben  (vgl.  Sigwart  a.  a.  O.  S.  96  ff.).  Die  Dinge  haben 
auf  keine  andere  Weise  und  in  keiner  andern  Ordnung  von  Gott  geschaffen  werden 


permanente"  und  .de  causa  materiali  transeunte*  gehandelt  wird:  jene  behalte  in 
der  Wirkung  ihr  Wesen,  wie  das  Eisen  im  Degen,  diese  verliere  es,  wie  Getreide 
im  Brot. 


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§  13.  Spinoza. 


können,  als  sie  geschaffen  sind,  da  sie  aas  Gottes  unveränderlicher  Natur  mit  Not- 
wendigkeit gefolgt  und  nicht  nach  Willkür  um  bestimmter  Zwecke  willen  hervor- 
gebracht worden  sind.  Gottes  Macht  ist  mit  seinem  Wesen  identisch.  Was  in 
seiner  Macht  liegt,  ist  mit  Notwendigkeit  Nichts  existirt,  aus  dessen  Natur  nicht 
irgend  eine  Wirkung  folgte,  da  alles  Existirende  ein  bestimmter  Modus  der  wirk- 
samen göttlichen  Macht  ist. 

Im  zweiten  Theile  seiner  Ethik  handelt  Spinoza  von  dem  Wesen  und 
Ursprung  des  menschlichen  Geistes  (de  natura  et  origine  mentis).  Er  beginnt 
wiederum  mit  Definitionen  und  Axiomen.  Den  Körper  definirt  er  als  den  Modus, 
der  Gottes  Wesen,  sofern  Gott  als  ein  auegedehntes  Ding  betrachtet  werde,  auf 
eine  bestimmte  Weise  ausdrücke.*)  Zum  Wesen  eines  Dinges  rechnet  Spinoza  das, 
mit  dessen  Setzung  das  Ding  selbst  nothwendig  gesetzt  wird  und  mit  dessen  Auf- 
hebung das  Ding  nothwendig  aufgehoben  wird,  oder  das,  ohne  welches  das  Ding 
und  welches  seinerseits  ohne  das  Ding  weder  sein  noch  gedacht  werden  kann.  Unter 
der  Idee  (die  Spinoza  nur  im  subjectiven  Sinne  nimmt)  versteht  er  den  Begriff 
(conceptus),  den  der  Geist  (mens)  als  denkendes  Ding  (res  cogitans)  bildet.  Er  will 
sich  lieber  des  Ausdrucks  conceptus,  als  perceptio,  bedienen,  weil  conceptus  eine 
Activität,  perceptio  aber  eine  Passivität  des  Geistes  auszudrücken  scheine  (womit 
freilich  die  Beziehung  auf  die  primitive  Bedeutung  von  Idea:  Gestalt  oder  Form 
eines  Gegenstandes,  welche  Bedeutung  bei  der  Uebertragung  auf  das  Wahrnehmungs- 
bild uls  die  in  das  Bewusstsein  aufgenommene  Form  eines  Gegenstandes  immer  noch 
maassgebend  blieb,  völlig  beseitigt  wird,  was  Spinoza  um  so  leichter  ward,  da  ihn 
die  Rücksicht  auf  den  griechischen  Sprachgebrauch  nicht  band).  Unter  der  idea 
adaequata  versteht  Spinoza  die  Idee,  welche  alle  inneren  Merkmale  einer  wahren 
Idee  habe  (im  Unterschiede  von  dem  äusseren  Merkmale,  nämlich  der  couvenientia 
ideiie  cum  suo  ideato).  Unter  der  Dauer  (duratio)  versteht  er  die  unbestimmte 
Continuation  der  Existenz.  Die  Realität  identificirt  er  mit  der  Vollkommenheit. 
Unter  den  Einzelobjecten  (res  singulares)  versteht  er  die  endlichen  Dinge.  An 
diese  Definitionen  knüpfen  sich  Axiome  und  Postulate.  Das  erste  Axiom  besagt, 
dass  das  Wesen  des  Menschen  nicht  die  notwendige  Existenz  involvire.  Daun 
folgen  mehrere  Erfahrangssätze  unter  der  Benennung  .Axiome"  nach.  Der  Mensch 
denkt.  Durch  die  Vorstellung  (idea)  eiues  Objectes  sind  Liebe,  Verlangen,  über- 
haupt alle  Modi  des  Denkens,  bedingt;  die  Vorstellung  aber  kann  ohne  die  übrigen 
Modi  da  sein.  Wir  werden  mannigfacher  Affectionen  iune,  die  einen  gewissen 
Körper  treffen  (nos  corpus  quoddam  multis  modis  affici  sentimus).  Wir  empfinden 
und  percipiren  keine  anderen  Einzelobjecte,  als  Körper  und  Modi  des  Denkens 
An  einer  späteren  Stelle  folgen  Erfahrungssätze,  die  den  Körper  betreffen,  ins- 
besondere über  dessen  Bestehen  aus  Theilen,  die  wiederum  zusammengesetzt  seien, 
und  über  seine  Beziehung  zu  anderen  Körpern,  unter  dem  Namen  „Postulate'. 
Unter  den  Lehrsätzen  dieses  Theiles  sind  die  bemerkenswertesten  folgende.  Gott 
ist  eine  res  cogitans  und  eine  res  extensa;  cogitatio  und  extensio  sind  Attribute 
Gottes.  In  Gott  ist  mit  Notwendigkeit  eine  Idee  Bowohl  von  seinem  Wesen,  als 
auch  von  Allem,  was  aus  seinem  Wesen  mit  Notwendigkeit  folgt.  Alle  einzelnen 
Gedanken  haben  Gott  als  denkendes  Wesen,  wie  alle  einzelnen  Körper  Gott  als 
ausgedehntes  Wesen  zur  Ursache ;  die  Ideen  haben  nicht  die  Ideata  oder  pereipirten 
Dinge  zur  Ursache,  und  die  Dinge  haben  nicht  Gedanken  zur  Ursache.   Aber  es 

*)  Dieses  »Ausdrücken*  (exprimere)  ist  nicht  im  bloss  subjectiven  Sinuc  zu 
nehmen,  der  nur  der  kautischen  Doctrin  entsprechen  würde,  nach  welcher  die  Er- 
scheinungsweisen der  objectiven  Realität  auf  den  Formen  unseres  Bewusstseins 
beruhen;  nach  Sp.s  Principien  ist  es  im  objectiven  Sinne  zu  nehmen,  der  freilich 
auch  nicht  rein  und  klar  durchführbar  ist,  s.  unten. 


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§  13.  Spinoza. 


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folgen  auf  dieselbe  Weise  und  mit  derselben  Notwendigkeit  die  vorgestellten  Diuge 
aus  ihrem  Attribute  der  Ausdehnung,  wie  die  Vorstellungen  aus  dem  Attribute 
des  Denkens.  Die  Ordnung  und  Verbindung  der  Ideen  ist  dieselbe  wie  die  Ordnung 
und  Verbindung  der  Dinge  (Propos.  VII:  ordo  et  connexio  idearura  idem  est  ac 
ordo  et  connexio  rerum);  denn  die  Attribute,  aus  denen  jene  und  diese  mit  Not- 
wendigkeit folgen,  drücken  das  Wesen  Einer  Substanz  aus.  Was  aus  der  unend- 
lichen Natur  Gottes  in  der  äusseren  Wirklichkeit  (formaliter)  folgt,  das  alles  folgt 
aus  Gottes  Idee  in  derselben  Ordnung  und  Verbindung  im  Vorstellen  (objoctive). 
Ein  Modus  der  Ausdehnung  und  die  Idee  desselben  sind  una  eademque  res,  sed 
duobus  modis  expressa  (Eth.  II,  7,  schol.,  wo  Spinoza  hinzufügt:  quod  quidam 
Hebraeorum  quasi  per  nebulam  vidisse  videntur,  Deum,  Dei  intellectum  resque  ab 
ipso  intellectas  unum  et  idem  esse;  Trendelenburg,  hist.  Beitr.  III,  S.  395,  vergleicht 
hierzu  Mos.  Maimonides  More  Nevochim  I,  c.  68;  Arist  de  anima  III,  4;  Metaph.  XII. 
7  und  9).  Die  Idee  einer  jeden  Weise,  wie  der  menschliche  Körper  von  äusseren 
Körpern  afficirt  wird,  muss  zwar  zumeist  die  Natur  des  menschlichen  Körpers, 
daneben  aber  auch  die  Natnr  des  äusseren,  afficirenden  Körpers  in  sich  tragen,  weil 
alle  Weisen,  wie  ein  Körper  afficirt  wird,  zugleich  aus  der  Natur  des  afficirten  und 
des  afficirenden  Körpers  folgen.  Der  menschliche  Geist  fasst  daher  die  Natur  sehr 
vieler  Körper  zugleich  mit  der  Natur  seines  eigenen  Körpers  auf.*)  Vermöge 


*)  So  richtig  diese  Theorie  von  Spinozas  Grundvoraussetzungen  aus  entwickelt 
ist,  so  wenig  wird  doch  durch  die  Fundamentalbegriffe  der  Grund  der  Notwendig- 
keit der  Uebereinstimmung  zwischen  den  Modis  des  Denkens  und  der  Ausdehnung 
wirklich  klar,  denn  wie  aus  der  Einheit  der  Substanz  die  Conformität  in  der  Dupli- 
cität  folge,  bleibt  unbestimmt.  Entweder  sind  die  Modi  des  Denkens  von  denen  der 
Ausdehnung  realiter  verschieden;  dann  ist  ihre  Conformität  durch  das  blosse  In- 
häriren  in  der  nämlichen  Substanz  nicht  erklärt.  Oder  sie  sind  bloss  verschiedene 
Auffasstingsweisen  des  nämlichen  realen  Modus,  der  an  nch  nur  einer  ist,  uns  aber 
zweifach  erscheint;  dann  würde  eben  diese  zweifache  Auffassungsweise  selbst  un- 
verständlich bleiben;  denn  es  steht  nicht  neben  der  Einen,  Alles  in  sich  befassenden 
Substanz  ein  Anderes  als  das  Auffassende,  sondern  in  ihr  müsste  die  Dnplicität  der 
Auffassung  begründet  sein,  was  doch  schwerlich  der  Fall  sein  könnte,  wenn  in  ihr 
nicht  realiter  die  Modi  des  Denkens  von  denen  der  Auffassung  verschieden  sind. 
SpiDOza  hat  die  erste  jener  beiden  möglichen  Annahmen  am  entschiedensten  in 
seiner  früheren  Zeit  aufgestellt,  als  er  noch  eine  Wechselwirkung  zwischen  Aus- 
dehnung und  Denken,  insbesondere  ein  Bestimmtwerden  des  Denkens  durch  äussere 
Einwirkungen,  für  möglich  hielt  (wie  aus  dem  Tractat.  de  Deo  et  hom.  etc.  hervor- 
geht); er  hat  sich  später,  als  er  einen  Causalnexus  zwischen  den  Attributen  nicht 
mehr  annahm,  durch  die  oben,  S.  97  f.,  erörterten  Sätze  und  Vergleiche  der  zweiten 
Annahme  angenähert.  Aber  das  Nebelhafte,  das  er  älteren  Doctrinen  vorwirft, 
haftet  in  vollstem  Maasse  seinem  eigenen  Ausdruck  „duobus  modis  expressa*  an, 
der  zwischen  jenen  beiden  möglichen  Annahmen  in  einer  unklaren  Mitte  schwebt. 
Consequent  durchgeführt,  ergiebt  die  erste,  falls  kein  Causalverhältniss  zwischen 
den  Attributen  besteht,  eine  .prästabilirte  Harmonie"  im  leibnizschen  Sinne,  die 
zweite  einen  „transscendentalen  Idealismus"  im  kantischen  Sinne.  Der  Consequenz 
gemäss,  die  Spinoza  anerkennt  (Eth.  II,  propos.  13,  schol:  „individua  omnia, 
quamvis  diversis  gradibus,  an  im  ata  tarnen  sunt"),  müssen  alle  Dinge  bis  zu  den 
Mineralien  und  Gasen  herab  an  dem  Attribute  des  Denkens,  dem  jeder  einzelne 
Gedanke  immanent  sein  soll,  unmittelbar  da,  wo  sie  selbst  realiter  sind,  theilhabeu, 
and  nicht  bloss  mittelst  ihrer  Bilder  im  menschlichen  Hirn  (wie  auch  von  dem 
sp.schen  Grundgedanken  aus  G.  Th.  Fechner  Pflanzenseclen,  Gestirnseelen  und  eine 
Weltseele  annimmt.  Bei  solcher  Allbeseelung  aber,  die  als  eine  mannigfach  ab- 
gestufte zu  denken  ist,  bleibt  unklar,  in  welchem  Sinne  und  mit  welchem  Rechte 
die  niederen  Stufen,  unter  denen  wohl  nur  die  vegetativen  und  physikalischen  Kräfte 
verstanden  werden  können,  noch  unter  das  Attribut  des  Denkens  zu  subsumiren 
seien,  da  doch  sehr  wesentliche  Merkmule  des  uns  alleiu  unmittelbar  bei  uns  selbst 
Itekannten  bewussten  Denkens  fehlen,  und  da  zudem  die  (schopenhauersche)  Sub- 
sumtion derselben  unter  den  „Willen",  wiewohl  sie  von  dem  gleichen  Einwurf  ge- 


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§  13.  Spinoza. 


der  Nachwirkung  der  Eindrücke,  die  der  Körper  von  aussen,  empfangen  hat,  können 
andere  Körper,  auch  wenn  sie  nicht  mehr  gegenwärtig  sind,  immer  noch  so,  als 
ob  sie  gegenwärtig  wären,  vorgestellt  werden.  Haben  zwei  Körper  zugleich  unsern 
Körper  afficirt,  und  wird  der  eine  derselben  wieder  vorgestellt,  so  muss  wegen  der 
Ordnung  und  Verkettung  der  Eindrücke,  die  unser  Körper  empfangen  hat,  mit  dem 
einen  jener  Körper  zugleich  auch  der  andere  Körper  vorgestellt  werden. 

Mit  dem  Geiste  ist  eine  Idee  des  Geistes  (das  Selbstbewusstsein)  auf  gleiche 
Weise  geeinigt,  wie  der  Geist  mit  dem  Körper  geeinigt  ist.  Die  Idee  des  Geistes 
oder  die  Idee  der  Idee  ist  nichts  Anderes  als  die  Form  der  Idee,  sofern  diese  als 
ein  Modus  des  Denkens  ohne  Beziehung  zu  dem  körperlichen  Object  betrachtet 
wird.  Wer  etwas  weiss,  weiss  eben  hierdurch  auch,  das*  er  es  weiss.  Der  Geist 
erkennt  sich  selbst  nur  insofern,  als  er  die  Ideen  der  Affectionen  des  Körpers  per- 
cipirt.  Da  die  Theile  des  menschlichen  Körpers  sehr  zusammengesetzte  Individua 
sind,  die  zum  Wesen  des  menschlichen  Körpers  nur  in  gewissem  Betracht  gehören, 
in  anderm  Betracht  aber  durch  den  allgemeinen  Naturzusammenhang  bestimmt  sind, 
so  hat  der  menschliche  Geist  in  sich  nicht  eine  adäquate  Kenntniss  der  seinen  Körper 
bildenden  Theile,  noch  weniger  eine  adäquate  Kenntniss  der  Aussendinge,  die  er 
nur  mittelst  ihrer  Wirkungen  auf  seinen  Körper  kennt,  und  auch  die  Kenntniss 
se'iner  selbst,  die  er  vermöge  der  Idee  der  Idee  einer  jeglichen  Affection  des  mensch- 
lichen Körpers  besitzt,  ist  nicht  adäquat.  Alle  Ideen  sind  wahr,  sofern  sie  auf  Gott 
bezogen  werden;  denn  alle  Ideen,  die  in  Gott  sind,  kommen  mit  ihren  Gegenständen 
vollkommen  überein  (cum  suis  ideatis  omnino  conveniunt).  Jede  Idee,  die  in  uns 
als  eine  absolute  oder  adäquate  Idee  ist,  ist  wahr;  denn  jede  derartige  Idee  ist  in 
Gott,  sofern  derselbe  das  Wesen  unseres  Geistes  ausmacht.  Falschheit  ist  nichts 
Positives  in  den  Ideen,  sondern  besteht  in  einer  gewissen,  nicht  absoluten  Privation 
(in  cognitionis  privatioue,  quam  ideae  inadaequata  sive  rautilae  etconfusae  iuvolvunt). 
Dem  Causalnexus  sind  die  inadäquaten  und  verworrenen  Ideen  ebensowohl  wie  die 
adäquaten  oder  klaren  und  bestimmten  Ideen  unterworfen.  Von  dem,  was  dem 
menschlichen  Körper  uud  den  Körpern,  die  ihn  afficiren,  gemeinsam  und  in  allen 
Thcilen  gleichmässig  ist,  hat  der  menschliche  Geist  eine  adäquate  Vorstellung.  Der 
Geist  ist  um  so  fähiger,  viele  adäquate  Vorstellungen  zu  bilden,  je  mehr  mit  anderen 
Körpern  Gemeinsames  sein, Körper  hat;  Vorstellungen,  die  aus  adäquaten  folgen, 
sind  auch  selbst  adäquat.  Näher  unterscheidet  Spinoza  drei  Arten  von  Erkennt- 
nissen. Unter  der  Erkenntniss  der  ersten  Art,  die  er  opinio  oder  imaginatio 
nennt,  versteht  er  die  Bildung  von  Perceptiouen  uud  daraus  abgeleiteten  allgemeinen 
Vorstellungen  theils  aus  Sinneseindrücken  durch  ungeordnete  Erfahrung  (experientia 
vaga),  theils  aus  Zeichen,  insbesondere  Worten,  welche  mittelst  der  Erinnerung  Ima- 


troffen  wird,  doch  auch  mindestens  den  gleichen  Anspruch  auf  Gültigkeit  erheben 
kann.  —  Unser  Afticirtwerdeii  ist  ein  Afficirtw erden  unseres  Körpers  von  aussen  her; 
dieser  Vorgang  lässt  sich  nach  mathematisch-mechanischen  Gesetzen  verstehen.  Nun 
müsste  consequentermaassen  diesem  mechanischen  Nexus,  welcher  dem  Attribut  der 
Ausdehnung  angehört,  ein  Nexus,  welcher  dem  Attribute  des  Denkens  angehörte, 
parallel  gehen,  der  unsern  Geist  mit  andern  Geistern  verbände,  ein  solcher  aber  ist 
nicht  nachweisbar.  Üemgemäss  lässt  sich  der  Parallelismus  nicht  durchführen; 
Spinoza  kommt  hier  unwillkürlich  auf  die  von  ihm  principiell  abgewiesene  Annahme 
einer  Einwirkung  von  Modis  der  Ausdehnung  auf  Modi  des  Denkens  zurück.  Die 
durch  Spinozas  Princip  geforderte  Gleichmässigkeit  zwischen  den  Beziehungen  der 
Modi  in  beiden  Attributen  bleibt  unerreicht;  die  mechanische  Betrachtung  (unter 
dem  „Attribut  der  Ausdehnung")  muss  bei  der  Erklärung  des  Affectionsprocesses 
eine  dem  Princip  widerstreitende  Prävaleuz  gewinnen,  wogegen  umgekehrt  in  der 
Lehre  von  der  Herrschaft  des  Gedankens  über  den  Affect  die  mechanische  Paral- 
lele fehlt. 


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ginationen  hervorrufen.  Die  zweite  Erkenntnissart,  von  Spinoza  ratio  genannt,  liegt 
in  den  adäquaten  Ideen  von  Eigentümlichkeiten  der  Dinge  oder  den  notiones  com- 
munes.    Die  dritte  und  höchste  Art  der  Erkenntuiss  ist  die  scientia  intuitiva,  die 
der  Intellect  von  Gott  besitzt   Sie  schreitet  (wie  Spinoza  lehrt,  indem  er  die 
Dedaction  aas  den  Principien  dem  die  Priucipien  erkennenden  t'ovt  mit  vindicirt, 
wodurch  aber  der  Unterschied  von  der  ratio  unklar  wird)  von  der  adäquaten  Idee 
des  Wesens  einiger  Attribute  Gottes  zur  adäquaten  Erkenntniss  des  Wesens  der 
Dinge  fort.    Die  Erkenntuiss  der  ersten  Art  ist  die  einzige  Quelle  der  Täuschung, 
die  der  zweiten  und  dritten  lehrt  uns  das  Wahre  von  dem  Falschen  unterscheiden. 
Wer  eine  wahre  Idee  hat,  ist  zugleich  der  Wahrheit  derselben  gewiss.   Sicut  lux 
se  ipsam  et  tenebras  manifestat,  8ic  veritas  norma  sui  et  falsi  est.  Unser  Geist  ist, 
sofern  er  die  Dinge  wahrhaft  erkennt,  ein  Theil  des  unendlichen  göttlichen  Intellects 
(pars  est  infinit i  Dei  intellectus),  und  es  müssen  daher  seine  klaren  und  bestimmten 
Ideen  ebenso  nothwendig  wahr  sein,  wie  die  Ideen  Gottes.   Die  Ratio  betrachtet 
die  Dinge,  weil  sie  dieselben  so  wie  sie  wirklich  sind,  betrachtet,  nicht  als  zufällig, 
sondern  als  nothwendig;  nur  die  Imaginatio  stellt  dieselben  als  zufällig  dar,  sofern 
Erinnerungen  an  verschiedenartige  Fälle  verschiedene  Vorstellungen  in  uns  hervor- 
treten lassen,  und  unsere  Erwartung  schwankt.    Die  Ratio  fasst  die  Dinge  „sub 
quadam  aeternitatis  specie"  auf,  weil  die  Nothwendigkeit  der  Dinge  die  Notwen- 
digkeit der  ewigen  Natur  Gottes  ist  Ebenso  ist  die  Erkenntniss  der  dritten  Stufe 
ein  Erkennen  unter  der  Form  der  Ewigkeit.  Die  Ratio  erkennt  die  Wesenheiten  der 
Dinge  in  ihren  einzelnen  ihnen  mit  allen  Dingen  gemeinsamen  Eigenschaften;  sie 
erkennt  diese  ewigen  Eigenschaften  als  in  Gottes  Wesen  ruhend.  Diese  Erkenntniss 
heisst  demnach  auch  eine  universelle  und  sie  giebt  als  Wahrheiten  allgemeine  Be- 
griffe. Bei  der  scientia  intuitiva  dagegen  schaut  man  das  Wesen  jedes  Einzeldings 
als  in  dem  ewigen  Wesen  Gottes  mit  Nothwendigkeit  gegründet.    Es  i3t  übrigens 
der  Unterschied  zwischen  der  zweiten  und  dritten  Art  der  Erkenntniss  von  Spinoza 
nicht  zur  vollen  Klarheit  erhoben.   Im  menschlichen  Geiste  giebt  es,  da  derselbe 
„certuB  et  determinatus  modus  cogitandi"  ist,  keine  absolute  Willensfreiheit;  der 
Wille,  Ideen  zu  bejahen  oder  zu  verneinen,  ist  nicht  ein  ursachloses  Belieben,  son- 
dern an  die  Vorstellung  selbst  gebunden,  und  wie  die  einzelnen  Willensacte  und 
Vorstellungen,  so  sind  auch  Wille  und  Intellect,  die  blosse  Abstractionen  und  nichts 
Reales  ausser  den  einzelnen  Acten  sind,  mit  einander  identisch.  (Die  cartesianische 
Erklärung  des  Irrthums  aus  einer  über  das  beschränkte  Vorstellen  übergreifenden 
unbeschränkten  Willensfreiheit  wird  hierdurch  aufgehoben.) 

Der  dritte  Theil  der  Ethik  handelt  von  dem  Ursprung  und  Wesen  der 
Affecte.  Um  eine  Ethik  zu  schreiben,  müsse  mun,  meint  Sp.,  vor  allen  Dingen  die 
Leidenschaften  erklären  können.  Denn  ohne  dies  serdie  menschliche  Natur  nicht 
zu  verstehen.  Nun  sei  die  menschliche  Natur  aber  nicht  ein  besonderer  Staat  im 
Staat  und  nicht  eigenen  Gesetzen  unterworfen,  und  so  könne  man  nur  durch  An- 
wendung der  allgemeinen  Gesetze  und  Regebi  der  Natur  einen  Gegenstand  derselben 
erkennen.  Demnach  müssten  auch  die  Affecte  ebenso  behandelt  werden  wie  Körper, 
Linien  und  Flächen,  und  sie  ergäben  sich  aus  derselben  Nothwendigkeit  der  Natur, 
wie  alles  Andere.  Unter  dem  Affect  versteht  Spinoza  solche  Affectionen  des 
Körpers,  durch  welche  seine  Fähigkeit,  zu  handeln,  vermehrt  oder  vermindert,  gefördert 
oder  eingeschränkt  wird,  und  zugleich  die  Ideen  dieser  Affectionen.  Was  die  Macht 
unseres  Körpers,  zu  wirken,  vermehrt  oder  vermindert,  dessen  Vorstellung  vermehrt 
oder  vermindert  die  Denkkraft  unseres  Geistes.  Der  Uebergang  des  Geistes  zu 
grösserer  oder  geringerer  Vollkommenheit  begründet  die  Affecte  Freude  und 
Traurigkeit;  jeue  ist  der  leidende  Zustand,  in  welchem  die  Seele  zu  grösserer 


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§  13.  Spinoza. 


Vollkommenheit  übergeht  (passio,  qua  mens  ad  majorem  transit  perfectiouem),  diese 
der  leidende  Zustand,  in  welchem  die  Seele  zu  geringerer  Vollkommenheit  übergeht 
(passio,  qua  mens  ad  minorem  transit  perfectionem).  Die  Begierde  oder  das 
Verlangen  (cupiditas)  ist  der  bewusste  Trieb,  appetitus  cum  ejusdem  conscientia; 
der  Trieb  aber  ist  ipsa  hominis  esseutia,  quatenus  determinata  est  ad  ea  agendum, 
quae  ipsius  conservationi  inserviunt.  Jedes  Ding  sucht  in  seinem  Sein  zu 
beharren  (unaquaeque  res  in  suo  esse  perseverare  conatur,  Eth.  III,  Prop.  VI). 
Dieses  Streben  bildet  das  wirkliche  Wesen  eines  Dinges,  und  so  weit  es  ihm  mit 
Erfolg  nachkommt,  hat  das  Individuum  Macht  und  Tugend.  Der  ganze  Organismus, 
auch  der  des  Menschen,  geht  auf  die  Erhaltung  und  Förderung  des  eigenen  Daseins, 
und  auf  diesem  Satze  baut  sich  das  Weitere  in  der  Ethik  bei  Sp.  auf,  indem  sich 
aus  dieser  Begierde  die  Leidenschaften  als  nothwendige  Folgen  herleiten  lassen. 
Diese  Begierde  wird  entweder  befriedigt  oder  gehemmt;  wir  vervollkommnen  ent- 
weder unser  Dasein  oder  setzen  es  herab,  und  das  Bewusstseiu  des  ersteren  ist 
Freude,  des  letzteren  Traurigkeit.  Diese  drei  Affecte:  cupiditas,  laetitia, 
tristitia  (und  nicht  die  sämmtlichen  sechs  von  Descartes  als  unreducirbar  ange- 
nommenen Affecte:  Bewunderung,  Liebe,  Hass,  Verlangen,  Freude  und  Traurigkeit), 
gelten  dem  Spinoza  als  die  primären  Affecte;  alle  anderen  leitet  er  aus  denselben 
ab.  Die  Liebe  z.  B.  ist  Freude,  begleitet  von  der  Vorstellung  der  äusseren  Ursache 
(amor  est  laetitia  concomitante  idea  causae  exteruae),  der  Hass  ist  Traurigkeit, 
begleitet  von  der  Vorstellung  der  äusseren  Ursache  (tristitia  concomitante  idea 
causae  externae);  die  Hoffnung  ist  inconstans  laetitia,  orta  ex  imagine  rei  futurae 
vel  praeteritae,  de  cujus  eveutu  dnbitamus,  die  Furcht  inconstans  tristitia  ex  rci 
dubiae  imagine  orta.  Die  admiratio  wird  vou  Spinoza  definirt  als  rei  alicujus 
iinngiuatio,  in  qua  mens  defixa  propteroa  manet,  qnia  haec  singularis  imaginatio 
nullam  cum  reliquis  habet  conuexionem,  der  contemptus  als  rei  alicujus  imaginatio, 
qnae  meutern  adeo  parum  tangit,  ut  ipsa  mens  ex  rei  praesentia  magis  moveatur  ad 
ea  imaginandum,  quae  in  ipsa  re  non  sunt,  quam  quae  in  ipsa  sunt;  beide  aber 
lässt  Spinoza  nicht  als  eigentliche  Affecte  gelten. 

Aus  der  Natur  der  Affecte  leitet  Spinoza  die  Gesetze  derselben  ab,  die  geradeso 
unumstösslich  sind,  wie  die  Gesetze  der  Mechanik.  Die  Seele  liebt  das,  was  ihre 
Kraft,  zu  handeln,  vermehrt;  sie  betrübt  sich  über  die  Zerstörung,  freut  sich  über 
die  Erhaltung  desselben.  Sie  freut  sich  über  die  Zerstörung  dessen,  waB  sie  hasst : 
doch  ist  dieses  Gefühl  mit  der  Traurigkeit  untermischt,  welche  sich  uothwendig  an 
die  Zerstörung  des  uns  Aehnlichen  knüpft.  Wir  hassen  den,  der  da«*  von  uns  Ge- 
hasste  erfreut;  wir  lieben  den,  der  es  betrübt.  Das  Mitleid  ruht  auf  demselben 
Fundament,  wie  der  Neid  etc.  Ausser  der  Freude  und  dem  Begehren,  welche 
Fassionen  sind,  giebt  es  andere  Affecte  der  Freude  und  des  Begehrens,  die  auf 
uns.  sofern  wir  hundein,  sich  beziehen,  also  Actionen  sind:  Affecte  der  Traurigkeit 
aber  sind  niemals  Actionen.  Alle  Actionen,  die  aus  Affecten  folgen,  welche  auf 
den  Geist  als  intelligentes  Wesen  bezogen  sind,  subsumirt  Spinoza  unter  den  Begriff 
fortitudo  und  theilt  die  fortitudo  in  animositas  und  generositas  ein;  jene  sei  das 
Streben,  das  eigene  Sein  vernunftgemäss  zu  wahren,  diese  das  Streben,  vernunft- 
gemäss  die  andern  Menschen  zu  unterstützen  und  sich  zu  Freunden  zu  machen.  Im 
Allgemeinen  bemerkt  Spinoza,  die  Namen  der  Affecte  seien  mehr  ex  eorum  vulgari 
usu  als  auf  Grund  genauer  Kenntnis«  derselben  erfunden  worden.*) 

*)  Bei  einigen  dieser  Definitionen,  z.  B.  bei  der  die  Rücksicht  auf  das  Gefühl 
des  Andern  nicht  in  sich  schliessenden  Definition  der  Liebe  (während  Spinoza  die 
Miscricordia  als  die  Freude  aus  dem  Wohl  des  Andern  und  die  Trauer  wegen  des 
Leids  des  Andern  definirt).  kann  man  zweifeln,  ob  sie  „analytisch",  d.  h.  durch  Zer- 
gliederung des  im  allgemeinen  Bewusstseiu  gegebenen  Begriffs  und  dem  allgemeinen 


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Der  vierte  Theil  der  Ethik  handelt  von  der  menschlichen  K uech tschaft 
(de  Servitute  bumana  worunter  Spinoza  die  menschliche  Impotenz  in  der  I^enkung 
und  Einschränkung  der  Affecte  versteht.  Der  den  Affecten  unterworfene  Mensch 
ist  nicht  in  seiner  Macht,  sondern  in  der  Macht  der  äusseren  Umstände  oder  des 
Geschickes  (fortuna)  und  oft  genothigt,  während  er  das  Bessere  sieht,  das  Schlechtere 
zu  vollziehen.  Die  Betrachtungen  dieses  Theiles  ruhen  besonders  auf  den  Definitionen 
des  Gutes  und  des  Uebels.  Unter  Gut  versteht  Sp.  das,  wovon  wir  sicher  wissen, 
dass  es  uns  nützlich  sei,  unter  Uebel,  wovon  wir  sicher  wisseu,  dass  e«  uns  daran 
hindert,  eines  Gutes  theilhaftig  zu  werden  (per  bouum  id  intelligam,  quod  certo 
seimus  nobis  esse  utile,  per  malum  autem  id,  quod  certo  seimus  impedire,  qno 
minus  boni  alicujus  simus  compotes).  Das  utile  aber  bestimmt  Spinoza  als  Mittel, 
um  das  Ideal  der  menschlichen  Natur,  das  wir  uns  vorsetzen,  mein*  und  mehr  zu 
erreichen.  Die  Begriffe  bonum  und  malum  bezeichnen  nicht  etwas  Absolutes,  das 
in  den  Dingen  wäre,  sofern  dieselben  an  und  für  sich  betrachtet  werden,  sondern 
sind  relative  Begriffe,  die  sich  aus  der  Reflexion  auf  die  Beziehung  der  Dinge  zu 
einander  ergeben.  S.  auch  den  Anhang  zu  dem  I.  Buch  der  Ethik,  wo  es  heisst: 
Nachdem  die  Menschen  sich  davon  überzeugt  hatten,  dass  Alles,  was  geschehe, 
ihretwegen  geschehe,  so  mussten  sie  überall  das  für  das  Vorzüglichste  halten,  was 
ihnen  das  Nützlichste  war,  und  alles  das  am  höchsten  schätzen,  von  dem  sie  am 
angenehmsten  berührt  wurden.  Daraus  bildeten  sich  die  Begriffe,  nach  welchen  sie 
die  Natur  der  Dinge  erklärten  als:  Gut,  Schlecht,  Ordnung,  Unordnung,  Warm. 
Kalt,  Schönheit,  Häuslichkeit  n.  s.  w.  Aus  dem  Axiome:  es  giebt  nichts  Einzelnes 
in  der  Natur,  das  uicht  durch  ein  Anderes  an  Kraft  übertroffen  würde,  folgt,  daes 
der  Mensch,  der  als  Einzelwesen  ein  Theil  der  gesammten  Natur,  und  dessen  Macht 
ein  endlicher  Theil  der  unendlichen  Macht  Gottes  oder  der  Natur  ist,  nothwendig 
Passionen  unterworfen  ist,  d.  h.  in  Zustände  kommt,  von  denen  er  nicht  selbst  die 
volle  Ursache  ist,  und.  deren  Gewalt  und  Wachsthum  durch  das  Verhältniss  der 
Macht  der  äusseren  Ursache  zu  seiner  eigenen  Macht  bestimmt  wird.  Der  Aflect 
kann  nur  durch  einen  stärkeren  Affect  überwunden  werdeu,  daher  nicht  durch  die 
wahre  Erkenntniss  des  Guten  und  Bösen,  sofern  dieselbe  wahr  ist,  sondern  nur, 
sofern  dieselbe  zugleich  ein  Affect  der  Lust  oder  Traurigkeit,  und  sofern  sie  als 
solcher  mächtiger  als  der  entgegenstehende  Affect  ist.  Mit  Notwendigkeit  strebt 
eiu  Jeder  nach  dem,  was  ihm  nützlich  ist,  und  da  die  Vernunft  nichts  Wider- 
natürliches fordert,  so  fordert  sie,  das  Jeder  das  erstrebe,  was  ihm  wirklich  nützlich 
sei  zur  Erhaltung  seines  Seins  und  zur  Erlangung  grösserer  Vollkommenheit.  Was 
wir  für  gut  und  nützlich  halten,  um  ein  vernünftiges  Leben  zu  führen,  das  dürfen 
wir  in  Besitz  nehmen  und  gebrauchen.  Was  wir  aber  für  ein  Uebel  ansehen,  Alles, 
was  uns  hindert,  ein  vernünftiges  Leben  zu  führen,  das  dürfen  wir  von  uns  abhalten. 


Spruchgebrauehe  gemäss,  oder  „ synthetisch",  d.  h.  durch  freie  Verknüpfung  irgend 
eines  nach  dem  Bedürfniss  des  Systems  gestalteten  Begriffs  mit  einem  gegebenen 
Namen,  gebildet  seien,  und  ob  im  letzteren  Falle  nicht  mitunter  solches,  was  nur 
im  Sinne  dieser  Definitionen  gelte,  auf  die  durch  den  Sprachgebrauch  an  die  glei- 
chen Worte  geknüpften  Begriffe  paralogistisch  übertragen  worden  sei.  Doch  liegt 
unleugbar  in  der  aufmerksamen  und  freisinnigen  Erforschung  des  Wesens  der 
Affecte  und  ihrer  gegenseitigen  Verhältnisse  ein  grosses  Verdienst  des  spiuozisti- 
schen  Werkes.  Johannes  Müller  hat  in  seine  „Phvsiologie  des  Menschen"  (Bd.  II, 
Gobienz  1840,  S.  543-548)  die  Hauptsätze  des  dritten  Theiles  der  , Ethik"  unter 
dem  Titel:  „Lehrsätze  von  Spinoza  über  die  Statik  der  Gemütsbewegungen"  auf- 
genommen, mit  dem  (Spinozas  eigener  Lehre  gemässeu  I  Bemerken,  dass  diese  Statik 
bloss  insofern  ein  notwendiges  Gesetz  ausspreche,  als  der  Mensch  allein  von  Leiden- 
schaften bewegt  gedacht  werden  könne,  dass  sie  dagegen  durch  die  Vernunft  des 
Menschen  modificirt  werde. 


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112  §  13.  Spinoza. 

Ueberhaupt  ist  nach  dem  höchsten  Rechte  der  Natur  Jedem  das  zu  thun  erlaubt, 
was  nach  seiner  Meinung  zn  seinem  Nutzen  beitragt.   Aus  dem  Selbsterhaltungs- 
trieb ergiebt  sich  nun,  dass  der  Geist,  sofern  er  vernünftig  denkt,  nichts  für  nützlich 
hält,  als  was  zum  richtigen  Erkennen  beiträgt  Denn  wenn  sich  der  Selbsterhaltungs- 
trieb rein  entwickelt,  so  fordert  er  ja  nichts  Anderes,  als  Ausübung  derjenigen 
Thatigkeit,  welche  aus  dem  Wesen  des  Geistes  mit  innerer  Notwendigkeit  folgt. 
Das  ist  aber  das  richtige  Erkennen,  und  aus  dem  Streben  hiernach  geht  die  Tugend 
hervor.   Also  die  Dinge  sind  insoweit  gut,  als  sie  dem  Menschen  zur  wahren  Er- 
kenntuiss  verhelfen,  und  Uebel  sind  sie,  wenn  sie  den  Menschen  hindern,  die  Ver- 
nunft zu  vervollkommnen.   Aber  die  Vernunft  vervollkommnen  ist  nichts  Anderes, 
als  Gott,  seine  Attribute  und  seine  Handlungen,  die  aus  seiner  Natur  mit  Not- 
wendigkeit folgen,  einsehen,  und  so  ist  das  höchste  Ziel  des  Menschen,  sich  selbst 
und  Alles,  was  unter  seine  Einsicht  fallen  kann,  adäquat  aufzufassen.  Erkeuntniss 
ist  nicht  nur  Macht,  sondern  auch  Tugend  und  Glückseligkeit.    Beatitudo  nihil 
aliud  est  quam  ipsa  animi  acquiescentia,  quae  ex  Dei  intuitiva  cognitione  oritur. 
So  spielt  das  clare  et  distincte  percipere  des  Descartes  auch  bei  Sp.  eine  sehr 
wichtige  Rolle.   Die  Leidenschaft  aber  ist  eine  Verworrenheit  des  Bewusstseins, 
wir  erkennen,  von  ihr  befangen,  nicht  klar  und  deutlich,  wir  sind  blind,  leiden 
unter  ihr,  stehen  in  Knechtschaft  und  erfüllen  unser  Wesen  nicht   Aus  diesem 
Zustand  müssen  wir  in  den  Stand  der  Freiheit  zu  gelangen  suchen.  Uebrigeus 
giebt  es  für  den  Menschen  nichts  Nützlicheres  zur  Erhaltung  seines  Daseins  und 
zu  dem  Genuss  eines  vernünftigen  Lebens  als  einen  von  der  Vernunft  geleiteten 
Menschen,  und  darum  streben  die  Menschen,  die  durch  die  Vernunft  geleitet  werden, 
d.  h.  die  der  Vernunft  gemäss  ihren  Nutzen  suchen,  nichts  für  sich  zu  erlangen, 
was  sie  nicht  auch  für  die  übrigen  Meuschen  begehren,  und  sind  darum  gerecht, 
treu  und  ehrbar.    Der  durch  die  Vernunft  geleitete  Mensch  ist  in  höherem  Grade 
frei  in  einem  Staate,  in  welchem  er  nach  gemeinsamem  Gesetze  lebt,  als  in  einer 
Vereinzelung,  in  welcher  er  nur  sich  selbst  gehorcht.    Wiewohl  es  nun  Vernunft  - 
gemäss  ist,  dem  Leidenden  zu  helfen,  so  ist  das  Mitleid  als  eine  schmerzliche 
Empfindung,  die  nur  auf  Kosten  der  klaren  Erkenntniss  stattfinden  kann,  doch  zu 
verwerfen,  ebenso  die  Reue,  welche  zu  den  schlechten  Handlungen,  die  ohnedies 
schon  den  Menschen  leiden  lassen,  auch  noch  die  Zerknirschung,  also  noch  mehr 
Elend,  hinzufügt. 

In  dem  fünften  Theile  der  Ethik  handelt  Spinoza  von  der  Macht  des 
Intellects  oder  von  der  menschlichen  Freiheit,  indem  er  zeigt,  was  die  Vernunft 
oder  der  adäquate  Gedanke  über  die  blinde  Kraft  der  Affecte  vermöge.  Der  Affect 
ist  als  passio  eine  verworrene  Vorstellung;  sobald  wir  aber  von  demselben  eine 
klare  und  bestimmte  Vorstellung  bilden,  was  stets  möglich  ist,  hört  derselbe  auf, 
eine  Passion  zu  sein.  In  der  wahren  Erkenntniss  der  Affecte  liegt  daher  das  beste 
Heilmittel  gegen  dieselben.  Je  mehr  der  Geist  alle  Dinge  als  nothwendig  erkennt, 
um  so  weniger  leidet  er  von  den  Affecteu.  Sie  kommen  in  unsere  Gewalt,  werden 
machtlos  und  wir  freier.  Wer  sich  und  seine  Aflfecte  klar  und  bestimmt  erkennt 
freut  sich  dieser  Erkenntniss,  da  Bie  uns  zu  grösserer  Vollkommenheit  bringt,  unsern 
ursprünglichen  Trieb  befriedigt,  unser  Wesen  erfüllt,  und  diese  Freude  wird  von 
der  Gottesvorstellung  begleitet  da  jede  klare  Erkenntniss  diese  Vorstellung  involvirt; 
denn  es  wird  dann  jedes  Ding  auf  seine  letzte  Ursache,  auf  Gott,  bezogen.  Je 
deutlicher  wir  die  Dinge  erkennen,  um  so  deutlicher  wird  Gott  selbst  begriffen.  Die 
von  der  Vorstellung  der  Ursache  begleitete  Freude  aber  ist  Liebe;  wer  also  sich 
und  seine  Affecte  klar  erkennt  liebt  Gott,  und  zwar  um  so  mehr,  je  vollkommener 


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§  13.  Spinoza. 


seine  Erkenntaiss  ist.    Diese  Gottesliebe  muss,  weil  sie  mit  der  Erkenntniss  aller 
Affccte  verbanden  ist,  den  Geist  zumeist  erfüllen.    Diese  Liebe  ist  unter  allen 
Affecten  der  mächtigste;  neben  ihr  kann  vermöge  des  Gleichgewichts  kein  anderer 
bestehen.    Hiermit  ist  alles  Leiden  ausgeschlossen,  dann  ist  im  Menschen  nur  Freude 
ohne  Trauer,  nur  Liebe  ohne  Ilass.    Gott  ist  frei  von  allen  Passionen,  weil  alle 
Ideen  als  Ideen  Gottes  wahr,  also  adäquat  sind,  und  weil  Gott  nicht  zu  höherer 
oder  geringerer  Vollkommenheit  übergehen  kann;  Gott  wird  also  nicht  durch  Freude 
oder  Traurigkeit  afficirt,  also  auch  nicht  durch  Liebe  und  Haas.    Niemand  kann 
Gott  hassen,  weil  die  Gottesvorstellung  als  adäquate  Idee  nicht  von  Traurigkeit 
begleitet  sein  kann.   Wer  Gott  liebt,  kann  nicht  nach  Gottes  Gegenliebe  begehren; 
denn  er  würde  dadurch  begehren,  dass  Gott  nicht  Gott  wäre.    Die  Fähigkeit  des 
Geistes  zur  Imagination  und  zur  Wiedererinnerung  ist  an  die  Dauer  des  Körpers 
gebunden.   In  Gott  giebt  es  jedoch,  weil  derselbe  nicht  bloss  die  Ursache  der 
Existenz,  sondern  auch  des  Wesens  (der  essentia)  ist,  nothwendig  eine  Idee,  welche 
das  Wesen  des  einzelnen  menschlichen  Körpers  unter  der  Form  der  Ewigkeit  (sub 
specie  aetenütatis)  ausdrückt.  Der  menschliche  Geist  kann  demnach  nicht  mit  dem 
Körper  völlig  zerstört  werden,  sondern  etwas  Ewiges  bleibt  von  ihm  zurück.  Die 
Idee,  welche  das  Wesen  (essentia)  des  Körpers  unter  der  Form  der  Ewigkeit  aus- 
drückt, ist  ein  bestimmter  Modus  des  Denkens,  der  zum  Wesen  des  Geistes  (ad 
mentis  essentiam)  gehört  und  nothwendig  ewig  ist.   Aber  diese  Ewigkeit  kann 
nicht  durch  das  Maass  der  Dauer  in  der  Zeit  bestimmt  werden;  wir  können  uns 
daher  nicht  einer  Existenz  vor  dem  Dasein  unseres  Körpers  erinnern.  Nichtsdesto- 
weniger fühlen  uud  erfahren  wir  uns  als  ewig  und  zwar  durch  die  Augen  des 
Geistes,  die  Demonstrationen.   Dauerndes  Bestehen  innerhalb  gewisser  Zeitgreuzen 
kann  unserm  Geiste  nur  insoweit  zugeschrieben  werden,  als  er  die  actuelle  Existenz 
des  Körpers  involvirt;  nur  insoweit  hat  er  die  Macht,  die  Dinge  unter  der  Form 
der  Zeit  aufzufassen.   Das  höchste  Streben  des  Geistes  und  seine  höchste  Tugend 
ist,  die  Dinge  zu  begreifen  durch  die  höchste  Art  der  Erkenntniss  (die  Spinoza  im 
zweiten  Theil  der  Ethik  als  tertium  cognitionis  genus  bezeichnet  hat),  welche  von  der 
adäquaten  Vorstellung  gewisser  göttlicher  Attribute  zur  adäquaten  Erkenntniss  des 
Wesens  der  Dinge  fortgeht.   Je  befähigter  der  Geist  ist,  auf  diese  Weise  zu 
erkennen,  um  so  mehr  begehrt  er  nach  solcher  Erkenntniss,  und  es  entspringt  aus 
derselben  seine  höchste  Befriedigung.   Soweit  unser  Geist  sich  und  seinen  Körper 
unter  der  Form  der  Ewigkeit  auffasst,  hat  er  mit  Nothwendigkeit  die  Gottes- 
erkenntuiss  und  weiss,  dass  er  in  Gott  ist  und  durch  Gott  gedacht  wird;  diese  Art 
der  Erkenntniss  hat  den  Geist,  sofern  er  ewig  ist,  zur  Ursache,  und  die  intellectuelle 
Liebe  Gottes  (amorDei  intellectualis),  die  daraus  entspringt,  ist  ewig.  Jede  andere 
Liebe  dagegen  sammt  allen  Affecten,  welche  Passionen  sind,  ist  gleich  der  Imagination 
an  den  Bestand  des  Leibes  gebunden  und  nicht  ewig.    Gott  liebt  sich  selbst  mit 
unendlicher  intellectueller  Liebe;  denn  die  göttliche  Natur  erfreut  sich  unendlicher 
Vollkommenheit,  welche  von  der  Selbstvorstellung  als  der  Vorstellung  der  Ursache 
begleitet  ist  (welche  Aeusserung  Spinozas  für  spcculative  Constructionen  der 
christlichen  Dreieiuigkeit  als  ursächliches  Sein,  Selbstbewusstsein  und  Liebe  in 
Gott  als  Anknüpfungspunkt  dienen  konnte  und  gedient  hat).   Die  intellectuelle 
Liebe  des  Geistes  zu  Gott  ist  Gottes  Liebe  selbst,  durch  welche  Gott  sich  selbst 
liebt,  nicht  sofern  er  unendlich  ist,  sondern  sofern  er  durch  das  unter  der  Form 
der  Ewigkeit  betrachtete  Wesen  des  menschlichen  Geistes  erklärt  werden  kann, 
d.  h.  die  intellectuelle  Liebe  des  Geistes  zu  Gott  ist  ein  Theil  der  unendlichen 
Liebe,  mit  welcher  Gott  sich  selbst  liebt  (wie  der  menschliche  Intellect  ein  Theil 
des  unendlichen  göttlichen  Intellectes  ist).   Sofern  Gott  sich  selbst  liebt,  liebt  er 
die  Menschen;  die  Liebe  Gottes  zu  den  Menschen  und  die  intellectuelle  Liebe  des 

lipborweg-Hpimo,  Urutidriss  Dt  7.  Anfl.  g 


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114 


§  14.  Locke. 


Geistes  zu  Gott  sind  identisch.  Unser  Heil  oder  unsere  Glückseligkeit  oder  unsere 
Freiheit  besteht  in  der  bestandigen  und  ewigen  Liebe  zu  Gott  oder  der  Liebe 
Gottes  zu  den  Meuscheu.  Diese  Liebe  ist  unaufhebbar.  Je  mehr  der  Geist  von 
ihr  erfüllt  ist,  um  so  mehr  Unsterbliches  ist  in  ihm.  Der  ewige  Theil  des  Geistes 
ist  der  Intellect,  durch  den  allein  wir  uns  activ  verhalten,  der  untergehende  ist 
die  Imagination,  durch  die  wir  Passionen  unterworfen  sind;  also  ist  der  ewige 
Theil  des  Geistes  der  bessere.  Auch  wenn  wir  nicht  wüssten,  dass  unser  Geist 
ewig  sei,  so  müssteu  wir  doch  die  Frömmigkeit  und  Gewissenhaftigkeit,  wie  alles 
Edle,  für  das  Höchste  erachten.  Beatitudo  non  est  virtutis  praemium,  sed  ipsa 
virtus,  uec  eadem  gaudemus,  quia  libidines  coercemus,  sed  contra,  quia  eadem 
gaudemus,  ideo  libidines  coercere  possumus. 

So  ist  in  der  Ethik  von  Sp.  der  Weg  zu  dem  Ziele  gezeigt,  zu  dem  Ziele,  das 
schon  in  dem  Tractat.  de  Deo  et  nomine  und  in  dem  Tractat.  de  intellectus  emendatione 
ins  Auge  gefasst  war.  Wenn  auch  der  Weg,  meint  Sp.,  sehr  schwierig  erscheine, 
so  könne  er  doch  gefunden  werden.  Und  freilich  müsse  er  beschwerlich  sein,  da 
er  so  selten  gefunden  werde.  Denn  wie  wäre  es  sonst  möglich,  dass,  wenn  das  Ziel 
so  mühelos  zu  ergreifen  wäre,  es  fast  vou  Alleu  ausser  Acht  gelassen  würde?  „Aber 
alles  Erhabene  ist  ebenso  schwer  als  selten."  Hiermit  schliesst  die  Ethik,  nachdem 
Spinoza  mit  der  intellectuellen  Liebe  zu  Gott  die  volle  Mystik  in  seinen  Rationalismus 
aufgenommen  hat. 

§  14.  John  Locke  (1632—1704)  sucht  in  seinem  Hauptwerke, 
dem  „Versuch  über  den  menschlichen  Verstand*4,  den  Ursprung 
der  menschlichen  Erkenntniss  zu  ermitteln,  um  dadurch  die  Grenzen 
und  das  Maass  der  objectiven  Gültigkeit  derselben  zu  bestimmen. 
Er  verneint  die  Existenz  von  angeborenen  Vorstellungen  und  Sätzen. 
Der  Geist  ist  ursprünglich  ohne  Inhalt.  Alle  Erkenntniss  stammt 
theils  aus  der  Sensation  oder  sinnlichen  Wahrnehmung,  theils 
aus  der  Reflexion  oder  inneren  Wahrnehmung  her.  Jene  ist 
die  Auffassung  der  äusseren  Objecte  mittelst  der  äusseren  Sinne,  diese 
ist  die  Auffassung  der  psychischen  Vorgänge  durch  den  innern  Sinu. 
Die  verschiedenen  Elemente  der  sinnlichen  Wahrnehmung  stehen  in 
verschiedenem  Verhältniss  zu  der  objectiven  Realität.  Ausdehnung, 
alle  räumlichen  Bestimmungen,  Undurchdringlichkeit,  kommen  auch 
den  Objecten  an  sich  selbst  zu;  Farbe  und  Ton  aber,  überhaupt  die 
Empfindungsqualitäten,  sind  nur  in  dem  pereipirenden  Subjecte  und 
nicht  in  dem  Objecte  an  sich  selbst,  sie  sind  nur  Zeichen,  nicht 
Abbilder  von  räumlichen  Vorgängen,  die  in  den  Objecten  stattfinden. 
Durch  die  innere  Erfahrung  oder  Reflexion  erkennen  wir  unser  Denken 
und  Wollen.  Durch  die  äusseren  Sinne  und  den  inneren  Sinn  zu- 
gleich erhalten  wir  die  Ideen  der  Kraft,  der  Einheit  und  andere. 
Aus  den  einfachen  Ideen  bildet  der  Verstand  durch  Combination 
die  zusammengesetzten  (complexen)  Ideen.  Diese  sind  theils 
Ideen  von  Modis,  theils  von  Substanzen,  theils  von  Relationen. 
Wenn  wir  mehrere  Modi  beständig  mit  einander  verbunden  linden, 
so  setzen  wir  eine  Substanz  oder  ein  Substrat,  dem  sie  inhäriren,  als 


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§  14.   Locke.  115 

ihren  Träger  voraus;  doch  ist  dieser  Begriff  dunkel  und  von  geringem 
Nutzen.  Das  Princip  der  Individuation  ist  die  Existenz  selbst;  die 
von  den  Aristotelikern  sogenannten  zweiten  Substanzen  oder  die 
Gattungen  sind  nur  unsere  subjectiven  Zusammenfassungen  vieler  ein- 
ander gleichartigen  Individuen  mittelst  der  Bezeichnung  durch  das 
nämliche  Wort,  und  Locke  vertritt  so  den  entschiedenen  Xominalismus. 
Die  Erkenntniss  ist  die  Wahrnehmung  der  Verbindung  und  Ueber- 
einstimmung  oder  der  Nichtübereinstimmung  und  des  Widerstreits 
einiger  unserer  Vorstellungen,  nach  den  vier  Verhältnissen  der  Iden- 
tität oder  Verschiedenheit,  der  Beziehung,  der  Coexistenz  und  der 
realen  Existenz.  Vernunftmässig  sind  Sätze,  deren  Wahrheit  wir  durch 
Untersuchung  und  Entwickelung  der  Begriffe,  die  aus  Empfindung  und 
Reflexion  entspringen,  entdecken  können,  z.  B.  die  Existenz  eines 
Gottes;  über  die  Vernunft  hinausgehend  sind  Sätze,  deren  Wahrheit 
oder  Wahrscheinlichkeit  wir  auf  diesem  Wege  nicht  entdecken  können, 
z.  B.  die  Auferstehung  der  Todteu ;  auf  solche  Sätze  geht  der  Glaube. 
Gegen  die  Vernunft  sind  Sätze,  die  mit  sich  selbst  streiten  oder  mit 
klaren  und  deutlichen  Begriflen  unvereinbar  sind,  z.  B.  die  Existenz 
mehrerer  Götter,  derartige  Sätze  können  nicht  offenbart  sein  und 
nicht  geglaubt  werden.  Für  das  Dasein  Gottes  führt  Locke  den  kosmo- 
logischen  Beweis.  Dass  die  Seele  immateriell  sei,  ist  ihm  wahr- 
scheinlich, aber  das  Gegentheil  nicht  undenkbar.  Sein  Moralprincip 
ist  die  Glückseligkeit. 

John  Talloch,  rational  theology  and  Christian  philosi»phy  in  England  in  the 
I7th  Century.  2  vol.,  Lond.  1872.  Ueb.  das  18.  Jahrh.  s.  Lcslie  Stephen,  History  of 
English  thöught  in  the  XVIII.  Cent..  Lond.  1876.  Ueber  die  englische  Philo»,  seit 
Locke,  auch  üb.  d.  Vorgänger  Locke«  zu  vergl.  Appendix  I,  the  philosophy  in  Great 
Britain  and  America  von  Noah  Porter,  in  der  englisch,  üebersetzung  dieses  Grund- 
risses v.  Geo.  S.  Morris,  Vol.  II,  New-York  1875.  In  diesem  Anhang  finden  sich  auch 
sehr  reiche  Litteraturangaben. 

Locke«  Hauptwerk:  An  essay  concerning  human  understanding,  in  four 
book«,  erschien  zuerst  London  1690,  dann  1(594,  1697,  1700,  1705  und  bis  auf  die  neueste 
Zeit  hin  sehr  häufig,  nach  der  vierten  Ausg.  unter  Mitwirkung  des  Verfassers  ins 
Kranz,  übersetzt  von  Coste.  Amst.  1700.  1729  n.  ö.,  lat.  von  Burridge,  London  1701 
u.  ö.,  von  G.  H.  Thiele,  Lips.  1731,  holländ.  Amst.  17.56,  deutsch  von  H.  K.  Poley, 
Altenb.  1757,  im  Auszuge  von  G.  A.  Tittel,  Mannh.  1791,  vollständig  von  W.  G. 
Tennemann  nebst  Abh.  üb.  d.  Kmpirism.  in  d.  Philos.,  Lpz.  1795—97  u.  von  J.  H. 
v.  Kirchmann  in  d.  .philos.  Bibl.",  1872,  1873.  Die  Schrift:  Thoughts  on  education, 
Lady  Masham  gewidmet,  erschien  Lond.  1693  u.  ö.,  franz.  von  Coste,  Amst.  1705 
u.  ö.,  deutsch  von  Rudolph),  Braunschw.  1788,  von  M.  Schuster  in  d.  von  K.  Richter 
hrsg.  ,pädag.  Bibliothek",  Lpz.  1872.  Reasonableness  of  Christianity,  as  delivered 
in  the  Scriptures,  Lond.  1695;  Posthumous  Works,  Lond.  1706,  darunter  auch :  Conduct 
of  understanding,  nicht  ganz  vollendet,  zuletzt  unter  dem  Titel:  Leitung  des  Verstandes, 
ins  Deutsche  übersetzt  von  Jürg.  B.  Meyer,  Philos.  Biblioth.  1883;  Oeuvres  diverses  de 
lx>cke,  Rott.  1710,  Amst.  1732.  Die  sämmtlichen  Werke  sind  Lond.  1714,  1722  u.  ö., 
eine  Ergänzung  derselben  u.  d.  T.:  Collection  of  several  pieces  of  J.  Locke  ist  Lond. 
1720  erschienen.  Lockes  sämmtliche  Werke  sind  in  9  Bd.,  Lond.  1853,  Lockes  philos. 
Werke  durch  St.  John  in  2  Bd.,  Lond.  1854,  hrsg.  worden. 

Ueber  Lockes  Leben  handelt  Lockes  Freund  Jean  Leclerc  in  seinem  Eloge 
historique  im  6.  Bd.  seiner  Bibliotheque  choisie  (wiederabg.  im  1.  Bd.  der  Oeuvres 
diverses  de  Locke,  in  Heumanns  Acta  philos.  VI,  S.  975  u.  ö.)  auf  Grund  von  Mit- 

8» 


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116 


§  14.  Locke. 


theilungcn  Lockes  und  des  Grafen  von  Shaftesbury  und  der  Frau  Mashain.  In  neuerer 
Zeit  hat  insbesond.  Lord  King  e.  Biogr.  Lockes  verfasst,  Lond.  1829,  und  H.  R.  Fox 
Bourne,  the  life  of  J.  L.,  2  vol.,  Loudon  1876.  Seine  Doetrin  wurde  gleich  nach  dem 
Erscheinen  seiner  Schriften  in  manchen  Gegenschriften  bekämpft,  gewann  aber  in 
Britaunien,  Frankreich,  Holland,  Deutschland  etc.  bis  gegen  das  Ende  des  IS.  Jahrh. 
einen  wachsenden  Einfluss.  Die  bedeutendste  Schrift  geg.  den  Essay  concerning  human 
understanding  ist  die  umfassende  Kritik  desselben  durch  Leibniz:  Nouveaux  essais  sur 
l'entendement  humain  (s.  unten  §  18).  Von  den  Schriften  üb.  Locke  aus  neuerer  Zeit 
mögen  hier  folgende  erwähnt  sein:  Tagart,  L.s  Writings  and  philos.,  Lond.  1855. 
Benj.  H.  Smart,  thought  and  language,  an  e&say  having  in  view  the  revival,  correction, 
and  exclusive  establishment  of  L.s  philos.,  1855.  Th.  E.  Webb,  the  intellectualism  of 
L.,  Lond.  1858.  J.  Brown,  L.  and  Sydenham,  Lond.  and  Edinb.,  2.  ed.  1859,  3.  ed. 
1866.  Vict.  Cou -tu,  la  philos.  de  L.,  6.  ed.,  Paris  1863.  John  L.,  seine  Verstandes- 
theorie u.  s.  Lehr.  üb.  Rclig.,  Staat  u.  Erzieh.,  psycho!. -bist,  dargesl.  von  Em.  Schärer, 
Lpz.  1860.  G.  Hartenstein,  L.s  Lehre  v.  d.  menschl.  Erkenntnis«  in  Vgleichg.  mit 
Leibniz'  Kritik  derselb.,  Lpz.  1565,  jetzt  auch  in  H.s  hist.-philos.  Abb.,  Lpz.  1870. 
M.  W.  Drobisch,  über  L.,  den  Vorläufer  Kants,  in:  Zeitsehr.  f.  ex.  Ph.  II,  1861, 
S.  1—32.  E.  Fritsche,  John  L.s  Ansichten  üb.  Erzieh.,  Naumb.  1866.  S.  Turbiglio, 
Analisi  storica  delle  filos.  di  L.  e  di  Leibniz,  Torino  1867.  Rieh.  Quäbicker,  L.  et 
Leibnitii  de  cognit.  hum.  sent.,  diss.  inaug.,  Hai.  1868.  Em.  Strötzel,  z.  Kritik  der 
Erkenntnisslehre  v.  John  L.,  Inaug.  Diss.,  Berl.  1869.  Geo.  v.  Benoit,  Darstellg.  der 
L.schen  Erkenntnisslehre,  verglich,  m.  d.  Leibnizscben  Kritik  derselb.,  Preisschr.,  Bern 
1869.  Frdr.  Herbst,  L.  u.  Kant,  Rostock,  Prom.-Schr.,  Stett.  1869.  Max  Kissel,  de 
ratione  quac  L.  inter  et  Kantii  placita  intercedat,  comm.,  Rost.  1869.  T.  Ziemba,  L.  u. 
a.  Werke  n.  d.  f.  d.  Phil,  interessantest.  Momenten.  Diss.,  Lemberg  1870.  J.  Peters, 
John  L.  als  pädag.  Schriftst,  in  N.  Jahrbüch.  f.  Philol.  u.  Päd.,  Bd.  106,  1872, 
S.  113—139,  Horrigs  Arch.  f.  n.  Spr„  Bd.  50,  1872,  S.  347—380,  auch  als  Rostock. 
Prom.-Schr.,  Lpz.  1872.  D.  Burger,  L.s  bewijs  voor  het  bestaan  van  God,  Amersfoort 
1872.  Rob.  Cleary,  an  analysis  of  L.s  essay  on  the  hum.  understand.,  Dubl.  1873. 
T.  Becker,  de  pbilosophia  Lockii  et  Humii,  Spinozismi  fruetu,  Critii  ismi  germine,  In. 
Diss.,  Halle  1875.  O.  Dost,  die  Logik  John  Lockes  im  Zusammenhang  mit  seiner 
Philos.,  Plauen  1877.  Marion,  Locke  d'apres  des  documents  nouveaux,  in:  Revue 
philosophique,  T.  V,  1878.  A.  de  Fries,  die  Substanzen!.  J.  Lockes  mit  Bezieh,  auf 
d.  carte8ian.  Philos.  krit.  entwickelt  u.  unters.,  Bremen  1879.  Thom.  Fowler,  Locke, 
Lond.  1880.  R.  Palm,  Wie  begründet  Locke  die  Realität  der  Erkenntnis»?  Jena  1881. 
Edm.  Koenig,  üb.  d.  Substanzbegr.  b.  Locke  u.  Humc,  I.  D.,  Lpz.  1881.  Beruh.  Münz, 
Lockes  Ethik,  in:  Philos.  Monatsh.  1883,  S.  :>44— 354.  Herrn.  Winter,  Darlegung  u. 
Krit.  der  lockeschen  L.  vom  empir.  Ursprung  der  sittl.  Grundsätze,  1.  D.,  Bonn  1884. 
Theod.  Loewy,  Common  sensibles.  Die  Gcmein-Ideen  des  Gesichts-  und  Tastsinns  nach 
Locke  u.  Berkeley  u.  Experimenten  an  operirt.  Blindgeborenen,  Lpz.  1884.  George 
W.  Manly,  Contradictions  in  Locke's  Theory  of  Knowledge,  Lpz.  1885.  Giuseppe 
Tarantino,  Giovanni  Locke,  studio  storico,  Milano-Torino  1886.  Mac  Cosh,  L.s  theory 
of  knowledge,  with  a  notice  of  Berkeley,  Lond.  1886.  J.  Gavanescul,  Versuch  einer 
zusammenf.  Dam.  der  pädagog.  Ansichten  J.  Ls  in  ihr.  Zusammenh.  mit  s.  philos.  System, 
Berl.  1887.  R.  Sommer,  L.s  Verh.  zu  Descartes,  Berl.  1887.  Geo.  Geil,  üb.  d.  Ab- 
hängigk.  L.s  v.  Descartes,  Strassb.  1887.    Ed.  Martinak,  zur  Logik  L.s,  Graz  1887. 

John  Locke,  Sohn  des  Rechtsgelehrten  John  Locke,  wurde  am  29.  August 
1632  zn  Wrington  (fünf  Meilen  von  Bristol)  geboren.  Er  stndirte  in  dem  College 
von  Westminster  und  später  (seit  1651)  in  dem  Christchurch-College  zn  Oxford. 
Mit  Vorliebe  trieb  er  naturwissenschaftliche  und  medicinische  Studien.  Die 
scholastische  Philosophie  Hess  ihn  unbefriedigt;  die  Schriften  des  Descartes  zogen 
ihn  an  durch  ihre  Klarheit  and  Bestimmtheit  und  darch  ihren  Anschluss  an  die 
selbständige  neuere  Naturforschung.  Im  Jahre  1665  begleitete  er  als  Legations- 
secretair  den  englischen  Gesandten  Sir  Walter  Vane  an  den  brandenburgischen  Hof 
und  lebte  zwei  Monate  lang  in  Cleve.  Nach  England  zurückgekehrt,  beschäftigte  er 
sich  mit  naturwissenschaftlichen,  insbesondere  mit  meteorologischen  Untersuchungen. 
In  Oxford  wurde  er  1667  mit  Lord  Ashley,  spätcrem  Earl  of  Shaftesbury,  bekannt, 
in  dessen  Hause  er  seitdem  eine  Reihe  von  Jahren  hindurch  als  Arzt  und  Freund 
gelebt  hat.   Im  Jahre  1668  begleitete  er  den  Earl  von  Northumberlnnd  auf  einer 


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§  14.  Locke. 


117 


Reise  durch  Frankreich  and  Italien.    Dann  leitete  er  im  Hause  des  Grafen  von 
Shaftesbury  die  Erziehung  von  dessen  (damals  sechzehnjährigem)  Sohne.  Die 
Grandzüge  des  „Versuchs  über  den  menschlichen  Verstand"  hat  Locke  1670  ent- 
worfen, denselben  jedoch  erst  nach  wiederholter  üeberarbeitung  veröffentlicht.  Als 
sein  Gönner  1672  Lordkanzler  von  England  wurde,  erhielt  Locke  von  ihm  das  Amt 
eines  Secretary  of  the  presentation  of  benefices,  das  er  im  folgenden  Jahr,  als  der- 
selbe in  Ungnade  fiel,  wieder  verlor.   In  den  Jahren  1675-  79  lebte  Locke  in 
Frankreich,  vorzugsweise  in  Montpellier  im  Umgange  mit  Herbert,  dem  späteren 
Earl  of  Pembroke,  dem  er  seineu  Versuch  über  den  menschlichen  Verstand  ge- 
widmet hat,  auch  in  Paris  im  Verkehr  mit  wissenschaftlich  hervorragenden  Männern. 
Als  Shaftesbury  1679  Conseils-Präsident  geworden  war,  rief  er  Locke  nach  England 
zurück.  Nachdem  aber  Shaftesbury,  wegen  seines  Widerstandes  gegen  absolutistische 
Tendenzen  des  Königs  aufs  Neue  seines  Amtes  enthoben,  in  den  Tower  geworfen 
worden  war,  dann,  in  dem  Process,  den  der  Hof  gegen  ihn  eingeleitet  hatte,  durch 
die  Jury  freigesprochen,  sich  nach  Holland  begeben  hatte,  wo  ihn  der  Statthalter, 
Prinz  Wilhelm  von  Uranien,  günstig  aufnahm,  folgte  Locke  ihm  gegen  Ende  des 
Jahres  1683  nach  und  lebte  zuerst  in  Amsterdam,  dann,  als  durch  die  englische 
Regierung  seine  Auslieferung  gefordert  wurde,  abwechselnd  in  Utrecht,  Cleve  und 
Amsterdam,  bis  er  1688  in  Folge  der  Revolution,  durch  welche  Prinz  Wilhelm  von 
Oranien  den  englischen  Thron  erhielt,  nach  England  zurückkehren  konnte,  wo  er  die 
Stelle  eines  Commissioner  of  appeals,  später  eines  Commissioner  of  trade  and 
plantages  erhielt.   Im  Jahr  1685  veröffentlichte  Locke  seinen  ersten  Brief  für 
Toleranz  (anonym),  1689  den  zweiten  und  dritten.    Der  „Versuch  über  den  mensch- 
lichen Verstand-  ward  1687  beendet,  im  folgenden  Jahr  ein  von  Locke  angefertigter 
Auszug  durch  Leclerc  (Clericus)  ins  Franz.  übersetzt  und  in  dessen  Bibl.  univers. 
VIU,  S.  49—142  veröffentlicht,  1689—90  das  Werk  selbst  zuerst  gedruckt.  Anonym 
liese  Locke  1689  zwei  Abhandlungen  „Ueber  die  bürgerliche  Regierung"  erscheinen, 
zur  Rechtfertigung  der  vollzogenen  Staatsumwälzung  bestimmt  und,  wie  bereits 
Algernon  Sidneys  (gest.  1683)  Discourses  concerning  government  (die  jedoch  Locke 
nicht  näher  kannte),  gegen  die  Doctrin  des  Robert  Filmer  gerichtet,  dass  der  König 
die  patriarchalische  Allgewalt  von  Adam  geerbt  habe.   Drei  kleine  Schriften  über 
das  Münzwesen  erschienen  ebenfalls  im  Jahr  1689.    Die  Schrift  über  Erziehung, 
welche  Rousseau  für  seine  pädagogischen  Ansichten  stark  benutzt  hat,  erschien 
1693.   Die  Schrift  „über  die  Vernunftmässigkeit  des  Christeuthums,  wie  es  in  der 
Schrift  überliefert  isf,  die  auf  Voltaire  bedeutenden  Einfluss  ausgeübt  hat,  wurde 
1695  veröffentlicht.    Seine  letzten  Lebensjahre  brachte  Locke  grössteutheils  in  Oates 
in  der  Grafschaft  Essex  im  Hause  des  Sir  Francis  Masham  zu,  dessen  Gemahlin 
eine  Tochter  Cudworths  war.   Er  starb  hier  im  73.  Jahre  seines  Lebens  am 
28.  October  1704. 

Locke  bezeichnet  als  den  Gegenstand  und  Zweck  seines  Essay  concer- 
ning human  understanding  (I,  1,  2  und  3)  .eine  Untersuchung  über  den 
Ursprung,  über  die  Gewissheit  und  den  Umfang  der  menschlichen  Erkenntnis«,  über 
die  Gründe  und  Grade  des  Glaubens,  der  Meinung  und  des  Beifalls".  Er  will  «die 
Art  und  Weise,  wie  der  Verstand  zu  seinen  Begriffen  von  Objecten  gelangt,  erklären, 
den  Grad  der  Gewissheit  unserer  Erkenntnis«  bestimmen,  die  Grenzen  zwischen  dem 
Meinen  und  Wissen  erforschen  und  die  Grundsätze  untersuchen,  nach  welchen  wir 
in  Dingen,  wo  keine  gewisse  Erkenntniss  stattfindet,  unsern  Beifall  und  unsere 
Ueberzeugung  bestimmen  sollten".  Er  erzählt  (in  der  Vorrede),  dass,  da  einige 
seiner  Freunde  bei  einer  philosophischen  Disputation  zu  keinem  Resultate  gelangen 
konnten,  er  auf  den  Gedanken  gekommen  sei,  dass  eine  Untersuchung,  wie  weit  das 
Vermögen  des  Verstandes  reiche,  welche  Objecte  in  seiner  Sphäre  und  welche  jenseits 


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§  14.  Locke. 


Beine-  Gesichtskreises  liegen,  allen  anderen  philosophischen  Forschungen  voran- 
gehen müsse. 

In  dem  ersten  Buche  der  Untereachung  über  den  menschlichen  Verstand  sucht 
Locke  darzuthun,  dass  es  keine  angeborenen  Erkenntnisse  gebe,  offenbar  in 
bewusster  Polemik  gegen  Descartes'  etwas  unklar  gehaltene  Lehre  von  den  ideae 
innatae  (s.  ob.  S.  71  ff.). 

In  unserem  Verstände  sind  Ideen  (welchen  Ausdruck  Locke  mit  Vorstellung, 
notio,  als  gleichbedeutend  gebrauchen  zu  wollen  erklärt).  Jeder  Mensch  findet  Vor- 
stellungen in  seinem  eigenen  Bewusstaein,  und  die  Worte  und  Handlungen  anderer 
Menschen  beweisen,  dass  solche  auch  in  ihrem  Vorstellungsvermögen  vorkommen. 
Wie  kommen  nun  diese  Ideen  in  den  Verstand? 

Es  giebt  eine  Meinung,  wonach  in  dem  Verstände  gewisse  augeborne  Grund- 
sätze, ursprüngliche  Begriffe  angetroffen  werden,  indem  gewisse  Schriftzüge 
(Characters)  demselben  eingeprägt  seien,  welche  die  Seele  mit  sich  in  die  Welt 
bringe.  Diese  Meinung  Hesse  sich  zwar  durch  den  blossen  Nachweis,  wie  alle  Arten 
unserer  Vorstellungen  mittelst  des  Gebrauchs  unserer  natürlichen  Kräfte  wirklich 
entstehen,  für  den  uneingenommenen  Leser  hinreichend  widerlegen;  doch  müssen, 
da  jene  Meinung  sehr  verbreitet  ist,  auch  die  Gründe,  auf  welche  ihre  Vertheidiger 
sich  stützen,  geprüft  und  die  Gegengründe  augegeben  werden. 

Das  wichtigste  Argument  der  Vertheidiger  jener  Meinung  liegt  darin,  dass 
gewisse  theoretische  und  praktische  Grundsätze  allgemein  für  wahr  gehalten  werden. 
Locke  bestreitet  sowohl  die  Wahrheit,  als  auch  die  Beweiskraft  dieses  Argumentes. 
Die  vorgebliche  Uebereinstimmung  über  derartige  Grundsätze  besteht  nicht,  und 
bestände  sie,  so  würde  sie  nicht  das  Angeborensein  beweisen,  sofern  eine  andere 
Weise,  wie  die  Uebereinstimmung  zu  Stande  komme,  aufgezeigt  werden  kann. 

Zu  den  theoretischen  Grundsätzen,  die  man  für  angeborene  ausgiebt, 
gehören  die  berühmten  Fuudamentalsätze  der  Demonstrationen:  Was  ist,  das  ist 
(Satz  der  Identität)  und:  Es  ist  unmöglich,  duss  dasselbe  Ding  sei  und  nicht  sei  (Satz 
des  Widerspruchs).  Diese  Sätze  sind  aber  Kindern  und  Allen,  die  ohne  wissen- 
schaftliche Bildung  sind,  unbekannt,  und  es  ist  doch  fast  ein  Widerspruch,  anzu- 
nehmen, dass  der  Seele  Wahrheiten  eingeprägt  seien,  von  denen  sie  kein  Bewusst- 
sein  und  keine  Erkenntniss  habe.  Sagt  man,  ein  Begriff  ist  der  Seele  eingeprägt, 
und  behauptet  zu  gleicher  Zeit,  sie  habe  davon  keine  Kenntuiss,  so  heisst  das,  den 
Eindruck  zu  einem  Unding  macheu.  Soll  etwas  in  der  Seele  sein,  was  sie  bisher 
nicht  erkannt  hat,  so  muss  es  dies  in  dem  Sinne  sein,  dass  sie  das  Vermögen  hat, 
es  zu  erkennen;  dieses  gilt  aber  von  allen  erkennbaren  Wahrheiten,  auch  solchen,  die 
Mancher  während  seines  ganzen  Lebens  niemals  wirklich  erkennt.  Dass  die  Fähig- 
keit angeboren  sei,  die  Erkenutniss  aber  erworben,  gilt  nicht  von  einzelnen,  sondern 
von  allen  Erkenntnissen.  Werden  aber  angeborene  Ideen  angenommen,  so  will  man 
diese  von  andern  Ideen,  die  nicht  angeboren  seien,  unterscheiden;  also  will  man 
das  Angeborensein  nicht  auf  die  blosse  Fähigkeit  beziehen.  Daun  aber  muss  man 
auch  annehmen,  dass  die  angeborenen  Erkenntnisse  von  Anfang  an  bewusst  seien, 
denn  im  Verstände  sein,  heisst  Gedachtwerden.  Sagt  man:  jene  Sätze  werden  dann 
von  den  Menschen  erkannt  und  für  wahr  gehalten,  wenn  diese  zum  Gebrauch  ihrer 
Vernunft  gelangen,  so  ist  dies  weder  in  dem  Sinne  wahr  und  beweiskräftig,  dass 
wir  sie  mittelst  des  Vernunftgebrauchs  durch  Deduction  erkennen,  noch  in  dem 
Sinne,  dass  wir  sie  denken,  sobald  wir  zum  Gebrauch  unserer  Vernunft  gelangen; 
wir  erkennen  vieles  Andere  früher.  Dass  das  Bittere  nicht  süss,  dass  eine  Ruthe 
nicht  eine  Kirsche  sei,  erkennt  ein  Kind  weit  früher,  als  es  den  allgemeinen  Satz 
versteht  und  für  wahr  hält,  dass  das  nämliche  Ding  unmöglich  sein  und  auch  nicht 
sein  könne.    Wäre  das  sofortige  Fürwahrhalten  eines  Satzes  ein  zuverlässige« 


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§  14.  Look». 


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Merkmal  des  An  geborensei  ns,  so  raüsste  auch  der  Satz,  das*  Eins  und  Zwei  gleich 
Drei  sei,  nebst  unzähligen  anderen  angeboren  sein. 

Ebensowenig,  wie  angeborene  theoretische  Sätze,  giebt  es  angeborene  prak- 
tische Grundsätze.  Keine  moralischen  Grundsätze  sind  so  klar  und  gelten  so 
allgemein,  wie  die  oben  genannten  theoretischen.  Die  moralischen  Sätze  sind  ebenso 
wahr,  aber  nicht  ebenso  evident  wie  die  theoretischen.  Der  moralische  Funda- 
mentalst tz  :  Jeder  soll  bo  handeln,  wie  er  wünschen  kann,  dass  Andere  gegen  ihn 
handeln,  und  alle  anderen  moralischen  Regeln  bedürfen  der  Begründung  und  sind 
daher  nicht  angeboren.  Auf  die  Frage:  warum  soll  man  Verträge  halten?  wird 
sich  der  Christ  auf  den  Willen  Gottes,  der  Anhänger  des  Hobbes  auf  den  Willen 
der  Gesellschaft,  der  heidnische  Philosoph  auf  die  Würde  des  Menschen  berufen. 
Absurd  wäre  es  aber,  wenn  sie  als  angeborene  Sätze  der  Begründung  bedürften, 
und  diese  noch  dazu  so  verschieden  ausfiele.  Angeboren  ist  zwar  das  Verlangen 
nach  Glückseligkeit  und  der  Abscheu  gegen  Elend;  diese  Motive  aller  unserer 
Handlungen  sind  aber  nur  Richtungen  des  Begehrens  und  nicht  Eindrücke  auf  den 
Verstand.  Nur  diese  Motive  wirken  allgemein;  die  praktischen  Grundsätze  der  ein- 
zelnen Personen  und  ganzer  Nationen  sind  verschieden,  ja  einander  entgegengesetzt; 
soweit  sich  dabei  Uebereinstimmung  findet,  ist  dieselbe  darin  begründet,  dass  die 
Befolgung  gewisser  moralischer  Regeln  als  der  nothwendige  Weg  zum  Bestände  der 
Gesellschaft  und  zur  allgemeinen  Glückseligkeit  erkannt  wird,  und  dass  Erziehung, 
Umgang  und  Sitte  Gleichheit  der  moralischen  Ueberzeugungen  bewirkt,  was  um  so 
leichter  geschehen  kann,  da  der  noch  unachtsame  und  uueingeuommene  Verstand 
der  Kinder  alle  Sätze,  die  man  ihnen  als  Wahrheit  einprägt,  ebenso  aufnimmt,  wie 
unbeschriebenes  Papier  alle  beliebigen  Schriftzüge,  und  spater  diese  Sätze,  deren 
Ursprung  man  nicht  kennt,  heilig  gehalten  und  keiner  Prüfung  unterworfen  zu 
werden  pflegen.  Grundsätze  können  nicht  angeboren  sein,  wenn  die  Begriffe,  die 
in  sie  eiugehen,  nicht  angeboren  sind:  in  die  allgemeinsten  Sätze  gehen  die 
abstractesten  Begriffe  ein,  und  diese  sind  den  Kindern  die  feroliegendsten  und  un- 
verständlichsten, die  nur  durch  einen  hohen  Grad  von  Nachdenken  und  Aufmerk- 
samkeit richtig  gebildet  werden  können.  Begriffe,  wie  Identität  und  Verschieden- 
heit, Möglichkeit  und  Unmöglichkeit,  werden  so  wenig  bei  der  Geburt  auf  die  Welt 
gebracht,  dass  sie  im  Gegentheil  von  den  Empfindungen  des  Hungers  und  Durstes, 
der  Wärme  und  Kälte,  der  Lust  und  des  Schmerzes,  die  thatsächlich  die  frühesten 
sind,  am  allerweitesten  abliegen.  Auch  die  Gottesvorstellung  ist  nicht  angeboren. 
Nicht  alle  Nationen  haben  sie;  nicht  nur  die  Vorstellungen  der  Polytheisten  und 
Monotheisten,  sondern  auch  die  Gottesvorstellungen  verschiedener  Persouen,  die 
derselben  Religion  und  demselben  Lande  angehören,  sind  sehr  von  einander  rer- 
schieden.  Die  Spuren  der  Weisheit  und  Macht  offenbaren  sich  so  klar  in  den 
Werken  der  Schöpfung,  dass  kein  vernünftiges  Wesen,  wenn  es  sie  aufmerksam 
betrachtet.  Gott  verkennen  kann,  und  nachdem  einmal  durch  Nachdenken  über  die 
Ursachen  der  Dinge  von  Einzelnen  dieser  Begriff  erlangt  worden  war,  musste  der- 
selbe so  allgemein  einleuchten,  dass  er  nicht  mehr  verloren  gehen  konnte.  Wir  haben 
von  dem  Dasein  Gottes  übrigens  ein  sichereres  Wissen,  als  von  irgend  etwas,  das 
unsere  Sinne  nicht  unmittelbar  entdeckt  haben. 

Im  zweiten  Buche  sucht  Locke  positiv  nachzuweisen,  woher  der  Verstand 
seine  Vorstellungen  erhalte.  Er  nimmt  an,  die  Seele  sei  ursprünglich  gleich  einem 
weissen  unbeschriebenen  Papier  ohne  alle  Vorstellungen  (white-paper,  welches  in 
der  lateinischen  Uebersetzung  mit  tabula  rasa  wiedergegeben  wurde ;  letzterer  Aus- 
druck war  schon  im  Mittelalter,  nach  Prantl,  Gesch.  d.  Log.  III,  261,  zuerst  bei  Aegidius 
Romanus,  gebraucht  für  das  ygaufiareiov  <a  fiySev  vnäo^ti  fVuÄejf«/«  yeyQauuevoy, 
wie  der  yovs,  bevor  er  denkt,  von  Aristoteles  bezeichnet  wird,  s.  Grdr.  I,  7.  Aufl. 


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§  14.  Locke. 


S.  221).  Sie  erlangt  solche  durch  die  Erfahrung.  Alle  unsere  Erkenntniss  gründet 
sich  auf  die  Erfahrung  und  entspringt  aus  ihr.  Die  Erfahrung  ist  aber  eine  zwei- 
fache, eine  äussere  und  innere,  Sensation  und  Reflexion,  je  nachdem  sie  die 
äusseret),  wahrnehmbaren  Gegenstände  oder  die  inneren  Wirkungen  unseres  Geistes 
zum  Gegenstande  hat.  Die  Sinne  führen  von  den  äusseren  Objecten  dasjenige  in 
die  Seele,  was  in  dieser  die  Vorstellungen  von  dem  Gelben,  Weissen,  der  Hitze, 
der  Kälte,  der  Weichheit,  Härte,  Süssigkeit,  Bitterkeit  und  überhaupt  von  den  so- 
genannten sinnlichen  Beschaffenheiten  hervorbringt.  An  den  vorhandenen  Vor- 
stellungen werden  Wirkungen  (Operations)  des  Gemüths  in  uns  selbst  ausgeübt, 
welche  theils  Thätigkeiten ,  theils  passive  Zustände  sind;  wenn  die  Seele  diese 
Thätigkeiten  und  Zustände  beachtet  und  über  sie  reflectirt,  so  erhält  der  Verstand 
eine  andere  Reihe  von  Vorstellungen,  welche  nicht  von  den  Aussendingen  ent- 
springen können;  solche  Thätigkeiten  des  Gemüthes  sind  unter  andern  das  Wahr- 
nehmen, Denken,  Zweifeln,  Glauben,  Schlieseen,  Erkennen,  Wollen.  Aus  einer  dieser 
beiden  Quellen  stammen  alle  unsere  Begriffe  her.  Es  ist  demnach  durchaus  nicht 
zutreffend,  wenn  Locke  als  Vater  des  consequenten  Sensualismus  der  neueren  Zeit 
bezeichnet  wird.  Der  Satz:  Nil  est  in  intellectu,  quod  non  fuerit  in  sensu,  muss, 
um  für  Locke  gültig  zu  sein,  wenigstens  den  Zusatz  bekommen:  externo  et  interne 
Aber  den  vollen  Empirismus  vertritt  er,  indem  er  sagt,  dass  es  uns  unmöglich  ist, 
über  die  Vorstellungen  hinauszukommen,  welche  Sinnlichkeit  und  Reflexion  unserer 
Betrachtung  dargeboten  haben. 

Der  Mensch  fängt  an,  Vorstellungen  zu  haben,  wenn  er  den  ersten  Sinneneindruck 
empfängt;  schon  vor  der  Geburt  mag  er  wohl  Hunger  und  Wärme  empfinden.  Vor 
dem  ersten  sinnlichen  Eindruck  aber  denkt  die  Seele  ebensowenig,  wie  sie  später 
im  traumlosen  Schlafe  denkt.  Die  Behauptung,  dass  die  Seele  immer  denke,  ist 
eben  so  willkürlich,  wie  die,  dass  jeder  Körper  unablässig  in  Bewegung  sei. 

Unsere  Vorstellungen  sind  theils  e i n f a c h ,  theils  zusammengesetzt.  Von  den 
einfachen  Vorstellungen  kommen  einige  nur  vermittelst  Eines  Sinnes,  andere 
vermittelst  mehrerer  Sinne  in  die  Seele,  andere  erhält  sie  bloss  durch  die  Reflexion, 
wiederum  andere  endlich  bieten  sich  ihr  auf  jedem  Wege,  durch  die  Sinne  und 
durch  die  Reflexion  dar.  Durch  den  Sinn  des  Gefühls  erhalten  wir  die  Vorstellungen 
von  der  Hitze,  Kälte  und  Dichtheit,  ferner  von  der  Glätte  und  Rauhheit,  Härte 
und  Weichheit  und  andere,  durch  den  Sinn  des  Gesichts  die  Vorstellungen  vom 
Licht  und  von  den  Farben  etc.  Die  Vorstellungen,  welche  wir  durch  mehr  als  einen 
Sinn,  nämlich  durch  den  Gesichts-  und  den  Gefühlssinn,  erlangen,  sind  die  vom 
Raum  oder  der  Ausdehnung,  von  der  Gestalt,  Ruhe  und  Bewegung.  In  sich  selbst 
nimmt  das  Gemüth  durch  die  Reflexion  das  Vorstellen  (pereeption)  oder  Denken, 
und  das  Wollen  wahr.  (Locke  missbilligt  die  cartesianische  Zusammenfassung  des 
Denkens  und  Wollens  unter  cogitatio.)  Das  Vermögen,  zu  denken,  wird  Verstand, 
das  Vermögen,  zu  wollen,  Wille  genannt.  Sowohl  durch  die  Sinne,  als  durch  die 
Reflexion  werden  der  Seele  die  Vorstellungen  von  Vergnügen  oder  Lust,  von  Schmerz 
oder  Unlust,  Existenz,  Einheit,  Kraft  und  Zeitfolge  zugeführt. 

Die  meisten  sinnlichen  Vorstellungen  sind  eben  so  wenig  einem  ausser 
uns  existirenden  Dinge  ähnlich,  als  die  Worte  den  bezeichneten  Vorstellungen, 
obgleich  diese  durch  jene  hervorgerufen  werden,  in  den  Körpern  selbst  sind  wirklich 
und  von  ihnen  in  jedem  Zustande  unzertrennlich  folgende  Eigenschaften:  Grösse, 
Gestalt,  Zahl,  Lage,  Bewegung  oder  Ruhe  ihrer  dichten  (raumerfüllenden)  Theile. 
Diese  nennt  Locke  ursprüngliche  Eigenschaften  (original  qualities  oder 
primary  qualities),  auch  wohl  reale  Eigenschaften.  Sofern  wir  die  primären  Eigen- 
schaften wahrnehmen,  sind  unsere  Vorstellungen  von  denselben  Copien  dieser  Eigen- 
schaften selbst,  wir  stellen  dadnreh  das  Ding  so  vor,  wie  es  an  sich  ist.  Die  Körper 


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§  14.  Locke. 


121 


haben  aber  ferner  die  Kraft,  vermöge  gewisser  primitiver  Eigenschaften,  die  nicht 
als  solche  wahrnehmbar  sind,  auf  eine  solche  Weise  aaf  unsere  Sinne  zu  wirken, 
dass  sie  dadurch  die  Vorstellungen  von  Farben,  Tönen,  Gerüchen,  Wärmeempfin- 
dungen etc.  in  uns  hervorbringen.  Farben,  Töne  etc.  sind  nicht  in  den  Körpern 
selbst,  sondern  nur  in  der  Seele.  Wenn  man  von  ihnen  das  Vorgestelltwerden 
trennt,  wenn  die  Augen  nicht  das  Licht  oder  die  Farben  sehen,  die  Ohren  nicht 
die  Töne  hören,  der  Gaumen  nicht  schmeckt,  die  Nase  nicht  riecht,  so  verschwinden 
alle  Farben,  Töne,  Geschmacksempfindungen,  Gerüche.  Wärmeempfindungeu,  und  es 
bleibt  nichts  übrig,  als  das,  was  sie  verursachte,  nämlich  die  Grösse,  Gestalt  und 
Bewegung  der  Theile.  Die  Wärme  ist  eine  sehr  lebhafte  Bewegung  der  unwahr- 
nebmbaren  kleinsten  Theile  eiues  Gegenstandes,  welche  in  uns  diejenige  Empfindung 
hervorruft,  wegen  deren  wir  den  Gegenstand  als  warm  bezeichnen;  was  in  unserer 
Empfindung  als  Wärme  erscheint,  ist  im  Gegenstand  selbst  nur  Bewegung.  Locke 
nennt  die  Farben,  Töne  etc.  abgeleitete  oder  secundäre  Eigenschaften 
(secondary  qualities).  Alle  Vorstellungen  dieser  Klasse  sind  nicht  Copien  von 
gleichartigen  Eigenschaften  in  realen  Objecten,  so  wenig,  wie  das  Gefühl  von  Schmerz 
mit  der  Bewegung  eines  Stückes  Stahl  durch  empfindliche  Theile  eines  thierischen 
Körpers  hindurch  Aehnlichkeit  hat;  sie  werden  in  uns  durch  den  Stoss  erzeugt,  der 
sich  von  den  Körpern  aus  durch  unsere  Nerven  hindurch  bis  in  das  Gehirn  als  den 
Sitz  des  Bewusstseins,  gleichsam  das  Audienzzimmer  der  Seele,  fortpflanzt.  Wie 
dort  Vorstellungen  erzeugt  werden,  untersucht  Locke  nicht,  sondern  sagt  nur,  es 
sei  ohne  Widerspruch  denkbar,  dass  Gott  an  Bewegungen  auch  solche  Vorstellungen, 
die  mit  denselben  keine  Aehnlichkeit  haben,  geknüpft  habe.  Endlich  stellt  Locke 
noch  eine  dritte  Klasse  von  Eigenschaften  in  den  Körpern  auf,  nämlich  die  Kräfte 
der  Körper,  vermöge  der  besonderen  Beschaffenheit  ihrer  ursprünglichen  Eigen- 
schaften in  der  Grösse,  Gestalt,  Zusammensetzung  und  Bewegung  anderer  Körper 
solche  Veränderungen  hervorzubringen,  dass  diese  Körper  nun  unsere  Sinne  anders 
afficiren,  als  vorher;  er  rechnet  hierher  z.  B.  die  Kraft  der  Sonne,  das  Wachs  zu 
bleichen,  des  Feuers,  das  Blei  zu  schmelzen;  diese  Eigenschaften  werden  insbesondere 
Kräfte  genannt.*) 


*)  Es  ist  eine  ungerechtfertigte  partielle  Accommodation  Lockes  an  die  vulgäre 
Voraussetzung,  dass  Farben,  Töne  etc.  als  solche  in  den  unsere  Sinne  afficirendeu 
Körpern  seien,  wenn  er  dieselben  , secundäre  Eigenschaften"  nennt;  denn  Empfin- 
dungen, die  nicht  in  jenen  Körpern,  sondern  nur  in  den  empfindenden  Wesen  sind, 
können  überhaupt  nicht  Eigenschaften  jener  Körper,  also  auch  nicht  abgeleitete 
Eigenschaften  derselben  sein,  und  es  kann  den  Leser  nur  verwirren,  wenn  Locke, 
wänrend  er  diese  Einsicht  zu  begründen  sucht,  einen  Ausdruck,  der  eben  den  Irrthum 
involvirt,  welchen  er  zerstören  will,  sanetionirt  und  einen  Terminus  gebraucht,  der 
in  seinen  beiden  Bestandtheilen  die  Einsicht  mit  dem  Vorurtheil  auf  eine  unnatür- 
liche Weise  zusammenschmiedet.  (Doch  lässt  der  Ausdruck  eine  Deutung  zu,  in 
welcher  er  nichts  Irriges  involviren  würde,  wenn  er  nämlich  als  Abbreviatur  für 
, Eigenschaften  in  einem  secundären  Sinne"  aufgefasst  wird,  und  wenn  unter  .Eig.  im 
primären  Sinne'  solches  verstanden  wird,  was  den  Dingen  an  sich  selbst  zukommt, 
unter  „Eig.  im  secundären  Sinne"  aber,  freilich  sehr  uneigentlich,  solches,  was  in 
uns  durch  die  Dinge  angeregt  wird.)  Die  Unterscheidung  geht  auf  Aristoteles 
(de  anima  III,  1)  zurück;  doch  lehrt  Aristoteles  nicht  die  blosse  Subjectivität  der- 
jenigen Qualitäten,  welche  Locke  die  .secundären  nenut;  Demokrit  und  Descartes 
sind  in  dieser  Unterscheidung  Lockes  Vorgänger.  Die  Unterscheidung  hat  trotz 
Berkeleys ,  Humes  und  Kants  Bekämpfung  ihre  Berechtigung.  Doch  hat  Lockes 
Untersuchung  die  Mängel,  dass  die  objective  Realität  der  Ausdehnung  ohne  Beweis 
vorausgesetzt,  und  dass  die  Frage,  wie  Empfindungen  mit  Bewegungen  im  Gehirn 
zusammenhängen,  durch  Berufung  auf  Gottes  Allmacht  zur  Seite  geschoben  wird. 
Er  betrachtet  die  Seele  zu  sehr  als  passiv  bei  der  Perceptiou.  Die  Untersuchung 
selbst  über  das  Verhältniss  der  Sinneswahruehmungl  zu  der  die  Sinne  afficirenden 


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122 


§  14.  Locke. 


Bei  der  Erörterung  der  durch  Reflexion  gewonnenen  einfachen  Vorstellungen 
macht  Locke  manche  fruchtreichen  psychologischen  Bemerkungen.  Kr  untersucht  ins- 
besondere das  Vorstellungsvermögen  (perception),  das  Behaltuugsvermögen  (retention) 
und  das  Vermögen  des  Unterscheidens,  Verbiudens  und  Trennens  etc.  In  dem  Vor- 
8tellungsvermögen  erkennt  Locke  das  Merkmal,  durch  welches  das  Thier  und  der 
Mensch  sich  von  der  Pflanze  unterscheide.  Das  Behaltungsvermögen  (retention)  ist 
die  Fähigkeit  der  Aufbewahrung  der  Vorstellungen  theils  durch  andauernde  Be- 
trachtung, theils  durch  Wiedererneuerung  nach  ihrem  zeitweiligen  Entschwinden  aus 
dem  zum  gleichzeitigen  Festhalten  vieler  Vorstellungen  zu  beschränkten  mensch- 
lichen Verstände;  es  kommt  schon  den  Thieren,  und  zum  Theil  in  gleichem  Grade 
wie  den  Menschen,  zu.  Locke  hält  für  wahrscheinlich,  dass  die  Beschaffenheit  des 
Körpers  grossen  Einfluss  auf  das  Gedächtniss  habe,  da  oft  die  Fieberhitze  anscheinend 
feste  Gedächtnissbilder  austilge.  Die  Vergleichung  der  Vorstellungen  unter  ein- 
ander aber  wird  von  den  Thieren  nicht  auf  eine  eben  so  vollkommene  Art,  wie  von 
den  Menschen  geübt.  Das  Vermögen,  Vorstellungen  mit  einander  zu  verbinden, 
haben  Thiere  nur  in  geringem  Grade.  Dem  Menschen  eigentümlich  ist  das  Ver- 
mögen der  Abstraction,  wodurch  die  Vorstellungen  einzelner  Objecte,  von  allen 
zufälligen  Beschaffenheiten  der  realen  Existenz,  wie  Zeit  und  Raum,  und  allen  be- 
gleitenden Vorstellungen  abgesondert,  zu  allgemeinen  Begriffen  der  ganzen  Gattung 
werden  und  ihre  sprachlichen  Zeichen  eine  allgemeine  Anwendbarkeit  auf  alles,  was 
mit  dieseu  abstracten  Begriffen  einstimmig  ist,  erhalten. 

Die  einfachen  Vorstellungen  sind  die  Bestandteile  der  zusammengesetzten. 
Während  die  Seele  bei  der  Aufnahme  der  ersteren  sich  leidend  verhält,  ist  sie  bei 
der  Bildung  der  letzteren,  auch  bei  Abstraction,  Vergleichung,  Erinnerung  selbst- 
tätig, ja  sie  verfährt  bei  diesen  Processen  sogar  willkürlich.  Die  zusammen- 
gesetzten Vorstellungen  führt  Locke  auf  drei  Klassen  zurück:  es  werden  durch 
sie  entweder  Modi  oder  Substanzen  oder  Relationen  vorgestellt.  Die  Modi  sind 
zusammengesetzte  Begriffe,  welche  nichts  für  sich  Bestehendes  enthalten.  Sie  sind 
reine  Modi  (simple  modes)  oder  Modifikationen  einfacher  Vorstellungen,  wenn  ihre 
Bestandteile  einander  gleichartig,  gemischte  Modi  (mixed  modes),  wenn  ihre  Be- 
standteile einander  ungleichartig  sind.  Die  Begriffe  von  Substanzen  sind  solche 
Verbindungen  einfacher  Vorstellungen,  welche  gebraucht  werden,  um  Dinge,  die 
für  sich  bestehen,  vorzustellen.  Die  Verhältnissvorstellungen  bestehen  in  der 
Vergleichung  einer  Vorstellung  mit  einer  andern.  Zu  den  reinen  Modal  begriffen 
gehören  die  Modificationen  des  Raumes,  der  Zeit,  des  Denkens  etc.;  eben  hierher 
gehört  auch  der  Begriff  des  Vermögens.  Die  tägliche  Erfahrung  von  der  Verände- 
rung der  Gegenstände  der  einfachen  Vorstellungen  an  Ausseudingen,  die  Bemerkung, 
duss  hier  ein  Ding  aufhört  zu  sein,  dort  ein  anderes  an  seine  Stelle  tritt,  die  Be- 
obachtung des  beständigen  Wechsels  der  Vorstellungen  in  dem  Gemüthe,  welcher 
theils  von  den  Eindrücken  äusserer  Objecte,  theils  von  unserer  eigenen  Wahl  ab- 


objectiven  Realität,  worin  Locke  grossentheils  sich  an  Descartes  anschliesst,  ist  von 
fundamentalem  Interesse;  Leibniz  und  Kant  haben  ihre  Bedeutung  gewürdigt,  Hegel 
aber  hat  dieselbe  verkannt  und  die  lockesche  Philosophie  überhaupt  ebenso  wie  den 
kantischen  Kriticismus  darum  schief  aufgefasst,  weil  er  den  Gegensatz  des  Ansich- 
seins  und  unserer  Auffassung  mit  dem  Gegensatze  des  Essentiellen  und  Accidentiellen 
in  den  Objecten  zusammenwirft.  —  Die  Ausdrücke:  Qualitates  primae  und 
secundae  waren  schon  bei  den  Scholastikern  üblich;  so  sagt  Bartholomaeus  Arnoldi 
Usingensis  (gest.  1532):  qualitates  primae  Bunt  a  quibus  aliae  fluunt  et  sunt  quatuor: 
caliditas  et  frigiditas,  siccitas  et  humiditas.  —  Secundue  sunt  quae  ab  aliis  fluunt. 
Sie  wurden  von  Rob.  Boyle  auf  die  verschiedenartigen  Qualitäten  Descartes'  über- 
tragen und  von  Locke  dann  aufgenommen  (s.  Eucken,  Gesch.  der  philos.  Terminol.. 
S.  1%). 


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§  14.  Locke. 


123 


hängt,  alles  dieses  leitet  den  menschliehen  Verstand  auf  den  Schluss.  dass  eben 
dieselben  bisher  beobachteten  Veränderungen  auch  in  der  Zukunft  au  denselben 
Objecten  durch  dieselben  Ursachen  und  auf  dieselbe  Weise  stattfinden  werden;  er 
denkt  sich  demnach  in  dem  einen  Wesen  die  Möglichkeit,  dass  die  einfachen 
Merkmale  desselben  wechseln  und  in  dem  andern  die  Möglichkeit,  diesen  Wechsel 
hervorzubringen,  und  kommt  hierdurch  auf  den  Begriff  von  einem  Vermögen.  Das 
Vermögen  ist  leidendes  Vermögen  als  Möglichkeit,  eine  Veränderung  anzunehmen, 
thätiges  Vermögen  oder  Kraft  (power)  aber  als  Möglichkeit,  eine  Veränderung  zu 
bewirken.  Den  klarsten  Begriff  von  thätigem  Vermögen  erhalten  wir  durch  das 
Achten  auf  die  Thätigkeiten  unseres  Geistes.  Die  innere  Erfahrung  lehrt  uns,  dass 
wir  durch  ein  blosses  Wollen  ruhende  Glieder  des  Körpers  in  Bewegung  setzen 
können.  Wenn  die  Substanz,  welche  eine  Kraft  besitzt,  dieselbe  durch  eine  Handlung 
äussert,  so  heisst  sie  Ursache;  was  sie  hervorbringt,  heisst  Wirkung.  Ursache  ist 
das,  was  macht,  dass  ein  Anderes  zu  sein  aufangt,  Wirkung  das.  was  durch  ein 
Anderes  entstanden  ist. 

Indem  dem  Verstände  eine  grosse  Anzahl  von  einfachen  Vorstellungen  durch 
Sensation  und  Reflexion  zugeführt  werden,  bemerkt  er  auch,  dass  eine  gewisse 
Zahl  einfacher  Vorstellungen  immer  mit  einander  vergesellschaftet  ist;  da  wir  uns 
nun  das,  was  durch  dieselben  vorgestellt  wird,  nicht  als  an  sich  subsistirend  denken 
können,  so  gewöhnen  wir  uns,  ein  Substrat  vorauszusetzen,  in  welchem  dasselbe 
bestehe  und  woher  es  entspringe;  dieses  Substrat  nennen  wir  eine  Substanz.  Die 
allgemeine  Vorstellung  der  Substanz  enthält  nichts,  als  die  Annahme  eines  un- 
bekannten Etwas,  welches  den  Eigenschatten  zu  Grunde  liege.  Die  Eigenschaften 
eines  Dinges  machen  dann  die  wahre  Vorstellung  der  betreffenden  Einzelsubstanz 
aus,  aber  die  zusammengesetzte  Vorstellung  einer  bestimmten  Substanz  hat  neben 
diesen  sie  bildenden  einfachen  Vorstellungen  allemal  auch  die  verworrene  Vor- 
stellung von  etwas,  dem  jene  angehören,  in  dem  sie,  als  der  unbekannten  Ursache 
ihrer  Einheit,  zusammen  bestehen.  So  ist  der  Körper  ein  ausgedehntes,  gestaltetes 
und  bewegliches  Ding,  aber  man  stellt  sich  unter  der  Substanz  neben  diesen  Eigen- 
schaften immer  noch  etwas  Besonderes  vor,  von  dem  man  freilich  nicht  weiss,  was 
es  ist.  Ebensowenig  wie  von  der  materiellen  hat  man  von  der  geistigen  einen 
klaren  Begriff.  Man  hält  die  Thätigkeiten  der  Seele  wie  Denken,  Fürchten  u.  s.  w. 
nicht  für  selbständig,  man  kann  auch  nicht  annehmen,  dass  sie  dem  Körper  zu- 
kommen, deshalb  schreibt  man  sie  einer  andern  Substanz,  die  man  Geist  nennt,  zu. 
Wir  haben  keinen  Grund,  geistige  Substanzen  für  unmöglich  zu  halten.  Leugneten 
wir  sie,  so  müssten  wir  aus  denselben  Gründen  die  körperlichen  Substanzen  leugnen.*) 
Andererseits  wäre  jedoch  auch  nicht  undenkbar,  dass  Gott  die  Materie  mit  der 
Fähigkeit,  zu  denken,  begabt  habe.  Die  ersten  Vorstellungen,  die  man  vom  Körper 
hat,  sind  der  Zusammenhang  dichter  und  damit  trennbarer  Theile  und  ein  Ver- 
mögen, die  Bewegung  durch  Stoss  mitzutheilen,  unsere  Vorstellungen  vom  Geiste, 
die  ihm  eigenthümlich  zugehören,  sind  Denken  und  Wollen,  oder  das  Vermögen, 


*)  Locke  legt  nicht  dem  Verstand  eine  durch  den  Substanzbegriff  geübte  Herr- 
schaft über  die  Dinge  bei;  er  spricht  ja  ausdrücklich  gerade  darum  dem  Substauz- 
begriff  nur  geringen  Werth  für  die  Erkenntniss  zu,  weil  derselbe  nicht  zureichend 
empirisch  basirt  sei.  Soweit  der  Substanzbegriff  ohne  empirischen  Grund  gebildet 
ist,  ist  die  Wahrheit  desselben,  d.  b.  die  Uebereiustimmung  mit  der  objectiven 
Realität,  zweifelhaft.  —  Die  Annahme  aber,  dass  es  von  dem  Geiste  unabhängige 
Aussendinge  gebe,  hängt  nicht  von  der  Gültigkeit  des  Substanzbegriffs  ab;  sie  be- 
steht auch  dann,  wenn  die  Aussendinge  nur  Complexe  von  ausserhalb  unseres 
Geistes  für  sich  bestehenden  Eigenschaften  sind,  die  in  Verbindung  mit  einander 
existiren. 


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124 


§  14.  Locke. 


die  Körper  durch  Denken  zu  bewegen,  und  Freiheit,  aber  der  Zusammenhang  dichter 
Theile  im  Körper  ist  ebensowenig  zu  begreifen  wie  das  Denken  der  Seele,  die 
Mittheilung  der  Bewegung  ebensowenig  wie  die  Bewegung  durch  Denken.  Neben 
diesen  beiden  Arten  von  Substanzen,  den  körperlichen  und  den  geistigen,  haben 
wir  noch  die  Vorstellung  einer  dritten,  nämlich  die  von  Gott.  Kraft,  Dauer,  Ver- 
stand und  Willen  werden  in  das  Unendliche  gesteigert,  und  so  gelangen  wir  zu 
der  Vorstellung  Gottes.  Da  wir  aber  eine  deutliche  Krkenntniss  der  Substanzen 
nicht  haben,  so  leugnet  Locke  die  Möglichkeit  einer  Metaphysik,  sei  es  als  Psycho* 
logie,  Kosmologie  oder  Theologie  und  greift  Kant  so  vor,  obgleich  er  der  specu- 
lativen  Bearbeitung  des  durch  die  Erfahrung  gewonnenen  Materials  volles  Recht 
einräumt  Ausser  den  zusammengesetzten  BegrifFen  von  einzelnen  Substanzen  kom- 
men in  dem  Verstände  noch  zusammengesetzte  collective  Begriffe  von  Substanzen 
vor,  wie  Heer,  Flotte,  Stadt,  Welt;  diese  collectiven  Begriffe  bildet  die  Seele  durch 
ihr  Verbindungsvermögen.  Aus  der  Vergleichung  mehrerer  Dinge  mit  einander 
entspringen  die  Verhältnissbegriffe;  zu  denselben  gehören  die  Begriffe  von 
Ursache  und  Wirkung,  Zeit-  und  Ortsverhältnissen,  Identität  und  Verschiedenheit, 
Graden,  moralischen  Verhältnissen  etc. 

Im  dritten  Buche  des  Versuchs  über  den  menschlichen  Verstand  handelt 
Locke  von  der  Sprache,  im  vierten  Buche  von  der  Krkenntniss  und  Meinung. 
Die  Worte  sind  Zeichen,  die  Gemeinnamen  gemeinsame  Zeichen  für  vorgestellte 
Objecte.  Wahrheit  und  Falschheit  ist  streng  genommen  nur  in  Urtheileu,  nicht  in 
einzelnen  Vorstellungen.  Sätze,  wie  der  des  Widerspruchs,  dienen  der  Disputirkunst, 
aber  nicht  der  Krkenntniss.  Sätze,  die  ganz  oder  theilweise  identisch  sind,  belehren 
nicht.  Wir  erkennen  uns  selbst  durch  innere  Wahrnehmung  und  Gott  durch  den 
Schluss  vom  Existirenden  auf  eine  erste  Ursache,  von  denkenden  Wesen  (und  zum 
mindesten  unser  eigenes  Denken  ist  uns  zweifellos  gewiss)  auf  ein  erstes  und  ewiges 
denkendes  Wesen  mit  voller  Evidenz,  die  Aussenwelt  aber  mit  geringerer  Evidenz; 
jenseits  der  Vernunfterkenntniss  liegt  der  Glaube  an  göttliche  Offenbarungen;  für 
Offenbarung  kann  jedoch  nichts  gelten,  was  gesicherter  Vernunfterkenntniss  wider- 
streitet.  Dagegen  giebt  es  im  Christenthum  Ueberveruünftiges. 

Gut  und  Uebel  sind  nur  Lust  und  Schmerz,  oder  das,  was  diese  verschafft.  Das 
sittlich  Gute  und  Schlechte  ist  die  Uebereinstimmung  oder  Nichtübereinstimmung 
unserer  freiwilligen  Handlungen  mit  dem  Gesetz,  wobei  wir  uns  nach  dem  Willen 
des  Gesetzgebers  Gutes  oder  Uebles  zuziehen,  d.  h.  Lust  oder  Schmerz;  diese  heissen 
dann  Lohn  oder  Strafe.  So  gründet  sich  die  Sittlichkeit  auf  Lust  und  Schmerz, 
d.  h.  auf  die  Folgen  unserer  Handlungen.  Die  Gesetze,  nach  denen  die  Menschen 
Recht  und  Unrecht  unterscheiden,  sind  das  göttliche,  das  bürgerliche  und  das  der 
öffentlichen  Meinung,  der  Achtung  und  Verachtung.  Das  erste  ist  der  Maassstnb 
für  die  Sünde  und  die  Pflicht,  es  wird  also  von  diesem  die  Verpflichtung  abgeleitet, 
mag  uns  dieses  Gesetz  nun  durch  das  Licht  der  Natur  oder  durch  die  Stimme  der 
Offenbarung  mitgetheilt  sein.  Das  zweite  ist  der  Maassstab  für  Verbrechen  und 
Unschuld,  das  dritte,  das  Locke  auch  das  philosophische  Gesetz  oder  das  der  Mode 
nennt,  ist  der  Maassstab  für  Tugend  und  Laster.  Durch  dies  letzte  Gesetz  lassen 
sich  die  meisten  Menschen  hauptsächlich,  wenn  nicht  ausschliesslich  bestimmen, 
indem  sie  die  Strafen  für  die  Uebertretung  des  göttlichen  Gesetzes  nicht  ernstlich 
bedenken  und  ebensowenig  die  von  den  bürgerlichen  Gesetzen  angedrohten.  Der 
Achtung  erfreut  eich  aber  das,  was  jeder  überall  als  für  sich  nützlich  ansieht.  Da 
nun  nichts  in  der  Welt  das  Wohl  der  Menschen  so  fördert  als  der  Gehorsam  gegen 
das  von  Gott  gegebene  Gesetz,  so  muss  Achtung  und  Verachtung  im  Grossen  und 
Ganzen  mit  den  Regeln  des  Rechten  und  Unrechten,  die  von  Gott  in  der  Offen- 
barung gegeben  sind,  übereinstimmen.    Abweichungen  im  Einzelnen  finden  sich 


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§  14  Locke. 


125 


allerdings;  daher  kommen  die  verschiedenen  Sitten  bei  den  verschiedenen  Völkern  und 
zu  verschiedenen  Zeiten. 

Die  Aeusserungen  Lockes  über  religiöse,  pädagogische  und  politische 
Fragen  bekunden  einen  edlen  und  humanen  Sinn  und  haben  zur  Milderung  mancher 
traditionellen  Härten  wesentlich  beigetragen.  Inconsequenterweise  gesteht  Locke 
den  Atheisten  keine  Gewissensfreiheit  zu  und  bricht  dadurch  selbst  die  Kraft  seiner 
philosophischen  Argumente  für  die  Toleranz.*) 

Lockes  philosophische  Bedeutung  knüpft  sich  zumeist  an  die  Untersuchung 
über  den  menschlichen  Verstand,  die  der  Ausgangspunkt  der  empiristischen  Richtung 
der  Philosophie  des  achtzehnten  Jahrhunderts  in  England,  Frankreich  und  Deutsch- 
land geworden  ist,  über  den  Scholasticismus  und  Cartesianismus  den  Sieg  davontrug, 
in  Deutschland  aber  zumeist  durch  den  I^eibnizianismus  eingeschränkt  wurde. 
Spinozas  Einheitslehre,  welche  die  Ordnung  der  Gedanken  mit  der  Ordnung  der 
Dinge  unmittelbar  gleichsetzt,  erhielt  durch  Lockes  auf  die  Erkenntnissgrenzeu  des 
Subjects  gerichtete  Forschung  ihr  unabweisbares  Complement.  Leibniz,  der  gegen 
Locke  die  Nouveaux  essais  9ur  l'eutendement  humain  schrieb,  hat  doch  die  Wichtig- 
keit der  lockeschen  Forschung  anerkannt,  obschon  er  die  Prüfung  unserer  Erkennt- 
nisskraft nicht  für  die  erste,  alle  anderen  philosophischen  Untersuchungen  bedingende 
Aufgabe  der  Philosophie  hielt,  sondern  für  eine  solche,  die  mit  Erfolg  nur  dann 
behandelt  werden  könne,  wenn  vorher  schon  manches  Andere  festgestellt  sei;  in 
ähnlicher  Art  hat  in  der  nachkantischen  Zeit  wiederum  Herbart  geurtheilt.  Kaut 
dagegen  ist  als  Begründer  des  K  riticismus  zu  der  lockeschen  Ueberzeugung  zurück- 
gekehrt, dass  die  Untersuchung  über  den  Ursprung  und  die  Grenzen  unserer  Er- 
kenntniss  für  die  Philosophie  von  fundamentaler  Bedeutung  sei,  hat  aber  diese 
Untersuchung  in  einem  zwar  vielfach  durch  Lockes  Vorgang  bedingten,  jedoch 
sowohl  in  dem  Gang,  wie  in  dem  Ergebniss  wesentlich  verschiedeneu  Sinne  geführt. 
Hegel  misst  der  Untersuchung  über  den  Ursprung  der  Erkenntniss  nur  eine  unter- 
geordnete Bedeutung  bei,  erkennt  eine  Grenze  der  philosophischen  Erkenntniss 
principiell  nicht  an,  hält  die  menschliche  Vernunft  für  wesentlich  identisch  mit  der 
aller  Wirklichkeit  innewohnenden  Vernunft  und  will  nicht  psychologisch  den  Ursprung 
der  Begriffe,  sondern  dialektisch  ihre  Bedeutung  und  ihr  System  ermitteln;  er 
billigt,  dass  nicht  bei  der  blossen  Definition  der  einzelnen  Begriffe  stehen  geblieben, 
sondern  ein  Zusammenhang  aufgesucht  werde,  hält  aber  die  psychologische  Erforschung 
der  Genesis  der  Begriffe  im  denkenden  Subject  für  eine  blosse  Veräusserlichung  der 
philosophischen  Aufgabe,  die  in  der  dialektischen  Begriffsentwickelung  liege.  Das 
hegelsche  Urtheil  würde  richtig  sein,  wenn  zwischen  dem  (objectiven)  Dasein  und 
dem  (subjectiven)  Bewusstsein  nur  Uebereinstimmung  und  nicht  auch  Discrepanz  in 
wesentlichen  Beziehungen  bestände;  ist  die  Uebereinstimmung  eine  durch  stufen- 
weise Annäherung  zu  erreichende  Aufgabe,  so  hat  auch  die  Kritik  der  menschlichen 
Erkenntnisekraft  eine  wesentliche  philosophische  Bedeutung,  und  Locke  wird  nicht 
von  dem  Vorwurf  getroffen,  dass  er  eine  unphilosophische  oder  wenig  philosophische 
Betrachtung  an  die  Stelle  einer  allein  wahrhaft  philosophischen  gesetzt  habe.  Mit 
Hecht  aber  kann  geurtheilt  werden,  dass  er  nicht  die  ganze  philosophische  Auf- 
gabe, soudern  nur  den  einen  Theil  derselben  zu  lösen  unternommen  habe. 


*)  Denn  es  verschlägt  praktisch  wenig,  ob  einer  Richtung  auf  Grund  ihres 
uach  fremdem  Urtheil  falsch  religiösen  oder  ihres  nach  fremdem  Urtheil  irreli- 
giösen Charakters  die  Duldung  versagt  wird;  den  Christen  ist  als  , Atheisten"  mit 
formeller  Aufrechterhaltung  des  Princips  der  Religionsfreiheit  die  gesetzliche 
■Existenzberechtigung  abgesprochen  worden.  Gesetzeszwang  kann  uicht  die  Ueber- 
zeugung bewirken,  ohne  welche  das  Bekenntniss  Heuchelei  wäre. 


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126 


§  15.   Berkeley  u.  a.  engl.  Philosophen. 


§  15.  An  Locke  anknüpfend  und  dessen  Ansichten  zum  Theil 
consequent  weiter  führend,  hat  Berkeley  (1685 — 1753)  durch  die 
Behauptung,  dass  nur  Geister  und  deren  Ideen  (Vorstellungen,  nebst 
Willensacten)  existiren,  einen  Idealismus  oder  Pbaenomenalismus  oder 
lmmaterialismus  ausgebildet.  Nach  ihm  bringen  nicht  reale  Aussen- 
dinge unsere  Vorstellungen  als  ihre  Abbilder  hervor.  Ungleichartiges 
könnte  nicht  auf  Ungleichartiges  wirken.  Aber  dennoch  sollen  die 
wirklichen  Vorstellungen,  Wahrnehmungen  nicht  aus  uns  entstehen, 
sondern,  da  sie  gesetzmässig  sind,  unwiderstehlich  auf  uns  einwirken, 
müssen  sie  eine  äussere  Ursache  haben.  Diese  ist  der  unendliche  Geist, 
d.  h.  die  Gottheit.  Dagegen  nähert  sich  einer  materialistischen  Psycho- 
.  logie  Hartley,  von  dem  die  englische  Associations-Psychologie 
ausgegangen  ist.  Er  nahm  freilich  nur  den  vollen  Parallelismus 
zwischen  psychischen  und  physischen  Vorgängen  an.  Entschiedener 
Materialist  auf  psychologischem  Gebiet  war  Pries tley,  der  jedoch 
ebenso  wie  Hartley  theologische  Ueberzeugungen  damit  zu  vereinigen 
wusste.  Newton  hielt  sich  philosophischen  Fragen  ferner,  erachtete 
aber  den  teleologischen  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  als  ausreichend. 

G.  Berkeley,  Theory  of  vision,  Dublin  1709,  auch  Lond.  1711  u.  1733  u.  in  den 
Werken:  Treatisc  on  the  prineiples  of  human  knowledge.  Dublin  1710  u.  ö., 
deutsch  von  F.  Ueberweg  in  der  „pUL  Bibl.*,  Berlin  1869.  Three  dialogues  between 
Hylas  and  Philonous,  Lond.  1713  u.  ö.,  franz.  AniKt.  1750,  deutseh  (als  1.  Theil  einer 
Ucbers.  der  Werke,  wovon  aber  nicht  mehr  erschienen  ist),  Leipz.  1781  (auch  schon 
Rostock  1756,  s.  u.1.  Alciphron  or  the  minute  philosopher,  London  1732,  franz.  Haye 
1734,  deutsch  von  W.  Kahler,  Lemgo  1737.  Siris,  London  1744.  Miscellanies,  Lond. 
1752.  Sammig.  d.  vornehmst.  Schriftsteller,  die  d.  Wirklichk.  ihr.  eig.  Körp.  u.  d. 
ganz.  Körperwelt  leugn.,  enthaltend  Berkeleys  Gespräche  zw.  Hylas  und  Philonous  (nach 
der  franz.  Uebers.  verdeutscht)  und  Colliers  Allgemeinen  Schlüssel  (Clavis  universalis 
or  a  new  inquiry  after  thruth,  by  Collier,  Lond.  1713),  übers,  und  widerlegt  von  Joh. 
Christ.  Eschenbach,  Rostock  1756.  The  works  of  G.  Berkeley  (nebst  seiner  Biogr. 
v.  Arbuthnot),  Lond.  1784,  wiederabg.  1820  u.  1843;  Works,  ineluding  many  of  his 
writings  hitherto  unpublished,  with  prefaee,  annotations,  life  and  lettres,  and  an  account 
of  his  philosophy  by  Alex.  Campbell  Fräser,  4  vol.,  London  1871.  Selections  from 
Berkeley,  with  introduction  and  notes  by  AI.  Campbell  Fräser,  2.  ed.  Lond.  1879.  Zur 
Erläuterung  der  b.sehen  Ansichten  dienen  u.  a.  Aufsätze  in:  Lectures  on  Greek  philosophy 
and  other  philos.  remains  of  J.  F.  Ferrier,  cd.  by  Grant  and  Lushington,  Lond.  1866, 
ferner  Thum.  Collyns  Simon,  on  the  nature  and  elements  of  the  external  world,  or 
universal  immaterialism,  fullv  explained  and  newlv  demonstrated,  London  1802;  vgl. 
mehrere  Abhandlungen  desselben  in  verschiedenen  Zeitschriften,  insbcs.  B.s  doctrine  on 
the  nature  of  Matter,  in:  the  Journal  of  specul.  philos.  III,  4.  Dec.  18G9.  S.  3:SG— 344; 
is  thought  the  thinker?  ebd.  S.  375  f.;  Ueberweg,  ist  B.s  Lehre  wissenschaftL  unwider- 
legbar? (Sendschreiben  an  Simon)  in  Fichtes  Z.  f.  Ph.,  Bd.  55,  1809;  Simons  Antwort, 
nebst  Ulricis  Anmerkung,  ebd.  Bd.  67,  1870;  Ueberwegs  kurz.  Schlusswort,  ebd. 
Bd.  59,  1871.  R.  Hoppe  u.  IL  Ulriei,  ebd.,  Bd.  58  u.  59,  1871.  Hoppe,  zu  Ueberwegs 
Kritik  der  b.schen  Lehre,  in  d.  philos.  Monat*h.,  VII.  385—392.  Thom.  K.  Abbot, 
sight  and  touch,  an  attempt  to  disprove  the  reecived  (Berkeleian)  theorv  of  vision, 
Lond.  1864  (vgl.  Ulriei  in  d.  Ztschr.  f.  Philos.,  N.  F..  Bd.  54,  1869,  S."  166—188). 
Thom.  Doubleday,  matter  for  materialists,  letters  in  vindication  of  prineiples  regard. 
the  nature  of  exbtenee  of  Berkeley,  Newcastle  1870.  F.  Frederichs,  üb.  B.s  Idealismus, 
Realschul-Progr.,  Berl.  1870,  d.  phänomenale  Idealism.  B.s  u.  Kants,  1871.  Charl.  R. 
Teape,  Berkeleian  Philosophy,  Gört.  Diss.,  1871.  Geo.  Colborne,  B.s  Phil.,  Inaug.  D., 
Münch.  1873.  A.  Smirnow,  die  Philos.  B.s  (russ.),  Warech.  1874.  G.  Spicker,  Kant, 
Hume  u.  Berkeley,  eine  Kritik  der  Erkenntnisstheorie,  Berl.  1875.    A.  Penjou,  Etüde 


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§  15.   Berkeley  u.  a.  engl.  Philosophen. 


127 


sur  la  Tie  et  sur  les  oeuvres  philosophiques  de  G.  Berkeley,  eveque  de  Cloyne,  These 
presentee  ä  la  faeulte  des  lettre«  de  Pari«,  Pari»  1878.  "  J.  Janitsch,  Kant»  Urtheile 
fib.  B.  Strassb.,  1879.  A.  C.  Fräser,  Berkeley  (philosoph.  classic*),  Kdinb.  and 
Lond.  1881.    C.  R.  Teape,  Berkeleian  philosophy,  Gött.  I.D.,  Kdinb.  s.  a. 

A.Collier,  clavis  universalis  or  a  new  inquiry  afier  trutb,  bring  a  demonstration 
of  the  non-existenee  or  impossibility  of  an  external  World,  Lond.  1713,  deutsch  v.  Kschen- 
bach,  Rostock  1750  (s.  o.  S.  126),  engl,  auch  in  der  von  Sa  in.  Parr  edirt.  Samml.: 
Metaph.  tracts  by  Knglish  philosophers  of  the  eighteenth  Century,  Lond.  1837.  Ueber  ihn 
handeln  Rob.  Benstin,  London  1837.  Geo.  Lyon,  un  idealis:e  Anglais  au  XVIIP  S.,  in: 
Rev.  phil.,  1880.  Bd.  10,  S.  375—305. 

D.  Hartley,  Conieeturae  quacdam  de  motu,  sensus  et  idearum  generatione,  London 
1746;  Observation«  on  man,  bis  frame,  his  duty  and  bis  expectations,  Lond.  1749, 
6.  edit-,  1834;  deutseh  (von  v.  Spieren)  u.  m.  Anm.  u.  Zustz.  (von  IL  A.  Pistorius), 
Rostock  u.  Lpz.  1772 — 73.  S.  Geo.  Spencer  Bower,  Hartley  and  James  Mill  (Engl, 
philosophers),  Lond.  1881.  Bruno  Schoenlank,  Hartlev  u.  Priestley  die  Begründer  des 
Associationismus  in  Engl.,  In.  Diss.,  Halle  1882. 

J.  Priestley,  Hartley's  Theory  of  human  mind  on  the  principles  of  the  Association 
of  ideas,  Lond.  1775.  Disquisitions  relating  to  matter  and  spirit,  Lond.  1777,  the 
doctrine  of  philosophical  necessity,  Lond.  1777,  free  discussions  of  the  doctrines  of 
materialism.  Ixmdon  1778.  Priestley  wurde  bekämpft  von  dem  Platoniker  Richurd 
Price,  1723 — 1791,  in  dessen  Letter»  on  materialism  and  philos.  necessitv,  Lond. 
1778.  Ueb.  Priestley  handelt  J.  Carry,  the  life  of  Jos.  Priestley  with  critieal  obser- 
vations  on  his  works  etc.,  London  1804,  ferner  H.  Lt»rd  Brougbam  in  seinen  lives  of 
philosophers  of  the  time  of  George  III.  (Works  Vol.  1,  Kdinb.  1872,  S.  68—90.)  Bruno 
Schoenlank,  s.  b.  Hartley. 

Ib.  Newton,  naturalis  philosophiae  prineipia  mathematica,  Lond.  1687,  auch  1713, 
1726  u.  ö.,  deutsch  m.  Benierkgn.  u.  Erläutergn.,  hrsg.  v.  J.  Ph.  Wolfers,  Berl.  1872; 
treatise  of  optic,  London  1704  u.  ö.;  opera  ed.  Horsley,  Lond.  1779.  l'eber  ihn  han- 
delt Dav.  Brewster.  Kdinb.  1831,  deutsch  von  Goldberg,  Lpz.  1833;  Memoirs  of  the 
life,  writings  and  discoveries  of  Sir  J.  N.,  Edinb.  1855.  Vgl.  auch  K.  Snell,  N.  u.  d. 
mechanisch.  Natunvissenseh.,  Dresd.  u.  Lpz.  1843.  E.  F.  Apelt,  d.  Epochen  der  Gesch. 
d.  Menschh.,  Jena  1845.  A.  Struve.  N.s  naturphil.  Ansichten,  G.  Pr.,  Sorau  1869. 
J.  Durdik,  Leibniz  u.  N.,  Halle  1869.  C.  Neumann,  üb.  d.  Principien  der  Galilei- 
Newtonsch.  Theorie,  Lpz.  1870.  K.  Dieterich,  Kant  u.  N..  Tübing.  1877.  S.  auch 
Ludw.  Lange,  die  geschichtl.  Kntwickel.  des  Bewegungsbegriffs,  Lpz.  1886,  S.  47 
bis  72. 

Unter  den  Fortbildnern  der  theoretischen  Philosophie  Lockes  in  seinem  Vater- 
lande ist  von  hervorragender  Bedeutung  der  Begründer  eines  universellen  Imrnateria- 
lismus  (Idealismus  oder  Phaenomenalismns),  George  Berkeley,  geb.  zu  Killerin 
nahe  bei  Thomaatown  in  Irland  am  12.  März  1685,  von  1728—31  in  Rhode-Island, 
um  Christenthum  und  Civilisation  daselbst  zu  verbreiten,  seit  1734  Bischof  zu 
Cloyne,  gest.  zu  Oxford  am  14.  Jan.  1753.  Nicht  nur  in  Theologie  und  Philosophie 
war  er  wohlbewandert,  sondern  beinahe  auf  allen  Gebieten  des  menschlichen  Wissens, 
namentlich  auch  in  den  Naturwissenschaften,  hatte  er  ernste  Stadien  gemacht,  wie 
seine  Theorie  des  Sehens  zeigt,  in  der  er  den  neueren  Ansichten  über  das  Sehen 
schon  nahe  kommt,  seine  spätere  philosophische  Lehre  aber  noch  nicht  vorträgt. 
An  Formvollendung  wird  über  seine  übrigen  Schriften  gestellt  Alciphrou.  Gespräche, 
in  denen  er  die  Freidenker  angriff,  besonders  Mandeville  (geb.  1670  zu  Dordrecht, 
lebte  als  Arzt  zu  London,  gest.  1733).  Dieser  hatte  in  seiner  Schrift:  the  fable  of 
the  bees,  or  private  vices  made  public  benefits,  London  1714  u.  1719,  den  Nutzen 
privater  Laster,  z.  B.  des  Luxns,  für  das  allgemeine  Wohl  behauptet  und  darzu- 
legen gesucht,  dass  ein  Staat  nicht  aus  lauter  moralischen  Menschen  bestehen  könne, 
sowie  dass  die  Cultnr  mit  den  sittlichen  Schäden  eng  zusammenhänge,  (lieber  die 
Bienenfabel  vgl.  Lcslie  Stephen  in  seinen  Essays  on  freethinking  and  plainspeaking 
S.  243—278.  Mandeville  vertheidigt  seine  Ansicht  in  der  Schrift:  A  letter  to  Dion 
oecosioned  by  his  book  culled  Alciphrou,  Lond.  1732.) 


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128 


§  15.   Berkeley  u.  a.  engl.  Philosophen. 


Mit  vollster  Entschiedenheit  wendet  sich  Berkeley  in  der  Einleitung  zu 
seinen  First  principles  gegen  die  abstracten  allgemeinen  Ideen,  d.  h.  gegen  die 
Vorstellungen  allgemeiner  Dinge  und  Eigenschaften,  z.  B.  Mensch,  Farbe.  Mensch 
im  Allgemeinen  als  Abstractum  kann  ebensowenig  vorgestellt  werden,  wie  ein 
blosses  Dreieck  als  Abstractum,  das  weder  schiefwinkelig  noch  rechtwinkelig,  weder 
gleichseitig,  noch  gleichschenkelig  noch  ungleichseitig,  sondern  dies  Alles  und  zu- 
gleich auch  nichts  von  diesem  ist  Kein  Mensch  kann  zu  solchen  abstracten  Vor- 
stellungen gelangen,  sie  sind  nichts  als  Erfindungen  der  Schulphilosophen.  Worte, 
die  mehr  als  einen  Gegenstand  bezeichnen,  geben  den  Anlass  zu  der  Lehre  von 
den  abstracten  Ideen.  Li  Wahrheit  giebt  es  nur  Einzelvorstellungen,  Wahr- 
nehmungen, deren  Bestandteile  Empfindungen  einzelner  Sinne  sind.  Insofern  kann 
freilich  eine  Einzelvorstellung  allgemein  sein,  als  sie  eine  ganze  Art,  die  mit  dem- 
selben Worte  bezeichnet  wird,  repräsentirt.  So  wurde  der  lockesche  Nominalismus 
weiter  gebildet. 

Berkeley  hielt  die  Existenz  einer  an  sich  seienden  Körperwelt  nicht  nur  (nach 
dem  Vorgange  Augustins  und  Lockes  selbst)  nicht  für  streng  erweisbar,  sondern 
für  eine  falsche  Annahme.  Es  existiren  nur  Geister  und  deren  Functionen  (Ideen  und 
Willensacte).  Das  Esse  der  nicht  denkenden  Dinge  istPercipi.  Die  äusseren 
Dinge,  soweit  sie  existiren,  sind  nichts  als  Ideen,  und  zwar  siud  die  letzteren 
flüchtige,  abhängige  Wesen,  die  nicht  in  sich  selbst  beruhen,  sondern  in  den  Geistern 
existiren  und  also  auch  von  ihnen  getragen  werden.  Allerdings  giebt  es  eine  sehr 
verbreitete  Meinung,  die  sinnlichen  Objecte  hätten  eine  reale  Existenz,  welche  von 
ihrem  Aufgeuommenwerden  durch  den  Verstand  verschieden  sei.  Allein  Licht, 
Farbe,  Hitze,  Kälte,  Ausdehnung  und  Figuren  (der  Unterschied  zwischen  primären 
und  secundäreu  Eigenschaften  nach  Locke  wird  nicht  anerkannt),  kurz  alle  Dinge, 
die  wir  sehen  und  fühlen,  sind  nur  Sinnesempfindungen,  Vorstellungen,  und  es  ist 
nicht  möglich,  sie  auch  nur  in  Gedanken  vom  Percipirtwerden  zu  trennen.  Sollte 
dies  möglich  sein,  so  müssten  sie  existiren,  ohne  wahrgenommen,  ohne  gedacht  zu 
werden,  was  ein  offenbarer  Widerspruch  ist.  Man  könnte  ebenso  leicht  ein  Ding 
von  sich  selbst  abtrennen,  als  diese  Operation  fertig  bringen.  Wenn  man  nun  sagt, 
die  Ideen  selbst  existirten  allerdings  nicht  ausserhalb  des  Geistes,  aber  es  könne 
doch  ihnen  ähnliche  Dinge,  deren  Ebenbilder  sie  seien,  geben,  so  wendet  hiergegen 
Berkeley  ein,  eine  Idee  könne  nur  einer  Idee  ähnlich  sein,  eine  Farbe  oder  Figur 
nur  einer  anderen  Farbe  oder  Figur.  Und  selbst  angenommen,  es  existirten  ausser- 
halb des  Geistes  feste  Substanzen,  die  den  Ideen  entsprächen,  so  wäre  es  uns  doch 
nicht  möglich,  dies  zu  wissen.  Entweder  müssten  wir  es  durch  die  Sinne  oder 
durch  Denken  erreichen.  Durch  die  Sinne  haben  wir  diese  Erkenntniss  nicht 
sondern  nur  die  unserer  Sinnesempfiudungen.  Wir  müssten  also  die  Existenz  der 
äusseren  Dinge  durch  das,  was  unmittelbar  sinnlich  pereipirt  wird,  schliessen.  Aber 
dieser  Schluss  ist  trüglich.  Er  wird  widerlegt  durch  die  Unmöglichkeit,  das  Zu- 
sammenwirken völlig  heterogener  Substanzen  zu  erklären.  Es  ist  durchaus  nicht  zu 
begreifen,  in  welcher  Art  ein  Körper  auf  den  Geist  Einfluss  haben  könne.  Es 
würden  also  diese  Körper  ausserhalb  des  Geistes  zu  keinem  Zwecke  dienen,  und 
mau  müsste  so  voraussetzen,  Gott  habe  unzählige  Dinge  geschaffen,  die  durch- 
aus nutzlos  seien.  So  wird  denn  die  Körperwelt  aufgehoben,  und  gegen  den  ganzen 
Begriff  der  Materie,  der  materiellen  Substanz,  als  etwas,  an  dem  die  Eigenschaften 
sich  finden  sollen,  polemisirt  Berkeley  ganz  besonders,  als  mit  den  schlimmsten 
Widersprüchen  behaftet.   Den  Begriff  der  Substanz  hebt  er  freilich  nicht  auf. 

Eine  äussere  Ursache  müssen  unsere  Vorstellungen  allerdings  haben:  denn  wir 
selbst  sollen  sie  nicht  hervorbringen  können.  Da  diese  Ursache  nicht  materiell  sein 
kann,  so  muss  sie  geistig  sein,  und  zwar  sind  die  Geister  thätige  untheilbare  Sub- 


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§  15.    Berkeley  u.  a.  eugl.  Philosophen. 


12(J 


stanzen.  Die  Vorstellungen  in  den  endlichen  Geistern  werden  nun  hervorgebracht 
von  dem  unendlichen,  allmächtigen,  allweisen  und  allgütigen  Geist  in  geordneter 
Weise.  Von  ihm  werden  sie  uns  eingedrückt.  Die  Lebhaftigkeit,  Regelmässigkeit, 
Unwiderstehlichkeit  gewisser  Vorstellungen  zeugt  dafür,  dass  sie  eine  Ursache 
ausser  uns  haben.  Durch  diese  Eigenschaften  unterscheiden  sich  die  von  Gott  her- 
vorgebrachten Vorstellungen,  die  sogenannten  wirklichen  Wahrnehmungen,  von  den 
bloss  durch  uus  erzeugten,  wie  sie  in  Träumen,  bei  Illusionen  vorkommen.  Was  wir 
Naturgesetz  nennen,  ist  in  der  That  die  Ordnung  der  Aufeinanderfolge  unserer  Ideen.*) 
—  Aehnliches  wie  Berkeley  hat,  von  Malebranche  ausgehend,  der  englische  Geistliche 
Arthur  Collier  gelehrt  (1680 — 1732).  Collier  sagt,  er  sei  bereits  1703  zu  seiner 
Theorie  gelangt  Dieselbe  findet  sich  in  einem  handschriftlichen  Aufsatz  von  ihm  aus 
dem  Jahre  1708  vor;  die  Durchführung  derselben  in  Colliers  Clavis  univ.  aber  scheint 
einen  Miteinfluss  der  berkeleyschen  Principles  zu  bekunden.  In  dem  ersten  Theil 
weist  er  die  Existenz  einer  sichtbaren  Aussenwelt  zurück,  in  dem  zweiten  auch 
die  einer  unsichtbaren;  mögen  diese  erkennbar  oder  nicht  erkennbar  sein.  Die 
Vorstellungen  von  Körpern,  welche  Gott  in  uns  hervorbringe,  wie  wir  nach  Male- 
branche die  Dinge  in  Gott  schauten,  seien  freilich  nicht  in  mir  allein,  sondern  auch 
in  anderen  Geistern,  und  so  können  wir  mit  Recht  sagen,  dass  die  Körper  ausser 
uns  existiren.    Näher  steht  der  Ansicht  Lockes  die  des  Bischofs  Peter  Brown 


*)  Gegen  das  Ende  des  dritten  Gesprächs  zwischen  Hvlas  und  Philonous  fasst 
Berkeley  seine  Lehre  über  die  Natur  der  Sinnenwelt  in  folgende  zwei  Hauptsätze 
zusammen,  von  welchen  der  eine  ein  richtiger  Satz  des  gemeinen  Menschenverstandes, 
der  andere  aber  ein  wissenschaftlicher  Satz  sei.  Der  erste  Satz  (der  des  gemeinen 
Verstandes)  lantet,  dass  der  reale  Tisch  und  überhaupt  die  realen  nicht  denkenden 
Objecte  der  Tisch  und  die  Welt  seien,  die  wir  seheu  und  fühlen  (sinnlich  wahr- 
nehmen); der  zweite  Satz  (der  wissenschaftliche)  besagt,  dass  das,  was  wir  sehen 
and  fühlen,  ganz  in  Phänomenen  besteht,  d.  h.  gänzlich  aus  gewissen  Eigenschaften, 
wie  Härte,  Gewicht,  Gestalt,  Grösse  besteht,  die  unseren  Sinnesempfiudungen  in- 
häriren,  folglich  aus  diesen  Sinnesempfindungen  selbst.  Aus  der  Verbindung  beider 
Sätze  miteinander  folgt,  dass  solche  Phänomene  die  realen  Objecte  Bind,  dass  also 
in  der  Welt  nichts  Anderes  existirt,  als  diese  Objecte,  deren  Esse  das  Percini 
ist,  und  die  percipirenden  Subjecte.  Es  möchte  sich  jedoch  sehr  fragen,  ob  nicht 
die  beiden  ersten  Sätze  nur  dann  als  wahr  gelten  können,  wenn  in  ihnen  der  Aus- 
druck: .das,  was  wir  sehen  und  fühlen"  in  einem  verschiedenen  Sinne  genommen 
wird.  Werden  nämlich  unter  diesem  Ausdruck  die  sinnlichen  Perceptionen  selbst 
verstanden,  so  ist  der  zweite  Satz  wahr,  aber  der  erste  nicht;  werden  darunter 
andererseits  die  transscendentalen  Objecte  (oder  Dinge  an  sich)  verstanden,  welche 
unsere  Sinne  so  afficiren,  dass  in  Folge  dieser  Afiectionen  in  uns  die  Perceptionen 
entstehen,  so  ist  der  erste  Satz  wahr,  aber  der  zweite  falsch,  und  nur  bei  einem 
Wechsel  der  Bedeutung  sind  beide  wahr,  weshalb  der  Schluss  mit  dem  Fehler  der 
.quaternio  terminorum"  behaftet  ist.  Die  Wahrnehmung  ist  mehr  als  der  blosse 
Empfindungscomplex;  sie  enthält  ausserdem  das  durch  ein  ursprüngliches  mit  un- 
bewusster  Notwendigkeit  sich  vollziehendes  und  zur  Gestaltung  des  Empfindungs- 
stofles  selbst  noch  mitwirkendes  Denken  gewonnene  Bewusstsein  von  Aussendingen, 
auf  welche  die  Empfindungen  schon  von  dem  Kinde  gedeutet  und  von  welchen  die 
Empfindungen,  sobald  auf  sie  die  Reflexion  sich  richtet,  unterschieden  werden. 
Dieses  Moment  hat  B.  bei  seiner  Analyse  der  Wahrnehmung  übersehen.  Die 
gegebene  Ordnung  der  .Ideen*  erkennt  Berkeley  zwar  principiell  als  eine  natur- 
gesetzliche an;  es  ist  aber  nicht  möglich,  dieselbe  wirklich  als  eine  naturgesetzliche 
zu  verstehen,  wenn  angenommen  wird,  dass  die  „Ideen"  des  einzelnen  Geistes  nur 
untereinander  und  zur  Gottheit  in  directer  Beziehung  stehen.  Die  Ordnung  der 
.Ideen"  des  Einzelnen  wird  nur  dadurch  begreiflich,  dass  ein  causales  Verhältniss 
derselben  zu  endlichen  Dingen,  welche  unabhängig  von  dem  Bewusstsein  des  Ein- 
zelnen existiren,  angenommen  wird;  insbesondere  müssen,  wenn  die  causale  Ordnung 
verständlich  werden  soll,  die  Beziehungen  denkender  Wesen  zu  einander  durch  an 
sich  reale  nicht  denkende  Wesen  vermittelt  sein. 

U*l«rwtf-H«intt,  OnadriM  III.  7.  An«.  9 


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130  $  15.   Berkeley  u.  a.  engl.  Philosopheu. 

(the  procedure,  exteut  and  limits  of  human  understauding,  London  1728),  der  freilieh 
nicht  mehr  fern  von  dem  reinen  Sensualismus  ist  Gegen  Locke  schrieb  n  A.  auch 
John  Norris  (1657-1711),  der  in  seinem  Essay  towards  the  theory  of  the  ideal 
or  intelligible  World,  1701  u.  1704,  sich  an  Malebranche  anschliesst;  dieser  ist  für 
ihn  der  Galilei  der  intellectuellen  Weit.  Auch  neigte  er  sich  der  mystisch  -  plato- 
nischen Theorie  von  Henry  More  zu  und  verfasste  gegen  Tolands  Schrift  über  das 
Christenthum  ohne  Gehelmniss:  An  acconnt  of  reason  and  faith  in  relation  to  the 
mysteries  of  Christianity,  1697.    Auf  ihn  nimmt  Collier  Öfters  Bezug. 

Als  Vater  der  englischen  Associationspsychologie  ist  David  Hartley 
(1704 — 1757)  zu  bezeichnen,  welcher  den  allerdings  schon  von  Locke  gebraoehten 
Namen  .Association41  für  einen  solchen  Vorgang  einbürgerte  (in  Lockes  Essay 
findet  sich  schon  ein  Abschnitt,  der  von  der  association  of  ideas  handelt),  durch 
den  aus  den  Elementen  ein  neues  seelisches  Gebilde  entsteht.  Zugleich  aber  legte 
er  Gewicht  auf  die  Verbindung  der  psychologischen  und  physiologischen  Processe. 
Wenn  beide  auch  nicht  identisch  sein  sollten,  so  statuirte  er  doch  einen  festen 
Zusammenhang  zwischen  beiden.  Ks  sollen  den  psychischen  Vorgängen  Vibrationen 
der  Gehirn-  und  Nervensubstanz  entsprechen,  und  zwar  einfache  den  einfachen,  zu- 
sammengesetzte den  zusammengesetzten;  dadurch  scheint  aber  das  seelische  Leben 
von  dem  mechanisch  leiblichen  abhängig  und  in  seiner  Selbständigkeit  aufgehoben. 
Es  tritt  wie  für  die  Gehirnfunctionen,  so  auch  für  die  Vorstellungsassociationen, 
namentlich  für  die  Affecte,  feinen  Triebe,  Willensentschlüsse,  die  auch  aus  den 
einfachen  Grundelementen  entstehen,  die  mechanische  Nothwendigkeit  in  Kraft,  so 
dass  Hartley  dem  Materialismus  nahe  kam,  und  seine  wissenschaftliche  Ueberzeugung 
mit  seinem  religiösen  Sinn  sich  in  Zwiespalt  befand.  Freilich  soll  nach  ihm  die 
Analyse  psychischer  Processe  immer  nur  auf  psychische  Elemente,  nicht  auf  leib- 
liche führen,  und  die  Empfindung  nie  sich  durch  Bewegung  erklären  lassen.  —  Bei 
ihm  finden  wir  auch  die  Anfänge  des  durch  G.  Boole  und  neuerdings  durch  Stanley 
Jerons  auagebildeten  logischen  Algorithmus  oder  Logikcalculs. 

Ohne  Vorbehalt  bekennt  sich  zu  dem  Materialismus  auf  psychologischem  Gebiete 
der  Schüler  Hartleys,  Josef  Priestley  (geb.  1738  in  der  Grafschaft  York,  gest. 
1804  in  Philadelphia),  Entdecker  des  Sauerstoff.  Sowohl  die  Vorstellungs- 
associationen, als  auch  die  Willensentschlüsse,  sowie  die  Handlungen,  sind  durchaus 
bedingt  durch  die  Gehirnschwingungen.  Einen  prüicipiellen  Unterschied  zwischen 
psychischen  und  physischen  Erscheinungen  giebt  es  nicht.  Deshalb  entscheidet  sich 
auch  Priestley  von  vornherein  für  den  Determinismus.  Die  Psychologie  soll  ein 
Theil  der  Physiologie  werden;  anstatt  die  psychischen  Tbatsachen  zu  analysiren, 
soll  man  Physik  des  Nervensystems  treibe».  Dagegen  bekämpft  er  anf  das  heftigste 
den  Materialismus  auf  dem  metaphysischen  Gebiete.  Die  Welt  zeigt  durch  den 
vollendeten  Mechanismus  ihrer  Bewegungen,  dass  sie  von  einer  höchsten  Intelligenz 
hervorgebracht  ist  Ebenso  lehrt  Priestley  die  Unsterblichkeit  der  Seele.  —  Die 
Associationspsychologie  wurde  weiter  ausgebildet  durch  Erasmus  Darwin 
(1731 — 1802,  Zoonomia  or  the  Laws  of  organic  life,  2  vols.,  Lond.  1794—96),  auch 
durch  Abraham  Tucker  (1705—1774,  Light  of  Nature  pursued  by  Edw.  Search, 
Pseudonym,  1768-1778). 

Ein  merkwürdiges  Beispiel  für  das  Streben,  den  Widerspruch  zwischen  der 
strengen  wissenschaftlichen,  dem  Mechanismus  huldigenden  Forschung  und  dem 
Inhalte  des  christlichen  Glaubens  zu  heben,  bietet  der  berühmte  Chemiker  Robert 
Boyle  (1627 — 1691),  der  die  chemische  Zusammensetzung  der  Luft  in  den  Bereich 
seiner  Untersuchungen  zog.  Er  gründete  ein  Institut,  in  welchem  zur  Befestigung  der 
christlichen  Lehre  und  der  teleologischen  Weltanschauung  Vorträge  gehalten  wurden. 
(S.  unt  Clarke.) 


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§  15.   Berkeley  u.  a.  engl.  Philosophen. 


131 


Locke«  jüngerer  Zeitgenosse,  der  grosse  Mathematiker  and  Physiker  Isaak 
Newton  (1642—1727)  stand  den  specifiseb  philosophischen  Untersuchungen  ferner. 
Er  rief  der  Physik  zu:  hüte  dich  vor  der  Metaphysik!    Er  preist  die  Verbannung 
der  scholastischen  »formae  substantiales*  und  ,qualitates  occultae",  empfiehlt  die 
mathematisch -mechanische  Erklärung  der  Erscheinungen  und  sagt:  „omnis  philo- 
sopbiae  difficultas  in  eo  versari  videtur,  ut  a  phaenomenis  motuum  investigemus 
vires  naturae,  deinde  ab  his  viribus  demonstremns  phaenomena  reliqua".  Newton 
verlangt,  dass  die  analytische  Betrachtung  stets  der  synthetischen  vorausgehe;  er 
glaubt,  dass  die  Cartesianer  dieser  Forderung  zu  wenig  gerecht  geworden  seien  und 
sich  in  ein  Hypothesenspiel  verloren  haben.    Die  analytische  Methode  geht  von 
Experimenten  und  Beobachtungen  zu  allgemeinen  Schlüssen  fort;  sie  schliefst  aus 
den  zusammengesetzten  Dingen  auf  die  einfachen,  aus  den  Bewegungen  auf  die 
bewegenden  Kräfte  und  überhaupt  aus  den  Wirkungen  auf  die  Ursachen,  ans  den 
besonderen  Ursachen  auf  die  allgemeineren  bis  zu  der  allgemeinsten  hin;  die  syn- 
thetische Metbode  dagegen  erklärt  aus  den  erforschten  Ursachen  die  daraus  her- 
fliessenden  Erscheinungen.  Hypothesen  verwirft  Newton  prineipiell,  ohne  jedoch  in 
der  wirklichen  Forschung  dieselben  ganz  entbehren  zu  können.    Er  basirt  auf  die 
Erscheinungen  die  Doctrin  der  allgemeinen  Schwere,  welche  proportional  den  Massen 
and  umgekehrt  proportional  den  Quadraten  der  Entfernungen  wirke.    Er  lehrt,  die 
Schwere  der  Planeten  gegen  die  Sonne  sei  zusammengesetzt  aus  ihrer  Schwere 
gegen  die  einzelnen  Sonnentheile.   Den  Grund  der  Schwere  lässt  er  unerforscht. 
Von  Newtonianern  wird  die  Schwere  zu  den  primären  Qualitäten  der  Körper 
gerechnet  (wie  z.  B.  Rogerus  Cotes  in  der  Vorrede  zu  der  zweiten,  1713  erschie- 
nenen Auflage  der  newtonschen  Principia  philos.  nat.  sagt,  die  Schwere  sei  inter 
primarias  qnalitates  corporura  universorum  ebensowohl  enthalten,  wie  die  Aus- 
dehnung, Beweglichkeit  und  Undurchdringlichkeit,  was  Leibniz  tadelt,  Lettre  ä 
Bourguet,  in  Erdmanns  Ausg.  S.  732).   Newton  dagegen  sagt  (in  der  Vorrede  zur 
zweiten,  1717  erschienenen  Auflage  seiner  Optik):  »et  ne  quis  gravitatem  inter  essen- 
tiales  corporum  proprietates  me  habere  existimet.  quaeationem  unam  de  ejus  causa 
investiganda  subjeci,  quaestionem  inquam,  quippe  qui  experimentis  rem  istam  nondum 
babeam  exploratam".  Er  führt  nämlich  in  der  Quaestio  XXI  des  dritten  Buches  der 
Optik  die  Schwere  versuchsweise  auf  die  Elasticität  des  Aethers  zurück,  dessen 
Dichtigkeit  mit  seinem  Abstand  von  den  festen  Körpern  wachse.  Naturwissen- 
schaftlich hochgebildete  Zeitgenossen  Newtons,  wie  Huyghens,  wussten  sich  in  das 
neue  Princip  nicht  zu  finden;  die  Erklärung  der  Ebbe  und  Fluth  durch  das 
Attractionsprincip  findet  Huyghens  unbefriedigend,  und  er  sagt,  dieses  Princip 
erscheine  ihm  absurd  (in  einem  Briefe  an  Leibniz  vom  18.  Nov.  1690).    In  der 
Optik  verwirft  Newton  die  (von  Huyghens  vertretene)  Vibrationstheorie,  weil  die- 
selbe gewisse  Erscheinungen  nicht  zu  erklären  vermöge,  insbesondere  auch  weil 
aus  ihr  eine  Verbreitung  des  Lichts,  die  der  des  Schalls  gleichartig  wäre,  also  ein 
Sehen  um  die  Ecke  gleich  dem  Hören  um  die  Ecke  folgen  würde  (die  Entgegnung 
auf  diesen  Einwurf  giebt  u.  A.  Helmholtz  in  seiner  „physiol.  Optik");  doch  nimmt 
auch  Newton  an.  dass  mit  den  aus  leuchtenden  Körpern  emittirten  materiellen 
Strahlen  Vibrationen  verbunden  seien;  insbesondere  sollen  solche  in  den  Sinnes- 
organen selbst  statthaben.   Mittelst  derselben  werden  die  Gestalten  (species)  der 
Dinge  dem  Gehirn  zugeführt  und  in  das  Sensorium  gebracht,  welches  der  Ort  ist, 
wo  die  empfindende  Substanz  gegenwärtig  ist  und  die  ihr  hier  gegenwärtigen  Bilder 
der  Dinge  pereipirt.  Ohne  dass  es  einer  Vermittelung  durch  Sinne  bedarf,  percipirt 
der  allgegenwärtige  Gott  unmittelbar  die  Dinge  selbst,  die  in  ihm  sind ;  der  unend- 
liche Raum  ist  gleichsam  das  Sensorium  der  Gottheit.  (In  dieser  letzteren  Ansicht 
schliesst  sich  Newton  an  Piatons  Lehre  von  der  räumlichen  Ausbreitung  der  Welt- 

9* 

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132  §  16-   Englischer  Deismus. 

seele  durch  das  Ganze  der  Welt  an,  bezieht  dieselbe  aber  mit  Henry  More  und 
anderen  Piatonikern  auf  Gott,  den  er  jedoch  nicht  Seele  der  Welt  genannt  wissen 
will,  da  die  weltlichen  Dinge  zu  ihm  nicht  in  dem  gleichen  Verhältniss  stehen,  wie 
unser  Leib  zu  uns,  sondern  eher  in  dem  Verhältniss,  wie  die  Species  in  unserm 
Sensorium  zu  uns.)  Der  Beweis  für  Gottes  Dasein  liegt  in  der  ausgesuchten  Kunst 
und  Verständigkeit,  die  sich  uns  in  dem  Bau  der  Welt  und  insbesondere  auch  in 
dem  Organismus  eines  jeden  lebenden  Wesens  bekundet. 

§  16.  Von  Herbert  von  Cherbury  leitet  sich  der  englische 
Deismus  her,  der  in  seinen  späteren  Vertretern  auch  durch  Locke 
beeinflusst  wurde.  Im  Gegensatz  zu  der  Offenbarungsreligion  nimmt 
er  eine  natürliche  oder  vernünftige  Religion  (Rationalismus)  an,  die 
den  Glauben  an  Gott  einschliesst.  Diese  ist  ihm  zugleich  die  Norm 
für  den  Werth  aller  positiven  Religionen,  auch  des  Christenthums,  in 
das  sich  während  seiner  geschichtlichen  Entwickelung  viel  Irrthüm- 
liches  eingeschlichen  hat.  Da  eine  freie  Prüfung  der  Religionen  statt- 
findet, sind  die  Deisten  zugleich  Freidenker.  Zu  ihnen  werden  nament- 
lich gezählt  John  Toland,  der  freilich  später  einen  consequenten 
Pantheismus  vertrat,  die  Einheit  von  Materie  und  Kraft  lehrte  und 
die  specifische  Verschiedenheit  von  Geist  und  Materie  leugnete,  An- 
thony Collins,  Matthews  Tindal,  auch  der  im  Leben  und  Denken 
frivole  Staatsmann  Bolin gbroke. 

Ueber  den  englischen  Deismus  s.  das  ob.  S.  GO  eitirte  Werk  von  Vi  et  Lechler. 
Ueber  Herbert  v.  Cherbury  s.  auch  ob.  S.  GO. 

John  Toland,  Christianity  not  mysterious,  Lond.  169G  (zuerst  anonym  erschienen); 
letters  to  Serena,  an  die  Königin  von  Preussen,  Sophie  Charlotte,  gerichtet,  nebst  einer 
Confutation  of  Spinoza  an  einen  Holländer  und  einem  weiteren  Briefe,  in  dem  dargelegt 
wird,  dass  die  Materie  mit  Bewegung  begabt  sei,  London  1704;  Nazarenus  or  Jewish, 
Gentile  and  Mahometan  Christinnily,  Ix>nd.  1718;  Pantheistieon,  Cosmopoli  1710  (anonym). 
Vgl.  über  Toland:  Mosheim,  de  vita,  factis  et  seriptis  Johannis  Tolandi,  in  Vindieiae 
antiquae  Christianorum  diseiplinae,  2.  ed.,  Hamburg  1792.  John  Hunt,  the  eontemporary 
review  1868,  Juni,  S.  178—198.  Gerh.  Berthold,  John  Toland  und  der  Monismus 
der  Gegenwart,  Heidelberg  1876. 

Collins,  A  diseourse  of  freethinking,  occasioned  hy  the  rise  and  growth  of  a 
seet  eall'd  freethinkers,  Lond.  1713,  im  Haag  1714  französisch:  Discours  sur  la  liberte 
de  penser:  A  diseourse  of  the  grounds  and  reasons  of  the  Christian  religion.  Lond. 
1724  (anonym).  H.  G.  Thorsehmid,  krit.  Lebensgesch.  A.  CollinB,  des  ersten  Frei- 
denkers in  England,  1755. 

Tindal,  Christianity  as  old  as  the  creation:  or  the  gospel  a  republieation  of  the 
religion  of  nature,  Lond.  1730,  ins  Deutsche  Tibers,  v.  LoitDI  Schmidt:  Beweis,  dass 
das  Christenthum  so  alt  ist  als  die  "Welt,  1741. 

Morgan,  The  moral  philosopher,  Lond.  1737—40. 

Die  Bezeichnung  „Deist"  stammt  aus  dem  16.  Jahrh.,  s.  Eucken,  Beiträge 
S.  171 ,  und  wurde  zuerst  im  Gegensatz  zu  Atheismus  gebraucht  für  einen  solchen, 
der  im  Allgemeinen  an  eine  Gottheit  glaubte.  Die  Vertreter  der  Kirchenlehre 
brachten  dann  auch  im  Gegensatz  zu  Atheismus  „Theist"  auf.  So  hat  sich  all- 
mählich ein  Unterschied  zwischen  Deist  und  Theist  ausgebildet  und  zwar  dahin, 
duss  der  erstere  einen  Gott  annimmt,  der  die  Welt  geschaffen  hat,  sie  nun  aber  ihrem 
gesetzlichen  Gange  überlässt,  so  dass  auch  keine  lebendige  Beziehung  Gottes  zu 
dem  Mensehen  da  ist,  während  der  letztere  einen  lebendigen  und  persönlichen  Gott 


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§  16.    Englischer  Deismus. 


188 


glaubt,  der  ebenso  über  als  in  der  Welt  ist  8.  dazu  auch  Kant,  Kr.  d.  r.  V  . 
Rosenkr.  491  f.  —  Die  Bezeichnung  .Pantheist*  rührt  von  Toland  her. 

John  Toland,  1670  in  Irland  geboren,  hatte  wegen  seiner  Schrift:  Christianity 
not  roysterious,  welche  als  eines  der  Hauptbücher  des  englischen  Deismus  zu  be- 
trachten ist,  viel  Anfechtungen  zu  erdulden.  Er  hielt  sich  1701  am  Hofe  in  Han- 
nover und  1701  und  1702  längere  Zeit  an  dem  Hofe  der  Königin  Sophie  Charlotte 
von  Preussen  in  Berlin  und  Charlottenburg  auf.  Er  starb  1722  in  bitterer  Armuth 
in  der  Nähe  von  London.  In  seiner  ersten  Schrift  schlpss  er  sich  eng  an  Lockes 
Erkenntnisslehre  an  und  suchte  zu  zeigen,  dass  die  Lehren  des  Evangeliums  nichts 
gegen  die  Vernunft,  aber  auch  nichts  Uebervernünftiges  enthielten.  In  einer 
späteren  deistischen  Schrift  sucht  er  nachzuweisen,  dass  die  frühesten  Christen  als 
Judenebristen  zu  betrachten  seieu,  die  das  Gesetz  beobachteten  und  gleichgesinnt 
mit  den  später  als  Häretiker  von  der  Kirche  ausgeschiedenen  Nazarenern  oder 
Ebioniten  gewesen  seien,  und  dass  die  Heidenchristen  partiell  ihre  heidnische  Vor- 
stellungsweise in  das  Christenthum  hineingetragen  hätten.  In  seiner  Widerlegung 
Spinozas  hat  er  an  diesem  zweierlei  auszusetzen,  erstens,  dass  Spinoza  unterlassen 
habe,  eine  Definition  der  Bewegung  zu  geben,  und  zweitens,  dass  er  behaupte,  jeder 
Theil  der  Materie  denke  beständig.  Nach  Toland  ist  Bewegung  eine  wesentliche 
Eigenschaft  der  Materie.  Undurchdringlichkeit,  Ausdehnung  und  Action  sind  drei 
verschiedene  Begriffe,  aber  keine  drei  verschiedenen  Dinge.  Es  sind  bloss  drei  ver- 
schiedene Betrachtungsweisen  ein  und  derselben  Materie;  das  Princip  der  Erhaltung 
der  Kraft  nimmt  Toland  nicht  in  der  leibnizischen ,  sondern  in  der  cartesianischen 
Fassung.  Da  die  Materie  nicht  inactiv  ist,  bedarf  es  zur  Erklärung  der  Lebens- 
erscheinungen und  der  psychischen  Processe  nicht  einer  besonderen  Lebenskraft 
und  einer  vom  Körper  verschiedenen  Seele.  Aber  freilich  kommt  das  Denken  nicht 
jedem  Theilchen  der  Materie  zu,  auch  nicht  jedem  Partikelchen  des  Menschen, 
sondern  es  ist  Gehirnfunctiou.  Wie  die  Zunge  das  Organ  des  Geschmacks  ist,  so 
ist  das  Gehirn  Organ  des  Denkens.  In  seinem  „Panthcisticon"  giebt  er  den  Ent- 
wurf einer  Religion  der  Zukunft  an  und  sogleich  einen  Cultus  der  pantheistischen 
Brüder.  —  Toland,  auf  welchen  die  Bezeichnung  „Freidenker"  zuerst  angewandt 
wird  (von  Molyneux  in  einem  Brief  au  Locke  aus  d.  J.  1697;  Toland  selbst  schreibt 
1711  von  sich  und  den  ihm  Gleichgesinnten:  we  freethinkers),  hat  bedeutenden  Ein- 
fluss  auf  die  Entwickelung  des  Materialismus  in  Frankreich  gehabt. 

Andere  Freidenker  und  Deisten  wie  Anthony  Col lins  (1676 — 1729),  Matthews 
Tindal  (1656—1733),  gingen  über  Lockes  biblisches  Christenthum  zum  Vernunft- 
glauben hinaus.  Collins  suchte  zu  beweisen,  dass  freies  Denken  nicht  beschränkt 
werden  könne,  nicht  beschränkt  werden  dürfe  und  geübt  werden  müsse,  um 
gegenüber  den  von  einander  abweichenden  Ansichten  christlicher  Priester  zur 
richtigen  Erkenntniss  Gottes  und  zur  richtigen  Auffassung  der  heiligen  Schrift  zu 
kommen.  Unter  den  ihn  bekämpfenden  Gegenschriften  ist  am  bekanntesten  Phil- 
eleutherus  Lipsiensis  von  Bich.  Bentley,  1710  erschienen.  Das  WerkTindals:  Christia- 
nity  as  old  as  the  creation,  das  oft  als  die  eigentliche  Bibel  des  Deismus  bezeichnet 
wird,  sucht  darzuthun,  dass  die  natürliche  Religion  von  vornherein  durchaus  voll- 
kommen gewesen  sei,  dass  durch  Offenbarung  nichts  habe  hinzukommen  können,  und 
dass  Christus  die  natürliche  Religion  oder  das  Gesetz  der  Natur  wieder  hergestellt 
habe.  Thomas  Morgan  preist  in  seiner  Schrift,  welche  die  Form  eines  Dialogs 
zwischen  dem  christlichen  Deisten  Philalethes  und  dem  Judenchristen  Theophanes 
hat,  das  mosaische  Gesetz  und  überhaupt  das  alte  Testament.  —  Zu  den  Deisten 
ist  auch  Lord  Bolingbroke  (Henry  St.  John,  1672—1751)  zu  rechnen,  dessen 
sämmtliche  Werke  von  dem  schottischen  Dichter  Dav.  Mollet  1753 — 1754  in  5  Bdn. 
herausgegeben,  aber  bald  darauf  von  der  grossen  Jury  zu  Westminster  als  dem 


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134  §  17.   Shaftesbary  u.  a.  engl.  Moralphilosophen. 


Glauben,  den  Sitten  und  der  öffentlichen  Wohlfahrt  gefährlich  verdammt  wurden. 
Er  huldigt  der  Erkenntnistheorie  Lockea,  hält  mit  Buchanan  die  speculativen 
Philosophen  von  Piaton  bis  Malebranche  für  eine  ,gena  ratione  furens*,  glaubt 
jedoch,  durch  die  Erfahrung  zur  sicheren  Erkenntniss  Gottes  zu  kommen.  Die 
Freiheit  des  Denkens  soll  nur  für  die  höheren  Klassen  der  Gesellschaft  gelten,  die 
Massen  müssen  an  der  herrschenden  Religion  festhalten  und  durch  dieselbe  geleitet 
werden.  Er  erklärt  sogar  in  einem  Briefe  an  Swift  die  Freethinkers  für  eine  Pest  der 
Gesellschaft.  Ein  grosser  yerehrer  Bolingbrokes  war  Voltaire.  Vgl.  Fr.  v,  Räumer, 
Lord  B.  u.  seine  philos.,  theol.  u.  polit.  Werke,  in  d.  Abhandl.  der  kgl.  Ak.  d.  W. 
z.  Berlin  1840. 

§  17.  Nachdem  schon  vor  Lockes  Auftreten  Richard  Cumber- 
land  die  Moral  in  einem  den  hobbesschen  Ansichten  entgegengesetzten 
Sinne  behandelt  hatte,  fand  in  der  Zeit  nach  Locke  und  grossentheils 
in  Folge  der  von  ihm  ausgegangenen  Anregung  in  England  und  Schott- 
land die  Moralphilosophie  zahlreiche  Bearbeiter.  Freilich  befolgten 
diese  grossentheils  von  der  lockeschen  Erkenntnisslehre  abweichende 
Principien.  Als  der  bedeutendste  dieser  Moralphilosophen  muss  der 
jüngere  Shaftesbury  (1671 — 1713)  gelten,  der  seiner  Ethik  eine 
Theorie  der  Affecte  zu  Grunde  legte,  unterscheidend  zwischen  selb- 
stischen, geselligen  und  Reflexions-  oder  rationalen  Affecten,  und  in 
der  Ethik  zugleich  den  ästhetischen  Gesichtspunkt  geltend  machte. 
Das  richtige  Verhältniss  zwischen  selbstischen  und  wohlwollenden 
Affecten  gefallt,  und  in  dieser  Harmonie  beruht  die  Tugend.  Mit  der 
Tugend  ist  zugleich  die  Glückseligkeit  gegeben.  —  Die  religions- 
philosophischen Ansichten  Shaftesburys  neigen  sich  mehr  einem  opti- 
mistischen Pantheismus  als  dem  Deismus  zu.  —  Seine  namhaftesten 
Schüler  waren  Butler  und  Hutcheson,  von  denen  der  erstere  dem 
„Gewissen"  als  dem  Princip  der  Reflexion  die  Herrschaft  über  alle 
anderen  Affecte  zuerkannte,  der  letztere,  die  Moral  noch  mehr  in  das 
Gebiet  der  Aesthetik  ziehend,  den  „moralischen  Sinnu  in  den  Vorder- 
grund stellte. 

Clarke  lehrte,  man  müsse  sich  nach  der  Eigenthümlichkeit  der 
Dinge  in  seinem  Verhalten  gegen  sie  richten,  und  Wollaston  ganz 
Aehnliches,  indem  er  Wahrheit  durch  die  Handlungen  ausgedrückt 
wissen  wollte.  Ferguson  verbindet  die  drei  Principien  der  Selbst- 
liebe, des  Wohlwollens  und  der  Vollkommenheit. 

Vgl.  hierzu  Gco.  v.  Gizycki,  die  Ethik  David  Humes.  Einleitung:  die  englisch? 
Ethik  vor  Hume.  James  Maekintosh,  on  the  progress  of  Kthieal  philosophy,  ehiefly 
during  the  XVIIth  and  XVIIIth  centuries,  ed.  by  Will.  Whewell,  4.  edit,  Edin- 
burgh 1872. 

Cumberland,  de  legibus  naturae  disquisirio  philosophica,  in  qua  earum  forma, 
summa,  capita,  ordo,  promulgatio  e  rerum  natura  investigantur,  quin  etiam  elementa 
philosophiae  Hobbianae  cum  moralis  tum  civilis  considerantur  et  refntantur,  Lond.  1672. 
In*  Englische  über«,  v.  Jean  Maxwell,  Lond.  1727,  ins  Französische  von  Barbeyrac, 
Arastd.  1744. 


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§  17.   Shaftesbury  u.  a.  engl.  Moralphilosophen. 


185 


Shaftesbury,  Characteristicä  of  Men,  Männer«,  Opinions,  Times,  London  1711, 
1714  u.  ö.,  zuletzt  1869,  3  Bde.,  von  Walt.  M.  Hatch,  von  dem  aueh  sein  Leben  er- 
scheinen wird;  deutsch  Lpz.  1770,  die  deutsche  UeberM-tzung  v.  1768  enthält  nur  die 
beiden  ersten  Abhandlungen  des  Werkes.  Die  Characteristies  enthalten:  1)  a  letter  con- 
cerning  Enthusiasm,  to  Mylord  Sommers,  2)  Scncue  communis,  au  essay  on  üie  freedom 
Of  Wit  and  Humour.  3)Solilogy,  4)  an  inquiry  com  erning  Virtue  and  Merit,  5)  the 
Moralist«,  6)  Miscellaneous  reflexions  on  the  preceding  treatiscs  and  other  critical 
subjects,  7)  a  notion  of  the  historical  draught  or  tablature  of  the  judgment  of  Hercules. 
Am  bedeutendsten  sind  die  4.  und  5.  dieser  Abhandlungen.  Die  4.  ist  von  Diderot 
franz-  bearbeitet  u.  hiernach  auch  ins  Deutsche  übersetzt,  Lpz.  1780.  Ausserdem  röhren 
noch  von  8h.  her:  Several  letters,  written  by  a  noble  Lord  to  a  young  man  at  the 
University,  Lond.  1716.  Ueber  ihn  handeln  Gideon  Spicker,  die  Phil.  d.  Graf.  v.  Sh., 
Freib.  i.  Br.  1872.  Leslie  Stephen  in  s.  Essays  on  freethiuk.  and  plainsp..  S.  198 — 242. 
Georg  v.  Gizycki,  die  Philos.  Shaftesburys,  Lpz.  u.  Heidelb.  1876.  Tb.  Fowler,  Sh. 
and  Hutcheson,  Lond.  1882. 

Jos.  Butler,  the  analogv  of  religion,  natural  and  revealed,  to  the  Constitution 
and  course  of  nature,  London  1736;  tifteen  sermons  upon  human  nature,  or  man  COH- 
sidered  as  a  moral  agent,  London  1726.  Ueber  ihn  L.  Carrau,  la  philos.  de  Butler, 
in:  Revue  philos.,  21,  1886,  S.  144—158  (la  morale).  265— 280  (l'analogie). 

Sam.  Clarke,  a  demonstrat.  of  the  being  and  attributes  of  God,  Lond.  1705 — 6; 
a  discourse  concerning  the  unalterable  obligations  of  natural  religion  and  the  truth  and 
certainty  of  the  Christian  revelation,  Lond.  1708;  philosophical  inquiry  concerning  human 
liberty,  Lond.  1715,  2.  Aufl.  mit  Zusätzen  1717.  Die  den  Streit  mit  Leibniz  betreffenden 
Acten  finden  sich  in:  A  collection  of  papers,  which  passed  between  the  late  leamed 
Mr.  Leibniz  and  Dr.  Clarke  in  the  years  1715  and  1716  reluting  to  the  principles  of 
natural  philosophy  and  religion  by  Sam.  CL,  Lond.  1717,  deutsch,  Krankf.  1720.  The 
works  of  S.  CL,  with  a  preface  giving  some  aecount  of  the  uuthor  by  Benj.  Hoadly, 
4  Foliobb.,  Lond.  1738—42.  Ueb.  ihn  handelt  R.  Zimmermann,  C.s  Leb.  u.  Lehre, 
Wien  1870,  aus  d.  Denks.hr.  d.  Ks.  Akad.  d.  W.,  phil.-hist.  Cl.  19.  Bd.  S.  249—336. 

W.  Wollaston,  the  religion  of  nature  delineated,  Lond.  1722,  1724  u.  ö.  J.  M. 
Drechsler,  üb.  W.s  Moralphil.,  Erlang.  1801. 

Fr.  Hutcheson,  Inquiry  into  the  original  of  our  ideas  of  beauty  and  virtue,  Lond. 
1725,  2.  Aufl.  1726,  u.  ö.,  deutsch  Frankf.  1762:  philos-ophiae  moralis  institutio  com- 
pendiaria,  ethices  et  jurisprudentiae  naturalis  prineipia  continens,  Glasgow  1745; 
a  System  of  moral  philos.  (with  the  life,  writings  and  character  of  the  author  by  Wm. 
Leei  hmann),  Glasgow  1755.  Ueber  ihn  Th.  Fowler,  Shaftesb.  and  H.,  Lond.  1882. 

H.  Home,  Essays  on  the  principles  of  morality  and  natural  religion,  Edinb.  1751, 
deutsch  Braunschw.  1768:  Elements  of  criticism.  Lond.  1762,  deutsch  Lpz.  1765.  Ueb. 
ihn  handelt  A.  F.  Tytler  (Lord  Woodhouselen),  Memoirs  of  the  life  and  writing«  of 
Henry  H.,  of  Kames,  Ediub.  1807—10;  Lond.  1814.  Vgl.  auch  Wm.  Smellie,  literary 
and  characterütic  lives  of  John  Gregory,  Henry  Home,  Lord  Kames,  David  Hunie  and 
Ad.  Smith  with  a  dissert.  on  public  spirit  and  three  essavs.  Edinb.  1800. 

A.  Ferguson,  instit.  of  moral  philos.,  Lond.  1769,  deutsch  v.  Garve,  Lpz.  1772. 

Richard  Cumberland  (geb.  1632  zq  London,  gest.  1719  als  Bischof  von  Peter- 
borough)  bestritt  heftig  die  Doctrin  des  Hobbes,  dasa  die  menschliche  Natur  nur 
von  der  Selbstsucht  ursprünglich  getrieben  werde,  und  gründete  die  Moral  anf  das 
Wohlwollen,  und  zwar  soll  es  nach  ihm  ursprünglich  in  der  Menschennatur  liegende 
wohlwollende  Neigungen  geben.  Da«  allgemeine  Wohl  ist  das  höchste  Gesetz. 
Was  zu  diesem  Wohle  fuhrt,  ist  sittlich.  Aber  freilich  bezieht  sich  diese  bene- 
volentia  universalis  auch  auf  das  eigene  Selbst  Denn  die  Verpflichtung  zu  dem 
allgemeinen  Wohl  geht  nur  daraus  hervor,  dass  in  diesem  das  eigene  Wohl  mit 
eingeschlossen  ist.  Der  höchste  Grad  thätigen  Wohlwollens,  den  jedes  vernünftige 
Wesen  gegen  alle  gleichen  Wesen  beweist,  erzeugt  den  möglichst  glücklichen 
Zustand  der  Gesnmmtheit  und  des  Einzelnen  und  ist  für  denselben  unentbehrliche 
Voraussetzung.  Mit  dem  Wohle  aller  Vernunftwesen  befördern  wir  unser  eigenes, 
wie  von  der  Gesundheit  des  ganzen  Körpers  das  Wohlbefinden  jedes  einzelnen 
Gliedes  abhängt.  —  So  hat  Cumberland  die  beiden  nachher  schroff  von  einander 
getrennten  Richtungen  der  F.thik,  freilich  in  unklarer  Weise,  noch  verbunden. 


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136 


§  17.   Shaftesbury  u.  a.  engl.  Moralphilosophen. 


Anthony  Ashley  Cooper,  Graf  von  Shaftesbury,  geb.  1671,  gest.  1713  in 
Neapel,  war  der  Enkel  des  älteren  mit  Locke  befreundeten  Shaftesbury.  Seine 
Erziehung  hatte  Locke  geleitet.  Er  war  ein  Kenner  und  warmer  Freund  des  Alter- 
thums, besonders  des  Aristoteles  und  der  Stoiker.  Er  nahm  auch  vieles  von  der 
alten  Moral  in  seine  Philosophie  herüber.  In  seinen  Schriften  behandelte  er  philo- 
sophische Themata  in  leichter,  gefalliger,  dem  Conversationstone  sich  nähernder 
Art,  besonders  um  die  Schichten  der  höheren  Gesellschaft  wieder  für  die  Philosophie 
zu  gewinnen.  Gerade  wegen  dieser  Kunst  seiner  Schreibart  ist  er  als  Philosoph 
oft  geringgeschätzt  worden.  In  seinen  Schriften  zeigt  er  sich  zugleich  als  ein  Manu 
von  Lebens-  und  Weltkenntniss ,  der  sich  mit  Kunst  und  Litteratur  eingehend  und 
kritisch  beschäftigt  hat  —  Vor  allen  Dingen  geht  er  darauf  aus,  die  selbständige 
Bedeutung  der  Sittlichkeit  anzuerkennen,  sie  seinerseits  von  der  Theologie,  anderer- 
seits aber  auch  von  dem  Naturmechanismus  unabhängig  zu  machen.  Die  reine  Liebe 
zum  Guten  und  zur  Tugend  ist  ihrer  Entstehung  und  Natur  nach  selbständig.  Sie 
wird  zwar  befördert  durch  die  religiöse  Annahme  der  Güte  und  Schönheit  im  Welt- 
ganzen und  eines  guten  und  gerechten  Lenkers  der  Welt,  aber  sie  entartet  durch 
Gunstbuhlerei  bei  Gott,  durch  Hoffnung  auf  Lohn,  Furcht  vor  der  Strafe.  — 
Shaftesbury  hat  mit  dieser  seiner  Lehre  auf  die  kantiache  Darlegung  deB  Verhält- 
nisses zwischen  Moralität  und  Religion  beträchtlichen  Einfluss  geübt. 

Er  gründet  nun  seine  Ethik  auf  psychologische  Basis,  indem  er  die  mensch- 
liche Natur  erforscht,  namentlich  eine  Theorie  der  Affectc,  der  Neigungen  giebt, 
ähnlich  dem  Spinoza.  In  den  thierischen  Organismen  findet  er  ein  doppeltes  Streben, 
einmal  ein  auf  das  Eigenleben  gerichtetes,  Hunger,  Durst  u.  dgl.,  und  dann  ein  auf 
das  Gattnngsleben  bezügliches,  Fortpflanzungstrieb.  Dasselbe  ist  auch  bei  dem 
Menschen  der  Fall,  in  dem  sich  die  selbstischen  Triebe  zeigen  neben  den  socialen, 
geselligen,  welche  letzteren  auf  Andere  oder  auf  das  Gattungsleben  sich  beziehen, 
wie  Mitleid,  Mitfreude,  Liebe  zur  Nachkommenschaft,  und  in  jedem  normalen 
Menschen  zu  einem  hohen  Grade  entwickelt  sind.  Diese  beiden  Affecte  sind  die 
natürlichen.  Neben  diesen  giebt  es  noch  unnatürliche,  welche  den  genannten  ent- 
gegenwirken und  sich  als  Bosheit  kundgeben,  als  unmenschliche  Lust  am  Anblick 
der  Qualen  Anderer,  als  Schadenfreude.  Auch  das  Uebermaass  der  selbstischen 
Neigungen  soll  zu  den  unnatürlichen  Affecten  gehören,  z.  B.  die  Entartung  des 
Geschlechtstriebes.  Diese  unnatürlichen  dürfen  in  einem  normalen  Individuum  nicht 
vorkommen. 

Ausser  den  selbstischen  und  geselligen  Affecten,  welche  beide  auch  sinnliche 
genannt  werden,  weil  sie  auf  Anschauliches  gerichtet  sind,  finden  sich,  aber  nur  bei 
dem  Menschen,  noch  die  rationalen  oder  Reflex ionsaffecte,  welche  die  Vernunft 
voraussetzen.  Es  bestehen  diese  Affecte  in  Gefühlen  der  Achtung  oder  Verachtung 
des  Moralisch-Schönen  oder  Häsalichen,  und  ihre  Gegenstände  sind  die  mensch- 
lichen Handlungen  oder  richtiger  die  Gesinnungen,  aus  denen  die  Handlungen 
fliessen,  und  die  Affecte.  Geradeso  wie  bei  den  sinnlichen  Gegenständen  der  Ein- 
druck von  Schönheit,  Hässlichkeit  hervorgebracht  wird  je  nach  der  Anordnung  und 
den  Verhältnissen,  wie  Harmonie  oder  Dissonanz  in  den  musikalischen  Tönen,  so  wird 
sich  auch,  wenn  Thun  und  Handeln  sich  unserer  Vernunft  darstellen,  ein  Unter- 
schied in  den  Gefühlen  bemerklich  machen,  indem  hier  der  Geist  etwas  Angenehmes 
oder  Unangenehmes  herausfindet.  Er  kann  ebensowenig  dort  wie  hier  seine  Ab- 
neigung oder  seine  Bewunderung  zurückhalten.  Es  ist  dies  eine  Art  feinerer  Sinn, 
der  sich  in  den  rationalen  Affecten  äussert,  ebenso  wie  es  einen  Sinn  für  Musik, 
einen  Farbensinn  giebt,  und  zwar  ist  dieser  moralische  Sinn  angeboren  (dies  gegen 
Hobbes  und  Locke  gerichtet,  obwohl  Sh.  letzteren  aus  Pietät  nicht  nennt).  Diese 
Reflexionsaffecte  sind  aber  nicht  nur  ästhetische  Urtheile,  sondern  selbsttreibende 


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§  17.   Shaftesbury  u.  a.  engl.  Moralphilosophen. 


137 


Kräfte,  die  den  Beurtheilenden  selbst  zum  sittlichen  Ziele  hinbewegen  müssen. 
Freilich  ist  bei  den  Künsten  der  natürliche  Sinn  nicht  hinreichend;  es  moss  die 
Cultur  hinzukommen,  damit  sich  der  Geschmack  ausbilde.  So  muss  sich  auch  die 
moralische  Kunst  auf  Grund  des  ursprünglichen  Triebes  ausbilden  durch  üebung, 
um  namentlich  in  verwickelten  Fällen  sicher  zu  seiu.  —  Shaftesbury  lässt  auf  die*e 
Weise  das  Sittliche  in  der  Natur  des  Menschen  begründet  sein  und  nicht  von 
aussen  durch  Hoffnung  auf  Belohnung,  Furcht  vor  Strafe  erzeugt  oder  befördert 
werden.  Solche  Motive  lassen  sich  anwenden,  wenn  es  darauf  ankommt,  den  Menschen 
zu  bändigen,  aber  nicht  um  ihn  sittlich  zu  machen. 

Was  gefällt  nun  aber  als  moralisch  schön  oder  als  Tugend?  Das  Schöne  wird 
zurückgeführt  überall  auf  Harmonie,  also  auf  Verbindung  des  Verschiedenen,  Ver- 
söhnung der  Gegensätze;  so  wird  das  Wesen  der  Sittlichkeit  beruhen  in  dem  rich- 
tigen harmonischen  Verhältniss  der  selbstischen  und  geselligen  Neigungen,  und  es 
leuchtet  hier  die  Verbindung  des  moralischen  mit  dem  ästhetischen  Gesichtspunkte 
bei  Shaftesbury  deutlich  hervor.  Gut  und  tugendhaft  sein  heisst,  alle  seine  Neigungen 
gerichtet  haben  auf  das  Gute  der  Gattung  oder  des  Systems,  von  welchem  das  Sub- 
ject  ein  Theil  ist.  Das  Gute  des  Systems,  welchem  der  Handelnde  angehört,  muss 
der  unmittelbare  Gegenstand  seiner  Neigung  sein.  Wenn  auch  bo  die  Tugend  be- 
zeichnet werden  kann  als  die  auf  das  allgemeine  Wohl  zielende  Richtung  der  Affecte, 
so  sollen  die  selbstischen  Triebe  doch  nicht  vollständig  unterdrückt  werden  zu 
Gunsten  der  allgemeinen  Glückseligkeit  Dadurch  würde  nur  eine  Disharmonie  zu 
Tage  kommen.  Mit  der  Tugend  ist  zugleich  die  Glückseligkeit  verbunden,  und 
bisweilen  tritt  der  endämonistische  Charakter  in  der  Ethik  Shaftesburys  stark 
hervor,  wie  der  Satz  beweist,  dass  die  richtige  Selbstliebe  der  Gipfel  der  Weisheit 
sei.  Die  Lehre  Shaftesburys  ist  auch  später  von  seinen  Nachfolgern  zu  einem 
vollkommenen  Eudämonismus  entwickelt  worden. 

In  Bezug  auf  seine  Religiousphilosophie  wird  Shaftesbury  häufig  als  Deist  be- 
zeichnet. Er  verwahrte  sich  aber  selbst  gegen  diesen  Namen  und  trat  der  christ- 
lichen Religion  nicht  feindselig  gegenüber,  wohl  aber  einer  starren  Orthodoxie.  An 
dem  historischen  Christenthum  fand  er  nicht  Alles  gut  und  wahr,  und  so  leistete  er 
dem  Freidenkerthum  Vorschub.  Doch  leugnete  er  die  Offenbarung  nicht  durchaus. 
Seine  religiöse  Ansicht  ist  kaum  deistisch  zu  nennen,  er  neigte  vielmehr  dem 
Pantheismus  zu,  mit  dem  er  einen  entschiedenen  Optimismus  verband,  wobei  sich 
auch  die  künstlerisch -ästhetische  Richtung  Shaftesburys  geltend  machte.  Alle 
einzelnen  Mängel  und  Widersprüche  in  der  Welt  sollen  nothwendige  Bedingungen 
für  die  allgemeine  Vollkommenheit  sein,  wie  die  Disharmonien  für  die  Harmonie, 
Gedanken,  die  sich  dann  später  ausgeführt  und  metaphysisch  begründet  in  der 
leibnizischen  Theodicee  finden.  —  Shaftesburys  Bedeutung  liegt  mehr  in  seiner 
Ethik  als  in  seiner  Religionsphilosophie.  Der  englischen  Moralphilosophie  hat  er 
im  Ganzen  und  Grossen  ihre  Richtung  gegeben,  und  von  bedeutendem  Einfiuss 
ist  er  auf  deutsche  Dichter  uud  Denker  gewesen,  so  vor  Allen  auf  Herder  und 
Schiller. 

Ein  Anhänger  und  Schüler  Shaftesburys  war  der  Bischof  Josef  Butler 
(1692 — 1752),  welcher  die  Reflexionsaffecte  oder  das  Princip  der  Reflexion  „Ge- 
wissen" nannte ;  dieses  trage  die  Oberhoheit  über  alle  inneren  Principien  unmittelbar 
in  sich,  und  es  sei  von  der  Natur  bestimmt  zum  Richter  über  alle  anderen  Affecte. 
Würde  der  Mensch  durch  eine  Leidenschaft  bestimmt  zum  Handeln  wider  die 
Stimme  des  Gewissens,  so  sei  dies  nichts  als  Usurpation.  Das  Gewissen  sei  zum 
Herrschen  geboren,  die  Begierden  zum  Gehorsam.  Uebrigens  legte  Butler  Nach- 
druck darauf,  dass  die  sittliche  Billigung  oder  Missbilligung  nicht  bedingt  werde 
durch  das  Uebergewicht  des  aus  der  Handlung  hervorgehenden  Glücks  oder  Elends : 


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§  17.   Shaftesbury  a.  a.  engl.  Moralphilosophen. 


wir  missbilligen  Falschheit  und  Ungerechtigkeit  unabhängig  von  jeder  Erwägung 
der  Folgen.  Das  Glück  des  Menschen  im  gegenwärtigen  Zustande  ist  nicht  das 
letzte  Ziel. 

Ebenfalls  ein  Schüler  Shaftesburys  war  Francis  Uutchesou  (geb.  1694  in 
Irland,  seit  1729  Professor  der  Moralphilosophie  zu  Glasgow,  gest.  1747),  welcher 
die  sittliche  Güte  in  die  wohlwollenden  Neigungen  setzte,  indem  er  die  Neigungen 
als  ruhig  und  dauernd  von  den  Leidenschaften  als  blind  und  vorübergehend  unter- 
schied, und  ferner  die  wohlwollenden  Triebe  von  den  selbstischen.  Die  Tugend  ist 
in  einem  sittlichen  Sinne  oder  Gefühle  (moral  sense,  ein  Ausdruck,  der  von  Shaftes- 
bory  selbst  schon  gebraucht  war)  gegründet!,  vermöge  dessen  wir  billigen,  was  auf 
allgemeine  Glückseligkeit  abzielt.  Dieser  moralische  Sinn  ist  aber  nicht,  wie  die 
Reflexionsaffecte  bei  Sbaftesbury,  activ,  zum  Handeln  antreibend,  sondern  nur 
urtheilend,  zuschauend  und  mit  dem  Schönheitssinn  in  engste  Parallele  gestellt.  Zum 
Handeln  treibt  uns  das  Wohlwollen,  welches  Hutcheson  als  uninteressirt  annimmt. 
Die  Liebe  des  Menschen  zum  Menschen,  überhaupt  eines  jeden  Wesens  zn  den  ihm 
verwandten  Wesen,  die  allgemein  ist,  sofern  nicht  das  individuelle  Interesse  sie  ein- 
schränkt, vergleicht  er  mit  der  Gravitation.  Die  Selbstliebe  ist  insoweit  berechtigt, 
als  wir  uns  als  Theil  der  Gesammtheit  lieben. 

Samuel  Clarke,  ein  namentlich  in  früheren  Zeiten  hochgeschätzter  Denker, 
war  geboren  1676  zu  Norwich,  studirte  zuerst  Mathematik  und  Philosophie,  wurde 
ein  warmer  Verehrer  Newtons,  widmete  sich  dann  der  Theologie  und  hielt,  durch 
den  Genuss  der  Stiftung  des  Chemikers  Robert  Boyle  (1627 — 1691)  dazu  verpflichtet, 
Vorträge  zur  Verteidigung  der  Schrift  Boyles  über  die  Zweckursachen,  in  denen 
Materialismus  und  Atheismus  bekämpft  werden.  Aus  diesen  Vorträgen  ist  seine 
Hauptschrift  vom  Dasein  und  den  Eigenschaften  Gottes  entstanden.  Von  1707  bis 
zu  seinem  Tode  1729  war  er  Pfarrer  in  London,  1709  erhielt  er  die  Hofpfarrei  zu 
St.  James.  Er  vertheidigte  die  Unsterblichkeit  und  Unkörperlichkeit  der  Seele 
gegen  Henry  Dodwell  (1641—1711),  die  sittliche  Freiheit  gegen  A.  Colli  ns  (s.  ob. 
S.  133),  und  den  christlichen  Gottesbegriff  gegen  Hobbes  und  Spinoza.  Leibniz 
gegenüber  vertrat  er  die  newtonschen  Principien.  In  der  Moralphilosophie  ist  er 
am  selbständigsten  und  versucht  hier  dem  Nominalismus  oder  Subjectivismus  von 
Hobbes  und  Locke  ein  objectives  Princip  der  Sittlichkeit  entgegenzustellen.  Er 
setzte  das  Wesen  der  Tagend  in  die  der  eigenthümlichen  Beschaffenheit  der  Dinge 
(the  fitness  of  things,  aptitudo  rerum)  gemässe  Behandlung  derselben,  so  dass  ein 
jedes  nach  seiner  Art,  seiner  Natur,  seinen  besonderen  Verhältnissen,  nach  seiner 
Stelle  in  der  Harmonie  des  Weltganzen  und  so  dem  Willen  Gottes  gemäss  ver- 
wendet werde.  In  der  ewigen  und  unwandelbaren  Natur  der  Dinge  liegen  die 
Gesetze  für  unser  Verhalten,  die  zugleich  der  Wille  Gottes  sind.  Je  mehr  Eigen- 
tümlichkeiten ein  Ding  hat,  um  so  mehr  Pflichten  hat  der  Mensch  gegen  dasselbe. 
Ein  Baum  wird  von  einem  tugendhaften  Menschen  als  vegetatives  Wesen  behandelt, 
welches  wachsen  und  gedeihen,  blühen  und  Früchte  tragen  soll.  Deshalb  darf  er 
nicht  beschädigt,  vielmehr  rauss  er  in  seinem  Wachsthum  befördert  werden.  Das 
Thier  hat  man  als  empfindendes  und  lebendes  Wesen  zu  behandeln,  ihm  also 
keinen  Schmerz  zuzufügen.  Der  Mensch  ist  als  vernünftig-sittliches  Wesen  anzu- 
sehen. Bloss  wenn  der  eigene  Wille  des  Andern  darauf  eingeht,  dürfen  wir  ihn 
zu  unseren  Zwecken  benutzen.  Eine  Handlang,  welche  diese  Verhältnisse  negirt, 
d.  h.  nicht  berücksichtigt,  ist  gerade  so  unvernünftig,  wie  eine  Behauptung,  welche 
eine  theoretische  Wahrheit  negirt.  Wer  tugendhaft  handelt,  ist  auf  dem  Wege  zur 
Glückseligkeit,  dem  höchsten  Gute.  Zwar  verpflichtet  das  Sittengesetz  uns  durch 
sich  selbst,  aber  im  Wesen  Gottes  liegt  es,  dass  auf  seine  Befolgung  und  Ueber- 
tretuug  Lohn  und  Strafe  folgt    Da  in  diesem  Leben  aber  Belohnung  und  Be- 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosoph«!. 


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Strafaug  nicht  immer  die  Würdigen  treffen,  so  müssen  wir  die  Unsterblichkeit  der 
Seele  annehmen. 

Aehnliches  lehrte  William  Wol laston  (1659—1724),  welcher  den  Grundsatz 
aufstellte,  jede  Handlung  sei  gut,  die  einen  wahren  Gedanken  ausdrücke.  Wahrheit 
zu  erkennen  und  sie  in  Reden  und  Handlungen  zu  zeigen,  ist  der  letzte  Zweck  des 
Menschen.  Jede  Handlang  drückt  nämlich  einen  Satz  aas.  Quäle  ich  ein  Thier, 
so  spreche  ich  damit  zugleich  den  Satz  aus:  Ich  halte  dies  Thier  für  ein  empfindungs- 
loses Wesen.  Handelt  man  wahr,  so  behandelt  man  die  Dinge,  wie  sie  es  verdienen. 
Aus  dieser  gehorsamen  Hingabe  an  die  Dinge  ergiebt  sich  dann  wieder  die  Glück- 
seligkeit als  das  höchste  Gut. 

Unter  den  späteren  schottischen  Moralisten  sind  der  A Ästhetiker  Henry  Home 
(1696—1782)  und  Adam  Ferguson  (1724—1816)  hervorzuheben.  Letzterer  setzte 
die  Tugend  in  die  fortschreitende  Entwickelung  des  menschlichen  Wesens  zu  geistiger 
Vollkommenheit.  Der  Mensch  ist  seiner  Natur  nach  ein  Glied  der  Gesellschaft; 
seine  Vollkommenheit  besteht  darin,  dass  er  ein  vortrefflicher  Theil  des  Ganzen 
sei,  zu  welchem  er  gehört.  Die  Tugend  hochschätzen  heisst  die  Menschen  lieben. 
So  sucht  Ferguson  die  Principien  der  Selbsterhaltung  (Selbstliebe),  der  Geselligkeit 
(des  Wohlwollens)  und  der  Vollkommenheit  (Selbstschätzung)  mit  einander  zu  ver- 
einigen. Auch  William  Paley  (1743—1805*  gehört  zu  den  namhaften  englischen 
Moralisten.  Seine  Grundsätze  der  Moral  und  Politik  (Principles  of  moral  and 
political  philosophy,  London  1785  u.  ö.)  sind  verdeutscht  von  Garve,  Frkf.  u.  Leipz. 
1788  erschienen.  Moralphilosophie  ist  ihm  die  Wissenschaft,  welche  die  Menschen 
ihre  Pflichten  und  die  Gründe  für  dieselben  lehrt.  Einen  moralischen  Sinn  giebt 
es  nicht.  Paley  findet  den  Charakter  aller  Pflicht  in  dem  Befehl  eines  Höheren, 
der  an  den  Gehorsam  oder  Ungehorsam  Lust  oder  Schmerz  knüpft,  zu  oberst  der 
Gottheit;  den  Inhalt  der  Pflicht  aber  bestimmt  das  Princip  der  allgemeinen  Glück- 
seligkeit. .Um  von  einer  Handlang  durch  das  Licht  der  Vernunft  zu  erkennen,  ob 
sie  dem  Willen  Gottes  gemäss  sei.  oder  nicht,  ist  nichts  Anderes  zu  untersuchen 
nöthig,  als  ob  sie  die  allgemeine  Glückseligkeit  vermehrt  oder  vermindert.  Alles, 
was  im  Ganzen  vortheilhaft  ist,  ist  recht" 

§  18.  Der  Begründer  der  deutschen  Philosophie  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  ist  Gottfried  Wilhelm  von  Leibniz  (1646—1710).  Er 
theilt  mit  Descartes  und  Spinoza,  im  Gegensatz  zu  Locke,  die  dogina- 
tistische  Richtung  des  Philosophirens  oder  das  unmittelbare  Vertrauen 
zu  dem  menschlichen  Denken,  durch  volle  Klarheit  und  Bestimmtheit 
auch  über  den  Erfahrungskreis  hinaus  zur  Wahrheit  zu  gelangen. 
Aber  er  überschreitet  den  cartesianischen  Dualismus  zwischen  Materie 
und  Geist  ebensowohl,  wie  den  spinozistischen  Monismus  durch  die 
Anerkennung  einer  Stufenreihe  von  Wesen  in  seiner  Monadologie. 
Monade  nennt  Leibniz  die  einfache,  unausgedehnte  Substanz.  Die 
Substanz  ist  das,  was  zu  wirken  vermag;  die  thätige  Kraft  (gleich  der 
Kraft  eines  gespannten  Bogens)  ist  das  Wesen  der  Substanz.  Die 
Monaden  sind  die  wahrhaft  so  zu  nennenden  Atome;  sie  unterscheiden 
sich  von  den  Atomen,  welche  Demokrit  annimmt,  theils  dadurch,  dass 
sie  metaphysische,  also  nicht  ausgedehnte  Punkte  sind,  theils  durch 
ihre  thätigen  Kräfte,  welche  in  Vorstellungen  bestehen.  Die  Atome 
siud  von  einander  durch  Grösse,  Gestalt  und  Lage,  aber  nicht  quali- 


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§  18.    Leibniz  and  gleichzeitige  Philosophen. 


tativ  durch  innere  Zustände,  die  Monaden  dagegen  von  einander 
qualitativ  durch  ihre  Vorstellungen  verschieden.  Alle  Monaden  haben 
Vorstellungen:  aber  die  Vorstellungen  der  verschiedenen  Monaden 
haben  verschiedene  Grade  der  Klarheit.  Vorstellungen  sind  klar, 
wenn  sie  die  Unterscheidung  ihrer  Objecte  möglich  machen,  andern- 
falls dunkel;  sie  sind  deutlich  oder  bestimmt,  wenn  sie  zur  Unter- 
scheidung der  Theile  ihrer  Objecte  zureichen,  andernfalls  unbestimmt 
oder  verworren;  sie  sind  adäquat,  wenn  sie  absolut  deutlich  sind, 
d.  h.  auch  zur  klaren  Erkenntniss  der  letzten  oder  absolut  einfachen 
Theile  in  den  Stand  setzen.  Gott  ist  die  Urmonade,  die  primitive 
Substanz;  alle  anderen  Monaden  sind  ihre  Fulgurationen.  Gott  hat 
lauter  adäquate  Vorstellungen.  Die  Monaden,  welche  denkende 
Wesen  oder  Geister  sind,  wie  die  menschlichen  Seelen,  sind  klarer 
und  deutlicher  Vorstellungen  fähig,  können  auch  einzelne  adäquate 
Vorstellungen  haben;  sie  haben  als  Vernunftwesen  das  Bewusstsein 
ihrer  selbst  und  Gottes.  Die  Thierseelen  haben  Empfindung  und 
Gedächtniss.  Jede  Seele  ist  eine  Monade;  denn  das  jeder  Seele  zu- 
kommende Wirken  auf  sich  selbst  beweist  ihre  Substantialität,  und 
alle  Substanzen  sind  Monaden.  Was  uns  als  ein  Körper  erscheint, 
ist  in  Wirklichkeit  ein  Aggregat  von  vielen  Monaden;  nur  in  Folge  der 
Verworrenheit  unserer  sinnlichen  Auffassung  stellt  sich  uns  diese 
Vielheit  als  ein  continuirliches  Ganzes  dar.  Die  Pflanzen  und  Mine- 
ralien sind  gleichsam  schlafende  Monaden  mit  unbewussten  Vor- 
stellungen; in  den  Pflanzen  sind  diese  Vorstellungen  bildende  Lebens- 
kräfte. Jeder  endlichen  Monade  sind  diejenigen  Theile  des  Weltalls 
am  klarsten,  zu  welchen  sie  in  der  nächsten  Beziehung  steht;  sie 
spiegelt  von  ihrem  Standpunkte  aus  das  Universum.  Die  Ordnung  der 
Monaden  erscheint  in  unserer  sinnlichen  Auffassung  als  die  räum- 
liche und  zeitliche  Ordnung  der  Dinge;  der  Raum  ist  die  Ordnung 
der  coexistirenden  Phänomene,  die  Zeit  ist  die  Ordnung  der  Succession 
der  Phänomene.  Der  Vorstellungslauf  in  einer  jeden  Monade  beruht 
auf  immanenter  Causalität;  die  Monaden  haben  keine  Fenster,  um 
Einflüsse  von  aussen  aufzunehmen.  Es  beruht  andererseits  der  Wechsel 
der  Beziehungen  der  Monaden  zu  einander,  ihre  Bewegung,  Verbin- 
dung und  Trennung  auf  rein  mechanischer  Causalität.  Aber  zwischen 
dem  Vorstellungslauf  und  den  Bewegungen  besteht  eine  von  Gott 
vorausbestimmte  (prästabilirte)  Harmonie.  Seele  und  Leib  des 
Menschen  stimmen  zusammen,  wie  zwei  anfanglich  gleichgestellte 
Uhren  von  vollkommen  gleichmässigem  Gange.  Die  bestehende  Welt 
ist  die  beste  unter  allen  möglichen  Welten.  Mit  der  physischen  Welt 
steht  die  moralische  oder  das  von  Gott  beherrschte  Reich  der  Geister 
in  beständiger  Harmonie. 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen- 


HI 


Neben  der  leibnizischen  Doctrin,  welche  das  Haltbare  der  aristo- 
telischen und  der  cartesianischen  Lehre  in  sich  aufzunehmen  suchte, 
gingen  in  Deutschland  auch  andere  Gedankenrichtungen  her,  insbe- 
sondere die  lockesche.  Auch  behaupteten  einige  andere  mit  Leibniz 
gleichzeitige  Denker,  wie  der  Mathematiker  und  Logiker  Tschirn- 
hausen, der  Rechtslehrer  Pufendorf,  der  Rechtslehrer  Thomasius 
u.  A.  auf  bestimmten  Gebieten  der  Philosophie  eine  mehr  oder  minder 
bedeutende  Autorität. 

Als  Begründer  der  Philosophie  der  Geschichte  kann  der  jüngere 
Zeitgenosse  Leibnizens  Giovanni  BattistaVico  angesehen  werden,  der 
in  seiner  Metaphysik  mit  platonischen  und  augustinischen  Gedanken 
die  Annahme  metaphysischer  Kraftpunkte,  welche  an  die  leibnizschen 
Monaden  erinnern,  verband.  Vico  ist  für  die  Entwickelung  der  neueren 
italienischen  Philosophie  von  Bedeutung. 

Von  den  philosophischen  Schriften  des  Leibniz  ist  ausser  den  frühesten  Disser- 
tationen (de  prineipio  individui,  Lips.  1663,  wieder  hsg.  durch  G.  E.  Uuhrauer  tu.  krit. 
Einleitung,  Berl.  1837;  speeimen  quaestionum  philosophicarum  ex  jure  eollectarum,  ib. 
1664;  tractat.  de  arte  cotnbinatoria,  sui  subnexa  est  demonstr.  exist-entiae  Dei  ad  math. 
eertitd.  exaeta,  Lips.  1666,  Franeof.  ad.  M.  1690)  nur  die  Theodicee,  Essais  de 
Theodicee  sur  la  bonte  de  Dieu,  la  liberte  de  l'homme  et  l'origine  du  mal,  Amst.  17  lü 
u.  ö.  la:.  Colon.  1716,  Franeof.  1719  u.  ö.,  deutsch  mit  Fontenelles  Eloge,  Hannov. 
1720  u.  ö.,  deutsch  v.  Gottsched,  5.  Aufl.,  Hann.  u.  Leipz.  1763  und  in  der  philo- 
sophisch. Bibliothek  v.  Kirchmaun,  fibers.  v.  Kirchmaun,  auch  in  d.  Universalbibliothek 
von  R.  Haas)  bei  seinen  Lebzeiten  als  ein  selbständiges  Werk  erschienen:  um  so  zahl- 
reicher aber  sind  die  Abhandlungen,  die  L.  in  der  seit  1682  durch  Otto  Mencken  hrg. 
Zeitschrift:  Acta  cruditorum  Lipsiensium  seit  1684  und  in  dem  Journal  des  savants  seit 
1691  veröffentlichte.  Sehr  ausgebreitet  war  L.s  Briefwechsel,  in  welchem  er  manche 
Seiten  seiner  Doetrin,  die  in  den  von  ihm  veröffentlichten  Schriften  unberührt  geblieben 
sind,  entwickelt  hat.  Schon  bald  nach  L.s  Tode  wurden  einzelne  bis  dahin  ungedr. 
Briefe  und  Abb.  hsg.,  insbes. :  A  cullection  of  papers,  which  passed  between  the  late 
leamed  Mr.  L.  and  Dr.  Clarke  in  the  years  1715  and  1716  relating  to  the  principle« 
of  natural  philos.  and  relig.  by  Sam,  Clarke,  Lond.  1717,  franz.:  Recueil  de  diverses 
pieces  sur  la  phil.,  la  relig.  etc.  par  M.  L.,  Clarke,  Newton  (par  des  Maizeaux),  Amst. 

1719,  2.  ed.  1740,  deutsch  m.  e.  Vorr.  von  Wolff,  hrsg.  von  Job.  Hnr.  Köhler,  Frankf. 

1720.  Leibnitii  otium  Hannoverauum  sive  Miscellanea  G.  W.  Leibnitii  ed.  Joach.  Fr. 
Feller,  Lips.  1718,  und  als  zweite  Sammlung:  Monumenta  varia  inedita,  Lips.  1724. 
In  der  Ztschr.  „L'Europe  savante*-  wurde  1718,  Nov.,  Art.  VI,  p.  101  zuerst  der  für 
den  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  wahrscheinlich  1714  verfasste  Aufsatz  veröffentlicht: 
Principe»  de  la  nature  et  de  la  gräce,  fondes  en  raison,  den  dann  des  Maizeaux 
im  2.  Bd.  des  ob.  angef.  Recueil  1719  und  Dutens  in  der  unt  zu  erwähnend.  Sml.  1768 
wieder  abdrucken  liess.  Mit  diesem  Aufsatz  ist  nicht  zu  verwechseln  der  Abriss  seine» 
Systems,  den  zuerst  J.  H.  Köhler  in  einer  deutsch.  Uebersetzung  u.  d.  T. :  des  Herrn 
Gottfr.  Wilh.  v.  Leibniz  Lehrsätze  üb.  d.  Monadologie,  imgleich.  von  Gott,  seiner 
Existenz,  s.  Eigenschaften,  und  von  d.  Seele  des  Menschen,  Frankf.  1720,  veröffentlicht 
hat  (neu  aufgelegt  von  J.  C.  Huth  ebd.  1740);  aus  d.  Deutsch,  ins  Lat.  übers.,  erschien 
dieselbe  Schrift  in  den  Act.  erud.  Lips.,  suppl.  t.  VII.,  1721,  dann  auch,  mit  conimen- 
tirenden  Bemerkgn.  v.  Mich.  Gottl.  Hansehe,  Frankf.  u.  Leipz.  1728,  und  in  der 
dutensscheu  Smlg.  n.  d.  T. :  Prineipia  philosophiae  seu  theses  in  gratiam  prineipis 
Eugenii  conscriptae.  Das  franz.  Original  ist  nach  der  auf  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Han- 
nover aufbewahrten  Hdschr.  zuerst  von  Erdmann  in  s.  Ausg.  d.  Opera  philosophica 
1840  veröffentlicht  worden  unter  dem  Titel:  Monadologie.  In  den  drei  vorhandenen 
Handschriften  ist  die  Abhandlung  ohne  Aufschrift.  Verbesserte  Ausg.  v.  E.  Boutroux, 
Par.  1881,  ferner  besonders  herausgeg.  v.  D.  Nolen,  avec  une  notice  sur  L.,  des 
eclaircissements  sur  les  principales  theories  de  la  monadologie,  une  analyse  et  des  notes 
historiques  et  philosophiqnes,  Par.  1881.     L.  epist.  ad  diversos  ed.  Chr.  Kortholt, 


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142 


§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


Lips.  1734—42.  Commercium  eptetoiicum  Leibnitianum  ed.  Joh.  Dan.  Gruber,  Hann, 
«t  Gott.  1745,  wozu  einleitend  als  Prodromus  Commercii  epistolici  Leibnitiani  bereit« 
1737  von  Gruber  die  Correspondenz  zwisch.  Boineburg  und  Conring  veröffentl.  wurde, 
welche  über  L.»  Bildungsgang  und  »eine  Jugendschriften  manche  Notizen  enthält. 
J.  E.  Kapp,  Smlg.  einig,  vertraut.  Briefe,  welche  zwischen  L.  u.  D.  E.  Jablonski  etc. 
besond.  üb.  d.  Vereinigung  der  luth.  u.  ref.  Kel.  gewechselt  »worden  sind,  Leipz.  1743. 
Die  Briefe  L.s  an  Malebranche  bei  V.  Cousin,  Kragm.  philos.,  t  II,  1845.  Correspon- 
dance  de  L.  avec  l'electrice  Sophie  de  Brunswick-Lunebourg,  publice  p.  O.  Klopp, 
Hannov.  1875.  Den  Briefwechs.  zw.  L.  und  Christ.  Wolff  hat  C.  J.  Gerhardt,  Halle 
1860,  edirt.  Briefe  L.s  an  d.  Herzog  Moritz  Wilh.  v.  Sachsen-Zeitz ,  an  Flemming, 
Bose  u.  Vota  hat  Theod.  Distel  herausgeg.  in  d.  Ber.  d.  Kgl.  Sachs.  Gesellsch.  d.  W., 
phil.  bist.  CL,  1879,  S.  104—154  u.  1880,  S.  187  ff.  Leibnizens  u.  Huyghens  Briefwechs. 
mit  Papin  nebst  der  Biographie  Papins  u.  einigen  zugehörig.  Brief,  u.  Actenstücken, 
bearbeit.  v.  E.  Gerland,  Berl.  1881.  K.  Biedermann,  von  u.  aus  ungedruckten  Leibniz - 
schen.  Handschriften,  in:  Westermanns  Monatsh.,  1882.  R.  Döhner.  L.s  Briefwechs.  mit 
d.  Minist  v.  Bernstorff  und  andere  L.  betreffende  Briefe  u.  Actenstüeke  aus  d.  J.  1705 
bis  1716,  Hannov.  1882.  G.  Mollat,  Rechtaphilosophisches  aus  L.s  ungodruckten  Schriften, 
Lpz.  1885.  Ludw.  Stein,  d.  in  Halle  aufgefundenen  L.-Briefe  im  Auszug  mitgcthcilt, 
in:  Arch.  f.  Geach.  d.  Ph.,  I,  1887,  S.  79—91.  Im  J.  1887  wurden  auf  der  hallenser 
Bibliothek  101  Ortginalbriefe  Leibnizens  aufgefunden:  über  88  an  Christ.  Wagner,  Prof. 
der  Math,  in  Helmstädt,  adressirte,  die  für  die  Philosophie  sehr  wenig  ergeben,  berichtet 
Stein;  89 — 101,  deren  Adressaten  noch  nicht  alle  ermittelt  sind,  sollen  von  grösserem 
philo».  Werthe  sein. 

Umfassendere  Ausgaben  von  Werken  Leibnieens  sind:  Oeuvres  philosoph.  latines 
et  francaises  de  feu  Mr.  Leibniz.  tirees  de  ses  manuscrit«,  qui  se  conservent  dann  la 
biblioth.  royale  a  Hanovre,  et  publiees  par  R.  E.  Raspe,  avee  une  preface  de  Kästner, 
ä  Amst.  et  a  Leipz.  1765,  deutsch  m.  Zusatz,  u.  Anm.  von  .1.  H.  F.  Ulrich,  Halle 
1778 — 80.  In  dieser  raspeschen  Smlg.  ist  von  besond.  Wichtigkeit  die  vorher  nicht 
veröffentlichte,  1704  verf.,  umfangr.  Streitachr.  geg.  Locke:  Nouveaux  essais  sur 
Pentendement  humain  (deutsch  von  Schaarschmidt  in  Kirchmanns  philos.  Biblioth., 
1873 — 74);  ferner  enthält  dieselbe:  Remarques  sur  le  sentiment  du  P.  Malebranche  qui 
porte  que  nous  voyons  tout  en  Dieu,  conceruant  l'examen  que  Mr.  Locke  en  a  fait: 
Dialogus  de  connexione  inter  res  et  verba:  Difiicultates  quaedam  logieae;  Discours 
touchant  la  methode  de  la  certitude  et  l'art  d'inventer;  Historia  et  commentatio 
characteristicae  universalis,  quae  simul  sie  ars  inveniendi.  Bald  hernach  folgte  die 
dutenssche  Ausg.  der  Lachen  Werke,  die  aber  die  von  Raspe  veröffentl.  Stücke  nicht 
mitaufgenommen  hat:  Gothofr.  Guil.  Lcibnltii  opera  omnia,  nunc  prim.  collecta,  in 
claases  distributa,  praefationibus  et  indieibus  ornata  studio  Ludovici  Dutens,  tom.  VI, 
Genevae  1768  (Band  I:  Opera  theol.;  II:  Log.,  Metaph.,  Phys.  gener.,  Chym.,  Medic, 
Botan.,  Histor.  natur..  Artes:  III:  Opera  mathem. ;  IV:  Philos.  in  genere  et  opnscula 
Sinenses  attingentia;  V:  Opera  philol.;  VI:  Philologicorum  continuat.  et  collectanea 
etymologica.  Mehrere  Ergänzungen  zu  diesen  Veröffentlichungen  sind  seitdem  erseh.: 
Commercii  epistolici  Leibnitiani  typis  nondum  cvulgari  selecta  speeiminn,  ed.  J.  G.  H. 
Feder,  Hannov.  1805.  Leibnitii  systenia  theologicum  (in  conciliatorischem  Sinne  viel- 
leicht schon  um  1686  geschrieb.),  mit  franz.  Uebers.  zuerst  lug.  Par.  1819,  Iat.  u. 
dtsch.,  2.  Aufl.  Mainz  1820.  Iat.  u.  dtsrh.  von  Carl  Haas,  Tüb.  1860.  L.s  deutsehe 
Schriften  hat  G.  E.  Gnhrauer,  Berl.  1838 — 40  hrsg.  Eine  neue  Gcsamtntausg.  der 
philos.  Schriften  hat  Joh.  Ed.  Erdmann  veranstaltet,  manches  Unedirte  aus  Manuscripten 
der  K.  Bibliothek  zu  Hannover  mit  aufgenommen,  über  die  Entstehungszeit  d.  einzeln. 
Briefe,  Abhdlng.  u.  Schriften  Notizen  beigefügt:  Godofr.  Guil.  lieibnitii  opera  philos. 
quae  exstant  Latina,  Gallica.  Germanica  omnia,  Berol.  1840.  Oeuvres  de  Leibniz, 
nouv.  ed.,  par  M.  A.  Jacques,  2  voll.,  Paris  1842.  Eine  vollständ.  Sammlung  aller 
leibniziseh.  Schriften  hat  Geo.  Hnr.  Pertz  begonnen:  1.  Folge,  Gesch.,  Bd.  I — IV, 
Hannov.  1843 — 47;  2.  Folge,  Philos.,  Bd.  I:  Briefwechs.  zw.  L.,  Amauld  u.  d.  Land- 
grafen Ernst  v.  Hessen-Rheinfels,  aus  den  Handschr.  der  K.  Bibl.  zu  Hannover  hrsg. 
von  C.  L.  Grotefend,  Hannov.  1846:  3.  Folge,  Math.,  hrsg.  v.  C.  J.  Gerhardt,  Bd.  I 
bis  VII,  Berl.  und  (von  Bd.  III  an)  Halle  1849—63.  Auch  die  mathemat.  Schrift, 
enthalt,  manches  Philosophische,  z.  B.  in  Bd.  V:  in  BneUdlf  npoir«,  in  Bd.  VII:  initia 
renim  mathematicarum  metaphysica.  Gerhardt  hat  1846  auch  die  kleine,  von  L.  nicht 
lange  vor  s.  Tode  verf.  Schrift:  Historia  et  origo  ralculi  differentialis  hrsg.  A.  Foucher 
de  Careil  hat  die  ob.  (bei  der  Litt.  üb.  Spinoza)  citirte  Refutation  ined.  de  Spinoza 
par  Leibniz  veröffentl.  in:  Lettre*  et  opuscules  inedit*  de  Leibniz,  Paris  1854 — 57,  und 
hat  ferner  herausgegeben:  Oeuvres  de  Leibniz  publiees  pour  la  pr.  foi  d'apres  les  mscr. 


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§  18.    Leibuiz  and  gleichzeitige  Philosophen. 


143 


orig.,  Pari*  1859  ff.,  2.  ed.  t.  I  ff.  Par.  1867  ff.  Eine  neue  Aus«.  l.«eher  Werke  hat  auf 
Grund  des  hdschriftl.  Nachlasses  in  d.  Kgl.  Bibl.  zu  Hannover  Onno  Kiopp  ver- 
anstaltet, Hannov.  1864  ff.  (erste  Reihe:  hist-polit.  und  staatswiss.  Schriften  Bd.  I— XIII, 
1864 — 85).  Oeuvres  philosophiques  de  L.,  avec  une  introduction  et  des  Botet,  par 
P.  Janet,  2  vis.,  Paris  1866.  Die  philosophisch.  Schriften  von  G.  W.  Leibn.,  herausgeg. 
von  C.  J.  Gerhardt.  Bd.  1,  Berlin  1875,  Bd.  2,  1879  (ein  Theil  der  Briefe),  Bd.  4—6, 
1880—1885  (die  philosophisch.  Schriften  u.  Abhandlungen).  Eine  Auswahl  kleinerer 
philos.  Aufsätze  hat  in  dtseh.  Uebstzg.  nebst  beigefügt.  Einleitungen  Gust.  Schilling  u. 
d.  T.J  L.  als  Denker,  Leipz.  1863,  abdr.  lassen. 

Ueber  den  philosophischen  Entwicklungsgang  Leibnizens  sind  vor  Allem  seine 
eigenen  Aeusserungen,  insbes.  in  der  Einleitung  zu  seinen  Specimina  Psz-idti  (Op. 
ph.  ed.  Erdm.  p.  91),  ferner  in  Briefen  an  Remond  de  Montmort  u.  A.,  belehrend. 
Ueber  sein  Leben,  seine  Schriften  und  seine  Lehre  handeln  namentlich:  Jo.  Geo. 
von  Eckhart  (L.s  Secretair  und  spiter  sein  College  in  der  Historiographie  de«  Hauses 
Braunschweig),  dessen  biograph.  Notiren  erst  spät  durch  v.  Murr  in  dem  Journal  zur 
Kunstgesch.  u.  allg.  Litt.  VII.,  Nürnberg  1779,  veröffentl.  worden  sind,  aber  im  Mscr. 
an  Fontenelle  mitgetheilt,  von  diesem  benutzt  wurden  für  sein  Eloge  de  Mr.  de  Leibniz 
(geles.  in  d.  Par.  Akad.  der  Wiss.  1717,  abgedr.  in  der  Hist.  de  l'acad.  des  sc.  de 
Paris,  auch  in  d.  Sammlung  der  Eloge«  von  Fontenelle,  verdeutscht  durch  Eckhart  in 
d.  dtseh.  Ausg.  d.  Theodicee  von  172Ö,  auch,  m.  Anm.  von  Baring,  in  der  Ausg.  von 
1735:  vgl.  Schleiermacher,  üb.  Lobreden  im  Allgem.  u.  die  Pontenellesche  auf  Leibniz 
insbes.,  in  Schleiermachcrs  Werk.,  III,  3  S.  66  ff).  Elogium  Leibnitii  (von  Chr.  Wolff, 
auf  Grund  Eckhartseher  Nachr.),  in  den  Act.  Erud.,  Juli  1717,  wozu  1718  im  „Otium 
Hantioveranuni*  ein  von  Feller  verf.  „Supplementum  vitae  Leibn.  in  actis  erud.*  erschien. 
Histoire  de  la  vie  et  des  ouvrages  de  Mr.  Leibniz  par  M.  L.  de  Neufville  (Jaucourt) 
in  der  Amst.  Ausg.  der  Theodicee  von  1734.  Ludovici,  ausführt.  Entwurf  e.  vollständ. 
Historie  der  I. sehen  Philo«.,  Lpz.  1736 — 37.  Lamprecht,  Leb.  des  Herrn  von  L.,  Berlin 
1740,  Italien,  von  Joseph  Barsotti  m.  Anm.,  besond.  auf  L.s  Aufenthalt  in  Rom  1689 
berüglich.  Gesch.  des  Herrn  von  L.,  hub  d.  Franz.  des  Ritters  v.  Jaucourt,  Lpz.  1757. 
Eloge  de  L.,  qui  a  remporte  le  prix  de  l'acad.  de  Berlin,  pur  Bailly,  Berl.  1769.  Loh- 
sebrift  anf  Gfr.  Wilh.  Freih.  v.  L.  in  der  K.  dtseh.  Ges.  z.  Gotting,  vorgel.  von  Abr. 
Gotthelf  Kästner,  Altenburg  1769.  Mich.  Hissmann,  Versuch  üb.  d.  Leben  L.s,  Münster 
1783.  Auch  Rehberg  im  hannoversch.  Magaz.  1787  und  Eberhard  im  Pantheon  der 
Deutschen  II,  1795.  haben  L.s  Leben  dargestellt.  In  neuerer  Zeit  hat  Gottachalk  Ed. 
Guhrauer  eine  ausfuhrt.  Biogr.  geliefert,  G.  W.  Freih.  v.  L.,  2  Bde.,  Bresl.  1842,  m. 
Nachtrag.  1846,  engl,  von  Macki,  Boston  1845.  Vgl.  u.  a.  mehrere  Vorträge  ti.  Abhdl. 
von  Boeckh:  üb.  L.  u.  d.  dtach.  Akademien,  üb.  L.s  Ansichten  v.  d.  philol.  Kritik, 
über  L.  in  s.  Vhältn.  z.  posit.  Theol.  etc.,  abg.  in  Boeckhs  kl.  Sehr.,  hrsg.  v.  Ferd. 
Ascherson,  Bd.  II,  Lpz.  1859  u.  Bd.  III,  1866.  Trendelenburg,  in  den  Monatsber.  der 
Akad.  d.  Wiss.  und  in  Tr.s  hist.  Beitr.  z.  Philo«.,  Bd.  II.  Berl.  1855  u.  Bd.  III,  1867. 
Femer:  Onno  Klopp,  d.  Vhältn.  von  L.  z.  den  kirchl.  Reunionsversuchen  in  d.  zweit. 
Hälfte  d.  17.  Jahrh.  in:  Ztschr.  des  hist.  Vereins  f.  Niedersachs.,  Jahrg.  1860,  L.  als 
Stifter  gelehrt.  Gesellsch.,  Vorrr.  bei  d.  Philolog.-Vsml.  zu  Hannov.,  Gött.  1864,  L.s 
Plan  z.  Grund,  e.  Societät  der  Wiss.  in  Wien,  im  Areh.  f.  Kunde  oeterr.  Geschichts- 
quellen, auch  separat,  Wien  1868.  L.s  Vorschlag  e.  franz.  Expedition  nach  Aegypten, 
Hannov.  1864.  Die  diesen  Vorschlag  enthaltenden  Schriften  haben  Foucher  de  Careil, 
Oeuvres  de  L.:  Projet  d'expedition  d'Egypte,  presente.  par  L.  ü  Louis  XIV.,  Paris 
1864,  und  Klopp,  Hann.  1864.  edirt.  K.  G.  Blumstengel,  L.s  ägyptisch.  Plan,  Lpz.  1869. 
Edm.  Pfleiderer,  G.  W.  Leibniz  als  Patriot,  Staatsmann  u.  Bildungsträger,  Leipz.  1870. 
Osk.  Hubatsch,  L.  u.  s.  ägypt.  Project,  in  Neu.  Lausitz.  Magaz..  49.  Bd.,  1872,  S.  55 — 87. 
L.  Neff,  G.  W.  L.  als  Spraehforseh.  u.  Etymologe,  Lyc.-Prog.,  Heidelb.,  1870—71, 
auch  sep.,  Tübing.  Wilh.  Guerrier,  L.  in  seinen  Beziehungen  z.  Kussland  u.  Peter 
d.  Gr.,  St.  Peters  b.  u.  Lpz.  1873.  A.  Foucher  de  Careil.  Leibniz  et  Pierre  le  Grand, 
Paris  1873:  Leibniz  et  les  deux  Sophies,  Paris  1876.  Wilh.  Wiegand.  Lbnz.  als 
Religions-Friedensstifter,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  philos.  Kr..  1880,  Bd.  76.  S.  102 — 118, 
193—224.    F.  W.  Dafert,  L.  als  Deutscher,  Wien  1883. 

Auf  die  leibnizisehe  Doctrin  gehen  ausser  den  betreffenden  Thcilen  in  den  um- 
fassenderen Geschichtswerken,  worunter  bes.  die  Darstellung  derselben  von  Erdmami 
(Vers.  c.  wiss.  Darst.  d.  Gesch.  d.  neu.  Phil.,  II.  Bds.  2.  Abth.:  L.  u.  d.  Entwiekl.  d. 
Idealism.  vor  Kant)  und  von  Kuno  Fischer  hervorzuheben  sind,  Ldw.  Feuerbach, 
Darstellg.,  Entwiekl.  u.  Krit.  der  l.schen  Phil.,  Ansbach  1837,  2.  Aufl.  1844:  Nourrisson, 
la  phil.  de  L..  Paris  1860;  ferner  manche  ält.  u.  neuere  Abhdlgn.  n.  Schriften,  welche 
einzelne  Seiten  der  l.schen  Phil,  betreffen.    Geo.  Ben».  Bilflnger.  cotum.  de  hanuonia 


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144 


§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


animi  et  eorp.  humum  praestabilita,  ex  mcnte  Leibnitii,  Fref.  1723,  2.  ed.  1735,  de 
originc  et  pcrmissione  mali,  praecipue  moralis,  Frcf.  1724.  Fr.  Ch.  Baumeister,  hist. 
doctrinae  de  optima  mundo,  Gorlitii  17-11.  G.  Ploucquet,  primaria  monadologiae  capito, 
Berol.  1748.  De  Justi,  diss.  qui  a  remporte  le  prix  propose  par  l'acad.  des  sc.  de 
Prusse  sur  le  Systeme  des  monades,  Berl.  1748.  (Reinhard)  diss.,  qui  a  remporte  le 
prix  prop.  par  l'acad.  des  6c.  de  Prusse  sur  foptimisme,  Berl.  1755.  Kant  üb.  d. 
Optimismus,  Kgsb.  1759,  womit  jedoch  die  spätere,  vom  krit.  Standpunkt  aus  das 
Problem  behandelnde  Schrift  üb.  d.  Missling.  aller  philos.  Versuche  e.  Theodicee  zu 
vergleichen  ist.  Ancillon,  essai  sur  lVsprit  du  Lcibnitianisme,  in  den  Abb.  der  ph.  Cl. 
der  Akad.  der  Wiss.,  Berl.  1816.  Maine  de  Biran,  expos.  de  la  doctrine  philos.  de  L., 
compose  pour  la  Biogr.  univ.,  Paris  1810.  H.  C.  W.  Sigwart,  die  Lsche  Lehre  von  der 
prästabilirten  Harmonie  in  ihr.  Zsmh.  mit  früher.  Philosophemen  betracht.,  Tüb.  1822. 

G.  E.  Guhrauer,  Leibnitii  doctrina  de  unione  animae  et  corporis,  Inaug.-Diss.,  Berl. 
1837.  K.  Mor.  Kahle,  L.s  vinculum  substantiale,  Berl.  1839.  G.  Hartensteinii  com- 
mentatio  de  materiae  apud  Leibnitium  notione  et  ad  monadas  relatione  (zur  Feier  des 
21.  Juni  1846  als  des  zweihundert).  Geburtstages  L.s),  Lips  1846.  R.  Zimmermann, 
L.8  Monadologie,  Wien  1847:  L.  und  Herbart,  e.  Vergleichung  ihrer  Monadologien, 
Wien  1849;  d.  Rechtsprincip  bei  L.,  Wien  1852;  üb.  L.s  Conceptualismus,  ebd.  1854 
(aus  d.  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad.,  wiederabg.  in  den  Stud.  u.  Kr.,  Wien  1870;. 
Trendelenburg,  das  Verhältniss  des  Allgemeinen  zum  Besondern  in  Leibnizens  philos. 
Betrachtung  u.  dessen  Naturrecht:  Bruchstücke  in  Leibnizens  Nachlass,  zum  Naturrecht 
gehörig,  in:  Historische  Beiträge  zur  Philos.  Bd.  II,  S.  233—256  u.  257—282:  ders. 
üb.  L.s  Entwurf  einer  allgemeinen  Charakteristik  u.  über  die  Elemente  der  Definition 
in  L.8  Philos.,  ebd.  Bd.  III,  S.  1—47  u.  48—62.  F.  B.  Kvet,  L.s  Logik;  L.  und  Come- 
nius,  Prag  1857.  Ueber  L.s  Religionsphil,  handelt  C.  A.  Thilo  in  der  Zeitschr.  f.  ex. 
Philos.  Bd.  V,  1864,  S.  167—204.  Km.  Saisset,  discotirs  sur  la  philos.  de  L.,  Paris 
1857.  A.  Foucher  de  Careil,  L.,  la  philos.  juive  et  la  cabbale,  Paris  1861;  L.,  Dcscartes 
et  Spinoza,  avec  un  rapport  par  Victor  Cousin,  Paris  1863.  J.  Bonifas,  etude  sur  la 
theodicee  de  L.,  Paris  1863.  Oscar  Svabn,  akad.  Abh.  üb.  d.  Monadenlehre,  Lund 
1863.  Hugo  Sommer,  de  doctrina,  quam  de  harmonia  praestabilita  Leibnitius  propos., 
Gott.  1866.  Dan.  Jacoby,  de  Leibnitii  studiis  Aristoteleis  (inest,  ineditum  Leibnitianuui), 
diss.  inaug.,  Berol.  1867.  Ludw.  Grote,  L.  u.  s.  Zeit,  Hann.  1869.  C.  H.  Plath,  Ls 
Missionsgedanken,  Berlin  1869.  A.  Pichler,  die  Theologie  des  L.,  Münch.  1869 — 70. 
Jos.  Durdik,  L.  u.  Newton,  Halle  1869.  Otto  Ca*pari,  L.s  Philos.,  Lpz.  1870.  Edm. 
Plleiderer,  L.  als  Verf.  v.  zwölf  anonym,  meist  deutsch-polit.  Flugschriften  nachgewiesen, 
Leipz.  1870.  Ad.  Brennecke,  L.s  Beweise  f.  das  Dasein  Gottes,  in:  philos.  Monatsh. 
V,  1870,  S.  42 — 63.  Geo.  Jellinek,  d.  Weltanschauungen  L.s  und  Schopenhauers,  e. 
Studie  üb.  Optimism.  n.  Pessimism.,  Leipziger  In.-Diss.,  SVien  1862.  A.  Reinhardt,  sind 
es  vorzugsw.  specul.  od.  naturw.  Gründe,  w.  L.  zur  Aufstellg.  s.  Monadenlehre  geführt 
haben?  Jena  1873.  Hülsen,  L.  als  Pädagoge  u.  s.  Ansichten  üb.  Pädagogik,  G.-Pr., 
Charlottenb.  1874.  H.  G.  Meyer,  L.  u.  Baumgarten  als  Begründer  d.  dtsch.  Aesthetik, 
Halle  1874.  D.  Nolen,  quid  Leibnizius  Aristoteli  debuerit,  Paris  1875.  J.  Schmidt, 
Leihniz  n.  Baumgarten.  Ein  Beitrag  zur  Gesch.  der  deutsch.  Aesth.,  Halle  1875.  M. 
Heinze,  L.  in  sein.  Verhältn.  z.  Spinoza,  in  d.  Ztschr.  Im  Neuen  Reich,  1875,  II,  S.  921 
bis  932.  K.  Bussenius,  üb.  die  Theodicee  des  Leihniz,  G.-Pr.  von  Rossleben,  1876. 
Fr.  Kirchner,  Leibniz'  Psychologie,  Cöthen  1876.  Ders.,  Gottfr.  Wilh.  Leibniz.  Sein 
Leben  u.  Denken,  1877.  K.  R.  Geijer,  Hum  förhaller  sig  L.S1  Metaf.  tili  de  fürst« 
förutsättningama  för  möjligheten  af  praktisk  filos.,  Upsala  1876.  Gust.  Schulze,  zur 
leibnizschen  Theodicee,  in:  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  philos.  K.,  Bd.  70,  1877,  S.  193—224. 
A.  Schmarzow.  Leibniz  u.  Schottclius.  Die  unvorgreiflichen  Gedanken  untersucht  u. 
herausgeg.,  in:  Quellen  u.  Forschungen  zur  Sprach-  u.  Kulturgesch.  der  germanisch. 
Völker,  herausgeg.  v.  B.  ten  Brink  etc.,  No.  23,  Strassb.  1877.  Gegen  Schmarzow, 
der  die  Abfassungszeit  etwa  ins  J.  1680  setzt,  verlegt  dieselbe  in  die  letzten  Jahre  des 
Jahrb.  L.  Neff,  im  Progr.  des  Pro-  u.  R.-G.  zu  Durlach  1880.  A.  Penjon,  de  infinito 
apud  Leibnitium,  Paris  1878.  B.  Penzier,  d.  Monadenl.  u.  ihre  Bez.  zur  griech.  Ph., 
I.  D.,  Jena  1878.  Meissner,  L.s  Streit  mit  Clarke  über  d.  Raum,  1882.  Le  Viseur,  L.s 
Beziehungen  zur  Pädagogik,  1882.  P.  Harzer,  Leibniz'  dynamische  Anschauungen,  mit  be- 
sonderer Rücks.  auf  d.  Reform  des  Kraftemaasses  u.  d.  Entwickelung  des  Princ.  der  Er- 
haltung der  Energie,  in:  Vierteljahrsschr.  f.  wissenschaftl.  Philos.,  1882,  S.  265 — 295.  P. 

H.  Ritter,  de  Monadenleer  van  Leibniz,  Leiden  1882.  L.  Bräutigam,  Lbnz.  u.  Herbart,  üb. 
d.  Freiheit  des  menschl.  Willens,  Heidelb.  1882.  Otto  Engler,  Darstellung  u.  Krit.  des  leib- 
nizisch.  Optimism.,  I.  D.,  Jena  1883.  Rud.  Eucken,  Leibniz  u.  Geulinx,  in:  Philos.  Monatsh., 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


145 


1883,  S.  525—542.  Segond,  la  monadologie  avee  notiee  pnr  la  vie,  les  errits  et  la 
phil.  de  L.,  Par.  1883.  S.  Auerbach,  zur  Entw  ickelungsgesch.  der  leibnizerh.  Monadenl., 
Berl.  18X4.  J.  Th.  Merz,  Leibniz.  Lond.  1S84,  ins  Deutsche  übers.,  Heidelb.  1886. 
Herrn.  Otto,  L.s  Erkennrnissl.,  I.  D.,  Lpz.  1S84.  Dav.  Selver,  der  Entwiekclungsgang 
der  leibnizschen  Monadenl.  bis  1696,  I.  D.,  Leipz.  18*5.  Knill  Wendf,  d.  Entwirke!, 
der  leibnizsch.  Monadenl.  bi«  zum  J.  1695,  I.  D.,  Berl.  I88P.  G.  M.  Mayer,  d.  Opti- 
mismus des  I,.,  I.D.,  Jena  1886.  F.  Tönnies,  L.  u.  Hobbes,  in:  Phil.  Monateh.,  18S7, 
S.  557—573.  A.  Spaunenkrebs,  die  metaph.  Princ.  des  Grundes  u.  d.  Zweckes  na<  h  L., 
Würzb.  I.  I).,  Bromberg,  s.  auch  den  Artikel  über  Leibniz  v.  Prantl  in  der  Allgem. 
deutsch.  Biographie. 

Ueber  L.  und  die  Lache  Schule,  bes.  m.  Rucks,  auf  Kants  Kritik,  handelt  der 
Leibnizianer  W.  L.  G.  Frhr.  von  Eberstein,  Versuch  e.  Gesch.  d.  Logik  u.  Metaph. 
bei  d.  Deutschen  v.  L.  bis  auf  d.  gegenw.  Zeit,  Halle  1704 — 99.  D.  Noten,  la  critique 
de  Kant  et  la  metaphysique  de  L.,  Paris  1875.   S.  auch  dessen  Ausg.  d.  Monadologie. 

Kine  Gesammtausgabe  der  Werke  Vi  cos  ist  Neap.  1835,  Mailand  1837  erschienen. 
Später  sind  Scritti  inediti  durch  G.  del  Giudice,  Neapel  1S62,  veröffentl.  worden. 
Ueb.  Vico  handeln  u.  A.:  Joseph  Ferrari  in  d.  Einl.  zu  d.  Ausg.  der  Werke  Vieos, 
Mailand  1837.  Ferrari.  Vico  et  l'Italie,  Paris  1839.  Cantoni,  Vico,  Turin  1867. 
K.  Werner,  üb.  Giarab.  Vico  als  Geschichtsphilosophen  und  Begründer  der  neueren 
italienisch.  Philos.,  Wien  1877;  ders.,  Giamb.  Vico  als  Philos.  u.  gelehrter  Forscher, 
Wien  1879,  neue  (Tit.)  Ausg.,  1881.  A.  Pieeolonisso,  Giamb.  Vico  o  la  scienza  nuova, 
Salerno  1878.  Flint,  Vico,  Edinb.  1885.  S.  auch  Krl.  Werner,  zwei  philo«.  Zeitgenossen 
u.  Freunde  G.  B.  Vieos,  I  u.  II  (Paolo  Mattia  Doria  u.  Tommaso  Rossi),  Wien  1886. 

Gottfried  Wilhelm  Leibniz  (Lubeniecz)  wurde  zu  Leipzig  am  21.  Juni 
(alten  Stils  =  1.  Juli  nenen  Stils)  1646  geboren.  Sein  Vater,  Friedrich  L,  ein 
Jurist,  seit  1640  Profeasor  der  Moralphilosophie  zn  I^eipzig,  starb  bereits  1652. 
Auf  der  Nicoinischule  und  auf  der  leipziger  Universität,  welche  er  zu  Ostern  1661 
bezog,  war  der  besonders  um  die  Geschichte  der  alten  Philosophie  verdiente  Jacob 
Thomasius  (geb.  zu  Leipzig  1622,  gest.  1684,  der  Vater  des  berühmten  Juristen 
und  Rechtsphilosophen  Christian  Thomasius)  der  bedeutendste  Ohne  Aristoteles 
und  die  Scholastiker,  wie  auch  Piaton  und  Plotin,  gering  zu  achten,  fand  er  doch 
vollere  Befriedigung  bei  Descartes;  später  näherte  er  sich  jenen  wiederum  an. 
Leibniz  vertheidigte  im  Mai  1663  unter  dem  Vorsitz  des  Jacob  Thomasius  eine 
Abhandlung  de  prineipio  individui,  worin  er  sich  für  die  nominalistische  Doctrin 
erklärt.  Im  Sommer  1663  studirte  er  in  Jena,  besonders  Mathematik  unter  Erhard 
Weigel  (über  ihn  handelt  F.  Bartholomäi  in  d.  Ztaehr.  f.  exaete  Ph.,  Bd.  9,  Heft  3, 
1871).  Gegen  Ende  des  Jahres  1664  erschien  zu  Leipzig  sein  Specimen  difficnltatis 
in  jure  seu  quaestiones  philosophicae  amoeniores  ex  jure  collectae,  1666  seine  Ars 
combinatoria.  Die  juristische  Doctorwürde,  um  die  er  sich  1666  bewarb,  wurde 
ihm  in  Leipzig  nicht  ertheilt,  indem  man  ihn  wegen  seiner  Jugend,  um  nicht  ältere 
Bewerber  am  das  Doctorat  und  das  daran  geknüpfte  Anrecht  auf  ABsessorstellen 
hintunznsetzen,  auf  eine  spätere  Promotion  verwies,  wohl  aber  in  Altdorf,  wo  er 
am  5.  November  1666  die  Abhdl.  de  casibns  perplexis  in  jure  vertheidigte;  er  ver- 
langt in  derselben  im  Fall  einer  Unbestimmtheit  der  positiven  Gesetze  Entscheidung 
nach  dem  Naturrecht,  Ohne  Neigung  zu  der  akademischen  Lehrthätigkeit ,  die  er 
in  Altdorf  hätte  antreten  können,  suchte  er  sich  in  der  nächstfolgenden  Zeit  durch 
den  Umgang  mit  hervorragenden  Gelehrten  und  Staatsmännern  weiter  auszubilden. 
In  Nürnberg  kam  er  mit  Alchymisten  in  Berührung.  Am  wichtigsten  ward  für  ihn 
die  Verbindung  mit  dem  Freih.  Joh  Christ,  v.  Boineburg,  der  bis  1664  erster 
geheimer  Rath  (Minister)  des  Kurfürsten  Johann  Philipp  von  Mainz  gewesen  war 
und  immer  noch  grossen  Einfluss  besass.  L.  widmete  dem  Kurfürsten  die  (von  ihm 
anf  der  Reise  von  Leipzig  nach  Altdorf  1666  verf.)  Schrift:  Methodus  nova  discendae 
docendaeque  jurisprudentiae,  cum  subjuneto  catalogo  desideratorum  in  jurispru- 
dentia,  Francof.  1667.  Bei  dem  Catalogus  desideratorum  leitete  ihn  Bacons  Vorgang 
in  der  Schrift  de  augmentis  scientiarum.   Eine  von  L.  1668  verf.  Abhdl.  geg.  den 

l'eberweg-Heinze,  Grnn  Iris»  III.  1.  Aufl. 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


Atheismus  craeh.  u.  d.  T.:  Confessio  naturae  eontra  atheistas  mit  des  Spizelius 
Kpistola  ad  Ant.  Reiseram  de  eradicaiido  atheismo,  Aug.  Vindel.  1(569.  Mit  dem 
Maiuzischen  Hofrath  Herrn.  Andr.  Lasser  arbeitete  L.  1668  u.  69  an  einer  Ver- 
besserung des  Corpus  juris.  Von  des  Nizolius  Schrift  de  veris  principiis  et  vera 
ratione  philosophandi  contra  pseudo-philosophos,  Parma  1553  (s.  oben  §  5  S.  26) 
besorgte  L.,  durch  Boineburg  veranlasst,  eine  neue  Ausg.  m.  Anmerk.  u.  Abhdlgn. 
(insbeB.  einer  diss.  de  stilo  philosophico  Marii  Nizolii),  welche  Frankf.  1670,  auch 
1674  erschien.  Durch  Boineburg,  der,  selbst  ein  zum  Katholizismus  übergegangener 
Protestant,  schon  im  J.  1660  zu  Rom  für  eine  Wiedervereinigung  der  Protestanten 
mit  den  Katholiken  thätig  war,  wurde  L.  bereits  während  seines  Aufenthalts  in 
Mainz  für  die  Reunionsbestrebungen  gewonnen,  welche  vor  allen  Royas  de  Spiuola 
(gest.  1695)  mit  Eifer  betrieb,  doch  nahm  erst  später  L.  an  denselben  einen  wesent- 
lich mit  eingreifenden  Antheil.  Auf  Boineburgs  Wunsch  schrieb  L.  seine  Defensio 
trinitatis  per  nova  reperta  logica  contra  epist.  Ariani  1669,  worin  er  mehr  die  Argu- 
mente des  Socinianers  Wissowatius  zu  widerlegen,  als  einen  positiven  Gegenbeweis 
zu  führen  sucht.  Im  Sommer  1670  wurde  L.  Rath  am  Ober-Revisions-Collegium, 
dem  höchsten  Gerichtshof  des  Kurfürstenthums.  Im  März  1672  trat  er  eine  Reise 
nach  Puris  und  London  an.  Nach  London  reiste  er  1673,  kam  im  März  desselben 
Jahres  nach  Paris  zurück,  wo  er  bis  zum  Oct.  1676  verweilte,  eine  Zeit  lang  als 
Erzieher  von  Boineburgs  Sohne.  In  Paris  erhielt  L.  1676  von  dem  Herzog  Johann 
Friedrich  von  Braunschweig — Lüneburg  und  Hanuover  eine  Ernennung  zum  Biblio- 
thekar in  Hannover.  Er  reiste  aus  Frankreich  über  London  und  Amsterdam  nach 
Hannover,  wo  er  im  Üec.  1676  seine  Stelle  autrat.  Unter  den  Gelehrten,  mit  denen 
ihn  der  Aufenthalt  im  Auslande  in  Verbindung  brachte,  sind  die  bedeutendsten: 
in  Paris  der  Cartesianer  Arnauld,  der  holländische  Mathematiker  und  Physiker 
Huyghens,  der  deutsche  Mathematiker  und  Logiker  Walther  von  Tschirnhausen, 
durch  den  er  mit  philosophischen  Sätzen  Spinozas  und  vielleicht  auch,  falls  wirklich 
Tsch.  ihm  den  von  Newton  an  Collins  gerichteten  Brief  vom  10.  Dec.  1672  über 
Barrows  Tangentenmethode  mitgetheilt  hat,  mit  mathematischen,  auf  die  Fluxions- 
rechnung  bezüglichen  Theoremen  Newtons  bekannt  wurde,  in  London  der  auch  mit 
Spinoza  befreundete  Secretair  der  Akad.  d.  Wissenschaften,  Oldenburg,  der  Chemiker 
Boyle,  ferner  der  Mathematiker  Collins  (den  er  jedoch  erst  1676  sah).  Durch  Olden- 
burgs Vermittlung  hat  Leibniz  auch  mit  Newton,  der  damals  in  Cambridge  war, 
Briefe  gewechselt.  Bei  der  Durchreise  durch  Holland  hat  L.  Spinoza  besucht,  mit 
dem  er  schon  im  Oct.  1671  über  eine  optische  Frage  correspondirt  hatte.  Bei 
seinem  ersten  Aufenthalt  in  Paris  im  Jahr  1672  suchte  Leibniz  Ludwig  XIV.  den 
Rath  zur  Eroberung  Aegyptens  vorzulegen,  wodurch  Frankreichs  Macht  gemehrt, 
zugleich  aber  sein  Interesse  von  den  deutschen  Angelegenheiten  abgelenkt  werden 
und  auch  die  damals  immer  noch  beträchtliche  Macht  der  Türken  gebrochen  werden 
sollte.  Ein  kurzer  Entwurf  dieses  (von  Boineburg  ausgegangenen)  Planes  wurde 
bereits  gegen  das  Ende  des  Jahres  1671  nach  Paris  gesandt,  von  L.  verfasst  unter 
dem  Titel:  Specimen  demoustrationis  politicae:  de  eo,  qnod  Franciae  intersit  in- 
praesentiarum,  seu  de  optimo  consilio,  quod  potentissimo  Regi  dari  potest;  con- 
cluditur  expeditio  in  Hollandiam  Orientis  seu  Aegyptum  (verüffentl.  v.  0.  Klopp  in 
dess.  Ausg.  l.scher  Werke,  I.  Reihe,  2.  Bd.,  S.  100 ff.).  Daran  schlössen  sich:  de 
expeditione  Aegyptiaca  regi  Franciae  proponenda  justa  dissertatio  (die  Haupt- 
schrift),  und  die  gedrängtere  Darstellung:  Cousilium  Aegyptiacum.  (Von  der  „Justa 
dissertatio1*  hat  1799  das  englische  Ministerium  sich  eine  Abschrift  von  Hannover 
aus  senden  lassen,  woraus  1803  in  einer  englischen  Brochure  ein  Auszug  erschien; 
von  dem  Consilium  Aegyptiacum  hat  1803  der  französische  General  Mortier  eine 
Abschrift  in  Hannover  sich  geben  lassen  und  nach  Paris  gesandt,  wonach  ein 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


147 


Abdruck  1839  in  Guhrauers  Schrift:  Kurmainz  in  der  Epoche  von  1672,  erfolgt  ist. 
Die  grössere  Denkschrift  ist  unvollständig  durch  Foucher  de  Careil  im  V.  Hände 
seiner  Ausgabe,  vollständig  zuerst  durch  Onno  Klopp  in  seiner  Ausg.  l.scher 
Werke  1864  veröffentl.  worden.) 

Newton  hatte  bereits  seit  1665  und  1666  die  von  ihm  sogenannte  .Arithmetik 
der  Fluxionen*  erfunden  und  bald  nachher  nach  ihrer  Grundlage  und  in  der  An- 
wendung auf  das  Tangentenproblem  theils  durch  eine  im  Jahr  1671  verf.  Abhdl., 
theils  und  besonders  durch  einen  Brief  an  J.  Collins  vom  10.  Dec.  1672  Einzelnen 
mitgetheilt,  veröffentlichte  dieselbe  aber  erst  in  seinem  1686  beendeten,  1687  ersch. 
grossen  Werke:  Principia  mathematica  philosophiae  naturalis.    Im  Jahre  1776  ge- 
langte L.  (vielleicht  nicht  ganz  unabhängig  von  newtonschen  Andeutungen)  zu  seiner 
mit  Newtons  Fluxionencalcul  sachlich  übereinkommenden,  formell  aber  vollkomm- 
neren  „ Differentialrechnung";  er  veröffentlichte  seine  Erfindung  zuerst  1684  im 
Nov.  in  den  „Acta  eruditorum"  durch  den  Aufsatz:  Nova  methodus  pro  maximis  et 
minimis.  Sowohl  bei  dem  newtonschen,  wie  bei  dem  leibnizischen  Verfahren  handelt 
es  sich  der  Sache  nach  um  die  Bestimmung  des  Greuzwerthes,  dem  das  Verhältniss 
der  Zunahmen  zweier  veränderlichen  Grössen,  deren  eine  von  der  andern  abhängig 
oder  eine  „Function"  derselben  ist,  sich  immer  mehr  nähert,  je  kleiner  diese  Zu- 
nahmen werden,  dann  auch  umgekehrt  (in  der  sogenannten  „Integralrechnung"),  wenn 
dieser  Grenzwerth  gegeben  ist,  um  den  Rückschluss  auf  die  Art  der  Abhängigkeit 
der  einen  Grösse  von  der  andern.  Newton  nannte  die  stetig  veränderlichen  Grössen 
.flieasende"  (fluentes),  die  (unendlich  kleinen)  augenblicklichen  Differenzen  aber 
.Momente*,  die  er  als  „principia  jamjara  nascentia  finitarum  magnitudinum"  be- 
zeichnet, und  den  Grenzwerth  der  Verhältnisse  der  Veränderungen  („prima  nascen- 
tium  proportio")  „Fluxion".  Leibniz  nannte  die  Differenzen  je  zweier  Werthe  einer 
veränderlichen  Grösse,  sofern  diese  Differenzen  als  unendlich  klein  oder  verschwin- 
dend (ins  Unendliche  abnehmend)  gedacht  werden,  Differentialien  und  den  Greuz- 
werth,  dem  sich  das  Verhältniss  zwischen  den  Differenzen  der  einen  und  denen  der 
andern  Grösse  bei  unendlicher  Verkleinerung  dieser  Differenzen  immer  mehr  annähert, 
den  Differentialquotienten.   Durch  einen  Brief  Newtons  an  Oldenburg  vom  13.  Juni 
1676  erfuhr  Leibniz,  dass  Newton  ein  methodisches  Mittel  zur  Lösung  gewisser 
mathematischer  Probleme  gefunden  habe,  theilte  seinerseits  am  27.  August  desselben 
Jahres  mit,  dass  er  in  dem  gleichen  Falle  sei,  erhielt  dann  von  Newton  dnrch  ein 
Schreiben  vom  24.  Oct.  bestimmtere  Mittheilungen  über  mehrere  analytische  Ent- 
deckungen Newtons  nebst  einer  Andeutung  über  den  Fluxionencalcul  durch  ein 
Anagramm  des  Satzes:  „data  aequatione  quotcuuquo  fluentes  quantitates  involvente 
fluxiones  invenire  et  vice  versa".  Leibniz  theilte  darauf  in  einem  (durch  Oldenburg 
übersandten)  Briefe  vom  21.  Juni  1677  au  Newton  seine  Methode  nicht  bloss  an- 
deutungsweise, sondern  ausführlich  mit  und  bemerkte,  diese  möge  vielleicht  mit  der 
von  Newton  angedeuteten  Methode  übereinkommen  („arbitror  quae  celare  voluit 
Newtonus  de  taugentibus  ducendis,  ab  bis  non  abludere").  Bei  der  Veröffentlichung 
seiner  Methode  in  den  Act.  erud.  1684  erwähnte  L  diese  Correspondenz  nicht, 
Newton  aber,  der  auf  Leibnizens  letzten  Brief  nicht  mehr  geantwortet  hatte,  er- 
wähnte dieselbe  1687  in  einem  Scholion  zu  Buch  II.  (Sect.  IL),  Lemma  IL,  S.  253  f. 
(2.  Aufl.  1713,  S.  226  f.)  seiner  „Principia"  (das  er  jedoch  in  der  dritten  Auflage 
vom  Jahre  1726  nicht  wieder  abdrucken  Hess,  sondern  durch  ein  anderes,  auf  seinen 
Brief  an  J.  Collins  vom  10.  Dec.  1672  bezügliches  ersetzte,  weil  es  von  Leibniz 
anders  gedeutet  worden  war,  als  Newton  es  verstanden  wissen  wollte).    Er  sagt  in 
demselben,  auf  seine  Mittheilung,  er  sei  im  Besitz  einer  Methode,  die  Maxima  und 
Minima  zu  bestimmen,  Tangeuten  zu  ziehen  etc.,  auch  wenn  die  Gleichungen  irra- 
tionale Ausdrücke  enthielten,  habe  Leibniz  geantwortet,  er  sei  auf  eine  gleiche, 

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§  18.   Leibniz  and  gleichzeitige  Philosophen. 


das  Nämliche  leistende,  Methode  gefallen  und  habe  diese  mitgetheilt,  die  in  der 
That  von  der  aeinigen  [newtonschen]  nur  unwesentlich  abweiche.  (Wann  and  wie 
Leibniz  dieselbe  gefanden  habe,  läast  Newton  hier  unbestimmt  L.  glaubte  in  dem 
Scholion  eine  Anerkennung  der  Selbständigkeit  seiner  Erfindung  finden  zu  dürfen, 
welche  Deutung  Newton  später  abwies.)  In  der  Folge  entspann  sich  ein  Streit  über 
die  Priorität  der  Erfindung,  der  in  dem  am  24.  April  1713  der  kgl.  Societät  der 
Wissensch,  zu  London  durch  die  von  ihr  niedergesetzte  Commission  erstatteten 
(1713  veröffentlichten)  Berichte  zu  Gunsten  Newtons  entschieden  wurde,  und  zwar 
insofern  mit  Recht,  als  die  Voraussetzung  der  Identität  beider  Methoden  zutrifft, 
da  in  der  That  Newton  die  Erfindung  früher  gemacht,  Leibniz  später,  and  vielleicht 
sogar  nicht  ganz  unabhängig  von  Newton,  dieselbe  aufs  Neue  gemacht  hat,  und  nur 
die  Priorität  der  Veröffentlichung  Leibnizen  zuzuerkennen  ist,  insofern  jedoch 
nicht  ganz  mit  Recht,  als  jene  Voraussetzung  nur  in  beschränktem  Maosse  gilt, 
indem  Ls  Methode  vollkommener  und  durchgebildeter  als  die  newtousche,  insbe- 
sondere seine  Bezeichnung  sachgemäaser  und  brauchbarer  ist,  und  die  fruchtreichste 
Entwickelung  des  Grundgedankens  (dessen  Keime  übrigens  schon  in  der  Exhau- 
stionsmethode  der  Alten,  in  Cavallieris  „Methode  der  Unheilbaren",  1635,  und  in  der 
bei  rationalen  Ausdrücken  zureichenden  Methode  Fermats  zur  Bestimmung  der 
Maxima  und  Minima  der  Ordinaten,  ferner  in  Wallis'  „Arithmetica  infinitorum", 
von  deren  Studium  Newton  ausging,  und  in  Barrows  Tangentenmethode  lagen)  nicht 
von  Newton,  sondern  theils  von  Leibniz,  theils  von  den  an  seine  Rechnungsweise 
sich  anschliessenden  Gebrüdern  Jac.  und  Joh.  Bernouilli  (von  den  Letzteren 
besonders  in  Bezug  auf  transcendente  Functionen)  gefunden  worden  ist.  (Ueb. 
Jac.  Bernouilli  als  Logiker  handelt  Rob.  Zimmermann,  Wien  1885.)  In  diesem 
Sinne  haben  Euler,  Lagrange,  Laplace,  Biot  und  andere  Mathematiker  geurtheilt 
i  vgl.  u.  a.  die  kurze  Zusammenstellung  ihrer  Ansichten  in  dem  Anhange  zu  der 
deutschen  Uebersetzung  von  Brewsters  Leben  Newtons,  Lpz.  1833,  S.  333—336). 
Biot  sagt:  „die  Differentialrechnung  würde  noch  jetzt  eine  bewunderungswürdige 
Schöpfung  sein,  wenn  wir  bloss  die  Fluxionsrechnung  so,  wie  es  in  Newtons  Werken 
dargestellt  ist,  besässen*.  Vgl.  Montucla,  Gesch.  der  Math.  III.,  S.  109;  0.  J.  Ger- 
hardt, die  Entdeckung  der  Differentialrechnung,  Halle  1848,  die  Entdeckung  der 
höheren  Analysis,  Halle  1855;  H.  Weissenborn,  die  Principien  der  höheren  Ana- 
lysis,  als  hist.-krit  Beitrag  zur  Gesch.  der  Math.,  Halle  1856;  H.  Sloman,  L.a 
Anspruch  auf  die  Erfindung  der  Differentialrechnung,  Lpz.  1857,  englisch  London 
1860.  L.  gebührt  der  Ruhm  einer  scharfsinnigen  und  relativ  selbständigen,  durch 
seine  frühen  Untersuchungen  über  Reihen  von  Differenzen  mitbedingten  Nacherfindung, 
die  ihn  zu  einer  für  die  Anwendung  beträchtlich  besseren  Form  des  Infinitesimal- 
calculs,  als  Newton  gefunden  hatte,  gelangen  liess;  aber  er  hat  den  (an  sich  im 
Interesse  der  historischen  Wahrheit  notwendigen  nnd  uutadelhaften)  Prioritätsstreit 
in  der  späteren  Zeit  mit  Mitteln  geführt,  die  schwerlich  eine  Entschuldigung  zu- 
lassen. 

In  Hannover  hatte  L.  die  herzogliche  Bibliothek  zu  verwalten;  ferner  die 
Geschichte  des  Fürstenhauses  zu  schreiben;  in  der  Folge  (seit  1691)  hatte  er  im 
Auftrage  Anton  Ulrichs  von  Braunschweig-Wolffenbüttel  auch  die  Oberaufsicht 
über  die  wolffenbüttler  Bibliothek  zu  führen.  Seit  1678  war  er  als  herzoglicher 
Hofrath,  später  als  Geh.  Justizrath  ein  Mitglied  der  Kanzlei  für  Justizsachen,  an 
deren  Spitze  der  Vicekanzler  Ludolph  Hugo  stand.  Im  Auftrage  des  Herzogs  Ernst 
August,  der  1679  seinem  Bruder  Johann  Friedrich  in  der  Regierung  nachfolgte, 
machte  L.  auf  einer  1687 — 90  unternommenen  Reise  durch  Deutschland  und  Italien 
die  ihn  1688  nach  Wien,  1689  nach  Rom  führte)  Studien  zur  Geschichte  des 
braunschw.-lüneburg.  Hauses.    Er  veröffentlichte  u.  a.  die  Sammelwerke:  Codex 


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§  18.   Leibuiz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


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juris  gentium  diplomnticus  nebst  beigefügter  Mantissa,  1693 — 1700,  Accessiones 
historicae,  1698,  Scriptores  rerum  Brunsvicensium  illustrationi  inservientes,  1701 — 11, 
und  arbeitete  an  der  (uicht  ganz  zum  Abschluss  gebrachten,  erst  durch  Pertz  ver- 
öffentlichten) Schrift:  Annales  Brunsvitenses.  Bei  den  Verhandlungen,  welche  die 
Erhebung  Ilannovers  «um  Kurfürstenthum  (1692)  betrafen,  war  auch  L.  betheiligt. 
Den  Herzogen  Johanu  Friedrich  und  Ernst  August  stand  L.  als  Rathgeber  und 
Freund  persönlich  nahe,,  weniger  dem  Sohne  und  (seit  1698)  Regierungsnachfolger 
des  Ernst  August,  Georg  Ludwig,  um  so  mehr  aber  dessen  Mutter,  der  (bis  1714 
lebenden)  Gemahlin  Ernst  Augusts,  Sophie  (einer  Tochter  Friedrichs  V.  von  der 
Pfalz,  Schwester  der  Prinzessin  Elisabeth,  der  Descartes  seine  Princ.  ph.  widmete». 
Ihre  Tochter  Sophie  Charlotte  (gest.  1705),  die  in  L.  ihren  Lehrer  verehrte,  ging 
mit  der  vollsten  und  für  ihn  selbst  anregendsten  Theilnahme  auf  seine  philos. -theolog. 
Gedanken  ein,  auch  nachdem  sie  (1684)  an  Friedrich  von  Brandenburg  (seit  1688 
Kurfürsten  Friedrich  III.,  seit  1701  preussischen  König  Friedrich  I.)  vermählt  worden 
war.  Von  ihr  unterstützt,  bewog  L.  diesen  zu  der,  am  11.  Juni  1700  erfolgten, 
Stiftung  der  Societät  der  Wissenschaften  in  Berlin,  die  später  bei  ihrer  Umge- 
staltung unter  Friedrich  II.  1744  als  Akademie  der  Wissenschaften  bezeichnet 
wurde.  (Vgl.  Christian  Bartholmess,  Hist.  philosoph.  de  l'acad.  de  Prusse  depuis 
Leibn.,  Paris  1850—51;  A.  Trendelenburg,  L.  und  d.  philos.  Thätigk.  d.  Akad.  im 
vorig.  Jahrh ,  akad.  Vortrag,  Berl.  1852,  Aufs.  VIII.  im  2.  Bde.  der  hist  Beitr. 
zur  Philos.)  Auch  in  Dresden  und  Wien  hat  Leibniz,  obschon  ohne  unmittelbaren 
Erfolg,  Akademien  zu  stiften  gesucht. 

Vergeblich  waren  die  Bemühungen  um  Reunion  der  protestant.  und  kathol. 
Kirche,  welche  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  17.  Jahrh.  eifrig  betrieben  wurden, 
und  woran  sich  L.  neben  dem  hannoverschen  Theologen  Molanus  von  protestantischer 
Seite,  katholischerseits  aber  anfangs  besonders  Spinola  betheiligten.  Spiuola  benutzte 
dabei  die  von  Bossuet  1676  verf.  „Exposition  de  la  foi"  als  dogmatische  Grundlage. 
L.  schrieb  (wohl  um  1686)  in  conciliatorischer  Absicht  das  (erst  1819  veröffentL) 
„Systeme  theologicum".  eine  Darstellung  der  Glaubenslehren  in  einer  solchen  Weise, 
die  sowohl  Protestanten  als  Katholiken  annehmen  könnten.  L.  hat  in  dieser  An- 
gelegenheit mit  dem  zum  Katholicismus  bekehrten  Hugenotten  Pellisson  (1691  und  92), 
dann  mit  Bossuet  correspondirt,  der  die  Vereinigung  nur  als  Rückkehr  der  Prote- 
stanten zum  Katholicismus  erstrebte  und  jede  andere  Form  derselben  abwies;  an 
seiner  Weigerung,  die  Frage,  ob  das  tridentin.  Concil  ein  ökumenisches  gewesen 
sei,  als  eine  offene  zu  behandeln,  scheiterte  L.b  Bemühung.  In  den  Jahren  1697 — 1706 
hat  L.  sich  an  Verhandlungen  über  eine  Union  der  luther.  und  reformirt.  Confession 
betheiligt,  die  besonders  zwischen  Hannover  und  Berlin  geführt  wurden,  jedoch  nur 
mit  geringem  unmittelbaren  Erfolg.  Auf  Veranlassung  der  von  Bayle  in  seinem 
Dietionnaire  und  anderen  Schriften  geäusserten  philosophisch-theologischen  Zweifel, 
über  welche  sich  L.  oft  mit  der  Königin  Sophie  Charlotte  unterhalten  hatte,  ver- 
öffentlichte dieser  1710  seine  Theodicee  mit  einem  vorausgeschickten,  gegen  Bayles 
Annahme,  dass  die  Glaubenslehren  mit  der  Vernunft  unvereinbar  seien,  gerichteten 
Discoure  de  la  conformite  de  la  foi  avec  la  raison.  Im  Jahr  1711  traf  L.  zu  Torgau 
mit  Peter  dem  Grossen  von  Russlund  zusammen,  ebenso  wiederum  1712  in  Karls- 
bad, 1716  in  Pyrmont  und  in  Herrenhausen.  Dieser  Monarch  schätzte  ihn  hoch, 
ernannte  ihn  zu  seinem  Geheimen  Justizrath  und  Hess  sich  von  ihm  Rathschläge 
über  die  Beförderung  der  Wissenschaften  und  der  Civilisation  im  russischen  Reiche 
ertheilen;  zu  der  Gründung  einer  Akademie  der  Wissenschaften  in  Petersburg,  die 
jedoch  erst  nach  Peters  Tode  erfolgte,  gab  L.  die  erste  Anregung.  In  Wien  lebte 
L.  vom  December  1712  bis  zum  Ende  August  1714.  Er  wurde  am  2.  Januar  1712 
zum  Reichshofrath  ernannt,  schon  früher  (vor  1692,  vielleicht  1690)  war  er  in  den 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


Adelstand  erhoben  worden;  auch  die  Reichsfreiherrnwürde  soll  ihm  ertheilt  worden 
sein.  (Joa.  Bergmann,  L.  in  Wien,  in  den  Sitzgsber.  d.  Wiener  Akad.,  phil.-hist. 
CL  XIII,  1854,  S.  40-61;  L.  als  Reichshofrath  u.  dess.  Besoldung,  ebd.  XXVI,  1858. 
S.  187—204;  vgl.  Zimmermann,  Leibn.  u.  d.  ks.  Akad.  der  Wiss.  in  Wien,  in  Z.s 
Studien  u.  Kr.,  Wien  1870.)  Während  seines  Aufenthaltes  in  Wieu  schrieb  L.  1714 
für  den  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  in  franzöa.  Sprache  den  Abriss  seines  Systems, 
der  erat  nach  seinem  Tode  (s.  oben)  veröffentlicht  worden  ist.  Nach  Hannover 
kehrte  L.  im  Sept.  1714  zurück.  Er  traf  den  Kurfürsten  Georg  Ludwig  nicht  mehr 
dort  an,  da  derselbe  bereits  nach  England,  wo  er  als  Georg  I.  den  Thron  bestieg, 
abgereist  war.  L.  arbeitete  1715  und  1716  hauptsächlich  an  seinen  Annales  Bruns- 
vicenses.  In  eben  diesen  Jahren  wurde  L.  in  einen  (brieflich  durch  Vermittelung 
der  Prinzessin  von  Wales,  Wilhelmine  Churlotte  aus  Ansbach,  die  besonders  L.s 
Theodicee  hochhielt,  geführten)  Streit  mit  Clarke  (s.  ob.  S.  138)  über  seine  philo- 
sophischen Grundlehren  verwickelt,  vor  dessen  Abschluss  er  am  14.  Nov.  1716  starb, 
nachdem  er  bei  Hofe  in  Ungunst  gefallen  war. 

L.  hat  seine  philosophische  Doctrin  in  systematischer  Ordnung  niemals 
ausführlich,  im  Abriss  besonders  in  der  auf  Wuusch  des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen 
niedergeschriebenen  Darstellung  und  in  der  sog.  Monadologie  entwickelt.  In  ihm 
selbst  gestaltete  sich  sein  System  erat  allmählich,  und  zugleich  fand  er  angemessen, 
sich  in  Beinen  für  die  Oeffentlichkeit  bestimmten  Aufsätzen  in  Gedanken  und  Terminis 
nur  schrittweise  von  den  herrschenden  philosophischen  Richtungen,  dem  Aristote- 
lismus  und  dem  Cartesianismus,  zu  entfernen. 

In  einem  Briefe  aus  dem  Jahre  1714  an  Remond  de  Montmort  (in  Erdmanns 
Ausg.  der  philos.  Schriften,  S.  701  f.)  erzählt  L.  über  seinen  philosophischen 
Bildungsgang:  .Als  ich  die  niedere  Schule  verlassen  hatte,  fiel  ich  auf  die  neueren 
Philosophen,  und  ich  erinnere  mich,  dass  ich  in  einem  Wäldchen  bei  Leipzig,  das 
Rosentbal  genannt,  im  Alter  von  fünfzehn  Jahren  einsam  lustwandelte,  um  mit  mir 
zu  Rathe  zu  gehen,  ob  ich  die  substantiellen  Formen  beibehalten  solle.  Der 
Mechanismus  gewann  endlich  die  Oberhand  und  führte  mich  der  Mathematik  zu. 
Aber  als  ich  die  letzten  Gründe  des  Mechanismus  und  der  Bewegungsgesetze 
suchte,  kehrte  ich  zur  Metaphysik  und  zur  Annahme  von  Entelechien  zurück  und 
vom  Materiellen  zum  Formellen,  und  endlich  begriff  ich,  nachdem  ich  mehrmals 
meine  Begriffe  berichtigt  und  weiter  geführt  hatte,  dass  die  Monaden  oder  einfachen 
Substanzen  die  einzigen  wirklichen  Substanzen  sind,  und  dass  die  materiellen  Dinge 
nur  Erscheinungen  sind,  aber  wohl  begründete  und  mit  einander  verknüpfte  Er- 
scheinungen." Vgl.  den  Brief  an  Thomas  Burnet  vom  8.  18.  Mai  1697,  bei  Guh- 
rauer  I,  Beilage,  S.  29:  La  plupart  de  mes  sentimens  ont  ete  enfin  nrretes  apres 
one  deliberation  de  20  ans  (also  etwa  von  1660-  80),  car  j'ai  commence  bien  jeune 
ä  mediter  et  Je  n'avais  pas  encore  15  ans  qne  je  me  promenais  des  journ^cs  entieres 
dana  un  boia  pour  prendre  parti  entre  Aristote  et  Democrite.  Cependant  j'ai  change 
et  rechange  sur  de  nouvelles  lumieres,  et  ce  n'est  que  depuis  environ  12  ans  (also 
seit  1685)  que  je  me  trouve  satisfait. 

L.  war  eine  durchaus  versöhnende  Natur,  sein  Ziel  war  die  Vereinigung  des 
Verschiedensten,  die  Aussöhnung  des  sich  scheinbar  Entgegengesetzten.  Er  be- 
herrschte das  ganze  Wissen  seiner  Zeit  als  Fachmann  in  den  einzelnen  Disciplinen, 
griff  praktisch  auf  den  mannigfaltigsten  Gebieten  ein,  wusste,  bekannt  mit  den 
verschiedenen  philosophischen  Meinungen,  diese  in  eine  höhere  Einheit  zusammen- 
zufassen und  suchte  sogar  seine  Philosophie  mit  den  Lehren  der  Religion  zu  ver- 
einigen. Er  sagt,  er  verachte  völlig  nur  solches,  was  auf  blosse  Täuschung  hinaus- 
laufe, wie  die  astrologische  Wahreagekunst;  ,er  billiire  beinahe  Alles,  was  er  lese, 
und  finde  selbst  an  der  lullischen  Kunst  noch  etwas  Achtungswerthes  und  Brauch- 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


151 


bares.  Er  hält  dafür,  die  Wahrheit  sei  verbreiteter,  als  man  anzunehmen  pflege; 
die  Mehrheit  der  Seeten  hübe  Roeht  in  einem  grossen  Theile  ihrer  affirmativen, 
aber  nicht  in  ihren  meisten  negativen  Sätzen.  Nur  gegen  Spinoza  will  er  sich 
durchaus  ablehnend  verhulten,  so  grosse  Aehnlichkeiten  sich  auch  gerade  zwischen 
seiner  und  Spinozas  I^ehre  finden.  Teleologen  und  Mechanisten  haben  nach  Leibniz 
im  Positiven  ihrer  Behauptungen  beide  Recht;  denn  der  Mechanismus  besteht  aus- 
nahmslos, aber  er  verwirklicht  den  Zweck.  Mnn  kann,  sagt  L  ,  sogar  einen  Fort- 
schritt in  der  philosophischen  Erkenntnis*  bemerken.  Die  Orientalen  haben  schöne 
und  grosse  Vorstellungen  von  der  Gottheit.  Die  Griechen  haben  das  Schliessen 
und  überhaupt  eine  wissenschaftliche  Form  hinzugefügt.  Die  Kirchenväter  haben 
das  Schlechte  beseitigt,  das  sie  in  der  griechischen  Philosophie  fanden,  die  Scho- 
lastiker aber  haben  das  Zulässige  daraus  für  das  Christentum!!  nützlich  zu  verwenden 
gestrebt.  Die  Philosophie  des  Descartes  ist  gleichsam  das  Vorzimmer  der  Wahr- 
heit; er  hat  erkannt,  dass  sich  in  der  Natur  stets  die  gleiche  Kraft  erhält;  hätte 
er  auch  erkannt,  dass  die  Gesammteinrichtung  unverändert  bleibt,  so  hätte  er  zum 
System  der  prästnbilirten  Harmonie  gelangen  müssen  (bei  Erdm.  702.  vgl  S.  155). 
Doch  fügt  L.,  veranlasst  durch  die  scherzhafte  Frage,  ob  er  selbst  uns  aus 
dem  Vorzimmer  in  das  (.'abinet  der  Natur  zu  führen  gedenke,  bescheiden  hinzu, 
zwischen  dem  Vorzimmer  und  Cabinet  liege  das  Audienzzimmer,  und  es  werde 
genügen,  wenn  wir  Audienz  erhalten,  ohne  dass  wir  Anspruch  muchen,  ins 
Innere  zu  dringen  fsans  pretendre  de  penetrer  dans  l'interieur,  in  Erdmanns  Ausg. 
XXXV.,  S.  123.  Aehnlich.  obschon  in  anderer  Wendung,  lautet  Hallers  bekanntes 
Wort:  .Ins  Innere  der  Natur  dringt  kein  erschaffner  Geist;  glückselig,  wem  sie 
nur  die  äussere  Schaale  weist*,  worauf  Göthe  mit  der  Frage  entgegnet:  .Ist  nicht 
Kern  der  Natur  Menschen  im  Herzen?-). 

In  der  am  30.  Mai  K5G3  vertheidigten  .Disputatio  metaphysien  de  prineipio 
individui*  behauptet  Leihniz  die  nominalistische  Thesis:  omne  individuum  sua 
tota  entitate  individuatur,  uls  deren  erste  Vertreter  er  Petrus  Anreolus  und 
Dnrandus  (s.  ob.  Grdr.  II,  7.  Aufl.,  $  3(>)  nennt.  Wäre  nicht  die  entitas  tota  das 
Princip  der  Individuation,  bo  müsste  dieses  Princip  entweder  eine  Negation  sein 
oder  eine  Position,  und  in  dem  letzteren  Falle  entweder  ein  physischer,  die  Essenz 
näher  bestimmender  Theil,  nämlich  die  Existenz,  oder  ein  metaphysischer,  die  Species 
näher  bestimmender  Theil,  nämlich  die  Huecceitas.  Dass  die  Negation  das  indivi- 
dualisirende  Princip  sei,  könnte,  wie  L.  mit  Recht  bemerkt,  nur  auf  Grund  der 
realistischen  Voraussetzung:  universale  magis  esse  ens,  quam  singulare,  angenommen 
werden.  (In  der  That  hat  der  Satz  des  Spinoza:  omnis  determinatio  est  negatio, 
die  Ueberzeugung,  dass  der  Substanz,  die  das  Allgemeine  ist.  das  Sein  im  vollsten 
Sinne  zukomme,  zur  Voraussetzung.)  I,.  aber,  überzeugt,  dass  das  Individuum  ein 
ens  positivum  sei,  erklärt  für  unbegreiflich,  wie  dieses  durch  etwas  Negatives  con- 
stituirt  werden  könne.  Die  Negation  kann  nicht  die  individuellen  Merkmale  hervor- 
bringen (negatio  non  potest  producere  accidentia  individualia).  Die  Meinung,  dass 
die  Existenz  das  Princip  der  Individuität  sei,  kommt  entweder  mit  der  Thesis,  dass 
die  entitas  es  sei,  übereiu  (nämlich  wenn  der  Unterschied  zwischen  essentia  und 
existentia  nur  für  einen  rationellen  gilt,  in  welchem  Sinne  L.  die  Ansicht  seines 
Lehrers  Scherzer  deutet),  oder  sie  führt  (nämlich,  wenn  der  Unterschied  für  einen 
realen  gilt)  auf  die  Absurdität  einer  Trennbarkeit  der  Existenz  von  der  Essenz,  so 
dass  die  Essenz  auch  nach  Hinwegnahme  der  Existenz  noch  existiren  müsste.  Endlich 
prüft  L.  die  Haecceitas,  die  Scotus  (sent.  II,  3.  6  u.  ö.)  behauptet  habe,  und  zu 
deren  Vertheidignng  die  Scotisten  sich  eidlich  zu  verpflichten  pflegten.  Der  Be- 
hauptung, die  Species  werde  durch  die  differentia  individualis  oder  Haecceitas  zum 
Individuum  contrahirt,  gleich  wie  das  Genus  durch  die  speeifische  Differenz  zur 


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152 


§  18.    Leibniz  uud  gleichzeitige  Philosophen. 


Species,  setzt  L.  die  nominalistische  Doctriii  entgegen,  das  Geuos  werde  nicht  durch 
irgend  etwas  zur  Speeles,  und  diese  nicht  zum  Individuum  contrahirt,  weil  Genus 
und  Speeles  nicht  ausserhalb  des  Intellectes  seien;  es  ex  i  stiren  in  Wirklichkeit  nur 
Individuen;  was  existirt,  ist  durch  sein  Dasein  selbst  etwas  Individuelles. 

In  den  philosophischen  Schriften  der  nächstfolgenden  Zeit,  der  Dissertatio  de 
arte  combinatoria,  der  (von  Spizelius  so  betitelten)  Confessio  naturae  contra  atheistas, 
der  Epistola  ad  Jacobum  Thomasium,  die  nebst  der  diss.  de  stilo  phiiosophico 
Nizolii  der  Ausgabe  der  Schrift  des  Nizolius  de  veris  prineipiis  et  vera  ratione 
philosophandi  vorgedruckt  ist  (über  Nizolius  vgl.  oben  S.  26),  erklärt  sich  L.  für  die 
Ansicht,  in  welcher  die  Reformatoren  der  Philosophie:  Bacon,  Hobbes,  Gassendi, 
Cartesius  etc.,  im  Gegensatz  zu  den  Scholastikern  mit  einander  übereinkommen,  dass 
in  den  Körpern  nur  Grösse,  Figur  nnd  Bewegung,  nicht  verborgene  Qualitäten  oder 
Kräfte  seien,  nicht  irgend  etwas,  das  sich  nicht  rein  mechanisch  erklären  lasse. 
Aber  er  will  darum  doch  nicht  Cartesianer  heissen;  er  hält  dafür,  dass  die  aristo- 
telische Physik  mehr  Wahrheiten  enthalte,  als  die  cartesianische,  dass,  was 
Aristoteles  über  Materie,  Form,  Beraubtsein,  Natur,  Ort,  Unendlichkeit,  Zeit,  Be- 
wegung lehre,  grösstenteils  unerschütterlich  feststehe.  Auch  finde  derselbe  mit 
Recht  den  letzten  Grund  aller  Bewegung  im  göttlichen  Geist;  zweifelhaft  sei  die 
Existenz  oder  Nicht- Existenz  eines  leeren  Räume»;  unter  der  substantiellen  Form 
sei  nur  der  Unterschied  der  Substanz  eines  Körpers  von  der  Substanz  eines  andern 
Körpers  zu  verstehen.  Was  Aristoteles  über  Materie,  Form  und  Bewegung  abstract 
vortrage,  könne  in  einer  Weise  aufgefasst  werden,  dass  es  mit  der  Lehre  der  Neueren 
über  die  Körper  zusammenstimme.  Leibniz  billigt  des  Nizolius  Bekämpfung  der 
Scholastik,  die  bei  dem  Mangel  an  Erfahrung  und  Muthematik  die  Natur  nicht  zu 
erkennen  vermochte,  tadelt  aber  seine  zu  weit  gehende  Bekämpfung  des  Aristoteles 
selbst  und  seine  extrem  nominalistische  Ansicht»  dass  das  Genus  nur  eine  Zusammen- 
fassung (collectio)  von  Individuen  sei,  wodurch  die  Möglichkeit  der  wissenschaft- 
lichen Demonstration  aus  allgemeinen  Sätzen  aufgehobeu  werde,  und  nur  die  Induction 
als  blosse  Zusammenstellung  gleichartiger  Erfahrungen  übrig  bleibe. 

Das  von  Erdmann  veröffentlichte  Autographon:  de  vita  beuta  enthält  carte- 
sianische Sätze,  besonders  aus  Briefen  vom  Jahre  1645  an  die  Prinzessin  Elisabeth 
von  der  Pfalz  über  die  Moral  des  Seneca  (s.  Trendelenburg.  hist.  Beitr.  zur  Ph.,  II, 
1855,  Abh.  5,  S.  192—232).  In  der  Ethik  hat  Leibniz  dem  Descartes  eine  höhere 
Autorität,  als  in  der  Physik  eingeräumt.  Doch  ist  zweifelhaft,  ob  und  in  wie  weit 
Leibniz  sich  jene  Sätze  angeeignet  oder  dieselben  nur  als  cartesianische  (so,  wie 
seine  Excerpte  aus  Piaton,  Spinoza  etc.)  zusammengestellt  habe. 

In  den  Meditationes  de  cognitione,  veritate  et  ideis,  die  1864  in  den 
Acta  Eruditorum  Lipsiensiura  erschienen,  modificirt  L.  eartesianische  Begriffe.  Die 
Erkenntniss  (cognitio)  ist  dunkel  oder  klar  (vel  obscura  vel  clara),  die  klare  Erkennt- 
niss  ist  verworreu  oder  deutlich  (vel  confusa  vel  distineta),  die  deutliche  Erkenntniss 
ist  unangemessen  oder  angemessen  (vel  inadaequata  vel  adaequata),  ferner  symbo- 
lisch oder  intuitiv;  die  adäquate  und  zugleich  intuitive  Erkenntniss  ist  die  voll- 
kommenste. L.  definirt:  Obscura  est  notio,  quae  non  sufßcit  ad  rem  repraesentatam 
agnoscendam  —  Unde  propositio  quoque  obscura  fit,  quam  notio  talis  ingreditur; 
clara  ergo  cognitio  est  quum  habeo  unde  rem  repraesentatam  aguoscere  possim. 
Confusa  est,  quum  non  possum  (distineta,  quum  possum)  notas  ad  rem  ab  aliis  dis- 
cernendam  sufficientes  separatim  enumerare,  licet  res  illa  tales  notas  atque  requisita 
revera  habeat,  in  quae  notio  ejus  resolvi  possit;  —  quae  enumeratlo  est  definitio 
nominalis;  —  datur  cognitio  distineta  notionis  indefiuibilis,  quando  eu  est  primitiva 
eive  nota  sui  ipsius.  Cognitio  est  adaequata,  quum  id  omne,  quod  notitiam 
distinetam  ingreditur,  rursus  distinete  cognitum  est,  seu  quum  aualysis  ad  fiuem 


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§  18.    Leibniz  and  gleichzeitige  Philosophen.  153 


usque  producta  habetur.  Qu  um  notio  valde  composita  est,  uon  possumus  omnes 
ingredieutes  eam  notiones  simul  cogitare;  ubi  tarnen  hoc  licet,  vel  »altem  in  quan- 
tam  licet,  cognitionem  voeo  intuitivam.  L.  macht  von  diesen  Bestimmungen  eine 
Anwendung  auf  das  ontologische  Argument  für  das  Dasein  Gottes  in  dessen  (carte- 
sianischer)  Form:  Was  aus  der  Definition  eines  Dinges  folgt,  kann  von  diesem  Diuge 
prädicirt  werden;  die  Existenz  folgt  aus  der  Definition  Gottes  als  des  Ens  perfec- 
tissimum  vel  quo  majus  cogitari  nou  potest  i.denn  die  Existenz  ist  eine  der  Voll- 
kommenheiten); also  kann  die  Existenz  von  Gott  prädicirt  werden.  —  Er  meint, 
es  folge  nur,  dass  Gott,  falls  er  möglich  sei,  existire;  denn  der  Schluss  aus  der 
Definition  setze  voraus,  dass  die  Definition  eine  Realdefiuition  sei,  d.  h.  keinen  Wider- 
spruch involvire;  die  Nominaldefinition  nämlich  enthalte  nur  die  zur  Unterscheidung 
dienenden  Merkmale,  die  Realdefinition  aber  constatire  die  Möglichkeit  der  Sache. 
Diese  Möglichkeit  werde  a  priori  aus  der  Vereinbarkeit  sämmtlicher  Prädicate  mit 
einander,  d.  h.  daraus  erkannt,  dass  bei  vollständiger  Analyse  kein  Widerspruch 
sich  zeige  (der  bei  dem  Gottesbegriff  dadurch  ausgeschlossen  sei,  dass  derselbe  nur 
Realitäten  in  sich  fasse).*) 

L.  warnt  vor  dem  Missbrauch  des  cartesiauischen  Princips:  quidquid  clare  et 
distincte  de  re  aliqua  percipio.  id  est  verum  seu  de  ea  enunciabile.  Oft  erscheine 
uns  als  klar  und  deutlich,  was  dunkel  und  verworren  sei;  jener  Satz  reiche  nur 
dann  zu,  wenn  die  oben  aufgestellten  Kriterien  der  Klarheit  und  Deutlichkeit  an- 
gewandt werden,  die  Vorstellungen  widerspruchslos,  und  die  Lehrsätze  nach  den 
Regeln  der  gewöhnlichen  (aristotelischen)  Logik  durch  genaue  Erfahrung  und  fehler- 
lose Beweisführung  gesichert  seien.**) 

L.  hält  dafür,  dass  es  gelingen  könne,  alles  Denken  anf  ein  Rechneu  und  die 
Denkrichtigkeit  auf  Richtigkeit  der  Rechnung  zurückzuführen,  wenn  für  die  ein- 
fachsten Begriffe  und  für  die  Verbindungsweisen  der  Begriffe  überhuupt  Zeichen 
von  solcher  Angemessenheit  gefunden  würden,  wie  die  Mathematik  auf  ihrem  Gebiete 
solehe  besitzt  und  zwar  insbesondere  in  der  durch  Vieta  eingeführten  allgemeinen 
Bezeichnung  der  Zahlen  mittelst  der  Buchstaben  (Vieta,  in  artem  analytieam  Isagoge 
seu  algebra  nova,  1635,  wo  S.  8  die  Erklärung  gegeben  wird:  logistice  numerosa  est, 
quae  per  numeros,  speciosa,  quae  per  species  seu  rerum  fornias  exbibetur,  utpote 
per  alphabetica  elementa).  Hierauf  zielt  sein  schon  in  seiner  Jugendzeit  ausgebil- 
deter und  bis  zum  Alter  festgehaltener,  iu  manchen  Schritten  und  Briefen  erwähnter 


*)  Der  kategorische  Schluss  aus  der  Definition  setzt  aber  nicht  bloss  die 
Möglichkeit,  sondern  die  Wirklichkeit  des  definirten  Gegenstandes  voraus:  die 
Definition  zeigt  nur  die  Notwendigkeit  der  Verknüpfung  des  Prädicates  mit  dem 
Subjecte,  uicht  die  der  Setzung  des  Subjectes  selbst,  führt  also  au  sich  zu  einem 
hypothetischen  Satze,  der  nur  dann,  wenn  anderweitig  die  Wirklichkeit  und  nicht 
bloss  die  Möglichkeit  des  Subjectes  dargethun  ist,  in  einen  kategorischen  Sutz 
übergeht.  Kant  hat  mit  Recht  das  cartesianische  Argument  mit  Einsehluss  der 
lcibnizi8chen  Ergänzung  desselben  bestritten. 

**)  Dass  das  Kriterium  der  Wahrheit,  welches  in  der  Klarheit  und  Deutlichkeit 
der  Erkenntniss  gefunden  wird,  gar  sehr  die  Gefahr  der  Selbsttäuschung  ndt  sich 
führe  und  der  lieduetion  auf  die  durch  die  logischen  Normen  bedingte  Denk- 
nothwendigkeit  bedürfe,  lehrt  L.  mit  Recht;  aber  er  geht  auch  hier  nicht  weit  genug, 
sofern  er  von  der  vollen  Klarheit,  Deutlichkeit  und  Denkrichtigkeit  sofort  die  volle 
Uebereinstimmung  mit  dem  Sein  erwartet  und  nicht  untersucht,  ob  uud  in  wie  weit 
die  menschliche  Erkenntniss  Elemente  von  subjectivem  Charakter  enthalte,  die  durch 
die  Klarheit  und  logische  Richtigkeit  des  bloss  auf  die  übjecte  gerichteten  Denkens 
niemals  aufgehoben,  noch  auch  von  den  obiectiv  gültigen  Elementen  gesondert, 
sondern  nur  durch  ein  auf  die  Erkenntniss  selbst  gerichtetes  Denken  in  ihrem  snb- 
jectiven  Charakter  erkannt  werden  konneu,  was  später  Kaut  durch  seine  Vernunft- 
kritik zu  leisten  unternahm. 


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154 


§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


Plan  einer  Characteristica  universalis  (Specieuse  generale)  ab,  der  jedoch 
ein  blosses  Project  geblieben  ist.  (Was  Leibniz  beabsichtigte,  in  wie  weit  er  be- 
sonders an  Georg  Dalgarn,  ars  signorum,  vulgo  character  universalis  et  lingua 
philosophica,  London  1661,  und  daneben  auch  an  John  Wilkins,  an  essay  toward 
a  real  churacter  aud  a  philosophical  language,  London  1668,  anknüpfte,  wie  weit 
seine  eigenen,  zahlreichen,  jedoch  sporadischen  und  schwankenden  Versuche  ihn 
geführt  haben,  ferner,  was  zum  Behufe  einer  partiellen  Ausführung  des  leibnizischen 
Projectes,  aber  auf  dem  Grunde  der  kantischen  Kategorienlehre,  durch  Ludw.  Bene- 
dict Trede,  den  Verfasser  der  1811  zu  Hamburg  anonym  erschienenen  Schrift: 
, Vorschläge  zu  e.  nothwend.  Sprachlehre"  geschehen  sei,  weist  Trendelenburg  nach 
in  seiner  Abhandlung:  Ueber  Leibnizens  Entwurf  einer  uligemeinen  Charakteristik, 
in  histor.  Beitr.  z.  Philos ,  III,  S.  1  ff.  Soweit  der  Grundgedanke  Gültigkeit  hat,  wird 
er  durch  die  Zeichen  der  Mathematik,  Chemie  etc.  realisirt ) 

Der  Sammlung  von  Staatsverhandlungen  und  Vertragen  seit  dem  Ende  des 
H.  Jahrb.,  welche  L.  unter  dem  Titel:  „Codex  juris  gentium  diplomatieus"  1693  zu 
Hannover  erscheinen  Hess,  hat  er  eine  Reihe  von  Definitionen  ethischer  und 
juridischer  Begriffe  vorangeschiekt.  Die  Streitfrage,  ob  es  eine  uninteressirte 
Liebe  (amor  non  mereenarins,  ab  omni  utilitatis  respectu  separatus)  gebe,  sucht  L. 
durch  die  Definition  zu  lösen:  Liebe  heisst,  sich  an  dem  Glücke  eines  Andern 
erfreuen  (amare  sive  diligere  est  felicitate  alterius  delectari),  in  welcher  einerseits 
die  Beziehung  auf  unseren  eigenen  Genuss  festgehalten,  andererseits  aber  die  Quelle 
desselben  in  dem  Glücke  des  Andern  selbst  gefunden  wird  (welche  letztere  Bestim- 
mung der  spinozistisehen  Definition  fehlt:  amor  est  laetitia  eoncomitante  iden  cansae 
externae).  Die  Liebe  ist  ein  Affect,  welcher  durch  die  Vernunft  geleitet  werden 
mnss.  damit  die  Tugend  der  Gerechtigkeit  daraus  erwachse.  L.  definirt:  Benevolcntia 
est  amandi  sive  diligendi  habitus  (die  durch  häufige  gleichartige  Bethätigung  aus 
der  Fähigkeit,  Sampte,  hervorgegangene  Fertigkeit,  e$tc,  nach  der  aristotelischen 
Terminologie,  s.  Grdr.  Bd.  I,  §  50).  Caritas  est  benevolentin  universalis.  Justitia 
est  Caritas  sapientis,  hoc  est  sapientiae  dictata  sequens.  Vir  bonus  est  qui  amat 
omnes  quautum  ratio  permittit;  justitia  est  virtus  hnjns  affeetns  rectrix.  L.  unter- 
scheidet drei  Stufen  des  natürlichen  Rechts:  das  strenge  Recht  (jus  strictum)  in  der 
ausgleichenden  Gerechtigkeit  (justitia  commutativa),  die  Billigkeit  oder  Liebe  im 
engeren  Sinne  (aequitas  vel  angustiore  vocis  sensu  Caritas)  in  der  anstheilenden  Ge- 
rechtigkeit (justitia  distributiva)  und  die  Frömmigkeit  oder  Rechtlichkeit  (pietas  vel 
probitas)  in  der  allgemeinen  Gerechtigkeit  (justitia  universalis).  Die  ausgleichende 
Gerechtigkeit,  lehrt  L.  im  Anschluss  an  Aristoteles  (s.  Grdr.  Bd.  I,  §  50),  berück- 
sichtigt keine  anderen  Unterschiede  zwischen  den  Menschen,  als  die,  welche  ans  dem 
jedesmaligen  Verkehr  selbst  hervorgehen  (quae  ex  ipso  negotio  nascuntur).  und  be- 
trachtet im  Uebrigen  die  Menschen  als  einander  gleich.  Die  distributive  Gerech- 
tigkeit zieht  die  Verdienste  der  Einzelneu  in  Betracht,  um  nach  dem  Maasse  der- 
selben den  Lohn  (oder  die  Strafe)  zu  bestimmen.  Das  strenge  Recht  ist  erzwingbar; 
es  dient  zur  Vermeidung  der  Verletzungen  und  Aufreehterhaltung  des  Friedens;  die 
Billigkeit  oder  Liebe  in  der  anstheilenden  Gerechtigkeit  aber  zielt  auch  auf  positive 
Beförderung  des  Glückes  ab,  jedoch  nur  des  irdischen.  Die  Unterwerfung  aber 
unter  die  ewigen  Gesetze  der  göttlichen  Monarchie  ist  die  Gerechtigkeit  in  dem 
allgemeinen  Sinne,  in  welchem  sie  (nach  Aristoteles)  alle  Tugenden  in  sich  begreift. 
L.  versucht  auch  (nnd  zwar  schon  in  der  Schrift  über  die  Methode  der  Jurisprudenz), 
diese  drei  Stufen:  jus  strictum,  aequitas,  pietas,  auf  die  drei  Rechtsgrnndsätze  zurück- 
zuführen: neminem  laedere,  suum  cuique  tribuere  oder,  höher  gefasst,  cunetis 
prodessc,  honeste  vivere  (bei  welcher  Deutung  freilich  mehr  L.s  eigener  Rechts- 
begriff, als  der  der  römischen  Juristen  maassgebend  gewesen  ist,  nach  welchem 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


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letztern  jnstitia  est  constans  et  perpetua  voluntas  suum  cui(iue  tribuendi,  Digest.  I, 
1,  10,  aus  Ulpian). 

Ls  philosoph.  Lehrgebäude  ruht  auf  der  Grundansicht,  dass  die  theologiseh- 
teleologische  und  physikalisch-mechanische  Weltauffassung  einander 
nicht  ausschliessen  dürfen,  sondern  durchgängig  mit  einander  zu  ver- 
einigen seien.  Die  einzelnen  Vorgänge  in  der  Natur  können  und  müssen  mecha- 
nisch erklärt  werden,  ohne  dass  wir  doch  dabei  ihrer  Zwecke  uneingedenk  sein 
dürfen,  welche  die  Vorsehung  gerade  durch  den  Mechanismus  zu  verwirklichen 
weiss.  Die  Principien  der  Physik  und  Mechanik  aber  hängen  selbst  wieder  von  der 
Leitung  einer  obersten  Intelligenz  ab  und  können  nur  erklärt  werden,  indem  wir 
diese  Intelligenz  in  Betracht  ziehen.  Die  wahre  Physik  muss  aus  den  göttlichen 
Vollkommenheiten  geschöpft  werden;  auf  diese  Weise  muss  man  die  Frömmigkeit 
mit  der  Vernunft  vereinigen.  Beispielsweise  folgert  L.  aus  der  göttlichen  Weisheit, 
dass  an  Geordnetes  Geordnetes  als  Folge  geknüpft  sei,  demgemäss  an  continuirliche 
Veränderungen  im  Gegebenen  wiederum  continuirliche  Veränderungen  in  dem,  was 
daraus  abzuleiten  ist.  Er  sagt:  Lorsque  la  difference  de  deux  cas  peut  etre  diminuee 
au  dessous  de  toute  grandeur  donnee,  in  datis  ou  dans  ce  qui  est  pose,  il  faut 
qu'elle  se  puisse  trouver  aussi  diminuee  au  dessous  de  toute  grandeur  donnee  in 
quaesitis  ou  dans  ce  qui  en  resulte.  Dies  ist  die  „loi  de  continaite",  welche 
L.  zuerst  in  einem  Briefe  an  Bayle  in  den  Nonvell.  de  la  republ.  des  lettres,  par 
Bayle,  Amst.  1687  aufgestellt  hat.  L.  giebt  zu,  dass  in  den  .choses  composees" 
mitunter  eine  kleine  Veränderung  eine  sehr  grosse  Wirkung  habe;  aber  „ä  l'egard 
des  prineipes  ou  choses  simples*  könne  das  nicht  so  sein,  denn  sonst  wäre  die  Natur 
nicht  das  Werk  einer  unendlichen  Weisheit.  Zwischen  allen  Hauptclussen  der 
Wesen  (z.  B.  zwischen  Pflanzen  und  Thieren)  muss  es  eine  continuirliche  Folge 
von  Mittelwesen  geben,  wodurch  eine  „connexion  graduelle  des  especes"  hergestellt 
wird.  Tout  va  par  degres  dans  la  nuturc  et  rien  par  saut,  et  cette  regle  ä  l'egard 
des  changements  est  une  partie  de  ma  loi  de  la  continuite.  (Nouv.  ess.  IV,  16, 
ed.  Erdm.  p.  392.) 

Die  Lehre  von  den  Monaden,  die  sich  allmählich  bei  Leibniz  herausgebildet 
hat,  indem  er  besonders  durch  die  Dynamik  und  die  Atomistik  zu  seinem  Begriff 
der  individuellen  Substanz  gelangte,  hat  er  in  seinem  Discours  de  metaphysique  1686 
als  in  einem  ersten  Entwürfe  niedergelegt  (s.  die  für  Arnauld  bestimmte  ausführ- 
liche Inhaltsangabe  als  Beilage  zu  einem  Brief  an  den  Landgraf  Ernst  von  Hessen 
Rheinfels),  worin  wir  überhaupt  seine  damaligen  metaphysischen  Ansichten  finden. 
Er  hat  diese  Lehre  sowie  die  von  der  prästabilirten  Harmonie  zuerst  Ein- 
zelneu mitgetheilt,  insbesondere  Arnauld  brieflich  seit  1686,  am  bestimmtesten  in 
einem  Venedig  23.  März  1690  datirten  Schreiben,  dann  öffentlich  in  verschiedenen 
Artikeln  im  Journal  des  Savans  und  in  den  Acta  erudit  Lipsiensium.  Bereits  in 
einer  mathematischen,  in  den  Act.  erud.  1686  ersch.  Abhandlung  (brevis  demon- 
stratio erroris  memorabilis  Cartesii  et  aliorum  circa  legem  naturae,  secundum  quam 
volunt  a  Deo  eandem  Semper  quantitatem  motus  conservari),  dann  in  dem  ebd.  1695 
ersch.  Specim.  dynamicum  pro  admirandis  naturae  legibus  circa  corporum  vires  et 
mntuas  actiones  detegendis  et  ad  euas  causas  revocandis  hat  L.  den  Beweis  für 
seine  Behauptung  zu  führen  gesucht,  dass  nicht,  wie  Descartes  annahm,  die  Quan- 
tität der  Bewegung,  sondern  vielmehr  die  Grösse  der  Kraft,  die  nicht  durch  das 
Product  aus  der  Masse  und  Geschwindigkeit  (mv),  sondern  aus  der  Masse  und  der 
die  Geschwindigkeit  erzeugenden  Fallhöhe,  oder  (was  auf  dasselbe  hinausläuft)  aus 
der  Masse  und  dem  Quadrate  der  Geschwindigkeit  (mvs)  bestimmt  sei,  sich  im 
Universum  stets  unverändert  erhalte.    L.  folgert  hieraus,  dass  die  Natur  des 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


Körpers  nicht  in  der  blossen  Ausdehnnng  bestehen  könne,  wie  Descartes  annahm, 
auch  nicht,  wie  L.  selbst  früher  mit  Gasseudi  und  Anderen  geglaubt  hatte  und  noch 
in  dem  Briefe  an  Jac.  Thomasius  1669  annimmt,  bloss  in  der  Ausdehnung  und 
Undurchdringlichkeit,  sondern  auch  die  Fähigkeit  des  WirkenB  invoivire,  Die 
Annahme  einer  blossen  Passivität  könnte  leicht  zu  Spinozas  theologischer  (oder 
antitheologischer)  Ansicht  führen,  dass  Gott  die  einzige  Substanz  sei.  Cf.  Leibn. 
epist.  de  rebus  philosophiuis  ad  Fred.  Hoffmann,  1699,  in  Erdm.s  Ausg.  S.  161: 
pulchre  notas,  in  mere  passivo  nullam  esse  motus  recipiendi  retinendique  habili- 
tatem,  et.  ademta  rebus  vi  agendi,  non  posse  eas  a  divina  substantia  distingui  in- 
cidique  in  Spinosismum.  Andererseits  aber  lag  in  dem  Maasse,  wie  der  Körper 
nicht  als  bloss  ausgedehnt,  sondern  als  kraftbegabt  erschien,  also  das  von  Descartee 
angenommene  dualistische  Verhältnis3  zwischen  der  bloss  ausgedehnten  und  der 
bloss  denkenden  Substanz  aufgehoben  wurde,  Spinozas  (psychologischer)  Grund- 
gedanke einer  substantiellen  Einheit  von  Leib  und  Seele  nahe.  L.  würde  in  diesem 
Betracht  den  8piiiozismus  haben  billigen  müssen,  wenn  er  an  der  Ansicht,  dass  es 
ausgedehnte  Substanzen  gebe,  hätte  festhalten  können.  Er  hält  aber  dafür,  das* 
die  Theilbarkeit  des  Körpers  beweise,  dass  derselbe  ein  Aggregat  von  Substanzen 
sei;  dass  es  keine  kleinsten  untheilbaren  Körper  oder  Atome  gebe,  weil  dieselben 
immer  noch  ausgedehnt,  also  auch  Aggregate  von  Substanzen  sein  würden;  dass 
die  wirklichen  Substanzen,  aus  denen  die  Körper  bestehen,  untheilbar,  unerzeugbar 
und  unzerstörbar  {nur  durch  Schöpfung  entstehend,  nur  durch  Vernichtung  ver- 
gehend, sofern  Gott  sie  schaffen  oder  vernichten  will)  und  in  gewissem  Betracht 
den  Seelen,  die  L.  gleichfalls  als  untheilbare  Substanzen  betrachtet,  ähnlich  seien. 
Diese  untheilbaren,  unräumlichen  Substanzen  nennt  L.  Monaden,  jedoch  erst  seit 
1697,  wahrscheinlich  im  Anschluss  an  Giordano  Bruno.  Er  sagt:  Spinoza  würde 
Recht  haben,  wenn  es  keine  Monaden  gäbe.  (Lettre  II.  a  Mr.  Bourguet,  in  Erdm.s 
Ausg.  S.  720:  De  la  maniere  que  je  döfinis  pereeption  et  appelit,  il  faut  que  toutos 
les  monades  en  soient  douees.  Car  pereeption  m'est  la  representation  de  la  mul- 
titude  dans  le  simple,  et  l'appetit  est  la  tendance  d'une  pereeption  ä  une  autre;  or 
ces  deux  choses  sont  dans  toutes  les  monades,  car  autrement  une  monade  n'aurait 
aueun  rapport  au  reste  de  choses.  Je  ne  sais  comment  vous  pouvez  eu  tirer  quelque 
Spinosisme;  au  contraire  c'est  justement  par  ces  monades  que  le  Spinosisme  est 
delruit.  Car  il  y  a  autaut  de  substances  veritables  et  pour  ainsi  dire  de  mlroirs 
vi  van-  de  l'univers  toujours  subsistans  ou  d'univers  coucentres  qu'il  y  a  de  monades. 
au  Heu  que,  selon  Spinosa,  il  n'y  a  qu'une  seule  substance.  II  aurait  raison,  s'il 
n*y  avait  point  de  monades  et  alors  tout,  hors  de  Dien,  serait  passager  etc.) 

In  der  Abhaudlung:  Systeme  nouveau  de  la  nature  et  de  la  communi- 
cation  des  substances  aussi  bieu  que  de  l'union,  qu'il  y  a  entre  l'äme  et  le  corps 
(Journ.  des  Savaus  1695),  sagt  L.,  er  habe  nach  mancherlei  Meditationen  sich 
schliesslich  überzeugt,  dass  es  unmöglich  sei,  die  Gründe  einer  wahren  Einheit  in 
der  Materie  allein  oder  in  dem,  was  nur  passiv  sei,  zu  findeu,  weil  darin  alles  ins 
Unendliche  hin  nur  ein  Conglomerat  von  Theilen  sei.  Da  es  Zusammengesetztes 
gebe,  so  müsse  es  auch  einfache  Substanzen  geben,  die  als  wahre  Eiuheiten 
nicht  materielle,  sondern  nur  formelle  Atome,  gleichsam  „metaphysische  Punkte" 
(Er  dm.  p.  126)  sein  können,  die  gleich  den  mathematischen  Punkten  exaete  Punkte 
sind,  aber  nicht  gleich  diesen  blosse  „modalites,  sondern  an  und  für  sich  realiter 
existirende  Punkte  (points  de  substance».  Dass  die  Seele  eine  einfache  Substanz 
sei,  hat  L.,  durch  die  cartesianische  Doctriu  von  dem  Sitz  der  Seele  veranlasst, 
schon  früh  angenommen.  Das  Gemüth,  sagt  er  in  einem  Briefe  au  den  Herzog 
Joh.  Fr.  von  Braunschweig-Lüneburg  vom  21.  Mai  1671,  müsse  an  einem  Orte  sein, 
wo  alle  Bewegungen,  die  uns  von  deu  Sinnesobjecten  imprimirt  werden,  zusammen- 


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§  18.   Leibnix  und  gleichzeitige  Philosophen. 


157 


treffen,  also  in  einem  Punkt;  geben  wir  dem  Gemüth  einen  grösseren  Platz,  so  hat 
es  partes  extra  partes  und  kann  also  .nicht  auf  alle  seine  Stücke  und  actione» 
reflectiren".  Aber  zur  Zerlegung  der  Materie  in  punctuell  einfache  Substanzen 
ist  Ii.  erst  später,  wohl  erst  um  1685,  fortgegangen. 

Die  wahren  Einheiten  oder  einfachen  Substanzen  sind  zu  definiren  mittelst  des 
Begriffs  der  Kraft.    (Dies  lehrt  L.  in  einem  gewissen  Anschluss  an  den  englischen 
Arzt  Glisson,  den  Verf.  eines  Tractat  de  nat  substantiae  energetica  seu  de  vita 
naturae,  Lond.  1672,  der  allen  Substanzen  Bewegung,  Trieb  und  Vorstellung  zu- 
sehreibt, auch  an  englische  Platoniker,  wie  More  und  besonders  Cudworth,  der  eine 
via  plastica  annahm,  vgl.  H.  Marion,  Franc.  Glissonius  quid  de  natura  substantiae  — 
senserit,  et  utrum  Leibnitio  de  naturae  substantia  cogitanti  quidquam  contulerit, 
Lut.  Par.  1880).  Die  active  Kraft  (vis  activa)  ist,  wie  L.  in  der  Abh.  de  primae 
philos.  emendatione  et  de  notione  substantiae ,  in  Act  Erud.  1694,  sagt,  ein  Mitt- 
leres zwischen  der  blossen  Fähigkeit  des  Wirkens  und  dem  Wirken  selbst;  die 
blosse  Fähigkeit  bedarf  der  positiven  Anregung  von  aussen,  die  active  Kraft  aber 
nur  der  Hinwegräumung  der  Hindernisse,  um  die  Wirkung  zu  üben,  wie  die 
gespannte  Sehne  eines  Bogens  nur  gelöst  zu  werden  braucht,  um  ihre  Kraft  zu 
äussern.   In  den  um  1714  verfassten  Principes  de  la  nature  et  de  la  gräce, 
foudees  en  raison,  in  Erdm.s  Ausg.  S.  714,  definirt  L:  La  substance  est  un  etre 
capable  d* actio n.   Doch  ist  in  jeder  endlichen  Monade  auch  Passivität,  welche 
L.  als  materia  prima  (im  Unterschied  von  dem  Aggregat  oder  der  Masse  als  der 
materia  secunda,  die  uns  als  etwas  Ausgedehntes  erscheint i  bezeichnet;  nur  Gott 
ist  actus  puros,  frei  von  jeder  Potential ität    Die  Passivität  bekundet  sich  als  die 
Widerstandsfähigkeit  (antitypia),  worauf  die  Undurchdringlichkeit  der  Masse  beruht 
(Op.  ph.  ed.  Erdm.  p.  157;  678).   Müssen  wir  die  Substanzen  mittelst  des  Begriffs 
deT  Kraft  denken,  so  folgt  daraus,  sagt  L  in  dem  Syst  nouv.,  „quelque  chose 
d'analogique  au  sentiment  et  ä  l'appetit*;  man  muss  die  Substanzen  auffassen  „ä 
l'imitation  de  la  netion  que  nous  avons  des  ämes".  Jede  Substanz  bat  Perceptionen 
und  Tendenzen  zu  neuen  Perceptionen.   In  sich  selbst  trägt  sie  das  Gesetz  der 
Fortsetzung  der  Reihe  ihrer  Wirkungen  (legem  continuationis  seriei  suarum  Opera- 
tionen, Brief  an  Arnauld  1690,  in  Erdmauns  Ausg.  S.  107).   Jede  Substanz  hat 
eine  repräsentative  Natur,  sie  stellt  das  Universum  vor,  aber  die  eine  deutlicher 
als  die  andere,  und  eine  jede  von  ihrem  Standpunkte  aus,  mit  grösserer  Klarheit 
in  Bezug  auf  die  Dinge,  zu  denen  sie  in  der  nächsten  Beziehung  steht,  mit  gerin- 
gerer Klarheit  in  Bezug  auf  die  übrigen  (Principes  de  la  nat.  et  de  la  gräce,  3  ff  , 
bei  Erdm.  S.  714  ff.).  Wer  Eine  Monade  vollständig  erkennte,  würde  in  ihr  das  All 
erkennen,  dessen  Spiegel  (miroir)  sie  ist;  sie  selbst  erkennt  nur,  was  sie  klar  vor- 
stellt   Demgemäss  repräsentirt  jede  Monade  das  Universum  gemäss  ihren)  eigen- 
thümlichen  Gesichtspunkte  (selon  son  point  de  vue;  —  les  points  mathematiques 
sont  leur  point  de  vue,  ponr  exprimer  l'univers).  Hierdurch  sind  alle  Monaden  und 
alle  Monadencomplexe  von  einander  verschieden;  es  giebt  im  Universum  nicht  zwei 
einander  vollkommen  gleiche  Objecte;  was  qualitativ  ununterscheidbar  ist,  ist 
schlechthin  identisch  (prineipium  identitatis  indiscernibilium,  Monad.  9 
n.  ö.,  das  schon  bei  den  Stoikern  vorkommt,  s.  Grundr.  I,  7.  Aufl.,  S.  257).  Dar- 
auf, dasa  jede  Monade  von  ihrem  Standpunkte  aus  das  Universum  spiegelt,  beruht, 
die  von  Gott,  dem  Schöpfer  der  Monaden,  zwischen  ihnen  allen  von  Anfang  an 
•resetzte  Harmonie  (harmonia  praestabilita,  harmonie  preetablie,  der  Ausdruck 
von  Leibniz  zuerst  gebraucht  in  einem  ßr.  an  Rasuage  de  Beauval,  Jan.  1696,  mit 
dem  Zusatz:  s'il  m'est  permis  d'employer  ce  mot;  nach  Bayle  stammt  er  von  dem 
Pater  Francois  Lamy,  einem  Anhänger  Malebranches ,  der  ihn  in  traite  2  de  la 
connaissance  de  soi  meine ,  S.  226  anwendet).    Sie  spiegelt  dasselbe  nur  zum  ge- 


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158 


§  18.    Lcibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


ringsten  Theil  mit  Klarheit,  zum  grossen  Theil  aber  in  dunklen,  jedoch  in  ihr 
wirklich  vorhandenen  und  wirksamen  Vorstellungen.  Leibuiz  sagt:  c'est  aussi  par 
les  perceptions  insensibles  que  j'expiique  cctte  admirable  harmouie  preetablie  de 
l'äme  et  du  corps  et  meine  de  toutes  les  mouades  ou  substances  simples,  qui  supplee 
ä  l'influenee  insouteuable  des  uns  sur  les  autres  (Nouv.  Ess.,  Avaut-propos,  bei 
Erdm.  S.  197  f.).  Die  Vorstellungen  heissen  bei  Leibniz  perceptions.  Es  haben 
demnach  alle  Monaden  die  gleichen  perceptions,  aber  sie  unterscheiden  sich  dadurch 
von  einander,  dass  die  einen  weniger,  die  andern  mehr  vou  diesen  Vorstellungen 
appereipiren,  d.  h.  sich  ihrer  bewusst  werden,  und  die  einen  mehr,  die  andern 
weniger  klare  und  deutliche  Vorstellungen  haben.  Unter  Apperception  versteht 
er  also  die  bewusste  Aneignung  eines  Vorstellungsinhalts.  Die  unbewussten  Vor- 
stellungen heissen  les  petites  perceptions,  und  es  hat  L.  mit  diesen  unbewussten 
Vorstellungen  einen  sehr  wichtigen  Begriff  in  die  Psychologie  eingeführt.  Die 
Entwickclung  der  Monaden  geht  darauf  hin,  die  Perceptioneu  zur  Apperception 
zu  bringen  und  zur  vollen  Klarheit  der  Vorstellungen  zu  kommen.  Die  Monaden, 
aus  denen  die  Materie  besteht,  stellen  zwar  auch  das  ganze  Uuiversum  vor,  aber 
in  solcher  Verworrenheit,  dass  sie  sich  dessen  nie  bewusst  sind,  während  die  Gott- 
heit als  allwissende  Ccntralmonade  sich  des  Universums  in  voller  Klarheit  und 
Deutlichkeit  fortwährend  bewusst  ist. 

Durch  die  Monadeidehre  wird  die  Ungleichartigkeit  aufgehoben,  welche  nach 
Descartes  zwischen  dem  Leibe  und  der  Seele  besteht,  und  es  tritt  eine  conti- 
nuirliche  Stufenordnung  pereipirender  Substanzen  an  die  Stelle  (welche 
Doctrin  zwischen  dem  cartesianischen  Dualismus  und  dem  spinozistischen  Monismus 
die  Mitte  hält).  L.  sagt,  gestützt  auf  das  Priucip  der  Continuität:  Es  giebt  un- 
endlich viele  Stufen  zwischen  einer  Bewegung,  wie  gering  dieselbe  auch  sei,  und 
der  vollen  Ruhe,  zwischen  der  Härte  und  einer  absoluten,  gar  keinen  Widerstand 
leistenden  Flüssigkeit,  zwischen  Gott  und  dem  Nichts.  So  giebt  es  auch  unzählig 
viele  Grade  zwischen  jeder  beliebigen  Activität  und  der  reinen  Passivität.  Folglich 
ist  es  nicht  vernunftgeraäss,  nur  Ein  uetives  Priucip,  nämlich  den  allgemeinen  Geist 
(die  Weltseele),  und  Ein  passives,  nämlich  die  Materie,  anzunehmen  (Consideratious 
sur  lu  doctrine  d'un  esprit  universel,  1702,  op.  ph.,  ed.  Erdm.  p.  182).  Die  Stufen- 
ordnung geht  von  Gott,  der  primitiven  Monade,  bis  zu  den  untersten  Monaden 
herab.  Epist  ad  Bierliugium,  1711,  bei  Erdmann  S.  678:  Monas  seu  substantia 
simplex  in  geuere  continet  pereeptionem  et  appetitum,  estque  vel  primitiva  seu 
De us,  in  qua  est  ultima  ratio  rerum,  vel  est  derivativa,  uempe  Monas  creata, 
eaque  est  vel  ratione  praedita,  mens,  vel  sensu  praedita,  nempe  aniraa,  vel 
inferiore  quodam  gradu  pereeptionis  et  appetitus  praedita,  seu  anima  analoga, 
quae  nudo  monadis  nomine  contenta  est,  quum  ejus  varios  gradus  non  cogtioscamus. 
Vgl  Principes  de  la  nature  et  de  la  gräce,  4,  bei  Erdm.  S.  714  f.  Aber  ungeachtet 
dieser  Aufhebung  des  Duulismus  lehrt  L.  doch  nicht  eine  natürliche  Wechselwirkung 
zwischen  den  Monaden  und  insbesondere  zwischen  Leib  uud  Seele;  denn  der  Ablauf 
der  Vorstellungen  der  Seele  kann  nicht  in  den  Mechanismus  der  leiblichen  Be- 
wegungen modificirend  eingreifen,  und  dieser  nicht  in  den  Vorstellungslauf.  Es  ist 
nicht  möglich,  sagt  L.  (Syst.  nouv.  14,  cd.  Erdm.  p.  127),  dass  die  Seele  oder  irgend 
eine  andere  wahre  Substanz  etwas  von  aussen  empfange,  es  sei  denn  durch  die 
göttliche  Allmacht.  Die  Monaden,  sagt  er  an  einer  andern  Stelle  (Monad.  7,  ed. 
Erdm.  p.  705),  haben  keine  Fenster,  durch  die  irgend  welche  Elemente  in  sie  ein- 
gehen oder  hinaustreten  könnten.  Es  giebt  keinen  influxus  physicus  zwischen  irgend 
welchen  geschaffenen  Substanzen,  also  auch  nicht  zwischen  der  Substanz,  welche 
Seele  ist.  uud  denjenigen  Substanzen,  die  ihren  Leib  ausmucheu.  Der  ganze  Vor- 
btellungsiuhalt  entwickelt  sich  also  spontan  aus  der  Monade  allein.  Die  Seele  kann 


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§  18.    Leibuiz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


159 


ferner  darum  nicht  auf  den  Leib  wirken,  weil  sich  im  Universum,  wie  in  jedem 
System  von  nur  auf  einander  wirkenden  und  von  einander  Wirkungen  erfahrenden 
Substauzeu,  nicht  nur  dieselbe  Grösse  der  (lebendigen;  Kraft,  sondern  auch  dieselbe 
Quantität  des  Progresses  in  jeder  einzelnen  Richtung  unverändert  erhalt  lex  de 
eouservsinda  quantitate  directionis,  s.  Erdmanns  Ausg.  8.  108;  133;  702);  die  Seele 
kann  also  nicht,  wie  Deseartes  dafürhielt,  auf  die  Richtung  der  Bewegungen 
modificirend  einwirken.  Descartes  Hess  noch  die  gewöhnliche  Amiahme  eines  natür- 
lichen Einflusses  bestehen;  ein  Theil  seiner  Schüler  erkunnte.  dass  derselbe  unmöglich 
sei,  und  bildete  die  Doctrin  des  Occasionalismus  aus.  Aber  diese  Doctriu  macht  die 
alltäglichen  Torgänge  zu  Wundern,  indem  sie  Gott  stets  aufs  Neue  in  den  Natur- 
lauf eingreifen  lässt.  Gott  hat  vielmehr  von  Anfang  an  Seele  und  Leib  und  über- 
haupt alle  Substanzen  so  geschaffen,  dass,  indem  jede  dem  Gesetz  ihrer  inneren 
Entwicklung  ider  oben  erwähnten  lex  continuationis  seriei  suarum  operationum)  mit 
voller  Selbständigkeit  (spontaneite)  folgt,  sie  zugleich  mit  allen  andern  in  jedem 
Augenblick  in  genauer  Uebereinstimmung  (couformite)  steht  (also  die  Seele 
dem  Gesetz  der  Vorstelluugsassociation  gemäss  in  demselben  Augenblick  eine 
schmerzhafte  Empfindung  hat,  in  welchem  der  Körper  geschlagen  oder  verwundet 
wird,  etc.  und  umgekehrt  der  Arm  den  Gesetzen  des  Mechanismus  des  Leibes 
gemäss  in  demselben  Augenblicke  sich  ausstreckt,  in  welchem  in  der  Seele  ein 
bestimmtes  Begehren  auftaucht  u.  dergl.  mehr).  Das  Verhältnis*  dieser  Annahme 
der  prästabilirten  Harmonie  zu  den  beiden  anderen  möglichen  Erklärungen 
der  Correspondenz  zwischen  Seele  und  Leib  erläutert  L.  (in  dem  Second  Eclair- 
cisseinent  und  Troisieme  Eclaircissemeut  du  uouveau  Systeme  de  la  commumeation 
des  substances,  Erdm.  S.  133  f.)  durch  folgendes  Glcichniss  (siehe  übrigens  schon 
Geulincx,  ob.  S.  80):  Dass  zwei  Uhren  miteinander  stets  übereinstimmen,  kann 
auf  drei  Weisen  erzielt  werden,  deren  erste  der  Lehre  von  einem  physischen  Ein- 
fluss  zwischen  Leib  und  Seele  entspricht,  die  zweite  dem  Occasionalismus,  die 
dritte  dem  System  der  prästabilirten  Harmonie.  Eutweder  werden  beide  Uhren 
durch  irgend  einen  Mechanismus  mit  einander  in  Verbindung  gebracht,  so  dass  der 
Gang  der  einen  auf  den  Gang  der  andern  einen  bestimmenden  Einfluss  übt,  oder 
es  wird  Jemand  beauftragt,  fortwährend  die  eine  nach  der  andern  zu  stellen,  oder 
es  sind  beide  mit  so  vollkommener  Genauigkeit  gleich  anfangs  gearbeitet  worden, 
dass  man  auf  ihren  andauernd  gleichmässigen  Gang  ohne  rectificirendes  Eingreifen 
eines  Arbeiters  rechnen  kann.  (S.  dazu  die  ob.  S.  79  angeführte  Litteratur  über 
Leihniz  und  Geulincx  und  G.  Berthold,  L.  und  das  Uhreugleichniss,  in:  Monatsber. 
d.  Ak.  zu  Berlin  1874,  8.  561—567.)  Da  L.  zwischen  Seele  und  Leib  einen  phy- 
sischen Einfluss  für  unmöglich  hält,  so  bleibt  ihm  nur  die  Wahl  zwischen  den 
beiden  letzteren  Annahmen  übrig,  und  er  entscheidet  sich  für  die  eines  .  consente- 
ment  preetabli",  weil  er  diese  Weise,  die  Uebereinstimmung  zu  sichern,  für  natur- 
geraässer  und  gotteswürdiger  hält,  als  das  jedesmalige  gelegentliche  Eingreifen. 
Der  absolute  Künstler  konnte  nur  vollkommene  Werke  schaffen,  die  der  stets  er- 
neuten Rectification  nicht  bedürfen. 

Die  Seele  kann  die  herrschende  Monade  oder  das  substantielle  Centrum  des 
Leibes  genunnt  werden  oder  auch  die  auf  die  Monaden  des  Leibes  wirkende  Sub- 
stanz, sofern  die  andern  ihr  uugepasst  sind,  und  ihr  Zustand  den  Erklärungsgrund 
für  die  leiblichen  Veränderungen  ausmacht  (Syst.  nouv.  17,  Erdm.  S.  128 1.  Jede 
Monade,  welche  Seele  ist,  ist  mit  einem  organischen  Leibe  umkleidet,  den  sie 
niemals  in  allen  seinen  Theilen  verliert.  Dass  sie  ihn  aber  doch  partiell  verlieren 
kann,  und  dass  sogar  fortwährend  die  Bestandteile  des  Leibes  dem  Stoffwechsel 
unterliegen  (Monad.  71),  während  jede  Monade  schlechthin  einfach  ist,  zeugt 
hinreichend  für  die  völlige  Unnahbarkeit  des  Versuchs,  den  Unterschied  von  Seele 


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160  8  18.    Leibniz  and  gleichzeitige  Philosophen 


und  Leib,  welcher  letztere  nach  L.  als  ein  Aggregat  von  Substanzen  ein  Monaden- 
complex  ist  (une  massc  composee  par  une  infinite  d'aatres  Mouades,  qni  constitoent 
le  corps  propre  de  cette  Monade  centrale,  Princ.  de  la  nat  et  de  la  gr&ce  3, 
Erdm  S.  714),  mit  dem  der  Activität  und  Passivität  in  der  einzelnen  Monade  zu 
identificiren  und  hiernach  auch  die  prästabilirt«  Harmonie  umzudeuten. 

K-  existirt  nichts  Anderes,  als  Monaden  und  Erscheinungen,  welche  Vor- 
stellungen der  Monaden  sind.  Alle  Ausdehnung  gehört  nur  der  Erscheinung  an: 
nur  in  der  verworrenen  sinnlichen  Auffassung  erscheint  die  continuirlich  ausgedehnte 
Materie.  Diese  Materie  ist  nur  ein  „phaenomenon  bene  fundatum",  ,un  phenomene 
reg]»'-  et  exact,  qui  ne  trompe  point,  quand  on  prcnd  garde  uux  regles  abstraites  de 
la  raison".  Der  Raum  ist  die  Ordnung  der  möglichen  coexistirenden  Erscheinungen, 
die  Zeit  ist  die  Ordnung  der  Successionen  (in  Erdmanns  Ausg.  S.  189  ,  746 f., 
752  u.  ö.).  Was  in  der  Ausdehnung  Reales  ist,  besteht  nur  in  dem  Grunde  der 
Ordnung  und  geregelten  Folge  der  Erscheinungen,  welcher  Grund  nicht  anschaulich 
vorgestellt,  sondern  nur  gedacht  werden  kann.  L.  bekämpft  die  (auch  von  Newton 
gehegte)  Ansicht,  dass  der  Raum  „nn  etre  r£el  absolu*  sei  (wie  er  auch  die 
newtonsche  Attractionsdoctrin  angreift,  Erdm.  S.  782). 

Die  Vereinigung  von  einfachen  Substanzen  zu  einem  Organismus  ist  eine  unio 
realis  und  bildet  gewissermaassen  eine  zusammengesetzte  Substanz,  indem 
die  einfachen  Substanzen  gleichsam  durch  ein  „vinculum  substantiale*  mit  einander 
zu  einem  Ganzen  verknüpft  sind. 

Aus  der  monadischen  und  geistigen  Natur  der  Seele  folgert  L.  ihre  Unzerstör- 
barkeit und  Unsterblichkeit.  Syst.  nouv.,  Erdm.  S.  128:  »Tont  esprit  etant 
comme  un  monde  ä  part,  süffisant  ä  lui  meme,  independant  de  toute  autre  creature 
enveloppant  Tinfini,  exprimant  1'univers,  et  aussi  durable,  aussi  subsistant  et  aussi 
absolu  que  l'univers  meme  des  creatures."  Aus  der  Unmöglichkeit,  die  thatsäch- 
liche  Uebereiustimmung  zwischen  Seele  und  Leib  durch  physischen  Einflnss  zu 
erklären,  folgert  er  die  Nothwendigkeit  der  Annahme  der  Existenz  Gottes  als 
der  gemeinsamen  Ursache  aller  endlichen  Substanzen:  .car  ce  parfait  accord  de 
tant  de  substances,  qui  n'ont  point  de  communication  ensemble,  ne  saurait  veuir 
que  de  la  cause  commune*  (Syst.  nouv.  1606,  Erdm.  S.  128).  Gott,  die  primitive 
Substanz,  hat  jede  Monade  so  eingerichtet,  dass  sie  stets  von  ihrem  Standpunkt  aus 
das  Weltall  spiegelt,  und  er  hat  hierdurch  die  Harmonie  bewirkt  Nouv.  Ess.  IV. 
§  11:  Car  chacune  de  ces  ämes  exprimant  ä  sa  maniere  ce  qui  se  passe  au  dehore 
et  ne  pouvant  avoir  aucune  influence  des  etres  particuliere  ou  plutöt  devant  tirer 
cette  expression  du  propre  fond  de  sa  nature,  il  faut  necessairement  que  chacune 
ait  recu  cette  nature  d'une  cause  universelle  dont  ces  etres  depeudent  tous  et  qui 
fasse  que  Tun  suit  parfaitement  d'accord  et  correspondant  avec  l'autre,  ce  qui  ne 
se  pcut  sans  une  connaissance  et  poissance  infinie.  Gott  ist,  sagt  L.  (Monad.  47, 
Erdm.  S.  708),  die  primitive  Einheit  oder  die  ursprüngliche  einfache  Substanz,  die 
Monas  primitiva  (Epist.  ad  Bierlingium  1711,  Erdm.  S.  678;  la  monade  primitive, 
Lettre  ä  Remond  de  Montmort,  1715,  Erdm.  S.  725),  deren  Productionen  alle 
geschaffenen  oder  abgeleiteten  Monaden  sind,  die  (wie  L.  allerdings  nicht  ohne 
einige  Beeinträchtigung  seiner  Voraussetzung  der  Uutheilbarkeit  der  Monaden  lehrt) 
aus  ihr  gleichsam  durch  beständige  Ausstrahlungen  (die  doch  dynamische  Thei- 
lungen  sind)  entstehen  (par  des  fulgurations  coutinuelles  de  la  Divinite  de  moment 
ä  moment,  bornees  par  la  r6ceptivit6  de  Ja  creature  d  laquelle  il  est  essentiel 
d'etre  limitee).  Gott  hat  eine  adäquate  Kenntniss  von  allem,  da  er  dessen  Quelle 
ist  Er  ist  gleichsam  überall  Centrum  (comme  centre  partout,  mais  sa  circon- 
ference  est  nulle  part),  alles  ist  ihm  unmittelbar  gegenwärtig,  nichts  ist  fern  von 
ihm.    Diejenigen  Monaden,  welche  Geister  sind,  haben  vor  den  übrigen  die  Gottes- 


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§  18.    Leibniz  nnd  gleichzeitige  Philosophen. 


161 


erkenntuiss  voraus  mid  habeu  einigen  Antheil  an  Gottes  schaffender  Kraft.  Gott 
beherrscht  die  Natur  als  Architekt,  die  Geister  als  Monarch;  zwischen  dem  Reiche 
der  Natur  und  der  Gnade  besteht  eine  vorausbestimmte  Harmonie  (Princ.  de  1.  uat. 
et  d.  1.  gräce  13  und  15,  Erdm.  S.  717). 

Auf  dem  Princip  der  Harmonie  zwichen  den  Reichen  der  Natur  und  der 
Gnade  beruht  L.s  Th  eodieee  oder  Rechtfertigung  Gottes  wegen  des  Uebels  in  der 
Welt.  Die  Welt  muss  als  Werk  Gottes  die  beste  unter  allen  möglichen  Welten 
sein;  denn  wäre  eine  bessere  Welt  möglich,  als  diejenige,  welche  wirklich  besteht, 
so  hätte  Gottes  Weisheit  dieselbe  erkennen,  Beine  Güte  sie  wollen,  seine  Allmacht 
sie  schaffen  müssen.  Damit  ist  aber  nicht  gesugt,  dass  die  von  Gott  geschaffene 
Welt  die  absolut  vollkommene  oder  gute  ist.  Das  Uebel  in  der  Welt  ist  mit  Not- 
wendigkeit durch  die  Existenz  der  Welt  selbst  bedingt.  Sollte  es  eine  Welt  geben, 
so  musste  sie  aus  endlichen  Wesen  bestehen;  hierdurch  rechtfertigt  sich  die  End- 
lichkeit oder  Beschränktheit  und  Leidensfähigkeit,  die  man  das  metaphysische 
Uebel  nennen  kann.  Das  physische  Uebel  oder  der  Schmerz  ist  heilsam  als  Strafe 
oder  als  Erziehungsmittel.  Das  moralische  Uebel  oder  das  Böse  konnte  Gott  nicht 
aufheben,  ohne  die  Selbstbestimmung  und  damit  die  Moralität  selbst  aufzuheben; 
die  Freiheit,  nicht  als  Exemption  von  der  Gesetzmässigkeit,  sondern  als  Selbstent- 
scheidung nach  dem  erkannten  Gesetz,  gehört  zum  Wesen  des  Geistes.  Der  Natur- 
lauf ist  so  vou  Gott  geordnet,  dass  er  jedesmal  dasjenige  herbeiführt,  was  für  den 
Geist  das  Zuträglichste  ist;  eben  hierin  besteht  die  Harmonie  zwischen  dem  Reiche 
der  Natur  und  dem  Reiche  der  Gnade. 

Den  Kern  der  in  den  (1704  verf.,  erst  1765  veröffeutl.)  Nouveaux  essais 
sur  l'entendement  enthaltenen  Bemerkungen  gegen  Lockcs  Essay  coucern.  hum. 
understanding  (welche  Schrift  er  jedoch  als  ,un  des  plus  beaux  et  des  plus  estimes 
ouvrages  de  ce  temps"  anerkennt)  bezeichnet  L.  selbst  in  einem  Briefe  an  Bierling 
in  folgender  Weise:  «Bei  Locke  sind  gewisse  besondere  Wahrheiten  nicht  übel 
auseinandergesetzt;  aber  in  der  Hauptsache  eutfernt  er  sich  weit  vom  Richtigen, 
und  er  hat  die  Natur  des  Geistes  und  der  Wahrheit  nicht  erkannt.  Hätte  er  den 
Unterschied  zwischen  den  nothwendigen  Wahrheiten  oder  denjenigen,  welche  durch 
Demonstration  erkannt  werden,  und  denjenigen,  zu  welchen  wir  bis  auf  einen 
gewisaeu  Grad  durch  Induction  gelangen,  richtig  erwogen,  so  würde  er  eingesehen 
haben,  dass  die  nothwendigen  Wahrheiten  nur  aus  den  dem  Geiste  eingepflanzten 
Principien,  den  sogenannten  angeborenen  Ideen,  bewiesen  werden  können,  weil  die 
Sinne  zwar  lehren,  was  geschieht,  aber  nicht,  was  nothwendig  geschieht.  Er  hat 
auch  nicht  beachtet,  dass  die  Begriffe  des  Seienden,  der  Substanz,  der  Identität, 
des  Wahren  und  Guten  deswegen  unserm  Geiste  angeboren  sind,  weil  er  selbst  sich 
angeboren  ist,  in  sich  selbst  dieses  Alles  ergreift  „Nihil  est  in  intellectu,  quod  non 
fuerit  in  sensu,  nisi  ipse  intellectus/*)  Ueber  das  Einzelne  vergl.  insbesondere 


*)  Da  jedoch  Locke  ausser  der  Sensation  auch  die  Reflexion  als  das  Bewnsst- 
sein  des  Geistes  vou  seinem  eigenen  Thun  angenommen  hat,  und  da  andererseits 
Leibniz  nicht  die  Ideen  als  bewusste  Vorstellungen  angeboren  sein  lässt,  sondern 
nur  als  „schlummernde  Vorstellungen",  als  „idees  innres1",  die  doch  nicht  „connues" 
seien,  so  ist  der  Gegensatz  geringer,  als  er  nach  dem  Wortlaute  erscheint.  Wenn 
der  Geist  den  Begriff  des  Seienden,  der  Substanz  darum  zu  gewinnen  vermag, 
weil  er  selbst  ein  Seiendes,  eine  Substanz  ist,  so  ist  ihm  nicht  dieser  Begriff  als 
solcher,  auch  nicht  einmal  als  unbewusster  Begriff,  sondern  nur  das,  woraus  dieser 
Begriff  sich  bilden  lässt,  angeboren;  ist  er  der  Wahrheit  und  Güte  fähig  und 
vermag  durch  Reflexion  auf  die  von  ihm  gewonnene  Wahrheit  und  Güte  eben  diese 
Begriffe  zu  bilden,  so  erlangt  er  dieselben  nicht  ohne  die  „reflexion",  und  in  her 
leibnizischen  Theorie  liegt  nur  so  viel  Wahres,  dass  die  Möglichkeit  derjenigen 
Entwickel ung,  die  zu  jenen  Begriffen  führt,  durch  eine  der  Seele  innewohnende 
Ueberwag-Hcinz«,  Grundrisa  III.  7.  Aufl.  U 


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§  18.   Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


die  schon  oben  (§  14,  S.  116)  citirte  Abhandl.  von  G.  Hartenstein,  Lockes  Lehre 
von  der  menschl.  Erkennte,  in  Vergleich^,  m.  Leibniz'  Kritik  derselben. 

Als  Principien  des  Schliessens  bezeichnet  L.  den  Satz  der  Identität 
und  des  Widerspruchs  und  den  Satz  des  zureichenden  Grundes.  Mona- 
dol.  31,  32  (Erdra.  S.  707):  Nos  raisonnements  sont  fondes  sur  deux  grands  prin- 
cipes,  celui  de  la  contradiction,  en  vertu  duquel  nous  jugeons  faux  ce  qui  en 
enveloppe,  et  vrai  ce  qui  est  oppose  ou  contradictoire  au  faux,  et  celui  de  la 
raison  süffisante,  en  vertu  duquel  nous  considerons  qu'aucun  fait  ne  saurait  se 
trouver  vrai  ou  existant,  aucune  enonciation  veritable,  sans  qu'il  y  ait  une  raison 
süffisante,  pourquoi  il  en  soit  ainsi  et  non  pas  autrement,  quoique  ces  raisons  le 
plus  souvent  ne  puissent  poiut  nous  ötre  connues.  Die  nothwendigen  oder  ewigen 
Wahrheiten  führt  L.  auf  den  Satz  des  Widerspruchs  zurück,  die  zufälligen  oder 
factischen  auf  den  Satz  des  Grundes ;  die  ersteren,  wozu  L.  insbesondere  die  mathe- 
matischen rechnet,  kann  man  durch  eine  Analyse  der  Begriffe  und  Sätze,  die  bis 
zu  den  primitiven  fortgeht,  erkennen.  (Im  Gegensatz  zu  dieser  Lehre  hat  Kant  die 
mathematischen  Erkenntnisse  als  synthetische  Urtheile  a  priori  bezeichnet. 
Manche  Leibnizianer  haben  den  Satz  des  Grundes  aus  dem  des  Widerspruchs  abzu- 
leiten versucht)  Den  ewigen  Wahrheiten  kommt  eine  absolute,  unbedingte  Not- 
wendigkeit zu,  den  tatsächlichen  nur  eine  bedingte,  hypothetische.  Die  erstere  ist 
eine  logische  als  Unmöglichkeit  des  Gegentheils,  die  zweite  eine  causale  als 
Abhängigkeit  von  anderen  Thatsachen.  So  wurde  für  Leibniz  die  factische  Not- 
wendigkeit, deren  Gegentheil  immer  noch  denkbar  bleibt,  eine  zufällige,  und  er 
gewann  so  den  Gegensatz  der  nothwendigen  und  zufälligen  Wahrheiten. 

Die  „ewigen  Wahrheiten*  haben  nach  L.  ihren  Ursprung  in  dem  göttlichen 
Verstände,  ohne  dass  der  göttliche  Wille  daran  Antheil  hat;  der  göttliche  Ver- 
stand ist  die  Quelle  der  Möglichkeit  der  Dinge,  der  göttliche  Wille  die  Ursache 
ihrer  Wirklichkeit.  Hiernach  muss  alle  Wahrheit  ihrer  Natur  nach  Vernunft- 
wahrheit sein. 

Die  Hauptpunkte  seiner  Lehre  fasst  Leibniz  in  Bemerkungen  zu  dem  Artikel 
Rorarius  in  Bayles  Dictionnaire  (zuerst  gedruckt  bei  Gerhardt,  Bd.  4,  S.  553)  zu- 
sammen: Enfin  la  somme  de  mon  Systeme  revient  ä  cecy,  que  chaque  Monade  est  une 
concentration  de  l'univers,  et  que  chaque  Esprit  est  une  imitation  de  la  divinite. 
Qu'en  dieu  l'univers  se  trouve  non  seulement  coneentrö,  mais  eucore  exprimä  par- 
faitement,  mais  qu'en  chaque  Monade  creee  il  y  a  seulement  une  partie  exprimee 


Activität  bedingt  ist,  welche  den  Vergleich  derselben  mit  einer  bloss  passiven 
tabula  rasa  unpassend  macht.  Die  Vorstellungen  bilden  sich  sämmtlich  durch  ein 
Zusammenwirken  äusserer  und  innerer  Factoren;  Locke  hat  die  ersteren,  Leibniz 
die  letzteren  betont.  Die  „Anlage"  zu  den  bewussten  Ideen  mit  dem  Vorhanden- 
sein eben  dieser  Ideen  selbst  als  unbewusster  Vorstellungen  gleichsetzen,  so  dass 
die  Entwicklung  derselben  nur  in  einem  successiven  Klarwerden  derselben  bestehen 
soll,  heisst  dem  wirklichen  Entwickelungsprocesse  einen  erträumten  unterschieben, 
bei  welchem  die  Mitwirkung  des  äusseren  Factors  verkannt  wird.  Die  auf  uns  ein- 
wirkende äussere  Realität  ist  ebensowohl  wie  der  Geist  selbst  etwas  Geordnetes, 
nach  immanenten  Gesetzen  Gestaltetes,  nicht  ein  Conglomerat  von  Zufälligkeiten; 
darum  ist  auch  die  durch  die  Einwirkung  der  Aussenwelt  auf  uns  bedingte  Erfah- 
rung nicht  etwas  Chaotisches,  in  welches  der  Geist  erst  aus  sich  nach  .angeborenen 
Ideen",  die  nach  Leibniz  die  Seele  wie  Adern  den  Marmorblock  durchziehen  (oder, 
wie  Kant  will,  nach  Formen  a  priori),  Ordnung  hineintragen  müsste.  Aus  ihr  selbst 
kann  die  gesetzmässige  Ordnung  der  Realität*  erkannt  werden,  in  welcher  die  Not- 
wendigkeit der  einzelnen  Thatsachen  begründet  liegt.  Zu  diesem  Ziele  führt  freilich 
nicht  die  vereinzelte  Erfahrung,  wohl  aber  die  Combination  von  Erfahrungen  nach 
logischen  Normen,  welche  letzteren  von  rein  subjectiven  Bestandstücken  der  Er- 
kenntniss  sehr  wesentlich  verschieden  sind. 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


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distinctement,  qui  est  plus  ou  moins  excellente,  et  tout  le  reste,  qoi  est  infiui  n'y 
est  exprime  qae  confuseraent.  Mais  qu'il  y  a  en  Dien  non  seuleraeut  la  concen- 
tration,  mais  eneore  la  soorce  de  l'univers.  11  est  le  centre  primitif,  dout  toot  le 
reste  emane,  et  si  qaelque  chose  emane  de  nous  en  dehors,  ce  n'est  pos  immedia- 
tement,  mais  parce  qa'il  a  vooln  accommoder  d'abord  les  choses  ä  nos  desirs.  Enfin 
lorsqu'on  dit,  qae  chaqae  Monade,  Arne,  Esprit  a  receu  une  loy  particuuere,  U 
faut  adjoater,  qa'elle  n'est  qu'une  Variation  de  la  loy  generale  qui  regle  l'univers; 
et  que  c'est  comme  une  meme  ville  paroit  differente  selon  les  differens  points  de 
veue  dont  on  la  regarde. 

Auf  die  Religion  und  auf  die  allgemeine  Bildung  im  18.  Jahrh.  hat  L. 
zumeist  durch  seinen  Versuch  eines  Nachweises  der  Conformität  von  Vernunft  und 
Glauben  (in  der  Theodicee)  gewirkt,  den  er  zunächst  im  Gegensätze  gegen  Bayles 
extreme  Durchführung  des  altprotestantischen  Princips  des  Widerstreits  aufstellte, 
und  der  bei  der  Ausbreitung  und  Vertiefung  der  wissenschaftlichen  Vernunft- 
erkenntniss  auf  den  Gebieten  der  Natur  und  Geschichte  als  ein  dringendes  Zeit- 
bedürfniss  erschien.  In  dem  Maasse,  wie  sein  Princip  Eingang  fand,  wurde  einer- 
seits die  Schroffheit  des  Gegensatzes  zwischen  Katholicismus  und  Protestantismus 
gemildert,  andererseits  aber  die  Bedeutung  der  Offenbarungslehren  überhaupt 
(obschon  L.  an  denselben  festhielt  und  insbesondere  socinianische  Einwürfe  gegen 
die  orthodoxe  Trinitätslehre  bekämpfte)  zu  Gunsten  der  durch  die  blosse  Vernunft 
erkennbaren  Wahrheiten  abgeschwächt,  in  welcher  Richtung  die  sogenannte  Auf- 
klärung weit  über  L.s  Absicht  hinausging.  Die  leibnizisch- wölfische  Philosophie 
bahnte  den  theologischen  Rationalismus  an,  der  später  durch  den  Kantianismus 
in  anderer  Art  zu  einer  noch  volleren  Ausbildung  gelangte. 

Ging  in  philosophischem  Betracht  Ks  Streben  vorzüglich  auf  die  Ver- 
einigung der  theologischen  uud  kosmologischen  Auffassung,  der  Ableitung  aus 
Gott  und  der  Erklärung  durch  Naturgesetze,  so  ist  doch  eine  wirkliche  Harmonie 
beider  Elemente  nicht  erreicht  worden.  Die  prästabilirte  Harmonie  lässt  nur 
anscheinend  eine  uaturgesetzliche  Auffassung  zu,  indem  jede  Monade  von  ihrem 
Standorte  aus  das  All  spiegeln  soll;  eine  wirkliche  Naturgesetzlichkeit  müsste 
den  Causalnexus  involviren.  Wie  Gott  die  Monaden  zu  bestimmen  vermöge,  bleibt 
unklar.  Die  Verschiedenheit  der  Standorte  der  Monaden  muss  entweder  von  eben 
solcher  Art  sein,  wie  die  der  Lage  von  Punkten  in  dem  Räume  der  sinnlichen 
Anschauung  oder  nicht.  Ist  sie  es  nicht,  so  bleibt  die  Natur  derselben  völlig 
unbestimmt;  die  Durchführnng  der  Monadenlehre,  welche  fast  durchgängig  die 
Analogie  räumlicher  Verhältnisse  voraussetzt,  wird  durch  den  allgemeinen  Satz, 
dass  alle  derartigen  Verhältnisse  bei  den  Monaden  nicht  statthaben,  nicht  nur 
durchaus  unanschaulich,  sondern  verliert  auch  jede  Klarheit  für  das  Denken.  Die 
leibnizische  Lehre  vom  Raum  bleibt  hiernach  kaum  wesentlich  von  der  kantischen 
Doctrin,  wonach  derselbe  eine  blosse  subjective  Anschaaungsform  ist,  unterschieden 
(wie  denn  auch  Kant,  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwiss.,  Lehrs.  4,  Anm.  2  gegen 
Ende,  L.s  Lehre  vom  Raum  in  eben  diesem  Sinne  deutet,  indem  die  der  räumlichen 
Ordnung  correspondirende  Ordnung  einfacher  "Wesen  einer  „bloss  intelligibeln,  uns 
unbekannten  Welt«  angehöre),  zieht  dann  aber  consequentermaassen,  wie  Kant 
gezeigt  hat,  auch  die  Denkformen  in  den  blossen  SubjecÜvismus  mit  hinein  und 
unterliegt  andererseits  den  nämlichen  Bedenken,  welche  diesen  kantischen  Subjecti- 
vismus  als  unhaltbar  erweisen  und  insbesondere  Herbart  zur  Ausbildung  eines 
neuen  .Realismus"  bestimmt  haben.  Sind  aber  die  Monadenorte  räumlicher  Art 
(zu  welcher  Annahme  insbesondere  die  mathematische  Bestimmtheit  der  mechanischen 
Gesetze  nöthigt,  welche  Gesetze  unleugbar  über  das  Subject  auf  die  transscenden- 
ttüen  Objecte,  die  seine  sinnlichen  Anschauungen  bedingen,  hinausweisen.  Zu 

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§  18.    Leibniz  and  gleichzeitige  Philosophen. 


dieser  Auflassung  stimmt  L.s  Bestimmung  der  points  de  vne  als  mathematischer 
Punkte  innerhalb  organisirter  Massen  und  die  Bedingtheit  des  Maasses  der  Wirkung 
durch  die  Distanz;  Princ.  de  la  nat.  et  de  la  grace,  3,  Erdin.  S.  714),  so  muss 
(mit  Herbart)  ein  intelligibler  Raum  von  dem  phänomenalen  unterschieden,  aber 
derselbe  dem  letztern  gleichartig  gedacht  werden,  waa  jedoch  L.  nicht  will,  der 
ausdrücklich  alle  räumlichen  Beziehungen  auf  Phänomene  einschränkt  und  die 
Uebertragung  derselben  auf  die  Monaden  abweist.    Durch  diese  Uebertragung 
würde  mindestens  die  theologische  Seite  der  leibnizischen  Doctrin,  die  Allgegenwart 
Gottes,  sein  Nichtgebundensein  an  einen  bestimmten  Punkt,  seine  gleich  nahe 
Beziehung  zu  allen  endlichen  Monaden  gefährdet  werden.  Die  punctuelle  Einfachheit 
der  Monade  verträgt  sich  nicht  mit  der  zum  Behuf  der  Ausschliessung  äusserer 
Einfachheit  angenommenen  Vielfachheit  der  in  ihr  liegenden  Perceptionen ;  schon 
Bayle  hat  hierauf  aufmerksam  gemacht.   Wird  die  Einfachheit  aufgegeben,  so  ist 
zunächst  der  Spinozismus  hergestellt;  Herbart  hat,  um  die  punctuelle  Einfachheit 
zn  retten  (deren  Möglichkeit  übrigens  auch  an  sich  selbst  zweifelhaft  ist,  da  der 
Punkt  nur  als  Grenze  existirt  und  nur  in  der  Abstraction  verselbständigt  wird), 
die  Consequenz  der  Einfachheit  der  Qualität  gezogen,  wodurch  aber  nicht  nur  die 
prästabilirte  Harmonie  aufgehoben,  sondern  auch  jede  Durchführung  einer  theo- 
retischen Gotteslehre  unmöglich  wird.   Der  Kantianismus,  der  erneute  Spinozismus 
(Schellingianismus)  und  der  Herbartianismus  liegen  unentwickelt  in  der  leibnizischen 
Doctrin  mit  einander  vereint;  zu  einer  wirklichen  Versöhnung  der  widerstreitenden 
Elemente  ist  Leibniz  nicht  gelangt 

Ein  deutscher  Vorgänger  Leibnizens  in  dem  Bestreben  nach  einer  Reform  der 
Philosophie  war  Joach.  Jungins  (1587 — 1657),  ein  tüchtiger  Mathematiker  und 
Naturforscher,  der  besonders  auch  (mit  Piaton)  die  propädeutische  Bedeutung  der 
Mathematik  für  ein  echtes  Philosophiren  hervorhob.  Er  ist  der  Verf.  der  Logica 
Hamburgiensis,  Hamb.  1638  und  1681.  üeber  ihn  handelt  G.  E.  Guhrauer,  J.  J. 
und  sein  Zeitalter,  nebst  Goethes  Fragin.  üb.  Jungius,  Stuttg.  u.  Tübing.  1859. 

Eine  Harmonie  des  Wissens  und  Glaubens  erstrebte  der  berühmte  Schulmann 
Arnos  Comenius  (1592—1671),  der  durch  die  Schriften  Vives',  Campanellas. 
Fr.  Bacons  und  durch  J.  Alstedt  beeinflusst  war.  Die  ursprüngliche  Quelle  der 
Erkenntniss  ist  nach  ihm  der  Sensus;  da  dieser  sich  aber  leicht  durch  die  Fülle 
der  Wahrnehmungen  verwirrt,  ist  es  nöthig,  die  Vernunft  za  gebrauchen,  die  freilich 
auch  die  Gesammtheit  nicht  zu  erkennen  vermag,  so  dass  die  h.  Schrift  heran- 
zuziehen ist:  Quemadmodum  nihil  est  in  intellectu  quod  non  fuerit  in  sensu,  ita 
nihil  in  fide,  quod  non  prius  in  intellectu.  Doch  ist  Comenius  zu  voller  Klarheit 
weder  in  seiner  Methode  noch  in  seinen  inhaltlichen  Aufstellungen  gekommen. 
Seine  pansophischen  Bestrebungen  gingen  auf  eine  vollständige  und  vollkommene 
Erkenntniss.  In  der  Physik,  die  er  am  sorgfältigsten  bearbeitet  hat,  nimmt  er  drei 
Principien  an :  materia,  lux,  Spiritus;  in  dem  letzten  hat  Gott  die  Ideen,  welche  die 
Gestaltung  der  Dinge  fertig  bringen,  der  Welt  eingehaucht.  S.  von  Criegern,  J.  A. 
Com.  als  Theolog,  Lpz.-Heidelb.  1881.  Joh.  Kvacsala,  üb.  J.  A.  Comenius*  Philo- 
sophie, insbesondere  Physik,  I.-D.,  Lpz.  1886,  bei  dem  auch  die  philosophischen 
Schriften  des  C.  und  die  einschlägige  Litteratur  nachzusehen  sind. 

Die  skeptische  Ansicht  von  menschlichem  Wissen,  welche  einst  Agrippa 
v.  Nettesheim  in  seiner  Schrift  de  incertitud.  et  vanitate  scientiar.,  Colon.  1527, 
geäussert  hatte  und  im  17.  Jahrh.  in  England  Jos,  Glanville,  in  Betreff  des  Cau- 
salitätsbegriffs  Vorgänger  Humes,  in  Frankreich  Le  Vayer  u.  A.  vertraten,  äusserte 
Hieron.  Hirnhaym  (gest.  zu  Prag  1679)  in  seiner  Schrift  de  typho  generis  humani 
sive  scientiarum  humanarum  inani  ac  ventoso  tumore,  difficultate  etc.,  Prag  1676, 


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§  18.   Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


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zu  dem  Zweck,  den  Offenbarungsglauben  and  die  Askese  zu  heben.  Doch  war  er 
kein  Feind  wissenschaftlicher  Studien,  äusserte  aber  in  orthodox -beschränkter 
Weise  seinen  Abscheu  gegen  alle  Philosophie  und  hielt  die  Grundsätze  alles  Denkens 
für  widerlegt  durch  bestimmte  christliche  Dogmen,  %.  B.  den  der  Causalitat  durch 
das  Dogma  von  der  Weltechöpfung.  Ueb.  ihn  handelt  K.  Sigm.  Barach,  11.  H.,  ein 
Beitr.  z.  Gesch.  d.  pbilos.-theol.  Cultur  im  17.  Jahrh.,  Wien  1864,  wieder  abgedruckt 
in  B  s  Kleinen  philos.  Schriften,  Wien  1875. 

Die  Mystik  erneuerte  u.  A.  namentlich  Angelus  Silesius  (Johann  Scheffler, 
1624—67)  in  poetischer  Form.  Sein  Grundgedanke  ist:  Gott  bedarf  des  Menschen 
gleich  wie  der  Mensch  Gottes  bedarf,  zur  Pflege  seines  Wesens.  Vgl.  Franz  Kern, 
Joh.  Schefflers  cherubinischer  Wandersraaun,  Lpz.  1866  (wo  besonders  die  Beziehung 
Seh.-  zu  Eckhart  nachgewiesen  wird). 

Walther  v.  Tschirnhausen  (1651— 1708  ,  eiu  Mathematiker,  Physiker  und 
Logiker,  der  sich  besonders  durch  das  Studium  der  Schriften  des  Descartes  und 
des  Spinoza,  auch  durch  persönlichen  Verkehr  und  durch  Briefwechsel  mit  dem 
Letzteren  gebildet  hat  und  mit  Leibuiz  früh  in  persönliche  Beziehung  trat,  behandelte 
die  Logik  als  Erfindungskunst  in  seiner  Medicina  mentis  sive  artis  invenieudi 
praeeepta  generalia,  Amst  1687,  Lips.  1G95  u.  ö.  Das  Merkmal  des  Wahren  ist, 
dass  es  ein  Begreifliches  und  wahrhaft  Begriflenes  sei,  das  sich  auch  andern  ver- 
ständigen Leuten  durch  Worte  begreiflich  machen  lasse.  Er  lehnt  sich  vielfach, 
eogar  in  den  Ausdrücken,  an  Spinoza  an,  von  dem  er  urtheilte,  dass  er  Gott  und 
Natur  nicht  confundirt,  sondern  vielmehr  einen  richtigeren  Begriff  von  Gott  gehabt 
habe  als  selbst  Descartes.  Vgl.  über  ihn  H.  Weissenborn,  Lebensbeschreibung  des 
E  W.  v.  Tschirnhausen,  Eisenach  1H66. 

Sam.  v.  Pufendorf  (1632—94)  hat  sich  durch  seine  unter  dem  Namen  Se- 
verinus  a  Monzambano  veröffentl.  Schrift  de  statu  reipubl.  Germanicae  1667  u.  ö. 
(deutsch  von  Harry  Breslau,  Berl.  1870)  um  das  deutsche  Staatsrecht,  durch  die 
Schriften:  de  jure  naturae  et  gentium,  Lond.  1672,  Frankf.  1684  u.  ö ,  de  officio 
hominis  et  civis,  Lond.  1673  u.  ö.,  um  das  Naturrecht  und  die  Ethik  verdient  ge- 
macht. Von  Grotius  nimmt  P.  das  Princip  der  Geselligkeit,  von  Hobbes  das 
des  individuellen  Interesses  an  und  vereinigt  beide  durch  den  Satz,  dass  die 
Geselligkeit  im  Interesse  eines  jeden  Einzelnen  liege.  In  der  systematischen  An- 
ordnung der  Naturrechts  -  Lehre  liegt  die  Hauptbedeutung  der  pufendorfschen 
Darstellung. 

Im  Wesentlichen  fusst  auf  Pufendorf  Christian  Thomasius  (1655  zu  Leipzig 
geb.,  daselbst  seit  1681  habilitirt,  zog  er  sich  durch  die  ünerschrockenheit,  mit  der 
er  gegen  das  Herkommen  für  die  wissenschaftliche  Freiheit  auftrat,  und  durch  das 
Halten  deutscher  Vorlesungen  Verfolgungen  zu.  Zu  Halle  dann  angestellt,  wirkte 
er  bei  der  Gründung  der  dortigen  Universität  mit  und  starb  1728)  in  seineu  In- 
stitutionum  jurisprudentiae  divinae  libri  tres,  in  quibus  fundameita  juris  nat  seeun- 
dum  hypotheses  ill.  Pufendorfii  perepicue  demonstrantur,  Francof.  et  Lips.  1688; 
7.  ed.  1730.  Selbständiger  verfährt  er  in  den  Fundaraenta  juris  naturae  et  gentium 
ex  sensu  communi  dedueta,  in  quibus  secernuntur  prineipia  honesti,  justi  ac  decori, 
Hall.  1705  u.  ö.,  worin  er  das  Gerechte,  Wohlanständige,  Ehrbare  oder  Sittliche 
(justnm,  decorum  und  honestum)  als  drei  Stufen  des  der  (.Welt*-)  Weisheit  gemässen 
Verhaltens  bezeichnet,  indem  er  für  das  Gerechte  das  Princip  aufstellt:  Was  du 
nicht  willst,  das  dir  geschieht,  das  füge  keinem  Andern  zu;  für  das  Wohlanständige: 
Wovon  du  wünschst,  dass  Andere  es  dir  thun,  das  thue  ihnen  auch  selbst;  für  das 
Ehrbare:  Wovon  du  wünschst,  dass  Andere  es  sich  selbst  thun  (was  wir  an  ihnen 
löblich  finden),  das  thue  du  dir  auch  selbst  Die  Rechtspflichten  sind  erzwingbar. 
Auch  Tschirnhausens  Medicina  mentis  ist  auf  die  Philosophie  des  Thomasius, 


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§  18.    Leibniz  und  gleichzeitige  Philosophen. 


obschon  dieser  sie  bekämpft,  wohl  nicht  ohne  Einfloss  gewesen.  Vgl.  Laden,  Chr. 
Thomasius  nach  s.  Schicks,  u.  Schrift.  Berl.  1805.  B.  A.  Wagner,  Chr.  Th.t  e. 
Beitr.  z.  Würdigung  s.  Verdienste  um  d.  dtsche.  Litt.,  Progr.,  Berl.  1872.  Klem- 
percr,  Christ.  Thomasius,  ein  Vorkämpfer  der  Volksaufklärung,  Landsb.  a.  W.  1877. 

Heinr.  v.  Cocceji  (1644—1719)  und  sein  Sohn  Sam.  v.  Cocceji  (1679—1756) 
haben  das  Naturrecht  auf  das  Völkerrecht  und  auf  das  Civilrecht  angewandt.  Vgl. 
Trendelenburg,  Fr.  d.  Gr.  und  seiu  Grosakanzl.  Sam.  v.  Cocceji,  in  den  Abhandl. 
d.  Akad.  v.  Jahre  1863,  Berl.  1864,  S.  1—74;  Heinr.  Degenkolb  in  der  3.  Aufl.  des 
rotteck-welckerschen  Staatslex.  üb.  d.  Einfluss  des  wolffischen  Naturrechts  auf  unser 
Landrecht,  in  dem  Artikel  üb.  d.  allg.  preuss.  Landrecht 

Auf  dem  Gebiete  der  Rechts-  und  Geschichtsphilosophie  hat  sich  der  Neapoli- 
taner Giovanni  Battista  Vico  (1668 — 1744),  ein  Verehrer  des  Piaton  und  Aristoteles, 
noch  mehr  des  Bacon,  zugleich  aber  Anhänger  der  Lehre  der  katholischen  Kirche, 
ausgezeichnet.  Er  schrieb:  de  antiquissima  Italorum  sapieutia,  Neap.  1710;  de 
uno  universi  juris  principio  et  fine  uno,  Neap.  1720;  Uber  alter,  qui  est  de  con- 
stantia  jurisprudentis,  ib.  1721;  sein  Hauptwerk  ist:  Principj  di  una  scienza  nuova 
d'intorno  alla  commune  natura  delle  nazioni,  Neapel  1725,  1730,  1744  u.  ö.,  deutsch 
von  W.  E.  Weber,  Leipz.  1822.  Neben  der  Geschiehtsphilosophie  hat  er  auch  die 
Völkerpsychologie  begründet.  Besonders  beeiuflusst  war  er  durch  die  Neuplatoniker 
der  Renaissance.  Seine  Lehre  von  den  metaphysischen  Kraftpunkten,  die  nicht  für 
sich  bestehen,  sondern  Ausstrahlungen  der  im  Raum  sich  ausbreitenden  göttlichen 
Wirkungsmacht  Bind,  fuhrt  er  auf  Zenon  zurück.  Gott  wird  bestimmt  als  das 
unendliche  Posse,  Nosse,  Velle,  während  der  Mensch  als  endliches  NoBse,  Velle, 
Posse  von  Natur  die  Richtung  zum  Unendlichen,  also  zur  Einigung  mit  Gott  hat. 
Der  Sündcnfall  hat  aber  diese  drei  Möglichkeiten  in  ihr  Gegentheil  verkehrt,  und 
es  muss  eine  Wiederherstellung  stattfinden,  welche  sich  darstellt  in  den  drei  eng 
mit  einander  verbundenen  Tugenden  der  prudentia,  temperantia,  fortitudo.  Das 
Erkennen  ist  für  den  Menschen  nothwendig,  frei  hingegen  das  Wollen  und  Können. 
Die  eigentliche  Aufgabe  der  Philosophie  ist  eB  „die  allgemeine  Geltung  der  denk* 
nothwendigen  allgemeinen  Wahrheiten  aus  der  Prüfung  der  göttlichen  Wahrheit  im 
menschlichen  Zeitdasein  zu  begreifen  und  zu  erklären"  und  diese  Gegenwart  selbst 
zur  vollen  Erkenntniss  zu  bringen.  Die  Theorie  der  Erkenntniss  gestaltet  Bich  bei 
Vico  ähnlich  der  bei  Malebranche.  Wenn  der  Mensch  die  Dinge  in  Gott  schaut, 
versetzt  er  sich  aus  der  sinnlichen  Welt  in  die  ewige  Ordnung  der  Dinge  zurück. 
In  der  Lehre  vom  Menschen  berücksichtigt  Vico  besonders  den  Socialcharakter 
desselben.  Die  Individuen  zeigen  sich  verschieden  in  der  Leiblichkeit,  der  Geist 
(mens)  bildet  die  Einheit  der  Gattung,  und  zwar  besteht  diese  Einheit  darin,  dass 
gewisse  Begriffe  des  Verum  aeternum,  theoretische  und  praktische  Sätze  das  Denken 
und  Handeln  aller  Menschen  regeln  und  die  vernünftige  Lebensthätigkeit  bedingen, 
ohne  dass  sie  aber  angeborene  Ideen  wären.  In  der  Anerkennung  dieser  Begriffe 
und  Grundsätze  bilden  die  Menschen  eine  Gemeinschaft,  für  die  sie  noch  besonders 
durch  die  Sprache  organisirt  sind.  Gegen  diese  Grundlagen  des  socialen  Ver- 
haltens sich  zu  vergehen,  sträubt  sich  ein  dem  Menschen  angeborener  sittlicher 
Sinn,  pudor,  der  sich  am  lebendigsten  im  Kinde  zeigt.  Vico  will  dann,  wie  er 
selbst  erklärt,  Gott  nicht  nur  in  Beziehung  zur  Natur  betrachten,  sondern  in  Be- 
ziehung zu  dem  menschlichen  Geist  in  dem  Leben  der  Völker.  Er  bekämpft  den 
dem  Historismus  feindlichen  Cartesianismus.  Die  göttliche  Vorsehung,  die  sich 
nicht  auf  mysteriöse  Weise,  sondern  in  den  spontanen  Handlungen  des  Menschen 
thätig  zeigt,  ist  die  Grundlage  aller  Geschichte  und  offenbart  sich  selbst  in  der 
Entwickelung  der  Sprache,  der  Religion,  der  Gesetze.   Vicos  Geschichtsphilosophie 


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§  19.    Wulff,  seine  Gegner  und  Anhänger. 


167 


unterscheidet  jedoch  nur  Entwiekelungsperioden  im  Leben  der  einzelnen  Völker, 
und  die  Idee  eines  successiven  Fortschritts  des  Menschengeschlechts  kommt  bei  ihm 
nicht  zur  allgemeinen  Geltung  und  Durchführung. 

§  19.  Die  nächste  Aufgabe  der  Philosophie  in  Deutschland  war 
die  Systematisirung  der  leibnizischen  Gedanken.  Dieser  Aufgabe  hat 
sich  mit  Talent  und  Erfolg  Christian  Wolff  (1679—1754)  unter- 
zogen, der  in  einer  Reihe  von  deutschen  und  lateinischen  Schriften 
den  dogmatischen  Rationalismus  auf  den  Gipfel  erhob.  Er  hat  sich 
durch  sein  abgerundetes  und  geschlossenes  System  der  Philosophie  ein 
beträchtliches  Verdienst  um  die  wissenschaftliche  Form  und  die  gründ- 
liche didaktische  Behandlung  der  Philosophie  erworben,  obschon  das- 
selbe durch  zu  pedantische  Anwendung  der  mathematischen  Methode 
und  durch  geschmacklose  Breite  der  Darstellung  verringert  wird.  Im 
Ganzen  trägt  er  leibnizische  Gedanken  vor;  doch  beseitigt  er  manche 
gewagten  Annahmen  —  so  sind  nach  ihm  nicht  alle  Elemente  vor- 
stellend — ,  andere  leibnizische  Sätze,  z.  B.  die  prästabilirte  Harmonie, 
lässt  er  nur  als  zweifelhafte  Hypothesen  steheu.  Die  Metaphysik  zerlallt 
nach  ihm  in  Ontologie,  Kosmologie,  rationale  Psychologie  und  natür- 
liche Theologie.  Unter  den  Beweisen  für  das  Dasein  Gottes  bildet  er 
besonders  den  von  der  Zufälligkeit  der  Welt  aus.  Die  praktische 
Philosophie  theilt  sich  in  Ethik,  Oekonomik,  Politik.  In  den  theoreti- 
schen Disciplinen  soll  ein  festes  Wissen  aus  reiner  Vernunft  geschaffen 
werden,  und  auch  in  den  praktischen  Disciplinen  ist  die  Vernunft  das 
Princip  des  Erkennens. 

Die  leibniz-wolffsche  Philosophie  hat  in  Deutschland  während  des 
achtzehnten  Jahrhunderts  bis  auf  Kant  eine  zunehmende  Verbreitung 
gewonnen  uud  im  Verein  mit  andern,  besonders  mit  lockeschen  Philo- 
sophemen,  theils  die  Schulen  beherrscht,  theils  der  populären  Auf- 
klärung gedient,  obwohl  sie  auch  ihre  Gegner  fand,  zu  denen  beson- 
ders Crusius  gehört.  Dieser  suchte  die  Philosophie  mit  der  Theologie 
in  Uebereinstimmung  zu  bringen  und  bestritt  besonders  die  mechanische 
Naturerklärung,  den  Optimismus  und  den  Determinismus.  Die  einfluss- 
reichsten Schüler  Wolfis  sind  Bilfinger  und  Baumgarten,  von  denen 
der  erstere  die  Lehren  Wolfis  klar  entwickelte,  der  letztere  als  Be- 
gründer der  deutschen  Aesthetik  besonders  bekannt  ist.  Eigene 
Gedanken  auf  Grund  der  wölfischen  Lehre  in  Verbindung  mit  dem 
lockeschen  Empirismus  entwickelte  der  scharfsinnige  Lambert. 

Vgl.  üb.  die  frühere  Zeit  die  ob.  (S.  143)  angeführte  Schrift  von  K.  G.  Lndovici, 
Kurzer  Entwurf  e.  vollständ.  Historie  der  l.sehen  1 'Iiilos.,  Lpz.  1735,  2.  Aufl.  u.  d.  T.: 
Ausführt.  Entwurf  etc.,  3  Thle.,  1736—37,  ferner  dess.  Samml.  u.  Ausz.  d.  sämintl.  Streit- 
schrift, weg.  d.  wolffisch.  Phil.,  Lpz.  1737,  Neueste  Merkwürdgkn.  d.  leibn.-wolfTsch. 
Phil.,  Lpz.  1738,  und  üb.  di'>  Zeit  bis  geg.  das  Ende  des  18.  Jahrh.  die  unt.  wiederum 
zu  erwähnenden,  besond.  auf  den  Kampf  zw.  dem  Leibnizianism.  und  Kuntianism. 
bezügl.  Preisschriften  von  Job.  Christoph  Schwab,  C.  ,L.  Reinhold  und  Job.  Ileinr. 


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168 


§19.    Wolff,  seine  Gegner  und  Anhänger. 


Abicht  üb.  die  Frage:  Welche  Fortschritte  hat  d.  Metaph.  seit  Leihnizens  u.  Wolfis 
Zeiten  in  Dtschl.  gemacht?  Berl.  1796.  Das  Verb,  zu  den  englisch.  Philosophen  behandelt 
G.  Zart,  Eintluss  der  englisch.  Philosophen  seit  Bacon  auf  die  deutsche  Philos.  des 
18.  Jahrb.,  Herl.  1881.  Ausser  den  Darstellungen  in  Werken,  die  eigens  auf  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  gehen,  sind  hinsichtlieh  der  Beziehung  der  Philosophie  zur 
allgemeinen  Bildung  manche  Darstellungen  der  deutschen  Nutionallitteratur,  wie  besond. 
Hettners  Litteraturgesch.  des  18.  Jahrb.,  Theil  III,  daneben  Schlossers  Gesch.  de« 
18.  Jahrb.,  Bruno  Bauer,  Gesch.  d.  Politik,  Cult.  u.  Anfklärg.  d.  18.  Jahrb.,  Cbarlottenb. 
1843 — 45,  K.  Biedermann.  Dtsehld.  i.  18.  Jahrb..  Lpz.  1854—08,  und  auch  Franks 
Gesch.  der  protest.  Theologie.  2.  Theil,  Lpz.  1865,  A.  Tholuck,  Vorgesch.  d.  Rational ism., 
Halle  1853— 62.  dess.  Gesch.  d.  Rationalism.,  Berl.  1805  und  Stull.  Werke  zu  ver- 
gleichen. 

Die  Hauptschriften  Christian  Wolfis  sind  folgende,  zuerst  die  deutschen,  die  viel 
kürzer  und  lesbarer  als  die  lateinischen  sind:  Vernünftige  Gedanken  von  den  Kräften 
des  menschlichen  Verstandes  und  ihrem  richtigen  Gebrauch  in  der  Erkenntnis*  der 
Wahrheit,  Halle  1712  u.  öfter;  Vernünftige  Gedanken  von  Gott,  der  Welt  und  der  Seele 
des  Menschen,  auch  allen  Dingen  überhaupt,  Frkft.  u.  Lpz.  1719;  Vernünftige  Gedanken 
v.  der  Menschen  Thun  und  Lassen  zur  Beförderung  ihrer  Glückseligkeit,  Halle  1720; 
Vernünftige  Gedanken  von  dem  gesellschaftlichen  Leben  der  Menschen  etc.,  Halle  1721: 
Vernünftige  Gedanken  von  den  Wirkungen  der  Natur,  Halle  1723:  Vernünftige  Gedanken 
v.  d.  Absichten  der  natürlichen  Dinge,  Frkft.  1723.  Die  lateinischen,  welche  zu- 
sammen 23  ziemlich  starke  Quartbände  ausmachen:  Philosophia  rationalis,  sive  logica 
methodo  seientihea  pertractata  et  ad  usum  scientiarum  atque  vitae  aptata,  Frkft.  u. 
Lpz.  1728,  2.  ed.  1732;  Philosophia  prima  s.  Ontologia  meth.  scient.  pertract.,  qua 
omnes  engnitionis  humanae  prineipia  continentur,  ibid.  1730:  Cosmolngia  generalis,  meth. 
scient.  pertract.,  qua  ad  solidam  imprimis  dei  atque  nanirae  engnitionem  via  sternitur, 
ibid.  1731:  Psychologia  empirica  meth.  scient.  pertract..  qua  ea,  quae  de  anima  humana 
indubia  experientiae  Hde  constant,  continentur  etc.,  ibid.  1732;  Psychologia  rationalis 
meth.  scient.  pertract.,  qua  ea,  quae  de  anima  humanae  indubia  experientiae  tide  inno- 
teseunt,  per  essentiam  et  naturam  animne  explicantnr  et  ad  intimiorem  naturae  eiusque 
auctoris  Cognitionen)  profutura  proponuntur.  ibid.  1734;  Theologia  naturalis  meth.  scient. 
pertract.,  2  Bde..  ibid.  1736—37;  Philosophia  practica  universalis  meth.  scient.  pertract., 
2  Bde.,  ibid.  1738—39;  Jus  naturae  meth.  seientif.  pertract.,  8  Bde.,  ibid.  1740  ff.:  Jus 
gentium  meth.  scient.  pertract.,  Halle  1750;  Philosophia  moralis  s.  ethica  meth.  seientif. 
pertract.,  4  Bde.,  ibid.  1750;  Oeeonomiea,  ibid.  1750. 

Ueber  Wolffs  Leben  handeln  u.  A.:  Joh.  Chr.  Gottsched,  histor.  Lobschr.  auf 
Chr.  Freih.  v.  Wolff,  Halle  1755.  F.  W.  Kluge,  Chr.  v.  Wolff,  der  Philosoph,  Bresl. 
1831.  Eine  Selbstbiogr.  W.s  hat  Wuttke,  Leipz.  1841,  hrsg.  Ueber  W.s  Vertreibung 
aus  Halle  handelt  Ed.  Zeller  in:  Preuss.  Jahrb.  X.  18G2,  S.  47  ff.,  wiederabg.  in 
Zellers  Vortr.  u.  Abh.  geschichtl.  Inhalts,  Lpz.  1805,  S.  108—139.  J.  Caesar,  Chr.  W. 
in  Marburg,  Bede,  Marb.  1879.  Kdm.  König,  üb.  d.  Begr.  d.  Objeetivität  b.  Wolff  u. 
Lambert  mit  Bez.  auf  Kant,  in:  Ztscbr.  f.  Philos.  U.  phll.  Kr.,  84,  1884,  S.  292—313. 
R.  Frank,  d.  wölfische  Strafrechtsphilos.  u.  ihr  Verb,  zur  criminalpolit.  Aufklär,  im 
18.  Jahrh.,  Gött.  1887. 

Ueber  die  Geschichte  seiner  Philosophie:  K.  G.  Ludovici,  Ausführlicher  Entwurf 
einer  vollständigen  Historie  der  wolftischen  Philosophie,  3  Bde.,  Lpz.  1736—38. 

Christ.  Aug.  Crusius,  Anweisung  vernünftig  zu  leben,  Leipz.  1744  (Ethik);  Ent- 
wurf der  nothwendigen  Vernunftwahrheiten,  inwiefern  sie  den  zufälligen  entgegengesetzt 
werden,  ebd.  1745  (Metaphysik);  Weg  zur  Gewissheit  und  Zuverlässigkeit  der  menschl. 
Erkenntniss,  ebd.  1747  (Logik  und  empirische  Psychologie) :  Anleitung,  über  natürliche 
Begebenheiten  ordentlich  und  vorsichtig  nachzudenken,  2  Bde.,  ebd.  1749  (Physik). 

Georg  Bernh.  Bilfinger,  Disputatio  de  triplici  rerum  cognitionc,  histor.  philos. 
et  mathem.,  Tübing.  1722:  Commentatio  de  harmonia  animi  et  eoqioris  bumani  maxime 
praestabilita  ex  mente  Leibnitii,  Frcft.  et  Lpz.  1724:  Commentationes  philos.  de  origine 
et  permissione  mali  praeeipue  moralis,  ibid.  1724;  Dilucidationes  philosophicae  de  deo, 
anima  humana,  mundo  et  generalibus  rerum  affectionibus,  Tübing.  1725  u.  ö.  —  Rieh. 
Wahl,  Prof.  Bilfingers  Monadologie  u.  prästabilirte  Harmonie  in  ihr.  Verh.  z.  Leibniz 


u.  Wolf,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  philos.  Kr.,  85,  1884,  S.  66—92,  202—231. 

Abr.  Gottl.  Baumgarten,  Metaphysica,  Halle  1739,  ed.  Eberhard  1789;  Ethica 
philosophica,  Halle  1740;  Aesthetica,  Fref.  ad  Viadr.  1750—58:  Initia  philosophiae 
practicae  primae  1670;  Acroasis  logica  in  Christ.  Wolff,  Halle  1761;  Philosophia  gene- 
ralis, ed.  Förster  1770.    Vgl.  über  ihn:  Meier,  Halle  1763:  Th.  Abbt.  A.  G.  B.s  Leben 


§  19.   Wolff.  seine  Gegner  und  Anhänger. 


169 


u.  Charakter,  1765;  H.  G.  Mover,  Leibniz  u.  B.  als  Begründer  der  deutschen  Aesthetik, 
Halle  1874:  J.  Schmidt.  Leihn.  u.  B.  Ein  Beitrag  zur  Gesch.  der  deutsch.  Aesthet., 
Halle  1875. 

Job.  Heinr.  Lambert,  Kosniologisehe  Briefe  üb.  d.  Hinrichtung  des  Weltbaues, 
Augsb.  1761;  Neues  Organon,  tider  Gedanken  über  die  Erforschung  u.  Bezeichnung 
de*  Wahren  und  dessen  Unterscheidung  von  Irrthum  und  Schein,  2  Bde.,  Lpz.  1764; 
Anlage  zur  Architektonik  oder  Theorie  des  Einfachen  u.  Ersten  in  der  philos.  u. 
niathemat.  Erkenntnis»,  2  Bde..  Kiga  1771:  Logische  u.  philosophische  Abhandlungen 
zum  Druck  befördert  von  Job.  Bernouilli,  Berk  1782.  L.s  „Deutscher  gelehrter  Brief- 
wechsel* ist  ebenfalls  von  Juh.  Bernouilli,  Berk  1781  f.  herausgegeben.  Darin  findet  sich 
auch  die  Correspondenz  mit  Kant  aus  den  Jahren  1765  70.  L.  schreibt  u.  a.  an  Kant, 
dass  er  mit  Vergnügen  bemerkt  habe,  wie  sie  beide  vielfach  auf  ähnliche  Gedankenart, 
Auswahl  der  Materien  und  sogar  Gebrauch  der  Worte  gekommen  seien,  und  dass  es, 
um  den  Verdacht  des  Absehreihens  zu  vermeiden,  gut  sein  werde,  einander  schriftlich 
zu  sagen,  was  sie  im  Sinne  hätten,  drucken  zu  las>en.  oder  auch  die  Aufarbeitung  der 
Stücke  eines  gemeinsamen  Plans  unter  einander  zu  vertheilen.  Kant  antwortet,  er  halte 
Lambert  für  das  erste  Genie  in  Deutschland,  welches  fähig  sei.  in  der  Art  von  Unter- 
suchungen, die  ihn  selbst  beschäftigten,  eine  wirkliche  Verbesserung  zu  leisten,  und  er 
gehe  auf  die  gegenseitige  Mitthoilung  von  Entwürfen  bereitwillig  ein. 

Christian  Wolff  (auch  die  Schreibart  mit  einem  f  findet  sich  nicht  selten, 
zumal  in  dem  latinisirten  Namen),  geb.  1679  zu  Breslau,  war  von  vornherein  zum 
Theologen  bestimmt,  fasste  jedoch  zeitig  Neigung  für  Philosophie  und  habilitirte 
sich  1703  in  Leipzig.  Mit  Leibniz  kam  er  bald  in  Berührung,  und  diesem  hatte 
er  es  zu  verdanken,  dass  er  1706  nach  Halle  und  zwar  zunächst  als  Professor  der 
Mathematik  berufen  wurde.  Doch  las  er  bald  über  alle  Theile  der  Philosophie. 
Sein  bedeutender  akademischer  Erfolg,  sowie  sein  durchgebildeter  Rationalismas 
reizten  seine  pietistischen  Collcgcn,  namentlich  Aug.  Herrn.  Francke  nnd  den  streit- 
süchtigen Lange,  welche  es  bei  Friedr.  Wilhelm  I.  durchsetzten,  dass  Wrolff  ab- 
gesetzt wurde  und  bei  Strafe  des  Stranges  schleunigst  das  Land  räumen  muaste. 
Kr  ging  nach  Marburg,  wo  er  als  akademischer  Lehrer  und  Schriftsteller  weiter 
tbätig  war,  bis  er  unmittelbar  nach  der  Thronbesteigung  Friedrichs  II.  nach  Halle 
zurückgerufen  wurde.  Hier  starb  er  1754,  nachdem  er  zum  Reichsfreiherrn  ernannt 
war,  und  nachdem  seine  Philosophie  weite  Verbreitung  gefunden  hatte.  —  Ein 
grosses  Verdienst  um  die  deutsche  Philosophie  hat  sich  Wölfl"  dadurch  erworben, 
dass  er  einen  grossen  Theil  seiner  Schriften  in  deutscher  Sprache  verfasst  hat, 
wodurch  er  zugleich  die  philosophische  Terminologie,  wenigstens  zum  Theil,  schuf. 
Seine  Schriften  gehen  auf  alle  Zweige  der  Philosophie  mit  Ausnahme  der  Aesthetik, 
die  erst  von  seinem  Schüler  Baumgarten  ausgebildet  wurde. 

Wolff  hat  sich  die  leibnizischen  Gedanken  angeeignet  und  nach  Leibnizens 
Vorgang  mit  der  in  den  Schulen  herrschenden  aristotelischen  Doctrin  zu  vereinigen 
gesucht,  zum  Theil  durch  neue  Argumente  gestützt,  theilweise  jedoch  auch  modi- 
ficirt  und  der  gewöhnlichen  Weltauffassung  näher  gebracht.  Zweierlei  will  Wolff 
bei  seinem  Philosophiren  namentlich  erreichen:  Praktische  Brauchbarkeit;  denn 
sein  Ziel  von  vornherein  ist.  die  Menschen  glücklich  zu  machen;  und  klare,  deutliche 
Erkenntniss,  ohne  welche  die  erstere  nicht  möglich  ist.  Es  kann  eine  rationale 
Erkenntnis«  deduetiv  zu  Wege  gebracht  werden.  Dazu  muss  ein  oberstes  Princip 
sich  finden,  nach  dem  Alles  streng  logisch  abgeleitet  wird.  DieB  oberste  Princip  ist 
ihm  der  Satz  des  Widerspruchs,  auf  welchen  auch  der  Satz  des  hinreichenden 
Grundes  zurückgeführt  wird.  Gäbe  es  nämlich  für  ein  Ding  keinen  zureichenden 
Grund,  so  müsstc  etwas  aus  nichts  werden  können,  was  sich  widerspricht.  In  der 
Philosophie  soll  nun  dasselbe  Verfahren  angewandt  werden  wie  in  der  Mathematik 
bei  der  Grössenlehre,  nur  ist  es  falsch,  dass  deshalb  die  Philosophie  von  der 
Mathematik  in  ihrer  Methode  abhängig  sei,  vielmehr  brauchen  sie  beide  die  Logik. 
Ableiten  können  wir  übrigens  aus  einem  Begriffe  nur  das,  was  in  ihm  schon  liegt. 


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170 


§  19.   Wolff,  seine  Gegner  und  Anhänger. 


Wahr  sind  also  nur  die  Urtheile,  die  sich  darch  Analyse  des  Subjectsbegriffs  ergeben. 
Freilich  finden  sich  in  Wolfis  logischen  Dedactionen  gar  viele  Elemente  aus  der 
Erfahrung,  und  nur  so  ist  es  möglich,  dass  sein  rationalistischer  Bau  mit  der 
wirklichen  Welt  übereinstimmt.  Allerdings  sollen  nach  Wolff  die  empirischen  Wissen- 
schaften, die  er  zum  Theil  wenigstens  bearbeitet  hat,  indem  Bie  die  Sätze  aus 
Beobachtungen  und  Versuchen  nehmen,  nur  die  Wirklichkeit  dessen  zu  constatiren 
haben,  was  in  der  rationalen  Philosophie  aus  den  obersten  Principien  logisch 
deducirt  worden  ist.  Es  wird  nur  eine  Bestätigung  der  rationalen  Erkenntniss 
durch  die  Erfahrungserkenntmss  geschaffen,  und  zwar  wird  die  entere  allein  klar 
und  deutlich  sein,  die  letztere  unklar  und  verworren.  So  tritt  der  leibnizische 
Gegensatz  zwischen  notwendigen  und  thatsächlichen  Wahrheiten  bei  Wolff  noch 
deutlicher  hervor. 

Die  Philosophie  ist  nach  Wolff  die  Wissenschaft  von  allem  Wirklichen  und 
Möglichen,  in  wie  fern  es  sein  kann.  Möglich  ist  aber  das,  was  keinen  Widenpruch 
in  sich  schliesst,  also  denkbar  ist.  In  unserer  Seele  findet  sich  nun  das  Vermögen 
des  Erkennens  und  Wollens,  und  so  theilt  sich  die  ganze  Vernunftwissenschaft  in 
theoretische  Philosophie  oder  Metaphysik  und  praktische  Philosophie. 
Beiden  geht  die  Logik  als  eine  Art  Propädeutik  voraus.  Die  Metaphysik  hat  als 
besondere  Theile  die  Ontologie,  welche  von  dem  Seienden  überhaupt  handelt, 
die  rationale  Psychologie,  welche  zu  ihrem  Gegenstande  die  Seele  hat,  die 
Kosmologie,  welche  auf  das  Weltganze  geht,  und  die  rationale  Theologie, 
welche  das  Dasein  und  die  Eigenschaften  Gottes  darlegt.  In  der  Ontologie 
kommen  die  Eigenschaften  und  die  Hauptarten  des  Seienden  zur  Sprache.  Die 
Bestimmungen  in  einem  Dinge,  welche  von  keinem  anderen  Dinge  und  auch  nicht 
von  einander  herrühren,  machen  sein  Wesen  aus.  Die  Bestimmungen,  die  aus  dem 
Wesen  eines  Dinges  folgen,  sind  seine  Eigenschaften,  die,  welche  aus  diesem  nicht 
folgen,  aber  ihm  auch  nicht  widerstreiten,  seine  Modi.  Die  ersten  kommen  den 
Dingen  immer,  die  zweiten  nur  zeitweise  zu.  Wenn  ein  Ding  vollständig  bestimmt 
ist,  so  ist  es  wirklich,  und  umgekehrt,  was  wirklich  ist,  ist  vollständig  bestimmt, 
und  demnach  giebt  es  nur  Einzeldinge,  keine  allgemeinen.  —  Ein  Zusammengesetztes 
besteht  aus  mehreren  von  einander  venchiedeuen  Theilen.  Diese  müssen  ausser 
einander  sein,  und  bo  entsteht  die  Ausdehnung.  Jedes  zusammengesetzte  Ding  ist 
ausgedehnt.  Baum  ist  die  Ordnung  des  Zusammenseins  gleichzeitiger  Dinge,  Zeit 
die  Ordnung  der  Aufeinanderfolge  in  einer  stetigen  Beihe.  Das  Wesen  des  Zu- 
sammengesetzten ist  das  Einfache.  Es  giebt  also  einfache  Dinge,  wenn  sie  auch 
nicht  in  der  Erfahrung  vorkommen.  Sie  sind  ohne  Ausdehnung,  ohne  Gestalt, 
untheilbar.  Diese  einfachen  Wesen  sind  die  Substanzen.  Zu  dem  Begriffe  einer 
Substanz  gehört  es,  Veränderungen  zu  erleiden,  und  also  muss  jede  Substanz  eine 
Kraft  haben,  vermöge  deren  sich  Veränderungen  in  ihr  zutragen;  das  sind  aber 
Thaten,  die  in  ihr  selbst  ihren  Grund  haben.  Die  zusammengesetzten  Dinge  sind 
Aggregate  von  diesen  Substanzen,  haben  auch  als  solche  keine  Kräfte,  sondern 
ihre  Kräfte  sind  nur  das  Product  aus  den  Kräften  der  einfachen  Dinge. 

Von  den  zusammengesetzten  Wesen  geht  Wolff  nun  über  auf  die  Kosmologie. 
Die  Welt  ist  die  Gesammtbeit  der  untereinander  in  Zusammenhang  stehenden 
endlichen  Wesen,  und  es  kommt  darauf  an,  diese  aus  den  einfachen  Wesen 
abzuleiten.  Die  Veränderungen  in  der  Welt  hängen  ab  von  der  Beschaffenheit  ihrer 
Zusammensetzung  nach  dem  Gesetze  der  Bewegung,  und  die  Welt  ist  zu  vergleichen 
einer  Uhr  oder  Maschine,  so  dass  kein  Zufall  denkbar  ist  Gleichwohl  ist  die 
Notwendigkeit  im  Weltlauf  nur  eine  hypothetische.  Denn  die  Welt  hätte  auch 
anders  sein  können.  Die  physische  Welt  besteht  aus  Körpern,  welche  ausgedehnt 
sind,  Gestalt  und  Grösse  haben,  Veränderungen  unterliegen,  ein  gewisses  Maass 


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§  19.    Wolff,  seine  Gegner  und  Anhänger. 


171 


von  Trägheit  (vis  inertiae)  nnd  von  Bewegungskraft  (vis  motrix)  haben.  Die 
physischen  Körper  bestehen  aas  einfachen  Elementen,  und  diese  bringen  die  Materie 
und  die  bewegende  Kraft  hervor.  Sie  Bind  keine  Raumgrössen,  sind  nicht  der 
Bewegung  unterworfen,  unterscheiden  sich  nicht  durch  Quantität  oder  Figur,  sondern 
nur  durch  Kräfte  und  Qualitäten  von  einander,  und  keins  derselben  ist  einem  andern 
völlig  gleich.  Da  sie  mit  tbätiger  Kraft  begabt  Rind,  müssen  sie  fortwährende 
Veränderungen  erleiden,  die  aber  nur  innerer  Art  sein  können;  trotzdem  leiten  sich 
aas  ihren  Kräften  die  Kräfte  der  Körper  her.  Diese  Kraft  besteht  nicht  bei  allen 
einfachen  Elementen  im  Vorstellen,  sondern  man  muss  zur  Erklärung  der  körper- 
lichen Vorgänge  Kräfte  anderer  Art  annehmen,  deren  Natur  aber  nicht  näher  an- 
gegeben werden  kann.  Deshalb  nennt  Wolff  seine  Substanzen  auch  nicht  Monaden, 
sondern  am  liebsten  atomi  naturae.  Viele  Elemente  können  nicht  an  einem  Punkte 
sein,  es  fordert  vielmehr  jedes  seinen  besonderen,  der  getrennt  von  dem  anderen 
ist.  Jedes  Element  ist  aber  mit  denen,  welche  um  dasselbe  siud,  verknüpft;  so 
machen  viele  eins  aus,  und  das  Zusammengesetzte  bekommt  eine  Ausdehnung,  ein 
Continuum.  Wir  haben  freilich  davon  nur  eine  verworrene  Anschauung,  da  wir 
die  einfachen  Elemente  darin  nicht  erkennen,  und  Continuität  und  Ausdehnung  sind 
nichts  als  Phänomene.  Die  prästabilirte  Harmonie  ist  eine  gewagte  Hypothese, 
und  ein  natürlicher  Zusammenhang  auch  der  Elemente  ist  eher  anzunehmen.  Doch 
bleibt  die  Frage  schliesslich  unentschieden,  ob  die  Elemente  wirkliche  oder  schein- 
bare Einwirkungen  von  einander  erleiden.  Da  die  Welt  etwas  Zufälliges  ist  — 
denn  sie  hätte  anders  sein  können  — ,  so  muss  sie  ihren  zureichenden  Grund  in 
Gott  haben,  von  dem  sie  als  durchaus  zweckmässige  Maschine  hervorgebracht  ist. 
Ein  Aufgeben  der  strengen  Verkettung  der  Dinge  würde  es  sein,  wenn  Wunder 
geschähen,  und  jedes  Wunder  würde  ein  zweites  Wunder  verlangen,  das  miraculum 
restitutionis.    Jedoch  hält  Wolff  die  Wunder  nicht  geradezu  für  unmöglich. 

Die  rationale  Psychologie  geht  davon  aus,  dass  den  Körpern  als  dem  Zu- 
sammengesetzten die  Seelen  als  Einfaches  gegenüberstehen.  Seele  heisst  das  Wesen 
in  uns,  das  sich  seiner  selbst  und  anderer  Dinge  ausser  sich  bewnsst  ist  Das 
Dasein  der  Seele  ist  also  für  jeden  Wissenden  unmittelbar  gewiss.  Als  einfache 
Wesen  haben  die  Seelen  Kraft  in  sich,  und  zwar  besteht  diese  Kraft  in  dem  Ver- 
mögen, sich  die  Welt  vorzustellen.  Die  verschiedenen  Seelenthätigkeiten  bezeichnen 
nur  verschiedene  Modifikationen  dieser  Vorstellungskraft.  Es  giebt  nun  zwei  Arten 
dieser  Grundkraft:  das  Erkennen  und  das  Begehreu.  Die  Empfindungen  sowie  die 
dunkeln  und  verworrenen  Vorstellungen  liefern  die  Sinne  und  die  Phantasie,  die 
klaren  und  deutlichen,  welche  durch  Selbsttätigkeit  der  Seele  zu  Stande  kommen, 
der  Verstand.  Die  Vernunft  findet  nur  den  allgemeinen  Zusammenhang  der  Wahr- 
heiten vermöge  der  Schlüsse.  Aus  dem  Vorstellen  entwickelt  sich  das  Begehreu, 
da  die  Seele  als  Kraft  fortwährend  das  Streben  hat,  ihren  Zustand  zu  verändern, 
und  zwar  werden  nur  Vorstellungen  erstrebt.  Freilich  bestimmt  uns  dazu,  eine 
Vorstellung  zu  erstreben  oder  sie  zu  meiden,  die  Lust  oder  Unlust,  die  wir  voraus- 
sehen, und  zwar  ist  die  Lust  nichts  als  die  Erkenntniss  einer  wirklichen  oder  ver- 
meintlichen Vollkommenheit,  die  Unlust  die  Erkenntniss  einer  Unvollkommenheit. 
So  kommen  auch  in  die  Seele  die  Begriffe  von  Schön  und  Hässlich,  von  Gut  und 
Uebel.  Was  das  Verhältniss  zwischen  Seele  und  Körper  anlangt,  so  verwirft  Wolff 
die  Wechselwirkung,  die  besonders  dem  Gesetze  von  der  Erhaltung  der  lebendigen 
Kräfte  widerspreche,  sowie  den  Occasionalismus  und  entscheidet  Bich  für  die  prä- 
stabilirte Harmonie,  die  aber  nicht  allein  auf  dem  Willen  Gottes  beruht,  sondern 
auch  darauf,  dass  jede  Seele  die  Welt  sich  immer  nur  nach  Beschaffenheit  ihres 
organischen  Körpers  und  den  Veränderungen,  die  in  den  Sinneswerkzeugen  desselben 
vorgehen,  vorstellt.    Diese  Vorstellungen  und  Veränderungen  finden  immer  zu 


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172 


§19.    Wolff,  seine  Gegner  und  Anhänger. 


gleicher  Zeit  statt  ohne  gegenseitige  Einwirkung.  Vielmehr  haben  beide  in  einem 
dritten,  den  Veränderungen  im  Weltganzen,  ihren  Grund,  die  an  Seele  und  Leib 
sich  abspiegeln. 

In  der  natürlichen  Theologie  (Gegensatz  zu  der  auf  übernatürlicher  Offen- 
barung beruhenden  sogenannten  positiven)  legt  Wolff  besonderen  Werth  auf  das 
kosmologische  Argument  für  das  Dasein  Gottes  Die  Welt  und  die  Dinge  in  ihr 
sind  zufällig,  denn  sie  hätten  auch  anders  sein  können.  Das  Zufällige  hat  aber  an 
dem  Nothwendigen  seinen  Grand,  bo  muss  es  denn  eine  ausserweltliche  Ursache 
geben,  d.  h.  Gott.  Dieser  Beweis  wird  der  von  der  Zufälligkeit  der  Welt 
genannt.  Ausserdem  erkennt  er  noch  dem  ontologischen  Argument  Beweiskraft  zu, 
wonach  Gott  das  alleroberste  Wesen  ist,  und  dessen  Existenz  zu  den  Realitäten 
gehört.  Dagegen  spricht  er  dem  teleologischen  keinen  besonderen  Werth  zu.  Die 
näheren  Bestimmungen  des  göttlichen  Wesens  gewinut  er  nicht  rein  a  priori,  sondern 
durch  Betrachtung  der  menschlichen  Seele.  Das  göttliche  Erkennen  und  Wollen 
wird  nun  bestimmt  nach  den  allgemeinen  Deukgesetzen ,  und  namentlich  wird  die 
Willkür  davon  ausgeschlossen  Bei  der  Rechtfertigung  Gottes,  bei  der  Erklärung 
des  Uebels,  nimmt  Wolff  ganz  den  leibnizischen  Standpunkt  ein.  Gott  konnte  die 
Welt  als  eine  endliche  nicht  frei  von  Unvollkommenheiten  schaffen.  Das  meta- 
physische, physische  und  moralische  Uebel  ist  mit  der  Idee  des  Weltganzen  aufs 
Innigste  verbunden.  Von  der  teleologischen  Naturerklärung  macht  er  ins  Ein- 
zelnste bis  zum  Lächerlichen  einen  ausschweifenden  und  äusserlichen  Gebrauch, 
und  zwar  liegt  der  letzte  Zweck  für  Alles  im  Menschen,  durch  den  Gott  seine 
Hauptabsicht,  die  er  bei  Erschaffung  der  Welt  gehabt  hat,  erreicht,  nämlich  ala 
Gott  erkannt  und  verehrt  zu  werden. 

Die  praktische  Philosophie  theilt  Wolff  mit  den  Aristotelikern  in  Ethik, 
Oekonomik  und  Politik.  Li  der  Ethik  ist  er  unabhängiger  von  Leibniz  als  in  der 
Metaphysik.  Nicht  auf  die  empirische  Lust,  wie  die  französischen  Moralisten,  will 
er  die  Ethik  gründen,  sondern  als  echter  Rationalist  lässt  er  die  Vernunft  allein 
alle  Regeln  für  unser  Handeln  aufstellen.  Es  hängen  diese  nicht  einmal  von  Gott 
ab,  sie  müssten  ihre  Geltung  haben,  auch  wenn  kein  Gott  wäre,  und  das  Gute  ist 
gut,  nicht  um  Gottes  willen,  sondern  an  und  für  sich.  Das  oberste  Sittengesetz  lautet: 
Thue,  was  dich  und  deinen  eigenen  Zustand  und  den  aller  deiner  Mitmenschen 
vollkommener  macht,  und  unterlasse  das  Gegentheil  davon.  Zu  unserer  Vervoll- 
kommnung dient  aber  Alles,  was  unserer  Natur  gemäss  ist,  also  kommt  es  bei 
Wolff  auf  die  Naturgemässheit ,  das  alte  stoische  Moralprincip,  hinaus.  Mit  dem 
naturgemässen  Leben  ist  die  Glückseligkeit  verbunden,  und  so  wird  auch  häufig  als 
Grund  des  tugendhaften  Lebens  die  Glückseligkeit  genannt.  Jedoch  soll  die  blosse 
Vernunfterkeuutniss  genügen  zur  Vollbringung  des  erkannten  Guten,  und  der  Ver- 
nünftige bedarf  des  äusseren  Antriebes  nicht.  Das  immerwährende  Fortschreiten 
ist  Ziel  nicht  nur  des  einzelnen  Menschen,  sondern  auch  der  gesammteu  Gattung. 
Soll  das  letztere  erreicht  werden,  so  muss  für  das  gemeinschaftliche  Zusammenleben 
des  Menschen  als  naturrechtliche  Vorschrift  dasselbe  Sittengesetz  gelten,  so  dass 
Jeder  im  gemeinsamen  Zusammenleben  nur  dasjenige  thun  dürfe,  was  die  Voll- 
kommenheit des  eigenen  Zustandes  und  des  Zustandes  Anderer  erhält  und  fördert, 
alles  aber  unterlassen  müsse,  was  den  eigenen  oder  anderer  Menschen  Zustand 
unvollkommener  machen  würde.    Das  Recht  beruht  so  auf  der  Pflicht. 

Dieses  abgerundete  wolffsche  System  fand  ausserordentliche  Verbreitung,  und 
es  wurden  die  einzelnen  üiseiplinen  im  Geiste  Wölfls  bearbeitet.  Es  war  eine  Zeit 
lang  geradezu  das  herrschende  in  Deutschland,  und  selbst  auf  dem  Gebiete  der 
Medicin  gab  es  Schüler  Wölfls.  Die  wolffsche  Philosophie  war  nach  einer  Äusse- 
rung J.  Chr.  Edelmanns  (s  unt.)  aus  d.  J.  1740  „die  ä  la  mode  Philosophie,  die 


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§  19.    Wolff,  seine  Gegner  und  Anhänger. 


173 


schier  unter  allen  Gelehrten,  ja  sogar  unter  dem  weiblichen  Geschleehte  dergestalt 
beliebt  worden*,  dass  man  fast  glauben  sollte,  .es  sei  eine  wirkliche  Lykanthropie 
( Wolffsmenschheit)  unter  diesen  schwachen  Werkzeugen  eingerissen*.  Weitaus  die 
meisten  Anhänger  der  leibnizischen  Doctrin  sind  zugleich  Wolffianer  eine  Aus- 
nahme davon  macht  Michael  Gottlieb  Hansch,  1683  —  1752,  Verfasser  einer  Schrift: 
Selecta  moralia,  Hai.  1720,  und  einer  Ars  inveniendi,  1727),  bis  in  der  späteren 
Zeit,  als  Wolfis  Ansehen  bereits  zu  sinken  begann,  Manche  wiederum  unmittelbar 
auf  Leibniz  zurückgingen. 

Zu  den  Gegnern  von  Leibniz  und  Wolff*  gehören  namentlich  folgende: 
Joh.  Joach.  Lange  (1670—1744),  der  Wolfis  Vertreibung  aus  Halle  bewirkte, 
suchte  in  den  Schriften:  Causa  Dei  et  religionis  naturalis  advers.  atheism.,  Hai.  1723 
Modesta  disquis.  novi  philos.  syst  de  Deo,  mundo  et  nomine  et  praesertim  har- 
monia  commercii  inter  animam  et  corpus  praestabilita,  Hai.  1723  etc.  den  religions- 
gefährlichen, spinozistischeu  und  atheistischen  Charakter  der  wölfischen  Doctrin  dar- 
zutbun;  besonders  an  ihrem  Determinismus  nahm  er  Anstoss. 

Andreas  Rüdiger  (1671 — 1731),  ein  Schüler  des  Christian  Thomasius,  ein 
Eklektiker,  bekämpfte  die  leibnizische  Doctrin  von  der  prästabilirten  Harmonie 
zwischen  Leib  und  Seele,  hielt  an  der  Lehre  von  dem  physischen  Eintluss  fest  und 
behauptete  die  Ausgedehntheit  der  Seele  und  den  sinnlichen  Ursprung  aller  Vor- 
stellungen. Andr.  Rüdigeri  disp.  de  eo,  quod  omnes  ideae  oriautur  a  sensione, 
Lips.  1704;  de  sensu  veri  et  falsi,  Hai.  1709,  Lips.  1722;  Philos.  synthetica. 
Hai.  1707  u.ö.;  Physica  divina,  recta  via  ad  utramque  hominis  felicitatem  tendens. 
Frcf.  ad  M.  1716;  Philos.  pragmatica,  Lips.  1723;  Wolflens  Meinung  von  dem  Wesen 
der  Seele  und  Rüdigers  Gegenerinnerung,  Leipz.  1727. 

Rüdigers  mittelbarer  Schüler  (durch  Rüdigers  Zuhörer  Ad.  Frdr.  Hoffmann  für 
ihn  gewonnen)  war  Chr.  Aug.  Crusius  (1712-1775,  Prof.  der  Philos.  und  Theol. 
zu  Leipzig),  der  einflussreichste  Gegner  des  Wolffianisraus,  der  besonders  Vernunft 
und  Offenbarung  mit  einander  in  Einklang  bringen  wollte.  Er  nahm  neben  dem 
Principium  identitatis,  das  nur  formaler  Art  sei,  das  Priucipium  inseparabilium  et 
inconjungibilium  an,  d.  h.  den  Satz,  dass  es  positive,  materiale  Fundamentalsätze 
gäbe,  z.  B.:  Eine  jede  Substanz  ist  irgendwo  und  irgendwann;  eine  jede  Kraft  ist 
in  einem  Subjecte;  alles,  was  entsteht,  hat  eine  zureichende  Ursache.  Kant,  der 
sich  über  Crusius  sehr  anerkenneud  äussert,  erkennt  diese  Unterscheidung  /.wischen 
formalen  und  materialen  Grundsätzen  als  richtig  an  in  seiner  Schrift  üb.  d.  Deut- 
lichkeit der  Grundsätze  der  natürl.  Theol.  u.  Moral  (s.  unt.  §  94).  Crusius  bestritt 
namentlich  den  Optimismus  und  Determinismus.  Die  sichersten  Bürgen  für  die 
Existenz  der  Aussenwelt  sind  der  Zwang,  der  uns  nöthigt,  an  ihre  Wirklichkeit  zu 
glauben,  und  die  Wahrhaftigkeit  Gottes.  Die  Welt  befasst  auch  freie  Wesen  in 
sich;  deshalb  kann  in  ihr  kein  absolut  nothwendiger  Zusammenhang  herrschen, 
ebensowenig  eine  prästabilirte  Harmonie.  Bei  den  unsittlichen  Handlungen  kommt 
Gott  nur  soweit  in  Betracht,  als  er  die  Sünde  geschehen  lässt.  Die  Welt  ist  zwar 
für  den  Zweck,  für  den  sie  geschaffen  wurde,  sehr  gut,  aber  doch  nicht  die  beste 
ans  allen,  die  möglich  gewesen  wären.  Das  oberste  Moralprincip  leitet  er  ab  aus 
dem  Willen  Gottes,  wie  sich  dieser  in  der  Offenbarung  und  dem  Gewissen  aus- 
spricht. S.  Ant  Marquardt,  Kant  u.  Crusius.  Ein  Beitr.  zum  richtig.  Verständnis* 
der  crusian.  Philos.,  Kiel  1885.  —  In  manchem  Betracht  kommt  mit  ihm  der  Eklek- 
tiker Daries  (1714  bis  1772)  überein.  Eiern,  metaph.  Jeu.  1743-44;  philos.  Xeben- 
stunden,  Jena  1749  bis  1752;  erste  Gründe  d.  philos.  Sittenl.,  Jena  1750;  Via  ad 
veritatem,  Jen.  1755  u.  ö. 

Zu  den  Gegnern  der  leibnizisch-wolffschen  Doctrin  gehört  auch  der  Eklektiker 
Jean  Pierre  de  Crousaz  (1663—1748),  der  eine  Logik,  franz.  Amst.  1712,  lat. 


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174 


§  19.    Wolff,  seine  Gegner  und  Anhänger. 


Genf  1724,  Lehre  vom  Schönen,  Amst.  1712,  2.  Aufl.  1724,  eine  Abh  über  die 
Erziehung,  Haag  1724,  und  andere  Schriften  verfaast  hat  Die  leibniziach-wolffsche 
Lehre  griff  er  besonders  an  in:  Observation  critiques  sur  1'abrege  de  la  logique 
de  Mr.  Wolff,  Geneve  1744. 

Zu  den  bedeutenderen  Wolffianern  gehören:  Geo.  Beruh.  Bilfinger  (oder 
Bilffinger,  auch  Bülffinger,  geb.  1693  zu  Cannstadt,  1725  nach  Petersburg  als  Prof. 
d.  Philos.  gerufen,  seit  1731  Prof.  der  Theol.  zu  Tübingen,  seit  1735  Consistorial- 
präsident  in  Stuttgart,  gest.  1750),  der  in  seinem  sehr  viel  gelesenen,  auch  in 
Frankreich  verbreiteten  Hauptwerk,  den  Üilucidationes,  seine  Lehren  sehr  klar  ent- 
wickelt. Er  stimmte  weder  mit  Leibniz  noch  mit  Wolff  vollständig  überein.  Aller- 
dings Bind  nach  ihm  die  letzten  Bestandtheile  der  Welt  einfache  Wesen,  Monaden, 
aber  diese,  wenigstens  nach  seiner  späteren  Ansicht,  nicht  alle  vorstellend;  die 
Elemente  der  Körper  haben  nur  Beweguugskraft.  An  der  prästabilirten  Harmonie 
hält  er  fester  als  Wolff,  aber  einmal  erstreckt  sich  dieselbe  nur  auf  das  Verhältniss 
von  Leib  und  Seele,  und  dann  kommt  es  dabei  auf  die  inneren  Veränderungen  in 
den  verschiedenartigen  Wesen  an.  Auch  spiegelt  nicht  jede  Monade  die  ganze 
Welt  in  sich,  sondern  sie  ist  auf  einen  gewissen  Kreis  beschränkt.  Die  Grund- 
thätigkeiten  der  Seele  sind  Vorstellen  und  Begehren,  und  zwar  entsteht  eine  Vor- 
stellung immer  aus  einem  Begehren,  und  ein  Begehren  immer  aus  einer  Vorstellung. 
Von  ihm  rührt  die  Bezeichnung  leibniz  -wölfische  Philosophie  her,  welche  Wolff 
selbst  nicht  billigte.  Ludw.  Phil.  Thümming  (1697—1728),  Institutiones  philo- 
sophiae  Wolffianae,  Prcf.  et  Lips.  1725—26  etc.  Ferner  der  Propst  Joh.  Gust. 
Reinbeck  (1682—1741),  der  seinen  Betrachtungen  über  die  in  der  augsburgischen 
Confession  enthaltenen  Wahrheiten  eine  Vorrede  von  dem  Gebrauch  der  Vernunft- 
und  Weltweisheit  in  der  Gottesgelahrtheit  beifügte,  die  Juristen  J.  G.  Heineccius, 
J.  A.  von  Ickstadt,  J.  U.  von  Gramer,  Dan.  Nettelbladt  uud  Andere,  der 
Literaturhistoriker  und  Kritiker  Joh.  Christoph  Gottsched  (1700 — 1766),  der 
u.  a.  auch  eine  Schrift:  Erste  Gründe  der  gesammt  Weltweish.,  Lpz.  1734,  2.  Aufl. 
1735-36  verfaast  hat  (vgl.  über  ihn  Danzel,  Gottsched  u.  s.  Zeit,  Lpz.  1848),  der 
Mathematiker  Martin  K nutzen  (gest.  1751),  der  von  der  immateriellen  Natur  der 
Seele,  Frankf.  1744,  Syst.  causarum  efficientium,  Lips.  1745,  schrieb  und  einer  der 
Lehrer  Kants  war  (vgl  über  ihn  Benno  Erdmann,  Martin  K  nutzen  und  Beine  Zeit, 
Lpz.  1876),  Fr.  Chr.  Baumeister  (1707—17851,  der  Lehrbücher  verfasste,  auch 
eine  Historia  doctrinae  de  mundo  optimo,  Gorl.  1741,  schrieb.  Joh.  Hnr.  Sam. 
Formey  (1711—1797),  ständiger  Director  der  Akademie  und  Director  der  philo- 
sophischen Klasse  derselben,  der  allerdings  mehr  Eklektiker  als  blosser  Anhänger 
Wolfis  war,  verfasste  neben  einer  sehr  grossen  Reihe  anderer  Schriften  auch  ein 
durchaus  populäres  Handbuch  der  wolfischen  Philosophie:  la  belle  Wolffienne, 
Haag  1741—1753,  6  Bde. 

Der  bedeutendste  Schüler  Wolfis  war  Alexander  Gottiieb  Baumgarten  (geb. 
1714  in  Berlin,  gest  1762  als  Prof.  zu  Frankfurt  a.  0.),  namentlich  bekannt  als 
Begründer  der  deutschen  Aesthetik.  Von  ihm  rührt  auch  unsere  philosophische 
Terminologie  theilweise  her.  Die  Erkenntnisslehre,  welche  bei  ihm  der  Metaphysik 
vorausgebt,  nennt  er  Gnoseologie.  Diese  zerfällt,  da  es  eine  niedere  oder  sinnliche 
und  eine  höhere  Erkenntniss  giebt,  in  zwei  Theile,  in  die  Aesthetik  als  die  Theorie 
der  sinnlichen  Erkenntniss,  und  die  Logik.  Leibniz  nennt  nur  schön  das  verworren 
Aufgefaßte,  was,  deutlich  erkannt,  wahr  ist.  Demnach  giebt  das  sinnlich-verworrene 
Auffassen  des  Vollkommenen  den  Genuss  des  Schönen,  und  so  ist  es  erklärlich, 
wie  Aesthetik  zu  der  Bedeutung :  Theorie  des  Schönen,  philosophia  poetica,  kommt. 
Schönheit  ist  das  sinnlich  angeschaute  Vollkommene,  die  perfectio  phänomenon. 
B.  ist  nicht  dazu  gekommen,  die  ganze  Aesthetik,  die  breit  angelegt  war,  syste- 


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§  20.    Die  deutsche  Aufklärung  und  Popularphilosophie. 


175 


matlsch  auszuführen.  Er  nennt  im  Wesentlichen  nur  die  Bedingungen  im  Subject 
für  das  Zustandekommen  des  Schönen:  Künstlerische  Anlage,  Genie,  Begeisterung, 
Uebung.  Ausserdem  giebt  er  viel  feine  Bemerkungen  und  Regeln  für  das  Gebiet 
der  Rhetorik  und  Kritik.  —  Kant  hielt  ihn  während  seiner  vorkritischen  Periode 
für  den  bedeutendsten  der  damaligen  Metaphysiker  und  legte  Baumgartens  Lehr- 
bücher seinen  Vorlesungen  lange  Zeit  zu  Grunde.  Baumgartens  Schüler  war  Geo. 
Friedr.  Meier  (1718—1777)  zu  Halle,  dessen  Lehrbücher  auch  von  Kant  zu  seinen 
Vorlesungen  benutzt  wurden.  Er  schrieb  Anfangsgründe  d.  schön.  Wissenschaften, 
Halle  1748,  2.  Aufl.  1754,  ferner  Vernunftlehre,  Halle  1752,  Auszug  aus  derselben, 
Halle  1752,  Metaphysik,  Halle  1755-59,  philos.  Sittenlehre,  Halle  1753— 61,  und 
viele  andere  Schriften.  Auf  Verlangen  Friedrichs  II.  hielt  er  auch  Vorlesungen 
über  die  lockesche  Philosophie,  und  in  seinen  psychologischen  Ansichten  zeigt  sich 
der  Einfluss  Lockes,  indem  er  da  die  Erfahrung  benutzt  wissen  will,  um  zur 
Kenntniss  der  endlichen  Geister  zu  kommen. 

Gottfried  Ploucquet  (1716-1790)  verfolgte  den  freilich  nicht  sehr  frucht- 
baren Gedanken,  den  Leibniz  schon  auszuführen  unternommen  hatte,  das  philo- 
sophische Denken  nach  Art  des  mathematischen  Rechnens  zu  gestalten  in:  Prin- 
cipia  de  substantiis  et  phaenomenis,  accedit  methodus  calculandi  in  logicis  ab  ipso 
inventa,  cui  praemittitur  commentatio  de  arte  characteristica  univereali,  Frcf. 
u.  Lips.  1753,  ed.  2,  1764,  vgl.  Aug.  Friedr.  Böck,  Sammlung  von  Schriften,  welche 
den  logischen  Calcul  des  Herrn  Prof.  PI.  betreffen,  Frkf.  u.  Lpz.  1766.   Joh.  Heinr. 
Lambert  (1728—1777),  der  in  bedeutungsvollem  Briefwechsel  mit  Kant  stand, 
berührte  sich  mit  diesem  in  mancher  Beziehung  und  wurde  von  Kant  sehr  hoch 
geschätzt.   Er  besass  gründliche  mathematische  und  naturwissenschaftliche  Kennt- 
nisse.    Seine  kosmologischen  Briefe  sprechen  zwar  keine  Ansichten  über  die 
Bildung  des  Weltalls  und  der  Erde  aus,  kommen  aber  doch  Kants  Allgem.  Natur- 
gesetz u.  Theorie  des  Himmels  in  Bezug  auf  die  systematische  Verfassung  des 
Fixsternhimmels  nahe.  Sodann  suchte  er  in  bemerkenswerther  Weise  die  lockeschen 
Resultate  mit  der  Lehre  Wölfls  zu  vereinigen,  indem  er  die  Induction  mit  der 
Deduction,  den  Empirismus  mit  dem  Rationalismus  zu  verknüpfen  unternahm,  sich 
nieht  ausschliesslich  auf  die  Seite  des  einen  oder  des  andern  stellend.    Er  trifft 
das  erkenntniss-theoretische  Problem,  wie  es  von  Kant  gestellt  wurde,  es  dahin 
bestimmend,  dass  es  auf  den  Gegensatz  von  Form  und  Inhalt  ankomme.   Indem  er 
weder  die  Denkformen  aus  dem  Inhalt,  wie  die  Empiriker,  noch  den  Inhalt  aus 
den  Denkformen  ableiten  wollte,  wie  Wolff  und  überhaupt  die  Rationalisten,  kam 
er  doch  darüber  nicht  hinaus,  dass  die  Grundformen  der  Vorstellungsverknüpfung, 
die  er  durch  Analyse  der  Erfahrung  gewonnen  hatte,  auch  Gesetze  der  Wirklichkeit 
seien,  und  so  giebt  er  schliesslich  in  seiner  Architektonik  nur  eine  Ontotogie  der 
alten  Art.    (Vgl.  über  ihn:  R.  Zimmermann,  I>ambert,  der  Vorgänger  Kants. 
Wien  1879,  Joh.  Lepsius,  J.  H.  Lambert,  Münch.  1881,  A.  Döring,  Kant,  Lambert 
und  die  Laplacesche  Theorie,  in:  Preuss.  Jahrbb.,  58,  1886,  S.  128 ff,  auch  d.  ob. 
S.  168  citirte  Arbeit  v.  Edm.  König.) 

§  20.  Der  ganze  Rationalismus,  nicht  nur  Leibniz  und  Wolff, 
hatte  mit  seiner  Forderung  des  klaren  und  deutlichen,  auf  Vernunft 
gegründeten  Erkennens  die  sogenannte  Aufklärung,  die  meist  zu- 
gleich Popularphilosophie  ist,  vorbereitet.  Diese  Richtung  geht 
besonders  darauf,  den  Geist  von  Aberglauben,  von  religiösen  Vor- 
urteilen zu  befreien,  für  Alles  Grunde  und  Beweise  zu  verlangen  und 
namentlich  das  praktische  Leben  nach  vernünftig  eingesehenen  Grund- 


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176 


§  20.   Die  deutsche  Aufklärung  und  Popularphilosophie. 


Sätzen  einzurichten.  Das  Individuum  sollte  so  zu  seinem  Rechte 
kommen,  mündig  werden.  Mit  der  vernünftigen  Einsicht  ist  zugleich 
die  Tugend  und  das  Glück  verbunden,  und  es  tritt  sogar  der  praktische 
Zweck,  die  Glückseligkeit  des  Menschen,  in  den  Vordergrund,  so  dass 
in  dieser  das  ganze  Ziel  der  Aufklärung  zu  liegen  scheint.  —  Nach- 
dem die  Principien  der  Philosophie  festgestellt  waren,  mussten  Er- 
fahrung und  Beobachtung  wieder  mehr  in  ihr  Recht  eintreten,  und 
hierzu  trug  auch  die  Beschäftigung  mit  den  Engländern,  namentlich 
mit  Locke,  den  Deisten,  den  Moralphilosophen  und  den  französischen 
Philosophen,  die  in  demselben  Sinne  wirkten,  bei.  So  zeigt  sich  bei 
den  Aufklärungsphilosophen  öfter  eine  Art  Eklekticismus,  wenngleich 
eine  Hinneigung  zur  wölfischen  Philosophie  fast  durchgehends  gefunden 
wird.  —  Die  bedeutendsten  unter  ihnen  sind:  Reimarus,  Moses 
Mendelssohn,  Nicolai,  Eberhard,  Garve,  Abbt,  Engel,  Tetens 
und  vor  Allen  Lessing,  der  sich  allerdings  dem  Pantheismus  und 
Determinismus  zuneigte,  aber  nicht  als  Spinozist  zu  bezeichnen  ist. 

Herrn.  Samuel  Reimarus,  Abhandlungen  von  den  vornehmsten  Wahrheiten  der 
natürlichen  Religion,  Hambg.  1754,  6.  Aufl.  1791 ;  Vernunftlehre,  Hambg.  u.  Kiel, 
1756,  5.  Aufl.  1790;  Betrachtungen  üb.  d.  Kunsttriebe  der  Thiere,  Hambg.  1762, 
4.  Aufl.  1798 ;  Wolfl'enbüttelsche  Fragmente  durch  Leasing  herausgegeb.  Es  wurde  erst 
1814  gewiss,  dass  diese  Fragmente  eiuer  grösseren  Schrift  von  Reimarus  angeh.  mit 
dem  Titel:  „Apologie  oder  Schutzschrift  für  die  vernünftigen  Verehrer  Gottes",  die  sich 
noch  auf  der  hamburger  Bibliothek  als  Manuscript  vorfindet.  S.  darüber  besonders 
Dav.  Fr.  Strauss,  Herrn.  Sum.  Reimarus  u.  seine  Schutzschrift  für  die  vemünftigen 
Verehrer  Gottes,  Lpz.  18G2,  2.  Aufl.  1877. 

Moses  Mendelssohns  sämmtl.  Werke  hat  sein  Enkel  Geo.  Benj.  M.  in  7  Bänd., 
Lpz.  1843 — 44  mit  biogr.  Eiuleit.  hrsg.  Die  Schriften  zur  Thilos.,  Aesthet.  u.  Apologet, 
hat  mit  Einleitungen,  Anmerkungen  u.  einer  biograph. -historisch.  Charakterist.  M.s 
herausgeg.  Mor.  Brauch,  2  Bde.,  Lpz.  1880.  Die  Hauptschriften  sind:  Briefe  über  die 
Empündgn.,  Berl.  1755;  Abhdl.  üb.  d.  Evidenz  in  den  metaphysisch.  Wissenschaften 
(eine  von  der  Berl.  Akademie  gekrönte  Preisschrift),  Berl.  1764,  2.  Aufl.  1786;  Phädon 
od.  üb.  d.  Unsterblichkeit  d.  Seele  (eine  Modemisirung  des  platonisch.  Phädon: 
Sokrates  spricht  wie  ein  neuerer  Aufklärer),  Berl.  1767  u.  ö.;  Jerusalem,  od.  üb.  relig. 
Macht  u.  Judenth.,  Berl.  1783;  Morgenstunden,  od.  üb.  das  Dasein  Gottes,  Berl.  1785 
n.  ö.:  Mos.  Mendelss.  an  die  Freunde  Lessings,  Berl.  1786  (geg.  F.  H.  Jacobis  Schrift: 
üb.  d.  Lehre  des  Spinoza,  worin  behauptet  wurde,  Lessing  sei  ein  Spinozist  gewesen; 
s.  darüb.  u.).  Ueber  Mendelssohns  philos.  u.  relig.  Grundsätze  handelt  Kayserling, 
Lpz.  1856,  und  in  Mos.  M.,  s.  Leb.  u.  s.  Wirken,  1862,  2.  Aufl.,  Lpz.  1888,  üb.  seine 
Stellung  in  d.  Gesch.  d.  Aesthetik  Gust.  Kanngieser,  Frankf.  a.  M.  1868,  üb.  s.  Leben, 
s.  Werke  u.  s.  Einfluss  auf  d.  heut.  Judaismus  Mos.  Schwab,  Paris  1868.  Adler,  d. 
Versöhug.  v.  Gott,  Relig.  u.  Menschenth.  durch  M.  M.,  Berl.  1871.  E,  D.  Bachi,  sulla 
vita  e  sulle  opere  di  M.  M.,  Torino  1872.  Ueber  M.  M.  und  d.  dtsche.  Aufklärungs- 
philos.  d.  18.  Jahrh.  handelt  R.  Q.  in  Geizers  Monatsbl.  f.  innere  Zeitgesch.,  Bd.  33, 
1869,  S.  32—42.  T.  Cohn,  die  Auf kläningsperiode,  Potsd.  1873.  M.  Brasch,  M.  M., 
Lichtstrahl,  aus  seinen  philos.  Schrift,  u.  Brief.,  Lpz.  1875.  M.  Dessauer,  der  deutsche 
Plato,  Erinnerungsschr.  zu  Moses  M.s  150 j.  Geburtstage,  Berl.  1879.  B.  Szold,  M. 
Mendels«.,  eine  Gedenkschr.,  Philadelphia  1879.  Frdr.  Kampe,  der  mendelssohnsche 
Phädon  in  sein.  Verb.  2um  platonisch.,  I.  D.,  Halle  1880.  M.  Kayserling,  M.  M.,  Un- 
gedrucktes u.  Unbekanntes  v.  ihm  u.  üb.  ihn,  Lpz.  1883.  Leop.  Goldhammer,  d. 
Psychologie  M.s,  Wien  1886.    J.  H.  Ritter,  M.  u.  Lessing,  2.  Aufl.,  Berl.  1886. 

Joh.  Aug.  Eberhard,  Neue  Apologie  des  Sokrates,  Berl.  1772  u.  ö.;  Allgem. 
Theorie  des  Denkens  u.  Empfindens,  1776,  auch  1786;  Theorie  d.  schön.  Künste  u. 
Wissenschaften,  Halle  1783,  3.  Aufl.  1790;  Sittenlehre  der  Vernunft,  Berl.  1781,  auch 
1786;  Handbuch  der  Aesthetik  für  gebildete  Leser,  Halle  1803—5,  2.  Aufl.  1807  ff.; 


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§  20.    Die  deutsche  Aufklärung  und  Popularphilosophie. 


177 


Vers,  einer  allgem.  dtech.  Synonymik,  1795—1802,  2.  Aufl.  1820  (fortgesetzt  von  Maass 
und  Gruber);  Svnonym.  Wörtern,  d.  duich.  Sprache,  1802.  Vgl.  üb.  ihn  Fr.  Nicolai, 
Gedäehtuissschrift  auf  J.  A.  E.,  Beri.  1810. 

Ueber  Lessing  vgl.  ausser  den  ob.  §  9  cit.  Schriften  insbes.  noch  die  Schriften 
üb.  Lessings  Leb.  und  Werke  von  Danzel  u.  Guhrauer,  Lpz.  1850 — 51,  2.  bericht. 
u.  venu.  Aufl.,  herausgeg.  v.  W.  v.  Maitzahn  u.  B.  Boxberger.  Berl.  1880—81,  Ad. 
Stahr,  Berlin  1859  u.  ö.,  Erich  Schmidt,  Lessing,  Gesch.  seines  Lebens  u.  seiner 
Schriften,  2  Bde.,  Berl.  1884;  ferner  Schwarz,  G.  E.  Lessing  als  Theologe  dargestellt, 
e.  Beitr.  z.  Gesch.  d.  Theol.  im  18.  Jahrh.,  Halle  185-1.  Roh.  Zimmermann,  Leibnil 
und  Lessing  (aus  d.  Sitzungsber.  d.  Wiener  Ak.  d.  Wiss.),  Wien  1855,  auch  in  Z.s  St. 
u.  Kr.  abgedr.  Eberh.  Zirngiebl,  der  jaeobi-mendelssohnsche  Streit  üb.  Lessings  Spino- 
zisnius,  Inaug.-Diss.,  Münch.  1801.  Job.  Jacoby,  Lessing  der  Philosoph,  Berl.  1863,  und 
dageg.:  Lessings  Christenth.  u.  Philos.  (anonym),  Berl.  1863.  C.  Hebler,  Lessing-Studien, 
Bern  1862;  philos.  Aufs.,  Lpz.  1869,  S.  79  fl".  L.  Crousle,  L.  et  le  goüt  francais  en 
Allemague,  Par.  1863.  Kuno  Fischer,  L.s  Nathan  der  Weise,  Stuttg.  1864.  D.  F. 
Strauss,  L.s  Nathan  der  Weise,  Berl.  1864.  Wilh.  Dilthev,  üb.  G.  E.  Lessing,  in 
d.  Preuss.  Jahrb.  Bd.  19,  1867,  S.  117—161  u.  271—294.  Coust.  Kössler,  neue 
Lessingstudien:  d.  Erziehg.  d.  Menschengeschi.,  ebd.  Bd.  20,  1867,  S.  268—284. 
Dilthev,  z.  Lessings  Seelenwandrgslehre,  ebd.  S.  439—444.  E.  Fontanes,  le  Christia- 
nisme  moderne,  etudes  sur  Lessing,  Paris  1867.  Vict.  Cherbuliez,  L.  in:  Rev.  d.  deux 
mond.,  t.  73,  1868,  S.  78—121  und  S.  981—1024.  Ed.  Zeller,  L.  als  Theolog,  in 
Sybels  bist.  Zeitschr.,  Jahrg.  XII,  1870,  S.  343—383,  auch  in:  Vorträge  u.  Abhand- 
lungen, 2.  Samml.,  Lpz.  1877.  (Zeller  zeigt  die  Aussichtslosigkeit  des  Versuches, 
„Vertheidigungsgründe  für  eine  supranaturalistische  Apologetik  bei  Lessing  zu  bringen", 
weist  die  gemeinsame  Grundlage  nach,  auf  der  Lessings  Ansicht  von  der  Religion 
mit  der  Ansicht  der  gleichzeitigen  „ Aufklärung"  trotz  des  scharfen  Widerspruchs 
Lessings  gegen  die  Oberflächlichkeit  der  Aufklärer  und  besonders  gegen  ihr  unhisto- 
risehes,  exclusiv  polemisches  Urtheil  über  die  Orthodoxie  beruht,  thut  aber  auch  dar, 
dass  L.  mit  dem  Spinozismus  nur,  wie  Leibniz  selbst,  Berührungspunkte  hatte,  be- 
sonders vermöge  seines  Determinismus,  ohne  jedoch  Spinozist  zu  sein.  »Wer  in  der 
ganzen  Geschichte  der  Menschheit  einen  göttlichen  Weltplan  sieht,  wer  alles  auf  den 
Zweck  der  Vervollkommnung  der  Wesen  bezieht,  wer  das  Recht  der  individuellen 
Eigentümlichkeit  und  Entwicklung  so  lebhaft  vertheidigt,  die  endlose  Fortdauer  des 
Individuums  so  wenig  bezweifelt  und  selbst  eine  so  scharf  ausgeprägte,  so  subjectiv 
zugespitzte  Individualität  ist,  wie  Lessing,  der  mag  von  Sp.  noch  so  viel  gelernt  haben, 
ein  Spinozist  kann  er  nicht  genannt  werden.")  Heinr.  Lang.  G.  E.  L.,  in:  religiöse 
Charaktere,  2.  Aufl.,  Winterthur  1872,  S.  215—304.  Ed.  Niemeyer,  üb.  L.s  Pädagogik, 
Progr.  d.  Realsch.,  Dresd.  1874.  V.  Müller,  der  Offenbarungsbegr.  Lessings  im  Zu- 
sammenh.  mit  sein,  philos.  u.  relig.  Grundsätzen,  Jena  1875.  Karl  Rehorn,  G.  E. 
Lessings  Stellung  zur  Philos.  d.  Spinoza,  Frfrt.  a.  M.  1877.  A.  Baumgartner,  Lessings 
religiöser  Entwickelungsgang,  Freib.  1S77.  Joh.  Jacoby,  Lessing  d.  Philosoph,  in: 
Gesammelte  Reden  u.  Schriften,  Hamb.  1877,  2.  Bd.  J.  H.  Witte,  die  Philos.  unserer 
Dichterheroen,  1.  Bd.:  Lessing  u.  Herder,  Bonn  1880.  W.  Reuter,  L.s  Erzieh,  des 
Mensehengesehl.  Darlegung  des  Gehaltes  u.  des  Zweckes  u.  s.  w.,  Lpz.  1881.  J.  Ciaassen, 
G.  E.  L.s  Theol.  u.  Philos.  im  Lichte  christl.  Wahrheit,  Gütersloh  1881,  Ernst  Melzer, 
L.s  philos.  Gmndauschauung,  Neisse  1882.  Jos.  Hub.  Reinkens,  L.  üb.  Toleranz, 
Lpz.  1883.  G.  Spicker,  L.s  Weltanschauung,  Lpz.  1883,  s.  dazu  Herrn.  Fischer,  L.s 
Philosophie,  e.  Kritik,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  85,   1884,  S.  29-66,  169-201. 

Nicht  nur  der  Rationalismus  hatte  diese  ganze  Richtung  vorbereitet,  auch 
»ler  Pietismus  mit  seiner  Betonung  des  sittlichen  Lebens  im  Individuum  und  seiner 
Geringschätzung  des  Autoritätsglaubens  ist  nicht  ohne  Eintiuss  auf  die  Entwicke- 
lung  der  Aufklärung  gewesen.  WolfF  hatte  schon  durch  die  Titel  seiner  deutschen 
Schriften  „ Vernünftige  Gedanken"  (in  den  Titeln  der  lateinischen  spielt  auch 
„rationalis"  und  „naturalis"  eine  grosse  Rolle)  deutlich  zu  erkennen  gegeben,  dass 
der  Geist  sich  nicht  auf  Autoritäten  stützen,  nichts  ungeprüft  hinnehmen  dürfe. 
So  wird  der  einzelne  Mensch  selbständig  gemacht  und  damit  ist  Freisinnigkeit  ver- 
bunden. Die  Bezeichnungen  , Freigeist",  „starker  Geist"  wurden  für  die  Apostel 
der  Aufkläruug  gebraucht.  Kant  sieht  das  Wesen  dieser  Richtung  in  dem  Heraus- 
treten aus  verschuldeter  Unmündigkeit  und  nannte  das  Zeitalter  der  Aufklärung 

Ueberweg-Heinze,  Grundrifs  III,  7.  Aufl.  12 


178 


§  20.   Die  deutsche  Aufklärung  und  Populurphilosophie. 


das  Friedrichs  II.  Freilich  sollten  sich  nach  der  Ansicht  der  Aufgeklärten  die 
Unmündigen,  als  gewissermaassen  rechtlos,  den  Erleuchteten  gegenüber  fügen,  ja 
sie  durften  nach  der  Ansicht  Friedrichs  II.  gezwungen  werden,  vernünftig  und 
glücklich  zu  sein.  Denn  schliesslich  kam  es  doch  auf  das  Glück  des  Einzelnen  an, 
wie  der  Illuminaten-Orden  mit  seinen  beiden  Häuptern  Knigge  und  Weishaupt  aus 
dem  Geiste  der  Aufklärung  heraus  Alles  bekämpfte,  was  das  Vergnügen  und  die 
Glückseligkeit  störte.  So  lag  es  auch  in  dem  ganzen  Wesen  der  Aufklärung, 
populär  zu  sein,  um  die  Menschheit  beglücken  zu  können.  Zugleich  hing  es  mit 
diesem  Zwecke  zusammen,  dass  der  Psychologie  grösserer  Eifer  zugewandt  und 
hierbei  das  Gefühl  betont  wurde,  sowie  dass  die  Gewissheit  des  Daseins  Gottes, 
der  dem  Menschen  die  Glückseligkeit  gewährt,  und  des  jenseitigen  Lebens,  in 
welchem  die  Vollkommenheit  und  mit  ihr  die  Glückseligkeit  erreicht  wird,  eine 
bedeutende  Rolle  spielte.  Der  physicotheologische  Beweis  für  die  Existenz  Gottes 
erfreute  sich  besonderer  Beachtung  und  Ausbildung,  und  es  entstand  eine  Bronto- 
theologie,  Astrotheologie,  Lithotheologie,  Phytotheologie,  Ichthyotheologie,  Inseeto- 
theologic  etc.  —  Man  spricht  auch  von  englischer  und  französischer  Aufklärung 
und  kann  dann  unter  der  erstereu  befassen  Locke,  die  Moralphilosophen,  die 
Associationspsychologen,  die  Deisten  einschliesslich  Tolaud,  liume,  und  die  schotti- 
schen Philosophen,  und  unter  der  letzteren  Voltaire,  Rousseau,  den  Sensualismus, 
Materialismus,  die  Encyclopädisten. 

Ein  einflussreicher  Vertreter  der  positiven  Lehren  des  Deismus  war  Herrn. 
Samuel  Reimarus  in  Hamburg  (1694 — 1765),  für  den  das  einzige  göttliche  Wunder 
die  Schöpfung  ist.  Andere  Wunder  würden  in  Widerspruch  mit  der  göttlichen 
Weisheit  und  Vollkommenheit  stehen.  Der  Zweck  Gottes  bei  der  Schöpfung  der 
Welt  war,  alle  möglichen  lebenden  Wesen  hervorzubringen  und  alle  Einrichtungen 
mit  der  grösstmöglichen  Lust  aller  lebendigen  Geschöpfe  in  Einklang  zu  setzen. 
So  ist  die  weise  Einrichtung  des  Weltalls  die  Offenbarung  Gottes.  Der  teleologische 
Gesichtspunkt  tritt  bei  Reimarus  stark  hervor,  wenn  auch  nicht  der  Mensch  so, 
wie  es  sonst  üblich  zu  jener  Zeit,  ins  Centrum  gestellt  wird.  Es  ist  so  erklärlich, 
wie  seine  „Abhandlungen"  als  das  vortrefflichste  Buch  gegen  den  französischen 
Materialismus  und  den  Spinozismns  gepriesen  werden.  Andererseits  ist  es  aber 
auch  erklärlich,  wie  er  sich  in  Opposition  gegen  jede  positive  Religion  setzte.  — 
Eine  isolirte  Stellung  nimmt  der  vom  Pietismus  ausgegangene,  zuletzt  dem  spino- 
zistischen  Pantheismus  sich  zuneigende  Freidenker  Joh.  Christ.  Edelmann  ein. 
(1698—1767,  Moses  mit  aufgedecktem  Angesicht  1740  etc.;  Selbstbiographie  heraus- 
gegeben v.  Klose.  Beri  1849.)  Vgl.  Karl  Mönckeberg,  Herrn.  Sarn.  Reimarus  u. 
Joh.  Chr.  Edelmann,  Hamburg  1867. 

Moses  Mendelssohn  (geb.  zu  Dessau  6.  Sept.  1729,  kum  mit  14  Jahren 
nach  Berlin,  wurde  Hauslehrer  in  einem  jüdischen  Handelshaus,  hierauf  Buchhalter 
und  dann  Chef  desselben,  gest.  4.  Januar  1786  zu  Berlin),  früh  mit  Maimonides, 
dann  mit  Locke,  dann  mit  Wolff,  Baumgarten  und  Leibniz,  auch  mit  Spinoza  durch 
eifriges  Studium  bekannt,  mit  Lessing  seit  1754  persönlich  befreundet,  hat  besonders 
für  religiöse  Aufklärung  gewirkt.  Er  wollte  (hierin  in  Uebereinstimraung  mit 
Spinoza)  durch  die  religiösen  Vorschriften  nur  das  Handeln  bestimmt  wissen  und 
trug  auf  dem  Gebiet  der  speeifisch  religiösen  Handlungen  vielleicht  allzugrosse 
Scheu  vor  reformatorischen  Versuchen  im  Judenthum,  vindicirte  dagegen  dem 
Denken  volle  Freiheit.  Der  Staat,  der  zu  Handlungen  zu  zwingen  berechtigt  ist, 
darf  nicht  Uebereinstimmung  in  Gedanken  und  Gesinnungen  erzwingen  wollen,  soll 
jedoch  durch  weise  Vorkehrungen  solche  Gesinnungen  zu  erzielen  suchen,  aus  denen 
gute  Handlungen  hervorgehen;  die  Religionsgemeinschaft,  welche  auf  Gesinnungen 
abzielt,  darf  als  solche  weder  direct  noch  mittelst  des  Armes  der  Staatsgewalt  ein 


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§  20.    Die  deutsch«  Aufklärung  und  Popularphilosophie. 


179 


Zwangsrecht  über  ihre  Mitglieder  üben  wollen;  ReligionBverschicdenheit  soll  nicht 
die  bürgerliche  Gleichstellung  beeinträchtigen;  nicht  Glaubenseinheit,  sondern 
Glaubensfreiheit  ist  das  Ideal.  Nur  gegen  Intolerante  darf  man  nicht  tolerant  sein. 
Die  Philosophie  hat  zur  Aufgube,  das,  was  der  gewöhnliche  Menschenverstand  als 
richtig  erkannt,  durch  die  Vernunft  klar  und  sicher  zu  machen.  Vor  Allem  kam  es 
ihm  darauf  an,  die  Lehre  vom  Dasein  Gottes  und  von  der  Unsterblichkeit  der 
menschlichen  Seele  philosophisch  streng  zu  erweisen.  Freilich  nimmt  er  die  Argu- 
mente zumeist  aus  der  wolfTscheu  Philosophie,  von  Baumgarten  und  Reimarus;  den 
ontologischen  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  dreht  er  so,  dass  er  sagt:  Die  blosse 
Möglichkeit  widerstreitet  dem  Begriff  des  vollkommensten  Wesens:  so  bleibt  denn 
nur  das  Dilemma:  Gott  ist  entweder  unmöglich,  oder  er  existirt  wirklich.  Von  den 
Beweisen  für  die  Unsterblichkeit  sei  nur  erwähnt,  dass  Gott  Wesen,  die  nach  Voll- 
kommenheit strebten  und  die  zugleich  der  Endzweck  der  Schöpfung  seien,  unmöglich 
an  dieser  ihrer  Bestimmung  hindern  könne.  In  den  „Briefen  über  die  Empfin- 
dungen" setzt  er  das  Empfindungsvermögen  als  ein  drittes  den  beiden  andern  an 
die  Seite,  welches  er  daim  in  seinen  „Morgenstunden"  Billigungsvermögen  nauute, 
indem  die  menschliche  Seele  ursprünglich  die  Fähigkeit  haben  sollte,  sich  den 
Objecten  gegenüber  billigend  oder  missbilligend  zu  verhalten.  Es  ist  hiermit  nach 
dem  Vorgange  von  Sulzer  der  Anfang  zu  der  Lehre  von  der  Dreiheit  der  mensch- 
lichen Seelenvermögen  gemacht. 

Der  mit  Mendelssohn  und  Lessing  befreundete  Aufklärer  Chr.  Frdr.  Nicolai 
(1733—1811)  hat  besonders  als  Herausg.  der  Bibl.  der  schön.  Wassenach.  (Lpz. 
1757—58),  der  Briefe,  die  neueste  deutsche  Litt  betreffend  (Berl.  1759  —  65).  der 
Allgem.  deutsch.  Bibl.  (1765—92)  und  der  Neuen  allg.  d.  Bibl.  (1793—1805)  so 
lange  wohlthätig  gewirkt,  als  noch  vor  Allem  die  Reinigung  des  Geistes  von  dem 
Schmutze  des  Aberglaubens  und  die  Befreiung  von  Vorurtheilen  Noth  that,  unzu- 
länglich aber,  seitdem  der  Sieg  über  die  traditionelle  Unvernunft  im  Wesentlichen 
bereits  errungen  war  und  die  positive  Erfüllung  des  Geistes  mit  edlerem  Gehalt 
zur  Hauptaufgabe  ward.  Die  Männer,  welche  an  dieser  letzteren  Aufgabe  arbeiteten, 
haben  gegen  die  Angriffe,  die  er  wider  sie  richtete,  in  einer  Weise  reagirt,  mit 
der  das  historische  Urtheil  über  Nicolai  sich  ebensowenig  identificiren  darf,  wie 
etwa  das  historische  Urtheil  über  die  griechischen  Sophisten  mit  der  sokratisch- 
platonischen  Polemik.  Joh.  Aug.  Eberhard  (1738—1809:  seit  1778  Professor  in 
Halle)  versuchte  den  LeibnizianiRmus  gegen  den  Kantianismus  zu  vertheidigen. 
Er  war  der  Hrsg.  der  Zeitschriften:  Philosoph.  Magazin,  Halle  1788—1792,  und: 
Philos.  Archiv,  1792—95.  Thomas  Abbt  (1738-1766)  schrieb:  vom  Tod  fürs 
Vaterland,  Berl.  1761,  vom  Verdienst,  Berl.  1765,  Auszug  aus  der  allg.  Welthistorie, 
Halle  1766  (eine  Darstellg.  d.  allmäh].  Fortschritts  der  Civilisation);  seine  ver- 
mischten Schriften  sind  Berl.  1768  u  ö.  erschienen.  Seine  Arbeiten  zeichneten 
sich  durch  eine  leichte,  den  Conversationston  nachahmende  Form  aus  und  wurden 
sehr  beifällig  aufgenommen  (vgl  E.  Pentzhorn,  Th.  Abbt,  ein  Beitr.  z.  seiner 
Biographie,  I.-D.,  Berl.  1884,  H.  Schuller,  Th.  Abbt,  in:  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Pädag., 
1887,  2.  Abth.,  S.  65-92).  Ernst  Fiatners  (1744-1818)  Schrift:  Philosophische 
Aphorismen,  2  Bde.,  Leipz.  1776-82,  2.  Aufl.  des  1.  Bdes,  1784,  3.  nmgearb.  Aufl. 
1793 — 1800,  worin  er  mit  der  Darstellung  und  gedrängten  Begründung  der  philo- 
sophischen Doctrinen  historisch-kritische  Rückblicke  auf  die  Lehrsätze  älterer  und 
neuerer  Philosophen  verbindet,  ist  noch  heute  von  Werth.  In  der  3.  Auflage 
nimmt  er  besonders  Rücksicht  auf  Kant  (vgl.  M.  Heinze,  Ernst  Platner  als  Gegner 
Kants,  Univ.  Pr.,  Lpz.  1880).  Christoph  Meiners  (1747-1810)  hat  ausser  Schriften 
zur  Geschichte  der  älteren  Philosophie  (s.  o.  Theil  I,  §  7)  besonders  Untereuchgn. 
üb.  d.  Denk-  u.  Willenskräfte,  Gött.  1806,  verfasst.   Als  populärer  Moralist  ver- 

12» 


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180 


§  20.    Die  deutsche  Aufklärung  und  Popularphilosophie. 


dient  hier  der  Dichter  Chm.  Fürchteg.  Geliert  (1715—1769)  Erwähnung.  Seim- 
sämmtl.  Schriften  sind  Lpz.  1769—70  hrsg.  worden,  seine  moral.  Vorlesngn.  haben 
Ad.  Schlegel  und  Heyer  veröffentl.,  Leipz.  1770.  Die  durch  Friedr.  d.  Gr.  begiiuBtigte 
lockesche  Doctrin  (über  welche  Vorlesungen  zu  halten,  G.  F.  Meier  zu  Halle  durch 
den  König  veranlasst  ward),  wie  auch  die  moralischen,  politischen  und  ästhetischen 
Untersuchungen  der  Engländer,  zum  Theil  auch  der  Franzosen,  haben  die  Denk- 
richtung Garves,  Sulzers  uud  Anderer  wesentlich  bestimmt.  Christian  G arve  (1742 
in  Bresl.  geb.,  1770  nach  Gellerts  Tod  ausserord.  Prof.  d.  Philos.  in  Leipzig,  1772 
nach  Breslau  aus  Gesundheitsrücksichten  znrückgekehrt,  daselbst  1798  gest.)  hat 
Ciceros  Schrift  v.  d.  Pflichten  übersetzt  und  erklärt,  Breslau  1793,  6.  Aufl.  1819, 
ebenso  die  Ethik  des  Aristoteles,  Breslau  1798—1801,  und  dessen  Politik,  Breslau 
1803,  1804,  der  Ethik  eine  kritische  „Abhandlung  über  die  verschiedenen  Principe 
der  Sittenlehre  von  Aristoteles  bis  auf  unsere  Zeit"  mit  besonders  eingehender 
Prüfung  der  kantischen  Lehre  hinzugefügt,  Versuche  üb.  versch.  Gegenstde.  aus  d. 
Moral,  Litt.  u.  dem  gesellsch.  Leben,  Berl.  1792—1802,  2.  Aufl.  1821,  und  and. 
Schriften  und  Abhandlungen  verfasst,  die  von  umfassender  uud  feiner  Beobachtung 
des  menschlichen  Lebens  zeugen.  S.  J.  C.  Manso,  Chr.  G  in  s.  schriftstellerisch. 
Char.,  Bresl.  1799;  G.  G.  Schelle,  Briefe  üb  G.8  Sehr.  u.  Philos.,  1800.  üeber  die 
Beziehung.  Chr.  G.s  zu  Kant  handelt  Alb.  Stern,  I.-D.,  Lpz.  s.  a. 

Friedrich  der  G  rosse  nannte  sich  selbst  den  Philosophen  von  Sanssouci. 
Die  Philosophie  lehrt  nach  ihm  uns  unsere  Pflicht  thun,  unser  Blut  und  unsere 
Ruhe  für  den  Dienst  unseres  Vaterlandes  einsetzen,  ihm  unser  ganzes  Sein  opfern. 
Auf  theoretischem  Gebiet  war  Friedrich  zuerst  der  wölfischen  Philosophie  ergeben, 
wandte  sich  aber  später  mehr  den  Ansichten  Lockes  und  Voltaires  zu,  freilich  mit 
einer  skeptischen  Grundstimmung,  indem  ihm  Bayle  als  der  strengste  logische 
Denker  galt.  An  das  Dasein  Gottes  glaubte  er,  ohne  die  Beweise  dafür  als  bin- 
dend anzusehen,  den  Glauben  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele  hielt  er  nicht  fest. 
Auf  dem  Gebiete  der  Ethik  schwankte  er  zwischen  Epikureismus  und  Stoa,  jedoch 
gewann  der  Pflichtbegriff  bei  ihm  die  Herrschaft,  so  dass  ihm  die  Erfüllung  der 
Pflicht  die  wahre  Philosophie  wurde,  und  es  musstc  so  die  laxere  Lehre  Epikurs 
vor  der  strengeren  der  Stoa  weichen.  Den  Kaiser  Marc  Aurel  schätzt  er  über 
Alles;  dieser  habe,  meint  er,  die  Tugend  unter  den  Menschen  zur  höchsten  Vollen- 
dung gebracht.  Nach  klar  erkannten  Grundsätzen  consequent  zu  handeln,  ebenso 
nichts  ohne  zureichenden  Grund  anzunehmen,  darauf  kommt  es  an.  In  seinem  Essai 
sur  l'amour  propre  envisage  comme  principe  de  morale,  gelesen  in  der  Akademie 
1770,  sucht  er  darzuthun,  dass  allein  durch  die  Tugend  die  Selbstliebe  wahrhaft 
befriedigt  werde,  und  es  nur  nöthig  sei,  den  Menschen  in  der  Tugend  das  wahre 
Gut  erkennen  zu  lassen.  Vgl.  üb.  ihn  u.  A.:  Paul  Hecker,  d.  relig.  Entwickig. 
F.s  d.  Gr.,  Augsbg.  1864;  H.  Merkens,  Fr.  d.  Gr.  Philos.,  Relig.  u.  Moral,  Würz- 
burg 1876;  G.  Rigollot,  Frederic  II.  philosophe,  Paris  1876;  Eug.  Pelletan,  un 
roi  philosophe,  le  gr.  Fr..  Paris  1878;  Ed.  Zeller,  Frdr.  d.  Gr.  als  Philos., 
Berl.  1886. 

Als  Psychologen  sind  Joh.  Christ.  Lossius,  der  in  seiner  Schrift:  Physische 
Ursach.  des  Wahren,  Gotha  1775,  die  Beziehung  der  psychischen  Processe  zu  den 
Bewegungen  der  Hirnfibern  zu  erforschen  strebte,  und  sein  Gegner  Joh.  Nie. 
Tetens  (1736 — 1805),  der  Verfasser  der  Philos.  Versuche  üb.  d.  menschl.  Natur 
u.  ihre  Entwickig.,  Lpz.  1776—77,  von  Bedeutung.  Der  letztere  hat  das  Gefühl  (das 
bei  Aristoteles  als  Uebergang  vom  Wahrnehmen  zum  Begehren  erscheint)  dem 
Verstand  und  Willen  als  ein  Grundvermögen  coordinirt,  dem  „ Gefühl"  jedoch  als 
der  Receptivität  ausser  Lust  und  Unlust  auch  die  sinnlichen  Empfindungen  und 
das  Afficirtsein  durch  sieh  selbst  zugerechnet,  vgl.  Fr.  Harms,  üb.  d.  Psychologie 


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§  20.   Die  deutsche  Aufklärung  und  Popularphilosophie. 


181 


v.  J.  N.  Tetens,  Berl.  1887.   In  seiner  Erkenntnisslehre  erinnert  Tetens  sehr  au  Kant, 
so  dass  ein  Kinfluss  von  dessen  .Dissertation"  auf  ihn  wahrscheinlich  ist.  Durch  die 
Empfindung  erhalten  wir  den  Inhalt,  durch  den  spontanen  Verstand  die  Form  der 
Erkenntniss.    Die  Wahrnehmung  giebt  uns  nur  Phänomene,  das  wahre  Wesen  der 
Dinge  und  der  Seele  selbst  bleibt  unbekannt,  s.  W.  Schlegdendal,  T.s'  Erkenntnissth., 
TL  I,  L-D.,  Halle  1885.  Friedr.  Carl  Casimir  von  Creuz  (1724—1770)  spricht  In 
seinem  Versuch  üb.  d.  Seele,  Frankf.  u.  Lpz.  1753.  derselben  die  punctuelle  Einfachheit 
ab,  ohne  sie  darum  jedoch  für  zusammengesetzt  und  theilbar  zu  erklären,  und  nimmt 
in  seiner  auf  Erfahrung  sich  basirenden  Doctrin  eine  Mittelstellung  zwischen  Locke 
und  Leibniz  ein.  Einer  eklektischen  Richtung  huldigte  Joh.  Geo.  Heinr.  Feder  1 1740 
bis  1821),  dessen  Lehrbucher  (Grundriss  d.  philos.  Wiss..  Coburg  1767,  Institutioues 
log.  et  metaph.,  Frcf.  1777  etc.)  zu  ihrer  Zeit  sehr  verbreitet  waren;  seine  Autobio- 
graphie hat  sein  Sohn,  Lpz.  1825,  herausgegeben.  Dietr.  Tiedemaun  (1748—1803). 
der  lockescho  Elemente  mit  der  leibnizischen  Doctrin  verband,  ist  nicht  nur  als  Histo- 
riker der  Philosophie,  sondern  auch  durch  seine  Untersuchungen  zur  Psychologie 
und  Erkenntnisslehre  (Untersuchgn.  üb.  den  Mensch..  Lpz.  1777—98;  Theätet  od. 
üb.  d.  menschl.  Wiss.,  o.  Beitr.  z.  Vernunftkritik,  Frankf.  a.  M.,  1794;  idealist. 
Briefe,  Marburg  1798;  Handb.  d.  Psychol.,  hrsg.  von  Wachler,  Lpz.  1804)  von 
Bedeutung.  Hauptsächlich  durch  seine  Allgem.  Theorie  d.  schön.  Künste,  Lpz.  1771 
bis  74,  auch  1792-94  (uebst  Zusatz,  v.  Blankenburg.  1796—98,  und  Nuchtr.  vou 
Dyk  u.  Schütz,  Lpz.  1792—1808),  hat  Job.  Geo.  Sulzer  (1720-1779)  sich  verdient 
gemacht.    In  Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  aus  den  .lahren  1751  u.  1752. 
die  später  in  Sulzers  „Vermischten  philos.  Schriften",  Lpz.  1773—85  wieder  ab- 
gedruckt wurden,  entwickelt  er,  dass  die  dunkeln  Vorstellungen  der  Seele  beson- 
ders auf  ein  Empfinden  ihres  eigenen  Zustandes  hinauslaufen,  und  sieht  in  diesen 
Empfindungen  das  zwischen  klaren  Vorstellungen  und  Begehrungen  Vermittelnde 
(s.  ob.  Mendelssohn).   Gotthilf  Sam.  Steinbart  (1738—1809)  schrieb  eine  Glück- 
seligkeitslehre d.  Chrutenth.,  Züllichau  1778,  4.  Aufl.  1794,  und  and.  populäre 
Schriften.   Joh.  Jac.  Engel  (1741—1802)  hat  seine  philosophischen  Ansichten  in 
einer  populären  Form,  besondere  in  der  Sammlung  von  Aufsätzen:  der  Philosoph 
f.  d.  Welt,  Lpz.  1775,  77,  1800,  2.  Aufl.  1801-2,  dargelegt.    Karl  Phil.  Moritz 
(1757—93)  gab  ein  Magaz.  z.  Erfahrungsseelenlehre,  1785—93,  heraus,  lieferte  eine 
Selbstcharakteristik  in  der  Schrift:  Anton  Reiser,  Berlin  1785—1790,  verfasste  eine 
Abhdlg.  üb.  d.  bildende  Nachahmg.  des  Schönen,  Braunschw.  1788,  u.  and.  psy- 
cholog.  und  ästhet.  Schriften.    Karl  Theod.  Ant.  Maria  von  Dalberg  (1744—1817) 
hat  Betrachtungen  üb.  d.  Universum,  Erfurt  1776,  7.  Aufl.  1821,  Gedank.  v.  d. 
Bestimmg.  d.  moral.  Werths,  ebend  1787,  und  and.  philos.  Schriften  verfaast.  Unter 
Lockes  und  Rousseaus  Einfluss  standen  die  Pädagogen  Joh.  Bernh.  Basedow 
(1723—90),  Joachim  Heinr.  Campe  (1746—1818)  und  Andere;  auch  der  Aufklärer 
Karl  Friedr.  Bahrdt  (1747—1792;  über  ihn  handelt  J.  Leyser,  2.  Aufl.,  Neu- 
stadt a.  d.  Hardt  1870)  hat  eine  Zeit  lang  ein  Philanthropin  geleitet.   Die  philan- 
thropische Tendenz  einer  naturgemässen  Gestaltung  der  Erziehung  und  des  Unter- 
richts wurde  durch  den  Reformator  des  Volksschulwesens  Joh  Heinr.  Pestalozzi 
(1745—1827)  auf  Grund  der  Ueberzeugung:  „der  Organismus  der  Menschennatur  ist 
in  seinem  Wesen  den  nämlichen  Gesetzen  unterworfen,  nach  welchen  die  äussere 
Natur  allgemein  ihre  organischen  Erzeugnisse  entfaltet*  in  vertiefter  und  veredelter 
Form  theoretisch  und  praktisch  durchgeführt.    Pestalozzi  basirt  alle  Erkenntniss 
auf  Anschauung  und  will  in  möglichst  lückenlosem  Fortschritt  unter  durchgängiger 
Anregung  der  Selbsttätigkeit  immer  Höheres  und  Edleres  aus  dem  schon  Begrün- 
deten hergeleitet  sehen.    (P.8  Werke  sind  Tüb.  u.  Stuttg.  1819—26  erech.  und 
neuerdings  h.  v.  L.  W.  Seyffarth,  Brandenburg  1869  ff.).    Mehr  der  Litteratur- 


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§  20.   Die  deutsche  Aufklärung  und  Popularphilosophie. 


gescbichte  als  der  Philosophie  gehört  Eschenburgs  (1743—1820)  Entwurf  e. 
Theorie  u.  Litt  der  schön.  Wissenschaften,  Berl.  1783,  5.  Aufl.  1836,  und  sein 
Hundb.  d.  class.  Litt,  8.  Aufl.,  Berl.  1837,  an.  Der  Physiker  Geo.  Christoph 
Lichtenberg  (1742-1799;  vermischte  Schriften,  Gott  1800-1805,  auch  1844-53) 
hat  sich  gegen  das  , infame  Zwei"  in  der  Welt  erklärt;  .Seele"  und  «träge  Materie* 
Beien  blosse  Abstractionen,  wir  kennen  von  der  Materie  nichts  als  die  Kräfte,  mit 
denen  sie  eins  sei. 

Lessings  (22.  Jan.  1729  bis  15.  Febr.  1781)  fruchtreiche  Gedanken  zur 
Aesthetik,  Religionsphilosophie  und  Philosophie  der  Geschichte  (besonders  in  der 
Hamburger  Dramaturgie  und  in  der  Schrift  über  die  Erziehung  des  Menschen- 
geschlechts) enthalten  Keime,  deren  Entwickelung  zu  den  wesentlichsten  Verdiensten 
der  deutschen  Philosophie  in  der  folgenden  Periode  gehört.  Die  Frage  nach  dem 
Vorzug  der  Forschnngsthatigkeit  oder  des  durch  göttliche  Gabe  gesicherten  Besitzes 
der  Wahrheit  hat  Lessing  im  entgegengesetzten  Sinne  wie  Augustin  (siehe  Grdr.  II, 
§  16,  7.  Aufl.,  S.  106)  zu  Gunsten  der  Forschung  entschieden.  L.s  philosophische 
Anschauungen  sind  zumeist  aus  der  leibnizischen  Doctrin  erwachsen.  Zn  dem 
«Spinozismus*  hat  sich  L.  1780  gegen  Jacobi  wohl  nur  hinsichtlich  bestimmter 
theologischer  Sätze  und  schwerlich  hinsichtlich  der  gesamraten  Doctrin  von  Gott, 
Welt  und  Mensch  bekannt.  Eine  Wahl  zwischen  möglichen  Welten  im  leibnizischen 
Sinne  nimmt  L.  nicht  an,  sondern  erklärt  Gottes  Vorstellen,  Wollen  und  Schaffen 
für  identisch.  Nach  Jacobis  Mittheilung  war  ihm  Ausdehnung,  Bewegung,  Gedanke 
in  einer  höheren  Kraft  gegründet,  die  noch  lange  nicht  damit  erschöpft  ist  und  für 
die  es  eine  Art  des  Genusses  giebt,  die  nicht  allein  alle  Begriffe  übersteigt,  sondern 
völlig  ausser  dem  Begriffe  liegt.  Auf  diese  .höhere  Kraft"  scheint  das  eV,  auf 
das  in  ihr  Gegründete  das  nur  in  Ls  ,er  xai  näv*  gedeutet  werden  zu  müssen; 
L.  behauptet  nicht  Identität,  wohl  aber  die  nothwendige  Zusammengehörigkeit 
Gottes  und  der  Welt  Auch  in  der  speculativen  Umdeutung  der  Dreieinigkeitslehre 
konnte  sich  L.  zum  Theil  an  Spinoza,  wie  anderntheils  au  Augustin  und  Leibniz 
anschliessen.  L.  betrachtet  die  biblischen  Schriften  als  die  Elementarbücher  in  der 
Erziehung  des  Menschengeschlechts  oder  doch  eines  Theiles  desselben,  den  Gott  in 
Einen  Erziehungsplan  habe  fassen  wollen.  I*  nimmt  drei  Stufen  an,  welche  sich 
von  einander  wesentlich  durch  die  Motive  unterscheiden,  auf  denen  die  Handlungen 
beruhen.  Die  erste  ist  die  des  Kindes,  welches  den  unmittelbaren  Genuss  sucht, 
die  andere  die  des  Knaben  und  Jünglings,  welcher  durch  die  Vorstellung  zukünf- 
tiger Güter,  der  Ehre  und  des  Wohlstandes  geleitet  wird,  die  dritte  Stufe  ist  die 
des  Mannes,  der  auch  dann,  wenn  diese  Ansichten  der  Ehre  und  des  Wohlstandes 
wegfallen,  seine  Pflicht  zu  thun  vermögend  ist  (Mit  dieser  letzteren  Aensserung 
L.s  verwandt  ist  einerseits  der  platonische  Satz,  dass  die  Gerechtigkeit  und  jegliche 
Tugend  nicht  um  eines  Lohnes  willen,  sondern  an  sich  erstrebenswerth  sei,  anderer- 
seits Kants  kategorischer  Imperativ,  wogegen  unter  den  frühesten  christlichen 
Kirchenlehrern  mehrere,  z.  B.  Lactantius,  das  Gegentheil  behaupten.)  Diese  Stufen 
sind  ebenso  von  dem  Menschengeschlecht  in  der  Folge  der  Generationen  wie  von 
dem  einzelnen  Menschen  zu  durchlaufen  (welchen  1. sehen  Satz  Mendelssohn  bestritt). 
Für  die  erste  Stufe  ist  in  dem  göttlichen  Erziehungsplane  des  Menschengeschlechts 
das  alte  Testament,  für  die  zweite  das  neue,  welches  zumeist  auf  jenseitigen  Lohn 
hinweist,  bestimmt;  gewiss  aber  wird  kommen  die  Zeit  eines  neuen  ewigen  Evan- 
geliums, die  uns  selbst  in  den  Elementarbüchern  des  Neuen  Bundes  versprochen 
wird.  In  den  Elementarbüchern  werden  Wahrheiten  B vorgespiegelt"  (wie  in  Spiegel- 
bildern uns  vorgestellt),  die  wir  als  Offenbarungen  so  lange  anstaunen  sollen,  bis 
die  Vernunft  sie  aus  ihren  andern  ausgemachten  Wahrheiten  herleiten  und  mit 
ihnen  verbinden  lerne.  '  Die  Ausbildung  geoffenbarter  Wahrheiten  in  Vernunftwahr- 


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§  21.   Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert 


183 


heiten  ist  schlechterdings  erforderlich,  wenn  dem  menschlichen  Geschlechte  damit 
geholfen  sein  soll.  Die  Lehre  von  der  Dreieinigkeit  deutet  L.  darauf,  »dass  Gott 
in  dem  Verstände,  in  welchem  endliche  Dinge  eins  sind,  unmöglich  eins  sein  könne*. 
Gott  muss  eine  vollständige  Vorstellung  von  sich  haben,  d.  h.  eine  Vorstellung,  in 
der  sich  Alles  befindet,  was  in  ihm  selbst  ist,  also  auch  Gottes  nothwendige  Wirk- 
lichkeit, die  also  ein  Bild  ist,  welches  die  gleiche  Wirklichkeit  hat,  wie  Gott 
selbst,  welches  also  eine  Verdoppelung  des  göttlichen  Selbst  ist,  die  als  drittes 
Moment  den  Zusaromenschluss  zur  Einheit  fordert  (wogegen  Kant  derartigen 
Constructionen  durch  seinen  Kriticismus  den  Boden  entzieht).  Die  Lehre  von  der 
Erbsünde  versteht  L  in  dem  Sinne,  ,dass  der  Mensch  auf  der  eYsten  und  niedrig- 
sten Stufe  seiner  Menschheit  schlechterdings  so  Herr  seiner  Handlungen  nicht  sei, 
dass  er  moralischen  Gesetzen  folgen  könne".  Der  Lehre  von  der  Genugthuung 
des  Sohnes  legt  er  den  Sinn  unter,  »dass  Gott  ungeachtet  jener  ursprünglichen 
Unvermögenheit  des  Menschen  ihm  dennoch  moralische  Gesetze  lieber  geben  und 
ihm  alle  Uebertretungen  in  Rücksicht  auf  seinen  Sohn,  d.  h.  in  Rücksicht  auf  den 
selbständigen  Umfang  aller  seiner  Vollkommenheiten,  gegen  den  und  in  dem  jede 
Unvollkommenheit  des  Einzelnen  verschwindet,  lieber  habe  verzeihen  wollen,  als 
dass  er  sie  ihm  nicht  geben  und  ihn  von  aller  moralischen  Glückseligkeit  habe 
ausschliessen  wollen,  die  sich  ohne  moralische  Gesetze  nicht  denken  lässt*.  (Kants 
Deutung  der  beiden  letzterwähnten  Dogmen  in  seiner  »Religion  innerhulb  der 
Grenzen  der  blossen  Vernunft"  steht  der  lessingschen  sehr  nahe).  Der  historischen 
Frage,  wer  die  Person  Christi  gewesen  sei,  legt  L.  nur  eine  sehr  untergeordnete 
Bedeutung  bei  (worin  Kant  und  Schelling,  dieser  wenigstens  in  seiner  früheren 
Zeit,  mit  ihm  übereinkommen,  wogegen  Schleiermacher  zum  Theil  schon  in  den 
Reden  über  die  Religion,  und  viel  mehr  noch  in  seiner  späteren  Zeit  gerade  an 
die  Person  Christi  Bein  religiöses  Leben  knüpft).  Den  Gedanken,  dasB  eben  die 
Bahn,  auf  welcher  das  Geschlecht  zu  seiner  Vollkommenheit  gelange,  auch  jeder 
einzelne  Mensch  durchlaufen  müsse,  stellt  L.  nicht  in  der  Einschränkung  auf,  der 
einzelne  Mensch  müsse  bis  zu  der  Stufe  hin,  die  er  überhaupt  erreicht,  die  näm- 
lichen Stadien  durchlaufen,  wie  bis  zu  der  gleichen  Stufe  hin  das  Geschlecht, 
sondern  er  schreibt  jenem  Gedanken  eine  uneingeschränkte  Gültigkeit  zu  und 
vindicirt  demnach  jedem  einzelnen  Menschen  das  Durchlaufen  der  Stufen,  die  er 
während  eines  Lebens  nicht  erreicht,  in  immer  wieder  erneutem  Dasein  vermöge 
eines  öfteren  Vorhandenseins  auf  dieser  Welt  (welche  letztere  Annahme,  da  sie 
die  Möglichkeit  eines  mindestens  zeitweiligen  Vergessens  der  früheren  Zustände 
involvirt  und  hierdurch  wenigstens  die  bewusste  Identität  der  Person  in  den 
Hintergrund  treten  lässt,  der  Annahme  eines  Fortlebens  des  Geistes  in  der  Gattung 
vermittelst  des  geschichtlichen  Zusammenhangs,  Christi  in  den  Christen,  der  Geister 
der  Vorzeit  in  uns,  zu  welcher  später,  als  der  im  18.  Jahrhundert  herrschende 
Individualismus  mehr  und  mehr  universalistiscb-pantheistischen  Ansichten  zu  weichen 
begann,  Schleiermacher  mindestens  zeitweilig  entschieden  hinneigte,  bereits  nahe 
kommt). 

§21.  Die  französische  Philosophie  im  achtzehnten  Jahr- 
hundert ist  vorwiegend  Opposition  gegen  die  geltenden  Dogmen 
und  bestehenden  Zustände  in  Kirche  und  Staat  und  Begründung 
einer  neuen  theoretischen  und  praktischen  Weltansicht  auf  natura- 
listischen Principien.  Nachdem  diese  Richtung  hauptsächlich  durch 
den  Skepticismus  Bayles  angebahnt  worden  war,  fand  Voltaire, 
der  in  dem  Positiven  seiner  Weltanschauung  wesentlich  auf  Newtons 


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§  21.   Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert 


Naturlehre  und  Lockes  Erkenntnisslehre  fusst,  besonders  mit  seiner 
Polemik  gegen  den  herrschenden  kirchlichen  Glauben  Eingang  bei 
den  Gebildeten  seiner  Nation  und  grossentheils  auch  ausserhalb 
Frankreichs.  Schon  vor  ihm  hat  Maupertuis  die  newtonsche  Kos- 
mologie gegen  die  cartesianische  siegreich  vertreten,  Montesquieu 
aber  für  die  Ideen  des  Liberalismus  die  Ueberzeugung  der  Gebildeten 
gewonnen.  Rousseau,  der  gegenüber  einer  entarteten  Cultur  auf 
die  Natur  zurückwies,  predigte  unter  Abweisung  des  Positiven, 
historisch  Gegebenen  eine  auf  die  Ideen:  Gott,  Tugend  und  Unsterb- 
lichkeit begründete  Naturreligion,  forderte  eine  naturgemässe  Er- 
ziehung und  eine  demokratische  Staatsform,  welche  die  natürliche 
Freiheit  eines  Jeden  nur  insoweit  einschränke,  als  derselbe  vertrags- 
mässig  diese  Einschränkung  ohne  Preisgebung  der  unveräusserlichen 
Menschenrechte  zugestehen  könne.  Um  die  Aesthetik  hat  Batteux, 
der  in  der  Nachahmung  der  schönen  Natur  das  Wesen  der  Kunst 
fand,  sich  verdient  gemacht. 

Den  Sensualismus  hat  im  Anschluss  an  Locke,  aber  über  diesen 
hinausgehend,  Condillac  (1715—1780)  ausgebildet,  der  alle  psychischen 
Functionen  als  umgebildete  Sinneswahrnehmungen  auffasst  und  dem- 
gemäss  auch  die  innere  Wahrnehmung  aus  der  äussern  oder  sinn- 
lichen Wahrnehmung  entspringen  Iässt.  Auf  das  Princip  des  eigenen 
Interesses  hat  mittelst  des  Satzes,  dass  dieses  nur  in  Uebereinstimmung 
mit  dem  Gemeinwohl  seine  ungetrübte  und  volle  Befriedigung  zu 
finden  vermöge,  Ilelvetius  die  Moral  zu  gründen  versucht.  Diderot, 
der  im  Verein  mit  d'Alembert  die  Herausgabe  der  das  Ganze  der 
Wissenschaften  umfassenden  Encyclopädie  besorgte,  ging  allmählich 
vom  Deismus  zum  Pantheismus  fort.  Durch  die  Annahme  einer  natür- 
lichen Gradation  der  Wesen,  eines  stufenweisen  Fortgangs  der  Natur- 
gebilde bis  zum  Menschen  hinauf,  ist  Robinet  ein  Vorläufer  Schellings 
geworden.  Unbeschadet  des  Glaubens  au  Gott  und  Unsterblichkeit 
setzt  Bonnet  die  Seele  zu  den  materiellen  Bedingungen  ihres  Daseins 
in  die  engste  Beziehung.  Den  reinen  Materialismus  hat  der  Arzt 
Lamettrie  hauptsächlich  als  psychologische  Doctrin,  der  Baron 
von  Holbach  aber  in  dem  Systeme  de  la  nature  (1770)  als  eine 
allumfassende,  der  Theologie  entgegengesetzte  Weltansicht  dargestellt. 

Ueber  die  Philosophie  der  Franzosen  im  achtzehnten  Jahrhundert 
ist  das  Hauptwerk:  Ph.  Damiron.  M6moires  pour  servir  a  l'histoire  de  la  Philo- 
sophie au  X\rIIIe  suecle,  tom.  I — II.  Paris  1858,  tome  III.  avec  unc  introduction  de 
M.  C.  Gourand,  Paris  1864.  Ferner:  Brunei,  le*  philosophes  de  l'academic  francaise 
an  XVIlle  siede,  Par.  1884.  Vgl.  Lerminier,  de  l'influence  de  la  philos.  du  XVIIIe 
siede  sur  la  legislation  et  la  snciabilitc  du  XlXe.  Par.  1833:  Lanfrey,  Teglise  et  les 
philosophes  au  XVIIIe  siecle.  3.  ed.  Par.  1857;  ferner  die  betreffenden  Abschnitte  in 
den  umfassenderen  Werken  über  die  Geschichte  der  Philosophie  und  in  historischen 
und  litteraturhistorischen  Schriften,  insbesondere  bei  Nisard.  Hist.  de  la  litt,  fr.,  Paris 
1848—49,  Ch.  Bartbolmcss,  Hist.  philo»,  de  l'aead.  de  Prusse  depuis  I^ibn..  Paris 


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§  21.    Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert. 


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1850—51,  und  Hist  crit.  des  doctrines  religieuses  de  la  philos.  moderne,  Strassb.  1855, 
A.  Sayous,  le  dix-huitieme  siecle  ä  l'etranger,  hist.  de  la  litt,  frane.  dans  les  divers  pays 
de  l'Kurupe  depuis  la  mort  de  Louis  XIV  jusqu 'ä  In  revolut.  franc.,  2  tom.,  Par.  1861, 
A.  Frank,  la  philo»,  mystique  en  France  au  XVIIIe  siecle,  Par.  1868,  ferner  in 
Schlossers  Gesch.  d.  18.  Jahrh..  im  IL  Theil  (der  auf  die  franz.  Litt,  geht)  von  Herrn. 
Hettners  Litteraturgesch.  d.  18.  Jahrh..  und  bei  F.  Alb.  Lange,  Gesch.  de«  Materialism.. 
Iserlohn  1866  u.  ö. 

Voltaires  Werke  sind  bereits  1768  zu  Genf,  dann  zu  Kehl  und  Basel  177:;,  zu 
Kehl  1785—89  (nebst  e.  Biogr.  Voltaires  von  Condorcet),  zu  Paris  182;*— ?A  u.  ö.  er- 
schienen. Uebcr  V.  handeln  ausser  Condorcet  (dess.  Ix-bensbeschr.  auch  sep.  Par.  1820 
ersch.  ist)  E.  Bersot,  la  philos.  de  V.,  Paris  1848.  L.  J.  Bungener,  V.  et  ton  temps, 
2  Bde.,  Par.  1850,  2.  ed.  1851.  J.  B.  Meyer,  V.  u.  Rousseau  in  ihrer  socialen  Bedeut., 
Berl.  1856.  J.  Janin,  le  roi  Voltaire.  3.  ed.  Par.  1861.  A.  Pierson,  V.  et  bcs  maitrcs, 
episode  de  l'hist.  des  hunianites  en  France,  Par.  1866.  Emil  du  Bois-Revraond,  V.  in 
s.  Bez.  z.  Naturwissensch.,  Berl.  1868.  K.  Reuschle,  Parallelen  aus  dem  18.  u.  10.  Jahrh. 
(Kant  u.  Voltaire,  Lessing  u.  D.  F.  Strauss).  in  d.  dtsch.  Vierteljahrsschrift,  186*.  D. 
F.  Strauss,  Voltaire,  sechs  Vortr.,  Lpz.  1870,  3.  A.  1872.  Courtat,  defense  de  V. 
contre  ses  amis  et  contre  ses  enncmis,  Par.  1872.  John  Morley,  Volt.,  Lond.  1872,  2.  ed. 
1873.  Gust.  Desnoiresterres,  V.  et  la  societe  au  XVIIIe  siecle,  V.  ä  Cirev,  2.  ed.. 
Paris  1872,  V.  a  la  cour,  2.  ed.  1872,  V.  et  Frederic,  2.  ed.  1872,  V.  aux  Deines, 
1873.  Em.  Saigcy,  la  physique  de  V.,  Par.  1873.  Henri  Beaune,  V.  au  College,  sa 
famille,  ses  etudes,  ses  premiers  amis;  lettre«  et  documents  incdits,  Par.  1873.  K.  Rosen- 
kranz in  dem  v.  Rud.  Gottschall  hrsg.  Neuen  Plutarch,  I,  Lpz.  1874,  S.  285—373. 
Rieh.  Mayr,  Voltaire-Studien,  in:  Sitzungsber.  d.  Ak.  d.  W.,  hist.  phil.  Cl.,  Bd.  95, 
S.  5 — 122,  Wien  1880.  Joh.  Ge.  Hagmann,  üb.  V.s  r Essai  sur  les  Moeursfc,  leipz. 
I.-D.,  1883.  G.  Maugras,  Querelles  «le  phitosophes:  Voltaire  et  J.  J.  Rousseau, 
Par.  1886. 

Ueber  Montesquieu  handelt  Bersot,  Par.  1852,  ferner  E.  Buss,  Montesquieu  u. 
Cartesius,  in  den  philos.  Monatsheften  IV.,  1869,  S.  1—38.  Ferd.  Bechard,  la  monarchie 
de  Montesquieu  et  la  republ.  de  Jean  Jacques,  Par.  1872. 

Rousseau»  Hauptschriften  sind:  Discours  sur  les  sciences  et  les  arts  (veranlasst 
durch  die  1749  von  der  Akad.  zu  Dijon  gestellte  Preisfrage:  si  lo  rctablissetncnt  des 
sciences  et  des  arts  a  contribue  ä  epurer  les  moenrs).  Discours  sur  l'orig.  et  les  fonde- 
ments  de  linegalite  parmi  les  homines,  1753  u.  ö.  Du  contrat  social  ou  priueipes  du 
droit  piditique,  Anist.  1762.  Emile  ou  sur  l'education,  1762.  Die  Oeuvres  sind  Par.  1764 
u.  ö.  erschienen,  insbesondere  auch,  herausg.  von  Musset-Pathay,  Par.  1818—20,  in 
22  Bänden,  hrsg.  v.  A.  de  Latour,  Paris  1868;  früher  Unedirtes  hat  Streckeisen-Moulton, 
Par.  1861  u.  65  veröffentlicht.  Biographien  zur  Ergänzung  der  coquettirenden  Con- 
fessions  haben  Aug.  Hennings,  Berlin  1797,  Musset-Pathay  Par.  1821,  Moria,  Par.  1851, 
E.  Guion,  R.  et  le  XVIIIe  siecle,  Strassb.  1860,  F.  Brock'erhoff,  R.,  sein  Leben  u.  seine 
Werke,  Lcipz.  1863 — 74  geliefert.  Vgl.  Rousscausche  Studien,  votl  Emil  Fenerlein,  in 
der  Zeitschr.  „der  Gedanke",  1861  ff.  A.  de  Lamartine,  Rousseau,  son  faux  contrat 
social,  et  le  vrai  contrat  social,  Poissy  1866.  K.  Sehneider,  R.  und  Pestalozzi,  der  Idea- 
lismus auf  deutschem  und  französischem  Boden,  2  Vorträge,  Bromberg  1866,  2.  Aufl., 
1873.  Alb.  Christensen,  Studien  über  J.  J.  R..  Pr.,  Flensburg  1869.  Ferd.  Werry. 
J.  J.  R.,  s.  Einfl.  auf  die  höh.  Sch.  Deutschlands,  Realsch.-Pr..  Mülh.  n.  d.  Ruhr  1869. 
Theod.  Vogt,  R.s  Leben,  aus  den  Sitzungsber.  d.  kais.  Akad.,  Wien  1870.  L.  Morcau, 
J.  J.  R.  et  le  siecle  philosophique,  Par.  1870.  John  Morley,  Rousseau,  2  vol.,  London 
1873.  Ch.  Borgeaud,  J.  J.  R.s  Religionsphilosophie,  Lpz..  1883.  H.  G.  Graham, 
Rousseau,  Lond.  1883. 

Lamettries  Oeuvres  philosophiques  sind  erschienen  I/»ndon  (Berl.)  1751,  2  vol.  4. 
Histoire  naturelle  de  Tarne,  a  la  Haye  1745;  Thomme  machine,  Leyden  1748  u.  öfter, 
in«  Deutsche  übers,  v.  Ad.  Ritter,  in  d.  Philos.  Biblioth.,  Lpz.  1875;  l'homme  plant.  . 
Potsdam  1748:  l'art  de  jouir  ou  l'ecole  de  la  volupte,  Potsd.  1751;  Venus  metaphysique 
ou  essai  sur  l'origine  de  l'ame  humaine,  ib.  1751. 

Ueber  Lamettrie  handelt  Neree  Quepat,  la  phil.  materialiste  au  XVIIIe  siecle. 
Essay  sur  La  Mettrie,  sa  vie  et  ses  oeuvres,  Par.  1873.  Du  Bois-Reymond,  L.  M.,  Rede 
in  d.  öffentl.  Sitzung  der  Akad.  d.  Wissensch.,  Berl.  1875,  wieder  abgedr.  in:  Reden, 
Bd.  1.  Den  Versuch,  Lamettrie  gerechter,  als  es  gewöhnlich  geschieht,  zu  würdigen, 
macht  Lange  in  seiner  Gesch.  des  Materialismus  und  giebt  zugleich  die  beste  Dar- 
stellung von  Lamettries  Doetrin. 

Oeuvres  completes  de  Cond  iMac,  Paris  1798,  23  vol.,  spätere  Editionen  in 
31  Bdn.  1803,  in  15  Bdn.  1822.  Essai  sur  l'origine  de*  connaissances  humaines,  Auist. 


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§  21.   Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert. 


1746;  Traite  des  systemes  ib.  1749;  Rei-hercb.es  sur  l'origine  de»  idees  que  nou»  avons 
de  la  beaute,  ib.  1749;  Traite  des  sensations,  Paris  et  Lundres  1754,  übers,  ins 
Deutsche  u.  mit  Erläuterungen  versehen  von  Eduard  Johnson,  in  d.  Philo«.  Biblioth. 
Berl.  1870;  Traite  des  aniniaux,  Anist.  1755;  Cours  d'etudes  pour  l'instruction  du  prince 
de  Parmc,  13  voll.,  Panne  1769—73  (darin  u.  a.:  Art  de  penser,  Histoire  generale  des 
hommes  et  des  enipires);  Logique,  Par.  1781. 

Ueber  Condillac  handeln  u.  A.:  F.  Rethore,  C.  ou  l'empirisme  et  le  rational isme, 
Par.  1864.  L.  Robert,  les  theories  logiques  de  Condillac,  Paris  1809.  F.  Picavet, 
Traite  des  sensations  de  C.  Premiere  partie,  publ.  d'apres  l'edition  de  1799,  augmente 
de  l'extrait  raisonne  des  variantes  de  l'edition  de  1754,  de  notes  historiques  et  expli- 
cations,  d'une  introduetion  de  l'eclaircissemcnt,  Par.  1885.  Konr.  Burger,  Ein  Beitrag 
zur  Beurtheil.  C.s,  Pr.  von  Eisenberg,  Altenb.  1885.  —  Ueber  Bonnet  handelt  Albert 
Ijemoine,  Charles  B.  de  Geneve,  philosophe  et  naturaliste,  Paris  1850,  Caramon,  duc 
de,  Ch.  Bon.,  philosophe  et  natur.,  sa  vie  et  ses  oeuvres.  Par.  1859. 

Ueber  d'Alembert  handeln  J.  Bertrand  in  der  Revue  des  deux  mondes  1865, 
Bd.  59,  S.  984-1006,  Lord  Brougham,  lives  of  philosophers  of  (he  tiuie  of  George  III. 
(Works,  Vol.  I,  S.  383—467).  —  Diderot»  philos.  Werke  sind  in  6  Bd.,  Amst.  1772, 
die  sämmtl.  Werke  besond.,  Paris  1798  (durch  Naigeon)  und  Par.  1821  ersch.,  wozu 
die  Correspondance  philos.  et  crilique  de  Grimm  et  Diderot,  Par.  1829,  und  die  unten 
erwähnten  Memoires  Ergänzungen  liefern.  Oeuvres  completes,  Par.  1875  ff.  Umfassende 
Werke  über  Diderot  sind:  K.  Rosenkranz,  Diderot»  Leb.  u.  Werke,  Lpz.  1866  u. 
J.  Morley,  Diderot  and  the  Encyclopaedist»,  2  vol.,  London  1878,  new  ed.  1886. 
C.  Avezae-Lavigne,  D.  et  la  societe.  du  buron  d'Holbach,  Paris  1878.  Edm.  Scherer, 
üb.  Diderot,  1880.  Vgl.  auch  den  Artikel  von  Rosenkranz  über  Diderot»  Dialog: 
Rameaus  Neffe  in:  der  Gedanke,  Bd.  V,  1864,  S.  1-25.  Vgl.  übrigens  Dr.  Antoine 
v.  B.  v.  H.,  Principaux  ecrits  relatif»  ä  la  personne  et  aux  oeuvres,  au  temps  et  ä 
l'influence  de  Denis  Diderot,  ou  Essai  d'une  bibliographie  de  Diderot,  Am«terd.  1885  (?). 
—  Ueber  Condorcet  handelt  John  Morley  in:  the  Fortnightly  Review  1870,  XIII, 
8.  16—40,  129—151.  —  Ueber  Robin  et  handelt  (ausser  Dumiron  a.  a.  O.)  Rosenkranz 
in:  der  Gedanke,  Bd.  I,  1861,  S.  126 ff. 

Ho  Ibach  »oll  anonym  ausser  dem  Systeme  de  la  nature  eine  Reihe  von  Schriften 
verfasst  haben,  die  »ich  gegen  supranaturalistische  Docfrinen  richten,  insbesondere  Lettre» 
ä  Eugenie  ou  preservatif  contre  les  prejuges  1768.  Examen  crit.  sur  la  vie  et  les 
ouvrages  de  St.  Paul,  1770.  Le  bon  sens  ou  idees  naturelles  opposees  aux  idee*  sur- 
naturclle8,  1772.  La  politique  naturelle  ou  discours  sur  les  vrais  principe»  du  gouverne- 
ment,  1773.  Systeme  social,  1773.  Elements  de  la  morale  universelle,  1776.  L'ethocratie 
ou  le  gouvernement  fonde  sur  la  morale  universelle,  1776.  Einige  öfters  Holbach  zu- 
geschriebene, direct  gegen  die  christliche  Theologie  gerichtete  Schriften  haben  ander« 
Verfasser,  wie  Damilaville  und  Naigeon. 

Unter  den  französischen  Schriftstellern  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  welche 
philosophische  Probleme  berühren,  hüben  die  meisten  weit  mehr  um  die  allgemeine 
Bildung  und  um  die  Umgestaltung  der  kirchlichen,  politischen  und  socialen  Ver- 
hältnisse, als  um  die  Philosophie  als  Wissenschaft  sich  Verdienste  erworben.  Eine 
eingehendere  Darstellung  des  Kampfes  gegen  den  Despotismus  in  Staat  und  Kirche 
gehört  mehr  in  die  politische  Geschichte  und  in  die  Geschichte  der  Litteratur  und 
Cultur,  als  in  die  Geschichte  der  Philosophie.  Besonders  die  Ausbildung  des 
Sensualismus  und  des  Materialismus  hat  philosophisches  Interesse. 

Nachdem  Fontenelle  (1657—1757)  in  seinen  1686  erschienenen  Entrctiens 
sur  la  pluralite  des  mondes  die  astronomische  Doctrin  des  CopernicoB  und  des 
Cartesius  popularisirt  hatte,  ward  für  die  newtonsche  Lehre  das  Gleiche  besonders 
durch  Voltaire  (21.  Nov.  1694  bis  30.  Mai  1778)  geleistet,  der  vielleicht  zumeist 
durch  die  moderne  Astronomie  und  überhaupt  durch  die  mathematische  Erkenntniss 
des  Naturmechanismus  zur  Ueberzeugung  von  der  Unhaltbarkeit  der  kirchlichen 
Dogmatik  geführt  wurde  und  sich  deren  Sturz  zur  Lebensaufgabe  setzte.  Die  streng 
wissenschaftliche  Widerlegung  der  cartesianischen  und  Begründung  der  newtonschen 
Doctrin  hat  in  Frankreich  vor  Allen  Pierre  Morean  de  Maupertuis  (1698 — 1759» 
seit  1746  Präsident  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften)  geleistet,  der  1732 
der  Pariser  Akademie  seine  Denkschriften:  Sur  les  lois  de  l'attraction  und  Discoure 


§  21.   Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert. 


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sur  la  figure  des  astres  einreichte  und  bei  der  zum  Behuf  der  Losung  der  Streit- 
frage über  die  Figur  der  Erde  1736  unternommenen  Gradmessnng  die  Expedition 
nach  Lappland  leitete,  wobei  ihm  namentlich  Clairaut  zur  Seite  stand;  später  hat 
Maupertuis  einen  Essai  de  philos.  morale,  1749,  und  ein  Syst.  de  la  nature,  1751, 
Essai  de  cosraol.,  Dresden  1752,  verfasst.  Die  Beziehungen  der  astronomischen 
Theorie  aber  zu  der  gesummten  Weltanschauung  hat  vornehmlich  Voltaire  den 
Gebildeten  zum  Bewusstsein  zu  bringen  gesucht.  In  den  Jahren  1726—29  hielt  Bich 
Voltaire  in  London  auf  (wo  er  seinen  Namen  Arouet  in  Voltaire,  ein  Anagramm 
von  Arouet  1.  j  ,  d.  h.  Arouet  le  jeune  umänderte).  Die  mathematische  Physik  und 
Astronomie  erfreute  sich  damals  des  lebendigen  Interesses  der  Gebildeten.  In  einem 
1728  geschrieb.  Briefe  sagt  V.:  „Wenn  ein  Franzose  in  London  ankommt,  so  findet 
er  einen  sehr  grossen  Unterschied  in  der  Philosophie  sowohl,  als  in  den  meisten 
andern  Dingen.  In  Paris  verliess  er  die  Welt  ganz  voll  von  Materie;  hier  findet 
er  völlig  leere  Räume.  In  Paris  sieht  man  das  Universum  mit  lauter  ätherischen 
Wirbeln  besetzt,  während  hier  in  demselben  Raum  die  unsichtbaren  Kräfte  der 
Gravitation  ihr  Spiel  treiben.  Li  Paris  malt  man  uns  die  Erde  länglich  wie  ein 
Ei,  und  in  London  ist  sie  abgeplattet  wie  eine  Melone.  Iu  Paris  macht  der  Druck 
des  Mondes  die  Ebbe  und  Fluth;  in  England  gravitirt  vielmehr  das  Meer  gegen 
den  Mond,  so  dass,  wenn  die  Pariser  von  dem  Monde  eben  Hochwasser  verlangen, 
die  Herren  in  London  zu  derselben  Zeit  Ebbe  haben  wollen."  Die  Lettres  sur  les 
Anglais,  1728  verfasst,  wurden  zuerst  in  London  veröffentlicht;  in  Frankreich 
erschienen  dieselben  1734.  Im  Jahre  1738  veröffentlichte  V.  zu  Amsterd.  die 
Elements  de  la  philos.  de  Newton,  mis  ä  la  portee  de  tout  le  monde,  die  in  Frank- 
reich erst  1741  erschienen,  weil  anfangs  der  cartesianisch  gesinnte  Censor  d'Aguesseau 
der,  wie  er  meinte,  unpatriotischen  und  unvernünftigen  Schrift  die  Druckerlaubniss 
versagte;  daran  schloss  sich  die  Schrift:  La  metaph.  de  Newton  ou  parallele  des 
sentiments  de  Newton  et  de  Leibniz,  Amst  1740.  Aber  nicht  bloss  die  Naturlehre 
sondern  auch  die  politischen  Einrichtungen  der  Engländer  zogen  V.  an;  schon 
vorher  kirchlichem  und  bürgerlichem  Despotismus  feind,  bildete  er  besonders  durch 
den  Aufenthalt  in  England  seine  politischen  Anschauungen  bestimmter  aus.  Er 
sagt:  la  liberte  consiste  ä  ne  dependre  que  des  lois.  Gleichheit  ist  nicht  schlechthin, 
sondern  nur  als  Gleichheit  vor  dem  Gesetz  möglich.  In  die  Geschichtschreibung 
hat  V.  die  durchgängige  Mitberücksichtigung  der  Sitten  und  Bildung  der  Völker 
eingeführt.  In  der  Erkenntnisslehre,  Psychologie,  Ethik  uud  Theologie  schloss  Bich 
V.  zumeist  an  Locke  an,  dessen  Lehre  von  der  Seele  sich  zu  der  des  Descartes 
und  des  Malebranche  verhalte  wie  die  Geschichte  zum  Roman.  V.  nennt  Locke 
einen  bescheidenen  Mann  von  massigem  aber  solidem  Besitz;  er  sagt  (in  der  1767 
geschrieb.  Abhdlg. :  Le  philosophe  ignorant):  „apres  tant  de  courses  malheureuses, 
fatigue,  harasse,  honteux  d'avoir  cherche  tant  de  vörites  et  trouv6  tant  de  chimeres, 
je  suis  revenu  ä  Locke  comme  l'enfunt  prodigue  qui  retourne  chez  son  pere,  je 
me  suis  rejetö  eutre  les  bras  d'un  homme  modeste  qui  ne  feint  jamais  de  savoir 
ce  qu'il  ne  sait  pas,  qui,  ä  la  verite,  ne  possede  pas  de  richesses  immenses,  mais 
dont  les  fonds  sont  bien  assures  et  qui  jouit  du  bien  le  plus  solide  sans  aueune 
ostentation."  V.  betont  stärker  als  Locke  die  Möglichkeit  der  Annahme,  dass 
die  Materie  denken  könne.  Er  kann  sich  nicht  überzeugen,  dass  eine  unräumliche 
Substanz  wie  ein  kleiner  Gott  inmitten  des  Gehirns  wohne,  und  ist  geneigt, 
die  substantielle  Seele  für  eine  „abstraction  realisee«  zu  halten,  gleich  der  antiken 
Göttin  Memoria  oder  gleich  einer  etwaigen  Personification  der  blutbildenden 
Kraft.  Alle  unsere  Vorstellungen  stammen  aus  den  Sinnen.  V.  sagt  (Lettre 
Xin.  sur  les  Anglais):  Personne  ne  me  fera  jamais  croire  que  je  pense  toujoure, 
et  je  ne  suis  pas  plus  dispose  que  Locke  ä  imaginer  que,  quelques  semaines  apres 


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§  21.    Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert. 


ma  conception,  j'etais  une  ame  fort  savante,  sachant  alore  mille  choses  que  j'ai 
oubliees  en  naissant  et  ayant  fort  inutilement  possede  dans  l'uterus  des  conuaia- 
sances  qui  m'ont  6chappe  des  que  j'ai  pu  en  avoir  besoin  et  que  je  u'ai  jamais 
bien  pu  repreudre  depuis".  Doch  erkennt  V.  an,  dass  gewisse  Ideen,  insbesondere 
die  moralischen,  obschon  sie  nicht  angeboren  sind,  mit  Notwendigkeit  aus  der 
menschlichen  Natur  herfliessen  und  nicht  bloss  conventioneile  Geltung  haben. 
Das  Dasein  Gottes  hält  V.  mit  Locke  für  beweisbar  (durch  das  kosmologische  und 
besondere  durch  das  teleologische  Argument);  zugleich  aber  findet  er  in  dem 
Glauben  an  einen  belohnenden  und  rächenden  Gott  eine  nothwcndige  Stütze  der 
moralischen  Ordnung;  er  sagt  in  diesem  Sinne:  „si  Dieu  n'existait  pas,  il  faudrait 
l'inveuter,  mais  toute  la  nature  nons  cric  qu'il  existe".  Die  leibuizische  Lehre, 
dass  die  bestehende  Welt  die  beste  unter  allen  möglichen  Welten  sei,  pereifflirt 
V.  in  der  1757  nach  dem  Erdbeben  von  Lissabon  erschienenen  Schrift:  Candide 
ou  sur  l'Optimisme,  obschon  er  früher  selbst  der  optimisti  jchen  Ansicht  sich  zu- 
gewandt hatte.  Der  Philosoph  Pangloss  in  Candide  ist  eine  Caricatur  von  Leibniz. 
V.  hält  das  Problem,  wie  das  Uebel  in  der  Welt  mit  Gottes  Güte,  Weisheit  und 
Macht  zu  vereinigen  sei,  für  unlösbar,  hofft  auf  den  Fortschritt  zum  Besseren  und 
fordert,  dass  wir  vielmehr  im  Haudeln,  als  in  undurchführbarer  Speculatiou  unsere 
Befriedigung  suchen;  er  will  im  Collisionsfalle  lieber  Gottes  Macht  als  Gottes 
Güte  beschränkt  denken.  Y.  hat  iti  seiner  früheren  Zeit  die  Willensfreiheit  im 
Sinne  des  Indeterminismus  behauptet,  später  jedoch  die  Gründe  für  den  Determi- 
nismus alB  unabweisbar  anerkannt.  Die  Annahme  der  Unsterblichkeit  gilt  ihm  aus 
praktischen  Rücksichten  für  unentbehrlich.  Der  Essai  sur  les  moeurs  et  1'esprit 
des  uations  erschien  zuerst  unter  diesem  Titel  1765  und  besteht  aus  zwei  schon 
früher  veröffentlichten  Schriften:  Philosophie  de  l'histoire  —  dieser  Terminus  rührt 
von  Voltaire  her  —  und  Histoire  universelle.  Es  finden  sich  in  dem  Essai  viele 
Gedanken,  darunter  auch  neue,  über  die  Entwicklung  der  menschlichen  Gesell- 
schaft: der  Mensch  ist  das  Erzeugniss  des  Erdballs.  Die  im  Menschen  schlum- 
mernden Anlagen  zur  Cultur  sind  durch  Noth  und  Mangel  geweckt  Die  mensch- 
liche Gesellschaft  besteht,  so  lange  Menschen  existiren.  Die  Vernunft  zeigte  sich 
bei  dem  Menschen  zuerst  in  den  Tugenden  der  Gerechtigkeit  und  des  Mitleids. 
In  Bewegung  wird  die  menschliche  Gesellschaft  durch  Natur  und  Gewohnheiten, 
die  sich  ändern,  gehalten.  Da  nun  diese  mit  einander  im  Kampfe  stehen,  so  ist 
eine  Ab-  und  Zunahme  der  Cultur  zu  erblicken,  nur  ein  relativer  Fortschritt  in 
der  Geschichte  der  Menschheit 

Charles  de  Secondat,  baron  de  la  Brede  et  de  Montesquieu,  geb.  18.  Jan. 
1689  zu  Brede,  gest.  20.  Febr.  1755  zu  Paris,  hat  bereits  in  den  Lettres  persanes, 
Paris  1721  den  Absolutismus  in  Staat  und  Kirche  bekämpft,  dann  in  den  Con- 
siderations  sur  les  causes  de  la  grandeur  des  Romains  et  de  leur  decadence,  Paris 
1734,  gezeigt,  dass  nicht  sowohl  der  Zufall  einzelner  Siege  oder  Niederlagen,  als 
vielmehr  die  Macht  der  Gesinnung,  die  Liebe  zur  Freiheit,  zur  Arbeit  und  zum 
Vaterland  das  Geschick  der  Staaten  und  Völker  bedinge,  endlich  in  seinem  Haupt- 
werke, dem  Esprit  des  lois,  Genf  1748  u.  ö.,  die  Grundlagen,  Bedingungen  und 
Bürgschaften  der  politischen  Freiheit  untersucht  In  der  ersten  Schrift  vor  seinem 
Aufenthalt  in  England  (1728-29),  erscheint  ihm  die  Staatsform  der  Schweiz  und 
der  Niederlande,  in  den  späteren  Schriften  aber,  besondere  im  Esprit  des  lois,  die 
englische  Verfassung  als  die  vorzüglichste  unter  den  bestehenden.  Montesquieu 
hat  in  dem  Esprit  des  lois  aus  der  concreten  Form  des  englischen  Staates  den 
abstracto  i  Schematismus  der  constitutionellen  Monarchie  entnommen  und  sich 
dadurch  um  die  Theorie  und  Praxis  des  modernen  Staates  einerseits  ein  grosses 
und  unbestreitbares  Verdienst  erworben,  andererseits  aber  auch,  obschon  er  prin- 


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§  21.    Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert.  [h9 

cipiell  die  Verschiedenheit  der  Verfassungen  nach  der  Verschiedenheit  des  Geistes 
der  Nationen  fordert  („le  gouvernement  le  plus  conforme  ä  la  nature  est  celui 
dont  la  disposition  particuliere  se  rapporte  mieux  ä  la  disposition  du  peuple  pour 
lequel  il  est  etabli*\  doch  thatsächlich  dazu  Anlas«  gegeben,  Hinrichtungen,  die 
nur  unter  bestimmten  Voraussetzungen  zweckmässig  sind  (wie  die  völlige  Trennung 
der  gesetzgebenden,  vollziehenden  und  richterlichen  Gewalt,  die  Sonderung  der 
aristokratischen  und  demokratischen  Elemente  in  ein  Ober-  und  Unterhaus,  die  sich 
gegenseitig  durch  ihr  Veto  binden  sollen,  freilich  auch  leicht  lähmen  können),  als 
allgemein  gültige  Normen  eines  geordneten  und  freien  Staatslebens  anzusehen  und 
auf  Verhältnisse  zu  übertragen,  unter  welchen  sie  nur  zu  unheilbaren  Conflicten, 
zu  unheilvoller  Verwechslung  juridischer  Fictionen  mit  Thatsachen,  zur  Stockung 
der  Gesetzgebung,  zur  Lockerung  der  Rechtssicherheit  und  zur  Gefährdung  der 
Existenz  des  Staates  selbst  zu  führen  vermochten. 

Den  Ursprung  der  Kunst  sucht  Jean  Baptiste  Dubos  (geb.  1760  zu  Beauvais, 
gest.  zu  Paris  1742)  in  seinen  Reflexions  critiques  sur  la  poösie,  la  peinture  et 
la  musique,  Par.  1719  u.  ö.,  in  dem  Bedürfniss  einer  solchen  Anregung  der  Affecte, 
welche  von  den  Inconvenienzen,  die  sich  im  wirklichen  Leben  daran  knüpfeu, 
getrennt  sei.  „L'art  ne  pourrait-il  pas  trouver  le  moyen  de  separer  les  mauvaises 
suites  de  la  plupart  des  passions  d'avec  ce  qu'elles  ont  d'agreable?  la  poesie  et 
la  peinture  en  sont  venues  ä  bout."  Dass  die  Aufgabe  der  Kunst  in  einer  Er- 
hebung über  die  gemeine  Wirklichkeit  durch  Nachahmung  der  schönen  Nutur 
liege,  lehrt  Charles  Batteux  (1713 — 1780;  les  beaux  arts  rednits  ä  un  meme 
principe,  Par.  1746),  ohne  jedoch  den  Begriff  des  Schönen  genügend  zu  bestimmen. 

Jean  Jacques  Rousseau  (geb.  zu  Genf  1712,  gest.  1778  zu  Ermenonville)  sucht 
den  Uebeln  einer  entarteten  Cultur,  die  er  tief  empfindet,  aber  nicht  durch  positiven 
Fortschritt  zu  überwinden  weiss,  durch  Rückgang  auf  einen  erträumten  Natur- 
zustand zu  entgehen.  Für  geschichtliche  Entwickelung  hat  unter  den  Koryphäen 
der  Aufklärung  im  achtzehnten  Jahrhundert  Rousseau  am  wenigsten  Verständniss. 
Rousseaus  politisches  Ideal  ist  die  Freiheit  und  Gleichheit  der  reinen  Demokratie. 
Der  Vernunftglaube  an  Gott,  Tugend  und  Unsterblichkeit  ist  ihm  um  so  mehr 
Gemüthsbedürfniss,  je  weniger  die  sittlichen  Ideen  seinen  Willen  beherrschen;  er 
bezeugt  diesen  Glauben  am  eifrigsten  nach  dem  ersten  Hervortreten  des  Materialismus 
und  Pantheismus  Diderots  und  anderer  Encyclopädisten,  wogegen  Holbachs 
atheistisches  Natursystem  erst  nach  Rousseaus  Schriften  und  im  Gegensatz  zu 
denselben  erschienen  ist.  Rousseau  war  eine  eitle  und  calumuiatorische  Natur;  er 
hat  seine  moralische  Misere  rhetorisch  herauszuputzen  und  die  Personen,  welche 
das  Unglück  hatten,  mit  ihm  in  nähere  Berührung  zu  kommen,  bei  der  Mit-  und 
Nachwelt  in  Übeln  Ruf  zu  bringeu  gewusst.  In  der  Revolutionszeit  ist,  wie  für  die 
Gestaltung  der  constitutionellen  Monarchie  Montesquieu  <  Staatsideal,  so  für 
Robespierres  Tendenzen  Rousseaus  Doctrin  maassgebend  gewesen. 

Julien  Üffroy  de  la  Mettrie,  geb.  1709  in  St.  Malo,  zu  Paris  von  Jansenisteu 
gebildet,  dann  (seit  1733)  unter  Bo erhave  (1668— 1738),  der  als  Philosoph  der  An- 
sicht des  Spinoza  sich  zuneigte,  Medicin  studirend,  gelangte  durch  Beobachtungen, 
die  er,  von  einem  hitzigen  Fieber  befallen,  über  den  Einfluss  der  Blutwallungen 
auf  das  Denken  an  sich  selbst  anstellte,  zu  der  Ueberzeugung,  dass  die  psychischen 
Functionen  aus  der  Organisation  des  Körpers  zu  erklären  seien,  und  äusserte  die- 
selbe in  der  Histoire  naturelle  de  l'äme,  einer  Schrift,  die  auf  Befehl  des  Parlaments 
vom  Scharfrichter  verbrannt  wurde,  und  in  Folge  deren  Lamettrie  selbst  seine 
Stelle  als  Militärarzt  verlor.  Er  sprach  in  ihr  die  Ansicht  ans,  dass  alles  Denken 
und  Wollen  aus  den  Empfindungen  stamme,  uud  der  Unterricht  dasselbe  entwickele. 
Keine  Sinneseindrücke,  keine  Ideen,  wenig  Erziehung  oder  wenig  Unterricht,  wenig 


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190  §  21.    Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert. 

Ideen.  Ein  ausserhalb  des  menschlichen  Verkehrs  aurgewachsener  Mensch,  sagt 
Lamettrie  im  Anschluss  an  Arnobius  (s.  Grdr.  II,  §  14),  würde  geistig  leer  sein. 
Die  „Seele"  wächst  mit  dem  Leibe  und  nimmt  mit  ihm  ab:  „ergo  participem  leti 
quoque  convenit  esse".  Von  diesem  Standpunkte,  den  seine  erste  Schrift  begründet, 
geht  Lamettrie  in  seinem  bekanntesten  Werke:  L'homme  machine  (bei  welcher 
Schrift  der  descartesische  Mechanismus  noch  mehr  als  der  lockesche  Empirismus 
von  maassgebendem  Eiufluss  war)  und  anderen  Schriften  aus.  Er  vertritt  hierin 
unverblümt  den  Atheismus  und  Materialismus,  wenngleich  letzterer  bei  ihm  mehr 
anthropoloirischer  als  kosmologischer  Art  war,  so  dass  er  sich  nicht  deutlich  über 
die  Zusammensetzung  der  Materie  ausspricht.  Ein  Staat  von  Atheisten  würde  nach 
ihm  der  allerglück] ichste  sein.  Gegenüber  der  Moral  der  Abstinenz  sucht  Lamettrie, 
zu  dem  entgegengesetzten  Extrem  fortgehend,  in  einer  noch  mehr  künstlich  über- 
spannten als  frivolen  Weise  den  sinnlichen  Genuas  zu  rechtfertigen.  Doch  besteht 
nach  ihm  der  Unterschied  des  Guten  und  Bösen  darin,  dass  bei  jenem  das  öffent- 
liche Interesse  dem  privaten  vorausgeht,  bei  diesem  das  Umgekehrte  der  Fall  ist. 
Die  Macht  der  Convention  und  der  Charlatanerie  im  menschlichen  Leben  entlockt 
ihm  die  bittere  Bezeichnung  desselben  als  eines  Possenspiels.  An  dem  Hofe 
Friedrichs  des  Grossen  fand  Lamettrie  1748  eine  Zuflucht  und  wurde  Mitglied  der 
Akademie  in  Berlin.  Er  starb  daselbst  1751.  Der  König  hat  selbst  sein  Eloge 
geschrieben  (wiederabg  in  Assezats  Ausg.  v.  l'homme  mach.,  Par.  1865),  ohne 
damit  aber  erkennen  geben  zu  wollen,  dass  er  allen  Ansichten  Lamettries  bei- 
stimme. 

Etienne  Bonnot  de  Gondillac  (geb.  zu  Grenoble  1715,  widmete  sich  dem 
geistlichen  Berufe,  wurde  Erzieher  des  Infanten,  späteren  Herzogs  Ferdinand  von 
Parma,  starb  1780  auf  seinem  Landgute  Flux  bei  Beaugency)  steht  in  seinen 
frühesten  Schriften  im  Wesentlichen  noch  ganz  innerhalb  des  lockeschen  Gedanken- 
kreises, geht  aber  in  dem  Traite  des  sensations  und  den  späteren  Schriften 
darüber  hinaus.  Von  seinen  Vorurtheilen  behauptete  er  durch  ein  Fräulein  Ferrand, 
mit  dem  er  befreundet  war,  befreit  worden  zu  sein.  Er  erkennt  nicht  mehr  in  der 
inneren  Wahrnehmung  eine  zweite,  selbständige  Quelle  von  Vorstellungen  neben 
der  sinnlichen  Wahrnehmung  an,  sondern  sucht  aus  der  letzteren  als  der  einzigen 
Quelle  alle  Vorstellungen  abzuleiten.  Er  strebt  danach,  die  sämmtlichen  psychischen 
Functionen  genetisch  zu  begreifen,  indem  er  sie  als  Umbildungen  der  Sinneswahr- 
nehmung (Sensation  transformSe)  auffasst  Um  darzuthun,  dass  ohne  die  Annahme 
angeborener  Ideen  aus  der  blossen  Sinnesempfindung  die  sämmtlichen  psychischen 
Processe  sich  ableiten  lassen,  macht  Condillac  die  Fiction,  dass  einer  Marmorstatue 
(die  als  eine  durch  eine  Marmorhülle  gegen  die  Anssenwelt  abgeschlossene  Seele  ohne 
alle  Vorstellungen  zu  denken  ist)  nach  einander  die  einzelnen  Sinne  gegeben  werden  und 
zwar  zunächst  der  Geruchssinn.  Dieser  Sinn  liefert  Perceptionen,  welchen  Bewusst- 
sein  zukommt.  Einer  einzelnen  Pereeption  gehört  die  Empfindungsfähigkeit  ganz 
an;  von  mehreren  werden  die  stärkeren  mehr  beachtet,  d.  h.  auf  sie  richtet  sich 
die  Aufmerksamkeit.  Eindrücke  bleiben  zurück,  indem  die  vom  Organ  auf  das 
Gehirn  übertragene  Erregung  die  Affection  selbst  überdauert,  d.  h.  die  Statue  hat 
Gedächtniss.  Wenn  eine  Bewegung  vom  Sinnesorgan  zum  Gehirn  sich  fortpflanzt, 
so  habe  ich  eine  Empfindung;  wenn  dieselbe  Bewegung  im  Gehirn  beginnt  und  bis 
zum  Organ  fortgeht,  so  habe  ich  eine  Sinnestäuschung;  wenn  diese  Bewegung  im 
Gehirn  beginnt  und  endet,  so  erinnere  ich  mich  der  gehabten  Empfindung.  Treten 
gleichzeitig  neue  sinnliche  Perceptionen  ein,  so  involvirt  das  Getheiltsein  der  Em- 
pfindnng  zwischen  denselben  die  Verglcichung  und  das  Urtheil.  Die  ursprüngliche 
Verbindung  und  Folge  der  Perceptionen  bedingt  ihre  Associationen  bei  der  Re- 
produetion.    Die  Seele  verweilt  bei  den  Vorstellungen,  die  ihr  angenehm  sind; 


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§  21.    Die  französische  Philosophie  irn  18.  Jahrhundert. 


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hieran  knüpft  sich  die  »Sonderung  einzelner  Vorstellungen  von  anderen  oder  die 
Abstraction.  Treten  die  übrigen  Sinne  hinzu,  und  associiren  sieh  die  Vorstellungen 
mit  den  Worten  als  ihren  Zeichen,  so  wird  die  Bildung  eine  reichere.  Der  Tast- 
sinn unterscheidet  sich  von  den  übrigen  Sinnen  darin,  dass  er  uns  die  Existenz 
äusserer  Objeete  empfinden  lässt.  Jeder  Kindruck,  der  uns  etwas  kennen  lehrt,  ist 
eine  Idee  (Vorstellung):  intellectuelle  Vorstellungen  sind  Erinnerungen  an  Em- 
pfindungen. Wie  Farben,  Töne  etc.  uns  zunächst  nur  als  subjective  Empfindungen 
bekannt  sind,  so  auch  die  Ausdehnung;  es  könnte  sein,  dass  auch  diese  nicht  den 
Dingen  an  sich  zukommen.  Erinnert  sich  die  Seele  einer  vergangenen  Lustempfindung, 
so  entspringt  daraus  das  Begebren.  Das  Ich  ist  die  Gesammtheit  der  Sensationen. 
Le  moi  de  chaque  homme  n'est  que  la  collection  des  sensations  qu'il  eprouve  et 
de  celles  que  la  memoire  lui  rappelle,  c'est  tout  ä  la  fois  la  conscience  de  ce  qu'il 
est  et  le  souvenir  de  ce  qu'il  a  ete.  C'ondillac  ist  Sensualist,  aber  nicht  Materialist. 
Er  hält  nicht  für  möglich,  dass  die  Materie  empfinde  und  denke;  denn  als  aus- 
gedehnt und  theilbar  sei  dieselbe  ein  Aggregat,  das  Empfinden  und  Denken  aber 
setze  die  Einheit  des  Subjectes  (Substrates)  voraus.  Er  nimmt  ein  immaterielles 
Seelenwesen  an.  Nicht  die  Sinne  empfinden,  sondern  die  Seele  auf  Veranlassung 
der  Organe,  und  aus  Empfindungen,  durch  welche  ihr  Zustand  sich  ändert,  gewinnt 
sie  alle  ihre  Erkenntnisse  und  Fähigkeiten.  —  In  dem  Grundgedanken,  dass  alle 
Seelenthätigkeiten  anf  eine  einzige,  die  Empfindung,  zurückzuführen  seien,  geht 
namentlich  später  Herbart  auf  Condillac  zurück. 

Der  Schweizer  Charles  Bonnet  (13.  März  1720  bis  20.  Mai  1793;  Oeuvres, 
Neufchätel  1779)  betrachtet  in  seinem  1748  entworfenen,  Lond.  1755  erschienenen 
(v.  Chr.  W.  Dohm  1773  ins  Deutsche  übersetzten)  Essai  de  psychologie  ou  Consi- 
derations  sur  les  Operations  de  l'äme,  dem  er  1760  einen  Essai  analytique  sur  les 
facultes  de  l'äme  (deutsch  von  Chr.  Gottfr.  Schütz,  2  Bde.,  1770  u.  1771)  folgen  Hess, 
die  Sinncsempfindung  als  die  psychische  Reaction  gegen  die  äussere  Einwirkung 
(eine  Auffassung,  wodurch  die  übliche  Vergleichung  der  Perception  mit  dem  Be- 
schriebenwerden  einer  leeren  Tafel  rectificirt  wird).  Er  sucht  die  durchgängige 
Bedingtheit  der  psychischen  Functionen  durch  Nervenbewegungen  darzuthun, 
weiss  jedoch  diese  Ansicht  mit  seinem  religiösen  Glauben  (wie  Priestley)  durch 
die  Annahme  einer  Wiederauferweckung  des  Leibes  zu  vereinigen.  In  seinem 
Werke:  La  Palingönesie  philosophique  ou  idees  sur  l'etat  passe  et  sur  l'etat  futur 
des  etres  vivants,  2  Bde.,  Genf  1769,  deutsch  von  Lavater  1769,  nimmt  er  die 
Fortdauer  der  denkenden  Substanz  in  einem  wiedererweckten  Leibe  an  und  sucht 
sie  mit  seinen  sonstigen  philosophischen  Lehren  in  Uebereinstimmung  zu  bringen. 

Denis  Diderot  (1713  —  1784i  und  der  Mathematiker  Jean  d'Alembert 
(1717 — 1783)  sind  die  Begründer  und  Herausgeber  des  das  Gesammtgebiet  der 
Wissenschaften  und  Künste  umfassenden  Werkes:  Encyclopedie  ou  Dictionnaire 
raisonne  de9  sciences,  des  arts  et  des  metiers,  in  28  Bänden,  Paris  1751—72;  dazu 
Supplement  in  5  Bänden,  Amst.  1776—77,  und  Table  analytique  in  2  Bänden, 
Paris  1780.  Beiträge  zu  dieser  Encyclopädie  haben  auch  Voltaire,  Rousseau  (der 
jedoch  später,  seit  1757,  als  Gegner  der  Encyclopädisten  auftrat),  Grimm,  Holbach, 
Turgot,  Jaucourt  und  andere  geliefert.  Die  treffliche  Einleitung  (Discours  prcli- 
minaire),  worin  unter  Ankuüpfang  an  Francis  Bacon  über  die  Gliederung  und  die 
Methode  der  Wissenschaften  gehandelt  wird,  ist  von  d'Alembert  verfasst  worden 
(der  seit  1757  au  der  Redaction  der  Encyclopädie  sich  nicht  mehr  betheiligtei. 
D'Alembert,  der  Mathematiker,  ist  in  der  Metaphysik  Skeptiker.  Er  ist  versucht 
zu  glauben,  dass  es  ausser  uns  nichts  gebe,  was  dem,  das  wir  zu  seheu  meinen, 
entspreche.  Die  Verbindung  der  Theile  in  den  Organismen  scheint  auf  eine  bewusste 
Intelligenz  hinzuweisen;  aber  wie  diese  zur  Materie  sich  verhalten  könne,  ist  un- 


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§  21.   Die  franzosische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert. 


denkbar.  Weder  von  der  Materie  noch  vom  Geist  haben  wir  eine  deutliche  und 
vollständige  Idee.  Diderot  ist  von  einem  offenbarungsgläubigen  Theismus  aus 
bis  zum  Pantheismus  fortgegangen,  der  in  dem  Naturgesetz  und  in  der  Wahrheit, 
Schönheit  und  Güte  die  Gottheit  erkennt.  Durch  den  Gedanken,  dass  aller  Materie 
Empfindung  innewohne,  überschreitet  er  den  Materialismus,  indem  er  diu  letzte 
Consequenz  desselben  zieht.  An  die  Stelle  der  leibnizischen  Monaden  setzt  er, 
allerdings  im  Anschluss  an  Robinet  und  Maupertuis,  Atome,  in  welchen  Empfin- 
dungen gebunden  liegen.  Die  Empfindungen  werden  bewusste  in  dem  animalischen 
Organismus.  Aus  den  Empfindungen  erwächst  das  Denken.  Um  zu  erklären,  wie 
aus  den  Empfindungen  die  Einheit  des  Bewusstseins  entsteht,  wie  die  Empfindungen 
von  einem  Atom  zu  dem  andern  kommen  und  in  einander  fiie3sen,  nimmt  Diderot 
an,  dass  die  empfindenden  Theilchen  einander  unmittelbar  berühren  und  so  gleich- 
sam ein  Continuum  bilden.  Hiermit  ist  dann  die  eigentliche  Atomistik  aufgegeben. 
In  der  Schrift:  Principes  de  la  philos.  morale  ou  essay  sur  le  mörite  et  la  vertu, 
1745,  die  fast  nur  Shaftesburys  Inquiry  concerning  virtue  and  merit  wiedergiebt, 
bekeimt  sich  Diderot  zum  Offenbarungsglaubeu,  den  er  nicht  mehr  in  den  Pensees 
philosoph.,  ä  la  Haye  1746,  hegt  und  noch  weniger  in  der  1747  geschriebenen,  erst 
im  4.  Bande  der  Memoires,  Correspoudancc  et  Ouvrages  inedits  de  Diderot,  Paris 
1830,  veröffentlichten  Promenade  d'un  sceptique.  Nach  mehreren  Schwankungen 
fi.xirt  sich  sein  philosophischer  Standpunkt  in  den  Petsees  sur  l'interpretatiou  de 
la  nature,  Paris  1754;  die  eingehendste,  bei  aller  Leichtigkeit  der  Form  und  allem 
Fernhalten  äusserlichen  Beweisapparats  von  einem  tiefen  Blick  in  den  Zusammen- 
hang der  philopophischcn  Probleme  zeugende  Schrift:  Entretien  entre  d'Alembert 
et  Diderot,  nebst:  Le  Reve  d'Alembert,  1769  verfasst,  ist  gleichfalls  erst  im  vierten 
Bande  der  Memoires  etc.  veröffentlicht  wordeu.  Das  Schöne  findet  Diderot  im 
Naturgeinässen.  Er  polemisirt  gegen  den  Zwang  von  Kunstregeln,  wie  solche 
insbesondere  Boileau  im  Anschluss  an  die  Forderungen  des  Horaz  und  anderer 
Alten  aufgestellt  hatte. 

Der  Abbe  Morelly  hat,  Lockes  Aeusserung  über  die  Schädlichkeit  der  über- 
grossen Ungleichheit  des  Besitzes  auf  die  Spitze  treibend,  und  wohl  auch  durch 
Piatons  Staatslehre  angeregt,  in  seinem  Code  de  la  nature,  Amst.  1755,  eine  com- 
munistische  Doctrin  aufgestellt.  Der  Eigeunutz,  le  desir  d'avoir  pour  soi,  aus  dem 
der  Anspruch  auf  Privateigenthum  stammt,  ist  die  Quelle  aller  Streitigkeiten, 
aller  Barbarei,  alles  Unglücks.  In  ähnlicher  Art  verwischt  Mably  (1709—1783), 
ein  älterer  Bruder  Condillacs,  in  seiner  1776  erschienenen  Schrift:  de  la  legislation 
ou  principes  des  lois.  die  Grenze  zwischen  der  Rechtsordnung  und  dem  freien 
Wohlwollen.  Mehr  dem  Thatsächlichen  zugewandt  waren  die  national -ökonomischen 
Forschungen  der  (das  Interesse  des  Landbaues  einseitig  hervorhebenden)  Physiokraten, 
Quesnai  (1697—1774)  u.  A.,  und  des  die  Einseitigkeit  derselben  vermeidenden 
Turgot  (1727—1781),  der  eine  Lettre  sur  le  papier  monnaie,  Reflexion*  sur  la 
formation  et  la  distributiou  des  richesses,  1774,  etc.  verfusst  hat,  auch  des  Gegners 
der  Physiokraten,  des  Abbe  Galiani,  in  seinen  Dialogues  sur  le  commerce  des 
bles,  1770  (vgl.  Dubois-Reymond,  Darwin  versus  G  ,  Berlin  1876,  wieder  abgedr.  in: 
Reden,  Bd.  1).  Das  Monopol  und  die  Sclavcrei  hat  der  Abbö  Raynal  in  seiner 
hist  philos.  du  commerce  des  deux  Indes  bekämpft.  An  Morelly  hat  in  der 
Revolutionszeit  Baboeuf  sich  angeschlossen. 

Nachdem  schon  La  Rochefoucuuld  (Francois,  Herzog,  1613—1680)  in  seiuen 
1665  zuerst  erschienenen  Rcilcxions  ou  sentences  et  maximes  morales  (s.  II.  v.  Vintler, 
die  Maximen  des  Herzogs  von  La  Rochefoucauld,  Pr.,  Innsbruck  1887)  ausgeführt 
hatte,  dass  alle  unsere  Handlungen  ihre  Quelle  in  der  Eigenliebe  haben,  und 
La  Bruyere  (1639—1696,  s.  M.  Prevost-Paradol,  Etudes  sur  les  moralistes  fruncais, 


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§21.    Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert.  193 


Par.  1865)  in  seinen  Caracteres,  1687,  Aehnliches  ausgesprochen  hutte,  findet  Claude 
Adrien  Helvetius  (1715-1771)  in  seinem  Buche :  de  l'csprit,  Paris  1758,  und  den 
nach  seinem  Tode  erschienenen  Schriften:  de  l'homme,  de  ses  facultas  et  de  son 
education,  Londres  (Amst.)  1772,  deutsch  mit  Einleitung  und  Commentar  von  6.  A. 
Lindner,  Wien  1877;  le  vrai  Bens  du  syst,  de  la  nature,  Lond.  1774  (deutsch  zuletzt 
u.  d.  T.  29  Thesen  d.  Materialismus  etc.,  Halle  1873  (72);  les  progres  de  la  raison 
dans  la  recherche  du  vrai,  Lond.  1775,  in  der  Selbstliebe,  vermöge  deren  wir  nach 
der  Lust  streben  und  die  Unlust  abwehren,  das  einzige  praktische  Motiv  und  hält 
dafür,  dass  es  nur  der  rechten  Leitung  der  Selbstliebe  durch  Erziehung  und  Gesetz- 
gebung bedürfe,  um  dieselbe  mit  dem  Gemeinwohl  in  Einklang  zu  bringen.  Völlige 
Unterdrückung  der  Leidenschaften  führt  zur  Verdummung;  Leidenschaft  befruchtet 
den  Geist,  aber  sie  bedarf  der  Regelung.  Wer  sein  Interesse  so  erstrebt,  dass  er 
dadurch  das  Interesse  Anderer  nicht  schädigt,  sondern  fördert,  ist  der  gute  Mensch. 
Das  Gemeinwohl  ist  die  oberste  Norm.  Tont  devient  legitime  pour  le  salut  public 
Nicht  Aufhebung  des  Eigenthums,  sondern  Begründung  der  Möglichkeit,  dass  ein 
Jeder  zu  Eigenthum  gelange,  Beschränkung  der  Ausbeutung  der  Arbeitskraft  der 
Einen  durch  die  Anderen,  Herabsetzung  der  Arbeitszeit  auf  sieben  bis  acht  Stunden 
des  Tages,  Verbreitung  der  Bildung  sind  die  wahren  legislatorischen  Aufgaben. 
Offenbar  sind  die  Forderungen,  die  Helvetius  an  den  Staat  stellt,  der  Idee  des 
Wohlwollens  entstammt,  während  er  die  Individuen  an  den  Eigennutz  gekettet 
glaubt  Sein  Fehler  ist,  den  stufenweisen  Fortschritt  von  der  ursprünglichen  Selbst- 
beschränktheit des  Individuums  zur  Erfüllung  mit  dem  Geiste  engerer  und  weiterer 
Gemeinschaften,  die  über  egoistische  Berechnung  hinausführt,  nicht  gewürdigt  zu 
haben.  Der  Inhalt  seiner  Vorschläge  ist  besser,  als  deren  Begründung.  An  Hel- 
vetius schliessen  sich,  seine  Principien  mildernd  und  die  unauflösliche  Verbindung 
des  Glücks  des  Einzelnen  und  der  Gesammtheit  betonend,  insbesondere  Charles 
Francois  de  St.  Lambert  (1716—1803;  Cateehisme  univereel,  1797)  und  Volney 
(Constantin  Francois  de  Chasseboeuf,  1757—1820;  Catechisme  du  citoyen  francais, 
1793,  in  zweiter  Auflage  unter  dem  Titel:  la  loi  naturelle  ou  principes  physiques 
de  la  morale,  deduits  de  l'organisation  de  l'homme  et  de  l'univers;  oeuvres  com- 
pletes,  Paris  1821,  2.  ed.  1836)  an.  In  der  Schrift:  die  Ruinen  (les  rulnes  ou 
meclit.  sur  les  revolotions  des  empires,  4.  6d.,  Par.  1808,  deutsch  von  Forster, 
Berlin  1792,  12.  Aufi.  Braunschw.  1872)  macht  Volney  von  dieser  Ethik  eine 
g< escbi cht s philosophische  Anwendung.  Die  französische  Revolution  gilt  ihm  als  der 
Versuch  der  Verwirklichung  des  Ideals  der  Vernunftherrschaft.  Auf  dem  gleichen 
Ideal  beruht  Condorcets  (1743  —  1794)  Geschichtsphilosophie  (Esquisse  d'un 
tableau  historique  des  progres  de  l'esprit  humain,  1794),  welche  sich  an  Condillacs 
Lehre  anschloss  (s.  Gillet,  l'utopie  de  C,  Par.  1883). 

Jean  Baptiste  Robinet  (geb.  zu  Rennes  1735,  gest.  ebendaselbst  am  24.  Ja- 
nuar 1820)  hat  in  seinem  Hauptwerke:  de  la  nature,  4  vols.,  Amst.  1761—1766 
(Vol.  L,  nouvelle  6dik,  Amst  1763),  wie  auch  in  den  Schriften:  Considerations 
philosophiques  de  la  gradation  naturelle  des  formes  de  l'fitre,  ou  des  essais  de  la 
nature  qul  apprend  ä  faire  l'homme,  Amst.  1767;  Parallele  de  la  condition  et  des 
facultee  de  l'homme  avec  celles  des  autres  animaux,  trad.  de  V Anglais,  Bouillon 
1769,  die  Idee  einer  stufenmässigen  Entwickelung  der  Wesen  durchzuführen  gesucht. 
Robinet  erkennt  eine  einheitliche,  schöpferische  Ursache  der  Natur  an,  glaubt 
derselben  aber  Persönlichkeit  nicht  ohne  täuschenden  Anthropomorphismus  beilegen 
zu  können. 

Einen  modificirten  Spinozismus  vertritt  der  Benedictiner  Dom.  Deschamps 
in  einem  bald  nach  1770  verfasaten,  erst  in  neuerer  Zeit  durch  Emile  Beaussire 
Ueberw«K-H«inze,  Grondriw  III.  7.  Aufl.  13 


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194 


§  21.   Die  französische  Philosophie  im  18.  Jahrhundert 


(Aatecedents  de  l'hegeliauisrae  dans  la  philosophie  francaise,  Paris  1866)  ver- 
öflfentlichten  Manoscript.  Der  Fundamentalsatz  desselben  lautet:  „le  tout  universel 
est  un  etre  qui  existe,  c'est  le  fond  dont  tous  les  etres  sensibles  sont  des  nuances". 
Die  Wahrheit  vereinigt  in  sieh  Contradictorisches.  Den  spinozistischen  Dualismus 
der  Attribute,  Denken  und  Ausdehnung,  sucht  Deschamps  durch  einen  hylozoistischen 
Monismus  aufzuheben.    (Vgl.  Journal  des  sav.  1866,  8.  609—624.) 

Das  systematische  Hauptwerk  des  französischen  Materialismus  im  achtzehnten 
Jahrhundert  ist  das  von  dem  Baron  Paul  Heinrich  Dietrich  von  Holbach 
(geb.  1723  zu  Heidelsheim  bei  Bruchsal  in  der  Pfalz,  gest.  am  21.  Februar  1789 
zu  Paris),  einem  Freunde  Diderots,  verfasste  Natnrsystem:  Systeme  de  la  nature 
ou  des  lois  du  monde  physique  et  du  monde  mural,  Lond.  (in  Wirklichkeit  Amst 
od.  Leyden)  1770  (vorgeblich  par  feu  Mlrabaud,  gest.  1760,  welcher  Secretair  der 
Pariser  Akademie  gewesen  war).  Ins  Deutsche  übersetzt,  Frankf.  u.  Leipz.  1783, 
auch  mit  Anm.,  Leipzig  1841.  Holbachs  System  vereinigt  in  sich  alle  bis  dahin 
mehr  vereinzelt  ausgebildeten  Elemente  der  empiristischen  Doctrin:  den  (la- 
mettrieschen)  Materialismus,  den  (condillacschen)  Sensualismus,  den  (auch  von 
Diderot  anerkannten)  Determinismus,  den  Atheismus  (den  es  selbst  am  offensten 
erklärt,  zum  Theil  nach  dem  Vorgange  einer  aus  dem  ersten  Viertel  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  stammenden,  vielleicht  von  dem  Altertumsforscher  Nie. 
Freret,  geb.  1688,  gest.  als  Secretair  der  Akademie  der  Inschriften  1749,  verfassten 
Lettre  de  Thrasybnle  ä  Leucippe,  worin  der  religiöse  Glaube  für  eine  Verwechslung 
des  Subjectiven  mit  dem  Objectiven  erklärt  wird)  und  die  (von  Helvetius  vertretene, 
von  Holbach  durch  Betonung  des  Gesammtinteresses  gemilderte)  auf  das  Princip 
der  Selbstliebe  oder  des  wohlverstandenen  Interesses  gebaute,  aber  in  ihren  Forde- 
rungen sachlich  mit  der  Doctrin  des  Wohlwollens  grösstentheils  übereinkommende 
Moral.  Wesen,  die  jenseit  der  Natur  stehen  sollen,  sind  nur  Geschöpfe  der  Ein- 
bildungskraft. In  Wirklichkeit  giebt  es  nur  Atome,  die  sich  nach  inneren  Gesetzen 
bewegen.  Vermittelt  wird  die  Bewegung  durch  das  Streben  der  Dinge,  in  ihrem 
Sein  zu  verharren,  und  dadurch,  dass  sich  die  Dinge  abstossen  und  anziehen.  In 
der  Physik  heissen  diese  drei  Bedingungen  der  Bewegung  Trägheit,  Repulsion, 
Attractiou,  in  der  Moral  Selbstliebe,  Haas,  Liebe.  Beides  ist  ganz  dasselbe. 
Die  Vorstellung  von  Gott  ist  nicht  nur  unnöthig,  sondern  sogar  schädlich 
und  muss  fern  gehalten  werden.  Sie  erklärt  nichts,  tröstet  Niemanden,  sondern 
ängstigt  nur. 

Der  Naturforscher  Buffon  (1707-1788)  theilte  die  naturalistische  Grundansicht, 
ohne  dieselbe  offen  und  rückhaltlos  zu  äussern.  An  Condillac  anknüpfend,  aber 
über  ihn  hinausgehend,  hat  Cabanis  (1757—1808;  rapports  du  physique  et  du 
moral  de  l'homme,  1798—99  in  den  Mein,  de  l'institut,  dann  separat  1802  u.  ö.) 
die  Physiologie  und  Psychologie  im  materialistischen  Sinne  ausgebildet.  Destutt 
de  Tracy  (1754—1836;  Elements  d'ideologie,  Par.  1801—16;  Commentaire  sur 
l'esprit  des  lois  de  Montesquieu,  Par.  1819),  Laromiguiere  (LeconB  de  philo«, 
ou  essai  sur  les  facultes  de  l'äme,  Par.  1815—18)  u.  A.  haben  in  den  ersten  Jahr- 
zehnten des  neunzehnten  Jahrhunderts  den  Sensualismus  theils  fortzubilden,  theils 
zu  mildern  gesucht,  aber  theils  an  kirchlich  gesinnten  Philosophen,  theils  an  Royer- 
Collard  und  Victor  Cousin,  die  theils  an  Descartes,  theils  an  schottische  und 
deutsche  Philosophen  sich  anschlössen,  und  der  von  ihnen  gegründeten  eklektischen 
oder  spiritualistiscben  Schule  Gegner  gefunden,  die  ihren  Einfluss  beträchtlich 
beschränkt  haben.  Vgl.  Darairon,  Essai  sur  l'histoire  de  la  philo  s.  en  France  au 
dix-neuvieme  siecle,  Paris  1828.    Genaueres  darüber  b.  Abschn.  IV  dieses  Bdes. 


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§  22.    Der  humeache  Skepticismns  u.  seine  Bekämpfet»:  Reid,  Beattie  etc.  195 

§  22.  Gleichzeitig  mit  der  französischen  Aufklärung  und  in 
Wechselwirkung  mit  derselben  hat  sich  der  humesche  Skepti- 
cismus  entwickelt.  David  Hume  (1711  —  1776),  Philosoph,  Staats- 
mann und  Historiker,  steht  auf  dem  Boden  des  lockeschen  Empirismus, 
bildet  denselben  aber  besonders  mittelst  seiner  Untersuchungen  über 
den  Ursprung  und  die  Anwendbarkeit  des  Begriffs  der  Cauaalität 
zum  Skeptici8mus  um.  Er  findet  den  Ursprung  des  Causalbegriffs  in 
der  Gewohnheit,  vermöge  deren  wir,  wenn  sich  ähnliche  Fälle  wieder- 
holen, beim  Eintreten  der  einen  Begebenheit  das  Eintreten  der  andern, 
die  sich  uns  oft  mit  ihr  verbunden  gezeigt  hat,  erwarten,  und  beschränkt 
die  Anwendbarkeit  dieses  Begriffe  auf  solche  Schlüsse,  wodurch  wir  aus 
gegebenen  Thatsachen  nach  Analogien  der  Erfahrung  auf  andere 
schliessen.  Hume  negirt  demgemäss  die  Erkennbarkeit  der  Art  und  Weise 
des  objectiven  Zusammenhangs  zwischen  Ursachen  und  Wirkungen 
und  die  philosophische  Berechtigung,  vermöge  des  Causalbegriffs  das 
Gesammtgebiet  der  Erfahrung  zu  überschreiten  und  auf  das  Dasein 
Gottes  und  die  Unsterblichkeit  der  Seele  zu  schliessen.  In  seinen 
Untersuchungen  über  den  Substanzbegriff  kommt  er  zu  dem  Resultat, 
dass  die  Substanz  nur  eine  Erdichtung  unserer  Phantasie  ist,  um  den 
Zusammenhang  verschiedener  Qualitäten  zu  Stande  zu  bringen.  —  In 
Deutschland  ist  Immanuel  Kant  zumeist  durch  Humes  Skepticismus 
zur  Ausbildung  seines  Kriticismus  angeregt  worden.  —  Humes 
ethisches  Princip  ist  das  Gefühl  der  Glückseligkeit  und  des  Elends 
der  Menschen.  Das  moralische  Urtheil  beruht  auf  dem  Wohlgefallen 
oder  Missfallen,  welches  eine  Handlung  in  dem  Betrachter  derselben 
erregt.  Vermöge  der  natürlichen  Sympathie  des  Menschen  mit  dem 
Menschen  ruft  ein  Handeln,  welches  auf  das  Gemeinwohl  geht,  Beifall, 
ein  gemeinschädliches  aber  Missfallen  hervor.  Jedoch  gelten  auch 
Handlungen,  die  das  individuelle  Wohl  bezwecken,  für  werthvoll.  — 
Der  besonders  als  Nationalökonom  berühmte  Adam  Smith  (1723  bis 
1790)  ist  auch  für  die  Moralphilosophie  von  Bedeutung.  Als  das 
Princip  der  Moral  gilt  ihm,  indem  er  sich  hierin  an  Hume  anschliesst 
und  dessen  ethische  Theorie  weiter  bildet,  die  Sympathie. 

Vorzüglich  die  antitheologischen  Consequenzen  dieses  Stand- 
punktes gaben  mehreren  schottischen  Philosophen,  an  deren 
Spitze  Thomas  Reid  steht  —  ausser  ihm  James  Beattie,  James 
Oswald  — ,  Anlass  zu  einer  lebhaften  Bekämpfung  desselben,  die  in 
ihrem  philosophischen  Princip,  der  Berufung  auf  den  gesunden  Menschen- 
verstand (Common  sense),  schwach  ist,  aber  zu  manchen  und  zum  Theil 
zu  werthvollen  empirisch  -  psychologischen  und  moralischen  Unter- 
suchungen geführt  hat.  Es  sollte  eine  Naturgeschichte  des  Geistes  ge- 
liefert werden,  und  zwar  versuchte  Reid  auf  dem  Wege  der  Beobachtung 

13* 


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196    §  22.   Der  humescbe  Skepticismus  u.  seine  Bekämpfer:  Reid,  Beattie  etc. 


und  Analyse  die  ursprüngliche  Anlage  unseres  Geistes  zu  entdecken 
und  die  Grundsätze  des  gesunden  Menschenverstandes  aufzuzählen.  — 
Die  Doctrin  Reids  und  seiner  Anhänger  hat  später  der  cousinsche 
Eklekticismus  mit  in  sich  aufgenommen. 

Diesen  älteren  Lehren  haben  sich  spätere  schottische  Philosophen 
angeschlossen,  z.  Th.  mit  selbständiger  psychologischer  Forschung,  so 
Dugald  Stewart  (1753—1828),  Thom.  Brown  (1778—1820),  James 
Mackintosh  (1764-1832). 

Humes  Treatise  on  human  nature  ist  in  3  Bd.  Lond.  1739 — 40  erschienen, 
auch  Lond.  1817,  zuletzt  zusammen  m.  dialogues  coneerning  natural  religion  edited  with 
preliminary  dissertations  and  notes  by  T.  H.  Green  and  T.  H.  Grose,  2  vols.,  Lond. 
1874,  deutsch  v.  Ldw.  Hnr.  Jakob.  Halle  1790—91.  Sein  bekannteste*  philo««.  Werk: 
Enquiry  coneerning  human  understanding,  ersch.  zuerst  Lond.  1748:  ins  Deutsche 
(von  Sulzer)  übers.  Hamb.  u.  Leipz.  1755,  von  W.  G.  Tennemann  (nebst  e.  Abhndlg.  üb. 
d.  philos.  Skepticism.  v.  K.  Leonh.  Reinhold)  Jena  1793  u.  v.  J.  H.  v.  Kirchmann  als 
Bd.  XIII.  der  .philos.  Bibl.",  Berl.  1869.  Unt.  d.  Tit:  Essays  and  treatise«  on  several 
snbjects  lies«  H.  1770  die  Essays  moral,  political  and  literäry,  die  zuerst  1741  er»ch. 
waren,  zugleich  m.  d.  Enquiry  coneerning  human  understanding  und  m.  d.  Ablidlgn.: 
a  dissertation  on  the  passions,  an  enquiry  coneerning  the  principles  of  moral 
(zuerst  London  1751)  und  the  natural  history  of  religion  (zuerst  Lond.  1755) 
drucken;  diese  Sammlung  ist  mehrmals  wiedergedr.  worden;  edited  with  notes  by  T.  H. 
Green  and  the  Reverend  T.  H.  Grose,  2  vols.,  London  1875.  Nach  H.s  Tode  erschien 
die  Schrift:  Dialogues  coneerning  natural  religion  by  David  Hume,  mit  derer* 
Herausg.  er  seinen  Freund  Adam  Smith  beauftragt  hatte,  the  second  edition,  Lond.  1779, 
deutsch  (von  Sehreiter)  nebst  e.  Gespräche  üb.  d.  Atheismus  von  Ernst  Platner,  Leipz. 
1781.  Essays  on  suicide  and  the  immortality  of  soul,  ascribed  to  the  late  David  Hume, 
Lond.  1783,  a  new  ed.,  Lond.  1789.  Die  Dialoge  über  natürliche  Religion,  über  Selbst- 
mord und  Unsterblichkeit  der  Seele,  ins  Deutsche  übersetzt  von  Fr.  Paulsen,  in  d.  philos. 
Biblioth.,  1877,  die  Untersuchung  üb.  d.  Principien  der  Moral  deutsch  berousgeg.  v. 
Thom.  Carrigue  Masaryk,  Wien  1883.  Gesammtausgaben  seiner  philos.  Schriften  sind 
Edinb.  1827,  1836,  Lond.  1856,  Lond.  1870  erschienen.  Humes  Autobiographie,  ge- 
schrieben 1776,  erschien,  veröffentlicht  von  Adam  Smith,  Lond.  1777,  lat.  1787.  Ueb. 
ihn  handeln  J.  H.  Burton,  life  and  correspondence  of  D.  H.,  Edinb.  1846  u.  1850. 
Feuerlein,  H.s  Leb.  u.  Wirk.,  in  der  Zeitschr.:  der  Gedanke,  Bd.  IV  und  V,  Berl.  1863 
u.  64.  F.  Papillon,  David  H.,  precurseur  d' Auguste  Comte,  Versailles  1868.  Lars 
Albert  Sjöholm,  det  historiska  sammanhanget  mellan  Humes  Skepticism  och  Kants 
Kritieism,  Akademisk  Afhandling,  Upsala  1869.  W.  F.  Schnitze.  H.  u.  Kant  üb.  d. 
Causalbegriff,  In.-Diss.,  Rostock  1870.  Frdr.  Jodl,  Dav.  H.s  Lehre  v.  d.  Erkennrn.. 
Halle  1871;  Leb.  u.  Phil.  Dav.  H.s,  Preisschrift,  ebd.  1872.  Gabr.  Compayre,  la  phU. 
de  Dav.  H.,  Toulouse  1873.  Edm.  Pfleiderer,  Empirism.  u.  Skepsis  in  Dav.  H.s 
Philos.  als  abschliessende  Zersetzg.  d.  engl.  Erkenutnisslehre,  Moral  u.  Retigswisaensch. 
dargestellt,  Berlin  1874.  O.  Spicker,  Kant,  Hume  u.  Berkeley,  s.  ob.  S.  197.  T.  Becker, 
de  philosophia  Lockit  et  Humii,  s.  ob.  S.  116.  A.  Meinong,  Hume-Studien,  L  Zur 
Geschichte  u.  Kritik  des  modernen  Nominalismus,  Wien  1877;  II.  Zur  Relationstheorie, 
Wien  1882.  A.  Speckmann,  über  Humes  metaphysische  Skepsis,  Bonn  1877.  Psychologie 
de  Hume.  Traite  de  la  nature  humaine  traduit  par  Ch.  Rcnouvier  et  F.  Pillon  et 
essai  philosophique  sur  l'entendement  —  avec  une  introduetion  par  F.  Pillon,  Pari«  1878. 
C.  Ritter,  Kant  und  Hume,  I.-D.,  Halle  1878.  G.  v.  Gizycki,  d.  Ethik  D.  H.s  in 
ihrer  geschichtl.  Stellung,  Breslau  1878.  Rud.  Kühne,  üb.  d.  Verh.  der  humeschen  u. 
kantisch.  Erkennrnisstheorie,  Rostock,  I.-D.,  Berl.  1878.  T.  Huxley,  Hume,  Lond. 
1879.  G.  Compayre,  du  pretendu  seepticisme  de  H.,  in  Rev.  phil.,  Bd.  8,  1879,  S.  449 
bis  468.  Max  Runze,  Kants  Krit.  an  Humes  Skepticismus,  I.-D.,  Berl.  1880.  J. 
Mainzer,  d.  krit.  Epochen  in  d.  L.  v.  d.  Einbildungskraft  aus  Humes  u.  Kants  theoret. 
Philos.  nachgewiesen,  Jena  1881.  Edm.  Koenig,  üb.  d.  Substanzbegr.  bei  Locke  u.  Hume, 
I.-D.,  Lpz.  1881.  A.  Espinas,  la  philosophie  en  Ecosse  au  XVIII*  S.  et  les  origines 
de  la  philos.  anglaise,  contemporaine ;  premiere  periode:  Hutcheson,  Ad.  Smith,  Hume, 
in:  Rev.  phil..  1881  Bd.  11,  S.  119—132,  Bd.  12,  S.  18—31,  113—150.  A.  Paoli, 
Hume  e  il  prineipio  di  causa,  Mail.  1882.    R.  Zimmermann,  Ueb.  Humes  Stellung  zu 


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§  22.    Der  humesche  Skepticismus  u.  seine  Bekämpfer:  Reid,  Beattie  etc.  197 


Berkeley  u.  Kant,  in:  Sitzungsber.  der  Kais.  Ak.  zu  Wien,  1883;  ders.,  üb.  H.s  empir. 
Begründ.  der  Moral,  Wien  1884.  Th.  G.  Maxaryk,  D.  H.s  Skepsis  u.  Wahrscheinlich- 
keitsrechnung, Wien  1884.  Thdr.  Wittstein,  d.  Streit  zwisch.  Glbn.  u.  Wissensehaft 
auf  Grundlage  der  L.  D.  Humes  u.  der  Wahrscheinlichkeitsreehn.,  Hannov.  1884.  Jubn 
P.  Gordy,  Hume  as  Sceptie,  I.-D.,  Berl.  1885.  Mac  Cosh,  a  gnosticism  of  Hutne  and 
Huxley,  witb  a  notice  of  tbe  scotish  seool,  Lond.  188(5.  William  Knight,  Hutne 
(Pbilos.  Classies  for  Engl,  readere),  Lond.  1887.  J.  Raffel,  d.  Voraussetzungen,  welche 
den  Empirism.  Lock  es,  Berkeleys  u.  Humes  zu  Idealism.  führten,  Berl.  1887. 

Ad.  Smith,  Theory  of  moral  sentiment,  Lond.  1759  u.  ö.,  deutsch  von  Kose- 
garten, 1791,  sein  Hauptwerk:  Inquiry  into  the  nature.  into  tbe  cause»  of  the  wealth 
of  nations,  Lond.  177f>.  Vgl.  flb.  sein  Leben  u.  seine  Schriften  Dugald  Stewart  in 
Ad.  Smith,  Essays,  Lond.  1795,  auch:  the  Works  complets,  5  vol.,  Edinb.  1811 — 12. 
Ueber  ihn  s.  Smellie,  ob.  S.  135,  H.  Lord  Brougham  in  seinen  Lives  of  philosophers  etc. 
(s.  ob.  S.  127),  S.  196—289,  A.  Oncken,  Ad.  S.  in  d.  Cuiturgesch.,  Wien  1874:  ders., 
A.  S.  u.  Imm.  Kant,  1.  Abth.,  Eth.  u.  Polit.,  Lpz.  1877.  Mich.  Chevalier,  etude  sur 
Ad.  S.  et  sur  la  fondation  de  la  science  economique,  Par.  1874.  Witold  v.  Skarzynski, 
Ad.  Sm.  als  Moralphitosoph  u.  Schöpfer  der  Nationalökon.,  Berl.  1878. 

Ueber  die  schottische  Philos.  vgl.  J.  M'  Cosh,  the  scottish  philosophy  biographicai, 
expository,  critical,  Lond.  1875.  A.  Seth,  Scotish  philosophy,  a  comparison  of  the 
Scotish  and  German  answers  to  Hume,  Lond.  1886. 

Reid,  Inquiry  into  the  human  mind  OD  the  principles  of  common  sense,  Lond. 
1764  u.  ö.,  deutsch  übersetzt,  Lpz.  17,82;  on  the  intcllectual  powers  of  man,  Edinb. 
1785:  on  the  active  powers  of  man,  Edinb.  1788:  die  beiden  letzteren  Schriften  öfters 
zusammen  gedruckt  als  Essays  on  the  powers  of  the  hnman  mind.  Werke  herausgeg.  von 
Dugald  Stewart,  Edinb.  1804,  von  Hamilton,  Edinb.  1827  u.  ö.;  vgl.  Reid  and  the 
philos.  of  Common  sense,  eine  im  J.  1847  verfasste  Abhandlung  von  J.  F.  Ferrier.  in 
dessen  Lectures  ed.  by  Grant  and  Lushington,  Lond.  1866,  vol.  II,  S.  407 — 459.  James 
F.  Latimer,  Immediate  pereeption  as  held  by  Reid  and  Hamilton  considered  as  a  refu- 
tation  of  the  seepticism  of  Hume,  I.  D.,  Lpz.  1880. 

James  Beattie,  essay  on  the  nature  and  immutability  of  truth  in  Opposition  to 
sophistry  and  seepticisme,  Edinb.  1770  u.  ö.,  deutsch  übers.  Kopenb.  u.  Lpz.  1772,  auch 
in  Beatties  Werken,  Lpz.  1778.  —  James  Oswald,  appeal  to  common  sense  in  behalf 
of  religion,  Edinb.  1766—72. 

Dugald  Stewart,  Elements  of  the  philosophy  of  human  mind,  Vol.  I,  Edinb.  1792, 
Vol.  II,  1814,  Vol.  III,  1827,  dann  öfter,  Lond.  1862,  1867,  deutsch,  Vol.  I:  .Anfangs- 
gründe der  Philos.  üb.  d.  menschl.  Seele",  von  Sam.  Wilh.  Lange,  Berl.  1794;  Outlines 
of  the  moral  phil.,  1793  (with  critical  notes  by  J.  M'Cosh,  Lond.  1863);  Phtlosophical 
essays,  Edinb.  1810;  a  general  view  of  the  progress  of  metaphysical,  ethic.  and  polit. 
phil.  since  the  revival  of  letters  in  Europe,  in  dem  Supplement  zu  d.  4.  u.  5.  Edit.  der 
Encyel.  Brit.,  1815  u.  1821,  dann  auch  besonders  gedruckt;  Philosophy  of  the  active 
and  moral  powere  of  man,  1828.  Collected  works,  herausgeg.  v.  Will.  Hamilton,  10  Bde., 
Edinb.  1854 — 1858.  —  Thom.  Brown,  an  inquiry  into  the  relation  of  cause  and  effeet, 
Edinb.  1804,  3.  ed.  with  additions  1818.  Nach  seinem  Tode:  Lectures  on  the  philos. 
of  human  mind,  4  vols.,  Edinb.  1820  u.  öft.,  19.  Aufl.,  Lond.  1856;  Lectures  on  Ethics, 
Lond.  1856.  Ueb.  ihn  Dav.  Welsh,  Account«  of  the  life  and  writings  of  Th.  Br., 
Edinb.  1825.  —  Jam.  Mackintosh,  Dissertation  of  the  progress  of  ethical  philosophy, 
chieflv  duriug  the  17.  and  18.  centuries,  in  d.  Encvelop.  Britann.,  auch  besond.  herausgeg. 
Lond.  1830,  3.  ed.  with  prefation  bv  W.  Whewell.  Lond.  1863,  4.  ed.,  Lond.  1872. 
Ins  Franz.  übers,  v.  H.  Poret,  Par.  1834. 

Geboren  zu  Edinburgh  am  26.  April  1711,  lebte  Hume  von  1734  —37  in 
Frankreich.  In  Paris  erregten  damals  die  Wunder,  die  zu  Gunsten  der  verfolgten 
Jansen  ist  fii  besonders  auf  dem  Kirchhof  von  St.  Medard  am  Grabe  des  Abbd  Paris 
geschahen,  Aufsehen  nnd  gaben  unintereesirten  Denkern  Anlass  zu  psychologischen 
Untersuchungen  über  die  Genesis  des  Wunderglaubens.  H.  bekundet  dies  von  sich 
selbst  in  seiner  Abhandlung  über  die  Wunder.  (In  ähnlicher  Art  haben  die  an- 
geblichen Wunder  des  thierischen  Magnetismus  Dav.  Frd.  Strauss  in  ziemlich  frühem 
Alter  zu  psychologischen  Betrachtungen  angeregt.)  Während  seines  Aufenthaltes 
in  Frankreich  schrieb  H.  sein  erstes  philosophisches  Werk:  A  treatise  on  human 
nature,  being  an  attempt  to  introduce  the  experimeutal  method  of  reasoning  into 


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198    §  22.   Der  huroesche  Skepticismus  u.  seine  Bekämpfer:  Reid,  Beattie  etc. 


moral  subjects,  welches  er  nach  seiner  Rückkehr  nach  England  zu  I^ondon  1739—40 
erscheinen  Hess.  Dasselbe  fand  geringe  Beachtung.  Günstigere  Aufnahme  fanden 
die  1741  zu  Edinburgh  erschienenen  Essays  moral,  political  and  literary.  Im 
Jahre  1746  soll  sich  Harne  vergeblich  um  die  Lehrstelle  der  Moral philosophie  zu 
Edinburgh  beworben  haben.  Nicht  lange  hernach  (1747)  begleitete  er  den  General 
St  Clair  als  Secretair  bei  einer  militärischen  Gesandtschaft  an  die  Höfe  von  Wien 
und  Turin;  in  Turin  arbeitete  er  seinen  Tractat  über  die  menschliche  Natur  um 
und  theilte  denselben  in  mehrere  einzelne  Abhandlungen.  Von  diesen  ist  die 
bedeutendste  die  Untersuchung  über  den  menschlichen  Verstand,  Enquiry  concer- 
ning  human  understanding,  London  1748.  Im  Jahr  1749  reiste  Hume  nach  Schott- 
land zurück.  Im  Jahr  1751  veröffentlichte  er  Untersuchungen  über  die  Principien 
der  Moral.  Mit  vielem  Beifall  wurden  seine  political  discourses,  Edinb.  1752, 
2.  Ausg.  ebd.  1753,  aufgenommen.  Eine  1752  angetretene  Bibliothekarstelle  in 
Edinburgh,  durch  die  ihm  eine  Fülle  litterarischer  Hülfsmittel  leicht  zugänglich 
wurde,  veranlasste  ihn,  seine  Geschichte  Englands  zu  schreiben,  die  zuerst  1754—62 
erschien.  Im  Jahr  1755  erschien  die  Natural  Mstory  of  religion,  die  ihm  manche 
Anfeindungen  zuzog.  H.  begleitete  1763  als  Secretair  den  Grafen  von  Hertford, 
der  als  Gesandter  zum  Abschluss  des  Friedens  nach  Versailles  ging.  In  Paris 
fand  H.  eine  glänzende  Aufnahme  und  kam  mehrfach  mit  Rousseau  und  den  Ency- 
clopädisten  zusammen.  Bei  seiner  Rückkehr  nach  England  1766  Hess  er  sich  von 
Rousseau  begleiten,  mit  dem  er  Freundschaft  geschlossen  hatte;  doch  ward  ihm 
bald  von  diesem,  den  die  Abhängigkeit  drückte,  und  der  sich  von  H.  besonders 
durch  gewisse  öffentliche  Aeusserungen,  die  er  jedoch  fälschlich  diesem  zuschrieb, 
beleidigt  glaubte,  mit  Undank  gelohnt.  Als  Unterstaatssecretär  im  auswärtigen 
Amte  (an  dessen  Spitze  der  General  Conway  stand)  hat  H.  1767 —  68  die  diplo- 
matische Correspondenz  Englands  geführt.  Von  1769  an  lebte  H.  privatisirend  in 
Edinburgh,  wo  er  am  25.  August  1776  starb. 

Nachdem  H.  in  seinem  philosophischen  Hauptwerk,  der  „Untersuchung  über 
den  menschlichen  Verstand",  erklärt  hat,  daas  es  ihm  nicht  um  blosse  Ermahnung 
zur  Tugend,  sondern  um  eine  gründliche  Erörterung  der  Kräfte  des  Menschen  und 
der  Grenzen  unserer  Erkenntniss  zu  thun  sei,  also  nicht  um  ein  bloss  populäres, 
sondern  um  ein  wissenschaftliches  Philosophiren,  in  welchem  er  jedoch  die  Klarheit 
mit  der  Gründlichkeit  möglichst  zu  vereinigen  suchen  werde,  wendet  er  sich  zu- 
nächst zu  der  Untersuchung  über  den  Ursprung  der  Vorstellungen.  Er  unter- 
scheidet Eindrücke  (irapressions)  und  Ideen  oder  Gedanken  (ideas,  thoughts). 
Unter  den  ersteren  versteht  er  die  lebhaften  Empfindungen,  die  wir  haben,  wenn 
wir  hören,  sehen,  fühlen,  oder  lieben,  hassen,  begehren,  wollen,  unter  den  letzteren 
aber  die  minder  lebhaften  Erinnerungs-  oder  Einbildungs -Vorstellungen,  deren  wir 
uns  dann  bewusst  werden,  wenn  wir  über  irgend  einen  Eindruck  reflectiren.  Die 
schöpferische  Kraft  des  Denkens  erstreckt  sich  nicht  weiter,  als  auf  das  Vermögen, 
denjenigen  Stoff,  welchen  die  Sinne  und  die  Erfahrung  liefern,  zu  verbinden,  umzu- 
stellen, zu  erweitern  oder  zu  vermindern.  Alle  Materialien  des  Denkens  werden 
uns  durch  die  äussere  oder  innere  Erfahrung  gegeben;  nur  die  Combinaüon  der- 
selben ist  das  Werk  des  Verstandes  oder  Willens.  Alle  unsere  Ideen  sind 
Copien  von  Perceptioneu.  Auch  die  Gottesidee  macht  hiervon  keine  Ausnahme; 
der  Verstand  gewinnt  sie,  indem  er  die  menschlichen  Eigenschaften  der  Weisheit 
und  Güte  über  alle  Grenzen  hinaus  steigert  Die  Verknüpfung  der  verschiedenen 
Vorstellungen  miteinander  beruht  auf  den  drei  Principien  der  Association: 
Aehnlichkeit,  Verbindung  in  Raum  und  Zeit  und  Ursache  und  Wirkung. 

Man  kann  alle  Gegenstände  des  menschlichen  Denkens  und  Forschens  in  zwei 
Classen  eintheilen:  Beziehungen  der  Ideen  und  Thatsachen.   Zu  der  ersten 


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§  22.   Der  hnmesche  Skepticismus  u.  seine  Bekämpfen:  Reid,  Beattie  etc.  199 

Ciasee  gehören  die  Sätze  der  Geometrie,  der  Arithmetik  and  Algebra  und 
überhaupt  jedes  Urtheil,  dessen  Evidenz  auf  Intuition  oder  Demonstration  sieh 
gründet  Sätze  dieser  Art  werden  durch  die  blosse  Denkthätigkeit  gefnnden;  sie 
sind  unabhängig  von  aller  Existenz.  Auch  wenn  kein  Kreis  oder  Dreieck  in  der 
Natur  vorhanden  wäre,  würden  die  geometrischen  Sätze  gelten.*)  Sätze  dagegen, 
die  auf  Thataächliehcs  gehen,  haben  nicht  denselben  Grad  und  nicht  dieselbe 
Art  von  Evidenz.  Die  Wahrheit  oder  Unwahrheit  solcher  Sätze  ist  nicht  durch 
blosse  Begriffe  erweislich,  denn  wäre  sie  es,  so  müaste  die  Annahme  des  Gegen- 
theils  in  sich  selbst  mit  einem  Widerspruche  behaftet  sein,  was  nicht  der  Fall  ist 
Alles  ScMiessen,  welches  auf  Thataachen  geht,  scheint  sich  auf  die  Beziehung  von 
Ursache  und  Wirkung  zu  gründen.  Man  setzt  voraus,  dass  es  einen  Causal- 
zusammenhang  zwischen  dem  gegenwärtigen  Factum  und  demjenigen,  auf  welches 
geschlossen  wird,  gebe,  so  dass  das  eine  die  Ursache  des  andern  oder  auch  beide 
Facta  coordinirte  Wirkungen  der  nämlichen  Ursache  seien.  Wollen  wir  daher  in 
das  Wesen  der  Gewissheit  über  erschlossene  Thatsachen  eine  befriedigende  Einsicht 
gewinnen,  bo  müssen  wir  untersuchen,  auf  welche  Weise  wir  die  Kenntuiss  von 
Ursache  und  Wirkung  erlangen. 

Wir  erlangen,  sagt  Hume,  die  Kenntniss  des  C'ausalnexus  in  keinem  Falle 
durch  Schlüsse  a  priori,  sondern  lediglich  durch  Erfahrung,  indem  wir  nämlich 
finden,  dass  gewisse  Objecte  nach  einer  beständigen  Regel  verknüpft  sind.  Die 
Wirkung  ist  von  der  Ursache  durchaus  verschieden  und  sie  kann  folglich  nicht  in 
dem  Begriffe  der  letzteren  aufgefunden  und  erfahrungslos  durch  den  Verstand  er- 
schlossen werden.  Ein  Stein  oder  ein  Metallstück  fällt  sogleich  zur  Erde,  wenn  es 
in  der  freien  Luft  ohne  Stütze  ist.  Dies  lehrt  die  Erfahrung.  Aber  können  wir 
wohl  durch  Schlüsse  a  priori  nur  das  Geringste  entdecken,  woraus  sich  erkennen 
Hesse,  dass  der  Stein  oder  das  Metall  sich  nicht  eben  so  gut  nach  oben  wie  nach 
dem  Mittelpunkte  der  Erde  bewegen  werde?  Noch  weniger  als  die  Art  der  Wir- 
kung kann  der  Verstand  die  not h wendige,  unveränderliche  Verknüpfung  zwischen 
Ursache  und  Wirkung  a  priori  erkennen.  Hieraus  folgt,  dass  das  höchste  Ziel  der 
menschlichen  Erkenntniss  darin  besteht,  die  empirisch  gefundenen  Ursachen  von 
Naturerscheinungen  einheitlich  zusammenzufassen  und  die  Mannigfaltigkeit  der 
besonderen  Wirkungen  einigen  wenigen  generellen  Ursachen  unterzuordnen.  Aber 
die  Bemühung  ist  vergeblich,  die  Ursachen  von  diesen  generellen  Ursachen  ent- 
decken zu  wollen.  Die  letzten  Gründe  sind  der  Neugier  und  Nachforschung  der 
Menschen  gänzlich  verschlossen.  Die  Elasticität,  die  Schwerkraft,  die  Cohäsion 
der  Theile,  die  Mitteilung  der  Bewegung  durch  den  Stoss,  das  sind  wahrscheinlich 
die  generellsten  Ursachen,  auf  welche  wir  die  Naturerscheinungen  zurückführen 
können;  aber  hierdurch  wird  unsere  Unwissenheit  über  die  Natur  nur  etwas  weiter 


*)  Diese  Ansicht  Humes  ist  nur  eine  Behauptung,  nichts  Erwiesenes;  sie  ist 
nur  haltbar  unter  der  mindestens  höchst  bestreitbaren  Voraussetzung  der  blossen 
Subjectivität  des  Raumes,  zu  welcher  freilich  Hume  durch  Gleichstellung  der  von 
Locke  angenommenen  primitiven  Qualitäten  mit  den  secundären,  und  später  ent- 
schiedener Kant  fortgegangen  ist,  die  aber  keineswegs  mit  Nothwendigkeit  gilt, 
und  selbst  unter  dieser  Voraussetzung  giebt  sie  nicht  eine  wirkliche  Erklärung  der 
apodiktischen  Erkenntniss.  Es  giebt  keinen  Satz  der  reinen  Geometrie,  der  die 
Existenz  eines  Kreises  oder  eines  Dreiecks  in  der  Natur  behauptete,  Bondern  nur 
Sätze,  welche  unter  Voraussetzung  dessen,  was  der  Subjectsbegriff  bezeichnet,  die 
Nothwendigkeit  behaupten,  dass  dasselbe  mit  dem  betreffenden  1  radicate  verbunden 
sei;  diese  Beziehu ng  aber  wird  als  eine  objectiv- reale  und  nicht  alB  eine  blosse 
Beziehung  zwischen  unseren  Vorstellungen  behauptet,  und  eben  darum  wird  auch 
von  der  angewandten  Geometrie  jedem  in  der  Natur  existirenden  Kreis,  Dreieck, 
< 'y linder,  Kegel  etc.  eben  jenes  Prädicat  vindicirt 


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200    §  22.   Der  huraesche  Skepticismus  u.  seine  Bekämpfer:  Reid,  Beattie  etc. 

zurückgeschoben.  Das  Analoge  gilt  in  Bezug  auf  die  Moralphilosophie  und  Erkennt- 
nisslehre. Die  Geometrie,  so  gross  auch  ihr  wohlverdienter  Ruhm  von  Seiten  der 
Bündigkeit  und  Strenge  ihrer  Schlüsse  ist,  kann  uns  doch  nicht  zur  Brkenntniss 
der  letzten  Naturursachen  verhelfen;  denn  sie  dient  nur  bei  der  Entdeckung  und 
bei  der  Anwendung  der  Naturgesetze.  Diese  selbst  aber  müssen  mittelst  der  Er- 
fahrung erkannt  werden. 

Wenn  wir  ähnliche  sinnliche  Beschaffenheiten  wahrnehmen,  bo  erwarten  wir, 
dass  aus  ihnen  ähnliche  Wirkungen,  als  wir  schon  erfahren  haben,  entspringen 
werden.  Aber  es  lässt  sich  weiter  fragen,  worauf  diese  Erwartung  beruhe.  Könnte 
man  irgendwie  vermuthen,  dass  der  Lauf  der  Natur  sich  ändern  und  das  Vergangene 
keine  Regel  mehr  für  das  Künftige  sein  werde,  so  würde  alle  Erfahrung  unnütz 
werden  und  keine  Quelle  mehr  sein,  woraus  man  Folgerungen  ableiten  könnte.  Das 
Princip,  welches  die  Erwartungen  ähnlicher  Wirkungen  bestimmt,  ist  nicht  eine 
Erkenntniss  der  verborgenen  Kraft,  durch  welche  das  eine  Ding  das  andere  hervor- 
bringt, denn  eine  solche  Kraft  können  wir  weder  ausser  uns  noch  in  uns  beob- 
achten; sondern  dieses  Princip  ist  die  Gewohnheit:  der  Verstand  wird,  wenn 
sich  ähnliche  Fälle  wiederholen,  durch  die  Gewohnheit  bestimmt,  bei  Erscheinung 
der  einen  Begebenheit  ihre  gewöhnliche  Begleiterin  zu  erwarten  und  zu  glauben, 
sie  werde  in  Wirklichkeit  treten.  Diese  Verknüpfung,  welche  wir  in  dem  Gemüthe 
fühlen,  der  gewohnte  Uebergang  von  einem  Gegenstande  zu  seinem  gewöhnlichen 
Gefährten,  ist  die  Empfindung  oder  der  Eindruck,  ans  welchem  wir  den  Begriff 
einer  Kraft  oder  nothwendigen  Verknüpfung  bilden.  Wir  fühlen  bei  beständig 
wahrgenommenen  Verbindungen  von  Vorgängen  die  gewohnte  Verknüpfung  der 
Vorstellungen  und  übertragen  dieses  Gefühl  auf  die  Gegenstände,  wie  wir  überhaupt 
den  Aussendingen  die  Empfindungen,  welche  durch  dieselben  in  uns  veranlasst 
werden,  beizulegen  pflegen.*) 

*)  So  richtig  11.  hiermit  den  Anfang  des  auf  Erfahrung  gegründeten  Schliesseus 
bei  Thieren  und  Menschen  bezeichnet,  so  wenig  vermag  das  blosse  Princip  der 
Gewöhnung  den  Fortgang  desselben,  die  Aufhebung  der  naiven  Objectirunjr  des 
jedesmaligen  subjectiven  Vorstelluugslaufs  und  die  stufenweise  Erhebung  zu  objectiv 

fähiger  Einsicht,  zu  erklären.  Das  Thier,  welches  in  die  Falle  geht,  der  blosse 
'raktiker,  der  nur  Routine  hat  und  in  aussergewöhnlichen  Fällen  durch  Beharren 
bei  dem  gewohnteu  Gange  ins  Unglück  geräth,  zeigen  diejenige  Erscheinung,  welche 
von  H.  psychologisch  erklärt  wird;  aber  H.  hat  nur  nachträglich  (in  einer  später 
beigefügten  Note)  und  nicht  ohne  einige  Inconsequenz  einen  Versuch  gemacht,  zu 
zeigen,  wie  diejenigen  Schlussreihen  zu  Stande  kommen,  durch  welche  dem 
Menschen  die  Ueberhstung  des  Thieres  möglich  wird,  oder  der  Denker  die  Fehler 
des  blossen  Praktikers  vermeidet.  Umfassendere  Induction  kann  zu  allgemeinereu 
Sätzen  führen,  welche  die  Obersätze  zu  deductiven  Schlüssen  abgeben,  durch 
welche  die  Gültigkeit  der  Ergebnisse  minder  umfassender  Inductionen  theils  be- 
stätigt und  gesichert,  theils  beschränkt  wird.  Li  dem  Maasse  aber,  wie  die  so 
berichtigten  Erwartungen  mehr  in  Uebereinstimmung  mit  der  Wirklichkeit  treten, 
erlangt  der  Begriff  der  Kraft,  der  aus  der  Reflexion  auf  die  Empfindung  der  An- 
strengung und  auf  unsere  Willenskraft  überhaupt  erwächst,  und  der  auf  dem  Begriffe 
der  Kraft  ruhende  Begriff  der  Causalität  objective  Gültigkeit,  und  gehen  die  Regeln, 
die  nicht  ohne  Ausnahmen  gelten,  in  ausnahmslos  gültige  Gesetze  über.  Indem  H. 
(in  der  erwähnten  Note,  H.  5i  sagt:  „das  Moment,  von  welchem  die  Wirkung 
abhängt,  ist  oft  mit  fremden  und  äussern  Umständen  verwickelt;  die  Abtrennung 
derselben  erfordert  oft  grosse  Aufmerksamkeit,  Genauigkeit  und  Scharfsinn*,  so 
erkennt  er  hiermit,  aber  nur  implicite,  eine  objective  Norm  des  Causalbegriffs 
an.  Auch  steht  die  Gewohnheit  selbst  im  (psychischen)  Causalnexus,  setzt  also 
die  (psychische)  Objectivität  der  Causalität  voraus.  Um  eine  objective  Gültigkeit 
dem  Begriff  der  Causalität  zu  vindiciren,  hat  Kant  denselben  für  einen  Begriff 
a  priori  erklärt,  wie  er  Raum  und  Zeit  als  Anschauungen  a  priori  fasste,  wodurch 
jedoch  die  allein  mit  vollem  Recht  so  zu  nennende  Objectivität  (welche  Kant  als  die 
„trausseendentale-  von  der  „empirischen*  unterscheidet)  verloren  geht,  s.  unten  §  25. 


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§  22.   Der  humesche  Skepticismus  u.  seine  Bekämpfer:  Reid,  Beattie  etc.  201 


Im  Inquiry  gebt  Uume  nur  auf  specielle  Cuusalurtheile  ein,  während  er  in 
dem  Treatise  schon  das  allgemeine  Causalgesetz :  Alles,  was  geschieht,  hat  eine 
Ursache,  als  blosses  Prodact  der  Gewohnheit  bezeichnet  hatte  (s.  H.  Vaihingen 
Comment.  zu  Kants  Krit.  d.  r.  Vern.,  I,  S.  344  ff  ). 

An  H.s  Betrachtungen  über  die  Causalität  knüpft  sich  zumeist  seine  philo- 
sophische Bedeutung.  Sein  Skepticismus  ist  eben  darin  begründet,  dass  der 
Causalbegriff  bei  seinem  Ursprung  aus  der  Gewohnheit  nur  einen  Gebrauch  inner- 
halb des  Erfahrungskreises  zulasse;  der  Schluss  von  dem  empirisch  Gegebenen  auf 
Transscendentes  (über  den  gesammten  Erfahrungskreis  Hinausgehendes!,  wie  Gott 
und  Unsterblichkeit,  erscheint  H.  als  unzulässig.  Dazu  kommt,  dass  Hume,  besonders 
in  seinem  frühesten  Treatise,  eben  so  negativ  auch  über  den  Substanzbegriff 
urtheilt:  das  Ich  ist  ein  Yorstellungscomplex ,  dem  wir  ein  einheitliches  Substrat 
oder  eine  Substanz  unterzulegen  nicht  berechtigt  sind.  Hume  sagt:  Wir  haben 
klare  Vorstellungen  nur  von  Perceptionen ;  eine  Substanz  ist  etwas  von  Perceptionen 
ganz  Verschiedenes;  also  haben  wir  keine  Erkenntniss  von  einer  Substanz.  Inhärenz 
(inhesion)  in  Etwas  gilt  als  erforderlich  zum  Bestand  unserer  Perceptionen,  aber 
dieselben  bedürfen  in  der  That  keines  Trägers.  Die  Frage,  ob  die  Perceptionen 
einer  materiellen  oder  immateriellen  Substanz  inhäriren,  ist  unbeantwortbar,  weil 
sie  keinen  verständlichen  Sinn  hat.  Entstanden  ist  nach  Hume  der  Begriff  der 
8nbstanz  dadurch,  dass  wir  mehrmals  dieselbe  Verknüpfung  von  Wahrnehmungs- 
thätigkeiten  vollziehen.  Diese  constante  Verknüpfung  ist  die  Impression,  welche 
zur  Bildung  der  Substanz  führt,  obwohl  ganz  unberechtigt.  Da  wir  nun  niemals 
Qualitäten  wahrnehmen,  ohne  dass  von  uns  eine  Substanz  hinzugedacht  würde,  so 
bringt  uns  die  Gewohnheit  zu  der  Annahme,  dass  eine  jede  Qualität  von  einer 
unbekannten  Substanz  abhängig  sei.  —  Religiöse  Wahrheiten  können  nie  gewusst, 
sondern  immer  nur  geglaubt  werden.  Also  auch  die  Naturreligion  des  Deisten 
ist  wissenschaftlich  unhaltbar.  Dagegen  macht  sich  Hume  an  das  Problem, 
nachzuweisen,  wie  alle  Religionen  durch  psychologische  Nothwendigkeit  ent- 
standen seien. 

Aelmlich  wie  Spinoza  gründete  Hume  seine  Ethik  auf  eine  Theorie  der  Affecte, 
als  deren  Grundelemente  er  Lust  und  Unlust  betrachtet  Vermöge  der  Association 
sollen  sich  aus  diesen  beiden  die  ganzen  Reihen  von  Affecten  und  Leidenschaften 
entwickeln.  Blosses  Denken,  reine  Verstandesprocesse  sind  an  sich  keine  Quellen 
des  Handelns.  Die  Vernunft  giebt  nur  die  Urtheile  über  Wahr  und  Falsch,  belehrt 
uns  über  die  verderblichen  oder  nützlichen  Tendenzen  der  Eigenschaften  und  Hand- 
lungen, reicht  aber  nicht  hin,  um  eine  moralische  Billigung  oder  Verwerfung  her- 
vorzurufen, und  kann  nie  für  sich  ein  Willensmotiv  sein.  Nur  insofern  sie  eine 
Neigung  oder  Leidenschaft  berührt,  kann  sie  Einfluss  auf  das  Handeln  ausüben. 
Was  man  Vernunft  beim  Handeln  nennt,  ist  ein  allgemeiner  und  ruhiger  Affect, 
der,  ohne  eine  merkliche  Bewegung  hervorzurufen,  seinen  Gegenstand  nur  aus 
weiter  Ferne  ins  Auge  fasst  und  den  Willen  antreibt.  —  In  dieser  Beziehung 
stellte  sich  Hume  demnach  ganz  anders  als  die  deutschen  Aufklärer,  welche  die 
Willensentscheidungen  von  Vorstellungen  abhängig  machten.  Gleich  diesen  ist  er, 
da  die  Affecte  und  Leidenschaften  von  ihm  als  natürliche  Vorgänge  betrachtet 
werden,  entschiedener  Determinist,  obwohl  er  sich  doch  sonst  der  Causalität  gegen- 
über skeptisch  verhält.  —  Der  persönliche  Werth,  der  allgemein  anerkannt  wird, 
besteht  in  dem  Besitze  solcher  Eigenschaften,  die  entweder  der  Person  selbst  oder 
Anderen  entweder  nützlich  oder  angenehm  sind,  so  dass  sich  vier  Classen  solcher 
löblichen  Eigenschaften  ergeben.  Die  socialen  Tugenden  sind  die  wichtigsten,  d.  h. 
die  des  Wohlwollens,  welches  angeboren  und  natürlich  ist,  und  die  der  Gerechtig- 
keit, welche  nicht  aus  einem  ursprünglichen  Gefühl,  sondern  durch  Ueberlegung 


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202    §  22.   Der  humescbe  Skepticiamus  u.  seine  Bekämpfer:  Reid,  Beattie  etc. 


und  Uebereinkunft  der  Menschen  entsteht,  indem  der  Mensch  durch  Reflexion  dahin 
kommt,  einzusehen,  dass  er  mehr  gewinnt  durch  eine  gewisse  Einschränkung  als 
durch  Zügellosigkeit  und  Gewalttätigkeit  Die  Gerechtigkeit  ist  also  eine  Art 
Kunstproduct  Es  muss  nun  ein  natürliches  Gefühl  geben,  damit  es  zu  einer  Be- 
vorzugung der  nützlichen  Tendenzen,  die  bei  Hume  besonders  betont  werden,  vor 
den  verderblichen  kommt  Dies  ist  kein  anderes  als  eine  Freude  an  dem  Glück 
der  Menschen  und  ein  Schmerz  über  ihr  Elend,  d.  h.  die  Menschenliebe  oder 
Sympathie,  welche  eine  Unterscheidung  zu  Gunsten  derjenigen  Handlungen  trifft, 
die  nützlich  und  vorteilhaft  sind.  Da  die  Tugend  um  ihrer  selbst  willen  ohne 
weiteren  Lohn,  nur  wegen  der  unmittelbaren  Befriedigung,  die  sie  gewährt  wün- 
schenswerth  ist  so  muss  es  ein  Gefühl  geben  oder  einen  inneren  Geschmack,  wo- 
durch das  Gute  und  Schlechte  unterschieden,  das  Eine  erfasst  und  das  Andere  ver- 
worfen wird.  So  wird  der  Geschmack,  da  er  Lust  und  Schmerz  bringt  Glück  und 
Elend  dadurch  schafft,  ein  Motiv  zum  Handeln  und  ist  der  erste  Trieb  zum  Be- 
gehren und  Wollen.  Die  Sympathie  beruht  darauf,  dass  die  Seelen  aller  Menschen 
in  ihren  Gefühlen  und  Operationen  einander  ähnlich  sind.  Es  giebt  uninteressirtes 
Wohlwollen,  uninteressirte  Billigung  dessen,  was  nicht  unser  Wohl,  sondern  fremdes 
Wohl  befördert,  und  Missbilligung  des  Gegentheils;  es  giebt  Affecte,  die  nicht  aus 
der  Selbstliebe  abzuleiten  sind.  Demnach  wird  der  Versuch,  den  Egoismus  allein 
zum  Princip  der  Moral  zu  machen,  durch  die  Thatsachen  widerlegt  Die  Billigung 
und  Missbilligung  ruht  in  den  sympathischen  Gefühlen,  indem  zunächst  andere 
Menschen  aus  diesen  beartheilt  werden,  und  hieraus  ergiebt  es  Bich,  dass  wir  uns 
selbst  danach  beurtheilen,  ob  unsere  eigenen  Handlungen  und  Gesinnungen  geeignet 
sind,  Anderen  zu  helfen  oder  zu  schaden.  So  erwächst  die  sittliche  Verpflichtung, 
das  fremde  Wohl  zu  befördern;  freilich  ist  die  Erklärung  derselben  in  der  Ethik 
Humes  gerade  ein  schwacher  Punkt,  da  im  Gegensatz  dazu  die  Vortheile  des  sitt- 
lichen Handelns  in  zu  helles  Licht  gesetzt  werden. 

Nach  Adam  Smith,  der  mit  Hume  eng  befreundet  war,  hat  der  Mensch  eine 
natürliche  Neigung  zur  Theilnahme  an  den  Zuständen,  Gefühlen  und  Handlangen 
Anderer,  und  zwar  werden  von  Smith  die  Motive  des  Handelnden,  als  der  eigent- 
liche Gegenstand  der  sittlichen  Werthschätzung,  viel  stärker  betont  als  bei  Hume, 
der  seinem  Utilitätsprincip  entsprechend  den  äusseren  Erfolg  mehr  in  den  Vorder- 
grund stellte.  Die  Gefühlsgrundlage  für  die  Gerechtigkeit,  die  Hume  nicht  ge- 
funden hatte,  sieht  er  in  dem  natürlichen  Vergeltungstriebe.  Wenn  der  unparteiische 
Zuschauer,  indem  er  die  Gesinnung,  die  Motive  des  Andern  in  sich  nachbildet,  das 
Verhalten  desselben  billigen  kann,  so  ist  dasselbe  als  moralisch  gut,  andernfalls 
als  moralisch  fehlerhaft  anzusehen.  Die  moralische  Grundforderung  ist:  Handle  so, 
dass  der  unparteiische  Beobachter  mit  dir  sympathisiren  kann,  wobei  freilich  von 
Smith  mehr  die  Fälle,  in  welchen  wir  eine  Handlung  billigen  oder  misabilligen, 
analysirt,  als  die  letzten  Gründe  der  Sympathie  oder  Antipathie  ermittelt  werden. 
Wir  billigen  die  Handlungen  Anderer,  wenn  wir  mit  den  bewegenden  Gründen 
völlig  übereinstimmen,  und  unterwerfen  uns  selbst  einer  ethischen  Beurtheilung, 
indem  wir  uns  in  die  Lage  Anderer  versetzen  und  fragen,  ob  wir  an  Stelle  dieser 
unsere  Handlungen  billigen  und  mit  unseren  Motiven  Sympathie  empfinden  könnten. 
So  ist  der  Ursprung  des  Gewissens,  dieses  „unparteiischen  Zuschauers  in  unserer 
Brust",  zu  erklären,  welches  mit  befehlender  Kraft  auftritt  Wie  Smith  in  seiner 
Ethik  mehrfach  kantische  Sätze  anticipirt,  so  ist  auch  seine  Fassung  der  Religion 
der  Kants  sehr  ähnlich. 

Unter  den  Gegnern  Humes  stehen  voran  die  schottischen  Philosophen. 
War  auf  dem  ästhetischen  und  ethischen  Gebiet  der  ursprüngliche  Geschmack  und 
das  ursprüngliche  moralische  Gefühl  das  Beurtheilungsvermögen,  so  war  es  natürlich, 


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§  22.   Der  bumeache  Skeptickmus  u.  seine  Bekämpfer:  Reid,  Beattie  etc.  203 


dass  man  auch  die  Billigung  für  das  Wahre  und  Falsche  in  derselben  Weise  wie 
für  das  Gate  und  Schlechte,  Schöne  und  Hässliche  in  einem  ursprünglichen  Ver- 
mögen suchte.  Dieses  sollte  der  gesunde  Menschenverstand,  der  „common  sense' 
sein.  Der,  welcher  diese  Richtung  hauptsächlich  angab,  ist  Thomas  Reid  (1710  in 
Strachau  in  Schottland  geb.,  1752—68  Profeasor  am  Kings  College  in  Aberdeen, 
von  1763 — 1787  Prof.  der  Moralphilos.  an  d.  Universit  Glasgow  als  Nachfolger 
Ad.  Smiths,  f  17%  in  Zurückgezogenheit).  Sowohl  Berkeley  als  Hume  haben  nach 
ihm  ganz  richtige  Folgerungen  aus  den  Lehren  Lockes  gezogen.  Da  aber  der 
Immaterialiamus  des  Ersteren,  sowie  auch  der  Skepticismus  des  Andern  in  Bezug 
auf  Substantialität  und  Causalität  absurd  Bind,  so  müssen  die  Voraussetzungen 
falsch  sein,  d.  h.  besonders  die  Annahme,  dass  unsere  Seele  von  vornherein  leer 
sei,  und  dass  erst  durch  äussere  und  innere  Wahrnehmung  der  Inhalt  in  sie  käme 
Im  Gegentheil  muss  angenommen  werden,  daas  unsere  Seele  ursprünglich  Urtheile 
besitze,  die  allerdings  in  ihre  Bestandteile  künstlich  zerlegt  werden  können,  ohne 
dass  damit  aber  ihre  Entstehung  angegeben  sei.  Diese  durch  Intuition  bewusat- 
werdenden  Urtheile  bezeichnet  Reid  als  Axiome,  erste  Principien,  Principien  des 
gesunden  Menschenverstandes,  von  selbBt  einleuchtende  Wahrheiten  (principles  of 
common  sense,  self-evident  truths).  Es  kommt  nun  darauf  an,  durch  innere  Er- 
fahrung —  in  dieser  Beziehung  huldigt  also  Reid  dem  Empirismus  —  diesen  ur- 
sprünglichen Inhalt  des  gesunden  Menschenverstandes  als  Thatsache  festzustellen. 
Man  muss  an  diesen  Inhalt  glauben,  wenn  man  sich  irgendwie  eine  Erkenntnis« 
verschafien  will.  Der  gewöhnliche  Mann  bat  den  gesunden  Menschenverstand 
geradeso  wie  der  tiefste  Denker.  Für  die  factischen  oder  zufälligen  Wahrheiten 
giebt  es  nun  zwölf  solcher  ursprünglichen  Urtheile,  zu  denen  der  cartesianische 
Satz:  die  Thatsache  des  Denkens  verbürgt  uns  die  Gewissheit  für  die  Existenz  des 
denkenden  Subjects,  gehört  Ferner:  Jede  Empfindung  verräth  ein  empfundenes 
Object,  nicht  als  Wirkung  desselben  —  das  wissen  wir  nicht  — ,  sondern  als  Zeichen 
oder  Ankündigung  desselben.  Ferner:  Wir  habeu  einigen  Einfluss  auf  unsere 
Handlungen  und  Willensbestimmungen.  Für  die  Erkenntniss  der  notwendigen 
Wahrheiten,  d.  h.  der  mathematischen,  grammatischen,  logischen,  ästhetischen, 
ethischen  und  metaphysischen,  giebt  es  nun  auch  gewisse  Principien,  zu  denen  die 
mathematischen  und  logischen  Axiome  gehören,  ebenso  der  Satz,  dass  jede  Wirkung 
eine  Ursache  haben  müsse.  Wie  diese  theoretischen,  so  hat  die  Seele  auch  gewisse 
praktische  Grundsätze,  z.  B.  den,  dass  wir  nur  verantwortlich  sind  für  das,  was  in 
unserer  Macht  steht  Aus  diesen  Sätzen  kann  sieh  Jeder  eine  Moral  aufbauen. 
Die  Ansichten  Reids  haben,  allerdings  modificirt,  später  besonders  durch  William 
Hamilton  weitere  Verbreitung  gefunden  (s.  unt  in  dem  Abschnitt  üb.  d.  Philos. 
der  Gegenw.).  In  Frankreich  wurde  Reid  durch  Royer  Collard  bekannt  (s.  eben- 
falls unt),  und  von  Jouffroy  wurden  seine  Werke  in  das  Französische  übersetzt: 
Oeuvres  de  Th.  R.,  Paris  1828-1835.  In  Deutschland  fand  die  Philosophie  Reids 
namentlich  bei  Fr.  Heinr.  Jacobi  Anklang. 

James  Beattie  (1735—1803,  Prof.  der  Ethik  zu  Edinburgh,  welche  Stelle  er 
durch  die  Gunst  der  Geistlichkeit  mit  Vorzug  gegen  Hume  als  Mitbewerber  er- 
hielt) hat  seine  Hauptverdienste  auf  ästhetischem  Gebiete.  Nach  ihm  ist  der 
Gemeinsinn  Quelle  aller  Sittlichkeit,  aller  Religion,  d.  h.  alles  Glaubens  an  Gott, 
und  aller  Gewissheit.  Auch  der  äussere  Sinn  borgt  seine  Zuverlässigkeit  von  dem 
Gemeinsinn.  Unselbständiger  ist  James  Oswald  (schottischer  Geistlicher,  f  1793), 
der  besonders  durch  den  common  sense  die  Religionswahrheiten  gegen  den  Skepti- 
cismus vertheidigt   Das  Dasein  des  göttlichen  Wesens  ist  schlechthin  Thatsache. 

Dugald  Stewart  (1753  zu  Edinb.  geb.,  war  Fergusons  Nachfolger  auf  dem 
Lehrstuhl  für  Moralphilosophie  in  Edinburgh  bis  1810,  f  auf  dem  Lande  1828)  be- 


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204    §  22.   Der  humesche  Skepticismus  u.  seine  Bekämpfen  Reid,  Beattie  etc. 


spricht  und  commentirt  in  seinen  Schriften  mehr  die  Lehren  Anderer,  als  dass  er 
seine  eigenen  ausführlicher  entwickelte.  Stärker  als  Reid  betonte  er  die  Association 
der  Vorstellungen,  durch  welche  er  die  Gewohnheit  zu  erklären  suchte.  Die  Existenz 
des  empfindenden  und  denkenden  Ich  wird  uns  nur  bekannt  durch  eine  Suggestion 
(Eingebung)  des  Verstandes,  die  auf  die  Empfindung  folgt,  ist  aber  nicht  unmittelbar 
mit  der  Empfindung  verbunden.  Deshalb  ist  die  Trennung  in  dem  Satze  Descartes' : 
Cogito,  ergo  sum,  nicht  absurd.  Die  Grundsätze,  auf  welche  sich  alle  Gewissheit 
stützt,  heissen  bei  Stewart  Fundamentalgesetze  des  menschlichen  Fürwahrhaltens, 
auch  Principien  der  menschlichen  Erkenntniss.  Den  Zweifel  an  der  Realität  der 
Aussenwelt  hält  er  nicht  wie  Reid  durch  das  ursprüngliche  Urtbeil,  dass  jede 
Empfindung  zwinge,  ein  empfundenes  Object  hinzuzudenken,  beseitigt,  da  hierdurch 
gar  nicht  feststehe,  dass  dies  Hinzugedachte  unabhängig  von  uns  sei.  Er  leitet 
vielmehr  die  Gewissheit  der  Existenz  ausser  uns  seiender  Objecte  aus  der  wieder- 
holten Wahrnehmung  eines  und  desselben  Gegenstandes  her,  sowie  aus  dem  von 
Reid  aufgestellten  Princip  der  zufälligen  Wahrheiten,  wonach  wir  an  eine  unver- 
änderliche  Ordnung  in  den  Erscheinungen  der  Natur  glauben.  —  Die  sittlichen 
Begriffe  Bind  nach  Stewart  ursprünglich  von  der  Vernunft  gebildet  und  weder  von 
Gottes  Willen  noch  von  menschlichen  Einrichtungen  abhängig.  Richten  wir  uns 
nach  den  Wahrnehmungen  der  Vernunft  oder  des  Gewissens,  so  handeln  wir  sittlich. 
—  In  Frankreich  wurde  Stewart  namentlich  bekannt  durch  die  Uebersetzungen 
Prevosts  und  Th6od.  Jouffroys. 

Thom.  Brown  (geb.  1778  in  Kirmabreck  in  Schottland,  seit  1810  Nachfolger 
Dug.  Stewarts,  gest.  1820,  zu  unterscheiden  von  dem  1735  gestorbenen,  in  der  Philo- 
sophie sensualistisch,  in  der  Theologie  orthodox  gesinnten  Bischof  von  Cork,  Peter 
Brown,  dessen  Schrift:  the  procedure,  extent  and  limits  of  human  understanding, 
1729,  Berkeley  in  seinem  Alciphron  bekämpfte,  s.  ob.  S.128)  war  einer  der  Mitbegründer 
der  Edinburgh  Review  und  lieferte  in  dieser  1803  eine  Darstellung  der  Philosophie 
Kants.  Er  machte  vielfach  Opposition  gegen  Reid  und  neigte  sich  namentlich 
betreffs  des  Causalbegriffs  mehr  llume  zu,  ohne  freilich  dessen  skeptische  Couse- 
quenzen  zn  ziehen.  Er  ist  der  Ansicht,  dass  sich  Hume  und  Reid  in  Ihren  An- 
sichten über  die  Aussenwelt  nicht  wesentlich  unterschieden.  Ersterer  behaupte  laut, 
man  könne  die  Existenz  der  Körper  nicht  beweisen,  setze  aber  leise  hinzu,  er  könne 
nicht  umhin,  an  sie  zu  glauben;  Reid  sage  laut,  man  müsse  an  die  Existenz  der 
äusseren  Welt  glauben,  setze  aber  leise  hinzu,  beweisen  könne  er  diese  Existenz 
nicht  Alle  psychologischen  Phänomene  theilt  er  ein  in  äussere  und  innere  Zu- 
stände der  Seele.  Die  ersteren  sind  die  sinnlichen  Wahrnehmungen,  die  zweiten 
die  intellectuellen  und  moralischen  Erscheinungen.  Die  intellectuelleu  ordnet  er 
alle  unter  den  Begriff  Suggestion  unter.  Und  zwar  ist  ihm  die  „simple  Suggestion" 
gleich  der  Association,  d.  h.  Gedächtuiss,  Einbildung,  Gewohnheit,  die  „relative 
suggestions"  sind  ihm  die  Acte  des  Urtheilens,  Vergleichens,  Abstrahirens,  Generali- 
sirens.  Für  die  Erklärung  der  psychologischen  Entstehung  des  Raumes  benutzt  er 
namentlich  die  Muskelempfindungen.  —  Seine  Lehre  fand  in  England  und  Amerika 
weite  Verbreitung,  und  seine  psychologischen  Ansichten  sind  von  Einfluss  auf  die 
Entwicklung  der  Associationspsychologie  durch  James  und  Stuart  Mill,  Herb.  Spencer, 
Alex.  Bain  gewesen.  —  James  Mackintosh  wandte  sich  mehr  den  ethischen 
Fragen  zu.  Unser  Glück  wird  hervorgebracht  durch  Gehorsam  gegen  das  Gewissen, 
welches  selbst  wieder  unabhängig  vom  Nutzen  ist.  Mit  dem  Gewissen  ist  verbunden 
die  Sympathie,  welche  alle  unsere  Handlungen  und  Willensacte  begleitet.  Gewissen 
und  Sympathie  beherrschen  unsere  moralische  Natur. 


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§  23.   Der  dritte  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit 


205 


Dritter  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit. 

Die  neueste  Philosophie  oder  die  Kritik  und  Speculation 

seit  Kant. 


§  23.  Den  dritten  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neu- 
zeit eröffnet  die  kantische  Yernunftkritik,  die  durch  Reflexion  auf 
den  Ursprung,  den  Umfang  und  die  Grenzen  der  menschlichen  Er- 
kenntniss  die  Unterscheidung  zwischen  den  Erscheinungen,  deren  Stoff 
durch  Sinnesaffection  gegeben,  deren  Form  aber  von  dem  Subjecte 
selbst  erzeugt  sei,  und  den  Dingen  an  sich,  welche  räum-,  zeit-  und 
causalitätslos  existiren,  zu  begründen  sucht  und  vermöge  dieser 
Unterscheidung  einerseits  der  empirischen  Forschung  auf  dem  Er- 
scheinungsgebiete volle  Selbständigkeit  vindicirt,  andererseits  aber 
neben  den  Erfahrungsobjecten  ein  Gebiet  der  Freiheit  anerkennt, 
welches  Kant  selbst  zwar  nur  dem  moralischen  Bewusstsein  eröffnet, 
einige  seiner  Nachfolger  aber,  das  Princip  der  Autonomie  des  Geistes 
erweiternd,  auch  der  theoretischen  Speculation  vindiciren.  In  Kants 
Lehre  von  der  Erscheinungswelt  ist  der  subjective  Ursprung,  den 
er  den  Formen  der  Erkenntniss  zuschreibt,  ein  (subjectiv-)  idealisti- 
sches Element,  das  Gegebensein  des  Stoffes  ein  realistisches;  in 
seiner  Lehre  von  den  Dingen  an  sich  ist  die  denselben  beigelegte 
Function  des  Afficirens  unserer  Sinne  ein  realistisches,  die  denselben 
vindicirte  Freiheit  ein  idealistisches  Element.  Der  Dualismus  der 
durch  Kant  unvermittelt  neben  einander  gestellten  und  keineswegs 
(auch  nicht  in  der  Kritik  der  Urtheilskraft)  zu  widerspruchsloser 
Harmonie  mit  einander  verbundenen  idealistischen  und  realistischen 
Elemente  inusste  in  zweifacher  Weise  den  Versuch  der  Ausbildung 
einer  consequenten ,  in  sich  selbst  harmonischen  Gesammtansicht  her- 
vorrufen, indem  entweder  zu  Gunsten  der  idealistischen  Lehren  die 
realistischen  Voraussetzungen  geopfert  oder  umgekehrt  zu  Gunsten  der 
letzteren  die  idealistischen  Theoreme  aufgehoben  oder  doch  sehr 
beträchtlich  modificirt  wurden;  jenes  geschah  durch  Fichte,  dieses 
durch  Herbart.  An  Fichtes  subjectiven  Idealismus  hat  sich  Schöllings 
vorwiegend  objectiver  Idealismus  und  an  diesen  Hegels  absoluter 
Idealismus  geschlossen;  von  Anderen  (zu  denen  Schleiermacher  ge- 
zählt werden  darf)  ist  die  harmonische  Vereinigung  beider  Seiten  zu 
einem  Idealrealismus  erstrebt  worden.  Mit  den  in  der  Philosophie 
selbst  liegenden  Entwickelungsmotiven  trifft  auch  in  diesem  Abschnitt 
die  Wechselbeziehung  zu  der  positiven  Natur-  und  Geschichtsforschung, 


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§  23.   Der  dritte  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit. 


zu  der  Dichtung,  zu  den  politischen  Verhältnissen  und  zu  dem  reli 
giösen  Leben,  überhaupt  zu  der  allgemeinen  Culturentwickelung  zu- 
sammen und  zwar  so,  dass  in  den  ersten  Jahrzehnten  die  Philosophie 
vorwiegend  einen  bestimmenden  Einfluss  auf  jene  anderen  Seiten  des 
geistigen  Lebens  übt,  in  der  späteren  Zeit  dagegen,  in  welcher  sich 
ihr  weniger  das  allgemeine  Interesse  zuwendet,  mehr  ihrerseits  den 
Einfluss  derselben  erfahrt. 

Die  neueste  Philosophie  seit  Kant  stellen  ausser  den  betreffenden  Theileu 
der  Grdr.  I,  §  4  und  III,  §  1  citirten  umfassenderen  Werke  insbesondere  folgende 
Schriften  dar:  Karl  Ludw.  Michelet,  Gesch.  der  letzt.  Systeme  der  Philos.  in  Deutsch- 
land von  Kant  bis  Hegel,  2  Bde.,  Berl.  1837 — 38,  und:  Entwickelungsgesch.  d.  neuest, 
deutsch.  Philos.,  Berl.  1843.  Heinr.  Mor.  Chalybäus,  Histor.  Entwicklung  der 
specul.  Philos.  in  Deutschi,  von  Kant  bis  Hegel,  Dresden  1837,  5.  Aufl.  1860.  Kriedr. 
Karl  Biedermann,  die  deutsche  Philos.  von  Kant  bis  auf  unsere  Tage,  Leipz.  1842 — 43. 
A.  Ott,  Hegel  et  la  philos.  allemande  ou  expoee  et  examen  critique  des  principaux 
systemes  de  la  philos.  allemande  depuis  Kant,  Paris  1843;  s.  auch  dessen  Critique  de 
l'idealisme  et  du  criticisme,  Pmr.  1883.  A.  S.  Will  m .  Hist.  de  la  philos.  allemande 
depuis  Kant  jusqu'ä  Hegel,  Paris  1846 — 49.  L.  Wocquier,  Essai  sur  le  mouvement 
philnsophique  d'Allemagne  depuis  Kant  jusqu'ä  nos  jours.  Bruxelles,  Gand  et  Leipz. 
1852.  C.  Fortlage,  Genet.  Gesch.  d.  Pbilos.  seit  Kant,  Leipz.  1852.  H.  Ritter, 
Versuch  zur  Verständigung  über  die  neueste  deutsche  Philos.  seit  Kant,  in  der  (Kieler) 
Allgem.  Monatsschrift  für  Wiss.  u.  Litt.,  auch  bes.  abgedr.,  Braunschw.  1853.  G. 
Weigelt,  zur  Gesch.  d.  neuer.  Philos.,  Hamb.  1854 — 55.  Carl  Herrn.  Kirchner,  die 
speculat.  Systeme  seit  Kant  u.  die  philosoph.  Aufgabe  d.  Gegenwart.  Leipz.  1860. 
A.  Poucher  de  Careil,  Hegel  et  Schopenhauer,  e  tu  des  sur  la  philos.  allemande 
depuis  Kant  jusqu'ä  nos  jours,  Paris  1862.  Ad.  Drechsler,  Charakteristik  d.  philos. 
Systeme  seit  Kant,  Dresd.  1863.  O.  Liebmann,  Kant  und  die  Epigonen.  Stuttg.  1865. 
Fr.  Harms,  die  Philosophie  seit  Kant,  Berl.  1876,  2.  (Titel-)  Ausg.  1879.  G.  Neudecker, 
8tudien  zur  Gesch.  der  deutsch.  Aosthetik  seit  Kant,  Wörzb  1878.  Heinr.  Boehmer, 
Geschichte  der  Entwickel.  der  naturwissenschaftl.  Weltanschauung  in  Deutschi.,  Gotha 
1872.  H.  Lotze,  Gesch.  d.  deutsch.  Ph.  seit  Kant,  Dictate  aus  d.  Vöries.,  Lpz.  1882. 
Ed.  v.  Hartmann,  d.  deutsche  Aesthetik  seit  Kant,  Berl.  1886  f.  Zur  Gesch.  der  Philosophie 
seit  Kant,  insbesondere  zur  Würdigung  Schellings,  Schleiermachers  etc.  enthält  wesentliche 
Beiträge  R.  Haym,  die  romantische  Schule,  Berlin  1870.  Vgl.  die  oben  (zu  §  1)  angef. 
Werke  u.  Jul.  Schmidt,  Gesch.  der  deutschen  Litt,  seit  Lessings  Tod,  5.  Aufl.  1866  u. 
1867,  sowie  Rud.  v.  Gottschall,  die  deutsche  Nationallitt,  des  19.  Jahrh.,  5.  Aufl.,  1881. 

Die  Erläuterung  und  Begründung  der  obigen  Andeutungen  über  den  Ent- 
wickelungsgang  der  Philosophie  in  dieser  Periode  kann  nur  durch  den  Verfolg  der 
Darstellung  selbst  gegeben  werden;  vor  der  Darstellung  der  Systeme  würde  dieselbe 
der  Anschaulichkeit  entbehren  und  leicht  Vorurtheile  begründen.  Nur  darauf  sei 
hier  wiederholt  hingewiesen,  dass  die  innerste  Seele  des  gesammten  Entwickelungs- 
processes  der  Philosophie  der  Neuzeit  nicht  eine  blosse  immanente  Dialektik 
speculativer  Principien ,  sondern  vielmehr  der  Kampf  und  das  Vereöhnuugsstreben 
zwischen  der  überlieferten  und  in  Geist  und  Gemüth  tief  eingewurzelten  religiösen 
Ueberzeugung  und  andererseits  den  durch  die  Forschung  der  Neuzeit  errungenen 
Erkenntnissen  auf  dem  Gebiete  der  Natur-  und  Geisteswissenschaften  ist  Der 
Dogmatismus  hatte  an  Verschmelzbarkeit  theologischer,  zum  Theil  umgebildeter, 
Fundamentalsätze  mit  naturwissenschaftlichen  und  psychologischen  Doctrinen  zu  dem 
Ganzen  eines  philosophischen  Systems  geglaubt  und  auf  die  theologische  Erkennt- 
niss  die  kosmologische  und  anthropologische  gebaut.  Der  Empirismus  hatte  die 
theologischen  Sätze  mindestens  nicht  zur  Basis  aller  andern  philosophischen  Er- 
kenntniss  gemacht  und  dieselben  in  der  Kegel  aus  dem  Gebiete  der  Wissenschaft 
ausgeschieden  (allerdings  nicht  immer  vollständig,  sofern  besonders  Locke  das 
Dasein  Gottes  für  beweisbar  auf  Grund  des  empirisch  Gegebenen  hielt),  sei  es,  um 


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§  24    Kants  Leben  und  Sehriften. 


207 


sie  dem  Glauben  anheimzugeben  oder  um  sie  ganz  zu  ncgiren.  Der  Skepticismus 
hatte  an  der  Lösbarkeit  der  betreffenden  Probleme  verzweifelt.  Kant,  der  den 
Kern  der  ihm  zunächst  voranliegenden  philosophischen  Bestrebungen  in  einer 
bleibend  gültigen  Weise  erfasst  hat,  eröffnete  durch  seinen  Kriticismns  eine  neue 
Bahn:  er  zerstörte  vermittelst  seiner  Reflexion  auf  die  Erkenntnissgrenzen  der 
menschlichen  Vernunft  die  dogmatische  Voraussetzung  der  erreichbaren  Harmonie, 
nahm  die  von  dem  Empirismus  vollzogene  Einschränkung  der  wissenschaftlichen 
Erkenntniss  in  einem  wesentlich  veränderten  Sinne  (indem  er  sie  auf  die  Erschei- 
nungen  bezog)  wieder  auf,  trat  aber  in  eine  zweifache  Beziehung  zu  dem  Resultate 
des  Skepticismus,  indem  er  dieses  zugleich  sich  aneignete  und  es  durch  das  der 
moralischen  Ueberzeugung  eröffnete  Gebiet  des  Ansichseienden  überschritt.  Die 
späteren  Richtungen  sind  in  gewissem  Sinne  modificirte  Erneuerungen  der  früheren 
unter  dem  Einfluss  und  zum  Theil  auf  dem  Boden  des  Kantianismus. 

§  24.  Immanuel  Kant,  geboren  zu  Königsberg  in  Ostpreussen 
am  22.  April  1724,  gest.  ebendaselbst  am  12.  Februar  1804,  erhielt 
in  seiner  Vaterstadt  seine  Bildung  und  wirkte  daselbst  als  Universi- 
tätslehrer. Für  Kants  frühere  philosophische  Richtung  war  die  wolff- 
sche  Philosophie  und  die  newtonsche  Naturlehre  von  maßgebendem 
Einfluss,  und  zuerst  nahm  Kant  im  Ganzen  den  Standpunkt  des  wolff- 
schen  Rationalismus  ein.  Später,  von  1762  an,  neigte  er  sich  dem 
Empirismus  und  Skepticismus  zu,  so  dass  er  keine  Erkenntniss  von 
Gegenständen  aus  reiner  Vernunft  zugab.  Erst  seit  dem  Jahre  1769 
bildete  er  den  Kriticismus  aus.  den  er  in  seinen  Hauptwerken  ver- 
tritt, und  mit  dem  er  sowohl  den  realistischen  Rationalismus  als  auch 
den  Empirismus  bekämpft,  obwohl  er  wiederum  im  Jahre  1770  in 
seiner  „Dissertation"  Erkenntnisse  von  Thatsachen  aus  reiner  Vernunft 
gewinnen  will. 

Unter  Kants  Schriften  aus  der  rationalistischen  Zeit  ist  die 
bedeutendste  die  Allgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie  des 
Himmels,  aus  der  dem  Empirismus  und  Skepticismus  sich  nähernden, 
die  Träume  eines  Geistersehers.  Die  kritischen  Hauptschriften 
sind:  die  zuerst  1781,  dann  in  neuer  Bearbeitung  1787  erschienene 
Kritik  der  reinen  Vernunft,  die  1788  veröffentlichte  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  und  die  1790  verfasste  Kritik  der  Urtheils- 
kraft.  Die  Metaphysischen  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft 
(1786),  die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Ver- 
nunft (1793),  Metaphysik  der  Sitten  (1797)  und  andere  kleinere 
Schriften  enthalten  die  Anwendung  der  Principien  des  Kriticismus  auf 
einzelne  Gebiete  der  philosophischen  Betrachtung.  —  In  Forschung 
und  Lehre  hat  Kant  ebenso,  wie  im  äusseren  Leben,  stets  unbedingte 
Wahrheitsliebe,  strenge  Gewissenhaftigkeit  und  unablässige  Pflichttreue 
bewährt.  Sein  Handeln  sollte  stets  von  dem  Bewusstsein  der  Richtig- 
keit der  Grundsätze,  die  er  befolgte,  begleitet  sein. 


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20H 


§  24.    Kante  Leben  und  Schrifteu. 


Ueber  Kants  Leben  und  Charakter  handeln:  Ldw.  Em«  Boroweki,  Dar- 
stellung d.  Leb.  u.  Charakt.  Kant«,  Königsb.  1804  (eine  bereit«  1792  entworfene  und 
damals  von  Kant  selbst  revidirte,  naeh  Kants  Tode  von  ihrem  Verfasser  vervollständigte 
und  veröffentlichte  Biographie,  die  besonders  über  Kant«  Familienverhältnisse  und 
früheres  Leben  werthvolle  Notizen  enthält),  Reinh.  Berah.  Jachmann,  Immanuel  K.  in 
Briefen  an  einen  Freund,  Königsb.  1804  (eine  auf  persönlichen  Umgang  mit  K.  1784 — 94 
gegründete  Charakterschilderung  nebst  vorangeschickter  biographischer  Skizze),  Ehreg. 
Andr.  Christoph  Wasianski,  K.  in  seinen  letzten  Lebensjahren,  Königsb.  1804  (ein 
treuer  Berieht  über  das  alimähliche  Erlöschen  der  geistigen  und  körperlichen  Kräfte 
Kants),  ferner  Theod.  Rink,  Ansichten  aus  L  Kants  Leben,  Königsb.  1805,  F.  Bouter- 
wek,  I.  Kant,  Hamb.  1305  und  And.  (vgl.  auch  Artikel  in  der  N.  Berl.  Monatsacbr., 
Febr.  und  Mai  1805),  dann  aber  namentlich,  die  Leistungen  der  Früheren  zusammen- 
fassend und  durch  vieles  neue  Material  erweiternd,  Friedr.  Wilh.  Schubert,  Imm.  Kants 
Biographie,  in:  Kants  Werke,  hrsg.  von  Rosenkranz  und  Schubert,  Bd.  XI,  Abth.  2, 
Leipz.  1842.  Das  Material  hat  nachträglich  noch  einige  Vervollständigungen  erhalten  durch 
Christian  Friedr.  Reusen,  K.  und  seine  Tischgenossen,  aus  dem  Nachlass  des  jüngsten 
derselben  (aus  d.  Neu.  Preuss.  Provinzialblätt  Bd.  VI,  Königsb.  1848,  Heft  4  und  5 
besond.  abgedr.),  und  durch  die  Schrift:  Kantiana,  Beiträge  zu  Imm.  Kant«  Leb.  und 
Schriften,  herausg.  von  Rud.  Reick«  (S«paratabdr.  aus  d.  Neu.  Preuss.  Provinzialblätt.), 
Königsb.  1860,  worin  eine  von  dem  Consistorialrath  Prof.  Wald  im  Jahr  1804  gehaltene 
Gedächtnissrede  auf  Kant  nebst  den  Notizen,  worauf  Wald  fusste,  und  insbesondere  mit 
mehreren  werthvollen  Bemerkungen  des  mit  Kant  innig  befreundeten  Professors  Kraut?, 
wie  auch  einige  Nachträge  zu  K.b  Schriften  abgedruckt  sind.  Aus  diesen  Qu«llenschriften 
haben  die  späteren  Darsteller  des  Lebens  K.s  (unter  denen  Kuno  Fischer,  K.s  Leb. 
und  die  Grundlagen  seiner  Lehre,  drei  Vorträge,  Mannh.  1860,  auch  in  der  Gesch.  der 
neueren  Ph.,  Bd.  III,  Mannh.  u.  Heidelb.  1860,  3.  Aufl.  1882,  mit  Auszeichnung  zu 
erwähnen  ist)  geschöpft.  D.  Nolen,  les  maitres  de  K.  (Alb.  Schultz,  Mart.  Knutzen, 
Newton,  Rousseau),  in:  Revue  philos.,  1879,  Bd.  7.  S.  480—503,  Bd.  8,  S.  112—138, 
1880,  Bd.  9,  S.  270—298.  E.  Amol  dt,  K.s  Jugend  u.  die  fünf  ersten  Jahre  «einer 
Privatdocentur  im  Umriss  dargest.,  Kgsberg.  1882.  J.  H.  W.  Stuckenberg,  the  life  of 
Im.  K.,  London  1882.  Ueber  d.  Entwickelung  der  Lehre  Kant«  a.  besonders  Friedr. 
Paulsen,  Versuch  einer  Entwickelungsgesch.  der  kantischen  Erkenntnisstheorie,  Leipz. 
1875,  ferner  A.  Riehl,  der  philos.  Kriticismus  u.  seine  Bedeut.  f.  d.  positiv«  Wissen- 
schaft, Bd.  I:  Gesch.  u.  Methode  des  philos.  Kriticismus,  Leipz.  1876. 

Kants  Schri ften  sind  in  neuerer  Zeit  in  mehreren  Gesammtausgaben  erschienen : 
Imm.  Kants  Werke,  hrsg.  von  G.  Hartenstein.  10  Bde.,  Leipz.  bei  Mode«  u.  Bau- 
mann, 1838 — 39,  und:  L  Kant«  sämmtl.  Werke,  hrsg.  von  Karl  Rosenkranz  und 
Friedr.  Wilh.  Schubert,  Leipz.  bei  Lenp.  Voss,  1838—42,  in  12  Bd.,  deren  letzter 
die  „Gesch.  der  kant.  Philos.*,  von  K.  Rosenkranz,  enthält.  (Hartensteins  Ausg.  ist  im 
Einzelnen  zum  Theil  correcter;  die  Ausgabe  von  Ros.  u.  Sch.  ist  eleganter  und  reicher 
an  Material  und  an  anregenden  Betrachtungen.  Die  Anordnung  ist  bei  beiden  eine  im 
Ganzen  systematische.  Bei  H.  folgt  auf  die  Logik  und  Metaphysik  erst  die  Lehre  von 
der  praktischen  Vernunft  und  von  der  Urtheilskraft,  dann  die  Naturphilosophie,  bei 
Ros.  u.  Sch.  aber  besteht  die  Folge:  Logik  (mit  Einschluss  der  Metaphysik),  Natur-  und 
Geistesphilosophie.  Das  letztere  Verfahren  ist  das  übersichtlichere.  Weit  vorzüglicher 
aber  ist  eine  chronologische  Ordnung  des  Ganzen,  die  Kants  Entwicklungsgang  zur  An- 
schauung bringt.  Diese  Ordnung  wird  eingehalten  in  der  neueren  Ausgabe  der  kantischen 
Werke:  I.  Kants  sämmtliche  Werke,  in  chronol.  Reihenfolge  hrsg.  von  G.  Harten- 
stein, 8  Bde.,  Leipz.  bei  Leop.  Voss,  1867 — 69.  Die  Werke  Kants  sind  von  Neuem 
nach  dieser  Ausg.  in  systematischer  Ordnung  abgedruckt  und  mit  erläuternden  und 
prüfenden  Anmerkungen  von  J.  H.  v.  Kirchmann  versehen  in  der  „philos.  Bibl.*,  Berl. 
bei  L.  Heimann  1868  fl.  Die  drei  Kritiken,  die  Religion  innerhalb  u.  8.  w.,  Träume  eines 
Geistersehers,  der  Streit  der  Fakultäten,  Zum  ewigen  Frieden,  Allgem.  Naturgeschichte  etc., 
sind  nach  den  ersten  Editionen,  kritisch  sorgfältig  revidirt,  mit  Varianten  und  Angabe 
der  Paginirung  früherer  Editionen,  sehr  handlich,  hrsg.  von  K.  Kehrbach,  Leipz. 
Reclam,  in  der  Universal-Bibl. 

Die  Familie  Cant  stammt  aus  Schottland.  Johann  Georg  Cant  betrieb  in 
Königsberg  das  Sattlerhandwerk.  Das  vierte  Kind  aus  seiner  Ehe  mit  Anna 
Regina  Reuter  war  der  am  22.  April  1724  geborene  Immanuel,  der  seinen  Familien- 
namen K  ant  schrieb.  Ein  Bruder,  Johann  Heinrich  (1735—1800),  ward  Theolog; 
von  drei  Schwestern  überlebte  die  jüngste  ihren  Bruder  Immanuel.    Sechs  Ge- 


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§  24.    Kants  Leben  und  Schriften. 


200 


schwister  starben  früh.  Die  Erziehung  war  eine  streng  religiöse  im  Geiste  des 
damals  verbreiteten  Pietismus,  dessen  Hauptvertreter  der  seit  1731  an  der  alt- 
stadtischen Kirche  als  Pfarrer  und  Consistorialrath  angestellte,  seit  1732  auch  ein 
Ordinariat  der  Theologie  an  der  Universität  bekleidende  und  seit  1733  das  Collegium 
Fridericianum  leitende  Franz  Albert  Schulz  war  (gest  1763).  Kant  empfing  im 
Collegium  Fridericianum  von  Ostern  1732  bis  Mich.  1740  die  Vorbildung  zu  den 
Universitätastudien.  Unter  seinen  Lehrern  schätzte  Kant  neben  Franz  Alb.  Schulz 
besondere  den  Latinisten  Joh.  Friedr.  Heydenreich;  unter  seinen  Mitschülern  war 
der  bedeutendste  der  (zu  Ostern  1741  vom  Gymnasium  abgegangene)  David  Ruhnken, 
der  spätere  Professor  der  Philologie  zu  Leyden,  der  in  einem  Briefe  au  Kant  vom 
10.  März  1771  über  jene  Gymnasialzeit  sagt:  tetrica  illa  quidem  sed  utili  nec 
poenitenda  fanaticorum  diseiplina  continebamur,  und  hinzufügt,  schon  damals  hätten 
Alle  von  Kant  (der  besonders  die  römischen  Classiker  eifrig  las  und  sich  gut 
lateinisch  auszudrücken  wusste)  die  höchsten  Erwartungen  gehegt.  Auf  der  königs- 
berger Universität  studirte  Kant  seit  Mich.  1740  Philosophie,  Mathematik  und 
Theologie,  war  jedoch  in  der  theologischen  Facultät  nicht  immatriculirt  und  hat 
wohl  auch  die  Absicht,  sich  für  ein  geistliches  Amt  vorzubereiten,  wenn  er  sie 
überhaupt  je  gehabt,  nicht  lange  beibehalten.  Er  hörte  mit  Vorliebe  die  Vor- 
lesungen des  ausserordentlichen  Professors  Martin  Knutzen  über  Mathematik  und 
Philosophie  und  lebte  sich  besonders  in  den  newtonschen  Gedankenkreis  ein,  horte 
auch  Physik  bei  Professor  Teske  und  philosophische  Vorlesungen  bei  Anderen,  die 
aber  nur  geringen  Einfluss  auf  ihn  gewannen,  und  Dogmatik  bei  Franz  Albert 
Schulz,  der  übrigens  mit  seiner  pietistischen  Richtung  die  wolfische  Philosophie 
zu  verbinden  wusste.  Nicht  zuverlässig  ist  die  Angabe,  dass  er  sich  um  eine 
Unterlehrerstelle  an  der  Kneiphöfschen  Domschule  beworben  habe,  aber  gegen  einen 
ganz  unbedeutenden  Mitbewerber  zurückgesetzt  worden  sei.  Nach  Vollendung  der 
Univereitätsstudien  bekleidete  Kant  von  1746—55  Hauslehrerstellen,  zuerst  bei  dem 
reformirten  Pfarrer  Andersen  zu  Judschen  in  der  Nähe  von  Gumbinnen,  dann 
bei  dem  Rittergutsbesitzer  von  Hülsen  auf  Arensdorf  bei  Mohrungen,  endlich  bei 
dem  Grafen  Kayserling  in  Rautenburg,  der  sich  den  grössten  Theil  des  Jahres 
in  Königsberg  aufhielt.  Durch  die  geistig  bedeutende  Gemahlin  desselben  wurde 
er  mit  höheren  Kreisen  der  Gesellschaft  bekannt  und  eignete  sich  so  den  feinen 
Umgangston,  der  ihm  nachgerühmt  wird,  an.  Im  Kayserlingschen  Hause  hat  ihn 
Elise  v.  d.  Recke  kennen  gelernt. 

Nach  neunjähriger  Hauslehrerthätigkeit  habilitirte  er  sich  an  der  Königs- 
berger Universität  und  eröffnete  mit  dem  Wintersem.  1755—56  seine  Vorlesungen 
über  Mathematik  und  Physik,  Logik,  Metaphysik,  Ethik  und  philosoph.  Encyclo- 
pädie;  seit  So  mm.  1757  las  er  auch  über  physische  Geographie,  seit  1760  las  er 
ausserdem  über  natürliche  Theologie  und  Anthropologie.  Er  bewarb  sich  im  April 
1756  um  die  durch  Knntzens  frühen  Tod  erledigte  ausserordentliche  Professur  der 
Mathematik  und  Philosophie,  aber  vergeblich,  weil  die  Regierung  den  Beschluss 
gefasst  hatte,  die  Extraordinariate  nicht  mehr  zu  besetzen.  Das  im  Dec.  175K 
erledigte  Ordinariat  für  Logik  und  Metaphysik  erhielt  von  dem  damaligen  russischen 
Gouverneur  der  in  der  Anciennetät  Kant  vorangehende  Docent  der  Mathematik 
und  Philosophie  Buck.  Erst  zwölf  Jahre  später,  1770,  rückte  Kant  in  dieselbe 
Stelle  ein,  indem  Buck  die  ordentliche  Professur  der  Mathematik  erhielt;  1766 
war  dem  .geschickten  und  durch  seine  gelehrten  Schriften  berühmt  gemachten 
Magister  Kant"  eine  Stelle  als  Unterbibliothekar  an  der  Kgl.  Schlossbibliothek  mit 
62  Thlr.  Gehalt  verliehen  worden,  die  er_  1772  aufgab  Einen  Ruf  nach  Halle  und 
Anträge,  eine  Professur  in  Erlangen  sowie  in  Jena  anzunehmen,  schlug  Kant  aus.  Er 
docirte  bis  zum  Herbst  1797,  wo  Altereschwäche  ihn  zum  Aufgeben  der  Vor- 

Ueberweg- Heime,  Grundrui  III.  7.  Aafl. 


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§  24.    Kants  Leben  und  Schriften. 


lesungen  bewog.  Seine  Vorträge  waren  sehr  beliebt.  Reinhold  Lenz  preist  an 
ihnen,  dass  sie  zur  „Einfalt  im  Denken  and  Natur  im  Leben"  anleiteten  (in  einem 
Gedicht  auf  Kant  zum  21.  August  1770,  s.  Altpreuss.  Monateschr.  IV,  656  ff.). 
Als  akademischer  Lehrer  wollte  Kant  mehr  die  Zuhörer  zum  Selbstdenken  anregen , 
als  Resultate  mittheilen;  sein  Vortrag  war  ein  Verlautbaren  des  Processes  der 
Gedankenbildung. 

Lebhaft  betheiligte  sich  Kant  an  den  politischen  Tagesinteressen;  seine 
Gesinnung  war  ein  entschiedener  Liberalismus.  Er  sympathiBirte  mit  deu  Ameri- 
kanern im  Unabhängigkeitskriege,  mit  den  Franzosen  bei  der  Staateumwälzung, 
welche  die  Idee  der  politischen  Freiheit  zu  realisiren  verhiess,  wie  er  auf  dem 
Gebiete  der  Erziehung  den  rousseauschen  Grundsätzen  huldigte.  Kant  sagt  (in 
den  Fragmenten  aus  seinem  Nachlasse,  Werke,  Bd.  XI,  Abth.  1,  S.  258  ff):  »Es 
kann  nichts  entsetzlicher  sein,  als  dass  die  Handlungen  eines  Menschen  unter  dem 
Willen  eines  Anderen  stehen  sollen.  Daher  kann  kein  Abscheu  natürlicher  sein, 
als  den  ein  Mensch  gegen  die  Knechtschaft  hat.  Um  desgleichen  weint  und  erbittert 
sich  ein  Kind,  wenn  es  das  thun  soll,  was  Andere  wollen,  ohne  dass  man  sich 
bemüht  hat,  es  ihm  beliebt  zu  machen,  und  es  wünscht,  nur  bald  ein  Mann  zu  sein, 
um  nach  seinem  Willen  zu  schalten."  —  „Auch  in  unserer  Verfassung  ist  uns  ein 
jeder  Mensch  verächtlich,  der  in  einem  grossen  Grade  unterworfen  ist."  —  Jeden 
Menschen  als  Selbstzweck,  keinen  als  blosses  Mittel  zu  behandeln,  ist  ein  Funda- 
mentalsatz der  kantischen  Ethik.  Aber  Kant  begehrte  die  Unabhängigkeit  wesent- 
lich zu  dem  Zweck  der  Selbstbestimmung  im  Sinne  des  sittlichen  Gesetzes.  Vgl. 
Schubert,  Kant  und  seine  Stellung  zur  Politik,  in  Räumers  hist.  Tascheubuch  1838, 
S.  575  ff.,  wo  besonders  die  grosse  Macht  der  monarchisch-conservativen  Gesinnung 
bei  allem  Liberalismus  in  Kant  nachgewiesen  wird. 

Charakteristisch  für  Kants  Gesinnung  ist  sein  Selbstbekenntniss  in  einem 
Brief«  an  Moses  Mendelssohn  vom  8.  April  1766:  „Was  es  auch  für  Fehler  geben 
mag,  denen  die  standhafteste  Entechliessuug  nicht  allemal  völlig  ausweichen  kann, 
so  ist  doch  die  wetterwendische  und  auf  den  Schein  angelegte  Gemüthsart  dasjenige, 
worin  ich  sicherlich  niemals  gerathen  werde,  nachdem  ich  schon  den  grössten  Theil 
meiner  Lebenszeit  hindurch  gelernt  habe,  das  meiste  von  demjenigen  zu  eutbehren 
und  zu  verachten,  was  den  Charakter  zu  corrumpiren  pflegt,  und  also  der  Verlust 
der  Selbstbilligung,  die  aus  dem  Bewussteein  einer  unverstellten  Gesinnung  ent- 
springt, das  grösste  Uebel  sein  würde,  was  mir  nur  immer  begegnen  könnte,  aber 
gewiss  niemals  begegnen  wird.  Zwar  denke  ich  vieles  mit  der  allerklarsten  Ueber- 
zeugung,  was  ich  niemals  den  Muth  haben  werde  zu  sagen;  niemals  aber  werde  ich 
etwas  sagen,  was  ich  nicht  denke." 

Innige  Freundschaft  verknüpfte  Kant  mit  dem  durch  Liebe  zur  Unabhängigkeit 
und  zu  gewissenhafter  Pünktlichkeit  ihm  gleichgesinnten  Engländer  Green  (gest. 
1784),  ferner  mit  dem  Kaufmann  Motherby,  dem  Bankdirector  Ruffuiann,  dem  Ober- 
förster Wobeser  in  Moditten  (nahe  bei  Königsberg),  in  dessen  Forsthause  er  sich 
während  der  Ferien  mitunter  aufhielt  und  insbesondere  auch  die  „Beobachtungen 
vom  Schönen  und  Erhabenen"  niedergeschrieben  hat.  Auch  mit  Hippel  und  mit 
Hamann  war  Kant  befreundet.  Von  seinen  Collegen  standen  ihm  besonders  der 
Hofprediger  und  Professor  der  Mathematik  Joh.  Schultz,  der  erste  Anhänger  und 
Erläutercr  seiner  Doctrin,  und  der  Professor  der  Cameralwissenschaften  Kraus  nahe. 
Den  weitesten  Kreis  von  Verehrern  und  Freunden  fand  Kant  iu  seinem  höheren 
Alter  als  gefeiertes  Haupt  der  weit  sich  verbreitenden  kritischen  Schule;  am 
überschwenglichsten  ward  er  von  solchen  gepriesen,  denen  die  neue  Philosophie  zu 
einer  Art  von  neuer  Religion  ward  (wie  von  Baggesen,  dem  er  für  einen  zweiten 
Messias  galt). 


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§  24.    Kants  Leben  und  Schriften. 


211 


Der  Freiherr  von  Zedlitz,  der  unter  Friedrich  dem  Grossen  Cultusminister 
war  und  dies  unter  dessen  Nachfolger  noch  bis  1788  blieb,  schätzte  Kant  hoch; 
auch  unter  dem  Ministerium  Wöllner  erfreute  er  sich  anfangs  noch  der  Gunst  der 
Regierung.  Als  er  aber  die  Aufsätze  zu  veröffentlichen  gedachte,  welche  zusammen 
seine  .Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft"  ausmachen,  kam  er 
mit  der  Censur  in  Conflict,  die  nach  den  Grundsätzen  des  Religionsedicts  geübt 
werden  sollte,  welches  die  symbolischen  Schriften  der  lutherischen  und  reformirten 
Kirche  zur  bindenden  Norm  machte.  Zwar  wurde  der  ersten  jener  Abhandlungen: 
„Vom  radicalen  Bösen",  worin  Kant  die  mit  dem  Pietismus  im  Wesentlichen 
harmonirende  Seite  seiner  Religionsphilosophie  entwickelt,  das  Imprimatur  ertheilt, 
obschon  selbst  dieses  nur  mit  der  Bemerkung:  „dass  sie  gedruckt  werden  möge,  da 
doch  nur  tiefdenkende  Gelehrte  die  kantischen  Schriften  lesen";  sie  erschien  im 
April  1792  in  der  .Berliner  Monatsschrift".  Aber  bereits  der  zweiten  Abhandlung: 
„Von  dem  Kampfe  des  guten  Principa  mit  dem  bösen  um  die  Herrschaft  über 
den  Menschen"  wurde  von  dem  berliner  Censurcollegium  die  Druckerlaubniss 
versagt.  Kant  blieb  der  Ausweg  übrig,  von  einer  theologischen  Facultät  die 
Schrift  censiren  zu  lassen.  Die  theologische  Facultät  seiner  Vaterstadt  erlaubte 
den  Druck,  und  die  „Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft"  erschien 
zu  Ostern  1793  bei  Nicolovius  in  Königsberg;  in  zweiter  Auflage  1794.  Um 
aber  für  die  Zukunft  Kant  diesen  Ausweg  abzuschneiden,  erwirkten  seine  Gegner 
eine  Kgl.  Kabinetsordre  (vom  1.  Oct  1794),  worin  Kant  die  „Entstellung  und 
Herabwürdigung  mancher  Haupt-  und  Grundlehren  der  heiligen  Schrift  und  des 
Christenthums"  vorgeworfen  und  gefordert  wird,  er  solle  sein  Ansehen  und  seine 
Talente  zur  Förderung  der  „landesväterlichen  Intention"  anwenden.  Auch  wurden 
täramtliche  theologischen  und  philosophischen  Lehrer  der  königsberger  Universität 
durch  Namensunterschrift  verpflichtet,  nicht  über  Kants  „Religion  innerhalb  der 
Grenzen  der  blossen  Vernunft"  zu  lesen.  Kant  hielt  dafür  (wie  ein  Zettel  in 
seinem  Nacblass  bezeugt,  bei  Schubert  XI,  2,  S.  138),  Widerruf  und  Verleugnung 
seiner  Ueberzeugung  sei  niederträchtig,  aber  Schweigen  in  dem  vorliegenden  Falle 
Unterthanenpflicht;  alles,  was  man  sage,  müsse  wahr  sein,  aber  man  brauche  nicht 
alles  Wahre  öffentlich  zu  sagen.  Er  erklärte  demgemäss  in  seinem  Verantwortungs- 
schreiben, „als  Sr.  Maj.  getreuester  Unterthan"  sich  fernerhin  aller  öffentlichen 
Vorträge  über  Religion  auf  dem  Katheder  und  in  Schriften  enthalten  zu  wollen. 
Da  für  Kant  nur  in  der  Unterthanenpflicht  gegen  Friedrich  Wilhelm  II.  das 
Motiv  des  Schweigens  lag,  so  fand  er  sich  beim  Tode  dieses  Königs  wiederum 
zu  öffentlichen  Aeusserungen  berechtigt.  In  der  Schrift:  „der  Streit  der  Facul- 
täten"  hat  er  der  philosophischen  Betrachtung,  sofern  sie  auf  ihrem  Gebiete 
verbleibe  und  nicht  in  die  biblische  Theologie  als  solche  übergreife,  die  volle 
Freiheit  des  Gedankens  und  der  Gedankenäusserung  viudicirt  und  seinem  Un- 
willen über  den  Despotismus  Luft  gemacht,  welcher  dem,  was  nur  mit  freier 
Achtang  wahrhaft  verehrt  werden  köune,  durch  Zwangsgesetze  Ansehen  verschaffen 
wolle.  Doch  konnte  Kant  seine  Vorlesungen  über  Religionsphilosophie  nicht  mehr 
aufnehmen;  seine  leibliche  und  geistige  Kraft  war  gebrochen.  Er  erlag  einer  all- 
mählich zunehmenden  und  in  den  letzten  Monaten  ihm  Gedächtniss  und  Denkkraft 
raubenden  Altersschwäche,  während  gleichzeitig  seine  Doctrin  auf  den  meisten 
deutschen  Universitäten  glänzende  Triumphe  feierte.  Die  Ueberschreitung  seines 
Princips  durch  Fichtes  Wissenschaftslehre  hat  Kaut  gern  issbilligt,  ohne  jedoch 
durch  seine  Gegenerklärung  den  Fortgang  der  philosophischen  Speculation  in  der 
idealistischen  Richtung  zu  hemmen. 

Der  Leichuain  Kants  wurde  unter  den  Arcaden  au  der  Nordseite  des  Doms 
zu  Königsberg  am  28.  Febr.  1804  beigesetzt,  und  die  Stelle  mit  einem  Denkstein 

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212 


§  24.   Kant«  Leben  und  Schriften. 


bezeichnet.  Dieselbe  hiess  von  da  an  Stoa  Kantiana.  Da  diese  im  Laufe  der 
Jahre  verfiel,  wandelte  man  das  Osteude  der  Arcaden  zu  einer  einfachen  gothischen 
Kapelle  um,  in  deren  Gewölbe  man  am  21.  Nov.  1880  die  wieder  ausgegrabenen 
Gebeine  des  Philosophen  beisetzte  (vgl.  F.  Hessel-Hagen,  d.  Grabstätte  Im.  K.s 
mit  besonderer  Rücksicht  auf  d.  Ausgrab.  u.  Wiederbestatt,  seiner  Gebeine  im 
J.  1880,  in:  Altpreuss.  Monataschr.,  Bd.  17,  S.  643—  670).  —  Ein  würdiges  Denkmal 
von  Rauch  ist  Kant  in  Königsberg  errichtet. 

Für  die  Abfassung  der  Schriften  Kants  sind  zwei  Hauptperioden  anzunehmen: 
I.  die  genetische,  die  dem  Kriticismus  vorausgeht,  II.  die  kritische.  Wir 
halten  an  dieser  im  ganzen  durchgreifenden  Eintheilung  fest,  wenn  sich  auch  mehr- 
fach andere  Auffassungen  über  die  Entwickelung  Kants  geltend  gemacht  haben. 
8.  darüber  unt.  S.  229. 

L  die  genetische  Periode,  in  welcher  Kant  zunächst  im  Ganzen  auf  dem 
Boden  des  leibnizisch- wolffischen  Dogmatismus  stand,  später  aber  diesen  Stand- 
punkt überschritt  und  mehr  und  mehr  dem  Empirismus  und  Skepticismus ,  eben 
dadurch  aber  mittelbar  auch  dem  spätem  Kriticismus  sich  annäherte.  Die  Ver- 
schiedenheit seiner  Schriften  aus  dieser  Periode  in  stofflicher  Hinsicht  zeugt  für 
die  Breite  und  den  Umfang  der  Studien,  die  er  gemacht  hatte.  S.  üb.  diese  vor- 
kritische Periode  bei  Kant  auch  besonders  das  unt  erwähnte  Werk  von  Günth. 
Thiele. 

Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  der  lebendigen  Kräfte  und 
Beurtheilung  der  Beweise,  deren  sich  Leibniz  und  andere  Mechaniker  in  dieser 
Streitsache  bedient  haben,  Königsberg  1747  (nicht,  wie  auf  dem  Titelblatt  steht, 
1746*);  die  Widmung  ist  unterzeichnet:  den  22.  April  1747).  Die  Schrift  steht  im 
Zusammenhange  mit  Dan.  Bernouillis  Abhandlung:  de  vera  notione  virium  vivarum. 
Kant  nennt  die  Frage,  ob  die  Kraft  des  bewegten  Körpers  (mit  Leibniz  u.  A.) 
nach  dem  Product  der  Masse  und  dem  Quadrat  der  Geschwindigkeit  (mv*)  oder 
(mit  Descartes,  Euler  u.  A.)  nach  dem  Product  der  Masse  und  der  einfachen 
Geschwindigkeit  (mv)  zu  messen  sei,  eine  der  grössten  Spaltungen,  die  unter  den 
Geometern  von  Europa  herrsche,  er  hofft  zu  ihrer  Beilegung  beitragen  zu  können. 
Er  setzt  der  damals  in  Deutschland  herrschenden  leibnizischen  Ansicht  zu  Gunsten 
der  cartesianischen  mehrere  Einwürfe  entgegen,  will  jedoch  jene  unter  einer 
gewissen  Einschränkung  gelten  lassen.  Kant  theilt  nämlich  (§§  15,  23,  118,  119) 
alle  Bewegungen  in  zwei  Klassen  ein:  die  eine  soll  sich  in  dem  Körper,  dem  sie 
mitgetbeilt  werde,  erhalten  und  ins  Unendliche  fortdauern,  wenn  kein  Hinderniss 
sich  entgegensetze,  die  andere  soll,  ohne  dass  ein  Widerstand  sie  vernichte,  auf- 
hören, sobald  die  äussere  Kraft,  durch  welche  sie  hervorgerufen  werde,  nicht  mehr 
einwirke**);  im  ersten  Fall  soll  das  leibnizische,  im  andern  das  cartesianische 
Princip  gelten.***)    üebrigens  ist  Kants  Erklärung  §  19  charakteristisch,  die 


*)  Wurde  1746  zu  drucken  angefangen,  ist  aber  erst  1749  fertig  geworden. 
**)  Die  »Eintheilung*  ist  freilich,  wie  gar  manches  in  dieser  Erstlingsschrift, 
durchaus  verfehlt;  die  richtige  Lehre  von  der  sog.  „Trägheit*  entwickelt  Kant  1758 
in  dem  „Neuen  Lehrbegriff  der  Bewegung  und  Ruhe".  Nicht  unberechtigt  war 
damals  Lessings  Epigramm:  „K.  unternimmt  ein  schwer  Geschäfte,  Der  Welt  zum 
Unterricht:  Er  schätzet  die  lebendigen  Kräfte;  Nur  seine  eignen  schätzt  er  nicht." 
Kants  Schätzung  der  menschlichen  Kräfte  in  der  Vernunftkritik  sollte  Lessing 
nicht  mehr  erleben. 

*•*)  Falls  der  Begriff  der  Kraft,  wie  es  heute  üblich  ist,  für  einen  blossen 
Hülfsbegriff  genommen  wird,  so  wird  die  Streitfrage  selbst  aufgehoben,  indem  dann 
nur  die  Feststellung  der  Bewegungserscbeinungen  und  ihrer  Gesetze  unmittelbar 
von  objectiver  Bedeutung  ist,  bei  der  Definition  der  Kraft  aber  vielmehr  die 
methodische  Zweckmässigkeit  in  Frage  kommt    Wird  unter  „Kraft"  eine  der 


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§  24    Kante  I^ben  und  Schriften. 


213 


Metaphysik  sei,  wie  viele  andere  Wissenschaften,  erst  an  der  Grenze  einer  recht 
gründlichen  Erkenntniss. 

Untersuchung  der  Frage,  ob  die  Erde  in  ihrer  Umdrehung  um  die  Achse 
einige  Veränderungen  seit  den  ersten  Zeiten  ihres  Ursprungs  erlitten 
habe,  in  den  Königsbergschen  Frag-  und  Anzeigungs- Nachrichten  1754.  Kant 
will  dieser  Frage  nicht  historisch,  sondern  nur  physikalisch  nachspüren;  er  findet 
in  der  Ebbe  und  Fluth  eine  Ursache  beständiger  Retardatlon.  Vgl.  G.  Reuschle 
in  der  deutschen  Vierteljahrsschr.,  April  bis  Juni  1868,  8.  74—82. 

Die  Frage,  ob  die  Erde  veralte,  physikalisch  erwogen,  ebend.  1754.  Kant 
handelt  diese  Frage  nicht  entscheidend,  sondern  nur  prüfend  ab,  indem  er  ver- 
schiedene Argumente  für  ein  Veralten  einer  Kritik  unterwirft.  Vgl.  Reuschle 
a.  a.  O.  S.  65-66. 

Allgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie  des  Himmels,  Königs- 
berg und  Leipzig  1755.  Diese  Schrift  erschien  anonym.  Sie  ist  Friedrich  II. 
gewidmet  und  kam  erst  später  in  den  Buchhandel,  da  der  Verleger  während  des 
Druckes  fallirte,  und  sein  ganzes  Lager  auf  längere  Zeit  versiegelt  wurde.  Der 
philosophische  Grundgedanke  derselben  (der  an  Descartes  erinnert)  ist  die  Verein- 
barkeit einer  mechanischen  Naturerklärung,  welche  ohne  willkürliche  Grenzen 
jedesmal  wieder  zu  der  Ursache  eine  Naturursache  sucht,  mit  einer  Teleologie, 
welche  die  gesammte  Natur  von  Gott  abhängig  sein  lässt.  Somit  findet  Kant  in 
den  entgegengesetzten  Doctrinen  Elemente  der  Wahrheit.  Dass  die  Naturkräfte 
selbst  zweckmässig  wirken,  zeugt  für  das  Dasein  eines  intelligenten  Urhebers  der 
Natur.  Die  Materie  ist  an  gewisse  Gesetze  gebunden,  welchen  frei  überlassen,  sie 
nothwendig  schöne  Verbindungen  hervorrufen  muss.  Aber  gerade  darum  ist  ein 
Gott.  Denn  wie  wäre  es  möglich,  dass  Dinge  von  verschiedenen  Naturen  in  Ver- 
bindung mit  einander  so  vortrefFliche  Uebereinstimmungen  und  Schönheiten  zu 
bewirken  trachten  sollten,  weun  sie  nicht  einen  gemeinschaftlichen  Ursprung 
erkennten,  nämlich  einen  unendlichen  Verstand,  in  welchem  aller  Dinge  wesentliche 
Beschaffenheiten  beziehend  entworfen  worden?  Wenn  ihre  Naturen  für  sich  und 
unabhängig  von  einander  nothwendig  wären,  so  würden  sie  nicht  mit  ihren  natür- 
lichen Bestrebungen  sich  gerade  so  zusammenpassen,  wie  eine  überlegte  kluge 

Quantität  der  Bewegung  eines  Körpers  proportionale  Ursache  verstanden,  so  gilt 
selbstverständlich  das  cartesianische  Princip;  versteht  man  aber  darunter  die 
Fähigkeit  des  bewegten  Körpers,  gewisse  specielle  Wirkungen  zu  üben,  z.  B.  einen 
<  ontinuirlichen  und  gleichmässigen  Widerstand  zu  überwinden,  so  gilt  die  leibnizische 
Formel;  denn  die  von  der  „Kraft*  ausgeführte  .Arbeit-  ist  gleich  dem  Unterschiede 
der  halben  Producte  der  Masse  in  das  Quadrat  der  Geschwindigkeit  am  Anfang 
und  am  Ende  der  Bewegung.  Man  nennt  gegenwärtig  bekanntlich  rav  die  «Quanti- 
tät der  Bewegung",  und  rav«  die  »lebendige  Kraft*.  Beim  freien  Fall  ist  die 
Endgeschwindigkeit  nach  n  Secunden  =  2ng,  der  in  Secunden  durchlaufene  Weg 
r=a  n*g ;  das  halbe  Product  aus  der  Masse  in  das  Quadrat  der  Geschwindigkeit 
=  Vsmv8  =  Väin  .  4n*g«  =  2mn*g*  mm  2gm  .  n*g,  also  gleich  dem  Product  aus  der 
bewegenden  Kraft  (2gm)  und  dem  Wege  (n*g).  Die  Höhen,  bis  zu  welchen  auf- 
wärts geschleuderte  Körper  steigen,  verhalten  sich  hiernach  wie  die  Quadrate  der 
Anfangsgesc  hwindigkeiten,  und  in  gleicher  Art  ist  überhaupt  nach  dem  halben 
Product  der  Masse  in  das  Quadrat  der  Geschwindigkeit  die  „Arbeit"  hinsichtlich 
des  von  dem  zu  bewegenden  Körper  zurückgelegten  Weges  zu  messen.  D'Alembert 
hat  bereits  1743  in  seinem  Traite  de  dynamique  (Preface,  S.  XVI  ff.;  vgl.  Montucla, 
histoire  des  raathematiques,  nouv.  eU,  Paris  1802.  t.  HI,  p.  641)  gezeigt,  dass  die 
analytische  Mechanik  die  Streitfrage  als  einen  Wortetreit  bei  Seite  lassen  könne. 
Doch  lag  den  Discnssionen ,  von  dem  Wortetreit  überdeckt,  das  Problem  zum 
Grunde,  das  Princip  der  Gleichheit  zwischen  Ursache  und  Wirkung  mit  den  That- 
sachen  zu  vereinigen.  Vgl.  G.  Reuschle  in  der  deutschen  Vierteljahrsschrift,  April 
bis  Juni  1868,  S.  53-56. 


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214 


§  24.   Kants  Leben  und  Schriften. 


Wahl  sie  vereinigen  würde.  Weil  Gott  durch  die  in  die  Materie  selbst  gelegten 
Gesetze  wirkt,  so  ist  zu  jedem  Erfolg  die  nächste  Ursache  in  den  Naturkräften 
selbst  zu  suchen.  Die  anfängliche  seitwärts  gerichtete  Bewegung,  welche  zugleich 
mit  der  Gravitation  den  I*uf  der  Planeten  bestimmt,  ist  ihrerseits  wiederum  aus 
Natnrkräften  zu  begreifen.  Sie  entstand,  als  die  Materie  der  Sonne  und  Planeten, 
die  ursprünglich  als  Dunstmasäe  ausgebreitet  war,  sich  zu  ballen  begann,  indem 
der  Zusammensturz  der  Massen  Seitenbewegungen  erzeugte.  Nach  der  Analogie 
mit  der  Genesis  und  dem  Bestände  des  Planeteusystems  ist  die  Genesis  und  der 
Bestand  des  Fixsternsysteros  zu  denken.  (Mit  Kants  Lehre  von  dem  Bestände  de* 
Fixsternsystems  kommt  das  Resultat  der  herschelschen  Untersuchungen  und  mit 
seiner  Lehre  von  der  Genesis  desselben  die  laplacesche  Theorie,  Exposition  du 
Systeme  du  monde,  1796,  in  den  wesentlichsten  Grundzügen  überein;  doch  tritt  bei 
Berschel  die  empirische  Basis  an  die  Stelle  allgemein  gehaltener  Vermuthungen, 
und  die  Lehre  des  Laplace  unterscheidet  sich  von  der  kautischeu  durch  die  An- 
nahme der  successiven  Ausscheidung  der  Planetenstoffe  aus  der  rotirenden  Sonnen- 
masse und  durch  die  strengere  mathematische  Begründung.  Die  von  Newton 
aufgeworfenen  Fragen,  wie  sich  die  Verschiedenartigkeit  der  Planeten-  und  Kometen- 
bahnen erkläre,  und  warum  die  „Fixsterne"  nicht  aufeinanderstürzen,  finden  eine 
Lösung  in  der  kant-laplaceschen  Theorie,  und  an  die  Stelle  der  newtonschen  Zurück  - 
führung  der  Tangentialbewegung  auf  ein  unmittelbares  Einwirken  des  (um  mit 
Goethe  im  „ Faust"  zu  reden)  gleichsam  .von  aussen  stossenden"  Gottes  tritt  in 
dieser  Theorie  der  Versuch  einer  genetischen  Erklärung  derselben  nach  Natur- 
gesetzen.) Kant  hält  die  meisten  Planeten  für  bewohnt  und  die  Bewohner  der 
von  der  Sonne  entfernteren  Planeten  für  die  vollkommneren.  Wer  weiss,  fragt 
Kant,  laufen  nicht  jene  Trabanten  um  den  Jupiter,  um  uns  dereinst  zu  leuchten? 
Er  giebt  auch  die  Möglichkeit  einer  unräumlichen  Welt  zu.  —  Einen  Auszug  an- 
dern Werke  Hess  Kant  1791  durch  Gensichen  anfertigen  und  einer  Uebersetzung 
der  Abhandlung  Herschels  üb.  den  Bau  des  Himmels  beifügen.  (Vgl.  Ueberweg, 
üb.  K.s  Allg.  Naturg.  etc.  in:  Altpreuss.  Monatsschrift,  Bd.  II,  Hft.  4.  Kgsb.  1865, 
S.  339-363,  und  E.  Hay,  üb.  K.s  Kosmogonie,  ebd.  Bd.  III,  Hft.  4,  1866,  S.  312 
bis  322,  ferner  Reuschle  a.  a.  0.  S.  82—102,  Otto  Liebmann,  Notiz  zur  kant- 
laplaceschen  Kosmogonie  in:  Philos.  Monatshefte.  IX,  1873,  S  246— 251,  F.  Ritter- 
feld, d.  Cardinalfragen  der  Kosmologie  u.  K.s  Entstehung  des  Weltalls,  Wiesbaden 
1883).  Carl  Witt,  K.s  Gedank.  v.  d.  Bewohnern  d.  Gestirne,  in:  Altpr.  Monatsschr., 
1885,  S.  76  -  90. 

Meditationum  quarundam  de  igne  succineta  delineatio,  Kants  Doctor-Disser- 
tation,  der  philos.  Facultät  zu  Königsberg  vorgelegt  1755,  von  Schubert  aus  Kants 
Originalhandschrift  zuerst  veröffentlicht  in  den  Werken  V,  Leipz.  1839,  S.  233  bis 
254.  Die  Körperelcmente  ziehen  einander  nicht  durch  unmittelbare  Berührung  an, 
sondern  durch  Vermittelung  einer  zwischen  ihnen  liegenden  elastischen  Materie, 
welche  mit  der  Materie  der  Wärme  und  des  Lichtes  identisch  ist;  das  Licht  ist 
ebenso  wie  die  Wärme  nicht  ein  Ausflnss  materieller  Theile  aus  den  leuchtenden 
Körpern,  sondern  nach  der  durch  Eulers  Autorität  aufs  Neue  bekräftigten  Annahme 
eine  Fortpflanzung  vibratorischer  Bewegung  in  dem  allverbreiteten  Aether.  Die 
Flamme  ist  „vapor  ignitus".  (Eine  Beurtheilung  der  einzelnen  Sätze  dieser  Disser- 
tation aus  dem  heutigen  Standpunkte  der  Physik  und  Chemie  von  Gnst  Werther  steht 
in:  Altpr.  Monatsschr.,  Kgsb.  1866,  S.  441-447;  vgl.  Reuschle  a.  a.  0.  S.  56-66.) 

Principiorum  priroorum  cognitionis  metaphysicae  nova  dilucidatio,  Kants 
Habilitationsschrift,  Kgsb.  1765.  Kant  entwickelt  im  Wesentlichen  nur  die  leib- 
nizischen  Principien,  jedoch  mit  einigen  bemerkenswertheu  Modifikationen.  Nicht 
das  Princip  des  Widerspruchs,  sondern  das  der  Identität  erkennt  er  als  das 


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§  24.    Kants  Üben  und  Schriften. 


215 


schlechthin  erste  an.  Das  Princip  der  Identität  umfasse  die  beiden  Sätze:  quid- 
qaid  est,  est,  als  Princip  der  affirmativen  Wahrheiten,  und:  quidquid  non  est,  non 
est,  als  Princip  der  negativen  Wahrheiten.  Pas  Princip  der  ratio  determinans, 
wofür  Kant  nicht  den  Ausdruck  ratio  sufficiens  gesetzt  sehen  will,  zerlegt  Kant  in 
zwei  Formen,  die  er  durch  die  Termini:  ratio  cur  oder  antecedenter  determinans 
und  ratio  quod  oder  consequenter  determinans  unterscheidet;  jene  setzt  er  mit  der 
ratio  essendi  vel  fiendi,  diese  mit  der  ratio  cognoscendi  gleich,  was  freilich  ungenau 
ist,  sofern  die  Erkenntniss  aus  dem  Realgrunde  dabei  entweder  unberücksichtigt 
bleibt  oder  mit  dem  Werden  aus  dem  Realgrunde  vermischt  wird  Kant  vertheidigt 
das  principium  rationis  determinantis  gegen  die  Angriffe,  die  besonders  Crusius  auf 
dasselbe  gerichtet  hatte,  insbesondere  gegen  den  Einwurf,  duss  dasselbe  die  Freiheit 
aufhebe,  indem  er  (im  leibnizischen  Sinne)  definirt:  Spontaneitas  est  actio  a  prin- 
cipio  interno  profecta;  quando  haec  repraesentationi  optimi  conformiter  determi- 
natus dicitur  libertas,  welche  Definition  später  Kant  selbst  verwarf.  Aus  dem 
Princip  des  Grundes  leitet  Kant  Folgesätze  ab,  deren  wichtigster  ist:  quantitas 
realitatis  absolutae  in  mundo  naturaliter  non  mutatur  nec  augescendo  nec  decre- 
scendo, was  Kaut  auch  auf  die  Kräfte  der  Geister  mitbezieht,  sofern  nicht  Gott 
unmittelbar  einwirke.  Das  principium  identitatis  indiscernibilium,  wonach  es  keine 
zwei  einander  vollkommen  gleichen  Wesen  im  Universum  geben  soll,  verwirft  Kant, 
leitet  aber  aus  dem  Princip  des  bestimmenden  Grundes  noch  zwei  allgemeine  Sätze 
ab:  1)  das  Princip  der  Succession,  alle  Veränderung  sei  an  die  Verbindung  der 
Substanzen  unter  einander  geknüpft  (welches  Princip  später  Herbart  durchgeführt 
hat:  beide  schliessen  auf  Grund  dieses  Princips  aus  der  Veränderung  unserer  Vor- 
stellungen auf  wirklich  vorhandene  äussere  Objecte;  auch  Schleiermachers  Dialektik 
beruht  mit  auf  diesem  Princip);  2)  das  Princip  der  Coexistenz:  die  reale  Verbin- 
dung der  endlichen  Substanzen  unter  einander  beruht  nur  auf  der  Verbindung,  in 
welcher  ihr  gemeinsamer  Daseinsgrund,  der  göttliche  Intellect,  sie  denkt  und  erhält 
Durch  diesen  letzteren  Satz  nähert  sich  Kant  der  leibnizischen  Lehre  von  der 
prästabilirten  Harmonie,  ohne  jedoch  derselben  beizutreten.  Noch  weniger  billigt 
er  den  Occasionalismus;  es  soll  vielmehr  durch  Gott  eine  wirkliche  actio  universalis 
spirituum  in  corpora  corporumque  in  spiritus,  nicht  ein  blosser  consensus,  sondern 
eine  wirkliche  dependentia  gesetzt  sein.  Andererseits  unterscheidet  Kant  dieses  so 
begründete  .systema  universalis  substantiarum  commercii*  streng  von  dem  blossen 
influxus  physicus  der  wirkenden  Ursachen. 

Metaphysicae  cum  geometria  junctae  usus  in  philosophia  natural!,  cujus  spe- 
cimen  I.  continet  monadologiam  physi  cam,  Kgsb.  1766,  eine  von  K.  zu  dem 
Zweck,  für  ein  Extraordinariat  in  Vorschlag  gebracht  werden  zu  dürfen  (welches 
ihm  jedoch  aus  dem  oben  angegebenen  Grunde  nicht  zu  Theil  wurde),  vertheidigtc 
Dissertation.  An  die  Stelle  der  punctuellen  leibnizischen  Monaden  setzt  K.  aus- 
gedehnte und  doch  einfache,  weil  nicht  aus  einer  Mehrheit  von  Bubstanzen  be- 
stehende Elemente  der  Körper,  wodurch  er  (zu  der  Theorie  Brunos,  die  er  jedoch 
nicht  historisch  gekannt  zu  haben  scheint,  zurückkehrend)  die  Monadenlehre  der 
Atomistik  annähert.  Von  der  letzteren  aber  unterscheidet  sich  seine  Doctrin 
wiederum  wesentlich  durch  die  von  ihm  behauptete  dynamische  Raumerfüllung 
mittelst  der  Repulsivkraft  (die  von  dem  Ceutrum  aus  nach  dem  Cubus  der  Ent- 
fernungen abnehmen  mag»  und  der  Attractionskraft  (die  nach  dem  Quadrat  der 
Entfernungen  abnimmt);  wo  die  Wirkungen  beider  gleich  seien,  sei  die  Grenze 
des  Körpers.  Quodlibet  corporis  elementum  simplex  sive  monas  non  solum  est  in 
spatio,  sed  et  implet  spatium,  salva  nihilo  minus  ipsius  simplicitate.  Monas 
spatiolom  praesentiae  suae  definit  non  pluralitale  partium  suarum  substantialium, 
sed  sphaera  activitatis,  qua  externas  utrinque  sibi  praesentes  arcet  ab  ulteriori  ad 


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216 


§  24.   Kaute  Leben  und  Schriften. 


se  invicera  appropinquatione.  Adest  alia  pariter  insita  attractionls  vis  cum  im- 
penetrablliUte  conjunctim  limitem  definiens  extenslonls.  K.  folgert  hieraus  u.  a., 
dass  die  Elemente  der  Körper  als  solche  vollkommen  elastisch  seien,  da  der  ihnen 
innewohnenden  Repulsivkraft  eine  stärkere  Kraft  entgegentreten  könne,  welche 
die  Wirkungen  jener  beschränken  müsse,  aber  niemals  aufzuheben  vermöge.  (K.s 
Argumentation,  daas  die  Anziehungskraft  auf  einen  jeden  rankt  in  dem  Maasse 
schwächer  wirken  müsse,  in  welchem  die  sphärischen  Oberflächen,  über  welche  sie 
sich  verbreite,  vermöge  der  wachsenden  Entfernung  vom  Centraipunkte  grösser 
werden,  gehört  ursprünglich  Newtons  Zeitgenossen  Halley,  1656—1724,  an,  8. 
Whewell,  Gesch.  d.  ind.  Wiss.,  übers,  v.  Llttrow,  Bd.  II,  S.  157.  —  Geo.  Simmel, 
das  Wesen  der  Materie  nach  K.s  physischer  Monadologie,  I.-D.,  Berl.  1881). 

Von  den  Ursachen  derErderschütterungen  bei  Gelegenheit  des  Unglücks, 
welches  die  westl.  Länder  von  Europa  gegen  das  Ende  des  vorigen  Jahres  (1755) 
betroffen  hat,  in  den  Königsb.  Frag-  und  Anzeigungs-Nachrichten  1756.  Geschichte 
und  Naturbeschreibung  des  Erdbebens  im  Jahr  1755,  Kgsb.  1756;  Betrachtung 
der  seit  einiger  Zeit  wahrgenommenen  Erderschütterungen,  in  den  Königsb. 
Fr.-  und  Anz.-Nachrichten,  1756,  No.  15  und  16;  naturwissenflchafüiche  Abhand- 
lungen, die  mit  der  „Allg.  Naturgesch.  u.  Theorie  des  Himmels"  in  nahem  Zu- 
sammenhange stehen.  Er  spricht  sich  dahin  aus,  dass  diese  Erschütterungen  auf 
vulkanischen  Vorgängen  im  Innern  der  Erde  beruhen.  (Die  Berichte,  worauf  Kant 
in  der  Schrift  üb.  das  lissaboner  Erdbeben  von  1755  fusste,  hält  Otto  Volger  in 
seinen  „Untsuchgn.  üb.  die  Phänomene  der  Erdbeben  in  d.  Schweiz",  Gotha  1857 
bis  1858,  für  sehr  ungenau.  Doch  vgl.  andererseits  Reuschle  a.  a.  O.  S.  66  ff.) 

Neue  Anmerkungen  zur  Erläuterung  der  Theorie  der  Winde,  Kgsb.  1766, 
Einladungsschrift  K.s  zu  s.  Vöries,  im  Somm.  1756.  K.  hat  in  dieser  Abhandlung 
die  richtige  Theorie  der  periodischen  Winde,  wie  es  scheint,  originell  aufgestellt, 
ohne  von  Hadleys  partiellem  Vorgange  zu  wissen.  Hadley  hat  1735  (nachdem 
Halley  1686  eine  falsche,  auf  die  durch  die  Sonne  in  ihrem  täglichen  Lauf  be- 
wirkten Temperatur-Unterschiede  gegründete  Theorie  der  Passate  aufgestellt  hatte) 
die  Windverhältnisse  der  Tropen  im  Wesentlichen  richtig  aus  den  Unterschieden 
der  Rotationsgeschwindigkeit  in  den  verschiedenen  Breiten  und  den  Temperatur- 
Unterschieden  in  den  verschiedenen  Breiten  erklärt;  K.  hat  nach  den  gleichen  Ge- 
sichtspunkten auch  die  Hauptetrömungen  der  Luft  ausserhalb  der  Tropen  (die 
Westwinde  aus  dem  Herabkommen  und  der  Ablenkung  des  oberen  Stromes,  der 
ursprünglich  die  Richtung  vom  Aequator  zu  den  Polen  hat)  erklärt.  (Vgl.  Doves 
meteorolog.  Untersuchgn.,  Berl.  1837,  S.  244  ff.,  und  in  Beziehung  auf  Kant  Reuschle 
a.  a.  0.  S.  68  f.)  K.  hat  hierdurch  für  die  Erklärung  vieler  meteorologischen  Er- 
scheinungen das  wahre  Fundament  gewonnen.  Am  Schlüsse  dieser  Einladungsschrift 
sagt  K.,  er  sei  gesonnen,  die  Naturwissenschaft  nach  J.  P.  Eberhards  (nicht  zu 
verwechseln  mit  Joh.  Aug.  E.)  Lehrbuch  „Erste  Gründe  d.  Naturlehre"  zu  erklären, 
in  der  Mathematik  Anleitung  zu  geben,  den  Lehrbegriff  der  Weltweisheit  mit  der 
Erläuterung  der  Meyerschen  Vernunftlehre  zu  eröffnen  und  die  Metaphysik  nach 
Baumgartens  Handbuch  vorzutragen,  welches  er  „das  nützlichste  und  gründlichste 
unter  allen  Handbüchern  seiner  Art"  nennt  und  dessen  „Dunkelheit"  er  «durch  die 
Sorgfalt  des  Vortrags  und  ausführliche  schriftliche  Erläuterungen"  zu  heben  hofft. 

Entwurf  und  Ankündigung  eines  Gollegli  über  die  physische  Geographie 
nebst  Betrachtung  über  die  Frage,  ob  die  Westwinde  in  unseren  Gegenden  darum 
feucht  sind,  weil  sie  über  ein  grosses  Meer  streichen,  Kgsb.  o.  J.  (Goldbeck, 
litterar.  Nachr.  r.  Preuss.  II,  48  (1783),  giebt  als  Druckjahr  1759  an,  ebenso  Wald 
In  seinem  2.  Beitr.  z.  Blogr.  Kants  (1804),  richtig  Borowski  u.  nach  ihm  Harten- 
stein 1757,  Schubert  erst  1765.  Kant  las  die  phys.  Geogr.  zuerst  im  Sommersemester 


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§  24.   Kants  Leben  und  Schriften. 


217 


1757.)  Eine  Fortsetzung  der  Untersuchungen  aus  den  Jahren  1756  und  1756.  Jene 
Frage  über  die  Westwinde  wird  verneint,  aber  die  positive  Lösung  fehlt,  weil  der 
Einfluss  der  Temperatur  auf  die  Capacität  der  Luft  für  Wasserdampf  nicht  in 
Betracht  gezogen  wird. 

Neuer  Lehrbegriff  der  Bewegnng  und  Ruhe,  Königsberg  1758.  Kant  weist 
die  Relativität  aller  Bewegung  nach,  erklärt  daraus  die  Gleichheit  der  Wirkung 
und  Gegenwirkung  in  dem  Stosse  der  Körper  und  giebt  die  wahre  Deutung  der 
gewöhnlich  einer  „Trägheitskraft*  zugeschriebenen  Erscheinungen. 

Versuch  einiger  Betrachtungen  über  den  Optimismus,  Königsberg  1759. 
Kant  billigt  hier  den  Optimismus,  in  der  Ueberzeugung,  Gott  könne  nicht  umhin, 
das  Beste  zu  wählen;  er  hält  dafür,  das  Weltganze  sei  das  Beste  und  Alles 
um  des  Ganzen  willen  gut.  Sein  späterer  Kriticismus  lässt  diesen  Argumentations- 
gang nicht  zu  und  betont  vielmehr,  als  die  Einheit  des  Ganzen,  die  persönliche 
Freiheit  der  Individuen. 

Gedanken  bei  dem  frühzeitigen  Ableben  des  Herrn  von  Funk,  Sendschreiben 
an  seine  Mutter  (Königsberg  1760).   Eine  Gelegenheitsschrift. 

Die  falsche  Spitzfindigkeit  der  vier  syllogistischen  Figuren,  Königsberg 
1762.  Kant  lässt  nur  die  erste  Figur  als  naturgemäss  gelten.  Vgl.  dagegen  die 
von  Ueberweg,  Syst  der  Log.,  zu  §  103  aufgestellte  Widerlegung. 

Versuch,  den  Begriff  der  negativen  Grössen  in  die  Weltweisheit  einzu- 
führen, Kgsb.  1763.  Einander  entgegengesetzt  ist,  wovon  Eines  dasjenige  aufhebt, 
was  durch  das  Andere  gesetzt  ist  Die  Entgegensetzung  ist  entweder  logische  oder 
reale  Opposition.  Jene  ist  der  Widerspruch  und  besteht  darin,  dass  von  demselben 
Dinge  etwas  zugleich  bejaht  und  verneint  wird ;  ihre  Folge  ist  das  nihil  negatlvum 
irrepraesentabile.  Die  reale  Opposition  ist  diejenige,  da  zwei  Prädicate  eines 
Dinges  entgegengesetzt  Bind,  aber  nicht  durch  den  Satz  des  Widerspruchs;  beide 
Prädicate  sind  bei  der  Realrepugnanz  bejahend,  aber  in  entgegengesetztem  Sinne, 
wie  eine  Bewegung  und  die  gleich  rasche  Bewegung  in  der  gerade  entgegengesetzten 
Richtung  oder  wie  eine  Activschuld  und  die  gleich  hohe  Passivschuld;  die  Folge 
davon  ist  das  nihil  privativem  repraesentabile,  das  K.  Zero  nennen  will;  auf  diese 
reale  Entgegensetzung  gehen  die  mathematischen  Zeichen  +  und  Alle  positiven 
und  negativen  Realgründe  der  Welt  sind  zusammengenommen  gleich  Zero.  (Schon 
in  der  Abhdlg.:  princ  cogn.  met  dilucidatio  hat  K.  die  von  Daries  aufgestellte 
Argumentation  für  das  logische  Princip  des  Widerspruchs  durch  die  mathematische 
Formel:  -f-  A  —  A  =  0,  getadelt,  da  diese  Ausdeutung  des  Minus -Zeichens 
willkürlich  sei  und  eine  petitio  prindpii  involvire;  in  der  gegenwärtigen  Abhandlung 
aber  weist  er  bestimmter  den  Unterschied  nach  )  Der  Unterscheidung  der  logischen 
und  realen  Entgegensetzung  entspricht  die  des  logischen  und  des  Realgrundes;  aus 
jenem  ergiebt  sich  die  Folge  nach  der  Regel  der  Identität,  indem  sie  als  Theil- 
begriff  in  ihm  liegt,  aus  diesem  nicht  nach  der  Regel  der  Identität,  sondern  als 
etwas  Anderes  und  Neues.  Wie  Causalität  in  diesem  letzteren  Sinne  möglich  sei, 
bekennt  K.,  nicht  einzusehen.  —  K.  hat  seitdem  an  der  Ueberzeugung  festgehalten, 
dass  die  Causalität  sich  nicht  aus  dem  Satze  der  Identität  und  des  Widerspruchs 
verstehen  lasse.  Zunächst  führt  er  nun  die  Annahme  von  Causalverhältnissen  auf 
die  Erfahrung  zurück,  später,  in  der  Periode  des  Kriticismus,  auf  einen  ursprüng- 
lichen Verhältnissbegriff. 

Der  einzig  mögliche  Beweisgrund  zu  einer  Demonstration  des  Daseins  Gottes, 
Königsberg  1763.  Kant  äussert  schon  in  dieser  Abhandlung  die  Ueberzeugung, 
.die  Vorsehung  habe  nicht  gewollt,  dass  unsere  zur  Glückseligkeit  höchst  nöthigen 
Einsichten  auf  der  Spitzfindigkeit  feiner  Schlüsse  beruhen  sollten,  sondern  sie  dem 
natürlichen  geraeinen  Verstände  unmittelbar  überliefert";  „es  ist  durchaus  nöthig, 


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§  24.   Kants  Leben  and  Schriften. 


dass  man  sich  vom  Dasein  Gottes  überzeuge,  aber  es  ist  nicht  eben  so  nöthig,  dass 
man  es  demonstrire*.  Nichts  desto  weniger  hält  Kant  hier  noch  für  möglich,  an 
einem  Beweise  für  Gottes  Dasein  zu  gelangen,  indem  man  sich  auf  den  finsteren 
Ocean  der  Metaphysik  wage,  wogegen  er  später  die  Unmöglichkeit  jedes  theoretischen 
Beweises  der  Existenz  Gottes  darzuthun  unternimmt  Schon  in  dieser  Abhandlung 
stellt  er  den  Satz  auf,  das  Dasein  sein  kein  Prädicat  oder  Determination  von  irgend 
einem  Dinge;  die  Dinge  erhalten  nicht  durch  die  Existenz  ein  Prädicat  mehr,  als 
sie  ohne  dieselbe,  als  bloss  mögliche  Dinge,  haben.  In  dem  Begriffe  des  Subjects 
findet  man  immer  nur  Prädicate  der  Möglichkeit.  Das  Dasein  ist  die  absolute 
Position  eines  Dinges  und  unterscheidet  sich  dadurch  auch  von  jeglichem  Prädicate, 
welches  als  ein  solches  jederzeit  bloss  beziehungsweise  gesetzt  wird.  Wenn  ich 
sage,  Gott  ist  allmächtig,  so  wird  nur  diese  logische  Beziehung  zwischen  Gott  und 
der  Allmacht  gedacht,  da  die  letztere  ein  Merkmal  des  ersteren  ist.  Es  ist  un- 
möglich, dass  nichts  existire;  denn  dadurch  würde  das  Material  und  die  Data  zu 
allem  Möglichen  aufgehoben,  aUo  alle  Möglichkeit  verneint  werden;  wodurch  aber 
alle  Möglichkeit  aufgehoben  wird,  das  ist  schlechterdings  unmöglich.*)  Demnach 
existirt  etwas  absolut  nothwendiger  Weise.  Das  nothwendige  Wesen  iBt  einig, 
weil  es  den  letzten  Realgrund  aller  anderen  Möglichkeit  enthält,  also  jedes  andere 
Ding  von  ihm  abhängig  sein  muss,  es  ist  einfach,  nicht  aus  vielen  Substanzen  zu- 
sammengesetzt, es  ist  unveränderlich  und  ewig,  es  enthält  die  höchste  Realität;  es 
ist  ein  Geist,  da  zu  der  höchsten  Realität  die  Eigenschaften  des  Verstandes  und 
Willens  gehören;  mithin  ist  ein  Gott  Diese  Argumentation,  die  nicht  empirisch 
irgend  eine  Existenz  voraussetze,  sondern  nur  von  dem  Kennzeichen  der  absoluten 
Notwendigkeit  hergenommen  sei,  erklärt  Kant  für  einen  vollkommen  a  priori 
geführten  Beweis;  man  erkenne  auf  diese  Weise  das  Dasein  jenes  Wesens  aus  dem- 
jenigen, was  wirklich  die  absolute  Notwendigkeit  desselben  ausmache,  also  recht 
genetisch ;  alle  anderen  Beweise,  auch  wenn  sie  die  Strenge  hätten,  die  ihnen  fehlt 
würden  doch  niemals  die  Natur  jener  Nothwendigkeit  begreiflich  machen  können. 
Die  (anselmische  und)  cartesianische  Form  des  ontologischen  Beweises,  aus  dem 
vorausgesetzten  Begriffe  Gottes  auf  Gottes  Existenz  zu  schliessen,  verwirft  Kant. 
Uebrigens  fügt  Kant  eine,  vortrefflich  durchgeführte,  Betrachtung  bei,  worin  aus 
der  wahrgenommenen  Einheit  in  dem  Wesen  der  Dinge  auf  das  Dasein  Gottes 
a  posteriori  geschlossen  wird,  und  führt  insbesondere  den  pbysico-theologiseben 
Grundgedanken  seiner  „Allg.  Naturgesch.  und  Theorie  des  Uimmels*  weiter  durch. 

Untersuchung  über  die  Deutlichkeit  der  Grundsätze  der  natürlichen 
Theologie  und  der  Moral,  zur  Beantwortung  der  Frage,  welche  die  K.  Aka- 
demie der  Wies,  zu  Berlin  auf  das  Jahr  1763  aufgegeben  hat  Kants  Abhandlung 
erhielt  das  Accessit,  die  mendelssohnsche  (.über  die  Evidenz  in  metaphysischen 
Wissenschaften')  den  Preis.  Beide  wurden  zusammen  Berlin  1764  gedruckt  Kant 
geht  von  einer  Vergleichung  der  philosophischen  Erkenntnissweise  mit  der  mathe- 
matischen aus.  Die  Mathematik  gelangt  zu  allen  ihren  Definitionen  synthetisch, 
die  Philosophie  aber  analytisch;  die  Mathematik  betrachtet  das  Allgemeine  unter 
den  Zeichen  in  concreto,  die  Weltweishcit  das  Allgemeine  durch  die  Zeichen  in 
abstracto;  in  der  Mathematik  sind  nur  wenige  unauflösliche  Begriffe  und  uner- 
weisliche Sätze,  in  der  Philosophie  aber  unzählige;  das  Object  der  Mathematik  ist 
leicht  und  einfach,  das  der  Philosophie  aber  schwer  und  verwickelt    „Die  Meta- 


*)  Offenbar  ist  dies  ein  Paralogismus :  die  Aufhebung  aller  Möglichkeit  des 
Daseins  ist  zwar  mit  der  Behauptung  der  Unmöglichkeit  des  DaseinB,  aber  nicht 
mit  der  Behauptung  der  Unmöglichkeit  jener  Aufhebung  aller  Möglichkeit 
identisch. 


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§  24.    Kants  Leben  und  Schriften. 


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physik  ist  ohne  Zweifel  die  schwerste  unter  allen  menschlichen  Hinsichten;  allein 
es  ist  noch  niemals  eine  geschrieben  worden."  Die  einzige  Methode,  zur  höchst- 
möglichen Gewissheit  in  der  Mctuphysik  zu  gelangen,  ist  mit  derjenigen  identisch, 
die  Newton  in  der  Naturwissenschaft  einführte:  Zergliederung  der  Erfahrungen  und 
Erklärung  der  Erscheinungen  aus  den  hierdurch  gefundenen  Regem,  möglichst  mit 
Hülfe  der  Mathematik. 

Raisonnement  über  den  Abenteurer  Jan  Komarnicki.  in  den  Königsb. 
( kanterschen)  gelehrt,  und  polit  Zeitungen  1764,  den  „Ziegenpropheten",  der  von  einem 
achtjährigen  Knaben  begleitet  umherzog.  Kant  fand  in  dem  „kleinen  Wilden", 
dessen  Rüstigkeit  und  Freimuth  ihm  gefiel,  ein  interessantes  Exemplar  eines  Natur- 
kindes im  rous8eanschen  Sinne. 

Versuch  über  die  Krankheiten  des  Kopfes,  in  denselb.  Zeitung.  1764. 

Beobachtungen  über  das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen,  Königsberg 
1764.  Eine  Reihe  der  feinsten  Beobachtungen  aus  dem  Gebiet  der  Aesthetik,  Moral 
und  Psychologie.  Charakteristisch  ist  die  ästhetische  Begründung  der  Moral  auf 
das  „Gefühl  von  der  Schönheit  und  Würde  der  menschlichen  Natur". 

Nachricht  von  der  Einrichtung  seiner  Vorlesungen  im  Winterhalbjahr 
1765—66.  Königsberg  1765.  Der  Vortrag  soll  nicht  Gedanken,  sondern  denken 
lehren;  es  gilt  nicht  Philosophie  lernen,  sondern  philosophiren  lernen.  Eine  fertige 
Weltweisheit  ist  nicht  vorhanden;  die  Methode  des  philosophischen  Unterrichts 
muBs  forschend  (zetetisch)  sein. 

Ueber  Swedenborg,  Brief  an  Fräulein  von  Knobloeh,  vom  10.  August  1763, 
nicht  1758,  wie  Borowski  angegeben  hat  und  auch  nicht,  wie  andere  wollen,  1768. 
Das  Jahr  1763  ergiebt  sich  schon  aus  der  Vergleichung  der  historischen  Data  mit 
Gewissheit  (da  der  Brand  zu  Stockholm  am  19.  Juli  1759  stattgefunden  hat,  der 
holländische  Gesandte  Ludw.  v.  Marteville  am  25.  April  1760  gestorben,  der 
General  St.  Germain  im  December  1760  in  dänischen  Dienst  getreten  ist  und  die 
Armee  befehligte,  zu  welcher  der  von  Kant  erwähnte  dänische  Offizier  ohne  Zweifel 
im  Jahre  1762  während  des  Feldzngea  in  Mecklenburg  abging),  und  dazu  stimmt 
auch,  dass  die  Vermählung  der  Adressatin,  Amalie  Charlotte  von  Knobloch,  geb. 
10.  Aug.  1740,  mit  dem  Hauptmann  Friedrieh  von  Klingsporn  am  22.  Juli  1764 
stattgefunden  hat,  s.  Fortgesetzte  neue  geneal.-hist  Nachr.,  Theil  37,  Leipz.  1765, 
S  384.  Träume  eines  Geistersehers,  erläutert  durch  Träume  der  Metaphysik, 
Kgsb.  (auch  Riga)  1766  (anonym),  eine  zwischen  Ernst  und  Scherz  die  Mitte  haltende 
Schrift,  in  welcher  Kant  mehr  und  mehr  zu  einer  skeptischen  Haltung  fortgeht. 
Die  Möglichkeit  mancher  beliebten  metaphysischen  Annahmen  ist  unbestreitbar, 
aber  dieselben  theilen  diesen  Vortheil  mit  manchen  Wahngobilden  der  Verrückten ; 
viele  Speculationen  finden  nur  darum  Geltung,  weil  die  Verstandeswage  nicht  ganz 
unparteiisch  ist,  und  ein  Arm  derselben,  der  die  Aufschrift  trägt:  „Hoffnung  der 
Zukunft"  einen  mechanischen  Vortheil  hat,  eine  Unrichtigkeit,  die  Kant  selbst 
nicht  heben  zu  wollen  bekennt  Die  Fragen  über  die  Natur  der  Seele,  über  Freiheit 
und  Vorherbestimmung,  über  die  Unsterblichkeit,  überhaupt  die  Fragen  der  Meta- 
physik, sind  für  die  Philosophie  unlösbar,  und  zwar  soll  dies  eben  für  diejenige 
Philosophie  gelten,  die  über  ihr  eigenes  Verfahren  urtheilt,  und  die  nicht  die 
Gegenstände  allein,  sondern  auch  deren  Verhältniss  zu  dem  Verstände  des  Menschen 
kennt  Begriffe,  die  nicht  in  der  Erfahrung  gegeben  sind,  d.  h.  Begriffe  von 
möglichen  Dingen,  sind  reine  Fictionen.  Es  ist  demnach  auf  die  Metaphysik,  die 
als  Wissenschaft  nicht  möglich  ist,  auch  nicht  die  Moral  zu  gründen,  sondern  die 
Verpflichtung  der  moralischen  Gebote  muss  ihre  selbständige  Geltung  haben. 
Uebrigens  findet  es  Kant  der  menschlichen  Natur  und  Reinigkeit  der  Sitten  ge- 
mässer,  die  Erwartung  der  künftigen  Welt  auf  die  Empfindungen  einer  wohlgearteten 


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§  24.   Kants  Leben  und  Schriften. 


Seele,  als  umgekehrt  ihr  Wohlverhalten  auf  die  Hoffnung  der  andern  Welt  zu 
gründen.  In  dem  2.  Hauptstück  des  I.  Theiles,  welches  Kant  nennt  ein  Fragment 
der  geheimen  Philosophie,  die  Gemeinschaft  mit  der  Geisterwelt  zu  eröffnen,  zeigt 
er,  wie  leicht  man  auf  Grund  annehmbar  scheinender  Princlpien,  in  streng  logischer 
Weise,  sobald  man  sich  nicht  auf  Erfahrung  stützt,  zu  wunderbaren  Ansichten  und 
Systemen  gelangen  kann.  Er  hält  freilich  selbst  die  höchst  beachtenswerthe  Probe 
eines  solchen  Systems,  die  er  hier  giebt,  für  nichts  als  einen  Traum  der  Metaphysik. 

—  Vgl.  (Tafel),  AbriBB  d.  Lebens  u.  Wirk.  Em.  Swedenborgs  verbünd,  mit 

e.  Würdigg.  der  Berichte  u.  Urtheile  Stillings,  Elopstocks,  Herders,  Kants,  Wie- 
lands u.  A.,  Stuttg.  u.  Cannstatt  1845.  Matter,  Swedenborg,  Paris  1863.  Theod. 
Weber,  Kants  Dualismus  von  Geist  und  Natur  aus  dem  Jahre  1766  und  der  des 
posit  Christenthums,  Breslau  1866.  White,  Em.  Swedenborg,  his  Life  and  Writings, 
2  vis.,  London  1867.  Paul  Janet,  Kant  et  Swed.,  in:  Journal  des  savants,  Mai 
1870,  S.  299-313. 

Von  dem  ersten  Grunde  des  Unterschiedes  der  Gegenden  im  Räume, 
in  den  Königsb.  Fr.  u.  Anz.-Nachr.  1768.  Schon  Euler  hatte  (Historie  der  kgL 
Akad.  d.  Wiss.  zu  Berlin  vom  Jahre  1748)  darzuthun  gesucht,  dass  der  Raum 
unabhängig  von  dem  Dasein  aller  Materie  eine  eigene  Realität  habe;  Kant  aber 
will  .nicht  den  Mechanikern,  wie  Herr  Euler  zur  Absicht  hatte,  sondern  selbst 
den  Messkünstlern  einen  überzeugenden  Grund  an  die  Hand  geben,  mit  der  ihnen 
gewöhnlichen  Evidenz  die  Wirklichkeit  ihres  absoluten  Raumes  behaupten  zu 
können".  Aus  dem  Umstände,  dass  Figuren,  wie  z.  B.  die  der  rechten  und  der 
linken  Hand  einander  völlig  gleich  und  ähnlich  sein  und  dennoch  nicht  in  denselben 
Grenzen  beschlossen  werden  können  (wie  z.  B.  der  rechte  Handschuh  nicht  auf  die 
linke  Hand  passt),  glaubt  Kant  den  Schluss  ziehen  zu  dürfen,  dass  der  vollständige 
Bestimmungsgrund  einer  körperlichen  Gestalt  nicht  lediglich  auf  dem  Verhältniss 
und  der  Lage  seiner  Theile  gegeneinander  beruhe,  sondern  noch  überdies  auf  einer 
Beziehung  gegen  den  allgemeinen  absoluten  Raum;  der  Raum  soll  dem  gemäss  nicht 
bloss  in  dem  äusseren  Verhältniss  der  neben  einander  befindlichen  Theile  der 
Materie  bestehen,  sondern  etwas  Ursprüngliches  sein  und  zwar  nicht  als  blosses 
Gedankending,  sondern  in  der  Realität.  Freilich  findet  Kant  diesen  Begriff  von 
ungelösten  Schwierigkeiten  umgeben,  welche  nicht  lange  nachher  ihn  dazu  führten, 
den  Raum  für  eine  blosse  Form  unserer  Anschauung  zu  erklären,  womit  der  letzte 
Schritt  zum  Kriticismus  geschah. 

II.  Schriften  aus  der  Periode  des  Kriticismus. 

De  mundi  sensibilis  atque  intelli  gibilis  forma  et  prineipiis,  dissert.  pro 
loco  profe&sioni8  log.  et  metaph.  ordin.  rite  sibi  vindicando,  Regiom.  1770.  Der 
Grundgedanke  der  Vernunftkritik  tritt  hier  bereits  in  Bezug  auf  Raum  und  Zeit, 
aber  noch  nicht  in  Bezug  auf  Substantialität,  Causalität  und  überhaupt  die  Kate- 
gorien hervor.  Auf  diese  letzteren  dehnte  Kant  denselben  erst  in  den  nachfolgenden 
Jahren  aus. 

Man  kann  die  beiden  Richtungen  der  Philosophie,  die  in  der  letzten  Zeit 
namentlich  vertreten  waren,  und  die  Kant  selbst  vertreten  hatte,  in  dieser  Disser- 
tation mit  einander  verbunden  sehen,  und  damit  sind  manche  Hauptresultate  der 
Vernunftkritik  vorausgenommen.  Die  menschliche  Erkenntniss  ist  doppelter  Art, 
ohne  dass  die  eine  von  der  andern  abhängig  ist,  die  sinnliche  und  die  intellec- 
tuelle.  Die  erste,  die  der  sensualitas  entstammt,  und  deren  Gegenstand  die  sensibilia 
(phänomenal  sind,  stellt  die  Dinge  vor,  wie  sie  erscheinen,  in  ihrer  Relation  zum 
Subject  Die  letztere  bezieht  sich  auf  die  intelligibilia  (noamena).  Sie  entsteht  aus 
der  intelligentia  (rationalitas)  und  erkennt  die  Dinge,  wie  sie  sind.  Bei  der  sinn- 
lichen Erkenntniss  muss  man  den  Stoff  von  der  Form  unterscheiden.   Die  Materie, 


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§  24.   Kants  Leben  und  Schriften. 


221 


sensatio,  ist  Empfindung,  die  zwar  die  Gegenwart  von  etwas  Sinnlichem  anzeigt, 
aber  die  Beschaffenheit  desselben  nicht  angiebt  Diese  Empfindungen  werden  nun 
geordnet  durch  Gesetze,  welche  nicht  den  einzelnen  Empfindungen  entstammen,  son- 
dern ursprünglich  dem  Gemüth  innewohnen.  Damit  das  Vielerlei  des  Gegenstandes, 
welches  den  Sinn  erregt,  in  das  Ganze  einer  Vorstellung  zusammenschmelze,  bedarf 
es  eines  inneren  Princips  der  Seele,  wodurch  dieses  Vielerlei  nach  festen  und  ein- 
geborenen Gesetzen  eine  bestimmte  Gestalt  annehme.  Durch  diese  Ordnung  ent- 
steht die  Erscheinung,  apparentia,  und  ihre  Gesetze  sind  Zeit  und  Raum.  Tempus 
non  est  obiectivum  aliquid  et  reale,  nec  substantia,  nec  accidens,  nec  relatio,  sed 
subiectiva  conditio  per  naturam  mentis  humanae  necessaria  quaelibet  sensibilia  certa 
lege  sibi  coordinandi,  et  intuitus  purus.  Und  ganz  ähnlich  heisst  es  vom  Räume: 
Spatium  non  est  aliquid  obiectivi  et  realis,  nec  substantia,  nec  accidens,  nec  relatio, 
sed  subiectivum  et  ideale  e  natura  menüs  stabili  lege  proficiscens,  veluti  Schema, 
omnia  oranino  externe  sensa  sibi  coordinandi.  Die  sinnlichen  Erkenntnisse  werden 
dann  weiter  durch  den  logischen  Gebrauch  des  Verstandes  andern  sinnlichen,  als 
den  gemeinsamen  Begriffen,  und  die  Erscheinungen  den  allgemeinen  Gesetzen  der 
Erscheinungen  untergeordnet,  und  die  allgemeinsten  Erfahrungsgesetze  sind  so  sinn- 
licher Natur.  Die  Erfahrnngsbegriffe  werden  durch  Zurückführung  auf  eine  höhere 
Allgemeinheit  nicht  zu  Verstandesbegriffeu  im  wirklichen  Sinne.  Diese  Erkenntniss, 
welche  aus  der  vermittelst  des  usus  logicus  geschehenen  Vergleichung  mehrerer 
Erscheinungen  hervorgeht,  heisst  Erfahrung,  experientia,  so  dass  wir  also  drei 
Stufen  der  sinnlichen  Erkenntniss  haben.  Der  Weg  von  der  Erscheinung  zur  Er- 
fahrung führt  nur  durch  die  Ueberlegnng  in  Gemäsaheit  des  logischen  Gebrauchs 
des  Verstandes. 

Was  nun  den  Intellect  und  seine  Erkenntniss  anlangt,  so  wird  durch  den  usus 
logicus  des  Verstandes  eine  selbständige  Erkenntniss  nicht  erzeugt.  Es  giebt  aber 
ausser  diesem  usns  logicus  noch  einen  uhus  realis  des  Intellects,  durch  welchen 
Begriffe  theils  von  Gegenständen  theils  von  Beziehungen  gegeben  werden,  die  nicht 
von  den  Sinnen  entlehnt  sind  und  auch  keine  Form  der  sinnlichen  Erkenntniss  ent- 
halten. Es  giebt  also  eine  Verstandeserkenntnuss,  aber  keineswegs  darf  diese  als 
die  deutliche  und  die  sinnliche  als  die  verworrene  erklärt  werden.  Die  erste 
Philosophie,  welche  die  Principien  des  Gebrauchs  des  reinen  Verstandes  enthält, 
ist  die  Metaphysik,  in  welcher  es  keine  Erfahrungsgrundsätze  giebt  Demnach 
müssen  die  in  ihr  enthaltenen  Begriffe  nicht  in  den  Sinnen  gesucht  werden,  sondern 
in  der  Natur  des  reinen  Verstandes  selbst,  nicht  als  angeborene  Begriffe,  sondern 
als  solche,  welche  nach  den  der  Seele  innewohnenden  Gesetzen  (indem  auf  ihre 
Thätigkeit  bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  geachtet  wird)  abgezogen,  also  erworben 
sind.  Solche  Begriffe  sind  die  Möglichkeit,  das  Dasein,  die  Substanz,  die  Not- 
wendigkeit, die  Ursache  u.  s.  w.  mit  den  entgegengesetzten  und  correlaten  Begriffen. 
Diese  Begriffe  führen  nun  auf  Lehrsätze  mit  einem  bestimmten  Inhalt,  und  so  gehen 
die  allgemeinen  Grundsätze  des  reinen  Verstandes,  wie  sie  von  der  Ontologie  und 
der  rationellen  Seeleulehre  geboten  werden,  in  ein  Einzelnes  aus,  was  nur  mit  dem 
reinen  Verstände  zu  erfassen  ist,  in  ein  für  alle  andern  Realitäten  dienendes  Maass, 
in  die  perfectio  noumenon.  Diese  ist  im  theoretischen  Sinne  das  höchste  Wesen, 
Gott,  im  praktischen  Sinne  die  moralische  Vollkommenheit,  so  dass  also  auch  die 
Moralphilosophie,  soweit  sie  die  ersten  Grundsätze  zur  Beurtheilung  bietet,  nur  durch 
den  reinen  Verstand  erkannt  werden  kann.  Als  Ideal  der  Vollkommenheit  ist  Gott 
das  Princip  der  Erkenntniss  und  als  wirklich  daseiend  das  Princip  des  Werdens  für 
jede  Vollkommenheit  Die  niederen  Grade  der  Vollkommenheit  können  nur  durch 
Beschränkung  der  höchsten  Vollkommenheit  bestimmt  werden,  und  so  sind  die  Dinge 
Einschränkungen  der  Realität  Gottes.    Die  Einheit  der  Dinge,  wie  sie  thatsächlich 


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§  24.   Kants  Leben  und  Schriften. 


In  der  Welt  vor  aus  liegt,  besteht  in  der  Wechselwirkung  aller  ihrer  Tbeile.  Aber 
es  genügt  nicht  die  gewöhnliche  Annahme  des  influxus  physicus,  wonach  die  Gemein- 
schaft der  Substanzen  nnd  die  übergehenden  Kräfte  durch  ihr  blosses  Dasein  hin- 
reichend erkannt  werden  sollen,  sondern  die  Wechselwirkung  kann  nur  statuirt 
werden  unter  der  Annahme  eines  gemeinsamen  Urgrundes,  und  dieser  ist  Gott 
Substantiao  mundanae  sunt  eutia  ab  alio;  sed  non  a  diversis,  sed  omnia  ab  uno.— 
üuitas  in  coniunctione  substantiarum  univerei  est  consectarium  dependentiae  omnium 
ab  uno.  —  Kaut  neigt  hier  der  Metaphysik  im  alten  Sinne  zu,  obwohl  er  schon  in 
den  „Träumen  eines  Geistersehers*  sich  gegen  eine  solche  verwahrt  hatte  and  in  seinen 
späteren  kritischen  Schriften  diese  Art  der  Metaphysik  ganz  verwarf. 

In  dem  Scholion  zu  §  22  trägt  Kaut  eine  Ansicht  vor,  welche  sich  nach  seiner 
eigenen  Bemerkung  der  Lehre  Malebrauches,  dass  wir  alle  Dinge  in  Gott  schauen, 
sehr  nähert,  jedoch  meint  er,  mit  dieser  Ansicht  die  Grenzen  der  apodiktischen 
Gewissheit,  welche  der  Metaphysik  gezieme,  zu  überschreiten.  Die  menschliche  Seele 
wird  nämlich  nach  der  hier  von  Kant  geäusserten  Ansicht  von  den  äusseren  Dingen 
nur  so  weit  afficirt,  und  die  Welt  steht  ihrem  Anschauen  nur  soweit  ins  Unendliche 
offen,  als  die  Seele  mit  allen  andern  Dingen  vou  der  Kraft  eines  Einzigen  erhalten 
wird.  Deshalb  nimmt  sie  die  äusseren  Dinge  nur  durch  die  Gegenwart  eben  dieser 
gemeinsamen  erhaltenden  äusseren  Ursache  wahr.  Daher  kann  der  Raum,  als  die 
allgemeine  und  nothwendige  Bedingung  der  Mitgegenwart  von  aHein  sinnlich  Er- 
kannten die  Omnipraesentia  phänomenon  genannt  werden,  und  die  Zeit  in  gleicher 
Weise  causae  generalis  aeternitas  phänomenon.  Kant  nähert  sich  hier  einem  Pan- 
theismus, obwohl  er  in  §  19  der  Dissertation  sagt,  die  Ursache  der  Welt  sei  ein 
Wesen  ausserhalb  derselben,  und  nicht  die  Seele  der  Welt,  ihre  Gegenwart  in  der 
Welt  sei  keine  örtliche,  sondern  eine  wirksame. 

In  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  hat  Kant  den  Versuch,  die  Anschauungen 
Raum  und  Zeit  als  phänomenale  Correlate  der  göttlichen  Allgegenwart  und  Ewig- 
keit aufzufassen,  nicht  mehr  gemacht,  sondern  dieselben  ab  schlechthin  nur 
subjective  Formen  betrachtet;  er  war  dazu  genöthigt,  weil  er  daselbst  auch  die 
Relationsbegriffe,  das  , Commercium"  der  Substanzen  und  den  Substanzbegriff 
selbst  als  etwas  bloss  Subjectives  fasste,  also  in  ihnen  nicht  mehr  (mit  Leibniz) 
eine  objective  Basis  der  sabjcctiven  Raumanschauung  finden  konnte,  und  ebenso- 
wenig in  der  causae  generalis  aeternitas  die  objective  Basis  der  subjectiven  Zeit- 
anschauung, zumal  da  ihm  nunmehr  das  Absolute  gerade  am  allerwenigsten  als 
wissenschaftlich  erkennbar  galt.  (Vgl.  F.  Michelis  de  I.  K.  libello,  qui  de  m.  s. 
et  i.  f.  et  p.  inscribitur,  Braunsb.  1870.  Ind.  lect.,  und  die  betreffenden  Abschnitte 
in  den  citirten  Werken  von  Paulsen  und  Riehl.) 

Mehr  als  die  Dissertation  nähern  sich  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  die  vou 
Pölitz  herausgegebenen  Vorlesungen  über  Metaphysik,  s.  u.  S  228.  „ Mittheilungen 
über  Kants  metaphysischen  Staudpunkt  in  der  Zeit  um  1774*  nach  diesen  Vor- 
lesungen giebt  B.  Erdmann,  in :  Philos.  Monatsh ,  1884,  S.  65—97. 

Recension  der  Schrift  vou  Moscati  über  den  Unterschied  der  Structur  der 
Thiere  und  Menschen,  aus  den  Königsb.  gelehrten  u.  polit  Zeitung.  1771,  abg.  iu 
Reickes  Kantiaua,  S,  66-68.  Kant  billigt  Moscatls  anatomische  Begründung  des 
Satzes,  dass  die  thierische  Natur  des  Menschen  ursprünglich  auf  den  vierfüasigeu 
Gang  angelegt  sei. 

Von  den  verschiedenen  Racen  der  Menschen,  zur  Ankündigung  der  Vor- 
lesungen d.  physisch.  Geogr.  im  Soinmerhalbj.  1775,  Kgsbg.  (verändert  und  erweitert 
in  Engels  Philosoph  f.  d.  Welt,  2.  Tbl,  Leipz.  1777,  in  den  spätem  Auflagen 
nicht  mehr).  Alle  Menschen  gehören  zu  einer  Naturgattung;  die  Racen  sind  die 
festesten  unter  den  Abarten.    Bemerkenswerth  ist  Kants  Aeusserung,  eine  wirk- 


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§  24.   Kants  Leben  und  Schriften. 


223 


liehe  Naturgeschichte  werde  vermuthlich  eine  grosse  Menge  scheinbar  verschie- 
dener Arten  zu  Racen  eben  derselben  Gattung  zurückführen  und  das  jetzt  so  weit- 
läufige Schulsystem  der  Naturbeschreibung  in  ein  physisches  System  für  den 
Verstand  verwandeln;  man  müsse  eine  geschichtliche  Naturerkeuntniss  zu  erlangen 
suchen,  die  wohl  nach  und  nach  von  Meinungen  zu  Einsichten  fortrücken  könne. 
In  der  Kritik  der  teleologischen  Urtheikkraft  hat  Kant  später  eben  diesen  Ge- 
danken von  Neuem  entwickelt. 

üeber  das  Dessauer  Philanthropin,  in  den  Königsbergischen  gel.  und  pol. 
Ztgn.  1776-78,  bei  Reicke,  Kantiaua,  S.  68  ff.  (Doch  ist  nur  bei  B  [1777, 
welcher  Aufsatz,  ,an  das  gemeine  Wesen*  überschrieben,  auch  in  den  „pädagog. 
Unterhaltungen",  hrsg.  von  Basedow  und  Campe,  Dessau  1777,  3.  Stück,  und  dar- 
nach bei  Karl  v.  Raumer,  Gesch.  d.  Päd.  II.,  S.  287,  abgedruckt  ist]  und  wohl 
auch  bei  A  [1776]  die  kantische  Autorschaft  geuügend  gesichert,  bei  C  dagegen, 
das  in  Gedanken  und  Ausdruck  gemässigter  aber  auch  vulgärer  ist,  mindestens 
zweifelhaft;  der  Hofprediger  Crichton  scheint  nach  Kants  Aufforderung  vom 
29.  Juli  1778,  bei  R.  und  Sch.  XI,  S.  72,  den  Artikel  verfasst  zu  haben.)  Kant 
interessirt  sich  lebhaft  für  die  .weislich  aas  der  Natur  selbst  gezogene*  Erziehungs- 
methode des  Philanthropins.  Vgl.  Reicke,  Kant  u.  Basedow,  im  deutsch.  Museum, 
1862,  No.  10. 

Kritik  der  reinen  Vernunft,  Riga  1781.  In  dieses  Werk  hat  Kaut  (nach 
einem  Briefe  an  Moses  Mendelssohn  vom  18.  August  1783)  das  Resultat  eines 
mindestens  zwölfjährigen  Nachdenkens  niedergelegt,  die  Ausarbeitung  aber  «binnen 
vier  bis-  fünf  Monaten  in  grösster  Aufmerksamkeit  auf  den  Inhalt,  aber  weniger 
Fleiss  auf  den  Vortrag  und  Beförderung  der  leichten  Einsicht  für  den  Leser  zu 
Stande  gebracht".  —  Die  Briefe  an  Marcus  Herz  bringen  einige  Notizen  über  den 
Fortgang  des  Werkes  und  über  die  Ursachen  seiner  Verzögerung.  —  Die  zweite, 
umgearbeitete  Auflage  erschien  ebend.  1787;  die  späteren  Auflagen  bis  zur  siebenten, 
Leipz.  1828,  sind  unveränderte  Abdrücke  der  zweiten.  —  Kants  Krit.  d.  rein.  V. 
Nachträge.  Aus  K.s  Nachlass  herausgeg.  v.  B.  Erdmann,  Kiel  1881.  (Gegen 
200  Randbemerkungen  aus  K.s  Handexemplar  der  1.  Aufl.  der  Kr.  d.  r.  V.,  ohne 
besonderen  Werth  für  das  bessere  Verständniss  der  kantischen  Lehre.)  —  In  den 
Geaammtausgaben.  der  Werke,  namentlich  auch  in  den  Separatausgaben  der  Krit. 
d.  r.  V.  von  Kehrbach  und  B.  Erdmann  (Lpz.  1878,  3.  Aufl.  1884)  sind  die  Differenzen 
zwischen  beiden  Ausgaben  vollständig  angegeben.  —  Rosenkranz  wie  neuerdings 
Kehrbach  legt  die  erste  Auflage  zu  Grunde  und  giebt  die  in  der  zweiten  Auflage 
eingetretenen  Aenderungen  an;  Hartenstein  und  Kirchmann  sowie  Erdmann  dagegen 
fügen  in  ihren  Ausgaben  dem  Abdruck  der  zweiten  Auflage  die  Varianten  der 
ersten  bei.  Dieses  entgegengesetzte  Verfahren  hängt  mit  der  Verschiedenheit  des 
Urtheils  über  den  Werth  beider  Ausgaben  zusammen.  Rosenkranz  bevorzugt  die 
erste,  indem  er  mit  Michelet,  Schopenhauer  und  Anderen  in  der  zweiten  Auflage 
Aenderungen  des  Gedankens  zum  Nachtheil  der  Consequeuz  zu  finden  glaubt; 
Hartenstein  aber  sieht  darin  im  Anschluss  an  Kants  eigene  Aussage  (in  der  Vor- 
rede zur  zweiten  Aufl.)  nur  Aenderungen  der  Darstellung  zur  Abwehr  hervor- 
getretener Missverständnisse  und  zur  Erleichterung  der  Auffassung.  VgL  Ueberwegs 
Dias,  de  priore  et  posteriore  forma  Kantianae  Critices  rationis  purae,  Berol.  1862, 
worin  dieser  die  Richtigkeit  des  kantischeu  Selbstzeuguisses  im  Einzelnen  nachzu- 
weisen sucht,  wie  B.  Erdmann,  Kants  Kriticismus  in  der  ersten  und  in  der 
zweiten  Auflage  der  Krit.  d.  r.  V.,  Lpz.  1878,  nach  welchem  die  Veränderungen 
nicht  den  kritischen  Hauptzweck,  nämlich  zu  beweisen,  dass  es  keine  transcendente 
Erkenutniss  der  Dinge  aus  Vernunft  geben  könne,  treffen,  sondern  in  der  zweiten 
Auflage  nur  auf  Kosten  dieses  Hauptzweckes  die  positive  Seite,  die  Grundlegung 


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§  24.    Kants  Leben  und  Schriften. 


für  eine  Metaphysik  als  Wissenschaft,  und  die  realistische  Seite,  das  Dasein  von 
afßcirenden  Dingen,  mehr  hervorgehoben  wird.  —  Kant  hatte  allerdings  in  der 
zweiten  Auflage  der  Vernunftkritik,  wie  schon  in  den  1783  erschienenen  „Pro- 
legomena", namentlich  die  realistische  Seite  seines  Lehrbegriffs ,  die  in  demselben 
aber  von  Anfang  an  lag,  und  die  er  auch  für  den  aufmerksamen  Leser  deutlich 
genug  bezeichnet  hatte,  die  aber  von  flüchtigen  Lesern  verkannt  worden  war, 
starker  betont.  Man  thot  Kant  Unrecht,  wenn  man  hierin  eine  wesentliche 
Aenderung  seines  Gedankens,  die  er  selbst  misskannt  oder  gar  (wie  Schopenhauer 
meint)  heachlerisch  verleugnet  habe,  erblicken  will.  —  Ueber  den  Inhalt  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  sowie  der  andern  Hauptwerke  soll  nicht  in  dieser 
vorläufigen  Uebersicht,  sondern  in  der  Darstellung  des  kantischen  Lehrgebäudes 
referirt  werden. 

Prolegomena  zu  einer  jeden  künftigen  Metaphysik,  die  als  Wissenschaft 
wird  auftreten  können,  Riga  1783.  Den  Hauptinhalt  dieser  Schrift  hat  Kant  später 
in  die  zweite  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  hineinverarbeitet.  Gegen 
eine  in  der  Zugabe  zu  den  Gott.  Anzeigen  von  gelehrten  Sachen  19.  Jan.  1782  er- 
schienene, von  Garve  verfasste,  aber  vor  dem  Abdruck  von  Feder  verstümmelte 
(später,  Anhang  zu  dem  37.-52.  Bde.  der  AUgem.  deutsch.  Bibl.,  Abth.  2,  S.  838 
bis  862,  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt  veröffentlichte)  Recension,  die  das  rea- 
listische Element  in  Kants  Ansicht  übersehen  und  Kants  Lehre  der  berkeleyschen 
zu  nahe  gerückt  hatte,  hebt  Kant  eben  jenes  Element,  welches  er  ursprünglich  als 
etwas  allgemein  Anerkanntes  mehr  vorausgesetzt  als  erörtert  hatte,  kräftig  hervor. 
In  der  Vorrede  erzählt  Kant,  wie  er  durch  Humes  Bedenken  gegen  den  Causa!  - 
begriff  aus  dem  «dogmatischen  Schlummer"  zuerst  geweckt  worden  sei;  an  dem 
Funken,  den  der  Skeptiker  ausstreute,  habe  das  kritische  Licht  sich  entzündet. 
In  §  13  benutzt  Kant  dieselbe  Bemerkung  über  symmetrische  Figuren,  aus  welcher 
er  1768  die  absolute  Realität  des  Raumes  zu  erweisen  Buchte,  zu  einer  8tütze  seiner 
nunmehrigen  Behauptung,  dass  Raum  und  Zeit  blosse  Formen  unserer  sinnlichen 
Anschauung  seien.  Mit  Recht  sagt  Gauss,  Gött.  gel.  Anz.  vom  15.  April  1831, 
dass  in  jener  an  sich  richtigen  Bemerkung  ein  Beweis  für  die  Meinung,  dass  der 
Raum  nur  AnBchanungsform  sei,  nicht  liege.  —  B.  Erdmann  Bucht  in  der  Einleitung 
zu  seiner  Ausgabe  von  Kants  Prolegomena,  Lpz.  1878,  nachzuweisen,  dass  der 
Text  dieser  Schrift  in  zwei  nach  Ursprung  und  Absicht  verschiedenartige  Bcstand- 
theile  zerfalle,  1)  in  einen  erläuternden  Auszug  aus  der  Krit.  d.  r.  V.,  2)  in  eine 
Entgegnung  auf  die  oben  erwähnte  Recension.  Diese  Abwehr  sei  in  Zusätzen  und 
Einschiebseln  in  den  schon  fertigen  Auszug  eingefügt  worden.  Doch  ist  diese 
Hypothese  Erdmanns  widerlegt  durch  Emil  Arnoldt,  Kants  Prolegomena  nicht 
doppelt  redigirt,  Berl.  1879.  S.  auch  dazu  H.  Vaihinger,  die  Erdmann-Arnoldtsche 
Controverse  üb.  Kants  Prolegomena,  in:  Philos.  Monatsh.  1880,  S.  44—71.  —  Eine 
Anzahl  von  Incongruenzen  und  Inconvenienzen,  die  sich  in  §§  2  u.  4  der  Prole- 
gomena finden,  sucht  H.  Vaihinger  durch  eine  Blattversetzung  zu  heben,  Philos. 
Monatsh.  1879,  8.  321-332.  Dagegen  J.  H.  Witte,  die  angebliche  Blattversetzung 
in  K.s  Prolegg.,  in:  Philos.  Monatsh.  1883,  8.  145—174,  hiergegen  wieder  Vaihinger, 
ebend.  8.  401—416,  und  abermals  gegen  ihn  Witte,  ebend.  8.  697—614. 

Ueber  Schulz*  (Prediger  zu  Gielsdorf)  Versuch  einer  Anleitung  zur 
Sittenlehre  für  alle  Menschen  ohne  Unterschied  der  Religion,  im  „Raisonnirenden 
Bücherverzeichniss" ,  Kgsb.  1783,  No.  7.  Kant  verwirft  von  seinem  kritischen 
Standpunkte  aus  die  auf  eine  consequente  Durchführung  der  leibnizischen  Prin- 
cipien  der  Stufenordnung  der  Wesen  und  des  Determinismus  hinauslaufende  Psycho- 
logie und  Ethik.  Für  Kant  fällt  jetzt  der  Determinismus  mit  dem  Fatalismus 
zusammen,  und  statt  einer  Stelle  in  der  Stufenordnung  vindicirt  er  jetzt  dem 


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§  24.    Kants  Leben  und  Schriften. 


225 


Menschen  eine  Freiheit,  die  denselben  »gänzlich  ausserhalb  der  Naturkette  setze", 
(üeber  die  spätere  Amtsentsetzung  jenes  charaktervollen  Mannes  durch  einen 
Willküract  des  Ministeriums  Wöllner  handelt  Volkmar,  Religionsprocess  des  Pred. 
Schulz  zu  Gielsdorf,  eines  Lichtfreundes  des  18.  Jahrh.,  Leipz.  1845.) 

Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Absicht,  in  der 
Berlinischen  Monatsschrift,  1784  im  Novemberheft  (vgl.  Frz.  Rühl,  üb.  K  s  Idee  zu 
einer  allgem.  etc.,  in:  Altpreuss.  Monatsh.,  Bd.  18,  S.  333— 342).  Beantwortung  der 
Frage:  Was  ist  Aufklärung?  ebend.  im  Decemberheft.  Kants  Antwort  lautet: 
Aufklärung  ist  der  Ausgang  des  Menschen  aus  seiner  selbst  verschuldeten  Un- 
mündigkeit Unmündigkeit  ist  das  Unvermögen,  sich  seines  Verstandes  ohne  die 
Leitung  eines  Andern  zu  bedienen;  selbst  verschuldet  ist  diese  Unmündigkeit,  wenn 
die  Ursache  derselben  nicht  am  Mangel  des  Verstandes,  sondern  der  Entschliessung 
und  des  Muthes  liegt,  sich  seiner  ohne  Leitung  eines  Andern  zu  bedienen; 
Sapere  aude! 

Recension  von  Herders  Ideen  zur  Philosophie  der  Geschichte  der  Meuschheit 
in  der  (Jenaischen)  Allg.  Littztg.  1785.  (Kaut  verwirft  hier  von  seinem  Kriticismus 
aus,  indem  er  Natur  und  Freiheit  schroff  von  einander  sondert,  Betrachtungen,  die 
auf  der  Voraussetzung  einer  wesentlichen  Einheit  beider  ruhen;  die  Kritik,  die  sich 
gegen  Herder  kehrt,  ist  iu  gewissem  Sinne  zugleich  auch  eine  Reaction  des 
späteren  Standpunkts  Kants  gegen  seineu  eigenen  früheren.)  Ueber  die  Vulcane 
im  Monde,  Berl.  Mouatsschr.,  März  1785.  Von  der  Unrechtmässigkeit  des 
Bücher nachdrucks,  ebend.  Mai  1785.  Ueber  die  Bestimmung  des  Begriffs  einer 
M e nscheurace,  ebd.  Nov.  1785. 

Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,  Riga  1785  u.  ö.,  4.  Aufl. 
1797  (Kant  will  in  dieser  Schrift  das  oberste  Princip  der  Moralität  aufsuchen  und 
feststellen). 

Metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft,  Riga  178(5 
u.  ö.  (3.  Aufl.  Leipz.  1800). 

Muthmaasslicher  Anfang  der  Menschengeschichte,  Berl.  Monatsschr. 
Jan.  1786.  Ueber  (Gottl.)  Hufelands  Grundsatz  des  Naturrechts,  Allg.  Littztg. 
1786.  Was  heisst,  sich  im  Denken  orientiren?  Berl.  M.,  Oct.  1786  (welche 
Frage  Kant  dahin  beantwortet:  sich  bei  der  Unzulänglichkeit  der  objectiven  Prin- 
cipien  der  Vernunft  im  Fürwahrhalten  nach  einem  subjectiven  Princip  derselben 
bestimmen;  wir  irren  nur  dann,  wenn  wir  beides  verwechseln,  mithin  Bedürfniss 
für  Einsicht  halten).  Einige  Bemerkungen  zu  Jacobs  .Prüfung  der  mendelssohn- 
scheu Morgenstunden'  (in  eben  dieser  Schrift  von  Jacob,  nach  der  Vorrede).  Im 
J.  1786  oder  1788  hielt  Kant  bei  der  Niederlegung  des  Rectorats  eine  Rede:  de 
medicina  corporis  quae  philosophorum  est,  die  veröffentlicht  ist  von  Joh. 
Reicke  in  d.  altpreuss.  Monatsschr.,  Bd.  18,  Heft  3  u.  4,  S.  293-309. 

Ueber  den  Gebrauch  teleologischer  Princip ien  in  der  Philosophie,  in 
Wielands  teutschem  Mercur,  im  Januar  1788. 

Kritik  der  praktischen  Vernunft,  Riga  1788  ;  6.  Aufl.  Leipz.  1827. 

Einen  kurzen  Aufsatz  über  Aug.  Heinr.  Ulrichs  Eleutheriologie  oder  über  die 
Freiheit  u.  Notwendigkeit,  Jena  1788.  hatte  Kant  geschrieben  u.  ihn  Kraus  über- 
geben, um  daraus  eine  Recension  anzufertigen.  Uiese  erschien  in  der  Allgem. 
Litteraturzeitung  25.  Apr.  1788.  Den  Versuch,  das  Kantische  aus  dieser  Recension 
herauszulösen,  hat  H.  Vaihinger  gemacht  in:  Philos.  Monatsh.  1880,  S.  192  bis 
209:  Ein  bisher  unbekannter  Aufsatz  v.  Kant  über  die  Freiheit.  Ulrich,  174**, 
in  Rudolstadt  geb.  und  1813  in  Jena  als  Prof.  der  Philos.  gestorben,  stand  im 
Wesentlichen  auf  dem  leibniz-wolffschen  Standpunkt,  nahm  aber  in  seinen  Institu- 

l'ebi  r  v    .■   :i  .  i  •      ,  i ,  i  ,..n  ■   ■  -  III.  7.  Anfi.  J5 


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§  24.    Kants  Leben  oud  Schriften. 


tiones  logicae  et  metaphysicae,  Jena  1785,  mancherlei  von  Kant  an.  In  seiner 
Eleutheriologie  bekämpft  er  die  kantische  Freiheitslehre. 

Kritik  der  ürtheilskraft,  Berlin  und  Libau  1790;  2.  Aufl.  Berl.  1793, 
3.  1799.  Separatausg.  v.  Benno  Erdmann,  Lpz.  1880,  mit  Zugrundelegung  des 
Textes  der  2.  Aufl.  Der  Herausgeber  schickt  dem  Texte  eine  ausführliche  Ein- 
leitung voraus. 

Ueber  eine  Entdeckung  (Joh.  Aug.  Eberhards),  nach  der  alle  neue  Kritik 
der  reinen  Vernunft  durch  eine  ältere  entbehrlich  gemacht  werden  soll,  Kgsb.  1790 
(eine  von  persönlicher  Gereiztheit  zeugende  und  den  Gegner  wohl  über  Gebühr  ver- 
dächtigende Antikritik,  die  aber  für  die  Erkenntiüss  des  Verhältnisses  der  Lehre 
Kants  zum  Leibnizianismus  von  beträchtlichem  Werthe  ist).  Ueber  Schwärmerei 
und  die  Mittel  dagegen,  Kgsb.  1790,  in  Borowskis  Schrift:  Cagliostro,  einer  der 
merkwürdigst.  Abenteurer  uns.  Jahrh. 

Ueber  das  Misslingen  aller  philosophischen  Versuche  in  der  Theodicee, 
Berl.  Monatsschr.,  Sept.  1791. 

Ueber  die  von  der  K.  Akad.  d.  Wissensch,  zu  Berlin  f.  d.  Jahr  1791  aus- 
gesetzte Preisaufg.:  welches  sind  die  wirklichen  Fortschritte,  die  die  Meta- 
physik seit  Leibniz'  und  Wölfls  Zeiten  gemacht  hat?  Hrsg.  von  F.  Th.  Bink, 
Kgsb.  1804.  Kant  sucht  hier,  ohne  speciell  auf  Leistungen  Anderer  einzugehen, 
die  Bedeutung  des  Fortschritts  vom  leibniz-wolftschen  Dogmatismus  zum  Kriti- 
cismus  nachzuweisen.  Die  Schrift  ist  nicht  zur  Preisbewerbung  eingesandt  worden. 

Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft,  Königs- 
berg 1793,  2.  Aufl.  ebend.  1794.  (Der  erste  Abschnitt:  „vom  radicalen  Bösen" 
erschien  zuerst  im  Aprilheft  des  Jahrganges  1792  der  Berlinischen  Monatsschrift.) 

Ueber  den  Gemeinspruch :  das  mag  in  der  Theorie  richtig  sein,  taugt 
aber  nicht  für  die  Praxis,  Berl.  Monatsschr.  Sept  1793.  Kant  verwirft  diese 
Maxime,  sofern  sie  Tugend-  oder  Rechtspflichteu  betreffe,  als  verderblich  für  die 
Moralität  im  privaten  Verkehr  wie  in  Bezug  auf  Staatsrecht  und  Völkerrecht. 

Ueber  Philosophie  überhaupt,  am  Ende  von  Jac.  Sigism.  Becks  Auszug 
aus  Kants  kritischen  Schriften,  Bd.  2,  Riga  1794.  (Ursprünglich  als  Einleitung 
zur  Kritik  der  Ürtheilskraft  geschrieben,  dann  aber  wegen  des  zu  grossen  Umfangs 
als  solche  verworfen,  später  Beck  zur  Benutzung  für  dessen  Auszug  aus  K.s 
kritischen  Schriften  überlassen.  Beck  giebt  nicht  das  ganze  Manuscript,  sondern 
nur  das,  was  er  Eigenthümliches  darin  fand,  doch  dies  als  wörtlichen  Auszug  aus 
dem  Manuscript.) 

Etwas  über  den  Einfluss  des  Mondes  auf  die  Witterung,  Berlinische  Monats- 
schrift, Mai  1794.   Das  Ende  aller  Dinge,  ebend.  Juni  1794. 

Zum  ewigen  Frieden,  ein  philos.  Entwurf,  Kgsb.  1795,  neue  verm.  Auf- 
lage 1796. 

Zu  Sömmering  über  das  Organ  der  Seele,  Kgsb.  1796.  Kant  spricht  die 
Vermuthung  aus,  dass  das  die  Gehirnhöhlen  erfüllende  Wasser  die  Uebertragung 
der  Aflectionen  von  einer  Gehirnfaser  auf  andere  vermitteln  möge. 

Von  einem  neuerdings  erhobenen  vornehmen  Tone  in  der  Philosophie,  Berl. 
Monatsschr.,  Mai  1796.  (Gegen  platonisirende  Gefühlsphilosophen.)  Ausgleichung 
eines  auf  Missverstand  beruhenden  mathematischen  Streits,  ebd.  Oct.  1796.  (Wenige 
Worte  zur  Deutung  eines  nach  dem  Wortsinn  unzutreffenden  Ausdrucks,  den 
Kant  gebraucht  hatte;  er  will  denselben  aus  dem  Zusammenhang  zum  Richtigen 
gedeutet  wissen.)  Verkündigung  des  nahen  Abschlusses  eines  Tractats  zum  ewigen 
Frieden  in  der  Philosophie,  Berl.  Monatsschr.,  Dec.  1796.  (Gegen  Joh.  Georg 
Schlosser.) 

Metaphysische  Anfangsgründe  der  Rechtslehrc,  Königsberg  1797,  2.  Aufl. 


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§  24.    Kants  Leben  and  Schriften. 


227 


1798.  Metaphysische  Anfangsgründe  der  Tugendlehre,  Königsb.  1797,  2.  Aufl. 
1803.  Diese  beiden  zusammengehörigen  Schriften  tragen  den  gemeinschaftlichen 
Titel:  Metaphysik  der  Sitten  (Theil  I  und  II). 

Ueber  ein  vermeintes  Recht,  aus  Menschenliebe  zu  lügen,  Berl.  Blätter  1797. 

Der  Streit  der  Facultäten,  worin  zugleich  die  Abhandlung  enthalten  ist: 
Von  der  Macht  des  Gemütha,  durch  den  blossen  Vorsatz  seiner  krankhaften 
Gefühle  Meister  zu  sein,  Königsberg  1798;  hrsg.  und  mit  Anm.  vers.  von  C.  W. 
Hufeland,  16.  Aufl.  Leipz.  1872  u.  oft. 

Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht,  Königsberg  1798.  —  Zwei  Nach- 
schriften von  Kants  Vorlesungen  über  diesen  Gegenstand  sind  veröffentlicht  worden: 
I.  Kante  Anweisung  zur  Menschen-  und  Weltkenntniss.  Nach  dessen  Vorlesungen 
im  Winterhalbjahre  1790—91,  herausgeg.  v.  Fr.  Chr.  Starke  1831  (ziemlich  werthlos), 
u.:  L  Kante  Menschenkunde  od.  philos.  Anthropologie  nach  handschriftl.  Auf- 
zeichnungen, herausgeg.  v.  dems.  1831  (wahrscheinlich  nach  der  von  Kant  zum  ersten 
Mal  1773  gehaltenen  Vöries,  üb.  Anthropologie,  ausführlicher  als  Kante  eigene 
Ausgabe  und  werthvoll). 

Vorrede  zu  Jachmanns  Prüfung  der  kantischen  Religionsphilosophie  in  Hin- 
sicht auf  die  ihr  beigelegte  Aehnlichkeit  mit  dem  reinen  Mysticismus,  Königsberg 
1800,  abgedr.  in  Reickes  Kantiana,  S.  81,  82. 

Nachschrift  eines  Freundes  zu  Heilsbergs  Vorrede  zu  Mielkes  littbauischem 
Wörterbuch,  Königsberg  1800,  abgedr.  ebd.,  S.  82,  83. 

Kante  Logik,  hrsg.  von  J.  B.  Jäsche,  Königsberg  1800. 

Kante  physische  Geographie,  hrsg.  von  Rink,  Königsberg  1802—1803  (vgl. 
darüber  Reuschle  a.  a.  0.  S.  62-65;  „das  Ausland-,  1868,  No.  24  und  K.  Dietrich, 
K.8  Auffassung  der  physisch.  Geogr.  als  Grundlage  der  Gesch.,  Jena  1875).  Joh. 
Unold,  d.  ethnol.  u.  anthropogeograph.  Anschauung,  v.  I.  K.  u.  J.  R.  Forster, 
I.-D.,  Lpz.  1886. 

Kant  über  Pädagogik,  hrsg.  von  Rink,  Kgsb.  1803.  Mit  Einleitg.  und 
Anmerkg.  von  0.  Willmaun  in  der  Pädagog.  Biblioth.,  hrsg.  v.  K.  Richter,  Bd.  X, 
Lpz.  1874  u.  ö.,  ferner  v.  Th.  Voigt,  I^angensalza  1878.  S.  Prosch,  d.  Pädagogik 
K.s,  in:  Ztschr.  f.  d.  Realschulwes.,  IX,  1884,  2.  H. 

Ein  Manuscript,  an  dem  Kant  in  seinen  letzten  Lebensjahren  arbeitete,  aus 
etwa  100  Foliobogen  bestehend,  das  den  „Uebergang  von  den  metaphys.  An- 
fangsgrund, der  Naturwissensch,  zur  Physik"  zum  Gegenstand  hat,  ist 
neuerdings  durch  Rud.  Reicke  in  der  Altpreuss.  Monateschr.  1882,  1883  und  1884, 
„Ein  ungedrucktes  Werk  von  Kant  aus  seinen  letzten  Lebensjahren*,  theilweise  zum 
Abdruck  gekommen,  ist  aber  bisher  noch  nicht  vollständig  veröffentlicht.  Die  Ab- 
sicht, aus  den  verschiedenen  Convoluten  eine  Darstellung  als  den  eigentlichen  In- 
halt des  Ganzen  zu  gewinnen,  hatte  der  Herausgeber  aufgeben  müssen.  Dieser 
Uebergang  sollte  eine  besondere  Wissenschaft  ausmachen,  die  sich  von  den  beiden 
Wissenschaften,  die  sie  verbindet,  unterschiede,  das,  was  in  den  metaphysischen 
Anfangsgründen  der  Naturwissenschaften  a  priori  durch  Begriffe  festgestellt  wurde, 
auf  die  wirklich  vorhandenen  Kräfte  in  der  Natur  anwendete  und  für  die  letzteren 
die  Grundsätze  aufstellte,  die  allein  ein  geordnetes  Ganzes  derselben  ermöglichten. 
Es  wird  eine  im  ganzen  Weltraum  continuirlich  verbreitete  Materie  „postulirt', 
die  aber,  nenne  man  sie  nun  Aether  oder  Wärmestoff,  nicht  blosse  Hypothese  sei; 
denn  ohne  sie  würde  es  nicht  möglich  sein,  Erfahrung  zu  machen.  S.  Rob.  Haym, 
Preuss.  Jahrbb.  I,  1858,  S.  80-81,  Schubert,  Neue  Preuss.  Prov.-Blätt.,  Kgsb.  1858, 
&  58-61,  besond.  Rud.  Reicke,  Altpreuss.  Monateschr.,  Bd.  I,  1861,  S.  742-749. 
A.  Krause,  Imm.  K.  wider  Kuno  Fischer,  zum  ersten  Mal  mit  Hülfe  des  verloren 
gewesenen  kantisch.  Hauptwerkes:  Vom  Uebergang  v.  der  Metaph.  zur  Phys.,  ver- 

15* 


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228 


§  24.    Kants  Leben  und  Schriften. 


theidigt,  Lahr  1884;  s.  dazu  K.  Fischer,  das  Streber-  u.  Gründerth.  in  d.  Literat., 
Vademecum  f.  Hrn.  Fast  Krause,  Stuttg.  1884.  P.  d'Ercole.  K.  Fischer  e  il 
manoscritto  inedito  di  Kant,  in:  La  Glos,  delle  sc.  Ital.,  vol.  31,  1885.  Ferd. 
Rosenberger,  Ueberg.  etc.  Nachgelass.  Werk  v.  I.  K.,  Yortr.  (aus  den  Berichten 
dos  freien  deutsch.  Hochstifts). 

Kants  Vorlesungen  über  d.  philosophische  Religionslehre,  herausgeg.  v. 
Pölitz,  1817,  2.  Aufl.  1830.  Kants  Vorlesungen  über  die  Metaphysik,  herausgeg. 
v.  dems.  1821  (Diese  letzteren  nach  Nachschreibeheften  wahrscheinlich  aus  den 
siebziger  Jahren.  Vergl.  R.  Erdmann,  eine  unbeachtet  gebliebene  Quelle  zur  Knt- 
wicklungsgesch.  K.s  in:  Philos.  Monatsh.  1883,  S.  129— 144.  S.  auch  ob.  8.222.) 

Reflexionen  Kants  zur  kritischen  Philosophie  (werthvolll  Aus  Kants 
handschriftl.  Aufzeichnungen  herausgegeben  v.  Benno  Krdmann,  1.  Bd.,  1.  Heft: 
Reflexionen  zur  Anthropologie,  Lpz.  1882.  (Aus  Kants  Handexemplar  v.  A.  G. 
Baumgartens  Metaphysica.)  2.  Bd.,  Reflexionen  zur  Krit.  d.  r.  V.,  Lpz.  1884,  mit 
einer  längeren  Einleitung  üb.  d.  Entwickelungsperioden  v.  K.s  theoret.  Philosophie. 

Ausserdem  enthalten  die  Gesammtausgaben  Briefe,  Erklärungen  und  andere 
kleinere  schriftliche  Aeusserungen  Kants.  Briefe  besitzen  wir  von  Kant  verhält- 
nissmässig  wenige;  er  liebte  nicht,  solche  zu  schreiben;  gegen  80  sind  in  den 
Gesammtausgaben  der  \VW.  Kants  gedruckt  (gegen  20  ausserdem),  darunter  19  an 
Marcus  Herz  (1749—1803.  Dieser  hatte  längere  Zeit  in  Königsberg  studirt,  war 
Respondent  Kants  bei  der  Vertheidigung  der  Inauguraldissertation  1770  gewesen, 
die  er  auch  in  „Betrachtungen  a.  d.  speculativ.  Weltwsh.",  Kgsb.  1771,  erläuterte, 
und  Hess  sich  als  Arzt  in  Berlin  nieder,  wo  er  mit  Mendelssohn  viel  verkehrte; 
seine  Frau  war  die  bekunnte  Henriette  Herz,  die  Freundin  Schleiermachers),  9  an 
Reinhold,  4  an  Mendelssohn,  der  Kant  1777  in  Königsberg  besuchte,  3  an 
Fichte,  2  an  Lambert,  einer  an  Schiller.  S.  Rud.  Reicke,  aus  K.s  Brief- 
wechsel, Vortrag,  mit  e.  Anhange  enthaltend  Briefe  v.  Jac.  Sigism.  Beck  an  K.  u. 
v.  K.  an  Beck,  Kgsb.  1885.  Eine  Ausgabe  von  K.s  Briefwechsel  wird  v.  R.  Reicke 
u.  Fr.  Sintenis  vorbereitet,  und  es  werden  alle  Besitzer  von  Briefen  dringend  ge- 
beten, dieselben  einzusenden. 

Lose  Blätter  aus  K.s  Nachlass,  mitgeth.  v.  Rud.  Reicke,  in:  Altpr.  Monatsschr., 
1887,  S.  312-360  ,  443-481.  Vierzehn  grössere  und  kleinere  Stücke,  von  denen 
sich  das  eine  vielleicht  bezieht  auf  die  von  der  berliner  Akademie  gestellte  Preis- 
aufgabe, die  meisten  aus  den  siebziger  Jahren  stammen  und  als  Vorarbeiten  für  die 
Krit  d.  r.  V.  zu  betrachten  sind.  Sodann  ein  Convolut  Blätter  aus  der  Königsb. 
Bibliothek  „Zur  Physik  u.  Mathematik*. 

Ob  Kant  eine  Gegenschrift  gegen  Hamanns  Metakritik  über  den  Purismum  der 
reinen  Vernunft  (nach  Hamanns  Tod  von  Rink  1800  veröffentlicht)  verfasst  habe, 
deren  Manuscript  vielleicht  noch  erhalten  wäre,  ist  nicht  sicher.  Vergl.  J.  Freuden- 
thal, ein  ungedruckter  Brief  Kants  und  eine  verschollene  Schrift  desselben  wider 
Hamann,  in:  Philos.  Monatsh.  1879,  S.  56—65. 

Unter  Mitwirkung  Kants  sind  seine  „vermischten  Schriften"  von  Tieftruuk 
in  3  Bden.,  Halle  1799,  und  mehrere  kleinere  Schriften  von  Rink,  Kgsb.  1800, 
hrsg.  worden. 

Ins  Lateinische  hat  Kants  kritische  Schriften  F.  G.  Born  übersetzt,  4  Bde., 
Leipz.  17% — 98;  noch  andere  Uebersetzungen  werden  u.  a.  im  XL  Bande  der 
Ausg.  von  Rosenkranz  und  Schubert  S.  217  f.  citirt.  Ueber  französ.  Uebersetzungen 
referirt  J.  B.  Meyer  in  Fichtes  Zeitschr.  XXIX,  1856,  S.  129  ff.  Critique  de  la 
raison  pure,  par  Em.  Kant,  3.  ed.  en  francais,  avec  l'aualyse  de  l'ouvrage  entier 
par  Meilin.  le  tout  traduit  de  l'allemand  par  J.  Tissot.  Dijon  et  Paris  1864. 
Kant,  prolegomenes  ä  toute  metaphysique  future  qui  aura  le  droit  de  se  presenter 


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§  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  a.  metaph.  Anfänger,  der  Naturwisseusch.  221» 

corame  science,  snivis  de  deux  autres  frugments  du  meme  auteur,  ouvrages  trad. 
de  lall,  par  J.  Tissot,  Dijon  et  Paris  1865.  Auch  die  Logik  und  Anthropologie 
Kants  hat  Tissot  übersetzt.  Ins  Italienische  hat  Mantovani  die  Vernunftkritik 
1821 — 22  übersetzt.  Ins  Spanische:  Critica  de  la  razön  pura,  texto  de  las  dos 
ediciones,  precedida  de  la  vita  de  Kant  y  de  la  historia  de  dos  origine9  de  la 
filosofia  critica  de  Kuno  Fischor,  por  D  Jose  del  Perojo,  vol.  I,  Madr.  1883.  Von 
englischen  Uebersetzungen  mögen  hier  augeführt  sein:  J.  W.  Semples  Uebers.  der 
Gründl,  zur  Metaph.  der  Sitten  nebst  Abschnitten  aus  anderen  ethischen  Schriften 
Kants,  Edinburgh  1836,  wovon  eine  neue  Aufl.  unter  dem  Titel  „the  Metuphysic  of 
Ethics*  mit  einer  Einleitung  von  Henry  Calderwood  (aber  ohne  Semples  Einl.  und 
Anhang),  Edinb.  1869,  erschienen  ist.  Uebersetzung  der  Krit.  d.  r.  V.  von  Hay- 
wood,  ferner:  Meiklejohn,  Critic  of  Pure  Reason  translated  from  the  German  of 
Im.  Kant,  Loud.  1854.  Im.  Kants  Critique  of  Pure  Reason  in  eommemoration  of 
the  Centenary  of  its  first  publicatiou  translat.  into  english  by  F.  Max  Müller, 
with  au  historical  introduetion  by  Ludwig  Noir6,  2  Voll.  Lond.  1881.  Der  erste 
Band  enthält  das  Vorwort  des  Uebersetzers,  dann  auf  359  Seiten  eine  kurze  Ge- 
schichte der  Philosophie  von  L.  Noire:  the  critique  of  pure  reason  as  illustrated 
by  a  sketch  of  the  development  of  occidental  philosophy,  zuletzt  die  Hauptzusätze 
der  zweiten  Auflage;  der  zweite  Baud  giebt  die  Uebersetzung  der  ersten  Auflage. 
Max  Müller  schliesst  seine  Vorrede  mit  den  Worten:  die  englisch  sprechende  Race 
habe  nun  in  Kants  Kritik  eine  zweite  arische  Erbschaft,  ebenso  wcrthvoll  wie  die 
Vedas  — ,  ein  Werk,  das  wohl  kritisirt  aber  nie  mehr  ignorirt  werden  könne. 
Kants  critical  philoe.  for  English  readers  by  John  P.  Mahaffy,  Vol.  I.  III,  Lond. 
1872—74,  in  dem  III.  Bde.  Uebersetzung  der  Prolegomena  und  einiger  Stücke  d. 
Krit.  d.  r.  V.,  und  Theory  of  Ethics  by  Th.  K.  Abbott,  Lond.  1873.  Critique  of 
practical  reason  and  other  works  of  the  theory  Ethics,  translat.  by  Th.  K.  Abbott, 
3.  ed.  Lond.  1883.  Prolegomtna  and  metaph.  Foundations  of  nat.  Science,  tranal. 
by  Ernest  Beifort  Bax,  Lond.  1883. 

Bemerkt  sei  hier  noch,  dass  man  der  Entwickelung  der  theoretischen  Philo- 
sophie Kants  neuerdings  viel  Aufmerksamkeit  zugewandt  und  dieselbe  ins  Einzelne 
verfolgt  hat,  ohne  jedoch  über  die  verschiedenen  Perioden,  die  anzunehmen  sind, 
zu  einer  einheitlichen  Ansicht  zu  gelangen.  So  unterscheidet  H.  Vaihinger  in 
seinem  Commentar,  I..  S.  49,  einen  ersten  Entwickelungsprocess  bis  zum  Kriticismus 
und  einen  zweiten  innerhalb  des  Kriticismus.  In  dem  ersteren  nimmt  er  drei  Stufen 
an:  1)  Dogmatischer  Standpunkt  von  Leibniz,  1750—1760;  2)  EmpiriBtische  Be- 
einflussung durch  Hume,  1760—1764  ;  3)  Kritischer  Standpunkt  (namentlich  Träume 
eines  Geistersehers),  1765—1766.  Im  zweiten  statuirt  er  wiederum  drei  Stufen: 
1)  Dogmatische  Beeinflussung  durch  Leibniz'  Nouveaux  essays,  1769  ff. ;  2)  Skeptische 
Beeinflussung  durch  Hume,  1772  ff.  (Briefe  an  Herz);  3)  Kriticismus  1781.  B.  Erd- 
mann unterscheidet  in  der  ob.  erwähnten  Einleitung  vier  Perioden:  1)  Dogmatismus, 
a.  Ueberwiegender  Einfluss  von  Wolff,  1746—1750,  b.  Einfluss  von  Crusins,  1756 
bis  1760;  2)  Kritischer  Empirismus,  Einfluss  von  Newton,  Lambert,  Rousseau,  1760 
(1762)  bis  1769;  3)  Kritischer  Rationalismus,  1769  bis  etwa  1774;  4)  Kriticismus, 
a.  Entstehung  des  eigentlichen  Kriticismus,  1774—1781,  b.  Weitere  Entwickelung 
einzelner  Probleme  und  Begriffe,  1781—1804. 

§  25.  Unter  der  Kritik  der  Vernunft  versteht  Kant  die 
Prüfung  des  Ursprungs,  des  Umfangs  und  der  Grenzen  der  mensch- 
lichen Erkenntniss.  Reine  Vernunft  nennt  er  die  von  aller  Erfahrung 
unabhängige  Vernunft.  Die  Schrift:  „Kritik  der  reinen  Vernunft" 


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230   §  25.  Kante  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch- 

unterwirft  die  reiue  theoretische  Vernunft  der  Prüfung.  Kant  hält 
dafür,  dass  diese  Prüfung  jeder  andern  philosophischen  Erkenntniss 
vorangehen  müsse.  Jede  Philosophie,  die  den  Erfahrungskreis  über- 
schreitet, ohne  diese  üeberschreitung  durch  eine  Prüfung  der  Erkennt- 
nisskraft gerechtfertigt  zu  haben,  nennt  Kant  Dogmatismus,  die 
philosophische  Beschränkung  auf  den  Erfahrungskreis  Empirismus, 
den  philosophischen  Zweifel  an  aller  den  Erfahruugskreis  über- 
schreitenden Erkenntniss,  sofern  derselbe  sich  nur  auf  das  Ungenügende 
aller  vorhandenen  Beweisversuche  und  nicht  auf  eine  Prüfung  der 
menschlichen  Erkenntnisskraft  überhaupt  stützt,  Skepticismus,  seine 
eigene  Richtung  aber,  die  von  dem  Resultate  jener  Prüfung  alles 
fernere  Philosophireu  abhängig  macht,  Kriticismus.  Der  Kriticismus 
ist  Transscendentalphilosophie  oder  transscendentaler  Idea- 
lismus, sofern  er  die  Möglichkeit  einer  transscendenten,  d.  h. 
den  gesammten  Erfahrungskreis  überschreitenden  Erkenntniss  prüft 
und  verneint,  aber  nachweist,  dass  gewisse  Elemente,  die  zur  Erfahrung 
erfordert  werden,  der  menschlichen  Seele  eigenthümlich,  also  subjectiv 
oder  ideell  sind.  So  giebt  Kant  zugleich  eine  Theorie  der  Er- 
fahrung. 

Kant  geht  in  seiner  Vernunftkritik  von  einer  zweifachen  Unter- 
scheidung der  Urtheile  (insbesondere  der  kategorischen  Urtheile)  aus. 
Nach  dem  Verhältniss  des  Prädicats  zum  Subjecte  theilt  er  die 
Urtheile  ein  in  analytische  oder  Erläuterungsurtheile,  deren  Prädi- 
cat  sich  aus  dem  Subjectsbegriff  durch  blosse  Zergliederung  des- 
selben entnehmen  lasse  oder  auch  mit  ihm  identisch  sei  (in  welchem 
letzteren  Falle  das  analytische  Urtheil  ein  identisches  ist),  und  syn- 
thetische oder  Erweiterungsurtheile,  deren  Prädicat  nicht  im  Sub- 
jectsbegriffe  liegt,  sondern  zu  demselben  hinzutritt.  Das  Princip  der 
analytischen  Urtheile  ist  der  Satz  der  Identität  und  des  Wider- 
spruchs, synthetische  Urtheile  aber  können  nicht  aus  dem  jedesmaligen 
Subjectsbegriff  auf  Grund  dieses  Satzes  allein  gebildet  werden.  Nach 
dem  Ursprung  der  Erkenntniss  aber  unterscheidet  Kant  Urtheile 
a  priori  und  Urtheile  a  posteriori.  Unter  den  Urtheilen 
a  posteriori  versteht  er  Erfahrungsurtheile,  unter  Urtheilen  a  priori 
im  absoluten  Sinn  solche,  die  schlechthin  von  aller  Erfahrung  unab- 
hängig seien,  im  relativen  Sinn  aber  solche,  die  mittelbar  auf  der 
Erfahrung  ruhen,  indem  dasjenige,  was  in  ihnen  gedacht  wird,  nicht 
erfahren  worden  ist,  wohl  aber  Anderes,  woraus  jenes  geschlossen 
wird.  Für  Urtheile  a  priori  im  absoluten  Sinne  hält  Kant  alle  die- 
jenigen, welche  mit  Notwendigkeit  und  strenger  Allgemeinheit 
gelten,  indem  er  von  der  (unerwiesenen,  von  ihm  als  selbstverständ- 
lich angesehenen,   sein  ganzes  Lehrgebäude  bedingenden)  Voraus- 


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§  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Aufaugsgr.  der  Naturwissensch.  231 

setzung  ausgeht,  Notwendigkeit  und  strenge  Allgemeinheit 
lasse  sich  durch  keine  Combinationen  von  Erfahrungen,  wohl  aber 
unabhängig  von  aller  Erfahrung  gewinnen.  Alle  analytischen 
Urtheile  sind  Urtheile  a  priori;  denn  wenn  auch  der  Subjectsbegriff 
durch  Erfahrung  gewonnen  worden  sein  mag,  so  bedarf  es  doch  zu  der 
Zergliederung  desselben,  durch  welche  das  Urtheil  sich  ergiebt, 
nicht  mehr  einer  Erfahrung.  Die  synthetischen  Urtheile  aber  zer- 
fallen in  zwei  Klassen.  Wird  nämlich  die  Synthesis  des  Prädicates 
mit  dem  Subjecte  auf  Grund  der  Erfahrung  vollzogen,  so  entstehen 
synthetische  Urtheile  a  posteriori;  wird  sie  ohne  alle  Erfahrung  voll- 
zogen, so  entstehen  synthetische  Urtheile  a  priori.  Die  Existenz  der 
letzteren  Klasse  hält  Kant  für  unleugbar;  denn  unter  den  Urtheilen, 
die  anerkanntermaßen  streng  universell  und  apodiktisch,  demgemäss 
nach  Kants  Voraussetzung  Urtheile  a  priori  sind,  findet  er  solche, 
die  zugleich  als  synthetische  anerkannt  werden  müssen.  Hierher  ge- 
hören zunächst  die  meisten  mathematischen  Urtheile.  Ein  Theil 
der  arithmetischen  Fundamentalurtheile  (z.  B.  a  =  a)  ist  zwar  nach  Kant 
analytischer  Art,  die  übrigen  arithmetischen  und  sämmtliche  geome- 
trischen Urtheile  aber  sind  nach  ihm  synthetische  Urtheile,  folglich, 
da  sie  mit  strenger  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  gelten,  syn- 
thetische Urtheile  a  priori.  Den  nämlichen  Charakter  tragen  nach 
Kant  die  allgemeinsten  Sätze  der  Naturwissenschaft,  z.  B. :  in 
allen  Veränderungen  der  körperlichen  Welt  bleibt  die  Quantität  der 
Materie  unverändert.  Auch  diese  Sätze  werden  ohne  alle  Erfahrung 
erkannt,  da  sie  allgemein  gültige  und  apodiktische  Urtheile  sind,  und 
ergeben  sich  doch  nicht  durch  blosse  Zergliederung  des  Subjectsbegriffs, 
da  ja  das  Prädicat  über  den  blossen  Subjectsbegriff  hinausgeht.  Ebenso 
sind  endlich  wenigstens  ihrer  Tendenz  nach  alle  metaphysischen 
Sätze  synthetische  Urtheile  a  priori,  z.  B.  der  Satz:  alles,  was 
geschieht,  muss  eine  Ursache  haben.  Lassen  sich  nun  auch  die  meta- 
physischen Sätze  anfechten,  so  stehen  doch  mindestens  die  mathe- 
matischen unzweifelhaft  fest  Es  giebt  also,  schliesst  Kant,  synthetische 
Urtheile  a  priori  oder  reine  Vernunfturtheile.  Die  Grundfrage  seiner 
Kritik  ist  nunmehr  diese:  Wie  sind  synthetische  Urtheile  a  priori 
möglich? 

Die  Antwort  lautet:  Synthetische  Urtheile  a  priori  sind  dadurch 
möglich,  dass  der  Mensch  zu  dem  Stoffe  der  Erkenntniss,  welchen 
er  vermöge  seiner  Receptivität  aufnimmt,  gewisse  reine  Erkenntniss- 
formen, die  er  vermöge  seiner  Spontaneität  unabhängig  von  aller 
Erfahrung  selbst  erzeugt,  hinzubringt  und  allen  gegebenen  Stoff  diesen 
Formen  einfugt.  Diese  Formen,  welche  die  Bedingungen  der  Mög- 
lichkeit der  Erfahrung  überhaupt  sind,  sind  zugleich  die  Bedingungen 


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232   §  25.  Kaufe?  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metapb.  Aufangsgr.  der  Naturwissensch. 


der  Möglichkeit  der  Objecte  der  Erfahrung,  weil  alles,  um  für  mich 
Object  zu  sein,  die  Formen  annehmen  muss,  durch  welche  das  Ich, 
mein  ursprungliches  Bewusstsein  oder  die  „trausscendentale  Einheit 
der  Apperception"  alles  Gegebene  gestaltet;  sie  haben  daher  ob- 
jective  Gültigkeit  in  einem  synthetischen  Urtheil  a  priori.  Aber  die 
Objecte,  für  welche  sie  gelten,  sind  nicht  die  Dinge  an  sich  oder  die 
transscendentalen  Objecte,  d.  h.  die  Dinge,  wie  sie,  abgesehen  von 
unserer  Weise,  sie  aufzufassen,  an  sich  selbst  sind,  sondern  nur  die 
empirischen  Objecte  oder  die  Erscheinungen,  welche  als  Vorstellungen 
in  unserem  Bewusstsein  sind.  Die  Dinge  au  sich  sind  dem  Menschen 
unerkennbar.  Nur  ein  schöpferisches  göttliches  Bewusstsein,  das 
ihnen,  indem  es  sie  denkt,  zugleich  auch  Wirklichkeit  giebt,  vermag 
sie  zu  erkennen.  Die  Dinge  an  sich  richten  sich  nicht  nach  unseren 
Erkenntnissformen,  weil  unser  Bewusstsein  kein  schöpferisches,  unsere 
Anschauung  nicht  von  bloss  subjectiven  Elementen  frei,  nicht  „intel- 
lectuelle  Anschauung"  ist.  Unsere  Erkenutnissformen  richten  sich 
nicht  nach  den  Dingen  an  sich,  weil  sonst  alle  unsere  Erkenntniss 
empirisch  und  ohne  Noth wendigkeit  und  strenge  Allgemeinheit  wäre: 
die  empirischen  Objecte  aber,  da  sie  unsere  Vorstellungen  sind,  richten 
sich  nach  unseren  Erkenutnissformen.  Also  können  wir  die  empirischen 
Objecte  oder  die  Erscheinungen,  aber  auch  nur  diese,  erkennen.  Alle 
Erkenntniss  a  priori  hat  nur  Geltung  in  Bezug  auf  Erscheinungen, 
also  auf  Objecte  wirklicher  oder  möglicher  Erfahrung.  —  Kant  ver- 
tritt hiermit  den  Rationalismus,  der  durch  den  Phänomenalismus 
beschränkt  ist.  Er  gründet  eine  Metaphysik  aus  rationalen  Principien, 
aber  nicht  eine  Metaphysik  des  Uebersinnlichen,  sondern  der  Er- 
scheinungen. 

Die  Erkenntnissformen  sind  theils  Anschauungs-,  theils  Denk- 
formen. Von  jenen  handelt  die  „transscendentale  Aesthetik", 
von  diesen  die  „transscendentale  Logik". 

Die  apriorischen  Formen  der  Anschauung  sind:  Raum  und 
Zeit.  Der  Raum  ist  die  Form  des  äusseren  Sinnes,  die  Zeit  ist  die 
Form  des  inneren  und  mittelbar  auch  des  äusseren  Sinnes.  Auf  der 
Apriorität  des  Raumes  beruht  die  Möglichkeit  der  geometrischen,  auf 
der  der  Zeit  die  der  arithmetischen  Urtheile,  und  hiermit  ist  die 
Frage  beantwortet:  Wie  ist  reine  Mathematik  möglich?  Die 
Dinge  an  sich  oder  die  transscendentalen  Objecte  sind  weder  räumlich 
noch  zeitlich;  alles  Neben-  und  Nacheinander  ist  nur  in  den  Er- 
scheinungsobjecten,  folglich  nur  in  dem  anschauenden  Subject. 

Die  Formen  des  Denkens  sind  die  zwölf  Kategorien  oder 
Stammbegriffe  des  Verstandes,  welche  die  Formen  der  Urtheile 
bedingen:  Einheit,  Vielheit,  Allheit;  Realität,  Negation,  Linii- 


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§  25.  Kante  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch.  233 

tation;  Substantialität,  Causalität,  Wechselwirkung;  Mög- 
lichkeit, Dasein,  Notwendigkeit.  Auf  ihrer  Apriorität  beruht 
die  Gültigkeit  der  allgemeinsten  Urtheile,  der  allgemeinen  Verstaudes- 
grundsätze, die  aller  empirischen  Erkenntniss  zu  Grunde  liegen,  und 
hiermit  ist  die  Frage  erledigt:  Wie  ist  reine  Naturwissenschaft 
möglich?  Die  Dinge  an  sich  oder  die  transscendentalen  Objecte 
haben  weder  Einheit  noch  Vielheit,  sind  nicht  Substanzen  und  unter- 
liegen nicht  dem  Causalverhältniss,  sind  überhaupt  nicht  den  Kategorien 
unterworfen;  die  Kategorien  finden  nur  Anwendung  auf  die  Er- 
scheinungsobjecte,  welche  in  unserm  Bewusstsein  sind.  So  schreiben 
wir  der  Natur  Gesetze  vor,  nicht  sie  giebt  uns  solche.  Wir  bringen 
Natur  überhaupt  erst  durch  unsere  Gesetze  zu  Stande. 

Die  Vernunft  strebt,  über  die  Verstandeserkenutniss,  die  an 
dem  Endlichen  und  Bedingten  haftet,  zum  Unbedingten  hinauszugehen. 
Sie  bildet  die  Idee  der  Seele  als  einer  Substanz,  die  immer  beharre, 
der  Welt  als  einer  unbegrenzten  Causalreihe  und  Gottes  als  des 
absoluten  Inbegriffs  aller  Vollkommenheiten  oder  des  „allerrealsten 
Wesens".  Indem  diese  Ideen  auf  Objecte  gehen,  die  jenseits  aller 
möglichen  Erfahrung  liegen,  so  haben  sie  keine  theoretische  Gültig- 
keit; wird  ihnen  dieselbe  (von  der  dogmatischen  Metaphysik)  vindicirt, 
so  geschieht  dies  mittelst  einer  irreführenden  Logik  des  Scheins  oder 
Dialektik.  Der  psychologische  Paralogismus  verwechselt  die 
Einheit  des  Ich,  welches  niemals  als  Prädicat,  sondern  immer  nur 
als  Subject  vorgestellt  werden  kann,  mit  der  Einfachheit  und  absoluten 
Beharrlichkeit  einer  psychischen  Substanz.  Die  Kosmologie  fuhrt 
auf  Antinomien,  deren  beide  einander  widersprechende  Glieder 
sich  indirect  erweisen  lassen,  wenn  die  Realität  von  Raum,  Zeit  und 
Kategorien  vorausgesetzt  wird,  aber  mit  Aufhebung  dieser  falschen 
Voraussetzung  wegfallen.  Die  rationale  Theologie,  welche  durch 
das  ontologische,  kosmologische  und  physikotheologische 
Argument  das  Dasein  Gottes  zu  erweisen  sucht,  verstrickt  sich  in 
eine  Reihe  von  Sophisticationen.  Doch  sind  jene  Ideen  in  zweifachem 
Betracht  von  Werth:  1.  theoretisch,  sofern  sie  nicht  als  congtitutive 
Principien  gelten,  durch  welche  eine  wirkliche  Erkenntniss  von  Dingen 
an  sich  gewonnen  werden  könne,  sondern  als  regulative  Principien, 
die  nur  besagen,  dass,  wie  weit  auch  die  empirische  Forschung  ge- 
langt sein  möge,  niemals  der  Kreis  der  Objecte  möglicher  Erfahrung 
für  völlig  abgeschlossen  angesehen  werden  dürfe,  sondern  immer  noch 
weiter  zu  forschen  sei;  2.  praktisch,  sofern  sie  Annahmen  denkbar 
machen,  zu  welchen  mit  moralischer  Notwendigkeit  die  praktische 
Vernunft  hinführt.  Hiermit  ist  die  dogmatistische  Metaphysik  gestürzt, 
obwohl  sie  in  der  natürlichen  Anlage  der  menschlichen  Vernunft  be- 


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234   §  25.  Kanta  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfaugsgr.  der  Naturwiasensch 


gründet  ist,  und  als  Wissenschaft  kann  sich  die  Metaphysik  nur  geltend 
machen,  wenn  sie  sich  mit  der  Kritik  verbindet. 

So  hat  Kant  die  Frage  erledigt:  Wie  ist  Metaphysik  über- 
haupt und  als  Wissenschaft  möglich? 

In  den  „metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft" 
sucht  Kant,  indem  er  die  Materie  auf  Kräfte  zurückführt,  eine  dyna- 
mische Naturerklärung  zu  begründen. 

Ueber  Kant»  Philosophie  Oberhaupt  und  insbesondere  über  seine  theoretische 
Philosophie  handeln  in  unzähligen  Schriften  Kantianer,  Halbkantianer  und  Antikantianer, 
wovon  die  bedeutendsten  unten  noch  als  Philosophen  aufgeführt  werden;  vgl.  darüber 
insbesondere  die  Gesch.  des  Kantianismus  von  Rosenkranz,  welche  als  XII.  Bd.  der 
Gesammtausg.  der  Werke  Kants  beigefügt  ist.  Kinen  Bericht  üb.  Kant  -  Studien 
letzter  Zeit  bringt  J.  B.  Meyer  in  den  v.  Kleischer  herausgeg.  Vierteljahrsber.  üb.  d. 
gesammt  Wissenschaften  u.  Künste,  I,  188*2,  S.  175 — 197.  Ausser  den  Historikern 
der  Philosophie  überhaupt  und  insbesondere  der  neueren  Philosophie:  Hegel,  Michelet, 
Erdmann.  Kuno  Fischer  (Fischers  Darstellung  Kants  übersetzt  ins  Englische  von  John 
P.  Mahaffy,  Lond.  1866),  I.  Herrn.  Fichte,  Chalybäus,  Ulrici,  Biedermann,  G.  Weigolt, 
Barchou  de  Penhoen,  A.  Ott,  F.  A.  Lange  (Gesch.  des  Materialism.),  Willtn,  Zeller, 
Windelband,  Harms  u.  A.,  s.  oben  S.  1—2  und  206,  wollen  wir  hier  noch  folgende 
nennen,  wobei  wir  nur  für  die  Zeit  seit  dem  Wiedererwachen  der  Philosophie  Kants 
eine  gewisse  Vollständigkeit  im  Auge  gehabt  haben.  Die  auf  Ethik,  Aesthetik,  Teleo- 
logie  etc.  sich  beziehenden  Schriften  sind  weiter  unten  genannt. 

1}  Anhänger  Kants  aus  früherer  Zeit: 

Joh.  Schulze  (Schultz,  üb.  die  Schreibart  des  Namens  *.  Aum.  zu  §  28),  Erläute- 
rungen üb.  des  Hrn.  Prof.  K.  Krit.  d.  r.  Vern. ,  Kgsb.  1785  u.  1791;  Prüfung  der 
kantisch.  Krit.  der  rein.  V.,  2  Bde.,  Kgsb.  1789—1792.  Carl  Leonh.  Rein  hold, 
Briefe  üb.  d.  Kantische  Philo*,  (aus  Wielands  Deutsch.  Merkur  1786—1787),  Lpz.  1790 
bis  1792;  üb.  die  bisherig.  Schicksale  der  Kantisch.  Philos.,  in  Wielands  Merkur  1789. 
Carl  Chr.  Ehrh.  Schmid,  Krit.  d.  r.  V.  im  Grundrisse,  Jena  1786.  3.  Aufl.  1794: 
Wörterb.  zum  leichtern  Gebrauch  der  Kantisch.  Schriften,  Jena  1788,  4.  Aufl.  1798 
(beide  Bücher  noch  recht  brauchbar).  Neues  philos.  Magazin  zur  Erläuterung  des 
Kantsch.  Systems,  herausgeg.  v.  Joh.  Har.  Abicht  u.  Frdr.  Gottlob  Born,  2  Bde., 
Lpz.  1769—1791.  G.  S.  A.  Meilin,  Marginalien  u.  Register  zu  K.s  Krit.  des  Er- 
kenntnissvermögens,  2  Bde.,  Züllichau  175*4—1795  (der  2.  Th.  geht  auf  d.  Grundlag. 
zur  Metaph.  der  Sitte,  auf  d.  Krit.  der  prakt.  Vern.  u.  Urtheilskr.);  Kunstsprache  der 
krit.  Philos.  oder  Sammlung  aller  Kunstwörter  derselben,  Jena  u.  Lpz.  1798;  Encyclopäd. 
Wörterb.  der  krit.  Philos.,  6  Bde.,  Züllichau  u.  Lpz.  1797—1803  (immer  noch  werthvoll). 
Laz.  Bendavid,  Vorlesungen  üb.  d.  Krit.  d.  r.  V.,  Wien  1795,  2.  Aufl.  1802.  Joh. 
Gottfr.  Karl  Chr.  Kiesewetter,  Versuch  einer  fassl.  Darstell,  der  wichtigst.  Wahrheit, 
der  neuen  Philos.  für  Uneingeweihte,  2  Bde.,  Berl.  1795—1803  (der  2.  Bd.  handelt  üb. 
d.  Krit.  d.  Urtheilskr.),  4.  Aufl.  mit  einer  Lebensbeschreib.  des  Verf.s  von  Chr.  Gttfr. 
Flittner,  Berl.  1824.  Noch  brauchbar  Kiesewetters  Prüfung  der  Herderschen  Metakritik, 
2  Bde.,  Berl.  1799  u.  1800.  And.  Metz,  Kurze  u.  deutliche  Darstell,  des  Kantschen 
Systems,  Bamb.  1795.  M.  Reuss,  Vorlesungen  üb.  d.  theoret.  u.  prakt.  Philos.,  2  Bde., 
Würzb.  1797.  Th.  A.  Suabedissen,  Resultate  der  philos.  Forschgn.  üb.  d.  Natur  d. 
menschl.  Erkenntnis  von  Plato  bis  Kant,  Marb.  1805.  —  Charles  Villcrs,  Philos.  de 
Kant,  Metz  1801,  auch  Utrecht  1830  (allgemeinverständlich).  F.  A.  Nitsch,  View  of 
Kants  principles,  I>ond.  1796.  A.  F.  M.  Willich,  Elements  of  the  critical  philosophy, 
Lond.  1798. 

2)  Gegner  Kants  aus  früherer  Zeit: 

Gebh.  Ulr.  Brastberger,  Untersuchungen  üb.  Kants  Kritik  der  rein.  Vern  ,  Jena 
1796.  Joh.  Aug.  Eberhard  in  den  v.  ihm  herausgegebenen  philos.  Zeitschriften:  Philos. 
Magazin,  Halle  1788—1792,  Philos.  Archiv,  Halle  1792—1795.  Philos.  Bibliothek 
herausgeg.  v.  Feder  u.  Meiner,  Göttin«.  1788—1791.  Bened.  Stattler  (Prof.  der  Theol. 
zu  Ingolstadt),  Anti-Kant,  3  Bde.,  Münch.  1788,  ein  Auszug  daraus:  Kurzer  Entwurf 
der  unausstehlichen  Ungereimtheiten  der  Kantisch.  Philos.  etc.,  1791;  Wahres  Verh. 
der  Kantsch.  Philos.  zur  christl.  Relig.  u.  Moral,  1794.    Joh.  Christ  Zwanziger, 


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§  25.  Kants  Kritik  <L  reinen  Vernunft  u.  metaph  Anfongsgr.  der  Naturwissensch.  235 

Comraent.  üb.  Herrn  Prof.  K.s  Krit.  d.  r.  V.,  Lpz.  1792.  Dietr.  Tiedemann,  Theätet, 
Ein  Beitrag  zur  Vernunftkrit.,  Frf.  1794.  —  Ueber  weitere  polemische  Schriften  früherer 
Zeit,  namentlich  über  Herders  Metakrit.  s.  unt.  §  28.  Werthvoll  ist  die  Kritik  der 
kantischen  Philosophie  von  Schopenhauer,  Anhang  zu  dem  1.  Bd.  der  Welt  als 
Wille  u.  Vorstell.,  1819  zuerst  erschienen,  der,  obgleich  ein  Verehrer  Kants,  denselben 
doch  scharf  beurtheilt. 

Die  Kantbibliographie  der  letzten  Jahre  findet  sich  Ton  R.  Reicke  (die  des 
Jahres  1882  in  Verbindung  mit  H.  Vaihinger)  mit  grosser  Genauigkeit  zusammengestellt 
in  der  Altpreussisch.  Monatsschr. 

3)  Schriften  aus  neuerer  u.  neuester  Zeit: 

Ed.  Beneke,  K.  u.  d.  philos.  Aufgabe  uns.  Zeit,  Berl.  1832.  Vi  ct.  Cousin, 
Lecons  sur  la  philosophie  de  Kant  (gehalt.  1820),  Paris  1842,  4.  ed.  Par.  1864. 
Translated  from  the  French  with  a  Sketch  of  K.s  life  and  writings  by  A.  G.  Henderson, 
Lond.  1870.  Mirbt,  K.  u.  seine  Nachfolger,  Jena  1841.  Alfonso  Testa,  della  ragion 
pura  di  Kant,  Lugano  1841.  Amand  Saintes,  Histoire  de  la  vie  et  de  la  philo«, 
de  K.,  Par.  et  Hanibourg  1844.  Chr.  H.  Weisse,  in  welch.  Sinne  d.  deutsche 
Philos.  jetzt  wieder  an  K.  sich  zu  orientiren  hat,  Leipz.  1847.  Prihonsky,  Neuer 
Antikant,  Bautzen  1850.  Jul.  Rupp,  Imm.  K.,  üb.  d.  Charakter  seiner  Philos.  u.  d. 
Verhältn.  derselb.  zur  Gegenw.,  Kgsb.  1857.  E.  Maurial,  le  seepticisme  combattu  dans 
ses  prineipes,  analyse  et  discussion  des  principe«  du  seepticisme,  Paris  1857.  Jon. 
Jacoby,  K.  u.  Lessing,  Rede  zu  K.s  Geburtstagsfeier,  Kgsb.  1859.  Theod.  Sträter,  de 
prineipiis  philos.  K.,  diss.  inaug.,  Bonn  1859. 

J.  B.  Meyer,  üb.  d.  Kriticismus  mit  besond.  Rücks.  auf  Kant,  in:  Zeitschr.  für  Ph., 
Bd.  37,  1860,  S.  226-263  und  Bd.  39,  1861,  S.  46—66.  B.  Spaventa,  la  filosofia  di 
Kant,  Torino  1860.  Die  anonyme  Schrift  (des  Prinzen  Wilh.  Herrn,  r.  Neuwied,  gest. 
1864):  ein  Ergebniss  aus  d.  Krit.  d.  kantischen  Freiheitslehre,  von  d.  Verf.  d.  Schrift: 
das  unbewusste  Geistesieb.  u.  d.  göttl.  Offenbarung,  Lpz.  1861.  L.  Noack,  I.  Kants 
Auferstehung  aus  dem  Grabe,  seine  Lehre  urkundlich  dargest.,  Lpz.  1861;  mit  od.  ohne 
romantisch.  Zopf?  im  II.  Bd.  von  Oppenheims  deutsch.  Jahrb.  für  Polen  und  Litt., 
1862.  Michelis,  die  Philos.  K.s  u.  ihr  Ei  tili,  auf  d.  Entwickig.  der  neueren  Natur- 
wissensch., in:  Natur  u.  Offenbarung,  Bd.  VIII,  Münster  1862;  Kant  vor  und  nach  d. 
J.  1770,  Braunsb.  1871  (70).  Jos.  J aekel,  de  K.  phaenomeno  et  noumeno,  diss.  Vratisl. 
1862.  K.  F.  E.  Thrandorff,  Aristoteles  und  Kant,  oder:  was  ist  die  Vernunft?  in: 
Zeitschr.  für  d.  Inth.  Theol.  u.  Kirche,  Jahrg.  1863,  S.  92—125.  Jul.  Heidemann, 
Piatonis  de  ideis  doctrinam  quomodo  Kantius  et  intellexerit  et  exeoluerit,  diss.  inaug., 
Berol.  1863.  Jos.  Richter,  d.  kantischen  Antinomien,  Mannheim  1863.  Klingberg,  K.s 
Kritik  af  Leibnizianismen,  Upsala  1863.  Joh.  Huber,  Lessing  u.  K.  im  Verhaltn.  z. 
relig.  Bewegung  des  18.  Jahrh.  in:  deutsche  Vierteljahrsschrift.,  Juli-Sept.  1864,  S.  244 
bis  295.  Theod.  Merz,  üb.  d.  Bedeutg.  d.  kantischen  Phil,  für  d.  Gegenw.,  in :  protest. 
Monatsb).,  herausg.  von  H.  Geizer,  Bd.  24,  1864,  S.  375—388.  O.  Liebmann,  K.  u. 
d.  Epigonen,  Stuttg.  1865.  Emile  Saisset,  le  seepticisme,  Aenesideme,  Pascal,  Kant, 
Paris  1865,  2.  ed.  1867.  Heinr.  Bach,  üb.  die  Beziehg.  d.  k.schen  Philos.  zur  franz. 
u.  engl.  d.  18.  Jahrh.,  Diss.,  Bonn  1866.  Ed.  Röder,  das  Wort  a  priori,  eine  neue 
Kritik  d.  k.schen  Philos.,  Frankf.  a.  M.  1866.  M.  B.  W.  Bolton,  Kant  and  Hamilton, 
Lond.  1866  auch  1869. 

Trendelenburg,  üb.  e.  Lücke  in  K.s  Beweis  v.  d.  abschliessenden  Subjectivität 
des  Raumes  u.  d.  Zeit,  e.  krit.  und  antikrit.  Blatt,  in  den  .Ihm.  Beitr.  zur  Philos."  III, 
1867,  S.  215 — 276*),  und  Kuno  Fischer  u.  sein  Kant,  eine  Entgegnung,  Leipzig  1869. 


")  Trendelenbnrg  leugnet,  dass  von  Kant  bewiesen  sei,  dass  das  .Apriorische", 
dessen  Ursprung  ein  rein  subjectiver  sei,  auch  bloss  subjectiv  hinsichtlich  seiner 
Gültigkeit,  d.  h.  bloss  auf  die  Erscheinungen  anwendbar  sei  und  nicht  auf  die  Dinge 
an  sich  oder  die  transscendenten  Objecte;  neben  «bloss  objectiv"  und  „bloss  subjectiv" 
bestehe  als  »dritte  Möglichkeit" :  „subjectiv  und  objectiv  zugleich"  (wobei  „objectiv*  im 
transscendentalen  Sinne  zu  nehmen  ist);  dass  Kant  es  unterlassen  habe,  diese  „dritte 
Möglichkeit"  genau  zu  erwägen,  sei  eine  „Lücke"  in  seiner  Argumentation,  wodurch 
dieselbe  beweisunkräftig  werde.  Trendelcnburg  nimmt  seinerseits  an,  Raum  und  Zeit 
seien  als  Producte  der  „Bewegung",  welche  sich  in  uns  und  ausser  uns  vollziehe,  gleich 
sehr  subjectiv  und  objectiv  (vgl.  u.).  Kuno  Fischer  sucht  darzuthun,  dass  von  Kant  für 
das  Nichtbebaftetsein  der  Dinge  an  sich  mit  Raum  und  Zeit  ein  directer  und  (in  dem 
Abschnitt  über  die  Antinomien)  ein  indirecter  Beweis  geführt  worden  sei.    Die  Frage- 


236   §  25-  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwisäensch. 


Kuno  Fischer,  Logik  u.  Metaph.,  2.  Aufl.,  S.  1 5:i  ff. ;  Anti-Trendelenburg,  eine  Duplik, 
Jena  1870.  Vgl.  dazu  Kym  (s.  u.)  und  Rieh.  Quäbieker  in:  philos.  Monatsh.  IV,  1870, 
S.  -408—413;  ferner  E.  Bratusoheck  ebd.  V,  1870,  S.  270—323;  C.  Grapengiesser,  K.s 
Lehre  v  Hanm  und  Zeit ,  Kuno  Fischer  u.  Ad.  Trendelenburg,  Jena  1870  (vom  apelt- 
schen  Standpunkte  aus  vorfasst);  Emil  Arnoldt,  Kant«  transsoendentale  Idealität  dos 
Raumes  u.  d.  Zeit,  für  Kant  gegen  Trendelenburg,  in  der  altpreuss.  Monatsschrift  VII, 
3.  5/6;  VIII,  1.  5/0;  Horm.  Cohen,  zur  Controv.  zw.  Tr.  u.  F,  in:  Zeitschrift  f.  Völker- 
psych.  u.  Spraehw.  VII,  S.  230 — 296;  J.  Gottschick,  die  „ Lücke*  in  K.s  Beweis  f.  d. 
transscendentale  Idealität  v.  Kaum  u.  Zeit,  in:  Ztsehr.  f.  Phil.  n.  philos.  Kr..  Bd.  79, 
1881,  S.  102—156. 

W.  Pflüger,  üb.  K.  traussc.  Aesthetik,  In.-Diss.,  Marburg  1807.  Siegm.  Lovy,  K.s  Kr. 
der  r.  Vern.  in  ihrem  Vcrh.  zur  Krit.  d.  Sprache,  Diss.,  Bonn  1868.  Gust.  Knauer, 
oonträr  und  contradietorisch,  nebst  convergirenden  Lehrstücken,  festgestellt  und  Kante 
Kategorientafel  berichtigt,  Halle  1868. 

H.  Eortlagc,  üb.  d.  kantische  Philos.,  in:  Sechs  philos.  Vorträge,  Jena.  Vinc. 
Silla,  K.  e.  Rosmini,  Torino.  Sjüholm,  het  historiska  zusammanhanget  mellan  Humes 
Skepticism  och  K.s  Kriticism,  Ak.  Afh.  Upsala.  Günther  Thiele,  wie  sind  die  synth. 
Urth.  a  priori  der  Mathematik  möglich?  Inaug.-Diss.,  Halle.  F.  Ueberwcg,  der  Grund- 
gedanke des  kaut.  Kritioismus  nach  seiner  Entstehungszeit  u.  s.  wisscnschaftl.  Werth, 
in:  Altpr.  Monatsschr.  VI,  S.  215—224.  Aug.  Müller,  die  Grundlagen  der  k.schen 
Philos.  vom  nuturwissenseb.  Standp.  gesehen,  ebd.  S.  368—421.  C.  Hebler,  Kantiana 
in  philos.  Aufs.,  Leipz.    Hodgson,  time  and  Space  (e.  Analyse  d.  k.schen  Lehre).  Lond. 

G.  Biedermann,  K.s  Kr.  der  reinen  Vern.  und  die  hegelsche  Logik  in  ihrer  Bedeut.  f. 
d.  BegriftVwiss.,  Prag.  Ernst  Wickenhagen,  d.  Logik  bei  Kant,  Diss.,  Jena.  0.  Stäekel, 
der  Begriff"  der  Idee  bei  K.  im  Verh.  zu  den  Ideen  bei  Piaton,  Diss.,  Rostock.  Oscar 
Hohenberg,  üb.  das  Verhältu.  d.  k.schen  Philos.  zur  piaton.  Ideenlebre,  Rostoeker  Diss., 
Jena.  Aug.  Th.  Rieh.  Braune,  der  einheitl.  Gmndged.  der  drei  Kritiken  K.s.  Inang.- 
Diss.,  Rostock.  Fr.  Herbst.  Locke  u.  K.,  Rostocker  I.-D.,  Stettin.  Maxim.  Kissel,  de 
rat.,  quae  inter  Lockii  et  Kantii  plaeita  intercedat,  eomm.,  Rostochii.  Säznmtlich  ans 
d.  J.  1869. 

J.  B.  Meyer,  K.s  Psychol.,  Berl.  Rieh.  Quäbicker,  krit.-philos.  Untersuchungen: 
I.  K  s  u.  Herbarts  metaph.  Grundansichten  üb.  d.  Wesen  d.  Seele,  Berlin.  Rud.  Hippen- 
meyer, üb.  K.s  Kritik  der  rat.  Psychol.,  in:  Zeitsohr.  f.  Ph.  N.  F.  Bd.  56.  S.  86—127. 

H.  Wölfl*,  die  metaph.  Grundansch.  K.s,  ihr  Verh.  zu  d.  Natnrw.  und  ihre  philos. 
Gegner,  Leipz.  Fr.  Reinh.  Emst  Zelle,  de  discr.  inter  Aristotelicam  et  K.  logice» 
notionem  intercedente,  diss.  Hai.  (auch  deutseh,  Berlin).  W.  F.  Schultze,  Hunte  u.  K. 
üb.  d.  Causalbegrift',  I.-D.,  Rostock.  Rud.  Tombo.  üb.  K.s  Krkenntnisslehre,  I.-D., 
Rostock.  Lengfehlner,  d.  Princip  d.  Phil.,  d.  Wendep.  in  K.s  Dogmatism.  u.  Kriticism., 
Pr.,  Landshut.    Aus  dem  J.  1870. 

E.  v.  Hart  mann,  das  Ding  an  sich  u.  seine  Beschaft'enheit ,  k.sehe  Studien  zur 
Erkenntnisstheorie  u.  Metaph..  Berlin.  (Hartmann  will,  das«  man  in  der  bereits  von 
Kant  eingeschlagenen  Richtung  einer  schärferen  Kritik  und  Einschränkung  der  Be- 
hauptungen der  transsc.  Analytik  weiter  gehe,  während  K.s  unmittelbare  Nachfolger 
den  entgegensetzten  Weg  weiter  verfolgt  haben,  dessen  letzte  Consequenz  der  .ab- 
solute Iliusionismns'  sei.)  Edmund  Montgomery,  die  k.sehe  Erkenntnisslehre  widerl. 
vom  Standp.  der  Empirie,  München.  K.  Zimmermann,  üb.  K.s  mathem.  Vorurth.  and 
dessen  Folgen,  Wien.  F.  Frederichs,  d.  phänomenale  Idealism.  Berkeleys  n.  K.s,  Berlin. 
Herrn.  Cohen,  K.s  Theorie  «I.  Erfahr.,  Berlin.  2.  neubearbeitete  Aufl.  1885.  C.  Grapen- 
giesser,  Erklär,  u.  Vertheidig.  v.  K.s  Krit.  d.  reinen  Vern.  wider  die  -sogenannten" 
Erläuterungen  d.  Hrn.  J.  H.  v.  Kirchmann.  E.  Bekämpfg.  d.  modern.  Realism.  in  d. 
Philos.,  Jena.  Ders.,  K.s  transscendental.  Idealism.  u.  Hartmanns  Ding  an  sich  in  Fichtes 
Zeitechr.,  61,  191-247;  62,  30-70;  232-285;  63,  145-200.  Die  Erläuterungen 
v.  Kirchmanns  von  dessen  realistischem  Standpunkte  aus  sind  in  einer  Reihe  von  Heften 
im  Anschluss  an  die  von  demselben  besorgte  Ausgabe  in  der  Philos.  Bibliothek  er- 
schienen, haben  aber  wenig  Werth.  —  Geo.  Scherer,  Krit-  üb.  K.s  Subjeetivität  u. 
Apriorität  d-  Raumes  u.  d.  Zeit,  Iuaug.-Diss.,  Frkf.  a.  M.    Aus  d.  J.  1871. 


Stellung  selbst  aber  ist  zu  indem,  wenn  sich  ergiebt,  dass  der  Begriff  „a  priori",  wie 
Kant  denselben  versteht,  unhaltbar  ist.  Der  Raumansehauung  vindicirt  Ueberweg  ver- 
möge einer  philosophischen  Reflexion  über  die  physikalischen  Gesetze,  insbesondere 
über  das  Gravitationsgesetz,  objective  Gültigkeit  im  transscendentalen  Sinne,  s.  Ueber- 
weg* unten  eitirtc  Abb.  über  K.s  Kriticismus. 


§  25.  Kante  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissenach.  237 


L.  Ballauf,  d.  k.sche  Idealism.,  im  Pädag.  Anh.,  S.  841—295.  Charles  Sarchi. 
Examen  de  la  doctrine  de  K.,  Pari».  Barach,  K.  als  Anthropolog  in  Mitthlxn.  d. 
anthrop.  Ges.  in  Wien.  Burmeistcr,  d.  Erkenntnisalehre  K.s,  Wrietzen,  Sehulpr.  E. 
Fleisch!,  e.  Lücke  in  K.a  Philo«,  u.  Ed.  v.  Hartmann,  Wien.  Jagielski,  wie  hat  K. 
den  Begr.  d.  Materie  aufgefaßt?  Ostrowo,  Pr.  Jobs.  Quaat/.,  K.s  kosmol.  Ideen,  ihre 
Ableitg.  a.  d.  Kategorien,  die  Antinomie  u.  deren  Auflösg.,  Herlin,  Pr.  <1.  Andrcas-Sch. 
Rob.  Zimmermann,  üb.  K.s  Widerlegungen  d.  Idealism.  v.  Berkelev  (a.  d.  Sitzungsber. 
d.  ph.-hist.  Cl.),  Wien.    Aug  d.  J.  1872. 

E.  Arnoldt,  Metaphysik  die  Schutzwehr  der  Kelig.,  Hede,  Kgsb.  (auch  in  der  Altpr. 
•Mt.-M'br.,  X,  2isi> — 306).  Benno  Erdmann,  d.  Stelig.  d.  Dinge»  an  sich  in  K.s  Acethet. 
u.  Analytik,  I.-L).,  Berlin.  Herrn.  Cohen,  d.  System.  Begriffe  in  K.s  vorkrit.  Schriften 
nach  ihren  Verhltn.  zu  krit.  Idealism.,  Berlin.  AI  fr.  Holder,  Darstllg.  d.  k.schen 
Erkenntnisstheorie  mit  besond.  Herüeks.  d.  verschied.  Fassgn.  d.  transsccndentalen 
Deduct.  d.  Kateg.,  Tüb.  G.  Knauer,  ist  d.  Zweckbegr.  auf  K.s  Standpkt.  in  der  Kateg.- 
Tafel  einzustellen?  in  Philo«.  Monatshefte,  IX,  361 — 66.  T.  Mannani.  K.  e  rontologia, 
Firenze.  Fil.  Masci,  una  polemica  su  K.,  l'estetica  trascciidentale  e  Je  autinomie. 
Napoli.  J.  Volkelt,  K.s  Stellg.  z.  unbewusst.  Logisch,  in  Philos.  Mtshft.  IX,  4'J— 57, 
113— 124.  Ferd.  Schmidt,  de  origine  termini  Kantiani  «transcendens",  diss.  inaug., 
Marb.  P.  Asmus,  das  Ich  ».  das  Ding  an  sich,  Gesch.  ihrer  begriffl.  Entwickelung  in 
der  neuesten  Philos.,  Halle.    Sämmtlich  aus  d.  J.  1873. 

S.  F.  de  Dominicis,  Galilei  e.  K.,  Bologna.  W.  H  S.  Monck,  an  introduetion  to 
the  critical  philos.,  Dubl.  Jos.  Pommer,  z.  Abwehr  einig.  Angriffe  auf  K.s  Ix-hre  von 
d.  synthet.  Natur  mathemat.  Vrtheile,  Wien.  Jobs.  Witte,  Beiträge  z.  Verstandn.  K.s, 
Berlin.  Roh.  Zimmermann,  K.  u.  d.  positive  Philos.  (Sitzungsber.  der  philos.-hist.  Cl.)» 
Wien.    Ans  d.  J.  1874. 

G.  Spicker,  K..  Hume  u.  Berkeley,  Berlin.  F.  G.  Hann,  über  den  Ausgangspunkt 
für  die  metaphys.  Einsicht  nach  Kant,  Innsbruck.  Fr.  Schultze.  K.  u.  Darwin,  Jena. 
D.  Nolen,  la  critique  de  K.  et  la  metaphysique  de  Leibniz,  Paris.  P.  Ragniseo,  la 
critica  della  ragione  pura  di  K.,  Napoli.  Die  Werke  von  Paulsen  u.  Riehl  s.  o. 
S.  208.    Sämmtlich  aus  d.  J.  1875. 

G.  Schenk,  die  logischen  Voraussetzungen  und  ihre  Folgerungen  in  K.s  Erkenntniss- 
lehre, I.-D.,  Jena.  C.  Stommel,  die  Differenz  K.s  und  Hegels  in  Bez.  auf  die  Auti- 
nomien,  I.-D.,  Halle.  J.  Jacobson,  die  Auffindung  des  Apriori,  Berlin;  ders.,  die  Be- 
ziehungen zwischen  Kategorien  und  Urtheilsformen,  Kgsbg.  1877.  Ernst  Laas,  K.s 
Analogien  der  Erfahrung.  Berlin.  F.  v.  Wangenheim,  Verteidigung  K.s  gegen  Fries, 
I.-D.,  Halle.  G.  Zahn,  üb.  die  k.sche  Unterscheidung  von  Sinn,  Verstand  u.  Vernunft, 
Jena.  M.  Desdouits,  la  philosophie  de  K.  d 'apres  les  trois  critique« ,  Paris.  E. 
Caird,  the  philosophy  of  K.,  explained  and  xamined  with  a  historical  introduetion, 
Lond.  B.  Alexander,  K.s  L.  vom  Erkennen,  Leipz.,  I.-D..  Budapest.  Jos.  Weisz,  K.s 
L.  v.  Raum  u.  Zeit,  Leipz.  I.-D.,  Budapest.  Rob.  Steffen,  K.s  L.  vom  Dinge  an  sich. 
I.-D.,  Leipz.  W.  Ustcrinaun,  üb.  K.s  Krit.  der  rational.  ThcoIoRie,  Jena.  G.  Thiele, 
K.s  intellectuelle  Anschauung  als  Grundbegr.  seines  Kriticismus  dargestellt,  Halle.  A. 
Stadler,  die  Grundsätze  der  reinen  Krkenntnisstheorie  in  d.  k.schen  Philos.,  Leipz. 
Sämmtlich  aus  d.  J.  1876. 

K.  Dieterich,  K.  u.  Newton,  Tübing.  A.  v.  Leclair,  kritische  Beiträge  zur  Kate- 
gorienl.  K.s,  Prag.  L.  Sraolle,  K.s  Erkenntnisstheorie  vom  psycholog.  Standpunkt  aus 
betrachtet,  Znaim.  E.  Schmidtborn,  Darlegung  u.  Prüfung  d.  k.schen  Krit.  des  ontolog. 
Beweises  für  das  Dasein  Gottes,  Wiesbad.  T.  Pesch,  die  Haltlosigkeit  der  modernen 
Wissensch.  Eine  Krit.  d.  k.schen  Vernunftkritik,  Freib.  i.  Breisgau.  Reinh.  Biese,  die 
Krkenntnissl.  des  Aristoteles  u.  K.s  in  Vergleichung  ihrer  Grundprincipieti,  Berlin. 
J.  Theodor,  der  UnendlichkeiUbcgr.  bei  Kant  und  Aristoteles,  Breslau.  E.  Caird,  a 
critical  aecount  of  the  philosophy  of  K.  W.  Wrindelband,  über  d.  verschied.  Phasen 
d.  k.schen  L.  v.  Ding  an  sich,  in:  Vierteljahrsschr.  f.  Wissenschaft!.  Phil.  I,  S.  224 — 266. 
Sämmtlich  aus  d.  J.  1877. 

C.  Grapengiesser,  Aufgabe  u.  Charakter  der  Vernunftkritik,  Jena.  C.  I  herhörst, 
K.s  L.  v.  d.  Verh.  d.  Kategorien  z.  d.  Erfahrung,  Göttingen.  K.  Dieterich,  K.  u. 
Rousseau,  Tübingen  (mit  de»  Verf.s  Sehr.:  K.  u.  Newton  in  2.  Ausg.  erschienen  unter 
dem  Titel:  d.  kantsche  Philos.  in  ihrer  inneren  Entwickelungsgesch.,  2  Thle.,  Freib.  i.  Br. 
1885).  R.  Lehmann,  K.s  L.  v.  Ding  an  sich,  Berlin.  P.  S.  Neide,  die  k.sche  L.  vom 
Schematismus  der  reinen  Verstand  es  begriffe,  I.-D.,  Halle.  C.  Ritter,  K.  u.  Hume,  I.-D., 
Halle.  Mor.  Steckelmacher,  die  formale  Logik  K.s  in  ihren  Beziehungen  zur  transsecn- 
dentalen,  Breslau.  J.  Nathan,  K.s  logische  Ansichten  u.  Leistungen,  I.-D.,  Jena. 
Friedr.  v.  Bärenbach,  das  Ding  an  sich  als  kritisch.  Grenzbegr.,  in  Ztschr.  für  Philos. 


238   §  25.  Kants  Kritik  d.  reineD  Vernunft  u.  tnetaph.  Anfangagr.  der  Naturwissensch. 


und  philo».  Krit.,  Bd.  72,  S.  65 — 80.  T.  Mamiani,  della  psicologia  di  K.,  Roma. 
Albr.  Krause,  Kant  u.  Heimholte  üb.  d.  Ursprung  u.  d.  Bedeut.  der  Raumanschanung 
u.  der  geometrischen  Axiome,  Lahr.  Rud.  Kühne,  Ob.  d.  Verh.  d.  humeschen  u.  kam. 
Erkenntnistheorie,  Rostock.  I.-D.,  Berl.  Sämmtlich  aus  dem  J.  1878.  B.  Er d mann, 
K.s  Kriticismus  s.  ob.  S.  223. 

E.  Last,  Mehr  Licht!  Die  Hauptsätze  K.s  u.  Schopenhauers  in  allgem.  verständ- 
licher Darlegung,  Berlin.  M.  Peschel,  Aphorismen  zur  k. sehen  Philos.,  nebst  Andeut. 
eines  positiv,  metaphys.  Standpunktes,  Basel.  Jul.  Janitsch,  K.s  Urtheile  Ober  Berkeley, 
Strassb.  i.  E.  C.  Cantoni,  Em.  K.,  Vol.  I,  la  filos.  teoret.,  Milano,  Vol.  IL  la  filos. 
pratica,  1883,  Vol.  III,  la  filos.  religiosa,  la  critica  del  giudizio  e  le  dottrine  minori, 
1884.  J.  Frohschammer,  üb.  die  Bedeutung  der  Einbildungskraft  in  der  Philos.  K.s 
u.  Spinozas,  Münch.  Joh.  Volkclt,  Imm.  K.s  Erkenntnisstheorie  nach  ihr.  Grund- 
prineipien  analys.,  Lpz.  R.  Zimmefmann,  K.  u.  d.  Spiritismus,  Wien  (Frdr.  Zöllner 
glaubte  bei  Kant  Spiritismus  entdeckt  zu  haben).  R.  Falckenberg,  Ueb.  d.  intelligibl. 
Char.,  zur  Kritik  der  k.sehen  Freiheitsl.,  Halle.  V.  Kig,  die  kantschen  Kategorien  u. 
ihr  Verhältnis«  zu  den  aristotelischen  mit  Rücksicht  auf  den  gegenwärtigen  Sund  der 
Wissenschaft,  in  Festschr.  zur  Begrüssung  der  35.  Vers,  deutscher  Philolog.  etc.  dargebr. 
t.  d.  Kgl.  Gymnas.  u.  d.  städt.  R.-Sch.  zu  Trier,  Trier.    Alle  aus  d.  J.  1879. 

Rob.  Adamson,  Ueb.  K.s  Philosophie,  übers,  v.  C.  Schaarschmidt,  Lpz.  Wilh. 
Schuppe,  das  Verh.  zwisch.  K.s  formaler  u.  transsccndental.  Logik,  in:  Philos.  Monatsh. 
S.  513 — 528.  Feiice  Tocco,  l'Analitiea  trascendentale  e  i  snoi  recenti  espositori,  estratto 
della  Filosofia  della  Scuole  Italiane.  M.  Heinze,  Ernst  Platner  als  Gegner  Kants,  Univ.- 
Pr.,  Lpz.  M.  Kunze,  K.s  Kritik  an  Humes  Skepticismus,  I.-D.,  Berl.  A.  Meydenhauer, 
Kant  od.  Laplace?  Marb.  F.  Chiappelli,  K.  e  la  psicologia  contemporanea,  Napoli. 
G.  Barzcllotti,  la  critica  conoscenza  e  la  metafisica  dopo  il  K.,  in:  la  filos.  delle  scuole 
Ital.,  Bd.  20.    Sämmtlich  aus  d.  J.  1880. 

Zu  dem  hundertjährigen  Jubiläum  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  sind  im 
J.  1881  eine  grosse  Anzahl  besonderer  Schriften  und  Abhandlungen  erschienen;  von 
letzteren  können  hier  nur  die  wichtigeren  aufgeführt  werden.  S.  das  Verzeichnis»  aller 
auf  K.  bezüglichen  Drucksachen  dies.  J.s  in  d.  Altpreussischen  Monatsschr.  1882,  S.  506 
bis  512  u.  weiterer  auf  das  Jubiläum  sich  beziehend.  Schriften  aus  d.  J.  1882  ebd. 
1883,  S.  505 — 511.  J.  Witte,  die  Vermittelung  der  principiellen  Gegensätze  durch  Kants 
Krit.  d.  r.  V.  u.  der  virtuelle  Apriorismus  der  letzteren,  in:  Philos.  Monatsh.  S.  602 
bis  613.  Fei.  Tocco,  Filosofia  di  Kant,  in:  la  Filosofia  delle  Scuole  Italiane,  Vol.  XXII, 
XXIII.  G.  Herbst,  K.  als  Naturforscher,  Philos.  u.  Mensch  (Samml.  wissensch.  Vortr.), 
Berl.  J.  Mainzer,  d.  krit.  Epoche  in  d.  L.  v.  d.  Einbildungskr.  ans  Humes  u.  Kants 
theoret  Philos.  nachgewiesen,  Jena.  K.  Werner,  Kant  in  Italien,  Wien.  Edm. 
Pfleiderer,  Kantischer  Kriticismus  u.  engl.  Philos.  Beleuchtung  des  deutsch-englisch. 
Neu-Empirismus,  Halle  (Separatabdr.  aus  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  ph.  Kr.).  J.  Walter, 
zum  Gedächtniss  K.s,  Festrede,  Lpz.  Max  Runze,  K.s  Bedeutung  auf  Grund  der  Ent- 
wirkelungsgesch.  seiner  Philos.  Festvortr.  Berlin.  Emil  Höhne,  K.s  Pelagianismus  u. 
Nomismus,  Leipzig.  John  Watson,  K.  and  his  english  critics,  a  eomparison  of  critical 
and  empirical  philosophy,  Glasgow- Lond. :  derselbe,  the  method  of  K.,  in:  Mind  Bd.  5, 
S.  528—548.  Albr.  Krause,  Populäre  Darstell,  v.  I.  K.s  Kr.  d.  r.  V.,  Lahr,  2.  Aufl.  1882. 
Fr.  Paulsen,  Was  uns  K.  sein  kann?  Eine  Betrachtung  zum  Jubeljahr  der  Krit  d. 
r.  V.,  in:  Vierteljahrsschr.  f.  wissensch.  Philo«.,  S.  1 — 96.  Eng.  Westerburg,  Schopen- 
hauers Kritik  der  kantisch.  Kategorienl.,  in:  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  ph.  Kr.,  Bd.  78, 
S.  106—140,  249—278.  A.  Weis,  the  critical  philosophy  of  K.,  London.  James 
Hutchinson  Stirling,  Text-book  to  Kant  The  Critique  of  pure  Reason:  Aesthetic, 
Categories,  Schematism,  Translation,  Reproduction,  Commentary,  Index,  Edinburgh- 
London.  Bernh.  Alexander,  Kant  (K.s  Leben,  Kntwickelung  u.  Philos.),  1.  Bd.,  Buda- 
pest (Ungarisch).  Friedr.  Bernd,  d.  Logik  nach  Aristoteles  u.  K.,  Progr.  der  theresianisch. 
Ak.  in  Wien,  Wien.  B.  Erdmann,  d.  Idee  v.  K.s  Krit  der  r.  V.,  in:  deutsche  Rund- 
schau, Bd.  VIII,  S.  253 — 273.  Seb.  Turbiglio,  Analisi,  storia  critica  della  Critica 
della  Ragion  Pura,  otto  lezioni  estr.  del  Corso  di  storia  della  filos.,  Roma.  G. 
Krause,  K.s  Erkenntnissl.  als  Grundlage  unserer  Erkenntnis»,  Th.  I,  Pr.,  Marien- 
werder, Th.  II  1882.  Hugo  v.  Meltzl,  Kantiana  Hungarica,  Festgabe  zum  Cente- 
ii avium  etc  ,  nebst  einer  magyarischen  Kantbibliographie  v.  Pet.  Gerecze,  Kolnzsvar, 
London.  H.  Vaihinger,  Commentar  zur  Krit.  d.  rein.  Vera.,  1.  Bd.,  Stuttgart  (dus 
Ganze  ist  auf  5  Bde  berechnet  der  erste  Band,  welcher  den  Commentar  zur  Vorrede 
der  ersten  und  zu  den  Einleitungen  der  ersten  und  zweiten  Ausgabe  enthält,  ist  mit 
ausserordentlicher  Genauigkeit  und  Umsicht  gearbeitet.    Von  längeren  Ausführungen 


§  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  o.  metaph.  Anfangsgr.  der  N'aturwissensch.  239 


dieses  Bds.  sei  hier  hingewiesen  auf  die  neue  Darstellung  des  Verh.s  von  Kant  zu 
Hume,  sowie  auf  die  „Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V.').  Besonders  in  er- 
wähnen ist  hier  noch,  dass  im  Juli-  und  October-Heft  das  Journal  of  Speculative 
Philosophy  ed.  by  William  T.  Harris,  New-York,  eine  Reihe  von  Aufsätzen  zur 
Feier  des  Jahres  erschienen  sind:  John  W.  Mears,  the  Kant-Centennial ;  William  T. 
Harris,  K.  and  Hegel  in  the  History  of  Ph. ;  George  S.  Morris,  K.s  Transscendental 
Deduction  of  Categories;  Julia  Ward  Howe,  the  Kesults  of  the  Kantian  Phil.;  John 
Wateon,  the  Critical  Philos.  in  its  relation  to  Realism  and  Sensationalism ;  Josiah  Royce, 
Kj  Relation  to  modern  philosophic  progress;  Lester  F.  Ward,  K.s  Antinomies  in  the 
light  of  modern  science;  William  T.  Harris,  K.s  Refutation  of  the  Ontological  Proof 
of  the  Existence  of  God. 

J.  Kreyenbühl,  d.  ethische  Freiheit  b.  K.,  in:  Philos.  Monatsh.,  S.  129 — 161. 
J.  Baumann,  Zwei  Beitrage  zum  Verständnis»  K.s,  in:  Philos.  Monatsh.,  S.  257—286. 
Th.  Weber,  zur  Krit.  der  kantisch.  Erkenntnisstheorie,  in:  Zeitechr.  f.  Philos.  u.  ph. 
Kr.,  1881,  Bd.  79,  S.  161—210,  1882,  Bd.  80.  S.  1—52  (auch  separ.  erschienen,  Halle 
1882).  Wilb.  Münz.,  die  Grundlagen  der  k.schen  Erkenntnisstheorie,  Breslau,  2.  Aufl., 
ebd.  1885.  A.  Huther,  Versuch  einer  Darleg.  der  Auffassung  K.s  v.  d.  Wesen  u.  d. 
Bedeut.  des  Schlusses,  sowie  ihres  Werthes  u.  Verb,  zu  früheren  Theorien,  Rostocker 
I.-D.,  Schönebeck.  Frank  Hugh  Foster,  the  doctrine  of  the  transcendent  use  of  the 
principle  of  causality  in  Kant,  Herbart  and  Lotze,  I.-D.,  Lpz.  K.  Laas,  K.s  Stellung 
in  der  Gesch.  des  Conflicte  /wisch.  Glauben  u.  Wissen,  Berl.  Günth.  Thiele,  d.  Philos. 
K.s  nach  ihrem  systemat  Zusammenh.  u.  ihr.  log.  hist  Entwick).,  I,  1,  K.s  vorkrit. 
Naturph.,  Halle  1882,  I,  2,  K.s  vorkrit.  Erkenntnisstheorie,  Halle  1887.  George 
S.  Morris,  K.s>  Critique  of  pure  reason.  a  critical  exposition,  Chicago  (London)  1882 
(Griggs's  German  philosophical  Classics,  Vol.  I.  S.  üb.  dieses  Unternehmen  the  Journ. 
of  Spec.  Phil.,  Juli  1881,  S.  323  f.  u.  1885,  S.  329  ff.).  Emil  Wille,  K.s  L.  v.  der 
ursprüngl.- synthetisch.  Einheit  der  Apperception,  in:  Philos.  Monatsh.,  S.  449 — 160. 
Will.  Wall  an',  Kant,  Oxf.,  Edinb.  u.  Lond.,  in:  Blakwoods  Philosoph.  Classics  by 
W.  Knight.  Ad.  Bol liger,  Anti-Kant  od.  Elemente  der  Log.,  der  Phys.  u.  d.  Eth., 
1.  Bd.,  Basel.  Otto  Kuttner,  Bedeut  v.  K.s  Kr.  d.  r.  V.  f.  d.  Gegenw.,  in:  Jahrbb.  f. 
pr.  Th.,  S.  577—592.    Sämmtlich  aus  d.  J.  1882. 

Betz,  Spinoza  en  Kant,  s'Gravenhage.  L.  Noire,  d.  L.  Kants  u.  der  Ursprung  der 
Vernunft,  Mainz.  Knrd  Lasswitz,  d.  Lehre  K.s  von  der  Idealität  des  Raumes  n.  der 
Zeit  im  Zusammenh.  mit  sein.  Krit  des  Erkennens  allgemeinverständl.  dargestellt,  Berl. 
C.  Fr.  Jeppel,  K.s  ontolog.  Beweisversuche  für  das  Dasein  Gottes,  I.-D.,  Halle.  F. 
Staudinger,  Noch  einmal  K.s  synthet.  Einheit  der  Apperception,  in:  Philos.  Monatsh., 
S.  321—343.  E.  Feuerlein,  K.  u.  der  Pietism..  in:  Philos.  Monateh.,  S.  449—463. 
E.  v.  Hartmann,  In  welchem  Sinne  war  K.  ein  Pessimist?,  in:  Philos.  Monatsh.. 
S.  463 — 470.  J.  Schwertschlager,  K.  u.  Helmholtz  erkenntniastheor.  verglichen,  Frbg.  i.  B. 
Otto  Schneider,  d.  psychol.  Entwickelung  des  Apriori  mit  Rücksicht  auf  das  Psycho- 
logische in  K.s  Kr.  d.  r.  V.,  Bonn.  Rud.  Eucken,  üb.  Bilder  u.  Gleichnisse  b.  K.  in: 
Ztschr.  f.  Ph.  u.  philos.  Krit,  S.  161—193.  Herrn.  Cohen,  Von  K.s  Einfluss  auf  d. 
deutsche  Cultur,  Rede,  Berl.  Louis  Ducros,  quando  et  quomodo  Kantium  Humius  e 
dogmatico  somno  excitaverit  Bordeaux.  Max  Engelmann,  Krit  der  kantsch.  L.  vom 
Ding  an  sich  u.  ihre  Prämissen  vom  Standp.  der  heut.  Wissensch.,  I.-D.,  Halle.  Hugo 
Hansel,  Wie  kommt  nach  K.  Erfahrung  zu  Stande?  Pr.,  Geestemünde.  Hnr.  Sidgwick, 
a  criticism  of  the  critical  philosophy,  in:  Mind  VIDI,  S.  69—91,  313—337.  J.  Geluk, 
Kant,  Amsterd.  B.  Gutzeit,  Descartes'  angeborene  Ideen,  verglichen  mit  K.s  An- 
scbauungs-  u.  Denkformen  a  priori,  Pr.,  Bromberg.  Bernh.  Hercher,  zur  Grundlag.  der 
transcendent.  Logik  K.s,  insbesondere  seiner  Kategorienl.,  I.-D.,  Jena.  Rob.  Zimmer- 
mann, üb.  Humes  Stell,  z.  Berkeley  u.  K.,  Wien.  Aus  K.  Fischers  Gesch.  d.  n.  Ph., 
Bd.  V,  ist  als  Separatabdruck  erschienen:  Kritik  d.  k.schen  Ph.,  München.  Aus  d.  J.  1883. 

Rud.  Lehmann,  Ueb.  d.  psychol.  Grundanschauung  der  Kantischen  Kategorienl., 
in:  Philos.  Monatsh.,  S.  98— 12Ö.  Ad.  Bilharz,  Erläuterung,  zu  K.s  Kr.  d.  r.  V., 
Wiesbad.  Frz.  Staudinger,  Noumena.  Die  „transscendentalen"  Grundgedanken  u. 
«die  Widerlegung  des  Idealismus",  Darmst.  K.  König,  Einige  Gedanken  f.  K.s  Aesthetik 
geg.  Empirism.  u.  Realism.,  in:  Philos.  Monatsh.,  S.  233 — 250.  Hrm.  Wolff,  Wegweiser 
f  d.  Studium  der  kantisch.  Phil.,  Lpz.  C.  Th.  Michaelis,  üb.  K.s  Zahlbegr. ,  Pr.  v. 
Charlottenb.,  Berl.  O.  Riedel,  d.  monadolog.  Bestimmungen  in  K.s  L.  vom  Dinge  an 
sich,  Hamb.  H.  Vaihinger,  zu  K.s  Widerleg,  des  Idealism.,  in:  Strassburg.  Abhandlung, 
zur  Phil.,  Ed.  Zeller  zu  s.  70.  Geburtst,  Frb.  i.  B.,  S.  65—164.  Otto  Michalsky,  K.s 
Kr.  d.  r.  V.  u.  Herders  Metakritik,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  n.  ph.  Kr.,  84,  S.  1—41.  161 


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240  §  25.  Kants  Kritik  d.  reiueu  Vernunft  u.  metaph.  Aufangsgr.  der  Naturwissenseh. 

bU  193,  u.  85,  S.  1—29.  J.  Witte,  d.  Gesamnitcharacter  v.  K.s  L.  im  Lichte  v.  K- 
Figohers  neuester  Krit.  derselben,  in:  Ztschr.  f.  Phil.  u.  ph.  Kr.  84,  1884,  S.  291  bis 
311.  G.  Cesea,  storia  e  dottrina  del  criticismo,  Verona  1884.  A.  Thilo,  einige  Beiträge 
zur  Prüf.  d.  theuret,  Ansichten  K.s,  in:  Ztschr.  f.  ex.  Ph.,  XIII,  S.  225—275  u.  337 
bis  373.  J.  H.  Stirling,  Kant  has  not  answered  Hume,  in:  Mind  IX,  S.  531 — 547, 
N,  ebd.  X,  S.  45 — 72.  James  Mc.  Cosh,  a  Criticism  of  the  critical  philosophy,  New- 
York.  John  Dewey,  K.  and  philosophic  method,  in:  Joum.  of  spcc.  ph.,  18,  S.  162 
bis  174.  Max  Jahn,  d.  Einfl.  der  kantsch.  Psycho),  auf  d.  Pädagogik  als  Wissensch., 
in:  Jahrbb.  f.  Fhilol.  u.  Pädag.,  130,  S.  404—427,  492—514,  auch  separat,  Lpz.  1885. 
Otto  Kuttner,  Kantianism.  u.  Kealism.,  in:  Jahrbb.  f.  protest.  Th.  X,  S.  353—367. 
K.  Laas,  einige  Bemerkungen  zur  Transseendentalphilos.,  in:  Strassb.  Abh.  zur  Ph., 
Ed.  Zeller  zu  s.  70.  Geburtst.,  S.  61—84.  E.  Last,  d.  roalist.  u.  idealist.  Weltanschauung, 
entwick.  an  K.s  Idealität  von  Zeit  u.  Kaum,  Lpz.  Neuber,  K.s  transscendentale  Ideen, 
I.  Ihre  erkenntnisstheoret.  Ableit.,  Pr.,  Essen.  H.  Grosch,  K.s  L.  vom  Ideal  der 
rein.  Vern.,  Halle.  G.  Markull,  flb.  Glaub,  u.  Wissen,  im  Anseht uss  an  K.s  Kr.  d.  r. 
V.,  Pr.,  Danzig.    Ans  d.  J.  1884. 

Koppelmann,  K.s  L.  vom  analyt.  Ulthdl,  in:  Philos.  Monatsh.,  S.  65 — 101.  M. 
W.  Drob i seh,  K.s  Dinge  an  sich  u.'  sein  Erfahrungsbegr.,  Lpz.  S.  dazu  Gust.  Knaner, 
d.  Dinge  an  sich,  das  „Ausser-uns*,  das  f.  uns.  Krk.  „Gegebene*  u.  unsere  Erfahr.,  in: 
Ph.  Monatsh.  21,  S.  479—491.  J.  Mourly  Vold,  Albrecht  Krauses  Darstell,  der  kantiseh. 
Raumtheorie  u.  der  kant.  Lehre  v.  d.  Gegenständen,  Christiania.  K.  Zimmermann,  K. 
u.  Comte  in  ihr.  Verh.  zur  Metaphys.,  Wien.  G.  Cesca,  la  dottrina  Kantiana  dell'  a 
priori,  Padova-Verona.  A.  Chiappelli,  Nuovc  osservazioni  sulle  attinenze  fra  il  criti- 
cismo  kantiano  a  la  psicologia  inglese  e  tedesca,  in:  La  filos.  delle  sc.  Ital.,  vol.  31. 
C.  E.  Adam,  Essai  sur  le  jugement  esthetique,  These,  Par.  Mariano  Amador,  Exposicion 
y  critica  de  la  doctrina  de  K.,  in:  Revista  contemporanea,  Madrid.  Halene)  Bender, 
üb.  d.  Ideal i  v.  Raum  u.  Zeit.  Ein  Beirr,  zum  Cap.  der  transc.  Aesthet.,  in:  Ztschr. 
f.  Ph.  n.  ph.  Kr.,  Bd.  87,  S.  1 — 48.  Artur  Bendixon,  Kritiska  studier  tili  K.s  transscend. 
ästetik,  akad.  afhandling,  Stockh.  Lnigi  Credaro,  questioni  Kantiune,  in:  La  AI.  delle 
sc.  It.,  Bd.  32.  A.Döring,  üb.  K.s  L.  von  Begr.  u.  Aufg.  d.  Ph.,  in:  Preuss.  Jahrbb., 
Bd.  56,  S.  464—481.  Ad.  Henrich,  K.s  Deduction  d.  rein.  Verstandesbegr. ,  Pr., 
Emmerich.  Otto  Kuttner,  d.  Bedeut.  d.  regul.  Ideen  K.s:  d.  Atomistik,  in:  Altpreuss. 
Monatsschr.  22,  S.  69—75;  ders.,  K.s  Copernicanism.  auf  d.  Begriffe  Nothwendigk.  u. 
Freih.  angewandt,  ebd.,  S.  618 — 636.  A.  Naumann,  Spencer  wider  K.,  e.  Erörter.  d. 
Gegensätze  v.  Kealism.  u.  Kriticism.,  Hamb.  W.  Wundt,  K.s  kosmolog.  Antinomien 
u.  d.  Problem  d.  Unendlichk.,  in:  Philos.  Stud.,  Bd.  2,  S.  495—538.  S.  auch  Moritz 
Brasch,  d.  Klassiker  der  Ph.  (s.  Grundr.  I,  7.  Aufl.  S.  12),  u.  einige  Aufsätze  desselb. 
Verf.s  in  dess.  Gesammelte  Essays  u.  Charakterköpfe,  Bd.  II,  Lpz.    Aus  d.  J.  1885. 

Jul.  Krohn,  d.  Auflösung  der  rationalen  Psychol.  durch  K.  B.  Kuhse,  Begr.  u. 
Bedeut.  des  Selbstbewusstseins  b.  K.,  I.-D.  C.  Mcncke,  Immanente  Krit.  des  kantisch. 
Wahrnehmungs-  u.  Erfahrungsurtheils,  I.-D.  N.  M.  Butler,  the  probl.  of  K.s  Kr.  d.  r. 
V.,  in:  J.  of  spec.  ph.,  S.  54— 73.  Albr.  Rau,  K.  u.  d.  Naturforschung,  in:  Kosmos, 
1886,  Bd.  1  u.  2.  5  Artikel.    Aus  d.  J.  1886. 

F.  Grung,  d.  Begriff  der  GewUsheit  in  d.  kant.  Ph.,  in:  Ph.  Monatsh.  S.  35—57. 
Vallet,  le  Kantisme  et  le  Positivisme;  etudes  sur  les  fondements  de  la  connaissance 
humaine,  Par.  Rieh.  Mannet,  d.  Stellung  des  Substanzbegriffs  in  der  kantschen  Er- 
kenntnisstheorie. I.-D.,  Bonn.  Erich  Adiekes,  K.s  Systematik  als  systembildender 
Factor.  Berl.  H.  Komundt,  die  drei  Fragen  K.s,  Berl.  B.  Erdmann,  K.  u.  Hume  um 
1762,  in:  Archiv  f.  Gesch.  d.  Ph.,  I.  S.  62  —  77.    Aus  d.  J.  1887. 

lieber  Kants  Naturphilosophie  handeln:  Laz.  Bendavid,  Vorlesg.  üb.  d.  metaph. 
Anfangsgr.  d.  Narurwiss.,  Wien  1798.  Schwab,  Prüfg.  der  k. sehen  Begriffe  von  der 
Undurchdringlichk.,  d.  Anziehg.  u.  e.  Zurückstossung  der  Körper,  nebst  e.  Darstellg. 
der  Hypothese  des  Lesage*)  üb.  d.  median.   Ursache  d.  allgem.  Gravitation,  1807. 


')  Lesage  (in  Genf  geb.  1724  und  ebend.  gest.  180:5/  nahm,  zum  Theil  nach  dem 
Vorgange  von  Zeitgenossen  Newtons,  an  (eine  Abhandl.  im  Journal  des  sav.,  April 
1764,  Lucrece  neutonien,  in  den  berliner  Memoiren  1782,  physique  mecanique,  von 
Prevost  1818  zum  Th.  veröffentlicht;  viele  Handschriften  finden  sich  noch  in  der  hibliotbeque 
publique  zu  Genf),  dass  äusserst  kleine  Körperchen  (corpuscules  ultrumondains)  sich 
durch  den  ganzen  Raum  hin  in  allen  Richtungen  mit  sehr  grosser  Geschwindigkeit 
bewegen,  und  dass  der  Stoss,  den  diese  Körperchen  üben,  die  Erscheinungen  bewirke, 
welche  der  Schwerkraft  zugeschrieben  zu  werden  pflegen;  er  nennt  den  Complex  dieser 


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§25.  Kante  Kritik  d.  reisen  Vernunft  n.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch.  241 

Fr.  Gott].  Bosse,  K.s  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwis«.  in  ihren  Gründen  widerlegt, 
Dresd.  1828.  Reuschle,  K.  n.  d.  Naturwissenschaft,  in  d.  deutsch.  Vierteljahreschr., 
31.  Jahrg.,  April — Juni  1868,  S.  50 — 102  und  insbesondere  flb.  K.s  dynam.  Theorie  der 
Materie,  ebd.  S.  57—62.  A.  Stadler,  K.  üb.  das  Princip  der  Erhaltung  der  Kraft,  in: 
Philos.  Monatsh.  1879,  S.  577—589;  ders.,  das  Gesetz  der  Stetigkeit  b.  K.,  in:  Philos. 
Monatsh.  1880,  S.  577—596.  Otto  Kuttner,  histor.  genet.  Darstellung  v.  K.s  verschie- 
denen Ansichten  üb.  d.  Wesen  der  Materie,  I.-D.,  Berl.  1881.  A.  Sudler,  K.s  Theorie 
der  Materie,  Lp«.  1883.  A.  Stöhr,  Analyse  der  reinen  Naturwissensch.  K.s,  Wien  1884; 
s.  darüber  J.  Witte,  kant  Kriticism.  gegenüber  unkrit.  Dilettantismus,  Bonn  1885,  u. 
wiederum  A.  Stöhr ,  Replik  geg.  Witte,  eine  Vertheidig.  mein.  Sehr.  Analyse  u.  s.  w., 
Wien  1885.  P.  Tannery,  la  theorie  de  matiere  d'apres  K.,  in:  Reyuc  phil.,  19,  1885, 
S.  26—46.    Vgl.  auch  d.  S.  216  cithrte  Sehr.  v.  Geo.  Simmel. 

Kant  versteht  unter  dem  a Dogmatismus  der  Metaphysik",  als  dessen 
bedeutendsten  Vertreter  er  Wolff  nennt,  das  allgemeine  Zutrauen  derselben  zu  ihren 
Frincipien,  ohne  vorhergehende  Kritik  des  Vernunftvermögens  selbst,  bloss  um 
ihres  Gelingens  willen  (Kant  geg.  Eberhard,  üb.  e.  Entdeckung  etc.  bei  Ros.  u. 
Sch.  I.,  S.  452)  oder  das  dogmatische  (aus  philosophischen  Begriffen  streng  argu- 
raentirende)  Verfahren  der  Vernunft  ohne  vorangehende  Kritik  ihres  eigenen  Ver- 
mögens (Vorr.  zur  2.  Aufl.  der  Kr.  d.  r.  V.  S.  XXXV).  Unter  dem  Skepticismus, 
wie  denselben  namentlich  Hume  repräsentire ,  versteht  Kant  das  ohne  vorher- 
gegangene Kritik  gegen  die  reine  Vernunft  gefaaste  allgemeine  Misstrauen,  bloss 
um  des  Misslingens  ihrer  Behauptungen  willen  la.  a.  0.  I.,  S.  452).  Kant  hält 
dafür,  dass  man  vom  empirischen  Standpunkte  aus  das  Dasein  Gottes  und  die 
Unsterblichkeit  der  Seele  nicht  beweisen  könne,  da  beide  ganz  ausserhalb  der 
Grenzen  möglicher  Erfahrung  liegen,  und  findet  in  Lockes  BeweiBversuch  eine 
Inconsequenz  (Kr.  d.  r.  V.,  S.  127  und  822  f  ),  so  dass  ihm  der  Skepticismus  als 
die  nothwendige  Folge  des  Empirismus  erscheint.  Die  reine  Vernunft  in  ihrem 
dogmatischen  Gebrauche  muss  vor  dem  kritischen  Auge  einer  höheren  und  richter- 
lichen Vernunft  erscheinen  (ebd.  S.  767);  die  Kritik  der  reinen  Vernunft 
ist  der  wahre  Gerichtshof  für  alle  Streitigkeiten  der  Vernunft  (ebd.  S.  779).  Der 
Kriticismus  des  Verfahrens  mit  allem,  was  zur  Metaphysik  gehört,  ist  die 
Maxime  eines  allgemeinen  Misstrauens  gegen  alle  synthetischen  Sätze  derselben, 
bevor  nicht  ein  allgemeiner  Grand  ihrer  Möglichkeit  in  den  wesentlichen  Be- 
dingungen unserer  Erkenntnissvermögen  eingesehen  worden  (gegen  Eberhard,  a.  a 
O.  I,  S.  452).  Unter  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  versteht  Kant  eine 
Prüfung  des  Vernunftvermögens  überhaupt  in  Ansehung  aller  Erkenntnisse,  zu  denen 
die  Vernunft  unabhängig  von  aller  Erfahrung  streben  mag,  mithin  die  Entscheidung 
der  Möglichkeit  oder  Unmöglichkeit  einer  Metaphysik  überhaupt,  und  die  Bestim- 
mung sowohl  der  Quellen,  als  des  Umfangs  und  der  Grenzen  derselben,  alles  aber 
aus  Principien  (Vorr.  zur  1.  Aufl.  der  Kr.  d.  r.  V.).  Vernunft  ist  ihm  das  Ver- 
mögen, welches  die  Principien  der  Erkenntniss  a  priori  enthält,  reine  Vernunft 
das  Vermögen  der  Principien,  etwas  schlechthin  a  priori  zu  erkennen.  Die  Kritik 
der  reinen  Vernunft,  welche  die  Quellen  und  Grenzen  derselben  beurtheilt,  ist  die 


Körperchen  „le  fluide  gravifique".  Ein  ruhender  Körper  wird  nach  allen  Seiten  hin 
gleiehmässig  gestossen:  ein  bewegter  in  der  Richtung  der  Bewegung  weniger,  als  in 
anderen  Richtungen:  doch  ist  die  Bewegung  jener  Körperchen  so  rasch,  das«  dagegen 
jede  lindere  fast  verschwindend  gering  erscheint;  zwei  Körper  dienen  sich  gegenseitig 
als  Schirm  gegen  jene  Körperchen,  und  zwar  (nahezu)  nach  dem  Verhältniss  der  Massen 
und  mit  geometrischer  Notwendigkeit  im  umgekehrten  Verhältniss  zu  dem  Quadrat 
der  Entfernungen,  woraus  das  newtonsehe  Gesetz  resultirt.  S.  Wilh.  Stosz,  Le  Sage 
als  Vorkämpfer  der  Atomistik,  I.-D..  Halle  1884. 
Ueb«>rweg»H<in*et  <irun<lri**  III.  7.  Acfl. 


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242   §  25.  Kauts  Kritik  d.  reinen  Vernuuft  u.  metaph.  Anfaugsgr.  der  Naturwisseusch. 


Vorbedingung  eines  Systems  der  reinen  Vernunft  oder  aller  reinen  Erkenntnisse 
a  priori.*) 

Gegen  das  kantiscbe  Unternehmen  einer  Vernunftkritik  ist  einge  wandt  worden, 
das  Denken  könne  nur  durch  das  Denken  geprüft  werden;  vor  dem  wirklichen 
Denken  das  Denken  prüfen  wollen,  heisse  daher  denken  wollen  vor  dem  Denken 
oder  gleichsam  schwimmen  lernen  wollen,  ohne  ins  Wasser  zu  gehen  (Hegel). 
Jedoch  dieser  Einwurf  widerlegt  sich  durch  die  Unterscheidung  des  vorkritischen 
und  des  kritisch-philosophischen  Denkens.  Jenes  muss  allerdings  der  Vernunft- 
kritik vorangehen,  dann  aber  eine  Prüfung  desselben  eintreten,  die  sich  zu  ihm 
ebenso  verhält,  wie  die  Optik  zum  Sehen.  Nachdem  aber  durch  die  kritische 
Reflexion  der  Ursprung  und  Umfang  der  Erkenntniss  festgestellt  und  das  Maass 
und  der  Sinti  der  Gültigkeit  der  Erkenntnisse  ermittelt  worden  ist,  so  kann  hieran 
ein  ferneres  philosophisches  Denken  sich  anschliessen.  (Vgl.  Ueberwegs  Syst.  der 
Log.  §  31  und  Kuno  Fischer  a.  a.  O.) 

Kant  führt  die  Genesis  seiner  Vernunftkritik  auf  die  Anregung  zurück,  die 
er  durch  Hume  empfangen  habe.  Er  sagt  (in  der  Einleitung  der  Proleg.  z.  e.  j. 
k.  Metaph.),  seit  Lockes  und  Leibnizens  Versuchen  über  den  menschlichen  Ver- 
stand, ja  seit  dem  Entstehen  der  Metaphysik,  sei  nichts  Bedeutenderes  auf  diesem 
Gebiet  erschienen,  als  Humes  Skepsis.  —  Hume  „brachte  kein  Lacht  in  diese  Art 
von  Erkenntniss,  aber  er  schlug  doch  einen  Funken,  bei  welchem  man  wohl  ein 
Licht  hätte  anzünden  könneu,  wenn  er  einen  empfänglichen  Zunder  getroffen  hätte*. 
„Ich  gestehe  frei,  die  Erinnerung  des  David  Hume  (gegen  die  Gültigkeit  des 
Causalbegriffs)  war  eben  dasjenige,  was  mir  vor  vielen  Jahren  zuerst  den  dog- 
matischen Schlummer  unterbrach  und  meinen  Untersuchungen  im  Felde  der  specula- 
tiven  Philosophie  eine  ganz  andere  Richtung  gab.  —  Ich  versuchte  zuerst,  ob  sich 
nicht  Humes  Einwurf  allgemein  vorstellen  Hesse,  und  fand  bald,  dass  der  Begriff 
der  Verknüpfung  von  Ursache  und  Wirkung  bei  Weitem  nicht  der  einzige  6ei,  durch 
den  der  Verstand  a  priori  Bich  Verknüpfungen  der  Dinge  denkt,  vielmehr,  dass 
Metaphysik  gauz  und  gar  daraus  bestehe.  Ich  suchte  mich  ihrer  Zahl  zu  versichern, 
und  da  dieses  mir  nach  Wunsch,  nämlich  aus  einem  einzigen  Princip,  gelungen 
war,  so  ging  ich  an  die  Deduction  dieser  Begriffe,  von  denen  ich  nunmehr  ver- 
sichert war,  dass  sie  nicht,  wie  Hume  besorgt  hatte,  von  der  Erfahrung  abgeleitet, 
sondern  aus  dem  reinen  Verstände  entsprungen  seien.1* 

Transscendental  nennt  Kaut  nicht  jede  Erkenntnis»  a  priori,  sondern  nur 
die  Erkenntuiss,  dass  und  wie  gewisse  Vorstellungen  (Anschauungen  oder  Begriffe) 
lediglich  a  priori  angewandt  werden  oder  möglich  seien.  Im  Unterschiede  von 
transscendentaler  Erkenntniss  nennt  Kant  einen  transscendenten  Gebrauch 
von  Begriffen  denjenigen,  der  über  alle  mögliche  Erfahrung  hinausgeht  Die  Ver- 
nunftkritik, welche  selbst  transscendental  ist,  weist  diu  Unzulässigkeit  jedes  trans- 
scendenten Vernunftgebrauchs  nach. 

Der  Gang  der  Untersuchung  in  der  .Kritik  der  reinen  Vernunft*  ist  folgender. 
In  der  Einleitung  sucht  Kant  das  Vorhandensein  solcher  Erkenntnisse  darzuthuu, 
die  er  „synthetische  Urtheile  a  priori"  nennt,  und  wirft  die  Frage  auf,  wie  die- 
selben möglich  seien.  Er  findet,  dass  ihre  Möglichkeit  bedingt  sei  durch  gewisse 
rein  subjective  Formen  der  Anschauung,  nämlich  den  Raum  und  die  Zeit,  und 
durch  ebensolche  Formen  des  Verstandes,  die  er  Kategorien  nennt;  aus  den  letzteren 


*)  Die  aristotelisch-wölfische  Lehre  von  den  Seelenvermögen  hat  Kant  in  den 
Grundzügen  nur  adoptirt.  in  einzelneu  Beziehungen  umgebildet,  aber  nicht  einer 
principiellen  Kritik  unterzogen.  Wie  sehr  dies  seiner  Erkenntnisskritik  zum  Nach- 
theil gereichen  soll,  hat  besonders  Herbart  hervorgehoben. 


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%  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  mctapb.  Anfangsgr.  der  Naturwiasenseh.  243 


sollen  auch  die  Vernunftideen  erwachsen.  Nun  theilt  Kant  den  Complex  seiner 
Untersuchungen  ein  in  die  transscendentale  Eletnentarlehre  und  die  trans- 
scendeutale  Methodenlehre  (im  Anschluss  an  die  zu  seiner  Zeit  übliche 
Eintheiluug  der  formalen  Logik).  Die  transscendentale  Elementarlehre  handelt  von 
den  Materialien,  die  transscendentale  Methodenlehre  von  dem  Plan  oder  den 
formalen  Bedingungen  eines  vollständigen  Inbegriffs  aller  Erkenntnisse  der  reinen 
speculativen  Vernunft  Die  transscendentale  Elementarlehre  theilt  Kant  ein  in  die 
transscendentale  Aesthetik  und  Logik;  jene  handelt  von  den  reinen  An- 
schauungen der  Sinnlichkeit,  Raum  und  Zeit,  diese  von  den  reinen  Verstandes- 
erkenntnissen. Der  Theil  der  transscendentalen  Logik,  der  die  Elemente  der  reinen 
Verstandeserkenntniss  vorträgt  und  die  Principien,  ohne  welche  überall  kein  Gegen- 
stand gedacht  werden  kann,  ißt  die  transscendentale  Analytik  und  zugleich 
eine  Logik  der  Wahrheit.  Der  zweite  Theil  der  transscendentalen  Logik  aber  ist 
die  transscendentale  Dialektik,  d.  h.  die  Kritik  des  Verstandes  und  der 
Vernunft  in  Ansehung  ihres  hyperphysischen  Gebrauchs,  eine  Kritik  des  dialek- 
tischen Scheins,  welcher  entsteht,  wenn  man  die  reinen  Verstandes-  und  Vernunft- 
erkenntnisse nicht  auf  Gegenstände  der  Erfahrung  bezieht,  sondern  sich  ihrer  ohne 
ein  gegebenes  Subject  über  die  Grenzen  der  Erfahrung  hinaus  bedient  und  somit 
von  den  bloss  formalen  Principien  des  reinen  Verstandes  einen  materialen  Gebrauch 
macht.  Die  transscendentale  Methodenlehre  hat  vier  Hauptstücke,  welche  die  Titel 
führen :  die  Disciplin  der  reinen  Vernunft,  der  Kanon  derselben,  ihre  Architektonik 
und  ihre  Geschichte. 

Die  transscendentale  Aesthetik  geht  besonders  auf  die  Möglichkeit 
der  reinen  Mathematik,  die  Analytik  auf  die  der  reinen  Naturwissen- 
schaft, die  Dialektik  auf  die  der  Metaphysik  überhaupt,  die  Methoden- 
lehre auf  die  der  Metaphysik  als  Wissenschaft. 

Alle  unsere  Erkenntniss.  sagt  Kant  in  der  Einleitung,  fängt  mit  der  Erfahrung 
an,  aber  nicht  alle  Erkenntniss  entspringt  aus  der  Erfahrung.  Erfahrung  ist  con- 
tinuirliche  Zusammen fügung  (Syuthesis)  der  Wahrnehmungen.  Erfahrung  ist  das 
erste  Produet,  welches  unser  Verstand  hervorbringt,  iudem  er  den  rohen  Stoff 
sinnlicher  Empfindungen  bearbeitet.  Nun  behauptet  Kant*):  „ Erfahrung  sagt  uns 
zwar,  was  da  sei,  aber  nicht,  dass  es  nothwendiger  Weise  so  und  nicht  anders 
sein  müsse;  eben  darum  giebt  sie  uns  auch  keine  wahre  Allgemeinheit";  »Was  von 
der  Erfahrung  entlehnt  ist,  hat  nur  comparative  Allgemeinheit,  nämlich  durch 
Induction".  Nothwendigkeit  und  strenge  (nicht  bloss  »comparative*)  Allgemeinheit 
gelten  Kant  als  sichere  Kennzeichen  einer  nicht  empirischen  Erkenntniss.»*)  Die 


*)  Indem  er  einen  Satz,  der  von  der  vereinzelten  Erfahrung  und  von  der 
elementarsten  Form  der  Inductionen  .per  enumerationem  simplicem*  gilt,  auf  alle 
logische  Combination  von  Erfahrungen  überträgt. 

**)  Ans  diesen  Voraussetzungen,  welche  Kant  feststanden,  ohne  von  ihm  jemals 
«iner  Prüfung  unterworfen  worden  zu  sein,  ist  mit  grosser  (obschon  nicht  absoluter) 
Consequenz  das  gesammte  Lehrgebäude  des  „Kriticismus"  erwachsen.  Freilich  ist 
schon  das  streng  allgemeingültige  und  doch,  wie  Kant  zugesteht,  aus  der  Erfahrung 
geschöpfte  Gravitationsprincip  ein  Gegenzeuguiss.  Je  einfacher  das  Object  einer 
Wissenschaft  ist,  um  so  gewisser  ist  die  Allgemeingültigkeit  ihrer  induetiv  ge- 
wonnenen Fundamentalsätze,  wonach  sich  von  der  Arithmetik  (Quantität)  zur  Geo- 
metrie (Quautität  nebst  Bewegung  und  Form),  Mechanik  (Quantität,  Form  und 
Bewegung,  Zeit,  Schwere)  etc.  eine  Stufenordnung  des  Maasses  der  Gewissheit 
und  nicht,  wie  Kant  will,  ein  absoluter  Unterschied  einer  hier  strengen,  dort 
bloss  „comparativen*  Allgemeinheit  ergiebt.  Die  empirische  Basis  der  Geometrie 
erkennen  philosophireude  Mathematiker  von  der  Bedeutung  eines  Riemann  und 
Helmholtz  an.  B.  Riemanu,  über  die  Hvpothesen,  welche  der  Geometrie  zu 
Grunde  liegen.    Abh.  d.  K.  Ges.  d.  Wiss.'zu  Gott,  (auch  separat)  1867  (verfasst 

IG* 


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244    §  25.  Kante  Kritik  d.  reinen  Vernunft  q.  metaph.  Anfaugsgr.  der  Naturwissensch. 


nicht  aas  der  Erfahrung  stammende  Erkenntniss  bezeichnet  Kant  als  „ Erkenntnis» 
a  priori".*)  Die  Erkenntniss  a  priori  ist  von  der  Erfahrung  unabhängig,  auch 
wenn  sie  erst  mittelst  der  Erfahrung  ins  Bewusstsein  gebracht  wird ;  sie  hat  ihren 
Grand  in  der  Natur  unseres  Erkenntnis«  Vermögens.  Kant  unterscheidet  (nach  dem 
Vorgange  Lamberts,  Org.  §  639,  der  jedoch  die  Existenz  des  .rein*  Apriorischen 
dahingestellt  sein  läset,  nachdem  Hume  die  Existenz  von  Ideas,  die  nicht  aus 
Impressious  stammen,  geleugnet  hatte):  man  p8egt  wohl  von  mancher  aus  Et- 
fahrnngsquellen  abgeleiteten  Erkenntuias  zu  sagen,  dass  wir  ihrer  a  priori  fähig 
oder  theilhaftig  sind,  weil  wir  sie  nicht  unmittelbar  aus  der  Erfahrung,  sondern 
aus  einer  allgemeinen  Regel,  die  wir  gleichwohl  selbst  doch  aus  der  Erfahrung 
entlehnt  haben,  ableiten;  wir  werden  aber  im  Verfolg  unter  Erkenntnissen  a  priori 
nicht  solche  verstehen,  die  von  dieser  oder  jener,  sondern  die  schlechterdings  von 
aller  Erfahrung  unabhängig  stattfinden;  ihnen  sind  empirische  Erkenntnisse  oder 
solche,  die  nur  a  posteriori,  d.  i.  durch  Erfahrung,  möglich  sind,  entgegengesetzt ; 
von  den  Erkenntnissen  a  priori  heisseu  diejenigen  rein,  denen  gar  nichts  Empirisches 
beigemischt  ist.##) 


1854),  S.  2:  ,die  Eigenschaften,  durch  welche  sich  der  Raum  von  anderen  denkbaren 
dreifach  ausgedehnten  Grössen  unterscheidet,  können  nur  aus  der  Erfahrung  ent- 
nommen werden*.  Helmholtz,  über  die  Thatsachen,  die  der  Geometrie  zu 
Grande  liegen,  in  den  Nachr.  der  K.  Ges.  der  Wiss.  zu  Gött  1868,  3.  Juni, 
S.  193—221.  Apodiktisch  gewiss  ist  das  streng  Erwiesene,  also  die  Abfolge 
der  Lehrsätze  aus  ihren  Prämissen;  die  Axiome  aber  .apodiktisch  gewiss'  zu 
nennen,  ist  ein  Missbrauch  des  Wortes. 

*)  „ErkenntniBs  a  priori"  heisst  in  dem  seit  Aristoteles  üblichen  Sinne: 
.Erkenntnis»  aus  den  realen  Ursachen",  und  an  diese  Art  von  Erkenntniss  knüpft 
sich  allerdings  Notwendigkeit  oder  apodiktische  Gültigkeit.  Im  Laufe  des 
18.  Jahrh.,  als  man  selten  auf  die  aristotelischen  Schriften  zurückging,  verlor  man 
allmählich  diese  Bedeutung  und  ersetzte  sie  häufig  durch  „Erkenntniss  mittelst  eines 
Schliessens*. 

**)  Hiermit  aber  ist  der  Gesichtepunkt  jener  von  Aristoteles  begründeten 
Eintheilung  verrückt,  wonach  unter  Erkenntniss  a  priori  die  Erkenntniss  aus  den 
Ursachen,  unter  Erkenntniss  a  posteriori  die  Erkenntniss  aus  den  Wirkungen  ver- 
standen wurde.  Diesen  aristotelischen  Gebrauch  hält  noch  Leibniz  fest,  der  in 
einer  Epist.  ad  J.  Thomas) um  1669  sagt  (Opera  philos.  e.  Erdm.  p  51):  con- 
structiones  figurarum  sunt  motus;  jam  ex  coustructionibuB  affectiones  de  figuris 
demonstrantur,  ergo  ex  motu  et  per  consequenß  a  priori  et  ex  causa,  auch 
später  durchgängig  das  connaitre  a  priori  mit  dem  coonaitre  par  les  causes  identi- 
ficirt  und  nur  mitunter  dafür  den  Ausdruck:  par  des  demonstrations  einsetzt,  wobei 
aber  wohl  insbesondere  an  die  Demonstrationen  aus  dem  Realgrande  zu  denken  ist; 
vgl.  die  in  Ueberwegs  Log.  §  73  citirten  Stellen.  Die  letzterwähnte  Einschränkung 
weglassend,  setzt  Wolff  ungenauer  das  eruere  veritatem  a  priori  mit  dem  eliccre 
nondum  cognita  ex  aliis  eognitis  ratiocinando  gleich,  und  demgemäss  das  eruere 
veritatem  a  posteriori  mit  solo  Bensu.  An  ihn  hat  Baumgarten  sich  ange- 
schlossen una  an  diesen  wiederum  Kant,  der  aber  seinerseits  noch  die  Unter- 
scheidung eines  absoluten  und  relativen  A  priori  hinzuthut,  welche  dem  ursprüng- 
lichen Gebrauche  des  Wortes  völlig  heterogen  ist.  Die  Erkenntniss  a  priori  im 
ariBtoteliächen  Sinne  ist  nicht  eine  annähernd  von  der  Erfahrung  unabhängige 
Erkenntniss,  zu  der  eine  andere,  die  von  aller  Erfahrung  unabhängig  wäre,  sich 
wie  eine  reine  zu  einer  unreinen  verhalten  könnte,  sondern  ruht  vielmehr  auf  der 
grossten  Fülle  logisch  verarbeiteter  Erfahrungen  und  ist  nur  von  der  auf  den  Inhalt 
des  Schlusssatzes  selbst  gerichteten  Erfahrung  unabhängig,  wie  z.  B.  die  Voraus- 
berechnuug  irgend  einer  astronomischen  Erscheinung  zwar  von  dem  Erfahren  eben 
dieser  Erscheinung  selbst  unabhängig  ist,  aber  theils  auf  vielen  andern  empirisch 
constatirten  Datis  beruht,  theils  auf  dem  der  Rechnung  zum  Grande  liegenden 
newtonachen  Gravitationsprincip,  welches,  wie  Kant  selbst  anerkennt,  aus  der 
Erfahrung  des  Falls  der  Körper  zur  Erde  und  der  Umläufe  des  Mondes  und  der 
Planeten  geschöpft  ist.    Ein  von  aller  Erfahrung  unabhängiges  Urtheil  würde,  falls 


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§  25.  Kante  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch.  245 


Kant  verbindet  mit  der  Eintheilung  der  Erkenntnisse  in  apriorische  und 
«mpirische  die  zweite  Eintheilung  derselben  in  analytische  und  synthetische.  Er 
versteht  unter  analytischen  ürtheilen,  Erläuterungsurtheilen ,  solche,  deren 
Prädicat  B  zum  Subjecte  A  als  etwas  gehört,  was  verdeckter  Weise  in  diesem 
Begriffe  A  bereite  enthalten  ist,  z.  B.  alle  Körper  (ausgedehnten  undurchdringlichen 
Substanzen)  sind  ausgedehnt,  unter  synthetischen  Ürtheilen,  Erweiterungs- 
urtheilen,  aber  solche,  deren  Prädicat  B  ausser  dem  Subjectsbegriff  A  liegt,  ob  es 
zwar  mit  demselben  in  Verknüpfung  steht,  z.  B.  alle  Körper  (ausgedehnten  undurch- 
dringlichen Substanzen)  sind  schwer.  (Dass  ich,  um  ein  Dreieck  zu  machen,  drei 
Linien  nehmen  müsse,  ist  ein  analytischer  Satz,  dass  deren  zwei  aber  zusammen- 
genommen grösser  sein  müssen,  als  die  dritte,  ist  ein  synthetischer  Satz.)  In  den 
Analytischen  Ürtheilen  wird  die  Verknüpfung  des  Prädicate  mit  dem  Subject  durch 
Identität,  in  den  synthetischen  ohne  Identität  gedacht;  jene  beruhen  auf  dem  Satz 
des  Widerspruchs,  diese  bedürfen  eines  andern  Principe.*) 

Durch  analytische  Urtheile  wird  unsere  Erkenntniss  nicht  erweitert,  sondern 
nur  der  Begriff,  den  wir  haben,  auseinandergesetzt.  Bei  synthetischen  Ürtheilen 
aber  muss  ich  ausser  dem  Begriff  des  Subjecte  noch  etwas  Anderes  =  x  haben, 
worauf  sich  der  Verstand  stützt,  um  ein  Prädicat,  das  in  jenem  Begriffe  nicht 
liegt,  doch  als  dazu  gehörig  zu  erkennen.    Bei  empirischen  oder  Erfahrungs- 


es  überhaupt  möglich  wäre,  nicht  den  höchsten  Grad  von  Gewissheit,  sondern  gar 
keine  Gewissheit  haben  und  ein  blosses  Vorurtheil  sein.  Ohne  alle  Erfahrung 
können  wir  überhaupt  gar  keine  Erkenntniss,  geschweige  denn,  wie  Kant  will, 
apodiktische  Erkenntniss  gewinnen.  Gleich  wie  Maschiueu,  durch  welche  wir  die 
Resultate  blosser  Handarbeit  überschreiten,  nicht  ohne  Hände  durch  Zauber,  sondern 
nur  mittelst  des  Gebrauchs  der  Hände  zu  Stande  kommen,  so  kommt  der  Beweis, 
durch  welchen  wir  die  Resultate  vereinzelter  Erfahrung  überschreiten  uud  die  Noth- 
wendigkeit  erkennen,  nicht  unabhängig  von  aller  Erfahrung  durch  subjective 
«Formen"  von  unbegreiflichem  Ursprung,  sondern  nur  durch  logische  Combination 
von  Erfahrungen  nach  inductiver  und  deductiver  Methode  auf  Grund  der  den 
Dingen  selbst  immanenten  Ordnung  zu  Stande. 

Zwar  muss  die  Erfahrung  auf  subjectiven  psychischen  Bedingungen  beruhen, 
die  ihr  selbst  vorausgehen  (ein  Leichnam  macht  keine  Erfahrung),  aber  dies  gilt 
von  der  Perception  der  Luftechwingungen  als  Töne,  der  Aethervibrationen  als 
Farben  u.  s.  w.  mindestens  ebensowohl,  und  sofern  diese  Formen  nachweislich 
bloss  subjectlv  sind,  sogar  in  vollerem  M nasse,  als  von  der  Raumanschauung. 
Wird  die  Gewissheit,  die  in  der  Gesammtheit  der  mathematischen  Operationen 
Hegt  (in  der  Wahrnehmung,  Abstraction,  Construction  aus  den  letzten  Abstractioneu 
(Punkt  etc  1,  hypothetischen  Idealisirung  durch  Annahme  einer  absolut  genauen 
Gültigkeit  der  Axiome,  Deduction  der  Lehrsätze  und  Vergleichung  des  Deducirten 
mit  dem  Thateächlichen  bei  wirklicher  Construction),  in  den  , apriorischen*  Ur- 
sprung der  Raumanschauung  gelegt  (der  nichte  erklärt,  weil  beweislose  Aussagen, 
die  auf  subjective  Bedingungen  der  Erkenntniss  gehen  und  aus  der  Selbst- 
beobachtung geschöpft  sind,  doch  immer  nur  einen  assertorischen  Charakter  habeni, 
so  ist  dies  eine  Art  von  Mythologie,  welche  bereite  das  Mystische  in  Kante 
Freiheitebegriff  anbahnt. 

*)  Diesen  Gebranch  der  Ausdrücke  analytisch  und  synthetisch  unterscheidet 
Kaut  selbst  richtig  von  dem  sonst  üblichen,  wonach  die  Methode  des  das  Gegebene 
zergliedernden  Fortgangs  zur  Erkenntniss  der  Bedingungen  und  zuhöchst  der  Prin- 
zipien analytisch,  die  Methode  des  deducirenden  Fortgangs  aber  von  den  Principien 
zur  Erkenntniss  der  Bedingungen  synthetisch  genanut  wird.  Kant  will  jene  Methode 
lieber  die  regressive,  diese  die  progressive  genannt  wissen.  Der  kantische  Begriff 
des  analytischen  Urthells  ist  eine  Erweiterung  des  Begriffs  des  Identischen  Urthells; 
in  diesem  bildet  der  ganze  Subjectsbegriff,  In  jenem  entweder  der  ganze  Subjects- 
begriff oder  Irgend  ein  Element  desselben  den  rrädicatebegriff.  Doch  Ist  mehr  der 
Terminus  neu,  als  der  Begriff;  auch  Aristoteles  und  andere  Philosophen  haben 
partiell  identische  Urtheile  und  schlechthin  identische  unterschieden. 


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246   §  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  n.  raetaph.  Anfangsgr.  der  Naturwisseusch. 


urtheilen,  welche  als  solche  insgesammt  synthetisch  sind,  hat  es  hiermit  gar  keine 
Schwierigkeit;  denn  dieses  x  ist  die  vollständige  Erfahrung  von  dem  Gegenstande, 
den  ich  durch  einen  Begriff  A  denke,  welcher  nur  einen  Theil  dieser  Erfahrung 
ausmacht.  Aber  bei  synthetischen  Urtheilen  a  priori  fehlt  dieses  Uülfsmittel  ganz 
und  gar.  Was  ist  hier  das  x,  worauf  sich  der  Verstand  stützt,  wenn  er  ausser 
dem  Begriff  von  A  ein  demselben  fremdes  Prädicat  aufzufinden  glaubt,  das  gleich- 
wohl (und  zwar  mit  Notwendigkeit)  mit  demselben  verknüpft  sei?  Mit  andern 
Worten:  Wie  sind  synthetische  ürtheile  a  priori  möglieh?  Dies  Ist  die 
Grundfrage  der  Kritik  der  reinen  (von  der  Erfahrung  unabhängigen)  Vernunft. 

Kant  glaubt  drei  Arten  synthetischer  Urtheile  a  priori  als  vorhanden  nach- 
weisen zu  können,  nämlich  mathematische,  naturwissenschaftliche  und  metaphysische. 
Unbestrittene  allgemeine  und  apodiktische  Erkenntniss  enthalten  M  athematik  und 
Naturwissenschaft;  bestrittene  enthält  die  Metaphysik,  sofern  in  Frage  steht, 
ob  überhaupt  Metaphysik  möglich  Bei.  Ihrer  Tendenz  nach  aber  sind  anch  alle 
eigentlich  metaphysischen  Sätze  synthetische  Urtheile  a  priori. 

Mathematische  Urtheile,  sagt  Kant,  sind  insgesammt  synthetisch  (obschon 
Kant  einige  mathematische  Grundsätze  wie  a  =  a,  a-+-b>a,  als  wirklich  ana- 
lytische Sätze  auerkennt,  die  aber  nur  zur  Kette  der  Methode  und  nicht  als  Prin- 
eipien  dienen  sollen).  Man  sollte,  sagt  Kant,  anfänglich  zwar  denken,  dass  der 
Satz  7  -f-  5  =  12  ein  bloss  analytischer  Satz  sei,  der  ans  dem  Begriffe  einer  Summe 
von  7  und  5  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  erfolge.  Aber  durch  diesen  Begriff 
ist  noch  nicht  gedacht,  welches  die  einzige  Zahl  sei,  die  jene  beiden  zusammenfaßt. 
Man  muss  über  diese  Begriffe  hinausgehen,  indem  man  die  Anschauung  zu  Hülfe 
nimmt,  die  einem  von  beiden  correspondirt,  etwa  seine  fünf  Finger  oder  fünf  Punkte, 
und  so  nach  und  nach  die  Einheiten  der  in  der  Anschauung  gegebenen  Fünf  zu  dem 
Begriff  der  Sieben  binzuthut.*) 

Ebensowenig,  sagt  Kant,  ist  irgend  ein  Grundsatz  der  reinen  Geometrie- 
analytisch.  Dass  die  gerade  Linie  zwischen  zwei  Punkten  die  kürzeste  sei,  ist  ein 
synthetischer  Satz;  denn  mein  Begriff  vom  Geraden  enthält  nichts  von  Grösse, 
sondern  nur  eine  Qualität;  Anschauung  muss  zu  Hülfe  genommen  werden,  vermöge 
deren  allein  die  SyntheBis  möglich  ist**)  Hieran  knüpft  Bich  die  Frage:  Wie  ist 
reine  Mathematik  möglich? 


*)  In  der  That  ist  aber  dieses  didaktische  Hülfsmittel  keine  wissenschaftliche 
Notwendigkeit;  das  Zurückgehen  auf  die  Definitionen:  Zwei  ist  die  Summe  von 
Eins  und  Eins,  Drei  die  Summe  von  Zwei  und  Eins  etc.,  ferner  auf  die  Definition 
des  dekadischen  Systems  und  auf  den  aus  dem  Begriff  der  Summe  (als  der  Gesammt- 
zahl  mit  Abstraction  von  der  Ordnung)  fiiessenden  Satz,  dass  die  Ordnung  der  Zu- 
sammenfassung der  Summanden  für  die  Summe  gleichgültig  sei,  reicht  zu.  Empirisch 
ist  das  Vorhandensein  gleichartiger  Objecto  gegeben,  die  sich  unter  den  nämlichen 
Begriff  stellen  lassen,  woran  die  Zählbarkeit  sich  knüpft;  aus  den  arithmetischen 
Fundamentalbegriffen  aber  folgen  dann  als  analytische  Sätze  die  arithmetischen 
Grundsätze  und  aus  diesen  syllogistisch  die  übrigen  Sätze. 

**)  Allerdings  besteht  die  Geometrie  nicht  bloss  aus  Definitionen  und  Folge- 
rungen aus  blossen  Definitionen,  sondern  enthält  grösstentheils  Sätze,  deren  Prädicat 
über  den  blossen  Subjectsbegriff  hinausgeht,  oder  (um  mit  Helmholtz  in  s.  Vortr. 
-üb.  d.  thatsächl.  Grundlagen  d.  Geometrie"  in  den  Heidelb.  Jahrb.  1868,  S.  733, 
zu  reden)  „Wahrheiten  von  thatsächlicher  Bedeutung".  Aber  die  geometrischen 
Fundamentalsätze  von  dieser  Art,  z.  B.  dass  der  Raum  drei  Dimensionen  hat,  dass 
es  zwischen  zwei  Punkten  nur  eine  gerade  Linie  giebt,  haben  assertorische  Gewiss- 
heit, nicht  apodiktische.  Der  Geometer  erkennt  die  Dreizahl  der  Dimensionen  des 
Raumes  nur  als  Thatsache  und  weiss  keinen  Grund  anzugeben,  warum  es  nothwendig 
sei,  dass  derselbe  gerade  drei  und  nicht  zwei  oder  vier  Dimensionen  habe;  diese 
assertorische  Gültigkeit  wird  aber  erlangt  durch  Abstraction,  Induction  und  andere 


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§  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  n.  metnph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch.  247 

Naturwissenschaft,  sagt  Kant  ferner,  enthält  synthetische  Urtheile  a  priori 
in  sich,  z.  B.:  in  allen  Veränderungen  der  körperlichen  Welt  bleibt  die  Quantität 
der  Materie  unverändert:  in  aller  Mittheilung  der  Bewegung  müssen  Wirkung  und 
Gegenwirkung  jederzeit  einander  gleich  sein;  ferner  das  Gesetz  der  Trägheit  etc.*) 
Hieran  knüpft  sich  die  Frage:  Wie  ist  reine  Naturwissenschaft  möglich? 

In  der  Metaphysik,  behauptet  Kant,  wenn  man  sie  auch  für  eiue  bisher 
bloss  versuchte,  dennoch  aber  durch  die  Natur  der  menschlichen  Vernunft  unent- 
behrliche Wissenschaft  ansieht,  sollen  synthetische  Erkenntnisse  a  priori  enthalten 
sein,  z.  B.  die  Welt  muss  einen  Anfang  haben-,  alles,  was  in  den  Dingen  Substanz 
ist,  ist  beharrlich.  Metaphysik  besteht  wenigstens  ihrem  Zwecke  nach  aus  lauter 
synthetischen  Sätzen  a  priori.  Hieran  knüpft  sich  die  Frage:  Wie  ist  Meta- 
physik (a.  als  Naturnnlage,  b.  als  Wissenschaft)  möglich? 

In  der  transscendentalen  Aesthetik,  der  Wissenschaft  von  den  Principien 
der  Sinnlichkeit  a  priori,  sucht  Kaut  die  Apriorität  des  Raumes  und  der  Zeit 
darzuthun.  In  einer  .metaphysischen  Erörterung  dieses  Begriffs",  die  dasjenige 
enthalten  soll,  was  den  Begriff  als  a  priori  gegeben  darstellt,  finden  wir  folgende 
vier  Sätze:  1.  Der  Raum  ist  kein  empirischer  Begriff,  der  von  äusseren  Erfahrungen 
abgezogen  worden;  denn  die  Vorstellung  des  Raumes  muss  aller  concreten  Locali- 
sirung  schon  zum  Grunde  liegen.**)  2.  Der  Raum  ist  eine  nothwendige  Vorstellung 
a  priori,  die  allen  äusseren  Anschauungen  zum  Grunde  liegt;  denn  man  kann  sich 
niemals  eine  Vorstellung  davon  machen,  dass  kein  Raum  sei,  obwohl  man  Bich 
wohl  vorstellen  kann,  dass  keine  Gegenstände  in  demselben  seien.***)    3.  Der 

• 

logische  Operationen,  die  auf  dem  Grunde  zahlreicher  Erfahrungen  über  räumliche 
Verhältnisse  ruhen.  Die  in  den  Fundamentalsätzen  sich  bekundende  Ordnung 
räumlicher  Gebilde,  welche  sich  philosophisch  auf  das  Princip  der  Unabhängigkeit 
der  Form  von  der  Grösse  reduciren  lässt,  bekräftigt  ihre  Gültigkeit,  ist  aber  in 
der  objectiven  Natur  des  Raumes  selbst  begründet;  nichts  beweist,  dass  sie  einen 
bloss  subjectiven  Charakter  trage.  Aus  den  Fundameutalsätzen  folgen  die  übrigen 
geometrischen  Sätze  syllogistisch.  Sie  haben  apodiktische  Gültigkeit  und  nicht 
bloss  empirische,  sofern  sie  aus  jenen  erwiesen  und  nicht  auf  unmittelbare  Erfahrung 
gegründet  sind;  in  diesem,  aber  auch  nur  in  diesem  Sinne  ist  die  Geometrie  eine 
apodiktische  und  nach  dem  aristotelischen  Gebrauch  dieBes  Wortes  apriorische, 
aber  keineswegs  nach  dem  kantischen  Wortgebrauch  apriorische  Wissenschaft.  Die 
Fundamentalsätze  selbst  (die  Axiome  und  Postulate)  sind  an  sich  assertorische 
Sätze  und,  sofern  es  eich  um  absolute  Genauigkeit  handelt,  Hypothesen.  Nur  in- 
sofern, als  jene  Ordnung  ohne  geometrische  Demonstration  sich  mit  einer  gewissen 
Unmittelbarkeit  bekundet,  ist  die  Anuahme  zulässig,  dass  bereits  die  Axiome  ein 
über  den  bloss  assertorischen  Charakter  vereinzelter  Erfahrung  hinausgehendes 
Maass  von  Gewissheit  haben 

*)  Die  Geschichte  der  Naturwissenschaft  zeigt  aber,  dass  sich  diese  allgemeinen 
Sätze,  wozu  das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft  u.  a.  sich  hinzufügen  lassen,  als 
späte  Abstractionen  aus  wissenschaftlich  durchgearbeiteten  Erfahrungen  ergeben 
haben  und  keineswegs  a  priori  vor  aller  Erfahrung  oder  doch  unabhängig  von  aller 
Erfahrung  als  wissenschaftliche  Sätze  feststanden.  Nur  insofern  sich  in  ihnen 
nachträglich  eine  gewisse  Ordnung  bekundet,  die  eine  philosophische  Ableitung 
aus  noch  allgemeineren  Principien,  z.  B.  ans  der  Relativität  des  Raumes,  möglich 
zu  machen  scheint,  gewinnen  sie  einen  im  aristotelischen,  aber  wiederum  nicht  im 
kantischen  Sinne  apriorischen  Charakter. 

**)  Was  freilich  ein  Cirkelschluss  ist.  Ferner  wird  auch  der  Raum  nicht 
ganz  qualitätslos  vorgestellt  werden  können. 

***)  Was  aber  nicht  die  Subjectivität  und  Apriorität  des  Raumes  beweist. 
Auch  eine  aus  empirisch  Gegebenem  nach  psychischen  Gesetzen  hervorgebildete 
Vorstellung  kann  unauf  hebbar  sein.  Ausserdem  geht  K.  vom  Standpunkt  des 
fertigen  Bewusstseins  dabei  aus,  ohne  auf  das  im  Werden  begriffene  Rücksicht 
zu  nehmen. 


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248   §  25.  Kaute  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch. 


Raum  ist  kein  discursiver  oder  allgemeiner  Begriff  von  Verhältnissen  der  Dinge 
überhaupt,  sondern  eine  reine  Anschauung;  denn  man  kann  sich  nur  einen  einigen 
Raum  vorstellen,  dessen  Theile  alle  sogenannten  Räume  sind.*)  4.  Der  Raum 
wird  als  eine  unendliche  gegebene  Grösse  vorgestellt;  kein  Begriff  aber  kann  so 
gedacht  werden,  als  ob  er  eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen  in  sich 
enthielte;  also  ist  die  ursprüngliche  Vorstellung  vom  Räume  Anschauung  a  priori 
und  nicht  Begriff.**) 

In  der  „transscendentalen  Erörterung  des  Begriffs  vom  Raum",  unter  der  Kant 
die  Erklärung  desselben  als  eines  Princips,  woraus  die  Möglichkeit  anderer  syn- 
thetischer Erkenntnisse  a  priori  eingesehen  werden  könne,  versteht,  führt  Kant  die 
Behauptung  durch,  die  Vorstellung  des  Raumes  müsse  eine  Anschauung  a  priori 
sein,  wenn  es  möglich  sein  Bolle,  dass  die  Geometrie  die  Eigenschaften  desselben 
synthetisch  und  doch  a  priori  bestimme.  „Wäre  nicht  der  Raum  (und  so  auch  die 
Zeit)  eine  blosse  Form  eurer  Anschauung,  welche  Bedingungen  a  priori  enthält, 
unter  denen  allein  Dinge  für  euch  äussere  Gegenstände  sein  können,  die  ohne  diese 
subjectiven  Bedingungen  an  sich  nichts  sind,  so  könntet  ihr  a  priori  ganz  und  gar 
nichts  über  äussere  Objecte  synthetisch  ausmachen".***) 


*)  Es  ist  auffallend,  dass  Kant  in  der  Ueberschrift  den  Raum  als  einen  •Be- 
triff* bezeichnet,  was  durch  3.  u.  4.  ausgeschlossen  zu  sein  scheint  Aber  der 
Begriff  im  weiteren  Sinne  umfasst  bei  Kant  die  beiden  Classen:  Begriff  im  engeren 
Sinne  oder  allgemeine  Vorstellung  und  andererseits  Einzelvorstellung  oder  An- 
schauung. Wohl  nur  auf  den  Begriff  im  strengen  Sinne  dieses  Wortes  ist  die 
Definition  in  der  Vernunftkritik  zu  beziehen :  »der  Begriff  ist  eine  Erkenntniss,  die 
sich  mittelbar,  vermittelst  eines  Merkmals,  das  mehreren  Dingen  gemeinsam  sein 
kann,  auf  den  Gegenstand  bezieht*.  (Dass  nur  der  Genus-Begriff  gemeint  sei, 
nämlich  Anschauung  a  priori,  unter  den  der  Raum  falle,  ist  wohl  nicht  anzunehmen; 
denn  der  Sinn  ist.  dass  die  Raumvorstellung  erörtert  werden  soll,  um  den  Begriff, 
unter  den  sie  falle,  zu  ermitteln,  und  nicht,  dass  die  Natur  des  Genus-Begrifls, 
unter  den  der  Raum  falle,  erörtert  werden  soll.  Auch  werden  ja  in  dem  Abschnitt 
„Von  dem  obersten  Grundsatz  aller  synth.  ürth.-  Raum  und  Zeit  geradezu  .Be- 
griffe* genannt.) 

**)  Die  Behauptung,  dass  kein  Begriff  eine  unendliche  Menge  von  Theil- 
vorstellungen  in  »ich  enthalten  könne,  ist  eine  willkürliche,  sofern  es  sich  um  ein 
potentielles  Enthaltensein  derselben  in  ihm  handelt;  actuell  aber  enthält  unsere 
Raumvorstellung  nicht  eine  Unendlichkeit  unterschiedener  Theile,  und  actuell  er- 
streckt sich  auch  der  Raum,  den  wir  uns  vorstellen,  nicht  ins  Unendliche,  sondern 
nur  bis  höchstens  zu  dem  angeschauten  Himmelsgewölbe  hin.  Die  Unendlichkeit 
der  Ausdehnung  liegt  nur  in  der  Reflexion,  dass  wir,  wie  weit  wir  auch  gelangt 
sein  mögen,  immer  noch  weiter  fortschreiten  könnten,  dass  also  keine  Grenze  eine 
schlechthin  unüberschreitbare  sei;  hieraus  aber  folgt  keineswegs,  dass  der  Raum 
eine  bloss  subjective  Anschauung  sei. 

***)  Kant  hat  weder  nachgewiesen,  in  welcher  Art  denn  aus  der  vorausgesetzten 
Apriorität  der  Raumanschauung  die  Gewissheit  der  geometrischen  Fundamental- 
sätze folge  (die,  wenn  auch  der  Raum  als  Anschauung  a  priori  ursprünglich  ist, 
mcht  ihrerseits  eben  so  ursprünglich  in  uns  sind),  und  wo  deren  Grenze  gegen 
Lehrsätze  Hegt,  noch  auch,  dass  aus  einer  objectiv  begründeten  und  empirisch 
gewonnenen  Raumanschauung  jene  Sätze  nicht  folgen  können.  Dass  sich  über 
räumliche  Objecte  als  Dinge  an  sich  .nichts  a  priori  synthetisch  ausmachen"  Hesse, 
würde  selbst  unter  der  Voraussetzung  der  Apriorität  der  Raumanschauung  nicht 
beweisen,  dass  nicht  dennoch  räumliche  Dinge  an  sich  existiren,  von  welchen  die 
nämlichen  Sätze,  wie  von  den  räumlichen  Gebilden  in  unserer  Anschauung, 
gelten.  Auch  hat  Kant  den  Doppelgebrauch  nicht  genügend  gerechtfertigt,  den  er 
von  Raum,  Zeit  und  Kategorien  macht,  sofern  ihm  dieselben  einerseits  als 
blosse  Formen  oder  Weisen  der  Verknüpfung  des  empirisch  gegebenen  Stoffes, 
und  doch  andererseits  unleugbar  auch  als  etwas  Materiales  gelten,  nämlich 
als  die  Materie  oder  der  Denkinhalt,  woraus  wir  die  synthetischen  Urtheile 
a  priori  bilden. 


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§  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  a.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch.  249 


Der  Raum  gilt  demnach  Kant  als  eine  Anschauung  a  priori,  die  ror  aller 
Wahrnehmung  eines  Gegenstandes  in  uns  angetroffen  werde,  und  zwar  als  die 
formale  Beschaffenheit  des  Gemüthes,  von  Objecten  afficirt  zu  werden,  oder  als  die 
Form  des  äusseren  Sinnes  überhaupt  *) 

Die  Räumlichkeit  ist  nach  Kant  nicht  eine  Form  der  Existenz  von  Objecten 
an  sich  selbst.  Weil  wir,  sagt  Kant,  die  besonderen  Bedingungen  der  Sinnlichkeit 
nicht  zu  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Sachen,  sondern  nur  ihrer  Erscheinungen 
machen  können,  so  können  wir  wohl  sagen,  dass  der  Ranm  alle  Dinge  befasse,  die 
uns  äusserlich  erscheinen  mögen,  aber  nicht  alle  Dinge  an  sich  selbst,  sie  mögen 
angeschaut  werden  oder  nicht,  oder  auch  von  welchem  Subject  man  wolle.  Wir 
können  nur  von  dem  Standpunkte  eines  Menschen  vom  Raum,  von  aasgedehnten 
Wesen  etc.  reden.  Gehen  wir  von  der  subjectiven  Bedingung  ab,  unter  welcher 
wir  allein  äussere  Anschauung  bekommen  können,  so  wie  wir  nämlich  von  den 
Gegenständen  afßcirt  werden  mögen,  so  bedeutet  die  Vorstellung  vom  Räume  gar 
nichts.  Dieses  Prädicat  wird  den  Dingen  nur  insofern  beigelegt,  als  sie  uns 
erscheinen,  d.  h.  Gegenstände  der  Sinnlichkeit  sind.  Der  Raum  hat  empirische 
Realität,  d.  h.  objective  Gültigkeit,  in  Ansehung  alles  dessen,  was  äusserlich  als 
Gegenstand  uns  vorkommen  kann,  Idealität  aber  in  Ansehung  der  Dinge,  wenn  sie 
durch  die  Vernunft  an  sich  selbst  erwogen  werden,  ohne  Rücksicht  auf  die  Be- 
schaffenheit unserer  Sinnlichkeit  zu  nehmen.  —  Der  Raum,  sagt  Kant,  stellt  gar 
keine  Eigenschaft  irgend  einiger  Dinge  an  sich  oder  sie  im  Verhältniss  auf  einander 
vor,  keine  Bestimmung  derselben,  die  an  Gegenständen  selbst  haftete  und  welche 
bliebe,  wenn  man  auch  von  allen  Bedingungen  der  Anschauung  abstrahirte;  denn 
weder  absolute  noch  relative  Bestimmungen  können  vor  dem  Dasein  der  Dinge, 
welchen  sie  zukommen,  mithin  nicht  a  priori  angeschaut  werden.**) 

Durch  eine  ganz  analoge  metaphysische  und  transscendentale  Erörterung  des 
Begriffs  der  Zeit  sucht  Kant  auch  deren  empirische  Realität  und  transscendentale 
Idealität  darzuthun.  Die  Zeit  ist  ebensowenig,  wie  der  Raum,  etwas,  was  für  sich 
bestände  oder  auch  den  Dingen  ab  objective  Bestimmung  der  Ordnung  anhinge, 
mithin  übrig  bliebe,  wenn  man  von  allen  subjectiven  Bedingungen  der  Anschauung 


*)  Dass  der  Raum  nur  die  Form  des  äussern  und  nicht  des  innern  Sinnes 
sei,  die  Zeit  dagegen  die  Form  des  innern  und  mittelbar  auch  des  äussern  Sinnes, 
glaubt  Kant  nach  der  Natur  der  äussern  und  iiinern  Erfahrung  annehmen  zu 
sollen;  in  der  That  aber  haftet  die  Räumlichkeit  allerdings  auch  den  .Erscheinungen 
des  inneren  Sinnes*  an,  den  Wahmehmungsbildern  als  solchen,  den  Erinnerungs- 
vorstellungen, auch  den  Begriffen,  sofern  die  concreten  Vorstellungen,  aus  denen  sie 
abstrahirt  sind,  ihre  unabtrennbare  Basis  ausmachen,  daher  auch  den  aus  ihnen 
combinirten  ürtheilen,  sofern  das,  worauf  das  Urtheil  geht,  anschaulich  mit- 
vorgestellt wird,  etc. 

**)  Hierin  würde  auch  unter  der  Voraussetzung  der  „Apriorität*  doch  immer 
nur  der  Beweis  liegen,  dass  wir  nicht  berechtigt  seien,  auf  Grund  unserer 
, apriorischen*  Anschauung  den  Dingen  an  sich  die  Räumlichkeit  zuzuschreiben; 
was  wir  als  .Bestimmung*  von  Dingen  anschauen,  so  dass  wir  es  auf  Grund 
dieser  Anschauung  auf  die  Dinge  selbst  beziehen  dürfen,  schauen  wir  allerdings 
eben  mit  diesen  Dingen  zugleich  und  auf  gleiche  Weise,  uämlich  vermöge  der 
Affection  unserer  Sinne,  und  nicht  vor  den  Dingen  oder  unabhängig  von  denselbeu, 
also  a  posteriori  uud  nicht  a  priori  an.  Aber  unsere  Nichtberechtigung  zu- 
zuschreiben, unser  Nichtsagenkönnen  (Nicht  auf  Grund  der  Anschauung  selbst 
sagen  dürfen),  dass  die  Räumlichkeit  den  Dingen  an  sich  zukomme,  eine  (absolute 
und  relutive)  .Bestimmung"  derselben  sei,  ist  von  Kant  fälschlich  iu  eine  Berech- 
tigung, abzusprechen,  in  ein  Behauptendürfeu,  dass  die  Räumlichkeit  nicht  eine 
Bestimmung  der  Dinge  an  sich  sei,  dass  sie  denselben  nicht  zukomme,  umgesetzt 
worden. 


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250  §  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  n.  metaph.  Anfangsgr .  der  Naturwissensch . 


derselben  abstrahirte.  Die  Zeit  ist  nichts  Anderes,  als  die  Form  des  inneren  Sinnes, 
d.  h.  des  Anschanens  unserer  selbst  and  unseres  inneren  Zustande»,  indem  sie  das 
Verbältniss  der  Vorstellungen  in  unserm  innern  Zustande  bestimmt.  Weil  aber  alle 
Vorstellungen,  auch  wenn  sie  äussere  Dinge  zum  Gegenstände  haben,  doch  an  sich 
selbst,  als  Bestimmungen  des  Gemüths,  zum  inneren  Zustand  gehören,  dessen  for- 
male Bedingung  die  Zeit  ist,  so  ist  die  Zeit  mittelbar  auch  eine  formale  Bedingung 
a  priori  der  äusseren  Erscheinungen.  Die  Zeit  i-t  an  sich,  ausser  dem  Subjecte, 
nichts;  sie  kann  den  Gegenständen  an  sich,  ohne  ihr  Verhältnis»  auf  unsere  An- 
schauung, weder  subsistirend  noch  inhärirend  beigezählt  werden.  Die  Zeit  hat 
empirische  Realität  in  Ansehung  der  inneren  Erfahrung.  Wenn  aber  ich 
selbst  oder  ein  anderes  Wesen  mich  ohne  diese  Bedingung  der  Sinnlichkeit  an- 
schuuen  könnte,  so  würden  eben  dieselben  Bestimmungen,  die  wir  uns  jetzt  als 
Veränderungen  vorstellen,  eine  Erkenntnis»  geben,  in  welcher  die  Vorstellang  der 
Zeit,  mithin  auch  der  Veränderung,  gar  nicht  vorkäme.  Den  Einwurf,  dass  die 
Wirklichkeit  des  Wechsels  unserer  Vorstellungen  die  Wirklichkeit  der  Zeit 
beweise,  weist  Kant  durch  die  Bemerkung  ab,  dass  auch  die  Objecte  des  „inneren 
Sinnes"  nur  zur  Erscheinung  gehören,  welche  jederzeit  zwei  Seiten  habe,  die  eine, 
da  das  Object  an  sich  selbst  betrachtet  werde,  die  andere,  da  auf  die  Form  der 
Anschauung  desselben  gesehen  werde,  welche  nicht  in  dem  Gegenstande  an  sich 
selbst,  sondern  in  dem  Subjcct,  dem  derselbe  erscheine,  gesucht  werden  müsse.*) 

Kant  erklärt  den  Satz  der  leibniz-wolßschen  Philosophie  für  falsch,  dass  unsere 
Sinnlichkeit  nur  die  verworrene  Vorstellung  der  Dinge  und  dessen,  was  diesen 
an  sich  selbst  zukomme,  sei.  Er  spricht  dem  Menschen  die  „intellectuelle  An- 
schauung" ab,  die  ohne  Affection  von  aussen  oder  von  innen  her  und  ohne  bloss 
8ubjective  Formen  (Raum  und  Zeit)  Objecte,  wie  sie  an  sich  seien,  erkenne. 

Das  Resultat  der  transscendentalen  Aesthetik  fasst  Kant  (in  der  allg.  Anmerkung 
zur  transscendentalen  Aesthetik,  1.  Aufl.  S.  42,  2.  Aufl.  S.  59  bei  Ros.  II,  S.  49) 
dahin  zusammen:  „dass  die  Dinge,  die  wir  anschauen,  nicht  das  an  sich  selbst  sind, 
wofür  wir  sie  anschauen,  noch  ihre  Verhältnisse  so  an  sich  selbst  beschaffen  sind, 
als  sie  uns  erscheinen,  und  dass,  wenn  wir  unser  Subject  oder  auch  uur  die  sub- 
jective  Beschaffenheit  der  Sinne  überhaupt  aufheben,  alle  die  Beschaffenheit,  alle 
Verhältnisse  der  Objecte  in  Raum  und  Zeit,  ja  selbst  Raum  und  Zeit  verschwinden 
würden,  und  als  Erscheinungen  nicht  an  sich  selbst,  sondern  uur  in  uns  existiren 
können;  was  es  für  eine  Bewandtniss  mit  den  Gegenständen  an  sich  und  abgesondert 
von  aller  dieser  Rcceptivitüt  unserer  Sinnlichkeit  haben  möge,  bleibt  uns  gänzlich 
unbekannt".  Was  wir  äussere  Gegenstände  nennen,  darin  findet  Kant  nur  Vor- 
stellungen unserer  Sinnlichkeit 


*)  Der  „inuere  Sinn"  bringt  nicht  zu  einem  an  sich  Zeitlosen  die  Form  der 
Zeit  erst  hinzu;  die  Selbstauffassung  ist  nur  durch  eine  gewisse  Art  der  Vor- 
stellunpsassociation  bedingt.  Aber  auch  dann,  wenn  ein  „innerer  Sinn"  in  der 
Art,  wie  Kant  denselben  annimmt,  wirklich  bestände,  würde  die  kantische  Unter- 
scheidung doch  nicht  zutreffen,  weil  bei  der  psychologischen  Selbstbeobachtung  das 
Subject,  dem  die  inneren  Zustäude  erscheinen,  mit  dem  Object,  dem  sie  angehören, 
identisch  ist;  die  Erscheinung  des  Vorstellnngslaufs  dürfte  nicht  bloss  als  ein 
untreues  Abbild  der  an  sich  zeitlosen,  den  inneren  Sinn  afficirenden  inneren  Zu- 
stände, sondern  müsate  auch  als  ein  durch  die  Affection  in  der  Seele  oder  in  dem 
Ich  wirklich  gewordenes,  dem  Seienden  als  solchem  und  nicht  bloss  der  Erscheinung 
angehörendes  Resultat  betrachtet  werden,  oder  nicht  bloss  ein  Mittel,  sondern  auch 
selbst  wieder  ein  Object  der  Selbstauffassung  sein,  und  zwar  ein  der  Veränderung 
unterworfenes  Object. 


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8  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  inetaph.  Anfangsgr.  der  Naturwisseusch.   25 1 


Zu  dem  gleichartigen  Resultat  gelangt  Kant  in  Bezug  auf  die  Verstandesformen 
in  der  transscendentalen  Logik. 

Die  Receptivität  des  Gemiithes,  Vorstellungen  zu  empfangen,  sofern  es  auf  irgend 
eine  Weise  afficirt  wird,  ist  die  Sinnlichkeit,  die  Spontaneität  des  Erkenntnisses  aber, 
Vorstellungen  Belbst  hervorzubringen,  ist  der  Verstand.  Gedanken  ohne  Anschauung 
siud  leer,  Anschauungen  ohne  Begriffe  aber  sind  blind.  Der  Verstand  vermag 
nichts  anzuschauen,  und  die  Sinne  vermögen  nichts  zu  denken.  Alle  Anschauungen 
beruhen  auf  Affectionen,  die  Begriffe  aber  auf  Functionen;  Function  ist  die  Einheit 
der  Handlung,  verschiedene  Vorstellungen  unter  einer  gemeinschaftlichen  zu  ordnen. 
Mittelst  dieser  Functionen  bildet  der  Verstand  Urtheile,  welche  mittelbare  Erkennt- 
nisse der  Gegenstände  sind.  Auf  den  verschiedeneu  Stammbegriffen  des  Verstandes 
oder  Kategorien  beruhen  die  verschiedenen  Urtheilsformen,  und  umgekehrt  können 
aus  den  letzteren,  wie  die  allgemeine  (formale)  Logik  sie  darlegt,  die  Kategorien 
durch  Rückschluss  von  uns  erkannt  werden.  Kant  definirt  die  Kategorien  als 
Begriffe  von  einem  Gegenstande  überhaupt,  dadurch  dessen  Anschauung  in  Ansehung 
tiner  der  logischen  Urtheilsfunctionen  als  bestimmt  angesehen  wird  (wie  z.  B.  Körper 
durch  die  Kategorie  der  Substanz  als  Subject  bestimmt  wird  in  dem  Urtheil:  alle 
Körper  sind  theilbar).  Er  stellt  folgende  Tafel  der  Urtheilsformen*)  und  der  ent- 
sprechenden Kategorien**)  auf: 


Logische  Tafel  der  Urtheile. 


Der  Quantität        Der  Qualität 


nach 

Kinzelurtheile 

Besondere  (particu- 
lare  oder  plura- 
tive) 

Allgemeine  Ur- 
theile 


nach 

Bejahende 
Verneinende 


Unendliche  oder 
(imitative 


Der  Relation 
nach 

Kategorische 
Hypothetische 


Disjunctive 


Der  Modalität 
nach 

Problematische 
Assertorische 


Apodiktische 


*)  Die  von  Kaut  in  jeder  Klasse  erstrebte  Dreizahl  von  Urtheilsformen  ist 
nicht  durchgängig  gerechtfertigt,  s.  Ueberwegs  Syst.  d.  Log.  §§  68—70. 

**)  Kategorien  als  Begriffe,  welche  auf  Formen  des  „Gegenstandes*  oder  der 
objectiven  Wirklichkeit  gehen  und  als  solche  zugleich  gewisse  Urtheilsfunktionen 
bedingen,  sind  nur  die  von  Kant  sog.  Kategorien  der  Relation.  Die  Unterschiede 
der  Qualität  und  die  der  Modalität  beruhen  nicht  auf  verschiedenen  Formen  der 
objectiven  Existenz,  so  dass  diese  sich  in  dem  subjectiven  Urtheilsact  wieder- 
spiegelten,  sondern  auf  verschiedenen  Arten  der  Beziehung  des  Subjectiven  auf  da* 
Objective,  d.  h.  der  im  Urtheil  vollzogenen  Vorstellungscombinatiou  auf  dasjenige 
Reale,  welches  durch  dieselbe  vorgestellt  werden  soll;  es  liegen  denselben  also  nicht 
verschiedene  Kategorien  zum  Grunde.  Die  «Quantität*  aber  beruht  mehr  auf 
der  Möglichkeit,  mehrere  Urtheile,  deren  Subjecte  unter  den  nämlichen  Begriff 
fallen,  zu  Einem  Urtheile  zusammen  zu  fassen,  so  dass  entweder  von  der  ganzen 
Sphäre  des  Subjectsbegriffs  oder  von  einem  Theile  derselben  das  Prädicat  bejaht 
(oder  verneint)  wird;  sie  involvirt  keine  dem  Urtheil  als  solchem  eigenthümliche 
Beziehung  auf  eine  Form  der  objectiven  Wirklichkeit.  Vgl.  Ueberwegs  Syst.  der 
Logik  a.  a.  O. 


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252   §  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  raetaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissenscb. 


Transscendentale  Tafel  der  Verstandesbegriffe. 


Der  Quantität 
nach 

Einheit 

Vielheit 

Allheit 


Der  Qualität 
nach 

Realität 

Negation 

Limitation 


Der  Relation 
nach 

Substantialität  und 

Inbärenz 
Causalität  und  De- 

pendenz 
Gemeinschaft  oder 

Wechselwirkung 


Der  Modalität 
nach 

Möglichkeit  und 
Unmöglichkeit 

Dasein  und  Nicht- 
sein 

Notwendigkeit  und 
Zufälligkeit. 


j  (Concurrenz) 

Hieran  reiht  sich  eine  Tafel  synthetischer  Urtheile  a  priori,  die  sich  auf  jene 
Verstandesbegriffe  gründen.   Kant  bezeichnet  dieselbe  als: 


Reine  physiologische  Tafel  allgemeiner  Grundsätze  der 

Naturwissenschaft. 


Axiome 
der  Anschauung 


Anticipationen 
der  Wahrnehmung 


Analogien 
der  Erfahrung 


PoBtulate 
des  empirischen, 
Denkens  über- 
haupt 


Ein  vollständiges  System  der  Transscendentalphilosophie,  sagt  Kant,  müsste 
auch  die  aus  den  reinen  Stammbegriffen,  den  Kategorien  oder  Prädicamenten  abge- 
leiteten, daher  gleichfalls  apriorischen  oder  reinen  Begriffe  des  Verstandes,  die 
Kant  Prädicabilien  nennt,  enthalten,  z.  B.  Kraft,  Handlung,  Leiden,  welche 
uus  dem  Begriffe  der  Causalität  folgen,  oder  Vergehen,  Entstehen,  die  den  Kate- 
gorien der  Modalität  untergeordnet  sind.  Diese  zu  verzeichnen,  wäre  eine  nützliche 
und  nicht  unangeuehme,  hier  aber,  wo  es  ihm  nicht  um  Vollständigkeit  des  Systems 
sondern  nur  der  Principien  zu  einem  System  zu  thun  sei,  entbehrliche  Bemühung. 
(Später  freilich  glaubt  Kant,  das  Wesentlichste  der  gesammten  Transscendental- 
philosophie bereits  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  gegeben  zu  haben.) 

K.  bemerkt  über  diese  Kategorien  u.  a.,  dass  derselben  in  jeder  Klasse  drei 
seien,  da  doch  sonst  alle  Eintheilung  a  priori  durch  Begriffe  Dichotomie  (A  und 
non-A)  sein  müsse;  die  dritte  entspringe  jedesmal  aus  der  Verbindung  der  zweiten 
mit  der  ersten  ihrer  Klasse.  (In  der  „Krit.  der  Urtheilskr.",  Einl.,  letzte  Note, 
nennt  K.  jene  Dichotomie  eine  analytische  Eintheilung  a  priori,  die  nach  dem 
Satze  des  Widerspruchs  geschehe:  jede  synthetische  Eintheilung  a  priori  aber,  die 
nicht,  wie  in  der  Mathematik,  aus  der  dem  Begriffe  correspondirenden  Anschauung, 
sondern  aus  den  Begriffen  a  priori  geführt  werden  solle,  müsse  ein  Dreifaches  ent- 
halten: 1.  eine  Bedingung,  2.  ein  Bedingtes,  3.  den  Begriff,  der  aus  der  Vereinigung 
des  Bedingten  mit  seiner  Bedingung  entspringe.)  Die  Allheit  sei  die  Vielheit  als 
Einheit  betrachtet,  die  Einschränkung  die  Realität  mit  Negation  verbunden,  die 
Gemeinschaft  wechselseitige  Causalität  unter  Substanzen,  die  Notwendigkeit  die 
durch  die  Möglichkeit  selbst  gegebene  Existenz.  Aber  die  Verbindung  erfordere 
einen  besonderen  Act  des  Verstandes,  um  deswillen  der  dritte  Begriff  gleichfalls 
als  ein  Stammbegriff  des  Verstandes  gelten  müsse.  (In  dieser  kantischeu  Bemerkung 
liegt  der  Keim  der  fichteschen  und  hegelschen  Dialektik.) 

Die  objective  Gültigkeit  der  Kategorien  (von  welcher  Kant  in  dem 
schwierigen  Capitel  von  der  .transscendentalen  Deduction  der  Kategorien" 
handelt)  beruht  darauf,  dass  durch  sie  allein  Erfahrung,  der  Form  des  Denkens 


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§  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  n.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch.  253 


nach  möglich  ist  Sie  beziehen  sich  notwendiger  Weise  und  a  priori  auf  Gegen- 
stände der  Erfahrung,  weil  nur  vermittelst  ihrer  überhaupt  irgend  ein  Gegenstand 
der  Erfahrung  gedacht  werden  kann. 

Es  sind,  sagt  Kant,  nur  zwei  Fälle  möglich,  unter  denen  synthetische  Vor- 
stellung und  ihre  Gegenstände  zusammentreffen,  sich  aufeinander  nothwendiger  Weise 
beziehen  und  gleichsam  einander  begegnen  können.  Entweder,  wenn  der  Gegenstand 
die  Vorstellung  oder  diese  den  Gegenstand  allein  möglich  macht. 

Im  ersten  Falle  ist  die  Beziehung  empirisch,  und  die  Vorstellung  ist  also 
nicht  a  priori  möglich.  Unsere  Vorstellungen  a  priori  richten  sich  nicht  nach  den 
Objecten,  weil  sie  sonst  empirisch  und  nicht  Vorstellungen  a  priori  wären.  Nur 
was  in  den  Erscheinungen  zur  Empfindung  gehört  (die  von  Kant,  Kr.  d.  r.  Vera. 
1.  Aufl.  S.  20  u.  60,  2.  Aufl.  S.  34  u.  74,  sogenannte  Materie  der  sinnlichen 
Erkenntniss) ,  richtet  sich  nach  den  Objecten,  jedoch  ohne  treu  mit  denselben 
übereinzustimmen.  Die  Dinge  an  sich  oder  transscendentalen  Objecte  afficiren 
unsere  Sinne  (Kr.  d.  r.  Vera.  1.  Aufl.  S.  190,  2.  Aufl.  S.  236;  Proleg.  z.  M.  §32); 
durch  diese  Affection  entsteht  die  Empfindung  der  Farbe,  des  Geruchs  etc.,  ohne 
dass  diese  Empfindungen  mit  dem  Unbekannten  in  den  Dingen  an  sich,  das  sie  in 
uns  hervorruft,  gleichartig  wären.  Die  Räumlichkeit,  Zeitlichkeit,  Substantialität, 
Causalität  etc.  aber  beruht  nach  Kant  nicht  auch  auf  dieser  Affection,  weil  sonst 
alle  diese  Formen  empirisch  und  ohne  Notwendigkeit  wären,  dieselben  gehören 
ausschliesslich  dem  Subject  an,  welches  mittelst  ihrer  die  Empfindungen  gestaltet 
und  so  die  Erscheinungen,  die  seine  Vorstellungen  sind,  erzeugt ;  sie  stammen  nicht 
aus  den  Dingen  an  sich. 

Der  andere  Fall  kann  nicht  in  dem  Sinne  statthaben,  dass  unsere  Vorstellung 
ihren  Gegenstand  seinem  Dasein  nach  hervorbringe.  Zwar  der  Wille,  jedoch  nicht 
die  Vorstellung  als  solche  übt  eine  Causalität  auf  das  Dasein  der  Objecte  aus. 
Wohl  aber  kann  die  Erkenntniss  eines  Gegenstandes  oder  die  Erscheinung  sich 
nach  unseren  Vorstellungen  a  priori  richten.  Diese  letztere  Annahme  vergleicht 
Kant  mit  der  astronomischen  Theorie  des  Copernicus,  welche  die  erscheinende 
Drehung  des  Himmelsgewölbes  aus  einer  realen  Bewegung  des  Erdbewohners,  nach 
der  jene  Erscheinung  sich  richte,  erklärt 

Das  Feld  oder  den  gesammten  Gegenstand  möglicher  Erfahrungen  aber  machen 
Anschauungen  aus.  Ein  Begriff  a  priori,  der  sich  nicht  auf  diese  bezöge,  würde 
nur  die  logische  Form  zu  einem  Begriff,  aber  nicht  der  Begriff  selbst  sein,  wodurch 
etwas  gedacht  würde.  Die  reinen  Begriffe  a  priori  können  zwar  nichts  Empirisches 
enthalten,  müssen  aber  gleichwohl,  um  objective  Gültigkeit  zu  haben,  lauter  Be- 
dingungen a  priori  zu  einer  möglichen  Erfahrung  sein. 

Die  Receptivität  des  Gemüthes  kann  nur  mit  Spontaneität  verbunden  Erkennt» 
nisse  möglich  machen.  Die  Spontaneität  ist  der  Grund  einer  dreifachen  Synthesis, 
nämlich  der  Apprehension  der  Vorstellungen  in  der  Anschauung,  der  Reproduction 
derselben  in  der  Einbildung,  und  der  Recognition  derselben  im  Begriffe  (Kr.  d.  r. 
Vera.  L  Aufl.  S.  97  ff). 

Das  Durchlaufen  des  Mannigfaltigen  in  der  Anschauuug  und  die  Zusammen- 
fassung desselben  zur  Einheit  ist  die  Synthesis  der  Apprehension.  Ohne  sie  würden 
wir  nicht  die  Vorstellungen  des  Raumes  und  der  Zeit  haben  können.  Die  repro- 
ductive  Synthesis  der  Einbildungskraft  ist  gleichfalls  auf  Principien  a  priori 
gegründet  (Kr.  d.  r.  Vera.  1.  Aufl.  S.  100  ff;  ebend.  S.  117  f.  und  123  und  2.  Aufl. 
S.  152  wird  bestimmter  von  der  reproductiven  Einbildungskraft,  die  auf  Bedingungen 
der  Erfahrung  beruhe,  die  productive  als  eine  Bedingung  a  priori  der  Zusammen- 
setzung des  Mannigfaltigen  in  einer  Erkenntniss  unterschieden;  in  der  2.  Aufl. 
a.  a.  0.  sagt  Kant,  dass  die  erstere  zur  Erklärung  der  Möglichkeit  der  Erkenntniss 


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254   §  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  mctaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissenscb. 


a  priori  nichts  beitrage  nnd  nicht  in  die  Trausscendeutalphilosophie,  sondern  in  iHe 
Psychologie  gehöre;  in  der  2.  Aufl.  handelt  er  von  ihr  wie  auch  von  der  ,Re- 
cognition  im  Begriff*  nicht  mehr).  Würde  ich  bei  der  Synthesis  der  Theile  einer 
Linie,  eines  Zeitabschnittes,  einer  Zahl  die  früheren  immer  aus  den  Gedanken  ver- 
lieren und  sie  nicht  reproduciren,  indem  ich  zu  den  folgenden  fortgehe,  so  würde 
uiemals  eine  ganze  Vorstellung,  ja  nicht  einmal  die  reinsten  und  ersten  Grund- 
vorstellungen von  Raum  und  Zeit,  entspringen  können.  Ohne  das  Bewusstsein  aber, 
dass  das,  was  wir  denken,  eben  dasselbe  sei,  was  wir  einen  Augenblick  zuvor 
dachten,  würde  alle  Reproduction  in  der  Reihe  der  Vorstellungen  vergeblich  sein. 
Der  Begriff  ist  das,  was  das  Mannigfache,  nach  und  nach  Angeschaute  und  dann 
Reproducirte  iu  Eine  Vorstellung  vereinigt. 

In  der  Erkenntnis»  des  Mannigfaltigen  wird  das  Gemüth  sich  der  Identität 
seiner  Function,  durch  die  es  die  Synthesis  übt,  bewusst.  Alle  Verknüpfung  und 
Einheit  im  Erkennen  setzt  diejenige  Einheit  des  Bewusstseins  voraus,  welche  vor 
allen  Datis  der  Anschauungen  vorhergeht  und  in  Beziehung  worauf  alle  Vorstellung 
von  Gegenständen  allein  möglich  ist.  Dieses  reine,  ursprüngliche,  unwandelbare 
Selbstbewusstsein  nennt  Kant  die  transscendeutale  Apperception.  Er  uuter- 
scheidet  dieselbe  von  der  empirischen  Apperception  oder  dem  wandelbaren 
empirischen  Selbstbewusstsein  im  Flusse  der  durch  den  inneren  Sinn  aufgefaßten 
inneren  Erscheinungen.  Die  transscendeutale  Apperception  ist  ein  ursprünglicher 
synthetischer  Act,  das  empirische  Selbstbewusstsein  beruht  auf  einer  Analysis, 
welche  jene  ursprüngliche  Synthesis  zur  Voraussetzung  hat.  Die  synthetische  Ein- 
heit der  Apperception  ist  der  höchste  Punkt,  wovon  aller  Verstandesgebrauch 
abhängt.  Auf  ihr  beruht  das:  „Ich  denke*,  welches  alle  ineine  Vorstellungen  muss 
begleiten  können.  Selbst  die  objective  Einheit  des  Raumes  und  der  Zeit  ist 
nur  durch  Beziehung  der  Anschauungen  auf  diese  transscendentale  Apperception 
möglich. 

Die  Kategorien  sind  die  Bedingungen  des  Denkens  in  einer  möglichen  Er- 
fahrung. Die  Möglichkeit  und  Nothwendigkeit  der  Kategorien  beruht  auf  der 
Beziehung,  welche  die  gesummte  Sinnlichkeit  und  mit  ihr  alle  möglichen  Erschei- 
nungen auf  die  ursprüngliche  Apperception  haben.  Alles  Mannigfaltige  der  An- 
schauung muss  den  Bedingungen  der  durchgängigen  Einheit  des  Selbstbewusstseins, 
der  ursprünglich-synthetischen  Einheit  der  Apperception  gemäss  sein,  also  unter 
allgemeinen  Functionen  der  Synthesis  nach  Begriffen  stehen.  Die  Synthesis  der 
Apprehension,  welche  empirisch  ist,  muss  der  Synthesis  der  Apperception,  welche 
intellectuell  und  gänzlich  a  priori  in  der  Kategorie  enthalten  ist,  nothweudig  gemäss 
sein.  Ein  jeder  Gegenstand  steht  unter  den  nothwendigen  Bedingungen  der  syn- 
thetischen Einheit  des  Mannigfaltigen  der  Anschauung  in  einer  möglichen  Erfahrung. 
Die  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  überhaupt  (die  formalen  Bedingungen 
der  Anschauung  a  priori,  die  Synthesis  der  Einbildungskraft  und  die  nothwendige 
Einheit  derselben  in  einer  transscendentalen  Apperception)  sind  demgemäss  zugleich 
Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Gegenstände  der  Erfahrung  (d.  h.  der  Er- 
scheinungen) und  haben  darum  objective  Gültigkeit  in  einem  synthetischen  Urtheil 
a  priori.  Ebenso  ist  uns  andererseits  keine  ^Erkenntniss  a  priori  möglich,  als 
lediglich  vou  Gegenständen  möglicher  Erfahrung. 

Dingen  an  sich  selbst  würde  ihre  Gesetzmässigkeit  nothwendig  auch  ausser 
einem  Verstände,  der  sie  erkennt,  zukommen.  Allein  Erscheinungen  sind  nur  Vor- 
stellungen von  Dingen,  die  nach  dem,  was  sie  au  sich  sein  mögen,  unerkannt  da 
sind.  Als  blosse  Vorstellungen  aber  stehen  sie  unter  gar  keinem  Gesetze  der 
Verknüpfung,  als  demjenigen,  welches  das  verknüpfende  Vermögen  vorschreibt. 
Verbindung,  sagt  Kant,  ist  nicht  in  den  Gegenständen  und  kann  von  ihnen  nicht 


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§  26.  Kants  Kritik  d.  reiueu  Vernunft  n.  metaph.  Anfungsgr.  der  Naturwissensch.  255 

etwa  darch  Wahrnehmung  entlehnt  und  in  den  Verstand  dadurch  allererst  auf- 
genommen werden,  sondern  ist  allein  eine  Verrichtung  des  Verstandes,  der  selbst 
nichts  weiter  ist,  als  das  Vermögen,  a  priori  zu  verbinden  und  das  Mannigfaltige 
gegebeuer  Vorstellungen  unter  Einheit  der  Apperception  zu  bringen,  welcher  Grund- 
satz der  oberste  der  ganzen  menschlichen  Erkenntniss  ist.  Da  nun  vou  der  Syn- 
thesis  der  Apprehension  alle  mögliche  Wahrnehmung,  diese  empirische  Synthesis 
aber  wiederum  von  der  transscendentalen,  mithin  von  den  Kategorien  abhängt,  so 
müssen  alle  möglichen  Wahrnehmungen,  mithin  auch  alles,  was  zum  empirischen 
Bewusstsein  gelangen  kann,  d.  i.  alle  Erscheinungen  der  Natur,  ihrer  Verbindung 
nach  unter  den  Kategorien  stehen,  von  welchen  die  Natur,  bloss  als  Natur  über- 
haupt betrachtet,  als  dem  ursprünglichen  Grunde  ihrer  notwendigen  Gesetzmässig- 
keit abhängt  *) 

Kant  erwähnt  nachträglich  (Kr.  d.  r.  Vern.  2.  Aufl.  S.  167  f.)  ausser  den  beiden 
Wegen,  auf  welchen  eine  nothwendige  Uebereinstimmung  der  Erfuhrung  mit  den 
Begriffen  vou  ihren  Gegenständen  gedacht  werden  könne  (dass  nämlich  entweder  die 
Erfahrung  diese  Begriffe  oder  diese  Begriffe  die  Erfahrung  möglich  machen),  noch 
einen  Mittelweg,  der  sich  vorschlugen  lasse,  nämlich  die  Annahme,  dass  die 
Kategorien  nicht  empirische,  sondern  subjective,  uns  mit  unserer  Existenz  zugleich 
eingepflanzte  Anlagen  zum  Denken  wären,  die  aber  von  unserm  Urheber  so  ein- 
gerichtet worden,  dass  ihr  Gebrauch  mit  den  Gesetzen  der  Nutur,  an  welchen  die 
Erfuhrung  fortläuft,  genau  übereinstimme.  Er  nennt  diese  Annahme  (die  im  Wesent- 
lichen mit  der  leibnizischen  Theorie  einer  prästabilirten  Harmonie  übereinkommt, 
von  Kant  aber  Proleg.  z.  e.  j.  k.  Met.  in  einer  Note  zu  §  37  Crusius  beigelegt 
wird)  eine  Art  von  Präformationssystem  der  reinen  Vernunft,  erklärt  sich 


*)  Zur  Erkenntniss  besonderer  Gesetze,  weil  diese  empirisch  bestimmte  Er- 
scheinungen betreffen,  muss  nach  Kant  Erfahrung  dazu  kommen.  Doch  liegt  in 
dieser  kantischen  Theorie  ein  mehrfacher  innerer  Widerspruch,  theila  schou 
insofern,  als  die  Dinge  an  sich  uns  afficiren  sollen,  Affection  aber  Zeitlichkeit 
und  Causalität  iuvolvirt,  welchen  Kant  doch  andererseits  als  Formen  a  priori  nur 
innerhalb  der  Erscheinungswe.lt  und  nicht  jenseits  derselben  Gültigkeit  zuerkennt, 
ferner  insofern,  als  diese  Affection  eiuestheils  einen  völlig  ungeformten,  chaotischen 
«Stoff  liefern  müsste,  damit  derselbe  unter  keinem  dem  apriorischen  Gesetz  der 
Verknüpfung  unfügsamen  Gesetze  stehe,  andererseits  doch  einen  geordneten  Stoß", 
damit  nicht  jeder  einzelne  Stoff  zu  jeder  einzelnen  Form  beziehungslos  sei,  alle 
Bestimmung  bloss  von  innen  her  erfolge  und  dadurch  der  Unterschied  des  Em- 
pirischen von  dem  Apriorischen  aufgehoben  werde,  sondern  das  Einzelne  der 
Erscheinung  und  sogar  jedes  besondere  Gesetz  empirisch  bestimmt  sein  könne. 
Muss  aber  für  die  besonderen  Formen  und  Gesetze  der  Grund  in  der  wirklichen 
Beschaffenheit  der  uns  afficirenden  Objecte  oder  .Dinge  an  sich*  gefunden  werden, 
so  lässt  sich  ferner  nachweisen,  dass  die  Art  und  Folge  der  AQ'ectionen  eine  solche 
Ordnung  in  sich  trägt,  wie  sie  nur  aus  dem  objectiv-wirklichen  Behaftetsein  eben 
dieser  „Dinge  an  sich"  mit  der  Zeitlichkeit,  Räumlichkeit,  Causalität  etc.  her- 
fliessen  kann,  womit  der  kantische  Subjectivismus  gestürzt  ist.  (Vgl.  Ueberwegs 
Syst.  d.  Log.  §  44  und  die  oben,  S.  236,  citirte  Abh.  über  den  Grundgedanken 
des  kantischen  Kriticismus.)  Dieser  Beweis  beruht  auf  der  Ableitbarkeit  des 
Gravitationsgesetzes  aus  den  drei  Dimensionen  des  Raumes.  Einem  an  die  drei 
Dimensionen  des  Raumes  geknüpften  Gesetz  könnten  die  Erscheinungen  unterworfen 
sein,  wenn  sie  rein  subjectiv,  d.  h.  bloss  durch  eine  dem  Subject  immanente 
Causalität  bedingt  wären,  was  sie  doch  nach  Kants  eigener  Affections- Lehre  nicht 
sind;  sie  könnten  ihm  nicht  unterworfen  sein,  wenn  die  uns  afficirenden  Dinge  an 
sich  eine  andere  Ordnung  trügen,  also  bleibt  nur  die  Aunahme  übrig,  das» 
diese  Dinge  eine  Ordnung  haben,  welche  der  unseres  Anschauungsraumes  gleich- 
artig sei. 


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25ö  §  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Aufangsgr.  der  Naturwissenach. 


aber  gegen  dieselbe,  weil  in  einem  solchen  Falle  den  Kategorien  die  Notwendig- 
keit mangeln  würde,  die  ihrem  Begriffe  wesentlich  angehöre.*) 

Reine  Verstandesbegriffe  sind  den  empirischen  Anschauungen  ganz  ungleich- 
artig, und  doch  muss  in  allen  Subsumptionen  eines  Gegenstandes  unter  einen  Begriff 
die  Vorstellung  des  ersteren  mit  dem  letzteren  gleichartig  sein.  Um  die  An- 
wendung der  Kategorie  auf  die  Erscheinung  möglich  zu  machen,  muss  es  ein 
Drittes  geben,  was  einerseits  mit  jener,  andererseits  mit  dieser  gleichartig  ist. 
Eine  solche  vermittelnde  Vorstellung,  erzeugt  durch  die  transscendentale  Synthesis 
der  Einbildungskraft,  nennt  Kant  das  transscendentale  Sehema  des  Verstandes 
und  die  Lehre  davon  den  Schematismus  der  reinen  V  i  -Standesbegriffe. 
Nun  ist  die  Zeit  als  eine  Form  a  priori  mit  der  Kategorie,  als  eine  Form  der 
Sinnlichkeit  aber  mit  der  Erscheinung  gleichartig.  Zwischen  ihren  Theilen  Bind 
dieselben  Verhältnisse  in  der  Anschauung  gegeben,  welche  die  Verstandesbegriffe 
nur  „in  abstracter  Form"  zwischen  den  verschiedenen  1  heilen  des  Erkenntniss- 
inhaltes annehmen  lassen.  Daher  ist  eine  Anwendung  der  Kategorie  auf  Erschei- 
nungen vermittelst  der  transsccndentalen  Zeitbestimmung  möglich.**) 

Die  Schemata  gehen  nach  der  Ordnung  der  Kategorien  (Quantität,  Qualität, 
Relation,  Modalität)  auf  die  Zeitreihe,  den  Zeitinhalt,  die  Zeitordnung  und 
den  Zeitinbegriff.  Das  Schema  der  Quantität  ist  die  Zahl.  Das  Schema  der 
Realität  ist  das  Sein  in  der  Zeit,  das  der  Negation  das  Nichtsein  in  der  Zeit.  Das 
Schema  der  Substanz  ist  die  Beharrlichkeit  des  Realen  in  der  Zeit,  das  der  Causalität 
die  Succession  des  Mannigfaltigen,  sofern  sie  einer  Regel  unterworfen  ist,  das  der 
Gemeinschaft  oder  der  wechselseitigen  Causalität  der  Substanzen  in  Ansehung  ihrer 
Accidentien  ist  das  Zugleichsein  der  Bestimmungen  der  einen  mit  denen  der  andern 
nach  einer  allgemeinen  Regel.  Das  Schema  der  Möglichkeit  ist  die  Zusammen- 
stimmung der  Synthesis  verschiedener  Vorstellungen  mit  den  Bedingungen  der  Zeit 
überhaupt,  also  die  Bestimmung  der  Vorstellung  eineB  Dinges  zu  irgend  einer  Zeit, 
das  Schema  der  Wirklichkeit  ist  das  Dasein  in  einer  bestimmten  Zeit,  das  Schema 
der  Nothwendigkeit  ist  das  Dasein  eines  Gegenstandes  zu  aller  Zeit. 

Die  Beziehung  der  Kategorien  auf  mögliche  Erfahrung  muss  alle  reine  Ver- 
standeserkenntniss  a  priori  ausmachen.  Die  Grundsätze  des  reinen  Verstandes  sind 
die  Regeln  des  objectiven  Gebrauchs  der  Kategorien.  Aus  den  Kategorien  der 
Quantität  und  Qualität  fliessen  mathematische  Grundsätze  von  intuitiver  Gewissheit, 
aus  den  Kategorien  der  Relation  und  Modalität  aber  dynamische  Grundsätze  von 
discursiver  Gewissheit. 


*)  Aus  dem  Mangel  eines  Beweises  für  die  Nothwendigkeit  der  Anwendung 
der  Kategorien  auf  die  Objectivität  im  transscendentalen  Sinue  folgt  freilich  nicht 
die  Unmöglichkeit,  dass  sie  auch  für  diese  gelten;  der  „Beweis*  ist  demnach  nicht 
stringent.  Nun  liegt  allerdings  nach  Kants  Absicht  ein  indirecter  Beweis  der 
blossen  Subjectivität  alles  Apriorischen,  Bowohl  der  Anschanungsformen  Raum 
uud  Zeit,  als  auch  der  Kategorien,  in  den  Antinomien,  wovon  in  einem  späteren 
Abschnitt  gehandelt  wird,  Krit.  d.  r.  Vern.  1.  Aufl.  S.  506,  2.  Aufl.  8.  534,  in  der 
Gesammtausg.  von  Rosenkranz  und  Schubert  Bd.  II,  S.  399,  und  dieser  würde, 
wenn  er  zwingend  wäre,  allerdings  die  von  Trendelenburg  behauptete  „Lücke*  aus- 
füllen. Er  leistet  dies  aber  nicht,  weil  die  Beweise  für  die  Antinomien  nur  dann 
Kraft  haben,  wenn  bereits  Kants  Grundgedanken  als  gültig  vorausgesetzt  werden; 
s.  die  oben  citirten  Streitverhandlungen  zwischen  Trendelenburg,  Kuno  Fischer  und 
Anderen. 

**)  Es  bedarf  nicht  eines  besonderen  „Schematismus*,  da  ja  schon  die  Gestaltung 
des  sinnlich  gegebenen  Stoffes  durch  die  beiden  Anschauungsformen  überhaupt 
denselben  zu  der  ferneren  Gestaltung  durch  die  Kategorien  präparirt.  Wenn  es 
aber  doch  desselben  bedarf,  so  scheint  aus  denselben  Gründen,  wie  die  Zeit,  auch 
der  Raum  einen  Schematismus  liefern  zu  können  und  zu  müssen. 


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§  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  a.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwisseusch.  257 

Das  Princip  der  Axiome  der  Anschauung  ist:  alle  Anschauungen  sind 
extensive  Grössen.  Das  Princip  der  A nticipationen  der  Wahrnehmung  ist: 
in  allen  Erscheinungen  hat  das  Reale,  das  ein  Gegenstand  der  Empfindung  ist,  in- 
tensive Grösse,  d.  i.  einen  Grad.  Das  Princip  der  Analogien  der  Erfahrung  ist: 
Erfahrung  ist  nur  durch  die  Vorstellung  einer  nothwendigen  Verknüpfung  der  Wahr- 
nehmungen möglich.  Aus  diesem  Princip  fliesst  der  Grundsatz  der  Beharrlichkeit 
der  Substanz:  bei  allem  Wechsel  der  Erscheinungen  beharrt  die  Substanz,  und  das 
Quantum  derselben  wird  in  der  Natur  weder  vermehrt  noch  vermindert;  der  Grund- 
satz der  Zeitfolge  nach  dem  Gesetz  der  Causalität:  alle  Veränderungen  geschehen 
nach  dem  Gesetz  der  Verknüpfung  der  Ursache  und  Wirkung;  der  Grundsatz  des 
Zugleichseins  nach  dem  Gesetze  der  Wechselwirkung  oder  Gemeinschaft:  alle  Sub- 
stanzen, sofern  sie  im  Räume  als  zugleich  wahrgenommen  werden  können,  sind  in 
durchgängiger  Wechselwirkung.  Die  Poetulate  des  empirischen  Denkens 
sind:  was  mit  den  formalen  Bedingungen  der  Erfahrung  (der  Anschauung  und  den 
Begriffen  nach)  übereinkommt,  ist  möglich;  was  mit  den  materialen  Bedingungen 
der  Erfahrung  (der  Empfindung)  zusammenhängt,  ist  wirklich;  dasjenige,  dessen 
Zusammenhang  mit  dem  Wirklichen  nach  allgemeinen  Bedingungen  der  Erfahrung 
bestimmt  ist,  ist  nothwendig. 

Dem  Beweis  des  zweiten  Postulates,  das  auf  den  Erweis  der  Wirklichkeit 
geht,  hat  Kant  in  der  2.  Aufl.  der  Kr.  d.  r.  Vera,  eine  „Widerlegung  des 
(materialen)  Idealismus"  beigefügt,  die  auf  dem  Satze  beruht,  dass  innere  Erfah- 
rung überhaupt,  an  deren  Vorhandensein  sich  nicht  zweifeln  lasse,  nur  durch  äussere 
Erfahrung  überhaupt,  mithin  nur  unter  der  Voraussetzung  des  Daseins  von  Gegen- 
ständen im  Raum  ausser  uns,  möglich  sei.  Den  Beweisgrund  findet  Kant  darin, 
dass  die  Zeitbestimmung,  die  in  dem  empirisch  bestimmten  Bewusstsein  meines 
eigenen  Daseins  liege,  etwas  Beharrliches  in  der  Wahrnehmung  voraussetze,  das 
von  meinen  Vorstellungen  verschieden  sein  müsse,  damit  der  Wechsel  daran  ge- 
messen werden  könne,  das  also  nur  durch  ein  Ding  ausser  mir  möglich  sei.*) 

*)  Auch  bereits  in  der  1.  Aufl.  (S.  376,  B.  II,  S.  301  der  Ausgabe  der  Werke 


falsche  Bedenklichkeit  wegen  der  objectiven  Realität  unserer  äusseren  Wahrnehmungen 
zu  widerlegen"  gesucht,  nämlich  durch  die  Bemerkung,  dass  äussere  Wahrnehmung 
eine  Wirklichkeit  im  Räume  unmittelbar  beweise,  dass  ohne  Wahrnehmung  selbst 
die  Erdichtung  und  der  Traum  nicht  möglich  seien,  unsere  äusseren  Sinne  also, 
den  Datis  nach,  woraus  Erfahrung  entspringen  könne,  ihre  wirklieben  correspon- 
direnden  Gegenstände  im  Räume  haben.  Aeussere  Gegenstände  im  Raum  aber 
sind,  wie  Kant  immer  aufs  Neuo  wiederholt,  nicht  für  Dinge  an  sich  zu  halten; 
sie  heissen  äussere,  weil  sie  dem  äusseren  Sinn  anhängen,  dessen  Anschauung  der 
Raum  ist.  Der  Raum  ist  nichts,  als  was  in  ihm  vorgestellt  wird,  weil  der  Raum 
selbst  nichts  Anderes  als  Vorstellung  ist.  „Correspondirend"  heisst  hier  nur:  als 
Erecheinungsobject  unsern  (gleichfalls  in  die  Erscheinung  fallenden)  Sinnen  corre- 
spondirend  (obschon  hierin  eine  angreifbare  Schwäche  der  kantischen  Annahme 
liegt).  Unter  dem  „Beharrlichen  in  der  Wahrnehmung"  kann  Kant  nur  die  beharr- 
liche Erscheinung  im  Raum,  die  undurchdringliche  ausgedehnte  Substanz  verstehen. 
Vgl.  auch  Proleg.  zur  Metuph.  §  49.  Die  .Widerlegung"  soll  nach  Kants  Aussage 
in  der  2.  Aufl.  der  Kr.  zunächst  den  „problematischen  Idealismus'  des  Descartes 
treffen,  der  die  Wirklichkeit  der  Aussendinge  nur  für  unbeweisbar  erkläre,  damit 
aber  zugleich  auch  den  dogmatischen  Idealismus  des  Berkeley,  der  dieselbe  leugne. 
Gegen  Descartes,  der  die  innere  Wahrnehmung  für  sicherer  hält  als  die  äussere, 
sucht  Kant  nachzuweisen,  dass  die  äussere  der  inneren  nicht  nachstehe,  was  aber 
auf  seinem  Standpunkt  nur  heissen  kann,  dass  beide  uns  die  empirische  Realität 
der  Erscheinungen  sichern.  Hierdurch  wird  die  cartesianische  Bevorzugung 
des  inneren  Sinnes  zurückgewiesen.  Dass  jedoch  eben  hierdurch  mittelbar  auch 
Berkeleys  Idealismus  getroffen  werde,  ist  ein  Irrthum;  denn  die  Wendung, 

Uebcrweg-Heinxe,  (Jrondriss  HI.  7.  Anfl.  |^ 


von  Rosenkranz  und  Schubert) 


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258  §  25-  Kunts  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Natnrwissensch. 


Obgleich  unsere  Begriffe  die  Eintheilung  in  sinnliche  und  intellectuelle  zu- 
lassen, so  dürfen  doch  nicht  die  Gegenstände  in  Objecte  der  Sinne  oder  Phae- 
nomena  und  Gegenstände  des  Verstandes  oder  Noumeua  im  positiven  Sinne 
eingetheilt  werden.  Denn  die  Begriffe  des  Verstandes  finden  nur  auf  die 
Objecte  der  sinnlichen  Anschauung  Anwendung;  ohne  Anschauung  sind 
.sie  gegenstandslos,  und  eine  nicht-sinnliche  oder  intellectuelle  Anschauung  besitzt 
der  Mensch  nicht.  Wohl  aber  ist  der  Begriff  eines  Noumenou  in  negativer 
Bedeutung  zulässig,  indem  wir  darunter  ein  Ding  verstehen,  sofern  es  nicht  Object 
unserer  sinnlichen  Anschauung  ist.  In  diesem  Sinne  sind  die  Dinge  an  sich  Noumena, 
die  aber  nicht  durch  die  Kategorien  des  Verstandes,  sondern  nur  als  ein  unbe- 
kanntes Etwas  zu  denken  sind.*)  Dass  Kant  die  „Dinge  au  sich"  aber  als  nothwendig 
existirend,  um  Erfahrung  überhaupt  zu  Stande  zu  briugen.  angesehen  hat,  erhellt 
aus  vielen  Stellen  seiner  Kritik  d.  r.  V.  Namentlich  sprechen  auch  die  Prolegomena 
dafür.  So  heisst  es  z.  B.  daselbst  §  32:  „In  der  That,  wenn  wir  die  Gegenstände 
der  Si IHK-  wie  billig  als  blosse  Erscheinungen  ansehen,  so  gestehen  wir  doch  dadurch 
zugleich,  dass  ihnen  ein  Ding  an  sich  selbst  zu  Grunde  liege,  ob  wir  dasselbe  gleich 
nicht,  wie  es  an  sich  beschaffen  sei,  sondern  nur  seine  Erscheinung,  d.  i.  die  Art, 
wie  unsere  Sinne  von  diesem  uubekannten  Etwas  afficirt  werdeu.  erkennen.  Der 
Verstand  also,  eben  dadurch,  dass  er  Erscheinungen  annimmt,  gesteht  auch  das 
Dasein  von  Dingen  an  sich  selbst  zu,  und  sofern  können  wir  sagen,  dass  die  Vor- 
stellung solcher  Wesen,  die  den  Erscheinungen  zum  Grunde  liegen,  mithin  blosser 
Verstandeswesen,  nicht  allein  zulässig,  sondern  auch  unvermeidlich  sei".**)  Vgl. 
auch  Anm.  II  zu  §  13  der  Prolegomena. 

die  Erscheinungen  oder  Ideencomplexe  wirkliche  Dinge  zn  nennen,  weil  sie  etwas 
in  uns  Reales  sind,  findet  sich  bei  Berkeley  ebensowohl  wie  bei  Kant,  und  dass 
die  Erscheinung  eines  Baumes,  eines  Berges,  eines  Sterns  etc.  ausserhalb  der 
Erscheinung  unseres  eigenen  Leibes  liege,  und  dass  in  diesem  Sinne  von  .Dingen 
im  Raum  ausser  uns"  geredet  werden  könne,  ist  selbstverständlich.  Kants  Irrthum, 
dass  seine  Argumentation  anch  mit  gegen  Berkeley  gehe,  erklärt  sich  aus  der 
nahe  liegenden  ungenauen  Auffassung  der  berkeleysehen  Doctrin,  als  ob  diese  die 
Wirklichkeit  der  Dinge  im  Raum  bestreite  und  diese  Dinge  für  blosse  .Ein- 
bildungen" erkläre.   S.  darüber  die  ob.  S.  238  angeführte  Schrift  von  Janitsch. 

*)  Die  Folgerung  Späterer,  weil  das  Ding  an  sich  nicht  in  Raum  und  Zeit 
sei,  müsse  es  „in  der  Gedankenwelt*  sein,  ist  demnach  auf  kantischem  Standpunkte 
unzulässig.  Versteht  man  unter  dem,  was  in  der  Gedankenwelt  sei,  etwas  unserm 
Denken  Immanentes,  also  einen  Begriff  oder  Gedanken,  so  gilt  dies  von  dem 
.Ding  an  sich*  gar  nicht;  versteht  man  darunter  ein  transsceudeutales  Object  unseres 
Denkens,  so  gilt  dies  von  dem  ..Ding  an  sich"  nur  insofern,  als  wir  sein  Dasein 
überhaupt  annehmen  müssen,  aber  nicht  in  dem  Sinne,  dass  die  Kategorien  unseres 
Denkens  darauf  Anwendung  finden  können.  Unverkennbar  aber  hat  Kants  Be- 
ziehung des  dem  platonischen  Gedankenkreise  entstammten  Begriffs  der  Noumena 
auf  seine  Dinge  an  sich  trotz  der  ( 'lausei,  dass  derselbe  nur  in  negativem  Sinne 
gelten  solle,  schon  bei  Kant  selbst  Verwirrung  gestiftet  und  die  IJineintragung 
von  Fremdartigem  vermittelt,  insbesondere  die  Hineintragung  von  Werth- 
hestimmungcn  in  den  Begriff  der  Dinge  an  sich.  Dass  die  räum-,  zeit-  und 
cansalitätsloscn  Dinge  an  sich,  welche  uns  afficiren,  etwas  Besseres  und  Höheres 
seien,  als  die  Erscheinungen,  ist  eine  mindestens  willkürliche  Annahme,  die  aber 
durch  jenen  platonischen  Terminus,  namentlich  in  der  Engegensetzung:  homo 
uoumenon,  homo  phaenomenon,  eine  anscheinende  Stütze  erhält  und  so  in  die  Ethik 
eingeführt  wird. 

**)  Neuere  wie  A.  Krause,  K.  Lasswitz  is.  ob.  S.  238 f.)  stellen  die  Lehre  Kants 
so  dar,  dass  bei  der  Erfahrung  von  dem  Ding  an  sich  als  dem  einen  Factor  gar 
nicht  die  Rede  sein  könne.  Wenn  für  diese  Auffassung  geltend  gemacht  wird,  ein 
blosses  Noumenon  könne  nicht  wirken,  so  vergisst  man,  dass  Kant  mit  dem  Aus- 
druck Noumenon  (s.  Proleg.  §  32)  sich  an  griechische  Philosophen  anschliesst,  von 
welchen  den  Verstandesweseu  allein  volle  Wirklichkeit  zugestanden  wurde.    Es  ist 


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§26.  Kants  Kritik  d.  reineu  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch.  259 


Durch  Verwechselung  des  empirischen  Verstandesgebrauchs  mit  dem  trana- 
scendentalen  entsteht  die  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe.  Die  Reflex  ions- 
begriffe  sind:  Einerleiheit  und  Verschiedenheit,  Einstimmung  und  Widerstreit, 
Inneres  und  Aeusseres,  Bestimmbares  und  Bestimmung  (Materie  und  Form).  Die 
transscendentale  Ueberlegung  (reflexio)  ist  die  Handlung,  dadurch  ich  die  Ver- 
gleichung  der  Vorstellungen  überhaupt  mit  der  Erkenntnisskraft  zusammenhalte, 
darin  sie  angestellt  wird,  und  unterscheide,  ob  sie  als  gehörig  zum  reinen  Ver- 
stände oder  zur  sinnlichen  Anschauung  untereinander  verglichen  werden.  Kant 
findet  die  Quelle  des  leibnizischen  Systemes,  welches  die  Erscheinungen  intellectuire, 
in  der  von  Leibniz  nicht  erkannten  Amphibolie  der  Reflexionsbegrifle.  Leibniz 
bezog  den  Verstandesgebrauch  bei  der  Vergleichung  der  Vorstellungen  fälschlich 
auf  Objecte  an  sich  und  nahm  den  Begriff  des  Noumenon  im  positiven  Sinne. 
Er  hielt  die  Sinnlichkeit  nur  für  eine  verworrene  Vorstellung  und  glaubte  die 
innere  Beschaffenheit  der  Dinge  zn  erkennen,  indem  er  alle  Gegenstände  nur 
mittelst  des  Verstandes  und  der  abgesonderten  formalen  Begriffe  seines  Denkens 
verglich;  so  fand  er  natürlich  keine  anderen  Verschiedenheiten,  als  die,  durch 
welche  der  Verstand  seine  reinen  Begriffe  von  einander  unterscheidet.  Daraus 
ergaben  sich  ihm  die  Sätze,  dass  das  begrifflich  nicht  zu  Unterscheidende  schlecht- 
hin ununterschieden  oder  identisch  sei,  dass  Realitäten  als  blosse  Bejahungen 
einander  realiter  nicht  durch  Entgegenstreben  aufheben  können,  da  zwischen  ihnen 
kein  logischer  Widerspruch  stattfindet,  dass  wir  den  Substanzen  keinen  andern 
innern  Znstand,  als  den  der  Vorstellungen,  beilegen  und  ihre  Gemeinschaft  unter 
einander  nur  als  prästabilirte  Harmonie  denken  dürfen,  endlich,  dass  der  Raum 
nur  als  die  Ordnung  in  der  Gemeinschaft  der  Substanzen  und  die  Zeit  als  die 
dynamische  Folge  ihrer  Zustände  zu  denken  sei.  Kant  will,  dass  jene  Vergleichungs- 
begriffe auf  die  Erscheinungswelt  nur  unter  Mitberücksichtigung  der  an  die  sinn- 
liche Anschauung  (welche  ihre  eigenthümlichen  Formen  habe  und  nicht  bloss  ver- 
worrene Auffassung  sei)  geknüpften  Unterschiede,  auf  die  Dinge  an  sich  (oder 
Noumena)  aber  überhaupt  nicht  angewandt  werden.  —  Mit  der  Amphibolie  der 
Reflexionsbegriffe  endigt  die  transscendentale  Analytik. 

Die  transscendentale  Dialektik  hat  nun  die  Aufgabe,  den  Schein  trans- 
scendenter  Urtheile  aufzudecken  und  sogar  zu  verhüten,  dass  er  betrüge.  Dass  er 
aber  ganz  verschwinde,  wie  der  logische  Schein,  der  nur  aus  dem  Mangel  an  Auf- 
merksamkeit auf  die  logischen  Regeln  besteht,  und  überhaupt  aufhöre,  ein  Schein 
zu  sein,  das  kann  sie  nicht  bewerkstelligen;  denn  es  giebt  hier  eine  natürliche 
und  unvermeidliche  Illusion.  Die  transscendentale  Dialektik  hat  es  mit  der 
Vernunft  zu  thun,  wie  die  Analytik  mit  dem  Verstände.  Es  giebt  aber  von  der 
Vernunft  nicht  einen  bloss  formalen,  d.  h.  logischen  Gebrauch,  indem  die  Vernunft 
von  allem  Inhalt  der  Erkenntniss  absieht,  sondern  auch  eineu  realen,  indem  sie 
selbst  den  Ursprung  gewisser  Begriffe  und  Grundsätze  enthält,  die  sie  weder  von 
den  Sinnen  noch  von  dem  Verstände  hat.  So  ist  die  Vernunft  sowohl  ein  logisches 
als  auch  ein  transscendentales  Vermögen,  und  es  muss  so  ein  höherer  Begriff  für 
sie  gesucht  werden,  der  die  beiden  unter  sich  befasst.  Freilich  kann  nach  Analogie 
der  Verstandesbegriffe  erwartet  werden,  dass  der  logische  Begriff  zugleich  den 

• 

durchaus  nicht  absurd,  wenn  Kant  dies  auch  thut.  Eine  andere  Frage  ist  es,  ob 
er  mit  dieser  Statuirung  der  Verstandeswesen  nicht  mit  seiner  sonstigen  Lehre  in 
Widerspruch  kommt.  S.  üb.  diesen  Streitpunkt  Rud.  Seydel,  zur  Auslegung  K.s, 
in:  Die  Grenzboten,  1883,  II,  S.  582— 5J>5,  u.  die  Entgegnung  v.  A.  Classen.  der 
die  krausesche  Auffassung  vertritt  ebd.  S.  650 — 662,  sowie  von  letzterem  einige 
Artikel  in  demselb.  Blatt,  Jahrg.  1881  u.  1882.    S.  übrig,  mit.  8.  262,  Anm. 

17* 


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260   §  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  n.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch. 


Schlüssel  zum  transscendentalen  und  die  Tafel  der  Functionen  der  ersteren  zugleich 
die  Stammleiter  der  Vernunftbegriffe  ergeben  werde. 

Ist  der  Verstand  das  Vermögen  der  Einheit  der  Erscheinungen  vermittelst  der 
Regeln,  so  ist  die  Vernunft  das  Vermögen  der  Einheit  der  Verstandesregeln  unter 
Principien  oder  das  Vermögen  der  Principien.  Die  Vernunft  sucht  in  ihrem  logischen 
Gebrauch  die  allgemeine  Bedingung  ihres  Urtheils  (des  Schlusssatzes),  für  diese 
Bedingung  wird  aber  wieder  eine  Bedingung  durch  die  Vernunft  gesucht,  und  in 
dieser  Art  geht  es  weiter.  So  ist  der  eigentümliche  Grundsatz  der  Vernunft  im 
logischen  Gebrauche:  Zu  dem  bedingten  Erkenntniss  des  Verstandes  das  Unbedingte 
zu  finden,  und  diese  logische  Maxime  kann  nicht  anders  ein  Princip  der  reinen 
Vernunft  werden,  als  dadurch,  dass  man  annimmt:  Wenn  das  Bedingte  gegeben  ist, 
so  ist  auch  die  ganze  Reihe  einander  untergeordneter  Bedingungen  gegeben,  die 
mithin  selbst  unbedingt  ist  Wenn  eine  ErkenntniBs  als  bedingt  angesehen  wird, 
so  ist  die  Vernunft  genöthigt,  die  Reihe  der  Bedingungen  in  aufsteigender  Linie 
als  vollendet  und  ihrer  Totalität  nach  gegeben  anzusehen,  und  diese  ganze  Reihe 
musfl  unbedingt  wahr  sein,  wenn  das  Bedingte,  welches  als  eine  daraus  entsprin- 
gende Folgerung  angesehen  wird,  als  wahr  gelten  soll.  Die  aus  diesem  obersten 
Princip  entspringenden  Grundsätze  werden  in  Ansehung  aller  Erscheinung  trans- 
scendent  Bein ;  es  wird  kein  adäquater  empirischer  Gebrauch  jemals  von  denselben 
gemacht  werden  können. 

Kant  nennt  nun  Idee  einen  nothwendigen  Vernunftbegriff,  dem  kein  con- 
gruirender  Gegenstand  in  den  Sinnen  gegeben  werden  kann.  Die  reine  Vernunft 
bezieht  sich  niemals  geradezu  auf  Gegenstände,  sondern  auf  die  Verstandesbegriffe 
von  denselben.  Wie  die  Verstandesbegriffe  aus  den  Formen  der  Urtheile  sich  ent- 
nehmen liessen,  indem  die  Weise  der  Sjnthesis  der  Anschauungen  im  Urtheil 
begrifflich  aufgefasst  wurde,  so  lassen  die  transscendentalen  Vernunftbegriffe  sich 
aus  den  Formen  der  Vernunftschlüsse  entnehmen.  Die  Vemunftschlüsse  sind  theils 
kategorisch,  theils  hypothetisch,  theils  disjunetiv.  Das  Allgemeine  aller 
Beziehung,  die  unsere  Vorstellungen  haben  können,  ist  nun  auch  dreierlei:  1.  die 
Beziehung  aufs  Subject,  2.  die  Beziehung  auf  Objecte,  und  letztere  entweder  auf 
Objecte  als  Erscheinungen  oder  als  Gegenstände  des  Denkens  überhaupt,  d.  h.  auf 
alle  Dinge  überhaupt.  Demgemäss  giebt  es  drei  transscendentale  Vernunftbegriffe: 
ein  Unbedingtes  1.  der  kategorischen  Sjnthesis  in  einem  Subject,  2.  der  hypothe- 
tischen Synthesis  der  Glieder  einer  Reihe,  3.  der  disjunetiven  Synthesis  der  Theile 
in  einem  System.  Der  erste  dieser  Vernunftbegriffe  ist  der  der  Seele  als  der 
absoluten  Einheit  des  denkenden  Subjects,  der  zweite  der  der  Welt  als  der  abso- 
luten Einheit  der  Reihe  der  Bedingungen  der  Erscheinung,  der  dritte  der  der 
Gottheit  als  der  absoluten  Einheit  aller  Gegenstände  des  Denkens  überhaupt  oder 
als  des  alle  Realität  in  sich  befassenden  Wesens  (ens  realissimum).  Diesen 
drei  Ideen  gemäss  giebt  es  drei  dialektische  Vernunftschlüsse,  welche  So- 
phisticationen  nicht  der  Menschen,  sondern  der  reinen  Vernunft  selbst  sind,  und  es 
hängt  diese  Illusion  der  menschlichen  Vernunft  ebenso  ,unhintertreiblich"  an  wie 
gewisse  optische  Täuschungen  dem  Sehen  und  kann  gleich  diesen  zwar  durch  Kritik 
erklärt  und  unschädlich  gemacht,  aber  nicht  schlechthin  beseitigt  werden.  Auf  die 
Idee  der  Seele  als  einer  einfachen  Substanz  geht  der  psychologische  Para- 
logismus,  auf  das  Weltganze  beziehen  sich  die  kosmologischen  Antinomien . 
das  allerrealste  Wesen  endlich  als  das  Ideal  der  reinen  Vernunft  betreffen  die  ver- 
suchten Beweise  für  das  Dasein  Gottes. 

Die  rationale  Psychologie  gründet  sich  auf  das  blosse  Bewusstsein  des 
denkenden  Ich  von  sich  selbst;  denn  wollten  wir  die  Beobachtungen  über  das 
Spiel  unserer  Gedanken  und  die  daraus  zu  schöpfenden  Naturgesetze  des  denkenden 


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§  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metuph.  Anfangsgr.  der  Naturwissenach.  261 


Selbst  auch  zu  Hülfe  nehmen,*)  so  würde  eine  empirische  Psychologie  entspringen, 
die  solche  Eigenschaften,  welche  gar  nicht  zur  möglichen  Erfahrung  gehören,  wie 
namentlich  die  der  Einfachheit,  nicht  darzuthun  vermöchte  und  keine  apodiktische 
Gültigkeit  beanspruchen  könnte.  Aus  dem  Ichbewusstsein  sucht  die  rationale 
Psychologie  zu  erweisen,  dass  die  Seele  als  Substanz  (und  zwar  als  immaterielle 
Substanz)  exiatire,  als  einfache  Substanz  incorruptibel,  als  intellectuelle  Substanz 
stets  mit  sich  selbst  identisch  oder  eine  Person,  in  möglichem  Commercium  mit 
dem  Körper  und  unsterblich  sei.  Aber  die  Schlüsse  der  rationalen  Psychologie 
(in  deren  Darlegung  sich  Kant  an  die  Form  zunächst  angeschlossen  zu  haben 
scheint,  welche  dieselben  bei  Knutzen,  von  der  immat.  Natur  der  Seele,  bei  Rei- 
marus,  die  vornehmsten  Wahrh.  der  nat.  Rel.,  und  bei  Mendelssohn,  Phädon.  trugen) 
involviren  eine  unzulässige  Anwendung  des  Substanzbegriffs,  der  Anschauung  vor- 
aussetzt und  nur  für  Erscheinungsobjecte  gilt,  auf  das  Ich  als  transscendentales 
Object.  Dass  Ich,  der  ich  denke,  im  Denken  immer  nur  als  Subject  und  als  etwas, 
das  nicht  bloss  wie  ein  Prädicat  dem  Denken  anhänge,  gelten  müsse,  ist  ein 
apodiktischer  und  selbst  identischer  Satz;  aber  er  bedeutet  nicht,  dass  ich  als 
Object  ein  für  mich  selbst  bestehendes  Wesen  oder  Substanz  sei.  Ebenso  liegt 
zwar  schon  im  Begriffe  des  Denkens,  dass  das  Ich  der  Apperception  ein  logisch 
einfaches  Subject  bezeichne,  was  ein  analytischer  Satz  ist;  aber  das  bedeutet  nicht, 
dass  das  denkende  Ich  eine  einfache  Substanz  sei,  was  ein  synthetischer  Satz  'sein 
würde.  Die  Identität  meiner  selbst  bei  allem  Mannigfaltigen,  dessen  ich  mir 
bewusst  bin,  ist  wiederum  ein  analytischer  Satz;  aber  daraus  folgt  nicht  die  Iden- 
tität einer  denkenden  Substanz  in  allem  Wechsel  der  Zustände.  Dass  ich  endlich 
meine  Existenz  als  eines  denkenden  Wesens  von  anderen  Dingen  ausser  mir,  wozu 
auch  mein  Körper  gehört,  unterscheide,  ist  ein  analytischer  Satz;  aber  ob  dieses 
Bewusstsein  meiner  selbst  ohne  Dinge  ausser  mir  möglich  sei  und  ich  also  auch 
ohne  Körper  existiren  könne,  weiss  ich  dadurch  gar  nicht.  Der  dialektische  Schein 
in  der  rationalen  Psychologie  beruht  auf  der  Verwechselung  der  Möglichkeit  der 
Abstraction  von  meiner  empirisch  bestimmten  Existenz,  wodurch  ich  den  in 
allen  Stücken  unbestimmten  Begriff  eines  denkenden  Wesens  überhaupt  gewinne, 
mit  der  Möglichkeit  einer  abgesonderten  Existenz  meines  denkenden  Selbst. 

Die  Aufgabe,  die  Geraeinschaft  der  Seele  mit  dem  Körper  zu  erklären,  wird 
durch  die  zwischen  beiden  vorausgesetzte  Uugleichartigkeit  erschwert,  indem  jener 
nur  eine  zeitliche,  diesem  auch  eine  räumliche  Existenz  zukommt.  Bedenkt  man 
aber  (sagt  Kant,  Kr.  d.  r.  V.,  2.  Aufl.  S.  427  f.),  dass  beiderlei  Arten  von  Gegen- 
ständen sich  hierin  nicht  innerlich,  sondern  insofern  nur  eins  dem  andern  äusserlich 
erscheint,  von  einander  unterscheiden,  mithin  das,  was  der  Erscheinung  der  Materie 
als  Ding  an  sich  selbst  zum  Grunde  liegt,  vielleicht  so  ungleichartig  nicht 
sein  dürfte,  so  verschwindet  diese  Schwierigkeit,  und  es  bleibt  keine  andere 
übrig  als  die,  wie  überhaupt  eine  Gemeinschaft  von  Substanzen  möglich  sei, 
welche  zu  lösen  ganz  ausser  dem  Felde  der  Psychologie  und  aller  menschlichen 
Erkenntniss  liegt.  Der  hier  nur  kurz  angedeutete  Gedanke  der  möglichen 
Gleichartigkeit  zwischen  dem  Realen,  das  den  Erscheinungen  des  äusseren 
Sinnes,  und  dem,  das  den  Erscheinungen  des  inneren  Sinnes  zum  Grunde  liegt, 
findet  sich  in  der  ersten  Aufl.  d.  Kr.  d.  r.  V.  weiter  ausgeführt.  In  der  Psycho- 
logie gilt  der  Dualismus  im  empirischen  Verstände,  auf  die  Erscheinungen  bezogen ; 
im  transscendentalen  Verstände  aber  gilt  weder  der  Dualismus,  noch  der  Fneuma- 


*)  Etwa,  wie  später  Herbart  auf  die  gegenseitige  Verbindung  der  Vor- 
stellungen einen  Beweis  für  die  punctuelle  Einfachheit  der  Seele  zu  gründen  ver- 
sucht hat 


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I 


262   §  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch. 

tismus  (Spiritualismus),  noch  der  Materialismus,  welche  sämmtlich  die  Verschieden- 
heit der  Vorstellungsart  von  Gegenständen,  die  uns  nach  dem,  was  sie  an  sich 
sind,  unbekannt  bleiben,  für  eine  Verschiedenheit  dieser  Dinge  selbst  halten.  ,Das 
transscendentale  Object,  welches  den  äusseren  Erscheinungen,  ingleichen  das,  was 
der  inneren  Anschauung  zu  Grunde  liegt,  ist  weder  Materie,  noch  ein  denkendes 
Wesen  an  sich  selbst,  sondern  ein  unbekannter  Grund  der  Erscheinungen,  die  den 
empirischen  Begriff  von  der  ersten  sowohl  als  zweiten  Art  au  die  Hand  geben" 
(Kr.  d.  r.  V-,  1.  Aufl.,  S.  379,  bei  Ros.  II,  S.  303).  „Ich  kann  wohl  annehmen, 
dass  der  Substanz,  der  in  Ansehung  unseres  äusseren  Sinnes  Ausdehnung 
zukommt,  an  sich  selbst  Gedanken  beiwohnen,  die  durch  ihren  eigenen  inneren 
Sinn  mit  Bewusstsein  vorgestellt  werden  können;  auf  solche  Weise  würde  eben 
dasselbe,  was  in  einer  Beziehung  körperlich  heisst,  in  einer  andern  zugleich  ein 
denkendes  Wesen  sein,  dessen  Gedanken  wir  zwar  nicht,  aber  doch  die  Zeichen 
derselben  in  der  Erscheinung  anschauen  können"  (ebd.  S.  359,  bei  Ros.  II,  S.  288  f.). 
Diese  letztere  hier  als  möglich  bezeichnete  Annahme  steht  der  leibnizischen 
Monadologie  nahe,  sofern  nach  dieser  zwar  nicht  eine  einzelne  Monade,  aber 
doch  ein  Monadencomplex  unseren  Sinnen  als  ein  ausgedehntes  Ding  erscheint  und 
zugleich  in  sich  selbst  Wesen  enthält,  welche  Vorstellungen  haben,  und  Wesen 
enthalten  kann,  die  mit  Bewasstsein  vorstellen  und  denken;  noch  näher  steht  sie 
der  von  Kant  in  der  .Monadologia  physica"  entwickelten  Ansicht.  In  einem 
andern  Sinne  berührt  sich  jene  Annahme  mit  dem  Spinozismus,  welcher  der 
Einen  Substanz  Denken  und  Ausdehnung,  freilich  als  reale  Attribute,  zuschreibt. 
In  der  zweiten  Auflage  der  Vernunftkritik  hat  Kant  diese  Möglichkeit  nicht  negirt, 
vielmehr  durch  den  oben  citirten  Satz  wiederum  angedeutet,  der  näheren  Aus- 
führung aber  sich  enthalten.*) 


*)  Hierin  liegt  sachlich  keine  Aenderung  des  kautischen  Gedankens;  jedoch 
bekundet  sich  formell  eine  grössere  Strenge  in  der  Anwendung  des  kritischen 
Princips,  sofern  nunmehr  Kant  vorzieht,  unbeweisbare  dogmatische  Annahmen 
auch  nicht  einmal  als  Hypothesen  auszuführen,  sondern  sich  auf  die  kürzeste 
Andeutung  zu  beschränken.  Uebrigens  geht  jene  Hypothese  offenbar  nicht  darauf, 
dass  das  transscendentale  Substrat  äusserer  Erscheinungen  mit  unserm  denkenden 
Ich  identisch,  oder  dass  es  gar  nur  ein  Gedanke  des  Ich  sei,  sondern  darauf, 
dass  es  möglicherweise  auch  selbst  ein  denkendes  Wesen  sei  und  daher  dem 
transscendeutalen  Substrat  des  inneren  Sinnes  gleichartig  sein  könne,  etwa  so, 
wie  im  leibnizischen  System  sämmtliche  Monaden  einander  gleichartig  sind,  oder 
vielmehr  so,  wie  diejenigen  „physischen  Monaden"  einander  gleichartig  sind,  welche 
Kant  vermöge  seiner  eigenen  Umbildung  der  leibnizischen  Monadenlehre  in  seiner 
„Monadologia  physica"  vom  Jahre  1756  annimmt;  und  nur,  weil  wir  von  dem 
transscendentalen  "Substrat  nach  Kant  gar  nichts  Näheres  wissen  können,  so  liegt 
ferner  in  der  Consequenz,  dass  auch  noch  andere  Annahmen,  wie  etwa  jene  Identität»- 
ansieht,  sofern  sie  als  blosse  Hypothesen  auftreten,  nicht  widerlegt  werden  können. 
Sehr  mit  Unrecht  würde  man  die  hier  (in  dem  Abschnitt  über  den  psychologischen 
Paralogismus)  vou  Kant  gewagte  Vermuthung  dem  fichteschen  Subjcctivismus 
gleichsetzen.  Es  ist  wahr,  dass  Kants  Aeusserungen  über  das  transscendentale 
Obiect  etwas  Schwankendes  haben;  aber  dieses  Schwanken  findet  sich  (als  natürliche 
Folge  des  von  der  kantischen  Doctrin  unabtrennbaren  Widerspruchs,  dass  das 
transscendentale  Object  Ursache  der  Erscheinungen  sein  Boll  und  doch  nicht  Ursache 
sein  kann)  auch  bereits  in  der  ersten  Auflage  der  Kr.  d.  r.  V.  und  ist  keineswegs 
erst  (wie  Schopenhauer  u.  A.  behauptet  haben)  in  der  zweiten  zu  finden.  Vgl. 
z.  B.  in  beiden  Auflagen  die  Stellen  einerseits  bei  Ros.  II,  S.  235,  andererseits 
ebend.  S.  391,  Z.  9  v.  o.ff.;  auch  Proleg.  §  57,  ebeud.  III,  S.  124.  Mögen  die 
Aeusserungen,  in  welchen  Kaut  unser  Nichtwissen  um  die  Natur  des  transscenden- 
talen Objectes  betont,  in  der  ersten  Aufl.  der  Kr.,  später  aber,  da  er  Missverständ- 
nisseu  gegenüber  den  Unterschied  seiner  Ansicht  von  dem  berkeleyschen  Idealismus 
deutlicher  zu  macheu  bemüht  war,  die  Aeusserungen,  worin  er  die  Notwendigkeit 


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§  25.  Kauts  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Aufangsgr.  der  NaturwiBsensch.  263 


Ging  die  erste  Art  der  vernünftelnden  Schlüsse  auf  die  unbedingte  Einheit  der 
subjectiven  Bedingungen  aller  Vorstellungen  überhaupt  (des  Subjeets  oder  der  Seele) 
in  Correspondenz  mit  den  kategorischen  Vernunftschlüssen,  deren  Obersatz,  als 
Prtncip,  die  Beziehung  des  Prädicats  auf  ein  Subject  aussagt,  so  wird  die  zweite 
Art  des  dialektischen  Arguments  nach  der  Analogie  mit  hypothetischen  Vernunft- 
schlüsseu  die  unbedingte  Einheit  der  objectiven  Bedingungen  in  der  Erscheinung  zu 
ihrem  Inhalte  machen.  Es  bilden  sich  hier  vier  kosmologische  Ideen  nach  den 
vier  Titeln  der  Kategorien:  1.  Die  absolute  Vollständigkeit  der  Zusammen- 
setzung des  gegebenen  Ganzen  aller  Erscheinungen  (die  absolute  Identität  in 
Bezug  auf  Raum  und  Zeit),  2.  die  absolute  Vollständigkeit  der  Theilung 
eines  gegebenen  Ganzen  in  der  Erscheinung  (die  vollendete  Theilung  der  Materie 
entweder  in  nichts  oder  In  das  Einfache,  was  nicht  mehr  Materie  ist),  3.  die 
absolute  Vollständigkeit  der  Entstehung  einer  Erscheinung  überhaupt, 
4.  die  absolute  Vollständigkeit  der  Abhängigkeit  des  Daseins  des 
Veränderlichen  in  der  Erscheinung. 

Während  nun  der  transscendentale  Paralogismus  nur  eiucn  einseitigen  Schein 
in  Ansehung  der  Idee  von  dem  Subjecte  unseres  Denkens  bewirkt  und  sich  für  das 
Gegentheil  nicht  das  Mindeste  aus  Vernnuftbegriffen  vorbringen  lässt,  zeigt  sich 
hier,  wenn  wir  die  Vernunft  auf  die  objective  Synthesis  der  Erscheinungen  an- 
wenden, eine  ganz  natürliche  Antithetik,  in  welche  die  Vernunft  von  selbst  und 
zwar  unvermeidlich  geräth  und  so  zwar  vor  dem  einseitigen  Schein  einer  ein- 
gebildeten Ueberzcugung  bewahrt,  aber  zugleich  in  Versuchung  gebracht  wird, 
sich  entweder  einer  skeptischen  Hoffnungslosigkeit  zu  überlassen  oder  mit  dog- 
matischem Trotz  sich  auf  eine  Behauptung  zu  steifen,  ohne  die  Gründe  für  das 
Gegentheil  zu  würdigen. 

So  Hiessen  aus  den  kosmologischen  Ideen  die  vier  Antinomien,  d.  h. 
einander  widersprechende  Sätze,  die  sich  doch,  sofern  die  Erscheinungswelt  für 
real  im  trausscendentalen  Sinne  gehalten  wird,  aus  dieser  Voraussetzung  mit  gleich 
Btrenger  Consequenz  ergeben.  (Vgl.  uusser  der  von  Herbart,  Hegel,  Schopen- 
hauer u.  A.  geübten  Kritik  insbesondere  noch  die  oben  S.  235  angeführte  Ab- 
handlung von  Jos.  Richter.) 

Auf  die  Quantität  der  Welt  bezieht  sich  die  erste  Antinomie.  Thesis: 
die  Welt  hat  einen  Anfang  in  der  Zeit  und  Grenzen  im  Raum.  Anti thesis:  die 
Welt  ist  anfangslos  uud  ohne  Grenzen  im  Raum. 

Auf  die  Qualität  der  Welt  geht  die  zweite  Antinomie.  Thesis:  eine  jede 
zusammengesetzte  Substanz  in  der  Welt  besteht  aus  einfachen  Theilen.  Antithesis: 
es  existirt  nichts  Einfaches. 

der  Voraussetzung  der  Dinge  au  sich  als  des  trausscendentalen  Grundes  der  Er- 
scheinungswclt  hervorhebt,  einigermaassen  häufiger  sein,  so  ist  doch  Kants  Ansicht 
im  Wesentlichen  die  gleiche  geblieben,  nämlich  es  sei  anzunehmen,  dass  trans- 
scendentale Objecte  oder  Dinge  an  sich  existiren  (was  einem  Jeden  in  Bezug  auf 


welcher  ich,  wie  Kant  sagt,  mir  meiner  selbst  bewusst  bin,  nicht  wie  ich  mir 
erscheine,  aber  auch  nicht,  wie  ich  an  mir  selbst  bin,  sondern  nur,  dass  ich  bin  : 
aber  es  ist  ungewiss,  wie  das  transscendentale  Object  oder  Ding  an  Bich  existirt. 
In  der  1.  Aufl.  S.  105  sagt  Kunt  doch  nur,  für  uns  sei  dieser  Gegenstand  nichts, 
und  S.  1()9  lässt  er  denselben  doch  auch  nur  als  x  immer  einerlei  sein.  Entschieden 
falsch  aber  würde  es  sein,  das  transscendentale  Object  des  äusseren  oder  des 
inneren  Sinnes,  die  Noumcna  oder  .Dinge  an  sich",  von  denen  Kant  in  beiden 
Auflagen  der  Kritik  die  Mannigfaltigkeit  der  ASfectionen  des  äusseren  und  inneren 
Sinnes  herleitet,  an  welche  sich  der  Unterschied  des  Empirischen  von  dem  Aprio- 
rischen knüpft,  dogmatisirend  mit  der  „Einheit  des  Wesens  in  der  Mannigfaltigkeit 
der  Erscheinungen*  zu  identi ficiren 


sein  eigenes  Sein  an  sich  schon 


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264   §  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch. 


Die  causale  Relation  betrifft  die  dritte  Antinomie.  Thesis:  es  giebt  eine 
Freiheit  im  transscendentalen  Sinne  als  Fähigkeit  eines  absoluten,  ursachlosen 
Anfangs  einer  Reihe  von  Wirkungen.  Antithesis:  es  geschieht  Alles  in  der  Welt 
lediglich  nach  Gesetzen  der  Natur. 

An  die  Modalität  knüpft  sich  die  vierte  Antinomie.  Thesis:  es  gehört 
zur  Welt  (sei  es  als  Theil  oder  als  Ursache)  ein  schlechthin  notwendiges  Wesen. 
Antithesis:  es  existirt  nichts  schlechthin  Nothwendiges. 

Die  Beweise  werden  von  Kant  durchweg  indirect  geführt.  Zum  Beweise  der 
Thesis  wird  die  in  der  Antithesis  behauptete  Unendlichkeit  des  Fortgangs  als  un- 
vollziehbar bekämpft,  zum  Beweise  der  Antithesis  aber  die  in  der  Thesis  ange- 
nommene Grenze  als  willkürlich  und  überschreitbar  zurückgewiesen.  —  Bei  den 
Antithesen  bemerkt  man  nach  Kant  das  Princip  des  Empirismus.  Dagegen  legen 
die  Behauptungen  der  Thesis  noch  intellectuelle  Anfänge  zu  Grunde  und  sie  ver- 
treten den  Dogmatismus.  Für  den  letzteren  zeigt  sich  ein  gewisses  praktisches 
Interesse  der  Vernunft:  dass  die  Welt  einen  Anfang  habe,  dass  mein  denkendes 
Selbst  einfacher  und  daher  unverweslicher  Natur,  dass  dieses  zugleich  in  seinen 
willkürlichen  Handlungen  frei  und  dem  Naturzwang  enthoben  sei,  und  dass 
endlich  die  ganze  Ordnung  der  Dinge,  welche  die  Welt  ausmachen,  von  einem 
Urwesen  abstamme,  von  welchem  Alles  seine  Einheit  und  zweckmässige  Verknüpfung 
entlehnt,  das  sind  Grundsteine  der  Moral  und  Religion.  Die  Antithesis  beraubt 
uns  dieser  Stützen  oder  scheint  wenigstens  sie  uns  zu  rauben.  Auch  ein  specu- 
latives  Interesse  der  Vernunft  äussert  sich  für  diese  Seite.  Denn  durch  die 
Thesis  kann  man  die  Ableitung  des  Bedingten  begreifen,  indem  man  vom  Unbe- 
dingten anfängt.   Das  leistet  aber  die  Antithesis  nicht. 

Kant  löst  die  Antinomien  durch  seine  Unterscheidung  zwischen  Erscheinung 
und  Ding  an  sich.  In  Bezug  auf  die  Welt  als  transscendentales  Object  oder 
Noumenou  oder  intelligible  Welt  ist  in  den  beiden  ersten  oder  mathematischen 
Antinomien  sowohl  die  Thesis  als  auch  die  Antithesis  falsch.  Die  intelligible 
Welt  fällt  nicht  unter  die  Vorstellung  des  Räumlichen  und  Zeitlichen,  welche  den 
beiden  Prädicaten:  Begrenztheit  im  Raum  und  in  der  Zeit  und  unendliche  Aus- 
dehnung im  Raum  und  in  der  Zeit,  gemeinsam  übergeordnet  ist,  und  das  Analoge 
gilt  hinsichtlich  der  Einfachheit  und  Zusammengesetztheit,  also  kanu  sie  weder 
das  eine  noch  das  andere  dieser  Prädicate  haben;  aus  der  Ungültigkeit  des  einen 
darf  nicht  die  Gültigkeit  des  andern  erschlossen  werdeu.  Der  der  Form  nach  con- 
tradictorische  Gegensatz  zwischen  Thesis  und  Antithesis  ist  in  der  That  nur  ein 
scheinbarer,  eine  „dialektische  Opposition".  Als  regulatives  Princip  unserer 
Forschung  aber  muss  die  Forderung  gelten,  keine  Grenze  als  eine  absolut  letzte 
zu  betrachten.  In  den  beiden  letzten  oder  dynamischen  Antinomien  ist  in  Bezug 
auf  die  intelligible  Welt  die  Thesis  wahr,  in  Bezug  auf  die  phänomenale  Welt 
aber  gilt  die  Antithesis.  Für  die  dritte  Antinomie  lautet  demnach  die  Lösung: 
Alle  Erscheinungen  sind  durch  andere  mit  Naturnotwendigkeit  bedingt;  in  den 
Dingen  an  sich  selbst  aber  liegt  die  Freiheit.  Für  die  vierte :  Es  giebt  keine 
unbedingte  Ursache  in  der  Erscheinung,  aber  ausserhalb  der  ganzen  Reihe  der 
Erscheinungen  liegt  als  transacendentaler  Grund  derselben  das  Unbedingte. 

Der  Inbegriff  aller  Realitäten  oder  Vollkommenheiten,  als  Urbild  oder  trans- 
scendentales Prototyp  in  concreto  und  selbst  in  individuo  gedacht,  ist  das  theo- 
logische Ideal.  Die  theoretischen  Beweise  für  das  Dasein  Gottes  sind:  das 
ontologische,  kosmologische  und  teleologische  oder  physico-theologische  Argument. 

Das  ontologische  Argument  schliesst  aus  dem  Begriffe  Gottes  als  des 
allerrealsten  Wesens  auf  seine  Existenz,  da  die  Existenz,  und  zwar  die  nothwen- 


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§  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch.  265 

dige  Existenz,  zu  den  Realitäten  gehöre  und  daher  im  Begriffe  des  allerrealsten 
Wesens  mit  enthalten  sei.  Kant  bestreitet  die  Voraussetzung,  dass  das  Sein  ein 
reales  Prädicat  neben  andern  sei,  welches  zu  diesen  hinzutreten  und  dadurch  die 
Summe  der  Realitäten  vermehren  könne.  Der  Vergleich  zwischen  einem  Wesen, 
das  andere  Prädicate  zwar  habe,  aber  nicht  das  Sein,  und  einem  Wesen,  das  mit 
jenen  Prädicaten  noch  das  Sein  vereinige  und  daher  um  das  Sein  grösser,  voll- 
kommener oder  realer  als  jenes  andere  Wesen  sei,  ist  absurd.  Sein  ist  die  Setzung 
des  Objects  mit  allen  seinen  Prädicaten.  Diese  Setzung  bildet  die  unerlässliche 
Voraussetzung  jedes  Schlusses  aus  dvm  Begriff  eines  Objects  auf  seine  Prädicate. 
Bei  einem  Schlüsse  auf  das  Sein  Gottes,  falls  das  Sein  als  Prädicat  erschlossen 
werdeu  sollte,  müsste  demnach  schon  das  Sein  vorausgesetzt  sein,  wodurch  wir  nur 
zu  einer  elenden  Tautologie  gelangen  würden.  Diese  Tautologie  wäre  ein  identischer, 
daher  analytischer  Satz,  die  Behauptung  aber:  Gott  ist,  ist,  wie  jeder  Existential- 
satz,  ein  synthetischer  Satz  und  kann  daher  nicht  in  Bezug  auf  ein  Noumenon 
a  priori  erwiesen  werden. 

Das  kosraologi  sehe  Argument  schliefst  daraus,  dass  überhaupt  irgend  etwas 
existirt,  auf  die  Existenz  eines  schlechthin  notwendigen  Wesens,  welches  dann 
unter  Zuhülfenahroe  dea  ontologiBchen  Argumentes  mit  der  Gottheit  als  dem  ens 
realisaitnum  oder  perfectissimum  gleichgesetzt  wird.  Kant  dagegen  bestreitet,  dass 
die  Principien  des  Vernunftgebrauchs  uns  zu  einer  Verlängerung  der  Kette  der 
Ursachen  über  alle  Erfahrung  hinaus  berechtigen;  führte  aber  das  Argument  auch 
wirklich  auf  eine  extramundane  und  schlechthin  nothwendige  Ursache,  so  sei  doch 
dieselbe  noch  nicht  als  das  absolut  vollkommene  Wesen  erwiesen,  und  die  Zuflucht 
zum  ontologischen  Argument  sei  wegen  der  erwiesenen  Ungültigkeit  desselben  un- 
zulässig. 

Das  teleologischeArgument  schliesst  aus  der  Zweckmässigkeit  der  Natur 
auf  die  absolute  Weisheit  und  Macht  ihres  Urhebers.  Kant  nennt  dieses  Argument 
um  seiner  populären  Ueberzeugungskraft  willen  mit  Achtung,  spricht  demselben 
aber  die  wissenschaftliche  Gültigkeit  ab.  Der  Zweckbegriff  kann  nach  Kant  ebenso- 
wenig, wie  der  Begriff  der  Ursache,  zu  Schlüssen  berechtigen,  die  uns  über  die 
Erscheinungswelt  überhaupt  hinausführen;  denn  er  stammt  gleichfalls  aus  dem  Ich, 
wird  von  dem  Menschen  in  die  Dinge  hineingeschaut,  hat  aber  keine  Gültigkeit 
für  das  transscendentale  Object.  Führte  aber  der  teleologische  Schluss  zu  einem 
extramundanen  Welturheber,  so  wäre  dieser  doch  nur  als  ein  Weltbaumeister  von 
hoher  Macht  und  Weisheit  nach  Maassgabe  der  in  der  Welt  sich  bekundenden 
Zweckmässigkeit,  nicht  als  allmächtiger  und  allweiser  Weltschöpfer  erwiesen.  Der 
ergänzende  Recurs  auf  das  ontologische  Argument  aber  würde  auch  hier  wiederum 
unstatthaft  sein. 

Theoretische  Gültigkeit  hat  das  Vernunftideal  ebenso,  wie  überhaupt  die  trans- 
scendentalen  Vernunftbegriffe,  nur  insofern  es  als  ein  regulatives  Princip  den 
Verstand  dazu  anleiten  soll,  in  aller  empirischen  Erkeuntniss  die  systematische 
Einheit  zu  suchen.  Die  transscendentalen  Ideen  sind  nicht  constitutive  Prin- 
cipien, durch  welche  gewisse  jenseits  der  Erfahrung  liegende  Objecte  erkannt  werden 
könnten,  sondern  fordern  nur  principielle  Vollständigkeit  des  Verstaudesgebrauchs 
im  Zusammenhang  der  Erfahrung.  Wir  müssen  uns  nach  einer  richtigen  Maxime 
der  Naturphilosophie  aller  theologischen  und  überhaupt  transsceudenteu  Erklärung 
der  Natureinrichtung  enthalten.  Bei  dem  praktischen  Vernunftgebrauch  aber  soll 
das  Veruunftideal  als  Denkform  für  den  höchsten  Gegenstand  des  moralisch-religiösen 
Glaubens  dienen. 

In  seiner  transscendentalen  Dialektik  glaubt  Kant  die  alte  Metaphysik  mit 
ihren  Haupttheilen,  der  rationalen  Kosmologie,  Psychologie,  Theologie  vernichtet 


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2G6   §  25.  Kante  Kritik  d.  reinen  Vernunft  n.  mctaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissenscb. 


zu  haben,  obwohl  er  den  Aufbau  dieser  Metaphysik  in  der  Vernunft  selbst  be- 
gründet sieht  Er  will  auf  diesen  genannten  Gebieten  das  Wissen  aufheben, 
um  zum  Glauben  Platz  zu  bekommen.  Es  soll  allen  Einwürfen  gegen  Sitt- 
lichkeit und  Religion  durch  den  klarsten  Beweis  der  Unwissenheit  der  Gegner 
auf  alle  künftige  Zeit  ein  Ende  gemacht  werden.  Um  allen  uachtheiligen  Einfluss 
zu  benehmen,  rnuss  die  Quelle  der  Irrthümer  verstopft  werden.  Metaphysik 
ist  allerdings  wirklich  in  der  Naturanlage  der  menschlichen  Vernunft  gegeben, 
aber  sie  ist  für  sich  allein  dialektisch  und  trüglich  und  existirt  daher  bis  jetzt 
als  Wissenschaft  nicht.  Damit  sie  den  Anspruch  auf  den  Rang  einer  Wissenschaft 
erheben  könne,  muss  Kritik  angewandt  werden,  welche  den  ganzen  Vorrath  der 
Begriffe  a  priori,  die  Eintheilung  derselben  nach  den  verschiedenen  Quellen,  Alles 
in  einem  vollständigen  System,  enthält.  Die  Kritik  verhält  sich  zur  alten  Schul- 
metaphysik wie  Chemie  zur  Alcbymie,  wie  Astronomie  zur  Astrologie.  Kant 
meinte  später  selbst,  das  System  sei  in  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  enthalten. 
S.  ob.  S.  252. 

Aus  der  „Methodenlehre",  in  welcher  Kant  viel  werthvolle  Bemerkungen 
zur  Metaphysik  als  durch  die  Vernunftkritik  bedingten  Wissenschaft  niederlegt» 
aber  die  Lehre  von  dem  Verhältniss  unseres  Denkens  zur  objectiveu  Realität  nicht 
um  ein  wesentliches  Glied  erweitert,  sondern  aus  den  schon  gewonnenen  Sätzen 
methodologische  Consequenzen  zieht,  mag  es  hier  genügen,  einige  Sätze  anzu- 
führen. In  dem  Abschnitt  von  der  Disciplin  der  Vernunft  im  polemischen  Ge- 
brauch heisst  es:  «es  ist  sehr  was  Ungereimtes,  von  der  Vernunft  Aufklärung  zu 
erwarten  und  ihr  doch  vorher  vorzuschreiben,  auf  welche  Seite  sie  nothwendig  aus- 
fallen müsse". 

In  dem  Kanon  der  reinen  Vernunft  lässt  Kant  alles  Interesse  der  Vernunft, 
der  praktischen  sowohl  als  der  theoretischen,  sich  in  den  drei  Fragen  vereinigen: 
1.  Was  kann  ich  wisseu?  2.  Was  soll  ich  thun?  3.  Was  darf  ich  hoffen? 
Die  erste  Frage  ist  bloss  speculativ.  Die  Endabsicht,  worauf  die  Speculatiou  der 
Vernunft  im  transscendentalen  Gebrauche  zuletzt  hinausläuft,  betrifft  die  Gegen- 
stände: die  Freiheit  des  Willens,  die  Unsterblichkeit  der  Seele  und  das  Dasein 
Gottes;  diese  selbst  haben  aber  wiederum  eine  entferntere  Absicht,  nämlich  was  zu 
thun  sei,  wenn  der  Wille  frei,  wenn  ein  Gott  und  eine  künftige  Welt  ist.  Demnach 
ist  die  letzte  Absicht  der  weislich  uns  versorgenden  Natur  bei  der  Einrichtung 
unserer  Vernunft  eigentlich  mit  aufs  Moralische  gestellt  —  Die  dritte  Frage:  Was 
darf  ich  hoffen?  ist  praktisch  und  theoretisch  zugleich.  Sie  kann  auch  so  formulirt 
werden:  Wenn  ich  mich  so  verhalte,  dass  ich  der  Glückseligkeit  nicht  unwürdig 
sei,  darf  ich  dann  hoffen,  ihrer  auch  theilhaftig  zu  werden?  Theoretisch  ist  es  nun 
nothwendig,  anzunehmen,  dass  Jeder  die  Glückseligkeit  in  dem  Maasse  zu  hoffen 
hut,  als  er  sich  derselben  in  seinem  Verhalten  würdig  macht  Es  ist  demnach  das 
System  der  Sittlichkeit  mit  dem  der  Glückseligkeit  unzertrennlich  verbuuden,  aber 
nur  in  der  Idee  der  reineu  Vernunft,  und  es  werden  Gott  und  ein  künftiges  Leben 
als  zwei  Voraussetzungen  betrachtet,  die  von  der  Verbindlichkeit  welche  uns  Ver- 
nunft auflegt,  nicht  zu  trennen  sind 

An  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  und  insbesondere  an  die  transscendentale 
Aesthetik  und  Analytik,  scbliesst  sich  Kaute  Naturphilosophie  an.*) 

*)  Soll  die  Naturphilosophie  die  Naturerscheinungen  aus  dem,  was  denselben 
als  trausscendentales  Object  oder  Ding  an  Bich  zum  Grunde  liegt,  erklären,  so  ist 
eine  solche  auf  dem  kritischen  Stundpunkt  unmöglich,  der  uns  auf  die  Erkenutuiss 
von  Erscheinungen  beschränkt,  welche  unsere  Vorstellungen  sind.  Die  .metaphysi- 
schen Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft*  können  nur  eine  systematische  Zu- 
sammenstellung der  Sätze  enthalten,  die  Kant  für  naturwissenschaftliche  Grundsätze 


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§  25.  Kants  Kritik  d.  reinen  Vernunft  u.  metaph.  Anfangsgr.  der  Naturwissensch.  267 


Kant  bringt  die  metaphysischen  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft  unter 
vier  Hauptstücke.  Das  erste  derselben  betrachtet  die  Bewegung  als  ein  reines 
Quantum  und  wird  von  Kant  Phoronomie  genannt,  das  zweite  zieht  sie  als  zur 
Qualität  der  Materie  gehörig  unter  dem  Namen  einer  ursprünglich  bewegenden 
Kraft  in  Erwägung  und  heisst  Dynamik,  das  dritte,  die  Mechanik,  betrachtet 
die  Materie  mit  dieser  Qualität  durch  ihre  eigene  Bewegung  gegeneinander  in 
Relation,  das  vierte  endlich  bestimmt  ihre  Bewegung  oder  Buhe  bloss  in  Beziehung 
auf  die  Vorstelluugsart  oder  Modalität  und  wird  von  Kant  als  Phänomenologie 
bezeichnet. 

In  der  Phoronomie  definirt  Kant  die  Materie  als  das  Bewegliche  im  Raum 
und  leitet  insbesondere  den  Satz  ab,  jede  Bewegung  könne  nur  durch  eine  andere 
Bewegung  eben  desselben  Beweglichen  in  entgegengesetzter  Richtung  aufgehoben 
werdeu.  In  der  Dynamik  definirt  er  dieselbe  als  das  Bewegliche,  insofern  es 
einen  Raum  erfüllt,  und  stellt  den  Lehrsatz  auf:  die  Materie  erfüllt  einen  Raum 
nicht  durch  ihre  blosse  Existenz,  sondern  durch  eine  besondere  bewegende  Kraft. 
Er  schreibt  der  Materie  Anziehungskraft  zu  als  diejenige  bewegende  Kraft,  wodurch 
eine  Materie  die  Ursache  der  Annäherung  anderer  zu  ihr  sein  kann,  und  Zurück- 
stossungskraft  als  diejenige  Kraft,  wodurch  eine  Materie  Ursache  sein  kann,  andere 
von  sich  zu  entfernen,  und  bestimmt  die  Kraft,  durch  welche  die  Muterie  den  Raum 
erfülle,  näher  als  die  der  Zurückstossung :  die  Materie  erfüllt  ihre  Bäume  durch 
repulsive  Kräfte  aller  ihrer  Theile,  d.  i.  durch  ihre  eigene  Ausdehnungskraft,  die 
einen  bestimmten  Grad  hat,  über  den  kleinere  oder  grossere  ins  Unendliche  können 
gedacht  werden.  Die  Elasticität  als  Expansivkraft  ist  hiernach  aller  Materie 
ursprünglich  eigen.  Die  Materie  ist  ins  Unendliche  theilbar  und  zwar  in  Theile, 
deren  jeder  wiederum  Muterie  ist;  dieB  folgt  aus  der  unendlichen  Theilbarkeit  des 

a  priori  hält.  Weuu  dennoch  über  die  Erscheinung  hinausgegangen,  insbesondere 
die  Materie  auf  Kräfte  zurückgeführt  wird,  so  steht  diese  hinter  der  Erscheinung 
liegende  Kraft  in  einer  unhaltbaren  Mitte  zwischen  einem  Phänomenon  und  Noumenon, 
Erscheinung  und  Ding  an  sich.  Nach  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  ist  es  das 
unräumliche  und  zeitlose  Ding  an  sich,  was  unsere  (an  sich  gleichfalls  unräutnlicheu 
und  zeitlosen)  Sinne  bo  afticirt,  dass  dadurch  in  uns  Empfindungen  entstehen,  welche 
durch  das  Ich  in  die  apriorischen  Anschauung»-  und  Denkformen  eingefügt  werden. 
In  den  metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft  sagt  Kant:  .Durch 
Bewegung  allein  können  die  äusseren  Sinne  afficirt  werden."  Nach  der  Consequenz 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft  kann  dieser  Satz  nur  bedeuten:  wenn  die  Affection 
selbst  wieder  Erscheinung  wird  (indem  wir  nicht  bloss  eine  Affeetion  erleiden,  son- 
dern den  Vorgang  der  Affection  bei  andern  empfindenden  Wesen  oder  auch  bei  uns 
selbst  wiederum  wahrnehmen,  z.  B.  den  Schlag  sehen,  der  unseren  Gefühlssiun  trifft, 
die  Schwingung  der  Saite,  die  unser  Ohr  afheirt,  durch  den  Gesichtssinn  oder  auch 
durch  den  Tastsinn  wahrnehmen  etc.),  dann  muss  die  räum-  und  zeitlose  Beziehung, 
die  in  der  That  den  Vorgang  der  Empfindungsbildung  bedingt,  uns  als  Bewegung 
erscheinen.  Aber  diese  Beschränkung,  in  welcher  der  Satz  von  der  Affection  durch 
Bewegung  nach  den  Principieu  der  Vernunftkritik  allein  gelten  dürfte,  tritt  in  der 
darauf  gebauten  Naturphilosophie  mehr  und  mehr  zurück,  so  dass  dieselbe  zwischen 
einer  apriorischen  Theorie  der  (nur  in  unserem  Bewusstsein  vorhandenen)  Erscheinungen 
und  einer  Theorie  der  (unabhängig  von  dem  Bewusstsein  empfindender  Wesen 
existirenden,  möglicherweise  vor  der  Existenz  von  Organismen  bereits  bestehenden 
and  die  Entstehung  der  Empfindungen  bedingenden)  Realität,  die  allen  Natur- 
erscheinungen zu  Grunde  liegt,  in  einer  unklaren  Mitte  schwebt.  Man  muss  bei  der 
Leetüre  der  „ metaphysischen  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft"  in  gewissem 
Betracht  vergessen  und  doch  in  anderem  Betracht  festhalten,  dass  wir  mich  der 
Uonsequenz  des  SjsteflM  et  nur  mit  Vorgängen  zu  thun  haben,  die  bloss  Innerhalb 
unseres  Bewnsstseins  stattfinden,  also  bereits  psychisch  bedingt  sind  und  nicht 
der  Existenz  empfindender  und  vorstellender  Wesen  als  Bedingung  zum  Grunde 
liegen  können. 


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268    §  26.  Kants  Kritik  d.  prakt.  Vera.,  Relig.  i.  d.  Grenzen  d.  bl.  Vern.  u.  Rechtalehre. 


Raumes  und  der  repulsiven  Kraft  jedes  Theiles  der  Materie.  Die  Repulsivkraft 
nimmt  ab  im  umgekehrten  Yerhältniss  der  Würfel,  die  Attractionakraft  dagegen 
im  umgekehrten  Verhältniss  der  Quadrate  der  Entfernungen.  In  der  Mechanik 
definirt  Kant  die  Materie  als  das  Bewegliche,  sofern  es  als  ein  solches  bewegende 
Kraft  hat,  und  leitet  daraus  insbesondere  die  mechanischen  Grundgesetze  ab:  bei 
allen  Veränderungen  der  körperlichen  Natur  bleibt  die  Quantität  der  Materie  im 
Ganzen  dieselbe,  unvermehrt  und  unvermindert;  alle  Veränderung  der  Materie  hat 
eine  äussere  Ursache  (Gesetz  der  Beharrung  in  Ruhe  und  Bewegung  oder  der  Träg- 
heit); in  aller  Mittheilung  der  Bewegung  sind  Wirkung  und  Gegenwirkung  einander 
jederzeit  gleich.  In  der  Phänomenologie  definirt  Kant  die  Materie  als  das 
Bewegliche,  sofern  es,  als  ein  solches,  ein  Gegenstand  der  Erfahrung  sein  kann,  und 
leitet  die  Lehrsätze  ab.  die  gradlinige  Bewegung  einer  Materie  in  Ansehung  eines 
empirischen  Raumes  sei,  zum  Unterschied  von  der  entgegengesetzten  Bewegung  des 
Raumes,  ein  bloss  mögliches  Prädicat  (ohne  alle  Relation  auf  eine  Materie  ausser 
ihr  aber,  also  als  absolute  Bewegung  gedacht,  etwas  Unmögliches),  die  Kreis- 
bewegung eiuer  Materie  sei,  zum  Unterschied  von  der  entgegengesetzten  Bewegung 
des  Raumes,  ein  wirkliches  Prädicat  derselben  (die  anscheinende  entgegengesetzte 
Bewegung  eines  relativen  Raumes  aber  ein  blosser  Schein),  in  jeder  Bewegung 
eines  Körpers,  wodurch  er  in  Ansehung  eines  andern  bewegend  sei,  sei  eine  ent- 
gegengesetzte gleiche  Bewegung  des  letzteren  nothwendig;  das  erste  dieser  phänome- 
nologischen Gesetze  bestimme  die  Modalität  der  Bewegung  in  Ansehung  der 
Phoronomie,  das  zweite  bestimme  dieselbe  in  Ansehung  der  Dynamik,  das  dritte 
in  Ansehung  der  Mechanik. 

Den  Uebergang  von  den  metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissen- 
schaft zu  der  Physik  bildet  die  (der  „Metaphysik  der  Sitten",  welche  die  Rechts- 
und Tugendlehre  in  sich  begreift,  coordiuirte)  Metaphysik  der  Natur,  die 
von  den  bewegenden  Kräften  der  Materie  handelt  und  von  Kant  in  ein  „Elementar- 
System*  und  „Weltsystem"  eingetheilt  wird.  Das  Manuscript  ist  unvollendet  ge- 
blieben.   S.  darüber  ob.  S.  227. 

§  26.  Wie  Kant  in  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  von  dem 
Gegensatz  ausgeht,  den  er  zwischen  der  empirischen  Erkenutniss  und 
der  Erkenutniss  a  priori  findet,  so  bildet  das  Fuudament  seiner 
Kritik  der  praktischen  Vernunft  der  analoge  Gegensatz  zwischen 
dem  sinnlichen  Trieb  und  dem  Vernunftgesetz.  Alle  Zwecke,  auf 
welche  unser  Begehren  sich  richten  kann,  gelten  Kant  als  empirische 
und  demgemäss  als  sinnliche  und  egoistische  Bestimmungsgründe  des 
Willens,  die  auf  das  Princip  der  eigenen  Glückseligkeit  sich  zurück- 
fuhren lassen;  dieses  Princip  aber  sei  dem  der  Sittlichkeit  nach  dem 
unmittelbaren  Zeugniss  unseres  sittlichen  Bewusstseins  gerade  ent- 
gegengesetzt. Als  Bestimmungsgrund  des  sittlichen  Willens  behält 
Kant  nach  Ausscheidung  aller  materiellen  Bestimmuagsgründe  nur  die 
Form  der  möglichen  Allgemeinheit  des  den  Willen  bestimmenden 
Gesetzes  übrig.  Das  Princip  der  Sittlichkeit  liegt  ihm  in  der  Forde- 
rung: „IJandle  so,  dass  die  Maxime  deines  Willens  zugleich 
als  Princip  einer  allgemeinen  Gesetzgebung  gelten  könne." 
Dieses  „Grundgesetz  der  praktischen  Vernunft"  trägt  die  Form  eines 


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§  26.  Kante  Kritik  d.  prakt  Vera.,  Relig.  i.  d.  Grenzen  d.  bl.  Vera.  u.  Rechtelehre.  269 


Gebotes,  weil  der  Mensch  nicht  ein  reines  Vernunftwesen,  sondern 
zugleich  auch  ein  sinnliches  Wesen  ist  und  die  Sinnlichkeit  stets  der 
Vernunft  widerstrebt;  es  ist  aber  nicht  ein  bedingtes  Gebot,  wie  die 
Maximen  der  Klugheit,  die  nur  hypothetisch,  nämlich  unter  der  Vor- 
aussetzung, dass  gewisse  Zwecke  erreicht  werden  sollen,  gelten,  son- 
dern ein  unbedingtes  und  zwar  das  einzige  unbedingte  Gebot,  der 
kategorische  Imperativ.  Das  Bewusstsein  dieses  Grundgesetzes 
ist  ein  Factum  der  Vernunft,  aber  kein  empirisches,  es  ist  das  ein- 
zige Factum  der  reinen  Vernunft,  die  sich  dadurch  als  ursprünglich 
gesetzgebend  ankündigt.  Dieses  Gebot  fliesst  aus  der  Autonomie  des 
Willens,  alle  materialen,  auf  Eudämonismus  beruhenden  Principien 
aber  aus  der  Heteronomie  der  Willkür.  Aeussere  Gesetzmässigkeit 
ist  Legalität,  Rechthandeln  um  des  sittlichen  Gesetzes  willen  aber 
Moralität.  An  die  sittliche  Selbstbestimmung  knüpft  sich  unsere  sitt- 
liche Würde.  Der  Mensch  als  Vernunftwesen  oder  Ding  an  sich 
giebt  sich  selbst  als  einem  Sinneswesen  oder  einer  Erscheinung  das 
Gesetz.  Hierin  liegt,  lehrt  Kant  (indem  er  den  theoretischen  Unter- 
schied von  Ding  an  sich  und  Erscheinung  praktisch  als  Werthunter- 
schied auffasst),  der  Ursprung  der  Pflicht.  Diese  ist  Notwendig- 
keit einer  Handlung  aus  Achtung  fürs  Gesetz.  —  Der  Begriff  der 
Pflicht  tritt  bei  Kant  in  den  Vordergrund,  seine  Moral  ist  haupt- 
sächlich Pflichtenlehre. 

Auf  das  moralische  Bewusstsein  gründen  sich  drei  moralisch 
nothwendige  Ueberzeugungen ,  welche  Kant  „Postulate  der  reinen 
praktischen  Vernunft"  nennt,  nämlich  die  Ueberzeugung  von  der 
sittlichen  Freiheit,  indem  nach  dem  Satze:  du  kannst,  denn  du 
sollst,  die  Bestimmbarkeit  unserer  selbst  als  eines  Sinnenwesens 
durch  uns  selbst  als  ein  Vernunftwesen  angenommen  werden  müsse, 
von  der  Unsterblichkeit,  da  unser  Wille  dem  Sittengesetz  sich  nur 
ins  Unendliche  annähern  könne,  und  von  dem  Dasein  Gottes  als 
des  Herrschers  im  Reiche  der  Vernunft  und  Natur,  der  zwischen 
sittlicher  Würdigkeit  und  Glückseligkeit  die  vom  moralischen  Be- 
wusstsein geforderte  Harmonie  herstelle. 

Der  Grundgedanke  von  Kants  philosophischer  Religionslehre, 
den  er  in  der  Schrift:  „die  Religion  innerhalb  der  Grenzen 
der  blossen  Vernunft"  entwickelt,  liegt  in  der  Reduction  der 
Religion  auf  das  moralische  Bewusstsein.  Gunstbuhlerei  bei  Gott 
durch  statutarische  Religionshandlungen,  die  von  den  sittlichen  Ge- 
boten verschieden  sind,  ist  Afterdienst:  die  wahrhaft  religiöse  Ge- 
sinnung ist  in  der  Erkenntniss  aller  unserer  Pflichten  als  göttlicher 
Gebote  beschlossen.  Kant  sucht  die  Grenzen  zu  bezeichnen  zwischen 
dem,  was  von  der  für  Offenbarung  gehaltenen  Religion  durch  die 


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270   §  26.  Kante  Kritik  d.  prakt.  Vern.,  Relig.  i.  d.Grenzen  d.  bl.  Vern.  u.  Rechtelehre. 


Vernunft  erkannt  werden  kann,  und  was  nicht,  und  reducirt  die  kirch- 
lichen Dogmen  durch  allegorisirende  Unideutung  auf  Lehrsätze  der 
philosophischen  Moral. 

An-vr  der  zum  vorigen  Paragraphen  angeführten  Littcratur  and  den  Stellen  bei 
F.  H.  Jacobi,  Schleierraaeher,  Schelling,  Hegel,  Herbart,  Beneke,  Schopenhauer  u.  A., 
worin  Kants  ethische  Lehren  geprüft  werden,  sind  hierzu  erwähnen:  Gebh.  Ulr.  Brast- 
berger.  Untersuchungen  üb.  Kants  Krit.  der  prakt.  Vern.,  Jena  1792.  Joh.  Christ. 
Zwanziger,  Commentar  üb.  d.  Krit.  d.  prakt.  Vern.,  Lpz.  1794.  La«.  Bendavids 
Vöries,  üb.  d.  Krit.  der  prakt.  Vern.  nebst  einer  Rede  üb.  d.  Zweck  der  krit.  Philos.. 
Wien  179G.  Wegscheidel  Vergleichung  stoischer  und  kantischer  Ethik,  Hamb.  1797. 
Garve,  Darstellg.  u.  Krit.  d.  k. sehen  Sittenlehre  in  der  einleit.  Abh.  zu  seiner  Ueberstzg. 
der  arist.  Ethik,  Bresl.  1798,  S.  183—394  etc.  —  Weber  üb.  d.  Verh.  v.  K.s  Erkennt- 
nissth.  z.  d.  Grundprincipien  seiner  prakt.  Ph.,  Pr.  v.  Rossleben  1886. 

lieber  das  Fundament  der  Ethik  bei  K.  u.  Schopenhauer  handelt  in  e.  gekrönt. 
Preissehr.  E.  M.  Frdr.  Zange,  Lpz.  1872.  A.  Dorner,  üb.  d.  Principien  der  kant.  Ethik. 
Halle  1875  (a.  d.  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.).  F.  Frederichs,  üb.  K.s  Princip  d.  Eth., 
Pr.  d.  Dorotheenstädt.  R.  Sch.,  Brl.  1875.  Herrn.  Cohen,  K.8  Begründ.  der  Ethik, 
Brl.  1877.  E.  Zeller,  üb.  d.  kantische  Moralprincip  u.  d.  Gegen«,  formaler  u.  materialer 
Moralprincipiun  a.  d.  Abh.  d.  Ak.  d.  W.,  Brl.  1880.  Otto  Lehmann,  K.s  Principien  d. 
Eth.  u.  Schopenhauers  Beurth.  ders.,  Brl.  1880.  J.  Gould  Schurman,  Kantian  Ethics 
and  the  Ethics  of  evolution,  Lond.  1881.  Alfr.  Fouillee,  Critique  de  la  morale  Kantienne, 
in:  Rev.  phil.,  1881,  Bd.  II,  S.  337—369,  598—625.  Ad.  Bartsch,  d.  Grundprincipien 
d.  kantsch.  Eth.  u.  d.  Christenth..  Pr.  d.  Gymn.  z.  Sorau  1884.  Noah  Porter,  K.s 
Ethics,  a  critic.  exposit.,  Chicago  1886.  R.  Giessler,  Ethica  Spinozae  doctrina  cum 
Kantiana  comparata,  I.-D.,  Halle  1887.  Vgl.  .1.  Rowland,  an  essay  intended  to  interpret 
and  develop  unsolved  ethieal  questions  in  K.s  „Groundwork  of  the  Metaphysics  of  Ethics", 
Lond.  1871.  A.  Oncken,  A.  Smith  u.  I.  K..  1.  Abth.,  Eth.  u.  Polit..  Lpz.  1877.  Ueber 
das  Verhältniss  d.  k.schen  Ethik  z.  aristotelisch,  vgl.  ausser  einzelnen  der  Grdr.  I,  §  50 
citirten  Abhdlgn.  v.  Brückner  u.  A.  insbes.  auch  Trendelenburg,  der  Widerstreit  zwisch.  K. 
u.  Arist.  in  d.  Ethik,  im  III.  Bde.  der  hist.  Beitr.  z.  Philos..  Berl.  1867,  S.  171—214. 

Ueber  K.s  L.  vom  Guten  n.  Bösen  handelt  A.  Mastier,  quid  de  recti  pravique 
discrimine  senserit  K.,  thes.  Paris  1882.  üb.  s.  kateg.  Iroper.  G.  Schramm,  Bamb.  1873, 
Joh.  Volkelt.  K.s  kat.  Imp.  und  Gegenw.,  Vortr.,  Wien  1875,  üb.  s.  Pflichtbegr.  Alex, 
v.  Oeningen,  Festrede,  Dorpat  1864,  üb.  seine  L.  vom  Gewissen  J.  Quaatz,  de  con- 
scientiae  ap.  K.  notione,  Halle  1867,  Joh.  Liess,  ZüUichau  1876,  Wilh.  Wohlrabe,  Gotha 
1880,  üb.  s.  Ans.  v.  d.  Frht.  d.  menschl.  Willens  Otto  Kohl,  I.-D.,  Lpz.  1868,  Wilh. 
Bodin  (ak.  Afli.),  Heisingtors  1868,  Sam.  Brandt,  Leipz.  I.-D.,  Bonn  1872,  Melzer,  d. 
L.  v.  Autonomie  d.  Vern.  in  d.  Systemen  K.s  u.  Günthers,  Neisse  1879,  mit  etwas 
verändert.  Titel,  1882,  Fritz  Max  Matthiolius.  üb.  Gesetz  u.  Freih.,  e.  Beitr.  zur  Erläuter. 
der  kantsch.  Freiheitsl.,  I.-D.,  Berl.  1880,  F.  Frederichs,  d.  Freiheitsbegr.  K.s  u.  Fichtes, 
in  Festschr.  des  Lehrercoll.  z.  50j.  Jubil.  d.  Dorotheenst.  Kealg.,  Berl.  1886,  Karl 
Gerhard,  K.s  L.  v.  d.  Freiheit,  in:  Philos.  Monatsh.  1886,  S.  1 — 59,  auch  besond.  (ver- 
mehrt) erschienen,  G.  Knauer,  Weiteres  zur  kant.  Lös.  des  Problems  d.  Freiheit,  in:  Ph. 
Monatsh.  18K6,  S.  482— 500.  Jul.  Duboc,  K.  u.  d.  Kudämonism.,  in:  Ztschr.  f.  Völker- 
psych.  u.  Sprachwissensch.,  Bd.  14,  S.  261—280,  s.  auch  S.  280—289  u.  473—476. 
Wilh.  Eismann,  üb.  d.  Begr.  des  höchst.  Gutes  b.  K.  u.  Schleiermacher,  I.-D.,  Halle 
1887.  Ueb.  K.s  Ideen  vom  höchst.  Gut  Em.  Amoldt  in  d.  Altpreuss.  Monatssehr., 
Bd.  XI,  1S74,  S.  193—218,  auch  separ.,  Kgsbg. 

Carl  Vict.  Fricker,  zu  K.s  Rechtspilos.,  Univ.-Pr.,  Lpz.  1885. 

lieber  K.s  K e I i g i o ns p hi I.  überhpt.  handeln  Gl.  A.Thilo  in:  Zeitschr.  f.  exaete 
Phil..  Bd.  V.  Leipz.  1865,  S.  276-312;  353—397.  Otto.  Verh.  d.  philos.  Religionslehre 
K.s  z.  d.  Lehren  d.  Krit.  d.  r.  Vmft.,  Progr..  Nordhaus.  1870,  Wilh.  Bender,  üb.  K.s 
Rcligsbegr.  in  Fichtes  Ztschr.  f.  Phil.  Bd.  61,  1872,  S.  39—69,  157—191,  Carl  Düwell, 
K.s  Keligionsphil.  in  ihr.  Verhltn.  z.  christl.  Krlösungslehrc.  Progr.,  Fürsten walde  1872, 
Jul.  Kaftan,  d.  religionsphilos.  Anschauung  K.s  in  ihr.  Bedeutg.  f.  d.  Apologetik, 
Basel  1874,  G.  Ch.  Hcmh.  Pünjer,  d.  Religionslehre  K.s  im  Zusammenhange  seines 
Systems,  Jena  1S74,  J.  Hildebrand,  d.  Grundlinien  d.  Vernunftrel.  K.s,  Cleve  1875, 
Phil.  Bridel,  la  philosophie  de  la  religion  de  K.,  1876.  S.  auch  D.  Nolen,  la  critique 
de  K.  et  la  religion.  in:  Rev.  phil.  1880,  Bd.  9,  S.  648—668.  E.  W.  Mayer,  d.  Verh. 
d.  kant.  Religionsph.  zum  Ganzen  des  kant.  Systems.  I.-D.,  Halle  1879.  Gotth.  Bauern- 
feind, wie  verhält  sich  in  K.s  Religionsl.  d.  theoret.  Element  zum  prakt.?  Rost.  1875. 


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§  26.  Kants  Kritik  d.  prakt.  Vorn.,  Relig.  i.  d.Grenzen  d.  bl.  Vern.  u.  Rechtalehre.  271 


Ernst  Katzer,  d.  moral.  Gottesbew.  nach  K.  u.  Herbart,  I.-D.,  Lpz.  1877.  J.  Gottschick, 
K.8  Beweis  f.  d.  Dasein  Gottes,  G.-Pr.,  Torgau  1878.  H.  Stchr,  üb.  Imm.  K.,  e. 
Untersuch,  des  1.  Stücks  aus  I.  K.s  Kelig.  innerh.  d.  hl.  V.,  Hann.  1883.  Hnr.  Ron- 
madt,  d.  Herstell,  der  L.  Jesu  durch  K.s  Reform  d.  Ph.,  Bonn  1883.  G.  v.  Fellenberg, 
üb.  d.  Verh.  v.  Offenbar,  u.  Vernunftrelig.  b.  K.  u.  Lessing,  Erlang.  1884.  Ueber  K.s 
Lh  vom  radicalen  Bösen  handeln  L.  Paul,  Halle  1865  u.  Paul  Schultheis,  Jen.  I.-D., 
Lpz.  1873.  Ueb.  K.s  L.  vom  Sohne  Gottes  als  vorgestelltes  Menschheitsideal  handelt 
Paul  in:  Jahrbb.  f.  deutsche  Theol.,  Bd.  11,  1866,  S.  624—639,  üb.  K.s  L.  vom  ideal. 
Christus  Paul,  Kiel  1869;  vgl.  Karl  Kaiich,  Cantii,  Schellingii,  Fiehtii  de  filio  divino 
sententiam  expos.  nee  non  dijudicarit,  Lips.  1870.  Katzer,  K.s  L.  v.  d.  Kirche,  in: 
Jahrbb.  f.  prot.  Theol..  1886,  S.  29—85.  S.  auch  die  Abschnitte  in  den  ob.  S.  2  ge- 
nannten Werken  von  Pünjer  u.  Pfleiderer. 

Ueber  K.s  Erziehungsl.  handeln:  Strümpell,  d.  Pädagogik  d.  Philosophen  Kant, 
Fichte.  llerbart,  Braunschw.  1843,  Arth.  Richter,  K.s  Ansichten  üb.  Erziehung«!.,  G.-Pr., 
Halberst.  1865,  W.  Hollenbach,  Darstell,  u.  Beurtheil.  d.  Pädag.  K.s,  Jena  1881.  S. 
auch  den  Aufs.  v.  Prosch  ob.  S.  287. 

Kant  hat  seinem  Hauptwerk  über  die  praktische  Philosophie  nicht  den  Titel 
gegeben:  Kritik  der  reinen  praktischen  Vernunft,  sondern:  Kritik  der  prak- 
tischen Vernunft,  weil  es  sich  um  eine  Kritik  des  ganzen  praktischen  Ver- 
mögens in  der  Absicht  handle,  den  Nachweis  zu  führen,  dass  es  reine  praktische 
Vernnnft  gebe.  Gebe  ea  solche,  so  bedürfe  dieselbe  nicht  gleich  der  reinen 
speculativen  Vernunft  einer  Kritik,  die  einer  Ueberschreitung  ihrer  Grenzen  ent- 
gegentrete; denn  sie  beweise  ihre  und  ihrer  Begriffe  Realität  durch  die  That. 

Die  Grundbegriffe  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft  hat  Kant  am  ausführ- 
lichsten in  der  (dem  Hauptwerk  vorausgeschickten)  .Grundlegung  zur  Meta- 
physik der  Sitten*  erörtert. 

Kant  definirt  Maxime  als  das  subjective  Princip  des  Wollens;  das  objective 
Princip  dagegen,  das  in  der  Vernunft  selbst  begründet  ist,  nennt  er  das  prak- 
tische Gesetz.  Es  würde  allen  vernünftigen  Wesen  auch  subjectiv  zum  prak- 
tischen Princip  dieneu,  wenn  Vernunft  volle  Gewalt  über  das  Begehrungsvermögen 
hätte  (Gründl,  z.  M.  d.  S.,  1.  Abschnitt,  Note;  Kr.  d.  pr.  Vern.  §  1).  Er  argu- 
mentirt:  alle  praktischen  Principien.  die  ein  Object  (Materie)  des  Begehrungs- 
vermögens  als  Bestimmungsgnind  des  Willens  voraussetzen,  sind  insgesammt 
empirisch  und  können  keine  praktischen  Gesetze  abgeben  (Kr.  d.  pr.  Vern.  §2). 
Alle  materialen  praktischen  Principien  sind  als  solche  insgesammt  von  einer  und 
derselben  Art  und  gehören  unter  das  allgemeine  Princip  der  Selbstliebe  oder 
eigenen  Glückseligkeit;  unter  der  Glückseligkeit  versteht  Kant  .das  Bewußt- 
sein eines  vernünftigen  Wesens  von  der  Annehmlichkeit  des  Lebens,  die  ununter- 
brochen sein  ganzes  Dasein  begleitet".  Das  Princip,  diese  sich  zum  höchsten 
Bestimmuugsgrunde  der  Willkür  zu  machen,  ist  ihm  das  Princip  der  Selbstliebe 
(ebend.  §  3).  Da  nun  Kant  allem  Empirischen  die  Notwendigkeit  abspricht, 
welche  zur  Gesetzmässigkeit  erforderlich  ist,  alle  Materie  des  Begehrens  aber,  d.  h. 
jeder  Gegenstund  des  Willens  als  Bestimmungsgrund  desselben  einen  empirischen 
Charakter  trägt,  so  folgt,  dass,  wenn  ein  vernünftiges  Wesen  sich  seine  Maximen 
als  praktische  allgemeine  Gesetze  denken  soll,  es  sich  dieselben  nur  als  solche 
Principien  denken  kann,  die  nicht  der  Materie,  sondern  nnr  der  Form  nach, 
wodurch  sie  sich  zur  allgemeinen  Gesetzgebung  schicken,  den  Bestimniungagrund 
des  Willens  enthalten  (ebend.  §  4).  Der  Wille,  der  durch  die  blosse  gesetzgebende 
Form  bestimmt  wird,  ist  unabhängig  von  dem  Naturgesetz  der  sinnlichen  Er- 
scheinungen, also  frei  lebend.  §  5),  wie  uueh  umgekehrt  ein  freier  Wille  nur  durch 
die  blosse  Form  oder  die  Tauglichkeit  einer  Maxime  zum  allgemeinen  Gesetz 
bestimmt  werden  kann  (ebend.  §  6).  Nun  sind  wir  uns  bewusst,  dass  unser  Wille 
einem  Gesetze  unterliegt,  welches  schlechthin  gilt;  derselbe  muss  also  durch  die 


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272   §  26.  Kants  Kritik  d.  prakt.  Vera.,  Relig.  i.  d.  Grenzen  d.  bl.  Vera.  u.  Rechtslehre. 


blosse  Form  bestimmbar,  folglich  frei  sein.  Reine  Vernunft  ist  für  sich  allein 
praktisch  und  giebt  dem  Menschen  ein  allgemeines  Gesetz,  welches  wir  das 
Sittengesetz  neuneu  (ebeud.  §  7).  Dieses  Grundgesetz  der  reinen  praktischen 
Vernunft  oder  den  kategorischen  Imperativ  bringt  Kant  in  der  Grundlegung 
zur  Metaph.  der  Sitten  auf  eine  dreifache  Formel:  1.  Handle  nach  solchen  Maximen 
von  denen  du  wollen  kannst,  dass  sie  zu  allgemeinen  Gesetzen  dienen  sollen,  oder: 
so,  als  ob  die  Maxime  deiner  Handlung  durch  deinen  Willen  zum  allgemeinen 
Naturgesetze  werden  sollte.  2.  Den  Grund  eines  möglichen  kategorischen  Imperativs, 
d.  h.  eines  praktischen  Gesetzes,  kann  nur  etwas  abgeben,  dessen  Dasein  an  sich 
selbst  einen  absoluten  Werth  hat,  Zweck  an  sich  selbst  ist,  das  ist  bei  dem  Menschen 
oder  überhaupt  jedem  vernünftigen  Wesen  der  Fall.  Hierauch  wird  eine  materiale 
Bestimmung  aufgenommen,  und  die  Formel  lautet  dann:  Handle  so,  dass  du  die 
Menschheit,  sowohl  in  deiner  Person,  als  in  der  Person  eines  jeden  Andern,  jeder- 
zeit zugleich  als  Zweck,  niemals  bloss  als  Mittel  brauchst.  Aus  der  Verbindung 
der  beiden  ersten  ergiebt  sich  weiter  als  Princip  des  Handelns:  3.  Handle  nach 
der  Idee  des  Willens  eines  jeden  vernünftigen  Wesens  als  allgemein  gesetzgebenden 
Willens.  In  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft  beschränkt  er  sich  auf  die  eine 
Formel  (§  7):  Handle  so,  dass  die  Maxime  deines  Willens  jederzeit  zugleich  als 
Princip  einer  allgemeinen  Gesetzgebung  gelten  könne.  Wenn  die  Maxime,  unter 
die  eine  Handlung  fallen  würde,  zum  allgemeinen  Gesetze  erhoben,  sich  durch  einen 
inneren  Widerspruch  schlechthin  aufheben  würde,  so  ist  die  Unterlassung  jener 
Handlang  eine  »vollkommene  Pflicht";  wenn  wir  wenigstens  nicht  wollen  können, 
dass  sie  allgemeines  Gesetz  sei,  weil  dann  der  Vortheil,  den  wir  dadurch  für  uns 
erzielen  wollten,  in  Nachtheil  umschlagen  würde,  so  ist  die  Unterlassung  eine  , un- 
vollkommene Pflicht'.  Die  Selbstbestimmung  nach  dem  kategorischen  Imperativ 
nennt  Kant  „Autonomie  des  Willens",  indem  der  Wille  nicht  dem  Gesetz  nur 
unterworfen,  sondern  selbst  gesetzgebend  ist;  alle  Begründung  des  praktischen  Ge- 
setzes aber  auf  irgend  welche  «Materie  des  Wollens",  d.  h.  auf  irgend  welche  zu 
erstrebende  Zwecke,  insbesondere  auf  den  Zweck  der  (eigenen  oder  auch  allge- 
meinen) Glückseligkeit  gilt  ihm  als  „Heteronomie  der  Willkür«.*) 


*)  Es  ist  leicht  ersichtlich,  dass  Kant  bei  dieser  Bekämpfung  des  „Eudä- 
monismus"  den  Begriff  desselben  erst  durch  Beschränkung  auf  die  Befriedigung 
sinnlicher  und  egoistischer  Absichten  ins  Niedrige  herabzieht  und  ihn  dann  durch 
Messung  an  dem  reineren  moralischen  Bewusstsein  ungenügend  und  verwerflich 
findet.  Wenn  bereits  feststeht,  was  das  Pflichtraässige  ist,  so  soll  dasselbe  aus 
eben  den  Gründen  vollbracht  werden,  aus  welchen  es  dieses  ist,  und  nicht  aus 
irgendwelchen  „eudämonistischen*  Nebenzwecken.  Dieser  wahre  Satz  ist  sehr 
wohl  von  dem  falschen  zu  unterscheiden,  dass  das  Pflichtmässige  selbst  nicht  auf 
Zwecken  beruhe;  nur  jene  Nebenzwecke  begründen  wirkliche  Heteronomie.  Kant 
hat  sich  um  die  Reinigung  und  Schärfung  des  unmittelbaren  moralischen  Bewusst- 
seins  und  insbesondere  um  die  Hebung  des  Strebens  nach  sittlicher  Selbständigkeit 
ein  sehr  wesentliches  Verdienst  erworben;  aber  er  irrt,  indem  er  die  Stufe  der 
ersten  Befreiung  von  Nebenzwecken  durch  Achtung  vor  dem  Gesetz  mit  dem  Wesen 
der  Sittlichkeit  gleichsetzt.  Er  ist  mit  seiner  Erhebung  der  Achtung  vor  dem 
Rechte  der  Menschen  als  einer  unbedingten  Pflicht  über  „das  süsse  Gefühl  des 
Wohlthuns",  mit  einer  Abweisung  gesetzloser  Willkür  im  guten  Recht  gegenüber 
einer  Deutung  des  Begriffs  des  eigenen  Wohls  und  des  Gemeinwohls,  die  dem 
sinnlichen  Behagen,  der  einseitig  gedeuteten  öffentlichen  Wohlfahrt,  der  Aufrecht- 
erhaltung äusserer  Ruhe  und  Ordnung  gerade  die  edelsten  und  höchsten  Interessen 
des  freien  Geistes  zum  Opfer  bringen  zu  dürfen  vermeinte.  Aber  seine  Polemik 
trifft  nicht  die  wahrhafte,  tiefere  Fassung  des  Eudämonismus ,  wie  namentlich 
Aristoteles  dieselbe  begründet  hat,  der  die  wesentliche  Beziehung  der  Lust  auf  die 
Thätigkeit  anerkennt  und  auf  die  Stufenordnung  der  Funktionen  die  Ethik  basirt. 
Insbesondere  übersieht  Kant  in  seiner  Polemik,  dass  auch  aus  dem  eudämonistischen 


§  26.  Kants  Kritik  d.  prakt  Vera.,  Relig.  i.  d.  Grenzen  d.  bl.  Vera.  n.  Rechtalehre.  273 


Eine  Handlung  aas  Pflicht,  also  eine  moralische  —  nicht  eine  nur  pflicht- 
gemässe  oder  legale  —  muss  den  Kinflass  der  Neignng  und  mit  ihr  jeden  Gegen- 
stand des  Willens  ganz  ausschliesaen,  so  dass  für  den  Willen  nichts  Bestimmendes 
übrig  bleibt  als  objectiv  das  Gesetz  und  subjectiv  reine  Achtung  für  dieses 
praktische  Gesetz,  mithin  die  Maxime,  einem  solchen  Gesetze  selbst  mit  Abbruch 
aller  Neigungen  Folge  zu  leisten  Achtung  ist  zwar  ein  Gefühl,  aber  durch  einen 
Vernunftbegriff  geweckt,  und  unterscheidet  sich  daher  specifisch  von  allen  Gefühlen 
die  auf  Neigung  oder  Furcht  beruhen.  Sie  ist  das  Bewusstsein  der  Unterordnung 
meine-  Willens  unter  ein  Gesetz  ohne  Vermittelung  anderer  Einflüsse.  Wird  der 
Wille  ausser  dnreh  die  Achtung  vor  dem  Gesetz  noch  anderswoher  bestimmt,  viel- 


Princip  für  das  Zusammenleben  der  Menschen  die  Nothwendigkeit  allgemeiner 
Gesetze  und  ihrer  Heilighaltung  folgt.  Der  Mittelbegriff,  durch  den  Kant  die 
Herabsetzung  auch  der  edelsten  geistigen  Zwecke  zu  Objecten  der  egoistischen 
Begierde  und  demgemäss  ihren  Ausschluss  aus  dem  Moralprincip  begründet,  ist  der 


wendigkeit  entbehren,  der  Welt  der  sinnlichen  Erscheinungen,  der  blossen  Natur 
und  nicht  der  Freiheit  angehören,  von  dem  Princip  der  eigenen  sinnlichen  Glück- 
seligkeit allein  abhängen;  alles  Edlere  und  Höhere  soll  jenseits  des  empirisch 
Gegebenen  liegen.  In  der  That  aber  fällt  in  die  (äussere  und  innere)  Erfahrung 
das  Edle  ebensowohl  wie  das  Unedle,  Liebe  ebensowohl  wie  Selbstsucht;  der 
Gegensatz  des  Werthes  ist  specifisch  verschieden  von  dem  Gegensatz  zwischen  dem 
Kr  fahr  1  iure  n  und  Unerfahrbaren.  Kants  Negation  des  Ursprungs  des  moralischen 
Gesetzes  aus  den  realen  Zweckeu  entspricht  aufs  Genaueste  seiner  Negation  des 
Ursprungs  der  Apodikticität  aus  den  empirischen  Erkenntnissen,  die  sich  in  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  an  seine  Umdeutung  des  Begriffs  der  Erkenntniss  a  priori 
knüpft.  Es  fliesst  daraus  ein  zweifacher  Nachtheil:  1.  das  Höhere  tritt  hiernach 
gegen  das  Niedere  in  einen  schroffen,  vermittlungslosen  Gegensatz,  und  der  Ge- 
danke der  Stufenordnung  wird  beseitigt;  2.  das  Höhere  wird  exclusiv  formalistisch 
gefasst,  nicht  aus  der  dem  Inhalt  selbst  innewohnenden  Ordnung  verstanden,  sondern 
als  eine  auf  unbegreifliche  Weise  von  dem  Ich  zeitlos  erzeugte  und  in  den  an  sich 
formlosen  Stoff  hineingetragene  Form  gedacht  Es  wird  von  Kant  in  der  Sittenlehre 
die  Werthordnung  der  Zwecke  mit  der  logischen  Form  möglicher  Allgemeinheit 
verwechselt  und  nur  durch  die  Rücksicht  auf  die  Vernunftweseu  als  Selbstzwecke 
nebenbei  eine  wirkliche  moralische  Norm  gewonnen.  Die  sittliche  Aufgabe  der 
Individualisirung  des  Handelns  aber  wird  verkannt  und  der  leeren  Form  möglicher 


welche  die  Möglichkeit  der  juridischen  und  militärischen  Ordnung  bedingt,  fälschlich 
für  eine  ursprüngliche  Form  der  Moralität  angesehen.  Es  ist  wahr,  dass  kein 
einzelner  einfacher  Zweck,  für  sich  allein  betrachtet,  etwas  Moralisches  noch  auch 
Unmoralisches  ist,  dass  die  Moralität  nicht  ein  sporadisches  Wohlthun,  sondern 
die  pflichtmässige  Treue  gegen  ein  sittliches  Gesetz  erheischt  und  auf  der  Con- 
formität  des  Willens  mit  einem  in  der  Anerkennung  einer  allgemeingültigen  Ordnung 
begründeten  Urtheil  über  den  Willen  beruht,  ebenso,  wie  es  wahr  ist,  dass  keine 
einzelne  einfache  Erfahrung,  für  sich  allein  betrachtet,  Apodikticität  involvirt, 
sondern  alle  Apodikticität  auf  der  Einordnung  in  einen  durch  Principien  bedingten 
Zusammenhang  der  Erkenntniss  beruht.  Aber  es  ist  nicht  wahr,  dass  die  Ordnung 
im  Erkennen  und  Handeln  zu  einer  an  sich  ordnungsloseu  , Materie*  durch  die 
Vernunft  des  Subjectes  allein  hinzugetban  werden  müsste;  sie  beruht  auf  der  Auf- 
nahme der  objectiv  vorhandenen  Ordnung  in  unser  Erkennen  und  Handeln.  Die 
logischen  Normen  fliessen  her  aus  der  Beziehung  unseres  Wahrnehmens  und  Denkens 
auf  die  räumlich -zeitliche  und  causale  Ordnung  der  natürlichen  und  geistigen  Er- 
kenntnissobjecte,  und  die  moralischen  Normen  aus  der  Beziehung  unseres  Wollens 
und  Handelns  auf  die  in  den  natürlichen  und  geistigen  Zwecken  liegende  Werth- 
ordnung; wie  sich  die  Apodikticität  im  Erkennen  zu  der  realen  Notwendigkeit  in 
den  zu  erkennenden  natürlichen  und  geistigen  Vorgängen  verhält,  so  verhält  sich 
die  sittliche  Ordnung  zu  der  realen  Werthordnung  der  natürlichen  und  geistigen 
Functionen.  Vgl.  Ueberwegs  Abhandlung  über  das  aristotelische,  kantische  und 
herbartsche  Moralprincip  in  Fichtes  Zeitschrift  für  PhiloB.  und  philos.  Kritik,  Bd.  24 . 
1864,  S.  71  ff.,  und  desselb.  System  der  Logik  §  57  und  §  137. 

Ueberweg-Heinze.  GrnndriM  III.  7.  Aufl.  jg 


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274   §  26.  Kante  Kritik  d.  prakt  Vera.,  Relig.  i.  d. Grenzen  d.  bl.  Vera.  u.  Rechtalehre. 


leicht  durch  Wohlgefallen  an  der  Handlung,  durch  die  süsse  Freude  des  Wohl- 
thuns, so  kann  die  Handlung  zwar  pflichtmäsaig  ausfallen,  aber  sie  geschieht  nicht 
auB  Pflicht.  Es  ist  sehr  schön,  aus  Liebe  zu  Menschen  und  theilnehmendem  Wohl- 
wollen ihnen  Gutes  zu  thun,  oder  aus  Liebe  zur  Ordnung  gerecht  zu  sein,  aber 
das  ist  nicht  Erfüllung  der  Pflicht.  Die  Neigungen  des  Wirkenden  sind  dann  sogar 
lästig,  wenn  sie  der  Ueberlegnng,  was  Pflicht  sei,  vorhergehen,  und  müssen  deshalb 
überwunden  werden.  Hier  zeigt  sich  der  Rigorismus  der  kantischen  Ethik,  den 
Schiller  bekämpfte.  Das  Höchste,  was  nach  Kant  erreicht  werden  kann,  ist,  dass 
sich  die  Achtung  vor  dem  allgemeinen  Gesetz  allmählich  verwandelt  in  Freude 
an  der  Unterwerfung.  Allgemein  durchgeführt,  würde  dies  Heiligkeit  sein,  die 
aber  ein  sterbliches  Geschöpf  niemals  erreicht. 

Der  kategorische  Imperativ  dient  Kant  in  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft 
als  Princip  der  Deduction  des  Vermögens  der  Freiheit,  indem  er  in  dem 
moralischen  Gesetz  ein  Gesetz  der  Causalität  durch  Freiheit  und  demgemäss  der 
Möglichkeit  einer  „übersinnlichen  Natur"  erkennt.  Hierdurch  soll  der  speculativeu 
Vernunft  in  Ansehung  ihrer  Einsicht  nichts  zuwachsen,  aber  doch  in  Ansehung 
der  Sicherung  ihres  (in  den  kosmologischen  Antinomien)  als  möglich  angenommenen 
Begriffs  der  Freiheit,  welchem  hier  objective,  obgleich  nur  praktische,  Realität 
verschafft  wird.  Der  Begriff  der  Ursache  wird  hier  nur  in  praktischer  Absicht 
gebraucht,  indem  der  Bestimmungsgrund  des  Willens  in  die  intelligible  Ordnung 
der  Dinge  verlegt  wird,  aber  ohne  dass  der  Begriff,  den  sich  die  Vernunft  von 
ihrer  eigenen  Causalität  als  Noumenon  macht,  theoretisch  zum  Behuf  der  Erkennt- 
nis ihrer  übersinnlichen  Existenz  bestimmt  werden  könnte.  Die  Causalität  als 
Freiheit  kommt  dem  Menschen  zu,  sofern  er  ein  Wesen  an  sich  (ein  Noumenon) 
ist,  die  Causalität  als  Naturmechanismus  kommt  ihm  zu,  sofern  er  dem  Reiche 
der  Erscheinungen  (Phänomena)  angehört.  Die  objective  Realität,  welche  dem 
Begriff  der  Causalität  im  Felde  des  Uebersinnlicheu  in  praktischer  Absicht  zu- 
kommt, giebt  auch  allen  übrigen  Kategorien  die  gleiche  praktisch  anwendbare 
Realität,  sofern  sie  mit  dem  Bestimmungsgrunde  des  reinen  Willens,  dem  moralischen 
Gesetz,  in  notwendiger  Verbindung  stehen,  so  dass  Kaut  in  der  Kritik  der  prak- 
tischen Vernunft  in  praktischer  Absicht  wiedergewinnt,  was  er  in  der  Kritik  der 
reinen  speculativen  Vernunft  in  theoretischem  Betracht  aufgegeben  hatte.  Der 
reinen  praktischen  Vernunft  wird  von  Kant  das  Primat  vor  der  speculativen, 
d.  h.  eine  Ueberordnung  ihres  Interesses  über  das  der  speculativen,  in  dem  Sinne 
zugeschrieben,  dass  die  speculative  Vernunft  nicht  berechtigt  sei,  ihrem  eigenen 
abgesonderten  Interesse  hartnäckig  zu  folgen,  sondern  Sätze  der  praktischen  Ver- 
nunft, die  für  sie  überschwenglich  seien  (obschon  sie  ihr  nicht  widersprechen),  mit 
ihren  Begriffen  als  einen  fremden,  auf  sie  übertragenen  Besitz  zu  vereinigen  suchen 
müsse  (Kr.  der  pr.  Vern.  bei  Ros.  u.  Sch.  Vni,  S.  258  ff.).*) 

Als  unabhängig  und  frei  von  dem  Mechanismus  der  ganzen  Natur  hat  der 
Mensch  Persönlichkeit  und  gehört  dem  Reiche  der  Selbstzwecke  oder  der 
Noumena  an.  Indem  aber  diese  Freiheit  das  Vermögen  eines  Wesens  ist,  welches 
eigenthümlichen,  von  seiner  eigenen  Vernunft  gegebenen  reinen  praktischen  Gesetzen 
unterworfen  ist,  mit  anderen  Worten,  indem  die  Person  als  zur  Sinnenwelt  gehörig 
ihrer  eigenen  Persönlichkeit,  sofern  sie  zugleich  zur  intelligibeln  Welt  gehört,  unter- 
worfen ist,  so  liegt  hierin  der  Ursprung  der  moralischen  Pflicht.  Kant  preist  die 
Pflicht  als  erhabenen,  grossen  Namen,  der  nichts  Beliebtes,  was  Einschmeichelung 
bei  sich  führe,  in  sich  fasse,  sondern  Unterwerfung  verlange,  doch  auch  nichts 


*)  Ueber  ein  schwankendes  Mithineinspielen  der  theoretischen  Gültigkeit  in 
die  praktische  kommt  Kant  hierbei  nicht  hinaus. 


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§  27.  Kants  Kritik  d.  prakt.Vern.,  Relig.  i.  d. Grenzen  d.  bl.  Vera.  o.  Rechtelehre.  275 


drohe,  was  natürliche  Abneigung  im  Gemüthe  errege  und  schrecke,  um  den  Willen 
zu  bewegen,  sondern  bloss  ein  Gesetz  aufstelle,  welches  von  selbst  im  Gemüthe 
Eingang  finde  und  sich  selbst  wider  Willen  Verehrung,  wenngleich  nicht  immer 
Befolgung,  erwerbe,  vor  dem  alle  Neigungen  verstummen,  wenn  sie  gleich  im  Ge- 
heimen ihm  entgegenwirken  (Kr.  d.  pr.  V.,  bei  Ros.  u.  Sch.  VIII,  S.  214).  In 
gleichem  Sinne  sagt  er;  „Zwei  Dinge  erfüllen  das  Gemüth  mit  immer  neuer  und 
zunehmender  Bewunderung  und  Ehrfurcht,  je  öfter  und  anhaltender  sich  das  Nach- 
denken damit  beschäftigt:  der  bestirnte  Himmel  über  mir  und  das  moralische  Gesetz 
in  mir"  (ebd.,  Beschluse,  VIII,  S.  312).  Das  moralische  Gesetz  ist  heilig  (anver- 
letzlich). Der  Mensch  ist  zwar  uuheilig  genug,  aber  die  Menschheit  in  seiner 
Person  muss  ihm  heilig  sein. 

Der  moralische  Grundsatz  ist  ein  Gesetz,  die  Freiheit  aber  ist  ein  Postulat  der 
reinen  praktischen  Vernunft.  Postulate  sind  nicht  theoretische  Dogmen,  sondern 
Voraussetzungen  in  nothwendig  praktischer  Rücksicht,  welche  die  speculative  Er- 
kenntniss  nicht  erweitern,  aber  den  Ideen  der  spekulativen  Vernunft  im  Allgemeinen 
vermittelst  ihrer  Beziehung  aufs  Praktische  objective  Realität  geben  und  sie  zu 
Begriffen  berechtigen,  deren  Möglichkeit  auch  nur  zu  behaupten  sie  sich  sonst  nicht 
anmaassen  könnte;  mit  anderen  Worten:  theoretische,  aber  als  solche  nicht  erweis- 
liche Sätze,  sofern  dieselben  einem  a  priori  unbedingt  geltenden  praktischen  Gesetze 
unzertrennlich  anhängen.  Ausser  der  Freiheit  giebt  es  noch  zwei  andere  Postulate 
der  reinen  praktischen  Vernunft,  nämlich  die  Unsterblichkeit  der  menschlichen 
Seele  und  das  Dasein  Gottes. 

Das  Postulat  der  Unsterblichkeit  fliesst  aus  der  praktisch  tu >th wendigen 
Bedingung  der  Angemessenheit  der  Dauer  zur  Vollständigkeit  der  Erfüllung  des 
moralischen  Gesetzes.  Das  moralische  Gesetz  fordert  Heiligkeit,  d.  h.  völlige 
Angemessenheit  des  Willens  zum  moralischen  Gesetz.  Alle  moralische  Vollkommen- 
heit aber,  zu  welcher  der  Mensch  als  ein  vernünftiges  Wesen,  das  auch  der  Sinnen- 
welt angehört,  gelangen  kann,  ist  immer  nur  Tugend,  d.  h.  gesetzmässige  Gesinnung 
aus  Achtung  vor  dem  Gesetz,  ohne  dass  jemals  das  Bewusstsein  eines  continuir- 
lichen  Hanges  zur  Uebertretung  oder  wenigstens  Unlauterkeit,  d.  h.  Beimischung 
unechter,  nicht  moralischer  Beweggründe  zur  Befolgung  des  Gesetzes  völlig  fehlen 
könnte.  Aus  diesem  Widerstreit  zwischen  der  moralischen  Anforderung  an  den 
Menschen  und  dem  moralischen  Vermögen  des  Menschen  folgt  das  Postulat  der 
Unsterblichkeit  der  Seele;  denn  der  Widerstreit  kann  nur  durch  einen  ins  Unendliche 
gehenden  Progressus  der  Annäherung  an  jene  völlige  Angemessenheit  der  Gesinnung 
aufgehoben  werden.  —  In  der  Methodenlehre  der  Krit.  d.  rein.  Vera,  wird  das 
Postulat  der  Unsterblichkeit  in  Verbindung  mit  der  Glückseligkeit  gebracht.  Die 
Sinnenwelt  bietet  uns  die  nothwendige  Verknüpfung  von  Tugend  und  Glückseligkeit 
nicht,  demnach  müssen  wir  sie  in  einer  zukünftigen  Welt  erwarten.  S.  oben  S.  266. 

Das  Postulat  des  Daseins  Gottes  folgt  aus  dem  Verhältniss  der  Sittlichkeit 
zur  Glückseligkeit.  Zu  der  ersteren  gehört  die  letztere.  Denn  der  Glückseligkeit 
bedürftig,  ihrer  auch  würdig,  dennoch  aber  derselben  nicht  theilhaftig  zu  sein,  kann 
mit  dem  vollkommenen  Wollen  eines  vernünftigen  Wesens,  welches  zugleich  alle 
Gewalt  hätte,  gar  nicht  zusammen  bestehen.  Das  moralische  Gesetz  gebietet,  als 
ein  Gesetz  der  Freiheit,  durch  Bestimmungsgründe,  die  von  der  Natur  und  der 
Uebereinstimmung  derselben  zu  unserm  Begehrungsvermögen  als  Triebfedern  ganz 
unabhängig  sein  sollen;  also  ist  in  ihm  nicht  der  mindeste  Grund  zu  einem  not- 
wendigen Zusammenhang  zwischen  Sittlichkeit  und  einer  ihr  proportiouirten  Glück- 
seligkeit. Zwischen  Sittlichkeit  und  Glückseligkeit  besteht  nicht  eine  analytische, 
sondern  nur  eine  synthetische  Verknüpfung.  Die  Ergreifung  der  richtigen  Mittel 
zur  Sicherung  der  möglichst  grossen  Annehmlichkeit  des  Daseins  ist  Klugheit,  aber 

18* 


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276   §  26.  Kante  Kritik  d.  prakt  Vera.,  Relig.  i.  d.  Grenzeu  d.  bl.  Vera.  n.  Rechtelehre. 


nicht  (wie  die  Epikureer  meinen)  Sittlichkeit.  Andererseite  ist  das  Bewussteein  der 
Sittlichkeit  nicht  (wie  die  Stoiker  wollen)  zur  Glückseligkeit  zureichend;  denn  die 
Glückseligkeit  als  der  Zustand  eines  vernünftigen  Wesens  in  der  Welt,  dem  es  in 
dem  Ganzen  seiner  Existenz  nach  Wunsch  und  Willen  geht,  beruht  auf  der  Ueber- 
einstimmung  der  Natur  zu  seinem  ganzen  Zwecke  und  zu  dem  wesentlichen  Be- 
stimmungsgrunde seines  Willens,  das  handelnde  vernünftige  Wesen  in  der  Welt  ist 
aber  als  ein  abhängiges  Wesen  nicht  durch  seinen  Willen  Ursache  dieser  Natur  und 
kann  sie  nicht  aus  eigenen  Kräften  zu  jener  Uebereinstimraung  führen.  Gleichwohl 
wird  in  der  praktischen  Aufgabe  der  Vernunft  ein  solcher  Zusammenhang  als  not- 
wendig postulirt:  wir  sollen  jene  üebereinstimmung  zwischen  der  Tugend,  die  das 
oberste  Gut  (supremum  bonum)  ist,  und  der  Glückseligkeit,  in  welcher  Üeberein- 
stimmung erst  das  vollendete  Gut  (das  summ  um  bonum  als  bonum  consummatum 
oder  das  bonum  perfectissimum)  liegt,  zu  befördern  suchen.  Also  wird  auch  da« 
Dasein  einer  von  der  Natur  unterschiedenen  Ursache  der  gesammten  Natur,  welche 
vermöge  einer  der  moralischen  Gesinnung  gemässen  Causalität,  demnach  durch 
Verstand  und  Willen,  den  Grund  dieses  Zusammenhangs,  nämlich  der  genauen 
Üebereinstimmung  der  Glückseligkeit  mit  der  Sittlichkeit,  enthalte,  d.  h.  das  Dasein 
i  Gottis  postulirt.  Die  Annahme  des  Daseins  Gottes  als  einer  obersten  Intelligenz 
ist  in  Ansehung  der  theoretischen  Vernunft  allein  eine  blosse  Hypothese,  in  Be- 
ziehung auf  die  reine  praktische  Vernunft  aber  Glaube  und  zwar,  weil  bloss  reine 
Vernunft  ihre  Quelle  ist,  reiner  Vernunftglaube.*)  Wäre  ein  Beweis  dafür 
geliefert,  so  würden  Gott  und  Ewigkeit  mit  ihrer  furchtbaren  Majestät  uns  unab- 
lässig vor  Augen  liegen,  wir  würden  dann  das  Gesetz  erfüllen  aus  Furcht  oder 
Hoffnung,  aber  nicht  aus  Pflicht  und  so  nicht  sittlich  handeln.  So  ist  »die  unerforsch- 
liche  Weisheit,  durch  die  wir  existiren,  nicht  minder  verehrungswürdig  in  dem, 
was  sie  uns  versagte,  als  in  dem,  was  sie  uns  zu  Theil  werden  Hess".  Erst  nach- 
dem die  Theologie  da  ist,  kann  Religion  entstehen,  in  welcher  der  Vernunftglaube 
das  innere  Leben  des  Menschen  beeinflusst.  Giebt  es  keine  Physikotheologie,  sondern 
nur  Moraltheologie,  so  muss  auch  die  Religion  in  engster  Verbindung  mit  der 
Moral  stehen,  fällt  aber  nicht  mit  ihr  zusammen.  Sie  lehrt  uns  das  Sittengesetz 
auch  als  Gebot  Gottes  auffassen.  In  der  Tugendlehre  gründet  Kant  den  Gottes- 
glauben auf  das  Gewissen  als  das  Bewussteein  eines  inneren  Gerichtehofes  im 
Menschen;  der  Mensch  muss  sich  in  zweifacher  Persönlichkeit  denken,  als  An- 


*)  Das  Postulat  der  Freiheit  vindicirt  dem  Ich  als  Ding  an  sich  einen  Ein- 
fluss  auf  die  Erscheinungswelt,  der  nur  ein  causaler  sein  kann.  Kann  aber  das  Ich 
als  Noumenon  Wirkungen  üben,  so  ist  nicht  abzusehen,  warum  es  nicht  auch 
Wirkungen  erfahren  könne  und  zwar  sowohl  von  anderen  Noumenis,  als  auch  von 
Erscheinungen  aus.  Das  Bewussteein  sittlicher  Verantwortlichkeit  setzt  zwar  Freiheit 
im  Sinne  der  Herrschaft  des  Innern  über  das  Aeussere,  insbesondere  der  Bestimm- 
barkeit durch  das  Bewussteein  um  Werthverhältnisse,  aber  nicht  im  Sinne  der 
Causalitätelosigkeit  voraus.  Das  Postulat  der  Unsterblichkeit  setzt  voraus,  dass 
auch  auf  die  Noumeno,  die  doch  räum-,  zeit-,  causalitäte-  und  substanzlos  existiren 
sollen,  der  Begriff  der  individuellen  Einheit  anwendbar  sei,  und  doch  sind  nach  der 
Kritik  der  r.  Vern.  die  Kategorien  der  Einheit,  Vielheit  und  Allheit  ebensowohl, 
wie  die  übrigen  Denkformen  und  wie  die  Anschauungsformen  nur  Formen  der 
Phänomens.  Dass  der  Glaube  nur  in  praktischer  Absicht  gelten  soll,  würde  den 
Widerspruch  erst  dann  beseitigen,  wenn  damit  Ernst  gemacht  und  nur  das  moralische 
Verhalten  selbst,  nicht  eine  darüber  hinausgehende  Ueberzeugung  gefordert  würde. 
In  praktischem  Betracht  lässt  sich  der  Argumentation  Kante  der  Grundsatz  ent- 
gegenhalten: ultra  posse  nemo  obligatur.  Das  dem  betreffenden  Wesen  schlechthin 
Unmögliche  kann  nicht  mit  Recht  von  demselben  gefordert  werden.  Die  Argumen- 
tation für  das  Postulat  des  Daseins  Gottes  ist  durch  den  Rigorismus  in  Kante 
Fassung  des  Moralgesetzes  bedingt. 


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§  26.  Kante  Kritik  d.  prakt.  Vera  ,  Relig.  i.  d. Grenzen  d.  bl.  Vera.  u.  Rechtelehre.  277 


geklagten  und  als  Richter.  Der  Ankläger  muss  einen  Andern,  als  sich  selbst,  ein 
über  alles  Macht  habendes  moralisches  Wesen,  d.  h.  Gott,  als  Richter  denken, 
„dieser  Andere  mag  nun  eine  wirkliche  oder  eine  bloss  idealische  Person  sein, 
welche  die  Vernunft  sich  selbst  schallt". 

Die  .Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft"  enthält 
die  Exposition  des  Vernunftglaubens  in  seinem  Verhältniss  zum  Kirchenglauben, 
wobei  Kant  zu  ausschliesslich  die  moralische  Seite  mit  Hintansetzung  des  ästhetischen 
und  des  intellectuellen  Bedürfnisses  anerkennt,  die  moralischen  Beziehungen  aber 
kräftig  und  rein  hervorhebt,  obschon  nicht  ohne  Ueberspauuung  des  Gegensatzes 
zwischen  Natur  und  Freiheit,  Neigung  und  Pflicht.  Diese  Schrift  hat  vier  Ab- 
schnitte: 1.  von  der  Eiuwohnung  des  bösen  Princips  neben  dem  guten  oder  über 
das  radicale  Böse  in  der  menschlichen  Natur,  2.  von  dem  Kampf  des  guten  Princips 
mit  dem  bösen  um  die  Herrschaft  über  den  Menschen,  3.  der  Sieg  des  guten  Prin- 
cips über  das  böse  und  die  Gründung  eines  Reichs  Gottes  auf  Erden,  4.  vom  Dienst 
und  Afterdienst  unter  der  Herrschaft  des  guten  Princips  oder  von  Religion  und 
Pfaffenthum.  1.  In  der  menschlichen  Natur  findet  Kant  einen  Hang  zur  Umkehrung 
der  sittlichen  Ordnung  der  Triebfedern  des  Handelns,  indem  der  Mensch  das 
moralische  Gesetz  zwar  neben  dem  der  Selbstliebe  in  seine  Maximen  aufnehme, 
aber  geneigt  sei,  die  Triebfeder  der  Selbstliebe  und  ihre  Neigungen  zur  Bedingung 
der  Befolgung  des  moralischen  Gesetzes  zu  machen.  Dieser  Hang  sei,  weil  er  am 
Ende  doch  in  einer  freien  Willkür  gesucht  werden  müsse,  moralisch  böse,  und 
dieses  Böse  sei  radical,  weil  es  den  Grund  aller  Maximen  verderbe.  Mit  dieser 
Auffassung  des  Grundes  der  Immoralität  im  Individuum  mag  Kante  geschichte- 
philosophische Erklärung  derselben  aus  dem  Widerstreit  zwischen  Natur  und 
Cultur  verglichen  werden,  die  er  1786  in  der  Abhandlung  über  den  muthmaass- 
lichen  Anfang  der  Menschengeschichte  aufstellt,  in  den  Werken  hrsg.  von  Rosen- 
kranz und  Schubert  VII,  1,  S.  363—383,  wo  er  S.  374  f.  für  den  Widerstreit 
zwischen  der  Bestrebung  der  Menschheit  zu  ihrer  sittlichen  Bestimmung  und  der 
unveränderten  Befolgung  der  für  den  rohen  und  thierischen  Zustand  in  ihre  Natur 
gelegten  Gesetze  insbesondere  auch  die  Discrepanz  zwischen  dem  Zeitpunkt  der 
physischen  Reife  und  der  im  bürgerlichen  Zustand  möglichen  Selbständigkeit  als 
Beispiel  anführt,  welcher  Zwischenraum  im  rohen  Naturzustande  nicht  bestehe,  jetzt 
aber  gewöhnlich  mit  Lastern  und  ihrer  Folge,  dem  mannigfachen  menschlichen 
Elend,  besetzt  werde.  An  sich  seien  die  natürlichen  Anlagen  und  Triebe  gut,  aber 
da  sie  auf  den  blossen  Naturzustand  gestellt  waren,  leiden  sie  durch  die  fortgehende 
Cultur  Abbruch  und  thun  dieser  Abbruch,  bis  vollkommene  Kunst  wieder  Natur 
wird,  worin  das  Ideal  der  Cultur  liegt  2.  Das  gute  Princip  ist  die  Menschheit  (das 
vernünftige  Weltwesen  überhaupt)  in  ihrer  moralischeu  ganzen  Vollkommenheit, 
die  allein  eine  Welt  zum  Gegenstande  des  göttlichen  RathschluBses  und  zum  Zwecke 
der  menschlichen  Schöpfung  machen  kann,  und  vou  der,  als  oberster  Bedingung, 
die  Glückseligkeit  die  unmittelbare  Folge  in  dem  Willen  des  höchsten  Wesens  ist. 
Dieser  allein  Gott  wohlgefällige  Mensch  ist  bildlich  als  Gottes  Sohn  vorzustellen; 
auf  ihn  deutet  Kant  die  Prädicate,  welche  in  biblischen  Schriften  und  in  der  kirch- 
lichen Lehre  Christo  gegeben  werden.  An  diesen  glauben  heisst,  den  Gott  wohl- 
gefälligen Menschen  in  sich  verwirklichen  wollen.  Im  praktischen  Glauben  an 
diesen  Sohn  Gottes  kann  nun  der  Mensch  hoffen,  Gott  wohlgefällig  und  dadurch 
auch  selig  zu  werden,  d  h.  des  göttlichen  Wohlgefallens  ist  derjenige  nicht  un- 
würdig, welcher  sich  einer  solchen  moralischen  Gesinnung  bewusst  ist,  dass  er 
glauben  und  auf  sich  gegründetes  Vertrauen  setzen  kann,  er  würde  unter  ähnlichen 
Versuchungen  und  Leiden,  wie  sie  (in  dem  Evangelium  von  Christo)  zum  Probir- 
stein  jener  Idee  gemacht  werden,  dem  Urbilde  der  Menschheit  unwandelbar  an- 


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278   §  26.  Kante  Kritik  d.  prakt.  Vera.,  Relig.  i.  d. Grenzen  d  bl.  Vera.  u.  Rechtelehre. 


hängig  und  seinem  Beispiele  in  treuer  Nachfolge  ähnlich  bleiben.  Das  Urbild  iat 
immer  nur  in  der  Vernunft  zu  suchen;  kein  Beispiel  in  der  äusseren  Erfahrung  ist 
ihm  adäquat,  da  diese  das  Innere  der  Gesinnung  nicht  aufdeckt,  indem  sogar  die 
innere  Erfahrung  uns  die  Tiefen  des  eigenen  Herzens  nicht  vollständig  durchschauen 
lässt;  doch  kann  das  Beispiel  eines  Gott  wohlgefälligen  Menschen,  wenn  äussere 
Erfahrung,  soweit  man  es  von  ihr  verlangen  kann,  dasselbe  liefert,  uns  zur  Nach- 
ahmung vorgestellt  werden.  3.  Ein  ethisches  Gemeinwesen  unter  der  göttlichen 
moralischen  Gesetzgebung  ist  eine  Kirche.  Die  unsichtbare  Kirche  ist  die  blosse 
Idee  von  der  Vereinigung  aller  Rechtschaffenen  unter  der  göttlichen  moralischen 
Weltregierung,  wie  sie  jeder  von  Menschen  zu  stiftenden  zum  Urbilde  dient.  Die 
sichtbare  Kirche  ist  die  wirkliche  Vereinigung  der  Menschen  zu  einem  Ganzen, 
das  mit  jenem  Ideal  zusammenstimmt.  Die  Constitution  einer  jeden  Kirche  geht 
allemal  von  irgend  einem  historischen  (Offenbarungs-)  oder  statutarischen  (Ge- 
schichte-) Glauben  aus,  der  göttlichen  Ursprung  beansprucht.  Die  Schwäche  der 
menschlichen  Natur  ist  schuld,  dass  auf  den  reinen  Religionsglauben  allein  keine 
Gemeinschaft  gegründet  werden  kann.  Daraus  sind  die  vielen  sichtbaren  Kirchen 
und  der  Unterschied  zwischen  Orthodoxen  und  Ketzern  zu  erklären,  und  die  Kirchen- 
geschichte weist  den  Kampf  auf  zwischen  historischem  und  Vernunftglauben.  Der 
allmähliche  Uebergang  des  Kirchenglaubens  zur  Alleinherrschaft  des  reinen  Reli- 
gions-  oder  Vernunftglanbens  ist  die  Annäherung  des  Reiches  Gottes.  4.  In  dem 
Prävaliren  des  statutarischen  Elemente  liegt  der  Afterdienst  und  das  Pfaffenthum. 
Durch  den  Afterdienst  wird  die  moralische  Ordnung  ganz  umgekehrt,  und  das. 
was  nur  Mittel  ist,  als  wenn  es  Zweck  wäre,  geboten.  Ist  man  einmal  zu  einem 
vermeintlich  Gott  wohlgefälligen,  ihn  auch  nötigenfalls  versöhnenden,  aber  nicht 
rein  moralischen  Dienst  gekommen,  so  ist  in  der  Art  dieses  gleichsam  mechanischen 
Dienens  kein  wesentlicher  Unterschied.  .Ob  der  Andächtler  seinen  statutenmäßigen 
Gang  zur  Kirche,  oder  ob  er  eine  Wallfahrt  nach  den  Heiligthümern  in  Loretto 
oder  Palästina  anstellt,  ob  er  seine  Gebeteformeln  mit  den  Lippen  —  oder  durch 
ein  Gebetrad  an  die  himmlische  Behörde  bringt,  es  ist  von  gleichem  Werth", 
da  es  nur  auf  Annehmen  oder  Verlassen  des  moralischen  Princips  ankommt.  Wo 
Pfaffenthum  herrscht,  da  ist  Fetischdienst;  ein  Fetisch wesen  ist  auch  das  Beten 
als  ein  innerer  förmlicher  Gottesdienst  und  darum  als  Gnndenmittel  gedacht.  Da- 
gegen ist  die  alle  unsere  Handlungen  bogleitende  Gesinnung,  als  ob  sie  im  Dienste 
Gottes  geschehen,  der  Geist  des  Gebete,  der  „ohne  Unterlass«  in  uns  stattfinden 
kann  und  soll.  Wunder  widersprechen  den  Erfahrungsgesetzen  und  helfen  nichts 
zur  Erfüllung  unserer  Pflichten. 

Die  Rechts-  und  Tugendpflichten  entwickelt  Kant  in  den  metaphysischen 
Anfangsgründen  der  Rechte-  und  der  Tugendlehre,  welche  er  unter  dem  Titel  Meta- 
physik der  Sitten  zusammenfasse  Die  Metaphysik  der  Sitten  ist  das  SyBtem  der 
reinen  (von  aller  Anschauungsbedingung  unabhängigen)  Begriffe  der  praktischen 
Vernunft.  Das  Princip  des  Rechts  ist,  die  Freiheit  eines  Jeden  auf  die  Be- 
dingungen einzuschränken,  unter  denen  sie  mit  der  Freiheit  eine»  jeden  Andern 
nach  einem  allgemeinen  Gesetze  zusammen  bestehen  kann.  Der  Staat  (civitas)  ist 
die  Vereinigung  einer  Menge  von  Menschen  unter  Rechtegesetzen.  Der  Staat  In 
der  Idee,  wie  er  nach  reinen  (aus  dem  Rechtsbegriff  selbst  folgenden)  Rechte- 
prineipien  sein  soll,  dient  jeder  wirklichen  Vereinigung  zu  einem  gemeinen  Wesen 
als  Norm.  Das  Rechteverhältniss  der  Staaten  unter  einander  ißt  das  Ziel  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung.  Die  moralisch-praktische  Vernunft  spricht  ihr  unwider- 
stehliches Veto  aus:  Es  soll  kein  Krieg  sein,  weder  der,  welcher  zwischen  mir  und 
dir  im  Naturzustande,  noch  zwischen  uns  als  Staaten  ist,  die,  obzwar  innerlich  im 
gesetzlichen,  doch  äusserlich,  im  Verhältniss  gegeneinander,  im  gesetzlosen  Zustande 


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§  26.  Kante  Kritik  d.  prakt.  Vera.,  Relig.  i.  d.  Grenzen  d.  bl.  Vera.  u.  Rechtelehre.  279 


.sind;  denn  das  ist  nicht  die  Art,  wie  Jedermann  sein  Recht  sachen  soll.  Mögen 
wir  uns  aach  in  unserem  theoretischen  Urtheil  über  den  ewigen  Frieden  betrügen, 
so  müssen  wir  doch  so  handeln,  als  ob  das  Ding  sei,  was  vielleicht  nicht  ist;  bleibt 
die  Vollendung  der  Absicht  ein  frommer  Wunsch,  so  betrügen  wir  uns  doch  gewiss 
nicht  mit  der  Annahme  der  Maxime,  dahin  unablässig  zu  wirken;  denn  dieBe  ist 
Pflicht.  —  Tagend  ist  die  Stärke  der  Maxime  des  Menschen  in  Befolgung  seiner 
Pflicht,  die  in  der  festen  Gesinnung  gegründete  Uebereinstimranng  des  Willens  mit 
jeder  Pflicht,  ein  Selbstzwang  nach  einem  Princip  der  inneren  Freiheit,  mithin 
durch  die  blosse  Vorstellung  seiner  Pflicht,  nach  dem  formalen  Gesetz  derselben. 
Sie  wird  durch  Betrachtang  der  Würde  des  Vernunftgesetzes  und  durch  Uebung 
erworben.  Die  Tugendpflichten  gehen  auf  Zwecke,  die  zu  haben  für  Jedermann 
ein  allgemeines  Gesetz  sein  kann.  Solche  Zwecke  sind:  die  eigene  Vollkommenheit 
nnd  die  fremde  Glückseligkeit:  auf  jene  gehen  die  Pflichten  gegen  uns  selbst,  auf 
diese  die  Pflichten  gegen  Andere.  Zu  den  Pflichten  gegen  uns  selbst  gehört  als 
eine  .vollkommene  Pflicht"  die  Befolgung  des  Verbots  des  Selbstmordes,  als  eine 
„unvollkommene  Pflicht"  die  des  Verbots  der  Trägheit  in  der  Anwendung  des 
Talents.  Zu  den  Pflichten  gegen  Andere  als  .vollkommene  Pflicht"  die  Enthaltung 
von  Lüge  und  Betrug,  als  «unvollkommene  Pflicht"  die  positive  Sorge  für  Andere. 
Die  Beförderung  unserer  eigenen  Glückseligkeit  ist  Sache  der  Neigung,  also  nicht 
der  Pflicht,  da  die  Pflicht  die  Nöthigung  zu  einem  ungern  genommenen  Zweck 
ist;  die  Beförderung  der  Vollkommenheit  des  Andern  aber  ist  nur  dessen  eigene 
Pflicht,  da  nur  er  selbst  sie  bewirken  kann,  indem  seine  Vollkommenheit  eben 
darin  besteht,  dass  er  selbst  vermögend  sei,  sich  Beinen  Zweck  nach  seinen  eigenen 
Begriffen  von  Pflicht  zu  setzen.  Meine  Pflicht  in  Betreff  des  moralischen  Wohl- 
seins des  Andern  ist  nur,  nichts  zu  thun,  was  ihm  Verleitung  sein  könnte  zu 
dem,  worüber  ihn  sein  Gewissen  nachher  peinigen  kann.  d.  h.  ihm  kein  Skandal 
zu  geben.*) 

Charakteristisch  für  den  Typus  der  kantischen  Moral  im  Gegensatz  zu  dem, 
was  der  mittelalterlichen  Moral  als  das  Höchste  galt,  sind  Vorschriften,  wie  folgende, 
die  er  auf  die  Pflicht  der  Selbstschätzung  des  Menschen  als  eines  Vernunft- 
wesens im  Bcwusstscin  der  Erhabenheit  seiner  moralischen  Anlage  bei  allem  Be- 
wusstseiu  und  Gefühl  der  Geringfügigkeit  seines  moralischen  Werths  in  Vergleichnng 
mit  dem  Gesetz  gründet:  Lasset  eaer  Recht  nicht  ungeahndet  von  Anderen  mit 
Füssen  treten.  Macht  keine  Schulden,  für  die  ihr  nicht  volle  Sicherheit  leistet. 
Nehmt  nicht  Wohlthaten  un,  die  ihr  entbehren  könnt,  und  seid  nicht  Schmarotzer 


*)  Positives  Hinwirken  auf  sittliche  Vervollkommnung  Anderer  gehört  ohne 
Zweifel  zu  den  sittlichen  Pflichten  des  Erziehers.  Kants  Negation  dieses  Zwecks 
involvirt  nnverkennbar  eine  Ueberspannung  des  Begriffs  der  sittlichen  Selbständig- 
keit des  Individuums  und  enthält  nur  die  Wahrheit,  dass  nicht  ohne  die  eigene 
Mitarbeit  ein  Fortschritt  zur  sittlichen  Tüchtigkeit  möglich  ist.  Andererseits  wird 
die  eigene  Glückseligkeit  aus  dem  sittlichen  Gesammtzwecke  nicht  auszuschliessen 
sein,  wenn  der  Begriff  der  Glückseligkeit  in  dem  tieferen  (aristotelischen)  Sinne 
gefasst  und  kein  notwendiger  Widerstreit  zwischen  der  Pflicht  (als  dem  durch 
das  Sittengesetz  Gebotenen)  uud  der  Neigung  gefunden  wird.  An  Kants  Begrün- 
dung des  Rechts  ist  nicht  ohne  Grund  eine  zu  exclusive  Hervorhebung  des  Frei- 
heitsbegriffs getadelt  worden,  da  doch  die  Freiheit  nur  ein  Moment  der  gesammteu 
Rechtsordnung  bilde.  Aus  der  Beziehung  auf  die  sittliche  Gesammtaufgabe  der 
Menschheit  ist  auch  die  Rechtsordnung  zu  begreifen  (nämlich  als  die  Abgrenzung 
der  Sphären  der  freien  Selbstbestimmung  der  einzelnen  Personen  zum  Behuf  der 
Realisirung  der  sittlichen  Zwecke).  Kants  Abtrennung  der  Rechtsform  von  dem 
sittlichen  Zweck  ist  (ebenso,  wie  auf  anderen  Gebieten  seine  Trennung  von  Inhalt 
und  Form)  relativ  berechtigt  gegen  eine  naive  Vermischung,  erschliesst  aber  nicht 
das  wahrhaft  befriedigende  Verständniss. 


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280 


§  27.    Kants  Kritik  der  Urteilskraft. 


oder  Schmeichler  oder  gar,  was  freilich  nur  im  Grad  von  dem  Vorigen  unter- 
schieden ist,  Bettler.  Daher  seid  wirtschaftlich,  damit  ihr  nicht  bettelarm  werdet. 
Die  Kriecherei  ist  des  Menschen  unwürdig;  wer  sich  zum  Wurm  macht,  kenn 
nachher  nicht  klagen,  daas  er  mit  Füssen  getreten  wird.  Die  Pflicht  der  Achtung 
meines  Nächsten  ist  in  der  Maxime  enthalten,  keinen  andern  Menschen  als  blosses 
Mittel  zu  meinen  Zwecken  herabzuwürdigen,  nicht  zu  verlangen,  der  Andere  solle 
sich  selbst  wegwerfen,  um  meinem  Zwecke  zu  fröhnen.  Die  Pflicht  der  Nächsten- 
liebe ist  die  Pflicht,  die  Zwecke  Anderer,  sofern  diese  Zwecke  nur  nicht  unsittlich 
sind,  zu  den  meinen  zu  machen;  sie  muss  als  Maxime  des  Wohlwollens  gedacht 
werden,  welches  das  Wohlthun  zur  Folge  hat.  Als  Gefühle  können  Liebe  und 
Achtung  nicht  moralisch  geboten  sein;  denn  Gefühle  zu  haben,  dazu  kann  es  keine 
Verpflichtung  durch  Andere  geben.  Die  Unterlassung  der  blossen  Liebespflichten 
ist  Untugend  (peccatum),  aber  die  Unterlassung  der  Pflicht,  die  aus  der  schuldigen 
Achtung  für  jeden  Meuscheu  überhaupt  hervorgeht,  ist  Laster  \  Vitium) ;  denn  durch 
die  Verabsäumung  der  erstereu  wird  kein  Mensch  beleidigt,  durch  die  Unter- 
lassung aber  der  zweiten  geschieht  dem  Menschen  Abbruch  in  Ansehung  seines 
gesetzmässigen  Anspruchs.  Die  ethische  Gymnastik  ist  nicht  Mönchsasketik,  son- 
dern besteht  nur  in  der  Bekämpfung  der  Naturtriebe,  die  es  dahin  bringt,  über 
sie  bei  vorkommenden  der  Moralität  Gefahr  drohenden  Fällen  Meister  werden  zu 
können,  mithin  wacker  und  im  Bewusstsein  seiner  wiedererworbenen  Freiheit 
fröhlich  macht. 

§  27.  An  die  Kritik  der  reinen  speculativen  und  der  praktischen 
Vernunft  schliesst  sich  bei  Kant  als  ein  Verbindungsmittel  des  theo- 
retischen und  des  praktischen  Theiles  der  Philosophie  zu  einem 
Ganzen  die  Kritik  der  ürtheilskraft  an.  Kant  definirt  die 
Ürtheilskraft  überhaupt  als  das  Vermögen,  das  Besondere  als  ent- 
halten unter  dem  Allgemeinen  zu  denken.  Ist  das  Allgemeine  (die 
Regel,  das  Princip,  das  Gesetz)  gegeben,  so  ist  die  Ürtheilskraft, 
welche  das  Besondere  dadurch  subsumirt,  bestimmend;  ist  aber 
das  Besondere  gegeben,  wozu  sie  das  Allgemeine  finden  soll,  so  ist 
sie  reflectirend.  Die  reflectirende  Ürtheilskraft  bedarf  eines  Prin- 
cips,  um  von  dem  Besondern  in  der  Natur  zum  Allgemeinen  aufzu- 
steigen. Die  allgemeinen  Naturgesetze  haben  nach  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  ihren  Grund  in  unserm  Verstände,  der  sie  der  Natur 
vorschreibt;  die  besonderen  Naturgesetze  aber  sind  empirisch,  also 
nach  unserer  Verstandeseinsicht  zufällig,  müssen  aber  doch,  um  Ge- 
setze zu  sein,  aus  einem  wenngleich  uns  unbekannten  Princip  der  Ein- 
heit des  Mannigfaltigen  als  nothwendig  angesehen  werden.  Nun  ist 
das  Princip  der  reflectirenden  Ürtheilskraft  eben  dieses,  dass  die  be- 
sonderen empirischen  Gesetze  in  Ansehung  dessen,  was  in  ihnen  durch 
die  allgemeinen  Gesetze  unbestimmt  bleibt,  nach  einer  solchen  Einheit 
betrachtet  werden  müssen,  als  ob  gleichfalls  ein  Verstand,  wenngleich 
nicht  der  unsrige,  sie  zum  Behuf  unserer  Erkenntnissvermögen,  um 
ein  System  der  Erfahrung  nach  besonderen  Naturgesetzen  möglich 
zu  machen,  gegeben  hätte.    In  der  Einheit  des  Mannigfaltigen  der 


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§  27.   Kante  Kritik  der  Urtheilakraft.  281 

empirischen  Gesetze  liegt  die  Zweckmässigkeit  der  Natur,  welche 
jedoch  nicht  den  Naturproducten  selbst  beigelegt  werden  darf,  son- 
dern ein  Begriff  a  priori  ist,  der  lediglich  in  der  reflectirenden  Urtheils- 
kraft  seinen  Ursprung  hat.  Vermöge  der  Zweckmässigkeit  der  Natur 
stimmt  die  Gesetzmässigkeit  ihrer  Form  auch  zur  Möglichkeit  der  in 
ihr  nach  Freiheitsgesetzen  zu  bewirkenden  Zwecke.  Der  Begriff  der 
Einheit  des  Uebersinnlichen,  das  der  Natur  zum  Grunde  liegt,  mit 
dem,  was  der  Freiheitsbegriff  praktisch  enthält,  macht  den  Uebergang 
von  der  reinen  theoretischen  zur  reinen  praktischen  Philosophie 
möglich. 

Die  reflectirende  Urtheilskraft  ist  theils  ästhetische,  theils 
teleologische  Urtheilskraft;  jene  geht  auf  die  subjective  oder 
formale,  diese  auf  die  objective  oder  materiale  Zweckmässigkeit.  In 
beiderlei  Beziehung  ist  der  Zweckbegriff  nur  ein  regulatives,  nicht 
ein  constitutives  Princip. 

Das  Schöne  ist  das,  was  durch  seine  mit  dem  menschlichen 
Erkenntuissvermögen  harmonirende  Form  ein  uninteressirtes,  allge- 
meines und  nothwendiges  Wohlgefallen  erweckt.  Das  Erhabene 
ist  das  schlechthin  Grosse,  welches  die  Idee  des  Unendlichen  in  uns 
hervorruft  und  durch  seinen  Widerstreit  gegen  das  Interesse  der 
Sinne  unmittelbar  gelallt. 

Die  teleologische  Urtheilskraft  betrachtet  die  organische 
Natur  nach  der  ihr  innewohnenden  Zweckmässigkeit.  Was  für  iutelli- 
gible  Wesen  das  Gesetz  der  Sittlichkeit  ist,  das  ist  für  blosse  Natur- 
wesen der  organische  Zweck.  Die  mechanische  und  die  teleologische 
Naturerklärung  beruhen  darauf,  dass  sich  die  Naturobjecte  theils 
als  Gegenstände  der  Sinne,  theils  als  Gegenstände  der  Vernunft 
betrachten  lassen.  Die  mechanischen  und  die  Zweckursachen  mag 
ein  intuitiver  Verstand,  den  aber  der  Mensch  nicht  besitzt,  als  identisch 
erkennen. 

F.  W.  D.  Snell,  Darstell,  u.  Erlauter,  der  kant.  Krit  der  Urtheilskr.,  2  Theile, 
Mannh.  1791-1792.    Laz.  Bendavid,  üb.  d.  Krit.  der  Urtheilskraft,  Wien  1796. 

Kants  Lehren  über  das  Schöne  und  Erhabene  sind  von  Schill-  r  in  seinen 
ästhetischen  Abhandlungen,  demnächst  von  Schilling  etc.  fortgebildet,  von  Herder  in  der 
Kalligone  bekämpft  worden;  vgl.  insbesondere  Vischers  Aesthciik,  Zimmermanns  Gesch. 
der  Aesthetik,  Lotzes  Gesch.  der  neueren  deutschen  Aesthetik,  ferner  L.  Friedländer, 
K.  iu  s.  Verhältn.  z.  Kunst  u.  schön.  Natur,  in:  Preuss.  Jahrb.  XX,  1867,  S.  113—128, 
Rud.  Maenne),  Was  ist  nach  K.  schön?  Gera  1872.  Aug.  Stadler,  K.s  Teleologie  und 
ihre  erkeuntnisstheoret.  Bedeutung,  Berl.  1874.    H.  Fenner,  die  Aesthetik  Kants,  Bötzow 

1875.  Arth.  Kichter,   K.  als  Aesthctiker.  in:  Ztschr.  f.  Philo«,  u.  pbiL  Kr.,  Bd.  69, 

1876,  S.  18 — 43.  J.  Palm.  Vergleichende  Darstellung  von  K.s  u.  Schillers  Bestimmungen 
über  das  Wesen  des  Schönen,  I.-D.,  Jena  1878.  Paul  Schmidt,  Kant,  Schiller,  Vischer 
üb.  das  Erhabene,  Hallo  1880.  J.  Mourlv  Vold,  K.s  Teleologie,  in:  Philo«.  Monatsh., 
1882,  S.  542— 567.  Bordihn,  Kant  als  Aesthctiker,  Pr.,  Deut^ch-Krohiie,  1882.  T.  B. 
Vehlen,  Ks  crit.  of  judgment,  in:  The  Journ.  of  ph.,  XVIII,  S.  2-16— 260.  Herrn. 
Baumgart.  üb.  K.s  Krit.  der  ästhetisch.  Urtheilskr.,  zum  22.  Apr.  1886.  in:  Altpreuss. 
Monafcschr.,  23,  1886,  S.  258-282. 


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282 


§  27.   Kants  Kritik  der  Urtheilskraft, 


Die  kantische  Teleologie  hat  namentlich  auf  Sendlings  und  Hegels  Philosophie 
wesentlichen  Kinfluss  geübt;  vgl.  darüber  die  Aeusserungen  von  Rosenkranz  in  seiner 
(Jesch.  der  kantischen  Philosophie,  ferner  von  Miehelet.  Erdmann,  Kuno  Fischer  u.  And. 

In  mehrfachem  Betracht  bildet  die  Kritik  der  Urthei  Iskraft  zwischen  der 
Kritik  der  reinen  and  praktischen  Vernunft  die  Vermittelung.  Die  Kritik  der  reinen 
Vernunft  erkannte  nur  dem  Verstände  constitutive  Principien  zu,  die  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  erkannte  Vernunftideen  als  maassgebend  für  das  Handeln 
an;  zwischen  dem  Verstand  und  der  Vernunft  aber  bildet  Urtheilskraft  das  Mittel- 
glied. Zwischen  dem  Erkennen  und  Begehren  steht  psychologisch  das  Gefühl  der 
Last  and  Unlust;  aaf  dieses  aber  bezieht  sich  die  Urtheilskraft  in  ihrem  ästhe- 
tischen Gebrauch,  indem  sie  ihm  a  priori  die  Regel  giebt  Zwischen  dem  Gebiete 
des  Naturbegriffa  als  dem  Sinnlichen  und  dem  Gebiete  des  Freiheitsbegriffs  als  dem 
Uebersinnlichen  ist  nach  Kant  eine  unübersehbare  Kluft  befestigt,  so  dass  von 
jenem  zu  diesem  vermittelst  des  theoretischen  Gebrauchs  der  Vernunft  kein  Ueber- 
jrang  möglich  ist,  gleich  als  ob  es  verschiedene  Welten  wären,  davon  die  erste  auf 
die  zweite  keinen  Einfluss  haben  kann.  Gleichwohl  soll  doch  diese  auf  jene  einen 
Einfluss  hüben,  nämlich  der  Freiheitsbegriff  den  durch  seine  Gesetze  aufgegebenen 
Zweck  in  der  Sinnenwelt  wirklich  machen,  folglich  muss  die  Natur  auch  so  gedacht 
werden  können,  dass  in  ihr  Zwecke  nach  Freiheitsgesetzen  sich  bewirken  lassen; 
durch  den  Begriff  der  N  tit urZweckmässigkeit  vermittelt  die  Urtheilskraft  den  Ueber- 
gang  vom  Gebiete  der  Naturbegriffe  zum  Gebiete  des  Freiheitsbegriffs. 

An  einem  in  der  Erfahrung  gegebenen  Gegenstande  kann  Zweckmässigkeit 
vorgestellt  werden,  entweder  aus  einem  bloss  subjectiven  Grunde,  als  Ueber- 
einstimmung  seiner  Form  in  der  Auffassung  (apprehensio)  desselben  vor  allem  Be- 
griffe mit  dem  Erkenntnissvermögen,  um  die  Anschauung  mit  Begriffen  zu  einem 
Krkenntniss  überhaupt  zu  vereinigen,  oder  aus  einem  ohjectiven,  als  Ueberein- 
stimmung  seiner  Form  mit  der  Möglichkeit  des  Dinges  selbst,  nach  einem  Begriffe 
von  ihm,  der  vorhergeht  und  den  Grund  dieser  Form  enthält.  Die  Vorstellung  der 
Zweckmässigkeit  der  ereteren  Art  beruht  auf  der  unmittelbaren  Lnst  an  der  Form 
des  Gegenstandes  in  der  blossen  Reflexion  über  sie,  die  Vorstellung  von  der  Zweck- 
mässigkeit der  zweiten  Art  hat  es  nicht  mit  einem  Gefühle  der  Lust  au  den  Dingen, 
sondern  mit  dem  Verstände  in  ßeurtheilung  der  Dinge  zu  thun,  du  sie  die  Form 
des  Objects  nicht  auf  die  Erkenntnissvermögen  des  Suhjects  in  der  Auffassung  der- 
selben, sondern  auf  eine  bestimmte  Erkenntniss  des  Gegenstandes  unter  einem 
gegebenen  Begriffe  bezieht.  Wir  können,  indem  wir  der  Natur  gleichsam  eine  Rück- 
sicht auf  unser  Erkenntnissvermögen  nach  der  Analogie  eines  Zwecks  beilegen,  die 
Naturschönheit  als  Darstellung  (Veranschaulichung)  des  Begriffs  der  formalen  oder 
bloss  subjectiven  Zweckmässigkeit  ansehen,  die  Naturzwecke  aber  als  Darstellung 
des  Begriffs  einer  realen  oder  objectiven  Zweckmässigkeit;  jene  beurtheilen  wir 
ästhetisch,  vermittelst  des  Gefühls  der  Lust,  durch  Geschmack,  diese  logisch 
nach  Begriffen,  durch  Verstand  und  Vernunft.  Hierauf  gründet  sich  die  Eintheilung 
der  Kritik  der  Urtheilskraft  in  die  Kritik  der  ästhetischen  und  die  Kritik  der 
teleologischen  Urtheilskraft. 

Das  Vermögen  der  Beurtheilung  des  Schönen  ist  der  Geschmack.  Um  zu 
unterscheiden,  ob  etwas  schön  sei  oder  nicht,  beziehen  wir  die  Vorstellungen  nicht 
durch  den  Verstand  aufs  Object  zum  Erkenntnisse,  sondern  durch  die  Einbildungs- 
kraft (vielleicht  mit  dem  Verstände  verbunden)  aufs  Snbjcct  und  das  Gefühl  der 
Lust  oder  Unlust  desselben.  Das  Geschmacksurtheil  ist  daher  nicht  logisch,  sondern 
ästhetisch. 


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§  27.    Kants  Kritik  der  Urthcilskraft. 


283 


Das  Wohlgefallen  am  Schönen  ist,  seiner  Qualität  nach,  uni nteressirt.*} 
Das  Interesse  ist  das  Wohlgefallen,  das  wir  mit  der  Vorstellung  der  Existenz 
eines  Gegenstandes  verbinden.  Das  Interesse  hat  immer  zugleich  Beziehung  auf  das 
Begehrungsvermögen,  entweder  als  Bestimmungagrund  desselben,  oder  doch  als  mit 
dem  Bestimmungsgrunde  desselben  nothwendig  zusammenhängend.  Mit  Interesse 
verbunden  ist  das  Wohlgefallen  am  Angenehmen  und  Guten.  Angenehm  ist  das, 
was  den  Sinnen  in  der  Empfindung  gefällt.  Gut  ist  das,  was  vermittelst  der  Ver- 
nunft durch  den  blossen  Begriff  gefällt.  Schön  ist  das.  was  ohne  alles  Interesse 
wohlgefällt,  oder  das,  dessen  Vorstellung  in  mir  mit  Wohlgefallen  begleitet  ist,  so 
gleichgültig  ich  auch  immer  in  Ansehung  der  Existenz  des  Gegenstandes  dieser  Vor- 
stellung sein  mag.  Das  Angenehme  vergnügt,  das  Schöne  gefällt.  Das  Gute  wird 
geschätzt  (dem  Guten  wird  ein  objectiver  Werth  beigelegt).  Annehmlichkeit  gilt 
auch  für  vernunftlose  Thiere,  Schönheit  nur  für  Menschen,  d.  h.  thierische,  aber  doch 
zugleich  vernünftige  Wesen,  das  Gute  aber  für  jedes  vernünftige  Wesen  überhaupt. 
Sowohl  das  Wohlgefallen  der  Sinne  als  auch  das  der  Vernunft  zwingt  den  Beifall 
ab,  das  des  Geschmacks  am  Schönen  aber  ist  ein  freies  Wohlgefallen.  Das  Wohl- 
gefallen am  Angenehmen  beruht  auf  Neigung,  das  am  Schönen  auf  Gunst,  das  am 
Guten  auf  Achtung.**) 

*)  In  dieser  Begriffsbestimmung,  die  das  Schöne  durch  seine  Wirkung  auf  das 
Subject  charakterisirt,  verwendet  Kant  ein  bereits  von  Mendelssohn  hervorgehobenes 
Merkmal  dieser  Wirkung.  Mendelssohn  sagt  in  seinen  .Morgenstunden""  (Sehr.  II, 
S.  294  f.,  cit.  von  Kanngiesscr,  die  Stellung  M  s  in  der  Aesth.  S.  114):  .Man  pflegt 
gemeiniglich  das  Vermögen  der  Seele  in  Erkenntnissvermö<ren  und  Begehrnngs- 
vermögen  einzutheilen  und  die  Empfindung  der  Lust  und  Unlust  schon  mit  zum 
Begehrungsvermögen  zu  rechnen.  Allein  mich  dünkt,  zwischen  dem  Erkennen  und 
Begehren  liege  das  Billigen,  der  Beifull,  das  Wohlgefallen  der  Seele,  welches  noch 
eigentlich  von  Begierde  weit  entfernt  ist.  Wir  betrachten  die  Schönheit  der  Natur 
und  der  Knnst,  ohne  die  mindeste  Regung  von  Begierde,  mit  Vergnügen  und  Wohl- 
gefallen. Es  scheint  vielmehr  ein  besonderes  Merkmal  der  Schönheit  zu  sein,  dass 
sie  mit  ruhigem  Wohlgefallen  betrachtet  wird,  dass  sie  gefällt,  wenn  wir  sie  auch 
nicht  besitzen  und  von  dem  Verlangen  sie  zu  benutzen  auch  noch  so  weit  entfernt 
sind.  Krst  alsdann,  wenn  wir  das  Schöne  in  Beziehung  auf  uns  betrachten  und  den 
Besitz  desselben  als  ein  Gut  ansehen,  alsdann  erst  erwacht  bei  uns  die  Begierde, 
zu  haben,  an  uns  zu  bringen,  zu  besitzen,  eine  Begierde,  die  von  dem  Genüsse  der 
Schönheit  sehr  weit  unterschieden  ist."  Mendelssohn  findet  in  dem  .Billigunjrs- 
vermögen*  den  Uebcrgang  vom  Erkennen  zum  Begehren.  Kants  Begriff  der  Un- 
interessirtheit  reicht  aber  über  das  blosse  Nichtbegehren  nach  Besitz  weit  hinaus. 

**)  Die  strenge  Abtrennung  des  Reizes  als  des  Angenehmen,  das  in  der  Empfin- 
dung gefalle,  von  dem  Schönen  (z.  B.  in  der  Malerei  der  Farbe  und  der  Zeichnung), 
ist  undurchführbar  in  der  Kunst.  Mit  eben  so  viel  Grund,  wie  Kant  die  Farbe  bei 
einem  Bilde  für  eine  entbehrliche  Zuthat  erklärt,  die  nur  durch  ihren  Reiz  die  Auf- 
merksamkeit auf  den  Gegenstand  selbst  erwecke  und  erhebe,  hätte  er  dasselbe  vom 
Versmuass,  Rhythmus  und  Reim  in  der  Poesie  sagen  können,  und  doch  lässt  er  selbst 
mit  richtiger  Einsicht  eine  Poesie  ohne  Reim  und  ohne  Metrum  gar  nicht  gelten. 
Kant  hat  auf  dem  ästhetischen  Gebiete  ganz  ebenso,  wie  auf  dem  theoretischen  und 
praktischen  (s.  o.  S  245  ff.  u.  S.  274  ff),  nicht  eine  aufsteigende  Stufenfolge  vom 
Sinnlichen  zum  Geistigen  anerkannt,  sondern  beides  dualistisch  von  einander  ge- 
schieden. Mit  Recht  dagegen  scheidet  Kant  das  aunintercssirte  Wolgefallen  \  das 
sich  an  die  blosse  Anschauung  knüpft,  von  dem  praktischen  Interesse  ab;  jenes 
knüpft  sich  bereits  an  das  blosse  Bild  des  Gegenstandes  und  nicht  an  die  Beziehungen 
des  Objectes  selbst  zu  unserm  Eigenleben.  Das  uninteressirte  Wohlgefallen  aber 
hat  eine  objective  Basis,  welche  Kant,  in  der  Consequenz  seines  einseitigen  Sub- 
jectivismus,  vergeblich  zu  beseitigen  sucht.  Diese  Basis  liegt  in  dem  WTesen  des 
angeschauten  Objectes,  und  die  ästhetisch  befriedigende  Form  ist  nicht  etwas  Selb- 
ständiges, sondern  nur  die  angemessene  Weise  der  Ausprägung  dieses  Wesens  in  der 
Erscheinung  (in  Kants  fälschlich  sogenannter  »freier  Schönheit"). 


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284 


§  27.    Kante  Kritik  der  Urteilskraft. 


Das  Wohlgefallen  am  Schönen  ist,  seiner  Quantität  nach,  allgemein.  Das 
Wohlgefallen  am  Schönen  kann,  weil  es  uninteressirt  und  frei  ist,  nicht  (wie  das 
am  Angenehmen)  iu  Privatbedinguugeu  gegründet  sein,  sondern  nur  in  demjenigen, 
was  der  Urtheilende  auch  bei  jedem  Andern  voraussetzen  kann.  Aber  die  Gültig- 
keit für  Jedermumi  kunn  bei  dem  ästhetischen  Urtheil  nicht  (wie  beim  ethischen 
Urtheil)  aus  Begriffen  entspringen:  es  ist  also  mit  demselben  nicht  ein  Anspruch 
auf  objective,  sondern  nur  auf  subjective  Allgemeinheit  verbunden. 

Nach  der  Relation  der  Zwecke,  welche  in  den  Geschmacksurtkeilen  in  Be- 
tracht gezogen  werden,  ist  die  Schönheit  die  Form  der  Zweckmässigkeit  eines 
Gegenstandes,  sofern  sie  ohne  Vorstellung  eines  Zwecks  un  ihm  wahrgenommen 
wird.  Eine  Blume,  z.  B.  eine  Tulpe,  wird  für  schön  gehalten,  weil  eine  gewisse 
Zweckmässigkeit,  die  so,  wie  wir  sie  beurtheileu,  auf  gar  keinen  Zweck  bezogen 
ist,  in  ihrer  Wahrnehmung  angetroffen  wird.  Kant  unterscheidet  freie  und  an- 
hängende Schönheit.  Die  freie  Schönheit  (pulchritudo  vaga)  setzt  keinen  Begriff 
von  dem  voraus,  was  der  Gegenstand  sein  soll;  die  bloss  auhängende  Schönheit 
ipulchritudo  adhaerens)  setzt  einen  solchen  und  die  Vollkommenheit  des  Gegen- 
standes nach  demselben  voraus.  Das  Wohlgefallen  an  dem  Manuigfaltigen  in  einem 
Dinge  In  Beziehung  auf  den  inneren  Zweck,  der  seine  Möglichkeit  bestimmt,  ist 
auf  einen  Begriff  gegründet:  das  Wohlgefallen  an  der  (freien)  Schönheit  abersetzt 
keinen  Hegriff  voruus,  sondern  ist  unmittelbar  mit  der  Vorstellung,  wodurch  der 
Gegenstand  gegeben  (nicht  wodurch  er  gedacht  wird),  verkuüpft.  Wird  der  Gegen- 
stand unter  der  Bedingung  eines  bestimmten  Begriffs  für  schön  erklärt,  wird  ah?o 
das  Geschmacksurtheil  über  die  Schönheit  durch  das  Vernunfturtheil  über  die  Voll- 
kommenheit oder  innere  Zweckmässigkeit  eingeschränkt,  so  ist  das  Urtheil  nicht 
mehr  ein  freies  und  reines  Geschmacksurtheil.  Nur  in  der  Beurtheilung  einer  freien 
Schönheit  ist  das  Geschmacksurtheil  rein. 

Der  Modalität  nach  hat  das  Schöne  eine  nothwendige  Beziehung  auf  das 
Wohlgefallen.  Diese  Notwendigkeit  ist  nicht  theoretisch  und  objectiv,  auch  nicht 
praktisch,  sondern  sie  kann  als  Nothweudigkeit,  die  in  einem  ästhetischen  Urtheile 
gedacht  wird,  nur  exemplarisch  gedacht  werden,  d.  h.  sie  ist  die  Nothweudigkeit 
der  1  Bestimmung  aller  zu  einem  Urtheil,  das  wie  ein  Beispiel  einer  allgemeinen 
Regel,  die  man  nicht  augeben  kann,  augesehen  wird.  Der  ästhetische  Gemeinsinn 
als  Wirkung  aus  dem  freien  Spiel  unserer  Erkenutnisskräfte  ist  eine  idealische 
Norm,  unter  deren  Voraussetzung  sich  ein  Urtheil,  welches  mit  ihr  zusammen- 
stimmt, und  das  iu  demselben  ausgedrückte  Wohlgefallen  an  einem  0>>ject  für  Jeder- 
mann mit  Recht  zur  Regel  machen  lässt,  weil  das  Princip  zwar  nur  subjectiv,  aber 
subjectiv  allgemein,  eine  Jedermann  uothwendige  Idee  ist. 

Das  Schöne  gefällt  mit  einem  Anspruch  auf  jedes  Andern  Beistimmung  als 
Symbol  des  sittlich  Guten,  und  der  Geschmack  ist  demgemäss  im  Grunde  ein 
Beurtheilungsvermögen  der  Versinnlichang  sittlicher  Ideen. 

Erhaben  ist  das,  wa3  durch  einen  Widerstand  gegen  das  Interesse  der  Sinne 
unmittelbar  gefällt.  Ein  Naturobject  kann  nur  zur  Darstellung  einer  Erhubeuhcit 
tauglich,  aber  nicht  eigentlich  erhaben  sein,  obzwar  viele  Nuturobjecte  schön  ge- 
nannt werden  dürfen.  Denn  das  eigentliche  Erhabene  kann  in  keiner  sinnlichen 
Form  enthalten  sein,  sonderu  trifft  nur  Ideen  der  Vernunft,  welche ,  obgleich  keine 
ihnen  angemessene  Darstellung  möglich  ist,  eben  durch  diese  Unungemessenheit, 
welche  sich  sinnlich  darstellen  lässt,  rege  gemacht  uud  ins  Gemüth  gerufen  werden. 
Erhabenheit  liegt  z.  B.  nicht  sowohl  iu  dem  durch  Stürme  empörten  Ocean,  als  viel- 
mehr in  dem  Gefühl,  zu  welchem  das  Gemüth  durch  die  Anschauung  desselben  ge- 
stimmt werden  soll,  indem  es  die  Sinnlichkeit  zu  verlassen  und  sich  mit  Ideen,  die 
höhere  Zweckmässigkeit  enthalten,  zu  beschäftigen  angereizt  wird.    Zum  Schönen 


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§  27.   Kante  Kritik  der  Urteilskraft. 


285 


der  Natur  müssen  wir  einen  Grund  ausser  uns  suchen,  zum  Erhabenen  aber  bloss 
in  uns  und  der  Denkungsart,  die  in  die  Vorstellung  der  Natur  Erhabenheit  hinein- 
bringt. Das  Wohlgefallen  am  Erhabenen  muss  ebensowohl,  wie  das  am  Schönen, 
der  Quantität  nach  allgemeingültig,  der  Qualität  nach  ohne  Interesse  sein,  der 
Relation  nach  subjective  Zweckmässigkeit  und  der  Modalität  nach  letztere  al* 
nothwendig  vorstellig  machen. 

Kant  unterscheidet  zwei  Klassen  des  Erhabenen,  nämlich  das  mathematisch 
und  das  dynamisch  Erhabene  Alles  Erhabene  führt  eine  mit  der  Beurtheilung 
des  Gegenstandes  verbundene  Bewegung  des  Gemüthes  mit  sich,  während  der  Ge- 
schmack am  Schönen  das  Gemüth  in  ruhiger  Contemplation  voraussetzt  und  erhält 
Diese  Bewegung  aber  wird,  indem  sie  als  subjectiv  zweckmässig  beurtheilt  werden 
soll,  durch  die  Einbildungskraft  entweder  auf  das  Erkenntniss-  oder  auf  das  Be- 
gehrungsvermögen bezogen;  im  ersten  Fall  ist  die  Stimmung  der  Einbildungskraft 
eine  mathematische,  an  Grössenschätzung  geknüpfte,  im  andern  Fall  eine  dynamische, 
aus  Kräftevergleichnng  erwachsen.  In  beiden  Fällen  aber  wird  dem  Objecte, 
welches  diese  Stimme  der  Einbildungskraft  hervorruft,  der  gleiche  Charakter  bei- 
gelegt. Gelangen  wir  im  Fortschritt  der  Grössenvergleichung,  indem  wir  etwa  von 
der  Manneshöhe  zu  der  Höhe  eines  Berges,  von  da  zum  Erddurchmesser,  zum  Durch- 
messer der  Erdbahn,  der  Milchstrasse  und  der  Systeme  der  Nebelflecke  fortgehen, 
auf  immer  grössere  Einheiten,  so  erscheint  uns  alles  Grosse  in  der  Natur  immer 
wieder  als  klein,  eigentlich  aber  nur  unsere  Einbildungskraft  in  ihrer  ganzen  Grenz- 
losigkeit  und  mit  ihr  die  Natur  als  gegen  die  Idee  der  Vernunft  verschwindend. 
Demnach  ist  das  mathematisch  Erhabene,  an  welchem  die  Einbildungskraft  ihr 
ganzes  Vermögen  der  Zusammenfassung  fruchtlos  verwendet,  über  allen  Maassstab 
der  Sinne  gross;  das  Gefühl  des  Erhabenen  involvirt  ein  Gefühl  der  Unlust  aus  der 
Unangemessenheit  der  Einbildungskraft  in  der  ästhetischen  Grössenschätzung,  zu- 
gleich aber  der  Lust,  jeden  Maassstab  der  Sinnlichkeit  den  Ideen  der  Vernunft 
unangemessen  zu  finden.  Dynamisch  erhaben  ist  die  Natur  im  ästhetischen  Urtheil 
als  Macht,  die  über  uns  keine  Gewalt  hat,  indem  sie  uns  als  Sinnenwesen  zwar 
furchtbar  ist,  aber  unsere  Kraft  aufruft,  die  nicht  Natur  ist,  um  das,  wofür  wir 
besorgt  sind,  als  klein  und  daher  ihre  Macht  als  keine  Gewalt  anzusehen,  der  wir 
uns  zu  beugen  hätten,  wenn  es  auf  die  Behauptung  oder  Verlassnng  unserer  höchsten 
Grundsätze  ankäme,  so  dass  dem  Gemüth  die  Erhabenheit  seiner  Bestimmung  über 
die  Natur  fühlbar  wird.  Das  Erhabene  als  das  schlechthin  Grosse  liegt  nur  in  des 
Subjects  eigener  Bestimmung. 

Obgleich  die  unmittelbare  Lust  am  Schönen  der  Natur  eine  gewisse  Liberalität 
der  Denkungsart,  d.  h.  Unabhängigkeit  des  Wohlgefallens  vom  blossen  Sinnen* 
genusse,  voraussetzt  und  cnltivlrt,  so  wird  dadurch  doch  mehr  die  Freiheit  im  Spiele, 
als  unter  einem  gesetzlichen  Geschäfte  vorgestellt,  welches  die  echte  Beschaffenheit 
der  Sittlichkeit  des  Menschen  ist,  wo  die  Vernunft  der  Sinnlichkeit  Gewalt  anthun 
muss.  Im  ästhetischen  Urtheil  über  das  Erhabene  wird  diese  Gewalt  durch  die 
Einbildungskraft  selbst  als  ein  Werkzeug  der  Vernunft  ausgeübt  vorgestellt,  daher 
ist  die  mit  dem  Gefühl  für  das  Erhabene  der  Natur  verbundene  Stimmung  des 
Gemüths  der  moralischen  ähnlich. 

Die  Geschmacksurthelle  gründen  sich  nicht  auf  bestimmte  Begriffe,  aber 
doch  auf  einen,  obzwar  unbestimmten  Begriff,  nämlich  vom  übersinnlichen  Sub- 
strat der  Erscheinungen. 

Kunst  ist  Hervorbringung  durch  Freiheit.  Die  mechanische  Kunst  ver- 
richtet die  dem  Erkenntniss  eines  möglichen  Gegenstandes  angemessenen  Hand- 
lungen, um  ihn  wirklich  zu  machen,  die  ästhetische  Kunst  hat  das  Gefühl  der 
IiUit  zur  unmittelbaren  Absieht  und  zwar  entweder  als  blosse  Empfindung  (an- 


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§  27.    Kaute  Kritik  der  Urteilskraft. 


genehme  Kunst)  oder  in  der  Beurtheiluug  als  Lust  am  Schönen  (schöne  Kunst). 
Das  Product  der  schönen  Kunst  muss  zugleich  als  Werk  der  Freiheit  und  doch 
auch  von  allem  Zwange  willkürlicher  Regeln  so  frei  erscheinen,  als  ob  es  ein 
Product  der  blossen  Natur  sei.  Das  Genie  ist  das  Talent  (Naturgabe),  welches 
der  Kunst  die  Regel  giebt.    Schöne  Kunst  ist  Kunst  des  Genies. 

Die  ästhetische  Zweckmässigkeit  ist  Bubjectiv  und  formal.  Die  schönen  Dinge 
sind  nur  in  Bezug  auf  unsere  Auffassung  zweckmässig.  Es  giebt  eiue  objective 
und  iutellectuelle  Zweckmässigkeit,  die  bloss  formal  ist;  diese  bekundet  sich  in 
der  Tauglichkeit  geometrischer  Figuren  zur  Auflösung  vieler  Probleme  nach  einem 
einzigen  Princip.  Die  Vernunft  erkennt  die  Figur  als  angemessen  zur  Erzeugung 
vieler  abgezweckter  Gestalten.  Auf  den  Begriff  einer  objectiven  und  mate- 
riellen Zweckmässigkeit,  d.  i.  auf  den  Begriffeines  Zwecks  der  Natur, 
leitet  die  Erfahrung  unsere  Urtheilskraft  dann,  wenn  ein  Verhältniss  der  Ursache 
zur  Wirkung  zu  beurtheilcn  ist,  welches  wir  als  gesetzlich  nur  dadurch  einsehen 
können,  dass  wir  die  Idee  der  Wirkung  als  die  der  Causalität  ihrer  Ursache  zum 
Grunde  liegende  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Wirkung  betrachten  und  als  solche 
der  Causalität  ihrer  Ursache  selbst  unterlegen.  Wir  beurtheilen  die  Natur  teleo- 
logisch, sofern  wir  einen  Begriff  vom  Objecto,  als  ob  er  In  der  Natur  belegen 
wäre,  Causalität  in  Ansehung  eines  Objectes  zueignen  oder  vielmehr  nuch  der 
Analogie  einer  solchen  Causalität,  dergleichen  wir  in  uns  untreffen,  uns  die  Mög- 
lichkeit des  Gegenstandes  vorstellen,  mithin  die  Natur  als  durch  eigenes  Vermögen 
technisch  denken.  Wollten  wir  der  Natur  absichtlich  wirkende  Ursachen 
unterlegen,  so  würde  hierdurch  der  Teleologie  nicht  bloss  ein  regulatives  Princip 
für  die  blosse  Beurtheilung  der  Erscheinungen,  dem  die  Natur  nach  ihren  beson- 
deren Gesetzen  als  unterworfen  gedacht  werden  könne,  sondern  auch  ein  constitu- 
tives  Princip  der  Ableitung  ihrer  Producte  von  ihren  Ursachen  zum  Grunde 
gelegt  werden.  Dann  aber  würde  der  Begriff  eines  Naturzwecks  nicht  mehr  der 
reflectirendeu,  sondern  der  bestimmenden  Urtheilskraft  zukommen,  in  der 
That  aber  dann  gar  nicht  der  Urtheilskraft  eigentümlich  angehören,  sondern  als 
Vernunftbegriff  in  die  Naturwissenschaft  eine  neue  Causalität  einführen,  die  wir 
doch  nur  von  uns  selbst  entlehnen  und  anderen  Weseu  beilegen,  ohne  diese  gleich- 
wohl mit  uns  als  gleichartig  annehmen  zu  wollen. 

Die  Naturzweckmässigkeit  ist  theils  eine  innere,  theils  eine  äussere  oder 
relative,  je  nachdem  wir  die  Wirkung  entweder  unmittelbar  als  Zweck  oder  als 
Mittel  zum  zweckmässigen  Gebrauch  für  undere  Wesen  ansehen.  Die  letztere 
Zweckmässigkeit  heisst  die  Nutzbarkeit  (für  Menschen)  oder  auch  Zuträglichkeit 
(für  jedes  andere  Geschöpf).  Das  relativ  Zweckmässige  kann  nur  unter  der  Be- 
dingung für  einen  (äusseren)  Naturzweck  angesehen  werden,  dass  die  Existenz  des- 
jenigen, dem  es  zunächst  oder  auf  entfernte  Weise  zuträglich  ist,  für  sich  selbst 
Zweck  der  Natur  sei.  Dinge  als  Naturzwecke  sind  organisirte  Wesen,  d.  h. 
solche  Naturproducte,  in  welchen  alle  Theile  nicht  nur  um  einander  und  des  Gauzen 
willen  existirend,  sondern  auch  einander  wechselseitig  hervorbringend  gedacht 
werden  können,  also  Naturproducte,  in  welchen  alles  Zweck  und  wechselseitig  auch 
Mittel  ist  Ein  organisirtes  Wesen  ist  also  nicht  bloss  Maschine,  denn  eine  solche 
hat  lediglich  bewegende  Kraft,  sondern  besitzt  in  sich  bildende  Kraft,  uud  zwar 
eine  solche,  die  sie  Materien  mittheilt,  welche  sie  nicht  haben,  also  eine  sich  fort- 
pflanzende bildende  Kraft,  welche  durch  das  Bewegungsvermögen  allein  (den 
Mechanismus)  nicht  erklärt  werden  kann. 

In  dem  uns  unbekannten  innern  Grunde  der  Natur  mögen  die  physisch-mecha- 
nische und  die  Zweckverbindung  an  denselben  Dingen  in  Einem  Princip  zusammen- 
hängen; aber  unsere  Vernunft  ist  nicht  im  Stande,  sie  in  einem  solchen  zu  ver- 


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§  27.    Kante  Kritik  der  Urteilskraft. 


287 


einigen.  Nach  der  Beschaffenheit  unseres  Verstandes  ist  ein  reales  Ganzes  der 
Natur  nur  als  Wirkung  der  concurrirenden  bewegenden  Kräfte  der  Theile  anzu- 
sehen. Ein  intuitiver  Verstand  könnte  die  Möglichkeit  der  Theile  ihrer  Be- 
schaffenheit und  Verbindung  nach  als  in  dem  Ganzen  begründet  vorstellen.  In 
der  discursiven  Erkenntnissart,  an  welche  unser  Verstand  gebunden  ist,  würde  es 
ein  Widerspruch  sein,  das  Ganze  als  den  Grund  der  Möglichkeit  der  Verknüpfung 
der  Theile  zu  denken.  Der  discursive  Verstand  kann  nur  die  Vorstellung  eines 
Ganzen  als  den  Grund  der  Möglichkeit  der  Form  desselben  und  der  dazu  gehörigen 
Verknüpfung  der  Theile  denken;  ihm  gilt  daher  das  Ganze  als  ein  Produet,  dessen 
Vorstellung  die  Ursache  seiner  Möglichkeit  sei,  d.  h.  als  ein  Zweck.  Es  ist  dem- 
nach bloss  eine  Folge  aus  der  besonderen  Beschaffenheit  unseres  Verstandes,  wenn 
wir  die  Producte  der  Natur  nach  einer  andern  Art  der  Causalität,  als  der  mecha- 
nischen der  Naturgesetze  der  Materie,  nämlich  nach  der  teleologischen  der  End- 
ursachen (causae  finales),  ansehen.  Wir  dürfen  weder  behaupten:  alle  Erzeugung 
materieller  Dinge  ist  nach  bloss  mechanischen  Gesetzen  möglich;  noch  auch: 
einige  Erzeugung  derselben  ist  nach  bloss  mechanischen  Gesetzen  nicht  möglich. 
Die  beiden  Maximen  aber  können  und  müssen  als  regulative  Priucipien  neben- 
einander bestehen:  alle  Erzeugung  materieller  Dinge  und  ihrer  Formen  muss  als 
nach  bloss  mechanischen  Gesetzen  möglich  beurt heilt  werden,  und:  die  Beur- 
theilung  einiger  Producte  der  materiellen  Natur  erfordert  eiu  ganz  anderes  Gesetz 
der  Causalität,  nämlich  das  der  Endursachen.  Ich  soll  dem  Mechanismus  der  Nutur 
überall,  so  weit  ich  kann,  nachforschen  und  alles,  was  zur  Natur  gehört,  auch  als 
nach  mechanischen  Gesetzen  mit  ihr  verknüpft  denken,  wodurch  nicht  ausgeschlossen 
wird,  dass  ich  über  einige  Naturformen  und  auf  deren  Veranlassung  sogar  über  die 
ganze  Natur  nach  dem  Princip  der  Zweckursachen  refleetire.  Diese,  deren  Existenz 
wir  uns  nur  unter  der  Voraussetzung  eines  Zweckes  als  möglich  vorstellen,  sind 
der  vorzüglichste  Beweis  für  die  Zufälligkeit  des  Weltganzeu  und  bilden  den  ein- 
zigen für  den  gemeinen  Verstand  wie  für  den  Philosophen  geltenden  Beweisgrund 
der  Abhängigkeit  und  des  Ursprungs  desselben  von  einem  ausser  der  Welt  exi- 
stirenden  und  zwar  um  der  Zweckmässigkeit  willen  verständigen  Wesens.  So  findet 
die  Teleologie  genügende  Vollendung  nur  in  einer  Theologie.  Aber  freilich  ist 
dieses  höchste  Wesen  nicht  objectiv  dargethan,  sondern  nur  subjectiv  für  den  Ge- 
brauch unserer  Urtheilskraft  in  ihrer  Reflexion  über  die  Zwecke  in  der  Natur,  die 
wir  uns  nicht  anders  denken  können,  als  unter  der  Voraussetzung  einer  absichtlichen 
Causalität  als  höchster  Ursache.  —  Kant  fragt  auch,  ob  nicht  die  Natur  als  Ganzes 
von  einer  unbewussten  Zweckmässigkeit  hervorgebracht  sein  könnte,  und  ergeht 
sich  sogar  in  Vorstellungen  über  einen  höheren  Geist,  der  dem  unsrigen  ganz  un- 
ähnlich sein  müsse,  wagt  aber  doch  nicht,  darüber  Behauptungen  aufzustellen. 

In  der  Analogie  der  Formen  der  verschiedenen  Klassen  von  Organismen  findet 
Kant  (wie  später  namentlich  Lamarck,  geb.  1744,  in  seiner  1809  erschienenen  Philo- 
sophie zoologique,  neueste  Ausg.  von  Charl.  Martins,  Par.  1873,  auch  bereits  Goethe, 
später  Okeu  und  andere  von  Schelling  angeregte  Naturphilosophen,  in  Frankreich 
(Javiers  Gegner  Geoffroy  St.  Hilaire,  In  England  in  neuester  Zeit  Charles  Darwin 
und  vor  ihm  sein  Grossvater  Erasmus  Darwin,  1731—1802,  namentlich  in  seiner 
Zoonomia  or  the  laws  of  organic  life,  Lond.  1794—1798,  s.  üb.  ihn  Ernst  Krause, 
E.  D.  u.  seine  Stellung  in  d.  Gesch.  der  Descendenztheorie,  mit  seinem  Lebens-  u. 
Charakterbilde  v.  Charles  Darwin,  Lpz.  1880)  Grund  zu  der  Vermuthung  einer 
wirklichen  Verwandtschaft  derselben  in  der  Erzeugung  von  einer  gemeinsamen  Ur- 
mutter.  Die  Hypothese,  dass  speeifisch  unterschiedene  Wesen  aus  einander  ent- 
standen seien,  z.  B.  aus  Wasserthieren  Sumpfthiere,  aus  diesen  nach  mehreren 
Zeugungen  Landthiere,  nennt  er  „ein  gewagtes  Abenteuer  der  Vernunft*.  Er  erfreut 


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288  §  27.   Kants  Kritik  der  Urteilskraft. 

sich  des  obschon  schwachen  Strahls  von  Hofihnng,  dass  hier  wohl  etwas  mit  dem 
Princip  des  Mechanismus  der  Natur,  ohne  das  es  keine  Naturwissenschaft  gebe, 
auszurichten  sein  möge;  aber  er  hebt  hervor,  dass  auch  bei  dieser  Annahme  die 
Zweckform  der  Producte  des  Thier-  und  Pflanzenreichs  ihrer  Möglichkeit  nach  nar 
so  zu  denken  Bei,  dass  der  gemeinsamen  Mutter  aller  dieser  Organismen  eine  auf 
dieselben  zweckmässig  gestellte  Organisation  beigelegt  werde;  der  Erklärungsgrund 
sei  mithin  nur  weiter  hinausgeschoben,  die  Erzeugung  des  Pflanzen-  und  Thier- 
reichs aber  nicht  von  der  Bedingung  der  Endursachen  unabhängig  gemacht  worden 
(s.  übrigens  K.s  Anthrop.,  1.  Aufl.,  8. 325,  Anm.).  Wir  müssen  nach  der  Beschaffen- 
heit unseres  Erkenntnissvermögens  den  Mechanismus  der  Nutur  gleichsam  als  Werk- 
zeug den  Zwecken  einer  absichtlich  wirkenden  Ursache  untergeordnet  denken.  Die 
Möglichkeit  einer  solchen  Vereinigung  zweier  ganz  verschiedener  Arten  von  Cau- 
salität,  der  Natur  in  ihrer  allgemeinen  Gesetzmässigkeit  mit  einer  Idee,  welche  jene 
auf  eine  besondere  Form  einschränkt,  wozu  sie  für  sich  gar  keinen  Grund  enthält, 
begreift  unsere  Vernunft  nicht;  sie  liegt  in  dem  übersinnlichen  Substrat  der  Natur, 
wovon  wir  nichts  bejahend  bestimmen  können,  als  dass  es  das  Wesen  an  sich  sei. 
wovon  wir  bloss  die  Erscheinungen  kennen  *) 

Als  eigentlicher  Endzweck  der  Schöpfung  muss  der  Mensch  als  moralisches 
Wesen  anerkannt  werden.  Damit  haben  wir  einen  Grund,  die  Welt  als  ein  nach 
Zwecken  zusammenhängendes  Ganzes  und  als  System  von  Endursachen  anzusehen 
und  ein  Princip,  die  Natur  und  Eigenschaften  einer  verständigen  Weltursache  als 
obersten  Grundes  im  Reiche  der  Zwecke  zu  denken,  und  den  Begriff  desselben  zu 
bestimmen.  Wir  müssen  uns  dasselbe  als  allwissend  vorstellen,  damit  selbst  das 
Innerste  der  Gesinnungen  ihm  nicht  verborgen  sei,  als  allmächtig,  damit  es  die 
ganze  Natur  dem  höchsten  Zwecke  angemessen  machen  könne,  als  allgütig,  gerecht, 
ewig,  allgegenwärtig.    Hiermit  haben  wir  eine  Ethikotheologie. 

Eine  Tafel,  aus  der  Bich  die  verschiedenen  Disciplinen  ergeben  nach  den  ein- 
zelnen Vermögen  der  Seele,  unter  Herbeiziehung  der  verschiedenen  Seiten  des 
oberen  Erkenntnisvermögens,  unter  Anwendung  der  jedesmaligen  eigentümlichen 
Principien  a  priori  und  mit  Angabe  der  Producte,  die  dabei  zu  Tage  kommen, 
findet  sich  in  der  Einleitung  zu  der  Kritik  der  Urteilskraft  und  ausführlicher  dar- 
gelegt in  der  Abhandlung:  Ueber  Philosophie  überhaupt.   Diese  Tafel  möge  hier 


noch  zum  Schluss  der  Darstellung  der  ka 

mtischen  Philosophie  ihre  Stelle  finden: 

Vermögen  des 

Obcre  Erkennt- 

Principien 

Producte 

Gemüths 

nissvermögen 

a  priori 

Erkenntnissver- 

Verstand 

Gesetzmässigkeit 

Natur 

mögen 

Gefühl  der  Lust 

Urteilskraft 

Zweckmässigkeit 

Kunst 

und  Unlust 

Begehrungsver- 

Vernunft 

Verbindlichkeit 

Sitten 

mögen 


*)  Aus  der  kantischen  Idee  des  intuitiven  Verstandes,  der  in  dem  übersinnlichen 
Substrat  der  erscheinenden  Natur  den  Grund  des  Zusammenhangs  von  Natur- 
mechanismus und  Zweckmässigkeit  erkenne  und  das  Ganze  als  den  Grund  der  Mög- 
lichkeit der  Verknüpfung  der  Theile  begreife,  hat  sich  später  die  schellingsche 
Naturphilosophie  entwickelt,  die  aber,  da  sie  das  räumlich-zeitliche  Aussereinander- 
sein  nicht  für  bloss  subjectiv  hält,  dieselbe  wesentlich  umbilden  musste.  In  ge- 
wissem Sinne  berührt  sich  damit  auch  Schopenhauers  Doctrin. 


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§  28.    Schüler  und  Gegner  Kants.   Reinhold  u.  Andere. 


289 


§  28.  Die  kantische  Doctrin  wurde  philosophisch  vom  lockeschen, 
leibnizisch-wolffschen  und  skeptischen  Standpunkte  aus  bekämpft.  Von 
Einfluss  auf  die  fortschreitende  Entwicklung  der  Speculation  sind 
vornehmlich  die  Zweifelsgründe  von  Gottlob  Ernst  Schulze  (Aenesi- 
demus)  geworden.  Unter  den  zahlreichen  Anhängern  der  kautischen 
Philosophie  sind  insbesondere  folgende  von  Bedeutung:  Johannes 
Schultz  als  der  früheste  Erläuterer  der  Vernunftkritik,  Karl  Leon- 
hard Reinhold  als  der  begeisterte  und  erfolgreich  wirkende  Apostel 
der  neuen  Lehre,  der  freilich  später  die  kantische  Philosophie  zu  ver- 
bessern suchte,  und  Friedrich  Schiller  als  der  Dichterphilosoph,  der 
die  ethischen  und  ästhetischen  Grundlehren  durch  wanne  und  edle 
Darstellung  zum  Gemeingut  der  Gebildeten  machte,  indem  er  sie  zu- 
gleich durch  Anerkennung  einer  in  Sittlichkeit  und  Kunst  möglichen 
Ueberwindung  des  Gegensatzes  von  Natur  und  Geist,  Realität  und 
Idealität  wesentlich  fortbildete. 

Mit  vielseitiger  Empfänglichkeit  und  mit  kritischem  Blick  begabt, 
aber  zu  eigener  Systembildung  weder  befähigt  noch  geneigt,  fand 
Friedrich  Heinrich  Jacobi,  der  Glaubensphilosoph,  in  dem  Spino- 
zismus  die  letzte  Consequenz  alles  philosophischen  Denkens,  die  aber 
durch  ihren  Widerstreit  gegen  das  Interesse  des  Gefühls  zum  Glauben 
als  der  unmittelbaren  Ueberzeugung  von  Gott  und  den  göttlichen 
Dingen  nöthige.  Er  wies  nach,  wie  der  Kantianismus  sich  durch  den 
inneren  Widerspruch  aufhebe,  dass  man  nicht  ohne  die  realistische 
Voraussetzung  eines  das  Subject  mit  der  (transscendentalen)  Objectivität 
verknüpfenden  Causalnexus  den  Eingang  in  die  Vernunftkritik  finden, 
mit  derselben  aber  nicht  in  der  Vernunftkritik  beharren  könne.  Seiner 
Richtung  war  die  mehr  positiv-christliche  seines  Freundes  Hamann 
verwandt.  An  Hamann  hat  sich  mehrfach  Herder  angeschlossen,  der 
die  Philosophie  der  Geschichte  wesentlich  förderte,  ein  ent- 
schiedener Gegner  des  kantischen  Dualismus  war,  mit  seinen  Angriffen 
auf  Kant  aber  kein  Glück  hatte. 

Durch  Verschmelzung  jacobischer  Anschauungen  mit  der  kantischen 
Philosophie  gelangte  Jacob  Fries  zu  der  Lehre,  dass  das  Sinnliche 
Object  des  Wissens,  das  Uebersinnliche  Object  des  Glaubens  (und 
zwar  des  Vernunftglaubens),  die  Bekundung  oder  Offenbarung  des 
Uebersinnlichen  im  Sinnlichen  aber  Object  der  Ahnung  sei.  Wir  er- 
kennen die  Dinge  nicht,  wie  sie  an  sich  sind,  sondern  nur  als  Er- 
scheinungen. Das  Unvollendete  unseres  Wissens  weist  uns  aber  hin 
auf  die  Ideen  des  Vollendeten,  und  so  kommen  wir  zu  dem  Un- 
bedingten, das  den  Inhalt  des  Glaubens  bildet.  Der  Glaube  geht  seine 
eigenen  Wege,  unbehindert  durch  wissenschaftliche  Resultate.  Die 
Vernunftkritik  hat  Fries  psychologisch  zu  begründen  versucht  und  so 

Ueber weg-H«in .     Onwdri««  in.  7.  And.  jg 


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290 


§  28.   Schüler  and  Gegner  Kants.  Reinhold, 


einen  Anthropologismus  gelehrt,  der  auch  in  der  Gegenwart  noch 
Anhänger  hat.  Zugleich  räumt  er  der  philosophischen  Aesthetik  eine 
viel  grössere  religionsphilosophische  Bedeutung  ein  als  Kant  und  hat 
so  den  ästhetischen  Rationalismus  begründet. 

Die  von  Salomon  Maimon  und  in  ähnlicher  Weise  von  Jacob 
Sigismund  Beck  aufgestellte,  das  „Ding  an  sich"  beseitigende  Um- 
deutung  der  kantischen  Doctrin  ist  der  fichteschen  Lehre  vom  Ich, 
Christoph  Gottfried  Bardiiis  Versuch  der  Ausbildung  eines  rationalen 
Realismus  aber  einigermaassen  der  schellingschen  und  hegelschen 
Speculation  verwandt. 

In  den  ausserdeutschen  Ländern  fand  die  kritische  Philosophie 
trotz  der  Bemühungen  Einzelner  doch  nur  wenig  Anklang,  am  meisten 
noch  in  Holland. 

Die  Littcratur  bis  zum  Jahre  1793,  die  sieh  auf  Kant  bezieht,  flndet  sich  ziemlie 
genau  verzeichnet,  grossentheils  mit  Inhaltsangaben  der  Schriften  in:  Materialien  zur 
Gesch.  der  krit.  Philosophie  (K.  Glob.  Uausius),  3  Sammlungen,  Lpz.  1793,  1.  Samm- 
lung S.  III — XCVI:  es  sind  daselbst  243  besondere  Schriften  und  Abhandlungen  ver- 
zeichnet. Von  S.  XCVII — CLXXII  findet  sieh  eine  Skizze  zu  einer  Gesch.  der  kantisch, 
od.  kritisch.  Philos.  Den  sonstigen  Inhalt  dieser  Materialien  bilden  früher  gedruckte 
Aufsätze  u.  Rcccnsionen  verschiedener  Verfasser.  —  Ueber  die  Anhänger  und  Bestreiter 
Kants  bis  gegen  das  Ende  des  18.  Jahrh.  handelt  W.  L.  G.  Freih.  von  Eberstein 
im  2.  Bd.  seines  Versuchs  e.  Gesch.  d.  Logik  und  Mctaph.  bei  d.  Deutschen  von  Leibniz 
an,  Halle  1799.  Auch  die  neuere  Geschichte  des  Kantianismus  behandeln  Rosenkranz 
im  12.  Bde.  der  Gesammtausg.  der  Werke  Kants,  Leipzig  1840,  und  Erdmann  in  seiner 
ob.  angeführt.  Gesch.  d.  neuem  Phil.,  III,  1,  Lpzg.  1848.  Andrew  Seth,  the  develop- 
ment  from  Kant  to  Hegel  (published  bv  the  Hibben  trustees),  Lond.  1882.  Vgl.  Kuno 
Fischer,  die  beiden  kantischen  Schulen  in  Jena,  in:  Deutsche  Vicrteljahrssehr.  Bd.  25, 
1862,  S.  348—366  und  separat,  Stuttg.  1862;  üb.  K.  L.  Reinhold,  G.  K.  Schulze! 
Maimon,  Sigism.  Beck  u.  Fr.  Hnr.  .Jaeobi  s.  auch  dessen  Gesch.  d.  neuer.  Ph.,  Bd.  5, 
2.  Aufl.,  S.  115—234. 

Ueber  Karl  Leonh.  Rein  hold  handelt  sein  Sohn  Ernst  R.,  Jena  1825.  Rud. 
Reicke,  de  explicationc,  qua  R.  gravissimum  in  K.  er.  r.  p.  locum  epistolis  suis 
illustraverit,  diss.,  Königsberg  1856. 

Ueber  Krugs  Grundlage  zu  einer  Theorie  der  Gefühle  urtheilt  Beneke  in  den 
Wiener  Jahrb.  XXXII.  S.  127,  über  sein  Handbuch  der  Philosophie  Herbart  in  der 
Jen.  Littcraturzcitung  1822,  No.  27  und  28. 

Ueber  Schillers  Philosophie  handeln  insbes.:  Wilh.  Hemsen,  Schillers  Ansichten 
üb.  Schönh.  u.  Kunst  im  Zusammenhange  gewürdigt,  Inaug.-Diss.,  Gotting.  1853.  Kuno 
Fischer,  Sch.  als  Philosoph,  Frankf.  a.  M.  1858.  Wilh.  Drobisch,  üb.  d.  Stelig. 
Sch.s  z.  kantisch.  Ethik,  in:  Ber.  üb.  d.  Verh.  der  K.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  5.  Folge, 
Bd.  XI,  1859,  S.  176—194.  Rob.  Zimmermann,  Sch.  als  Denker,  in:  Abh.  der  Böhm. 
Ges.  d.  Wiss.,  Bd.  XI,  Prag  1859,  auch  in  Z.s  St.  u.  Kr.  abg.;  vgl.  Z.l  Gesch.  der 
Aesthetik,  Wien  1858,  S.  483—544.  Karl  Tomaschek,  Sch.  u.  Kant,  Wien  1857;  Sch. 
in  s.  Verhältn.  zur  Wissensch.,  ebend.  1862.  Karl  Twesten,  Sch.  in  s.  Verhältn.  z. 
Wiss.,  Berl.  1863.  A.  Kuhn,  Sch.s  Geistesgang.  Berl.  1863.  Vgl.  Hoffmeister,  Grün, 
Julian  Schmidt,  Palleske  n.  and.  Biographen  Sch.s,  die  Historiker  der  deutsch.  Litteratur, 
ferner  Danzel  üb.  d.  gegenw.  Zustand  d.  Philos.  d.  Kunst,  und  manche  von  den  durch 
den  Druck  veröffentlichten,  zum  Schillerfest  1859  gehaltenen  Reden,  deren  Titel  sich 
u.  a.  in  der  von  Gnst.  Schmidt  herausg.  Bibliothcca  philologica  1859  und  1860  ver- 
zeichnet finden,  ferner  u.  a.  F.  Ueberweg,  üb.  Schillers  Schicksalsidee,  in  den  von 
Geizer  hrsg.  prot.  Monatsbl.  1864,  S.  154 — 169.  Franz  Biese,  Rede  üb.  Schiller, 
G.-Pr.,  Putbus  1869.  Albin  Sommer,  öb.  d.  Beziehg.  der  Ansichten  Sch.s  vom  Wesen 
u.  d.  geistig.  Bedeutg.  der  Kunst  z.  kantisch.  Philos.,  Progr.,  Halle  1869.  Arth.  Jung, 
Sch.  u.  d.  Pessimismus,  Pr.,  Meseritz  1877.  J.  Palm,  Vergleichende  Darstell,  v.  Kants 
u.  Sch.s  Bestimmungen  über  das  Wesen  des  Schönen,  I.-D.,  Jena  1878.  Franz  Schneder- 


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Schiller,  Jacobi,  Fries,  Beck,  Bardiii  und  Andere. 


291 


mann,  Ist  die  Ethik  Schillere  eine  andere  nach  als  vor  dem  Kantstudium  des  Dichtere? 
I.-D.,  Lp«.  1878.  Chr.  Meurer,  das  Verh.  der  schillerschen  zur  kantschen  Ethik, 
Freib.  i.  Br.  1880,  2.  Aufl.  1886.  Paukstadt,  d.  Begr.  des  Schönen  bei  Seh.,  Pr.. 
Charlottenb.  1883.  Fr.  Ueberweg,  Seh.  als  Historiker  u.  Philosoph,  herausgeg.  von 
M.  Braach,  Lpz.  1884.  A.  Frank,  üb.  Sch.s  Begr.  des  Sittlich-Schönen,  Wien  1886. 
Helene  Lange,  Sch.s  philos.  Gedichte,  Vorträge  1886.  Hier  seien  sogleich  einige,  die 
philosophischen  Anschauungen  Goethes  betreffende  Arbeiten  angeführt:  E.  Melzer, 
Goethes  philos.  Entwickelung,  Neisse  1884.  A.  Harpf,  G.s  Erkenntnissprinc,  in:  Ph. 
Monatsh.,  1883,  S.  1 — 39;  ders.,  Schopenhauer  u.  G.,  e.  Beitr.  zur  Entwickelungsgesch. 
der  schopenhauerech.  Ph.,  in:  Phil.  Monatsh.,  1885,  S.  450—478.  R.  Steiner,  Grund- 
linien e.  Entwicklungstheorie  d.  goethesch.  Weltanschauung  mit  besonder.  Rück*,  auf 
Schiller,  Stuttg.  1886.  A.  Classen,  G.s  naturwissensch.  Schriften  (G.s  Verh.  zu  Kant 
besondere  berücksichtigt),  in:  Grenzboten  1884,  Bd.  2,  S.  544 — 552. 

Friedr.  Heinr.  Jacobis  Werke  sind  in  einer  Gesammtausg.  Lpz.  1812 — 25  er- 
schienen. Briefe  J.s  sind  ausser  im  ersten  und  dritten  Bande  seiner  Werke  noch  im 
„Auserlesenen  Briefwechsel"  (m.  e.  Skizze  s.  Lebens  in  der  Einleitung)  durch  Priedr. 
von  Roth,  Leipz.  1825 — 27,  veröffentl.  worden,  der  Briefwechsel  zw.  Goethe  u.  J.  durch 
Max  Jacobi,  Leipz.  1846,  der  zwisch.  Herder  und  J.  von  H.  Düntzer  in  „Herders 
Nachlass*,  Bd.  II,  S.  248—322,  der  zwischen  Hamann  und  J.  durch  C.  H.  Gilde- 
meister, Gotha  1868  (als  5.  Band  von  .H.s  Leben  und  Schriften"),  die  Briefe  J.s  an 
F.  Bouterwek  aus  den  Jahren  1800 — 1819  durch  W.  Meyer,  Göttg.  1868,  noch  and. 
Briefe  durch  Rud.  Zöppritz  in  der  Schrift:  Aus  ». Jacobis  Nachlass",  Lpz.  1869.  Ucber 
Jacobi  handeln:  Schlichtegroll,  v.  Weiller  und  Thierech,  Jacobis  Leben,  Lehre  und 
Wirken,  München  1819.  J.  Kuhn,  Jacobi  und  die  Philos.  seiner  Zeit,  Mainz  1834. 
C  Roessler,  de  philosophandi  ratione  F.  H.  Jac,  Jenae  1848.  Ferd.  Deycks,  F.  H. 
Jacobi  im  Verhältn.  z.  s.  Ztgenoss.,  bes.  zu  Goethe,  Frankf.  a.  M.  1849.  H.  Fricker, 
d.  Philos.  des  F.  H.  Jacobi,  Augsburg  1854.  F.  Ueberweg  über  F.  H.  J.,  in  Gelzers 
prot.  Monatsbl.,  Juli  1858.  F.  Wiegand,  z.  Erinnerung  an  den  Denker  F.  H.  J.  u.  s. 
Weltansicht,  Worms,  Progr.  1863.  Chr.  A.  Thilo,  F.  H.  Jacobis  Ansichten  von  den 
göttlichen  Dingen,  in  der  Ztschr.  f.  exaete  Philos.,  Bd.  VII,  Leipz.  1866,  S.  113 — 173. 
Eberhard  Zirngiebl,  F.  H.  J.s  Leben,  Dicht-  und  Denk.,  e.  Beitrag  z.  Gesch.  d.  deutsch. 
Litt  u.  Phil.,  Wien  1867.  F.  Harms,  üb.  d.  Lehre  v.  F.  H.  Jacobi,  Berl.  1876.  Jul. 
Lachmanu,  F.  H.  Jacobis  Kantkritik,  I.-D.,  Halle  1881. 

Herders  philosophische  Schriften  sind  folgende:  Abhandl.  üb.  d.  Ursprung  der 
Sprache,  Berl.  1772,  2.  Aufl.  1789;  Auch  eine  Philo«,  der  Gesch.  der  Menschheit,  Riga 
1774;  Vom  Erkennen  u.  Empfinden  der  menschl.  Seele,  Riga  1778:  Ideen  zur  Philos. 
der  Gesch.  der  Menschheit  (unvollendet),  4  Thle.,  Riga  1784 — 1791  u.  oft.,  mit 
Einleitung  u.  Anmerk.  hrsg.  von  Julian  Schmidt,  in  der  Biblioth.  d.  dtseh.  Nationallitt, 
d.  18.  Jahrb.,  Bd.  23—25,  Lpz.  1869;  Gott,  einige  Gespräche,  Gotha  1787,  auf  dem 
Titel  der  2.  Aufl.,  1800,  als  Gespr.  üb.  Spinozas  System  bezeichnet:  Briefe  zur  Beförderung 
der  Humanität,  1793—1797;  Verstand  u.  Erfahrung,  Vernunft  u.  Sprache,  eine  Meta- 
kritik zur  Kritik  der  reinen  Vernunft,  Lpz.  1799;  Kalligone,  Lpz.  1800;  Adrastea  1809. 
Die  gesammten  Werke  H.s  sind  erschienen  in  45  Bdn.,  Stuttg.  1805—1820;  3.  Abtheil. 
15  Bde.  zur  Philos.  u.  Gesch.,  dann  noch  zwei  Mal  ebendas.  Neuerdings  werden  sie 
herausgeg.  v.  B.  Suphan  1877  ff.  21  Bde.  erschienen,  auf  32  berechnet.  —  Eine  vor- 
treffliche Biographie  H.s  hat  R.  Hayin  geschrieben:  H.  nach  seinem  Leben  u.  seinen 
Werken,  2  Bde.,  1877 — 1885.  Von  sonstigen  Schriften  über  ihn  seien  hier  erwähnt: 
A.  Hun.  Erdmann,  H.  als  Religionsphilos.,  Marburger  I.-D.,  Hersfeld  1866.  A.  Kohut, 
H.  u.  d.  Humanitätsbestrebungen  der  Neuzeit,  Berl.  1870.  Aug.  Werner,  H.  als  Theologe, 
Berl.  1871.  E.  Melzer,  H.  als  Geschichtsphilos.  mit  Rücks.  auf  Kants  Recens.  von 
Herders  Ideen  zur  Gesch.  der  Menschh.,  Neisse  1872.  Rieh.  Schornstein,  H.  als  Päda- 
goge, Progr.,  Elberf.  1872.  Ueber  H.s  Metakritik  s.  ob.  S.  239  f.  d.  Arbeit  v.  Otto 
Michalsky.  Gust.  Frank,  H.  als  Theologe,  in :  Ztschr.  f.  wissensch.  Theol.,  17.  Jahrg. 
1874,  S.  250 — 263.  J.  Egermann,  II  Anschauungen  üb.  d.  Geschichtsunterricht  an 
Gymnasien,  Progr.,  Hemals  1874.  Joret,  Herder  et  la  renaissance  litteraire  en  Allemagne, 
Paris  1875.  F.  v.  Bärenbach,  H.  als  Vorläufer  Darwins  u.  der  modernen  Natur- 
philosophie, Berl.  1877.  Wilh.  Fischer,  H.s  Erkenntnissl.  u.  Metaphys.,  Lpz.  I.-D., 
Salzwedel  1878.  Rieh.  Kirchner,  Entsteh.,  Darstell,  u.  Krit.  der  Grundgedanken  von 
H.s  Ideen  u.  s.  w.,  I.  D.,  Lpz.  1881.  J.  Roth,  H.s  Metakrit.  u.  ihre  Beziehungen  zu 
Kant,  1873.    Vgl.  auch  das  S.  177  erwähnte  Werk  von  J.  H.  Witte. 

Jak.  Friedr.  Fries*  hauptsächliche  philosophische  Schriften  sind:  Reinhold,  Fichte 
und  Schelling,  Lpz.  1803;  Philos.  Rechtsichre  u.  Krit.  aller  positiv.  Gesetzgebung,  Jena 
1804;  System  der  Philo«,  als  evidenter  Wissenschaft,  Lpz.  1804;  Wissen,  Glaube  und 

19* 


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292 


§  28.   Schöler  and  Gegner  Kants.  Reinhold, 


Ahndung,  Jena  1805;  Neue  Kritik  der  Vernunft,  3  Bde.,  Heidelb.  1807,  2.  Aufl. 
1828—31:  System  der  Logik,  Heidelb.  1811,  2.  Aufl.  1819,  3.  Aufl.  1837;  Von  deutscher 
Philosophie,  Art  und  Kunst,  ein  Votum  für  Jacobi  gegen  Schelling.  Heidelb.  1812; 
Handbuch  der  prakt.  Fhilos.,  1.  Tb.  Ethik  od.  d  Lehren  der  Lebensweish.,  Hdlb.  1818, 
2.  Th.  Religionspbilos.  u.  d.  Weltzwecklehre,  Hdlb.  1832;  Handbuch  der  psych.  Anthro- 
pologie, 2  Bde.,  Jena  1820  u.  21,  2.  Aufl.  1837—1839;  Mathemat  Naturphilos.,  Heidelb. 
1822;  Julius  u.  Euagoras,  ein  philos.  Roman,  Heidelb.  1822;  System  der  Metaph.,  Heidelb. 
1824;  Gesch.  der  Philos.,  dargestellt  nach  den  Fortschritten  ihrer  wissenschaftl.  Eut- 
wickelung,  2  Bde.,  Halle  1837 — 40.  —  Sein  Leben  aus  seinem  handschr.  Nachlas«  dar- 
gestellt von  Krnst  Ludw.  Theod.  Henke  (seinem  Schwiegersohn),  Leipzig  1867.  M.  J. 
Schleiden,  Jac.  Fr.  Fries,  der  Philos.  u.  Naturforscher,  in:  Westermanns  Monatsh., 
Juni  1857.  F.  v.  Wangenheim,  K.s  Vertheidig.  geg.  Fries,  I.-D.,  Halle  1876.  Grapen- 
giesser,  K.s  Krit.  d.  r.  V.  und  deren  Fortbildung  durch  J.  F.  Fries,  Jena  1882.  S.  auch 
K.  Holtzmann,  d.  Entwickel.  des  ästhetisch.  Religionsbegr.,  in:  Ztschr.  f.  wissensch. 
Th.,  1876.  Ueb.  sein  Verhältniss  zu  Fichte.  Schelling  u.  Hegel  s.  K.  Fischers  S.  272 
citirte  Abhandl.  üb.  die  beiden  kantischen  Schulen  in  Jena. 

Sal.  Maimon  betreffen  die  Schriften:  Sah  Maimons  Lebcnsgesch.  von  ihm  selbst 
geschrieben  u.  herausgeg.  v.  K.  P.  Moritz,  Berl.  1792.  S.  Jos.  Wölfl'.  Maimoniana 
1813.  J.  H.  Witte,  Salom.  Maimon.  Die  merkwürdigen  Schicksale  und  die  wissen- 
schaftliche Bedeutung  eines  jüdisch.  Denkers  aus  der  kantischen  Schule,  Berl.  1876. 

Unter  den  Gegnern  Kants  stehen  auf  dem  lockeschen  Standpunkte  namentlich 
Christ.  Gottl.  Seile  (Mediciner  u.  Philosoph  1748—1800;  Philos.  Gespräche,  Berl. 
1780,  Grandsätze  der  reinen  Philos.,  Berl.  1788)  and  Adam  Weishaupt  (geb. 
1748,  erster  weltlicher  Lehrer  des  Kirchenrechts  zu  Ingolstadt,  wegen  seines  Frei- 
muths  and  als  Stifter  des  kosmopolitischen  Illuminatenordens  vielfach  angefeindet, 
lebte  seit  1785  in  Gotha,  gest.  1830;  seine  hauptsächlichen  philosophischen  Schriften 
sind:  Ueb.  Materialism.  a.  Idealism.,  Nürnb.  1786  ;  2.  Aufl.  1788;  Zweifel  üb.  d. 
kantisch.  Begriffe  von  Zeit  u.  Raum,  Nürnb.  1787;  üb.  d.  Gründe  u.  Gewissh.  der 
menschl.  Erkenntn.,  Nürnb.  1788;  üb.  Wahrheit  u.  sittl.  Vollkommenh.,  3  Bde., 
Regensb.  1793—1797),  theihveise  auch  die  Eklektiker  Joh.  Ge.  Hnr.  Feder  (s.  ob. 
S.  181)  und  G.  A.  Titte  1  (1739—1816,  Erläuterungen  der  theoret.  u.  prakt  Philos. 
nach  Federe  Ordnung,  6  Theile,  Frkf.  a.  M.  1783—1786;  üb.  K.s  Moralreform, 
Frkf.  u.  Lpz.  1786;  Kantische  Denkformen  od.  Kategorien,  Frkf.  a.  M.  1787)  and 
der  Historiker  der  Philosophie  Tie  dem  an  n,  der  in  seinem  Theaetet  (s.  ob.  S.  181) 
die  objectiv-reale  Gültigkeit  der  menschlichen  Erkenntniss  vertheidigt,  doch  ent- 
halten die  Argumente  der  Letzteren  auch  leibnizische  Gedanken.  Zu  den 
selbständigsten  Bekämpfern  des  kantischen  Kriticismus  gehört  Garve  (s.  ob.  S.  180)f 
der  die  S.  224  erwähnte  Recension  für  die  Gotting,  gel.  Anzeigen  schrieb.  Später 
hat  derselbe  (bei  seiner  Uebersetzung  der  aristotelischen  Ethik)  die  kantische 
Moralphilosophie  einer  eingehenden  und  noch  heute  sehr  beachtenswerthen  Prüfung 
unterworfen.  S.  Alb.  Stern,  üb.  d.  Beziehungen  Chr.  G.s  zu  Kant  nebst  mehreren 
bisher  angedruckten  Briefen  Kants,  Federe  u.  Garves,  I.-D.,  Lpz.  s.  a.  Unter  den 
gegen  Kant  auftretenden  Leibnizianern  sind  die  bedeutendsten  Eberhard  (s.  ob. 
S.  179),  gegen  den  Kant  selbst  sich  (in  der  Abhandlung  „über  eine  Entdeckung*  etc.) 
vertheidigt  hat,  und  Joh.  Christoph  Schwab  (1743—1821),  der  Verfasser  einer  von 
der  Berl.  Akad.  d.  Wissensch,  gekrönten  Preisschrift  üb.  d.  Frage:  „ welche  Fort- 
schritte hat  d.  Metaph.  seit  Leibnizens  and  Wolfis  Zeiten  in  Dtschl.  gemacht?» 
zugleich  mit  d.  Preisschriften  der  Kantianer  K.  L.  Reinhold  und  Joh.  Hnr.  Abicht, 
hrsg.  von  der  Akad.  der  Wiss.,  Berl.  17%.  Auch  der  in  der  Litteratar  za  diesem 
Paragraphen  gen.  Historiker  Eberstein  polemisirt  vom  leibniz-wolffschen  Stand- 
punkte aus  gegen  den  Kantianismus.  Herders  Metakritik  fand  bei  der  ungerecht- 
fertigten Bitterkeit  ihres  Tones  und  bei  dem  geringeu  Veretändniss  für  die  neuen 
Probleme  and  für  die  ganze  Bedeutung  Kants  wenig  Beachtung  and  kaum  mehr 
seine  gegen  die  Kritik  der  Urtheilskraft  gerichtete  Kalligone.    Gegen  die  Meta- 


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Schiller,  Jacobi,  Fries,  Beck,  Bardiii  und  Andere. 


293 


kritik  schrieb  Kiesewetter,  s.  ob.  S.  234.  Herder  war  gegen  Kant  gereizt  worden 
dnrch  Kante  Recension  der  Ideen  zur  Philos.  der  Gesch.  der  Menschheit,  die  in 
der  Jenaer  Litteraturzeitnng  erschienen  war.  Der  Skeptiker  Gottlob  Ernst  Schulze 
(1761  bis  1833)  unterwirft  in  seinen  Schriften:  Grundriss  der  philosoph.  Wissen- 
schaften, 2  Bde.,  Wittenb.  u.  Zerbst  1788  u.  1790;  Aenesidemus  od.  üb.  d.  Funda- 
mente der  v.  Reinhold  gelieferten  Elementarphilos.,  nebst  e.  Vertheidigung  des 
Skepticismus  geg.  d.  Anmaass.  d.  Vernunftkritik,  1792  (anonym  erschienen;  der 
Verf.,  nachdem  er  bekannt,  daher  Aenesidemus  Schulze  genannt);  Kritik  der  theo- 
retisch. Philosophie,  2  Bde.,  Hamb.  1861,  die  kantische  und  reinholdsche  Doctrin 
einer  scharfsinnigen  Kritik.  Das  kräftigste  seiner  Argumente  kommt  mit  dem 
schon  früher  von  Fr.  H.  Jacobi  aufgestellten  überein,  dass  der  für  das  kantiBche 
System  nothwendige  Begriff  der  Affection  nach  eben  diesem  System  unmöglich  sei. 
G.  £.  Schulze  näherte  sich  später  (Encyclopädie  der  philos.  Wissenschaften,  Gotting. 
1824;  üb.  d.  mcnschl.  Erkenntniss,  Gotting.  1832)  immer  mehr  Jacobi. 

Unter  den  Anhängern  Kants  und  Vertretern  seiner  Doctrin  hat  der  Hof- 
prediger und  Professor  der  Mathematik  zu  Königsberg,  Johannes  Schultz,*) 
Erläuterungen  üb.  d.  Herrn  Prof.  Kant  Krit  d.  rein.  Vernunft  veröffentlicht,  die 
Kants  vollen  Beifall  hatten,  und  später  eine  Prüfung  der  Kantischen  Krit.  d.  rein. 
Vernunft  (s.  ob.  S.  234).  Die  „Erläuterungen*  hat  Tissot  Paris  1865  ins  Französ. 
übersetzt.  Ldw.  Hnr.  Jakob  hat  in  seiner  „Prüfg.  der  Mendelssohnschen Morgen- 
stunden", Leipz.  1786,  die  theoretischen  Beweise  Mendelssohns  für  das  Dasein 
Gottes  von  dem  Standpunkte  des  kantischen  Kriticismus  aus  bestritten.  Karl 
Chrstn.  Erh.  Schmid  (1761 — 1812),  der  in  der  Folge  eine  Reihe  von  Lehrschriften 
verfasst  hat,  Hess  1786  einen  Grundriss  d.  Krit.  d.  rein.  Vrnft  nebst  e.  Wörterb. 
zum  leichteren  Gebrauch  der  kantiscben  Schriften  erscheinen.  In  den  späteren 
Aufl.  des  Wörterbuchs  vertheidigt  Schmid  die  kantische  Doctrin  gegen  den  jacobi- 
schen, aus  der  .Affection"  entnommenen  Einwurf  durch  die  Bemerkung,  es  sei 
dabei  „alles  ( »ertliche  und  Räumliche  beiseite  zu  setzen",  was  zwar  richtig  ist, 
aber  auch  von  der  Zeitlichkeit  und  Causalität  gelten  muss,  wodurch  dann  der 
Begriff  der  Affection  sich  völlig  aufhebt  Der  jacobische  Einwurf  bleibt  demnach 
unwiderlegt. 

Durch  Karl  Leonh.  Reinholds  (geb.  1758  zu  Wien,  zuerst  bei  den  Jesuiten 
erzogen,  dann  Wielands  Mitarbeiter  am  Deutschen  Merkur,  später  dessen  Schwieger- 
sohn, seit  1787  Professor  in  Jena  und  zuletzt  in  Kiel,  gest.  1823)  populär  gehaltene 
„Briefe  üb.  die  kantische  Philos."  (im  Deutschen  Merkur  1786-87,  in  neu  verm. 
Aufl.  Leipzig  1790—92)  faDd  der  Kriticismus  Eingang  in  das  Bewusstsein  weiterer 
Kreise:  Reinholds  Berufung  zum  Professor  der  Philosophie  in  Jena  machte  Jena 
zu  einem  Centraipunkt  des  Studiums  der  kantischen  Philosophie.  Die  Jenaische 
Allg.  Literaturzeitung  (gegründet  1785,  redigirt  von  Schütz  und  Hufeland)  ward 
bald  das  einflussreichste  Organ  des  Kautianismus.  In  seinem  .Versuch  e.  neu. 
Theorie  des  menschl.  Vorstellgsvmög.',  Jena  1789  (welchem  als  Vorrede  die  kurz 


*)  Die  Schreibung  des  Namens  dieses  Kantianers  schwankt  zwischen  Schultz 
und  Schulze.  Auf  dem  Titelblatte  der  „Erläuterungen"  steht  Schulze;  er  selbst 
hat  sich  der  ersteren  Schreibart  bedient  J.  Schultz  hat  er  sich  unterzeichnet  in 
einem  (in  Rcickes  Besitz  befindlichen)  Briefe  an  Borowski  vom  10.  Mai  1799, 
worin  er  diesem  für  Mittheilungen  über  den  fichteschen  Atheismus-Streit  dankt 
und  Fichte  anwünscht:  „Unser  Gott,  dem  wir  beide  ferner  allein  vertrauen  wollen, 
wolle  ihm  weiter  helfen,  denn  der  Beinige  taugt  nichts!"  In  das  Köuigsberger 
Universität.-- Alhum  sind  von  ihm  im  Sommer  1802  Studenten  immatriculirt  worden 
-rectore  academiae  Joanne  Schultz,  S.  R.  M.  concionatore  aulico  Mathematum 
Professore  ordioario". 


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294 


§  28.   Schüler  und  Gegner  Kante.  Reinhold, 


vorher  schon  im  Deutschen  Merkur  ersch.  Abhdlg.  „üb.  die  bisher.  Schicksale  d. 
kantisch.  Phil."  beigefügt  ist),  versucht  Reinhold,  die  beiden  Stämme  der  Erkennt- 
niss  als  Aeste  des  einen  Voretellungsvermögens  darzustellen  und  für  die  kantische 
Doctrin  eine  neue  Basis  zu  gewinnen,  die  er  jedoch  (ebenso  wie  Schopenhauers 
Satz:  kein  Object  ohne  Subject,  s.  u.  §  34)  selbst  später  als  unzureichend  erkannt 
hat.  Er  findet  diese  in  dem  Satze,  der  das  Bewusstsein  ausdrücke:  .Im  Bewusst- 
sein  wird  die  Vorstellung  vom  Vorstellenden  und  Vorgestellten  unterschieden  und 
auf  beides  bezogen";  auf  den  Unterschied  und  den  Zusammenhang  zwischen  den 
drei  Bestandteilen  des  Bewussteeins  lasse  sich  der  Begriff  von  Vorstellung  gründen 
und  aus  diesem  die  ganze  kritische  Philosophie  so  ableiten,  dass  das,  was  bei 
Kant  Grand  und  Beweis  sei,  als  Folge  vorkomme.  Als  er  den  Standpunkt  der 
„Elementarphilosophie'',  wie  er  seine  Lehre  nannte,  da  sie  das  Fundament 
des  Wissens  geben  sollte,  verlassen  hatte,  näherte  er  sich  der  Lehre  Bardiiis,  die 
er  jedoch  auch  bald  wieder  aufgab.  Zumeist  auf  dem  Gebiete  der  Aesthetik  hat 
Friedr.  Bouterwek  (1766—1828;  Idee  einer  Apodiktik,  Halle  1799;  Aesthetik, 
Leipz.  1806  u.  6.)  sich  verdient  gemacht.  In  seiner  Apodiktik  stellt  er  ein  System 
des  absoluten  „Virtualismus"  auf.  Durch  die  Selbsterkenntniss  erfassen  wir  uns 
als  wollende  Wesen,  d.  h.  als  lebendige  Kräfte,  als  solche  müssen  wir  auch  die 
Dinge  ausser  uns  ansehen.  Das  Unbedingte,  in  dem  wir  sind,  ist  die  virtuelle 
Einheit  aller  Kräfte.  Später,  namentlich  in  seiner  „Religion  der  Vernunft-,  Gotting. 
1824,  näherte  er  sich  den  Anschauungen  Jacobis. 

Auf  dem  Gebiet  der  Religionsphilosophie  haben  Karl  Hnr  Heydenreich 
(1764—1801,  Natur  u.  Gott  nach  Spinoza,  Lpz.  1788;  Betrachtungen  üb.  d.  Philo- 
sophie der  natürl.  Rel.,  2  Bde.,  Lpz.  1790  —91;  System  des  Naturrechts  nach  krit. 
Principien,  2  Bde.,  Lpz.  1794—1795;  s.  üb.  ihn  K.  Gottl.  Schelle,  H.s  Charakte- 
ristik, Lpz.  1802),  Joh.  Heinr.  Tieftrunk  (1760—1837,  versuchte  auch  in  seiner 
„Denklehre  in  rein  deutschem  Gewände",  2  Bde,  Halle  u.  Lpz.  1825—1827,  durch 
eine  Reinigung  der  philosoph.  Sprache  der  Philosophie  aufzuhelfen),  die  entschiedenen 
Rationalisten  Jul.  Aug.  Ludw.  Wegscheider,  Paulus  (s.  K.  A.  v.  Reichlin- 
Meldegg,  Heinr.  Eberh.  Gottlob  Paulus  u.  s.  Zeit,  2  Bde.,  Stuttg.  1853),  Röhr 
und  Andere  Bedeutung.  Der  theologische  Rationalismus  ist  aus  einer  Vermischung 
kantischer  Ansichten  mit  denen  der  Aufklärung  hervorgegangen.  Auf  dem  Gebiete 
der  Rechtephilosophie  sind  zu  nennen  Joh.  Heinr.  Abicht  (1762—1804),  Heyden- 
reich, Joh.  Christoph  Hoffbauer  (1766-1827),  Krug  und  And.,  auf  dem  der 
Logik  Kiesewetter,  Krug,  Hoffbauer,  Fries,  Joh.  Gebh.  Ehrcnr.  Maass 
(1766—1823)  und  A.,  auf  dem  der  Psychologie  Maass,  Fries,  Hoffbauer,  auf 
dem  der  Geschichte  der  Philosophie  namentlich  Tennemann  und  Buhle.  Wilh. 
Traug.  Krug  (1770  bis  1842)  hat  sich  besonders  durch  Popularisirung  kantischer 
Philosophcme  verdient  gemacht  Er  hat  von  1805  bis  1809  in  Königsberg  gelehrt, 
danach  in  Leipzig.  Sein  allgem.  Handwörterb.  d.  philos.  Wissenschaften  ist 
Leipzig  1827—34,  2.  Aufl.  1832—38  erschienen.  Namentlich  in  seinem  Organon 
der  Philosophie,  Meissen  1801,  entwickelte  er  seinen  „transscendentalen  Syn- 
thetisraus*,  nach  welchem  es  in  unserem  Bewusstsein  eine  ursprüngliche  trans- 
scendentale  Synthesis  zwischen  dem  Idealen  und  Realen,  zwischen  dem  denkenden 
Subject  und  der  gegenüberstehenden  Aussenwelt,  zwischen  Wissen  und  Sein  giebt. 
die  anerkannt  werden  muss,  aber  nicht  weiter  zu  erklären  ist.  Denn  um  sie  zu 
erklären,  müsste  man  von  dem  Einen  oder  dem  Andern  anfangen  und  dadurch  die 
Synthesis  aufheben. 

Der  geistvollste  aller  Kantianer  war  der  Dichter  Friedrich  Schiller 
(11.  Nov.  1759  bis  9.  Mai  1805). 


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Schiller,  Jacobi,  Fries,  Beck,  Bardiii  und  Andere. 


295 


Schon  früh  hat  Schiller  sich  mit  philosophischen  Schriften,  insbesondere 
englischer  Moralisten  und  Rousseaus  vertruut  gemacht.  Der  philosophische  Unter- 
richt in  der  Karlsschulc  zu  Stuttgart,  den  der  Eklektiker  Jac.  Friedr.  von  Abel 
ertheilte,  ruhte  hauptsächlich  auf  der  leibniz-wolffschen  Doctrin.  Sch.  hat  in  der 
frühe  entstandenen  „Theosophie  des  Julius«  den  leibnizischen  Optimismus  dem 
Pantheismus  augenähert,  ohne  dass  jedoch  ein  Einfluss  Spinozas  angenommen 
werden  darf.  Den  letzten  der  „ philosophischen  Briefe",  in  welchem  sich  ein 
kantischer  Einfluss  bekundet,  hat  nicht  Sch.,  sondern  Körner  (1788)  gesehrieben. 
Im  Jahre  1787  las  Sch.  die  der  Gesehichtsphilosophie  angehörenden  Aufsätze  Kante 
in  der  Berl.  Monatsschr.  und  eignete  sich  daraus  die  Idee  teleologischer  Geschichts- 
betrachtung an,  die  auf  seine  historischen  Arbeiten  von  wesentlichem  Einfluss 
geworden  ist.  Erst  seit  1791  studirte  Sch.  Kants  Hauptwerke  und  zwar  zuerst  die 
Kritik  der  Urtheilskraft;  zugleich  förderten  ihn  Discussioneu  mit  eifrigen  Knntianern 
im  Verständniss  der  kantischen  Doctrin.  Einigen, -jedoch  verhältnissmässig  sehr 
geringen  Einfluss  gewann  auf  ihn  bereits  im  Jahre  1794  die  fichtesche  Speculation. 
Die  Vorrede  zur  „Braut  von  Meseina*  enthält  (insbesondere  in  dem  Satze:  das 
Poetische  liegt  in  dem  Indifferenzpuukte  des  Ideellen  und  Sinnlichen,  der  jedoch 
der  Sache  nach  auf  Schillers  Auffassung  des  „ästhetischen  Zustande.**  in  den 
„Briefen  über  ästhetische  Erziehung*  beruht)  einen  Anklang  au  die  schellingsche 
Doctrin.  Schiller  war  geneigt  zu  glauben,  dass  eine  Fortbildung  der  Philosophie 
durch  Schelling  erfolgt  sei,  gestand  jedoch  (in  einem  Brief  an  Sendling  vom 
12.  Mai  1801),  nachdem  er  die  ersten  Sätze  des  „transsc.  Idealismus*  gelesen  hatte, 
nur  die  dogmatistischen  Irrthümer  glücklich  beseitigt  zu  finden,  aber  nicht  zu 
ahnen,  wie  Schelling  sein  System  positiv  aus  dem  Satze  der  Indifferenz  heraus- 
ziehen werde.  Von  Schillers  philosophischen  Abhandlungen  aus  seiner  kantianischen 
Periode  gehört  zu  den  bedeutendsten  die  „üb.  Anmuth  und  Würde",  verfasst  1793, 
worin  der  sittlichen  Würde  als  der  Erhebung  des  Geistes  über  die  Natur  die 
sittliche  Anmuth  als  die  Harmonie  zwischen  Geist  und  Natur,  Pflicht  und  Neigung, 
ergänzend  zur  Seite  gestellt  wird.  Er  bekämpft  hier  die  Härte,  mit  welcher  Kant 
die  Idee  der  Pflicht  gelehrt  hatte,  da  diese  Strenge  alle  Grazien  davonscheuche 
und  einen  schwachen  Verstand  leicht  versuchen  könne,  die  moralische  Vollkommen- 
heit in  einer  flüstern  und  mönchischen  Asketik  zu  suchen.  Kant  vertheidigt  sich 
dagegen  damit,  dass  durch  Rücksicht  auf  die  Grazien,  die  im  Gefolge  der  Tugend 
seien,  sich  der  Eudämonismus  gar  zu  leicht  einschleichen  könne  (in  einer  Note  zur 
2.  Aufl.  seiner  „Relig.  innerh.  d.  Grenzen  d.  bl.  Vnft.*).  Die  1793-  95  ausgearbeiteten 
.Briefe  üb.  ästhet.  Erziehung"  empfehlen  die  ästhetische  Bildung  als  den  geeignetsten 
Weg  der  Erhebung  zur  sittlichen  Gesinnung.  Es  soll  der  empirische  Mensch  den 
idealischen,  der  ihm  immanent  ist,  realisiren.  Der  Staat,  welcher  die  höchste 
Form  ist,  in  der  dies  geschehen  kann,  genügt  hierzu  nicht  ohne  die  Kunst,  die 
das  Schöne  verwirklicht.  In  der  Schönheit  allein  werden  die  Ansprüche  des 
geistigen  und  des  sinnlichen  Menschen  befriedigt.  Der  Spieltrieb,  d.  h.  die  künst- 
lerische Thätigkeit,  verbindet  den  niederen  Stofftrieb,  das  sinnliche  Begehren,  mit 
dem  höheren  Formtrieb,  und  der  Mensch  spielt  nur,  wo  er  in  voller  Bedeutung 
des  Wortes  Mensch  ist,  und  er  ist  nur  da  ganz  Mensch,  wo  er  spielt  So  ver- 
einigt das  Schöne  die  beiden  Grundtriebe  zur  Harmonie.  Die  Abhandlung  „über 
naive  und  sentimentalische  Dichtung*  (1795—96)  vermittelt  die  Aesthetik  mit  der 
Geschichtsphilosophie,  indem  Sch.  hier  durch  die  Begriffe:  natürliche  Harmonie, 
Erhebung  zur  Idee  und  wiedergewonnene  Einheit  des  Ideellen  mit  der  Realität,  des 
Geistes  und  der  C'ultur  mit  der  Natur,  ebensowohl  die  verschiedenen  Formen  der 
Dichtung  überhaupt  und  der  Richtungen  der  Dichter  (wie  dieselben  in  Goethe  und 
Schiller  selbst  sich  repräsentirt  fanden),  als  auch  die  Bildungsform  des  hellenischen 


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290 


§  28.   Schüler  und  Gegner  Kants.  Reinhold, 


Alterthums  und  die  der  Neuzeit,  insbesondere  den  Typus  der  antiken  und  der 
modernen  Dichtung  charakterisirt. 

Fried r.  Ii  ein r.  Jacobi  (geb.  am  25.  Januar  1743  zu  Düsseldorf,  zu  Genf 
insbesondere  auch  unter  dem  Einfluss  des  Physikers  Lesage  gebildet,  früh  mit 
Spinozas  Doctrin  vertraut,  Kaufmann,  Beamter,  Präsident  der  Akademie  der  Wiss. 
zu  München,  gest.  am  10.  März  1819  zu  München),  der  Glaubensphilosoph,  sucht 
gegenüber  dem  systembildenden  philosophischen  Denken  die  Unmittelbarkeit  des 
Glaubens  zur  Geltung  zu  bringen.  Er  selbst  bekennt:  »nie  war  es  mein  Zweck, 
ein  System  für  die  Schule  aufzustellen;  meine  Schriften  gingen  hervor  aus  meinem 
innersten  Leben,  sie  erhielten  eine  geschichtliche  Folge,  ich  machte  sie  gewisser- 
maassen  nicht  Belbst,  nicht  beliebig,  sondern  fortgezogen  von  einer  höheren,  mir 
unwiderstehlichen  Gewalt".  Unter  Jacobis  Schriften  sind  hervorzuheben  die  philo- 
sophischen Romane:  Allwills  Briefsammlung,  und:  Woldemar,  in  welchen  ausser 
dem  theoretischen  Problem  der  Erkenntniss  der  Aussenwelt  insbesondere  die  mora- 
lische Frage  nach  dem  Verhältniss  des  Rechtes  und  der  Pflicht  des  Individuums 
zu  der  gemeingültigen  Sittenregel  discutirt  wird,  ferner  die  Schrift  üb.  d.  Lehre  d. 
Spinoza,  in  Briefen  an  Mos.  Mendelssohn,  Breslau  1785  u.  ö.,  worin  Jacobi  ein  von 
ihm  mit  Lessing  am  6.  u.  7.  Juli  1780  geführtes  Gespräch  mittheilt,  in  welchem 
dieser  seine  Hinneiguug  zum  SpinoziBmus  bekannt  haben  soll  (s.  o.  §  20),  die  Schrift: 
David  Hume  üb.  d.  Glauben,  oder  Ideal ism.  u.  Realism.,  Bresl.  1787,  worin  Jacobi 
auch  sein  Urtheil  über  den  Kantianismus  äussert,  das  Sendschreiben  an  Fichte, 
Hamburg  1799,  die  Abhandlung  üb.  d.  Unternehmen  d.  Kriticismus,  die  Vernunft 
zu  Verstände  zu  bringen,  im  III.  Heft  der  Reinholdschen  Beiträge  z.  leichteren 
Uebers.  d.  Zustds.  der  Philos.  beim  Anfange  d.  19.  Jahrh.,  Hamb.  1802,  von  den 
göttl.  Dingen,  Leipz.  1-11  (gegen  Schelling,  dem  Jacobi  einen  heuchlerischen  Ge- 
brauch theistischer  und  christlicher  Worte  im  pantheistischen  Sinne  vorwirft).  Den 
Spiuozismus  hält  Jacobi  für  das  einzige  conscqucnte  System,  glaubt  aber,  dass 
dasselbe  verworfen  werden  müsse,  weil  es  den  unabweisbaren  Bedürfnissen  des  Ge- 
müthes  widerstreite.  Alle  Demonstration  fuhrt  nur  zu  dem  Weltganzen,  nicht  zu 
einem  extramundanen  Welturheber;  denn  der  demonstrirende  Verstand  kann  immer 
nur  von  Bedingtem  zu  Bedingtem,  nicht  zum  Unbedingten  gelangen.  Gottes  Dasein 
beweisen  würde  heisseu,  einen  Grund  desselben  aufzeigen,  wodurch  Gott  zu  einem 
bedingten  Wesen  werden  würde  (wobei  Jacobi  freilich  die  Bedeutung  des  in- 
directeu  Beweises,  der  von  der  Erkenntniss  von  Wirkungen  zur  Erkenntniss  von 
Ursachen  führen  kann,  unerörtert  lässt).  So  nahe  diese  jacobische  Ansicht  der 
kantischen  steht,  welche  der  praktischen  Vernunft  mit  ihren  Postulaten  den  Primat 
vor  der  theoretischen,  die  keine  »Dinge  an  sich*  zu  erkennen  vermöge,  einräumt, 
so  hat  doch  Kant  (in  der  Abhandlung:  „was  heisst,  sich  im  Denken  orientiren?" 
Kants  Werke  von  Ros.  u.  Sch.  Bd.  I,  S.  386  f.)  dagegen  einzuwenden  gefunden,  es 
gehe  wohl  an,  solches  zu  glauben,  was  die  theoretische  Vernunft  weder  beweisen 
noch  widerlegen  könne,  aber  nicht  solches,  wovon  sie,  wie  man  meine,  das  Gcgen- 
theil  beweisen  könne;  Kriticismus  und  Gottesglaube  seien  vereinbar,  Spinozismus 
und  Gottesglaube  aber  unvereinbar.  Andererseits  vermochte  Jacobi  die  kantische 
Begründung  der  Schranken  der  theoretischen  Erkenntniss  nicht  zu  billigen.  Er 
hat  das  Dilemma  klar  bezeichnet,  welches  für  den  kantischen  Kriticismus  tödtlich 
ist:  die  Affection,  durch  welche  wir  den  empirisch  gegebenen  Wahrnehmungsstoff 
empfangen,  muss  entweder  von  Erscheinungen  oder  von  Dingen  an  sich  ausgehen, 
das  Erste  aber  ist  absurd,  weil  Erscheinungen  im  kantischen  Sinne  selbst  nur  Vor- 
stellungen sind,  also  vor  allen  Vorstellungen  bereits  Vorstellungen  vorhanden  sein 
müssten,  das  andere  (was  Kant  wirklich  annimmt  und  sowohl  in  der  ersten,  wie  in 
den  folgd.  Aufl.  der  Krit.  d.  rein.  Vernunft,  in  der  Schrift  geg.  Eberhard  etc. 


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Schiller,  Jacobi,  Friea,  Beck,  Bardiii  and  Andere. 


297 


ausspricht)  widerstreitet  der  kritischen  Doctrin,  dass  das  Verhältnis»  von  Ursache 
nnd  Wirkung  nur  innerhalb  der  Erscheinungswelt  gelte  und  keine  Beziehung  auf 
Dinge  an  sich  habe.  Der  Anfang  und  Fortgang  der  Kritik  vernichten  einander 
(Jacobi  üb.  Dav.  Hume,  Werke,  Bd.  H,  8.  301  ff.). 

Jacobi  selbst  meint  nicht  das  Dasein  von  Objecten,  die  uns  afBciren,  beweisen 
zu  können,  ist  aber  davon  unmittelbar  vermöge  der  Sinneswahrnehmung  über- 
zeugt. Die  Objecte  der  sinnlichen  Wahrnehmung  sind  ihm  nicht  blosse  Erschei- 
nungen, d.  b.  nach  Kategorien  mit  einander  verknüpfte  Vorstellungen,  sondern 
reale  Objecto,  aber  endliche  und  bedingte  Objecte.  Nur  auf  solche  geht  auch  die 
Verstandeserkenntniss,  welche  Jacobi  demnach  in  Uebereinstimmung  mit  Kant  auf 
das  Gebiet  möglicher  Erfahrung  einschränkt,  obschon  nicht  in  dem  gleichen  Sinne, 
wie  Kant.  Dass  auch  die  theoretische  Vernunft,  sofern  derselben  die  Function  der 
Beweisführung  beigelegt  wird,  nicht  über  dieses  Gebiet  hinausführe,  nimmt  Jacobi 
wiederum  mit  Kant  an.  Jacobi  missbilligt  den  inhaltleeren  Formalismus  des  kan- 
tischen Moralprincips,  er  will  die  Unmittelbarkeit  des  sittlichen  Gefühls  neben  der 
moralischen  Reflexion  und  die  individualisirende  Bestimmung  der  jedesmaligen 
moralischen  Aufgabe  neben  der  abstracten  Regel  anerkannt  sehen.  Er  tadelt  Kants 
Argumentationen  für  die  Gültigkeit  der  Postulate  in  der  Kritik  der  praktischen 
Vernunft  als  unkräftig,  da  eiu  Fürwahrhalten  in  bloss  praktischer  Absicht  (ein 
blosser  Bedürfnissglaube)  sich  selbst  aufhebe,  und  hält  dafür,  dass  es  eine  un- 
mittelbare Ueberzeugung  von  dem  Uebersinnlichen,  auf  welches  die  kantischen 
Postulate  der  praktischen  Vernunft  gehen,  ebensowohl,  wie  von  dem  Dasein  der 
sinnlichen  Objecte  gebe.  Er  nennt  dieselbe  Glauben.  In  späteren  Schriften 
bezeichnet  er  das  Vermögen  des  unmittelbaren  Erfassens  und  Vernehmens  des  Ueber- 
sinnlichen als  die  Vernunft.  Wessen  Gemüth  sich  beim  Spinozismus  befriedigen 
kann,  dem  kann  eine  entgegengesetzte  Ueberzeugung  nicht  andemonBtrirt  werden, 
sein  Denken  hat  Consequenz,  die  philosophische  Gerechtigkeit  muss  ihn  frei  geben; 
aber  er  würde,  meint  Jacobi,  auf  den  edelsten  Gehalt  des  geistigen  Lebens  ver- 
zichten. Jacobi  erkennt  die  philosophische  Consequenz  an  in  Fichtes  Reduction 
des  Gottesglaubens  auf  den  Glauben  an  eine  moralische  Weltordnung;  aber  er 
befriedigt  Bich  nicht  bei  dieser  blossen  Consequenz  des  Verstandes.  Er  tadelt 
Schölling,  die  spinozistische  Consequenz  verhüllen  zu  wollen  (freilich  ohne  einem 
Standpunkt  völlig  gerecht  zu  werden,  der  diese  Trennung  der  Realität  und  Idealität 
aufzuheben  und  dus  Endliche  als  erfüllt  von  dem  ewigen  Gehalt  zu  erkennen  sucht, 
in  der  sondernden  und  anthropomorphisirenden  Auffassung  des  Ideellen  aber  nicht 
ein  höheres  Erkennen,  sondern  nur  eine  berechtigte  Poesie  erblicken  kann).  Jacobi 
erhebt  sich  über  die  Sphäre,  an  die  der  Verstand  gebunden  bleibe,  durch  den 
Glauben  an  Gott  und  die  göttlichen  Dinge.  Es  lebt,  sagt  er,  in  uns  ein  Geist  un- 
mittelbar aus  Gott,  der  des  Menschen  eigentlichstes  Wesen  ausmacht.  Wie  dieser 
Geist  dem  Menschen  gegenwärtig  ist  in  seinem  höchsten,  tiefsten  und  eigensten 
Bewuastsein,  so  ist  der  Geber  dieses  Geistes,  Gott  selbst,  dem  Menschen  gegen- 
wärtig durch  das  Herz,  wie  ihm  die  Natur  gegenwärtig  ist  durch  den  äussern 
Sinn.  Kein  sinnlicher  Gegenstand  kann  so  ergreifen  und  als  wahrer  Gegenstand 
unüberwindlicher  dem  Gemüthe  sich  darthun,  als  jene  absoluten  Gegenstände,  das 
Wahre,  Gute,  Schöne  und  Erhabene,  die  mit  dem  Auge  des  Geistes  gesehen 
werden  können.  Wir  dürfen  die  kühne  Rede  wagen,  dass  wir  an  Gott  glauben, 
weil  wir  ihn  6ehen,  obwohl  er  nicht  gesehen  werden  kann  mit  den  Augen  dieses 
Leibes.  Es  ist  ein  Kleinod  unseres  Geschlechts,  das  unterscheidende  Merkmal  des 
Menschen,  dass  seiner  vernünftigen  Seele  diese  Gegenstände  sich  erscbliessen.  Mit 
heiligem  Schauer  wendet  der  Mensch  seinen  Blick  in  jene  Sphären,  aus  welchen 
allein  Licht  hineinfällt  in  das  irdische  Dunkel.    Aber  Jacobi  gesteht  auch:  Licht 


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208 


§  28.   Schüler  and  Gegner  Kants.  Reinhold, 


ist  in  meinem  Herzen,  aber  sowie  ich  es  in  den  Verstand  bringen  will,  erlischt  es. 
Welche  von  beiden  Wahrheiten  ist  die  wahre,  die  des  Verstandes,  die  zwar  feste 
Gestalten,  aber  hinter  ihnen  einen  Abgrund  zeigt,  oder  die  des  Herzens,  die  zwar 
verheissend  aufwärts  leuchtet,  aber  bestimmtes  Erkennen  vermissen  lässt?  Um 
dieses  Zwiespalts  willen  nennt  sich  Jacobi  .einen  Heiden  mit  dem  Verstände,  einen 
Christen  mit  dem  Gemüth". 

Jacobi  findet  das  Wesentliche  des  Christenthums  in  dem  Theismus,  dem  Glauben 
an  einen  persönlichen  Gott,  wie  auch  an  die  sittliche  Freiheit  und  Ewigkeit  der 
menschlichen  Persönlichkeit.  Das  Christenthum  „in  dieser  Reinheit  aufgefassf  und 
auf  das  unmittelbare  Zeugniss  des  eigenen  Bewusstseins  gegründet,  ist  ihm  das 
Höchste.  Im  Unterschiede  von  diesem  rationalen  Zage  seiner  Glaubensphilosophie, 
den  Friedr.  Koppen,  Cajet  v.  Weiller,  Jak.  Salat  (1766 — 1851,  polemisirte 
viel  gegen  den  Obscurantismns  in  d.  katb  Kirche,  sowie  gegen  die  schellingsche  Philo- 
sophie, gab  mit  v.  Weiller  u.  Bened.  Schneider  heraus:  Der  Geist  der  allerneuesten 
Philosophie  der  Herren  Schölling,  Hegel  u.  Comp.,  2  Bd.,  Münch.  1803-1805.  Sein 
bedeutendstes  Werk  ist:  Moralphilosophie,  Münch.  1809,  3.  Aufl.  1821),  Chr.  Weiss, 
Joh.  Neeb,  J.  J.  F.  Ancillon  u.  A.  im  Wesentlichen  mit  ihm  theilen,  hält  sein 
Freund  und  Anhänger  Thom.  Wizenmann  (vgl.  üb.  ihn  AI.  v.  d.  Goltz,  Wiz.,  der 
Freund  Jacobis,  Gotha  1859t  sich,  was  die  Quelle  des  Glaubens  betrifft,  an  die  Bibel, 
und  demgemäs8  in  Bezug  auf  den  Glaubensinhalt  auch  an  die  speeihsch- christlichen 
Dogmen.  In  diesen  letzteren  findet  Joh.  Georg  Hamann  (geb.  zu  Königsberg  1730, 
daselbst  Packhofsverwalter,  gest.  auf  einer  Reise  zu  Münster  1788),  der  mit  Kant  und 
auch  mit  Herder  und  mit  Jacobi  befreundete  „Magus  im  Norden",  den  Halt  und 
Trost  für  sein  unstetes,  durch  Sünde  und  Noth  zerrissenes  Gemüth  und  gefällt  sich 
darin  in  geistvollen,  jedoch  oft  ins  Gesuchte  und  Abenteuerliche  ausartenden  Ge- 
dankenblitzen die  Mysterien  oder  „Pudenda*  des  christlichen  Glaubens  zu  Ehren 
zu  bringen;  zu  diesem  Behuf  dient  ihm  insbesondere  das  „prineipinm  coincidentiae 
oppositorum-  des  Giorduno  Bruno.  Diese  Geheimnisse  müssen  erlebt  und  erfahren 
und  können  nicht  erwiesen  werden.  An  die  Stelle  des  Wissens  muss  die  individuelle 
Gewiesheit  des  Glaubens  treten.  Der  trennende  Verstand  bringt  nach  Hamann  oft 
Einseitigkeiten  hervor,  die  nicht  aufrecht  zu  halten  seien.  So  seien  die  zwei  Stämme 
des  menschlichen  Erkenntnissvermögens  bei  Kant  durch  eine  solche  Trennung  her- 
vorgebracht. Die  blosse  Thatsache  der  Sprache  widerlege  diese  Ansicht  Kants. 
Denn  in  der  Sprache  erhalte  die  Vernunft  sinnliche  Existenz.  Seine  Werke  hat 
F.  Roth  herausg.,  Berl.  1821-43;  C.  H.  Gildemeister,  H.s  Leben  und  Schriften, 
Bd.  1—6,  Gotha  1858—73,  Jobs.  Ciaassen,  J.  G.  H.b  Leb.  u.  WW.  in  geordnet, 
gemeinfassl.  Auszuge,  3  Abth.,  Gütersloh  1878 — 1879,  ferner  Ueinr.  v.  Steins  Vor- 
trag üb.  II.,  A.  Brömel,  J.  G.  Hamann  (Abdr.  aus  d.  luth.  Kirchenz.),  Berl.  1870, 
J.  Disselhoff,  Wegweiser  zu  J.  G.  Hamann,  dem  Magus  des  Nordens,  Elberf.  1870, 
Mor.  Petri,  J.  G.  H.s  Schriften  und  Briefe  in  4  Thln.,  Hannov.  1872—73,  Ldw. 
Francke,  J.  G.  IL,  e.  Lebensbild,  Torgau,  Progr.  1873,  G.  Poel,  J.  G.  H.,  der 
Magus  im  Norden,  2  Thle.,  Hamb.  1874—1876. 

Das  Christenthum  als  die  Religion  der  Humanität,  den  Menschen  als 
Schlusspunkt  der  Natur  und  seine  Geschichte  als  fortschreitende  Entwicklung  zur 
Humanität  zu  begreifen,  ist  die  Aufgabe,  an  deren  Lösung  der  phantasievolle,  viel- 
nmfasseude  und  mit  feinstem  Sinn  für  die  Realität  und  Poesie  des  Völkerlebens 
begabte  Joh.  Gott  fr.  Herder  (geb.  1744  zu  Mohrungen  in  Ostpr.,  gest.  1803  zu 
Weimar)  erfolgreich  gearbeitet  hat  Freilich  fehlt  es  seinen  Gedanken  bisweilen 
an  Abrundung  und  voller  Klarheit  Er  war  ein  Zuhörer  und  Schüler  Kants  in 
dessen  vorkritischer  Periode  und  hat  diesen  am  liebsten  reden  hören  über  Astronomie, 
physische  Geographie,  über  die  grossen  Gesetze  der  Natur  (s.  B.  Suphan,  H.  als 


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Schiller,  Jacobi,  Fries,  Beek,  Bardiii  und  Andere. 


291) 


Schüler  Kants,  in  Ztschr.  f.  deutsche  Philol.,  Bd.  4,  1872,  S.  225—237).  Dem 
schroffen  Dualismus,  den  Kant  zwischen  dem  empirischen  Stoff  und  der  apriorischen 
Form,  zwischen  Natur  und  Freiheit  statuirt,  stellt  er  den  tieferen  Gedanken  der 
wesentlichen  Einheit  und  stufenmassigen  Kntwickelung  in  Natur  und  Geist  ent- 
gegen; seine  Weltanschauung  culminirt  in  einem  poetisch  umgestalteten,  mit  der 
Idee  des  persönlichen  Gottesgeistes  und  der  (als  Metempsychose  gedachten)  Un- 
sterblichkeit erfüllten  (also  der  früheren,  der  Ethik  vorausliegenden  Form,  obschon 
diese  damals  unbekannt  war,  verwandten,  der  Lehre  Brunos  wieder  angenäherten) 
Spinozismus,  den  er  besonders  in  der  Schrift:  Gott,  Gespräche  üb.  Spinozas  System, 
zusammenhängend  entwickelt  hat  Freilich  verbindet  er  hiermit  manche  Anschauungen 
Leibnizens,  z.  B.  das  Princip  der  Individualität,  wonach  jedes  Wesen  nur  identisch 
mit  sich  selbst  ist,  und  nimmt  auch  eine  allgemeine  Wechselwirkung  aller  Wesen  an. 
Auf  die  Sprache  legt  Herder  sehr  grosses  Gewicht  und  findet  ihren  Ursprung  in  der 
Natur  des  Menschen,  der  als  denkendes  Wesen  der  uninteressirten,  begierdefreien 
Betrachtung  der  Dinge  fähig  sei;  der  Ursprung  der  Sprache  ist  göttlich,  sofern  er 
menschlich  ist.  Die  Sprache  vermittelt  für  den  Menschen  den  Uebergaug  von  den 
Sinneseindrücken  zu  Gedanken.  Der  Entwickelungsgang  der  Sprache  zeugt  (wie 
Herder,  zum  Theil  nach  Hamann,  1799  in  seiner  Metakritik  bemerkt)  gegen  den 
kantischen  Apriorismus.  Kaum  und  Zeit  sind  Erfahrungsbegriffe,  Form  und  Materie 
der  Erkenntniss  sind  auch  in  ihrem  Ursprung  nicht  von  einander  getrennt,  die 
Vernunft  subsistirt  nicht  abgesondert  von  den  andern  Kräften;  statt  der  .Kritik 
der  Vernunft"  bedarf  es  einer  Physiologie  der  menschlichen  Erkenntuisskräfte. 
Herder  bezeichnet  als  den  schönsten  und  schwersten  Zweck  des  menschlichen 
Lebens,  von  Jugend  auf  Pflicht  zu  lernen,  solche  aber,  als  ob  es  nicht  Pflicht  sei, 
in  jedem  Augenblicke  des  Lebens  auf  die  leichteste  beste  Weise  zu  üben.  Herders 
philosophisches  Hauptverdienst  liegt  in  der  philosophischen  Betrachtung  der  Ge- 
schichte der  Menschheit,  wobei  er  den  Gedanken  zur  Geltung  bringt,  dass  in  der 
Geschichte  ebenso  wie  in  der  Natur  Alles  aus  gewissen  natürlichen  Be- 
dingungen nach  festen  Gesetzen  sich  entwickle.  Er  bebt  die  Abhängigkeit 
der  Menschen  von  der  Natur,  von  ihren  Wohnplatze,  der  Erde,  hervor.  Natur- 
produet  ist  der  Mensch  wie  das  Thier,  deshalb  sind  auch  die  Thiere  des  Menschen 
ältere  Brüder.  Die  Natur  scheint  alles  Lebendige  auf  der  Erde  nach  einem  Haupt- 
plasraa  der  Organisation  gebildet  zu  haben,  und  so  erklärt  ein  Exemplar  das  andere. 
Die  ganze  Schöpfung  ist  in  einem  Kriege  begriffen,  wobei  die  entgegengesetztesten 
Kräfte  einander  nahe  liegen.  Das  Mittelgeschöpf  unter  den  Thieren  ist  der  Mensch; 
in  ihm  finden  sich  die  Züge  aller  Gattungen  als  im  feinsten  Inbegriffe.  Er  als  das 
höchste  Gebilde  der  Schöpfung  ist  organisirt  zur  Vernuuftthätigkeit,  womit  Kunst 
und  Sprache  zusammenhängen,  zur  Humanität  und  Religion,  zur  Hoffnung  der  Un- 
sterblichkeit. Das  Fortachrittsgesetz  der  Geschichte  beruht  auf  einem  Fortschritts- 
gesetz der  Natur,  das  schon  in  den  Wirkungen  der  anorganischen  Naturkräfte 
verborgen  thätig  ist,  in  der  aufsteigenden  Reihe  der  organischen  Wesen  vom 
Naturforscher  bereits  erkannt  wird  und  sich  für  den  Geschichtsforscher  zeigt  in  den 
geistigen  Bestrebungen  des  Menschengeschlechts.  Natur  und  Geschichte  stehen  eo 
in  innigster  Verbindung.  Sie  arbeiten  beide  für  Erziehung  des  Menschen  zur 
Humanität.  Selten  wird  freilich  das  Ziel  wahrer  Humanität  erreicht,  und  so  weist  uns 
der  jetzige  Znstand  der  Menschen  auf  eine  jenseitige  Welt  hin.  Einen  bedeutsamen 
Einfluss  haben  Herders  Briefe  zur  Beförderung  der  Humanität  und  hat  überhaupt 
seine  begeisterte  Hingabe  an  die  grosse  Aufgabe  der  Herausbildung  des  allgemein 
menschlich  Werthvollen  aus  den  verschiedenartigen  historisch  gegebenen  Cultur- 
formen  geübt.    Eine  Theorie  des  Schönen  versucht  er  in  der  Schrift  Kalligone  zu 


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300 


§  28.   Schüler  und  Gegner  Kants.  Beinhold, 


entwickeln.  —  Uebrigens  gehören  Jacobi,  Hamann  and  Herder  noch  mehr  als  der 
Geschichte  der  Philosophie,  der  Geschichte  der  deutschen  Nationallitteratur  an. 

Jakob  Fried r.  Fries  war  geboren  den  23.  Aug.  1773  zu  Barby,  wurde  in  der 
Brüdergemeinde  erzogen,  hörte  1797  in  Jena  Fichte,  habilitirte  sich  daselbst  1801, 
ging  1805  als  Prof.  der  Philosophie  nach  Heidelberg,  kehrte  1816  in  derselben 
Eigenschaft  nach  Jena  zurück,  wurde  wegen  angeblicher  Theilnahme  an  demagogischen 
Umtrieben  —  er  hatte  1817  das  Wartburgfest  mitgemacht  —  1819  von  seinem 
Amte  suspendirt  und  erhielt  erst  1824  wieder  eine  Professur  der  Physik  und 
Mathematik;  seit  1826  hatte  er  auch  die  Erlaubniss,  wieder  philosophische  Vor- 
lesungen zu  halten.  Er  starb  in  Jena  den  10.  Aug.  1843.  8eine  Schreibweise  ist 
häufig  umständlich  und  wenig  durchsichtig.  Fries  wirft  die  Frage  auf,  ob  die 
Vernunftkritik,  welche  die  Möglichkeit  der  Erkenntniss  a  priori  untersucht,  ihrer- 
seits durch  eine  Erkenntniss  a  priori  oder  a  posteriori  zu  gewinnen  sei,  und  ent- 
scheidet sich  für  die  letztere  Annahme:  wir  können  nur  a  posteriori,  nämlich  durch 
innere  Erfahrung,  uns  dessen  bewusst  werden,  dass  und  wie  wir  Erkenntnisse  a  priori 
besitzen.  Die  auf  innerer  Erfahrung  beruhende  Psychologie  muss  dem- 
gemäss  die  Basis  des  Phi losophirens  bilden.  Der  Verstand,  dessen 
Thätigkeit  das  Urtheilen  ist,  übt  diese  Selbstbeobachtung  aus.  Es  darf  kein  Satz 
angenommen  werden  ohue  Grund,  d.  h.  man  muss  deduciren,  dass  er  aus  dem  Wesen 
der  Vernunft  stammt.  Fries  meint,  Kant  habe  theilweise,  Reinhold  aber  durchweg 
diesen  Charakter  der  Vernunftkritik  verkannt  und  dieselbe  für  Erkenntniss  a  priori 
angesehen.*)  Mit  Kant  nimmt  Fries  an,  dass  Raum,  Zeit  und  Kategorien  subjective 
Formen  a  priori  seien,  die  wir  zu  dem  Gegebenen  hinzuthun.  Er  geht  von  der 
Empfindung  aus,  die  ein  bloss  passiver  Zustand  ist,  und  lässt  die  Anschauung  zu 
Stande  kommen  durch  den  gedächtnissmässigen  oder  untern  Gedaukenlauf,  indem 


•J  Kant  selbst  hat  jene  Frage  nicht  aufgeworfen;  —  seine  Abweisung  der 
psychologischen  Empirie  von  der  Metaphysik,  Logik  und  Ethik  involvirt  nicht  eine 
Abweisung  derselben  von  der  Erkenntnisslehre  oder  .  Vernunftkritik*  selbst;  —  da 
er  aber  das  Besteben  apodiktischer  Erkenntniss  mindestens  in  der  Mathematik  ab 
eine  Thatsache  seinen  Untersuchungen  zu  Grunde  legt,  da  er  ferner  die  Kategorien 
aus  den  empirisch  gegebenen  Formen  der  Urtheile  erkennt  und  da  er  in  der 
Moralphilosophie  von  dem  unmittelbaren  sittlichen  BewuBstsein,  das  gleichsam  ein 
„Factum  der  reinen  Vernunft*  sei,  ausgeht:  so  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  auch 
er  seine  Vernunftkritik  auf  —  wirkliche  oder  vermeintliche  —  Thatsachen  der 
inneren  Erfahrung  basirt  Das  Hedenken,  ob  und  warum  die  Voraussetzung  ge- 
rechtfertigt sei,  dass  jeder  Andere  in  sich  das  Gleiche  erfahre,  was  der  Kritiker 
in  seiner  eigenen  inneren  Erfahrung  findet,  trifft  in  diesem  Sinne  auch  Kant  und 
ebenso  auch  das  Bedenken,  woher  denn  gewusst  werden  könne,  dass  Allgemeinheit 
und  Nothwendigkeit  ein  Criterium  der  Apriorität  seien,  da  es  gleich  sehr  unmöglich 
zu  sein  scheint,  a  posteriori,  wie  a  priori  den  Satz  zu  erweisen,  Erfahrung  nebst 
Induction  könne  nur  „comparative  Allgemeinheit*  ergeben.  An  sich  aber  liegt 
keineswegs,  wie  Einzelne  gemeint  haben,  ein  .Widersinn"  in  der  Annahme,  dass 
wir  durch  innere  Erfahrung  inne  werden,  Erkenntnisse  a  priori  zu  besitzen; 
denn  die  Apodikticität  und  Apriorität  soll  den  mathematischen  und  metaphysischen 
Erkenntnissen,  wie  auch  dem  Pfliehtbewusstsein  selbst  anhaften,  der  empirische 
Charakter  aber  nicht  diesen  Erkenntnissen  als  solchen,  sondern  nur  unserm  Be- 
wusstscin,  dass  wir  dieselben  besitzen.  Es  ist  demnach  die  Untersuchung  Fries' 
keineswegs  mit  den  Worten  abzufertigen:  »Was  a  priori  ist,  kann  nie  a  posteriori 
erkannt  werden."  Falls  es  überhaupt  Erkenntnisse  a  priori  im  kantischen  Sinne 
dieses  Terminus  gäbe,  so  könnte  ganz  wohl  angenommen  werden,  was  Fries  annimmt, 
dass  die  Metaphysik  ebenso  wie  die  Mathematik  von  aller  Erfahrungs Wissenschaft 
speeifisch  unterschieden  sei,  und  dass  doch  zugleich  eine  auf  innerer  Erfahrung 
ruhende  Wissenschaft,  nämlich  die  Vernunftkritik,  über  den  Rechtsgrund  und  die 
Grenzen  der  Gültigkeit  jener  apodiktischen  oder  wenigstens  Apodikticität  bean- 
spruchenden Erkenntnisse  zu  entscheiden  habe. 


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Schüler,  Jacobi,  Fries,  Beck,  Bardiii  und  Andere. 


301 


die  productive  Einbildungskraft  die  Empfindungen  in  Raum  und  Zeit  setzt,  sie  also 
zu  Erscheinungen  macht;  diese  werden  dann  Erfahrungen  durch  den  logischen  oder 
obern  Gedankenlauf,  indem  sie  unter  Kategorien  gefasst  werden.  Auf  die  Er- 
scheinungen, welche  Vorstellungen  sind,  geht  das  empirisch-mathematische  Wissen 
und  erstreckt  sich  nicht  über  dieselben  hinaus,  sogar  die  Existenz  von  Dingen  an 
sich  ist  nicht  mehr  Sache  des  Wissens.  Andererseits  sind  aber  die  Erscheinungen 
durchaus  dem  empirisch-mathematischen  Wissen  zugänglich:  auch  die  Organismen 
müssen  sich  aus  der  Wechselwirkung  aller  Theile  unter  einander  mechanisch  er- 
klären lassen.  In  ihnen  herrscht  der  Kreislauf,  wie  im  Unorganischen  das  Gesetz 
des  Gleichgewichts  oder  der  Indifferenz.  (Fries  tadelt  Kant,  dass  er  den  Organismus 
als  Naturzweck  auffasst.  Den  Gedanken  der  mechanischen  Erklärbarkeit  der 
Organismen  hat,  zunächst  in  Bezug  auf  die  Pflanzenwelt,  besonders  Fries'  Schüler 
Jak.  Matthias  Schleiden  durchzuführen  gesucht)  Auf  die  Dinge  an  sich,  die 
Fries  auch  das  wahre,  ewige  Wesen  der  Gegenstände  nennt,  geht  der  Glaube. 
Wir  müssen  nämlich  für  alles  Bedingte  doch  stets  das  Unbedingte  voraussetzen, 
und  so  glauben  wir,  dass  den  Erscheinungen  etwas  Reales  zu  Grunde  liege.  Heben 
wir  die  Beschränkung  der  Kategorien  auf,  so  erhalten  wir  die  Ideen,  so  von 
denen  der  Qualität  die  Idee  des  Absoluten,  von  denen  der  Quantität  die  der 
Einfachheit,  Unermesslichkeit  und  Vollständigkeit,  von  denen  der  Relation  die 
Ideen  der  Seele,  Welt  und  Gottheit,  und  aus  diesen  ergeben  sich  wieder  die  drei 
Glaubenssätze  der  Unsterblichkeit  der  Seele,  der  Freiheit  des  menschlichen  Willens 
und  der  Existenz  eines  lebendigen  Gottes.  Diese  Sätze  sind  also  nicht,  wie  Kant 
will,  nur  PoBtulate  der  praktischen  Vernunft,  sondern  rein  vernünftige  Ueber- 
zeugungen,  Allem  Handeln  der  Vernunft  liegt  der  Glaube  an  Wesen  und  Werth, 
zuhüchst  an  die  gleiche  persönliche  Würde  der  Menschen  zum  Grunde;  aus  diesem 
Princip  fliessen  die  sittlichen  Gebote.  Die  Veredelung  der  Menschheit  ist  die 
höchste  sittliche  Aufgabe.  Die  Vermittelung  zwischen  dem  Wissen  und  Glauben 
liegt  in  der  Ahnung,  welcher  die  ästhetisch-religiöse  Betrachtung  angehört  Ahnung 
ist  die  Anerkennung  des  über  die  Erfahrung  Hinausgehenden  im  Erfahrungsgebiete, 
des  Ewigen  im  Endlichen,  der  Vereinigung  von  Erscheinung  und  Sein,  indem  Fries 
hierbei  Gedanken  aus  Kants  Kritik  der  Urtheilskraft,  die  er  für  dessen  bedeutendstes 
Werk  hielt,  benutzt.  Im  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen  wird  das  Endliche 
als  Erscheinung  des  Ewigen  angeschaut;  in  der  religiösen  Betrachtung  wird  die 
Welt  nach  Ideen  gedeutet;  die  Vernunft  ahnt  in  dem  Weltlauf  den  Zweck,  in  dem 
Leben  der  schönen  Naturgestalten  die  ewige  allwaltende  Güte,  sie  ahnt,  dass  die 
Ordnung  der  Welt  in  der  Idee  Gottes  ruht  Wir  betrachten  die  wechselnden 
Formen  der  Natur  als  unterworfen  den  Gesetzen  des  Schönen  und  Erhabenen  und 
gelangen  so  zu  einer  ästhetischen  Weltansicht,  die  eine  ästhetische  Unterordnung 
der  Natur  unter  die  Glaubensideen  ist.  In  der  Schönheit  tritt  die  ewige  Bedeutung 
des  erscheinenden  Lebens  zu  Tage,  wir  ahnen  in  ihr  die  ewige  Wahrheit.  Die 
Religionsphilosophie  ist  Wissenschaft  vom  Glauben  und  der  Ahnung,  nicht  aus 
ihnen.  Die  drei  Hauptsätze  der  friesschen  Philosophie  lauten:  1)  die  Sinnenwelt 
unter  Naturgesetzen  ist  nur  Erscheinung;  2)  der  Erscheinung  liegt  ein  Sein  der 
Dinge  an  sich  zu  Grunde;  3)  die  Sinnenwelt  ist  die  Erscheinung  der  Dinge  an  sich. 
Der  erste  ist  das  Princip  des  Wissens,  der  zweite  das  des  Glaubens,  und  der  dritte 
das  Princip  der  Ahnung.  Wir  wissen  von  dem  Dasein  der  Dinge  in  der  Erscheinung 
durch  Anschauung  und  Verstandesbegriffe,  wir  glauben  nach  Vernunftbegriffen  an 
das  ewige  Wesen  der  Dinge,  und  das  noch  höhere  ahnen  wir  in  Gefühlen  ohne 
Anschauung  und  ohne  bestimmte  Begriffe. 

Der  friesschen  Schule  gehören  ausser  Schleiden  namentlich  E.  F.  Apelt 
(1812-59;  Metaphysik,  Lpz.  1857,  Religionsphil.,  hrsg.  von  S.  G>.  Frank,  Lpz.  1860, 


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302 


§  28.    Schüler  und  Gegner  Kants.  Reinhold, 


die  Theorie  der  Induction,  Lpz.  1854,  z.  Gesch.  der  Astronomie,  die  Epochen  der 
Gesch.  der  Menschh.,  Jena  4845-1846  etc.),  E.  S.  Mirbt  (1799-1847;  was  heisst 
Philosophiren  und  was  ist  Philosophie?  Jena  1839,  Kant  und  seine  Nachfolger, 
Jena  1841),  F.  van  Calker  (1790-1870;  Denklehre  od.  Logik  u.  Dialektik,  1822  etc.), 
Ernst  Hai  Ii  er  (die  Weltanschauung  des  Naturforschers,  Jena  1875),  J.  H  Th. 
Schmid  (gest.  1836;  Gesch.  des  Mysticism.  im  Mittelalter),  der  Mathematiker 
Sehl  ö  milch  (Abhandlungen  der  friesschen  Schule,  von  Schleiden,  Apelt,  Schlö- 
milch  und  Schmid,  1847  ff.)  und  Andere  an;  auch  der  Theolog  de  Wette  geht  von 
friesschen  Principien  aus.  Auf  Beneke,  der  zum  durchgeführten  psychologischen 
Empirismus  fortgegangen  ist,  ist  die  friessche  Doctrin  in  mehrfachem  Betracht 
von  wesentlichem  Einfluss  gewesen.  An  Fries  anknüpfend  hat  auch  neuerdings 
Jürg.  Bona  Meyer  einen  psychologischen  Empirismus  als  die  richtige  Fortbildung 
der  kantischeu  Philosophie  hingestellt,  s.  unten  den  Abschnitt  IVr  dieses  Bandes. 

Salomon  Maimon  (1754—1800,  ein  jüdischer  Denker,  mit  wunderbaren 
Lebensschicksalen,  die  er  in  seiner  Selbstbiographie  erzählt)  hat  in  seinem  „Versuch 
üb.  d.  Transscendentalphilos.*,  1790,  seinem  philos.  Wörterb.,  1791,  seinen  „Streifereien 
im  Gebiete  der  Philos.*,  1793,  seinem  „Versuch  e.  neuen  Logik",  1794,  seinen 
kritischen  Untersuchungen  über  den  menschl.  Geist  etc.  mittelst  skeptischer  Elemente 
eine  Nachbesserung  der  kritischen  Doctriu  zu  geben  versucht,  die  von  Kant  ab- 
gewiesen, von  Fichte  aber  hochgehalten  wurde.  Er  verwirft  den  kantischen  BegrifT 
des  „Dinges  an  sich".  Nicht  nur  die  Form  unserer  Vorstellungen  ist  aus  dem 
Bewusstsein  abzuleiten,  sondern  auch  der  Stoff  derselben  Dinge  ausser  uns,  welche 
die  Empfindungen  mit  hervorbringen  sollen,  ist  nicht  zu  erweisen,  nicht  einmal 
begreiflich  zu  machen.  Die  Affeetion,  welche  bei  Kant  durch  die  Dinge  an  sich 
ausgeübt  wurde,  behielt  Maimon  bei,  aber  er  verlegte  sie  in  das  Bewusstsein.  Es 
bleibt  diese  Affeetion  etwas,  das  nicht  aufgeklärt  werden  kann.  —  In  der  Ethik 
tritt  Maimon  Kunt  schroff  entgegen,  da  er  den  Genuas  lücht  als  unmoralisch  ver- 
drängt habeu  will.  Nur  sei  dieser  nicht  physisch  zu  fassen,  und  der  höchste  Genuas 
sei  der  durch  die  Erkenntniss  geschaffene. 

Jak.  Sigism.  Beck  (1761—1842)  hat  in  seinem  Hauptwerk:  «Einzig  raögl. 
Standpunkt,  aus  w.  d.  krit.  Philos.  beurth.  wd.  muss",  Riga  1796,  welches  den 
3.  Bd.  der  Schrift:  „Erläuternd.  Auszug  aus  Kants  krit.  Schriften",  Riga  1793  ff., 
bildet,  auch  in  seinem  Grundriss  d.  krit.  Philos.  1796  u.  and.  Schriften  nach  dem 
Vorgänge  Maimons  und  zum  Theil  auch  wohl  durch  Fichtes  (1794  erschienene) 
Wissenschaftslehre  mitbestimmt,  die  in  Kants  Vernunftkritik  liegende  Inconsequenz, 
dass  die  Dinge  an  sich  uns  afficireu  und  durch  Affeetion  den  Stoff  zu  Vorstellungen 
uns  geben  und  doch  zugleich  auch  zeitlos,  raumlos  und  causalitätslos  existiren  sollen, 
dadurch  aufzuheben  gesucht,  dass  er  das  Afficirtwerden  des  Subjectes  durch  die 
Dinge  an  sich  nicht  annimmt  und  die  Stellen,  worin  Kant  dasselbe  behauptet, 
für  eine  didaktische  Accommodation  an  den  Standpunkt  des  dogmatisch  gesinnten 
Lesers  erklärt.*)  Die  Frage  noch  der  Entstehung  des  empirischen  Vorstellungs- 
stoffs beseitigt  Beck  dadurch,  dass  er  eine  Affeetion  der  Sinne  durch  Erscheinungen 
statuirt;**)  die  Beziehung  des  Individuums  zu  anderen  Individuen  lässt  er  unerklärt. 


*)  Was  freilich  eine  wunderliche  Didaktik  wäre,  die  das  richtige  Verständniss 
nicht  erleichtern,  sondern  nahezu  unmöglich  machen  würde. 

•*)  Was  jedoch,  da  die  Erscheinungen  selbst  nur  Vorstellungen  sind,  die  Ab- 
surdität involvirt,  dass  die  Entstehung  unserer  Vorstellungen  überhaupt  durch  die 
Einwirkung  unserer  Vorstellungen  auf  unsere  Sinne  bedingt  ist,  dass  also  unsere 
Vorstellungen  auf  uns  wirken,  ehe  sie  existiren. 


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Schiller,  Jacobi,  Fries,  Beck,  Banlili  und  Andere. 


Die  reinen  Anschauungsformen  Raum  und  Zeit  führt  er  auf  denselben  Act  ursprüng- 
licher Synthesis  des  Mannigfaltigen,  wie  die  Kategorien,  zurück.  Als  Religion 
gilt  ihm  die  Befolgung  der  Stimme  des  Gewissens  als  des  inneren  Richters,  den 
der  Mensch  symbolisch  ausser  sich  als  Gott  denke. 

Christoph  Gottfr.  Bardiii  (1761—1808)  hat  in  seinen  Briefen  üb.  d.  Urspr. 
d.  Metaph.  (anonym  Altona  1798)  und  noch  mehr  im  Grnndr.  d.  erst.  Logik,  ge- 
reinigt v.  d.  Irrthüm.  d.  bisher.  Logik,  besond.  d.  kantischen  (Stuttg.  1800),  freilich 
in  abstruser  Form,  einen  „ rationalen  Realismus*  zn  begründen  versucht,  der  manch« 
Keime  späterer  Speculation  enthielt,  insbesondere  zu  dem  (schellingschen)  Ge- 
danken der  Indifferenz  des  Objectiven  und  Subjectiven  in  einer  absoluten  Vernunft, 
und  zu  dem  (hegelschen)  Gedanken  einer  Logik,  die  zugleich  Ontotogie  sei. 
Dasselbe  Denken,  welches  das  Weltall  durchdringt,  kommt  im  Menschen  zum 
Bewusstsein;  im  Menschen  erhebt  sich  das  I^ehensgefühl  zur  Personalität,  die 
Naturgesetze  der  Erscheinungen  werden  in  ihm  zu  Gesetzen  der  Association  seiner 
Gedanken. 

Der  bardilische  Realismus  setzt  die  Realität  von  Natur  und  Geist  und  ihre 
Einheit  im  Absoluten  voraus,  ohne  die  kantischen  Argumente  völlig  widerlegt  zu 
haben.  Der  becksche  Idealismus  hebt  von  den  beiden  widerstreitenden  Elementen, 
die  im  kantischen  Kriticismus  liegen,  das  idealistische  mit  willkürlicher  Beseitigung 
des  realistischen  hervor.  Zur  Aufhebung  jenes  Widerstreites  konnte  mit  gleichem 
Recht  der  entgegengesetzte  Weg  eingeschlagen  werden,  indem  nämlich  mit  dem 
Gedanken  des  Afficirtwerdens  des  Subjectes  durch  „Dinge  an  sich"  voller  Ern^t 
gemacht  und  die  gesummte  Doctrin  auf  dieser  Grundlage  umgebildet  wurde.  Dieses 
Letztere  geschah  durch  Herbart,  der  aber  nicht  unmittelbar  von  Kant,  sondern 
zunächst  von  Fichte  ausgegangen  ist,  dessen  Buhjectivistischem  Idealismus  er  seine 
mit  der  leibnizischen  Monadologie  verwandte  Grundlehre  von  der  Vielheit  einfacher 
realer  Wesen  entgegenstellt. 

In  Holland  erhob  sich  für  Kant  namentlich  Paul  van  Iiemert  (geb.  1756 
zu  Amsterdam,  gest.  ebendas.  1825),  Professor  der  Philosophie  zu  Amsterdam  mit 
seiner  Schrift:  Beginsels  der  kantiansche  Wysgeerte,  Arastd.  1796,  der  auch  1798 
ein  eigenes  Journal  für  die  Verbreitung  der  kantischen  Lehre  herauszugeben  be- 
gann: Magazin  for  de  kritische  Wysgeerte.  Auf  das  heftigste  wurde  er  von  dem 
Vorgänger  in  seinem  Amte,  dem  bekannten  Philologen  Daniel  Wyttenbach  an- 
gegriffen, der  mit  beachtenswerthen  Gründen  gegen  Kant  polemisirt,  namentlich  in 
einem  Aufsatze:  KnSÜQOtoi'  in  seinem  W.  <PiXoua9ias  tu  onoyrid'r,»',  Amstelod.  1809, 
11,  Tom.  I  (vergl.  K.  Prantl,  D.  Wyttenb.  als  Gegner  Kants  In:  Sitzungsber.  der 
bayer.  Akad.  d.  Wissensch.,  Philos.-philol.  Kl.  1877).  Neben  van  Hemert  haben 
sich  um  das  Bekanntwerden  der  kritischen  Philosophie  in  Holland  verdient  gemacht 
J.  Kinker,  dessen  Werk  bald  in  das  Französische  übersetzt  wurde  unter  dem  Titel: 
Essai  d'une  exposition  succinete  de  la  critique  de  la  raison  pure  de  Mr.  Kant, 
Amstd.  1801,  F.  H.  Heumann,  van  Bosch,  lieber  Kants  Philosophie,  wie  sie  durch 
eben  dieses  Werk  in  Frankreich  eingeführt  wurde,  äusserte  sich  abweisend  der  mate- 
rialistisch gesinnte  Destutt  de  Tracy  (s.  Abschn.  IV  dies.  Bandes):  De  lu  metaphysique 
de  Kant,  ou  Observation  sur  un  ouvrage  intitule  :  Essai  d'une  expos.  etc.  Anerkennend 
waren  die  Arbeiten  von  Charles  Villers:  Philosophie  de  K.  ou  prineipes  fondamentaux 
de  la  Philosophie  transscendentale,  Metz  1801,  und  J.  Höhne:  Philosophie  critique 
decouverte  par  K.,  Paris  1802.  In  England  versuchten  die  kantische  Philosophie 
bekannt  zu  machen  Nitsch,  General  and  introduetory  view  of  K.s  principles 
concerning  rann,  the  world  and  the  deity,  Lond.  1796,  und  Willich,  Elements  of 
the  critical  philosophy,  Lond.  1798  (s.  ob.  S.  234  die  Litteratur). 


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304 


§  29.   Pichte  und  Fichteaner. 


§  29.  Johann  Gottlieb  Fichte  (1762—1814),  von  spinozisti- 
schem  Determinismus  durch  die  kantische  Einschränkung  der  Causa- 
lität  auf  Phaenomena  und  Behauptung  einer  causalitätslosen  sittlichen 
Freiheit  des  Ich  als  eines  Noumenon  zurückgeführt,  macht  mit  eben 
dieser  Einschränkung,  die  ihm  im  ethischen  Interesse  werth  geworden 
war,  in  der  theoretischen  Philosophie  volleren  Ernst,  als  durch  Kant 
geschehen  war,  indem  er  die  von  diesem  angenommene  Entstehung 
des  Stoffs  der  Vorstellungen  durch  eine  Affection,  welche  die  Dinge 
an  sich  auf  das  Subject  üben,  negirt  und  den  Stoff  ebensowohl  wie 
die  Form  aus  der  Thätigkeit  des  Ich  hervorgehen  lässt,  und  zwar 
aus  demselben  synthetischen  Act,  der  die  Anschauungsformen  und 
Kategorien  erzeuge.  Nach  Fichte  hat  die  praktische  Vernunft  noch 
mehr  den  Primat  vor  der  theoretischen  als  bei  Kant,  und  die  fichtesche 
Philosophie  hat  in  Folge  dessen  einen  durchaus  ethischen  und  teleo- 
logischen Charakter. 

Das  Mannigfaltige  der  Erfahrung  wird  ebenso  wie  die  apriorischen 
Formen  von  uns  durch  ein  schöpferisches  Vermögen  producirt  Nicht 
eine  Thatsache,  sondern  die  Thathandlung  dieser  Production  ist  der 
Grund  alles  Bewusstseins.  Das  Ich  setzt  sich  selbst  und  das  Nicht-Ich 
und  erkennt  sich  als  eins  mit  dem  Nicht-Ich;  der  Process  der  Thesis, 
Antithesis  und  Synthesis  ist  die  Form  aller  Erkenntniss.  Dieses 
schöpferische  Ich  ist  nicht  das  Individuum,  sondern  das  absolute  Ich. 
Aber  aus  dem  absoluten  Ich  sucht  Fichte  das  Individuum  zu  deduciren; 
die  sittliche  Aufgabe  nämlich  fordert  den  Unterschied  der  Individuen. 
Die  Natur  des  Ichs  geht  vor  Allem  auf  das  Handeln,  zum  Handeln 
gehört  aber  ein  gegenstrebendes  Nicht-Ich,  deshalb  wird  dieses  gesetzt, 
und  das  Vorstellen  desselben  ist  erst  das  Zweite.  Die  Welt  ist  das 
versinnlichte  Material  der  Pflicht.  Die  ursprünglichen  Schranken  des 
Individuums  erklärt  Fichte  ihrer  Entstehung  nach  für  unbegreiflich. 
Gott  ist  die  sittliche  Weltordnung.  —  Fichte  bildet  so  in  seiner 
Wissenschaftslehre  einen  consequenten  Idealismus  aus.  —  Noch 
strenger  als  Kant  trennt  er  das  Gebiet  des  Rechts  von  dem  der  Moral. 
In  seinen  späteren  Speculationen  geht  er  vom  Absoluten  aus,  und  sein 
Philosophiren  nimmt  immer  mehr  einen  religiösen  Charakter  an,  jedoch 
ohne  die  ursprüngliche  Basis  zu  verleugnen.  Die  Reden  an  die  deutsche 
Nation  schöpfen  ihre  zündende  Kraft  aus  der  Energie  des  sittlichen 
Bewusstseins. 

Der  philosophischen  Schule  Fichtes  gehören  wenige  Männer  an; 
doch  ist  seine  Speculation  für  den  ferneren  Entwickelungsgang  der 
deutschen  Philosophie  theils  durch  Sendling,  theils  durch  Herbart  von 
entscheidendstem  Einfluss  geworden. 


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§  29.    Fichte  and  Fichteaner. 


:>05 


Job.  Gottl.  Fichtes  nachgelass.  Werke  hrsg.  Ton  Imm.  Herrn.  Fichte,  3  B<le., 
Bonn  1834;  sänimtl.  Werke,  herausg.  von  I.  H.Fichte,  8  Bde.,  Berl.  1845 — 46.  Select 
works,  translat.  bv  W.  Smith,  new.  edit.,  Lond.  1871.  Die  Wissenschaft^  u.  die  Rechts- 
lehre  sind  auch  v.  A.  E.  Kroeger  ins  Englische  übersetzt  (Science  of  knowledge,  Phila- 
delphia 1868,  Science  of  rights,  ebd.  1869),  kleinere  Schriften  von  Fichte  sind  englisch 
veröffentlicht  in:  The  Journal  of  speculative  philosophy.  Joh.  Gottl  Fichtes  Leben  ist 
von  seinem  Sohne  Itnm.  Herrn.  Fichte  beschrieben  und  zugleich  der  litt.  Briefwechsel 
veröffentlicht  worden,  Sulzbach  1830,  2.  Aufl.  Lpz.  1862.  Schillers  u.  F.s  Briefwechs., 
a.  d.  Nachl.  Sch.s  herausgeg.  v.  I.  H.  Fichte  1847.  F.s  u.  Schellings  philos.  Briefwechs., 
a.  d.  Nachlass  beider  herausgeg.  v.  I.  H.  Fichte  u.  K.  Fr.  A.  Schelling,  1856.  Inter- 
essante Nachträge  hat  namentlich  Karl  Hase  geliefert  in  dem  jenaischen  Fichtebüchlein, 
Lpz.  1856.  Vgl.  WUL  Smith,  Memoire  of  Joh.  G.  Fichte,  2.  ed.,  Lond.  1848,  ferner 
auch  J.  G.  Fichte,  Lichtstrahlen  aus  seinen  Werken  u.  Briefen  nebst  einem  Lebensabriss 
v.  Ed.  Fichre,  1863.  Hierin  auch  ein  chronolog.  geordnetes  Verzeichnis«  von  Fichtes 
Schriften,  die  hauptsächlichsten  derselben  s.  unt.  S.  307  f. 

Ueber  F.  als  Politiker  handelt  Ed.  Zeller  in  v.  Sybels  hist.  Zeitschr.  IV,  S.  1  ff., 
wieder  abgedr.  in  Zellers  Vorträgen  und  Abh.,  Lpz.  1865,  S.  140 — 177.  Unter  den 
Darstellungen  seiner  Lehre  sind  besonders  zu  erwähnen:  Wilh.  Busse,  F.  u.  s.  Beziehg. 
i.  Gegenw.  d.  deutsch.  Volkes,  Halle  1848—49,  J.  H.  Löwe,  d.  Philos.  F.s  nach  d. 
Gesammtergebniss  ihrer  Entwickig.  und  in  ihr.  Verhältn.  z.  Kant  u.  Spinoza,  Stuttg. 
1862,  Ludw.  Noack,  J.  G.  F.  nach  seinem  Leb.,  Lehr.  u.  Wirk.,  Lpz.  1862,  A.  L»sson, 
J.  G.  F.  im  Verhltn.  z.  Kirche  u.  Staat,  Berl.  1863.  Aus  Anlass  der  Fichtefeier  am 
19.  Mai  1862  sind  zahlreiche  Heden  u.  Festschriften  ersch.  (über  welche  v.  Reichiii)- 
Meldegg  in  L  H.  Fichtes  Ztschr.  f.  Ph.  Bd.  42,  1863,  S.  247  —  277  eine  Uebersicht 
giebt),  insbes.  von  Heinr.  Ahrens.  Hubert  Beckers,  Karl  Biedermann,  Chr.  Aug.  Brandis, 
Mor.  Carriere,  O.  Dorneck,  Ad.  Drechsler,  L.  Eckardt,  Joh.  Ed.  Erdmann,  Kuno 
Fischer,  L.  George,  Rud.  Gottschall,  F.Harms,  Hebler,  Helfferich,  Karl  Heyder,  Franz 
Hoffmann,  Karl  Köstlin,  A.  L.  Kym,  Ferd.  Lassalle,  Lott,  J.  H.  Löwe,  Jürgen  Bona 
Meyer  (über  die  Reden  an  die  D.  Nat.),  Monrad,  L.  Noack,  W.  A.  Passow,  K.  A. 
v.  Reichlin-Meldegg,  Kud.  Reicke  (F.s  erst.  Aufenthalt  in  Ky.sb..  im  deutsch.  Mus.  1865, 
No.  21  u.  22),  Rosenkranz  (in:  Gedanke,  V,  S.  170),  K.  O.  Schellenberg,  Rob.  Schellwien, 
Ed.  Schmidt-Weissenfels,  Ad.  Stahr,  Leop.  Stein,  Heinr.  Sternberg,  H.  v.  Treitschke, 
Ad.  Trendel  enburg,  Chr.  H.  Weisse,  Tob.  Wildauer,  R.Zimmermann  (dessen  Rede 
auch  in  s.  St.  u.  K.  wieder  abgedr.  ist).  S.  ferner:  G.  Schmoller,  J.  G.  Fichte.  Eine 
Studie  aus  dem  Gebiete  der  Ethik  u.  Nationalökonomie,  in  Jahrbb.  f.  Nationalök.  n. 
Statist.,  hrsg.  v.  Br.  Hildebrand.  Bd.  V,  1865,  S.  1—62.  Kuno  Fischer,  Gesch.  d.  n. 
Philos.,  Bd.  Vi  Fichte  u.  s.  Vorgänger,  1.— 2.  Abth.,  Heidelb.  1868.  O.  Pfleiderer,  J. 
G.  F.,  Lebensbild  eines  deutsch.  Denker»  u.  Patrioten.  Stuttgart  1877.  F.  Zimmer, 
J.  G.  Fichtes  Rcligionsphilos.  nach  den  Grundsätzen  ihrer  Elitwickelung  dargestellt, 
Berl.  1878.  J.  B.  Meyer,  Fichte,  Lassalle  u.  der  Socialismus,  1878.  R.  Focke,  der 
Cansalitätsbegr.  bei  F.,  Königsberg  1879.  A.  Spir,  Joh.  G.  F.  nach  seinen  Briefen, 
Lpz.  1879.  Rob.  Adamson,  Fichte  (philosophical  Classics  for  english  readers),  Lond. 
1881.  E.  Melzer,  d.  Unsterblichkeit«!.  J.  G.  F.s  vom  Standpunkt  des  Theismus  krit. 
dargestellt.  Neisse  1882.  F.  Marschner,  Kr.  d.  Geschichtsph.  J.  G.  F.s  in  Bez.  auf 
deren  Methode.  Pr.  d.  Ob.  R.  Seh.  d.  Leopoldst.  in  Wien,  1884.  Charles  Carroll 
Everett,  F.s  science  of  knowledge,  a  critical  exposition,  Chicago  1884.  Paul  Hensel, 
üb.  d.  Beziehung  des  reinen  Ich  b.  Fichte  zur  Einht.  der  Apperception  b.  Kant,  I.-D.. 
Frbg.  i.  Br.  1885.  A.  Stapelfcld,  d.  Principien  der  fichtesch.  Offenbarungskrit.  in  ihr. 
Zusammenh.  mit  K.s  L.  betrachtet,  I.-D.,  Gotting,  s.  a.  E.  Ebeling.  Darst.  u.  Beurth. 
d.  religionsph.  Lehren  J.  G.  Fs,  I.-D.,  Halle  1886.  G.  Schwabe,  F.s  u.  Schopenhauers 
h.  vom  Willen  mit  ihr.  Konsequenzen  f.  Weltbegreif,  u.  Lebensführ.,  I.-D.,  Jena  1887. 

Johann  Gottlieb  Fichte  wurde  am  19.  Mai  1762  zu  Rammenau  in  der 
Oberlaasitz  geboren.  Sein  Vater,  ein  Bandwirker,  war  ein  Abkömmling  eines  in 
Sachsen  zurückgebliebenen  schwedischen  Wachtmeisters  ans  dem  Heere  Gustav 
Adolfs.  Des  talentvollen  Knaben  nahm  der  Freiherr  von  Miltitz  sich  an.  Von 
1774— HO  besuchte  Fichte  die  Fürstenschule  zn  Pforta,  stndirte  dann  in  Jena 
Theologie,  bekleidete  seit  1788  eine  Hanslehrerstelle  in  der  Schweiz,  kam  1791 
nach  Königsberg,  wo  er  das  Manuscript  seines  ersten,  rasch  (vom  13.  Juli  bis 
18.  August)  niedergeschriebenen  Werkes:  .Versuch  einer  Kritik  aller  Offenbarung* 
Kant  vorlegte  und  dadurch  dessen  Achtung  und  Zuneigung  gewann.  Fichte  war  damals 

Ueberweg-Heinze,  GrandriM  III.  7.  An«.  20 


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30G 


§  29    Fichte  und  Fichteaner. 


mit  der  kantischen  Philosophie  erst  seit  einem  Jahre  vertraut  geworden.  Vorher 
hatte  er  das  System  des  Spinoza  kennen  gelernt  nnd  einem  Determinismus  gehuldigt, 
den  er  aufgab,  sobald  ihm  die  kantische  Lehre,  dass  die  Kategorie  der  Causalität 
nur  auf  Erscheinungen  Anwendung  finde,  die  Möglichkeit  einer  Unabhängigkeit  des 
Willensactes  vom  Causalnexus  zu  verbürgen  schien.  Zumeist  auf  die  Wahl  zwischen 
deterministischem  Dogmatismus  und  der  Freiheitslehre  deB  kantischen  Kriticismus 
bezieht  sich  sein  Wort  (Erste  Einl.  in  die  Wissenschaftslehre,  1797,  Werke  I, 
S.  434):  „Was  für  eine  Philosophie  man  wähle,  hängt  davon  ab,  was  man  für  ein 
Mensch  ist".   Nach  Beinholds  Abgange  von  Jena  nach  Kiel  ward  Fichte  1794 
dessen  Nachfolger  in  der  jenenser  Professur,  die  er  bis  zu  dem  Atheismus-Streit 
1799  bekleidete.  Fichte  setzte  in  einem  Aufsatz:  rUeb.  d.  Grund  uns.  Glaubens  an 
e.  göttl.  Weltregierung",  den  er  einer  Abhandlung  Forbergs:  „Eutwickl.  des  Be- 
griffs der  Religion*  einleitend  vorausschickte  (im  philos.  Journal,  Jena  1798, 
Heft  1),  die  Begriffe  Gott  und  moralische  Weltordnung  einander  gleich, 
was  ein  anonymer  Pamphletist  in  einer  Schrift:  „Schreib,  e.  Vaters  an  seinen  Sohn 
üb.  d.  fichtesch.  u.  forbergsch.  Atheismus*  denunciatorisch  rügte.  Die  chursächsische 
Begieruug  confiacirte  jene  Aufsätze,  verbot  das  Journal  und  verlangte  die  Bestrafung 
Fichtes  und  Forbergs  unter  der  Drohung,  andernfalls  ihren  üntertbanen  den  Besuch 
der  Universität  Jena  zu  verbieten.   Die  Regierung  zu  Weimar  gab  dieser  Drohung 
soweit  nach,  als  sie  beschloss,  den  Herausgebern  des  Journals  einen  Verweis  wegen 
Unbedachtsamkeit  durch  den  akademischen  Senat  ertheilen  zu  lassen.    Fichte,  der 
davon  im  Voraus  erfuhr,  erklärte  in  einem  (privaten,  aber  auch  zu  öffentlichem  Ge- 
brauch verstatteten)  Briefe  vom  22.  März  1789  an  ein  Mitglied  der  Regierang, 
Geheimrath  Voigt,  dass  er  im  Fall  einer  ihm  durch  den  akademischen  Senat  zu 
ertheilenden  „derben  Weisung"  seinen  Abschied  nehmen  werde,  nnd  fügte  die  Drohung 
bei,  es  würden  in  diesem  Fall  auch  andere  Professoren  mit  ihm  die  Universität  ver- 
lassen.  Diese  Drohung,  welche  nach  Fichtes  Absicht  die  Regierung  einschüchtern 
und  von  einem  öffentlichen  Verweise  zurückschrecken  sollte,  in  der  That  aber 
irritirte,  beruhte  auf  Aeusserungeu  von  Collegen,  besonders  von  Paulus,  der  gesagt 
zu  haben  scheint,  Fichte  dürfe  darauf  hinweisen,  auch  er  (Paulus)  und  Andere 
würden  im  Fall  einer  Beschränkung  der  Lehrfreiheit  nicht  in  Jena  bleiben. 
Dies  hatten  Paulus  und  Andere  wohl  von  einem  solchen  Verfahren  gegen  Fichte, 
wodurch  mittelbar  auch  ihre  eigene  Lehrfreiheit  beschränkt,  das  Verharren  in  Jena 
ihnen  verleidet,  und  ein  Ruf  nach  auswärts,  etwa  nach  Maiuz,  wo  sich  eine  Aussicht 
zu  bieten  schien,  annehmbar  werden  könnte,  verstanden.    Fichte  hatte  es  aber  von 
vornherein  in  einem  volleren  Sinne  aufgefasst  und  als  ein  Versprechen,  jedenfalls 
zugleich  mit  ihm  selbst  sofort  die  Universität  zu  verlassen,  gedeutet.  Letzteres 
können  Paulus  und  Andere  weder  aus  eigenem  Interesse,  noch  auch  aus  einem  alles 
Andere  hintansetzenden,  selbst  das  Wohl  der  Universität  gefährdenden,  aufopferungs- 
vollen Freundschafts-Enthusiasmus,  noch  endlich  in  kindischer  Gedankenlosigkeit 
gegeben  haben.    Fichte  erhielt  den  Verweis  und  zugleich  die  Entlassung,  indem  seine 
Ankündigung,  eventuell  den  Abschied  nehmen  zu  wollen,  die  bloss  wegen  ihres 
trotzigen  Tones  hätte  gerügt  werden  dürfen,  uugerechtfertigterweise  sofort  als  ein 
bereits  eingereichtes  Abschiedsgesuch  behandelt  wurde.  Vergeblich  erklärte  Fichte 
nachträglich,  dass  der  von  ihm  angenommene  Fall  eines  entehrenden  und  die  Lehr- 
freiheit beschränkenden  Verweises  nicht  vorliege.  Eine  Petition  der  Studenten 
zu  seinen  Gunsten  war  wohlgemeint,  konnte  aber  nur  erfolglos  sein.   Fichte  ging, 
die  anderen  Professoren  blieben.    Nicht  lange  nachher  erschien  Kants  Erklärung 
(vom  7.  August  1799,  im  Intelligenzblatt  No.  109  zur  Allg.  Litteratur-Zeitg.  1799, 
8.  Hartensteins  Ausgabe  der  Werke  Bd.  \  III.  Leipz.  1868,  S.  600),  er  halte 
Fichtes  Wissenschaftslehre  für  ein  ganz  verfehltes  System  und  protestire  gegen 


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§  29.    Fichte  nnd  Fichteaner. 


307 


jede  Hineindeutung  fichtescher  Satze  in  seine  eigene  Vernnnftkritik,  die  nach 
ihrem  Bachstaben  and  nicht  nach  einem  vermeintlich  dem  Bachstaben  wider- 
streitenden Geist  verstanden  sein  wolle.  (In  gleicher  Art  hat  Kant  sich  schon 
1798  über  die  ,  Wissenschaftalehre  *  aasgedrückt.  Die  Constraction  aas  dem 
blossen  Selbstbewusstsein  ohne  gegebenen  Stoff  machte  aaf  ihn  einen  gespenstigen 
Eindruck;  er  fand  in  Fichtes  Werk  nur  ein  .ephemerisches  Erzengniss".)  Fichte 
wandte  sich  nach  Berlin,  wo  ihm  ein  im  Geiste  Friedrichs  des  Grossen  ge- 
sprochenes Wort  des  Königs,  welches  Religionsansichten  and  bürgerliche  Stellung 
gebührend  sonderte,  Duldung  sicherte.  Er  verkehrte  mit  Friedrich  Schlegel,  Schleier- 
macher und  anderen  bedeutenden  Männern  and  hielt  bald  auch  öffentliche  Vorträge 
vor  einem  zahlreichen  Kreis  Gebildeter.  Im  Jahr  1805  wurde  ihm  eine  Professur 
an  der  (damals  preussischen)  Universität  Erlangen  ertbeilt;  er  hat  daselbst  aber  nur 
während  des  Sommersemesters  1805  gelesen.  Im  Sommer  1806  ging  Fichte  in  Folge 
des  Vorrückens  der  Franzosen  nach  Königsberg,  wo  er  kurze  Zeit  Vorlesungen 
hielt,  auch  bereits  an  den  Reden  an  die  deutsche  Nation  arbeitete,  die  er  im  Winter 
1807/8  im  Akademiegebäade  zu  Berlin  hielt.  Seit  der  Gründung  der  Berliner  Uni- 
versität (1809)  Professor  an  derselben,  übte  er  unter  fortwährender  Umbildung  seines 
Systems  eine  eifrige  Lehrthätigkeit  bis  zu  seinem  Tode,  der  am  27.  Januar  1814 
erfolgte.  Er  erlag  dem  Nervenfieber,  welches  durch  seine  Frau,  die  sich  der  Kranken- 
pflege in  den  Lazarethen  widmete  und  selbst  von  der  Ansteckung  wieder  genas,  auf 
ihn  übertragen  worden  war. 

Fichtes  Hauptschriften  sind  folgende.  Aus  dem  Jahre  1790  sind 
«Aphorismen  über  Religion  und  Deismus"  erhalten,  die  für  die  Einsicht  in  Fichtes 
Entwickelungsgang  von  Interesse  sind.  Ebenso  ans  dem  Jahre  1791 :  Predigten.  1792 
erschien  zu  Königsberg  bei  Härtung  der  »Versuch  einer  Kritik  aller  Offen- 
barung" (besonders  heransg.  in  der  Philos.  Biblioth.  von  J.  H.  v.  Kirchmann, 
1871),  die,  im  kantischen  Geiste  geschrieben,  von  dem  Verleger,  wie  es  scheint, 
absichtlich,  ohne  dass  Fichte  um  dieses  Verfahren  wusste,  mit  Weglassung  des 
Namens  des  Verfassers  und  der  Vorrede,  worin  dieser  sich  als  „  Anfänger"  bezeichnet, 
veröffentlicht,  von  dem  Recensenten  in  der  Jenaer  Allg.  Litt.-Ztg.  und  überhaupt 
fast  allgemein  von  dem  philosophischen  Publicum  als  ein  Werk  Kants  angesehen 
wurde.  Als  der  Irrthum  erkannt  wurde,  fiel  aaf  Fichte  der  Glanz  der  Urheberschaft 
eines  Werkes,  für  dessen  Verfasser  Kant  hatte  gelten  können.  Dieser  Umstand  trug 
wesentlich  zu  seiner  späteren  Berufung  nach  Jena  bei.  1793  erschienen  anonym  die 
(in  der  Schweiz,  wo  Fichte  sich  mit  einer  Schwestertochter  Klopstocks  vermählte, 
von  ihm  verfassten)  Schriften:  „Zurückforderang  der  Denkfreiheit  von  den  Fürsten 
Europas,  die  sie  bisher  unterdrückten",  und:  „Beiträge  z.  Berichtig,  d.  Urtheile  d. 
Publicums  über  die  französ.  Revolution",  worin  Fichte  den  Gedanken  durchführt, 
dass,  obschon  die  Staaten  durch  Unterdrückung  und  nicht  durch  Vertrag  entstanden 
seien,  doch  der  Staat  seiner  Idee  nach  auf  einem  Vertrags verhältniss  beruhe  nnd 
dieser  Idee  immer  näher  geführt  werden  müsse;  alles  Positive  finde  sein  Maass  und 
Gesetz  an  der  reinen  Form  unseres  Selbst,  dem  reinen  Ich.  Nach  dem  Antritt  der 
Professur  zu  Jena  erschien  die  Abhandlung:  „üb.  d.  Begriff  der  Wissenschaftslehre 
oder  der  sogenannten  Philos.",  Weimar  1794,  und  die  Schrift:  „Grundlage  der 
gesammten  Wissenschaftslehre,  als  Handschr.  f.  seine  Zuhörer",  Jena  und 
Leipz.  1794;  auch  .Einige  Vorlesungen  üb.  d.  Bestimmung  des  Gelehrten"  wurden 
noch  1794  veröffentlicht  (auch  heraasgeg.  in  der  Universalbiblioth.  Lpz.);  demselben 
Jahre  gehört  der  für  Schillers  „Hören*  geschriebene  Aufsatz  „über  Geist  und 
Buchstab,  in  der  Philos."  an.  1795:  Grundriss  des  Eigenthüml.  in  d.  Wissenschafts- 
lehre. 1796:  Grundlage  des  Naturrechts  nach  Principien  der  Wissen- 
schaftslehre.   1797:  Einltg.  in  die  Wissenschaftsl.,  und:  Versuch  e.  neu.  Darstellg. 

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§  29.    Fichte  und  Fichteaner. 


der  W.-L..  im  philos.  Journal.  1798:  System  d.  Sittenlehre  nach  Principien 
der  W.-L.;  üeber  d.  Grund  uns.  Glaubens  an  eine  göttl.  Weltregierung,  im  philos. 
Journal.  1799:  Appellation  an  d.  Publicum  gegen  die  Anklage  d.  Atheismus,  eine 
Schrift,  die  man  zu  lesen  bittet,  ehe  man  sie  confiscirt,  und:  Der  Herausgeber  des 
philos.  Journals  gerichtliche  Verantwortungsschreiben  gegen  die  Anklage  des 
Atheismus.  1800:  Die  Bestimmung  des  Menschen  (besonders  herausgeg.  von 
K.  Kehrbach,  in  d.  Universalbiblioth.  Lpz.);  der  geschlossene  Handelsstaat  (auch 
in  d.  Universalbibl.).  1801 :  Frdr.  Nicolais  Leb.  und  sonderbare  Meinungen,  sonnen- 
klar. Bericht  an  d.  Publicum  üb.  d.  eigentl.  Wesen  d.  neuest.  Philos.,  ein  Versuch, 
den  Leser  zum  Verstehen  zu  zwingen,  und  Darstellung  der  Wiasenschaftslehre. 
1806:  Grundzüge  d.  gegenw.  Ztalt,  und:  Anweisung  zum  seligen  Leben;  Ueber  das 
Wesen  des  Gelehrten  und  seine  Erscheinungen  im  Gebiete  der  Freiheit,  in  öffentl. 
Vorlesungen,  gehalten  zu  Erlangen  im  Sommerhalbj.  1805.  1808:  Reden  an  die 
deutsche  Nation  (besonders  herausgeg.  von  J.  H.  Fichte  mit  Einl.  1859,  von 
demselb.  auch  in  der  Biblioth.  der  deutsch.  Nationallit.,  1871,  ferner  auch  erschienen 
in  der  Univerealbiblioth.  Lpz.).  1810:  Die  Thatsachen  des  Bewusstseins.  Mehrere 
seiner  Vorlesungen  sind  später  in  den  .Nachgelassenen  Werken*  veröffentlicht  worden. 
Die  Staatslehre  oder  üb.  d.  Verh.  des  ürstaates  zum  Vernunftreiche,  in  Vorlesungen 
gehalten  im  Sommer  1813  auf  d.  Universität  zu  Berlin,  wurde  in  Berl.  1820  aus  dem 
Nachlasse  herausgeg. 

In  der  1792  verfassten,  in  der  Jenaer  allg.  Litteraturzeitung  erschienenen  „Re- 
cension  des  Aenesidemus"  (der  Schrift  von  Gottlob  Ernst  Schulze  über  die  Funda- 
mente der  von  Reinhold  geliefert.  „Elementarphilos.,  nebst  einer  Vertheidigung  des 
Skepticism.  geg.  die  Anmaassungen  der  Vernunftkritik  *)  erkennt  Fichte  mit  Reinhold 
and  Schulze  an,  das»  die  gesammte  philosophische  Doctrin  aus  Einem  Grandsatz 
abgeleitet  werden  müsse,  glaubt  aber  nicht,  dass  zn  diesem  Behuf  Reinholds  Satz 
des  Bewusstseins  *  (welcher  lautet:  „im  Bewusstsein  wird  die  Vorstellung  durch 
das  Subject  vom  Subject  und  Object  unterschieden  und  auf  beide  bezogen*)  zureiche. 
Denn  dieser  Satz  könne  nur  die  theoretische  Philosophie  begründen,  für  die  ge- 
rammte Philosophie  aber  müsse  es  noch  einen  höheren  Begriff,  als  den  der  Vor- 
stellung, und  einen  höheren  Grundsatz,  als  jenen,  geben.  Den  wesentlichen  Inhalt 
«ler  kritischen  Doctrin  setzt  Fichte  in  den  Nachweis,  dass  der  Gedanke  von  einem 
Dinge,  das  an  sich  unabhängig  von  irgend  einem  Voretellungsvermögen  Existenz 
und  gewisse  Beschaffenheiten  haben  solle,  eine  Grille,  ein  Traum,  ein  Nichtgedanke 
sei.  Diesen  Gedanken  habe  noch  nie  ein  Mensch  gedacht,  and  könne  ihn  auch 
keiner  denken.  Man  denke  allemal  sich  selbst  als  Intelligenz,  die  das  Ding  zu 
erkennen  strebe,  mit  hinzu.  Der  Skepticismus  lasse  die  Möglichkeit  übrig,  noch 
etwa  einmal  über  die  Begrenzung  des  menschlichen  Gemüthes  hinausgehen  zu 
können,  der  Kriticismus  aber  thue  die  absolute  Unmöglichkeit  eines  solchen  Fort- 
schreitens dar  und  sei  demnach  negativ  dogmatisch.  Dass  Kant  nicht  (wie  es 
zuerst  Reinhold  versuchtet  die  Ableitung  aus  einem  einzigen  Grundsatz  gegeben 
habe,  erklärt  Fichte  aus  seiuem  ,die  Wissenschaft  bloss  vorbereitenden  Plane"  ; 
doch  habe  Kant  in  der  Apperception  das  Fundament  für  eine  solche  Ableitung 
gefunden.  Von  der  Unterscheidung  aber  zwischen  den  Dingen,  wie  sie  uns  er- 
scheinen, und  den  Dingen,  wie  sie  an  sich  sind,  meint  Fichte,  dieselbe  solle  „gewiss 
nur  vorläufig  und  für  ihren  Mann  gelten".  Dass  er  in  diesem  letzten  Betracht  über 
Kants  Denkweise  sich  täusche,  ward  ihm  Bpäter  aus  Kants  (oben  erwähnter)  Er- 
klärung vom  7.  Aug.  1799  klar,  woraufhin  er  dann  (in  einem  Briefe  an  Reinhold) 
Kant  einen  „  Dreiviertelskopf  *  nannte,  aber  an  der  Ueberzeugung  festhielt,  dass  es 
kein  von  dem  denkenden  Subject  unabhängiges  Ding  an  sich,  kein  Nicht-Ich,  das 
keinem  Ich  entgegengesetzt  wäre,  gebe,  und  ebenso  auch  an  der  Ueberzeugung,  dass 


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§  29.   Fichte  und  Fichteaner. 


309 


nur  diese  Lehre  dem  Geiste  des  Kriticismus  entspreche  und  der  „heilige  Geist  in 
Kant"  wahrer  als  Kants  individuelle  Persönlichkeit  gedacht  habe.  Uebrigens  spricht 
Fichte  bereits  in  eben  jener  Reeension  den  Satz  aus,  dass  das  Ding  wirklich  und 
au  sich  so  beschaffen  sei,  wie  es  von  jedem  denkbaren  intelligenten  Ich  gedacht 
werden  müsse,  dass  mithin  die  logische  Wahrheit  für  jede  der  endlichen  Intelligenz 
denkbare  Intelligenz  zugleich  real  sei.  (Dieser  Satz  ist  später,  jedoch  ohne  die 
Einschränkung:  „für  jede  der  endlichen  Intelligenz  denkbare  Intelligenz*  das  Funda- 
ment der  schelli  ngschen  und  hegelschen  Doctrin  geworden.^ 

In  der  „Grundlage  der  gesammten  VVissenschaftslehre",  welche  namentlich 
grossen  Einfluss  auf  die  Entwickeluug  der  weiteren  Philosophie  ausübte,  sucht 
Fichte  in  etwas  umständlicher  Weise  die  Aufgabe  der  Ableitung  aller  philo- 
sophischen Erkenntnis8  sub  einem  einzigen  Princip  zu  löseu,  indem  er  mit  Reinhold 
der  Ansicht  ist,  die  Philosophie  müsse  ihrem  ganzen  Inhalt  nach  aus  einem  Princip 
abgeleitet  werden.  Dieses  Princip  findet  Fichte  im  Anschluss  an  Kants  Lehre  von  der 
transscendentalen  Einheit  der  Apperception  in  dem  Ichbewusstsein.  Er  spricht  den 
Inhalt  desselben  in  drei  Grundsätzen  aus,  deren  logisches  Verbältniss  als  Thesis, 
Antithesis  und  Synthesis  sich  in  der  Gliederuug  des  Systems  überall  wiederholt. 

1.  Thesis:  Den  Satz  A  =  A  giebt  jeder  zu.  Ks  wird  aber  durch  die  Be- 
hauptung, dass  dieser  Satz  an  sich  gewiss  sei,  nicht  gesetzt,  dass  A  sei,  sondern 
man  setzt  nur:  Wenn  A  sei,  so  sei  A.  Ob  A  ist,  danach  ist  gar  nicht  die  Frage. 
Nur  der  nothwendige  Zusammenhang  zwischen  dem  „Wenn1*  und  dem  „So"  wird 
ohne  allen  Grund  gesetzt.  Dieser  Zusammenhang  —  X  ist  im  Ich  und  durch  das 
Ich  gesetzt.  Insofern  nun  dieser  Zusammenhang  gesetzt  wird,  ist  A  in  dem  Ich 
und  durch  das  Ich  gesetzt  sowie  X.  X  ist  nur  in  Bezug  auf  ein  A  möglich,  X 
ist  aber  im  Ich  wirklich  gesetzt,  folglich  muss  auch  A  im  X  wirklich  gesetzt  sein, 
insofern  X  darauf  bezogen  wird.  Das  schlechthin  gesetzte  X  lässt  sich  ausdrücken: 
Ich  —  Ich,  Ich  bin  Ich.  Dieser  Satz  hat  eine  ganz  andere  Bedeutung  als  A  —  A, 
durch  den  gar  nicht  ausgemacht  ist,  ob  A  existirt.  Der  Satz:  Ich  bin  Ich,  gilt 
aber  nicht  nur  der  Form,  sondern  seinem  Gehalte  nach.  In  ihm  ist  das  Ich  nicht 
unter  Bedingung,  sondern  schlechtbin  gesetzt  Deshalb  lässt  sich  der  Satz  auch 
ausdrücken:  Ich  bin.  So  ist  es  ErklärungBgrund  aller  Thatsachen  des  empirischen 
Bewusstseins,  dass  vor  allem  Setzen  im  Ich  das  Ich  selbst  gesetzt  sei.  Das  Ich 
ist  zugleich  das  Handelnde  als  urtheilendes  und  das  Product  der  Handlung.  Das 
Ich  ist  Ausdruck  einer  Thathandlung,  der  unmittelbare  Ausdruck  dieser  Thathand- 
lung  ist:  Ich  bin  schlechthin,  d.  i.  Ich  bin  schlechthin,  weil  Ich  bin, 
und  bin  schlechthin,  was  Ich  bin,  beides  für  das  Ich.  —  So  ist  zwar  von 
dem  Sutze  A  —  A,  weil  von  irgend  einem  im  empirischen  Bewusstsein  gegebenen 
Gewissen  der  Anfang  genommen  werden  muse,  ausgegangen,  aber  der  Satz:  Ich  bin. 
lässt  sich  nicht  aus  ihm  erweisen,  vielmehr  umgekehrt  begründet:  Ich  bin,  den  Satz 
A  =  A.  Sobald  nämlich  vom  bestimmten  Gehalt,  dem  Ich,  abstrahirt  wird,  und 
die  blosse  Form,  die  Folgerung  von  dem  Gesetztsein  auf  das  Sein,  übrig  gelassen 
wird,  so  erhält  man  als  Grundsatz  der  Logik  A  =  A.  Abstrahirt  man  ferner  von 
allem  Urtheilen  als  bestimmtem  Handeln  und  sieht  dabei  bloss  auf  die  Handlungsart 
des  menschlichen  Geistes  überhaupt,  so  hat  man  die  Kategorie  der  Realität. 
Alles,  worauf  der  Satz  A  =  A  anwendbar  ist,  hat,  inwiefern  derselbe  darauf  an- 
wendbar ist,  Realität. 

2.  Antithesis:  Thatsache  des  empirischen  Bewusstseins  ist :  Non- A  nicht  —  A . 
Es  kommt  demnach  unter  den  Handlungen  des  Ich  ein  Entgegensetzen  vor.  Nun 
ist  aber  ursprünglich  nichts  gesetzt  als  das  Ich,  also  kann  nur  dem  Ich  schlechthin 
entgegengesetzt  werden,  und  dies  dem  Ich  Entgegengesetzte  ist  =  Nicht-Ich.  Das 
Ich  Betzt  sich  entgegen  ein  Nicht-Ich.    Von  Allem,  was  dem  Ich  zukommt, 


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§  29.   Fichte  und  Fichteaner. 


mm*  kraft  der  blossen  Gegensetzung  dem  Nicht-Ich  das  Gegentheil  zukommen. 
Aua  diesem  Satze:  dem  Ich  ist  entgegengesetzt  das  Nicht-Ich,  entsteht  durch 
Abstraction  von  dem  Gehalte  der  logische  Satz:  Non-A  nicht  =  A.  Und  abstrahirt 
man  von  der  bestimmten  Handlung  des  Urtheilens  ganz  und  sieht  bloss  auf  die 
Form  der  Folgerung  vom  Entgegengesetztsein  auf  das  Nichtsein,  so  hat  man  die 
Kategorie  der  Negation. 

3.  Synthesis:  Da  das  Nicht-Ich  auch  im  Ich  ist,  so  sind  sich  Ich  und  Nicht- 
Ich  im  Ich  entgegengesetzt:  daraus  folgt,  daas  sie  sich  gegenseitig  einschränken. 
Einschränken  heisst  aber  die  Realität  von  Etwas  durch  Negation  zum  Theil  auf- 
heben, also  wird  das  Ich  sowie  das  Nicht-Ich  als  theilbar  gesetzt.  So  ergiebt  sich 
der  dritte  Grundsatz,  der  die  Vereinigung  von  Ich  und  Nicht-Ich  darstellt:  Ich 
setze  im  Ich  dem  theilbaren  Ich  ein  theilbares  Nicht-Ich  entgegen. 
Hierin  liegen  die  zwei  Sätze: 

a.  das  Ich  setzt  sich  als  beschränkt  oder  bestimmt  durch  das  Nicht- Ich,  die 
Grundlage  der  theoretischen  Wissenschaftslehre; 

b.  das  Ich  setzt  das  Nicht-Ich  als  bestimmt  durch  das  Ich,  die  Grundlage  der 
praktischen  Wissenschaftslehre. 

Der  entsprechende  logische  Satz  ist  der  Satz  des  Grundes:  A  ist  zum  Theil 
—  Non-A,  und  umgekehrt;  jedes  Entgegengesetzte  ist  seinem  Entgegengesetzten  in 
Einem  Merkmale  =  X  gleich,  und  jedes  Gleiche  ist  seinem  Gleichen  in  Einem  Merk- 
male —  X  entgegengesetzt;  ein  solches  Merkmal  X  heisst  der  Grund,  im  ersten  Falle 
der  Beziehungs-,  im  zweiten  der  Unterscheidungsgrund.  Aus  diesem  dritten  Satze 
ergiebt  Bich  die  Kategorie  der  Limitation. 

Es  ist  in  diesem  dritten  Grundsatz  eine  Synthesis  zwischen  dem  entgegengesetzten 
Ich  und  Nicht- Ich  vorgenommen,  über  deren  Möglichkeit  sich  nicht  weiter  fragen 
lässt.  Man  ist  zu  ihr  ohne  allen  weiteren  Grund  befugt.  Es  ist  hiermit  die  kantische 
Frage:  Wie  sind  synthetische  Urtheile  a  priori  möglich?  auf  die  allgemeinste  und 
befriedigendste  Art  beantwortet.  Alle  übrigen  Synthesen,  welche  gültig  sein  sollen, 
müssen  in  dieser  ersten  liegen;  sie  müssen  zugleich  in  und  mit  ihr  vorgenommen 
worden  sein.  Alles,  was  von  nun  an  im  Systeme  des  menschlichen  Geistes  vor- 
kommen soll,  muss  sich  aus  dem  Aufgestellten  ableiten  lassen.  Es  kommt  darauf 
an,  in  dieser  Synthesis  eine  Antithesis  zu  finden,  die  in  einer  neuen  Synthesis  auf- 
gehoben wird,  mit  dieser  neuen  Synthesis  dasselbe  zu  thun,  und  so  fort,  bis  man  zu 
Gegensätzen  kommt,  die  sich  nicht  weiter  vollkommen  verbinden  lassen.  Hier  fängt 
dann  das  Gebiet  des  praktischen  Theiles  an.  —  Indem  Fichte  ans  jenen  drei  Sätzen 
das  gesammte  theoretische  Bewusstsein  nach  Inhalt  und  Form  und  zugleich  die 
Normen  des  sittlichen  Handelns  deducirt,  glaubt  er,  hierdurch  zu  Kants  Kritik  das 
System  der  reinen  Vernunft  hinzuzufügen. 

Das  Wesen  der  kritischen  Philosophie,  welche  Fichte  vertreten  will,  besteht 
nach  ihm  darin,  dass  ein  absolutes  Ich,  als  schlechthin  unbedingt  und  durch  nichts 
Höheres  bestimmbar,  aufgestellt  wird.  Diejenige  Philosophie  ist  aber  dogmatisch, 
die  dem  Ich  an  sich  etwas  gleich-  und  entgegensetzt.  Dies  geschieht  in  dem  höher 
sein  sollenden  Begriff  des  Dinges,  der  völlig  willkürlich  als  der  schlechthin  höchste 
aufgestellt  wird.  Im  kritischen  Systeme  ist  das  Ding  das  im  Ich  gesetzte,  im  dogma- 
tischen dasjenige,  worin  das  Ich  selbst  gesetzt  ist.  Der  Kriticismus  ist  darum 
immanent,  weil  er  Alles  in  das  Ich  setzt,  der  Dogmatismus  transscendent ,  weil  er 
noch  über  das  Ich  hinausgeht.  Der  Dogmatismus  muss  gefragt  werden,  warum  er 
sein  Ding  an  sich  ohne  einen  höheren  Grund  annehme,  da  er  bei  dem  Ich  nach 
einem  höheren  Grund  fragt.  Er  muss  nach  seinem  eigenen  Grundsatze,  nichts  ohne 
Grund  anzunehmen,  wieder  einen  höheren  Gattungsbegriff  für  den  Begriff  des  Dinges 
an  sich  anführen,  und  so  weiter  fort    Ein  durchgeführter  Dogmatismus  leugnet 


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§  29.   Fichte  and  Fichteaner. 


311 


entweder,  dass  unser  Wissen  einen  Grund  habe,  dass  überhaupt  ein  System  im  mensch- 
lichen Geiste  sei,  oder  er  widerspricht  sich  selbst.  —  Dieses  absolute  Ich  ist  nun 
ganz  etwas  Anderes  als  das  Ich  des  wirklichen  Bewusstseins.  Das  Letztere  ist 
auch  ein  gesondertes  und  abgetrenntes:  es  ist  eine  Person  unter  mehreren  Personen. 
Bis  zum  Bewusstsein  dieser  Persönlichkeit  setzt  die  Wissenschaftslehre  ihre  Ableitung 
fort.  Das  Ich  aber,  von  welchem  die  Wissenschaftslehre  ausgeht,  ist  nichts  weiter 
als  die  Identität  des  Bewusstseienden  und  Bewussten,  und  zu  dieser  Absonderung 
muss  man  sich  erst  durch  Abstraction  von  allem  Uebrigen  in  der  Persönlichkeit 
erheben.  Eb  ist  die  Ichheit,  die  allen  gemeine  Vernunft,  die  allem  Denken  zu  Grunde 
liegt.  Wer  überhaupt  nicht  von  dem  wirklichen  Bewusstsein  und  seinen  Thnt- 
sachen  zu  abstrahireu  vermag,  an  dem  hat  die  Wissenschaftslehre  alle  Ansprüche  ver- 
loren. Dieses  Ich,  welches  noch  nicht  Individuum  ist,  entsteht  durch  intellectuelle 
Anschauung,  welche  das  unmittelbare  Bewusstsein,  dass  ich  handle  und  dessen, 
was  ich  handle,  ist.  Sie  ist  das  dem  Philosophen  angemuthete  Anschauen  seiner 
selbst  im  Vollziehen  des  Actes,  wodurch  ihm  das  Ich  entsteht,  nicht  das  Anschauen 
eines  Seins,  sondern  eines  Handelns,  also  etwas  ganz  Anderes  als  die  intellectuelle 
Anschauung,  welche  Kant  verwirft.  Dass  es  ein  solches  Vermögen  der  intellectuellen 
Anschauung  gebe,  lässt  sich  nicht  durch  Begriffe  demonstriren,  noch,  was  es  sei, 
aus  Begriffen  entwickeln.  Jeder  muss  es  unmittelbar  in  sich  selbst  finden  oder  er 
wird  es  nie  kennen  lernen. 

Von  diesem  Ich  der  intellectuellen  Anschauung,  mit  welchem  die  Wissenschafts- 
lehre anhebt,  ist  wohl  zu  unterscheiden  das  Ich  als  Idee,  mit  welchem  sie  schliesst. 
Im  ersteren  liegt  lediglich  die  Form  der  Ichheit;  dadurch,  dass  man  es  fasst,  erhobt 
man  sich  zur  Philosophie.  In  dieser  Gestalt  ist  es  nur  für  den  Philosophen  Das 
Ich  als  Idee  ist  für  das  Ich  selbst,  welches  der  Philosoph  betrachtet,  vorhanden. 
Er  stellt  es  nicht  auf  als  seine  eigene,  sondern  als  Idee  des  natürlichen,  jedoch 
vollkommen  ausgebildeten  Menschen.  Das  Ich  als  Idee  ist  das  Vernunftwesen,  so- 
fern es  die  allgemeine  Vernunft  theils  in  sich  selbst  vollkommen  darstellt,  theils 
auch  ausser  sich  in  der  Welt  ausführlich  realisirt  hat.  Die  Idee  des  Ich  hat  mit 
dem  Ich  der  Anschauung  das  gemein,  dass  in  beiden  das  Ich  nicht  als  Individuum 
gedacht  wird,  im  letzteren  nicht,  weil  die  Ichheit  noch  nicht  bis  zur  Individualität 
bestimmt  ist,  nur  Intelligenz,  Geistigkeit,  Vernunft  ist,  durch  welche  wir  uns  Allem, 
was  ausser  uns  ist,  nicht  nur  Personen,  entgegensetzen,  im  ersteren  nicht,  weil  durch 
die  Bildung  nach  allgemeinen  Gesetzen  die  Individualität  verschwunden  ist.  Mit 
der  Idee  des  Ich  schliesst  die  Vernunft  in  ihrem  praktischen  Theile,  indem  sie  die- 
selbe als  das  Endziel  des  Strebens  unserer  Vernunft  aufstellt,  welchem  diese  jedoch 
nur  ins  Unendliche  sich  anzunähern  vermag.  Sie  wird  nie  wirklich  sein  und  kanu 
als  Idee  auch  nicht  bestimmt  gedacht  werden.  (Zweite  Einleitung  in  d.  Wissen- 
schaftslehre 1797,  Werke  I,  463  f.,  515  f.,  Sonnenkl.  Bericht  1801,  Werke  II,  382.) 

Um  die  Grundlage  des  theoretischen  Wisseus  zu  gewinnen,  ist  es  nun  nöthig, 
in  dem  obersten  Grundsatze  desselben:  das  Ich  setzt  sich  als  bestimmt  durch  das 
Nicht-Ich,  Gegensätze  zu  finden.  Das  sind  folgende:  1.  das  Nicht-Ich  bestimmt  als 
thätig  das  Ich,  welches  insofern  leidend  ist,  2.  das  Ich  bestimmt  sich  selbst,  ist 
also  thätig.  Diese  beiden  Gegensätze  werden  vereinigt  und  aufgelöst  durch  den  Begriff 
der  Wecbselbestimmung:  das  Ich  setzt  Negation  in  sich,  sofern  es  Realität  in 
das  Nicht-Ich  setzt,  und  setzt  Realität  in  sich,  sofern  es  Negation  in  das  Nicht-Ich 
setzt.  So  sind  Ich  und  Nicht-Ich  gegenseitig  durch  einander  bestimmt.  Wird  das 
Ich  bestimmt,  so  leidet  es  und  zwar  durch  das  Nicht-Ich,  welches  als  thätig  gedacht 
wird.  So  erhalten  wir  die  Kategorie  derCausalität  Es  wird  aber  doch  vor- 
ausgesetzt, dass  im  Ich  alle  Realität  vorhanden  ist,  und  sofern  es  den  ganzen 
bestimmten  Umkreis  aller  Realitäten  umfasst,  ist  es  Substanz.    Wir  stellen  uns 


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§  29.    Fichte  and  Fichteaner. 


Dinge  ausser  uns  vor  dadurch,  dass  das  Ich  eine  Realität  in  sich  aufhebt  und  diese 
aurgehobene  Realität  in  ein  Nicht-Ich  setzt.  Wird  eine  Einwirkung  der  äusseren 
Dinge  auf  das  vorstellende  Snbject  angenommen,  bo  heisst  dies:  Wir  setzen  die  Dinge 
als  Nicht-Ich  unserem  Ich  entgegen;  dadurch  wird  unser  Ich  beschränkt  In  Wahrheit 
sind  wir  es  aber  selbst,  was  da  handelt,  nicht  die  Dinge.  Je  nachdem  man  bei 
dem  Vorstellen  nun  das  Ich  als  thätig  oder  als  leidend  betrachtet  je  nachdem  die 
Thätigkeit  als  von  dem  Ich  oder  dem  Nicht-Ich  ausgehend  gedacht  wird,  ist  der 
Idealismus  oder  der  Realismus  vertreten.  Es  sind  so  in  dem  wahren  System  des 
philosophischen  Wissens  die  Ansprüche  der  beiden  Weltanschauungen  vereinigt, 
indem  sie  beide  beschränkt  werden.  Die  Thätigkeit  nun,  durch  welche  das  Ich  sich 
selbst  beschränkt  und  die  Vorstellung  hervorbringt,  ist  die  Einbildungskraft. 
Beim  Vorstellen  schwebt  das  Ich  zwischen  entgegengesetzten  Richtungen,  nach  dem 
Ich  oder  nach  dem  Nicht-Ich  hin,  und  dieses  Schweben  ist  Wirkung  der  Einbildungs- 
kraft, welche  das  Leiden  und  die  Thätigkeit  des  Ich  zum  Bewusstsein  bringt. 

Zuerst  wird  durch  diesen  Process  die  Empfindung  erzeugt,  wobei  noch  nichts 
Aeusseres  gesetzt  wird,  sondern  das  Ich  sich  nur  durch  etwas  Fremdes  in  sich  be- 
schränkt fühlt.  Auf  die  Empfindung  folgt  die  Anschauung.  Es  wird  etwas  ausser 
uns  gesetzt,  das  Augeschaute,  welches  dem  anschauenden  Subject  durch  eine  not- 
wendige Täuschung  als  ein  von  Anssen  kommendes  erscheint,  die  Richtoug  des 
Producirens  und  des  Auffassens  ist  eine  ganz  entgegengesetzte,  und  deshalb  kann 
das  Ich  nicht  in  demselben  Acte  auffassen  und  produciren  zugleich.  Beim  Auffassen 
erscheint  ihm  das  Product  schon  als  ein  fertiges.  Damit  die  Anschauung  aber 
Realität  gewinne,  muss  sie  festgehalten  werden.  Dies  geschieht  durch  den  Ver- 
stand, welcher  die  Anschauung  fixirt,  sie  zu  etwas  Erkanntem  macht.  Sind  Zeit 
und  Raum  Gesetze  des  Anschauens,  so  die  Kategorien  Gesetze  dieses  Fixirens.  Hat 
der  Verstand  die  Gegenstände  festgesetzt,  so  reflectirt  über  sie  die  Urtheilskraft, 
indem  sie  vergleicht,  die  Verhältnisse  bestimmt,  subsumirt  u.  s.  w.  Die  Anschauung 
der  vollkommenen  Spontaneität  des  Ich,  aus  welcher  folgt,  dass  nichts  real  sein 
könne  für  das  Ich,  ohne  auch  ideal  im  Ich  zu  sein,  und  umgekehrt,  ist  die  Ver- 
nunfterkenntniss,  die  Grundlage  alles  Wissens.  Hier  ergreift  das  Ich  sich  selbst, 
d.  h.  kommt  zum  reinen  Selbstbewusstsein.  Hier  ist  die  Entwickelung  zum  Aus- 
gangspunkt zurückgekehrt,  erkennt  aber,  dass  das  Bestimmtwerden  des  Ich  aus  ihm 
selbst  hervorgeht,  und  damit  ist  der  Uebergang  zum  Praktischen  gegeben. 

Unerklärt  blieb  bisher  der  Anstoss,  durch  welcheu  die  unendliche  Thätigkeit 
des  Ich  begrenzt  wird.  Dieser  wurde  nur  postulirt,  der  Grund  dazu  muss  aber  ge- 
funden werden,  sonst  hätte  die  Wissenschaft«lehre  kein  festes  Fundament.  Der 
Grundsatz  der  praktischen  Wissenschaftslehre  war:  das  Ich  setzt  das  Nicht-Ich 
als  bestimmt  durch  das  Ich.  Das  Ich  ist  absolut,  frei  nach  diesem  Satze,  es  hat 
unendliche  Thätigkeit,  oder  es  geht  mit  seinem  Streben  in  die  Unendlichkeit  Der 
Trieb  kann  so  sein  Ziel  nicht  erreichet!,  kann  nicht  causal  werden.  Damit  das  Ich 
dies  werde,  damit  es  überhaupt  praktisch  werde,  setzt  es  ein  Gegenstreben  ent- 
gegen, und  so  ensteht  der  Anstoss  oder  das  Nicht-Ich.  Damit  ist  die  Welt  gesetzt, 
die  aber  nur  in  einem  Ich  ist  und  für  ein  Ich  ist.  Es  entsteht  ein  Wechsel verhältniss 
zwischen  der  Freiheit  des  Ich  im  Verhältniss  zur  Welt,  insofern  es  praktisch  ist 
und  der  Gebundenheit  des  Ich  durch  die  Welt,  insofern  es  als  Intelligenz  erscheint. 
Der  Begriff  der  Pflicht,  welcher  als  unbedingtes  Sollen  auftritt,  nöthigt  aber  das 
Ich,  die  Welt,  das  Nicht-Ich,  das  eine  blosse  Schranke  ist  als  ein  Nichtiges  zu  er- 
kennen und  zu  bekämpfen.  Die  moralische  Weltordnung  wird  von  Ewigkeit  her 
dafür  gesorgt  haben,  dass  endlich  gelinge,  was  sein  soll,  d.  h.  dass  die  Vernunft  = 
Ich  über  die  Unvernunft  =  Nicht-Ich  siegen  werde.    Die  Natur  selbst  als  das  Un- 


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§  29.    Fichte  und  Fichteauer. 


31 3 


vernünftige  kann  keinen  Zweck  haben,  und  es  tritt  bei  Fichte  die  völlige  Natur- 
verachtung zu  Tage. 

Von  einzelnen  Disciplinen  hat  Fichte  nach  den  Grundsätzen  der  Wissenschafts- 
lehre  bearbeitet  das  Naturrecht  und  die  Moral,  indem  er  das  eretere  als  durchaus 
unabhängig  vou  der  Moral  behandelte.  Erst  im  Naturrecht  construirt  Fichte  die 
Mehrheit  der  Individuen.  Das  Ich  kann  sich  nicht  als  freies  Subject  denken,  ohne 
sich  durch  ein  Aeusseres  auch  zur  Selbstbestimmung  bestimmt  zu  finden;  zur  Selbst- 
bestimmung aber  kann  es  nur  durch  ein  Vernunftwesen  sollicitirt  werden;  es  muss 
also  nicht  nur  die  Sinnenwelt,  sondern  auch  andere  Vernunftwesen  ausser  sich 
denken,  also  sich  als  ein  Ich  unter  mehreren  setzen.  Alles  Recht  bezieht  Bich  auf 
Gemeinschaft  und  kann  nur  in  einer  Gemeinschaft  existiren.  Das  allgemeine  Reehts- 
gesetz  lautet:  Es  muss  jeder  seine  Freiheit  durch  den  Begriff  der  Möglichkeit  der 
Freiheit  der  Andern  beschränken,  unter  der  Bedingung,  dass  die  Andern  in  Bezug 
auf  ihn  das  Gleiche  thun.  Der  Staat  hat  die  Aufgabe,  das  Vernunftrecht  in  Allem, 
was  menschliches  Bedürfnis»  ist,  zu  verwirklichen,  hat  aber  mit  der  Gesinnung  nichts 
zu  thun.  Er  ist  nothwendig,  um  dem  Vernunftrecht  die  äussere  Sanction  zu  ver- 
leihen, und  er  entsteht  durch  den  übereinstimmenden  Willen  aller  seiner  Mitglieder, 
sich  ihre  Hechte  gegenseitig  zu  sichern. 

Die  Moral  bezieht  sich  nicht  auf  das  äussere  Verhalten  der  Menschen  wie 
das  Recht,  sondern  auf  den  Willen;  und  zwar  muss  das  Princip  der  Gesetzgebung 
für  den  Willen  sich  ergeben  aus  dem  Begriffe  der  Freiheit,  der  unbedingten  Selbst- 
tätigkeit als  dem  Wesen  des  Ich.  Aus  diesem  ergiebt  sich  die  Forderung  der 
Selbständigkeit,  Selbstbestimmung,  der  Trieb  dazu,  welcher  als  .reiner  Trieb*  alle 
Sittlichkeit  begründet.  Das  Princip  der  Sittenlehre  besteht  demnach  in  dem  not- 
wendigen Gedanken  der  Intelligenz,  dass  sie  ihre  Freiheit  nach  dem  Begriffe  der 
Selbständigkeit  schlechthin  und  ohne  Ausnahme  bestimmen  solle.  Die  Aeusserung 
und  Darstellung  des  reinen  Ich  im  individuellen  Ich  ist  das  Sittengesetz.  Darob 
die  Sittlichkeit  geht  das  empirische  Ich  vermöge  einer  unendlichen  Annäherung  in 
das  reine  Ich  zurück.  Die  Natur  hat  nur  Sinn  als  Vorbedingung  eines  moralischen 
Lebens;  sie  bietet  die  Mittel  zum  Handeln,  ist  aber  eigentlich  nur  eine  Schranke, 
die  stets  aufzuheben  ist. 

In  der  .Kritik  aller  Offenbarung"  nimmt  Fichte  an,  dass  unter  der  Voraus- 
setzung totaler  Entartung  die  Empfänglichkeit  für  Moralität  mittelst  der  Sinnlich- 
keit vermöge  der  Religion  durch  Wuntier  und  Offenbarungen  angeregt  werden 
könne  (wogegen  Kant  in  seiner  Relig.  innerh.  d.  Grenz,  d.  Vnft.  alle  ausser- 
morali sehen  Elemente  als  statutarische  bezeichnet  und  nicht  als  von  Gott  unmittelbar 
veranstaltete  Heilmittel,  sondern  nur  als  menschliche  Verunstaltungen  der  rein 
moralischen  Religion  gelten  lässt).  Auf  dem  Standpunkt  der  Wissenschaftslehre 
lässt  Fichte  die  Religion  ganz  in  den  Glauben  an  eine  sittliche  Weltordnung  auf- 
gehen. So  insbesondere  in  der  Abhandlung  vom  Jahre  1798  über  den  Grund  unseres 
Glaubens  an  eine  göttliche  Weltregierung  und  iu  der  sich  hieran  anschliessenden 
Vertheidigungssrhrift  gegen  die  Anklage  des  Atheismus.  Der  Gottesglaube  ist 
die  ihm  praktisch  Bich  bewährende  Zuversicht  zu  der  absoluten  Macht  des  Guten. 
.Die  lebendige  und  wirkende  moralische  Ordnung-,  Bagt  Fichte  in  jener  Abhandlung, 
.ist  selbst  Gott;  wir  bedürfen  keineB  anderen  Gottes  und  können  keinen  andern 
fassen.  Es  liegt  kein  Grund  in  der  Vernunft,  aus  jener  moralischen  Weltordnung 
herauszugehen  und  vermittelst  eines  Schlusses  vom  Begründeten  auf  den  Grund 
noch  ein  besonderes  Wesen  als  die  Ursache  derselben  anzunehmen.  Es  ist  gar 
nicht  zweifelhaft,  vielmehr  das  Gewisseste,  was  es  giebt,  ja  der  Grund  aller  andern 
Gewissheit,  das  einzige  absolute  gültige  Objective,  dass  es  eine  moralische  Welt- 
ordnung giebt,  dass  jedem  Individuum  seine  bestimmte  Stelle  in  dieser  Ordnung 


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§  29.   Pichte  and  Fichteaner. 


angewiesen  und  auf  seine  Arbeit  gerechnet  ist,  dass  jedes  seiner  Schicksale,  in- 
wiefern es  nicht  etwa  durch  sein  eigenes  Betragen  verursacht  ist,  Resultat  ist  von 
diesem  Plane,  dass  ohne  ihn  kein  Haar  fällt  von  seinem  Haupte  und  in  seiner 
Wirkungssphäre  kein  Sperling  vom  Dache,  dass  jede  wahrhaft  gute  Handlung 
gelingt,  jede  böse  misslingt,  und  dass  denen,  die  nur  das  Gute  recht  lieben,  alle 
Dinge  zum  Besten  dienen  müssen.  Es  kann  ebensowenig  von  anderer  Seite  dem, 
der  nur  einen  Augenblick  nachdenken  und  das  Resultat  dieses  Nachdenkens  sich 
redlich  gestehen  will,  zweifelhaft  bleiben,  dass  der  Begriff  von  Gott  als  einer 
besonderen  Substanz  unmöglich  und  widersprechend  ist,  und  es  ist  erlaubt,  dies 
aufrichtig  zu  sagen  und  das  Schulgeschwätz  niederzuschlagen,  damit  die  wahre 
Religion  des  freudigen  Rechtthuns  sich  erhebe."  (Forberg  hat  in  dem  Aufsatz, 
welchem  der  fichtesche  vorangeschickt  wurde,  es  für  ungewiss  erklärt,  ob  ein  Gott 
sei,  den  Polytheismus,  falls  nur  die  mythologischen  Götter  moralisch  handelten, 
für  eben  so  verträglich  mit  der  Religion  wie  den  Monotheismus  und  in  künst- 
lerischem Betracht  für  vorzüglicher  erklärt,  die  Religion  auf  zwei  Glaubensartikel 
beschränkt:  den  Glauben  an  die  Unsterblichkeit  der  Tugend,  d.  h.  den  Gluuben, 
dass  es  immer  auf  Erden  Tugend  gab  und  giebt,  und  den  Glauben  an  ein  Reich 
Gottes  auf  Erden,  d.  h.  die  Maxime,  an  der  Beförderung  des  Guten  wenigstens  so 
lange  zu  arbeiten,  als  die  Unmöglichkeit  des  Erfolges  nicht  klar  erwiesen  sei; 
endlich  es  dem  Ermessen  eines  Jeden  anheimgegeben,  ob  er  es  rathsamer  finde,  an 
eineu  alten  Ausdruck  „ Religion"  einen  neuen  verwandten  Begriff  zu  binden  und 
dadurch  diesen  der  Gefahr  auszusetzen,  von  jenem  wieder  verschlungen  zu  werden, 
oder  lieber  den  alten  Ausdruck  gänzlich  beiseite  zu  legen,  aber  dann  zugleich  auch 
bei  sehr  Vielen  schwerer  oder  gar  nicht  Eingang  zu  finden.  Forberg  hat  auch 
später  noch,  in  einem  Briefe  an  Paulus,  Coburg  1821,  in:  Puulus  u.  s.  Zeit,  von 
Reichlin-Meldegg,  Stuttgart  1853,  Bd.  II,  S.  268  f.  vergl.  Hose.  Fichte-Büchlein 
S.  24  f.,  erklärt:  „Des  Glaubens  habe  ich  in  keiner  Lage  meines  Lebens  bedurft 
und  gedenke  in  meinem  entschiedenen  Unglauben  zu  beharren  bis  ans  Ende,  das 
für  mich  ein  totales  Ende  ist"  etc.,  wogegen  Fichte  über  die  Unsterblichkeit,  obschon 
er  sich  zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden  äussert,  doch  stets  affirmativere  An- 
sichten gehegt  hat:  kein  wirklich  gewordenes  Ich  kann  nach  Fichtes  Doctrin  jemals 
untergehen;  wie  das  Sein  ursprünglich  sich  brach,  so  bleibt  es  gebrochen  in  alle 
Ewigkeit.  Wirklich  geworden  im  vollen  Sinne  ist  aber  nur  das  Ich,  das  sich  als 
Leben  des  Begriffs  erscheint,  das  also  etwas  allgemein  und  ewig  Gültiges  aus  sich 
entwickelt  hat.    Vgl.  Löwe,  die  Ph.  Fs,  Stuttg.  1862,  S.  224-230.) 

Die  BBestimmung  des  Menschen*  ist  eine  lebendige  exoterische  Darstellung  des 
fichteschen  Idealismus  in  seinem  Gegensatz  zum  Spinozismus. 

Bald  nach  dem  Atheismus-Streit  ging  Fichte  dazu  über,  den  Ausgangspunkt 
seines  Philosophirens  im  Absoluten  zu  nehmen,  insbesondere  bereits  in  der  Dar- 
stellung der  Wissenschaftslehre  aus  dem  Jahre  1801  (erst  in  den  Werken,  Bd  II, 
1845  gedruckt),  in  welche  auch  einzelne  schleiermachersche  Begriffe  aus  den  Reden 
über  die  Religion  eingegangen  sind,  und  in  der  ,  Anweisung  zum  seligen  Leben". 
Er  erklärt  Gott  für  das  allein  wahrhaft  Seiende,  welches  sich  durch  sein  absolutes 
Denken  die  äussere  Natur  als  ein  unwirkliches  Nicht-Ich  gegenüberstelle.  Zu  den 
beiden  früher  (im  Anschluss  an  Kants  Ethik)  unterschiedenen  praktischen  Lebens- 
standpunkten, dem  des  Genusses  und  dem  des  Pflichtbewusstseins  in  der  Form  des 
kategorischen  Imperativs,  fugt  Fichte  nunmehr  drei  andere  hinzu,  die  ihm  als  höhere 
gelten:  die  positive  oder  schaffende  Sittlichkeit,  die  religiöse  Geraeinschaft  mit 
Gott  und  die  philosophische  Gotteserkenntniss. 

In  der  Schrift:  Grundzüge  <L  gegenw.  Ztalt,  Vorlesg.,  geh.  zu  Berlin  1804 
bis  1805  (Berl.  1806),  unterscheidet  F.  geschicbtsphilosophisch  fünf  Perioden :  1.  die- 


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§  29.    Fichte  und  Fichteaner. 


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jenige,  da  die  menschlichen  Verhältnisse  ohne  Zwang  und  Mühe  durch  den  blossen 
Yernunftinstinct  geordnet  werden;  2.  diejenige,  da  dieser  Instinct  schwächer  ge- 
worden und,  nur  noch  in  wenigen  Auserwählten  Bich  aussprechend,  durch  diese 
Wenigen  in  eine  zwingende  äussere  Autorität  für  alle  verwandelt  wird;  3.  die- 
jenige, da  diese  Autorität  und  mit  ihr  die  Vernunft  in  der  eiuzigen  Gestalt,  in  der 
sie  bis  jetzt  vorhanden,  abgeworfen  wird;  4.  diejenige,  da  die  Vernunft  in  der 
Gestalt  der  Wissenschaft  in  die  Gattung  eintritt;  5.  diejenige,  da  zu  dieser  Wissen- 
schaft sich  die  Kunst  gesellt,  um  das  Leben  mit  sicherer  und  feBter  Hand  nach 
der  Wissenschaft  zu  gestalten,  und  da  diese  Kunst  die  vernunftgemässe  Einrichtung 
der  menschlichen  Verhältnisse  frei  vollendet,  und  der  Zweck  des  gesammten 
Erdenlebens  erreicht  wird,  und  unsere  Gattung  die  höheren  Sphären  einer  andern 
Welt  betritt  Die  letzte  Periode  ist  eine  Rückkehr  zum  Ursprung,  jedoch  so,  dass 
die  Menschheit  sich  mit  Bewusstsein  wieder  zu  dem  macht,  was  sie  ohne  ihr  Zuthun 
gewesen  ist.  F.  findet,  dass  seine  Zeit  in  der  dritten  Epoche  stehe.  —  In  den  im 
Sommersemester  1813  gehaltenen  Vorlesungen  üb.  d.  Staatslehre  erklärt  F.  (Werke, 
Bd.  IV,  508)  die  Geschichte  für  den  Fortgang  von  der  ursprünglichen,  auf  blossem 
Glauben  beruhenden  Ungleichheit  zu  der  Gleichheit,  die  das  Resultat  des  die 
menschlichen  Verhältnisse  durchaus  ordnenden  Verstandes  sei. 

Die  Energie  der  sittlichen  Gesinnung  F.s  hat  sich  zumeist  in  seinen  .Red.  an 
d.  dtsche.  Nation"  bekundet,  die  eine  geistige  Wiedergeburt  erstreben.  ,Lasst  die 
Freiheit  auf  einige  Zeit  verschwunden  sein  aus  der  sichtbaren  Welt;  geben  wir  ihr 
eine  Zuflucht  im  Innersten  unserer  Gedanken,  so  lange,  bis  um  uns  herum  die  neue 
Welt  emporwachse,  die  da  Kraft  habe,  diese  Gedanken  auch  äusserlich  darzu- 
stellen/ Dieses  Ziel  soll  erreicht  werden  durch  eine  völlig  neue,  zur  Selbsttätig- 
keit und  Sittlichkeit  führende  Erziehung,  für  welche  F.  in  Pestalozzis  Pädagogik 
den  Anknüpfungspunkt  findet.  Nicht  durch  die  einzelnen  Vorschläge,  die  grossen- 
theila  überspannt  und  abenteuerlich  sind,  wohl  aber  durch  das  ethische  Princip  hat. 
F.  zur  sittlichen  Erhebung  der  deutschen  Nation  wesentlich  mitgewirkt  und  zumal 
die  Jugend  zum  aufopferungsfreudigen  Kampfe  für  die  nationale  Unabhängigkeit  be- 
geistert. Gegen  Fichtes  früheren  Kosmopolitismus,  der  ihn  noch  1804  in  dem 
Staate,  der  jedesmal  auf  der  Höhe  der  Cultur  stehe,  das  wahre  Vaterland  des  Ge- 
bildeten finden  Hess,  contrastirt  scharf  die  in  den  Reden  sich  bekundende  warme 
Liebe  zu  der  deutschen  Nation,  die  sich  jedoch  bis  zu  einem  überschwenglichen, 
den  Gegensatz  des  Deutschen  und  Fremden  nahezu  mit  dem  des  Guten  und  Bilsen 
identificirenden  Cultus  des  Deutschthums  potenzirt 

F.s  spätere  Lehre  ist  eine  Fortbildung  der  früheren  in  der  nämlichen  Rich- 
tung, in  welcher  Sendling  über  Fichte  hiuausging.  Die  Differenz  zwischen  F.s 
früherem  und  späterem  Philosophiren  ist  vielleicht  in  der  Sache  geringer,  als  in 
der  Lehrform.  Sendling,  der  seinen  eigenen  Einfluss  auf  F.s  spätere  Gedanken- 
bildung wohl  überschätzt  hat,  mag  die  Differenz  überspannt  und  vielleicht  F.s 
früheren  Standpunkt  zu  subjectivistisch  gedeutet  haben.  Andererseits  aber  ist  nicht 
zu  verkennen,  dass  F.,  von  Kants  transscendentaler  Apperception,  welche  das  reine 
Selbstbewusstsein  jedes  Individuums  ist,  ausgehend,  mehr  und  mehr  in  dem  Begriff 
des  alle  Individuen  in  sich  befassenden  Absoluten  das  Princip  seines  Philosophirens 
gefunden  hat  und  dass  demgemäss  sein  späteres  Lehrgebäude  auch  materiell  von 
dem  früheren  gar  nicht  unbeträchtlich  verschieden  ist. 

Zu  der  von  Fichte  in  der  ,  Wissenschaftslehre  *  dargelegten  Doctrin  hat  sich 
eine  Zeit  lang  auch  Reinhold  bekannt,  der  später  theils  bardilische,  theils 
jacobische  Ansichten  annahm;  Friedr.  Carl  Forberg  (1770-1848)  und  Friedr. 
Imm.  Niethammer  (1766—1848)  schlössen  sich  an  eben  jene  Lehre  an.  Johannes 


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§  29.    Fichte  and  Fichteaner. 


Baptista  Schad,  geb.  1758  z.  Mürzbach  zwischen  Coburg  u.  Bamberg,  vom  9.  J 
im  Benedictinerkloster  Banz  erzogen,  dann  in  Bamberg  von  Jesuiten  unterrichtet, 
trat  1778  als  Novize  in  das  Kloster  Banz  ein  und  entsprang  1798  aus  demselben,  nach- 
dem er  wegen  seines  gegen  das  wüste  Leben  im  Kloster  geäusserten  Abscheues  und 
wegen  seiner  freieren  Ansiebten  hart  behandelt  worden  war.  Bald  darauf  habilitirte 
er  eich  in  Jena,  wurde  1802  daselbst  ausserord.  Prof.  und  ging  1804  als  ord.  Prof. 
der  Philos.  nach  Charkow.  1817  erhielt  er  daselbst  plötzlich  wegen  einiger  Stellen 
in  seinen  Schriften  die  Entlassung  und  wurde  aus  Russland  verwiesen.  Nach  Jena 
zurückgekehrt  starb  er  daselbst  1834.  Vgl.  Scbads  Lebens-  u.  Kloschergesch.  v.  ihm 
selbst  beschrieben,  2.  Bd.,  Erf.  1803—1804,  2.  Aufl.:  Schads  Lebensgesch.,  Altenb. 
1828.  Als  Anhänger  Fichtes  zeigte  sich  Schad  in  den  Schriften:  Gemeinfassliche 
Darstellung  des  fichtischen  Systems  u.  der  daraus  hervorgeh.  Religionstheorie, 
3  Bde.,  Erf.  1800-1801;  Grundriss  der  Wissenschaftel.,  Jena  1800;  Neuer  Grund- 
riss  der  trausscendental.  Logik  u.  der  Metaphys.  nach  d.  Principien  der  Wissen- 
schaftsl ,  Jena  1801;  Absolute  Harmonie  des  fichtischen  Systems  mit  der  Relig., 
Erf.  1802.  Der  Lehre  Sendlings  nähert  sich  Schad  in:  System  der  Natur  u. 
Transscendentalphilos.,  2.  Bd.,  Landshut  1803-1804.  Gottl.  Ernst  Aug.  Mehmel 
(geb.  1761,  gest.  1840  in  Erlangen)  hat  in  Schriften  und  Vorlesungen  sich  im 
Wesentlichen  Fichte  angeschlossen. 

Von  Fichte  angeregt,  ging  Fried r.  Schlegel  (1772 — 1829),  indem  er  an  die 
Stelle  des  reinen  Ich  das  geniale  Individuum  setzte,  zu  einem  Cultus  der  Genialität 
fort.  Im  Anschluss  an  Jacobi  gegen  den  Formalismus  des  kategorischen  Impera- 
tivs (mit  der  Wendung,  dem  Kant  sei  .die  Jurisprudenz  auf  die  inneren  Theile 
geschlagen*)  polemisirend,  findet  er  in  der  Kunst  die  wahre  Erhebung  über  das 
Gemeine,  wozu  sich  die  pflichttreue  Arbeit  nur  wie  die  getrocknete  Pflanze  zur 
frischen  Blume  verhalte.  Indem  dos  Genie  sich  über  jede  für  das  gemeine  Bewusst- 
sein  geltende  Schrauke  erhebt  und  über  alles,  was  es  selbst  anerkennt,  sich  wie- 
derum erhebt,  ist  sein  Verhalten  das  ironische,  indem  es  ihm  nicht  Ernst  war 
mit  der  vorhergehenden  Hingabe.  Eine  positive  Befriedigung  kennt  diese  .Ironie* 
nicht,  uud  die  Erhebung,  durch  welche  jedesmal  das,  was  früher  ein  Ziel  ernsten 
Strebens  war,  zum  Object  heiteren  Spiels  herabgesetzt  wird,  besteht  ihr  nicht  in 
der  tbatkräftig  fortschreitenden  Arbeit  des  Geistes,  sondern  nur  in  der  stets  er- 
neuten Negation,  die  alle  Besonderheit  in  den  Abgrund  des  Absoluten  versenkt. 
Verwandt  mit  Schlegels  Deukrichtuug  ist  die  von  Novalis  (Friedr.  v.  Hardenberg, 
1772-1801,  s.  Fortlage,  Sechs  philos.  Vorträge,  2.  Ausg.,  Jena  1872,  S.  73—114: 
üb.  Nov.  u.  d.  Romantik).  Ins  Extrem  treibt  Schlegel  das  ironische  Verhalten  und 
die  Polemik  gegen  die  Sitte  in  dem  Roman:  Lucinde,  Berl.  1799,  durch  die  Be- 
kämpfung der  Schamhaftigkeit  und  das  „Lob  der  Frechheit',  wo  bei  dem  Mangel 
eines  positiven  sittlichen  Gehaltes  die  berechtigte  Polemik  gegen  einen  rigoristischen 
Formalismus  in  eine  Bittenlose  Frivolität  umschlägt.  (Schleiermacher  hat  seine 
idealere  Auffassung  des  Rechts  der  Individualität  in  den  Roman  hineingetragen.) 
Auch  im  Athenäum,  von  ihm  uud  seinem  Bruder  August  Wilhelm  1798—1800 
herausgegeben,  finden  wir  in  Form  von  Fragmenten  seine  früheren  philosophischen 
Anschauungen.  Später  fand  F.  Schlegel  im  Katholicismus  die  Befriedigung,  die 
ihm  seine  Philosophie  nicht  dauernd  zu  gewähren  vermochte,  und  näherte  sich  von 
dem  Standpunkte  des  Subjectivismus  ans  mehr  einem  Pantheismus  und  einer 
theosophisehen  Mystik,  so  namentlich  in  den  Vorlesungen  über  Philosophie  des 
Lebens,  1828,  und  in  denen  über  Philosophie  der  Geschichte.  —  Trotz  der  Beziehung 
zu  Fichtes  Lehre  ist  die  schlegelsche  Romantik  und  Ironie,  sofern  sie  die  Willkür 
des  Subjects  an  die  Stelle  des  Gesetzes  im  Denken  und  Wollen  treten  lässt,  nicht 


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§  80.  Schölling. 


317 


eine  Conseqaenz,  sondern  (wie  Lasso  n  in  seiner  Schrift  üb.  Fichte  S  240  sie  richtig 
bezeichnet)  .das  directe  Widerspiel  des  fichteschen  Geistes".  (Vgl.  J.  H.  Schlegel, 
d.  neuere  Romantik  and  ihre  Beziehung  z.  fichteBcheo  Philos.,  Rastatt  1862.) 

§  30.  Friedrich  Wilhelm  Joseph  Schelling  (später  von 
Schelling,  geb.  1775,  gest.  1854)  hat  die  fichtesehe  Ichlehre,  von  der 
er  ausging,  durch  Verschmelzung  mit  dem  Spinozismus  zu  dem 
Identitätssystem  umgestaltet,  aber  von  den  beiden  Seiten  des- 
selben, der  Lehre  von  der  Natur  und  vom  Geist,  vorzugsweise  die 
erstere  ausgebildet.  Object  und  Subject,  Reales  und  Ideales,  Natur 
und  Geist  sind  identisch  im  Absoluten.  Wir  erkennen  diese  Identität 
mittelst  intellectueller  Anschauung.  Die  ursprüngliche  ungeschiedene 
Einheit  oder  Indifferenz  tritt  in  die  polarischen  Gegensätze  des 
positiven  oder  idealen  und  des  negativen  oder  realen  Seins  aus- 
einander. Der  negative  oder  reale  Pol  ist  die  Natur.  Der  Natur 
wohnt  ein  Lebensprincip  inne,  welches  die  unorganischen  und  die 
organischen  Wesen  vermöge  einer  allgemeinen  Continuität  aller  Natur- 
ursachen zu  einem  Gesammtorganismus  verknüpft.  Dieses  Princip 
nennt  Schelling  die  Weltseele.  Die  Kräfte  der  unorganischen  Natur 
wiederholen  sich  in  höherer  Potenz  in  der  organischen.  Der  positive 
oder  ideale  Pol  ist  der  Geist.  Die  Stufen  seiner  Entwickelung  sind: 
das  theoretische,  das  praktische  und  das  künstlerische  Verhalten, 
d.  h.  die  Hineinbildung  des  Stoffes  in  die  Form,  der  Form  in  den 
Stoff,  uud  die  absolute  Ineinsbildung  von  Form  und  Stoff.  Die  Kunst 
ist  bewusste  Nachbildung  der  bewusstlosen  Naturidealität,  Nach- 
bildung der  Natur  in  den  Culminationspunkten  ihrer  Entwickelung; 
die  höchste  Stufe  der  Kunst  ist  die  Aufhebung  der  Form  durch  die 
vollendete  Fülle  der  Form. 

Durch  successive  Mitaufnahme  mancher  Philosopheine  von  Piaton 
und  Neuplatonikern,  Giordano  Bruno,  Jakob  Böhme  und  Anderen 
hat  Schelling  später  eine  synkretistische  Doctrin  gebildet,  die  immer 
mystischer  geworden  ist,  auf  den  Entwickelungsgang  der  Philosophie 
aber  einen  weit  geringeren  Einfluss  als  das  anfängliche  Identitäts- 
system gewonnen  hat.  Schelling  hat  nach  Hegels  Tode  das  Identitäts- 
systeni,  das  von  Hegel  nur  auf  eine  logische  Form  gebracht  worden 
sei,  zwar  nicht  für  falsch,  aber  für  einseitig  erklärt  und  als  negative 
Philosophie  bezeichnet,  die  nur  im  Rationalen  bleibe  und  nicht  von 
dem  zu  Denkenden  aus  das  Existirende  begreifen  könne.  In  dem 
Existirenden  ist  nicht  nur  Vernunft,  sondern  auch  Vernunftwidriges, 
und  so  ist  es  durch  die  Erfahrung  aufzunehmen  und  nicht  aus  reiner 
Vernunft  zu  erfassen.  Deshalb  bedarf  die  negative  oder  rationale 
Philosophie  einer  Ergänzung  durch  eine  positive  Philosophie, 
nämlich  durch  die  „Philosophie  der  Mythologie"  und  „Philosophie  der 


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$  30.  Schelling. 


Offenbarung".  Es  geht  freilich  diese  höhere  Stufe  der  Philosophie  bei 
Schelling  in  Theosophie  über  und  ist  eine  Speculation  über  die  Potenzen 
und  Personen  der  Gottheit,  wodurch  der  Gegensatz  des  petrinischen 
und  paulinischen  Christenthums  oder  des  Katholicismus  und  Protestan- 
tismus in  einer  Johanneskirche  der  Zukunft  aufgehoben  werden  soll. 
—  Der  Erfolg  ist  weit  hinter  Schöllings  grossen  Verheissungen  zurück- 
geblieben. 

Schelling«  Werke  bat  in  einer  Gesammtausgabc,  welche  ausser  dem  früher  Ge- 
druckten auch  vieles  bis  dahin  Ungedruckte  enthält,  sein  Sohn  K.  F.  A.  Schelling  edirt, 
L  Abth.  10  Bde.,  2.  Abth.  4  Bde.,  Stuttg.  u.  AuRsb.  1 856  ff.  Von  G.  L.  Plitt  in 
Erlangen  ist  hrsgeg.  worden:  Aus  Seh.s  Leb.,  in  Briefen,  Bd.  I,  1775 — 1803,  Lpz.  1869; 
Bd.  II,  1803—20,  Leipz.  1870.  Schelling  ist  auch  der  Verf.  der  „Nachtwachen  von 
Bonaventura",  Penig  1805,  die  eine  pessimistische,  ja  nihilistische  Tendenz  haben.  Seine 
hauptsächlichsten  Schriften  s.  unten  bei  der  Darstellung  seiner  Lehre. 

Ueber  Schelling  handelt  insbesondere  C.  Rosenkranz,  Schelling,  Vorlesgn.,  geh. 
im  Sommer  1842  an  der  Universität  zu  Königsberg,  Danzig  1843.  Vgl.  die  Dar- 
stellungen seines  Systems  bei  den  Historikern  Michelet,  Erdmann  etc.,  ferner  unter  den 
älteren  Schriften  namentlich  die  von  Jak.  Fries  üb.  Reinhold,  Fichte  und  Schelling, 
Lpz.  1803,  F.  Köppen,  Sch.s  Lehre  od.  das  Ganze  d.  Philos.  des  absol.  Nichts,  nebst 
drei  Briefen  von  F.  H.  Jacobi,  Hamburg  1803,  wie  auch  Jacobis  Schrift  v.  d.  göttl. 
Dingen,  Lpz.  1811  (s.  ob.  §  28,  S.  297),  von  neueren  mehrere  bei  der  Eröffnung  der 
Vorlesungen  Seh.»  in  Berlin  erschienene  Streitschriften:  Schelling  u.  d.  Offenbarg.,  Krit. 
d.  neuest.  Reactionsversuchs  geg.  d.  freie  Philos.,  Lpz.  18-12,  (Glaser)  Differenz  d. 
schellingschen  u.  hegelsehen  Philo».,  Leipz.  1842,  Marheineke,  Krit.  d.  ach.schen  Offen- 
barungsphil., Berl.  1843.  Salat,  Seh.  in  München,  Heidelb.  1845.  L.  Noack,  Seh.  u.  d. 
Philos.  der  Romantik,  Berlin  1859.  Ad.  Planck.  Schellinga  nachgelassene  Werke  u. 
ihre  Bedeutung  für  Philos.  u.  Theologie,  1858.  Mignet.  Notice  historique  sur  la  vie  et 
lea  travaux  de  M.  de  Sch.,  Paris  1858.  E.  A.  Weber,  Examen  critique  de  la  philos. 
religieuse  de  Sch.,  these,  Strassb.  1860.  Abhandlgn.  von  Hub.  Beckers  in  den  Abh. 
der  bayer.  Akad.  d.  Wiss.  (üb.  die  Bedeutung  d.  sch.schen  Metaph.,  e.  Beitrag  z.  tieferen 
Verständn.  d.  Potenzen-  u.  Principienlehre  Sch.s,  in:  Abh.  der  philos.-philol.  Cl.  der 
Akad.  d.  Wiss..  Bd.  IX,  München  1863,  S.  399—546;  üb.  d.  wahre  u.  bleibende  Bedeutg. 
d.  Naturphilos.  Sch.s,  ebd.  Bd.  X,  2,  Münch.  1865,  S.  401—449:  die  Lnsterblichkeita- 
lehrc  Sch.»  im  ganz.  Zusammenhange  ihrer  Entwiekel.  dargest.,  ebd.  Bd.  XL  1,  Münch. 
1866,  S.  1  — 112,  v.  dems.  Sch.s  Geisteaentwickelung  in  ihr.  inneren  Zusammenb.,  Rede, 
Münch.  1875),  v.  Ehrenfenchter.  Dorner,  Hamberger  in  den  Jahrb.  f.  deutsche  Theol., 
auch  in  deu  Erlangen  1863  ersch.  Abhandig.:  Christenth.  u.  moderne  Cultur,  Hoffmann 
im  Athenaeum,  Brandis  (Gedächtnissrede)  in  den  Abh.  d.  Berl.  Akad.  1855,  Böckh,  üb. 
Sch.s  Verhältn.  zu  Leibolz,  in  den  Monatsber.  d.  Berl.  Akad.  d.  Wiss.  1855,  kl.  Sehr. 
Bd.  LT.  E.  v.  Hartmann,  Sch.s  positive  Philos.  als  Einheit  v.  Hegel  u.  Schopenhauer, 
Berl.  1869.  J.  IL  Fichte,  üb.  d.  Unterschied  zwisch.  ethisch,  u.  naturalist.  Theism.,  mit 
Bez.  auf  Seh.s  WW..  in:  Vermischte  Schriften,  Bd.  1,  1869.  J.  G.  T.  F.  Helmes,  d. 
Zeitgeist,  m.  besond.  Rücks.  auf  d.  Weltanschauung  Sch.s  in  dess.  letztem  Syst,  Münch. 
1874.  Kuno  Fischer,  F.  W.  Schelling,  im  VI.  Bd.  seiner  Gesch.  der  neueren  Philos., 
der  aber  nicht  auf  die  positive  Philos.  Sch.s  eingeht.  H.  v.  Stein.  Sch.,  populür- 
wissenschaftl.  Vortr.,  Rostock  1875.  O.  Pfleidcrer,  Gedächtnissrede,  geh.  zu  Jena  1875. 
Tb.  Hoppe,  d.  Philo».  Sch.s  u.  ihr  Verb,  zum  Christenth.,  Dis«.,  Rostock  1875.  Dorner, 
Sch.,  zur  Erinn.  an  s.  100j.  Geburtst.,  in  Jahrbb.  f.  deutsche  Th.  1875.  R.  Zimmer- 
mann, Sch.s  Philos.  der  Kunst,  Wien  1876.  J.  Klaiber,  Hölderlin,  Hegel  B.  Schelling 
in  ihren  schwäbischen  Jugendjahren,  Stuttgart  1877.  <  Histamin  Frantz,  Sch.s  positive 
Philos.,  3  Theile,  Göthen  1879—1880.  K.  Koeber,  d.  Grundprincipien  der  schellingschen 
Naturphil.  (Samml.  gemeinverst.,  wissenschaftl.  Vorträge),  Berl.  1882.  John  Watson, 
Schellinga  transscendental  Idealism,  Chicago  1882.  Hans  Heussler,  Sch.»  Entwicklungsl., 
in:  Rhein.  Blätter  f.  Erzieh,  u.  Unterr.,  1882.  Hnr.  Lisco,  d.  Geachichtsphilos.  Sehel- 
lings  1792—1809,  I.-D.,  Jena  1884.  Rieh.  Gebel,  Sch.s  Theorie  vom  Ich  des  All-Einen 
u.  deren  Widerlegung,  Leipz.  I.-D.,  Berl.  1885. 

Sohn  eines  württembergischen  Landgeistlichen,  geb.  zu  Leonberg  am  27.  Jan. 
1776,  trat  Schelling,  dessen  glänzende  Anlagen  sich  früh  entwickelten,  bereits  in 


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§  30.  Schelling. 


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seinem  16.  Lebensjahre,  zu  Michaelis  1790,  in  das  theologische  Seminar  zu  Tübingen. 
Er  trieb  ausser  den  theologischen  Studien  philolugische  und  philosophische,  dann 
1796  und  97  zu  Leipzig  besonders  naturwissenschaftliche  und  mathematische.  Auf 
Goethes  Veranlassung  1798  nach  Jena  berufen,  doeirte  er  hier  neben  Fichte  und 
ebendaselbst  auch  noch  nach  dessen  Abgange.  Hier  lernte  er  bald  die  geistvolle 
Caroline,  die  Frau  A.  W.  Schlegels  kennen,  geb.  Michaelis,  verwittwete  Böhmer, 
die  er,  nachdem  sie  sich  von  Schlegel  hatte  scheiden  lassen,  1803  heirathete.  Sie 
starb  schon  1809.  (S.  Caroline.  Briefe  an  ihre  Geschwister,  ihre  Tochter  Auguste, 
die  Familie  Gotter,  F.  L.  W.  Meyer,  A.  W.  und  Fr.  Schlegel,  Schelling  und  A., 
herausg.  von  G.  Waitz,  Lpz.  1871.)  Sch.  erhielt  1803  eine  Professur  der  Philosophie 
in  Würzburg,  die  er  bis  1806  bekleidete,  wurde  dann  Mitglied  der  Akademie  der 
Wissenschaften  in  München  (später  deren  beständiger  Secretair),  las  in  Erlangen 
1820—26,  ward  1827,  als  unter  Aufhebung  der  Universität  zu  Landshut  die  zu 
München  gegründet  wurde,  an  derselben  Professor.  Von  da  1841  nach  Berlin  als 
Mitglied  der  Akademie  der  Wissenschaften  berufen,  hielt  er  an  der  dortigen  Uni- 
versität einige  Jahre  lang  Vorlesungen  über  Mythologie  und  Offenbarung,  gab  aber 
bald  diese  Lehrthätigkeit  wieder  auf.  Kr  starb  am  20.  August  1854  im  Badeorte 
Kagaz  in  der  Schweiz. 

In  seiner  Magisterdissertation  „Antiquissirni  de  prima  malorum  origine  philo- 
sophematis  explicandi  tentamen  criticum*  (1792)  gab  er  der  biblischen  Erzählung 
vom  Sündenfall  eine  allegorische  Deutung,  im  Anschluss  an  herdersche  Ideen.  In 
gleichem  Geiste  war  die  Abhandlung  geschrieben,  die  1793  in  Paulus'  Memorabilien 
(Stück  V,  S.  1—65)  erschien:  „über  Mythen,  histor.  Sagen  und  Philosopheme  der 
ältest.  Welt".  Der  neutestarnentlichcn  Kritik  und  ältesten  Kirchengeschiehte  gehört 
die  Abhandlung  an:  »de  Marcione  Paulinarum  epistolarum  emendatore" ,  1795. 
Immer  mehr  aber  wandte  sich  Sch.s  Interesse  der  Philosophie  zu.  Er  las  Kants 
Vernunftkritik,  Ueinholds  Elementarphilosophie,  Maimons  neue  Theorie  des  Denkens, 
G.  E.  Schnlzes  Aenesidemns  und  Fichtes  Recension  dieser  Schrift  und  dessen  Schrift 
über  den  Begriff  der  Wissenschaftslehre,  und  schrieb  1794  die  (zu  Tübingen  1795 
ersch.)  wesentlich  fichtesche  Gedanken  bringende  Schrift:  „Ueber  die  Möglichk. 
einer  Form  d.  Philosophie  überhaupt",  worin  er  zu  zeigen  sucht,  dass  weder 
ein  materialcr  Grundsatz,  wie  Reinholds  Satz  des  Bewnsstseins,  noch  ein  bloss 
formaler,  wie  der  Satz  der  Identität,  sich  zum  Princip  der  Philosophie  eigne;  dieses 
Princip  müsse  in  dem  Ich  liegen,  in  welchem  das  Setzen  und  das  Gesetzte  zu- 
sammenfallen. In  dem  Satze:  Ich  =  Ich,  bedingen  Form  und  Inhalt  sich  gegen- 
seitig. 

In  der  nächstfolgenden  Schrift:  „Vom  Ich  als  Princip  der  Philosophie 
od.  üb.  das  Unbedingte  im  menschl.  Wissen-,  Tüb.  1795  (wiederabgedr.  in 
den  .philos.  Schriften",  Landshut  1809),  bezeichnet  Sch.  als  das  wahre  Princip  der 
Philosophie  das  absolute  Ich.  Das  Subject  ist  das  durch  ein  Object  bedingteich; 
4er  Gegensatz  zwischen  Subject  und  Object  setzt  ein  absolutes  Ich  voraus,  welches 
nicht  durch  ein  Object  bedingt  ist,  sondern  alles  Object  ausschliesst.  Das  Ich  ist 
das  Unbedingte  im  menschlichen  Wissen;  durch  das  Ich  selbst  und  durch  Entgegen- 
setzung durch  das  Ich  muss  sich  der  ganze  Inhalt  alles  Wissens  bestimmen  lassen. 
Die  kantische  Frage:  wie  sind  synthetische  Urtheile  a  priori  möglich?  ist  in  ihrer 
höchsten  AbBtractiou  vorgestellt,  keine  andere  als  diese:  wie  kommt  das  absolute 
Ich  dazu,  aus  sich  selbst  herauszugehen  und  sich  ein  Nicht-Ich  schlechthin  entgegen- 
zusetzen? Im  endlichen  Ich  ist  die  Einheit  des  Bewnsstseins,  d.  h.  Persönlichkeit; 
das  unendliche  Ich  aber  kennt  gar  kein  Object,  also  auch  kein  Bewusstsein  und 
keine  Einheit  des  Bewnsstseins,  keine  Persönlichkeit;  die  Causalität  des  unendlichen 


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§  80.  Schölling. 


Ich  kann  nicht  als  Moralität,  Weisheit  etc.,  sondern  nur  absolute  Macht  vorgestellt 
werden. 

In  den  „philos.  Briefen  üb.  Dogmatismus  und  Kriticismus",  in  Niet- 
hammers philos.  Journal  1796  (wiederabgedr.  in  den  „philos.  Schriften',  Landshut 
1809),  tritt  Sch.  den  Kantianern  entgegen,  die  er  im  Begriff  findet,  „aus  den  Tro- 
phäen des  Kriticismus  ein  neues  System  dea  Dogmatismus  zu  erbauen,,  an  dessen 
Stelle  wohl  jeder  aufrichtige  Denker  das  alte  Gebäude  zurückwünschen  möchte". 
Sch.  sucht  (besonders  bei  dem  moralischen  Beweise  für  das  Dasein  Gottes)  nach- 
zuweisen, dass  der  Kriticismus  in  dem  Sinne,  wie  die  meisten  Kantianer  denselben 
verstehen,  nur  ein  widerspruchsvolles  Mittelding  von  Dogmatismus  und  Kriticismus 
sei;  recht  verstanden,  sei  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  gerade  dazu  bestimmt, 
die  Möglichkeit  zweier  einander  entgegengesetzter  Systeme,  welche  beide  den  Wider- 
streit zwischen  Subject  ond  Object  durch  Reduction  des  einen  auf  das  andere  auf- 
heben, nämlich  des  Idealismus  und  des  Realismus,  ans  dem  Wesen  der  Vernunft 
abzuleiten.    „Uns  Allen",  sagt  Sch.,  wohnt  ein  geheimes,  wunderbares  Vermögen 
bei,  uns  aus  dem  Wechsel  der  Zeit  in  unser  innerstes,  von  allem,  was  von  aussen- 
her  hinzukam,  entkleidetes  Selbst  zurückzuziehen  und  da  unter  der  Form  der  Un- 
wandelbarkeit das  Ewige  anzuschauen;  diese  Anschauung  ist  die  innerste,  eigenste 
Erfahrung,  von  welcher  allein  alles  abhängt,  was  wir  von  einer  übersinnlichen  Welt 
wissen  und  glauben".    Schelling  nennt  dieselbe  die  „intellectuelle  Anschauung". 
(Freilich  ist  das,  was  er  hier  beschreibt,  vielmehr  eine  Abstraction,  als  eine  An- 
schauung.) Spinoza,  meint  Schelling,  objectivirt  dogmatisch  oder  realistisch  diese 
Anschauung  und  glaubt  daher  .(gleich  dem  Mystiker)  sich  im  Absoluten  zu  ver- 
lieren; der  Idealist  aber  erkennt  sie  als  Anschauung  seiner  selbst;  sofern  wir 
streben,  das  Absolute  in  uns  zu  realisiren,  sind  nicht  wir  in  der  Anschauung  der 
objectiven  Welt,  sondern  ist  Bie  in  dieser  unserer  Anschauung  verloren,  in  welcher 
Zeit  und  Dauer  für  uns  dahinschwinden  und  die  reine  absolute  Ewigkeit  in  uns 
ist  —  Die  Quelle  des  Selbstbewusstseins  ist  das  Wollen.     In»  absoluten  Willen 
wird  der  Geist  seiner  selbst  unmittelbar  inne,  und  er  hat  eine  intellectuelle  An- 
schauung seiner  selbst    Obwohl  Kaut  die  Möglichkeit  einer  intellectuellen  An- 
schauung negirt.  so  glaubt  doch  Schelling  (in  den  1796  und  97  geschriebenen, 
gleichfnlls  zuerst  in  dem  von  Fichte  und  Niethammer  herausg.  philos.  Journal  er- 
schienenen, in  den  „philos.  Schriften*  1809  wieder  abgedr.  „Abhandlungen  zur 
Erläuterung  des  Idealismus  der  WissenschaftBlehre  )  mit  dem  Geist  seiner 
Lehre  sich  in  Uebereinstimmung  zu  finden,  da  Kant  selbst  das  Ich  in  dem  Satze: 
Ich  denke,  für  eine  rein  intellectuelle  Vorstellung  erkläre,  die  allem  empirischen 
Denken  nothweudig  vorangehe.    Die  von  Reinhold  aufgeworfene  Frage,  ob  Fichte 
durch  seine  Behauptung,  dass  das  Princip  der  Vorstellungen  lediglich  ein  inneres 
sei,  von  Kant  abweiche,  beantwortet  Schelling,  indem  er  sagt:  „Beide  Philosophen 
sind  einig  in  der  Behauptung,  dass  der  Grund  unserer  Vorstellungen  nicht  im  Sinn- 
lichen, sondern  im  Obersinnlichen  liege.   Diesen  übersinnlichen  Grund  muss  Kant 
in  der  theoretischen  Philosophie  Symbol isiren  ond  spricht  daher  von  Dingen 
an  sich  als  solchen,  die  den  Stoff  zu  unseren  Vorstellungen  geben.    Dieser  sym- 
bolischen Darstellung  kann  Fichte  entbehren,  weil  er  die  theoretische  Philosophie 
nicht,  wie  Kant,  getrennt  von  der  praktischen  behandelt.   Denn  eben  darin  besteht 
das  eigenthümliche  Verdienst  des  letzteren,  dass  er  das  Princip,  das  Kant  an  die 
Spitze  der  praktischen  Philosophie  stellt,  die  Autonomie  des  Willens,  zum 
Princip  der  gesammten  Philosophie  erweitert  und  dadurch  der  Stifter  einer  Philo- 
sophie wird,  die  man  mit  Recht  höhere  Philosophie  heissen  kann,  weil  sie  ihrem 
Geiste  nach  weder  theoretisch  noch  praktisch  allein,  sondern  beides  zugleich  ist". 
Von  der  (historisch  richtigen)  Auffassung  der  kantischen  .Dinge  an  sich*  im  eigent- 


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§  30.  Schelling. 


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liehen  Sinne  redet  Schelling  mit  derselben  Verachtung,  wie  von  der  (aristotelischen 
im  Wesentlichen  gleichfalls  historisch  richtigen)  Auffassung  der  platonischen  Ideen 
als  Substanzen,  indem  er  die  (grossentheils  allerdings  unleugbar  vorhandenen  und 
auch  von  Anderen  bereits  aufgezeigten,  theilweise  jedoch  nur  vermeintlichen,  durch 
Sendlings  eigenes  Missveretändniss  erzeugten)  Widersprüche  urgirt,  in  welche  jene 
Auffassung  sich  verwickele.  „Die  unendliche  Welt  iat  ja  nichts  Anderes,  als  unser 
schaffender  Geist  selbst  in  unendlichen  Productionen  und  Reproductionen.  Nicht 
also  Kants  Schüler!  Ihnen  ist  die  Welt  und  die  ganze  Wirklichkeit  etwas,  das, 
unserem  Geiste  ursprünglich  fremd,  mit  ihm  keine  Verwandtschaft  hat,  als  die  zu- 
fällige, dass  sie  auf  ihn  wirkt  Nichtsdestoweniger  beherrschen  sie  eine  solche 
Welt,  die  für  sie  doch  nur  zufällig  ist  und  die  ebenso  gut  auch  anders  sein  konnte, 
mit  Gesetzen,  die,  sie  wissen  nicht  wie  und  woher,  in  ihrem  Verstände  eingegraben 
sind.  Diese  Begriffe  und  diese  Gesetze  des  Verstandes  tragen  sie,  als  höchste 
Gesetzgeber  der  Natur,  mit  vollem  Bewußtsein,  dass  die  Welt  aus  Dingen  an  sich 
besteht,  doch  auf  diese  Dinge  an  sich  über,  wenden  sie  ganz  frei  und  selbstbeliebig 
an,  und  diese  Welt,  diese  ewige  und  nothwendige  Natur,  gehorcht  ihrem  speculativen 
Gutdünken?  Und  dies  soll  Kant  gelehrt  haben?  —  Ks  hat  nie  ein  System  existirt, 
das  lächerlicher  und  abenteuerlicher  gewesen  wäre.**) 

Im  Jahre  1797  erschien  zu  Leipzig  der  erste  (und  einzige)  Theil  der  „Ideen 
zu  einer  Philos.  d.  Natur"  (2.  Aufl.  Landshut  1803),  im  Jahre  1798  zu  Hamburg 
die  Schrift:  „Von  der  Weltseele,  eine  Hypothese  d.  höh.  Physik  z.  Krklärung 
des  allgemeinen  Organismus*  (der  2.  Aufl.,  welche  zu  Hamburg  1806  erschien,  wie 
auch  der  3.,  Hamb.  1809,  ist  eine  Abh.  „über  die  Verhältnisse  des  Realen  und  des 
Idealen  in  der  Natur  od.  Entwickig.  der  erst.  Grundsätze  der  Naturphilos.  an  den 
Principien  der  Schwere  und  des  Lichts*  beigefügt).  Im  folgenden  Jahre  erschien: 
„Erster  Entwurf  e.  Systems  d.  Naturphilos.",  Jena  u.  Lpz.  1799,  nebst 
der  kleinen  Schrift:  Einleitung  zu  diesem  Entwurf,  oder:  über  den  Begriff  der 
speculativ.  Physik  u.  die  innere  Organisation  e.  Systems  dieser  Wissensch.  Dann 
folgt  das  „System  des  tran'ss cendentalen  Idealismus",  Tübingeu  1800.  Sch. 
betrachtet  in  diesen  Schriften  das  Subjective  oder  Ideelle  und  das  Objective  oder 


*)  Diese  Kritik  trifft  nur  halb  zu,  sofern  nicht  auf  die  Dinge  an  sieh  selbst, 
sondern  auf  die  durch  sie  in  uns  hervorgerufenen  Vorstellungen  die  apriorischen 
Formen  und  Gesetze  übertragen  werden  sollen ;  da  aber  diese  Vorstellungen,  sofern 
sie  von  Dingen  an  sich  abhängen,  auch  durch  diese  mitbestimmt  sein  müssen,  so 
liegt  in  der  That  in  der  Doctrin  Kants  und  seiner  strengen  Anhänger  die  Un- 
gereimtheit, dass  eben  diese  Vorstellungen  doch  zugleich  auch  widerstandslos,  ab 
ob  sie  gar  nicht  durch  die  Dinge  an  sich  mitbestimmt  wären,  den  Gesetzen  gehorchen 
Bollen,  welche  das  Ich  „ganz  frei  und  selbstbeliebig"  aus  sich  erzeugt  (vgl.  oben 
S.  256).  Wenn  übrigens  Schelling  selbst  dafür  hält,  es  gebe  für  unsere  Vorstellung 
kein  Original  ausser  ihr,  und  es  finde  zwischen  dem  vorgestellten  und  wirklichen 
Gegenstand  gar  kein  Unterschied  statt,  so  beweist  dies  nur,  dass  er  —  ebenso  wie 
später  Hegel  und  Andere  —  Kants  erkenntnisstheoretisches  Problem  nicht  gelöst 
und  nicht  einmal  verstanden  hat.  Ein  wesentlich  anderes  Problem,  nämlich  das 
des  realen  Verhältnisses  zwischen  Natur  und  Geist,  hat  sich,  ihm  selbst  unbewusst, 
in  seinem  Philosophiren  jenem  erkenntnisatbeoretischen  Probleme  untergeschoben 
und  ist  von  ihm  geistvoll  und  tief  in  seinen  nächstfolgenden  Schriften  behandelt 
worden,  während  jeneB  ungelöst  blieb,  aber  Schelling  selbst  und  seinen  Nachfolgern 
irrigerweise  mit  diesen  zugleich  für  gelöst  galt.  Dass  die  Natur  teleologisch 
durch  den  Geist,  der  aus  ihr  hervorgehen  soll,  bedingt  sei,  wie  dieser  genetisch 
durch  sie  bedingt  ist,  ist  allerdings  ein  Gedanke  von  tiefer  und  bleibender  Wahr- 
heit; aber  von  dem  einzelnen  Erkenntnissact  des  Individuums  ist  doch  das  iedes- 
malige  Erkenntnissobject  nicht  abhängig,  sondern  besteht  an  sich  ausserhalb  des 
individuellen  Bewusstseins ;  auf  dieses  Ansich  hat  Schelling  seine  Aufmerksamkeit 
nicht  gerichtet. 

Ueberweg-Heime,  Gnmdm«  III.  7.  Acfl.  21 


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322 


§  30.   Schelli ng. 


Reelle  als  zwei  Pole,  die  sich  wechselseitig  voraussetzen  und  fordern.  Auf  der 
Uebereinstimmung  eines  Objectiven  mit  einem  Subjectiven  beruht  alles  Wissen. 
Demgemäss  giebt  es  (wie  Sch.  namentlich  in  der  Einleitung  zu  peinem  Entwurf 
eines  Syst.  der  Naturphil,  und  im  Syst.  des  transsc.  Idealismus  ausführt)  nothwendig 
zwei  Grundwissenschaften.  Entweder  nämlich  wird  das  Objective  zum  Ersten 
gemacht  und  gefragt,  wie  ein  Subjectives  zu  ihm  hinzukomme,  das  mit  ihm  über- 
einstimme, oder  das  Subjective  wird  zum  Ersten  gemacht,  und  die  Aufgabe  ist 
die:  wie  ein  Objectives  zu  ihm  hinzukomme,  das  mit  ihm  übereinstimme.  Die  erste 
Aufgabe  ist  die  der  speculativen  Physik,  die  andere  die  der  Transscendental- 
philo8ophie.  Die  Transscendentalphilosophie  betrachtet,  indem  sie  die  reelle  oder 
bewusstlose  Vernunftthätigkeit  auf  die  ideelle  oder  bewusste  zurückführt,  die  Natur 
als  den  sichtbaren  Organismus  unseres  Verstandes;  die  Naturphilosophie  dagegen 
zeigt,  wie  das  Ideelle  auch  hinwiederum  aus  dem  Reellen  entspringt  und  aus  ihm 
erklärt  werden  muss.  Zum  Behuf  der  Erklärung  des  Fortgangs  der  Natur  von  den 
niedrigsten  bis  zu  den  höchsten  Gebilden  nimmt  Sch.  eine  Weltseele  an  als  ein 
organisirendes,  die  Welt  zum  System  bildendes  Princip.*)  Sch.  fasst  im  „ System 
des  transscendentalen  Idealismus"  die  Grundgedanken  seiner  Naturphilosophie 
(welche,  obschon  mit  Irrigem  und  Phantastischem  untermischt,  doch  von  bleibendem 
Werthe  sind)  dahin  zusammen:  „Die  nothwendige  Tendenz  aller  Naturwissen- 
schaft ist,  von  der  Natur  aufs  Intelligente  zu  kommen.  Dies  und  nichts  Anderes 
liegt  dem  Bestreben  zu  Grunde,  in  die  Naturerscheinungen  Theorie  zu  bringen.— 
Die  vollendete  Theorie  der  Natur  würde  diejenige  sein,  kraft  welcher  die  ganze 
Natur  sich  in  eine  Intelligenz  auflöste.  Die  todten  und  bewusstlosen  Producta  der 
Natur  sind  nur  misslungene  Versuche  der  Natur,  sich  selbst  zu  reflectiren,  die  so- 
genannte todte  Natur  aber  überhaupt  eine  unreife  Intelligenz,  daher  in  ihren  Phäno- 
menen noch  bewusstlos  schon  der  intelligente  Charakter  durchblickt.  Das  höchste 
Ziel,  sich  selbst  ganz  Object  zu  werden,  erreicht  die  Natur  erst  durch  die  höchste 
und  letzte  Reflexion,  welche  nichts  Anderes  als  der  Mensch,  oder  allgemeiner,  das 
ist,  was  wir  Vernunft  nennen,  durch  welche  zuerst  die  Natur  vollständig  in  sich 
selbst  zurückkehrt,  und  wodurch  offenbar  wird,  dass  die  Natur  ursprünglich  iden- 
tisch ist  mit  dem,  was  in  uns  als  Intelligenz  und  Bewusstes  erkannt  wird.'  Aus 
dem  Subjectiven  aber  das  Objective  entstehen  zu  lassen,  ist  die  Aufgabe  der 
Transscendentalphilosophie.  .Wenn  alle  Philosophie  darauf  ausgehen  muss, 
entweder  aus  der  Natur  eine  Intelligenz  oder  aus  der  Intelligenz  eine  Natur  zu 
machen,  so  ist  die  Transscendentalphilosophie,  welche  diese  letztere  Aufgabe  hat, 
die  andere  nothwendige  Grundwissenschaft  der  Philosophie." 

Sch.  theilt  die  Transscendentalphilosophie  den  drei  kantischen  Kritiken  gemäss 
in  dreiTheile:  die  theoretische  Philosophie,  die  praktische,  und  die,  welche  auf  die 
Einheit  des  Theoretischen  und  Praktischen  geht,  und  erklärt,  wie  die  Vorstellungen 
zugleich  als  sich  richtend  nach  den  Gegenständen  und  diese  als  sich  richtend  nach 
den  Vorstellungen  gedacht  werden  können,  indem  sie  die  Identität  der  bewusstlosen 


•)  In  der  Annahme  einer  Weltseele  ist  unter  den  alten  Philosophen  namentlich 
Piaton,  unter  den  durch  Kant  angeregten  Denkern  aber  Sal.  Maimon  Sendling 
vorangegangen.  Maimon  handelt  „üb.  die  Weltseele,  entelechia  nniversi",  im 
Berlinisch.  Journal  f.  Aufklärg.,  hrsg.  v.  A.  Riem,  Bd.  VIII,  Juli  1790,  S.  47—92. 
Er  bemerkt  mit  Recht,  dass  man  nach  Kant  so  wenig  behaupten  dürfe,  dass  es 
mehrere  Seelen,  überhaupt  Kräfte,  als  dass  es  bloss  eine  einzige  allgemeine  gebe, 
weil  Vielheit,  Einheit,  Existenz  etc.  Formen  des  Denkens  seien,  die  ohne  ein 
sinnliches  Schema  nicht  gebraucht  werden  können,  hält  aber  für  eine  zulässige  und 
die  Naturerkenntnis8  fördernde  Hypothese  die  Annahme  einer  Weltseele  als  des 
Grundes  der  unorganischen  und  organischen  Bildungen,  des  thierischen  Lebens  und 
des  Verstandes  und  der  Vernunft  im  Menschen. 


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§  30.  Sendling. 


323 


und  der  bewussten  Thätigkeit  nachweist,  d.  h.  die  Lehre  von  der  Natnrzweckmässig- 
keit  nnd  von  der  Kunst.  In  dem  theoretischen  Theile  der  Transscendentalpbilosophio 
betrachtet  Sch.  die  Stufen  der  Erkenntniss  in  ihrer  Beziehung  auf  die  Stufen  der 
Natur.  Die  Materie  ist  der  erloschene  Geist:  die  Acte  und  Epochen  des  Selbst- 
bewusstseins  lassen  sich  in  den  Kräften  der  Materie  und  in  den  Momenten  ihrer 
Construction  wiederfinden.  Alle  Kräfte  des  Universums  kommen  zuletzt  auf  Vor- 
stellungskräfte zurück;  der  leibnizische  Idealismus,  dem  die  Materie  als  der  Sehlaf- 
zustand  der  Monaden  gilt,  ist,  gehörig  verstanden,  vom  transscendentalen  in  der 
That  nicht  verschieden.  Die  Organisation  ist  darum  nothwendig.  weil  die  Intelligenz 
f«ich  selbst  in  ihrem  productiven  Uebergehen  von  Ursache  zu  Wirkung  oder  in  der 
Succession  ihrer  Vorstellungen  anschauen  muss,  insofern  diese  in  sieh  selbst  zurück- 
läuft; dies  aber  kann  sie  nicht,  ohne  jede  Succession  permanent  zu  machen  oder 
sie  in  Ruhe  darzustellen;  die  in  sich  selbst  zurückkehrende,  in  Ruhe  dargestellte 
Succession  ist  eben  die  Organisation.  Es  ist  aber  eine  Stufenfolge  der  Organisation 
nothwendig,  weil  die  Succession,  die  der  Intelligenz  zum  Object  wird,  innerhalb 
ihrer  Grenzen  wieder  endlos,  die  Intelligenz  also  ein  unendliches  Bestreben,  sich  zu 
organisiren  ist.  In  der  Stufenfolge  der  Organisation  muss  nothwendig  eine  vor- 
kommen, welche  die  Intelligenz  als  identisch  mit  sich  selbst  anzuschauen  genöthigt 
ist.  Nur  eine  nie  aufhörende  Wechselwirkung  des  Individuums  mit  anderen  Intelli- 
genzen vollendet  das  ganze  Bewusstsein  mit  allen  seinen  Bestimmungen.  Nur  da- 
durch, dass  Intelligenzen  ausser  mir  sind,  wird  mir  die  Welt  überhaupt  objectiv: 
die  Vorstellung  von  Objecten  ausser  mir  kann  mir  gar  nicht  anders  entstehen,  als 
durch  Intelligenzen  ausser  mir,  und  nur  durch  Wechselwirkung  mit  anderen  Indi- 
viduen kann  ich  zum  Bewusstsein  meiner  Freiheit  gelangen.  Eine  Wechselwirkung 
von  Vernuuftwesen  durch  das  Medium  der  objectiveu  Welt  ist  die  Bedingung  der 
Freiheit.  Ob  aber  alle  Vernunftwesen  der  Vernunftforderung  gemäss  ihr  1  landein, 
durch  die  Möglichkeit  des  freien  Handelns  aller  übrigen  einschränken  oder  nicht, 
darf  nicht  dem  Zufall  anvertraut  sein;  es  muss  eine  zweite  und  höhere  Natur 
gleichsam  über  der  ersten  errichtet  werden,  nämlich  das  Rechtsgesetz,  welches 
mit  der  Unverbrüchlichkeit  eines  Naturgesetzes  herrschen  soll  zum  Behuf  der 
Freiheit 

Alle  Versuche,  die  Rechtsordnung  in  eine  moralische  umzuwandeln,  sind  ver- 
fehlt und  schlagen  in  Despotismus  um.  Ursprünglich  hat  der  Trieb  zur  Reaction 
gegen  Gewaltthätigkeit  die  Menschen  zu  einer  Rechtsordnung  geführt,  die  für  das 
nächste  Bedürfniss  eingerichtet  war.  Die  Sicherung  guter  Verfassung  des  einzelnen 
Staates  liegt  zuhöchst  in  der  Unterordnung  der  Staaten  unter  ein  gemeinsames,  von 
einem  Völkerareopag  gehandhabtes  Rechtsgesetz.  Das  allmähliche  Realisiren  der 
Rechtsverfassung  ist  das  Object  der  Geschichte.  Die  Geschichte  als  Ganzes  ist 
eine  fortgehende,  allmählich  sich  enthüllende  Offenbarung  des  Absoluten.  Man  kann 
in  der  Geschichte  nie  eine  einzelne  Stelle  bezeichnen,  wo  die  Spur  der  Vorsehung 
oder  Gott  selbst  gleichsam  sichtbar  wäre;  nur  durch  die  ganze  Geschichte  kann  der 
Beweis  vom  Dasein  Gottes  vollendet  sein.  Jede  einzelne  Intelligenz  kann  betrachtet 
werden  als  ein  integrirender  Theil  Gottes  oder  der  moralischen  Weltordnung;  diese 
wird  existiren,  sobald  jene  sie  errichten.  Die  Geschichte  nähert  sich  diesem  Ziele 
vermöge  einer  prästabilirten  Harmonie  des  Objectiven  oder  Gesetzmässigen  und  des 
Bestimmenden  oder  Freien,  welche  nur  denkbar  ist  durch  etwas  Höheres,  was  über 
beiden  ist  als  der  Grund  der  Identität  zwischen  dem  absolut  Subjectiven  und  dem 
absolut  Objectiven,  dem  Bewusstsein  und  dem  Bcwusstlosen,  welche  eben  zum  Behuf 
der  Erscheinung  im  freien  Handeln  sich  trennen.  Ist  die  Erscheinung  der  Freiheit 
nothwendig  unendlich,  so  ist  auch  die  Geschichte  selbst  eine  nie  ganz  geschehen» 
Offenbarung  jenes  Absoluten,  das  zum  Behuf  des  Erscheinens  in  das  Bewusste  und 

21* 


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324 


§  30.  Schelling. 


Bewusstlose  sich  trennt,  selbst  aber  in  dem  unzugänglichen  Lichte,  in  welchem  es 
wohnt,  die  ewige  Identität  und  der  ewige  Grund  der  Harmonie  zwischen  beiden  ist. 
Sch.  unterscheidet  drei  Perioden  dieser  Offenbarung  des  Absoluten  oder  der  Ge- 
schichte, welche  er  als  die  des  Schicksals,  der  Natur  und  der  Vorsehung  charak- 
terisirt  In  der  ersten  Periode,  welche  die  tragische  genannt  werden  kann,  zerstört 
das  Herrschende  als  völlig  blinde  Macht  kalt  und  bewusstlos  auch  das  Grösste  und 
Herrlichste;  in  sie  fällt  der  Untergang  der  edelsten  Menschheit,  die  je  geblüht  hat, 
und  deren  Wiederkehr  auf  die  Erde  nur  ein  ewiger  Wunsch  ist.  In  der  zweiten 
Periode  offenbart  sich  das  als  Natur,  was  in  der  ersten  als  Schicksal  erschien,  und 
führt  so  allmählich  wenigstens  eine  mechanische  Gesetzmässigkeit  in  der  Geschichte 
herbei.  Diese  Periode  lässt  Sch.  mit  der  Ausbreitung  der  römischen  Republik  be- 
ginnen, wodurch  die  Völker  unter  einander  verbunden  wurden  und,  was  bis  dahin 
von  Sitten  und  Gesetzen,  Künsten  und  Wissenschaften  nur  abgesondert  unter  ein- 
zelnen Völkern  bewahrt  wurde,  in  wechselseitige  Berührung  kam.  Die  dritte  Periode 
der  Geschichte  wird  die  sein,  wo  das,  was  in  den  früheren  als  Schicksal  und  Natur 
erschien,  sich  als  Vorsehung  entwickeln  und  offenbar  werden  wird,  dass  selbst  das, 
was  blosses  Werk  des  Schicksals  oder  der  Natur  zu  sein  schien,  schon  der  Anfang 
einer  auf  unvollkommene  Weise  sich  offenbarenden  Vorsehung  war.  „Wann  diese 
Periode  beginnen  werde,  wissen  wir  nicht  zu  sagen.  Aber  wenn  diese  Periode  sein 
wird,  dann  wird  auch  Gott  sein."  Auf  der  nothwendigen  Harmonie  der  bewusst- 
loseu  und  der  bewussten  Thätigkeit  beruht  die  Naturzweckmässigkeit  und  die  Kunst. 
Die  Natur  ist  zweckmässig,  ohne  einem  Zweck  gemäss  hervorgebracht  zu  sein. 
Das  Ich  selbst  aber  ist  für  Bich  selbst  in  einer  und  derselben  Anschauung  zugleich 
bewusst  und  bewusstlos,  nämlich  in  der  Kunstanschanung. 

Was  in  der  Erscheinung  der  Freiheit  und  was  in  der  Anschauung  des  Natur- 
produets  getrennt  existirt,  nämlich  Identität  des  Bewussten  und  Bewusstlosen  im 
Ich  und  Bewusstsein  dieser  Identität,  das  fasst  die  Anschauung  des  Kunstproductes 
in  sich  zusammen.  Jede  ästhetische  Production  geht  aus  von  einer  an  sich  unend- 
lichen Trennung  der  beiden  Thätigkeiten,  welche  in  jedem  freien  Produciren  getrennt 
sind.  Da  nun  aber  diese  beiden  Thätigkeiten  im  Product  als  vereinigt  dargestellt 
werden  sollen,  so  wird  durch  dasselbe  ein  Unendliches  endlich  dargestellt.  Das 
Unendliche,  endlich  dargestellt,  ist  Schönheit.  Wo  Schönheit  ist,  ist  der  unend- 
liche Widerspruch  im  Objcct  selbst  aufgehoben;  wo  Erhabenheit  ist,  ist  der  Wider- 
spruch nicht  im  Object  selbst  vereinigt,  Bondern  nur  bis  zu  einer  Höhe  gesteigert, 
bei  welcher  er  in  der  Anschauung  unwillkürlich  sich  aufhebt.  Das  künstlerische 
Produciren  ist  nur  durch  Genie  möglich,  weil  seine  Bedingung  ein  unendlicher 
Gegensatz  ist  Was  die  Kunst  in  ihrer  Vollkommenheit  hervorbringt,  ist  für  die 
Beurtheilung  der  Naturschönheit,  die  an  dem  organischen  Naturproduct  als  schlecht- 
hin zufällig  erscheint,  Princip  und  Norm.  Mit  der  Kunst  hat  die  Wissenschaft  in 
ihrer  höchsten  Function  eine  und  dieselbe  Aufgabe;  aber  die  Art  der  Lösung  ist 
eine  verschiedene,  sofern  sie  in  der  Wissenschaft  mechanisch  ist  und  das  Genie  in 
ihr  stets  problematisch  bleibt,  während  jede  künstlerische  Aufgabe  nur  durch  Genie 
aufgelöst  werden  kann.  Die  Kunst  ist  die  höchste  Vereinigung  von  Freiheit  und 
Notwendigkeit 

Die  „Zeitschrift  für  speculative  Physik",  2  Bde.,  hrsg.  von  Schelling, 
Jena  und  Leipzig  1800 — 1801,  enthält  im  ersten  Baude  neben  Abhandlungen  von 
Steffens  namentlich  eine  „Allgemeine  Deduction  des  dynamischen  Processes  oder 
der  Kategorien  der  Physik"  von  Schelling,  an  deren  Schluss  sich  die  bemerkens- 
werthe  Aeusserung  findet:  „wir  können  von  der  Natur  zu  uns,  von  uns  zu  der  Natur 
gehen,  aber  die  wahre  Richtung  für  den,  dem  das  Wissen  über  alles  geht,  ist  die, 
welche  die  Natur  selbst  genommen  hat",  ferner  „Miscellen",  unter  welchen  ein 


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§  30.  Schelling. 


325 


kurzes  naturphilosophisches  Gedicht  hervorgehoben  zu  werden  verdient,  das  den 
Grundgedanken  der  fortschreitenden  Entwicklung  des  in  der  Natur  gleichsam  ver- 
steinerten Riesengeistes  zum  Bewusstsein,  welches  er  im  Menschen  gewinnt,  sehr 
lebendig  und  klar  darstellt.  Der  Mensch  kann  zu  Bich  im  Hinblick  auf  die  Welt 
sprechen:  .Ich  bin  der  Gott,  deu  sie  im  Busen  hegt,  der  Geist,  der  sich  in  Allem 
bewegt.  Vom  ersten  Bingen  dunkler  Kräfte  bis  zum  Erguss  der  ersten  Lebenssäfte, 
wo  Kraft  in  Kraft  und  Stoff  in  Stoff  verquillt,  die  erste  Blüth',  die  erste  Knospe 
schwillt,  zum  ersten  Strahl  von  neugebornem  Licht,  das  durch  die  Nacht  wie  zweite 
Schöpfung  bricht  und  aus  den  tausend  Augen  der  Welt  den  Himmel  so  Tag  wie 
Nacht  erhellt,  ist  Eine  Kraft,  Ein  Wechselspiel  und  Weben,  Ein  Trieb  und  Drang 
nach  immer  höherm  Leben".  In  der  „Darstellung  meines  Systems"  im  zweiten 
Bande  dieser  Zeitschrift  führt  Schelling  die  Nebenordnung  der  Natur-  und  Traus- 
acendentalphilosophie  auf  den  Grundgedanken  zurück,  dass  nichts  ausser  der  abso- 
luten Vernunft,  sondern  alles  in  ihr  sei,  die  absolute  Vernunft  aber  als  die  totale 
Indifferenz  des  Subjectiven  und  Objectiven  gedacht  werden  müsse.  Die  Vernunft 
ist  das  Wahre  an  sich;  die  Dinge  an  sich  erkennen,  heisst,  sie  erkennen,  wie  sie 
in  der  Vernunft  sind.  Schelling  weist  unter  bildlicher  Anwendung  mathematischer 
Formeln  die  Stufen  der  Natur  als  Potenzen  des  Subjects-Objects  nach.  Die  Dar- 
stellung der  Stufen  des  Geistes  fehlt.  Die  Differenz,  welche  Schelling  (hypothetisch 
und  mit  der  Hoffnung  auf  spätere  Einigung)  zwischen  seinem  Staudpunkt  und  dem 
fichteschen  findet,  bezeichnet  er  durch  den  Gegensatz  der  Formeln:  Ich  =  Alles, 
und  Alles  =  Ich;  auf  jenem  Satze  beruhe  Fichtes  subjectiver  Idealismus,  auf  diesem 
sein  eigener  objectiver  Idealismus,  den  Schelling  auch  das  absolute  Identitätssystem 
nennt 

Im  Jahre  1802  erschien  das  Gespräch:  .Bruno  od.  üb.  das  natürl.  und 
göttl.  Princip  der  Dinge",  Berl.  1802  (2.  Aufl.  ebd.  1842),  worin  Sch.  sich  theils 
an  Sätze  des  Giordano  Bruno,  theils  an  den  Timaeus  des  Piaton  anlehnt.  Neben 
der  Indifferenz  wird  hier  mitunter  das  Ideale  Gott  genannt  Theils  an  den  Bruno, 
theils  an  die  Darstellung  des  Systems  im  zweiten  Bande  der  Zeitschrift  für  specul. 
Physik  schliessen  sich  die  »Ferneren  Darstellungen  aus  dem  Systeme  der  Philosophie" 
au,  welche  die  „Neue  Zeitschrift  für  speculative  Physik",  Tüb.  1802, 
enthält,  die  auf  einen  Band  beschränkt  blieb.  In  demselben  Jahre  verband  sich 
Schelling  mit  Hegel  zur  Herausgabe  der  Zeitschrift:  „Kritisches  Journal  der 
Philosophie",  Tüb.  1802—1803.  (Der  in  diesem  Journal  enthaltene  Aufsatz: 
„üb.  d.  Verhältniss  der  Naturphil,  zur  Philos.  überhaupt"  ist  nicht  von  Hegel,  der 
übrigens  die  meisten  Beiträge  geliefert  hat,  sondern  von  Schelling  verfasst  worden, 
was  sich  naeh  Erdin  anns  Bemerkung  aus  der  Nichtunterscheidung  der  Logik  als  des 
allgemeinen  Theiles  der  Philosophie  von  der  Natur-  und  Transscendental-Philosophie, 
da  doch  Hegel  nachweisbar  damals  schon  diese  Unterscheidung  machte,  schliessen 
lässt,  obscbon  Michelet  in  seiner  Schrift:  Schelling  und  Hegel,  Berlin  1839,  und 
Rosenkranz,  Schelling,  Danzig  1843,  S.  190—195  das  Gegentheil  behauptet  haben. 
Für  Sendlings  Autorschaft  erklärt  sieh  auch  Haym,  Hegel  u.  s.  Zeit,  S.  156  und  495; 
doch  vgl.  andererseits  Rosenkranz  und  Michelet  in  der  Zeitachrift:  „der  Gedanke", 
Bd.  I,  Berl.  1861,  S.  72  ff.  u.  Michelet,  Wahrh.  a.  m.  L.,  S.  172  ff.  Auch  die  Autor- 
schaft der  Abhandlungen:  über  Rückert  und  Weiss,  und:  über  Construction  in  der 
Philosophie,  ist  streitig;  doch  scheinen  beide  Hegel  zugeschrieben  werden  zu  müssen.) 

Die  Grundzüge  seines  gesummten  Lehrgebäudes  hat  Sch.  in  populärer  Form 
in  seine  (1802  gehaltenen)  „Vorlesungen  üb.  d.  Methode  des  akadem.  Stu- 
diums", Stuttg.  u.  Tüb.  1803  (3.  Aufl.  ebd.  1830),  aufgenommen.  Sch.  definirt  hier 
die  Philosophie  als  die  Wissenschaft  der  absoluten  Identität,  die  Wissenschaft  alles 
Wissens,  welche  das  ürwissen  unmittelbar  und  an  sich  selbst  zum  Grund  und 


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326 


§  30.  SchelHng. 


Gegenstand  hat.  Ihrer  Form  nach  ist  die  Philosophie  eine  unmittelbare  Veruunft- 
oder  intellectuelle  Anschauung,  die  mit  ihrem  Gegenstande,  dem  Urwlsseu  selbst, 
schlechthin  identisch  ist.  Darstellung  intellectueller  Anschauung  ist  philosophische 
Construction.  In  der  absoluten  Identität  oder  der  allgemeinen  Einheit  des  Allge- 
meinen und  Besonderen  liegen  besondere  Einheiten,  welche  den  Uebergaug  zu  den 
Individuen  vermitteln:  diese  nennt  Schelling  im  Anachluss  an  Flaton  Ideen.  Diese 
Ideen  können  nur  in  der  Vernunftanschauung  enthalten  sein,  und  die  Philosophie 
ist  demgemäß  die  Wissenschaft  der  Ideen  oder  der  ewigeu  Urbilder  der  Dinge. 
Die  Staatsverfassung,  sagt  Schelling,  ist  ein  Bild  der  Verfassung  des  Ideenreichs. 
In  diesem  ist  das  Absolute  als  die  Macht,  von  der  alles  ausfliesst,  der  Monarch, 
die  Ideen  sind  die  Freien,  die  einzelnen  wirklichen  Dinge  sind  die  Sclaven  und 
Leibeigenen.  Schelling  nimmt  hiermit  den  Realismus  (dieses  Wort  im  scholastischen 
Sinne  verstanden),  der  seit  dem  Ausgange  des  Mittelalters  von  allen  namhaften 
Philosophen  aufgegeben  worden  war  und  nur  in  der  Doctrin  des  Spinoza  in  Bezug 
auf  die  absolute  Substanz  in  gewissem  Sinne  liegt,  durch  Verschmelzung  dieser 
letzteren  Doctrin  mit  Piatons  Ideenlehre  von  Neuem  auf.  Die  Philosophie  wird  in 
drei  positiven  Wissenschaften  objectiv,  welche  nach  dem  Bilde  des  inuern  Typus 
der  Philosophie  sich  gliedern.  Von  diesen  ist  die  erBte  die  Theologie,  welche 
als  Wissenschaft  des  absoluten  und  göttlichen  Wesens  den  absoluten  Indifferenz- 
punkt des  Idealen  und  Realen  objectiv  darstellt.  Die  ideelle  Seite  der  Philosophie, 
in  sich  getrennt  objectivirt,  ist  die  Wissenschaft  der  Geschichte,  und  sofern  das 
vorzüglichste  Werk  der  letzteren  die  Bildung  der  Rechteverfassung  ist,  die  Wissen- 
schaft des  Rechts  oder  die  Jurisprudenz.  Die  reelle  Seite  der  Philosophie 
wird,  für  sich  genommen,  äusserlich  repräsentirt  durch  die  Wissenschaft  der  Natur, 
und  wiefern  diese  sich  in  der  des  Organismus  conceutrirt,  die  Medicin.  Nur 
durch  das  historische  Element  können  die  positiven  oder  realen  Wissenschaften 
von  der  absoluten  oder  der  Philosophie  geschieden  sein.  Da  die  Theologie  als  das 
wahre  Centrum  des  Objectivwerdens  der  Philosophie  vorzugsweise  in  speculativeu 
Ideen  ist,  so  ist  sie  überhaupt  die  höchste  Synthese  des  philosophischen  und 
historischen  Wissens.  Sofern  das  Ideale  die  höhere  Potenz  des  Realen  ist,  so  folgt, 
dass  die  juridische  Facultät  der  medicinischen  vorangehe.  Der  Gegensatz  des 
Realen  und  Idealen  wiederholt  sich  innerhalb  der  Religionsgeschichte  als  der  des 
Hellenismus  und  des  Christenthums.  Wie  in  den  Sinnbildern  der  Natur,  lag  in 
den  griechischen  Dichtungen  die  Intellectualwelt  wie  in  einer  Knospe  verschlossen, 
verhüllt  im  Gegenstand  und  unausgesprochen  im  Subject.  Das  Christenthum 
dagegen  ist  das  geoffeubarte  Mysterium;  in  der  idealen  Welt,  die  sich  in  ihm 
erschliesst,  legt  das  Göttliche  die  Hülle  ab,  sie  ist  das  laut  gewordene  Mysterium 
des  göttlichen  Reiches.  Die  geschichtsphilosophisebe  Construction,  die  Schelling 
im  System  des  transscendentalen  Idealismus  gegeben  hat,  modificirt  er  jetzt  in  dem 
Sinne,  dass  er  die  bewusstlose  Identität  mit  der  Natur  der  ersten  Periode  als  der 
Zeit  der  schönsten  Blüthe  der  griechischen  Religion  und  Poesie  vindicirt,  dam»  mit 
dem  Abbrechen  des  Menschen  von  der  Natur  das  Schicksal  herrschen,  endlich  aber 
die  Einheit  als  bewusste  Versöhnung  wiederhergestellt  werden  lässt;  diese  letzte 
Periode,  welche  die  der  Vorsehung  sei,  leite  in  der  Geschichte  das  Christentum 
ein.  Die  Ideen  des  Christenthums,  die  in  den  Dogmen  symbolisirt  wurden,  sind 
von  epeculativer  Bedeutung.  Schelling  deutet  die  Dreieinigkeit  als  das  Fundamental- 
dograa des  Christenthums  dahin,  dass  der  ewige,  aus  dem  Wesen  des  Vaters  aller 
Dinge  geborene  Sohn  Gottes  das  Endliche  Belbst  sei,  wie  es  in  der  ewigen  An- 
schauung Gottes  ist  und  welches  als  ein  leidender  und  den  Verhängnissen  der  Zeit 
unterworfener  Gott  erscheint,  der  in  dem  Gipfel  seiner  Erscheinung,  in  Christo,  die 
Welt  der  Endlichkeit  schliesst  und  die  der  Unendlichkeit  oder  der  Herrschaft  des 


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§  30.  Schelliug. 


327 


Geistes  eröffuet.  Die  Menschwerdung  Gottes  ist  eine  Menschwerdung  von  Ewigkeit. 
Das  C'hristenthum  als  historische  Erscheinung  ist  zunächst  aus  einem  einzelnen 
religiösen  Verein  unter  den  Juden  (dem  Essäismus)  hervorgegangen;  seine  allge- 
meinere Wurzel  hat  es  in  dem  orientalischen  Geist,  der  bereits  in  der  indischen 
Religion  das  Iutellectualsystem  und  den  ältesten  Idealismus  geschaffen  und,  nach- 
dem er  durch  den  ganzen  ürieut  geflossen  war,  im  Christcuthum  sein  bleibendes 
Bett  gefunden  hat;  von  ihm  war  von  Alters  her  die  Strömung  unterschieden,  die 
in  der  hellenischen  Religion  und  Kunst  die  höchste  Schönheit  geboren  hat,  während 
doch  auch  auf  dem  Boden  des  Hellenismus  mystische  Elemente  sich  finden  und 
eine  der  Volksreligion  entgegenstehende  Philosophie,  vornehmlich  die  platonische,  # 
eine  Prophezeiung  des  Christenthums  ist.  Die  Ausbreitung  des  Christeuthums 
erklärt  sich  aus  dem  Unglück  der  Zeit,  welches  für  eine  Religion  empfänglich  machte, 
die  den  Menschen  an  das  Ideale  zurückwies,  Verleugnung  lehrt«  und  zum  Glück 
machte.  Die  ersten  Bücher  der  Geschichte  und  Lehre  des  Christeuthums  sind  nur 
eine  besondere,  noch  dazu  unvollkommene  Erscheinung  desselben;  ihr  Werth  muss 
nach  dem  Maass  bestimmt  werden,  in  welchem  sie  die  Idee  des  Christenthums  aus- 
drücken. Weil  diese  Idee  nicht  von  dieser  Einzelheit  abhängig,  sondern  allgemein 
und  absolut  ist,  so  darf  sie  die  Auslegung  dieser  für  die  erste  Geschichte  des 
Christenthums  wichtigen  Urkunden  nicht  binden.  Die  Eutwickelung  der  Idee  des 
Christenthums  liegt  in  seiner  ganzen  Geschichte  und  in  der  neuen,  von  ihm  ge- 
schaffenen Welt.  Die  Philosophie  hat  mit  dem  wahrhaft  speculativen  Standpunkt 
auch  den  der  Religion  wiedererrungen  und  die  Wiedergeburt  des  esoterischen 
Christenthums  wie  die  Verkündigung  des  absoluten  Evangeliums  in  sich  vor- 
bereitet. 

In  den  Bemerkungen  über  das  Studium  der  Geschichte  und  der  Natur  geht 
Schelling  von  dem  Gedanken  aus,  duss  jeue  im  Idealen  ausdrücke,  was  diese  im 
Realen.  Er  unterscheidet  von  der  philosophischen  Geschichtsconstruction  die 
empirische  Aufnahme  und  Ausmittelung  des  Geschehenen,  die  pragmatische  Behand- 
lung der  Geschichte  nach  einem  bestimmten  durch  das  Subject  entworfeneu  Zweck 
und  die  künstlerische  Synthesis  des  Gegebenen  uud  Wirklichen  mit  dem  Idealen, 
welche  die  Geschichte  als  Spiegel  des  Weltgeistes,  als  ewiges  Gedicht  des  gött- 
lichen Verstandes  darstellt.  Der  Gegenstand  der  Historie  im  engeren  Sinne  ist  die 
Bildung  eines  objectiven  Organismus  der  Freiheit  oder  des  Staats.  Jeder  Staat  ist 
in  dem  Verhältniss  vollkommen,  in  welchem  jedes  einzelne  Glied,  indem  es  Mittel 
zum  Ganzen,  zugleich  in  sich  selbst  Zweck  ist.  Die  Natur  ist  die  reale  Seite  in 
dem  ewigen  Act  der  Subject-Objectivirung.  Das  Sein  jedes  Dinges  in  der  Identität 
als  der  allgemeinen  Seele  und  das  Streben  zur  Wiedervereinigung  mit  ihr,  wenn 
es  aus  der  Einheit  gesetzt  ist,  ist  der  allgemeine  Grund  der  lebendigen  Er- 
scheinungen. Die  Ideen  sind  die  einzigen  Mittler,  wodurch  die  besonderen  Dinge 
in  Gott  sein  können.  Die  absolute,  in  Ideen  gegründete  Wisseuschaft  der  Natur  ist 
die  Bedingung  für  ein  methodisches  Verfahren  der  empirischen  Naturlehre;  in  dem 
Experiment  und  seinem  notwendigen  Correlat,  der  Theorie,  liegt  die  exoterische 
Seite,  welcher  die  Naturwissenschaft  zu  ihrer  objectiven  Existenz  bedarf;  die> 
Empirie  schliesst  sich  der  Wissenschaft  als  Leib  an,  sofern  sie  reine  objective 
Darstellung  der  Erscheinung  selbst  ist  und  keine  Idee  anders  als  durch  diese  auszu- 
sprechen sucht.  Es  ist  Aufgabe  der  Naturwissenschaft,  in  den  verschiedenen  Natur- 
produeten  die  Denkmäler  einer  wahren  Geschichte  der  zeugenden  Natur  zu  er- 
kennen. Die  Kunst  ist  vollkommene  Ineinsbildung  des  Realen  und  Idealen;  sie 
theilt  mit  der  Philosophie  die  Aufhebung  der  Gegensätze  der  Erscheinung;  aber 
sie  verhält  sich  doch  wiederum  zur  Philosophie,  mit  der  sie  sieb  auf  dem  letzten 
Gipfel  begegnet,  wie  Reales  zu  Idealem.    Philosophie  der  Kunst  ist  notwendiges 


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328 


§  30.  Schelling. 


Ziel  des  Philosophen,  der  in  dieser  das  innere  W esen  seiner  Wissenschaft  wie  in 
einem  magischen  nnd  symbolischen  Spiegel  schaut. 

Das  in  den  bisher  erwähnten  Schriften  dargelegte  Identitätssystem  ist  Sendlings 
relativ  originale  Leistung.  Immer  mehr  wich  von  nun  an  die  Fülle  eigener 
Prodnctivität  einem  Synkretismus  nnd  Mysticismus,  der  immer  trüber  und  doch 
zugleich  prätensionsvoller  ward.  Von  Anfang  an  war  Schellings  Philosophiren  in 
seinen  einzelnen  Schriften  nicht  eiue  Systembildung  anf  dem  Grunde  vorangegangener 
Vertrautheit  mit  der  Gesammtheit  der  früheren  Leistungen,  sondern  vielmehr  eine 
sofortige  modificirende  Aneignung  von  Philosophemen  einzelner  Denker;  je  mehr 
daher  sein  Studium  sich  ausbreitete,  um  so  mehr  mangelte  seinem  Denken  Princip 
und  System.  Einzelne  mystische  Anklänge  finden  sich  schon  in  den  Vorlesungen 
über  akademisches  Studium.  Ein  an  den  Neuplatonismus  und  danach  auch  an 
Sätze  des  Jakob  Böhme  anknüpfender  Mysticismus  beginnt  Macht  zu  gewinnen  in 
der  durch  Eschenmayers  „Philos.  in  ihr.  Uebergange  z.  Nichtphilos.*,  Erlaug.  1803, 
(worin  Eschenmayer  ähnlich  wie  Jacobi  ein  Hinausgehen  über  das  philosophische 
Denken  zum  religiösen  Glauben  fordert)  provocirten  Schrift:  „Philosophie  und 
Religion*,  Tüb.  1804,  in  welcher  Schelling  die  Endlichkeit  und  Leiblichkeit  für 
ein  Product  des  Abfalls  vom  Absoluten,  diesen  Abfall  aber,  dessen  Versöhnung  die 
Endabsicht  der  Geschichte  sei,  für  das  Mittel  zur  vollendeten  Offenbarung  Gottes 
erklärt.  Doch  sind  nur  Anfänge  des  späteren  Standpunkts  in  dieser  Schrift  nach- 
zuweisen. Die  (oben  erwähnte,  der  2.  Aufl.  der  Schrift  von  der  Weltseele  beigegebene) 
Abhandlung  „üb.  d.  Verhältn.  des  Realen  und  Idealen  in  der  Natur*,  wie 
auch  die  Schrift:  „Darlegung  d.  wahr.  Verhältnisses  der  Naturphilos.  zur 
verbesserten  fichteschen  Lehre,  eine  Erläuterungsschrift  der  ersteren*,  Tüb. 
1806,  und  die  naturphilosophischen  Aufsätze  in  den  (von  A.  F.  Marcus  und 
Schelling  herausgegebenen)  „Jahrbüchern  der  Medicin  als  Wissenschaft'*, 
Tüb.  1806—1808,  zeigen  neben  theosophischen  Elementen  doch  vorwiegend  immer 
noch  den  alten  Gedankenkreis.  Eine  treffliche  Ausführung  und  Fortbildung  der  in 
früheren  Schriften  geäusserten  Gedanken  über  Schönheit  und  Kunst  enthält  die 
1807  gehaltene,  in  die  „philos.  Schriften",  Landsb.  1809,  aufgenommene  Festrede 
„üb.  d.  Verhältniss  der  bildend.  Künste  zu  d.  Natur",  welche  als  das  letzte 
Ziel  der  Kunst  die  Vernichtung  der  Form  durch  Vollendung  der  Form  bezeichnet; 
wie  die  Natur  in  ihren  elementaren  Bildungen  zuerst  auf  Härte  und  Verschlossen- 
heit hinwirkt  und  erst  in  ihrer  Vollendung  als  die  höchste  Milde  erscheint,  so  soll 
der  Künstler,  der  der  Natur  als  der  ewig  schaffenden  Urkraft  nacheifert  und  die 
Producte  derselben  nach  ihrem  ewigen,  im  unendlichen  Verstände  entworfenen 
Begriff  im  Momente  ihres  vollendeten  Daseins  darstellt,  erst  im  Begrenzten  treu 
und  wahr  sein,  um  im  Ganzen  vollendet  und  schön  zu  erscheinen  und  durch 
immer  höhere  Verbindung  und  endliche  Verschmelzung  mannigfaltiger  Formen  die 
äusserste  Schönheit  in  Bildungen  von  höchster  Einfalt  bei  unendlichem  Inhalt  zu 
erreichen. 

Die  Theosophie  prävalirt  (zum  Theil  in  Folge  des  zunehmenden  Einflusses  des 
der  Lehre  Jak.  Böhmes  und  St.  Martins  huldigenden  Franz  Baader)  in  den  „philos. 
Untersuchungen  über  das  Wesen  der  mcnschl.  Freiheit  u.  die  damit 
zusammenhängend.  Gegenstände*,  welche  zuerst  in  den  „philos.  Schriften", 
Landsbnt  1809.  erschienen  ist.  Sch.  hält  an  dem  Grundsatz  fest,  dass  von  den 
höchsten  Begriffen  eine  klare  Vernunfteinsicht  möglich  sein  muss,  indem  sie  nur 
dadurch  uns  wirklich  eigen,  in  uns  selbst  aufgenommen  und  ewig  gegründet  werden 
können.  Er  hält  auch  mit  Lessing  die  Ausbildung  geoffenbarter  Wahrheiten  in 
Vernunftwahrheiten  für  schlechterdings  nothwendig,  wenn  dem  menschlichen  Ge- 
schlecht damit  geholfen  werdeu  soll.   Zu  diesem  Behuf  unterscheidet  er  in  Gott  drei 


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§  30.  Schelling. 


329 


Momente:  1.  die  Indifferenz,  den  Urgrund  oder  üngruud,  2.  die  Entzweiung  in  Grund 
und  Existenz,  3.  die  Identität  oder  die  Versöhnung  des  Entzweiten.  Der  Ungrund 
oder  die  Indifferenz,  worin  noch  keine  Persönlichkeit  ist,  ist  nur  der  Anfangspunkt 
des  göttlichen  Wesens,  das  was  in  Gott  nicht  er  selbst  ist,  die  unbegreifliche 
Basis  der  Realität.  In  ihm  hat  das  Unvollkommene  und  Böse,  das  in  den  endlichen 
Dingen  ist,  seinen  Grund.  Alle  Naturwesen  haben  ein  blosses  Sein  im  Grunde 
oder  in  der  noch  nicht  zur  Einheit  mit  dem  Verstände  gelangten  anfänglichen 
Sehnsucht  und  sind  also  in  Bezug  auf  Gott  bloss  peripherische  Wesen.  Nur  der 
Mensch  ist  in  Gott  und  eben  durch  dieses  In-Gott-Sein  der  Freiheit  fähig.  Die 
Freiheit  des  Menschen  liegt  in  einer  intelligiblen,  vorzeitlichen  That,  durch  welche 
er  sich  zu  dem  gemacht  hat,  was  er  jetzt  ist;  der  empirische  Mensch  ist  in  seinem 
Handeln  der  Nothwendigkeit  unterworfen,  aber  diese  Notwendigkeit  ruht  auf  seiner 
zeitlosen  Selbstbestimmung.*)  Wollen  ist  Urseio.  Die  Einheit  des  particularen 
Willens  mit  dem  universalen  Willen  ist  das  Gute,  die  Trennung  das  Böse.  Der 
Mensch  ist  ein  Centraiwesen  und  soll  darum  auch  im  Centro  bleiben.  In  ihm  sind 
alle  Dinge  erschaffen,  so  wie  Gott  nur  durch  den  Menschen  auch  die  Natur  an- 
nimmt und  mit  sich  verbindet.  Die  Natur  ist  das  erste  oder  alte  Testament,  da 
die  Dinge  noch  ausser  dem  Centro  und  daher  unter  dem  Gesetze  sind.  Der  Mensch 
ist  der  Anfang  des  neuen  Bundes,  der  Erlöser  der  Natur,  durch  welchen  als  Mittler, 
da  er  selbst  mit  Gott  verbunden  wird,  nach  der  letzten  Scheiduug  Gott  auch  die 
Natur  annimmt  und  zu  sich  macht. 

In  der  Streitschrift  gegen  Jacobi:  .Denkmal  der  Schrift  Jacobis  von  d. 
göttl.  Dingen  und  der  ihm  in  derselben  gemachten  Beschuldigung  eines  absichtl. 
täuschend.  Lüge  redenden  Atheismus",  Tüb.  1812,  weist  Sch.  die  Anschuldigung 
zurück,  Beine  Philosophie  sei  Naturalismus,  Spinozismus  und  Atheismus.  Er  sagt, 
Gott  sei  ihm  Beides,  A  und  0,  Erstes  und  Letztes,  jenes  als  Dens  implicitus, 
unpersönliche  Indifferenz,  dieses  als  Dens  explicitus,  Gott  als  Persönlichkeit,  als 
Subject  der  Existenz.  Ein  Theismus,  welcher  den  Grund  oder  die  Natur  in  Gott 
nicht  anerkenne,  sei  unkräftig  und  leer.  Gegen  die  von  Jacobi  behauptete  Identität 
eines  reinen  Theismus  mit  dem  Wesentlichen  im  Christenthum  richtet  Schelling 
eine  herbe  Polemik,  welche  das  Irrationale  und  Mystische  als  das  wahrhaft  Specu- 
lative  vertheidigt 

Die  Schrift  „über  die  Gottheiten  von  Samothrake",  Stuttg.  u.  Tüb.  1815, 
die  eine  Beilage  zu  den  (nicht  mit  veröffentlichten)  .Weltaltern"  bilden  sollte,  ist 
eine  allegorische  Deutung  jener  Gottheiten  auf  die  Momente  des  Gottes  der 
schellingschen  Abhandlung  über  die  Freiheit 

Nach  langem  Schweigen  veröffentlichte  Sch.  1834  eine  Vorrede  zu  Hubert 
Beckers  Ueberstzg.  einer  Schrift  Victor  Cousins  (über  franz.  u.  deutsche 
Thilos,  in  den  Fragmens  philosophiques,  Par.  1833).  Sch.  bezeichnet  hier  die 
hegelsche  Philosophie  als  eine  bloss  negative,  die  an  die  Stelle  des  Lebendigen  und 
Wirklichen  und  Beseitigung  des  empirischen  Elementes  den  logischen  Begriff  ge- 
setzt und  demselben  durch  die  seltsamste  Fiction  oder  Hypostasirung  die  nur  jenem 
zukommende  Selbstbewegung  geliehen  habe.  Im  Wesentlichen  die  gleiche  Kritik 
hat  Schelling  in  seinen  zu  München  gehaltenen  Vorlesungen  .zur  Gesch.  der 
neueren  Philos."  geübt  (welche  im  X.  Bde.  der  I.  Abth.  der  „Sämmtl.  Werke* 
aus  dem  handschriftlichen  Nachlass  veröffentlicht  worden  sind):  er  tadelt  die  Voran- 


*)  Diese  Lehre  passt  in  den  Zusammenhang  des  kantischen  Systems,  woraus 
Schelling  sie  entnimmt;  sie  setzt  die  Unterscheidung  der  Dinge  an  sich  von  den 
Erscheinungen  voraus;  Schelling  aber  adoptirt  Bie,  obschon  er  diese  ihre  noth- 
wendige  Voraussetzung  aufgehoben  hat. 


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330 


§  30.  Schelliüg. 


Stellung  der  abstracten  Begriffe  (Sein,  Nichte,  Werden,  Dasein  etc.)  vor  die  Natur- 
und  Geistesphilosophie,  da  doch  Abstracta  dasjenige  voraussetzen,  wovon  sie  abstrahirt 
seien,  und  Begriffe  nur  im  Bewusstsein,  also  im  Geiste,  existiren  und  nicht  der 
Natur  und  dem  Geiste  als  Bediugung  vorangehen,  sich  potenziren  und  schliesslich 
zur  Natur  eutäussern  können.  In  seiner  Berliner  Antrittsvorlesung  (Stuttg. 
und  Tüb.  1841)  erklärt  Sch.,  er  werde  die  Erfinduug  seiner  Jugend,  das  Identitäts- 
system, das  Hegel  nur  auf  eine  abstracte  logische  Form  gebracht  habe,  nicht  auf- 
geben, wohl  aber  als  negative  Philosophie  durch  die  positive  Philosophie  ergänzen. 
Hegel  hat  die  Logik  ausgebildet,  d.  h.  die  Wissenschaft  des  Rationalen  oder  des 
Nicht-nicht-zu-Deukenden.  Durch  Vernunft  wird  aber  das  Irrationale,  das  in  dem 
wirklich  Existirenden  sich  findet,  nicht  erfasst.  Deshalb  soll  die  positive  Philo- 
sophie, als  eine  neue  bis  jetzt  für  unmöglich  gehaltene  Wissenschaft,  die  wirkliche 
Aufschlüsse  zu  gewähreu,  das  menschliche  Bewusstsein  über  seine  gegenwärtigen 
Grenzen  zu  erweitern  versprach,  über  die  blosse  Vernunftwissenschaft  durch  Mit- 
aufnahme einer  die  Resultate  hypothetischer  Deductiou  bestätigenden,  das  Sein  (das 
.Duss*)  des  rational  erkennbaren  Wesens  (des  „Was")  erkennenden  Empirie  hinaus- 
geheu.  Existirt  ein  „truusscendentes  Positives*,  so  ist  dieses  aus  der  Religion 
durch  Erfahrung  aufzunehmen.  Die  Religion  ist  aber  entweder  mythologische  oder 
geoffenbarte;  deshalb  ist  die  positive  Philosophie  vornehmlich  Philosophie  der  My- 
thologie und  Offenbarung,  d.  h.  der  unvollendeten  und  der  vollendeten  Religion. 
In  den  an  der  berliner  Universität  gehaltenen,  nach  Sendlings  Tode  aus  seinem 
Nachlass  als  zweite  Abtheilung  der  „sämmtl.  Werke*  herausgegebenen,  jedoch  ihrem 
wesentlichen  Inhalt  nach  schon  sofort  aus  nachgeschriebeneu  Heften  theils  durch 
Frauenstädt  („Sendlings  Vorlesungen  in  Berlin",  Berlin  1842),  theils  durch  Paulus 
(.die  endl.  offenbar  gewordene  positive  Philos.  d.  Offenbarung,  —  der  allgemeinen 
Prüfung  dargelegt-  von  H.  E.  G.  Paulus,  Darmstadt  1843.  Schelliüg  Hess  sich  in 
Folge  dieser  ohne  sein  Wissen  und  Willen  geschehenen  Veröffentlichung  in  einen 
Process  wegen  Nachdrucks  mit  Paulus  eiu,  der  aber  zu  seinen  Ungunsten  entschieden 
wurde)  veröffentlichten  religionsphilosophischen  Vorlesungen  führte  Schelling  im 
Wesentlichen  nur  die  Bchon  in  der  Schrift  über  die  Freiheit  vorgetragene  Speculaüon 
weiter  aus.  Die  posiUve  Philosophie  will  nicht  aus  dem  Begriffe  Gottes  seine 
Existenz,  sondern  umgekehrt,  von  der  Existenz  ausgehend,  die  Göttlichkeit  des 
Existirenden  beweisen.  In  Gott  werden  von  Schelling  unterschieden:  a.  das  blind 
nothwendige  oder  unvordenkliche  Sein,  b.  die  drei  Potenzen  des  göttlichen  Wesens: 
der  bewusstlose  Wille  als  die  causa  raaterialis  der  Schöpfung,  der  besonnene  Wille 
als  die  causa  efBciens,  die  Einheit  beider  als  die  causa  fiualis,  secundum  quam 
omnia  fiuut;  c.  die  drei  Personen,  die  aus  den  drei  Potenzen  durch  Ueberwindung 
des  unvordenklichen  Seins  vermöge  des  theogonischen  Processen  hervorgehen,  nämlich : 
der  Vater  als  die  absolute  Möglic  hkeit  des  Ueberwindens,  der  Sohn  als  die  über- 
windende Macht,  der  Geist  als  die  Vollendung  der  Ueberwindung.  In  der  Natur 
wirken  nur  die  Potenzen,  im  Menschen  die  Persönlichkeiten.  Indem  der  Mensch 
vermöge  seiner  Freiheit  die  Einheit  der  Potenzen  wieder  aufhob,  ward  die  zweite 
vermittelnde  Potenz  entwirklicht,  d.  h.  der  Herrschaft  über  das  blindseiende  Priucip 
beraubt  und  zur  bloss  natürlich  wirkenden  Potenz  erniedrigt.  Sie  macht  sich  im 
Bewusstsein  des  Menschen  wieder  zum  Herrn  jenes  Seins  und  wird  zur  göttlichen 
Persönlichkeit  vermöge  des  theogpnischeu  Proceases,  dessen  Momente  die  Mytho- 
logie und  die  Offenbarung  sind.  Die  zweite  Potenz  war  im  mythologischen  Bewusst- 
sein in  göttlicher  Gestalt  («»  uoQrffj  9iov),  entäusserte  sich  aber  derselben  und  ward 
Mensch,  um  durch  Gehorsam  in  Einheit  mit  dem  Vater  göttliche  Persönlichkeit  zu 
werdeu.  Die  Epochen  der  christlichen  Zeit  bestimmt  Schelling  (iudem  er  den 
fichteschen  Gedanken,  dass  der  Protestantismus  den  paulinischen  Charakter  trage 


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§  31.    Schellings  Anh.  und  Geistesverw.    Oken  u.  Andere. 


331 


dus  Johannes-Evangelium  aber  mit  Beinern  Logos-Begriff  den  christlichen  Geist  am 
reinsten  aasdrücke,  weiter  ausbildet)  als  das  petrinische  Christentum  oder  den 
Katholicismus,  das  paulinische  oder  den  Protestantismus,  und  drittens  die  .Johaunes- 
kirche  der  Zukunft*.*) 

§  31.  Unter  den  zahlreichen  Anhängern  und  Geistesverwandten 
Sendlings  sind  für  die  Geschichte  der  Philosophie  besonders  folgende 
(in  deren  Nennung  wir  von  Männern,  die  sich  enger  an  Sendling  und 
besonders  an  die  erste  Form  seiner  Lehre  anschlössen,  zu  solchen 
fortgehen,  die  zu  ihm  in  einem  freieren  Verhältnis  standen  und  zum 
Theil  ihrerseits  auf  ihn  Eiulluss  geübt  haben)  von  Bedeutung:  Georg 
Michael  Klein,  der  treue  Darsteller  des  Identitätssystems,  Johann 
Jakob  Wagner,  der  den  Pantheismus  des  Identitätssystems  gegen- 
über dem  Neupiatonisinus  und  Mysticismus  in  Schellings  späteren 
Schriften  festhält,  an  die  Stelle  des  Ternars  oder  der  Trichotomie 
aber  den  Quaternar  oder  die  viertheilige  Construction  setzt,  der  um 
die  Geschichte  der  Philosophie  und  besonders  der  platonischen  ver- 
diente Georg  Anton  Friedrich  Ast,  der  durch  sein  Handbuch  der 
Geschichte  der  Philosophie  bekannte  Thaddäus  Anselm  Rixncr,  der 
Naturalist  Lorenz  Oken,  nach  welchem  alle  Philosophie  nur  Natur- 
philosophie ist,  der  Pflanzenphysiolog  Nees  von  Esenbeck,  der 
Pädagog  und  Religionsphilosoph  Bernhard  Heinrich  Blasche,  der 
um  die  Bearbeitung  der  Erkenntnisslehre  verdiente  Ignaz  Paul  Vital 
Troxler,  welcher  in  manchem  Betracht  von  Schellinga  Lehre  ab- 
weicht, Adam  Karl  August  Eschenmayer,  der  die  Philosophie 
schliesslich  in  Nichtphilosophie  oder  religiösen  Glauben  übergehen 
lässt,  der  extreme  Katholik  und  Enthusiast  Joseph  Görres,  der 
mysstisch-naturphilosophische  Psycholog  und  Kosmolog  Gotthilf  Hein- 
rich von  Schubert,  der  die  schellingsche  Naturphilosophie  mit  be- 
sonnenem Empirismus  verbindende  Physiolog  und  Psycholog  Karl 
Friedrich  Burdach,  der  geistvolle  Psycholog  und  Kranioskop  Karl 
Gustav  Carus,  der  Phvsiker  Hans  Christian  Oersted,  der  Aesthetiker 
Karl  Wilhelm  Ferdinand  Solger,  der  vielseitig  gebildete,  schliess- 
lich dem  strengen  Coufessionalismus  der  Altlutheraner  huldigende 
Heinrich  Steffens,    der   mit  Steffens   befreundete  Astronom  und 


*)  Diese  konnte  freilich  durch  Schellings  erneuten  Gnosticismus,  der  gleich 
dem  alten  an  die  Stelle  des  religionsphilosophischen  Begriffes  das  Phantasma  setzte, 
sicherlich  nicht  begründet  werden;  zudem  ist  die  Voraussetzung  unhistorisch,  dass 
der  Gegensatz  der  katholischen  und  protestantischen  Kirche  sich  mit  dem  der 
petrinischen  und  paulinischen  Richtaug  decke.  Das  „Johanues-Kvangelium*  hat 
durch  Umformung  pauliuischer  Gedanken  eben  die  Vermittelung  angebahnt,  welche 
bereits  die  altkatholische  Kirche  auch  praktisch  darstellt.  Die  Aufgaben  der 
Zukunft  aber  können  nicht  durch  eine  wirkliche  Repristiuation  gelöst  und  nicht 
durch  ein  mit  dem  Scheine  der  Repristiuation  sich  umkleidendes  Analogienspiel 
zutreffend  bezeichnet  werden. 


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332 


§31.   Schellinga  Anh.  und  Geistesverw.  Oken, 


Rechtsphilosoph  Johann  Erich  von  Berger,  der  Theosoph  Franz 
von  Baader,  der  allseitige  Denker  Karl  Christian  Friedrich  Krause. 
Die  beiden  letztgenannten  sind  Stifter  besonderer  philosophischer 
Richtungen  geworden.  Baader  hat  sich  vielfach  an  Jakob  Böhme 
angelehnt  und  mit  dessen  mystischen  Gedanken  kantische  und  fichtesche 
Elemente  verbunden.  Es  kommt  ihm  besonders  darauf  an,  einen 
Parallelismus  zwischen  dem  „Reich  der  Natur"  und  dem  „Reich  der 
Gnade"  herzustellen.  Krause,  der  alle  Theile  der  Philosophie  be- 
arbeitet hat  und  über  den  Pantheismus  des  Identitatssystems  zu  einer 
All-in-Gott-Lehre  oder  Panentheismus  hinauszugehen  sucht,  hat  seinen 
philosophischen  Schriften  die  Verbreitung  unter  den  Deutschen  durch 
seine  wunderliche  Terminologie,  die  rein  deutsch  sein  soll,  aber  un- 
deutsch ist,  selbst  beschränkt. 

Von  Schelling  gingen  auch  der  ausserdem  besonders  durch  Piaton, 
Spinoza,  Kant  und  Fichte  philosophisch  angeregte  Theolog  Schleier- 
macher und  der  Philosoph  Hegel  aus.  —  Mit  gewissen  neuschelling- 
schen  Principien  kommt  der  antirationalistische,  theologisirende  Rechts- 
philosoph Friedrich  Julius  Stahl  überein  (obwohl  derselbe  gegen  die 
Bezeichnung  seiner  Gesammtrichtung  als  „Neuschellingianisnius"  pro- 
testirt). 

Für  den  Zweck  des  vorliegenden  Grundrisses  mag  es  genügen,  die  philosophischen 
Haupts  chriften  der  genannten  Männer  anzugeben  und  kurze  Bemerkungen  anzufügen. 
Nur  bei  Krause,  als  einem  eigentümlichen  Denker,  der  aber  immerhin  mit  Schelling 
viele  Berührungspunkte  hat  und  deshalb  in  diesem  Paragraphen  behandelt  werden  kann, 
glaubten  wir  eine  Ausnahme  machen  und  wenigstens  etwas  ausführlicher  auf  seine 
Lehre  eingehen  zu  müssen.  Von  Hegel  und  Schleiermacher  wird  in  besonderen  Para- 
graphen gehandelt  werden.  Wer  genauere  Belehrung  sucht,  sei  auf  die  Werke  selbst 
und  auf  Specialdarstellungen,  daneben  aber  besonders  auf  Erdmanns  umfassende  Gesammt- 
überaicht  (Theil  II  seiner  „Entwickig.  d.  deutsch.  Speculation  seit  Kant«,  Gesch.  der 
n.  Ph.  Bd.  III,  2.  Abth.)  verwiesen. 

G.  M.  Kleina  (geb.  1776,  gest.  1820)  ganz  auf  schellingschen  Schriften  und 
Vorträgen  beruhendes  Hauptwerk  ist:  Beiträge  z.  Stud.  der  Philos.  als  Wissenschaft 
des  All,  nebst  einer  vollständ.  u.  fassl.  Darstellg.  ihrer  Hauptmomeute,  Würzburg 
1805.  Speciell  hat  derselbe  die  Logik,  Ethik  und  Religionslehre  nach  den  Prin- 
cipien des  Identitätssystems  bearbeitet  in  den  Schriften:  Verstandeslehre,  Bamberg 
1810,  umgearbeitet  als:  Anschauungs-  und  Denklehre,  Bamberg  u.  Würzburg  1818; 
Versuch,  die  Ethik  als  Wissenschaft  zu  begrüud.,  Rudolstadt  1811;  Darstellung  der 
philos.  Relig.  u.  Sittenlehre,  Bamberg  u.  Würzburg  1818.  In  der  letzten  Schrift 
suchte  er  das  Identitätssystem  als  der  Religion  und  Sittlichkeit  ungefährlich  zu 
erweisen. 

Eine  verwandte,  jedoch  der  fichteschen  näher  stehende  Richtung  verfolgte 
Joh.  Josua  Stutzmann  (1777—1816),  Philos.  Untersuchung  üb.  d.  Gründe 
aller  Moral  u.  Religion,  in:  Henkcs  Mus.  d.  Relig.  1803.  Systemat.  Einleit  in  cL 
Religionsphilos.,  Gotting.  1804.  Philosophie  des  Universums,  Erl.  1806.  Philo- 
sophie der  Gesch.  der  Menschh.,  Nürnb.  1808.  Grundzüge  des  Standpunktes,  Geistes 
u.  Gesetzes  der  universell.  Philos.,  Nürnb.  1811. 


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Solger,  Steffens,  Baader,  Krause  u.  Andere. 


333 


Joh.  Jak.  Wagner  (1775—1821),  Thilos,  der  Erziehungsknnst,  Leipz.  1802. 
Von  der  Natur  der  Dingo,  Lpz.  1803.  Syst.  d.  Idealphilos.,  Lpz.  1804.  Grundriss 
der  Staatswissensch,  u.  Politik,  Lpz.  1805.  Theodicee,  Bamberg  1809.  Mathematische 
Philos.,  Erl.  1811.  Der  Staat,  Erl.  1811.  Organon  der  menschl.  Erkenntniss,  Erl. 
1830,  Ulm  1851.  Nachgelassene  Schriften,  Kleine  Schriften,  3  Thie,  hrsg.  Ulm 
1845—1847,  von  Ph.  L.  Adam,  hrsg.  von  dems.,  Ulm  1852—57.  Ueber  ihn  handelt 
Leonh.  Rabus,  J.  J.  Wagners  Leben,  Lehre  u.  Bodeutg.,  ein  Beitrag  z.  Gesch.  d. 
deutsch.  Geistes,  Nürnberg  1862.  Er  suchte  die  Mathematik  eng  mit  der  Philosophie 
zu  verbinden.  Die  begriffenen  mathematischen  Sätze  sollen  mit  den  Formen  des 
Denkens  und  der  Sprache  übereinstimmen.  Denken  ist  Rechnen;  eine  chemische 
Analyse  ist  nichts  als  eine  Division. 

F.  Ast  (1778—1841;,  Handb.  d.  Aesthetik,  Lpz.  1805.  Grundlinien  d.  Philos., 
Landshut  1807,  2.  Aufl.  1809.  Grundriss  e.  Gesch.  d.  Philos.,  ebd.  1807,  2.  Aufl. 
1825.   Piatons  Leben  u.  Schriften,  Lpz.  1816. 

Th.  Ans.  Rixner  (1766—1838),  Aphorismen  aus  der  Philos..  Landshut  1809, 
umgearbeitet  Sulzbach  1818.  Handb.  d.  Gesch.  d.  Philos.,  ebd.  1822—23,  2.  Aufl. 
1829;  Supplementband,  verfasst  von  Victor  Philipp  Gumposch,  ebd.  1850. 

Lor.  Oken  (1779—1851).  die  Zeugung,  Bamberg  u.  Würzb.  1805  (die  Samen- 
bildung ist  Zersetzung  des  Organismus  in  Infusorien,  die  Fortpflanzung  ist  eine 
Flucht  des  Bewohners  aus  der  einstürzenden  Hütte.  Elemente  des  organischen 
Körpers  sind  die  Blüthen,  die  im  Wasser  zu  Thieren,  in  der  Luft  zu  Pflanzen 
determinirt  werden).  Ueb.  d.  Universum,  Jena  1808.  Lehrb.  d.  Naturphilos.,  Jena 
1809  ,  3.  Aufl  ,  Zürich  1843.  Isis,  eneyclopädische  Zeitschrift,  Jena  1817  ff. 
Die  Naturphilosophie  ist  für  Oken  die  Lehre  von  der  ewigen  Verwandlung 
Gottes  in  die  Welt,  und  zwar  ist  ihm  die  ganze  Philosophie  nur  Naturphilo- 
sophie. Zwar  behandelt  er  auch  Wissenschaft,  Staat,  Kunst.  Aber  alles  dies  ist 
ihm  nichts  als  Naturerscheinung.  Der  Mensch  ist  das  vollkommene  Thier;  sein  Ver- 
stand ist  Weltverstand.  Er  stellt  in  der  Kunst,  der  Wissenschaft,  dem  Staate  den 
Willen  der  Natur  vollkommen  her.  Die  Organismen  haben  sich  aus  einem  Urschleim 
entwickelt,  und  das  Thierreich  ist  der  in  seine  Bestandteile  auseinandergelegte 
Mensch,  indem  sich  bei  diesem  in  kleine  Organe  gesammelt  hat,  was  auf  die  ver- 
schiedensten Thierklassen  vertheilt  ist.  Die  auf  den  niederen  Stufen  selbständigen 
Gegensätze  kehren  auf  deu  höheren  als  Attribute  wieder.  Vergl.  A.  Ecker, 
L.  Oken,  eine  biograph.  Skizze,  Stuttgart  1880;  C.  Güttier,  L  0.  u.  s.  Verhältn. 
zur  modernen  Entwickelungsl.,  Lpz.  1885. 

Nees  von  Esenbeck  (1776—1858),  das  System  der  speculativen  Philosophie, 
Bd.  I:  Naturphilosophie,  Glogau  und  Leipzig  1842. 

B.  H.  Blas  che  (1776—1832),  über  das  Wichtigste,  was  in  d.  Naturphilos.  seit 
1811  ist  geleistet  worden,  in  Isis  1819,  IX.  Das  Böse  im  Einklang  mit  der  Welt- 
ordnung, Lpz.  1827.  Handb.  der  Erziehungswissensch.,  Giessen  1828.  Philos.  der 
Offenbarung,  Lpz.  1829.  Thilos.  Unsterblichkeitslehre,  oder:  wie  offenbart  sich  das 
ewige  Leben?  Erfurt  und  Gotha  1831. 

Ignaz  Paul  Vitalis  Troxler  (1780— 1866),  Naturlehre  des  menschl.  Erkennens, 
Aarau  1828.  Logik  der  Wissensch,  des  Denkens  u.  Krit.  aller  Erkenntniss,  Stuttg. 
u.  Tüb.  1829—30.  Vorlesgn.  üb.  d.  Philos.,  als  Encyclopädic  u.  Methodologie  der 
philos.  Wissenschaften,  Bern  1835.  Vgl.  Werber,  d.  Lehre  von  der  menschl.  Er- 
kenntniss, Karlsr.  1841,  Abhandlungen:  I.  d.  Entstehg.  d.  menschl.  Sprache  u.  ihre 
Fortbildg  ,  II.  Grundlagen  der  Philos.  des  Schönen  und  der  Philos.  des  Wahr., 
Heidelberg  1871-73. 

Carl  Adolf  Eschenmayer  (1770—1852,  seit  1811  in  Tübingen\  d.  Philos.  in 
ihr.  Uebergange  zur  Nichtphilos.,  Erlang.  1803.    Psychologie,  Tüb.  1817,  2.  Aufl. 


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334 


§  31.   Schein  ml'-  Anh.  und  Geistesverw.  Oken, 


1822.  System  der  Moralphilos.,  Stnttg.  n.  Tüb.  1818.  Normalrecht,  ebd.  1819-20. 
Religionspbil.,  1.  Theil :  Rationalismus,  Tüb.  1818,  2.  Theil :  Mysticisraus,  ebd.  1822, 
3.  Theil:  Supernaturalismus,  ebd.  1821.  Mysterien  d.  innern  Leb.,  erläut.  aus  der 
Gesch.  der  Seherin  von  Prevorst,  Tüb.  1830.  Grundr.  d.  Naturphil.,  ebd.  1832.  Die 
hegelsche  Religionsphilos.,  Tüb.  1834.  Grundzüge  einer  christl.  Philos.,  Basel  1841. 
Der  Glaube  steht  über  der  Speculation  und  will  diese  nicht  verwerfen,  sondern  er- 
gänzen. In  seiner  Religionsphilosophie  stellt  er  über  den  Rationalismus  und  Mysti- 
cismus  den  Supranatnralismus.  Gegen  Ende  seines  Lebens  beschäftigte  sich  E. 
besonders  mit  Geistererscheinungen. 

G.  H.  Schubert  (1780—1860),  Ahndungen  einer  allgem.  Gesch.  d.  Lebens,  Lpz. 
1806-1821.  Ansichten  von  d.  Nachtseite  der  Naturwissensch.,  Dresd.  1808,  4.  Aufl. 
1840.  Die  Symbolik  des  Traumes,  Bamberg  1814.  Die  Urwelt  und  die  Fixsterne, 
Dresd.  1823,  2.  Aufl.  1839.  Gesch.  der  Seele,  Tüb.  1830,  5.  Aufl.  Stuttg.  1878. 
Ein  Auszug  daraus:  Lehrbuch  der  Menschen-  u.  Seelenkunde,  Erlang.  1838,  2.  Aull. 
1842.  Die  Krankheiten  und  Störungen  der  menschl.  Seele,  Stuttg.  1845.  Der  Er- 
werb aus  einem  vergangenen  u.  die  Erwartungen  von  einem  künftigen  Leben,  eine 
Selbstbiographie,  2  Bde.,  Erlang.  1854  u.  55. 

K.  F.  Burdach  (1776—1847),  der  Mensch  nach  den  verschied.  Seiten  seiner 
Natur,  Stuttg.  1836,  2.  Aufl.  a.  u.  d.  T.:  Anthropol.  für  das  gebild.  Publicum,  hrsg. 
von  Ernst  Burdach,  ebd.  1847.  Blicke  ins  Leben,  Bd.  I— II:  comparative  Psychol. , 
Bd.  III:  Sinnenmängel  u.  Geistesmacht  Lebensbahnen,  Bd.  IV:  Rückblick  auf  mein 
Leben,  Lpz.  1842—48. 

Dav.  Theod.  Aug.  Suabcdissen  (1773—1835,  ebensosehr  durch  Kant,  Reiuhold 
und  Jacobi,  wie  durch  Schelling  angeregt),  die  Betrachtung  des  Menschen,  Cassel, 
und  Lpz.  1815—18.  Zur  Einltg.  in  d.  Philos.,  Marburg  1827.  Grundzüge  d.  Lehre 
vom  Menschen,  ebd.  1829.  Grundzüge  d.  philos.  Religionslehre,  ebd.  1831.  Grund- 
züge d.  Metaph.,  ebd.  1836. 

Carl  Gust.  Ca  ms  (1789 — 1869),  Grundzüge  der  vergleich.  Anatomie  u.  Physio- 
logie, Dresd.  1825.  Vorlesgn.  über  Psychol.,  Lpz.  1831.  Syst.  der  Physiol.,  Lpz. 
ia38-40,  2.  Aufl.  1847—49.  Grundzüge  der  Kranioskopie,  Stuttg.  1841.  Psyche, 
zur  Entwickelungagesch.  der  Seele,  Pforzheim  1846.  3.  Aufl.,  Stuttg.  1860.  Physis, 
zur  Gesch.  d.  leibl.  Lebens,  Stuttg.  1851.  Symbolik  der  menschl.  Gestalt,  Leipz. 
1853,  2.  Aufl.  1857.  Organon  der  Erkenntniss  der  Natur  u.  d.  Geistes,  Lpz.  1855. 
Vergleichende  Psychol.  oder  Gesch.  der  Seele  in  der  Reihenfolge  der  Thierwelt, 
Wien  1866.  Vcrgl.  Carl  Gust  Carus,  Lebenserinnerungen  und  Denkwürdigkeiten, 
Leipzig  1865. 

H.  Chr.  Oersted  (1777-1851),  d.  Geist  i.  d.  Natur,  Kopenh.  1850-51,  dtsch. 
v.  K.  L.  Kanuegiesser,  Lpz.  1850,  3.  A.  ebd.  1868.  Neue  Beiträge  zu  dem  G.  i. 
d.  N,  deutsch  Lpz.  1851.  II.  Chr.  Oerstedt,  gesammelte  Schriften,  deutsch  von 
Kannegiesser,  6  Bde.,  Lpz.  1851—53. 

K.  W.  Ferd.  Solger  (1718—1819),  Erwin,  vier  Gespräche  üb.  das  Schöne 
u.  d.  Kunst,  Berl.  1815.  Philosoph.  Gespräche.  Berl.  1817.  Nachgelass.  Schriften 
und  Briefwechsel,  hrsg.  von  Ludw.  Tieck  u.  Friedr.  v.  Raumer.  Lpz.  1826.  Vöries, 
üb.  Aesthetik,  hrsg.  von  K.  W.  L.  Heyse,  Berl.  1829. 

H.  Steffens  (1773—1845,  Norweger  von  Geburt,  seit  1804  in  Deutsehland, 
Prof.  in  Halle,  Breslau,  Berlin),  Recens.  von  Sendlings  naturphilos.  Schriften,  ver- 
fasst  1800,  abg.  in  Schellings  Ztschr.  für  specul.  Physik,  Bd.  I,  Heft  1,  S.  1-48 
und  Heft  2,  S.  88—121.  Ueber  d.  Oxydations-  und  Desoxydationsprocess  der  Erde, 
ebd.  Heft  1,  143—168.  Beiträge  z.  inneren  Naturgesch.  der  Erde,  Freiberg  1801. 
Grundzüge  d.  philos.  Naturwissensch ,  Berl.  1806.  Ueb.  d.  Idee  der  Universitäten, 
Berl.  1809.   Caricaturen  des  Heiligsten,  Lpz.  1819-21.   (Durch  die  Sünde  werden 


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Solger,  Steffens,  Baader,  Krause  u.  Andere. 


33f) 


die  einzelnen  Momente  der  Idee  des  Staats  in  den  Erscheinungen  isolirt  und  ver- 
zerrt. Zusammengenommen  lassen  sie  allerdings  noch  die  Idee  erkennen,  aber  einzeln 
sind  sie  ihr  entgegengesetzt.)  Anthropol.,  2  Bde ,  Bresl.  1823.  Wie  ich  wieder 
Lutheraner  ward,  und  was  mir  das  Lutherthum  ist,  ebd.  1836  (gegen  die  Union). 
Polemische  Blätter  zur  Beförderung  der  specul.  Physik,  Bresl.  1829,  1835.  Novellen. 
Bresl.  1837  bis  1838.  Christi.  Religionsphilos.,  Bresl.  1839.  Was  ich  erlebte, 
Bresl.  1840—45, 2.  Aufl.  1844—  46.  Nachgel.  Schriften,  m.  e.  Vorw.  v.  Schelling,  Berl. 
1846.  Mit  Mineralogie  und  Geognosie  besonders  vertraut,  stellte  er  eine  geschicht- 
liche Ansicht  von  der  Natur  auf  und  suchte  Entstehung  und  Geschichte  des 
Menschen  einzureihen  in  einen  Zusammenhang  mit  dem  Erdorganismus  und  der 
Entwickelung  des  ganzen  Sonnensystems,  wie  er  auch  den  ersten  Theil  der  Anthro- 
pologie geologische  Anthropologie  nennt.  In  dem  zweiten  und  dritten  Theil,  dem 
physiologischen  und  psychologischen,  sucht  er  darzuthun,  wie  durch  die  Begierde 
des  Menschen  die  ganze  Natur  angesteckt  in  Kampf  gerieth,  und  wie  dieser  Kampf 
durch  Aneignung  der  Gnade  zu  Ende  kommt.  Besondere  auf  Braniss  hat  Steffens 
grossen  Einfluss  geübt. 

J.  E.  v.  Berger  (1772— 1833,' seit  1814  Prof.  der  Astronomie  in  Kiel,  nach 
Reinholds  Tode  seit  1823  der  Philosophie),  philosoph.  Darstellg.  d.  Harmonie  des 
Weltalls,  Altona  1808.  Allgera.  Grundzüge  der  Wissenschaft,  4  Bde.  (I.  Analyse 
des  Erkenntnis8vermög.,  2.  zur  philos.  Naturerkenntniss,  3.  Anthropol.,  4.  prakt. 
Phil.),  Altona  1817—27.  Er  schloss  sich  zuerst  schellingschen  Ansichten  an,  ver- 
suchte dann  in  seinem  grösseren  Werke  eine  Vereinigung  Schellings  und  Fichtes, 
zeigte  aber  hier  zugleich  eine  Abhängigkeit  von  Hegel.  Vgl  H.  Ratjen,  Joh. 
Erich  v.  Bergers  Leben,  Altona  1835.  Berger  ist  von  Einfluss  auf  Trendelenburg 
gewesen. 

Carl  Hieron.  Windischmann  (1775—1839,  seit  1818  Prof.  d.  Philos.  u. 
Medic.  in  Bonn)  schloss  sich  zuerst  unbedingt  an  Schelling  an,  so  in:  Begriff  der 
Physik,  1802,  Idee  zur  Physik,  Würzb.  1805.  Später  gewann  die  hegelsche  Philo- 
sophie wesentlichen  Einfluss  auf  ihn.  Sein  Hauptwerk:  die  Philosophie  im  Fort- 
gange der  Weltgeschichte,  4  Bde.,  Bonn  1827 — 34,  ist  über  China  und  Indien  nicht 
hinausgekommen.  Es  sollte  „die  Geschichte  der  Philosophie  so  darstellen,  dass  in 
ihr  die  Geschichte  der  Intelligenz  im  Fortgange  der  Weltgeschichte  erkannt  werde*. 
Wie  bei  Schubert,  Baader,  Molitor  (s.  unt  S.  337)  tritt  auch  bei  Windischmann 
zeitweise  Hinneigung  zum  magnetischen  Somnambulismus  hervor.  In  Bonn  bildete 
er  den  Mittelpunkt  des  den  Hermesianismns  bekämpfenden  Ultramontanismus. 

Franz  Baader  (geb.  27.  März  1765  in  München,  später  geadelt,  zuerst  Arzt, 
dann  Bergmann  und  als  solcher  bis  1820  im  bayerischen  Staatsdienst,  seit  1826 
Honorarprofessor  an  d.  Univers.  München,  gest.  ebd.  23.  Mai  1841;  seine  Biogr., 
von  Franz  Hoffmann  verf.,  steht  im  15.  Bde.  d.  Gesammtausgabe  seiner  Werke 
und  ist  auch  separat,  Lpz.  1857,  erschienen^,  der  mit  seinen  Fachstudien  das  der 
Philosophie  und  Mathematik  verband,  besonders  mit  Schriften  Kants,  später  auch 
Fichtes  und  Schellings,  wie  andererseits  Jakob  Böhmes  und  Louis  Cluude  de 
St.  Martins  vertraut  (über  sein  Verhältniss  zu  Böhme  handelt  Hamberger  im  13., 
zu  St.  Martin  Fr.  v.  Osten -Sacken  im  12.  Bde.  der  Gesammtausg.  der  Werke 
Baaders),  hat  auf  die  Ausbildung  von  Schellings  Naturphilosophie  einen  nicht  un- 
beträchtlichen, auf  die  der  schellingschen  Theosophie  einen  wesentlich  mitbestimmen- 
den Einfluss  gewonnen,  während  er  andererseits  durch  Schellings  Doctrin  in  der 
Ausbildung  seiner  eigenen  Speculation  gefördert  worden  ist  Baaders  Beiträge  zur 
Elementarphysiologie,  Hamb.  1797,  sind  von  Schelling  in  seinen  naturphilosophischen 
Schriften  benutzt  worden,  durch  Schellings  „Weltseelo*  ist  Baader  zu  seiner  Schrift 
„üb.  d.  pythagor.  Quadrat  in  d.  Natur  od.  d.  vier  Weitgehenden",  Tüb.  1798,  ver- 


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§  31.   Schellings  Anh.  and  Gcistesverw.  Oken, 


anlasst  worden,  woraus  Sendling  wiederum  manches  in  Beinem  »ersten  Entwurf 
e.  Syst  d.  Natnrphil."  1799  und  in  der  .Ztschr.  f.  Bpecul.  Physik"  entnommen  hat. 
Demnächst  hat  Baader,  hauptsächlich  im  mündlichen  Verkehr,  Schölling  auf  den 
Theosophen  Jakob  Böhme  hingelenkt.   Eine  Sammlung  baaderscher  Abhandlungen 
sind  die  .Beiträge  zur  dynamischen  Philos.*,  Berl.  1809.    In  den  „Fermenta 
cognitionis",1822— 25,  bekämpft  Paader  die  damals  herrschenden  philosophischen 
Richtungen  und  empfiehlt  das  Studium  des  Jak.  Böhme.   Die  an  der  Münchener 
Universität  gehaltenen  Vorlesungen  über  speculative  Dogmatik  sind  in 
5  Heften  1827—38  im  Druck  erschienen.  Die  zu  Baaders  Lebzeiten  veröffentlichten 
und  die  im  Manuscript  nachgelassenen  Schriften  hat  Baaders  bedeutendster  Schüler, 
Franz  II  offmann  (gest.  22.  Octob.  1881  als  Prof.  d.  Philos.  in  Würzburg,  der  Ver- 
fasser der  specul.  Entwickig.  d.  ewig.  Selbsterzeugung  Gottes,  aus  Baaders 
Schriften  zusmgetrag.,  Amberg  1835,  der  Vorhalle  z.  specul.  Theol.  Baaders, 
Aschaffenb.  1836,  der  Grundzüge  der  Societätsphilos.  von  Franz  Baader,  Würzburg 
1837,  Franz  von  Baader  als  Begründer  der  Philos.  der  Zukunft,  Leipzig  1836, 
und  anderer  Schriften),  im  Verein  mit  Jul.  Hamberger,  Emil  August  v.  Schaden, 
Christoph  Schlüter,  Anton  Lutterbeck  und  Freihr.  v.  Osten-Sacken,  unter  Beifügung 
von  Einleitungen  und  Erläuterungen  in  einer  Gesammtausgabe  zusammengestellt:  .Franz 
von  Baaders  Bämmtl.  Werke",  16  Bde  .  Lpz.  1851 — 60.   Die  Einleitung:  Apologie  der 
Naturphil.  Baaders  wider  directe  und  indirecte  Angriffe  d.  modern.  Phil,  uod  Natur- 
wissensch,.  ist  auch  in  besond.  Abdruck,  Lpz.  1852,  erschienen.  Ferner  hat  Hoffmann 
hrsg.:  die  Weltaltcr,  Lichtstrahlen  aus  Baaders  Werken,  Erlang.  1868;  J.A.B. Lutter- 
beck: üb.  d.  philos.  Stdpkt.  Baaders,  Mainz  1854  (vgl.  auch  Lutterbeck,  die  neutest. 
Lehrbegriffe,  Mainz  1852);  Hamberger:  die  Cardinalpunkte  der  b.schen  Philos., 
Stuttgart  1855,  Christenth.  und  moderne  Cultar,  Erlang.  1863,  Physica  sacra  od. 
r.  Begriff  d.  himmlisch.  Leiblicbk.,  Stuttg.  1869,  Versuch  e.  Charakteristik  der  Theo- 
sophie Frz.  Baaders,  im  Theol.  St.  u.  Kr.,  Jahrg.  1867,  S.  107—123;  J.  Claasseu. 
F.  v.  B.b  Leben  u.  Theosoph.  W.W.  als  Inbegriff  christl.  Ph.  Vollständiger 
naturgetreuer  Ausz.,  1.  Bd.,  Stuttg.  1886,  2.  Bd.  1887.    Theod.  Culman:  die  Prin- 
eipien  der  Phil.  Franz  v.  B.s  und  E.  A.  von  Schadens,  in:  Zeitschrift  f.  Ph., 
Bd.  37,  1860,  S.  192—226  uud  Bd.  38,  1861,  S.  73-102;  Franz  Hoffrnann:  Be- 
leuchtg.  d.  Angriffs  auf  B.  in  Thilos  Schrift:  die  theologisirende  Rechts-  und  Staats- 
lehre, Leipzig  1861,  über  die  b.sche  und  herbartsche  Philosophie,  im  Athenaeum 
(philos.  Zeitschr.,  hrsg.  v.  Frohschammer),  Bd.  2,  Heft  1,  1863,  üb.  die  b.sche  und 
schopenhauersche  Phil.  ebd.  Heft  3,  1863,  Philos.  Schriften,  I— VIII,  Krlang., 
1868—82.    S.  ferner  über  Baader:  K.  Ph.  Fischer,  zur  hundertjähr.  Geburtstags- 
feier B.s:  Versuch  e.  Charakteristik  seiner  Theosophie  u.  ihr.  Verhältnisses  z.  d. 
Systemen  Sendlings  und  Hegels,  Daubs  und  Schleiermachers,  Erlangen  1865; 
Lutterbeck,  Baaders  Lehre  vom  Weltgebäude,  Frankf.  1866;  Alex.  Jung,  über  B.s 
Dogmatik  als  Reform  der  Societäts  -  Wissenschaft,  Erlang.  1868;  Baumann,  kurze 
Darstellung  der  Phil.  Franz  v.  Baaders  in  Phil.  Monatsh.,  Bd.  14,  S.  321-340. 
Vgl.  auch  den  ausführlichen  Artikel  über  Baader  in  Noacks  Philos.-gesch.  Lexicou. 

Die  Schriften  Baaders  sind  reich  au  Etymologien  und  spielenden  Analogien  und 
meist  in  wenig  zusammenhängender  Form  abgefasst.  Mit  der  schellingschenSpeculation 
theilt  die  baadersche  den  Mangel  an  strenger  Beweisführung  und  das  Prävaliren 
der  Phantasie.  Schüler  Baaders,  wie  Hoffmann,  haben  diesem  Mangel  in  so  weit 
abzuhelfen  gesucht,  als  derselbe  in  Baaders  aphoristischer  Schreibart  begründet  ist, 
ohne  jedoch  hierdurch  die  Gedanken  selbst  als  wissenschaftlich  nothwendige  er- 
weisen zu  können.  Nach  Baader  ist  der  Mensch  weder  im  Praktischen  autonom, 
wie  Kant  will,  noch  ist  er  im  Theoretischen  in  der  Ausübung  seiner  Vernunft 
alleinwirkend.  Was  sein  Wollen  begründet  in  seiner  Bewegung,  muas  selbst  Wille. 


Solger,  Steffens,  Baader,  Krause  u.  Andere. 


337 


ein  Wollender  sein,  und  in  seiner  Erkenntnis^  ist  der  Mensch  nur  ein  Mitwirker 
der  göttlichen  Vernunft.  Unser  Wissen  ist  ein  Mitwissen  (conscientia)  des 
göttlichen  Wissens  und  daher  weder  ohne  dieses  zu  begreifen,  noch  auch  anderer- 
seits mit  diesem  zu  identificireu.  Zwar  kann  Gott  nicht  erwiesen  werden,  aber 
man  kann  doch  die  unmittelbare  Ueberzcugung  von  Gott  klarer  macheu.  Mit  dem 
Gewissen,  d.  h.  dem  Sichwissen,  fällt  zusammen  das  Wissen  des  Gewusstwerdens 
von  einem  Höheren.  Wir  sind  weder  theoretisch  noch  praktisch  spontan  thätig, 
sondern  nur  reeeptiv  thätig,  bedürfen  also  fortwährend  eines  Höheren.  Der  Mensch 
ist  das  sprechende  und  wirksame  Bild  Gottes,  und  demnach  wird  man  sich  nach  dem 
Wesen  des  Menschen  auch  eine  weitere  Kenntniss  Gottes  verschaffen  können.  Von 
dem  immanenten  oder  esoterischen  oder  logischen  Lebensprocess  Gottes,  wodurch 
Gott  Bich  selbst  aus  seinem  Nichtoffenbarsein  hervorbringt,  ist  der  emanente  oder 
exoterische  oder  reale  zu  unterscheiden,  in  welchem  Gott  durch  Ueberwindung  der 
ewigen  Natur  oder  des  Princips  der  Selbstheit  zur  Dreipersönlichkeit  wird,  und 
von  beiden  Processen  wiederum  der  Oeationsact,  in  welchem  Gott  sich  nicht  mit 
sich  Belbst,  sondern  mit  seinem  Bilde  zusammenschliesst  In  Folge  des  Sündenfalls 
ist  der  Mensch  von  Gott  in  die  Zeit  und  in  den  Kaum  gesetzt  worden,  um  durch 
Ergreifung  des  IJeils  in  Christo  die  Ewigkeit  und  Seligkeit  wieder  zu  gewinnen, 
oder  audemfulls  der  Läuteruugsstrafe  theils  in  diesem  Leben,  theils  im  Hades,  theils 
im  Höllenpfuhl  zu  verfallen.  Aus  dem  Hades  findet  noch  Erlösung  statt,  aus  der 
Hölle  nicht  mehr.  Doch  involvirt  der  richtige  Satz:  ,ex  infernis  nulla  redemtio", 
nicht  nothwendig  das  Nichtaufhören  der  Höllenpein.  Die  Materie,  als  die  C'oncret- 
heit  von  Zeit  und  Raum,  ist  nicht  Grund  des  Bösen,  sondern  vielmehr  Folge  des- 
selben, also  Strafe,  zugleich  aber  auch  Schutzmittel  gegen  das  Böse,  da  der  Mensch 
in  dieser  Scheinzeit  im  Einzelnen  verneinen  kann,  was  er  in  der  wahren  Zeit,  d.  h. 
der  Ewigkeit,  bei  seinem  Fall  im  Ganzen  bejaht  hat.  Zeit  uud  Materie  wird  auf- 
hören. Nach  dem  Aufhören  der  Zeitregion  kann  jedoch  die  Oeatur  immer  noch  aus 
der  ewigen  Höllenregion  in  die  ewige  Himmelsregiou  (aber  nicht  umgekehrt)  über- 
treten; nachdem  die  zur  Hölle  Verdammten  ohne  Gottes  Hülfe  ihre  Sünde  selbst 
gebüsst  haben,  erlischt  ihre  Widerstandskraft  gegen  Gott,  und  sie  werden  nun,  nach- 
dem durch  die  Peinigung  ihr  Widerstreben  gebrochen  worden  ist,  die  untersten  und 
äussersten  Glieder  des  Himmelreichs  Obschon  dem  Papstthum  abgeneigt,  bekennt 
sich  Baader  zu  der  Doctrin  der  katholischen  Kirche  im  Sinne  Anselms,  wonach  das 
Erkennen  dem  Glauben,  von  welchem  es  ausgehen  muas,  in  keinem  Betracht  wider- 
streiten darf.  Er  wirft  den  Begründern  des  Protestantismus  vor,  anstatt  des  refor- 
mirenden  Princips  das  revolutionäre  ergriffen  zu  haben:  denn  revolutionireud  sei  jede 
Richtung  einer  Thätigkeit,  welche,  anstatt  von  ihrem  Begründenden  auszugehen, 
gegen  dasselbe,  als  ob  es  ein  Hemmeudes  wäre,  6ich  wende  und  erhebe  (s.  Werke  I, 
S.  7G). 

Den  Einfluss  Schellings,  später  den  Baaders,  zeigt  Franz  Jos.  Molitor  (1799 
bis  1860),  der  durch  mündlichen  Verkehr  mehr  als  durch  seine  Schriften  gewirkt 
hat  Ideen  zu  einer  künstlichen  Dynamik  der  Geschichte,  Frankf.  a.  M.  1805. 
Seine  mystisch-kabbalistischen  Ansichten  sind  vertreten  in  seinem  Hauptwerk :  Philo- 
sophie der  Geschichte  oder  üb.  die  Tradition,  1.  Bd.  Frankf.  a.  M.  1827  (vollständig 
umgearbeitet  1855),  2.  Bd.  Münster  1834,  3.  ebd.  1839,  4.  I.  Abth.,  ebd.  1853.  Die 
jüdische  Kabbalah  hat  für  die  Kirche  Bedeutung,  insofern  sie  Mystik  erzeugt, 
durch  welche  eine  eigentlich  christliche  Philosophie  erst  möglich  ist. 

K.  Chrn.  Friedrich  Kruuse  war  geboren  1781  zu  Eisenberg  im  Herzogthum 
S.-Altenburg;  seit  1797  in  Jena  studirend,  habilitirte  er  sich  1814  in  Berlin,  von 
1815-1823  lebte  er  in  Dresden,  seit  1824  war  er  in  Göttingen  habilitirt.  Da  gegen  ihn 
als  Verkündiger  des  Menschheitbundes  eine  Criminaluntersuchung  eingeleitet  wurde, 

tebcrweg-Heinie,  Ornndris»  III.  7.  Aufl.  22 


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338 


§  31.   Schellings  Anh.  und  Geistesverw.  Oken, 


ging  er  1831  nach  München,  um  dort  eine  Professor  zu  bekommen.  Dies  scheiterte 
an  dem  Widerspruch  Schellings.  Hier  starb  er  1832,  nachdem  er  Zeit  seines 
Lebens  vielfach  mit  Nahrungssorgen  u.  sonstiger  Noth  zu  kämpfen  gehabt  hatte. 
Er  war  ein  sittlich  hochstehender  Charakter,  aber  eine  durchaus  unpraktische 
Natur.  —  Seine  Hauptschriften  sind:  Grundlage  d.  Naturrechts  od.  philos.  Grdriss. 
d.  Ideals  d.  Rechts,  Jena  1803.  Entwurf  d.  Syst.  d.  Philos.,  1.  Abth.  (allg.  Phil, 
u.  AnL  z.  Naturphil.),  Jena  1804.  Syst.  d.  Sittenlehre,  Lpz.  1810,  2.  Au8.,  heraus- 
geg.  v.  P.  Hohlfeld  u.  A.  Wünsche,  Leipz.  1887.  Das  Urbild  d.  Menschh.,  Dresd. 
1812,  2.  Aufl.  Gött.  1851.  Abriss  d.  Syst.  d.  Philos.,  1.  Abth.:  analyt.  Philos., 
Gotting.  1825.  Abriss  d.  Syst.  d.  Logik,  Gotting.  1825,  2.  Aufl.  ebd.  1828.  Ab- 
riss d.  Syst.  d.  RechtsphiloB.,  ebd.  1828.  Vöries,  üb.  d.  Syst.  d.  Phil.,  ebd.  1828; 
2.  Aufl  ,  1.  Theil:  der  zur  Gottcrkenntniss  als  höchstes  Wissenschaftsprincip  rück- 
leitende Theil  der  Phil.,  Prag  1868  (vgl.  üb.  d.  rück-  oder  emporleitenden  Theil  d 
Philos.  H.  v.  Leonhardi  und  v.  Andreae,  Prag  1869);  2.  Theil:  der  ableitende  Theil 
der  Phil.,  ebd.  1869.  Vorlesungen  üb.  d.  Grundwahrheiten  d.  Wissenschaft,  ebd. 
1829;  2.  Aufl.  1.  Theil:  erneute  Vernunftkritik,  Prag  1868.  2.  Theil:  die  Grund- 
wahrheiten d.  Geschichte  und  die  Encycl.  d.  Phil.,  ebd.  1869.  Seine  nachgelassenen 
Werke  haben  einige  seiner  Schüler  und  Freunde  (H.  K.  v.  Leonhardi,  Lindemann, 
Röder  u.  A.)  hrsg.  Zuletzt  erschienen  das  System  der  RechtsphiloB.,  herausgeg. 
v.  K-  Röder,  Lpz.  1874,  Vorlesungen  üb.  Aesthet.  od.  üb.  d.  Philos.  d.  Schönen 
u.  der  schönen  Kunst,  Lpz.  1882,  System  d.  Acsthetik  od.  der  Philos.  des  Schönen 
u.  der  schönen  Kunst,  Lpz.  1882,  Vorlesungen  üb.  synthet.  Logik,  Lpz.  1884,  Ein- 
leit.  in  d.  Wissenschaftsl.,  Lpz.  1885,  Vöries,  üb.  angewandte  Philos.  d.  Geschichte, 
ebd.  1885,  d.  aualyt.  induct.  Th.  des  Systems  der  Philos.,  ebd.  1885,  reine  allgem. 
Vernunft-Wissensch,  od.  Vorschule  d.  analyt.  Hanpttheiles  d.  Wissenschaftglied- 
baues, ebd.  1886,  Abriss  des  Systems  der  Ph.,  ebd.  1886,  Grundriss  d.  Gesch.  d. 
Phil.,  ebd.  1887.  Die  letzten  W.W.  sämmtlich  herausgeg.  v.  Paul  Hohlfeld  u. 
Aug.  Wünsche.  Vgl.  die  neue  Zeit,  freie  Hefte  für  vereinte  Höherbildung  der 
Wissensch,  und  des  Lebens,  von  H.  K.  Leonhardi,  mit  Beiträgen  aus  Kr.s  Nach- 
lass,  11  Hefte,  Prag  1869—75.  S.  Lindemann,  übersichtliche  Darstellung  des 
Lebens  u.  d.  Wissenschaftslehre  Karl  Chrst.  Friedr.  Krauses  und  dessen  Stand- 
punktes zur  Freimaurerbrüdersch.,  Münch.  1839.  Paul  Hohlfeld,  die  krausesche 
Philos.  in  ihrem  geschichtl.  Zusammenhange  und  in  ihrer  Bedeut.  f.  das  Geistes- 
leben der  Gegenwart,  Jena  1879.  A.  Procksch,  K.  Chr.  Fr.  Kr.  Ein  Lebensbild, 
nach  s.  Brief,  dargest.,  Leipz.  1880.  Br.  Martin,  K.  Chr.  Fr.  Krauses  Leben, 
Lehre  und  Bedeut.,  Leipz.  1881,  neue  Ausg.  1885.  A.  Cless,  d.  Ideal  der  Mensch- 
heit nach  Krauses  Urbild  der  Menschheit,  Stuttg.  1881.  R.  Eucken,  zur  Erinnerung 
au  K.  Chr.  Fr.  Krause,  Festrede,  Lpz.  1881.  Ed.  v.  Hartmann,  K.s  Aesthetik,  in: 
Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.  86,  1885,  S.  112-130.  S.  auch  die  Schriften  von  Guill. 
Tiberghien  u.  S.  342  f. 

Wenn  Kruuse  auch  nicht  gerade  auf  Schelling  fusst,  so  sagt  er  doch  selbst, 
von  dem  Systeme  Schellings  aus  könne  man  sich  am  ersten  zur  „Wesenlehre", 
d.  h.  zu  seiner  eigenen  Lehre,  erheben.  Kr  nimmt  an,  das  Absolute  könne  erkannt 
werden,  deshalb  sei  die  Lehre  vom  Absoluten  die  Philosophie.  Um  diese  Wissen- 
schaft zu  entwickeln,  giebt  es  einen  doppelten  Lehrgang,  den  aufsteigenden 
subjectiven  oder  analytischen,  und  den  absteigenden,  objectiven  oder  synthe- 
tischen. Durch  den  ersten  soll  man  von  dem  Standpunkte  des  gewöhnlichen  Menschen 
aus  aufsteigen  zur  Erkenntniss  Gottes,  und  diese  Erkenntuiss  ist  dann  wiederum  der 
Ausgangspunkt  des  zweiten  Lehrgangs.  Von  hier  absteigend  soll  man  den  Zusammen- 
hang der  Wissenschaft  nach  allen  Seiten  hin  organisch  entfalten.  Die  beiden  Lehr- 


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Solger,  Steffens,  Baader,  Krause  u.  Andere. 


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gange  sind  dem  Inhalte  nach  einander  gleich,  nur  die  Betrachtungsart  ist  eine 
verschiedene. 

Analytischer  Theil.  Der  Anfang  der  Erkenntniss  muss  in  einer  zweifellos 
unmittelbaren  Wahrheit  ruhen,  und  zwar  besteht  diese  in  dem  Selbstbewusstsein,  in 
der  Selbstschaunng  oder  Grundschauung  Ich.  Sehen  wir  genauer  zu,  was  in  dem 
Ich  enthalten  ist,  so  finden  wir  es  als  ein  Vereinwesen  von  Leib  und  Geist.  Darüber 
hinaus  unterscheiden  wir  uns  als  Wesen,  welche  vor  und  über  diesem  Innern  Gegen- 
satz und  der  Vereinigung  existiren.  Indem  wir  uns  so  vor  und  über  allem  Einzelnen 
in  uns  erblicken,  können  wir  uns  als  Ur-Ich  bezeichnen.  Der  Leib  gehört  nun  der 
Natur  an.  Sie  ist  im  Betreff  der  Zeit,  des  Raums,  der  Bewegung,  der  Kraft  ein 
unendliches  Selbstwesen,  welches  alle  Stufen  der  leiblichen  Wesen  in  sich  enthält, 
ein  einziges  Individuum  seiner  Art.  Der  Geist  ist  ein  Theil  des  Geisterreichs,  ge- 
wöhnlich bisher  uls  Vernunft  bezeichnet  Dieses  wird  auch  als  ein  unendliches  und 
einziges  Individuum  seiner  Art  erkannt  Beide,  Natur  und  Geist,  existiren  allerdings 
vereint,  aber  sie  sind  doch  auch  einander  entgegengesetzt  So  müssen  wir  für  sie 
ein  höheres  Ganzes  annehmen,  dem  sie  unter-  und  eingeordnet  sind.  Ausserdem 
besteht  eine  fortwährende  Wechselwirkung  zwischen  ihnen,  die  weder  in  dem  Einen 
noch  in  dem  Andern  ihren  Grund  haben  kann.  So  muss  auch  deshalb  ein  gemein- 
sames Höheres  statuirt  werden.  Wie  wir  aber  über  dem  Vereiuwesen  Ich  noch  ein 
höheres  Ich  finden,  so  wird  über  diesem  Vereinwesen  von  Natur  und  Geist  noch 
ein  höheres  anzunehmen  sein:  Gott  oder  «Wesen*  schlechthin,  das  ist  das  unbedingt 
Seiende,  das  wahrhaft  Wirkliche,  das  wahrhaft  Unendliche  und  Vollkommene.  Die 
Wesenschauung  ist  keines  Beweises  fähig,  bedarf  auch  keines  Beweises.  Sie  ist  an 
sich  gewiss,  und  jeder  Beweis  erst  durch  diese  möglich.  Hier  schliesst  der  analytische 
Lehrgang. 

Der  synthetische  Theil  beginnt  mit  der  Schauung  a Wesen".  Die  eigentliche 
Grundwissenschaft  ist  die  Betrachtung  von  Wesen,  welche  in  sich  die  Principien 
aller  Wissenschaften  fasst  Wird  Wesen  an  sich  betrachtet,  so  erhält  man  einen 
Gliedbau  von  Kategorien,  der  bei  Krause  sehr  ausgeführt  ist,  aber  wegen  der 
besonderen  Terminologie  Schwierigkeit  für  das  Verständniss  bietet  Wir  finden  da 
zunächst  die  Kategorien  der  Wesenheit,  der  Einheit,  der  Selbstheit  und  der  Ganz- 
heit (die  Fremdwörter  Qualität  Substantialität,  Quantität  sind  nicht  ganz  zur 
Bezeichnung  geeignet).  Jedes  Wesen  ist  nun  erstlich  ein  Gesetztes,  in  seiner 
Einheit  ist  die  Thesis  ohne  Gegensatz,  zweitens  hat  es  in  seiner  Mannigfaltigkeit 
die  Antithesis,  die  Entgegensetzung,  und  drittens  kommt  ihm  auch  die  Synthesis,  die 
Vereinsetzung,  zu  (Satzheit,  Gegensatzheit,  Vereingesetztheit).  Das  sind  die  Grund- 
lagen der  Kategorien,  die  weiter  aus  dem  Angeführten  entwickelt  werdeu:  die 
Richtbeit,  Fassheit,  Satzheitvereinheit  u.  s.  w.  Gott  steht  über  der  Welt  und  ihren 
Gegensätzen  erhaben,  ist  aber  seiner  selbst  urinne  im  Selbstbewusstsein,  im  gött- 
lichen Gemüthe  und  Willen  mit  Allweisheit  Liebe  und  Güte,  als  die  für  alle  in 
der  Welt  wirkenden  Kräfte  absolute  Urmacht,  welche  in  die  beiden  Ordnungen,  der 
Natur  und  der  Geisterwelt,  gemäss  den  Gesetzen  derselben,  aber  doch  urfrei, 
einwirkt. 

Auf  diese  Grundwissenschaft  folgte  nun  die  Urwesenlehre,  Vernuuft- 
wissenschaft,  Naturwissenschaft,  Vereinwesenlehre.  Die  Urwesenlehre 
soll  darthun,  dass  Gott  als  erkennendes,  empfindendes  und  wollendes  Wesen,  oder 
als  Geist,  Gemüth  und  Wille,  als  das  unendlich-unbedingte  Vernunftwesen  und  das 
in  der  Zeit  ursächlich  wirkende  über  der  Vernunft,  der  Natur  und  dem  Verein  von 
beiden  steht.  Gott  erkennt,  empfindet  und  will  nicht  erstwesentlich  die  Welt, 
d.  h.  Vernunft  und  Natur  und  beide  im  Verein,  sondern  unbedingt  und  erstwesentlich 
erkennt,  empfindet  und  will  Gott  sich  selbst  nach  seiner  einen,  selben  und  ganzen 

22» 


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§  31.   Schellings  Anh.  und  Geistesverw.  Oken, 


Wesenheit,  nnd  dann  anch  untergeordnet  erkennt,  empfindet  und  will  Gott  die 
Welt.  Gott  ist  unendlich  und  unbedingt  weise,  liebende,  gerechte,  heilige  Vor- 
sehung. Gottes  Einer  heiliger  Wille  ist  auf  die  Darlebung  seiner  Wesenheit  in 
der  Einen  unendlichen  Gegenwart  gerichtet.  Er  umfasst  das  Leben  der  Vernunft 
der  Natur  und  das  Vereinleben  liebend,  erbarmend,  rettend  und  beseligend,  damit 
in  jedem  Momente  der  Zeit  das  Beate  verwirklicht  werde.  Die  Vernunftwissen- 
schaft hat  die  Grundidee  des  Geisteswesens  zu  erkennen,  die  als  übersinnliche 
Erkenntniss  in  der  Wesenschauung  zu  erfassen  ist  Sie  steht  in  dem  Organismus  der 
Ideen  dem  Leibwesen  gegenüber.  In  der  Einen  Vernunft  oder  in  dem  Einen  Geist- 
wesen anerkennen  wir  alle  endlichen  Vernunftweeen  oder  Geister,  wir  erkennen  alle 
endlichen  Geister  als  das  Eine,  unendliche  aus  unendlich  vielen  Geistern  bestehende 
Geisterreich.  Die  Naturwissenschaft  wird  im  Innern  ausgebildet,  wenn  die  Grund- 
idee Wesen  und  alle  im  Gliedbau  derselben  enthaltenen  Theilideen  auf  die  Idee 
der  Natur  angewandt  werden  in  Ableitung,  Selbsteigenschauung  und  Scbauvereln- 
bildung  (Deduction,  Intuition,  Construction).  In  der  allgemeinen  Ganzheitlehre 
wird  die  Raumganzheitlebre  oder  Raumgestaltlehre  (Geometrie)  gebildet,  die  Formen 
des  Raumes  und  der  Zeit,  miteinander  vereint  erkannt,  geben  die  reine  Beweglehre 
(Mechanik).  Die  allgemeine  Wesenheit  der  Kraft  aber,  angewandt  auf  die  Natur, 
giebt  die  Naturkraftlehre  (die  physische  allgemeine  Dynamik).  Ferner  entsteht  auch 
die  Deduction  u.  s.  w.  der  Natur  als  des  Einen  LebenB  im  Baue  des  Himmels  und 
im  Gliedban  des  Organismus  ihrer  Processe  und  aller  ihrer  Gebilde  vom  Höchsten 
bis  zum  Niedrigsten.  Die  Vereinwesen  lehre  ist  die  Wissenschaft  von  Gott,  Ver- 
nunft und  Natur  als  nach  ihrer  ganzen  Wesenheit,  also  auch  nach  ihrem  ganzen 
Leben,  vereinter  Wesen.  Die  Haupttheile  dieser  Wissenschaft  betrachten  den 
Verein  Urwesens  mit  Vernunft,  Urwesens  mit  Natur,  der  Vernunft  und  Natur  unter 
sich,  vermittelt  durch  Wesen,  endlich  als  ihren  innersten  Theil  den  Verein  der 
drei,  Urwesens,  der  Natur  und  der  Vernunft,  Das  innerste  Vereinwesen  aber  in 
der  unter  sich  und  mit  Gott  als  Urwesen  vereinten  Vernunft  und  Natur  ist  die 
Menschheit,  d.  i.  das  Reich  aller  unendlich  vielen  endlichen  Geister,  die  mit  unendlich 
vielen  organischen  Ijeibern  und  mit  Gott  vereint  leben.  Diese  Wissenschaft  ist 
zugleich  die  ganze  Geschichtswissenschaft,  welche  dann  auch  die  Geschichte  des 
Einen  Lebens,  sofern  es  sich  auf  dem  Schauplatz  dieser  Erde  bis  jetzt  entfaltet 
hat  und  in  Zukunft  entfalten  wird,  in  sich  schliesst.  Die  Geschichte  der  Menschheit 
ist  der  innerste  Theil  der  Einen  Geschichte  alles  Lebens. 

Den  nächsten  und  innigsten  Einßusa  auf  das  Leben  Belbst  haben  die  Religion- 
wissenschaft, die  Sittenlehre,  die  Rechtslehre  und  die  Kunstlehre.  Was 
die  erste  dieser  vier  anlangt,  so  ist  Religion  des  Menschen  der  Verein  seines 
Lebens  mit  dem  Leben  Gottes  und  zwar  zunächst  nur,  insofern  der  Mensch  selbst 
diesen  Lebenverein  erstrebt  und  mitverursacht.  Aber  dies  geschieht  nur  durch  die 
von  oben  entsprechende  Thätigkeit  Gottes,  wonach  Gott  als  Urwesen  in  der  unend- 
lichen Zeit  das  Leben  des  Menschen  und  der  Menschheit  auch  eigeuleblich  in  sich 
aufnimmt  und  mit  Beinern  Leben  vereint.  Das  eine  ist  die  endliche,  das  Andere 
die  unendliche  Seite  des  innern  Vereinlebens  Gottes.  Die  erste  Forderung  des 
Gottvereinlebens  oder  der  Religion  an  den  Menschen  ist,  dass  er  als  ganzer  selber 
Mensch  Gottes  inne,  mit  seiner  Ganzlebenschaft  zu  Gott  hingerichtet  sei  und  bleibe, 
und  dass  er  Vereinlcben  mit  Gott  als  Urwesen  anstrebe.  Diese  Stimmung  des 
Menschen  ist  Gottinnigkeit  oder  Weseninnigkeit. 

Sittenlehre  ist  die  Wissenschaft  des  Lebens,  sofern  es  durch  den  Willen 
bestimmt  ist,  und  begreift  die  Gesetzlehre  des  Willens  in  sich  Der  Gegenstand 
der  Sittenlehre  ist  also  der  Wille  als  das  Leben  bestimmende  Thätigkeit  nach  seiner 
Wesenheit  und  seinen  Gesetzen.  Die  Wesenheit  des  Willens  ist  diejenige  Thätigkeit 


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Solger,  Steffens,  Baader,  Krause  u.  Andere. 


341 


des  Ganzwesens,  welche  die  Thätigkeit  selbst  zur  Darbildung  des  Wesentlichen  im 
Leben,  d.  i.  des  Guten,  bestimmt  nnd  richtet.  Sofern  ich  nun  das  Lebwesentliche 
(das  Gute)  schaue,  habe  ich  Erkenntniss  desselben  und  empfinde  in  mir  den  Trieb 
znm  Gnten.  Das  Gute  für  den  Menschen  ist  nun  dasjeuige  Wesentliche,  welches 
der  Mensch  nach  seiner  EigenweBenheit  als  Mensch  darleben  kann  und  soll.  Zu 
entwickeln  hat  die  Sittenlehre,  welcher  Theil  des  Einen  Gnten,  der  Einen  von 
Gott  in  sich  dargelebten  göttlichen  Wesenheit  dasjenige  Gute  ist,  auf  dessen  Dar* 
lebnng  der  Wille  des  Menschen  und  der  Menschheit  die  Thätigkeit  richten  könne 
und  solle.  Gott  ist  das  Eine  Gute,  auch  das  höchste  Gut  des  Lebens  für  den 
Menschen.  Das  erkannte,  gefühlte,  mit  dem  Grundtriebe  erfasste  und  gewollte 
Wesentliche  wird  als  das  Gute  dargelebt,  und  deshalb  ist  für  den  Mensehen  als 
sittliches  Wesen  erforderlich,  dass  er  den  Urbegriff  des  Einen  Guten  erkenne,  sich 
denselben  als  einzigen  Inhalt  seines  Lebens  vorsetze  und  so  mit  besonderer  Kunst 
sein  Leben  ausgestalte.  Sofern  das  Gute  auf  das  Eigenleben  als  dessen  Gehalt 
bezogen  wird,  erscheint  es  als  Zweck,  sofern  das  sittliche  Wesen  im  unbedingten 
Sollen  dazn  verpflichtet  ist,  ist  es  die  Pflicht.  Das  Sittengesetz,  welches  das  unbe- 
dingte Pflichtgebot  ist,  lautet:  Wolle  du  selbst  und  thue  das  Gute  als  das 
Gute.  Der  materiale  Theil  darin  ist:  Wolle  und  thue  das  Gute;  der  formale:  du 
selbst,  und :  als  das  Gute.  Alle  untergeordneten  Antriebe  für  die  Bestimmung  des 
Willens,  sowie  die  selbstischen  Triebe  sind  so  ausgeschlossen.  Darin,  dass  das 
Gute  rein  und  allein,  weil  es  gut  ist,  mit  eigner  Kraft  des  Wollens  und  Wirkens 
gewollt  und  erstrebt  wird,  besteht  die  sittliche  Freiheit,  die  in  der  Gesetz- 
massigkeit, nicht  aber  in  der  üngebundenheit  und  Gesetzlosigkeit  des  Willens  und 
der  Kraft  besteht  —  Die  unendliche  Aufgabe  des  rein  sittlichen  Lebens  ergeht 
zunächst  an  jeden  Einzelmenschen,  aber  dann  auch  an  jede  Gesellschaft.  Alle 
Grundgesellschaften  und  alle  Werkgesellschaften  sollen  unter  sich  einen  Bund 
schliessen,  welcher  der  Sittlichkeitverein  oder  der  Tugendbund  genannt  werden 
kann.  Die  unendliche  Aufgabe  der  Religion  und  der  Sittlichkeit  lässt  sich  in  dem 
Worte  vereinen:   Sei  gottinnig  und  ahme  Gott  nach  im  Leben. 

Mit  der  Sittenlehre  steht  in  enger  Verbindung  —  Kant  und  Fichte  entgegen  — 
die  RecbtBlehre,  die  vielfach,  wohl  nicht  mit  Unrecht,  für  die  bedeutendste 
Leistung  Krauses  angesehen  wird.  Die  menschliche  Bestimmung  hängt  in  ihrer  Er- 
füllung nicht  von  einem  Individuum  ab,  sondern  auch  von  Umständen,  die  durch 
Andere  bedingt  sind,  und  daher  muss  das  Ganze  der  durch  die  menschliche  Willens- 
tbätigkeit  herzustellenden  Bedingungen,  die  not  big  sind,  um  den  vernünftigen  Lebens- 
zweck zu  verwirklichen,  das  ist  eben  das  Recht,  dargelegt  werden.  Oder  auf  den 
Mittelpunkt  der  krauseschen  Philosophie  bezogen:  .Recht  ist  der  Gliedbau 
aller  zeitlich  freien  Lebensbedingnisse  des  inneren  Selblebens  Gottes 
und  in  und  durch  selbiges  auch  des  wesengemässen  Selblebens  und 
Vereinlebens  aller  Wesen  in  Gott*  Im  Zustande  des  Rechts  befindet  man 
sich  dann  nur,  wenn  jedes  Individuum  sich  in  Folge  der  Ordnung  der  Lebens- 
verhältnisse ungehindert  seinem  sittlichen  Ziele  nähern  kann.  Nicht  nur  die  Indi- 
viduen, sondern  auch  die  Persönlichkeitskreise  der  einzelnen  Familien,  Gemeinden 
und  die  Güterkreise,  welche  der  Religion,  Wissenschaft  oder  Kunst  zugewandt  sind, 
können  nicht  bestehen  und  Bich  ausbilden  ohne  ein  Ganzes  von  Bedingungen,  unter 
welchen  jeder  Kreis  sich  bethätigt  und  entwickelt  Es  muss  so  ein  geselliges 
Wechselverhältniss  stattfinden,  und  dies  kann  nur  in  einem  bestimmten  ihm  aus- 
schliesslich gewidmeten  Gesellschaftsverein  auf  Erden  verwirklicht  werden,  welcher 
der  Rechteverein,  der  Rechtebund,  der  Staat  ist  Das  Recht  ist  zunächst  positiv, 
insofern  es  fordert,  dass  die  zur  Erreichung  des  sittlichen  Ziels  nöthigen  Bedingungen 
von  den  mit  einander  Lebenden  erfüllt  werden.   Sodann  ist  es  negativ,  indem  es 


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342 


§  31.   Schellings  Anh.  und  Geistesverw.   Oken  u.  Andere. 


fordert,  dass  alle  zeitlich  freien  Hindernisse,  welche  sich  dem  begriffmässigen  Leben 
in  den  Weg  Btellen,  entfernt  werden.  Die  Strafe  soll  nur  erziehend  nnd  bessernd 
wirken,  deshalb  ist  die  Todesstrafe  zu  verwerfen. 

Die  Kunstwissenschaft  bezieht  sich  anf  das  Können,  Bilden  and  Schaffen. 
Die  Kunst  bildet  vermöge  der  Phantasie  Individuelles  nach  Ideen;  Kunst  ist  die 
Gesammtheit  der  werkthätigen  Lebenskraft,  welche  dem  bildenden,  lebengestaltenden 
Wesen,  seinem  Wollen  folgend,  zu  Gebote  steht.  Im  tiefsten  Sinne  ist  die  Kunst 
die  werkthätige  Lebenskraft  Gottes  selbst.  An  sich  ist  eine  Kunst,  die  Gottes,  und 
ein  Künstler  —  Gott,  wie  Gott  auch  der  Eine  unbedingte  Regent  und  Monarch 
sein  soll.  In  der  einen  Kunst  Gottes  ist  aber  auch  alle  endliche  Kunst  der  end- 
lichen Wesen  insgesammt  mitgefasst.  Da.s  Kunstwerk  muss  ein  unendlich  bestimmtes 
organisches  Ganzes  sein  — ,  so  dass  die  inneren  Theile  alle  unter  sich  und  mit  dem 
Ganzen  wesenheitlich  übereinstimmen  und  so  in  der  unendlichen  Kigenthümlichkeit 
einen  bestimmten  Urbegriff  erschöpfend  darstellen.  Ist  es  ein  freies  Kunstwerk,  ein 
Schönkunstwerk,  z.  B.  ein  Gedicht,  oder  das  Leben  eines  einzelnen  Menschen  selbst, 
so  ist  es  der  dem  Kunstwerk  selbst  eigene  Urbegriff,  welchen  es  darlebt.  Ist  es 
aber  ein  nützliches  Kunstwerk,  so  muss  es  den  Begriff  dessen,  wozu  es  nützt, 
verwirklichen.  An  den  Künstler  jeder  Art  gebt  die  Forderung,  dass  seine  Werke 
auch  in  der  Form  gottähnlich  seien.  Diese  Gottähnlichkeit  selbst  nach  Gehalt 
und  Form  nennen  wir  Schönheit,  —  das  ganze  Leben  ist  selbst  ein  Kunstwerk, 
und  die  Eine  höchste  Kunst  ist  die  Lebenkunst,  welche  auch  die  Kunst  des 
Menschen  in  sich  enthält,  sein  Eigenleben  gut  und  schön  zu  führen  und  es  stetig 
weiter  zu  gestalten. 

In  seiner  Gcschichtwissenschaft,  mit  welcher  Krause  .die  Grundwahr- 
heiten der  Wissenschaft*  schliesst,  legt  er  dar,  wie  sich  der  Gliedbau  der  Ideen  in 
der  Zeit  darbildet,  oder  wie  sich  das  Leben  in  der  Zeit  entwickelt.  Das  Leben  der 
Menschheit  entfaltet  sich  in  drei  Hauptlebenaltern,  iu  Kindheit,  in  Jugend  und  dem 
Alter  der  Reife,  und  dieses  Gesetz  kehrt  auch  für  jedes  untergeordnete  Selbwesen 
in  der  Menschheit  wieder.  Alle  Völker,  Stämme,  Ortvereine,  Freundvereiue,  Ehe- 
vereine, sowie  jeder  Einzelmensch,  durchleben  diese  drei  Hauptalter.  Hierauf  folgen 
zwei  Stufen  des  absteigenden  Lebens,  welche  der  Jugend  und  der  Kindheit  des  auf- 
steigenden Lebens  entsprechen.  Die  erstere  davon  ist  das  Hochalter  der  Reife,  die 
letzte  das  Greisalter.  Die  Menschheit  befindet  sich  jetzt  in  ihren  gebildeteren 
Völkern  am  Ausgange  der  Jugend.  Da  der  Grund  des  vollwesentlichen  Gliedbaues 
der  Wissenschaft  schon  gelegt  ist  (durch  Krause),  da  besonders  die  Grundideen  der 
Menschheit,  ihres  Lebens  und  des  Menschheitbuudes  dargestellt  sind  (durch  Krause), 
so  ist  hiermit  der  erste  Anfang  des  Alters  der  Reife  im  Geiste  begründet. 

Die  bedeutendsten  Schüler  Krauses  sind:  der  Rechtsphilosoph  Heinr.  Ahrens 
(geb.  1808,  gest.  1874  als  Profess.  in  Leipzig),  dessen  Cours  de  droit  naturel  ou  de 
philos.  du  droit,  Paris  1838,  5.  öd.  Bruxelles  1849  erschienen  ist,  Naturrecht  oder 
Phil.  d.  Rechts  u.  d.  Staates.  6.  Aufl.,  Wien  1870—71,  ital.  v.  Alb.  Marghieri, 
Nap.  1872,  auch  in  mehrere  andere  Sprachen  übersetzt;  jurist.  Encyclopädie,  Wien 
1858.  Schon  früher  hat  Ahrens  einen  Cours  de  philos.,  Paris  1836—38,  Cours  de 
philos.  de  l'histoire,  Brüx.  1840  veröffentlicht.  (S.  Chauffard,  Essai  critique  sur 
les  doctrinea  philosophiques,  sociales  et  religieuseB  de  Henri  Ahrens,  Paris  1880.) 
Tiberghien,  Essai  theorique  et  histor.  sur  la  generation  des  connaiss.  humain. 
dans  ses  rapports  avec  la  morale,  la  politique  et  la  relig.,  Par.  et  Leipzig  1844; 
Exposition  du  Systeme  philosophique  de  Krause,  Brüx.  1844;  Exquisse  de  philos. 
morale,  preeödee  d'une  introd.  ä  la  raätaphysique,  Brüx.  1854;  la  scieuce  de  1'äme 
dans  les  limites  de  l'observation,  ebd.  1862,  2.  Aufl.  1868;  Logiqne,  la  science 


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§  32.  Hegel. 


de  la  connaissance,  Par.  1865.  Elements  de  la  morale  universelle,  Brüx.  1879. 
H.  S.  Lindemann,  von  dem  ausser  der  erwähnten  Schrift  über  Krause  noch 
Darstellungen  der  Authropolog.,  Zürich  1844  und  Erlangen  1848,  und  der  Logik, 
Soloth.  1856,  erschienen  sind.  Ferner  sind  hier  zu  nennen:  Altmeyer,  Bouchitt£, 
Duprat,  Herrn.  Freih.  v.  Leonhardi,  Mönnich,  Oppcrmann,  Röder  (Grundzüge 
d.  Naturrechts  oder  der  Rechtsphilos.,  Leipzig  u.  Heidelberg  1856,  2.  Aufl.  ebd. 
1860-63),  Th.  Schliephake  (t  1871),  die  Grundlagen  des  sittlichen  Lebens, 
Wiesbaden  1855;  Eint,  in  d.  Syst.  d.  Phil.,  Wiesbaden  1856,  Hohlfeld  (s.  oben 
S.  338).  Der  Spanier  J.  S.  del  Rio  (gest.  1869)  hat  Krauses  „Urbild  der  Mensch- 
heit" übersetzt  und  erläutert,  Madrid  1860,  ebenso  Krauses  „Abriss  des  Syst.  der 
Philos.",  ebd.  1860.  In  Spanien  ist  eine  grosse  Anzahl  der  Lehrstühle  der  Pbilos. 
und  der  Rechtsphilos.  von  Anhängern  Krauses  besetzt,  und  die  Angriffe  gegen  die 
Jesuiten  daselbst  gehen  von  den  „Krausistas"  grossentheils  aus.  —  Der  um  die  An- 
wendung der  Grundsätze  Pestalozzis  auf  das  frühe  Kindesalter  und  Fortbildung 
des  „Anschanungs-Unterrichts"  zu  einem  „Darstellungs-Unterricht"  hochverdiente 
F.  Froebel  hat  von  Kranse  Anregungen  empfangen.  Vgl.  Th.  Schliephake,  üb. 
Friedr.  Froebels  Erziehungsmethode,  in:  Phil.  Monatsh.  IV,  1870,  S.  487  -  509. 

Ueber  Stahl  und  andere  neuere  Philosophen,  die  durch  Sendling  beeinflusst 
worden  sind,  s.  d.  IV.  Abschn.  dieses  Theils. 

§  32.  Georg  Wilhelm  Friedrich  Hegel  (1770-1831)  hat, 
indem  er  das  von  Schelling  vorausgesetzte  Identitätsprincip  nach  der 
von  Fichte  geübten  Methode  dialektischer  Entwickelung  begründet 
und  durchgeführt,  das  System  des  absoluten  Idealismus  geschaffen, 
dem  die  endlichen  Dinge  nicht  (wie  dem  subjectiven  Idealismus)  als 
Erscheinungen  für  uns  gelten,  die  nur  in  unserm  Bewusstsein  wären, 
sondern  als  Erscheinungen  an  sich,  ihrer  eigenen  Natur  nach,  d.  h. 
als  solches,  was  den  Grund  seines  Seins  nicht  in  sich,  sondern  in  der 
allgemeinen  göttlichen  Idee  hat.  Die  absolute  Vernunft  offenbart 
sich  in  Natur  und  Geist,  indem  sie  nicht  nur  als  Substanz  beiden 
zum  Grunde  liegt,  sondern  auch  als  Snbject  vermöge  fortschreitender 
Entwickelung  von  den  niedrigsten  zu  den  höchsten  Stufen  aus  ihrer 
Entäusserung  zu  sich  zurückkehrt.  Die  Philosophie  ist  die  Wissen- 
schaft des  Absoluten.  Als  denkende  Betrachtung  der  Selbstentfaltung 
der  absoluten  Vernunft  hat  die  Philosophie  zu  ihrer  notwendigen 
Form  die  dialektische  Methode,  welche  im  Bewusstsein  des 
denkenden  Subjects  die  Selbstbewegung  des  gedachten  Inhalts  repro- 
ducirt.  Die  absolute  Vernunft  entäussert  sich  in  der  Natur  und  kehrt 
aus  ihrem  Andersseiu  in  sich  zurück  im  Geiste;  ihre  Selbstentwicke- 
lung ist  demnach  eine  dreifache,  nämlich  1.  im  abstracten  Elemente 
des  Gedankens,  2.  in  der  Natur,  3.  im  Geiste;  nach  dem  Schema: 
Thesis,  Antithesis,  Synthesis.  Demgemäss  hat  auch  die  Philosophie  drei 
Theile,  nämlich  1.  die  Logik,  welche  die  Vernunft  an  sich  als  das 
Prius  von  Natur  und  Geist  betrachtet,  2.  die  Naturphilosophie, 
3.  die  Philosophie  des  Geistes. 


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344 


§  32.  Hegel. 


Um  das  Subject  auf  den  Standpunkt  des  philosophischen  Denkens 
zu  erheben,  kaun  dem  System  die  Phänomenologie  des  Geistes, 
d.  h.  die  Lehre  von  den  Entwickelungsstufen  des  Bewusstseins  als 
Erscheinungsformen  des  Geistes,  propädeutisch  vorangeschickt  werden, 
die  jedoch  auch  als  ein  Glied  der  philosophischen  Wissenschaft  inner- 
halb des  Systems,  nämlich  in  der  Philosophie  des  Geistes,  ihre  Stelle 
findet.  Die  Logik  betrachtet  die  Selbstbewegung  des  Absoluten  von 
dem  abstractesten  Begriff,  nämlich  dem  Begriff  des  reinen  Seins,  bis 
zu  dem  concretesten  derjenigen  Begriffe,  die  der  Spaltung  in  Natur 
und  Geist  vorangehen,  d.  h.  bis  zur  absoluten  Idee.  Ihre  Theile 
sind:  die  Lehre  vom  Sein,  vom  Wesen  und  vom  Begriff.  Die  Lehre 
vom  Sein  gliedert  sich  in  die  Abschnitte:  Qualität,  Quantität,  Maass; 
in  dem  ersten  werden  als  Momente  des  Seins  das  reine  Sein,  das 
Nichts  und  das  Werden  betrachtet;  dann  wird  das  Dasein  dem  Sein 
entgegengesetzt  und  im  Fürsichsein  die  Vermittelung  gefunden,  die 
das  Umschlagen  der  Qualität  in  die  Quantität  zur  Folge  hat.  Die 
Momente  der  Quantität  sind:  die  reine  Quantität,  das  Quantum  und 
der  Grad;  die  Einheit  von  Qualität  und  Quantität  ist  das  Maass.  Die 
Lehre  vom  Wesen  handelt  von  dem  Wesen  als  Grund  der  Existenz, 
dann  von  der  Erscheinung,  endlich  von  der  Wirklichkeit  als  der  Ein- 
heit von  Wesen  und  Erscheinung:  unter  den  Begriff  der  Wirklich- 
keit stellt  Hegel  die  Substantialität,  Causalität  und  Wechselwirkung. 
Die  Lehre  vom  Begriff  handelt  vom  subjectiven  Begriff,  welchen  Hegel 
in  den  Begriff  als  solchen,  das  Urtheil  und  den  Schluss  eintbeilt, 
von  dem  Object,  worunter  Hegel  den  Mechanismus,  Chemismus  und 
die  Teleologie  begreift,  und  von  der  Idee,  die  sich  als  Leben,  Er- 
kennen und  absolute  Idee  dialektisch  entfaltet. 

Die  Idee  entlässt  aus  sich  die  Natur,  indem  sie  in  ihr  Anders- 
sein umschlägt.  Die  Natur  strebt,  die  verlorene  Einheit  wieder  zu 
gewinnen;  die  Erreichung  derselben  aber  ist  der  Geist  als  das  Ziel 
und  Ende  der  Natur.  Die  Stufen  des  natürlichen  Daseins  betrachtet 
Hegel  in  den  drei  Abschnitten:  Mechanik,  Physik,  Organik;  die 
letztere  handelt  von  dem  Erdorganismus,  von  der  Pflanze  und  von 
dem  Thiere.  Das  Höchste  im  Leben  der  Pflanze  ist  der  Gattungs- 
process,  durch  welchen  das  Einzelne  in  seiner  Unmittelbarkeit  für 
sich  negirt,  aber  in  die  Gattung  aufgehoben  wird.  Die  animalische 
Natur  ist  in  der  Wirklichkeit  und  Aeusserlichkeit  der  unmittelbaren 
Einzelheit  zugleich  in  sich  reflectirtes  Selbst  der  Einzelheit,  in  sich 
seiende  subjective  Allgemeinheit;  das  Aussereiuanderbestehen  der 
Räumlichkeit  hat  keine  Wahrheit  für  die  Seele,  die  eben  darum  nicht 
an  einem  Punkte,  sondern  in  Millionen  Punkten  überall  gegenwärtig 
ist.    Aber  die  thierische  Subjectivität  ist  noch  nicht  für  sich  selbst 


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§  32.   Hegel.  345 

als  reine,  allgemeine  Subjectivität;  sie  denkt  sich  nicht,  sondern  fühlt 
sich  und  schaut  sich  an,  sie  ist  sich  nur  in  einem  bestimmten,  beson- 
deren Zustande  gegenständlich. 

Das  Beisichsein  der  Idee,  die  Freiheit,  oder  die  Idee,  welche  aus 
ihrem  Anderssein  in  sich  zurückgekehrt  ist,  ist  der  Geist.  Die  Philo- 
sophie des  Geistes  hat  drei  Abschnitte:  die  Lehre  vom  subjectiven, 
objectiven  und  absoluten  Geist.  Der  subjective  Geist  ist  der  Geist 
in  der  Form  der  Beziehung  auf  sich  selbst,  dem  innerhalb  seiner  die 
ideelle  Totalität  der  Idee,  d.  h.  das,  was  sein  Begriff  ist,  für  ihn 
wird;  der  objective  Geist  ist  der  Geist  in  der  Form  der  Realität  als 
einer  von  ihm  hervorzubringenden  und  hervorgebrachten  Welt,  in 
welcher  die  Freiheit  als  vorhandene  Noth wendigkeit  ist;  der  absolute 
Geist  ist  der  Geist  in  an  und  für  sich  seiender  und  ewig  sich  her- 
vorbringender Einheit  der  Objectivität  des  Geistes  und  seiner  Idealität 
oder  seines  Begriffs,  der  Geist  in  seiner  absoluten  Wahrheit.  Die 
Hauptstufen  des  subjectiven  Geistes  sind:  der  Naturgeist  oder  die 
Seele,  das  Bewusstsein  und  der  Geist  als  solcher.  Hegel  nennt  die 
betreffenden  Abschnitte  seiner  Doctrin:  Anthropologie,  Phänomeno- 
logie und  Psychologie.  Der  objective  Geist  realisirt  sich  in  dem 
Recht,  der  Moralität  und  der  beides  in  sich  vereinigenden  Sittlich- 
keit, in  welcher  die  Person  den  Geist  der  Gemeinschaft  oder  die 
sittliche  Substanz  in  Familie,  bürgerlicher  Gesellschaft  und  Staat  als 
ihr  eigenes  Wesen  weiss.  Der  absolute  Geist  umfasst  die  Kunst, 
welche  die  concrete  Anschauung  des  an  sich  absoluten  Geistes  als 
des  Ideals  in  der  aus  dem  subjectiven  Geiste  geborenen  concreten 
Gestalt,  der  Gestalt  der  Schönheit,  gewährt,  die  Religion,  welche  das 
Wahre  in  der  Form  der  Vorstellung,  und  die  Philosophie,  welche 
das  Wahre  in  der  Form  der  Wahrheit  ist. 

Uebcr  Hegel»  Leben  handelt  Karl  Rosenkranz  (Georg  Wilh.  Friedr.  Hegels 
Leben,  Supplement  zu  Hegels  Werken,  Berl.  1844)  and  R.  Haym  (Hegel  und  seine 
Zeit,  Vorlesgn.  über  Entstehg.,  Wesen  n.  Werth  der  hegelschen  Phi!.,  Berl.  1857),  jener 
mit  liebevoller  Anhänglichkeit  und  Verehrung,  dieser  mit  strenger,  rücksichtsloser 
Kritik,  die  namentlich  auch  die  in  Hegels  Charakter  und  Lehre  (besonders  in  der  Rechts- 
philosophie) liegenden  antiliberalen  Elemente  tadelnd  hervorhebt.  Uebrigens  vgl.  anch 
Rosenkranz,  Apologie  Hegels  geg.  Haym,  Berl.  1858. 

Hegels  Werke  sind  bald  nach  seinem  Tode  in  einer  Oesammtausgabe  erschienen: 
„6.  W.  F.  Hegels  Werke,  vollständige  Ausg.  durch  einen  Verein  von  Freunden  des 
Verewigten",  Bd.  I— XIX,  Berl.  1832  zT.,  zum  Theil  seitdem  neu  aufgelegt.  Bd.  I: 
Hegels  philos.  Abhandlungen,  herausg.  von  Karl  Ludw.  Michelet  1832.  Bd.  II:  Phäno- 
menologie des  Geistes,  herausg.  von  Job.  Schulze  1832.  Bd.  III — V:  Wissenschaft 
der  Logik,  heransg.  von  Leop.  v.  Henniug  1833—  34.  Bd.  VI  u.  VII:  Encyclopädie 
der  philos.  Wissenschaften  im  Grundrisse,  und  zwar  Bd.  VI:  der  Encyclopädic  erster 
Theil,  die  Logik,  herausg.  und  nach  Anleitung  der  vom  Verfasser  gehalt.  Vorlesungen, 
mit  Erläuterungen  u.  Zusätzen  versehen  von  Leop.  v.  Henning,  1840;  Bd.  VII,  1.  Abth.: 
Vorlesgn.  öb.  d.  Natnrphilos.  als  der  Encycl.  der  philos.  Wissenschaften  zweiter  Theil, 
heransg.  von  K.  L.  Michelet  1842;  Bd.  VII,  2.  Abth.:  der  Encycl.  dritter  Theil,  die 
Philos.  d.  Geistes,  herausg.  von  Ludw.  Boumann,  1845.  Bd.  VIII:  Grundlinien  der 
Philos.  des  Rechts  oder  NBturrecht  u.  Staatswissenschaft  im  Grundrisse,  herausg.  von 
Ed.  Gans  1833.    Bd.  IX:  Vorlesgn.  öb.  d.  Philos.  d.  Gesch.,  herausg.  von  Ed.  Gans 


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340 


§  32.  Hegel. 


1837  (in  2.  Aufl.  herausg.  von  Hegels  Sohn  Karl  H.).  Bd.  X,  Abth.  1—3:  Vorlesungen 
üb.  d.  Aesthetik,  hcrausg.  von  H.  G.  Hotho  1836 — 38.  Bd.  XI  u.  XII:  Vorlesungen 
üb.  d.  Philo«,  d.  Relig.,  nebst  e.  Schrift  üb.  d.  Beweise  vom  Dasein  Gottes,  herausg.  von 
Phil.  Marheineke  1832  (in  2.  Aufl.  von  Bruno  Bauer).  Bd.  XIII— XV:  Vorlesungen 
üb.  d.  Gesch.  d.  Phil.,  herausg.  von  Karl  Ludw.  Michelet  1833—36.  Bd.  XVI  u.  XVII: 
vermischte  Schriften,  herausg.  von  Friedr.  Förster  u.  Ludw.  Boumann  1834 — 35. 
Bd.  XVIII:  philos.  Propädeutik,  herausg.  von  Karl  Rosenkranz  1840.  Bd.  XIX,  1  u.  2, 
Briefe  v.  u.  an  Hegel,  herausg.  von  Karl  Hegel,  Lpz.  1887.  Die  im  VI.  Bde.  der  s. 
Werke  enthaltene  „Encyclopädie"  hat  ohne  die  oben  erwähnten  Zusätze  Rosenkranz 
separat  Berl.  1845  herausg.  und  von  Neuem  in  der  .Philos.  Bibl.*,  Bd.  30,  Berl.  1870, 
nebst  von  Rosenkranz  verfassten  „Erläuterungen",  ebd.  1870. 

Sachlich  geordnete  Auszuge  aus  Hegels  Schriften  haben  Frantz  und  Hillen 
(Hegels  Philos.  in  wörtl.  Auszügen,  Berl.  1843;,  ferner  mit  mannigfachen  Erläuterungen 
Thaulow  (Hegels  Aeusserungen  über  Erziehung  u.  Unterricht,  Kiel  1854)  geliefert. 
Kritische  Erläuterungen  des  hegelschen  Systems  hat  Rosenkranz,  Königsberg  1843, 
erscheinen  lassen.  Dem  gleichen  Zweck  dienen  mehrere  von  den  Vorreden  der  Heraus- 
geber der  Werke,  ferner  Erdmanns  und  Michelets  Darstellungen  des  h.schen  Systems  in 
ihren  Geschichten  der  neueren  Philosophie,  und  manche  andere  Schriften.  Von  mehreren 
hegelschen  Schriften  sind  im  Ausland  Uebersetzungcn  erschienen,  französische,  italienische 
und  englische,  z.  B.  Lectures  on  the  philosophy  of  history  translat.  by  John  Sibree, 
Lond.  1861.  Uebersetzungen  einer  Reihe  von  Hegels  Schriften  finden  sich  in  dem 
Journal  of  speculative  philos.  Ueber  die  b.sche  Logik  ist  eine  genau  eingehende  Kritik 
von  Trend elenburg  in  dessen  log.  Unters,  geübt  worden,  s.  auch  den«.,  die  logische 
Frage  in  H.s  System,  Lpz.  1843.  Ferner  bandeln  über  dieselbe  und  über  H.s  gesammte 
Doctrin  in  verschiedenem  Sinne  Hegelianer  und  Antihegelianer  in  Schriften  und  Ab- 
handlungen, die  zum  Theil  unten  Erwähnung  finden  werden.  Vgl.  u.  a.  C.  Ft.  Bach- 
mann, üb.  II.«  Svstem  u.  d.  Nothwendigk.  einer  nochmalig.  Umgestaltung  der  Phil., 
1833.  H.  Ulrici',  üb.  Princ.  u.  Methode  der  hegelseh.  Philos..  1841.  IL  Exner,  d. 
Psychologie  der  hegelsch.  Schule,  1842.  A.  Ott,  H.  et  la  philos.  allem.,  1844.  Auch 
Theod.  Wilb.  Danzel,  üb.  d.  Aesthetik  d.  h.schen  Phil.,  Hamburg  1844.  Ant.  H. 
Springer,  d.  h.sche  Geschichtsanschauung,  Tüb.  1848.  A.  L.  Kym,  Hegels  Dial.  in  ihrer 
Anw.  auf  die  Gesch.  der  Philos.,  Zürich  1849.  Aloys  Schmid  (in  Dillingen),  Entwicke- 
lungsgesch.  der  h.schen  Logik,  Regensburg  1858.  P.  Janet,  Emdes  sur  la  dialectique  dans 
Piaton  et  dans  Hegel.  Par.  1860.  Friedr.  Reiff,  üb.  d.  h.sche  Dialektik,  Tüb.  1866. 
Ed.  v.  Hart  mann,  üb.  d.  dialekt.  Methode,  hist.-kritische  Untersuchungen,  Berl.  1868 
(vgl.  dessen  Artikel  üb.  e.  nothw.  Umbildung  d.  h.schen  Philos.  in  Bergmanns  philos. 
Monatsh.  V,  5,  Aug.  1870).  Eine  kritische  Darstellung  des  Systems  enthält  die  Schrift 
von  J.  11.  Stirling,  the  secret  of  Hegel,  being  the  Hegelian  System  in  origin,  principle, 
form  and  matter,  Lond.  1865.  Aug.  Vera  hat  Hegels  Logik,  Naturphil,  und  Geistesphil, 
ins  Französ.  übersetzt  und  erklärt  (Paris  1859,  63—66,  67)  und  auch  selbst  mehrere 
Schriften  im  hegelschen  Sinne  verfasst,  s.  unt.  Ferner  haben  die  Italiener  A.  Galasso 
(Neapel  1867),  G.  Prisco  (Neapel  1868,  1872),  Gius.  Allievo  (Mailand  1868),  L.  Miraglia 
(Neapel  1873)  u.  A.  über  den  Hegelianismus  geschrieben.  G.  Biedermann,  Kants  Krit. 
d.  r.  V.  und  die  hegclsche  Logik  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Begriffswissenschaft,  Prag 
1869.  K.  Rosenkranz,  IL  als  deutsch.  Nationalphilosoph,  Lpz.  1870.  T.  Collyns  Simon, 
Hegel  and  his  connexion  with  British  thought,  in:  The  Conteniporary  Review,  Part  I,  U. 
Jan.  u.  Febr.  1870.  Einl.  u.  Erläut.  zu  H.s  Encyclopädie  von  Karl  Rosenkranz  in  der 
»philos.  Bihl.",  Bd.  30  u.  31,  Berl.  1870.  Karl  Köstlin,  H.  in  philos.,  polit.  u. 
nat.  Beziehg.,  Tüb.  1870.  M.  Schasler,  Hegel,  populäre  Ged.  aus  s.  Werken,  Berlin  1870, 
2.  Aufl.  1873.  Emil  Feuerlein,  üb.  d.  culturgesch.  Bedeutg.  Hegels  in:  Hist.  Zeitsehx., 
12.  Jahrgang,  1870,  S.  314—368.  Frdr.  Harms,  z.  Erinnerg.  an  Georg  W.  Fr.  Hegel 
in  Bergmanns  phil.  Monatsheft.  VII,  1871,  S.  145—161  (auch  separat).  Gust.  Thaulow, 
Acten,  den  lOOjähr.  Geburtstag  H.s  betr.,  Kiel  1870—72.  C.  Stommel,  die  Differenz 
Kante  und  Hegels  in  Bez.  auf  d.  Erklär,  der  Antinomien,  I.-D.,  Halle  1876.  J.  Klaiber, 
Hölderlin,  Hegel  u.  Schelling  in  ihren  schwäbischen  Jugendjahren,  Stuttg.  1877.  M. 
Ehrenhaus8,  H.s  Gottesbegr.  in  seinen  Grundlinien  u.  nächst.  Folgen  aus  d.  Quellen 
dargelegt,  Wittenb.  1880.  W.James,  on  some  Hegelisms,  in:  Mind  1882.  S.  186—208. 
O.  Hering,  Vergleich.  Darstellung  u.  Beurtheil.  der  Religionsphil.  Hegels  u.  Schleier- 
machers, Jena  1882.  E.  Caird,  Hegel,  Lond.  1883.  Reinhold  Geijer,  Hegelianism 
och  Positivism  (ur  Lunds  Universitets  Ärsskrift,  Tom.  18),  Lund  1883.  Ant.  Bullinger, 
H.s  L.  vom  Widerspruch  Missverständnissen  gegenüber  vertheidigt,  Dillingen  1884. 
Walter  B.  Wines,  H.s  idea  of  the  nature  and  sanetion  of  law,  in:  The  Journ.  of  spec. 
ph.,  XVIII,   1884,  S.  9 — 20.    John  Steinfort  Kedney,  Hegels  Aesthetics,  a  critic.  ex- 


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§  32.  Hegel. 


347 


Position,  Chicago  1884  (in  Qfiggt'f  philo«,  classic«.  G.  Levi  (Gifllc).  la  dottrina 
dello  Stato  e  lt>  altre  dottrine  intorno  allo  stesso  argomentn,  I — III,  Koma  1884. 
S.Alexander,  H.s  coneeption  of  nature,  in:  Mind  U,  188G,  S.  494— 523.  Joh.  Werner, 
H.8  Offenhaningsbenr.,  Lpz.  1887. 

Georg  Wilh.  Friedr.  Hegel,  geb.  zu  Stuttgart  am  27.  August  1770,  warder 
Sohn  eines  herzoglichen  Verwaltungsbeamten  (Rentkammersecretairs.  später  Expe- 
ditionsraths). Er  studirte  auf  der  Landesuniversität  zu  Tübingen  als  Mitglied  des 
Stifts,  indem  er  von  1788-  90  den  philosophischen,  1790—93  den  theologischen 
Curaus  absolvirte.  Zur  Erlangung  der  philosophischen  Magisterwürde  schrieb  er 
Specimina  „über  das  Urtheil  des  gemeinen  Menschenverstandes  über  Objcctivität 
und  Subjectivität",  und  .über  das  Studium  der  Geschichte  der  Philosophie  und 
vertheidigte  eine  von  dem  Professor  der  Philosophie  und  Eloquenz  A.  F.  Boele  ver- 
fasste  Dissertation  .de  limite  officiorum  humanorum  seposita  animoram  immörtalitate", 
deren  Thema  Hegel  auch  später  noch  (wie  aus  einem  1795  von  ihm  verfassten 
Manuscript  hervorgeht)  viel  zu  denken  gab;  zur  Erlangung  der  Candidatenwürde 
vertheidigte  er  die  von  dem  Kanzler  le  Bret  verfasste  Dissertation  «de  ecclesiae 
Wirtembergicae  renascentis  calamitatibus".  (Ueber  H.s  theologische.  Entwicklung 
in  dieser  und  der  nachfolgenden  Zeit  handelt  Zeller  im  IV.  Bande  der  thcol.  Jahr- 
bücher, Tübingen  1845,  S.  205  ff.)  Der  streng  bibelgläubige  Supranaturalist  Storr 
trug  die  Dogmatik  vor;  neben  ihm  wirkten  der  mit  ihm  gleichgesinnte  Flatt  und 
die  mehr  rationalisirenden  Professoren  der  Exegese  und  Kirchengeschichte  Schnurrer 
und  Rösler.  Die  Leetüre  von  Schriften  Kants,  Jacobis  und  anderer  Philosophen, 
auch  Herders,  Leasings,  Schillers,  die  Freundschaft  mit  dem  für  hellenisches  Alter- 
tbum  begeisterten  Hölderlin,  die  Theilnahme,  mit  welcher  er  gleich  Schelling  und 
anderen  Commilitonen  die  Ereignisse  in  Frankreich  begleitete,  scheinen  ihn  mehr 
als  die  vorgeschriebenen  Studien  in  Anspruch  genommen  zu  haben,  was  aus  dem 
Abgangszeugnis»,  das  nur  seine  Anlagen,  nicht  seine  Kenntnisse  (auch  nicht  die 
philosophischen)  lobt,  sich  schliessen  lässt.  Eifrig  setzte  er  seine  theologischen  und 
philosophischen  Studien  während  seiner  Hauslehrerstellung  in  Bern  fort;  zugleich 
stand  er  hier  in  einem  lebhaften  Briefwechsel  mit  Schelling,  der  noch  im  tübinger 
Stift  studirte.  Von  besonderer  Wichtigkeit  für  das  Verständniss  seines  Entwickc- 
lungsganges  ist  das  im  Frühjahr  1795  von  ihm  geschriebene  .Leben  Jesu",  das 
handschriftlich  erhalten  ist  und  woraus  Rosenkranz  und  Hayra  Proben  mitgetheilt 
haben.  Die  lessingsche  Unterscheidung  der  persönlichen  Religionsanschanung  Jesu 
von  dem  Dogma  der  christlichen  Kirche  liegt  Hegels  Schrift  zu  Grunde.  Dass 
nicht  sowohl  rein  historische  Motive,  als  vielmehr  das  Bedürfniss,  seinen  eigenen 
damaligen  Standpunkt  bei  Jesu  wiederzufinden,  ihm  diese  Unterscheidung  werth 
gemacht  haben,  geht  aus  den  aus  jenen  Gedanken  gebauten  Ausführungen  hervor. 
Das  Judenthum  repräsentirf  den  Moral ismus  des  kategorischen  Imperativs  der  kanti- 
schen Philosophie,  den  Jesus  durch  die  Liebe  überwindet,  welche  die  „Synthese* 
ist.  „in  der  das  Gesetz  seine  Allgemeinheit  und  ebenso  das  Subject  seine  Besonder- 
heit, beide  ihre  Entgegensetzung  verlieren,  während  in  der  kantischen  Tugend  diese 
Entgegensetzung  bleibt«.  Doch  weist  Hegel  andererseits  auch  das  in  der  blossen 
Liebe  liegende  pathologische  Element  und  dessen  Gefahren  nach.  In  der  Gebunden- 
heit an  eine  bestimmte  geistige  Richtung  liegt  das  Schicksal ;  Jesus  trat  nicht  zu 
einzelnen  Seiten  des  jüdischen  Schicksals,  sondern  durch  sein  Princip  der  Liebe  zu 
diesem  selbst  in  Gegensatz.  Die  Aussprüche  über  die  Einheit  der  göttlichen  und 
menschlichen  Natur  in  Christo  führt  Hegel  auf  den  Gedanken  zurück,  dass  nur  die 
Reflexion,  die  das  Leben  trenne,  es  in  Unendliches  und  Endliches  unterscheide; 
ausserhalb  der  Reflexion,  in  der  Wahrheit,  finde  diese  Scheidung  nicht  statt  Sehr 
hart  redet  Hegel  gegen  diese  Scheidung,  welche  fälschlich  die  Gottheit  objectivire : 


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348 


§  32.  Hegel. 


dieselbe  gehe  mit  der  Verdorbenheit  and  Sclaverei  der  Menschen  in  gleichem 
Schritt  nnd  sei  nur  deren  Offenbarung.  Den  Sieg  des  dogmatisirenden  kirchlichen 
Christenthums,  wie  es  in  den  letzten  Jahrhunderten  des  Alterthums  herrechte, 
erklärt  Hegel  au9  der  Unfreiheit,  zu  welcher  das  römische  Weltreich  die  früher 
selbständigen  Staaten  herabgebracht  hatte;  dem  Bärger  der  alten  Staaten  war  die 
Republik  als  seine  „Seele"  das  Ewige:  das  unfreie,  dem  allgemeinen  Interesse  ent- 
fremdete Individuum  aber  beschränkte  seineu  Blick  auf  sich  selbst;  das  Recht  des 
Bürgers  gab  ihm  nur  ein  Recht  an  Sicherheit  des  EigenthumB,  das  jetzt  seine  ganze 
Welt  ausfüllte;  der  Tod  musste  ihm  schrecklich  sein,  der  das  ganze  Gewebe  seiner 
Zwecke  niederriss;  so  sah  sich  der  Mensch  durch  Unfreiheit  und  Klend  gezwungen, 
sein  Absolutes  in  die  Gottheit  zu  flüchten,  Glückseligkeit  im  Bimmel  zu  suchen 
und  zu  erwarten;  eine  Religion  musste  willkommen  sein,  die  den  herrschenden  Geist 
der  Zeiten,  die  moralische  Ohnmacht,  die  Unehre,  mit  Füssen  getreten  zu  werden, 
unter  dem  Namen  des  leidenden  Gehorsams  zur  Ehre  und  zur  höchsten  Tugend 
stempelte  etc.  Der  Radicalismus  dieser  jugendlichen  Oppositionsgedanken  ist  in 
dem  Conservatismus  der  späteren  Religionsphilosophie  als  ein  zurückgedrängtes,  aber 
uuausgetilgtes  Moment  miteuthalten,  welches  durch  einen  Theil  der  Schüler  (in  der 
schroffsten  Weise  durch  Bruno  Bauer)  aufs  Neue  verselbständigt  und  weiter  durch- 
gebildet worden  ist. 

Nach  dreijährigem  Aufenthalt  in  der  Schweiz  kehrte  Hegel  nach  Deutschland 
zurück  und  trat  im  Januar  1797  eine  Hauslehrerstelle  in  Frankfurt  am  Main  an. 
Hier  trieb  er  in  seinen  Mussestunden,  wie  zum  Theil  schon  in  Bern,  politische 
Studien  neben  den  theologischen,  die  auch  nicht  vernachlässigt  wurden.  Im  Jahr 
1798  verfasste  Hegel  eine  kleine  ungedruckt  gebliebene  Schrift  ȟber  die  neuesten 
inneren  Verhältnisse  Wirtembergs,  besonders  über  die  Gebrechen  der  Magistrats- 
verfassung", woran  sich  später,  nach  dem  9.  Februar  1801,  eine  gleichfalls  Manuscript 
gebliebene  Schrift  über  die  deutsche  Reichsverfassung  angeschlossen  bat,  die  dem- 
gemäss  bereits  dem  Aufenthalt  in  Jena  angehört,  wohin  Hegel  im  Januar  1801 
übersiedelte.  Ihm  hatte  sich  (wie  er  am  2.  November  1800  an  Schölling  schrieb) 
das  Ideal  des  Jünglingsalters  zur  Reflexiousform  umgesetzt  und  in  ein  System 
verwandelt;  Hegel  hatte  die  Logik  und  Metaphysik  und  theilweise  auch  die  Natur- 
philosophie handschriftlich  ausgearbeitet,  woran  sich  als  dritter  Theil  die  Ethik 
schliessen  sollte.  In  Jena  hatte  Hegel  zuerst  eine  Schrift  veröffentlicht:  „Differenz 
des  fichteschen  und  schcllingschen  Systems  der  Philosophie",  Jena  1801.  Das 
fichtesche  System  ist  subjectiver  Idealismus,  das  schellingsche  subjectiv-objectiver 
und  daher  absoluter  Idealismus.  Es  beruht  auf  dem  Grundgedanken  der  absoluten 
Identität  des  Subjectiven  und  Objectiven;  in  der  Naturphilosophie  und  der  Trans- 
Bcendentalphilosophie  wird  das  Absolute  in  den  beiden  nothwendigcn  Formen  seiner 
Existenz  construirt.  Zu  dem  schellingschen  Standpunkt  bekennt  Hegel  sich  selbst. 
Nachdem  Hegel  sich  durch  die  Dissertation  „de  orbitis  planetarum*  habilitirt  hatte, 
wirkte  er  in  Gemeinschaft  mit  Schelling  für  die  Verbreitung  des  Identitätssysteras 
als  akademischer  Lehrer  und  (1802  Mb  1803)  als  Mitherausgeber  des  (schon  oben 
bei  der  Darstellung  der  schellingschen  Philosophie  erwähnten)  „kritischen  Journals 
der  Philosophie",  zu  welchem  er  die  meisten  Beiträge  geliefert  hat  Daneben 
arbeitete  Hegel  den  dritten  Theil  seines  Systems,  das  „System  der  Sittlichkeit", 
handschriftlich,  zunächst  zum  Behufe  seiner  Vorlesungen  aus;  dieser  Theil  hat  sich 
später  zur  „Philosophie  des  Geistes"  erweitert.  Allmählich  gewann  in  Hegel  das 
Bewusstsein  seiner  Differenz  von  Schelling  Macht,  zumal  seit  dieser  (im  Sommer 
1803)  Jena  verlasseu  hatte,  und  der  unmittelbare  persönliche  Verkehr  wegfiel.  Er 
bezeichnet  diese  Differenz  scharf  und  schneidend  in  dem  im  Jahre  1806  vollendeten 
vielumfassenden  Werke  „Phänomenologie  des  Geistes".    Seitdem  betrachtete 


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§  32.  Hegel. 


349 


ihn  Schelling  ala  seinen  Widersacher,  während  er  vorher  auf  das  Innigste  mit  ihm 
befreundet  gewesen  war.  Bald  nachher  verlies»  Hegel  in  Folge  der  Kriegs- 
ereignisse Jena,  gab  die  ihm  dort  im  Februar  1805  ertheilte  ausserordentliche 
Professur  auf  und  redigirte  eine  Zeit  lang  die  Bamberger  Zeitung,  bis  er  im 
November  1808  das  Directorat  des  Aegidiengymnasiums  zu  Nürnberg  erhielt.  Kr 
bekleidete  dasselbe  bis  zum  Jahre  1816.  In  dieser  Stellung  schrieb  er  zum  Behuf 
des  Gymnasialvortrags  seine  philosophische  Propädeutik  und  verfasste  das  ausführ- 
liche, die  früher  von  ihm  selbst  noch  unterschiedenen  Doctrinen:  Logik  und 
Metaphysik  zur  Einheit  zusammenfassende  Werk :  .Wissenschaft  der  Logik*. 
Nürnberg  1812—16.  Im  Herbst  1816  trat  Hegel  eine  Professur  der  Philosophie  in 
Heidelberg  an,  nachdem  Fries  von  dort  nach  Jena  zurückgekehrt  war  Während 
des  Aufenthalts  in  Heidelberg  würde  von  Hegel  neben  einer  „ßeurtheilg.  der  Ver- 
handlungen der  Wirtembergischen  Landstände  in  den  J.  1815  und  1816*  in  den 
Heidelb.  Jahrbüchern  1817  (einer  Verteidigung  der  von  der  Regierung  erstrebten 
Reformen)  die  „Encyclop.  der  philosoph.  Wissenschaften  im  Grundrisse*, 
Heidelb.  1817,  veröffentlicht  (2.  sehr  erweit.  Aufl.  1827, 3.  Aufl.  1830).  Am  22.  October 
1818  eröffnete  Hegel  seine  Vorlesungen  in  Berlin,  die  über  alle  Theile  des  philo- 
sophischen Systems  sich  erstreckten  und  zur  Begründung  der  Schule  am  einfluss- 
reichsten gewirkt  haben.  Während  der  berliner  Periode  hat  Hegel  nur  noch  die 
Rechtsphilosophie  herausgegeben:  „Grundlinien  der  Philos.  des  Rechts  oder  Natur- 
recht und  Staatswissensch,  im  Grundrisse*,  Berl  1821,  und  an  dem  neubegründeten 
litterarischen  Organ  des  Hegelianismus,  den  „Jahrbüchern  für  wissenschaftl.  Kritik* 
mitgearbeitet.  Durch  die  dankenswerthe  Redaction  der  Schüler  sind  die  Vorlesungen 
über  die  Philosophie  der  Geschichte,  der  Kunst  und  Religion,  wie  auch  über  die 
Geschichte  der  Philosophie,  mehr  oder  minder  buchmäseig  verarbeitet  und  so  ver- 
öffentlicht worden,  nachdem  Hegel  selbst  am  14.  November  1831  der  Cholera  er- 
legen war. 

Die  Philosophie  Hegels  ist  eine  kritische  Umgestaltung  und  Fort- 
bildung des  schellingschen  Identitätssystems.  Hegel  billigt  an  der 
schellingschen  Philosophie,  dass  es  derselben  um  einen  Inhalt  zu  thun  sei,  um  die 
wahre  absolute  Erkenntniss,  und  dass  das  Wahre  ihr  das  Concrete  sei,  die  Einheit 
des  Subjectiven  und  Objectiven,  im  Gegensatz  zu  der  kantischen  Lehre  von  der 
Unerkennbarkeit  der  Dinge  an  sich  und  zu  Fichtes  subjectivem  Idealismus.  Hegel 
findet  aber  bei  Schelling  den  zweifachen  Maugel:  1.  dass  das  Princip  des  Systems, 
die  absolute  Identität,  nicht  als  ein  Nothwcndiges  erwiesen,  sondern  nur  voraus- 
gesetzt werde  (das  Absolute  sei  wie  aus  der  Pistole  geschossen),  2.  dass  der  Fort- 
gang vom  Princip  des  Systems  zu  den  einzelnen  Sätzen  nicht  mit  wissenschaftlicher 
Nothwendigkeit  begründet  sei,  und  darum  statt  der  Aufzeigung  der  Selbstentfaltung 
des  Absoluten  nur  ein  willkürliches  und  phantastisches  Operiren  mit  den  beiden 
Begriffen  dos  Idealen  und  Realen  eintrete  (wie  wenn  ein  Maler  für  Thiere  und 
Landschaften  nur  die  beiden  Farben  roth  und  grün  zu  verwenden  hätte) ;  es  komme 
aber  darauf  an,  dass  das  Absolute  nicht  bloss  als  die  allem  Individuellen  zu  Grunde 
liegende  Substanz,  sondern  auch  als  das  sich  selbst  setzende,  aus  dem  Anders- 
werden sich  wiederum  zur  Gleichheit  mit  sich  selbst  herstellende  Subject  aufgefasst 
werde.  Hegel  will  demnach  seinerseits  1.  das  Bewusstsein  auf  den  Standpunkt  der 
absoluten  ErkenntnisB  erheben,  2.  den  gesammten  Inhalt  dieser  Erkenutniss  vermittelst 
der  dialektischen  Methode  systematisch  entwickeln.  Das  Erste  geschieht  in  der 
Phänomenologie  des  Geistes  und  (kürzer,  indem  bloss  die  letzten  Stufen  der  philo- 
sophischen Erkenntniss  betrachtet  werden)  in  der  Einleitung  der  Encyclopädie, 
das  andere  in  dem  gesammten  System  der  Logik,  Natur-  und  Geistesphilosophie. 


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350 


§  32.  HegeL 


Iu  der  Phänomenologie  des  Geistes  stellt  Hegel  die  Entwickelungsformeu 
des  menschlichen  Bewusstseins  dar  von  der  unmittelbaren  Gewissheit  durch  die  ver- 
schiedeneu Formen  der  Reflexion  und  Selbsteutfremdung  hindurch  bis  zur  absoluten 
Erkenntnis».  In  der  phänomenologischen  Darstelluug  verflicht  Hegel  mit  einander 
die  Bildungsgeschichte  des  individuellen  und  des  allgemeinen  Geistes.  Die  Haupt- 
stufen sind:  Bewusstsein,  Selbstbewußtsein,  Vernunft,  sittlicher  Geist,  Religion, 
absolutes  Wissen.  Der  Gegenstand  des  absoluten  Wissens  ist  die  eigene  Bewegung 
des  Geistes.  Das  absolute,  begreifende  Wissen  setzt  das  Dasein  aller  frühereu 
Gestalten  voraus;  daher  ist  es  die  begriffene  Geschichte;  in  ihr  sind  alle  früheren 
Gestalten  bewahrt:  „aus  dem  Kelche  dieses  Geisterreiches  schäumt  ihm  die  Unend- 
lichkeit" (sagt  Hegel,  auf  Schillers  „Theosophie  des  Julius"  anspielend,  am  Schluss 
der  Phänomenologie). 

In  der  Einleitung  zur  Eneyclopädie  begründet  Hegel  den  Standpunkt 
des  absoluten  Wissens  durch  eine  Kritik  der  Stellungen  des  philosophischen  Ge- 
dankens zur  Objectivität,  welche  in  der  Geschichte  der  neueren  Philosophie  hervor- 
getreten sind,  insbesondere  des  Dogmatismus  und  Empirismus,  des  Kriticismus  und 
des  unmittelbaren  Wissens.  Das  absolute  Wissen  erkennt  Denken  und  Sein  al3 
identisch  oder  (wie  Hegel  in  der  Vorrede  zur  Rechtsphilosophie  sich  ausdrückt) 
das  Vernünftige  als  wirklich  und  das  Wirkliche  als  vernünftig. 

Das  System  der  Philosophie  gliedert  sich  in  drei  Haupttheile:  die  Logik, 
welche  die  Wissenschaft  der  Idee  an  und  für  sich  ist,  die  Naturphilosophie  als  die 
Wissenschaft  der  Idee  in  ihrem  Anderssein,  die  Philosophie  des  Geistes  als  die 
Wissenschaft  der  Idee,  die  aus  ihrem  Anderssein  in  sich  zurückkehrt.  Die  Methode 
ist  die  dialektische,  welche  das  Umschlagen  jedes  Begriffs  iu  sein  Gegeutheil 
und  die  Vermittelung  des  Gegensatzes  zu  der  höheren  Einheit  betrachtet;  in  ihr  ist 
sowohl  der  bloss  unterscheidende  Verstand,  wie  auch  die  bloss  die  Unterschiede 
aufhebende  negative  Vernunft  oder  Skepsis  als  Moment  enthalten.  Der  Begriff  ist 
stets  in  Bewegung,  bleibt  nicht  das,  was  er  ist,  sondern  vermöge  des  in  ihm  ent- 
haltenen Widerspruchs  hebt  er  sich  selbst  auf,  aber  aus  diesem  Widerspruch  kehrt 
er  wiederum  zu  sich  selbst  zurück.  Er  ist  ebenso  sein  Gegeutheil  als  er  selbst. 
Diese  ewige  Bewegung  ist  ein  Moment  der  heraklitischen  Philosophie,  die  Hegel 
sehr  hoch  schätzte,  wie  er  selbst  anerkennt,  dass  es  keinen  Satz  des  Heraklit  gäbe, 
den  er  nicht  in  seine  Logik  aufgenommen  hätte.  Das  vernünftige  Erkennen  im 
Gegensatze  zu  dem  verständigen  besteht  in  dem  „Waltenlassen  der  Sache  selbst 
oder  der  allgemeinen  Vernunft  in  uns,  die  mit  dem  Wesen  der  Dinge  identisch  ist." 

Die  Logik  ist  die  Wissenschaft  der  reinen  Idee,  das  ist,  der  Idee  im  abstracten 
Elemente  des  Denkens,  die  Wissenschaft  von  Gott  oder  dem  Logos,  sofern  derselbe 
nur  als  das  Prius  der  Natur  und  des  Geistes  (gleichsam  wie  er  vor  der  Welt- 
schöpfung ist)  betrachtet  wird.  Sie  zerfällt  in  drei  Theile,  nämlich  in  die  Lehre 
vom  Sein  als  dem  Gedanken  in  seiner  Unmittelbarkeit,  dem  Begriff  an  sich,  die  Lehre 
vom  Wesen  als  dem  Gedanken  in  seiner  Reflexion  und  Vermitteluug,  dem  Fürsichsein 
und  Schein  des  Begriffs,  die  Lehre  von  dem  Begriff  und  der  Idee  als  dem  Gedanken 
in  seinem  Zurückgekehrtsein  in  sich  selbst  und  seinem  entwickelten  ßeisichsein, 
dem  Begriff  an  und  für  sich.*)    Iu  dem  grösseren  Werke  über  die  Logik  hat  Hegel 


*)  Hegel  rechnet  wohl  mit  Unrecht  diese  letzte  Lehre  noch  der  Grundwissen- 
Schuft  oder  „Logik"  als  dritten  Theil  zu,  da  sie  vielmehr,  wie  schon  aus  der 
Definition  hervorgeht,  der  Wissenschaft  des  Geistes  angehört;  einiges  von  dem  aber, 
was  Hegel  hineinzieht,  würde  in  der  Naturphilosophie  seine  angemessene  Stelle 
linden.    Die  Tendenz  der  Bearbeitung  geht  freilich  dahin,  alle  diese  Formen  als 


§  32.  Hegel. 


351 


diesen  letzten  Theil  als  subjective  Logik,  diu  beiden  ersten  zusammen  als  objective 
Logik  bezeichnet. 

Den  Ausgangspunkt  der  dialektischen  Entwickelung  in  der  Logik  (und  damit 
also  zugleich  in  dem  gesammten  philosophischen  System)  bildet  das  reine  Sein 
als  der  abstracteste  und  absolut  inhaltsleere,  daher  mit  dem  Nichts  identische  Be- 
griff. Zu  dem  Nichts  steht  das  Sein  in  dem  Doppelverhältuiss  der  Identität  und 
des,  obschon  unsagbaren,  unangebbaren  Unterschieds.*)  Die  Identität  im  Unter- 
schied von  Sein  und  Nichts  ergiebt  einen  neuen,  höheren  Begriff,  welcher  die  höhere 
Einheit  jener  beiden  Begriffe  ist,  nämlich  den  des  Werdens.  Die  Arten  des  Werdens 
sind  das  Entstehen  und  das  Vergehen;  das  Resultat  des  Werdens  ist  das  Dasein; 
das  mit  der  Negation  identische  Sein  oder  das  Sein  mit  einer  Bestimmtheit,  die 
uls  unmittelbare  oder  seiende  Bestimmtheit  ist,  oder  einer  Qualität.  Das  Dasein 
als  in  dieser  seiner  Bestimmtheit  in  sich  reflectirt,  ist  Daseiendes,  Etwas.  Die 
Grundlage  aller  Bestimmtheit  ist  die  Negation  (wobei  sich  Hegel  auf  Spinozas 
Satz  beruft:  omnis  determiuatio  est  negatio).  Als  seiende  Bestimmtheit  gegenüber 
der  in  ihr  enthaltenen,  aber  von  ihr  unterschiedenen  Negation  ist  die  Qualität 
Realität;  die  Negation  aber  ist  nicht  mehr  das  abstracto  Nichts,  sondern  das  Anders- 
sein. Das  Sein  der  Qualität  als  solches,  gegenüber  der  Beziehung  auf  Anderes,  ist 
das  Ansichsein.  Das  Etwas  wird  ein  Anderes,  da  das  Anderssein  sein  eigenes 
Moment  ist,  das  Andere  als  ein  neues  Etwas  wird  wieder  ein  Anderes;  dieser  Pro- 
gress  ins  Unendliche  aber  bleibt  bei  dem  Widerspruch  stehen,  dass  das  Endliche 
sowohl  Etwas  ist,  wie  sein  Anderes.  Die  Auflösung  dieses  Widerspruchs  liegt  in 
dem  Gedanken,  dass  das  Etwas  in  seinem  Uebergehen  in  Anderes  nur  mit  sich 
selbst  zusammengeht  oder  das  Andere  des  Anderen  wird;  diese  Beziehung  im  Ueber- 
gehen und  im  Anderen  auf  sich  selbst  ist  die  wahrhafte  Unendlichkeit,  die  Her- 
stellung des  Seins  als  Negation  der  Negatiou,  oder  das  Fürsichsein.  Im  Fürsichsein 
ist  die  Bestimmung  der  Idealität  eingetreten.  Die  Wahrheit  des  Endlichen  ist 
seine  Idealität.  Diese  Idealität  des  Endlichen  ist  der  Hauptsatz  der  Philosophie, 
uud  jede  wahrhafte  Philosophie  ist  deswegen  Idealismus.  Die  Idealität  als  die 
wahrhafte  Unendlichkeit  ist  die  Lösung  des  Gegensatzes  zwischen  dem  Endlichen 
und  dem  Verstandes-Unendlichen,  welches,  neben  das  Endliche  gestellt,  selbst  nur 
eineB  der  beiden  Endlichen  ist.  Die  Momente  des  Fürsichseins  sind :  das  Eins,  die 
Vielen  und  die  Beziehung  (als  Attractiou  und  Repulsion).  Die  Qualität  schlägt 
wegen  der  Uuterschiedslosigkeit  der  vielen  Eins  in  ihr Gegentheil,  die  Quantität, 
um.  In  der  Kategorie  der  Quantität  wiederholt  sich  das  Verhältniss  des  Seins, 
Daseins  und  Fürsichseins  als  reine  Quantität,  Quantum  und  intensive  Grösse  oder 

metaphysische,  sowohl  der  Natur,  als  dem  Geist  immanente  zu  behandeln;  da  aber 
die  speciellere  Bedeutung,  die  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  gemäss  ist,  überall 
mit  nineinspielt,  so  ist  die  hegclsche  Ausführung  dieser  Partien  durchweg  getrübt 
durch  das  Schwanken  zwischen  dem  Charakter  einer  Doctrin  von  Formen,  die  nur 
dem  denkenden  Geiste  als  solchem  oder  andererseits  der  Natur  als  solcher  zu- 
kommen, und  dem  Charakter  einer  Doctrin  von  Formen  aller  natürlichen  und  gei- 
stigen Wirklichkeit. 

*)  In  der  That  aber  lässt  sich  der  Unterschied  dahin  angeben,  dass  der  Begriff 
des  Seins  durch  Abstractiou  von  allem  Unterschied  in  dem  durch  gültige  Begriffe 
Geduchten  unter  Festhaltung  des  darin  Identischen  gewonnen  wird,  der  Begriff  des 
Nichts  aber  dadurch,  dass  in  der  Abstractiou  noch  um  einen  Schritt  weiter  ge- 
gangen und  auch  noch  von  diesem  Identischen  selbst  mit  abstrahirt  wird.  In  gleicher 
Art  lässt  sich  auf  allen  folgenden  Stufen  durch  scharfe  und  streng  festzuhaltende 
Unterscheidungen  die  hegelsche  Dialektik  auflösen  und  die  immanente  Fortbewegung 
des  reinen  Gedankens  als  illusorisch  erkennen.  Hierfür  mag  jedoch  an  dieser  Stelle 
die  Verweisung  auf  Trendelenburg  uud  Andere  genügen.  Vgl.  auch  Ueberwegs 
Syst.  der  Logik  §  31. 


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352 


§32.  Hegel. 


Grad.  Das  sieb  gelbst  in  seiner  fürsichseienden  Bestimmtheit  Aeasserlichsein  des 
Quantums  macht  seine  Qualität  aus.  Das  Quantitative,  an  ihm  selbst  so  gesetzt, 
ist  das  quantitative  Verhältnis».  Indem  das  Quantitative  selbst  Beziehung  auf  sich 
in  seiner  Aeusserlichkeit  ist  oder  das  Fürsichsein  und  die  Gleichgültigkeit  der 
Bestimmtheit  vereinigt  sind,  ist  es  das  Maass.  Das  Maas*  ist  das  qualitative 
Quantum,  die  Einheit  der  Qualität  und  der  Quantität.  In  dieser  Einheit  ist  die 
Unmittelbarkeit  des  Seins  aufgehoben  und  dadurch  das  Wesen  gesetzt. 

Das  Wesen  ist  das  aufgehobene  Sein  oder  das  durch  die  Negation  mit  sich 
vermittelte,  in  sich  reflectirte  Sein.  Dem  Wesen  gehören  an  die  reinen  Reflexions- 
bestimmungen,  insbesondere  die  Identität,  der  Unterschied  und  der  Grund.  Die 
logischen  Grundsätze  der  Ideutität  und  des  Unterschieds  sind  als  einseitige  Ab- 
stractionen,  welche  blosse  Momente  der  Wahrheit  verselbständigen,  mit  Unwahrheit 
behuftet;  die  speculative  Wahrheit  ist  die  Identität  der  Ideutität  und  des  Unter- 
schieds, welche  im  Begriffe  des  Grundes  liegt.  Das  Wesen  ist  der  Grund  der 
Existenz:  die  Existenz  ist  die  Wiederherstellung  der  Unmittelbarkeit  oder  dea 
Seins,  insofern  es  durch  das  Aufheben  der  Vermittelung  vermittelt  ist  Die  Totalität 
als  die  in  Einem  gesetzte  Entwicklung  der  Bestimmungen  des  Grundes  und  der 
Existenz  ist  das  Ding.  Unter  dem  »Ding  uu  sich"  versteht  Hegel  die  Abstraction 
der  blossen  Reflexion  des  Dinge*  an  sich,  uu  der  gegen  die  Reflexion  in  Anderes, 
vermöge  deren  es  Eigenschaften  habe,  als  an  der  leeren  Grundlage  derselben  fest- 
gehalten werde.*)   Die  Existenz  des  Dinges  involvirt  den  Widerspruch  zwischen 

*)  Hier  wird  von  Hegel  dem  kantischen  Terminus  ein  veränderter  Sinn  unter- 
gelegt, jedoch  mit  dem  Anspruch,  den  kantischen  Sinn  zu  treffen.  Kant  hat  nicht 
das  Ding  ohne  die  Eigenschaften  und  nicht  ohne  alle  Beziehungen  überhaupt, 
sondern  nur  das  Ding,  wie  es,  abgesehen  von  einer  bestimmten  Beziehung,  nämlich 
von  seiner  Spiegelung  in  unserem  Bewusstsein  (und  zwar  dem  nächsten,  vorkritischen, 
durch  Wahrnehmung  und  dogmatisches  Denken  bestimmten  Bewusstsein)  ist,  unter 
jenem  Terminus  verstanden  (vgl.  in  Ueberwegs  Syst.  d.  Logik  §  40  die  Bemerkungen 
über  die  Verschiedenheit  der  Gegensätze:  Ansich  und  Erscheinung;  Wesen  und 
Wesenäusserung).  Das  .Ding  an  sich*  im  kniitischen  Sinne  dieses  Ausdrucks  kann 
allerdings  nur  dem  denkenden  EinzelBubject  gegenüber  bestehet) ;  wiewohl  es  diesem 
nicht  nothwendig  als  etwas  ganz  Fremdartiges,  schlechthin  Unerkennbares  gegen- 
übersteht, sondern  eben  nur  als  etwas  zunächst  bloss  ausserhalb  seines  Bewusstseins 
Vorhandenes;  nur  von  dem  einzelnen  Erkeuutnissact  ist  es  unabhängig,  bedingt  aber 

fenetisch  die  Erkenntniss,  wie  es  seinerseits  für  teleologisch  durch  den  der  Er- 
enntniss  fähigen  Geist  als  dessen  Vorstufe  bedingt  gelten  darf  (s.  o.  S.  321).  Giebt 
es  dem  „Absoluten"  gegenüber  kein  .Ding  ansich",  so  doch  dem  wahrnehmenden 
und  denkenden  Einzelsubject  gegenüber.     Hegel  will  auch  für  dieses  die  Dinge  an 
sich  aufheben,  weil  eben  in  den  Individuen  der  absolute  Geist  seine  Wirklichkeit 
habe,  unsere  Vernunft  Gottes  Vernunft  in  uns  sei,  die  nur  uls  identisch  gedacht 
werden  könne  mit  der  Vernunft  in  allen  Dingen.    Aber  selbst  wenn  dies  gelten 
könnte  von  dem  letzten  Erkenntnissziel,  so  gilt  es  doch  jedenfalls  nicht  von  dem 
für  uns  notwendigen  Wege  successiver  Annäherung  an  dasselbe.     Kants  Lehre 
verewigt  die  anfangliche  Fremdheit,  in  der  die  Aussendinge  meinem  individuellen 
Bewusstsein  gegenüberstehen;  Hegels  Lehre  antieipirt  das  letzte  Erkenntnissziel 
für  einen  Jeden,  der  Bich  entscbliesst,  nach  dem  trichotomischen  Rhythmus  der 
Dialektik  zu  denken;  sie  kennt  keine  Probleme  mehr.    Die  Phänomenologie  hilft 
keineswegs  diesem  Mangel  ab;  denn  obschon  sie  von  der  Wahrnehmung  ausgeht, 
erörtert  sie  nicht  im  wissenschaftlichen  Sinne  das  Verhältnis»  derselben  zu  der 
objectiven  Wirklichkeit,  nicht  das  Verhältnis»  der  Vibrationen  der  Luft  und  des 
Aethers  zu  den  Ton-  und  Farbcnempfindnngen;  durch  Anerkennung  der  goetheschen 
Doctrin  hat  sich  Hegel  sogar  die  Möglichkeit  dieser  Untersuchung  abgeschnitten. 
Hegel  raubt   sich    die    Möglichkeit  der  erkenntnisstheoretischen  Untersuchungen 
durch  eine  falsche  Objectivirung  subjectiver  Formen,  während  doch  in  der  That 
selbst  wenn  das  menschliche  Erkenntuissziel  als  erreicht  gedacht  wird,  zwischen 
dem  ^System*  (der  Totalität)  der  (materiellen  uud  geistigen)  Erkenntuissobjecte  und 


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§32.  Hegel. 


353 


dem  Insichbestehen  und  der  Reflexion  in  Anderes  oder  der  Materie  und  der  Form; 
in  diesem  Widerspruch  ist  die  Existenz  Erscheinung.  Das  Wesen  muss  erscheinen. 
Das  unmittelbare,  dem  Wosen  gegenüberstehende  Sein  ist  der  Schein;  das  ent- 
wickelte Scheinen  ist  die  Erscheinung.  Das  Wesen  ist  daher  nicht  hinter  oder 
jenseits  der  Erscheinung,  sondern  dadurch,  dass  das  Wesen  es  ist,  welches  existirt, 
ist  die  Existenz  Erscheinung.  Die  Erscheinung  ist  die  Wahrheit  des  Seins  und 
eine  reichere  Bestimmung,  als  dieses,  insofern  dieselbe  die  Momente  der  Reflexion 
in  sich  und  in  Anderes  in  sich  vereinigt  enthält,  wohingegen  das  Sein  oder  die 
Unmittelbarkeit  noch  das  einseitig  Beziehungslose  ist.  Der  Mangel  der  Erscheinung 
aber  besteht  darin,  dass  sie  noch  dieses  in  sich  Gebrochene,  seinen  Halt  nicht  in 
sich  selbst  Habende  ist,  welcher  Mangel  in  der  nächsthöheren  Kategorie,  der  Wirk- 
lichkeit, aufgehoben  wird.  Kant,  sagt  Hegel,  habe  das  Verdienst,  dasjenige,  was 
dem  gemeinen  Bewusstsein  als  ein  Seiendes  und  Selbständiges  gelte,  als  blosse 
Erscheinung  aufgefasst  zu  haben;  er  habe  aber  fälschlich  die  Erscheinung  im  bloss 
subjectiven  Sinne  genommen  und  ausser  derselben  „das  abstracte  Wesen"*)  als 
Ding  an  sich  fixirt;  Fichte  habe  in  seinem  subjectiven  Idealismus  irrigerweise  den 
Menschen  in  einen  undurchdringlichen  Kreis  bloss  subjectiver  Vorstellungen  gebannt; 
es  sei  vielmehr  die  eigene  Natur  der  unmittelbar  gegenständlichen  Welt  selbst,  nur 
Erscheinung  und  nicht  feste  und  selbständige  Existenz  zu  sein.  Die  unmittelbar 
gewordene  Einheit  des  Wesens  und  der  Existenz  oder  des  Innern  und  des  Aeussern 
ist  die  Wirklichkeit;  ihr  gehört  das  Verhältniss  der  Substantialität,  das  der  Causalität 
und  das  der  Wechselwirkung  an.  Die  Wechselwirkung  ist  unendliche  negative  Be- 
ziehung auf  sich.  Diese  bei  sich  bleibende  Wechselbewegung  aber  oder  das  zum 
Sein  als  einfacher  Unmittelbarkeit  zurückgegangene  Wesen  ist  der  Begriff". 

Der  Begriff  ist  die  Einheit  des  Seins  und  des  Wesens,  die  Wahrheit  der 
Substanz,  das  Freie  als  die  für  sich  [seiende  substantielle  Macht  Der  snbjective 
Begriff  entwickelt  sich  als  der  Betriff  als  solcher,  der  die  Momente  der  Allgemein- 
heit, Besonderheit  und  Einzelheit  in  sich  fasst,  als  das  Urtheil,  welches  die  gesetzte 
Besonderheit  des  Begriffs,  die  Diremtion  des  Begriffs  in  seine  Momente,  die  Be- 
ziehung des  Einzelnen  auf  das  Allgemeine  ist,  endlich  als  der  Schluss,  der  die 
Einheit  des  Begriffs  und  des  Urtheils  ist.  Begriff  als  die  einfache  Identität,  in 
welche  die  Formunterschiede  des  Urtheils  zurückgegangen  sind,  und  Urtheil,  in- 
sofern er  zugleich  in  Realität,  nämlich  in  dem  Unterschiede  seiner  Bestimmungen 
gesetzt  ist.  Der  Schluss  ist  das  Vernünftige  und  alles  Vernünftige,  der  Kreislauf 
der  Vermittlung  der  Begriffsmomente  des  Wirklichen.  Die  Realisirung  des  Begriffs 
im  Schlüsse  als  die  in  sich  zurückgegangene  Totalität  ist  das  Object.  Der  objective 
Begriff  durchläuft  die  Momente:  Mechanismus,  Chemismus  und  Teleologie  (welche 
hier  nicht  in  speciell  naturwissenschaftlichem,  sondern  in  allgemein  metaphysischem 
Sinne  verstanden  werden  müssen).  Li  der  Realisirung  des  Zwecks  setzt  sich  der 
Begriff  als  das  an  sich  seiende  Wesen  des  Objects.  Die  Einheit  des  Begriffs  und 
seiner  Realität,  die  an  sich  seiende  Einheit  des  Subjectiven  und  Objectiven  als  für 
sich  seiend  gesetzt  ist  die  Idee.    Die  Momente  der  Idee  sind  das  Leben,  das 


dem  System  der  Wissenschaft  immer  nur  eine  genaue  Uebereinstimmung  und 
nicht  eine  Identität  im  vollen  Sinne  dieses  Wortes  bestehen  würde;  nur  die 
Fremdheit  der  Dinge  an  sich  würde  völlig  aufgehoben  sein,  aber  nicht  die  Ver- 
schiedenheit derselben  von  unserer  (individuell-subjectiven)  Erkenutniss.  Die 
Erkenntnisslehre,  welche  bei  Kant  ah?  „Vernunftkritik*  ein  hinsichtlich  der 
„trausscendentalen  Objecte*  schlechthin  negatives  Resultat  ergiebt,  wird  von  Hegel 
aber  durch  das  Axiom  der  Identität  von  Denken  und  Sein  aufgehoben.  Zwischen 
diesen  beiden  Extremen  ist  die  richtige  Mitte  zu  finden. 

*)  Was  freilich  nach  dem  Obigen  Kants  Meinung  nicht  war. 

l'eber weg-HeiDze,  Qfttdri«  III.  7.  Aufl.  23 


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3f>4 


§  32.  Hegel. 


Erkennen  und  die  absolute  Idee.  Die  absolute  Idee  ist  die  reine  Form  des 
Begriffs,  die  ihren  Inhalt  mIs  sich  selbst  anschaut,  die  sich  wissende  Wahrheit,  die 
absolute  und  alle  Wahrheit,  die  sich  selbst  denkende  Idee  als  denkende  oder 
logische  Idee.  Die  absolute  Freiheit  der  Idee  ist,  dasB  sie  nicht  bloss  ins  Leben 
übergeht,  noch  als  endliches  Erkennen  dasselbe  in  Bich  scheinen  läest,  sondern  in 
der  absoluten  Wahrheit  ihrer  selbst  sich  entschliesst,  das  Moment  ihrer  Besonderheit 
oder  des  ersten  Bestimmens  und  Andersseins,  die  unmittelbare  Idee  als  ihren  Wider- 
schein, als  Natur,  frei  aus  sich  zu  entlassen.  Die  Idee  als  Sein  oder  die  seiende 
Idee  ist  die  Natur. 

Die  Natur  ist  die  Idee  in  der  Form  des  Andersseins  oder  der  Entäusserung. 
Sie  ist  der  Reflex  des  Geistes,  das  Absolute  in  seinem  unmittelbaren  Dasein.  Die 
Idee  durchläuft  von  ihrem  abstracten  Aussersichsein  in  Raum  und  Zeit  bis  zum 
Insichsein  der  Individualität  im  animalischen  Organismus  eine  Reihe  von  Stufen, 
deren  Folge  auf  der  fortschreitenden  Realiairung  der  Tendenz  zum  Färsichsein  oder 
zur  Subjectivität  beruht.  Doch  hat  in  der  Sphäre  der  Natur  auch  die  Zufälligkeit 
und  Bestimmbarkeit  von  aussen  ihr  Recht;  die  Ausführung  des  Besondem  ist 
äusserer  Bestimmbarkeit  ausgesetzt,  und  hierin  liegt  eine  Ohnmacht  der  Natur,  die 
der  Philosophie  Grenzen  setzt;  das  Particularete  lässt  sich  nicht  begrifflich  er- 
schöpfen. Die  Hanptmomente  der  Natur  sind:  der  mechanische,  physikalische 
und  organische  Process.  Die  Idee  ist  in  der  Schwere  zu  einem  Leibe  entlassen, 
dessen  Glieder  die  freien  Himmelskörper  sind;  dann  bildet  sich  die  Aeusserlichkeit 
zu  Eigenschaften  und  Qualitäten  herein,  die,  einer  individuellen  Einheit  angehörend, 
im  chemischen  Process  eine  immanente  und  physikalische  Bewegung  haben ;  in  der 
Lebendigkeit  endlich  ist  die  Schwere  zu  Gliedern  entlassen,  in  denen  die  subjective 
Einheit  bleibt.  Hegel  erkennt  diese  Folge  nicht  als  eine  zeitliche  an,  denn  nur 
der  Geist  habe  Geschichte,  in  der  Natur  seien  alle  Gestalten  gleichzeitig;  das 
Höhere  in  der  dialektischen  Entwickelung  Spätere,  aber  ideelle  Prius  des  Niederen, 
sei  nur  im  geistigen  Leben  auch  zeitlich  später.  Die  Natur,  sagt  Hegel,  ist  als 
ein  SyBtem  von  Stufen  zu  betrachten,  deren  eine  aus  der  andern  nothwendig  hervor- 
geht und  die  nächste  Wahrheit  derjenigen  ist,  aus  welcher  sie  resultirt,  aber  nicht 
so,  dass  die  eine  ans  der  andern  natürlich  erzeugt  würde,  sondern  in  der  inneren, 
den  Grund  der  Natur  ausmachenden  Idee.  Das  sogenannte  (hypothetisch  von  Kant 
und  zuversichtlicher  von  manchen  Naturphilosophen  angenommene)  Hervorgehen  der 
Pflanzen  und  Thiere  aus  dem  Wasser  und  der  entwickelteren  Thierorganisationen 
aus  den  niedrigeren  erklärt  Hegel  für  eine  uebnlose  Vorstellung,  deren  sich  die 
denkende  Betrachtung  entschlagen  müsse. 

Der  Tod  der  nur  unmittelbaren  einzelnen  Lebendigkeit  ist  der  Hervorgang  des 
Geistes.  Der  Geist  ist  das  Beisichsein  der  Idee  oder  die  Idee,  die  aus  ihrem 
Anderssein  in  sich  zurückkehrt.  Seine  Entwickelung  ist  der  stufenweise  Fortschritt 
von  der  Naturbestimmtbeit  zur  Freiheit.  Seine  Momente  Bind :  der  subjective,  der 
objective  und  der  absolute  Geist. 

Den  snbjectiven  Geist  in  seinem  unmittelbaren  Verflochtensein  mit  der 
Naturbestimratheit  oder  die  Seele  in  ihrer  Beziehung  zum  Leibe  betrachtet  die 
Anthropologie.  Die  Phänomenologie  als  der  zweite  Theil  der  Lehre  vom 
subjectiven  Geiste  betrachtet  den  erscheinenden  Geist  auf  der  Stufe  der  Reflexion 
als  sinnliches  Bewusstsein,  Wahrnehmung,  Verstand,  Selbstbewusstsein  und  Vernunft. 
Die  Psychologie  betrachtet  den  Geist,  sofern  er  theoretisch  als  Intelligenz, 
praktisch  als  Wille,  frei  als  Sittlichkeit  ist.  Die  Intelligenz  findet  sich  bestimmt, 
setzt  aber  das  Gefundene  als  ihr  Eigenes,  indem  sie  das  All  als  den  sich  verwirk- 
lichenden vernünftigen  Zweck  erkennt.  Zu  dieser  Einsicht  gelangt  der  Geist  auf 
dem  Wege  des  Handelns,  in  welchem  der  Wille  das  Bestimmende  des  Inhalts  ist. 


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§32.  Hegel. 


355 


Die  Einheit  des  Wolleus  and  Denkens  ist  die  Energie  der  sich  selbst  bestimmenden 
Freiheit  Das  Wesen  der  Sittlichkeit  ist,  dass  der  Wille  allgemeinen  Vernonftinhalt 
zu  seinen  Zwecken  habe. 

Die  Lehre  vom  objectiven  Geist  geht  auf  die  Objectivirungen  des  freien 
Willens.   Das  Prodnct  des  freien  Willens  als  eine  objective  Wirklichkeit  ist  da» 
Recht.   Das  Recht  ist  nicht  Beschränkung,  sondern  Verwirklichung  der  Freiheit 
und  tritt  nur  der  Willkür  entgegen.   Das  Recht  als  solches  oder  das  formelle  und 
abstracto  Recht,  worin  der  freie  Wille  unmittelbar  ist,  ist  Eigenthums-,  Vertrags- 
und Strafrecht;  das  Eigenthum  ist  das  Dasein,  welches  die  Person  ihrer  Freiheit 
giebt,  der  Vertrag  ist  der  ZuBammenfluss  zweier  Willen  zu  einem  gemeinsamen 
Willen,  das  Strafrecht  ist  das  Recht  wider  das  Unrecht,  die  Strafe  die  Wieder- 
herstellung des  Rechts  als  Negation  seiner  Negation.    Die  Strafe  ist  wesentlich 
Wiedervergeltung,  sie  ist  die  an  dem  Verbrecher  sich  vollziehende  Consequenz  seines 
Thuns,  und  sie  ist  das  Recht  des  Verbrechers  selbst,  der  durch  ihre  Ausübung 
als  vernünftiges  Wesen  geehrt  wird.    An  das  formelle  Recht  schliesst  sich  als 
zweite  Stufe  die  Moralität  als  der  in  sich  reflectirte  Wille,  der  Wille  in  seiner 
Selbstbestimmung  als  Gewissen,  indem  es  hier  nur  auf  die  subjective  Verbindlichkeit 
ankommt,  als  dritte  und  höchste  Stufe  aber  die  Sittlichkeit,  in  welcher  das  Sub- 
ject  sich  mit  der  sittlichen  Substanz:  der  Familie,  der  bürgerlichen  Gesellschaft 
und  dem  Staate,  eins  weiss.  Der  Staat  ist  die  Wirklichkeit  der  sittlichen  Idee, 
die  selbstbewusste  sittliche  Substanz,  als  der  zu  einer  organischen  Wirklichkeit  ent- 
wickelte sittliche  Geist,  der  Geist,  der  in  der  Welt  steht,  der  göttliche  Wille  als 
gegenwärtiger,  Bich  zur  wirklichen  Gestalt  und  Organisation  einer  Welt  entfaltender 
Geist.  In  der  constitutionellen  Monarchie,  der  Staatsform  der  neuen  Welt,  sind  die 
Formen,  die  in  der  alten  Welt  verschiedenen  Ganzen  angehörten:  nämlich  Autokratie, 
Aristokratie,  Demokratie,  zu  Momenten  herabgesetzt:  der  Monarch  ist  Einer,  in 
seiner  Person  ist  die  Persönlichkeit  des  Staates  wirklich,  er  ist  die  Spitze  der  for- 
mellen Entscheidung;  mit  der  Regierungsgewalt  treten  Einige  in  der  gesetzgebenden 
Gewalt,  sofern  die  Stände  an  derselben  Antheil  haben,  die  Vielen  hinzu.  Es  bedarf 
der  Institution  von  Ständen,  damit  das  Moment  der  formellen  Freiheit  Bein  Recht 
erlange,  und  so  auch  der  Geschworenengerichte,  damit  dem  Rechte  des  subjectiven 
Selbstbewusstseins  ein  Genüge  geschehe.  Das  Hauptgewicht  aber  legt  Hegel  nicht 
auf  die  subjective  Selbstbestimmung  des  Einzelnen,  sondern  auf  den  gebildeten  Bau 
des  Staates,  die  Architektonik  seiner  Vernünftigkeit.    Seine  Rechtsphilosophie  ist 
das  Begreifen  der  Vcrnunftgemässheit  des  wirklichen  Staats  unter  scharfer  Polemik 
gegen  eine  Reflexion  und  ein  Gefühl,  welche  auf  der  subjectiven  Meinung  des  Besser- 
wissens beruhen  und  sich  in  der  Aufstellung  von  leeren  Idealen  gefallen.  Die  Welt- 
geschichte, die  Hegel  wesentlich  als  Staatengeschichte  auffasat,  gilt  ihm  als  der 
Fortschritt  im  Bewusstsein  der  Freiheit.  Sie  ist  die  Zucht,  die  von  der  Unabhängig- 
keit des  natürlichen  Willens  durch  die  substantielle  Freiheit  zur  subjectiven  Freiheit 
führt.    Der  Orient  wusste  und  weiss  nur,  dass  Einer  frei  ist,  die  griechische  und 
römische  Welt,  dass  Einige  frei  seien,  die  germanische  Welt  weiss,  dass  Alle  frei 
sind.   Im  Osten  beginnt  die  Weltgeschichte,  im  Westen  aber  geht  das  Licht  des 
Selbstbewusstseins  auf.  In  den  substantiellen  Gestaltungen  der  orientalischen  Reiche 
sind  alle  vernünftigen  Bestimmungen  vorhanden,  aber  so,  dass  die  Subjecte  nur 
Accidentien  bleiben.  Die  orientalische  Geschichte  ist  das  Kindesalter  der  Mensch- 
heit.   Der  griechische  Geist  ist  das  Jünglingsalter.    Hier  ergiebt  sich  zuerst  das 
Reich  der  subjectiven  Freiheit,  aber  in  die  substantielle  Freiheit  eingebildet.  Diese 
Vereinigung  der  Sittlichkeit  und  des  subjectiven  Willens  ist  das  Reich  der  schönen 
Freiheit;  denn  die  Idee  ist  mit  einer  plastischen  Gestalt  vereinigt,  wie  in  einem 
schönen  Kunstwerke  das  Sinnliche  das  Gepräge  und  den  Ausdruck  des  Geistigen 

23* 


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356 


§32.  Hegel. 


trägt.  Ea  ist  die  Zeit  der  schönsten,  aber  schnell  vorübergehenden  Blüthe.  In  der 
natürlichen  Einheit  des  Subjects  mit  dem  allgemeinen  Zweck  liegt  die  unbefangene, 
substantielle  Sittlichkeit,  welcher  Sokrates  die  Moralität,  die  auf  Reflexion  beruhende 
Selbstbestimmung  des  Subjects,  entgegenstellte;  die  substantielle  Sittlichkeit  bedurfte 
des  Kampfes  mit  der  subjectiven  Freiheit,  um  sich  zur  freien  Sittlichkeit  zu  ge- 
stalten. Das  römische  Reich  ist  das  Mannesalter  der  Geschichte.  Es  ist  das  Reich 
der  abstracten  Allgemeinheit.  Die  Individuen  werden  dem  allgemeinen  Staatszwecke 
aufgeopfert;  sie  erhalten  aber  zum  Ersatz  die  Allgemeinheit  ihrer  selbst,  d.  h.  die 
Persönlichkeit,  vermöge  der  Ausbildung  des  Privatrechts.  Das  gleiche  Schicksal 
trifft  die  Völker.  Der  Schmerz  über  den  Verlust  der  nationalen  Selbständigkeit 
treibt  den  Geist  in  seine  iunersten  Tiefen  zurück;  er  verlässt  die  götterlose  Welt 
und  beginnt  das  Leben  seiner  Innerlichkeit  Der  absolute  Wille  und  der  Wilk  des 
Subjects  werden  eins.  In  der  germanischen  Welt  herrscht  dan  Bewußtsein  der  Ver- 
söhnung. Anfänglich  ist  der  Geist  noch  abstract  in  seiner  Innerlichkeit  befriedigt, 
das  Weltliche  ist  der  Rohheit  und  Willkür  überlassen;  endlich  aber  formirt  sich 
das  Princip  selbst  zu  concreter  Wirklichkeit,  in  welcher  das  Subject  sich  mit  der 
Substanz  des  Geistes  vereinigt  Die  Realisiruug  des  Begriffs  der  Freiheit  ist  das 
Ziel  der  Weltgeschichte.    Ihre  Entwickelung  ist  die  wahrhafte  Theodicee. 

Der  absolute  Geist  oder  die  Religion  im  weiteren  Sinne  als  die  Einheit  des 
subjectiven  und  objectiven  Geistes  realisirt  sich  in  der  objectiven  Form  der  An- 
schauung oder  des  unmittelbaren  sinnlichen  Wissens  als  Kunst,  in  der  subjectiven 
Form  des  Gefühls  und  der  Vorstellung  als  Religion  im  engeren  Sinne,  endlich  in 
der  subjectiv-objectiveu  Form  des  reinen  Denkens  als  Philosophie.  Das  Schöne 
ist  das  Absolute  in  sinnlicher  Existenz,  die  Wirklichkeit  der  Idee  in  der  Form 
begrenzter  Erscheinung.  Auf  dem  Verhältniss  der  Idee  zu  dem  Stoffe  beruht  der 
Unterschied  der  symbolischen,  classischen  und  romantischen  Kunst  In  der  sym- 
bolischen Kunst,  in  welcher  namentlich  die  orientalische  Darstellung  befangen  bleibt, 
vermag  die  Form  den  Stofl  nicht  völlig  zu  durchdringen.  Im  classisch  Schönen, 
vornehmlich  in  der  griechischen  Kunst,  ist  der  geistige  Inhalt  ganz  in  das  sinnliche 
Dasein  ergossen.  Die  classische  Kunst  löst  sich  auf:  negativ  in  der  Satire,  dem 
Kunstwerke  der  in  sich  zerrissenen  römischen  Welt,  positiv  in  der  romantischen 
Kunst  der  christlichen  Zeit  Die  romantische  Kunst  beruht  auf  dem  Vorwiegen 
des  geistigen  Elements,  auf  der  Tiefe  des  GemütliB,  auf  der  Unendlichkeit  der  Sub- 
jektivität. Sie  ist  das  Hinausgehen  der  Kunst  über  Bich  selbst  jedoch  in  der  Form 
der  Kunst  Das  System  der  Künste  (Architektur,  Sculptur,  Musik,  Malerei  und 
Poesie)  ist  dem  der  Kunstformen  analog.  Die  Poesie  als  die  höchste  der  Künste 
nimmt  die  Totalität  aller  Formen  in  sich  auf. 

Die  Religion  ist  die  Form,  wie  die  absolute  Wahrheit  für  das  vorstellende 
Bewusstsein  oder  für  Gefühl,  Vorstellung  und  reflectirenden  Verstand  und  daher  für 
alle  Menschen  ist.  Die  Stufen  der  Religion  in  ihrer  historischen  Entwicklung  sind : 
1.  die  Naturreligionen  des  Orients,  welche  Gott  als  Natursubstanz  fassen;  2.  die 
Religionen,  in  denen  Gott  als  Subject  angeschaut  wird,  insbesondere  die  jüdische 
Religion  oder  die  Religion  der  Erhabenheit  die  griechische  oder  die  Religion  der 
Schönheit  die  römische  oder  die  Religion  der  Zweckmässigkeit;  3.  die  absolute 
Religion,  welche  Gott  zugleich  in  seiner  EntäuBseruug  zur  Endlichkeit  und  in  seiner 
Einheit  mit  der  Endlichkeit  oder  seinem  Leben  in  der  versöhnten  Gemeinde  erkennt 
Die  göttliche  Idee  explicirt  sich  in  drei  Formen.  Diese  sind:  1.  das  ewige  in  und 
bei  sich  Sein,  die  Form  der  Allgemeinheit,  Gott  in  seiner  ewigen  Idee  an  und  für 
sich,  oder  das  Reich  des  Vaters,  2.  die  Form  der  Erscheinung,  der  Particularisatiou, 
das  Sein  für  Anderes  in  der  physischen  Natur  und  dem  endlichen  Geist,  die  ewige 
Idee  Gottes  im  Elemente  deB  Bewusstseins  und  Vorstelleus,  oder  die  Differenz,  das 


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§  33.  Schleiermacher. 


357 


Reich  des  Sohnes,  3.  die  Form  der  Rückkehr  aus  der  Erscheinung  in  sich  selbst, 
der  Process  der  Versöhnung,  die  Idee  im  Element  der  Gemeinde  oder  das  Reich 
des  Geistes.  Der  wahre  Sinn  der  Beweise  vom  Dasein  Gottes  ist,  daas  sie  die  Er- 
hebung des  Menschengeistes  zu  Gott  enthalten  und  dieselbe  für  den  Gedanken  aus- 
drücken sollen.  Der  kosmologische  und  teleologische  Beweis  gehen  vom  Sein  zum 
Begriffe  Gottes  über,  der  ontologische  vom  Begriff  zum  Sein.  —  Hegel  äussert 
sich  öfter  dahin,  daas  seine  Philosophie  denselben  Inhalt  wie  die  christliche  Religion 
habe  und  sich  nur  formell  von  ihr  unterscheide. 

Die  Philosophie  ist  das  Denken  der  absoluten  Wahrheit  oder  die  sich 
denkende  Idee,  die  sich  wissende  Wahrheit,  die  sich  selbst  begreifende  Vernunft. 
Das  philosophische  Wissen  ist  der  denkend  erkannte  Begriff  der  Kunst  und  Religion. 
Die  Entwickelung  der  Philosophie  erfolgt  im  System  und  in  der  Geschichte  auf 
wesentlich  gleiche  Weise,  nämlich  durch  den  Fortschritt  vom  Abstractesten  zu 
immer  reicherer  und  concreterer  Erkenntniss  der  Wahrheit.  Dio  Philosophie  der 
Eleaten,  des  Hcraklit  und  der  Atomistiker  entspricht  dem  reinen  Sein,  dem  Werden 
und  dem  Fürsichsein,  die  Philosophie  Piatons  den  Kategorien  des  Wesens,  die  des 
Aristoteles  dem  Begriff,  die  der  Neuplatouiker  dem  Gedanken  als  Totalität  oder 
der  concreten  Idee,  die  Philosophie  der  neueren  Zeit  der  Idee  als  Geist  oder  der 
sich  wissenden  Idee.  Die  cartesianische  Philosophie  steht  auf  dem  Standpunkt  des 
Bewusstseins,  die  kantische  und  üchtesche  auf  dem  des  Selbstbewusstseins,  die 
neueste  (schell ing-hegelsche)  auf  dem  der  Vernunft  oder  der  mit  der  Substanz 
identischen  Subjectivität,  und  zwar  in  der  Form  der  intellectuellen  Anschauung  bei 
Sendling,  in  der  des  reinen  Denkens  oder  des  absoluten  Wissens  bei  Flegel.  Die 
Principien  aller  früheren  Systeme  sind  als  aufgehobene  Momente  erhalten  in  der 
absoluten  Philosophie.  Eine  Entwickelung  über  diese  hinaus  zum  Höheren  giebt 
es  nicht  *) 

§  33.  Ein  Zeitgenosse  von  Fichte,  Schelling  und  Hegel,  den 
ersteren  und  letzteren  überlebend,  bildet  Friedrich  Ernst  Daniel 
Schleiermacher  (1768 — 1834),  insbesondere  durch  Kant,  Spinoza  und 
Piaton  angeregt,  die  kantische  Philosophie  in  einer  Weise  um,  durch 
welche  er  ebensowohl  dem  in  ihr  liegenden  realistischen  wie  dem 
idealistischen  Elemente  gerecht  zu  werden  sucht,  so  dass  seine  Lehre 
Ideal-Realismus  genannt  werden  kann.  Unsere  Auffassung  ist  nach 
ihm  durch  die  Sinnesthätigkeit  bedingt,  mittelst  welcher  das  Sein  der 
Dinge  in  unser  Bewusstsein  aufgenommen  wird.  Das  Afficirt werden 
der  Sinne  als  Bedingung  der  Erkenntniss,  welches  Kant  inconsequenter- 


*)  Was  über  das  Wahre  in  dem  Grundgedanken  und  das  Grosse  in  der  Durch- 
führung neben  manchem  Ueberspannten,  Willkürlichen  und  Schiefen  in  Bezug  auf 
Hegels  Ansicht  von  der  Geschichte  der  Philosophie  im  ersten  Theile  dieses  Grund- 
risses unter  §  4  gesagt  worden  ist,  lässt  sich  im  wesentlich  gleichen  Sinne  auf  das 
Ganze  des  Systems  beziehen.  In  seiner  Methode  huldigt  das  System,  indem  es  die 
dialektische  Construction  gegenüber  der  Empirie  zu  einer  selbständigen  Macht  erhebt 
und  das  »reine  Denken"  von  seiner  empirischen  Basis  ablöst,  einem  durch  die  nach- 
trägliche Beziehung  auf  die  Empirie  nicht  aufgehobenen  Dualismus,  wie  sehr  es  auch 
selbst  principiell  einen  jeden  Dualismus  verwirft.  Die  realistische  Seite  der  kan- 
tischen Philosophie  ist  in  der  hegelschen  nicht  zu  gleichem  Rechte  mit  der  idea- 
listischen gelangt.  Eben  darum  ist  dieselbe  in  der  nachhege] sehen  Philosophie  um 
so  stärker  und  bei  Vielen  in  einseitiger  Ueberspannung  hervorgetreten. 


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358  §  33.  Schleiermacher. 

weise  angenommen,  Pichte  vergeblich  um  der  Consequenz  willen  zu 
beseitigen  versucht  hatte,  reiht  sich  bei  Schleiermacher  in  einer  con- 
sequenten  Weise  dem  Ganzen  seiner  Doctrin  ein,  weil  ihm  Raum, 
Zeit  und  Causalität  nicht  bloss  Formen  der  im  Bewusstsein  des  Sub- 
jects  allein  vorhandenen  Erscheinungswelt,  sondern  auch  der  dem 
Subject  gegenüberstehenden  und  seine  Erkenntniss  bedingenden  Realität 
selbst  sind.  In  dem  Denken,  welches  den  Inhalt  der  äusseren  und 
inneren  Erfahrung  verarbeitet,  oder  in  der  zu  der  „organischen 
Function"  hinzutretenden  „intellectuellen  Function"  findet 
Schleiermacher  mit  Kant  die  Spontaneität,  welche  im  Menschen  mit 
der  Receptivität  der  Sinne  vereinigt  ist,  oder  das  mit  dem  empirischen 
Factor  zusammenwirkende  apriorische  Erkenntnisselement.  Durch  eben 
diese  Theorie  der  Erkenntniss  überwindet  Schleiermacher  die  aprio- 
ristische  Einseitigkeit  der  hegelschen  Dialektik.  Die  Vielheit  der 
neben  einander  bestehenden  Objecte  und  nach  einander  erfolgenden 
Processe  schliesst  sich  zu  einer  nicht  etwa  bloss  von  dem  denkenden 
Subjecte  hineingetragenen,  sondern  an  und  für  sich  realen,  Object 
und  Subject  umfassenden  Einheit  zusammen.  Vermöge  der  realen 
Einheit  bildet  das  Mannigfaltige  ein  gegliedertes  Ganzes.  Die  Tota- 
lität alles  Existirenden  ist  die  Welt;  die  Einheit  des  Weltganzen  ist 
die  Gottheit. 

Ueber  die  Gottheit  sind  uns  nur  entweder  negative  oder  bild- 
liche, anthropomorphisirende  Aussagen  möglich.  Jeder  Theil  der 
Welt  steht  mit  den  übrigen  Theilen  in  Wechselwirkung,  worin  Wirken 
und  Leiden  vereinigt  ist.  An  unser  Wirken  knüpft  sich  das  Gefühl 
unserer  Freiheit;  an  unser  Erleiden  das  Gefühl  unserer  Abhängig- 
keit. Dem  Unendlichen  gegenüber  als  der  Einheit  des  Weltganzen 
besteht  in  uns  das  Gefühl  der  absoluten  Abhängigkeit.  In  diesem 
Gefühle  wurzelt  die  Religion.  Die  religiösen  Vorstellungen  und  Sätze 
sind  Darstellungsweisen  des  religiösen  Gefühls  und  als  solche  von  der 
wissenschaftlichen  Betrachtung,  welche  die  objective  Wirklichkeit  im 
Bewusstsein  des  Subjects  zu  reproduciren  strebt,  specifisch  ver- 
schieden. Die  Dogmen  in  Philosopheme  umwandeln  wollen  oder  in 
der  Theologie  philosophiren ,  heisst  die  Grenzen  beider  Gebiete  ver- 
kennen; der  Philosophie  kommt  innerhalb  der  Theologie  nur  ein 
formaler  Gebrauch  zu.  Weder  soll  die  Philosophie  zu  der  Theologie, 
noch  diese  zu  jener  in  dem  Verhältniss  der  Dienstbarkeit  stehen; 
jede  ist  frei  in  den  Grenzen  ihres  Gebietes.  Schleiermacher  hat 
neben  der  bei  ihm  die  Gotteslehre  in  sich  mitbegreifenden  Dialektik 
die  christliche  Glaubenslehre,  neben  der  philosophischen  Ethik  die 
christliche  Ethik  bearbeitet. 

Die  Einseitigkeit  des  kantischen  Pflichtbegriffs,  der  dem  Allge- 


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§  33.  Sehleiermacher. 


350 


meinen  das  Eigentümliche  opfert,  sucht  Schleiermacher  durch  eine 
Ethik  zu  überwinden,  welche  bei  Anerkennung  des  Determinismus  die 
jedesmalige  Aufgabe  durch  die  Individualität  des  Handelnden  bedingt 
sein  lässt.  Schleiermachers  Ethik  ist  zugleich  Güterlehre,  Tugend- 
lehre und  Pflichtenlehre.  In  dem  höchsten  Gute  als  der  obersten 
Einheit  des  Realen  und  Idealen  findet  Schleiermacher  das  sittliche 
Ziel,  in  der  Pflicht  das  Gesetz  der  Bewegung  zu  diesem  Ziele  hin,  in 
der  Tugend  die  bewegende  Kraft.  Vorwiegend  trägt  Schleiermachers 
Darstellung  der  Ethik  den  Charakter  der  Güterlehre. 

Die  Art,  wie  Schleiermacher  den  Gegensatz  und  die  Einheit  des 
Realen  und  Idealen  in  Natur  und  Geist  näher  bestimmt  und  in  einer 
Reihe  einzelner  Formen  darlegt,  ist  zumeist  durch  Sendlings  Identitäts- 
philosophie bedingt.  —  Schleiermachers  Philosophie  ist  von  ihm  nicht 
zu  einem  allumfassenden  und  in  Gedankengehalt,  systematischer 
Gliederung  und  Terminologie  streng  geschlossenen  Ganzen  fortgebildet 
worden  und  steht  daher  an  formeller  Vollendung  sehr  weit  dem 
hegelschen  und  auch  dem  herbartschen  Systeme  nach,  ist  aber  ebenso 
auch  von  mancher  mit  diesen  Systemen  unabtrennbar  verwachsenen 
Einseitigkeit  frei  und  in  ihrer  grossentheils  noch  unabgeschlossenen 
Gestalt  mehr  als  jede  andere  nachkantische  Doctrin  einer  reinen,  die 
verschiedenartigen  Einseitigkeiten  überwindenden  Ausbildung  fähig. 

Schleiermaehers  Werke  sind  in  drei  Abtheilungen:  !•  zur  Theologie,  II.  Predigten, 

III.  zur  Philosophie  und  vermischte  Schriften,  ßerl.  1835 — 64,  herausgegeben  worden. 
Die  dritte  Abtheilung  enthält  folgende  Bünde:  I.  Grundlinien  einer  Kritik  d.  bisher. 
Sittenlehre;  Monologe;  vertraute  Briefe  üb.  F.  Schlegels  Lucinde;  Gedanken  üb.  Universi- 
täten im  deutschen  Sinne  etc.  II.  Philos.  u.  verm.  Schriften.  III.  Keden  u.  Abb.  der 
k.  Akad.  d.  Wiss.,  vorgetragen  aus  Scbl.s  handschr.  Nach!.,  herausg.  von  L.  Jonas. 

IV.  1.  Gesch.  der  Philos.,  hrsg.  von  H.  Ritter.    IV.  2.  Dialektik,  hrsg.  von  L.  Jonas. 

V.  Entwurf  e.  Systems  der  Sittenlehre,  hrsg.  von  A.  Schweizer.  VI.  Psychol.,  hrsg. 
von  George.  VII.  Aesthetik,  hrsg.  von  C.  Lommatzsch.  VIII.  Die  Lehre  vom  Staat, 
hrsg.  von  Chr.  A.  Brandis.  IX.  Erziehungslehre,  hrsg.  von  C.  Platz.  Eine  kurze,  zur 
Einführung  in  Schleiermachers  Gedankenkreis  sehr  geeignete  Schrift:  Ideen.  Reflexionen 
u.  Betrachtungen  aus  Scbl.s  Werken,  hrsg.  von  L.  v.  Lancizolle,  Berl.  lf*54,  vgl.  auch 
E.  Maier,  Fr.  Schleiern!.,  Lichtstrahlen  aus  seinen  Briefen  u.  sämintl.  Werken.  Lpz.  1875. 

Unter  Scbl.s  Schriften  sind  hier  folgende  hervorzuheben:  Ueb.  d.  Relig.,  Reden  an 
die  Gebildeten  unt.  ihr.  Verächtern,  Berl.  1790,  2.  Ausg.  1806,  3.  Ausg.  1821,  u.  ö.  nach 
Sehl.»  Tode,  in  kritischer  Ausg.  besorgt  von  Pünjer,  Braunschw.  1879.  Monologen, 
e.  Neujahrsgabe,  1800  u.  ö.  Vertraute  Briefe  üb.  F.  Schlegels  Lucinde  (anonym)  1800. 
Predigten,  1.  Samml.  1801,  2.  Samml.  1808,  3.  Samml.  1814,  4.  Samml.  1820.  Fest- 
predigten 1826  und  1833,  zur  Denkfeier  der  Augsb.  Conf.  1831:  fernere  Sammlungen 
sind  nach  Scbl.s  Tode  in  den  sämmtl.  Werken  erschienen.  Grundlinien  e.  Kritik  der 
bisher.  Sittenlehre,  Berl.  1803.  Piatons  Werke,  überselzt  u.  m.  Einleitgn.  u.  Anmerkgn. 
versehen,  I,  1  u.  2,  II,  1  —  3,  III,  1,  Berl.  1804—28  u.  ö.  Die  Weihnachtsfeier.  1806  u.  ö. 
Der  christ I.  Glaub«  nach  d.  Grundsätzen  d.  evang.  Kirche,  Berl.  1821 — 22,  2.  umge- 
arbeitete Aufl.  1830 — 31,  u.  ö.  nach  Scbl.s  Tode.  Unter  den  nachgelassenen  Werken 
sind  von  philosophischer  Bedeutung  (ausser  der  schon  oben,  Th.  I,  6.  Aufl.  S.  1 1 
citirten  Gesch.  d.  Philos.)  insbesondere  folgende:  Entwurf  e.  Syst.  d.  Sittenlehre, 
hrsg.  von  Schweizer  1835,  und  Grundriss  d.  philos.  Ethik  mit  einleit.  Vorr.,  hrsg. 
von  A.  Twesten  1841  (womit  zu  vergleichen  ist:  die  christl.  Sitte  nach  den  Grundsätzen 
der  evang.  Kirche  im  Zusammenhg.  dargest..  hrsg.  von  Jonas  1843).  Dialektik,  hrsg. 
von  Jonas  1839.    Aesthetik,  hrsg.  von  C.  Lommatzsch,   1842.    Die  Lehre  vom  Staat, 


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§  33.  Schleiermacher. 


hrsg.  von  Chr.  A.  Brandis,  1845.  Erziehungslehre,  hrsg.  von  C.  Platz,  1849.  Psycho!., 
hrsg.  Ton  George,  1864.  (Di«  1864  durch  Rütenik  hrsg.  Vorlesgn.  üb.  das  Lob.  Jesu 
haben  zu  der  Zeit .  da  sie  gehalten  wurden ,  nicht  unbeträchtlich  auf  den  weiten  Kreis 
der  Zuhörer  gewirkt  und  insbesondere  der  von  Dav.  Frdr.  Strauss  geübten  Kritik  der 
evangelischen  Berichte  über  das  Leben  Jesu,  welche  bald  nach  Schl.s  Tode  erschien, 
theils  direct  vorgearbeitet,  theils  indirect  auf  dieselbe  eingewirkt,  sofern  die  partiell  von 
Sehl,  vollzogene  Kritik  zu  einer  gleichmässigen  Durchführung  derselben  auch  auf  den 
Punkten,  wo  Schi.  Hult  machte,  einen  consequenten  Denker  provociren  musste,  der  aus 
der  hegelschen  Philosophie  gelernt  hatte,  ein  religiöses  Interesse  nicht  an  irgend  eine 
Person,  sondern  an  die  Idee  selbst  zu  knüpfen,  die,  wie  Strauss  auf  Grund  der  hegel- 
schen Principien  und  schon  nach  dem  Vorgange  Kants  in  denen  Kritik  d.  rein.  Vera., 
2.  Aufl.  S.  597  f.  u.  Relig.  in  d.  Grenz,  d.  bl.  Vera,  erklärte,  nicht  liebe,  ihre  ganze 
Fülle  in  ein  Individuum  auszuschütten.  Heute  haben  diese  Vorlesungen  für  die  historische 
Erkenntnis*  ihres  Objectes  kaum  noch  irgend  welche  Bedeutung,  um  so  grössere  aber 
für  das  Verständniss  der  Theologie  Schl.s  und  des  Entwicklungsganges  der  neueren 
deutschen  Theologie  überhaupt.)  In  die  „philo«.  Bibliothek"  sind  die  „Monologe*  auf- 
genommen worden  u.  die  „philo?.  Sittenlehre". 

Ueber  Schl.s  Leben  und  persönliche  Beziehungen  giebt  sein  reicher  Briefwechsel 
den  treuesten  Aufschluss.  Die  Briefe  von  und  an  J.  Chr.  Gass  hat  dessen  Sohn 
W.  Gass  unter  Beifügung  einer  biograph.  Vorrede,  Berl.  1852,  herausgegeben.  Den 
geaammten  Sehl. sehen  Briefwechsel,  soweit  derselbe  Bich  erhalten  hat  und  von  allgemeinerem 
Interesse  ist,  hat  Ldw.  Jonas  und  nach  dessen  Tode  Wilh.  Dilthey  hrsg.  unter  dem 
Titel:  Aus  Schl.s  Leben,  in  Briefen.  Bd.  I:  von  Schl.s  Kindheit  bis  zu  seiner  Anstellung 
in  Halle,  October  1804,  Berl.  1858,  2.  Aufl.  1860.  Bd.  II:  Bis  an  sein  Ix-bensende,  den 
12.  Kehr.  1834,  ebd.  1858,  2.  Aufl.  1860.  Bd.  III:  Schl.s  Briefwechsel  mit  Freunden 
bis  zu  s.  Uebersiedelung  nach  Halle,  namentlich  Friedr.  u.  Aug.  Wilh.  Schlegel,  ebd. 
1861.  Bd.  IV:  Schl.s  Briefe  an  Brinckmann,  Briefwechsel  mit  s.  Freunden  von  1806 
bis  1834,  Denkschriften,  Dialog  üb.  das  Anständige,  Hccensionen,  ebd.  1863.  Eine 
kurze,  bis  zum  April  1794  reichende  Selbstbiographie  Schl.s  ist  in  Bd.  I,  S.  3 — 16 
abgedruckt. 

Ueber  Schl.s  philosophische  und  theologische  Lehren  handeln  insbesondere:  Chr. 
JuL  Braniss,  üb.  Schl.s  Glaubenslehre,  Berl.  1824.  C.  Rosenkranz,  Kritik  der  schlichen 
Glaubenslehre,  Kgsbg.  1836.  Harfenstein,  de  ethices  a  Schi,  propositae  fundamento, 
Lips.  1837,  auch  stellenweise  in  seiner  Ethik.  Dav.  Friedr.  Strauss,  Schi.  u.  Daub  in 
ihrer  Bedeutung  für  d.  Theol.  uns.  Zeit,  in  den  Hallesch.  Jahrb.  für  deutsche  Wiss.  u. 
Kunst  1839,  wiederabgedr.  in  den  Charakteristiken  und  Kritiken,  Lpz.  1839.  J.  Schaller, 
Vorl.  üb.  Schi.,  Halle  1844.  G.  Weissenborn,  Vorlsgn.  üb.  Schl.s  Dialektik  u  Dogmatik, 
Lpz.  1847—49.  F.Vorländer,  Schl.s  Sittenlehre,  Marburg  1851.  Joh.  Wilh.  Breuer, 
de  Sehleierm.  ethices  antiquae  judiee,  diss.  philo«.  Bonnensis,  Colon.  Agripp.  1854. 
Sigwart,  üb.  d.  Bedeutg.  d.  Krkenntnisslehre  u.  der  psychol.  Voraussetzgn.  Schl.s  für 
d.  Grundbegriffe  s.  Glaubenslehre,  in  den  Jahrb.  f.  deutsche  Theol.  hrsg.  v.  Liebner, 
Dorner,  Ehrenfeuchter,  Landerer,  Palmer  und  Weizsäcker,  B.  II,  1857,  S.  267— 327  u. 
829 — 864  (womit  Dorners  Entgegnung  ebd.  S.  499  zu  vergleichen  ist).  C.  A.  Auberlen, 
Sehl.,  e.  Charakterbild,  Basel  1859.  A.  Immer.  Schi,  als  religiöser  Charakter.  Bern 
1859.  Ed.  Zeller,  Schi.,  in  den  preuss.  Jahrb.  III,  1859,  S.  176—194  (unt.  d.  Tit.: 
„zum  12.  Februar"),  wiederabg.  in  Zellers  Vortr.  u.  Abh.  S.  178—201.  Karl  Schwarz, 
Schi.,  seine  Persönlk.  u.  seine  Theol.,  e.  Vortrag,  geh.  im  wiss.  Verein  zu  Berlin,  Gotha 
1861.  Bobertag,  Schi,  als  Philosoph,  in  d.  prot.  Kirchenztg.  1861,  No.  47.  Sigwart, 
Schi,  in  s.  Beziehgn.  zu  dem  Athcnaeum  der  beiden  Schlegel ,  Progr.  des  Seminars  zu 
Blaubeurcn,  Tüb.  1861.  Schlottmann,  drei  Gegner  des  sch.schen  Religionsbegriffs 
(Schenkel,  Stahl  und  Philippi),  in  d.  dtsch.  Ztschr.  f.  chrstl.  Wissensch,  u.  christl.  Leb. 
N.  F.  IV,  Ort.  1861.  Wilh.  Dilthey,  Schl.s  polit.  Gesinnung  und  Wirksamk.,  in  den 
preuss.  Jahrb.  X,  1862.  Guil.  Dilthey,  de  prineipiis  ethices  Schleiermucheri,  diss.  inaug., 
Berol.  1864.  Rud.  Baxmann,  Schl.s  Anfänge  im  Schriftstellern,  Bonn  1866;  Schi., 
seiu  Leben  und  Wirken,  1.  u.  2.  Aufl.,  Elberfeld  1868.  Jacques  Liekel,  ess.  sur  la 
christol.  de  Schi.,  Strassb.  1865.  W.  Beyschlag,  Schi,  als  polit.  Charakter,  Berl.  1866. 
Rieh.  v.  Kittlitz,  Schl.s  Bildungsgang,  e.  biogr.  Versuch,  Lpz.  1867.  A.  Baur,  Schl.s 
christl.  Lebensanschauungen,  Lpz.  1868.  Dan.  Schenkel,  F.  Schi.,  e.  Charakterbild, 
Elberfeld  1868.  Emil  Schuerer,  Schl.s  Kcligionsbegrifl  u.  d.  philos.  Voraussetzungen 
desselben,  Inang.-Diss.,  Lpz.  1868.  P.  Schmidt,  Spinoza  u.  Schi.,  die  Gesch.  ihrer 
Systeme  und  ihr  gegenseit.  Verhältn.,  Berl.  1868. 

Auf  Anlass  der  Säcularfeicr  am  21.  Nov.  1868  sind  Festreden  u.  Festschriften  er- 
schienen von  M.  Baumgarten,  R.  Benfey,  Biedcrtnaun  (in  den  „Zeitstimmen"),  G.  Drey- 


§  33.  Schleiermacher. 


3G1 


dorff,  L.  Dunker  (in:  Jahrb.  f.  deutsche  Th.),  Frieke,  L.  George,  R.  Hagenbach,  Henke, 
K.  F.  A.  Kahnis,  F.  Nitzseh,  Petersen,  Herrn.  Reuter,  A.  Rüge,  K.  G.  Sack,  E.  O. 
Sehellenberg,  D.  Sehenkel,  L.  Schultze,  Sigwart  (in:  Jahrb.  f.  dtsch.  Theol.).  H.  Spörri, 
Thomas,  Thomson,  A.  Treblin,  Th.  Woltersdorf  und  Anderen.  Vgl.  ferner  Schriften 
von  Carl  Beck  (Reutling.  1869),  F.  Zachler  (Brwl.  1869),  Th.  Eisenlohr  (die  Idee  der 
Volksschule  nach  Schi.,  Stuttg.  1852,  1869),  Wilh.  Bender,  Schl.s  philos.  Gotteslehre, 
Göttingen,  Dissen.,  Worms  1868,  fortges.  in  der  Zeitschrift  f.  Philos.  N.  F.,  Bd.  57 
u.  58,  1870—71,  der8.,  Sehl.»  theol.  Gottesl.  in  ihrem  Verhältn.  z.  philos.  und  nach  ihr 
wissenschaftl.  Werth,  in  Jahrb.  f.  deutsche  Theo!.,  17.  Bd.  1872,  S.  656—737,  ders., 
Schi. s  Theologie  mit  ihren  philosophischen  Grundlagen,  2  Theile,  Nördlingen  1876 — 78, 
ders.,  Fr.  Schi.  u.  d.  Frage  nach  dem  Wesen  der  Kelig.,  Vortr.,  Bonn  1877.  Krnst 
Bratuscheck  und  Hülsmanu  (in  den  „ Philos.  Monatshftn."  II,  1  u.  2).  Karl  Steffensen, 
die  wiss.  Bedeutung  Schi.«,  in  Geizers  Monats!)],  für  innere  Zeitgeich.,  Bd.  32,  1868, 
S.  259—289.  P.  Leo,  Schi.«  philos.  Grundansch.  nach  d.  metaph.  Theil  s.  Dialektik, 
Diss.,  Jena  1868.  Th.  Hossbach,  Schi.,  sein  Leben  u.  Wirken,  Herl.  1868.  A.  Twesten, 
z.  Erinnerung  an  Schi.  (akad.  Vortrag),  Berl.  1869.  C.  Michelet,  der  Standp.  Sehl.«, 
in:  der  Gedanke,  VIII,  2,  Berl.  1869.  R.  A.  Lipsiu«,  Studium  üb.  Schl.s  Dialektik  in: 
Zeitschr.  f.  wiss.  Theol.,  Jahrg.  XII.  1869,  S.  1—62  u.  1 13 — 154.  Chr.  Sigwart.  Zum 
Gedächtnis«  Schi.«,  Reden,  in:  Jahrbh.  f.  deutsche  Theol..  1869,  wieder  abgedruckt  in: 
Kl.  Sehr.,  I,  S.  221  —  255.  Wilh.  Dilthey,  Leb.  Schl.s,  Bd.  I,  Berl.  1870.  E.  Rudorff, 
Stunden  der  Weihe  u.  Samml.  von  Ausspr.  Schl.s,  Berl.  1870.  Gust.  Baur,  Schi,  als 
Prediger  in  d.  Zeit  von  Deutschlands  Erniedrigung  u.  Erhebung.  Lpz.  1871.  Rieh, 
Quaebicker,  Ob.  Schl.s  erkenntnisstheor.  Grundansicht,  Berl.  1871.  Rud.  Volkenrath, 
d.  Paedag.  Herbarts  u.  Schl.s,  Progr.,  Mühlh.  a.  R.  1871.  Henr.  Jacobsson,  um  Schl.s 
deduktion  af  de  formala  ethiska  begreppen,  Stockh.  1872.  E.  Lang,  üb.  d.  Psych,  von 
Schi.,  Jena  1873.  Jul.  Schmidt,  wie  verh.  sich  d.  Tugendbegr.  bei  Sehl.  i.  d.  platonisch.? 
Progr.,  Aschersl.  1873.  Alb.  Kalthoff,  d.  Frage  nach  d.  metaphys.  Grundlage  der 
Moral  m.  besond.  Bezug  auf  Sehl.,  Halle  1874.  C.  Flebbe,  die  Lehn  Schi.«  von  der 
Sünde  u.  vom  Uebel.  I.-D..  Jena  1874.  Albr.  Ritschi.  Schl.s  Med.  üb.  d.  Relig.  u.  ihre 
Nachwirkungen  auf  d.  evang.  Kirche  Deutschlands,  Bonn  1875.  A.  H.  Kamp,  Schl.s 
Gotteslehre,  krit.  dargest.,  Magdeb.  1876.  Carl  Yngve  Sablin,  Kants,  Schleiermachers 
och  Boström8  etisca  Grundtankar,  Upsala  1877.  G.  Runze,  Schl.s  Glaubensl.  in  ihrer 
Abhängigk.  v.  seiner  Philo«.,  krit.  dargelegt  u.  an  einer  Speciallehre  erläutert,  Berl.  1877. 
Bruno  Weiss,  Untersuchungen  über  Schl.s  Dialektik,  in:  Ztschr.  f.  Philo«,  u.  philos.  Kr., 
Bd.  73,  1878,  S.  1—31,  Bd.  74,  1879.  S.  30—93,  Bd.  75,  1879,  S.  250—280.  O.  B. 
Hering.  Vergl.  Darstell,  u.  Beurtheil.  der  Religionsphilo«.  Hegel«  u.  Schl.s,  I.-D.,  Jena 
1882.  E.  F.  Braasch,  Comparative  Darstell,  des  Religionsbegriffes  in  d.  verschiedenen  Aufl. 
der  Bchleiermachersch.  Reden,  I.-D.,  Jena  1883.  A.  Frohne,  d.  Begr.  der  Eigenthümlichk. 
od.  Individualität  b.  Schi.,  Halle  1885.  W.  Eismann,  üb.  d.  Begr.  d.  höchst.  Gutes  s.  S.  270. 

Friedrich  Ernst  Daniel  Schlciermacher,  Sohn  eines  reformirten  Geistlichen, 
geb.  zu  Breslau  am  21.  November  1768,  wurde  als  Mitglied  der  Brüdergemeinde 
erzogen,  deren  Glaubensform  auf  seine  Gemüthsrichtong  den  tiefsten  Einfluss 
gewonnen  hat,  welcher  seine  Macht  auch  dann  noch  unverlierbar  behauptete,  als  er 
(seit  scinein  19.  Lebensj.)  dnreh  das  Bedürfniss  selbständiger  Prüfung  getrieben, 
der  äusseren  Gemeinschaft  mit  ihr  entsagt  hatte  nnd  an  dem  bestimmten  Inhalt 
ihres  Glaubens  nicht  festzuhalten  vermochte.  In  dem  Pädagogium  zu  Niesky  wurde 
er  vom  Frühjahr  1783  bis  zum  Herbst  1785  erzogen,  dann  in  das  Seminar  der 
Brüderunität  zu  Barby  aufgenommen,  welches  er  im  Mai  1787  verliess.  Nachdem 
er  in  Halle  das  theologische  Studium  absolvirt  und  sich  dann  ein  Jahr  lang  (1789/90) 
in  Drossen  aufgehalten  hatte,  bekleidete  er  (Oct.  1790  bis  Mai  1793)  eine  Hnus- 
lehrerstelle  in  der  Familie  des  Grafen  Dohna-Schlobitten,  trat  bald  hernach  in  das 
Seminar  für  gelehrte  Schulen  zu  Berlin,  welches  Gedike  leitete,  war  1794—96  Hülfs- 
prediger  zu  Landsberg  a.  d.  Warthe,  1796—1802  Prediger  am  Charite-Hanse  zu 
Berlin,  1802-1804  Hofprediger  in  Stolpe,  1804—1806  ausserordentl.  Prof.  der 
Theol.  und  Philos.  zu  Halle,  lebte,  nachdem  er  diese  Stellung  in  Folge  der  Kriegs- 
ereignisse aufgegeben  hatte,  in  Berlin,  mit  litterariscben  Arbeiten  beschäftigt  und 
zugleich  an  seinem  Theil  neben  Fichte  und  anderen  patriotisch  gesinnten  Männern 
an  der  Kräftigung  der  Gemüther  znm  Zweck  einer  künftigen  Befreiung  des  Vater- 


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B62 


§  33.  Schleiermacher. 


landes  von  der  Fremdherrschaft  mitwirkend,  seit  1809  als  Prediger  an  der  Drei- 
faltigkeitskirche. Bei  der  Gründung  der  berliner  Universität  erhielt  er  an  derselben 
eine  ordentliche  Professur  der  Theologie,  die  er  bis  zu  seinem  Tode,  12.  Februar 
1834,  bekleidet  hat  Er  hielt  neben  den  theologischen  Vorlesungen  auch  philo- 
sophische über  verschiedene  Doctrinen.  Früh  mit  der  kantischen  Philosophie  ver- 
traut, insbesondere  während  des  Jahrzehnts  1786— 96  mit  dem  Studium  und  der 
Kritik  derselben  eifrig  beschäftigt,  später  auch  auf  Fichtes  und  Schell ings  Specula- 
tionen  eingehend,  mit  Jacobis  Philosophie  schon  1787,  mit  Spinozas  Üoctrin  zuerst 
aus  Jacobis  Darstellung,  dann  (spätestens  171)9)  auch  aus  Spinozas  eigenen  Schriften 
bekannt  geworden,  danach  auch  für  Piaton  und  ältere  Philosophen  und  schon  früh, 
aber  in  weit  geringerem  Maasse,  für  Aristoteles  sich  interessirend,  bildete  er  zuerst 
vorwiegend  in  der  Kritik  fremder  Systeme,  allmählich  aber  mehr  nud  mehr  auch 
constructiv  seinen  philosophischen  Gedankenkreis  aus.  Von  Piaton  sagt  er  selbst: 
-Es  giebt  keinen  Schriftsteller,  der  so  auf  mich  gewirkt  und  mich  so  in  das  Aller- 
heiligste  nicht  nur  der  Philosophie,  sondern  auch  des  Menschen  überhaupt  ein- 
geweiht hätte  als  dieser  göttliche  Mann".  Seit  1811  war  er  Mitglied  der  Akademie 
der  Wissenschaften,  was  ihm  zu  einer  Reihe  von  meist  auf  die  griechische  Philo- 
sophie bezüglichen  Abhandlungen  Ajilass  gab.  Im  Jahre  1817  war  er  Präses  der 
zu  Berlin  versammelten  Synode,  welche  über  die  Union  der  lutherischen  und  refor- 
mirten  Kirche  berieth.  Freilich  war  der  Sinn,  in  welchem  Sch.  für  die  Union  als 
eine  freie,  jede  dem  Geiste  des  Protestantismus  gemässe  Weise  der  Lehre  und  des 
Cultus  dem  Gewissen  der  einzelnen  Prediger  und  Gemeinden  anheimgebende  Ver- 
einigung wirkte,  von  der  strengeren,  an  festere  Normen  gesetzlich  bindenden  Weise, 
in  welcher  später  das  Unionswerk  durchgeführt  wurde,  principiell  verschieden. 
Sehl .8  Warnung  an  den  Minister  von  Altenstein,  derselbe  möge  es  dahin  nicht 
kommen  lassen,  dass  die  Geschichte  seinen  Namen  mit  der  Depravation  der  Unions- 
idee verknüpfe,  vermochte  nicht,  diesen  von  der  betretenen  Bahn  abzulenken,  sondern 
wurde  nur  als  eine  persönliche  Beleidigung  aufgenommen.  Schi,  hatte  theils  in 
Folge  dieses  Conflicts,  theils  und  schon  früher  in  Folge  seiner  freisinnigen  politischen 
Thätigkeit  fast  ebenso  andauernd  die  Ungunst  der  Regierung  zu  erfahren,  wie  Hegel 
sich  ihrer  Gunst  und  wirksamen  Förderung  seines  K  in  Busses  erfreute;  erst  in  Schl.s 
letzten  Lebensjahren  milderte  sich  die  Spannung  durch  gegenseitiges  Entgegen- 
kommen. Als  Prediger,  Universitätslehrer  und  Schriftsteller  hat  Schi,  eine  äusserst 
reiche  und  Begensvolle  Thätigkeit  geübt;  auf  dem  Gebiete  der  Theologie,  Philo- 
sophie und  Altertumsforschung  hat  er  vielseitig  anregend,  geistweckend,  neue 
Bahnen  eröffnend  gewirkt.  .Schleiermacher*  isagt  Zeller  in  den  Vortr.  u.  Abtu, 
Lpz.  1865,  S.  179  und  200)  .war  nicht  allein  der  grösste  Theologe,  welchen  die 
protestantische  Kirche  seit  der  Reformationszeit  gehabt  hat,  nicht  allein  der  Kirchen- 
mann, dessen  grosse  Gedanken  über  die  Vereinigung  der  protestantischen  Bekennt- 
nisse, über  eine  freiere  Kirchenverfassung,  über  die  Rechte  der  Wissenschaft  und 
der  religiösen  Individualität  trotz  alles  Widerstandes  sich  durchsetzen  werden  und 
eben  jetzt  aus  tiefer  Verdunkelung  sich  aufs  neue  zu  erheben  begonnen  haben,  nicht 
allein  der  geistvolle  Prediger,  der  hochbegabte,  tief  wirkende,  das  Herz  durch  den 
Verstand  und  den  Verstand  durch  das  Herz  bildende  Religionslehrer,  Schi,  war 
auch  ein  Philosoph,  der  ohne  geschlossene  Systemsform  doch  die  fruchtbarsten 
Keime  ausgestreut  hat,  ein  Alterthumsforsuher,  dessen  Werke  für  die  Kenntniss  der 
griechischen  Philosophie  von  epochemachender  Bedeutung  sind,  ein  Mann  endlich, 
der  an  der  staatlichen  Wiedergeburt  Preussens  und  Deutschlands  redlich  mit- 
gearbeitet, der  im  persönlichen  Verkehr  auf  Unzählige  anregend,  erziehend,  belehrend 
eingewirkt,  der  in  Vielen  ein  ganz  neues  geistiges  Leben  wachgerufen  hat  —  Schi 
ist  der  Erste,  welcher  das  eigentümliche  Wesen  der  Religion  gründlicher  erforscht 


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§  33.  Schleiermacher. 


363 


und  dadurch  auch  der  praktischen  Bestimmung  ihreB  Verhältnisses  zu  anderen  Ge- 
bieten einen  unberechenbaren  Dienst  geleistet  hat:  er  ist  einer  der  bedeutendsten 
unter  den  Mannern,  welche  seit  mehr  als  einem  Jahrhundert  daran  arbeiten,  das 
allgemein  Menschliche  aus  dem  Positiven  herauszuarbeiten,  das  Ueberlieferte  im 
Geist  unserer  Zeit  umzubilden,  einer  der  vordersten  unter  den  Vorkämpfern  des 
modernen  Humanismus." 

Gleich  sehr  beseelt  von  tiefem  religiösen  Gefühl,  wie  durchdrungen  von  dem 
Ernste  der  Wissenschaft,  verfolgt  Schi,  in  allen  seinen  Werken  die  Tendenz,  an 
der  Lösung  der  Aufgabe  mitzuarbeiten,  die  er  als  das  Ziel  der  Reformation  und 
insbesondere  als  Bedürfniss  der  Gegenwart  bezeichnet:  „ einen  ewigen  Vertrag  zu 
stiften  zwischen  dem  lebendigen  christlichen  Glauben  und  der  nach  allen  Seiten 
freigelassenen,  unabhängig  für  sich  arbeitenden  wissenschaftlichen  Forschung,  so 
dass  jener  diese  nicht  hindere  und  diese  nicht  jenen  ausschliesse*. 

In  den  „Reden  üb.  d.  Religion"  (1.  Rede:  Rechtfertigung,  2.  üb.  d  Wesen 
der  Relig.,  3.  üb.  d.  Bildg.  zur  Relig.,  4.  üb.  d.  Gesellige  in  d.  Relig.  od.  üb.  Kirche 
und  Priesterthum,  5.  üb.  d.  Religionen)  sucht  Schi,  das  Wesen  und  die  Berechtigung 
der  Religion  nachzuweisen.  Wie  Kant  in  seiner  Vernunftkritik  den  philosophischen 
Dogmatismus,  der  die  Realität  dessen,  was  durch  die  Vernunftideen  gedacht  wird, 
theoretisch  erweisen  will,  bekämpft,  aber  den  Gluuben  an  die  moralische  Geltung 
der  Vernunftideen  anerkennt  und  kräftigt,  so  spricht  Sohl,  den  Lehrsätzen  des 
theologischen  Dogmatismus  die  wissenschaftliche  Gültigkeit  ab,  erkennt  aber  an, 
dass  der  Religion  eine  besondere  und  edle  Anlage  im  Menschen  zu  Grunde  liege, 
nämlich  das  fromme  Gefühl  als  die  Richtung  des  Gemüthes  auf  das  Unendliche 
und  Ewige,  und  findet  die  wahre  Bedeutung  der  theologischen  Begriffe  und  Sätze 
darin,  dass  durch  sie  das  religiöse  Gefühl  zum  Ausdruck  gelange;  wenn  aber  das, 
was  nur  unsere  Gefühle  bezeichnen  und  in  Worten  darstellen  solle,  für  Wissenschaft 
von  dem  Gegenstande  oder  auch  für  Wissenschaft  und  Religion  zugleich  genommen 
werde,  dann  sinke  es  unvermeidlich  zurück  in  Mysticismus  und  Mythologie.  Kant 
bedurfte,  um  auf  Grund  des  moralischen  Bewusstseins  den  Objecten  der  Vernunft- 
ideen vermittelst  seiner  Postulate  Realität  vindiciren  zu  dürfen,  einer  Kritik  der 
theoretischen  Vernunft,  welche  für  eben  diese  Objecte  der  „Vernunftideeu*  eine 
offene  Stelle  jenseits  alles  Endlichen,  dass  nur  Erscheinung  sei,  nachweise.  Schi, 
dagegen  bedarf,  da  er  nicht  die  Objecte  der  religiösen  Vorstellungen,  sondern  die 
Hubjectiven  Gemüthszustände ,  welche  mittelst  dieser  Vorstellungen  ausgedrückt 
werden,  als  berechtigt  nachweist,  keiner  offenen  Stelle  für  das  Unendliche  jenseits 
der  Endlichkeit,  vermag  dem  Endlichen  seine  objective  Realität,  die  in  unserm 
Bewusstsein  sich  wiederspiegele,  ungeschmälert  zu  lassen  und  findet,  wie  Spinoza 
(von  dem  er  sich  jedoch  durch  seine  Anerkennung  des  Werthes  der  Individualität 
wesentlich  unterscheidet),  inmitten  des  Endlichen  und  Vergänglichen  selbst  das 
Unendliche  und  Ewige.  Im  Gegensatz  zu  der  idealistischen  Speculation  Kants  und 
Fichtes  fordert  Schi,  einen  Realismus,  der  freilich  nicht  auf  die  Betrachtung  des 
Endlichen  in  seiner  Vereinzelung  sich  beschränken,  sondern  ein  Jegliches  in  seiner 
Einheit  mit  dem  Ganzen  und  Ewigen  (nach  Spinozas  Ausdruck :  sub  specie  aeterni) 
betrachten  soll;  mit  diesem  Ewigen  sich  eins  fühlen,  ist  Religion.  „Wenu  der 
Mensch  nicht  in  der  unmittelbaren  Einheit  der  Anschauung  und  des  Gefühls  Eins 
wird  mit  dem  Ewigen,  bleibt  er  in  der  abgeleiteten  des  Bewusstseins  ewig  getrennt 
von  ihm.  Darum,  wie  soll  es  werden  mit  der  höchsten  Aeusserung  der  Speculation 
unserer  Tage,  dem  vollendeten  gerundeten  Idealismus,  wenn  er  sich  nicht  wieder  in 
diese  Einheit  versenkt,  dass  die  Demuth  der  Religion  seinen  Stolz  einen  andern 
Realismus  ahnen  lasse,  als  den,  welchen  er  so  kühn  und  mit  so  vollem  Rechte  sich 


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§  33.  Schleiermacher. 


unterordnet?  Er  wird  das  Universora  vernichten,  indem  er  es  bilden  zo  wollen 
scheint,  er  wird  es  herabwürdigen  zu  einer  blossen  Allegorie,  zu  einem  nichtigen 
Schattenbilde  der  einseitigen  Beschränktheit  Beines  leeren  Bewusstseins.  Opfert 
mit  mir  ehrerbietig  eine  Locke  den  Manen  des  heiligen  verstossenen  Spinoza! 
Ihn  durchdrang  der  hohe  Weltgeist,  das  Unendliche  war  sein  Anfang  and  sein 
Ende,  das  Universum  seine  eiuzige  und  ewige  Liebe;  in  heiliger  Unschuld  und 
tiefer  Denrath  spiegelte  er  sich  in  der  ewigen  Welt  und  sah  zu,  wie  auch  er  ihr 
liebenswürdigster  Spiegel  war;  voller  Religion  war  er  und  voll  heiligen  Geistes, 
und  darum  steht  er  auch  da  allein  und  unerreicht,  Meister  in  seiner  Kunst,  aber 
erhaben  über  die  profane  Zunft,  ohne  Jünger  und  ohne  Bürgerrecht." 

Die  Wissenschaft  ist  das  Sein  der  Dinge  in  der  menschlichen  Vernunft;  die 
Kunst  und  die  Bildung  zur  Praxis  ist  das  Sein  unserer  Vernunft  in  den  Dingen, 
denen  sie  Maass,  Gestalt  und  Ordnung  giebt;  die  Religiou,  das  uothwendige  und 
unentbehrliche  Dritte  zu  jenen  beiden,  ist  das  unmittelbare  Bewusstsein  der  Einheit 
von  Vernunft  und  Natur,  des  allgemeinen  Seins  alles  Endlichen  im  Unendlichen 
und  durch  das  Unendliche,  alles  Zeitlichen  im  Ewigen  und  durch  das  Ewige.  Die 
Frömmigkeit  ist  als  die  Richtung  des  Gemüths  auf  das  Ewige  die  innere  Erregung 
und  Stimmung,  auf  welche  alle  Aeusserungen  und  Thaten  gottbegeisterter  Männer 
hindeuten;  Bio  erzeugt  nicht,  sondern  begleitet  dos  Wissen  und  dos  sittliche  Handeln; 
aber  mit  ihr  können  Ulisittlichkeit  und  Dünkclwisseu  nicht  zusammen  bestehen. 
Alle  Förderung  echter  Kunst  und  Wissenschaft  ist  auch  Bildung  zur  Religion. 
Wab/c  Wissenschaft  ist  vollendete  Anschauung,  wahre  Praxis  ist  selbsterzeugte 
Bildung  und  Kunst,  wahre  Religion  ist  Sinn  und  Geschmack  für  das  Unendliche. 
Eine  von  jenen  haben  wollen  ohne  diese,  oder  Bich  dünken  lassen,  man  habe  sie  so, 
ist  frevelnder  Irrthum.  Dus  Universum  ist  in  einer  ununterbrochenen  Tbätigkeit 
und  offenbart  sich  uns  in  jedem  Augenblick,  und  in  diesen  Einwirkungen  und  dem, 
was  dadurch  in  uns  wird,  alles  Einzelne  nicht  für  sich,  sondern  als  einen  Theil  des 
Ganzen,  als  eine  Darstellung  des  Unendlichen  in  unser  Leben  aufnehmen  und  uns 
davon  bewegen  lassen,  das  ist  Religion. 

Die  Gemeinschaft  derer,  welche  schon  zur  Frömmigkeit  in  sich  gereift  sind, 
ist  die  wahre  Kirche.  Die  Einzclkirchen  sind  das  Bindemittel  zwischen  diesen 
Frommen  und  denen,  welche  die  Frömmigkeit  noch  suchen.  Der  Unterschied  zwischen 
Priestern  und  Laien  darf  nur  ein  relativer  sein. 

Die  Idee  der  Religion  umfasst  die  Gesammtheit  aller  Verhältnisse  der  Menschen 
zur  Gottheit;  die  einzelnen  Religionen  sind  aber  die  bestimmten  Gestalten,  unter 
denen  sich  die  Eine  allgemeine  Religion  darstellen  muss  und  in  denen  allein  eine 
wahre  individuelle  Ausbildung  der  religiösen  Anlage  möglich  ist;  die  sogenannte 
natürliche  oder  Vernuuftreligion  ist  eine  blosse  Abstraction.  Die  verschiedeneu 
Religionen  sind  die  Religion,  wie  sie  sich  ihrer  Unendlichkeit  eutäussert  hat  und 
in  oft  dürftiger  Gestalt,  gleichsam  als  fleischgewordener  Gott,  unter  den  Menschen 
erschienen  ist,  uIb  ein  ins  Unendliche  gehendes  Werk  des  Geistes,  der  sich  in  aller 
menschlichen  Geschichte  offenbart.  Die  Art,  wie  der  Mensch  die  Gottheit  im  Ge- 
fühle gegenwärtig  hat,  entscheidet  über  den  Werth  seiner  Religion.  Die  drei 
Hauptstufen  sind:  1.  diejenige,  auf  welcher  die  Welt  als  chaotische  Einheit  erscheint 
und  die  Gottheit  theils  in  der  Form  der  Persönlichkeit  als  Fetisch,  theils  unper- 
sönlich als  blindes  Geschick  vorgestellt  wird;  2.  diejenige,  auf  welcher  in  dem 
Weltbewusstsein  die  bestimmte  Vielheit  der  heterogenen  Elemente  und  Kräfte 
hervortritt  und  das  Gottesbewusstsein  theils  Polytheismus,  wie  bei  den  Hellenen, 
theils  Anerkennung  der  Naturnothwendigkeit,  wie  bei  Lucretius,  ist;  3.  diejenige, 
auf  welcher  das  Sein  sich  als  Totalität,  als  Einheit  in  der  Vielheit  oder  als  System 
darstellt  und  das  Gottesbewusstsein  theils  die  Form  des  Monotheismus,  theils  des 


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§  33.  Schleiermacher. 


305 


Pantheismus  annimmt.  Im  Judenthnm  ist  das  eigentlich  religiöse  Element  das  Be- 
wusstsein  einer  unmittelbaren  Vergeltung,  einer  Reaction  des  Unendlichen  gegen 
jedes  einzelne  Endliche,  das  als  aus  der  Willkür  hervorgehend  angesehen  wird. 
Belohnend,  strafend,  züchtigend  das  Einzelne  im  Einzelnen,  so  wird  die  Gottheit 
durchaus  vorgestellt.  Die  ursprüngliche  Anschauung  des  Christenthums  dagegen 
ist  die  des  allgemeinen  Entgegenstrebens  alles  Endlichen  gegen  die  Einheit  des 
Ganzen  und  der  Art,  wie  die  Gottheit  dieses  Eutgegenstreben  behandelt,  wie  sie 
die  Feindschaft  gegen  sich  vermittelt  durch  einzelne  Punkte,  über  das  Gauze  aus- 
gestreut, welche  zugleich  Endliches  und  Unendliches,  zugleich  Menschliches  und 
Göttliches  sind.  Das  Verderben  und  die  Erlösung,  die  Feindschaft  und  die  Ver- 
mitteluug  sind  die  Grundbeziehungen  der  christlichen  Empfindungsweise.  Indem 
alles  Wirkliche  zugleich  als  unheilig  erscheint,  ist  eine  unendliche  Heiligkeit  das 
Ziel  des  Christenthums.  Das  Christenthum  hat  zunächst  die  Forderung  gestellt,  das* 
die  Frömmigkeit  ein  beharrlicher  Zustand  im  Menschen  und  nicht  an  einzelne  Zeiten 
und  Verhältnisse  gebunden  sein  soll.  Der  Stifter  des  Christenthums  fordert  nicht, 
dass  man  um  seiner  Person  willen  seine  Idee  annehme,  sondern  nur  um  dieser  willen 
auch  jene;  die  grössere  Sünde  ist  die  Sünde  wider  den  Geist.  Aus  der  Idee  der 
Erlösung  und  Vermitteluug  das  Centrum  der  Religion  bilden,  das  ist  die  Religion 
Christi.  Er  selbst  aber  ist  aller  Vermitteluug  Mittelpunkt.  Es  wird  eine  Zeit 
kommen,  wo  der  Vater  Alles  in  Allem  sein  wird,  aber  diese  Zeit  liegt  ausser 
aller  Zeit 

In  den  Monologen  (1.  Betrachtung,  2.  Prüfungen,  3.  Weltansicht,  4.  Aussicht» 
5.  Jugend  und  Alter)  findet  Schleiermacher  die  höchste  sittliche  Aufgabe  darin, 
dass  ein  Jeder  in  sich  auf  eigenthümliehe  Weise  die  Menschheit  darstelle.  Die 
kantische  Vernunftforderung  derUuiformität  des  Handelns,  der  kategorische  Imperativ, 
gilt  ihm  zwar  als  eine  achtbare  Erhebung  über  die  unwürdige  Eitelkeit  des  sinnlich- 
thierischen  Lebens,  aber  doch  nur  als  ein  niederer  Standpunkt  im  Vergleich  mit 
der  höheren  Eigenheit  der  Bildung  und  Sittlichkeit.  Das  seiner  selbst  gewisse  Ich 
behauptet  in  seinem  Innersten,  eigensten  Handeln  seine  freie  geistige  Selbstbestim- 
mung unabhängig  von  jeder  zufälligen  Fügung  äusserer  Umstände  und  selbst  von 
der  Macht  der  Zeit,  von  Jugend  und  Alter. 

Die  vertraut.  Briefe  über  Fr.  Schlegels  „Lucinde"  (die  besser  sind,  als  die 
commentirte  Schrift)  fordern  die  ungetheilte  Einheit  des  sinnlichen  und  geistigen 
Elementes  in  der  Liebe  und  bekämpfen  die  Entweihung  des  Göttlichen  in  ihr,  die 
durch  unverständige  Zerlegung  in  ihre  Elemente,  in  Geist  und  Fleisch,  erfolge. 

Die  Wissenschaften  theilt  Sch.  ein  in  die  empirische  und  speculative  Be- 
trachtung der  Natur  und  des  Geistes  oder  die  Naturkunde  und  Physik,  Geschichte- 
kunde und  Ethik.  Die  Idee  der  Philosophie  geht  auf  die  höchste  Einheit  des  phy- 
sischen und  ethischen  Wissens  als  vollkommene  Durchdringung  des  Beschaulichen 
und  des  Erfahrungsmässigen. 

Sch.B  Dialektik  ist  die  Kunst  des  Begründens.  Es  werden  in  ihr  die  Prin- 
eipien  des  Philosophirens  entwickelt,  welche  zugleich  die  der  Gesprächsführung 
sind,  weil  das  Wissen  ein  gemeinschaftliches  Denken  ist.  Sie  beruht  auf  dem  Begriff1 
des  Wissens  als  der  Uebereinstimmung  des  Denkens  mit  dem  Sein,  welche  sich  zu- 
gleich als  Uebereinstimmung  der  Denkenden  untereinander  erweisen  muss.  Der 
„transscendentale  Theil"  der  Dialektik  betrachtet  die  Idee  des  Wissens  an  und  für 
sich  und  gleichsam  in  der  Ruhe,  der  .technische  oder  formale  Theil"  aber  betrachtet 
dieselbe  Idee  in  der  Bewegung  oder  das  Werden  des  Wissens.  Mit  Kant  unter- 
scheidet Schi.  Stoff  und  Form  des  Wissens  und  lässt  jenen  durch  die  sinnliche 
Empfindung  oder  „organische  Function"  gegeben  sein,  die  Form  über  aus  der  ,in- 
tellectuellcn  Function"  oder  dem  Denken  stammen,  welchem  die  Einheitsetzung  und 


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366 


§  33.  Schleiermacher. 


Entgegensetzung  angehört.  Die  Formen  unserer  Erkenntniss  entsprechen  den  Formen 
des  Seins.  Raom  und  Zeit  sind  die  Formeu  der  Existenz  der  Dinge,  nicht  nur 
die  Formen  unserer  Auffassung  der  Dinge.  Die  Formen  des  Wissens  sind  Begriff 
und  Urtheil;  der  Begriff  entspricht  dem  Färsichsein  der  Dinge  oder  den  „substan- 
tiellen Formen":  Kraft  und  Erscheinung  (der  höhere  Begriff  entspricht  der  .Kraft", 
der  niedere  der  „Erscheinung"),  das  Urtheil  aber  dem  Zusammensein  der  Dinge, 
ihrer  Wechselwirkung  oder  ihren  Actionen  und  Passionen.  Die  Formen  des  Werdens 
des  Wissens  sind  die  Induction  und  Deduction.  Der  Deductionsprocess  oder  die 
Ableitung  aus  den  Principieu  darf  immer  nur  in  Beziehung  auf  die  Resultate  des 
Inductionsprocesses,  der  von  den  Erscheinungen  aus  zur  Erkenntniss  der  Principien 
fortgeht,  ausgeführt  werden.  Schi,  bestreitet  ausdrücklich*)  die  Annahme  (auf 
welcher  die  hegelsche  Diulektik  ruht),  dass  das  reine  Denken,  von  allem  nudern 
Denken  getrennt,  einen  eigenen  Anfang  nehmen  und  als  ein  besonderes  für  sich 
ursprünglich  entstehen  könne. 

In  der  Gottes idee  wird  die  absolute  Einheit  deB  Idealen  und  Realen  mit 
Ausschluss  aller  Gegensätze  gedacht,  in  dem  Begriffe  der  Welt  aber  die  relative 
Einheit  des  Idealen  und  Realen  utiter  der  Form  des  Gegensatzes.  Es  ist  demnach 
Gott  weder  als  identisch  mit  der  Welt,  noch  als  getrennt  von  der  Welt  zu  denken. 
(Da  das  Ich  die  Identität  des  Subjecta  in  der  Differenz  der  Momente  ist,  so  lässt 
Bich  Gottes  Verhältniss  zur  Welt  mit  dem  der  Einheit  des  Ich  zu  der  Totalität  seiner 
zeitlichen  Acte  vergleichen.)  Wir  wissen  nicht  von  einem  Sein  Gottes  ausserhalb 
der  Welt.  Gott  hat  nie  ohne  die  Welt  sein  können,  also  kann  auch  nicht  von  einem 
Sein  Gottes  vor  der  Welt  die  Rede  sein.  Die  Dinge  sind  von  Gott  abhängig,  heisst 
soviel  als:  sie  sind  bedingt  durch  den  Naturzusammenhang,  und  demnach  ist  ein 
unmittelbares  Eingreifen  Gottes,  also  das  Wunder,  nicht  möglich.  Auch  der  Mensch 
ist  von  dem  Naturznsammeuhang  nicht  ausgenommen,  und  wenn  Schleiermacher  von 
Freiheit  des  Menschen  spricht,  so  versteht  er  nichts  Anderes  darunter  als  die  Ent- 
wicklung der  einmal  angelegten  Persönlichkeit.  Die  gegensatzlose  Einheit  des 
Idealen  und  Realen,  der  transscendente  Grund  alles  Denkens  und  Seins,  wird  zwar 
vorausgesetzt,  ist  aber  in  einem  wirklichen  Denken  nicht  vollziebbar.  Wie  für  Kant 
das  Ding  an  sich  unerkennbar  ist,  so  für  Schleiermacher  der  letzte  Grund  von  Allem. 
Das  Denken  muss  sich  immer  in  Gegeusätzen  bewegen  und  kann  daher  das  Gegeu- 
satzlose  nicht  erreichen.  Die  sogenannten  Eigenschaften  Gottes  sind  nicht  etwa 
Seiten  seines  Wesens  oder  seiner  Wirksamkeit,  sondern  nur  Abspiegelungen  dieser 
Wirksamkeit  im  religiösen  Bewusstsein.  Sogar  den  Begriff  der  Persönlichkeit  will 
er  von  Gott  ferngehalten  wissen.  Einer  Persönlichkeit  kämen  Wollen  und  Ver- 
stand zu,  diese  unterschieden  sich  aber  von  einander  und  begrenzten  sich  demnach, 
und  so  werde  die  Gottheit  in  das  Endliche  herabgezogen.  Nicht  den  persönlichen, 
sondern  den  lebendigen  Gott  will  Schleiermacher,  und  durch  diese  Betonung  des 
Lebens  in  Gott  besonders  unterscheidet  sich  sein  Gottesbegriff  von  dem  Spinozas. 

DieReligion  beruht  auf  dem  absoluten  Abhängigkeitsgefühl,  in  welchem 
mit  dem  eigenen  Sein  zugleich  das  unendliche  Sein  Gottes  mitgesetzt  ist.  Dieses 
schlechthinnige  Abhängigkeitsgefühl  entsteht  dadurch,  dass  wir  uns  absolut  bestimmt 
fühlen  und  alles  Sein  in  und  ausser  uns  auf  einen  letzten  Grund,  die  Gottheit, 
zurückführen.  Vermittelst  des  religiösen  Gefühls  ist  der  Urgrund  ebenso  in  uns 
gesetzt,  wie  in  der  Wahrnehmung  die  Aussendinge  in  uns  gesetzt  sind.  Das  Sein 
der  Ideen  und  das  Sein  des  Gewissens  in  uns  ist  das  Sein  Gottes  in  uns,  Religion 
und  Philosophie  sind  einander  gleichberechtigte  Functionen;  jene  ist  die  höchst« 
subjective,  diese  die  höchste  objective  Function  des  menschlichen  Geistes.  Die 

*)  Und  zwar  mit  gutem  logischen  Recht. 


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§  33.  Schleiermacher. 


567 


Philosophie  ist  nicht  der  Religion  untergeordnet.  Diese  (scholastische)  Unterordnung 
würde  darauf  beruhen  müssen,  dass  alle  Versuche,  Gott  zu  denken,  nur  aus  dem 
Interesse  des  Gefühls  abgeleitet  würden.  Aber  die  speculative  Thätigkeit,  welche 
sich  auf  den  trausscondentcn  Grund  richtet,  hat  auch  in  sich  selbst  Werth  und 
Bedeutung,  insbesondere  zur  Entfernung  des  Anthropoeidischen.  Andererseits  ist 
aber  auch  die  Religion  nicht  eine  untergeordnete  Stufe  zur  Philosophie.  Denn  das 
Gefühl  kann  nie  etwas  bloss  Vergangenes  sein;  es  ist  in  uns  die  ursprüngliche  Ein- 
heit oder  Indifferenz  des  Denkens  und  Wollens,  uud  diese  Einheit  ist  durch  das 
Denken  nicht  zu  ersetzen.*) 

DieEthik  betrachtet  das  Hau  dein  der  Vernunft,  sofern  dasselbe  Ei n- 
heit  der  Vernunft  und  Natur  hervorbringt.  Da  Schleiermacher  dem  Deter- 
minismus huldigt,  so  ist  nach  ihm  zwischen  Naturgesetz  und  Sittengesetz  kein 
wesentlicher  Unterschied,  als  hätte  es  jenes  mit  dem  blossen  Sein,  dieses  mit  dem 
blossen  Sollen  zu  thun.  Das  Sittengesetz  stellt  sich  nur  wegen  der  Störungen,  die 
von  anderen  nieilen  des  Naturlebens  herrühren,  als  ein  nicht  durchaus  verwirklichtes 
Gesetz,  als  ein  Sollen  dar.  Das  Unsittliche  beruht  nur  darauf,  dass  die  niederen 
Kräfte  nicht  vollkommen  durch  die  Intelligenz  als  Willen  und  durch  das  dieser  eigen 
zukommende  Lebensgesetz,  das  Sittengesetz,  beherrscht  werden.  Trotz  dieses  conse- 
quenten  Determinismus  wird  das  Recht  der  Individualität  von  Schleiermacher 
sehr  stark  betont.  Es  kommt  einem  jeden  Individuum  seine  eigentümliche  Be- 
deutung zu,  und  jedes  Individuum  ist  berufen ,  sein  eigentümliches  Urbild  zu  ver- 
wirklichen. 

Die  Ethik  selbst  wird  von  Schleiermacher  unter  den  drei  Gesichtspunkten  der 
Güterlehre,  der  Tugendlehre  und  der  Pflichtenlehre  behandelt,  von  denen  jede  in 
ihrer  eigeuthümlichen  Weise  das  Ganze  enthält  Ein  Gut  ist  jedes  Einssein  be- 
stimmter Seiten  von  Vernunft  und  Natur.  In  dem  Mechanismus  und  Chemismus, 
der  Vegetation,  Animalisation  und  der  Humanisirung  bekundet  sich  die  aufsteigende 
Stufenfolge  der  Verbindung  der  Vernunft  und  Natur.  Das  Ziel  des  sittlichen 
Handelns  ist  das  höchste  Gut,  d.  h.  die  Gesammtheit  aller  Einheiten  von  Natur 
und  Vernunft.  Die  Kraft,  aus  welcher  die  sittlichen  Handlungen  hervorgehen,  ist 
die  Tugend;  die  verschiedenen  Tugenden  sind  die  Arten,  wie  die  Vernunft  als  Kraft 
der  menschlichen  Natur  innewohnt.  In  der  Bewegung  zu  dem  Ziele  hin  liegt  die 
Pflicht,  d.  h.  das  sittliche  Handeln  in  Bezug  auf  das  sittliche  Gesetz  oder  der  Gehalt 
der  einzelnen  Handlungen  als  zusammenstimmend  zur  Hervorbringung  des  höchsten 
Gutes.  Das  sittliche  Gesetz  lässt  sich  mit  der  algebraischen  Formel  vergleichen, 
welche  (in  der  analytischen  Geometrie)  den  Lauf  einer  Curve  bedingt,  das  höchste 


*)  Schl.s  Auffassung  des  Verhältnisses  zwischen  Religion  und  Philosophie  ver- 
meidet den  Fehler  der  hegelschen,  wonach  das  Gefühl  ebenso,  wie  die  „Vorstellung', 
eine  blosse  Vorstufe  des  Begriffs  sein  soll.  Das  Gefühl  steht  zu  der  Erkenntniss- 
thätigkeit  überhaupt,  ebenso  wie  zum  Wollen  und  Handeln,  nicht  in  dem  Verhältniss 
der  Stufenordnung,  sondern  in  dem  Verhältniss  einer  gleichberechtigten  andern 
Richtung  der  psychischen  Thätigkeit;  eine  Stufenordnung  besteht  nur  innerhalb  einer 
jeden  der  drei  Hauptrichtungen,  also  zwischen  den  sinnlichen  und  den  geistigeu 
Gefühlen,  zwischen  dem  sinnlichen  und  vernünftigen  Begehren,  zwischen  Wanr- 
nehmung,  Vorstellung  und  Begriff.  Aber  die  Religion  ist  nicht  bloss  Frömmigkeit, 
d.  h.  nicht  blosB  Beziehung  des  Menschen  zur  Gottheit  mittelst  des  Gefühls,  sondern 
Beziehung  des  Menschen  in  allen  seinen  psychischen  Functionen  zur  Gottheit;  daher 
ist  der  Religion  das  theoretische  und  ethische  Moment  ebenso  wesentlich  wie  das 
affective.  Sofern  nun  die  Religion  eine  theoretische  Seite  hat,  hat  in  der  That 
Hegels  Bestimmung,  auf  das  Verhältniss  zwischen  Dogma  und  Philosophem,  religiöser 
Vorstellung  und  wissenschaftlicher  Erkenntniss  bezogen,  Berechtigung,  und  die 
schl.sche  Nebeneinanderstellung  im  Verhältniss  der  Gleichberechtigung  scheint  nicht 
haltbar. 


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§  33.  Schleiermacher. 


Gut  mit  der  Curve  selbst,  die  Tagend  als  die  sittliche  Kraft  mit  einem  Instrument, 
welches  auf  die  Hervorbringung  der  jener  Formel  entsprechenden  Curve  eingerichtet 
wäre.  Die  verschiedenen  Pflichten  bilden  ein  System  von  Handlungsweisen,  welches 
hervorgeht  aus  der  Gesammtheit  der  Tagenden  des  Subjects,  die  sich  bethätigen  in 
der  Richtung  aaf  die  Eine  nngetheilte  sittliche  Aufgabe. 

Das  Handeln  der  Vernunft  ist  theÜB  ein  organisirendes  oder  bildendes, 
theils  ein  symbolisireudes  oder  bezeichnendes.  Organ  ist  jedes  Ineinander  von 
Vernunft  und  Natur,  Bofern  darin  ein  Haudelnwerdcn  auf  die  Natur,  Symbol  jedes, 
sofern  darin  ein  Gehandelthaben  auf  die  Natur  gesetzt  ist  Mit  dem  Unterschiede 
des  Orgunisirens  und  Symbolisirens  kreuzt  sich  der  des  allgemein  gleichen  oder 
identischen  und  des  individuell  eigentümlichen  oder  differeuzirenden  Charakters  des 
sittlichen  Handelns. 

Hieraus  ergeben  sich  vier  Gebiete  des  sittlichen  Handelns,  nämlich: 
Verkehr,  Eigenthum,  Denken,  Gefühl.  Der  Verkehr  ist  das  Gebiet  des  ideutischen 
Organisirens  oder  das  Bildungsgebiet  des  gemeinschaftlichen  Gebrauchs.  Das  Eigeu- 
thum  ist  das  Gebiet  des  individuellen  Organisirens  oder  das  Bilduugsgebiet  als  ein 
abgeschlossenes  Ganzes  der  Unübertragbarkeit.  Das  Denken  und  die  Sprache  ist 
das  Gebiet  des  identischen  Symbolisirens  oder  der  Gemeinsamkeit  des  Bewusstseins. 
Das  Gefühl  ist  das  Gebiet  des  individuellen  Symbolisirens  oder  der  ursprünglich 
verschiedenen  Gestaltung  des  Bewusstseins. 

Diesen  vier  ethischen  Gebieten  entsprechen  vier  ethische  Verhältnisse: 
Recht,  Geselligkeit,  Glaube  und  Offenbarung.  Das  Recht  ist  das  sittliche  Zusammen- 
sein der  Einzelnen  im  Verkehr.  Die  Geselligkeit  ist  das  sittliche  Verhältniss  der 
Einzelnen  in  der  Abgeschlossenheit  ihres  Eigenthums,  das  Anerkennen  des  fremden 
Eigenthums,  um  es  sich  aufschliessen  zu  lassen,  und  umgekehrt.  Der  Glaube  oder 
das  Vertrauen  auf  die  Wahrhaftigkeit  ist  im  allgemeinen  ethischen  Sinne  das  Ver- 
hältniss der  gegenseitigen  Abhängigkeit  des  Lehrens  und  Lernens  in  der  Gemein- 
samkeit der  Sprache.  Die  Offenbarung  ist  im  allgemeinen  ethischen  Sinne  das 
Verhältniss  der  Einzelnen  unter  einauder  in  der  Geaehiedeuheit  ihres  Gefühls  (dessen 
Inhalt  die  in  dem  Einzelnen  vorwaltende  Idee  ist). 

Diesen  ethischen  Verhältnissen  entsprechen  wiederum  vier  ethische  Orga- 
nismen oder  Güter,  die  durch  Gegensätze  zusammengehalten  werden:  Staat, 
gesellige  Gemeinschaft,  Schule,  Kirche.  Der  Staat  ist  die  Form  der  Vereinigung 
zur  identisch  bildenden  Thätigkeit  unter  dem  Gegensatz  von  Obrigkeit  und  Unter- 
thaiien.  Die  gesellige  Gemeinschaft  ist  die  Vereinigung  zur  individuell  organisirenden 
Thätigkeit  unter  dem  Gegensatz  der  Freundschaft  Einzelner  und  der  weiteren 
persönlichen  Verbindungen.  Die  Schule  (im  weiteren  Sinne,  mit  Einschluss  der 
Universität  und  Akademie)  ist  die  Gemeinschaft  zur  identisch  symbolisirenden 
Thätigkeit  oder  die  Gemeinschaft  des  Wissens  unter  dem  Gegensatz  von  Gelehrten 
und  Publicum.  Die  Kirche  ist  die  Gemeinschaft  zur  individuell  symbolisirenden 
Thätigkeit,  die  Form  der  Vereinigung  der  unter  demselben  Typus  stehenden  Masse 
zur  subjectiven  Thätigkeit  der  erkennenden  Function  oder  die  Gemeinschaft  der 
Religion  unter  dem  Gegensatz  von  Clerus  und  Laien.  Alle  diese  Organismen  finden 
in  der  Familie  ihre  gemeinsame  Grundlage. 

Die  Tugend  ist  entweder  Gesinnung  oder  Fertigkeit,  und  wenn  dieser  Gegen- 
satz sich  nun  kreuzt  mit  dem  des  Erkennens  und  Darstellens,  so  ergeben  sich  die 
vier  Cardinaltugeuden :  Weisheit  als  Gesinnung  im  Erkennen  (Belebung  in  sich), 
Liebe  als  Gesinnung  im  Darstellen  (Belebung  nach  aussen),  Besonnenheit  als  Fertigkeit 
im  Erkennen  (Selbstbekämpfuug),  Beharrlichkeit  oder  Tapferkeit  als  Fertigkeit  im 
Darstellen  (Bekämpfung  nach  Aussen).  —  Ist  der  Antheil,  welchen  der  Einzelne  an 


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§  34.    Schopenhauer.  3f,<j 

dem  höchsten  Gute  hat,  Gluckseligkeit,  so  wird  die  Tugend  die  Würdigkeit  zur 
Glückseligkeit  sein. 

Die  Pflichten  zerfallen  in  Rechts-  und  Liebespflichten  und  in  Berufs-  und 
Gewissenspflichten  nach  den  Gegensätzen  des  universellen  und  individuellen  Gcmein- 
schaftsbildens  und  des  universellen  und  individuellen  Aneignens.  Das  allgemeinste 
Pflichtgesetz  ist:  Handle  in  jedem  Augenblick  mit  der  ganzen  sittlichen  Kraft  und 
die  ganze  sittliche  Aufgabe  austrebend.  Diejenige  Handlung  ist  jedesmal  die  pflicht* 
massige,  welche  für  das  ganze  sittliche  Gebiet  die  grösste  Förderung  gewährt.  In 
jedem  pflichtmässigen  Handeln  müssen  innere  Anregung  und  äusserer  Anlas«  zu- 
sammentreffen. 

Die  philosophische  Sittenlehre  verhält  sich  zur  christlich-religiösen  oder  über- 
haupt zur  theologischen  Ethik  (in  welcher  Schi,  das  wirksame  und  das  darstellende 
Handeln  unterscheidet  und  jenes  in  das  reinigende  und  verbreitende,  dieses  in  die 
Darstellung  im  Gottesdienst  und  in  der  geselligen  Sphäre  eintheilt),  wie  die  An- 
schauung zum  Gefühl,  das  Objective  zum  Subjectiven.  Jene  wendet  sich  an  die  in 
Allen  gleiche  menschliche  Vernunft  und  kann  das  moralische  Bewusstsein  als  Vor- 
aussetzung des  Gottesbewusstseins  betrachten;  die  theologische  Sittenlehre  aber 
setzt  immer  das  religiöse  Bewusstsein  unter  der  Form  des  Antriebs  voraus.  Die 
christliche  Sittenlehre  fragt:  was  muss  werden,  weil  das  christliche  Selbstbewusst- 
sein  ist  (während  die  Glaubenslehre  fragt:  .was  muss  sein,  weil  das  christliche 
Selbstbewusst8ein  ist?)?*) 

§  34.  In  nahem  Anschluss  an  Kant,  die  nachkantische  Speculation 
verwerfend,  hat  Arthur  Schopenhauer  (1788—1860)  eine  Lehre 
ausgebildet,  welche  sich  als  eine  Uebergangsform  von  dem  kantischen 
Idealismus  zu  dem  in  der  Gegenwart  vorherrschenden  Realismus  be- 
zeichnen lässt,  indem  er  zwar  mit  Kant  dem  Raum,  der  Zeit  und  den 
Kategorien  (unter  denen  die  der  Causalität  die  fundamentale  sei) 
einen  bloss  subjectiven  Ursprung  und  eine  auf  die  Erscheinungen, 
welche    blosse    Vorstellungen    des    Subjects    seien,  beschränkte 

*)  Dass  Schi,  in  der  Sittenlehre  zu  sehr  mit  Ausdrücken  operirt,  wie  Vernunft, 
Notur  etc.,  welche  sehr  vielseitig  sind  und  gleichsam  als  Abbreviaturen  eine  Menge 
verschiedenartiger  Verhältnisse  umfassen,  dass  er  in  Folge  hiervon  sich  oft  mit 
einem  abstracten  Schematismus  begnügt,  wo  eine  concretere  Entwickelung  an  der 
Stelle  gewesen  wäre,  ist  offenbar.  Man  kann  v.  Kirchmann  nicht  Unrecht  geben, 
wenn  er  (in  seiner  Vorr.  z.  s.  Ausg.  der  Sittenl.  in  der  „ph.  B."  Bd.  XXIV,  Berlin 
1870,  S.  XIV)  Formeln,  wie  Ineinander  von  »Natur  und  Vernunft"*,  „Naturwerden 
der  Vernunft",  «Vernunftwerden  der  Natur"  mit  solchen  hinter  der  Erkenntniss  der 
wirklichen  Gesetze  weit  zurückbleibenden  Aufstellungen  vergleicht,  wie  etwa:  „die 
Ellipse  ist  das  Ineinander  von  Gradem  und  Kreisrundem",  „die  Bewegung  der 
Planeten  ist  eine  Einheit  von  Centripetal-  und  Centrifugalkraft*.  Dennoch  behauptet 
Schl.s  Ethik  im  Vergleich  mit  der  kantischen  und  anderen  Doctrinen  durch  ihre 
Bestimmung  des  Verhältnisses  zwischen  Gütern,  Tugenden  und  Pflichten  und  ins- 
besondere durch  ihre  ausgeführte  Güterlehre  einen  unbestreitbaren  hohen  und 
bleibenden  Werth.  In  der  Richtung  auf  das  höchste  Gut  hat  Schi,  das  einheitliche 
Princip  des  sittlichen  Urtheils  über  den  subjectiven  Willensact  wirklich  gefunden? 
welches  in  Hegels  objectivistischer  Gestaltung  der  Ethik  sich  verbirgt  und  bei 
Herbart  in  die  Mehrheit  der  bei  ihm  ohne  philosophische  Begründung  gebliebeneu 
ethischen  Ideen  auseiuanderfällt  und  ohne  Beziehung  zur  theoretischen  Philosophie 
bleibt.  Schopenhauers  Pessimismus  lässt  keine  positive  Ethik  zu;  Beneke  hat 
Schl.s  fruchtbaren  Grundgedanken  wiederaufgenommen  und  unter  Ersetzung  der  ab- 
stracten schematischen  Formeln  durch  concreto,  auf  die  innere  Erfahrung  begründete 
psychologische  Betrachtungen  durchzuführen  gesucht. 

l'eberweg-HeiDze,  Orondris«  DI  7.  Aufl.  24 


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370 


§  34.  Schopenhauer. 


Gültigkeit  zuschreibt,  die  von  unserm  Vorstellen  unabhängige  Reali- 
tät aber  nicht  mit  Kant  für  unerkennbar  hält,  sondern  in  dem  durch 
die  innere  Wahrnehmung  uns  völlig  bekannten  Willen  findet,  sich 
dabei  jedoch  in  den  Widerspruch  verwickelt,  dass  er,  wo  nicht  die 
Räumlichkeit,  so  doch  mindestens  die  Zeitlichkeit  und  die  Causalität 
flammt  allen  damit  zusammenhängenden  Kategorien  auf  den  Willen, 
dem  er  sie  principiell  abspricht,  in  der  Ausfuhrung  seiner  Lehre  zu 
beziehen  nicht  vermeidet  und  nicht  vermeiden  kann,  durch  welchen 
Widerspruch  seine  Doctrin  der  consequenten  systematischen  Durch- 
fuhrung unfähig  wird  und  sich  selbst  widerlegt.  Das  an  sich  selbst 
Reale  darf  nach  Schopenhauer  nicht  als  transscendentales  Object 
bezeichnet  werden;  denn  kein  Object  ist  ohne  Subject;  alle  Objecte 
sind  nur  Vorstellungen  des  Subjects,  also  Erscheinungen.  Den  Begriff 
des  Willens  nimmt  Schopenhauer  in  einem  weit  über  den  Sprach- 
gebrauch hinausgehenden  Sinne,  indem  er  darunter  nicht  nur  das 
bewusste  Begehren,  sondern  auch  den  unbewussten  Trieb  bis  herab 
zu  den  in  der  unorganischen  Natur  sich  bekundenden  Kräften  versteht 

Zwischen  die  Einheit  des  Willens  überhaupt  und  die  Individuen, 
in  denen  er  erscheint,  stellt  Schopenhauer  (gleich  wie  Schelling 
zwischen  die  Einheit  der  Substanz  und  die  Vielheit  der  Individuen) 
im  Anschluss  an  Piaton  die  Ideen  als  reale  Species  in  die  Mitte. 
Die  Ideen  sind  die  Stufen  der  Objectivirung  des  Willens.  Jeder 
Organismus  zeigt  die  Idee,  deren  Abbild  er  ist,  nur  nach  Abzug  des 
Theiles  der  Kraft,  welcher  zur  Ueberwindung  der  niederen  Ideen  ver- 
braucht wird.  Die  reine  Darstellung  der  Ideen  in  individuellen  Ge- 
stalten ist  die  Kunst.  Erst  auf  den  höchsten  Stufen  der  Objectivirung 
des  Willens  tritt  das  Bewusstsein  hervor.  Alle  Intelligenz  dient 
ursprünglich  dem  Willen  zum  Leben.  In  dem  Genie  befreit  sie  sich 
von  dieser  Dienstbarkeit  und  gewinnt  die  Präponderanz. 

Indem  Schopenhauer  in  der  Negation  des  niederen,  sinnlichen 
Triebes  einen  Fortschritt  erkennt,  diesen  aber,  um  nicht  seinem  Princip, 
welches  die  wahrhafte  Realität  auf  den  Willen  beschränkt,  untreu  zu 
werden,  nicht  positiv  als  die  errungene  Herrschaft  der  Vernunft  zu 
bezeichnen  vermag,  so  bleibt  ihm  nur  eine  negative  Ethik  möglich. 
Er  fordert  zunächst  Mitleid  mit  dem  Leid,  das  sich  an  alle  Objecti- 
virungen  des  Willens  zum  Leben  knüpfe,  da  der  Wille  ja  immer  Be- 
dürfniss  sei,  und  eine  dauernde  Befriedigung  nicht  eintreten  könne. 
Die  höchste  Stufe  der  Sittlichkeit  ist  aber  Ertödtung  —  nicht  des 
Lebens,  sondern  -vielmehr  —  des  Willens  zum  Leben  in  uns  selbst 
durch  Askese.  Die  Welt  ist  nicht  die  beste,  sondern  die  schlechteste 
aller  möglichen  Welten,  und  Schopenhauer  lehrt  so  den  entschiedensten 
Pessimismus.    Das  Mitleid  lindert  das  Leid,  die  Askese  hebt  es  auf 


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§  34.  Schopenhauer. 


H71 


durch  Aufhebung  des  Willens  zum  Leben  inmitten  des  Lebens.  Durch 
die  Negation  der  Sinnlichkeit  ohne  positive  Bestimmung  des  geistigen 
Zieles  berührt  sich  Schopenhauers  Doctrin  mit  der  buddhistischen 
Lehre  von  Nirwana,  dem  glückseligen  Endzustande  der  durch  Askese 
gereinigten  und  in  die  Bewusstlosigkeit  eingegangenen  Heiligen,  und 
mit  denjenigen  Formen  mönchischer  Askese  im  Christenthum,  welche 
die  Neuzeit  durch  Aufhebung  des  ethischen  Dualismus  überwunden  hat. 

Schopenhauers  Schriften  sind:  Ueb.  d.  vierfache  Wurzel  des  Satzes  vom  zureichend. 
Grunde,  Rudolstadt  1813,  2.  Aufl.,  Frankfurt  a.  M.  1847,  3.  Aufl.  hrsg.  von  Jul.  Frauen- 
städt, Lpz.  1864.  Ueb.  das  Sehen  u.  die  Farben,  Lpz.  1816,  2.  Aufl.  1854,  3.  Aufl. 
hrsg.  v.  J.  Frauenstädt,  Lpz.  1869.  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung, 
vier  Bücher,  nebst  einem  Anhange,  der  die  Kritik  der  kantischen  Philosophie  enthält, 
Lpz.  1819,  2.  durch  einen  zweiten  Band  virra.  Aufl.,  ebend.  1844,  3.  Aufl.,  ebend.  1*59. 
Ueber  den  Willen  in  der  Natur,  Frankf.  a.  M.  1836,  2.  Aufl.,  ebend.  1854,  3.  Aufl. 
hrsg.  von  Jul.  Frauenstädt,  Lpz.  1867.  Die  beiden  Gnindprobleme  der  Ethik  (üb.  die 
Freiheit  des  menschl.  Willens,  „gekrönt  v.  d.  königl.  norweg.  Societ.  d.  Wissenschaften 
zu  Drontheim,"  und:  üb.  das  Fundament  der  Moral,  „nicht  gekrönt  v.  d.  königl.  dänisch. 
Societät  d.  Wissensch,  zu  Kopenhagen"),  Frankf.  a.  M.  1841,  2.  Aufl.,  Lpz.  1860. 
Parerga  und  Paralipomena,  2  Bde.,  Berl.  1851,  weitere  Auflagen  hrsg.  von  Jul.  Frauen- 
städt. Aus  Schopenhauers  handschriftl.  Nachlass,  Abhandlgn.,  Anmerkgn.,  Aphorismen 
und  Fragmente,  hrsg.  von  J.  Frauenstädt,  Lpz.  1864.  Dav.  Asher,  Arthur  Sch.,  Neue« 
von  ihm  und  über  ihn,  Berl.  1871.  Briefwechsel  zwisch.  A.  Sch.  u.  Joh.  Aug.  Becker, 
herausgeg.  v.  Joh.  Karl  Becker,  Lpz.  1883.  Sch.s  sämmtl.  Werke  hat  Jul.  Frauenstädt 
in  6  Bdn.,  Lpz.  1873—74,  hrsg.,  2.  Aufl.  1877.  Bd.  I:  Schriften  zur  Erkenntnisslehre. 
Bd.  II  u.  III:  die  Welt  als  Wille  u.  Vorst.  Bd.  IV:  Schriften  zur  Naturphil.  u.  Ethik. 
Bd.  V  u.  VI:  Parerga  u.  Paralipomena.    Kleine  philos.  Schriften. 

Die  Litteratur  s.  bei:  Ferd.  Laban,  die  Schopenhauer-Litteratur,  Lpz.  1880. 

Ueber  Sch.s  Lehre  u.  Leben  handeln:  Job.  Friedr.  Herbart,  Recension  von  Schop.s 
Hauptwerk:  die  Welt  als  Wille  u.  Vorstellung,  in  der  Ztschr.:  Hermes,  1820,  3.  Stück, 
S.  131 — 149,  unterzeichnet  E.  G.  Z.,  wiederabgedr.  in  Herbarts  sämmtl.  Werken, 
Bd.  XII,  S.  369—391.  (Herbart  nennt  unter  den  Umbildnern  der  kantischen  Philosophie 
Reinhold  den  ersten,  Fichte  den  tiefsinnigsten,  Schelling  den  umfassendsten,  Schopen- 
hauer aber  den  klarsten,  gewandtesten  und  geselligsten  (?);  6ein  Werk  sei  höchst  lesens- 
werth,  freilich  nur  zur  Uebung  im  Denken;  alle  Züge  der  irrigen  idealistisch-spino- 
zistischen  Philosophie  seien  in  Schopenhauers  klarem  Spiegel  vereinigt.)  F.  Ed.  Beneke, 
in  der  Jenaisch.  allg.  Litt.-Ztg.  1820,  Decbr.,  No.  226—229.  K.  Rosenkranz,  in  seiner 
Gesch.  der  kant.  Philos.,  Lpz.  1840,  S.  475 — 81  und  in  der  von  Karl  Gödeke  hrsg. 
Dtsch.  Wochenschrift,  1854,  Hft.  22.  I.  Herrn.  Fichte,  Ethik  I,  Lpz.  1850,  S.  394—415. 
Karl  Fortlege,  genet.  Gesch.  der  Philos.  seit  Kant,  S.  407 — 423.  Erdmann,  Gesch.  der 
neuern  Philos.,  III.  2,  S.  381 — 471,  und:  Schopenhauer  und  Herbart,  eine  Antithese,  in 
Fichtes  Ztschr.  f.  Philos.  N.  F.,  XXI,  Halle  1852,  S.  209—226.  Michelet,  A.  Sch., 
Vortrag,  geh.  1854,  abgedr.  in  Fichtes  Ztschr.  f.  Ph.,  N.  F.,  Bd.  XXVn,  1855 
S.  34-59  u.  227—249.  Frauenstädt,  Briefe  üb.  d.  sch.sche  Philos.,  Lpz.  1854,  Licht- 
strahlen aus  Sch.s  Werken,  Lpz.  1862,  5.  Aufl.  ebend.  1885,  und:  Memorabilien,  Briefe 
und  Nachlassstücke,  in:  Arthur  Schop.,  von  ihm,  über  ihn,  von  Frauenstädt  und  E.  O. 
Lindner,  Berlin  1863.  Jul.  Frauenstädt,  üb.  Sch.s  Pessimismus  im  Vergleich  m.  d.  leib- 
nizischen  Optimismus,  üb.  Sch.s  Geschichtsphil,  etc.,  im  Dtsch.  Mus.  1866,  No.  48  u.  49, 
1867,  No.  22  u.  23  etc.  Ders.,  Sch.-Lexicon,  2  Bde.,  Lpz.  1871,  und  Neue  Briefe  über 
d.  sch.sche  Philos.,  Lpz.  1876.  Ad.  Cornill,  Arth.  Sch.  als  eine  Uebergangsformation  von 
einer  ideal,  in  eine  realist.  Weltanschauung,  Heidelb.  1856.  C.  G.  Bähr,  die  sch.sche 
Philos.,  Dresd.  1857.  Rud.  Seydcl,  Sch.s  Syst.  dargest.  u.  beurth.,  Lpz.  1857.  Ldw. 
Noack,  Arthur  Sch.  u.  8.  Weltansicht,  in:  Psyche  II,  1.  1859;  die  Meister  Weiberfeind 
(Schopenhauer)  u.  Frauenlob  (Daumer),  ebd.  III,  3  u.  4,  1860;  von  Sansara  nach 
Nirwana,  in:  Deutsche  Jahrb.  Bd.  V,  1862  (wo  gegen  Schopenhauers  extreme  Selbst- 
überschätzung die  Waffe  des  feinen  Spottes  gekehrt  wird).  Trendelenburg,  in  der 
2.  Aufl.  der  log.  Untersuchungen,  Lpz.  1862,  Cap.  X.  R.  Hay  in,  Arth.  Sch.,  in:  Preuss. 
Jahrb.  Bd.  XIV,  auch  bes.  abgedr.  Berl.  1864. 

Wilh.  Gwinner,  Sch.  aus  persönl.  Umgang  dargestellt,  Lpz.  1862;  Sch.s  Leben, 
2.  umgearbeitete  u.  vielfach  vermehrte  Aufl.  der  ersteren  Schrift,  Lpz.  1878;  Sch.  u.  s. 

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372 


§  34.  Schopenhauer. 


Freunde,  Lpz.  1863.  A.  Foucher  d«  Careil,  Hegel  et  Sch.,  Pari«  1862.  A.  de  Balche, 
Kenan  et  Arth.  Schop.,  Odessa  (Leipz.)  1870.  Alfr.  v.  Wurzbach,  Arth.  Sch.  in:  .Zeit- 
genossen", 6.  Heft,  Wien  1871.  Ferner  David  Asher  und  E.  O.  Lindner,  Nagel,  Suhle, 
Ed.  Löwenthal,  Spiegel,  Rob.  Springer,  Wirth,  W.  Scheffer,  Herrn.  Frommann,  Carl 
v.  Scidlitz,  JÜrg.  B.  Meyer,  F.  Harms  u.  A.  in  verschiedenen  Abhandlungen.  H.  L. 
Korten,  quomodo  Sch.  ethicam  fundamento  metaphysico  constituere  conatus  sit,  diss. 
Hai.  1864.  Steph.  Fawlicki,  de  Sch.  doctrina  et  philosophandi  ratione,  diss.  Vratislav. 
1865.  Alois  Scherzel,  der  Char.  der  Hauptlehren  Sch.s,  Pr.,  Czernowitz  1866.  Victor 
Kiv,  der  Pessimism.  u.  d.  Eth.  Sch.s,  Berl.  1866.  Chr.  A.  Thilo,  üb.  Sch.s  Atheismus, 
in:  Zeitachr.  f.  cxacte  Philo«.,  Bd.  VII,  Heft  4,  Lpz.  1867,  S.  321—356  und  VIII,  1, 
ebd.  1867,  S.  1 — 35  (auch  bes.  abg.,  Lpz.  1868).  E.  v.  Hartmann,  üb.  eine  nothw.  Um- 
bildung der  scb.schen  Philoe.  aus  ihrem  Grundprincip  heraus,  in:  Philos.  Monatahft.  II, 
S.  457—469.  Auf  die  Einwürfe  von  Seydel,  Haym,  Trendelenburg,  Thilo,  Suhle,  Kiy 
und  Liebmann  antwortet  Jul.  Frauenstadt  in  der  von  Rud.  Gottschall  hrsg.  Zeitschrift 
.Unsere  Zeit*,  18C9,  Hft.  21  u.  22.  Vgl.  auch  die  oben  (§  30)  angef.  Abh.  von  Hart- 
mann, Sendlings  posit.  Phil,  als  Einh.  von  Hegel  u.  Sch.,  Berl.  1869.  E.  F.  Wyneken, 
das  Naturgesetz  der  Sode,  od.  Herbart  u.  Sch.,  eine  Synthese,  Hannover  1869.  L. 
Chevalier,  die  Philos.  Arth.  Sch.s  in  ihren  Uebereinstimmungs-  u.  Differenzpunkten  mit 
der  kantisch.  Philos.,  Progr.,  Prag  1870.  Carl  Magnus  Uno  Eggertz,  Grunddrogen  in 
Sch.s  filosofi,  akad.  afhdl.,  Lund  1871.  Geo.  Jcllinek,  d.  Weltanschauungen  Leibniz' 
u.  Sch.s,  ihre  Gründe  u.  ihre  Berechtigungen;  e.  Studie  üb.  Optimisin.  u.  Pessimism., 
Inaug.-Diss.,  Wien  1872.  Günther  üb.  Sch.s  Kritik  der  kant.  Phil.,  in:  Jahrb.  d.  Vereins 
für  wissensch.  Pädag.,  4.  Jahrg.  1872,  S.  116—150.  M.  Venetiauer,  Sch.  als  Scho. 
lastiker,  Berl.  1873.  Karl  Gaquoin,  z.  Bcurthlg.  d.  sch.schen  Lehre  v.  d.  Willensfreiheit, 
G.-Progr.,  Giessen  1873.  W.  Plöttner,  A.  Sch.,  kurze  Darstellg.  seines  Lebens  unt. 
Bcrücks.  seiner  Werke,  Schul-Pr.,  Langensalza  1873.  Th.  Ribot,  la  philos.  de  Sch., 
Par.  1874,  2.  ed.,  Par.  1885.  Friedr.  Nietzsche,  unzeitgemässe  Betrachtungen,  3.  Stück: 
Sch.  als  Erzieher,  Schloss  Chemnitz,  1874.  Ch.  Leveque,  la  philos.  de  Sch.,  Journal 
des  Savants,  Decembre  1874.  H.  Klee,  Grundzüge  der  Aesihetik  nach  Sch.,  Berl.  1875. 
Th.  Ribot,  Philos.  de  Sch.,  Paris  1875.  Helen  Zimmern,  A.  Sch.,  bis  life  and  bis 
philosophy,  Lond.  1876.  E.  du  Mont,  der  Fortschritt  im  Lichte  der  Lehre  Sch.s  und 
Darwins,  Lpz.  1876.  O.  Busch,  A.  Sch.,  Beitrag  zu  einer  Dogmatik  des  Religions- 
losen, Heidelb.  1877,  2.  Aufl.  1878.  Ragnisco,  il  mondo  come  volere  e  come  rappresen- 
tazione  di  Sch.,  studj,  Palermo  1877.  E.  Hermann,  Woher  und  Wohin?  Sch.s  Antwort 
auf  die  letzten  Lebensfragen  zusammengefasst  u.  ergänzt,  Bonn  1877.  F.  v.  Hausegger, 
R.  Wagner  u.  Sch.,  Lpz.  1878.  G.  Barzellotti,  il  Pessimismo  dello  Sch.,  Firenze  1878. 
A.  Paoli,  lo  Sch.  e  il  Rosmini,  libro  I,  Roma  1878.  Rud.  Penzig,  A.  Sch.  und  die 
mcnschl.  Willensfreiheit,  I.-D.,  Halle  1879.  Fürst  Dmitry  Tzerteleff.  Sch.s  Erkenntniss- 
theorie, I.-D..  Lpz.  1879.  Job.  Mich.  Tschofen,  die  Philos.  A.  Sch.s  in  ihrer  Relation 
zur  Ethik,  Münch.  1879.  J.  Hutcheson  Stirling,  Sch.  in  relation  to  Kant,  in:  the  journ. 
of  specul.  phil.,  1879,  Bd.  13.  E.  Last,  Mehr  Licht!  die  Hauptsätze  Kants  u.  Sehopenh.s 
in  allgem.  verständlicher  Darlegung,  Berl.  1879,  4.  Aufl.  1880.  Carl  Peters,  A.  Sch. 
als  Philosoph  u.  Schriftsteller,  Berl.  1880.  Hasbach,  die  Beziehungen  der  Aesthetik 
Sch.s  zur  platonisch.  Aesthetik,  in:  Zeitschr.  f.  Phil.  u.  ph.  Kr.,  1880,  Bd.  77,  S.  68 
bis  101,  242—271.  A.  Siebenlist,  Sch.s  Philos.  der  Tragödie,  Pressburg  1880.  R. 
Köber,  Sch.s  Erlösung*!.,  Berl.  1881.  Fdr.  Paulsen,  A.  Sch.,  d.  Zusammen!),  snr.  Philos. 
mit  snr.  Persönliche,  in:  Deutsche  Rundschau,  1882,  H.  10.  Rud.  Willy,  Schopcnh. 
in  sein.  Verb.  z.  J.  G.  Fichte  u.  Schölling,  I.-D.,  Zürich  1883.  G.  Barzellotti,  l'idealismo 
di  A.  Schopenhauer  e  la  sua  dottriua  della  pereezione,  in:  la  fi los.  dclle  sc.  ital-, 
vol.  26,  f.  2,  1883.  L.  Ducros,  Sch.,  les  origincs  de  sa  metaphysique  ou  les  trunsformatious 
de  la  chose  en  soi  de  Kant  a  Seh.,  Par.  1884.  Dav.  Xsher,  das  Endergebnis»  der 
schopenhauersch.  Ph.  in  seiner  Uebereinstimm.  mit  einer  der  älteat.  Religionen  (der 
jüdischen),  Lpz.  1885.  Joh.  Witte,  Arth.  Sch.,  zur  Charakteristik  seiner  Persönlichkeit 
u.  s.  Lebens  in  ihrem  Einflüsse  auf  s.  Pessimism.,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  n.  ph.  Kr.,  84, 
1884,  S.  214 — 248.  Hrm.  Bremiker,  zur  Vergleich,  der  schopenh.  mit  d.  kantisch. 
Erkenntnisstheorie,  I.-D.,  Halle  1884.  A.  Harpf,  Seh.  u.  Goethe,  e.  Beitr.  zur  Ent- 
wickelungsgesch.  der  schop.schen  Ph.,  in:  Ph.  Monatsh.  1885,  S.  456—478. 

Arthur  Schopenhauer  wurde  am  22.  Februar  1788  in  Danzig  geboren.  Sein 
Vater  war  Banquier.  Seine  Mutter  ist  die  als  Schriftstellerin  bekannte  Johanna 
Schopenhauer  (Verfasserin  von  Reisebeschreibungen  nnd  Romanen).  Nachdem  er 
in  seiner  Jugend  Reisen  durch  Frankreich  und  England  mitgemacht  hatte,  bezog 


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§  34.  Schopenhauer. 


373 


er  1809  die  Universität  Göttingen,  wo  er  neben  Naturwissenschaft  und  Geschichte 
besonders  Philosophie  unter  der  Leitung  des  Skeptikers  Gottlob  Ernst  Schulze 
studirte,  nach  dessen  Rath  er  vor  allen  andern  Philosophen  Piaton  und  Kant  las; 
1811  hörte  er  in  Berlin  Fichte,  dessen  Doctrin  jedoch  ihn  unbefriedigt  Hess.  Er 
promovirte  1813  in  Jena  durch  die  Abhandlung:  über  die  vierfache  Wurael  des 
Satzes  vom  zureichenden  Grunde,  brachte  den  nächstfolgenden  Winter  in  Weimar 
im  Umgange  mit  Goethe  zu,  dessen  Farbenlehre  er  annahm,  und  machte  auch  Studien 
über  das  indische  Alterthum,  lebte  dann  1814 — 18  in  Dresden,  mit  der  Ausarbeitung 
seiner  optischen  Abhandlung  und  besonders  seines  Hauptwerks :  die  Welt  als  Wille 
und  Vorstellung,  beschäftigt.  Sobald  das  Manuscript  desselben  vollendet  war,  unter- 
nahm er  eine  Reise  nach  Rom  und  Neapel,  habilitirte  sich  dann  1820  in  Berlin, 
wo  er  bis  1831  der  Universität  als  Privatdocent  angehörte,  ohne  jedoch  mit  Eifer 
und  Erfolg  zu  lehren;  1822 — 25  war  er  wiederum  in  Italien;  1831  verscheuchte  ihn 
von  Berlin  die  Cholera  um  so  leichter,  da  ihm  bei  seinen  Misserfolgen  die  akade- 
mische Lehrthätigkeit  längst  nicht  mehr  werth  war.  Er  hat  seitdem  in  Frankfurt 
am  Main  privat  isirt,  wo  er  um  21.  September  1860  gestorben  ist.  Seine  späteren 
Schriften  enthalten  Beiträge  zur  Ausbildung  seines  Systems,  viel  mehr  aber  noch 
pikante  Aeusserungen  gegen  die  herrschenden  theologischen  Anschauungen  und 
gegen  die  philosophischen  Rechtfertigungsversuche  derselben,  zu  deren  Behuf,  wie 
Sch.  (zunächst  wohl  im  Hinblick  auf  die  Erfolge  seines  glücklicheren  Antagonisten 
Hegel  und  auf  Sendlings  Berufung  nach  Berlin  seinem  persönlichen  Unwillen  Luft 
machend)  in  unablässiger  Wiederholung  insinuirt,  die  .Philosophie-Professoren*'  von 
der  Regierung  besoldet  werden.  Diese  in  immer  neuen  Wendungen  nicht  ohne  Auf- 
wand von  Geist  und  Witz  vorgebrachten  Insinuationen,  die  dem  Zweifel  Nahrung 
gaben,  ob  das,  was  öffentlich  gelehrt  zu  werden  pflege,  sich  durch  die  Ueberzeugung 
von  seiner  Wahrheit  behaupte  oder  durch  die  Organisation,  die  Amt  und  Brot  nur 
dem  Zustimmenden  gewährt  und  so  den  «Willen  zum  Leben"  beherrscht,  haben  den 
schopenhauerschen  Schriften  den  Weg  ins  Publicum  gebahnt,  den  das  System,  das 
ursprünglich  nur  von  einzelnen  Fachgenossen  beachtet  worden  war,  durch  sich  selbst 
nicht  zu  finden  vermocht  hatte.  Von  der  Zeit  an  aber,  da  ein  weiterer  Kreis  sich 
für  das  Exoterische  interessirte,  hat  es,  wie  es  zu  geschehen  pflegt,  auch  nicht  an 
Denkern  gefehlt,  die,  theils  beistimmend,  theils  polemisirend,  auf  das  System  als 
solches  tiefer  eingingen.  Eine  Zeit  lang  war,  in  und  nach  Sch.s  letzten  Lebens- 
jahren, der  Schopenhauerianismus  in  einzelnen  Kreisen  Modesache;  um  sich  aber 
dauernd  zu  behaupten,  fehlt  dieser  Doctrin  die  wesentlichste  Bedingung,  nämlich 
die  Möglichkeit  einer  allseitigen  und  in  sich  selbst  wirklich  harmonischen  systema- 
tischen Durchführung.  Geistreiche  Aphorismen,  lose  mit  einander  zu  einem  an- 
scheinenden Ganzen  verknüpft,  in  der  That  aber  durch  kaum  verdeckte  Widersprüche 
einander  aufhebend,  vermögen  nur  eine  rasch  vorübergehende  Wirkung  zu  erzielen. 
Nur  als  Momente  eines  befriedigenderen  Systems  können  die  in  Sch.s  Doctrin  un- 
leugbar enthaltenen  Wahrheiten  sich  dauernd  behaupten. 

In  der  Promotionsschrift:  „über  die  vierfache  Wurzel  des  Satzes  vom 
zureichenden  Grunde*  unterscheidet  Sch.  das  prineipium  easendi,  fiendi,  agendi 
und  cognoscendi  (welche  Ordnung  er  als  die  systematische  bezeichnet)  oder  (nach 
didaktischer  Ordnung)  fiendi,  cognoscendi,  essendi  und  agendi.  Der  Satz  vom  zu- 
reichenden Grunde  drückt,  allgemein  genommen,  die  zwischen  allen  unseren 
Vorstellungen  bestehende  gesetzmässige  und  der  Form  nach  a  priori  bestimmbare 
Verbindung  aus,  vermöge  welcher  nichts  für  sich  Bestehendes  und  Unabhängiges, 
auch  nichts  Einzelnes  und  Abgerissenes,  Object  für  uns  werden  kann.  Diese  Ver- 
bindung ist  nach  der  Verschiedenheit  der  Art  der  Objecte  auch  selbst  eine  ver- 
schiedenartige.  Alles  nämlich,  was  für  uns  Object  werden  kann,  also  alle  uusere 


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374 


§  34.  Schopenhauer. 


Vorstellungen,  zerfallen  in  vier  C lassen,  und  demgemäss  nimmt  auch  der  Satz 
vom  Grunde  eine  vierfache  Gestalt  an.  Die  erste  Classe  der  möglichen 
Gegenstände  unsereH  Vorstellungsvermögens  ist  die  der  anschaulichen,  vollständigen, 
empirischen  Vorstellungen.  Die  Form  dieser  Vorstellungen  sind  die  des  innern  und 
äussern  Sinnes,  Zeit  und  Raum.  In  dieser  Classe  der  Objecte  tritt  der  Satz  vom 
zureichenden  Grunde  auf  als  Gesetz  der  Causalität;  Sch.  nennt  ihn  als  solches 
den  Satz  vom  zureichenden  Grunde  des  Werden*,  priueipium  rationis  suffi- 
cientis  fiendi.  Wenn  ein  neuer  Zustand  eines  oder  mehrerer  Objecte  eintritt,  bo 
muss  ihm  ein  anderer  vorhergegangen  sein,  auf  welchen  der  neue  regelmässig,  d.  h. 
allemal,  so  oft  der  erste  da  ist,  folgt;  ein  solches  Folgen  heisst  ein  Erfolgen,  und 
der  erstere  Zustand  die  Ursache,  der  zweite  die  Wirkung.  Als  Corollarien  ergeben 
sich  aus  dem  Gesetze  der  Causalität  das  Gesetz  der  Trägheit,  weil  ohne  äussere 
Einwirkung  der  frühere  Zustand  beharren  muss,  und  das  der  Beharrlichkeit  der 
Substanz,  weil  das  Causalgesetz  nur  auf  Zustände,  nicht  auf  die  Substanz  selbst 
geht.  Die  Formen  der  Causalität  sind:  Ursache  im  engsten  Sinne,  Reiz  und  Motiv; 
nach  Ursachen  im  engsten  Sinne,  wobei  Wirkung  und  Gegenwirkung  einander  gleich 
sind,  erfolgen  die  Veränderungen  im  unorganischen  Reiche,  nach  Rcizeu  die  Ver- 
änderungen im  organischen  Leben,  nach  Motiven,  deren  Medium  die  Erkenutuiss 
ist,  erfolgt  das  Thun,  d.  h.  die  äusseren,  mit  Bewusstsein  geschehenden  Actionen 
aller  animalischen  Wesen.  Der  Unterschied  zwischen  Ursache,  Reiz  und  Motiv  ist 
die  Folge  des  Grades  der  Empfänglichkeit  der  Wesen.*)  Die  zweite  Classe  der 
Objecte  für  das  Subject  wird  gebildet  durch  die  Begriffe  oder  die  abBtracteu  Vor- 
stellungen. Auf  die  Begriffe  und  die  aus  ihnen  gebildeten  Urtheile  geht  der  Satz 
vom  zureichenden  Grunde  des  Erkennens,  prineipium  rationis  sufficientis 
cognoscendi,  welcher  besagt,  dass,  wenn  ein  Urtheil  eine  Erkenutuiss  ausdrücken 
soll,  es  einen  zureichendeu  Grund  haben  muss;  wegeu  dieser  Eigenschaft  erhält  es 
sodann  das  Prädicat  wahr.  Die  Wahrheit  ist**)  entweder  eine  logische,  d.  h. 
formale  Richtigkeit  der  Verknüpfung  von  Urtheilen,  oder  eine  materiale,  auf  sinn- 
liche Anschauung  gegründet,  welche,  sofern  das  Urtheil  sich  unmittelbar  auf  die 
Erfahrung  gründet,  empirische  Wahrheit  ist,  oder  eine  transscendentale ,  die  sich 
auf  die  im  Verstände  und  in  der  reinen  Sinnlichkeit  liegenden  Formen  der  Erkenntnis« 
gründet,  oder  eine  metalogische,  worunter  Sch.  diejenige  Wahrheit  versteht,  welche 
auf  die  in  der  Vernunft  gelegenen  formalen  Bedingungen  alles  Denkens  gegründet 
sei,  nämlich  die  Wahrheit  des  Satzes  der  Identität,  des  Widerspruchs,  des  aus- 
geschlossenen Dritten  und  des  Satzes  vom  zureichenden  Grunde  des  Unheils  selbst. 
Die  dritte  Classe  der  Gegenstände  für  das  Vorstellungsvermögen  bildet  der  formale 
Theil  der  vollständigen  Vorstellungen,  nämlich  die  a  priori  gegebenen  Anschauungen 
der  Formen  des  äusseren  und  inneren  Sinnes,  des  Raumes  und  der  Zeit.  Als 
reine  Anschauungen  sind  sie  für  Bich  und  abgesondert  von  den  vollständigen 
Vorstellungen  Gegenstände  des  Vorstellungsvermögens.  Raum  uud  Zeit  haben  die 
Beschaffenheit,  dass  alle  ihre  Theile  in  einem  Verhältnis»  zu  einander  stehen,  in 
Hinsicht  auf  welches  jeder  derselben  durch  einen  anderen  bestimmt  und  bedingt  ist. 
Im  Raum  heisst  dieses  Verhältnis«  Lage,  in  der  Zeit  Folge.  Das  Gesetz,  nach 
welchem  die  Theile  des  Raumes  und  der  Zeit  in  Absicht  auf  jene  Verhältnisse 
einander  bestimmen,  nennt  Sch.  den  Satz  vom  zureicheuden  Grunde  des 


*)  Ueber  den  Antheil  des  dos  Causalgesetz  durchführenden  Verstandes  an  der 
Gestaltung  des  Wahrnehmuugsinhaltes  sagt  bei  diesem  Anlaas  Schopenhauer  manches 
Beachtenswerthe,  laborirt  dabei  jedoch  durchgängig  an  dem  Irrthum,  als  ob  es  sich 
nm  ein  freies  Schaffen  der  Ordnung  im  Bewusstsein  und  nicht  vielmehr  um  deukende 
Reproduction  der  an  sich  wirkenden  Ordnung  handle. 

**)  Nach  Schopenhauers  zum  Theil  sehr  willkürlicher  Eintheiluug. 


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§  34.  Schopenhauer. 


375 


Seins,  principium  rationis  sufficientis  essendi  In  der  Zeit  ist  jeder  Augenblick 
bedingt  durch  den  vorigen;  auf  diesem  Nexus  der  Theile  der  Zeit  beruht  alles 
Zähleu;  jede  Zahl  setzt  die  vorhergehenden  als  Gründe  ihres  Seins  voraus.  Ebenso 
beruht  uuf  dein  Nexus  der  Lage  der  Theile  des  Raumes  die  ganze  Geometrie;  es 
ist  eine  wissenschaftliche  Aufgabe,  solche  Beweise  zu  finden,  welche  nicht  bloss 
irgendwie  als  .Mausefallenbeweise*  die  Wahrheit  des  Satzes  dartbun,  sondern  die- 
selbe aus  dem  Seinsgrunde  ableiten.*)  Die  letzte  Classe  der  Gegenstände  des 
Voretellungsvermögeus  wird  gebildet  durch  das  unmittelbare  Objeet  des  inneren 
Sinnes,  das  Subject  des  Wollens,  welches  für  das  erkennende  Subject  Objeet  ist 
und  zwar  nur  dem  inneren  Sinn  gegeben,  daher  es  allein  in  der  Zeit,  nicht  im 
Kaum  erscheint.**)  In  Bezug  auf  das  Wollen  tritt  der  Satz  vom  Grunde  auf  uls 
Satz  vom  zureichenden  Grunde  des  Handelns,  prineipium  rationis  suffi- 
cientis  agendi,  oder  als  das  Gesetz  der  Motivation.  Sofern  das  Motiv  eine 
äussere  Bedingung  des  Handelns  ist,  gehört  es  zu  den  Ursachen  und  ist  oben  in 
Bezug  auf  die  erste  Classe  von  Objecten  betrachtet  worden,  welche  durch  die  in 
der  äusseren  Anschauung  gegebene  Körperwelt  gebildet  wird.  Die  Einwirkung 
des  Motivs  wird  aber  von  uns  nicht  bloss,  wie  die  aller  andern  Ursachen,  von 
aussen  und  daher  mittelbar,  sondern  zugleich  von  innen,  ganz  unmittelbar  und  daher 
ihrer  ganzen  Wirkungsart  nach  erkannt;  hier  erfahren  wir  das  Geheimniss,  wie 
dem  innersten  Wesen  nach  die  Ursache  die  Wirkung  herbeiführt;  die  Motivation 
ist  die  Causalität,  von  innen  gesehen.***) 


*)  D.  h.  solche  Beweise,  die  man  sonst  genetische  zu  nennen  pflegt,  denn 
in  der  That  fehlt  nicht,  wie  Seh.  annimmt,  bei  der  mathematischen  Nothweudigkeit 
die  genetische  und  causale  Beziehung.  Werden  die  Zahlen  als  entstehend  aus  der 
Zusummcnfügung  und  Trennung  von  Einheiten,  die  geometrischen  Figuren  als  ent- 
stehend durch  Bewegung  von  Funkten,  Linien  etc.  gedacht,  so  tritt  ihre  Genesis 
und  die  in  der  Natur  der  gleichartigen  Vielheit  und  des  räumlichen  Aussereinander- 
seins  objectiv  begründete  Causalität  ins  Bewusstsein.  Die  Forderung,  dasa  die 
mathematischen  Beweise  nach  Möglichkeit  genetisch  seien,  ist  schon  von  Vielen 
gestellt  worden  (s.  Ueberwegs  System  der  Logik  §  135),  von  Cartesianern,  von 
Herbart,  von  Trendelenburg;  vgl.  auch  die  Ausführungen  von  F.  C.  Fresenius, 
die  psyeholog.  Grundlagen  der  Raumwissenschaft,  Wiesbaden  1868  (wo  freilich  die 
Auflassung  der  räumlichen  Gebilde  als  bloss  psychologischer  Thatsachen  sehr 
bestreitbar  ist). 

**)  Dass  das  Objeet  des  inneren  Sinnes  oder  des  Selbstbewusstseins  aus- 
schliesslich der  Wille  sei,  ist  ein  fundamentaler  Irrthum  Schopenhauers,  wovon  Kant 
frei  war;  das  Empfinden  und  Fühlen,  Vorstellen,  Denken  ist  ebensowohl  wie  das 
Begehren  und  Wollen  unmittelbares  Objeet  unserer  Selbstauflassung.  Das  Wollun 
im  eigentlichen  Sinne  ist  ein  mit  Erkenntniss  verknüpftes  Begehren  und  würde  daher 
nicht  erkannt  werden  könuen,  wenn  wirklich  nicht  das  Erkennen  erkannt  werden 
könnte. 

***)  In  der  That  aber  gehören  überall,  auch  bei  mechanischen  und  organischen 
Processen,  der  innere  Grund  und  die  äusseren  Bedingungen  zusammen  und  bilden 
in  ihrer  Vereinigung  die  Gesammtursache,  welche  demgemäss  niemals  einfach  sein 
kann ;  beide  Seiten  waren  in  einem  Gesetz  der  Causalität  zusammenzufassen.  Eben 
dieses  Gesetz  findet  dann,  wie  oben  erwähnt  worden  ist,  auch  auf  die  Objecto  der 
mathematischen  Betrachtung  Anwendung.  Der  Causalität  steht  der  Erkeuntnissgrund 
gegenüber,  aber  nicht  als  bezüglich  auf  eine  eigentümliche  Classe  von  Objecten, 
sondern  nur  als  die  subjective  Einsicht  in  eineu  objectiv-realen  Nexus,  indem  wir 
entweder  aus  den  Ursachen  auf  die  Wirkung  oder  umgekehrt  von  diesen  auf  jene 
oder  auch  von  einer  Wirkung  auf  eine  zugehörige  Wirkung  der  nämlichen  Ursache 
schliessen.  In  diesem  Sinne  sind  Schopenhauers  vier  Gestalten  des  Satzes  vom 
zureichenden  Grunde  auf  die  zwei  zu  reduciren,  die  schon  Kant  und  Frühere  unter- 
schieden haben,  nämlich  auf  den  Sutz  der  Ursache,  der  sich  formuliren  lässt: 
jede  Veränderung  hat  eine  Ursache,  die  aus  dem  inneren  Grunde  und  der  äusseren 
Bedingung  besteht,  und  auf  denSatz  des  Erkenntuissgrundes,  der,  wieUeberweg 


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376 


§  34.  Schopenhauer. 


Schopenhauers  Hauptwerk:  die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  zerfällt 
in  vier  Betrachtungen,  deren  erste  und  dritte  die  Welt  als  Vorstellung,  zweite  und 
vierte  die  Welt  als  Willen  betreffen.  Die  erste  Betrachtung  (Buch  I)  geht  auf 
die  Vorstellung  als  unterworfen  dem  Satze  des  Grundes  und  demgemäss  als  Object 
der  Erfahrung  und  Wissenschaft,  die  dritte  (Buch  III)  auf  die  Vorstellung  als 
unabhängig  vom  Satze  des  Grundes  oder  als  platonische  Idee  und  demgemäss  als 
Object  der  Kunst.  Die  zweite  Betrachtung  (Buch  II)  geht  auf  die  Objectivation 
des  Willens,  die  vierte  (Buch  IV)  auf  die  bei  erreichter  Selbsterkenntnis«  statt- 
habende Bejahung  und  Verneinung  des  Willens  zum  Leben.  Angehängt  ist  eine 
Kritik  der  kantischeu  Philosophie. 

Das  erste  Buch  beginnt  mit  dem  Satze:  die  Welt  ist  raeine  Vorstellung. 
Dieser  Satz,  sagt  Sch.,  gilt  für  jedes  lebende  und  erkennende  Wesen,  wiewohl  der 
Mensch  allein  ihn  in  das  reflectirte  abstracte  Bewusstsein  bringen  kann ;  er  gewinnt 
dieses  Bewusstsein  durch  die  philosophische  Betrachtung.  Das  Zerfallen  in  Object 
und  Subject  ist  diejenige  Form,  unter  welcher  allein  irgend  eine  Vorstellung, 
welcher  Art  sie  auch  sei,  abstract  oder  intuitiv,  rein  oder  empirisch,  nur  überhaupt 
möglich  und  denkbar  ist.  Alles,  was  für  die  Erkenntniss  da  ist,  also  die  ganze 
Welt,  ist  nur  Object  in  Beziehung  auf  das  Subject,  Anschauung  des  Anschauenden, 
als  Vorstellung.  Alles,  was  irgend  zur  Welt  gehört  und  gehören  kann,  ist  unaus- 
weichbar  mit  diesem  Bedingtseil)  durch  das  Subject  behaftet  und  ist  nur  für 
das  Subject  da.*)  Die  wesentlichen  und  daher  allgemeinen  Formen  alles  Objects 
können,  wie  Sch.  mit  Kant  annimmt,  auch  ohne  die  Erkenntniss  des  Objects  selbst, 
vom  Subject  ausgehend,  gefunden  und  vollständig  erkannt  werden,  d.  h.  sie 
liegen  a  priori  in  unserm  Bewusstsein.    Sch.  behauptet  aber  überdies,  dass  der  Satz 


in  seinem  System  der  Logik.  5.  Aufl.,  §81,  vgl.  §  101,  nachzuweisen  sucht,  besagt, 
dass  die  logische  Verkettung  der  Urtheile  untereinander  im  Schliesseu  dem  ob- 
jectiv-realen  Causalnexus  entsprechen  muss. 

*)  Sch.  glaubt  durch  den  blossen  Satz:  .kein  Object  ohne  Subject*  (ähnlich 
wie  Fichte  durch  den  Satz:  kein  Nicht-Ich  ohne  Ich),  die  Subjectivität  aller  unserer 
Erkenntniss  reiner  erfasst  und  klarer  erwiesen  zu  haben,  als  Kant,  der  zu  seiner 
subjectivistisehen  Erkenntnisslehre  durch  eine  ins  Einzelne  eingehende  Betrachtung 
der  Art  und  Weise  gelangte,  wie  durch  das  menschliche  Subject  die  Erkenntniss 
bedingt  sei;  für  Kant  sei  daher  auch  noch  ein  „transscendentales  Object"  oder 
rDing  an  sich*  übrig  geblieben,  welches  Sch.  negirt.  Aber  wenn  schon  selbst- 
verständlich alle  Vorstellungen  im  Subject  sind,  so  kommt  doch  die  Frage,  ob 
und  inwieweit  sie  mit  demjenigen,  was  nicht  eben  dieses  Subject  ist  und  nicht 
bloss  in  ihm,  sondern  an  sich  selbst  existirt,  in  Ueberein Stimmung  stehen. 
Diese  Frage  bleibt  bei  Sch.s  einfacher  Bemerkung:  »kein  Object  ohne  Subject", 
unerledigt,  oder  es  wird  vielmehr  die  Nichtübereinstimmung,  die  er,  abgesehen  von 
dem  .Willen",  durchgängig  annimmt,  von  ihm  nur  vorausgesetzt,  wogegen  Kants 
eingehende  Betrachtung  der  .Bestandstücke"  unserer  Erkenntniss,  obschon  sie  ihr 
Ziel  nicht  erreicht,  doch  einen  Weg  zu  demselben  gebahnt  hat.  Das  Ding  wird  erst 
für  das  Subject  zum  Object  (oder  zum  Nicht-Ich);  es  kann  nicht  ohne  das  Subject 
ein  r Object*  (oder  Nicht-Ich)  sein,  wohl  aber  ohne  das  Subject  ein  Ding.  Dasselbe 
kann  selbstverständlich  nicht  ohne  das  Subject  erkannt  werden;  aber  das  Subject 
kann  dasselbe  entweder  so  auffassen,  dass  es  ihm  die  bloss  subjectiven  Elemente 
als  wären  sie  objectiv,  mit  zuschreibt,  oder  so,  dnss  es  abstractiv  vermittelst  einer 
Reflexion  auf  den  Erkenntnissprocess  selbst  das  bloss  Subjective  ausscheidet  und 
nur  solche  Elemente  festhält,  von  welchen  sich  —  zwar  nicht  unmittelbar  durch 
Vergleichuug  mit  dem  Ding  an  sich,  was  ein  Ungedanke  wäre,  wohl  aber  mittelbar 
durch  wissenschaftliche  Betrachtungen  —  darthun  lässt,  dass  sie  auch  objectiv 
gültig,  d.  h.  Eigenschaften  der  Dinge  selbst  ähnlich  Beien.  Die  letztere  Erkeuntniss, 
welche  nicht  ohne  das  Subject,  aber  ohne  Verwechselung  des  Subjectiven  mit 
Objectiveu  ist,  ist  Erkenntniss  von  Dingen  an  sich.  Kant  hat  sich  nicht  durch 
den  Paralogisraus  irre  führen  lassen,  welcher  Sch.  geblendet  hat. 


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§  34.  Schopenhauer. 


377 


vom  Grande  der  gemeinschaftliche  Ausdruck  für  alle  uns  a  priori  bewussten  Formen 
des  Objectes  sei.  Er  lehrt,  dass  das  Dasein  aller  Objecte,  sofern  sie  Objecte,  Vor- 
stellungen und  nichts  Anderes  seien,  ganz  und  gar  in  ihrer  nothwendigen  Beziehung 
eu  einander  bestehe,  welche  der  Satz  vom  Grunde  ausdrücke.  Für  jede  Wissen- 
schaft ist  der  Satz  vom  Grunde  das  Organon,  ihr  besonderes  Object  aber  das 
Problem.  Der  Materialismus  überspringt  das  Subject  und  die  Formen  des  Erkennens, 
welche  doch  bei  der  rohesten  Materie,  von  der  er  anfangen  möchte,  schon  eben  so 
sehr,  als  beim  Organismus,  zu  dem  er  gelangen  will,  vorausgesetzt  sind.  „Kein 
Object  ohne  Subject"  ist  der  Satz,  welcher  auf  immer  allen  Materialismus  unmöglich 
macht.*)  Andererseits,  meint  Sch.,  übersah  Fichte,  der  vom  Subject  ausging,  und 
dadurch  zu  dem  vom  Object  ausgehenden  Muterialismus  den  geraden  Gegeusatz 
ausmacht,  dass  er  mit  dem  Subject  auch  schon  das  Object  gesetzt  hatte,  weil  kein 
Subject  ohne  Object  denkbar  ist,  und  dass  seine  Ableitung  des  Objects  aus  dem 
Subject,  wie  alles  Deduciren,  sich  auf  den  Satz  vom  Grunde  stützt,  der  doch  nichts 
Anderes,  als  die  allgemeine  Form  des  Objectes  nls  solchen  ist,  mithin  das  Object 
schon  voraussetzt,  nicht  aber  vor  und  ausser  demselben  gilt.  Den  allein  richtigen 
Ausgangspunkt  des  Pbilosophirens  findet  Sch.  in  der  Vorstellung  als  der  ersten 
Thatsache  des  Bewussteeins,  deren  erste  wesentliche  Grundform  das  Zerfallen  in 
Object  und  Subject  sei,  die  Form  des  Objecte  aber  sei  der  Satz  des  Grundes  in 
seinen  verschiedenen  Gestalten.  Aus  eben  dieser  gänzlichen  und  durchgängigen 
Relativität  der  Welt  als  Vorstellung  folgert  Sch.,  dass  das  innerste  Wesen  der 
Welt  in  einer  ganz  andern,  von  der  Vorstellung  durchaus  verschiedeneu  Seite  der- 
selben zu  suchen  sei.  Die  Vorstellung  bedarf  des  erkennenden  Subjecte  als  des 
Trägers  ihres  Daseins.  Wie  das  Dasein  der  Welt  abhängig  ist  vom  ersten  er- 
kennenden Wesen,  ebenso  nothwendig  ist  dieses  abhängig  von  einer  ihm  voraus- 
gegangenen Kette  von  Ursachen  und  Wirkungen,  in  die  es  selbst  als  ein  kleines 
Glied  eintritt.  Diese  Antinomie  findet  darin  ihre  Auflösung,  dass  die  objective 
Welt,  die  Welt  als  Vorstellung,  nur  die  eine,  gleichsam  äussere  Seite  der  Welt 
ist,  welche  noch  eine  ganz  und  gar  andere  Seite  hat,  die  ihr  innerstes  Wesen,  ihr 
Kern,  das  Ding  un  sich  ist,  welches  nach  der  unmittelbarsten  seiner  Objectivationcn 
Wille  zu  nennen  ist. 

Von  der  Objectivation  des  Willens  handelt  Sch.  im  zweiten  Buch. 
Dem  Subject  des  Erkennens  ist  sein  Leib  auf  zweifache  Weise  gegeben,  eiumnl  als 
Vorstellung  in  verstandesmässiger  Anschauung,  als  Object  unter  Objecten  und  den 
Gesetzen  dieser  unterworfen,  sodann  aber  auch  als  jenes  Jedem  unmittelbar  Bekannte, 
welches  das  Wort  Wille  bezeichnet.  Der  Willensact  und  dieAction  des  Leibes**) 
sind  nicht  zwei  objectiv  erkannte,  durch  das  Band  der  Causalität  mit  einander 
verknüpfte,  verschiedene  Zustände,  sondern  sie  sind  Eins  und  Dasselbe,  nur  auf  zwei 
gänzlich  verschiedene  Weisen  gegeben.  Die  Action  des  Leibes  ist  nichts  Anderes,  als 
der  objectivirte,  d.  h.  in  die  Anschauung  getretene  Act  des  Willens.  Der  ganze 
Leib  ist  nichts  Anderes,  als  der  objectivirte,  d.  h.  zur  Vorstelluug  gewordene 
Wille,  die  Objectivität  des  Willens.  Ob  die  übrigen  dem  Individuum  als 
Vorstellungen  bekannten  Objecte  gleich  seinem  eigenen  Leibe  Erscheinungen  eines 
Willens  seien,  dies  ist  der  eigentliche  Sinn  der  Frage  nach  der  Realität  der  Aussen- 
welt.    Die  verneinende  Antwort  wäre  der  theoretische  Egoismus,  der  sich,  wie  Sch. 


*)  Vorausgesetzt  nämlich,  dass  jene  Nichtübereinstimmung  der  subjectiven  Auf- 
fassungsformen: Raum,  Zeit  und  Causalität,  mit  der  objectiven  Realität  wirklich 
durch  jenen  Satz,  wie  Schopenhauer  annimmt,  sofort  erwiesen  würde,  oder  dass  sie 
von  Kant  durch  wirklich  zwingende  Argumente  dargethan  worden  wäre. 
**)  Oder  etwa  die  eines  Theils  des  Gehirns? 


378 


§  34.  Schopenhauer. 


lehrt,  durch  Beweise  nimmermehr  widerlegen  liest,  dennoch  aber  zuverlässig  in 
der  Philosophie  niemals  anders,  deun  als  skeptisches  Sophisma,  d.  h.  zum  Schein, 
gebraucht  wurden  ist,  als  ernstliche  Ueberzeugung  aber  allein  im  Tollhause  er- 
funden werden  könnte.  Da  ein  Beweis  gegen  den  theoretischen  Egoismus  hiernach 
zwar  nicht  möglich,  aber  auch  nicht  erforderlich  ist,*)  so  sind  wir  berechtigt,  die 
doppelte,  auf  zwei  völlig  heterogene  Weisen  gegebene  Erkenntniss,  die  wir  vom 
Wesen  und  Wirken  unseres  eigenen  Leibes  haben,  weiterhin  als  einen  Schlüssel 
zum  Wesen  jeder  Erscheinung  in  der  Natur  zu  gebrauchen  und  alle  Objecte,  die 
nicht  unser  eigener  Leib,  daher  nicht  auf  doppelte  Weise,  sondern  allein  als  Vor- 
stellungen uuserm  Bewusstsein  gegeben  sind,  nach  Analogie  jenes  Leibes  zu 
beurtheilen  und  daher  anzunehmen,  dass,  wie  sie  einerseits,  ganz  so  wie  er,  Vor- 
stellungen und  darin  ihm  gleichartig  sind,  auch  andererseits,  wenn  man  ihr  Dasein 
als  Vorstellungen  des  Subjects  bei  Seite  setzt,  das  dann  noch  übrig  Bleibende, 
seinem  inneren  Wesen  nach,  dasselbe  sein  muss,  als  das,  was  wir  an  uns  Wille 
nennen.  Der  Wille  als  Ding  au  sich  ist  von  seiner  Erscheinung  gänzlich  ver- 
schieden und  völlig  frei  von  allen  Formen  derselben ;  er  geht  in  dieselben  ein,  indem 
er  erscheint,  sie  betrefien  daher  nur  seine  Objectivität.  Der  Wille  als  Ding  an 
sich  ist  Einer,  seine  Erscheinungen  in  Baum  und  Zeit  aber  sind  unzählig.  Zeit 
und  Baum  sind  das  prineipium  individuatiouis.**) 

*)  Wenn  derselbe  geführt  werden  soll,  so  muss  er  sich  auf  Prämissen  stützen, 
die  für  Sch.  (ebensowohl  auch  wie  für  Berkeley)  zu  viel  beweisen,  indem  dann  die 
Negation  der  Bealität  der  Aussenwelt  im  Uebrigen  nicht  aufrecht  erhalten  werden 
kann.  Soll  andererseits  diese  bestehen,  so  hebt  sie  consequentermaassen  die  An- 
erkennung der  Mehrheit  beseelter  oder  wollender  Wesen  mit  auf,  weshalb  Sch. 
trenöthigt  ist,  dieser  üblen  Consequenz  durch  die  blosse  Berufung  auf  die  „Toll- 
häoslerei"  zu  entgehen.  In  der  That  bedurfte  es  gar  sehr  'eines  Beweises,  zwar 
nicht  dafür,  dass  der  sogenannte  „theoretische  Egoismus*  oder  „Solipsismus'  (die 
Annahme  irgend  eines  Menschen,  dass  er  allein  existire)  eine  Tollheit  sei,  wohl  aber 
dafür,  dass  nicht  die  schopenhauersche  Subjectiviruug  aller  Kategorien  und  Auf- 
hebung ihrer  Anwendbarkeit  auf  .Dinge  au  sich*  zu  diesem  absurden  Satze 
consequentermaassen  hindränge.  Wie  ist  eine  reale  Individualisirung  des  Einen 
Willens  zu  einer  Vielheit  wollender,  wahrnehmender  und  denkender  Subjecte  ohne 
die  Annahme  der  objectiv- realen  Gültigkeit  der  Katcgorieu  Einheit  und  Vielheit  etc. 
widerspruchslos  denkbar? 

**)  Dass  wir  unser  eigenes  Innere  (auch  „Cogitare*  im  weitesten  Siune  dieses 
Wortes)  unmittelbar  so  wie  es  ist,  erkennen,  ist  cartesiauische  Doctriu;  nachdem 
Kant  dieselbe  bekämpft,  der  praktischen  Vernunft  aber  einen  Primat  vor  der 
theoretischen  zuerkannt  hatte,  wurde  der  cartesiauische  Grundgedanke,  aber  nicht 
in  Bezug  auf  das  Denken,  sondern  auf  das  Wollen,  von  Sendling  wieder  auf- 
genommen, der  in  dem  Wollen  die  Quelle  des  Selbstbewußtseins  und  das  Ursein 
erkennt,  und  in  Uebereinstimmung  hiermit  von  Schopenhauer.  Dass  wir  das  Imiere 
anderer  Wesen,  die  uns  äusserlich  mittelst  unserer  Sinne  erscheinen,  nach  der 
Analogie  unseres  eigenen  Innern  auffassen,  ist  eine  zwar  auch  von  Früheren  bereits 
erkannte,  ganz  besonders  aber  von  Schopenhauer  ins  Licht  gestellte  Wahrheit, 
deren,  obzwar  unvollkommene,  Darlegung  ihm  einen  bleibenden  Platz  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  sichert.  Beneke,  der  sich  zunächst  an  ihn  in  dieser 
Doctrin  angeschlossen  hat,  hat  die  wesentliche  Ergänzung  hinzugefügt,  dass  nicht 
nur  unser  Wille,  sondern  ganz  eben  so  unmittelbar  und  mit  eben  bo  voller  Wahr- 
heit auch  unser  Vorstellen  selbst  innerlich  von  uns  erkannt  wird,  ohne  dass  eine 
dem  Gegenstande  der  Auffassung  selbst  fremde  Form  die  Auffassung  trübt,  und 
im  Anschluss  au  Beneke  wird  dieselbe  Doctrin  in  Ueberwegs  System  der  Logik 
§  40  ff.  entwickelt.  Bei  Sch.,  der  Kants  Lehre  von  der  Zeit  als  bloss  subjectiver 
Auffnssungsform  beistimmt,  bleibt  übrigens  die  luconsequenz  unüberwunden,  dass 
der  Wille  bei  der  Selbstauffassung  sich  nur  unter  der  Form  der  Zeitlichkeit  dar- 
stellt und  doch  an  sich  ohne  diese  Form  existiren  müsste,  ohne  welche  er  aber 
als  Wille  nicht  denkbar  ist,  ferner  der  Widerspruch  (dem  Sch.  vergeblich  durch 
die  Supposition  eines  blossen  „Miteinander"  zu  entgehen  sucht),  dass  die  Indivi- 


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§  34.  Schopenhauer. 


370 


Das  einzelne  in  Kaum  und  Zeit  and  dem  Satze  des  Grundes  gemäss  erscheinende 
Ding  ist  nur  eine  mittelbare  Objectivation  des  Dinges  an  sich  uder  des  Willens; 
zwischen  diesem  und  dem  Einzelobject  steht  noch  die  Idee  als  die  alleinige 
unmittelbare  Objectivität  des  Willens.  Die  Ideen  sind  die  Stufen  der  Objectivation 
des  Willens,  welche,  in  zahllosen  Individuen  ausgedrückt,  uls  die  unerreichten 
Musterbilder  dieser  oder  als  die  ewigen  Formen  der  Dinge  dastehen,  nicht  selbst 
in  Zeit  und  Kaum,  das  Medium  der  Individuen,  eintretend,  sondern  feststehend, 
keinem  Wechsel  unterworfen,  immer  seiend,  nie  gewordeu,  während  jene  entstehen 
und  vergehen,  immer  werden  und  nie  sind.  Als  die  niedrigste  Stufe  der  Objecti- 
vation des  Willens  stellen  sich  die  allgemeinsten  Kräfte  der  Natur  dar,  welche 
theils  in  jeder  Materie  ohne  Ausnahme  erscheinen,  wie  Schwere,  Undurchdriuglich- 
keit,  theils  sich  untereinander  in  die  überhaupt  vorhandene  Materie  getheilt  haben, 
so  dass  einige  über  diese,  andere  über  jene,  eben  dadurch  specifisch  verschiedene 
Materie  herrschen,  wie  Starrheit,  Flüssigkeit,  Elasticität,  Elektricität,  Magnetismus, 
chemische  Eigenschaften  und  Qualitäten  jeder  Art.  Die  oberen  Stufen  der  Objecti- 
vation des  Willens,  auf  welchen  immer  bedeutender  die  Individualität  hervortritt, 
erscheinen  in  den  Pflanzen  und  Thieren  bis  zum  Menschen  hinauf.  Jede  Stufe  der 
Objectivatiou  des  Willens  macht  der  andern  die  Materie,  den  Raum,  die  Zeit  streitig. 
Ein  jeder  Orgauismus  stellt  die  Idee,  deren  Abbild  er  ist,  nur  nach  Abzug  des 
Theils  seiner  Kraft  dar,  welcher  verwendet  wird  auf  die  Ueberwältigung  der 
niederen  Ideen,  die  ihm  die  Materie  streitig  machen.  Je  uachdem  dem  Organismus 
die  Ueberwältigung  jener  die  tieferen  Stufen  der  Objectivität  des  Willens  uus- 

duation  des  Willens  einerseits  die  Bedingang  des  Hervortretens  des  individuellen 
Intel  lects  bildet,  andererseits  aber  eben  diesen  Intellect  bereits  voraussetzt,  da 
Zeit  und  Raum,  die  das  Princip  der  Individuation  sind,  gleich  der  Causalität  nach 
der  kautisch-schopeuhauerschen  Doctriu  nur  für  Formen  des  anschauenden  uud 
denkenden  Subjects  gelten;  wie  sehr  durch  diesen  Subiectivismus  die  Durchführung 


R  Seydel  gezeigt.  (Von  der  groben  Inconsequenz  aber  ist  Sch.  doch  wohl  frei, 
welche  ihm  insbesondere  Otto  Liebmann  vorwirft,  dass  er,  wenn  er  von  „Gehiru- 
funetionen"  redet,  seinen  eigenen  Idealismus  vergessen  hätte;  eine  Kritik,  die  nicht 
ohne  Noth  „haarsträubende  Confusion"  dem  Denker  aufbürden  will,  wird  ihm  dus 
Recht  zugestehen,  den  vulgärem  Ausdruck  „Gehirnfuuction"  unter  Vorbehalt  der 
Correctur  zu  gebrauchen,  dass,  streng  genommen,  die  Function  des  der  Gehirn- 
erscheinuug  zum  Grunde  liegenden  Willens  zu  verstehen  sei.)  Sch.  vermischt  den 
Begriff"  „Wille",  welcher  die  Vorstellung  des  Erstrebten  uud  die  Ueberzeuguug  der 
Erreichbarkeit  desselben  involvirt,  mit  dem  Begriffe  „Trieb",  der  ohne  solche 
theoretischen  Bestandteile  sein  kann;  wenn  unser  Vorstellen  nicht  Object  unseres 
Vorstellens  sein  könnte,  so  könnte  dies  auch  der  Wille  nicht  sein,  sondern  höchstens 
nur  der  blinde  Trieb,  und  doch  kommt  andererseits  Sch.  in  der  Durchführung  seiner 
Theorie  nicht  ohne  den  Begriff  des  Willens  im  vollen  Sinne  aus;  er  sagt,  er  wolle 
das  Genus  nach  der  vorzüglichsten  Species  benennen,  erzielt  aber  dadurch  den 
falschen  Anschein,  als  ob  die  Naturkräfte,  indem  er  dieselben  den  Willen  in  der 
Natur  nennt,  uns  eben  so  sehr,  wie  der  menschliche  Wille,  bekannt  wären,  und  als 
ob  die  zweckmässige  Wirksamkeit  derselben  eben  bo  verständlich,  wie  die  des 
bewussten  Willens,  wäre.  Der  bildliche  uud  der  eigentliche  Sinn  des  Wortes  Wille 
fliesseu  zusammen.  Die  Einheit  des  Willens,  die  Sch.  als  real  nimmt,  ist  in  der 
That  nur  die  Hypostase  einer  Abstraktion.  Zudem  lässt  Sch.  ununtersucht,  ob  nicht 
alle  Kraft  und  aller  Trieb  innere  Zustände  oder  Qualitäten  voraussetzen,  welche, 
mehr  unseren  Vorstellungen,  als  unseren  Begehrungen  analog,  au  sich  nicht  Kräfte 
seien,  sondern  dies  erst  durch  ihre  Beziehungen  zu  andern  werden.  An  die  Be- 
schränkung unseres  eigentlichen  Wesens  auf  den  Willen  knüpft  sich  ferner  in 
der  praktischen  Philosophie  der  Uebelstand,  dass  Sch.  consequentermaasBen  nicht 
die  positive  Bedeutung  des  Vorstellens  und  Erkennens  anzuerkennen  vermag  und 
demgemäss,  da  der  blosse  „Wille  zum  Leben"  keine  wahrhafte  Befriedigung  gewährt, 
nicht  über  denselben  hinaus  auf  ein  edleres  Ziel,  sondern  nur  von  demselbeu  weg 
auf  die  Austilguug  desselben  zu  verweisen  vermag,  wovon  unten. 


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380 


§  34.  Schopenhauer. 


drückenden  Natnrkräfte  mehr  oder  weniger  gelingt,  wird  er  zum  vollkominneren 
oder  nnvollkommneren  Ausdruck  seiner  Idee,  d.  h.  er  steht  näher  oder  ferner  dem 
Ideal,  welchem  in  seiner  Gattnng  die  Schönheit  zukommt*) 

Auf  dieser  Ideenlehre  ruht  Schopenhauers  im  dritten  Buche  vorgetragene 
Kunstlehre.  Die  Idee  ist  noch  nicht  in  die  untergeordneten,  unter  dem  Satze 
des  Grundes  begriffenen  Formen  des  Erkennens  eingegangen,  aber  sie  trägt  bereits 
die  allgemeinste  Form  des  Funnens,  die  der  Vorstellung  überhaupt,  des  Object- 
seius  für  ein  Subject.  Als  Individuen  haben  wir  keine  andere  Erkenutniss,  als  die 
dem  Satze  des  Grundes  unterworfen  ist;  diese  Form  aber  schliesst  die  Erkenntnis« 
der  Ideen  aus.  Von  der  Erkenntniss  der  einzelneu  Dinge  können  wir  uns  zu  der 
Erkeiuitniss  der  Ideen  nur  dadurch  erheben,  dass  im  Subject  eine  Veränderung 
vorgeht,  welche  jenem  grossen  Wechsel  der  ganzen  Art  des  Objectes  entspricht  und 
vermöge  welcher  das  Subject,  sofern  es  eine  Idee  erkennt,  nicht  mehr  Individuum 
ist.  Das  Erkennen  gehört  zur  Objectivation  des  Willens  auf  ihren  höheren  Stufen. 
Ursprünglich  und  ihrem  Wesen  nach  ist  die  Erkenntniss  dem  Willen  durchaus 
dienstbar;  bei  den  Thicren  ist  diese  Dienstbarkeit  nie  aufzuheben;  die  Erkenntniss 
der  Idee  geschieht,  indem  die  Erkenntniss  im  Menschen  sich  vom  Dienste  des 
Willeus  losreisst,  wodurch  das  Subject  aufhört,  ein  bloss  individuelles  zu  sein  und 
in  fester  Contemplation  des  dargebotenen  Objectes,  ausser  seinem  Zusammenhange 
mit  irgend  welchen  anderen,  ruht  und  darin  aufgeht.  Wenn  man  aufhört,  den 
Relationen  der  Dinge  zu  einander  und  zum  eigenen  Willen  am  Leitfaden  der 
Gestaltungen  des  Satzes  vom  Grunde  nachzugehen,  also  nicht  mehr  das  Wo,  das 
Wann,  das  Warum  und  das  Wozu  an  den  Dingen  betrachtet,  sondern  einzig  und 
allein  das  Was,  und  zwar  nicht  durch  das  abstrafte  Denken,  sondern  durch  die 
ruhige  Contemplation  des  gerade  gegenwärtigen  natürlichen  Gegenstandes,  dann  ist 
was  so  erkannt  wird,  nicht  mehr  das  einzelne  Ding  als  solches,  sondern  es  ist  die 
Idee,  die  ewige  Form,  die  unmittelbare  Objectivität  des  Willens  auf  dieser  Stufe, 
und  das  Subject  ist  reines,  willenloses  schmerzloses,  zeitloses  Subject  der  Erkenntniss. 
Diese  Erkenntnissart  ist  der  Ursprung  der  Kunst.  Die  Kunst,  das  Werk  des 
Genies,  wiederholt  die  durch  reine  Contemplation  aufgefassten  ewigen  Ideen,  das 
Wesentliche  und  Bleibende  aller  Erscheinungen  der  Welt.  Ihr  einziges  Ziel  ist  die 
Mittheilung  dieser  Erkenntniss.  Je  nachdem  der  Stoff  ist,  in  welchem  sie  wieder- 
holt, ist  sie  bildende  Kunst,  Poesie  oder  Musik.**) 

Giebt  Schopenhauer  in  dem  dritten  Buche  seines  Hauptwerkes  seine  Aesthetik, 
so  in  dem  vierten  seine  Ethik,  zu  deren  Darstellung  freilich  auch  „die  beiden 
Grundprobleme  der  Ethik"  herangezogen  werden  müssen.  Was  die  Frage  nach  der 
menschlichen  Freiheit  anlangt,  so  ist  Sch.  vollkommener  Determinist.  Alles,  was 
in  die  Erscheinung  tritt,  ist  dem  Satze  vom  Grunde  unterworfen.  Aber  der  Mensch 
hat  das  untrügliche  Gefühl  der  Verantwortlichkeit  für  das,  was  er  thut,  der  Zu- 
rechnungsfähigkeit für  seine  Handlungen,  beruhend  auf  der  unerschütterlichen  Gewiss- 
heit, dass  er  selber  der  Thäter  seiner  Thaten  ist  DieThat  ist  jedoch  nur  das  Zeugniss 
von  dem  Charakter  des  Thäters.   Der  Charakter  trägt  die  Schuld ;  da  aber,  wo  die 

*)  Dass  Schopenhauer,  wie  in  seiner  Lehre  von  dem  Einen  Willen  als  Ding 
an  sich  gleich  den  Kl  raten,  Megarikern  und  Spinoza,  so  in  seiner  Ideenlehre,  gleich 
Flatou  und  Schelling  Abstraktionen,  die  wir  im  Denken  vollziehen,  fälschlich 
objectivirt  und  hypostasirt,  ist  offenbar. 

**)  Schopenhauer  rückt  die  ästhetische  Auffassung,  um  sie  von  dem  «Willen* 
zu  sondern,  der  theoretischen  sehr  nahe,  ohne  doch,  da  er  einen  Genuas  des 
Schönen  anerkennt,  zur  gänzlichen  Abscheidung  von  der  Beziehung  auf  den  jedes 
Gefühl  bedingenden  «Willen*  fortgehen  zu  können.  In  seiner  Ideenlehre  schlägt  die 
logische  Allgemeinheit  in  eine  ästhetische  Vollkommenheit  um. 


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§  34.  Schopenhauer. 


381 


Scheid  liegt,  muss  auch  die  Verantwortlichkeit  zu  finden  sein,  liier  nimmt  nun 
Schopenhauer  die  Lehre  Kants  vom  Verhältnis  zwischen  empirischem  und  iutelli- 
giblem  Charakter,  von  der  Vereinbarkeit  der  streng  empirischen  Notwendigkeit 
des  Handelns  und  der  transscendentalen  Freiheit  auf,  eine  Lehre,  welche  nach 
Schopenhauer  zum  Schönsten  und  Tiefstgedachten  gehört,  was  Kant,  ja  was  Menschen 
jemals  hervorgebracht  haben.  Der  empirische  Charukter  ist  wie  der  ganze  Mensch 
als  Gegenstand  der  Erfahrung  eine  blosse  Erscheinung,  daher  auch  an  Raum,  Zeit, 
Causalität  gebunden,  deren  Gesetzen  unterworfen.  Hingegen  ist  die  von  diesen  Formen 
unabhängige,  unveränderliche  Bedingung  und  Grundlage  dieser  ganzen  Erscheinung 
sein  intelligibler  Charakter,  d.  h.  sein  Wille  als  Ding  an  sich,  welchem  in  dieser 
Eigenschaft  absolute  Freiheit,  d.  h.  Unabhängigkeit  vom  Gesetze  der  Causalität 
zukommt.  Die  Freiheit  ist  eine  transsceudentale,  tritt  nicht  in  der  Erscheinung 
hervor,  sondern  ist  insofern  nur  vorhanden,  als  wir  von  der  Erscheinung  und  allen 
ihren  Formen  abstrahiren,  um  zu  dem  zu  gelangen,  was  ausser  aller  Zeit  als  das 
innere  Wesen  des  Menschen  an  sich  selbst  zu  denken  ist.  Vermöge  dieser  Freiheit 
sind  alle  Thaten  des  Menschen  sein  eigenes  Werk,  bo  nothwendig  sie  auch  aus  dem 
empirischen  Charakter  bei  seinem  Zusammentreffen  mit  den  Motiven  hervorgehen. 
So  dürfen  wir  die  Freiheit  nicht  in  unseren  einzelnen  Handlungen,  Boudern  müssen 
sie  im  ganzen  Sein  und  Wesen  suchen.  Operari  sequitur  esse.  Jeder  Mensch 
handelt  nach  dem,  wie  er  ist,  und  die  demgemäss  jedes  Mal  nothwendige  Handlung 
wird  im  individuellen  Fall  allein  durch  die  Motive  bestimmt. 

In  Folge  dieser  Lehre  von  der  empirischen  Nothwendigkeit  giebt  Schopenhauer 
keine  Gesetze  in  der  Ethik,  sondern  nur  eine  Beschreibung  der  Handlungen,  welche 
für  moralisch  oder  für  unmoralisch  gelten.  Für  unmoralisch  gelten  nun  nach  ihm 
bei  jedem  Vernünftigen  zweierlei  Handlungen:  1.  die,  welche  aus  reinem  Egoismus, 
2.  die,  welche  aus  reiner  Bosheit,  d.  h.  aus  der  Absicht,  Andern  positiv  zu  schuden, 
hervorgehen.  Ausser  diesen  giebt  ea  für  die  Menschen  noch  eine  dritte  Triebfeder 
für  das  Handeln,  nämlich  das  Mitleid.  Den  Handlungen,  die  aus  diesem  hervor- 
gegangen sind,  wird  wahrer  moralischer  Werth  zugesprochen.  Solche  Handlangen 
gehören  in  das  Gebiet  zweier  Tagenden,  der  Gerechtigkeit,  vermöge  deren  ich  den 
Aeasserungen  meines  Egoismus  und  meiner  Bosheit,  durch  die  Andern  geschadet 
wird,  entgegentrete,  und  der  Menschenliebe,  vermöge  deren  ich  zur  Linderung  und 
Aufhebung  fremder  Noth  grössere  oder  geringere  Opfer  bringe.  Das  Mitleid  ist 
daB  Fundament  aller  wahren  Moral. 

Wenn  nun  eine  Handlung  aus  Mitleid  hervorgehen  soll,  also  ganz  allein  des 
Andern  wegen,  so  muss  dessen  Wohl  unmittelbar  mein  Motiv  sein,  wie  bei  den 
meisten  andern  Handlungen  es  mein  eigenes  Wohl  ist.  Ich  muss  mich  mit  dem 
Andern  auf  irgend  eine  Weise  identificirt  haben.  Wie  ist  das  aber  möglich?  Dies 
wird  auf  metaphysische  Art  erklärt:  da  das  innerste  Wesen  der  eigenen  Erscheinung 
auch  das  des  Andern  ist,  so  sind  für  die  dies  Erkennenden  die  Schranken  zwischen 
den  verschiedenen  Individuen  gefallen,  und  ein  Jeder  sagt  sich:  das  bist  da,  wenn 
er  einen  Andern  sieht,  du  selbst  bist  der  Leidende,  wenn  er  einen  Andern  leiden 
sieht.  So  ist  es  auch  erklärlich,  wie  sich  das  Gefühl  des  Mitleids  nicht  nur  auf 
Menschen,  sondern  auch  auf  Thiero  erstreckt,  was  Schopenhauer  als  einen  besondern 
Werth  seiner  Ethik  ansah. 

Dem  Mitleid  nachzukommen  ist  allerdings  moralisch,  aber  dennoch  ist  dies 
nur  der  niedere  Flug  des  Menschen,  es  giebt  einen  höheren.  Das  Ausich  des  Lebens, 
der  Wille,  das  Dasein  selbst,  wie  es  in  jedem  Individuum  sich  zeigt,  ist  ein  stetes 
Leiden,  ist  theils  jämmerlich,  theils  schrecklich.  Der  Wille  ist  in  seinen  Erscheinungen 
nichts  als  Begehren,  Bedürfniss.   Mau  begehrt  ja  nur,  wenn  man  etwas  bedarf. 


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382 


§  34.  Schopenhauer. 


Alles  Streben  entspringt  ans  Unzufriedenheit  mit  dem  jeweiligen  Zustande,  ist  also 
Leiden,  so  lange  es  nicht  befriedigt  ist.  Keine  Befriedigung  ist  aber  dauernd,  viel- 
mehr ist  sie  stets  der  Anfangspunkt  eines  neuen  Strebens.  Da  nun  kein  letzte« 
Ziel  des  Strebens  zu  ersehen  ist,  giebt  es  auch  kein  Maass  und  Ziel  des  Leidens. 
Sobald  das  Streben  ja  auf  kurze  Zeit  einmal  im  Leben  aufhört,  stellt  sich  sogleich 
der  andere  Dämon  des  Lebens,  den  es  neben  der  Noth  noch  giebt,  nämlich  die 
Langeweile,  ein.  Zwischen  diesen  beiden  schwingt  das  Leben  wie  ein  Pendel  hin 
und  her.  Mit  der  Höhe  der  Intelligenz  wächst  das  Leiden,  deshalb  ist  es  für  den 
Menschen  am  grössten.  Diese  "Welt  demnach  für  eine  gute  oder  gar  für  die  beste 
zu  erklären,  Ist  nicht  nur  thöricht,  sondern  sogar  gottlos,  zumal  der  Wille  in  seinen 
einzelnen  Erscheinungen  auf  das  Heftigste  gegen  sich  selbst  wüthet.  Die  Welt  ist 
die  schlechteste,  die  überhaupt  gedacht  werden  kann,  und  wäre  sie  nur  noch  ein  wenig 
schlechter,  so  könnte  sie  überhaupt  nicht  mehr  existiren.  Das  Leben  ist  nicht 
lebenswerth,  das  Nichtsein  dem  Sein  weitaus  vorzuziehen.  Der  Wille  ist  blind, 
ohne  Intellect  gewesen,  der  diese  Welt,  das  Leben  in  derselben  hervorgebracht  hat. 
Schopenhauer  lehrt  so  den  entschiedensten  Pessimismus.  In  dieser  schlimmen 
Welt  erblickt  sich  der  Wille  nun  selbst,  wenn  er  sich  in  dem  Menschen  das  Licht 
der  Erkenntniss  anzündet.  Es  kann  dann  die  Frage  auftauchen:  Wozu  dies  Alles? 
L.»hut  die  Last  und  die  Mühe  des  Lebens  durch  den  Gewinn?  Als  Vorstellung 
freilich  allein,  rein  angeschaut  oder  durch  die  Kunst  wiederholt,  gewährt  das  Dasein 
ein  bedeutendes  Schauspiel,  Freiheit  von  Qual  im  Genuss  des  Schönen.  Aber  diese 
Erkenntniss  erlöst  nicht  auf  immer,  sondern  nur  auf  Augenblicke  vom  Leben  und 
ist  sonach  nicht  der  Weg  auB  demselben,  nicht  ein  Quletlv  des  Willens,  dessen 
es  zur  dauernden  Erlösung  bedarf. 

Hier  wird  von  Schopenhauer  —  freilich  in  ganz  inconseqnenter  Weise  —  die 
Möglichkeit  statuirt,  bei  dem  Lichte  deutlicher  Erkenntniss  sich  frei  für  oder  wider 
diesen  Willen  zu  erklären,  d.  h.  den  Willen  zu  bejahen  oder  zu  verneinen.  Hier 
ist  der  einzige  Fall,  wo  die  Freiheit,  die  sonst  in  die  intelliglble  Welt  verlegt 
wird,  in  die  Erscheinung  tritt.  Der  Wille  bejaht  sich,  wenn  er,  nachdem  die 
Erkenntniss  des  Lebens  eingetreten  ist,  dasselbe  ebenso  will,  wie  er  es  bis  dahin 
ohne  Erkenntniss  ah?  blinder  Drang  gewollt  hat.  Das  Gegentheil  hiervon,  die  Ver- 
neinung des  Willens  zum  Leben,  zeigt  Bich,  wenn  auf  jene  Erkenntniss  das 
Wollen  endet,  Indem  sodann  nicht  mehr  die  erkannten  einzelnen  Erscheinungen  als 
Motive  des  Wollens  wirken,  sondern  die  ganze,  durch  Auffassung  der  Ideen  er- 
wachsene Erkenntniss  des  Wesens  der  Welt,  die  den  Willen  spiegelt,  zum  Quietiv 
des  Willens  wird,  und  so  der  Wille  sich  selbst  frei  aufhebt.  Dann  genügt  es  dem 
Menschen  nicht  mehr,  die  Andern  sich  gleich  zu  setzen  und  diese  Erkenntniss 
praktisch  in  der  Gerechtigkeit  und  in  der  Menschenliebe  zu  beweisen,  sondern  es 
entsteht  in  ihm  Abscheu  vor  dem  Wesen  dieser  jammervollen  Welt,  dessen  Aus- 
druck seine  eigene  Erscheinung  ist.  Er  wählt  freiwillig  Keuschheit,  um  die  Fort- 
pflanzung in  künftige  Geschlechter  zu  verneinen,  und  damit  ist  der  erste  Schritt 
zur  Aufhebung  des  Willens  gethan.  Von  allen  Menschen  so  neglrt,  würde  der 
Wille  zum  Leben  überhaupt  aufhören.  Dann  wird  die  Askese  weiter  getrieben. 
Freiwillige  Armuth  wird  getragen,  das  Widerwärtige,  Abscheu  Erregende  aufgesucht, 
um  den  Willen  zu  ertödten,  die  Erscheinung  des  Willens,  der  Leib,  nur  kümmerlich 
ernährt,  es  wird  gefastet,  ja  Peinigungen  und  Kasteiungen  müssen  eintreten,  bis 
der  Wille,  der  in  dem  Körper  lebt,  völlig  erloschen  ist,  wenn  seine  Erscheinung 
auch  noch  durch  einen  letzten  Faden  mit  dem  Leben  zusammenhängt.  —  Der  Selbst- 
mord, als  eine  besondere  Art  der  Bejahung  des  Willens,  ist  nicht  erlaubt.  —  Statt 
der  Unruhe,  die  sonst  den  Menschen  von  Ziel  zu  Ziel  jagt,  erfüllt  ihn  jetzt  der  volle 


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§  35.  Herbart. 


383 


Friede.  Nur  die  Erkenntniss  ist  geblieben,  der  Wille  ist  geschwanden,  nichts  ist 
für  den  Menschen  mehr  Motiv.*) 

§  35.  Im  Gegensatz  zu  Fichtes  subjectivem  Idealismus  und  zu 
Sendlings  erneutem  Spinozismus  hat  unter  Anknüpfung  an  das  rea- 
listische Element  in  der  kantischen  Philosophie,  wie  auch  an  eleatische, 
platonische  und  leibnizische  Lehren  Johann  Friedrich  Herbart  (177G 
bis  1841)  eine  philosophische  Doctrin  ausgebildet,  die  er  selbst  nach 
ihrem  vorherrschenden  Charakter  als  Realismus  bezeichnet.  Die 
Philosophie  definirt  er  als  Bearbeitung  der  Begriffe.  Die  Logik 
zielt  auf  die  Deutlichkeit  der  Begriffe  ab,  die  Metaphysik  auf 
die  Berichtigung  derselben,  die  Aesthetik  im  weiteren  Sinne, 
welche  die  Ethik  in  sich  fasst,  auf  die  Ergänzung  der  Begriffe 
durch  Werthbestimmungen.  Herbarts  Logik  kommt  principiell 
mit  der  kantischen  überein.  Herbarts  Metaphysik  ruht  auf  der  Vor- 
aussetzung, dass  in  den  durch  die  Erfahrung  dargebotenen  formalen 
Begriffen,  insbesondere  in  dem  Begriff  des  Dinges  mit  mehreren 
Eigenschaften,  in  dem  Begriff  der  Veränderung  und  in  dem  Begriff 
des  Ich  Widerspruche  enthalten  seien,  welche  zu  einer  Umformung 
derselben  nöthigen.  In  der  Hin  wegschaffung  dieser  Widerspruche 
findet  Herbart  die  eigentliche  Aufgabe  der  Speculation.  Das  Sein 
oder  die  absolute  Position  kann  nicht  mit  Widersprüchen  behaftet  ge- 
dacht werden,  daher  dürfen  jene  Begriffe  nicht  unverändert  bleiben; 
andererseits  ist  es  so  zu  denken,  dass  es  den  empirisch  gegebenen 
Schein  zu  erklären  vermöge,  denn  wie  viel  Schein  vorhanden  ist,  so 
viel  Hinweisung  auf  Sein  liegt  vor.  Also  sind  jene  Begriffe,  obschon 
sie  nicht  beibehalten  werden  dürfen,  doch  auch  nicht  völlig  zu  ver- 
werfen, sondern  methodisch  umzugestalten.  Die  Widersprüche  in  dem 
Begriffe  des  Dinges  mit  vielen  Eigenschaften  nöthigen  zu  der  Annahme, 
dass  viele  einfache  reale  Wesen  zusammen  seien,  deren  jedem  eine 
einfache  Qualität  zukomme.  Die  Widersprüche  im  Begriff  der  Ver- 
änderung nöthigen  zu  der  Theorie  der  Selbsterhaltung  als  des  Bestehens 
wider  Störung  bei  gegenseitiger  Durchdringung  einfacher  realer  Wesen. 
Die  Widersprüche  im  Begriffe  des  Ich  nöthigen  zur  Unterscheidung 
von  appereipirten  und  appereipirenden  Vorstellungen.  Die  gegenseitige 
Durchdringung  und  Einheit  der  Vorstellungeu  aber  beweist  die  Einfach- 
heit der  Seele  als  ihres  Trägers. 

*)  Schopenhauer  svmpatbisirt  mit  den  indischen  Büsaern,  mit  der  buddhistischen 


des  Lebens  (Sansara)  and  Eingang  in  die  Bewnsstloaigkeit  (Nirwana)  and  mit  den 
asketischen  Elementen  im  Christentham,  aber  ohne  in  seiner  greisenhaften  Moral 
ein  positives  Ziel  zu  kennen,  nm  deswillen  die  Aufhebung  des  Niederen  eine  sitt- 
liche Aufgabe  ist:  zu  diesem  Behuf  würde  es  der  (von  Frauenstädt  versuchten) 
Hervorhebung  der  dem  »Willen"  von  seinen  frühesten  Stufen  an  wesentlichen  Be- 
ziehung zum  „Intellect"  bedürfen. 


Lehre 


durch  den  Austritt  aus  der  bunten  Welt 


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384 


§  35.  Herbart. 


Die  Seele  ist  ein  einfaches,  unräumliches  Wesen,  dem  eine 
einfache  Qualität  zukommt.  Ihr  Sitz  ist  ein  einzelner  Punkt  in- 
mitten des  Gehirns.  Werden  die  Sinne  afficirt,  und  setzt  die  Be- 
wegung mittelst  der  Nerven  zum  Gehirn  sich  fort,  so  wird  die  Seele 
von  den  einfachen  realen  Wesen,  die  in  ihrer  nächsten  Umgebung 
sind,  durchdrungen;  ihre  Qualität  übt  dann  eine  Selbsterhaltung  wider 
die  Störung,  die  sie  durch  jede  der  ihrigen  partiell  oder  total  ent- 
gegengesetzte Qualität  eines  jeden  von  jenen  anderen  einfachen  Wesen 
erleiden  würde;  eine  jede  solche  Selbsterhaltung  der  Seele  aber  ist 
eine  Vorstellung.  Alle  Vorstellungen  beharren,  auch  nachdem  der 
Anlass,  der  sie  hervorgerufen  hat,  aufgehört  hat,  zu  bestehen.  Sind 
mehrere  Vorstellungen  gleichzeitig  in  der  Seele  und  sind  dieselben 
einander  partiell  oder  total  entgegengesetzt,  so  können  dieselben  nicht 
ungehemmt  zusammen  bestehen;  es  muss  so  viel  von  ihnen  gehemmt, 
d.  h.  unbewusst  werden,  als  die  Intensität  sämmtlicher  Vorstellungen 
mit  Ausnahme  der  stärksten  beträgt.  Dieses  Hemmungsquantum 
nennt  Herbart  die  Hemmungs summe.  Jede  Vorstellung  hat  um  so 
mehr  von  der  nemmungssumme  zu  tragen,  je  schwächer  sie  selbst 
ist.  An  die  Intensitäts Verhältnisse  der  Vorstellungen  und  an  die 
Gesetze  der  Aenderung  dieser  Verhältnisse  knüpft  sich  die  Möglichkeit 
und  wissenschaftliche  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  die  Psychologie 
anzuwenden. 

Unabhängig  von  der  theoretischen  Philosophie  ist  Herbarts 
Aesthetik,  deren  wichtigster  Theil  die  Ethik  ist.  Die  ästhetischen 
Urtheile  erwachsen  aus  dem  Gefallen  und  Missfallen,  welches  sich  an 
gewisse  Verhältnisse,  die  ethischen  Urtheile  insbesondere  aus  dem, 
welches  sich  an  Willensverhältnisse  knüpft.  Nicht  in  den  Zielen, 
den  zu  erstrebenden  Gütern,  ist  der  Werth  des  sittlichen  Wollens  zu 
suchen,  sondern  in  der  Form  des  Willens.  Ehe  aber  diese  bestimmt 
werden  kann,  ist  die  Einsicht  nöthig  von  dem,  was  unbedingt  werth 
ist,  als  Gesetz  zu  gelten.  Nur  durch  eine  von  allem  Wollen  unab- 
hängige Werthbeurtheilung  ergiebt  sich  die  Berechtigung  des  Gesetzes, 
zu  gebieten.  Die  Urtheile  gehen  nun  auf  Willensverhältnisse,  da  es 
ja  auf  die  Form  des  Willens  ankommt,  und  sie  bilden  das  System 
der  sittlichen  Musterbegriffe  oder  der  praktischen  Ideen.  Auf  die 
Uebereinstimmung  des  Willens  mit  dem  über  ihn  ergehenden  sittlichen 
Urtheil  überhaupt  bezieht  sich  die  Idee  der  inneren  Freiheit,  auf 
die  gegenseitigen  Verhältnisse  der  Willensacte  Einer  Person  die  Idee 
der  Vollkommenheit,  auf  die  wohlgefällige  Uebereinstimmung  des 
Willens  des  Einen  mit  dem  Willen  des  Andern  die  Idee  des  Wohl- 
wollens oder  der  Liebe,  auf  die  Vermeidung  des  missfallenden  Streits, 
welcher  bei  der  gleichzeitigen  Richtung  mehrerer  Willen  auf  das 


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§  35.  Herbart. 


385 


nämliche  Object  entsteht,  geht  die  Idee  des  Rechts,  auf  die  Auf- 
hebung der  missfallenden  Ungleichheit  bei  einseitigem  Wohlthun  oder 
Wehethun  geht  die  Idee  der  Vergeltung  oder  Billigkeit.  Auf 
der  Ethik,  welche  die  Ziele  bestimmt,  und  auf  der  Psychologie,  welche 
die  Mittel  aufzeigt,  ruht  die  Pädagogik,  wie  auch  die  Staatslehre.  Der 
Staat,  seinem  Ursprung  nach  eine  durch  Macht  geschützte  Gesellschaft, 
ist  bestimmt,  die  sämmtlichen  ethischen  Ideen  als  eine  von  ihuen 
beseelte  Gesellschaft  zur  Darstellung  zu  bringen.  Der  Gottesbegriff, 
für  dessen  Gültigkeit  Herbart  den  teleologischen  Beweis  fuhrt,  gewinnt 
in  dem  Maasse  religiöse  Bedeutung,  als  er  durch  ethische  Prädicate 
bestimmt  wird.  Jeder  Versuch  einer  theoretischen  Durchbildung  der 
philosophischen  Gotteslehre  ist  mit  ;der  herbartschen  Metaphysik  un- 
verträglich. 

Herbarts  kleinere  philos.  Schriften  und  Abb.  nebst  dessen  wissensch.  Nachlas« 
hat  6.  Hartenstein  in  3  Bdn.,  Leipzig  1842,  herausgegeben.    Seine  sämmtl.  Werke  hat 

G.  Hartenstein  in  12  Bdn.  herausgegeben,  Leipzig  1850 — 52,  2.  Abdr.,  Hamb.,  1883  ff. 
Sämmtl.  Werke  in  chronolog.  Reihenfolge  herausgeg.  v.  Karl  Kehrbacb,  1.  u.  2.  Bd.,  Lpz. 
1882,  1885  (nieht  mehr  in  diesem  Verlag,  Veit  u.  Co.,  erschienen),  1.  u.  2.  Bd.  wiederum 
Langensalza  1887  (kritisch  genau  revidirter  Text  mit  Angabe  von  Varianten  und  der 
Paginirung  früherer  Ausgaben).  Die  pädagog.  Schriften  hat  Otto  Willmann  in  chronolog. 
Reihenfolge  mit  Einleitg.,  Anmerkgn.  und  comparativ.  Regist.  herausgeg.,  2  Bde.,  Lpz. 
1873  u.  75,  2.  Aufl.  1880;  dieselb.  herausgeg.  mit  Biographie  v.  Bartholomäi  in  d. 
Biblioth.  pädagog.  Classiker,  2  Bde.,  2.  Ausg.,  1877.  Herbartische  Reliquien.  Ein 
Supplem.  zu  H  a  sämmtl.  Werken,  hrsg.  von  Ziller,  Leipz.  1871  (enth.  Briefe,  Abhandl. 
und  Aphorismen).    R.  Zimmermann,  Ungedruckte  Briefe  von  u.  an  Herbart,  Wien  1877. 

lieber  Herbarts  Leben  bandelt  Hartenstein  in  der  Einleitung  zu  s.  Ausgabe  der 
kleineren  philos.  Schriften  u.  Abhandlgn.  H.s,  Bd.  I,  Lpz.  1842.  Ferner  Voigdt,  zur  Er- 
innerung an  H.,  Worte,  gesprochen  am  28.  Oct.  1841  in  der  öffentl.  Sitzung  der  K. 
deutsch.  Gesellsch.  zu  Königsberg,  Kgsbg.  1841.  Joh.  Friedr.  Herbart,  Erinnerung  an  die 
Göttingische  Katastrophe  im  Jahr  1837,  ein  Posthumum  (hrsg.  von  Taute).  Kgsbg.  1842. 
F.  H.  Th.  Allihn,  üb.  d.  Leb.  und  die  Schriften  J.  F.  Herbarts,  nebst  e.  Zusammen- 
stellung der  Litteratur  seiner  Schule,  in:  Zeitschr.  für  exacte  Philos.,  hrsg.  von  Allihn 
u.  Ziller,  Bd.  I,  Heft  1,  Lpz.  1860,  S.  44  ff.    Zur  Biogr.  H.s:  Sanio,  zur  Erinnerung  an 

H.  als  Lehrer  der  Kgsbg.  Univers,  in  „Herbartische  Reliqu*",  S.  1  —  19.  F.  Bartholomäi, 
J.  Fr.  Herbart,  ein  Lebensbild,  Langensalza  1875.  G.  A.  Hennig,  Joh.  Fr.  Herbart, 
Lpz.  1876,  2.  Aufl.  1877.  Joh.  Smidt  (weil.  Btlrgermst.  v.  Bremen),  Erinnerungen  an 
J.  F.  Herbart,  in  d.  1.  Bde.  der  Ausgabe  der  Werke  H.s  von  Kehrbach,  XXIII-XXXXVI. 

Ueber  H.s  philos.  Standpunkt  und  über  einzelne  seiner  Doctrinen  linden  sich 
zahlreiche  kritische  Bemerkungen  in  verschiedenen  Schriften  und  Abhandlungen  von 
Beneke,  Trendelenburg,  Chalybäus,  Ulrici,  Franz  Hoffmann,  Lotze  (Ob.  H.s  Ontologic, 
in:  Ztschr.  f.  Phil,  etc.,  Bd.  11,  1843),  Fechner  (zur  Krit.  der  Grundlagen  von  H.s 
Mctaphys.,  in:  Ztschr.  f.  Philos.  etc.,  Bd.  23,  1853),  Zimmermann  und  anderen  unten 
zu  erwähnenden  Philosophen.  Manche  zur  Erläuterung  der  herbartachen  Lehre  dienenden 
Schriften  u.  Abhandlungen  von  Drobisch,  Strümpell,  Hartenstein  und  andern  Schülern 
Herbarts  sind  Abschnitt  IV  dieses  Bds.  aufgeführt.  In  letzter  Zeit  sind  u.  A.  erschienen: 
P.  J.  H.  Leander,  üb.  H.s  philo«.  Standp.,  Lund  1865.  F.  A.  Lange,  d.  Grundlegung 
der  mathemat.  Psycho].,  ein  Versuch  zur  Nachweisung  der  fundamentalen  Fehler  b. 
Herbart  u.  Drobisch,  1865.  K.  Fr.  W.  L.  Schulze,  H.s  Stellung  zu  Kant,  entwickelt 
an  den  Hauptbegriffen  ihrer  Philos.,  Gotting.  Inaug.-Diss.,  Luckau  1866.  Herrn.  Langen- 
berg die  theor.  Phil.  H.s  und  seiner  Schule  und  die  darauf  bezügliche  Kritik,  Berl. 
1867.  Wilh.  Schacht,  krit.-philos.  Aufsätze,  1.  Heft:  Herbart  und  Trendelburg,  Aarau 
1868  (vgl.  dagegen  J.  Bergmann  in  den  philos.  Monatsheften,  Bd.  I,  1868,  S.  237 — 242). 
E.  F.  Wyneken,  das  Naturgesetz  der  Seele,  Hannov.  1869.  E.  Otto  Zacharias,  üb. 
einige  metaphys.  Differenzen  zwisch.  H.  u.  Kant,  Rostocker  Promotionsschrift,  Lpz.  1869. 
Rieh.  Quäbicker,  Kants  und  H.s  metaphys.  Grundaus.  üb.  d.  Wesen  der  Seele,  Berl. 
1870.  Jul.  Kaftan,  Sollen  und  Sein  in  ihrem  Verhältn.  zu  einander,  eine  Studie  zur 
Qebtrweg-Beiaze,  Onadriaa  III.  7.  Aufl.  25 


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386 


§  35  Herbart. 


Krit.  H.s,  Lpz.  1872.  H.  Siebeck,  Aristotelis  et  H.  do<  triuae  psychologieae  quibus  rebus 
inter  se  congruant,  Inaug.-Diss.,  Hallt-  1  S7*J.  D.  Burger,  de  zcdckunde  volgens  «le 
beginselen  der  leer  van  H.,  Amersfort  1872.  Alcss.  Pauli,  la  iilosufla  pratica  di  Herb., 
Torino  1873.  W.  Rein,  H.s  Regierg.,  Unterr.  u.  Zucht  in  ihr.  Verhältnis*  zu  einandet, 
Eiseuach  1873.  Ph.  Landerl,  die  Willensfreiheit  vom  h.sehen  Standpunkte  aus,  Gyiun.- 
Progr.,  Kremsmünster  1874.  Theod.  Lipps,  zur  h. sehen  Ontotogie,  I.-D.,  Bonn  1874. 
C.  A.  Thilo,  IL»  Verdienste  um  d.  Phil.,  Vortrag.  Oldcnbg  1876.  Th.  Vogt,  Lotts 
Kritik  der  h.seben  Ethik  und  H.s  Entgegnung,  Wien  1875.  R.  Martin,  die  letzten 
Elemente  der  Materie  in  den  Naturwissensehaften  u.  in  H.s  Metaphysik,  Crimmitschau 
187.'».  W.  Drobisch,  üb.  d.  Fortbildung  d.  Philo«,  durch  H.,  akad.  Vorlesung,  Lpz. 
187t;.  K.  S.  Just,  die  Fortbildung  der  kantischen  Ethik  durch  H.,  Eisenach  1870.  M. 
Lazarus,  Kede  auf  H.  bei  d.  Enthüllung  seines  Denkmals  in  Oldenburg.  Berl.  1876. 
G.  A.  Hennig,  J.  Fr.  H.,  zu  seinem  Säculargeburtst.  nach  seinem  Leben  und  seiner 
pädngog.  Bedeutung  dargestellt,  Kyritz  1870.  R.  Zimmermann.  Perioden  in  H.s  pbilos. 
Geistesgang,  Wien  1877.  G.  Schneider,  die  metaphys.  Grundlagen  der  h.seben  Psychologie 
dargest.  u.  krit.  untersucht,  Inaug.-Diss.,  Erlangen  1K77.  P.  Hohlfeld,  über  ILs  prakt. 
Pbilos.,  Neuwied  1877.  Ernst  Katzer,  d.  mural.  Gottesbeweis  nach  Kant  u.  Herbart, 
I.-D.,  Lpz.  1877.  J.  Capesius,  die  Metaphys.  H.s  in  ihrer  Kntwickelungsgesch.  u. 
ihrer  histor.  Stellung,  Lpz.  1878.  Straszewski,  Herbart,  sa  vie  et  sa  philo»,  d'apres  des 
publications  reeentes,  in:  Rev.  pbilos..  Bd.  7,  1879,  S.  514—520,  045 — 073.  AI. 
Schwarze,  die  Stellung  der  Religionsphilos.  in  H.s  System,  I.  D.,  Halle  1881.  H.  Holt- 
mann, d.  Religionsbegr.  der  Schule  Herbarts,  in:  Ztsehr.  f.  wissensch.  Theol.,  1882. 
Alb.  Schoel,  zur  Krit.  der  herbart.  Religionsphilos.,  Lpz.  18*3;  ders.,  J.  F.  H.s  pbilos. 
L.  v.  d.  Religion  qucllenniässig  dargestellt,  Dresden  1SS4.  O.  Flügel,  e.  neuer  Angr. 
auf  H.s  Religionsph.  (O.  Pfleiderer,  Religionsph.  I,  1883).  in:  Ztsehr.  f.  ex.  Ph.,  XIII, 

1884,  S.  270—304.  Hnr.  Free,  d.  L.  H.s  v.  d.  mschl.  Seele  mit  H.s  eigenen  Worten 
zusammengestellt,  Bernb.  18«5.  Frdr.  Dittes,  l'ebers.  «1er  Pädag.  H.s,  d.  Psvchol.  H.s, 
d  Eth.  H.s,  Krit.  der  Pädag.  H.s,  in:  Pädagogium,  Monatsschr.  f.  Erzieh,  u.  Unterr., 

1885,  Heft  7—10  (scharfe  Kritik  H.s),  s.  dazu:  Chr.  A.  Thilo  u.  O.  Flügel,  Dittes  üb. 
d.  prakt.  u.  theoret.  Ph.  H.s,  Langensalza  1880,  s.  auch  Ztsehr.  f.  ex.  Ph.,  Bd.  XIV, 
1880.  O.  Krüger,  zur  Krit.  der  herbartschen  Ethik,  G.-Pr.,  Chemnitz  1886.  O.  Foltz, 
d.  metaphys.  Grundlagen  der  herb.  Psychologie  u.  ihre  Beurtheil.  durch  Herrn  Dr.  Dittes, 
Gütersloh  18R0.  A.  Rosinski,  Krit.  d.  Beweisgründe  des  herb.  Realism.  f.  d.  Sub- 
jeetivität  des  Wahrnehmungsinhaltes,  Lpz.  1887.  W.  Ostermann,  die  hauptsächlichsten 
Irrthümer  der  herbartschen  Psychologie  u.  ihre  pädagog.  Consequenzen,  Oldenb.  1887. 
C.  A.  Thilo,  Eine  Untersuch,  üb.  H.s  Ideenlehre  in  Bezug  auf  d.  v.  Lott,  Hartenstein  u. 
Steinthal  an  ihr  gemachten  Ausstellungen,  in:  Ztsehr.  f.  ex.  Ph.,  Bd.  XV,  1887,  S.  225 
bis  257.  341—354.  —  S.  auch  Ldw.  Strümpell,  d.  Einleit.  in  d.  Pbilos,,  namentlich  282  ff. 
O.  Hostinsky,  üb.  die  Bedeut.  d.  prakt.  Ideen  H.s  f.  d.  allg.  Aesthct.,  Prag  1883.  Viele 
Aufs,  in  d.  Ztsehr.  für  exaete  Phil.  u.  bes.  H.s  Pädagogik  betreffend,  in  dem  „Jahr- 
buch d.  Vereins  f.  wissenseh.  Pädagogik*. 

Von  Herbarts  Schriften  (deren  chronologisches  Verzeiehniss  Hartenstein  am 
Schluss  des  XII.  Bandes  der  sämmtlichen  Werke  giebt)  sind  die  bemerkenswerthesten 
folgende: 

L'eber  Pestalozzis  neueste  Schrift:  wie  Gertrud  ihre  Kinder  lehne,  in:  Irene,  eine 
Monatsschr.,  hrsg.  von  G.  A.  v.  Halem,  Bd.  I,  Berl.  1802,  S.  15—51,  wiederahg.  (ausser 
in  H.s  kl.  Sehr.  Bd.  III,  S.  74  ff.)  in  den  sämmtl.  Werken  XI,  S.  45  ff. 

Pestalozzis  Idee  eines  ABC  der  Anschauung  als  ein  Cyelus  von  Vorübungen  im 
Auffassen  der  Gestalten  wissenschaftlich  ausgeführt,  Gotting.  1802;  2.,  durch  eine  Abb. 
über  d.  ästhetische  Darstellg.  der  Welt  als  das  Hauptgeschäft  der  Erziehung,  vermehrte 
Aufl.,  ebd.  1804.    Werke  XI,  S.  79  ff. 

De  Platonici  systematis  fundamento  commentatio  (zum  Antritt  des  Extraordinariats  in 
Göttingen),  Gött.  1805,  W.  XII,  S.  01  ff.    Kl.  Sehr.  Bd.  I,  S.  67  ff. 

Allgemeine  Pädagogik,  aus  dem  Zweck  der  Erziehung  abgeleitet,  Gött.  1806, 
W.  X,  S.  1  ff. 

Hauptpunkte  der  Metaphysik,  Gött.  1800  u.  1808.  KI.  Sehr.  I,  199.  W.  III, 
S.  1  ff. 

Hauptpunkte  der  I^ogik  (auch  als  Beilage  zur  Ausgabe  der  Hauptp.  der  Metaph. 
1808),  Gött.  1808.    Kl.  Sehr.  I,  254.    W.  I,  405  ff. 

Allgemeine  praktische  Philosophie,  Gött.  1808.  W.  VIII,  S.  1  ff.  Nene 
Ausg.,  Lpz.  1873. 

Psychologische  Bemerkungen  zur  Tonlehre,  in:  Königsberger  Archiv,  Bd.  1,  St.  2; 
W.  VII,  S.  1  ff.;  psycholog.  Untersuchung  über  d.  Stärke  einer  gegebenen  Vorstellung 


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§  35.  Herbnri. 


387 


als  Function  ihrer  Dauer  betrachtet,  ebd.  Sr.  3,  W.  VII,  S.  21»  ff.  (Kl.  Sehr.  I, 
S.  331  ff.;  S.  30 1  ff.) 

Theoriae  de  attractione  clemcniorum  prineipia  metaphvsica,  Kcgiomonti  1812, 
W.  IV,  S.  521  ff.,  Kl.  S.  I,  -109.  (Ans  d.  Latein,  durch  Karl  Thomas  ü benutzt  und 
eingeleitet,  int  diese  Schrift  Herl  in  1859  wieder  herausgegeben  worden.) 

Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie,  Königsb.  1813,  2.  Aufl.  1821, 
5.  Aufl.  2.  Abdr.,  Hamb.  1883.  W.  I,  S.  1  ff.  (Besonders  werthvoll  u.  nicht  etwa  zu 
verwechseln  mit  der  viel  unbedeutenderen  sogleich  zu  erwähnen  de  u  Encyclop.  d.  Ph.) 

Lehrbuch  zur  Psychologie.  Königsb.  u.  Leipz.  1810,  2.  verb.  Aufl.  ebd.  1834, 
3.  Aufl.  3.  Ahd..  herausgeg.  v.  G.  Hartenstein,  Lpz.  1*87.    W.  V.  S.  1  ff. 

Gespräch  über  das  Böse,  König>b.  1817.    W.  IX,  S.  49  ff.    Kl.  S.  II,  115. 

Ueber  den  Unterricht  in  der  Philosophie  auf  Gymnasien,  Beil.  der  2.  Aufl.  des 
Lehrb.  zur  Einl.  in  die  Philo».,  \V.  XI,  S.  390,  Kl.  S.  III,  98. 

De  attentionis  meusura  causisque  primariis  psychologiae  prineipia  ftatica  et 
meehanica  exemplo  illustraturus  scripsit  J.  F.  Herbart,  Regiomonti  1822,  W.  VII,  73  ff. 
Kl.  S.  II,  S.  353  ff. 

L'eber  die  Möglichkeit  u.  Notwendigkeit,  Mathematik  auf  Psychologie  anzuwenden, 
Königsb.  1822,  W.  VII,  S.  129  £    Kl.  S.  II,  417. 

Psychologie  als  Wissenschaft,  neu  gegründet  auf  Erfahrung,  Metaphvsik  und 
Mathematik.  Königsb.  1824—25.  W.  Bd.  V  u.  VI. 

Allgemeine  Metaphvsik  nebst  den  Anfängen  der  philosophischen  Naturlehre, 
Königsb.  1828-29,  W.  Bd.  III  u.  IV. 

Kurze  En.  vdopädie  der  Philosophie  aus  praktischen  Gesichtspunkten  entworfen. 
Halle  1831,  2.  Aufl.  1841.  \V.  Bd.  II. 

De  prineipio  logico  exclusi  medii  inter  contradictoria  non  negligendo  commentatio, 
Gört.  1833,  W.  I,  S.  533  ff.    Kl.  S.  II.  721. 

Umriss  pädag.  Vorlesungen,  (iött.  1835.  2.  Aufl.  1841.  W.  X,  S.  185  ff. 

Zur  Lehre  von  der  Freiheit  des  menschlichen  Willens,  Briefe  an  Herrn  Prof. 
Griepenkerl.  Gött  1830,  W.  IX,  S.  211  ff. 

Analvtische  Beleuchtung  des  Naturrechts  und  der  Moral,  Gött.  183G,  W.  VIII, 
S.  2131V. 

Psychol.  Untersuchungen,  Heft  1  u.  2,  Gött.  1839—40,  W.  VII.  S.  181  ff. 

Johann  Friedrich  Herbart,  geboren  zu  Oldenburg,  wo  sein  Vater  Justiz- 
rath war,  am  4.  Mai  1776,  erhielt  seine  erste  Bildung  durch  Privatunterricht  und 
auf  dem  Gymnasium  Beiner  Vaterstadt;  er  war  früh  mit  der  wölfischen  Philosophie, 
daneben  auch  mit  kantisehen  Lehren  bekannt  Im  Jahre  1794  bezog  er  die  Universität 
Jena,  wo  damals  gerade  Fichte  seine  Wisseuschaftslehre  entwickelte.  Lebhaft  zu 
philosophischem  Denken  angeregt,  legte  Herbart  schriftlich  seinem  Lehrer  Bedenken 
gegen  Sätze  der  Wissenschaftslehre  vor  und  überreichte  ihm  auch  eine  Kritik  der 
beiden  ersten  Schriften  Sendlings:  über  die  Möglichkeit  einer  Form  der  Philosophie 
überhaupt,  und:  vom  Ich  oder  dem  Unbedingten  im  menschlichen  Wissen.  Herbart 
gewann  die  Uebcrzeugung,  es  komme  in  der  Philosophie  nicht  daranf  an,  „da  fort- 
zufahren, wo  ein  zu  grosser  Berühmtheit  gelangter  Philosoph  zu  bauen  aufgehört 
hat",  sondern:  .auf  die  Fundamente  zu  achten,  dieselben  der  schärfsten  Kritik  zu 
unterwerfen,  ob  sie  auch  wirklich  tauglich  sind,  ein  Gebäude  des  Wissens  zu  tragen". 
Herbarts  Streben  nach  Genauigkeit  in  der  Untersuchung  ward  durch  die  Anregung, 
die  er  von  Fichte  empfing,  gefördert.  Auf  den  Begriff  des  Ich  ward  früh  sein 
Nachdenken  gelenkt.  In  einem  1794  verfossten  Anfsatz  glaubt  er  in  dem  Sichselbst- 
vorstellen  einen  .unendlichen  Cirkel  zu  finden,  da  ich  mich  als  den  setze,  der  sich 
selbst,  also  den  sich  Vorstellenden  u.  s.  f.  vorstellt,  meint  jedoch,  jene  Unendlichkeit 
werde  erschöpft,  indem  das  Ich  sich  die  Aufgabe  selbst,  die  ganze  Unendlichkeit 
in  Einem  Begriffe  vorstelle,  durch  den  Begriff  des  Ich  werde  also  das  Umfassen  der 
Unendlichkeit  postulirt.  Die  Keime  zu  Herbarts  späterer  Lösung  des  Ichproblems 
aber  und  überhaupt  zu  seinem  späteren  „Realismus*  Bind  bereits  in  seiner  1796 
geschriebenen  Kritik  der  schell iugschen  Schrift  vom  Ich  enthalten,  indem  er  hier 
der  schell  iugschen  Disjunction:  „  entweder  Wissen  ohne  Realität  oder  ein  letzter 

25* 


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388 


§  35.  Herbert. 


Punkt  der  Realität*  als  drittes  Glied  beifügt:  .oder  ebenso  mamri gf altige  Realität 
des  Wissens,  als  es  Mannigfaltigkeit  des  Wissens  giebt",  die  Möglichkeit  mehrerer 
Gründe  für  Eine  Folge,  gleich  mehreren  Anhängepunkten  für  eine  Kette  hervorhebt, 
und  den  Satz  aufstellt:  ,jedes  Bedingte  setzt  zwei  Bedingungen  voraus".  In  den 
Jahren  1797—1800  war  Herbart  Hauslehrer  in  der  berner  Familie  von  Steiger  zu 
Interlaken.  Da  er  vor  Allem  der  Poesie  und  der  Mathematik  bildende  Kraft  zu- 
Bchrieb,  so  beschäftigte  er  seine  (drei)  Zöglinge  zunächst  hauptsächlich  mit  diesen 
Unterrichtsobjecten  (wobei  er  im  Griechischen  von  Homer  ausging)  und  schob 
Moral  und  Geschichte  auf  eine  spätere,  wie  er  glaubte,  für  das  Verständniss  der- 
selben geeignetere  Zeit  hinaus,  erfuhr  jedoch  eine  ihn  tief  schmerzende  Störung 
seines  Planes  durch  ein  unvorhergesehenes  vorzeitiges  Abbrechen  des  Unterrichts 
bei  dem  ältesten  der  Zöglinge.  Mit  Moral  und  Psychologie  beschäftigte  sich  H. 
eifrig  in  dieser  Zeit.  Durch  einen  Besuch  bei  Pestalozzi  lernte  er  dessen  Unterrichta- 
weise  kennen,  welcher  er  steta  ein  lebendiges  Interesse  bewahrt,  und  aus  der  er 
Manches  in  seine  eigene  pädagogische  Theorie  aufgenommen  hat.  Im  Jahre  1800 
ging  Herbart  über  Jena  und  Göttingen  in  seine  Ueimath  zurück.  Er  verweilte  bis 
1802  in  Bremen  im  Hause  seines  Freundes  Joh.  Smidt,  mit  Philosophie  und  Päda- 
gogik beschäftigt,  in  Göttingen  habilitirte  er  sich  im  Oktober  1802  als  Docent  der 
Philosophie  und  Pädngogik;  im  Jahre  1805  erhielt  er  ebendaselbst  eine  ausser- 
ordentliche Professur,  ward  aber  1809  durch  Wilhelm  von  Humboldts  Vermittelung 
uach  Königsberg  als  ordentlicher  Professor  der  Philosophie  und  Pädagogik  berufen, 
nachdem  Krug,  der  Nachfolger  Kants  auf  dem  philosophischen  Lehrstuhl,  nach 
Leipzig  abgegangen  war.  Auch  leitete  Herbart  in  Königsberg  das  von  ihm  daselbst 
gestiftete  pädagogische  Seminar.  Im  Jahre  1833  nahm  Herbart  einen  Ruf  nach 
Göttingen  an,  wo  er,  der  activen  Betheiligung  an  den  politischen  Tagesiuteressen 
abhold,  um  so  energischer  seiner  Aufgabe  als  Forscher  und  Lehrer  in  ununter- 
brochener Thätigkeit  bis  zu  seinem  am  14.  August  1841  erfolgten  Tode  sich  widmete. 

H.  deftnirt  die  Philosophie  (im  zweiten  Capttel  des  ersten  Abschnitt«  seines 
Lehrbuchs  zur  Einleitung  in  die  Philosophie)  als  Bearbeitung  der  Begriffe. 
Er  knüpft  hierbei  kritisch  an  Kants  Erklärung  der  philosophischen  Erkenntnis  als 
der  Vernunftserkenntniss  aus  Begriffen  an.  Durch  das  Wort  Vernunft  werde  in  diese 
Erklärung  ein  Streitpunkt  gebracht  (sofern  der  Begriff  der  Vernunft  ein  äusserst 
schwankender  ist,  und  nach  Herbart  eine  Vernunft  als  ein  besonderes  Seelenvermögen 
so  wenig,  wie  überhaupt  irgend  eines  der  von  der  aristotelischen  und  aristoteli- 
sirenden  Psychologie  angenommenen  Seelen  vermögen  existirt).  Also  bleibe  übrig: 
Erkenntniss  aus  Begriffen.  Dies  sei  jedoch  der  Gewinn  der  vorhandenen  Wissen- 
schaft; die  Philosophie  aber  als  Wissenschaft  erzeugend  sei  Bearbeitung  der  Be- 
griffe. Gegen  den  Vorwurf,  diese  Definition  sei  zu  weit,  weil  Bearbeitung  der  Begriffe 
in  allen  Wissenschaften  vorkomme,  bemerkt  Herbart,  Philosophie  liege  wirklich  iu 
allen  Wissenschaften,  wenn  dieselben  seien,  was  sie  sein  sollen.*) 

Aus  den  Hauptarten  der  Bearbeitung  der  Begriffe,  sagt  Herbart,  ergeben  sich 
die  Haupttheile  der  Philosophie.  Die  erste  Aufgabe  ist  die  Klarheit  und 
die  Deutlichkeit  der  Begriffe.    Die  Klarheit  besteht  in  der  Unterscheidung  eines 


*)  Bearbeitung  der  Begriffe  ist  jedenfalls  nicht  das  einzige  methodische  Mittel 
der  Philosophie,  sondern  kanu  nur  etwa  als  das  am  meisten  charakteristische  be- 
trachtet werden.  Die  Basirung  der  Definition  der  Philosophie  auf  das  methodische 
Verfahren  ist  nur  dann  gerechtfertigt,  wenn,  was  allerdings  Herbart  nachzuweisen 
sucht,  wirklich  nicht  ein  bestimmtes  Object,  wie  etwa  das  Universum  als  solches, 
oder  auch  die  Realprincipicn  alles  Existirenden,  der  Philosophie  im  Unterschiede 
vou  den  übrigen  Wissenschaften,  die  auf  einzelne  Gebiete  des  Existirenden  gehen, 
zukommt. 


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§  35.  Herbart 


389 


Begriffes  von  anderen  Begriffen,  die  Deutlichkeit  in  der  Unterscheidung  der  Merk- 
male eines  (zusammengesetzten,  nicht  einfachen)  Begriffs  von  einander.  Deutliche 
Begriffe  können  die  Form  von  Urtheilen  annehmen,  und  die  Vereinigung  der  Ur- 
theile  ergiebt  Schlüsse.  Hiervon  handelt  die  Logik.  Herbart  definirt  die  Logik 
als  denjenigen  Theil  der  Philosophie,  welcher  die  Deutlichkeit  in  Begriffen  und  die 
daraus  entspringende  Zusammenstellung  der  letzteren  im  Allgemeinen  betrachte. 
Da  aber  die  Auffassung  der  Welt  und  unserer  selbst  raauche  Begriffe  herbeiführe, 
welche,  je  deutlicher  sie  gemacht  werden,  gerade  um  so  weniger  Vereinigung  unserer 
Gedanken  zulassen,  so  erwachse  hieraus  der  Philosophie  die  wichtige  Aufgabe,  die 
derartigen  Begriffe  durch  Ergäuzung  so  zu  verändern,  dass  die  in  ihnen  liegende 
logische  Schwierigkeit  verschwinde;  diese  Berichtigung  der  Begriffe  sei  die  Auf- 
gabe der  allgemeinen  Metaphysik.  Die  Hauptbegriffe  der  Metaphysik  seien  so 
allgemein,  und  die  Berichtigung  derselben  von  so  entscheidendem  Einfluss  auf  alle 
Gegenstände  des  menschlichen  Wissens,  dass  erst,  nachdem  jene  Berichtigung 
vorgenommen  sei,  die  übrigen  Begriffe  von  der  Welt  und  von  uns  selbst  gehörig 
bestimmt  werden  könnten.  So  schliessen  sich  an  die  Metaphysik  an  als  ihre  An- 
wendungen auf  die  Hauptgegenstände  des  menschlichen  Wissens  die  Psychologie, 
die  Naturphilosophie  und  die  natürliche  Theologie  oder  philosophische 
Religionslehre.  Ferner  giebt  es  Begriffe,  die  zwar  nicht  eine  Veränderung  not- 
wendig machen,  wohl  aber  einen  Zusatz  in  unserra  Vorstellen  herbeiführen,  der  in 
einem  Urtheile  des  Beifalls  oder  des  Missfallens  besteht.  Die  Wissenschaft  von 
solchen  Begriffen  ist  die  Aesthetik.*)  Angewandt  auf  das  Gegebene,  geht  die 
Aesthetik  über  in  eine  Reihe  von  Kunstlehren,  welche  man  sämmtlich  praktische 
Wissenschaften  uennen  kann,  weil  sie  angeben,  wie  derjenige,  der  sich  mit  einem 
gewissen  Gegenstaude  beschäftigt,  denselben  behandeln  soll,  indem  nicht  das  Miss- 
fallende, sondern  vielmehr  das  Gefallende  zu  erzeugen  ist.  Zu  diesen  Kunstlehren 
gehört  auch  die  Tugend  lehre,  deren  Vorschriften  den  Charakter  der  noth  wendigen 
Befolgung  darum  an  sich  tragen,  weil  wir  unwillkürlich  und  unaufhörlich  den 
Gegenstand  derselben  darstellen,  während  es  bei  den  meisten  der  praktischen 
Wissenschaften  der  Willkür  überlassen  bleibt,  ob  man  sich  mit  dem  Gegenstände 
abgeben  will  oder  nicht. 

In  der  Auffassung  und  Ausführung  der  Logik  kommt  Herbart  mit  dem  Kan- 
tianismus  in  dem  Maasse  überein,  dass  er,  da  er  selbst  nur  Grundzüge  entwirft,  für 
das  eingehendere  Studium  geradezu  auf  die  logischen  Lehrschriften  von  Kantianern 
wie  Hoffbauer,  Krug  und  Fries,  verweist.  Nach  Aristoteles  ist  die  Logik  die 
Amalysis  (zergliedernde  Sonderung  von  Form  und  Inhalt)  des  Denkens  überhaupt, 
nach  Kant  und  auch  nach  Herbart  über  eine  Lehre  von  dem  zergliedernden  und 
durch  Zergliederung  erläuternden  oder  verdeutlichenden  Denken.  Kants  Kintheilung 
der  Erkenntnisse  in  analytische  und  synthetische  ist,  wie  für  die  Unterscheidung 
der  Logik  und  Vernunftkritik  bei  Kant,  so  auch  für  die  der  Logik  und  Metaphysik 
bei  Herbart  maassgebend  gewesen.   Unsere  Gedanken,  sagt  Herbart,  sind  Begriffe, 


*)  Bei  dieser  Eintheilung  besteht  die  Ungleichmässigkeit,  dass  die  Logik  nicht 
selbst  die  Begriffe  überhaupt,  noch  auch  einzelne  Begriffe  verdeutlicht,  sondern  die 
Normen  für  die  Verdeutlichung  aller  Begriffe  aufstellt,  was  ihr  Anlass  giebt,  eine 
bestimmte  Classe  von  Begriffen,  nämlich  die  logischen,  d.  h.  den  Begriff  des  Begriffs, 
den  Begriff  des  Urtbeiis  etc.,  nicht  bloss  zu  verdeutlichen,  sondern  überhaupt  wissen- 
schaftlich zu  entwickeln,  die  Metaphysik  dagegen  gewisse  Begriffe  zu  berichtigen 
selbst  übernimmt  und  von  eben  diesen  berichtigten  Begriffen  Anwendungen  macht, 
die  Aesthetik  endlich  die  bereits  vor  ihr  von  dem  menschlichen  Bewusstsein  voll- 
zogene, zu  der  objectiven  Betrachtung  hinzutretende  Bildung  von  Urtheilen  des 
Beifulls  und  des  Missfallens  auf  Principien  zu  bringen  sucht. 


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390 


§  35.  Herbart. 


sofern  wir  Bio  hinsichtlich  dessen,  was  durch  sie  gedacht  wird,  betrachten.  Ver- 
schiedene Begriffe,  die  mit  einander  unvereinbar  sind,  wie  der  t'irkel  und  das 
Viereck,  von  denen  aber  jeder  unabhängig  von  dem  andern  gedacht  werden  kann 
stehen  im  couträren  Gegensatz.  Die  bloss  verschiedenen,  aber  nicht  unvereinbaren 
Begriffe,  wie  der  Cirkel  und  das  Rothe,  sind  disparat.  Die  disparaten  sowohl,  als 
die  couträren  Hegriffe  ergeben  noch  den  contradictorischen  Gegensatz  zwischen  a 
und  non  a,  b  und  non  b,  indem  von  a  und  b  gesagt  wird,  jedes  sei  nicht  das  andere. 
Entgegengesetztes  ist  nicht  einerlei.  Diesel  Formel  heisst  der  Satz  des  Wider- 
spruchs. Mit  ihm  gleichgeltend  ist  der  sogenannte  Satz  der  Identität,  A  —  A, 
oder  eigentlich:  A  ist  nicht  gleich  non-A,  wo  die  Negationen  einander  aufheben 
und  eine  Bejahung  ergeben,  desgleichen  das  sogenannte  principium  exclusi 
medii:  A  ist  entweder  B  oder  nicht  B.  Wo  es  erlaubt  ist,  die  Einheit  einer 
Summe  anzunehmen,  da  kann  diese  Summe  ein  solches  und  auch  ein  anderes  ent- 
halten, z.  B.  dieses  Kleid  ist  roth  und  blau,  dieses  Ereigniss  ist  zugleich  erfreulich 
und  traurig.  Wenn  Begriffe  einander  im  Denken  begegnen,  so  kommt  in  Frage, 
ob  sie  eine  Verbindung  eingehen  werden  oder  nicht;  die  Entscheidung  dieser  Frage 
ist  das  Urtheil.  Der  vorausgesetzte  Begriff  ist  das  Subject,  der  angeknüpfte  ist 
das  Prädicat.  Herbart  nimmt  au,  dass  das  kategorische  Urtheil  (z.  B.  Gott  ist 
allmächtig,  die  Seele  ist  unsterblich,  Goethe  wur  ein  deutscher  Dichter)  die  Be- 
hauptung der  Existenz  des  Subjccts  nicht  involvire,  und  geht  von  dieser  Annahme*) 
auch  in  seiner  Darstellung  der  Sehl ussl ehre  aus.  Uerbart  bezeichnet  die  Schlüsse 
der  ersten  und  zweiten  Figur  als  Snbsumtions-,  die  der  dritten  als  Substitutions- 
schlüsse. 

Die  Aufstellung  der  metaphysischen  Probleme  bereitet  Uerbart  durch  die 
Skepsis  vor.  Jeder  tüchtige  Anfänger  in  der  Philosophie,  sagt  Uerbart,  ist 
Skeptiker:  aber  es  ist  auch  jeder  Skeptiker  als  solcher  Anfänger.  Wer  nicht 
einmal  in  seinem  Leben  Skeptiker  gewesen  ist,  der  hat  diejenige  durchdringende 
Erschütterung  aller  Beincr  von  früh  auf  angewöhnten  Vorstellungen  und  Meinungen 
niemals  empfunden,  welche  allein  vermag  das  Zufällige  von  dem  Notwendigen,  das 
Hinzugedachte  vom  Gegebeuen  zu  scheiden.  Wer  aber  in  der  Skepsis  beharrt, 
dessen  Gedanken  sind  nicht  zur  Reife  gekommen,  er  weiss  nicht,  wohin  jeder  gehört, 
und  wieviel  aus  jedem  folgt;  von  fremden  Gedanken  und  vom  Widerstreite  derselben 
gedrückt,  werden  diejenigen  fast  immer  Skeptiker,  welche  fleissig  waren  im  Lesen 
und  faul  im  Denken.  Herbart  unterscheidet  eine  niedere  und  eine  höhere  Skepsis. 
Jene  geht  darauf,  dass  wir  wegen  der  Bedingtheit  unserer  Auffassung  durch  unsere 
Subjectivität  schwerlich  ein  treues  Bild  von  dem,  was  die  Dinge  sind,  durch  uusere 
Sinne  erlangen.  Die  Körper  mögen  im  Raum  auf  irgend  eine  Weise  gestaltet,  in 
der  Zeit  irgend  welchen  Veränderungen  unterworfen,  die  Stoffe  durch  Kräfte  er- 
griffen und  behundelt,  die  Menschen  und  Thiere  von  irgend  welchen  Wahrnehmungen 
und  Gesinnungen  erfüllt  sein;  aber  wir  wissen  nicht,  was  für  Wahrnehmungen  und 
Gesinnungen  und  nicht,  was  für  Kräfte,  Stoffe,  Veränderungen  und  Gestalten  da 
sind.  Der  Zweifel  aber  kann  weiter  vordringen  und  zu  dem  Gedanken  fortgehen, 
dass  wir  wirklich  gar  nicht  alles  dasjenige  wahrnehmen,  waa  wir  wahrzunehmen 
glauben,  dass  wir  zu  dem  gegebenen  Wahrnehmungsinhalt  die  Formen,  insbesondere 
die  Räumlichkeit,  Zeitlichkeit  und  Causalität,  wie  auch  die  Zweckmässigkeit,  die 
wir  den  Naturobjecten  zuschreiben,  unwillkürlich  hinzugedacht  haben.  Hierdurch 
wird  zweifelhaft,  ob  feste  Anfangspunkte  unseres  Wissens  irgend  zu  finden  seien, 
und  es  kann  als  ebenso  zweifelhaft  erscheinen,  ob  im  Fall,  dass  Prineipien  wirklich 


*)  Die  wenigstens  bei  dem  affirmativen  Urtheil  im  Allgemeinen  falsch  und 
nur  in  einzelnen  Fällen  vermöge  des  Zusammenhangs  der  Rede  zutreffend  ist. 


§  35.  Herbart. 


31)1 


vorhanden  waren,  sieh  Methoden  für  ein  fortschreitendes  Denken  würden  finden 
lassen,  da  die  Erfahrung  als  unvollständig,  der  Analogiesehluss  als  unsicher  und 
ein  Rechtsgrund  zu  einer  Synthesis  a  priori,  wodurch  ein  Frincip  sich  selbst 
überschreiten  würde,  kaum  als  denkbar  erscheint. 

Herbart  halt  dafür,  dass  wir  zwar  wegen  der  Relativität  aller  Eigenschaften 
nicht  eine  Kenntniss  von  der  wahren  Beschaffenheit  der  Dinge  durch  die  Sinne 
erlangen,  aber  die  Existenz  der  Dinge  ist  nicht  nur  eine  gedachte,  sondern  eine 
erkennbare.  In  jeder  Empfindung  liegt  die  absolute  Position  als  uns  gegeben,  und 
das  Empfundene  beansprucht,  als  Seiendes  zu  gelten.  Freilich  ist  das,  was  wir 
empfinden,  nur  etwas  für  uns,  es  kann  ihm  daher  die  selbständige  Existenz  nicht 
zugesprochen  werden.  Andererseits  ist  die  in  der  Empfindung  liegende  absolute 
Position  eine  gegebene  Thatsache  und  kann  daher  nicht  aufgehoben  werden.  Sie 
muss  daher  bezogen  werden  auf  etwas,  das  nicht  empfunden  wird,  und  so  kommt 
llerbart  dazu,  ein  fache  und  reale  Wesen  anzunehmen  als  durch  die  Erscheinungen 
not h wendig  vorausgesetzt;  diese  werden  nicht  nur  gedacht,  sondern  mittelbar  erkunnt 
und  sind  in  Folge  dessen  ein  wahrhaft  Reales.  Gegen  Kant  verficht  Herbart  auch 
die  Ansicht,  dass  die  Formen  der  Erfahrung  wirklich  gegeben  seien,  da  wir  uns 
in  der  Auffassung  eines  bestimmten  Objects  an  die  Verbindung  des  Wahrnehmungs- 
inhaltes mit  einer  bestimmten  Form  gebunden  fühlen  und  nicht,  wie  es  bei  bloss 
subjectivem  Hinzudenken  der  Formen  der  Fall  sein  müsste,  jeden  beliebigen  Inhalt 
in  der  sinnlichen  Wahrnehmung  selbst  mit  jeder  beliebigen  Form  verknüpfen  können. 
In  welcher  Art  dieselben  gegeben  seien,  ist  ein  späteres,  psychologisches  Problem; 
auf  der  Thatsache  deB  Gegebenseins  derselben  aber  beruht  die  metaphysische 
Betrachtung. 

Die  gegebenen  Formen  der  Erfuhrung  sind  von  der  Art,  dass  sie  wider- 
sprechende Begriffe  liefern,  welche  durch  das  Denken  verbessert  werden 
müssen. 

Die  Ausdehnung  im  Raum  und  das  Geschehen  in  der  Zeit  involviren  Wider- 
sprüche. Das  Ausgedehnte  soll  sich  dehnen  durch  viele,  verschiedene,  ausser 
einander  liegende  Theile  des  Raumes;  durch  die  Dehnung  aber  zerreisst  das  Eine 
in  Vieles,  und  doch  soll  das  Eine  mit  dem  Vielen  identisch  sein.  Indem  wir  Materie 
denken,  beginnen  wir  eine  Theilung,  die  wir  ins  Unendliche  fortsetzen  müssen,  weil 
jeder  Theil  noch  als  ein  Ausgedehntes  gedacht  werden  soll.  Wir  kommen  nie  zu 
allen  Theilen,  nie  zu  den  letzten  Theilen,  weil  wir  die  Unendlichkeit  der  aufgegebenen 
Theilung  sonst  überspringen  müssteu.  Wollen  wir  versuchen,  von  dem  Einfachen 
auszugehen  und  aus  ihm  die  Materie  ebenso  im  Denken  zusammenzusetzen,  wie  sie 
aus  ihm  wirklich  bestehen  mag,  so  fragt  sich,  wie  viele  Einfache  wir  wohl  zusammen- 
nehmen müssten,  um  einen  endlichen  Raum  anzufüllen.  Offenbar  müsste  die  vorige 
Unendlichkeit  jetzt  rückwärts  übersprungen  werden.  Bei  der  Theilung  verliert 
sich  die  Realität  im  Unendlichkleinen;  bei  der  versuchten  Reconstruction  können 
wir  dieses  nicht  als  Grundlage  der  Realität  der  Materie  gebrauchen.  Der  Erfahrungs- 
begriff  der  Materie  ist  daher  einer  Veränderung  im  Denken  zu  unterwerfen.  An 
die  unendliche  Theilbarkeit  der  Zeit  knüpfen  sich  die  gleichen  Betrachtungen.  Die 
Erfüllung  der  Zeit  durch  das  Geschehen  und  durch  die  Dauer  erfordern  noch  ofl'en- 
barer  als  die  Raumerfüllung,  dass  auf  das  Erfülleude  die  Unterscheidung  der 
unendlich  vielen  Theilchen  übertragen  werde;  denn  leere  Zwischenzeiten  würden 
Vernichtuug  und  Wiederentsteheu  dessen  bezeichnen,  was  in  der  Dauer  und  dem 
Geschehen  begriffen  ist.  Was  geschieht,  nimmt  die  Zeit  ein,  es  ist  in  derselben 
gleichsam  ausgedehnt.  Was  geschehen  ist,  zeigt  sich  im  Erfolge  als  ein  endliches 
Quantum  der  Veränderung.  Dieses  Endliche  soll  die  unendliche  Menge  dessen 
in  sich  fasseu,  was  in  allen  Zeittheilchen  nacheinander  geschah.    So  wenig,  wie 


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392 


§  36.  Herbart. 


die  einfachen  Theile  des  Ausgedehnten  im  Räume,  ist  das  wirkliche  Geschehen, 
aus  dem  der  Erfolg  sich  zusammensetzt,  denkbar,  denn  es  zerfliesst,  wie  klein  wir 
es  fassen  mögen,  immer  wieder  in  ein  Vorher,  ein  Nachher,  eine  Mitte  zwischen 
beiden. 

Der  Begriff  derlnhärenz  oder  des  Dinges  mit  mehreren  Eigenschaften 
involvirt  den  Widerspruch,  dass  das  Eine  Vieles  sei.  Die  Mehrheit  der  Eigen- 
schaften verträgt  sich  nicht  mit  der  Einheit  des  Gegenstandes.  Das  Ding  soll  der 
Eine  Besitzer  der  verschiedenen  Merkmale  sein.  Aber  das  Besitzen  muss  doch 
dem  Dinge  als  etwas  seiner  Natur  Eigenthümliches,  als  eine  Bestimmung  seines  Was 
zugeschrieben  werden,  folglich  ein  eben  so  Vielfaches  sein,  wie  die  Eigenschaften, 
die  besessen  werden.  Dadurch  aber  wird  das  Ding  selbst  ein  Vielfaches,  während 
es  doch  zugleich  Eines  sein  soll.  Die  Frage:  was  ist  das  Ding?  erfordert  eine  ein- 
fache Antwort.  Der  Begriff  von  dem  Dinge,  dessen  wahre  Qualität  ein  vielfacher 
Besitz  von  Merkmalen  sei,  ist  ein  widersprechender  Begriff,  der  einer  Umarbeitung 
im  Denken  entgegensieht,  weil  er,  als  ans  dem  Gegebenen  stammend,  nicht  ver- 
worfen werden  kann. 

Auch  der  Begriff  der  Oausalität,  der,  obschon  nicht  als  Begriff  gegeben,  doch 
durch  ein  notwendiges  Denken  über  das  Gegebene  entsteht,  involvirt  Widersprüche. 
Mit  dem  Gegebenen  dringt  sich  unmittelbar  der  Begriff  der  Veränderung  auf; 
nun  macht  sich  schon  im  gemeinen  Denken  ein  Bedürfnis»  fühlbar,  zu  erklären, 
warum  die  Veränderung  eingetreten  sei,  d.  h.  die  Veränderung  als  Wirkung  aufzu- 
fassen und  zu  ihr  eine  Ursache  zu  suchen.  Aber  der  Begriff  der  Veränderung  führt 
auf  ein  Trilemma.  Entweder  nämlich  müsste  die  Veränderung  eine  äussere  Ursache 
oder  eine  innere  Ursache  haben  oder  ursachlos  sein,  mit  anderen  Worten:  sie  müsste 
sich  entweder  auf  Mechanismus  oder  auf  Selbstbestimmung  oder  auf  absolutes 
Werden  zurückführen  lassen.  Der  gemeine  Verstand  pflegt  sich  alle  drei  Vor- 
stellungsarten zu  erlauben,  indem  er  in  der  Körperwelt  äussere  Ursachen,  bei  dem 
Willen  Selbstbestimmung,  für  den  Lauf  der  Dinge  im  Allgemeinen  aber  oft  das 
Schicksal,  d.  h.  absolutes  Werden,  voraussetzt.  Allein  1.  der  Begriff  der  äusseren 
Ursache  erklärt  nicht  den  ursprünglichen  Wechsel,  da  er  auf  einen  regressus  in 
infinitum  zu  führen  scheint,  und  er  erklärt  auch  nicht  den  abgeleiteten  Wechsel,  da 
er  den  Widerspruch  iu  Bich  trägt,  dass  dos  Thätige  eine  fremde,  ihm  nicht  eigene 
Bestimmung  als  Eigenschaft  seiner  Natur  in  sich  trage,  und  dass  das  Leidende 
nach  der  Veränderung  noch  das  nämliche  Ding,  und  doch  auch  nicht  mehr  das 
nämliche  Ding  wie  vorher,  sein  soll;  2.  der  Begriff  der  Selbstbestimmung  durch 
eine  innere  Ursache  vermindert  diese  Schwierigkeiten  nicht  und  leidet  zudem  an 
dem  Widersprach,  dasB  er  das  eine  Wesen  in  dem  Actus  der  Selbstbestimmung 
durch  den  Gegensatz  der  Activität  und  Passivität  mit  sich  entzweit;  3.  das  absolute 
Werden,  welches  den  Wechsel  selbst  als  die  Qualität  dessen,  was  ihm  unterworfen 
ist,  ansieht,  leidet  an  der  doppelten  Schwierigkeit,  dass  es  eine  strenge  Gleich- 
förmigkeit des  Wechsels  fordern  würde,  die  doch  in  der  Natur  der  Dinge  erfahrungs- 
gemäss  nicht  angetroffen  wird,  und  dass  es  auch  in  sich  Belbst  widersprechend  ist, 
da  der  Begriff  dea  Werdens  sich  nicht  anders  denken  lässt,  als  durch  die  wechselnden 
Beschaffenheiten,  welche  in  der  Umwandlung  durchlaufen  werden,  so  dass  man,  um 
die  Qualität  des  Werdens  zu  bestimmen,  die  einander  entgegengesetzten  Beschaffen- 
heiten zusammenfassen  und  in  eine  Einheit  concentriren  muss,  worin  der  Wider- 
spruch liegt,  dass  Entgegengesetzte  Eins  sein  sollen;  sagt  man,  das  Wesen  sei  nur 
Erscheinung  eines  nicht  wechselnden  Grundes,  so  werden  die  Widersprüche  nicht 
gemindert,  sondern  gehäuft;  denn  es  tritt  bei  dieser  Annahme  nur  umso  deutlicher 
hervor,  dass  in  dem  Einen  nicht  wechselnden  Grande  alle  Mannigfaltigkeit  und  aller 


§  35.  Herbart. 


393 


Widerspruch  concentrirt  sei,  woraus  das  Viele  und  Entgegengesetzte  der  Erscheinung 
sich  entfalten  soll. 

Der  Begriff  Ich  trägt  in  sich,  wofern  das  Ich  als  Urquell  aller  unserer  höchst 
mannigfaltigen  Vorstellungen  angesehen  wird,  den  Widerspruch  der  Inhärenz  des 
Vielen  in  dem  Einen,  welcher  hier  sogar  besonders  fühlbar  ist,  weil  das  Selbst- 
bewußtsein das  Ich  als  ein  völliges  Eins  darzustellen  scheint;  dazu  aber  tritt  der 
dem  Ich  eigenthümliche  Widerspruch,  dass  es  als  das  reine,  in  sich  selbst  zurück- 
gehende Selbstbewusstsein  sich  vorstellen  muss,  d.  h.  sein  Ich  vorstellen  muss, 
d.  h.  sein  sich  Vorstellen  vorstellen  ranss,  und  so  fort  ins  Unendliche  (indem  jedesmal 
das  Sich  durch  sein  Ich  und  dieses  wiederum  durch  sein  sich  Vorstellen  zu 
ersetzen  ist),  so  dass  der  Ich-Begriff  in  der  That  gar  nicht  zu  Stande  kommen  zu 
können  scheint 

Die  Metaphysik,  welche  die  dargelegten  Widersprüche  aus  den  Formen  der 
Erfahrung  hinwegschaffen  und  dadurch  die  Erfahrung  begreiflich  machen  soll,  wird 
von  Herbart  eingetheilt  in  die  Lehre  von  den  Principien  und  Methoden  (Metho- 
dologie), von  dem  Sein,  der  Inhärenz  und  der  Veränderung  (Ontotogie),  von 
dem  Stetigen  (Synechologie)  und  von  den  Erscheinungen  ( Eidolologie).  An 
die  allgemeine  Metaphysik  schliesst  sich  als  angewandte  Metaphysik  die  Natur- 
philosophie und  die  Psychologie  an. 

Die  von  der  Metaphysik  zu  vollziehende  Umbildung  der  angegebenen  Begriffe 
besteht  darin,  dass  die  nothwendigen  Ergänzungsbegriffe  oder  die  Beziehungs- 
punkte aufgesucht  werden,  durch  welche  allein  die  Widersprüche,  die  in  denselben 
enthalten  sind,  sich  auflösen  lassen.  Die  Methode,  durch  Aufsuchung  der  noth- 
wendigen Ergäuzungsbegriffe  die  Widersprüche  in  den  durch  die  Erfahrung  dar- 
gebotenen formalen  Begriffen  aufzuheben,  nennt  Herbart  die  Methode  der 
Beziehungen.  Jeder  Begriff  jener  Art  ist  ein  Grund,  aus  dem  um  des  in  ihm 
enthaltenen  Widerspruchs  willen  der  Ergänzungsbegriff  gefolgert  werden  muss.  Nur 
hierdurch  wird  nach  Herbart  Synthesis  a  priori  möglich.  Denn,  sagt  er,  wenn  B  dem 
A  durch  Synthesis  a  priori,  also  nothwendig,  zu  verbinden  ist,  so  muss  A  ohne  B 
unmöglich  sein;  die  Nothwendigkeit  liegt  in  der  Unmöglichkeit  des  Gegentheils; 
Unmöglichkeit  eines  Gedankens  aber  ist  Widerspruch  (wogegen  Kant  behauptet 
hatte,  dass  synthetische  Sätze  a  priori  noch  eines  andern  Princips,  als  des  Satzes 
der  Identität  und  des  Widerspruchs  bedürfen). 

Es  ist  unmöglich,  anzunehmen,  dass  nichts  sei,  denn  dann  würde  auch  nichts 
erscheinen.  Leugne  man  alles  Sein,  so  bleibe  zum  mindesten  das  unleugbare  Ein- 
fache der  Empfindung.  Das  Zurückbleibende,  nach  aufgehobenem  Sein,  ist  Schein. 
Dieser  Schein,  als  Schein,  ist.  Weil  der  Schein  nicht  hinwegzuheben  ist,  so  muss 
irgend  ein  Sein  vorausgesetzt  werden. 

Erklären,  dass  A  sei,  heisst,  es  solle  bei  dem  einfachen  Setzen  des  A  sein 
Bewenden  haben.   Sein  ist  absolute  Position.*)  Der  Begriff  des  Seins  schliesst 


*)  Hiermit  zieht  Herbart  das  Setzen  des  Seins  in  den  Begriff  des  Seins  hinein, 
woran  sich  ihm  dann  u.  A.  auch  die  irrige  Annahme  kuüpft,  die  Zahl  der  realen 
Wesen  könne  nicht  unendlich  sein,  weil  wir  freilieh,  vom  Endlichen  ausgehend, 
niemals  das  Unendliche  als  eine  bestimmte  Grösse  setzen  können,  sondern  bei  jeder 
bestimmten  Grenze  denken  müssen,  es  könne  und  solle  noch  weiter  gegangen 
werden.  Das  Sein  an  sich  bat  aber  in  der  That  mit  unserer  Position  nichts  zu 
schaffen.  Es  ist  gerade  das  von  unserm  Setzen  Unabhängige.  Nicht  das  Sein, 
sondern  unser  Denken  des  Seins  ist  Position,  und  was  (wie  das  Unendliche)  ausser- 
halb des  Bereichs  unserer  Position  liegt,  liegt  darum  doch  keineswegs  ausserhalb 
des  Bereiches  der  Wirklichkeit. 


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894 


§  35.  Herbart. 


alle  Negation  und  alle  Relation  aas.*)  Was  als  seiend  gedacht  wird,  heisst  ein 
Wesen  (ens). 

Das  Einfache  der  Empfindung  findet  sieh  nie  oder  höchst  selten  einzeln,  sondern 
in  Complexioncn,  welche  wir  Dinge  nennen.  Wir  legen  dem  Dinge  seine  einzelnen 
Merkmale  als  Eigenschaften  bei.  Die  Widersprüche  aber,  die  in  dem  Begriffe  dea 
Dinges  mit  mehreren  Eigenschaften  liegen,  nöthigen  dazu,  dieseu  Begriff*,  um  ihn  von 
eben  diesen  Widersprüchen  zu  befreien,  durch  die  Anuahme  zu  ergänzen,  dass  eine 
Mehrheit  realer  Wesen  existire,  deren  jedes  von  schlechthin  einfacher,  durch  keine 
inneren  Gegensätze  bestimmbarer  Qualität  sei,  deren  Zusammen  aber  die  Erschei- 
nung des  Einen  Dinges  mit  vielen  Eigenschaften  bedinge.  So  sind  die  Eigen- 
schaften eines  Dinges  nichts  weiter  als  die  Beziehungen,  in  welchen  es  zu  anderen 
Dingen  steht.    Dieser  Beziehungen  können  es  natürlich  viele  sein. 

In  einer  Complexion  von  Merkmalen  pflegen  einzelne  zu  beharren,  während 
andere  wechseln.  Wir  schreiben  daher  den  Dingen  Veränderungen  zu.  Aus  den 
Widersprüchen  im  Begriff  der  Veränderung  aber  folgt,  dass  es  im  Seienden  keinen 
ursprünglichen  inneren  Wechsel  giebt,  weil  ursprüngliche  Selbstbestimmung  und 
absolutes  Werden  unmöglich  ist,  und  dass  et  auch  keinen  abgeleiteten  Wechsel 
geben  würde,  wofern  die  Einwirkung  von  Ursachen  nur  unter  der  Voraussetzung 
einer  ursprünglich  nach  aussen  gerichteten  Thätigkeit  erfolgen  könnte.  Dann  aber 
würde  es  gar  keinen  Wechsel  geben,  auch  nicht  in  der  Erscheinung,  was  der 
Erfahrung  widerspricht.  Mithin  muss  jene  Voraussetzung  falsch  sein  und  der 
Wechsel  sich  ohne  eine  ursprünglich  nach  aussen  gerichtete,  wie  auch  ohne  eine 
ursprüngliche  innere  Thätigkeit  erklären  lassen.  Herbart  erklärt  denselben  mittelst 
der  Theorie  der  Selbsterhaltungen,  welehe  bei  dem  Zusammensein  der  einfachen 
realen  Wesen  stattfinden  und  das  einzige  wirkliche  Geschehen  ausmachen. 
Diese  Theorie  ruht  auf  dem  Hülfsbegriffe  des  intelligibeln  Raumes  nebst  der 
diesem  Räume  entsprechenden  Zeit  und  Bewegung,  und  auf  dem  methodischen 
Hülfsmittel  der  zufälligen  Ansicht 

Unter  dem  intelligibeln  Räume  versteht  nämlich  Herbart  denjenigen  Raum, 
in  welchem  befindlich  die  einfachen  realen  Wesen  gedacht  werden  müssen,  im 
Unterschiede  von  dem  phänomenalen  Räume,  in  welchem  unsere  Empfindungen 
vorgestellt  werden,  welcher  also  in  der  Seele  selbst  ist.  Der  Begriff  des  intelligibeln 
Raumes  entspringt,  indem  sowohl  das  Zusammen  als  das  Nichtznaammen  der  näm- 
lichen Wesen  gedacht  werden  soll.  Daa  Aneinander  einfacher  realer  Wesen  erzeugt 
die  „starre  Linie",  der  Uebcrgang  der  Punkte  in  einander  die  stetige  Linie,  aus 
der  Mischung  zweier  Richtungen  geht  die  Ebene,  aus  der  Hinzufüguug  einer  neuen 
Richtung  der  körperliche  Raum  hervor.  Die  Fiction  des  Uebergangs  der  Punkte 
in  einander  setzt  eine  Theilbarkeit  dea  Punktes  voraus,  welche  Annahme  Uerbart 
durch  die  geometrische  Thatsache  irrationaler  Verhältnisse  zu  rechtfertigen  sucht 
Auch  in  dem  intelligibeln  Räume  sind,  wie  in  dem  phänomenalen,  alle  Bewegungen 
relativ;  was  Bewegung  ist  in  Bezug  auf  umgebende  Objecte,  die  als  ruhend  be- 
trachtet werden,  ist  Ruhe,  sofern  eben  diese  Objecte  als  in  der  entgegengesetzten 
Richtung  jedesmal  mit  der  gleichen  Geschwindigkeit  sich  bewegend  angesehen 
werden.  Jedes  Wesen  im  intelligibeln  Räume  ist  ursprünglich  ruhend  in  Bezug  auf 
sich  selbst  oder  auf  den  Raum,  sofern  es  selbst  als  in  demselben  befindlich  be- 
trachtet wird,  aber  nichts  hindert,  dass  diese  Ruhe  Bewegung  sei  in  Hinsicht  auf 


*)  In  dem  Ausschluss  aller  Negation  und  Relation  liegt  ein  Sprung;  nur 
die  Relation  in  dem  zu  setzenden  Subject  und  die  Wiederaufhebung  (Negation)  der 
Setzung  in  dem  Sinne,  in  welchem  sie  vollzogen  worden  ist,  ist  in  der  That  aus- 
zuschliesseu. 


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§  35.  Herbart 


395 


lindere  reale  Wesen:  die  Ruhe  in  Bezug  auf  diese  wäre  nur  ein  möglicher  Fall 
unter  unendlich  vielen  gleich  möglichen.  Ks  ist  also  vorauszusetzen,  dass  im  All- 
gemeinen ursprünglich  jedes  Wesen  im  Vergleich  mit  jedem  andern  In  Bewegung 
sei,  nämlich  In  gradliniger  Bewegung  mit  constanter  Geschwindigkeit.  Diese  Be- 
wegung ist  nicht  eine  wirkliche  Veränderung,  weil  jedes  Wesen  in  Bezug  auf  sich 
selbst  und  auf  seinen  Kaum  dabei  in  Ruhe  bleibt,  zu  andern  Wesen  aber  nicht 
selbst  in  Beziehung  steht,  sondern  nur  durch  ein  zusammenfassendes  Bewusstsein 
in  Beziehung  gesetzt  wird.  Wenn  aber  der  Füll  eintritt,  dass  in  Folge  dieser 
ursprünglichen  Bewegung  einfache  reale  Wesen  in  denselben  Punkt  gleichzeitig 
gelangen,  so  erfolgt  eine  gegenseitige  Durchdringung,  die,  sofern  die  Qualitäten 
dieser  Wesen  einander  gleich  sind,  keine  Störung  veranlasst,  sofern  aber  die 
Qualitäten  derselben  einander  entgegengesetzt  sind,  eine  Störung  bedingt,  da  Ent- 
gegengesetztes nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  nicht  in  einem  Punkte  zusammen 
sein  kann;  die  Störung  würde  erfolgen,  wenn  das  Entgegengesetzte  der  mehreren 
Wesen  sich  wirklich  aufheben  könnte,  da  dasselbe  aber  unaufhebbar  ist,  so  er- 
halten sich  die  Qualitäten  wider  die  intendirte  Störung;  Selbsterhaltung  ist 
Bestehen  wider  eine  Negation.  Die  Störung  gleicht  einem  Druck,  die  Selbst- 
erhaltung einem  Widerstande.  In  der  Seele  sind  die  „Selbsterhaltungeu"  Vor- 
stellungen; in  allen  andern  realen  Wesen  sind  Bie  solche  inneren  Zustände, 
die  auch  nach  den  herbartschen  Principien,  gleich  wie  nach  den  leibnizischeu,' 
irgendwie  unsern  Vorstellungen  analog  gedacht  werden  müssen.  Das  eigentliche 
und  einfache  Was  der  realen  Wesen  erkennen  wir  zwar  nicht,  über  ihre  inneren 
und  äusseren  Verhältnisse  aber  können  wir  eine  Summe  von  Einsichten  erlungen, 
die  sich  ins  Unendliche  vergrössern  lässt.  Die  Voraussetzung,  dass  das  einfache 
Was  der  Wesen  bei  verschiedenen  nicht  bloss  verschieden  sei,  sondern  auch  con- 
träre  Gegensätze  bilde,  ist  nothweudig.  Ist  der  Gegensatz  der  Qualität  ein 
partieller,  so  lassen  sich  die  Qualitäten  in  unserm  Denken  in  solche  Componenten 
zerlegen,  zwischen  denen  einerseits  volle  Uobereinstimmung,  andererseits  voller 
Gegensatz  statthat.  Diese  Zerlegung,  obschon  methodisch  nothweudig,  um  das 
Ergebuis8  zu  verstehen,  ist  doch  in  Bezug  auf  die  Qualitäten  selbst  eine  , zu- 
fällige Ansicht",  weil  diese  nicht  wirklich  aus  solchen  Componenten  hervor- 
gegangen, sondern  einfach  und  untheilbar  sind  und  nur  in  der  Betrachtung  zerlegt 
werden. 

In  unserm  Bewnsstsein  ist  die  Ichheit  gegeben,  und  doch  ist  der  Ichbegriff 
mit  Widersprüchen  behaftet.  Diese  Widersprüche  uöthigeu  zu  einer  Unterscheidung 
der  im  Selbstbewusstsein  appereipirten  und  der  appereipirenden  Vorstellungsmassen, 
welche  wiederum  die  Lehre  von  der  Seele  als  einem  einfachen  realen  Wesen,  dem 
Träger  der  ganzen  Complexion  unserer  Vorstellungen,  die  Lehre  von  den  Vorstellungen 
als  den  Selbsterhaltungen  der  Seele,  und  von  den  gegenseitigen  Verhältnissen  der 
Vorstellungen  zur  Voraussetzung  hat 

An  die  Theilbarkeit  des  Punktes  knüpft  sich  die  Möglichkeit  eines  unvoll- 
kommenen Zusammen  oder  einer  theilweisen  Durchdringung  einfacher 
(aber  bei  der  Fiction  der  Theilbarkeit  als  kugelförmig  vorzustellender)  realer 
Wesen.  Durch  die  partielle  Durchdringung  der  einfachen  Wesen  entsteht  die 
Materie.  Eine  nothwendige  Folge  theilweiser  Durchdringung  ist  die  Attraction 
der  Elemente.  Denn  die  Selbsterhaltung  kann  sich  nicht  auf  den  durchdrungenen 
Theil  eines  jeden  dieser  realen  Wesen  beschränken;  in  dem  ganzen  realen  Wesen, 
in  allen  fingirten  Theilen  desselben,  befindet  sich  einerlei  Grad  der  Selbsterhaltung, 
und  zwar  darum,  weil  eben  das  reale  Wesen  einfach  und  seine  Theile  nur  fingirt 
sind.  Dem  inneren  Zustand  der  totalen  Selbsterhaltung  aber  muss  mit  Nothwendigkeit 
auch  die  äussere  Lage  der  einfachen  Wesen  entsprechen.   Aus  dieser  Noth- 


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390 


§  35.  Herbart. 


wendigkeit,  dass  zu  dem  Innern  Zustande  ein  ihm  angemessener 
äusserer  Zustand  hinzutrete,  folgt,  dass  die  partielle  Durchdringung  in  ein 
totales  Ineinander  übergehen  muss.  Wenn  man  sich  die  Elemente  als  Kugeln  vor- 
stellt und  die  unendlich  kleine  Zeit  des  Eindringens  wieder  in  Unendlichkleine  der 
zweiten  Ordnung  zerlegt,  so  verhält  sich  in  jedem  Augenblicke  die  ganze  Kugel  zu 
dem  noch  nicht  durchdrungenen  Theile  wie  die  anfängliche  Anziehung  zu  der 
Beschleunigung  in  diesem  Augenblicke.  Bei  einer  Verbindung  mehrerer  einfacher 
realer  Wesen  tritt  die  Repulsion  oder  die  Notwendigkeit  des  Hinauaweichens 
ein,  wenn  nämlich  das  Maass  überschritten  wird,  in  welchem  der  innere  Zustand 
eines  mittleren  realen  Wesens  einer  Mehrheit  eindringender  realer  Wesen  zugleich 
zu  entsprechen  vermag.  Attraction  und  Repulsion  sind  demnach  nicht 
ursprüngliche  Kräfte,  sondern  die  nothwendigen  äusseren  Folgen  der 
inneren  Zustände,  in  welche  mehrere  verschiedene  Substanzen  sich 
gegenseitig  versetzen. 

Ist  zwischen  Attraction  und  Repulsion  das  Gleichgewicht  hergestellt,  so  bildet 
die  betreffende  Verbindung  von  einfachen  und  realen  Wesen  ein  materielles  Element 
oder  ein  Atom. 

Um  die  besonderen  physikalischen  Erscheinungen  und  Gesetze  aus  ihren  letzten 
Gründen  genetisch  zu  erklären,  unterscheidet  Herbart  bei  den  Elementen  einerseits 
nachdem  Maasse  der  Verschiedenheit  ihrer  Qualitätenden  starken  und  schwachen 
Gegensatz,  andererseits  nach  dem  Verhältnisse  der  Intensität  der  beiderseitigen 
Qualität  den  gleichen  und  ungleichen  Gegensatz.  Aus  der  Combination 
beider  Unterscheidungen  ergeben  sich  vier  Hauptverhältnisse  der  Elemente  zu 
einander: 

1.  der  starke  und  gleiche  oder  nahezu  gleiche  Gegensatz;  auf  diesem  beruht 
die  Bildung  der  festen  oder  starren  Materie,  insbesondere  ihre  Cohäsion, 
Elasticität  und  Configuration; 

2.  der  starke,  aber  sehr  ungleiche  Gegensatz;  in  diesem  Verhältniss  stehen 
die  Elemente  des  (von  Herbart  zur  Erklärung  der  Wärmeerscheinungen  voraus- 
gesetzten) Wärmestoffs  (Caloricum)  zu  den  Elementen  der  festen  Körper; 

3.  der  schwache  und  nicht  sehr  ungleiche  Gegensatz;  in  diesem  Verhältniss 
steht  zu  den  Elementen  der  festen  Körper  das  Electricum; 

4.  der  schwache  und  sehr  ungleiche  Gegensatz;  in  diesem  Verhältniss  steht 
zu  den  Elementen  der  festen  Körper  der  Aether  oder  das  Medium  des  Lichtes 
und  der  Schwere. 

Auf  die  Annahme  einer  inner n  Bildsamkeit  der  Materie  gründet  Herbart 
die  Biologie  (oder  Physiologie).  Zwischen  mehreren  inneren  Zuständen  Eines 
Wesens  treten  gegenseitige  Hemmungen  ein  (wie  in  der  Seele  zwischen  Vorstellungen, 
welche  einander  im  Bewusstsein  beschränken);  die  gehemmten  Zustände  treten  unter 
begünstigenden  Bedingungen  wieder  hervor  und  bestimmen  dann  mit  das  äussere 
Gescheheu.  Durch  das  einfache  Wesen  werden  in  anderen,  die  mit  ihm  in  Berührung 
kommen,  gleichartige  Zustände  angeregt;  hierauf  beruht  die  Assimilation  und 
Reproduction.  Auch  die  Irritabilität  und  Sensibilität  folgt  aus  der  inneren  Bildsamkeit 
der  Materie. 

Das  zufällige  Zusammentreffen  einfacher  realer  Wesen  begründet  nur  die 
allgemeine  Möglichkeit  eines  organischen  Lebens.  Die  zweckmässige  Gestaltung 
aber,  die  in  den  höheren  Organismen  erscheint,  Betzt  den  Einfluss  einer  göttlichen 
Intelligenz  voraus,  welche  zwar  nicht  die  einfachen  realen  Wesen  selbst,  wohl 
aber  die  vorhandenen  Beziehungen  derselben  zu  einander  (und  eben  hierdurch  auch 
das,  was  der  vulgäre  Sprachgebrauch  unter  den  Substanzen  versteht)  begründet 
hat.   Der  durch  teleologische  Erwägungen  begründete  Gottesglaube  aber  befriedigt 


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§35.  Herbart. 


3U7 


das  religiöse  Bedürfniss  nur,  sofern  der  Mensch  zu  Gott  beten  oder  wenigstens  in 
dem  Oedanken  an  Gott  Rahe  finden  kann,  was  die  Aufnahme  der  ethischen 
Prädicate  in  die  Gottesidee  (wovon  unten)  bedingt. 

Die  Seele  ist  ein  einfaches  reales  Wesen;  denn  wäre  sie  ein  Complex  mehrerer 
realer  Wesen,  so  würden  die  Vorstellungen  aus  einander  liegen,  und  es  würden 
nicht  mehrere  Vorstellungen  zur  Einheit  des  Gedankens  und  nicht  die  Gesammtheit 
meiner  Vorstellungen  zur  Einheit  meines  Bewnsstseins  sich  verbinden.  Die  Selbst- 
erhaltungen der  Seele  sind  Vorstellungen.  Vorstellungen,  die  einander  gleichartig 
oder  auch  disparat  sind,  verschmelzen  mit  einander;  Vorstellungen  aber,  die  ein- 
ander partiell  oder  total  entgegengesetzt  sind,  hemmen  einander  nach  dem  Maasse 
ihres  Gegensatzes.  Durch  die  Hemmung  wird  die  Intensität,  mit  welcher  die  Vor- 
stellungen im  Bewußtsein  sind,  vermindert  oder  ganz  aufgehoben.  In  der  gehemmten 
Vorstellung  ist  das  Vorstellen  zu  einem  Streben,  vorzustellen,  geworden.  Die 
Iutensitätsverhältnisse  der  Vorstellungen  lassen  sich  der  Rechnung  unterwerfen, 
obschon  die  einzelnen  Intensitäten  nicht  messbar  sind;  die  Rechnung  dient  dazu, 
die  Gesetze  des  Voretelluugslaufs  auf  ihren  exaeten  Ausdruck  zu  bringen.  Sie  ist 
Statik,  sofern  sie  auf  den  Endzustand  geht,  in  welchem  die  Vorstellungen  beharren 
können,  Mechanik,  sofern  sie  die  jedesmalige  Stärke  einer  Vorstellung  in  einem 
bestimmten  Zeitpunkt  während  des  Wechsels  zu  ermitteln  sucht 

Es  seien  gleichzeitig  zwei  Vorstellungen,  A  und  B,  gegeben,  deren  Intensitäten 
einander  vollkommen  gleich  seien,  so  dass  jede  =  1  sich  setzen  lässt.  Zwischen 
beiden  sei  voller  Gegensatz  (wie  z.  B.  zwischen  roth  und  gelb,  gelb  und  blau,  dem 
Grundton  und  dem  um  eine  Octave  höheren  Ton),  so  dass,  wenn  die  eine  derselben 
ungehemmt  bestehen  soll,  die  andere  total  gehemmt  sein  muss.  Da  (nach  dem  Satze 
des  Widerspruchs)  Entgegengesetztes  nicht  gleichzeitig  an  demselben  Punkte  zu- 
sammenbestehen kann,  so  müsste  die  eine  beider  Vorstellungen  zu  Gunsten  der 
andern  völlig  aufgehoben  werden.  Aber  jede  erhält  sich;  Bestehendes  kann  nicht 
ausgetilgt  werden.  Beide  streben  mit  gleicher  Kraft  gegen  einander.  Also  sinkt 
jede  auf  die  Hälfte  ihrer  ursprünglichen  Intensität  herab.  Dem  Gesetze  des  Wider- 
spruchs würde  genügt  sein,  wenn  die  eine  Vorstellung  ganz  gehemmt  wäre;  es  wird 
thatsächlich  so  viel  von  beiden  Vorstellungen  zusammen  gehemmt,  als  die  ursprüng- 
liche Intensität  der  einen  von  beiden  Vorstellungen  beträgt.  Diese  auf  beide 
Vorstellungen  eich  vertheilende  Gesammtheit  der  Hemmung  nennt  Herbart  die 
Hemmungssumme.  Ist  der  Gegensatz  kein  totaler,  also  nicht  durch  1,  sondern 
durch  einen  echten  Bruch  zu  bezeichnen,  so  tritt  dieser  Bruch  hier,  wie  überall, 
bei  der  Bestimmung  der  Hemmungssumme  uls  Factor  hinzu. 

Sind  die  Vorstellungen  A  und  B  an  Stärke  ungleich,  ist  die  Intensität  der 
ersten  =  a,  der  andern  =  b,  und  ist  a  >  b,  und  besteht  zwischen  A  und  B  voller 
Gegensatz,  so  genügt  es  nach  Herbarts  Annahme,  dass  ein  Quantum,  welches  der 
Intensität  (b)  der  schwächeren  Vorstellung  gleich  ist,  an  beiden  Vorstellungen 
zusammen  gehemmt  werde,  denn  wäre  die  schwächere  aufgehoben,  so  wäre  der 
»Widerspruch"  entfernt.*)  Die  „Hemmungssumme"  ist  also  nun  =  b.  Jede  Vor- 
stellung sträubt  sich  mit  ihrer  ganzen  Intensität  gegen  die  Hemmung.  Also  trägt 
sie  von  derselben  um  so  weniger,  je  stärker  sie  ist.    Also  trägt  A  von  der 


*)  Freilich  wäre  derselbe,  falls  er  überhaupt  besteht,  nur  dann  entfernt,  wenn 
B  selbst,  oder  auch,  wenn  A  selbst,  aber  nicht,  wenn  nur  ein  Intensitätsquantum 
«-  b,  das  sich  auf  beide  Vorstellungen  vertheilt,  aufgehoben  wäre.  Dass  die  Auf- 
hebung oder  „ Hemmung''  durch  das  blosse  Unbewusstwerden  (bei  dem  Fortbestehen 
im  unbewussten  Zustande)  bereits  vollzogen  sei,  ist  eine  durch  die  Erfahrung  auf- 
gedrängte, aber  mit  dem  logisch-metaphysischen  Prinrip  schwerlich  vereinbare 
Annahme. 


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398 


§  35.  Herbort. 


h**  ttb 

Hemmungssumme,   welche  =  b   ist,  ,  und  B  trägt  —        so   dass  A  im 

Bewusstsein  bleibt  mit  der  Stärke  a  —  ^=  a*     8  ~-  ,  und  B   mit  der  In- 

a  -+-b  o  +  b 

ab  b* 
ten.Hitat  b  —       .  ~       .  • 

a  +  b     a  -4-  b 

«Sind  gleichzeitig  drei  Vorstellungen  mit  vollem  Gegensatz  untereinander  gegolten, 
deren  Intensitäten  a,  b,  c  sind,  und  ist  a  b,  b  >•  c,  so  ist  nach  Uerbart  die 
Hcmmungssurome  =  b  -f-  c,  überhuupt  gleich  der  Summe  der  sämmtlichen  schwächeren 
Vorstellungen;  denn  wären  diese  alle  völlig  gehemmt,  so  könnte  die  stärkste  sich 
ganz  behaupten.  Aach  diese  Hemmungssumme  vertheilt  sich  nach  dem  umgekehrten 
Verhältnies  der  Intensitäten.  Ks  kann  dabei  aber  der  Fall  eintreten,  dass  die 
schwächste  Vorstellung,  indem  sie  ebensoviel  oder  mehr  zu  tragen  hat,  als  ihre 
Intensität  beträgt,  ganz  aus  dem  Bewusstsein  verdrängt  wird,  in  weiches  sie  jedoch 
unter  begünstigenden  Umständen  wieder  eintreten  kann.  Die  Grenze,  an  welcher 
die  Intensität  genau  =  0  ist,  nennt  ilerbart  die  Schwelle  des  Bewussteeins,  wobei 
freilich  das  Bild  des  (horizontalen)  Hinübertretens  über  eine  Schwelle  mit  dem 
Bilde  eines  (verticalen)  Auf-  und  Niedersteigens  sich  mischt.  Den  Werth  einer 
Vorstellung,  bei  welchem  dieselbe  gerade  auf  die  Schwelle  des  Bewussteeins 
herabgedrückt  wird,  nennt  Herbart  den  „Schwelle nwerth".  Ista  =  l,  b  =  l,  so 
ist  yl/t  =0,707  ...  der  Schwelleuwerth  von  c. 

Ist  die  Empfänglichkeit  für  eine  Vorstellung  bei  constauter  Stärke  des  Reizes 
(welche  wir  zunächst  um  der  Einfachheit  willen  =  1  setzen,  ursprünglich  —  a,  ao 
ist  dieselbe,  nachdem  die  Vorstellung  bereite  die  Intensität  x  erlangt  hat,  nur  noch 
=  a  —  x.  Die  Raschheit,  mit  welcher  die  Vorstellung  an  Intensität  zunimmt,  oder 
die  „Geschwindigkeit  ihres  Wachsens"  ist  in  jedem  Augenblick  dem  Maasse  der 
Empfänglichkeit  proportional.  Sie  wird  also  fortwährend  geringer.  Wir  betrachten 
als  Zeiteinheit  (t  —  1)  diejenige  Zeit,  in  welcher  die  Vorstellung  zu  der  vollen 
Stärke  =  a  anwachsen  würde,  falls  die  anfängliche  Raschheit  der  Zunahme  unver- 
ändert bliebe.    In  einem  ersten  sehr  kleinen  Zeittheil  =  -    bleibt  diese  Geschwin- 

n 

digkeit  des  Anwachsens  nahezu  unverändert,  in  dem  ersten  unendlich  kleinen  Zeittheil 
=  dt  aber  ist  sie  als  unverändert  (constant)  zu  betrachten.    Also  gelaugt  in  dem 

ersten  Zeittheil  1  die  Vorstellung  nahezu  zu  der  Stärke  a .  1 ,  in   dem  ersten 
n  n 

Zeittheil  dt  aber  gelangt  sie  zu  der  Stärke  a  .  dt.    Ist  in  einem  späteren  Augenblick, 

nach  Ablauf  einer  beliebigen  Zeit  =  t,  die  Vorstellung  schon  bis  zu  der  Stärke  x 

angewachsen,  also  die  Empfänglichkeit  nicht  mehr  =  a,  sondern  nur  noch  =  a  —  x, 

so  muss  jetzt  in  einem  sehr  kleinen  Zeittheil  =  *-  die  Vorstellung  nicht  um  nahezu 

t  t 
a  .     ,  sondern  um  nahezu  (a  —  x) .  —  und  in  einem   unendlich  kleinen  Zeittheil 
n  n 

=•=  dt  nicht  um  a  .  dt,  sondern  um  (a  —  x)  dt  anwachsen.    Bezeichnen  wir  nun  durch 

dx  die  Zunahme  an  Stärke,  welche  die  Vorstellung,  nachdem  sie  bis  zu  x  angewachsen 

war,  in  einem  unendlich  kleinen  Zeittheil  =  dt  erlangt  (oder  die  Differenz  ihrer 

Stärke  nach  und  vor  Ablauf  dieses  unendlich  kleinen  Zeittheils),  so  ist,  dem  Obigen 

gemäss,  dieses  dx  —  (a  —  x)  dt,  also  ist  -     —  =  dt,  aus  welcher  Gleichung  mit 

Rücksicht  auf  den  Umstand,  dass  die  Vorstellung  vom  Nullwerthe  auf  anwächst,  so 

dass  also  für  t  —  0  auch  x  =  0  ist,  sich  das  Resultat  ergiebt:  x  =  a  (1  —  e  *),  so- 
fern unter  e,  wie  es  üblich  ist,  die  Basis  der  natürlichen  Logarithmen 


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§  35.  Herbart. 


399 


wird.  —  Wird  die  Stärke  des  Reizes  zwar  als  constant  angenommen,  aber  nicht  -  1, 
Bondern  =  ß  gesetzt,  ho  ist  die  Intensität,  zu  welcher  die  Vorstellung  in  dem  ersten 
Zeittheil  dt  gelangt  (statt,  wie  oben,  =  a  .  dt),  vielmehr  —  ^a  .  dt;  folglich  musa 
eich  in  dem  nach  Ablauf  der  Zeit  t,  in  welcher  die  Vorstellung  bis  zu  der  Stärke 
x  angewachsen  ist,  zunächst  verfliegenden  Zeittheil  --  dt  die  Stärke  der  Vor- 
stellung um  {i  (a  —  x)  dt  vermehren,  d.  h  dx  =  ^  (a  —  x)  dt,  woraus  folgt:  x  =  a 
(l  —  e  —  r**).  Hierin  liegt,  dass  die  Vorstellung  der  vollen  Stärke  —  a  zwar 
ziemlich  bald  nahe  kommt,  aber  dieselbe  in  keiner  endlichen  Zeit  ganz  erreicht, 
sondern  sich  ihr  in  einer  solchen  Art,  wie  der  Hyperbelzweig  seiner  Asymptote, 
annähert.*) 

Mittelst  einer  ganz  analogen  Betrachtung  bestimmt  Herbart  das  allmähliche 
Sinken  der  Hemmungssumme. 

Sind  mit  einer  Vorstellung  mehrere  andere  verbunden,  aber  nicht  vollkommen, 
sondern  nach  einer  gewissen  Abstufung  durch  grössere  und  kleinere  Theile,  so  wird 
jene  Vorstellung,  falls  Bie,  nachdem  sie  gehemmt  war,  von  dieser  Hemmung  befreit 
ins  Bewusstsein  zurückkehrt,  jene  anderen  Vorstellungen  mit  sich  emporzuheben 
streben,  aber  nicht  gleichmässig,  sondern  in  einer  bestimmten  Ordnung  und  Reihen- 
folge. Herbart  sucht  diese  Reihenfolge  durch  mathematische  Formeln  zu  bestimmen. 
Auf  abgestuften  Verschmelzungen  beruht  nach  ihm  nicht  nur  der  Mechanis- 
mus des  sogenannten  Gedächtnisses,  sondern  es  entstehen  daraus  auch  die 
räumlichen  und  zeitlichen  Formen  unseres  Vorstellens,  die  Herbart  nicht 
mit  Kant  als  Formen  a  priori,  sondern  als  Resultate  des  psychischen  Mechanismus 
betrachtet. 

In  dem  einfachen  Wesen,  welches  Seele  ist,  giebt  es  ebensowenig,  wie  eine 
ursprüngliche  Mehrheit  von  Vorstellungen,  eine  ursprüngliche  Mehrheit  von  Ver- 
mögen. Die  sogenannten  Seelenvcrmögen  sind  nur  hypostasirte  Classenbegriflfe 
von  psychischen  Erscheinungen.  Die  Erklärung  der  Erscheinungen  aus  dem  sogenannten 
Vermögen  ist  illusorisch;  in  den  Vorstcllungsverhältnissen  liegen  die  wirklichen 
Ursachen  der  psychischen  Vorgänge.  Die  W  i  e  d  e  r  e  r  i  n  n  e  r  u  n  g  geschieht  nach  den 
Reproductionsgesetzen.  Der  Verstand,  von  dem  sich  die  Namenerklärung  geben 
lässt,  er  sei  das  Vermögen,  unsere  Gedanken  nach  der  Beschaffenheit  des  Gedachten 
zu  verknüpfen,  beruht  auf  der  vollständigen  Wirkung  derjenigen  Reihen,  welche 
vermittelst  der  Einwirkung  der  äusseren  Dinge  auf  uns  sich  in  unserer  Seele  gebildet 
haben.  Unter  der  Vernunft  ist  die  Fähigkeit  zu  verstehen,  Gründe  und  Gegen- 
gründe gegen  einander  abzuwägen;  sie  beruht  auf  der  zusammentreffenden  Wirk- 
samkeit mehrerer  vollständiger  Vorstellungsreihen.  Der  sogenannte  innere  Sinn 
ist  die  Apperception  neugebildeter  Vorstellungen  durch  ältere  gleichartige  Vor- 
stellungsmassen. Gefühle  und  Begierden  sind  nichts  ausser  und  neben  den  Vorstellungen, 
am  wenigsten  giebt  es  dafür  besondere  Vermögen,  sondern  sie  sind  veränderliche 
Zustände  derjenigen  Vorstellungen,  in  denen  sie  ihren  Site  haben.  Die  Gefühle 
entspringen,  wenn  verschiedene  Kräfte  auf  die  nämliche  Vorstellung  in  gleichem 
oder  in  entgegengesetztem  Sinne  einwirken.  Entgegengesetzte  Vorstellungen  hemmen 
sich,  so  dass  das  Vorgestellte  ganz  oder  zum  Theil  verschwindet.  Es  tritt  aber 
dann  hervor,  sobald  die  Hemmung  weicht,  demnach  verwandeln  sich  Vorstellungen 
durch  ihren  gegenseitigen  Druck  in  ein  Streben,  vorzustellen.  Dieses  Streben  wird 
dann  Begehren,  Trieb  genannt.  Der  Wille  ist  ein  Streben,  welches  mit  der  Vor- 
stellung der  Erreichbarkeit  des  Erstrebten  verbunden  ist.    Die  psychologische 


*)  Der  Erfahrung  scheint  jedoch  die  unabweisbare  Consequenz  der  Formel  zu 
widerstreiten,  dass  die  Schwäche  des  Reizes  durch  längere  Ausdauer  desselben  hin- 
sichtlich des  Resultates  vollständig  ersetzt  werden  könne. 


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400 


§  36.  Herbart. 


Freiheit  des  Willens  ist  die  gesicherte  Herrschaft  der  stärksten  Vorstellungsmassen 
über  eineeine  Affectionen.  Kants  Lehre  von  der  „transscendentalen  Freiheit*  ist 
falsch  and  ist  auch  dem  praktischen  Interesse  zuwider,  indem  sie  die  Möglichkeit 
der  Charakterbildung  aufhebt.  —  Gefühle  und  Begierden  haben  nicht  im  Vorstellen 
überhaupt,  sondern  allemal  in  gewissen  bestimmten  Vorstellungen  ihren  Sitz.  So 
ist  es  zu  erklären,  dass  es  gauz  verschiedene  Begierden  und  Gefühle  zugleich  giebt. 
Es  giebt  selten  reine  Freude,  reine  IVauer,  hierfür  genügt  die  Erklärung,  dass  die 
Vorstellungen  weder  einzeln,  noch  alle  gleichförmig  verbunden,  sondern  in  ver- 
schiedenen grösseren  und  kleineren  Massen  im  Bewusstsein  erscheinen,  dass  eine  jede 
dieser  Massen  ihr  eigenthümliche  Zustände,  d.  h.  Gefühle  und  Begierden  in  sich 
trägt,  und  dass  in  dem  Zusammentreffen  der  verschiedenen  Massen  eine  reiche  Quelle 
von  Mischungen  verborgen  liegt. 

Die  Quelle  der  ästhetischen  Ideen  liegt  in  den  unwillkürlichen  Geschmacka- 
nrtheilen,  und  insbesondere  die  Quelle  der  ethischen  Ideen  in  eben  solchen  Ge- 
Hchmacksurtheilen  über  Willensverhältnisse.  Es  kommt  dabei  nicht  auf  den  Werth 
au,  welchen  etwa  die  Willensverhältnisse  für  das  Subject  haben,  sondern  auf  den 
Werth,  welchen  die  Willensverhältnisse  ganz  ohne  Berücksichtigung  des  Subjects 
für  sich  haben.  Das  Begehren  und  Wollen  des  Subjects  muss  ganz  aus  dem  Spiele 
bleiben.  Diese  praktischen  Ideen  sollen  als  Regulative  dienen  sowohl  für  das  sitt- 
liche Leben  des  Einzelnen  als  der  menschlichen  Gesellschaft  und  vertreten  den 
kategorischen  Imperativ  Kants.  Die  Idee  der  inneren  Freiheit  beruht  auf  dem 
Wohlgefallen,  welches  die  Harmonie  zwischen  dem  Willen  und  der  über  ihn  er- 
gehenden Beurtheilung  erweckt.  Die  Idee  der  Vollkommenheit  erwächst  daraus 
dass  in  reinen  Grössenverhältnissen  durchgängig  das  Grössere  neben  dem  Kleineren 
gefällt.  Die  Grössenbegriffe,  nach  welchen  das  Wollen  verglichen  wird,  sind: 
Intcnsion,  Extension  (d.  h.  Mannigfaltigkeit  der  von  dem  Wollen  umfassten  Gegen- 
stände) und  Concentration  des  mannigfachen  Wollens  zu  einer  Gesammtwirkuug 
oder  die  aus  der  Extension  von  Neuem  entspringende  lutensiou.  Der  Gegenstand 
der  Idee  des  Wohlwollens  ist  die  Harmonie  zwischen  dem  eigenen  und  dem  voraus- 
gesetzten fremden  Willen.  Die  Idee  des  Rechtes  beruht  auf  dem  Missfallen  am 
Streit;  das  Recht  ist  die  von  den  betheiligten  Personen  festgestellte  oder  anerkanute 
Regel  zur  Vermeidung  des  Streites  Indem  durch  absichtliche  Einwirkung  des 
Willens  auf  einen  andern  oder  durch  absichtliche  Wohlthat  und  Wehethat  der  Zu- 
stand, in  welchem  die  Willen  sich  ohne  dieselbe  befunden  haben  würden,  abgebrochen 
oder  verletzt  wird,  missfällt  die  That  als  Störerin  des  früheren  Zustandes;  aus 
diesem  Missfalleu  erwächst  die  Idee  der  Vergeltung  (Billigkeit)  oder  der  Tilgung 
der  Störung  durch  den  Rückgang  des  gleichen  Quantums  an  Wohl  oder  Wehe  von 
dem  Empfänger  zum  Thäter.  Tugeuden  und  Pflichten  ergeben  sich  erst,  wenn  die 
Ideen  auf  die  coucreten  Verhältnisse  des  menschlichen  Daseins  angewandt  werden. 
An  die  ursprünglichen  Ideen  Bchliessen  sich  die  abgeleiteten  oder  gesel lschaft- 
lichen  ethischen  Ideen  an,  insbesondere  die  Idee  der  Rechtsgesellschaft,  des 
LohnsyBtems,  des  Verwaltungssy stems^  des  Cultursystems  und  der  be- 
seelten Gesellschaft,  die  der  Reihe  nach  auf  die  Ideen  des  Rechts,  der  Ver- 
geltung, des  Gemeinwohls,  der  geistigen  Vollkommenheit  und  der  inneren  Freiheit 
basirt  sind.  Nur  die  Vereinigung  aller  Ideen  kann  dem  Leben  in  sanfter  Führung 
die  befriedigende  Richtung  anweisen.  Die  beiden  letzten  Ideen  bilden  auch  die 
Grundlagen  des  Naturrechts,  das  also  nicht  wie  bei  Kant  vollständig  von  der  Moral 
getrennt  werden  muss.  —  Ist  die  Metaphysik  Herbarts  realistisch,  so  trägt  seine 
Ethik  einen  entschieden  idealistischen  Charakter,  und  er  weist  es  zurück,  die  Ethik 
in  die  Physik  aufgehen  zu  lasseu,  sie  zu  einer  nur  erklärenden  Wissenschaft  zu 
machen. 


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§  35.  Herbart. 


401 


Die  Grandlage  des  religiösen  Glaubens  liegt  nach  Herbart  in  der  Natur- 
betrachtung, die  Ausbildung  desselben  aber  i-t  durch  die  Ethik  bedingt.  Die 
Zweckmässigkeit,  die  sich  in  den  höheren  Organismen  bekundet,  kann  weder  auf 
Zufall  zurückgeführt,  noch  auch  als  eine  blosse  Form  unseres  Denkens  der  Natur 
selbst  abgesprochen  werden.  Sic  findet  ihren  zureichenden  Erklärungsgrund  nur 
in  einer  göttlichen  Intelligenz,  von  welcher  die  Ordnung  der  einfachen  realen  Wesen 
herrühren  muss.  Eine  zwecksetzende  Intelligenz  ist  zwar  nicht  erwiesen,  aber  sie 
ist  doch  in  dieser  teleologischen  Form  ausreichend  begründet  Ein  wissenschaft- 
liches Lehrgebäude  der  natürlichen  Theologie  ist  unerreichbar.  Herbart  meint 
selbst,  seine  Metaphysik  drohe,  Bich  ihm  zu  entfremden,  wenn  er  sie  auf  Gott  an- 
zuwenden suche.  Wichtiger,  als  die  theoretische  Ausbildung  des  Gottesbegriffs 
ist  für  das  religiöse  Bewusstsein  die  Bestimmung  desselben  durch  die  ethischen, 
mit  dem  Pantheismus  zum  Theil  unvereinbaren  Prädicate  der  Weisheit,  Heiligkeit, 
Macht,  Liebe  und  Gerechtigkeit.  Durch  den  Glauben  an  Gott  wird  ein  ethisches 
Bedürfniss  befriedigt,  sofern  der  Mensch  zu  Gott  beten  oder  wenigstens  Ruhe  finden 
kann  in  dem  Glauben  an  ihn.*) 

*)  Ob  die  Widersprüche,  welche  Herbart  in  den  , durch  die  Erfahrung  uns 
aufgedrnugenen  formalen  Begriffen"  zu  finden  meint,  wirklich  in  denselben  liegen, 
ist  mindestens  zweifelhaft.  Als  Motiv  des  wissenschaftlichen  Fortschritts  über  die 
Empirie  hinaus  bedarf  es  nicht  dieser  Widersprüche;  dieses  Motiv  liegt  vielmehr 
darin,  dass  sich  uns  nicht  bloss  die  Existenz  von  Individuen  bekundet,  sondern 
auch  von  Verhältnissen,  Werthunterschieden,  Zwecken  und  Gesetzen,  woran  Bich 
die  Bildung  unserer  logischen  Formen,  wie  auch  andererseits  unseres  ethischen 
Bewusstseins  knüpft.  Trendelenburg  sucht  in  einer  Abhandlung  über  die 
Herbartsche  Metaphysik  (in  den  Monatsberichten  der  Berliner  Akademie  der 
Wissenschaften,  Nov.  1853,  S.  654  ff.,  wiederabg.  im  zweiten  Bande  seiner  histor. 
Beitr.  zur  Philos.,  Berlin  1855,  S.  313-351)  und  in  einem  zweiten,  gegen  Eutr 
gegnungen  von  Drobisch  und  Strümpell  (in  der  Zeitschrift  für  Philos.  und  philos. 
Kritik  1854  und  1855)  gerichteten  Artikel  (Monatsber.  der  Berl.  Akad.  Febr.  1856) 
die  drei  Sätze  zu  erweisen:  1.  die  von  Herbart  in  den  allgemeinen  Erfahrungs- 
begriffen bezeichneten  Widersprüche  sind  keine  Widersprüche ;  2.  wären  sie  Wider- 
sprüche, so  wären  sie  in  seiner  Metaphysik  nicht  gelöst;  3.  wären  sie  Widersprüche, 
und  wären  sie  gelöst,  so  blieben  andere  und  grössere  ungelöst.  Bei  der  Continuität 
sind  die  Vielheit  und  die  Kleinheit  der  Theile  nicht  gegen  einander  zu  isoliren; 
das  Product  aus  ihrer  Zahl  und  Grösse  bleibt  identisch.  .Letzte*  Theile  giebt 
es  nicht.  Bei  den  Problemen  der  Inhärenz  und  des  Wechsels  möchte  die  Ver- 
schiedenheit und  der  conträre  Gegensatz  nur  künstlich  in  den  contradictorischen 
(»egeDsatz  umgesetzt  worden  sein  (vgl.  Ueberwegs  Bemerkungen  in  seinem  System 
der  Logik  §  77,  wie  auch  die  betreffenden  Abschnitte  in  Delboeufs  Essai  de 
logique  scientifique,  Liege  1865).  Der  Satz  der  Identität  und  des  Widerspruchs 
ist  nicht  ein  objectives,  die  Natur  der  Dinge  bestimmendes  Gesetz,  sondern  ein 
Gesetz,  welches  das  Subjective,  unser  Vorstellen,  wennschon  mit  Beziehung  zur 
objeetiven  Realität,  betrifft;  die  Objectivirung  desselben  zu  einem  Gesetz  der 
Dinge  ist  ein  Missverständniss,  in  welches  schon  Parmenides  verfallen  ist,  und  von 
dem  auch  Piaton  sich  nicht  frei  erhalten  hat,  das  selbst  bei  Aristoteles  in  einzelnen 
Aensserungen  einen  gewissen  Nachklang  findet,  aber  doch  gerade  durch  die  genauere 
Reflexion  des  Aristoteles  über  das  Verhältniss  des  Subjectiven  zum  Objeetiven 
principiell  überwunden  ist,  von  dem  Kant  sich  frei  erhalten  hat,  in  das  aber  Herbart 
(and  im  entgegengesetzten  Sinne  Hegel)  wieder  verfallen  ist.  Die  anscheinenden 
Widersprüche  im  Ichbegriff  hebt  Herbart  selbst  durch  die  Unterscheidung  Ver- 


stellungen ein  punctuell  einfaches  Wesen,  das  an  einer  einzelnen  Stelle  inmitten 
des  Gehirns  seineu  Sitz  habe,  voraussetze,  und  ob  ein  solches  als  Seele  überhaupt 
nur  denkbar  ist,  ist  zum  Mindesten  höchst  problematisch.  (Vgl.  Ueberwegs  Syst. 
der  Logik  §  40.)  Isolirt  gedacht,  mag  die  Einheit  als  Einfachheit  erscheinen,  wie 
andererseits  die  Vielheit,  wenn  sie  isolirt  wird,  auf  einen  exclusiven  Atomismus 
führt:  die  Thatsachcn  aber  nöthigen  vielmehr,  eine  synthetische  Einheit  anzunehmen, 
die  nicht  ein  punctuelles  Substrat  und  nicht  eine  V  ielheit  aussereinander  liegender 

Ueberweg-Hein/p,  (jrnntlrisi  HI.  7.  Aufl.  •    ■  26 


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402 


§  35.  Herbart. 


Als  ein  Versuch,  die  grosse  Förderung,  welche  der  Herbartianismus  zumeist 
dem  genetischen  Yerständuiss  von  Natur  und  Geist  gewährt,  ohne  die  bezeich- 
neten Mängel  und  insbesondere  mit  Beseitigung  der  Fiction  einer  punctuellen 
Einfachheit  der  Seele  festzuhalten  und  zu  erweitern,  darf  Benekes  Lehre  gelten. 

punctueller  Substrate,  sondern  ein  harmonisch  gegliedertes  Ganzes  sei.  Der  Punkt 
ist  nur  als  Grenze  denkbar  und  nur  in  der  Abstraction  zu  verselbständigen;  die 
angenommenen  punctuellen  Wesen  sind  hypostasirte  Abstractiouen.  Die  Fiction 
der  Kugelgestalt  der  realen  Wesen,  die  nur  didaktische  Dienste  thun  sollte,  dient 
tatsächlich  in  Herbarts  Metaphysik  auf  widerrechtliche  Weise  Eur  Weiterführung 
der  Construction  selbst,  um  wieder  abgeworfen  zu  werden,  nachdem  sie  zu  diesem 
Dienst  verwandt  worden  ist;  auf  diesem  Wechselspiel  beruht  die  Construction  des 
intelligibeln  Raumes  und  der  Attractiou  der  Elemente.  Die  Theorie  der  Selbst- 
erhaltungen  leidet  an  dem  Widerspruch,  dass  nur  das  Alte  erhalten,  und  doch 
ein  Neues  geworden  sein  soll,  welches  letztere  sogar  nach  Aufhebung  der  »Störung*, 
die  ihrerseits  keine  wirkliche  Störung  war,  beharren  soll.  In  dem  Gegensatz  der 
Vorstellungen,  die  nicht  zusammenbestehen  und  einander  nicht  aufheben  können, 
kämpfen  zwei  den  Frincipien  nach  absolute  Notwendigkeiten  miteinander,  die  nicht 
durch  einen  Compromiss  sich  abfinden  können.  Dass  ein  Quantum  gleich  den 
schwächeren  Vorstellungen  „gehemmt*  werde,  genügt  nicht;  es  raüsste  mindestens 
die  schwächere  Vorstellung  selbst  gehemmt  oder  vielmehr  ausgetilgt  werden, 
und  falls  sie  sich  beharrlich  widersetzt,  der  Kampf  bis  zur  gegenseitigen  Vernich- 
tung, um  dem  Gesetz  des  Widerspruchs  zu  genügen,  fortgehen.  Dass  es  dahin  nicht 
kommen  kann  und  dass  die  Erfahrung  Anderes  aufzeigt,  beweist  nur  die  Falschheit 
der  Functualitätshypothese  selbst.  Alb.  Lange  (die  Grundlegung  der  mathem. 
Psvchol.,  Duisb.  1865;  doch  vgl.  Cornelius  in  der  Zeitschr.  für  ex.  Ph.  VI.  Heft  3 
und  4  und  Wittstein  ebend.  VIII,  Heft  4)  hat  getadelt,  dass  eine  feste  Grösse  der 
„HemmungsBumme*  der  Rechnung  zum  Grunde  gelegt  werde;  bei  naturgesetz- 
licher Auffassung  müsste  nach  dem  Maasse  der  Beengung  der  Vorstellungen  und 
nach  dem  Maasse  ihres  Gegenstrebens  das  Resultat  bestimmt  und  nicht  dieses  letzte 
vorausgenommen  werden. 

Mit  Herbarte  Metaphysik  steht  sein  Gottesglaube  mehrfach  im  Widerstreit. 
Zweckmässige  Ordnung  der  einfachen  realen  Wesen  setzt  Realität  der  Be- 
ziehungen im  intelligibeln  Räume  voraus,  welche  doch  von  der  Metaphysik  negirt 
wird.  Als  Person  muss  Gott  nach  herbartschen  Principien  ein  einfaches  reales 
Wesen  sein,  welches,  an  sich  auf  seine  einfache  Qualität  beschränkt,  zur  Intelligenz 
nur  durch  eine  zweckmässige  Gruppirung  der  einfachen  realen  Wesen,  mit  denen  es 
zusammen  ist,  gelangen  kann;  diese  zweckmässige  Gruppirung  wäre,  da  sie  als 
Erklärungsgrund  der  göttlichen  Intelligenz  nicht  ihrerseits  aus  dieser  erklärt  werden 
kann,  eine  schlechthin  unbegreifliche  Voraussetzung,  durch  welche  die  Erklärung 
der  Zweckmässigkeit  überhaupt  nur  zurückgeschoben  wird;  Herbart  selbst  nennt 
den  Versuch,  seine  Metaphysik  auf  die  Gotteslehre  anzuwenden,  einen  Missbrauch 
der  Metaphysik  und  vergleicht  das  Verlangen  nach  einer  theoretischen  Gottes- 
erkenntniss  mit  dem  Wunsche  der  Semele,  die  sich  Verderben  erbat,  hat  aber 
nicht  den  Vortheil  Kants,  durch  ein  (vermeintlich)  erwiesenes  Nichtwissen  um  die 
Existenzweise  der  .Dinge  an  sich*  die  Abweisung  aller  theoretischen  Versuche 
begründen  zu  können.  Setzt  man  die  Qualität  desjenigen  einfachen  realen  Wesens, 
welches  Gott  ist,  als  unendlich  intensiv,  so  ist  nicht  nur  sehr  zweifelhaft,  ob  nicht 
consequentermaassen  von  Herbart  diese  Unendlichkeit  aus  demselben  Grunde  negirt 
werden  müsse,  aus  welchem  er  eine  unendliche  Zahl  von  realen  Wesen  nicht  an- 
nimmt, sondern  es  kommt  auch  und  noch  mehr  in  Frage,  ob  denn  die  blosse  Un- 
endlichkeit der  Intensität  schon  an  sich  selbst  als  ein  ordnendes  Priucip  gelten 
dürfe  und  die  Annahme  einer  anderweitig  schon  bestehenden  zweckmässigen,  die 
vernünftige  Ordnung  der  Vorstellungen  in  Gott  bedingenden  Gruppirung  realer 
Wesen  überflüssig  machen  könne;  kann  sie  es  nicht,  so  ist  es  eben  so  leicht,  wo 
nicht  leichter,  die  zweckmässige  Weltordnung  für  ewig  zu  halten  (wobei  ein  Gott 
noch  möglich,  aber  unerwiesen  wäre),  als  zwischen  einer  primitiven  Zweckmässigkeit 
und  der  gegenwärtigen  Weltordnung  Gott  eine  Mittelstellung  zu  geben.  Herbarts 
Ethik  undAesthetik  überhaupt  steht  ohne  Gemeinsamkeit  des  Priucips  neben 
seiner  theoretischen  Philosophie;  es  ist  höchst  fraglich,  ob  das  vermeintlich  im 
Interesse  der  Reinheit  der  sittlichen  Auffassung  aus  seiner  Bedingtheit  durch  die 
natürlichen  Werthunterschiede  der  geistigen  Functionen  hinausgehobene,  für  absolut 


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§  36.   Beneke.  403 

§  36.  Friedrich  Eduard  Beneke  (1798—1854)  hat  im  Gegensatz 
besonders  zu  Hegels  und  auch  zu  Herbarts  Speculation,  aber  im 
Anßchluss  an  manche  Doctrinen  englischer  und  schottischer  Philo- 
sophen, wie  auch  Kants,  F.  H.  Jacobis,  Fries',  Schleiermachers,  Schopen- 
hauers und  Herbarts,  eine  psychologisch-philosophische  Doctrin 
ausgebildet,  welche  sich  ausschliesslich  auf  die  innere  Erfahrung 
stützt,  von  der  Ueberzeugung  geleitet,  dass  wir  uns  selbst  psychisch 
durch  das  Selbstbewusstsein  mit  voller  Wahrheit,  die  Aussenwelt 
aber  mittelst  der  Sinne  nur  unvollkommen  zu  erkennen  vermögen 
und  nur  insofern  ihr  Wesen  erfassen,  als  wir  Analoga  unseres 
psychischen  Lebens  den  sinnlichen  Erscheinungen  unterlegen.  Alle 
complicirteren  psychischen  Vorgäuge  leitet  Beneke  aus  vier  elemen- 
taren psychischen  Vorgängen  oder  „Grundprocessen"  ab,  nämlich 
dem  Process  der  Reizaneignung,  dem  Process  der  Bildung  neuer 
psychischer  Elementarkräfte  oder  „Urvermögen",  dem  Process  der 
Ausgleichung  oder  Uebertragung  von  Reizen  und  von  Vermögen, 
wodurch,  sofern  gewisse  Gebilde  einen  Theil  ihrer  Elemente  verlieren, 
diese  Gebilde  unbewusst  werden  oder  als  blosse  Spuren  fortexistiren, 
sofern  aber  eben  jene  Elemente  anderen  Gebilden  zufliessen,  diese 
letzteren  Gebilde,  falls  sie  unbewusst  waren,  zum  Bewusstsein  erregt, 
falls  sie  bereits  bewusst  waren,  in  der  Bewusstheit  gesteigert  werden, 
endlich  dem  Process  der  gegenseitigen  Anziehung  und  Ver- 
schmelzung gleichartiger  Gebilde.  In  der  Zurückfuhrung  der 
complicirten  psychischen  Erscheinungen  auf  diese  „Grundprocesse"  liegt 
Benekes  wesentliches  Verdienst,  welches  auch  dann  einen  entschiedenen 
Werth  für  die  Psychologie  und  für  alle  übrigen  Zweige  der  Philo- 
sophie, sofern  sie  auf  der  Psychologie  beruhen,  behaupten  wird,  wenn 
die  Auffassung  dieser  Grundprocesse  selbst  einer  durchgängigen  Um- 
bildung bedarf. 

Die  Moral  basirt  Beneke  auf  die  ursprünglich  in  Gefühlen  sieh 
kundgebenden  natürlichen  Werthverhältnisse  der  psychischen  Functionen. 
Was  das  diesen  Verhältnissen  gemäss  nicht  bloss  für  den  Einzelnen, 
sondern  für  die  Gesammtheit  derer,  auf  welche  unser  Verhalten 

erklärte  Urtheil  des  Gefallens  und  Missfallens  als  letzter  Grund  des  Schönen  nnd 
des  sittlichen  gelten  dürfe,  nnd  ob  es  insbesondere  die  sittliche  Verbindlichkeit 
genügend  zu  erklären  vermöge.  Eine  .Schönheit",  die  in  blossen  Verhältnissen  als 
solchen  liegt,  oder  eine  Form,  zu  welcher  der  Inhalt  nur  als  der  unentbehrliche 
Träger  gesucht  wird,  entspricht  dem  Princip  der  sophistischen  Rhetorik  (z.  B.  eiues 
Aelius  Aristides);  wahrhaft  befriedigend  ist  die  ästhetische  Form  nur  als  adäquater 
Ausdruck  eiues  werthvollen  Inhalts;  die  nämliche  Form  oder  das  nämliche  Ver- 
hältniss  befriedigt  oder  missfällt  je  nach  der  Natur  des  Inhalts;  daher  gehört  die 
Beziehung  zwischen  Inhalt  uud  Form  in  den  Begriff  der  Schönheit  selbst  als  des 
objectiven  Grundes  des  subjektiven  ästhetischen  Wohlgefallens.  Vgl.  Trendelenburg, 
II. s  praktische  Philosophie  und  die  Ethik  der  Alten,  in  den  Abhandl.  der  Berliner 
Akad.  der  Wiss.  1856,  jetzt  auch  im  3.  Bande  von  Tr.a  hist.  Beitr ,  Berlin  1867, 
S.  122—170,  uud  dagegen  Allihn  in  der  Zeitschr.  f.  exaete  Philos.    VI,  1,  1865. 

26* 


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404 


§  36.  Beneke. 


Einfluss  haben  kann,  so  weit  wir  dies  zu  ermessen  vermögen,  Werth- 
vollste ist,  das  ist  zugleich  das  sittlich  Gute.  Die  sittliche  Freiheit 
besteht  in  einer  so  entschieden  überwiegenden  Begründung  des  Sitt- 
lichen im  Menschen,  dass  allein  durch  dieses  das  Wollen  und  Handeln 
bestimmt  wird.  Wenn  in  Beziehung  auf  unser  eigenes  Handeln  neben 
eine  irgendwie  abweichende  Schätzung  oder  Strebung  die  Vorstellung 
oder  das  Gefühl  der  für  alle  Menschen  gültigen  wahren  Schätzung 
tritt,  so  liegt  hierin  das  Gewissen.  Auf  die  Psychologie  und  Ethik 
gründet  sich  die  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre,  an  deren  Aus- 
bildung Beneke  mit  Liebe  und  Erfolg  gearbeitet  hat.  Seine  Religions- 
philosophie hat  eine  strenge  Scheidung  der  Gebiete  des  Wissens  und 
des  Glaubens  zur  Voraussetzung. 

Ueber  Benekes  Entwickelungsgang  hat  <>r  selbst  besonders  in  seiner  Schrift: 
Die  neue  Psycho!. ,  Berl.  1845,  3.  Aufsatz,  S.  76  ff. :  „Ueber  d.  Verhältnis«  meiner 
Psycho!,  zu  der  herbartschen*,  sich  geäussert.  In  der  Vorrede  zu  seinen  „Beitr.  zu  der 
Seelenkrankheitskunde",  1824,  S.  VII  ff.  erklärt  er  sich  über  einige  Conflicte.  In 
Diesterwegs  pädag.  Jahrbuch  auf  1856  steht  eine  Biographie  Benekes  von  Dr.  Schmidt 
in  Berlin,  wozu  Dressier  ebd.  einen  Nachtrag  giebt.  Kine  kurze  Charakteristik  der 
Ȋmtntl.  Schriften  Benekes  nach  der  Zeitfolge  ihres  Erscheinens  giebt  Joh.  Gottlieb 
Dressler  im  Anhang  zu  der  von  ihm  herausgegebenen  4.  Aufl.  des  von  Beneke  ver- 
fassten  Lehrbuchs  der  Psychologie,  Berl.  1877  (auch  besond.  abgedr.).  Vgl.  auch 
C.  W.  Freimuth,  die  wichtigsten  Grundlehren  u.  Vorzüge  der  neuen  Psychol.  Benekes, 
1845.  L.  Noack,  B.  u.  s.  psychologisch.  Forschungen,  in:  Psyche,  2,  1859,  S.  129—150, 
s.  auch  5.  Bd.,  1862,  S.  125—1:57.  Dressier,  Ist  B.  Materialist?  1862.  Adalbert  Weber, 
Kritik  der  Psychol.  von  Beneke,  Leipziger  Inaug.-Diss.,  Weimar  1872.  Nicmeyer, 
Beneke  u.  d.  kirchl.  Anthropologie,  Seh.-Pr.,  Itzehoe  1876.  Kine  populäre  Darstellung 
der  Grundzüge  der  benekeschen  Psychologie  enthält  die  Schrift:  G.  Kaue,  die  neue 
Seelenl.  B.s  nach  method.  Grundsätzen  in  einfach  entwickelnder  Weise  für  Lehrer 
bearbeitet,  Bautzen  1847,  besorgt  dann  von  Dressler,  Mainz  1876.  S.  auch  den  Artikel 
üb.  Ueneke  von  Flashar,  in:  Schmids  Encvklop.  des  gesammt.  Erziehungs-  u.  Unter- 
riclitswesens. 

Benekes  Schriften  und  Abhandlungen  (abgesehen  von  den  noch  zu  er- 
wähnenden Kecensionen)  sind  folgende: 

Erkcnntnisslehre  nach  dem  Bewusstsein  der  reinen  Vernunft  in  ihren  Grund- 
zügen  dargelegt,  Jena  1820.  (Polemisch  besonders  gegen  die  Apriorität  der  Formen  der 
Erkenntnis*.) 

Erfahrungsseelenlehre  als  Grundlage  alles  Wissens  in  ihren  Hauptzügen  darg., 
Berl.  1820.  (B.  erklärt,  es  sei  in  dieser  Schrift  keineswegs  seine  Absicht,  eine  Erfahrung«- 
seelenlchre  als  vollständige  Wissenschaft  aufzustellen,  sondern  nur  zu  zeigen,  wie  und 
wo  in  ihr  alle  menschlichen  Erkenntnisse  ihn-  Wurzeln  treiben.) 

De  veris  philosophiae  initiis  diss.  inaitg.  publ.  def.  die  IX.  mensis  Aug. 
anni  MDCCCXX.  (B.  sucht  nachzuweisen:  „philosophiae  scopum  a  cognitione  per 
experientiam  acquisita  attingendum  esse",  und  vergleicht  das  entgegengesetzte,  aus 
Einem  obersten  Princip  ohne  Hülfe  der  Erfahrung  deducirende  Verfahren  mit  dem 
thoriehten  Versuch,  ein  Haus  vom  Dache  aus  zu  bauen.  Die  dialektische  Methode,  die 
auf  der  Voraussetzung  einer  vom  Allgemeinen  zum  Besonderen  fortschreitenden  Selbst- 
bewegnng  des  Begriffs  beruht,  ist  unmöglich.) 

Neue  Grundlegung  zur  Metaphysik,  als  Programm  zu  seinen  Vorlesungen 
üb.  Logik  u.  Metaphysik  dem  Druck  übergeben,  Herl.  1822.  (Eine  treffliche  kleine 
Schrift,  worin  B.  mit  grosser  Präcision  die  von  ihm  seitdem  stets  festgehaltenen  Grund- 
züge  der  „Metaphysik*  darlegt.) 

Grundlegung  zlzr  Physik  der  Sitten,  ein  Gegenstück  zu  Kants  Grundlegung 
zur  Metaphysik  der  Sitten,  nebst  einem  Anhange  üb.  d.  Wesen  u.  d.  Krkenntnissgrcuzcn 
d.  Vernunft,  Berl.  1822.   (Diese  Schrift  gab  um  des  angeblich  in  ihr  gelehrten  „Epikureis 
mus"   willen  zu  der   Muassregelung  Benekes   den  Anlass,   weshalb  B.  derselben  eine 
.Schutzschrift  für  meine  Grundlegung  zur  Physik  der  Sitten",  Leipz.  1 823,  nachfolgen 


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§  36.  Beneke. 


405 


Hess.  Im  Gegensatz  zu  Kants  kategorischem  Imperativ  will  Beneke  die  Moral  auf  das 
Gefühl  begründet  wissen;  er  poleinisirt  im  Anschluss  an  Friedr.  Heinr.  Jacohi  gegen 
den  Despotismus  der  Kegel  und  in  Uehereinsiimmung  mit  Herbart  zu  Gunsten  des 
Determinismus  gegen  Kants  Annahme  eiuer  „transscendeutalen  Freiheit1*.) 

Beiträge  zu  einer  rein  seelenwisseusehaftl.  Bearbeitung  der  Seclenkrankhetts- 
k unde,  nehst  einem  vorgedruckt.  Sendschreiben  an  Herhart:  »Soll  die  Psychologie 
metaphysisch  oder  physisch  begründet  werden?*  Leipz.  1824. 

Psychologische  Skizzen.  I.  Bd.:  Skizzen  z.  Naturlehre  d.  Gefühle,  in  Ver- 
bindung mit  einer  erläut.  Abhandlung  über  die  Bewusstwerdung  der  Seelenthätigkeiten, 
Gotting.  1825.  («Den  Manen  uuseres  unvergesslichen  Friedr.  Heinr.  Jucobi  als  ein 
Todtenopfer  der  dankbarsten  Liebe  und  Verehrung  dargebracht.")  II.  Bd.:  Ueber  die 
Vermögen  der  menschl.  Sende  und  deren  allmähliche  Ausbildung,  ebd.  1827.  Das  Ver- 
hältnis« von  Seele  und  Leib.  ebd.  1826.  (In  diesen  zusammengehörigen  Schriften 
giebt  Beneke  zuerst  eiue  allseitige  Durchführung  seiner  psychologischen  Doctrin.) 

Grundsätze  der  Civil-  und  Criminalgesetzgebung,  au»  den  Handschriften 
des  englischen  Rechtsgelehrten  Jeremias  Bentham  hrsg.  von  Etienne  Dumont,  Mit- 
glied des  repräsentativen  Rathes  von  Genf.  Nach  der  2.  verb.  u.  verm.  Aufl.  bearbeitet 
um!  mit  Anmerkgn.  versehen  von  F.  E.  Beneke,  2  Bde.,  Berl.  1830.  (Bentham  ist 
„Utilitarier" ;  sein  Moralprincip  ist  die  »Maximisation  des  Glücks  oder  Wohls"  und  die 
„Minimisation  des  Hebels":  was  nicht  bloss  Einzelnen,  sondern  der  möglichst  grossen 
Anzahl  von  Menschen  das  möglichst  grosse  Glück  oder  Wohl  verschafft,  das  soll  ein 
Jeder  erstreben,  und  eben  darauf  soll  die  Gesetzgebung  abzwecken.  Vgl.  unten. 
Ueber  Benekes  Bearbeitung  urtheilt  Warnkönig  in  seiner  Ke.  htsphilos.  S.  87  f.:  .Beneke 
bearbeitete  die  Traites  de  lcgislation  auf  eine  deutscher  Gründlichkeit  würdige  Weise,  so 
dass  erst  durch  ihn  die  ganze  Theorie  eine  festere  Grundlage,  richtige  Haltung  und  die 
ihr  fehlende  Genauigkeit  erhielt.  Die  eigenen  Ansichten  Benekes,  dargelegt  in  der  Vorrede 
zu  Bd.  I,  S.  XIX — XXIV,  dürfen  mit  Benthams  System  nicht  verwechselt  werden.") 

Kant  u.  die  philos.  Aufgabe  unserer  Zeit;  eine  Jubeldenkschrift  auf  die 
Kritik  der  reinen  Vernunft,  Berl.  18:52.  (Für  das  Jahr  1831  bestimmt,  da  1781  die 
1.  Ausg.  der  Vernunftkritik  erschienen  war,  in  Folge  einer  Verzögerung  des  Drucks  aber 
erst  1832  ausgegeben.  B.  sucht  zu  zeigen,  das  Kants  Absicht  auf  die  Aufhebung  der 
den  Erfahrungskreis  überschreitenden  Speculation  gerichtet  gewesen  6ei,  dass  aber  das 
von  ihm  in  der  Vernunftkritik  eingehaltene  aprioristische  Verfahren  eine  Mitschuld  au 
der  Nichterreichung  dieser  Absicht  und  dem  Wiederaufkommen  der  empirielosen  Specu- 
lation über  das  .Absolute"  trage.) 

Lehrbuch  der  Logik  als  Kunstlehre  des  Denkens,  Berl.  1832. 

Lehrbuch  der  Psychologie  als  Naturwissenschaft,  Berl.  1833,  4.  Aufl. 
1877.  (Dressler.  der  die  3.  Aufl.  besorgt  hat,  sagt  mit  Recht,  diese  Schrift  .bilde 
gleichsam  den  Grundstock  zu  allen  sonstigen  Werken  Benekes" ;  sie  .führe  die  Principien 
der  muen  Seelenlehre  am  präcisesten  vor.  Nach  ihr  zumeist  soll  unten  die  Darstellung 
der  Doctrin  Benekes  gegeben  werden.) 

Die  Philosophie  in  ihrem  Verhältniss  zur  Erfahrung,  zur  Speculation  und  zum 
Leben  dargestellt,  Berl.  1833. 

Erziehungs-  und  Unterrichtslehre,  2  Bde.,  Berl.  1835—36,  2.  verm.  und 
verb.  Aufl.,  ebd.  1842,  3.  Aufl.  besorgt  von  J.  G.  Dressier,  ebd.  1864,  4.  Aufl.  1876. 
(Der  I.  Band  enthält  die  Erziehungs-,  der  II.  die  Unterrichtslehre.  Besonders  in  Folge 
der  in  dieser  Schrift  vollzogenen  Anwendung  der  Psychologie  zur  wissenschaftliehen 
Begründung  eines  praktischen  pädagogischen  Systems  hat  sich  die  benekesche  Doctrin 
in  einem  ziemlich  zahlreichen  Kreise  von  Schulmännern  verbreitet.) 

Erläuterungen  über  die  Natur  und  Bedeutung  meiner  psychologischen 
Grundhypothesen,  Berl.  1836. 

Unsere  Universitäten  und  was  ihnen  Noth  thut,  in  Briefen  an  Dr.  Diesterweg, 
Berl.  1836.  (Veranlasst  durch  Diesterwegs  Schrift:  .Die  Lebensfrage  der  Civilisation".) 

Grundlinien  des  natürl.  Svst.  der  praktischen  Philos.,  Bd.  I:  Allgemeine 
Sittenlehre,  Berl.  1837.  Bd.  II:  Specielle  Sittenlehre,  ebd.  1840.  Bd.  III:  Grundlinien 
des  Naturrechts,  der  Politik  und  de«  philos.  Criniinalrechts,  allgem.  Begründung,  ebd.  1838. 
(Der  ausserdem  noch  beabsichtigte  specielle  Theil  des  Naturrechts  ist  nicht  erschienen. 
Beneke  selbst  erklärte  die  Sittenlehre  für  sein  gelungenstes,  ihn  am  meisten  befriedi- 
gendes Werk.) 

Svlloginniorum  analyticoruin  origines  et  ordinem  naturalem  demonstravit  Frid. 
Ed.  Beneke,  Berol.  1839. 

System  der  Metaphysik  und  Religionsphilos.  Aus  den  natürlichen  Grund- 
verhältnissen des  menschl.  Geistes  abgeleitet,  Berl.  1840. 


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406 


§  36.  Beneke. 


System  der  Logik  als  Konstiehre  des  Denken»,  2  Bde.,  Berl.  1842.  (Eine 
Ausführung  der  in  dem  .Lehrbuch*  von  1832  niedergelegten  Grundtage.  Beneke  sondert 
die  Betrachtung  des  .analytischen*  Denkens  von  der  des  »synthetischen*  und  scheidet 
die  in  der  .Metaphysik'  behandelten  erkenntnisstheoretischen  Probleme  aus:  vgl.  darüber 
L'eberweg»  Kritik  in  §  34  seines  ,8yst.  der  Logik*.) 

Die  neue  Psychologie.  Erläuternde  Aufrätze  zur  2.  Aufl.  meines  Lehrbuchs 
der  Psychologie  als  Naturwissenschaft,  Berl.  1845. 

Die  Reform  und  die  Stellung  unserer  Schulen,  ein  philosophisches  Gutachten, 
Berl.  1848. 

Pragmatische  Psychologie  oder  Seelenlehre  in  der  Anwendung  auf  das  Leben, 
2  Bde.,  Berl.  1850. 

Lehrbuch  der  pragmatischen  Psychologie.  Berl.  1853. 

Archiv  für  die  pragmatische  Psychologie,  3  Bde.,  Berl.  1851—53. 

Friedrich  Eduard  Beneke,  geb.  zu  Berlin  am  17.  Februar  1798,  geat  eben- 
daselbst am  1.  Märe  1864,  erhielt  seine  Gymnasialbildung  in  seiner  Vaterstadt  auf 
dem  damals  unter  Beruhardis  Leitung  stehenden  Fridericianum,  nahm  1815  am 
Feldzug  Theil  und  studirte  dann  Theologie  und  Philosophie  in  Halle  und  Berlin. 
Neben  de  Wette,  der  ihn  auf  Fries  hinwies,  gewann  besonderen  Einfluss  auf  ihn 
Schleiermacher,  dem  er  eine  seiner  frühesten  Schriften  gewidmet  hat.  Privatim 
stndirte  B.  theils  die  neuere  englische  Philosophie,  theils  Schriften  Garves,  Platners, 
Kants  und  Friedr.  Heinr.  Jacobis;  die  sämmtlichen  Werke  des  Letzteren  hat  B.  in 
der  Zeitschr.  Hermes,  Bd.  XIV.,  1822,  S.  255-339  receusirt.  Auch  Schopenhauers 
Schriften  bat  er  früh  seine  Aufmerksamkeit  zugewandt,  wovon  die  oben  (§27,  S.  351) 
citirte  Recension  zeugt  Erst  als  seine  drei  frühesten  Schriftchen,  s.  o.,  bereits 
erschienen  waren,  lernte  B.  eine  Schrift  Herburts  keuuen,  uämlich  die  2.  Aufl.  dea 
.Lehrb.  znr  Einl.  in  die  Philos.*  (1821),  nachdem  er  vorher  nur  eine  oberflächliche 
Kunde  von  dessen  Ansichten  (vielleicht  durch  Stiedenroths  Theorie  des  Wissens, 
Gotting.  1819)  erlangt  hatte.  Von  nun  an  widmete  er  Herbarts  Schriften  ein  sehr 
lebhaftes  Interesse;  viele  derselben  hat  er  recensirt.  Er  fand  in  Herbart  den 
scharfsinnigsten  und  nach  Jacobis  Tode)  tiefsten  unter  den  damals  lebenden  deutschen 
Philosophen.  Wenn  aber  Herbart  seine  Psychologie  auf  .Erfahrung,  Mathematik 
und  Metaphysik"  busirt,  so  wies  B.  ebensowohl  die  metaphysische  Begründung,  wie 
die  Anwendung  der  Mathematik  ab  und  hielt  sich  ausschliesslich  au  die  innere  Er- 
fahrung, die  er  nur  nach  derselben  Methode,  nach  welcher  die  Naturwissenschaften 
die  äussere  Erfahrung  ratioualisiren,  wissenschaftlich  verwerthen  will;  er  giebt  nicht 
zu,  dass  sich  in  den  dnreh  die  Erfahrung  dargebotenen  Begriffen  Widerspräche 
finden,  and  dass  es  einer  metaphysischen  Speculation  bedürfe,  welche  diese  nach 
der  .Methode  der  Beziehungen"  wegschaffe.  In  der  Annahme  einer  punctuellen 
Einfachheit  der  menschlichen  Seele  findet  er  den  Grundfehler  der  herbartschen 
Psychologie,  in  dessen  Consequenz  eine  durchgängige  Trübung  der  aus  der  inneren 
Erfahrung  geschöpften  Einsicht  liege.  B.  billigt  Herbarts  Polemik  gegen  die- 
jenigen „Seelenvermögen",  die  nur  hypostasirte  Classenbegriöe  psychischer  Er- 
scheinungen seien  und  doch  als  Erklärungsgründe  eben  dieser  Erscheinungen  dienen 
sollen;  aber  er  hält  an  der  Gültigkeit  des  Vermögensbegriffs  überhaupt  und  auch 
an  der  Annahme  einer  Mehrheit  psychischer  Vermögen  fest.  Er  sucht  die  compli- 
cirten  psychischen  Erscheinungen  auf  wenige  psychische  Grundvorgänge  zurück- 
zuführen. (Diese  Grundvorgänge  hat  B.  grösstentheils  schon  in  der  1820,  vor  seiner 
Bekanntschaft  mit  Herbarts  Schriften  veröffentlichten  .  Erfahrangsseelenlehre " 
bezeichnet,  jedoch  mehr  sporadisch,  als  in  vollständiger  wissenschaftlicher  Ent- 
wickelung;  das  durchgeführte  Lehrgebäude  der  Psychologie  ist  nicht  ohne  einen 
wesentlichen  herbartschen  Miteinfluss  entstanden.)  Im  Jahre  1822  wurde  B.  nach 
Veröffentlichung  seiner  Schrift:  „Grundlegung  zur  Physik  (Naturlehre)  der  Sitten« 


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§  36.  Beueke. 


407 


von  einem  Verbot  seiner  Vorlesungen  betroffen.  B.  will  ermittelt  haben,  das»  Hegel 
dasselbe  bei  dem  ihm  befreundeten  Minister  v.  Altenstein  ausgewirkt  habe,  um 
keine  der  seinigen  feindliche,  der  schleiermacherschen  und  friesschen  Doctrin  aber 
näher  stehende  Philosophie  neben  Beiner  eigenen  an  der  berliner  Universität  auf- 
kommen zu  lassen.  In  verschärfender  Interpretation  illiberaler  Bundesbeschlüsse 
fand  Altenstein,  durch  fernere  Schritte  Benekes  gereizt,  das  Mittel,  die  sächsische 
Regierung,  von  der  B.  für  ein  Ordinariat  der  Philosophie  designirt  war,  zur  Nicht- 
anstelluiig  eines  —  obschon  politisch  unverdächtigen  —  Privatdocenten,  dem  in 
Preussen  die  Venia  legendi  entzogen  worden  war,  zu  uöthigen.  B.  fand  ein  Asyl 
in  Göttingen,  wo  er  von  1824—1827  docirte;  dann  kehrte  er  nach  erlangter  Er- 
laubniss  als  Docent  nach  Berlin  zurück  und  erhielt  daselbst  1832,  nicht  lange  nach 
Hegels  Tode,  eine  ausserordentliche  Professur,  die  er,  als  Docent  und  Schriftsteller 
unablässig  thätig,  bis  zu  seinem  Tode  bekleidet  hat  Er  ertrank,  wie  man  meint, 
nicht  ohne  eigenen  Vorsatz. 

Wie  schwierig  auch,  sagt  B.  in  der  Einleitung  zu  seinem  „ Lehrbuch  der  Psychol. 
als  Naturwissenschaft",  die  reale  Begrenzung  der  Seele  gegen  das  Körperliche  sein 
mag,  so  haben  wir  doch  für  die  Begründung  unserer  Wissenschaft  eine  durchaus 
klar  bestimmte  und  scharfe  Greuzlinie:  Gegenstand  der  Psychologie  ist  alles, 
was  wir  durch  die  innere  Wahrnehmung  und  Empfindung  auffassen,  was  wir  durch 
äussere  Sinne  auffassen,  ist  wenigstens  zunächst  und  unmittelbar  nicht  geeignet, 
von  ihr  verarbeitet  zu  werden,  sondern  muss,  wenn  es  benutzt  werden  soll,  erst  auf 
Auffassungen  jener  ersteren  Art  gedeutet  werden. 

Die  Methode  der  Psychologie  muss  mit  der  Methode  der  Wissenschaften 
von  der  äusseren  Natur  übereinkommen.  Von  Erfahrungen  ist  auszugehen,  und  diese 
sind  (durch  Induction,  Hypothesenbildung  etc.)  rationell  zu  verarbeiten. 

Die  Psychologie  ist  nicht  auf  die  Metaphysik,  sondern  umgekehrt  die  Meta- 
physik wie  auch  alle  andern  philosophischen  Wissenschaften,  auf  die  Psychologie 
zu  basiren. 

In  der  Verbannung  der  »angeborenen  Begriffe14  (besonders  durch  Locke)  und 
der  angeborenen  abstracten  „Seelenvermögen"  (durch  Herbart  und  durch  Beneke 
selbst)  findet  B.  die  Hauptstädten  des  Fortschritts  der  wissenschaftlichen  Psychologie. 
Doch  ist  nicht  der  Vermögensbegriff  überhaupt  zu  verwerfen,  sondern  es  sind  nur 
statt  der  fälschlich  als  ursprünglich  gesetzten  „Vermögen"  (wie  Verstand,  Urtheils- 
kraft  etc.),  welche  hypostasirte  Classenbegriffe  sehr  complicirter  Erscheinungen  sind, 
die  wahrhaft  elementaren  Vermögen  oder  »Urvermögen"  zu  bestimmen.  Das  Wirkende 
in  dem  Geschehen  ist  die  Kraft  oder  das  Vermögen.  Die  Vermögen  sind  aber  nicht 
blosse  Möglichkeiten,  sondern  im  Inneren  der  Seele  in  eben  dem  Maasse  wirklich, 
wie  die  Entwickelungen,  welche  durch  sie  möglich  werden,  als  bewusste  Vorgänge 
wirklich  sind.  Die  Vermögen  sind  die  Bestandteile  der  Substanz  selbst;  sie  haben 
keinen  von  ihnen  selbst  verschiedenen  Träger.  Das  Ding  ist  nur  die  Gesamratheit 
der  mit  einander  vereinigten  Kräfte. 

Die  nächste  Aufgabe  der  Wissenschaft  ist,  die  unmittelbar  vorliegenden  Erfolge 
in  die  einfachen  zu  zerlegen,  d.  h.  auf  die  Grundprocesse  oder  Grundgesetze  zurück- 
zuführen; sind  diese  erkannt,  so  sind  dann  aus  ihnen  die  Kräfte  zu  erschliessen. 

Die  psychischen  Grundprocesse,  welche  Beneke  annimmt,  sind  folgende. 

Erster  Grundprocess.  Von  der  menschlichen  Seele  werden,  in  Folge  von 
Eindrücken  oder  Reizen,  die  ihr  von  aussen  kommen,  sinnliche  Empfindungen 
und  Wahrnehmungen  gebildet,  und  zwar  vermittelst  iunerer  Kräfte  oder 
Vermögen,  durch  welche  die  Aufnahme  und  Aneignung  der  Reize  geschieht  Die 
Vermögen,  welche  die  Reize  pereipiren,  sind  die  ,Ur vermögen*  der  Seele.  B. 
schreibt  einem  jeden  der  Sinne  nicht  Ein  „Urvermögen",  sondern  eine  Mehrheit  von 


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§  36.  Beneke. 


„Unvermögen**  zu,  die  je  Ein  System  ausmachen;  er  läset  jeden  einzelnen  sinnlichen 
Reiz  durch  je  ein  „Urvermögen"  aufgenommen  werden.*) 

Zweiter  Grundprocess.  Der  menschlichen  Seele  bilden  sich  fort- 
während neue  ürvermögen  an.  Beneke  schliesst  auf  diesen  Process,  der  nicht 
unmittelbar  innerlich  wahrnehmbar  ist,  aus  dem  Umstände,  dass  von  Zeit  zu  Zeit 
in  Betreff  der  Ürvermögen  eine  Erschöpfung  eintrete,  eine  Unfähigkeit,  sinnliche 
Wahrnehmungen  oder  andere  Thätigkeiten  zu  bilden,  welche  ein  Eingehen  von  freien 
Ürvermögen  fordern,  und  dass  diese  dann  später  wieder  für  einen  mehr  oder  weniger 
ausgedehnten  Verbrauch  vorliegen.  Beneke  vergleicht  diesen  Process  mit  der  den 
LebeQsprocess  der  vegetabilischen  Organismen  ausmachenden  Anbildung  von  Kräften 
durch  Assimilation  der  Nahrungsstoffe.  Er  hält  die  Annahme  für  wahrscheinlich, 
dass  die  neuen  ürvermögen  vermöge  einer  eigentümlichen  Umbildung  aus  den  von 
unseren  Sinnen  aufgenommenen  Reizen  hervorgehen,  unter  Miteinwirkung  aller  der 
(geistigen  und  leiblichen)  Systeme,  welche  zu  dem  Einen  menschlichen  Sein  ver- 


*)  Die  „Ürvermögen*  sind  die  elementarsten  Thcile  der  psychischen  Substanz. 
Eh  läast  sich  die  Fragt-  aufwerfen,  wie  sich  diese  von  Beneke  sogenannten  „Ür- 
vermögen" zu  den  Ganglienzellen  oder  den  Elementen  der  Ganglienzellen  im  Gehirne 
verhalten.  Der  Unterschied  des  Leiblichen  und  Psychischen  überhaupt  ist  ein 
Unterschied  der  Auffassung,  nicht  des  Seins.  Das  Nämliche  kann  theils  innerlich 
im  Selbstbewußtsein,  theils  äusserlich  durch  die  Sinne  aufgefasst  werden;  im  ersten 
Falle  erkenneu  wir  es  als  ein  solches,  wie  es  an  sich  ist:  im  andern  Falle  aber  trägt 
unsere  Auffassung  nur  einerseits  den  Charakter  des  Aufzufassenden  an  sich,  ist  aber 
andererseits  durch  die  Natur  des  pereipirenden  Subjectes  mitbedingt;  die  räumliche 
Ausdehnung  im  eigentlichen  Sinne  dieses  Wortes  als  Ausdehnung  in  drei  Dimensionen 
gehört  (nach  Benekes  freilich  sehr  anfechtbarer  Doctriu)  uur  der  sinnlichen  Er- 
scheinung an,  während  dem  Realen  an  sich  ein  Nebeneinander  nur  in  einem  solchen 
Sinne  zukomme,  wie  etwa  ein  Gedanke  neben  einem  audern  Gedanken  in  uus  existire; 
alle  Materialität  gehört  demnach  nur  der  Erscheinung  an.  Nun  besteht  aber  sowohl 
dasjenige,  was  wir  durch  die  innere  Wahrnehmung  als  etwas  Psychisches  erkennen, 
als  auch  an  sich  selbst  dasjenige,  was  uns  vermöge  der  Sinne  als  etwas  Materielles 
erscheint,  aus  mehreren  Systemen  von  Kräften.  Es  wäre  denkbar,  dass  diese 
sämmtlich  die  zweifache  Auffassung  zuliessen;  aber  es  wäre  ebensowohl  auch  denkbar, 
dass  ein  Theil  der  Systeme  nur  äusserlich,  ein  anderer  nur  innerlich  wahrnehmbar 
sei,  und  drittens  auch,  dass  einige,  nämlich  die  niedrigsten  Systeme  nur  äusserlich, 
andere,  nämlich  die  höchsten,  nur  innerlich,  gewisse  mittlere  Systeme  aber  wenigstens 
unter  Umständen  auf  beide  Weisen  wahrgenommen  werden 'könnten.    Beneke  hält 


einzelnen  „Ürvermögen"  mit  den  kleinsten  mikroskopisch  wahrnehmbaren  Theilen 
des  Gehirns,  etwa  mit  den  Ganglienzellen,  identisch  seien,  nach  Benekes  Principien 
zwar  nicht  unmöglich,  wird  aber  von  ihm  nicht  aufgestellt,  indem  er  vielmehr  die 
Ansicht  für  die  richtige  zu  halten  geneigt  ist,  dass  die  psychische  Substanz  von 
dem  Gehirn  auch  realiter  verschieden  sei.    Zwischen  allen  höheren  und  niederen 


,  mögen  dieselben  in  der  einen  oder  in  der  andern  Form  erscheinen,  findet 


dessen  Möglichkeit  auf  der  zwischen  ihnen  allen  nach  ihrem  Ansichsein  bestehenden 
Gleichartigkeit  beruht;  insoweit  aber  als  das  Nämliche  theils  innerlich,  theils 
änsserlich  wahrgenommen  (oder  nach  der  Analogie  des  äusserlich  oder  innerlich 
Wahrgenommenen  vorgestellt)  wird,  besteht  kein  Causalnexus  und  ebensowenig  eine 
prästabilirte  Harmonie,  sondern  ein  solcher  Parallelismus,  wie  denselben  die  zwei- 
fache Art  der  Auffassung  bei  reeller  Identität  bedingt.  Heneke  scheint  anfangs 
(im  Anschluss  an  Spinoza,  Kant  und  Schopenhauer)  eine  reale  Identität  in  einem 
weiteren,  später  nur  noch  in  einem  engeren  Umfange  angenommen  zu  haben.  Mehr 
in  der  Metaphysik  als  in  der  Psychologie,  die  sich  nur  auf  die  innere  Wahr- 
nehmung stützen  soll,  geht  Beneke  auf  diese  Frage  ein. 

**)  Freilich  ist  die  Annahme  wunderlich,  duss  die  von  aussen  kommenden 
Reize,  wie  Schall,  Licht  etc.,  welche  bei  der  Bildung  sinnlicher  Empfindungen  von 
den  „Ürvermögen"  „angeeignet"  werden,  sich  zum  Theil  in  Ürvermögen  „umbilden* 


einigt  sind.**) 


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§  36.  Beneke. 


409 


Dritter  Grundprocess.  Die  Verbindung  von  Vermögen  and  Reizen,  wie 
dieselbe  ursprünglich  in  den  sinnlichen  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  begründet 
wird  und  sich  in  deren  Reproductionen  erhält,  zeigt  eine  bald  festere,  bald  weniger 
feste  Durchdringung  dieser  beiden  Gattungen  von  Elementen.  Soweit  Vermögen 
und  Reize  weniger  fest  verbunden  und  demgemäss  beweglich  gegeben  sind,  können 
sie  in  den  vielfachsten  Verhältnissen  von  einem  Gebilde  auf  das  andere  übertragen 
werden.  Alle  psychischen  Gebilde  sind  in  jedem  Augenblick  unseres  Lebens  bestrebt, 
die  in  ihnen  beweglich  gegebenen  Elemente  gegen  einander  auszu- 
gleichen. Beispiele  hiervon  liegen  vor  in  der  Steigerung  unseres  gesummten  Vor- 
stellungskreises durch  die  Gemüthsbewegungeu  der  Freude,  des  Enthusiasmus,  der 
Liebe,  des  Zornes  etc.;  aber  auch  in  jedem  Wiederauftauchen  einer  Vorstellung 
vermöge  ihrer  Association  mit  einer  andern,  die  unmittelbar  vorher  wieder  ins  Be- 
wusstsein  getreten  war  etc.*) 

Alles,  sagt  Beneke,  was  in  der  menschlichen  Seele  mit  einiger  Vollkommenheit 
gebildet  worden  ist,  erhält  sich,  auch  nachdem  es  aus  dem  Bewusstsein  oder  der 
erregten  Seelenentwickelung  verschwunden  ist,  im  unbewussten  oder  inneren  Seelen- 
sein, aus  welchem  es  dann  später  wieder  in  die  bewusste  Seelenentwickelung  eingehen 
oder  reproducirt  werden  kuuu.  Beneke  nennt  dieses  unbewusst  Beharrende  in  Bezug 
auf  das  früher  Bewusste,  das  unbewusst  fortexistirt,  eine  „Spur",  und  in  Bezug  auf 
das,  was  vermöge  der  Reproduction  daraus  hervorgehen  kann,  eine  „Anlage"  oder 
auch,  um  das  Gewordensein  dieser  Anlage  auszudrücken,  mit  einem  eigenthümlichen, 

sollen.  Der  Reiz,  der  das  Ohr  trifft,  besteht,  wie  die  Physik  lehrt,  in  einer  vibri- 
renden  Bewegung  von  Lufttheilchen,  der  Reiz,  der  das  Auge  trifft,  in  einer  vibrirenden 
Bewegung  von  Acthertheilchen  etc.;  mag  nun  auch  nicht  nur  von  diesem  Vorgang 
die  durch  denselben  angeregte  Empfiudung,  sondern  auch  von  der  physikalischen 
Auffassung  eben  dieses  \  organges  das  „Ansich"  desselben  zu  unterscheiden  seiu,  so 
kann  doch  uueh  dieses  Ansich  nur  ein  Vorgang  sein  (obschon  Beneke,  der  hier 
die  physikalische  Theorie  als  beruhend  auf  der  -getrübten*  sinnlichen  Wahrnehmung 
vernachlässigt,  es  für  etwas  Substantielles  hält),  und  es  ist  doch  in  keiner  Art  ab- 
zusehen, wie  ein  blosser  Vorgang  sich  in  ein  „Urvermögen",  in  eine  Kraft  oder 


nicht  widerstreitend  wäre  die  —  bei  den  angeborenen  Urvermögen  jedenfalls 
unumgänglich  nothwendige  — Annahme,  dass  wie  aus  den  niederen  leiblichen  Systemen 
die  höheren  leiblichen  Systeme,  so  aus  diesen  wiederum  die  psychischen  durch  Assi- 
milation sich  stets  neue  Kräfte  anbilden,  und  dass  etwa  das  Nervensystem  und 
Gehirn  der  Seele  gleichsam  als  Kräftereservoir  diene.  Diese  „Kräfte"  oder  Vermögen 
können  dann  aber  nicht  wie  leere  Gefässe  vorgestellt  werden,  die  von  aussen  erfüllt 
werden  müssten,  sondern  nur  als  in  sich  die  Rudimente  zu  Empfindungen  tragend, 
die  nur  noch  der  Anregung,  Coucentratiou  und  mannigfacher  Combinatiou  mittelst 
der  äusseren  Reize  bedürfen. 

*)  Dem  Ausdruck,  durch  den  Beneke  diesen  Grundprocess  bezeichnet,  liegt 
ebenso,  wie  seiner  Annahme  einer  „Aufnahme"  vou  Reizen  und  einer  Anbilduug 
neuer  Urvermögen  durch  Umbildung  aufgenommener  Reize  die  Vorstellung  von 
substantiellen  Reizen,  die  in  die  Seele  eintreten,  zum  Grunde.  Wird  aber 
der  Reiz  in  einem  Vorgang  gefunden,  der,  falls  er  selbst  angeschaut  werden  kann, 
was  z.  B.  bei  der  Schwingung  von  Saiten  möglich  ist,  als  Bewegung,  insbesondere 
als  Vibration  erscheinen  muss,  so  kann  die  in  der  Seele  entstehende  Empfindung 
nur  als  eine  von  innen  hervortretende  Reaction  geducht  werden,  die  weder  ganz,  noch 
partiell  von  dem  „Urvermögen",  welches  dieselbe  übt,  ablösbar  sein  kann.  Nur  die 
Bewegung,  mit  der  die  Empfindung  verbunden  ist,  aber  nicht  diese  selbst,  ist  über- 
tragbar. Wie  eine  Bewegung  sich  in  andere  Bewegungen  umsetze,  ist  nach  den 
mechanischen  Gesetzen  verständlich;  wie  aber  die  bei  der  Ücbertragung  substantieller 
Reizelemente  auf  andere  psychische  Gebilde  (z.  B.  von  der  Vorstellung  des  Rotheu 
auf  die  nach  Associationsgesctzen  von  ihr  angeregte  Vorstellung  des  Blauen,  von  der 
eines  Namens  auf  die  der  Suche  etc.)  nach  der  Consequenz  der  benekeseben  Annahme 
unabweisbar  erfolgende  Umsetzuug  derselben  in  Elemente  von  anderen  Qualitäten 
vor  sich  gehen  möge,  ist  undenkbar. 


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410 


§  36.  Beneke. 


sprachlich  wohl  kaum  gerechtfertigten  Terminus  . Augelegtheit").  Von  den 
Sparen  wissen  wir  nur  durch  die  Reproductionen  derselben;  wir  sind  derselben  aber 
dadurch,  dass  diese  Reproductionen  stets  qualitativ  und  quantitativ  den  früheren 
Gebilden  angemessen  erfolgen,  vollkommen  gewiss.  In  der  ersten  Auflage  des 
Lehrbuchs  der  Psychologie  hat  Beneke  einen  Grundprocessder  Spurenbildung 
angenommen,  macht  aber  bereits  bemerklich,  dass  dabei  eigentlich  nur  das  Un- 
bewusstwerden  des  Bewusstgewesenen  als  Process  zu  betrachten  sei;  das  Beharren 
bedürfe  gar  keiner  Erklärung,  da  naturgemäss  das  einmal  Gewordene  so  lange  fort- 
existire,  bis  es  durch  besondere  Ursachen  wieder  vernichtet  werde.  Da  nun  aber 
das  ünbewusstwerden  des  früher  Bewussten  sich  durch  partielles  Reizentschwinden 
erklären  lasse,  welches  nur  die  eine  Seite  des  Procesaes  der  Uebertragung  oder 
Ausgleichung  der  beweglichen  Elemente  sei,  so  findet  er  in  der  zweiten  Auflage 
des  Lehrbuchs  auch  nicht  durch  das  partielle  Reizentachwinden  die  Annahme 
eines  besonderen  Grundprocesses  gerechtfertigt,  sondern  erwähnt  das  innere  Beharren 
trotz  dessen  .ausnehmender  Wichtigkeit  für  die  Fortbildung  der  Seele»  nur  an- 
hangsweise bei  Gelegenheit  der  Angabe  des  dritten  Grundprocesses.*)  Die  Spur, 
sagt  Beneke,  ist  das,  was  zwischen  der  Production  einer  Seelenthätigkeit,  z.  B. 
einer  sinnlichen  Wahrnehmung  und  ihrer  Reproduction,  z.  B.  als  Erinnerung,  in 
der  Mitte  liegt.  Da  diese  beiden  Acte  psychische  Acte  sind,  so  dürfen  wir  auch 
die  Spur  nur  in  psychischer  Form  vorstellen.  Es  giebt  für  diese  Spuren  kein  .Wo". 
Wie  die  Seele  überhaupt,  so  sind  auch  alle  ihre  Theile  nirgend;  denn  das  Selbst- 
bewusstseiu,  unser  einziger  Erkenntnissquell,  enthält  unmittelbar  und  an  sich  nicht 
das  Mindeste  von  räumlicher  Beziehung  in  sich.  Die  Spuren  sind  auch  an  kein 
leibliches  Organ  geknüpft;  denn  die  den  psychischen  Eutwickelungen  parallelen 
räumlichen  Anschauungen  und  Veränderungen  sind  mit  jenen  nur  zugleich,  höchstens 
stets  zugleich  gegeben  und  können  ihnen  auf  keine  Weise  innerlich  gemacht  oder 
gar  als  Grundlage  (substantiell)  untergelegt  werden. 

Vierter  Grundprocess.  Gleiche  Gebilde  der  menschlichen  Seele  und  ähn- 
liche nach  Maassgabe  ihrer  Gleichartigkeit  ziehen  einander  an  oder  streben, 
mit  einander  nähere  Verbindungen  einzugehen.  Beispiele  liegen  vor  in  der  witxigen 
Comblnation,  in  der  Gleichnissbildnng,  ürtheilsbildung,  dem  Zusammenfliessen 
ähnlicher  Gefühle  und  Bestrebungen  etc.  Durch  alle  diese  Anziehungen  aber  wird 
nur  ein  Zusammenkommen  der  gleichen  Gebilde  bewirkt,  eine  bleibeude  Verbindung 
oder  Verschmelzung  erfolgt  dann,  wenn  der  Ausgleichungsprocess  ergänzend  hin- 
zutritt.**) 


*)  Ob  in  der  That  bei  der  Spnrenbildung  kein  besonderes  Geschehen  anzu- 
nehmen sei,  ist  sehr  zweifelhaft.  Ein  .partielles  Reizentschwindeu"  scheint  nur  zu 
einem  Schwächerwerden  im  Bewusstsein,  nicht  zu  dem  Ünbewusstwerden,  welches 
doch  bei  den  im  ,  Gedächtniss  aufbewahrten  Vorstellungen  und  psychischen  Ge- 
bilden überhaupt  eingetreten  ist.  führen  zu  können,  entschwindet  aber  der  Reiz 
vollständig  bei  der  Uebertragung  der  Erregtheit  auf  andere  Gebilde,  so  wird  die 
entsprechende  Vorstellung  überhaupt  nicht  mehr  bestehen,  und  soll  dennoch  eine 
.Spur"  vorhanden  sein,  so  muss  diese  eigens  gebildet  worden  sein,  gleichwie,  wenn 
ein  Körner  nicht  mehr  von  gewissen  Lichtstrahlen  getroffen  wird,  auf  ihm  überhaupt 
kein  Bild  zurückbleibt,  sofern  nicht,  wie  beim  Photographiren  gewisse  Eindrücke 
oder  „ Spuren"  eigens  erzeugt  worden  sind. 

**)  Da  B.  hier  von  einer  .Anziehung"  im  eigentlichen,  mathematiseh-räumlioheu 
Sinne  nicht  reden  kann,  noch  will,  und  da  jede  wirkliche  Lagenveränderung  der 
Gebilde  bei  diesem  Process  darum,  weil  die  nämliche  Vorstellung  in  die  verschieden- 
artigsten Verbindungen  eingehen  muss  (wie  z.  B.  die  Vorstellung  Casars  als  Römers, 
als  Staatsmanns,  als  Feldherrn,  als  Geschichtschreibers ,  Ciceros  als  Römers,  als 
Staatsmanns,  als  Redners,  als  Philosophen,  immer  wieder  mit  anderen  Gruppen  zu 
combiniren  ist),  das  Nämliche  nicht  nur  an  verschiedene  Orte  bringen,  sondern 


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§  36.  Beneke. 


411 


Auf  Grund  der  Betrachtang  der  Grundprocesse  bezeichnet  B.  die  Seele  als 
»ein  durchaus  inmaterielles  Wesen,  bestehend  aas  gewissen  Grandsystemen,  welche 
nicht  nur  in  sich,  sondern  aach  mit  einander  auf  das  innigste  Eins  sind  oder  Ein 
Wesen  bilden".  Die  menschliche  Seele  hat  im  Unterschiede  von  der  thieriscben 
einen  geistigen  Charakter,  welcher  in  der  höheren  Kräftigkeit  ihrer  Urverroögen 
begründet  ist;  daneben  bedingt  die  individuellere  und  bestimmtere  Ausprägung  und 
das  bestimmtere  Auseinandertreten  der  verschiedenen  Grundsysteme,  wie  aach  der 
Besitz  der  Hände  und  der  Sprache  und  die  Erziehung  während  einer  langen  Kindheit 
den  geistigen  Vorzug  des  Menschen  vor  den  Thieren. 

Jede  Erkenntniss  unserer  Seelenthätigkeiten,  sagt  B.,  über  Schopenhauer  hinaus- 
gehend, der  dies  bloss  von  der  Erkenntniss  unseres  „Willens"  behauptet  hatte,  ist 
die  Erkenntniss  eines  Seins  an  sich,  d.  h.  die  Erkenntniss  eines  Seins,  welche 
dasselbe  vorstellt,  wie  es  an  und  für  sich  oder  unabhängig  von  seinem  Vorgestellt- 
werden ist,  und  zwar  erkennen  wir  so  unsere  Seelenthätigkeiten  unmittelbar.  Keine 
Vorstellung  vermögen  wir  unmittelbar  als  Vorstellung  eines  Seins  ausser  unserem 
eigenen  zu  erkennen.  Durch  die  Wahrnehmungen  von  unserem  eigenen  Leibe  haben 
wir  die  vermittelte  Erkenntniss  eines  Seins,  welches  wir,  wie  es  an  sich  ist, 
unmittelbar,  nämlich  als  unser  psychisches  Sein,  vorstellen.  Wir  stellen  uns  bei 
der  Wahrnehmung  eines  fremden  Leibes,  d.  h.  auf  Anlass  solcher  Sinneswahr- 
nehmungen, die  der  von  unserem  Leibe  analog  sind,  eine  der  unsrigen  ähnliche  Seele 
vor,  als  ein  fremdes  Sein,  welches  wir  insoweit,  als  es  mit  unserem  psychischen 
Sein  übereinstimmt,  ebenfalls  so,  wie  es  an  sich  ist,  denken.  Von  dem  uns 
ähnlichsten  menschlichen  Sein  aus  geht  unsere  Vorstellungsfähigkeit  in  ununter- 
brochener Stufenreihe  abwärts;  das  Sein-an-sich  der  uns  im  Temperament,  Alter, 
Bildung  unähnlichsten  Menschen  stellen  wir  schon  sehr  unvollkommen  vor,  noch 
unvollkommener  das  Sein-an-sich  der  Thiere,  und  mit  jeder  Stufe,  die  wir  dann  in 
der  Vollkommenheit  des  Seins  hinabsteigen,  nimmt  auch  die  Vollkommenheit  der 
Vorstellung  ab.  Dieses  Letztere  bemerkt  B.  besonders  im  Gegensatz  zu  Schopen- 
hauer, der,  indem  er  eine  adäquate  Erkenntniss  von  der  Welt  als  »Willen"  behauptet, 
in  Folge  seiner  Subsumtion  aller  Kräfte  unter  den  abnorm  erweiterten  Begriff  des 
„ Willens"  verkennt,  dass  Bich  die  Vollkommenheit  eben  dieser  Erkenntniss  nach 
dem  Maasse  des  Abstandes  einer  jeden  Naturkraft  von  dem  menschlichen  Willen 
abstuft.  B.  verweist  in  diesem  Betracht  auf  seine  in  der  Jen.  Allg.  Litt. -Zeitung, 
Dec.  1820,  enthaltene  Recension  von  Schopenhauers  »Welt  als  Wille  und  Vor- 
stellung-. Wir  erklären  so  vermittelst  der  Analogie  von  unserm  psychischen  Leben 
aus  die  sinnlichen  Erscheinungen,  und  der  Idealismus  wird  so  überwunden.  Zwischen 
dem  sabjectiven  Idealismus  und  einem  unphilosophischen,  an  eine  unmittelbare  und 
volle  Erkennbarkeit  der  Aussenwelt  durch  die  Sinneswahrnehmung  glaubenden 
Realismus  nimmt  B.  durch  die  vorstehenden  Sätze  eine  feste  Mittelstellung  ein. 
Raum  und  Zeit  kommt  objective  Realität  zu.   Die  Notwendigkeit  der  Raura- 


auch  an  verschiedenen  Orten  zugleich  fixiren  musste,  was  sich  widerspricht,  so 
möchte  der  Begriff  dieser  »Anziehung"  auf  den  einer  Miterregung  des  Gleichartigen 
zu  reduciren  sein.  Dann  aber  fällt  dieser  Process  mit  dem  der  »Ausgleichung"  oder 
der  Reizübertragung  unter  den  gemeinsamen  Begriff  einer  Affection  von  innen  her, 
die  von  erregten  psychischen  Gebilden  auf  andere,  sei  es  erregte  oder  unerregte 

SiychiBche  Gebilde  geübt  wird;  diese  innere  Affection  nimmt  eine  zweifache 
ichtung,  nämlich  theils  zu  solchen  Gebilden  hin,  die  mit  dem  jetzt  wiedererregten 
früher  zusammen bewusst  gewesen  sind,  theils  zu  gleichartigen  Gebilden  hin,  auch 
wenn  keine  Verknüpfung  mit  diesen  durch  früheres  gleichzeitiges  Bewusstsein  oder 
unmittelbare  Succession  bestanden  hat.  Somit  lassen  sich  die  säramtlichen  Grund- 
processe  als  Vermögenbildung,  Affection  von  aussen  her,  Spurenbildung  und  zweifach 
gerichtete  Affection  von  innen  her  bezeichnen. 


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412 


§  36.  Beneke. 


Vorstellung  sei  kein  Beweis  dafür,  dass  sie  apriorisch  sei,  denn  auch  entstandene 
Vorstellungen  könnten  sich  so  festsetzen,  dass  man  sie  nicht  wieder  aufgeben  könne. 
Wir  nähmen  in  uns  ein  reales  Nebeneinander  der  Vorstellungen  wahr,  und  man 
könne  leicht  annehmen,  dass  ein  diesen  Verwandtes  in  den  Dingen  sich  fände,  das 
dann  für  den  Wahrnehmenden  ein  Räumliches  werde.  Auch  Inhärenz  und  C'ausalität 
(wir  machen  uns  Vorstellungen  präsent)  sind  uns  innerlich  gegeben  und  werden  auf 
das  ausser  uns  Seiende  übertragen. 

Die  Kräfte  oder  Vermögen  der  ausgebildeten  Seele  bestehen  aus 
den  Spuren  der  früher  erregten  Gebilde.  Dies  ist  der  Hauptsatz  der 
benekeschen  Psychologie.  Auf  die  benekesche  Durchführung  dieses  Satzes  im 
Einzelnen  von  der  Betrachtung  der  sinnlichen  Empfindungen  an  bis  zu  der  Er- 
klärung der  complicirtesten  und  höchsten  psychischen  Processi*  näher  einzugehen, 
würde  uns  über  die  Grenzen  hinausführen,  die  in  diesem  Grundriss  eingehalten 
werden  müssen. 

Benekes  moralische  Grundforderung  geht  dahin,  dass  man  in  jedem  Falle 
dasjenige  thun  solle,  was  nach  der  objectiv  und  subjectiv  wahren  Werthschätzung 
als  das  Beste  oder  natürlich  Höchste  sich  ergebe. 

Wir  schätzen,  sagt  Beneke,  die  Werthe  aller  Dinge  nach  den  (vorübergehenden 
oder  bleibenden)  Steigerungen  und  Herabstimmungen,  welche  durch  dieselben  für 
unsere  psychische  Entwickelung  bedingt  werden.  Diese  Steigerungen  und  Herab- 
stimmungen  aber  können  sich  in  dreifacher  Weise  für  unser  Bewusstsein  ankündigen: 
1.  in  ihrem  unmittelbaren  Gewirktwerden,  2.  in  ihren  Reprodactionen  als  Einbildungs- 
vorstellungen, wodurch  die  Werthschätzung  der  Dinge  oder  die  praktische  Welt- 
ansicht begründet  wird,  3.  in  ihren  Reproductionen  als  Begehrungen,  welche  die 
Gesinnung  des  Menschen  und  die  Grundlage  seines  Handelns  bilden.  In  allen  drei 
Formen  messen  wir  die  Werthe  der  Dinge  gegen  einauder  unmittelbar  in  dem 
Nebeneinandersein  der  durch  sie  bedingten  Steigerungen  und  Herabstimmungen. 
Dies  gilt  von  dem  Wohl  und  Wehe  anderer  Menschen  ebenso,  wie  von  unserem 
eigenen.  Wir  messen  dasselbe,  indem  wir  die  Steigerungen  und  Herabstimmungen, 
die  in  Andern  vor  sich  gehen,  in  uns  nachbilden,  also  mit  den  Andern  fühlen.  Die 
Huhe  der  Steigerungen  und  Herabstimmungen,  welche  in  uns  entstehen,  wird  bedingt 
theils  durch  die  Natur  unserer  Urvermögen,  theils  durch  die  Natur  der  Reize  oder 
Anregungen,  theils  endlich  durch  die  den  Grundgesetzen  der  psychischen  Ent- 
wickelung gemäss  erfolgenden  Aneinaiiderbildungen  der  aus  den  Verbindungen  von 
Vermögen  und  Reizen  hervorgehenden  Acte.  Inwiefern  in  Kraft  dieser  allgemein- 
menschlichen  Entwickelungsmomeute  eine  Steigerung  als  eine  höhere  bedingt  ist, 
insofern  ist  auch  der  Werth,  welcher  durch  sie  vorgestellt  wird,  allgemeingültig  ein 
höherer.  Vermöge  der  hierdurch  begründeten  Abstufung  der  Güter  undUebel 
ist  eine  für  alle  Menschen  gültige  praktische  Norm  gegeben.  Es  raoss  hiernach 
z.  B.  jeder  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ausgebildete  und  unverdorbene  Mensch 
einen  Genuas  der  höheren  Sinne  einem  der  niederen  vorziehen  und  eine  geistige 
Vervollkommnung  einem  Genüsse,  das  Wohl  einer  grösseren  Gemeinschaft  einer  auf 
ihu  selbst  beschränkten  Förderung  etc.  Was  nach  der  in  der  menschlichen  Natur 
begründeten  Norm  als  das  Höhere  empfunden  und  begehrt  wird,  ist  auch  das 
moralisch  Geforderte.  Diese  objectiv  und  subjectiv  wahre  Schätzung  der  Werthe 
kann  aber  durch  übermässig  vielfache  Ansammlungen  von  Lust-  und  Unlust- 
Empfindungen  niederer  Art  gestört  werden,  und  das  ihr  gemasse  Wollen  durch  über- 
mässig vielfache  Ansammlung  eben  solcher  Begehrungen  und  Widerstrebungen, 
wodurch  das  Niedere  einen  übermässigen  .Schätzungsraum"  und  „Strebungsraum* 
gewinnt.  Im  Gegensatz  zu  der  abweichenden  Werthschätzung  kündigt  sich  die 
richtige  mit  dem  Gefühle  der  Pflicht  oder  der  sittlichen  Notwendigkeit,  des  Sollens, 


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§  37.   Der  vierte  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit. 


413 


an,  welches  seine  Begründung  eben  darin  hat,  dass  diese  Notwendigkeit  aas  dem 
innersten  Grundwesen  der  menschlichen  Seele  stammt.  Die  sittliche  Notwendigkeit 
ist  eine  Nothwendigkeit  der  tiefsten  Grundnatur  der  menschlichen  Seele.  Auf  die 
ursprünglichste  und  unmittelbarste  Weise  offenbaren  sich  uns  die  sittlichen  Ver- 
hältnisse in  Gefühlen;  indem  aber  sittliche  Gefühle  von  gleicher  Form  mit  einander 
zusammenfliessen,  bilden  sich  aus  ihnen  sittliche  Begriffe  hervor;  treten  diese  Be- 
griffe als  Prädicate  zu  den  Schätzungen  und  Strebungen  hinzu,  so  ergeben  sich 
sittliche  Urtheile;  aus  specielleren  sittlichen  ürtheilen,  welche  sich  auf  die  Ver- 
gleichung  einzelner  Werthe  beziehen,  entsteht  erst  bei  weit  vorgeschrittener  Km 
Wickelung  ein  allgemeines  moralisches  Gesetz.  Kants  kategorischer  Imperativ  ist 
eiue  sehr  hohe  Abstraction;  also  von  sehr  abgeleiteter  Natur.*) 

üeber  religiöse  Themata,  namentlich  über  Gott  und  Unsterblichkeit,  philosophirt 
Beneke  sehr  besonnen.  Der  Materialismus  hat  mit  seinen  Einwänden  die  Lehre 
von  der  Unsterblichkeit  keineswegs  beseitigt,  da,  wenn  das  äussere  Seelenleben  auch 
abnimmt,  hieraus  auf  das  innere  Seelensein  nicht  geschlossen  werden  darf.  Für  die 
Erkenntniss  Gottes  bildet  das  Fragmentarische  alles  Gegebenen  die  Basis.  Dieses 
Bruchstückartige  nöthigt  uns,  eine  Ergänzung  in  dem  Unbedingten,  in  der  Gottheit, 
zu  setzen  und  diese  Gottheit  mit  Prädienten  zu  bekleiden,  die  theils  vom  Sein  über- 
haupt, theils  von  der  Natur,  theils  von  uns  selbst  hergenommen  sind.  Obwohl  die 
theistische  Vorstellung  am  meisten  genügt,  so  wissen  wir  doch  von  der  Gottheit 
sehr  wenig  und  müssen  deshalb  zu  dem  Glauben  unsere  Zuflucht  nehmen. 


Vierter  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neuzeit. 

Die  Philosophie  der  Gegenwart. 

§  37.  Die  Philosophie  der  Gegenwart  ist  durch  keine  neu  auf- 
kommende Richtung  charakterisirt.  Die  hegelsche  und  die  herbartnehe 
Lehre  haben  nach  ihrer  längeren  Herrschaft  wenig  orthodoxe  Anhänger 
mehr  in  Deutschland,  und  es  ist  hier  das  philosophische  Denken 
meist  durch  Kant  bestimmt,  indem  man  von  dessen  Lehre  entweder 
das  negativ-kritische  Element  oder  das  rationalistische  benutzt.  Auch 
die  selbständigen  Versuche  zu  Systeinbildungen  weisen  auf  Kant  zurück, 
jedoch  ist  in  ihnen  der  Einfluss  anderer  Denker,  namentlich  Spinozas, 
Leibnizens,  auch  !>chellings  zu  bemerken.    Mit  der  kantschen  Kritik 

*)  Mehr  noch,  als  durch  seinen  ernsten  Versuch  einer  durchgängigen  genetischen 
Erklärung  der  psychischen  Functionen,  hat  sich  Beneke  durch  seine  tiefdnrchdnehto 
Basirung  der  Ethik  auf  die  psychischen  Werthverhältnisse,  die  das  sittliche  Leben 
nach  einer  reinen  und  sicheren  Norm  bestimmt,  ein  Verdienst  um  die  philosophische 
Erkenntniss  und  um  dus  durch  sie  geleitete  Handeln  erworben. 


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414 


§  37.   Der  vierte  Abschnitt  der  Philosophie  der  Neoxeit. 


beginnt  eine  positivistische  Richtung  sich  zu  verbinden,  die  Feind  aller 
Metaphysik  ist,  den  streng  wissenschaftlichen  Charakter  der  Philosophie 
betont  und  mit  den  Naturwissenschaften  möglichst  Fühlung  sucht,  wie 
andererseits  auch  die  Naturwissenschalten  sich  wieder  mehr  der  Philo- 
sophie zuneigen.  Mit  diesen  Tendenzen  hängt  es  zusammen,  dass 
Erkenntnisstheorie  und  experimentelle  Psychologie  in  den  Vordergrund 
traten.  Neuerdings  wendet  sich  das  philosophische  Denken  auch  der 
Ethik  und  Religionsphilosophie  wieder  mehr  zu. 

In  Frankreich,  noch  mehr  in  England,  hat  der  Positivismus 
zahlreiche  Anhänger,  doch  sind  hier  auch  Spuren  der  deutschen  Philo- 
sophie, ebenso  wie  in  andern  Ländern,  namentlich  in  Italien,  Spanien 
und  Nordamerika  deutlich  zu  bemerken.  —  Auf  den  katholisch- 
kirchlichen Lehranstalten  aller  Länder  tritt  der  Thomismus  und  somit 
der  modificirte  Aristotelismus  wieder  in  den  Vordergrund. 

Die  philosophische  Bibliographie  der  neuesten  Zeit,  bestehend  in  regelmässigen 
Verzeichnissen  der  neu  erschienenen  Schriften  und  Abhandlungen,  findet  sich  in  den 
deutschen  philosophischen  Zeitschriften,  in  der  von  J.  Herrn.  Fichte,  Ulrici  und  Wirth, 
jetzt  von  Krohn  u.  Fahrenberg  herausgcg.  .Zeitschrift  für  Philo«,  und  philos. 
Kr  it.",  in  den  „Philosop  tuschen  Monatsheften",  sowie  auch  in  der  „V  ierteljahrs- 
sohrift  für  wissenschaftliche  Philosophie".  Diese  Zeitschriften  geben  auch 
kritische  Besprechungen  philosophischer  Werke  und  Richtungen,  die  philosophischen 
Monatshefte  fast  stets  noch  einen  reichhaltigen  Litteraturbericht,  der  kürzere  Referate 
bringt.  Debet  die  beiden  andern  Zeitschriften  s.  weiter  unt.  Die  philosophischen  Monats- 
hefte, keiner  bestimmten  Schule  dienend,  wurden  zuerst  seit  1868  herausgegeben  von 
Jul.  Bergmann,  dann  von  E.  Bratuscheck,  seit  1877  von  C.  Schaarschmidt, 
1887  mit  Paul  Natorp  zusammen.  1888  werden  sie  von  dem  letzteren  allein  redigirt 
unter  Anerkennung  des  bisher  leitenden  Grundsatzes  der  Unpersönlichkeit  und  Partei- 
losigkcit;  den  bibliographischen  Theil  besorgt  F.  Ascherson.  Reichhaltige  Bibliographie 
findet  sich  auch  in  den  später  zu  erwähnenden  ausserdeutschen  philosophischen  Zeit- 
schriften. 

Beiträge  zur  Kenntniss  der  gegenwärtigen  Philosophie  liefern:  K.  Grün,  d.  Philo- 
sophie in  d.  Gegenwart,  Lpz.  1876.  M.  J.  Monrad,  Denkrichtungen  der  neueren  Zeit, 
deutsche  vom  Verf.  selbst  verfasste  Bearbeitung,  Bonn  1871».  Ad.  Franck.  Philosophen 
modernes  etrangers  et  francais,  Paris  1879.  M.  D.  Nolen.  les  reeentes  theories  en  moral 
in:  Revue  politiqne  et  litteraire,  1879.  Ch.  E.  Luthardt,  die  modernen  Weltan- 
schauungen und  ihre  praktisch.  Consequenzen,  Vorträge,  Lpz.  1880.  Glossner,  d.  moderne 
Idealism.  nach  sein,  metaphysisch,  u.  erkenntnisstheoretischen  Beziehungen,  sowie  sein. 
Verh.  zum  Materialism.  der  neuesten  Phase,  Münster  1880.  J.  J.  Borelius,  Blicke  auf 
d.  gegenwärt.  Stand  d.  Philos.  in  Deutsch  1.  u.  Frankr.,  deutsch  v.  Emil  Jonas,  Berl. 
1887.  Ueber  die  Ansichten  der  neueren  Logiker  orientirt  J.  B.  Meyer  in  seiner 
Bearbeitung  des  Systems  der  Logik  von  Ueberweg.  Bonn  1882.  Hier  sind  noch  zu  er- 
wähnen: Rud.  Eucken,  Geschichte  u.  Kritik  der  Grundbegriffe  der  Gegenwart.  EL 
Spitzer,  Nominalismus  u.  Realismus  in  d.  neuesten  deutscheu  Philos.  mit  Berück- 
sichtigung ihres  Verh.  zur  modern.  Naturwissensch.,  Lpz.  1876.  Achelis,  üb.  d.  Natur- 
philos.  der  Gegenw.,  I.  zur  Psychologie,  IL  zur  Krkenntnisstheorie,  III.  zur  Ethik,  in: 
ZtJichr.  f.  Phil.  u.  phil.  Kr.,  83,  1883,  S.  194— 225,  84,  1884,  S.  41—78,  193—214. 
J.  Soury,  les  doctrines  psychologiques  contemporaines,  Par.  1883.  A.  Fouille,  Critique 
des  systemes  de  inorale  contemporains,  Par.  1884,  2.  ed.  1887.  Giacinto  Fontana, 
Gcnesi  della  filosotia  morale  contemporanea,  Milano  1885.  Bourges,  Philosophie  eon- 
temporaine.  Psychologie  transformiste,  evolution  de  l'intelligenee,  Par.  1885.  (Anonvm), 
Streifzüge  durch  d.  Philosophie  der  Gegenw.,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  87,  1885, 
S.  233—253;  89,  1886,  S.  78—101.  Philosophische  Fragen  der  Gegenwart  werden 
auch  besprochen  in  den  .Verhandlungen  der  philos.  Gesellscb.  z.  Berlin", 
22  Hefte,  Lpz.,  spät.  Heidelb.,  1875—1882,  fortgesetzt  durch  .Philos.  Vorträge" 
herausgcg.  v.  d.  philos.  Gesellsch.  z.  Berlin,  Heft  1—14,  Halle  1882—87. 


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§  38.    Anhänger  Hegels.  415 

Hier  mögen  sogleich  die  allgemeinen  bibliographischen  Notiien  über  die  Philo- 
sophie der  Gegenwart  in  Deutschland  gegeben  werden,  über  die  ausserd-utsche  Philo- 
sophie s.  bei  den  betreffenden  Ländern. 

Ueber  dio  neueren  Versuche  zum  Wiederaufbau  der  Philo«,  in  Deutschland  Ut  zu 
vergl.  Joh.  Ed.  Erdmann,  Grundr.  d.  Gesch.  iL  Ph.  3.  Aufl.,  2.  Bd  ,  S.  686—804, 
welcher  unterscheidet:  1)  Rückweisungen  auf  frühere  Systeme,  2)  Neuerungsversuche, 
3)  Fortbildung  früherer  Systeme.  Höffding,  Philosophien  i  Tydsksland.  W.  Wnndt, 
Philosophy  in  Germany,  in:  Mind,  1877,  S.  493— 510.  B.  Krdraann,  zur  Charakteristik 
d.  Philo*,  der  Gegenw.  in  Deutschi.,  in:  deutsche  Hundschau,  1879,  Heft  9  u.  10. 
J.  J.  Borelius,  en  blick  pä  den  nuvarande  filosofien  i  Tyskland  (aftryck  ur  nordisk 
tidskrift),  1880.  s.  ob.  C.  Hermann,  d.  gegenwärtigen  Verh.  der  Philosophie  in  Deutschi., 
in:  Unsere  Zeit,  1881,  IX.  D.  Nolen,  le  Monisme  en  Allemagne,  Rev.  philos.  XIII, 
1882,  S.  54 — 73,  146 — 179.  Th.  Ribot,  die  experimentelle  Psychologie  der  Gegenwart 
in  Deutachland  (Paris  1879,  2.  ed.  1886),  autorisirte  deutsche  Ausg.,  Brau  tisch  w.  1881. 
L.  Rabus,  d.  neuesten  Bestrebungen  auf  d.  Gebiete  der  Logik  b.  d.  Deutschen  u.  d. 
logische  Frage,  Erlang.  1880.  D.  Nolen,  les  logiciens  allemands  contemporains,  in: 
Rev.  ph.,  XVI,  1883,  S.  449 — 465.  G.  H.  Howison,  some  aspects  of  recent  German 
philosophy,  in:  the  Jouro.  of  spec.  ph.,  XVII,  1883,  S.  1 — 44.  Dürkheim,  la  science 
positive  de  la  morale  en  Allemagne:  les  Econoroistes,  les  Sociologistes,  les  Jurist*?*,  les 
Moralistes,  in:  Rev.  phil.  XXIV,  1887,  S.  33—58,  113—142,  275—284.  Moritz  Brasch, 
d.  Philosophie  der  Gegenw.,  ihre  Richtung  u.  ihre  Hauptvertreter  f.  d.  Gebildeten  dar- 
gestellt, Lpz.  1888  (bezieht  sich  nur  auf  Deutschland,  viele  Auszüge  aus  neueren  philo- 
sophisch. Werken).  S.  auch  J.  B.  Meyer,  der  verschiedene  instruetive  kritische  Referate 
bringt  in:  Jahresberichte  üb.  d.  gesammten  Wissensch,  etc.,  herausgeg.  v.  Rieh.  Kleischer. 

§  38.    Am  verbreitetsten  war  in  Deutschland  wahrend  des 
dritten  und  vierten  Decenniums  von  den  philosophischen  Schulen 
die  hegelsche,  besonders  wegen  der  scheinbaren  Festgeschlossenheit 
des  Systems  und  der  Anwendbarkeit  ihrer  Methode  und  ihrer  Principien 
auf  die  verschiedensten  Disciplinen.    Dazu  kam  noch  als  äusserer 
Grund  für  ihre  Verbreitung,  dass  die  Anhänger  Hegels  längere  Zeit 
von  der  preussischen  Regierung  begünstigt  wurden.    Fast  auf  allen 
deutschen  Universitäten  war  die  hegelsche  Philosophie  durch  Professoren 
vertreten.    Bald  jedoch  nach  Hegels  Tode  zerfiel  die  Schule  in  ver- 
schiedene Parteien,  indem  die  Differenzen  namentlich  die  Lehren  von 
Gott,  von  der  persönlichen  Unsterblichkeit  und  der  Person  Christi  be- 
trafen, über  welche  Punkte  sich  Hegel  selbst  nicht  deutlich  genug 
ausgesprochen  hatte,  so  dass  sich  aus  seinen  Aeusserungen  verschiedene 
einander  entgegengesetzte  Ansichten  entwickeln  konnten.    Die  soge- 
nannte rechte  Seite  neigte  sieh  in  diesen  Punkten  der  Orthodoxie 
und  dem  Supranaturalismus  zu  und  huldigte  im  Grossen  und  Ganzen 
der  Kirchenlehre.   Sie  nahm  an,  der  Theismus  sei  in  der  Lehre  Hegels 
begründet,  ebenso  wie  die  persönliche  Unsterblichkeit  und  der  Begriff 
von  Christus  als  dem  wirklichen  persönlichen  Gottmenschen,  indem  sie 
sich  daran  hielt,  dass  nach  Hegel  die  Philosophie  denselben  Inhalt 
wie  die  Religion  habe.    Die  linke  Seite  dagegen,  die  der  Jung- 
hegelianer,   wollte  der  Kirchenlehre  einen  Einfluss  auf  die  philo- 
sophischen Theoreme  nicht  gestatten  und  trat  für  den  pantheistischen 
Gottesbegriff,  wonach  Gott  als  die  ewige  und  allgemeine  Substanz 
erst  in  der  Menschheit  zum  Selbstbewusstsein  komme,  ferner  für  die 


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416 


§  38.   Anhänger  Hegels. 


Ewigkeit  des  Geistes  überhaupt,  im  Gegensatz  zu  der  Unsterblichkeit 
des  individuellen  Geistes,  und  für  die  Auflassung  der  Gottmenschheit, 
als  der  Idee  der  Menschheit,  ein.  Sie  hielt  das  Dogma,  die  Religion, 
für  überwunden  durch  den  Begriff,  durch  die  Speculation.  Als  die 
hauptsächlichsten  Vertreter  der  ersteren  Richtung  können  gelten: 
Gabler,  Einriebe,  Göschel,  Bruno  Bauer  in  seiner  früheren 
Periode.  Der  linken  Seite  gehörten  besonders  an:  Richter,  Rüge, 
Br.  Bauer  in  Beiner  späteren  Zeit,  Feuerbach,  Strauss;  auch 
Michelet  ist  zu  ihr  zu  zählen.  Eine  mehr  vermittelnde  Stellung 
nahmen  ein:  Conradi,  Rosenkranz,  Erdmann,  Schaller,  Vatke. 
Die  beiden  Theologen  Daub  und  Marheineke  sind  nicht  geradezu 
als  Schüler  Hegels  zu  bezeichnen,  schufen  aber  mittelst  der  hegelschen 
Philosophie  eine  speculative  Theologie.  Von  denen,  die  weit  links 
gegangen  waren,  verliessen  freilich  einige  der  bedeutendsten  die  hegel- 
schen Principien  und  wandten  sich  dem  Naturalismus  und  Materialismus 
zu,  so  Feuerbach  und  Strauss,  von  denen  der  Erstere,  sowie  Bruno 
Bauer  offen  den  Atheismus  und  Subjectivismus  proclamirte,  während 
der  Zweite  immer  mehr  pantheistisch  gesinnt  blieb.  —  Noch  bis  auf 
die  Gegenwart  ist  die  Abhängigkeit  von  Ilegel  in  der  Religionsphilo- 
eophie  deutlich  zu  bemerken  bei  Theologen  wie  A.  E.  Biedermann, 
weniger  bei  Otto  Pfleiderer. 

In  den  politischen  Ansichten  zeigt  sich  unter  den  Schülern  Hegels 
ähnliche  Verschiedenheit  wie  in  religiösen.  Die  conservative  Richtung 
war  durch  die  Rechte  vertreten,  aber  auch  durch  Strauss  und  Bruno 
Bauer,  die  radicale  durch  die  Linke  ausser  den  Genannten,  und  zu 
bemerken  ist,  dass  die  Socialisten  Lassalle  und  Karl  Marx  wenigstens 
von  Hegel  ausgegangen  sind. 

Besonders  belebend  wirkte  Hegel  auf  Studium  und  Darstellung 
der  Geschichte  der  Philosophie;  hier  sind  vor  allen  zu  nennen  Ed. 
Zeller,  der  sich  in  seinen  philosophischen  Ansichten  bald  von  Hegel 
abwandte  und  sich  auf  den  Boden  der  Erfahrung  stellte,  Joh.  Ed. 
Erdmann,  Kuno  Fischer.  Alle  drei  haben  sich  mehr  oder  weniger 
von  der  hegelschen  Geschichtsconstruction  frei  gemacht. 

Warme  Anhänger  gewann  die  hegelsche  Philosophie  allmählich 
in  Dänemark,  Schweden,  Norwegen,  Finland,  in  Italien,  auch  in  Frank- 
reich und  Nord-Amerika. 

lieber  die  hegelsche  Schule  8.  da*  u.  cirirte  Werk  von  Sehaller.  H.  Holtzmann, 
d   Entwickel.  des  Rcligionsbegriffs  in  d.  Sehule  H  s,  in:  Zttc.hr.  f.  wissenseh.  Th.,  1878. 

Kine  Zusammenstellung  der  aus  der  hegelschen  Sehule  hervorgegangenen 
Schriften  giebt  Hosenkranz  im  I.  Bde.  d«»r  Zeitschrift:  „Der  Gedanke,  Organ  der 
philosophischen  Gesellschaft  in  Berlin*,  hrsg.  von  C.  L.  Michelet,  Berl.  1861,  S.  77,  183, 
2">6  tT.  Kben  diese  Zeitschrift  hat  in  einer  Reihe  von  Ariikeln  Uehersiehten  über  den 
gegen*.  Stand  der  Philosophie,  insbesondere  der  hegelschen ,  innerhalb  und  ausserhalb 
Deutschlands,  veröffentlicht.  Ausführlich  behandelt  die  Auflösung  der  hegelschen  Schule 
Joh.  Eduard  Erdmann  in  seinem  Grnndr.  d.  Gesch.  d.  Ph.,  2.  Bd.,  S.  605 — 6S6. 


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§  3H.    Anhänger  Hegels. 


417 


Die  oben  angegebene  Eintbeilung  der  hegelschen  Schule  in  Linke  und  Rechte, 
die  von  Strauss  herrührt  (Streitschrift.,  3.  Heft,  1837),  läset  sich  nicht  genau  fest- 
halten. Deshalb  ziehen  wir  es  vor,  bei  der  Aufzählung  der  zu  nennenden  Hegelianer 
die  alphabetische  Ordnung  zu  befolgen,  indem  es  genügen  wird,  die  hauptsächlichsten 
Werke  zu  citiren  und  öfter  Bemerkungen  über  die  Lehre  hinzuzufügen.  Einige 
Denker,  die  nicht  gerade  der  hegelschen  Schule  augehören,  ihr  aber  nahe  stehen 
oder  früher  nahe  gestanden  haben,  sollen  hier  sogleich  mit  aufgeführt  werden. 

Als  eigentliches  Organ  der  hegelschen  Schulen  wurden  im  Jahre  1*27  die 
Jahrbücher  für  Wissenschaft!.  Kritik  von  Henning  gegründet  und  bis  1847,  wo  sie 
eingingen,  redigirt.  Sie  trugen  wesentlich  zur  Verbreitung  der  hegelschen  Ge- 
danken mit  bei  und  Hessen  es  sich  besonders  angelegen  sein,  die  Angriffe  auf  die 
Lehre  des  Meisters  zurückzuweisen.  Da  sie  aber  für  die  freieren  Hegelianer  sich 
nicht  unabhängig  genug  von  der  kirchlichen  Orthodoxie  zeigten,  so  gründeten 
A.  Rüge  und  Th.  Echtermeyer  (gest.  1842  in  Dresden)  im  Jahre  1838  die  Halli- 
schen  Jahrbücher  für  deutsche  Wissenschaft  und  Kunst,  die  sich  von  ihrer 
anfanglichen  Mittelstellung  bald  entschieden  nach  links  neigten  und  ihren  zuerst 
ausgeprägt  preussischen  Standpunkt  aufgaben.  1841  wurden  sie  nach  Leipzig 
verlegt  und  erhielten  den  Titel:  Deutsche  Jahrbücher,  nahmen  nun  eine  poli- 
tisch und  religiös  radicale  Haltung  ein,  bis  sie  1843  in  8achsen  verboten  wurden 
und  damit  eingingen.  Als  fernere  Zeitschriften  für  hegelsche  Philosophie  sind 
anzusehen  die  seit  1843 — 1844  zu  Tübingen  von  A.  Schwegler  herausgegebenen 
Jahrbücher  der  Gegenwart,  die  von  L.  Noack  redigirten  Jahrbücher  für  specula- 
tive  Philosophie,  1846—1848,  welche  letzteren  zugleich  Organ  der  philosophischen 
Gesellschaft  in  Berlin  waren,  sowie  später  der  von  Michelet  redigirte  „Gedanke* 
von  1860  an  (1884  das  letzte  Heft  als  einziges  von  Bd.  IX),  kurze  Zeit  unter  Mit- 
herausgabe von  Jul.  Bergmann,  ebenfalls  Organ  der  Philosophischen  Gesellschaft 
in  Berlin. 

Der  hegelschen  Schule  gehören  au  oder  sind  wenigstens  wesentlich  durch  sie 
beeinflusst: 

Bruno  Bauer  (geb.  1809  zu  Eisenberg  in  Sachs.  -  Altenburg,  habilitirte  sich 
1834  in  Berlin  als  Theolog,  1839  in  Bonn,  verlor  1842  wegen  zu  freier  Ansichten 
die  Erlaubniss,  theologische  Vorlesungen  zu  halten,  gest.  zu  Rixdorf  bei  Berlin  1882), 
gehörte  zuerst  der  Rechten  der  hegelschen  Schule  an  und  polemisirte  heftig  gegen 
das  Leben  Jesu  von  Strauss,  wurde  aber  bald  einer  der  Radicalsten  und  stellte 
sich  mit  seinem  Bruder  Edgar  Bauer  auf  den  Standpunkt  der  , reinen  Kritik*,  des 
abstracten  Kriticismus,  von  dem  aus  alles  Sittliche  und  Religiöse,  sowie  aller 
staatliche  Organismus  negirt  würde.  Er  bekannte  sich  offen  zum  Atheismus  und 
wollte  hierbei  durchaus  auf  dem  Standpunkt  Hegels  stehen;  freilich  sei  Atheist  auch 
nicht  die  richtige  Benennung  des  freien  Menschen,  da  damit  auf  etwas  in  Abrede 
Gestelltes  Bezug  genommen  werde.  Später  war  er  wieder  als  Schriftsteller  in  den 
Diensten  der  preussischen  Reaction  thätig.  Seine  Hauptschriften,  die  hier  in 
Betracht  kommen,  sind:  Zeitschr.  f.  specul.  Theol.,  Berlin  1836—38.  Die  Posaune 
d.  jüngst  Gerichts  wider  Hegel,  den  Atheisten  und  Antichristen  (ironisch; 
anonym),  Leipz.  1841.  Hegels  Lehre  von  Relig.  u.  Kunst  (anonym),  Leipz.  1842. 
Kritik  d.  evang.  Gesch.  des  Johannes  (1840)  und  der  Synoptiker  (1841— 42).  Philo, 
Strauss  u.  Renan  u.  d.  Urchristenth.,  Berlin  1874.  Auch  in  d.  Geschieht,  d.  Politik, 
Cultor  u.  Aufklär.  d.  18.  Jahrh.,  4  Bde.,  1843,  und  anderen  historischen  Schriften 
legt  Br.  Bauer  seinen  philosophischen  Standpunkt  dar. 

Edgar  Bauer,  der  Streit  der  Kritik  mit  Kirche  und  Staat,  Bern  1841,  eine 
Vertheidigung  seines  Bruders,  die  ihrem  Verf.  Festungshaft  zuzog. 

l'eb*r  weg-Heime,  Grondriss  III.  7.  Aufl.  27 


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418 


§  38    Anhänger  Hegels. 


Ferd.  Christ.  Baur  (1792-1860,  lange  als  Professor  in  Tübingen  thätig, 
das  Haupt  der  sogenannten  Tübinger  [kritisch-theologischen]  Schule,  zu  welcher 
namentlich  Hilgeufeld,  Köstlin,  Schwegler,  Zeller  gehörten),  die  christl.  Gnosis, 
Tüb.  1835,  die  christliche  Lehre  von  der  Dreieinigkeit,  und  andere  Schriften, 
s.  Grdr.  II,  §  3  ff.  Eine  pietätvolle  und  gediegene  Charakteristik  seiner  Persönlich- 
keit und  seiner  wissenschaftlichen  Leistungen  giebt  Zeller  im  VII.  u.  Vitt  Bande 
der  Preuss.  Jahrbücher,  wiederabgedr.  in  Zellers  Vortr.  und  Abh.,  Leipz.  1865, 
S.  354—434.  Zeller  will  nicht,  dass  Baur  „geradezu  der  hegelschen  Schule  zuge- 
zahlt- werde,  und  macht  auf  den  wesentlichen  Einfluss  theils  Sendlings  theils  und 
besondere  Schleiermachers  aufmerksam,  erkennt  jedoch  an,  dass  die  hegelsche 
Philosophie  mit  seiner  Geschichtsbetrachtung  nicht  nur  übereingestimmt,  sondern 
auch  auf  dieselbe  eingewirkt  habe  vermöge  der  „Idee  einer  innerlich  notwendigen, 
mit  immanenter  Dialektik  sich  vollziehenden,  alle  Momente,  welche  im  Wesen  des 
Geistes  liegen,  nach  einem  festen  Gesetze  zur  Erscheinung  bringenden  Entwickelung 
der  Menschheit". 

Karl  Theod.  Bayrhoffer  (geb.  1812,  von  seiner  Professur  zu  Marburg  1846 
suspendirt,  längere  Zeit  Führer  der  hessischen  Demokratie,  ging  dann  nach 
America),  die  Grundprobleme  der  Metaphysik,  Marburg  1835.  Die  Idee  des  Christen- 
thums, Marburg  183*5.  Die  Idee  der  Philosophie,  Marburg  1838.  Beiträge  zur 
NatnrphiloB.,  Lpz.  1839—40.  Untersuchgn.  üb.  Wesen,  Kritik  u.  Gesch.  d.  Relig., 
In  den  Jahrbüch.  f.  Wissensch,  u.  Leben,  1849.  Bayrhoffer  hat  sich  später  von 
Hegel  entfernt,  findet  in  dessen  Dialektik  ein  blosses  Gedankenkunststück,  worin 
der  wahre  Gedanke  einer  absoluten  synthetischen  Einheit  in  den  Gedauken  oiues 
sich  selbst  auflösenden  Widerspruchs  verkehrt  sei,  und  will,  dass  die  abstract 
Identischen  Herbarts  und  ihr  synthetischer  Schein,  wie  die  selbstanalytische  Iden- 
tität Hegels  sich  gleichmässig  in  die  wirkliche  synthetische  Einheit  auflösen 
(s.  philosoph.  Monatshefte,  HI,  1869,  S.  369  f.). 

K.  M.  Besser,  System  des  Naturrechts,  Halle  1830. 

Gust.  Biedermann,  die  speculat.  Idee  in  Humboldts  Kosmos,  ein  Beitrug 
zur  Vermittelung  der  Philos.  u.  der  Naturforschung,  Prag  1849.  Die  Wissenschafts- 
lehre, Bd.  I:  Lehre  vom  Bewusstsein,  Bd.  IC:  Lehre  des  Geistes,  Bd.  HI:  Seelen- 
lehre, Lpz.  1856-60.  Die  Wissensch,  des  Geistes,  3.  Aufl.,  Prag  1870.  Kants 
Kritik  d.  reinen  Vera.  u.  die  hegelsche  Logik,  Prag  1869.  Metaphysik  in  ihrer 
Bedeutg.  für  die  Begriffswiss.,  Prag  1870.  Zur  logischen  Frage,  ebd.  1870.  Pragm. 
u.  Begriffswissensch.  Geschichtsschr.  d.  Philos.,  ebd.  1870.  Die  Naturphilos , 
Prag  1875.  Philosophie  als  Begriflswisseuschaft,  Prag  1878—1880.  Philos.  der 
Gesch.,  Prag  1884.  Philos.  des  Geistes;  des  .Systems  der  Phil.  I.  Th ,  Prag  1886- 
Religionsphilos.,  Prag  —  Lpz.  1887.  —  Biedermann  ist  zwar  kein  eigentlicher 
Hegelianer,  erkennt  doch  aber  Hegel  grössere  Bedeutung  als  allen  Zeitgenossen  zu 
und  berührt  sich  mit  ihm  in  seiner  Panlogistik. 

Alois  Eman.  Biedermann  (1819  —  1886,  lange  Zeit  Prof.  in  Zürich i,  die 
freie  Theologie  od.  Philos.  u.  Christenth.  in  Streit  u.  Frieden.  Tüb.  1845.  Unsere 
junghegelsche  Weltanschauung  od.  d.  sogen,  neueste  Pantheism.,  Zürich  1849. 
Christi.  Dogmut.,  Zürich  1869.  Die  hegelsche  aprioristische  Weltconstruction  der 
Begriffsdialektik  nahm  Biedermann  nie  an,  hingegen  den  Hegels  System  zu  Grunde 
liegenden  Gedanken,  dass  in  Allem,  was  ist,  Vernunft  sei,  und  dass  unser  eigenes 
vernünftiges  Denken  als  das  schöpferische  Wesen  derselben  diese  Vernunft  in  den 
Dingen,  den  inneren  Grund  ihrer  Erscheinung,  begreifen  könne.  Die  Grundmomente 
der  Gottesidee  sind  Unendlichkeit  und  Geistigkeit,  die  als  formales  und  reales 
Moment  zusammen  den  Begriff  des  absoluten  Geistes  geben.  Das  Wort  Persönlich- 
keit kann  auf  denselben  nicht  angewandt  werden.    Die  Wissenschaft  bat  das 


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§  38.    Anhänger  Hegels. 


419 


theoretische  Moment  der  Religion  von  der  Stufe  der  Vorstellung  zu  dem  Denken 
zu  erheben,  aber  die  Religion  geht  nieht  in  der  religiösen  Vorstellung  auf,  sondern 
zu  religiösen  Vorgängen  gehören  noch  Willensacte  und  Gefühlszustände.  S.  O. 
Pfleiderer,  A.  E.  B.  in:  Preuss.  Jahrbb.,  57,  1886,  S.  52—76. 

Franz  Biese,  die  Philo»,  des  Aristoteles,  Bd.  I:  Logik  und  Metaph., 
Bd.  II:  die  besonderen  Wissenschaften,  Berl.  1835-42.  Philosoph.  Propädeutik, 
Berl.  1845. 

Friedr.  Wilh.  Carove  (1789—1852),  üb.  alleinseligmacb.  Kirche,  Bd.  1, 
Frankfurt  a.  M.  1826,  Bd.  II,  Gött.  1827.  Kosmorama,  Frankf.  a.  M.  1831.  Rück- 
blick anf  die  Ursachen  d.  franz.  Revolution  und  Andeutung  ihrer  welthistor.  Be- 
stimmung, Hanau  1834.  Vorhalle  des  Christenth.  od.  d.  letzten  Dinge  der  alten 
Welt,  Jena  1851.  Er  strebte  danach,  eine  Menschheitsreligion  aufzustellen,  die 
für  alle  Völker  und  alle  Zeiten  befriedigend  sein  könnte. 

Franz  Cblebik,  dialekt.  Briefe,  Berl.  18G9.  Die  Philos.  des  Bewussten  u. 
die  Wahrh.  d.  Unbewussteu  in  d.  dial.  Grundlinien  des  Freiheits-  und  Rechta- 
begrifTs  nach  Hegel  und  Michelet,  Berl.  1870.  Kraft  u.  Stoff  od.  d.  Dynamism. 
der  Atome,  aus  hegelschen  Prämiseen  abgeleitet,  Berl.  1873.  Die  Frage  über  die 
Entstehg.  der  Arten,  logisch  uud  empir.  beleuchtet,  Berl.  1873—74. 

Aug.  v.  Cieszkowski,  Prolegomeua  z.  Historiosophie,  Berl.  1838.  Gott 
und  Palingenesie,  Berl.  1842.    De  la  pairie  et  de  l'aristocratie  moderne,  Paris  1844. 

Kasimir  Conradi  (1784 — 1849,  Pfarrer  in  Derxheim,  Rheinhessen),  Selbst- 
bewusstsein  u.  Offenbarung.  Mainz  1831.  Unsterblichkeit  und  ewiges  Leben, 
Mainz  1837.  Kritik  der  christl.  Dogmen,  Berl.  1841.  Er  versuchte  den  Gefühls- 
theologen zu  zeigen,  dass  sie  bei  Consequenz  die  hegelsche  Theologie  annehmen 
müs8ten. 

Karl  Daub  (1765—1836,  seit  1794  Prof.  d.  Theologie  in  Heidelberg,  starb 
auf  dem  Katheder  mit  den  Worten :  Das  Leben  ist  der  Güter  höchstes  nicht) 
veranlasste  den  Ruf  Hegels  nach  Heidelberg.  Zuerst  nahm  er  den  kritischen 
Standpunkt  Kants  ein,  näherte  sich  dann  der  Identitätslehre  Sendlings,  wie  seine 
Theologumena  1806  beweisen,  hierauf  Hess  er  in  Judas  Ischarioth,  oder  das  Böse 
im  Verh.  zum  Guten,  Heidelb.  1816,  die  mystisch-theosophischen  Elemente  Send- 
lings deutlich  bemerken.  Als  entschiedener  Anhänger  Hegels  versucht  er  später 
die  protestantischen  Dogmen  umzudeuten  in  hegelsche  Ideen.  Von  diesem  Stand- 
punkte des  speculativen  Theologen  aus  sind  geschrieben:  Die  dogmat.  Theologie 
jetziger  Zeit,  od.  d.  Selbstsucht  in  der  Wissensch,  des  Glaubens  und  seiner  Artikel, 
Heidelb.  1833.  Ueber  d.  Logos,  ein  Beitrag  zur  Logik  der  göttl.  Namen,  in  den 
Studien  und  Kritiken,  1833,  Heft  2.  Philos.  u.  theolog.  Vorlesungen,  7  Bde., 
Berl.  1838—44,  veröffentlicht  durch  Marheineke  und  Dittenberger.  Vgl.  K.  Rosen- 
kranz, Erinnerungen  an  K.  D.  1837,  Wilh.  Hermann,  die  speculative  Theologie 
in  ihrer  Entwickelung  durch  Daub,  Hamburg  und  Gotha  1847. 

U.  Dellinghausen,  Versuch  einer  specul.  Physik,  Lpz.  1851. 

Herrn.  Doergens,  Aristoteles  od.  über  das  Gesetz  der  Gesch.,  Lpz.  1872—73. 

J.  F.  G.  Ei  seien,  Handb.  des  Syst.  der  Staatswissenschaften,  Bresl.  1828. 

Joh.  Eduard  Erdmann  (geb.  1805  in  Livland,  von  1829—1832  Pfarrer  in 
seiner  Heimath,  habilitirte  sich  1834  in  der  philos.  Fac.  zu  Berlin,  seit  1836  Prof. 
d.  Philos.  in  Halle),  Vorlesungen  über  Glauben  und  Wissen,  Berl.  1837.  Leib  u. 
Seele,  Halle  1837,  2.  Aufl.  1849.  Natur  oder  Schöpfung?  Lpz.  1840.  Grundriss 
der  Psychologie,  Lpz.  1840,  5.  Aufl.  1873.  Psychol.  Briefe,  Lpz.  1851;  6.  Aufl. 
1882,  die  nach  Erdmanns  eigener  Angabe  nicht  mehr  sein  wollen  als  ein  Unter- 
haltungsbuch, das  nicht  Wissenschaft,  sondern  die  Resultate  derselben  mittheilt 

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420 


§  38.    Anhänger  Hegels. 


Grundr.  d.  Logik  u.  Metapb.,  Halle  1841,  5.  Aufl  1875.  Vermischte  Aufsätze, 
Lpz.  1845,  darin :  Religionsphilos.  als  Phänomenologie  des  religiösen  Bewusstscina, 
worin  er  darzuthon  sucht,  dass  „da  die  Religionen  verschiedene  Stufen  des  Bewusst- 
seius  zeigen,  die  Religionsphilosophie,  weil  sie  an  einer  Stelle  Mythendeutung  sein 
muss,  es  an  einer  andern  gerade  nicht  sein  darf".  Pbilos.  Vorlesungen  üb.  d. 
Staat,  Halle  1851.  Vorlesungen  üb.  akadem.  Leben  und  Studium,  Lpz.  1858. 
Ernste  Spiele,  Berl.  1871,  3  Aufl.  1875.  Sehr  Verschiedenes,  je  nach  Zeit  und 
Ort.  Berlin  1871.  Darwins  Erklärg.  pathognomischer  Erscheinungen,  Halle  1874. 
Krdmanns  Abweichungen  von  Hegel  sind  nur  untergeordneter  Art.  Die  Schriften 
zur  Geschichte  der  Philosophie  sind  bereits  oben  angeführt  worden. 

Emil  Feuerlein,  die  philos.  Sittenlehre  in  ihren  gesch.  Hauptformen,  Tüb. 
1857—1859.  Rousseausche  Studien,  In  einer  Reihe  von  Artikeln  in  der  Zeitschrift : 
Der  Gedanke,  Berlin  1861  ff. 

Kuno  Fischer  (geb.  1824  in  Schlesien,  habilitirte  sich  1850  für  Philos.  in 
Heidelb.,  wo  ihm  jedoch  1853  die  Venia  legendi  vom  Ministerium  entzogen  wurde. 
In  Berlin  wurde  ihm  die  Habilitation  zuerst  nicht  gestattet,  als  sie  ihm  erlaubt 
wurde,  hatte  er  schon  einen  Ruf  als  Prof.  d.  Philosophie  nach  Jena  erhalten, 
wohin  er  1856  ging.  Seit  1872  ist  er  Prof.  in  Heidelberg),  Logik  und  Metapb. 
oder  Wisseuschaftslehre,  Heidelb.  1852,  2.  Aufl.  ebd.  1865.  Diotima,  die  Idee  des 
Schönen,  Pforzheim  1849.  Gesch.  d.  neueren  Philos.  s.  ob.  S.  2.  Bacon  von 
Verulam,  Lpz  1856,  2.  Aufl.  1875.  Schiller  als  Philosoph,  Frankf.  a.  M.  1856. 
Shakespeares  Charakter-Entwickelung  Richards  III.,  Heidelb.  1868.  Entstehg.  u. 
Entwickelungsformen  des  Witzes,  Heidelb.  1871.  Leasings  Nathan  der  Weise, 
2.  Aufl.,  Stuttg.  1872.  Ueber  das  Problem  der  menschl.  Freiheit,  Rede,  Heidel- 
berg 1875.  Vorträge  üb.  Faust,  1877.  Obwohl  Fischer  behauptet,  in  der  Logik 
und  Metaph.  seinen  eigenen  Weg  gegangen  zu  sein,  so  steht  er  doch  in  ent- 
schiedener Abhängigkeit  von  Hegel.  Die  Dialektik  Hegels  nennt  er  Entwicklung, 
den  dialektischen  Process  Methode  der  Entwicklung.  „Der  Vergleichungspunkt 
zwischen  Entwickelung  und  Dialektik  liegt  darin,  dass  es  sich  in  beiden  um  Wider- 
sprüche handelt,  die  zu  Tage  gefördert  und  gelöst  sein  wollen."  S.  übrigens 
A.  L.  Kym,  d.  Logik  u.  Metaph.  od.  Wissenschaft»!.  K.  F.s,  in:  Metaph.  Untersuch., 
S  160—213.  Ein  grosses  Verdienst  hat  Fischer  sich  durch  das  Zurückweisen  auf 
Kant  erworben,  indem  er,  abgesehen  von  seiner  ausführlichen  Darstellung  und 
Würdigung  Kants,  bestimmt  betont,  die  kritische,  d.  h.  die  kantsche,  Philosophie 
dürfe  nicht  ungestraft  vernachlässigt  werden. 

Ernst  Ferd.  Friedrich,  Beiträge  zur  Förderung  der  Logik,  Noetik  u. 
Wissenschaftslehre,  Bd.  I,  Lpz.  1864,  schliesst  sich  in  der  Behandlung  der  .eigent- 
lichen Logik"  oder  Sachvemunftswissenschnft  au  Hegel  und  näher  an  Rosenkranz 
an,  weicht  aber  principiell  von  dem  Hegelianismus  insbesondere  durch  die  Unter- 
scheidung dreier  räquivokdisparanter"  Doctrinen  ab,  die  unter  dem  Collectivnamen 
der  Logik  vereinigt  seien,  nämlich  der  realen,  formalen  und  inductiven  Logik  oder 
der  „Sach Vernunftswissenschaft,  Denkungstheorie  und  Kundigkeitslehre«1. 

Georg  Andr.  Gabler  (1786-1853,  seit  1835  Hegels  Nachfolger  in  Berlin!, 
Lehrb.  d.  philos.  Propädeutik,  1.  Abth.:  Kritik  d.  Bewusstseins,  Erlang.  1827. 
De  verae  philosophiae  erga  religionem  christianam  pietate,  Berol.  1836.  Die 
hegelsche  Philos.,  Beiträge  zur  ihrer  richtig.  Beurtheilg.  und  Würdig.,  Heft  1,  Berl. 
1843,  eine  Beleuchtung  der  Angriffe  Trendelenburgs  gegen  die  hegelsche  Philo- 
sophie, worin  er  den  Pantheismus,  aber  noch  entschiedener  den  Atheismus 
zurückwies. 

Eduard  Gans  (geb.  1798,  gest.  1839,  als  Prof.  der  Jurisprud.  in  Berlin)  war 
namentlich  thätig  bei  der  Gründung  der  Jahrbücher  für  wissenschaftliche  Kritik. 


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§  38.   Anhänger  Hegels. 


421 


Das  Erbrecht  iu  weltgesch.  Entwickelg.,  Merlin  1824  bis  1835.  Vorlegungen  üb.  d. 
Gesch.  der  letzten  fünfzig  Jahre,  iu  Raumers  bist.  Taschenbuch,  1833—34.  Ver- 
mischte Schriften,  Berl.  1834. 

Karl  Friedr.  Göschel  (1781—1861,  Jurist,  einige  Zeit  Consistorialpräsident 
in  Magdeburg),  üb.  Goethes  Faust,  Lpz.  1824.  Aphorismen  üb.  Nichtwissen  u. 
absolutes  Wissen  im  Verhältniss  zum  christl.  Glaubensbekenntniss,  Berl.  1829, 
die  Hegel  selbst  sehr  anerkannte.  Der  Monismus  des  Gedankens,  zur  Apologie 
der  gegenw.  Philos.  (insbesondere  geg.  Chr.  H.  Weisse*  an  dem  Grabe  ihres 
Stifters,  Naumb.  1832.  Von  den  Beweisen  für  die  Unsterblichk.  d.  menschlichen 
Seele  im  Licht  d.  specul.  Philos.,  eine  Ostergabe,  Berl.  1835,  worin  der  Verfasser 
in  Opposition  zu  Richters  negativem  Standpunkt  drei  Beweise,  analog  den  Gottes- 
beweisen, für  die  persönliche  Unsterblichkeit  vorbracht«.  Die  siebenfältige  Oster- 
frage, Berl.  1837.  Beiträge  zur  specul.  Philos.  von  Gott,  dem  Menschen  und  dem 
Gottmenschen,  Berl.  1838. 

J.  J.  Hanusch  (1812—1869',  Handb.  d.  wisseuschaftl.  Denklehre  (Logik), 
Lemberg  1843.  2.  Aufl.  Prag  1850.  Handb.  d.  filos.  Ethik,  Lemb.  1846.  Grund- 
züge eines  Handbuches  der  Metafys.,  Lemb.  1845.  Gesch.  d.  Fil.  von  ihren 
Uranfängen  bis  zur  Schliessung  der  Filosofenschulen  durch  Justinian,  Olmütz  1850. 

Leop.  von  Henning  (1791—1866,  seit  1825  Professor  in  Berlin),  Principien 
der  Ethik  in  histor.  Entwickelg.,  Berlin  1824.  Die  Jahrbücher  f.  wisaenschaftl. 
Kritik  sind  von  Henning  redigirt  worden  (s.  ob.  S.  417).  Später  hat  sich  Henning 
mehr  den  Staatswissenschaften  gewidmet. 

Herrn.  Friedr.  Wilh.  Hinrichs  (1794-1861,  seit  1825  Professor  in  Halle), 
die  Relig.  im  innern  Verhältn.  zur  Wissensch  ,  nebst  einem  (geg.  Schleiermacher 
in  schroffer  Form  polemisirenden)  Vorwort  v.  Hegel,  Heidelb.  1822.  Vorlesung, 
üb.  Goethes  Faust,  Halle  1825.  Grundlinien  d.  Philos.  d.  Logik,  Halle  1826. 
Das  Wesen  d.  antik.  Tragödie.  Halle  1827.  Schillers  Dichtungen,  Halle  1837—38. 
Gesch.  d.  Rechts-  und  Staatsprincipien  seit  der  Reformation  in  historisch-philoa. 
Entwicklung,  Lpz.  1848—52.  Die  Könige.  Leipzig  1852,  in  welcher  Schrift  die 
verschiedenen  in  der  Geschichte  vorkommenden  Formen  des  Königthums  als  die 
Momente  des  vollkommenen  modernen  dargestellt  werden. 

Heinr.  Gust.  Hotho  (1802 — 1873,  starb  als  ansserord.  Prof.  in  Berlin)  war 
namentlich  der  Aesthetik  zugewandt.  Vorstudien  für  Leb.  u.  Kunst,  Stuttg.  u. 
Tüb.  1835.  Gesch.  d.  deutsch,  und  niederländ.  Malerei,  Berl.  1842-43.  Die  Maler- 
echule  Huberts  van  Eyck,  Berl.  1855-  58.    Gesch.  d.  christl.  Malerei,  Stuttg.  1869  ff. 

P.  W.  Jessen,  Beiträge  zur  Erkeuntn.  d.  psych.  I/ebens,  Schlesw.  1831. 
Versuch  einer  wissensch.  Begründung  d.  Psychol.,  Berl.  1855. 

Alexander  Kapp,  die  Gymnasialpädagogik  im  Gruudrisse,  Arnsberg  1841. 

Christian  Kapp  (1798-1874),  Christus  u.  d.  Weltgesch.,  Heidelb.  1823.  Das 
concrete  Allgemeine  d.  Weltgesch.,  Erlang.  1826.  F.  W.  Jos.  Schelling,  ein  Bei- 
trag zur  Gesch.  des  Tages,  von  einem  vieljähr.  Beobachter,  Lpz.  1843,  worin  Kapp 
nachzuweisen  sucht,  das»  die  schellingsche  Philosophie  nicht«  weiter  als  ein  grosses 
Plagiat  sei.  Er  nennt  Schelling  den  „philosophischen  Cagliostro  des  neunzehnten 
Jahrhunderts'.  Kapp  schloss  sich  Hegel  nicht  exclusiv  an,  sondern  in  ihm  „ist  der 
Begriff  der  hegelschen  Philosophie  zugleich  zur  fichteschen  Willensenergie  ge- 
worden, oder  auch  umgekehrt  die  fichtesche  Willensenergie  zum  Begriff  gekommen*. 
Vgl.  üb.  ihn:  Briefwechsel  zwischen  Ludw.  Feuerbach  u.  Christ.  K.  1832—1848, 
hrsg.  u.  eingeleitet  von  August  Kapp,  Lpz.  1876. 

Emst  Kapp,  philos.  od.  vergleich,  allgem.  Erdkunde  als  wiss.  Darstellg.  der 
Erdverhältnisse  u.  d.  Menschenlebens  in  ihr.  inneren  Zusammenhang,  Braunsehw.  1845; 
2.  Aufl.;  vgl.  allgem.  Erdkunde  in  wiss.  Darstellg.,  ebd.  1868. 


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422 


§  38.    Anhänger  Hegels. 


Friedr.  Kapp,  der  wiss.  Schulunterricht  als  ein  Ganzes,  Hamm  1834.  G.  W. 
Ft.  Hegel  als  Gymnasialdi rector  oder  die  Höhe  der  Gymnasialbildung  unserer  Zeit, 
Minden  1835.  Friedrich,  Ernst  u.  Alexander  Kapp  sind  Brüder,  Christian  Kapp 
ist  ein  Vetter  von  ihnen.) 

Karl  Köstlin  (1819  geb.,  Prof,  in  Tübingen),  der  Lehrbegr.  des  Evangeliums 
u.  der  Briefe  des  Johannes,  Berl.  1843.  Goethes  Faust,  seine  Kritiker  u.  Ausleger, 
Tnb.  1860.  Aesthetik,  Tübingen  1863-69.  Ueb.  d.  Schönheitsbegr.,  Tübingen  1878. 
Geschichte  der  Ethik,  1.  Bd.,  1.  Abth.,  in  welcher  auch  ein  Umriss  der  Ethik  ent- 
halten ist,  aber  nicht  in  hegelscher  Weise.  Die  Ethik  ist  zwar  rationell  nach 
Köstlin,  ruht  aber  auf  Empirie;  die  Moral,  erbaut  auf  der  Grundlage  des  wirk- 
liehen  Wesens  des  Menschen,  eine  Wissenschaft  der  denkenden  Vernunft  von  der 
notwendigen,  objectiv  begründeten  Beschaffenheit  des  Wollens  und  Thuns. 

Ferd.  Lassalle  (1825—1864,  starb  in  Folge  eines  Duells),  die  Philos.  He- 
rakleitos'  des  Dunkeln  von  Ephesos,  Berl.  1858,  worin  er  die  Grundgedanken  Hegels, 
namentlich  die  processirende  Einheit  der  Gegensätze,  schon  bei  Heraklit  fand.  Das 
System  der  erworbenen  Rechte,  eine  Versöhnung  des  posit.  Rechts  und  der  Rechts- 
philosophie, Lpz.  1861. 

Ad.  Lasson  (geb.  1832  ,  über  Eckhardt,  Bucon,  Fichte  (s.  ob.).  Das  Cultur- 
ideal  u.  d.  Krieg,  Berl.  1868.  Ueb.  d.  Natur  d.  Rechts  u.  d.  Staats,  in  Bergmanns 
philos.  Monatsheften.  VI,  1870.  Princip  u.  Zukunft  d.  Völkerrechts,  Berl.  1871. 
Ueb.  Gegenstand  und  Behandlung  der  Religionsphilos.,  Lpz.  1879.  System  d.  Rechts- 
philosophie, Berl.  1882.  Die  Aufgabe  der  Philosophie  ist,  im  Seienden  überhaupt 
die  diesem  immanente  Vernunft  zu  begreifen,  d.  h.  das  Seiende  zu  erkennen.  Die 
Ethik  lehrt,  wie  in  wirklicher  Willensbethätigung  die  Vernunft  sich  ausprägt,  und 
so  hat  die  Rechtsphilosophie  die  Aufgabe,  das  vorhandene  Recht  in  seinem  ver- 
nünftigen inneren  Zusammenhange  und  in  dem  mit  den  andern  Richtungen  und  Er- 
scheinungen des  Lebens  zu  begreifen. 

Gust.  Andreas  Lautier,  philos.  Vorlesungen,  Berl.  1853. 

G.  O.  Marbach,  Lehrbuch  d.  Gesch.  d.  Philos.,  1.  Abth.:  Gesch.  d.  grie- 
chischen Philos.,  2.  Abth.:  Gesch.  d.  Philos.  im  Mittelalter,  Lpz.  1838—41. 

Friedr  Aug.  Märcker,  das  Princip  des  Bösen  nach  den  Begriffen  der  Griechen, 
Berl.  1842.    Die  Willensfreiheit  im  Staatsverbande,  Berl.  1845. 

Philipp  Marheineke  (1780-1846,  seit  1811  Professor  d.  Theologie  in  Berlin), 
zeigt  sich  in  der  ersten  Auflage  der  Grundlehren  der  christl.  Dogmatik,  Berlin  1819, 
wesentlich  durch  Schelling  beeinflusst,  die  zweite  Auflage  dagegen,  Berlin  1827, 
hat  er  im  Geiste  Hegels  bearbeitet  Theolog.  Vorlesungen,  hrsg.  von  St.  Matthies 
und  W.  Vatke,  Berl.  1847  ff.  u.  System  d.  theolog.  Moral,  System  der  christl. 
Dogmatik. 

Carl  Ludwig  Michel  et  (geb.  1801  in  Berlin,  seit  1829  ausserordentlicher 
Prof.  daselbst),  Syst  d.  philos.  Moral,  mit  Rücksicht  auf  die  juridische  Imputation, 
die  Gesch.  der  Moral  u.  das  christl.  Moralprincip,  Berl.  1828.  Anthropologie  und 
Psychol.,  Berl.  1840.  Vorlesungen  üb.  die  Persönlichkeit  Gottes  n.  Unsterblichkeit 
der  Seele  od.  die  ewige  Persönlichkeit  des  Geistes,  Berl.  1841.  Die  Epiphanie  der 
ewigen  Persönlichkeit  des  Geistes,  eine  philos.  Trilogie;  erstes  Gespräch:  die  Per- 
sönlichkeit des  Absoluten,  Nürnb.  1844;  zweites  Gespräch:  der  histor.  Christus  u. 
das  neue  Christenth.,  Darmst.  1847;  drittes  Gespräch:  die  Zukunft  der  Menschheit 
u.  die  Unsterblichk.  d.  Seele,  oder  die  Lehre  von  den  letzt  Dingen,  Berl.  1852. 
Zur  Verfassungsfrage,  Frankf.  a.  d.  O.  u.  Berl.  1848.  Zur  Unterrichtsfrage,  ebd. 
1848.  Esquisse  de  Logique,  Paris  1856.  Die  Gesch.  der  Menschh.  in  ihr.  Ent- 
wickelungsgange  von  1775  bis  auf  die  neuesten  Zeiten,  Berl.  1859—60.  Naturrecht 
od.  Rechtsphilos.,  Bd.  I:  Einleit,  Grundrechte,  Privatrecht,  Bd.  II:  öffentl.  Recht, 


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§  38.    Anhänger  Hegels. 


423 


allgem.  Rechtegesch.,  Berlin  1866.  Die  histor.  Schriften  Michelete,  bezügl.  auf 
Aristoteles  n.  auf  die  neueste  Philos.,  sind  schon  oben  (1 ,  7.  Aufl.,  S.  1S7.  189  und 
223,  und  III,  S.  206)  angeführt  worden.  —  Hegel,  der  unwiderlegte,  Weltphilosoph, 
eine  Jubelschrift,  Lpz.  1870.  Hegel  u.  der  Empirismus,  zur  Benrtheil.  einer  Rede 
Eduard  Zeilen,  Berl.  1873.  Das  System  der  Philosophie  als  exacter  Wissensch., 
4  Theile.  in  5  Bdn.,  Berl.  1876—81.  (Logik,  Naturphilos.,  Geistesphilos.,  Philos. 
der  Gesch.)  Wahrheit  aus  meinem  Leben,  Berl.  1885.  Michelet  gehört  zu  den 
treuesten  Schülern  Hegels  und  ist  bis  auf  die  Gegenwart  stete  auf  das  Entschie- 
denste mit  nie  wankendem  Muthe  für  die  Lehren  seines  Meisters  eingetreten. 

Ferd.  Müller,  der  Organism.  und  die  Entwicklung  der  polit.  Idee  im  Alter- 
thum, od.  die  alte  Gesch.  vom  Standpunkte  der  Philos ,  Berl.  1839. 

Theod.  Mündt,  Aesthetik,  die  Idee  der  Schönh.  u.  des  Kunstwerks  im  Lichte 
unserer  Zeit,  Berl.  1845,  neue  Ausg.  Lpz.  1868,  bei  aller  Polemik  gegen  Hegel  und 
Hervorhebung  des  Princips  der  .Unmittelbarkeit"  doch  sehr  wesentlich  durch  den 
hegelschen  Gedankenkreis  bedingt. 

Joh.  Georg  Mussmann  (1833  als  Professor  in  Halle  gest ),  I>ehrbuch  der 
Seelenwissenschaft,  Berl.  1827.  Grundlinien  der  Logik  u.  Dialektik,  Berl.  1828. 
Grundriss  der  allgem.  Geschichte  der  christl.  Philos.,  mit  besond.  Rücksicht  auf  die 
christl.  Theol ,  Halle  1830.  Zuerst  war  er  enthusiastischer  Verehrer  Hejrels,  später 
kritisirte  er  ihn  vielfach. 

Ludw.  Noack  igest.  1885  als  Prof.  in  Glessen),  der  Religionsbegriff  Hegeln, 
Darmst.  1845.  Mythologie  u.  Offenbarung;  die  Relig.  in  ihrem  Wesen,  ihrer  ge- 
schichtl.  Entwickel.  und  absoluten  Vollendung,  Darmst.  1845—46.  Das  Buch  der 
Relig.,  od.  der  relig.  Geist  d.  Menschh.  in  seiner  geechichtl.  Entwickelg.,  Lpz  1850. 
Die  Theol.  als  Reli^ionsphil.  in  ihrem  wissensch.  Organismus,  Lübeck  1852.  Die 
christl.  Mystik  des  Mittelalters  u.  seit  dem  Reformationszeitalter,  Königsb.  1853. 
Gesch.  der  Freidenker  (Engländer,  Franzosen,  Deutsche),  1853—1855.  Ferner  manche 
andere,  meist  religionsphilosophische  Schriften,  worin  Noack  sich  theilweise  an 
Reiff  und  Planck  angeschlossen  hat.  In  Schriften,  welche  Kant  betreffen,  z.  B. 
Kants  Auferstehung  aus  seinem  Grabe.  Lpz.  1862,  sagt  er,  dass  Kant  den  Em- 
pirismus als  den  einzig  wissenschaftlichen  Standpunkt  gelten  lasse.  Von  1846  bis 
1848  hat  Noack  die  zu  Darmstadt  erschienenen  Jahrbücher  f.  specul.  Philos.  und 
speculative  Bearbeitg.  der  empir.  Wissenschaften  herausgegeben,  in  welcher  auch 
die  philosophische  Gesellschaft  zu  Berlin  ihre  damaligen  Arbeiten  veröffentlicht 
hat.  Noack  s  „Psyche"  (1858—63)  ist  eine  populär-wissenschaftliche  Zeitschrift  für 
angewandte  Psychologie.  Von  Eden  nach  Golgatha,  bibl.-gesch.  Forschungen,  Lpz. 
1868.    Philosophie-geschichtliches  Lexicon,  Lpz.  1879. 

Hein.  Bernh.  Oppenheim,  Syst.  des  Völkerrechte,  Frankf.  a.  M.  1845.  Philos. 
des  Rechte  u  der  Gesellschaft,  Stuttg.  1850  (bildet  den  V.  Band  der  Neuen  Encycl. 
der  Wissenschaften  u.  Künste). 

Ed.  Ph.  Peipers,  Syst.  d.gesammten  Naturwissenschaften  nach  monodynamisch. 
Princip,  Köln  1840-41.   Die  positive  Dialektik,  Düsseldorf  1845. 

Otto  Pfleiderer  (geb.  1839,  Prof.  d.  Theol.  in  Berlin),  d.  Religion,  ihr 
Wesen  u.  ihre  Gesch.,  2  Bde.,  Lpz.  1869.  Moral  u.  Relig.,  Leipz.  1872.  Religions- 
philosophie auf  geschiehtl.  Gründl.,  Berl.  1878.  2.  Aufl.  2  Bde ,  1883,  84(1.  Bd.: 
Gesch.  d.  Religionsphilos.  von  Spinoza  bis  auf  d.  Gegenw.,  2.  Bd.:  Genet.  specu- 
lative Religionsphilos).  Grundriss  der  christl.  Glaubens-  u.  Sittenl.,  Berl.  1880. 
—  Gott  ist  nach  Pfleiderer  ebenso  das  insichseiende  und  von  allem  Endlichen  sich 
selbst  unterscheidende  Ich,  wie  er  das  allumfassende  Ganze  ist,  welches  Alles  in 
und  unter  sich,  nichts  ausser  sich  hat.  Er  geht  nicht  in  der  Welt  auf,  ist  aber 
auch  nicht  von  ihr  ausgeschlossen,  sondern  schlieest  sie  in  sich  als  das  entfaltete 


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424 


§  38.    Anhänger  Hegels. 


System  seiner  eigenen  Gedanken  und  Kräfte.  In  diesem  wahren  Monotheismus 
sollen  deistische  und  pantheistische  Abstractionen  in  gleicher  Weise  überwunden 
sein.  Die  Religion  will  nicht  die  Welt  theoretisch  erklären,  sondern  das  Verhältnis« 
des  fühlenden  und  wollenden  Ich  zur  Welt  richtig  stellen,  indem  sie  das  eigene 
Leben  mit  allen  es  beherrschenden  Eindrücken  der  Welt  unmittelbar  auf  die  welt- 
beherrschende Macht  selbst  bezieht. 

K.  Prantl  (geb.  1820,  Prof.  d.  Philos.  in  München),  der,  von  der  hegelschen 
Philosophie  herkommend,  namentlich  dem  Studium  des  Aristoteles  und  der  Ge- 
schichte der  Logik  sich  zugewandt  hat.  Seine  eigenen  philosophischen  Ansichten 
hat  er  in  kürzeren  Arbeiten  niedergelegt.  Die  gegenw.  Aufgabe  d.  Philos.,  München 
1852.  Die  geschichtl.  Vorstufen  d.  neueren  Rechtsphilos.,  Münch.  1848.  Reform- 
gedanken %.  Logik  in:  Sitzgsber.  d.  Münch.  Ak.,  phil.  GL  1875,  Bd.  I,  S.  159-214. 
Verstehen  u.  Beurtheileu,  Münch.  1877.  Ueb.  d.  Berechtig,  d  Optimism., 
Rede,  Münch.  1880.  Zur  Causalitätsfrage,  iu  den  Sitzgsber.  d.  Münch  Ak., 
phil.  Ol.  1883,  H.  II,  S.  113  —  139.  Von  der  Gesch.  der  Logik  sind  bis 
jetzt  4  Bde.,  Lpz.  1858-1870  erschienen,  der  2.  Bd.  in  2.  Aufl.  1885. 
Nach  Prantl  geben  uns  die  Functionen  des  subjectiven  Bewußtseins  den  Maass- 
Btab  objectiver  Welterkeuutniss.  Nur  der  Mensch  kommt  zum  Bewusstsein  des 
wesenseinheitlichen  Zusammenhangs  des  Subjectiven  und  Objectiven.  Dem  Menschen 
eigenthümlich  ist  der  Zeitsinn,  vermöge  dessen  er,  in  die  Vergangenheit  zurück- 
greifend, durch  Erinnerung  Begriffe  bilden  und,  in  die  Zukunft  vorgreifend,  durch 
spontane  Zweckabsichten  ein  Gebiet  von  Ideen  oder  idealen  Impulsen  begründen 
kann,  „zu  deren  Verwirklichung  er  in  Familie,  in  Sittlichkeit,  in  Recht,  iu  Kunst, 
in  Religion  und  Wissenschaft  seine  Kräfte  versucht*. 

Jac.  Friedr.  Reiff,  der  Anfang  der  Philos,  Stuttg.  1841.  Das  Syst.  d. 
Willensbestimmungen  oder  d.  Grundwissensch,  d.  Philos.,  Tübing.  1842.  Ueb.  einige 
Punkte  d.  Philos.,  Tübing.  1843.  Reiff  hat  sich  von  Hegel  aus  Fichte  genähert 
und  uuf  Carl  Chr.  Planck  besonders  eingewirkt. 

Friedr.  Richter  (aus  Mugdeburg),  die  Lehre  v.  d.  letzten  Dingen,  Theil  1, 
Breslau  1833,  Theil  2,  Berlin  1844.  Die  neue  Unsterblichkeitslehre,  Breslau  1833. 
Der  Gott  der  Wirklichkeit.  Breslau  1854.  Er  veranlasste  den  Streit  über  die  Un- 
sterblichkeit in  der  hegelschen  Schule  (abgesehen  von  der  schon  1831  aber  anonym 
erschienenen  Schrift  Feuerbachs  ,  indem  er  zu  beweisen  sucht,  dass  bei  der  Lehre 
Hegels  eine  persönliche  Fortdauer  nicht  anzunehmen  sei:  übrigens  wünschten 
eine  solche  nur  die  der  Resignation  unfähigen  Egoisten. 

Joh.  Karl  Friedr.  Rosenkranz  (geb.  23.  April  1805  zu  Magdeburg,  seit  1833 
Prof  in  Kgsb.,  vom  Juli  1848  bis  Jan.  1849  Rath  im  Minist,  zu  Berlin,  von  da  an 
wieder  in  Kgsb.,  gest.  14.  Juni  1879),  de  Spinozae  philosophia  diss.,  Halle  und 
Leipz.  1828  Ueb.  Calderons  wunderthätigen  Mugus,  e.  Beitrag  E.  Verständniss  der 
taustschen  Fabel,  Halle  1829.  Der  Zweifel  am  Glauben,  Kritik  der  Schriften  de 
tribus  impostoribus,  Halle  1830.    Gesch.  d.  deutsch.  Poesie  im  Mittelalt.,  Halle 

1830.  Die  Naturreligion,  Iserlohn  1831.    Encyclop.  der  theol.  Wissensch.,  Halle 

1831,  2.  Aufl.  1845.  Allg.  Gesch.  d.  Poesie,  Halle  1832-  33.  Das  Verdienst  d. 
Deutschen  um  d.  Philos.  d.  Gesch.,  Kgsb.  1835.  Kritik  d.  schleiermacherschen 
Glaubenslehre,  Kgsb.  1836.  Psychologie,  Kgsb.  1837,  2.  Aufl.  1843,  3.  Aufl.  1863. 
Gesch.  d.  kantschen  Philos.  (Bd.  XII  d.  Werke  Kauts  h.  v.  Ros.  u.  Schubert),  Lpz. 
1840.  Das  Centrum  d.  Speculation,  eine  Komödie,  Kgsb.  1840  Studien,  5  Bänden., 
Berl.  u.  Leipz.  1839—48.  Ueb.  Schölling  u.  Hegel,  Sendschreib,  au  Pierre  Leroux, 
Kgsb.  1843.  Schölling,  Danzig  1843.  Hegels  Lebeu,  Berlin  1844.  Krit  d.  Prin- 
eipien  der  straussschen  Glaubenslehre,  Lpz.  1844,  2.  Aufl.  1864.  Goethe  u.  s. 
Werke,  Kgsb.  1847,  2.  Aufl.  1856.    Die  Pädagogik  als  Syst,,  Kgsb.  1848.    Syst.  d. 


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§  38.    Anhänger  Hegcia. 


425 


Wissensch.,  ein  philos.  Kncheiridion,  Kgsb.  1850.  Meine  Reform  d.  hegelschen 
Philo».,  Sendsehreiben  an  J.  ü.  Wirth,  Kgsb.  1852.  Aesthetik  des  Hässlichen, 
Kgsb.  1853.  Die  Poesie  und  ihre  Gesch.,  Entwickelung  d.  poet  Ideale  d.  Völker, 
Kgsb.  1855.  Apologie  Hegels  gegen  Haym,  Berl.  1858.  Wissensch,  d.  logisch. 
Idee,  Kgsb.  1858—59,  nebst  Epilegomeua,  ebd.  1862.  Diderots  Leben  u.  Werke, 
Lpz.  1866.  Hegels  Naturphilos.  und  ihre  Erläuterung  durch  den  ital.  Philosophen 
A.  Vera,  Berl.  1868.  Hegel  als  deutscher  Nationalphilosoph,  Lpz.  1870.  Erläute- 
rungen zu  Hegels  Encyclop  der  Philos.,  in  d.  .philo«.  Bibl.%  Bd.  XXXIV.,  Berl. 
1870.  Von  Ifagdeb.  bis  Kgsb.,  Berl.  1873.  Voltaire  in  R.  Gottschalls  Neu. 
Plutarch  Th.  1,  1874,  S.  285-373.  Neue  Studien  I-IV,  Lpz.  1875  ff.  In  seiner 
Wissenschaft  von  der  logischen  Idee  weicht  R.  nicht  unwesentlich  von  der  hejrel- 
schen  Logik  ab,  und  er  wurde  auch  deshalb  von  eigentlichen  Hegelianern  des  Ab- 
falls von  dem  Meister  bezüchtigt.  Nach  R.  theilt  sich  die  Wissenschaft  der  lo- 
gischen Idee  in  Metaphysik,  Logik,  Ideenlehre,  indem  das  Denken  dem  Sein  ent- 
gegengesetzt wird,  und  diese  beiden  in  der  Idee  zur  Einheit  aufgehoben  werden. 
Die  Metaphysik  gliedert  sich  wieder  in  Ontologie,  Aetiologie  und  Teleologie,  die 
Logik  behandelt  die  Lehre  vom  Begriff,  Urtheil,  Schluss,  in  dem  dritten  Theil  wird 
Princip,  Methode  und  System  der  Ideeulehre  dargestellt.  Die  Naturphilosophie 
führt  Rosenkranz  als  einer  der  wenigen  Hegelianer  auf  hegelschen  Principien  weiter 
aus,  indem  er  nach  diesen  die  Thatsachen  der  Erfahrung  behandelt.  Vgl.  über  ihn: 
R.  Quäbicker,  K.  Rosenkranz.  Eine  Studie  z.  GeBch.  der  hegelschen  Philos.,  Lpz. 
1879,  u.  Arth.  Richter,  K.  R.  u.  seine  Reform  der  Philos.  mit  Bez.  auf  Quäbickers 
Schrift  In:  Zeiteehr.  f.  Philos.  u.  ph.  Kr.,  1880,  Bd.  77,  Ergänzungsh.,  S.  134-151. 

Constantin  Rössler,  Syst.  d.  Staatelehre,  Lpz.  1857.  (Nur  in  gewissem  Be- 
tracht im  hegelschen  Sinne  geschrieben.) 

Heii. r.  Theod.  Rötscher  (geb.  1803),  Arietophanes  und  sein  Zeitalter,  Berl- 
1827.  Abhandlgn.  zur  Philos.  d.  Kunst,  Berl.  1837—47.  Die  Kunst  d.  dramat. 
Darstellung,  Berl.  1841,  2.  Aufl.,  Lpz.  1864. 

Arnold  Rüge  (geb.  1802,  gest.  1880),  lebte  lange  Zeit  in  England,  wo  er  mit 
Ledru-Rollin,  Mazzini,  Bratiano  u.  A.  das  Europäische  demokratische  Comitö  für 
die  Solidarität  der  Partei  ohne  Unterschied  der  Völker  bildete,  uus  dem  er  bei 
Kossuths  Eintritt  schied.  Die  platonische  Aesthetik,  Halle  1832.  Neue  Vorschule 
der  Aesthetik.  Halle  1837.  Rüge  u.  Echtermeyer,  Hallesche  Jahrb.  für  deutsche 
Wiss.  u.  Kunst,  3  Bde.,  Lpz.  1838—40.  Deutsche  Jahrb.  f.  Wiss.  u.  Kunst,  2  Bde., 
1841—42.  Rüge,  Anecdota  z.  neuest,  dtach.  Philos.  u.  Publicistik,  Zürich  1843 
Rüge  u.  Marx,  deutsch -französische  Jahrbüch.,  2  Hefte,  Paris  1844.  Gesammelte 
Schriften,  10  Bde.,  Mannheim  1846—48.  Uebersetzg.  von  ßuckles  Gesch.  d.  CM- 
lisation,  Lpz.  u.  Heidelb.  1860,  4.  Aufl.  1871  Ruges  Autobiogr.:  Aus  früherer 
Zeit,  Bd.  I— IV,  Berl.  1862-67.  (Der  vierte  Band  enthält  auch  eine  speculative 
Betrachtung  d.  Gesch.  d.  Philos.  v.  Thaies  bis  zur  Unterdrückung  der  rugescbeii 
Jahrbücher.)  Reden  üb.  d.  Relig ,  ihr  Enteteh.  u.  Verg.,  an  die  Gebildeten  unt.  ihren 
Verehrern  (in  Opposition  zu  Schleiermacher),  Berl.  1869  (1868).  Volksausgabe  1874. 

Jul.  Schaller  (1810—1868),  die  Philos.  unserer  Zeit,  zur  Apologie  und 
Erläuterung  d.  hegelschen  Syst.,  Lpz.  1837.  Der  histor.  Christus  u.  d.  Philos., 
Kritik  d.  dogmat.  Grundidee  des  Leb.  Jesu  von  Strauss,  Lpz.  1838.  Gesch.  d. 
Naturphil,  von  Bacon  von  Verulam  bis  auf  uus.  Zeit,  Lpz.  u.  Halle  1841—46.  Vor- 
lesungen üb.  Schleiermacher,  Halle  1844.  Darstellung  u.  Krit.  d.  Philos.  Ludw. 
Feuerbachs,  Lpz  1847.  Briefe  üb.  Alex.  v.  Humboldts  Kosmos,  Lpz.  1850.  Die 
Phrenologie  in  ihr.  Grundzügen  u.  nach  ihr.  wisa.  u.  prakt.  Werthe,  Lpz  1851. 
SmT  und  Leib,  Weimar  1855  u.  ö.  Psychologie,  Bd.  I,  d.  Seelenleben  d.  Menschen, 
Weimar  1860. 


426 


§  38.    Anhänger  Hegels. 


Max  Sehasler,  die  Elemente  der  philos.  Sprachwissensch.  Wilhelm  v.  Hum- 
boldt«, Berl.  1847.  Populäre  Gedanken  aus  Hegels  Werken,  Berl.  1870.  2.  Aufl. 
1873.  Aesthetik  als  Thilos,  d.  Schön,  u.  d.  Kunst,  L  Bd.  krit  Gesch.  d.  Aesthetik 
v.  Plato  bis  auf  die  Gegenw.,  Berl.  1871—72.  Das  System  der  Künste  aus  einem 
neuen  im  Wesen  der  Kunst  begründeten  Gliederuugsprinc,  2.  Aufl.,  Lpz.  1885. 
Aesthetik,  1.  Th.:  d.  Welt  d.  Schönen,  2.  Tb.:  d.  Reich  d.  Kunst,  Lpz.  1886  (d. 
Wissen  d.  Gegenw.). 

Alexis  Schmidt,  Beleuchtg.  d.  neu.  schellingschen  Lehre  von  Seiten  d.  Philos. 
u.  Theol.,  nebst  Darstellg.  u.  Kritik  d.  früheren  schellingschen  Philos.,  u.  eine 
Apologie  d.  Metaph.,  besonders  der  hegelscheu,  gegen  Sendling  und  Trendelen- 
burg,  Berl.  1843. 

Reinhold  Schmidt,  christl.  Religion  u.  hegelsche  Philos.,  Berl.  1837.  Solgers 
Philos.,  Berl.  1841. 

Heinr.  Schwarz,  über  die  wesentlichsten  Forderungen  an  eine  Philos.  d. 
Gegenw.  und  deren  Vollziehung,  Ulm  1846.  Gott,  Natur  und  Mensch,  System  des 
substantiellen  Theismus,  Hannov.  1857. 

Herrn,  Schwarz,  Vers,  einer  Philos.  der  Mathematik,  verbunden  mit  einer 
Kritik  der  Aufstellgu.  Hegels  über  den  Zweck  und  die  Natur  der  h.  Analysis, 
Halle  1853. 

F.  K.  A.  Schwegler  (1819—1857),  Jahrbüch.  d.  Gegenwart,  Tüb  1844-48. 
Die  Metaph.  des  Aristoteles,  Text,  Uebtrsetzg.  u.  Commentar,  Tüb.  1846 — 48.  Gesch. 
der  Philos.  im  Umriss,  Stuttgart  1848  u.  oft.  Gesch.  d.  griech.  Philos.,  hrsg.  von 
Karl  Köstlin,  Tüb.  1859.   3.  Aufl.  1882. 

G.  W.  Suellmau,  Versuch  einer  specnl.  Kntwickelg.  der  Idee  der  Persön- 
lichkeit, Tüb.  1841. 

Theod.  St  räter,  Studien  zur  Gesch.  der  Aesthetik,  I,  Bonn  1861.  Die  Com- 
position  von  Shakespeares  Romeo  und  Julie,  Bonn  1861. 

Strau»H,  das  Leb.  Jesu,  krit.  bearb.,  Tüb.  1 835 — 3C.  4.  Aufl.  1840.  Streit- 
schriften zur  Vortheid.  dieser  Schrift,  ebd.  1837—38.  Zwei  friedl.  Blätter,  Altona  1839. 
Charakteristiken  u.  Kritiken,  Lpz.  183!>.  Die  christl.  Glaubenslehre  in  ihrer  gesch. 
Kntwickelg.  u.  im  Kampfe  mit  der  modernen  Wissensch.  dargest.,  Tüb.  1840—41. 
Neue  Bearbeitung  des  Lebens  Jesu  „für  das  deutsche  Volk*,  Lpz.  18G4  (vgl.  über  die- 
selbe und  über  Kenans  Vi«  de  Jesus  Zeller  in  v.  Sybels  bist.  Zeitschr.  XII,  S.  70  ff., 
wiederabgedr.  in  Zeller»  Vortr.  und  Abb.,  Lpz.  1865,  8.  434  ff.\  Der  Christus  des 
Glaubens  und  der  Jesus  der  Gesch.,  Berl.  18155  (eine  Kritik  der  schlciermachersehen 
Vorlesungen  über  das  Leben  Jesu).  Voltaire,  1.  u.  2.  Aufl.,  Lpz.  1870.  Der  alte  u. 
der  neue  Glaube,  1872  u.  ö.  Ein  Nachwort  als  Vorwort  zu  den  neuen  Auflagen,  Bonn 
1873.  Als  Gegenschriften  sind  zu  erwähnen:  J.  Huber,  der  alte  u.  der  neue  Glaube, 
1873.  H.  ülrici,  der  Philosoph  Strauss,  Halle  187:5.  Gesaromelte  Schriften  von 
Strauss,  eingeleitet  u.  mit  erläuternden  Nachweisungen  versehen  von  Ed.  Zeller,  12  Bde., 
Bonn  1876 — 78.  Ueber  Str.  vgl.  Frdr.  Theod.  Visoher,  Strauss  u.  d.  Württemberger, 
in:  Hallisch.  Jabrbb.,  1838.  auch  in  d.  Kritisch.  (längen.  Ed.  Zeller.  D.  F.  Strauss, 
in  seinem  Leben  u.  seinen  Schriften  geschildert,  Bonu  1874.  C.  Gust.  Reuschle,  Philos. 
und  Naturw.,  zur  Erinnerung  an  D.  F.  Strauss,  Bonn  1874.  A.  Hausrath,  D.  Fr.  Str. 
u.  die  Theologie  seiner  Zeit,  2  Bde.,  Heidelb.  187G— 78.  K.  Dieterich,  D.  F.  Strauss 
et  l'idealisme  Alleniand,  in:  Revue  philos.  21,  1886,  S.  58—72. 

David  Friedr.  Strauss  war  geboren  1808  zu  Ludwigsburg,  seit  1832  Repetent 
am  Stift  in  Tübingen;  in  Folge  seines  Lebens  Jesu  wurde  er  nach  Ludwigsburgan 
das  Lyceum  versetzt,  privatisirte  aber  von  1836  an  in  Stuttgart.  1839  wurde  er 
als  Professor  der  Theologie  nach  Zürich  berufen,  aber  ehe  er  sein  Amt  antrat, 
schon  pensionirt,  da  seine  Berufung  die  grösste  Aufregung  in  Zürich  hervorgerufen 
hatte.  Von  da  ati  lebte  er  seinem  schriftstellerischen  Berufe  an  verschiedenen 
Orten  und  starb  den  8.  Februar  1874  in  seiner  Geburtsstadt.    Zwar  ist  Schleier- 


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.§  38.    Anhänger  Hegels. 


427 


macber  nicht  ohne  EinfluBs  auf  Strangs  gewesen,  aber  die  Abhängigkeit  von  Hegel 
uberwog  bei  weitem:  Hegels  Unterscheidung  von  Begriff  und  Vorstellung  hatte, 
wie  Strauss  selbst  sagt,  diesen  frühzeitig  dahin  gebracht  die  Vorstelluugsform 
wirklich  zu  überwinden.  Das  Wunder  muss  nach  ihm  negirt  werden,  da  es  Unter- 
brechung des  Xaturlaufs  durch  Sehöpferthätigkeit  sein  würde.  Der  ganze  Schöpfungs- 
bericht kann  aber  zu  Recht  gar  nicht  bestehen,  weil  ja  die  Natur  nur  anders,  d.  h. 
äusserlich  erscheinende  Idee  ist.  Hieraus  ergiebt  sich  leicht,  dass  der  grossere 
Theil  der  biblischen  Erzählungen  auf  Mythen  beruht,  da  sie  mit  ihren  Berichten 
von  Wundem  nichts  Wirkliches  überliefern  können,  wenn  auch  Wahrheit  in  ihnen 
liegt.  Der  Schlüssel  der  ganzen  Christologie  ist,  dass  als  das  Subject  der  Prädi- 
cate,  welche  die  Kirche  Christo  beilegt,  statt  eines  Individuums  eine  Idee  gesetzt 
werde,  aber  nicht  eine  unwirkliche,  sondern  eine  reelle,  die  Menschheit  als  der 
Gottmensch.  Iu  seiner  Dogmatik  giebt  er  eine  Kritik  der  einzelnen  Dogmen,  in- 
dem er  ihre  Entstehung  und  Ausbildung  geschichtlich  verfolgt  und  zugleich  zu  zeigen 
Bucht,  wie  sie  sich  auflösen  mussten,  so  dass  in  ihrer  Eutwickelung  schon  ihre 
Vernichtung  gegeben  sei.  Er  betont,  dass  die  christliche  Religion  als  Theismus 
sich  mit  der  Philosophie  als  Pantheismus  nicht  befreunden  könne;  das  Dogma  Bei 
nur  durch  das  idiotische  Bewusstsein  hervorgebracht.  Gott  ist  nicht  eine  Person 
neben  oder  über  anderen  Personen,  soudern  das  Unendliche,  das  sich  in  den  ein- 
zelnen Personen,  den  Menschen,  personiticirt  und  zum  Bewusstsein  kommt,  das 
Denken  in  allem  Denkenden,  aber  auch  das  Leben  in  allem  Lebenden,  das  Sein  in 
allem  Dasein.  Der  Menschengeist,  soweit  er  sich  noch  nicht  als  Einheit  des  End- 
lichen und  Unendlichen  erkeimt,  sich  nur  als  endlich  fühlt,  setzt  das  Unendliche, 
das  in  ihm  ist,  aus  sich  heraus,  als  ein  fremdes  und  betrachtet  es  als  jenseits. 
Dieser  Standpunkt  muss  durch  die  Philosophie  überwunden  werden.  Auch  die 
Unsterblichkeit  ist  nichts  Jenseitiges,  sondern  des  Geistes  eigene  Kraft,  sich 
über  die  Endlichkeit  hinaus  zur  Idee  zu  erheben.  Ueber  die  Fassung  Schleier- 
machers, mitten  iu  der  Endlichkeit  eins  zu  werden  mit  dem  Unendlichen,  ewig  zu 
sein  in  jedem  Augenblicke,  kommt  nach  Strauss  die  Wissenschaft  der  Gegenwart 
nicht  hinaus. 

In  dem  alten  und  neuen  Glauben  spricht  Strauss  weniger  entschieden 
den  Materialismus  aus,  als  dass  er  den  Gegensatz  zwischen  Materialismus  und 
Idealismus  nur  für  einen  Wortstreit  ansieht.  Ihren  gemeinsamen  Gegner  sollen 
beide  im  Dualismus  haben,  dem  gegenüber  sie  beide  als  Monismus  gelten,  indem 
sie  die  Gesammtheit  der  Erscheinungen  aus  einem  Princip  zu  erklären  suchen,  wie 
schon  die  hegelsche  Philosophie  einen  entschiedenen  Gegner  im  Dualismus  gehabt 
hatte.  Jede  dieser  beiden  Betrachtungsweisen,  die  materialistische  sowohl  als  die 
idealistische,  soll  consequent  durchgesetzt  in  die  andere  hinüberführen.  Ver- 
werflich ist  die  Spaltung  des  Menschen  in  Leib  und  Seele,  des  menschlichen 
Daseins  in  Zeit  und  Ewigkeit,  die  Scheidung  einer  geschaffeneu  und  vergänglichen 
Welt  von  einem  ewigen  Gott-Schöpfer.  Wiewohl  Strauss  die  Teleologie  beseitigen 
will,  indem  er  sich  dabei  auf  die  darwinsche  Lehre  stützt,  ist  eine  gewisse  Ab- 
hängigkeit von  Hegel  doch  noch  zu  bemerken,  insofern  nach  ihm  in  dem  All  Ver- 
nunft und  Ordnung  zu  finden  ist  Das  gesetzmäßige,  lebens-  und  vernunftvolle  All 
ist  für  ihn  die  höchste  Idee,  und  er  fordert  für  dies  sein  Universum  dieselbe  Pietät, 
wie  der  Fromme  alten  Stils  für  seinen  Gott  Von  der  alten  christlich-religiösen 
Weltanschauung  hat  er  und  haben  Bich,  wie  er  meint,  die  Gebildeten  der  Gegen- 
wart losgesagt,  aber  dennoch  ist  dieses  Gefühl  für  das  All  noch  Religion  zu 
nennen.  Die  Erbauung  durch  den  Cultus  soll  für  den  Gebildeten  ersetzt  werden 
durch  den  Kunstgenuss.  Deshalb  finden  wir  auch  in  dem  letzten  straussschen  Buche, 
nachdem  die  Fragen:   1.  Sind  wir  noch  Christen?   2.  Haben  wir  noch  Religion? 


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428 


§  38.    Anhäuger  Hegels. 


3.  Wie  begreifen  wir  die  Welt?  4.  Wie  ordnen  wir  unser  Leben?  behandelt  siud, 
iwei  Zugaben  über  unsere  grossen  Dichter  und  über  unsere  grossen  Musiker. 

Gustav  Thaulow  (geb.  1817,  gest.  1K83  als  Prof.  d.  Philos.  in  Kiel),  Erhebg. 
der  Pädagogik  zur  philos.  Wissensch.,  od.  Einleitg.  in  die  Philos.  der  Pädag., 
Herl  1845.  Hegels  Ansichten  über  Ersieh,  u.  Unterricht,  aus  Hegels  sämratl. 
Schriften  gesammelt  u.  systemat.  geordnet,  Bd.  I:  Zum  Begriff  der  Erziehung, 
Kiel  1853,  Bd.  II:  Gesch.  der  Erziehung,  ebd.  1854,  Bd.  III:  Zur  Gymnasial- 
pädagogik u  ünivers.  Gehöriges,  ebd.  1854.  Einleitg.  in  die  Phil.  u.  Encyclop.  der 
Philos.  im  Grundriss,  Kiel  1802. 

Günther  Thiele,  Grundriss  der  Logik  u.  Metaphysik,  Halle  1878,  bei  dem 
wenigstens  Manches  an  Hegel  erinnert,  hat  sich  neuerdings  eingehend  mit  Kant 
beschäftigt.    Seine  Schriften  über  denselb.  s.  bei  der  Kantlitteratur. 

Wilh.  Vatke  (geb.  1806,  gest.  d.  21.  Apr.  1882  als  Prof.  d.  Theol.  in  Berlin), 
d.  biblische  Theologie.  1.  Bd.,  d.  Relig.  d.  A.  T.,  Berl.  1835,  worin  Vatke  nicht 
mit  Strauss  darin  überemstimmte,  dass  die  sinnliche  Erscheinung  des  Gottmenschen 
mythisch  zu  fassen  sei.  Die  menschl.  Freih.  iu  ihr.  Verhältn.  zur  Sünde  u.  zur 
gottl.  Gnade,  Berl.  1841. 

Friedr.  Theod.  Vi  sc  her  (1807  -  1887).  über  das  Erhabene  und  Komische,  ein 
Beitrag  zur  Philos.  des  Schonen,  Stuttg.  1837.  Krit.  Gänge  1-6,  Tüb.  1844—73. 
Aesthetikod.  Wissenschaft  d.  Schönen,  I:  Metaph.d.  Schönen,  II:  die  Kunst,  HI:  die 
Künste,  Reutl.  und  Leipz.  1846—57.  Register,  Stuttg.  1858.  Ueber  das  Verhältn. 
von  Inhalt  und  Forin  in  der  Kunst,  Zürich  1858.  Auch  Einer  (Roman),  Stuttg.  1879, 
3.  Aufl.  1884,  in  dessen  2.  Bd  sich  eine  pantheistische  Weltansicht  findet.  Das 
Schöne  ist  nach  Vischer,  dessen  Hauptverdienst  in  der  Aesthetik  liegt,  die  Idee  in 
der  Form  begrenzter  Erscheinung,  die  Kunst  ist  die  subjectiv-objective  Wirklichkeit 
des  Schönen.  Die  bildenden  Künste  machen  die  objective  Kunstform  aus,  die 
Musik  ist  die  subjective,  und  die  Dichtkunst  die  subjectiv-objective.  Auch  die 
Geschichte  der  einzelneu  Künste  findet  eingehende  Berücksichtigung. 

Georg  Weissenborn  (geb.  1816,  gest.  1874  als  Professor  in  Marburg),  Vor- 
lesgn,  über  .Schleiermachers  Dialektik  und  Dogmatik,  Lpz.  1847—49.  Ix>gik  und 
Metaph ,  Halle  1850—61.  Vorlesg.  über  Pantheism.  u.  Theism.,  Marburg  1859. 
Ebenso  wie  durch  Hegel  war  Weissenborn  durch  Schleiermacher  angeregt.  Er 
will  an  die  Stelle  des  Pantheismus  Hegels  einen  wissenschaftlich  begründeten 
Theismus  setzen,  der  namentlich  die  Ergebnisse  der  Naturwissenschaften  in  sich 
aufnähme. 

Karl  Werder  (geb.  1806,  Prof.  in  Berlin),  Logik  als  Commentar  u.  Ergänzung 
zu  Hegels  Wiss  der  Logik,  1.  Abth.  Berl.  1841 

Zeller,  piaton.  Studien,  Tüb.  1839.  Die  Philos.  der  Griechen,  Tüb.  1844—52. 
2.  Aufl.  1855— 68,  seitdem  ist  der  erste  Bd.  in  4.  und  sind  die  übrigen  Bde.  in  3.  Aufl. 
erschienen  (s.  Theil  I,  7.  Aufl.,  §  7).  Vorträge  und  Abhandlungen,  Lpz.  1865. 
2.  Sammlg.,  Lpz.  1877,  ."».  Sammlg.,  Lpz.  1884.  Hieraus  sind  besonders  hervorzuheben: 
Ueber  Hedeutg.  u,  Aufgabe  der  Erkenntnisstheorie,  zuerst  ersch.  Heidelb.  1862,  mit 
Zusätzen  aus  d.  J.  1877,  die  Politik  in  ihrem  Verhältn.  zum  Recht,  [aus  d.  J.  1868, 
über  d.  Aufg.  der  Philos.  u.  ihre  Stellung  zu  den  übrigen  Wissenschaften,  aus  d.  J.  1868, 
über  teleologische  u.  mechanische  Naturerklärung  in  ihrer  Anwendung  auf  das  Welt- 
ganze, aus  d.  J.  1876,  über  Ursprung  u.  Wesen  der  Religion,  über  die  Bedeut.  der 
Sprache  u.  des  Sprachunterrichts  für  das  geistige  Leben,  a.  d.  J.  1884,  üb.  d.  kantische 
Moralprinc.  u.  d.  Gegensatz  formaler  u.  materialer  Moralprincipien  a.  d.  J.  1879,  üb. 
Begr.  u.  Begründ.  der  sittlichen  Gesetze,  a.  d.  J.  1882,  Qb.  d.  Gründe  unseres  Glaubens 
an  d.  Realität  der  Aussenwelt,  a.  d.  J.  1H84.  Gesch.  der  deutsch.  Philos.  seit  Leibniz 
(Bd.  13  der  .Gesch.  der  Wiss.  in  Deutschland*),  Münch.  1872.  2.  Aufl.  1875.  Staat 
u.  Kirche,  Vorlesungen,  Lpz.  1873.  Antwort  an  Herrn  Prof.  I.  H.  v.  Fichte,  in 
Vierteljahrsschr.   für  wissensehaftl.  Philos.,    1877,  S.  267—298.     Ueb.  d.  Messung 


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§  38.   Anhänger  Hegels. 


4*29 


psychischer  Vorgänge,  au*  d.  Abhandig.  der  Kgl.  Ak.  d.  Wi^sensch.,  Berlin  1881. 
Friedrich  d.  Grosse  als  Philosoph,  Berl.  1  SSt>.  Die  grosse  Anzahl  von  Abhandlungen, 
die  sich  meist  auf  die  griechische  Philosophie  beziehen,  s.  Grundr.  I,  7.  Aufl. 

Eduard  Zeller  (geb.  1814,  1840  Privatdoecnt  der  Theol.  in  Tübingen,  ging 
1847  als  Professor  der  Theol.  nach  Bern,  wo  seine  Berufung  zuerst  viel  Unruhe 
erregt  hatte,  1849  folgte  er  einem  Ruf  als  Professor  der  Theol.  nach  Marburg,  wo- 
selbst er  aber  auf  Betrieb  seiner  Gegner  sogleich  in  die  philosophische  Fncultat 
versetzt  wurde;  1862  wurde  er  Professor  der  Philos.  in  Heidelberg,  seit  1872  wirkt 
er  als  solcher  in  Berlin)  ist  allerdings  von  Hegel  ausgegangen,  hat  sich  aber  schon 
zeitig  von  ihm  entfernt  und  den  Grundgedanken  des  ganzen  hegelschen  Systems, 
die  apriorische  Constructiou  des  Universums,  aufgegeben.  Hohe  Verdienste  hat  sich 
Zeller  als  Historiker  der  Philosophie  erworben,  aber  auch  über  principielle  Punkte 
der  Erkenntnisstheorie,  Ethik,  Religionsphilosophie  u.  anderer  Discipliuen  ausführ- 
licher gehandelt,  dabei  Einseitigkeiten  vermieden  und  sich  als  besonnener  Denker 
gezeigt,  der  zugleich  alle  Momente  gebührend  berücksichtigt.  Er  verlangt,  dass  die 
erkenntnisstheoretiechen  Untersuchungen  wieder  aufgenommen  werden,  um  eine  sichere 
Grundlage  für  die  philosophischen  Forschungen  zu  schaffen,  und  stellt  schon  18(52 
die  Forderung,  man  müsse  auf  Kant  zurückgehen  und  die  Fragen,  welche  sich  dieser 
vorlegte,  im  Geiste  seiner  Kritik  neu  untersuchen,  um,  durch  die  wissenschaftlichen 
Erfahrungen  unseres  Jahrhunderts  bereichert,  die  Fehler,  welche  Kant  machte,  zu 
vermeideu.  Der  Grundfehler  Kants  ist  nun  nach  Zeller,  dass  er  es  für  unmöglich 
erklärt«,  das  Ansich  der  Dinge  zu  erkennen.  Aber  daraus,  dass  wir  die  Dinge 
nur  unter  den  subjectiven  Vorstellungsformen  auffassen,  folge  nicht,  dass  wir  sie 
nicht  so  auffassen,  wie  sie  an  sich  seien.  Die  Philosophie  soll  sich  ganz  und  gar 
auf  Grund  der  äusseren  und  inneren  Erfahrung  aufbauen.  Dem  Idealismus  wird 
zwar  sein  Recht  zugesprochen,  aber  er  soll  ergänzt  werden  durch  einen  gesunden 
Realismus.  Wir  finden  gewisse  Empfindungen  und  Wahrnehmungsbilder  thatsächlich 
in  uns  vor,  fühlen  uns  bestimmt,  und  durch  das  in  der  Natur  unseres  Denkens 
liegende  Gesetz  des  Schliessens,  nicht  durch  den  bewussteu  Gebrauch  dieses 
Gesetzes,  sind  wir  gezwungen,  die  Ursachen  dieser  Bewusstseinserscheinungen  in 
Diugen  ausser  uns  zu  suchen,  die  auf  unsere  Sinne  einwirken,  können  diese  Dinge 
auch  in  gewisser  Weise  bestimmen.  Diejenige  Handlung  ist  nach  Zeller  sittlich 
nothwendig  oder  Pflicht,  welche  mit  logischer  Notwendigkeit  aus  der  Voraus- 
setzung hervorgeht,  dass  der  Mensch  ein  Vernunftwesen  sei,  dass  der  geistige  Theil 
seiner  Natur  im  Vergleich  mit  dem  sinnlichen  nicht  nur  einen  höheren,  sondern 
allein  einen  unbedingten  Werth  habe.  Die  Religion  ist  nicht  ein  Wissen,  sie  geht 
auch  nicht  in  der  Moral  auf,  sie  umfasst  das  ganze  Leben  des  Menschen,  und 
Alles  in  ihr  dreht  sich  um  das  Wohl  des  Menschen.  S.  auch  den  früheren  Auf- 
satz Zell  er  s  über  das  Wesen  der  Religion  in:  Tübinger  Jahrbb.  1845  S.  26—75, 
393  —430,  worin  er  schon  die  einseitigen  Fassungen  der  Religion  zurückweist. 

Feuer  ba<  Ii,  de  ratione  una,  universali,  infinita,  Erlang.  1828  (Habilitationsschr.). 
Gedanken  über  Tod  u.  Unsterblichk.  (anonym),  Nürnb.  1830.  Geschichte  der  neueren 
Philesophie  v.  Bacon  v.  V.  bis  B.  Spinoza,  Ansb.  1833.  Darstelluug,  Entwicklung 
u.  Kritik  d.  Icibnizsch.  Philosophie,  Ansb.  1837.  Pierre  Bayle  nach  sein.  f.  d.  Gesch. 
d.  Philos.  ti.  Mensehh.  interessantest.  Momenten,  Ansb.  1838,  2.  Aufl.  18-14.  Leb. 
Philos.  u.  Christenth.  in  Bezieh,  auf  d.  der  hegelsch.  Philos.  gemachten  Vorwurf  der 
Unehristlichk.,  1839.  Das  Wesen  des  Christenthums,  Lpz.  1841  u.  oft.,  auch  ins 
Englische  übers,  von  Marian  Evans,  2.  ed.,  Lond.  1882.  Vorläufige  Thesen  zur  Reform 
d.  Philosophie,  1S42.  Grundsätze  der  Philosophie  d.  Zukunft,  Ziir.  1843.  Das  Wesen 
d.  Religion,  Lpz.  1845,  2.  Aufl.  1849.  Das  Wesen  des  Glaubens  im  Sinne  Luthers, 
Lpz.  1844.  Vorlesungen  über  d.  Wesen  d.  Religion,  gedruckt  im  8.  Bde.  d.  gesammelten 
WW.   Theogonie  nach  den  Quellen  des  elassiseh.,  hebräisch,  u.  christl.  Alterthums,  1857, 


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430 


§  38.    Anhänger  Hegels. 


Gott,  Freiheit  u.  Unstcrblichk.  vom  Standpunkte  «1er  Anthropologie,  1866,  beide  in  d. 
gegammelt.  WW.  erschienen.  —  Sämmtlichc  Werke,  10  Bde.,  Lpz.  1846 — 1866. 

Aussprüche  aus  F.s  Werken.  Lpz.  1879.  Ueher  ihn  s.  C.  Beyer,  Leben  u.  Geist 
L.  Feuerbachs,  Festrede,  Lpz.  1873,  u.  besond.  Karl  Grün,  L.  Feuerb.  in  sein.  Briefw. 
u.  Nachlass  sowie  in  sein,  philo*.  Charakterentwicklg.,  2  Bde.,  Lpz.  1874.  Wilh.  Bolin, 
üb.  L.  F.8  Briefwechs.  u.  Nachlas»  (ohne  Jahr  u.  Druckort).  A.  Bau,  L.  F.s  Philosophie, 
die  Naturforschung  u.  d.  philos.  Krit.  der  Gcgenw.,  Lpz.  1882.  C.  N.  Starcke,  Ldw. 
Feuerbach,  Smttg.  188'». 

Friedrich  Feuer bach,  ein  Bruder  Ludwigs,  popularisirte  die  spätere  Lehre 
seines  Bruders  in:  Grundzüge  der  Religion  d.  Zukunft,  Zürich  u.  Nürnbg.  1843 — 44. 

Zum  Naturalismas  hat  die  hegelsche  Philosophie  Ludwig  Fenerbach  um- 
gebildet. Dieser  (geb.  1804  zu  Landsbut,  Sohn  dea  berühmten  Criminalisten 
Anselm  F.,  studirtc  zuerst  in  Heidelberg  Theologie,  wurde  hier  dnreh  Daub  für 
Hegel  gewonnen  und  ging  1824  nach  Berlin,  wo  er  diesen  selbst  hörte  nnd  eich 
bald  ganz  der  Philosophie  widmete,  habilitirte  sich  1828  in  Erlangen,  seit  1836  in 
Bruckberg,  einem  Dorfe  zwischen  Ansbach  und  Bayreuth  lebend,  seit  1860  in 
Rechenberg  bei  Nürnberg  in  bedrängten  Verhältnissen,  gest.  1872)  bezeichnet  seine 
Hut  wickelaug  selbst:  »Gott  war  mein  erster  Gedanke,  die  Vernunft  mein  zweiter, 
der  Mensch  mein  dritter  und  letzter  Gedanke".  Seine  Vorlesungen  eröffnete  er 
als  ausgesprochener  Anhänger  der  absoluten  Philosophie  Hegels.  Sein  Werk: 
„ Gedanken  über  Tod  und  Unsterblichkeit"  ist  pantheistisch-mystisch  gehalten;  der 
Tod  ist  die  vollständige  Auflösung  des  vollständigen  individuellen  Seins.  Nur  wer 
erkannt  hat,  dass  es  nicht  nur  einen  Scheintod,  sondern  einen  wirklichen  Tod  giebt, 
kann  ein  neues  lieben  gewinnen  und  wird  das  Bedürfniss  fühlen,  absolut  Wahr- 
haftes und  Wesenhaftes  und  Unendliches  zum  Inhalt  seiner  gesammten  Geistes- 
thätigkeit  zu  machen.  Die  Entstehung  des  Uusterblichkeitsglaubens  wird  auf 
psychologische  Weise  erklärt.  Nachdem  er  noch  in  seiner  neueren  Geschichte  der 
Philosophie  den  Spinozismus  hoch  gepriesen  hatte,  ist  in  der  Schrift  über  Pierre 
Bayle  der  pantheistische  Standpunkt  aufgegeben  und  Hinneigung  zum  Atheismus 
zu  erkennen.  Besonders  greift  Feuerbach  hier  die  Theologie  scharf  an.  Dem 
Theologen  ist  die  Wissenschaft  blosses  Mittel  zum  Zweck  des  Glaubens.  Das 
Fundament  der  Theologie  ist  das  Wunder,  das  der  Philosophie  die  Natur  der 
Sache,  die  Vernunft,  die  Mutter  der  Gesetzmässigkeit.  Dogmen  aufstellen  heisst 
den  Geist  beschränken,  da  das  Dogma  nichts  Anderes  ist  als  ein  Verbot  zu  denken. 
Nicht  die  Dogmen  zu  rechtfertigen,  sondern  die  Illusion  zu  erklären,  durch  die 
sie  entstehen,  ist  Suche  der  Philosophie.  In  „Philosophie  und  Christenthum"  uud 
„das  Wesen  des  Christenthums"  führt  er  aus,  dass  die  Differenz  zwischen 
Religion  uud  Philosophie  eine  diametrale  sei,  da  sie  sich  wie  Phautasie,  Getnüth 
einerseits,  und  Denken  andererseits,  wie  Krankes  und  Gesundes  zu  einander  ver- 
hielten. Glauben  und  Wissen  sind  nicht  mit  einander  zu  versöhnen.  Die  hegelsche 
Philosophie  kehrt  den  Satz,  dass  der  Mensch  in  seinem  Gott  nur  sich  weiss,  um 
und  sagt,  Gott  wisse  sich  nur  in  dem  Menschen.  In  der  Religion  will  sich  der 
Mensch  befriedigen,  da  er  aber  nur  Frieden  in  seinem  eigeueu  Wesen  findet, 
so  musB  er  sich  in  Gott  finden.  Das  egoistische  menschliche  Gemüth  hat  die 
Religion  geschaffen:  der  Mensch  steigert  sein  eigenes  Wesen  ins  Unendliche  und 
stellt  es  sich  dann  als  Gottheit  gegenüber,  um  durch  Verehrung  dieser  Gottheit 
die  Erfüllung  der  Wünsche  zu  verschaffen,  welche  ihm  die  Wirklichkeit  nicht 
gewährt;  die  Religion  entmenscht  geradezu,  sie  bringt  vom  Allgemeinen  ab  und 
steigert  so  den  Egoismus.  Der  Mensch  entäussert  sich  in  der  Religion  selbst, 
ohne  sich  dessen  bewusst  zu  sein,  indem  die  Gottheit  nichts  als  das  allgemeine 
Wesen  des  Menschen  ist,  nur  als  selbständig  ihm  gegenüberstehend  gedacht.  Das 
Richtige  ist,  dass  die  Allmacht,  die  Barmherzigkeit,  die  Liebe  göttlich  ist;  dies  ver- 


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§  38.    Anhänger  Hegel.-'. 


431 


kehrt  man  aber  in:  Gott  ist  allmächtig,  barmherzig,  Gott  iat  die  Liebe.  Auch  das 
jenseitige  Leben  ist  nichts  Anderes  als  das  idealisirte  Diesseits.  Hiermit  ist  die 
Theologie  in  Anthropologie  verwandelt.  In  den  «Vorläufigen  Thesen  zur  Reform 
der  Philosophie*,  den  „Grundsätzen  der  Philosophie  der  Zukunft",  dem 
„Wesen  der  Religion",  und  den  .Vorlesungen  über  das  Wesen  der  Religion", 
gehalten  1848  in  Heidelberg  vor  einem  grösseren  Publicum,  nennt  er  die  hegelsche 
Philosophie  selbst  noch  Theologie,  die  vollständig  überwunden  werden  müsse.  Die 
wahre  Philosophie  soll  nichts  sein  als  Empirie;  sie  hat  zur  Aufgabe,  zu  erkennen, 
was  wirklich  ist,  und  dies  ist  das  Sinnliche.  Nur  wo  das  Sinnliche  anfängt, 
muss  aller  Zweifel  weichen.  In  den  Empfindungen  sind  die  tiefsten  und  höchsten 
Wahrheiteu  zu  finden;  die  Sinne,  freilich  die  gebildeten  des  Philosophen,  nehmen 
auch  das  wahre  göttliche  Wesen  wahr:  Wir  fühlen  auch  Gefühle,  erblicken 
auch  den  Blick  des  Menschen,  deshalb  ist  der  Mensch  nicht  als  denkendes,  als 
Vernunftwesen  zu  betrachten,  wie  es  sonst  die  Philosophie  thut,  sondern,  da  der 
Mensch  als  lebendiges  wirkliches  Wesen  denkt,  als  solches.  Zu  diesem  Wesen  ge- 
hört aber  der  Leib,  ja  der  Leib  ist  geradezu  das  Ich,  das  Wesen  des  Menschen 
selbst.  Und  zwar  ist  der  Mensch  der  einzige  Gegenstand  der  Philosophie,  diese 
muss  in  Anthropologie  und  Physiologie  aufgehen.  Keine  andere  Religion  kann 
angenommen  werden  als  die  Naturreligion,  d.  Lt.  man  muss  anerkennen,  dass  man 
abhängig  von  Naturgesetzen  ist.  Der  Grund  der  Religion  ist  das  Abhängigkeits- 
gefühl, und  zwar  ist  das,  wovon  man  sich  abhängig  fühlt,  die  Natur;  die  Unabhängig- 
keit von  derselben  ist  der  Zweck  der  Religion.  Gott  L*t  zwar  später  als  ein  von 
der  Natur  verschiedenes  Wesen  vorgestellt,  aber  die  Eigenschaften  Gottes  als  All- 
macht, Allgüte,  Ewigkeit  sind  nur  Eigenschaften  der  Natur.  Feuerbach  treibt  dann 
diesen  Naturalismus  auf  die  Spitze  in  dem  Satze :  der  Mensch  sei  nur  das,  was  er 
esse,  und  sagt  sich  von  jeglicher  Philosophie  los.  Der  Egoismus  ist  allein  be- 
rechtigt gegenüber  dem  Theismus,  nur  was  den  eigenen  Nutzen  fördert,  hat  man  zu 
erstreben.  —  Namentlich  in  den  vierziger  Jahren  übte  Feuerbach  einen  nicht  un- 
bedeutenden Einfluss  aus,  der  aber  um  so  geringer  wurde,  je  mehr  sich  Feuerbach 
von  der  Philosophie  entfernte,  und  je  unmethodischer  und  unsystematischer  er  in 
seinen  Schriften  vorging.  Ein  begeisterter  Anhänger  Feuerbachs  ist  Willi.  Bolin, 
Prof.  in  Helsingfors. 

Eine  ironische  C'aricatur  der  feuerbachschen  Religionskritik  war  die  Negation 
der  Moral  zu  Gunsten  des  Egoismus  durch  Max  Stirner  (Pseudonym  für  Caspar 
Schmidt,  gest.  1856  zu  Berlin  in  sehr  dürftigen  Verhältnissenf:  Der  Einzige  und 
Bein  Eigenthum,  Lpz.  1845,  2.  Aufl.  1882.  Ich  habe  keinem  höheren  Wesen,  keiner 
Idee,  keiner  Geraeinschaft,  also  nicht  der  Menschheit  etwa  zu  dienen  —  derartiges 
anzunehmen  ist  immer  noch  Religion  und  Aberglauben.  Ich  diene  auch  keinem 
Menschen  mehr,  sondern  unter  allen  Umständen  mir.  So  biu  ich  nicht  bloss  der 
That  oder  dem  Sein  nach,  sondern  auch  für  mein  Bewusstsein  der  —  Einzige.  Ich 
benutze  Alles,  Welt  und  Menschen,  zu  meinem  eigenen  Genüsse. 

Gegen  Ludw.  Feuerbach  und  Bruno  Bauer  trat  Grg.  Frdr.  Daumer  (1800 
bis  1875,  mehrere  Jahre  Gymnasiallehrer  in  seiner  Vaterstadt  Nürnberg,  bekannt 
wegen  seiner  Beziehungen  zu  Kaspar  Hauser,  trat  1859  zum  Katholicismus  über) 
auf  mit  der  Schrift:  Der  Anthropologismus  und  Kritioismus  der  Gegenwart  in  der 
Reife  seiner  Selbstoffenbarung,  1844,  worin  er  ihuen  Vergötterung  des  Menschen 
auf  Kosten  der  einen  grossen,  heiligen  Mutter  Natur  vorwirft.  In  seinen  vor- 
katholischen Schriften  trat  er  in  etwas  unklarer  Weise  gegen  das  Christenthum 
auf,  das  er  als  natur-  und  menschenfeindlich  bezeichnete. 


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432 


§  3».    Anhänger  Hegels. 


Planck,  die  Weltalter:  I.  Theil:  Syst.  des  rein.  Realism.,  Tüb.  18Ö0,  IL  Thrill 
Das  Reich  d.  Idealism.  od.  z.  Philos.  d  Gesch..  ebd.  1851.  Katechism.  des  Rechts, 
1802.  Grundlinien  einer  Wissensch,  d.  Natur  als  Wiederherst.  d.  rein.  Eircheinungs- 
fornien,  Lpz.  1861.  Seele  u.  Geist,  od.  Ursprung,  Wesen  u.  Thätigkeitsfonu  der 
physisch,  u.  geistigen  Orgunisat.,  Lpz.  1871.  Grundriss  der  Logik  als  krit.  Kinleitg.  z. 
Wissenschaftslehre,  Tüb.  1873.  Anthropol.  u.  Psychol.  auf  naturwissensch.  Grundlage, 
Lpz.  1874.  Logisches  Causalgetetz  u.  natürliche  Zweckmässigkeit,  Nördl.  1877. 
Testament  eines  Deutschen.  Philos.  der  Natur  u.  der  Menschheit.  Hinterlassene« 
W.,  hcrausgeg.  v.  K.  Köstlin,  Tübing.  1881.  l'eber  ihn:  Zur  Krinnerung  an  K.  Chr. 
Planck.  Tübing.  1880.  O.  L.  Umfried,  K.  Planck,  dessen  Werke  und  Wirken,  Tübing. 
1880.  Die  Grundbegriffe  des  Rechts,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  Bd.  89,  1886,  Er- 
gänzungsh.,  S.  49—03.  Max  Diez,  d.  realist.  Philosophie  K.  Chr.  Pl.s,  ebd.,  S.  93 
bis  114. 

Carl  Christian  Planck  (geb.  1819,  gest.  den  7.  Juni  1880  als  Ephorus  des  evang. 
Seminars  zu  Maulbronn)  stand  zwar  auch  mit  der  hegelschen  Schule  in  Verbindung, 
bildete  aber  später  einen  sogenannten  Realismus  aus,  indem  er  sich  auf  den  Grund 
der  reinen  Natur  und  Wirklichkeit  stellen  und  von  hier  aus  das  gesammte  geistige 
Leben  begreifen  wollte.  Zugleich  aber  sollte  nach  ihm  die  Philosophie  an  einer 
.befriedigenden  Gestaltung  der  realen  menschlichen  Dinge*  mitarbeiten.  So  be- 
handelt das  .Testament  eines  Deutschen*  auch  alle  praktischen  Verhältnisse  und 
giebt  das  Ziel  und  die  Vollendung  an.  Die  modernen  naturwissenschaftlichen 
Theorien  hat  er  auf  das  Lebhafteste  bekämpft  —  Alles  Wirkliche  muBs  eine 
extensive  and  eine  intensive  Grösse  sein,  .alle  Qualität  ist  nur  durch  die 
innerlich  intensive  Zusammenfassung  des  Extensiven",  und  so  ist  der  Begriff  des 
Wirklichen:  Stetige  ineinanderwirkende  Zusammenfassung  der  Ausdehnung.  In 
einander  wirkende  Concentrirnng,  innerlich  centrale  Gesarnmtthätigkeit  ist 
die  Grundform  aller  Erscheinung,  welche  schon  vor  allem  individuellen  Sein  das 
All  zusammetjfasst  zu  selbstlos  universeller  Einheit  im  glühend  warmen  und  lichten 
Centrum,  und  die  weiterhin  im  organischen  Leben  als  individuell  begrenzte  selb- 
ständige Centrumsform  wirkt  nnd  sich  endlich  in  neuer  Weise  wieder  erhebt  als 
innerlich  universelle  Einheit  in  der  freien  Klarheit  des  erkennenden  Geistes  und 
seiner  selbstlos  sittlichen  Ordnung.  Das  echt  religiöse  Bewusstsein  besteht  in  der 
Erkenntniss  der  reinen  Natur.  Gerade  in  der  ursprünglich  vollen  und  reinen  Natur- 
bedingtheit, in  der  rein  selbstlosen  innerlichen  Einheit  der  Theile  mit  dem  Ganzen 
muss  aach  der  Grand  des  vollendeten  freien  Gegenbildes,  des  selbstlos  sittlichen 
und  geistig  universellen  Zweckes  erkannt  werden.  Es  handelt  sich  dabei  um  die 
volle  Einordnung  des  eigenen  Ichs  in  die  reinen  Naturbedingungeu  alles  Lebens, 
im  Gegensatz  zu  der  idealistischen  Losreissnug  von  denselben,  die  sich  in  dem 
Glauben  an  die  Unsterblichkeit  ausspricht.  —  Plauck  hat  seine  Lehren  mit  Aus- 
dauer und  edler  Begeisterung  vorgetragen,  ohne  dass  sie  aber  bis  jetzt  viel  Beifall 
gefunden  hätten. 

In  Ferd.  Röse's  (geb.  1815  zu  Lübeck,  gest.  1859  in  sehr  drückenden  Ver- 
hältnissen) .Individualitätsphilosophie"  (über  d.  Erkenntuissweise  des  Absolut., 
Basel  1841.  Ueber  d.  Kunst  z.  philosophir.,  ebd.  1847.  Die  Ideen  v.  d.  göttl. 
Dingen  u.  uns.  Zeit,  Berl.  1847.  Die  Psychologie  als  Einleitg.  in  d.  Individuali- 
tätsphil., Gott.  1856)  zeigt  sich  eine  Hinwendung  des  deutschen  philosophischen 
Bewusstseins  zur  Politik.  Vgl.  üb.  ihu  Eman.  Schärer  in:  Zeitschr.  f.  Philos.  und 
philos.  Krit,  1881,  Bd.  78.  S.  34  -70.  Von  Schärer  sind  einige  Schriften,  die 
auf  den  Principien  Röse's  beruhen,  erschienen:  Beiträge  zur  Erkenntniss  des  Wesens 
der  Philosophie,  Zürich  1846,  Ueb.  d.  Standpunkt  n.  d.  Aufgabe  der  Philosophie, 
ebd.  1846. 


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§  39.    Gegner  Hegels  u.  specnlutiver  Theismus. 


433 


§  39.  Polemisch  verhielten  sich  gegen  Hegel,  während  sie  anderer- 
seits, wenigstens  zum  Theil,  Manches  von  ihm  aufnahmen  oder  von 
ihm  ausgegangen  waren:  Weisse,  J.  H.  Fichte.  Chalvbäus  (der 
auch  Herbarts  Lehre  eingehend  berücksichtigt),  Ulrici  iL  A.  Im 
Ganzen  suchen  diese  Philosophen  auf  Grund  der  Empirie  die  Speculation 
der  Theologie  anzunähern  und  einen  speculativen  Theismus  zu  be- 
gründen. Mehrere  selbständige  Forscher  gingen  auch  von  der  schelling- 
schen  Philosophie  aus,  so  namentlich  W.  Rosen krantz. 

Katholischer  Seitfl  wurde  dem  schelling-hegelschen  „Pantheismus" 
besonders  durch  Anton  Günther  ein  „Dualismus"  entgegengesetzt, 
den  jedoch  die  kirchliche  Autorität  verworfen  hat.  Trotzdem  hat  er 
sich  viele  Anhänger  erworben. 

Einer  der  energischsten  und  glücklichsten  Kämpfer  gegen  Hegel 
war  Trendelenburg.  Auch  die  Herbartiancr  griffen  die  absolute 
Philosophie  entschieden  an. 

Eine  Reihe  von  Männern  vereinigte  sich  im  Jahre  1837,  um  eine  .Zeitschrift 
für  Philosophie  und  speculative  Theologie"  herauszugeben,  deren  Zweck 
ein  doppelter  war:  1.  die  Interessen  christlicher  Speculation  rein  und  lauter  zu 
vertreten,  sie  selbst  wissenschaftlich  weiter  und  tiefer  auszubilden  und  namentlich 
auch  auf  Naturphilosophie  und  Anthropologie  hinauszuwenden ;  2.  die  tiefgreifenden 
Fragen  der  Dogmatik  und  praktischen  Theologie  auf  philosophischen  Boden  zu 
ziehen  und  in  speculativer  Durchbildung  sie  ihrer  Lösung  oder  gegenseitiger  An- 
erkenntniss  entgegenzuführen.  Die  bedeutendsten  der  Philosophen,  die  ihre  Mit- 
wirkung versprachen,  waren:  11.  Beckers,  Burdach,  C'arus,  C.  Ph.  Fischer, 
Fr.  Hoffmann,  Sengler,  Steffens,  Weisse;  ausserdem  betheiligten  sich  Theo- 
logen an  der  Zeitschrift,  von  denen  zu  nennen  Bind:  Jul.  Müller,  Nitzsch, 
Neander,  Rothe,  Twesten;  Herausgeber  war  I.  II.  Fichte.  Diese  Zeitschrift 
bildete  lange  Zeit  den  Mittelpunkt  der  Bestrebungen,  welche  die  durch  Schelling 
und  Hegel  angefangene  Entwicklung  der  Philosophie  zu  entschiedenem  Theismus 
hinzuführen  suchten,  und  der  Polemik  gegen  die  entgegengesetzten  Lehren.  Man 
theilte  vielfach  die  Ansichten  der  hegclschen  Rechteu,  meinte  aber,  die  Linke 
habe  die  hegelsche  Lehre  folgerichtig  fortgebildet,  und  suchte  sich  so  von  Hegel 
zu  scheiden.  Auch  nachdem  die  Zeitschrift  1847  ihren  Titel  geändert  hatte  in 
„Zeitschrift  für  Philosophie  uud  philosophische  Kritik"  und  sie  unter 
der  Redaction  von  Fichte  und  Ulrici  vermittelndes  Organ  zu  sein  beab- 
sichtigte für  die  deutsche  Philosophie  in  allen  Hauptgestalten  der  damaligen  Zeit 
Hess  sie  doch  als  ihr  Ziel  noch  deutlich  hervortreten  den  philosophischen  Ausbau 
der  christlichen  Weltanschauung,  weil  in  dieser  alle  Grundzüge  der  Wuhrheit  und 
alle  Keime  eines  künftigen  höheren  Weltzustandes  enthalten  seien,  und  fernerhin 
hat  sie  den  Materialismus  eifrig  bekämpft.  Später  trat  in  die  Redaction  Wirth 
mit  ein,  bis  nach  dem  Tode  von  Wirth  und  Fichte  seit  1879  Ulrici  die  Zeitschrift 
allein  redigirte,  seit  1882  unter  Mitwirkung  von  Aug.  Krohu  und  Günther  Thiele, 
ßeit  1883  von  Krohn  allein;  seit  1885  wird  die  Zeitschrift  herausgegeben  von  Aug. 
Krohn  und  Rieh.  Falckeuberg.  In  dem  neuesten  Prospect  ist  in  Aussicht  ge- 
nommen, die  Theorie  der  geschichtlichen  Probleme  mehr  zu  berücksichtigen,  über 
die  gegenwärtigen  Gedankenbewegungen  fragmentarisch  oder  zusammenhängender 
zu  Orient iren  uud  die  zeitgenössische  Philosophie  des  Auslands  eingehend  zu  be- 

U  ober weg-H|eio»(j.  ürniiiiriiti  III.  7.Ai:fl.  28 


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434 


§  39.    Gegner  Hegels  u.  speculativer  Theismus. 


sprechen.  —  Auf  Fichte  uud  Weisse  hat  auch  Sehleiermacber  einen  wesentlichen 
Einfluss  geübt.  Verwandter  Art  sind  die  philosophischen  Forschungen  SecrSt ans, 
der  besonders  die  Religionsphilosophie  und  Ethik,  Pertys,  der  die  Naturphilosophie 
und  Anthropologie  bearbeitet  hat,  wie  auch  des  Schellingianers  Huber  und  einiger 
Anderer,  die  hier  mit  aufgeführt  sind. 

Fichte,  Sätze  zur  Vorschule  der  Theol.,  Stuttg.  182G.  Beiträge  z.  Charakteristik 
d.  neueren  Phil..  Sulzbach  1829,  2.  Aufl.  1841.  Ueber  Gegensätze,  Wendepunkt  u. 
Ziel  heutiger  Phil.,  Heidelb.  1832.  Das  Erkennen  als  Selbsterkennen.  Heidelb.  1833. 
Ontologie,  Heidelb.  1836.  Die  Idee  d.  Persönlirhk.  n.  der  individuellen  Fortdauer, 
Elberfeld  1834,  2.  Aufl.  Lpz.  1855.  Speculative  Theol.,  Heidelb.  1846 — 17.  Syst.  d. 
Ethik,  Lpz.  1850 — .r>3.  AnthropoL,  Lpz.  18.'>6,  3.  Aufl.  1876.  Zur  Seelenfrage,  eine 
philns.  Confession,  Lpz.  1859.  Psychol.,  die  Lehre  v.  d.  bewussten  Geiste  d.  Menschen, 
2  Tide.,  Lpz.  1864.  Die  Seelenfortdauer  u.  d.  Weltstellung  des  Menschen,  eine 
anthropol.  Untersuchung  u.  ein  Beitrag  z.  Religionsphil.,  wie  zu  einer  Philo.«,  d.  Gesch., 
Lpz.  1867.  Vermischte  Schriften,  2  Bde.,  Lpz.  1869.  Die  theistische  Weltansicht 
und  ihre  Berechtigung,  ein  krit.  Manifest  an  ihre  Gegner  u.  Bericht  über  d.  Haupt- 
aufgaben gegenwärt.  Speculation,  Lpz.  1873.  Fragen  und  Bedenken  über  die  nächste 
Fortbildung  deutscher  Speculation.  Sendschreiben  an  Herrn  Prof.  E.  Zeller,  Lpz.  1876. 
Der  neuere  Spiritualismus,  sein  Werth  u.  seine  Täuschungen,  Lpz.  1878. 

Imm.  Herrn.  Fichte,  geb.  1797,  seit  1 835  Professor  der  Philosophie  in  Bonn, 
von  1842  bis  zu  seiner  Pensionirung  1865  Professor  in  Tübingen,  von  da  an  in 
Stuttgart  lebend,  gest.  1879,  ging  von  der  späteren  Wissenschaftslehre  seines 
Vaters  aus,  neigte  sich  aber  eine  Zeit  lang  auch  Hegel  zu.  Schon  1832  forderte 
er,  die  Philosophie  müsse  zu  dem  Princip  der  Persönlichkeit  zurückkehren,  sie  dürfe 
Gott  nicht  mehr  als  das  Allgemeine,  sondern  müsse  ihn  als  das  Persönliche  begreifen. 
Er  stellt  einen  ethischen  Theismus  auf,  indem  durch  denkende  Vermittlung  vom 
Endlichen  aus  die  Frage  über  die  Realität  des  Unbedingten  entschieden  werden 
soll.  Ueber  das  Verhältniss  seiner  philosophischen  Richtung  zu  der  weisseschen 
äussert  sich  Fichte  in  der  Zeitschr.  f.  Phil.  Bd.  50,  Heft  3,  Halle  1867,  S.  262  ff. 
dahin,  dass  Weisse  nur  eine  Fortbildung  der  hegelschen  Philosophie  erstrebt  habe, 
in  welcher  letzteren  derselbe  die  früheren  Richtungen  sämmtlich  aufgehoben  glaube, 
er  selbst  dagegen  dafür  halte,  dass  wesentliche  Momente  früherer  Philosophien, 
insbesondere  der  kantischen,  in  der  hegelschen  nicht  zu  ihrem  vollen  Rechte  gelangt 
seien,  und  dass  der  Fortschritt  der  Philosophie  durch  eine  Wiederaufnahme  dieser 
Momente  und  demgemäss  auch  durch  eine  volle  Mitberücksichtigung  der  in  anderm 
SinDe,  als  Sendling  und  Hegel,  philosophirenden  Denker  der  Gegenwart  bedingt 
sei.  Zwei  Gedanken,  die  er  zu  erweisen  sucht,  legt  er  zu  Grunde:  den  Begriff  der 
„Urposition",  des  Bleibenden  im  Wechsel  der  endlichen  Erscheinungen,  einer 
Mannigfaltigkeit  beharrlicher  Realwesen,  und  den  Begriff  eines  innerlichen  Bezogen- 
seins, eines  ursprünglich  geordneten  Znsammengehörens  dieser  beharrenden  Wesen, 
so  dass  sie  nicht  nur  als  an  sich  seiend,  sondern  auch  als  für  einander  daseiend  zu 
denken  sind.  Durch  den  zweiten  Begriff  wird  dann  drittens  der  Begriff  »einer  diese 
mannigfach  gegliederte  Ordnung  der  Weltwesen  aus  der  Ureinheit  eines  Gedanken- 
entwürfe  realisirenden  und  erhaltenden,  mithin  absolut  intelligibeln  Weltursache* 
gefordert.  Da  nun  die  Weltthataache  es  überall  bestätigt,  dass  die  in  die  Welt 
gelegten  Zwecke  nur  um  des  Geschöpfes  willen  da  sind,  dessen  innere  Vollkommen- 
heit, also  dessen  Wohlgefühl  und  Glückseligkeit  zur  deutlichen  Absicht  haben,  so 
ist  der  Urgrund  nicht  nur  als  Schöpfer  schlechthin,  sondern  als  Schöpfer  um  des 
Geschöpfes  willen,  als  Urguter,  kurzum  als  ethisches  Princip  zu  denken.  Gott  muss 
als  der  im  causalen  Sinne  vor  aller  Welt  und  Schöpfung  in  sich  vollendete,  welt- 
freie absolute  Geist  gedacht  werden.  So  sehr  sich  auch  der  Gedanke  einer  Welt- 
Immanenz  Gottes  aufdrängt,  so  darf  doch  die  Trausscendenz  dadurch  nicht  geschmälert 


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§  39.   Gegner  Hegels  u.  speculativer  Theismus. 


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werden.  —  In  seinen  psychologischen  Werken  Riebt  Fichte  der  Phantasie  zu  weiten 
Raum,  wie  die  letzte  Schrift  von  ihm  beweist. 

Ulrici,  »ber  Princip  und  Methode  der  hegelschon  Phil..  Halle  1*41.  Du  Grund* 
princip  d.  Phil.,  Lpz.  1S43— 46.  Syst.  d.  Logik,  Lpz.  1852.  Compend.  d.  Logik,  .  hfl. 
18G0,  2.  Aufl.  1871.  Zur  logischen  Frage,  Halle  1870.  Glauben  u.  Wissen,  SpeeoL 
u.  exaote  Wissensch..  Lpz.  1858.  Gott  u.  d.  Natur,  Lpz.  1861,  2.  Aufl.  1866.  Gott 
u.  d.  Mensch.  Bd.  I:  Leib  u.  Seele,  Lpz.  1866.  3.  Aufl.  1874.  Bd.  II:  Gnmdzfige  d. 
prakt.  Philos.  1.  Da«  Naturreeht.  1872,  u.  andere  antituaterialistische  Arbeiten,  ferner 
litteramrhistorisch-ästhetische  Schriften,  insbes.  Charakteristik  der  antiken  Historiographie; 
Berl.  1833.  Gesch.  der  hellen.  Dichtung,  Berl.  1835.  Ueber  Shakespeares  dramat. 
Kunst  (1839,  1847),  3.  Aufl.,  Lpz.  1868.  Der  Philosoph  Strauss,  aus  d.  Zeitschr.  £ 
Philo».,  Halle  1873.  Abhandlungen  zur  Kunstgeschichte  als  angewandte  Aesthetik, 
Lpz.  1877.  Der  sog.  Spiritismus  eine  wissenschaftliche  Frage,  Halle  1879,  aus  d. 
Zeitschr.  f.  Philos.  Ueber  d.  Spiritismus  als  wissenschaftl.  Frage,  Halle  1879.  —  S. 
Ernst  Melzer,  erkenntnisstheoret.  Erörterungen  üb.  d.  Svsteme  v.  Ulriei  u.  Günther, 
Neisse  1886. 

Hermann  Ulriei  (geb.  1806,  seit  1834  Professor  in  Halle,  gest.  1884)  trat  schon 
1841  als  strenger  Kritiker  Hegels,  sowohl  von  dessen  Princip  als  von  dessen  Methode, 
auf,  und  im  bestimmten  Gegensatz  zu  diesem  war  sein  Streben,  auf  Grundlage  fest- 
gestellter Thatsachen,  d.  h.  namentlich  auf  Grundlage  der  Ergebnisse  der  Natur- 
wissenschaften eine  idealistische  Welt-  und  Lebensanschauung  aufzubauen.  Nach 
ihm  ist  die  geistige  Grund-  und  Urkraft  die  des  Unterscheidens.  Auf  ihr  beruht 
alles  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein.  Gesetze  dieser  unterscheidenden  Kraft 
sind  die  beiden  logischen  Grundgesetze,  1.  das  der  Identität  und  des  Widerspruch«, 
2.  das  der  Causalität.  Aber  die  unterscheidende  Thätigkeit  vermag  nur  in  ihrer 
Weise  zu  agiren,  wenn  sie  die  zu  unterscheidenden  Objecte  nicht  nur  auf  einander 
bezieht,  sondern  sie  in  bestimmten  Beziehungen  von  einander  unterscheidet,  nach 
Quantität,  Qualität,  Gestalt  u.  s.  w.  Dies  sind  die  allgemeinen  logischen  Begriffe, 
die  Normen  oder  Kategorien,  welche  auch  der  unterscheidenden  Thätigkeit  inhäriren, 
«uid  die  wir  unbewusst  anwenden,  wenn  wir  Vorstellungen  bilden.  Aber  unser 
Denken  ist  nicht  in  schöpferischer  Weise  selbstthätig,  sondern  unsere  Empfindungen 
und  Gefühle,  die  Perceptionen  des  äussern  und  des  innern  Sinnes  drängen  sich  uns 
auf,  so  dass  wir  sie  haben  müssen.  Hierauf  beruht  alle  Thatsächlichkeit.  So  setzt 
unsere  gesammte  Erkenntniss  und  Wissenschaft  die  beiden  Factoren  voraus,  das 
logische  Gesetz  und  die  Thatsächlichkeit.  Das  Sich-insich-unterscheiden  und  was 
daraus  folgt,  das  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein,  wird  von  keiner  Naturkraft 
geübt.  Deshalb  mnss  die  Seele  als  Trägerin  dieser  besonderen  Kraft  auch  als  ein 
besonderes,  von  dem  Naturwesen  im  engern  Sinne  verschiedenes  Wesen  gefasst 
werden.  Sie  ist  nicht  identisch  mit  den  Atomen  und  den  aus  diesen  gebildeten 
Dingen,  welchen  jene  Kraft  nicht  zukommt.  rSie  ist  eine  unlösbare,  centralisirte 
Einigung  von  Kräften,  deren  Thätigkeit  zwar  durchweg  an  die  Mitwirkung  der  Kräfte 
des  Leibes,  insbesondere  des  Nervensystems,  gebunden  ist  und  in  engster  Wechsel- 
wirkung mit  ihnen  steht,  deren  mannigfache  Functionen  aber  nichtsdestoweniger 
von  einem  selbständigen,  körperlich  unabhängigen  Centrum  ausgehen  und  auf  das- 
selbe zurückwirken". 

Was  die  Lehre  von  Gott  anlangt,  so  9ucht  Ulrici  hier  eine  Vermittelung 
zwischen  Deismus  und  Pantheismus.  Der  Begriff  des  Atoms  involvirt  das 
Geschaffensein  der  atomistisch  gebildeten  Welt  durch  eine  unbedingte,  göttliche, 
metaphysische  Urkraft;  ebenso  setzen  die  bedingten  Kräfte  der  Natur  das  Dasein 
einer  sie  bedingenden,  an  sich  unbedingten  Urkraft  voraus.  Ferner  könneu  die  in 
der  Natur  waltende  Gesetzlichkeit  und  Zweckmässigkeit  nur  gefasst  werden  als  die 
Wirkung  einer  die  Atome  und  ihre  Kräfte  nicht  nur  setzenden,  sondern  auch  nach 

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§  39.    Gegner  Hegels  u.  spceulativer  Theismus. 


Absicht  bestimmenden,  selbstbewußten,  geistigen  Urkraft.  So  hat  der  Deismus 
Recht,  und  die  Welt  muss  als  Schöpfung  Gottes,  als  ein  Anderes  von  Gott  Ver- 
schiedenes gefasst  werden.  Dagegen  darf  die  Welt  dem  göttlichen  Wesen  nicht 
selbständig  geschieden  gegenüber  gestellt  werden  ausser  und  neben  Gott.  Die  Welt 
besteht  auch  nur  durch  Gutt,  nicht  nur  durch  ihn,  sondern  auch  in  ihm.  Gott 
ist  nicht  nur  die  nothweudige  Voraussetzung  der  naturwissenschaftlichen  Ontologie 
und  Kosmologie,  sondern  auch  der  Naturwissenschaft  selbst  Es  müssen  die  Be- 
stimmtheiten der  Dinge  reelle  Unterschiede  der  Dinge  selbst  sein,  und  wir  werden 
uns  dieser  Unterschiede  durch  unsere  nachunterscheideude  Thätigkeit  bewusst.  Diese 
mannigfaltigen  Bestimmtheiten  der  Dinge  nun,  sowie  unsere  mannigfaltigen  Vor- 
stellungen sind  nicht  ursprünglich  gegebene,  sondern  müssen  als  gesetzt  von  einer 
unterscheidenden  Urthütigkeit  angesehen  werden.  So  ist  die  eine  unterscheidende 
Urkraft  vorauszusetzen.  Ferner:  Freiheit  und  Vernuuft  und  die  sie  bedingenden 
ethischen  Kategorien  haben  weder  in  der  Natur,  noch  im  menschlichen  Wesen  ihren 
Ursprung;  andererseits  stehen  die  Gebiete  des  Natürlichen  und  des  Ethischen,  wie 
Iieib  und  Seele,  in  einem  so  innigen  Zusammenhang,  dass  sie  für  einander  geschaffen 
sein  müssen.  Daraus  folgt,  dass  ein  Gott,  d.  h.  ein  geistiges  und  freies  ethisches, 
nach  ethischen  Motiven  wirkendes  Wesen,  die  schöpferische  Urkraft  der  Welt  sei. 
Gott  kann  als  absolute  Idee  vom  menschlichen  Geiste  ans  erfasst  werden,  indem 
das  göttliche  Wesen  nicht  nur  nach  den  logischen,  sondern  auch  nach  den  ethischen 
Kategorien  unterschieden  wird.  Dies  geschieht  zum  Schluss  der  Schrift  „Gott  und 
Natur",  worin  Ulrici  eine  Bpecnlative  Erörterung  der  Idee  Gottes  und  seines  Ver- 
hältnisses zur  Natur  und  Menschheit  giebt.  Ebensowenig  wie  Fichte  war  Ulrici 
abgeneigt,  den  Spiritismus  ernst  zu  nehmen. 

Joh.  Ulr.  Wirth  (gest.  1879  als  Pfarrer  in  Winnenden)  zeigte  sich  in  seiner 
ersten  Schrift:  Theorie  des  Somnambulismus  oder  des  thierischen  Magnetismus, 
Lpz.  und  Stuttg.  1836  als  Hegelianer.  In  seinen  späteren  Schriften  neigt  er  sich 
mehr  Schleiermacher  und  Schellings  letzter  Periode  zu.  System  der  speculativen 
Ethik,  Heilbronn  1841—42  (I:  reine  Ethik,  II:  concrete  Ethik).  Die  specul.  Idee 
Gottes  und  die  damit  zusammenhängenden  Probleme  der  Philos.,  Stuttg.  u.  Tüb. 
1845.   Philosoph.  Studien,  1851. 

Weisse,  über  d.  gegenwärt.  Standpunkt  d.  philos.  Wissenschafton,  Lpz.  1829. 
Syst.  d.  Aesthetik  als  Wissensch.  v.  d.  Idee  de»  Schönen,  Lpz.  1830«  l'eber  da«  Verhältn. 
d.  Publicums  z.  Philos.  in  dem  Zeitpunkt  von  Hegels  Abscheiden,  nebst  einer  kurzen 
Darstellung  meiner  Ansicht  des  Systems  der  Philos.,  Lpz.  1832.  Die  Idee  der  Gottheit, 
Dresd.  1833.  Gmndzüge  der  Metaph.,  Hamb.  1835.  Evangelische  Gesch.,  Lpz.  1838, 
und  andere  auf  die  biblische  u.  kirchliche  Theologie  bezügliche  u.  religionsphilosophische 
Schriften,  insbesondere:  Reden  über  d.  Zukunft  der  evang.  Kirche,  2.  Auti.,  Lpz.  1849; 
über  die  Christologie  Luthers,  Lpz.  1852:  d.  Evangelien  frage  in  ihrem  gegenwärtigen 
Stadium,  Lpz.  1856-  Das  philos.  Problem  d.  Gegenwart,  Lpz.  1842,  worin  er  sich 
von  der  Solidarität  mit  Inim.  H.  Fichte  lossagt.  Kür  Weisses  Stellung  zur  Philosophie 
der  Gegenwart  ist  seine  akademische  Rede  charakteristisch:  In  welchem  Sinne  die 
deutsche  Philosophie  jetzt  wieder  an  Kant  sich  zu  orientiren  hat,  Lpz.  1847.  Philo- 
sophische Dogmatik  od.  Philos.  des  Christenthums,  3  Bde.,  Lpz.  1855 — 18G2  (der  erste 
Theil  enthält  die  eigentliche  Theologie  nebst  einem  kurzen  Abriss  der  Naturphilosophie, 
der  zweite  behandelt  die  Kosmologie  u.  Anthropologie  des  Christentbums  u.  der  dritte 
die  Soteriologie).  Kleine  Schriften  z.  Aesthetik  u."  ästhetisch.  Kritik  (über  Schiller, 
Goethe  etc.),  hrsg.  von  Kud.  Seydel,  Lpz.  18G7.  W.s  Psychol.  u.  Unsterbliehkeitslehre, 
hrsg.  von  Rud.  Seydel,  Lpz.  186!».  Syst.  d.  Aesthetik  nach  d.  C'ollegienhcfte  letzt.  Hand, 
hrsg.  v.  Rud.  Seydel,  Lpz.  1871.  Ein  Verzeb-hniss  der  sämmtlichen  Schriften  u.  Ab- 
bandlungen Weisses  giebt  Seydel  in  der  Zeitschr.  f.  Philos.  Bd.  55.  186!».  Nekrolog 
Weisses  von  Rud.  Seydel.  Lpz.  1806,  erweitert  und  revidirt  in  dessen  Relig.  und 
Wissensch,  s.  u. 


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§  39.    Gegner  Hegels  u.  speculativer  Theismus. 


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Christ.  Herrn.  Weisse,  geb.  10.  Aug.  1801,  gest.  19.  Sept.  1806  als  Prof. 
der  Philos.  in  Leipzig,  hält  in  seinen  früheren  Schriften  noch  die  dialektische 
Methode  Hegels  fest,  doch  schon  1829  hebt  er  Hegel  gegenüber  hervor,  man  könne 
nicht  von  den  blossen  logischen  Kategorien  oder  den  leeren  Formen  des  Seins  aus 
zu  dem  in  diesen  Formen  existirenden  Wirklichen  gelangen.  Dazu  müsse  die 
Erfahrung  herangezogen  werden.  Das  System  müsse  schliessen  und  gipfeln  in  der 
speculativen  Theologie.  In  der  „Idee  der  Gottheit"  vergleicht  er  sich  mit  der 
Sibylle,  da  er  der  hegelschen  Philosophie  um  den  Preis  immer  höherer  Würdigung 
ihres  Werths  immer  weitgreifendere  Abzüge  machen  müsse.  Am  meisten  Aner- 
kennung hat  die  Aesthetik  Weisses  gefunden. 

Wie  Fichte  d.  J.  sucht  er  im  Gegensatz  zu  dem  pantheistischen  Idealismus 
Hegels  einen  ethischen  Theismus  auszubilden,  aber  in  engerem  Anschluss  an  das 
christliche  Dogma,  sowie  mit  Anknüpfungen  an  den  späteren  Schölling  und  au 
Jacob  Böhme,  welche  Fichte  ferner  lagen.  Der  Begriff  des  absoluten  Geistes 
ist  nach  Weisse  erst  in  der  Dreiheit  von  Vernunft,  Gemüth  oder  Phantasie  und 
Wille  vollständig  erschöpft.  Der  Dreiheit  dieser  Grundkräfte  des  absoluten,  und 
ebenso  des  menschlichen  Geistes  entspricht  die  Dreiheit  der  Ideen  des  Wahren, 
Schönen,  Guten.  Der  Quellpunkt  der  Lehre  Weisses  ist  der  Begriff  der  Freiheit. 
Die  logische  Notwendigkeit,  welche  immer  nur  Begriffe  aus  Begriffen  gewinnen 
lässt,  kann  nur  zu  allgemeinen  Schematen  des  Möglichen  und  zur  Scheidung 
desselben  vom  Unmöglichen  führen.  Durch  die  gesetzlichen  Bestimmungen  der 
Logik,  zu  welchen  auch  die  der  Mathematik  gehören,  werden  diese  leeren  Schemata 
nicht  erfüllt  mit  einem  wirklichen  Inhalte;  die  Wirklichkeit  als  solche  kommt  so 
nicht  zu  Stande;  dazu  bedarf  es  freier  Acte  der  Hervorbringung.  So  ist  es  vor 
allem  in  der  Gottheit.  In  ihr  bildet  das  logische  Absolute  nur  den  letzten  Hinter- 
grund, nur  die  Formen  der  Möglichkeit  des  Daseins,  während  die  eigentliche 
Realität  Gottes,  sein  persönliches  Leben,  auf  inneren  Freiheitsacten  beruht,  auf  einer 
Art  von  freier  Phantasieproduction,  und  dann  auf  Wollen.  Die  Vernunft  in  Gott, 
das  Reich  jener  logischen  Noth wendigkeiten,  ist  für  Gottes  Freiheitsacte  nur  der 
allgemein  gehaltene  Umkreis  ihrer  Bedingungen  und  Schranken,  gleichsam  das 
Maschennetz,  in  welches  die  Gestalten  des  göttlichen  inneren  Schauens  und  die 
göttlichen  Willensentschlüsse  frei  eingewirkt  sind,  ohne  es  überseheu  oder  ver- 
letzen zu  dürfen.  So  ist  auch  Gott  an  die  logischen  und  mathematischen  Gesetze 
des  Möglichen  und  an  die  durch  diese  Gesetze  angewiesenen  Daseinsformen 
gebunden,  aber  innerhalb  derselben  bewegt  er  sich  frei,  wie  der  künstlerische 
Genius  innerhalb  der  Gesetze  seiner  Kunst.  Unter  den  gesetzlichen,  auch  für 
Gott  maassgebenden  Daseinsformeu  stehen  in  erster  Reihe  Zahl,  Zeit  und  Raum, 
eine  Dreiheit,  welche  Weisse  schon  1833  als  Correctur  der  kantischen  Zweiheit 
„Raum  und  Zeit-  eingeführt  hat  (s.  Seydel,  Viertelj.  f.  wiss.  Phil.  1883,  3.  Heft: 
Raum,  Zeit,  Zahl).  Weisse  behauptet  sonach  die  absolute  Objectivität  und  Realität 
dieser  Formen,  nicht  weniger  für  Gott  als  für  die  Welt.  Durch  freien  Willeus- 
eutschluss  wird  Gott  Schöpfer  der  Welt.  In  dieser,  und  namentlich  im  Menschen- 
geiste, zeigt  sich  analoge  Freiheit  mit  der  Freiheit  Gottes.  So  ist  überall  zur 
Erkenntniss  der  Wirklichkeit  Erfahrung  nöthig,  da  es  eine  Construction  des 
Wirklichen  aus  dem  Vernunftabsoluteu  nach  Obigem  nicht  geben  kann,  vielmehr 
alle  construirbare  Notwendigkeit  nicht  weiter  als  zu  jenen  leereu  Formen  der 
Möglichkeit  führt.  Der  Weltprocess  ist  ein  fortgehends  zu  höheren  Gestalten  sich 
durchringender  Kampf  Gottes  mit  dem  durch  die  Schöpfung  zur  Selbständigkeit 
gelangten  Weltwesen,  das  durch  seine  Freiheit  sich  zunächst  zu  Gott  in  Gegensatz 
gestellt  bat.  Das  Endziel  des  Kampfes  ist  der  Sieg  des  „Reiches  Gottes"  im 
Sinne  Jesu.   In  Jesus  hat  sich  in  menschlich-geschichtlicher  Weise  die  der  Welt 


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§  39.    Gegner  Hegels  u.  gpeculativer  Theismus. 


einwohnende  Gottesherrlichkeit  zur  Vollendung  des  Menschenideals  zusammen- 
gefasst.  Auf  dem  Grunde  einer  solchen  dem  äusserlichen  Wunder  wenig  geneigten 
Christologie  hat  sich  Weisse  auch  um  die  Evangelieukritik  nicht  unbedeutende 
Verdienste  erworben  und  ist  z.  B.  einer  der  frühesten  Vertreter  und  Bearbeiter  der 
sogenannten  „Marcuphypothcse".  Eine  besonders  eigenthümliche  Stellung  nimmt  er 
in  der  Unsterblichkeitsfrage  ein,  indem  er  nur  den  aus  dem  gottlichen  Geiste 
»Wiedergeborenen*  die  personliche  Fortdauer  einräumt. 

Besonders  an  Weisse  hat  sich  angeschlossen  Rud.  Seydel,  Logik  od. 
Wissensch,  vom  Wissen,  Lpz.  1866.  Ethik  oder  Wissensch,  vom  Seinsollcuden 
(eingeschaltet  eine  bisher  ungedruckte  Abhandl.  von  Chr.  H.  Weisse),  Lpz.  1874. 
Das  Evangel.  v.  Jesu  in  sein.  Verhältnissen  zur  Buddha-Sage  u.  Buddha-Lehre 
mit  fortlaufend.  Rücks.  auf  and.  Religionskreise  untersucht,  Lpz.  1882,  ergänzt 
durch:  d.  Buddhalegende  u.  d.  Leben  Jesu,  Lpz.  1884.  Rclig.  u.  Wissensch., 
gesammelte  Reden  u.  Abhandl.,  Breslau  1887.  Vgl.  auch  Seydels  vortreffl.  Darstell, 
u.  Beurtheil.  des  schopenhauersch.  Systems,  a.  ob.  S.  371. 

Joh.  Gust.  Friedr.  Billroth  (1808—1836),  Vorlesungen  über  Religions- 
philosophie, heruusg.  von  E.  Erdmann,  Lpz.  1837,  2.  Aufl.  1844,  der  sich  den  An- 
sichten Weisses  auschloss. 

Hier  eher  als  bei  den  Hegelianern  dürfte  auch  zu  erwähueu  sein  der  gedanken- 
reiche, namentlich  der  Aesthetik  zugewandte  Moritz  Carriere  (geb.  1817,  seit 
1853  Prof.  in  München),  dessen  Werke  viel  gelesen  werden.  Die  Religion  in 
ihrem  Begrifl",  ihrer  weltgeschichtlichen  Entwickelung  und  Vollendung,  ein  Beitrag 
zum  Verständniss  d.  hegelsch.  Philos.,  Weilburg  1841;  ferner  religionsgeschicht- 
liche und  religionsphilosophische  und  ästhetische  Schriften,  deren  Standpunkt 
von  dem  hegelschen  wesentlich  abweicht,  wie  namentlich:  die  philos.  Welt- 
anschauung der  Reformatiouszeit,  Stuttg.  1847,  2.  Aufl.,  Lpz.  1887,  relig.  Reden 
und  Betrachtungen  für  d.  deutsche  Volk  (anonym),  Lpz.  1*50,  2.  Aufl.  1856,  das 
Wesen  u.  die  Formen  der  Poesie,  Lpz.  1856,  Aesthetik,  Lpz.  1859,  3.  Aufl.  1885. 
Als  eine  Geschichtsphil,  aus  dem  Gesichtspunkte  der  Aesthetik  bezeichnet  er  sein 
grosses  Werk:  die  Kunst  im  Zusammenhange  der  Culturentwickelung  und  die  Idee 
der  Menschheit,  I.  Bd.:  der  Orient,  Lpz.  1863,  II.  Bd.:  Hellas  und  Rom,  ebd. 
1865,  3.  Aufl.  1877,  III.  Bd.:  das  Mittelalter,  ebd.  1868,  IV.  Bd.:  Renaissauce  und 
Reformation,  1871,  3.  Aufl.  1885,  V.  Bd.:  das  Weltaltcr  des  Geistes  im  Aufgange. 
Litt,  und  Kunst  im  18.  und  19.  Jahrh-,  1873.  Die  sittliche  Weltorduung,  Lpz. 
1877.  Gesammelte  Werke,  bis  1887  11  Bde.  Durch  Hegel  angeregt,  entfernt  sich 
doch  Carriere  von  demselben  in  ähnlicher  Art,  wie  der  jüngere  Fichte  u.  A., 
durch  die  von  ihm  intendirte  „Ueberwindung  des  Pantheismus  wie  des  Deismus  in 
der  Anerkennung  der  Persönlichkeit,  wie  der  Unendlichkeit  des  der  Welt  ein- 
wohnenden und  seiner  selbst  bewussten  Gottes"  und  insbesondere  weicht  er  von 
der  Aesthetik  Hegels  ab  durch  „Betonung  der  Bedeutung  der  Individualität  und 
Sinnlichkeit  gegenüber  der  Allgemeinheit  des  Gedankens". 

Heinr.  Mor.  Chalybäus  (1792—1862),  Phänomenologische  Blätter,  Kiel  1841. 
Die  moderue  Sophistik,  Kiel  1843.  Wisseuschaftslehre,  Lpz.  1846.  Syst.  der 
ipeeal.  Ethik,  Lpz  1850.  Philosophie  u.  Christenthum,  Kiel  1853.  Fundamental- 
philosophie,  Kiel  1861.  Polemisirend  gegen  Hegel  und  in  geringerem  Maasse 
gegen  Herbart,  versuchte  er  einen  ethischen  Theismus  zu  begründen,  indem  er  der 
praktischen  Vernunft  den  Vorrang  vor  der  theoretischen  gab  und  den  menschlichen 
Grundtrieb  zun«  praktischen  Leben  und  zum  ethischen  Wirken  an  die  Spitze  der 
Philosophie  stellte. 

Friedr.  Harms  (gest.  als  Prof.  d.  Philos.  in  Berlin  1880),  Prolegomena  zur 
Phil..  Braunschweig  1852.    Die  ,Allg.  Encyclopädie  der  Physik"  enthält  im  ersten 


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§  39.  Gegner  Hegels  u.  Bpecnlativer  Theismus.  439 

Baj.de,  Lpz.  185^1  ff.,  eine  von  H.  verf.  philos.  Einleitung.  F.  Harms,  Abhand- 
lungen z.  system.  Phil.,  Berl.  1868,  Ueber  d.  Begr.  d.  Psyehol.  Aus  Abhdlgn. 
d.  Berl.  Akad.,  Berl.  1874.  Die  Reform  der  Logik,  ebd.  1874.  Ueber  d.  Begr. 
d.  Wahrheit,  ebd.  1876.  Die  Philos.  seit  Kant,  Berl.  1876.  Die  Formen  der 
Ethik,  ebd.  1878.  Gesch.  d.  Psyehol.,  ebd.  1878.  Gesch.  d.  Log,  ebd.  1881 
Metaphysik,  aus  d.  hdschriftl.  Nachlasse  d.  Verf.s  herausgeg.  v.  Hnr.  Wiese,  Bres- 
lau 1885.  Logik,  herausgeg.  v.  dems.,  Lpz.  1886.  Harms  nähert  sich  in  Manchem 
dem  älteren  Fichte  an.  Die  Philosophie  ist  ihm  die  Wissenschaft  von  dem  Absoluten 
aus  den  Grundbegriffen  der  Empirie;  sie  steht  daher  mit  den  Erfahruugswissen- 
schaften  in  Verkehr  und  Wechselbeziehung.  Logik  und  Metaphysik  sind  Glieder 
eines  Ganzen,  dessen  Princip  der  Begriff  des  Wissens  ist,  das  sie  nach  seinem 
Subject  und  übject  untersuchen.  Sie  machen  zusammen  die  Wissenschaftslehre  au-. 
Das  Absolute  ist  nur  zu  erkennen,  wenn  man  alle  Grundbegriffe  der  Empirie 
durchgeht  und  mit  einander  verbindet  Die  Ethik  bestimmt  Harms  als  die  Wissen- 
schaft  von  den  Grundbegriffen  der  Geschichte. 

Als  der  vorzüglichste  Vertreter  des  .wissenschaftlichen  Realismus-  wird 
Harms  von  Johannes  Witte  (geb.  1846,  Prof.  in  Bonn)  bezeichnet.  Der  Letz- 
tere will  sich  mit  Harms  in  dem  .Streben  nach  einer  auf  Grund  einer  Vernunft- 
anschauuug,  die  aber  von  der  intellectuellen  verschieden  sein  soll,  sich  aufbauenden 
Weltansicht  berühren.  Vorstudien  zur  Erkenntnis  des  unerfassbaren  Seins,  Bonn 
1876.  Zur  Erkenntnisstheorie  und  Ethik,  drei  philos.  Abhandlungen,  Berl.  Ih77. 
Ueb.  Freiheit  des  Willens,  das  sittl.  Leben  u.  seine  Gesetze,  Bonn  18*2.  Grund- 
züge der  SittenL,  Bonn  1882.  D.  Wesen  der  Seele  u.  d.  Natur  der  geistig.  Vor- 
gänge im  Lichte  der  Philosophie  seit  Kant  und  ihrer  grundlegenden  Theorien 
histor.-krit.  durgestellt,  Halle  1*88. 

Karl  Phil.  Fischer  (1807—1885,  gest.  als  Prof.  d.  Phil,  in  Erlangen),  die 
Freiheit  d.  meuschl.  Willens  im  Fortschritt  ihrer  Momente.  Tüb.  1833.  Die  Wies, 
der  Metaph.  im  Grundriss,  Stuttg.  1*34.  Die  Idee  d.  Gottheit,  Tüb.  1839.  Specul. 
Charakteristik  u.  Kr  it.  d.  hcgelschen  Syst.,  Erlang.  1845.  Gruudzüge  d.  Syst.  d. 
Philos.  od.  Encyclop.  d.  philos.  Witt.,  Erlangen  u.  Frankfurt  a.  M.  1848—53.  Die 
Unwahrh.  d.  Sensualismus  u.  Materialismus,  mit  besond.  Rücksicht  auf  d.  Schriften 
von  Feuerbach,  Vogt  und  Moleschott,  Erlangen  1853.  Fischer  hat  unter  Polemik 
gegen  Hegel  sich  vielfach  durch  Baader  anregen  lassen. 

Jakob  Sengler  (1799—1878,  seit  1812  Prof.  in  Freiburg),  die  Idee  Gottes, 
Heidelb.  1845—52.  Erkenntuislehre,  Heidelb.  1858.  Goethes  Faust,  1873.  —  Kr 
versuchte  besonders,  die  Persönlichkeit  Gottes  zu  begründen,  und  fand  den  Mono- 
theismus allem  durch  die  Trinitätslehre  möglich.  Vergl.  über  ihn  L.  Weis:  J.  S. 
Eine  Skizze  seines  Lebens  und  seiner  Gottesidee,  in  d.  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  ph. 
Kr.,  1879,  Bd.  74,  S.  295-309,  Bd.  75,  S.  85-119. 

Leop.  Schmid  (geb.  1808,  1839  Prof.  d.  Dogmat.  in  der  kath.  theol.  Fac.  in 
Giessen,  in  die  philosoph.  Fac.  1*50  übergetreten,  gest.  als  Prof.  d.  Philos.  in 
Giessen  1869),  Grundzüge  der  Enleitg.  in  die  Philos.,  mit  ein.  Beleuchtung  der 
durch  K.  Phil.  Fischer,  Sengler  u.  Fortlage  ermöglichten  Philosophie  der  That, 
Giessen  1860.  Das  Gesetz  der  Persöulichk.,  Giessen  1862.  Schmid  schlosa  sich 
den  Bestrebungen  Senglers  und  K.  Ph.  Fischers  an.  Ihrem  Wesen  nach  besteht 
die  Philosophie  in  der  Selbstverwirklichung  des  Menschen  zu  reiner  und  voller 
Menschlichkeit,  Der  Geist  der  Philosophie  muss  Wissen  und  Können,  Bildung 
und  Leben  durchdringen  und  verbinden.  Die  That  muss  über  das  Wort  gestellt 
werden.  Schmid  war  davou  überzeugt,  dass  die  neue  Philosophie  der  That  oder 
das  System  des  Energismus  in  Deutschland  durchzubrechen  begiune.  Vgl.  über  ihn 
B.  Schröder  u.  Friedr.  Schwarz,  L.  Sch.s  Leben  und  Denken,  Lpz.  1871. 


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§  39.  Gegner  Hegels  u.  »peculativcr  Theismus. 


Ern.  Aug.  von  Schaden  (geh.  1814.  gest.  1852),  Prof.  in  Erlangen,  System 
der  positiven  Logik,  Erlangen  1841.  Vorlesungen  über  akademisches  Leben  und 
Studium,  Marb.  1845  (im  2.  Th.  derselben  findet  sich  sein  System  in  den  Grand- 
linien). Ueber  d.  Gegensatz  d.  theistischen  u.  pantbeistischen  Standpunkts,  Erlang. 
1848;  ein  Sendschreiben  an  L.  Feuerbach,  worin  er  besonders  die  Frage  nach  der 
Persönlichkeit  des  Absoluten  behandelt.  Er  sehliesst  sich  vielfach  der  theo- 
sophischen  Richtung  Baaders  an.  Vgl.  über  ihn  Fr.  Thierach,  Erinnerungen  an 
E.  A.  v.  Seh.,  1853. 

F.  X.  Schmid  (aus  Schwarzenberg,  gest.  1884  als  Prof.  d.  Phil,  an  d.  Uuivera. 
Erlangen),  christl.  Relgionsphilos.,  Nordl.  1857.    Entwurf  eines  Syst  d.  Philos.  anf 
pncumatolog.  Grundlage,  3  Theile  (Erkenntnisslehre,  Metaph.,  Ethik),  "Wien  1863 
bis  1868.    Ausserdem  verschiedene  philosophiegeschichtliche  Arbeiten,  die  in  der 
Litteratur  schon  aufgezählt  sind. 

J.  W.  Hanne,  die  Idee  der  absol.  Persönliche  od.  Gott  u.  sein  Verhältu.  B. 
Welt,  insonderheit  z.  menschl.  Persönlich^,  Hanuov.  1861.  Geist  d.  Christenth., 
Elberfeld  1867. 

Maxim.  Perty  (geb.  1804,  lange  Zeit  Prof.  in  Bern,  gest.  1884),  authropol. 
Vorträge,  gehalten  im  Winter  1862—63  zu  Bern,  Lpz.  u.  Heidelb.  1863.  Ueber 
das  Seelenleben  der  Thiere,  Lpz.  u.  Heidelb.  1H65,  2.  Aufl.  1876.  Die  Natur  im 
Lichte  philos.  Anschauung,  Lpz.  u.  Heidelb.  1869.  Blicke  in  d.  verborg.  Leben  d. 
Menschengeister,  ebd.  1809.  Die  myst.  Erscheing.  der  menschl.  Nat ,  2.  Aufl.  Lpz. 
1872.  Die  Anthropol.  als  d.  Wissensch,  v.  d.  korperl.  u.  geist.  Wesen  d.  Mensch., 
Lp.  1873 — 74.  Der  jetzige  Spiritualismus  a.  verwandte  Erfahrungen  der  Vergangen- 
heit u.  Gegenwart,  Lpz.  1877.  Erinnerungen  aus  d.  Leben  eines  Natur-  u.  Seeleu- 
forschers des  19.  Jahrb.,  Lpz.  1879.  Die  sichtbare  u.  d.  unsichtb.  Welt.  Diesseits 
u.  Jenseits,  Lpz.  1881.    Perty  neigte  sich  sehr  dem  Mysticismus  u.  Spiritismus  zu. 

K.  Sederholm,  der  geist.  Kosmos,  Lpz.  1859.  Der  Urstoff  und  der  Welt- 
äther, Moskau  1864.    Zur  Religionsphil,  (aus  der  Zeitschr.  f.  Philos.  i,  Lpz.  1865. 

Conrad  Hermann  (geb.  1818,  Prof.  in  Leipzig),  Grundriss  einer  allgem. 
Aesthctik,  Lpz.  1857.  Philosophie  der  Geschichte,  Lpz.  1870.  Die  Aesthetik  in 
ihrer  Geschichte  u.  als  wissenschaftl.  System,  Lpz.  1875.  Die  Sprachwissenschaft 
nach  ihrem  Zusammenhang  mit  Logik,  menschlicher  Geistesbildung  und  Philosophie, 
Lpz.  1875.  Der  Gegensatz  des  Classischcn  und  des  Romantischen  in  der  neueren 
Philos.,  Lpz.  1877.  Hegel  u.  die  logische  Frage  d.  Philos.  in  d.  Gegenw.,  Lpz. 
1878.  Hermann  sucht  die  von  dem  hegelsehen  System  aus  „nächsthöhere  neue  all- 
gemeine Wahrheit  der  philos.  Weltanschauung"  aufzufinden  und  ist  der  Ansicht, 
dass  die  Philosophie  nur  im  Anschluss  an  die  Geschichte  der  Philosophie  und 
unter  Anknüpfung  an  die  grossen  historischen  Traditionen  der  Vergangenheit  ihren 
wahrhaften  wissenschaftlichen  Zielen  in  der  Gegenwart  mit  Erfolg  zuzustreben  ver- 
möge. S.  H.s  Abhandl.:  d.  Stellung  u.  Aufgabe  der  Philosophie  in  d.  Gegenw., 
in:  Unsere  Zeit,  Deutsche  Revue  der  Gegenw.,  1883,  H.  8,  S.  285-296. 

Albert  Peip  (gest.  als  Prof.  d.  Philos.  in  Göttingen),  die  Wissensch,  u.  das 
gesch.  Christenth.,  Berl.  1853.  Der  Beweis  des  Christenth.,  Herl.  1856.  Christo- 
sophie,  Berl.  1858.  Jacob  Böhme,  Lpz.  1860.  Die  Gesch.  der  Philos.  als  Ein- 
leitungswiss.,  eine  Antrittsvorles.,  Gött.  1863.  Zum  Beweis  des  Glaubens,  Gütersloh 
1867.   Religionsphilosophie,  hrsg.  von  Th.  Hoppe,  Gütersloh  1879. 

Joh.  Huber  (gest.  1879  nh  Prof.  d.  Philos.  in  München),  Studien  (über  die 
relig.  Aufklärg.  im  18.  Jahrh.,  z.  Christologie,  d.  Statistik  d.  Verbrechen  und  d. 
Freih.  d.  Willens),  Münch.  1867.  Kleine  Schrifteu  (Lamennais,  Jac.  Böhme,  Spinoza, 
(Kommunismus  u.  Socialism.,  die  Nachtseiten  von  London,  deutsches  Studentenleben), 
Lpz.  1871.    Die  Lehre  Darwins.  Münch.  1871.    Zur  Kritik  moderner  Schöpfungs- 


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^  39.    Gegner  Hegels  u.  speeulativer  Theismus. 


441 


lehren  mit  besoud.  Rucks,  auf  Hackeis  „natürl.  Schöpfungsgeschichte",  ebd.  1*75. 
Die  ethische  Frage,  Münch.  1875.  Der  Pessimismus,  Münch.  1876.  Die  Forschung 
nach  der  Materie,  Münch.  1877.  Das  Gedächtnis?,  ebd.  1878.  Zur  Thilos,  der 
Astronomie,  ebd.  1878.  8.  ob.  Grdr.  II,  §  3  und  §  20.  Ueber  H.  vgl.  K.  Zimgiebl. 
Joh.  Huber,  Gotha  1881.  Huber  kämpfte  besonders  gegen  die  mechanische  Welt- 
ansicht für  die  Substantialität  des  Geistes,  als  des  allbeherrschenden  Prineips,  aber 
auch  für  die  Freiheit  des  Geistes  gegen  den  Jesuitismus. 

Hubert  Beckers  (geb.  180G,  Prof.  d.  Philo»,  in  München)  ist  ein  treuer 
Anhänger  Sendlings  geblieben  und  hat  ausser  Abhandlungen  über  Sendling  (s.  ob. 
S.  318)  noch  veröffentlicht:  über  das  Wesen  des  Gefühls,  Münch.  1830.  üb.  d.  Be- 
deutung des  geistigen  Doppellebens,  in:  Sitzungsber.  d.  KgL  bayr.  Ak.  d.  W.  186«.). 
üb.  d.  Stellung  der  Philos.  z.  d.  exaeten  Wissenschaften,  ebd.  1861. 

Constantin  Frantz  tritt  zuletzt  mit  Entschiedenheit  für  die  letzten  Pe- 
rioden der  schellingschen  Lehre  ein  and  erwartet  von  der  positiven  Philosophie 
das  Heil  der  Zukunft.  Kr  hat  geschrieben:  Philosophie  der  Mathematik,  Lpz. 
1842,  Naturlehre  des  Staates  als  Grundlage  aller  Wissensch.,  Lpz.  u.  Hdlb.  1870. 
Philosophismus  u.  Christenth.  1875,  Schellings  positive  Philosophie,  3  Tide.,  Göthen 
1879-1880.  Der  3.  Theil  enthält  d.  Philos.  der  Offenbar,  nebst  Charakteristik  u. 
Würdigung  der  ganzen  positiv.  Philos. 

Friedr.  Jul.  Stahl  (1802-1861),  die  Philos.  des  Rechts  nach  geschichtl.  An- 
sicht, Heidelb.  1830-37,  2.  Aufl.  1845,  3.  Aufl.  1854-56,  I.  Bd.,  Gesch.  d.  Reehts- 
philos ,  5.  Aufl.  Tüb.  1879,  der  theologisirende  Rechtsphilosoph,  hat  durch  den 
Neuschellingianismus  nicht  unwesentliche  Impulse  erhalten. 

Wilhelm  Rosenkrantz  (geb.  1821,  seit  1867  Ober-Appellationsgerichtsrath 
in  München,  gest.  1874),  knüpft  an  die  positive  Philosophie  Sendlings  unmittelbar 
an  und  sucht,  dieselbe  selbständig  weiter  bildend,  die  Philosophie  der  positiven 
Theologie  anzunähern.  Sein  Hauptwerk  ist:  Wissenschaft  des  Wissens  und  Be- 
gründung der  besonderen  Wissenschaften  durch  die  allgemeine  Wissenschaft,  eine 
Fortbildung  der  deutschen  Philosophie  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Piaton,  Aristo- 
teles und  die  Scholastik  des  Mittelalters,  Bd.  1,  München  1866,  wieder  abgedruckt 
Mainz  1868,  Bd.  II,  ebd.  1868.  In  diesem  Werke  steigt  er  von  der  Thatsache  der 
äussern  und  innern  Erfahrung  zur  Krkenntniss  der  letzten  höchsten  Einheit  auf  und 
entfaltet  dann  diese  in  synthetischer  Weise  in  ihrer  ganzen  Ausbreitung.  Neben 
einer  Kritik  der  Kategorienlehre  giebt  er  auch  eine  eigene  scharfsinnige  Kategorien- 
lehre.  In  seinen:  Principien  der  Theologie,  nebst  einer  Eiuleitg.  über  d.  Principieul. 
im  Allgem.,  Münch.  1875,  und  seinen  Principien  der  Naturwissenschaft,  ebd.  1875, 
zeigt  er,  wie  Gott  nach  seinem  Wesen  der  Dreieinigkeit,  seinen  Eigenschaften,  zu 
bestimmen  sei,  und  wie  der  Natur  und  ihren  Erscheinungen  ein  einheitliches 
geistige«  Princip  zu  Grunde  liege.  Die  Lehre  vom  Geiste,  die  folgen  sollte,  ist 
nicht  vollendet  worden.  Seine  .Philosophie  der  Liebe*,  siehe  bei  A.  Entleutuer, 
Naturwissensch.,  Naturphilos.  u.  Philosophie  der  Liebe,  Münch  1877.  Vgl.  über 
ihn:  Müllner,  Rosenkrantz'  Philos.  Wien  1877;  s.  auch  die  Zeitschr.  f.  Philos.  u. 
philos.  Krit.,  1876  und  1877.  .1.  Wieser,  d.  Philosophie  von  Dr.  W.  Rosenkrantz, 
in:  Zeitschr.  f.  kath.  Theol.,  III,  1879,  S.  229—355.  Den  Ansichten  Rosenkrantz* 
scheint  sich  Anton  Koch  anzuschliesseu,  d.  Psychol.  Descartes',  s  ob.  S. 65. 

Ant.  Günther,  Vorschule  zur  specul.  Theol.  des  posit.  Christendi.,  Wien  1828. 
2.  Aufl.  1846,  1848.  Süd-  und  Nordlichter  am  Horizonte  speculativer  Theologie,  Wien 
1832.  Janusköpfe  (von  Günther  u.  Pabst),  Wien  1834.  Thomas  a  serupulis,  zur  Trans- 
tiguration  der  Persönlichkcitspantlicismen  neuester  Zeit,  Wien  183ö.  Die  Juste-uiilieus 
in  d.  deutsch.  Ph.,  Wien  183S.  Kurvstheus  und  Herakles,  Wien  1843,  u.  viele  andere 
Schriften.    Zuletzt  ist  Antisavarese  herausgegeb.  von  Peter  Knoodt  mit  einein  Anhange, 


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442 


£  39.    Gegner  Hegels  u.  speculaÜW  Theismus. 


Wien  18h)!.  Savarese,  jetzt  Hausprälat  de«  Papstes,  hatte  im  J.  185(5  da«  System 
Günthers  als  logischen  Anthropomorphismus  kritisirt.  Dagegen  wehrte  sich  Günther, 
gab  aber  auf  Bitten  seiner  Freunde  das  Manuscript  nicht  zum  Druck.  Gesammelte 
Schriften,  4  Bde.,  Wien  1SS1.  Die  von  A.  Günther  und  J.  &  Veith  (s.  üb.  diesen 
J.  H.  Löwe,  Wien  1870)  hrsg.  Zeitschrift  Lydia,  Wien  18-19—54,  war  ein  Organ  de» 
Gfintherianistnus.  —  Vgl.  über  Günther  Lor.  Kästner,  d.  philos.  Systeme  A.  Güuthers 
u.  Mart.  Deutingers,  Progr.  des  Lye.  zu  Kegcusbiirg,  1873.  Th.  Weber,  Artikel  über 
A.  G.  in  der  Encyclop.  von  Erseh  u.  Gruber,  auch  separat  erschienen,  1878.  Ernst 
Melzer,  die  Lehre  von  der  Autonomie  der  Vernunft  in  den  Systemen  Kant»  u.  Günthers, 
Nejsse  (ohne  Jahr,  1879;,  2.  Aufl.  mit  etwas  verändertem  Titel  1882.  J.  Flegel, 
Günthers  Dualismus  von  Geist  und  Natur,  Breslau  18SO.  Mart.  Klein,  die  Genesis  der 
Kategorien  im  Processe  des  Selbstbewusstwerdens.  Ein  Beitr.  zur  Systematisirung  der 
günthersch.  Philos.,  Breslau  1881.  Pet.  Knoodt,  Anton  Günther,'  eine  Biographie, 
2  Bde.,  Wien  1881.  Ant.  Koch,  erkenntnissthenret.  Streifzüge  mit  besonderer  Rucks, 
auf  Günther,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  87,  18*.">,  S.  40—74.  Ernst  Melzer, 
erkenntnisstheoret.  Erörterungen  üb.  d.  Systeme  v.  Ulriei  u.  Günther,  Neisse  1886.  In 
dem  Anhange  zu  Anlisavarese  hat  Knoo<lt  die  wichtigsten  Partien  der  güntherschen 
Philosophie  dargestellt. 

Anton  Günther,  geboren  1785,  gestorben  als  Weltprieater  in  Wien  iu  den 
dürftigsten  Umstanden  184*J,  glaubte  durch  einen  dem  curtesianischen  ähnlichen 
Dualismus  und  Theismus  den  sehelliugschen  und  hegelschen  Pantheismus  überwinden 
zu  können.  Im  Jahre  1857  wurden  zu  Rom  nach  mehrjährigen  Verhandlungen 
theologische  und  psychologische  Sätze  Günthers,  der  diesem  Ausspruche  laudabiliter 
se  subieeit,  als  irrig  verurtheilt.  Seine  Schreibweise  war  häufig  sarkastisch  und 
humoristisch,  au  Jean  Paul  eriuuernd,  wie  sich  dies  schon  zum  Theil  in  den  Titeln 
seiner  Schriften  zeigt.  Kr  tritt  zwar  als  Gegner  Hegels  auf,  hat  aber  doch  von 
den  hegelschen  Gedanken  Manches  herübergeiiommeu  und  sich  auch  vielfach  an  die 
hegelsche  Methode  ungelehnt.  Nicht  nur  die  Vernunftwahrheiten  hat  nach  ihm 
die  Philosophie  darzulegen,  sondern  auch  die  sogenannten  Mysterien  müssen  In 
Betreff  ihres  Wurum  wissenschaftlich  begriffen  werden.  Günther  lässt  das  schelling- 
heeelsche  Entwickeluugsprincip  für  die  „Natur"  gelten,  deren  Gebiet  er  bis  zu  der 
empfindenden,  vorstellenden  und  Begriffe  bildenden  »Seele*  ausdehnt  (im  Gegen- 
satz zu  Descartes),  stellt  aber  über  diese  Seele  den  «Geist"  als  ein  selbständiges 
nicht  an  den  Leib  gebundenes  W:eseu.  Das  Leben  des  mit  Sinnen  begabten  Indi- 
viduums, das  empfindet  und  vorstellt,  einbildet,  reproducirt  und  producirt,  urtheilt 
und  schliesst,  durch  Triebe,  Gefühle  und  Leidenschaften  bewegt  wird  und  selbst 
wieder  durch  Nerven  den  Leib  und  weiter  die  Aussendinge  bewegt,  ist  das  seelische 
Leben,  das  vom  Naturprincip  herrührt,  und  so  ist  denn  die  Seele  selbst,  .dos 
in  den  thicrischen  Organismen  besonderte  und  subjectiv  fuuetionireude  Naturprincip*, 
das  im  Menschen  freilich  dem  von  ihm  durchaus  verschiedenen  Geiste  dient.  Mit 
diesem  Dualismus  griff  Günther  uuf  Descartes  zurück  und  ging  auch  wie  dieser 
vom  Selbstbewusstsein  aus,  nennt  sich  auch  häufig  einen  Cartesius  correctus.  Das 
cogito  ergo  sum  des  Descartes  fusst  er  nicht  als  eine  unmittelbare  Anschauung, 
sondern  als  Schluss.  Aber  es  ist  nicht  ein  logischer  Verstandesschluss,  sondern 
ein  ontologischer,  metaphysischer  oder  Vemunftschluss.  Die  Gewissheit  beruht 
nicht  auf  dem  Sein  des  Denkens,  sondern  auf  der  wahrhaften  Identität  des  Denkens 
und  Seins  im  Ichgedanken.  —  L>  der  Auffindung  dieses  metaphysischen  Schlusses 
sehen  die  Schüler  Günthers  ein  grosses  Verdienst  ihres  Meisters,  da  er  hierdurch 
zuerst  das  ideelle  (im  Seinsgebiete  sich  ergehende)  Denken  von  dem  (im  blossen 
Erscheinungsgebiete  befangenen)  begrifflichen  gründlich  ausgeschieden  —  und  eine 
genetische  Ableitung  der  allgemein  gültigen  Erkenntnissformen,  Kategorien,  er- 
möglicht und  so  die  ganze  Philosophie  neu  und  fest  gegründet  habe. 

Der  Mensch  ergreift  sich  selbst  als  zusammengesetztes  Wesen:  Ich  finde,  dass 
ich  einem  Anderen  preisgegeben,  nicht  für  mich,  sondern  für  dieses  bin;  daruus 


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S  40.    Anhänger  Herbarts. 


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folgt  meine  Beschränktheit:  ich  finde  mich  als  Leib,  Materialität.  Indem  ich  aber 
mich  so  finde,  bin  ich  auch  für  mich,  der  Muterie  entgegengesetzt,  Geist.  Natur- 
weseu  und  Geist  sind  nicht  quantitativ  von  einander  verschieden  sondern  'durchaus 
qualitativ  verschiedene  Substanzen,  der  Mensch  besteht  aus  beiden,  und  so  musa 
eine  Wechselwirkung  zwischen  ihnen  angenommen  und  als  möglich  dargethan 
werden.  Zwar  kaun  der  Geist  nicht  direct  auf  den  Leib  einwirken,  ebensowenig 
wie  dieser  auf  jenen,  aber  das  geistige  Denken  und  Wollen  kann  auf  das  seelische 
Denken  und  Wullen  Einfluss  ausüben  und  umgekehrt.  Es  bleiben  die  beiden  Sub- 
stanzen verschieden,  aber  das  aus  verschiedenen  Substanzen  entstehende  Denken 
vereinigt  sich.  Geistiges  und  natürliches  Leben  sind  für  eiuauder  bestimmt,  es 
wird  eine  formelle  Einheit  der  beiden  zu  Stande  gebracht,  und  es  findet  eine 
.wechselseitige  Mittheilung  der  Eigentümlichkeiten*  statt.  Durch  das  Bedingtsein 
des  Selbstbewusstseins  wird  nun  noch  ein  zweiter  Dualismus  erschlossen.  Indem 
nämlich  alles  Negative,  das  im  Endlichen  liegt,  negirt  wird,  erfasst  mau  den 
Gedanken  eines  solchen,  das  ganz  unbeschränkt  und  unbedingt  ist,  und  so  wird 
die  Gottheit  antipantheistisch  über  die  Welt  gestellt,  welche  letztere  von  Gott 
als  seine  Coutraposition  geschaffen  ist. 

An  den  Verhandlungen  über  den  Güntherianismus  haben  sich  u.  A.  als  Gegner 
Günthers  J.  N.  P.  Oischinger  (die  günthersche  Philos.,  Schaflhausen  1852),  F.  J. 
Clemens  (die  günthersche  Philos.  o.  die  katholische  Kirche,  Köln  1853,  wogegen 
P.  Knoodt  schrieb:  Günther  u.  Clemens,  Wien  1853),  Michelis  (Kritik  der  gün- 
therschen  Philos.,  Paderborn  1864),  betheiligt  Als  Anhänger  Günthers  sind  ausser 
Job.  Hur.  Pabst  (1785 — 1838,  lange  Zeit  österreichischer  Militärarzt),  der  viel 
zur  Verbreitung  der  güntherscheu  Lehre  beitrug,  und  von  dem  „der  Mensch  u.  seine 
Geschichte-,  Wien  1830,  .Giebt  es  eine  Philosophie  des  Christenthums?-  Cölnl832, 
und  Veith  zu  nennen:  Carl  von  Hock  (gest.  1869,  Cholorodea,  Wien  1832,  Car- 
tesius  u.  seine  Gegner,  Wien  1835),  J.  Merten,  Huuptfrageu  d.  Metaphysik, 
Trier  1840.  Auf  Universitäten  huldigten  oder  huldigen  jetzt  noch  der  Lehre 
Günthers  mehr  oder  weniger  Knoodt  in  Bonn,  Elvenich  in  Breslau,  Weber 
ebenda«.,  Löwe  in  Prag  (Lehrb.  der  Logik,  Wien  1881),  Kaulich  in  Graz  (U eher 
d.  Möglichk.,  die  Grenze  u.  d.  Ziel  des  Wissens,  2.  Aufl.,  Graz  1870;  Handb.  d. 
Log.,  Prag  1869,  der  Psychol ,  Graz  1870;  Syst.  d.  Metaphys.,  Prag  1874,  der  Ethik, 
1877),  Vincenz  Knauer. 

Ebenso  wie  der  Güntherianismus  war  früher  der  gemässigt  philosophisch- 
theologische Rationalismus  des  Hermes  (geb.  1775,  gest.  1831  als  Professor  in 
Bonn)  der  kirchlichen  Censur  erlegen.  Vgl.  über  ihn  Esser,  Denkschrift  auf 
Georg  Hermes,  Köln  1832. 

§  40.  Anfangs  sehr  isolirt,  hat  Herbart  später  einen  zahl- 
reichen Kreis  von  Schülern  gefunden,  und  namentlich  in  Oesterreich 
giebt  es  noch  viele  Anhänger  von  ihm.  Eine  Zeit  lang  war  die  Uni- 
versität Leipzig  das  eigentliche  Centrum  der  herbartschen  Philosophie. 
Eine  innere  Fortbildung  aus  ihren  Principien  heraus  hat  nicht  statt- 
gefunden. Die  Lehre  war  zu  fest  bestimmt  und  abgerundet,  als  dass 
sich  ähnlich  wie  in  der  hegelschen  Schule  verschiedene  Richtungen 
hätten  abzweigen  können.  (Auch  von  Halbherbartianem  redet  man, 
d.  h.  solchen,  die  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  den  herbartschen 
Principien  zeigen.)  Jedoch  sind  nach  der  Seite  der  Psychologie,  der 
Sprachphilosophie  und  besonders  der  Pädagogik  weitere  Entwicklungen 


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§  40.    Anhänger  Herbarta. 


mit  Erfolg  versucht  worden.  Die  namhaftesten  unter  den  Herbartianern 
sind:  Drobisch,  Hartenstein,  Strümpell,  Thilo,  Steinthal. 
Lazarus,  Zimmermann,  Flügel.  Unter  denen,  die  mit  Schärfe 
und  Erfolg  die  herbartsche  Lehre  angriffen,  ist  besonders  Ad  Trendelen- 
burg zu  erwähnen. 

lieber  den  Religionshegr.  der  Schule  H.s  8.  H.  .1.  Holtzmaun,  in:  Ztsc-br.  f. 
wiMemch.  Theol.,  25,  1881,  S.  66—  92.  Ueber  d.  Verbreitung  der  herbartsch.  Sehule 
in  Böhmen  8.  Durdik,  in:  Ztschr.  f.  ex.  Philos.  XII,  1883,  S.  317—326. 

Die  „Zeitschrift  für  exacte  Pbilosopbie  im  Sinne  des  neuereu  philo- 
sophischen Realismus",  die  von  18(31  bis  1K75  in  11  Bänden  erschienen  ist,  zuerst 
redigirt  vonAllihn  undZillcr,  später  von  Allihn  und  Flügel,  vertrat  die  Lehrt* 
Herbarts.  Sie  hatte  es  sich  bei  ihrem  Erscheinen  zur  Aufgabe  gemacht,  .die 
eigentlichen  Aufgaben  der  Philosophie  überhaupt  und  der  einzelnen  philosophischen 
Wissenschaften  im  Besonderen  deutlich  darzulegen,  sie  von  den  bloss  vermeinten 
und  falschen  zu  unterscheiden  und  zu  zeigen,  was  zur  Lösung  derselben  vorzugs- 
weise in  Deutschland  geleistet  worden  ist",  und  bei  ihrem  Aufboren  glaubte  sie, 
nachgewiesen  zu  haben,  dass  und  in  welcher  Weise  eine  Reform  der  einzelnen 
philosophischen  Disciplinen  durch  Uerbart  zu  Stande  gebracht  sei,  und  dass  es 
nicht  nötbig  sei,  sich  Herbart  gegenüber  in  corrigirender  Weise  zu  verhalten  und 
eigene,  abweichende  Ansichten  geltend  zu  machen,  im  I.  Heft  des  I.  Bandes  der 
Zeitschrift  giebt  Allihn  als  Anfang  zu  seiner  Biographie  Herbarts  eine  Zusammen- 
stellung der  Litteratur  der  herbartschen  Schule.  Spätere  Hefte  enthalten  fort- 
gesetzte Litteraturaugaben.  Seit  1883  ist  die  Zeitschr.  unter  der  Redaction  von 
Allihn  und  Flügel  wieder  ins  Leben  getreten  und  nach  dem  Tode  Allihns  weiter 
vou  Flügel  allein  herausgegeben. 

Lazarus  und  Steiuthal  redigiren  seit  185U  die  „Zeitschrift  für  Völker- 
psychologie und  Sprachwissenschaft*.  Die  Völkerpsychologie  ist  nach 
Lazarus  die  Lehre  von  den  Elementen  und  Gesetzen  des  geistigen  Völkerlebens. 
Ks  kommt  ihr  darauf  an,  das  Wesen  dos  Volksgeistes  und  sein  Thun  psychologisch 
zu  erkennen,  die  Gesetze  zu  entdecken,  nach  denen  die  innere  geistige  Thätigkeit 
eines  Volkes  in  Leben,  Kunst  und  Wissenschaft  vor  sich  geht,  sich  ausbreitet, 
erweitert  oder  verengt,  erhöht  oder  vertieft.  Es  gilt,  die  Gründe,  Ursachen  und  Ver- 
anlassungen der  Entstehung,  Entwicklung  und  des  Untergangs  der  Eigentümlich- 
keiten eiues  Volkes  zu  enthüllen;  der  Art  wird  der  Begriff  des  Volks-  oder  National- 
geistes nicht  eine  blosse  Phrase  sein.  So  wendet  sich  die  Zeitschrift  nicht  nur  an 
die  berufsmässigen  Psychologen,  sondern  an  alle,  die  das  geschichtliche  Leben  der 
Völker  nach  irgend  einer  Seite,  Religion,  Kunst,  Wissenschaft,  Sprache  etc.  in  der 
Weise  erforschen,  dass  sie  die  Thatsachen  aus  dem  Innersten  des  Geistes  zu  er- 
klären, d.  h.  auf  ihre  psychologischen  Gründe  zurückzuführen  suchen. 

Friedr.  Heinr.  Theod.  Allihn  (1811  geb.,  1885  als  Pfarrer  in  Merzien  b. 
Göthen  gest.),  Antibarbarus  logicus,  Halle  1850:  I.  Heft:  Einleitg.  in  d.  allgem. 
formale  Log,  2.  Aufl.  Halle  1863  (anonym).  Der  verderbt.  Einfluss  d.  hegelschen 
Philos.,  Lpz.  1862.  Die  Umkehr  d.  Wissenschaft  in  Preussen,  m.  besond.  Beziehg. 
auf  Stahl  und  auf  die  Erwiderungen  seiner  Gegner  Braniss  und  Erdmann,  Berl.  1855. 
Die  Grundlehren  d.  allgem.  Ethik,  nebst  einer  Abhandig.  üb.  d.  Verhältn.  der  Relig. 
zur  Moral,  Lpz.  1861. 

Ludw.  Ballauf,  Abhdlgn.  meist  psychol.-pädagog.  Inhalts,  In  Oldenburger 
Schulblatt,  in  der  pädagog.  Revue  und  dem  pädagog.  Archiv,  und  In  der  Zeitschr. 
für  exacte  Philos.,  wo  insbesondere  in  Band  IV,  Heft  I  S.  73—92  ein  von  Ballauf 


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§  40.    Anhänger  Herharts. 


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verfasstcr  Artikel:  .Von  Bcneke  zu  Herbart  *  eine  Vergleichung  der  beiderseitigen 
Doctrinen  vorn  herbartschen  Standpunkte  aus  enthält,  die  iu  theoretischem  Betracht 
auf  der  Voraussetzung  ruht,  nur  durch  in  der  Erfahrung  liegende  Widersprüche 
könne  ein  Antrieb  gegeben  sein,  die  Erfahrung  zu  ergänzen  und  primitive  Annahmen 
zu  corrigiren.  und  zwar  eben  durch  diejenigen  Widersprüche,  welche  Herbart  in  par- 
tiellem Anschluss  an  die  Eleaten  etc  in  gewissen  Erfahrungsbegriffen  gefunden 
haben  will ;  Ballaufs  Einwurfe  gegen  Benekes  Eudäinonismus  aber  beruhen  zum  Thei! 
auf  einer  falschen  Isolirung  der  Elemente  des  sittlichen  Gesummturtheils  gegen  ein- 
ander, zum  andern  Theil  auf  irrigerweise  aus  dem  benekcschen  Princip  gezogenen 
Consequenzen,  besonders  auf  einer  Unterschätzung  des  Werthes,  den  auch  nach 
diesem  Princip  die  gesicherte  rechtliche  Ordnung  haben  mus*.  Die  Elemente  der 
Psychologie,  Cöthen  1877. 

Ed.  Bobrik,  de  ideis  innatis  sive  puris  pro  principiis  habitis,  Regiomonti 
1829.    Freie  Vorträge  über  Aesthetik,  Zürich  1834.    Neues  prakt.  Syst  der  Logik, 

1,  1.:  ursprüngl.  Ideenlehre,  Zürich  1838  (ist  unvollendet  geblieben). 

Herrn.  Bonitz  (geb.  1814  in  Langensalza,  lange  Zeit  Prof.  in  Wien,  jetzt  Ge- 
heimer Rath  im  Ministerium  zu  Berlin),  dessen  Platonica  und  Aristotelica  ob.  er- 
wähnt worden  sind,  ist  hier  auch  als  Mithrsg.  (bis  1867)  d.  „Zeitechr.  f.  österr. 
Gymnasien"  und  seit  1869  der  berl.  «Zeitschr.  f.  d.  Gymnasialwesen"  zu  nennen, 
ferner  als  Verfasser  eines  Aufsatzes  über  philos.  Propädeutik,  in  der  Neuen  .Ten. 
Allg.  Litt  Zeitg.  1846,  No.  66. 

H.  G.  Brzoska,  üb.  d.  Nothwendigk.  pädagog.  Seminare  auf  der  Universität 
und  ihre  zweckmässige  Einrichtg.,  Lpz.  1833.  Brzoska  war  auch  der  Hrsg.  der 
„Centrnlbibliothek  für  Litt,  Statistik  u.  Gesch.  d.  Pädag.  u.  d.  Unterrichts". 

Carl  Seb.  Cornelius,  die  Lehre  von  der  Elektricität  u.  d.  Magnetismus, 
Lpz.  1855.  Ueb.  d.  Bildg.  d.  Materie  aus  einfach.  Elementen,  Lpz.  1856.  Theorie 
des  Sehens  u.  räuml.  Vorstellens,  Halle  1861;  Ergänzgn.  dazu,  ebd.  1864.  Grund- 
züge einer  Molecularphysik,  Halle  1866.  Ueb.  d.  Bedeutg.  des  Causalprinc.  in 
d.  Naturwissensch.,  Halle  1867.  Ueb.  d.  Entsteh,  d.  Welt,  m.  bes.  Rücks.  auf  d. 
Frage,  ob  unBerm  Sonnensyst  ein  zeitl.  Anfang  zugeschrieben  werden  moss,  gekr. 
Preisschr.,  Dalle  1870,  üb.  d.  Wechselwirkung  zwischen  Leib  u.  Seele,  Halle  1871, 

2.  A.  1875.  Zur  Theorie  der  Wechselwirk,  zwischen  Leib  u.  Seele,  Halle  1880. 
Abhandlungen  zur  Naturwissensch,  u.  Psychologie,  Langensalza  1887.  Nach  der 
Molecularphysik  von  Cornelius  besteht  zwischen  den  Realen,  die  zu  einem  Massen- 
theilchen  mit  einander  verbunden  sind,  nicht  eine  directe,  sondern  nur  eine  durch 
Aethersphären  vermittelte  Gemeinschaft.  • 

Franz  Cupr  (gest.  1882  in  Prag),  Sein  oder  Nichtsein  der  deutsch.  Philos.  in 
Böhmen,  Prag  1848.   Grundriss  d.  empir.  Psychol.,  Prag  1852. 

Mathias  Arnos  Drbal  (geb.  zu  Prödlitz  in  Mähren  1829,  gest.  zu  Brünn  1885), 
üb.  d.  Ursachen  d.  Verfalls  der  Philos.  in  Deutschland,  Prag  1856.  Giebt  es  einen 
speculat.  Syllogismus?  (Linzer  Gymnasial-Progr.  1857.)  Ueb.  das  Erhab.  (Linzer 
Gymnasial-Prosr.  1858.)  Ueb.  d.  Natur  d.  Sinne,  populärwiss.  Vorträge,  Linz  1860. 
Lehrb.  d.  propädcut.  Logik,  Wien  1865  u.  oft  Empir.  Psychol.,  Wien  1868,  4.  Aufl. 
1885.  Prakt.  Logik  oder  Denklehre.  Wien  1872.  Darstellung  d  wichtigst.  Lehren 
der  Menschenkunde  u.  Seelenlehre,  nebst  einer  Uebersicht  der  Gesch.  d.  Erziehgs.- 
u.  Unterrichtslehre,  in  3  Thln.,  Wien  1872  IT. 

Mor.  Wilh.  D robisch  (geb.  1802,  seit  1827  ordentl.  Prof.  der  Mathematik  und 
seit  1842  auch  der  Philosophie  zu  Leipzig),  Recens.  üb.  Herbarts  Psychol.  als 
Wissensch.,  im  Novemberheft  der  Lpz.  Littr.-Ztg.  vom  Jahr  1828.  Recens.  üb. 
Herbarts  Metaph.  in  der  Jen.  Littr.-Ztg.,  Augustheft  1830.  (In  diesen  Recensionen 
ist  besonders  mit  Erfolg  auf  die  herbartsche  Philosophie  hingewiesen  worden.) 


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§  40.    Anhänger  Herbarts. 


Philol.  u.  Mathem.  als  Gegenstände  d.  Gymnaaialunterrichts  betracht.  m.  besond. 
Bezieh,  auf  Sachsens  Gelehrteuschalen,  Lpz.  1832.  Ueb.  mathem.  Didaktik,  in  der 
Lpz.  Littr.-Ztg ,  1832,  No.  297.  Beiträge  zur  Orientirg.  üb.  Herbarts  Syst.  d.  Philos., 
Lpz.  1834.  Neue  Darstellg.  d.  Logik  nach  ihr.  einfachst.  Verhältn.,  nebst 
einem  log.-mathem.  Anhange,  Lpz.  1836,  2.  völlig  umgearb.  Aufl.  1851,  5.  A.  1887. 
Quaestionum  mathematico-psychologicarum  spec.  I— V,  Lips.  1836—39.  Grund- 
lehren  d.  Religionephilos.,  Lpz.  1840.  Empirische  Psychologie  nach 
naturwissenschaftlicher  Methode,  Lpz.  1842.  Ueb.  d.  mathem.  Bestimmg.  der 
musikal.  Intervalle,  in:  Abh.  der  fürstl.  jablonowBkischen  Gesellsch.,  Lpz.  1846. 
DiBquisitio  mathematico-psycliol.  de  perfectis  notionum  complexibus,  Lipa.  1846. 
Erste  Grundlinien  d.  mathem.  Psychol.,  Lpz.  1850.  Ueb.  d.  Stellg.  Schillers  zur 
knntischen  Ethik,  aus  den  Berichten  der  K.  S.  Gesellsch.  der  Wiss.,  besond.  ab- 
gedr.,  Lpz.  1859.  De  philoeophia  scientiae  naturali  insita,  Lips.  1864.  Die  moral. 
Statistik  und  die  menschl.  Willensfreiheit,  Lpz.  1867.  Ueb.  d.  Fortbildung  der 
Philosophie  durch  üerbart,  Lpz.  1876.  Kants  Dinge  an  sich  und  sein  Erfahrungs- 
begriff,  Lpz.  1885.  —  Mit  der  Metaphysik  Herbarts  stimmt  Drobisch  nicht  mehr 
ganz  überein.  In  der  Religionsphilosophie  versucht  er,  die  Philosophie  in 
herbartscher  Untersuchungsweise  mit  der  Theologie  auseinanderzusetzen.  Der  Philo- 
sophie kommt  auch  auf  dem  religösen  Gebiete  die  Aufgabe  zu,  das  Gegebene  zu 
begreifen.  Aus  dem  Gefühle  der  Beschränktheit  und  Ohnmacht  entsteht  das  Be- 
dürfniss  der  Befreiung,  der  Erlösung  von  den  Schranken,  der  Erhebung  zu  etwas 
Höherem.  Aber  ein  höchstes  Wesen  oder  Gott  darf  man  nicht  nur  wünschen,  son- 
dern um  dem  Gottesgedanken  objective  Bedeutung  zu  geben,  bedarf  es  des  logischen 
Nachweises.  Der  ontologiscbe  und  der  kosmologische  Beweis  sind  untauglich, 
durch  den  teleologischen  ergiebt  sich  das  Dasein  des  Glaubensgegenstandes  als  ein 
höchst  wahrscheinliches;  die  moralisch -praktischen  Glaubensgründe  treten  noch 
als  überzeugend  hinzu.  Unsere  Aufgabe  ist  es,  das  höchste  Gut,  d.  h.  den  mora- 
lischen Weltzweck,  zu  verwirklichen,  aber  die  Ausführbarkeit  ist  dadurch  gewähr- 
leistet, dass  Gott  die  mit  Absicht  wirkende  Ursache  des  sittlichen  Zweckes  und 
der  für  diesen  zureichenden  Mittel  in  der  Natur  ist  (s.  Kant).  Den  ausserwelt- 
lichen,  lebendigen  persönlichen  Gott  bestimmt  dann  Drobisch  nach  den  fünf 
herbartschen  praktischen  Ideen  der  Heiligkeit,  Vollkommenheit,  Liebe,  der  richten- 
den und  vergeltenden  Gerechtigkeit. 

Josef  Durdik  (Prof.  in  Prag),  Leibniz  und  Newton,  Halle  1869,  Kallilogie 
od.  üb.  die  Schönheit  des  Sprechens,  Prag  1873.  Ueb.  das  Gesammtkunstwerk  als 
Kunstideal,  Prag  1880.  Ausserdem  noch  viele  in  böhmischer  Sprache  verfasste 
Schriften. 

Friedr.  Exner  (geb.  1802  in  Wien,  seit  1827  Prof.  der  Philos.  in  Wien,  von 
1832  an  in  Prag,  1848  in  das  Ministerium  zu  Wien  berufen,  gest.  in  Padua  1853), 
üb.  Nominalismus  und  Realismus,  Prag  1842  laus  den  Abh.  d.  Böhm.  Ges.  d.  Wiss.). 
Die  Psychol.  der  hegelschen  Schule,  Lpz.  1843,  2.  Heft,  ebd.  1844.  Ueb.  Leib- 
nizens  Universalwissenschaft,  Prag  1833  (aus  den  Abh.  der  Böhm.  Ges.  d.  Wiss.). 
Ueb.  d.  Lehre  v.  d.  Einh.  des  Denk.  u.  8eins,  ebd.  1848  (aus  den  Abh.  der  Böhm. 
Ges.  d  Wiss.).  In  seiner  Stellung  bewirkte  er,  dass  die  herbartsche  Philosophie 
besonders  auf  den  Lehrstühlen  in  Oesterreich  vertreten  wurde. 

Otto  Flügel,  der  Materialismus,  Lpz.  1865.  Das  Wunder  und  die  Erkenn- 
barkeit Gottes,  Lpz.  1869.  Die  Probleme  der  Philos.  u.  ihre  Lösungen:  histor.- 
krit.  dargestellt,  Göthen  1876.  Die  Seelenfrage,  Cöthen  1878.  Die  speculat. 
Theologie  der  Gegenw.  krit.  beleuchtet,  Cöthen  1881,  2.  Aufl.  1887.  Das  Ich  u. 
d.  sittl.  Ideen  im  Leben  der  Völker,  Langensalza  1885.  Das  Seelenleben  d.  Thiere 
1886,  2.  Aufl.,  Langensalza.    Flügel  ist  jetzt  alleiniger  Herausgeber  der  Ztschr.  f. 


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§  40.   Anhänger  Herbarts. 


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exaete  Philosophie.  Er  wendet  sieh  namentlich  gegen  den  Monismus,  der  flott 
und  Welt  nicht  trenne,  also  auch  Gut  und  BÖBS  nicht  hinlänglich  zu  scheiden 
wisse,  währeud  der  herbartsche  Pluralismus  die  Welt  als  abhängig  von  dem  ihr 
substantiell  gegenüberstehenden  Gott  und  doch  relativ  selbständig  denken  lasse,  so 
da88  auch  das  Uebel  seine  Erklärung  finde.  Eine  eigentliche  speculative  Theologie 
ist  nicht  möglich,  aber  der  teleologische  Beweis  erbringt  doch  die  Wahrschein- 
lichkeit für  das  Dasein  Gottes,  und  die  Zweckformen  in  der  Welt  deuten  hin  auf 
Einsicht  und  Willen  sowie  auf  Persönlichkeit  Gottes.  In  die  Lücken  der  Erkennt- 
niss  tritt  die  christliche  Offenbarung  ein. 

Foss,  die  Idee  d.  Hechts  in  Herbarts  Ethik,  Realsehulprogr.,  Elbing  1802. 

Aug.  Geyer  (geb.  zu  Asch  in  Böhmen  1831,  gest.  1885  als  Prof.  d.  Rechte 
in  München),  Gesch.  u.  Syst.  d.  Rechtsphilos.,  Innsbruck  1863.  Ceb.  d.  neueste 
Gestaltg.  d.  Völkerrechts,  Rede,  Innsbruck  1866.  Abhandig.  in  der  Zeitschr.  f. 
exaete  Philos.  u.  im  Gerichtssaal  (d.  Kampf  ums  Recht,  aus  Anlass  v.  Iherings 
gleichn.  »Schrift,  1873,  Heft  1).  Strafrecht  u.  philos.  Einleitung  in  d.  Rechtswissen- 
schaften in  der  holtzendorfTschen  Encyclop.  der  Rechtswissensch. 

F.  E.  Griepenkerl  (geb.  1782,  gest.  1849  als  Gymnasiallehrer  in  Braun- 
schweig), Lehrb.  der  Aesthetik,  Braunschw.  1827.  Lehrbuch  der  Logik,  2.  Ausg., 
Helmstädt  1831.  Briefe  über  Philos.  und  besonders  über  Herbarts  Lehren,  Braun- 
schweig 1832. 

H.  F.  Haccius,  kann  d.  Pantheism.  eine  Reform,  der  Kirche  bilden? 
Hannover  1851. 

Gust.  Hartenstein  (geb.  1808,  seit  1836  ordentl.  Prof.  der  Philosophie  zu 
Leipzig,  zog  sich  1859  ins  Privatleben  zurück,  jetzt  Oberbibliothekar  in  Jena), 
de  methodo  philosophiae,  log.  legibus  astrigenda,  fiuibus  non  terminanda,  Lips. 
1835.  Die  Probleme  und  Grundlehren  d.  allgem.  Metaph.,  Lpz.  1836.  De  ethices 
a  Schleiermachero  propositae  fundamento,  Lips.  1837.  Ueb.  d.  neust.  Darstellgn.  u. 
Beurtheilgn.  d.  herbartschen  Philos.,  Lpz.  1838.  De  psychologiae  vulgaris  origine 
ab  Aristotele  repetenda,  Lips.  1840.  Die  Grundbegriffe  d.  ethisch.  Wissenschaften, 
Lpz.  1844.  De  Materiae  apud  Leibnitium  notione  et  ad  monadas  relatione,  Lips. 
1846.  Ueb.  d.  Bedeutg.  d.  megarisch.  Schule  f.  d.  Gesch.  d.  raetaphys.  Probleme, 
Lpz.  1847  (aus  d.  Berichten  üb.  d.  Verhandl.  der  K.  Sächs.  Ges.  d.  Wiss).  Dar- 
stellg.  d.  Rechtsphilos.  des  Grotius  (aus  Bd.  I.  der  Abh.  der  phil.-hist.  Cl  der  K. 
S.  Ges.  d.  Wiss.),  Lpz.  1850.  De  notionum juris  et  civitatis,  quas  Bened.  Spinoza 
et  Thom.  Hobbes  proponunt,  similitudine  et  dissimilitudine,  Lips.  1856.  Ueb.  d. 
wiss.  Werth  d.  aristotel.  Ethik  (in  d.  Berichten  d.  ph.-hist.  Kl.  der  K.  G.  der 
Wiss.),  Lpz.  1859.  Ueb.  Lockes  u.  Leibn.s  Lehre  von  d.  menschl.  Erkenntniss. 
Lpz.  1861.  Historisch -philos.  Abhandlgn.,  Lpz.  1870  (worin  acht  der  angeführt. 
Abh.  und  neuntens  eine  Abhandl.  über  Leibniz'  Lehre  v.  d.  Verhältnis»  der 
Monaden  zur  Körperwelt,  1869,  enthalten  sind). 

Carl  Ludw.  Hendewerk  (geb.  1806  zu  Königsb.  i.  Pr.,  gest.  1872  als  Pfarrer 
zu  Heiligenkreuz),  Principia  ethica  a  priori  reperta,  in  libris  sacris  V.  et  N.  T. 
obvia,  Regiom.  1839.  Herbart  u.  d.  Bibel,  Königsb.  1858.  Der  Idealismus  des 
Christenth.,  ebd.  1862. 

Herrn,  v.  Kayserlingk,  Vergl.  zw.  Fichtes  Syst.  u.  d.  Syst.  Herbarts, 
Königsb.  1817.  Später  ging  Kayserlingk  von  der  herbartschen  Richtung  ab.  Er 
hat  eine  Autobiographie  verfasst:  Denkwürdigkeiten  eines  Philosophen,  oder  Er- 
innergn.  u.  Begegnisse  aus  mein.  Leben,  Altona  1839. 

Herrn.  Kern,  de  Leibnitii  scientia  generali  commentatio,  Progr.  d.  K.  Pädag. 
in  Halle  1847.    Ein  Beitrag  zur  Rechtfertig,  d.  herbartsch.  Metaph.,  Einladungs- 


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§  40.   Anhänger  Herbarts. 


schrift  z.  Stiftungsfeier  des  herzogl.  Gymnasiums  in  Coburg,  1849.  Pädagogische 
Blätter,  Coburg  1853—56.    Grundriss  d.  Pädagogik,  Berl.  1873  u.  ö. 

J.  C.  Uldar.  Kramär,  d.  Problem,  d.  Materie,  Olmütz  1871. 

Franz  Ij.  Kvet,  Leibnizena  Logik,  nach  den  Quellen  dargestellt,  Prag  1857, 
Leiblils  u.  Comenius  (aus  den  Abb.  der  K.  Böhm.  Ges.  d.  Wiss.),  Prag  1857. 

M.  Lazarus  (geb.  1824,  Prof.  in  Berlin),  d.  Leb.  d.  Seele,  in  Monographien 
über  seine  Eröchemungen  und  Gesetze,  Berl.  1856-57,  8.  Aufl.  3  Bde.,  1884  ff. 
Ueb.  d.  Urspr.  d.  Sitten,  Vortr.  geh.  zu  Bern  1860,  2.  Aufl.  Berl.  1867.  Ueb.  d. 
Ideen  in  d.  Gesch.,  Rectoratsrede,  zu  Bern  1863  geh.,  2.  Abdr.,  Berlin  1872.  Zur 
Lehre  v.  d.  Sinnestäuschgn.,  Berl.  1867.  Ein  psychol.  Blick  in  uns.  Zeit,  Vortrag, 
Berl.  1872,  2.  Aufl.  1872.  Ideale  Fragen  in  Reden  u.  Vorträgen,  Berl.  1878.  Ueb. 
d.  Reize  des  Spiels,  Berl.  1884.  Die  von  Lazarus  u.  Steinthal  herausgegebene 
.Zeitsehr.  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft". 

Gust.  Adolf  Linduer  (gel).  1828,  gest.  1887  als  Prof.  an  der  böhmischen 
Universität  in  Prag),  Lehrb.  d.  formal.  Logik  nach  genet.  Methode,  Graz  1861, 
5.  Aufl.  Wien  1881.  Kinleitg.  i.  d.  Studium  d.  Philos.,  Wien  1866.  I^ehrb.  d. 
empir.  Psychol.  als  induetiver  Wissensch.,  6.  Aufl.  Wien  1886.  Das  Problem  d. 
Glücks,  psychol.  Untersuchgn.  über  d.  menschl.  Glückseligkeit,  Wien  1868.  Ideen 
z.  Psychol.  d.  Gesellsch.  als  Gründl,  d.  Socialwiss.,  ebd.  1871  (70). 

Franz  Karl  Lott  (geb.  1807,  gest.  1874  in  Wien),  Herbarti  de  animi  immor- 
talitate  doctr.,  Gott.  1842.  Zur  Logik  (ans  den  Gott.  Stud.  bes.  abg.),  Gött.  1846. 
Fr.  K.  Lotts  Metaphysik  herausgeg.  v.  The  od.  Vogt,  im  Jahrbuch  des  Vereins  f. 
wissenschaftl.  Pädagog.,  XII,  S.  211  ff.  Vgl.  üb.  ihn  Theod.  Vogt,  Wien  1874.  Er 
vertrat  einen  Theismus,  nach  welchem  die  Realen  Herbarts  als  ewige  Thätigkeiten 
des  persönlichen  Gottes  aufgefasst  werden. 

Carl  Mager,  anfangs  Hegelianer,  später  der  herbartschen  Richtung  zngethan, 
hat  die  Zeitschrift  begründet:  Pädagogische  Revue,  1840  ff,  von  1849—54  heraus- 
gegeben von  Scheibert,  Langbein  und  Kuhn,  von  1855—58  von  Langbein  allein. 
Statt  derselben  erscheint  seitdem:  Pädagogisches  Archiv,  herausg.  von  W.  Langbein, 
Stettin  1859—73.  seit  1874  von  Krumme. 

F.  W.  Miqucl,  Beiträge  eines  m.  d.  herbartschen  Pädag.  befreund.  Schul- 
mannes z.  Lehre  vom  biograph.  Geschichtsunterricht  auf  Gymnasien,  Aurich  und 
Leer  1847.  Beiträge  zu  einer  pädag.-psychol.  Lehre  vom  Gedächtniss,  Hannover 
1850.  Wie  wird  die  deutsche  Volksschule  national?  Lingen  1851.  Pädagog.  Abb. 
in  den  von  Kern  herausg.  pädag.  Bl.  1853  u.  54. 

Jos.  W.  Nahlowsky,  das  Gefühlsleben,  Lpz.  1862.  2.  Aufl.  1884.  Das 
Duell,  sein  Widersinn  u.  seine  moralische  Verwerflichkeit,  Lpz.  1864.  Die  ethisch. 
Ideen,  ebd.  1865.  Grundzüge  z.  Lehre  v.  d.  Gesellsch.  u.  dem  Staate,  ebd.  1865. 
Allgem.  prakt  Philos.  (Ethik)  pragmat.  bearb.,  Lpz.  1870,  2.  Aufl.  Lpz.  1885. 

Ed.  Olawsky.  die  Vorstellgn.  im  Geiste  des  Menschen,  Berl.  1868. 

L.  F.  Ost  er  mann,  pädagog.  Randzeichnungen,  Hannov.  1850. 

Ottokar  Kortinsky,  das  musikalisch  Schöne  und  das  Gesammtkunstwerk 
vom  Standpunkt  der  formalen  Aesthetik,  Lpz.  1877.  Die  Lehre  von  d.  musikal. 
Klängen,  Prag  1879.  Ueb.  d.  Bedent.  d.  prakt.  Ideen  Herbarts  f.  d.  allgem. 
Aesthetik,  Prag  1S83. 

Preiss,  Analyse  der  Gefühle,  Görz  1854.  Analyse  der  Begehrungen, 
ebd.  1859. 

Aug.  Reiche,  de  Kantii  antinomiis  quae  dicuntur  theoreticis,  Gött.  1838. 

G.  L.  W.  Resl,  die  Bedeutung  der  Reihenproduction  für  die  Bildung  synthet 
Begriffe  u.  ästh.  Urtheile,  Czemowitaer  Schulprogr.,  Wien  1857.  Zur  Psychol.  der 
subj.  Ueberzeugung,  Fr.,  Czernowitz  1868. 


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4j  40.    Anhänger  Herbarte. 


441) 


H.  H.  EL  Roer,  über  Herbarts  Methode  der  Beziehaugen,  Braunseh  weig  1833. 
Das  speeulat.  Denken  in  s.  Fortbewegung  z.  Idee,  Berl.  1837  (bekundet  Roers 
Fortbewegung  zum  Hegelianismus). 

Gust  Schilling  (geb.  1815,  gest.  1872  als  Prof.  d.  Philos.  in  Giessen), 
Lehrb.  d.  Psychol.,  Lpz.  1851.  Die  verschied.  Gruudansichten  über  d.  Wesen  d. 
Geistes.  Lpz.  1863.   Beiträge  z.  Gesch.  u.  Kritik  d.  Materialismus,  Lpz.  1867. 

Hermann  Siebeck  (Prof.  d.  Pbilos.  in  Giessen,  geb.  1842),  neben  früher 
erwähnten  historischeu  Arbeiten,  namentlich  der  Geschichte  der  Psychologie:  das 
Wesen  der  ästhet.  Anschauung,  Berl.  1875.  Ueb.  das  Bewusstsein  als  Schranke 
der  Naturerkenntniss,  Gotha  1879. 

H.  Spitta  (Prof.  in  Tübingen),  die  Schlaf-  und  Traumzustände  d.  menschl. 
Seele,  Tüb.  1878,  2.  Aufl.  1882.  Die  Willensbestimmungen  u.  ihr  Yerh.  z.  d.  im- 
pulsiven Handlung.,  Tüb.  1881.  Kinleit.  in  d.  Psychol.  als  Wissensch.,  Freibg. 
i.  Br  1886. 

Heymann  Steinthal  (geb.  1823,  seit  1863  Prof.  in  Berlin),  Grammatik, 
Logik  u.  Psychol.,  Berl.  1855.  Der  Ursprung  der  Sprache,  3.  Aufl.,  Berl.  1877. 
Gesch.  der  Sprachwiss.  bei  d.  Griechen  u.  Römern  m.  besond.  Rücks.  auf  d.  Logik, 
Berlin  1863-64.  Abriss  der  Sprachw.  L  Thl.:  d.  Sprache  im  Allgem.  Eiul. 
i.  d.  Psychol.  u.  Sprachw.,  ebd.  1871,  2.  Aufl.  1881.  Gesammelte  kleine  Schriften. 
I.  Sprachwissenschaft!.  Abhandlungen  und  Recensionen,  Berl.  1880.  Allgemeine 
Ethik,  Berl.  1886.  (S.  dazu  Gust.  Glogau,  SU  Ethik,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  pb. 
Kr  .  88,  1886,  S.  82—123.)  Seit  1859  giebt  Steiuthal  mit  Lazarus  die  oben  er- 
wähnte Zeitschrift  heraus.  Von  Steinthal  wird  der  Process  der  Apperception  im 
herbartschen  Sinne  besouders  betont  und  in  seiner  Bedeutung  ausgeführt.  In  seiner 
Ethik  weicht  er  vielfach  von  Herbart  ab.  Die  fünf  praktischen  Ideen,  betreffs  deren 
Vollständigkeit  Steinthal  selbst  im  Zweifel  ist,  siud  die  der  sittlichen  Persönlich- 
keit, des  Wohlwollens,  der  Vereinigung,  des  Rechts  und  der  Vollkommenheit.  Als 
specieller  Anhänger  Steinthals  ist  zu  bezeichnen  G.  G.  Glogau  (geb.  1844,  Prof. 
in  Kiel),  Steinthals  psychologische  Formeln  zusammenhängend  entwickelt  Berl. 
1876.  Zwei  wissenschaftliche  Vorträge  üb.  die  Grundprobleme  der  Psychologie, 
Halle  1877.  Abriss  der  philosoph.  Grundwissenschftn.,  I.  Tu. :  die  Form  und  die 
Bewegungsgesetze  des  Geistes,  Breslau  1880.  II.  Th.:  das  Wesen  und  die  Grund- 
formen des  bcwussteu  Geistes  (Erkenntuisstheorie  und  Ideenl.),  1888.  Gruudriss  der 
Psychol.,  Breslau  1884. 

Stephan,  de  justi  notioue  quam  proposuit  Herb.,  diss.  inaug.,  Gott.  1844. 
Ueber  Wiss.  u.  Glaub.,  skeptische  Betrachtgn.,  Hannover  1846.  Ueb.  d.  Verhältn. 
d.  Naturrechts  zur  Ethik  u.  z.  posit.  Recht,  Gött.  1854. 

E.  Stiedenroth,  Theorie  d.  Wissens,  Gött.  1819.  Psychol.  zur  Erklärg. 
der  Seelenerscheiuungen,  Berl.  1824—25.  (Halbherbartianiscb.) 

K.  V.  Stoy  (1815—1885,  lange  Jahre  Prof.  in  Jena),  Encyclopädie,  Methodo- 
logie und  Litteratur  der  Pädagogik,  Lpz.  1861.  Philos.  Propädeutik,  Lpz.  1869  -  70 
(1.  Log, 2.  Psychol.).  Die  Psychol.  in  gedrängt.  Darstellg.  ebd.  1871.  S.  R.  Volkmar, 
Stoys  Leb.  u.  Wirk.,  Dresd.  1885. 

Ludw.  Strümpell  (geb.  1812.  lange  Zeit  Professor  der  Philosophie  in 
Dorpat,  jetzt  in  Leipzig),  de  methodo  philosophica,  Regiomonti  1833.  Erläute- 
rungen zu  Herbarts  Philos.,  Gött.  1834.  Die  Hauptpunkte  d.  herbartschen 
Metaphysik  kritisch  beleuchtet,  Brauuschweig  1840  De  summi  boni  notioue 
qualem  proposuit  Schleiermacherus,  Dorpat  1843.  Die  Pädag.  der  Philosophen 
Kant,  Fichte,  Herbart,  Braunschweig  1843.  Vorschule  d.  Etlük,  Mitau  1845. 
Entwurf  d.  Logik,  Mitau  u  Lpz.  1846.  Die  Universität  u.  das  Universitätsstudium, 
Mitau  1848.  Gesch.  d.  griech.  Philos. ,  zur  Uebersicht,  Repetition  u.  Orien- 
Ueberweg-lleinze,  Unindris«  III.  7.  Aufl.  29 


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450 


§  40.    Anhauger  Herbarts. 


tirung.  Erste  Abth.:  Geach.  der  theoret.  Philos.  d.  Griecheu,  Lpz.  1854.  Zweit« 
Abth.,  1.  Abschn  :  Gesch.  d.  prakt.  Philos.  d.  Gr.  vor  Aristoteles,  ebd.  1861  Der 
Vortrag  d.  Logik  u.  sein  didakt.  Werth  für  die  Universitätsstudien,  mit  besond. 
Rucks,  auf  die  Naturwissenschaften  (aus  der  Päd.  Revue  bes.  abg.),  Berl.  1858. 
Erziehungsfragen,  Lpz.  1869.  Der  Causalitätsbegriff  und  sein  metaphys.  Gebrauch 
in  d.  Naturwissensch.,  Lpz.  1871.  Die  zeitl.  Aufeinanderfolge  der  Gedanken  (in 
d.  virchow-holtzendorffsch.  Sammig.  Heft  143),  Berl.  1872.  Die  Natur  u.  Entstehung 
der  Träume,  Lpz.  1874.  Die  Geisteskräfte  der  Menschen  verglichen  mit  denen  der 
Thiere,  Lpz.  1878.  Psycholog.  Pädagogik.  Lpz.  1879.  Grundriss  der  Logik  od. 
der  L.  vom  wissensehaftl.  Denken,  Lpz.  1881.  Grundriss  der  Psychologie,  Lpz. 
1884.  Die  Einleit  in  d.  Philosophie  vom  Standpunkte  der  Gesch.  d.  Philos., 
Lpz-  1886.  Strümpell  ist  als  gründlicher  Kenner  der  Geschichte  der  Philosophie 
nicht  einseitiger  Herbartianer,  weicht  vielmehr  in  manchen  Punkten  von  Herbarts 
Lehre  ab  und  ist  durch  Leibniz  und  Kant  vielfach  beeinflusst.  Zwar  trennt  er 
scharf  zwischen  theoretischer  und  praktischer  Philosophie,  sieht  aber  in  der 
Religionsphilosophie  die  Vereinigung  aller  Theile  der  Philosophie,  indem  nach  ihm 
das  erlangte  theoretische,  ethische  und  ästhetische  Wissen  sich  in  der  Idee  Gottes 
zu  einem  einheitlichen  System  der  Erkenn tiüss  so  verknüpft,  dass  neben  dem 
logischen,  sittlichen  und  ästhetischen  auch  das  religiöse  Veruunftbedürfniss  befrie- 
digt wird.  Bei  einem  Widerstreit  der  verschiedenen  Gedankengruppeu  muss  zu 
Guusten  der  ethischen  und  theologischen  entschieden  werden,  da  die  theoretischen 
Erkenntnisse  nur  problematisch  sind  und  im  Werthe  den  ethischen  und  religiösen 
nachstehen.  S.  L.  Credaro,  Gli  scritti  e  la  filos.  di  L.  Str.,  in:  Riv.  It.  di  HL,  II,  8. 

Georg  Friedr.  Taute  (gest.  als  ausserordentl.  Prof.  d.  Philos.  in  Königs- 
berg 1862),  die  Religionsphilos.  vom  Standpunkte  der  Philos.  Herbarts.  I.  Theil: 
allgem.  Religionsphilos.,  Elbing  1840.  II.  Theil:  Ph.  des  Christenth.,  Lpz.  1852. 
Die  Wissenschaften  u.  Universitätsstudien  den  Zeitbewegungeu  gegenüber,  Rede, 
Königsb.  1848.  Der  Spinozismus  als  unendl.  Revolutionsprincip  u.  sein  Gegensatz, 
Rede  ebd.  1848.  Pädagog.  Gutachten  üb.  die  Verhandlungen  der  Berliner  Confe- 
renz  f.  höh.  Schulwesen,  Königsb.  1849.  Auf  ein  religiöses  Erkennen  müssen  wir 
verzichten  und  uns  zurückziehen  auf  einen  religiösen  Glauben,  der  nur  durch  die 
herbartsche  Philosophie  speculativ  begründet  werden  kann. 

G.  Tepe,  die  praktisch.  Ideen  nach  Herbart,  im  Osterprogr.  des  Emdener 
Gyran.  1854,  auch  beaond.  Leer  u.  Emden  1861.  Ueb.  Freih.  und  Unfreih.  des 
menschl.  Wollens,  Bremen  1861.   Schiller  und  die  praktisch.  Ideen.  Emden  1863. 

C.  A.  Thilo,  d.  Wisseuscbaftlk.  d.  modernen  specul.  Theol.  in  ihr.  Principien 
beleucht,  Lpz.  1851.  Die  Stahlsche  Rechts-  und  Staatslehre  in  ihr.  Unwissen- 
schaftlk.  dargethan,  in  d.  krit.  Zeitschr.  f.  d.  gesummte  Rechtswiss.,  Heidelb.  1857, 
Bd.  IV.,  S.  385—424.  Die  Grundirrthüm.  d.  Idealismus,  in  ihr.  Entwickig.  von 
Kant  bis  Hegel,  in  der  Zeitschr.  f.  ex.  Ph.:  Bd.  I,  u.  viele  andere  Abh.  in  eben 
dieser  Zeitschrift,  namentlich  über  religionsphilosophiache  Ansichten  anderer 
Philosophen:  Die  theologisirende  Rechts-  u.  Staatelehre,  m.  besond.  Rücks.  auf  d. 
Rechtsansichten  Stahls,  Lpz.  1861.  Ueb.  Schopeuhauers  eth.  Atheism.,  Lpz.  1868. 
Die  Geschichte  der  Phil.  s.  Grundr.  I,  7.  Aufl.,  S.  12. 

Carl  Thomas  (gest.  1873),  Spinozae  syst  phil.  delin.,  Regiom.  1835.  Spinoza 
als  Metaphysiker,  Königsb.  1840.  Spinozas  Individualismus  u.  Pantheismus,  ebd. 
1848.  Die  Theorie  des  Verkehrs,  erste  Abth.:  die  Grundbegriffe  der  Güterlehre, 
Berl.  1841.  Ueber  ihn  s.  seine  eigene  Sehr. :  Altes  und  Neues.  Meine  Habilitation 
und  mein  Austritt  aus  der  Privatdoceutsch.  a.  d.  Kgl.  Univ.  Königsberg,  Frb.  i. 
Br.  1863. 


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§  40.    Anhänger  Herbart*. 


451 


C.  A.  D.  Unterholzner,  jurist.  Abbdlgn.,  Münch.  1810.  (Die  4.  Abh.  ent- 
wickelt d.  philos.  Grundsätze  eines  Strafsyst.  m.  besond.  Rucks,  auf  Herbart» 
prakt.  Pbil.) 

Th.  Vogt,  Form  u.  Gehalt  in  d.  Aesthetik.  Wien  1865.  Lotte  Kritik  d. 
herbartsch.  Ethik  u.  Herb.s  Entgegng.  (Aus  Sitzungsber.  d.  k.  Ak.  d.  W.) 
Wien  1874. 

Wilh.  Fridolin  Vol kniann,  später  Volkmann  Ritter  von  Volkmar  (geb.  1822 
zu  Prag,  gest.  1877  als  Professor  der  Philos.  in  Prag),  d.  L.  v.  d.  Elementen  der 
Psychol.  als  Wissensch.,  Prag  1850,  Grundrisa  d.  Psychol.  v.  Stdpkte.  d.  phii. 
Realism.  aus  u.  nach  genet.  Methode,  Halle  1856.  Lehrbuch  der  Psychologie 
(zweite,  sehr  vermehrte  Aufl.  des  vorig.),  2  Bde.,  Göthen  1875,  76,  3.  Aufl.,  1884, 
1885.  Die  Grundzüge  d.  aristotelischen  Psychol.  aus  den  Abb.  der  K.  Böhm.  Ges. 
der  Wiss.,  V.  Folge,  X.  Bd.,  Prag  1858.  üeber  die  Principien  u.  Methoden  d. 
Psychol.  in:  Zeitschr.  für  ex.  Philos.  II,  1861,  S.  33-71. 

J.  H.  W.  Waitz,  die  Hauptlehren  der  Logik,  Erfurt  1840. 

Theod.  Waitz  (geb.  1821  in  Gotha,  gest.  1884  als  ausserordentl.  Prof.  d. 
Philos.  in  Marburg).  Ausser  seiner  vorzüglichen  Ausgabe  des  aristotelisch. 
Organons  sind  zu  erwähnen:  Grundlegung  d.  Psychol.,  Hamb.  u.  Gotha  1846, 
2.  Ausg.  Lpz.  1877.  Lehrb.  d.  Psychol.  als  Naturwiss.,  Braunschweig  1849. 
Allgem.  Pädag.,  ebd.  1852,  zweite  verm.  Aufl.  mit  einer  Einleitg.  über  Waitz' 
prakt.  Phil,  herausg.  v.  Otto  Willmann,  ebd.  1875.  Der  Stand  der  Parteien  auf 
d.  Gebiete  der  Psychol.  in  d.  rAllg.  Monatsschrift  f.  Wiss.  u.  Littr.",  ebd.  1852, 
Oct.-  u.  Nov.-Heft  und  1853,  Augustheft.  Anthropol.  d.  Naturvolk.,  6  Thle., 
Lpz.  1859  ff.  (m.  Benutzg.  der  Vorarb.  d.  Verf.  fortg.  v.  G.  Gerland),  2.  Ausg.  v. 
G.  Gerland,  Lpz.  1877  ff.  Obgleich  sich  Waitz  im  Ganzen  zu  Herbart  bekennt, 
weicht  er  doch  in  wichtigen  Punkten  von  ihm  ab,  namentlich  darin,  dass  er  die 
Psychologie  zur  Grundlage  der  Philosophie  machte,  dass  er  die  Psychologie  auf 
naturwissenschaftlichen  Boden  stellte  und  in  ihr  die  .Störungen  und  Selbsterhaltungeu 
nicht  annahm 

W.  Wehrenpfennig,  die  Verschiedenheit  der  ethisch.  Principien  bei  den 
Helleneu  u.  ihre  Erklärungsgründe,  Progr.  d.  joachimsthalschen  Gymn.,  Berl.  1856. 

0.  Will  manu,  üb.  d.  Dunkelheit  d.  .allgem.  Pädagogik"  Herbarts,  in 
Zillers  Jahrb.  d.  Vereins  f.  wissensch.  Pädagog.,  5.  Jahrg.  1873,  S.  124—150. 

Theod.  Wittstein,  neue  Behdlg.  des  math.-psychol.  Problems  v.  d.  Bewe- 
gung einfacher  Vorstellungen,  welche  nach  einander  in  die  Seele  eintreten,  Han- 
nover 1845.  Zur  Grundleg.  der  math.  Psychol.,  Z.  f.  ex.  Philos.  VIII,  1869, 
S.  341 — 358.  Wittstein  stellt  neben  die  herbartsche  und  die  von  A.  Lange  (s.  o. 
S.  402)  als  die  wahre  Consequenz  der  herbartschen  Principien  bezeichnete  Hypo- 
these über  die  gegenseitige  Hemmung  der  Vorstellungen  eine  dritte,  wonach  bei 

b*  a* 

vollem  Gegensatz  zwischeu  a  und  b  von  a  gehemmt  wird  a  _j_     von  a  aDer  u  _^  ^ 

.  a*-Hab  —  b*      ,        ,       .,  .  b*  ■+■  ab  —  a*     ,  ... 

also  von  a  restirt    -     ,  .  —  und  von  b  restirt  ,— r  ;  demgemass  kann 

u  +  b  a  -I-  b 

auch  schon  von  bloss  zwei  Vorstellungen,  die  in  vollem  (ebenso  auch  von  zwei 

Vorstellungen,  die  in  geringerem)  Gegensatz  sind,  die  stärkere  die  schwächere 

ganz  aus  dem  Bewusstsein  verdrängen;  bei  vollem  Gegensatz  ergiebt  sich  für  die 

schwächere  Vorstellung  (b)  der  Schwellenwerth  'ja  (j/  5  —  1)  =  a  .  0,618. 

Tuiscou  Ziller  (eeb.  1817,  gest.  d.  20.  Apr.  1882  als  Prof.  der  Philos.  in 

Lpz.),  über  die  von  Puchta  der  Darstellung  des  romischen  Rechts  zu  Grunde 

gelegten  rechtsphiloa.  Ansichten,  Lpz.  1853.   Einl.  In  die  allgemeine  Pädagog., 

Lpz.  1856.    Die  Regierung  der  Kinder,  Lpz.  1857.    Gründl,  zur  Lehre  vom 

29* 


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452 


§  40.    Anhänger  Herbarts. 


erziehenden  Unterricht,  Lpz.  1866  Herbartiscbe  Reliquien,  ebd  1871.  Allgemeine 
philosophische  Ethik,  Langensalza  1880,  2.  Aufl.  1886.  Hat  seit  1869  das  wJahr- 
buch  d.  Vereins  f.  wissenschaftl.  Pädagogik"  herausgegeben.  Ueb.  ihn  a.:  Pädagog. 
Korrespondenzblatt,  1882,  No  3,  4,  5.  Ziller  hat  vor  allen  den  orthodoxen 
Herbartianismus  vertreten  und  mit  grossem  Ernst  und  Erfolg  auf  dem  päda- 
gogischen Gebiete  theoretisch  und  praktisch  gearbeitet 

Rob.  Zimmermann  (geb.  1824  in  Prag,  seit  1861  Prof.  d.  Philos.  in  Wien), 
Leibniz'  Monadologie,  deutsch  m.  einer  Abh.  üb.  L.s  und  Herbarts  Theorie  d. 
wirkt.  Geschehens,  Wien  1847.   Leibniz  u  Herbart,  e.  Vergleichg,  ihrer  Monado- 
logien, Wien  1849.     Ueber  Bolzanos   wiss.  (  harakt.  u.  philos.  Bedeutg ,  in 
d.  Sitzungsber.  d.  Akad.  d.  WiBs.  in  Wien,  philos.-hist.  Cl.,  Oct.  1849.    Ueber  einige 
log.  Fehler  d.  spinozisüsch.  Ethik,  ebd.  Oct.  1850  und  April  1851.    Der  Cardinal 
Nicolaus  Cusanus  als  Vorläufer  Leibnizens,  ebd.  April  1852.   Ueber  Leibnizens 
Conceptualismus,  ebd.  April  1854.    Leibniz  u.  Lessing,  e.  Studie,  ebd.  Mai  1855. 
Das  Rechtsprinzip  bei  Leibniz,  Wien  1852.    Philos.  Propädeutik,  ebd.  1852.  3.  Aufl. 
ebd.  1867  (Prolegomena,  Logik,  empir.  Psychol.,  zur  Einleitung  in  die  Philos.). 
Ueber  das  Tragische  u.  die  Tragödie,  Wien  1856.    Gesch.  d.  Acsthetik  als  philos. 
Wissensch.,  Wien  185a    Schiller  als  Denker,  ein  Vortr.  z.  Feier  s.  100jährigen 
Geburtstages  in  den  Abh.  d.  K.  Böhm.  Gesellsch.  der  Wissensch.,  V.  Folge,  XI.  Bd., 
Prag  1859.    Philos.  u.  Erfahrg.,  eine  Antrittsrede,  Wien  1861.  Allgem.  Aesthetik 
als  Formwissensch,  Wien  1865  (mit  d.  Gesch.  der  Aesth.  zus.  u.  d.  T.  «Aesthetik*, 
hist-krit  und  syst  Theil).    Studien  und  Kritiken  zur  Philos.  und  Aesth.,  2  Bde., 
Wien  1870.  Anthroposophie  im  Umriss,  Entwurf  eines  Systems  idealer  Weltansicht 
auf  monistischer  Gründl.,  Wien  1882.   Ausserdem  sind  von  Z  noch  viele  auf  die 
Gesch.  d.  Phil,  bezügliche  Abhandlungen  erschienen.    Zimmermann  will  in  seiner 
letzten  Schrift  Herbartianer  vom  J.  1881  sein.    Er  hält  allerdings  noch  an  den 
Realen  Herbarts  fest,  kritisirt  aber  die  Theorie  der  Selbsterhaltungen  als  des  wirk- 
lichen Geschehens  und  die  Annahme  der  einfachen  Empfindungen.    Die  Lehren  von 
den  Realen  weiss  er  geschickt  mit  der  Atomistik  in  Verbindung  zu  setzen.  Ueber 
Zimmermanns  metaphys.  Ansicht  s.  O.  Flügel,  in:  Ztschr.  f.  exakte  Phil.  XH,  1. 
1883,  S.  266-316. 

Von  logisch-metaphysischen  Betrachtungen  ausgehend,  die  den  herbartscheu 
verwandt  sind,  gelangt  zu  einer  der  parmenideischen  nahe  stehenden  Doctrin 
A.  Spir,  die  Wahrh.,  Lpz.  1867.  Andeutungen  zu  einem  Widerspruchs].  Denken, 
ebd.  1868.  Forschung  nach  d.  Gewissh.  in  der  Erkenntniss  der  Wirklichk.,  Lpz. 
1668.  Kurze  Darat  der  Grundzüge  einer  philos.  Anschauungsweise,  ebd.  1869.  Er- 
örterung einer  phil.  Grundeinsicht,  ebd.  1869.  Kleine  Schriften,  Lpz.  1870.  Denken 
u.  Wirklichk.,  Versuch  einer  Erneuerg.  d.  kritisch.  Philos.,  Lpz.  1873,  2  Aufl.  1877. 
Moralität  u.  Relig ,  ebd.  1874,  2.  Aufl.  1878.  Empirie  u.  Philos.,  Lpz.  1876.  Vier 
Grundfragen,  Lpz.  1880.  Studien,  Lpz.  1883.  Gesammelte  Schriften,  3  Bde.,  Leipzig 
1883 — 1885.  Als  oberster  unmittelbar  gewisser  Grundsatz,  der  nicht  aus  der  Er- 
fahrung geschöpft  ist,  wird  von  Spir  der  Satz  der  Ideutität  angesehen,  formulirt: 
lu  seinem  eigenen  Wesen  ist  jedes  Ding  mit  sich  selbst  identisch.  Eine  allgemeine 
Prämisse  aus  der  Erfahrung  aber  ist  die,  dass  die  Erfahrung  keinen  eiuzigen  Gegen- 
htaud  enthält,  der  mit  Bich  selbst  vollkommen  identisch  wäre.  Als  allgemeine  Fol- 
gerungen zieht  er  daraus,  dass  der  Satz  der  Identität  nicht  aus  der  Erfahrung 
geschöpft  ist,  vielmehr  einen  Begriff  vom  Wesen  der  Dinge  ausdrückt,  welcher 
dem  Denken  a  priori  eigen  ist,  ferner,  das*  das  eigene  Wesen  der  Dinge  jenseits 
der  Erfahrung  liegt,  und  endlich,  dass  die  Erfahrung  die  Dinge  nicht  so  darstellt 
wie  sie  an  sich,  ihrem  eigenen  Wesen  nach,  beschaffen  sind,  oder  dass  die  Erfah- 
rung Elemente  enthält,  welche  zu  dem  eigeucn  Wesen  der  Dinge  nicht  gehören. 


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§  41.   Anhänger  Schleiermachers,  Schopenhauers,  ßenekcs.  453 


Als  specielle  Folgerungen  ergebeu  sich  nach  der  ontologischen  Seite,  dass  es  in 
Wirklichkeit  nur  Eine  Substanz  giebt,  daas  das  eigene  Wesen  der  Dinge  unbedingt 
ist,  keine  Relativität  in  sich  enthalten  kann,  dass  es  beharrlich,  unveränderlich  ist, 
dass  es  auch  selig  und  vollkommen  ist.  Vgl.  Spir  u.  d.  Bedeut.  seiner  Philos.  f. 
d.  Gegenw.,  Vortr.,  Lpz.  1881. 

Mit  der  herbartschen  Aesthetik  verwandt  ist  d.  zeisingsche.  Ad.  Zeising, 
ästhet.  Forschgn.,  Frank  f.  1856.  (Die  ästhetische  Bedeutung  des  sog.  goldenen 
Schnitts,  welchem  gemäss  eine  Linie,  deren  Länge  =  1,  in  die  beiden  Abschnitte 
v  und  m  nach  dem  Verhältniss  u  :  m  =  m  :  1  getheilt  wird,  wo  m  =  1 «  (^5—1) 
und  u  ms  1  —  m  =  1  ■>  (3 — \b),  findet  Zeising  darin,  dass  derselbe  die  voll- 
kommenste Vermittelung  zwischen  den  beiden  extremen  Verhältnissen  der  absoluten 
Gleichheit  1  :  1  und  der  absoluten  Verschiedenheit  1  :  0  sei,  oder  zwischen  der 
ausdruckslosen  Symmetrie  und  dem  maasslosen  Ausdruck,  der  starren  Regelmässig- 
keit und  der  ungebundenen  Freiheit.)  Relig.  u.  Wissenschaft,  Staat  und  Kirche. 
Wien  1873. 

Nicht  sehr  fern  steht  der  herbartschen  Richtung  F.  A.  v.  Hartsen,  Me- 
thode der  wiss  Darst,  Halle  1868.  Grundlegung  von  Aesthetik,  Moral  und  Er- 
ziehung, ebd.  1869.  Untersuchgu.  über  Psych.,  Lpz.  1869.  üntersuchgn.  über  Logik, 
ebd.  1869.  Grundzüge  der  Wiss.  des  Glücks,  Halle  1869.  Grundzüge  der  Logik, 
Berl.  1873  (franz.  Paris  1872).  Die  Anfänge  der  Lebensweish.,  Lpz.  1873.  Grund- 
züge der  Psychol.,  Berl.  1874,  2.  Aufl.,  Halle  1877  (franz.  Paris  1873).  Die  Moral 
des  Pessimism.,  Nordhausen  1874.  Grundriss  d.  Philos.,  ebd.  1875.  Vermischte 
philoa.  Abhandlungen,  Heidelb.  1876.  Die  Philosophie  als  Wissenschaft,  ebd.  1876. 
Die  philosophischen  Grundlagen  der  Chemie,  Heidelb  1876. 

§  41.  Ausser  Hegel,  Sendling  und  Herbart  haben  nachhaltigeren 
Eiufluss  auf  die  Eutwickelung  der  Philosophie  ausgeübt  Schleie  r- 
macher,  Schopenhauer,  Beneke.  Zu  denen,  deren  Richtung 
Schleiermacher  namentlich  bestimmt  hat,  gehören  die  vorzüglich  als 
Historiker  der  Philosophie  bedeutenden  Chr.  Aug.  Brandis  und 
Heinr.  Ritter.  Ebenso  sind  von  Schleiermacher,  freilich  auch  theil- 
weise  von  Hegel,  angeregt  die  Philosophen  Braniss,  Romang,  George, 
sowie  der  speculative  Theologe  Rothe  u.  Andere.  Unter  Schopen- 
hauers Anhängern  möchte  Jul.  Frauen  st ädt  als  der  selbständigste 
und  bedeutendste  zu  bezeichnen  sein.  Doch  hat  sich  Schopenhauers 
Einfluss  vielfach,  besonders  nach  der  pessimistischen  Seite  hin.  be- 
merklich gemacht.  Beneke  hat  vorzüglich  auf  Pädagogen  eingewirkt, 
jedoch  haben  sich  auch  Philosophen,  wenigstens  theilweise,  an  ihn 
angeschlossen,  so  Fortlage  und  Ueberweg. 

Die  auf  die  Geschichte  der  Philosophie  bezüglichen  umfassenden  Werke  von 
Brandis  und  Ritter  sind  früher  erwähnt.  Auf  Brandis'  (geb.  1790,  gest.  1867 
als  Prof.  in  Bonn)  eigene  philosophische  Ansichten  haben  neben  Schleiermacher 
auch  Jacobi  und  Schelling  eingewirkt.  Vgl.  über  ihn  A.  Trendelenburg,  zur  Er- 
innerung an  Ch.  A.  Br.  in  den  Abhandlungen  d.  Berl.  Akad.,  auch  separat,  Berl. 
1868.  Ritter  (geb.  1791,  gest.  1869  als  Prof.  in  Göttingen)  hat  neben  seinen  ge- 
schichtlichen Werken  besonders  noch  verfasst:  Ueber  d.  Bildung  d.  Philosophen 
durch  d.  Gesch.  d.  Philos.,  Berl.  1817.    Vorlesungen  zur  Einleit.  in  d.  Logik, 


454  §  41.    Anhänger  Schleiermachers,  Schopenhauers,  Benekes. 


Berl.  1823.  Abriss  der  philos.  Logik,  ebd.  1824,  2.  Aufl.  1829.  Die  Halbkautianer 
und  der  Pantheismus,  Berl.  1827.  System  der  Logik  und  MetaphyB.,  Güttingen 
1856.  Encyclopädie  d.  philo».  Wissenschaft,  3  Bde.,  Gottingen  1862—64.  Ueber 
die  Unsterblichkeit,  2.  Aufl.,  Lpz.  1866.  Ernest  Renan  über  d.  Naturwissenschaft 
u.  d.  Gesch.  mit  d.  Randbemerkungen  e.  deutsch.  Philos.,  Gotha  1865.  Philos. 
Paradoxa,  Lpz.  1867.  Ueber  das  Böse  u.  s.  Folgen,  hrsg.  v.  D.  Peipers,  Gotha 
1869,  2.  Ausg.  1876.  Sein  philosophisches  Streben  geht  auf  eine  chriatlich-theistische 
Weltanschauung,  indem  er  auch  den  Wunderbegriff  und  die  Wirklichkeit  der  Offen- 
barung vertheidigt. 

Jul.  Brauiss  (geb.  1792,  gest.  1873  als  Prof.  in  Breslau),  die  Logik  in  ihrem 
Verh.  z.  Philos.  geschichtl.  betrachtet,  Berl.  1823.  Ueber  Schleiermachere  Glau- 
bensl.,  Berl.  1824.  Grundriss  d.  Logik,  Breslau  1829.  System  d.  Metaph.,  Breslau 
1834.  Gesch.  d.  Philos.  seit  Kant  (vielmehr:  bis  zum  Mittelalter),  Breslau  1842. 
Die  wisBeDschaftl.  Aufg.  der  Gegenw.,  Breslau  1858.  Ueber  die  Würde  der  Philos. 
u.  ihr  Recht  im  Leben  der  Zeit,  Berl.  1854.  Ueber  atomistische  und  dynamische 
Naturauffassung,  in:  Abh.  d.  hist-philos.  Gesellsch.  z.  Breslau,  Bd.  I,  1867.  Br. 
verbindet  mit  schleiermacherschen  und  hegelschen  Ansichten  auch  Anschauungen 
von  Steffens.  Vgl.  C.  A.  Kletke,  die  geschicbts-philos.  Weltansch.  von  Br.,  Breslau 
1849.  Einen  Einfluss  der  Speculation  v.  Braniss  scheint  die  Schrift  zu  bekunden: 
Jos.  Jäkel,  der  Satz  des  zureichenden  Grundes,  Breslau  1868. 

J.  P.  Romang,  Willensfreiheit  und  Detcrrainism.,  Bern  1835.  Syst.  d.  natürl. 
Tbeol.,  Zürich  1841.  Der  neueste  Pantheismus,  Bonn  1848.  Ueber  Unglauben, 
Pietisra.  n.  Wissensch.,  Zürich  1859.  Ueber  wichtige  Fragen  der  Relig.,  Heidel- 
berg 1870. 

Franz  Vorländer  (geb.  1806,  gest.  1867  als  Prof.  iu  Marburg),  Grundlinien 
einer  organischen  Wissensch,  d.  menschl.  Seele,  Berl.  1841.  Wissensch,  d.  Er- 
kenntnis», 1847.  Schleiermachers  Sittenl.  ausführlich  dargestellt  u.  beurtheilt,  1851. 
Gesch.  d.  philos.  Moral,  Rechts-  u.  Staatsl.  der  Eugländer  u.  Franzosen,  Marburg 
1865  (s.  o.  S.  2). 

Ad.  Helfferich,  die  Metaphys.  als  Grundwissenschaft,  Hamb.  1846.  Der 
Organismus  der  Wissensch,  u.  d.  Philos.  der  Gesch.,  Lpz.  1856.  Die  Schule  des 
Willens,  Berlin  1858. 

Leop.  George  (geb.  1811,  gest.  1874  als  Prof.  in  Greifswald),  Mythus  u. 
Sage,  Berl.  1837.  Ueber  Princip  u.  Methode  d.  Philos.  mit  Rücksicht  auf  Hegel 
u.  Schleiermacher,  Berl.  1842.  Syst.  der  Metaph.,  Berl.  1844.  Die  füuf  Sinne, 
Berl.  1846.  Lehrhuch  der  Psychol.,  Berl.  1854.  Die  Logik  als  Wissenschaftslehre, 
Berl.  1868. 

Rieh.  Rothe  (1799-1.S67),  die  Anfänge  der  christl.  Kirche  und  ihrer  Ver- 
fassung, Wittenb.  1837.  Theol.  Ethik,  Wittenb.  1845—1848,  2.  neuausgearb.  Aufl., 
ebd.  1867—1871.  Vgl.  über  ihn  Friedr.  Nippold,  R.  Rothe,  Bd.  1-2,  Wittenb. 
1873,  74. 

Einen  wesentlichen  Einfluss  Schleiermachers  bekundet  u.  A.  auch  Carl 
Schwarz,  der  Verfasser  der  Schrift:  zur  Gesch.  der  neuest  Theol.,  3.  Aufl.,  Lpz. 
1864,  wie  auch  des  bereits  S.  360  citirten  Vortrags  über  Schleiermacher  und  an- 
derer Schriften.  Auch  auf  J.  H.  Fichte,  Chr.  Herrn.  Weisse  u.  A.  (s.  o.)  hat  neben 
Hegel  besonders  Schleiermacher  Einfluss  geübt.  Im  schleiermacherschen  Gedanken- 
kreis steht  grossentheils  auch  Felix  Eberty,  Versuche  auf  dem  Gebiete  des  Natur- 
rechts, Lpz.  1852:  über  Gut  und  Böse,  2  Vorträge,  Berl.  1855.  Wie  viel  Aug. 
Boeckh  seinem  I^ehrer  und  Freunde  Schleiermacher  verdankt,  zeigt  Bratuscheck 
in  dem  Aufsatze:  -Boeckh  als  Platoniker",  in:  Philos.  Monaten.,  Bd.  I,  1868, 
S.  257  ff. 


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§  41.    Anhänger  Schleiermachers,  Schopenhauers,  Benekes. 


4o5 


Bei  den  Widersprüchen,  die  sich  in  Schopenhauers  Philosophie  finden,  ist 
es  erklärlich,  dass  nur  Wenige  dem  Ganzen  seiner  Philosophie  anhängen.  Da- 
gegen hat  er  anregend  gewirkt  theils  auf  erkenntniss-theoretischem  Gebiete,  theils 
auf  ethischem  und  ästhetischem.  Auch  Richard  Wagner  theilt  in  seinen  letzten 
Schriften,  namentlich  in  .Religion  und  Kunst",  den  Standpunkt  Schopenhauers. 
Schon  die  in  seiner  Trilogie  herrschende  Tendenz  musste  ihn  auf  diesen  hinweisen. 
Die  Frage  des  Pessimismus  ist  durch  Schopenhauer  besonders  aufgekommen  und 
in  letzter  Zeit  vielfach  behandelt  worden.  Die  Spuren  des  schopenhuuerschen 
Peseimismns  sind  weniger  auf  philosophischem  als  auf  dem  belletristischen  Gebiete 
zu  suchen. 

l'eber  «1.  schopenhauersche  Schule  s.  verschiedene  Aufsätze  v.  Ed.  v.  Hartmann, 
z.  B.  in  d.  Gegenwart,  1883,  S.  '24  ff.,  sodann  das  nachher  noch  zu  nennende  Werk 
v.  C.  Peters,  der  ausführlicher  Frauenstädt,  Noire,  Bilharz,  Bahnsen,  v.  Hartmann 
behandelt.  Vgl.  auch  O.  Plumaeher,  zwei  Individualisten  der  schopenhauerschen  Sehnte 
(Mainländer,  Heilenbach),  Wien  1881. 

Julius  Frauenstädt  (1813 — 1878)  ist  von  einem  dem  Hegelianismus  näher 
liegenden  Standpunkte  zur  schopenhauerschen  Doctrin  übergegangen,  hat  sich  aber 
auch  dieser  gegenüber  die  Selbständigkeit  gewahrt,  indem  er  namentlich  in  ethischen 
Fragen  von  ihr  abweicht.  Kr  bekennt  sich  allerdings  zum  Monismus,  statnirt  aber 
innerhalb  desselben  einen  „objeetiv- phänomenalen  Individualismus*.  Vom  sub- 
jectiven  Idealismus  Schopenhauers  macht  er  sich  los  und  auch  den  consequenten 
Pessimismus  verwirft  er.  Vgl.  seine  .Neuen  Briefe  über  die  schopenhauersche 
Philosophie",  Lpz.  1876.  Durch  die  .Briefe  über  die  schopenhauersche  Philosophie", 
Lpz.  1854,  hat  er  besonders  zur  Verbreitung  und  Popularisirung  der  Lehre  Schopen- 
hauers beigetragen.  Seine  Schriften  sind :  Die  Freiheit  des  Menschen  und  die  Per- 
sönlichkeit Gottes  (nebst  einem  Briefe  des  Dr.  Gabler  an  den  Verf.),  Berl.  1838. 
Die  Menschwerdung  Gottes  nach  ihrer  Möglichkeit,  Wirklichkeit  und  Notwendig- 
keit mit  Rücksicht  auf  Strauss,  Sehaller  u.  Göschel,  Berl.  1839.  Studien  u.  Kritiken 
zur  Theol.  u.  Philos.,  Berl.  1840.  Ueber  das  wahre  Verhältn.  der  Vernunft  zur 
Offenbarung,  Darmst.  1848.  Aesthetische  Fragen,  Dessau  1853.  Auf  schopen- 
hauerschem  Standpunkt  hat  Frauenstädt  ferner  Schriften  über  die  Naturwissensch, 
in  ihrem  Einfluss  auf  Poesie,  Religion,  Moral  und  Philosophie,  Lpz.  1855,  über  den 
Materiniismus,  ebd.  1856,  Briefe  über  die  natürliche  Religion,  Lpz.  1858,  das  sittl. 
Leben,  ethische  Studien,  Lpz.  1866,  Blicke  in  die  intellect,  phys.  n.  moral.  Welt, 
Lpz.  1869,  anch  zahlr.  Abhandlungen  in  verschiedenen  Zeitschriften  verfasst. 
S.  Ed.  v.  Hartmann,  Ft.  z.  Umbild.  der  schopenhauersch.  Ph.,  in:  Neukantianism. 
etc.  s.  n.  S.  467. 

Treu  hängt  der  schopenhauerschen  Lehre  an  P.  Deussen,  in  den  Elementen 
der  Metaphysik,  Aachen  1877.  Er  hat  weiter  veröffentlicht:  das  System  der  Ve- 
danta,  Lpz.  1883,  und  sich  dadurch  um  die  Kenntniss  der  indischen  Philosophie 
sehr  verdient  gemacht. 

Lazar.  B.  Hellenbach,  der  eine  Reihe  Schriften  verfasst  hat  (namentlich: 
der  Individualismus  im  Lichte  der  Biologie  u.  Philos.  der  Gegenw.,  Wien  1878, 
2.  Aufl  ,  Lpz.  1887,  die  Vorurtheile  der  Menschheit,  3  Bde.,  Wien  1879—1880,  aus 
d.  Tagebuche  eines  Philos.,  Wienl881,  die  neuesten  Kundgebungen  einer  iutelligibeln 
Welt,  Wien  1882.  die  Magie  der  Zahlen  etc.,  Wien  1882,  Eine  Philos.  d.  gesunden 
Menschenverstandes,  Lpz.  1887),  ist  zwar  von  Schopenhauer  ausgegangen,  verliert 
sich  aber  mit  der  Annahme  eines  .Metaorganismus",  der  bei  ihm  gleich  der  Seele 
ist,  ins  durchaus  Phantastische. 

Ziemlich  nahe  steht  der  Weltanschauung  Schopenhauers  Jul.  Bahnsen 
(gest.  1882  alB  Lehrer  in  Lauenburg  in  Pommern),  der  die  hegelsche  Dialektik  mit 


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§  41.   Anhänger  Schlciermachers,  Schopenhauers,  Benekes. 


der  Metaphysik  Schopenhauers  vereinigt.  Wesen  der  Welt  ist  die  Selbstentzweiuug 
des  Willens  in  jedem  einzelneu  Punkte  der  Welt.  Hiermit  ist  die  Unmöglichkeit 
der  Erlösung  gegeben  sowie  die  Unmöglichkeit,  die  Welt  vermittelst  der  logischen 
Formen  zu  erkennen.  Der  Trieb  zum  Erkennen  ist  immer  da,  aber  seine  Befriedigung 
scheitert  an  der  Antilogik  in  der  Welt.  Beiträge  zur  Charakterologie  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  pädagogischer  Fragen,  2  Bde.,  Lpz.  1867.  Zum  Verh. 
zwischen  Wille  u.  Motiv,  eine  metaphya.  Voruntersuchung  zur  Charakterologie, 
Stolp  u.  Lauenburg  1870.  Zur  Philosophie  der  Geschichte,  eine  krit.  Besprech.  d. 
hegel-hartraannschen  Evolutionismus  aus  schopenhauerscheu  Frincipiun,  1871.  Mo- 
saiken und  Silhouetten,  charakterographische  Situation?-  und  Entwickelungsbilder, 
Lpz.  1877.  Das  Tragische  als  Weltgesetz  u.  der  Humor  als  ästhetische  Gestalt  der 
Metaphysik,  Lauenb.  i.  P.  1877.  Bedingter  Gedanke  u.  Bedingungssatz,  Lpz.  1877. 
Der  Widerspruch  im  Wissen  u.  Wesen  der  Welt,  Princip  u.  Einzelbewäh- 
rung der  Kealdialektik,  2  Bde.,  Berl.  1880-1881.  Aphorismen  zur  Spracbphilos.. 
Lpz.  1881.  S.  über  d.  Realdialekt.  B.s  E.  v.  Hartmann  in:  Phil.  Monaten.,  1881. 
S. 227— 260,  ferner  über  B.s  charakterologischeu  Individualism.  in:  Neukantianism.  etc. 

Von  Schopenhauer  hat  Vieles  herübergenommen  E.  v.  Hartraann  (s.  u.).  Im 
Allgemeinen  wahren  den  schopenhauerschen  Standpunkt  Phil.  Mainländer,  die 
Philosophie  der  Erlösung,  Berl.  1876,  2.  Aufl.  1879,  2  Bde.,  12  philos.  Essays. 
Frankf.  a.  M.  1882,  welcher  den  Weltprocess  darin  erblickt,  dass  die  Kraft  des 
zersplitterten  Gottes,  aus  dessen  Bruchstücken  die  Welt  besteht,  immer  schwächer 
wird,  bis  sie  endlich  ganz  verlischt.  Wir  Menschen  müssen  dazu  mitwirken  durch 
geschlechtliche  Askese.  Gott  tritt  aus  dem  Ueborsein  durch  das  Werden  in  das 
Nichtsein.  Th.  Meynert,  zur  Mechanik  des  Gehirnbaues,  Wien  1874.  Grosaen- 
thcils  auf  Schopenhauers  Doctrin  gegründet  ist  Hippolyt  Tauschinski,  die  Bot- 
schaft der  Wahrheit,  der  Freiheit  u.  der  Liebe,  Wien  1868.  Auf  Kant  und  Scho- 
penhauer fusst  J.  C.  Bocker,  Abh.  aus  d.  Grenzgebiet  der  Math.  d.  Philos., 
Zürich  1870.  S.  auch  Theod.  Stieglitz,  Gruudzüge  der  histor.  Entwicklung  aus 
den  übereinstimmenden  Principien  der  Philos.  A.  Schopenhauers  und  der  natur- 
w  isseuschaftl.  Empirie,  Wien  1881. 

Alfous  Bilharz  versucht  die  metaphysische  Willenslehre  Schopenhauers  mit 
einem  atomistischen  Dynamismus  zu  vereinigen;  der  Wille  ist  atomistisch  in  sich 
gespalten.  Dem  Subject  des  Wollens  steht  das  Object  des  Wollens  gegenüber,  das 
ist  die  Aussenwclt,  an  der  sich  der  Einzelwille  fortwährend  stösst.  Diese  wird  aus 
Kraftatomeu  gebildet,  die  ihrem  eigentlichen  Wesen  nach  auch  Subjecte  wie  wir 
sind.  Das  Universum  stellt  sich,  räumlich  aufgefasst,  als  unendlich  grosse  Kugel 
mit  unendlich  vielen  Mittelpunkten  dar;  in  ihr  ist  jeder  Punkt  selbst  Mittelpunkt 
einer  unendlich  grossen  Sphäre,  und  jeder  Punkt  in  ihr  steht  dem  All  als  ver- 
einigter Objectspunkt  gegenüber,  mit  welchem  zusammen  er  den  Begriff  des  Seins 
ausmacht  —  Die  Acsthetik  Schopenhauers,  sowie  desseu  Pessimismus  verwirft 
Bilharz.  —  Der  heliocentrische  Standpunkt  der  Weltbetrachtung,  Grundlegungen 
zu  einer  wirklichen  Naturphilosophie,  Stuttg.  1879.  Vgl.  auch  Metaphys.  Anfangs- 
gründe der  mathemat.  Wissenschaften,  auf  Gründl,  d.  heliocentr.  Ph.  dargestellt  v. 
Alf.  Bilharz  u,  Portus  Dannegger,  Sigmaring.  1880. 

Hier  sei  sogleich  erwähnt  Carl  Peters,  Willenswelt  und  Weltwille,  Lpz. 
1883,  der  in  vielen  Punkten  mit  Ed.  v.  Hartmann  übereinstimmt,  namentlich  in  dem 
erkenntniss-theoretischen  Realismus,  in  der  Verbindung  von  Wille  und  Vorstellung 
und  in  der  Teleologie.  Dem  absoluten  Weltwillen  steht  gegenüber  der  absolute, 
auseinandergesprengte  leere  Raum,  dem  unendlich  Daseinsvollen  das  uuendlich 
Daseinsleere,  dem  absolut  Activen  das  absolut  Passive.  Das  Lebensvolle  wurde 
nun  durch  den  eigensten  Schaffensdrang  gezwungen,  dieses  Zweite,  ihm  Eutgegeu« 


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§  41.   Anhänger  Schleiermachers,  Schopenhauers,  Benekes. 


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gehetzte  in  die  Daseinsfülle  seiner  selbst  mit  hineinzureissen,  es  mit  seiner  Wesen- 
haftigkeit  zu  durchdringen.  Auf  ethis  ehern  Gebiete  sind  seine  Ansichten  ähnlich 
denen  v.  Hartmanns:  „Aus  der  Lohe  des  Scheiterhaufens  individueller  Eudämono- 
logie  steigt  wie  ein  Phönix  der  kosmische  Optimismus  empor.-  S.  üb.  ihn  E.  v.  Hart- 
mann, ein  neuer  Schopenhauerianer,  in  d.  Gegegenwart,  1883,  No.  14. 

Vielfach  durch  Schopenhauer  ist  angeregt,  Friedr.  Nietzsche,  die  Geburt 
der  Tragödie  aus  der  Musik,  1872,  2  Aufl.  Chemnitz  1878,  neue  Ausg.  mit  d.  Ver- 
such einer  Seibatkritik,  Lpz.  s.  a.  Unzeitgemässe  Betrachtungen  1873-1876  (1  Dar. 
Strauss,  der  Bekenner  und  der  Schriftsteller;  2.  Vom  Nutzen  und  Nachtheil  der 
Historie  für  das  Leben;  3.  Schopenhauer  als  Erzieher;  4.  Rieh.  Wagner  in  Bay- 
renth).  In  den  darauf  folgenden  Werken :  Menschliches,  Allzumenschliches,  ein  Buch 
für  freie  Geister,  Chemnitz  1878,  und  einem  Anhange  dazu,  Chemnitz  1879,  der 
Wanderer  u.  sein  Schatten,  Cheran.  1880  (die  letzten  drei  zusammen  unt.  d.  Titel: 
Menschliches,  Allzumenschliches,  in  neuer  Ausgabe  mit  einer  einfuhrenden  Vorrede, 
2  Bde.,  Lpz.  1886),  Morgenröthe,  Gedanken  üb.  d.  moralisch.  Vorurtheile,  Chem.  1881, 
d.  fröhliche  Wissensch.  18*2,  Also  sprach  Zarathustra,  3  Hefte,  Chemnitz  1883  u.  84, 
Jenseits  von  Gut  und  Böse,  Lpz.  1886,  Zur  Genealogie  der  Moral,  eine  Streitschrift, 
Lpz.  1887,  giebt  Nietzsche  eine  Reihe  besonders  moralisirender,  geistreicher  und  an- 
regender, In  der  letzteu  Schrift  mehr  zusammenhängender,  Aphorismen,  ohne  seine  An- 
sichten aber  abgerundet  zu  haben  und  ohne  sich  irgend  einem  Philosophen  bestimmt 
anzuschliessen.  Frei  von  allen  sittlichen  und  religiösen  Vorurtheilen,  leugnet  er  über- 
haupt die  Sittlichkeit,  d.  h.  ihre  Voraussetzungen,  insofern  er  in  Abrede  stellt,  dass 
die  herkömmlichen  sittlichen  Urtheile  auf  Wahrheit  beruhen.  Dies  sind  allerdings 
Motive  des  Handelus,  aber  es  treiben  so  Irrthümer  den  Menschen  zu  seinen  Hand- 
lungen. Doch  soll  sich  der  Satz:  .die  Art  ist  Alles,  Einer  ist  immer  Keiner-, 
der  Menschheit  einverleiben.  Zur  Erklärung  der  Herkunft  der  Werthurtheile  kommt 
er  durch  die  Frage,  was  eigentlich  die  von  verschiedenen  Sprachen  ausgeprägten 
Bezeichnungen  des  .Guten*  etymologisch  zu  bedeuten  habeu.  Er  findet  da,  dass 
überall  .vornehm*,  „edel*  im  ständischen  Sinne  der  Grundbegriff  ist,  aus  dem  sich 
.gut*  im  Sinne  von  .seelisch  vornehm'  nothwendig  entwickelt,  und  dass  dem  par- 
allel „ gemein",  .pöbelhaft",  .niedrig"  schliesslich  in  den  Begriff  .schlecht*  über- 
geht. Nietzsche  kommt  so  zu  einer  Anerkennung  des  Vorrechts  der  Wenigen,  zu 
einer  extrem  aristokratischen  Ansicht,  und  polemisirt  entschieden  gegen  alle  Gleich- 
berechtigung der  niederen  Volksklassen  mit  den  höheren. 

Den  Pessimismus,  der  schon  Anfang  dieses  Jahrhunderts  namentlich  durch 
den  italienischen  Dichter  Grafen  Giacomo  Leopnrdi  (1793—1837,  Operette  moruli, 
Mil.  1827,  vgl.  verschiedene  Abhandlungen  von  M.  Aulard,  ferner  Krauts,  le 
pessimisme  de  L.,  iu  Revue  philos.,  Bd.  10,  1880,  S.  396— 413)  vertreten  war,  hat 
besonders  nach  Schopenhauer  Ed.  v.  Hartmann  weiter  und  tiefer  zu  begründen  sowie 
als  einzig  richtige  Lebensanschauung  und  als  das  wahre  Fundament  einer  wirklichen 
Ethik  hinzustellen  gesucht.  In  Folge  davon  ist  für  und  wider  den  Pessimismus  eine 
ganze  Litteratur  entstanden,  von  der  nur  das  Bedeutendere  hier  angeführt  werden  soll. 

A.  Taubert  (die  erste  Frau  Ed.  v.  Hartmans),  der  Pessimismus  D.  seine  Gegner. 
Berl.  1873.  J.B.Meyer,  Weltelend  und  Weltsehmerz,  eine  Rede  gegen  Schopenhauers 
und  Hertmanns  Pessimismus,  Bonn  1872.  Georg  Jcllinck,  die  Weltanschauungen  Leibniz' 
und  Schopenhauers,  I.-I).,  Wien  1872.  Hcinr.  Schwarz,  das  Ziel  der  religiösen  u. 
wisscnschaftl.  Gährung  nachgewiesen  an  E.  v.  H.s  l'essimism.,  Berl.  1875«  G.  P.  Wey- 
goldt,  Krit  des  philos.  Pessimism.  der  neuesu-n  Zeit,  Preisschr.,  Leiden  187.").  W. 
Gass,  Optimismus  u.  Pessimismus,  der  (lang  der  christl.  Welt-  u.  Lebensansicht,  Berl. 
187G.  Th.  Frantz,  der  Pessimismus,  seine  Begründung  in  der  modernen  Philosophie, 
sein  KinHuss  auf  die  gegenwärtige  Durchschuittsbildung,  Carlsruhe  1876.  Job.  Huber, 
de.r  Pessimismus,  München  187G.    James  Sully,  Pessimism.  A  historv  and  a  criticism, 


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458 


§41.    Anhänger  Schleiermaehers,  Schopenhauers,  Benekes. 


Lond.  1877.  Caro,  le  Pessimisme  au  XIX.  siede.  Leopardi— Schopenh.— Hartm., 
Paris  1878,  2.  ed.  1881.  Ludw.  v.  Golther,  der  moderne  Pessimismus ,  mit  einem 
Vorwort  von  Friedr.  Theod.  Vischcr,  Loipz.  1878.  G.  Borries,  üb.  d.  Pessimism.  als 
Durchgangspunkt  au  universaler  Weltanschauung,  I.-D  ,  Lpz.  1880.  Hugo  Sommer, 
der  Pessimism.  u.  d.  Sittenl.,  Haarlem  1882,  2.  Aufl.  Berl.  1883.  Alb.  Bacmeister,  der 
Pessimism.  u.  d.  Sittenl.  mit  besonder.  Berücksichtig,  v.  E.  v.  Hartmanns  Phänomenol. 
des  sittl.  Bewußtseins,  Gütersloh  1882.  Rehmke,  der  Pessimism.  u.  d.  Sittenl.,  Lpz. 
1882.  P.  Christ,  der  Pessimism.  u.  d.  Sittenl.,  Haarlem  1882.  J.  Duboc,  der  Optiinism. 
als  Weltanschauung  u.  seine  rcligiös-eth.  Bedeut.  f.  d.  Gegenwart,  Bonn  1881.  J. 
Hippel,  d.  neuere  Pessimism,  Würzb.  1884.  0.  (Olga)  Plüroacher,  der  Pessimism. 
in  Vergangenheit  u.  Gegenwart,  Geschichtliches  u.  Kritisches,  Heidelb.  1884.  Max 
Braig,  d.  Pessimism.  in  seinen  ethisch.  Grundlagen,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Krit.,  84, 
1884,  S.  78 — 105.  Alb.  Weckesser,  d.  empir.  Pessimism.  in  «ein.  metaphys.  Zu- 
sammenh.  im  Syst.  v.  Ed.  v.  Hartmann,  Bonn  1885.  W.  Ribbeck,  Studien  üb.  d. 
Pessimism.,  in:  Vierteljahrsschr.  f.  wissensch.  Ph.,  IX,  1885,  S.  265—287.  Grg.  Siinmel, 
üb.  d.  Grundfrage  des  Pessimism.  in  methodisch.  Hinsicht,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr., 
90,  1887,  S.  237—247.    Die  hierher  gehörenden  Schriften  v.  Hartmanns  s.  u. 

Unter  den  Anhängern  Benekes  sind  die  bedeutendsten  Joh.  Gottlieb  Dressier, 
der,  durch  Benekes  Erziehungslehre  für  dessen  Richtung  gewonnen,  sich  um  die 
Erläuterung  und  Vertheidigung  derselben  sehr  verdient  gemacht  hat,  und  Friedr. 
Dittes  in  Wien.  Ferner  hat  Beneke  auf  Carl  Fortlage  und  Friedrich  üeber- 
weg  wesentlich  eingewirkt. 

J.  G.  Dressler  (gest.  18.  Mai  1867),  Beiträge  zu  einer  besseren  Gestaltung 
der  Psychol.  u.  Fädagog.,  a.  u.  d.  T.:  Beneke  u.  d.  Seelenl.  als  Naturwissensch., 
Bautzen  1840-46.  Frakt.  Denkl.,  Bautzen  1852.  Ist  Beneke  Materialist?  Berl.  1862. 
Die  Grundlehren  der  Psychologie  u.  Logik,  Lpz.  1867,  3.  Aufl.  v.  Friedr.  Dittes 
u.  O.  Dressier,  Lpz.  1872.  Ausserdem  hat  Dressler  zahlreiche  Abhandlungen  in 
pädagogischen  Zeitschriften  erscheinen  laasen.  Von  ihm  ist  nach  Benekes  Tode 
desselb.  Lehrb.  der  Psychol.  in  3.  Aufl.,  Berl.  1864,  4.  Aufl.  ebd.  1877,  u.  B.s  Er- 
ziehung«- n.  ünterrichtslehre  in  3.  Aufl.,  Berlin  1864,  herausgegeben  worden.  Von 
Dresslers  Sohn,  O.  Dressier,  ist  ein  Gmndriss  der  pBycholog.  Anthropologie  als 
Grundlage  der  Erziehungslehre,  Lpz.  1868,  erschienen  und  ein  Lehrbuch  der  Anthro- 
pologie, Lpz.  1876  ff. 

Der  Pädagog  J.  R.  Wurst  hat  in  seiner  Sehr.:  „Die  zwei  ersten  Schuljahre" 
Benekes  Sittenlehre  pädagogisch  verwerthet.  Seine  ,  Sprachdenklehre  *  beruht 
ihrem  Inhalt  nach  auf  Karl  Ferdinand  Beckers  Grammatik  (dessen  bedeutendstes 
Werk  «.Organism.  der  Sprache*,  2.  Aufl.,  Frankfurt  a.  M.  1841,  nicht  ohne  Einfluss 
auf  Trendelenbnrg  gewesen  ist),  ihrer  didaktischen  Form  nach  zumeist  auf  Benekes 
Lehre.  Kämmel  hat  zu  HergangB  „Pädagog.  Realencyclopädie*  Beiträge  geliefert,  die 
auf  Benekes  Doctrin  beruhen,  auch  Artikel  in  Zeitschriften  zur  Fädagog.  u.  Gesch. 
der  Pädagog.  verfasst  (Ueber  Herodes  Atticus  in  d.  Jahrb.  f.  Ps.  u.  Pädag.  1870  etc.). 
Pädagogische  Schriften  über  die  Entwickelung  des  Bewußtseins  von  Börner, 
Dittes,  Ueberweg  sind  aus  der  benekeschen  Schule  hervorgegangen.  Ausserdem 
sind  hier  zu  nennen:  Otto  Börner,  die  Willensfreiheit,  Zurechnung  und  Strafe, 
Freiberg  1857.  Friedr.  Dittes,  das  Aesthetische  nach  seinem  eigentümlichen 
Grundwesen  u.  seiner  pädagogischen  Bedeutung,  Lpz.  1854,  über  Religion  und 
religiöse  Menschenbildung.  Plauen  1855,  Naturlehre  des  Moralischen  u.  Kunstlehre 
der  moralisch.  Erziehung,  Lpz.  1856,  Ueb.  d.  sittl.  Freiheit,  Lpz.  1860,  Gmndriss 
der  Erziehungs-  und  ünterrichtslehre,  Lpz.  1868  u.  öft,  Lehrb.  d.  Psychol.,  5.  Aufl., 
1876,  Lehrb.  d.  prakt  Log.,  7.  Aufl.,  Lpz.  1884.  Verschiedene  Disciplinen  Her- 
barts hat  Dittes  einer  scharfen  Kritik  unterzogen,  s.  ob.  d.  Litterat.  b.  Herbart. 
Friedr.  Schmeding,  das  Gcmüth,  G.-Pr.,  Duisb.  1868.  Von  Heinrich  Neu- 
geboren und  Lndw.  Korodi  ist  eine  Vierteljahrsschr.  für  d.  Seelenlehre, 
Kronstadt  1859-1861,  herausgegeben  worden. 


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§  41.    Anhänger  Schleiermachers,  Schopenhauers,  Benekes. 


459 


Nicht  für  empiristisch  genug  hält  den  benekeschen  Empirismus  Reinbold 
Hoppe,  Zalänglichkeit  des  Empirismus  in  d.  Philos.,  Herl.  1852,  der  seine  Arbeit 
als  Vollführung  dessen,  was  Locke  gewollt  hat,  bezeichnet,  nämlich  als  Aufklärung 
über  die  philosophischen  Begriffe  zum  Zweck  der  scharfen  Bestimmung  der  philo- 
sophischen Fragen,  wodurch  deren  Lösung  bedingt  sei.  In  seiner  philosophischen 
Doctrin  berührt  sich  Hoppe  zumeist  mit  Berkeley,  will  jedoch  nur  an  dessen 
Grundansicht  festhalten,  dass  das  Ding  nur  in  der  Idee  von  Geistern  existire,  oder 
dass  jedes  Object  der  Erkenntniss  Idee  eines  Subjects  sei,  tadelt  aber,  dass  Berkeley 
die  Abstraction  nicht  auf  die  Perception  angewaudt  habe,  wodurch  der  Begriff  des 
Dinges  gewonnen  werde. 

Benekes  empirischen  Standpunkt  versetzt  mit  kantisch-fichtescher  Speculation 
in  freier  Umbildung  Carl  Fortlage  (geb.  1806  zu  Osnabrück,  gest.  d.  8.  Nov.  1881 
als  Prof.  der  Philos.  in  Jena),  System  der  Psychologie  als  empirische  Wissenschaft 
aus  der  Beobachtung  des  inneren  Sinnes,  2  Bde.,  Lpz.  1855.  Acht  psycholog.  Vor- 
träge, Jena  1868.  Sechs  philosoph.  Vorträge,  ebd.  1869,  2.  Aufl.  1872.  Vier 
psycholog.  Vorträge,  Jena  1874.  Beiträge  zur  Psychologie  als  Wissensch,  ans 
Speculation  u.  Erfahrung,  Lpz.  1875.  Aus  einer  Anzahl  religionsphilosophischer 
Abhandlungen,  die  sich  in  seinem  Nachlasse  fanden,  hat  Lipsius  eine,  das  Menschheits- 
ideal der  Moralität  nach  dem  Christenthum,  im  9.  Bde.  der  Jahrbücher  für  protest. 
Theol.  herausgegeben.  Vgl.  R.  Eucken,  Fortlage  als  Religionsphilosoph  in:  Ztschr. 
f.  Philos.,  Bd.  82,  1883,  S.  180-196,  der  den  Nachlass  benutzt  hat.  Fortlage  will 
bei  seinen  psychologischen  Forschungen  namentlich  die  Selbstbeobachtung  anwenden 
und  bringt  eine  Menge  geistvoller  und  feiner  Bemerkungen,  ohne  mit  seinem  psycho- 
logischen Grundbegriff  des  Triebes,  der  sich  aus  Gefühl  und  Vorstellung  zusammen- 
setzt, und  seinem  Mechanismus  der  Triebe  viel  Anklang  zu  finden.  Auf  meta- 
physischem Gebiet  versuchte  er  mit  Vorliebe  für  Fichte  auch  mit  einer  gewissen 
Hinneigung  zur  Mystik  eine  Vereinigung  des  Pantheismus  mit  dem  Theismus,  indem 
er  Beine  Weltanschauung  transscendenten  Pantheismus  nannte.  Die  Welt  ist  im 
All-einen  oder  in  dem  absoluten  Ich  enthalten,  mit  dem  die  sittlich  und  intellectuell 
selbständigen  endlichen  Geister  eins  werden.  Dasselbe  ragt  aber  zugleich  über  die 
Zeit  und  den  Raum,  über  Natur  und  Geschichte  hinaus.  S.  über  Fortlage  Mor. 
Brasch,  K.  F.,  ein  philos.  Charakterbild,  in:  Unsere  Zeit,  1883,  S.  730-756,  auch 
dessen  Philosophie  der  Gegenwart. 

Friedrich  Ueberweg  (geb.  1826  zu  Leichlingen  im  Kreise  Solingen,  habilitirte 
■ich  1852  in  Bonn,  1862  ausserordentlicher,  1868  ordentlicher  Professor  in  Königs- 
berg, gest.  1871),  stellte  sich  in  seiner  ersten  Schrift  .die  Entwickelung  des  Be- 
wusstseins  durch  den  Lehrer  und  Erzieher"  ganz  auf  den  Standpunkt  Benekes.  In 
„System  der  Logik  und  Geschichte  der  logischen  Lehren",  Bonn  1857,  5.  Aufl.  1882, 
herausgeg.  v.  J.  B.  Meyer,  versucht  er,  die  Logik  auf  aristotelische  Principien  zu 
gründen.  Er  will  die  Mitte  halten  zwischen  der  subjectivistisch  formalen  Loirik 
(Kant,  Herbart),  welche  die  Formen  des  Denkens  zu  den  Formen  des  Seins  ausser 
Beziehung  setzt,  und  der  metaphysischen  Logik  (Hegel),  welche  beiderlei  Formen 
identificirt,  in  der  Selbstbewegung  des  reinen  Gedankens  zugleich  die  Selbsterzeu- 
gung des  Seins  erkannt  zu  haben  meint.  Er  will  dem  Aristoteles  folgen,  welcher 
in  dem  Denken  das  Abbild  des  Seins  sieht,  ein  Abbild,  das  von  seinem  realen 
Correlate  verschieden  ist,  ohne  doch  zu  ihm  ausser  Beziehung  zu  stehen,  und  dem- 
selben entspricht,  ohne  doch  mit  ihm  identisch  zu  sein.  Vou  hier  ausgehend,  will 
er  sich  in  derselben  Richtung  wie  Schleierraacher,  Ritter,  Trendelenburg,  Beneke 
mit  seiner  Bearbeitung  der  Logik  bewegen.  Es  spiegelt  sich  nach  ihm  in  der 
räumlich  zeitlichen  Ordnung  der  äusseren  Wahrnehmung  die  eigene  räumlich  zeit- 
liche Ordnung,  und  in  der  inneren  Wahrnehmung  die  eigene  zeitliche  Ordnung  der 


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460 


§  42.    Rückgang  auf  Aristoteles  u.  a.  Philos. 


realen  Objecte  ab.  Die  sinnlichen  Qualitäten  aber,  die  Farben  und  Töne  etc.,  die 
den  Wahrnehmungsinhalt  ausmachen,  sind  zwar  als  solche  nur  subjectiv  und  nicht 
Abbilder  von  Bewegungen,  stehen  aber  tu  bestimmten  Bewegungen,  als  deren  Symbole, 
in  einem  gesetzmässigen  Zusammenhange.  Ueberweg  hat  am  wenigsten  gegen  die 
Bezeichnung  seines  Systems  als  eines  Ideal-Realismus  einzuwenden  (vgl.  seinen 
Aufsatz  „Ueber  Idealismus,  Realismus  und  Ideal-Realismus"  in  d.  Zeitschr  f.  Philos. 
u.  philos.  Krit,  Bd.  34, 1869).  Zu  Kaut  stellte  er  sich  in  entschiedenen  Gegensatz, 
indem  er  zu  zeigen  suchte,  wie  die  räumlich-zeitliche  und  causale  Ordnung,  auf 
deren  Erkenntnis  die  Apodicticität  beruht,  nicht  erst  von  dem  anschauenden 
und  denkenden  Subjecte  in  einen  chaotisch  gegebenen  Stoff  hineingetragen,  sondern 
aus  der  (natürlichen  und  geistigen)  Realität,  iu  der  sie  ursprünglich  ist,  saccessive 
durch  Erfahrung  und  Denken  in  das  subjective  Bewusstsein  aufgenommen  wird 
In  der  Psychologie  huldigte  er  bald  dem  vollen  Naturalismus,  wie  aus  seiner 
sensualistisch  —  oder  materialistisch  —  nativistischen  Raumtheorie  hervorgeht, 
die  er  dargestellt  hat  in  der  Zeitschr.  f.  rationelle  Medicin  von  Henle  u.  Pfenffer, 
1859,  III.  Reihe,  6.  Bd.,  3.  Heft.  Die  Vorstellungen  befinden  sich  nach  dieser  An- 
sicht als  ausgedehnt  in  dem  Empfindungsraum,  welcher  identisch  mit  dem  Anschauungs- 
raum ist.  Ueber  seine  spätere  materialistische  Weltanschauung,  zu  der  er  durch 
den  intimen  Verkehr  mit  Czolbe  wohl  zum  Theil  gebracht  wurde,  bei  der  er  aber  doch 
die  Teleologie  beizubehalten  suchte,  und  die  er  in  Briefen  niedergelegt  hat,  s.  Lange, 
Gesch.  des  Materialismus,  Bd.  2.  Seine  Arbeiten  zur  Geschichte  der  Philosophie  sind 
in  der  Litteratur  dieses  Grundrisses  augegeben,  die  über  Schiller  hatte  er  in  Folge 
eines  Preisausschreibens  der  Wiener  Akademie  verfasst  und  eingereicht  Jedoch 
erhielt  Karl  Tomascheks  Werk  den  Preis,  und  so  ist  dies  überwegsche  Werk  erst 
lange  nach  dem  Tode  des  Verfassers  veröffentlicht  worden.  Sein  Nachlass,  philo- 
sophische Abhandlungen,  und  wissenschaftliche  Correspondenz  sollen  von  Moritz 
Braach  nächstens  herausgegeben  werden. 

Von  Ueberweg  handeln  F.  A.  Lange,  Fr.  Ueberweg,  aus  d.  altpr.  Monatsschr.. 
Bd.  8,  S.  487-  522,  auch  separat,  1871,  u.  A  Lasson,  Zum  Andenken  an  Fr.  Ueb., 
in:  Philos.  Monatsh.  Bd.  VII,  1872,  S.  289-313. 

§  42.  Bei  der  allseitigen  Durchforschung  der  Geschichte  der 
Philosophie  ist  es  naturlich,  dass  man  auch  mehrfach  in  der  Geschichte 
selbst  nicht  nur  Elemente  zu  neuen  Constructionen  fand,  sonderu 
geradezu  ältere  Systeme  wieder  auffrischte.  In  dieser  Beziehung  ist 
hervorzuheben  Aristoteles,  der  von  Trcndelenburg  als  der  Philo- 
soph der  organischen  Weltanschauung  besonders  geschätzt  und  benutzt 
wird.  In  anderer  Weise  wird  durch  Wiederaufleben  des  Thomismus 
auf  Seiten  der  katholischen  Kirche  Aristoteles  in  die  Gegenwart  wieder 
eingeführt. 

Inmitten  des  Kampfes  der  philosophischen  Parteirichtungeu  liegt  für  die 
philosophische  Erkenntniss  eine  gemeinsame  Basis  theil*  in  der  Geschichte  der 
Philosophie,  theils  in  einzelnen  zu  bleibender  Gültigkeit  gelangten  philosophischen 
Doctrinen  (zumeist  auf  dem  Gebiet  der  Logik),  theils  auch  in  den  zu  der  Philo- 
sophie in  nächster  Beziehung  stehenden  Resultaten  der  positiven  Wissenschaften, 
insbesondere  der  Naturwissenschaft.  Der  Rückgang  auf  diese  gemeinsamen  Aus- 
gangspunkte philosophischer  Forschung,  die  eindringende  und  treffende,  aber  iu 
der  Form  gemässigte  Kritik  eiuseitiger  Doctrinen  und  die  unternommene  Recou- 


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§  42.   Rückgang  auf  Aristoteles  u.  a.  Thilos. 


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struction  der  Philosophie  auf  gesichertem  Grunde,  allerdings  unter  Mithinzunahme 
einiger  ihm  selbst  eigentümlichen  Hypothesen,  sind  die  wesentlichen  Verdienste 
des  Aristotelikers  Adolf  Trendelenburg  (geb.  1802  in  Eutin,  Beit  1833  ausser- 
ordentlicher, seit  1837  ordentlicher  Prof.  d.  Philos.  in  Berlin,  gest  1872).  Kr  hut 
lange  Zeit  eine  eiuflussreiche  Stellung  in  Berlin  eingenommen  and  als  akademischer 
Lehrer  eine  weitreichende  Wirkung  ausgeübt.  Er  suchte  zwischen  der  formalen 
und  metaphysischen  Logik  zu  vermitteln.  Unter  den  ihm  eigenthümlichen  Doctrinen 
ist  die  beachtuugswertheste  die  Annahme  einer  constructiven,  durch  den  Zweck 
geleiteten  Bewegung,  die  der  äusseren  Welt  des  Seins  und  der  innern  Welt  des 
Denkens  gemeinsam  sei,  so  dass  das  Denken,  als  dos  Gegenbild  der  äusseren  Be- 
wegung aus  sich  a  priori,  aber  in  nothwendiger  Uebereinstimmung  mit  der  objectiven 
Realität,  Raum,  Zeit  und  Kategorien  erzeuge.  In  dem  schöpferischen  Gedanken 
ruht  nach  der  „organischen  Weltanschauung«  (vgl.  oben  zu  §  13,  S.  88)  das  Wesen 
der  Dinge.  Die  sittliche  Aufgabe  des  Menschen  ist,  die  Idee  seines  Wesens  zu 
erfüllen,  indem  der  Gedanke,  der  in  ihm  zum  Selbstbewusstsein  gelangt,  das  Be- 
gehren und  Empfinden  erhebt  und  dieses  den  Gedanken  treibt  und  belebt.  Nur  im 
Staat  und  in  der  Geschichte  entwickelt  der  Mensch  seine  menschliche  Natur.  Das 
Recht  wahrt  die  äusseren  Bedingungen  für  die  Verwirklichung  des  Sittlichen  mit 
der  Macht  des  Ganzen;  es  ist  der  Inbegriff  derjenigen  allgemeinen  Bestimmungen 
des  Handelns,  durch  welche  es  geschieht,  dass  das  sittliche  Ganze  und  seine 
Gliederung  sich  erhalten  und  weiter  bilden  kann.  Die  äussere  Allgemeinheit  der 
geltenden  Rechtsbestimmungen  folgt  aus  der  inneren  Allgemeinheit  der  sittlichen 
Zwecke,  für  deren  Bestand  das  Recht  da  ist.  Trendelenburg  führt  diesen  Begriff 
des  Rechts  durch  die  verschiedenen  Sphären  vom  Privutrecht  bis  zum  Völkerrecht 
durch.  Der  Staat  ist  der  universelle  Metisch  in  der  individuellen  Form  des  Volkes. 
Das  Ziel  aller  Staatsverfassung  ist  die  Einheit  der  Macht.  Gesinnung  und  wachsende 
Verwirklichung  der  Idee  des  Menschen  ist  der  Impuls  der  Weltgeschichte.  Viele 
der  Forscher  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie,  namentlich  der  alten 
Philosophie,  verdanken  Trendelenburg  die  wesentlichste  Anregung.  Besonders  ist 
das  philologische  und  methodisch  philosophische  Studium  des  Aristoteles  durch 
ihn  in  Aufnahme  gekommen.  Von  bedeutender  Wirkung  ist  seine  scharfe  Polemik 
gegen  Hegels  Dialektik  und  Herbarts  Realismus  gewesen. 

Ausser  Trendelenburgs  in  der  Littcratur  dieses  Grundrisses  erwähnten  philo- 
logischen und  historischen  Schriften  kommen  hier  noch  insbesondere  die  didaktisch 
-höchst  wertbvollen  .Element»  logices  Aristot.",  Berol.  1836,  8.  Aufl.  1878,  nebst 
den  zugehörigen  .Erläuterungen",  Berl.  1842,  3.  Aufl.  1876,  ferner  die  Haupt- 
werke: Logische  Untersuchungen,  Berl.  1840  ,  2.  Aufl.  Lpz.  1862,  3.  Aufl. 
1870,  und:  Naturrecht  auf  d.  Grunde  d.  Ethik,  Lpz.  1860,  2.  ausgeführtem 
Aufl.  ebd.  1868,  in  Betracht.  Au  die  logischen  Untersuchungen  schliesst  sich 
die  Schrift:  Lücken  im  Völkerrecht,  Lpz.  1870.  S.  über  Trendelenburg  II.  Schwarz, 
Tr.s  fortgeschrittene  Verstandesansicht,  iu:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  philos.  Kr.,  1864, 
S.  76  bis  109.  Herrn.  Bonitz,  zur  Erinnerung  an  Fr.  Ad.  Tr.,  Vortrag,  gehalten 
in  der  königl.  Akad.  d.  Wissensch,  zu  Berlin.  Berl.  1872.  K.  v.  Prantl,  Gedächtniss- 
rede auf  Fr.  Ad.  Tr.,  gelesen  in  der  raünch.  Akad.,  München  1873.  Ernst  Bratu- 
scheck,  Biographie  Ad.  Tr.s,  in  den  Philosophischen  Monatsheften,  VIII,  1H72, 
u.  separat,  Berl.  1873.  Maxim.  Sohr,  Tr.  u.  die  dialektische  Methode  Hegels, 
Halle  1874.  Rud.  Eucken,  Zur  Charakterist.  der  Philos.  Tr.s.  in:  Philos.  Monatsh., 
1884,  S.  342—366,  u.  unch  Kyms  metaphys.  Untersuchung:  Tr.s  logische  Unter- 
suchung u.  ihre  Geguer,  3  Abhandlungen. 

An  Trendelenburg  haben  u.  A.  Carl  Heyder  (geb.  1812,  gest.  als  Prof.  in 
Erlangen  1886),  die  arist.  u.  hegelsche  Dialektik,  I,  Erlaugen  1845,  d.  Lehre  von 


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462 


§  42.    Rückgang  auf  Ariatotelea  u.  a.  Philos. 


d.  Ideen  in  einer  Reihe  von  Untersuch,  über  Geschichte  u.  Theorie  ders.,  L  Abth., 
Frankf.  a.  M.  1874,  A.  L.  Kym  (Prof.  in  Zürich,  geb.  1822),  Hegels  Dialektik  in  ihrer 
Anwendung  auf  die  Gesch.  der  Philos.,  Zürich  1849,  die  Weltanschauungen  u. 
deren  Consequenzen,  Zürich  1854,  Trendelenburgs  log.  Untersuchungen  u.  ihre 
Gegner,  1.  Abhandlung,  in:  Zeitschr.  für  Phil.  u.  phil.  Kritik,  Bd.  54,  Heft  H; 
2.  Abhandlung,  in:  Philos.  Monatshefte,  IV,  1870,  Metaph.  Untersuchungen, 
München  1875,  das  Problem  des  Bösen,  München  1878,  sich  angeschlossen.  Kym 
will  Pantheismus  und  Theismus  vermitteln  in  einem  „theistischeu  Monismus"  und 
fasst  seine  Weltanschauung  in  den  Worten  zusammen:  Spinozas  Substanz  vertieft 
und  beherrscht  durch  Piatos  Ideen.  In  der  erneuten  Basirung  der  Logik  auf 
aristotelische  Principien  kommt  mit  Trendelenburg  auch  Fr.  Ueberweg  über- 
ein (s.  o.). 

Auf  den  meisten  katholischen  Lehranstalten  herrschte  schon  früher  ein 
scholastisch  modificirter  Aristotelismus,  insbesondere  die  thomistische  Doctrin  (der 
sich  auch  nähert  C.  F.  Heman,  <L  Erscheinung  der  Dinge  in  der  Wahrnehmung, 
Lpz.  1881).  So  stellte  im  Anschluss  an  Aristoteles  und  die  Scholastiker  die  Philo- 
sophie systematisch  dar  Georg  Hagemann,  Elemente  der  Philosophie  (Logik  tu 
Noetik,  3.  Aufl.  Münster  1873,  Metaph.  1869,  3.  Aufl.  Frbg.  1875,  Psychol.,  4.  Aufl. 
Freibg.  i.  Br.  1881);  ebenso  sind  F.  J.  Clemens  (s.  o.  S.  443),  Joseph 
Kleutgen  id.  Philosophie  der  Vorzeit  vertheidigt;  2.  Aufl.  Innsbruck  1878,  79), 
Constant  Gutberiet,  Lehrb.  d.  Philosophie,  6  Theile,  Münster  1878—1886,  d. 
Gesetz  v.  d.  Erhalt,  d.  Kraft  u.  s.  Beziehung,  z.  Metaphys.,  Münst.  1882,  Ludw. 
Schütz,  Einleit.  in  d.  Philos.,  Münster  1879,  der  Scholastik  befreundet,  ferner 
A.  Stöckl,  Lehrbuch  der  Philosophie,  2  Abtheilungen,  5.  Aufl.  Mainz  1882. 

In  der  Encyclica  Aeterni  Patris  vom  4.  Aug.  1879  hat  nun  Leo  XIII.  die 
Philosophie  des  heil.  Thomas  besonders  empfohlen:  Nihil  nobis  esse  antiquius  et 
optabilius,  quam  ut  sapientiae  rivos  parissimos  ex  angelico  doctore  ingi  et 
praedivite  vena  dimanantes  studiosae  iuventuti  large  copioseque  praebeatis.  — 
Sancti  Thoraae  sapientiam  restituatis  et  quam  latissime  propagetis.  Seit  diesem 
Zeitpunkte  ist  in  Deutschland  und  anderwärts  auf  katholischem  Boden  eiu  ausser- 
ordentlich reges  und  fruchtbares  Streben  zu  beobachten:  einmal  den  heiligen 
Thomas  genauer  kennen  zu  lernen  und  seine  Keuntniss  durch  Commentare  seiner 
Schriften  zu  erleichtern,  sodann  aber  namentlich  Darstellungen  der  Philosophie 
und  ihrer  einzelnen  Theile  im  Sinne  und  Geiste  des  Doctor  angelicus  zu  liefern 
und  zwar  so,  daas  die  neueren  Ergebnisse  der  Wissenschaften  berücksichtigt,  ihre 
Stellung  in  dem  universalen  thomistischen  Gedankenkreise  fänden,  indem  keine 
wirkliche  Wahrheit  diesem  fremd  sein  solle.  Es  sind  hier  von  Deutschen  zu 
erwähnen:  Ernst  Commer  (Prof.  d.  Theol.  in  Münster),  die  philosophische  Wissen- 
schuft, ein  apologet.  Versuch,  Berl.  1882,  System  der  Philosophie,  1—4  Abth., 
Paderborn  1883 — 1886,  welcher  eine  systematische  Darstellung  der  Philosophie 
auf  aristotelischer  Grundlage  versucht  und  sich  hierbei  nicht  nur  mit  Thomas, 
sondern  mit  den  grossen  Philosophen  aller  Zeiten  in  Uebereinstimmung  glaubt. 
Paul  Haffner,  Grundlinien  der  Philos.  als  Aufgabe,  Gesch.  u.  Lehre  zur  Einleit. 
in  d.  philos.  Studien,  Muiuz  1881.  T.  Pesch,  S.  J.,  Institutiones  philosophiae 
naturalis,  Frb.  1880;  das  Weltphänomen,  e.  erkenutnisstheoret.  Studie,  Frb.  1881, 
die  grossen  Welträthsel,  Philos.  der  Natur,  2  Bde.,  Frb.  1883  u.  1884.  Frz.  Xav. 
Pfeifer,  harmonische  Beziehungen  zwisch.  Scholastik  u.  moderner  Naturwissensch., 
Augsb.  1881.  P.  Dressel,  d.  belebte  u.  unbelebte  Stoff  nach  d.  neuesten  Forschungs- 
ergebnissen, Frb.  1883.  C.  M.  Schneider,  Natur,  Vernunft,  Gott,  Regensb.  1883, 
d.  Wissen  Gottes  nach  d.  Lehre  des  h.  Th.  v.  Aqu..  4  Bde..  Regensb.  1884—1886. 
Th.  Mayer,  S.  J.,  Institutiones  iuris  naturalis  seu  philosophiue  moralis  uuiversae 


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§  42.   Rückgang  auf  Aristoteles  u.  a.  Philo*. 


403 


secund.  principia  S.  Tuomae  Aquinatis,  Frb.  1885.  Seit  1887  bat  diese  thomistische 
Richtung  in  Deutschland  als  Orgau  das  „.Jahrbuch  f.  Philosophie  u.  specu- 
lative  Theologie",  berausgeg.  v.  Ernst  (  ommer.  S.  über  diese  ganze  Richtung 
(Jb.  Secr&an,  la  restauration  du  Thomisme.  in:  Rev.  philos.  XVIII,  1844,  8.  56 
bis  91,  Rud.  Euckeu,  d.  Philosophie  des  Thoin.  v.  A.  u.  d.  C'ultur  der  Neuzeit, 
Halle  1886  (vorher  in  d.  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  1885  u.  in  d.  Müncheuer  Allgem. 
Zeit  ),  A.  Adeodatus,  d.  Philos.  u.  d.  Cultur  d.  Neuzeit  u.  d.  Philos.  des  h.  Tb. 
v.  A.,  in:  Schrift  d.  Görres-Gesellscb.,  1887,  1.  EL,  M.  Schneid,  d.  Litteratur  üb. 
d.  thomist.  Philosophie  seit  d.  Encycl.  Aet.  P.,  in:  Jahrb.  f.  Ph.  u.  spec.  Tb.,  1. 
1887,  S.  269—308.  Vgl.  auch  Grundr.  II,  7.  Aufl.,  S.  237.  —  Die  Hauptvertreter  des 
ThomismiiB  ausserhalb  Deutschlands  werden  bei  den  betreffenden  Ländern  erwähnt 
werden. 

Viel  Thomistiscbes  findet  sich  auch  in  Jos.  Jungmauns  S.  J.  Aesthetik, 

2.  umgearb.  Aufl.  des  Buches:  Die  Schönheit  u.  d.  sch.  Kunst.  Frb.  i.  Br.,  8  V., 

3.  Aufl.  1886. 

Sporadisch  tauchen  Versuche  selbständigerer  Umgestaltung  der  Philosophie 
von  katholischer  Seite  auf,  wie  der  von  Michelis  (dem  Verfasser  der  oben 
citirten  Schriften  über  Piaton,  über  Kant,  einer  Uebersicbt  über  den  Entwickeluugs- 
gaug  der  Philos.,  der  Philosophie  des  Bewusstseins ,  Bonn  1878,  des  Gesaranit- 
ergebnisses  der  Naturwissenschaften  denkend  erfasst,  Frb.  1885  und  anderer 
Schriften  und  Abhandlungen)  etc.  Ueber  Beruh.  Bolzano  (1781 — 1848,  Wissen- 
schaftslehre,  Sulzbach  1837,  Athanasia,  ebd.  1838,  Selbstbiogr. ,  mit  Einleitg.. 
Anmerkungen  u.  einigen  kleineren  ungedruckten  Schriften,  neue  Ausg.,  Wien 
1875,  etc.),  der  als  Halbkantianer  zu  bezeichnen  ist,  freilich  in  manchem  Betracht 
der  leibniz-wolffschen  Weise  des  Philosophirens  sich  anschliesst,  s.  M.  J.  Fesl 
und  R.  Zimmermann  am  oben  S.  452  angef.  Ort.  Oischinger,  Grundzüge  z. 
Syst.  der  christlichen  Philos.,  2.  Aufl.,  Straubing  1852;  die  günthersche  Philo- 
sophie, Schaffh.  1852.  Martin  Deutinger  (1815-1864),  Grundlinien  einer  positiven 
Philos.,  1843—49,  der  gegenw.  Zustand  der  deutschen  Philos.,  ans  d.  handschriftl. 
Nachlass  des  Verstorbenen  hrsg.  von  Lorenz  Kastner,  München  1866,  knüpft  mehr- 
fach an  Baader  an  und  will  eine  Versöhnung  zwischen  Wissen  u.  Glanben  stiften. 
Vgl.  L.  Kastner,  Mart.  Deutingers  Leben  u.  Schriften,  Münch.  1875,  G.  Neu- 
decker,  der  Philos.  Deutinger  u.  ultramontaue  Sophistik,  Würzburg  1877.  Neu- 
decker  ist  in  seinem  eigenen  Philosophiren  auch  von  Deutinger  ausgegangen,  das 
Grundproblem  der  Erkenntnisstheorie,  Nördling.  1881,  Grundlegg.  der  rein.  Logik, 
Würzb.  1882.  Nach  ihm  ist  das  Selbstbewusstsein  der  feste  Punkt,  der  für  da* 
Wissen  u.  Denken  nöthig  ist;  es  ist  uns  unmittelbar  und  an  sich  gewiss  und  Ist 
die  Voraussetzung  für  alle  andere  Gewissheit.  Aus  sich  entwickelt  es  aber  nicht 
den  Inhalt  des  Bewusstseins. 

Die  leibnizische  Grundansicht  hat  in  eigenthümlicber  Form  erneut  Michael 
Petöcz,  Ansicht  der  Welt,  Lpz.  1838,  der  die  Welt  aus  Seeleu  bestehen  lässt; 
auf  Leibniz,  als  den  .eigentlichen  Giganten  der  deutschen  Philosophie",  weist  auch 
Joseph  Durdik  hin,  indem  er  zugleich  Newtons  Gravitatiousgesetz  in  den  leib- 
niziBchen  Gedankenkreis  hineinzuverarbeiten  sucht,  b.  oben  bei  den  Herbartianern. 
Auch  M.  Drossbach  (s.  u.)  steht  in  einem  verwandten  Gedankenkreise. 

Einen  auf  Bacou  zurückgehenden  Empirismus  vertritt  O.  F.  Gruppe  1 1H04 
in  Danzig  geb.,  lange  Jahre  Secretair  der  Akademie  der  Künste  in  Berlin,  als 
solcher  1876  gest.),  dessen  Ansichten  auch  mit  deuen  Benekes  einige  Aehnlichkeit 
haben.  Er  schrieb:  Antäus,  ein  Briefwechsel  über  speculative  Philos.  in  ihrem 
('onflict  mit  Wisseusch.  u.  Sprache,  Berl.  1831.  Wendepunkt  d.  Philos.  im 
19.  Jahrb.,  Berl.  1834.    Gegenwart  u.  Zukunft  d.  Philos.  iu  Deutschland.  Berl.  1855. 


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464 


§  43.    Rückgang  auf  Kant,  Neukantianer. 


Gruppe  hält  dafür,  das  System  sei  die  Kindheit  der  Philosophie,  die  Maunheit  der 
Philosophie  sei  die  Forschung.  Er  bekämpft  alle  Metaphysik  und  Speculation  auf 
das  Entschiedenste  und  sieht  in  der  Geschichte  der  Philosophie  fast  durchgehends 
eine  Geschichte  der  Irrthümer. 

Die  einheitliche  Weltanschauung  Spinozas  sucht  unter  scharfer  Kritik  der 
Transsceudentalphilosophie  Kants  mit  Zuhülfenahme  der  Atomistik  zu  begründen 
M.  (Helene)  Bender,  Zur  Losung  des  metaphysischen  Problems,  Berl.  1886.  Die 
Kategorien  treffen  auch  die  Dinge  an  Bich;  die  Substanz  ist  identisch  mit  dem 
Ding  an  eich. 

§  43.  Weit  mehr  als  andere  frühere  Philosophen  ist  in  Deutsch- 
land Kant  wieder  in  den  Vordergrund  getreten,  der  seit  etwa  1855 
einer  gründlichen  Durchforschung,  mehrfach  in  philologischer  Weise, 
unterzogen  wird,  und  auf  den  man  von  den  verschiedensten  Seiten 
aus  zurückgehen  wollte  und  noch  will,  und  es  trat  durch  die  Betonung 
des  Kriticismus  eine  starke  Ernüchterung  im  Denken  ein.  In  Folge 
dieses  Wiederanknüpfens  an  Kant  sind  an  Stelle  der  metaphysischen 
erkenntnisstheoretische  Untersuchungen  getreten.  Von  der  Speculation 
über  das  Uebersinnliche,  Nichterfahrbare  kam  man  ab,  und  die  Be- 
schränkung der  menschlichen  Erkenntniss  auf  die  Erscheinungen  wird 
betont.  So  hat  sich  ein  reiner  Phänomenalisinus  und  ein  Poeitivismus 
im  Sinne  Humes  oder  Corates  entwickelt,  wenngleich  der  letztere  in 
Deutschland  keinen  günstigen  Boden  zu  finden  scheint.  Als  die  haupt- 
sächlichsten der  sogenannten  Neukantianer,  die  sich  freilich  nicht 
unwesentlich  von  einander  unterscheiden,  sind  zu  nennen:  Frdr.  Alb. 
Lange,  Herrn.  Cohen,  Otto  Liebmann  u.  A  ,  auch  wohl  Joh.  Vol- 
kelt. Die  vorzüglichsten  Vertreter  des  Positivismus  sind  Ernst  Laas 
und  Aloys  Riehl. 

Auch  bedeutende  Naturforscher,  wie  Helmholtz  u.  A.,  haben 
auf  erkenntnisstheoretischem  Gebiet  sich  Kaut  genähert.  Ebenso  haben 
sich  namhafte  Theologen,  wie  Albrecht  Ritsehl,  durch  Kant  wesent- 
lich beeinflussen  lassen,  so  dass  auch  diese  zu  den  Neukantianern  ge- 
rechnet werden  können. 

S.  Giacotno  Barzellotfi,  la  nuova  senola  del  Kant  e  la  filosofla  scientific«  contem- 
poranea  in  Germania,  Roma  1880  (freilich  sehr  unvollkommen  orientirend).  Leber  die 
Kant-Studie. i  J.  B.  Meyer,  in:  Vierte  Ijahrsherichte  fib.  d.  gerammten  Wissensch.  D. 
Künste  etc.,  hwmutggg.  v.  Rieh.  Fleischer,  1882. 

L'eber  dem  Positivismus  verwandte  Erscheinungen  in  d.  gegenwärt,  deutschen 
Philosophie  s.  Beruh.  Pünjer,  d.  Positiv ism.  in  d.  neuer.  Philo».,  III,  in:  Jahrbb.  f. 
protest.  Theol.,  1S71),  S.  1— 62. 

Ueber  die  kantianisirenderi  Theologen  der  neueren  Zeit  s.  O.  Flügel,  d.  speculat. 
Theol.  d.  Gegen w.,  2.  Aufl.,  Cöth.  1888.  Ferner  die  betreffenden  Abschnitte  in  den 
Werken  von  O.  Pfleiderer  u.  Pünjer  üb.  Gesch.  d.  Religionsphilos.  L'eb.  Ritsehl  ins- 
besondere s.  Fricke,  Metaphys.  u.  Dogmatik  in  ihr.  gegenseit.  Verb.  unt.  besonderer 
Berücksichtig,  der  Ritschisehen  Theol.,  Vortr.,  Lpz.  1882,  woselbst  auch  Streitschriften 
für  u.  gegen  Ritsehl  angeführt  sind,  u.  O.  Flügel,  A.  R.s  philos.  Ansichten,  in:  Ztschr. 
f.  ex.  Ph.,  14,  188(5,  S.  2*1— :|04.  Di»'  theologische  Litteratur  kann  hier  nicht  auf- 
geführt werden. 


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§  43.    Rückgang  auf  Kant,  Neukantianer. 


46?) 


Dem  Kantianismue  nahe  stand  Ernst  Reinbold  (Karl  Leonh.  Reinholds  Sohn, 
1793—1855,  gest.  als  Prof.  in  Jena),  ohne  das»  er  aber  an  der  neueren  Kant- 
bewegung schon  Theil  hätte.  8.  üb.  ihn:  Apelt,  B.  R.  u.  d.  kantische  Philo»., 
Lpz.  1840. 

übschon  nicht  Kantianer  und  überhaupt  keiuer  philosophischen  Partei  zu- 
gewendet, verehrt  doch  Kant  mehr  als  irgend  einen  anderen  Philosophen  der  Neu- 
zeit Karl  Alexander  Freiherr  v.  Reichlin-Meldegg  (1801—1877,  gest.  als  Prof. 
in  Heidelberg;  seine  Autobiogr.  „d.  Leben  eines  ehemal.  römisch-kathol.  PrieBters", 
Heidelb.  1874).  In  seiner  Psychol.,  Heidelb.  1837—38,  sucht  er  dasjenige  zu  geben, 
was  sich  durch  die  Erfahrung  constatiren  lässt,  d.  h.  durch  die  Thatsnchen  des 
eigenen  Selbstbcwusstseins  und  die  Beobachtungen  Anderer,  unter  Benutzung  des 
physiologisch  Erforschten.  Syst.  der  Logik  nebst  Einleitg.  in  d.  Philos.,  Wien  1870. 

Zu  den  Philosophen  der  kantischeu  Richtung  gehört  insbesondere  auch  Jürgen 
Bonn  Meyer  (geb.  1829,  Prof.  in  Bonn),  Verf.  der  früher  erwähnten  Schriften: 
Thierkunde  des  Aristoteles,  über  Voltaire  und  Rousseau,  über  Kants  Psychologie, 
über  Fiehtes  Reden  an  die  deutsche  Nation,  ferner  einer  Schrift  zum  Streit  über  Leib 
u.  Seele,  Hamb.  1856,  über  die  Idee  der  Seelenwanderung,  Hamb.  1861,  philosophische 
Streitfragen,  Bonn  1870,  2.  Aufl.  1874,  Weltelend  u.  Weltschmerz,  Bonn  1872,  zum 
Bildungsgang  unserer  Zeit,  Bonn  1875,  Probleme  der  Lebensweisheit,  Berl.  1887, 
Glück  u.  Verdienst,  Rede,  Boim  1887,  und  anderer  philosophischer  u.  pädagogischer 
Schriften  u.  Abhandlungen.  Meyer  knüpft  an  Fries  an  und  will  Kant  im  Sinne 
eines  psychologischen  Empirismus  fortbilden,  versucht  die  Annahme  der  drei 
Seelenvermögen  gegen  die  Augriffe,  namentlich  Herbarts,  zu  vertheidigen  und  nach- 
zuweisen, dass  Kaut  das  Apriori  durch  Analyse  a  posteriori  gefunden  habe. 

Einer  der  Ersten,  welcher  den  Rückgang  auf  Kant  forderte,  war  Ed.  Zeller 
(s.  o);  später  that  dasselbe  in  energischer  Weise  Otto  Lieb  mann  (geb.  1840, 
Prof.  in  Jena)  in:  Kant  u.  die  Epigonen,  Stuttgart  1865.  Ueber  den  individuellen 
Beweis  für  die  Freiheit  des  Willens,  Stuttgart  1868.  In  seiner  Schrift  über  den 
objectiven  Anblick,  Stuttgart  1869,  erkennt  er  bei  lebhafter  Polemik  gegen  Kants 
„Hing  an  sich*  doch  thateächlich  unter  den  Bezeichnungen  X  und  Y  das,  was 
Kant  den  Erscheinungen  des  äussern  und  innern  Sinnes  als  transscendentales  Ob- 
ject  oder  Ding  an  sich  correspondiren  lässt,  an.  Auch  in  seinem  grösseren  Werke : 
Zur  Analysis  der  Wirklichkeit,  Strassb.  1876.  2.  Aufl.  1880,  vertritt  er  zwar 
im  Ganzen  den  idealistischen  Standpunkt,  nimmt  aber  doch  an,  dass  wir  durch 
Ordnung  der  absolut  realen  Welt  gezwungen  werden,  die  empirischen  Dinge  und 
Ereignisse  nach  ihrer  Grösse,  Gestalt,  Lage,  Richtung  etc.  so  anzuschauen,  wie  es 
in  jeder  uns  gleichartigen  Intelligenz  geschieht,  dass  ferner  auch  die  Aufeinander- 
folge der  Wahrnehmungen  correspondiren  muss  der  Ordnung  des  äussern  Geschehens. 
Gedanken  und  Thatsacheu,  Heft  1,  Strassb.  1882.  Ueb.  philos.  Tradition,  Rede, 
Strassb.  1883.  D.  Klimax  der  Theorien,  Strassb.  1884.  In  dieser  letzten  Schrift 
nennt  er  das  Verfahren,  subjective  Zuthaten  zu  gebrauchen,  um  den  Zusammenhang 
zwischen  Wahrnehmungen,  die  ihrer  Natur  nach  vereinzelt  sind,  herzustellen,  Inter- 
polation. Als  Maximen  derselben  nimmt  er  an  das  Princip  der  realen  Identität, 
das  der  Coutinuität  der  Existenz,  das  der  Causalität  und  das  der  Continuität  des 
Geschehens.  Liebmann  hält  die  kritische  Metaphysik  in  einem  von  Kaut  etwas 
abweichenden  Sinne  aufrecht. 

Den  Namen  des  KriticiBmus  im  kautischen  Sinne  nimmt  auch  für  seine  Lehre 
in  Anspruch  Wilh.  Windelband  (geb.  1848,  Prof.  in  Strassburg),  üb.  d.  Gewiss- 
heit d.  Erkenntniss,  Lpz.  1873.  Präludien,  Aufsätze  u.  Reden  zur  Einleit.  in  d. 
Philos,  Frb.  i.  Br.  1884  (hervorzuheben:  Was  ist  Philosophie?  Normen  u.  Natur- 
gesetze. Kritische  od.  genetische  Methode?  Vom  Princ.  der  Moral).  Philosophie 

l'i'ber weg- Heime,  Urundri»*  III.  7.  Aufl.  30 


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466 


§  43.   Rückgang  auf  Kaut,  Neukantianer. 


ist  nach  W.  die  kritische  Wissenschaft  von  den  allgemein  gültigen  Werthen.  Die 
kritische  Methode  baut  sich  auf  der  Ueberzeugung  auf,  das»  es  allgemeine  Werthe 
giebt;  damit  dieselben  erreicht  werden,  muss  sich  der  empirische  Process  des 
Vorstellens,  Wollens  u.  Fühlens  in  denjenigen  Normen  bewegen,  ohne  welche  dieser 
Zweck  nicht  erfüllt  werden  kann.  Diese  allgemeinen  Werthe  sind  die  Wahrheit 
im  Denken,  die  Gutheit  im  Wullen  und  Hundelu,  die  Schönheit  im  Fühlen,  und 
repräaentiren  nur  das  Verlangen  nach  demjenigen,  was  der  allgemeinen  Anerkennung 
würdig  ist.  Der  Glaube  an  die  allgemeingültigen  Zwecke  ist  die  Voraussetzung 
der  kritischen  Methode;  wer  diesen  nicht  hat,  mit  dem  weiss  die  kritische  Philo- 
sophie nichtä  anzufangen.  S.  übrig.  K.  Laas,  üb.  teleolog.  Kriticismus,  in:  Yiertel- 
jahrsschr.  f.  wissensch.  Ph.,  8,  1884,  8.  1—17. 

Etwas  mehr  Zutrauen  zur  Metaphysik  als  sogleich  zu  nennende  Neukantianer 
hat  Johannes  Volkelt  (geb.  1848,  Prof.  in  Basel).  Das  Unbewusste  und  der 
Pessimismus,  Berl.  1873.  Die  Traumphantasien,  Stuttg.  1875.  Der  Symbolbegriff 
in  d.  neuest.  Aesthetik,  Jena  1876.  Im.  Kants  Krkenntnisstheorie  nach  ihren 
Grundprincipien  analysirt,  Lpz.  1879  (Nachweis  einer  Reihe  völlig  verschiedener 
Denkprincipien  bei  Kant,  aus  welchen  die  mannigfachsten  Widersprüche  hervor- 
gehen muBsten).  Ueb.  d.  Möglichkeit  e.  Metaphysik,  Antrittsrede  in  Basel.  Hamb, 
u.  Lpz.  1884.  Erfahrung  u.  Denken,  krit.  Grundlag.  der  Erkenntnisstheorie,  Hamb, 
u.  Lpz.  1886.  Volkelt  ist  von  Hegel  ausgegangen,  neigte  dann  zu  Schopenhauer 
hin  und  hat  sich  jetzt  zur  Aufgabe  eine  kritische  Metaphysik  gestellt,  d.  h.  Ver- 
einigung und  Durchdringung  des  idealistisch-metaphysischen  Strebens,  wie  es  die 
nachkantischen  speculativen  Denker  erfüllte,  und  des  skeptisch-kritischen  und  er- 
kenntnisstheoretischen Geistes,  wie  er  sich  in  Hume  und  besonders  in  Kant  zeigte. 
Dinge  und  Denken  bleiben  ewig  geschieden,  und  so  muss  es  eine  blosse  Forderung 
bleiben,  dass  durch  das  Denken  transsubjectiv  gültiger  Inhalt  geschafft  werde. 
Durch  die  Form  des  Erfahren  muss  man  berechtigt  sein,  über  die  Erfahrung 
hinauszugehen,  wir  müssen  subjcctiv  gewiss  sein,  dass  in  der  Erfahrung  sich  etwas 
Unerfahrenes  zu  erkennen  giebt. 

Mehr  oder  weniger  an  Kant  schliessen  sich  ferner  Folgende  an,  wenn  auch 
unter  Bich  weder  in  der  Interpretation  noch  in  der  Weiterführung  der  kantischen 
Lehren  einig:  Wilh.  Tobias,  Grenzen  der  Philosophie,  constatirt  gegen  Riemann 
u.  Helmholtz,  vertheidigt  gegen  v.  Hartmann  u.  Lasker,  Berl.  1875,  welcher  hervor- 
hebt, dass  Alles,  was  nur  durch  die  Berufung  an  das  ausschliesslich  Psychische 
im  Menschen  erledigt  werden  könne,  nicht  vor  das  Forum  der  beobachtenden 
Disciplinen  gehöre,  und  die  Ansicht  zurückweist,  dass  zwischen  theoretischer  Philo- 
sophie und  exacter  Forschung  viele  inneren  Beziehungen  beständen,  welche  die 
Lösung  gemeinschaftlicher  Probleme  durch  gemeinsame  Forschung  erhoffen  Hessen. 
A.  Krause,  die  Gesetze  des  menschlichen  Herzens,  wissenschaftlich  dargestellt 
als  die  formale  Logik  des  reinen  Gefühls,  Lahr  1876,  Kant  u.  Helmholtz,  über  den 
Ursprung  und  die  Bedingungen  der  Raumanschauungen  und  der  geometrischen 
Axiome,  Lahr  1878.  Kurd  Lasswitz,  s.  ob.  8.  239.  Ueber  diese  beiden  letzteu 
vgl.  auch  ob.  S.  258  Anm.  u.  üb.  Lasswitz,  Frdr.  Dittes,  eine  Verjüngung  des 
absoluten  Idealism.,  in:  Pädagogium  1884,  H.  7—10.  A.  Stadler,  die  Gruudzüge 
der  reinen  Erkenntnisstheorie  in  der  kantischen  Philos.,  Lpz.  1876,  Kants  Theorie 
der  Materie,  Lpz.  1883.  Um  die  Darlegung  kantischer  Gedanken  hat  sich  b  esonders 
verdient  gemacht  Hermann  Cohen,  Kants  Theorie  der  Erfahrung,  Berl.  1871, 
2.  Aufl.  1885,  Das  Princip  der  Infinitesimalmethode  und  seine  Geschichte,  Berl. 
1883,  Kants  Begründ.  d.  Ethik,  Berl.  1877,  Kants  Einfluss  auf  d.  deutsche  Cultur, 
Rede,  Berl.  1883,  der  besonders  betont,  dass  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft 
Kritik  der  Erfahrung  ist,  aber  in  Anschluss  an  Kant  die  philosophischen  Probleme 


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§  43.    Rückgang  auf  Kaut,  Neukantianer. 


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selbständig  zu  fördern  sucht.  In  philologischer  Weise  hat  für  Kant  sehr  verdienst- 
lich gearbeitet  Benno  Erdmanu  (geb.  1851,  Prof.  in  Breslau),  ebenso  Hans 
Vaihinger.  Weitere,  die  Philosophie  Kauts  betreffende  Werke,  in  denen  auch 
die  philosophischen  Probleme  mit  einer  gewissen  Selbständigkeit  behandelt  werden, 
von  E.  (Elise)  Last,  d.  idealistische  u.  realist.  Weltanschauung  entwickelt  an  Kants 
Idealit  v.  Zeit  u.  Kaum.  Lpz.  1884,  v.  Holder  u.  A.  sind  oben  bei  der  Litteratur 
zu  Kant  erwähnt. 

Zu  Kants  kritischem  Grundgedanken  bekennt  sich  F.  Alb.  Lange  (geb.  1828 
in  Wald  bei  Solingen,  gest.  1875  als  Professor  in  Marburg),  der  Verfasser  der 
.Gesch.  d.  Materialismus",  Iserlohn  1866,  3.  Aufl.  Leipz.  u.  Iserlohn  1875  ff.,  4.  wohl- 
feile Aufl.  (ohne  Register  und  Anmerk.),  Iserlohn  1882,  welches  nicht  ein  rein 
geschichtliches  Werk  ist,  sondern  vor  Allem  darzuthun  versucht,  dass  der  Materialis- 
mus unter  den  metaphysischen  Systemen  das  annehmbarste  sei,  dass  derselbe  aber 
der  Erkenntnisslehre  Kants  gegenüber  kein  Recht  mehr  habe.  Lange  nimmt  mit 
Kant  apriorische  Formen  der  AnBehauung  und  des  Urtheils  als  die  Grundlage  der 
gesammten  Erfahrung  an,  hält  aber  die  Deduction  dieser  apriorbchen  Formen  für 
unmöglich  und  darum  auch  Kants  .zukünftige  Metaphysik*  für  ebenso  uuraöglich, 
wie  die  alte  Metaphysik.  Die  Entdeckung  der  obersten  Verstandesbegriffe,  die, 
wenn  auch  erst  durch  späte  Abstraction  zum  Bewusstsein  kommend,  in  der  ursprüng- 
lichen und  unabänderlichen  Entfaltung  der  Vcrstandesanlage  gegründet  sind,  kann 
nur  auf  dem  Wege  der  Induction  erfolgen,  unter  Beihülfe  der  Kritik  und  der  psycho- 
logischen Beleuchtung.  Die  ganze  Sinnenwelt  ist  Product  unserer  Organi- 
sation, ohne  dass  aber  unerkennbare  Dinge,  die  auf  unsere  Organisation  wirkeu, 
geleugnet  werden.  Die  Physiologie  der  Sinnesorgane  ist  der  entwickelte  oder  be- 
richtigte Kautianismus.  Nur  in  der  Erfahrung  ist  Wahrheit,  diese  aber  ist  unser 
Eigenthum.  Gegen  jede  Metaphysik,  welche  sich  anmaasst,  in  das  Wesen  der 
Dinge  einzadringen  und  aus  Begriffen  zu  gewinnen,  was  nur  die  Erfahrung  lehren 
kann,  ist  der  Materialismus  mit  seiner  exacten  Forschung  eine  wahre  Wohlthat. 
Sobald  dieser  aber  Weltanschauung  sein  will,  ist  er  unzulänglich,  da  er  die  letzten 
Räthsel  der  Natur  nicht  erklärt.  Nur  als  Maxime  der  wissenschaftlichen  Detail- 
arbeit hat  er  sein  Recht.  Wer  sich  bloss  um  die  Ersehet nungs weit  kümmert,  bleibt 
im  Wesentlichen  auf  dem  Standpunkt  des  Materialismus  stehen.  Auf  der  synthetischen 
Function,  welche,  sofern  sie  allgemein  menschlich  ist,  die  Wirklichkeit  als  Er- 
scheinung für  die  Gattung  hervorbringt,  beruht  auch  die  Speculation,  welche  es 
sich  zur  Aufgabe  setzt,  Harmonie  in  die  Erscheinungen  zu  bringen.  Es  fehlt  aber 
hier  der  leitende  Zwang  der  Priucipien  der  Erfahrung,  die  bindende  Organisation 
der  Gattung,  und  darum  ist  die  Speculation  nicht  ein  Product  der  Gattung,  sondern 
eine  Dichtung  des  Individuums,  welches  nach  der  ihm  besonderen  Eigen- 
tümlichkeit gestaltet.  Sie  beruht  auf  einer  Art  Bautrieb  der  Menschheit.  Lange 
trennt  noch  entschiedener  als  Kant  die  sittliche  Berechtigung  der  Ideen  von  ihrer 
objectiven  Begründung,  verweist  aber  im  Unterschiede  von  Kant  die  sittlichen 
Ideen,  die  er  mehr  in  der  schillerschen  als  kantischeu  Weise  fasst,  mit  Religion 
und  Dichtung  in  ein  gemeinsames  Gebiet.  Vgl.  Haus  Vaihinger,  Hartmanu, 
Dühring  und  Lauge,  Iserlohn  1876.  Vaihinger  (geb.  1852,  Prof.  in  Halle)  vertritt 
d.  Ansichten  Langes.  Ed.  v.  Hartmann,  Neukantianismus,  Schopenhauerianismus 
u.  Hegelianismus  in  ihr.  Stell,  z.  d.  philos.  Aufgaben  der  Gegenw.,  Brl.  1877, 
II.  Abschn. :  Lange -Vaihingers  subjectivistischer  Skepticismus.  Herrn.  Cohen,  in: 
Preuss.  Jahrbb.  1876.  M.  Heinze,  der  Idealismus  Fr.  Alb.  La  in:  Viertel- 
juhrsschr.  f.  wissenschaftl.  Philos.,  I.  Bd.,  1877.  In  .Logische  Studien,  ein  Beitrag 
zur  Neubegründung  der  formalen  Logik  und  der  Erkenntnisstheorie'',  Iserlohn  1877, 
behandelt  Lange  1.  formale  Logik  undErkeuntnisstheorie,  2.  die  Modalität  derUrtheile, 

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§  43.    Rückgang  auf  Kaut,  Neukantianer. 


3.  das  particuläre  ürtbeil  und  die  Lehre  von  der  Umkehrung  der  Urtheile,  4.  die 
Syllogistik,  5.  das  disjunctive  ürtheil  und  die  Elemente  der  Wahrscheinlicbkeite- 
lebre,  6.  Raum,  Zeit  und  Zahl.  Ausser  den  schon  genannten  Arbeiten  seien  noch 
erwähnt:  die  Grundlegung  der  matheraat.  Paychol.,  s.  ob.  S.  402.  Neue  Beitrage 
zur  Geschichte  der  Mathematik,  II.  1 :  Zurückweisung  der  Beitrage  Schillings  nebet 
einer  Untersuch,  üb.  Epikur  u.  d.  Grenzen  des  Erfahrungsgebietes,  Winterthur  1867. 
Auch  hat  Lange  eine  Anzahl  Artikel  für  die  Encyklop.  des  gesammt  Erzieh-  u. 
Unterrichtswesens  geschrieben,  so  den  über  Seeleulehre,  den  vortrefflichen  über 
L.  Vives.  In  seiuer  Schrift  über  die  Arbeiterfrage,  Winterthur  1865,  2.  Aufl.  1870, 
sucht  Lange  den  Weg  zu  zeigen,  auf  welchem  der  exclusiven  Wirkung  der  im 
Egoismus  begründeten  Regeln  durch  moralische  Mächte  Schranken  gesetzt  werden 
können.  Den  „Vereinstng  deutscher  Arbeitervereine-  in  Leipzig  1864  besuchte  er 
und  wurde  u.  A.  mit  Bebel  und  Sonnemann  in  den  ständigen  Ausschuss  gewählt. 
8.  H.  Braun,  F.  A.  Lange  als  Socialöconom,  Halle  1881. 

Fritz  Schultze,  Philosophie  der  Naturwissenschaft,  eine  philos.  Eiuleit.  in 
das  Studium  der  Natur  u.  ihrer  Wissenschaften,  2  Bde.,  Lpz.  1881—82,  will  durch 
den  Kriticismus  die  Gegensätze  zwischen  Wissenschaft,  Religion  und  Ethik  aus- 
gleichen. Das  allgemeinste  Grundaxiom  alles  sicheren,  d.  h.  alles  kritischen  Er- 
kennens  lautet:  Alles  wahrhaft  wissenschaftliche,  menschliche  Erkennen  bezieht  sich 
nur  auf  in  Raum  und  Zeit  causal  verknüpfte  Empfindungen.  Schriften  Schultzes 
über  Materialismus  und  Spiritismus  s.  unt. 

Die  durchaus  phänomenale  Auffassung  der  Natur  vertritt  Anton  v.  Leclair, 
der  Realismus  der  modernen  Naturwissenschaft  im  Lichte  der  von  Berkeley  u.  Kant 
angebahnten  Erkenntnisskritik,  Prag  1879,  Beiträge  zu  einer  monistisch.  Erkennt- 
nisstheorie,  Breslau  1882.  Leclair  erkennt  einen  transscendentcn  Factor,  ein  extra- 
mentales Sein  nicht  an  und  lehnt  alle  Metaphysik  ab.  Sein  Fundamentalsatz  ist: 
Denken  =  Denken  eines  Seins;  Sein  =  gedachtes  Sein. 

Aehnliche  erkenutnisstheoretische  Ansichten  stellt  auf  Willi.  Schuppe, 
das  menschl.  Denken,  Berl.  1870,  Erkenntnisstheoret.  Logik,  Bonn  1878.  Grundzüge 
der  Ethik  n.  Rechtsphilos.,  Breslau  1882,  das  metaphys.  Motiv  u.  d.  Gesch.  der 
Philos.  im  Umrisse,  Rede.  Breslau  1882.  Der  Begriff  des  subjectiven  Rechts, 
Breslau  1887.  Alles  Sein,  welches  Object  des  Denkens  werden  kann,  ist  seinem 
Begriffe  nach  schon  Bewusstseinsinhalt,  und  ein  Sein,  welches  nicht  Bewußtseins- 
inhalt sein  soll,  ist  ein  undenkbarer  Gedanke.  Bewusstseinsinhalt  setzt  aber  eiu 
bewusstes  Ich  voraus.  Ein  Wunder  des  Daseins,  dus  erste  und  einzige,  ist  es  frei- 
lich, wie  das  Ich  überhaupt  Zustände  und  einen  Bewusstseinsinhalt  haben  kann. 
Wahr  ist  ein  Gedanke,  der  ein  Wirkliches  zum  Inhalt  hat,  und  das  Wirkliche  ist 
ein  Wahrgenommeues,  das  mit  allem  sonstigen  Wahrgenommenen  in  ursächlicher 
Verbindung  steht.  So  liegt  die  Garantie  für  die  objective  Thatsache  nur  im  Causul- 
zusammeuhang.  Mit  seinen  erkenntnisstheoretisehen  Resultaten  hängt  auch  die 
Ethik  Schuppes  zusammen.  Gut  ist  das,  was  Lust  erzeugt,  und  dies  wird  gewollt. 
Nur  das  Gefühl  ist  im  Stande  werthzuschätzeu.  Damit  nun  ein  sittliches  Sollen  zu 
Stande  komme,  muss  eine  unbedingte  und  allgemeingiltige  Werthschätzung  den 
Willen  der  Menschen  bewegen.  Das  absolut  Werthvolle  ist  aber  das  Bewusstsein. 
Die  Lust  an  dem  Bewusstsein  oder  an  der  bewussten  Existenz  ist  eine  nothwendige, 
aber  freilich  schliesst  die  Ethik  nicht  mit  diesem  Werthe  des  individuellen  Be- 
wusstaeins,  sondern  Princip  derselben  ist  der  Werth  des  Bewusstseins  überhaupt, 
welches  den  eigentlichen  Kern  im  Bewusstsein  jedes  Einzelnen  bildet. 

Verwandt  mit  Leclairs,  Schuppes  und  auch  Laas'  (s.  nachher)  Staudpunkt  ist 
der  von  Richard  v.  Schubcrt-Soldern,  der  Schuppes  thätiges,  beziehendes  Ich 
als  transscendent  verwirft.    Die  Beziehungen  sind  unmittelbar  und  selbständig  mit 


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§  43.    Rückgang  anf  Kant,  Neukantianer. 


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und  in  den  Inhalten  gegeben  und  bedürfen  keines  beziehenden  Ich;  neue  Beziehungen 
treten  nur  mit  neuen  Inhalten  auf.  Moralisch  ist  gleichbedeutend  mit  altruistisch;  die 
fremden  Gefühle  sind  zwar  erschlossen,  gewähren  aber  nur  mittelbare  Lust.  üeb.  Trans- 
scendenz  des  Obj.  u.  Subj.,  Lpz.  1882.  Grundlagen  einer  Erkenntuisstheorie  1884. 
Grundlagen  z.  e.  Ethik,  Lpz.  1887.    Reproduction,  Gefühl  u.  Wille,  Lpz.  1887. 

Sehr  ähnlich  sind  die  erkenntnisstheoretischen  Aufstellungen  des  Physikers 
E.  Mach,  Beiträge  zur  Analyse  der  Empfindungen,  Jena  1886.  Nach  ihm  erzeugen 
nicht  die  Körper  Empfindungen,  sondern  Empfindungscomplexe  bilden  die  Körper. 
Die  letzten  Elemente  sind  Farben,  Töne  u.  s.  w ,  und  deren  gegebenen  Zusammen- 
hang müssen  wir  erforschen.  Das  Ich  ist  nicht  eine  reale  Einheit,  sondern  eine 
praktische,  eine  stärker  zusammenhängende  Gruppe  von  Elementen,  welche  mit 
andern  Gruppen  dieser  Art  schwächer  zusammenhängt  Nicht  das  Ich  ist  das 
Erste,  sondern  die  Empfindungen,  die  Elemente,  welche  das  Ich  erst  bilden. 

Einen  erkenntnisstheoretischen  Monismus  vertritt  auch  Joh.  Rehmke  (geb. 
1848,  Prof.  in  GreifBwald),  d.  Welt  als  Wahrnehmung  u.  Begriff,  Berl.  1880. 
Physiologie  u.  Kantianism.,  Vortr.,  Eisenach  1883.  Vgl.  E.  v.  Hartmann,  d.  reine 
Realism.  Biedermanns  (Em.  AI.)  u.  Rehmkes,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  88,  1886, 
8.  161-179. 

Hier  ist  ferner  zu  nennen: 

Rieh.  Avenarius  (geb.  1843,  Prof.  in  Züricbi,  Philosophie  als  Denken  der 
Welt  gemäss  dem  Princip  des  kleinsten  Kraftmaasses,  Prolegomena  zu  einer  Kritik 
der  reinen  Erfahrung,  Lpz.  1876.  Die  reine  Erfahrung  als  das  durch  den  Gegen- 
stand allein  Gegebene  unter  Elimination  dessen,  was  das  erfahrende  Subject  in  den 
Gegenstand  hineinlegt,  unterscheidet  sich  von  der  naiven.  Als  das  durch  die  reine 
Erfahrung  Gegebene  bleibt  aber  nur  übrig  die  Empfindung  als  das  Seiende.  Wie 
diese  der  Inhalt  des  Seins  ist,  so  die  Bewegung  die  Form  desselben. 

Avenarius  ist  auch  Herausgeber  (unter  Mitwirkung  von  M.  Heinze  u.  W.  Wundt) 
der  „Vierteljahrsschr.  f.  wissenschaftliche  Philosophie",  die  seit  1877 
in  Leipzig  erscheint  und  von  der  Voraussetzung  ausgeht,  dass  Wissenschaft  nur 
soweit  möglich  sei,  als  Erfahrung  die  Grundlage  bilde. 

Mit  strenger  Kritik  gegen  Kant  verfährt  Ernst  Laas  (1837—1885,  seit  1873 
Prof.  in  Strassburg),  Kants  Analogien  der  Erfahrung,  Berl.  1876,  ein  Werk,  das 
zugleich  eine  „kritische  Studie  über  d.  Grundlagen  der  theoret.  Philosophie"  ist 
Laas  ist  nicht  zu  den  Kantianern  zu  rechnen,  neigt  vielmehr  in  diesem  Werke  zur 
Annahme  einer  Vielheit  von  dynamisch  gegenseitig  abhängigen,  zu  einem  einheit- 
lichen selbstgenügsamen  Weltsystem  zusammengeschlossenen  Substanzen  und  eines 
wirklichen  Geschehens  in  einer  transscendenten  Zeit.  Ausser  verschiedenen  auf  Päda- 
gogik und  Geschichte  derselben  bezüglichen  Werken  hat  Laas  noch  verfasst:  Idealis- 
mus und  Positivismus,  L  allgemeiner  u.  grundlegender  Theil  (die  Principien  des 
Idealismus  u.  Positivismus.  Historische  Grundlegung),  Berl.  1879,  2.  Th.,  idealist 
n.  positiviBt.  Ethik,  1882,  3.  Tb.,  idealist  u.  positivist.  Erkenntnisstheorie  (Aus- 
einandersetzung mit  dem  ausserkantisch.,  platonisirend.  Idealism.,  Auseinandersetz, 
mit  d.  Erkenntnisstheorie  Kants  n.  seiner  Schule  u.  den  Modificationen  der  Kantisch. 
Erkenutnissl.,  so  mit  Lotze,  Helmholtz,  Lange,  Liebmami),  1884.  Litterarischer 
Nachlass,  herausgeg.  v.  B.  Kerry,  Wien  1887,  darin  philosophisch:  Idealistische  u. 
positivist  Ethik.  Er  bekennt  sich  in  diesem  Werke  zu  dem  Positivismus,  den 
er  nicht  durchaus  im  Sinne  Comtes  fasst;  vielmehr  führt  er  seine  Denkart  auf 
Protagoraa,  unter  den  Neueren  auf  Dav.  Hume  und  Stuart  Mill  zurück  und  ver- 
steht unter  Positivismus  diejenige  Philosophie,  welche  keine  anderen  Grundlagen 
anerkennt  als  positive  Thatsachen,  d.  h.  äussere  und  innere  Wahrnehmungen,  und 
welche  von  jeder  Meinung  fordert,  dass  sie  die  Thatsachen,  die  Erfahrungen,  auf 


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§  43.   Rückgang  auf  Kant,  Neukantianer. 


denen  sie  ruht,  nachweise.  Seine  Erkenntnisstheorie  nennt  er  „Correlativismus", 
der  darauf  hinausläuft,  dass  Objecte  unmittelbar  nur  bekannt  sind  als  Inhalte  eines 
Bewusstaeins,  und  Subjecte  nur  als  Beziehungscentren,  als  der  Schauplatz  von  Wahr- 
nehmungsinhalten.  Die  Wahrnehmungsobjecte  sind  variabel,  die  Sinnenwelt  ist  aber 
wissenschaftlich  zu  bearbeiten.  Zwar  sind  alle  unsere  Begriffe  sinnlichen  Ursprungs, 
aber  nicht  sowohl  .uns"  als  gewissen  letzten  uns  fremden,  von  uns  in  jedem  Sinne 
unabhängigen  Thatsuchen  ist  es  zu  verdanken,  wenn  Wissenschaft  zu  allgemeinen 
und  notwendigen  Erkenntnissen  vordringt.  Die  Gebilde  der  Metaphysik  sind 
wissenschaftlich  nicht  zu  beweisen  und  für  das  praktische  Leben  unnöthig. 

Die  äussere  Natur  ist  ein  Inbegriff  gesetzmässig  verknüpfter  Wahrnehmbar- 
keiten oder,  wegen  der  durchgängigen  Beziehung  auf  wahrnehmende  Subjecte,  von 
Erscheinungen.  Wenn  der  Positivist  dieselben  nach  dem  Schema:  Ding,  Eigen- 
schaft, Zustand,  Beziehung  gliedert  und  auseinanderlegt,  so  geschieht  dies,  weil  die 
Erfahrung  dazu  veranlasst,  und  weil  sich  befriedigende  Erklärungen  daraus  ergeben. 
Wenn  er  die  Natur  in  untheilbare  Elementarbestandtheile  aufgelöst  denkt,  stellt 
er  sie  nach  Analogie  der  wahrnehmbaren  Dinge  vor.  Seine  Dinge  kann  er  aber 
beide  Mal  nicht  von  seinem  Bewusstsein  losgelöst  denken.  Sieht  er  für  seine 
objectiven  Anschauungen  und  für  die  zur  Erklärung  derselben  angesetzten  Con- 
Btitnentien  von  den  Launen  und  Zufälligkeiten  seines  eigenen  Bewusstaeins  ab,  so 
muss  er  ein  formales  Bewusstsein  überhaupt  (kantscher  Terminus)  als  Correlat  zu 
den  Objecten  an  seine  Stelle  setzen.  Die  positivistische  Ethik  wird  sich  als  Wissen- 
schaft darauf  beschränken,  den  psychologischen  und  geschichtlichen  Ursprung  der 
moralischen  Gesetze  aufzudecken  und  denselben  den  Weg  zur  Fortbildung  anzu- 
weisen. Der  geschichtliche  Ursprung  unserer  positiven  Pflichten  liegt  in  den  Er- 
wartungen und  Ansprüchen  unserer  Umgebung. 

Aloys  Riehl  (geb.  1844,  Prof.  in  Freibnrg),  der  philo».  Kriticismus  u.  seine 
Bedeut.  f.  d.  positive  Wissensch.,  Bd.  1,  Gesch.  u.  Methode  des  philos.  Krit,  Lpz. 
1876,  Bd.  2,  1.  Th.,  d.  sinnl.  u.  logisch  Grundlagen  der  Erkenntniss,  1879  ,  2.  Th., 
zur  Wissenschaftatheorie  u.  Metaphys.,  1887,  üb.  wissenschaftl.  u.  nicht  wiasenachaftl. 
Philosophie,  akadem.  Antrittsrede,  Frbg.  u.  Tübing.  1883,  sieht  die  wissenschaft- 
liche Aufgabe  der  Philosophie  in  der  Forschung  nach  den  Quellen  des  Erkennend, 
in  der  Ermittelung  seiner  Bedingungen  und  Bestimmung  seiner  Grenzen.  Die  Phi- 
losophie ist  nicht  Weltanschauungslehre,  sondern  Wissenschaft  und  Kritik  der 
Erkenntniss  und  vertritt  den  einzelnen  positiven  Disciplinen  gegenüber  die  allge- 
meine wissenschaftliche  Bildung.  Psychologie,  Aesthetik,  Ethik  bilden  Bich  zu 
positiven  Wissenschaften  aus,  Metaphysik  hat  ihre  Berechtigung  nur  als  kritische 
oder  negative  Discipliu.  Als  solche  ist  sie  die  Theorie  der  Grenzbegriffe  der  Er- 
fahrung. Seit  aber  Sokrates  die  Philosophie  von  der  Speculation  über  die  gegen- 
ständliche Welt  auf  die  Betrachtung  der  menschlichen  Lebensverhältnisse  gelenkt 
hat,  sind  mit  dem  Namen  der  Philosophie  zwei  von  einander  verschiedene  Begriffe 
verbunden  worden,  und  kein  Irrthum  in  der  Geschichte  der  Philosophie  ist  von 
schlimmeren  Folgen  gewesen,  als  die  Verkennung  dieses  Unterschiedes,  welche  von 
Piaton  anhebt.  .Die  ungehörige  Verwendung  einer  ethischen  oder  ästhetischen 
Idee  zur  Erklärung  der  Naturvorgänge  statt  zur  Beurtheilung  und  Leitung  der 
menschlichen  Handlungen  und  Werke,  ist  die  Quelle  und  der  Sinn  alles  Piatonismus 
in  der  Philosophie",  welcher  das  Bestreben  ist,  „unter  Einem  und  auf  Grund  eben 
derselben  Principien  zu  einer  ethischen  Lebensauffassung  und  der  Erklärung  der 
Dinge  zu  gelangen".  Soweit  sich  die  Philosophie  die  Aufgabe  stellt,  eine  wahrhaft 
humane  Lebensführung  zu  entwerfen,  dem  menschlichen  Leben  Zwecke  zu  setzen, 
tritt  sie  aus  der  Reihe  der  Wissenschaften  neben  dieselben,  neben  die  Kunst  und 
den  Glauben  des  Gemüths.  —  Einen  andern  Glauben  an  Existenz  überhaupt  als 


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aus  der  Empfindungsthätigkeit  giebt  es  nicht.  Raum  und  Zeit  haben  in  den  Ver- 
hältnissen der  Mannigfaltigkeit  der  Empfindungen  ihre  empirisch -reale,  in  den 
logischen  Fähigkeiten  unseres  Geistes  ihre  idealen  Grundlagen- 
Wegen  Beiner  Stellung  zur  Metaphysik  sei  sogleich  hier  erwähnt  Wilb.  Dilthey 
(geb.  1834,  Prof.  in  Berlin),  der  in:  Einleit.  in  d.  Geisteswissenschaften,  Versuch 
einer  Grundlegung  f.  d.  Studium  der  Gesellsch.  u.  der  Geschichte,  1.  Bd.,  Lpz.  1883, 
jede  metaphysische  Begründung  wissenschaftlicher  Erkenntniss  abweist.  In  dem 
2.  Buche  des  erwähnten  Werkes  bringt  er  die  Herrschaft  und  den  Verfall  der  Meta- 
physik historisch  zur  Darstellung  und  giebt  hierbei  manche  neue  und  treffende 
Auffassung  früherer  Lehren.  Das  Ideal  der  Metaphysik  ist  der  logische  Welt- 
zusammenhang, aber  die  Wirklichkeit  widerspricht  diesem  Ideal,  und  so  ist  Meta- 
physik überhaupt  unhaltbar.  Naturwissenschaftliche  Methoden  und  Principien  dürfen 
in  den  Geisteswissenschaften  nicht  angewendet  werden.  S.  dazu  Otto  Gierke,  e. 
Grundleg.  f.  d.  Geisteswissenschaften,  in:  Prenss.  Jahrbb.  53,  1884,  S.  106— 144. 
Die  philosoph. -historisi-h.  Arbeiten  Diltheys  sind  früher  genannt;  neuerdings  sind 
von  ihm  erschienen:  Dichterische  Einbildungskraft  und  Wahnsinn,  Rede,  Lpz.  1886, 
das  Schaffen  (die  Einbildungekraft)  des  Dichters,  in:  Philos.  Aafsätze,  Ed.  Zeller 
z.  s.  50jähr.  Doctorjub.  gewidm.,  Lpz.  1887,  S.  303—482. 

Die  ethische  und  religiöse  Seite  Kants  betont  Hnr.  Romundt,  Antäus,  nener 
Aufbau  der  L.  K.s  üb.  Seele,  Erbt.  u.  Gott,  Lpz.  1882,  Vernunft  als  t'hristenth., 
Lpz.  1882.  D.  Herstell.  des  L.  Jesu  durch  Kants  Reform  d.  Philosophie,  Bremen 
1883.  Grundlegung  zur  Reform  der  Philos.  Vereinfachte  u.  erweiterte  Darstell,  v. 
I.  Kante  Kr.  d.  r.  V.,  Berl  1885.  D.  Vollendung  des  Sokrates.  I  Kants  Grundleg. 
zur  Reform  der  Sittenl.,  Berl.  1885.  Ein  neuer  Paulus,  I.  Kants  Grundleg.  z.  e. 
sicher.  L.  v.  d.  Religion,  Berl.  1886.  Die  drei  Fragen  Kante,  Berl.  1887.  Vgl.  üb. 
d.  Wiedererweckung  der  kantischen  Ethik,  in  welcher  Manche  für  die  Gegenwart 
das  Bedeutendste  der  kantischen  Philosophie  sehen,  Joh.  Volkelt,  in  Ztechr.  f. 
Philos.,  1882,  S.  37-48. 

Auch  nach  Frdr.  Paulsen  (geb.  1846,  Prof.  in  Berlin)  ist  das  ethisch- reli- 
giöse Moment  der  kantischen  Philosophie  für  unsere  Zeit  noch  von  bedeutendstem 
Werth,  s.  dess.  Aufs.:  Was  uns  K.  sein  kann?  in:  Vierteljahrsschr.  f.  wissensch. 
Ph.,  5,  1881,  S.  1-96.   Sein  grösseres  Werk  üb.  Kant  s.  ob. 

In  der  Theologie  ist  es  namentlich  A.  Ritsehl  (die  christliche  Lehre  von 
der  Rechtfertigung  u.  Versöhnung,  3  Bde.,  Bonn  1870—74,  Unterricht  in  d.  christl. 
Relig ,  2.  Aufl.,  Bonn  1881,  Theologie  u.  Metaphys.,  Bonn  1881)  mit  seiner  Schule, 
der  dem  kantischeu  Kriticismus  grossen  Einfluss  gewährt.  Theoretische  Erkenntnis« 
und  Religion,  Wissen  und  Glauben  sind  von  einander  ganz  getrennt.  Deshalb  darf 
auch  der  Metaphysik  nicht  in  hergebrachter  Weise  auf  die  Theologie  Einfluss 
gestattet  werden,  zumal  wir  durch  das  Denken  doch  nicht  zu  dem  Ding  an  sich 
gelangen.  Die  Wirklichkeit  Gottes  steht  fest  durch  die  Erfahrung  von  seinem 
Wirken,  durch  die  Gefühlserregungen  und  Willensbewegungen.  Das  Gefühl  der 
Sünde  und  das  Seligkeiteverlangen  ist  da,  diesen  entspricht  ein  zürnender  Gott  und 
ein  gnädiger  Gott.  Wenn  der  Mensch  Beweise  für  das  Dasein  Gottes  sucht,  so 
will  er  nur,  dass  Gott,  der  ihm  schon  verbürgt  ist,  auch  als  das  oberste  Gesetz 
der  Welt  erkannt  werde;  hier  kann  nur  ein  moralischer  BeweiB  Geltung  haben. 
Vorzüglicher  Vertreter  dieser  Richtung  ist  W.  Herrmann,  d.  Relig.  im  Verh.  zum 
Welterkennen  u.  zur  Sittlichkeit,  Halle  1879,  der  Verkehr  des  Christen  mit  Gott, 
in  Anschluss  an  Luther  dargest  ,  Stuttg.  1886.  Auch  Julius  Kaftan,  d.  Wesen  d. 
christl.  Religion,  2.  A.,  Basel  1888,  ist  hier  zu  nennen,  der  sich  im  Wesentlichen  an 
Ritscbl  anschliesst.  Der  Glaube  gründet  sich  auf  Werthurtbeile  und  dient  dem  Selig- 
keiteverlangen des  Menschen.  Entschiedener  Einfluss  Kante  und  Langes  auf  dem  Gebiete 


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472 


§  43.   Rückgang  auf  Kant,  Neukantianer. 


der  Erkenntuisstheorie  ist  zu  bemerken  bei  Rieh.  Adelbert  Li  peius,  Lehrb.  d. 
evang.-protest.  Dogmat. ,  2.  Aufl.,  Braunschw.  1879,  dogmat.  Beiträge,  Lpz.  1878. 
Philosophie  u.  Relig.,  Lpz.  1885,  der  eine  wissenschaftliche  Erkenntniss  des  trans- 
scendenten  Wesens  oder  der  verborgenen  Natur  Gottes  für  unmöglich  hält. 

Unter  den  Naturforschern  ist  neben  Apelt,  Schleiden  etc.  namentlich  auch 
Helmholtz  zu  erwähnen,  der  die  Verwandtachaft  zwischen  der  transscendentalen 
Aesthetik  Kants  und  der  heutigen  physiologisch-psychologischen  Theorie  der  Sinnes- 
wahrnehmung hervorhebt.  (Ueber  das  Sehen  des  Mensch.,  Vortr.,  gehalt.  zum  Besten 
des  Kantdenkmals  1856,  Lehre  v.  d.  Tonempflnduugen,  1863,  4.  Aufl.  1877,  Physiol. 
Optik,  2.  Aufl.  1886,  die  Thatsacheu  der  Wahrnehmung,  Berl.  1879,  Vorträge  u. 
Reden,  3.  Aufl.  der  populär,  wissensch.  Vorträge,  Braunschw.  1884.)  Schon  1855 
hatte  Helmholtz  erklärt,  es  dürfe  sich  kein  Zeitalter  der  Aufgabe,  welche  der  Phi- 
losophie immer  bleiben  werde,  die  Quellen  unseres  Wissens  und  den  Grund  seiner 
Berechtigung  zu  untersuchen,  ungestraft  entziehen.  Er  giebt  zwar  die  apriorische 
Anschauung  von  Raum  und  Zeit  gewissermaassen  zu,  will  aber  ihre  Eutwickelung 
namentlich  von  Bewegungsempßnduugen  abhängig  macheu.  Die  Apriorität  des 
Causalitätsgesetzes  nimmt  er  unbedingt  an;  uuter  dem  Zwange  desselben  schliessen 
wir  auf  äussere  Ursachen  unserer  Empfindungen  (Schopenhauer).  Vgl.  Jos.  Schwert- 
schlager, Kant  u.  U.  erkenntuisstheoret.  verglichen,  Frb.  i.  B  1883.  Aehnlich  lehrt 
Ad.  Fick,  Vers.  üb.  Ursache  u.  Wirkung,  2.  Aufl.  1882,  die  Welt  als  Vorstellung. 
Vortr.,  1870,  Philosophischer  Versuch  üb.  d.  Wahrscheinlichkeiten,  1883,  dass  ein 
VeretandesschluBS  aus  den  Empfindungen,  als  innersten  Zuständen  unserer  selbst 
die  äusseren  Dinge  construirt.  Ferner  sind  hier  zu  nennen  der  Physiologe 
C.  Rokitansky,  A.  Classen,  Physiologie  des  Gesichtssinns,  zum  ersten  Mal 
begründet  auf  K.s  Theorie  der  Erfahrung,  Braunschw.  1877.  Wie  orientiren  wir 
uns  im  Räume  durch  den  Gesichtssüm?  Jena  1879.  Mit  dem  kantischen  Kri- 
ticismus  in  gewissem  Betracht  verwandt,  obschon  nicht  auf  dem  kantischen  Aprio- 
rismus  und  Subjectiviamus  ruhend,  ist  die  bei  vielen  Naturforschern  herrschende 
Maxime,  alles,  was  jenseits  der  Grenzen  exaeter  Forschung  liegt,  von  dem  Bereiche 
wissenschaftlicher  Erkenntniss  schlechthin  auszuschliesseu  und  dem  blossen  » Glauben* 
völlig  anheimzugeben,  die  philosophischen  Versuche  hypothetischer  Ergänzung  des 
exaet  Erforschten  zu  einem  Gesammtbilde  der  natürlichen  und  geistigen  Wirklich- 
keit aber  möglichst  abzulehnen,  wie  z.B.  Rud.  Virchow  principiell  „nur  von  dem, 
was  der  wissenschaftlichen  Erkenntuiss  zugänglich  ist,  Zeugniss  ablegen*  will  und 
gegenüber  dem  Wissen,  das  mehr  ein  „Flüssiges*  sei,  dem  Glauben  das  (halb 
ironisch  behandelte,  aber  in  seiner  ouermesslichen  socialen  Bedeutung  unangetastet 
gelassene)  „Vorrecht,  in  jedem  Augenblick  stetig  zu  sein*,  zugesteht  (s.  Virchow, 
vier  Reden  über  Leben  u.  Kranksein,  Berl.  1862,  Vorrede),  während  freilich  zugleich 
Virchow  an  eben  diesen  von  der  Wissenschaft  abgetrennten  „Glauben*  die  dem- 
selben nicht  ohne  Inconsequenz  erfüllbare  Anforderung  stellt,  mit  den  Ergebnissen 
empirischer  Forschung  sich  abzufinden.  Ueber  die  psychologischen  Fragen  und 
über  das  Verhältniss  der  Naturwissenschaft  zu  dem  Glauben  äussert  sich  Virchow 
besonders  in  der  Abhandlung  über  die  Einheitsbestrebungen  in  der  wissenschaftL 
Medicin,  verfasst  1849,  wieder  abgedruckt  in  Virchows  gesammelten  Abhaudlgn.  zur 
wissenschaftL  Medicin,  Frankf.  a.  M.  1856,  S.  1—56,  und  in  dem  Aufsatz  über  Empirie 
u.  Transscendeuz ,  im  Archiv  für  patholog.  Anat.  u.  Phys.  VII,  Heft  L  Zu  den  Natur- 
forschern, die  ihre  Studien  auch  metaphysisch  n.  erkenntniss-theoreti.sch  begründen, 
gehört  der  Astronom  C.  F.  Zöllner  (geb.  d.  18.  Nov.  1834  in  Berlin,  gestorb.  d. 
26.  Dec.  1882  als  Prof.  der  Astrophysik  zu  Leipzig),  dessen  Buch  „über  die  Natur 
der  Kometen,  Beiträge  zur  Gesch.  u.  Theorie  der  Erkenntniss*,  Lpz.  1872,  in  drei 
Auflagen  erschien.   Zöllner  hat  schon  frühzeitig  darauf  hingewiesen,  dass  Kant 


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§  44.    Der  Materialismus  und  die  Naturwissenschaften. 


473 


manche  Resultate  der  Naturwissenschaften  vorausgenommen  hat,  s.  namentlich  den 
Abschnitt  in  dem  erwähnten  Werke:  I.  Kant  u.  s.  Verdienste  um  die  Naturwissen- 
schaft. In  seinen  wissenschaftlichen  Abhandlungen,  3  Bde.,  Lpz.  1878—79,  hat  sich 
Z.  entschieden  dem  Spiritismus  zugewandt.  Vgl.  Moritz  Wirt h,  Fr.  Z.,  ein  Vortr., 
Lpz.  1882.  Ders.,  Herrn  Prof.  Z.s  Experimente  m.  d.  amerikan.  Medium  Slade  etc., 
3.  Aufl.,  Lpz.  1882.  S.  auch  Fritz  Schnitze,  die  Grundgedanken  des  Spiritismus, 
Lpz.  1883.  Den  Spiritismus  versucht  wissenschaftlich  zu  vertreten  besonders  Frhr. 
Carl  du  Prel,  der  auch  Schopenhauer  -  hartmanusche  und  darwinsche  Neigungen 
gezeigt  hat.  Der  Kampf  ums  Dasein  am  Himmel,  1874.  Die  Philosophie  d.  Mystik, 
1884.  D.  Mystik  d.  Griechen  u.  Römer,  1887.  Monistische  Seelenlehre,  1887.  Nach- 
dem das  Organ  des  Spiritismus,  Psychische  Studien,  monatl.  Zeitschr.  vorzüglich 
der  Untersuch,  der  wenig  gekannt.  Phänomene  des  Seelenlebens  gewidmet,  heraus- 
geg.  v.  Alex.  Aksakow,  eingegangen,  ist  1886  ein  neues  dafür  ins  Leben  getreten: 
Sphinx,  Monatsschr.  f.  d.  geschichtl.  u.  experimentale  Begründ.  d.  übersinnl.  Welt- 
anschauung auf  monist.  Grundlage,  herausgeg.  v.  Hübbe-Schleiden  unter  Mitwirkung 
von  C.  du  Prel,  Jul.  Duboc,  Alfr.  Rüssel  Wallace  u.  A. 

§  44.  Grosses  Aufsehen  und  grosse  Aufregung  hat  eine  Reihe  von 
Jahren  der  jetzt  wissenschaftlich  so  gut  wie  beendigte  Materialismus- 
Streit  hervorgebracht.  Durch  den  Entwickelungsgang  der  neuesten 
Philosophie  und  Naturwissenschaft,  welche  letztere  sich  von  der  Philo- 
sophie, besonders  durch  die  schellingschen  Lehren  abgeschreckt,  mehr 
und  mehr  entfernte,  namentlich  durch  die  von  Feuerbach  und  Anderen 
vollzogene  naturalistische  Umbildung  des  Hegelianismus,  brach  dieser 
Streit  1854  in  voller  Heftigkeit  aus.  An  ihm  betheiligte  sich  vor 
Allen  Carl  Vogt  auf  der  einen  und  Rud.  Wagner  auf  der  andern  Seite. 
Die  systematische  Ausbildung  des  materialistischen  Princips  haben 
sich  besonders  Jac.  Moleschott  und  Louis  Büchner  zur  Aufgabe 
gesetzt,  und  namentlich  der  Letztere  hat  zur  Verbreitung  der  materia- 
listischen Weltansicht  in  weite  Kreise  viel  beigetragen.  Mit  dem 
Materialismus  kommt  in  der  Negation  einer  zweiten  jenseitigen  Welt 
überein  Heinr.  Czolbe.  Allmählich  trat  gegen  den  Materialismus 
eine  starke  Opposition,  nicht  nur  von  Seiten  der  Philosophie,  sondern 
auch  von  Seiten  der  Naturwissenschaften  auf,  so  dass  er  in  den 
letzten  Jahren  bedeutend  an  Ansehen  verloren  hat.  Er  hat  seine 
Verdienste  um  die  Philosophie,  indem  er  von  phantastischen  Specu- 
lationen  zurückbrachte  und  auf  die  genauere  Erforschung  des  mecha- 
nischen Zusammenhangs  hinwies,  arbeitet  aber  als  Theorie  für  die 
Erklärung  der  Welt  mit  unbewiesenen  Annahmen. 

In  den  letzten  Decennien  hat  sich  dem  mit  der  Frage  nach  dem 
Verhältniss  von  Kraft  und  Stoff  und  nach  den  realen  Zwecken  in  der 
Natur  eng  verknüpften,  aber  der  positiven  Naturforschung  näher 
liegenden  Problem  der  Entstehung  der  Arten  seit  dem  Erscheinen 
von  Darwins  epochemachendem  Werk  vorzugsweise  das  naturphilo- 
sophische  Interesse  zugewandt.  Auf  Grund  der  Descendenzlehre  ist 
Haeckels  Monismus  entstanden,  der  sehr  an  den  Hylozoismus  des 


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§  44.    Der  Materialismus  uud  die  Naturwissenschaften. 


Alterthums  erinnert.  Auch  auf  die  Psychologie,  Ethik  und  andere 
Gebiete  der  Philosophie  gewinnt  die  Descendenzlehre  mehr  und  mehr 
Einfluss. 

Von  wesentlicher  Bedeutung  für  die  philosophische  Erkenntnis^ 
ist  die  Reduction  von  Naturgesetzen,  die  durch  positive  Forschung 
ermittelt  worden  sind,  auf  gemeinsame  Principien.  Hier  ist  vor  Allem 
zu  nennen  das  Princip  von  der  Erhaltung  der  Kraft,  nach 
welchem  in  der  Welt  immer  dasselbe  Quantum  von  actueller  und  poten- 
zieller Energie  bewahrt  bleibt.  Hiernach  würden  die  psychischen  Pro- 
cesse  gar  keine  Einwirkung  mehr  auf  die  körperlichen  haben  und  nur 
als  „unselbständige  Begleiterscheinungen"  der  letzteren  gelten  dürfen. 
Auch  die  Untersuchungen  über  die  Axiome  der  Geometrie  können 
nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Philosophie  bleiben. 

Von  den  Naturwissenschaften,  speciell  von  der  Physiologie  aus- 
gehend, hat  Wilh.  Wundt  auf  Grund  umfangreichster  und  genauester 
Einzelkenntnisse  die  Psychologie,  die  Logik  und  die  Ethik  bearbeitet 
und  besonders  der  Psychologie  durch  die  experimentellen  Methoden 
ein  weiteres  Gebiet  der  Forschung  geöffnet. 

Obgleich  der  Materialismus  als  wissenschaftliche  Weltanschauung  wenig  Boden 
niehr  hat,  scheint  es  doch  angezeigt,  wegen  der  Bedeutung,  die  ihm  längere  Zeit  zu- 
gesprochen wurde,  die  hauptsächlichsten  Vertreter  und  Gegner  desselben  hier  noch  nam- 
haft zu  machen. 

Der  Streit  über  den  Materialismus,  der  schon  früher  besonders  zwischen 
Rudolf  Wagner  und  Carl  Vogt  und  zwischen  Liebig  und  Moleschott  geführt 
worden  war,  kam  im  weiteren  Umfange  hauptsächlich  auf  Anlass  des  Vortrags, 
den  Rud.  Wagner  auf  der  Naturforscher -Versammlung  zu  Göttingen  1854  .üb. 
Menschenschöpfg.  u.  Seelensubstanz-  hielt  (gedr.  Göttingen  1854),  zum  Ausbruch. 
Der  erste  Theil  dieses  Vortrags  sucht  darznthun,  dass  die  Frage,  ob  alle  Menschen 
von  Einem  Paare  abstammen,  sich  vom  Standpunkte  exacter  Naturforschung  aus 
eben  so  wenig  bejahen,  wie  verneiuen  lasse,  dass  die  Möglichkeit  der  Abstammung 
von  Einem  Paare  physiologisch  unbestreitbar  sei,  da  wir  immer  noch  physiognomi- 
sche  Eigenthümlichkeiten  bei  Menschen  und  Thieren  entstehen  und  beharrlich 
werden  sehen,  welche,  wenn  auch  nur  entfernt,  an  die  Racenbildung  erinnern,  und 
dass  daher  die  jüngsten  Resultate  der  Naturforschung  den  biblischen  Glauben  un- 
angetastet lassen.  Der  zweite  Theil  des  Vortrags  wendet  sich  gegen  den  Satz 
Carl  Vogts:  „die  Physiologie  erklärt  sich  bestimmt  und  kategorisch  gegen  eine 
individuelle  Unsterblichkeit,  wie  überhaupt  gegen  alle  Vorstellungen,  welche  sich 
an  diejenige  der  speciellen  Existenz  einer  ff8eele"  anschliessen;  —  sie  erkennt  in 
den  Seelenthätigkeiten  Functionen  des  Gehirns  als  des  materiellen  Substrats." 
Wagner  geht  auf  den  ältesten  christlichen  Standpunkt  zurück,  indem  er  behauptet, 
aus  diesem  Satze  folge  die  praktische  Cousequenz,  dass  Essen  und  Trinken  die 
.  höchste  menschliche  Function  sei;  er  hält  die  Naturwissenschaft  nicht  für  reif,  um 
aus  ihrem  Mittelpunkt  heraus  die  Frage  über  die  Natur  der  Seele  überhaupt  zu 
entscheiden,  und  will  in  die  Lücke  des  Wissens  den  Glauben  an  eine  individuelle, 
beharrliche  Seelensubstanz  treten  lassen,  um  nicht  .die  sittlichen  Grundlagen  der 
gesellschaftlichen  Ordnung  völlig  zu  zerstören".  Als  eine  „Fortsetzung  der  Betrach- 


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§  44.   Der  Materialismus  und  die  Naturwissenschaften. 


475 


tungeu  über  Menscbenschöpfung  und  Seeleusubstanz*  Hess  Wagner  bald  hemacb 
ein  Schriftchen:  .üb.  Wiss.  n.  Glaub,  mit  besond.  Beziehung  auf  d.  Zukunft  der 
Seelen',  Gott.  1854,  erscheinen,  worin  er,  wie  auch  in  dem  .Kampf  um  die  Seele", 
Gott.  1857,  aus  der  Verschiedenheit  der  Organismen  der  früheren  und  der  späteren 
geologischen  Perioden  successive  in  den  Naturlauf  eingreifende  Schöpfungsacte 
folgert,  auf  die  Lehre  von  dem  zukünftigen  Gericht  und  der  Wiedervergeltung  die 
moralische  Weltordnung  basirt  und  der  Seele,  die  er  sich  wie  einen  Gehirnäther 
vorstellt,  nach  dem  Tode  eine  andere  locale  Existenz  vindicirt,  indem  ihre  üeber- 
pflanzung  in  einen  anderen  Weltraum  eben  so  schnell  und  leicht  erfolgen  künne, 
wie  die  Fortpflanzung  des  Lichtes  von  der  Sonne  zur  Krde;  eben  so  könne  diese 
Seele  einst  zurückkehren  und  mit  einem  neuen  körperlichen  Kleide  versehen  werden. 
Gegen  Wagners  Auseinanderhaltung  des  Wissens  und  Glaubens  und  gleichsam 
„doppelte  Buchhaltung",  die  er  schon  früher  in  seinen  physiologischen  Schriften 
und  in  Aufsätzen  für  die  Augsburger  Allgem.  Zeitung  bekundet  hatte,  hatte  sich 
u.  A.  schon  Lotze  in  Beiner  „medicin.  Psychol."  erklärt,  da  eine  harmonische 
Gesammtüberzeugung  ein  wesentliches  Bedürfniss  des  Geistes  sei.  Carl  Vogt 
nahm  den  Fehdehandschuh,  den  Wagner  ihm  hinwarf,  auf  und  kämpfte  in:  Köhler- 
glaube und  Wissenschaft,  Giessen  1854  u.  ö,  hauptsächlich  mit  der  Waffe  der 
Satire  gegen  dessen  Ansichten  an.  In  diesem  Schriftchen  kommt  der  vielerwähnte 
Satz  vor:  »dass  die  Gedanken  etwa  in  demselben  Verhältniss  zum  Gehirn  stehen, 
wie  die  Galle  zu  der  Leber  oder  der  Urin  zu  den  Nieren*.  In  wissenschaftlichem 
Zusammenhange  geht  Vogt  in  seinen  physiolog.  Briefen,  Stuttg.  1845—47  u.  ö., 
Bildern  aus  d.  Thierleben,  Frankf.  a.  M.  1852,  u.  Vorlesgn.  über  den  Menschen, 
seine  Stellg.  in  d.  Schöpfg.  u.  in  d.  Gesch.  der  Erde,  Giessen  1863,  auf  jene 
Fragen  ein. 

Für  die  Ausbildung  und  Verbreitung  der  materialistischen  Weltanschauung 
haben  wesentlich  mit  gesorgt:  Moleschott,  d.  Kreislauf  d.  Lebens,  physiolog. 
Antworten  auf  Liebigs  chemische  Briefe,  Mainz  1852,  4.  Aufl.  1862;  die  Einheit 
des  Lebens,  Vortrag,  geh.  an  der  Turiner  Hochschule,  Giessen  1864,  u.  Ludw. 
Büchner,  Kraft  u.  Stoff,  empirisch-naturphilos.  Studien,  in  allgem.-verständl.  Dar- 
stellg.,  Frankf.  a.  IL  1855,  12.  Aufl.  1872,  15.  Aufl.  1883  unt.  d.  Titel:  Kr.  u.  St. 
oder  Grundzüge  der  natürl.  Weltordnung,  nebst  einer  darauf  gebaut.  Moral  od. 
Sittenl.  (das  eigentliche  Grundbuch  des  heutigen  deutschen  Materialismus,  vielfach 
in  fremde  Sprachen  übersetzt,  auch  im  Auslande  mehrfach  bekämpft,  in  Frankreich 
von  Paul  Janet  [dessen  Schrift  K.  A.  v.  Reichlin-Meldegg  ins  Deutsche  übers,  hat, 
mit  Vorrede  von  I.  H.  v.  Fichte,  Paris  u.  Leipzig  1866],  in  Italien  von  E.  Rossi 
etc.),  Natur  u.  Geist,  Gespräch  zweier  Freunde  über  den  Materialism.  u.  die  real- 
philos.  Fragen  der  Gegenwart,  Frankf.  a.  M.  1857  u.  öfter.  Physiolog.  Bilder, 
Bd.  I,  Lpz.  1861,  3.  Aufl.  1886,  Bd.  II,  1875.  Aus  Natur  u.  Wissenschaft,  Lpz. 
1862  u.  oft.  Sechs  Vorlesgn.  über  d.  Darwinsche  Theorie  von  d.  Verwandig.  der 
Arten  u.  d.  erste  Entstebg.  der  Organismenwelt,  Lpz.  1868  u.  oft.  (Aus  dem  Engl, 
des  Sir  Charles  Lyell  bat  Büchner  ins  Deutsche  übertragen:  das  Alter  d.  Menschen- 
geschlechts auf  d.  Erde  u.  <L  Ursprung  der  Arten  durch  Abänderung.)  Die  Stellg. 
des  Mensch,  in  d.  Natur,  Vergangenheit,  Gegenw.  u.  Zukunft,  Lpz.  1869;  2.  Aufl. 
1872.  Der  Gottesbegriff  u.  dessen  Bedeutung  f.  d.  Gegenwart,  Lpz.  1874.  D.  Macht 
der  Vererbung  u.  ihr  Einfluss  auf  d.  moralisch,  n.  geistig.  Fortschritte  der  Mensch- 
heit, Lpz.  1882.  Ueb.  relig.  u.  Wissenschaft!.  Weltanschauung,  Lpz.  1887.  Streng 
materialistisch  ist  auch:  Moritz  Berger,  d.  Materialism  im  Kampfe  mit  d.  SpirituaL  u. 
Idealism.,  Triest  1883.  —  Die  Materialität  des  Gedankens  spricht  bestimmt  aus 
J.  C  Fischer,  die  Freiheit  des  menschlichen  Wollens  oder  d.  Einheit  der  Natur- 
gesetze, Lpz.  1871,  das  Bewusstsein,  materialistische  Anschauungen,  Lpz.  1874. 


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476 


§  44.   Der  Materialismus  und  die  Naturwissenschaften. 


Heinrich  Czolbe  (geb.  1819,  gest.  1873;  über  ihn  s.  Ed.  Johnson  in  d.  Alt- 
preuss.  Monatsschr.  X,  338-352)  will  sich  mit  der  Einen  natürlichen,  alles  Wahre, 
Gute  und  Schöne  umfassenden  Welt  begnügen  und  nicht  noch  eine  übersinnliche 
annehmen.  Er  hat  verfasst:  Neue  Darstellg.  d.  Sensualismus,  Lpz.  1855;  Entstehg. 
des  Selbstbewasstseins,  eine  Antwort  an  Hrn.  Prof.  Lotze,  ebd.  1856 ;  die  Grenzen 
u.  d.  Ursprung  d.  menschl.  Erkenntniss,  im  Gegensatze  zu  Kant  und  Hegel,  natura- 
liBt-teleolog.  Durchführg.  d.  mechan.  Princips,  Jena  u.  Lpz.  1865;  die  Mathematik 
als  Ideal  für  alle  and.  Erkenntnisse,  in  der  Ztschr.  f.  ex.  Fhilos.  Bd.  VII,  1866; 
Grundzüge  einer  extensional.  Erkenntuisstheorie.  Ein  räuml.  Abbild  v.  d.  Ent- 
stehung d.  sinnl.  Wahrnehmung,  herausg.  v.  Ed.  Johnson,  Plauen  1875  (Theil  eines 
grösseren  noch  ungedruckten  Werkes,  das  den  Titel  führen  sollte:  Raum  und  Zeit 
als  die  eine  Substanz  der  zahllosen  Attribute  der  Welt,  oder  ein  räuml.  Abbild 
von  den  Principien  der  Dinge  im  Gegensatz  zu  Herbarts  Philos.  des  Unräumlichen. 
Empiristische  Umbildung  des  Spinozismus  und  Rückkehr  zur  Philos.  der  Griechen. 
Gleichzeitig  Darstellung  der  naturalistischen  Weltauflassung  Friedrich  Ueberwegs.  — 
Ueber  diesen  s.  ob.).  Czolhes  methodisches  Princip  ist  das  „sentrualistische*,  dass 
ein  klares  Bild  von  dem  iuneren  Zusammenhange  der  Dinge  nur  bei  voller  sinn- 
licher Anschaulichkeit  aller  hypothetischen  Ergänzungen  der  Wahrnehmung  erreich- 
bar, und  dass  das  Denken  selbst  nur  ein  Surrogat  der  wirklichen  Anschauung  sei, 
weshalb  er  principiell  alles  Uebersinnliche  nusschliesst.  Auf  der  vollen  Anschau- 
lichkeit und  dem  strengen  Ausschluss  alles  Uebersinnlichen  beruht  der  wissenschaft- 
liche Vorzug  der  Mathematik,  welche  für  alle  andere  Erkenntniss  nicht  nur  als  ein 
Fundament,  sondern  auch  als  ein  ideales  Vorbild  dienen  muss.  In  den  beiden 
ersten  der  angeführten  Schriften  nimmt  Czolbe  neben  den  physikalischen  und  che- 
mischen Vorgängen  auch  die  organischen  Formen  als  etwas  Elementares  an,  ver- 
sucht aber  aus  gewissen  physikalischen  Bewegungen  der  Materie  Empfindungen  und 
Gefühle  als  die  Elemente  der  Seele  zu  entwickeln.  In  der  Schrift  über  d.  Grenzen 
u.  d.  Ursprung  d  menschl.  Erkenntniss  dagegen  erklärt  er  diesen  letzteren  Versuch 
für  verfehlt,  stellt  der  Materie  und  den  zweckmässigen  Formen  als  gleich  ursprüng- 
lich .die  im  Räume  verborgenen  Empfindungen  und  Gefühle  oder  die  Weltseele* 
zur  Seite  und  verbindet  mit  diesen  „drei  fundamentalen  Grenzen  der  Erkenntniss* 
als  „ideale  Grenze  der  Erkenntniss*  den  letzten  Zweck  der  Welt,  in  dem  ihre  Ein- 
heit bestehe,  nämlich  „das  durch  die  möglichste  Vollkommenheit  bedingte  Glück 
jedes  fühlenden  Wesens".  Das  Streben  nach  diesem  Glück  in  seinem  wesentlichen 
Unterschiede  von  dem  einseitigen  Egoismus  ist  ihm  das  Grundprincip  der  Moral 
und  des  Rechts.  Die  Annahme  der  Räumlichkeit  der  Empfindungen  und  überhaupt 
aller  psychischen  Gebilde  hält  Cz.  für  nothwendig,  so  dass  seine  Psychologie  zwar 
nicht  als  eine  materialistische,  wohl  aber  als  eine  extenaionalistiache  zu  bezeichnen 
ist.  Um  im  Gegensatz  zur  punktualistischen  Psychologie  die  Weltordnung  als  an 
und  für  sich  zweckmässig  denken  zu  können,  betrachtet  er  sie  als  ewig  und  schreibt 
die  gleiche  Ewigkeit  auch,  obschon  nicht  den  menschlichen  Individuen,  doch  den 
einzelnen  Weltkörpern  zu,  mindestens  denjenigen,  welche  organische  und  beseelte 
Wesen  tragen,  insbesondere  der  Erde.*) 


*)  Diese  letztere  Annahme  möchte  jedoch,  wie  sehr  auch  Czolbe  das  Gegen- 
theil  darzuthun  sich  bemüht,  mit  astronomischen  und  geologischen  Thatsachen 
streiten,  insbesondere  mit  der  allmählichen  Abnahme  der  Drehungsgeschwindigkeit 
der  Erde  durch  Ebbe  und  Fluth,  mit  den  Spuren  allmählicher  Erkaltung,  wie  auch 
mit  der  Wahrscheinlichkeit  des  Vorhandenseins  eines  die  fortschreitende  Bewegung 
hemmenden  und  allmählich  die  Bahnen  der  sämmtlichen  Weltkörper  verkleinernden 
Mediums;  falls  es  ein  widerstaudleistendes  Mittel  giebt,  so  ist  die  Consequenz  un- 
abweisbar, dass  im  Fortschritt  der  Zeit  sich  unablässig,  aber  in  stets  wachsenden 


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§  44   Der  Materialismus  and  die  Naturwissenschaften. 


477 


Eine  Tendenz  zu  neuer  Kirchenbildung  (die  von  der  freigemeindlichen  sich 
dadurch  zu  unterscheiden  behauptet,  dass  sie  nicht  Richtungslosigkeit  oder  Neu- 
tralität, soudern  Ausschluss  des  „Uebersinnlichkeitsglaubens"  fordert,  als  positive 
Ziele  aber  „Vervollkommnung  des  menschlichen  Wissens,  der  menschlichen  Würde 
oder  Moral  und  des  menschlichen  Wohlstandes'  bezeichnet)  bekundet  der  Natura- 
lismus bei  Ed.  Löwenthal,  Syst.  u.  Gesch.  des  Naturalism  ,  Lpz  1861,  5.  Aufl. 
ebd.  1868  u.  and.  Schrift.;  der  Freidenker,  Organ  d  international.  Cogitanten-  oder 
Freidenkerbuudes,  Dresden  1870.  In  gewissem  Sinne  gilt  da«  Gleich«  auch  noch 
von  der  anonymen  Schrift:  du-  Evangelium  der  Natur,  Frankf.  a.  M.  1853,  3.  Aufl. 
ebd.  1868.  Die  Grundzüge  einer  Natur-  und  Religionsgeschichte  entwirft  vom 
materialistischen  Standpunkte  aus  Karl  Wilh.  Kunis,  Vernunft  u.  Offenbarg.,  Lpz. 
1870.  Phil.  Spiller  (Oott  im  Lichte  der  Naturwissenschaftn.,  Studien  über  Gott, 
Welt,  Unsterblk.,  Berl.  1873;  das  Naturerkenn,  nach  sein,  angebl.  u.  wirkl.  Grenz., 
ebd.  1873;  die  ürkraft  des  Weltalls  nach  ihrem  Wesen  u.  Wirken,  Berl.  1876; 
das  Leben,  Berl.  1878;  d.  Irrwege  der  Naturphilosophie.  Berl.  1878)  nennt  den 
Aether  als  das  einzige  Kraftprincip  Gott  u.  proclamirt  eine  neue  Religion,  „ welche 
allein  Zukunft  habe'  als  sogen.  Aetherismus,  der  zugleich  der  reinste  Mono- 
theismus sei. 

Einen  vermittelnden  Standpunkt  nimmt  im  Materialismusstreit  der  Hegelianer 
JoL  Schal ler  ein,  Leib  u.  Seele,  z.  Aufklärg.  über  Köhlerglaube  u.  AVissensch., 
Weimar  1855,  3.  Aufl.  1858.  Vom  schopenhauerschen  Standpunkte  aus  unterscheidet 
Frauenstädt  (Lpz.  1856)  in  dem  Materialismus  Wahrheit  und  Irrthum,  vgl.  auch 
von  dem  :  der  Materialism.  n.  d.  antimaterialistisch.  Bestrebungen  der  Gegenw. 
in:  Uns.  Zeit  N.  F.,  3.  Jahrg.,  1.  Hälfte,  1867.  Aus  dem  Standpunkte  des  reli- 
giösen Glaubens  urtheilen  über  den  Materialismus  die  Katholiken:  J.  Froh- 
Bchammer,  Menscheuseele  u.  Physiol. ;  eine  Streitschrift  gegen  K.  Vogt,  Münch. 

1855,  d.  Christentb.  u.  d.  moderne  Nuturwiss.,  Wien  1867,  d.  neue  Wiss.  u.  d.  neue 
Glaube,  Lpz.  1873,  Friedr.  Michelis,  d.  Materialism.  als  Köhlerglaube,  Münster 

1856,  wie  auch  Anton  Tanner,  Vorlesgn.  über  d.  Materialism.,  Luzern  1864,  Alb. 
Stöckl,  der  Materialismus,  geprüft  in  seinen  Lehrsätzen  und  deren  Conscquenzeu, 
Mainz  1878,  die  Protestanten:  Friedrich  Fabri,  Briefe  gegen  den  Materialism., 
Stuttg.  1856,  2.,  mit  einer  Abhdlg.  über  d.  Ursprung  u.  d.  Alter  d.  Menschengeschi, 
verm.  Aufl.,  ebd.  1864;  K.  Ph.  Fischer,  d.  Unwahrh.  d.  Sensualism.  u.  Mate- 
rialism. m.  besond.  Rucks,  auf  d.  Schriften  von  Feuerbach,  Vogt  u.  Moleschott, 
Erlangen  1853. 

Eingehende  Naturkenntnisse  bekundet  in  seinen  antimaterialistischen  Schriften 
Herrn.  Ulrici,  Glaub,  u.  Wiss.,  Lpz.  1858,  Gott  u.  d.  Natur,  ebd.  1861.  3.  Aufl. 
1875,  Gott  und  der  Mensch,  Bd.  I.:  Leib  und  Seele,  ebd.  1866,  2.  Aufl.  1874, 
u.  s.  w.  Vgl.  ferner  u.  A.:  H.  G.  Ad.  Richter,  gegen  d.  Mater,  der  Neuzeit, 
Oymn.-Frogr.,  Zwickau  1855.  W.  Braubach,  Köhlerglaube  u.  Materialism.  od.  d. 
Wahrh.  d.  geistig.  Lebens,  Frankf.  1856;  Neu.  Fundamental-Organon  d.  Phil.  u.  d. 
thatsächl.  Einht.  v.  Freih.  u.  Nothwdgk.,  Neuwied  1872.  J.  B.  Meyer,  z.  Streit 
über  Leib  u.  Seele,  Worte  der  Kritik,  Hamburg  1856;   Thilos.  Zeitfragen,  Konn 


Zeiträumen,  aus  kleineren  Massen  grössere  bilden,  dass,  während  kleinere  Körper 
früher,  grössere  (die  Sonnen)  später  erkalten  und  erstarren,  durch  den  Sturz  der 
kleineren  Körper  auf  die  grösseren,  des  Mondes  auf  die  Erde,  der  Erde  auf  die 
Sonne  etc.  der  Zustand  der  Glühhitze  von  Neuem  hervorgerufen  werden  und  der 
gesammte  Lebensprocess  in  immer  grösseren  Dimensionen  sich  erneuern  muss,  und 
zwar  bis  in  EwigKeit.  falls  die  Materie  an  der  Unendlichkeit  des  Raumes  Theil 
hat,  andernfalls  nur  bis  zu  einem  um  eine  endliche  Zeit  von  unserer  Gegenwart 
entfernten  Zeitpunkte. 


478 


§  44.   Der  Materialismus  und  die  Naturwissenschaften. 


1870.  Rob.  Scbellwien,  Krit  d.  Materialism.,  Berl.  1858;  Sein  u.  Bewußtsein, 
Berl.  1863.  Karl  Suell,  die  Streitfrage  des  Materialism.,  ein  vermittelndes  Wort, 
Jena  1858,  wozu  als  Ergänzung  die  kurze  von  gründlicher  Einsicht  zeugende 
Schrift  gehört:  die  Schöpfung  des  Menschen,  Lpz.  1863.  Naturforschung  u  Cultur- 
leben,  von  Aug.  Nath.  Böhner,  Hannov.  1859,  3.  Aufl.  1870.  M.  J.  Schleideu, 
über  d.  Materialism.  in  d.  neueren  Naturwiss.,  Lpz.  1863.  Eine  Verbindung  des 
Atomismus  mit  dem  Unsterbliehkeiteglauben  hat  Max  Drossbach  herzustellen 
gesucht:  die  individuelle  Unsterblk.,  vom  monadistisch -  metaphys.  Standpunkte. 
Olmütz  1883;  die  Harmonie  der  Ergebnisse  d.  Naturforschg.  m.  d.  Forderungen  d. 
menschl.  Gemüthes  oder  d.  persönl.  Unsterblk.  als  Folge  der  atomist.  Verfasag.  d. 
Natur,  Lpz.  1858;  die  Objecte  der  sinul.  Wabrn.,  Halle  1865;  [über  Erkeuutniss, 
Halle  1869  (jedes  Atom  erfüllt  von  seinem  C'entrum  aus  den  ganzen  unendlichen 
Raum,  indem  es  mit  allen  anderen  sich  durchdringt!;  über  die  verschiedenen  Grade 
der  Intelligenz  in  der  Natur,  Berlin  1873;  üb.  d.  Ausgangspunkt  u.  d.  Grundlage 
der  Philos.,  Lpz.  1881,  üb.  d.  scheinbaren  u.  d.  wirklichen  Ursachen  d.  Geschehens 
in  d.  Welt,  Halle  1884.  Die  bonnetsche  Tendenz  der  Vereinigung^  der  Annahme 
durchgängiger  leiblicher  Bedingtheit  der  Seelenthätigkeiteu  mit  dem  theologischen 
Glauben  hat  in  ähnlicher  Art  G.  A.  Spiess  erneut,  der  für  wahrscheinlich  hält, 
dass  sich  während  des  irdischen  Lebens  und  durch  dasselbe  ein  „Keim  höherer 
Ordnuug"  im  Menschen  bilde,  der  —  nicht  wie  die  organischen  Keime  in  den  Nach- 
kommen, auch  nicht  geistig  in  andern  Menschen,  sondern  —  „in  anderen  Theileu 
der  uuendlichen  Schöpfung  Gottes  zu  einer  höheren  Entwickelung  gelangend,  die 
persönliche,  individuelle  Fortdauer  ermöglichen  würde'.  G.  A.  Spiess,  Physiol. 
d.  Nervensyst.  vom  ärztl.  Standpunkte  dargest.,  Braunschw.  1844;  über  die  Bedeutg. 
der  Naturwissenschaften  für  uns.  Zeit,  und:  über  das  körperl.  Bedingtsein  der  Seelen- 
thätiKkeiten.  2  Festreden,  Frankf.  a.  M.  1854;  über  d.  Grenzen  d.  Naturwissensch, 
m.  Bez.  auf  Darwin,  Festrede,  ebd.  1863.  In  Ein  Atom  verlegt  die  Gesammtheit 
der  psychischen  Functionen  des  Individuums  der  Herbartianer  O.  Flügel,  d.  Ma- 
terialismus vom  Standpunkt  der  atomist.-mechan.  Naturforschg.  beleucht.,  Lpz.  1865. 
Flügel  lässt  es  unentschieden,  ob  die  Seele  ausgedehnt  oder  als  einfach  (punktuell) 
zu  denken  sei,  weil  kein  Theil  der  Psychologie  von  der  Annahme  der  Unräumlich- 
keit  der  Seele  abhänge  (was  freilich  von  Herbarts  Psychologie  keineswegs  gilti. 
Gegen  den  Materialismus  hat  ferner  Ferd.  W  est  hoff  geschrieben,  Stoff,  Kraft  und 
Gedanke,  Münster  1865;  besonders  gegen  ihn  richtet  sich  A.  Mayer,  zur  Seelen- 
frage, Mainz  1866;  die  Lehre  von  d.  Erkenutniss  vom  physiolog.  Standpunkt  allg. 
verständl.  dargestellt,  Lpz.  1874,  der  den  Materialismus  mit  einem  gewissen  kantisch- 
schopenhauerischen  Aprioriemus  verbindet.  Wiederum  gegen  Mayers  Doctrin 
kämpft  H.  H.  Studt,  die  materialist.  Erkenntuisslehre,  Altona  1869.  Rosen- 
kranz, d.  deutsche  Materialism.  und  die  Theol.  in:  Zeitschr.  für  histor.  Theol., 
Bd.  VII,  EL  3,  1864.  S.  auch  F.  Wollny,  d.  Materialism.  im  Verh.  z.  Relig.  u. 
Moral,  Lpz.  1886. 

Neue  Versuche  der  Systembildung,  die  ein  Verständniss  des  natürlichen  und 
geistigen  Lebens  auf  Grand  der  Ergebnisse  der  exacten  Naturforschung  zu  gewinnen 
suchen,  sind:  Christ.  Wiener,  die  Grundzüge  der  Weltordnung  (Atomenlehre  und 
Lehre  von  der  geistigen  Welt),  Lpz.  u.  Heidelb.  1863,  2.  Aufl.  1869,  und  V.  Ra- 
de nhausen,  Isis,  der  Mensch  u.  d.  Welt,  Hamburg  1863,  2.  Aufl.  1870  ff.  Osiris, 
Weltgesetze  in  d.  Erdgeschichte,  ebd.  1874  ff.  Mikrokosmus,  der  Mensch  als  Welt 
im  Kleinen,  Hamb.  1877. 

Durch  glcicbmässige  Vertrautheit  mit  der  Philosophie  uud  mit  der  positiven 
Naturforschung  ausgezeichnet  ist  F.  Alb.  Langes  geistvolle  Schrift:  Gesch.  d. 
Materialismus,  s.  ob.  b.  Lange,  welche  die  Bedeutung  der  materialistischen  For- 


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§  44.    Der  Materialismus  uud  die  Naturwissenschaften. 


479 


schung  in  helles  Licht  setzt.  Entschieden  haben  dem  Materialismus  entgegen- 
gearbeitet die  früher  erwähnten  Naturforscher,  welche  mit  Kant  im  Znsammenhang 
stehen.  Vgl.  auch  Pflüger,  die  teleologische  Mechanik  der  lebendigen  Natur, 
2.  Aufl.,  Bonn  1877.  Andere  Schriften,  auf  den  Materialismus  bezüglich,  sind: 
H.  A.  Kinne,  Mater,  u.  ethisches  Bedürfniss,  Braunschw.  1868.  Die  Uusterblich- 
keitsfrage  u.  die  neueste  deutsche  Phil.:  1.  die  Gegner,  2.  die  Vorkämpfer  der  Un- 
sterblichkeit, in:  Unsere  Zeit,  IV,  12  u.  15,  Lpz.  1868  C.  Scheidemacher,  d. 
Nachteule  d.  Materialismus  etc.,  Cöln  1868.  Ludw.  Weis,  Anti-Materialismus  oder 
Krit.  aller  Phil,  des  Unbewusst,  Vorträge,  3  Bde.,  Berl.  1871—73.  Idealrealismus 
und  Materialismus,  Berl.  1877.  G.  Freih.  v.  Hertling,  über  d.  Grenzen  d.  median. 
Naturerklärung,  Bonn  1875.  Gideon  Spicker,  über  d.  Vcrh.  der  Naturwissen- 
schaft zur  Philosophie,  Berl.  1874.  G.  Härtung,  Philos.  u.  Naturwissensch,  in 
ihrer  Bedeut  f.  d.  Erkenntniss  der  Welt,  2.  Aufl.,  Lpz.  1876.  Fritz  Schnitze, 
die  Grundgedanken  des  Materialism.  u.  d.  Krit  derselben,  Lpz.  1881.  Vom  kan- 
tischeu  Standpunkt  legt  die  Unzulänglichkeit  der  materialistischen  Weltanschauung 
gut  dar  Kurd  Lasswitz,  d.  Lehre  K.s  etc.,  s.  ob.  Hier  ist  auch  zu  erwähnender 
viel  besprochene  Vortrag  des  im  Ganzen  materialistisch  denkenden  Du  Bois- 
Reymond,  über  d.  Grenzen  d.  Naturerkeuntniss,  Lpz.  1872,  welchen  der  Verf.  mit 
den  Worten  schliesst:  In  Bezug  auf  das  Räthsel,  was  Materie  uud  Kraft  seien, 
und  wie  sie  zu  denken  vermögen,  muss  der  Naturforscher  ein  für  allemal  zu  dem 
Wahrspruch  sich  entschlieasen  I  u  norabimus*.  In  5.  Aufl.  ist  dieser  Vortrag  er- 
schienen zusammen  mit  einem  andern  Vortrag  Du  Bois-H.s:  Die  sieben  Welt- 
räthsel,  Lpz.  1882.  Von  diesen  sieben  Schwierigkeiten  für  das  Denken  erseheinen 
dem  Verfasser  als  „transscendent*,  d.  h.  als  unüberwindlich:  1)  das  Wesen  von 
Materie  uud  Kraft,  2)  der  Ursprung  der  Bewegung,  3}  das  Entstehen  der  einfachen 
Sinnesempflndung,  4)  die  Willensfreiheit,  falls  man  nicht  die  subjective  Freiheit 
für  Täuschung  ansieht.  Für  nicht  »transscendent*  hält  er:  1)  den  Ursprung  des 
Lebens,  2)  die  anscheinend  absichtsvoll  zweckmässige  Einrichtung  der  Natur,  3)  das 
vernünftige  Denken  und  den  Ursprung  der  damit  eng  verbundenen  Sprache.  Der 
Mechanismus,  der  für  die  Vorgäuge  in  der  anorganischen  Natur  und  das  Pflanzen- 
leben ausreiche,  genügen  nicht  für  die  Empfindung  und  das  Bewusstsein:  diese 
brächten  in  die  biologische  Eutwickelung  etwas  Neues,  das  als  Begleiterscheinung 
aus  dem  Innern  der  Materie  hinzutrete.  S.  Thdr.  Weber,  Du  B.-R.  Eine  Krit. 
seiner  Weltansicht,  Gotha  1885.  Chr.  v.  Ehrenfels,  metaphys.  Ausführungen  im  An- 
schlüsse an  E.  Du  Bois-R.,  Wien  1886.  Gegen  die  Erklärung  der  Functionen  in  den 
lebenden  Wesen  aus  rein  mechan.  Ursachen  spricht  sich  entschieden  aus  G.  Bunge 
(Prof.  d.  Pbysiol.  in  Basel),  Vitalismus  u.  Mechanismus,  e.  Vortr.,  Lpz.  1886. 
Nicht  durch  Physik  und  Chemie,  ebensowenig  durch  Anatomie  und  Histologie  lost 
sich  das  Räthsel  des  Lebens,  das  in  der  Activität  steckt.  Mit  den  Sinnen  werden 
wir  freilich  in  der  belebten  Natur  nichts  Anderes  entdecken  als  in  der  unbelebten. 
Wir  müssen  von  dem  uns  zunächst  Bekannten,  der  Innenwelt,  ausgehen,  um  die 
Aussenwelt  zu  erklären. 

Charles  Darwins  (geb.  12.  Febr.  1809  zu  Shrewsbury,  gest.  19.  April  1882  auf 
Beinern  Landgute  Down  bei  London)  Lehre  gipfelt  darin,  dass  der  Zweckbegrin* 
aus  der  Natur  beseitigt  wird,  dass  die  natürliche  Auslese  im  Kampfe  ums 
Dasein  (natural  selection,  struggle  for  life),  vermöge  dessen  das  weniger  Zweck- 
mässige untergeht,  aber  das  Passende  sich  weiter  vererbt,  als  rein  mechanischer 
Vorgang  ohne  alle  Mitwirkung  eines  Zweckprincips  doch  ein  möglichst  zweck- 
mässiges Resultat  hervorbringt.  Das  Zweckmässige  entsteht,  aber  der  Zweck  ist 
kein  Wirkendes.  Es  ist  auch  den  Organismen  keine  Neigung  angeboren,  einen 
Fortschritt  zum  Höheren  zu  machen.   Diese  Lehre  wird  von  der  einen  Seite  als 


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§  44.    Der  Materialismus  uud  die  Naturwissenschaften. 


die  gewagteste  und  gefährlichste  Neologie  verschrieen,  von  der  andern  Seite  als  die 
epeculntivste  Errungenschaft  der  Naturwissenschaft  gepriesen.  Jedenfalls  hat  sie 
fdch,  wenn  auch  nicht  durchaus  in  der  Gestaltung  Darwins,  einen  sehr  weiten  Kreis 
von  Auhäugern  erworben  und  hat  befruchtend  schon  auf  die  Philosophie  gewirkt. 
Aus  der  sehr  weitschichtigen  Litteratnr  über  diese  Theorie  sind  hier  nur  die 
wichtigsten  Anhänger  und  Gegner  anzuführen,  deren  Schriften  eine  Beziehung  zur 
Philosophie  haben.  Im  Uebrigen  sind  die  bibliographischen  Verzeichnisse  von 
•T.  W.  Spengel,  die  Darwinsche  Theorie,  2.  verm.  Aufl.,  Berl.  1872  (vgl.  auch  dessen: 
die  Fortschritte  d.  Dnrwinism.,  Cöln  u.  Lpz.  1873,  No.  2  [1873—74],  ebd  1875), 
bei  Geo.  Seidlitz,  d.  Darwinsche  Theorie,  Dorp.  1871,  2.  verm.  Auflage,  Leipzig 
1875,  u.  namentlich  in  d.  Zoolog.  Anzeiger,  herausgeg.  von  dem  Uebersetzer  der 
darwi  tischen  Werke,  J.  Vict.  Carus,  unter  Descendenztheorie,  zu  vergleichen.  Seit 
1877  hat  diese  Richtung  vertreten  der  monatlich  in  Leipzig  erschienene  „Kosmos*, 
Zeitschrift  für  einheitliche  Weltanschauung,  heruusgeg.  von  Otto  Caspari, 
Gustav  Jäger,  Emst  Krause  (C'arus  Sterne),  seit  1879  von  dem  letzten  allein, 
188(3  eingegangen.  Es  stellte  diese  Zeitschrift  die  Sätze  in  den  Vordergrund,  dass 
man  in  der  Natur  das  Seiende  nur  als  ein  Gewordenes  auffassen  dürfe,  und  dass 
der  Meusch  selbst  als  zugehöriger  Theil  des  Ganzen  mitteu  in  die  Natnr  hinein- 
versetzt werde  und  keine  Ausnahmestellung  einnehmen  dürfe.  Die  Wissen- 
schaften, die  sich  mit  dem  Menschen  beschäftigen,  als  Anthropologie,  Ethnologie, 
Sprachwissenschaft,  Cultur-  und  Staatengeschichte,  National-Oekonomie,  Rechts-, 
Geschichte-  und  Religionsphilosophie,  Moral,  seien  demnach  Naturwissenschaften. 

Darwins  Werk:  On  the  origin  of  species  erschien  im  J.  1859.  Unter  den 
Anhängern  Darwins  in  Deutschland  steht  obenan  Emst  Häckel  mit  seinen  um- 
fassenden Werken:  Generelle  Morphologie  d.  Organismen,  allgem.  Grundzüge  d. 
organ.  Formenwissensch.,  median,  begründet  durch  d.  von  Charl.  Darwin  reformirte 
Descendenztheorie,  1.  Bd.:  Allg.  Anatomie  d.  Orgauismeu,  2.  Bd.:  Allg.  Entwicke- 
lungsgeseh.  der  Organism.,  Berl.  1866;  natürliche  Schöpfungsgesch.,  Berl.  1868  u. 
oft..  Anthropogenie,  Lpz.  1874  u.  oft.  Ausserdem:  Ziele  u.  Wege  der  heutigen 
Entwickelungsgesehichte,  Jena  1875.  Gesammelte  populäre  Vorträge  aus  d.  Gebiete 
der  Entwiekelungslehre,  1.  u.  2.  Heft,  Bonn  1K78— 79.  Vgl.  R,  Koeber,  Ist  Häckel 
Materialist?  Berl.  1887.  Häckel  sieht  in  der  Herstellung  der  einheitlichen  oder 
monistischen  Naturauffassung  das  höchste  und  allgemeinste  Verdienst  der  von 
Darwin  an  die  Spitze  der  heutigen  Naturwissenschaft  gestellten  Entwickelungs- 
lehre.  Alle  Naturkörper  sind  gleichmäasig  belebt,  alle  Materie  ist  beseelt,  geistige 
Kraft  und  körperlicher  Stoff  sind  untrennbar.  Es  ist  diese  durchaus  mechanische 
oder  causale  Weltanschauung,  die  sich  besonders  gegen  den  teleologischen  Dualismus 
wendet,  der  spinozistischen  verwandt,  legt  aber  doch  das  Hauptgewicht  auf  die 
materielle  Seite,  wie  auch  Häckel  meint,  sein  Monismus  sei  in  gewisser  Weise 
identisch  mit  dem  naturwissenschaftlichen  Materialismus.  Anhänger  D.s  sind  femer 
Frdr.  Bolle,  D.s  Lehre  v.  d.  Entstehung  d  Arten  im  Pflanzen-  u.  Thierreich  in 
ihrer  Anwendg.  auf  d.  Schöpfungsgesch.,  Prag  1863  u.  1870  u.:  d.  Mensch,  seiue 
Abstammung  u.  Gesittung  im  Lichte  d.  d.sch.  Lehre  v.  d.  Artentsteh.,  Prag  1868 
u.  1870«  Aug  Schleicher,  d.  d  sehe  Theorie  u.  d.  Sprachwissensch,  Weimar 
1S65,  3  Aufl.  1873.  Gust.  Jäger,  d.  d.sche  Theorie  und  ihre  Stellung  zur  Moral 
u.  Relig.,  Stuttg.  1869;  in  Sachen  D.s,  insbesondere  contra  Wigand,  ebd.  1874. 
(J.  ist  neuerdings  bekannt  durch  seine  .Entdeckung  der  Seele",  Vortr.,  Lpz.  1879, 
s.  gegen  ihn  H.  Schneider,  Herrn  Prof.  Dr.  J.s  vermeintl.  Entdeck,  d.  S.,  Lpz.  1879, 
u.  durch  das  „Wollregime").  Aug.  Weis  mann,  über  d.  Berechtigung  d.  d.sch.  Theorie, 
akad.  Vortr.,  Freiburg  i.  B.  1868;  über  den  Einfluss  d.  Isolirung  auf  d.  Artbildg., 
Lpz.  1872;  Studien  zur  Descendenztheorie,  2  Thle ,  Lpz.  1875-76;  üb.  d.  Dauer  d. 


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§  44.   Der  Materialismus  und  die  Naturwissensehaften. 


481 


Lebens,  Vortr.,  Jena  1882.  W.  Braubach,  Rlg.,  Moral  u.  Philos.  d.  dschen  Art- 
lehre nach  ihrer  Natur  u.  ihr.  Charakt.  als  kleine  Parallele  menschl.  geistig.  Ent- 
wickig., Neuwied  1869.  Osk.  Schmidt,  d.  Anwendung  der  Descendenzlehre  auf 
den  Mensch..  Lpz.  1873;  Descendenzlehre  u  Darwinism.  [internat.  wissensch. 
Bibl.  IL],  Lpz.  1873.  Karl  Frhr.  du  Prel,  d.  Kampf  ums  Dasein  am  Himmel. 
Die  d.sche  Formel  nachgewiesen  in  d.  Mechanik  der  Sternenwelt,  Berl.  1874.  Fritz 
Schnitze,  Kant  u.  Darwin,  Jena  1875,  s.  übrig,  ob.  S.  468.  Paul  Ree,  d. 
Ursprung  der  moralischen  Empfindungen,  Chemn.  1877;  d.  Entstehung  des  Ge- 
wissens, Berl.  1885;  d.  Illusion  der  Willensfreih.,  Berl.  1885.  Geo.  Hnr.  Schneider, 
der  tbierische  Wille,  Lpz.  1880;  der  menschl.  Wille  vom  Standp.  der  neuer.  Ent- 
wickelungstheorien  (des  Darwinism.),  Berl.  1882;  Freud  u.  Leid  des  Menschen- 
geschlechts, Stuttg.  1883.  W.  H.  Kolph,  Biologische  Probleme,  zugleich  als 
Versuch  e.  rationellen  Ethik,  Lpz.  1882.  Otto  Zacharias,  Ch.  R.  Darwin  u.  d. 
culturhistor.  Bedeut.  seiner  Theorie  vom  Ursprung  d.  Arten,  Berl.  1882.  II.  Spitzer, 
Beiträge  zur  Descendenztheorie  u.  z.  Methodol.  der  Naturwissenschaft,  Lpz.  1886. 
Die  Entstehung  der  Arten  durch  Absonderung  vertrat  Moritz  Wagner  (gest.  1887), 
die  Darwinsche  Theorie  u.  das  Migrationsgesetz  der  Organismen,  Lpz.  1868,  auch 
verschiedene  Aufsätze  im  Kosmos.  Vergl.  auch  unter  E.  v.  Hartmann  besonders: 
das  Unbewusste  vom  Standpunkte  der  Physiol.  u.  Descendenztheorie. 

Unter  den  Gegnern  ausser  den  oben  erwähnten,  K.  Chr.  Planck,  Joh.  Huber, 
J.  B.  Meyer  (in  d.  philos.  Zeitfragen),  Ed.  Löwenthal,  G.  A.  Spiess,  n.  Ad.  Bastian 
(Beiträge  z.  vergleich.  Psychologie),  noch  folgende:  Jac.  Frohschammer,  Dar- 
Btell.  u.  KriL  der  darwinschen  L.,  in:  Athenäum  1862.  Fr.  Pf  äff,  die  neuesten 
Forschungen  und  Theorien  auf  dem  Gebiete  d.  Schöpfungsgesch. ,  Frankf.  a.  M. 
1868.  Hermann  Hoffmann,  Untersuchgn.  z.  Bestimmung  des  Werthes  v.  Species 
u.  Varietät,  Giessen  1869.  C.  Schmid,  D.s  Hypothese  u.  ihr  Verhalten  zu  Relig. 
u.  Moral,  offn.  Sendschr.  au  G.  Jäger,  Stuttg.  1869.  Alb.  Wigand,  über  D.s 
Hypothese  Pangenesis,  Marb.  1870;  die  Genealogie  d.  Urzellen  als  Lösung  d. 
Descendenzprobl ,  Braunschweig  1872;  d.  Darwinism.  u.  d.  Naturforschung  Newtons 
u.  Cuviers,  Bd.  I— III.  ebd.  1873  ff.;  die  Alternative:  Teleologie  oder  Zufall  vor 
d.  kgl.  Akad.  d.  Wissensch,  zu  Berlin,  Cassel  1877;  der  Darwinismus  ein  Zeichen 
der  Zeit,  Heilbronn  1878.  Von  demselb.  höchst  wahrscheinlich:  Ueber  d.  Auf  lös. 
der  Arten  durch  natürl.  Zuchtwahl  oder  d.  Zukunft  des  organ.  Reiches  m.  Rucks, 
auf  d.  Culturgesch.,  Hannov.  1872.  G.  P.  Weygoldt,  Darwinismus,  Relig.,  Sittlichk., 
Leiden  1878.  Gefühl;  Bewusstsein,  Wille,  eine  psychologische  Studie,  Wien  1876. 
E.  Askenasy,  Beiträge  z.  Krit.  d.  d.schen  Lehre,  Lpz.  1872.  Vgl.  ausser- 
dem C.  Semper,  Offener  Brief  an  Herrn  Prof.  Häckel,  Hamb.  1877.  E.  Rade, 
Ch.  D.  u.  seine  deutsch.  Anhänger  i.  J.  1876,  Strassb.  1877.  P.  Kramer,  Theorie 
u.  Erfahrung.  Beiträge  z.  Beurtheilung  des  Darwinismus,  Halle  1877.  Du  Bois- 
Reymond,  Darwiu  versus  Galiani,  Berl.  1876.  Das  Verhältniss  der  Philo- 
sophie zum  Darwinismus  behandeln:  G.  v.  Gizycki,  Philosophische  Conse- 
quenzen  der  Lamarck- Darwinschen  Entwickelungstheorie ,  Lpz.  u.  Hcidelb.  1876. 
Rud.  Schmid,  die  Darwinsche  Theorie  u.  ihre  Stellung  zur  Philosophie,  Religion 
u.  Moral,  Stuttg.  1876.  Eug.  Dreher,  der  Darwinism.  u.  seine  Stellung  in  d. 
Philos.,  Berl.  1877;  der  Darwinismus  und  seine  Consequenzen ,  Halle  1882. 
G.  Teichmüller,  Darwinism.  u.  Philos.,  Dorpat  1877.  Vgl.  auch  Carneri,  Sittlich- 
keit u.  Darwinismus,  drei  Bücher  Ethik,  Wien  1871,  2.  Aufl.,  Lpz.  1877,  s.  v. 
demselb.  Verf.  Grundlegung  der  Ethik,  Wien  1881;  Entwickelung  u.  Glückselig- 
keit. Ethische  Fragen,  Stuttg.  1886.  J.  Kühl,  Darwin  u.  d.  Sprach  wissensch., 
Mainz  1877.  M.  J.  Savage,  d.  Religion  im  Lichte  der  darwinsch.  Lehre,  ins 
Deutsche  übers,  v.  R.  Schramm,  Lpz.  1886. 

U»borw«g- Heins«,  GntndriM  III.  7.  Aufl.  3J 


482 


§  44.   Der  Materialismus  ond  die  Naturwissenschaften. 


In  Betreff  der  Reduction  der  Naturgesetze  sind  zu  nennen: 

Joh.  Müller  (1801-1858),  Physiologie,  Coblenz  1840.  Durch  ihn  wurde  die 
Theorie  der  specifischen  Energien  der  Sinnesnerven  eigentlich  begründet,  welche 
auf  die  Erkenntnisstheorie  von  nicht  unbedeutendem  Einflass  war.  Alexander 
v.  Humboldt  (14.  Sept  1769  bis  6.  Mai  1859),  Kosmos,  Stuttgart  1845-62. 
Jul.  Rob.  Mayer  (gest.  1878,  s.  über  ihn  Eag.  Dühring,  R.  Mayer,  der  Galilei 
des  19.  Jahrb.,  Chemnitz  1880),  der  schon  1842  in  seineu  „Bernerkgn.  über  d. 
Kräfte  der  unbelebten  Natur",  1845  in  seiner  Schrift  über  „die  organische  Be- 
wegung in  ihrem  Zusammenhange  mit  dem  Stoffwechsel",  u.  weiter  in  .Be- 
merkungen über  das  mechanische  Aequivalent  der  Wärme",  1850,  ausgesprochen 
und  bewiesen  hat,  dass  die  Kraft  nur  der  Qualität  nach  veränderlich,  der  Quantität 
nach  aber  unzerstörbar  sei,  und  dass  auch  die  Wärme  nur  eine  Art  Bewegung 
sei,  oder  dass  sich  Wärme  und  Bewegung  in  einander  verwandeln,  und  dass  sich 
ein  Gesetz  der  unveränderlichen  Grössenbeziehung  zwischen  der  Bewegung  und  der 
Wärme  auch  numerisch  ausdrücken  lasse;  diese  betreffende  Zahl  nennt  er  da.s 
mechanische  Aequivalent  der  Wärme.  Seine  Abhandlungen  sind  gesammelt  unter 
dem  Titel:  Die  Mechanik  der  Wärme,  1.  Aufl.,  Stuttg.  1867,  2.  Aufl.  1874,  Unab- 
hängig von  Mayer  kamen  der  Engländer  Joule  und  Helmholtz  auf  das  Gesetz 
von  der  Erhaltung  der  Kraft,  das  Helmholtz  1862  in  seinem  Vortrage  über  die 
Erhaltung  der  Kraft  (in:  Populäre  wissensch.  Vorträge)  formulirte:  die  Summe 
der  wirkungsfähigen  Kraftmengen  im  Naturganzen  bleibt  bei  allen  Veränderungen 
in  der  Natur  ewig  und  unverändert  dieselbe.  Von  Helmholtz  s.  ferner:  Ueber 
die  Erhaltung  der  Kraft,  eine  physikal.  Abhandig.,  Berl.  1847,  über  die  Wechsel- 
wirkg.  der  Naturkräfte  u.  die  darauf  bezügl.  neuesten  Ermittelungen  der  Physik, 
ein  popnlär-wissensch.  Vortrag,  Königsb.  1854,  nebst  den  oben  genannten  umfass 
Arbeiten  zur  Optik  u.  zur  Akustik.   Ueb.  Wuudt  s.  sogleich  u. 

Als  ein  Antiatomistiker  ist  C.  J.  Karsten  zu  nennen  (Philos.  d.  Chemie, 
Berl.  1843).  Vom  Standpunkt  der  mechanischen  Wärmetheorie  hat  Alex.  Nau- 
mann einen  Grundriss  der  Thermochemie  verfasst,  Braunschw.  1869.  Die  be- 
ginnende Ausdehnung  der  astronomischen  Erkenntniss  auf  die  chemische  Beschaffen- 
heit der  Himmelskörper  vermöge  der  Spectral- Analyse  (s.  Kirchhoff,  das  Sonnen- 
spectrum,  1862)  muss  auch  auf  die  philosophischen  Untersuchungen  über  das 
Universum  von  maassgebeudem  Einfluss  sein.  Einen  entschieden  teleologischen 
Standpunkt  betreffs  der  Natur  nimmt  ein  Ad.  Mühry,  Krit.  u.  kurze  Darlegg.  der 
exaeten  Naturphilos.,  5.  Aufl.  Gotting.  1882. 

Die  Litteratur,  betreffend  die  „raetamathematischen "  Speculationen  s 
bei  B.  Erdmann,  die  Axiome  der  Geometrie,  Lpz.  1877,  welcher  auch  die  ganze 
Frage  nach  ihrer  philosophischen  Bedeutung  erörtert  (s.  dazu  J.  Jacobson,  d. 
Axiome  der  Geometrie  u.  ihr  „philos.  Untersucher"  Herr  B.  Erdmann,  in:  Alt- 
preuss.  Monatsschr.,  Bd.  20,  1883,  S.  301—341,  auch  besonders  erschienen,  Kgsb. 
1884).  Es  gehören  namentlich  hierher  die  Abhandlungen  von  Gauss:  Disquisitiones 
generales  circa  superficies  curvas,  1828,  die  Habilitations- Vorlesung  von  Rieraann 
aus  d.  J.  1854,  veröffentlicht  von  Dedekind  i.  d.  Abhandi.  der  k.  Gesellschaft  d. 
Wissensch.  zu  Göttingen,  1867,  u.  die  Arbeiten  von  Helmholtz:  Ueb.  d.  that- 
sächl.  Grundlagen  d.  Geometrie,  Heidelb.  Jahrbücher,  1868,  über  d.  Thatsachen, 
die  der  Geometrie  zum  Grunde  liegen,  Göttinger  Nachr.,  1868,  und:  Ueber  den 
Ursprung  u.  die  Bedeutung  der  geometrischen  Axiome,  in:  Populäre  Vöries., 
Heft  III,  Braunschw.  1876.  In  die  ganze  Frage  führt  gut  ein:  Liebmann,  über 
die  Phänomenalität  des  Raumes,  in  dem  Werke:  Zur  Analysis  der  Wirklichkeit, 
2.  Aufl.,  Strassb.  1880.  —  Es  kommt  bei  diesen  Speculationen  darauf  hinaus,  dass 
unser  Raum  von  drei  Dimensionen,  in  welchem  der  Punkt  durch  drei  Coordinaten 


§  44.   Der  Materialismus  und  die  Naturwissenschaften. 


483 


bestimmt  wird,  und  in  welchem  die  euklidische  Geometrie  gilt,  nicht  der  einsige 
ist .  den  mau  sich  denken  kann,  sondern  nur  als  Species  des  allgemeinen  analytischen 
Begriffs  vom  Raum  angesehen  wird,  für  den  es,  als  eine  nfach  ausgedehnte  Mannig- 
faltigkeit, keine  bestimmte  Zahl  von  Dimensionen  giebt.  In  einem  Raum  von 
n  Dimensionen  wird  der  Punkt  durch  n  Coordinaten  bestimmt.  Ein  Raum  von 
mehr  als  drei  Dimensionen  ist  logisch  denkbar,  aber  nicht  vorstellbar  und  an- 
sebaubar.  Von  diesen  mathematischen  Ausführungen  sind  philosophische  Folgerungen, 
freilich  in  von  einander  abweichender  Weise,  gezogen  worden.  Namentlich  ist 
daraus  gefolgert  worden,  dass  unsere  Raumanschauung  eine  empirische  Vorstellung 
sei.  Zöllner  hat  die  Mctageometrie  zu  der  Annahme  benutzt,  dass  unsere  phäno- 
menale Welt  ein  Schattenbild  der  realen  Welt  der  Dinge  an  sich  oder  der  Ideen 
von  vier  Dimensionen  sei. 

Wilh.  Wundt  (geb.  1832,  seit  1875  Prof.  d.  Philos.  in  Leipzig),  Beitrage 
zur  Theorie  der  Sinneswahrnehm.,  Lpz.  1862.   Vorlesgu.  über  d.  Menschen-  u. 
Thierseele,  Lpz.  1863.    Die  physikal.  Axiome  u.  ihre  Beziehg.  z.  Causalprincip, 
ein  Capitel  aus  d.  Philos.  der  Naturwissenschaften,  Erlungen  1866.    (Die  sechs 
von  Wundt  angenommenen  Axiome  sind:  1.  Alle  Ursachen  in  der  Natur  sind 
Bewegungsur8aehen.    2.  Jede  Bewegungsursache  ist  ausserhalb  des  Bewegten. 
3.  Alle  Bewegungaursachen  wirken  in  der  Richtung  der  geraden  Verbindungslinie 
ihres  Ausgangs-  und  Angriffspunktes.    4.  Die  Wirkung  jeder  Ursache  verharrt. 
5.  Jeder  Wirkung  entspricht  eine  ihr  gleiche  Gegenwirkung.    6.  Jede  Wirkung 
ist  äquivalent  ihrer  Ursache.)    Grundzüge  d.  pbyBiol.  Psychol,  Lpz.  1873 — 74, 
3.  Aufl.  1887,  ins  Französische  ist  das  Werk  übers,  v.  Klie  Rouvier,  Par.  1886. 
Ueber  d.  Aufg.  d.  Philos.  in  d.  Gegenwart,  Lpz.  1874.    Einfluss  der  Philosophie 
auf  die  Erfahrungswissenschaften,   Akadem.  Antrittsrede,  Lpz.  1876.  Logik, 
1.  Bd.,  Erkenntnissl.,  2.  Bd.,  Methodenl.,  Stuttg.  1880,  83.  Essays  (von  ihnen  hervor- 
zuheben: Philosophie  u.  Wissensch.,  d.  Theorie  der  Materie,  d.  Unendlichk  der 
Welt,  d.  Aufgaben  der  experimentell.  Psychol.,  d.  Sprache  u.  d.  Denken,  d.  Ent- 
wicklung des  Willens,  der  Spiritismus)  Lpz.  1885.    Ethik,  eine  Untersuch,  der 
Thatsachen  u.  Gesetze  des  sittl.  Lebens,  Stuttg.  1886.   Zur  Moral  d.  litterarisch. 
Kritik,  Lpz.  1887  auf  Veranlassung  einer  Kritik  der  Ethik  in  d.  Preuss.  Jahrbüchern 
59,  1887  von  H.  Sommer:  d.  eth.  Evolutionism.  W.  Wundts.  Seit  1881  giebt  Wundt 
Philosophische  Studien  heraus  —  bis  1888  erschienen  4  Bde.,  je  zu  4  Heften  — , 
in  welchen  eigene  Arbeiten  Wundts  und  Arbeiten  seiner  Schüler  veröffentlicht 
sind,  namentlich  Untersuchungen  der  experimentellen  Psychologie  und  Unter- 
suchungen über  Methoden  der  Mathematik  u.  der  Erfahrungswissenschafteu.  Nach 
Wundt  muss  sich  die  Philosophie  bemühen,  Wissenschaftslehre  in  der  wahren 
Bedeutung  des  Worts  zu  sein  und  zwar  so,  dass  sie  die  Methoden  und  Ergebnisse 
der  Einzelwissenschaften  als  den  eigentlichen  Gegenstand  ihrer  Forschungen  be- 
trachtet.  Ihr  wahres  Ziel  ist  hier,  eine  Weltanschauung  zu  gewinnen,  welche  dem 
Bedürfniss  des  menschlichen  Geistes  nach  der  Unterordnung  des  Einzelnen  unter 
umfassende  theoretische  und  ethische  Gesichtspunkte  Genüge  leistet.   Die  Einzel- 
forschung kommt  immer  nur  zu  einseitigen  Gesichtspunkten,  und  daher  kann  keine 
andere  Wissenschaft  diesem  Bedürfniss  genügen.   Die  physiologische  Psychologie 
hat  vornehmlich  die  Beziehungen  des  äusseren  und  inneren  Geschehens  zu  unter- 
suchen und  steht  deshalb  zur  Hälfte  noch  innerhalb  der  Naturwissenschaft,  die 
sie  als  nächste  Vermittlerin  mit  den  Geisteswissenschaften  verbindet.    Von  der 
subjectiveu  Psychologie  unterscheidet  sie  sich  als  objective,  welche  die  innere 
Wahrnehmung  unter  .die  Controlle  der  experimentellen  Beeinflussung  durch  will- 
kürlich herbeizuführende  und  abzustufende  äussere  Einwirkungen"  stellt;  darum  heiast 
sie  auch  experimentelle  Psychologie,   Der  andere  Theil  der  objectiven  Psychologie 

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484 


§  45.    Neue  Systeme.    Lotse,  Fechner,  Hartmann  u.  A. 


ist  die  Völkerpsychologie.  Das  Bewusstsein  mit  seinen  mannigfaltigen  und  doch 
in  durchgängiger  Verbindung  stehenden  Zuständen  ist  für  unsere  innere  Auffassung, 
eine  ähnliche  Einheit  wie  für  die  äussere  der  leibliche  Organismus,  und  da 
Physisches  und  Psychisches  in  durchgängiger  Wechselbeziehung  stehen,  kommt 
Wundt  zu  der  Annahme,  dass,  was  wir  Seele  nennen,  das  innere  Sein  der 
nämlichen  Einheit  ist,  die  wir  äusserlich  als  den  zu  ihr  gehörigen 
Leib  anschauen,  und  weiterhin  zu  der  Voraussetzung,  dass  das  geistige  Sein 
die  Wirklichkeit  der  Dinge,  und  die  wesentlichste  Eigenschaft  desselben  die  Ent- 
wickelung  ist.  Das  menschliche  Bewusstsein  ist  dann  für  uns  die  Spitze  dieser 
Entwickelung;  es  bildet  den  Knotenpunkt  im  Naturlauf,  in  welchem  die  Welt  sich 
auf  sich  selbst  besinnt.  Nicht  einfaches  Sein,  sondern  entwickeltes  Erzeugnis« 
zahlloser  Elemente  ist  die  menschliche  Seele;  nicht  Substanz,  sondern  Actualität. 
Die  Einheit  des  Ich  beruht  auf  der  Stetigkeit  der  Veränderungen  unseres  inneren 
Seins.  Auf  erkenntnisstbeoretischem  Gebiet  bekennt  sich  Wundt  zu  einem  kritischen 
Idealismus,  der  zugleich  Idealrealismus  ist.  Die  idealen  Principien  müssen  in  der 
objectiven  Realität  sich  wieder  finden,  wie  ja  auch  die  Grundgesetze  des  logischen 
Denkens  zugleich  Gesetze  der  Objecto  des  Denkens  sind.  Dieses  Resultat  muss 
aber  durch  Untersuchung  gefunden  und  darf  nicht  ror  aller  Untersuchung  durch 
täuschende  dialektische  Künste  erzeugt  werden.  Von  vornherein  steht  nur  der 
Grundsatz  fest,  dass  die  Objecte  unseres  Denkens  diesem  conform  sein  müssen,  da 
ohne  diesen  Grundsatz  das  Entstehen  einer  Erkenntniss  nicht  begreiflich  wäre. 
In  seiner  Ethik  sucht  Wundt  zunächst  die  ethischen  Principien  in  induetiver 
Weise  auf  durch  eine  Untersuchung  einmal  des  ursprünglichen  sittlichen  Bewusst- 
seins  (der  Thatsachen  des  sittlichen  Lebens)  und  zweitens  der  wissenschaftlichen 
Reflexion  über  das  Sittliche  (die  philosophischen  Moralsysteme,  geschichtliche 
Uebersicht  u.  allgemeine  Kritik).  Hierauf  entwickelt  er  in  der  systematischen 
Ethik  auf  dieser  gegebenen  Grundlage  die  Principien,  auf  welchen  alle  sittlichen 
Werthurtheile  beruhen,  und  prüft  dieselben  auf  ihren  wechselseitigen  Ursprung  und 
Zusammenhang  (der  sittliche  Wille,  die  sittlichen  Zwecke,  die  sittliche  Motive, 
die  sittlichen  Normen)  und  behandelt  dann  die  sittlichen  Lebensgebiete:  einzelne 
Persönlichkeit,  Gesellschaft,  Staat,  Menschheit.  Wundt  vertritt  in  der  Ethik  einen 
Evolutionismus,  bei  dem  ein  Gesammtwille  anerkannt  wird,  dessen  Träger  die 
Einzelnen,  und  in  dessen  umfassenderen  Zwecken  die  individuellen  Lebensaufgaben 
der  Einzelnen  eingeschlossen  sind.  Vgl.  Henri  Lachelier,  la  theorie  de  connaissance 
de  W.,  in  Rev.  philos.  1880  Bd.  10,  S.  23—48.  J.  Baumann,  W.s  L.  vom  Willen 
u.  sein  animistischer  Monismus  in:  Philos.  Monatsh.  1881,  S. 568— 602;  dageg.  Wundt, 
Philos.  Stud.  I,  337—378;  hierauf  wieder  Baumann  in  d.  Philos.  Monatsh.  1883, 
8.  354—374.  0.  Flügel,  üb.  Wundts  ErkenutnissL  in:  Ztsch.  f.  exakte  Ph.,  XII, 
1883,  S.  52 — 77.  H.  Lachelier,  les  lois  psychologiques  dans  l'ecole  de  Wundt, 
in:  Revue  philos.  19,  1885,  S.  121—146.  Th.  Achelis,  W.s  Philosophie,  in:  Ztschr. 
f.  Ph.  u.  ph.  Kr.  91,  1887,  S.  188—227;  s.  denselb.,  W.  Wundt,  in:  Nord  u.  Süd, 
43,  1887,  S.  286-304. 

§  45.  Der  herbartschen  und  noch  mehr  der  leibnizischen  Rich- 
tung unter  Mitaufnahme  spinozistischer  Oedanken  steht  Hermann  Lotze 
nahe,  wiewohl  er  mit  Recht  dagegen  protestirt,  als  ein  Herbartianer 
bezeichnet  zu  werden,  da  er  die  Möglichkeit  des  Zusammenseins  und 
der  erscheinenden  Wechselwirkung  der  vielen  Wesen  auf  die  noth- 
wendige  Einheit  eines  substantiellen  Weltgrundes,  auf  die 


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§  45.   Neue  Systeme.   Lotee,  Fechner,  Hartmann  u.  A. 


485 


Thätigkeit  einer  ursprünglichen  Wesenseinheit  alles  Wirklichen  zurück- 
fuhrt. Das  Unendliche  ist  die  Eine  Macht,  welche  sich  in  der  Ge- 
sammtheit  der  Geisterwelt  unzählige  zusammenstimmende  Weisen  ihrer 
Existenz  gegeben  hat.  Alle  Monaden  sind  nur  Modificationen  des 
Absoluten.  Diese  allgemeine  Substanz,  der  Grund  der  realen  Welt, 
ist  zugleich  der  Grund  der  idealen  Welt,  der  Ideen  des  Guten,  Schönen, 
Wahren,  die  allgemeine  Idee,  und  so  das  Eine  und  höchste  Gut. 
Der  Mechanismus  ist  die  Form  endlichen  Daseins,  welche  das  Wesen 
sich  giebt.  —  Die  Absicht  Lotzes  ist,  einen  Frieden  zu  stiften  zwischen 
den  Bedürfnissen  des  Gemüths  und  den  Ergebnissen  menschlicher 
Wissenschaft. 

Den  spinozistisch-kau tischen  Gedanken,  dass  Seele  und  Leib  nur 
zwei  verschiedene  Erscheinungsweisen  eines  Realen  seien,  je  nachdem 
dasselbe  von  aussen  oder  von  innen,  durch  die  Sinne  oder  durch  das 
Selb8tbewu88tsein  aufgefasst  werde,  verbindet  mit  einer  Atomistik,  die 
zu  der  Auffassung  jedes  einzelnen  Atoms  als  eines  raumlosen  oder 
punktuellen  Wesens  neigt,  aber  die  Seele  nicht  auf  Ein  Atom  ein- 
schränkt und  mit  der  Annahme  einer  Beseelung  der  einzelnen  Ge- 
stirne und  des  Universums  der  Physiker  und  Philosoph  Gustav 
Theodor  Fechner,  der  in  seiner  „Psychophysik"  die  Intensitäten 
der  Empfindungen  messen  lehrt  aus  den  physikalisch  messbaren  Stärken 
der  Reize  auf  Grund  des  von  ihm  sogenannten  „weberseben  Gesetzes". 

An  Sendlings  positive  Philosophie,  in  welcher  er  die  Einheit 
der  schopenhauerschen  und  hegelschen  Lehre  findet,  knüpft  an  Eduard 
von  Hartmann,  welcher  einen  concreten  Monismus  des  unbewussten 
absoluten  Geistes  mit  den  Attributen  Wille  und  Vorstellung  (Idee) 
lehrt.  Hegels  logische  Idee  soll  ebensowenig  ohne  Willen  zur  Realität 
gelangen,  als  es  Schopenhauers  blindem  vernunftlosen  Willen  möglich 
sei,  sich  zu  urbildlichen  Ideen  zu  determiniren ,  und  Hartmann  fasst 
deshalb  beide  als  coordinirte  gleichberechtigte  Principien,  die  als 
Functionen  eines  und  desselben  funetionirenden  Wesens  zu  denken 
seien.  Der  Wille  setzt  das  „Dass"  (die  reale  Existenz),  die  Idee  das 
„Was"  (die  ideale  Essenz)  der  Welt  und  der  Dinge.  Aus  der  Natur 
des  Willens  folgt  das  nothwendige  Ueberwiegen  des  Schmerzes.  Des- 
halb wäre  das  Nichtsein  der  Welt  vorzuziehen  ihrem  Sein,  obwohl 
die  seiende  Welt  die  beste  aller  möglichen  Welten  ist.  Hartmann 
verbindet  so  den  Pessimismus  mit  dem  Optimismus.  Das  Ziel  der 
zweckmässigen  Entwickelung  der  Welt  ist  die  Zurückwendung  des 
Willens  ins  Nichtwollen.  Das  Mittel  dazu  ist  grösstmögliche  Steige- 
rung des  Bewusstseins,  weil  nur  in  diesem  die  Vorstellung  sich  in 
der  zu  einer  Opposition  erforderlichen  Emancipation  vom  Willen  be- 


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§  45    Neue  Systeme.   Lotze,  Fechner,  Hartmann  u.  A. 


findet.  —  Hartmann  bezeichnet  seine  Lehre  vom  erkenntnisstheoretischen 
Gesichtspunkt  als  „transscendentalen  Realismus". 

Einen  Realismus  anderer  Art  hat  J.  H.  von  Kirchmann  ausge- 
bildet, welcher  das  Sittliche  auf  das  Gefühl  der  Achtung  vor  einem 
erhabenen  Gesetzgeber,  vor  einer  erhabenen  Macht  als  Autorität, 
zurückfuhrt.  Ein  System  der  „Wirklichkeitsphilosophie"  will  Eugen 
Dühring  bieten,  welcher  das  Gegebene  nimmt,  wie  es  ist,  ohne  daran 
zu  deuteln.  Philosophie  ist  nach  ihm  die  Entwickelung  der  höchsten 
Form  des  Bewusstseins  von  Welt  und  Leben. 

Ausserdem  sind  manche  andere  Versuche  zu  Systembildung  ge- 
macht worden. 

Lotze,  Metaphysik,  Lpz.  1841.  Allgem.  Pathologie  u.  Therapie  als  tnechan.  Natur- 
wissenschaften, Lpz.  1842.  Ueber  Herbarts  Ontotogie,  in:  Fichtes  Zeitschr.  f.  Philo«.. 
Bd.  XI,  1843,  S.  203—234.  Logik,  Lpz.  1843.  Allgem.  Physiologie  des  körperlichen 
Lebens,  Lpz.  1851.  Medicin.  Psychologie  od.  Physiologie  der  Seele,  Lpz.  1852. 
Vgl.  Lotzes  Artikel  über  d.  Lebenskraft  in  Wagners  Handwörterbuch  der  Physiologie. 
Streitschriften,  Lpz.  1857.  Mikrokosmus,  Ideen  zur  Naturgesch.  u.  Gesch.  der 
Menschheit,  Lpz.  1856—64,  4.  Aufl.  ebd.  1884  ff.  Gesch.  der  Aesthetik  in  Deutschland 
(bildet  den  VII.  Bd.  der  „Gesch.  d.  Wissenschaften  in  Deutschland4),  Münch.  1868. 
System  der  Philos.,  L  Th.,  Logik,  Lpz.  1874.  2.  Aufl.  1881,  II.  Th.,  Metaphysik, 
ebd.  1879.  S.  auch:  Principien  der  Ethik  in:  Nord  u.  Süd,  Juni  1882,  S.  339-354. 
Nach  Lotzes  Tode  sind  Dictate  aus  seinen  Vorlesungen  herausgegeben  worden,  in 
H  Hftn.:  Log.  u.  Encyclop.  der  Philos.,  Metaphys.,  Naturphilos.,  Psychologie, 
Praktische  Philos.,  Rcligionsphilos. ,  Aesthetik,  Gesch.  d.  deutsch.  Ph.  seit  Kant, 
Lpz.  1881—1884,  z.  Th.  in  2.  Aufl.  erschienen.  Kleine  Schriften,  Bd.  1  u.  2,  Lpz. 
1885,  86. 

Ueber  Lotze  s.  H.  Sommer,  d.  Lotzesche  Ph.  u.  ihre  Bedeut.  f.  d.  geist.  Leb.  der 
Gegenw.  Preuss.  Jahrb.  1875,  3  Artik.;  den.,  ebenda,  1881;  ders.,  dem  Andenk.  L.s, 
in:  Im  neuen  Reich,  1881,  No.  36.  E.  Rehnisch,  H.  L.,  sa  vie  et  ses  ecrits,  in:  Rev. 
philos.,  1881,  Bd.  12,  S.  321—336.  T.  Achelis,  Ls  Philos.,  in:  Vierteljahrsschr.  f. 
wissensch.  Ph.,  1882,  S.  1—27.  T.  M.  Lindsay,  H.  L.,  in:  Mind.  1876.  K.  Pflei- 
derer,  L.s  philosoph.  Weltanschauung  nach  ihren  Grundzügen,  Berl.  1882,  2.  Aufl.,  Berl. 

1884.  O.  Caspari,  H.  L.  in  sein.  Stell,  z.  der  durch  Kant  begründet  neuesten  Gesch. 
der  Ph.,  Breslau  1883.  Jobs.  Franke,  üb.  L.s  L.  v.  d.  Phänomenalität  des  Raumes, 
Lpz.  1884.  Gercken,  Beitr.  zur  Würdigung  der  Erkenntnisstheorie  Lotzes,  Pr.  des 
R.  G.  z.  Perleberg  1885.  Zschau,  L.s  Ethik,  Pr.  d.  R.  Sch.  zu  Meerane  i.  S.,  1885. 
G.  v.  Schultheiss,  d.  religionsphilos.  Grundgedanken  Herrn.  Lotzes,  in:  Theol.  Ztachr.  aus 
d.  Schweiz,  1885,  S.  274—302.    G.  Härtung,  Hartmann  u.  Lotze,  in:  Philos.  Monatsh.. 

1885,  S.  1 — 20.  Reinh.  Geyer,  Darstell,  u.  Krit.  der  lotzeschcn  L.  v.  d.  Localzeichen,  in: 
Philos.  Monatsh.,  1886,  S.  513—560.  Fritz  Kögel,  L.s  Aesthetik,  Götting.  1886. 
Koppelmann,  L.s  Stellung  zu  Kants  Kriticism.,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  88,  1886, 
S.  1 — 47.  T.  Achelis,  L.s  prakt.  Philos.  in  ihr.  Grundzügen,  in:  Phil.  Monatsh.,  1886, 
S.  577 — 609.  G.  Fonsegrive,  la  logique  de  L.,  in:  Revue  philos.,  21,  1886,  S.  618  bis 
634.  A.  Penjon,  la  metaphysique  de  L.,  in:  Rev.  philos,  21,  1886,  S.  348—366.  M. 
Nath,  d.  Psychol.  H.  Lotzes  in  ihr.  Verh.  z.  Herbart,  Berl.  1887.  Ein  Verzeichnis* 
aller  litterar.  Publicationen  L.s.  mitgetheilt  r.  E.  Rehnisch,  findet  sich  als  Anhang  r. 
Dictaten  aus  d.  Vöries,  üb.  Psychol. 

Rud.  Herrn.  Lotze  war  geb.  den  21.  Mai  1817  in  Bautzen.  Auf  dem  Gym- 
nasium zu  Zittau  vorgebildet,  bezog  er  1834  die  Universität  Leipzig  und  widmete 
Bich  hier  vornehmlich  dem  Stadium  der  Medicin,  zeigte  aber  bald  lebhaftes  Inter- 
esse für  Philosophie  und  wurde  besonders,  wie  er  selbst  bestimmt  anerkennt,  von 
Chr.  Herrn.  Weisse  angeregt.  1839  habilitirte  er  sich  in  der  medicinischen,  kurze 
Zeit  darauf  in  der  philosophischen  Facultät  und  hielt  medicinische  und  philo- 
sophische Vorlesungen.    1844  wurde  er  auf  Veranlassung  des  Physiologen  Rud. 


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§  45.   Neue  Systeme.    Lotze,  Fechner,  Hartmann  u.  A. 


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Wagner  nach  Göttingen  als  Professor  der  Philosophie  und  Nachfolger  Herbarts 
berufen.  Hier  wirkte  er  bis  1881,  wo  er  nach  Berlin  ging,  als  Professor  der  Philo- 
sophie. Nicht  einmal  ein  Semester  hielt  er  daselbst  seine  Vorlesungen.  Er  starb 
den  t  Juli  1881.  Eine  genaue  Uebersicht  über  seine  Lehrtätigkeit  an  den  Universi- 
täten Leipzig,  Göttingen  und  Berlin  findet  sich  als  Anhang  zu  den  Dictaten  aus 
den  Vorlesungen  über  Gesch.  der  deutsch.  Philos.  seit  Kant  Lotzes  Bedeutung 
liegt  hauptsächlich  darin,  dass  er  als  genauer  Kenner  der  naturwiasenschaft liehen 
Forschungen  und  Resultate,  diese  voll  würdigend,  doch  in  Fühlung  blieb  mit  dem 
deutschen  Idealismus,  besonders  mit  dessen  ethisch-ästhetischer  Seite  und  so,  ohne 
unkritisch  zu  philosophiren,  ein  System  ausbildet,  das  seinen  Schwerpunkt  in  der 
Ethik  hat. 

Für  Lotze  ist  die  Philosophie  eine  Bestrebung,  innerhalb  der  vorausgesetzten 
uns  selbst  unbekannten  Schranken,  welche  uns  unser  irdisches  Dasein  zieht,  eine 
in  sich  zusammenstimmende  Ansicht  zu  gewinnen,  die  uns  über  die  Noth  des 
Lebens  hinweghilft  und  uns  werthvolle  Ziele  in  ihm  zu  stellen  und  zu  erreichen 
lehrt.  Eine  absolute  Wahrheit  kann  nicht  ihr  Zweck  sein.  Lotze  zeigt,  dass  der 
Mechanismus  ausnahmslos  herrscht  nicht  auf  dem  unorganischen  nur,  sondern  auch 
auf  dem  organischen  Gebiete.  Trotz  dieser  universellen  Ausdehnung  soll  doch  die 
Bedeutung  der  Sendung,  welche  der  Mechanismus  in  dem  Baue  der  Welt  zu 
erfüllen  hat,  eine  völlig  untergeordnete  sein.  —  Zu  dem  Begriff  des  Seienden 
gehört  es,  in  Beziehungen  zu  stehen.  Diese  Beziehung  nun  der  Dinge  unter  ein- 
ander ist  nicht  etwa  ein  zwischen  den  Dingen  liegendes  Band;  dan,  wus  wir  so  zu 
bezeichnen  pflegen,  ist  ein  Zustand  in  den  Dingen.  Sie  können  sich  ein  Leiden 
durch  Vermittelung  von  Beziehungen  nicht  anthun,  und  so  muss  die  Veränderung, 
die  wir  in  dem  Einen  voraussetzen,  unmittelbar  ein  Leiden  des  Andern  sein.  Es 
muss  demnach  die  Trennung  zwischen  den  Dingen  ganz  aufgegeben  werden,  und  in 
einer  substantiellen  Wesensgemeinschaft  aller  Dinge  wird  die  Möglich- 
keit dafür  zu  suchen  sein,  dass  die  Zustände  des  Einen  wirksame  Gründe  der  Ver- 
änderungen des  Andern  sind.  Nur,  wenn  die  einzelnen  Dinge  nicht  selbständig  im 
Leeren  schwimmen,  über  das  keine  Beziehung  hinüberreichen  kann;  nur  wenn  sie 
alle,  indem  sie  endliche  Einzelheiten  sind,  doch  zugleich  Theile  einer  einzigen,  sie 
alle  umfassenden  unendlichen  Substanz,  des  Absoluten,  sind,  ist  das,  was  wir  ihre 
Wechselwirkung  nennen,  möglich.  A,  die  absolute  Substanz,  hat  als  Theile,  Modi- 
ficationen  oder  Momente  die  einzelnen  Substanzen  a,  b,  c  .  .  .  .;  findet  nun  in  a 
der  Zustand  «  statt,  so  ist  «  zugleich  ein  Zustand  von  A  und  bewirkt  in  der 
Einheit  der  Substanz  A  einen  neuen  Zustand  p,  der  aber  wiederum  speciell  als 
ein  veränderter  Zustand  der  einzelnen  Substanz  b  erscheint,  die  wie  alle  übrigen 
desselben  Wesens  mit  A  ist.  Hierdurch  wird  freilich  noch  nicht  begriffen,  wie 
innerhalb  jenes  einen  Wesens  das  Wirken  überhaupt  zu  Stande  kommt. 

Das  Wechselleiden  und  Wechselwirken  ist  nun  nur  möglich  bei  Wesen,  die  es 
wirklich  fühlen,  also  für  sich  selbst  sind.  Demnach  werden  die  Dinge,  die  uns  als 
beharrliche  und  doch  selbstlose  Ausgangs-,  Durchschnitts-  und  Zielpunkte  des 
Geschehens  erscheinen,  Wesen  sein,  welche,  nur  in  verschiedenen  Abstufungen,  mit 
den  Geistern  den  allgemeinen  Charakter  der  Geistigkeit,  das  Fürsichsein,  theilen. 
Also  geistige  Monaden  müssen  statuirt  werden:  alles  Reale  ist  geistig. 
Aus  den  inneren  Zuständen  dieser  Wesen  gehen  nach  festen  Gesetzen  die  mecha- 
nischen Bewegungen  hervor,  auf  die  wir  bei  der  Naturerklärung  zunächst  hin- 
gewiesen sind. 

Raum  und  Zeit  lassen  sich  weder  als  Dinge  noch  als  Eigenschaften  der 
Dinge,  noch  als  Ereignisse,  sondern  nur  als  Verhältnisse  auffassen.  Aber  mögen 
diese  nun  ihre  Wirklichkeit  in  den  Wesen  haben,  von  denen  wir  in  der  Regel 


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§  45.    Neue  Systeme.   Lotse,  Fechuer,  Hortmann  u.  A. 


sagen,  dass  sie  in  diesen  Formen  seien,  oder  in  dem  Bewußtsein  der  Eindrücke 
habenden  Wesen,  jedenfalls  existiren  sie  nicht  objectiv  ausser  uns  und  den  Dingen, 
sondern  ausser  uns  nur  als  Zustände,  die  in  jedem  Ding  durch  Wechselwirkung 
mit  andern  entstehen.  Raum  und  Zeit  gehen  nicht  als  bereitstehende  leere  Formen 
dem  später  in  sie  hineinfallenden  Realen  voraus,  sondern  beide  sind  nur  in 
den  Dingen  und  in  den  Ereignissen  als  die  Formen,  unter  denen  'die  vorher 
geschehenen  Wechselwirkungen  für  die  Auffassung  der  in  Wechselwirkung 
stehenden  Elemente  selbst  erscheinen.  Insofern  kommt  dem  Raum  und  der  Zeit 
Idealität  zu. 

Auf  der  Wechselwirkung  beruht  auch  die  Erkenntniss.  Wenn  ein  Object  a 
von  dem  Subject  b  erkannt  wird,  so  beruht  dies  darauf,  dass  ein  «  des  a  in  b 
einen  Zustand  ß  erweckt,  der  aber  ans  der  eigenen  Rückwirkung  der  eigentüm- 
lichen Natur  des  b  entspringt  und  deshalb  dem  «  durchaus  nicht  ähnlich  zu  sein 
braucht,  der  sich  jedoch  ändert,  wenn  «  sich  ändert.  So  werden  also  in  der 
Erkenntniss  die  Dinge  und  Ereignisse  keineswegs  so  abgebildet,  wie  sie  sind, 
sondern  nur  wie  sie  erscheinen.  Eine  blosse  Receptivität,  Eindrücke  von  Aussen 
lediglich  aufzunehmen,  ohne  durch  die  eigene  Natur  nie  mit  zu  bestimmen,  ist 
nicht  zu  statniren.  Was  das  ursprüngliche  Eigenthum  unseres  Geistes  anlangt,  so 
darf  man  nicht  meinen,  dass  abstracto  Wahrheiten  wie  das  principium  identitatis 
oder  das  principium  rationis  sufficientis  vom  Beginn  des  Lebens  und  vor  aller 
Erfahrung  dem  Bewusstsein  schon  stets  als  deutliche  Vorstellungen  innewohnten; 
es  verhält  sich  damit  vielmehr  so:  der  Geist  ist  derart,  dass  dann,  wenn  Ein- 
drücke auf  ihn  einwirken,  er  aus  seiner  eigenen  Natur  in  der  Weise  reagirt,  dass 
er  zu  jeder  Veränderung  des  Beobachteten  eine  bedingende  Ursache  sucht,  dass  er 
jeden  Inhalt  eines  Eindrucks  als  sich  selbst  gleich  ansieht.  In  dem  Augenblicke 
freilich,  wo  wir  uns  zum  ersten  Male  eines  solchen  Satzes  bewusst  werden,  wird 
er  von  uns  als  eiue  ewige,  allgemein  und  nothwendig  gültige  Wahrheit  erfahren. 
Obwohl  der  Unterschied  zwischen  Seele  und  Materie  aufgehoben  ist,  so  sind  Seele 
und  Leib,  wenn  auch  nicht  ganz  ungleichartig,  doch  zweierlei:  die  Seele  eine 
einzige  nichtsiunl i che  Substanz,  der  Körper  eine  Zusammensetzung  vieler. 
Zwischen  beideu  findet  also  keine  Identität,  wohl  aber  eine  vlelgcgliederte  Wechsel- 
wirkung statt,  die  den  allgemeinen  Gesetzen  gehorcht. 

Inhalt  und  Gültigkeit  der  moralischen  Ideen  sind  ebenso  wie  die  theore- 
tischen Sätze  unabhängig  von  der  Erfahrung;  diese  giebt  freilich  zu  ihrer  Ent- 
wickelung  die  Veranlassung.  Eine  sittliche  Beurtheilung  unserer  Handlungen  kann 
nur  von  dem  Bewusstsein  unbedingt  verpflichtender  Ideale  ausgehen,  deren  Ver- 
wirklichung uns  unter  allen  Umständen  obliegt,  die  uns  zum  Handeln  auffordern. 
Freilich  hängen  die  Begriffe  des  Guten  und  des  Gutes  oder  der  Lust  untrenn- 
bar zusammen.  Wollte  man  aus  den  Zwecken  des  Handelns  jede  Rücksicht  auf 
ein  zu  erzeugendes  Glück  entfernen,  dann  würde  der  Begriff  des  Guten,  des  Bes- 
seren, seine  Bedeutung  verlieren,  man  würde  auch  nicht  wissen,  zu  welchem  Ende 
in  dieser  Welt  etwas  geschehen  sollte.  Es  muss  hier  die  unbedingte  Verpflichtung, 
deren  Vorstellung  nicht  für  eine  psychologische  Täuschung  erklärt  werden  kann, 
maassgebend  sein;  die  Entscheidung  hängt  vom  Gewissen  ab,  indem  es  Verhält- 
nisse der  Dinge  und  Ereignisse  giebt,  denen  ein  eigener  Werth  oder  Unwerth  zu- 
kommt, insofern  als  sie  zwar  diese  beiden  nur  in  unserem  Gefühle  erlangen,  aber 
doch  dann  unabhängig  von  unserer  Willkür,  so  dass  auf  einige  ein  unabweialiches 
Urtheil  des  Wohlgefallens  oder  der  Billigung,  auf  andere  eins  des  Missfallens  oder 
der  Missbilligung  fällt.  Die  bindende  Kraft  der  sittlichen  Gebote  ist  freilich  nur 
erklärlich  durch  die  Annahme,  dass  wir  durch  Erfüllung  derselben  an  der 
Erreichung  des  Weltzweckes  mithelfen,  der  nicht  in  Gleichgültigem  besteht,  sondern 


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§  45.    Neue  Systeme.    Lotze,  Fechner,  Hartmann  u.  A. 


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in  der  Herstellung  eines  unbedingt  werthvollen  Gutes,  das  als  Gut  auch 
gefühlt  werden  rauss. 

An  Stelle  des  metaphysischen  Postulats  des  Unendlichen  wird  vou  Lotze  der 
volle  Begriff  Gottes  gesetzt,  wobei  Gewicht  auf  eine  Art  des  ontologischen  Be- 
weises gelegt  wird:  Wäre  das  Grösste  nicht,  so  wäre  das  Grösste  nicht,  und  es 
ist  ja  unmöglich,  dass  das  Grösste  von  allem  Denkbaren  nicht  wäre.  Die  Ge- 
wissheit davon  soll  freilich  zu  den  inneren  Erlebnisseu  gehören.  Die  metaphysischen 
Eigenschaften  der  Einheit,  Ewigkeit,  Allgegeuwart  und  Allmacht  bestimmen  nun 
Gott  als  den  Grund  aller  Wirklichkeit  des  Endlichen,  die  ethischen  der  Weisheit. 
Gerechtigkeit,  Heiligkeit  genügen  dem  Verlangen,  in  dem  höchsten  Wirklichen  auch 
das  Höchste  des  Wertbes  wieder  zu  finden.  Aber  nur  die  Persönlichkeit  Gottes 
kann  der  Sehnsucht  des  Gemüths  Genüge  schaffen.  Und  zwar  soll  für  das  Selbst- 
bewusstsein  (oder  für  die  Persönlichkeit)  nicht  nöthig  sein  der  Gegensatz  gegeu  die 
Aussenwelt,  sondern  es  soll  entstehen  auf  dem  Grunde  eines  unmittelbaren  Selbst- 
gefühls. —  Durch  das  religiöse  Gefühl  erfassen  wir  uns  selbst  als  göttlichen  Wesens, 
als  mit  Gott  vereinigt,  der  unser  Wesen  bedingt  und  sich  in  uns  offenbart 

Was  das  Verhältniss  des  Wirklichen  zu  dem  Reich  der  Wahrheiten 
und  dem  Boich  der  Werthe  anlangt,  so  sind  diese  nicht  früher  als  das  erste 
Wirkliche,  sondern  dieses,  welches  die  lebendige  Liebe  ist,  entfaltet  sich  in  der 
einen  Bewegung,  welche  dem  endlichen  Erkenuen  sich  in  drei  Seitenkräfte  zerlegt, 
nämlich  in  die  des  Guten,  welches  das  Ziel  der  Bewegung  ist,  des  Gestaltungs- 
triebes, der  dieses  verwirklicht,  und  der  Gesetzlichkeit,  mit  welcher  dieser  Trieb 
die  Richtung  nach  seinem  Zwecke  innehält.  Wie  freilich  die  Wirklichkeit  in  dieser 
ewigen  Liebe  ruht,  wie  die  ewigen  Wahrheiten  als  die  Summe  dessen,  was  uns 
als  denknothweudig  erscheint,  aus  demselben  Grunde  der  ewigen  Liebe  sich  her- 
leiten, das  darzuthun,  ist  eine  für  die  Wissenschaft  unmögliche  Aufgabe. 

An  Lotze  schliesst  sich  ziemlich  eng  an  Hugo  Sommer,  üb.  das  Wesen  u. 
d.  Bedeutg.  der  menschl.  Freiheit,  Berl.  1882,  2.  Aufl.  1885.  D.  Neugestalt  unser. 
Wcltansicht  durch  d.  Erkenntuiss  v.  d.  Idealität  des  Raumes  u.  der  Zeit  Berl. 
1882.  Gewissen  und  moderne  Cultur,  Berl.  1884.  Individualismus  oder  Evolutio- 
nismus? Zugleich  e.  Entgegn.  auf  d.  Streitschr.  des  Hrn.  Prof.  W.  Wundt,  Berl. 
1887.  Auf  den  Schriften  Lotzes,  insbesondere  auf  dem  Mikrokosmus,  beruhen  ferner 
die  philosophischen  Voraussetzungen  von  Wilh.  Hollenbergs  Schrift:  Zur  Re- 
ligion u.  Cultur,  Vorträge  u.  Aufsätze,  Elberf.  1867,  u.  dessen  Logik,  PsychoL  u. 
Ethik  als  philos.  Propädeutik,  Elberf.  1869.  Auch  Herrn.  Lange nbeck,  das 
Geistige  nach  seinem  ersten  Unterschiede  vom  Psychischen  im  engern  Sinne,  Berl. 
1868,  hat  an  Lotze  u.  zum  Theil  an  Kant  sich  angeschlossen.  Im  Geiste  vou 
Lotzes  medicinischer  Psychol.  schreibt  Carl  Stumpf,  Ueber  den  psychologischen 
Ursprung  der  Raumvorstellung,  Lpz.  1873.   Tonpsychologie,  1.  Bd.,  Lpz.  1883. 

Gust  Teichmüller  (geb.  1832,  Prof.  in  Dorpat)  gehört  zwar  keiner  be- 
stimmten Partei  an,  verehrt  aber  Lotze  unter  den  Philosophen  der  neuesten  Zeit 
am  höchsten.  Er  hat  neben  einer  Reihe  auf  die  Geschichte  der  alten  Philosophie 
bezüglichen  Werke  geschrieben:  Ueber  die  Unsterblichkeit  der  Seele,  Lpz.  1874, 
2.  Aufl.,  1879.  Darwinismus  u.  Philosophie,  Dorpat  1877.  Ueber  das  Wesen  der 
Liebe,  Lpz.  1879.  Die  wirkliche  und  d.  scheinbare  Welt.  Neue  Grundlegg.  d. 
Mctaphys.,  Breslau  1882.  Religionsphilosophie,  Breslau  1886.  Die  auf  die  alte 
Philosophie  bezügl.  Werke  s.  in  der  Litteratur  des  1.  Th.  dieses  Grundr.  Nament- 
lich den  Begriff  des  Seins  untersucht  Teichmüller  in  seiner  Grundlegung.  Auf  das 
Sein  aller  andern  Dinge  schlieasen  wir,  unseres  eigenen  Seins  sind  wir  uns  un- 
mittelbar bewusst  und  gerade  dieses  Wissen  von  uns  selbst  von  unseren  Thätig- 
keiten  und  ihrem  Inhalt  ist  alles,  was  Teichmüller  unter  Sein  versteht   Alles  Sein 


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§  46.    Neue  Systeme.    Lotee,  Fechner,  Hart  mann  n.  A. 


ruht  eben  im  Ich  nach  dem  Zeugnisa  des  Selbstbewusstseins,  nnd  nicht  wächst  da» 
Ich  langsam  aus  den  Thätigkeitcn  hervor.  Die  Einheit  des  Ichs  ist  eine  substan- 
tiale.  Das  ganze  Weltbild  hat  nnr  ideelles  Sein  als  Inhalt  unserer  erkennenden 
Thatigkeit,  in  welcher  das  Snbject  verschwanden  ist.  Wir  haben  damit  nnr  eine 
scheinbare  Welt.  Nach  der  Analogie  mit  dem  Ich  nehmen  wir  mit  Recht  an- 
dere Wesen  ausser  ans  an.  Religion  ist  diejenige  Gesinnung,  welche  sich,  dem 
Gotteebewusstsein  zugeordnet,  in  zusammengehöriger  Function  von  Erkenntnis»,  Ge- 
fühl und  Handlung  symbolisirt.  —  Gegen  Kant  polemisirt  Teichmüller  entschieden, 
noch  entschiedener  gegen  den  Poeitivismus. 

Fechner,  da«  Büchlein  vom  Leben  nach  d.  Tode,  Lpz.  1836,  3.  Aufl.  1887. 
Ueber  das  höchste  Gut,  Lpz.  1846.  Nauna  od.  über  das  Seelenleben  der  Pflanzen, 
Lpz.  1848.  Zendavesta  od.  über  die  Dinge  de«  Himmels  u.  des  Jenseits  Lpz.  1851. 
Ueber  die  physikal.  n.  philo*.  Atomenlehre,  Lpz.  1855,  2.  Aufl.  1864.  Elemente 
der  Psychophysik,  2  Thlc.,  Lpz.  1860.  Ueber  die  Seelenfrage,  ein  Gang  durch  die 
sichtbare  Welt,  um  die  unsichtbare  zu  finden,  Lpz.  1861.  Die  drei  Motive  u.  Gründe 
des  Glanbens,  Lpz.  1863.  Zur  experimentalen  Aet-thetik,  Lpz.  1871.  Einige  Ideen  zur 
Schöpfung»-  und  Entwickelungsgesch.  der  Organismen,  Lpz.  1873.  Vorschule  der 
Acsthetik,  2  Thle.,  Lpz.  1876.  Erinnerungen  an  die  letzten  Tage  der  Odlehre  u. 
ihres  Urbebers  (Reichenbach),  Lpz.  1876.  In  Sachen  der  Psychophysik,  Lpz.  1877. 
Die  Tagesansicht  gegenüber  der  Nachtansicht,  Lpz.  1879.  Revision  der  Haupt- 
punkte der  Psychophysik,  Lpz.  1882.  Ueber  die  psychischen  Maassprincipien  und  das 
webersche  Gesetz,  in:  Philo«.  Stud.,  IV.  Bd.,  H.  2,  1887.  Unter  dem  Pseudonym 
Dr.  Mises  hat  Fechner  noch  mehrere,  znm  Theil  humoristische  Schriften  veröffentlicht, 
so:  Kleine  Schriften,  Lpz.  1875,  Käthselbüchlein,  Lpz.  1878.  —  Die  psyehophysischen 
Resultate  Fechners  haben  namentlich  angegriffen:  Hering,  über  Fecbners  psychophys. 
Gesetz,  Wien  1875.  Delboeuf,  Etüde  psychophysique,  Bruxelles  1873.  Langer,  Grund- 
lagen der  Psychophys.,  Jena  1876.  Georg  Elias  Müller,  zur  Grundlegung  der  Psycho- 
physik, Berl.'  1878.  Ferd.  Aug.  Müller,  das  Axiom  der  Psychophysik,  Marb.  1882. 
Ad.  Elsas,  üb.  d.  Psychophysik,  physik.  u.  erkenntnisstheoret.  Betrachtungen,  Marb. 
1886.  Vgl.  auch  Otto  Caspari,  die  psychophys.  Bewegung.  Lpz.  1869.  Die  vielen  auf 
die  Methoden  der  Psychophysik  und  psychophysische  Resultate  sich  beziehenden  Ab- 
handlungen können  hier  nicht  aufgeführt  werden. 

Gustav  Theodor  Fechner  (geb.  1801,  seit  1834  Prof.  der  Phys.  in  Leipzig, 
als  solcher  lange  emeritirt,  gest.  1887)  kommt  in  seiner  phantasievoll-sinnigen  Spe- 
culation  zu  theilweise  theosophischen  Resultaten  und  gebraucht  dabei  vielfach 
Analogien:  Er  selbst  nennt  seine  Philosophie  einen  wenn  auch  weit  vom  Mutter- 
stamm  abgezweigten  Ableger  der  schellingschen  Speculation,  dagegen  weist  er  den 
Hegelianismus,  der  ihm  „in  gewissem  Sinne  die  Kunst,  ein  richtiges  Schliessen  zu 
verlernen,  ist",  entschieden  ab.  Nach  ihm  liegen  die  höchsten  und  letzten  Wirk- 
lichkeiten auf  der  Seite  des  Geistigen  in  der  höchsten  nnd  letzten  Bewusstseins- 
einheit,  der  des  göttlichen  Geistes,  nach  Seiten  des  Körperlichen  im  einfachen 
Atome,  als  letztem  Element  der  Körperwelt.  Es  giebt  eine  allgemeine  und  höchste 
Hewusstseinseinheit,  die  göttliche,  die  analog  der  menschlichen  gedacht  'werden 
muss.  Es  giebt  ihr  untergeordnete  und  in  ihrer  gemeinsamen  Unterordnung  ein- 
ander nebengeordnete  Bewusstaeiuseinheiten,  wozu  die  menschlichen  gehören.  Es 
giebt  aber  auch  noch  den  Menschen  übergeordnete,  Gott  untergeordnete  Bewusst- 
seinseinheiten,  die  der  Erde  und  der  Himmelskörper,  indem  jedes  Gestirn  seine 
eigene  Sinneswelt  hat  und  darüber  aufsteigende  höhere  Bewusstseinswelt,  die  sich 
über  der  seiner  Geschöpfe  einheitlich  zusammenschliesst,  sich  gegen  die  der  an- 
dern Gestirne  abschließt,  für  das  göttliche  Bewnsstsein  aber  ganz  offen  ist,  so  das« 
die  Gestirne,  also  auch  die  Erde,  zwischen  ihren  Geschöpfen  und  Gott  vermitteln. 
Unter  den  Menschen  stehen  wiederum  die  Seelen  der  Pflanzen.  Die  Einheit  des 
höchsten  Bewusstseins  übersteigt  alle  niederen  Bewusstseinseinheiteu  nnd  stellt 
eine  Verknüpfung  zwischen  ihnen  her,  dessen  sie  sich  bewusst  ist,  indem  das  In- 


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§  45    Neue  Systeme.   Lotze,  Fechncr,  Hartmanu  u.  A. 


491 


begreifen  im  Bewusstsein  zugleich  das  Band  des  Inbegriffenen  ist  Dagegeu  sind 
sich  die  niederen  Bewusstseinseinheiten  des  Inbegriffenseins  in  der  höheren  und 
höchsten  nicht  unmittelbar  bewusst.  Unser  irdisches  Leben  geht  als  neues  Ent- 
wickelungsmoment  in  ein  weiteres  und  höheres  Leben  ein  und  gewinnt  Theil  daran. 
Wie  unsere  Anschauung  nach  dem  Erlöschen  als  Erinnerung  in  einem  höheren  Ge- 
biete unseres  Geistes  wiedergeboren  wird,  so  wird  es  auch  unserm  ganzen  Geiste  im 
Geiste  darüber,  dem  er  schon  jetzt  eingethan  ist,  begegnen  Im  Jenseits  sind  die 
Geister  nicht  mehr  an  dieselben  räumlichen  Schranken  gebunden  wie  im  Diesseits, 
sie  sind  dort  in  einem  freieren,  innigeren  und  höheren  Verkehr.  Uebrigens  sollen 
das  nur  Glaubenssätze  der  Tagesansicht  sein,  die  sich  aber  auf  ein  theoretisches 
praktisches  und  historisches  Princip  stützen. 

Das  einfache  Atom  ist  zwar  als  solches  keiner  Erscheinung  fähig,  aber  wird 
aus  der  Gesammtheit  der  körperlichen  Erscheinungen  als  Schlusspnnkt  ihres  Zu- 
sammenhangs abstrahirt  und  stellt  den  letzten  Ansatzpunkt  für  alle  exaete  Berech- 
nung dessen  dar,  was  im  Einzelnen  in  der  Welt  berechenbar  ist.  Zu  dem  Gedanken 
dieser  letzten  Einzelheiten  gelangen  wir,  indem  wir  die  Analyse  der  körperlichen 
Erscheinungen  biB  zu  ihrer  letzton  Grenze  fortführen,  wobei  jene  einfachen  Dinge 
als  letzte  nothwendige  Anhaltspunkte  der  Verknüpfung  und  Berechnung  der  Er- 
scheinungen übrig  bleiben.  Der  Beweis  der  Realität  der  Atome  liegt  in  der  ma- 
thematischen Nothwendigkeit,  sie  zu  gebrauchen. 

Seine  Grundansicht  nennt  Fechner  idealistisch,  sofern  alle  Existenz  nach 
ihr  in  einem  allgemeinsten,  im  göttlichen  Bewusstsein  ruht,  nur  dass  sie  nicht  die 
Materie  für  ein  Product  des  Geistes  oder  einseitig  von  ihm  abhängig  hält,  sondern 
für  eine  immanente  Bedingung  seines  Daseins.  Er  nennt  sie  materialistisch, 
da  sie  die  Möglichkeit  eines  menschlichen  Gedankens  ohne  ein  Gehirn  und  eine 
Bewegung  in  diesem  Gehirn  verneint  und  nicht  einmal  einen  göttlichen  Gedanken 
ohne  eine  körperliche  Welt  und  ohne  Bewegungen  in  dieser  Welt  gestattet  Er 
nennt  sie  dualistisch,  indem  Leib  und  Seele  zwei  gar  nicht  auf  einander  zurück- 
führbare, grundwesentlich  verschiedene  und  doch  auf  einander  bezogene  Seiten  der 
Existenz  sind.  Und  endlich  bezeichnet  er  sie  als  Identitätsansicht,  da  sie 
beides,  Leib  und  Seele,  nur  für  zwei  verschiedene  Erscheinungsweisen  desselben 
Wesens  hält,  und  da  sie  das  Wesen,  was  beiden  Erscheinungsweisen  gemeinsam 
zu  Grunde  liegt,  in  nichts  als  der  untrennbaren  Wechselbedingtheit  beider  Erschei- 
nungsweisen und  die  letzte  Bedingung  der  Untrcnnbarkeit  in  der  Einheit  des  gött- 
lichen Bewusstseins  sieht.  Schroff  soll  seine  Ansicht  nur  der  Monadologie 
widersprechen. 

Die  Lehre  von  den  Gesetzen,  nach  denen  Leib  und  Seele  zusammenhängen, 
nennt  Fechner  Psychophysik,  und  er  ist  der  wissenschaftliche  Begründer  der- 
selben. Nachdem  schon  Daniel  Bernouilli  in  seiner  Abh.  de  menBura  sortis  (Akad.) 
Petersb.  1738,  und  Laplace  (welcher Letztere  dabei  die  Ausdrücke  »fortune  physique' 
und  «fortune  morale*  gebraucht)  gelehrt  hatten,  dass  der  Zuwachs  an  Befriedigung 
durch  äussern  Erwerb  (wenigstens  innerhalb  gewisser  Grenzen)  unter  übrigens 
gleichen  Bedingungen  dem  Verhältniss  dieses  Erwerbs  zu  dem  schon  vorhandenen 
Vermögen  entspreche,  dass  also,  wenn  der  Besitz  sich  in  geometrischer  Progression 
vermehre,  die  Befriedigung  in  arithmetischer  Progression  (oder  nach  logaritbmischem 
Verhältniss)  wachse,  Euler  das  Analoge  in  Bezug  auf  die  empfundenen  Tonhöhen 
und  die  zugehörigen  Schwingungszahlen  ausgesprochen  hatte,  Delczenne  im  Recueil 
des  travaux  de  la  soc.  de  Lille  (1827)  und  in  Fechners  Repertorium  der  Experi- 
mentalphysik I,  S.  341  (1832)  und  Ernst  Heinrich  Weber  in  Rud.  Wagners  Handw. 
der  Physiol.  III,  2  Abth.,  S.  559  ff.  in  Bezug  auf  Gewichtsbestimmungen  vermöge 
des  DruckBinnes,  auf  die  Vergleichung  von  Linienlängen  und  von  Tonhöhen  die 


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§  45.    Neue  Systeme.   Lotte,  Fechner,  Hartmann  u.  A. 


Modification  der  Empfindung  der  relativen  Reizveränderung  (dem  Yerhältniss  des 
Reizzuwachses  oder  überhaupt  der  Reizmodification  zu  dem  jedesmal  schon  vor- 
handenen Reiz)  proportional  gesetzt  hatten,  behauptete  Fechner  auf  Grund  sehr 
zahlreicher  Beobachtungen  das  Gesetz  als  ein  innerhalb  gewisser  Grenzen  allgemein- 
gültiges, dass  constante  Differenzen  der  Empfindungsintensitäten  (die  nach  Fechners 
Voraussetzung  stets  die  gleiche  Grösse  haben)  innerhalb  gewisser  Grenzen  durchweg 
an  die  gleichen  relativeu  Unterschiede  der  Reizintensitäten  (also  an  die  gleichen 
Quotienten  aus  dem  jedesmaligen  Reizzuwachs  und  der  jedesmal  schon  vorhanden 
geweseneu  Reizstärke)  gebunden  seien.  Wirken  auf  denselben  Sinn  verschiedene 
Reize,  deren  Intensitäten  eine  geometrische  Reihe  bilden,  so  entstehen  Empfin- 
dungen, deren  Intensitäten  eine  arithmetische  Reihe  bilden.  Die  Intensitäten  der 
Empfindungen  verhalten  sich,  wie  die  Logarithmen  der  Intensitäten  der  sie  hervor- 
rufenden Reize,  wenn  als  Einheit  der  Schwellenwerth  des  Reizes,  d.  h.  diejenige 
Reizstärke  angesehen  wird,  wobei  die  Empfindung  in  der  Reihe  wachsender  Reise 
zuerst  entsteht  und  in  der  Reihe  abnehmender  Reize  zuerst  verschwindet.  Das 

Empfindungsincrement  de  ist  proportional  dem  relativen  Reizzuwachs  y.  Also  gilt 

d  r 

die  ,  Fandamentalformel"'  de  =  K  -    (wo  K  eine  Constante  ist);  durch  Integration 

ergiebt  sich  die  .MoaseformeP  e  =  K  .  log  r  —  K .  log  p  (wo  p  den  Schwelleuwerth 

des  Reizes  bezeichnet)  oder  e  =  K  .  log  --,  Mit  Rücksicht  darauf  aber,  doss  auch 

ohne  äusseren  Reiz  der  Nerv  niemals  ganz  unerregt  ist,  ergiebt  sich,  wenn  die 

Intensität  der  inneren  Reizung  =  r,  gesetzt  wird,  die  Gleichung  de  =  K         -  • 

(Dass  jedoch  keineswegs  durchgängig  eine  genaue  Proportionalität  bestehe,  sondern 
statt  K  eine  Funktion  von  r  zu  setzen  sei,  die  bei  massigem  Anwachsen  von  r  nahezu 
constant  bleibe,  bei  stärkerem  Anwachsen  von  r  aber  dem  Nullwerth  zustrebe,  indem 
bei  sehr  heftigem  Reiz  eine  Grenze  erreicht  wird,  jenseits  welcher  die  Empfindung 
nicht  mehr  wächst,  zeigt  Helmhol tz  in  seiner  physiolog.  Optik  §  21,  der  die  fech- 
nerschen  Formeln  nur  als  eine  erste  Approximation  an  die  Wahrheit  gelten  lässt.) 
Fechner  nimmt  an,  dass  der  Stärke  des  äusseren  Reizes  die  Stärke  der  Nerven- 
erregung innerhalb  bestimmter  Grenzen  proportional  sei,  und  dass  das  „webersche 
Gesetz",  welches  besser  das  fechnersche  Messe,  für  das  Intensitätsverhältniss  zwischen 
Nervenerregung  und  Empfindung  vielleicht  in  voller  Strenge  gelte,  und  dass  es  sich 
auf  die  Beziehungen  zwischen  den  psychischen  und  den  unmittelbar  zugehörigen 
leiblichen  Functionen  überhaupt  anwenden  lasse  (was  freilich  sehr  hypothetisch  ist). 
Den  Angriffen  von  Helmholtz,  Hering,  Laugor  u.  A  gegenüber  hält  Fechner  seine 
Lehre  in  allen  fundamentalen  Punkten  insoweit  aufrecht,  als  er  in  ihr  die  wahr- 
scheinlichste Lehre  sieht,  die  sich  bisher  hat  aufstellen  lassen,  und  auch  nach  seineu 
neuesten  Aeusserungen  wird  er  durch  die  mancherlei  Ausstellungen  nicht  dahin 
geführt,  die  in  den  „Elementen"  aufgestellten  Principien  und  daraus  fliessenden 
Folgerungen  und  Formeln  zu  verlassen.  Auf  die  vielen  die  Psychopbysik  betreffen- 
den Diacussionen  einzugehen,  ist  hier  nicht  der  Ort. 

von  Hartmann,  Philo«,  des  Unbewussten,  Berl.  1869,  9.  erweit.  Aufl.  1882. 
Ueber  d.  dialektische  Methode  (s.  o.  S.  346).  Sendlings  posit.  Philos.  als  Einheit  von 
Hegel  u.  Schopenh.,  Berl.  1869.  Aphorismen  über  d.  Drama,  Berl.  1870.  Das  Ding 
an  sich  u.  seine  Beschaffen)!.,  Berl.  1871.  Gesann»,  philos.  Abhandlungen  zur  Philos. 
des  Unbewussten,  Berl.  1872.  Erläuterungen  zur  Metaphys.  d.  Unbew.  mit  besond. 
Rucks,  auf  d.  Panlogism.,  ebd.  1874.  Shakespeares  Romeo  u.  Julia,  Lpz.  1875.  Die 
Selbstzerstzg.  d.  Christenth.  u.  d.  Relig.  d.  Zukunft,  Berl.  1874.  Wahrh.  u.  Irrthum  im 
Darwinism.,  eine  krit.  Darstellg.  d.  organ.  Entwickelungstheorie,  ebd.  1875.  Krit. 


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§  45.    Neue  Systeme.    Lotee,  Fechner.  Hartmann  u.  A.  493 

Grundlegung  d.  transscendemab  n  Realismus.  2.  erweit.  Aufl.  von:  . Du  Ding  an  rieb  u. 
seine  Beschaffenheit*,  ebd.  1875,  3.  Aufl.  1886,  in:  Ausgew.  WW.  Zur  Reform  des 
höh.  Schulwesens.  Berl.  1875.  J.  H.  v.  Kirchmanns  erkenntnisstheor.  Realismus,  ein 
krit.  Beitrag  zur  Begründg.  des  transscendental.  Realismus.  eM.  1875.  Das  f  »bi  IMli 
vom  Standpunkt  der  Physiologie  und  Deseendenzthe< >rie.  Berl.  1872  (zuerst  anonym),  in 
2.  Aufl.  mit  dem  Namen.  Gesammelte  Stud.  u.  Aufsitze.  Berl.  1876  (dann  u.  a.r 
Beiträge  zur  Naturphilosophie,  das  philos.  Dreigestirn  des  1 Jahrh.s.  Schelling.  Hegel, 
Schopenhauer).  Neukantianismus,  Schopenhauerianismus  u.  Hege  liani.-mus  in  ihrer 
Stellung  zu  der  philos.  Aufgabe  der  Gegenw.,  2.  Aufl.  der  Erliuterurgen  zur  Metaph. 
des  Unbew.,  Berl.  1877.  Phänomenologie  des  sittl.  Bewußtseins,  Berl.  1879. 
2.  Aufl.  1686.  unt  d.  Titel:  das  sittl.  Bewusstsein.  in:  Ausgew.  WW.  Zur  Gesch.  u. 
Begründung  des  Pessimismus,  Berl.  1880.  Die  Krisis  des  Christenthums  in  d.  modernen 
Theologie.  Berlin  1880.  Das  religiöse  Bewussts.  der  Menscbh.  im  Stufeneang 
seiner  Entwicklung,  Berl.  1881.  D.  Religion  des  Geistes,  Berl.  1882.  Philos. 
Fragen  der  Gegenwart,  Lpz.  1885  (der  4.  Aufs.:  Vebers.  d«r  wichtigst,  philos.  Stand- 
punkte, enthält  eine  kurze  Darstellung  des  eigenen  philos.  Systems,  und  zwar  so.  das* 
seine  Lösung  jeder  bestimmten  Frage  als  die  Synthese  zweier  einseitigen  Löningen  er- 
scheinen soll,  so  Panpneumatismus  als  höhere  Synthese  des  Panlogisnius  und  Panthelis- 
mus).  Der  Spiritismus,  ebd.  1885.  Moderae  Probleme,  ebd.  18<6.  Aesthetik,  1.  histor.- 
krit.  Th. :  <L  deutsche  Aesthet.  seit  Kant.  Berl.  1886,  2.  svstemat.  Th. :  die  Philos.  de» 
Schönen,  1887.  Diese  letzten  in:  Ausgew.  WW.,  die  Beri.  1885  ff.  erschienen.  Licht- 
strahlen aus  E.  v.  H.s  sämmtl.  WW.,  herausgeg.  u.  mit  einer  Einl.it.  versehen  v.  M. 
Schneidewin,  Berl.  1881.  —  Seinen  Entwiekeluug-gang  hat  II.  selbst  dargelegt,  in  ges. 
Stud.  u.  Aufs.,  No.  1,  s.  auch  in  d.  Mnnatss.hr.  Gesellschaft,  1887,  H.  6  und  ferner 
E.  Heymons,  Ed.  v.  H..  Erinnerungen  aus  d.  Jahren  1868— Sl,  Berl.  1882. 

Ueber  Hartmanns  Philosophie  handeln  ausser  den  oben  erwähnten  Schriften  von  ,1.  B. 
Meyer  (S.  457)  u.  L.  Weis  (S.  479)  auch  Jul.  Bahnsen,  zur  Phil.  d.  Geach..  eine  krit. 
Besprechung  hegel-hartmannschen  Evolutionismus  aus  schopenhauersehen  Principien,  Berl. 
1871.  G.  C.  Stiebeling.  Naturwissensch,  geg.  Philos.  Eine  Widerleg,  der  hartmannsch. 
Lehre  vom  Unbewussten  in  der  Leihliehk.,  nebst  einer  kurzen  Beleucht.  der  darwinschen 
Ansichten  über  den  Instinet,  New-York  1871.  J.  C.  Fischer,  H.s  Philos.  des  Unbew., 
ein  Schmerzensschrei  des  gesund.  Menschenverstandes,  Lpz.  1872.  A.  T(aubert),  Philos. 
gegen  naturwbsensch.  Ueberhebg.,  eine  Zurechtweisg.  des  Dr.  Geo.  Stiebeling  u.  seiner 
angebl.  Widerleg,  der  hartmannsch.  Lehre  vom  Unbew.  in  der  Leiblichk..  Beri.  1872. 
Karl  Frhr.  du  Prel,  d.  gesunde  Menschcnverst.  von  den  Problemen  der  Wissensch.  In 
Sachen  J.  C.  Fischer  contra  H.,  Berl.  1872.  Gust.  Knauer,  das  Facit  aus  E.  v.  H.s 
Phiios.  des  Unbew.  gezogen,  Berl.  1873.  Jobs.  Volkelt,  das  Unbew.  u.  der  Pessimism., 
Berl.  1873.  Job.  Rehmke,  H.s  Unbewusstes  auf  d.  Logik  hin  krit.  beleuchtet,  I.-D., 
Zör.  1873.  Herrn.  Ebbinghaus,  über  die  h.sche  Philos.  des  Unbew.,  Bonner  I.-D., 
Düsseldorf  1873.  Alex.  Schweizer,  H.s  Phil,  des  Unbew.,  ihr  Gnosticism.  u.  metaph. 
Werth  in:  Zeitschr.  für  wissensch.  Theol.,  17.  Jahrg.  1874,  S.  407— 435.  Gust  Hanse- 
mann, E.  v.  H.s  Phil,  des  Unbew.  f.  das  Bewusstsein  weiterer  Kreise,  Lpz.  1874.  Mor. 
Venetianer,  d.  Allgeist,  Grundzüge  des  Panpsychism.  im  Anschluss  an  die  Phil,  des 
Unbew.,  Berl.  1874.  C.  F.  Heman,  E.  v.  H.s  Relig.  der  Zukunft  in  ihrer  Selbstzersetzg. 
nachgewiesen,  Lpz.  1875.  W.  Sonntag,  Herr  v.  H.  u.  die  Selbstzersetzg.  des  Christen- 
thums, Gera  1875.  Jobs.  Huber,  die  relig.  Frage  wider  Ed.  v.  H.,  Münch.  1875.  J. 
H.  Kirchmann,  d.  Princip  des  Realismus,  Berl.  1875.  A.  Ebrard,  H.s  Phil,  des 
Unbew.,  Gütersloh  1876.  C.  Uphues,  Kritik  des  Erkennens.  Würdigung  der  Erkenntniss- 
theorie  E.  v.  H.s,  Ueberwegs  u.  der  alten  u.  neuen  Scholastik,  Münster  1876.  Bonatelli, 
la  filosofia  delT  inconscia  dt  Ed.  v.  H.  esposta  ed  esaminata,  Roma  1876.  B.  Carneri, 
der  Mensch  als  Selbstzweck.  Eine  positive  Kritik  des  Unbew.,  Wien  1877.  O.  Schmid, 
die  naturwissenschaftl.  Grundlagen  der  Phil,  des  Unbew.,  Lpz.  1877,  s.  v.  H.s  Entgegn. 
im  Anh.  der  2.  Aufl.  v.  Philos.  d.  Unbewusst.  etc.  K.  O.  Anbuth,  das  wahnsinnige 
Bewusstsein  u.  die  unbewusste  Vorstellung,  Halle  1877.  E.  v.  Hartmann,  Zur  Geschichte 
u.  Begriind.  des  Pessimismus,  Berl.  1880.  J.  H.  v.  Ktrchmann,  üb.  H.s  Phänomen,  d. 
sittl.  Bew.,  Abh.  d.  Berl.  Philos.  Gesellsch.,  Lpz.  1879.  Lor.  Engelbr.  Fischer,  üb.  d. 
Pessim.  (frankf.  zeitgen.  Brochur.,  n.  F.,  Bd.  2,  H.  2),  Frf.  a.  M.  1880.  Dorner,  H.s 
Pessimist  Philosophie,  in:  Theol.  St.  u.  Kr.,  1881,  S.  1-106.  0.  Plumacher,  der 
Kampf  ums  Unbewusste,  nebst  einem  chronologisch.  Verzeichniss  der  Uartmann- 
Litteratur  als  Anhang,  Berl.  1881.  Carl  Braig,  d.  Zukunftsrel.  des  Unbewussten  u.  d. 
Princ.  des  Subjectivism.,  Frb.  i.  B.  1882.  Alfr.  Weber,  Wille  zum  Leben  od.  Wille 
zum  Guten?    Vortr.  üb.  H.s  Philos.,  Strassb.  1882.   A.  Lasson,  d.  Entwickel.  des  relig. 

der  Menschheit  nach  E.  v.  H.   Vortr.  d.  philos.  Gesellsch.  *.  Berl.,  N.  F., 


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§  45    Neue  Systeme.    Lotze,  Fechner,  Hartmann  u.  A. 


3.  H.,  Halle  1883.  R.  Köber,  du  philo«.  Syst.  Ed.  v.  H.s,  Breslau  1884.  Alfr.  Schüz, 
Philosophie  u.  Christeuth.,  e.  Charakterist.  der  hartmannsch.  Weltanschauung  f.  jeden 
Gebildeten,  Stuttg.  1884.  Jul.  Happel,  E.  v.  H.s  Rel.  des  GeUtes  nach  ihr.  Verdienst, 
u.  Sehwich,  gewürdigt,  in:  Jahrbb.  f.  proteau  TheoL,  X,  1884,  S.  513— 550.  Chr. 
Hönes,  E.  v.  H.s  Rel.  Philos.,  in:  Theol.  Stud.  ans  Wflrttemb.,  V,  1884,  S.  1—31, 
85—111.  C.  Fr.  Heman,  üb.  wissensch.  Versuche  neuer  Religionsbildung.,  Habil.-Vori., 
Bas.  1884.  G.  Härtung,  H.  u.  Lotze,  in:  Philos.  Monateh.  31,  1885,  S.  1—20.  Franz 
Jacobowski,  d.  Pessimist.  Weltansch.  des  Dr.  E.  v.  H.  als  Wegweiser  zur  christl.  Wahrh., 
Lpz.  1886.  G.  J.  P.  J.  Holland,  Voorzienigheid  en  Natuurwet,  overgedrukt  nit  het 
Natuurkundig  Tijdschrift  vor  Nederlandneh-Iudie,  Deel  47,  S.  1  — 107,  Batavia  en 
Noordwijk,  1887;  ders.,  Schijn  en  Wesen,  ebend.,  S.  385—527.  S.  auch  d.  Streifzfige 
durch  d.  Phil.  d.  Gegenw.,  ob.  S.  414.  —  Vgl.  über  H.  die  S.  467  genannte  Schrift 
v.  H.  Vaihinger,  auch  die  S.  457  f.  erwähnten  Schriften  üb.  d.  Pessimismus. 

Karl  Rob.  Eduard  von  Hartmanu  (geb.  1842  in  Berlin;  seit  1860  Officier, 
nahm  wegen  eines  nervösen  Knieleidens  1865  seinen  Abschied  und  lebt  jetzt  als 
Privatmann  in  Grosslichterfelde  bei  Berlin).  Er  lehrt  auf  erkenntnisstheoretischem 
Gebiet  einen  transscendeutalen  Realismus,  d.  h.  er  benutzt  die  Causalität  der  unsere 
Sinnlichkeit  afhcireuden  Dinge,  um  vom  Inhalt  des  Bewusstseins  zu  einer  bewusst- 
seins  -  trauBscendenten  Welt  zn  gelangen.  Diese  transsceudente  Causalität  ist  der 
einzige  Füll,  wo  das  erkenntnisstheoretisch  Transscendente  oder  TransBubjective 
wenn  auch  nicht  mit  seinem  Sein,  so  doch  mit  dem  Endpunkte  seines  Functionireus 
in  den  Bewusstseinsinhult  gleichsum  hineinragt.  Es  werden  nun  die  Bedingungen 
festgestellt,  unter  denen  die  jenseitige  Welt  (das  Ding  an  sich)  stehen  muBs,  um 
überhaupt  auf  uns  zu  wirken  und  so  zu  wirken,  wie  sie  wirkt. 

Hartmann  will  specnlative  Resultate  nach  inductiv  -  naturwissenschaftlicher 
Methode  gewinnen.  Er  versucht,  von  einer  möglichst  breiten  empirischen  Basis 
hauptsächlich  naturwissenschaftlichen  und  psychologischen  Materials  allmählich  auf- 
zusteigen. In  einer  Reihe  von  Erscheinungen  glaubt  er  unbewusste  Willensacte  und 
Vorstellungen  nachzuweisen,  so  bei  der  willkürlichen  Bewegung,  Im  Instinct,  in  den 
Reflexbewegungen.  Er  macht  auf  das  Unbewusste  aufmerksam  in  der  Naturheilkraft, 
in  der  geschlechtlichen  Liebe,  im  Gefühle,  in  der  künstlerischen  Production,  in  der 
Sprache,  im  Denken  u.  s.  w.  Auf  allen  diesen  Gebieten  findet  er  einen  tiefereu 
Hintergrund,  ein  Agens,  das  nach  Zwecken  arbeitet,  aber  nicht  Ins  Bewusstsein 
tritt.  Es  ist  das  Unbewusste  die  Ursache  aller  derjenigen  Vorgänge  in  einem 
organischen  und  Bewusstseins- Individuum,  welche  eine  psychische  und  doch  nicht 
bewusste  Ursache  voraussetzen.  Von  diesem  wird  nun  die  Einheit  behauptet.  Ea 
giebt  nicht  verschiedene  Individuen,  sondern  das  ganze  Unbewusste  ist  ein 
einziges  Individuum  ohne  ausser  ihm  stehende  Bubordinirte,  coordi- 
nirte  Individuen.  Es  ist  das  Alles  umfassende  Individuum,  dus  absolute,  und 
macht  schliesslich  das  aus,  was  den  Kern  aller  bedeutenden  Philosophien  gebildet 
hat,  Spinozas  Substanz,  Fichtes  absolutes  Ich,  Hegels  absolute  Idee  etc. 

Währeud  Spinoza  seiner  Substanz  Ausdehnung  uud  Deuken  zuspricht,  kommt 
dem  UnbewuBsten  Hartmauus  Wille  und  Vorstellung  zu.  Der  an  sich  ulogische 
Wille  wird,  indem  er  sich  zum  Wollen  erhebt  und  ziellos  aus  der  Ruhe  der  Poten- 
tialität  herausdrängt,  an  ti  logisch,  während  die  Idee  (Vorstellung)  das  Logische  In 
die  Welt  bringt.  Das  .Dass'  der  Welt  ist  alogisch  wie  der  Wille,  das  .Was'  der 
Welt  ist  logisch  wie  die  Idee.  Weder  ist  die  Idee  ein  secundäres  Erzeugnis«  des 
Willens  wie  bei  Schopenhauer,  noch  ist  der  Wille  ein  untergeordnetes  Moment  in 
der  Idee,  wie  bei  Hegel. 

Dass  die  Welt  die  beste  unter  allen  möglichen  int,  wenngleich  Ihr  Nichtsein 
ihrem  Sein  vorzuziehen  wäre,  erhellt  namentlich  aus  Ihrer  von  unbewuaster  Vor- 
sehung geleiteten,  möglichst  zweckmässigen  Entwickelung.  So  Ist  z.  B.  nur  durch 
den  Kunstgriff,  dass  der  Kindheit  und  Jugend  Alles  wegen  seiner  Neuheit  interessant 


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§  45.    Neue  Systeme.   Lotze,  Fechner,  Hartmann  u.  A. 


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ist,  das  Leben  auszuhalten.  Partielle  Unterbrechung  des  individuellen  Bewusstsein* 
und  des  historischen  Bewusstseins  der  Menschheit  durch  Tod  nnd  Geburt  bewahrt 
die  Natur  vor  Erschlaffung.  Das  endliche  Ziel  der  ganzen  Entwicklung ,  die  Er- 
lösung des  Willens  aus  der  Unseligkeit  des  Seins,  wird  auf  die  klügste 
Weise  erreicht.  Die  Weisheit  des  Unbewussten  zeigt  sich  nicht  nar  in  der  ganzen 
Einrichtung  der  Welt,  Bondern  auch  dadurch,  dass  ea  selbst  ins  Einzelne  eingreift, 
z.B.  in  die  Gehirne  der  Menschen,  welche  den  Verlauf  der  Geschichte  nach  dem 
vom  UnbewuBsten  beabsichtigten  Ziele  hinleiten.  Der  Urfchler  soll  wieder  auf  die 
einfachste  Weise  rückgängig  gemacht  werden,  und  dies  geschieht  durch  den  ganzen 
Weltprocess.  Vor  der  Hand  werden  die  Menschen,  damit  sie  nicht  etwa  unthätig 
werden,  sondern  auf  das  Ziel  losarbeiten,  in  der  Illusion  gehalten,  als  arbeiteten  sie 
für  ihr  eigenes  Glück.  Aber  auch  der  zur  Erkenntnis  dieses  illusorischen  Stand- 
punkts Gelangte  kann  doch  nur  so  weit  kommen,  die  Zwecke  des  Unbewussten  zu 
seinen  Zwecken  zu  machen.  Nur  in  der  Hingabe  an  das  Leben  und  seine  Schmerzen, 
die  es  im  Uebermaasse  bringt,  kann  etwas  für  den  Weltprocess  geleistet  werden. 
Das  Bewusstsein,  dass  die  Welt  besser  nicht  da  wäre,  muss  allgemein  werden  oder 
wenigstens  die  Mehrzahl  der  Menschen  erfüllen;  so  wird  ein  negativer  Wille  erregt, 
und  das  positive  Wollen,  d.h.  die  Welt,  wird  aufgehoben.  „Das  Logische  macht 
also,  dass  die  Welt  eine  bestmögliche  wird,  nämlich  eine  Bolche,  die  zur  Erlösung 
kommt,  nicht  eine  solche,  deren  Qual  in  unendlicher  Dauer  perpetuirt  wird." 

In  der  „Phänomenologie  des  sittlichen  Bewusstseins"  sucht  v.Hart- 
mann  zu  scheiden  zwischen  echten  Moralprincipien  und  unechten,  zu  welchen  letzteren 
er  alle  heteronomen  und  egoistischen  rechnet,  und  dann  innerhalb  der  echten  die 
ethischen  Standpunkte,  welche  sich  auf  die  Triebfedern,  Zweeke  und  metaphysischen 
Wurzeln  der  Sittlichkeit  stützen,  in  geordneter  Reihenfolge  und  zusammenhängender 
Entwickeluug  darzulegen,  nach  ihrem  relativen  Werthe  zu  würdigen  und  in  ihrem 
höchsten  Princip  als  aufgehobene  Momente  zusammenzufassen.  Ab  dem  sittlichen 
Bewusstsein  unentbehrlich  werden  vorausgesetzt  die  objective  Teleologie  oder  der 
providentielle  Evolutionismus  und  der  coucrete  Monismus,  oder  die  Wesenseinheit 
der  sittlichen  Individuen  unter  einander  uud  mit  dem  absoluten  Subject. 

Den  Pessimismus  vertritt  Hartmann  in  energischer  Weise  und  hält  nur  auf 
pessimistischer  Basis  eine  Ethik  für  möglich.  Der  empirische  Pessimismus  dient 
als  praktisches  Hülfsmittel  zur  Ueberwindung  des  Egoismus,  der  metaphysische  nur 
zur  näheren  theoretischen  Bestimmung  des  Endzwecks  des  Weltprocesses  (vgl.  Philos. 
Frag.  d.  Gegenw.  V,  3,  d.  Pessimism.  u.  d.  Eth.).  Auf  Veranlassung  der  Uartmann- 
schen  Ansichten  ist  der  Pessimismus  in  den  letzten  Jahren  sehr  viel  behandelt 
worden.  Freilich  ist  es  viel  zu  viel  behauptet,  wenn  v.  Hartmann  ausspricht,  dass 
der  Pessimismus  zu  den  bestbegründeten  Wahrheiten  schon  jetzt  gehöre.  (S.  Philos. 
Mouatsh.,  Bd.  15,  1879,  S.  612.) 

Die  „Religion  des  Geistes"  ist  die  Religion  des  sowohl  immanenten  als 
trausscendenten  Geistes.  Die  Gottheit  als  absoluter  Geist  ist  eine  uud  uls  Einheit 
zugleich  absoluter  Grund  und  absolutes  Wesen  der  Welt.  Darum  muss  die  Religiou 
Momsmus  sein.  Aber  die  Einheit  der  Gottheit  ist  keine  abBtracte,  d.  h.  die  reale 
Vielheit  ausschliessende  Einheit,  sondern  eine  solche,  welche  die  reale  Vielheit 
als  ihre  eigene  innere  Mannigfaltigkeit  in  sich  einschliesst.  In  der  Religion  des 
Geistes  wird  nicht  mehr  wie  in  der  Religion  des  Sohnes  nur  Ein  Gottmensch  gesetzt, 
sondern  die  universelle  Gottmenschheit,  und  die  Tragik  des  einzelnen  Christus  wird 
durch  das  tragische  Heldenthum  jedes  einzelnen  Gottmeuscheu  unendlich  verviel- 
fältigt —  Sowohl  im  Ganzen  wie  in  den  einzelnen  Bestimmungen  speciell  der  Reli- 
gionsmetaphysik versucht  Hartmann  eine  Synthese  der  christlichen  und  indischen 
Dogmatik  herzustellen  und  durchzuführen. 


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§  45.    Neue  Systeme.   Lotze,  Pechner,  Hartmann  a.  A. 


Die  Aesthetik  v.  Hartmanns  tritt  in  Gegensatz  zn  dem  abstracten  Idealis- 
mus, in  welchem  die  Idee  als  solche  schön  ist  und  dem  Gegenstand  Schönheit  ver- 
leiht, und  dem  ästhetischen  Formalismus.  Sie  sucht  einen  concreten  Idealismus 
durchzuführen,  nach  welchem  die  Idee  ganz  und  ohne  Rest  dem  ästhetischen  Schein 
oder  der  von  der  Realität  abgelösten  concreten  sinnlichen  Erscheinungsform  immanent 
ist  und  nur  in  dieser  und  durch  diese  implicite  geföhlsmässig  mit  pereipirt  wird. 

Von  Hegel  unterscheidet  sich  v.  Hartmann  ausser  dem  Angegebenen  hauptsäch- 
lich dadurch,  dass  er  dessen  einseitigen  Intellectualismus  zu  vermeiden  sucht  und  den 
endlichen  Individuen  und  ihrem  Gefühlsleben  ein  grösseres  Recht  auf  Befriedigung 
zugesteht.  (S.  v.  Hartmann,  Mein  Verhältn.  zu  Hegel,  in:  Philos.  Monatsh.24,  1888, 
S.  316—341.)  Von  Schopenhauer  unterscheidet  er  sich  durch  die  Verwerfung  der  ex- 
clusiven  Subjectivität  von  Raum,  Zeit  und  Kategorien  (sammt  deren  Consequenzen), 
durch  die  Annahme  eines  atomistischen  Dynamismus  zur  Erklärung  der  Materie, 
durch  die  Behauptung,  dass  dasjenige,  was  uns  als  Gehirn  erscheint,  nicht  zureichende 
Ursache  des  Intellects  überhaupt,  sondern  nur  Bedingung  der  Form  des  Bewusst- 
seins  sei,  und  durch  die  Leugnung  der  Möglichkeit  einer  individuellen  Willens- 
verneinung  sammt  ihren  quietistisch- asketischen  Consequenzen.  (Vgl.  v.  Hartmann, 
Mein  Verh.  z.  Sch.,  in:  Philos.  Frag.  d.  Gegenw.,  II.)   Die  metaphysische  Spitze 
des  hartmannschen  Systems  steht  der  Principienlehre  der  positiven  Philosophie 
Schellings  am  nächsten,  führt  aber  bei  v.  Hartmann  zu  einer  von  der  schellingschen 
ganz  verschiedenen  Weltanschauung.    Die  Doctrin  v.  Hartmanns  hält,  wenn  uns 
dieser  Ausdruck  erlaubt  ist,  die  Welt  gleichsam  für  das  Product  einer  edlen  Mutter, 
der  Idee,  und  eines  schlimmen  Vaters,  des  leeren  Wollens.   Das  letztere  gleicht 
nach  einem  Bilde,  das  v.  Hartmann  in  einem  Briefe  braucht,  einem  Dämon,  der  sich 
durch  einen  Fehltritt  mit  dem  Fluch  ewiger  Unseligkeit  beladen  hat  und  nicht 
durch  sich  selbst,  sondern  durch  das  „ewig  Weibliche*  (die  Idee)  erlöst  werden 
kann,  indem  dieses  sich  ihm  hingiebt  und  durch  Mitertragen  seiner  Qualen  ihn 
läutert   und   himmelan   hebt.    Die  Idee  ertheilt  in  mütterlicher  Fürsorge  dem 
unglücklichen  Wesen,   der  Welt,    alle  die   edlen  Gaben,    mit  denen  sie  ihm 
sein  Loos  zu  erleichtern  vermag,  und  kann  sie  es  ihm  nicht  ersparen,  durch 
den  harten  Kampf  der  Entwickelung  hier  durchzugehen,  so  ist  doch  eine  Erlösung 
ihm  vorbehalten  in  der  Aufhebung  des  Willens,  in  der  Schmerz-  und  Lust- 
losigkeit  des  Nirwana.    Gegen  die  obersten  Voraussetzungen  selbst  lässt  sich  die 
Frage  richten:  wie  vermag  eine  .logische  Idee"  zu  existiren  als  Prius  —  sei  es 
auch  nur  als  zeitloses  Prius  —  des  Geistes  und  ein  , Wille*  als  Prius  der  welt- 
lichen Dinge,  die  wir  allein  als  Träger  desselben  kennen?   Es  sind  hier  Abstrac- 
tioneu  des  Subjects  in  nicht  wohl  zu  rechtfertigender  Weise  hypostasirt  worden. 

v.  Hartmann  sieht  als  den  Schwerpunkt  seines  bisherigen  schriftstellerischen 
Schaffens  die  drei  grösseren  Werke  aus  den  Gebieten  der  Ethik,  Religionsphilosophie 
und  Aesthetik  an.  Seine  Philos.  d.  Unbew.  hat  einen  sehr  grossen  Erfolg  gehabt, 
zu  dem  die  verständliche  Sprache,  die  besondere  Berücksichtigung  der  Naturwissen- 
schaften, das  starke  Hervortreten  des  Pessimismus,  die  ausführliche  Abwägung  des 
Werthes  gegen  den  ünwerth  des  Lebens  beigetragen  haben. 

von  Kirchmann,  die  Philo»,  de«  Wissens,  Berl.  1864.  Ueber  die  Unsterb- 
lichkeit, Berl.  1865.  Aesthetik  auf  realistischer  Grundlago,  Berl.  1868.  Ueber  die  Prin- 
eipien  des  Realismus,  Lpz.  1875.  In  d.  v.  ihm  herausgeg.  .Philos.  Bibliothek"  hat  K. 
auch  seinen  Standpunkt  systematisch  u.  kritisch  entwickelt.  Ueber  ihn:  Lasson  u.  Meineke, 
J.  H.  v.  K.  als  Philosoph,  in:  Philos.  Vorträge  herausgeg.  v.  d.  ph.  Ges.  z.  Berl.,  N.  F., 
9.  Heft,  Halle  1885. 

Der  Realismus  J.  H.  Kirchmanns  (1802—1884,  seines  Amtes  als  Appellations- 
gerichts- Vicepräsid.  enthoben  wegen  eines  in  einer  Arbeiterversammlung  gehalteneu 
Vortrags  üb.  d.  Communismus  der  Natur,  3.  Aufl.  1882)  will  im  Gegensatz  Btehen 


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§  45.    Neue  Systeme.    Lotze,  Fechner,  Hartmann  u.  A. 


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zum  Materialismus,  der  das  Wissen  leugnet  und  in  ihm  nur  eine  ßesonderung  deB 
Seins  sieht,  und  zu  dem  Idealismus,  der  das  Sein  leugnet  und  es  nur  als  Beson- 
derung  des  Wissens  ansieht.  Sein  und  wahres  Wissen  sind  ihrem  Inhalt  nach 
identisch  und  nur  in  der  Form,  welche  diesen  Inhalt  befasst,  unterschieden.  Nicht 
das  Denken,  sondern  das  Wahrnehmen  ist  dasjenige  Vorstellen,  welches  den  Inhalt 
des  Seienden  in  das  Wissen  überleitet.  Nur  aus  dem  Wahrnehmen  erhält  das 
Wissen  seinen  Inhalt.  Das  Denken  ist  entweder  nur  ein  Wiederholen,  Trennen 
und  Verbinden  des  wahrgenommenen  Inhalts,  oder  ein  Beziehen.  Das  Denken  ist 
kein  Mittel,  um  dem  Sein  näher  zu  kommen.  Dagegen  bin  ich  im  Wahrnehmen 
dem  Gegenstande  unendlich  nahe,  da  eben  sein  Seiendes  und  mein  gewusster  Inhalt 
identisch  sind.  Als  die  beiden  Fundamentalgesetze  der  Wahrheit  gelten  bei  Kirch- 
mann: 1.  das  Wahrgenommene  ist,  2.  das  sich  Widersprechende  ist  nicht.  Erst 
wenn  sich  ergiebt,  dass  das  Wahrgenommene  weder  sich  noch  anderem  bereits 
erkannten  Wahren  widerspricht,  gilt  es  als  wahr.  Es  gibt  auch  Vorstellungen  in 
der  Seele,  welche  nicht  als  Bild  eines  Seienden  sich  darbieten,  die  sogenannten 
Beziehungen.  Solche  sind  das  Nicht,  Und,  Oder,  Gleich,  Zahl,  Alle,  das  Ganze 
und  die  Theile,  Ursache  und  Wirkung,  Substanz  und  Accidenz  u.  s.  w.  Ein  ent- 
schiedenes Verdienst  um  die  Philosophie  hat  sich  Kirchmann  durch  Herausgabe 
der  philosophischen  Bibliothek  erworben.  An  Kirchmann  hat  sich  im  Wesent- 
lichen angeschlossen  Herrn.  Wolff,  über  den  Zusammenhang  unserer  Vorstellungen 
mit  Dingen  ausser  uns,  Lpz.  1874.  Speculation  u.  Philos.,  I.  Bd.,  der  speculat. 
Ilationalism.,  II.  Bd.,  der  empirische  Realismus,  Lpz.  1878.  Logik  u.  Sprach- 
philos.,  Berlin  1880.  Beide  Werke  in  2.  Ausgabe,  Lpz.  1883.  Handb.  der  Logik, 
Lpz.  1884.  Wegweiser  f.  d.  Studium  d.  kant.  Phil.,  Lpz.  1884.  Theilweise  gegen 
Kirchmanns  Basirung  der  Ethik  auf  Autorität  ist  gerichtet  F.  W.  Struhnneck, 
Herrschaft  u.  Priesterth.,  Berlin  1871. 

Dü bring,  de  tempore,  spatio,  causalitate  atque  de  analysis  infinitesimalis  logica, 
Berl.  1861.  Natürliche  Dialektik,  Berl.  1865.  Der  Werth  de»  Leben»,  Breslau 
1865,  3.  Aufl.,  Lpz.  1881.  Krit.  Grundlag.  der  Volkswirtschaft«!.,  Berl.  1866.  Krit. 
Gesch.  der  Philo«.,  Berl.  1869,  3.  Aufl.,  Lpz.  1878.  Krit.  Gesch.  der  Nationalök.  und 
de«  Socialism.,  Berl.  1871,  3.  Aufl.,  Lpz.  1879.  Krit.  Gesch.  d.  allgem.  Principien 
der  Mechanik,  Preisschr.,  Berl.  1873,  2.  Aufl.  Lpz.  1877.  (Wegen  der  Zusätze  in 
der  2.  Aufl.  wurden  dem  Verf.  die  Rechte  eines  Privatdocenten  in  Berlin  entzogen.) 
Cursus  der  National-  u.  Sncialök.  einschliesslich  der  Hauptpunkte  der  Finanzpolitik, 
Berl.  1873,  2.  Aufl.,  Lpz.  1876.  Curau«  der  Philos.  als  streng  wissenschaftlicher 
Weltanschauung  und  Lebensgestaltung,  Lpz.  1875.  Logik  u.  Wissenschaftstheorie, 
Lpz.  1878.  Neue  Grundgesetze  zur  rationellen  Physik  u.  Chemie,  1.  Folge,  Lpz.  1878. 
Rob.  Mayer,  der  Galilei  des  neunzehnten  Jahrb.,  Chemnitz  1880.  Sache,  Leben  n. 
Feinde,  Karlsr.  1882.  Der  Ersatz  der  Relig.  durch  Vollkomnineres  u.  d.  Ausscheidung 
alles  Judenthume  durch  d.  modernen  Völkergeist,  Karlsr.  u.  Lpz.  1883.  Vgl.  über  Dühring 
die  S.  467  eitirte  Schrift  von  H.  Vaihingen 

Eugen  Dühring  (geb.  1833,  verlor  1877  die  venia  legendi  a.  d.  Universität 
Berlin  wegen  zu  heftiger  Angriffe  auf  berliner  Professoren),  der  sich  vielfach  an 
Feuerbach  und  Comte  (s.  u.)  anschliesst,  wendet  sich  entschieden  gegen  den  Kriti- 
cismus,  der  die  Erkennbarkeit  des  Seins  leugnet.  Im  Gegensatz  zu  diesem 
behauptet  er,  dass  unser  Verstand  fähig  sei,  die  ganze  Wirklichkeit  zu  begreifen. 
Die  Gesetze  des  Denkens  sind  zugleich  Gesetze  der  Wirklichkeit,  es  wird  also  die 
Identität  des  Denkens  mit  dem  Sein  angenommen.  Die  Wirklichkeit,  wie  sie  uns 
vorliegt,  ist  das  allein  real  Existirende  und  zugleich  das  schlechthin  Vernünftige. 
Man  muss  die  Wirklichkeit,  wie  sie  ist,  auffassen.  Die  letzten  Thatsachen  derselben 
erklären  zu  wollen,  ist  thöricht.  Raum  und  Zeit  haben  objective  (reale)  Gültigkeit, 
und  was  wir  durch  die  Empfindung  erhalten,  ist  unmittelbar  objective  Wahrheit 

Ueberwcg-Heinxe,  (irutulriss  III.  7.  Aufl.  „9 


498 


§  45.    Neue  Systeme.    Lutze,  Fechner,  Hartmann  u.  A. 


Aach  die  Kategorien,  so  namentlich  die  Causalität,  kommen  der  Welt  ausserhalb 
des  Denkens  zu.  Das  allumfassende  Sein  ist  einzig.  In  seiner  Selbstgenügsamkeit 
hat  es  nichts  über  oder  neben  sich,  es  ist  aber  begrenzt,  nicht  unendlich.  Der 
gewöhnliche  Unendlichkeitsbegriff  ist  falsch  und  entstanden  durch  die  subjective 
Möglichkeit,  immer  weiter  zu  gehen  oder  die  jedesmal  gesetzte  Grenze  zu  über- 
springen. Das  .Gesetz  der  bestimmten  Anzahl",  welches  dahin  geht,  dass  Zahl 
und  Grösse  in  jeder  Beziehung  nur  endlich  sind,  gilt;  denn  es  würde  sonst  das 
Unding  einer  vollendeten  Unendlichkeit  statuirt  werden  müssen.  Dem  Sein  kommt 
dann  noch  Beharrung  und  Veränderung  zu.  Letztere  ist  nicht  nur  ideal,  sondern 
real.  —  Den  Darwinismus  in  seiner  besonderen  Ausführung  der  Descendenztheorie 
bekämpft  Dühring.  Ebenso  ist  er  Gegner  des  Pessimismus.  Dieser  könne  nicht 
die  Grundlage  einer  Ethik  sein,  da  die  Menschen  nur  besser  werden  sollen,  weil 
sie  dadurch  glücklicher  werden.  Aber  der  Egoismus  könne  auch  nicht  die  Basis 
einer  Ethik  bilden,  da  es  vielmehr  darauf  ankomme,  zu  gemeinsamer  Wohlfahrt 
zusammenzuwirken.  Es  giebt  sympathische  Naturtriebe,  und  diese  sind  mit  dem 
Bewusstsein  zu  erfassen  und  auszubilden. 

Die  Philosophie  Dührings  will  nun  nicht  nur  ein  Wissenssystem  sein,  sondern 
auch  .die  Vertretung  einer  auf  die  edlere  Menschlichkeit  gerichteten  Gesinnung*. 
Eine  Philosophie  soll  auch  durch  das  Verhalten  ihres  Vertreters  im  Leben  selbst 
bewahrheitet  werden.  Er  selbst  glaubt,  das  Seinige  gethan  zu  haben,  »um  zwischen 
der  Philosophie  und  dem  Philosophen  keine  Kluft  zu  lassen".  —  Die  Schriften 
zeichnen  sich  durch  Schärfe  der  Gedanken  ans,  sind  aber  reich  an  Wiederholungen, 
bissigen  Bemerkungen,  besonders  gegen  die  Professoren  der  Philosophie,  und 
Selbstüberschätzung  des  Verfassers. 

Frohsehauirner,  Hcrausgeb.  der  Zeitschr.  Athenäum  1802  u.  ff.  (des  Organs  für 
freisinnig«*  katholische  Forscher),  Ursprung  der  mcnschl.  Seele,  Rechtfertigung  des  Gene- 
rationismus,  Münch.  1854.  Menschenseele  u.  Physiologie,  Münch.  1855  (geg.  K.  Vogt 
gerichtet).  Einleitung  in  d.  Philo*,  u.  Grundr.  der  Metaph.,  Münch.  1858.  Ueb.  d. 
Aufg.  der  Natnrphilns.  u.  ihr  Verh.  zur  Natnrwisscnsch.,  München  1861.  Ueb.  d. 
Freiht.  der  Wissensch.,  Münch.  1861.  Darstell,  u.  Krit.  d.  darwinsi-h.  L.,  im  Athenäum 
1862.  Das  Recht  der  eigenen  Ueherzengung,  J.pz.  1869.  D.  Phantasie  als  Grund- 
princ  des  Weltprocesses,  Münch.  1877.  Monaden  u.  Weltphantasie,  Münch.  1879. 
D.  Bedeutung  der  Einhildungskr.  in  d.  Philos.  Kants  u.  Spinozas,  Münch.  1879.  Ueb. 
d.  Principien  der  aristotel.  Ph.  u.  d.  Bedeut.  der  Phant.  in  derselb.,  Münch.  1881 
Ueb.  d.  Genesis  der  Menschht.  u.  deren  geistige  Entwickelung  in  Relig., 
Sittlichk.  u.  Spraehe,  Münch.  188:1.  Die  Philos.  als  Idealwissens« h.  u.  System, 
Münch.  1884.  Ueb.  d.  Organisat.  u.  Culfur  d.  menschl.  (iesellsch.  Philo«.  Untersuchung, 
üb.  Recht  u.  Staat,  sociales  Leben  u.  Erzieh.,  ebd.  1885.  S.  übrigens  ob.  die  Litterat. 
geg.  d.  Materialismus.  Ueb.  Frohschammer  s.  Fr.  Kirchnef,  üb.  d.  (irundprinc.  des 
Weltprozesses  mit  besond.  Berücksichtig.  Fr.s,  Kothen  1882.  Ed.  Reich,  Weltanschauung 
u.  Menschenleb.,  Relig.,  Sittlichk.  u.  Sprache.  Betrachtung,  üb.  «1.  Philosophie  Fr.s, 
Grossenhain  u.  Lpz.,  1884. 

Jacob  Frohschammer  (geb.  1821,  längere  Zeit  kathol.  Priester,  seit  1855 
Prof.  d.  Philos.  in  München)  kämpfte  in  seinen  früheren  Schriften,  von  denen  ver- 
schiedene auf  den  Index  gesetzt  wurden,  mit  grosser  Entschiedenheit  für  die  Selb- 
ständigkeit der  Philosophie  gegenüber  der  katholischen  Theologie.  Er  weist  die 
Beschränkung  der  Philosophie  auf  blosse  Erkenntnisswisseusckaft  oder  Wissen- 
schaftslehre ab;  die  Philosophie  ist  ihm  die  Wissenschaft  von  der  ideulen  Wahr- 
heit, als  Idealwissenschaft  sowie  als  Welterklärung  aus  einem  Princip,  aber  sie 
muss  immer  in  Beziehung  stehen  zu  der  empirischen  Wissenschaft.  Dieses  Eine, 
Allgemeine  iBt  die  Phantasie,  die  im  umfassenderen  Sinne  als  gewöhnlich  zu 
fassen  ist,  objectiv,  das  eigentliche  Grundprincip  alles  Wirkens  und  Werdens,  und 
andererseits  subjectiv,  auch  das  Erkenntniss-  und  Erklärungsprincip  von  Allem.  Sie 


§  45.    Neue  Systeme.    Lotze,  Fechner,  Hertmann  u.  A. 


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ist  das  Gestaltende  in  den  Tndividnen,  nicht  minder  im  Weltganzen,  das  Bildende 
in  der  Natnr,  nicht  minder  in  der  Geschichte;  sie  macht  die  Einheit  und  Gesetz- 
mässigkeit in  dem  Einzelnen  wie  in  dem  Organismus  der  Welt  aus.  Auch  im 
socialen  Leben  bethätigt  sie  sich,  indem  das  Volksleben  mit  seinem  gewöhnlichen 
Verkehr  und  seinen  verschiedenen  Verhältnissen  auf  die  Phantasiethätigkeit  sich 
gründet,  auf  die  ideale  Tendenz  und  die  verbindende  Macht  derselben.  Zwar  wird 
die  Phantasie  zunächst  nur  als  ein  der  Welt  immanentes  Princip  gefasst,  aber 
wenn  je  ein  Versuch  gelingen  sollte,  Dasein  und  Beschaffenheit  eines  absoluten 
göttlichen  Wesens  darzuthun,  so  möchte  auch  dazu  dieselbe  am  geeignetsten  sein. 

Einer  etwas  älteren  Zeit  gehört  an  Karl  Frdr.  Euseb.  Thrandorff  (17&3  bis 
1863),  ein  origineller  Denker,  welcher  den  Streit  zwischen  Glauben  und  Wissen, 
zwi8chenSupranaturalismus  und  Rationalismus  schlichten  zu  können  meinte.  Aesthetik, 
2  Bde.,  Berl.  1827.  Wie  kann  der  Supranaturalism.  s.  Recht  geg.  Hegel  behaupten? 
1840.  D.  welthistor.  Zweifel,  1852.  Der  Mensch  d.  Ebeubild  des  dreieinig.  Gottes, 
1853.  Theos  nicht  Kosmos,  1859  (besonders  geg.  AI.  v.  rTumboldt  gerichtet).  Was 
ist  Wahrheit?  1863.  Das  Gottesbewusstsein  muss  schon  da  sein,  damit  das  mensch- 
liche Bewusstsein  das  haben  könne,  was  es  hat,  nämlich  die  Vernunft,  indem  wir 
dieser  erst  durch  das  Gottesbewusstsein  theilhaftig  werden.  Die  Menschen  konnten  sieh 
aber  Gottes  nur  bewusst  werden,  indem  er  sich  selbst  als  Object  ihnen  gab, 
nämlich  durch  unmittelbare  Offenbarung:  Das  Vernehmen  des  Uebernatürlichen  ist 
eben  die  Vernunft.  Das  absolute  Sein  ist  das  absolute  Können  in  sich,  das  Können, 
wie  es  nur  sich  selbst  in  sich  kann.  Dieses  theilt  sich  durch  Raum  und  Zeit  in 
Individuen,  welche  das  Wirkliche  sind.  Durch  die  Liebe  kehren  dieee  wieder  zu 
dem  Einen  zurück.  —  Erst  neuerdings  ist  mehrfach  auf  diesen  Denker  hingewiesen 
worden,  nachdem  er  während  seines  Lebens  unbeachtet  geblieben  war.  Vgl.  R.  O. 
Anhuth,  das  wahnsinnige  Bewusstsein  u.  d.  unbewusste  Vorstellung,  Halle  1877. 
J.  Eckardt,  Thr.  d.  Bewusstseinsphilos.  Jos.  v.  Billewicz,  summar.  Darst.  d. 
Fundamentalsätze  der  Thrand.  Philosophie,  in:  Phil.  Monatsh.,  21,  1885,  S.  561 
bis  572.  E.  v.  Hartmann,  Ein  vergessener  Aesthetiker,  ebend.,  22,  1886,  S.  59 
bis  98.  v.  H.  räumt  Thrandorff  in  der  gesammten  Gesch.  der  Aesthetik  den 
zweiten  Platz  unmittelbar  neben  Hegel  ein. 

Erwähnung  verdient  auch  Friedrich  Rohmer  (1814  — 1856),  Kritik  des 
Gottesbegr.  in  d.  gegenwärtig.  Weltansichten,  Nördling.  1856  (anonym).  Gott  u. 
seine  Schöpfung,  ebd.  1857.  D.  natürliche  Weg  d.  Menschen  z.  Gott,  ebd.  1858. 
Diese  drei  Schriften  vereinigt  als  1.  Bd.  v.  Fr.  R.s  Wissenschaft  u.  Leben  unter 
d.  Titel:  d.  Wissensch,  v.  Gott,  etwas  verändert  heransgegeb.  v.  J.  C.  B(luntschli). 
Nördling.  1871;  2.  u.  3.  Bd.,  Wissensch,  vom  Menschen,  auf  Gr.  mündl.  Ueberliefer. 
u.  schriftl.  Aufzeichnung,  bearbeitet  v.  Rud.  Seyerlen,  Nördl.  1885  (1.  Hälfte:  d. 
sechzehn  Grundkräfte,  2.  II.:  d.  [Individual-]  Psychologie).  R.  dachte  selb- 
ständig und  energisch  und  suchte  den  Theismus  mit  dem  Pantheismus  aus- 
zugleichen. Alles  Sein  zerfällt  in  zwei  wesentlich  verschiedene  Arten,  nämlich  in 
die  eine  ursprüngliche  und  unendliche  Einheit,  das  ist  der  Makrokosmus,  und  in 
die  Menge  abgeleiteter,  nothwendig  endlicher  Existenzen,  das  sind  die  Mikrokosmen. 
Das  Weltall  ist  nicht  ein  Wesen,  es  besteht  aus  dem  einen  Gott  und  den  Ge- 
schöpfen Gottes.  Vermischt  dürfen  diese  beiden  Welten  nicht  werden,  und  es 
gilt  einen  Schritt  zu  thun,  welcher  die  Irrthümer  des  Pantheismus  und  Theismus 
überwindet  und  zugleich  die  in  ihnen  enthaltenen  Wahrheiten  anerkennt.  Das 
Universum  oder  die  makrokosmische  Natur  ist  der  Körper  Gottes,  ist  nicht  von 
Gott  geschaffen,  sondern  ist  in  Gott  geworden.  Der  in  ihm  lebende  Geist  ist 
Gottes  Geist.  Raum  und  Zeit  sind  Bestandteile  Gottes,  der  ein  ewiges  Werden 
ist.   Geschaffen  ist  die  organische  Welt,  und  jeder  Mensch  ist  eine  andere  Person, 

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§  45.   Neue  Systeme.   Lotze,  Fechner,  IJartmaun  u.  A. 


weil  er  eiue  eigentümliche  Idee  Gottes  ist.  Mit  dem  Tode  gehen  der  Leib  und 
das  an  ihn  gebundene  seelische  Element  in  die  makrokosmische  Materie,  aus  der 
sie  genommen  waren,  der  Individualgeist,  die  Einzelideu  Gottes,  aber  in  diesen 
zurück.  Vgl.  H.  Späth,  Fr.  R.s  makrokoamiacher  Gott,  in:  Prot.  K.  Z.,  1867, 
S.  649—666,  673  -  685,  Fei.  Dahn,  Fr.  R.s  Gott  u.  s.  Schöpf.,  in:  Thilos.  Stadien. 
Berl.  1883,  auch  die  Denkwürdigkeiten  des  Staatsrechts lehrers  Bluntschli,  der  ein 
grosser  Verehrer  Böhmers  war. 

Dem  älteren  Fichte  steht  nahe  Julius  Bergmann  (geb.  1840,  Prof.  in  Mar- 
burg), Grundlinien  einer  Theorie  des  Bewusstseins,  Berl.  1870.    Zur  Beurtheil.  des 
Kriticism.  vom  idealistischen  Standpunkte,  ebd.  1875.   Allgem.  Logik,  I.  Bd., 
Reine  L. ,  ebd.  1879.   Sein  u.  Erkennen,  e.  fundamental-philos.  Uutersuch,  ebd. 
1880.    Das  Ziel  der  Geschichte,  Marb  1881.   D.  Grundprobleme  der  Logik,  Berl. 
1882.    üeb.  d.  Richtige,  Berl.  1883.   üeb.  d.  ütilitarianism. ,  Rede,  Marb.  1883. 
Vorlesung,  üb.  Metaphys.  mit  besonder.  Bez.  auf  Kant,  ebd.  1886.    üeb.  das 
Schöne,  analyt.  u.  histor.-krit  Untersuchungen,  ebd.  1887.    Philosophie  ist  für 
Bergmann  Wissenschaft  aus  reiner  Vernunft  vom   substanziell  Seienden.  Bire 
Erkenntnissweise  ist  der  Intellectualismus  im  Gegensatz  zum  Empirismus,  und  ihr 
allgemeines  Ergebniss  die  Identität  von  Vernunft  und  Seiendem,  Spiritualismus. 
Metaphysik  hat  es  damit  zu  thun,  den  Begriff  des  Seins  klar  und  deutlich  zu 
machen  und  vollständig  zu  entwickeln.    Das  Sein  gehört  als  die  allgemeinste  zum 
Inhalt  aller  Vorstellungen  und  ist  gleich  der  Dingheit.    So  hat  die  Metaphysik 
von  allen  Unterschieden  der  Dinge  zu  abstrahiren  und  sie  nur  nach  ihrer  Dingheit 
zu  erforschen.    Wenn  wir  etwas  als  ein  Seiendes  denken,  denken  wir  ein  Denken 
oder  Percipiren  mit,  dessen  Gegenstand  es  sei :  Denken  und  Sein  können  nicht  ohne 
einander  gedacht  werden.    Das  Sein  ist  ein  Percipirt-sein ,  aber  nicht  jedes  Perci- 
pirte  ist,  sondern  nur  das,  welches  wie  das  pereipirende  Bewusstsein  ein  Factor 
der  Perceptiou  ist.    So  ist  Sein  sich  selbst  pereipirendes  Bewusstsein,  und  der 
allgemeine  Begriff  des  Denkens  od?r  Bewusstseins  ideutisch  mit  dem  allgemeinen 
Begriff  des  Seins.    Danach  ist  Metaphysik  als  Wissenschaft  vom  Sein  die  Wissen- 
schaft von  Denken  oder  Bewusstseiu,  als  Wissenschaft  von  der  Dingheit  Wissen- 
schaft von  der  Ichheit. 

V.  A.  v.  Stägemann,  d.  Theorie  des  Bewusstseins  im  Wesen,  Berl.  1864. 
IL  Späth,  Welt  u.  Gott,  Berl.  1867  vertritt  die  theistische  Weltanschauung. 
('.  S.  Barach,  die  Wissenschaft  als  Freiheitsthat,  Wien  1869.  Adolph  Steudel, 
Philos.  im  Umriss.  I.  Th.:  Theoretische  Fragen.  1.  u.  2.  Abth.,  Stuttg.  1871. 
II.  Th.:  Praktische  Fragen.  1.  Abth  Krit  d.  Sittenl.,  Stuttg.  1877.  2.  Abtheil. 
Kritik  der  Religion,  insbesondere  der  christl.,  1881.  3  Abth.,  Krit.  Betrachtung, 
üb.  d.  Rechtsl.,  1884.  Er  nimmt  einen  monistischen  oder  pantheistischeu  Stand- 
punkt ein.  J.  J.  Baumann  (geb.  1837,  Prof.  in  Göttingen),  Philos.  als  Orientirung 
über  die  Welt,  Lpz.  1872.  Sechs  Vorträge  aus  dem  Gebiete  der  prakt.  Philos., 
Lpz.  1874.  Handbuch  der  Moral  nebst  Abriss  der  Rechtsphilos. ,  Lpz.  1879. 
Baumann  giebt  auf  Grund  des  Idealismus  und  unter  Beibehaltung  der  idealistischen 
Ergebnisse  einen  indirecten  Beweis  des  Realismus.  Wir  können  die  Wahrnehmung 
nur  erklären,  wenn  wir  den  Realismus  annehmen.  Ludw.  Noire  (geb.  1829,  Gym- 
nasiallehrer in  Mainz),  Grundlag.  einer  zeitgemässen  Philosophie,  Lpz.  1875.  Der 
monistische  Gedanke,  eine  Concordanz  der  Philos.  Schopenhauers,  Darwins, 
R.  Mayers  u.  L.  Geigers,  ebd  1875.  Die  Doppelnatur  der  Causalität,  Lpz.  1876. 
Einleitung  und  Begründung  einer  monist  Erkenntnisstheorie,  Lpz.  1877.  Aphorismen 
zur  monist.  Philos.,  Lpz.  1877.  Der  Ursprung  der  Sprache,  Mainz  1877.  D.  Lehre 
Kants  u.  d.  Ursprung  d.  Vernunft,  Mainz  1882.  Logos.  Urspr.  u.  Wesen  der  Be- 
griffe, Lpz.  1886.  Noires  gcschichtl.  Eiuleit.  z.  d.  englisch.  Uebereetz.  der  Krit  d. 


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§  45.    Neue  Systeme.   Lotze,  Fechuer,  Hartmann  n.  A. 


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rein.  Vern.  v.  Kant  s.  ob.  S.  229,  a.  d.  Entwickel.  d.  abendländisch.  Philosophie 
Bd.  I,  S.  12  dies.  Grnndr.  Nach  Noires  „Monismus"  kommen  der  Welt  zwei 
einzige,  ganz  identische  Eigenschaften  zu  als  innere  und  als  äussere,  Empfindung 
und  Bewegung,  .aus  welchen  durch  Entwicklung  alle  besonderen  Daseinsformen 
hervorgegangen  sind,  aus  welchen  die  Vernunft  sich  selbst  wie  alles  Uebrige  her- 
zuleiten berechtigt  ist*.  Noire  theilt  seinen  Standpunkt  mit  Lazarus  Geiger 
(1829-1870;,  Umf.  u.  Quelle  der  erfahrungsfreieu  Erkenntniss,  Frkf.  1865,  d.  Urepr. 
d.  Spr.,  Stuttg.  1869,  Urspr.  u.  Entwickel.  d.  menschl.  Sprache  u.  Vernunft,  2  Bde., 
Stuttg.  1872.  Vgl.  Pesckier,  L.  G.,  s.  Leb.  u.  Denk.,  Frkf.  1871,  Jul.  Keller, 
L.  G.  u.  d.  Krit  d.  Vern.,  Fr.,  Wertheim,  1883,  ders.,  d.  Urspr.  d.  Vern.,  e. 
krit  Studie,  Heidelb.  1884,  Ludw.  A.  Rosenthal,  die  monistische  Ph.,  Berl.  1880, 
ders.,  n.  Sehr.  üb.  Geiger,  Stuttg.  1883.  R.  Grassmann,  die  Wissenschaftsl.  od. 
PhiloB.,  Th.  I:  die  Denkl.,  Th.  II:  die  Wissensl.,  Th.  III:  die  Erkenntnissl., 
Th.  IV:  die  Weisheitel.,  Stettin  1875.  Die  Einleit.  in  das  Gebäude  des  Wissens, 
4  Theile  in  1  Bd.,  Stett.  1882.  Das  Gebäude  des  Wissens,  III.,  IV.  u.  V.  Bd.  in 
einzelnen  Theilen  (d.  Weltleben  od.  d.  Metaphys .,  d.  Pfianzenleb.  od.  d.  Physiol. 
d.  Pfl.,  d.  Thierleb.  od.  d.  Phys.  d.  Wirbelthiere,  d.  Sittenl.),  Stettin  1882—1884 
(auf  10  Bde.  berechnet).  S.  dazu  L.  Weis,  R.  Gr.:  das  Geb.  des  W.,  in:  Ph. 
Monateh.  1885,  S.  243  —260.  In  seiner  Metaphysik  will  sich  Grassmann  ganz  auf 
den  Boden  der  Erfuhrung  stellen  und  nur  nach  mathematischen  Gesetzen  eine 
streng  wissenschaftliche  Lehre  vom  Weltleben  aufbauen.  Es  ist  ihm  dies  die 
Lehre  von  den  „Körben'  und  .Korbbällen",  wie  er  in  seinem  Streben,  Fremdwörter 
zu  vermeiden,  die  Atome  und  Moleküle  nennt.  0.  Caspar i  (geb.  1841,  Prof.  in 
Heidelb.),  die  Urgesch.  der  Menschh.  mit  Rücksicht  auf  die  natürl.  Entwickelg. 
des  frühesten  Geisteslebens,  2  Bde.,  2.  Aufl.,  Lpz.  1877.  Die  Grundprobleme  der 
Erkenntnissthätigkeit,  1.  u.  2.  Th.,  2.  Ausg.,  Berl.  1879.  Der  Zusammenhang  der 
Dinge:  gesammelte  philos.  Aufsätze,  Bresl.  1881.  Das  Erkenntuissproblem  mit 
Rücksicht  auf  die  gegenwärtig  herrschenden  Schulen,  Breslau  1881.  Drei  Essays 
üb.  Grund-  u.  Lebensfragen  der  philos.  Wissenschaft,  Hdlb.  1886.  Caspari  gab 
einige  Zeit  den  „Kosmos",  s.  ob.  S.  480,  mit  heraus  und  vertritt  einen  kritischen 
Empirismus,  iudem  er  den  Unterschied,  aber  auch  die  Verträglichkeit  des  sub- 
jectiven  und  des  objectiven  Factors  in  der  Erkenntniss  betont.  Carl  Göring 
(1841—1879),  System  der  kritischen  Philos.,  2  Theile,  Lpz.  1874—75  funvollendet). 
Ueber  die  menschl.  Freiheit  u.  Zurechnungsfähigkeit,  Lpz.  1876.  Nicht  dem 
kantischen  Kriticismus  huldigt  Göring,  sondern  er  sieht  in  der  Verbindung  der 
Kritik  mit  der  systemat.  Philos.  den  Fortschritt  auf  philosophischem  Gebiete  als 
möglich  an.  A  Wiessuer,  vom  Punkt  zum  Geiste!  I.  Th.,  Lpz.  1877.  Die 
wesenhafte  oder  absolute  Realität  des  Raumes,  ebd.  1877.  Frd.  v.  Bärenbach, 
Grundleg.  d.  krit.  Ph.,  I.  Th.,  Lpz.  1879.  Friedr.  Kirchner,  die  Hauptpunkte 
der  Metaphysik,  Cöthen  1880.  Ueb.  d.  Grundprinc.  des  Weltprocesses,  s.  ob. 
Ausserdem  ist  Kirchner  Verf.  verschiedener  auf  die  Geschichte  der  Philos.  bezüg- 
licher Monographien  und  kürzerer  Darstellungen  („Katechismen")  der  Psychol., 
Logik,  Ethik,  Gesch.  der  Philos.  sowie  eines  Wörterbuches  d.  philos.  Grundbegriffe, 
Heidelb.  1886.  Er  vertritt  einen  „empirisch-rationalen  Realismus".  Das  Absolute 
ist  das  höchste  Gut,  d.  h.  das  Gute,  das  Wahre,  das  Schöne.  Thatigkeit  ist  sein 
Wesen,  sein  Sein  und  sein  Zweck:  Es  ist  der  lebendige  Gott.  Nicolas  Stärken, 
Metaphys.  Essays,  Hamb.  1882,  will  auf  empiristische  Weise  zum  Theismus 
kommen.  Konr.  Dieterich  (geb.  1847,  Prof.  in  Würzburg),  Grundzüge  der  Meta- 
phys., Frb.  i.  B.  1886.  Philosophie  und  Naturwissensch.,  ihr  neuestes  Bündniss 
u.  die  monist.  Weltanschauung,  2.  Ausg.,  ebd.  1885.  Dieterich  tritt  für  das  Recht 
der  Metephysik  ein  und  neigt  sich  dem  spinozistischen  Monismus  zu.   Den  Dualis- 


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§  45.   Neue  Systeme.   Lotze,  Fechner,  Hartmanu  u.  A. 


mus  von  Geist  u.  Natur  lehrt  J.  L.  A.  Koch  (Direct.  d.  Staatsirrenanstalt  Zwie- 
falten), Erkenntnisstheoret  Untersuchungen,  Göpping.  1883.  Grundriss  d.  Thilos., 
ebd.  1884  ,  2.  Aua  1885.  Die  Wirklichk.  u.  ihre  Erkenntniss,  ebd.  1886.  Ein 
Erschauen,  ein  Erfahren  der  Wahrheit  im  Gegensatz  zum  schulmässigeu  Folgern 
nimmt  an  Hugo  Delff,  Ueb.  d.  Weg,  zum  Wissen  u.  zur  Gewissheit  zu  gelangen, 
Lpz.  1882.  Die  Hauptprobleme  der  Philos.  u.  Relig.,  Lpz.  1886.  Dem  eleatischeu 
Monismus  nähert  sich  L.  Stern,  Philos.  u.  naturwissenschaftlicher  Monismus,  ein 
Beitr.  zur  Seelenfrage,  Lpz.  1885.  A  Dorner,  d.  menschl.  Erkennen,  Grundlinien 
der  Erkenntnisstheorie  u.  Metaphysik,  Berl.  1887. 

Von  Arbeiten,  die  auf  einzelne  Discipliuen  oder  Probleme  der  Philosophie 
gehen,  sind  hier  besonders  noch  namhaft  zu  macheu:  Ad.  Horwicz,  Psycholog. 
Analysen  auf  physiolog.  Gründl.,  3  Bde.,  Magdeb.  1872—78.  Moralische  Briefe, 
Magdeb.  1878.  Franz  Brentano,  Psychologie  vom  empirischen  Standpunkte,  1.  Bd., 
Lpz.  1874.  Wollny,  über  Freiheit  u.  Charakter,  Lpz.  1876.  Grundriss  der 
Psychologie,  Lpz.  1847.  Herrn.  Ebbinghaus,  üb.  d.  Gedächtnis?,  Untersuchungen 
zur  experimentell.  Psychol.,  Lpz.  1885.  Theod.  Lipps,  Grundthatsachen  des  Seeleu- 
lebens, Bonn  1883.  Psychologische  Studien,  Hdlb.  1885.  (Heber  die  jetzige 
Psychologie  in  Deutschland  zu  vgl.  Ribot,  s.  ob.  B.  Erdmann,  zur  zeitgenöss. 
Psychol.  in  Deutschland,  in:  Vierteljahrsschrift  f.  wissensch.  Phil.,  IV,  1879.  (S. 
auch  W.  Windelband,  über  d.  gegenw.  Stand  der  psycholug.  Forschung,  Rede,  Lpz. 
1876.)  Rob.  Pro  eis  s,  D.  Urepr.  d.  menschl.  Erkenntu.,  Lpz.  1879.  Schmitz- 
Dumont,  Zeit  u.  Raum  in  ihren  denknothwendigen  Bestimmungen,  abgeleitet  aus 
dem  Satze  des  Widerspruchs,  Lpz.  1875.  Die  mathematischen  Elemente  der  Er- 
keuntnisstheorie,  Berl.  1878.  D.  Einheit  der  Naturkräfte  u.  d.  Deut.  ihr.  gemeins. 
Formel,  Berl.  1881.  Die  mathematische  Wissenschaft  ist  eine  erweiterte  Logik, 
und  diese  leitet  ihre  Bestimmungen  aus  einem  einzigen  absolut  Gewissen  ab,  näm- 
lich aus  dem  Factum,  dass  AVuhrnehmungen  gemacht  werden,  d  h.  dass  etwas 
cxistirt.  A.  Döring,  Grundzüge  der  allgem.  Logik,  Th.  I,  Dortm.  1880.  Karl 
Uphues,  Reform  des  menschl.  Erkenneus,  1874.  Grundlehren  der  Logik,  nach 
Rieh.  Shutes  Discourse  ou  truth  bearbeit.,  Breslau  1883.  Grung,  d.  Problem  der 
Gewissheit,  Grundzüge  e.  Erkenntnisstheorie,  Hdlb.  1886.  Engelb.  Lor.  Fischer, 
die  Grundfragen  der  Erkenntnistheorie,  Mainz  1887.  Chr.  Sigwart  (geb.  1830, 
Prof.  in  Tübing.),  Logik,  2  Bde.,  Tübing.  1873—78.  Beiträge  zur  L.  vom  hypothet. 
Urtheile,  Tübingen  1879.  S.  auch  dessen  Kleine  Schriften.  2  Bde.,  Frbg.  i.  Br. 
1881  (hervorzuheben:  Ueb  d.  sittl.  Grundlagen  der  Wissensch ,  d.  Kampf  gegen 
d.  Zweck,  d.  Begr.  des  Wollens  u.  s.  Verh.  zum  Begr.  der  Ursache).  Vorfragen 
der  Ethik,  Frb.  i.  B.  1886.  Die  Logik  Sigwarts  ist  eine  der  vorzüglichsten  in 
der  ueuereu  Zeit;  in  den  Schlussergebnissen  spricht  er  durchaus  für  die  Telcologie. 
Der  letzte  Gruud,  auf  den  alle  hypothetische  Notwendigkeit  als  auf  das  Unbe- 
dingte zurückführt,  erscheint  als  die  reale  Macht  eines  zwecksetzenden  Wollens. 
Edm.  Pfleiderer  (geb.  1842,  Prof.  in  Tübingen),  die  Idee  eines  goldenen  Zeit- 
alters, Berl.  1877.  Zur  Ehrenrettung  des  Eudämonismus,  Tübingen  1879.  Die 
Philosophie  u.  d.  Leben,  Rede,  1878.  Ausserdem  hat  Pfleiderer,  der  unter  deu 
Philosophen  Lcibuiz  und  Lotze  bevorzugt,  manche  sehr  verdienstliche  historische 
und  historisch-kritische  Schriften  verfasst,  s.  d.  Litteratur.  G.  v.  Gizycki,  der  sich 
um  die  Geschichte  der  Ethik  mehrfach  verdient  gemacht,  hat  auch  Grundzüge  d. 
Moral  geschrieben,  Lpz.  1885.  G.  Class  (Prof.  in  Erlangeu),  Ideale  u.  Güter, 
Erlang.  1886.  Aus  deu  Idealen  eutspringen  unbedingte  Imperative.  Diesen  muss 
mau  gehorchen,  um  das  höhere  Menschenthum  zu  erfüllen.  Rud.  Eucken  (geb. 
1846,  Prof.  in  Jena),  Prolegomena  zu  Forschungen  üb.  d.  Einheit  des  Geisteslebens, 
Lpz.  1885.    Die  Einheit  des  Geisteslebens  in  Bewusstsein  u.  That  der  Menschheit, 


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§  46.    Philosophie  in  Frankreich  and  Belgien. 


im 


Lpz.  1888  (nicht  mehr  hier  benutzt,  da  anmittelbar  vor  dem  Druck  dieses  Abschnittes 
erst  erschienen).  Eucken,  der  eine  Neigung  zu  dem  älteren  Fichte  hat,  fragt,  ob 
der  Fülle  der  Erscheinungen  eine  umfassende  Einheit  innewohne,  ob  ein  Gesammt- 
geschehen  bestimmter  Art  wirke,  alles  Einzelne  treibe  und  einer  Gemeinsamkeit 
des  Sinnes  zuführe.  Das  ist  „der  Inbegriff  des  Geisteslebens*,  durch  welchen  ein 
natürlicher  Zusammenhalt  des  Geschehens  fixirt  wird,  der  über  das  Befinden  der 
Individuen  und  über  reflectirende  Betrachtung  hinausgeht.  Von  religionsphilo- 
sophischen  Werken  seien  noch  erwähnt:  Willi  Bender,  d.  Wesen  d.  Relig.  u. 
d.  Grundgesetze  der  Kirchenbild..  Bonn  1886.  G.  Chr.  Beruh  Pünjer,  Grundriaa 
d.  Religionsphilos.,  Braunsehw.  1886.  (Anonym)  Religionsph  auf  mod.  wissensch. 
Gründl,  m.  c.  Vorw.  v.  Jul.  Baumann,  Lpz.  18*6. 

Genannt  mögen  hier  noch  sein,  als  das  philosophische  Gebiet  vielfach  be- 
rührend, v.  Humboldts  sprachwissenschaftliche  nud  ästhetische,  Max  Müllers 
sprachwissenschaftliche  und  religiunsgeschichtliche,  Roschers,  K.  Heinr.  Rau's 
und  andere  nationalökonomische  Forschungen,  R  Jherings  Untersuchungen  über 
den  Geist  des  römischen  Rechts,  den  Zweck  im  Recht,  1.  u.  2.  Bd.  (im  2.  Bd.  geht 
•F.  auf  die  Moral  und  Sitte  über;  der  Grundgedanke  seines  Werkes  ist,  dass  der 
Zweck  der  Schöpfer  des  ganzen  Rechts  und  der  Moral  ist,  und  zwar  ist  das  be- 
sonders Bezeichnende  des  Zweckes  die  Beziehung  auf  das  eigene  Selbst  des 
Wollenden),  die  von  Alb.  Herrn.  Post  über  ethnologische  Jurisprudenz,  Hepp, 
Darstcllg.  der  deutschen  Strafrechtssysteme,  Chr.  Reinh  Köstlin,  Neue  Revision  der 
Grundbegriffe  des  Strafrechts,  Gesch.  des  deutschen  Strafrechts  etc.,  Vassalli, 
rechtsphilos.  Betrachtungen  über  das  Strafverfahren,  Erlang.  1869,  Ldw.  Laistner,  das 
Recht  in  der  Strafe,  München  1872,  Fei.  Dahn,  Rechtsphilos.  Studien,  Berl.  1883, 
u.  A.,  v.  Krafft-Ebing,  Grundzüge  der  Criminalpsychologie,  Stuttg  1882  Krauss, 
d.  Psychologie  des  Verbrechens,  Tüb.  1884. 

§  46.  Ausserhalb  Deutschlands  sind  seit  dem  Anfange  dieses 
Jahrhunderts  philosophische  Systeme  von  gleich  hoher  Bedeutung  und 
gleich  mächtigem  Einfluss,  wie  im  17.  und  18.  Jahrhundert,  nicht 
entstanden ;  doch  ward  die  philosophische  Tradition  gewahrt  und  theil- 
weise  auch  die  Forschung  weiter  geführt. 

In  Frankreich  trat  dem  Sensualismus  und  Materialismus  theils 
die  eklektisch-spiritualistische  Schule  entgegen,  die  von  Roy er-Collard 
im  Anschluss  an  Heid  begründet,  von  Cousin  durch  Mitaufnahme 
einzelner  deutscher  Philosopheine  weiter  ausgebildet  wurde  und  die 
Tradition  des  Cartesianismus  wieder  aufnahm,  theils  eine  theosophische 
Kichtung.     In  neuerer  Zeit  gewann  der  Hegelianismus  einzelne  An- 
hänger;  auch  Kant  ist  nicht  ohne  Einwirkung  geblieben.   Einen  jedes 
Hinausgehen   über   das  exaet  Erforschbare  principiell  ablehnenden, 
jedoch  zumeist  mit  dem  Materialismus  befreundeten  „Positivismus"  hat 
Cointc  begründet.    Alles,  was  geschieht,  geschieht  nothwendig  nach 
den  Gesetzen  der  Natur;  diese  Gesetze  gilt  es  zu  erforschen.  Anfang 
und  Ende  der  Dinge  sind  unserer  Erkenntniss  aber  vollständig  ver- 
schlossen.   Auf  Grund  des  Positivisraus  versucht  Comte  eine  Societäta- 
lehre  aufzubauen.  —  In  Belgien  macht  sich  keine  bestimmte  Richtung 
mit  Entschiedenheit  geltend. 


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504 


§  46.    Philosophie  in  Frankreich  und  Belgien. 


In  Bd.  IV  der  History  of  the  philosophy  of  mind  vou  Roh.  Blakey,  Lond.  1848, 
findet  sich  eine  ausführliehe  Uebersicht  über  die  von  1800  bis  gegen  1848  erschienenen 
philosophischen  Werke  in  Grossbritannien,  Deutschland,  Frankreich,  Italien,  Belgien 
und  Holland,  Spanien,  Ungarn,  Polen,  Schweden,  Dänemark,  Russland  und  in  den 
nordamerikanischen  Freistaaten.  Vgl-  J.  D.  Morel I,  an  bist,  and  critical  view  of 
speculative  philosophy  of  Europe  in  the  ninetecnth  Century,  London  1846,  2.  ed.,  ebd. 
1847;  Lectures  on  the  philosophical  tendencies  of  the  agc,  1848.  Ueber  neuere  psycho- 
logische Arbeiten  in  verschiedenen  Ländern  handelt  Denekc  in  seiner  Schrift  „die 
neue  Psychologie*,  Berl.  184.r>,  S.  272—350.  Artikel  über  die  gegenw.  Philosophie 
ausserhalb  Deutschlands  enthalten  die  philo«.  Zeitschriften:  „Zeitsehr.  für  Philo«.*,  hrsg. 
von  Fichte,  Ulrici  und  Wirth,  und  „der  Gedanke",  hrsg.  von  Michelet,  wie  auch  die 
„Philos.  Monatshefte*  und  (in  Bezug  auf  den  Herbartianismus)  die  .Z.  itschr.  für  exaete 
Philosophie*. 

Ueber  die  französische  Philosophie  im  19.  Jahrb.  handeln:  Ph.  Damiron, 
Essai  8ur  l'histoire  de  la  philosophie  en  France  au  XIX*  siecle,  Paris  1828,  3.  ed.  1834. 

H.  Taine,  Les  philoaophcs  classiques  francais  du  XIX*'  s.t  Paris  1857,  3.  ed.  1867. 
F.  Ravaisson,  la  phil.  en  France  au  XIX°  s.,  Par.  1864,  2.  ed.,  1884  (vgl.  darüber 
Etienne  Vacherot,  la  Situation  ph.  en  France,  in:  Revue  des  deux  mondes.  Bd.  05, 
1868,  S.  950—977).  P.  Janet,  Ic  spiriluali-me  francais  au  XIX*  siecle,  in:  Revue  de» 
deux  mondes,  Bd.  65,  1868,  S.  353 — 385;  ders.,  la  philosophie  francaise  contemporaine, 
2.  ed.,  Paris  1879.  Ferraz,  Etudes  sur  la  phile  s.  en  France  au  XIX"  siecle,  2.  ed.,  Pari« 
1877.  Ders.,  Histoire  de  la  philosophie  en  France  au  XIX»  siecle.  Traditionalisme 
et  UltramontanUme,  Paris  1880.  Spiritualisme  et  Liberalisnie,  Par.  1886.  Ribot,  Philo- 
soph)- in  France,  in  Mind,  T.  2,  1877.  J.  J.  Borclius,  en  Blick  pä  den  nuvarande 
Filosofien  i  Frankrike  (Aftryk  ur  nordisk  Tidskrift),  1880  (auch  deutsch  s.  ob.).  Alfr. 
Fouillee,  le  Neo-Kantisiue  en  France,  la  morale  criticiste  (Renouvier),  in  Rev.  phil., 
1881,  Bd.  11,  S.  1—45.  Ueber  Maine  de  Biran,  V.  Cousin,  Damiron,  Garnier, 
Barthelemy  St.  Hilaire,  Janet,  Ravaisson,  Renouvier  vgl.  Ad.  Franck,  Moralistes  et 
Philosophes,  Paris  1872,  2.  ed.  1874.  Ein  Werk  über  die  Philos.  d.  Gesch.  in  Frankr. 
hat  der  Schotte  Flint  geschrieben,  ins  Franz.  über«,  v.  Carrau.  Ueber  den  Stand  der 
französischen  Philosophie  geben  die  beste  Auskunft  die  Zeitschriften :  La  Critique  philo- 
sophique, politique  etc.,  erscheinend  seit  1872,  Revue  philosophique  de  la  France 
et  de  l'etranger,  dirigee  par  Th.  Ribot,  seit  1876  erscheinend,  welche  ein  vollständige« 
und  genaues  Bild  der  philosophischen  Bewegung  in  der  Gegenwart  zu  geben  beab- 
sichtigt, ohne  ein  bestimmtes  System  zu  vertreten,  auch  die  deutsche  Philosophie  ein- 
gehend berücksichtigt,  und  die  in  den  Diensten  des  Positivismus  «tehende  Philosophie 
positive,  revue  dirigee  par  E.  Littre  et  G.  Wvrouboff  u.  nach  dem  Tode  Littre«  par 
Robin  et  G.  Wyronboff,  von  1867—1883. 

Ueber  Lamennais  handeln:  Blaize,  essai  biogr.,  1858;  Binaut  in:  Revue  de« 
deux  mondes,  1860  und  1861;  O.  Bordage,  la  phil.  de  L.,  Strassb.  1869.  Uel*>r 
Rover-Collard  handeln:  A.  Philippe,  Paris  1858,  und  Parante,  Paris  1861.  Ueber 
Maine  de  Biran  handelt  Em.  Naville  (l'aris  1874),  der  auch  1859  Oeuvres  inedites 
herausg.  hat,  ferner  J.  Gerard,  M.  d.  B.,  Essai  sur  sa  philo«,  et  suivi  de  fragnients 
inedits,  Pari«  1876.     Cousins  Werke  sind  in  5  series  Paris  1846 — 50  erschienen: 

I.  — IL:  Coure  de  l'histoire  de  la  philosophie  moderne,  Paris  1846—48,  IIL:  Fragmen« 
philosophique«,  1847 — 48,  IV.:  Litterature,  1849,  V.:  Instruction  publique,  1850.  Ueber 
Cousin  handeln:  C.  E.  Fuchs,  die  Philos.  V.  C.s,  Berl.  1847.  A.  Aulard,  Etudes  «ur  la 
philosophie  contemporaine:  M.  Victor  Cousin,  Nantes  1859.  J.  E.  Alaux,  la  philo- 
sophie de  M.  Cousin  (bildet  einen  Theil  der  Bibliothcque  de  philosophie  contemporaine), 
Paris  1864.  Oefters  nimmt  auf  seine  Doctrin  J.  B.  Meyer  Bezug  in  Referaten  in  der 
fichteschen  Zeitschrift,  insbesondere  auch  in  Bd  XXXII,  1858.  S.  276—90:  Cousins 
philo«.  Thätigkeit  seit  1853.  Paul  Janet,  Victor  Cousin,  in:  Revue  des  deux  mondes, 
XXXVII.  annee,  2.  per.,  t.  67,  p.  737—754.  M.  Secretan,  la  philos.  de  V.  Cousin, 
Paris  1868.    Mignet,  V.  Cousin,  Pari«  1869. 

Ein  Auszug  aus  Comic  ist  neuerdings  erschienen:  A.  C,  la  philos.  po«.,  resumee 
par  M.  Jules  Rig,  Par.  1881,  ins  Deutsche  über«,  von  J.  H.  v.  Kirchmann,  2  Bde., 
Heidelb.  1883 — 84.  Die  Einleit.  in  die  po«it.  Philo«.,  deutsch  von  G.  E.  Schneider,  Lpz. 
1880.  Ueber  Comte  handeln  K.  Twesten,  üb.  d.  Leben  u.  d.  Schriften  A.  C.s,  in: 
Preus«.  Jahrb.,  4.  Bd.,  1859,  Littre,  Paris  1863,  J.  St.  Mi  11,  Comte  and  Posi- 
tivism,  2.  ed.  revised,  Lond.  1866,  deutsch  von  Elise  Gompertz,  Lpz.  1874,  Ch.  Pellarin, 
essai  crit.  sur  la  philos.  positive,  Pari«  1866,  Miss  Harrict  Martineau,  the  positive  phil. 
of  Aug.  Comte  freely  transl.  and  Condensed,  Lond.  1853,  traduetion  franc.,  Bordeaux 
1871  ff.,  Giacomo  Barzellotti,  ia  morale  della  filosofia  positiva,  Firenze  1871,  Beruh. 


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§  46.   Philosophie  in  Frankreich  und  Belgien. 


505 


Pünjcr,  d.  Positivism.  in  d.  neuer.  Ph.,  I.,  A.  Comte,  in:  Jahrb.  f.  prot.  Theol., 
4.  Jahrg.,  1878,  S.  79—121,  ders.,  A.  C.s  Religion  der  Menschht.,  ebenda,  8.  Jahrg., 
1882,  S.  385—404,  de  Broglie,  le  positivisme  et  la  seienee  cxperinientale,  2  vols.,  Par. 
1882,  Rob.  Zimmermann,  Kant  u.  Comte  in  ihrem  Verh.  zur  Metapbvs.,  Wien  1885, 
Edw.  Caird,  tbe  social  philosophy  and  religion  of  C,  Glasgow  1885  (früher  schon  in 
4  Abschnitten  erschienen  in  d.  Conteuiporary  Review),  Hugo  Sommer,  d.  posit.  Philo- 
sophie A.  C.s,  in:  Samml.  gemeinvcrst.  wisscnsch.  Vortr.,  BerL  188C,  G.  F.  Sterzel, 
C.  als  Pädagog,  I.-D.,  Dresd.  1S86,  J.  M.  Guardia,  les  sentiinents  intimes  d'A.  C. 
d'apres  son  testament,  Rev.  ph.  XXIV,  18S7,  S.  59-74.  Rud.  Kucken,  zur  Würdig. 
Comtes  und  des  Positivism..  in:  Phil.  Aufsätze  Kd.  Zeller  z.  s.  50 j.  Doctorjub.  gewidm  , 
Lpz.  1887,  S.  53—82.  S.  aueh  die  populär  gehaltene  Sehr.  v.  Robinct,  La  philos. 
positive.  Unter  den  Anhängern  Comtes  siud  Differenzen  entstanden,  indem  die  Kinen  sieh 
streng  an  Comte  halten,  aueh  die  Methode  aus  dessen  subjeetiver  Periode  mit  annehmen, 
Littre  aber  und  seine  Anhänger  sich  freier  zu  Comte  stellen,  wenigstens  an  der  objectiven 
Methode  festhalten.  S.  über  diesen  Streit  Andre  Pocy.  M.  Littre  et  A.  Comte,  Paris 
1879,  K.  Caro,  M.  Littre  et  le  positivisme,  Par.  1883. 

Ueber  die  Philosophie  des  Rechts  in  Belgien  handelt  Warnkönig  in  der  Zeit- 
schrift f.  Philos.  Bd.  30,  Halle  1857. 

Die  französische  Philosophie  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  gegenwärtigen 
Jahrhunderts  wird  von  Damiron  auf  drei  Hauptrichtungen  zurückgeführt:  die 
sensualistische,  die  theologische  und  die  eklektisch-spiritualistische. 
Die  sensualistische  Schule,  aus  dem  achtzehnten  Jahrhundert  in  das  neunzehnte 
Jahrhundert  hinüberragend,  ward  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  gegenwärtigen 
Jahrhunderts  mehr  und  mehr  durch  die  beiden  andern  Schulen  verdrängt,  doch  erhob 
sich  dann  auch  wieder  gegen  diese  letzteren  eine  Reaction,  die  zum  Theil,  z.  B.  in 
Renan  und  Taine,  auch  in  Charles  Dollfus,  dem  Verfasser  der  Lettrcs  pbilo- 
sophiques,  Paris  1851,3.  ed.  1869,  mitHegcls  religions-  und  geschiehta-philosophischem 
Grundgedanken  sich  berührt,  zum  Theil  (und  schon  früher)  sich  naturalistisch  ge- 
staltete. Ueber  diesen  Entwickelungsgang  berichtet  Cousins  Schüler  Paul  Jan  et 
folgendermaasscn:  *) 

Die  französische  Philosophie  stand  zu  der  Zeit,  als  die  Revolution  zu  Ende 
ging  und  das  neunzehnte  Jahrhundert  begann,  ganz  und  gar  unter  dem  Einfluss  der 
condillacschen  Richtung.  Die  Metaphysik  war  nichts  Anderes,  als  Zergliederung 
der  Sinnesempfindungen.  Da  diese  letzteren  unter  zwei  Gesichtspunkten  betrachtet 
werden  konnten,  nämlich  theils  in  Beziehung  zu  den  Sinnesorganen ,  theils  in  Be- 
ziehung zum  Geist,  so  theilte  sich  die  condillacsche  Schule  in  zwei  Zweige,  einen 
physiologischen  und  einen  ideologischen:  Cabanis  ist  der  Hauptvertreter  der  ersten, 
Destutt  de  Tracy  der  der  zweiten  Fraction. 

Cabanis  (1757—1808)  ist  der  erste  französische  Schriftsteller,  der  philosophisch 
und  methodisch  über  die  Beziehungen  zwischen  dem  Physischen  und  Psychischen 
gebandelt  hat  und  zwar  in  dem  Werke:  „Les  Rapports  du  physique  et  du  moral* 
(erschienen  in  den  beiden  ersten  Bänden  der  Memoires  de  la  cinqaieme  classe  de 
l'Institut,  welche  Classe  die  Lehre  von  den  Vorstellungen  zu  bearbeiten  hatte,  auch 
separat  veröffentlicht  im  Jahre  1812).  Dieses  Werk  besteht  ans  zwölf  Abschnitten, 
welche  der  Reihe  nach  handeln  von  dem  physiologischen  Ursprung  der  Sinnes- 
empfindungen, von  dem  Einfluss  des  Lebensalters,  des  Geschlechts,  des  Temperaments, 
der  Krankheiten,  der  Lebensordnung,  des  Klimas,  des  Instincts,  des  Mitgefühls, 
des  Schlafes,  von  dem  Einfluss  des  Psychischen  auf  das  Physische,  von  den  er- 
worbenen Temperamenten.    Es  ist  eine  sehr  reiche  Fundgrube  interessanter  That- 


*)  Die  der  zweiten  Aufl.  dieses  Grdr.  beigefügte,  von  Herrn  Prof.  Janet, 
Mitglied  der  Akademie  zu  Paris,  mit  dankenswerther  Bereitwilligkeit  ausgearbeitete 
Skizze,  bis  zu  Comte  reichend,  folgt  hier  in  deutscher  Uebersetzung.  Bei  Comte  haben 
wir  die  viel  kürzere  Darstellung  Janets  in  die  von  uns  jetzt  gegebene  eingeflochten. 


506 


§  46.    Philosophie  In  Frankreich  und  Belgien. 


suchen.  Aber  der  Geist  des  Werkes  ist  ein  durchaus  materialistischer.  Das 
Psychische  ist  nichts  Anderes  als  das  Physische  unter  gewissen  besonderen  Gesichts- 
punkten. Die  Seele  ist  nicht  eine  Substanz,  sondern  eiue  Fähigkeit.  Der  Gedanke 
ist  eine  Ausscheidung  des  Gehirns.  Später,  in  seiner  an  Fauriel  gerichteten  Lettre 
sur  les  causes  premieres  (Paris  1824)  hat  Gabanis  seine  Ansichten  wesentlich  um- 
gebildet. Kr  gab  jetzt  eine  mit  Verstand  und  Willen  begabte  Ursache  der  Welt 
zu  und  gelangte  zu  einem  gewissen  stoischen  Pantheismus. 

Destutt  de  Tracy  (1754-1836)  bildete  die  Lehre  Coudillacs  dadurch  um, 
dass  er  versuchte,  die  Vorstellung  des  Seins  von  Dingen  ausser  uns  zu  erklären, 
welche  die  blosse  Sinnesempfindung  nicht  geben  könne.  Nach  ihm  lehrt  uns  nur 
die  freiwillige  Bewegung  die  Existenz  von  äusseren  Objecten.  Das  Baud  zwischen 
dem  Ich  und  dem  Nicht-Ich  ist  einerseits  die  gewollte  und  empfundene  Handlung, 
andererseits  der  Widerstand.  Ks  geht  nicht  au,  dass  die  nämliche  empfindende 
Kraft  wolle  und  doch  auch  sich  Selbst  Widerstand  leiste.  Kine  Materie,  die  nicht 
widerstände,  würde  nicht  erkannt  werden  können.  Kiu  Wesen,  das  keine  Bewegungen 
machte,  oder  das  zwar  Bewegungen  machte,  aber  ohne  dieselben  zu  empfinden, 
würde  nichts  Anderes,  als  sich  selbst  erkennen.  Tracy  zieht  hieraus  die  Gonsequeuz, 
dass  ein  schlechthin  immaterielles  Wesen  nur  sich  selbst  erkennen  würde.  Die 
Werke  Tracys  sind:  1)  Elements  d'ideologie  (2  vol.,  Paris  1804),  2)  Gommentaire 
sur  l'Ksprit  des  lois  (Paris  1819).  S.  über  ihn  Gharles  Ghabot,  D.  de  Tr , 
Moulin  1885. 

Reaction  gegen  die  sensualistische  Schule.  Diese  lleaction  ist  eine 
zweifache.  Sie  wurde  geübt  theils  von  der  theologischen,  theils  von  der  psycho- 
logischen*) Schule. 

In  der  theologischen  Schule  sind  drei  Namen  die  hervorragendsten:  De 
Bonald.  —  Der  Abt  von  Lamcnnais.  —  Joseph  de  Muistre. 

De  Bonald  (1754-1840)  ist  das  Haupt  der  Schule,  welche  die  traditiona- 
listische genannt  wird.  Ihr  Hauptdogma  ist  die  gottliche  Krschaffung  der  Sprache. 
Die  Offenbarung  ist  das  Princip  aller  Krkenntniss.  Ks  giebt  keine  angeborenen 
Vorstellungen.  Die  gesummte  Philosophie  Bonaids  wird  durch  eine  trinitarische 
Formel  beherrscht:  Ursache,  Mittel,  Wirkung.  In  der  Kosmologie  wird  Gott  als 
die  Ursache  bestimmt,  die  Bewegung  als  dus  Mittel,  der  Körper  als  die  Wirkung. 
In  der  Staatslehre  gestalten  sich  diese  drei  Termini  als  Regierung,  Beamte,  Unter- 
gebene. In  der  Familie:  Vater,  Mutter,  Kind.  Bonald  wandte  diese  Formeln  auf 
die  Theologie  an  und  schloss  auf  die  Notwendigkeit  eines  Mittlers.  Daher  dieser 
Satz:  Gott  verhält  sich  zum  Gottmenschen  wie  der  Gottmensch  zum  Menschen. 
Die  Hauptwerke  Bonaids  sind:  Essai  analytique  sur  les  lois  naturelles  de  l'ordre 
social,  La  legislation  primitive  (2.  Aufl.  1821,  3  vol.).  Hecherches  philo- 
sophiques  (1818).  La  theorie  du  pouvoir  social  (17%,  3  vol.).  Die  Oeuvres 
completes  sind  im  Jahr  1818  veröffentlicht  worden. 

Der  Abt  de  Lameunais  (1782—1854)  ist  der  Begründer  des  theologischen 
Skepticismus  im  neunzehnten  Jahrhundert  In  seinem  Buche  .Essai  sur  l'indifference 
en  mutiere  religieuse"  (1817—27,  4  vol.  in  8°.  nouv.  ed.  1872)  entlehnt  er,  wie 
Pascal,  dem  Pyrrhonismus  seine  Beweisgründe  gegen  die  Zuverlässigkeit  der  Seelen- 
vermögen.  Irrthümer  der  Sinne,  Irrthümer  im  Schliessen,  Widersprüche  der 
menschlichen  Meinungen,  dieses  ganze  Arsenal  des  Skepticismus  wird  gegen  die 
menschliche  Vernunft  verwendet.    Nach  diesem  Ruin  jeder  Gewissheit  versucht  der 

*)  Diesen  Namen  gebe  ich  dieser  Schule,  die  im  Verlaufe  der  Zeit  verschieden 
bezeichnet  worden  ist  (als  eklektische,  als  spiritualistiscbe  Schule).  Der  Name, 
den  ich  vorschlage,  scheint  mir  der  zutreffendste  zu  sein.  Janet 


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§  46.    Philosophie  in  Frankreich  und  Belgien. 


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Abt  von  Lamcnnais  das  von  ihm  Zerstörte  auf  Grund  eines  neuen  Kriteriums, 
nämlich  des  „consentement  universeP  wiederaufzubauen  und  so  die  Gültigkeit  des 
Gottesglaubens,  der  Offenbarung,  des  Katholicismus  darzuthun. 

•Joseph  de  Maistrc  (1753—1821)  ist  der  Begründer  des  heutigen  Cltramon- 
tauismus.  Sein  Buch  über  den  l'apst  ist  gewissermaassen  das  Evangelium  desselben. 
Er  berührt  das  Gebiet  der  Philosophie  in  seinen  Soirees  de  St.  Pctersbourg  (Paris 
1821),  wo  er  von  der  zeitlichen  Herrschaft  der  Vorsehung  in  den  menschlichen  An- 
gelegenheiten handelt.  Sehr  durchdrungen  von  der  theologischen  Idee  der  Erb- 
sünde, neigt  er  duhin,  in  dem  Uebel  nur  Sühne  und  Züchtigung  zu  sehen.  .Daher 
der  grausame  Charakter  seiner  Philosophie,  seiner  Rechtfertigung  der  Todesstrafe, 
des  Krieges,  der  Inquisition  etc.  Er  war  nicht  ohne  einen  Auflug  von  Illuminis- 
mus  und  träumte  eine  umfassende  Erneuerung  der  Religion  ;  daraus  erklärt  sich, 
dass  die  Saint-Simonisten  häufig  seinen  Namen  anführen  und  sich  auf  ihn  berufen. 

Die  psychologische  Schule  hat  folgende  Eigentümlichkeiten:  1.  dass  sie 
vollkommen  unabhängig  von  der  (positiven)  Theologie  ist,  2.  dass  sie  in  der 
Psychologie  die  Principien  aller  Philosophie  sucht,  3.  dass  sie  die  von  Cartesius 
überlieferte  idealistische  und  spiritualistische  Richtung  erneuert.  Ihre  vorzüglichsten 
Vertreter  sind:  Royer-Collard,  Maine  de  Biran,  Cousin  und  Th.  Jouffroy. 

Royer-Collard  (1763—1845)  hat  auf  dem  Gebiet  der  Politik  grössere  Bedeutung 
als  auf  dem  der  Philosophie.  Er  hat  die  schottische  Philosophie  in  Frankreich  ein- 
geführt. Er  legt,  wie  Reid,  das  grösste  Gewicht  auf  den  Unterschied  zwischen  Sinnes- 
empfindung  und  Perception,  auf  die  Principien  der  Causalität  und  der  Imluction.  Das 
Interessanteste  bei  ihm  ist  die  Analyse  des  Begriffs  der  Dauer.  Die  Dauer  wird  nach 
ihm  nicht  in  den  Objecten  percipirt;  sie  liegt  nur  in  uns.  Sic  unterscheidet  sich  von 
der  Zeitfolge;  diese  begründet  nicht  den  Begriff  der  Dauer,  sondern  hat  vielmehr 
denselben  zur  Voraussetzung.  Der  Begriff  der  Dauer  entspringt  nur  aus  der  Empfiudung 
unserer  beständigen  Identität,  welche  aus  der  Continuität  unseres  Handelns  hervor- 
geht. (Fragmeus  de  Royer-Collard  in  Th.  Jouffroys  Uebereetzung  der  Werke  Reids.) 

Maine  de  Biran  (1766—1824),  den  Cousin  als  den  ersten  französischen  Meta- 
physiker  des  neunzehnten  Jahrhunderts  proclamirt  hat,  ist  durch  drei  verschiedene 
philosophische  Doctrinen  hindurchgegangen  oder  richtiger:  durch  drei  verschiedene 
Stadien  einer  und  derselben  philosophischen  Entwickelung. 

Den  Charakter  der  ersten  Periode  bezeichnet  das  Werk  Memoire  sur  l'habitude 
(1803).  In  diesem  Werke  gehört  Maine  de  Biran  noch  der  ideologischen  oder  con- 
dillacschen  Schule  an  oder  glaubt  doch,  derselben  noch  anzugehören,  während  er 
in  der  That  sich  bereits  von  ihr  entfernt.  Indem  er  die  von  Tracy  schon  aufgestellte 
Ansicht  entwickelt,  dass  in  der  freiwilligen  Bewegung  der  Ursprung  unserer  Vor- 
stellung von  Dingen  ausser  uns  liege,  gründet  er  auf  dieses  Princip  die  in  der  reidschen 
Schale  bo  unbestimmt  gebliebene  Unterscheidung  der  Sinnesempfindung  und  Per- 
ception. Die  erstcre  ist  die  blosse,  durch  die  äusseren  Ursachen  hervorgerufene 
Affection;  die  Perception  dagegen  ist  das  Ergebniss  unserer  freiwilligen  Activität. 
Maine  de  Biran  zeigt  uns,  wie  diese  beiden  Vorgänge  bei  einem  jeden  unserer  Sinne 
in  verschiedenem  Verhältnias  sich  mit  einander  verbinden,  indem  die  Perception 
sieb  stets  an  die  Beweglichkeit  des  Organes  knüpft.  Die  Perception  ist  also  nicht 
eine  umgebildete  Sinnesempfindung.  Von  diesem  Unterschied  hängt  auch  der 
zwischen  der  Einbildungskraft  und  dem  Gedächtniss  ab.  Ferner  unterscheidet  Biran 
zwei  Classeu  von  Gewohnheiten,  nämlich  active  und  passive  Gewohnheiten.  Endlich 
entwickelt  er  folgendes  Grundgesetz  der  Gewöhnung,  .dass  sie  die  Sinnesempfindung 
schwäche  und  die  Perception  verstärke*". 

In  der  zweiten  Periode  begründet  und  entwickelt  Biran  seine  eigene  Philo- 
sophie.   Der  Grundgedanke  dieser  Philosophie  ist,  dass  der  Gesichtspunkt  eines 


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§  46.    Philosophie  in  Frankreich  and  Belgien. 


sich  selbst'  erkennender)  Wesens  dem  Gesichtspunkte  einer  äosserlich  and  gegen- 
ständlich erkannten  Sache  nicht  gleichgesetzt  werden  dürfe.  Der  Gruudirrthum  der 
Sensualisten  bestand  darin,  dass  sie  sich  die  inneren  Ursachen,  die  psychischen 
Kräfte,  nach  dem  Vorbilde  der  äusseren  und  gegenständlichen  Ursachen  vorstellten. 
Da  diese  letzteren  aber  nicht  an  sich  bekannt  sind,  so  sind  sie  nur  verborgene 
Eigenschaften,  abstracto  Namen,  welche  Gruppen  von  Erscheinungen  repräsentiren ; 
sie  lassen  sich  auf  einander  reduciren  in  dem  Maasse,  wie  man  zwischen  diesen 
Gruppen  neue  Aehnlichkeiten  entdeckt.  Attraction,  Affinität,  Elektricität  sind  nur 
Namen;  also  müssen  den  Sensualisten  Empfindungsfähigkeit,  Verstand,  Wille  und 
im  Allgemeinen  die  subjective  Ursächlichkeit  für  blosse  Abstractioneu  gelten. 
Aber,  wirft  Biran  ihnen  ein,  darf  denn  das  Wesen,  welches  sich  seines  Handelns 
bewusst  und  Zeuge  seiner  eigenen  Activität  ist,  sich  wie  ein  äusseres  Object  be- 
handeln? Zwar  ist  die  Seele,  im  Absoluten  betrachtet,  uns  unerfasslich ,  ein  X. 
Aber  zwischen  dem  Gesichtspunkte  der  reinen  Metaphysiker,  die  Bich  ins  Absolute 
versetzen,  und  dem  der  blossen  Empiristen,  die  nichts  als  Erscheinungen  und  Ver- 
bindungen von  Sinneswahrnehmungen  erblicken,  liegt  in  der  Mitt«  der  Gesichtspunkt 
der  Reflexion  auf  unser  Inneres,  wodurch  das  Einzelsubject  sich  als  solches  empfindet 
und  sich  demgemäss  von  den  verborgenen  Ursachen  unterscheidet,  die  wir  ausser 
uns  voraussetzen,  zugleich  unterscheidet  es  sich  auch  von  allen  seinen  Modis,  an- 
statt sich  in  dieselben  aufzulösen,  wie  dies  Condillac  wollte,  der  in  dem  Ich  nur 
einen  Complex  oder  eine  Aufeinanderfolge  von  Sinnesempfindungen  sah.  Die  erste 
Thatsache  des  Bewusstseins  ist  die  gewollte  Anstrengung,  worin  ein  Zweifaches 
untrennbar  vereinigt  liegt:  Wille  und  Widerstand  (und  zwar  Widerstand  des  eigenen, 
nicht  des  fremden  Körpers).  Vermittelst  des  Widerstandes  empfindet  sich  das  Ich 
als  begrenzt  und  gewinnt  dadurch  das  Selbstbewusstsein,  während  es  zugleich  mit 
Nothwendigkeit  ein  Nicht- Ich  erkennt.  Durch  das  innere  Bewusstsein  und  seine 
Thätigkeit  erlangt  das  Ich  den  Begriff  der  Ursache,  der  weder  angeboren,  noch 
eine  blosse  Gewohnheit,  noch  eine  Form  a  priori  ist  Biran  unterscheidet  mit  Kant 
Materie  und  Form  in  der  Erkenntuiss.  Aber  die  Form  besteht  nicht  in  leeren  und 
hohlen  Kategorien,  die  vor  aller  Erfahrung  vorhanden  wären.  Die  Kategorien  sind 
nur  die  verschiedenen  Gesichtspunkte  in  der  inneren  Erfahrung,  in  der  Reflexion. 
Die  Materie  der  Erkenntniss  ist  durch  das  Widerstandleistende  gegeben,  welches 
die  Verschiedenheit  und  die  Localisation  liefert.  Es  giebt  nach  Biran  auch  einen 
inneren  Raum,  der  von  dem  äusseren  und  gegenständlichen  Räume  verschieden  ist; 
dieser  ist  der  unmittelbare  Ort  des  Ich,  der  durch  die  Verschiedenheit  der  Funkte 
des  Widerstandes  gebildet  wird,  den  die  verschiedenen  Organe  dem  Willensact 
entgegensetzen.  Der  diese  gesammte  Philosophie  Birans  beherrschende  Gesichtspunkt 
iBt  der  der  Persönlichkeit.  Die  hauptsächlichsten  Schriften  dieser  zweiten  Periode 
sind:  Rapports  du  physique  et  du  moral  (verfasst  1811  u.  gekrönt  durch  die  Akade- 
mie zu  Kopenhagen,  jedoch  erst  1834,  nach  dem  Tode  des  Verfassers,  durch  Cousin 
veröffentlicht)  und  besonders  Essai  sur  los  fondemens  de  la  Psychologie  (veröffent- 
licht durch  Naville  im  Jahre  1859). 

Die  dritte  Periode  Birans  ist  unvollendet  gebliebeu,  und  seine  letzte  Philo- 
sophie ist  nur  skizzirt.  Von  der  stoischen  Betrachtungsweise,  welche  seine  zweite 
Periode  charakterisirt,  ist  er  zu  einer  mystisch  -  christlichen  übergegangen.  In 
seinem  letzten  unvollendet  gebliebenen  Werke,  der  Anthropologie,  unterscheidet  er 
in  dem  Menschen  drei  Arten  des  Lebens:  die  Sinnesempfindung  als  das  animalische, 
den  Willen  als  das  menschliche,  die  Liebe  als  das  göttliche  Leben.  Die  Persön- 
lichkeit, die  ihm  früher  als  die  höchste  Stufe  des  menschlichen  Lebens  galt,  ist  nur 
noch  eine  Uebergangsstufe  zu  einer  noch  höheren  Stufe,  auf  welcher  sie  sich  verlieren 
und  aufheben  wird  in  Gott  Birans  W.  bestehen  aus  vier  von  Cousin  1840  und  drei 


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von  E.  Naville  1859  veröffentlichten  Bndn.  S.  auch  E.  Naville,  M.  d  B.,  sa  vie 
et  s.  pensees,  3.  6d.,  Par.  1877. 

Victor  Cousin  (1792—1867),  ein  Schüler  von  Rover -Collard  und  Maine  de 
Biran,  gründete  selbst  eine  Schule,  welche  die  eklektische  genannt  worden  ist.  Der 
Leibniz  entlehnte  Grundsatz  war:  die  Systeme  sind  wahr  in  dem,  was  sie  behaupten, 
falsch  in  dem,  was  sie  leugnen.   Da  Cousin  dem,  was  man  früher  bereits  gefanden 
hatte,  einen  grossen  Werth  beilegte,  so  musste  er  viel  auf  die  Erforschung  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  halten,  deren  wahrer  Begründer  in  Frankreich  er  ist, 
wennschon  man  de  Gerando  nicht  vergessen  darf.  Cousin  theilte  die  Systeme  nach 
vier  Hauptrichtungen  ein:  Idealismus,  Sensualismus,  Skepticismus,  Mysticismus. 
Wie  sehr  er  auch  den  Eklekticismus  empfahl,  so  suchte  er  doch  aus  dem  Studium 
der  Systeme  eine  persönliche  Ueberzeugung  zu  gewinnen.     Sein  Bemühen  war 
hauptsächlich  darauf  gerichtet,  eine  Mitte  zwischen  Schottland,  welches  mit  Hume, 
Brown  und  Hamilton  alle  Metaphysik  negirte,  und  Deutschland,  welches  eine 
Metaphysik  a  priori  auf  den  Begriff  des  Absoluten  gründete,  zn  gewinnen.  Er 
glaubte,  dass  es  eiuen  Mittelweg  gebe,  nämlich  die  Begründung  der  Metaphysik  auf 
die  Psychologie.    In  der  Psychologie  bediente  er  sich  der  Argumente  Kants  gegen 
den  loekeschen  Empirismus.  Um  aber  dem  kantischen  Subjectivismus  zu  entgehen, 
stellte  er  selbst  die  Theorie  der  unpersönlichen  Vernunft  auf.    Er  hielt  dafür,  die 
Vernunft  sei  subjectiv  nur  im  Zustande  der  Reflexion ;  im  spontanen  Zustande  aber 
ergreife  sie  unmittelbar  das  Absolute,  indem  sie  mit  ihm  zusammenfliesse.  Alle 
Subjectivität  erlischt  in  dem  unmittelbaren  spontanen  Acte  der  reinen  Vernunft. 
Diese  Theorie  erinnerte  an  die  schellingsche  der  intellectuellen  Anschauung,  suchte 
sich  aber  von  dieser  dadurch  zu  unterscheiden,  dass  sie  immer  den  psychologischen 
Ausgangspunkt  festhielt.    Doch  war  Cousin  damals  auf  der  Bahn  des  absoluten 
Idealismus.    Er  ging  auf  dieser  Bahn  noch  weiter  in  seinen  Vorlesungen  aus  dem 
Jahre  1828,  worin  sich  augenscheinlich  der  Einfluss  Hegels  bekundet,  mit  dem  er 
in  Deutschland  vielen  Verkehr  gehabt  hatte  und  dessen  Namen  er  zuerst  in  Frank- 
reich nannte.  In  diesem  Lehrgang  führt  er  alles  Wissen  auf  die  Ideen  zurück,  aus 
denen  nach  ihm  alles  zu  begreifen  ist.    Es  giebt  drei  fundamentale  Ideen:  das 
Unendliche,  das  Endliche  und  die  Beziehung  zwischen  Unendlichem  und  Endlichem. 
Diese  drei  Ideen  finden  sich  überall  wieder  vor;  sie  sind  von  einander  untrennbar; 
ein  Gott  ohne  Welt  ist  ebenso  unbegreiflich,  wie   eine  Welt  ohne  Gott  Die 
Schöpfung  ist  nicht  nur  möglich,  sondern  nothwendig.    Die  Geschichte  ist  nur  die 
Entwickelung  der  Ideen.    Ein  Volk,  ein  Jahrhundert,  ein  grosser  Mann  sind  die 
Offenbarung  einer  Idee.    Der  Lehrgang  von  1828  ist  der  Culminationspunkt  der 
speculativen  Forschung  Cousins  gewesen.   Seit  dieser  Zeit  hat  er  sich  von  dem 
deutschen  Idealismus  entfernt  und  seine  Philosophie  in  einem  cartesianischen  Sinne 
neugegründet,  indem  er  stets  die  psychologische  Methode  als  Basis  der  Philosophie 
festhielt.   Dies  ist  der  Charakter  seines  Buches:    Le  Vrai,  le  Beau  et  le  Bien 
(Lehrgang  von  1817,  umgearbeitet  und  veröffentlicht  1845,  17.  Ausg.  1872),  eines 
Werkes,  das  besonders  in  dem  ästhetischen  Abschnitt  eine  grosse  Beredtsamkeit 
bekundet.    Von  nun  an  war  ihm  die  Philosophie  mehr  ein  Kampf  gegen  die 
schlechten  Doctrinen,  als  eine  reine  Wissenschaft.    Er  empfahl  die  Allianz  mit 
der  Religion  und  räumte  mehr  und  mehr  dem  „sens  commun"  ein.    Mit  einem 
Wort:  er  kehrte  von  Deutschland  nach  Schottland  zurück.    Im  Allgemeinen  erklärt 
sich  die  grosse  Bedeutung  Cousins  in  Frankreich  und  selbst  in  Europa  weniger 
aus  Beiner  philosophischen,  als  ans  Beiner  hervorragenden  persönlichen  Eigentüm- 
lichkeit, aus  seinem  Einfluss  auf  eine  sehr  grosse  Zahl  von  Geistern,  aus  seiner 
unbegrenzten  und  allseitigen  Forechbegier.   Zudem  Bind  seine  Arbeiten  über  die 
Geschichte  der  Philosophie  und  insbesondere  über  das  Mittelalter  sehr  verdienstlich 


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§  46.    Philosophie  in  Frankreich  und  Belgien. 


gewesen.  —  Cousins  philosophische  Werke  bestehen  hauptsächlich  aus  seinem 
Cours,  2  seiies,  1815—20  und  1828—30,  und  seinen  Fragments  philosophiques, 
5  vol.  in  8°,  5.  Au8.  1866. 

Theodore  Jouffroy  (1796  —  1842),  der  berühmteste  unter  CousinB  Schülern, 
unterschied  sich  von  seinem  Lehrer  durch  einen  Sinn  für  Methode  und  Genauigkeit, 
der  diesem  niemals  eigen  gewesen  war.  Jouffroy  ist  niemals  von  dem  psychologi- 
schen Gesichtspunkte  abgegangen,  und  seine  vorzüglichste  I^eistung  bestand  darin, 
mit  grosser  Kraft  den  in  der  Schule  von  Cabanis  und  Broussais  verwischten 
Unterschied  zwischen  Physiologie  und  Psychologie  aufrechtzuerhalten.  Er  hat  die 
psychologische  Methode  vorzüglich  auf  die  Aesthetik  und  Moral  angewandt.  In 
der  Aesthetik  kam  er  zu  dem  Resultate,  das  Schöne  sei  der  Ausdruck  des  Unsicht- 
baren durch  das  Sichtbare;  in  der  Moral  behauptet  er,  das  Gute  Bei  die  Neben- 
und  Unterordnung  der  Zwecke.  —  Jouffroys  Hauptwerke  sind:  seine  Vorrede  zu 
der  Uebersetzung  der  moral.  Skizzen  Dug.  Stewarts,  1826,  und  der  Werke  Reids, 
1835;  Melangen  philosophiques,  Par.  1833—1842,  3.  ed.  par  Th.  Damiron,  1872; 
Cours  d'esthetique,  1843,  3.  ed.  par  Th.  Damiron  1H75;  Cours  de  droit  naturel. 
Par.  1834-1835. 

Vielfacher  Widerspruch  ward  gegen  die  cousinsche  Philosophie  erhoben,  die 
seit  1830  fast  ausschliesslich  im  öffentlichen  Unterricht  galt.  Ohne  von  den  noch 
lebenden  Schriftstellern  zu  reden,  wollen  wir  nur  zwei  Männer  nennen,  die  neue  philo- 
sophische Schulen  zu  gründen  versucht  haben:  Lamennais  und  Aug.  Comte. 

Lamennais  (s.  oben).    Nachdem  dieser  Philo?oph,  den  wir  schon  oben  unter 
dem  Namen  Abt  de  Lamennais  erwähnt  haben,  mit  der  Kirche  durch  die  berühmte 
Schrift  rParoles  d'un  croyant*  gebrochen  hatte,  versuchte  er,  eine  neue  rein  rationelle 
Philosophie  zu  begründen.    Diese  Lehre,  enthalten  in  .Esquisse  d'une  philosophie*" 
(1841-46,  auch  ins  Deutsche  übersetzt),  ist  vielleicht  die  umfassendste  Synthese,  die 
in  Frankreich  im  neunzehnten  Jahrhundert  unternommen  worden  ist.    Aber  sie 
blieb  ein  individueller  und  isolirter  Versuch  und  fand  ungeachtet  ihres  Werthes 
keinen  Adepten.    Lamennais  geht,  im  Gegensatz  zur  psychologischen  Schule,  von 
dem  Sein  überhaupt  aus  und  betrachtet  als  eine  ursprüngliche  Thatsache  das 
Zusammenbestehen  der  beiden  Formen  des  Seins:   Unendliches  und  Endliches,  die 
sich  nicht  aus  einander  ableiten  lassen.    Gott  und  das  Universum  sind  unbeweisbar. 
Das  Ziel  der  Philosophie  ist  nicht,  sie  zu  beweisen,  sondern  sie  zu  erkennen. 
Gott  oder  die  Substanz  wird  durch  drei  fundamentale  Eigenschaften  gebildet,  deren 
jede  das  ganze  Sein  ist  und  die  sich  dennoch  von  einander  unterscheiden,  so  dass 
das  Dogma  von  dem  dreipersönlichen  Gott  philosophisch  wahr  ist.    Es  giebt  zudem 
In  Gott  ein  Princip  des  Unterschieds,  ro  'irepov,  wie  Piaton  sagen  würde,  welches 
ihm  möglich  macht,  zugleich  einheitlich  und  vielfach  zu  sein.    Lamennais  versucht, 
die  drei  wesentlichen  Eigenschaften  Gottes  a  priori  zu  deduciren.    Um  zu  sein, 
sagt  er,  muss  man  zu  sein  vermögen,  daher  die  Macht.  Ausserdem  muss  man  etwas 
Bestimmtes  sein,  eine  Form  haben,  mit  Einem  Wort,  intelligibel  sein.  Im  Absoluten 
aber  unterscheidet  sich  das  Intelligible  nicht  von  der  Intelligenz.    Endlich  bedarf 
es  eines  Einheitsprincips,  welches  die  Liebe  ist.    Die  Macht  ist  der  Vater,  die 
durch  die  Macht  erzeugte  Intelligenz  ist  der  Sohn,  die  Liebe  ist  der  Geist.  Die 
Schöpfung  ist  die  Verwirklichung  der  göttlichen  Ideen  ausser  Gott.    Dieselbe  ist 
weder  eine  Emanation,  noch  eine  Schöpfung  aus  nichts.    Sie  ist  eine  Participation. 
Gott  zieht  alle  Wesen  aus  der  Substanz,  und  man  kann  nicht  voraussetzen,  dass 
es  darin  etwas  ausser  der  Substanz  geben  könne;  aber  dies  ist  nicht  eine  not- 
wendige Emanatiou,  sondern  ein  freier  Act  des  Willens.    In  dem  geschaffenen 
Universum  muss  man  die  Materie  und  die  Körper  unterscheiden.    Die  Materie  ist 
nur  die  Grenze;  sie  ist  das  göttliche  Princip  des  Unterschiedes,  äusserlich  ver- 


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§46.    Philosophie  in  Frankreich  und  Belgien.  511 


wirklicht.  Alles  Positive  in  den  Körpern  ist  Geist  Der  Geist  aber  ist  gerade 
darum,  weil  er  geschaffen  ist,  begrenzt.  Was  blosser  Unterschied  ist,  wird  in  der 
Wirklichkeit  ein  wahres  Hinderniss.  Die  Materie  ist  jedoch  nicht  ein  Nichtsein, 
sondern  eine  thatsächliche,  an  sich  unbegreifliche  Realität,  die  sich  uns  nur  als 
Schranke  des  Geistes  bekundet  Darum  ist  ein  jedes  geschaffene  Wesen  zugleich 
Geist  und  Materie;  nur  Gott  i»t  schlechthin  immateriell.  Ebenso  wie  das  Universum 
Gott  von  Seiteu  der  Substanz  als  Geist,  von  Seiten  der  Begrenzung  als  Materie 
darstellt,  stellt  es  ihn  auch  nach  seiner  dreifachen  Persönlichkeit  dar.  Die  drei 
göttlichen  Personen,  die  sich  im  Menschen  psychologisch,  physisch  aber  in  der 
Klektricität,  dem  Licht  und  der  Wärme  bekunden,  offenbaren  sich  auf  allen  Stufen 
des  Daseins  zuerst  unter  den  unentwickeltsten,  dann  unter  immer  reicheren  Formen, 
indem  sie  stets  vom  Einfachen  zum  Zusammengesetzten  fortgehen.  I^amennais  hat 
also  auf  die  Natur  das  Entwickelungsprincip  angewandt  und  hierdurch  nähert  sich 
seine  Philosophie  der  schellingschen  an. 

August  Comte  war  geboren  in  Montpellier  d.  19.  Jan.  1798;  gebildet  da- 
selbst auf  dem  Lyceum  und  der  Ecole  polytechniqne,  ging  er  1816  nach  Paris  und 
gab  hier  Privatstunden  in  der  Mathematik,  1818  wurde  er  mit  St.  Simon  bekannt, 
mit  dem  er  sich  jedoch  später  entzweite.    1826  kündigte  er  Vorträge  über  sein 
System  an,  welchen  u.  A.  A.  v.  Humboldt,  de  Blainville  beiwohnten.    In  Folge 
übermässiger  Arbeit  wurde  er  geistig  gestört,  so  dass  er  in  eine  Irrenanstalt 
gebracht  werden  musste,  auch  den  Versuch  machte,  sich  ums  Leben  zu  bringen. 
Geheilt,  nahm  er  1828  seine  Vorlesungen  wieder  auf.    1833  erhielt  er  eine  Lehrer- 
stelle an  der  polytechnischen  Schule  zu  Paris,  verlor  dieselbe  aber  nach  Ver- 
öffentlichung seines  Hnuptweikes  und  wurde  nun  bis  zum  Ende  seines  Lebens  von 
seinen  Freunden  und  Schülern  unterstützt.    Von  seiner  Frau  getrennt  lernte  er 
1845  Clotilde  de  Vaux  kennen,  die  von  ihrem  Manne  separirt  war.    Für  diese 
zeigte  er  eine  geradezu  abgöttische  und  zugleich  mystische  Verehrung,  die  sich 
auch  nach  ihrem  bald  erfolgten  Tode  bei  ihm  erhielt.    1857  d  5.  Sept.  starb  er  in 
Paris.    Von  seinen  Anhängern  wurde  er  fast  wie  ein  Heiliger  angesehen.    Er  ist 
der  Gründer  der  positivistischen  Schule  und  glaubte  selbst,  dass  man  mit  der 
positiven  Philosophie  an  dent  höchsten  erreichbaren  Ziel  angelangt   sei.  Die 
I^ehre  C'omtes,    theils   ans   den  mathematischen  und   positiven  Wissenschaften, 
theils  aus  dem  St.  Simouismus  hervorgegangen,  ist  eine  Verbindung  von  Empirismus 
und  Socialismus,  wobei  der  wissenschaftliche  Gesichtspunkt  mehr  und  mehr  über 
den  socialistischen  gesiegt  hat.   Der  Positivismus  hat,  wie  jede  Doctrin,  zwei  Theile, 
eine  pars  destrueus  und  eine  pars  construens.    Die  erstere  besteht  in  der  Negation 
jeder  Metaphysik,  jeder  Erforschung  der  ersten  Ursachen  und  der  Zwecknrsachen. 
Die  beiden  Enden  der  Dinge  sind  uns  unzugänglich;  die  Mitte  allein  gehört  uns. 
In  jenen  unlösbaren  Fragen  ist  man  seit  dem  ersten  Tage  nicht  um  einen  Schritt 
vorwärts  gelangt.     Der  Positivismus  verwirft  alle  metaphysischen  Hypothesen. 
Freilich  nimmt  er  auch  nicht  Hypothesen  in  den  Naturwissenschaften  an,  z  B. 
nicht  den  Lichtäther,  die  Ableitung  der  Wärme  etc.    Er  erkennt  den  Atheismus 
ebensowenig  wie  den  Theismus  an:  der  Atheist  ist  immer  noch  ein  Theolog.  Er 
erkennt  auch  nicht  den  Pantheismus  als  zu  Recht  bestehend  an,  der  ihm  nur  eine 
Form  des  Atheismus  ist    Der  Kampf  zwischen  der  Transscendenz  und  Immanenz 
naht  sich  seinem  Ende.    Die  Transscendenz  ist  die  Theologie  oder  die  Metaphysik, 
die  das  Uuiversum  durch  Ursachen,  welche  ausser  ihm  liegen,  erklärt  Die  Immanenz 
ist  die  Wissenschaft,  die  das  Universum  durch  Ursachen,  welche  in  ihm  liegen, 
erklärt    Der  fundamentale  Charakter  der  positiven  Philosophie  besteht  darin,  dass 
sie  alle  Phänomene  als  nothwendige  Folgen  unabänderlicher  Naturgesetze  be- 
trachtet, die  zu  entdecken  und  auf  die  möglichst  geringe  Zahl  zurückzuführen,  der 


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512 


§  46.   Philosophie  in  Frankreich  und  Belgien. 


Zweck  des  Positivismus  ist,  während  die  Untersuchungen  über  das,  was  man  Anfangs- 
oder Endursachen  nennt,  ganz  unausführbar  und  sinnlos  sein  sollen;  z.  B.  die  Vor- 
gänge im  Universum  werden  durch  das  newtonsche  Gravitationsgesetz  erklärt,  weil 
diese  Theorie  die  grosse  Verschiedenheit  der  astronomischen  Thatsachen  als  eine 
und  dieselbe  Thatsache  zeigt,  nur  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  angesehen, 
und  andererseits  sie  als  eine  einfache  Verallgemeinerung  einer  Erscheinung  sich 
darstellt,  die  äusserst  gewöhnlich  ist  und  deshalb  als  erkannt  betrachtet  wird, 
nämlich  der  Schwere  der  Körper  an  der  Oberfläche  der  Erde.  Unmöglich  ist  es 
aber,  Attraction  und  Schwere  ihrem  Wesen  und  ihren  Ursachen  nach  zu  ergründen; 
das  sind  Fragen,  welche  den  Einbildungen  der  Theologen  und  den  Spitzfindigkeiten 
der  Metaphysiker  überlassen  werden  müssen.  Beweis  dafür  ist  die  Thatsache,  dass 
so  oft  sich  Denker  mit  ihnen  abmühten,  sie  doch  nur  das  eine  Princip  auf  das 
andere  zurückgeführt  haben. 

In  der  pars  construens  besteht  der  Positivismus  kaum  aus  mehr  als  zwei 
Gedanken:  1.  einer  gewissen  geschichtlichen  Annahme,  2.  einer  gewissen 
Anordnung  der  Wissenschaften.  Allerdings  will  Comte  ein  Werk  über 
positive  Philosophie  und  nicht  über  positive  Wissenschaften  liefern.  Es  ist 
nämlich  nach  ihm  bei  der  Scheidung  der  einzelnen  Wissenschaften  und  bei  der 
Concentration  der  geistigen  Kräfte  eines  Menschen  auf  ein  enges  Gebiet  die  Gefahr 
da,  dass  eine  Isolirung  der  Wissenschaften  eintritt,  dass  keine  derselben  auf  die 
andere  Rücksicht  nimmt.  Um  dem  vorzubeugen,  ist  es  nöthig,  die  allgemeinen 
Grundsätze  der  verschiedenen  Wissenschaften  zu  bearbeiten,  jede  neue  Entdeckung 
mit  dem  allgemeinen  System  zu  verbinden.  Dies  muss  ein  besonderes  Studium 
ausmachen.  Es  ist  eine  neue  Classe  von  Gelehrten  nöthig,  die  sich  nicht  auf  die 
Pflege  einer  einzelnen  Wissenschaft  beschränkt,  sondern  die  Eigentümlichkeit  einer 
jeden  nur  betrachtet,  um  ihre  Principien  aufzufinden  und  sie  auf  die  geringste  Zahl 
zu  reduciren.  Dies  sind  die  Philosophen.  Freilich  müssen  die  Gelehrten  der  be- 
sonderen Wissenschaften  mit  dieser  allgemeinen  Wissenschaft  sich  auch  beschäftigt 
haben,  um  von  ihr  den  nöthigen  Vortheil  zu  ziehen. 

Die  geschichtliche  Annahme  ist  die,  dass  der  menschliche  Geist  nothwendig 
durch  drei  Stadien  hindurchgeht,  das  theo  logische,  metaphysische,  positive. 
Im  ersten  erklärt  der  Mensch  die  Naturerscheinungen  durch  übernatürliche  Ursachen, 
durch  persönliches  oder  willkürliches  Eingreifen,  durch  Wunder  etc.  In  der  zweiten 
Periode  ersetzt  man  die  übernatürlichen  und  menschenähnlichen  Ursachen  durch 
abstracte,  verborgene  Ursachen,  scholastische  Wesenheiten,  realisirte  Abstractionen, 
und  man  erklärt  die  Natur  a  priori;  man  sucht  sie  subjectiv  zu  construiren.  In 
dem  dritten  Stadium  begnügt  man  sich,  Verbindungen  der  Erscheinungen  durch 
Beobachtungen  festzustellen  und  durch  Experimente  hervorzurufen  in  der  Weise, 
dass  man  jede  Thatsache  mit  den  ihr  vorausgehenden  Bedingungen  verknüpft.  Diese 
Methode  hat  die  heutige  Wissenschaft  begründet  und  muss  die  Metaphysik  ersetzen. 
In  dem  Maasse,  wie  jede  Frage  der  Experimentation  fähig  wird,  geht  sie  aus  dem 
Gebiete  der  Metaphysik  in  das  der  positiven  Wissenschaft  über.  Alles,  was  nicht 
der  experimentellen  Bewahrheitung  fähig  ist,  muss  streng  von  der  Wissenschaft 
ausgeschlossen  werden. 

Nicht  nur  die  Menschheit  durchläuft  diese  drei  Stadien,  sondern  auch  das 
einzelne  Individuum;  nur  kann  diesem  durch  den  anleitenden  Unterricht  Anderer 
der  Weg  sehr  abgekürzt  werden.  Ebenso  macht  jede  einzelne  Wissenschaft  die 
drei  Stadien  durch;  es  ist  keineswegs  so,  dass  sich  die  Menschheit  zu  einem  be- 
stimmten Zeitpunkt  in  allen  Wissenschaften  auf  der  theologischen  oder  meta- 
physischen Stufe  befunden  hätte;  die  eine  Wissenschaft  geht  rascher  als  die  andere 
vorwärts. 


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§  46.    Philosophie  in  Frankreich  und  Belgien. 


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Der  zweite  Gedanke  des  Positivismus  ist  die  Eintheilung  nnd  Anordnung 
der  Wissenschaften. 

Die  Wissenschaften  sollen  nicht  etwa  auf  ihren  praktischen  Nutzen  hin  und 
wegen  desselben  getrieben  werden.  Es  entsteht  allerdings  aus  ihnen  die  Vor- 
aussicht und  aus  der  Voraussicht  das  Handeln,  aber  sie  haben  eine  erhabenere 
Bestimmung;  sie  sollen  das  fundamentale  Bedurfniss  unserer  Intelligenz,  die  Gesetze 
der  Erscheinungen  zu  erkennen,  die  Thateachen  in  eine  leicht  zu  begreifende 
Ordnung  zu  bringen,  befriedigen.  Demnach  ist  von  der  positiven  Philosophie  das 
praktische  Wissen  zu  trennen.  Man  muss  aber  auch  bei  den  rein  theoretischen 
Wissenschaften  zwei  Gattungen  unterscheiden;  die  eine  ist  allgemein  und  abstract, 
beschäftigt  Bich  nur  reit  dem  Auffinden  von  Gesetzen,  unter  welche  mehrere  Classen 
von  Vorgängen  fallen.  Die  andere  ist  beschreibend,  concret,  geht  auf  das  Besondere; 
sie  wird  mit  den  Namen  der  einzelnen  Naturwissenschaften  öfter  bezeichnet.  Comte 
hat  es  nur  mit  den  Wissenschaften  der  ersten  Art  zuthun,  zu  denen  z.  B.  die  Biologie 
gehört,  die  nur  die  allgemeinen  Gesetze  alles  Lebens  erforscht,  während  Zoologie, 
Botanik  die  besondere  Lebensweise  einzelner  lebender  Körper  festeteilen.  Die 
zweite  Ciasse  hat  die  erstere  immer  zu  ihrer  Grundlage. 

Die  Theorie  der  Anordnung  besteht  in  dem  Fortgang  vom  Einfachen  zum 
Zusammengesetzten.  Die  Basis  bildet  die  Mathematik;  dann  folgt  die  Astro- 
nomie, die  Physik,  die  Chemie,  die  Biologie  und  dieSocietätswissenschaft. 

Man  erkennt  leicht,  dass  Comte  auf  die  letzte,  die  im  4.  bis  6.  Bande  seines 
Hauptwerkes  abgehandelt  wird,  ganz  besonderen  Nachdruck  legt  Während  die 
übrigen  Wissenschaften  schon  in  das  positive  Stadium  eingetreten  sind,  wenn  sie 
auch  noch  nicht  das  metaphysische  ganz  überwunden  haben,  ist  die  Societätslehre  noch 
nicht  so  weit  vorgeschritten.  Bei  ihr  ist  die  theologische  und  metaphysische  Methode 
noch  durchaus  im  Gebrauch.  Es  muss  nun  für  einen  Hauptvorzug  der  ganzen  positiven 
Philosophie  gelten,  dass  sie  als  eine  feste  Grundlage  für  die  Umgestaltung  der 
bürgerlichen  Gesellschaft  betrachtet  werden  kann.  Die  grosse  politische  Erschütterung 
der  Gesellschaft  ist  Folge  der  geistigen  Anarchie.  So  lange  die  Meinungen  der 
Einzelnen  nicht  eine  grössere  Anzahl  von  Gedanken  als  ganz  sichere  haben,  welche 
eine  gemeinsame  Societätewissenschaft  begründen  können,  bleibt  der  Zustand  der 
Nationen  ein  revolutionärer  und  nur  vorläufiger.  Wenn  aber  die  Geister  in  den 
Principien  sich  vereinigen,  werden  sich  auch  die  Einrichtungen  ohne  Schwierigkeit 
daraus  ergeben.  Comte  bezeichnet  es  als  den  Hauptzweck  seines  Werkes  neben 
der  Auffindung  der  allgemeinen  Gesetze,  eine  Societätslehre  auf  positiver  Grund- 
lage zu  schaffen.  Die  Societätewissenschaft  untersucht  die  Gesetze  der  menschlichen 
Gesellschaft.  Die  sociale  Statik  hat  es  mit  den  allgemeinen  Bedingungen  der 
socialen  Existenz,  betreffend  das  Individuum,  die  Familie  und  die  Gesellschaft,  im 
eigentlichen  Sinne  zu  thun.  Das  Individuum  wird  zur  Gesellschaft  getrieben,  nicht 
durch  Nützlichkeiterücksichten ,  sondern  durch  den  Geselligkeitetrieb.  Die  sociale 
Dynamik  beschäftigt  sich  mit  den  allgemeinen  Gesetzen  der  socialen  Entwickelung. 
Comte  giebt  hier  eine  Art  geistreicher  und  scharfsinniger  Philosophie  der  Geschichte, 
wobei  die  drei  Stadien  für  die  intellectuelle  Entwickelung  die  Hauptrolle  spielen. 
Auf  praktischem  Gebiet  ist  der  Hauptfortschritt  der  vom  kriegerischen  zum 
industriellen  Leben.  Die  Entwickelung  des  Menschen  ist  eine  krumme  Linie,  die 
Bich  der  geraden  unendlich  nähern  kann,  aber  sie  nie  erreicht. 

Dies  sind  die  sechs  fundamentalen  Wissenschaften,  deren  jede  eine  noth- 
wendige  Vorstufe  für  die  folgende  ausmacht.  Die  Societätewissenschaft  ist  unmöglich 
ohne  die  Wissenschaft  vom  Leben,  diese  ohne  die  Chemie,  die  Chemie  ihrerseits 
setzt  die  Physik,  diese  die  Astronomie,  man  weiss  freilich  nicht  recht,  warum, 
und  die  Mathematik  voraus.  Die  Geschichte  rechtfertigt  gleichfalls  diese  durch  die 

Ueberweg-Heinze,  Grundru«  III.   7.  Anfl.  oo 


514 


§  46.   Philosophie  in  Frankreich  and  Belgien. 


Logik  bezeichnete  Ordnung.  Man  sieht,  dass  die  positivistischen  Theorien  haupt- 
sächlich auf  Gesichtspunkte  der  Methode  and  Classification  hinauslaufen.  Man  darf 
keine  Metaphysik  von  dieser  Schule  fordern,  welche  die  Möglichkeit  derselben  aus- 
drücklich verneint.    Ihre  Psychologie  ist  ein  Tbeil  der  Physiologie. 

Die  innere  Beobachtung  verwirft  Comte  vollständig,  da  sich  der  Einzelne 
während  seines  Denkens  nicht  in  zwei  Persönlichkeiten  theilen  könne,  von  denen  die 
eine  denke,  während  die  andere  beobachte.  Das  beobachtende  Organ  wäre  in  diesem 
Falle  mit  dem  beobachteten  dasselbe;  und  hiermit  schon  soll  die  psychologische 
Methode  ihrem  Priucip  nach  fallen.  Die  geistigen  Functionen  können  nur  erforscht 
werden  in  Bezog  auf  das  Organ,  das  sie  ausführt  —  damit  hat  es  die  Phrenologie 
zu  thun  —  und  auf  die  Phänomene  ihrer  Vollziehung  —  damit  hat  es  die  Natur- 
geschichte des  Menschen  zu  thun,  freilich  diese  nicht  unmittelbar  mit  der  Ausführung, 
sondern  nur  mit  den  Resultaten  derselben.  —  In  der  Phrenologie  erkennt  Comte 
die  grossen  Verdienste  Galls  an,  dessen  Princip  er  adoptirt.  Freilich  ist  hiermit 
Comtes  Philosophie  eigentlich  schon  kritisirt. 

Die  Moral  hat  nichts  Originelles;  die  Hauptsache  ist,  dass  die  Lehre  des 
persönlichen  Interesses  verworfen  und  der  Altruismus  an  deren  Stelle  gesetzt  wird. 
Eine  eigentliche  Logik  findet  sich  bei  Comte  ebensowenig  wie  eine  Aesthetik,  sowie 
man  auch  eine  Untersuchung  darüber  vermisst,  weshalb  wir  auf  Phänomene  oder 
Positives  mit  unserer  Erkenntniss  eingeschränkt  sind,  so  dass  seine  Philosophie 
höchst  unvollständig  bleibt. 

Nicht  unerwähnt  darf  bleiben,  dass  Comte  in  einem  Abschnitt  seines  Lebens, 
den  man  die  subjective  Periode  nennt,  zu  einer  religiösen  Anschauung  und  zu 
einem  wirklichen  Cultus,  dessen  Gegenstand  die  Menschheit  ist,  gelangt  war.  . 

Nach  dem  Tode  von  Clotilde  de  Vaux  nämlich  veränderte  er  seine  Philosophie 
in  Religion  und  stiftete  einen  Cultus  des  „grossen  Wesens"  nämlich  der  Menschheit. 
Diesem  Cultus  sollte  man  sich  zwei  Stunden  jeden  Tag  im  Gebete,  d.  h.  in  Aus- 
strömung der  Gefühle,  widmen,  und  Comte  setzte  neun  Sacramente  ein,  und  84  Feste 
sollten  gefeiert  werden.  Die  Ansichten  aus  dieser  seiner  subjectiven  Periode  sind 
niedergelegt  in:  Systeme  de  politique  positive  ou  traite  de  sociologie  instituaut  la 
religion  d'humanite,  Par.  1851—1854,  und  in  seinem  Catechisme  positiviste,  dem 
sich  ein  Ileiligenkalender,  Calendrier  positiviste,  1842,  anschloss. 

Dieser  Theil  seiner  Philosophie  ist  durch  den  bedeutendsten  seiner  Schüler,  Littr£, 
verworfen  worden,  der  seit  1867  eine  vollständige  Ausgabe  der  Werke  Comtes  ver- 
öffentlicht hat.  Das  wichtigste  dieser  Werke  ist  der  „Cours  de  philosophie  positive*, 
6  Bde.,  Paris  1839. 

Im  Grunde  positivistische  Anschauung  hatte  schon  vor  Comte  die  auf  dem  Ge- 
biete der  mathematischen  Wissenschaften  rühmlichst  bekannte  Sophie  Germain 
1776  —  1831,  Considerations  generale«  sur  l'etat  des  sciences  et  des  lettres  aux  diffe- 
rentes  epoques  de  leur  culture,  oeuvre  posthume  —  publice  par  L'IIerbette,  Par.  1833. 
Oeuvres  philos.  de  S.  G.  suivies  de  pensees  et  de  lettres  inedites  et  pr6ced6es  d'une 
notice  sur  sa  vie  et  ses  oeuvres  par  H.  Stupuy,  Par.  1879.  Vgl.  Hugo  Göring, 
S.  G.,  die  Vorläuferin  Comtes,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.  91, 1887,  S.  1—25, 171—185. 

Ausser  dem  oben  genannten  Jouflfroy  gehören  zu  Cousins  Schülern  Francisque 
Boui liier,  der  sich  durch  seine  umfassende  und  genaue  Darstellung  der  Geschichte 
des  Cartesianismus  verdient  gemacht  hat;  seine  anderen  wichtigeren  Schriften  sind: 
Theorie  de  la  raison  impersounelle  (1844),  de  l'unite  de  l'äme  pensante  et  du  prin- 
cipe vital  (1858),  le  principe  vital  et  l'äme  pensante  (1862  ,  2.  edit.  1873),  de  la 
conscience  en  psychol.  et  en  morale  (1872),  du  plaisir  et  de  la  douleur,  Paris  1877 ; 
J.  E.  AI  aux,  l'analyse  metaphysique.  Methode  pour  constitucr  la  phil.  premiere, 
Paris  1872.  Andere,  wie  Ravaisson  (s.  E.  Danriar,  H.  R.  philosophe  et  critique, 


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§  46.   Philosophie  in  Frankreich  und  Belgien. 


515 


in:  La  crit.  philos.,  nouv.  s.,  I,  17,  1885,  S.  34—55),  Haureau,  Remusat,  Da- 
miron,  Saisset,  Janet,  J.  Simon,  sind  durch  Cousin  besonders  zu  kritischen 
Studien  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie  angeregt  worden.  Emile 
Saisset,  der  Uebersetzer  des  Spinoza,  hat  auch  einen  Essai  de  philos.  religieuse, 
Paris  1859,  ferner:  le  scepticisme,  Aenesidcme,  Pascal,  Kant,  Paris  1865,  2.  ed. 
Paris  1867,  erscheinen  lassen.  Paul  Janet  hat  den  büchnerschen  Materialismus 
einer  Kritik  unterworfen:  le  materialisme  contemporain  en  Alleraagne  (bildet  einen 
Theil  der  Bibliotheque  de  phil.  contemporaine) ,  Paris  1864,  engl,  von  G.  Masson, 
London  1866,  deutsch  von  K.  A.  v.  Reichlin  -  Meldegg  m.  einem  Vorwort  von 
I.  Herrn.  Fichte,  Paris  und  Lpzg.  1866),  auch  eine  philosophie  du  bonheur,  Paris 
1862,  3.  edit.  1868,  verfasst,  ferner:  la  famille,  lecons  de  phil.  morale,  1855,  6.  ed. 
1865;  la  crise  pbilosophique:  Taine,  Renan,  Littre  et  Vacherot,  1865;  le  cerveau 
et  la  pensee,  Paris  1867;  Elements  de  morale  1869;  Hist.  de  la  science  politique 
dans  ses  rapporta  avec  la  morale,  3.  ed.,  Paris  1887  (1.  ed.  u.  and.  Tit.  1858);  les 
problemes  du  XJX.  siecle  1872,  2.  ed.  1873;  la  morale,  1874;  Philosophie  de  la 
revolution  francaise,  Paris  1875  u.  oft.,  les  causes  finales,  Paris  1877.  E.  Caro, 
der  über  Goethes  Philosophie  geschrieben  hat,  hat  auch  verfasst:  le  materialisme 
et  la  science,  Paris  1867;  vgl.  Caros  Vortrag:  la  finalite  instinctive  daus  la  nature, 
in  der  Zeitschrift:  Annuaire  philosophique,  herausg.  von  L.  A.  Martin,  Paris  1869, 
S.  253—262.  Um  die  Kenntniss  der  Geschichte  der  alten  Philosophie  haben  sich 
Ravaisson,  Thurot  und  Jules  Simon  (der  auch  le  devoir,  Paris  1854,  la  religion 
naturelle,  1856,  la  liberte  de  conscience,  1857,  und  Anderes  geschrieben  hat),  um 
die  Geschichte  der  mittelalterlichen  Philosophie  R6musat  und  Haureau,  um  die  der 
neueren  unter  Anderen  Damiron  und  Chr.  Bartholmess  (1818— 1856)  verdient  ge- 
macht. Ausser  den  früher  citirten  Schriften  des  Letzteren  sei  hier  noch  erwähnt 
die  im  theistischen  Sinne  verfasste  Histoire  critique  des  doctrines  religieuses  de  la 
philosophie  moderne,  Strassb.  1855.  Von  dem  um  die  Erklärung  des  plat.  Timaeus 
verdienten  Th.  H.  M  artin  ist  die  Schrift:  les  Bciences  et  la  philosophie,  Paris  1869, 
verfasst  worden. 

Besonders  durch  den  kantischen  Kriticismus  ist  der  Standpunkt  von  Charles 
Renouvier  bedingt,  Essai  de  critique  generale,  Paris  1854,  Science  de  la  morale, 
St.  Cloud  1869:  unter  seiner  Direction  und  in  seinem  Geiste  wirkt  seit  1872  die 
Wochenschrift:  la  Critique  philosophique,  politique,  scientifique,  litteraire.  Pierre 
Leroux,  der  eine  Refutation  de  l'eclecticisme ,  Paris  1839  und  eine  Schrift:  de 
Thumanite,  Paris  1840,  verfasst  hat,  hat  (wie  auch  Proudhon,  1809—1865,  dessen 
Ijeben  C.  A.  Saint- Beuve  (1872)  beschrieben  hat)  in  seine  socialistische  Doctrin 
manche  aus  der  deutschen  Philosophie,  insbesondere  aus  dem  Hegelianismus  stam- 
mende Gedanken  aufgenommen.  Mit  den  philosophischen  Problemen  berühren  sich 
vielfach  die  national-ökonomischen  Untersuchungen  Bastiata  und  Anderer. 

Der  Einfluss  deutscher  Speculation  bekundet  sich  in  mehrfachem  Betracht  bei 
Ernest  Renan,  dem  Verf.  der  Vie  de  Jesus,  Paris  1863,  wie  auch  werthvoller 
Schriften  zur  mittelalterlichen  Philos.,  s.  o.  Bd.  II,  la  reforme  intellectuelle  et 
morale,  2.  ed.,  Par.  1872,  Phil,  de  l'art,  2.  ed.  1872,  Dialogues  et  Fragments  Philo- 
sophiques,  Paris  1876,  übers,  von  K.  v.  Zdekauer,  Lpzg.  1877.  Er  kennt  die  kritische 
Philosophie  und  hat  eine  gewisse  Hinneigung  zu  den  Hauptsätzen  Hegels;  die 
Entwickelung  der  Welt  ist  nicht  ein  blosses  Spiel,  vielmehr  ist  Herrschaft  der 
Vernunft  Endzweck  der  Welt,  auch  die  Aufgabe  des  Menschen  besteht  in  der  Bildung 
der  Vernunft.  H.  Taine,  Philos.  der  Kunst,  deutsch  2.  Ausg.  Lpz.  1885,  de  Tin« 
telligence,  4.  edit.,  Paris  1883,  deutsch  in  2  Bdn.  von  L.  Siegfried,  Bonn  1880,  der 
auf  Grund  psychologischer  Untersuchungen  eine  Art  Erkenntnisslehre  giebt.  Jules 
Michelet(Bible  de  l'humanite,  Paris  1864).  Ferner  sind  hier  zu  nennen :  Ch.Wad- 

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§  46.   Philosophie  in  Frankreich  and  Belgien. 


dington,  Die  Seele  des  Metischen,  dentsch  von  Ferd.  Moesch,  Lpz.  1880,  nach  welchem 
die  Seele  des  Menschen  eine  spirituelle  Substanz  iBt  1  Vach e rot  (vgl.  üb.  ihn 
G.  Seattles,  Philosophes  contemporains,  Vach.,  in:  Rcv.  phil.,  1880,  Bd.  9,  S.  21—46, 
196—209),  la  raätaphysique  et  la  science,  Paris  1868,  2.  6d.,  Pari»  1862,  la  science 
et  la  conscience,  1872,  Essai  de  philos.  critique,  la  religion.  Th.  Ribot,  welcher 
die  Revue  philos.  herausgiebt,  beschäftigt  sich  besonders  mit  genauen  Forschungen 
auf  psychologischem  Gebiete,  l'h6redite  psychologique ,  Par.  1882,  les  maladies  de 
la  memoire,  ins  Deutsche  übertragen,  Hamb.  u.  Lpz.  1882,  les  maladies  de  la  volonte, 
ebd.  1883  u.  öfter,  les  maladies  de  la  personnalite,  ebd.  1885.  Zahlreiche  Empfindungen, 
Vorstellungen,  Triebe  u.  s.  w.  constituiren  das  Ich.  Auf  dem  ethischen  und  ästhe- 
tischen Gebiet  hat  M.  Guy  au  gearbeitet,  les  problemes  de  l'esthetique  contemporaine, 
Esquisse  d'une  morale  sans  Obligation  ni  sanction,  l'irrGligion  de  l'avenir,  Etüde 
de  sociologie. 

Jean  Bordas  Demoulin  (1798 — 1859)  hielt  an  den  Lehren  von  der  Schöpfung, 
dem  Sündenfall  und  der  Erlösung  fest,  erstrebte  aber  dabei  eine  philosophische  Er- 
neuerung des  Christenthums,  einen  Fortschritt  der  Völker  zu  der  christlichen  Brüder- 
lichkeit und  Einheit  unter  der  Herrschaft  der  Wahrheit  mit  Vernunft  Es  sollte 
so  der  Cartesianismus  modernisirt  werden.  Le  Cartesianisme  ou  la  veritable  Inno- 
vation des  sciences,  ouvr.  couronne  de  l'instit. ,  suivi  de  la  theorie  de  la  substance 
et  Celle  de  l'infini  par  Bordas  D.,  precedö  d'un  discours  sur  la  reformation  de  la 
Philosophie  au  XIX.  s.  par  F.  Huet,  Par.  1843,  Melanges  philos.  et  relig.,  2  vols., 
Par.  1846,  Oeuvres  posthumes  de  B.  D.,  Par.  1861.  S.  üb.  B.  D,  E.  de  Vernejoul, 
un  essai  de  renovation  philos.  et  relig.  au  XIX.  s.,  Montaub.  1884,  auch  unt  Huet.  — 
Der  ThomismuH  war  schon  vor  der  Encyclica  Leos  XIII  in  Frankreich  gepflegt, 
so  von  M.  Rosset  u.  A.  Ans  neuester  Zeit,  in  welcher  der  Rückgang  auf  Thomas 
stark  zu  bemerken  ist,  seien  als  Vertreter  der  Scholastik  genannt:  M.  Dornet 
de  Vorges,  Essai  de  metaphys.  posit.,  Par.  1883,  R6gnon,  S.  J.,  Metaphys.  des 
causes  d'apres  St.  Th.  et  Albert  le  Grand,  Par.  1886,  de  lo  Boui  llerie,  L'homme, 
sa  nature,  son  äme  etc.  d'apres  la  doctr.  de  St.  Th.,  Par.  1880.  Der  kirchlichen 
Richtung  dient  die  Zeitschrift:  Etudes  religieuses,  philosophiques,  historiques  et 
litterairea,  in  der  z.  Th.  gute  Arbeiten  erscheinen. 

In  Belgien  herrscht  an  der  Universität  zu  Brüssel  der  Krauseanismus,  früher 
durch  Ahrens,  jetzt  durch  Tiberghien  u.  A.  vertreten.  Leroy  in  Lüttich  hat 
eine  Schrift  über  die  Philosophie  im  Lütticher  Lande  während  des  17.  und  18.  Jahr» 
hunderts  verfasst.  Liege  1860.  Alphons  K  ersten  in  Lüttich  (gest.  1863)  hat  gegen 
Bonaids  Lehre  von  dem  Geoffenharteein  der  Sprache  den  natürlichen  Ursprung  der- 
selben behauptet  In  Gent  war  Huet  ein  eifriger  Schüler  von  Bordas  Demoulin. 
la  science  de  l'esprit,  Paris  1864,  la  revolution  religieuse  au  XIX.  siecle,  Paris 
1867,  nouv.  ed.  1871,  deutsch  von  M.  Hess,  Leipz.  1868.  Huets  Schüler  war  wiederum 
Callier  (gest.  1863).  Der  hierauf  in  Lüttich  lehrende  Joseph  Delboeuf  hat  sich 
mit  Untersuchungen  zur  Philosophie  der  Mathematik,  zur  Logik  und  zur  Theorie 
de*  Sinneswahrnehmung  beschäftigt,  Prolegomenes  philosophiques  de  la  geometrie 
et  Solution  des  postulats,  Liege  1860.  Kssai  de  logique  scientifique,  prolegomeues 
suivi s  d'une  etude  sur  la  question  du  mouvement  considerce  dans  ses  rapporis  avec 
le  principe  de  contradiction,  Liege  1865.  Theorie  generale  de  la  Sensibilite,  Brüx. 
1876.  La  Psychologie  comme  science  naturelle,  Brüx.  1876.  Logique  algorithmiqoe. 
Brüx.  1877.  Psychophysique  1882.  Exam.  crit  de  la  loi  psychophys.,  1883.  De 
l'origine  des  effets  curatifs  de  l'bypnotisme,  1887.  Abhandlungen  in  den  Bulletins 
der  Brüsseler  Akademie  über  Sinnestäuschungen,  über  die  Tonscala.  Delboeufs  Nach- 
folger in  Gent,  Oscar  Merten,  ein  Schüler  Leroys,  hat  eine  Schrift  de  la  gene- 
ration  de  systemes  philosophiquea  sur  l'homme,  Brüx  1867,  verfasst.   In  Löwen 


§  47.    Philosophie  iu  England  nnd  Nord- Amerika. 


517 


vertrat  Ubaghs  im  Anschlags  an  Bonald  einen  Bupranaturalistischen  „Ontologismus", 
der  jedoch,  wie  in  Deutschland  der  Güntherianismus,  in  gewissen  Beziehungen  der 
Kirche  Anstoss  gab  und  besonders  durch  die  Jesuiten  bekämpft  wurde,  welche 
Letzteren  auch  in  Namur  und  Gent  philosophischen  Unterricht  ertheilen.  Nach 
Ubagha  Abgange  lehrt  der  Abt  Cartuyvels  Philosophie  in  Löwen.  Lefebure, 
Traite  elementaire  de  Logique,  vertritt  die  thomistische  Lehre.  Von  grosser  philo- 
sophischer Bedeutung  sind  Laurents  völkerrechtliche  und  culturhistorische  und 
A.  Quetelets  criminal-  und  überhaupt  moral- statistische  Untersuchungen,  sur 
l'homme  et  le  developpement  de  ses  facultes,  ou  Essai  de  physique  sociale,  2  Bde., 
Par  1835,  deutsch  von  Riecke,  Stuttg.  1835  (über  Quetelets  Schriften  zur  Social- 
statistik  u.  Anthropol.  s.  G.  F.  Knapp  in  den  Jahrbüchern  für  Nationalökon.  u. 
Statistik.  9.  Jahrg.  Bd.  II,  1871  S.  342-358,  427—445,  10.  Jahrg.  Bd.  I,  S.  89—124). 

Unter  den  der  Schweiz  angehörenden  in  französischer  Sprache  schreibenden 
Philosophen  zählen  zu  den  namhaftesten  der  reformirte  Theolog  Alexandre  Vinet 
(1797—1847),  der  u.  a.  Essai  de  phil.  morale  et  de  morale  religieuse,  Paris  1837, 
Etüde  sur  Blaise  Pascal,  2.  6d.  Par.  1856,  Moralistes  du  16.  et  17.  siecle,  Paris 
1859,  Hist.  de  la  litt,  franc.  au  18.  siecle,  Paris  1853,  au  19.  siecle,  2.  ed.  Paris 
1857,  geschrieben  hat,  Secretan  in  Lausanne  (s.  o.  S.  434),  der  eine  Philos.  de 
la  liberte,  2.  ed.  1872,  eine  Philos.  de  Leibniz,  Recherches  de  la  methode  und 
Pr6cis  de  philosophie  verfasst  hat.  Secr.  betrachtet  das  Gewissen  als  Kriterium  der 
Wahrheit,  und  Em.  Nävi  11  e  in  Genf,  la  vie  «tternelle,  le  probleme  du  mal,  la 
logique  de  l'hypothese. 

§  47.  In  England  und  Schottland  blieb  das  philosophische 
Interesse  vorwiegend  empirisch-psychologischen,  methodologischen, 
moralischen  und  politischen  Untersuchungen  zugewandt.  Mit  kanti- 
schen Lehren  verband  die  schottische  Philosophie  William  Hamilton. 
Die  Nützlichkeitstheorie  hat  auf  dem  Gebiete  der  Moral  besonders 
betont  Bentham.  Der  Positivismus,  zum  Theil  an  llume  und  andere 
philosophische  Denker  anknüpfend,  hat  sich  bedeutende  Anhänger 
erworben,  so  John  Stuart  Mi  11  und  Lewes.  Der  positivistischen  sowie 
der  darwinschen  Richtung  steht  sehr  nahe  Herbert  Spencer,  der  an 
einem  alle  philosophischen  Disciplinen  umfassenden  System  gearbeitet 
hat  und  in  England  selbst  hohes  Ansehen  geniesst.  Die  Richtungen, 
welche  die  Unerkennbarkeit  des  Uebersinnlichen  betonen,  werden  zu- 
sammengefasst  unter  dem  Namen  Agnosticismus.  —  Doch  ist  auch 
in  England  der  Einfluss  des  deutschen  Idealismus  unverkennbar. 

In  Nord -Amerika  ist  die  Philosophie  besonders  in  ihrer  Be- 
ziehung zur  Politik  und  Theologie  betrieben  worden  und  folgt  in  der 
Moral  und  andern  Disciplinen  den  von  England  und  Schottland 
kommenden  Einflüssen,  soweit  sie  speculativ  wird,  namentlich  denen 
des  deutschen  Idealismus.  Als  ein  selbständiger  Denker  in  Nord- 
Amerika  aus  dem  vorigen  Jahrhundert  ist  Jonathan  Edwards  zu 
nennen. 

Ueber  die  neuere  Philosophie  in  Gross-Britannien  handeln:  Dav.  Masson, 
rec.  British  philosophy,  Lond.  1865,  2.  ed.  1867.  W.  W  he  well,  Lcetnres  on  the  hist. 
of  moral  ph.  in  England,  new  ed.,  Lond.  1868.    J.  M.'  Cosh,  present  State  of  moral 


518 


§  47.   Philosophie  in  Eugland  und  Nord- Amerika. 


ph.  in  England,  Lond.  1868  (speciell  über  Hamilton  und  Mill).  Thomas  Collyns  Simon, 
Qber  den  gegenw.  Zustand  der  metaphys.  Forschung  in  Britannien,  in  der  Zeitschr.  für 
Philos.,  Bd.  53,  1868,  S.  248—272.  Renouvier,  de  l'euprit  de  ia  phil.  anglaise,  in: 
La  Critique  philosophique,  1872,  No.  25,  32,  1873  No.  2.  Tb.  Ribot,  la  psychoL  anglaise 
contemporaine  (Ecole  experimentale),  Paris  1870,  ins  Engl,  übersetzt  u.  d.  T.:  English 
psychology,  an  analysis  of  the  viewa  of  Hartley,  James  Mill,  Herb.  Spencer,  A.  Bain, 
G.  H.  Lewes,  Sam.  Bailey  and  J.  S.  Mill,  Lond.  1874.  Röder,  neuere  Rechtsphil,  in 
England,  in:  Ztschr.  f.  d.  ges.  Staatsw.,  29.  Bd.,  1873,  S.  213—232.  James  M.'Cosh, 
the  Scottish  phil.  biographical,  expoaitory,  critical,  from  Hutcbeson  to  Hamilton,  Lond. 
1874.  Zur  Kenntniss  des  gegenw.  Zust.  der  Philos.  in  England  liefert  die  Zeitschrift: 
Mind,  a  quarterly  review  of  psychology  and  philosophy  edited  by  6.  C.  Robertson,  seit 
1876,  6ebr  werthvolle  Beiträge  (Philosophy  in  London,  Ph.  at  Dublin,  Ph.  at  Oxford, 
Ph.  in  the  Scottish  Universities),  sowie  für  die  Kenntniss  der  gegenw.  Philos.  iu 
Amerika:  „The  Journal  of  speculative  Philosophy",  St.  Louis  1867  ff.  (vgl. 
G.  Stanley  Hall,  Philos.  in  the  United  States,  in:  Mind,  Bd.  4,  1879).  Gut  orientirt 
über  die  englische  und  nordamerikanische  Philos.  mit  sehr  reichen  Litteraturangaben 
der  von  Noah  Porter  verfasste  Appendix  I  zu  der  englisch.  Uebersetz.  dieses  Grund- 
risses durch  Geo.  S.  Morris,  Vol.  II,  1875,  S.  348—460.  Die  Partien  üb.  nordamerik. 
Philos.  auch  ins  Deutsche  übertragen,  Philos.  Mouatsh.,  1875,  S.  368  ff.,  424  ff., 
472  ff.  Ueber  d.  englischen  Logiker  s.  M.  Lindsay  in  dem  seiner  engl.  Uebers.  der 
Log.  Ueberweg«,  Lond.  1871,  beigefügten  Appendix  A:  On  recent  logieal  speculation 
in  England.  Louis  Liard,  les  Logiciens  anglais  contemporains ,  Paris  1878,  ins 
Deutsche  übersetzt  unter  dem  Titel:  d.  neuere  englische  Logik  v.  J.  Imelmann,  Berl. 

1880,  2.  Aufl.,  Lpz.  1883.  A.  Riehl,  d.  englische  Log.  der  Gegenw.  in:  Vierteljahrsschr. 
f.  wiss.  Philos.,  Bd.  I,  1876.  Ueber  d.  engl.  Ethik  s.  Guyau.  la  Morale  Anglaise 
i-ontemporaine:  Morale  de  l'utilite  et  de  l'evolution,  Paris  1879.  L.  Carrau,  Moralistes 
Anglais  contemp.,  in:  Revue  philos.,  T.  5.,  1878;  ders.,  la  philos.  religieuse  en  Angleterre 
depuis  Locke  jusqu'ä  nos  jours,  Par.  1880.  Bernh.  Pünjer,  der  Positivism.  in  d. 
neueren  Ph.  II.  Englische  Philosophie:  Stuart  Mill  u.  Herb.  Spencer,  in:  Jahrbb.  f. 
protest.  Theol.  Jahrg.  4,  1878,  S.  240—272,  434—481;  über  einzelne  engl.  Philos.  s. 
Funck  Brentano,  les  sophistes  grecs  et  les  sophistes  contemporains  (Stuart  Mill  u.  Herb. 
Spencer),  Paris  1879. 

Ueber  James  Mill  Grg.  Spencer  Bower,  Hartley  a.  J-  M.  (Engl,  philos.),  Lond. 

1881.  A.  Bain,  J.  M.,  a  biographv,  Lond.  1882.  H.  Marion,  J.  M.  d'apres  les  recherches 
de  Bain,  in:  Rev.  philos.  XVI,  1883,  S.  563—580.  Ueber  Hamilton,  O.  W.  Wight, 
The  philosophy  of  Sir  VV.  H.,  New-York  1853,  3.  ed.  1855.  K.  Ulrici,  Engl.  Philo- 
^phie,  S.  W.  H.,  in:  Zt*chr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.  1855,  S.  59—97.  H.  L.  Mansel, 
the  philosophy  of  the  Couditioned:  Sir  W.  H.  and  J.  S.  Mill,  Lond.  1865.  M.  Veitch, 
Memoir  of  Sir  W.  IL,  Lond.  1869;  ders.,  Ham.  in:  Philos.  classics  f.  engl,  read., 
Edinb.-Lond.  1882;  ders.,  W.  H.,  the  man  and  his  philos.,  two  leciures,  Lond.  1883. 
W.  H.  S.  Monck,  Sir  W.  H.,  Engl,  philosophers,  Lond.  1881.  D.  Sehr.  v.  J.  Latimer 
s.  ob.  b.  Reid.  Die  Krit.  Mills  an  H.  s.  sogleich  u.  Die  Hauptschriften  von  Alex. 
Bain  sind:  The  senses  and  the  intellect,  Lond.  1855  u.  ö.,  On  the  study  of  character, 
Lond.  1861,  Mental  and  moral  science,  Lond.  1868  u.  ö.,  Logic  deduetiv  and  induetiv, 
Lond.  1871,  Mind  and  body,  the  theories  of  their  relation,  Lond.  1873,  deutseh  in  d. 
Internat.  Bibl.,  Lpz.  1874,  2.  Aufl.  1881,  Practical  essavs,  Lond.  1884.  Ueb.  ihn 
A.  Macchia,  A.  B.  e  la  liberta  del  volere,  in:  La  filos.  dell'e  sc.  Ital.,  XXXI,  1885. 

In  England  und  Schottland  sind  die  psychologischen  Untersuchun- 
gen von  Reid,  Stewart,  Brown  und  Anderen  fortgesetzt  worden  von  James  Mill, 
Analysis  of  human  mind,  2  voll.,  Lond.  1829,  James  Abercomby,  Inquiries  con- 
cerning  the  intellectnal  powers  and  the  investigat.  of  truth,  Edinb.  1830  and  ö., 
auch  Lond.  1869,  on  the  moral  feelings,  zuletzt  Lond.  1869,  Chenevix,  an  essay 
upon  national  character,  Lond.  1831,  John  Young,  Lectures  on  the  intellectnal 
philosophy,  Glasgow  1835,  J.  Douglas,  on  the  philosophy  of  the  mind,  Edinb.  1839, 
namentlich  von  Sir  William  Hamilton,  Discussions  on  philosophy  and  literature, 
education  etc.,  London  1852,  3.  ed.,  ebd.  1866,  on  trnth  and  error,  Cambridge  1856, 
Lectures  on  metaphysics  and  logic  edited  by  Mansel  and  Veitch,  4  vols.,  Lond.  1859 
bis  1860.  Geb.  1788  zu  Glasgow,  seit  1821  Professor  der  Geschichte  in  Edinburg, 
seit  1836  der  Logik  und  Metaphysik,  gestorben  zu  Edinburg  1856,  wusste  er  der 


§  47.   Philosophie  in  England  und  Nord-Amerika. 


519 


schottischen  Philosophie  wieder  Ansehen  zu  verschaffen,  indem  er,  genau  bekannt 
mit  der  Philosophie  aller  Zeiten,  sich  zwar  an  die  früheren  Schotten  anschlosa  und 
besonders  die  empirische  Richtung  derselben  theilte,  aber  doch  Kants  Lehren  be- 
deutenden Eiufluss  auf  seine  eigene  Doctrin  gestattete.  Die  Psychologie  spielt  bei 
ihm  die  Hauptrolle,  und  zwar  soll  sie  zuerst  als  Phänomenologie  alle  Erscheinungen 
und  Aeusserungeu  des  Geistes  aufweisen ,  sodann  erforscht  sie  als  Nomologie  die 
diesen  Erscheinungen  zu  Grunde  liegenden  Gesetze  und  zu  dritt  zieht  sie  als  On- 
totogie oder  Metaphysik  aus  diesen  gefundenen  Gesetzen  Folgerungen  betreffs  des 
Wesens  des  Geistes.  Die  Grundlagen  für  unsere  ganze  Philosophie  sind  die  ur- 
sprünglichen Thatsuchen  unseres  Bewusstseius  (common  sense).  Es  unterscheiden 
sich  diese  von  anderen  Annahmen  durch  ihre  Einfachheit,  Notwendigkeit,  unbe- 
dingte Allgemeinheit.  Die  Existenz  der  äusseren  Welt  wird  uns  nur  dadurch  glaub- 
haft, dass  wir  ihrer  als  einer  existirenden  unmittelbar  inne  werden.  Da  das  Be- 
wusstseiu  aber  auf  der  Erfahrung  fusst  und  auf  die  Erfahrung  sich  beschränkt,  haben 
wir  von  dem  Absoluten,  dem  Unendlichen,  d.h.  der  Gottheit,  kein  Wissen,  nicht 
einmal  eine  Vorstellung  können  wir  von  Gott  haben..  Die  Relativität  unseres  Wis- 
sens beruht  auf  der  Relativität  der  Dinge  selbst  und  diese  auf  der  Cnterschiedenheit 
derselben.  Diese  allgemeine  ünterschiedenheit  ist  eine  Bedingung  des  Bewusstseius, 
insofern  sie  sich  sogleich  zeigt  in  der  Differenz  von  Ich  und  Nicht-Ich,  wie  in  der 
Differenz  der  bewussten  Zustände  von  einander.  —  Die  Logik  fasst  Hamilton  im 
Sinne  Kants  als  formale  Wissenschaft  von  den  Gesetzen  des  Denkens,  die  von  dem 
Inhalt  der  Erkenntnisse  ganz  absehen  muss.  —  Als  Schüler  Hamiltons,  der  von 
Manchen  für  den  bedeutendsten  englischen  Philosophen  dieses  Jahrhunderte  ange- 
sehen wird,  gelten  M.  Veitch,  H.  L.  Manael,  Metaphysics  or  the  philos.  of  the 
consciousuess,  2.  ed.  Edinb.  1870,  u.  A. 

Zu  den  bedeutendsten  psychologischen  Leistungen  gehören  die  Schriften  von 
Alexander  Baiu,  nach  welchem  geistige  und  physische  Prozesse  gleichen  Schritt  mit 
einander  halten  wie  unzertrennbare  Zwillinge.  Auch  verdient  genannt  zu  werden 
J.  Sully,  Verfasser  von  Outliues  of  Psychology  with  reference  to  the  theory  ofedu- 
cation,  Lond.  1884,  u.  a.  Schriften.  Für  eine  besondere  Seite  der  Psychologie  ist 
noch  zu  erwähnen  H.  Maudsley,  the  physiol.  and  pathol.  of  mind,  Lond.  1867  u.  oft. 

Das  Hauptwerk  Stuart  Mills  ist:  A  System  of  Logic,  rationative  and 
induetive,  being  a  connected  view  of  the  principles  of  evidenee  and  the  methods  of 
scientific  investigation,  Lond.  1843  u.  f».  ins  Deutsche  übertragen  von  J.  Schiel,  Braun- 
schweig 1849  u.  oft.  Principles  of  political  economy  with  sorne  of  their  applications  to 
social  philosophv,  2.  vols.,  1848.  Essay  on  liberty,  1859.  Utilitariauism.  1868.  An 
examination  of  Sir  William  Hamiltons  phil.  Loud.  1865  u.  oft.  Nach  Mills 
Tod  erschien  Nature,  the  Utility  of  religion  and  theisro,  Lond.  1874.  Colleeted  works, 
ed.  by  Sir  W.  Hamilton,  11  vols.,  Lond.  1873.  Ges.  Werke,  autoris.  l'ehersetzg.,  her- 
auag.  von  Th.  Gompertz,  Lpz.  1869  ff.  Die  Autobiographie  M.'s,  Lond.  1873,  deutech 
von  Karl  Kolb,  Stuttg.  1874,  vgl.  J.  E.  Cairnes,  .1.  S.  Mill.  notice  of  his  life  and  works, 
Loudon  1873.  Leb.  St.  Mill  s.  ausser  Mansels  oben  erwähnter  Schrift  .1.  M.'Cosh,  an 
examination  of  J.  S.  Mill'»  philosophv,  being  adefence  of  fundamental  truth,  Lond.  1866, 
2.  Aufl.  1877.  W.  Stebbtng,  Analvsis  of  Mill's  System  of  Logic,  2.  ed.  Lond.  1867. 
Kin  scharfer  Angriff  auf  Mills  Logik  findet  «ich  von  Stanley  Jevons  in  der 
Contemporary  Review,  Dec.  1877,  Jan.  u.  April  1878.  S.  auch:  J.  Imelmann,  Stanley 
Jevons  üb.  J.  St.  M.,  in:  Philos.  Monatsh.  1879,  S.  128  — 145.  H.  Taine,  le  posi- 
tivisme  angluis,  etude  sur  Stuart  Mill  (in  der  Bibl.  de  philos.  contemporaine),  Puris  18G4. 
Artikel  von  Bain,  in:  Mind,  Lond.  1879  u.  1880,  auch  selbständig  erschienen,  London 
1882.  Courtney,  the  metaphysics  of  J.  S.  Mill,  Lond.  1879.  L.  Carrau.  le  dualisnie  de 
St.  Mill,  in:  Kevue  philo».,  Bd.  8,  1879,  S.  139  bis  15G.  Henry  Gast,  la  religion  daus 
S.  M.,  Montauban  1882.  A.  Galasso,  della  conciliazione  den"  egoismo  coli'  altruisnio 
seeondo  J.  St.  Mill,  Nupoli  1883.  G.  Zuccante,  del  determinismo  di  J.  St.  Mill,  in: 
La  tiloH.  delle  sc.  Ital.,  1885,  Vol.  30.  H.  Lauret,  Philos.  de  St.  M.,  Par.  1886.  Leber 
Mill's  Examination  of  W.  Harn.  vgl.  u.  a.  George  Grote,  Review  of  the  work  of  J.  St. 


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520 


§  47.    Philosophie  in  England  und  Nord-Amerika. 


M.  etc.,  Lond.  1868,  besonders  abgedr.  aus  Westminster  Review,  Jan.  1868,  Herb. 
Spencer,  Mill  versus  Harn.,  in:  The  fortnightly  Rev.  for  July  15,  1865.  Vom  berkeleysch. 
Standp.  aus  ist  durch  T.  CoUyna  Simon  verf. :  Ham.  versus  Mill,  3  Hefte,  Edinb.  1866, 
1868.  _  Ueb.  Bradley  s.  B.  Bnsanquet,  Knowledge  a.  Realirv,  a  eriticism  of  Bradlevs 
Pr.  of  L.,  Lond.  1885,  Lasson,  in:  Phil.  Monatsh.  23,  1887.  ' 

Ueber  die  Methode  der  wissenschaftlichen  Forschung,  insbesondere 
der  Naturforschung,  handeln:  der  Astronom  John  Berschel,  a  preliminary  dis- 
course  on  the  study  of  natural  philosophy,  London  1831  (deutsch  von  Weinlig,  Lpz. 
1836),  ferner  Will.  W  he  well,  der  kantianisirende  Verfasser  einer  trefflichen  ilistory 
of  the  inductive  sciences,  1837  u.  ö.  (deutsch  von  Littrow,  1839—42),  in  seiner 
Philosophy  of  the  inductive  sciences,  founded  upon  their  history,  London  1840, 
u.  ö.  mit  dem  entschiedensten  Erfolge  aber  John  Stuart  Mill.  Dieser  war  1806  in 
London  geboren,  wurde  besonders  von  seinem  Vater  James  Mill  unterrichtet.  Ge- 
waltigen Eindruck  machte  auf  ihn  die  Leetüre  von  Beuthams  Hauptwerk.  Er 
stiftete  schon  als  17jähriger  Jüngling  eine  „utilitarische  Gesellschaft*  junger  Leute, 
worin  Vorträge  über  das  Princip  der  Nützlichkeit  gehalten  wurdeu,  und  von  der 
Bich  die  Bezeichnung  „Utilitarier*  herschreibt.  1823  wurde  er  Seeretair  im  India- 
house  und  blieb  dies  35  Jahre,  1866—1868  war  er  als  Mitglied  des  Unterhauses 
thätig,  1873  starb  er  in  Avignon.  Grossen  Einfluss  auf  ihn,  auch  auf  seine  wissen- 
schädlichen  Arbeiten,  hat  Mrs.  Taylor  ausgeübt,  die  nach  dem  Tode  ihres  Gatten 
1851  seine  Frau  wurde.  —  Die  Absicht  seines  Hauptwerkes,  seiner  Logik,  war, 
die  Methoden  auszubilden,  deren  Anwendung  einen  wirklichen  Fortschritt  in  den 
Wissenschaften  herbeiführen  könnte.  Die  eigentliche  Methode  für  alle  Wissen- 
schaften ist  nun  die  Induction,  sogar  der  Syllogismus  ist  eine  Art  Induction. 
Mit  dieser  Induction  ist  der  volle  Empirismus  gegeben;  indem  auch  die  Mathe- 
matik auf  Erfahrung  beruhen  soll,  und  die  ihren  Sätzen  zugeschriebene  besondere 
Gewissheit  (Kant)  entschieden  in  Abrede  gestellt  wird.  Irgend  etwas  der  Seele 
Apriorisches  giebt  es  nicht.  Das  Fundament  für  die  Induction  ist  die  Gleich- 
mässigkeit  der  Natur,  wobei  es  besonders  auf  den  Causalzusammenhang  an- 
kommt, da  wir  nur  durch  diesen  die  künftigen  Dinge  voraussehen  und  so  auch  auf 
das  Kommende  zu  unserem  Nutzeu  einwirken  können.  Freilich  ist  diese  Gesetz- 
mässigkeit selbst  wieder  nur  auf  Erfahrung  gegründet,  durch  Induction  gewonnen 
und  so  nicht  absolut  sicher.  Mill  ist  davon  überzeugt,  dnss  jeder  an  Abstraction 
und  Analyse  Gewöhnte  keine  Schwierigkeit  haben  werde,  sich  vorzustellen,  dass  in 
einem  der  Firmamente  Ereignisse  ohne  bestimmtes  Gesetz  aufs  Gerathewohl  ein- 
ander folgen  können.  Auch  soll  in  unserer  Erfahrung  und  in  unserem  Geiste  nichts 
liegen,  was  den  Glauben,  dass  dieses  nirgends  stattfände,  bestimmt  begründete. 

Die  Induction  rauss  wie  auf  die  Natur,  so  auf  die  Geisteswissenschaften  an- 
gewandt werden,  deren  Mill  drei  annimmt:  Psychologie,  Ethologie,  Socio- 
logie,  in  denen  also  auch  die  Gesetzmässigkeit  alles  Geschehens  statuirt  wird- 
Freiheit  im  gewöhnlichen  Sinne  kann  demnach  nicht  angenommen  werden.  Die 
Ethologie  ermittelt,  welche  Art  von  Charakter  nach  den  von  der  Psychologie  auf- 
gestellten Gesetzen  des  Geistes  durch  die  physischeu  und  moralischen  Umstände 
hervorgebracht  wird.  Diese  Wissenschaft  findet  namentlich  ihre  Anwendung  in  der 
Erziehungslehre.  Auch  eine  Logik  der  Praxis  oder  der  Kunst  hat  Mill  wenig- 
stens in  kurzen  Zügen  gegeben.  Mit  der  Ordnung  des  Rechten,  des  Zweckmässigen 
und  des  Schönen  in  dem  menschlichen  Handeln  hat  es  die  allgemeine  Kunst  des 
Lebens  zu  thnn,  und  sie  gliedert  sich  also  in  Moral,  Politik,  Aesthetik.  Das 
höchste  Princip  für  alle  drei  ist  es,  das  Glück  aller  empfindenden  Wesen  zu  be- 
fördern. In  seiner  berühmten  Abhandlung  über  den  Utilitarianismus  stellt  Mill 
als  Richtschnur  der  Moral  hin:  den  Inbegriff  der  Regeln  und  Vorschriften  für  das 


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§47.    Philosophie  in  England  und  Nord- Amerika.  521 

menschliche  Verhalten,  durch  deren  Befolgung  eine  von  Leid  möglichst  freie  und 
an  Genüssen  möglichst  reiche  (sowohl  der  Quantität  als  der  Qualität  uacb)  Existenz 
in  der  grösstmöglichen  Ausdehnung  allen  Menschen  gesichert  wird.  —  Die  Religion 
befriedigt  wie  die  Dichtung  das  Bedürfnis«  idealer  Vorstellungen;  sie  beruhen  beide 
uuf  der  Imagination;  aber  die  Religion  setzt  im  Unterschied  zur  Dichtung  diese 
Gebilde  als  wirklich  in  einer  anderen  Welt.  Zu  erkennen  ist  vom  Uebersinnlichen 
nichts,  wie  sich  die  ganze  Erkenntniss  überhaupt  nur  auf  die  Phänomene  erstreckt. 
—  Von  Comte  hat  Mill  allerdings  viel  gehalten,  doch  stützt  er  sich  in  seinem 
Poeitivismus  vielmehr  auf  Bacon,  Locke  und  Hume.  Sein  Hauptverdienst  liegt  in 
den  Untersuchungen  über  die  Muthoden  der  Inductiou,  namentlich  der  experimen- 
tellen Forschung. 

Als  Begründer  der  mathematischen  Logik  ist  anzusehen  G.  Boole,  the 
mathematic,  analysis  of  logic,  being  an  essay  towards  a  calculus  of  deduetive  reason- 
ing,  Cambridge  1847,  an  iuvestigatiou  of  the  laws  of  thought  on  which  are  fouuded 
the  mathemat.  theories  of  logic  and  probabilities ,  Lond.  1854.  Sein  Schüler  ist 
Stanley  Jevons,  the  Principles  of  the  Science,  a  Treatise  on  Logic  and  Scientific 
Method,  2.  Ausg.,  London  u.  New- York  1877.  Die  aristotelische  Schullogik  hat 
insbesondere  der  Erzbischof  Whately  (1787—1863)  dargestellt.  Eine  skeptische 
Logik  vertritt  Rick  Shute,  Discourse  on  truth,  Lond.  1877,  der  die  Möglichkeit, 
allgemein  gültige,  durchaus  sichere  Urtheile  zu  gewinnen  bestreitet.  So  kann  man 
nach  ihm  von  der  Zukunft  nichts  aussagen.  Eine  fast  vollständige  Uebcrsetzung 
von  Shutes  Werk  findet  sich  in  den  Grundlehren  der  Logik  von  Karl  Uphues,  s.  ob. 
S.  502.  Gegen  die  induetive  Logik  Mills  sowie  gegen  die  ganze  nominalistische  Er- 
fahrungsphilosophie und  die  übliche  Lehre  von  der  Ideenassociation  polemisirt  stark 

A.  H.  Bradley,  The  principles  of  Logic,  Lond.  1883,  der  von  Hegel  beeinflusst 
ist.  Er  bringt  die  Logik  in  Verbindung  mit  der  Metaphysik.  Das  in  Wahrheit 
Individuelle  und  Reale  ist  das  Allgemeine. 

Herbort  Spencer,  Social  staties  1851,  2.  ed.  1874,  Principles  of  psychology,  1855, 
2.  ed.  1872,  Essays,  reprinted  from  periodicals,  2  vis.  1858—63,  Education  1861  (deutsch 
von  Fritz  Schnitze,  Jena  1874),  First  principles,  1862.  Die  Hauptschriften  zusamnien- 
gefasst  u.  d.  T.:  A  System  of  philosophy.  Vol.  I:  First  principles  (1862),  Vol.  II, 
III:  The  principles  of  biology  (1863 — 67),  Vol.  IV,  V:  The  principles  of  psychology, 
1855,  2.  ed.  1871—72)  Vol.  VI— VIII  werden  the  principles  of  sociology  (der  1.  Th. 
davon  erschien  1854),  Vol.  IX,  X  the  principles  of  morality  enthalten.  Einstweilen 
ist  erschienen:  The  Data  of  Ethics,  1879.    Autorisirte  deutsche  Ausg..  übersetzt  von 

B.  Vetter,  Sruttg.  1875  ff.  The  Classification  of  the  sciences:  to  which  arc  added  reasons 
for  dissentin*  from  the  philos.  of  M.  Comte,  18G4.  The  study  of  sociology,  4.  ed.  1882, 
in  deutscher  Uehersetzg.  von  Heinr.  Marquardsen  in  der  »Intern,  wissensch.  Biblioth.", 
Bd.  14  u.  15,  1875.  Essays  verschiedenen  Inhalts  1864  ff.  Ueber  Spencer  vgl.:  B.  P. 
Browne,  the  phil.  of  H.  Sp.,  being  an  examination  of  the  first  principles  of  his  System, 
New- York  1874.  W.  A.  Leonard,  a  summary  of  Mr.  H.  Sp.s  first  principles,  London 
1874.  K.  Bobba,  la  dottrina  della  libertä  secondo  8p.  in  rapporto  colla  murale,  in:  !a 
filos.  delle  scuole  Italieue,  Vol.  18  u.  19.  Malcolin  Guthrie,  on  Sp.s  formula  of  evo- 
lution,  London  1879,  on  Mr.  Sp.s  unification  of  knowled>?e,  Lond  1882.  A.  Brogialdi, 
Studii  sulla  psicologia  di  Erberto  Sp.,  Faenza  1881.  M.  E.  Beaussire,  la  morale  lalque, 
examen  de  la  morale  evolut.  de  M.  Herb.  Sp.,  Paris  1881.  G.  de  Greef,  Abrege  de 
Psychologie  d'apres  H.  Sp.  avec  preface,  Bruxelles  1882.  Michelet,  H.  Sp.s  System  der 
Philos.  u.  sein  Verb,  zur  deutsch.  Philos.  (in:  Philos.  Vortr.  herausgeg.  v.  d.  ph.  Ge- 
sellsch.  z.  Berlin),  Halle  1882.  James  T.  Bixby,  H.  Sp.s  Data  of  Ethics,  in:  The 
modern  Review,  III,  No.  9,  1882.  S.  40 — 70.  Cesca,  l'evoluzionismo  di  Erberto  Sp. 
espoaizione  critica.  Verona  1883.  W.  D.  Ground,  an  examination  of  the  structural  prin- 
ciples of  Mr.  H.  Sp.s  philosophy,  Oxf.  1884.  V.  Cathrein,  d.  Sittenl.  des  Darwinismus. 
Eine  Krit.  d.  Ethik  H.  Spencers,  Ergänzungshefte  z.  d.  Stimmen  aus  Maria  Laach,  1885. 
A.  Naumann,  Sp.  wider  Kant  —  mit  besond.  Bertlcksicht.  des  egoist.  Moralpr.,  Hamb. 
1885.    Bernh.  P (inj er  üb.  Sp.  s.  ob.  S.  518. 


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522 


§  47.    Philosophie  in  England  und  Nord-Amerika. 


Die  Lehre  Spencers  hat  zur  Voraussetzung  die  strenge  Unterscheidung 
zwischen  Erkennbarem  und  Unerkennbarem.  Alle  bisher  aufgestellten  Ansichten 
über  das  Weltall  sind  unhaltbar;  daher  zeigen  sie,  dass  etwas  da  ist,  das  nicht  be- 
wiesen werden  kaun,  das  als  die  erste  Ursache  von  Allem  angenommen  werden  musa, 
über  dessen  Beschaffenheit  sich  aber  nichts  aussagen  lässt.  wenngleich  auf  das  Be- 
wusstsein  von  einer  allgegenwärtig  zu  nennenden  und  als  Realität  zu  denkenden 
Macht,  die  aber  unerforschlich  ist,  die  Religion  sich  gründet.  Man  kann  nicht 
nagen:  die  erste  Ursache  ist  absolut  oder  unendlich,  da  etwas  Absolutes  oder  Unend- 
liches nicht  erste  Ursache  sein  kann.  Denn  Ursache  kann  nur  etwas  sein  in  Bezug 
auf  seine  Wirkung,  also  etwas  Relatives.  Aber  Relativität  kann  man  der  ersten 
Ursache  auch  nicht  zusprechen;  denn  dann  müsste  ausser  ihr  noch  etwas  sein,  das 
nicht  relativ  wäre.  Auch  die  wissenschaftlichen  Grundbegriffe:  Raum,  Zeit,  die 
weder  objectiv  noch  subjectiv  sein  können,  Bewegung,  Kraft,  Materie,  aber  auch 
die  Empfindung,  sowie  das  Ich  als  Einheit  von  Subject  und  Object,  sind  undenkbar, 
unbegreiflich,  also  durchaus  unerkennbar. 

Die  Erkenntniss  des  Endlichen  nun,  des  Relativen,  das  aber  eine  Manifestation 
des  Absoluten  sein  soll,  ist  die  einzig  mögliche  und  die  einzige,  die  uns  von  Nutzen 
sein  kann.  Philosophie  ist  vollkommen  einheitliches  Wissen,  sie  beschäftigt  sich 
nicht  mit  Einzelerkenntnissen,  sondern  mit  den  höchsten  Allgemeinheiten.  Die  Be- 
ständigkeit (persistence)  der  Kraft  ist  die  letzte  und  tiefste  Wahrheit,  aus  der 
alle  anderen  deducirt  werden.  Es  ist  das  Absolute,  von  dem  wir  ein  unbestimmtes 
Bewusstsein  haben,  als  einem  Correlat  zu  der  Kraft,  die  uns  erscheint,  und  so  ver- 
einigen siel»  Wissenschaft  und  Religion  in  dieser  höchsten  Wahrheit.  Aus  dieser 
höchsten  Wahrheit  lässt  Bich  ableiten  die  Beständigkeit  der  Beziehungen  unter  den 
Kräften,  d.  h.  das  Gesetz,  dass  derselbe  Kraftaufwand  unter  denselben  Bedingungen 
von  denselben  Erscheinungen  begleitet  ist.  Im  Einzelnen  sind  die  Processe  evo- 
lution  (Entwickelung),  d.  h.  Ausbreitung  (dissipation)  der  Bewegung,  womit  Inte- 
gration des  Stoffs  (Vereinigung  zu  einem  Ganzen)  verbunden  ist,  und  dissolution 
Auflösung),  d.h.  Aufnehmen  (absorption)  der  Bewegung,  womit  Disintegration 
des  Stoffs  (Aufhebung  des  Zusammenhangs)  verbunden  ist.  Beide  Processe  treten 
gemeinsam  auf  und  stellen  die  Geschichte  jeder  wahrnehmbaren  Existenz  dar.  Das 
Gesetz  der  Evolution  ist,  von  einem  zerstreuten  zu  einem  mehr  consolidirteu  Zustand 
überzugehen.  So  consolidirt  sich  allmählich  die  Erde  und  verliert  ihre  latente  Be- 
wegung durch  Erkaltung,  indem  ihre  Kruste  stärker  wird.  Organische  Entwickelung 
ist  Bildung  eines  Aggregats  vermöge  der  beständigen  Einverleibung  von  Stoffen. 
Z.  B.  die  Pflanze  wächst,  indem  sie  Elemente  in  sieh  vereinigt,  die  bisher  als  Gase 
zerstreut  waren,  das  Thier  wächst,  indem  es  die  bisher  in  den  Pflanzen  und  Thieren 
zerstreuten  Elemente  in  sich  vereinigt.  Bei  den  socialen  Organismen  zeigen  sich 
ebenso  Integrationen,  wenn  sich  wandernde  Familien  zu  Stämmen  vereinigen,  wenn 
schwächere  Stämme  durch  stärkere  unterjocht  werden,  wenn  Unterthnnen  sich  unter 
einen  Fürsten,  Fürsten  unter  einen  König  stellen,  wenn  verschiedene  Reiche  zu- 
sammentreten. Und  nicht  minder  ist  die  Integration  sichtbar  bei  der  sich  fort- 
entwickelnden Industrie,  Sprache,  Kunst,  Wissenschaft,  unter  den  Wissenschaften 
am  meisten  bei  der  Philosophie.  Aber  indem  sich  die  Masseu  zu  einem  Ganzen 
vereinigen,  tritt  zugleich  wieder  eine  starke  Differenzirung  ein  Das  Aeussere  der 
Erde  unterscheidet  sich  vom  Innern,  es  tritt  der  Gegensatz  zwischen  polaren  und 
äquatorialen  Gegenden  hervor,  der  Gegensatz  zwischen  den  Klimaten,  den  Hebungen 
und  Senkungen  der  Erdoberfläche,  die  Vertheilung  von  Land  und  Meer.  Der  ein- 
fache Keim  entwickelt  sich  za  einem  Organismus,  der  aus  den  verschiedensten 
Theilen  besteht.  Auch  die  Art  bleibt  nicht  einförmig,  sondern  wird  vielgestaltig, 
geht  in  Varietäten  über.    Ebenso  ist  es  auf  dein  socialen  Gebiete:  Es  findet  eine 


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§  47.    Philosophie  in  England  und  Nord-Amerika. 


623 


Theilong  statt  in  Herrschende  und  Untergeordnete,  in  wichtigere  und  unbedeutendere 
Bestandtheile.  In  dem  geistigen  Leben  werden  ursprünglich  gleichartige  Bewusst- 
seinszustände  dnrch  Verschiedenheiten  in  den  durch  verschiedene  Kräfte  bewirkten 
Veränderungen  zu  ungleichartigen.  Ebenso  ist  es  bei  den  Sprachen,  die  ihre  Rede- 
theile  immer  mehr  vervielfältigen,  bei  den  Künsten,  Wissenschaften.  —  So  wird 
nachgewiesen,  nicht  nur,  wie  die  vorhandenen  Dinge  der  unorganischen  Welt  not- 
wendig die  Eigentümlichkeiten  zeigen  müssen,  die  sie  zeigen,  sondern  auch  wie 
nothwendig  die  zahlreicheren  und  verwickeiteren  Charakterzüge  entstehen,  die  den 
organischen  und  überorganischen  Existenzen  zukommen,  wie  sich  ein  Organismus 
entwickelt,  welches  die  Entstehung  des  menschlichen  Denkvermögens  war,  und  wo- 
durch socialer  Fortachritt  bedingt  ist. 

Da  Bewegung  und  Stoff  sich  ihrer  Quantität  nach  nicht  verändern,  so  ist  an- 
zunehmen, dass  zwar  die  Vertheilung  des  Stoffes,  welche  durch  die  Bewegung  be- 
wirkt wird,  irgendwo  ihre  Grenze  erreicht,  in  welcher  Richtung  sie  auch  vor  sich 
gehen  mag,  dass  dann  aber  die  unzerstörbare  Bewegung  wieder  eine  Vertheilung 
von  entgegengesetztem  Charakter  bedingt.  Es  sind  die  allgemein  neben  einander 
bestehenden  Kräfte  der  Anziehung  und  der  Abstossung,  die  sowohl  den  Rhythmus 
in  allen  kleineren  Vorgängen  des  Universums  hervorrufen,  als  auch  den  Rhythmus 
in  der  grossen  Gesammtheit  seiner  Veränderungen.  Jetzt  walten  in  einer  unmessbar 
langen  Periode  die  anziehenden  Kräfte  vor  und  bedingen  die  allgemeine  Con- 
centration;  hierauf  wird  eine  unermesslich  lange  Periode  folgen,  in  welcher  die  ab- 
stossenden  Kräfte  überwiegen  und  allgemeine  Zerstreuung  bedingen.  Es  sind  das 
abwechselnde  Epochen  der  Entwicklung  und  der  Auflösung. 

Die  Ethik  gründet  Spencer  auch  auf  das  Evolutionsprincip,  indem  er  die 
ethischen  Erscheinungen,  die  sittlichen  Begriffe,  auf  demselben  natürlichen  Wege 
der  Entwickelung  entstehen  lässt,  wie  alles  übrige  Geistige,  diese  speciell  aus 
dem  ursprünglichen  Streben  nach  Lust  und  dem  Fliehen  von  Schmerz.  Er  versucht 
dann  eine  Vereinigung  des  Egoismus  mit  dem  Altruismus  zu  Stande  zu  bringen. 
Der  Egoismus  wird  am  besten  befriedigt,  wenn  fremdes  Wohl  erstrebt  wird,  und 
es  kommt  wie  bei  Bentham  auf  das  grösste  Glück  für  die  grösste  Zahl  hinaus.  — 
Was  Spencers  Stellung  zu  Comte  anlangt,  so  weist  er  die  zwei  Comte  eigenthüm- 
lichen  Lehren  von  den  drei  Perioden  und  der  Hierarchie  der  Wissenschaften  zu- 
rück. Wenn  er  aber  mit  Comte  in  der  Zurückführung  alles  Wissens  auf  Erfahrung, 
in  der  Lehre,  dass  alles  Wissen  sich  auf  Phänomene  erstrecke  und  relativ  sei,  und 
dass  es  darauf  ankomme,  allgemeine,  unveränderliche  Gesetze  des  natürlichen  Ge- 
schehens zu  finden,  übereinstimmt,  so  meint  er  mit  Recht,  dass  diese  Sätze  keines- 
wegs von  Comte  herstammen  und  auch  von  diesem  nicht  eigentümlich  begründet 
seien.  Eine  gewisse  Verwandtschaft  zeigt  sich  zwischen  Hegel  und  Spencer,  ab- 
gesehen davon,  dass  Spencer  durchaus  positivistisch  philosophirt. 

Auf  Comte8  Principien,  dessen  Cours  de  philosophie  positive,  durch  Miss 
Harriet  Martineau  ins  Engl,  übersetzt,  1853  erschienen  ist,  beruhen  die  Letters 
on  man's  nature  and  development  von  Miss  Harriet  Martineau  und  Mr.  Atkinson, 
1851,  welche  die  Annahme  zu  rechtfertigen  suchen,  dass  die  Materie  zu  wirken 
uud  zu  empfinden  vermöge.  Der  comtescheu  Aufhebung  der  Metaphysik  zollt  George 
Henry  Lewes  (geb.  18.  Apr.  1817,  gest.  30.  Nov.  1878,  dessen  Gesch.  der  Philos. 
oben,  Grundr.  I,  §  4,  erwähnt  worden,  und  dessen  Werk  über  Goethe  sehr  bekannt 
ist)  in  seinen  Schriften:  Comte's  philosophy  of  the  positive  sciences,  1847,  Problems 
of  life  and  mind,  3.  ed.  1874,  the  physical  basis  of  mind,  being  the  Second  Series 
of  Problems  of  M.,  Lond.  1877,  Third  Series,  Lond.  1879,  (vgl.  über  ihn  L.  Carrau, 
La  Philosophie  de  L.,  in:  Revue  Philos.,  T.  2.  1876)  den  entschiedensten  Beifall, 
ferner  John  G.  Macvicar,  a  Sketch  of  a  Philosophy,  p.  I.:  Mind,  p.  II.:  Matter, 


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§  47.   Philosophie  in  England  und  Nord-Amerika. 


London  1868,  p.  III:  Chem.  of  natural  substances  1870,  p.  IV.:  Biology  and 
theodicy,  1874.  Eine  auch  in  Deutschland  und  Frankreich  sehr  lebhaft  geführte 
naturphilosopbiaehe  Controverse  hat  die  Schrift  von  Charles  Darwin:  On  the  origin 
of  species  by  means  of  natural  Selection  or  the  preservation  of  favoured  races  in 
the  struggle  of  life,  Lond.  1859,  hervorgerufen.  Unter  Darwins  sonstigen  Schriften 
ist  hier  noch  hervorzuheben:  The  descent  of  man  and  selection  in  relation  to  sex, 
Lond.  1871.  Vgl.  auch  Charles  Lyell,  das  Alter  des  Menschengeschlechts,  deutsch 
von  L.  Büchner,  1867  u.  A.  Wie  auch  in  England  die  darwinsche  Theorie  auf 
geistige  Gebiete  übertragen  wird,  sieht  man  aus  Spencers  Philosophie  und  u.  a. 
aus  Jac.  Gould  Schurmans  Schrift:  The  ethical  import  of  Darwinism,  Lond.  1888. 

Beutham,  Introduction  to  the  principles  of  mural  and  legislation,  1789.  Traite 
de  legislation  oivile  et  penale  precede  des  principe*  generaux  de  legislation  (nach  spo- 
radischen Aufzeichnungen  des  Verfassers  französisch  bearbeitet  von  Etienne  Dumont), 
Paris  1801,  2.  ed.  1820,  ins  Engl,  übers,  v.  R.  Hildreth,  Lond.  1864,  in«  Deutsche  übers, 
und  mit  Anmerkung,  begleitet  von  Beneke,  Berlin  1830.  Theorie  des  peines  et  des 
reeonipenses,  1812.  Essai  sur  la  tactique  des  assemblees  legislatives,  1815;  Traite  des 
preuves  judiciaires,  1823.  Deontologj  or  the  science  of  morality,  edited  by  John  Bowring, 
2  voll.  1S34,  fr.  von  Laroche.  John  Bowring  hat  Benthams  Werke  in  11  Bdn.  hrsg. 
Edinb.  1843,  von  denen  die  beiden  letzten  seine  Biogr.  u.  Correspondenz  enthalten. 
Ueb.  Bentham  s.  J.  S.  Mill  in  der  London  and  Westminster  Review,  Aug.  1838,  deutsch 
in  den  von  Ed.  Wessel  übers.  Vertu.  Schriften  J.  S.  Mills,  Bd.  1,  Leipz.  1874.  S. 
übrigens  ob.  bei  Beneke.  Sidgwick,  the  methods  of  Ethicg,  3.  Aufl.,  Lond.  1884, 
Ethics  (Separatabdr.  aus  d.  Enevclop.  Britann.,  IX.  ed.),  Lond.  1879.  S.  H.  Hashdall, 
Prof.  Sidgwicks  Utilitarianism,  In:  Mind,  X,  1885,  S.  200-  226.  Thom.  Fowlcr,  Pro- 
gressive morality,  Lond.  1884. 

Jeremy  Bentham,  1748  in  London  geboren,  gest.  1832,  widmete  sich  eine 
Zeit  lang  dem  Advocatenberuf,  entsagte  ihm  aber  bald,  um  ganz  seinen  Studien 
zu  leben,  namentlich,  um  die  Theorie  einer  vernünftigen  Gesetzgebung  zu  Stande 
zu  bringen.  Seine  Arbeiten  sind  für  die  Sitteidehre,  Rechtslehre  und  Gesetz- 
gebungspolitik von  hervorragender  Bedeutung,  und  er  kann  als  Begründer  der  N  ü  t  z  1  i  c  h  - 
keitstheorie  auf  dem  Gebiete  der  Moral  angesehen  werden.  Das  Princip  der  Sittlich- 
keit ist  bei  ihm:  das  grösstmögliche  G lück  der  grössttnöglichen  Zahl  (the 
greatest  happineBs  of  the  greatest  n umher,  eine  Formel,  die  er  bei  Priestley  gefunden 
hat,  dem  er  sich  überhaupt  mehrfach  anachloss)  oder  Maximisation  der  Glückseligkeit, 
womit  die  Minimisation  des  Uebels  verbunden  ist.  Auf  dem  Grundsatz  des  Nutzens 
wird  Rechtslehre  und  Moral  (Deoutologie)  basirt,  und  zwar  ist  unter  Nutzen  zu 
verstehen  die  Eigenschaft  einer  Sache,  wodurch  sie  uns  vor  einem  Uebel  bewahrt 
oder  uns  ein  Gut  verschafft.  Ein  Uebel  ist  aber  Schmerz  oder  Ursache  von  Schmerz, 
ein  Gut  Lust  oder  Ursache  von  Lust.  Es  gilt  nun,  ein  „ moralisches  Budget*  auf- 
zustellen, um  bei  allen  Lustregungeu  genau  Gewinn  und  Schaden  zu  berechnen.  Bei 
diesem  Caleiil  wird  sich  der  Egoismus  als  schädlich  erweisen  Es  ist  jedenfalls 
nützlicher,  vor  der  Welt  uneigennützig  zu  erscheinen,  aber  ein  fortwährendes 
Heucheln  ist  unerträglich,  auch  kann  der  Heuchler  entlarvt  werden,  deshalb  ist  es 
am  besten,  uneigennützig  zu  werden:  die  erste  Tugend  ist  die  Klugheit,  aus  der 
Mässigung  und  Selbstbeherrschung  entspringen.  Die  Klugheit  berücksichtigt  auch 
bei  dem  Geben  die  Individualität  des  Empfängers,  Alter,  Gesundheit,  Geschlecht, 
überhaupt  32  Unterschiede,  wie  Bentham  auch  sonst  stark  im  Classificiren  ist.  Je 
mehr  wir  nun  über  die  wahre  Natur  unserer  Freuden  belehrt  werden,  deBto  fester 
werden  wir  davon  überzeugt,  dass  wir  uns  die  andauerndsten  und  reinsten  Freuden 
schaffen  durch  die  möglichst  intensive  Beförderung  des  Wohls  Aller.  —  Von 
Bentham  ist  auf  dem  Gebiete  der  praktischen  Philosophie  Stuart  Mill  abhäugig. 
Unter  den  lebenden  Philosophen  Englands  ist  einer  der  bedeutendsten  Forscher  auf 


§47.    Philosophie  in  England  und  Nord-Amerika  525 


dem  Gebiete  der  Ethik  Henry  Sidgwick,  der  freilich  die  beiden  Principien  des 
Egoismus  und  Utilitarianismus  als  gleichberechtigt  ansieht,  die  sich  widerstreiten 
und  nur  durch  die  Religion  mit  einander  auszugleichen  sind.  In  populärer  Form 
hat  den  Utilitarianismus,  das  sociale  Wohl  als  moralisches  Princip.  gelehrt  Thomas 
Fowler.  Auf  Grund  der  mathematischen  Variationsrechnung  versucht  den  Ueber- 
gang  von  dem  Egoismus  zu  dem  Utilitarianismus  zu  finden  F.  G.  Edgeworth, 
Mathematiral  psychics,  Lond.  1881. 

In  den  letzten  Jahrzehnten  hat  auch  deutsche  Specnlation  einigen  Einfluss 
gewonnen,  der  sich  z.  B.  bekundet  bei  J.  H.  Stirling,  the  seeret  of  Hegel,  being 
the  Hegelian  system  in  origin,  principle,  form  and  matter,  London  1865;  derselbe 
hat  Schweglers  Umriss  der  Gesch.  der  Philosophie  ins  Englische  übersetzt  und 
eigene  kritische  Abhandlungen  beigefügt,  2.  verm.  Aufl.  ebd.  1868.  Andere  wie 
Collyus  Simon,  theilen  Berkeleys  Ansicht,  dass  nur  Geister  und  Phänomene 
existiren,  indem  die  körperlichen  Dinge  nichts  Anderes  als  Ideen  (Vorstellungen, 
Erscheinungen)  seien;  Hamiltons  Relativismus  steht  derselben  nahe,  ebenso  auch 
Ferriers  Doctrin.  Für  die  wahrscheinlichste  Ansicht  hält  die  berkeleysche  Lehre 
auch  Hamiltons  Nachfolger  in  Edinburg,  der  Herausgeber  der  Werke  Berkeleys, 
Alexander  Campbell  Fräser  (Essays  in  philosophy,  1856,  rational  philosophy  in 
history  and  in  system,  1858). 

Durch  Arbeiten  zur  Geschichte  der  Philosophie  haben  ausser  dem  oben  er- 
wähnten Mackintosh  besonders  Whewell  in  seinen  Lectures  on  the  history  of 
moral  philos.  in  England,  Lond.  1852,  2.  ed.  ebd.  1868,  und  Elements  of  Morality, 
including  Polity,  London  1854  u.  ö.,  Blakey,  Lewes,  Geo.  Grote  (f  18.  Juni  1871), 
A.  W.  Benn,  The  greek  philosophere,  2  vols.  Lond.  1882,  der  die  Bedeutung  der 
griechischen  Philosophen  für  die  Gegenwart  hervorhebt,  und  Andere  sich  verdient 
gemacht.  Eine  Kritik  englischer  Moralsysteme  hat  Simon  S.  Laurie  geliefert: 
Notes  expository  and  critical  on  certain  British  theories  of  morals,  Edinb.  1868, 
im  Anschluss  an  den  analytischen  Versuch  on  the  philosophy  of  ethics,  by  Simon 
S.  Lanrie,  Edinb.  1866.  Von  demselhen  Verf.  unter  dem  Pseudonym  Scotus 
Novantianus:  Metaphysica  nova  et  vetusta,  a  return  to  Dualism,  Lond.  1884,  u. 
Ethica,  or  the  Ethics  of  reasou,  Lond.  1885.  F.  D.  Maurice,  lectures  on  social 
morality,  Lond.  1870,  the  conscience,  lectures  on  casuistry,  new  ed.  Lond.  1872; 
moral  and  metaphysical  philosophy,  2  vols.  1872.  Sehr  beachtenswerth  ist  Buckle, 
History  of  civilisation  in  England,  London  1857—  60  (aus  dem  Engl,  übers,  von 
Arnold  Rüge,  Leipz.  1860,  von  J.  H.  Ritter,  Berlin  1869  —  1870),  der  sich  auf 
Quetelet  stützt,  sodann  John  William  Draper,  nistory  of  the  intellectual  deve- 
lopment  of  Europe,  New -York  1863  (die  geistige  Entwicklung  Europas,  und:  Ge- 
danken über  die  zukünftige  Politik  Amerikas,  deutsch  von  A.  Bartels,  Leipz.  1866). 
—  Die  thomistische  Lehre  ist  in  England  namentlich  vertreten  durch  Harper 
in  8einem  auf  5  Bde.  berechneten  Werk:  Metaphysics  of  the  School,  1880 ff. 

In  Nord-Amerika  versuchte  Jonathan  Edwards  (1703— 1758,  s.  üb.  ihn  u.  a.: 
F.  B.  Sanborn,  the  puritanic  philosophy  and  Jon.  Edw.,  in:  The  Journ.  of  specul. 
phil.  XVII,  1883,  S.  401—421)  die  Lehren  Calvins  in  etwas  freier  Weise  mit  einer 
Vernunftwissenschaft  zu  vereinigen,  und  gründete  eine  Schule  der  Calvinisten,  die 
sich  nach  ihm  nannte,  freilich  mehr  theologische  Probleme  behandelte.  Seine  be- 
deutendste Schrift  ist:  A  careful  and  strict  inquiry  into  the  modern  notion  of  that 
freedom  ofwill,  which  is  supposed  to  be  essential  to  moral  agency,  virtue  and 
vice,  reward  and  punishment,  praise  and  blame,  Boston  1754.  (Die  beste  Gesammt- 
ausgabe  der  Werke  Edwards'  von  8.  E.  Dwight,  10  Bde.,  New- York  1844;  der  1.  Bd. 
enthält  das  Leben  E.s.)  Edwards  behauptet,  dass  die  Lehre  von  der  Selbstbestimmung 
unphilosophisch,  sich  selbBt  widersprechend  und  absurd  ist.   Eine  freie  Handlung 


526 


§  47.   Philosophie  in  England  und  Nord-Amerika. 


ist  eine  vorsätzliche  Handlung;  die  Selbständigkeit  ist  die  einzige  Bedingung  der 
Freiheit,  gleichviel  von  wem  diese  Selbständigkeit  verursacht  ist.  Wäre  in  der 
Freiheit  die  Selbstbestimmung  eingeschlossen,  so  würde  damit  Unbestimmtheit  und 
Contingenz  des  Geschehens  verbunden,  ferner  Gottes  Voraussicht  und  jede  Art  von 
Vorsehung  ausgeschlossen  sein.  Edwards  wurde  von  anticalvinistischen  Theologen 
und  Metapbysikern  viel  angegriffen;  unter  Neueren  ist  hier  besonders  hervorzuheben: 
Rowland  G.  Hazard,  Freedom  of  mind  in  Willing,  New -York  1864,  Two  lettere 
on  Causation  and  freedom  in  Willing  addressed  to  John  S.  Mill,  Boston  1869  (auch 
ins  Deutsche  übers.,  New-York,  Leipz.  1875). 

Eine  Zeit  lang  wirkte  in  Nord -Amerika  am  bedeutendsten  ein  Locke,  Beid, 
Brown  und  vor  Allen  Dugald  Stewart  und  Hamilton  (s.  z.  B.  Thomas  C.  üphard, 
Elemente  of  mental  philosophy,  Portland- Boston  1831),  bis  die  Aids  to  reflection 
Coleridges,  neu  herausgeg.  1829  von  James  Marsh,  die  Aufmerksamkeit  auf  die 
deutsche  Speculation,  namentlich  auf  Kant  und  Frd.  Hnr.  Jacobi,  lenkten.  Zu  er- 
wähnen ist  auch  der  bekannte  Schriftsteller  Ralph  Waldo  Emerson  (1803—1882), 
der,  deutschen  Gedanken  nicht  fern,  sich  mit  Andern  dem  die  Unabhängigkeit  der 
Vernunft  und  des  Gewissens  lehrenden  William  Ellery  Channing  (1780-1842) 
anschloss  Emerson  philosophirte  allerdings  nicht  systematisch  und  streng  logisch, 
wirkte  aber  durch  seine  prägnant  ausgedrückten  philosophischen  Gedanken,  die  auf 
Annahme  einer  sittlichen  Weltordnung  und  auf  geistige  Auffassung  der  Natur 
hinausliefen,  sehr  anregend.  Eine  Zeit  lang  stand  er  an  der  Spitze  der  transscen- 
dentalen  Richtung  in  Amerika,  welche  das  Leben  vergeistigen  wollte  und  die  per- 
sönliche Unabhängigkeit  besonders  betoute.  Nature,  Bost  1836,  deutsch  Hannov. 
1873.  Essays,  eine  Reihe  von  Serien.  Representative  men,  Lond.  1849.  S.  üb.  ihn 
Herrn.  Grimm,  Neue  Essays,  Berl.  1865.  E.  Cooke,  E.,  his  life,  writings  and 
philos.,  Bost.  1841.    Alex.  Ireland,  R.  W.  E.,  a  biograph.  sketch,  Lond.  1882. 

Von  amerikanischen  Schriften  nus  neuerer  Zeit  mögen  hier  erwähnt  sein: 
Noah  Porter  (Präsident  des  Yale  -  College,  mit  der  deutschen  Philosophie 
wohl  bekannt),  the  human  Intellect,  New-York  1869,  im  Anschluss  an  Trendelenburgs 
log.  Unters,  verfasst;  the  elemente  of  intellectnal  science,  ebd.  1872;  the  science 
of  nature  versus  the  science  of  man,  ebd.  1872;  Kante  Ethics,  Chic.  1886;  the  elemente 
of  moral  science,  theoretical  and  practical,  N  - Y.,  1885.  In  dem  letzten  Werke  stellt  P. 
die  Pflicht  in  den  Vordergrund,  indem  er  eintheilt  in:  Theory  of  duty  und  Practice  of 
duty.  John  Bascom,  the  principles  of  psychology,  ebd.  1869;  Com parative  psycho- 
logy,  or,  the  growth  and  grade«  of  intelligence,  New-York  1878.  Charles  Caroll 
Everett,  the  science  of  thought,  a  System  of  Logic,  Boston  1869.  A.  Bierbower» 
Principles  of  a  System  of  Philosophy,  New- York  1870.  D.  H.  Hamilton,  autology 
an  induetive  syst,  of  mental  science,  whose  centre  is  the  will,  and  whose  complection 
is  the  personality,  Boston  1874.  Charles  W.  Shields,  the  final  philosophy,  2.  ed., 
New-York  1879,  welcher  die  Harmonie  zwischen  Wissenschaft  und  Religion  anstrebt. 
Laurence  P.  Hickok,  the  logic  of  reason,  universal  aud  cternal,  Boston  1875,  der 
sich  Kant  zuneigt.  James  Mac  Cosh,  thelaws  of  discursive  thought,  New-York  1879 
der  sich  an  Hamilton  anschliesst.  (Anonym),  The  final  science  or  spiritual  materialism, 
New-York  a.  Lond.  1885,  bekämpft  heftig  allen  Positivismus  und  Materialismus 
und  stellt  eine  mit  der  Religion  sich  ausgleichende  Metaphysik  auf.  —  Der  rege  Sinn 
für  deutsche  Philosophie  zeigt  sich  u.  a.  in  der  Sammlung:  German  philosophical 
classics  for  english  readers  and  studente  ed.  by  George  S.  Morris,  in  der  von  Morris 
selbst  Kante  critic  of  pure  reason,  a  critical  exposition,  Chicago  1882,  erschienen 
ist  Auf  Kante  praktischer  und  Religions- Philosophie  fusst  Will.  Maclüntire 
Salter  in  seinen  Vorträgen  über  „die  Religion  der  Moral",  deutsche  Uebers. 
hrsgeg.  v.  Grg.  v.  Gizycki,  Lpz.-Berl.  1885.    Er  geht  nur  insofern  über  Kant  weit 


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§  4M.    Philosophie  in  Italien. 


527 


hinaus,  als  er  die  Religion  eigentlich  aufhebt  und  an  ihre  Stelle  das  Streben,  sich 
in  Menschenliebe  zu  bethätigeu,  setzt.  Seit  1867  erscheint  in  New-York  eine  philo- 
sophische Zeitschrift:  The  Journal  of  speculative  philosophy,  ed.  by  William 
T.  Harris,  die  insbesondere  auf  deutsche  Speculation  eingehende  Rücksicht  nimmt 
in  Artikeln  über  Lcibniz,  Kant,  Fichte,  Schelling,  Hegel,  Baader  und  Schopen- 
hauer, auch  viele  deutsche  philos.  Schriften  in  englischer  Uebersetz.  bringt  und  so 
um  die  Keuntniss  des  deutschen  Idealismus  in  Nord -Amerika  grosse  Verdienste 
hat.  Sie  enthält  auch  Arbeiten  über  Parmenides,  Berkeley,  Descartes,  Herbert 
Spencer  und  andere  Henker.  Seit  1881  ist  die  monatliche  Zeitschrift:  The  PI  atoni  st , 
in  St  Louis  ins  Leben  getreten,  welche  sich  namentlich  mit  der  Erläuterung  und 
praktischen  Anwendung  der  platonischen  Moral  befasst,  Uebersetzungen  platonischer, 
besonders  neuplatouiseher  Schriften  giebt,  u.  a.  die  Schriften  des  „reinsten  Plato- 
nikers  der  Neuzeit*,  Thomas  Taylor,  wieder  drucken  lässt.  The  American  Journal 
of  Psychology,  edit.  by  G.  Stanley  -  Hall ,  erscheint  in  Baltimore  seit  1887;  es 
berücksichtigt  besonders  die  physiologische  Seite. 

§  48.  Eine  rege  philosophische  Thätigkeit  bekundet  sich  in  neuerer 
Zeit  in  Italien,  ohne  dass  selbständige  weittragende  Ideen  von  da 
ausgegangen  wären.  Mehrfach  wurde  darauf  Nachdruck  gelegt,  dass 
die  Philosophie  eine  nationale  sein  solle,  und  in  dieser  Beziehung  auf 
Vico  hingewiesen.  Nachdem  noch  Romagnosi,  wie  das  längere  Zeit 
üblich  in  Italien  gewesen  war,  iu  sensualistischem  Sinne  philosophirt 
hatte,  machte  sich  der  Idealismus  und  Rationalismus  in  den  beiden 
bedeutendsten  italienischen  Denkern  dieses  Jahrhunderts  geltend.  An- 
knüpfend an  den  Piatonismus  hat  Rosmini-Serbati  einen  dem 
Sensualismus  und  den  skeptischen  Elementen  des  Kriticismns  feind- 
lichen, auf  erkenntnisstheoretischen  Betrachtungen  ruhenden,  objectiven, 
religiös-philosophischen  Idealismus  ausgebildet.  Vincenzo  Gioberti, 
der  durch  Vertretung  der  nationalen  Ideen  einflussreich  gewordene 
Politiker,  hat  eine  freie  Allianz  zwischen  dem  kirchlichen  Glauben  und 
der  durch  Intuition  das  Göttliche  erfassenden  Vernunft  erstrebt.  Er 
will  in  der  Philosophie  einen  „Ontologismus",  der  auf  dem  Grund- 
gedanken beruht,  dass  wir  das  absolute  Sein  oder  Gott  als  schöpferische 
Ursache  unmittelbar  schauen,  an  die  Stelle  des  von  der  inneren  Wahr- 
nehmung ausgehenden  Psychologismus  setzen.  —  Seit  mehreren  Jahr- 
zehnten hat  die  hegelsche  Philosophie  eifrige  Verehrer  in  Italien  ge- 
funden, neuerdings  auch  die  kantische. 

Ueber  die  neuere  Philos.  in  Italien  handeln:  Marc  Debrit,  hist.  des  duetr. 
philos.  dans  l'Italie  eontemp.,  Paris  1859.  Auguste  Conti,  la  philos.  it.  cont.  (ital. 
Florenz  1864,  als  Anhang  zu  Conti»  Vöries,  über  d.  Gesch.  d.  Philos.,  franz.  von 
Krn.  Navillc),  Paris  1865.  Theod.  Sträter,  Briefe  Aber  die  italien.  Philos.,  in  der 
Zeitschr.  „der  Gedanke",  1864 — 65.  Raphael  Mariano,  la  phil.  eontemp.  en  Italie, 
Paris  1867.  Franz  Bonatelli,  die  Philos.  in  Italien  seit  1815,  in  der  Zeitschr.  f. 
Phil.,  Bd.  54,  1869,  S.  134-158.  Morgott,  Studien  über  d.  italen.  Phil.  d.  Gegenw. 
in  der  Ztschr.  „der  Katholik",  Jahrg.  1868  u.  ff.  Louis  Ferri,  Ess.  sur  l'hist.  de  la 
philos.  en  Italie  au  XIX.  siede,  Paris  1869.  P.  Leop.  Cecchi,  l'idealismo  italiano 
nel  sec.  XIX..  esposizione  della  prima  parte  dell'  opera  del  Prof.  L.  Ferri  intitolata  : 
„Essai  sur  l'hist.  de  la  Philos.  en  Italie  au  XIX.  sieclc",  Firenzc  1869.  Franc.  Fioren- 
tiuo,  la  filos.  contemporanea  in  Italia,  Nap.  1876.    Pomps,  l'Itaüa  filusofica  eontemp., 


538 


§  48.    Philosophie  in  Italien. 


2  voll.,  Salerno  1879.  Vgl.  Barzcllotti,  la  Filosofia  in  Italia  (estratto  della  nnova  An- 
tologia),  1878,  Philosophy  in  Italy,  in:  Mind,  III.  Bd.,  1878.  Espinas,  la  Philos.  expe 
rimentale  en  Italie,  in:  Revue  philos.,  T.  7,  1879.  G.  Fontana,  le  filosofie  e  la  coltura 
italiana  nel  moderao  evo,  Milano  1882.  Kinc  gute  Uebcrsicht  üb.  d.  neuere  italienische 
Philos.  mit  reichlichen  Litteraturangahen  (bis  1875)  findet  sich  in  dem  von  Vincenzo 
Rotta  verfasst  Appendix  II  (HiBtorical  sketch  of  modern  philos.  in  Italy)  zu  der  oben 
citirten  englisch.  Uebersetz.  dieses  Grundr.  Krl.  Werner,  d.  Italien.  Philos.  des 
19.  Jahrb.,  5  Bde.,  1.  Bd.:  Ant.  Rosmini  u.  seine  Schule;  2.  Bd.:  der  Ontologismua 
als  Ph.  des  national.  Gedaukens;  3.  Bd.:  d.  krit.  Zersetz,  u.  speculat.  Umbildung  d.  Onto- 
logism.;  4.  Bd.:  die  it.  Ph.  d.  Gegen w.;  5.  Bd.:  d.  Selbstvermittelung  des  national.  Cultur- 
gedankens  in  d.  neuzeitl.  it.  Ph.,  Wien  1884 — 1886;  (im  6.  Bde.  soll  die  Darstell,  d.  specif. 
kirchl.  Ph.  folgen.  Das  wernersche  Werk  ist  in  diesem  Paragraphen  von  uns  vielfach  be 
nutzt);  ders.,  Idealist.  Theorie  des  Schönen  in  d.  it.  Ph.  des  19.  Jahrh.,  Wien  1884.  E. 
Caporali,  il  pensiero  italiano  contemporaneo  in  Italia.  Critica  del  Kantismo  negativo  di 
Cesca  e  del  Kantismo  neoplatonico  e  del  pessimisrao  di  C.  Cautoui,  in:  La  nuova  scienza, 
Dec.  1884,  Sett.  1885.  Luigi  Credaro,  il  Kantismo  in  Italia  in:  Rassegna  critica 
di  opere  filosofiche  etc.  1885,  Ag.,  Sett  Agost.  Moglia,  La  filosofia  di  San  Tommasso 
delle  scuole  Italiane,  Piatenza  1885;  ders.,  l'Aristotelismo  e  l'enciclica  di  L.  XIII,  ib.  1888. 

Romagnosi,  Genesi  del  diritto  publico,  1805.  Che  cosa  e  la  mente  sana  ? 
Mil.  1827.  Deila  suprema  econoniia  dell'  umano  sapere  in  relazione  alla  mente  sana, 
Mil.  1828.  Opere,  Florenz  1832— 1835;  Mil.  1836— 1845.  Appunti  e  pensieri  inediti, 
raccolti  e  public,  da  un  suo  anticodiscipulo  (G.  Sacchi)  Mil.  1873.  Ueber  Romagnosi 
Jos.  Ferrari,  Mail.  1835,  Cantu  u.  Sacchi,  Prato  1840.  Credaro,  il  Kantismo  in  G.  D. 
Romagn.,  in  Riv.  Ital.  di  Fil.,  II,  1887.  Galluppi,  Saggio  filosofico  sulla  critica  delle 
eonoscenze  umane,  Messina  1820 — 27;  Lettere  filosofiche  sulle  vicende  della  filosofia  — 
da  Cartesio  sino  a  Kant  — ,  Messina  1827;  Lezioni  di  logica  e  metafisica,  Napoli 
1832—1836;  Filosofia  della  volontä,  Nap.  1832—40. 

Rosmini,  Nuovo  saggio  sulT  origine  delle  idee,  Rom  1830  u.  ö.,  ins  Englische 
übers.,  Vol.  I,  Lond.  1883;  Filosofia  del  diritto,  ebd.  1839 — 41;  Teosofia,  opera 
postuma,  vol.  I — V,  Torino  1859 — 74;  Princ.  della  scienza  morale,  Mailand  1831  uud 
1837,  Turin  1868;  Saggio  storito-eritieo,  sulle  categorie  e  la  dialettica,  opera  post., 
2  voll.,  Torino  1884;  Antropologia  sopranaturale,  3  voll.,  Casale-Torino  1884.  Ueber 
ihn:  Gioberti,  Degli  errori  filosofici  di  A.  R.,  3  voll.  1842.  Niccolö  Tommaseo, 
Turin  1855.  Rud.  Seydel,  Rosmini  e  Gioberti,  in  Zeitschrift  f.  Philos.  Bd.  34  u.  35, 
1859.  Vincenzo  Garelli,  Turin  1861.  Vinc.  Lilla,  Kant  e  Rosmini,  Turin  1869.  Seb. 
Casara,  il  sistcma  filosofico  Rosminiano  dimostruto  vero  nel  suo  principio  fondamentale 
oon  lo  studio  e  sviluppo  di  un  solo  articolo  della  summa  teologica  di  San  Tommaso 
d'Aquino,  Venezia  1874  u.  ö.  AI.  Paoli,  lo  Schopenhauer  e  il  Rosmini,  Rom  1878. 
Esposizione  ragionata  della  filosofia  di  A.  R.,  2  voll.  1879.  Paoli,  Memorie  della 
vita  di  A.  R.  S.,  vol.  1,  Torino  1880,  vol.  2,  Roveredo  1884.  Im  1.  Bde.  findet  sich 
ein  genaues  Verzeichniss  der  Schriften  R.s,  im  2.  eine  Bibliografia  Rosminiana.  Thom. 
Davidson,  the  philosophic.  system  of  Ant.  Rosm.  S.,  Lond.  1882.  G.  M.  Cornoldi,  il 
Rosminianismo,  sintesi  del*  ontologtsmo  e  del  panteismo,  Roma  1883,  s.  dazu  G.  Mcz- 
zera,  Risposta  al  libro  del  G.  M.  C.  »il  Rosm.  etc."  Mil.  1883.  Visintainer,  Kant 
e  R.  e  il  probleina  gnoseolog.,  Par.  1885.  G.  S.  Mac  Walter,  Life  of  A.  Ros.-Serb., 
London  1883.  Conde  B.  Fallen,  R.s  innate  ideas,  a  priori  ideas  and  subject  —  obj. 
ideas,  in:  Journal  of  spec.  pb.,  XVIII,  1884,  S.  311—332.  K.  Werner,  A.  R.,  s. 
Stellung  in  d.  Gesch.  d.  neuer.  Ph.,  der  italien.  insbes.,  Wien  1884,  s.  auch  ob.  Lock- 
hart, Life  of  A.  R.  S.,  2.  ed.,  Lond.  1887. 

Gioberti,  Introduzione  allo  studio  della  filosofia,  Brüssel  1840;  Protologia, 
veröffentlicht  Turin  1857  durch  Gius.  Massari;  Filosofia  della  rivelazione,  Turin  1856; 
Riforma  cattolica  della  chiesa,  ebd.  1856;  Opere  iuedite,  6  voll.,  1856—60.  Das  Werk 
über  Rosmini  s.  ob.  Ueber  G.  handeln  Seydel  s.  o.  b.  Rosmini,  auch  dessclb.  Art. 
über  G.  in  Erech.  n.  Grubers  Encykl.,  I.  Sect.,  67.  Bd.  Spaventa,  la  filosofia  di  Gio- 
berti, Neapel  1863,  auch  stellenweise  in:  Prolusionc  cd  introduzione  alle  lezioni  di  filo- 
sofia nella  universitä  di  Napoli  1861,  doch  vgl.  dagegen  insbesondere  den  betreffenden 
Abschnitt  in  Ferris  oben  erwähnter  Schrift.  Gius.  Prisco,  Gioberti  e  l'ontologismo, 
Neap.  1867.  B.  Labanca,  della  mente  di  V.  G.,  Firenze  1871.  Genaue  biographische 
Notizen  über  G.  bei  Giuseppe  Massari,  Ricordi  biograf.  di  V.  G.,  3  voll.  Torino  1860—63. 

Mamiani,  del  rinovamento  della  filosofia  italiana,  Paris  1834  u.  Flor.  1836; 
Ontologia,  Paris  1841  u.  Florenz  1843;  Dialoghi  di  scienza  prima,  Par.  1846;  Con- 
fessioni  di  un  metafisico,  Florenz  1865;  vgl.  dazu  u.a.  due  opuscoli  filos.,  eine  Entgeg- 
nung Bonatellis  nebst  der  Antwort  Mamianis,  Persiceto   bei  Bologna  1867;  Teoria  della 


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§  48.  Philosophie  in  Italien. 


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religionc  e  dello  Btato,  Flor.  18G8:  le  incilitationi  Cartpsiane  rinnovate  nel  seeolo  XIX. 
ebd.  1869;  Kant  c  l'ontulojjia,  ebd.  1870;  Competidio  e  sintesi  della  pmpria  Bios,  ossia 
miovi  Proleg,  ad  ognl  presente  e  futura  Metafisiea,  Toriuo  1876;  della  psieulogia  di 
Kant,  Koma  1877;  la  religio»«  doli'  avenire,  ovvero  della  relig.  positiv»  «•  perpetua  d»>l 
Kencre  umano,  Mil.  1880.  Ueber  M.  F.  Lavarino,  la  logiea  e  la  filosofia  dpi  conte 
Terenzio  Mamiani,  Flor.  1870;  Seb.  Turbiglio,  d.  Theorie  der  l'erreption  des  Grafen 
Mamiani,  Abdr.  c.  Artikels  aus  derZts<br.  La  filosotia  delle  scuole  Italiaiu-;  ti.  Mestiea, 
mi  la  vita  p  1p  opere  di  T.  M.,  disn.rso  prontinz.  all'  universitä  di  Palermo,  188Ü. 
So  la  vita  e  le  opere  di  V.  M.,  in:  Itiv.  Ital.  di  til.,  I. 

Nachdem  bereits  im  achtzehnten  Jahrhundert  Antonio  Genovesi  (s.  über  ihn 
Bobba,  Benevent  1867)  besonders  über  Nationalökonomie  gearbeitet,  Cesare  Beccaria 
(1735—93,  dei  delitti  e  delle  pene,  Monaco  1764,  deutsch  von  If.  Waldeck  in  der 
bei  L.  Heimann  erseh.  hist.-polit.  Bibl.,  Berl.  1870)  und  Gaetano  Filangieri 
1 1 752 — 1788"i ;  la  scienzn  della  legislazione,  Napoli  1781—88,  die  Forderung  einer 
Reform  der  Gesetzgebung  in  liberalem  Sinne  auf  philosophische  Gründe  gestützt  hatten, 
hat  sich  tbeils  noch  gegen  Ende  des  18.  Jahrb..  durch  die  Schrift  über  den  Ursprung 
des  Strafrechts  (1791  u.  6.)  theils  im  gegenwärtigen  Jahrhundert  um  die  Rechts- 
philosophie besonders  Giovanni  Domenico  Romagnoai(1761 — 1835)  verdient  gemacht, 
der  auch  auf  dem  Gebiete  der  Psychologie,  der  Erkenntuisslehro  und  der  Geschichte 
der  Philosoph!«  erfolgreich  gearbeitet  hat.  Romagnosi  bekämpft  in  Anlehnung  an 
Condillacs  Sensualismus  nicht  nur  die  Voraussetzung  angeborner  Ideen,  sondern 
auch  die  der  angeborenen  abstracten  Seelenvermögen,  erklart  es  (che  cosa  etc., 
Milano  1827,  p.  79,  citirt  von  Benekc  a.  a.  0.  S.  296)  für  einen  enormen  Missgrift", 
die  abstracten  Allgemeinheiten  der  Wirkungen  als  reale  wirkende  Ursachen  eben 
dieser  Wirkungen  anzunehmen.  Den  Werth  der  Statistik  für  moralische  und 
nationalökonomische  Forschung  hat  Melchior  Gioja  (1766—1829)  hervorgehoben. 
Den  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  und  am  Aufang  des  19.  Jahrhunderts,  namentlich 
durch  den  Einfluss  Condillacs,  vorherrschenden  Sensualismus  und  Empirismus,  den 
u.  A.  auch  der  um  die  Pädagogik  verdiente  Pater  Soave,  ein  Anhänger  Locke*, 
vertrat,  wie  auch  anfangs  der  später  zum  Kriticismus  sich  bekeimende  Alf.  Testa 
(über  den  Vincent  Molinari.  Parma  1864,  handelt),  haben  u.  A.  der  an  Descarte* 
und  besonders  an  Malebranche  sich  anschliessende  Cardinal  Sigism.  Gerdil,  der 
auch  eine  Schrift  gegen  Rousseaus  Emile  verfasst  hat  (vgl.  K.  Werner,  d.  cartes.- 
malebranchesche  Philosophie  in  Italien,  I.  Fardella,  II.  Giac.  Sig.  Gerdil,  aus  d. 
Sitzungsber.  d.  Kais.  Ak.  d.  W.,  Wien  1883),  und  Ermenegildo  Pini  (1739-1825), 
der  pythagoreisirende  Verfasser  einer  „Protologia",  Mailand  1803,  bekämpft.  Der 
Neapolitaner  Pasquale  Galluppi  (1771 — 18-16)  hat  hauptsächlich  die  Erkenntniss- 
lehre  mit  kritischer  Rücksicht  auf  Kant,  wie  andererseits  auf  französische  und 
schottische  Philosophen  (besonders  Reid)  bearbeitet.  Sein  eigener  Standpunkt 
liegt  dem  leibnizschen  nahe.  Allerdings  soll  die  ganze  Erkenntniss  auf  innerer  und 
äusserer  Erfahrung  beruhen,  aber  die  Erfahrung  selbst  besteht  nicht  in  den  Daten  der 
Sinne,  sondern  sie  entsteht  dadurch,  dass  der  Geist  diese  Daten  vermittelst  seiner 
Beziehungen  bearbeitet.  Eklektisch  philosophirt  Salvator  Mancino,  elem.  di  filos. 
1835-36,  13.  ed.  1857. 

Antonio  Rosmiui  -  Serbati  war  1797  zu  Roveredo  geboren,  wurde  Geist- 
licher, fungirte  als  solcher  eine  Zeit  lang  in  seiner  Vaterstadt,  nahm  unter  Karl 
Albert  von  Sardinien  Theil  an  Politik,  gründete  eine  geistliche  Congregatiou  unter 
dem  Namen:  Institute  della  Carita,  war  der  jesuitischen  Partei  aber  zu  freisinnig, 
so  dass  einige  seiner  Schriften  auf  den  Index  kamen.  Er  starb  1855  auf  seinem 
Landgute  in  Stresa,  wo  er  mit  seinen  Freundeu  häufig  philosophische  Unter- 
redungen geführt  hatte.  Ausser  auf  Piaton  geht  er  auf  Descartes,  auch  auf  Schelling 
und  Hegel  zurück  und  will  in  seinem  Philosophiren  die  richtige  Mitte  halten 

l'e  ber  w  ep- II  »•  in/<\  GrunJri«s  III.    7.  Aufl.  nt 


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§  48.   Philosophie  in  Italien. 


zwischen  dem  empiristischen  nnd  dem  idealistischen  Standpunkt.  Er  nimmt  an, 
dass  die  Idee  des  Seins  überhaupt  oder  des  mögliehen  Seins  dem  Menschen  an- 
geboren sei,  dass  sich  ihrer  das  Ich  durch  eine  unmittelbare  innere  Wahrnehmung 
bewuBst  werde,  und  dass  sie  sich,  wenn  wir  sie  analysiren,  in  eine  Vielheit  einzelner 
Ideen  zerlege;  aber  nur  die  Formen  der  Erkenntniss  entspringen  aus  dem  Geiste, 
so  Substanz,  Ursache,  Zahl,  Wahrheit,  nicht  auch  der  Stoff.  Weil  der  Philosoph 
sein  Selbst  zum  Object  seiner  Beobachtung  zuerst  machen  muss,  nennt  Rosmini 
seinen  Standpunkt  den  des  ideologischen  Psychologismus  gegenüber  dem  Ontolo- 
gismus  Giobertis.  Hat  mau  der  Objectivität  der  Ideen  des  Seins  sich  versichert, 
ho  wird  auch  die  Erfahrung  gleichsam  theilhabend  am  Sein,  als  objectiv  anerkannt. 
Gegenstände  der  Erfahrung  sind  die  AVahrnehmungen  und  die  denselben  zu  Grunde 
liegenden  Dinge.  Die  ersten  der  durch  sinnliche,  vermöge  der  Idee  des  Seins  ver- 
allgemeinerte Erfuhrung  zu  Stande  kommenden  gemischten  Ideeu  sind  die  von  Geist 
und  Körper.  Der  Zusammenhang  zwischen  diesen  beiden  in  uns  ist  eine  unmittel- 
bare Thatsache,  aber  unerklärlich.  Die  Erkenntnis  Gottes  ist  keine  empirische, 
vielmehr  eine  rein  apriorische:  Die  Idee  des  Seins  macht  sich  in  mir  als  Thatsache 
geltend,  die  aber  nicht  von  mir  und  ebenso  wenig  von  einem  anderen  endlichen 
Wesen  herrühren  kann,  sondern  eine  absolute  Wirklichkeit  voraussetzt,  die  identisch 
mit  Gott  ist 

Zu  Rosminis  Anhängern  gehört  Ruggiero  Bonghi,  der  die  Metaphysik  des 
Aristoteles  und  Schriften  Piatons  übersetzt,  auch  Briefe  über  die  italienische 
Litteratur  verfasst  und  (auf  Rosminis  Landsitz  und  Kloster  Stresa  am  Lago  mag- 
giore  gehaltene)  philosophische  Gespräche  (Le  Stresiane)  in  freier  Darstellung  ver- 
öffentlicht, auch  einen  Abriss  der  Logik,  .Mailand  1800,  und  Dissertationen  in  den 
Abh.  der  Akad.  Stal.  Philos.,  Genua  1852—  53,  verfasst  hat,  ferner  u.  A.  auch  der 
Dichter  Manzoni,  der  in  seinem  Dialogo  dell'  invcnzione  sich  zur  Philosophie  Ros- 
minis bekannte.  Für  dieselbe  trat  auch  neuerdings  der  Bischof  Pietro  Maria  Ferrö 
ein  und  suchte  die  volle  Uebereinstimmung  Rosminis  mit  dem  richtig  verstandenen 
Thomas  darzuthun  in  dem  neunbändigen  Werke:  Degli  uuiversuli  secondo  la  teoria 
Rosminiana  confrontata  colla  dottriua  di  S.  Tom.  d.  Aqu.  e  con  quella  di  parecchi 
Tom i -ii  e  Filosofi  moderni,  Casale  1880  ff.  Seit  1879  erscheint  auch  eine  Zeit- 
schrift mit  der  Tendenz,  die  Lehre  Rosminis  zu  verbreiten  und  zu  vertheidigen : 
La  Sapienza,  Rivista  di  filos.  e  di  lettere,  diretta  de  Viucenzo  Papa,  Torino. 
Verwandter  Art  ist  auch  die  philosophische  Richtung  des  mit  den  Forschungen 
Lotzes,  Herbarts,  Trendelenbnrgs  und  anderer  deutscher  Philosophen  vertrauten 
Francesco  Bonatelli,  dessen  Hauptschrift  ist:  Pensiero  e  conoscenza,  Bologna 
1864.  Auf  Rosminis  Doctrin  fusst  auch  P.  Paganini,  dello  spazio,  saggio  cos- 
mologico,  Pisa  1862,  und  sucht  in  seinen  Osservazioni  sulle  piu  risposte  armonie 
della  filos.  naturale  colla  filos.  sopranaturale,  Pisa  1861,  darzuthun,  dass  Rosmini 
die  Lehren  des  Augustin  und  des  Thomas  in  der  seinigen  vereinigt.  Auf  der 
Grundlage  der  Geschichte  der  Philosophie  philosophirt  Epifanio  Fagnaui,  delle 
intime  relazioni  in  cui  sono  e  con  cui  progrediscono  la  filosofio,  la  religioue  e  la 
libertü,  Torino  1863.  An  Royer-Collard  schliesst  sich  der  Rechtsphilosoph  P.  E. 
Imbriuui  au.  Simone  Corleo,  filosofia  universale,  Palermo  1860—63,  erstrebt 
eine  kritische  Synthesis  der  philosophischen  Systeme.  Unter  dem  Einfluss  Kants, 
Jacobis  und  Pascals  steht  Bonav.  Mazzarella,  Critica  della  scienza,  Genua  1860; 
della  critica  libri  tre,  Genua  1867-68. 

Vincenzo  Gioberti,  geb.  1801  in  Turin,  widmete  sich  dem  geistlichen 
Stuude,  wurde  1825  Professor  um  Turiner  Athenäum.  Auf  den  Verdacht  hin,  mit 
•lern  »jungen  Italien"  in  Verbindung  zu  stehen,  des  Landes  verwiesen,  wandte  er 
bich  nach  kürzerem  Aufenthalt  in  Paris  nach  Brüssel,  um  hier  eine  Stelle  au  einer 


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§  48.    Philosophie  in  Italien. 


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Private  rziehungsunstalt  anzunehmen.  1843  veröffentlichte  er  sein  in  Italien  Begeiste- 
rung erweckendes  Werk:  Del  primato  morale  e  civile  degli  Italiani,  worin  er  die 
nationale  Erneuerung  und  Selbständigkeit  predigt  und  als  Ideal  eine  Conföderation 
der  italienischen  Staaten  und  Fürsten  unter  dem  Voreitze  des  Papstes  hinstellt. 
1848  nach  Turin  zurückberufen,  betheiligte  er  sich  aufs  Lebhafteste  an  Politik, 
fungirte  kurze  Zeit  als  Minister,  dann  als  Vertreter  seiner  Regierung  in  Paris  und 
starb  daselbst  1851.  In  seinem  Philosophiren  fusst  er  einerseits  auf  Piaton,  anderer- 
seits erinnert  er  an  Malebranche  und  Spinoza.  Nach  ihm  ist  das  absolut  göttliche 
Sein  wahres  Object  der  unmittelbaren  rein  geistigen  Anschauung.   Hierbei  will  er 
nicht  von  einem  Factum  des  Bewusstscins  ausgehen  und  nicht  die  cartesisch-psycho- 
logische  Methode  wie  Rosmini  anwenden.  Jede  Philosophie  muss  sich  jedoch  auf 
Offenbarung  stützen,  und  es  giebt  keine  von  der  Theologie  losgelöste  philosophische 
Erkenntuiss.  Ja  Gioberti  geht  so  weit,  zu  sagen,  dass,  wer  nicht  Katholik  sei,  auch 
kein  vollkommener  Philosoph  sein  könne.    Er  wollte  der  menschlichen  Erkenutniss 
eine  sichere  objective  Grundlage  geben.    Da  aber  die  volle  Objectivität  nur  in  der 
Gottheit  ist,  so  fasste  er  alles  Erkennen  als  Offenbarung  des  in  seinem  eigentlichen 
Wesen  unerkennbaren  Gottes  auf.    Sein  Fundamentalsatz  lautet:    Das  Sein  schafft 
die  Existenzen  (l'Ente  crea  le  esistenze),  und  das  Existirende  kehrt  zum  Sein 
zurück.    Durch  die  Glieder  seines  Hauptsatzes  gewinnt  er  die  Eintheilung  der 
philosophischen  Disciplinen.    Das  Ente  ist  das  an  sich  Seiende,  auf  welches  die 
Scienza  ideale  geht,   das  Crea  hat  es  mit  dem  Hervorgang  der  geschaffenen 
Existenzen  und  mit  ihrer  Rückkehr  in  den  Urgrund  zu  thun.    Unter  Esistenze 
fallen  die  sich  auf  die  verschiedenen  Arten  der  geschaffenen  Wesen  beziehenden 
Wissenschaften.    Anfang  und  Ende  aller  Dinge  ist  Gott;  demnach  muss  auch  seine 
Idee  sich  in  jeder  Disciplin  offenbaren.    Anhänger    fand  die  Lehre  Giobertis 
namentlich  in  Unteritalien.    Einer  der  vorzüglichsten  Vertreter  derselben  ist  Vin- 
cenzo  di  Giovanni  in  Sicilien,  der  auch  über  sicilianische  Philosophie  werthvolle 
Arbeiten  veröffentlicht  hat.    Auch  Pietro  Luciani  vertheidigt  in  seinem  Werke: 
G.  e  la  filos.  nuova  italiana.  3  Bde.,  Neap.  18G6— 72,  die  Lehre  Giobertis  als  die 
eigentlich  nationale  gegen  die  in  Neapel  zur  Herrschaft  kommende  hegelsche.  — 
Als  einflussreicher  Lehrer  der  Philosophie  wirkt  an  dem  Instituto  di  superiori 
studii  in  Florenz  Augusto  Conti  (geb.  1822),  der  eine  Vermittelung  der  sicheren 
Resultate  der  neueren  Philosophie  mit  den  scholastischen  Lehren  anstrebt.  —  Der 
Richtung  Vicos  gehört  an  Diodato  Lioy,  Deila  filosofia  dcl  diritto,  2.  ed.,  Nnp. 
1884,  ins  Deutsche  übers,  v.  Matteo  di  Martino,  Berl.  1885. 

Mit  Giobertis  Richtung  ist  die  des  Mctaphysikers  und  Geschichtsphilosophen 
Terenzio  Mamiani  (geb.  1800,  betheiligte  sich  sehr  lebhaft  an  der  Politik,  war 
mehrere  Male  Minister,  auch  unter  Cavour  Unterrichtsminister,  zuletzt  Senator  in 
Rom,  gest.  1885),  des  „gran  pontefice  della  filosofia  officiale  italiana«,  verwandt, 
der  sich  selbst  einen  Platoniker  nennt.  Neben  den  platonischen  Elementen  machen 
sich  auch  empiristische  bei  ihm  geltend.  Er  scheidet  zwischen  natürlicher  und 
speculativer  Philosophie;  die  erste  ist  die  des  gesunden  Sinnes,  die  auf  die  Erfah- 
rung sich  gründende  und  das  von  dieser  gelieferte  Material  mit  der  Vernunft 
zurechtlegende,  die  letztere  hat  eine  kritische  Erkenntnisstheorie  zu  liefern.  Der 
Zweck  der  Schöpfung  ist  die  Realisirung  des  Guten,  dio  nur  durch  Vereinigung 
des  Geschaffenen  mit  dem  absolut  Guten  stattfinden  kann.  Erreicht  kann  diese 
Vereinigung  nur  werden  nach  vorausgehender  geistiger  Anschauung  des  absolut 
(Juten.  In  dem  von  ihm  gegründeten  Organe :  Filosofia  delle  scuole  Italiane 
1*70-1885,  23  Bde.,  sollte  die  richtige  Mitte  eingehalten  werden  zwischen  der 
extrem  kirchlichen  Richtung  und  dem  positivistischen  Naturalismus.  Fortsetzung 
dieser  Zeitschrift  ist  die  Rivista  Italiana  di  filosofia,  diretta  da  Luigi 

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§  48.   Philosophie  in  Italien. 


Ferri ,  Roma  1886  ff.  Dieser  selbst  steht  Matniani  nahe,  s.  ob.  b.  Pomponatius, 
ferner  salla  dottrina  psicologica  dell'  aasociazione,  Roma  1876,  Analisi  del  concetto 
di  sostanza  e  sue  relazioni,  Roma  1886. 

Auf  den  kirchlichen  Lehranstalten  herrschte  auch  schon  vor  der  päpstlichen 
Encyclica  der  Thomismus,  [unter  dessen  Vertretern  der  Pater  Matth.  Liberatore 
(■.  o.  Grdr.  II.  §  33),  Institutiones  philos.  ad  triennium  accommodatae,  Neap.  1851, 
in  neuer  mehr  thomistischer  Form,  Prato  1881;  Ethica  et  jus  naturale,  Neap.  1858; 
Log.  et  metaph.,  Romae  1868;  della  conoscenza  intellettuale,  2.  ed.,  Roma  1873, 
hervorragte.  Sanseverino,  Philosophia  christiana  cum  antiqua  et  nova  com- 
parata,  Neapel  1862  fT,  PhiL  christiana  c.  ant.  et  n.  compar.  in  compeudium  rcdacta 
2  voll.  Napoli  1868,  Ges.  de  Crcscenzio,  Scuole  di  filosofia,  Florenz  1866, 
Filippo  C'upozza,  sulla  filos.  dei  Padri  e  Dottori  della  chiesa  e  in  ispecialitä  di 
S.  Tommaso  in  oppos.  alla  filos.  moderna,  Napoli  1868,  die  Rechtsphilosophen 
Prosper  Taparelli  und  Audisio  und  Andere  sind  Thomisten,  ebenso  der  Prof. 
d.  Physik  Rubbini,  Lezioni  elementari,  Bologna  1880.  Auch  der  kirchliche  Demagog 
Pater  Ventura,  der  die  Demokratie  eine  wilde  Heldin  genannt  und  getauft  hat, 
hl  Thomist.  Seit  der  Encyclica  hat  sich  der  Thomismus  noch  weiter  entwickelt, 
wie  eine  grosse  Zahl  von  Schriften  beweist,  die  auch  z.  Th.  das  naturwissenschaft- 
liche Gebiet  behandeln.  Einige  Thomisten  nehmen  gegen  den  Rosminianismus  eine 
polemische  Stellung  ein,  s.  die  Schrift  von  G.  M.  Cornoldi  in  der  Litter.  Ver- 
treten ist  die  thomistische  Richtung  in  der  C'iviltä  cattolica,  welche  eine  Reihe 
von  Arbeiten  Cornoldis  gebracht  hat,  in  der  Zeitschrift  Academia  Romana.  seit 
1880,  und  in  La  scienza  Italiana,  Periodico  di  Glos.,  medicina  e  scienze  natur.. 
public,  dall'  Academia  filos.-medica  di  S.  Tom.  d'Aqu ,  seit  187G. 

Eine  antikirchliche  Richtung  vertreten  insbesondere  die  kritischen  Skeptiker, 
Giuseppe  Ferrari  (1811  —  1876),  der  Vicos  Werke  herausgegeben,  an  diesen  und 
Romagnosi  angeknüpft  und  u.  a.  eine  Schrift:  la  filosofia  della  rivoluzione,  London 
1851,  verfasst,  auch  über  die  katholische  Philosophie  in  Italien  in  der  Rev.  des  deux 
mondes  1844  geschrieben  hat,  und  Ausonio  Franchi  (pseudonym  für  C'hristoforo 
Bonavino),  der  mit  der  Kirche  vollständig  brach,  Verfass.  d.  Schriften:  il  razionalismo 
del  popolo,  Genf  1856  ,  2.  ed.,  Losanna  1862,  le  rationnlisme,  Bruxellcs  1858; 
la  religionc  del  secolo  XIX.,  Losanna  1853,  2.  cd.  1860;  su  la  teorica  del 
Giudizio,  Lettere  di  Ausonio  Franchi  a  Nicola  Mameli,  Milano  1871;  Saggi  di 
critica  e  polemica,  questioni  filosofiche  etc.,  Milano  1872,  auch  einer  Wochenschrift 
la  Ragione,  Turin  1851  ff.  Beide,  Ferrari  und  Franchi,  machen  auch  entschiedene 
Opposition  gegen  Rosminis  und  Giobertis  Versuche,  den  Katholicismus  mit  der 
Philosophie  zu  versöhnen. 

Der  positivistischen  Richtung,  im  Ganzen  der  Comtes,  schliessen  sich  au  Pas- 
quale  Villari,  la  filos.  posit.  e  il  metodo  positivo.  Mil.  1866,  A.  Angiulli,  la 
filos.  e  la  ricerca  positiva,  Napoli  1869,  Questioni  di  filos.  contemporanea,  Nap.  1873, 
Aristide  Gabeiii,  l'uomo  e  le  scienze  morali,  Mil.  1869.  Unter  den  neuen  Positi- 
visten  kann  man  zwei  Richtungen  unterscheiden:  die  naturalistische  bez.  materia- 
listische, welche  die  naturwissenschaftliche  Erkenntniss  voranstellt,  und  diePhilosophie 
in  der  Weise  der  Naturwissenschaften  behandelu  will,  um  sie  zu  einer  Wissenschaft 
zu  machen,  und  die  kritische  oder  philosophische,  welche  ausser  auf  Positivisteu 
auch  auf  Kant  zurückgeht  und  von  der  Teleologie  metaphysischen  Gebrauch  macht. 
Die  erstere  ist  vertreten  namentlich  durch  R.  A  rdigö,  Opere  filosofiche,  vol.  I,  Pietro 
Pomponazzi  e  la  psicologia  come  scienza  positiva,  vol.  II,  la  formazioue  naturale  nel 
fatto  del  sistema  Bolare,  l'iuconoscibilc  di  H.  Spencer  e  il  positivismo,  la  religione  di 
T.  Mamiani,  lo  studio  della  storia  della  filosofia,  vol.  III,  la  morale  dei  positivisti, 
relntivita  della  logica  umana,  la  coscienza  vecchia  e  le  idee  nuove,  empirismo  e  scienza 


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§  48.   Philosophie  in  Italicu. 


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(Vieles  davon  vorher  einzeln  erschienen),  Cremonu  u.  Padova  1883  —  1886,  njid 
G.Sergi;  die  letztere  durch  Pietro  Siciliani,  Critica del  positiviamo,  Bologna  1868, 
sulle  fonti  Btoriche  della  fil.  pos.  in  Italia:  Galileo  Galilei,  ebd.  1869,  buI  rinnova- 
mento  della  filos.  pos.  in  Italia,  Flor.  1871,  Psicogonia,  3.  Aufl.,  Bologna  1882. 
Dieser  will  zugleich  den  Positivismus  als  die  internationale  Philosophie  gegenüber 
der  nationalen  in  Italien  zur  Geltung  bringen.  Eine  mehr  kritisch -historische 
Richtung  schlagt  Giovanni  Cesca  ein.  II  nuovo  realismo  coutemporaneo  della 
teorica  della  conoscenza  in  Germania  ed  Inghilterra,  Verona  1883,  Storia  e  dottrina 
del  criticismo,  Padova,  Verona  1884,  la  morale  di  tilos.  Bcientifica  ib.  1836.  Seit 
Juli  1881  erscheint  auch  eine  Zeitschrift  mit  positivistischer  Tendenz:  Hivista  di 
filosofia  scientifica,  unter  der  Leitung  von  E.  Morselli,  Ardigö,  Sergi  u.  A. 
redigirt  von  G.  Buccola.  Eine  ähnliche  Richtung  verfolgt  die  Zeitschrift:  La  nuova 
scienza,  Rivista  dall'  istruzione  superiorc,  herausgeg.  von  Enrico  Caporali,  von  1884 
an.  Gegen  den  Positivismus  ist  die  oben  bei  Comte  angeführte  Schrift  von  Giac.  Bar- 
zcllotti  gerichtet,  der  selbst  eine  eklektische  Richtung  verfolgt.  Vgl.  Ferdinand 
Franzolini,  la  filos.  posit.  e  la  atoria  naturale  delle  religioni,  Treviso  1871;  F.  Po- 
letti,  dell'  indole  e  limiti  della  filos.  posit.,  Udiue  1870;  E.  Trombetta,  la  filos. 
speculat.  ed  il  positivismo,  Nap.  1872.  Die  ausnahmslose  Gesetzlichkeit  des  Gesche- 
hens behauptet  Seb.  Turbiglio,  l'empirie  de  la  logique,  Turin  1870. 

Ausser  den  erwähnten  Richtungen  hat  auch  die  he  gel  sehe  Philosophie  seit 
Ende  der  vierziger  Jahre  in  Italien,  besonders  in  Neapel,  sich  eine  Reihe  von  An- 
hängern erworben.  Zu  diesen  gehören  Desanctis,  Marselli,  d'Ercole,  Delzio,  Raph. 
Mariano,  la  philos.  contempor.  en  Italie:  Essai  de  philos.  hegelienne,  Paria  1868, 
Mar.  Florenzi,  Cam.  de  Meis,  der  Rechtsphilosoph  Salvetti,  der  Aesthetiker  An- 
tonio Tari  (Estetica  ideale,  Napoli  1863,  Coufessioni  filosofiche,  Nap.  1873),  Pietro 
Ragnisco  (Storia  critica  delle  categorie  dai  primordj  della  filos.  Greca  sino  ad 
Hegel,  Florenz  1871,  la  critica  di  ragiono  pura  di  Kant,  1875)  U.A.,  namentlich 
auch  Aug.  Vera  (über  den  Rosenkranz,  Berlin  1868,  u.  R.  Mariano,  Napoli  1886, 
hnndelu),  der  Hegels  Hauptwerke  ins  Französische  übersetzt  und  (besonders  durch 
die  Schrift:  Introduction  ä  la  philos.  de  Hegel,  Paris  1855,  2.  ed.  1864,  ferner  durch 
Vorlesungen  über  Hegels  Geschichtsphilosophie,  von  Raffaele  Mariano,  Florenz  1869 
herausgegeben)  erläutert  und  Problema  dell'  Assoluto,  4  Tide,  Napoli  1872—1882, 
verfusat  hat,  und  Bertr.  Spaveuta,  der  u.  a.  über  die  Rai.  Philosophie  seit  dem 
16.  Jahrh.,  Modena  1860,  auch  philos.  Versuche  (Saggi  di  critica  filosofica,  politica 
e  religiosa)  Bd.  I,  Neapel  1867,  geschrieben  hat  (Vgl.  P.  Siciliani,  gli  Hcgeliani 
in  Italia,  Bologna  1868.)  Auch  die  herbartsche  Lehre  ist  nicht  ohne  Einfluss  in 
Italien  geblieben,  und  neuerdings  findet  der  kantische  Kriticismus  Vertreter  daselbst, 
deren  Haupt  Carlo  Cantoni  ist.  Eingehendere  Kantatudien  hat  veröffentlicht 
Feiice  Tocco.    Die  Schriften  beider  s.  bei  der  Kantlitteratur. 

In  Spanien  herrschte  ein  gemilderter  Scholasticismus,  der  mit  der  abstrusen 
Form  zugleich  vieles  von  der  alten  Strenge  und  Tiefe  verloren  hat.  Zu  den  bedeu- 
tendsten Vertretern  desselben  gehört  Balmes,  von  dessen  Schriften  Lorinser  mehrere 
ins  Deutsche  übersetzt  hat.  Thomisten  von  Namen  sind  noch  Gonzalez  und  Orti 
y  Lara,  Logiea,  Madrid  1885.  Als  eine  von  der  kirchlichen  Autorität  freie  Rich- 
tung hat  insbesondere  der  Krauseaniemus  einigen  Eingang  gefunden,  Der  oben  er- 
wähnte Vertreter  derselben,  Julio  Sanz  del  Rio,  ist  am  12.  Oct  1869  gestorben. 
Ausser  ihm  sind  zn  nennen  Ruiz  und  Gonzalez  Serrano. 

In  Portugal  hat  die  sensualistische  Richtung  vertreten  Silvestre  Pinheiro 
Ferreira  (1769-1846),  s.  üb.  ihn  J.  J.  L.  de  Magelhaes,  S.  P.  F.,  sein  Leben  u. 
seine  Philos.  mit  einer  Einleit.  üb.  d.  wichtigsten  portugies.  Philosophen  vor  ihm. 
I.-D.  Bonn  1881.  Vgl.  sonst  üb.  portugies.  Philos.,  die  freilich  durchaus  scholastisch 


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534    §  49.  Philosophie  in  Holland,  Dänemark,  Schweden,  Norwegen  u.  and.  Land. 


war,  Lopez  Praca,  Historia  da  philos.  em  Port.,  Coimbra  1868.  In  Porto  ist  1878 
eine  Zeitschr.  gegründet  worden:  O  Positivismo,  Rovista  de  philosophia,  p. 
Th.  Braga  et  J.  de  Hattos. 

§  49.  In  Holland,  Dänemark,  Schweden  und  Norwegen,  Russ- 
land, Polen,  Ungarn  haben  verschiedene  Richtungen  der  deutschen 
Philosophie,  namentlich  die  hegelsche,  nicht  unbeträchtlichen  Einfluss 
gewonnen.  Am  selbständigsten  hat  sich  das  philosophische  Denken 
in  Schweden  entwickelt,  und  hier  sind  zu  nennen  Ilöijer,  Biberg, 
Grubbe,  Geijer,  vornehmlich  aber  Bo ström,  dessen  Philosophie 
noch  die  tonangebende  auf  den  schwedischen  Universitäten  ist  und 
von  ihm  selbst  als  rationeller  Idealismus  bezeichnet  wird.  Auch  seine 
Gesellschaftslehre,  ähnlich  der  Krauses,  ist  von  Bedeutung. 

Ueb.  d.  Philosophie  in  d.  Niederlanden  handelt  T.  Roorda,  in:  Ztschr.  f.  Ph. 
u.  ph.  Kr.,  10.  1843,  u.  Land  in:  Mind,  1878. 

Ueb.  d.  Philosophie  in  Schweden  8.  da«  gross  angelegte  aber  noch  nicht 
vollendete  Werk  vun  Ax.  Nvbläus,  Den  tilosofiska  forskningan  i  Sverige,  Lund  1873  ft". 
Har.  Höffding,  in:  Phil.  'Monatsh.  (15)  1879,  S.  193—235.  Ejjon  Zöller,  in:  Prot. 
K.  Zt.,  1881,  No.  4.9,  öl,  52;  ders.,  Neuere  schwedische  philos.  Schriften,  in:  Ztschr. 
f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  83,  1883,  S.  270— '279.  Samuel  (irubbes  Kilosofiska  skrifter  i  urval. 
Utgifua  of  Axel  Nvbläi  s  (och  Keinh.  Geijer),  Lund,  7  Bde.,  1877  ff.  Ueb.  ihn  s.  Kg. 
Zoller,  d.  schwed.' Philos.  S.  Gr.,  in:  Ztschr.  f.  Ph.  u.  ph.  Kr.,  87,  1885,  S.  74-  88. 
Skrifter  of  Christopher  Jak.  BostrOm,  utgifna  of  H.  Kdfeldt,  2  Ilde.,  Upsala  1S83. 
Ueb.  ihn:  Höffding  in  d.  ob.  etwähnt.  Auf.*.;  ,1.  J.  Horelius,  d.  Phil.  B  s  u.  ihre 
Selbstauflös.,  in:  Ph.  Monatsh.,  24,  1885,  S.  235—243.  Ueb.  d.  slavische  Ph. 
s.  Cleni.  H  ankiewiez,  Grundzage  d.  slav.  Ph.,  2.  Ausg.,  Lemberg  1873,  Hnr.  v.  Stru  ve, 
d.  phil.  Litt.  d.  Polen,  in:  Philos.  Monatsh.,  10,  1874,  S.  222— 231,  29S— 325. 

In  Hollaud  herrscht  das  durch  Franz  Hemsterhuys  ^1720—90)  und  Daniel 
Wyttenbach  (1746—1820  s.  o  )  empfohlene  populäre  Philosophiren  im  Anschluss 
an  die  Alten  vor  (Vgl.  über  Hemsterhuys  G.  Ottema,  comm.  de  philos.  Fr. 
Hemsterhusii,  Lovanii  1827,  Emile  Grucker,  Paris  1866,  und  Gronemann,  Utrecht 
1867.)  Li  Utrecht  hat  der  Platoniker  Philipp  Wilhelm  van  HeuBde  (geb.  1778, 
gest.  1839)  gelehrt  Ausser  Arbeiten  zur  Geschichte  der  Philosophie  vonRoorda 
und  Anderen  sind  besonders  noch  die  Untersuchungen  zur  Logik,  Aesthetik  und 
Religionsphilosophie  von  ('.  W.  Opzoomer  zu  erwähnen.  Opzoomers  logisches 
Handbuch:  „die  Methode  der  Wiss.*  ist  aus  dem  Holländischen  ins  Deutsche  von 
G.  Schwindt  übersetzt  worden  (Utr.  1852)  und  seine  Schrift  »die  Religion"  von 
F.  Mook,  Elberfeld  1869.  Opzoomer  mit  seinen  Schülern  Koorders  und  Pierson 
lehrte,  das  Gebiet  des  Glaubens  sei  von  dem  des  Wissens  geschieden,  jedes  von 
den  beiden  habe  sein  eigenes  Recht.  Hofstede  de  Groot  und  Chantepie  de  la 
Saussaye  vertreten  die  Lehre  von  der  Selbstbeschränkung  Gottes.  Die  Lehre  vom 
freien  Willen  wurde  kritisch  und  vorurteilsfrei  untersucht  von  .1.  H.  Schölten, 
und  dieses  Buch  ins  Deutsche  übersetzt  von  C.  Manchot,  Berl.  1874. 

In  Dänemark  hat,  wie  früher  der  Kantinnismus  und  Schelliugianismus,  so 
neuerdings  auch  der  Hegelianismus  Anhänger  gewonnen.  Auch  Feuerbachs  Richtung 
hat  eingewirkt,  ist  jedoch  durch  Sören  Kierkegaard,  gest.  1854,  und  Rasmus 
Nielsen  (in  Kopenhagen)  dahin  umgebildet  worden,  dass  neben  der  objectiven 
Wahrheit,  die  dem  Denken  entspreche,  als  mindestens  gleichberechtigt  die  sub- 
jective  Wahrheit  anerkannt  wird,  die  dem  persönlichen  Affect  und  dem  Wollen 
entspreche;  der  Glaube  darf  nicht  nach  den  Gesetzen  des  Glaubens  beurtheilt 
werden.  Im  Gegensatz  zu  dieser  Sonderung  hält  an  der  hegelsche  :i  Auffassung  des 


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§  49.  Philosophie  in  Holland,  Dänemark,  Schweden,  Norwegen  u.  and.  Land.  f)35 


Verhältnisses  von  Religion  und  Philosophie  insbesondere  Broch ner  fest.  Nach 
K.  Kroman,  Unsere  Naturerkenutniss,  ins  Deutsche  übers.  Kopenhag.  1883,  Riebt 
es  zwei  Arten  von  Wissenschaften,  die  formalen  (Logik,  Mathematik,  Mechanik)  und 
die  realen  (Naturwissenschaft  etc.).  Die  ersteren,  in  gewisser  Weise  apriorisch, 
haben  es  mit  selbstgeschaffenen  Objectcn  zu  thun  und  geben  uns  Gewissheit,  die 
letzteren  finden  Objecto  vor,  sind  empirisch  und  bieten  nur  Wahrscheinlichkeit. 
Auf  ethischem  und  psychologischem  Gebiet  hat  mit  Erfolg  gearbeitet  Harald 
Höffdiug  (Prof.  in  Kopenhagen),  Die  Grundlagen  der  humanen  Ethik,  a.  d. 
Dänischen,  Bonn  1S80,  Psychologie  in  Umrissen  auf  Grundlage  der  Erfahrung,  ins 
Deutsche  übers.  Lpz.  1887,  eines  der  brauchbarsten  psychologischen  Lehrhüeher 
neuerer  Zeit. 

In  Norwegen  vertritt  M.  J.  Monrad  (in  Christiania)  einen  Hegelianismus. 
Auf  Grund  des  Gedankens,  dass  das  Leben  in  steter  Ueberwindung  und  Versohuung 
der  Gegensätze  bestehe,  bekämpft  er  die  vermittlnngslose  Trennung  zwischen 
Glauben  und  Wissen  und  sucht  eine  Ausgleichung  im  kirchlichen  Sinne  durch  die 
Annahme  zu  gewinnen,  der  Glaube  antieipire  das  unendliche  Ziel,  welchem  die 
stets  im  Werden  begriffene,  niemals  vollendete  Wissenschaft  zustrebe.  Auch  den 
Positivismus  erkennt  er  als  zu  Recht  bestehend  an,  aber  bloss  als  ein  notwendiges 
Moment  iu  der  Entwicklung  der  Idee,  dem  freilich  nur  eine  momentane  Bedeutung 
beigelegt  werden  darf.  Er  muss  sich  wieder  in  die  Idee,  in  der  er  seinen  Ursprung 
hat,  aufheben.  Der  Positivismus  in  jeglicher  Gestalt  ist  nur  das  Moment  der 
Selbstvergesseuheit  der  Idee.  Das  Denken  sucht  sich  dem  unmittelbur  Daseienden, 
der  besondern  Thatsache  anzuschliessen,  ohne  auf  die  tiefste  Quelle  derselben  oder 
seiner  selbst  zurückzugehen.  Es  muss  aber  dieser  statns  exaninitionis  der  Idee  ihr 
in  sich  bestimmtes  Ziel  und  Maass  haben.  Wie  lange  freilich  die  positive  Periode 
dauern  wird,  kaim  man  nicht  berechnen.  Hegelianer  ist  auch  Lyng  (Professor  in 
Christiania,  gest.  1884). 

In  Schweden*)  wurde  die  Lehre  Lockes  vertreten  unter  Anderen  von  dem 
als  Dichter  berühmten  K.  G.  af  Leopold  (1756—1829).  Derselbe  suchte  ein 
Supplement  der  empirischen  Erkenntnisstheorie  in  dem  moralisch  ästhetischen 
Gefühle.  Dies,  meinte  er,  unterrichtet  uns  über  moralische  Vortrefflichkeit. 
Ausserdem  nöthigen  uns  aber  die  Forderungen  unseres  sittlichen  Bewusstseins,  die 
Existenz  eines  persönlichen  Gottes  und  die  Unsterblichkeit  der  Seele  anzunehmen. 
—  Der  enthusiastische  Vorkämpfer  der  neueren  Poesie  gegen  den  damals  in  der 
schwedischen  Litteratur  herrschenden  franzosischen  Geschmack,  Thomas  T ho rild 
(1759— 1808\  der  als  Professor  in  Greifswald  starb  und  einen  Theil  seiner  Schriften 
auch  deutsch  verfasst  tat,  schrieb  auch  lateinisch  ein  philosophisches  System,  das 
er  selbst  als  Naturalismus  bezeichnet  und  worin  sich  vielfach  Berührungspunkte 
mit  Herder  und  Rousseau  finden.  Nachdem  Daniel  Boethius  (1751 — 1810,  Prof. 
in  Upsala)  die  kantische  Philosophie  bekannt  gemacht  und  gegen  eine  sehr 
heftige  Polemik  mit  Erfolg  und  Talent  vertheidigt,  wurde  die  fichte-schclling- 
hegelsche  Richtung  vertreten  von  Benjamin  Höijer  1 1767— 1812,  Prof.  in 
Upsala),  der  jedoch  die  Ideeu  dieser  deutschen  Philosophen  zum  Theil  selbständig 
untieipirte.  Auf  einer  Reise  in  Deutschland  hatte  er  persönlich  Bekanntschaft 
gemacht  mit  Fichte  und  Schelling,  die  ihn  hochschätzten.  In  seiner  Abhandlung 
»Ueber  die  philosophische  Construction"  (Stockh.  1799,  ebd.  deutsch  1801)  bekämpft 

*)  Oben  stehende  Skizze  über  die  schwedische  Philosophie,  namentlich  über 
die  Ansichten  Boströms,  ist  mit  dankenswerther  Bereitwilligkeit  von  einem  gründ- 
lichen Kenner  derselben  K.  R.  Geijer  für  die  fünfte  Aufl.  dieses  Grundrisses  aus- 
gearbeitet worden;  wir  haben  für  die  jetzige  Aufl.  nur  Weniges  nachzutragen 
gehabt. 


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53G   §  49.   Philosophie  iu  Holland,  Dänemark,  Schweden,  Norwegen  u.  and.  Land. 

er  die  Meinung,  Construction  der  Begriffe  sei  nur  in  der  Mathematik,  nicht  in  der 
Philosophie  möglich.  Er  sagt,  Kant  selbst  habe  die  Materie  philosophisch  con- 
btruirt.  Eine  reine  Handlung,  d.  h.  eine  absolute  unendliche  Thätigkeit,  die  dem 
Ich,  ihrem  Producte,  noch  voranliege,  bilde  den  Ausgangspunkt  aller  Construction, 
diese  selbst  geschehe  dur.  h  Einschränkung.  Gegen  das  Constructiousverfahreu  in 
der  Philosophie  suchte  schon  N.  F.  Biberg  (1776-1827,  Prof.  in  Upsala)  geltend 
zu  machen,  es  sei  nicht  die  Aufgabe  des  menschlichen  Verstandes,  aus  sich  Object 
und  Inhalt  zu  produciren,  sondern  er  setze  immer  einen  gegebenen  Inhalt  voraus, 
den  er  lediglich  zu  verstehen  habe,  d.  h.  klar,  deutlich  und  widerspruchslos  (freilich 
nur  in  abstracto)  zu  denken.  Die  Vernunft  aber  betrachtete  er  als  ein  besonderes, 
von  dem  Verstände  durchaus  verschiedenes  Vermögen,  wodurch  der  menschliche 
Geist  schon  vor  aller  Erfahrung  einen  concreteu  Inhalt  übersinnlicher  Art,  obwohl 
nur  in  dunkler,  potentieller  Form  besitze;  und  diesen  Inhalt  soweit  möglich  zur 
begrifflichen  Klarheit  im  Bewusstsein  zu  bringen,  soll  insbesondere  Sache  der 
Philosophie  sein.  Dem  Pantheismus  gegenüber  strebte  er,  eine  theistische  Welt- 
anschauung wissenschaftlich  zu  begründen,  überzeugt,  dass  nur  eine  solche  unserem 
praktisch  -  religiösen  Bedürfnisse  entspreche.  In  seinen  ethischen  Untersuchungen 
eignete  er  sich  Schleiermachers  Formalbcgriffe  an  und  suchte  sie  zu  verwerthen. 
Die  Rechtsphilosophie  hat  er  mit  Vorliebe  behandelt.  Seine  Schriften  sind 
gesammelt  von  C.  O.  Dellden  (1828— 30 1.  Auf  dem  von  Biberg  eingeschlagenen 
Wege  ist  Samuel  Grubbe  (1786—1868,  Prof.  iu  Upsala,  dann  Minister;  gefolgt. 
Eine  Rechts-  und  Gesellschaftslehre  hat  er  selbst  drucken  lassen.  Prof.  Nybläus 
in  Lund  hat  seinen  reichen  Nachlass  geordnet  und  herausgegeben:  Geschichte  der 
praktischen  Philosophie,  2  Bde.,  Philosophische  Sittenlehre,  2  Bde.,  Phänomenologie, 
Ontologie,  oder  über  das  absolute  Wesen,  Das  Schöne  und  die  schönen  Künste. 
Grubbe  war  zuerst  ein  Anhänger  Sendlings,  versuchte  dann  aber  einen  speculativeu 
Theismus  auszubilden,  in  dem  die  Persönlichkeit  Gottes  mit  ihren  ethischen  Eigen- 
schaften nicht  in  Widerstreit  stehen  sollte  mit  der  speculativ  geforderten  Unendlich- 
keit Gottes.  Dem  sinnlich  Wirklichen  kommt  nur  phänomenale  Gültigkeit  zu;  das 
Uebersinnliche  erscheint  in  ihm  für  den  endlichen  Menschen.  Zu  erwähnen  ist 
hier  B.  G.  Geijer  (1786-1846,  Historiar.  Prof.  in  Upsala),  dessen  Vorlesungen 
über  „die  Geschichte  des  Menschen-  nach  seinem  Tode  von  Prof  Ribbiug  heraus- 
gegeben sind. 

Von  Biberg,  Grubbe  und  Geijer  vielfach  angeregt  und  sich  ihnen  in  mehreren 
Beziehungen  anschliessend,  wurde  Christoffer  Jacob  Boström  (1797—1866, 
Prof.  in  Upsala)  der  Urheber  eines  Systems,  das  noch  im  Grossen  und  Ganzen  auf 
den  Universitäten  Schwedens  das  herrschende  ist.  Als  anregender  Lehrer  der 
ukadem.  Jugend  hat  er  einen  grossen  Einfluss  uuf  die  ganze  nationale  Bildung 
gewonnen.  Weniger  hat  er  gewirkt  durch  schriftstellerische  Thätigkcit.  Die  Grund- 
züge eines  Systems  hat  er  in  Grundrissen  dargestellt  zum  Leitfaden  für  das  akadem. 
Studium.  Ausserdem  hat  er  nur  eine  Reihe  von  lateinischen  Dissertationen  und 
mehrere  Broschüren,  zum  Theil  polemischen  Inhaltes,  veröffentlicht.  Boströms 
Philosophie  möchte  wohl  am  besten  charakterisirt  werden  als  eine  von  dem  Begriffe 
der  Persönlichkeit  durchdrungene  Weltansicht.  Nach  ihm  ist  alle  Wirklichkeit, 
In  ihrer  Wahrheit  aufgefasst,  persönlich,  und  er  detinirt  daher  ausdrücklich  die 
Philosophie  als  die  Wissenschaft  von  persönlichen  Wesen.  Den  Ausgangspunkt 
seiner  ganzen  Speculation  bildet  der  Satz,  den  er  zu  beweisen  sucht,  dass  alles 
Leben  im  Grunde  Selbstbcwusstsein  ist,  obwohl  in  unendlich  abgestuften  Graden 
der  Vollkommenheit.  Allerdings  nimmt  er  das  Wort  Selbstbewusstsein  in  einer 
sehr  umfassenden  Bedeutung.  Er  meint  damit  nicht  etwa  Bcwusstsein  von  sich 
selbst  oder  Ichbewusstscin ,  sondern  bezeichnet  damit  das  Substantielle  oder  Prin- 


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§  49.    Philosophie  in  Holland,  Dänemark,  Schweden,  Norwegen  a.  and.  Land.  537 


cipk'lle  in  allem  noch  so  dunklen  (ja  sogar  unbewussten)  Vorstellen.  Ks  bedeutet 
bei  ihm  etwa  dasselbe  wie  bei  Leibniz  Perceptionskraft,  nur  mit  dem  erheblichen 
Unterschiede,  dass  Kraft  immer  Princip  für  Veränderungen  ist,  während  nach  Ii. 
die  höchste  und  adäquateste  Form  des  Lebens  oder  Selhstbewusstseins  aller  Ver- 
änderlichkeit überhoben  ist.  Denn  in  unserer  Pbänomenwelt  zwar  äussert  sich  das 
Leben  immer  als  Selbsttätigkeit  oder  spontane  Veränderung,  dabei  soll  aber  das 
Wesentliche  nicht  die  Veränderlichkeit  sein,  sondern  die  Selbständigkeit  in  der 
Veränderung.  Allein  Selbsttätigkeit  oder  Selbständigkeit  setzt  notwendig  ein 
Selbst  voraus,  das  wiederum  nur  als  in  irgend  einer  Weise  vorstellend  (fühlend, 
begehrend)  zu  denken  möglich  ist.  Uebrigens  steht  es  für  B.  von  vornherein  fest, 
dass  Esse  und  Percipi  identische  Begriffe  sind,  wenn  mau  nur  beide  Wörter  ganz 
allgemein  auffasst  und  nicht  dem  einen  oder  anderen  irgend  welche  beschränkende 
Bestimmung  beimischt  oder  unterschiebt.  Denn  alles  Seiende  muss  für  Jemand 
du  sein,  wenn  nicht  für  sich  selbst,  so  wenigstens  für  Andere.  Ks  giebt  daher 
nichts  in  der  Welt  und  kann  überhaupt  nichts  geben,  was  nicht  entweder  selbst 
ein  pereipirendes  Wesen  ist  oder  Bestimmung  (Eigenschaft,  Zustand,  Function) 
eines  solchen. 

Auf  dieser  Grundlage  buut  sich  sein  metaphysisches  Lehrgebäude  auf. 
Absolut,  d.  h.  im  strengsten  und  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes  unbedingt  oder 
selbständig  ist  nur  die  unendliche  Persönlichkeit,  d.  h.  Gott,  dessen  durchaus  voll- 
kommenes Vorstellen  die  vollste  Concretion  und  Wärme  des  Gefühls  mit  der 
höchsten  begrifflichen  Klarheit  vereinigt.  Aber  in  Gott  und  durch  ihn  lebt  und 
webt  und  bewegt  sich  alles  endliche  Leben;  denn  die  endlichen  Wesen  sind  ihrem 
wahren  Sein  nach  seine  ewigen  Ideen.  Von  Gott  und  seiner  Ideenwelt  will  B.  nicht 
nur  alles  Räumliche,  sondern  auch  alle  Zeitbestimmungen  fern  halten,  und  in  Bezug 
hierauf  nennt  er  seine  Philosophie  einen  rationellen  Idealismus.  Das  göttliche 
Bewusstsein,  lehrt  er,  ist  durchaus  systematisch,  und  hierin  besteht  Gottes  innere 
Unendlichkeit.  Es  durchdringen  sich  hier  Einheit  und  Vielheit.  Gott  hat  alle 
seine  Momente  in  sich  gegenwärtig  und  ist  mit  seinem  ganzen  Inhalte  in  ihnen 
allgegenwärtig,  er  wohnt  also  auch  in  dem  menschlichen  Geiste.  Er  ist  wahr- 
haftig alles  in  allem,  so  dass  keine  Idee  vollständig  aufgefasst  werden  oder  sich 
selbst  auffassen  kann,  ohne  dass  eo  ipso  alle  die  anderen  in  irgend  einer  Be- 
ziehung zu  ihr  als  ihre  Bestimmungen  aufgefasst  werden.  Um  diesen  systematischen 
Zusammenhang  oder  diese  organische  Wechselbestimmtheit  der  Ideenwelt  in  einem 
Bilde  anschaulich  zu  machen,  bedient  er  sich,  wie  schon  vor  ihm  Piaton  getan, 
des  Zahlensystems.  In  dem  Begriffe  aber  eines  vollkommenen  Systems  liegt,  wie 
B.  weiter  hervorhebt,  dasa  jedes  Moment  (relative)  den  Charakter  des  Ganzen 
trage,  und  daraus  folgert  er,  duss  Gottes  Ideen  ursprünglich  und  in  alle  Ewigkeit 
lebendige  und  vorstellende  Wesen  sein  müssen.  Die  schon  aus  anderen  Gründen 
verwerfliche  Annahme  einer  zeitlichen  Schöpfung  ist  daher  überflüssig.  Der  Gegen- 
satz zwischen  Essenz  und  Existenz  ist  somit  überwunden,  und  die  darauf  beruhende 
Forderung  der  leibniz  -  wölfischen  Philosophie  eines  Complementum  possibilitatis  als 
grundlos  erwiesen. 

Von  selbst  versteht  es  sich,  dass  B.,  der  die  lebendigen  Wesen  nie  als  von 
einander  isolirt,  sondern  als  ursprünglich  in  einander  immanent  betrachtet,  keiner 
prästabilirten  Harmonie  bedarf,  überhaupt  wenigstens  unmittelbar  keiner  Erklärung 
mediante  Deo  ihres  Wechselwirkens  und  ihrer  Uebereinstimmung  untereinander. 
Zwar  als  solche  sind  alle  Gottesideen  unendlich  vollkommen,  aber  als  zugleich 
vorstellende  Wesen  sind  sie  endlich  oder  unvollkommen;  und  in  Folge  dieser  ihrer 
Unvollkommcnheit  müsscu  sie  die  Ideenwelt  und  sich  selber  zum  Theil,  in  ver- 
schiedenen Graden  mehr  oder  weniger,  in  einer  inadäquateu  oder  unwahren  Weiss 


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f>38   §  49.    Philosophie  in  Holland,  Dänemnrk,  Schweden,  Norwegen  a.  and.  Land. 


auffassen.  Das  so  Aufgefasste  ist  Phänomen,  und  zwar  zum  Unterschiede  von  dem 
blossen  zufälligen  Scheine  ein  phaenomeuon  beue  fundatum,  sofern  es  in  der 
ursprünglichen  und  unvermeidlichen  ünvollkommenheit  des  Auffaseenden  hin- 
länglich begründet  ist.  Eigentlich  hat  jedes  endliche  Wesen  seine  ihm  eigene 
Phänomenwelt,  was  nicht  hindert,  dass  mehrere  solche,  die  zu  derselben  Gruppe 
gehören  und  einen  gemeinsamen  Grundtypus  haben,  in  so  weit  auch  eine  gemein- 
same Phänomenwelt  haben.  Unsere  gegenwärtige  Phäuomenwelt  wenigstens  hat 
insbesondere  dadurch  ein  eigentümliches  Gepräge,  dass  sie  an  Raum  und  Zeit 
gebunden  ist,  die  B.  nach  Kant  als  apriorische  Anschauungsformen  des  Menschen 
auffasst.  Aber  obschon  der  Mensch  in  einer  Welt  lebt,  die  sich  für  seine  Sinne 
im  Räume  ausbreitet  und  sich  unaufhörlich  in  der  Zeit  verändert,  und  obschon  er 
sich  selbst  als  einen  Theil  dieser  Welt  betrachten  muss,  so  ist  sie  doch  für  ihn 
weder  die  einzige  noch  die  höchste,  sondern  er  hat  zugleich  eiu  uuvertilgbares 
Bewusstsein  einer  übersinnlichen,  d.  h.  von  Raum  und  Zeit  gänzlich  unabhängigen, 
rein  vernünftigen  oder  persönlichen  Welt,  und  nur  durch  diesen  höheren  Inhalt 
Beines  Bewusstseins,  der  sich  zunächst  in  der  Form  einer  leisen  Ahnung,  eines 
Gefühles  oder  Instinctes  merkbar  und  geltend  macht,  ist  er  selbst  realiter  ein  ver- 
nünftiges Wesen,  eine  Persönlichkeit. 

In  seiner  Psychologie  sucht  ß.  diesen  Gegensatz  zwischen  Sinnlichkeit  und 
Vernunft  als  zwei  ihrer  Art  nach  verschiedene  Inhalte  des  menschlichen  Bewusst- 
seins auf  allen  Gebieten  des  menschlichen  Lebens  durchzuführen,  auf  dem  prak- 
tischen und  ästhetischen  nicht  weniger  als  auf  dem  theoretischen.  Indessen  darf 
man  diesen  Gegensatz  nicht  in  dualistischer  Weise  auffassen;  denn  er  existirt 
überhaupt  nur  für  das  endliche  Bewusstsein  oder  in  ihm.  Alles  Sinnliche  ist  ja 
nur  Phänomen  der  unsinnlichen  Wirklichkeit,  die  einzig  und  allein  die  wahre  ist. 
Dies  zu  bemerken  wird  von  besonderer  Wichtigkeit  für  die  Ethik;  denn  nur 
•ludureh  wird  es  für  B.  möglich,  zu  lehren  und  begreiflich  zu  machen,  dass  das 
Sittengesetz  nicht  die  Vertilgung  der  Sinnlichkeit  sondern  ihre  Umwandlung  und 
Veredelung  fordere,  damit  sie  dem  vernünftigen  Leben  als  Organ  und  Mittel  diene. 
Somit  erhält  B.s  Sittenlehre  ein  concretes  und  individualistisches  Gepräge,  das  sie 
besonders  von  der  kantischen  unterscheidet,  der  sie  sich  sonst  in  mehreren  Hin- 
f-ichten  anscbliesst.  Am  vorzüglichsten  aber  wird  der  individuelle  Charakter  der 
Sittlichkeit  dadurch  hervorgehoben,  dass  sie  in  die  engste  Verbindung  mit  der 
Religiosität  gebracht  und  überhaupt  wesentlich  als  ein  Leben  in  persönlichen 
Verhältnissen  zu  anderen  Personen  aufgefasst  wird.  Aehnlich  wie  Kant  leitet  B. 
die  verpflichtende  Kraft  des  Sittengesetzes  aus  dem  eigenen  übersinnlichen  Wesen 
des  Menschen  ab,  allein  jeder  menschliche  Geist  ist  ein  lebendiger,  individuell  be- 
stimmter Gedanke  Gottes  und  hat  in  ihm  und  in  Verbindung  mit  seinen  übrigen 
lebendigen  Gedanken  sein  wahres  Leben.  Daher  soll  der  einzelne  Mensch  danach 
streben,  auch  für  sich  zu  werden,  was  er  von  Ewigkeit  her  für  Gott  und  in  ihm 
ist,  d.  h.  er  soll  für  sich  seine  eigene  ewige  Idee  renlisiren,  und  nur  so  gewinnt  er 
*ein  höchstes  Gut,  seine  ewige  Seligkeit.  Für  die  Menschheit  als  ein  Ganzes  wird 
als  letzter  sittlich- religiöser  Zweck  aufgestellt,  darauf  hinzuarbeiten,  das  Reich 
Gottes  herzustellen.  Vollständig  wird  dies  realisirt,  indem  jedes  endliche  Wesen 
in  seiner  Entwickelung  zu  der  Stufe  von  Vollendung  gelangt,  die  ihm  sein  ewiges 
Maass  bestimmt,  was  freilich  nie  in  diesem  irdischen  Leben  zu  erreichen  ist  Seitat 
hat  B.  seine  Ethik  im  Gegensatze  zu  der  kantischen  als  einen  positiven  Rationalis- 
mus bezeichnet. 

Vielleicht  am  originellsten  ist  B.  in  seiner  Ansicht  über  die  Gesellschaft, 
obschon  diese  von  Grubbe  vorbereitet  war  und  ausserdem  wenigstens  in  ihrer  all- 
gemeinen Tendenz  einige  Aehnlichkeit  mit  der  Krauses  hat.    Eine  Gesellschaft 


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§  49.   Philosophie  in  Holland,  Dänemark,  Schweden,  Norwegen  u.  and.  Land.  539 


(„Samhälle')  ist  nach  B.  von  einer  arbiträren  Vereinigung  streng  zu  unterscheiden. 
Jene  ist  nicht  nur  ein  lebendiger  Organismus,  dessen  Organe  Menscheu  sind,  sie 
ist  ebensowohl  wie  der  einzelne  Mensch  in  ihrer  Wahrheit  eine  göttliche  selbst, 
persönliche  Idee.  Als  solche  muss  sie  auch  ihre  eigenthümliche  rhänomenwelt 
haben,  wovon  wir  indessen  keine  besonderen  Kenntnisse  haben  können.  Für  uns 
über  wird  diese  Idee  erkennbar  und  hat  Bedeutung  zunächst  als  Norm  und  Zweck 
für  unsere  eigene  freie  praktische  Wirksamkeit  In  dieser  Weise  macht  sie  »ich 
in  unserem  Gewissen  geltend  und  wirkt  äusserlich  in  unserer  Phänomenwelt  durch 
Repräsentanten.  Als  eine  solche  „praktische  Idee"  wird  jede  Oesellschaft  ein 
Grund  von  besonderen  Pflichten  und  Rechten,  die  wir  ausser  ihr  nicht  haben;  und 
eben  weil  es  so  ist,  muss  sie  selbst  im  Grunde  persönlich  sein;  denn  einen  freien 
Willen  verpflichten  oder  ihm  Rechte  geben  kann  nur  ein  ihm  übergeordneter  ver- 
nünftiger Wille.  Die  so  aufgefussten  Gesellschaften  nennt  B.  „moralische  Persön- 
lichkeiten* und  theilt  sie  in  private  und  öffentliche  ein.  Jene,  —  wovon  die  erste 
die  Familie  ist,  und  die  letzte  oder  höchste  das  Volk,  —  verfolgen  Zwecke,  die 
mit  dem  eigenen  unmittelbaren  Zwecke  des  einzelnen  Menschen  gleichartig  sind. 
Sie  wirken  alle  für  sittliche  Cultur,  nur  nach  verschiedenen  Seiten  hin  und  in 
immer  grösseren  Kreisen.  Dieser  Wirksamkeit  nun  der  privaten  Gesellschaften 
nicht  weuiger  als  der  Individuen  soll  die  öffentliche  Gesellschaft,  der  Staat,  die 
vernünftige  Form  geben.  Diese  vernünftige  Form  ist  das  objective  Recht,  welches 
zwei  Momente  in  sich  einschliefst,  Selbständigkeit  und  Systematik.  Daher  soll 
der  Staat  nicht  nur  (durch  die  im  engsten  Sinne  so  genannte  Justizverwaltung) 
Rechtsgrenzen  bestimmen  und  uufrecht  erhalten,  sondern  auch  (durch  Ekklcsiastik 
und  Oekonomieverwaltung)  die  Culturarbeit  organisireu.  Das  öffentliche  Interesse, 
d.  h.  das  Recht  und  seiu  Vertreter,  soll  allen  privaten  Interessen  gegenüber  selb- 
ständig und  unbefangen  sein,  was  vollständig  nur  in  einer  erblichen  Monarchie 
möglich  ist.  Aber  auch  das  Volk,  sofern  es  die  dafür  nöthige  Reife  besitzt,  soll 
einen  Repräsentanten  oder  eine  Repräsentation  haben,  der  auch  die  Aufgabe  zu- 
kommt, die  Rechtsverwaltung  oder  Regierung  zu  controliren,  damit  sie  nicht  ihre 
eigenen  Grenzen  überschreite  und  in  das  Gebiet  des  Volkes  übergreife.  Dem- 
gemäss  ist  die  sogenannte  eingeschränkte  oder  constitutionelle  Monarchie  die 
einzig  vernünftige  oder  ideale  Staatsform.  Ueber  den  einzelnen  Staaten  steht  das 
Staatssystem ;  und  endlich  kann  man  die  ganze  Menschheit  als  ein  System  von 
Staatssysteraen  betrachten,  obwohl  dies  leider  bis  jetzt  nur  ein  Ideal  ist,  dessen 
annähernde  Verwirklichung  von  der  Zukunft  zu  hoffen  indessen  erlaubt  sei. 

Unter  seinen  zahlreichen  Schülern  sind  am  bedeutendsten  Sigurd  Ribbing 
(Professor  in  Upsala),  Axel  Nybläus  (Professor  in  Lund)  und  0.  Y.  Sahlin 
(Professor  in  Upsala).  Von  ihren  Schriften  mögen  hier  folgende  erwähnt  werden: 
von  Ribbing  .Piatos  Ideenlehre"  und  „Sokratische  Studien",  beide  auch  deutsch; 
weiter  »Om  det  Absoluta"  (Ueber  das  Absolute),  »Om  Pantheismen*.  Von  Nybläus 
sind  mehrere  rechts-  und  religionsphilosophische  Schriften  erschienen  uud  ein 
grösseres  philosophie-geschichtliches  Werk,  s.  d.  Litterat  Von  Sahlins  zahlreichen 
Abhandlungen  sind  zu  erwähnen:  Grund  forraerna  i  Ethiken  (in  den  Jahrb.  d.  Uni- 
versität Upsala  1869),  Kants,  Schleiermachera  och  Boströms  etiska  Gruudtankar, 
Upsala  1877.  Von  einem  der  jüngeren  Philosophen  der  boströmschen  Schule, 
C.  P.  Wikner,  sind  zwei  Abhandlungen  ins  Deutsche  übersetzt:  „Ueber  Einheit 
und  Vielheit"  und  «Können  wir  etwas  von  Gott  wissen?"  Von  Reinh.  Geijer  ist 
die  ob.  erwähnte  Schrift:  Hegelianism  och  Positivism  verfasst,  worin  eine  gerechte 
Kritik  an  Hegel  geübt  wird.  —  Die  hegelsche  Richtung  vertritt  Borelius  (Pro- 
fessor in  Lund),  ohne  freilich  die  hegelsche  Philosophie  in  ihrer  ursprünglichen 
Gestalt  festhalten  zu  wollen. 


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540   8  49.   Philosophie  in  Holland,  Dänemark,  Schweden,  Norwegen  u.  and.  Land. 


In  Siebenbürgen  hat  Bcnekes  Psychologie  nnd  Pädagogik  (s.  ob.  S.  458), 
in  Poleu  nnd  Ungarn  die  hegclsche  Philosophie  Einflnss  gewonnen.  Auch  auf  Cyrill 
Horväth  (gest.  1884  als  Prof.  d.  Philos.  in  Budapest),  der  für  den  bedeutendsten  und 
selbständigsten  ungarischen  Philosophen  gilt  (s.  üb.  ihn  Emerich  Nemes  in:  Ztschr.  f. 
Ph.  u.  ph.  Kr.,  88,  1886,  S.  63—82),  hat  Hegel  unverkennbar  eingewirkt.  Er  nennt 
seine  Lehre  Concretismus  und  versteht  unter  diesem  die  „begriffsmässige  Ver- 
bindung des  Objectiven  und  Subjectiven,  des  Realen  und  Idealen,  des  Sinnlichen 
und  Uebersinnlichen,  des  Empirischen  und  Intellectuellen  zu  einem  einheitlichen 
Ganzen*;  die  Philosophie  ist  ihm  die  Wissenschaft  von  der  Wahrheit,  Gewissheit 
und  der  Einheit  von  beiden.  Auch  bei  der  Eintheilung  der  einzelnen  Disciplincn 
herrscht  die  Dreiheit;  so  theilt  sich  die  Idealphilosophie  in  Logik,  Metaphysik  und 
Erkenntnisslehre,  die  Realphilosophie  in  Naturphilosophie,  Geistesphilosophie  und 
philosophische  Theologie.  Auch  in  Russland  hat  sporadisch  die  deutsche  Philo- 
sophie Eingang  gefunden.  Es  zeigt  sich  in  diesen  Ländern  auch  Neigung  zu 
Schopenhauer  und  zum  Positivismus.  Von  neugriechischen  Schriften  verdient 
u.  a.  Erwähnung:  0Mrpgrur${  xnl  noaxrixijt  (fiXooof  las  aroi^ttn,  i5/ro  ÜQaTXa  'jQfiiyti, 
xu&rjyriTov  Tr,f  qtXoaorjiai  <V  rfi  lovtat  axa6r,ui<f  (damals  Senatssecretair  der  ionischen 
Inseln),  tr  Kiqxvw  1863,  und  '/tfrop/a  tff  tfiXoCorftm  vno  JY.  Korket,  iv  'Alvern; 
1870—78    Der  Verfasser  schloss  sich  in  seinen  eigenen  Ansichten  an  Sendling  an. 


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Nachträge  und  Berichtigungen. 


S.  :)(),  Z.  22  v.  o.  s.  Ii.:  dorn.  (Uibinger),  d.  Gottes!,  des  Nico!.  Cusantis,  Paderborn  1888. 
S.  32,  Z.  28  v.  u.  s.  h. :  Giov.  Santo  Feliei,  d.  religionsphilos.   Anschauungen  dei 

Tb.  Campanella,  I.-D.,  Halle  1887. 
S.  49,  Z.  22  v.  u.  1.  statt  18Ö5:  1885- 

Klieiidas.  s.  Ii.:  Alless.  Chiappelli,  la  di»ttrina  della  realtii  del  mundo  estcrno  nella  tilo*. 

moderna  prima  di  Kant,  P.  I:  da  Descartes  a  Berkeley,  Pirenxe  18SG. 
S.  SO,  Z.  9  v.  o.  hinter  1GG1  s.  Ii.:   üb.   ihn:   Hnr.  Seyfarth,   Louis  de  la  Farge  u.  s. 

Stellung  im  Oecasionalismus,  Gotha  1S87. 
S.  142,  Z.  19  v.  o.  s.  h.:  2.  Folge,  ebd.  S.  231— 240. 
S.  14.1,  Z.  ü  v.  o.  s.  h.:  IM.  3,  Abth.  1,  1887. 

S.  1G4,  Z.  23  v.  u.  s.  h.:  E.  Wohlwill,  Joach.  Jungius  u.  d.  Erneuer,  atomist.  Theorien 

im  17.  Jahrb.,  Bomb.  1888. 
S.  1G6,  Z.  4  v.  o.  s.  Ii.:  A.  Ni.oladoni,  Christ.  Thoinasius,  e.  Deitr.   zur  Gesch.  d. 

Auf  klär,  Berl.  1888. 

S.  18G,  Z.  24  v.  o.  s.  b.:  Kine  Rede  üb.  Diderot  v.  E.  du  Bois-Reymond,  in  Reden, 
Bd.  1. 

S.  240,  Z.  19  v.  ii.  s.  h.:   Carl  Fuehs,  d.  Idee  b.  Plato  u.  Kant,  Pr.  d.  Ob.  Gynin. 

Wiener-Neustadt.  Thom.  Hill  Green,  Leetures  un  the  philus.  of  K.,  in: 
Works  of  Tb.  II.  Gr.  ed.  by  R.  L.  Nettlcship,  Vol.  2,  Lond. 

H.  du  Marebie  van  Voorthuisen,  de  theorio  der  kennis  von  I.  Kant,  in:  Nagetaten 
Gesehriften,  uitgeg.  door  A.  G.  de  Geer,  I.  deel.  Arnhem.  Aug.  Clausen, 
üb.  d.  Einttuss  K.s  auf  d.  Theorie  der  Sinnei-vvahrnehmung  u.  d.  Sicherheit 
ihrer  Ergebnisse,  Lpz.  188G. 

Ebendas.,  Z.  13  v.  u.  s.  b.:  2  IG— 230. 

S.  271,  Z.  3  f.  v.  u.  I.  statt  Honmadt:  Romundt  und  statt  Bonn:  Bremen. 
S.  287,  Z.  22  v.  u.  I.  statt  Wesens:  Wesen. 

S.  291,  Z.  G  v.  o.  s.  h.:  Howe,  üb.  d.  vermeintlichen  Wechsel  in  Schillers  Ansicht  vom 

Verb.  d.  Aestbet.  zum  Sittlichen,  Fr.,  Dirschau  1880. 
S.  372,   Z.  ü  v.  u.  s.  h.:   Eduard  Grisebaeh,  Edita  u.  Incdita  Schopcnhaueriana.  Eine 

Scbopenh.-Bibliographie,  sowie  Bandschriften  und  Briefe  A.  Seh.s,  berausgeg. 

z.  s.  hundertj.  Geburtst-,    I.pz.  1888.    Ii.  Köber,   d.  Philosophie   A.  Sch.8 

Hdlb.  1888. 

S.  45G,  Z.  20  v.  o.  s.  h.:  M.  Seiling,  Mainländer  e.  neuer  Messias.  Münch.  1888. 

S.  4G4,  Z.  2  v.  u.  s.  h.:  .1.  F.  Astic,  Philosophie  et  religio«  entro  Kantiens,  in:  Revue 

theol.  et  pbil.,  18.SG,  S.  :IG9— 390,  47.3— .j  12. 
S.  47.-),  Z.  19  v.  u.  s.  h.j  16.  Aufl.  1888. 

S.  478,  Z.  4  v.  o.  s.  Ii.:  (Snell)  Vorlesungen    üb.  d.   Abstammung  des  Menschen, 

herausgeg.  v.  R.  Seydel,  1888. 
S.  528,  Z.  17  v.  o.  s.  h.:  ders.  (Credaro),  Alfuiiso  Testa  e  i  Friinordi  del  Kantismo  in 

Italia,  in:  Atti  della  Reale  Ae.  dei  Lincei  18*G. 


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R  e  g  i  s  t  e  r  *) 


A. 

Abbott,  B.  A.  52, 
Abbott,  Tb.  K.  126  222, 
Abbt,  Thon.  168  ^Uli  112. 
Abel,  J.  F.  von  fflft 
Abereomby,  J.  *f>l  H. 

Aivoht  i«;s  2:t  t  2üL 

Achelis.  T.  414  4M.  4^ 

Achillini,  Alex.  liL 

Acri,  F.  20. 

Adam  65  24Q  333. 

Adanison  23g  305. 

Adelung  32. 

Adeodatus  463. 

Adiek«-.«,  E.  2Jii 

Adler,  Arn.  176. 

Adler,  C.  512. 

Aegidius  Romanus  1 1 

Aclius  Aristides  403. 

Aeneas  Sylvius  Piccolomini  IQ, 

Agnosticismus  517. 

Agricola  5  I  M4  f .  2L 

Agrippa  v.  Nettesheim  fi  f .  M2  35  164. 

Ahrens,  IL  305  5342  516. 

Aime  Martin  64. 

Akademie,  platonische  4  f.  10  11. 
Aksakow  473. 
Alardus  L 

Aluux,  J.  K.  5Q4  «514. 
Albert  d.  Gr.  Ii, 
Albert,  Heinh.  «Kl 

d'Aleuibert,  Jean  IM  *1B6  121  f.  213_. 
Alexander  von  Aphmdisias  5  15  t 
Alexander,  B.  231  238. 
Alexander,  S.  347. 
Alexandre,  C.  6* 
Alexandristen  5  15. 
Algernon  Sidney  117. 
Allatius,  Leo  & 


Allievo,  G.  246. 

Allihn,  F.  IL  T.  285  403.  *444. 

Alpakhar,  Jehuda  !>■">. 

Alstedt,  J.  IL  22  164.. 

Althusius  42  44  ML 

Altmeyer  242. 

Altruismus  514  523. 

Amabile  32. 

Amador  240. 

Ambrosius  15t 

Amerbaeh  22. 

Ancillon  144  *208. 

d'Ancona,  Aless.  22. 

Andala.  Kuardus  S7- 

Andre  12. 

v.  Andreae  338. 

Angiulli,  A.  «532. 

Anhuth  4113  42k 

Anselm  von  C  anterburv  42  72  97  33_7_. 

Apelt,  K.  F.  121  *30l'  202  465  412. 

Apostoliii8,  Mich.  LL 

Arber,  K.  46  5L 

Arbuthnot  126. 

Ardi«.'.,  H.  ^532  533. 

Aretinus,  Leon.  2i 

Argvropulns,  Job.  *13  f. 

Aristoteles  4  ff.  21  24  ff-  55  25  22  1Q7  112 

121  154  244  245  357  389  401  459 

JiiLL 

Aristoteliker  5  12  12  15  112  460-463. 

Arnauld  62  Iß.  fil  142  146. 

Amobius  190- 

Arnoldi,  Harth.  122, 

Arnolds,  Em.  20Ü  224  226  222  270. 

Asehcrson,  Ferd.  143. 

Asher,  Dav.  221  372. 

Askenasy  481. 

Asmus  937. 

Asseznt  190. 

Ast,  Geo.  Ant.  Friedr.  *331  .'133. 
Astie,  iL  F.  65  54L 
Atkinson  523. 

Atomisten,  Atomistiker  18  61  357. 


*)  Dieses  Register  enthält  «lie  Namen  der  Philosophen  und  der  Historiker  der 
Philosophie  und  Litteratoren.  Bei  den  Philosophen  sind  die  Hauptstellen  mit  einem 
Sternchen  (*)  bezeichnet. 


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Regierter. 


543 


Auberlen,  C.  A.  3fi0. 
Aubert  de  Verse  8L 
Audisio  *582. 

Auerbach,  Bertbold  85  86  145, 
Aufklämng,  deutsche  49  175 ff. 
Aufklärung,  englische  178. 
Aufklärung,  französische  17H. 
Augusti  2öä 

Augustinus  15  42  62  81  128  182. 

Aulard,  A.  452  504. 
Aureolus,  Petrus  151. 
Avenarius,  Rieh.  85  89  33  *4tift. 
Averroes  5  2  14  15  f. 
Averroismus  15  ff.  38  91. 
Avezac-Larigne,  C.  186. 
Avicenna  3ii. 


B. 

Baader,  Franz  von  29  32  33  43  88  20 
328  1332  »335-337  439  440  463. 

Babocuf  l?rj. 
Bach,  Heinr.  235. 
Bachi  126. 
Bachmann  346. 
Bacmeister  4fSs. 

Bacon  von  Verulam,  Francis  30  BZ  42 
*50-56  58  93  145  152.  IM  131  463 
52L 

Bader,  F.  E.  88. 
Bähr,  C.  G.  3IL 

Bärenbach,  Friedrich  von  231  291  »501. 

Baggcscn  210. 

Bahnsen,  Jul.  *455f.  433. 

Bahrdt,  Karl  Friedr.  18L 

Baillet,  A.  £4. 

Bailly  143. 

Bain,  Alex.  204  518  *5l!'. 

Balche,  A.  de  312, 

Baidachini  32. 

Ballauf,  Ludw.  23Z  *444  f. 

Balmes  »533. 

von  Bamberger,  IL  52. 

Bandini,  AI.  6, 

Barach,  Karl  Sign..  31  Gl  05  ir>5  2: 17  500. 

Barbaras,  Franciscus  3  14, 

Barbarus,  Herniolaus  14. 

Barbe  yrae  134. 

Barehou  de  Pcnhoen  1  234. 

Barck hausen,  IL  L 

Bardiii,  Christoph  Gottfr.  I  ^230231  1303. 

Baring  143, 

Barlaam,  Beruh.  3. 

Barrow  146  148. 

Barsotti,  Jos.  143. 

Bartels,  A.  525. 

Barthel,  A.  65. 

Barthelemv  St.  Hilaire  fjOL 

Bartholdvi  G.  W.  5L 

Uartholmess,  Chr.  31  65  149  184  515, 

Bartholomäi,  F.  L£5_  385. 


Bartsch,  A.  970 

Barzellotti,  G.  2  238  222  464  504  528  533. 

Bascotn,  John  526. 

Basedow,  Job.  Bernh.  1181  223. 

Basso,  Sebastian  31  38. 

Bastian,  A.  481. 

Bastiat  *fil5 

Bathurst,  Kadolph  52. 

Batteux,  Charles  *1H4  189. 

ßaudouin  32. 

Baudrillart,  iL  44. 

Bauer,  Bruno  168  346  348  MIß  41L 
Bauer,  Kdgar  *417. 
Bauernfeind,  G.  27ü 

Baumann,  Jul.  2  63  64  239  336  484  »Mfl 
503. 

Baumeister,  Fr.  Chr.  144  124. 
Baumgart,  iL  28L 

Baumgarten,  Alex.  Gotth.  162  ff.  1124  f. 

179  216. 
Baumgarteu,  M.  244  360. 
Baumgartner,  A.  177. 
Baumstark.  U.  1 1. 
Baur,  A.  3611 

Baur,  Christian  Ferd.  33  »418. 

Baur,  Gust.  36L 

de  Bauregard,  s.  Berigurd. 

Bax,  K.  Beifort  223. 

Baxmann.  Kud.  360. 

Bayer,  Jos.  8L 

Bavle,  Pierre  18  165  128  86  82  142  152 

'  180  1KV 
Bavrhoffer,  Karl  Tbeod.  «41K. 
Beattie,  James  135  132  *2ttL 
Beatme  185. 

Beaussire,  Emil  133  52L 
Berearia,  Cesarc  529. 
Bechard  185 
Beck.  Carl  36L 
Beck,  F.  32, 

Beck,  Jacob  Sigism.  226  228  «302-303 

Becker  458. 

Becker.  J.  C.  311  456, 

Becker.  K.  F.  458. 

Becker,  T.  116  136, 

Beckers,  Hub.  3ü5  318  1433  *441 

Beger,  L.  44. 

Bekker,  Balthasar  »76. 

Bellarmin  46. 

Benamozegb,  Elias  £3. 

Bendavid,  Lazarus  234  240  210  28L 

Bender,  H.  240. 

Bender,  Wilh.  220  361  464  5Q3, 
Bendixon,  A.  240. 

Beneke,  Friedr.  Ed.  235  220  230  302  363 
321  385  4112  *HJ11  —  Uli  Uli  1 :»:', 
458  ff.  463  504  524  529  540. 

Benekeaner  453  *458— 460. 

Benfey.  K.  360. 

Benn  *525. 

Benoit,  Geo.  von  116. 

Benson,  Hob.  127. 

Bentham,  Jerem.         512  *S24. 


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544 


Register. 


Bentlev  133. 

von  Berger,  Joh.  Erich  »332  335. 
Borger,  M.  475. 
Borgmann,  Jos.  15Q. 
Bergmann,  Jul.  412  «500. 
de  Berigard,  Claude  Guil  lerntet  31  38» 
Berkeler,  George  81  121  »12H-129  203 
204  252  f.  318  452  525» 

Bernuvs,  .lue.  SH  9_5_, 

Bend  228» 
Bernhardt  20. 
Bernhardt,  Theod.  44. 
Bernicr,  F.  2» 

Bernooilli,  Daniel  212  491. 
Bernouilli,  Jae.  148. 
iK-rnouilü,  .Jo!,.  LiS  IC!). 
Bernstorff  142. 
Bernus,  A.  82» 
Bersof,  E.  185» 
Berthold,  Gerh.  132  152. 
Berti,  Domenieo  31  32  33» 
Bertini,  G.  M.  2. 
Bertraud,  J.  186. 
Hegsarion  4  6  Lll  13* 
Ibssel-Hagen  212» 
Besser,  K.  M.  »4 IS. 
Bett  2Q  23JK 
Saint-Beuve  8.  Saint  B. 
Beyer,  C.  43Q, 

Beysehlag,  W.  360. 

v.  Bianco,  F.  J.  2» 

Biberg.  N.  B.  «£34  531L 

Biedermann,  A.  K.  «418. 

Biedermann,  Friedr.  Karl  142  168  224 

305  34ti  360. 
Biedermann,  Gust.  2j£  »416  418, 
Bierbower,  A.  *fv2(>. 
Bierendempfel  65* 
Biese,  Franz  290  «419. 
Biese,  R.  237. 

I.iltinjjer.  Geo.  Beruh,  s.  a.  Bülftinger  143 

«167  f.  124, 
Bilharz,  A.  232  455  *45<;. 
Billewiez,  J.  v.  4Ü2, 
Billroth,  Joh.  Gust.  Friedr.  *438. 
Bimbenct,  Eugene  2» 
Binaut  504. 
Bindseil  20. 
Bionda  3JL 
Hiot  1Ü 

de  Biran,  8.  Maine. 
Bixby  521. 
Blaiae  501 

Btakey,  Robert  504  "523. 
Blumpignon  22, 
Blankenburg  181. 
Blasehe,  Bernh.  Heinr.  »331  333. 
Bltimstengel,  K.  G.  143, 
Bluntscbli,  J.  C.  3  422  50& 
Blyenbergh,  Willi,  van  Sä, 
Blvenburg  86. 

Bobbo  521  522. 

Bobertag  3_fiQ, 


Bobrik,  Ed.     I  IT). 
Bocardo  533. 

Boeeaeeio,  Giovanni  4  6  *ü» 
Bodin,  Jean  «43  f.  4L 
Böek,  Aug.  Friedr.  175. 
Booekh,  Aug.  143  318  454. 
Börking  iL 

Boetbius,  D.,  in  L'psala  *535. 

Böhme,  Jaeob  22  ?32  »42  f.  62  22  312 

328  332  335  336  43L 
Böhmer,  Ed.  84  86  82» 
Böhmer,  Heinr.  52  206. 
Böhner,  August  Natbanael  *478. 
Boek,  A.  F.  342. 
Boerhave  182, 
Börner,  Otto  »458. 
Bohn,  Henrv  G.  6L 
Boileau  122. 

von  Boineburg,  Joh.  Christian  142  146. 
du  Bois-Kevmond,  E.  185  122  «47!»  4SI 

541. 
ßoissonnde  6, 
Boivin  6. 

Bolin,  W.  220  (wo  so  statt  Bodin  zu  lesen 

ist)  430  «43L. 
Bolland  424. 
Bolle  480» 
Bolliger  232. 
Bolton,  M.  P.  W.  235. 
Bolzano.  Bernh.  «463. 
de  Bonuld,  L.  G.  A.  Vieomte  »506  516. 
Bonatelli,  Frnneeseo  4J3  522  528  580. 
Bonaventura  33. 
Bonavino  532. 
Bonghi,  Huggiero  «&'><). 
Bonieux,  B.  22. 
Botiifas.  J.  6  1LL 
Bonitz,  Herrn.  «44 rt  ML 
Bonnet,  Charles  184  186  »191. 
Boutekoe  22. 
Boole,  G.  13Q  *Rg1 
Bordage,  O.  504. 
Bordas-Demoulin  »516. 
Bordihn  28L 

Borelius  414  415  504  5534  532. 

Borgeaud,  C.  185. 
Born,  F.  (J.  228  234. 

Borowski,    Ludw.    Ernst   208   216  212 

226. 
Borries,  G.  458. 
Bosanquet  520. 
Boseh,  van  303. 

Boström,  C.  J.  «£34  «536-539. 

Bossuet  62  142. 

Bottnt  65, 

Bottu,  V.  528. 

Bouehitte  343. 

Bouillerie,  de  la  516. 

Bouillier,  Franeisquo  £4  22  88  *514. 

Boullainvilliers,  Graf  86. 

Boumann,  Ludw.  345  oW>. 

Bonrdin  63  «12. 

Bourges  411. 


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Register. 


54ä 


Bourne.  tL  R.  Fox  11«. 

Bouterwek,  Friedr.  208  1291  294, 

Boutroux  65  141. 

Bovillus,  Carolus  14  125  28. 

Bowen,  F.  2. 

Bower  12L 

Bowring,  John  524. 

Boxbeiger  177. 

Bovle  Üü  122  KR>  IM  1ÜL 

Braasch,  E.  F.  3i>L 

Bradley  520  52L 

Braut igam  14L 

Braga,  T.  534, 

Braig,  M.  45*  493. 

Brailas  »540. 

Brandis,  Chr.  Aug.  305  318  359  36Ü  *453. 
Brandt  220. 

Braniss,  Chr.  JuL  335  36ü  1453  4M 

Brasch,  Mor.  90  llß  240  221  415  459  460. 

Bra^tberger  234  270. 

Bratuseheck.  E.  9Q  236.  361  454  4fiL 

Brauba.  h  1422  4*L 

Brunn.  IL  468. 

Braune,  A.  Th.  R.  23«. 

Bredenborg,  Johanne«  86. 

Bremiker  372. 

Brennecke,  A.  144. 

Brentano,  Franz  »502. 

Breslau,  iL  1  Sfi. 

Le  Bret  34L 

Breuer,  Joh.  Wilh.  360. 

Bretschncider  20. 

Brewster.  David  52  127.  14& 

Bridel,  P.  220. 

Brink,  ten  IM. 

Broehard,  V.  65, 

Brockerhoff,  F.  185, 

Brockhaus,  Clem.  Frid.  30. 

Bröchner  *535. 

Brömel,  A.  298, 

Broere,  C.  4ä. 

Broglie  BQ& 

Brogialdi,  A.  52L 

Bromlev,  Thomas  62. 

Brougham.  IL  Lord  122  186  192, 

Broussais  510. 

Brown,  J.  116. 

Brown,  Peter  130  *204. 

Brown,  Thom.  *JM  197  204  50!>  518  52«. 

Browne,  B.  I'. 

Brueker  1  91L 

Bruder.  Karl  Herrn.  S5_- 

Brüek  5L 

Brückner,  27iL 

Brunei  184. 

Bruno.  Giordano    *  29.  31  f.  118—40  92 

15g  215  293  299  312  325, 
Brunnhofer  32. 
la  Brnyere  *192. 
Brzoska,  IL  G.  »445. 
Buecola  5.33. 
Buchunun  134. 
Bu.  k  209. 


Buckle  »fr>5 

Bude.  E.  de  64, 

Büchner,  Louis  »473  475  524. 

Bulau  52. 

Bfalffinger,  Geo.  Bernh.  s.  Bilfin^er. 
Buffon  '194. 

Buhle,  Joh.  Gottl.  1  20  52  90  294, 

Bullinger,  A.  346, 

Bunjte.  G.  429. 

Bungener,  L.  J.  185. 

Burckhardt,  Jacob  6. 

Burdaeh,  Ernst  334, 

Burdach,  Karl  Friedr,  331  1334  483, 

Burger  llfi  186  386. 

Burgersdijck  91  MM. 

Burgh.  Alb.  86, 

Burmeister  2.'t7. 

Burridge  HR. 

Burton,  J.  iL  136, 

Busch,  O.  3J& 

Busolt,  G.  90. 

Buss,  E.  65.  1H5. 

Busse,  Fr.  Gottlieb  24L 

Busse,  L.  90, 

Busse,  Wilh.  305, 

Bussenius,  K.  144. 

Butler,  Charles  45. 

Butler,  J.  1134  f.  13L 


V  (vergl.  auch  Kj. 

Cabanis  »194  »505  f.  510. 
Cadet,  F.  «5, 

Caesalpinus,  Andreas  12  25  22  29  30  13&. 

Cäsar,  J.  Ifift- 

Caird,  E.  232  34fi  50ö. 

Cairnes  51 9. 

Calderwood,  Henrv  229. 
van  Calker.  F.  »302. 
Ca  Iiier  »51«. 
Calov,  Abr.  32. 
Calvin  525, 

Cambridge,  Schule  von  52. 
Camerarius,  Joach.  2Ü  23, 
Camerer,  T.  90. 

Campanella,  Thomas  29  32  »41  f.  69  74 
54L 

Campbell,  A.  52* 

Campe,  Joach.  Heinr.  »181  223, 

Canestrini  533. 

Canisius  9. 

Cantoni  145  238  533. 
Cantor,  M.  24  Ü5, 
Cantu  477. 
Capesius,  J.  38«. 
Caporali,  E.  528  533, 
Capozza,  F.  »532. 
Caramon  186. 

Cardanus,  Hieronymus  ,29— 30  136.  f. 
de  Careil,  Graf  A.  Foucher  s.  Foucher. 
Carneri,  B.  481  493, 


l"  »'b<*r  wog-Uein*«".  «iriin-ln-.  III.   L  Aul:. 


546 


Register. 


Caro,  E.  82  458  505  *51f> 
Carove,  Friedr.  Willi.  «419. 
Carpentarius,  Jac.  (Charpentier)  27. 
Carrau,  Lud.  65  125  5ül  518  51Ü  528. 
Carriere,  Mo.  Iii  11  33  305 
Carry,  J.  127. 

Cartesianer  76  ff.  131  315  503  516, 
Carte«  i  us,  s.  Descartcs. 
Cartuvvels  *fSl 7. 

Carus',  Carl  Gust.  301  *334  43A 
Carus,  J.  V.  52  480» 
Casara,  Seb.  52& 

Caspari,  Otto  IM  180  486  490  «501. 

Caterus.  63  22. 

Cathrein  52L 

Cattaneo,  G.  88. 

CaTallierie  14& 

Cecchi  527. 

Centofanti,  Silvestrc  32, 
Cesca,  G.  24Q  521  »533. 
Cesis,  Calori  6. 
Chahot,  C.  606. 
Cbagnard.  Bnj.  24. 
Chaigne,  Ed.  52, 
Chajes,  Ad.  05. 
Chalcocondvlas,  Demetrius  13= 

Chalybäus,  Hein.  Mor.  206  234  385  *488 
438. 

Chandler  fiL 

Chanuing.  W.  E.  526, 

Charpentier,  Carpentariua  22. 

Charron,  Pierre  5  2  ^lfi  66. 

Chauffard  342. 

Chevenix  «618. 

Cherbuliez,  Victor  177. 

von  Cherbury,  Eduard  Herbert  s.  Herbert. 

Chevalier,  L.  322» 

Chevalier,  Mi.  Ii.  197. 

Chiapelli  238  24o  54L 

Chlebik,  Kranz  «419. 

Christ,  P.  458, 

Christensen,  Alb.  185. 

Christine,  Königin  v.  Schweden,  66  67. 

Chrysoloras,  Joh.  2. 

Chrysoloras,  Manuel  9. 

Chytraeus  23, 

Ciavarini  32, 

Cicero  13  14  26, 

v.  Cieszkowski.  Aug.  *419. 

Ciaassen  32  122  298  336, 

Clairaut  »187. 

Clarke,  Samuel  *134  f.  138  141  160, 

Claras,  Ludw.  45. 

Class,  G.  »602. 

Classen,  A.  2Ü1  422  541. 

Clauberg,  Joh.  »76  80. 

Cleary,  Rob.  116, 

Clemens,  F.  J.  30  31  443  *462. 

le  Clerc,  Jean  (Clericus)  s.  Leclerc 

le  Clerc,  M.  J.  V.  2, 

Clerselier,  Claude  de  63  76. 

von  Cocceji,  Heinrich  45  *166. 

von  Cocceji,  Samuel  45.  *166. 


Coccius  24, 

Cohen,  Herrn.  236  237  239  270  «464  467. 
Cohn.  T.  126, 
Colborne  12iL 
Coleridge  526. 
Colerus  86. 

Collard,  Royer  «.  Royer. 
Collegianten  '.'1 . 
Collier,  Arthur  »122  123. 
Collins,  Anthony  »132  f.  13Ü, 
Collum,  J.  14fi. 
Collyns-Simon  Th.  s.  Simon. 
Goloed,  A.  3L 
Comenius,  A.  »164. 
Commer,  E.  »462  463, 
Compayre  1%. 

Comte."  Auguste  464  469  491 x  5(X>  504  505_ 

»511—514  521  522  532, 
Condillac,  Etienne  Bonart  44  184  185  186 

»190  f.  193  194  506  521'. 
Condorcet  185  *193. 
Conrad  84. 

Conradi,  Kasimir  416  »419. 
Conring  44  142. 
Contarini,  Casp.  2  15  12, 
Conti,  Auguste  522  *53 1 
Conz,  C.  Ph.  85* 
Cooke.  E.  526, 

Copernicu*  22  33  57  186  25A 
Cordemoy  80. 
Corleo,  Simone  »630. 
Cornelius,  Carl  Seb.  402  »445. 
Cornill,  Ad.  3IL 
Cornoldi,  G.  M.  528  533. 
Coronet  86. 
Corrazini  3L 

Cosh,  J.  M  .  116  192  24Ö  512  518  519  526, 

Coete  115, 

Cotes,  Rogerus  131. 

Courbet  2. 

de  Courcelles,  Etienne  63, 
Courtat  185. 
Courtney  519. 

Cousin,  Victor  2.646588116.144  134 

225  ~jm  m  5oi  508      f.  514. 

Craik,  C.  L.  62, 

von  Cramer,  L  U.  »174. 

Credaro,  L.  240  450  528  541. 

Cremonini,  Cesare  2  12. 

de  Crescenzio,  Ces.  *532. 

Creskas,  Don  Chasdai  89. 

von  Creuz,  Friedr.  Carl  Casimir  »181 . 

Creuzer,  Friedr.  4Jl 

Crichton  223, 

Criegern,  v.  164. 

de  Crousaz,  Jean  Pierre  *173. 

Crousle,  L.  177. 

Crasius,  Christian  August   »167  168  »178 
215  255. 

Cudworth,  Ralph  (Rudolph)   *57  "61  77 
15L 

Cuffel(a)er,  Abrah.  Jos.  8L 
Culman,  Theod.  33fii 


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Register. 


547 


Ouroberland.  Ruh.  ^LM  t 
Cunningham,  W.  05. 
Cuper,  Franz  82* 
Cupr,  Franz  *445. 
Cusanus  s.  Nicolaus. 
Cuvier  282. 

Czolbe.  Heinr.  ifiQ  ♦flU  410, 


I). 


Dafert,  F.  W.  Hl 
Dahn,  F.  5QQ  503. 

von  Dalberg,  Karl  Theod.  Ant.  Maria  181. 
Dalgarn,  Geo.  154. 
Damien,  Aug.  2iL 
Damilaville  180. 

Damiron,  Ph.  I  42  04  88  IM  IM  5M 

510  »515. 
Daniel  22. 
Dannegger,  P. 
Dante.  Alighieri  4  6  *£. 
Danzel,  Theod.  Wilh.  81 114  172  290  340. 
Daries  123. 

Darwin,  Charles  282  *423  *JZ2  f.  521. 

Darwin,  E.  130  «7. 

Darwinianer  429  ff. 

Daub,  Karl  41£  413. 

Daumer,  G.  F.  »431 , 

Dauriac,  E.  511 

Davidson,  T.  Qgft 

Dean,  IL  2. 

Debrit,  Marc.  527. 

Dedekind  482. 

Degenkolb,  Heinr.  100. 

Deismus  132. 

Delboeuf,  Joseph  401  420  »516. 
Delezenne  491. 
Delff,  Hugo  fi  *HY>. 
Dellden  536, 
Dfllingshausen,  U.  *41H. 
Delzio  *faa. 

Demetrius  Chulcocondylas  H 
Demokrit  40  121  139  150, 
Desanetis  *53.'l. 

Descartes.  Rene  42  50  »62—65  »66— 76 
8082912295969228110118 
121  122  151  152  159  105  IM 
212  442  529, 

Deschamps,  A.  65. 

Deschamps,  Dom. 

Desdouits,  M.  23L 

Desjardins,  Alb.  4  52. 

Desmaze,  Charles  21 

Des-Maizeaux  65  18  141. 

Desnoirestcrres  18ö. 

Dessauer.  Mor.  82  170. 

Destutt  de  Tracy  »IM  3Q3  305  *30<;. 

Deussen,  P.  *455. 

Deutinger,  Mart.  *403. 

Dewev,  J.  90  24LL 

Deycks,  F.  29L 


Dezeimeris,  R.  2« 

Diderot,  Denis  135  184  186  *121  f.  IM 

54L 

Dienstfertig  20. 
Diesterweg  405. 

Dieterich,  Konr.  122  232  420  501 

Dietrich  22L 

v.  Dietz,  iL  F.  80. 

Diez,  M.  432, 

Dilthey,  Wilh.  HI  360  301  »471. 

Dippel,  Joseph  25  45*. 

Disselhoff  228, 

Distel,  T.  142. 

Dittes,  Fried.  386  *458  466. 

Dixou,  iL  52. 

Dodwell  135. 

Doebner  142. 

Doergens  419. 

Döring,  A.  125  240  »£02. 

Dogmatismus  48  ff.  230  241 
Dohm,  Chr.  W.  19L 
Dollfus,  Charles  505. 
Dornet  d.  Vorges  51  ti. 
Dominicis.  S.  F.  de  2.'}  7. 
Dorneck,  0.  30Jl 
Dorner  318  30Ö  423. 
Dorner,  Aug.  52  220  *£02 
Dorow  81 
Dost,  O.  IRL 
Doubleday  186. 
Douglas,  J.  5Ü. 
Dove  216. 

Draper,  John  William  »525. 
Drbal,  Mathias  Arnos  *445. 
Drechsler,  Ad.  206  305. 
Drechsler,  J.  M.  135. 
Dreher,  E.  481 
Dressel,  P.  402 

Dressler,  Job.  Gottlieb  404  405  *45*. 

Dressler,  O.  458. 

Drevdorff,  Georg  0  05  360. 

Drobisch,  Mor  Wilh.  110  240  290  385 

386  401  *444  *445  f. 
Drossbach,  Max  »463  47H. 
Droz,  E.  65. 
Drummond,  R.  B.  X. 
Duboc  220  458  423. 
Dubos,  Jean  Bapt.  *18fl. 
Duboux,  E.  65. 
Ducros.  L.  239  322. 
Dühring.  Eugen  482  MSj]  ^ÜI  f. 
Düntzcr,  iL  lffi  291 
Dil  well  220. 
Dflx,  J.  M.  30. 
Dufour,  Th.  32. 
Dumont,  Etienne  405  524. 
Duncker,  L.  361 
Duprat  343. 
Durand  de  Laur  L 
Durandus  151 

Durdik,  Jos.  122  »444  440  4&L 

Dürkheim  415. 

Dutens,  l.udw.  141  142. 


35* 


54* 


Register. 


Dwight,  S.  E.  525.- 
Dyk  IM. 

E. 

Ebbinghau«  423  »502. 
Ebeling  305, 
Eberhard,  AI  fr.  iL 

Eberhard,  J.  Aug.  143  lßg  12£  tili»  22Ü 

m  fm 

Eberhard,  J.  P.  21iL 

von  Eberstein,  W.  L.  G.  Frhr.  20  145 

290  *292. 
Ebertv,  Felix  »454. 
Ebrard,  A.  49A 
Ecbtermeyer  *H2 
Eckard,  J.  499. 
Eckardt,  L.  Mh 
Ecker,  A.  333, 
Eckhart,  Meister  28  33  ltiö. 
Eckhart,  Jo.  Geo.  von  ÜIL 
Ecklin,  Th.  W. 
Edelmann,  Joh.  Chr.  122  ITH. 
Edfeldt  534. 
Edgeworth,  F.  0.  525. 
Edwards,  J.  511  *Ü25  f. 
Egermann  29L 
Eggertz  322. 
Ehrenfels,  Chr.  v.  479, 
Ehrenfeuchter  3lfi  3»  »■ 
Ehrenhauss,  M.  346. 
Eiselen,  J.  F.  G.  »419. 
Eisenlohr,  Th.  3J1L 
Eisler,  M.  90, 
Eleaten  351  380, 

Elisabeth,  Pfalzgräftn,  Freundin  Desrarte6-, 

Füssen,  A.  Q. 
Ellis,  R.  L.  51. 
Elsas,  A.  490. 
Eismann  22£L 
Elster  20  33, 
ab  Eiswich,  J.  IL  20, 
Elvenich,  P.  J.  64  *443. 
Emerson  »526. 
Emerv  52, 

Empirismus  48  ff.  230  24L 
Encyclopädisten  »191  ff. 
van  den  Ende,  Franz  91. 
Engel,  Joh.  Jac.  *J2£i  181  222, 
Engelmann.  M.  239, 
Engler,  O.  144. 
Entleutner,  A.  44 1  - 
Epiktet  14. 

Epikur  5  Ii  2a  aa  40  im 

Epikureer  12  21  22fi. 
Erasmus  Pram-Uci  32. 
Erasmus  von  Rotterdam  I  »15  2L 
d'Ercole  228  »533. 
Erdmann,  A.  IL  291. 
Erdmann,  B.  Iii  222  223  224  226  228 
229  234  231  238  240  415  *4f'>'  48S 


Erdmann.  Job.  Ed.  1  88.  90  103  141  LL2_ 
143150151in2l5til5IlMlä9 
lliÜllill!iJ2i*2  29ü30Q31832ä 

332  34t;  371  415  »418  »419  438. 
Erhard,  Emst  Aug.  Q. 

Ernst,  W.  64. 
Errera,  Alb.  29, 

Eschenbach,  Joh.  Christ.  12fi  12L 
Eschenburg  *182. 

Eschenmaver,  Adam  Karl  Aug.   325  *331 

333  ff. 

von  Esenbeck,  Nee*  Ȇ31  333, 
Espinas  IM  528. 
Essäcr  327. 
Esser  44.1. 

Eueken,  R.  2  30  41  122  132  144  239  33* 

414  409  4ül  4J]3  -_j£r2  i.  505. 
Euklid  9  9JL 

Euler  62  148  212  214  220  49L 
Evans,  429. 

Everett.  Ch.  C.  305  *52fi. 
Evolutionismus  Spencers  522. 
Ewald,  S.  IL  85. 
Exner,  Friedr.  3JÜ  *446. 


F. 

Faber  Stapulensis,  Jac.  5.  *14  29. 

Fabri,  Friedr.  422, 

Fabrieius  fi  22* 

Fabritius,  Ludw.  8iL 

Fagnani,  Epifanio  '530. 

Fahrenberg,  R.  2  30  23*  433, 

Falkson  31  38, 

Faugere  fiö. 

Favre,  (>uillaume  £  9_. 

Feehner,  Gust.  Theod.  101  385  ^485  !49<2 

bis  492, 
Fechner,  IL  A.  33. 
Fede,  Rene  63, 

Feder,  Joh.  Geo.  Heinr.   142  *181  224 

234  5292. 
Feder,  der  Sohn  18L 
Felici,  Giov.  S.  54L 
Fellenberg,  G.  v.  2IL 
Feller,  Joach.  Friedr.  141  143. 
de  Fenelon  8G. 
Fenner.  H.  28L 

Ferguson,  Adam  *\M.  f.  132  203, 
Fermat  148. 

Ferrari,  Giuseppe  145  528  *532. 

Ferraz  504. 

Fcrre,  P.  M.  530, 

Ferreira,  S.  P.  533, 

Ferri,  Ixmis  2  6  2  30  31  522  532. 

Ferner  J.  F.  12ß  122  *525. 

Fesl,  M.  J.  4^L 

Feuerbach,  Friedr.  *43<  >. 

Feuerba.  h.  Lndw.  19  Ü5_  90  143  Mlü  121 

5422—431  497. 
Feuerlein,  Emil  185  126  232  346  »420. 


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Register. 


549 


Feuerlin,  Jac.  Willi,  IQ  25- 

Fichte,  Imm.  Horm.  1  2  9Q  Öl  31&  308 

5433  »J34  ff. 
Fichte,  Joh.  Gottlieb   205  211  234  224 

302  »304-315  313  318  320  335  31i 

a58  -Mi  im  .im  i]s3  432  im  4i5 

421  515, 
Fiehteaner  315—317. 
Fieinus,  Marsilius  4  6  10  *11  15 
Fick  422. 

Filangieri,  Gaftano  *529. 
Filelfo  s.  Philelphus. 
Filmer,  Rob.  112. 
Finch  52. 

Fiorentino,  Francesco  I  31  52L 

Fischer.  E.  L  502. 

Fischer,  H.  12L 

Fischer,  J.  C.  415  493. 

Fischer,  Karl  Philipp  33jj  M33  £432  477. 

Fischer,  Kuno  2  QS  fi4  86  90  143  122 
208228234235236239  242  256 
282  290  222  305  31»  Ü1Ü  42<1 

Fischer,  L.  E.  423. 

Fischer,  Willi.  2ÜL 

Flashar  404. 

Flehbe  3fiL 

Flepel.  J.  442. 

Fleischer.  R.  Hü  4lil 

Fleischl,  E.  232. 

Elender,  J.  TiL 

Flint  145  501 

Flittner  234, 

Florenzi  *f>33. 

Flottes,  A.  65. 

Fludd,  Robert  30  36, 

Flügel,  O.  386  M41  446  f.  452  464  478 
484. 

Focke,  R.  305, 

Förster  1<>8. 

Förster,  Friedr.  346. 

Förster,  L.  B.  44. 

Foltz  386. 

Fonsegrive  65486. 

Fontana,  G.  411  528, 

Fontanes,  E.  177. 

Fontenclle  Ml  Hi  >18i;. 

Forberg,  Friedr.  Karl  306  314  »315. 

de  la  Forge,  Loais  63  80  541. 

Formev,  J.  IL  S.  111 

Forsborg,  N.  A.  82. 

Forster  193  222. 

Fortlage.  Karl  206  236  316  321  »453  »459. 

Foss  447. 

Foster,  F.  H.  239, 

Foucher,  Sini.  8  18. 

Foucher  de  Careil.  Graf  A.  64  81 142  143 

144  142  206  322. 
Fouillee.  A.  270  111  504. 

Fowler  52  Hü  135  524  525, 
Franchi,  Ansonio  »R32. 
Francis«!  E.  32. 
Franck,  Ad.  2  45  64  414  501 
Frnncke,  A.  IL  162. 


Franeke,  G.  S.  88. 

Francke,  Ludw.  298. 

Frank,  A.  185  2üL 

Frank,  Gust.  29L 

Frank,  R.  168, 

Frank,  8.  G.  168  30L 

Franke,  J.  486, 

Frantz  346  45L 

Frantz,  Constantin  318  *441. 

Franzolini  533. 

Fräser,  A.  C.  126  122  »525. 

Frauenstädt,  Jul.   330  311  322  383  H53 

»455  422. 
Fravsse,  E.  Alb.  90. 
Frederichs,  F.  126  236  210. 
Free,  iL  386. 
Freigius,  Th.  2L 
Freimuth.  E.  W.  404. 
Freret,  Nie.  »194. 
Fresenius,  F.  G.  375. 
Freudenthal  20  228 
Fricke  361  461 
Fricker,  IL  2IÜ  22L 
Friedländer,  Ludw.  281. 
Friedrich  der  Grosse  44  128  »ISO  190. 
Friedrich,  Ernst  Ferd.  »4:*u 
Fries,  A.  116. 

Fries,  Jacob   Friedr.    ?2S9  291  ff.  2111 

^300  f .  3Ö2  318  3811  403  iiii 
Frischlin,  N.  22. 
Frith,  J.  32. 
Fritsche,  E.  116, 
Fröbcl.  F.  311 
Frohne.  A.  36L 

Fn.hschammer,   J.    90  238  Liüli  llll  181 

*i9fif. 
Frommann  372- 
Fuchs.  Carl  51L 
Fuchs,  C  E.  504. 
Fuente,  R.  32. 
Fürstenberg,  J.  5L 
Fuhrmann,  David  Wilh  32. 
Funck-Brentano  578. 


Gabeiii,  A.  ±532 

Gabler,  Geo.  Andreas  *11£  *i20  455, 

Gaillard  61 

Galasso,  A.  346  519. 

Gale,  Theopbilus  62. 

Gale,  Thomas  62. 

Galen  36. 

Galeotti,  L.  6. 

Galiani 

Galilei  29  !32  *iü  56  51  56. 

Gall  511 

Galle,  Friedr.  20» 

Galluppi,  Pasquale  *528  529. 

Gans,  Ed.  345  »420. 

Gaquoin  322.  - 


550 


Register. 


Gareiii,  Vinc.  528, 
Garnier  64  504. 

Garve,  Christian   135.  130  126  1180  224 

22Q  1292. 
Gasparv,  Ad.  89. 
Gass,  J.  Chr.  360! 
Gas*,  W.  ti  45L 
Gassendi  &2H752632326228Ü152 

1££_. 
Gast,  IL  aÜL 
Gataker,  Thom.  17. 
Gauss  224  482. 
Gavanescul,  .1.  Uli. 
Gaza,  Theodor  11  im 
Gehel,  318. 
Ihn.  Gebirol  s.  Ihn. 
Gebler,  K.  v.  32. 
Geiger,  L.  GL  »fiOI. 
Geijer,  E.  G.  1534  53JL 
Geijer,  IL  R.  144  346  539. 
Geliert,  Christian  Fürehtegott  '180. 
Geluk  239. 

Gemistos  Plethon,  Georgios  s.  Plethon. 

Gennadius  5  IQ  112, 

Genovesi,  Ant.  *fifi9. 

Gensichen  214. 

Gentiii?,  Albericus  144  4L 

George,  Leop.  30a  359  360  361  1453  f. 

Georgius  von  Trapezant  11  *13. 

Georgius  Vinetus,  Franciscas  0.  Yenetus. 

de  Gerando  509. 

Gerard,  J.  qOL 

Gerdil,  Sigism.  12  »529. 

Gereeze,  P.  23& 

Gerhard,  K.  220. 

Gerhardt,  C.  L  142  143  148  162. 

Gerkrath,  Ludw.  8  64. 

Gerland,  G.  142  451. 

St.  Germain,  Bertr.  de  65, 

Germain,  S.  514. 

Gersonides  89  9L 

Gervinus  3» 

Geulincx,  Arnold  128  ff.  92  159. 

Geyer,  Aug.  *447. 

Gfrörer,  A.  F.  31  Kq. 

Giambelli,  C.  44, 

Gibeon  5_L 

Githtel  32  £L 

Gierke,  O.  44  4LL 

Giessler  220. 

Gilbertus  Porretanus  12. 

Gildemeister,  C.  IL  29J.  '20>L 

Gillet  193. 

Ginsberg,  iL  86  86. 

Gioberti,  Vinc  nzo  622  1528  632.. 

Gioja,  Melchior  »529. 

Giovanni,  Vinc.  6  *531. 

del  Giudice,  G.  145, 

Gizycki,  G.  v.  IM  135  196  481  *5£2  526.. 

St.  Glain  84  85, 

Glanville,  Job.  18  61  161  ÜiL 

Glaser,  J.  C.  318. 

Glissen  157. 


Glogau,  G.  65  *449 
Glossner  414. 
Goclenius,  Rudolf  22  2g. 
Göpfert,  E.  29. 
Goring,  C.  ?fiÜL 
Gfiring,  IL  614, 
Görres,  Jos.  331. 
Göschel,  Karl  Friedr.  *416  42L 
Goethe  82  151  161  214  2ü  291  295 
515, 

Goethe,  Wolfg.  v.,  d.  jüngere  6. 
Goldbeck  216. 
Goldberg  122. 
Goldhammer,  L  17(3. 
Golther,  L.  v.  4M 
Goltz,  AI.  v.  d.  298. 
Gompertz,  E.  504. 
Gompertz,  Theod.  519. 
Gonzalez  638. 
Gordon,  A.  90.. 
Gordy,  P.  192. 

Gottschall,  Rud.  185.  206  305, 
Gottsched,  Job.  Chr.  141  168  HL 
Gottschick,  J.  236  22JL 
Gonld,  J.  Schurmann  270. 
Guurand,  M.  C.  184 
Graham,  iL  G.  186. 
Graut  126  197. 

Grapengiesser,  C.  236  232  292. 
Grassmann,  R.  501 . 
Grecf,  de  G.  52L 
Green,  Th.  iL  196  ML 
Griepenkerl,  F.  E.  *147. 
Grigg  m 

Grimm,  der  Encvclopidist  186  Uli 
Grimm,  E.  65  79. 
Grimm,  IL  526. 
Grisar,  IL  32. 
Grisebach,  Eduard  541. 
Gronemann  534. 
Grosch,  iL  2JTL 
Gros«  196. 

Grou»,  Georg  519  »525. 
Grote,  Ludw.  144- 
Grotefend,  Karl  Ludw.  142. 
Grothe,  iL  30. 

Grotius,  Hugc»  144  f .  41  f.  1>]5 
Ground  52L 

Grubbe,  s.  1534  536  538. 
Gruber  177. 
Gmber,  Joh.  Dan.  LLL 
Gnicker  53L 
Grün  290  414  4: 10. 
Grüninger,  Karl  52. 
Grung,  F.  240  *5<>--'. 
Gruppe,  O.  F.  »163- 
Grützmacher,  W.  44s 
Guardia  51& 

Guarinus  von  Verona  9  14. 
Guerrier  143. 

Günther,  Anton  322  1433  *441-  443. 
Güntherianer  44°.  f.  517. 
Güttier,  C.  333, 


UlQltlZGQ  by  \j 


Register. 


Guhrauer.  Gottschalk  Ed.  30  44  111  Iii 

143  144  147  150  164  177. 
Guion,  K  m 
Gumposch,  Vict.  Phil.  3  888. 
Gunning,  J.  iL  90 
Gutberiet,  C.  462. 
Guthrie.  M.  52L 
Guttmann,  Jac.  64. 
Gutzeit  239, 
Guyau  5.16.  518. 
Gwinncr,  Willi.  32L 


IL 


Haas.  Karl  142. 
Habersang  65. 
Haccine.  IL  F.  *447. 
Hacke  fi. 
Hadlev  2ÜL 
Häckel  ^432  f.  480. 
Haeghen,  V.  v.  d.  22. 
Händel  232 
Haffner  »4fi3 

Hagemann,  Georg  lfiö  *462. 
Hagen,  iL  fi, 
Hagen,  Karl  6. 
Hagenbach  Bfi  1 , 
Hagmann,  J.  G.  186. 
Hall,  G.  Stanley  518  52L 
v.  Haller,  Albrecht  151. 
Halley  216. 
Hallier,  Ernst  302. 

Hamann,  Job.  Geo.  228  Ü282  221  2118  222 
anft 

Hamberger  33  318  335  336, 
Hamilton,  D.  iL  502  526. 
Hamilton,  W.  132  203  !502  5JIff. 
Hankiewicz  53L 
Hann,  F.  G.  20  232, 
Hanne,  J.  W.  91  *440 
Hanscb(e),  Mich.  GottL  141  »173. 
Hansemann  443, 
Hanusch,  L.  J.  «421. 
Happel,  J.  494, 

v.  Hardenberg,  Friedr.  (Novalis)  *316. 

Harles»,  G.  C'h.  & 

v.  Harles«,  Adolf  33  43, 

Harms,  F.  180  206  234  231  305  346  37a 

«438  f. 
Harper  525, 
Harpf,  A.  221  322. 
Harris,  T.  527. 
Harris,  W.  J.  233. 

Hartenstein.  Gust.  4a  116  144  1B2  20« 
216  223  306  360  385  3hl  *444  »447. 

Hartlev,  David  *126  121  *130  512. 

v.  Hartman»,  K.  -236  2311  34*  346 
372  455  ff-  46!»  481  M*5  M92-496 
499. 

v.  Hartmann,  F.  30. 
Hartmann,  J.  J.  G.  6.5, 


Hartsen  *453. 
Hartnng  31  *479  486  424 
Hartwig,  Jos.  80. 
Harvey  57. 
Harzer  144. 
Harzheim  30. 
Hasbach  312, 
Hase,  Karl  305  314. 
Hatch  135, 
Hanreau  *515. 
Hausegger,  F.  v.  372, 
Ha.. -ins  K.  Glob.  290. 
Hausrath,  A.  426. 
Havel,  M.  E.  65. 
Har,  E.  214. 
Havduck.  Wäldern.  89. 
HaVm,  R.  206  227  221  325  345  341  311 
322. 

Hnvwood  229. 

Hazard.  G.  »526. 

Heath,  I).  D.  5L 

Hebler,  C.  88  LH  236  305, 

Hecker,  Paul  181L 

Heerebord  26.  91  104. 

Heeren,  Arn.  Herrn.  Ludw.  5  8, 

Hegel,  Geo.  Wilh.  Friedr.  1  43  112  205 

234  242  2£i  220  325  332  335  >34a 
bis  352  3£2  3ß2  401  44J3  431  432 
I3S-442  45.3  459  461  466  485  494 
496  129  505  515  523  533  540, 

Hegel  in  England  525. 

Hegel  in  Frankreich  515. 

Hegel  in  Italien  522  533 

Hegel  in  Nordamerika  527. 

Hegel  in  Schweden  und  Norwegen  534 

535  532= 
Hegel  in  Ungurn  540. 
Hegel,  Karl  346, 
Hegelianer  •415—432  503, 
Heidanus  76, 
Heidemann,  Jul.  235, 
Heimann,  L.  208  529. 
Heineecius,  J.  G.  *174. 
Heinsius  Dan.  12. 

Heinze,  M.  65  Bfi  9Q  144  129  238  462 

462. 

Helfferich,  Ad.  3  88  305  *454. 
Hellenbach  »456. 
Helmes  318. 

Helmholtz,  iL  25  131  243  244  246  *464 

♦422  482  492, 
van  Helmont,  Franc  Mercur.  30  *36. 
van  Helmont,  Job.  Bapt,  30  *36. 
Helvetius,  Claude  Adrien  184  *1fl3  124. 
Heman  462  423  42i. 
Hemert,  P.  303. 
Hemming,  Nie.  46, 
Hemsen.  Wilh.  22<1 
Hemsterhuys,  Kranz  *534. 
Henderson,  A.  G.  235, 
Hendewerk,  Karl  Ludw.  *447. 
Henke  90. 

Henke,  Ernst  Ludw.  Theo«!.  222  36L 


>y  Google 


552 


Register. 


Hennig,  G.  A.  385  386 
Hennigs  185. 
Henning  A.  L 

v.  Henning,  Lcop.  345  *417  42L 
Henrich  240, 
Hensel  30ä 
Hepp  503. 
Heraklit  351  422. 

Herbart,  Joh.  Kriedr.  9fi  163  IM  205 
242  261  263  220  220  303  304  aiiii 
371  375  «3ki—  102  103  4or>  4Q*'>  io7 
418  43a  443-453  4JV8  4M  4M  4Ü5 
Uli  17s  :>:;:>. 

Herbartianer  *443— 453. 

Herbert  von  Cherburv,   Kduard  !56  60.  f. 

L'Herbette  514. 

Herbst,  Frdr.  Uli  236  238. 

Herrher,  B.  239, 

Herder  87  103  281  282  «221  222  f.  228 

bis  3ÖÜ  BB6. 
Hergang  458. 
Hering  3JÜ  361  490  422. 
Hermann,  Conr.  3  415  *44o. 
Hennann,  E.  312. 
Hennann.  Willi.  412. 
Hermes  *443. 
Herme«  trismegistug  3L 
Herrig  llfi. 
Herrmann  *471 . 
Hörschel,  John  214 
Henling,  G.  Freih.  v.  «479 
Herz,  M.  228. 
Herzog  t'»5. 
Hess,  M.  51  fi. 

v.  Hessen-Kheinfels,  Landgraf  Krnst  142. 

Hettner,  Herrn.  3  168  185, 

Heumann  HÜ  303. 

van  Hejisde,  Phil.  Wilh.  *534. 

Heussler,  H.  318. 

Heydenreieh  *294. 

Heydenreich,  Job.  Friedr.  209. 

Heyder,  Karl  19  82  305  *461- 

Höver  180, 

Hevmons,  E.  493. 

Heyse,  K.  W.  L.  334. 

Hiekok,  P.  521L 

Hieronymus  15. 

St.  Hiläire.  Gcoffroy  287. 

Hilarius  15. 

Hildebrand,  B.  Ml 

Hildebrand,  J.  210. 

Hildreth,  J.  524. 

Hilgenfeld  4JS. 

Hillebrand  3. 

Hillen  346. 

Hinriehs,  Herrn.  Friedr.  Willi.  2  44  !41ü 

42L 

Hipler,  Franz  33. 
Hippenmeyer,  Rud.  23t>. 
Hirnhaym,  Hieronymus  18  Wl 
Hissmann,  Mich.  143. 
Hoadly  135, 


Hobbes,  Thomas  5Q  «56-60.  63  12  12  94 

136  138  152  165. 
Hock,  C.  v.  443. 
Hodgson  236. 
Höffding  415  *£34  535. 
Höhener,  Philippus  Theophrastus  Bombastus 

s.  a.  Paracelsus  29  30  ^ 
Höhne,  E.  238. 
Höhne,  J.  303. 
Höijer,  Benjamin  «534  5' 15  f. 
Holder,  v.  232  4ÜL 
Hönes,  C.  4M. 
Hoffbauer  294  382. 
Hoffmann,  Ad.  Friedr  173. 
Hoffmann.  Franz  305  ^335  336  385  !4S8L 
Hoffmann,  Herrn.  481. 
Hoffmann,  Theod.  318. 
Hoffmeister  290. 
Hofstede  de  Groot  «534. 
Hohenberg,  Oscar  236. 
v.  Hohenheim  s.  Höhener. 
Hohlfeld,  P.  338  343  386. 
von  Holbach,  Paul  Heinr.  Dietr.  184  JHm 

189  191  «104 
Hollenbach  22L 
Hollenberg.  Wilh.  489. 
Holtzmanii  222  336  4JiL 
Home,  Henry  135  139. 
Homer  2. 
Hoogemade  79. 

Hoppe  318  44a 

Hoppe,  Keiuh.  1211  *459. 
Horaz  122. 
Horn,  .1.  E.  88, 
Horslev  122, 
Horvath  540, 
Horwicz.  A.  »502. 
Hossbach,  Th.  36L 
Hostinskv  38«L 

Hotho,  licinr.  Gust.  64  3iü  »4-21. 
Hove  239. 
Howe  541. 
Howison  415. 
Hubatsch  143. 

Huber,  Joh.  N.  64  235  426  *J34  440  f. 

452  481  493. 
Hütte-Schleiden  413. 
Hülsen  144. 
Hülsmann  361. 
Huet,  F.  in  Gent  »516. 
Huet,  Pierre  Daniel  18  *£5  IL 
Hufeland,  C.  W.  22L 
Hufeland.  Gottl.  225, 
v.  Humboldt,  Alex.  482  422, 
v.  Humboldt,  Wilh.  503, 
Humc  David  50  121  Hü  118  «125  ±126 

bis  202  224  241  242  244  226  4M 

466  4M  502  52L 
Hunt.  John  132. 

Hutcheson,  Francis  «131  f.  138  322, 

Huth,  J.  C.  14L 

Huther,  A.  23!i 

v.  Hutten,  Ulrich  6  12. 


ed  by  Google 


Register. 


553 


Huxlev,  T.  126. 
Huyghcns  61  131  142  146 


L  J. 

Jablonski,  D.  E.  142. 
Jachmann,  Kcinhold  Bernli.  208. 
Jacob  225. 

Jacobi,  Friedr.  Heinr.  31  81  96  126  182 
203  2IÜ  5289  221  293  2114  «S96  bis 
;^31fi318328  322  4i}340ä453 

m  530. 

Jacobi,  J.  L.  65. 
Jacobi,  Max  29L 
Jacobowski  494 
Jacobson,  J.  231  482. 
Jacobson  361. 
Jacobv,  Dan.  144. 
Jaeoby,  Joh.  112  235. 
Jacques,  N.  A.  142. 
Jäger,  Gust.  480. 
Jäger  30. 

Jaekel,  Jos.  235  *454 
Jäsche,  J.  B.  91  227. 
Jagielski  232, 
Jahn,  M.  240. 
Jahnke  65. 

Jakob,  Ludw.  Heinr.  19£  »293. 
James  34iL 

Janet,  Paul  6422858289143  22Ü34Ü 

475  504  ^5ü5  qoü  «51  ö. 
Janin,  J.  185. 
Janitseh,  J.  122  238  258. 
Janscnisten  7JL 
de  Jariges  8L 

de  Jaucourt,  de  Neufville  143  12L 

Ibn  Em  82. 

Ibn  Gebirul  ÖSL 

von  Ickstadt,  J.  A.  *174. 

Jeanmaire,  £.  65. 

Jeannel,  Ch.  Jul.  64. 

Jeanvrot  5L 

Jellinek  82  144  322  452. 

Jellis,  Jarrig  S4  85. 
Jeppel,  £.  F.  232. 
Jessen  *421. 
Jetter,  K.  65. 

Jevone,  Stanley  12Q  512  »521. 

Jhering  442  »MB. 

Imbriani,  P.  E.  530. 

Imelmann,  J.  51 8  51!», 

Imniaterialismus  1  26. 

Immer,  A.  360 

Ingold  22. 

Jodl  3  126. 

Joel,  M.  82  20. 

St.  John  U5  *132  ff. 

Johnson,  Eduard  186  476. 

Jolowicz,  Heinr.  2» 

Joly,  IL  22. 

Joly,  Jules  4, 


Jonas,  E.  414. 
Jonas,  Ludw.  359  360. 
Joret  291. 
Jouaust  2. 

Jouffroy,  Theodore  Simon  203  204  501 

•BHL 

Joule  »482. 
Ireland,  A.  526. 

Irira,  Rabbi  Abraham  Cohen  105 
Jung,  Alex.  33JL 
Jung.  Arth.  290. 
Juughegelianer  415. 
Jungius,  Joachim  M64  511. 
Jungmanu  463. 
Just,  K.  S.  386. 
de  Justi  1-1-1. 


K.  (vgl.  auch  C) 

Kabbala  35  92. 
Kaftan  27Q  385  »471. 
Kämmet  »458. 

Kästner,  Abrah.  Gotthelf  li2  143. 

Kahl,  W.  65. 

Kahle,  Karl  Moritz  144 

Kahler  86  126. 

Kahnis,  K.  T.  A.  361. 

Kalb,  J.  A.  85. 

Kaiich,  C.  21L 

Kalischek  9±L 

v.  Kaltenborn,  C.  44  45  4iL 

Kalthoff  361. 

Kamp,  A.  IL  361 , 

Kampe,  F.  176. 

Kannegiesser,  K.  L.  334. 

Kannengiesser  49. 

Kanugiesser,  Gust.  176  2&L 

Kant,  Immanuel  42  55  62  62  20  25  121 
122  133144153162163162123 
175  122  1*2  183  194  191»  200  205 
2Q6  •207—288  289—303  302  308  3U9 
310311  313  314  315  316  320  352 
353  351  058  363  365  375  376  377 
3S1  3 ss  :iS9  :m  401  402  403  405 
4±>s  413  420  423  i42ü  146  45»  -159 
41JU4M4J&4J142249Ü5U3526 

529  533  54L 
Kant  in  England  303  517. 
Kant  in  Frankreich  303  513. 
Kant  in  Holland  303. 
Kant  in  Italien  528  533. 
Kant  in  Nordamerika  52iL 
Kant  in  Schweden  535. 
Kantianer  289—303  464—473. 
Kapp,  Alexander  422. 
Kapp,  Aug.  421 . 
Kapp,  Christian  *421. 
Kapp,  Ernst  »491. 
Kapp,  Friedrich  «422. 
Kapp,  J.  E.  142. 
Karsten,  C.  J.  »482. 


554 


Register. 


Kastn.-r,  Lnr.11/  112  463. 

Kauer,  K.  221  3*6, 

Kaulich,  Wilh.  »44:3. 

Kayserling  176. 

Kayserlingk,  IL  v.  447. 

Kedney  346. 

Keferstein,  iL  2. 

Kchrbach,  K.  202  223  308  385, 

Keller,  Franz  88, 

Keller,  J.  50L 

Kepler  *41  ÖL 

Kern,  Franz  165. 

Kern,  Herrn.  «447  f. 

Kerry  469. 

Kersten,  AltonB  »516. 
Kierkegaard,  Sören  *534. 
Kie»ewetter  234  223  «294. 

Kig  m 

King,  Lord  LUL 
Kinker,  J.  303. 
Kirchhoff  482, 

v.  Kirchmann,  J.  IL  45  5Q  51  52  57  64  85 
8fi8211514112ti2Ü8  22323ii3ü2 
369  »486  493  *4M>  f.  504. 

Kirchner,  Friedr.  144  428  *501. 

Kirchner.  Karl  Herrn.  206. 

Kirchner,  R.  2SL 

KiMel,  Maxim.  Hü  236., 

v.  Kittlitz,  Rieh.  360, 

Kiv,  Victor  312. 

Klaiher,  J.  31H  34iL 

Klee,  IL  312, 

Klein,  Geo.  Michael  331  332, 

Klein,  Jos.  30, 

Klein,  M.  442. 

Klemperer  lfifL 

Kletke,  C.  A.  454, 

Kleutgen,  R.  P.  «462. 

Klingberg  235: 

Klopp,  Onno  142  143  14L 

Klone  128. 

Kluge,  F.  W.  16jJ. 

Knaake,  iL  1SL 

Knapp  517. 

Knauer,  Gust.  23fi  232  240  220  4jQ. 

Knauer,  Vinc.  *443. 

Knie»,  Karl  Iii 

Knigge  178. 

Knight,  W.  52  20  122. 

Knoodt,  P.  64  441  f.  »443. 

Knutzen,  Martin  »174  209  2ÜL 

Kobcrstein,  Aug.  3. 

Koch,  A.  (jö.  441  442  »502. 

Koch,  M.  3L 

Koeber,  R.  318.  322  480  424  54L 

Kögel,  F.  4H(L 

Köhler,  Joh.  Heinr.  Iii, 

König,  Edm.  lfiß  Iii 

König.  Ed.  116  1ÜÜ  232. 

Köppen,  Friedr.  !228  318, 

Körner  296 

Koerting,  G.  6_. 

Köstlin,  Ch.  Reinh.  346  503, 


Köstlin,  Karl  305  34fi  »418  122  432, 
Kohl,  Otto  270. 
Kohut,  C.  Ad.  891. 

Koib,  c.  512« 

Koorders  534. 
Koperuicus  8.  Copernicus. 
Koppelmann  240  486. 
Korodi,  Ludw.  4ftft. 
Korten,  iL  L.  372, 
Kothe  4& 

Kortholt,  Christian  8g  LLL 
Kotzias,  N.  540. 
Krafft-Kbing  im. 
Krakauer  84, 

Kramar,  J.  C.  Uldar  »44S. 
Kramer,  P.  82  48L 
Krantz,  E.  65  457. 
Kratz,  Heinr.  9Q, 
Kraus  208  225, 
Krau*  30, 

Krause,  A.  222  238  258  *466. 

Krause,  Christ.  Friedr.  *332  ^337  ff.  342 

Krause,  E.  282  480. 

Krause,  G.  238. 

Krauseancr  342  516  533, 

Krauss  503. 

Krebs,  A.  2. 

Kreyenbühl  232, 

Kriegsmann,  G.  90. 

Kriticismus  42  202  22Q  230  241  53k 

Kröger,  A.  E.  305. 

Krohn,  A.  210  414  433, 

Kroman  535. 

Krüger.  O.  386. 

Krug,  Wilh.  Traug.  28J)  ?224  382, 

Krumme  448. 

Kühne  LSG  238, 

Kühl,  J.  48L 

Kuhn,  A.  220  448, 

Kuhn,  J.  22L 

Kuhse,  B.  240. 

Kunis,  K.  W.  422. 

Kuttner  231»  210  21L 

Kva.sala  164. 

Kvet,  Franz  L.  144  »447. 

Kvm,  A.  L.  57  236  305  346  420  461  «462- 


L 

Laas.  E.  237  222  240  »464  466  468 

469-470. 
Laban,  F.  371. 
Labanea,  B.  52 S. 
Lachelier,  IL  4S4. 
Lachmann  291. 
Laetantius  182. 
I^agrange  148. 
Laing,  W.  H,  52, 
I*aistner,  Ludw.  503. 
Lamarck  287. 


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Register. 


o55 


de  Lamartine,  A.  185. 
de  St.  Lambert,  Charles  Francois  *1(J.'>. 
Lambert,    Joh.   Heinr.    «167    162  «175 
244. 

de  Laroennais  504  *506f.  *510f. 

de  Lamettrie,  Julien  Offrov  lfi  IM  *1H5 

*Jjä2f. 
Lami  86. 
Lamprecht  14.'}. 
Lamy,  F.  157. 
v.  Lancizulle,  L.  359. 
Land  12  84  §2  2Ü. 
Landerer  360. 
Landerl  386. 
Lanfrey  184. 
Lang,  K.  36L 
Lang,  IL  122. 
Langbein  448, 
Lange,  A.  451. 

Lange,  F.  Alb.  2  II  24  26  lhä  £14  385 

4Ö2  4fiQ  MÜ4  *467  f.  III  47s. 
Lange,  H.  291. 

Lange,  Johann  Joachim  169  *173. 

I>ange,  L.  127. 

Lange,  S.  W.  192, 

Langenbeck,  Herrn.  285  »489. 

Langer  420  422. 

Laplace  67  148  214  491. 

Lara,  Orte  y  533, 

Laroche  524, 

Laromiguiere  194. 

Lascaris,  Constantinus  10. 

l.a-<  .ii  i-.  Johannen  10. 

Lansalle,  Ferd.  'Ml  *JJÜ  12± 

Lasser,  Herrn.  Andr.  146. 

Lasson,  Adolf  31  22  52  205  212  *42:> 

46Q_  423  42li  iV^LL 

Lai«switz,  K.  29  31  32  fi5  232  25b.  Ü6fi 
479. 

I>ast,  E.  23S  312  467. 

Latimer  121  518. 

Latour,  A.  de  185. 

Launoy  20, 

Laurent  »517. 

Laurie,  Sim.  S.  2  »525. 

Lautier,  Gust.  Andreas  422. 

Lavariim.  F.  522, 

Lazarus,  M.  38ü  1444  448. 

Leander,  P.  J.  iL  385. 

Lechler,  Victor  60  132. 

Leckv,  Till.  Edw.  Hartpole  2. 

Leelair,  A.  v.  231  »468. 

Ledere,  Jean  115  117. 

Leclerc,  M.  J.  V.  L 

Ledderhose  20. 

Leechmann  135. 

Lefebure  SIL 

Lefevre  s.  Faber. 

Lefranc,  Em.  64. 

Lehmann,  O.  210. 

Lehmann,  R.  237  23JL 

Lehmans,  J.  B.  8Ji  8iL 

Leibniz,  Friedrich,  der  Vater  145- 


Leibniz  (Lubeniecz),  Geo.  Wilh.   2fi  2S 
5Q8086.8I961Ü2116.122125131 
♦139-166  113  115  182  188  212  222. 
2i2  244  229 [  45Q  463  52L 

Leibnizianer  *167  ff.  »463, 

Lemoine,  Alb.  186. 

Lengfehlner,  F.  23iL 

Lenz,  Reinhold  2HL 

Leo,  Hebraeus  (Judab  Abarbanel)  LL 

Leo,  P.  361  4Ü2. 

Leonard  521. 

Leonardo  da  Vinci  3D  *35. 

t.  Leonhardi,  Herrn.,  Frbr.  338  343. 

Leonicus  Thomaeus,  Nie.  15. 

Leontius  Pilatus  2. 

Leopardi,  J.  457. 

Leopold,  K.  6.  af  *535. 

Lepsius,  J.  175. 

Lerminier  184. 

Leroux  Pierre  *n!5. 

Leroy  *516. 

Les.ug.-  *JM0  Ä 

Lesbareil les  SJLL 

Lessing,  Gotthold   Ephraim  2  *176  III 

*lS2f.  212  226. 
Lessing,  M.  Ii.  ÜLL 
Leveau,  A.  2. 
Le  Viscur  144. 
Leveque,  Ch.  372, 
Levi  32  34L 
Lew,  Siegm.  236. 

Lewes,  Georg  Henry  1  52  512  5£2Ü 

Lewicki  30. 

Leyser,  J.  181. 

Liard,  Louis  6jj  518, 

Liberatore,  Matth,  *fi82i 

LichtenU-rg  62  1*-'. 

Lickel,  Jaques  360. 

von  Liebig,  Justus  52  *474- 

Liebroann,  O.  2fifi  214  235  312  ^464  !4ÜQ 

482. 
Liebner  360. 
Liebrecht,  F.  52, 
Liebrieh,  Wilh.  89. 
Liess,  J.  220, 
Lilla,  Vinc.  528. 
van  der  Linde,  Antonius  84  86. 
Lindemann,  iL  8.  328  343, 
Lindsay,  T.  M.  486  518. 
Lindner,   E.   O.,   der  Schopenhauerianer 

321  322, 

Lindner,  Gust.  Ad.,  der  Herbartianer  193 

•44& 

Lioy  53L 

Lipps  3M  *5t>-2. 

Lipsius,  Justus  5  *17. 

Lipsius,  R.  A.  3Jü  4ÜD  -472. 

Lisco,  iL  318, 

Littre,  E.  504  514.  5ÜL 

Littrow  216. 

Lobstein,  P.  24. 

Locke,  John  42  49  fiö  61  22  *114— 126 
12£13i)mi34!361fillI51äü 


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556 


Register. 


IM  IM  f.  122  122  203  206  241  242 
402  453  521  526  5.29  53Jl 
Lockbart  528. 

Löwe,  John  Heinr.  64  80  128.  205  Mi 

»442  443. 
Löwenhardt  9Q. 
Löwenthal,  Ed.  312  *iI2  4M 
Loewy,  T.  116. 
Lommatzsch,  C.  359. 
Loos,  J.  J.  30. 
Lorinser  533. 

Lossius,  Joh.  Christ.  *1KP. 
Lotsij  90- 

Lott,  Friedr.  2Ö5  »448. 

Lotze,  Herrn.  3  206  281  385  »475  »484  f. 

»486— 489. 
Lowrey,  C.  E.  61. 
Lucas  KG. 
Luciani,  P.  5.31 . 
Lucretius  364. 
Luden,  IL  45  166, 

Luduvici,  Kurl  Günther  143  lfiZ  168. 
Lülmann  90. 

Lullus,  Ruymundus  12  31  10, 
Lughington  126  197. 
Luthardt,  Ch.  E.  20  4LL 
Luther  *19  ff.  46, 
Lutterbeck,  J.  A.  B.  336. 
v.  Luynes,  Herzog  63» 
Lvcll,  Charles  475  52L 
Lyn«  *m 
Lyon  12L 


Maas*  III  *294. 
Mabilleau  L 
Mably  »192 
Macaula v  fc'. 
Mncchia"  51«, 

Macchiavelli,  Nicolo  *43  ff 
Mach  »46H. 
H'Cosh,  J.,  s.  Cosh. 
Macki  143. 

Mackintosh,  James  44  134  ?i9j>  127.  204 
«525. 

Macvicar,  John  G.  523. 
Mac  Walter  528. 
Mählv.  Jac.  L 
Maennel  'JSL 

Märcker.  Friedr.  Aug.  65  v4^. 

Hagelhaes  533. 

Mager,  Karl  »44*. 

Maggiolo  6i 

Hagucnus  J  18. 

Mahaffv  65  tili  2M 

Maier,  E.  3fi£L 

Maignan  I  1& 

Maimon,  Salomon  »290  292  302  322, 
Maimonides.  Mose  S9  M  1»3  10L 
Maine  de  Biran  144  501  *J*R  ff. 
Mainländer,  Phil.  155  M5<i  ML 


Mainzer,  J.  126  238.- 
de  Haistre,  Graf  Jos.  52  »506  507. 
Maizeaux,  des  65  Zfi  ML 
Majans  24. 

Malebranche,  Nie   lfi  *Ifi  f.  »81-82  122 
134  151  182  222  529  53_L 

Hallet  5L 

Malpighi,  Johannes  2, 
Maitzahn  177. 

Mamiani,  Terenzh.  32  237  2: SS  ,-,2ST>3lf. 

Manchot,  C.  5M 

Mancino,  Salv.  »529. 

Handeville  »124. 

Manlv,  W.  116. 

Mann»,  R.  240» 

Hansel,  H.  L.  518  »519. 

Hanso.  8.  J.  C.  180. 

Mantovani  229. 

Hanzoni  53< ). 

Harbach,  G.  O.  »422. 

Hare  Aurel  ML 

Du  Harchie  van  Voorthuisen  541 

Harens  Harci  von  Kronland,  Joh.  30  *36. 

Murghieri  342. 

Harheineke,  Phil.  318  346  Mlli  422, 
Hariana  46, 

Hariano,  Raphael  32  521  *533. 
Harion  116  152  518. 
Harkuli,  G.  2J1L 
Marquardsen,  IL  52L 
Marquardt,  A.  113. 
Marschner  3<  >5. 
Marselli  533, 
Harsh.  J.  526. 
Harsilius  s.  Ficinus. 
Harta,  J.  A.  15. 
Marteusen,  IL  33. 
Hartin,  B.  m 

de  St.  Hartin.   Louis  Claude   29  32  328 

335. 

Hartin,  L.  A.  515. 

Hartin,  R.  386= 

Hartin,  Tb.  32  «515. 

Hartineau.  Miss  Harriet  504  »523. 

Martineaii.  J.  £6» 

Martini  23  30, 

Martini,  Corn.  2L 

Martini.  J.  9_L 

Martin. i.  di  53  1 . 

Hartins  281, 

Harx,  K.  F.  IL  416  425, 
Hasarvk.  T.  C.  196  197. 
Masci  23L 

Hashani.  Frau.  Cudworths  Tochter  116. 
Hassari,  G.  52Ü. 
Masson,  Dav.  517. 
Masson,  G.  515. 
Hastier,  A.  27i '. 

Haterialisten,  deutsche,  des  ÜL  Jahrb.  473. 
Haterialisten,  englische,   s.  Hobbes.  Hart- 

ley,  Priestie v. 
Haterialisten,   französische,  d.  18.  u-  12. 

Jahrb.  42  »184  ff.  «ÄS  f. 


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Register. 


557 


Matt  er,  .1.  2  32  220, 
Matthen,  Karl  20. 
Matt  hies  422, 
Matthiolius  271. 
Mattos,  de  534 
Maudsley,  IL  519. 
Maugras,  G.  185. 
Maupertuis  IM  *186  f.  122, 
Maurial,  E.  235. 
Maurice,  F.  D.  525, 
Maxwell  134, 
Maver,  A.  418. 
Maver,  K.  W.  220. 
MaVer.  G.  M.  145, 
Maver,  J.  R.  1482  421. 
Maver,  T.  462, 
Maver,  V.  57. 
Mayr,  R.  185, 
Maywald,  Max  6. 
Mazzarella,  B.  »530. 
Mears  232. 

von  Medici,  Cosinus  lö  11. 

von  Medici,  Ginliano  LL 

von  Medici.  Lorenzo  11. 

Megariker  380. 

Mehmel.  G.  K.  A.  316, 

Meier,  Geo.  Friedr.  s.  a.  Meyer  168  175 

180  216, 
Meiklejohn  222. 
Meineke,  R.  A.  65, 
Meineke  496. 
Meiner  234. 

Meiners.  Christoph  *179. 
Meinong,  A.  IM. 
Meis.  Cam.  de  5.">.'L 
Meissner  144. 

Melanchthon  2  14  *12  ff  46. 
Meilin.  G.  S.  A.  228  234, 

Meltzl.  IL  v.  23jL 

Melzer.   K.  64  122  2ZQ  291  305.  435 
442. 

Mendt*,  C.  240, 

Mencken,  Otto  141 . 

Mendelssohn,  Georg  Benjamin  ITH. 

Mendelssohn,  Moses  82  03  126*178—179 

182  261  283. 
Mercier  64. 
Merkens,  iL  180. 
Merschmann,  Fr.  65, 
Mersennc  5Z  66. 
Merten.  J.  *443. 
Merten,  Oscar  51lL 
Merz,  Theod.  52  145  23A 
Mestica  529. 
Metageometrie  482  f. 
Metainathcmatik  482  f. 
de  la  Mettrie.  s.  Lamettrie. 
Metz  234, 
Meiirer  2ÜL 
Meydenhauer  238. 
Meyer,  Geo.  Friedr.  s.  a.  Meier. 
Mever,  H.  G.  144  lfiSL 
Meyer,  Jürgen  Bona  52  115  186  228  234 


235236302305322414451452 
'464  465  412  J81  423  504, 

Mever.  Ludwig  84  21  21 

Mever,  Metellus  90, 

Meyer,  W.  22L 

Meyerhoff  6. 

Meinen  456. 

Mezzera,  G.  52fr. 

Michaelis  232. 

Miehalsky  239  291. 

Michel  Apostolius  LL 

Micheler,  Jules  *515. 

Micholet,  Karl  Ludw.  206  223  234  282 
318  325  345  346  361  311  416  HU 
422  f.  52L 

Michelis  222  235  ±443  463  422. 

M Schelsen,  A.  2  33. 

Mignet  318  5üL 

Mill.  James  204  »Mft  512, 

Mill,  John  Stuart  204  462  504  512  *519 
bis  521  524, 

Millet,  J.  64 

Minas.  M.  12, 

Miqnel,  F.  W. 

Mirahaud  124, 

Miraglia  H46 

von  Mirandola.  Joh.  Pico  6  Hl  35. 

von  Mirandola,  Joh.  Franz  Pico  ü  "11. 

Mirht,  E.  S.  235  *302. 

Misses,  Is.  82, 

Moerbecke  2. 

Mönckcberg.  K.  178. 

Mönnich  343. 

Moesch,  F.  516. 

Moglia  528, 

von  Mohl.  Robert,  3  41  45, 

Molanus  149. 

Molesehott,  Jac.  *473  ff. 

Molesworth  52, 

Molina,  Lud.  46. 

Molinari,  Vinc.  522, 

Molitor  335.  »837. 

Mollat,  t;.  142, 

Mollet,  133, 

Molyneux  133. 

Monchump,  G.  64. 

Monck  232  518, 

Monrad,  M.  J.  2  305.  414  *M6. 

Mont.  E.  du  322. 

Montague  5L 

de  Montaigne,  Michel  5  2  *lft 
Montesquieu  (Charles  de  Secondat,  baron 
de  la  Brede  et  de  M.)  184  185  188  f. 
Montgomerv,  Edm.  236. 
Montucla  148  213, 
Mook,  F.  534, 
Mook,  iL  30. 

Morc,  Henry  29  *61  77  132  157. 

Moreau.  L.  185, 

Morell,  J.  D.  5Q4, 

Morellv  »192. 

Morgan,  Th.  *132 

Morgott  527. 


55* 


Register. 


Morin  185. 

Moritz.  Karl  Phil,  »181  222. 
Morley.  Juhn  185  186. 
Morris  115  239  518  526. 
Morselli  533. 
Morteira.  Saul  Levi  2L 
Momi>,  Thom.  »43  f>  41L 
Moscati  222« 
Moses  94, 

Mosheim,  Joh.  Laur.  61  132, 
Mothcau,  H.  L 
Mourlv,  J.  240  28L 
Mflhry,  Ad.  182 
Malier,  Aug.  23iL 
Maller.  Päd.  »423* 
Maller,  Ferd.  Aug.  im 
Maller.  Georg  Elias  490. 
Maller,  Johannes  III  482. 
Mailer,  Jul.  «43». 
Mailer,  Max  52  229  5Ü3, 
Müller,  V.  177. 
Mullner.  441. 

Münz.  Iii  ruh.  11»:. 

Münz,  Wilh.  239. 
Muggenthaler.  I.miw.  L 
Mündt  Th.  »423. 
von  Murr,  Christ.  Gottl.  84.  143. 
Musüus  86. 
Musset-Pathay  186. 
Mussmann,  Joh.  Geo.  »423. 
Musurus,  Marcus  10. 
Mystiker  2  42  51  22. 


N. 

Nagel  312. 

Nahlowski.  Jos.  W.  »448. 

Naigeon  18<>. 

Nameche,  A.  J.  24. 

Napier.  M.  52. 

Natale,  R.  2. 

Nath  Im;. 

Nathan,  J.  23L 

Natorp,  P.  32  33  65. 

Naumann,  Alex  240  »182  52L 

Naville.  Erneste  504  5Ü8  !51I  52L 

Neander.  A.  65  *433. 

Neeb,  Joh.  298. 

Nee»  s.  Esenbeek. 

Neff  IM  144, 

Neide.  P.  S.  23L 

Nemes,  E.  MO. 

Neniteseu  $Q. 

Nettelhladt,  Dan.  174. 

von  Nettesheim  s.  Agrippa. 

Neubcr  24H 

Neudecker,  G.  206  »46». 
Neufchateau,  F.  de 
de  Neufville,  M.  L.  s.  Jaucourt. 
Neugeboren,  Heinr.  458. 
Neukantianer  464  ff. 


Neumann.  C.  124. 

Neuplatoniker  IQ  21  29  92  311  35L 

Neuwied,  W.  fcL  v.  235. 

Newton,  Isaak   ±126  121  *131  146  147 

148  lßü  183  214  211»  463: 
Nicoladoni.  A.  541. 
Nicolai,  Friedr.  *H6  122  »179. 
Nicolaus  aus  l'ues  (Cusanus)    14  »28  ff. 

2S  f.  »33-35  3S  40  54L 
Nicole,  Pierre  26. 
Nielsen,  Rasmus  »534. 
Niemeyer,  Ed.  III  iül 
Niethammer,  Friedr.  Immanuel  »315. 
Nietzsche  322  »457. 
Niphus,  Augustinus  Mtj 
Nippold  4M. 
Nisard  1H4. 

Nitsch,  F.  A.  234  30JL 

Nitzsch.  Fried.  20  361  »433. 

Nizolins,  Marin,  «24  «26  146  152. 

Noa.  k,  Ludw.  2  1t  235  30Ö  318  371  4<>4 

»412  423. 
Noire,  L.  229  239  455.  *5ÖQ  f. 
Nolen,  D.  141  144  145  20H  2,37  270  414 

415. 

Nortis,  John  130. 
Nourisson  49  65  89  143, 
Novalis  s.  Friedr.  v.  Hardenberg. 
Nascheier,  Heinr.  52. 
Nybläus  534  536  gfflft 


O. 

Occam  69. 

Occastonalismus  *78  ff.  92. 
Oersted.  Hans  Christian  «331  334. 
v.  Oettingen,  A.  89  270. 
Oettinger  46. 

Oischinger,  J.  N.  P.  1  «442  «463. 
Oken,  Ix.renz  282  331  »333. 
Olawskv,  Ed.  »44R 
Oldenburg  85  86  146. 
Oldendorp,  Joh.  46. 
Olle-Laprune  29. 
Ompteda  45. 

Oncken,  A.  192  210  28L 
Ontologismas  527. 
Opel,  Jul.  Otto  ü 
Opitz  90. 

Oppenheim,  Heinr.  Bernh.  *423. 

Oppermann  343 

Opzoomcr,  C.  W.  «534. 

Oratorianer  26. 

v.  Orelli,  Conr.  86. 

Osiander  22  33. 

v.  Osten-Sacken,  Fr.  32  335  336. 
Ostermann,  F.  L.  «14* 
Osteimann,  W.  231  386. 
Oswald,  James  19fi  192  «203. 
Ott,  A.  206  234  346. 
Ottema,  G.  431 


by  Google 


Register. 


569 


Otto  IM  270. 
Oxenford,  Jobn  ■> 
Ozanam,  A.  F.  iL 


P. 

Pabst,  J.  IL  Ml  »448. 

Pag»"»1'-  *530. 
Palev,  Williuni  «139. 
Fallen,  C.  B.  52* 
Pallcske  220. 
Palm,  J.  281  290, 
Palm,  R.  llfi. 
Palmer  3&L 
Pansch  20. 

Pantheismus  132,    transzendentaler  Pan- 
theismus Fortlage»  469. 
Paoli,  A.  2  126  322  3*6  52*. 
Papa,  V.  53LL 
Papillon,  F.  2  <M  12iL 
Papin  142. 
Pappo,  V.  C.  8L 
Parante  fi04. 
Paracelsus  s.  Höhener. 
Parchappe,  Max  32. 
Parker,  Sam.  »61. 
Parmenides  31  401. 
Parr.  Sam.  12L 
Pascal,  Blaise  »fift  76  77  MO. 
Passow,  W.  A.  305. 
Patritius,  Franciscus  31  »37  38. 
Paukstadt  29L 
Paul,  L.  2IL 

Paulsen,  Fr.  3  liüi  208  222  237  238  372 
*42L 

Paulus,  Heinr.  Elwrh.  Gottl.  84  85  86  294 

330, 
Paulus,  8.  65. 
Pawlicki,  Steph.  312, 
Peip,  Alb.  33  »440. 
Peipers,  Ed.  Ph.  »423  454. 
Pellarin,  Ch.  501 
Pelletan.  Eug.  ISO. 
Pellis8ier,  A.  fi. 
Pellisson  149. 

de  PenhoPn,  Barchou  s.  Barchou. 

Penjon,  A.  126  144  486. 

Pentzhorn  112. 

Penzig,  R.  312, 

Penzier,  B.  144, 

Peripatetiker  2Q  23. 

Perojo,  del  229, 

Perty  »434  »440. 

Pertz,  Georg  Heinr.  142  149 

Pesch,  T.  232  462, 

Peschel,  M.  23H. 

Peschier  601. 

Pessimismus     Schopenhauers     370  3*2. 

v.  Hartmaiius  4S5  49n,  Lcopardis  457. 

Litteratur  457  f. 
Pestalozzi  »181  315  34JL 


Peter«,  C.  322  455  *456  f. 

Peters,  J.  llfi» 

Petersen  3fiL 

Petöcz,  Michael  *463. 

Petrarca,  Francesco  4  6  »8  f. 

Petri.  M.  22& 

Petrus  Hispanus  13  104 

Petrus  s.  Pomponatiu?». 

Peucer  20. 

Pfaff,  Fr.  48L 

Pfeifer.  F.  X.  462. 

Pfingsten,  .loh.  Herrn.  &L 

Pfleiderer,  Edm.  23  21  143  144  126 

2lltAlA.m.  4M  »502. 
Pfleiderer.  O.   2  305  313  386  tAlü  412 

»423  f. 
Pflüger,  W.  236  »479. 
Phäuomenalismus  126  468. 
Philaretus  29, 
Philelpbus,  Frunz  3. 
Pbilclphns,  Marias  2. 
Philippe,  A.  504, 
Philipson,  M.  86, 
Philon  105, 

Philosophen,  au!»scrdeut*che  de«  12,  Jalirb. 
503-  540. 

Philosophen.  belgische,  des  13.  Jahrb.  50:» 

505  ?5ifi  f. 
Philosophen,  dänische,  des  12.  Jahrb.  *534 

535. 

Philosophen,  englische,  des  19_.  Jalirb.  *  1 7 
bis  526. 

Philosophen,  französische,  des  12-  Jahrh. 

»503-516. 
Philosophen,  holländische,  des  19,  Jalirh. 

Philosophen,   italienische,   des   12,  Jahrb. 

•527-533. 
Philosophen,  neugriechische,  des  19.  Jahrb. 

»640. 

Philosophen,   nordamerikanische,   des  12.- 

Jahrh.  512  *£26  t 
Philosophen,  norwegische,  de»  12s  Jahrb. 

534  *m 

Philosophen,  polnische  534  540. 
Philosophen,  poitugiesische  533  f. 
Philosophen,  russisch»-  534  510. 
Philosophen,  schottische  195  121  »202  bis 
204. 

Philosophen,    schottische,   des  12-  Jahrb. 
512  ff. 

Philosophen,  schwedische,  des  12t  Jahrh. 

534  »535-539. 
Philosophen,  spanische,  des  12.  Jahrh.  533. 
Philosophen,  ungarische  534  »540. 
Philosophie  der  Geschichte  b.  Vico  166  f.. 

b.  Lessing  183.  b.  Herder,  299.  b.  Hegel 

355  ff. 
Physiokraten  192. 
Picavet  186. 
Piccolomini,  A.  S.  10. 
Piccolomini,  Franz  IL 
Piecolorusso  146. 


560 


Register. 


Pichler,  A.  LLL 
Pico  «.  Mirandola. 
Picot  GLL 

Pierson,  A.  185  534, 

Pilatus  s.  Leontius. 

Pillon,  F.  126. 

Pini,  Erm.  52IL 

Pinheiro  fiffi, 

Pistorius  127. 

Planchenault,  N.  41 

Pianok,  Ado.  2£2  318, 

Planck,  K.  Chr.  5423  424  !432  4ML 

Planudes,  Maximus  LLL 

Plath,  C.  IL  LLL 

Platner,  Ernst  *179  136. 

Piaton  4  ff.  2  21  22  4ü  131  134  164  132 

21I322  325ß2ü35Ilfll52i»ML 
Platoniker,  englische  *S7  134  527. 
Platonikcr,  florentinische  4  *10  ff.  35. 
Platt,  C.  352  3ÜQ, 

Plethon,  Georgius  Gemistus  4  6  *10  ff.  ßL 

Plitt.  G.  L.  818. 

Plf.ttner  322. 

Plotin  4  11  La  105. 

Ploucquet,  Gottfried  144  175. 

Plumaeher  (Plümaeher,  OlgaJ  455  458  493, 

Podestä,  B.  2, 

Poel.  G.  238. 

Pölitz  228. 

Po£v.  A.  506. 

Poiret,  Pierre  23  565  532  82. 
Poletti  533. 
Polev.  H.  K.  LL5. 
Politianus,  Angelus  I  *14. 
Pallock,  F.  86. 
Polsenet  20. 
Pommer  237. 
Pompa  527. 

Poraponatius,  Petrus  5  52  116  f.  42  532. 

Pordage,  John  23  162. 

Pom.  iL  197. 

Porphyrius  11  22. 

Porta,  Giambattista  IL 

Porta,  Simon  12. 

Porter,  Noah  H5  220  518  *526. 

Positive  Philosophie  Schellings  330  f. 

Poeitivismus  Comtes  503  504  f.  *51 1—51 4, 
deutscher  von  Laas  u.  A.  464  468  ff-, 
Stuart  Mills  521,  Spencers,  Lewes 
ii.  A.  523,  italienischer  532  £ 

Post,  A.  iL  508. 

Praca,  L.  534 

Prantl,  K.  224303241112145303 

142L 
Prat,  J,  G.  85. 
}'r<i>>  *LLS. 

du  Prel,  Karl  Frhr.  423  481  433.  * 

Prcvost,  Amedee  64  204  240, 

Prevost-Paradol  2  132. 

Price,  Richard  1122  L2L 

Prieetlev,  Jos.  112*1  121  M30  121  52L 

Prihonsky  235. 

Prisco,  G.  346  52>L 


Prölss  *502. 
Proklus  10. 
Pn.ksch  33Ä 
Prosch  221  271. 
Protagoras  462. 
Proudhon  515. 
Prowe,  L.  34. 
Psellus  13. 

Psychologie,  experimentelle  4fl3. 
Psychologie,  physiologische  4fi3  f. 
Psvchophysik  490  ff. 

Pünjer  231220211  352  464  503  505 

518  «521. 
v.  Pufendorf,  Samuel  141  *165. 
Pvthagora»  40. 
Pythagoreer  28  34, 


Quaatz.  J.  232  220, 

Quäbicker,  Rieh.  116  236  361  385  425 

Quesnay  132. 

Quepat,  Neree  1*5. 

Quetclet  1512  525, 

Quintilian  26. 


R. 

Rabbe.  F.  8, 

Rahus.  Leoni..  333  415, 

Rade,  E.  48L 

Kadenhausen,  C.  *478. 

Rätze,  J.  G.  33. 

Raev  26. 

Raffel,  J.  197. 

Ragnisco,  P.  232  322.  «533. 

Raggi.  O.  6. 

Rwnns,  Petrus  14  23  124  2fi  f. 

Ramisten,  Antiramisten,  Semiramisten  27. 

Ranke  45. 

Rappolt  §6. 

Rashdall,  S.  IL  524, 

Raspe,  R.  B.  LLL 

Rationalismus  42  f. 

Ratjen,  iL  335, 

Rau,  Alb.  240  430. 

Rau,  K.  Heinrich  503. 

Raue,  G.  404. 

v.  Raumer,  Karl  3  134  210  223  334, 

Ravatsson  504  514  515. 

Rawlav,  William  51  53. 

Raynal'  132. 

Ree,  Paul  «481. 

Regis,  Pierre  Svlvain  26. 

Regius  63  26  82. 

Regner  a  Mansfelt  86. 

Regnon  516. 

Rehberg  LLL 

Rehmke  458  14£9  493, 


by  Google 


Register. 


:V51 


Rehnisch,  E.  486. 
Rehorn,  K.  122. 
Reich,  Ed.  498. 
Reiche.  Aug.  «448. 
Reichel,  52. 
Reichenau,  W.  v.  2. 

v.  Reichlin-Meldegg,  Karl  Alexander  294 

305  314  »465  425  515. 
v.  Reichlin-Meldegg.  Kuno  3_. 
Reicke,  Joh.  225, 

Reicke,  Rud.  208  222  223  222  228  235 
29Q  flflrV 

Reid,  Thomas   184  195  5196  192  5203  f. 

503  501  518  526  529. 

Reiff,  .Tue  Friedr.  34Ü  423  «424. 
Reimarus.  Herrn.  Sani,  5126  Ü28  129  26L 
Rein  386. 

Reinheck,  Joh.  Gust.  »174. 

Reinhard  144. 

Reinhardt,  A.  144. 

Reinhold,  Ernst  1  290  »465. 

Reinhold,  Karl  Leonh,   162  196  234  289 

290  5223  f.  300  308  315  320. 
Reinkens,  J.  IL  HL 
Reiser,  A.  1SL 

Remusat,  Charles  de  49  52  52  61  515, 
Renan,  Erneste  6  90  426  505  *515. 
Rencrius  26. 
Renouard  2. 

Renouvier,  Charles  196  504  *515  518. 

Resl,  G.  L.  W.  »448. 

Ret  höre,  F.  186. 

Reuchlin,  Herrn.  65  2fL 

Reucblin,  Johann  6  512  14  21  35, 

Reuinont  45. 

Reuseh.  Chr.  Friedr.  20& 

Reuschle.  G.  185  213  214  216  222  241 

426. 
Reuss  234. 
Reuter,  Herrn.  36L 
Reuter,  W.  122. 
Rhenanus,  Beatus  2. 
Riaux,  F.  51. 
Rihheck,  \V.  458. 
Ribhing  536  »M9 
Ribot  322  502  504  *516  518. 
Richter,  Arthur  20  221  281  425. 
Richter,  Friedr.  (aus  Magdeburg)  »416  421 

424. 

Richter,  iL  G.  Ad.  »477. 
Richter.  Jos.  235  263. 
Richter,  K.  H5  222. 
Rieeke  512. 
Riedel,  Karl  85  239. 

Riehl,  A.  208  222  232  *i£4  5410  f.  518.. 
Riem  322. 
Riemann  243  482. 

Rig,  J.  504, 

Rigollot,  G.  180. 

Rink,  F.  Theod.  208  226  221  22*. 
Rinne,  iL  A.  »470. 
Rio,  J.  8.  del  343  »533- 
Ritschl,  Albr.  361  M61  *471 

U  eberw  og- LL>-i  nx  e.  Grondriss  III.   L  An 


Ritter,  Ad.  185. 
Ritter,  C.  196  23L 

Ritter,  Heinr.   124  64  85  88  90  91  2LÜ> 

359  1453  452. 

Ritter,  J.  iL  126  525. 
Ritter,  P.  T±  14L 
Ritterfeld.  F.  2LL 

Rixner,  Thadd.  Ans.   29  30  31  32  *331 

Robert,  L.  186 
Robertson  52  518. 
Robin  504. 

Robinet,  Jean  Baptiste  184  186  1Ü2  *1H3. 

Rochefoucauld,  La  192. 

Rocher,  V.  65. 

Röder  338  343. 

Röder,  Ed.  234  51 S, 

Röer,  iL  IL  E.  *UU 

Röhr,  294. 

Röse,  Ferd.  »432 

Rössler,  Constanrin  122  291  *425. 

Rötseher.  Heinr.  Theod.  »425 

Roggen»,  G.  N.  49. 

Rohmer,  Friedr.  *499. 

Rokitansky,  C.  *47l>. 

Roluh,  W.  IL  48L 

Romagnosi.  Giov.  D.  *527  528  529  532, 

Romang.  J.  P.  »453  f. 

Romme laere,  M.  30. 

Romundt,  H.  240  5411  54L 

Roorda,  T.  221  53L 

Roscher  5X13. 

Rosenberger  228. 

Rosenkrantz,  W.  »433  »441. 

Rosenkranz,  Karl  88  133  185  lflfi  2Qfl  228 
228  234  256  252  222  282  290  305 
318  325  345  346  341  360  321  M±!i 
419  »124  f.  428  533. 

Rosenthal,  A.  501. 

Rosinski,  A.  386. 

Rosmini,  Serbati  Antonio  °527  52g  »529  ff. 

532. 
Rosset,  M.  516. 
Rossi,  E.  425. 
Roth,  Friedr.  v.  291  298. 
Roth,  .1.  2ÜL 
Rothe,  Rieh.  5433  1453  t 
Rothschild  90. 

Rousseau,  Jean  Jaques  60  95  117  178  184 

5185  189  191  295  529  535, 
Rouvier  483. 
Rowland,  J.  220. 
Royce  239. 
Rover.  Ch.  2. 

Ro'ver-Collard,  Pierre  Paul   194  203  *503 

'  504  5502  530, 

Ruardus  s.  Andala. 
Rubbini  532, 
Rubin.  Salom.  89. 
Rudhardt  44. 
Rudolphi  U5, 
Rudorff,  E.  3ÜL 
Rüdiger,  Andreas  *173. 

86 


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562 


Register. 


Rühl,  225, 
Rütenik  3Ü0. 

Rüge,  Arnold  361  MIß  MIT  125  525. 
Ruhnken,  DaYtd  -ML 
Ruiz  033. 

Runze,  G.  2  19J3  223  36L 
Rupp,  Jul.  235, 


s. 

Sacchi  528. 
Sack,  K.  G.  361. 
Sadov  6, 

Sahlin,  C.  Y.  361  »539. 

Saigey  186. 

Saint-Beuve  Iii  51  ö. 

Samt. 's,  Amand  &ü  235. 

Saisset,  Emile  64  80  82  144  235  «515. 

Salat,  Jak.  ^29ü  318, 

Salinger  90. 

Salter.  Will.  Maekintire  526, 

Salvetti  5533. 

Sanitieben,  G.  HL 

Sanboru,  F.  B.  525, 

Sanohez  (Santius),  Franz  5  8  18, 

Sanio 

Sanscverino  *BS2. 
Sarchi  90  23A 

Saussaye,  Ch.  de  la  Savage  481  *5B4- 
Savagner,  Aug.  44. 
Savarese  442. 
Savous,  A.  185. 

Scäliger,  Julius  Caesar  28  30  3L 

Scartazzini,  Job.  Andr.  6  3L 

Schaarschmidt,  Karl  2  31  64  85  88  9& 
142  23a 

Schacht,  Willi.  385. 

Schad,  Johannes  Baptista  *31>i 

v.  Schaden,  Emil  Ang.  336  M40. 

Schärer,  Emanuel  116  ÜI432. 

Schal ler,  Jul.  2  360  ?416  !425  422, 

Schanz  30  32. 

Scharpff,  F.  A.  29  30, 

Scharling,  C.  IL  33, 

Schasler,  Max  34Ü  *42ti. 

Schaumann  24. 

Schedin,  Gust.  Theod.  64. 

Scheffer,  W.  322. 

£«beffler,  Joh.  165, 

Schegk,  Jac  ^23  21  28, 

Scheidemacher,  C.  *47t>. 

Schelle,  G.  G.  lfiü, 

Schelle,  K.  G.  294. 

Schellenberg,  E.  O.  305  36L 

t.  Sendling,  Friedr.  Wilh.  29  31  43 
9Ü183  205  270  281  2963Ö531Ö 
316  ^JH  321-331  ff.  331—343  31« 
352  3JÖ  38Ü  383  434  43Z  *453  js5 
540. 

Schelling,  K.  F.  A.  3JÜ  3i>5  318. 
Schellingianer  *331— 343. 


Schellwien,  Rob.  3Ü5  *47H. 
Schenk.  G.  232. 
Schenkel  36Q  3üL 
Scherbius,  Phil.  23  21  28, 
Scherer  236. 
Sehend,  Alois  312. 
Scherzer  15L 
Schiebler.  K.  W.  32, 
Schiel,  J.  519, 

Schiller.  Friedr.   132  214  281  Ü2g9  290 

»294  f .  3i>5  350  5LL 
Schilling,  (Just.  143  *449. 
Schindler  90. 
Schlegel,  Ad.  180. 
Schlegel,  A.  W.  Slli  3ÜÜ. 
Schlegel,  Friedr.  ^3Ui  3Ü1L 
Schlegel,  J.  H.  31L 
Schleicher  480. 

Schleiden,  M.  J.  292  ,*3Ö1  302  472  418, 
Sehleierraacher,    Friedr.   Ernst    Dan.  90 
92143183205215220316332 
♦357—403  406  425  434  453  f.  459 

536. 

Schleicrmacherianer  4fx3  ff. 

Schlichtegroll  29L 

Schliephake  343. 

Schlomüch  31Ü 

Schlosser  49  168  185. 

Schlosser,  J.  G.  226, 

Schlottmann,  Constantin  20  52  360. 

Schlüter,  Christoph  88  336. 

Schmarzow,  A.  HL 

Schmauks,  Joh.  Jac.  4L 

Schmeding,  F.  *4fiB. 

Schmeisser,  Emil  30, 

Schmid,  Alovs  (in  Dillingen)  346. 

Schmid,  C.  481 

Schmid,  F.  X.  aus  Schwanenberg  20  25 

64  «440. 
Schmid,  K.  A.  24, 

Schmid,  Karl  Christian  Erhard,  der  Kan- 
tianer 234  »293. 
Schmid,  Leop.  #4:U*. 
Schmid,  der  Friesianer,  J.  H,  T.  302. 
Schmid,  R.  4SL 
Schmidt,  Joh.  Lor.  85  132. 
Schmidt,  Dr.  in  Berlin  4ü4. 
Schmidt,  Alexis,  der  Hegelianer  *426. 
Schmidt,  Casp.  *431. 
Schmidt,  E.  122, 
Schmidt,  F.  W.  V.  85  232, 
Schmidt,  Gust.  290. 
Schmidt,  J.  144  169. 
Schmidt,  J.  L.  Bfe 
Schmidt,  Jul.  206  36L 
Schmidt,  Julian  3  290  29L 
Schmidt,  Karl  :l 
Schmidt,  Ose.  4SI  493. 
Schmidt,  Paul  86  82  281  360, 
Schmidt,  Reinhold,  der  Hegelianer  *426. 
Schmidtborn,  E.  232, 
Schmidt- Weissenfeis,  Ed.  305. 
Schmitz,  W.  24, 


ed  by  Google 


Register. 


568 


Schmitz-Duniont  »502. 
Schinuller,  G.  305. 
Sehnedermann  290. 
Schneid,  M.  463, 
Schneider,  B.  228, 
Schneider,  C.  M.  462, 
Schneider,  G.  386  48L 
Schneider,  IL  480. 
Schneider,  K.  185« 
Schneider,  O.  23Ji 
Schneidewin,  M.  493. 
Schoel,  A.  386, 
Schönlank,  B.  12L 
Schönwälder  33, 

Scholarius  s.  Gcorgius  Gennadius. 
Scholastiker  U  21  BD  61  462  51£  533. 

Schölten,  J.  IL  534, 
Schooten,  van  63. 

Schopenhauer,  Arthur  223  224  235  262 
263  2Z0  288  *369— 383  403  408  411 
*453  455  ff.  466  412  48ü  4M  4% 
540  r>ti. 

Schopenhauerianer  455  ff. 
Schoppe  (Scioppius),  Casp.  IL 
Schornstein  22L 
Schramm  22Ö  48L 
Schreiter  126, 
Schröder,  B.  439. 
Schröder,  Joh.  Friedr.  6, 
Schubert,  K.  30, 

v.  Schubert,  Gotthilf  Heinr.  1331  334  335. 
Schubert,  Friedr.  Willi.  208  210  211  214 

216  22Z  228  256  251  277. 
Schubert-Soldem,  R.  v.  «468  f. 
Schuerer,  Emil  360. 
Schütz  181  12L 
Schlitz,  L.  4G2, 
Schüz,  A.  424, 
Schuller,  IL  im 
Schulte,  Fr.  Xav.  4k 
Schultheis«  211  4i<!L 

Schultz  (Schulz  Schulze),  Joh.  210  234 

»289  *21>3. 
Schultze,  Fritz  6  232  *4B8  473  «479  481 

521* 

Schnitze,  L.  36L 

Schultze,  W.  F.  136  23iL 

Schulz,  Prediger  zu  Gielsdorf  224. 

Schulz,  Franz  Alb.  202, 

Schulze,  Gottlob  Ernst  (Aenesidenius)  «289 

♦293  308. 
Schulze,  Gust.  144. 
Schulze,  Johannes  345. 
Schulze,  K.  Fr.  W.  L.  Ml 
Schuppe,  W.  238  *468. 
Schümann  524, 
Schuster  1 1  ö. 

Schwab,  Moses  1ÜI  126  240, 
Schwabe  305, 
Schwalbach,  F.  C.  64- 
Schwarz,  C.  F.  65. 
Schwarz,  F.  439. 
Schwarz,  iL  4£L 


Schwarz,  Heinr.  «426  457. 
Schwarz.  Herrn.  «426. 
Schwarz,  Karl  III  3üD_  »454. 
Schwarze,  A.  386. 
Schwegler,  F.  K.  A.  «412  418  426. 
Schweizer,  A.  351  423, 
Schwenkfeld(t),  Caspar  22  «42, 
Schwertschlager  239  422, 
Schwindt,  G.  634, 
Scotus,  Joh.  Duns  151- 
Scribonius,  A.  27. 
Seailles  5UL 

Secrctan  «434  463  504.  ^LL 

Sedail,  Ch.  52, 

Sederhol  m,  K.  »440. 

Segond  145, 

Seidlitz.  C.  von  322, 

Seidlitz,  G.  4ÜQ, 

Seiling.  M.  54L 

Seile,  Christian  Gottlieb  «2'.»2. 

Selver,  D.  145. 

Semper,  C.  48L 

Semple,  J.  W.  222, 

Seneca  152l 

Sengler.  Jak.  21  *J33  *439. 
Seiinert  2  18  31  538. 
Sensualismus  42, 
Sergi  533. 
Serrano  533, 
Seth,  A.  122  22a 

Seydel,  Rud.  252  371  322  222  436  431 

•438  528  541, 
Severlen,  R.  422, 
Seyfarth,  Hnr.  80, 
Seyffarth,  L.  W,  1SL. 
von  Shaftesbury,  Graf  Anton  Ashlev  Cooper 

«134  ff.  122. 
Shakespeare  38, 
Shields,  C.  \V.  526, 
Shute,  R.  502  *£2_L 
Siber,  Thadd.  29  30  31  32. 
Sibree,  J.  346. 
Siciliani  «533. 
Sidgwkk,  IL  232  524  »525. 
Sidney  112. 
Siebeck  386  »449. 
Siebenlist,  A.  372. 
Siegfried,  Karl  8JL 
Siegfried,  L.  515. 
Sieveking,  R.  6. 

Sigwart,  Christoph  2  23  30  31  32  41  52 

64  85  89  23  105  3£0  361  »502. 
Sigwart,  IL  C.  W.  64  88  144, 
Silesius,  Angelus  s.  Scheffler. 
Silla  236. 

Simmel  216  241  458. 
Simon,  Jules  64  12  *515. 
Simon,  Rieh.  8L 

Simon,  T.  C.  126  346  518  520  «526. 
Sintenis  228. 
Siris  12iL 

Sirmond,  Anton  16. 

Sjöholm,  Lars  Albert  126  236, 

36« 


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564 


Register. 


SkarzAiiski,  v.  Wit.  197. 

Skeptizismus  5  18  48  ff.  57  61  164  190 

bis  204  230  241  532. 
Sloroan,  H.  148. 
Smart,  Benj.  H.  116. 
Smellio  135  197. 
Smidt,  J.  385. 
Smirnow  126. 

Smith,  Adam  126  *195  196  197  "202. 

Smith,  W.  305. 

Smolle,  L.  237. 

Snell,  F.  W.  D.  281. 

Snell,  Karl  127  »478  541. 

Snellmann,  G.  W.  *426. 

Soave  529. 

Sohr,  Maxim.  461. 

Sokratea  356. 

Solger.  Karl  Willi.  Ferd.  »331  334. 
Sommer,  Albin  290. 

Sommer,  Hugo  90  144  458  486  »489  505. 
Sommer,  R.  116. 
Sonntag,  W.  493. 

Sophie  Charlotte,   Königin   von  Preussen 

(Serena)  149. 
Sorbiere,  Sam.  18  57. 
Sorlev  90. 
Soury,  J.  2  414. 
Späth,  H.  «500. 
Spannenkrebs,  A.  145. 
Spaventa  32  235  528  »533. 
Speckmann,  A.  196. 
Spedding,  James  51  52. 
Speeth,  Joh.  Pet.  87. 

Spencer,  Herb.  204  *517  520  »521-523. 
Spenge!,  J.  W.  480. 

Spicker,  G.  7  126  135  177  1%  237  *479. 
Spiegel  372. 
Spieren,  v.  127. 
Spiess  30. 

Spiest),  G.  A.  »478  481. 

Spiller,  Ph.  477. 

Spinola,  Rovas  de  146  149. 

Spinoza,  Baruch  de  35  50  56  60  75  *82 
bis  114  133  138  146  151  156  182 
2%  320  363  380  408  494  531. 

Spir,  A.  305  #452  f. 

Spitta,  H.  *449. 

Spitzer  414  481. 

Spizelius  146  152. 

Spörri,  H.  361. 

Sponius  30. 

Sprengel,  Kurt  30. 

Springer,  Ant.  346. 

Springer,  Rob.  372. 

Stadler  237  241  281  «466. 

Stäekel,  O.  236. 

v.  Stägemann,  V.  A.  *500. 

Stahl,  Friedr.  Julius  45  *332  343  «441, 

Stahr,  Ad.  177  305. 

Stanelli,  R.  30. 

Stanv,  P.  79. 

Stapelfeld,  A.  305. 

Stapfer,  R.  52. 


Starke  227. 
Stattler  234. 
Staudinger,  F.  239. 
Stebbing,  W.  519. 
Steckelmacher,  Mor.  237. 
Steffen,  Rob.  237. 

Steffens,  Heinr.  31  *331  »334  f.  433  454. 
Steffenseu,  Karl  361. 
Stehr,  II.  271. 

v.  Stein,  Heinr.  6  61  298  318. 
v.  Stein,  K.  H.  3  31  32  65. 
Stein.  Leop.  305. 
Stein,  Ludw.  142  541. 
Steinbart,  Gotthilf  Samuel  *181. 
Steiner,  R.  291. 
Steinthal,  H.  »444  448  *449. 
Stephan  *449. 

Stephen,  Leslie  115  127  135. 
Stern,  Alb.  180  292. 
Stern,  Alf.  86. 
Stern,  L.  502. 
Sternberg,  H.  305. 
Sterzel,  G.  F.  505. 
Steudel,  Ad.  *500. 

Stewart,  Dugald  *196  197  »203  f.  518  526. 
Stichardt,  F.  U.  7. 
Stiebeling,  G.  C.  493- 
Stiedenroth,  E.  406  »449. 
Stieglitz,  T.  456. 

Stirling,  J.  H.  238  240  346  *525. 
Stirner,  Max  (Ca#p.  Schmidt)  *431. 
Stöek  I,  A.  462  *477. 
Stöhr,  A.  241. 

Stoiker  5  17  21  29  40  63  157  276. 

Stommel,  C.  237  346. 

Storr,  F.  51  347- 

Storz  30. 

Stosz,  W.  241. 

Stov,  K.  V.  *449. 

Strater,  Theod.  32  235  »426  527. 

Straszewski  386. 

Strauss,  Dav.  Friedr.  6  176  177  185  197 

360  *416  417  *426ff. 
Streckeisen-Moulton  185. 
Strigel  23. 

Strubel,  Geo.  Theod.  20. 
Strittet,  Emil  116. 

Strümpell,  Ludw.  271  385  386  401  *444 

♦449  f. 
Struhnneck  *497. 
Struve,  A.  127. 
Struve,  H.  v.  634. 
Stuckenberg  208. 
Stndt,  H.  H.  *478. 
Starken,  N.  »501. 
Stumpf,  Karl  *489. 
Stumpf,  T.  30. 
Stupuy,  H.  514. 
Sturm,  Joh.  27  76. 
Stuss,  J.  H.  19. 
Stutzmann,  Job.  Josua  332. 
Suabedissen,  Dav.  Theod.  Aug.  234  *334. 
Suarez  23  46  91  96. 


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Register. 


f)65 


Sudhoff,  K.  30. 
Suhle,  B.  372. 
Sullv,  J.  457  519. 

Sulzer,  Joh.  Geo.  179  *1H0  181  1%. 
Suphan  87  291  298. 
Svahn,  Oscar  144. 
Szold,  B.  176. 


T. 

Tabulski,  Aug.  2. 
Tagart  116. 
Tafel  220. 

Taine,  H.  504  *505  515  519. 
Talaeus,  A.  27. 
Tanner,  Anton  477. 
Tannerv  241. 
Taparelli  »532. 
Tarautino,  G.  116. 
Tari,  A.  *533. 
Taubert  457. 

Taurellus,  Nie.  23  »24  f.  *27  f. 
Tauschinski  456. 
Taute,  G.  F.  3K5  *450. 
Taylor,  Mi s.  520. 
Tavlor,  Th.  *527. 
Teape,  Charles;  R.  126. 
Teichmuller,  G.  481  *489. 
Telesius,  Bernardinus  «5  29  *30  35  37 
38  40  56. 

Tennemann,  W.  G.  1  9t)  115  196  294. 
Tepe,  C.  *450. 

Testa,  Alfonse  235  *529  541. 

Tetens,  Joh.  Nie.  176  *180  f. 
Thaies  425. 

Thaulow,  Gust.  346  *428. 
Theismus  132. 

Theistiseher  Monismus  Kyms  462. 
Theodor,  J.  237. 
Theodorus  Gaza,  s.  Gaza. 
Theophilos  19. 

Thcophrastus  ßomhastus  Paracelsus  s. 

Höhener. 
Thiele,  G.  II.  115. 

Thiele,  Günther  212  236  237  239  »428 
433. 

Thiersch  291  440. 

Thilo,  Chr.  64  89  144  240  270  291  336 

372  386  »444  *450. 
Thimme,  K.  7. 
Tholuck  168. 
Thoniaeus,  L.  15. 
Thomas  64. 

Thomas,  Karl,  der  Herbartianei   88  361 

387  *450. 
Thomas  von  Äquino  9  13  81  462. 
Thoroasiiis,  Christian  141  145  *T65f.  244 

541. 

Thomasius,  Jac  145. 
Thomismus  414. 


Thomismus  in  Deutschland  460  462  f. 
Thomismus  in  Frankreich  516. 
Thoniioums  in  Belgien  517. 
Thomismus  in  England  525. 
Thomismus  in  Italien  532. 
Thomismus  in  Spanien  533. 
Thomsen  361. 
Thorild.  Th.  «535. 
Thors.hmid  132. 
Thömming,  Ludw.  PVL  »174. 
Thurot  515. 

Tiberghien  318  342  *516. 
Tieck,  L.  334. 

Tiedemann,  Dietrich  1  »181  235  #292 

Tieftrunk  228  294. 

Tindal  *132  f. 

Tiraboschi,  Girolamo  5 

Tissot,  J.  65  228  229  293. 

Tittel,  G.  A.  115  *292. 

Tobias,  W.  »466. 

Tocco,  F.  32  238  533. 

Tönnies,  F.  57  90  145. 

Toland,  John  *132  f.  178. 

Tomascheck,  K.  290  460. 

Tombo,  Hud.  236. 

Tommaseo,  Nie.  52H. 

1'oulan,  J.  32. 

de  Tracv,  s.  De*tutt. 

Trahndo'rff,  K.  F.  E.  235  *499. 

Trani  *479. 

Transscendentaler  Idealismus   Kants  230, 

Sehellings  321  f. 
Transcendentaler  Realismus  v.  Hartmanns 

486  494. 

Transscendentalphilosophie  Kants  230  242 
243. 

Treblin,  A.  361. 

Trede,  Ludw.  Bened.  154. 

v.  Treitschke,  II.  305. 

Trendelenburg,  Adolf  21  44  85  88  90  98 
104  107  143  144  149  152  154  166 
235  256  270  305  335  346  351  371 
372  375  385  401  403  420  433  453 
458  459  *460  ff.  526. 

Tressling,  .1.  P.  7. 

Trorabetta  533. 

Troxler,  Ignaz  Faul  Vital  *331  333. 

v.  Tschirnhausen,  Walter  86  141  146  *165. 

Tschischwitz  38. 

Techofen,  J.  M.  372. 

Tucker  (Search)  130. 

Tugini,  Salvator  31. 

Tulloch  49  *115. 

Turbiglio  79  90  116  238  529  *533. 

Turgot  191  192. 

Twesten,  A.  359  361. 

Twesten,  Karl  44  290  *433  504. 

Tydemann,  K.  W.  86. 

Tytler  135. 

TzerteK-ff,  D.  372. 


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Register. 


U. 

Ubaghs  *517. 
Ueberhorst,  C.  237. 

Ueberweg,  Friedr.  70  96  126  214  217  223 
236  242  251  255  273  290  291  351 
352  375  401  #453  *459  f.  462  493. 

Uibinger,  J.  30  541. 

Ulbrich,  Oscar  65. 

Ulpian  155. 

Ulrich  J.  H.  F.  142  225. 

Ulrici,  Herrn.  1  91  126  234  346  385  426 

433  *435  f.  477  618. 
Umbreit,  A.  E.  33. 
Umfried,  O.  L.  432. 
Unold,  J.  227. 

Unterholzner,  C.  A.  D.  *461. 
Uphard,  Thomas  C.  *526. 
Uphues  502  521. 
Urtel,  F.  89. 
Utilitarier  520. 


T. 

Vacherot,  E.  504  *515  516. 
Vahlen,  Joh.  7. 

Vaihinger,  H.  201  224  225  229  235  238 

239  *467  494  497. 
VaTsse  32. 
Valdarini  52. 

Valla,  Laurentius  6  7  *13  21. 

Vanini,  Lucilio  29  *32  42. 

Vapereau,  G.  64. 

Vasallo,  C.  6. 

Vasquez,  Ford.  46. 

Vast,  H.  6. 

Vateler,  Jacob  86. 

Vatke,  Wilh.  *416  422  428. 

VaoteUe«,  J.  B.  de  52. 

Le  Vayer,  Francois  de  la  Mothc  5  8  *18 

164 
Vehlen  281. 
Veitch,  M.  518  *519. 
Veith,  J.  E.  442  *443. 
Velthuysen,  Lambert  van  85  87. 
Venetlancr  372  493. 
Venetus,  Franeiscus  Georgius  35. 
Ventura  *532. 
Vera,  August  346  *533. 
Vernejoul  516. 
Vernias,  Nieoletto  16. 
de  Verse,  Anbeit  87. 
Vetter,  B  521. 
Vicajee  76. 

Vico,   Giovanni  Battista   141   145  *166 

527  532. 
Vieta  153. 
Villari,  P.  *532. 
Villers,  Charles  234  303. 
Vinet,  Alex.  65  *517. 
Virchow,  Rud.  472. 


Vischer,  Friedr.  Theod.  281  426  *428  458. 

Visintainer  528. 

Vives,  Joh.  Lud.  *24  25  164. 

van  Vloten,  J.  84  86  86  90. 

Voetius,  Gishertus  77. 

Völkerpsychologie  444  484 

Vogel,  E.  G.  44 

Vogt,  Karl  473  ff. 

Vogt,  Theod.  185  386  448  451. 

Voigdt  385. 

Voigt,  Georg  6  10. 

Voigt,  Th.  227. 

Voigtländer,  J.  A.  88. 

Vold,  J.  Maurly  281. 

Volger,  Otto  216. 

Volk,  W.  45 

Volkelt  90  237  238  270  *464  466  471 

493. 
Volkenrath  361. 

Volkmann,  Wilh.  Fridolin  *451. 
Volkmar  225. 
Volkmar,  8.  R.  449. 
Volkmer,  E.  66. 
Volkmuth,  J.  91. 

Volnev,  Constantin   Francois  de  Chasse- 

böeuf  »193. 
Voltaire  117  134  178  180  183  *185  186  ff. 

191. 

Vorländer,  F.  2  360  *454. 
Vries,  Simon  de  86. 


W. 

Wachler  181. 

Wächter,  Joh.  Geo.  87. 

Waddington,  Th.  4  24  64  615. 

Wagner,  Ad.  31. 

Wagner,  B.  A.  166. 

Wagner,  Joh.  Jak.  *331  333. 

Wagner,  Rieh.  466. 

Wagner,  Rud.  *473  ff.  481  486  491. 

Wahl,  R.  168. 

Waitz,  G.  319. 

Waitz,  J.  H.  W.  *451. 

Waitz,  Theod.  *451. 

Wald  208  216. 

Waldeck,  M.  529. 

Wallace,  W.  239  473. 

Walsh,  M.  52. 

Walter,  M.  Jos.  44  238. 

Walter,  Reinh.  90. 

Wangenheim,  F.  v.  237  292. 

Ward  61  239. 

Warnkönig,  L.  A.  44  405  505 
Was,  EL  8. 

WasiaiiHki,  Ehregott  Andreas  Christoph  208. 

Watson  238  239  318. 

Webb,  Th.  E.  116. 

Weber  270. 

Weber,  Adalb.  404. 

Weber,  Alf.  493. 


Register. 


567 


Weber,  E.  A.  318. 

Weber,  Ernst  Heinr.  491. 

Weber.  Theod.  220  239  *442  443  479. 

Weber,  Theod.  Hub.  88. 

Weber,  W.  E.  166. 

Weckesser,  A.  458. 

Wegele  6. 

Wegscheider  270  294. 
Webrenpfennig,  W.  *451. 
Weigel,  Erhard  145. 
Weigel,  Valentin  29  *42. 
Weigelt,  G.  206  234. 
v.  Weiller,  Cajetan  291  298. 
Webling  520. 

Weis,  A.  238. 

Weis,  Ludw.  430  *479  493  501. 
Weishaupt,  Adam  178  *292. 
Weismann,  Aug.  480. 
Weiss,  B.  361. 
Weiss,  Chr.  *298. 

Weisse,  Chr.  Herrn.  19  91  235  305  4 

433  434  *436  ff.  454  486. 
Weissenborn,  Geo.  360  *428. 
Weissenborn,  H.  148  165. 
Weisz,  Jos.  237. 
Weizsäcker  360. 
Welsh  197. 
Wendt,  E.  145. 
Werber  333. 
Werder,  Karl  »428. 
Wernekke,  Hugo  31. 
Werner,  Aug.  291. 
Werner.  J.  347. 
Werner,  K.  145  238  528  529. 
Werrv,  Ferd.  185. 
Werther  214. 
Wessel.  Ed.  524 
Westerburg,  E.  238. 
Westhoff,  Ferd.  478. 
de  Wette  302  406. 

Wetzet,  F.  90. 
Weygoldt,  G.  P.  457  *481. 
Whatelv  521. 
Whately,  Rieh.  51. 
Wheaton  44. 

Wbewell.  Will.  52  134  197  216  517  *! 
525 

White,  W.  220. 
Whittaker,  Th.  32. 
Wickenhagen,  Ernst  236. 
Wiener,  Christian  *478. 
Wiegand.  W.  143  291. 

Wiese,  439 
Wieser,  J.  441. 
Wiessner,  A.  *501. 
Wigand,  A.  »481. 
Wight,  O.  W.  518. 
Wikner,  C  F.  539. 
Wildauer,  Tob.  305. 
Wilkins,  John  154. 
Wille,  E.  239. 
Willich.  A.  F.  M.  234  303. 
Willis,  R.  90. 


Willm,  A.  8.  206  234. 
Willmann  227  385  *451. 
Willy,  R.  372. 

Wind.lband.  W.  2  90  234  237  *465  f.  502. 

Windiscbmann,  C.  H.  *335. 

Wims,  W.  Ii.  346. 

Wink  ler,  Benedict  46 

Winter,  Herrn.  116. 

Wirth,  Joh.  Ulrich  372  *433  436. 

Wirth,  M.  473. 

Wissowatius  146. 

Witte.  J.  177  224  237  238  240  241  291 

292  372  *439. 
Wittich,  Christoph  87. 
WittÄtcin,  Theod.  197  402  *451. 
Wizenniann.  Thomas  298. 
WTocquier,  L.  206. 
Wohlrabe  270. 
Wohlwill,  E.  32  52  541. 
Woker,  Fh.  7. 
Wolfers  127. 

v.  Wulff,  Christian  Frhr.   85  87  141  142 

143  »167—173  175  177  241  244. 
Wulff,  H.  236  239  *497. 
Wolff,  S.  Jos.  292. 
WolfBaner  *172  ff. 
Wollaston.  William  *134  f.  139. 
Wollnv  478  501. 
Woltersdorf,  Th.  361. 
Woodhouselcn  135. 
Wright.  W.  A.  51. 
Wünsche  338. 
Wullen,  Wilb,  Ludw.  33. 
Wuudt.  Wilh.  240  415  469  *474  482  *483f. 
Wurst,  J.  R.  *458. 
Wurzbaeh,  Alfr.  von  372. 
Wuttke  168. 

Wyneken.  E.  F.  372  385. 

Wvrouboff  504. 

Wittenbach,  Daniel  *303  534. 


X. 

Xenophon  23. 


Y. 

Young.  John  *518. 


Z. 

Zabarella,  Jac.  17. 
Zacharias,  E.  Otto  385  481. 
Zachler,  F.  361. 
Zahn,  G.  237. 
Zange,  E.  M-  Fr.  270. 
Zart  168. 
Zdekauer  515. 
Zechalas,  G.  79. 
Zeising  *453. 


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568 


Register. 


Zelle,  F.  R.  E.  236. 

Zeller,  Ed.  2  78  79  168  177  180  234  240 
270  305  347  360  362  416  418  426 
»428  f.  465  505. 

Zenon  166. 

Ziegler  44. 

Ziemba,  T.  116. 

Ziller,  Tuiscon  385  *444  *451  f. 
Zimara  17. 
Zimmels,  B.  12. 
Zimmer,  F.  305. 
Zimmermann,  K. 
Zimmermann,  Roh.  30  61  88  135  144  148 


150  175  177  196  237  238  239  240 
281  290  305  318  385  386  »444  *452 
463  505. 

Zimmern,  H.  372. 

Zirngiebl,  Eberh.  177  291  441. 

Zöller,  E.  534. 

Zoellncr  238  *472  483. 

Zoepritz,  Rud.  291. 

Zon.aster  10  31. 

Zorzi,  Franz  Georg  Venetus  35. 

Zschau  486. 

Zuccante  519. 

Zwanziger,  J.  C.  234  270. 


Gfdrccfcl  lu  d*i  Königlichen  llofbuchdruclwrei  von  E.  S.  Mittler  und  Sohn. 

Herlin.  Eoduttam  88—70* 


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