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Full text of "Deutsche Rundschau"

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DEUTSCHE 
RUNDSCHAU 








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eutfde Rundſchau. 


Herausgegeben 


von 


Inlius Rodenberg. 





Band IV. 
(Dali — Auguſt — September 1875.) 


— — — — 


Berlin. 


Derlag von Gebrüder Pactel. 





Amfterdam, Sehffardt'ſche Buchhandlung. — Athen, Karl Wilberg. — Bafel, Chr. Meyri — Bern, 
Huber & Go. — Brüffel, €. Muauarbt’3 Hofbuchhandlung. — Budapeft, Karl DO. Stolp. — Buenos Aires, 
Jacobſen & Göberftebt. — Bulareft, Sotſchek & Go. — Ehriftiania, Albert Gammermeper. — Eonftantinopel, 
Ghr. Roth. — Dorpat, €. I. Karow's Univerf-Buhhanblung. — Florenz, H. Loeſcher's Buchhandlung. — 
Kopenhagen, Wilhelm Prior's Buchhandlung. — Lima, E. Niemeyer & Inghirami. — London, A. Giegle. 
Zrübner 2 Go. — Luzern, Doleſchal's Buchhandlung. — Mailand, Ulrico Hoepli. — Montevideo, Jacobſen 
& Söberftebt. — Moslau, J. Deubner. Edmund Kunth. Wlerander Lang. — Neapel, Ulrico Hoepli. — 
NewsPort, Stechert & Wolff. G. Steiger. — Ddefla, Emil Berndt's Buchhandlung. J. Deubner. — Paris, 
Sandoz & Fiſchbacher. — Petersburg, G. Häſſel's Buchhandlung. Garl Rider. — Pifa, Ulrico Hoepli — 
Niga, I. Deubner. N. Kyınmel. — Rio de Janeiro, G. & 9. Laemmert. — Nom, Loeſcher & Go. — 
Notterdam, dan Hengel & Geltſes. — Stodholm, Samfon & BWallin. — Tanunda (Süb- Auftralien), 
F. Baſedow. — Tiflis, G. Baerenftamm. — Balparaiio, €. Niemeyer & Inghirami. — Warſchau, 
6. Wende & Go. — Wien, Faeſh & Frick — Deddo, H. Ahrens & Go. — Zürich, C. M. Ebel 


wu ° 


DInhalts-Derzeihniß 


zum 


vierten Bande (Juli — Auguft — September 1875). 


— — *7? 


I. Adolf Wilbrandt, Cerinthus und Sulpicia. Gedichte von 


Sulpicia und Tibullus 


UI. Eduard von Hartmann, Ernit Sardel. cn 7 
II. BSerthold Auerbady, Gottfried Keller's Reue Säncln. er= 


eftalten . 


IV. Sannp £ewald, Ueber das Alter. Ein Brief an —— 


Laster . 












Adolf Bernhard Meyer, Sawfon’s „Wanderungen im In- 
bon Reu-Guinea ERROR RE. 


nern DD du 





VI £. Urlihs, Zu Goethe’3 Stella 


VO. ©ttokar £orenz, Richenfreiheit und Bilhofäwahlen. I. 84 
VII. A. kammers, Die Entwidelung der Dampfſchifffahrt 


Otto Girndt, Ein heimliches Verhältniß. umoreßfe, 








X. Sried FR in, Literarifhe Rundihau. -. . . . . 1831 
XI €. ©. Reufdle, Ein Statiftiter und ilojoph. Mit Be 
iehung auf „G. Rümelin’3 Reben und Auflfäte* . . » . .„ 140 


ZU. Rudolph Genese, Das Gaftjpiel der Meininger und bie 
Klaffitervorftellungen im Königl. Schaufpielhauje 


ET EEE EEE EEE EEE EZ TEE 






xIV. von Eroufay, Die Mär — e * ahres 1848 in Poſen. 





XV. Wilhelm Icnfen Bil — Fr rer Novelle . 161 


XVI. €. Bcller, Die Sage von Petruß als cömifgem DEN 203 
R — 226 


Ferdinand Hiller L’Abba e-aux-Bois 






XIX. Mlar Horwib, Der deutſche Unterriät in den öffentlichen 
Schulen der Vereinigten Staaten von Amerila . 244 


xx. W.D. Fern Streitfragen der heutigen Eyrad- 
phi 259 

XX. ©. zu Dash, Die Erfüllung seigiöfen Tufoaben Bari 
er . 280 


die dramatiſche Kunſt. 
Gortſezung umftehend.) 






149662 





Deutiche Rundſchau. 


Friedrich Spielhagen, Sommerfäden Geidt . 

Friedrich Areyſſig, Literariihe Rundſchau 

Zur neueren hiftorifhh=-politifhen und poliawirih: 
ſchaftlichen Literatur. 

Politiſche Rundſchau. . . 

Wilhelm Jenſen, Wilhelmvon — Novelle, Echluß 

Alfred Woltmann, Caſtelfranco und Billa Maſer 

Heinrich von Grandt, Die Märztage des Jahres 1848 in 
Poſen. Aus ſeinen bisher unveröffentlichten Denkwürdigkeiten. II. 

Julian Schmidt, Schiller in ſeinen Briefen. 5* 

Mar Hhuybensz, Die Verbrecherwelt von Wien 

Selie Dahn, Leber altgermanifches Heidenthum in der 
Hriftlihen Teufelsjage . : 

9. Damberp, Mohammedaniſche Furſten der Reudeit 
und die europäiſche Civiliſation F 

Alfred Meißner, Hephäſtos. Gedicht 

Friedrich Arepffig, Literariſche Rundſchau 

Oscar Schmidt, Kant und Darwin. Ein Beitrag zur Geſchichte 
der Entwickelungslehre von Fritz Schultze. 

Profeſſor Wuttke's „Deutſche Ben und das 
Ausland . : ; ; - 

Angelo de &uberualis, Aus Ilalien 

Politiſche Rundſchau. 


Seite 
289 
300 


310 
315 
321 
357 


368 
387 
411 


426 
437 
453 
455 
461 
462 


467 
474 


mn 








euftſche Rundſchau. 


Herausgegeben 


von 


Yulins Rodenberg. 


Pd 


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SER 


Erſter Jahrgang. Seft 10. zur 1875. 


— — — —— 


Berlin. 
Derlag von Gebrüder Pactel. 


Amfterdam, Sehffardt'ſche Buchhandlung. — Athen, Karl Wilberg. — Balel, Chr. Meyri. — Bern, 
Huber & Go. — Brüffel, G. Muquardt's Hofbuhhandlung. — Budapeit, Karl D. Stolp. — Buenos Aires, 
Jacobſen & Söberftebt. — Bulareft, Sotſchek & Go. — Ehriftiania, Albert Cammermeher. — Gonftantinopel, 
Ghr. Roth. — Dorpat, E. I. Karow's Univerſ.Buchhandlung. — Florenz, H. Loeſcher's Buchhandlung. — 
Kopenhagen, Wilhelm Prior’ Buchhandlung. — Lima, E. Niemeyer & Inghirami. — London, U. Siegle. 
Zrübner & 60. — Luzern, Dolefhal’s Buchhandlung. — Mailand, Ulrico Hoepli. — Montevideo, Jacobfen 
& Söberftebt. — Moskau, I. Deubner. Gdmund Kunth. Wlerander Lang. — Nenpel, Ulrico Hoepli. — 
New⸗Yort, Stehert & Wolff. E. Steiger. — Ddeila, Emil Berndt'3 Buchhandlung. I. Deubner. — Paris, 
Sandoz & Fiſchbacher. — Vetersburg, ©. Häſſel's Buchhandlung. Garl Rider. — Piſa, Ulrico Hoepli. — 
Niga, I. Deubner. NR. Kymmel. — Rio de Janeiro, E. & H. Laemmert. — Nom, Loeſcher & Go. — 
Notterdam, dan Hengel & Gelties. — Stodholm, Samjon & Wallin. — Tanunda (Süd» Auftralien), 
F. Bajedbow. — Tiflis, G. Baerenftamm. — VBalparaifo, E. Niemeyer & Inghirami. — Warſchau, 
6. Wende & Go. — Wien, Faciy 4 Frick. — HYeddo, H. Ahrens & Go. — Zürich, K. M. Ebel. 





XI. 
XIV. 


Dnhalts-Verzeihniß. 


— — 


Adolf Wilbrandt, Cerinthus und — Gedichte von 

Sulpicia und Tibullus 

Eduard von Hartmann, Ernſt Sackel —— 

Bertthold Auerbach, Gottfried Keller's Neue —— 
geralten . . . 

Sanny £ewald, Leber das Alten Ein Brief a an Dr. ——— 
Ballet . „ » 

Adolf Bernhard lege, —— 3 „Banderungen n im — 
nern von Neu-Guinea“ ; ; 

£. Urlichs, Zu Goethe's Stella 

Öttokar Corenz, Kirchenfreiheit und Bifhofswahlen. IL. 

A. fammers, Die Entwidelung der BEREIS HAN 
auf bober See. . . 

Otto Girndt, Ein — Verhattniß Sumont. 
(Schluß). . - ; : 

Sriedrich Arepſſig, Riterarifche Rundfehau er 

a) Urfprung und Beginn der Revolutionäfriege 1791 und 1792, 
Bon Leopold von Ranke. 

b) Zeiten, Böller und Menſchen. Bon Karl Hillebrand. Zweiter 
Band: Wälfches und Deutiches. 

c) Die deutjche Literatur 1770— 1870. Beiträge zu ihrer Geſchichte 
mit Benutzung handfchriftlicher Quellen von Eduard Griſebach. 

d) Deutfchland im achtzehnten Jahrhundert. Bon Dr. Karl Vieder- 
mann. Zweiter Band: Geiftige, fittliche und gefellige Zu- 
ftände. II. Theil. 2. Abtheilung. 

e) La Mettrie. Rede in der öffentlichen Sigung der Königl. Preuß. 
Alademie der Wiſſenſchaften zur Gebächtnißfeier Friedrich's 11. 
am 25. Januar 1875, gehalten von Emil bu Bois-Neymond. 

f) Der Menſch eine Machine von de la Mettrie. Ueberſeht, er- 
läutert und mit einer Einleitung über den Materialiömus 
verjehen von Dr. Adolf Ritter. 

€. ©. Reufdle, Ein Statiftiler und Philofoph. Wit De- 

jiehung auf „G. Rümelin's Reden und Auffähe“ . 

Rudolph Sende, Das Gaftfpiel der Meininger und die 
EN im wi —— 
u Berlin. . » ; — 

Politiſche — 

von Crouſaz, Die —— des Jahres 1848 in — 
Berichtigung . er — 


Se ite 


140 


145 
152 


160 











1 


Cexinthus und Sulpicia. 





Gedichte von Sulpicia und Tibullus. 


Ueberſetzt und mit einer Einleitung 
von 


Adolf Wilbrandt. 





Wer führt nit Sappho im Munde; wer weiß etwas von Gulpicia ? 
Und doch Hat die jchöne Römerin Sulpicia — wenn aud) der Sappho fo wenig 
vergleichbar, wie die römijche Literatur der griechiſchen vergleichbar ift — die 
innigften, bejeelteften Gedichte gejchrieben, die da3 ganze römiſche Alterthum her- 
vorgebracht hat; und doch Lebt ein Theil diefer Gedichte bis auf dieſen Tag. 
Ja in der Geftalt, in der fie leben, erzählen fie uns einen Eleinen Roman jo 
liebenswürdig lebendig, daß ſchon die menjchliche Theilnahme, die Neugier uns 
ftillftehen und horchen läßt. Warum weiß trogdem Niemand etwas von Sul- 
picia? — Ich fürdhte, weil unſere ſchulmäßigen und jchulmeifterlichen Ueber— 
ſetzungen in der Regel mehr dazu gemacht find, von der Antike „zu entwöhnen, 
al3 dazu anzureizen”. 

Ich Habe verfucht, diejen Elegiencyelus, der von der Liebe des Gerinthus 
und der Sulpicia erzählt, jo treu und jo herzlich nachzudichten, daß er ähnlich 
auf ums zu wirken vermöchte, wie er einft auf Römer und Römerinnen gewirkt 
hat. Die Gedichte erklären fich ſelbſt; die Ueberſetzung muß für fich jelber 
ſprechen. Nur über die Perjonen und die Entftehung diejer „Elegien” muß ich 
dem Lejer mit einigen Worten jagen, was ich davon weiß oder vermuthe. 

Im vierten und lebten Buch der Gedichte Tibull's, der des Auguftus 
Zeitgenofje und der Freund des Horaz war, findet fi eine Reihe Kleinerer 
Glegien und poetijcher Briefe, die offenbar nicht alle von ihm jelber gedichtet 
find. Man hatte fie, wie es jcheint, in feinem Nachlaß gefunden; unter feinem 
Namen gab man fie, ohne zu jondern, heraus. Anhalt, Vortrag, Versbau, Em— 
pfindungsweije lafjen una wol fo deutlih, wie man wünſchen mag, erkennen, 
welche diefer Gedichte da3 Eigentum der Sulpicia find. Die junge Sulpicia 
liebte den jungen Gerinthus, einen Freund des Tibull. Sie jelber war dem 

Deutſche Rundſchau. I, 10. 1 





2 Deutiche Rundſchau. 


Tibull befreundet, wie ſich aus Allem ergibt; fie, die Schöne, Vornehme, Viel- 
ummorbene, auch von dem befannten M. Valerius Meſſala Gefeierte, die Enkelin 
(jo vermuthet man) des berühmten Juriften Servius Sulpicius Rufus und Tochter 
eines Freundes des Horaz, war vor Allem durch Bildung und Beruf mit den Mufen 
vertraut. Der Süngling, den fie liebte, ftand ihr an Geburt nicht gleich: diejer 
Gefahr, die fie durch Hingebende, ſtolze Treue überwand, verdanken wir, wie es 
fcheint, die innigen Gedichte, in denen fie fi und ihm ihr holdes Geheimniß 
verflärte, bis fie ihn endlich frei und ganz auch vor den Menfchen beſaß. 

Man leſe num die einander ergänzenden Elegien des Tibullus und der Sul- 
picia — in der pfychologiichen Reihenfolge, in der ich fie zufammenzuftellen ver- 
fuht — und man wird wol aud in der Uebertragung empfinden, tie 
eigenartig und wie liebenswerth die Gedichte der Sulpicia zwiſchen den andern 
hervortreten; welche höhere Kraft fie aus der Unmittelbarkeit, der Innigkeit, der 
Tiefe ihres weiblichen Gefühls ſchöpfen. Tibull verftand feine Kunft beffer, ala 
Sulpicia; an feinen Verſen hat eine leichtere Hand mit zarterer Teile gearbeitet; 
dafür legen fie fi uns nicht jo warn an’3 Herz. Dennoch wächſt auch er in 
diefen Gedichten, mit denen er die ihren umrahmt, über fich jelbft hinaus. Der 
Anblid einer fo edlen Herzenzliebe — wie weder Tibull, noch Horaz, noch 
Gatull, noch Ovid fie je in ſich jelber erlebt und bejungen haben — trug, wie es 
icheint, fein weiches Gemüth empor, bis in die Region, in der er jeine Delia, feine 
Nemeſis vergaß und ein reines, zufunftsfähiges Glüd mit reiner Seele empfand. 
So quellen auch aus ihm herzliche Töne herauf, die uns fein Mißklang der 
ſittlichen Empfindung entwerthet; und jo vereinigen ſich dieje beiden Stimmen 
zu einem ſchönen Wettgejang zärtlicher Gefühle, der in Wahrheit etwas Eigenes, 
vielleiht Einziges ift. 

Nur in dem erften von Tibullus’ Gedichten Klingt einmal da3 kalte, ge— 
fünftelte, gelehrte Weſen, das die alten Römer oft ungenießbar macht, jo un— 
herzlich an, daß es mir Recht und Pflicht zugleich ſchien, vier feiner Doppelverje 
auszuftoßen; fie zu überjegen Hab’ ich mich nicht überwunden. Das zwölfte 
und legte Gedicht ſcheint mir unzweifelhaft die Antwort Gerinth’3 auf die eifer- 
füchtige Aufwallung der Geliebten zu fein; dennoch hat die Urſchrift (im drei— 
zehnten Vers) den Namen Tibull ftatt Cerinth. Dieſen Irrthum des Heraus- 
geber3? — benn für etwas Anderes kann ih ihn nicht halten — habe ich berich- 
tigt und glaube mich im Recht. Sonft war Treue mein einziges Gebot; Treue 
gegen Dichter und Dichterin, Treue gegen den Geift meiner Sprade. Dem 
deutichen Vers iſt es nicht gegeben, mit dem römischen an Wohllaut und Gejeh- 
lichkeit zu wetteifern,; aber in edler Natürlichkeit des Ausdruds, in Wahrheit 
der Empfindung kann er ihm gleichen, ihn vielleicht überbieten. 


I. Sulpicia. 
(Bon Tibullus, vermuthlid.) 


Erſter des März! Gulpicia ſchmückt fich, erhabener Mars, dir; 
Haft du Geſchmack, jo komm ſelber zu fchauen herab! 
Das wird Venus verzeihn. Doch hüte dich, ftürmender Krieger, 
Daß vor Staunen dir nicht ſchmählich die Waffe entjällt. 








Gerinthu3 und Sulpicia. 


Will er Götter entflammen, der feurige Amor, er zündet 

An Sulpicia’a Blid doppelte Fackeln fich an. 

Was auch Sulpicia thut, wohin auch die Schritte fie leitet, 
Anmuth wandelt um fie, wandelt verftohlen ihr nach. 

Hat fie das Haar fich gelöft, wie ftehn ihr die wallenden Locken; 
Knüpit fie es auf, fie knüpft himmlische Würde hinein. 

Wenn ihr im Purpurgewand zu wallen gefiel, jo entflammt fie; 
Kommt fie im fchneeigen Kleid leuchtend daher, fie entflammt .. . 
Sie, o Mufen, befingt am feftlichen erften de Märzen, 

Und, in des Schildpatts Glanz, Leier des hohen Apoll! 

Werde dies heilige Feſt noch viele der Jahre gefeiert; 

Guered Reigens ift feines der Mädchen jo werth! 


I. Sulpicia's Geburtstag. 
(Bon Zibullus.) 


Die du das Leben ihr ſchirmſt, nimm Huldvoll, Juno, den Weihrauch, 
Den dir die Dichterin heut opfert mit zärtlicher Hand. 
Ganz ift heute fie dein; für dich geſchmücket in taufend 
Freuden, vor deinem Altar, Weide den Augen, zu ftehn. 
Zwar, warum fie ſich putzt, — dich einzig, Göttliche, nennt fie, 
Doch verjtohlen und till Einem gefiele fie gern. 
Sei du, Heilige, Hold! daß nichts die Liebenden trenne, 
Und um den Jüngling auch jchlinge das nämliche Band! 
So verknüpft du e8 gut: denn feinem befjeren Mädchen 
Meiht er fein Herz, noch ihrs fich einem befjeren Mann. 
Möge die Sehnenden nie ein fpähender Wächter ertappen; 
Tauſend Wege ber Lift Iehre Gott Amor fie gehn. 
Nide du zul Dom Purpurgewand umflofien, o keuſche 
Göttin, o fomm! Dreimal weiht man dir Kuchen und Wein! — 
„Dies erflehe dir, Kind!“ jo räth die forgliche Mutter; 
Doch ſchon wünfcht fich das Kind Andres in heimlicher Bruft. 
Wie der Altar entbrennt in der eilenden Flamme, jo brennt fie; 
Ah, und ließ’ e8 fich auch Heilen, fie wünſchet e8 nicht. 
Sei fie dem Jüngling werth! und kehr' im kommenden Jahre 
Gleicher Liebe Gebet, dann jchon erprobter, zu dir! 


II. Wahre liebe. 
(Bon Sulpicia.) 


Endlich fam eine Liebe, die ſchamhaft ftumm zu verbergen 
Minder mich ehrt, als frei fie zu enthüllen der Welt. 
‘a, e8 rührte mein flehendes Lied Cytherea; fie ſelbſt hat 
Mir diefe Liebe gebracht, mir in den Schoß fie gelegt! 
Venus erfüllte, was fie verfprah! — Es jchwahe von meinen 
Freuden, wer nie biß heut eigene Freuden genoß. 
Nie zwar möcht’ ich ein Wort verfiegelten Briefen vertrauen; 
Daß kein Andrer fie Lieft, ehe der Meine fie las. 
Doch fo jünd’gen ift ſüß! Mir efelt, heuchelnd zu jcheinen. 
Sagt 8: fie gab ihr Herz würdig dem Würdigen hin! 


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1* 


Deutſche Rundſchau. 


IV. An Cerinthus' Geburtstag. 
(Von Sulpicia.) 


Der dich, mein Cerinthus, mir gab, der Tag iſt mir heilig, 
Und als wär' er ein Feſt, werd' ich ihn immer begehn. 
Als zum Leben du kamſt, da ſangen die Parzen uns Mädchen 
Neuen Gebieter und Herrn, gaben dir Fürſtengewalt. 
Ich vor Andern entbrenne; doch daß ich entbrenne, wie wohl mir, 
Wenn nur die nämliche Gluth mir den Cerinthus erfüllt! 
Wechſelſeitige Gluth! Bei allen verſtohlenen Freuden 
Fleh' ich dich, bei deinem Aug', bei deinem Engel dich an. 
Schutzgeiſt, der du ihn führſt! nimm gern die Gaben, erhör' mich; 
Wenn, ach! wenn nur auch Er, meiner gedenkend, erglübt. 
Doch erfeufgt er ſchon jet um andre Liebe, fo wende 
Bon diejer untreu’n Gluth, wende dich, Heil’ger, hinweg! 
Sei auch du mir gerecht, o Venus: Beide gefettet, 
Beide im Koch dir, — font nimm meine Ketten mir ab. 
Doch es umfchling’ uns Lieber die ſtarke Feflel, ung beide, 
Die kein kommender Tag wieder zu löfen vermag. 
Was ich begehr’, auch der Jüngling begehrt's; doch Teifer begehrt er's; 
Laut zu jagen das Wort, wagt der Beicheidene nicht. 
Doch du, ſchützender Geift, du Göttlicher, Alles vernimmft du; 
Nide; was thut’3, ob Er laut oder leife begehrt? 


V. Sehnſucht. 
(Von Sulpicia.) 


Laß meinen Jüngling verſchont, der du die fetten Gefilde 
Heimfuchft, oder verftedt jchattiger Berge Geklüft; 
Eber, jchärfe mir micht die fchredlichen Hauer zum Kampfe! 
Geb’ ihn mir unvderfehrt Amor der Hüter zurüd! 
Ach, in die Fyerne entführt ihn Diana’ Freude: zu jagen. 
Müpten die Wälder vergehn! ftürben die Hunde dahin! 
Was für ein tolles Gelüft, den Hain von Hügel zu Hügel 
Rings umgarnend, der Hand zärtliche Haut zu bedrohn? 
Welch’ ein Vergnügen, den Schlupf der wilden Thiere bejchleichen 
Und an des Brombeerd Dorn rigen den jchimmernden Fuß? 
AH! doch könnt’ ich mit dir, Gerinthus, jchweifen und jagen, 
Selber durch das Gebirg trüg’ ich die Nebe dahin; 
Selber jucht’ ich im Walde die Spur des flüchtigen Hirjches, 
Und dem Hurtigen Hund Löft’ ich das eiferne Band. 
Dann, dann wird’ ich den Wäldern hold, wenn man nedend erzählte, 
Daß, mein Leben, mit dir grad’ vor den Garnen ich lag. 
Dann komm’ er ruhig an's Ne; mit heilen Gliedern entfelüpft er, 
Daß ung der Eber die Luft ſehnender Liebe nicht ftört. 
Seht, ohne mich, feine Liebe! O nein; nad) Diana's Gejehe 
Spanne mit züchtiger Hand, züchtiger Knabe, das Neb. 
Und will Eine geheim fich meinem Liebſten gejellen, 
Komme fie wilden Gethier, das fie zerreikt, in den Weg! — 
Doch du gönne dem Vater die Luft am Jagen, und kehre 
Selber, fehre geihwind mir an den Bufen zurüd ! 


— — — 





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FF  - 


Cerinthus und Eulpicia. 5 


VL Freund Meflala, 
(Bon Sulpicia.) 


O verhaßter Geburtstag heut! Auf dem Läftigen Lande 
Soll ich ihn ohne Gerinth, ſoll ich ihn traurig begehn. 
Was ift mir ſüßer ala Rom? Was taugt dem Mädchen die Villa 
Und der froftige Bach im Eretiner Gefild ? 
Allzu gefälliger Freund, Meſſala, laß mich in Ruhe; 
Naht deiner Freundin oft nicht zu gelegener Zeit. 
Führft du mich fort, Hier Laff’ ich mein Herz und meine Gedanken, 
Da dein Wille mir nicht jelber zu wählen vergönnt! 


Vo. Troſt. 
(Tibullus an Gerinthu3.) 


Weißt du? Bertagt ift die traurige Fahrt, wie dein Mädchen e8 wünſchte; 
Ihren Geburtstag läßt num er in Rom fie begehn. 
Laß uns denn alle mitfammt ihn feiern, den frohen Geburtstag, 
Den dir dies underhofft freundliche Schickſal gebracht ! 


VI. Eiferſucht. (AB er untreu jchien.) 


(Zulpicia an Cerinthus.) 


Schön doch, daß du jo ficher dich fühlſt, jo ganz mir vertraueft, 
Nie von der Laune bethört könnt’ ich an dir mich vergehn ! 
Sit eine Dirne im kurzen Gewand, ein Schätzchen am Spinnkorb, 
Lieber ala Servius' Kind, ala die Sulpicia dir: 
Freunde hab’ ich genug, die mit mir die Kränkung empfinden, 
Und von den Beiten geliebt, weich’ ich der Buhlerin nicht! 


IX. Die Kranke. 
(Sulpicia an Gerinthuß.) 


Denkſt du denn auch mit befümmerter Bruft an dein Mädchen, Gerinthus, 
Da nun die Glieder jo Heiß zehrendes Fieber mir quält? 
Ah! ich wünſche mir nicht vom traurigen Bett zu genefen, 
Wenn ich nicht glaub’, auch du willft e8 und wünſcheſt es dir. 
Denn was nüßt’ e8 mir auch, vom traurigen Bett zu genefen, 
Wenn mit gelafjener Bruft du meine Leiden erträgft ? 


X. An Apollo. 
(Bon Zibullus.) 


Hierher fomm’ und verjcheuche dem zarten Mädchen die Krankheit; 
Hierher, ftolger Apoll mit dem entwallenden Haar! 
Glaub’ mir, eile herab: nie wird’3 dich reuen, Apollo, 
Legft du die heilende Hand auf ihre holde Geftalt. 
Lab nicht mager und welf vergehn die erbleichenden Glieder, 
Nicht auf der Ichimmernden Haut häßliche Farben erblühn ; 
Und was Schlimmes ihr droht, und was wir Trauriges fürchten, 
Trag' e8 in’3 Meer des Stroms rajches Gewäſſer hinab! 
Heiliger, komm! und bringe mit dir die fchläfernden Säfte, 
Zaubernden Sprüche, die je welfende Glieder geftärkt; 
Duäle den Jüngling nicht, der für fein Mädchen erzittert, 
Hundert Gelübde für fie, faum mehr zu zählende, thut; 


Deutſche Rundſchau. 


Bald Gelübde und bald, weil ihm die Geliebte dahinwellt, 
Harte Worte des Fluchs gegen die Ewigen jpricht. 
Nein, nicht fürchten, Cerinthl Die Liebenden tödtet der Gott nicht. 
Liebe nur für und für; bald ift dein Mädchen geſund. 
Noch thut Weinen nicht noth. Erft dann laß fließen die Thränen, 
Zeigte fie künftig einmal dir ein erfaltendes Herz! 
Doch nun gehört fie dir ganz; an dich nur denkt fie, die Reine, 
Und fie umlagert der Schwarm Hoffender Herzen umfonft. 
rt o Hilf! Und gibft du in Einem geretteten Leben 

wei dem Lichte zurüd, wird's dir ein herrlicher Ruhm. 
Ehre dann wird’3, wird Freude dir fein, wenn Beid' um die Wette 
Freudig Opfer des Dank bringen zum Heiligen Herb. 
Glüdlich wird dann die Schaar der gütigen Götter dich preifen, 
Und ein Seglicher wünjcht: hätt’ ich die Kunſt doch Apoll's! 


XI. Reue. 
(Sulpiria an Gerinthus.) 


Mög’ ich, mein Aug’, nie mehr von dir jo feurig geliebt jein, 
Wie ich e8 war, fo ſchien's, wenige Tage zuvor: 
Wenn ich thörichtes Kind in all’ der thörichten Jugend 
Srgendetwas beging, das ich jo innig bereut, 
ALS daß geftern zu Nacht ich dich, Geliebter, allein Ließ, 
Um zu verbergen vor dir meine verlangende Gluth! 


XII. An Eulpicia. 
(Bermuthlih von Zibullus in Cerinthus' Namen.) 


Keine der Frauen wird je mich dir auß ben Armen entwinden; 
War doch von Anfang dies unferer Liebe Geſetz! 
Du nur gefällft mir allein; und feins mehr unter den Mädchen 
Allen in Rom ift jetzt ſchön meinen Augen, ala du. 
Ach, und könnteſt du doch nur mir noch reizend erjcheinen, 
Daß du den Andern mißfielft! kennt' ich die Sorge nicht mehr! 
Neides bedarf ich nicht; was foll die Menge mich preifen; 
Wer da Bernunft hat, liebt felig in jchweigender Bruft. 
Ya, wie wär’ ich zufrieden, in heimlichen Wäldern zu leben, 
Wo fein menjchlicher Fuß je einen Weg fich ertrat. 
Du, meine Sorgenruhe du mir! in fchwärzefter Nacht du 
Licht, am einfamen Ort Fülle der Menfchen du mir! 
Mag dem Gerinth vom Himmel herab ein Liebchen nun kommen, 
Kommen würd’ es umfonft, Venus verlöre das Spiel; 
Bei deiner Juno ſei's, die fromm dich hütet, geſchworen, 
Die dor den Göttern allein groß mir und Heilig mir if. 
Thor! was thu' ih? O wehe! Ich Thor; ich gebe mein Pfand Hin. 
Unvorſichtiger Schwur! War deine Furcht doch mein Schuß! 
Wie du nun ftark wirft fein; wie wirft du nun breifter mich quälen. 
Hat die geſchwätzige Zung’, ach! mir dies Unheil gezeugt! — 
Wohl; was immer du willft, ich thu's. Dein bleib’ ich auf immer, 
Weigre mich nicht, dein Sklav', trautefte Herrin, zu jein. 
Doch an der Venus Altar, da fih’ ich Gefeflelter nieder; 
Graufame ftrait fie, und Schutz-Flehenden reicht fie die Hand! 


Anſt Hacckel.*) 


Bon Eduard von Hartmann. 








Ernft Heinrich Haeckel ift am 16. Februar 1834 zu Potsdam geboren. Sein 
Vater, preußiicher Regierungsrath, war der Sohn eines ſchleſiſchen Bauern, feine 
Mutter die Tochter eines rheiniſchen Juriften und hohen Verwaltungsbeamten. 
Ein Jahr nad) feiner Geburt wurde fein Vater nad) Merſeburg verſetzt, woſelbſt 
Haedel feine Jugend bis zum Abgang auf die Univerjität verlebte. Frühzeitig 
entwicelte ex eine Vorliebe für Naturwiſſenſchaften, insbeſondere für Botanif, 
welche durch die Lectüre Schleiden’s, Humboldt’3 u. A. mehr genährt wurde. 
Charakteriſtiſch für ſeine jpätere Richtung find die Zweifel des zwölfjährigen Knaben 
über den Unterjchied der jogenannten guten und jchlechten Specien. In ein 
Herbarium jammelte er die guten Arten der botanischen Syſtematik, in ein 
anderes die zweifelhaften Mittelformen umd Uebergangaftufen, welche der Syſte— 
matifer gern wegwirft. Niemand konnte feine Zweifel löfen, und man kann ſich 
denfen, wie die Lectüre Darwin's jpäter auf ihn wirken mußte, der die Conftanz 
der Species über den Haufen wirft. 

Im J. 1852 zog er zum Studium der Botanik zuerft nach Jena und dann 
nad Berlin; an erfterem Orte lehrte Schleiden, an leterem Alerander Braun. 
Alsdann wandte er fi) der Anatomie des Menjchen zu, welche er in Würzburg 
unter Kölliker ftudirte. 1854 kehrte er nad) Berlin zurüd und widmete fich der 
vergleichenden Anatomie unter Johannes Müller's Leitung, mit welchem zuſam— 
men er in Helgoland und zwei Jahre jpäter in Nizza niedere Seethiere unter- 
ſuchte. Diefer bedeutende Mann wurde für die Enttwidelung feines Geiftes von 


*) Generelle Morphologie ber Organiämen. I Band: Allgemeine Anatomie ber 
Organiömen. II. Bad: Allgemeine Entwidelungsgeihichte der Organismen. Berlin, 
Georg Reimer. 1866. Mit 10 Tafeln. 1228 ©. gr. 8. 

Natürlide Schöpfungsgeihichte. 24 gemeinverftändliche wifjenjchaftliche Vorträge 
über die Entwidelungslehre im Allgemeinen und biejenige von Darwin, Goethe und Lamoerek 
im Belonderen. Berlin, Georg Reimer. 1. Aufl. 1868, 5. Aufl. 1874. Mit 17 Tafeln. 
736 ©. 8. 

Anthropogenie Entwidelungsgeichichte des Menſchen. Mit 12 Tafeln, 210 Holzichnitten 
unb 36 genetifchen Tabellen. Leipzig, Wilhelm Engelmann. 1874. 


8 Deutiche Rundſchau. 


dem größten Einfluß; denn Müller war einer von jenen feltenen Naturforichern, 
welche es nicht ertragen können, über der Erforſchung des Einzelnen das große 
Ganze der Natırr aus den Augen zu verlieren. Ich glaube nicht zu irren, wenn 
ih in Johannes Müller die hauptſächlichſte Mittelsperſon erkenne, welche zwijchen 
der älteren naturphilojophilchen Periode Jena’3 unter Schelling und Ofen und 
jeiner gegenwärtigen unter Haedel den freilich nur jehr loſe gefnüpften Verbin— 
dungsfaden ſchlingt. Die Pietät, mit welcher Haedel von Müller ſpricht, und 
die Ausfprüche, welche er grade bei naturphilojophiichen Abjchweifungen mit 
Vorliebe von demjelben citirt, jcheinen diefen Schluß nahe zu legen. 

1855 begab er ſich abermal3 nah Würzburg, um fi unter Virchow's Lei- 
tung mit pathologijcher Anatomie zu beihäftigen. Nachdem er dann im Früh— 
jahr 1857 bei der Berliner mediciniichen Facultät promovirt Hatte, ging er den 
Sommer über nad) Wien, um fi in der ärztlichen Praris zu vervolllommnen, 
und legte dann in Berlin die mediciniiche Staatsprüfung ab. Wenig befriedigt 
von einer einjährigen mediciniichen Praris in Berlin kehrte er zu feiner Lieblings- 
beichäftigung mit der vergleichenden Anatomie niederer Wafferthiere zurück, welche 
von num an fein Specialfach als empirischer Naturforjcher bilden ſollte. Um 
feine 1856 begonnenen Unterfuchungen der Fauna des Mittelmeers, jpeciell über 
die Radiolarien, fortzujegen, begab er fih im J. 1859 auf fünfviertel Jahre nad 
Stalien, wo er in Neapel und Mejfina überwinterte. Im %. 1865 ging er zum 
zweiten Mal nad) Helgoland, 1866 und 1867 nad Liffabon, Madeira, Teneriffa 
und Gibraltar, 1869 bejuchte ex die norwegiſchen Küften und 1873 die Hüften 
Kleinafiens, Syriens und Egyptens. Dieje Reifen führten ihm in reihem Maße 
das Material zu, welches er mit unermüdlichem Fleiße verarbeitete und feit 1855 
in einer langen Reihe von Abhandlungen und Monographien erörtert. Es kam 
ihm dabei zu Statten, daß er gelernt hatte, feine Beobadhtungen ſelbſt ala 
Zeichner wiederzugeben, wodurch natürlich die Treue und Genauigkeit der Dar: 
ftellung viel gewinnt. Der Erfolg Frönte feine Forjchermühen und fein richtig 
geleitetes Suchen mit wichtigen Entdedungen, jo daß feine Stellung ala empi— 
riſcher Naturforicher ſelbſt feinen theoretiichen Gegnern gegenüber eine ficher be— 
gründete, wo nicht beneidete ift. 

Am %. 1861 ließ er fich durch feinen älteren Freund Gegenbaur beftimmen, 
fi) als Privatdocent in Jena zu habilitiren; ein Jahr darauf wurde er daſelbſt 
zum außerordentlihen und 1865 zum ordentlichen Profeſſor der Zoologie be- 
fördert. Außerdem fungirt er als Director des zoologiſchen Inſtituts und des 
zoologischen Mufeums in Jena. Glänzende Anerbietungen aus Würzburg, Straß- 
burg, Wien und Bonn hat er abgelehnt, vielleicht um ſich die Unbefangenheit 
feiner unabhängigen Stellung an derjenigen Univerfität zu wahren, welche ſchon 
mehr als einmal ſich als Freiſtatt kühn vorjchreitender Wiſſenſchaft bewährt hat. 

Das Angeführte würde genügen, um Haecel eine ehrenvolle Stellung unter 
den Naturforſchern Deutichlands zu fihern, aber es würde nicht im Stande 
fein, die Popularität zu erklären, welche jein Name im größeren Publicum ges 
nießt, die heftigen Anfeindungen, welche er aus achtungswerthen Kreiſen ber 
Wiſſenſchaft erfährt, und die Begeifterung, mit welcher eine jüngere Schule um 
ihn ſich ſchaart, und welche ſogar philofophifche Schriftfteller veranlagt, ihm 


Ernſt Hacdel. 9 


ihre Werke zu widmen. Dies wird nur dadurch verftändlih, daß Haeckel im 
Anſchluß an Darwin eine neue Rihtung in der Naturwiſſenſchaft eingejchlagen 
hat, welche al3 eine mit allen Hilfsmitteln der eracten Forſchung und unferer 
heutigen Kenntniſſe unternommene Erneuerung der Verſuche der älteren Natur— 
philojophie zum Verſtändniß der organischen Natur betrachtet werden Tann. 
Darwin fteht dem natürlichen Ende des Lebens nahe und hat als Engländer 
fein Intereſſe doch immer mehr der Anhäufung empirischen Materials, als deſſen 
philofophijcher Verarbeitung zugewandt; Haeckel dagegen, in der Vollkraft männ- 
licher Friſche und durchdrungen von dem Bewußtfein der Nothwendigkeit, die 
Naturwiſſenſchaft zur Naturphilojophie zu erheben, ift im Begriff, Darwin's 
Erbichaft anzutreten und deifen unvollendetes Werk fortzujeßen. | 

Es handelt fih um nicht Geringeres, als um eine Revolution in allen 
mit der organifchen Natur beichäftigten Wifjenfchaftszweigen und um die une 
vermeidliche Rückwirkung einer ſolchen Ummwälzung auf unfere moderne Welt- 
anſchauung und viele in derjelben noch conjervirte Vorurtheile. Da iſt e8 denn 
fein Wunder, wenn jotwol von Seiten der Vertreter der bisherigen Richtungen 
in der Wifjenichaft entichiedene Reactionen hervortreten, als auch von Seiten 
der profejjionellen und habituellen Beſchützer der in ihrer Eriftenz bedrohten 
Vorurtheile ein heftiger aggrejfiver Widerftand ſich kundgibt. Von Seiten der 
enthufiaftiichen Anhänger wird das lebensfähige Neue in feiner Tragweite über— 
Ihäbt und nur zu gern das Sind mit dem Bade verfchüttet, von der entgegen- 
gejebten Seite werden feine befruchtenden Elemente verfannt und feine Gejammt- 
bedeutung verleugnet, weil man ſich fträubt, in die dadurch unvermeidlich 
gewordene Mtodification der bisherigen Weltanſchauung zu twilligen. 

Haedel jelbft umterjcheidet vier Perioden der Zoologie und Botanik. In 
der erften, Linné'ſchen Periode herricht die uüßerliche Syftematif, in der 
zweiten, Lamard-Goetheihen, eine natur philoſophiſche Morphologie, 
die aus Mangel an feſtem empiriichem Boden fih in die Phantaſtik der 
Schelling-Okenſchen Naturphilojophie verläuft. Als Rückſchlag folgt die dritte 
Periode, welche das zweite Drittheil des neungehnten Jahrhunderts einnimmt 
und fih mit der empiriichen Erforihung der inneren Anatomie der 
Organismen in allen ihren Details beſchäftigt. Die vierte Periode läßt er mit 
der Veröffentliung von Darwin’3 Hauptwerk (1859) beginnen und fieht ihren 
Charakter in der Wehjeldurhdringung von empirischer Forſchung und 
philofophiicher Betrachtung (Gen. Morph. I., ©. 71—72). 

Der neueren Biologie, d. 5. derjenigen ber dritten Periode, wirft er Be- 
fangenheit in einer jeltjamen Selbfttäufchung vor, „wenn fie die nadte, gedanken— 
Ioje Beihreibung innerer und feinerer, insbeſondere mikroſkopiſcher Form 
verhältnifie al3 ‚wiſſenſchaftliche Zoologie‘ und ‚wiſſenſchaftliche Botanik‘ preift 
und mit nicht geringem Stolze der früher ausschließlich herrſchenden reinen 
Beſchreibung der äußeren und gröberen Formverhältniſſe gegenüberftellt, welche 
die jogenannten ‚Syftematifer‘ bejchäftigt. Sobald bei diejen beiden Richtungen, 
die ſich jo ſcharf gegenüberzuftehen belieben, die Beſchreibung an ſich das 
Ziel ift (— gleichviel ob der inneren oder äußeren, der feineren oder gröberen 
Formen —), jo ift die eine genau joviel werth al3 die andere. Beide werden 


10 Deutiche Rundſchau. 


erft zur Wiſſenſchaft, wenn fie die Form zu erklären und auf Geſetze zurück— 
zuführen ftreben“ (ebenda ©. 71). 

Ich Habe anderwärts die Stufe des Naturerkennens, welche bei der Be— 
fchreibung beharrt, ohne zur Wiſſenſchaft vorzudringen, als Naturkunde be- 
zeichnet; es ift dies die erſte der drei Stufen, auf welcher Botanif, Zoologie 
und Chemie bi3 vor Kurzem im Wejentlichen ftehen geblieben waren. Ohne 
Zweifel hat die mit Darwin beginnende Periode das Verdienft, von ber Kunde 
der organiſchen Natur zu einer Wiſſenſchaft derjelben vordringen zu wollen, 
indem fie die caufalen Zujammenhänge zwiſchen den gegebenen inneren 
und äußeren Formverhältniſſen zu erkennen ftrebt und in dieſer Richtung bereits 
unzweifelhafte Erfolge durch Aufftellung verjchiedener Theorien errungen hat. 
Ebenjo gewiß ift e8, daß ein MWeiterjchreiten auf diefem Wege zur dritten 
Stufe de3 Naturerfennens, zur Naturphilojophie, führen muß, welche den 
Zufammenhang der caufal bedingten und mechaniſch vermittelten Natur- 
erſcheinungen mit ihrem metaphyfiichen Grunde unterſucht, und daß das Natur- 
erkennen erſt mit diejer letzten Stufe jeinen Abſchluß finden kann. Haedel 
zielt offenbar darauf hinaus; aber jo Kar er fi) über den Interjchied von 
Naturkunde und Naturwiffenichaft ift, jo wenig hat er ſich den Unterfchied 
zwiichen Naturwiſſenſchaft und Naturphilojophie zur Klarheit gebracht, vielmehr 
identificirt ex beide gefliffentlich, beijpielaweije in den großgedrudten Schluß- 
lägen jeiner gen. Morph. II. 447: „Alle wahre Naturwiſſenſchaft ift Philo- 
fophie, und alle wahre Philojophie ift Naturwiſſenſchaft. Alle wahre Wiſſen— 
ſchaft aber ift Naturphilojophie.“ Er ftüßt fich Hierbei darauf, daß auch die 
Naturwiffenihaft des Iynthetiihen Gedankens bedürfe, ohne zu erwägen, 
daß da3 Denken in Specialwifjenihhaften, obwol denjelben logiſchen Geſetzen 
wie das philoſophiſche Denken untertworfen, doch wegen feines Zieles ein 
anderes ijt ala diejes, ähnlich wie das juriftiiche Denken ein anderes ift ala 
da3 philologiſche oder naturwiſſenſchaftliche. 

Haedel jagt (Morph. J., S. 73): „Nach unſerer feſteſten Ueberzeugung 
können nur diejenigen Naturforſcher wahrhaft fördernd und ſchaffend in den 
Gang der Wiſſenſchaft eingreifen, welche, bewußt oder unbewußt, ebenjo jcharfe 
Denker als jorgfältige Beobachter find. Niemals kann die bloße Entdedung 
einer nadten Thatſache, und wäre jie noch jo merkwürdig, einen wahrhaften 
Fortſchritt in der Naturwiſſenſchaft herbeiführen, jondern ftet3 nur der Gedante, 
die Theorie, welche diefe Thatſache erklärt, fie mit den verwandten That- 
ſachen vergleichend verbindet und daraus ein Gejet ableitet. Betrachten wir 
die größten Naturforjcher, welche zu allen Zeiten auf dem biologijchen Gebiete 
thätig gewefen find, von Ariftoteles an, Linne und Cuvier, Lamard und Goethe, 
Baer und Johannes Müller, und wie die Reihe glänzender Sterne erjter Größe, 
bi3 auf Charles Darwin herab, weiter heißt, — fie alle find ebenjo große 
Denker ala Beobachter geweſen, und fie alle verdanken ihren unfterbliden Ruhm 
nit der Summe der einzelnen von ihnen entdedten Thatjachen, jondern ihrem 
denfenden Geifte, der diefe Thatjadhen in Zufammenhang zu bringen und daraus 
Geſetze abzuleiten verjtand. Die rein empiriſchen Naturforjcher, welche nur 
durch Entdeckung neuer Thatſachen die Wiſſenſchaft zu fördern glauben, können 


Ernſt Hacdel. 11 


in berjelben ebenjo wenig etwas leiften, al3 die rein jpeculativen Philojophen, 
welche der Thatjachen entbehren zu können glauben und die Natur aus ihren 
Gedanken conftruiren wollen. Dieje werden zu phantaftiichen Träumern, jene 
im beten Falle zu genauen-Gopirmafdhinen der Natur. Im Grunde freilich 
geftaltet ſich das thatjächliche Verhältnig überall jo, daß die reinen Em— 
pirifer fih mit einer unvollftändigen und unklaren, ihnen jelbft nicht beiwußten 
Philojophie, die reinen Philoſophen dagegen mit einer eben ſolchen, un— 
reinen und mangelhaften Empirie begnügen.“ 

Das find goldene Worte, die auf beiden Seiten in gleihem Maße Be— 
herzigung finden follten. Aber Haedel hat bier eine zwiefache Antitheje ver- 
miſcht, die zwiſchen bejchreibender Naturkunde und erflärender Naturwiſſenſchaft 
und die zwilchen Naturwiſſenſchaft (al3 Einheit von Kunde und Wiſſenſchaft 
gefaßt) und Philofophie. Es ift gewiß wahr, daß die großen Naturforjcher 
nur darum jo Großes in der Naturwiſſenſchaft geleiftet haben, weil fie zugleich 
fih mit Naturphilojophie beichäftigten, aber es ift nur darum wahr, weil die 
Naturphilojophie auf die Entdeckung naturwiſſenſchaftlicher Erklärungen in 
ganz ähnlicher Weije befruchtend einwirkt, wie die Natırwiflenichaft auf die 
Förderung und Direction der Beobachtungen und auf die fruchtbringende An— 
ordnung der Experimente, 

Dieje Behauptung bewahrheitet fich nirgends ſchlagender als an Haeckel jelbft. 
Nur deshalb, weil er, durchdrungen von großen naturphilojophijchen Geficht3- 
punkten, überzeugt von der jubltantiellen Einheit der gefammten Natur über- 
haupt und der des inneren und Aeußeren im Bejonderen, an jeine naturwiſſen— 
Ichaftliche Aufgabe herantrat, nur deshalb konnte er jo kühnen Muthes Hinein- 
greifen in den Bau geheiligter Vorurtheile und mit jo ficherer Zuverficht die 
naturwiſſenſchaftlichen Erklärungsprincipien der Abftammung und der natürlichen 
Zudtwahl als unumftößliche Wahrheiten verfündigen, die in empiriſcher Hin- 
fiht doc immer noch auf jehr mangelhaften Grundlagen ruhen. Ex ift ſich 
auch defjen, was er der Naturphilofophie verdankt, wohl bewußt, und bethätigt 
feinen Dank durch fein energijches Eintreten für die Bedeutung und den Werth 
der Philoſophie; nur darüber ift ex fi) unklar, daß die Naturphilojophie 
ebenjogut der Unterfcheidung von der Naturwiſſenſchaft bedarf, wie dieje 
von der Naturkunde, und indem er die nothwendige praktiſche Ver- 
mählung von Naturwiſſenſchaft und Philoſophie zu einer unterjchiedslojen 
Identität beider überfpannt, vernichtet er die Naturphilofophie als jolche, 
indem er fie in der Naturwiſſenſchaft bereit3 erledigt und erſchöpft glaubt. 

Letztere Auffaſſung wäre nur folgerichtig für einen Mtaterialiften, der jedes 
Metaphyfiiche Hinter dem Phyfiichen, jedes Wejen Hinter den Erjcheinungen der 
Natur leugnet. Denn wenn das Phyſiſche das Letzte ift, hinter dem es nichts 
mehr gibt, jo muß jelbftverftändlich die Erfenntniß phyſiſchen Gaufalzufammen- 
hangs die lebte Aufgabe aller menjhlichen Wiſſenſchaft fein. Dies ift aber 
keineswegs Haeckel's Meinung; er ift vielmehr ſchon hinlänglich von philo= 
ſophiſchem Bewußtſein durchtränkt, um fich gegen den Vorwurf des Mtaterialis- 
mus zu verwahren. Er will weder im jpiritualiftiichen Sinne die Materie 
ala ein Product des Geiftes, noch im materialiftiichen Sinne den Geift als ein 


12 Deutiche Rundſchau. 


Product der Materie gelten laſſen (Anthropogenie ©. 707). Er will Spiritua- 
lismus und Materialiamus durch einen Monismu3 verjöhnen und gewinnt ala 
Princip des lebteren ein vom göttlichen Geifte durchdrungenes AU (Nat. 
Schöpfungsgeſch, Vorw. zur 2. Aufl), d. 5. eine einheitliche metaphyſiſche 
Subftanz, welche als das Weſen der gefammten Naturericheinungen — ſowol 
der äußeren oder materiellen, al3 auch der inneren oder geiftigen — gedacht 
werden muß. In diefer moniſtiſchen Metaphyſik, welche wejentli mit der 
meinigen übereinftimmt, ift aber der Gegenjat von Wejen und Erjcheinung, von 
Metaphyſiſchem und Phyfiihem unmittelbar gegeben; denn die geforderte Ein- 
heit von Geift und Materie in einer identijchen Subftanz wäre gar nicht 
möglich, wenn ſich nicht Materie und Bewußtjein blos als äußere, beziehungs- 
weiſe innere Erſcheinung zu dem beiden gemeinfam zu Grunde liegenden 
Wejen verhielten. Hiermit aber ift zugeftanden, daß das Phyfifche nicht ein 
Letztes jei, jondern ein Metaphyfiiches hinter ſich habe. 

Da nun die Naturwiſſenſchaft als folche diefes Metaphyſiſche bei Seite 
läßt und fih nur mit dem phyfiichen Cauſalzuſammenhang der Erjcheinungen 
unter einander beihäftigt, jo würde fie nur dann die lebte Stufe des Natur- 
erkennens jein können, wenn man die Einrichtung des menſchlichen Verftandes 
mit Kant und Du Bois-Reymond fir eine jolche erklärt, daß ihr jedes Hinaus— 
gehen über die Ericheinungen ſchlechterdings und für immer verjagt bleibt. 
Dies gibt aber Haeckel auch nicht zu, betont vielmehr mit Recht gegen Du Bois— 
Reymond die unbegrenzte Entwidelungsfähigkeit des menschlichen Intellects 
(Anthrop., Vorw. S. XIL.—XIL) Demnach kann er fi aber gegen die 
Tolgerung gar nicht mehr fträuben, daß es hinter der Naturwiſſenſchaft, welche 
die Gejehe de3 Gaufalzufammenhangs der Erjcheinungen untereinander ermittelt, 
noch eine Naturphilojophie geben müfje, welche die Beziehungen diejer Geſetze 
zu der Einheit der Natur, zu dem hinter Geift und Materie ſpukenden meta- 
phyſiſchen Wejen erörtert. 

Haedel jelbft unternimmt häufig genug Ercurfionen vom naturtwifjenichaft- 
lien auf das naturphilojophiiche Gebiet, und leider oft zum Nachtheil des von 
ihm vertretenen naturwiſſenſchaftlichen Standpunftes; denn die naturphilo- 
ſophiſchen Anfichten, welchen er Huldigt, find zum Theil unklar und nicht 
durchgebildet, zum Theil gradezu irrthümlich, und doch werden fie dadurch, daß 
er jeine Naturphilojophie mit feiner Naturwiſſenſchaft identificirt, anjcheinend zu 
integrivenden Beftandtheilen feines naturwiſſenſchaftlichen Standpunftes, während 
fie thatfächli mit demjelben gar nichts zu jchaffen haben. Unklar und ver- 
worren ift e8 3. B., wenn er den Gegenjat von Kraft und Stoff (welcher be— 
fanntlich innerhalb des Materialismus liegt) mit dem von Geift und Materie 
identificirt und dem Materialismus die Anficht zujchreibt, daß der Stoff die 
Kraft geihaffen Habe (Anthrop. S. 707— 708). Verhängnißvoll aber wird fein 
Irrthum, wenn er folgenden Schluß macht: Die Naturwiſſenſchaft ala ſolche 
hat e8 nur mit einer caujalen Gejegmäßigkeit (nicht mit einer teleologijchen) 
zu thun; die Naturphilofophie ift mit der Naturwiſſenſchaft identiſch; folglich 
darf auch die Naturphilojophie ſich mit feiner andern al3 der caufalen Gejeh- 
mäßigteit befaffen, d. h. die Teleologie ift gänzlich aus der Philofophie zu ver— 


Ernſt Hacdel. 13 


bannen. Die erfte Vorausſetzung ift richtig, aber die zweite faljh, und darum 
muß auch der aus beiden gezogene Schluß falſch fein. Wenn die Naturtifjen- 
ſchaft ala jolche nur die Aufgabe hat, die gejegmäßigen caujalen Zujammen- 
hänge der äußeren d. h. materiellen Naturerfcheinungen zu unterfuchen, jo folgt 
daraus zunächſt gar nicht3 darüber, ob die Naturphilojophie gleichfalls bei der 
mechaniſchen Gaufalität ftehen zu bleiben Hat, und ob fie nicht vielmehr durch 
die Erfüllung ihrer eigenthümlichen Aufgabe noch zu ganz anderen Gefſichts— 
punkten geführt wird. Befteht ja doch ihre Aufgabe grade darin, die Natur- 
eriheinungen, jowol die materiellen al3 die geiftigen, jammt ihren caufalen 
Gejegen in ihrer Rückbeziehung auf die Einheit der gefammten Natur, d. h. in 
ihrer phänomenalen Abhängigkeit von ihrem metaphyfiichen Grunde zu unter- 
juchen, und ba ift die Trage, ob nicht grade diefe Rückbeziehung ber urſprüng— 
lich gegebenen Beichaffenheit der Naturelemente und der wunderbaren Harmonie 
ihrer Geſetze auf ihren fie begründenden metaphyfiichen Einheitspunft unmittel- 
bar jelbjt jchon eine teleologijche Betrachtungsweiſe genannt werden muß. 

Albert Lange präcifirt die Frage in feiner Geſch. d. Materialismus 
(zweite Aufl., Bd. IL, ©. 275) folgendermaßen: „it diefe Welt ein Special- 
fall zwiſchen unzähligen gleich denkbaren Welten, welche entiveder ewig 
haotijch oder ewig ſtarr bleiben würden, oder ift etwa zu behaupten, daß 
bei jeder beliebigen Bejchaffenheit der Uranfänge nad dem 
Darwin'ſchen Princip ſich Ichlieglich Ordnung, Schönheit, Vollendung in gleichem 
Make, wie wir fie beobachten, ergeben mußten?” Und er beantwortet fich 
jelbft diefe Frage: „Ohne Zweifel wird man zugeben, daß unjere Welt in 
diefem Sinne ein Specialfall genannt werden darf; denn twie jehr auch alles 
Geſchehen fi) aus einfahen Annahmen mathematijch entwideln läßt: pofitive 
Annahmen, und zwar ſolche, melde die Entwidelung unjerer Welt er— 
mögliden, während fie ohne dieje Rückſicht ganz anders fein könnten, müſſen 
eben doch gemacht werden.“ Diejen einfachſten Grundgedanken der Teleologie 
weiter durchzubilden, davon wird Lange nur durch jeinen jubjectiven Idealismus 
verhindert, welcher jede Metaphyſik ala leeres Hirngeipinnft erjcheinen läßt, alfo 
auch jede Naturphilojophie ala jolche verbietet. Aber ſchon die Thatjache, daß 
ein jo craſſer Materialift und Verächter aller Metaphyſik, wie Lange, abgejehen 
von feiner unbaltbaren jubjectiv-idealiftiichen Erkenntnißtheorie, einer ift, ich zu 
ſolchen Zugeftändniffen gedrängt fieht, jollte hinreichen, um einen Haedel ftußig 
zu machen über feine Befehdung der Teleologie. 

Haedel gelangt zu feinem Widerwillen gegen die Teleologie einfach dadurch, 
daß er in Bezug auf diejes Problem in der Reaction der dritten naturwiſſen— 
ihaftlihen Periode gegen die zweite fteden bleibt. Die phantaftiiche Natur- 
philojophie hatte unrechtmäßiger Weije.die Naturwiſſenſchaft mißachtet 
und fi) ſammt ihren teleologiichen Speculationen an deren Stelle jegen wollen. 
Sie hatte damit gegen die alte Lehre Baco's verftoßen, daß die Naturwiſſenſchaft 
fih nur mit caufalen Zujfammenhängen zu befaffen habe, und jeder andere 
Erklärungsverſuch als ein caufaler keine naturwijjenjhaftlide Erklärung 
heißen könne. Die Periode der „eracten Forſchung“ reagirte mit Recht gegen 
diefe Anmaßung, ging aber, wie jede Reaction, zu weit, indem fie die Teleo- 


14 Deutſche Rundſchau. 


logie und Naturphiloſophie überhaupt als werthloſe Phantaſtik verpönte. Dieſer 
antiteleologiſche Standpunkt der „exacten Forſchung“ hat aber thatſächlich die 
öffentliche Meinung in wachſendem Maße beſtimmt und hat es zu Wege ge— 
bracht, daß die Verachtung der Teleologie und Naturphiloſophie in allen dem 
Einfluß der naturwiſſenſchaftlichen Denkweiſe unterworfenen Kreiſen als ein 
unantaſtbares Dogma gilt, welchem nicht beizuftimmen den Stempel der wifjen- 
Ichaftlichen Unzurechnungsfähigkeit aufdrüdt. So jehr terrorifirte die Naturtvifjen- 
Ihaft mit ihrer Verhöhnung der Philojophie die öffentliche Meinung, daß jelbft 
Philoſophen von diefem Vorurtheil fi) blenden ließen und den Beruf der Philo- 
fophie nur noch darin erfannten, philojophiich zu beweifen, daß die Philofophie 
Unfinn jei und zu Gunften der Naturwifjenichaft abzudanken habe (3.8. Lange, 
Dühring u. A. m.). 

Es ift Haedel nicht hoch genug anzurechnen, daß er mit offnem Wort für 
den Werth und die Nothwendigkeit der Philojophie (beſonders auch der philo- 
ſophiſchen Bildung für die Naturforjcher) aufgetreten ift, dat er die Verdrängung 
der einen Seite durch die andere für gleich unftatthaft nach beiden Richtungen 
erflärte und eine Wechſeldurchdringung beider Seiten forderte. Indem er 
aber die Cooperation und gegenjeitige Befruchtung irethümlicher Weile als 
Identität auffaßte, blieb ihm doch wieder fein Raum für verjchiedene Gefichts- 
punkte der Betrachtung übrig, und darum blieb er in dem Vorurtheil der dritten 
naturtiffenihaftlien Periode gegen die Teleologie befangen, deijen un— 
geachtet, daß er fih von ihrem Vorurtheil gegen die Philoſophie frei- 
gemacht hatte. 

Es ift indeffen unſchwer zu erfennen, daß von dem Augenblid an, wo bie 
Naturphilojophie neben ſich die Berechtigung der Naturwiſſenſchaft mit einer 
ausſchließlich cauſalen Betrachtungsweiſe anerkennt, auch die Naturwifjenichaft 
neben ſich die Berechtigung einer (nit mit ihr zujammenfallenden) Natur— 
philojophie ohne jeden Schaden für fich anerkennen darf, und daß die etwaige 
teleologijhe Betrachtungsweiſe der Naturphilojophie dann in feiner Weile mehr 
im Stande ift, die caufalen Unterſuchungen der Naturwiſſenſchaft zu ftören. 

Als Naturforfher Hat daher Haedel gar keine Veranlaffung, fih um 
die außerhalb feines Gebiets liegende Teleologie der Naturphilojophie zu be= 
fümmern, und ließe fich leicht auf diefe Abgrenzung der Gebiete hin mit ihm 
Frieden ſchließen. Nur indem er als Naturphilofoph auftritt, kann er die 
Teleologie befämpfen, und auf diefem Gebiete glaube ich ihm anderwärts *) nad)» 
gewieſen zu haben, daß feine Naturphilofophie nicht nur irrig fei, jondern daß 
auch diejer irrthümliche naturphilofophiiche Standpunkt von verhängnigvollem 
Einfluß auf feinen naturwiſſenſchaftlichen Standpuntt getworden jei, indem er 
ihn zur Ueberſchätzung der Transmutationstheorie und Selectionstheorie verführt 
habe. Auf leteren Punkt fommen wir weiter unten noch zurück. 

Worauf e8 mir hier ankam, war der Nachweis, daß die Tyeindjeligkeit gegen 
die Teleologie, oder mit anderen Worten die rein mechaniſche Weltanfhauung, 








*) „Wahrheit und Irrthum im Darwinismus.” Berlin, C. Dunder’3 Verlag. 1875. Bes 
fonders Abjchn. VIL: „Mechanismus und Teleologie”. 


Ernft Haeckel. 15 


fein integrirender Beftandtheil der Naturwiſſenſchaft ift, daß dieſe vielmehr 
gar nicht davon berührt wird, ob eine ihre Grenzen rejpectirende Natur= 
philofophie fich zur Teleologie bekennen will oder nicht, und daß Haedel ſich 
im Irrthum befindet, wenn ex die entgegengejeßte Anficht vertritt. Diejer Nach— 
weis jcheint mir deshalb jo wichtig, weil e8 grade Haedel’3 grundloje Ver— 
quidung der mechaniſchen Weltanfhauung mit feiner Abftammungslehre ift, 
welche die beten Geifter von der leßteren fern hält, und daß mit einem Schlage 
die Wahrheit der Dejcendenztheorie in Philojophie und Theologie zum Durch— 
bruch gelangen muß, jobald man diefe unfelige Verquidung ala ein bloßes 
Vorurteil begreift, welches den bisherigen Hauptvertretern der Dejcendenztheorie 
wie ein Stüd beim Auskriechen aus der dritten Periode mit herübergejchleppter 
Eierſchale anhaftet. Der Kern der gegen die Dejcendenztheorie gerichteten Vor— 
urtheile ift der von den Naturforjchern Fritiflo3 übernommene Glaube an die 
Unabtrennbarkeit derjelben von der mechanischen Weltanjchauung, und darum 
glaube ich, durch die Enthüllung diefes Glaubens al3 Aberglauben Niemandem 
einen größeren Dienft zu erweiſen al3 Denjenigen, welche ſich den Sieg der Deicen- 
benztheorie zu ihrem Lebensziel gejeht haben, vor Allen Ernft Haedel, defjen 
Leitungen wir nach diejer vorausgeſchickten Orientirung näher treten wollen. 

Als Haedel mit feinem Hauptwerk, der „Generellen Morphologie”, auftrat, 
tar von Darwin erft das Werk über „Die Entftehung der Arten“ erjchienen, nebft 
der erläuternden Materialjammlung: „Ueber das Variiren der Thiere und 
Pflanzen“. In beiden übertvog da3 zujammengetragene Material die daraus 
gezogenen Schlüffe, nur mit dem alten Dogma von der Konftanz der Specien 
hatte Darwin mit Entjchiedenheit gebrochen und die Möglichkeit einer Um— 
wandlung einer Specie3 in eine andere durch natürliche Einflüffe verkündet. 
Dagegen hatte er den Gott-Schöpfer der englijchen Nationalkirche unangetaftet 
gelaffen, war der Frage nad) der Abftammung des Menſchen ängſtlich aus dem 
Wege gegangen und hatte es ganz dahin geftellt jein laſſen, wie weit ein genea— 
logiſcher Zuſammenhang zwilchen verjchiedenen Ordnungen und Stämmen de3 
Thier- nnd Pflanzenreihs anzunehmen je. Nur Karl Vogt Hatte eine Zeit 
lang durch feine Behauptung der Abftammung der Menjchenracen von Drang, 
Gorilla und Chimpanje das deutiche Publicum in vorübergehende Aufregung 
verjegt, hatte aber in Folge der Oberflächlichkeit feiner Behandlungsweife des 
Problems nur zu bald ein verdientes Fiasco gemacht. 

Da trat Haedel mit jeinem erften großen Werke hervor, welches eingegeben 
von der Begeifterung für die naturphilofophiiche Idee einer abjoluten Einheit 
der Natur (Bd. IL, ©. 446—447), getragen von einer umfaffenden Kenntniß 
der organischen Natur und genährt von dem Teuer eines jugendlichen En— 
thuſiasmus für Wahrheit und Fortſchritt, die Einheit der organiſchen Natur, 
welche bis dahin nur ideell poftulirt war, auf Grund der Deicendenztheorie 
al3 eine real vermittelte zu erweiſen unternahm. Dies ift der Grundgedanke 
des Buches, welches ih al3 das bedeutendfte naturwifjenjhaftlide 
Werk von naturphilofophiicher Tendenz bezeichnen möchte, welches 
die gefammte Literatur der Wiſſenſchaften aufzumweifen hat. Die „Morphologie“ 
iſt gleihjam das Programm für das ganze Leben und Streben ihres Ver— 


16 Deutſche Rundichau. 


faſſers; Alles was Haedel jeitdem geleiftet Hat, und wahrſcheinlich Alles, was 
er noch leiften wird, find nur Ausführungen der Ideen, welche ex hier bereit3 
‚ niedergelegt. 

Die Wirkung war „ein allgemeines Schütteln des Kopfes“. Die Natur- 
forſcher befreuzigten fi vor dem Collegen, ber doch jonft gezeigt hatte, daß er 
ganz jolide arbeiten fünne, und num auf einmal zum „Durchgänger“ geworden 
war; fie jahen in dem Buche eine völlige Verleugnung der vorfichtigen Methode 
der eracten Forſchung, eine Thon äußerlich durch die majjenhaften Kitate und 
Motto’3 aus Goethe angekündigte Wiederaufwärmung der verachteten und ver- 
fpotteten Phantaſtik der Naturphilofophie und eine Ueberpurzelung der damals 
noch mit dem äußerften Mißtrauen aufgenommenen Dejcendenztheorie zu den 
mwagehaljigften Conjequenzen. Die Philoſophen Haben wol nur zum jehr Fleinen 
Theil etwas von der Exiſtenz des Buches erfahren und konnten jedenfalls feiner 
Inhalt aus dem Titel nicht ahnen; immerhin mußte auf philofophiiche Kreife 
die Teindjeligfeit gegen die Teleologie und die Prätenfion, die Naturphilojophie 
durch Naturwiſſenſchaft zu erſchöpfen, abftoßend wirken. Auf das große Publicum 
aber war da3 umfangreiche Werk mit feiner wiſſenſchaftlichen Haltung und feiner 
Ichwerfälligen (öfters nicht einmal glüdlih gewählten) Terminologie gar nicht 
berechnet; einen berühmten Namen hatte Haedel damals noch nicht einzujeßen, 
um das Laienpublicum zur Kenntnignahme zu veranlafjen, und jo fehlte denn 
auch von dieſer Seite jede Unterftügung. Kurz, das Rejultat war nad) allen 
Seiten ein entſchiedener Mißerfolg, welcher natürlih die Würdigung durch 
Einzelne nit ausſchloß. 

In der That kann man den Gegnern nicht abſprechen, daß Haeckel zu viel 
auf einmal hatte umfpannen wollen und fich zu hohe Ziele geſteckt hatte im 
Verhältniß zu dem damaligen Stand der empiriichen Begründung der vertretenen 
Theorien. Auf der einen Seite wies er felbjt immer auf das Problematiſche 
und Schwankende feiner conereten Aufftellungen, Eintheilungen und Stamm— 
bäume bin, auf der andern Seite zeigte er fi) von einem fo feljenfeften Glauben 
an die allgemeine Wahrheit feiner Ideen befeelt, daß die Empiriker fich beides 
nicht zujammenreimen konnten und einerjeit3 die Verwahrungen wegen der 
provijoriihen Bedeutung nicht für Ernſt nahmen, andererfeit3 die Zuverficht in 
die Wahrheit der Principien für unwiſſenſchaftliche Einbildung anjahen. Ohne 
Zweifel war Hacdel’3 Verſuch, die reale Einheit der Natur mit Hilfe der De- 
fcendenztheorie aufzuzeigen, verfrüht, — aber wann wäre ein Verſuch Thfte- 
matijcher Syntheje im Verhältniß zu dem Stand de3 empirischen Wiſſens nicht 
verfrüht zu nennen? Daß Haedel den kühnen Wurf gewagt und das Odium 
der Empirifer gegen allen jynthetifchen Geiftesflug nicht geicheut hat, das allein 
it ihm zum höchſten Verdienft anzurechnen, um jo mehr, al3 der zuerft aus— 
bleibende Erfolg ſich bald nachher doch an feine Ferſen gefettet hat und er that- 
ſächlich einen mächtigen Anftoß zu dem gegenwärtig in der Naturtijjenichaft 
ſich vollziehenden Umſchwung (dem Uebergang von der dritten zur vierten Periode) 
gegeben hat. 

Während Haedel jeinen Fachgenoſſen gegenüber durch anerkannt tüchtige 
energiiche Forſchungen feine Stellung zu befeftigen fortfuhr, gelang e3 ihm, 


Ernſt Haeckel. 17 


mit der im Jahre 1868 herausgegebenen „natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ 
das Intereſſe des größeren Publicums in ungewöhnlichem Maße zu erregen, 
was unvermeidlich auch auf die Meinung der Naturforſcher eine gewiſſe Rück— 
wirkung äußern mußte. 1870 erſchien die zweite, 1874 bereit3 die fünfte 
Auflage dieſes populären Werkes, welches man recht eigentlich ala das Evan- 
gelium der Dejcendenztheorie in Deutjchland bezeichnen kann. Hier war aud) 
äußerlich die Abftammungslehre in den Mittelpunkt der Betrachtung gerüdt, 
welche in der Morphologie ſich noch mit der zweiten Hälfte des zweiten Bandes 
begnügen mußte; alles ſtrengwiſſenſchaftliche Detail war vermieden und der 
ei Inhalt der Morphologie nur inſoweit herangezogen, al3 er zur alljeitigen 
terung und Begründung der Dejcendenztheorie behülflich ſchien, welche 
bier — eine Art von Zauberſchlüſſel für die weittragendſten Probleme der 
Natırk- und Geiftesphilojophie angepriefen wurde. Die Fortſchritte der empi- 
then Kenntniffe, 3. DB. die weiteren Entdedungen der Moneren, und die 
Forikhungen in der Embryologie des Amphiorus, boten mit dem Fortgang ber 
neuen Auflagen eine immer günftigere empirijche Grundlage, und die hiftorifchen 
Rückblicke der einleitenden Capitel trugen dazu bei, der Einſicht Bahn zu 
brechen, daß die Abſtammungslehre keineswegs etwa von Darwin funkelnagelneu 
aus den Fingern geſaugt ſei, ſondern ſich geſchichtlich mit zunehmender Be— 
ſtimmtheit allmälig entwickelt habe. 
In ſeinen monographiſchen Studien, welche anfänglich gleich denen ſeiner 
Fachgenofſen einen mehr beſchreibenden Charakter innegehalten hatten, emanci— 
pirte er ſich nun auch mehr und mehr von dem gewohnten Herkommen und 
ließ immer deutlicher ſeine Tendenz hervortreten, durch ſeine empiriſchen 
Forſchungen die Wahrheit der Abſtammungslehre zu beweiſen. Am ſchärfſten 
tritt dieſe Tendenz in der „Monographie der Kalkſchwämme“ hervor, welche 
fi) bereits auf dem Titel als ein „Verſuch zur analytiſchen Löſung des 
Problems der Entſtehung der Arten“ angekündigt, und in der That als die 
vollſtändigſte Durchführung des fraglichen Princips auf einem eng umgrenzten 
zoologiſchen Gebiet betrachtet werden kann. Der Abſchnitt „Philoſophie der 
| Kaltihwämme”, welcher ala Rejume den erften, allgemein gehaltenen Band 
beſchließt, erinnert freilich durch feinen Titel allzuſehr an den Mißbrauch des 
Wortes „Philofophie”, wie er in England üblih ift, als daß fich nicht das 
| deutiche Sprachgefühl dagegen fträuben jollte. Leider harmonirt diefer Mißbrauch 
nur zu ſehr mit Haedel’3 Glauben an die Abjorption der Naturphilofophie 
durch die Naturwifjenihaft, als daß es geftattet wäre, in joldem termino- 
logiſchen Mißgriff nur eine harmloje Reminiscenz an da3 Studium englifcher 
Literatur zu jehen. 
Bald nad der „Natürlihen Schöpfungsgefhichte" war Darwin’? Werk 
ı „Die Abftammung des Menjchen und die geichlechtliche Zuchtwahl“ erſchienen, 
{ welches Darwin ohne Zweifel beſſer gethan hätte, in zwei ganz getrennte Bücher 
# zu theilen, deren eines die geſchlechtliche Zuchtwahl und das andere die Ab- 
fammung des Menjchen hätte behandeln jollen, da beide Seiten des Werkes 
nur ſehr loſe Beziehungen zu einander haben. Darwin ift bier von feiner 
früheren hochgradigen Ueberſchätzung der natürliden — zurüd- 
Deutiche Rundſchau. I, 10. 


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18 Deutſche Rundſchau. 


gekommen, verfällt dafür aber in eine noch auffallendere Ueberſchätzung der 
geſchlechtlichen Zuchtwahl. Auch in Bezug auf letztere läßt er wieder bei aller 
Zuſammenhäufung des intereſſanteſten Materials die volle begriffliche Durch⸗ 
dringung des Gegenſtandes vermiſſen,“) und Haeckel hat dieſem Mangel bisher nicht 
abgeholfen. Was aber die andere Seite des Buches betrifft, welche die Ab— 
ſtammung des Menſchen behandelt, jo füllt Darwin damit zwar eine empfind- 
liche Lücke jeines Hauptwerkes aus, indeß keineswegs in der umfafjenden Weiſe 
und unter jo großartigen Gefichtäpunften, wie dies Haeckel in feiner „Natürlichen 
Schöpfungsgeſch.“ gethan, wenngleich er auch hier weit mehr in forgfältige Behand- 
lung minutiöjer Details eingeht als feine deutfchen Jünger. Es gibt deshalb faum 
ein ehrenvolleres Zeugniß für den Charakter und die Bejcheidenheit des großen 
englijchen Naturforjchers als die Aeußerung im Vorwort jeines Werkes: „Wäre 
dies Werk erjchienen, ehe meine Arbeit „Die Abftammung des Menjchen“ nieder- 
geſchrieben war, jo würde ich fie wahrſcheinlich nie zu Ende geführt haben; 
faft alle die Folgerungen, zu denen ich gefommen bin, find durch diefen Forjcher 
bejtätigt, deffen Kenntniffe in vielen Punkten reicher find als die meinen.“ 
63 wäre gewiß jehr ſchade, wenn wir die eigenartige Arbeit Darwin's, welche 
Haeckel's Leiftungen in jo anziehender Weije ergänzt, entbehren jollten. Zugleich 
widerlegt aber obige Aeußerung die öfters ausgejprochene Meinung, daß Darwin 
ſich erſt durch Haeckel habe in's Schlepptau nehmen laffen, und zeigt, daß die 
Macht der Gonjequenz ftarf genug war, um Darwin auch unabhängig von 
äußerem Nahdrängen zur Eingliederung des Menſchen in die genetiiche Stufen- 
reihe der Organifation zu zwingen. 

Was man in Darwin’ Werken durchweg vermißt, ift die Rüdfichtnahme 
auf die Embryologie; und doch bietet die Embryologie die wichtigſten Finger- 
zeige für die directe Ahnenreihe eines Typus und liefert zugleich die bedeu- 
tendften Stüßen für die Abftammungslehre überhaupt. Schon die „Morpho— 
logie“ und die „Natürliche Schöpfungsgefhichte“ hatten gerade dadurch Darwin 
überflügelt, daß fie die Embryologie in ausgedehntem Maße für ihre Dar- 
legungen und Beweisführungen verwerthet hatten; jedoch konnte diefer Wiflen- 
ihaftszweig in der Defonomie des erften Werkes nur einen eng begrenzten 
Raum und in leßterem nur eine auriliäre Bedeutung beanſpruchen. Grade 
auf diefem Gebiete aber waren jeit Veröffentlihung der Morphologie die be- 
trächtlichſten Fortſchritte gemacht worden, und Haedel jelbft Hatte durch feine 
1874 in der Jenaiſchen Zeitſchrift für Naturwiſſenſchaft veröffentlichte „Gafträa- 
Theorie” einen der wichtigften Baufteine für die Vollendung der Deſcendenz⸗ 
theorie aus embryologiſchen Unterſuchungen in Verbindung mit ſeinem Studium 
der Kalkſchwämme zu Tage gefördert. Er hatte an dieſem Beiſpiel den Beweis 
geliefert, wie fruchtbar die Vereinigung der vergleichenden Anatomie und Em— 
bryologie werden kann, wenn die Dejcendenztheorie zum leitenden Geſichtspunkt 
für die Deutung der Beobadhtungen auf jedem dieſer Gebiete durch die deg 
andern genommen wird, und hat e8 durch feine Kritik einfeitiger anatomifcher 

*) Vol. meine Schrift: „Wahrheit und Irrthum im Darwinismus“, Abſchn. VI: „Die 
auriliären Erflärungsprineipien Darwin's“; c. „Die geſchlechtliche Zuchtwahl“. 


Ernſt Hacdel. 19 


ober einjeitiger embryologiiher Studien zur Evidenz gebracht, daß von nun an 
die beiden Wiſſenſchaftszweige nur noch in gegenjeitiger Beziehung auf einander 
fürderfam betrieben werden fünnen. Ec fühlte nun das Bedürfniß, feine in den 
früheren Werfen nur ſtizzirte Begründung der Dejcendenztheorie durch den 
Parallelismus der embryoniſchen Entwidelung de3 Individuums und der 
genealogiichen Entwidelung de3 Typus in ausführlicherer Geftalt darzuftellen 
und wählte zu diejem Behuf als jpecielles Beiſpiel die Entwickelungsgeſchichte 
de3 Menſchen. Dur dieſe Beſchränkung gewann er einerjeit3 eine Concen— 
tration des behandelten Stoff3, welche der Vollftändigkeit und Neberfichtlichkeit 
der Darftellung im begrenzten Raume eines Bandes zu Gute kommt, und 
andrerjeit3 eine Concentration des Intereſſes bei dem Lejer, der natürlich einem 
direct auf die Löſung der Trage nad) der Stellung des Menſchen in der 
Natur gerichteten Vortrag mehr Aufmerkſamkeit und Theilnahme entgegenbringt, 
al3 wenn es fih etwa blos um die Abſtammung der Inſecten handelte. 
Andrerjeit3 berührt doch wieder die Genealogie des Menjchen jo viele Stufen 
der Entwidelung des Thierreichs, daß fie allein im Stande ift, mit Hilfe 
einiger orientirenden Seitenblide eine annähernde VBorftellung von dem genea- 
logiſchen Zufammenhang de3 ganzen Thierreichs zu geben. 

Aus allen diefen Gründen ftehe ich nicht an, die „Anthropogenie” für 
Haedel’3 reifſtes Werk zu erklären und die darin eingejchlagene Behandlungs- 
weile für epochemachend in der Gejchichte der Naturwifjenichaft anzujehen. 
Wie viele Behauptungen aud hier noch problematiich find, wie viele Aufftel- 
lungen aud) bier blos eine provijorifche Gültigkeit beanfpruchen Eönnen, darüber 
verſchließt ſich der Verfaſſer keineswegs einer Fritiichen Einficht,; aber trotzdem 
it das Werk eine höchſt bedeutende Leiftung, indem fie den Rahmen der 
menſchlichen Entwidelungsgefhichte in großen Grundlinien zeichnet, welche zwar 
noch überall der Ausfüllung und vielfältig der Correctur bedürfen, aber doch 
im Princip als richtige Grundlage weiterer Erörterungen anerkannt werben 
mäfjen. 

Wie groß der vollbrachte Fortichritt ift, darüber kann man ſich eine un— 
gefähre Vorftellung maden, wenn man eines der beiferen populären Bücher 
über vergleichende Anatomie aus den lebten Decennien (etwa Karl Vogt's 
„Zoologiſche Briefe”) mit Haeckel's Anthropogenie vergleicht und ſich dabei des 
Umftandes erinnert, daß ein für den Laien genießbares Werk über Embryologie 
bisher überhaupt nicht eriftirte. 

Die Anthropogenie zeichnet ſich auch dadurch vor Haeckel's anderen größeren 
Merken aus, dab ſowol jeine ſchiefe Naturphilojophie als auch feine Ueber— 
ſchätzung der Selectionstheorie in erfterer weit weniger zudringlich herbortritt; 
das Werk hält ſich ftrenger auf naturwifjenichaftlidem Gebiet und macht darum 
einen ungetrübteren Eindrud. 

Der Titel bezeichnet das Buch als „gemeinverftändliche wiſſenſchaftliche 
Vorträge,“ und der Anhalt trägt der populären Abficht injoweit Rechnung, 
daß die Vorausſetzung anatomijcher Vorkenntniffe vermieden wird. Populär 
aber im gewöhnlichen Sinne de3 Wortes ift das Buch deshalb doch nicht, auch 
nicht in dem Grade, wie die natürliche Schöpfungsgefhichte es ift; dazu ift 

2* 


20 Deutiche Rundſchau. 


der Stoff jedenfalls zu ſpröde. Es gehört eine beträchtliche Sammlung und 
Aufmerkjamkeit dazu, um die Darlegungen des Tertes in Verbindung mit den zahl- 
reichen Jlluftrationen zu verftehen, und ftellenmweife vermißt man jogar den Grad 
von Deutlichkeit, welcher nöthig ift, um jchiwierige, verwickelte Verhältniffe völlig 
far zu machen. Das Buch kann jeiner Natur nad nicht auf ein Publicum 
rechnen, welches allgemeine Bildungszwede verfolgt, jondern nur auf ein ſolches, 
welches mit jpeciellen naturwiſſenſchaftlichen Intereſſen an den Gegenftand 
herantritt. Für einen ſolchen Lejerfreis war aber auch die Form der Ein- 
theilung in Worlefungen ein überflüjfiger Popularitätsföder. Diefe Form 
zwingt zu einer Gruppirung des Stoff3 nad der äußerlihen Rückſicht gleich 
langer und in fich geichloffener Abjchnitte, läßt darum die Ueberſichtlichkeit ver- 
mifjen, welche durch eine rationelle Architektonik (wie in der „generellen ‘Dtor- 
phologie“) gewährt wird, und jucht das Fehlende durch häufige Wiederholungen 
zum Zweck der Orientirung zu erjegen, welche beim mündlichen Vortrag 
unvermeidlich find, beim Leſen aber ermüdend wirken. ch glaube daher, daß 
der Verfaſſer nicht glücklich berathen geweſen ift, ala er bei der Redaction des 
ftenographiichen Manufcripts feiner im Sommer 1873 gehaltenen akademiſchen 
Borlefungen beftrebt war, denfelben möglichft jene freie Form zu laffen, welche 
fi bei der „Nat. Schöpfungsgeich.” bewährt hat (Vorwort S. XV.), und hoffe, 
daß er bei einer neuen Auflage die Mühe der Umänderung nicht ſcheuen wird. 
Auch die ftiliftiiche Behandlung läßt allzufehr den Urſprung aus der improdi- 
firten Rede erkennen und fteht weit ab von ber ſprachlichen Abrundung und 
Eleganz, welche die hervorragenden englifchen und franzöfiichen Naturforjcher zu 
entfalten für angezeigt halten, wenn fie eine Veröffentlichung dem größeren 
Publicum vorlegen. Dagegen ift die Ausftattung des Buches, insbejondere 
die reichliche Beigabe von Holzſchnitten und Kupfertafeln, zu rühmen. Mancher 
Lefer der „Nat. Schöpfungsgeſch.“, der nicht die Geduld befitt, den Text der 
„Anthropogenie“ zu lejen, wird jchon aus der Betrachtung der Illuſtrationen 
und dem Studium ihrer Erklärungen reiche Belehrung und Anregung mit 
nah Haufe tragen. 

Nach diefer allgemeinen Charakteriftif der drei Hauptwerke Haedel’3 jei es 
mir geftattet, noch) einige Angaben über den Anhalt derjelben hinzuzufügen und 
einige wichtige Punkte aus demfelben herauszugreifen. 

Was die „Generelle Morphologie“ betrifft, jo dient dieſes Werk zunächſt 
einer Darlegung jeines methodologiſchen und naturphilofophiichen Standpunttes 
behufs der Begründung jeiner Oppofition gegen die bisher übliche Behandlungs- 
weile der Naturtoifjenichaften in der „dritten Periode”. Zu dem in diejer 
Hinficht bereit? oben Angeführten ift noch hinzuzufügen, daß er die Natur- 
foricher beſchuldigt, über der einjeitigen Pflege der Analyje die Syntheſe 
ungebührlich zu vernadläffigen, während nad) feiner Meinung Analyje und 
Syntheſe untrennbar zufammengehören wie Ein- und Ausathmen (Bd. I., ©. 79). 
So viel Richtiges in diefer Bemerkung ift, jo würde diejelbe doch erft durch 
eine präcife Beftimmung ber vieldeutigen und darum unklaren Ausdrücke 
„Analyje* und „Syntheſe“ ihren rechten Werth erhalten; dieje ſucht man aber 
bei Haedel vergeblid. In ähnlicher Weile behauptet er die umtrennbare Zu- 


Ernſt Hacdel. 21 


fammengehörigfeit von Jnduction und Deduction, und behauptet mit John 
Stuart Mill, daß die bisher vernadjläffigte Deduction das Höhere der vorauf- 
gehenden Induction fei, und daß ohne fie die letztere zu allgemeinen, ficher 
bewieſenen Gejegen und der Erfenntniß des fundamentalen Zujammenhangs 
der Erſcheinungen nicht gelangen könne (I. 83). Dies bedarf der Einjchräntung. 
Ihrem Begriff nad ift nämlich die Induction allein völlig zureichend, um 
zu allgemeinen Gejegen zu gelangen, und würde eine vollftändige Induction 
die Erkenntniß alles Dajeienden ohne Reft erihöpfen, fo daß für die De- 
duction gar fein Gegenftand übrig bliebe, der nicht jchon im Syitem in der 
inductiven Erfenntniß enthalten und erledigt wäre. Nur wegen ber Involl- 
ftändigfeit unjerer Inductionen jehen wir uns oft genöthigt, zur Deduction 
ala einer Aushilfe zu greifen, welche einen neuen Specialfall unter das durch 
unvollftändige Induction gewonnene allgemeine Gejeß begreift. Sobald die 
Deduction dazu gelangt, durch Erfahrung beftätigt zu werden, Hört fie auf, ala 
Deduction vollzogen zu werden, und der nunmehr empiriich betätigte Spe- 
cialfall tritt al3 eine neue Stüße und Vervollftändigung der Induction zu 
den übrigen Fällen hinzu, aus denen das inductive Gejeh gewonnen war. 

Den Abſchnitt über „Zeleologie und Cauſalität“ oder „Bitalismus und 
Mechanismus” beginnt Haedel mit folgendem beachtenswerthen Ausiprud von 
Johannes Müller: „Ein mechaniſches Kunſtwerk ift hervorgebracht nad) einer 
dem SKünftler vorjchtvebenden dee, dem Zwecke feiner Wirkung Eine Idee 
liegt aud jedem Organismus zu Grunde, ımd nad) diefer dee werden 
alle Organe zweckmäßig organifirt; aber diefe Jdee ift außer der Ma— 
fhine, dagegen in dem Organismus, und bier jchafft fie mit Noth- 
wendigfeit und ohne Abſicht“ (d. h. ohne bewußte Abfiht). „Denn 
die zweckmäßig wirkende wirkſame Urſache der organiihen Körper hat 
feinerlei Wahl, und die Verwirklichung eines einzigen Planes ift ihre 
Nothwendigkeit, vielmehr ift zweckmäßig wirken und nothwendig 
wirken in diefer wirkſamen Urſache ein und dajjelbe Man darf daher 
die organifirende Kraft nicht mit etwas dem Geiſtesbewußtſein Ana- 
logen, man darf ihre blinde nothiwendige Thätigkeit mit feinem Begriffbilden 
vergleichen. Organismus ift die factiiche Einheit von organiſcher Schöpfungskraft 
umd organischer Materie” (Handb. d. Phyf. des Menſchen L 28, II. 505). 

Haedel bemerkt Hierzu, daß Müller, den er „als den größten Phyfiologen 
und Morphologen der erften Hälfte diefes Jahrhundert3 verehrt,“ bekanntlich 
Ditalift war, daß er fich aber öfter und jo auch in diefem Ausiprud „von 
der allein richtigen mechaniſchen Beurtheilungsweife auch der organiſchen Natur- 
körper fortreißen ließ“ (I. 94). Haedel jchließt aber hier ganz falſch, wenn er 
meint, daß daS behauptete Zujammenfallen der causa finalis und der 
causa efficiens die Unterordnung der erfteren unter die letztere, d. h. das 
Aufgeben der Zeleologie, bedeute (I. 9). Müller fucht in diefer Stelle un- 
zweideutig nach einer höheren Einheit von Teleologie und Gaufalität, in 
welcher beide al3 gleihwahre Momente erhalten bleiben. Er jucht die 
‚wirkſame Urſache“, d. 5. die causa efficiens der thatjächlich gegebenen Zweck— 
mäßigfeit der Organismen in einer — nicht etwa außerhalb (3. B. im Bewußt- 


22 Deutiche Rundichau. 


fein eines transcendenten Gottes) gelegenen — jondern dem Organismus 
immanenten dee Er jagt, daß dieſe dee nicht mit unferer (abftracten) 
Begriffsbildung zu vergleichen fei, d. 5. fie muß intuitiv fein; ex erklärt, 
daß fie nicht dem Bewußtſein unferes Geiftes analog ſei, — d. h. fie muß 
unbemwußt jein. Die dem Organismus immanente, intuitive, unbewußte 
See hat feine discurfive Meberlegung wie wir, fie hat feine Wahl zwiſchen 
verichiedenen Möglichkeiten, jondern mit logiſcher Nothwendigfeit ergreift fie 
einen einzigen Inhalt (der dem Einen „Plan“ entſpricht) und verwirklicht dieſen 
„blind“, d. h. ungeflectirt und unbewußt, aber ohne darum aufzuhören, zweck— 
mäßig wirkende Idee zu jein. So ift nothwendig wirken und zweckmäßig 
wirken in ihr ein und dafjelbe, nicht, wie Haedel meint, indem die causa 
finalis zu Gunften der causa efficiens abdankt. Es ift klar, daß bie jpeculative 
Durchbildung der Gedanken Johannes Müller's genau auf denjelben philo- 
ſophiſchen Standpunkt führt, den ich in der „Philofophie des Unbewußten“ aus— 
geführt habe, und es ift nur zu bedauern, daß Haeckel über die erhellenden 
Lichtblike feines großen Meiſters dem naturforfcherlichen Vorurtheil der „dritten 
Periode” zu Liebe jo Furzer Hand zur Tagesordnung übergeht, um bei der 
maßlos überjchäßten Selectionstheorie ald dem „definitiven Tod aller teleo= 
logiſchen Beurtheilung der Organismen“ anzulangen (I. 100). 

Die Einleitung dient außer zu den erwähnten Auseinanderjegungen noch 
zu der Darlegung der Stellung der Morphologie zu der Phyfiologie, zu der fie 
fih ala Geftaltenlehre zur Functionenlehre verhält. Der Verfaſſer tritt hier 
der unverdienten Vernachläſſigung entgegen, unter welcher die Morphologie 
während de3 jüngjten großen Aufſchwunges der Phyfiologie zu leiden hatte. 

Das zweite Buch behandelt die Unterjcheidung zwijchen anorganifcher und 
organiicher Natur, den Uebergang aus dem einen Gebiet in dad andere (Schöp- 
fung oder Urzeugung?) und die Unterjcheidung des Pflanzen und Thierreichs, 
— tie man fieht, lauter Gegenftände, welche in dem Anhalt einer Vorlefung 
über Naturphilofophie nicht fehlen dürfen, weil fie, obwol an und für ſich 
zur Naturwiffenichaft gehörig, doch die Probleme in fich enthalten, welche un= 
mittelbar das metaphyfiiche Gebiet berühren, alfo recht eigentlich die unerläß— 
lichen Anſatzpunkte für die naturphilofophiiche Betrachtung geben. 

Im erften Abſchnitt diefes Buches entwickelt Haedel unter Anderm jeine 
jogenannte Kohlenftofftheorie, d. h. die Anficht, daß die chemiſche Viertverthigkeit 
des Kohlenftoffs, welche ihn zur Grundlage bejonderd complicirter chemischer 
Verbindungen macht, die zureichende Urſache der Vebenserjcheinungen der orga= 
niſchen WVerbindungen, welche eigentlich Kohlenftoffverbindungen heißen müßten, 
ſei. Bekanntlich ift aber auch das Silicium vierwerthig und geftattet der 
chemiſchen Syntheje analoge Berbindungen wie der Kohlenftoff, ohne daß diejes 
Element im Stande wäre, irgendwie ala Grundlage natürlicher Verbindungen 
zu dienen, an denen ſich Lebenserjcheinungen zeigten. 

Am zweiten Abjchnitt tritt ex für die Urzeugung ein, welches Problem 
durch Haeckel's Entdedung der Moneren und ihrer Definition ala fernlojer 
(und zum Theil auch wandlojer) Plasmaklümpchen ohne Zweifel wejentlich ver- 
einfacht ericheint, wenngleich es der Löjung aus rein mechaniſchen Urſachen 


Ernſt Haedel. 23 


darum nicht näher gerücdt ift, wie Haedel irrthümlid annimmt. Wäre wirklich 
nad) des Verfaſſers Meinung auf dem Grunde der See und der ſüßen Gewäſſer 
noch heute ein beftändiger Urzeugungsproceß duch Zufammenballen zufällig 
vorhandener Proteinftoffe im Gange, jo wäre es völlig unbegreiflih, daß uns 
die Experimente, aus Eiweißtröpfchen Moneren entjtehen zu laffen, gar nicht 
gelingen tollen. &3 folgt daraus meines Erachtens, daß die Moneren „Bathy— 
bius“ und „Protamöba“, welche den Meeres- und Süßtwafjerboden füllen, 
troß ihres amfcheinend homogenen Baues doch noch etwas ganz Andres jein 
müfjen als zujammengelaufene Tröpfchen von verdünntem Eiweiß. Sollten 
nicht die Körnchen, welche ihre Körpermaffe durchjegen, ſchon darauf hindeuten, 
daß ihre Homogenität doch nur eine relative im Verhältniß zu den kern— 
haltigen Amöben ift, und daß vielleicht gerade dieſe Körnchen e3 fein dürften, 
welche bei ihmen diejenigen Functionen vertreten, die bei den Amöben und 
übrigen Organismen der Kern zu verjehen hat (insbejondere alfo die Initiative 
zur Theilung und Vermehrung) ? | 

Im dritten Abſchnitt begrimdet Haeckel die Nothwendigkeit, neben, oder 
vielmehr vor dem Pflanzen» und Thierreich ein drittes Reich der Organijation 
aufzuftellen, deifen Glieder fi) noch nicht zur Eigenthümlichkeit des Pflanzen- 
oder Thiertypus herausdifferenzirt haben, welches aber den Stammvater ſowol 
bes Pflanzen- ald des Thierreichs bildet. Er erkennt an, daß die Grenzen 
zwiſchen diejem Protiſtenreich einerjeit3 und dem Thier- und Pflanzenreich 
andrerjeit3 ebenjo wenig feft und ſtarr gezogen werden können, al3 die zwilchen 
Pflanzen und Thierreich bei Bejeitigung des Protiftenreichs, aber dieje Unficher- 
heit liegt eben in den genealogiichen Uebergängen begründet, in Folge deren 
gewiſſe Glieder des Protiftenreihs (3. B. die Diatomeen) ſchon mehr zur 
pflanzlichen, andere (3. B. die Schwämme) jchon mehr zur thieriichen Eonfti- 
tution binneigen. In jeinen „Biologiſchen Studien” (S. 54—61) hat Haedel 
feine Gintheilung des Protiftenreichs felbft einer Revifion unterworfen; er 
nimmt neuerdings an, daß alle ſich ungejchlechtlich fortpflanzenden Organismen 
dem Protiſtenreich, dagegen die geichlechtlich ſich Fortpflanzenden dem Thier- 
oder Pflanzenreich einzuordnen ſeien. Hieraus würde zu folgern jein, daß die 
gemeiniamen Vorfahren der Thiere und Pflanzen feine geſchlechtliche Fortpflan- 
zung bejeflen hätten, Thiere und Pflanzen aljo den geſchlechtlichen Fortpflanzungs- 
modus auch nicht von einem gemeinfamen Vorfahren ererbt haben könnten, 
fondern unabhängig von einander jpäter enttwidelt haben müßten. Dies darf 
bei Haedel einigermaßen auffallen, da derjelbe jonft jo wichtige gemeinjame 
Charaktere ftet3 auf gemeinfame Ererbung derjelben zurüdzuführen ſucht. Uebri— 
gens bin ich mit der Aufftellung eines neutralen Gebietes indifferenter Orga- 
niämen (vor der Differenzirung in Thier- und Pflanzentypus) ganz einverftanden 
und bin, noch bevor ich Haedel’3 Arbeiten kannte, zu dem nämlichen Rejultat 
gelangt (Phil. d. Unb. Cap. C. IV.). 

Das dritte Buch ift überjchrieben: „Generelle Tektologie oder allgemeine 
Structurlehre der Organismen“. Man denkt hier eher an Gewebelehre oder 
Hiftologie als an eine Darftellung der verfchiedenen Ordnungen der organijchen 
Individualität und des Aufbaues der höheren aus den niederen Ordnungen. 


24 Deutſche Rundſchau. 


Letzterer Gegenſtand iſt von der höchſten Wichtigkeit für das naturphiloſophiſche 
Verſtändniß des Lebens; auch ich habe den Nachweis der Relativität des In— 
dividualitätsbegriffes unabhängig von Haeckel (ebenſo wie von Herbert Spencer) 
zu führen verſucht (Phil. d. Unb. Cap. C. VI.) und habe auf die fundamentale 
Bedeutung dieſer Erkenntniß für die Metaphyſik hingewieſen, die zu verbreiten 
um ſo dringlicher iſt, je ferner dem gewöhnlichen Bewußtſein der Gebildeten 
gegenwärtig noch die Einſicht ift, daß jeder höhere Organismus nur das ein— 
heitliche Ganze eines ftufenförmigen Aufbaues mehrerer Ordnungen von relativen 
Andividuen ift. Nirgends ift dieje Lehre mit folder Syftematik durchgebildet wie 
bei Haedel und fie Liefert bei ihm die Grundlage für jeine Reform der eigent- 
lihen Morphologie, die ein ganz anderes Gepräge dadurch erhält, daß fie mit 
Bezug auf die verjchiedenen Ordnungen der organischen Individualität durch— 
gearbeitet wird. 

Diefe Morphologie im engeren Sinne, als Lehre von den allgemeinen 
Grundformen der Organismen, wird nun in der angedeuteten Weile im 
vierten Buch behandelt und bietet damit denjenigen Theil des Inhalts, welchen 
der Uneingeweihte hinter dem Titel de3 ganzen Werkes ala alleinigen Inhalt 
defjelben zu erivarten geneigt ift. 

Der zweite Band beginnt mit einer langen Einleitung, welche den Verſuch 
einer „genealogifchen Ueberſicht des natürlichen Syſtems der Organismen“ dar- 
ſtellt. Man kann fich denken, daß ein ſolches Unternehmen es Keinem recht 
machen kann und von allen Seiten Angriffen ausgelegt fein muß, auch von 
ſolchen, die eingeftehen, es nicht beſſer machen zu können, jondern fi nur im 
Allgemeinen iiber die Vermeſſenheit eines ſolchen Wagniſſes entrüften. Haeckel 
jelbft hat durch die Modificationen, die er an verjchiedenen Stellen vorgenommen, 
gezeigt, dak es ihm mit dem von ihm proclamirten proviſoriſchen Charakter 
feines Verſuches Ernft ift, und jo verftanden darf man ein ſolches Unternehmen 
wol jelbft dann willkommen heißen, wenn man anerkennt, daß dafjelbe nad) dem 
Stande unferer Kenntniffe im Ganzen als verfrüht bezeichnet werden muß. Es 
dient dann wenigſtens als vorläufiger Anhalt und als Leitfaden für die Richtung 
weiterer Forſchungen. 

Das fünfte Buch ift betitelt „Generelle Ontogenie, oder allgemeine Ent- 
wickelungsgeſchichte der organiſchen Individuen (Embryologie und Metamorpho- 
logie)”. Die erſte Hälfte deffelben erörtert die verjchiedenen Modalitäten der 
Vermehrung und Fortpflanzung der Organismen in jehr ausführlicher und 
iyftematifcher Weife, die zweite Hälfte gibt eine zufammenhängende Darftellung 
des Darwinismus, al3 Einheit von Dejcendenztheorie und Selectionstheorie 
gefaßt. Das ſechſte Buch ſchließt ſich der zweiten Hälfte des fünften an, indem 
es unter dem Titel „Generelle Phylogenie“ die Entwickelungsgeſchichte der orga— 
nifchen Stämme beſpricht und dabei unter Anderem eine Kritik des Species- 
begriffes Liefert. 

Ich glaube nicht, daß es angezeigt Wäre, an diejer Stelle auf eine kurze 
Darlegung der Principien des Darwinismus einzugehen, da der größere Theil 
der Lejer tool entiweder aus der im fünf Auflagen verbreiteten „Natürlichen 
Schöpfungsgeſchichte“, oder aus andern jo reichlich fließenden Quellen beveit3 mit 


Ernſt Haeckel. 25 


denjelben vertraut fein dürfte. Aus demfelben Grunde verzichte ich darauf, den 
Inhalt der „Natürlihen Schöpfungsgeſchichte“ in gleicher Weiſe vorzuführen. 
Dagegen möchte ich noch einmal darauf hinweiſen, daß Hacdel’3 befannteftes 
Werk eben nicht fein beftes iſt; an philofophiichem anregendem Ideengehalt ift 
ihm die „Morphologie”, an naturtoiffenschaftlicher Bedeutung die „Anthropogenie“ 
entichieden überlegen. Daß es das relativ oberflächlichfte der drei Werke ift, 
mag durch die populäre Abficht entjchuldigt fein und gibt vielleicht grade die 
treffendfte Erklärung für den relativ großen Erfolg defjelben; aber es zeigt auch 
Haedel am wenigjten von der Seite eine originellen Denkers, da die Principien, 
welche er darin verficht, wejentlich diejenigen Darwin’s find, nur in etwas uni- 
verjellerer Anwendung, bei welcher grade die Ueberſchätzung ihrer Tragweite in 
übertriebenfter Weije hervortritt. Für diefe Ueberſchätzung und für die fchiefe 
Naturphilofophie, aus welcher jene entjpringt, entjchädigt weder wie in ber 
Morphologie eine Fülle philoſophiſch werthvoller origineller Gedanken, noch wie 
in der Anthropogenie ein Reichthum wiſſenſchaftlicher Belehrung und die Frudt- 
barkeit der Wechjeldurchdringung zweier bisher iſolirter Wiſſenſchaftskreiſe. Ach 
made hauptſächlich deshalb auf den relativ geringeren Werth der „Natürlichen 
Schöpfungsgeſchichte“ aufmerkſam, weil mancher dentende Leſer, der nur dieje 
Arbeit des Verfaſſers kennen gelernt hat, nad) diefer Probe geneigt fein könnte, 
die wiljenjchaftliche Bedeutung des Autors geringer anzufchlagen, als fie es ver- 
dient, wenn man da3 Gejammtbild jeiner Leiftungen überblidt. 

Was die mehrfach erwähnte Ueberſchätzung des Darwinismus und der von 
ihm umfaßten Theorien betrifft, jo ift diejelbe einfach ein Ausfluß feines natur- 
philojophiichen Vorurtheils: de3 Glaubens an die ausſchließliche und alleinige 
Geltung der mechaniſchen Weltanfhauung. Die genealogiiche Abftammung der 
ſpecifiſch verjchiedenen Typen von einander ift allerdings eine der wichtigften 
Bermittelungsweifen der ideellen Verwandtichaft derjelben, aber e8 gibt außer 
diefer Realifationsform der ideellen Verwandtſchaft noch verjchiedene andere, 
welche ein ähnliches Reſultat erzielen, 3. B. die Analogien der gejeßmäßigen 
parallelen Entwidelung. Die gradlinigen Zuſammenhänge des genealogijchen 
Stammbaum können die Vielfeitigkeit der ideellen Verwandtichaft niemals er- 
ihöpfen, aber die mechaniſche Weltanficht iübertreibt die Bedeutung der Ab- 
ftammung für die Erklärung der VBerwandtichaft, weil fie bis jet nur dieſe 
mechaniiche Vermittelungsweile anzugeben weiß. 

Die allmälige Umwandlung eine Typus in einen jpecifiich verjchiedenen 
durch unmerflich Kleine Schritte iſt durch Darwin's Umſtoßung der Conſtanz der 
Arten zu einer möglichen und zuläffigen Hypotheſe geworden, aber ihr that- 
jächliches Plabgreifen in der fich jelbjt überlaffenen Natur ift noch in feinem 
einzigen alle empiriſch conftatirt worden. Die paläontologijchen Funde liefern 
bei hinreichend vorfichtiger Eritifher Deutung derjelben ebenjowenig directe Be— 
weile für die Lehre einer allmäligen Umwandlung der Arten in einander 
(Zransmutationstheorie), wie die Erfahrungen des gegenwärtigen organijchen 
Lebens, und die Embryologie, welche der Dejcendenztheorie die ftärffte Stübe 
bietet, vermag ihrer Natur nach über die allmälige oder ſprungweiſe Beichaf- 
fenheit der Ummandlungsprocefje in der genealogijchen Geſchichte ber Species 


26 Deutſche Rundſchau. 


niemals irgend welches Material beizubringen. Dagegen ſcheinen die verſchieden— 
artigſten Erwägungen dafür zu ſprechen, daß grade die entſcheidenden Schritte 
der Umwandlung eines Typus in einen andern durch eine plötzlich und ſprung— 
weile auftretende Modification gethan werden, welche von Köllifer treffend als 
„heterogene Zeugung“ bezeichnet ift. Haedel jedoch verwirft diefe Hypotheje und 
hält an dem Zuftandefommen aller Veränderungen durch allmälige Umwand— 
lung feft, offenbar nur deshalb, weil letztere Hypotheje durch den leichter zu 
wahrenden Schein der Zufälligfeit der auftretenden Modificationen der 
mechaniſchen Weltanficht günftiger ift. Erft ein Zuſammenwirken der allmäligen 
und der jprungweilen Typenumwandlung kann meines Erachtens die genetiſche 
Entwidelung des Thier- und Pflanzenreichs wirklich erklären. 

Die Selectionstheorie endlich, oder die Lehre von der natürlichen Zucht— 
wahl, ift nur in ſolchen Fällen im Stande, eine ftattgehabte Modification zu 
erklären, wo eine große Anzahl von Bedingungen erfüllt ift, welche im Ein- 
zelnen zu erörtern hier zu weit führen würde, und die Thatjache, daß in jolchen 
Tällen, wo die natürliche Zuchtwahl ausgejchlofjen ift, von der Natur ähnliche 
Rejultate erzielt werden, wie in ſolchen, wo fie mitwirkt, beweift, daß diejelbe 
nicht den Rang eines fundamentalen, jondern nur den eines cooperativen oder 
auriliären Princips in Anſpruch nehmen darf, daß fie nur ein techniſcher Behelf 
ift, deſſen fich die Natur zur Verhinderung der Degeneration und zur gleich- 
mäßigen Regulirung correlativer Entwidelungsprocefje bedient. Seine Theorie 
wird aber von Haedel in höherem Grade überſchätzt als diefe, und auch dies 
twieder offenkundig aus dem Grunde, weil er in ihr ein rein mechaniſches 
Erklärungsprincip für zweckmäßige Rejultate gefunden zu haben glaubt. 

Dieje Annahme ift aber jelbjt jehr anfechtbar. Die Ausleje in der Con— 
currenz gleichartiger Jndividuen, welche fich durch den Untergang der minder 
Kräftigen und das lleberleben der beftangepaßten Individuen vollzieht, iſt aller- 
dings ein rein mechanischer Vorgang; daß aber diefer Vorgang im Stande ift, 
zur Umwandlung eines Arttypus mitzuwirken, das fommt nur davon her, 
weil er fih auf dem Boden organiſcher Entwidelungsgejege vollzieht, welche 
nicht3 weniger als mechaniſch zu verftehen find. Keine Auslefe kann beſſer 
angepaßte Jndividuen überleben laffen, wenn ſolche nicht vorher durch eine 
planmäßig gerichtete Bariationstendenz hervorgebracht worden find; feine 
Bererbung kann die individuell ertvorbenen Merkmale durch Summation fteigern, 
wenn nicht die Variationstendenz durch mehrere Generationen in der gleichen 
Richtung fortdauert und fich zugleich als Bererbungstendenz kundgibt 
(denn der Regel nad) werden individuell erworbene Merkmale eben nicht 
vererbt, wie Darwin ausdrücklich anerkennt). 

Vererbung und Anpaffung find beides gleich dunkle organiſche Proceffe, 
welche ein jpontanes Entgegenftommen bed Organismus gegenüber den 
äußeren Verhältniffen vorausjegen und welche Haedel ohne jeglichen Rechtstitel 
für mechaniſche Momente ausgibt. Wenn ex jeinerjeit3 Kölliker gegenüber 
erklärt, daß der von diefem gegen Darwin behauptete „Entwickelungsplan“, der 
fih durch von innen herauswirfende organijche Entwicelungsgejehe realifitt, 
„ein leeres und nichtsſagendes Wort“ fei (Morph. J. S. 101), jo ift daran 


Ernft Haedel. 37 


nur ſoviel richtig, daß der „Entwidelungsplan“ nicht in die naturwiſſenſchaft— 
liche, jondern in? die naturphiloſophiſche Betrachtungsweiſe gehört; falſch aber 
ift die Prätenfion; der Naturwiſſenſchaft, Alles in der Welt durch ihren 
Erflärungsmodus ohne Reft erihöpfen zu können, und deshalb die Berechtigung 
der naturphilofophiichen Erklärung einfach leugnen zu können. Der Darwinismus 
fteht ji) von allen Seiten auf die Anerkennung eines organijchen Entwicelungs- 
geſetzes, als den Grundſtock für die Anheftung aller feiner Erklärungsprincipien, 
unausweichlich hingedrängt, welches ex unter dem Namen des Gorrelations- 
geſetzes bereit3 anerfannt und in den Kreis feiner Erflärungdprincipien auf- 
genommen hat; die Ausbreitung der Defcendenztheorie wird um jo rajcher und 
ftegreiher erfolgen, je mehr Bejcheidenheit die Darwinianer in Bezug auf die 
Tragweite ihrer einzelnen Theorien annehmen. Es ift im Intereſſe diefer Aus— 
breitung nicht3 dringender zu wünſchen, als daß Haedel die Bejonnenheit und 
Selbftverleugnung Darwin’3 nachahme, der bereit3 in dem Werk über bie 
Abftammung des Menſchen feine frühere Ueberſchätzung der Selectionstheorie 
offen eingeräumt und den Geltungsbereich derjelben ausdrüdlich auf phyfio- 
logiſche Anpafjungen (unter Ausſchluß dev morphologiſchen) beſchränkt hat. 

Wenn Haedel im Gegenſatz zu feinem bisherigen Glauben an eine Beftim- 
mung des MWeltprocefjes durch accidentielle äußerliche Accommodation die 
Hppotheje eine jpontan von innen heraus wirkenden organijchen Ent— 
widelungsgejeßes adoptirte, jo bliebe es ihm deshalb noch immer unbenommen, 
an jeiner mechaniſchen Weltanficht feſtzuhalten. Der Fortichritt der Organi- 
fation wäre dann nur nicht mehr wie bisher ala ein äußerlicher, fondern 
ala ein innerlider materieller Mechanismus aufzufaffen. Wohin eine folge 
richtige Ausbildung dieſes Standpunktes führt, habe ich in meiner Kritik der 
Wigand’ichen Lehre von der „Genealogie der Urzellen“ gezeigt (vgl. „Wahrheit 
und Irrthum im Darwinismus” Cap. IV); für Haedel würde ſich nur der 
Unterjchied herausftellen, daß er nicht bei der Ururzelle (oder -»Eytode) als bei 
der Präformation der gefammten organiichen Welt ftehen bliebe, jondern über 
dieje hinaus zu der Beichaffenheit der Kohlenftoff-Molecule, beziehungsweiſe des 
fosmilhen Zuftandes der Materie, aus welchem jene fich bildeten, zurück— 
gehen müßte, und dadurd die Wigand’schen Ungeheuerlichkeiten noch weiter 
potenziren würde. 

Alle die hier berührten Differenzen zwiſchen meiner Anficht über dieje Fragen 
und derjenigen Haedel’3 können meine Werthſchätzung defjelben als des kühnſten 
und conjequentejten Vertreters der Defcendenztheorie nicht beeinträchtigen. Die 
Deicendenztheorie ift freilich nur eine Hypotheje, aber fie theilt diejes Loos 
mit den wichtigften anderweitigen Erflärungsprincipien, welche ebenſowenig durch 
Erfahrung demonftrirt werden können, und hat den Vorzug, eine der beit- 
beglaubigten Hypotheſen zu fein, welche die moderne Naturwiſſenſchaft auf- 
zumweifen bat. Diejelbe fommt außerdem einem dringenden metaphyſiſchen 
Bedürfniß in befriedigendfter Weife entgegen, nämlich dem Bedürfniß, die ideell 
concipirte Einheit der organiichen Natur auch al3 eine real vermittelte zu wiſſen 
und zu erkennen. Die Deicendenztheorie ift im Grunde genommen weiter nichts 
ala die Anwendung und Durchführung der dee der „Enttwidelung” für das 


28 Deutſche Rundſchau. 


Gebiet der organiſchen Natur, jener Idee, welche von Leſſing und Herder bis 
zu Hegel für die Entfaltung des deutſchen Geiſteslebens beſtimmend geworden 
ift und in immer fteigendem Maße für unſer VBerftändnig der Welt bedeur- 
tungsvoll werden wird. Schon Oken jagte: „Der Menſch ift entwidelt, nicht 
geihaffen“, und die moderne Abftammungslehre ift nur die naturwiſſenſchaft- 
lihe Durcharbeitung diefer naturphiloſophiſchen Gonception. Heute fträubt fich 
die Theologie und der von theologiichen Einflüffen beherrichte Theil der Gebildeten 
noch ebenjo jehr gegen die Anerkennung diefer einfachen Wahrheit, wie einſtmals 
gegen das Kopernikaniſche Weltſyſtem; aber derjenige Theil der Vertreter 
theologiſcher Intereſſen, welcher diejelben recht verfteht, wird in jenem wie irn 
dieſem alle gar bald lernen, den bildlihen Ausdrud einer kindlichen Auf- 
faſſungsweiſe von dem tieferen philoſophiſchen Sinn des Bildes zu unterjheiden, 
und wird erkennen, daß ed Gottes Schöpfermadt und Weisheit nicht zu nahe 
tritt, wenn fie den Moſaiſchen Schöpferbericht jo deuten, daß Gott die Stufen- 
reihe der irdiſchen Organismen aus einander ſich habe entwickeln laſſen, anftatt an 
jedem Schöpfungsmorgen fein Schöpfungswerf aus dem Nichts von vorn an 
zu beginnen. 

Ganz thöricht und unwiſſenſchaftlich find die aus dem Gefühl der Menſchen— 
würde entlehnten Argumente gegen die Dejcendenztheorie.. Der Menſch ift ein 
zweihändiges Säugethier; da3 weiß man längft. Wenn aber feine unbeftreit- 
bare anatomiſche Aehnlichkeit mit den Thieren jeine geiftige Würde nicht 
compromittirt, jo kann es wol ebenjowenig der genealogiſche Zufammen- 
bang mit denjelben. Wer jeinen Begriff „Ihier” von den Thieren mit Aus— 
ſchluß des Menſchen abftrahirt.hat, der muß freilich in der Bezeichnung des 
Menſchen als „Thier“ eine Herabjegung defjelben finden; wer aber erwägt, daß 

‚die Einordnung des Menjchen in da3 Thierreich eben dazu nöthigt, den Begriff 
de3 Thiered um jo viel weiter zu beftimmen, daß er die Merkmale des Men— 
Ihen mit unter fich begreift, der wird einjehen, daß die Bezeichnung des 
Menſchen ala Thier das Weſen des Begriffes „Menſch“ gar nicht alteriren 
fann. Der Menſch bleibt, was erift, mag er nun von Göttern oder 
von Würmern abftammen, d. h. die Vergangenheit jeines Geſchlechts Tann feiner 
gegenwärtigen Beichaffenheit und jeinen augenblidlihen Fähigkeiten auch nicht 
um eines Haares Breite zujegen oder abnehmen, fie kann höchſtens dazu bei- 
tragen, die Zukunft jeines Geſchlechts durch die Analogie feiner Vergangenheit 
zu erhellen. Und da muß man denn doc wol geftehen, daß die Ausfichten bes 
Menſchengeſchlechts für die Zukunft weit verheißungsvoller find, wenn jeine 
Vergangenheit ein Emporarbeiten vom Wurm zum Menſchen war, als wenn 
fie in einem Herabfinten aus einem Zuftande gottverliehener paradieſiſcher Rein- 
heit zu jeinem gegenwärtigen Elend beftand. Aus letzterem Tann nur das 
Hinaufziehen durch die Gnade von oben erlöfen, aber erfterer gibt der Hoffnung 
Raum, die bisherige natürliche Entwidelung auf natürlihem Wege noch meiter 
aufwärts zu führen, zumal die erften Schritte im Emporarbeiten immer die 
jchwierigften zu jein pflegen. Wer aber nur den Gedanken ſcheut, daß bie 
Defcendenztheorie einen mechanijch-materialiftiichen Urfprung des Geiftes bedinge, 
ber möge ſich der obigen Darlegungen über die Unrechtmäßigkeit der Befehdung 


Ernſt Hacdel. 29 


der naturphiloſophiſchen Teleologie durch die mechaniſche Betrachtungsweiſe der 
Naturwiſſenſchaft erinnern umd mit dem Hinweis tröften laffen, daß die gene- 
tiſche Entwidelung jowol des Individuums wie der gefammten Organijation 
nur möglich ift durch ein inneres organiſches Entwickelungsgeſetz, durch welches 
die unbewußte Vernunft der jchöpferiichen Idee fich beftändig offenbart und 
verwirflidt, daß mit andern Worten aus der Entwidelung nichts heraus- 
fommen kann, wa3 nicht potentiell jchon immer dringeftecdt hat. Es bleibt 
Jedem überlafjen, fich diefe Immanenz der Vernunft in der Entwidelung auf 
feine Weije zu deuten; der Naturalift wird e8 in hylozoiſtiſchem, der Pantheift 
in panlogiftiihem, der Theolog in theiftiichem Sinne thun, umd es iſt nicht 
der geringfte Fürſprecher für die allgemeine und von bejonderen metaphyfifchen 
Borausjeßungen unabhängige Wahrheit der Dejcendenztheorie, daß fie fich jo 
verjchiedenen Deutungen gleich willig darbietet. Wenn Naturwiſſenſchaft und 
Naturphilojophie heute darin übereinftimmen, die Geſchichte der Erde und der 
von ihr getragenen Organijation als Entwidelung aufzufaffen, jo ift die 
Naturwiſſenſchaft ebenjojehr im Recht, das Spätere (3. B. den Menfchen) als 
Product der Caufalität des Früheren (der thierifchen Organifation) anzufehen, 
als die Naturphilvjophie im Recht ift, das Frühere als feiner Beichaffenheit 
nad beftimmt durch die Wirkungen anzufehen, welche es hervorbringen fol. 
63 ift ein und derjelbe Zufammenhang, der von der einen Seite gejehen caufal, 
von der andern gejehen teleologifch ericheint, und der am Ende das Eine nicht 
fein kann, ohne auch das Andere zu fein, der unter einem jeden der beiden Geſichts— 
puntte nur darum aufgefaßt werden kann, weil er die zeitlich - räumliche Ver— 
wirflichung der logiſchen Nothivendigkeit der dem Proceß immanenten unbewußten 
MWeltvernunft if. Aus diefer metaphyfifchen Höhe betrachtet müſſen mithin 
alle Bejorgnifje vor einer Schädigung der teleologiihen Weltanſchauung durch 
die Annahme der Dejcendenztheorie als völlig nichtig erſcheinen; die Defcendenz- 
theorie kann von einer fich ihrer Aufgaben und Ziele Klar bewußten Philofophie 
nur ala ein höchſt willkommener Bundesgenofje des Idealismus willkommen 
geheigen werden, indem fie eine neue und mächtige naturwiſſenſchaftliche Stütze 
der Idee der „Entwickelung“ zugeführt, welche jelbft nichts ift als die zeitliche 
Form für die Verwirklichung der abjoluten dee. 

Nah dieſer philofophiichen Abſchweifung werden hoffentlich Keine Bedenken 
mehr gegen den Eintritt in den Gedankenkreis der Anthropogenie obwalten, des 
Werkes, das recht eigentlich als die vorläufige Erfüllung deffen betrachtet werden 
darf, was Darwin in feiner „Abftammung des Menſchen“ ſich zur Aufgabe 
geftellt hatte. Außer einer Einleitung, welche die Gedichte der Embryologie 
und Dejcendenztheorie bejpricht, zerfällt das Buch Haedel’3 in drei Haupttheile; 
der erſte behandelt die Embryologie, der zweite die Stammesgeihichte des 
Menſchen im Allgemeinen, und der dritte geht auf die Entwidelungsgeichichte 
der verichiedenen Organjyfteme und Organe des menjhlichen Organismus ein, 
wo Embryologie und Stammesgejchichte zugleich berücfichtigt werden. Auch 
in dem allgemeinen embryologiihen Theil werden beftändig Seitenblide auf die 
Genealogie geworfen, ſowie in noch höherem Grade im ftammesgefchichtlichen 
Theil die Embryologie mit herbeigezogen wird. Der Schwerpunkt des Buches 


30 Deutiche Rundichau. 


liegt in dem 16. bis 19. Vortrag, wo die genealogiiche Stufenreihe von den 
Moneren bis zum Menichen im Zufammenhange vorgeführt wird. Von ganz 
bejonderem Werthe find außer den Illuſtrationen auch die zahlreichen tabellari- 
ſchen Zujammenftellungen, welche die Meberfiht außerordentlih erleichtern. 
Haedel hat gewiß Recht, wenn er bemerkt, daß man e3 diejen Tabellen nicht 
anjehe, wie viel Arbeit in ihnen ftede. 

Um eine ungefähre Vorftellung von der von Haedel eingeſchlagenen Behand- 
lungsweije feines Gegenftandes zu geben, greife ich den 16. Vortrag heraus, dem 
ich einige Bemerkungen aus früheren Vorträgen voranjchide. 

Es ift anzunehmen, daß die gejchlechtliche Fortpflanzung hervorgegangen 
fei aus der Copulation oder Verwachſung der Schwärmfporen niederer Orga= 
nismen. ine ſolche Copulation ift einerjeit3 der Ausdrud der Flüffigkeit und 
leichten Selbftentäußerung der Yndividualität bei einfachften Organismen, andrer- 
ſeits ift darin der Wahlſpruch „viribus unitis“ verwirklicht und, was das 
Wichtigſte iſt, Gelegenheit gegeben zu einem compenſatoriſchen Ausgleich einſeitig 
entwickelter Eigenthümlichkeiten durch die Verſchmelzung. Letzteres Moment 
führt nun in ſolchen Fällen, wo die Copulation der Regel nach nicht zwiſchen 
einer größeren Anzahl, ſondern nur zwiſchen zwei Schwärmſporen ſtattfindet, 
zur ſyſtematiſchen Differenzirung der Fortpflanzungszellen in männliche und 
weibliche. Der genetiſche Unterſchied dieſer beiden Claſſen ſcheint nach ganz 
neuen, noch der Beſtätigung bedürftigen Unterſuchungen von E. van Benedin 
in Lüttich darin begründet zu ſein, daß die männlichen vom äußeren, die weib— 
lichen vom inneren Keimblatt abgeſondert werden. Wie dem auch ſei, es iſt 
feſtzuhalten, daß beides einfache Zellen ſind, bei verſchiedenen Thiergattungen 
verſchieden entwickelt und mit Anhängen (z. B. dem ſogenannten Nahrungs- 
dotter) verſehen, bald mit Flimmer- oder Geißelbewegung (Spermatozoiden), 
bald mit amöboider Bewegung (z. B. die frei herumkriechenden und früher für 
ſchmarotzende Amöben gehaltenen Eizellen der Schwämme). Die NReminiscenz 
an den Urſprung der geſchlechtlichen Fortpflanzung aus einer ungeichlechtlichen 
erhält fi) noch ziemlich lange im Thierreich, wie die weite Verbreitung der 
Parthenogenefis bei den Inſecten beweift. Bei den höheren Thieren jedoch ift 
die geichlechtliche Fortpflanzung die allein vorfommende, d. h. nur aus der 
Gopulation der männlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen kann ein neues 
Individuum ſich enttwiceln. 

Dieſer Copulationsact iſt eine wirkliche Verſchmelzung beider Zellen zu 
einer einzigen, welche durch Eindringen der Spermatozoiden in das Ei und 
völlige Auflöſung in dem Protoplasma des letzteren vollzogen wird. Gleich— 
zeitig aber verſchwindet auch der der Eizelle zugehörige Kern ſammt Kern— 
körperchen durch Auflöſung im Zelleninhalt, jo daß der erſte Entwickelungs— 
ſchritt des befruchteten Ei's ein Rückſchritt von der kernhaltigen Zelle zur 
kernloſen Cytode iſt. Dies iſt eine höchſt merkwürdige Thatſache, welche von 
Häedel dahin phylogenetiſch gedeutet wird, daß das Ei, welches vor der Befruch— 
tung bereit3 der Stufe einer Amöbe homolog ift, auf die Stufe der Moneren 
zurückfallen muß, um ben ontogenetijchen Entwidelungsgang mit der wirklich 
erſten umd niedrigsten Stufe des organijchen Lebens zu beginnen, 


Ernft Hacdel. 3l 


Nun exit bildet fich ein neuer Kern, und das Ei repräfentirt von Neuem 
die Stufe der Amöbe, mwährend fein vorheriger Befit eines Kernes außerhalb 
der ontogenetiihen Entwidelung lag und ala eine Anpaffung an fein Zellen- 
leben im Organismus vor der Befruchtung gedeutet wird. Hierauf beginnt ein 
Zellentheilungsproceß, der in den wachſenden Potenzen von 2 fortichreitet, und 
deſſen nächſtes Rejultat ein kugliger Haufen zahlreicher gleichförmiger Zellen 
(Morula) ift. In diefer Stufe ftellt das Ei eine Zellencolonie dar, wie ſolche noch 
jegt im Meere und ſüßen Waller freilebend getroffen werden (Labyrinthuleen 
und mehrere Arten von Cyſtophrys); es find letztere in der Art entftanden 
zu denten, daß Amöben bei ihrer Vermehrung durch Zellentheilung die jofortige 
räumliche Bejonderung unterliegen und e3 vorzogen, ein Individuum höherer 
Ordnung zu bilden. 

Als vierte Stufe der Entwidelung ergibt fi) die Keimhautblaje (Vesicula 
blastodermica), die dadurd) aus der Morula entfteht, daß ſämmtliche Zellen 
an die Oberfläche treten und der Innenraum blos mit Flüſſigkeit ausgefüllt 
bleibt. Auch ſolche Organismen leben noch jeßt frei im Wafjer (Synura, Magno- 
sphaera planula), nur daß die Zellen nad) außen flimmernde Fortſätze behufs 
der Locomotion entwicelt haben; bei vielen anderen Thieren bildet diefe Stufe 
auch ein frei im Waſſer Iebendes Larvenftadium (Planula). Daß die Keimhaut- 
blaje dieje Stufe mit Fortlaſſung der Flimmerhaare reproducirt, ift leicht 
begreiflih, da ſolche unter den Verhältniffen des embryonalen Lebens zwecklos 
wären. Die phylogenetiihe Umwandlung de3 compacten Zellenhaufens in die 
hohle Blaje kann man fi) daraus erklären, daß die Leiſtungskraft der inneren 
Zellen dur) Verrücken an die Oberfläche beijere Verwendung fand. 

Bis jet waren alle Zellen gleihmäßig und gleichwerthig; nun tritt beim 
Nebergang zur fünften Stufe die erfte Differenzirung durch Arbeitstheilung auf. 
Nimmt man an, daß gewilje Zellen der Planula befjer zur Nahrungsaufnahme 
geeignet waren, jo werden dieje weniger zur Ortsbewegung haben leiften können, 
und umgekehrt; für das Gefammtindividuum mußte e3 dann vortheilhaft fein, 
wenn bie Locomotionszellen einen möglichft großen Theil der Oberfläche des 
ſchwimmenden Thieres einnahmen, die Verdauungszellen aber fi vermittelft 
einer Einftülpung eine gejchüßtere Lage ficherten. Wenn diefe Einftülpung bis 
zur Aneinanderlagerung der inneren und äußeren Zellenfchicht vervollftändigt 
gedacht wird, jo ift aus der Planula die Graftula oder Darmlarve geworden; 
denn der innere, von Verdauungszellen umſchloſſene Raum ift num der Urdarm 
des Thierreichs, während die äußere Zellenſchicht der Keim aller übrigen Theile des 
Körpers ift. Dieje beiden Zellenihichten nennt man die „Keimblätter” ; fie fehren 
in mehr oder minder rumdlicher oder abgeplatteter Form bei allen Thieren mit 
Ausnahme der Urthiere oder Protogoen wieder und zeigen ſich zuerft bei den 
Kallihwämmen, wo die Gaftrula ala eiförmige, freiſchwimmende Larve Lebt, 
die ſpäter mit ihrem unteren Ende feftwädft. Obwol num ein Thier, welches 
dieſen Zuftand als Endzuftand behielte, gegenwärtig nicht mehr nachzuweiſen ift, 
jo glaubt Haeckel doch, aus der allgemeinen Uebereinſtimmung des Thierreichs 
in der ontogenetifchen Reproduction diefer Stufe Schließen zu müſſen, daß ſolche 
Organismen früher eriftirt haben, und daß fie al3 der Stammvater aller Thiere 


323 Deutiche Rundſchau. 


zu betrachten find, welche die Keimblätter in ihrem Embryonalleben enttwideln. 
Dieje Hypotheſe, welche mir nad) der gegebenen Sachlage durchaus begründet 
ericheint, ift Haeckel's „Gafträa - Theorie”. 

Aus der Stufe der Gaftrula gehen verjchiedenartige Typen hervor: 1) Pflanzen⸗ 
thiere (Schwämme und Neffelthiere), 2) Wurmthiere und aus den Wurmthieren 
wieder 3) MWeichthiere, 4) Sternthiere, 5) Gliederthiere und 6) Wirbelthiere. So 
ergibt jich eine gemeinfame (monophyletijche) Abftammung für Typen des Thier- 
reichs, welche man vorher für jchlechterdings getrennte angejehen hatte, und es 
ift das Verdienſt Haedel’3, durch feine Gafträatheorie wieder ein bedeutendes 
Stüd mehr von der Natur aus der ſcheinbaren Zuſammenhangsloſigkeit getrennter 
Gebiete durch den Nachweis genealogiihen Zufammenhanges zur realen Einheit 
zuricgeführt zu haben. Außerhalb des jo geichaffenen monophyletiichen Thier- 
reichs bleiben nur die zu den Protiften gehörigen Moneren, Amöben, Grega= 
rinen und Anfuforien. * 

Ich muß mich mit diefer Probe, wie Haedel jeine Aufgabe zu löſen bemüht 
ift, begnügen, hoffe aber durch diejelbe das Intereſſe mandjes Leſers jo weit 
erregt zu haben, um ihn zum eignen Studium der Anthropogenie zu ver- 
anlafjen. 

Ich Icheide von diefer Betrachtung der bisherigen Leiftungen Ernſt Haedel’3 
mit dem Wunſche, daß es demjelben vergönnt jein möge, feine frijche und 
reiche Kraft ungeftört zur Bereicherung der Wiſſenſchaft durch noch recht viele 
Werke von gleihem Werthe zu verwenden. Wenn e3 aber geftattet ift, an diejer 
Stelle einen perſönlichen Wunſch auszufprechen, jo wäre e3 der, daß ihm nad 
Decennien Gelegenheit und Anregung werden möge, unter Anerkennung bes 
Verhältniſſes zwiſchen Naturwiſſenſchaft und Naturphilojophie und feiner Conſe— 
quenzen die „generelle Morphologie” einer vollftändig neuen Bearbeitung zu unter- 
werfen, und mit einer jolchen in jeder Hinficht reifen Arbeit dereinft ein Facit 
feines ganzen Lebenswerfes zu ziehen, wie er mit deren erfter Veröffentlichung 
dad Programm defjelben aufgejtellt hat. 








Gottfried Keller's 
Nene Shweizergefalten. 


Don 
Berthold Anerbad). 








Die Leute don Sceldwyla. Erzählungen von Gottfried Keller. Zweite vermehrte Auflage 
in vier Bänden. Stuttgart, G. J. Göſchen'ſche Verlagsbuchhandlung. 


Fünf neue Erzählungen von Gottfried Keller! Schön und gut. Warum 
Ichreibt aber der Mann nicht mehr? 

- Darauf gibt es eine Antwort in einer Geſchichte von dem alemannifchen 
Dichter Hebel. Den befucht einmal Ludwig Tied in Karlsruhe und fragt ihn: 
„Herr Prälat, warum jchreiben Sie nichts mehr?“ 

„Es fallt mir nichts mehr ein,“ eriwidert Hebel. 

Das iſt's! Wie Viele jchreiben, ohne daß ihnen was einfällt, fie zwingen 
unergiebige Motive aus, Probleme und Aufgaben, die fie eigentlich) gar nichts 
angehen. 

Der Director im Fauſt-Prolog jagt dem Dichter: 

Gebt ihr euch einmal für Poeten, 
So commandirt die Poefte. 

Die Forderung jcheint widerfinnig. Und doch hat der Meifter auch Hier nichts 
abjolut Widerjprechendes zu Wort kommen laſſen. Denn wer jeine Seele be- 
ftimmt, in einem gewiſſen Bereiche zu arbeiten, der gewöhnt fich nicht nur an 
Treue im Ausführen des einmal Begonnenen, jondern e3 ftellt fih ihm aud) 
die Welt bei aller menihlih und bürgerlich warmen Hingebung an das Un— 
mittelbare unter den Gefichtspunft der Berufspflicht, und hier der dichterifchen. 

Man kann fi am hell lodernden Teuer erwärmen und dabei dod) an 
der Pracht des Farbenſpiels und an der Bewegung der Flamme erfreuen, ja 
man fan, wie da3 auch Gottfried Keller in einem feiner jchönften Gedichte 
gezeigt hat, einen Brand Löfchen helfen und dabei — wenn auch nicht gleid)- 
zeitig, doc in unmehbarer Kürze — künſtleriſche Wahrnehmungen in Bewegung 
der Gruppen und Lichtwirkungen machen. Der Berufsdichter iſt an inmitten 

Deutfäe Rundfäau. T, 10. 


34 Deutſche Rundſchau. 


der Lebenskämpfe ein Schlachtenbummler, der ſich das Treiben unbewegt be— 
trachtet; der Dichter iſt bei jedem Daſeinskampfe, wie beim Freudenergebniß, 
menſchlich betheiligt, und je lebhafter er das ift, um jo lebendiger wird die fünft- 
leriſche Reproduction, oder vielmehr die freie Production jein. 

Warum kann aber der Dichter nicht in gleicher Weije wie der Genremaler 
ausgehen, um Motive und Studienköpfe zur Verarbeitung heimzutragen? Ein— 
fach weil der Dialer e8 mit der Erjcheinung der Dinge zu thun hat, der Dichter 
dagegen mit der inneren Bewegung, mit Schidjal und Gemüth. Der Maler 
firirt das Gonterfei einer alten Frau, ihre charakteriftiihen Züge, ihre eigen— 
thümliche Gewandung; er hat nicht das innere Leben derjelben zu feinem Ob— 
jecte, ja er kann dieſe Figur, ſei fie beijpielsweije traurig, abgehärmt und ein— 
jam, zu einer verflärten, jegnenden, reichen Großmutter verwenden, und wie— 
derum Studienktöpfe, Luftbewegungen, ganz in der erichauten Weile einjehen. 

Der Maler kann eine Figur ganz wie fie ift, oder vielmehr ericheint, für 
ein Bild verwenden, der Dichter nicht. Denn die Figur hat diefe Erſcheinungen 
nur in feiner Betrachtungsweiſe, ihre Empfindungen und Strebungen find bei 
aller Vertrautheit doc nicht ftreng factiſche. 

Der Maler jchafft ftehendes Leben, den Hochpunkt einer Situation mit 
enger oder weiter Skala der Empfindungswelt in den betheiligten Figuren. 
Anders der Dichter. Er Schafft bewegtes Leben, Entwidlung, Wandlung, Ein— 
wirkung der Welt auf den Handelnden und Auswirkung des Handelnden auf 
die Welt. Der Dichter ift wol gefördert, wenn er eine reiche Fülle von Wahr- 
nehmungen de3 Lebens hat, er empfängt „der Dichtung Schleier aus der Hand 
der Wahrheit“, aber da alle jeine Wahrnehmungen in’3 Wort, in Empfindung und 
Gedanke ſich überjegen müſſen, die nicht wie Farbe und Geſtalt twiedergegebene 
Ericheinungen find, jo muß er alles Object gewilfermaßen ſich aſſimilirt haben. 

Naturen wie der Alemanne Peter Hebel und der Alemanne Gottfried Keller, 
die nicht in fortgefeßter dichteriſcher Berufsarbeit ftehen; haben für ihre einzelnen 
Productionen eine bejonders günftige Stellung. 

Sie leben — noch dazu in Staatäbedienftungen — das unmittelbare Leben 
für fich fort und folgen nur der Luft eines bejonderen Anreizes, Freie Geftaltungen 
aus Wahrnehmung und Phantafie zu bilden. Geſchieht das aber, dann ift jedes 
Wort und jede Wendung nicht nur gejättigt von reihen Anſchauungen, jondern 
fließt auch aus einer von Innen quellenden Fülle des Empfindungsftromes. 

Für und Berufsgenoffen ift ein neues Werk von Gottfried Keller immer 
die Sicherheit eines Feſtſchmauſes, und wir willen, die Speijen find nicht aus 
der Garküche geholt umd wieder aufgewärmt, jondern am eigenen Herde und 
mit bejonderer Würze gekocht. Vor neunzehn Jahren, im Jahre 1856, find die 
erjten beiden Bände der Leute von Seldivyla erjchienen. ch Treue mich, jagen 
zu Können, daß ich einer der Erjten war, der die hohe Bedeutung Gottfried 
Keller's ſofort öffentlich ausiprach, twie auch, daß der frühere Roman des Dichters: 
„Der grime Heinrich“, troß mannigfaltiger Compofttionsfehler und der gewalt: 
famen Schlußwendung doch Schönheiten von ſolchem Range enthält, die dem 
Beten in deutſcher Sprache an die Seite zu ftellen find. 

Seit jener Zeit find nur noch „Die fieben Legenden“ erjchienen, die von 


Gottfried Keller's Neue Schweizergeftalten. 35 


einer feltenen Anmuth in Erfindung oder vielmehr in Ausführung gegebener 
Motive und im kernigen Vortrage find. 

Die vorliegenden Erzählungen find num bereit3 mehrere Monate erſchienen, 
und ich Mwiederhole, was ich an einem anderen Orte ausgeſprochen: wenn 
& gewiß gut und förderlich ift, das Werk eines Unbekannten raſch und nad- 
drüdlich öffentlich zu beurtheilen, jo ift es angemefjener, da3 Werk eines be- 
kannten und in fortgejeßter Kundgebung ftehenden Autors erſt dann zu beur- 
tbeilen, wenn e3, wie ficher zu erwarten, bereit3 in den Händen des Publicums 
ift, jo daß Jeder beiftimmend oder abweichend jeine eigene Wahrnehmung damit 
vergleichen Tann. Könnte man nur jagen, daß die Dichtung Gottfried Keller's 
alabald mit Sicherheit in der Phantafie aller gebildeten Deutſchen ſich feſtſetzt! 

Gottfried Keller hat in jeiner Geltung und Aufnahme viel Aehnlichkeit mit 
einem-jdichterifchen Zeitgenofjen erſten Ranges, ich meine mit Eduard Mörike. 
Eduard Mörike? Wer ift das? Was hat er gejchrieben? So fragen noch 
heute viele Leute. Und dabei hat er eine Gemeinde von Kunftverftändigen, die 
ihm mit berzhafter Liebe anhängt. Denn er hat Dichtungen gejchaffen, mit 
denen er daS dichteriſche Beſitzthum der deutjchen Nation wie Wenige jeit bem 
Tode Goethe’3 vermehrt hat. Woher aber die Läjfigkeit und Kälte des Publicums 
gegen zwei ſolche Dichter? Es ift nicht nur, weil fie — und das mit vollem 
Recht — gar nicht auf Gefallen bedacht find und zunächſt in der eigenen Freude 
om Schaffen ftehen; denn da3, was zu eigenem Genügen geichaffen ift, tritt ja 
vermöge feiner freien Organijation wieder in die Seele Anderer; jondern es 
ft, weil in den Werfen beider Dichter eine Sprödigfeit und Selbtheit fich 
der leichteren Aufnahme Anderer entgegenftellt. Dieſe Selbftheit ift aber jo in 
ihre Eigenart eingefchloffen, daß fie ſchwer herauszufinden if. In allen mo- 
dernen Dichtungen — Goethe ift da wiederum höchſtes Beifpiel — ift die Im— 
manenz des Dichter, die aus der Faſſung der Gegenftände hervorleuchtet, das 
Wirkſamſte. Bei Eduard Mörike und Gottfried Keller iſt diefe Selbftheit auch 
da, aber fie wehren faſt gefliffentli jeden Aufichluß, jede Kundgebung ab. 
Sie haben Beide eine jelbftverjtändliche Unbefümmertheit um die Welt, ja jogar 
einen Trotz gegen diejelbe. 

Bei Gottfried Keller tritt noch ein Weiteres hinzu. Das ift kurz gejagt der 
Schweizer. Bevor ich hierauf eingebe, noch eine ftoffliche Bemerkung. Das 
ewig Weibliche oder das vorherrjchend Weibliche hat in unferer deutjchen jchönen 
Literatur überhand genommen. &3 lag, wie ich jpäter nachzuweiſen fuche, in 
unferm politifchen Leben, oder vielmehr im Mangel an demjelben, zugleich aber 
aud in der Thatjache, dat das Seelenleben der Frau, al3 defien Mittelpuntt 
die Liebe, in allen Lebensſchichten und allen Zeiten ein ähnliches ift und ſich 
domehmlich nur in Aeußerlichkeiten unterfcheidet. Dadurch ift es an ſich er- 
giebig und alljeitig aufnahmsfähig, eine Frauengeftalt zum Mittelpunkt einer 
Tihtung zu „machen. Gottfried Keller nun hat aus feinem bejonderen Na— 
turell und aus feiner allgemeinen Schweizernatur dies vermieden oder eigentlich 
unterlaffen. 

Hier alfo der Schweizer. Wir Deutſche im Neiche find feit dem dreißig— 
jährigen Kriege des natürlichen gefunden politifchen Lebens entwöhnt. Das 
ge 


36 Deutſche Rundichau., 


Wort des Perifles: „Bei und wird Einer, der von Staatsjachen fi) ganz fern 
hält, nicht für einen Ruhe Tiebenden, jondern für einen unnützen Menſchen ge= 
halten,“ galt im deutſchen Volke nicht. Als Schiller die Horen herauszugeben 
beabfichtigte, ward den Mitarbeitern mitgetheilt, daß Religion und Politif aus— 
geſchloſſen ſei. Und Schiller äußerte damals jelber, daß er dazu bejtimmt ſei 
aus Rücdficht auf die Macht und auf die Dummheit. Der Privatmenſch in 
Wiſſenſchaft und Kunft bildete fich eben vorherrſchend aus. Der Schiweizer 
dagegen ift jeit Jahrhunderten in jeinem Sein und Denken eingeihlofien in das 
politijche Leben und in das kirchliche. Es erjcheint deutichen Lejern oft ver— 
wunderfam, wenn die Geftalten, die und Gottfried Keller aufftellt, hHarthändige, 
derbe, bürgerlich thätige, plöglich eine Einfiht und ein allgemeines Denken über 
Staat und Kirche fundgeben, da3 uns überraſcht und mit der Sphäre, aus der 
fie gegriffen find, gar nicht vereinbar ericheint. Denn wir Deutjche find ge= 
wöhnt, die Bildungsitufe eines Menjchen vorherrichend nach feiner äſthetiſchen 
Einficht abzufchägen. In unſerer Ausgeſchloſſenheit vom unmittelbaren Staats- 
leben konnte ſich der Hinblid auf die äfthetiiche Erziehung firiren. Schiller 
toirft in den Briefen über die äfthetiiche Erziehung des Menſchen die Frage auf, 
warum er fi nicht mit dem Politiſchen beichäftige, und warum er die Schön- 
heit der Freiheit vorangehen laffe.. Er glaubt, daß man, um das politijche 
Problem der Erfahrung zu löſen, den Weg durch das Wefthetiiche nehmen muß, 
weil es die Schönheit ift, durch welche man zu der freiheit wandert. Er fommt 
zu dem großen Sabe, daß die Kunft wie die Wiſſenſchaft ſich einer abjoluten 
Ammunität von der Willkür der Menjchen erfreue. Schiller faßt freilich den 
Begriff des Wefthetiichen jo weit, daß er zulegt auf den äfthetiichen Staat 
hinausfommt, der dem Bedürfniß nach in jeder fein gebildeten Seele, der That 
nad) aber wie die reine Kirche und die reine Republif nur in einigen wenigen 
auserlefenen Zirkeln gefunden wird. Der äfthetiiche Menjch ift der homo liber, 
in welchem das Geje wieder zur Natur geworden. Und jo fam es, daß fein 
zweites Volk der Erde eine ſolche klaſſiſche Literatur und eine jo hohe äfthetiiche 
Gultur erreicht hat, bevor e8 ein Staat war. Wir find aus der Aeſthetik und 
Wiſſenſchaft zum Staat gelommen, vom Weltbürgerthum zum Staatsbürgerthum 
und Volksbürgerthum. Die höchften Kräfte Deutſchlands bethätigen ſich literariſch 
und künftleriich in Philoiophie, in Dichtung und Muſik. Der Jdealismus ift aber 
nicht blos ein äfthetijcher, wenn er auch im Gebiete des Schönen am reinſten als 
folder ericheint. Es ift nicht ganz jo, aber doc) ähnlich, al3 ob man die feineren 
Sinne, Auge und Ohr, durch Kunſtgenüſſe erfreuen wollte, während die anderen 
Sinne noch hungern und dürften. Ich meine, das eigentliche Leben muß ext feit 
erhalten und auferbaut fein, bevor ihm der Schmuck des Schönen zufteht. Anders 
war es in der Schweiz. Durch die ftetige Betheiligung an Geftaltung des Staates 
ift in die weiteſten Kreiſe hinein eine politische und religiöfe Urtheilskraft gedrungen, 
die durchaus nicht parallel mit dem Aeſthetiſchen ift. Und darum ift es voll» 
fommen wahr und berechtigt, wenn Gottfried Keller Geftalten aus Harthändigen 
Lebenskreilen eine höhere allgemeine Betrachtnahme in den genannten Gebieten 
zuerkennt, die uns in Deutichland fremd und unzukömmlich ericheinen kann. 
Die fortwirfende Kraft der demokratiſchen Staatäverfaffung hat den Schweizern 


Gottfried Keller's Neue Schweizergeftalten. 37 


weniger Lejebildung, aber defto mehr Lebensbildung verliehen. Der Schweizer 
bat wenig Abftractionskraft, aber viel gefunden Menſchenverſtand, der fich aus 
ber Nothwendigkeit des politiſchen Urtheils mit entwidelt. In jedem Schweizer 
ift ein Staat3bewußtjein, und das Vaterlandsgefühl ift zugleid Grund und 
Duelle des Ehrgefühls. 

Es ift faſt ein Dogma geworden, daß das politifche Leben im Gegenſatz 
zum fünftleriichen, vor Allem aber zum dichteriichen ftehe. Unjere großen Dichter 
lebten und wirkten in der ausflingenden Zeit Friedrichs des Großen in einem 
Zeitalter politicher Verfümmerung. Sie fahen ein Volt vor fi, das in Un— 
mündigkeit gehalten wurde, ſich niedertreten und mißhandeln ließ. Die Dichter- 
beroen ſchwangen ſich in den heitern Aether des Olymp, wo tief unter ihnen 
die politiichen Gewitterwolken dahinziehen. Ya man fam fo weit, daß die 
führenden Geifter da3 Nationalbewußtjein für eine niedere Bildungsſtufe unreifer 
Völker erklärten. 

Nicht vergeflen darf aber werden, daß aus der idealiftiichen und kosmopolitiſchen 
Allgemeinheit unferer klaſſiſchen Dichtungsweiſe nicht nur für una die geiftigen Hoch— 
punkte fich ausgebildet haben, jondern vor Allem auch den Schweizern eine Blüthe 
von underwelflihem Duft und eine Frucht von unverfiegbarem Saft fich entwidelte. 
Wenn e3 eines Beweifes bedürfte, wie der moderne Dichtergeift faſt parallel mit 
der alten Mythen=bildenden Kraft zu wirken vermag, tie die Dichterjeele auf- 
gehen kann in ein ganzes Volksthum, jo ift Schiller’3 Tell das lebendigſte Zeug- 
nid. Die Tradition, worauf ſich das jchweizer Freiheits- und Selbitgefühl gründet, 
die Ermwedung des Vaterlands- und Freiheitsſinnes in der ganzen Eidgenoſſen— 
ihaft hat den reichiten Quell in der Scillerjhen Dichtung. Und gerade, daß 
hier ein Volksleben in die klaſſiſche Höhe gehoben wurde, das dem unſern jo 
nahe verwandt umd doch durch ftaatliche Abtrennung eine eigenthümliche Ferne 
und freie Ueberſchau darbot, gerade das macht die Schiller’iche Dichtung zu 
einer Größe dichterifcher und culturgeſchichtlicher Bedeutung. Nicht ein eingebore= 
ner Schtweizer, jondern ein Sohn de3 Nachbarlandes jchuf den Schweizern Urbild 
und Vorbild. Schiller ſpannte den Bogen des Schüßen Tell und ſchoß den 
Schweizern das Beſt aus dem Gabentempel unferer Elajfischen Literatur. In 
Gottfried Keller's „Grünem Heinrich“ wird auch Schiller's Tell von den Schweizern 
in der gegebenen Landichaft unter freiem Himmel aufgeführt. Wenn Manchen, 
die fich Praktiker nennen, die Poefie als ein Luxus erjcheinen mag, jo iſt Schiller’3 
Tell ein glänzendes Zeugniß von der erziehenden Kraft der dichteriichen Bildung, 
denn Schiller hat ein Stüd ſeines Ideals der äfthetiichen Erziehung durch 
feinen Zell am Schweizervolfe vollzogen, wie er auch im Waterlande einen poli= 
tiichen und patriotifchen Sinn erweckte, der freilich erft nad) feinem Tode zur 
Griheinung kam. 

Im weiteſten Sinne genommen, hat der Roman „Der grüne Heinrich“ ein 
ähnliches Thema wie Goethe'3 Wilhelm Meifter: die Erziehung des Menschen 
aus dem Aeſthetiſchen heraus zum Politifchen. Aber wie ganz anders fat dies 
der Schweizer. Ich möchte es jymbolifch nennen, daß Wilhelm Mteifter auf 
feine Abenteuer zu Pferde ausreitet, während Heinrich Lee aus Heinen und 
engen Verhältniffen in die Welt hinauswandert. Und ſchon das ift bedeutiam, 


38 Deutſche Rundſchau. 


wie Heinrich Lee ſchon früh mit der religiöſen Frage ſich beſchäftigt — wie denn 
überhaupt Gottfried Keller jo muthig als unnachſichtlich durch alle ſeine Probduc- 
tionen hindurch das hohle Phraſenthum in der Religion aufzeigt — während Goethe 
das religiöfe Element ausgeſchieden hat oder auch als gar nit vorhanden be- 
trachtet. Noch ein anderes Element de3 Schweizertfums kommt hinzu. In der 
ſchweizeriſchen Republik, wie in Amerika, find die Berufsarten weder jo getrennt, 
noch jo verhärtet wie bei und. Der Geiſtliche, der mit feinem Beruf zerfallen 
ift, wird Kaufmann; der Officer wird Fabrikant oder ift das zugleih mit 
feiner militärifchen Stellung (da3 verlorene Lachen). Der Bürger wählt feinen 

Geiftlichen, feinen Lehrer, feinen Beamten; er ift jo berechtigt al3 verpflichtet, 

über die Lehren und Thätigkeiten derjelben zu urtheilen. 

Ein gewifjes Gleihmaß der Eultur bindet auch die verjchiedenen Stände; 
der Dichter hat nicht nöthig, die llebergänge als etwas Bejonderes zu motiviren. 
Die Gebildeten find nicht blos immer die Gebenden, jondern auch die Empfangen= 
den. Wenn bei der Confirmation Heinrich Lee’3 die Taglöhnerin mit zu Tifche 
fit, und wenn Juftine von der Wallfahrerin lernt und bei den Fabrikarbeiterin- 
nen die höhere Einfiht zu gewinnen jucht, jo ift darin auch nicht entfernt 
etwas Gewaltjames. 

Bon diefem Hiftoriichen und thatſächlichen Untergrunde aus betrachtet, 
find daher die Charaktere, die Stimmungen und die thatjächlichen Wendungen 
in den Erzählungen des Schweizer Gottfried Keller auf guten und feften 
Grund gejtellt. 

Die Localftimmung im weiteften Sinne, in den Menfchen wie in der Natur- 
umgebung, ift mit Sicherheit und Beftimmtheit feftgehalten. 

Wo ift nun aber Seldivyla? it 8 Rapperſchwyl? Um den Züricher See 
fpielen dieje Geihichten. Aber der Dichter läßt fi wohlweislich nicht auf einen 
geographijch genau zu bezeichnenden Ort interniren. Er jagt in der Vorrede zu 
den neuen Leuten von Seldiwyla, daß ſich etwa ſieben Städte im Schweizerland 
darum ftreiten, welche unter ihnen mit Seldwyla gemeint jei. Er bleibt da— 
bei, in jchelmifcher Weiſe Verftel zu jpielen. Mit vollem Recht. Denn e3 ift 
ergiebig, eine beftimmte Zocalität zu wählen, aber mißlich, eine wirkliche zu be— 
namfen. Hat der Dichter eine beftimmte Localität gewählt, jo gewinnt jene 
Darftellung finnlide Anſchaulichkeit und Beftimmtheit, die auch auf den 
Leſer übergeht. Solches könnte keine frei componirte Landichaft erjeßen. Die 
Menſchen und die Städte fommen in's Schwanken, wenn der Hintergrund, auf 
den fie aufgelegt find, ein ſchwankender if. „Was das Auge fieht, glaubt 
das Herz,” jagt das Sprüchwort. Das ift dichteriih) genommen eine Haupt: 
fache. Hat der Dichter wirklich gejehen, Landſchaft und Geftalt, und Tann er 
den Leſer das ſehen machen, dann glaubt das Herz des Leſers, jo Verwunderliches 
ihm auch manchmal vor Augen gerückt wird. Sehen und jehen machen, da 
Tiegt’3. Indem aber der Dichter feinen wirklichen Namen einjegt, hat ex doch 

wieder Freiheit genug, in Perfonen und Verhältniffen nach der Laune der frei» 
fpielenden Phantafie zu jehalten und walten. Damit hat er ein gut Stück der 
romantifchen Freizügigkeit betvahrt oder auch eine Flugkraft, die vom realen 
Boden aus fich frei in die Lüfte ſchwingt. 


Gottfried Keller's Neue Schweizergeitalten. 39 


Der Dichter jagt ferner, es jei an der Zeit, in der Vergangenheit umd den 
guten, luſtigen Tagen der Stadt noch eine Fleine Nachernte zu halten, Denn 
die überall verbreitete Speculationsbethätigung in befannten und unbefannten 
Werthen habe die grundmäßige Leichtfertigkeit der Seldivyler umgewwandelt und 
für fie ein Feld eröffnet, da3 wie jeit Urbeginn für fie geſchaffen fchien. 

Es wäre zu wünjchen, daß Gottfried Keller damit einen neuen Boden ge— 
Iegt hätte für künftige Gefhichten, in denen Weinlaume und kluge Berechnung 
durcheinander ſchwirren. Denn deſſen kann man ficher fein, wenn Gottfried 
Keller diefe Aufgaben erfaßt, fo ftattet er fie jo lebendig als dichteriſch aus. 
Der Muth ift auch in der Kunft, zumal in der Dichtkunft, von großer Be— 
beutimg; er kann Gewaltiges bewirken, freilid aud Gewaltſames. Im 
Muthe der Phantafte fteht Gottfried Keller feinem der Romantifer nad, aber 
er übertrifft fie an Geftaltungsfähigkeit. Denn fein Muth ift ein gejunder. Im 
Gegenjaß zu den Romantifern wählt er nicht, wie fie, Muſiker, Maler, Dichter 
oder gar Seiltänzer, die allen phyfiologiichen und piychologijchen Gejeßen der 
Zweibeiner jpotten und ftaunenerregende Verrenkungen machen können. Ihm 
genügt eine nüchterne Geſtalt, wie ein Schneider mit einigen feltfamen Attri— 
buten. Er verzichtet aber nicht auf jenes Privilegium des Dichters, da man 
ihm gegenüber dem bloßen Alltag und der gemeinen Realität einige Schritte vor— 
geben muß. Beim Beginn mancher Erzählung Gottfried Keller's denkt der Lejer 
bei fih: Ei, das ift ja nicht möglich, das ift übertrieben u. ſ. w. Aber ifter 
nur erft einige Schritte gefolgt, jo fteht er in dem Zauber der bichterifchen 
Atmosphäre, und unfer Dichter entläßt ihn nicht mehr daraus. 

Bei den Romantifern find die Menjchen und die Abenteuer unberechenbar. 
Die logiſchen Confiftenzen in den Charakteren und die logiichen Confequenzen in 
den Zuftänden und Greigniffen find aufgehoben, zur traumhaften Phantaftik 
gemacht. Gottfried Keller verjegt uns auch in überrafchende, nicht vorher: 
gejehene abenteuerliche Exlebniffe; aber find fie eingetreten, jo ſehen wir, baß fie 
grumdhaltig vorbereitet waren. Er hält die Figuren feſt und zwingt die Ver- 
hältniffe in das Maß. 

Friedrich Viſcher hat in feiner Studie über Gottfried Keller eine Meifter- 
darlegung über das traumhaft Phantaftiiche gegeben und dabei ein Bild gefaßt, 
das jo deckend wie jelten eins ift. Denn er jagt, daß auch im Traumhaften 
und Phantaftiichen die Phantafie ji nicht vom Bande des Sinnes losreißen 
dürfe. Das Band dürfe fich beliebig zum Flattern verlängern, aber nicht reißen. 

Gegenüber dev Romantik hat fi in unjern Tagen da3 Senjationelle auf- 
gethan. Die Verwidlungen gehen auf die Findigkeiten der Detectivs hinaus. 
Es ift ein Wettkampf vielfeitiger Verichlagenheit, unjcheinbare Spuren werden 
überrafchend ausgebeutet, der Gefuchte gibt falſche Spuren u. ſ. w. Die Polizei- 
phantafie ift ein ganz neues Element. Die Senjationsdichtung bewegt ſich daher 
gerne in diefer Sphäre. Eine andere Art der Senfation ift das Wirthichaften mit 
incommenjurablen Figuren, wobei auf das Kopfichütteln des Leſers erwidert 
wird: Bitte, bedenke, daß das eben Ausnahmen find, die ſich nicht nach dem 
beftimmten Aichmaß abſchätzen laſſen. Da iſt Alles urgeivaltig, colofjal. Aber 
die echte Kunſt, jelbft diejenige, die den freieften Flug der Phantafie zu wagen 


40 Deutiche Rundſchau. 


im Stande ift, verfteigt ſich nicht in’3 Uebermenſchliche und Außerweltliche. 
Denn fie weiß und empfindet, ihre Aufgabe ift Durchklärung der wirklichen 
Melt. Worin liegt denn eigentlich die Fyriiche und Belebung einer gefunden er- 
zählenden Dichtung? Die jogenannte Fabel, die Handlung und ihre Motive, 
twiederholt ſich, nach Zeit und Dertlichkeit variirt, in einer leicht überfhaubaren 
Reihe; unzählbar aber find die Erſcheinungen der Charaktere. Das allgemein 
Menſchliche bleibt ſich gleich; die Ericheinungsformen aber, wie fie ſich indivi- 
duell ausprägen, find unzählbar. Die ethiſchen Naturfräfte find diejelben; Die 
Hormation in dem Individuum unterliegt fort und fort neuem Wandel. Das 
neu Erfaſſende der dichteriichen Productton liegt daher mwejentlih in Hervor— 
bringung und Feſtigung neuer Geftalten. Neue Geftalten bringen, durch die— 
jelben das Gontingent der durch Dichterwerfe zu unvergänglichen Leben ge= 
brachten Menjchengebilde mehren, das ift die Hauptſache. Legt ſich dagegen 
der Accent auf die Fabel allein, ift die Spannung auf die Ereignifje vor— 
nehmliches Augenmerk, jo entjteht das Senfationelle, dad intriguenhaft Auf- 
gebaufchte, Ruheloſe und Ueberwürzte. So find jene Senfationsdichtungen ent— 
ftanden und entftehen noch fort und fort, die eine Jagd nad) einem Geheimniß 
darftellen, deſſen Entdeckung von Blatt zu Blatt erreicht jcheint und immer 
wieder verichwindet. Da wird dann mit den Schwerenöthern von Verbrechern, 
Verführern amd myfteriöfen Menjchen, auch mit tugendhaften Männern und Frauen 
hin und her Schach gejpielt, und die verſchwundenen Figuren werden ohne 
Weiteres tvieder eingejeßt. Der auf dem einen Blatte vor den Augen des Leſers 
in's Meer geworfen, erſchoſſen oder natürlich geftorben tft, taucht auf dem andern 
wieder auf. Das nennt man dann reiche Phantafie. — Anders aber ift e8, wo 
der Accent auf der Geftaltenfülle liegt. Da ift e8 nicht nöthig, ja ſogar hin— 
derlich, das Spannungsintereſſe fort und fort zu fteigern. Die einfachſten Vor: 
gänge find ausreichend, um die Fülle inneren Leben? auszulegen. Eine ſpan— 
nende Fabel, eine verfnotete Intrigue ift das Vergängliche. Was ift die Fabel 
von Don Quichote umd Wilhelm Meifter? wer kann fie ganz erzählen? Aber 
Don Quichote und Sancho, Wilhelm Meifter, Philine, Mignon haften wie 
Lebensbegegnungen in der Erinnerung. Und jo kann man jagen, daß auch in den 
Dichtungen Gottfried Keller's die Fabeln der Geichichten aus der Erinnerung 
ſchwinden mögen; aber Figuren, wie Jucundus und AYuftine, wie Dietegen 
und Küngolt, wie der Förfter und Gritlt, die bleiben und mehren den Lebens— 
inhalt jedes Lejerd. Die Liebe und Luft, die den Dichter in der Ausarbeitung 
bejeelte, geht auch auf den Lejer über. Gottfried Keller macht keine Geſchichten, 
die — es läßt fich nicht anders jagen — ihn nicht? angehen. Man merkt in 
jedem Zuge das volle, innere Dabeifein, in Uebermuth wie in Trauer, in Kampf 
wie in Friedſamkeit. Und dieſes Dabeijein des Dichters, das aber nirgends ſich 
vordringlich macht, geht auf den Lejer über. Im Gegenjat Hierzu ift ein Da- 
nebenjein vieler Erzähler gang umd gäbe getworden. Der Autor ftellt ſich daneben 
und ftupft den Leſer, indem er ihm bejonders gern das Wort „prächtig“ zuruft: 
wie prächtig glänzte das Antlitz Florines, wie prächtig Ichritt fie im braunen 
Sammetfleide durch den Saal, wie prächtig ſetzte Florette die Heinen Füßchen 


Gottfried Keller's Neue Schweizergeftalten. 41 


mit den Goldladjtiefelletten auf den jonnenblumengelben Sandiveg des prächtig 
angelegten Gartens u. ſ. w. 

Der Humor Gottfried Keller’3 ift nicht jener großproßige, der fi) damit 
was weiß, die Puppen tanzen zu lafjen und immer wie an den Rand jchreibt: 
bitte recht jehr, Lieber Lejer, ich weiß recht wol, was für ein närriicher Kauz 
die Perjon da ift; ich aber bin ein jehr vornehmer, jehr gelehrter, weltmän- 
niſch gebildeter Mann. — Wie ein guter Maler, der jeine Freude an der Farbe 
bat und der Kraft, mit der ſich Alles abhebt, jo behandelt der Dichter jede Figur 
mit gleicher Liebe und gleichem Ernſt. Und diejer Ernſt widerjpricht der Luftig- 
feit des Dargeftellten feineswegs. Denn e3 heißt hier, wie in allem Echten: der 
Sache die Ehre geben. 


Gottfried Keller kennt feine Rückſicht auf die Ansprüche des Publicums. 
Und das mit Recht. Es wäre traurig, wenn der gerechte Stolz der Dichter 
verloren ginge. Die Pfahlwurzel am Baume der Poefie würde dadurch krank 
und der Stamm fernfaul, das Gonciliante nähme überhand, und die reine, un- 
barmberzige Conjequenz im freien Ausftrom der Phantafie wie in der Feſthal— 
tung der nothiwendigen Folgerung der Gonflicte und Charaktere zerflöfle in 
Mohlgefälligkeit. 


Wie weit der Dichter ſich ein Publicum denkt, aus welchen Lebensſphären 
er ſich dafjelbe zujammenjegt und ob er überhaupt ein beftimmtes im Auge hat, 
das ift eine der ſchwierigſten Fragen. Jedenfalls muß es jo bleiben, daß der 
Dichter nicht ein Publicum denkt, das ihn beherricht, das Anforderungen an ihn 
ftellt, jondern ein jolches, das er lenkt, das ihm folgen muß durch die Conje= 
quenzen, jeien diefe nun genehm oder nicht. Die Rejpectabilität, die Rückficht 
auf die Familie umd die halbwüchfigen Töchter, wie fie den Engländern zum 
Geſetz geworden, ift ebenjo jchädigend, wie das andere Ertrem der Franzoſen, 
die vorzugsweiſe in eine Welt oder in die jogenannte Halbwelt führen, deren 
Gricheinungen in feiner geordneten Familie als perſönliche Beziehungen gedacht 
werden fünnen. 

Es jollte fein Vorzug fein, aber es ift leider ein ſolcher: Gottfried Keller 
ift durchaus phrajenlos (er hat feinen Superlativ), den ganzen bereit3 in der 
Trödelbude aufgeipeicherten Apparat von Redensarten verſchmäht er, und wenn 
er dergleichen herausholt, wie 3. B. von der Schlange, die am Buſen genährt 
wird (III. Seite 132), jo verleiht er fie in Humorijtiicher Weije dem Herrn Litumlei. 
Gottfried Keller erzählt ganz naiv, oft jeheinbar troden. Aber wer Künftler 
ift, erfennt und empfindet die Naivität und geftaltet fie; durch das Geftalten 
fteht ex wieder drüber oder draußen, wie man e3 fallen mag; ex fennt und 
übt das Geſetz der Perjpective, wie da3 von Schatten und Licht, ex erhöht und 
vertieft je nad Erfordernig. Aber er jpringt nicht dazwiſchen, um einen 
Charakter zu analyjiren und zu zeigen, wa3 für ein Schwerenöther er ift, der die 
Seele der Handelnden fennt und der dem Lejer zugleich damit jchmeichelt, indem 
er ihn geicheiter macht, al3 die handelnden Perjonen. Keller motivirt aud), 
aber fort und fort ſachlich, er ftattet jede Figur mit dem nothiwendigen Maß 
fleiner Züge aus. Und dieje Figuren haben, was das Beſte ift, nicht blos 


42 Deutſche Rundſchau. 


Geiſt, ſondern Seele, aus welcher der urſprüngliche Naturlaut hervorbricht, den 
der Dichter nicht als rohen Aufſchrei erfaßt, ſondern künſtleriſch articulirt. 

Die humoriſtiſchen Erzählungen gehen voraus. Die erſte iſt betitelt: 
„leider machen Leute.” Was enthält fie? Einen ſcheinbar ganz trivialen 
Borwurf: Ein ftromender Schneider, der für einen Grafen gehalten und jchließ- 
lich ala Schneider erkannt wird. Das Hat ſcheinbare Aehnlichkeit mit den 
Vagabunden und Zaugenichtfen der Romantifer. Solch ein Thema hätten 
Andere luftig romantiſch in Eichendorff’icher Weife oder in grauer, jogenann» 
ter ftrenger Realiftit durchgeführt. Gottfried Keller vermeidet Beides, er macht 
eine anmuthige Geichichte mit dem Hintergrunde ziveier Städte daraus, wie 
eben nur er es machen kann. Es bringt uns in jolde Sympathie mit 
Strapinzti, daß wir Alles jelbft mitthun, und daneben läßt er die leiſe Jronie 
durchſchimmern, daß in den Republiten — in Amerika, wie in der Schweiz — 
der vornehme Name und was drum und dran, noch jeinen bejonderen Reiz hat. 
Es wird jeden Lejer ſchön anmuthen, wie die Reihe der Schlitten aus dem 
Walde hervorfommt; für den Kunſtgenoſſen aber ift diefe mit einfachiten 
Mitteln erzeugte Wirkung noch eine befondere Luft. Und wie humoriftiich und 
innig zugleih ift Wendung in Empfinden und Thun von de3 Amtsraths 
Nettchen. 

Die zweite Erzählung: „Der Schmied jeines Glückes,“ iſt in der Faſſung 
wie in der Peripetie immer an der Grenze des Möglichen gehalten. Aber der 
Dichter entläßt un nie aus dem Bereiche des übermüthigen Schwanfes. Es 
geht dem Leſer bei diefer Geichichte faſt wie Herrn Litumlei, dem der fremde 
das Raſirmeſſer aus der Hand nimmt und ihn ohne Weiteres barbirt. 

In den Atelierd reihbegabter Künftler findet man oft ein Product mit 
Nuditäten und Phantaftereien der übermüthigften Laune, kühn entworfen und 
fühn ausgeführt. Der Künftler wollte einmal das Waghalfige loslaſſen, oder 
auch er mußte es ausführen. Aehnlich ift dieſe Erzählung. Kein Anderer durfte 
das machen. Das Häßliche und Schlechte ift nur von der komiſchen Seite an— 
gefaßt; und das würde in anderen Händen unleidlih. Nur der Schluß, in dem 
der Schmied feines Glückes zum Nagelihmied wird, hat etwas kalt Allegoriiches. 
Wie weiß aber auch Hier der Dichter in kurzen, einfachen Worten ein Bild hin- 
zuzeichnen! „Dankbarlich lie ex jchöne Kürbisftauden und Winden an dem nie- 
drigen, ſchwärzlichen Häuschen emporranfen, da3 außerdem von einem großen 
Hollunderbaum überjchattet war, und deifen Eſſe immer ein freundliches Teuer: 
lein hegte.“ 

Die Erzählung: „Die mißbrauchten Liebesbriefe,“ baut ſich auf jo Schrullen- 
haften auf, daß man dem Dichter nur widerwillig folgt. Aber bei jedem wei— 
teren Schritte weiß; er uns durch friiche Geftalten jo feit zu halten, daß ir 
den Angang vergeffen und in behaglicher Laune weiter jchreiten. Der über: 
ſchraubte Gatte, die Nettigkeit der Frau fefleln durch ihre Lebenstwahrheit. 

Mit guter Laune jchildert Hier’ auch Gottfried Keller das auf die Sude 
gehen nach Motiven und charakfteriftiichen Beſonderheiten, wie Biggi Störteler, 
genannt Kurt vom Walde, Baum und Gethier und Menſch in jein Notizbuch 
einträgt, in das bejondere mit dem Stahlſchlößchen (Seite 155). Und überaus 


Gottfried Keller's Neue Schweizergeftalten. 43 


föftlich ift es, wie dann in der Betroffenheit des Geſchickes der Literat ausruft: 
„Wer jebt ala ein Fremder, Unbetheiligter dieje ſchöne Geichichte betrachten 
könnte, wahrlich, ich glaube, er fünnte jagen, ex habe einen guten Stoff gefunden 
für — Hier bra er ab und jchüttelte fih, da eine Ahnung in ihm auf- 
ging, daß er nun ſelbſt der Gegenftand einer förmlichen Geſchichte geworden jei. 
Und da3 wollte er nicht, er wollte ein ruhiges, unangefochtenes Leben führen“. 
Aber Kurt vom Walde ift dann wiederum glüdjelig, al3 er e3 findet, das große 
Wort: „Seine Frau ift eine Gans mit Geierkrallen,‘ und da fett er jofort 
hinzu: „Das ift gut. Warum fallen mir dergleichen Dinge nicht ein, wenn 
ich ſchreibe ?“ 

Wie mit Händen zu greifen find die Literaten geſchildert, die in ihrer 
Grundverlogenheit und Affectirtheit ſich gegenſeilig einander und jo auch der 
Welt aufſchwindeln. Da iſt die Geſellſchaft, „in der man nur noch die Worte 
Honorar, Verleger, Clique, Koterie hört und was noch mehr den Zorn ſolchen 
Volkes reizt und ſeine Phantaſie beſchäftigt.“ „Und der Refrain bei Jedem war 
ſchließlich ein trocken ſein ſollendes: er iſt übrigens Jude, worauf es im Chor 
ebenſo trocken hieß: ja, er ſoll ein Jude ſein.“ Die Geſchichte der Heimkehr, 
der Scheidung, der Wiederverheirathung, alles ergibt ſich wie ſelbſtverſtändlich. 
Und wie dann der Schullehrer ſich im Weinbergshäuschen anſiedelt, wie ſich 
Gritli jo ſauber und friſch heraushebt, das Alles iſt jo gut geſehen und jo in 
die Schaubarkeit für den Leſer geftellt, daß man zulegt gar nicht mehr an das 
jeltfame Gerümpel denkt, über das hinüber man zu dem anmuthigen Idyll 
gelangen mußte. Und Scenen, wie die Berjuhung des Schullehrerd durch die 
Freundin Aennchen, find von einer Meifterfchaft, wie fie felten in der Literatur 
aller Zeiten ift. 

Wenn bei den beiden letzten Gejchichten: „Der Schmied feines Glückes“ und 
„Die mißbrauchten Liebesbriefe“ eine gewiſſe Gewaltfamfeit im Unterbau und 
auch in einzelnen Ausführungen nicht zu verfennen ift, jo ift e8 eine freude, 
mit uneingeſchränktem Lobe der Schönheit und den Schönheiten der Erzählungen 
des vierten Bandes: „Dietegen“ und „Das verlorene Lachen“, nachzugehen. 

„Dietegen“ ift eine wohlgeſchloſſene runde Compofition, in vollendeter Kunft 
aufgebaut und alles Einzelne in guter Richte gefügt und in leuchtenden, jatten 
Farben ausgeführt. Eine Geſchichte in 102 Seiten, und doch toie reich und voll. 
Der Inhalt bewegt ſich nicht blos um die Wendung eine Ereigniſſes, es ift 
nicht blos ein einzelner Drehpunkt gegeben, vielmehr find ſämmtliche Charaktere 
mit vollendeter Beherrihung der Kunftmittel vor una in ihrer Entftehung umd 
Bewährung ausgelegt. Die Handlung jet mehrfach neu an, aber das ift eben 
twie die Bildung des Halmes, aus dem zuleßt die Kornähre ſchlüpft; es jeßen 
ſich Knoten an, die wie im Licht erftehende neue Einwurzelungen betrachtet 
werden können. 

Zuerft das Kinderleben. Der Dilettantismus nimmt die Schilderung des— 
jelben jo Leicht, umd doch ift e8 eines der jchiwierigften Momente in der Dicht: 
tunft. Denn bier ift Miſchung von naider Gebumdenheit und plößlicher Auf- 
leuchtung und Befreiung. Goethe bat den Knaben Felix Meifter und Schiller 
den Knaben des Tell nur kurz und ſachlich eingefügt. 


44 Deutſche Rundſchau. 


Schon einmal hat Gottfried Keller das Kinderleben, einen Knaben und ein 
Mädchen, in der Erzählung: „Romeo und Julie auf dem Dorfe“, mit vollendeter 
Meiſterſchaft gegeben, und hier in Dietegen und Küngolt in gleicher Weiſe; 
Trotz und Innigkeit, Nichtwiſſen und Weisheit ergeben ſich in feinen Kinder— 
figuren fo natürlid. Er führt die Charaktere von der Kindheit an conſequent 
weiter, das heit conjequent nicht in der graden Logijchen Linie — denn jo ent— 
wickelt fich fein Naturwejen — jondern mit all’ den abirrenden Bewegungen, Die 
der MWiderftand der Welt erheiſcht. Und unfer Dichter hat nie in eine Ver- 
gangenheit zurückzugreifen. Wir jehen die Züge der Sindergefichter no in den 
Erwachſenen, wir erkennen fort und fort die Grundformen ihrer Piyche. fie find 
tie zwei Bäume, die hoch auftwachlen, fie bleiben Ddiejelben, aber Wind und 
Wetter formt und biegt das Gezweige jedes einzelnen eigenthümlid. Was der 
Philoſoph ala freie Nothiwendigkeit bezeichnet und den jcheinbaren Widerjpruch 
diefer beiden Begriffe in ihrer Einheit faßt, das zeigt uns der Dichter hier; zwei 
Menjchentinder leben und erwachſen, jo naturfeft und fo frei zugleich. — Die Er- 
zählung jpielt gegen Ende des 15. Jahrhunderts bis in’s 16. hinein, und Alles 
bewegt fih vor uns jo frei und naturwahr. Wie oft haben wir bei den 
hiftoriichen Romanen das Gefühl, Menſchen, die das Licht der Welt zur Zeit 
des Gaslichts erblickt, betvegen ſich da in Harniſchen; es ift ihnen unheimiſch, 
und dem Dichter jelber wurde die Ueberſetzung aus der Gegenwart in das 
hiftoriiche Coſtüm jchwer. Indem Gottfried Keller die Zeit vor der Murtener 
Schlacht und dieje jelber in den Hintergrund drängt, weiß er die Menſchen na= 
türlich und friſch ſich bewegen zu laſſen. „Jeder in Zuverläffigkeit und Furcht— 
loſigkeit eine Welt für ſich und Alle zuſammen doch nur ein Häuflein Menſchen— 
kinder.“ Bei aller Innigkeit nichts von Schönſeligkeit. Die Charaktere leben 
ſich in Sturm und Wetter aus, und die ganze Mannigfaltigkeit des Lebens iſt 
in den engen Rahmen ſo weniger Seiten ohne eine Spur von Beengung ein— 
gefügt. Zwei ganze Städte mit ihren Beſonderheiten, zwei Hauptfiguren mit 
ihren wunderſamen Schickſalen, dazu der Förſter und die Förſterin, die Halb— 
nonne; Ruhe und Bewegung, Luſtbarkeit und Kampf, Verfall und Aufrichtung, 
Alles iſt da und noch das Beſte dazu, der freie Humor. Die eiſernen Helden 
der Ritterzeit waren nach ihren Trinkgelagen gewiß auch nicht von jenen Nach— 
wirkungen verſchont, für welche die deutſche Sprache die unvermeidliche Bezeich— 
nung Katzenjammer hat. In der Regel wird uns aber von dieſem andern Morgen 
der mannlichen Reden nichts gejagt. Wie trefflich wei num beiſpielsweiſe Gott— 
fried Keller diefen Zuftand einer jeiner Hauptperjonen zu jchildern. Der brave 
Förſter, der das ganze Jahr in feinem wohligen Haufe im grünen Walde fich 
aufhält, geht auf den einen oder andern Tag nad) Seldwyla und holt fich einen 
gefunden Rauſch. Und da ift e8 nun eine wahre Luft, den Tag darauf mitzu— 
erleben, wie da der gewaltige Menſch jo zärtlich und jo janft ift, und Alles um 
ihn ber ift jo zärtlich und jo ſanft. Mit der vollendeten Beherrſchung der 
Kunftmittel jchildert das der Dichter, und was das Befte dabei ift, wir jehen 
feiner Darftellung keinerlei Mühe an. Das geht Alles jo ruhig fort, wie eine 
einmal angefangene gute Melodie, und die fernfeften Bezeichnungen ftellt ex 
bin, ohne irgend einen Druder aufzufeßen, jo 3. B. wenn er die frau des 


Gottfried Keller's Neue Schtweizergeftalten. 45 


Forſtmeiſters der machtvollen Figur de3 Mannes gegenüber jchildert und jagt: 
„Sie war von äußerft zarter Beichaffenheit und von wehrloſer Herzensgüte.“ 
Wehrloſe Herzensgüte! In zwei Worten, die gar nichts Superlatives haben, 
ift da eine volle und innige Charakteriftif gegeben. 

Ich ehe die Bekanntichaft des Lejer3 mit dem Inhalt der Erzählung vor— 
aus und will nur noch auf einige technische Vorzüglichkeiten aufmerkſam machen. 
Ein Motiv, gegen deſſen Natürlichkeit wir uns leife und kurz fträuben, aber eben 
nur leife und kurz, ift jogar wiederholt, nämlich die Rettung aus Henkers Hand. 
Aber wie erhöht und neu und wie in einer Symphonie dafjelbe Thema in 
einer anderen und höheren Zonart mit verändertem Tempo. Auch Figuren 
wiederholen fich bei dem Dichter. Kätter Ambach, die intriguante alte Jungfer 
mit ihrem faljchen äfthetiichen Chignon, die ſchon ihr DVierteljahrhundert bei 
Liebhabertheatern des Städtchens gefpielt und „beträchtliche Gaben von Fleiſch 
und Brot zermalmen kann,“ hat entjchiedene Aehnlichkeit mit der Halbnonne 
Violande. Dieje Aehnlichkeit in Perfon und Situation hebt aber gerade die 
Berichiedenheit in phyfiognomifchen Bejonderheiten um jo mehr hervor. Das 
menjchliche Gemüth, auch das verfäuerte im Weibe, ift zu allen Zeiten und Ver— 
hältniffen da. Eben die jcharfe Charakterifirung der Aefthetifirenden dort und 
der in der Halbmaske des Nonnenthums ſich Gefallenden hier, zeigt, wie der 
Dichter die fich zu allen Zeiten gleichbleibenden Grundformen des Mtenjchen- 
thums in ihrer Einheit und in ihrer Verſchiedenheit faßt. 

Ein Hauptzug dieſer Erzählung, der uns auch über alles Verwunderliche 
hinweghebt, iſt der treuherzige Ton, der jo glaubhaft und jo untermiſcht mit 
augenjcheinlichen Lebenswirklichkeiten, daß auch gegen das Verwunderlichſte jeder 
Widerjprud in der Empfindung verftummt. Man merkt es diefer Erzählung 
an, daß zwiſchen den erſten Erzählungen der Leute von Seldiwyla und den nun= 
mehr vorliegenden unſer Dichter die fieben Legenden bearbeitet hat. In „Dietegen“ 
ift der Ton der fieben Legenden noch voll herauszuhören, ein Ton der jelbjt- 
verftändlichen Wahrhaftigkeit, der da8 Wunderfamfte vorträgt, als ob es das 
Altäglihe wäre, und doch dabei ein jehr discretes, neckiſch ſchalkhaftes, inſtru— 
mentales Begleiten. 

Aus einer fernen Hiftorischen Zeit mit ihren Schönheiten und Greueln werden 
wir in da3 gegenwärtige Leben mit feinen Bewegungen in Induſtrie, Kirche 
und Staat verjeßt. Zwei junge Menjchenfeelen mit ihren Angehörigen und 
Umgebungen müfjen das Alles in ſchwerem Kampfe durchleben. Es Liegt ein 
Schmerzenston ſchon in dem Titel: „Das verlorene Lachen“. Aber bei aller Tragit, 
die die Kämpfe unſerer Zeit mit ſich führen, hält fi) der Dichter in der Kunft. 
Und die Kunft ift die Heiterkeit, Harmonifirung, Bildung der Organijation 
aus dem Chaos; wie das Individuum ſich in das Allgemeine findet und wie es 
das Allgemeine wiederum aus dem individuellen Bewußtjein mitgeftaltet, das 
find die großen Probleme unjerer Zeit. Gottfried Keller hat in dieſer Ge— 
ihichte an jeinem Theil ein gut Stüd davon dichteriich erlöſt. Dieje Erzählung 
ift auf dem Hintergrund induftriellen, veligiöjen und politifchen Lebens aufgebaut. 
Aber der Dichter hat nicht nöthig, da erft zu grundiren, es ift alles hiſtoriſch 
feft. Die Seidenmanufactur, in die Jucundus eintritt, ift in der Schweiz heimiſch, 





— 


46 Deutiche Rundſchau. 


und das politijche und religiöfe Leben hat feine feſten Formen und Entwicelungen. 
Es gibt in der Welt noch andere Dinge al3 Liebesichmerzen und Liebesiwonnen. 
Wie Jucundus und feine Frau ſich nad) Verheirathung und Trennung aus ihrem 
Selbſt entwideln und dann erft einander neu und voll wieder finden, das ift jo 
geichildert, daß man fieht, der Dichter hat ſich nicht erft zu befinnen, aus welchem 
Topf er diefe oder jene Farbe auftragen fol. Es geht bei ihm jo ficher wie 
beim Setzer, der die Lettern aus dem Kaſten nimmt; denn er hat für alle Er- 
ſcheinungsweiſen fefte Bilder aus dem Leben und für alle Empfindungsarten die 
reiche innere Vorbereitung. Jucundus wird zum mannhaften Bürgerbewußtjein, 
zur gefunden Theilnahme am republifaniichen Staatäleben entwidelt, er wird 
nichts Außgezeichnetes, aber etwas Tüchtiges, und das ift beſſer. Wie ganz 
anders müßte da ein Dichter in Deutſchland zum Berftändnig Grund legen; 
und da unfer eben ſich bisher in der Peripherie und nicht im Centrum aus—⸗ 
gebildet hat, wäre man des tieferen Verftändniffes in anderer als der gegebenen 
Landſchaft kaum ficher. 

Bevor ih indeß auf die ebenmähige Schönheit diefer Erzählung und auf 
Einzelheiten hinweije, nur noch ein Wort über eine Seite des Dichters, die als 
fein pſychiſches Monogramm erjcheint. Ich habe bei „Dietegen” darauf hin— 
gewiejen, wie Gottfried Keller das Kinderleben jo feft und treu faßt. Bei diejer 
Erzählung zeigt ſich noch eine jeiner ftärkfften Beſonderheiten, nämlich die 
Variation des Verhältniffes von Mutter und Sohn. Bekanntlich jpielt in den 
Halbwelt-Romanen der Ausruf: o ma möre! eine Hauptrolle Aber die Mutter 
felbft bleibt im Hintergrunde, fie ift eine Erinnerung, fie hat ein Kreuz binter- 
laſſen oder dergleichen; die Mutter jelber hat hier anftändiger Weiſe todt zu fein. 

Schiller hat den Kampf zwiſchen zwei Weltanfhauungen wiederholt in 
den Conflict zwiſchen Vater und Sohn überjegt. In den Dichtungen Gottfried 
Keller's kehrt das Verhältnig von Mutter und Sohn jtets in neuer Weije wieder. 
So ſchon im „Grünen Heinrich“, jo in „Regel Amrain“, in „Pankraz der Schmoller“ 
und nun hier in Yucundus und feiner Mutter. Aber jo innig auc die Weile, 
fie ift immer in neuer Tonart gefaßt. Der Conflict zwiichen Vater und Sohn, 
al3 ein in beiden Theilen actionsberechtigter, ift damit auch ein dramatijcher; 
der Conflict zwiſchen Mutter und Sohn, der eigentlich nicht Conflict werden 
kann, weil die eine Seite unmittelbar nachgiebig ift, ift in feiner Innerlichkeit 
ein epiſcher. Dort ift Refiftenz, hier ift Rejonanz. 

Die Mutter des grünen Heinrich ift lauter Zärtlichkeit, Innigkeit und 
Duldung. Wer vergißt je die Scene, wie der heimgefehrte Sohn eben zum 
Leichenbegängniß feiner tiefgeliebten und jo ſchwer gefränften Mutter fommt? 
Die Mutter Regel Amrain ift eine ftilvoll gehaltene machtvolle Geftalt, voll 
Klugheit und Klarheit und dabei jo voll weiblid. Die Mutter von Jucundus 
ift eine Miſchung von beiden. 

Wie weit eine Dichterivirfung geht, wie fie vorbildlich wirft, das ift hier | 
mit liebenswürdigem Humor gezeigt in der Mutter Juftinens, der Stauffacherin, 
die aber dann ſpäter von der Alten auf dem Berge noch überftauffachert wird, 
Und die Mutter des Jucumdus ift die klug Vorſorgliche, die die Naivitäts- 
intrigue zu handhaben weiß. 


Gottfried Keller's Neue Schweizergeftalten. 47 


Jucundus und Juſtine und die ganze Sippe der lekteren ift jauber und 
glaubhaft durchgeführt. Der Dichter Hält die Zügel feſt. In anderer Hand 
wäre die Galamität der Fabrik Mittelpunkt und Peripetie geworden, er aber 
bat es auf Fortentwicklung der Charaktere nah Seiten der Politit und der 
religiöjen Freiheit abgejehen, und er lenkt im Schritt, Trab und Galopp: Die 
Freiheit und die Kühnheit, mit der das religiöfe und politiche Leben im Gleich- 
maße fortgeführt ift, ift jo grundgediegen, daß man fich deſſen voll erquickt. 
Nur in der Einführung der Delwittiwe find die Farben zu ftark aufgetragen und 
ftimmen nicht in den Farbenton des Ganzen. Sehen wir vom Ende zurüd auf 
den ſchönen Fahnenträger des Geſangvereins, jo Haben wir reich gegliedertes 
GEinzelleben wie allgemeines in fejter Anjchaulichkeit vor uns. 

An der Phyſik iſt nachgewielen, daß Wärme und Bewegung zwei Erſchei— 
nungen ein und derjelben Subftanz find. Auch piychiich ift das Gleiche erkennbar. 
Wie alles Lebende, jo entiteht und befteht auch das Kunſtwerk nur durch die 
Wärme, die zugleich als Bewegung fihtbar ift. Gottfried Keller ift erwärmt 
und bewegt in feinen Productionen. 

Die Erzählung „Da3 verlorene Lachen“ ift politifch »veligiöfen Inhalt, es 
ift ein beftimmtes Zeitleben darin feitgehalten. Ich muß nochmals darauf hin- 
weiſen, daß da3 Dogma vom Widerjpruche der Politif und Poefie ein vergäng- 
fiches ift. Wenn Goethe das Gelegenheitsgedicht in eminenter Weile hervorhebt, 
fo liegt eben der Accent darin, daß aus dem gelegenheitlichen Wurf von Stimmung 
und Greigniß ein Gedicht geichaffen wird. Das concret Gelegenheitliche gibt 
Anlaß und feften Halt, zu dem das unzeitlich und unverwelklich Dichterijche 
binzutreten muß. Der Selbſtzweck, den die Kunft bewahren muß, jchließt die 
Tendenz nicht aus. Die Gemüthswärme und Gemüthsbewegung, die im politijchen 
Leben ebenjo gut jein fann ala im Liebesleben, muß nur den dichterifchen Aus— 
druck gewinnen, der nicht in der Rhetorik ſtecken bleiben darf. Iſt dies gediehen, 
wie in der letzten Erzählung Gottfried Keller's, fo ift der dichterifche Beſtand 
auch fiir andere Zeiten und Tendenzen gefihert. Es fommt immer wieder darauf 
an, dat Geftalten geichaffen werden wie Jucundus und Juſtine, die aud 
über zeitlide und örtliche Strebungen hinaus ihre menjchliche Lebenskraft 
bewahren. Denn der Dichter fteht nicht im Pathos der Gereiztheit, das die 
politiiche Tagesfrage mit fich bringt; fein innerfter Antheil al3 Sohn jeiner 
Zeit und feines Landes ift ein Gemüthszuftand geworden; der glühende Fluß 
der Empfindung vollendet fih im Guß fefter Geftalten. 

Dies die letzten Erzählungen Gottfried Keller's in diefen Bänden. Es ift 
fo jelten, daß man wieder etwas lieſt, wobei man feine volle Freude während 
des Leſens bat, mit Behagen zu dem Buche zurückkehrt und mit Schmerz wahr. 
nimmt, dab nur noch wenig Seiten zu lejen find. Es ijt eine Luft, einem 
Tichter zu folgen, wo man weiß, daß man auf Schritt und Tritt feften, un— 
vergeibaren Anſchauungen und gefunden und wahrhaftigen Empfindungen be= 
gegnet. „Sie find ein weſentlicher Menſch,“ Tagt der Graf im „Grünen Hein- 
rich“ zu dem Helden. E3 gilt au) vom Dichter, und der Kritiker kann noch 
hinzufügen, was Gritli zu Wilhelm jagt: „So bift du aljo einer von den 
Rechten, bei denen feine Mühe verloren ift.“ 


48 Deutſche Rundſchau. 


Berlin, 4. Juni. 


Eduard Mörike. 





Wer ift Eduard Mörike? So mußte ich noch in vorftehenden Blättern 
fragen gegenüber der Lauheit, die einen zeitgenöffiichen Dichter beſter Art nicht 
zu erfennen und zu würdigen wußte. 

Nun heißt es: wer war? 

Das Telegramm der heutigen Abendzeitung lautet: „Stuttgart, 4. Juni. 
Der Dichter Eduard Mörike ijt heute geftorben.“ Man fügt Hinzu: er war 
geboren am 8. September 1804 in Ludwigsburg. 

Als ih vor Wochen den vorftehenden Aufjat gejchrieben und im Drud 
bereit corrigirt hatte, durfte ich noch hoffen, daß meine Bemerkung dem Dichter 
jenes ſchalkhaft innige Lächeln erwecke, das wir Freunde an ihm kannten. 

Nun ift er todt. 

Ich komme wol ein andermal dazu, von ihm zu erzählen. Heute nicht. 

Als wir das leßtemal beifammen waren, jprad er davon, daß er den 
Roman „Maler Nolten“ neu bearbeiten und mit jeinen gefammelten Schriften 
herauögeben wolle. 

Jetzt werden jeine Werfe gefammelt erjcheinen und auch durch eine begleitende 
Lebensgeihichte wird man dem Berftändniß näher rüden und erkennen, welch 
eine dichterifche Natur und dichteriiche Kraft mit uns athmete. 

Lebenslang konnte er wie in jenem Liede „Am Wintermorgen“ von jich jagen: 

Einem Kryſtall gleicht meine Seele nun, 
Die noch fein faljcher Strahl des Lichts getroffen; 
Zu fluthen jcheint mein Geift, er jcheint zu ruh'n, 
Dem Eindrud naher Wunderkräfte offen. 


Es wird Nacht und — doc) der Dichter Hat jelber da Todesweh gefungen: 


Gin Tännlein grünet wo, Auf der Wiefe, 

Mer weiß, im Walde, Sie kehren heim zur Stadt 
Ein Rofenftrauch, wer jagt In muntern Sprüngen. 

In welchem Garten? Sie werden jchrittweis gehn 
Sie find erlefen ſchon, Mit deiner Leiche; 

Den?’ es, o Seele, Vielleicht, vielleicht noch eh’ 
Auf deinem Grab zu wurzeln An ihren Hufen 

Und zu wachſen. Das Eijen los wird, 

Zwei ſchwarze Rößlein weiden Das ich bliten ſehe! 


Berthold Auerbad. 


Ueber das Alter. 


Ein Brief an Dr. Eduard Lasker 
bon 


Fanny Lewald. 








Eine Vorrede ftatt der Nachſchrift.“) 


Diefer gedrudte Brief hat das Schickſal, während Ihrer Krankheit Liegen 
geblieben zu fein, ficherlich mit einer großen Menge von anderen Zujchriften an 
Sie getheilt, verehrter Freund. 

Geſchrieben gleich) nad) dem Erſcheinen Ihrer Rede „Ueber Anlage und 
Erziehung“, hatte ich ihn der Redaktion diejer Blätter Ende Januar übergeben, 
die ihn im März ericheinen laffen wollte. Sie ſchob jedoch den Drud bis in 
den folgenden Monat hinaus, und Ihr Erkrankten veranlaßte mich danach, mit 
der Veröffentlichung des Briefes bis zu Ihrer erfolgten Genefung zu verziehen. 

Wenn wir in unferem Haufe während Ihrer langen und gefährlichen 
Krankheit mit lebhafter Beſorgniß Ihrer dachten, jo gab mir der gute Glaube, 
den Sie von dem Alter und von deifen Vorzügen hegen, ſtets den Muth zum 
Hoffen wieder; und und mit einem Scherze über die Bejorgniß forthelfend, ſagte 
ich oftmals: ach! er kann ja gar nicht fterben! Ex muß leben bleiben, um an 
ſich jelber die Schönheit des Alters zu erproben, das ſich ihm auch günftig er— 
weiſen twird, weil ex beifer al3 wir Andern von demjelben dent. 

Möchte wie der erjte Theil meiner prophezeihenden Hoffnungen, jo auch der 
zweite ſich für Sie bewähren. 

Berlin, im April 1875. F. L. 


*) Auch wir ergreifen die Gelegenheit, den großen Vollsmann und Politiker, an welchen 
ber obige Brief gerichtet if, mit einem Worte der innigften Theilnahme zu begrüßen. Erſtanden 
von dem Schmerzenälager, an weldhem, man darf wol jagen, die Wünſche, die Furcht und die 
Hoffnung unferer Beiten fi täglid) begegneten; volltommen wieder hergeftellt von einer Krank— 
heit, welche jeden ehrlichen Freund des Volkswohls um das Yeben eines feiner edelſten und um: 
erichrodenften Vertreter bangen machte: jo ift Eduard Lasker dem DVaterlande gleichlam zum 
zweitenmale geichenft worden, umd indem es einen jorgenvollen Augenblid lang fühlte, was es 
in ihm verlieren würde, darf es ſich jeht auf's Neue ber frohen Gewißheit Deſſen hingeben, was 
e3 im ihm befigt. Der „Deutichen Rundſchau“, die jeiner literariichen Mitwirkung nicht am 
Wenigiten für den Plab zu danken hat, welchen fie jich rafch in der Meinung der Nation erwor: 
ben, mag e3 daher wol ziemen, diejer allgemeinen Empfindung auch ihrerjeits Ausdruck zu leihen; 
weit fie doch, daß aus ihrem weiten Leſerkreiſe demſelben ein freudiger Widerhall antworten wird. 

Die Rebaction ber „Deutihen Rundidan.* 
Deutſche Rundſchau. T, 10. 4 


50 Deutiche Rundichan. 


Berlin, d. 28. Dezember 1874. 

In dem verwichenen Frühjahr, oder im Frühjahr von 1873 muß es ge— 
weſen fein, als Sie, verehrter Herr und Freund, uns nad) beendigter parla- 

— wentariſcher Sitzungszeit eine Ihrer Mußeſtunden zu gute kommen ließen. Es 
war ein Sonntag-Morgen, wir waren behaglich bei einander, ſprachen Don 
Diefem und Jenem, und e8 mochte dabei von Stahr oder mir einer leichten 
Klage über das Alter Ausdrud gegeben worden jein. 

Sie wollten es nicht gelten laffen, daß wir ſchon Urſache zu folder Klage 
hätten, und wollten e3 überhaupt nicht zugeben, daß das Alter ein Zuſtand 
jei, über den man fich beklagen dürfe. Sie ergingen jich vielmehr weitläufig 
in einer Zobpreifung der ſpäten Lebensjahre, deren Heiterkeit und Schönheit Sie 
priefen, auf deren ruhigen Frieden man mit freudigen Vertrauen hinzubliden 
habe, weil fie nad) Ihrer Anfiht „die Krone des ganzen Lebens“ bilden 
follten; und Sie ſprachen das Alles mit ſolcher Zuverficht aus, dag man Ihnen 
gern zuhörte und ſich faſt ebenjo geneigt fühlte, Ihnen auf Ihr Wort zu glauben, 
al3 man ein MWiderftreben empfinden mußte, Sie in Jhren ſchönen Hoffnungen 
irgendwie zu ftören. Indeß das Glaubenwollen ift ein mißlid Ding, wo man 
eine Sache aus eigner Erfahrung anders weiß, und twie jehr ich auch geneigt war 
und bin, mich Ihrem Urtheil unterzuordnen, jofern ich es vermag, meinte ich von 
dem Alter doch bereit3 mehr als Sie ausjagen zu können. Ich Fannte Sie 
daneben auch al3 einen Mann der Thatſachen und einen Freund der Wahrheit, 
ich ftand nicht an, Ihnen meine bejcheidenen Zweifel gegen die Richtigkeit Ihrer 
Behauptungen auszufprechen, und id) that das mit den Worten jchließend: „Ver— 
ſuchen Sie das Alter erft einmal.“ 

Ich weiß nicht, ob Ihnen jener Morgen noch jo deutlich in der Seele lebt wie 
mir, der ſich die Erinnerung an denjelben lebhaft erneuert hat, al3 ic) vor einigen 
Tagen in der Deutichen Rundſchau Ihren Aufſatz „Ueber Anlagen und Erziehung“ 
las. Ich hatte ihn mit einem doppelten Jntereffe in die Hand genommen. Ein- 
mal wünjchte ich, da ich Sie Leider jelten jehe, mich wenigjtens im Geifte mit 
Ahnen zu unterhalten, und zweitens hoffte ic in dem Aufſatze mancherlei zu 
finden, das nützlich werden könnte für die Enkel meines Mannes, die gut be= 
anlagt, gut erzogen werden, und mit denen ich gern und viel verfehre. 

Das Lehtere werden Sie natürlich finden, denn Sie ſprechen es gleich im 
Anfange Ihrer Arbeit aus, dab „die Frauen in der Erziehung ihren heiligften 
Beruf erkennen, und kaum der eigenen Borbildung entwachſen, nach Erkenntniß 
der Aufgabe ftreben, welche im natürlichen Verlaufe eines Frauenlebens früh- 
zeitig einer Jeden zufällt“. 

Das ift nun in der That auch mein Tall gewejen. Obſchon ich feine 
eigenen Kinder gehabt habe, bin ich frühzeitig und faft mein ganzes Leben hin- 
durch in der Lage geivejen, auf Kinder und auf jüngere Perjonen erziehend ein- 
zuwirken, und ich ftimme mit Jhnen völlig in der Anficht überein, daß es „die 
Aufgabe der Erziehung ift, auf alle denkbaren Lagen des Lebens vorzubereiten, 
dab auf fie eingerichtet zu fein, der Inhalt der Bildung iſt.“ — Danach gehört 
nun die Ausbildung der Phantafie, die uns befähigt, uns die verichiedenen Lebens— 
lagen vorzuftellen, in die wir gerathen können, zu einer der wichtigften Auf- 


Ueber da3 Alter, 51 


gaben der Erziehung; und ich habe es oftmals gegen meine Freunde ausge: 
ſprochen, daß die jogenannte Faſſung, gegenüber hereinbrechenden Unglüdsfällen 
oder jonftigen unerwarteten Ereigniffen, ſich am häufigften bei denjenigen Per- 
jonen zu erweiſen pflegte, die ebenjo mit Phantafie ala mit Verftand begabt, 
der Worausficht Fähig, und geneigt geiwejen waren, ſich es im Voraus Klar zu 
machen, wie fie in den betreffenden Fällen zu handeln und fich zu benehmen 
haben würden. Auch ift diefe unfere Meinung alt genug; denn ſchon Shafe- 
ipeare jagt im Hamlet: „Worbereitet fein ift Alles.“ 

Aber ich will abjehen von dem, was Sie über Anlagen und Erziehung 
im Allgemeinen jagen, um mich ganz ausjchlieglic an Ihre Betrachtungen über 
da3 Alter zu halten, deſſen Zuftände Sie, Jhrem Grundjah treu, ſich auch in 
der Phantafie Har zu machen bemüht gewejen find. 

Sie ſprechen in der That eine große Wahrheit damit aus, wenn Sie jagen, 
dab man fi für das Alter recht eigentlich zu erziehen, ſich ganz bejonders 
darauf einzurichten babe, ehe e3 in einer Weiſe an uns herantritt, die uns 
übermannt und knechtet. Das ift eine Meberzeugung, in der ich mit Ihnen 
volllommen zujammentreffe. 

Indeß über das Alter im Allgemeinen, wie über jeine Schönheit, bin ich 
Ahrer Meinung ganz und gar nicht; und da Sie in der Fülle männlicher That- 
kraft fich zu einem Lobredner der AMltersichönheit machen, jo mag e3 mir, bie 
fih, Dank einem gütigen Geſchick, eines jehr bevorzugten Alters zu erfreuen hat, 
wol anftehen, Ihnen zu verfichern, daß dieje Altersichönheit fernt — wie man 
zu jagen pflegt — mag ich es mir wol herausnehmen, Sie an jenes: „pro= 
biren Sie's erft einmal!“ Heute wieder zu erinnern, und Ihnen Goethe’3 
Worte zuzurufen: „Doc Etwas anders fand ich das.“ 

Wenn ic Yhnen, dem philofophiich geſchulten Manne, dem jcharfen Dia- 
lektiker mit einer von der Ihrigen abweichenden Meinung entgegentrete, jo ift 
das ein gewagtes Unternehmen, denn jene Eigenjchaften fehlen mir. Aber da 
es doch nicht nur die Philofophen und die ausgezeichneten Dialektiker find, die 
ſich mit dem Alter in das Gleiche zu jegen haben, jondern wir Alle zujehen 
müfjen, wie wir damit fertig werden, falls wir es erreichen, jo mögen Sie es 
fich gefallen Lafjen, wenn ich, angeregt durch Ihren Aufſatz, Ihnen mittheile, 
was ich von dem Alter an vielen Andern und num auch an mix jelbft erfahren 
habe, und wie ich von dem Alter und der Jugend — im Vergleich zu einander — 
denke, nachdem ich in Jugend und Lebenshöhe ein reiches und ſchönes Leben 
genofjen, und vom Alter bereit3 auch ein gutes Stüd in aller relativen Er- 
freulichkeit gekoſtet habe. Sie harakterifiren Seite 206 im 2. Hefte der Rundſchau 
die Vorftellungen, welche die Menfchheit ſich von dem menjchlichen Lebenslauf, von 
der Kindheit bi3 zum Greijenalter und bis zum Ende des Lebens madt. Sie 
ftellen dabei die Reihe der Eriheinungen auf, und knüpfen daran die Trage, 
ob diefe Erjcheinungen einem Naturgejeh entipringen, ob fie eine Nothiwendig- 
teit, oder ob fie die Folge „Fehlerhafter Einrichtungen“ find? umd Sie zeigen fich 
geneigt, das Lebtere anzunehmen, „weil e8 jedem vernünftigen Plane wider- 
ftreite, daß das Leben mit der Höhe des Glückes anfange und zu verringertem 
Glüde ſich Fortentwidle”. — 

4* 


52 Deutſche Rundſchau. 


Sie ſagen ferner: „Der Tod beendet jedes Menſchenleben, aber 
das nothwendige Ende iſt kein Beweis für eine frühere (meinen 
Sie damit vorhergehende?) Abnahme des Lebenswerthes; von dem 
MWejen des Todes wiljen wir Nichts, was und zum Rückſchluß 
auf einen vorangehenden Zuftand beredtigte Ein phyſiolo— 
giiches Gejet unvermeidliher Rüdbildung ift am Gehirn des Men— 
hen nit erfannt worden. Auf- und Niedergang al3 Verſchlech— 
terung der geſchaffenen Wejen ift fein allgemeines Naturgejeß.“ 

Das ift eine menfchenfreundliche und ermuthigende Anficht, verehrter Freund! 
und ich wollte, Sie hätten mit diefen Ihren Behauptungen Recht. Trogdem 
dürften Sie unter den alten Leuten nicht eben viele finden, die Ihren Glauben 
theilen, und noch viel Wenigere, die gewillt jein möchten, ſich Ihrem Ausjpruch 
zu unteriverfen, daß ein gejundes, hohes, freudenreiches und arbeitsfräftiges Alter 
nicht „ein Geſchenk des Gejhides an einen Auserwählten, jondern 
erreihbar jedem Menſchen ſei, welder nit durd die fehler- 
haften Einrihtungen der Geſellſchaft, durch verfehlte Erziehung 
oder eigene Schuld von den VBorbedingungen ausgeſchloſſen ift, 
fofern er mit geeigneten Mitteln da3 Leben für einen jolden 
Abſchluß vorbereitet“. 

Ein inhaltſchweres und ein jehr hartes Wort, deſſen Richtigkeit, auch wenn 
wir feine Bedeutung in dem weiteſten Sinne faſſen, ebenjo ſchwer zu erweiſen 
fein möchte, als jene frühere Behauptung, daß: „Auf- und Niedergang als 
Berfhlehterung der geſchaffenen Weſen fein allgemeines Natur 
gejeß jei." Sie jagen ferner: „An den Pflanzen erlangen Schönheit 
und Nutzenoft den höchſten Grad, jobald das Wahsthum gänzlich 
verjiegt iſt!“ — Gewiß, mein Freund! Aber haben Sie e8 nicht erlebt, daß 
auch die Herrlichiten und Fruchtreichiten Bäume allmälig abfterben? nicht er- 
fahren, daß das Holz, wenn der Baum nicht zur rechten Zeit gefällt wird, nicht 
einmal mehr dem Zijchler brauchbar, jondern kaum noch zum Verbrennen gut 
ift? — Und was das Gehirn des Menjchen betrifft, jo habe ih von Nerzten 
die Gedähtnigabnahme, der man bei Greijert immer wieder begegnet, auf das 
Bulammentrodnen des Gehirns zurückführen, und vielfach ausiprechen hören, wie 
man es auch in Phyliologien leſen kann, daß im Alter das Gehirn zufammen= 
ihrumpft, daß in dem Schädel jehr alt getwordener Leute jich dadurch oftmals 
unausgefüllte Stellen fänden, welche das Gehirn in feiner reifen Entwidlung 
früher völlig eingenommen habe. 

Sie geben allerdings zu, daß auch: „andere Thiere, als der Menſch, 
mit dem zunehmenden Alter zu verfallenſcheinen“, aber Sie fügen 
hinzu: „die Stimmung, welde Jugend und Alter in den Thieren 
bewirken, ſei niht genügend erforſcht!“ — und Sie werden dabei 
wahricheinlich ebenjowol an das Thier und an den Menjcdhen in ihrem Ur— 
azuftande, wie an das Hausthier und den durch Gultur veredelten Mtenjchen ge— 
dacht haben. Ich fürchte indeffen, jo gern ich zweifeln möchte, die nähere 
Betrachtung und die genauere Erforſchung dürften dieſen Ihren hoffenden 
Erwartungen keineswegs entſprechen. 


. Ueber da3 Alter. 53 


Denn die Thiere anlangend, jo haben Landleute und Förſter mir oftmal3 
gejagt, daR 3. B. das Tödten des Wildes für dafjelbe in gewiſſem Sinne eine 
Wohlthat jei, da es nichts Jämmerlicheres gäbe, als da3 Verenden der alten, . 
in der Regel dem Hungertode erliegenden Thiere des Waldes. Und in Betreff 
unjerer Hausthiere, wird jeder alte, ſich zuſammenkauernde und ſchweigend in 
feinem Bauer auf dem Boden hodende Vogel Ahnen darthun, daß ihm nicht 
mehr jo wohl zu Muthe ift, als in den Tagen, da er mit feinem Weibchen 
Neſter baute und Fröhlich beim Tagesihimmer da3 Sonnenlicht anjubelte. Und 
fehen Sie ji) den alten Hofhund, den alten Bolognejer oder den alten Jagd— 
hund einmal darauf an, die Huftend, lahm und halb erblindet in ihrem Winkel 
liegen, bi3 man ihrer fiechen Verdrieklichkeit aus Mitleiden den Garaus madt! 
Betrachten Sie doc) das alte Roß, ich meine nicht das arme Thier, das ſich 
Ichließlic vor der Karre unter Peitichenhieben müde Hinjchleppt, jondern das 
wohlgehaltene Lieblingspferd jeines Herrn, das er leben läßt und füttert, auch 
wenn es ihm nicht mehr dienen kann. Es war ein anderes Thier, al3 es noch 
feinen Herren trug, und übermüthig wiehernd den heißen Stallmuth in weiten 
Sprüngen auszutoben ſuchte. — Mit der Heiterkeit der alten Thiere hat es 
nicht viel auf fi! und von der Tröhlichkeit des alten Menſchen, an die Sie 
glauben, ift auch nicht viel zu rühmen. 

Angenehm ift es freilich nicht, vielmehr recht traurig, daß jelbft der Menſch 
nicht bis zu feiner lebten Lebensſtunde in der Schönheit und der Freudigkeit 
der Jugend fortbeftehen kann; indeß jene geheimnißvolle unerfannte Kraft, in 
der und durch die wir find und leben, wirkt und waltet ruhig fort, gleichviel 
ob die Nothwendigkeit des Werdens, Wachſens, Reifens und Verfallens, der 
wir unterivorfen find wie die Roſe, wie der Vogel, wie der Erdball und die 
Legionen Welten, zwijchen denen wir mit ihm ummbergewirbelt werden, uns 
wohlgefällt, ob nicht. Die Natur und ihre Bedingniffe oder ihre Gejehe, ich 
weiß nicht, wie ich es nennen joll, find weder mild noch graufam, jondern nur 
unumſtößlich; und Unterwerfung unter fie ift, dünkt mich, Alles, was uns bleibt. 

Sie jedoch ſcheinen fich der Hoffnung hinzugeben, e8 könne dem Menjchen im 
Allgemeinen dereint ein ganz anderes und weit befjeres Alter beſchieden werden, als 
dasjenige, unter deffen Beſchwerden wir jet die Mehrzahl der Menjchen leben 
iehen, und das thue ich nicht. Aber ich komme darin wieder mit Ihnen zuſam— 
men, daß eine fortgejeßte Selbfterziehung una die unabweislichen und traurigen 
Bedingungen de3 Altern leichter tragen macht, und daß e3 einzelnen Menſchen 
unter einem Zufammentirfen vieler und beſonders günftiger Umftände möglich wer: - 
ben könne, freundliche und edle Bilder eines bevorzugten Alters in ſich darzuftellen. 

Einzelnen! Wenigen! Sie jelber geben e3 ja zu, daß „niemals einem 
Jeden ein zufriedenes Loos verbürgt, niemals die Gleichheit 
in jedem Einzelnen dargeitellt jein könne“. 

Ganz gewiß nicht! denn e3 wird ja niemals eine Geſellſchaft geben können, 
in welcher nicht die weitaus größte Mehrzahl der Menſchen fich jener ſchweren 
Unterbau-Arbeit zu unterziehen haben wird, auf deren Leiftung, auf deren 
Grundlage allein, die fortichreitenden höheren geiftigen Arbeiten gethan werden 
fönnen. Diefe Unterbau-Arbeit aber, wie jehr die Maſchinen fie dem Einzelnen 


54 Deutiche Rundſchau. 


auch in der Zukunft noch erleichtern, und gute Ernährung feiner Gonftitution 
zu Hilfe fommen mögen, wird fort und fort einen Einjaß von Kraft verzehren, 
der fic) dem Menſchen, der ihr obzuliegen hat, durch frühes Altern und in den 
Beichwerden bes Alters merklich fühlbar machen wird. 

Man bat Ihnen gejagt, und Sie glauben es, daß unter den Landleuten 
ein rüftiges Alter bis zu achtzig Jahren ein gewöhnliches oder doch häufiges 
ſei. Davon habe ich indeffen, wohin ich auch gefommen bin, nur gar wenig 
Beifpiele gefunden. Die Landarbeit, fraglos eine der naturgemäßeften Bejchäf- 
tigungen, macht die Menſchen früh verwittern, und wenn fie fi in dieſem 
Buftande bisweilen auch geraume Zeit erhalten, jo find fie von den wirklichen 
Leiden, von den eigentlichen Gebrechen des Alters nicht mehr frei al3 wir Andern 
auch — im Gegentheil vielleicht von denjelben noch ſchwerer heimgejucht ala wir. 

Indeß jelbft zugegeben — was ic), ehrlich geftanden, zu thun nicht vermag 
— daß bereinft eine befjere Erziehung, befjere Ernährung und mäßigerer Kräfte- 
Aufwand einer größeren Anzahl von Menſchen mit einer. zunehmenden Lang- 
lebigfeit auch ein rüftigeres Alter herbeiführen werden, jo wird damit niemals der 
Vorzug der Jugend und der vollen Lebenskraft ausgeglichen, niemals das Alter der 
Jugend an Glüd, an Schönheit und an Freude ähnlich gemacht, niemals das geiftige 
Leid und die ſchmerzlichen Empfindungen des Alter aufgehoben werden können. 

Die unvergleihliche Herrlichkeit, die der FYarbenzauber des Morgens, die 
der heiße, volle, Fruchtreifende Sonnenſchein de3 Tages und bieten, find auch 
mit dem helliten Sonnenuntergange nicht mehr zu vergleichen; denn die Luft 
um uns wird beim Untergange der Sonne kühl und Fühler, und wie ihr xojig 
jtrahlendes Licht und auch blendet und entzückt, müſſen wir uns dennod) un= 
willkürlich jagen: noch ein Augenblid und Alles ift vorbei! 

Nein, mein theurer Freund! Es entjprang einer richtigen Erkenntniß der 
Mirklichkeit, daß die feinfühligen und in ihrer tieffinnigen Weisheit jo ſchön— 
heitsfeligen Griechen ihren Göttern, in denen fie ihre Ideale verkörperten, das 
Glück ewiger Jugend andichteten! E3 war nit umfonft, daß ſie das Loos 
des Achilles priejen, der in der Fülle der jugendlichen Manneskraft dem Leben 
entrüct ward; und Goethe, den wir als das Vorbild einer glücklich beanlagten 
und durch unausgejeßte Selbfterziehung zu hoher menſchlicher Vollendung ent= 
wicelten Natur bezeichnen dürfen, wußte, was er damit meinte, wenn er in 
freudiger Rüderinnerung ausrief: 

„Jugend ift Trunfenheit ohne Wein!” 
jene Trunfenheit, jenes Schwelgen im Vollgenuffe des bewußten SKraftgefühls 
— da3 dem Alter ein= für allemal verloren ift. 

Auch Haben, jo weit mir bekannt ift, alle Dichter aller Zeiten die traurige 
Mühſal des Alters eingeftanden und beklagt. Homer läßt den Neftor nie von 
feinem Alter jprechen ohne das Bedauern, daß er nicht mehr derſelbe ei, der 
er einft gewejen, und er erwähnt überhaupt des Alters nicht, ohne e8 mit den 
Beitvorten des traurigen, widerwärtigen, ſchwer zu ertragenden Alters zu belegen. 
— Im Oedipus auf Golonos nennt der Chor der Greije das Alter: 

„ſchwach und finfter 
voller Grillen, das der Uebel 
Uebel all umwohnen!“ 


Ueber das Alter, 55 


An der Rhetorik des Ariſtoteles, die mir durch Adolf Stahr's Ueberſetzung 
zugänglich geworden ift, fällt das Urtheil des tieffinnigften griechiſchen Denkers, 
wenn er die Vorzüge der verjchiedenen Lebensalter gegen einander abwägt, 
keineswegs zu Gunften de3 Alters, jondern jehr entſchieden zu Gunften der 
Augend und der reifen Mannesjahre aus, welche letzteren er an den Schluß der 
vierziger Lebensjahre verſetzt, und denen er nahrühmt, daß fie „alle nüßlichen 
Eigenſchaften befiten, welche bei Jugend und Alter getrennt auftreten, und von 
allen, worin jene zu viel oder zu wenig haben, da3 richtige und ſchickliche Maß 
befigen“. Und wie fich die Gulturverhältniffe feit den Tagen, in welden 
Ariftoteles ſchrieb, bis zu unferer Zeit auch umgeftaltet haben, an dem Charakter 
des Alters und der Jugend, wie er ihn darftellt, haben fie nichts gewandelt; jo 
dat vorausfichtli die nächſten paar Jahrtaufende ihn ebenſo wenig ändern 
dürften, als die beiden zuletzt verfloffenen. 

Aber nicht allein die Griechen, auch die von ihnen jo verjchiedenen Juden 
haben das Alter al3 etwas jchwer zu Ertragendes angejehen. Sie ſprechen in 
ihrem Gebete, wie ic) von meinem Vater jagen hörte, nachdem fie Gott dafür 
gedankt, daß er fie als Männer und nicht als Weiber habe geboren werden 
lafjen, in dem Vorgefühl der unvermeidlichen Altersſchwäche den bittenden Wunſch 
aus: „Herr, verlaß mich nicht, wenn meine Kräfte ſchwinden;“ und ebenjo 
waren die Deutjchen zu allen Zeiten diejer Anficht. 

Der greife Walther von der Vogelweide hat bei jeiner Rückkehr in die Heimath 
die rührende Klage, welche Jakob Grimm in feiner „Rede über das Alter” anführt: 

O weh, wohin find verichwunden all meine Jahre! 
Iſt mein Leben mir geträumet oder ift e& wahr! 


— — — — — — — — 


Die mir Geſpielen waren, ſie ſind jetzt träg und alt, 
Bereitet iſt das Feld, verhauen iſt der Wald, 
Nur daß das Waſſer fließet, wie es einſtmals floß! 
und Jakob Grimm's ſchöne Rede ſelber, was iſt ſie anders als der Verſuch 
eines Troſtes und einer Ermuthigung für Diejenigen, über welche des Alters 
Schatten ſich gelagert haben. — Wen aber fällt es ein, die Jugend, das Mannes— 
alter oder einen Glücklichen zu tröſten und zu ermuthigen? — Und um wieder 
und immer wieder auf den erhabenen Geiſt zurückzukommen, den wir faſt nach 
allen Richtungen hin als den tiefſten Erkenner der menſchlichen Natur innerhalb 
unſerer gegenwärtigen Zuſtände zu verehren haben, um auf Goethe zurückzukommen, 
ſo ſagt er ſeufzend: 
Keine Kunſt iſt's, alt zu werden, 
Es iſt Kunſt, es zu ertragen. 
Das Alles wiſſen Sie, mein Freund, ebenſo gut und beſſer noch als ich, und 
trotzdem hoffen Sie, es ſolle anders, es ſolle beſſer werden! Trotzdem vertröſten 
Sie die Menſchheit auf dieſe Beſſerung? 

Sind Ihre Hoffnungen nicht ein wenig zu ſanguiniſch und thut man wohl 
daran, den Menſchen Hoffnungen zu erregen, deren Erfüllung jo unwährſcheinlich 
ift? Wäre es nicht vielmehr gerathen, fie ohne Weichmüthigkeit auf die unab- 
änderliche Naturnothivendigkeit zu verweilen und ihnen mit dem Rathe: „nube 
Deine jungen Tage, denn fie find Dein köſtlichſter Beth!” den Antrieb zum 


56 Deutſche Rundſchau. 


Handeln, und zugleich die Mahnung zur Reſignation zukommen zu laſſen, die 
unſer einzig Theil iſt, wenn wir uns an den freundlichen Bildern nicht mehr 
genügen laſſen können und wollen, mit welchen alle poſitiven, alle ſogenannten 
geoffenbarten Religionen den armen Erdenſohn über die engen Schranken ſeines 
Daſeins hinaus auf eine unabſehbare und ſchönere Zukunft vertröſten, um ihm 
das Altern und den Tod ſo viel als möglich zu erleichtern? 

Daß eine ererbte geſunde Natur, daß günſtige Lebensverhältniſſe und eine 
richtige Lebensführung, daß geiſtige Entwicklung und eine Beſchäftigung mit 
ernſten Dingen, ein verhältnißmäßig geſundes und ſchönes Alter befördern, wird 
Niemand leugnen. Ich gebe Ihnen ſogar zu, daß ich, ſelbſt wenn ich nur bis 
in meine eigenen frühen Erinnerungen zurückblicke, ein Abnehmen des Früh— 
Alterns in den bürgerlichen Ständen, denen ich angehöre, verfolgen kann. Unſere 
Väter und Mütter erſchienen uns Jungen, als ſie fünfzig, ſechzig Jahre zählten, 
nicht nur viel älter als wir uns jetzt in dem gleichen Alter fühlen, ſondern 
ſie waren in der That von der Theilnahme an dem Allgemeinen in der Regel 
weiter entfernt, als wir es gegenwärtig ſind. Sie waren durch die Unbeweg— 
lichkeit des damaligen Lebens, durch den engeren Geſichtskreis, in dem fie fich 
befanden, jelbft eingeengter, unbeweglicher geworden, als wir gegenwärtig Alten; 
und in der Geburts- und Geiftes-Ariftofratie habe ich zahlreiche, erfreuliche Bei— 
Ipiele jowohl in vergangenen Tagen, al3 gegenwärtig zu beobachten Gelegenheit 
gehabt, daß das Alter den Jahren der Reife lange ähnlich bleiben könne. 

Die Beijpiele, die Sie in diefer Beziehung anführen, der Hinweis auf die 
Brüder Humboldt, auf Goethe, auf die Grimm’s, auf Blücher, Palmerfton und 
auf jo manche unferer Zeitgenofjen, befräftigen den Glauben an die mögliche 
Kraft des Alters, wenn ſchon nicht alle Ihre Beiſpiele dazu angethan find, die 
Rüftigkeit deſſelben als den Erfolg und Lohn einer weilen und mäßigen Lebens- 
führung, al3 eine Art von Monthyon'ſchen Tugendpreis erjcheinen zu laſſen. 
Denn unſer alter Marſchall Vorwärts war fein Lebelang ein gar wilder Gefell, 
war ein maßlos leidenschaftliher Spieler; und von Lord Palmerfton jang ein 
Spottlied noch in feinem Greiſes-Alter: 

Der Palmy ift ein Dandy 
Und füß wie Zuderfandy! 

Erlauben Sie mir jedoch nad) Alle dem, was ich Ihnen jo eben eingeräumt 
und zugeftanden habe, Sie zunächſt daran zu erinnern, daß das Alter für die 
verjchiedenen Menſchen eine durchaus verjchiedene Sache ift; und daß, wie id) 
glaube, die höher angelegten und voller enttwidelten Naturen an gewiljen, nie 
abzuändernden Bedingungen de Alters geiftig und gemüthlich ſchwerer zu 
tragen und von ihnen tiefer zu leiden haben, als die große Maſſe, der Sie die 
Ausfiht auf einen glüclicheren Lebensabend eröffnen zu können glauben. 

Ich habe in dem Kreiſe meiner Lebensgenofjen Perjonen gekannt, die man, 
um mid) Ihres Ausdrucds zu bedienen, wirklich faſt „Wundergreife“ nennen 
fonnte, und die man nur deshalb nicht alſo nannte, weil das Wunder ihres in 
Jahrenkommens fich natürlich jehr allmälig vor uns vollzog, und weil wir das 
Wort no nicht in unjerm Sprachſchatz haben. 

Ich Habe den Vorzug gehabt, Alexander von Humboldt jchon um 1842 


Ueber da3 Alter. 57 


perjönlich Fennen zu lernen, und ihn in Eleineren und größeren Zwiſchenräumen 
vielfach twiederzujehen. Ich durfte mic) an dem Verkehr mit dem Fürſten 
Pückler duch eine Reihe von Jahren erfreuen, nachdem fein abenteuernder und 
ehr bedenflicher Lebensweg auf der Höhe des Alter3 angelangt, und er felber 
ein jehr liebenswürdiger Greis geworden war. Wir haben vor allen Dingen 
den trefflichen General der Infanterie, den edlen Ernſt von Pfuel, zu unfern 
Freunden zählen können, den ich weit über fein achtzigftes Lebensjahr hinaus, 
noch im Rheine und in der Nordjee mit jungen Männern um die Wette 
ſchwimmen jah, und dem bis an feinen, nach dem neunzigften Jahre erfolgten 
Tod jeine geiftigen Fähigkeiten und auch jeine Sinne wunderbar treu geblieben 
waren. Nur jeiner Augen Licht hatte angefangen abzunehmen. Wir haben 
una an der Geiftesflarheit des prächtigen, achtzigjährigen Rauch noch wenige 
Wochen vor jeinem Tode in Rietjchel’3 gaftlihem Haufe erquickt; auch Varn— 
bagen, unſer langjähriger Freund, befand ji, als ex mit zwei und fiebzig 
Jahren ftarb, noch in voller Rüftigfeit, und eben an ihm, wie an General 
von Pfuel habe ich niemals eine jener Altersſchwächen wahr genommen, die bei 
Humboldt doch mehr und mehr, und recht bemerkbar, hervorgetreten waren. 

Neben diefen Männern habe ich auch verjchiedene Matronen gefannt, die 
für eine Art von Wunder gelten konnten. Die Präfidentin Bloc) war bis zu 
den Siebzigern in der That noch ſchön und in voller Anmuth. Frau Sahra Levy, 
die Zeitgenojfin und Freundin Alerander von Humboldt’s, hatte tro mancher 
förperlichen Gebrechen, die fie ftandhaft trug, mit neunzig Jahren noch ihre 
männliche Verſtandesſchärfe und ihr beivundernswerthes Gedächtniß behalten. 
Die berühmte Hofräthin Herz durfte ſich faſt gleichen Glückes erfreuen, wenn 
ihre Körperleiden ihr Ruhe gönnten; und die Tochter von Charlotte von Kalb, 
die kluge, geiftvofle, und vor allen Dingen liebenswürdige Hofdame Edda 
von Kalb, rief mir einmal, al3 ich fie daran erinnerte, wie lange wir einander 
fennten, mit einer wirklich” noch bezaubernden Grazie lachend zu: „wenn Sie 
mit Ihren 60 oder 61 Jahren nur nicht jo pomphaft von langer Zeit reden 
wollten! Was willen Sie von langer Zeit? — Seien Sie erft einmal über 
achtzig Jahre alt, jo wie id), dann wollen wir weiter davon reden!“ 

Und — troß alledem und alledem — waren feinem dieſer bevorzugten 
Menichen, jene geiftigen Altersleiden eripart geblieben, von denen feine Gultur 
die Menſchen je befreien, und an denen, ich wiederhole es gefliſſentlich, der 
Menſch, der auf ein thätiges Leben, auf ein erfolgreiches Wirken zurüczubliden 
bat, faft immer jchwerer zu tragen haben wird, als der unbedeutende; jo daß 
die Anhänger der Ausgleihungslehre darin eine Beitätigung für ihre Anficht 
finden mögen. Denn im Allgemeinen erleiden natürlich wenig begabte, in mitt- 
leren Berhältnifjen lebende Menjchen, die fich in Keinen Thätigkeiten fortbewegen, 
durch das Alter die geringfte Einbuße. Eine ſchlichte Hausfrau kann im Kreiſe 
ihrer Kinder und Enkel faft ohne Glüdsverminderung, vielleicht jogar mit einem 
Zuwachs von Behagen, immer und immer fort, jo lang der Lebensfaden reicht, 
in ihren Stuben und Schränten Ordnung halten, ihre Enkel überwachend ftriden 
und plaudern, und fich über Kleines und Geringes, das fie und die Ihren per- 
fönli angeht, freuen und betrüben wie von Anbeginn. Ein Calculator, ein 


58 Deutſche Rundſchau. 


gelaſſener Rentner, können ihre Geſchäfte lang beſorgen, ihr Capital verwalten, 
und Abends bei der Pfeife und dem Kruge mit ſiebzig Jahren kannegießern wie 
mit vierzig. — Und da die Naturen der Menſchen immer verſchieden bleiben 
werden, ſo werden die ruhigen, zum Aufnehmen, zum Studiren, zum Betrachten 
geneigten Naturen das Alter behaglicher durchleben, als die auf das Schaffen, 
das Handeln, auf das Leiten und Herrſchen geſtellten Menſchen. Auch der 
Gläubige, welcher ſich der perſönlichen Unſterblichkeit verfichert hält, wird das 
Alter und den ihm nahe bevorftehenden Tod gelaffener betrachten, als viele 
jener Andern, denen der Glaube unmöglich ift, während das Aufgehen und Neu— 
werden in dem Al’ ihnen nicht Erſatz bietet für ihr individuelles Sein. Ya, 
ich ſcheue mich nicht, zu behaupten, daß jelbft der körperlich jchöne und ftarke 
Menſch es viel ſchwerer hat, als denkender Beobachter feinem allmäligen Ver— 
gehen beizuwohnen, als der unſchöne und ſchwache. 

Iſt die Schönheit wirklich das, als was wir fie preiſen, ein hohes Geſchenk 
der Natur, haben wir uns dazu herangebildet, ſie zu erkennen, ſie zu lieben, uns 
an ihr zu erfreuen, wo immer ſie uns entgegentritt, ſo muß der durchgebildete, 
ſchöne Menſch nothwendig auch die eigene Schönheit lieben, und wie ihm die 
Zerſtörung oder die Beſchädigung eines ſchönen Kunſtwerkes wehe thut, muß 
ſein eigener körperlicher Verfall ihn ſchmerzen, muß er ihn beklagen. Es iſt ja 
eine wirkliche, bewußte Freude, den ſchönen Kopf in jungen Tagen hoch zu tragen! 
Es iſt ein Genuß, mit elaſtiſchem Schritte den weiteſten und ſchwerſten Weg 
leicht zu durchmeſſen. — Und es ſollte kein Schmerz ſein, wenn der Rücken 
— wie bei Humboldt — ſich mehr und mehr in Schwäche krümmt, wenn der 
Nacken das Haupt nicht mehr empor zu halten vermag, daß es niederſinkt und 
ſich beugt wie die volle, ſchwere, zum Schneiden reife Aehre? — Es ſollte nicht 
ein Kummer ſein, wenn das einſt ſo ſchnelle Auge ſich erſt gefliſſentlich erheben 
muß, um denen nachzublicken, die raſchbeſchwingten Fußes an der Bank vorüber— 
eilen, auf der man wider ſeinen Willen raſten muß? 

Lauf Du nur! ſagte Stahr eines Tages, als wir im Clary'ſchen Park zu 
Tepli mit Bewunderung einen prächtigen jungen Mann ſchnell an uns vorübergehen 
jahen. Lauf Du nur! Du befommft doc) einmal das Podagra und mußt hier 
figen, während Andere laufen! — Und wir brachen Beide in ein helles Lachen 
aus, denn uns fielen al3 komiſche Parallele Goethe's Worte bei: 

Ich neide nichts, ic) laß es gehn 

Und kann mich immer Manchem gleich erhalten! 
Zahnreihen aber, junge, neidlos anzufehen, 

Das iſt die größte Prüfung mein, des Alten! 

Sie, mein Freund! Ste wollen das freilich nicht gelten laſſen. Sie wollen 
nicht glauben, daß die Natur „die Abnahme der Kräfte, die Vermin— 
derung der fyreuden und der Genußfähigkeit, derjpäteren Lebens— 
hälfte auferlegt haben werde“. Obſchon wir: „überwiegende Bei- 
ipiele eines jolden Entwidelungsganges ſehen“, können Sie fi 
nicht überzeugen, daß in diefen Fällen „die Naturnothwendigfeit als 
Urſache jich beftätigt habe“! 

Sie mahnen mid) mit diefen Zweifeln an den alten Pfuel und an einen 


Ueber das Alter. 59 


uns befreundeten, berühmten Zoologen. Pfuel pflegte, wenn er recht friſch und 
munter war, oftmals jcherzend auszurufen: „es ift noch gar nicht betviejen, daß 
die Menſchen alle fterben müſſen! Es find zwar bisher noch Alle geftorben, aber 
dat der Menſch fterben muß, ift damit noch keineswegs bewieſen.“ 

Und eben}o behauptete jener geiftreiche und liebenswürdige Gelehrte, während 
er an feinem gaftlichen Tiſche einen großen Schinken anjchnitt: wenn der Menſch 
jich jelber, feine eigene individuelle Subftanz effen könnte, könnte er ewig leben! 

So lange dies Lebtere aber nicht der Fall ift, und jenes Erftere nicht er— 
tiefen wird, werden auch Sie, werther Freund, bei der verftändigften und weiſe— 
jten Lebensführung es dereinjt erfahren müſſen, daß in der zweiten Lebenshälfte 
Ihre Kräfte ſchwinden; und fie werden — ich hoffe, jo ſpät als irgend möglich — 
e3 erleben, daß dem Alter ein geiftiges Erduldenmüſſen auferlegt ift, welches die 
zweckmäßigſte Ernährung, die befte Erziehung, die günftigften Lebensverhältniffe 
und jelbjt der Wunderbau fünftiger idealer Gejellichafts- und Staatsgeftaltungen, 
ihm nicht erſparen können. Sie werden dann auch dahin fommen, mit weniger 
Zuverfiht auf die barmherzige Weisheit der Natur zu bauen, und nicht darüber 
in Zweifel bleiben fünnen, ob die Jahre der Jugend und der Kraft denen de3 
Alters vorzuziehen find. 

Die Jugend und da3 Mannesalter find zunächit eben durch ihre Kraft und 
die mittelft derjelben mögliche Bedürfniklofigkeit, unendlich freier al3 das Alter; 
und der Tag der Jugend ift aus dem gleichen Grunde jehr viel länger, al3 de3 
Greifes Tag. Das Alter wird bedürfnigreih, es wird langjam in feinem 
Thun und hat Raften nöthig, wie e3 fi) auch dagegen jtemmt und wehrt. Es 
büßt dadurd) mit jedem Tage mehr und mehr an jeiner perjönlichen Freiheit 
ein. Der Greis wird abhängig von dem Beiftand Anderer, während er al3 Dann 
Berftand gewähren konnte, er wird abhängig von des Wetters Gunft und Un— 
gunſt, denen er al3 Mann getroßt; er kann nicht mehr wie der willensftarfe 
Mann beftimmen, was er an dem Tage, der vor ihm Liegt, vollbringen wird. 

Goethe ſpricht einmal mit Edermann darüber, daß ex die wichtigften Nemter 
im Staate, obſchon er, der Grei3, noch ein jolches befleidet, nicht von Greifen, 
ſondern von Männern in der Fülle der Kraft verwaltet jehen möchte. Ecker— 
mann verweift ihn, wie aud Sie das in Ihrer Arbeit gethan, auf eine Anzahl 
von Männern, die in hohem Alter noch Bedeutendes geleitet Haben, und Goethe 
giebt darauf zu, daß bejonders begabte Naturen bisweilen eine Art von Ver: 
jüngung, eine Epoche neuer Productivität erleben können, „aber,“ jet ex Hinzu, 
„wie mächtig ſich auch eine Entelechie erwweile, fie wird doc) über das Körperliche 
nie ganz Herr werden, und es ift ein gewaltiger Unterichied, ob fie an ihm einen 
Alliirten oder einen Gegner findet. Ich Hatte in meinem Leben eine Zeit, in 
der ich täglich einen gedructen Bogen von mir fordern konnte, und es gelang 
mir mit Leichtigkeit. — — Jetzt Toll ich dergleichen wol bleiben laſſen; und doc) 
fann ich über Mangel an Productivität jelbft in meinem hohen Alter mid) feines- 
weg3 beflagen. Was mir aber in meinen jungen Jahren täglich und unter allen 
Umftänden gelang, gelingt mir jet nur periodenweije und unter gewiſſen gün- 
ftigen Bedingungen.“ 

Weil nun der über fi) nachdenkende Menſch fi im Alter der Unficherheit 


60 Deutiche Rundichau. 


feiner Arbeitskraft und feiner Dauer überhaupt durchaus bewußt jein muß, ver- 
liert er den Muth zu großen Unternehmungen, zu weit ausjehenden Arbeiten, 
fo fern dieje eben nur von ihm vollendet, und nicht von einem Andern da fort 
gejeßt werden fünnen, two das Lebensende des Beginners fie ftille ftehen macht. 

Es hilft Nichts, daß man ſich jagt: vielleicht gelingt’3, daß Du's zu Ende 
führft! daß man ſich vorhält, wie auch in der Jugend die nächte Stunde und 
der nächſte Tag uns nicht gewiß find; daß man fich dahin gewöhnt, an das uns 
bevorftehende Ende in der Weile zu denfen, in welcher Leifing uns anräth: „die 
Unfterblichkeit jo gelaflen zu erwarten, wie den nächſten Tag.‘ 

Das Alter und die Jugend befinden jich in diefem, wie in allen Fällen, in 
einer ganz verichiedenen Glückeslage. Die Jugend ift hoffnungsreich, das Alter 
hat Nichts oder doch nicht viel zu hoffen. Selbſt der nicht bejonders Fräftige 
Jüngling und Mann haben, mwofern fie ihre Kräfte nicht geradezu verwüften, 
einen verhältnigmäßigen Anſpruch auf Gejundheit und auf lange Dauer. Sie 
haben ein Recht darauf, während jelbft das Fräftigfte Alter ſich der Erkenntniß 
nicht verſchließen kann, daß es eine Gunſt des Schiejals ift, wenn jeine Tage 
fi in leidliher Gejundheit mehr und mehr verlängern. Wer aber ein 
Recht zu haben glaubt, ift demjenigen weit überlegen, der mit 
Ihwanfender Zuverſicht ji) auf eine bejondere Gnade zu ver— 
tröften hat. Des Jünglings wachjender Muth, des Greijes wachſende Ver— 
zagtheit; des Mannes Zuverficht, des Greiſes Bedenklichkeit; de Mannes Frei- 
gebigkeit, des Greijes oft bis zum Geize ausartende Sparjamtfeit find eben Natur- 
bedingniffe; denn jene Eigenſchaften entipringen bei dem Einen aus der Einficht 
in jeine Kraft, bei dem Andern aus dem Bewußtſein feiner zunehmenden 
Schwähe — und die Ausnahmen, die man findet, heben dieje Regel keinesweges 
auf. Für Jeden fommt einmal der Tag, für den Einen früher, für den Andern 
ipäter, an dem er fi) jagen muß: Dies oder Jenes, was du noch vor einem 
Jahre konnteſt, das kannt du jet nicht mehr! — und Sie mögen fich das Alter 
Ihrer Zukunftsmenſchen vorftellen, wie Sie wollen: über das bittre Weh einer 
jolchen Erkenntniß werden Sie auch den Weijeften nicht hinweg bringen, wenn 
ichon er, weil er e8 muß, fi) vor der Nothwendigkeit bejcheidet. 

Eben jo wenig kann die vollfommenfte Staatsorganilation dem Alter den 
Schmerz eriparen, den Goethe in den Worten ausipricht: 

Ein alter Mann ift jtet3 ein König Lear! — 
Was Hand in Hand mitwirkte, jtritt, 

Iſt Tängjt vorbei gegangen; 

Was mit und an Dir liebte, Litt, 

Hat fi) wo anderd angehangen. 

Die Jugend ift um ihretwillen hier; 

63 wäre thöricht, zu verlangen: 

Komm, ältle Du mit mir! 

Mit diefem „„Hingehen‘ feiner Zeitgenofjen gehen dem Menſchen aber mehr 
al3 nur jeine Freunde verloren. Es wird ihm damit eines der edelften Vorrechte 
bes freien Mannes geraubt: Das Recht von feines Gleichen beurtheilt und ge 
richtet zu werden. 

Wer lange lebt, wer mehr als zwei jogenannte Menjchenalter durchwandert 


Ueber das Alter, 61 


bat, lebt, auch wenn er jeine Geburtsftätte nicht verlafjen hat, in gewilfem Sinne 
nicht mehr in jeiner eigentlichen Heimath, und kaum noch unter feinen Lands— 
leuten: am wenigſten in unjerer To jchnelllebig gewordenen Zeit. Die An- 
ſchauungen, die Empfindungsweije der Generationen bleiben nicht diejelben; der 
Charakter der Völker jogar geftaltet ſich allmälig um. Dem Yüngling unferer 
Tage ift e8 faum mehr möglich, fich in das Entzücen Hineinzudenten, mit welchem, 
als wir jung gewejen find, uns die Dichtungen eines Klopftod, eines Fouqué, 
eines Jean Paul erfüllten. — Den Mann, der uns jeßt zur Seite fteht, macht die 
gegenwärtige Entwidlung unferer politiihen Zuftände weniger freudig und ftolz 
ala und. Er ift weniger al3 wir mit dem bereit3 Errungenen zufrieden geftellt. 
Gr verlangt nad) immer neuem, raſchem Fortichritt, weil er die Zeiten nicht 
gleih uns durchlebt, und nicht mit und durchlitten und durchkämpft hat, in 
denen unfjere gegenwärtigen Verhältniffe al3 ein faft Unerreichbares angejtrebt 
und angejehen wurden. Und wie der Greis ſich jelber hiftoriich wird, im Hin- 
bli auf jeine Jugend, jo hat er unter dem ihn umgebenden jüngeren Geichlechte, 
wenn ex nicht zu den wenigen Glücdlichen gehört, die fich eines Nachſommers 
ihrer Kraft zu rühmen haben, fi häufig auf eine nicht gerechte, oftmal3 auf 
eine falſche Beurtheilung feines Weſens und feiner Leiftungen, umd nur in den 
jeltenften Fällen auf ein volles Verftändnif derjelben gefaßt zu machen; während 
es ihm ſelber hingegen jehr wol möglich ift, das um ihn her fich entwickelnde und 
fortichreitende Gejchlecht mit ruhig erwägender Betrachtung zu begleiten. Ya 
mehr noch! Die Zufriedenheit des Menjchen mit fich jelber, der Glaube an 
fein Können, an feine Bedeutung für das Allgemeine, ſchwinden mit dem Alter. 

63 gibt kaum einen einigermaßen begabten jungen Mann, der nicht den 
Glauben hegt, mit ihm beginne eine neue Aera; die Welt habe auf ihn gewartet! 
Und wie mancher reife Dann genießt das erfreuende Bewußtiein, eine der Säulen 
zu fein, von denen das Wohl der Gejammtheit getragen und geftübt wird. — 
Der Greis hingegen, der jo viele Große neben fich jterben Jah, ohne daß es den 
Weltlauf ftille ftehen machte, fieht meist lächelnd auf jein vergangenes Thun 
zurüd, und lernt e8, fich zu jagen, daß Niemand unentbehrlich ift, daß jeder 
freigewordene Pla fi ausfüllt. Er hat die Ermuthigung weit nöthiger, als 
die Jugend, der man fie jo freigebig angedeihen läßt. 

Und denfen Sie num erſt an die Herzensvereinfamung, die des Alters Theil 
it. Kaum ein Tag vergeht, an welchem die Zeitungen dem reife nicht die 
Nahriht von dem Tode eines feiner Bekannten, eines feiner Mitjtrebenden, 
eines feiner Freunde bringen! — Es fommt dabei ganz unwillkürlich die Em- 
vfindung in ihm auf, mit twelcher man in jpäter Stunde ſich in einem Gejell- 
ſchaftsſaale umblidt. Der Raum um ihn ber ijt leer und weit geworden, das 
fröhliche Geſpräch, an dem er Theil genommen, ift verjtummt. Er fieht ſich 
um, die Gäfte, jeine Freunde, find fat alle fort — und mit einer Art von 
Schreden jagt er jich: aber dur mußt jet gleichfalls gehen! das Feſt ijt aus! 

Es hat uns einmal jehr erichüttert, ala Pfuel, nachdem er uns von feinem 
Leben mit Heintih von Kleiſt, mit Ernſt Moritz Arndt, von dem ruffiichen 
Feldzug, von der Schlacht bei Ligny, von der Zeit, in welcher er Commandant 
bon Paris, und von jener andern, in welcher er 1848 preußiicher Kriegsminifter 


62 Deutiche Rundſchau. 


geweſen war, in klarſter Lebendigkeit lang erzählt hatte, plötzlich die einge» 
ſunkenen und doch noch bligenden Augen mit der fnöchernen Hand verdedend, 
mit mächtiger Stimme in den Ruf ausbrach: „es ift ein ungeheurer Kirchhof 
um mid her!“ 

Vielleicht muß das Herz jchon halb erftarrt fein, um, wie es doch geichieht, 
mit verhältnigmäßiger Gelaffenheit auf jo zahlveihe Gräber Hin zu bliden. 
Denn in gar vielen Briefen, die ich während des letzten Kriegs von unjern 
jüngern Kämpfern empfangen, habe ich herzerſchütternde, lebhafte Klagen wieder- 
tönen hören, wenn der Tod den Kampfgenofjen aus den Reihen riß, wenn 
immer tvieder das traurige: 

Ah hatt’ einen Kameraden, 

Einen befjern findſt Du nit! 
gejungen werden mußte. Und die Jugend darf mit Gewißheit darauf rechnen, 
neue Kameraden zu gewinnen, fie befitt dazu fich jelbft noch ganz, und alle 
ihre Hoffnungen und Freuden. Das Mlter Hingegen bat für die ihm ent- 
riffenen Lebensgenofjen nicht mehr auf Erfolg zu hoffen. Und Freuden? — — 

Nein, mein Freund! hoffen und erwarten Sie von dem Alter nicht, daß es 
befjer, oder daß es auch mur jo qut jei, als die Zeiten der menſchlichen Kraft. 
Es bleibt wünjchenswerth, ein höheres Alter zu erreichen, zu Jahren zu kommen, 
weil „das Athmen im rofigen Lichte” dem Nichtmehrjein vorzuziehen, und je 
nad) der Kraft, mit welcher diejes Athmen noch geichieht, erfreulich ift. Ich 
gebe aljo unbedenklich zu: das Alter ift uns wünjchenswerth, kann ſogar erfreulich 
und ſchön fein, Jo lange uns die Menjchen noch zur Seite ftehen, die am engjten 
und verftändnißvollften zu uns gehören, für die zu leben uns ein Glüd, ung ein 
hohes Glück ift. Aber gerade in diejes Liebesglüd des Alters miſcht fi am 
bitterften das Bewußtſein der nahen Endlichkeit. Alltäglich möchte man mit 
Franz dem Erften einftimmen in die jchmerzlich ſehnſuchtsvolle Klage: „C'est 
trop peu d’une vie pour tant d’amour!* — Mit Goethe'3 Fauft möchte man 
ausrnfen: „Nein! Kein Ende? kein Ende!” — denn mitten in da3 ftille unver: 
änderte Glücksgefühl getheilter und durch ein ganzes Leben gleich und groß ge- 
bliebener Liebe ertönt in unferm Herzen des armen Veilchens wehmüthiges: 
„Ach! nur ein Kleines Weilchen“ und füllt mit Thränen unſer Auge. 

Hat das Alter Freude, To ift fie doc) feine recht perfünliche mehr. Sie wird 
überiviegend Theilnahme an Anderen, an Fremdem. Das Alter kann erquict 
twerden durch die Liebe der Seinen, beruhigt und zufrieden geftellt durch deren 
Wohlergehen. Es kann erhoben werden durch dad Schöne in der Kunſt, durch 
die Fortſchritte in der Wiljenichaft, durch Zunahme in dem allgemeinen Ge- 
deihen, wenn es ihm vergönnt ift, im Zeiten zu leben, in denen große fort- 
Ichreitende Entwiclungen ſich vollziehen. Es fann eine Beruhigung darin finden, 
wen die Wirklichkeit an der Herftellung jeiner Ideale arbeitet. E3 kann eine 
Genugthuung darin genießen, wenn ihm die Arbeit noch gelingt, wenn die neue, 
es umgebende Generation ſich noch an derjelben erfreut, wenn ihm nod) eine 
Wirkfamkeit zu üben möglich ift — und das ift allerdings recht viel. Indeß 
die Freude, jene ausfüllende, überwältigende Freude, die das Blut wallen, das 
Herz höher ſchlagen, das Auge ftrahlen macht, jene jubelnde, zweifelloje, hoff 


Ueber das Alter. 63 


nungsjelige Freude, die im Moment für jahrelanges Leid entichädigt, jene Freude, 
in welcher der Menſch fich wie ein vollfommenes, zu jedem Glüd, und nur zum 
Glück berufenes Weſen empfindet, diefe Freude ift dem Alter ein für allemal 
verjagt. — Wer aber jollte diefe Art von Freude nicht vermiffen immerdar? Wer 
die Nothwendigkeit ihres DVerluftes nicht immerfort beflagen, der fie einjt voll 
und ganz genofjen hat? 

Man Hat im Alter Schon zufrieden zu jein, wenn man in demjelben von 
den jelten fehlenden Schwächen und Gebrechen des Alters verfchont bleibt. Wenn 
der Schlaf una nicht verläßt, wenn das Gedächtniß uns nicht ſchwindet, wenn 
unſere Sinne vorhalten, tvern Taubheit, Blindheit, Lähmung, uns den Verkehr 
mit den Menjchen, ung die Selbftbeihäftigung, uns den Genuß der Natur nicht 
verfümmern; wenn e3 uns gelingt, liebevoll theilnehmend zu bleiben, das Herz 
vor Selbtiucht zu bewahren, und uns in entjagender Ruhe, in jogenannter 
Weisheit, bejcheiden zu lernen. Aber die muthige Thorheit der Jugend hat vor 
des Alter Weisheit mancherlei voraus; und Goethe felber hatte nöthig, ich 
zu feinem Troſte zuzurufen: 

Die Jahre nehmen Dir, Du jagft, jo Vieles: 
Die eigentliche Luft des Sinnenfpieles; 
Erinnerung des allerliebjten Tandes 
Bon geftern; weit und breiten Landes 
Durchſchweifen frommt nicht mehr! jelbft nicht von oben 
Der Ehren anerfannte Bier, das oben, 
Erfreulich fonjt. Aus eignem Thun Behagen 
Quillt nicht mehr auf, Dir fehlt ein dreiftes Wagen! 
Nun wüht ich nicht, was Dir Beſondres bliebe! 
„Mir bleibt genug! Es bleibt Idee und Liebe!” 


dee und Liebe! — Das find die Schwingen, mit denen da3 Alter fich 
über feine traurigen Bedingungen erheben, fich zu eigner und Anderer Befrie— 
digung erhalten, und verhältnigmähig wirkſam machen kann, jo daß man bis 
zu einem gewiljen Grade von des Alters Schönheit Tprechen darf. 

Aber Michel Angelo, der wahrlich feiner von den ſchwachen, von den. ver— 
zagten Greifen war, und der auf eine erhabene Vergangenheit zurüdzubliden 
batte, jchreibt dennoch in einem feiner Briefe, ala Entgegnung auf eine ihm 
geipendete Anerkennung: „Ich bin alt und der Tod hat mich von den Jugend» 
gedanken abgewandt. Wer aber nit weiß, was e3 mit dem Alter 
auf ji hat, der warte nur, bi3 er jelber hineinfommt; vorher 
fann er es ſich do nicht denken!“ 

Sie jehen, werther Freund! da3 läuft, obſchon in edlerem Style ausgedrückt, 
auf mein damaliges: „Probiren Sie e3 erſt!“ hinaus. Und wenn Sie dereinft 
im Alter, wie es bei Jhnen nicht ander möglich fein kann, auch auf eine 
würdige und wirkſame Vergangenheit zurüczubliden haben werden, jo werden 
Cie es, fürchte ich, troßdem nicht läugnen Können, daß es fich heiterer lebt mit 
jener langen, weiten Ausficht vor fi), wie die Jugend fie bejitt, ala mit einer 
nicht fortzubarmenden Schranke vor dem trüber gewordenen Blick! — Sogar die 
Freude an allem Erwerbe ift eine andere, wenn man den Beſitz noch Yang zu 
nugen hoffen darf, als wenn man, erwerbend und befigend, ſich unwillkürlich 


64 Deutiche Rundichau. 


die allerdings jelbftiiche Frage aufzumwerfen nicht vermeiden kann: wozu das 
Alles? was joll Dir's noh? und weshalb fam e3 nicht in den Tagen, da Du 
es jo nöthig brauchteſt, jo jehr begehrteft und erjehnteft ? 

Sieht man daneben, daß jogar ein Goethe fich des el nit ent= 
ichlagen konnte: 

Sp gieb mir auch die Zeiten wieder, 

Da ich noch jelbft im Werden war, 

Da fich ein Duell gedrängter Lieder 

Ununterbrochen neu gebar, 

Da Nebel mir die Welt verhüllten, 

Die Knospe Wunder noch veriprach, 

Da ich die taufend Blumen brach, 

Die alle Thäler reichlich füllten. 

Ich Hatte Nichts, und doch genug: 

Den Drang nah Wahrheit und die Luft am Trug, 

Das tiefe, ſchmerzenvolle Glüd, 

Des Hoffens Kraft, die Macht der Liebe, 

Gieb meine Jugend mir zurüd! 
jo werden Sie es wol verzeihlih finden, wenn die Mehrzahl der Menjchen, 
und ich mit ihnen, an die entflohene Jugend mit folder Sehnjucht denken, wie 
unfer großer Meifter es gethan; und wenn ich nicht zu hoffen wage, daß das 
ipäte Alter, dem ich allgemach, wenn auch in dankenswerther Kraft entgegen 
gehe, mir in den Freuden, welche Sie demjelben möglid) glauben, auch nur einen 
Schatten de3 Glückes darbieten könne und werde, da3 meine Jugend und mein 
bisheriges Leben mit feinem Sonnenjchein belebte. 

Fragen Sie mich nun endlich, weshalb ich alle diefe Betrachtungen nicht 
für mi) behalte? weshalb ich diefelben Ihren Anfichten entgegenjtelle? jo 
antworte ic) Ihnen: mein Brief ift eine „Rede für das Haus” — und weiter 
Nichts! Sie müffen es ja willen, daß mir an Jhrer guten Meinung viel gelegen 
ift. Ich möchte aljo natürlich nicht, daß Sie, wenn die Trübjal, die Gebrechen, 
die Schwachheit des Alters dereinft auch mich, twie jeden Andern, befallen wer— 
den, deshalb übel von mir dächten. Ich möchte nicht, daß Sie meinen könnten, 
ich hätte mich über „eine verfehlte Erziehung“ zu beflagen, oder ich hätte mic 
„durch eigenes Berichulden von den Vorbedingungen ausgejchloffen“, die den 
Menschen zu jenem hohen, gefunden und glüdlihen Alter befähigen und be- 
rehtigen, das Sie den kommenden Gejchlechtern in einem vervolltommneten 
Geſellſchaftszuſtande in Ausficht ftellen zu können glauben. 

Ich hoffe vielmehr, daß Sie dann Gnade fir Recht ergehen Laffen werden 
an Ihrer alten Freundin; und ich verfichere Ihnen, daß Niemand es Ahnen 
aufrichtiger wünjchen kann als id, daß Ihrem, in jedem Betrachte jo ehrenvoll 
ausgezeichneten Mannesalter das von Ihnen geglaubte jchöne Greijenalter folgen, 
dat Sie bis in die fpäteften Jahre ein rüftiger Kämpfer im Streite der Männer 
bleiben, und in unverminderter leiblicher und geiftiger Jugendkraft, allſommerlich 
des Hochgebirges Gipfel frohen Sinn’s erklimmen mögen. 

In Verehrung und Freundſchaft Fanny Lewald. 


Lawſon's 
„Wanderungen im Innern von Neu-Huinea.“ 





Don 
Dr. Adolf Bernhard Meyer, 


Director am Königl. natur-hiſtor. Muſeum in Dresden. 


— —— 


Wanderings in the interior of New-Guinea by Captain J. A. Lawson. With 
a frontispiece and map. (London, Chapmann & Hall, 1875.) 283 8. 8°, 


Im Jahre 1857 erichien im „Ausland“ *) ein anonymer Artikel eines Deutjchen 
— aus einer St. Franzisco-Zeitung entnommen — über einen Ausflug in's 
Innere von Neu-Öuinea. Diejer Ausflug jollte von Dore aus, an der Nordküſte 
der Inſel, dem von vielen Neu-Guinea-Fahrern bejuchten Orte in der Geelvinks— 
Bai, angetreten worden jein, allein dem mit der Localität Bekannten wird bei 
Durchleſung des Artikels jofort ar, daß die ganze Erzählung eine fingirte ift. 
Der Verfaſſer beichreibt eine Fahrt einen Fluß hinauf, melde mehre Tage 
gewährt haben joll. Der größte Fluß, welcher fich in der Nähe von Dore vor- 
findet, ift der Fluß von Andei — mehre Stunden von Dore entfernt — und diefer 
ift höchſtens, je nach feinem Wafjerftande, 4, —!/, Stunde weit aufwärts befahrbar. 
Die ganze Geelvinks-Bai erhält in der That feinen größeren Zufluß, jo weit bis 
jetzt bekannt; es ſei denn, daß vielleicht in der Gegend der Niederungen von Wan- 
dammen oder Nachbarſchaft fich noch ein nennenswerther Strom befände, was jedoch 
wegen der Schmalbeit des Landes hier nicht gerade wahrjcheinlich ift. Auch ift jene 
Sumpfgegend äußerft jchiwierig zu erreichen, und die pofitiven Angaben des 
Anonymus laffen den Verſuch überflüffig erfcheinen, eben durch Umdeutung der— 
jelben den Autor vor dem Vorwurf, eine Reijebejchreibung erfunden zu haben, be- 
wahren zu wollen. Der große Fluß, welcher eine mehrtägige Fahrt ſtromaufwärts 
ermöglichen könnte, liegt am Oftende der Geelvinkt3-Bai — der Amberno**) —, 
allein jeine ungeheuer ftarfe Strömung wird eine unter gewöhnlichen Verhält- 
niffen umternommene Befahrung geradezu vereiteln. Es Tann daher darüber 
fein Zweifel obwalten, daß jener Berichterftatter feine Lejer zu täufchen beab- 
fihtigte, und es verlohnt ſich nicht der Mühe, zu unterfuchen, wie viel an feiner 
Schilderung wahr, wie viel fingirt jein mag. Die immerhin anſpruchsloſe 


*) ©. 523. 
**) Richtiger „Mamberan“. 
Deutſche Rundiäau. I, 10, 5 


66 Deutſche Rundichau. 


Weiſe der Veröffentlichung jener Reijebefchreibung forderte auch keineswegs die 
Kritik heraus, und es verfiel der betreffende Artikel daher jeiner verdienten 
Vergefjenheit. Auch mir würde e3 kaum eingefallen fein, nach 18 Jahren die 
Aufmerkjamkeit des Lejers auf denjelben Hinzulenten, wenn ich in ihm nicht ein 
Heines Vorfpiel zu dem in der Meberfchrift genannten Buche des Gapt. Lawſon 
erblickte, da3 mir paffend erſchien, der Beſprechung diejes Buches als Einleitung 
zu dienen. 

Gapt. Lawſon behauptet nichts mehr und nichts weniger, als von Anfang 
Juli des Jahres 1872 bi3 Anfang Februar 1873 von der Südküſte Neu- 
Guinea’3 aus, von einem Plate Namens Houtree, der auf 143° 17° 8” 5.2. und 
99 8° 18. Br. liegt, die ganze Inſel in ihrer größten Breite von Süden nach 
Norden bis etwa 20 oder 30 engliihe Meilen von ber Nordfüfte entfernt 
(S. 216) durchkreuzt und denjelben Weg zurück gemacht zu haben; er erreichte den 
bezeichneten nördlichſten Punkt am 30. October, brauchte alfo circa 4 Monate 
für die Hin- und circa 3 Monate für die Rückreiſe und legte in diefer Zeit 
eine Strede von circa 200 deutjchen Meilen zurüd. Auf einer Kartenfkizze ohne 
Eintheilung und Scala iſt diefe Route ziemlich genau verzeichnet, und es 
ift beſonders zu bemerken, daß unſer Reifender die ganze Rüdtour ohne Compaß 
machte, da ihm diefer, wie all’ jeine Habe, in Folge eines Gefechtes mit den 
Papuas im Norden verloren gegangen war, und daß er troßdem faft an der— 
jelben Stelle, von der er ausgegangen, die Südküfte wieder erblidte. Lawſon 
machte dieje Reife in Begleitung von zwei Eingebornen Auftraliens und einem 
Lasfar, welche drei Leute er von Sydney mitnahm, und in Begleitung von 
zwei Papuas, die er in Houtree engagirte. Dieje leteren zwei ſprachen außer 
engliſch ſowol etwas franzöfiih, holländiſch, portugiefiih, als auch ver- 
ſchiedene malayiſche Dialecte, und empfahlen fi durch ihre genaue Kenntniß 
de3 Innern von Neu-Guinea (©. 6). Einer diejer fünf Begleiter legte Hand an 
fi) jelbft während der Reife in Folge eines Sonnenftiches, zwei famen um in 
einem Gefecht mit den Papuas im Norden und zwei brachte Lawſon mit zurüd, 

Um in kurzen Zügen den Lejer mit den geographiichen Rejultaten diejer 
Reife befannt zu machen, jo jei Folgendes referirt: 

Lawſon ging mit einer Heinen Kauffahrteibrigg von 220 Tons von Sydney 
nad) Houtree an der Torresftraße, eine Reife, welche etwa 4 Wochen dauerte; 
er fand an der Südküfte einige wenige Dörfer: Houtree mit 263 Einwohnern 
(S. 8), Mahalla’3 Dorf etwas landeinwärts, und eine Reihe kleinerer Nieder- 
lafjungen, die nicht namentlich bezeichnet werden. Die erfte größere, von Weften 
nad) Oſten verlaufende Bergkette, die paffirt wurde, nennt Lawſon die „Papuan 
Ghauts“ mit „Mount Mifty“ von 10,762° Höhe, welcher Berg erftiegen wurde, 
und zwei anderen Spiben mehr nad) Weften von 12,580‘ und 12,945. Im 
Norden diefer Bergkette fanden fich noch einige Dörfer, von denen eines, „Bur- 
temmy Zara“ (Feigenbaumdorf), nambaft gemacht wird. „Viele Bewohner diejes 
Dorfes konnten holländiſch ſprechen“ (S. 67). „Immenſe Mengen Geflügel treiben 
fih auf den Straßen herum, und alle Papuas find eingefleijchte Liebhaber des 
Hahnentampfes.” (!) Etwa 100 englifche Meilen von der Südküſte entfernt entdeckte 
Lawſon einen großen, 60 bis 70 englijche Meilen langen und 15 bis 30 Meilen breiten 


Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu-Guinea“. 67 


Zandjee, den er zu Ehren der Gemahlin des Prinzen von Wales „Lake Aleran- 
drina” taufte; derjelbe hat der kartographiichen Skizze zufolge feinen Ausfluß; 
er wurde umgangen. Nördlich von diefem See beginnt eine vulkaniſche Region ; 
eine Reihe von ausgebrannten und thätigen Kratern wird bejchrieben; unter 
feteren ift hervorzuheben der 16,743° hohe „Mount Vulcan“ und der weftlich 
davon liegende, 15,091’ hohe „Dutpoft“. Jedoch bei weiten übertroffen werden 
diefe Berge durch den „Mount Hercules“; derjelbe erreicht eine Höhe von 32,783‘ 
über der See, von 30,901‘ über dem umgebenden Lande, und feine Schneegrenze 
beginnt bei 15,000. Lawſon beftieg denjelben bis zu einer Höhe von 25,314‘ 
in Begleitung eines einzigen Mannes, von Morgen? 4 Uhr bis Nachmittags 
1 Uhr und war benjelben Abend um 71, Uhr wieder am Fuße de3 Berges 
an jeinem Lagerplaß angelangt!! (S. 160.) In der luftverdünnten Höhe floß 
ihm Blut aus Nafe und Ohren und feine Hände erftarrten. „Sobald er wieder, 
in wärmeren Gefilden angelangt, den Gebrauch jeiner Hände befam, jo daß er 
die Flaſche halten konnte, genoß er etwas Branntwein, der ihm neues Leben 
einflößte.“ Das Titelbild des Buches gibt ein Panorama des „Mount Hercules“ 
und jeiner Umgebung. Ueber eine große, von Büffelheerden bevölferte Ebene ge- 
langte die Gejellichaft dann an einen bedeutenden, 600° breiten Fluß („River Glad- 
ftone“), über den gejegt wurde, und darauf, nad Dften den Fluß entlang ziehend, 
an den „River Royal“, der bis zu einer englifchen Mteile breit wird und gerade 
nad Norden fließt. Die Schaaren von Krokodillen, welche die Flußufer be- 
völfern, zwangen unſere Reifenden, eine Strecke landeinwärt3 dem Lauf des Fluffes 
durch Urwald zu folgen, bi3 an einen großen Waflerfall, der, 900° breit, 179° 
tief, mit ſolchem Getöje herabjtürzt, daß man einen Flintenſchuß in 50 Schritt 
Entfernung nicht vernimmt (S. 200). Am linken Ufer erheben fich die Berge 
hier bis zu 5000° Höhe. Im Norden diejes Gataractes trafen fie erft wieder 
auf Papuas und zwar auf mit Schießgewehren bewaffnete (S. 205). Lawſon 
hatte inzwijchen genügende Kenntniß der Papuaſprache erlangt, um ſich hier ver- 
ftändlih machen zu können. Sie nannten den großen Fluß „Chingoo mellan“, 
d. h. „Fluß des Gottes Chin“ (S. 209), „welcher nad) der papuaniichen Mytho— 
Iogte alle Meere, Flüffe und Seen der Welt erfchuf, und zugleich die Fiſche, welche 
in ihnen haufen, während feine drei Brüder, Am, Loojhang und Dillah, die 
Erde, die Pflanzen und die Thiere ſchufen und ihre Schwefter, Moufhat, allen 
beihmwingten Welen: Vögeln, ledermäufen und Anjecten, Leben gab.” Dieje 
Papuas des Nordens jagten aus, daß die See in circa 1Y/, Tagen zu erreichen 
je. Sie hatten nie vorher einen Europäer oder einen Schwarzen gefehen, 
aber von beiden gehört. Malayijche und hinefiiche Schiffe Frequentiren die Nord- 
füfte, welche, wie ein Blick auf die Karte ergibt, hier etwa 2 Grade von der 
Humboldtbai im Weften und etwa 3 Grade von der Aftrolabebai im Oſten 
entfernt liegt. Leider ſchildert Lawſon diefe Papuas nicht im Detail; aus obiger 
Bemerkung, daß fie noch feinen Schwarzen gejehen, geht hervor, daß fie jelbft 
nicht ſchwarz find, um jo bemerfenswerther, ala die Bewohner der genannten zwei 
Baien wol ſchwarz von Farbe. Auch Lawjon’3 Papuas der Südküfte fcheinen 
„rahlgelblich” gefärbt (S. 11). Der kühne Capitän und jeine Begleiter ließen ſich 
zu einer Bootfahrt flußabwärts in Gejellichaft diefer Papua verleiten; e3 ent- 
5* 


68 Deutjche Runbichau. 


ftand ein Streit, ein Kampf, und Lawſon rettete fich flüchtend mit zweien in 
den Wald nach Weiten. Sie legten, unabläſſig fliehend, an einem Tage vom 
Morgen bis Abend mehr ala 50 engliiche Meilen zurück (S. 220), eilten unge- 
fäumt weiter nad) Süden, paffirten erft einige Dörfer, dann tagelang Wälder, 
endlich parkartige Ebenen und trafen wieder auf den „River Gladftone“, etwa 
10 engliſche Meilen von der Stelle entfernt, an der fie den Fluß auf ihrem 
Marie nad) Norden überihritten Hatten, jegten wieder über, umgingen den 
„Mount Hercules” und marjchirten dann dem weftlichen Ufer des „Lake Aleran- 
drina“ entlang, Freuzten die „Papuan Ghauts“ und trafen, wie bereit3 gemeldet, 
twohlbehalten, wenn auch arg ftrapazirt, in Mahalla’3 Dorf wieder auf ihren 
Ausgangspunkt, von [wo in kurzem Houtree erreicht wurde. Im Hafen lagen 
9 malayiiche und 2 hinefiihe Schiffe, und mit einem der leßteren ging Lawſon 
nah Banda. Dort traf er am 1. März 1873 ein, mußte fi krankheitshalber 
3 Monate im Militärhofpital verpflegen laffen, two er von „einem Doctor van 
Handel jehr Freumdlich behandelt wurde” (S. 282), und reifte am 7. Juni über 
Singapore und Galcutta nad) England.*) 

So weit bemühten wir uns, möglichft objectiv Gapt. Lawſon's Reiſeweg 
kurz zu Folgen troß der Ungeheuerlichkeiten, welche dieje nadte Aneinanderreihung 
der geihilderten Thatſachen Ichon dem Leſer zumuthet. Gehen wir daran, ehe 
über den jonftigen Inhalt des Buches einige Worte gejagt werden follen, jo kurz 
wie möglich) nachzuweiſen, daß Gapt. Lawſon diefe Reife nicht gemacht haben 
kann, deutlicher geſprochen, daß es ſich um eine fingirte Reiſegeſchichte handelt. 

Der Punkt auf Neu-Guinea, auf welchem nad) Lawſon's Beftimmung 
Houtree, fein Ausgangspunkt, Tiegt, würde nad) der Admirality Chart 2759a 
(Sept. 1873) oder nad) Imray's Karte: East India Arch. Eastern Passage to 
China and Japan Chart N. 3 (London 1872), in der See, ein Klein wenig nad 
Dften von Briftow Is. liegen, im Often des großen Warrior-Riffs, welches die 
Torresitraße nach Welten zu ſperrt. Hier alfo hat Gapt. Latofon fich jedenfalls 
geirrt, wenn er überhaupt in diefer Gegend eine Ortsbeftimmung vornahm. 
Denn daß die Angabe der Karten irrthümlich fein ſollte, ift durchaus nicht 
annehmbar. Gapt. Blackwood hielt fi) gerade an diefem Punkte, im Often 
von Briſtow %3., auf der Vermeſſungsreiſe des Schiffes „Fly“ Längere Zeit mit 
feinem Stabe auf**), und e8 wurden viele Punkte hier vermefjen, was bei der 
unbezweifelten Tüchtigkeit jener englii den Seefahrer feinen Zweifel an der 
Nichtigkeit der Aufnahmen zuläßt. Zudem erfuhr Jules auf Eroob (Darnley 
Island) von den Bewohnern die Namen von 17 an der Hüfte Neu-Guinea's 
gelegenen Dörfern ***), aber fein Houtree ift darunter. Allerdings Könnte ſich 


*) Zwei Monate jpäter war ich felbft in Banda und verkehrte kurze Zeit mit bort 
anfälfigen Europäern. Ich kam von Neu-Guineg zurüd und erzählte von meinen Reilen, aber 
Niemand erwähnte mir gegenüber des Gapt. Lawſon, der quer durch Neu-Guinea gegangen 
fein will an jeiner breiteften Stelle, und der fich vor zwei Monaten drei Monate lang auf dem 
fleinen Banda aufgehalten habe. 

**, Narrative of the Surveying Voyage of H.M. S. Fly, commanded by Capt. F. P. Black- 
wood, 1842—46, by J. B. Jukes. London, 1847. 1. S. 211 fie. 

2) L c. S. 211. 


Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu-Guinea“. 69 


das in 30 Jahren geändert haben, wenn es auch, da man andere Erfahrungen 
nach diejer Richtung Hin auf Neu-Guinea zu Rathe ziehen kann, nicht wahrichein- 
lich ift, jo daß diejer Umstand die Bedeutung von Lawſon's Angabe weiter herab- 
tet. ©. 9 jagt num unfer Autor ferner, daß Houtree jährlich von 3 oder 4 
kleinen holländiichen und von einigen Hundert malayijchen und chineſiſchen 
Schiffen bejucht werde, und daß während jeiner l4tägigen Anweſenheit über 
20 Schiffe dort anliefen; ein jolder Hafen aber fann an dem bezeichneten Orte 
gar nicht Liegen. Die Schifffahrt durch die Torresftraße von Weften ber ift 
durch die ungeheuer ſtarke Strömung und dur das große, von Norden nad) 
Süden ſich erjtredende Warrior» Riff*) für jene feinen Schiffe jo gefahrbrin- 
gend, daß ein jehr großer Procentjat jährlich dabei jcheitern würde, und es 
kann Schon aus diefem Grunde gar nicht ernfthaft darüber debattirt werden, ob 
Houtree ein jo großer Hafen jei, oder nicht. Am Dftrande dieſes Warrior-Riffs 
liegt alſo Houtree feinesfalls. Allein auch abgejehen davon, würde es auf 
anderem Wege längft bekannt jein, wenn ein jo ſtark frequentirter Hafen hier 
oder in der Nähe läge. Die nächfte holländiiche Anfiedelung wäre etwa 200 
deutiche Meilen entfernt. Bon Ceram und Banda ꝛc. wird wol nad) der gegen- 
überliegenden Küſte Neu-Guinea’3 Handel getrieben, aber nicht bis in jo weite 
Ferne, und jene Flottille inländiicher Fahrzeuge, welche von Makaſſar auf Ge- 
lebes jährlich nad Oſten zieht, wirft fi auf die Aru-Inſeln oder auf die nähere 
Küfte Neu-Guinea’3; es hat daher pofitiv feine reale Unterlage, wenn Gapt. 
Lawſon einen großen Hafen jo weit nad) Often verjeßt und ihn Houtree nennt. 
Wenn er überhaupt eriftirt, wenn er fein ganz leeres Gebilde der Fantaſie ift, 
jo wäre er möglicheriveife um über 100 deutjche Meilen weiter nad) Weſten zu 
juchen. Das Wenige, was Lawſon von den Bewohnern der bejuchten Küfte jagt, 
zeigt, daß fie nicht mehr auf der niedrigsten Stufe der Entwidlung ftehen, während 
wir gerade willen, daß die Papuas faft der ganzen Südküfte nadt gehen (ſ. u. A. 
Jukes 1. c. ©. 214) und daß fie keinesfalls mit Weihen und mit Malayen und 
Chineſen in intimere Berührung gelommen find. 

Laffen wir nun die Reife im Innern Neu-Guinea’3, die Capt. Lawſon 
gemacht haben will, vorläufig noch bei Seite, und betradhten wir uns den End— 
punft jeiner Tour nahe der Nordküfte. Da Lawjon gerade nad) Norden gegangen 
jein will, jo wirde der große Fluß, den ex befahren, der „River Royal“, etwa 
2 Grad öftlih von der Humboldtbai in den Ocean ſich ergießen. Zu Herrn 
Lawſon's Unglücd aber ift auf der berühmten Reife der „Aftrolabe“ im Jahre 
1827 an diefer ganzen Nordküfte von Dumont D’Urville entlang gefahren, jedoch 
nirgends der Ausfluß ſolcher Maſſen ſüßen Waſſers fignalifirt tworden**). Erſt 
der jchon eingangs genannte Mamberan, 75 deutiche Meilen weiter nad) Wejten, 
ift ein Fluß, der für Lawſon's River Royal in Frage kommen könnte. Die 
Bewohner ferner diejer Nordküfte, welcher Lawjon nahe gewejen zu jein behauptet, 
zeigen, ebenſo wie die jeiner Südküfte, ſchon tiefer gehenden Einfluß von Seiten 


*) Es wurde daher im Beginne des 17. Jahrhunderts jo lange vergebens nad) einer Durch: 
fahrt geſucht; man hielt hier Neu-Guinea und Auftralien für ein Land. 

”*) Siehe die franzöfiiche Karte ber Expedition der Astrolabe. Hyd. Fr. Nr. 765, Nr. 28 
unb Nr. 767, Nr. 30. 


70 Deutſche Rundſchau. 


handeltreibender Völker. Sie haben Gewehre und Piſtolen,“) nicht etwa nur 
an der Küfte jelbft, jondern meilenweit im Innern; fie verftehen die Sprache 
bes Südens, während e3 von Neu-Guinea aufs jpeciellfte befannt ift, wie fi 
faft von Dorf zu Dorf die Eingeborenen gegenfeitig nicht mehr verftehen. Zwar 
ſagt Herr Lawjon ausdrüdlih**), daß nur eine Sprade auf Neu-Guinea ge= 
ſprochen wird und daß viele Wörter diefer Sprache zweifellos vom Malayiichen, 
Hindoftaniichen, Chinefifchen und anderen Sprachen abgeleitet feien, allein eine 
jolde Bemerkung ift in einem soit disant wiſſenſchaftlichen Buche doch gar zu 
thöricht, ala daß es nöthig wäre, näher auf diejelbe einzugehen, und der Verfafjer 
zeigt damit allein jchon nur zu deutlih, daß der Endpunkt feiner Reife nahe 
der Nordfüfte ganz wo ander? gewejen fein muß — wenn dieſer Endpunkt 
überhaupt irgendivo war — al3 zwiichen Humboldt- und Aftrolabe-Bai, deſſen Be- 
wohner heute noch faft unbeeinflußt in der Steinzeit Ieben, und deren Sprachen wir 
auch ſchon ala grundverſchieden in faft allen Ausdrücden kennen. So heißt 3. 2. 
in der Humboldt=-***), in der Ajtrolabe-Baif) 


Teuer ai bia 
Waſſer (ſüß) naan 1 
„Galz) taar wal 
Tabak sabegei kas 
Kofospalme niem munki 
Huhn olin tu 
Paradiesvogel tiaar omul 


u. ſ. w. 

Doch ſchon in der Aftrolabe-Bai jelbft gibt es eine Reihe von verjchiedenen 
Dialekten, und kurzum, es bedarf feines Wortes eines weiteren Beweiſes, daß es 
gerade ein Charakterifticum der Bewohner Neu-Guinea's ift, womöglich in noch 
höherem Grade, al3 es auch bei andern wilden Völkern der Erde vorkommt, 
daß ihre Sprache fich in unzählbare, einander unverftändliche Dialekte jpaltet +), 
und die Behauptung des Capt. Lawwjon, daß er im Norden Neu-Guinen’3 ſich 
mit der Spradhe des Südens verftändlich machen Tonnte, beweift daher zur 
Evidenz wenigftens das, daß dieſer Reifende mit der Wahrheit auf feinem freund- 
ſchaftlichen Fuße lebt. 

Da Lawjon alfo die Reife, welche er vorgibt gemacht zu haben, ſchon aus 
obigen Gründen platterdings nicht gemacht haben Tann, jo könnte man vielleicht 
die Frage aufwerfen, ob er etiva Neu-Guinea mehr nad) Weften hin, von Süden 
nad Norden und zurüd gekreuzt habe, und zwar etwa zwiichen dem 136. und 


*) ©. 205. 
2 6, 277. 
») v. Rojenberg: Nat. T. voor Ned. Indie XXIV. S. 349. 
+) U. B. Meyer: Tydschr. v. indische Taal, land en volkenk. 1872 und briefliche Mit: 
theilungen an ben Verfaſſer von Herrn von Ronticheväty, der auf ruffiichen Kriegafchiffen zwei— 
mal bie Aftrolabebai befucht hat. 
tt) ©. auch A. B. Meyer: Ueber bie Mafoor'ſche und einige andere Papua-Sprachen auf 
Neu⸗Guinea; herausgeg. von ber k. k. Akademie der Wiſſenſch. zu Wien, Bd. LXXVI. ©. 299 
unb flg., wo id u. U. auf ©. 355 die Zahlen von 1 bi 5 in 21 verfchiebenen Dialekten nur 
des norbweftlihen Theiles von Neu:Guinea zufammenftellte. 


Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu-Guinea“. 71 


138.° ö. &. Dort wird an der Südküfte Handel von Malayen und Chinejen 
getrieben, und auch europäifche Heine Schiffe dürften dann und wann jene 
Gegenden beſuchen; dort erhebt fi im Binnenlande eine hohe, von Dften nad) 
Weſten verlaufende Bergkette, auf welcher man ſogar Schnee gefehen haben will*), 
an deren Nordabhängen der Mamberan entipringen muß, der jeine ungeheuren 
MWaflermafjen an der Oftipie der Geelvint3-Bai ind Meer jendet, und an deſſen 
Ausfluß ich jelbit im Jahre 1873 verweilte.e Wäre nun der weitere Inhalt des 
Lawſon'ſchen Buches der Art, daß er Vertrauen erweckte zu der Wahrheitsliebe 
des Berfaflers, jo lohnte es ſich vielleicht, jene Frage zu discutiren, und den 
möglichen Irrthümern, Tehlerquellen oder Motiven nachzufpüren, um die Aus- 
fagen des Reijenden verftehen zu lernen, und um fie zur Erweiterung unjerer 
Kenntnig jenes noch jo unbekannten großen Landes zu verwerthen. Allein die 
folgenden Notizen und Auszüge werden den Lejer vollends überzeugen, daß 
Gapt. Lawjon rein erfunden hat und zu feinem Schaden recht unglüdlich er- 
funden bat, und daß es fich nicht lohnen Tann, vielleicht einen Kleinen Kern von 
Wahrheit aus einem dichten Gewebe grober Täuſchung Herauszujchälen. Die 
Unmafje von geradezu haarfträubenden Behauptungen, die auf jeder der 283 
Seiten des Buches ausgeftreut find, macht es mir jchiwer, eine Auswahl zu 
treffen, um meine obige Behauptung zu belegen, da der Leſer meinen könnte, ich 
juchte einzelne Abjonderlichkeiten heraus, während aber, jelbft wenn ich eine große 
Reihe aufzählte, noch Hundertmal mehr unberührt bleiben würden. 

Neu-Guinen ift befanntlich, was die Säugethier-Fauna anlangt, wie Auftra- 
lien im Weſentlichen nur von Beutelthieren bevölkert. Der Tiger geht nicht 
weiter nad Often ald Java, der Affe nicht weiter nad Oſten als Timor und 
Batjan und dorthin mag er ſchon von Menjchenhand gebracht worden jein, der 
Hirſch nicht weiter nad Oſten als Halmahera, der von Menjchenhand über den 
oftindiichen Archipel verbreitete Büffel iſt noch nicht bis Neu-Guinea geführt u. |. w. 
Wir fennen von größeren Thieren auf diefer Inſel nur das Schwein, und es 
haben Naturforicher jchon viele Eden der großen Inſel genugfam benagt, jo daß 
man getroft behaupten darf, der Charakter der Thierbevölferung ſei in dem 
ganzen Lande derjelbe. Es jchließt das nit aus, daß das Innere nicht noch 
ungeahnte Schäße an unbekannten Thierformen bergen könne, aber jo viel ift 
ficher, diefe Funde werden nicht all’ unjere bisherigen Kenntniffe von der Ver— 
breitung der Organismen und von den Grenzen ihrer Verbreitungsbezirke über 
den Haufen werfen. 

Sehen wir nun, was Gapt. Lawſon auf Neu-Öuinea an vierfüßigen Thieren 
gefunden haben will: 

Nahe dem Strande der Südfüfte, in der Umgebung von „Mahalla’3 Dorf“ 
fand er Schwärme einer großen, langgeſchwänzten Affenart (S. 23) und Lawſon 
und feine Begleiter jchoffen hier an 20, vertoundeten außerdem eine Reihe. Sie ver- 


) ©. Sal. Müller’3 Reifen im Jahre 1828 (Amft. 1858, ©. 17) und Carſtensz' Reife im 
Jahre 1623 (v. Dyt: Mededeelingen uit het Ost. Ind. Arch. Amst. 1859, S. 11 und 6. 
Journald S.15): „landtwaer in, na gissinge 10 mylen, verthoonde hem overhooch geberchte 
dat op vele plaeten wit met snee bedect lach, wesende certain vry wat vremts als op bergen, 
soo na de linie equinoctialis gelegen, snee te hebben.“ 


72 Deutſche Rundſchau. 


ſpeiſten zum Abend einen dieſer Affen geröſtet (S. 24). Am folgenden Tage 
nordwärts wandernd ſah Lawſon Hirſchſpuren (S. 25) und hörte von Tigern 
(S. 26), „Moolahs“ in der Sprache des Landes. Bald auch begegnete ihm ein 
Rudel Hirſche von 50 bis 60 Stüd (S. 33), und er ſchoß den alten Bock, der 
die Heerde führte; derfelbe wog 140—150 Pfund; nicht viel ſpäter (5.39) fand 
Lawſon ala Ueberreft einer Mahlzeit eines Tigers einen großen Hirſch, einer Art 
angehörig, welche fich von allen, die er bisher gejehen, unterjchied. Auf papuanifch 
heißt diefer Hirſch „das mellan“. Lawſon unterläßt nicht, ihn jo genau zu be- 
ichreiben, wie die von dem Tiger übrig gebliebenen Reſte es erlauben, und ſpricht 
nad) Anleitung der Berichte der ihn begleitenden Papuas über die Art und 
Meile, wie diefe Hirſche mit ihren außerordentlich harten und ſcharfen Hufen 
fih oft mit Erfolg der Tiger erivehren. ©. 99 trifft unfere Reiſegeſellſchaft eine 
Heerde von 2= bis 300 Hirſchen und erlegt 5 Stüd, jedes 40-50 Pfund wiegend. 
63 würden mehr erlegt worden fein, wenn nicht Lawſon ein Feind nublofer 
Tödtung wäre. Diefe Hiriche gehörten einer anderen und Eleineren Art an, ala 
der erfterwähnte, und auch dieje Art wird beichrieben bis auf den Mageninhalt 
hin, der aus Pflanzenfafern beftand in nahezu runden Ballen von Wallnuf- 
bi3 Drangengröße. ©. 56 wird wieder ein Hirih von 100—120 Pfund erlegt. 
©. 227 endlich — abgejehen von einigen anderen Stellen, an denen von Hirſchen 
die Rede ift, 3. B. ©. 84, ©. 181 u. a. m. — erwähnt der glückliche Reifende 
4 oder 5 verjchiedene Arten von Hirichen, was um jo bemerkenswerther ift, als 
alle Vorgänger auf Neu-Guinea zulammen genommen noch nicht eine Art ent- 
deckt haben. Daß in dem ganzen weltlichen Theil von Neu-Guinea feine Hirjche 
wild vorkommen, kann ich mit Beltimmtheit behaupten, denn aus Hirſchgeweih 
geſchnitzte Amulette und Mefjerklingen werden dort von den Papuas jehr hoch 
geihäßt, wie jo leicht nicht etwas, was fie in ihrem eigenen Lande haben; und 
da ich) Beweiſe genug jah, daß alle möglichen Gegenftände dur Taufchhandel, 
der durch jehr viele Hände geht, von einer Hüfte, quer über das Land und Ge- 
birge, zur anderen gelangen, jo würden auch Hirichgeweihe aus dem Innern an 
die Küfte fommen, wenn ihre Träger dort in wilden Zuftande hauften. Ein 
Shiffscapitän brachte vor einigen Jahren ein Paar Hiriche von Halmahera nad 
Neu-Guinea und ließ fie dort los; ich habe jedoch Grund zu glauben, daf fie 
ſich nicht vermehrt haben, jondern daß fie wahrſcheinlich, ehe diejes möglich ge- 
wejen, von den Eingebornen erlegt worden find. 

Auf den „Papuan Ghauts“ Fand Lawſon Heerden wilder Ziegen. Sie hatten 
6—9 Zoll langes Haar (S. 47). In dem Dorf „Burtemmy Tara“ nördlich 
der ebengenannten Bergfette bejaß ein Papua 100 Stüd zahmes Vieh (©. 63), 
Och ſen und mildhgebende Kühe, welde (S. 66) in ihren zoologijchen Charakteren 
ſtizzirt werden, auch begegnen fie jpäter (S. 74) Vieh und Ziegen hütenden 
Papuas. In den Straßen der Dörfer Tiefen viele Ziegen, Schweine und Hunde 
umber (S.65). Später ſchoß Lawjon 7 „Neu-Guinea-Hajen” (©. 85), die faft 
ebenjo find wie die europäiichen, aber nur halb jo groß und nicht ganz jo hoch— 
beinig. ©. 115 traf er auf einer parkartigen Ebene im Graje die Neu-Guinea— 
Hafen jo eng zujammen, daß er fie mit Stöden todt ſchlug. Am 6. Auguft 
paffirte die Reifegefellichaft eine Heerde von etwa 100 Büffeln, „von genau 


Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu:Guinen”. 73 


derjelben Art wie die indiichen“ (S. 87). Bald jahen fie noch größere Heerden: 
„Wir kamen bei weiteren 3 Büffelheerden vorbei, die eine muß 3- oder 400 
Thiere groß geweſen jein“ (S.88). Später (S. 117) befteht Lawſon einen fieg- 
reihen Kampf mit einem großen alten Büffel, der eine Heerde führte; der kühne 
Jäger wurde von diefem Büffel mindeftens 30 Fuß hoch in die Luft gefchleudert 
(S. 123). Gegen Ende des Buches (S. 240) aber erzählt ex von einer immenjen 
Büffelheerde, die fie innerhalb */, engl. Meile paifirten, und die mindeftens 
10,000 Stüd groß war! Gin Pärchen großer, menjchenähnlicher Affen erlegte 
Lawſon mehr im Innern; er hatte dafjelbe überraicht, ala das Männchen dem 
Weibchen Tiebkojend aprikofenartige Früchte präfentirte (S. 144 u. flg.); das 
Männchen maß 5° 3* und hatte 42* Bruftumfang; das Weibchen 5° und 39%, 
„Am Rüden hatten fie faft fein Haar, in Folge von Reiben an Felſen und 
Bäumen; Hand und Fuß aud ganz nadt. Nede Hand hatte 4 Finger und 
einen Daumen, aber an jedem Fuß waren 4 Zehen! Das Gehirn des 
MWeibchens war ein wenig größer als das des Männchens.“ Auch an der Süd— 
füfte fommen fie vor und die Papuas nennen fie „tilang-noo* i. e. „der wilde 
Verrückte“ (S. 146). Vorher jhon (S. 97) Hatten unſere Reifenden andere 
Abenteuer mit Affen zu beftehen: Ein großer Trupp warf von den Bäumen 
herab mit Nüffen und jelbft mit Unrath, umd der Leiter des Trupps „ſpuckte 
mit dem ganzen Ernft eines menfchlichen Weſens“ auf fie herab, für welche 
Frrevelthat Lawſon ihn tödtete. In Folge deffen wurden fie drei volle Stunden 
von den Affen verfolgt, bombardirt und jämmerlich zugerichtet; endlich ließen 
fie ab, aber jo lange die Reilenden in Sicht waren, drohten die Affen mit den 
Fäuſten, herausfordernd und rachſüchtig. Auch ein Kampf zwiſchen Krokodilen 
und Affen wird (S. 188) beſchrieben, wobei ein Affe einem Krokodil mit einem 
ſpitzen Stock das Auge durchbohrt, und bei welcher Gelegenheit ſowol Krokodil 
als auch Affe mit menſchlichem Geberdenſpiel dem feinen Beobachter die geheimen 
Regungen ihrer Herzen offenbarten. 

Auch Füchſe ſah Lawſon bei mehren Gelegenheiten (S. 143 und 229), 
Eichhörnchen (©. 54), Ratten-artige Thiere ohne Zähne (S. 173), und ſollte 
es bei den obenerwähnten Spuren von Tigern nicht bleiben. ©. 164 u. flq. 
wird ein Kampf mit einem Tiger geichildert, der ja in einer richtigen Reife 
beichreibung nicht fehlen durfte, und in welchem Lawjon nur „dur des All- 
mächtigen Hülfe“ mit dem Leben davon kam (S. 169). Der erbeutete Tiger 
war von Geftalt genau wie der indiſche, auch nicht Kleiner, aber viel hibjcher. 
Seine Länge betrug 7° 3“. Die Haut diejes Tigers hat Lawſon jogar mit nad) 
Europa gebracht. Einen zweiten exlegte er ſpäter (S. 182) von 7° 10“ Länge, 
das ift 2” länger, als Herr Lawjon es jemals in Indien gejehen hat. Endlich 
war ein dritter jo unverihämt, einen von Lawſon's Begleitern im Schlafe 
davonzutragen, allein, da diefer das Unthier mit der Fauſt gut bearbeitete, 
lie es feine Beute wieder fahren und ſetzte fie wohlbehalten im Jungle ab. 
Lawion bemerkt hierzu (S. 203), daß er jelbft ſchon zwiſchen ben Zähnen eines 
Tigerd geweſen fei, und daß er viele bemerfenswerthe Rettungen Anderer erlebt 
babe, allein jo etwas war jelbft ihm noch nicht vorgelommen. Wir ichließen 


74 Deutiche Rundſchau. 


und dem Erftaunen unſeres Autor an, wenn wir auch jeinen weiteren Erflä- 
rungsverſuch dieſer Jagdgeihichte nicht acceptiren können. 

Nach alledem aber fieht der geneigte Lejer, daß hier nur die folgende 
Alternative obwalten kann: entweder müfjen wir unſere Anſchauungen von der 
Verbreitung der vierfüßigen Thiere umändern und als Bewohner Neu-Guinea’3 
Affen, Tiger, Hirſche, Büffel, Ochſen, Füchſe und Hafen regiftriren, oder wir 
müſſen Herrn Lawſon feinen Glauben ſchenken. Es ift dies eine leidige Alter- 
native, allein über ihre Entſcheidung kann fein Zweifel obwalten. 

Ich wählte Obiges zu einer etwas ausführlicheren Darftellung, um jo dem 
Lefer die Daten jelbft an die Hand zu geben, daß er ſich ein Urtheil über diejes 
Buch bilden könne. Allein e3 enthält noch andere Abfurditäten, welche jene 
vielleiht an Kühnheit übertreffen. E3 jeien kurz nur die folgenden Punkte 
gejtreift. 

Vögel gibt es in der größten Mannigfaltigkeit und Schönheit auf Neu- 
Guinea, wie männiglich befannt, und e3 wäre daher auffallend, wenn fie Herrn 
Lawſon nicht begegnet jein jollten. Da er nun in anderen (wiſſenſchaftlichen) 
Reijebeichreibungen gelejen, daß ein Naturforjcher bei jolcden Gelegenheiten „neue 
Arten“ entdeckt und fie beichreibt, jo beichreibt auch er flott weg feine neuen 
Arten, troßdem es kaum einen Ornithologen von Fach geben mag, der im 
Stande wäre, an Ort und Stelle darüber zu urtheilen, ob ein Vogel, der ihm 
im tropifchen Walde begegnet und den er auch manchmal exlegt, der Wiſſenſchaft 
befannt jei oder nicht; dazu bedarf es eines gründlichen Literariihen Studiums 
und des directen Vergleiches des betreffenden Objectes mit den in Muſeen auf- 
beiwahrten verwandten Formen oder deren Beichreibungen. So findet Lawſon 
(S. 92) eine „neue“ Ente und bejchreibt fie. Auf S. 93 wird ein Eisvogel in 
allen Einzelheiten geſchildert, aber dieſe Schilderung verftößt gegen den allge- 
meinen Charakter der genannten Gruppe, und man kann getroft jagen, daß ein 
derartig gefärbter Eisvogel nicht eriftirt. ©. 55 werden wir mit einem Faſan 
auf Neu-Guinea und einer Reihe anderer unbelannter „Vögel“ bekannt gemacht, 
ebenjo auf S. 1%. Da aud ein neuer Paradiesvogel naturgemäß zu einer 
Entdeeungsreife auf Neu-Guinea gehört, jo werden auc zwei jolche entdeckt 
und beſchrieben (S. 194). Natürlich zeigen fie bunte und abenteuerliche Formen. 
Allein nicht nur hierdurch verfuht Capt. Lawjon in vergeblihem Bemühen, 
jeinem Buche da3 Gepräge der Wahrheit aufzudbrüden, er jchildert an vielen 
Stellen aud) das Leben der Vögel. So (©. 18) da3 von Nasiterna pygmaea, den die 
Papuas „siskin“ nennen follen, jenen merkwürdigen Ziwergpapagei von Neu- 
Guinea; nur jchade, daß dieſe Schilderung nicht den Thatſachen entipricht, fo 
gut fie erfunden jcheinen könnte. Die Nefter und Eier der Paradiesvögel find 
für den Ornithologen nod) ein pium desiderium, um das ſich die verfchiedenften 
Reifenden bis jetzt vergeblich bemühten. Herrn Lawſon gelang es leicht und 
jofort, fie zu finden (S. 26). Da er wol unflar darüber ift, daß es mehr ala 
20 Arten von Paradiesvögeln gibt, jo jpricht er bei diejer Gelegenheit nur von 
„ven“ PBaradiesvogel und meint damit wahrjcheinlich Paradisea papuana. Jedes 
Neft enthielt 5 Eier, zart roſa mit roth gefledt. Aber ſchon an der Bejchreibung 
des Schreied von Paradisea papuana ift erfichtlih, daß Herr Lawſon diejen 


Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu-Guinea“. 75 


Vogel nit im Freien gefehen bat; denn jein lauter Ruf prägt dem Walde 
Neu» Guinea’3 einen Charakterzug, möchte ich jagen, auf, man hört ihn 
Morgens und Abends und überall, und nur die Flüchtigkeit des Vogels und 
feine Gewohnheit, die höchſten Bäume zu frequentiren, bewirken, daß man ihn 
jo jchwer erlegt. Nach Lawſon befteht die Nahrung des Paradiesvogels aus- 
ſchließlich aus Inſecten (S. 28), allein e8 ift befannt, daß er ebenjotwol Früchte ver- 
zehrt. S.44 wird auch eine Pflangenfafer beichrieben, aus der der Paradiesvogel 
fein Neft macht; allein Lawſon jagt vorfichtig dazu, daß nur die Paradiesvögel 
gewiſſer Diftricte fich diefer Pflanze zu diefem Zwecke bedienen, und daß fie es 
ſelbſt in diefen Diftricten nicht ftet3 thun! Diefe Pflanze trägt eine narciffen- 
artige Blume von 9 Zoll Durchmeffer, weiß mit roth gefledt! 

Auch die Menge der Vögel, die Lawſon trifft, ift bemerkenswert. Enten 
und Waflerhühner jo dicht zufammen wie Grashüpfer (S. 190); er -tödtete oft 
6 oder 7 mit einem Schuß, fogar einmal mit 2 Schüffen 19 (S. 107). Im 
einer Stunde: 39 Enten, 5 Ibiſſe, 2 Stördhe, 7 Eisvögel und 3 „neue“ Vögel 
(S. 1%). Nach einem Sturm mit Hagel von der Größe von Hühnereiern 
(S. 82) lagen Hunderte von todten Paradiesvögeln, Papageien und anderen 
Bögeln zufammen mit vielen Affen todt auf der Erde (S. 84). Ein Baum 
(S. 29) beherbergte Zaufende von Papageien und anderen Vögeln. ©. 228 
endlich zählte Lawſon in einem Baum über 1000 Nefter und in der betreffenden 
Gruppe von Bäumen nit weniger ala 20,000!! 

Große Schlangen findet der Reifende häufig, 3. B. ©. 261 eine von 40’ 
Länge. Einmal aud eine Eleinere mit */,“ langen Hörnern über den Augen 
(S. 86). Dur einen Prairiebrand (S. 173) werden Hunderte erichredte 
Schlangen herausgetrieben und jchodtweije von den Reifenden erſchlagen. Durch 
einen Sumpf gehend, mußten fie bei jedem Schritt auf Fröſche treten und 
tödteten auf diefe Weile Zaufende (S. 131). In dieſen Sumpf verjant einer 
der Begleiter Lawſon's bis an den Kopf, wurde aber zu unjerer Beruhigung 
noch glüdlich gerettet (S. 129). An den Ufern der großen Flüſſe im Norden 
gab es unglaublich viele Krofodile; einen Frechen Gefellen, der fie angriff (S. 180), 
erſchoß Lawſon, allein er fand an Krokodilſteals feinen Lederbiffen. In einer 
Stunde kamen fie einmal an 314 Krokodilen vorbei! (S. 193.) 

Damit feine Abtheilung der Thierwelt leer ausgeht, jo werden auch viele 
Fiſche beichrieben (S. 94 u. a. m.). Skorpione, die ımjer Autor wiederholt 
zu den Reptilien zählt, begegnen ihm bis zu einer Größe von 13 Zoll (S. 230), und 
einmal (S. 80) ift er dabei, wie ein Papua in Folge eines Storpionftiches in 
kurzer Zeit ftirbt. „Der Körper wird jchnell eine Mafje lebender Fäulniß, bis 
das fermentirte Blut einen Ausweg durch die Deffnungen des Kopfes findet 
und der Unglückliche von feinem Glend durch den Tod erlöft wird“ (©. 81). 
Ein Käfer, 5'/,“ lang und 3* breit, mit 2” langen Hömern, „ber größte ber 
Welt”, wird auf ©. 58 befchrieben, ſowie ein Schmetterling, der mit ausge— 
breiteten Flügeln einen Fuß maß, deffen Körper 6* und deffen Fühler 7* lang 
waren! Kurzum, von Allen das Abenteuerlichfte und Größte war es Herm 
Lawſon's gutes Glück, wenigftens etwas zu finden! Ginmal trifft er fogar auf 
3 menſchliche Stelette (S. 236), die Individuen angehörten, welde erft vor 


76 Deutiche Rundichau. 


wenigen Stunden getöbtet worden waren; die Ameijen Hatten fie in diejer 
kurzen Zeit zu Sfeletten abgezehrt! Auch S. 40 leiften die Ameijen ihr Mög— 
lichftes. Im eine Probe von Lawſon's Naturbeichreibung zu geben, citiren wir bie 
Schilderung der Blumenpradt, die er irgendivo gefunden (S. 189): „Nie vorher 
hatte ich jo viele verjchiedene Arten zujammen gejehen. Unter den Convolvulus: 
artigen Blumen waren einige gelb mit xoth gefledt, andere weiß mit roth 
gefleckt, blaß violett, ultramarin mit weiß geftreift, ſchwarz mit gelb gejtreift 
und geflecdt, ſcharlach, ſcharlach mit weiß und gelb, braun mit weiß, und einige 
hellgelb.“ Herr Lawjon hat hier jeinen ganzen Farbentopf ausgeleert. Bäume 
und Holzarten gibt es nad Wunſch. Lawſon maß 3 „ulmenartige“ Bäume 
mit folgenden Dimenfionen: 337‘, 312° und 298° hoch, 22°, 25° 9“ und 19° 11” 
Durchmeſſer, und der Umfang des Stammes beim größten diejer drei 84’ 7“ 
(S. 29). Metalle fommen nad unferem Autor zur Genüge auf Neu-Guinea vor 
(S. 280): Gold nicht allzuviel, Silber ift gewöhnlich, es müfjen ausgedehnte 
Minen irgendwo fein; Kupfer, Blei, Eiſen, Zinn in Ueberfluß, wie auch Edel- 
fteine, doc) leßtere meift nicht von hohem Werthe. Alfo es fehlt nichts! Um 
jo frivoler aber erjcheint e8 bei alle dem rein Erfundenen, daß Lawſon ſich nicht 
ſcheut, Gott zum Zeugen anzurufen und ihm für jeine wunderbare Errettung 
zu danken (S. 169, 230 und 238). 

Man fieht, keine Mittel wurden gefcheut, um dem Buch Reiz zu verleihen, und 
alle Regifter wırrden deshalb angejchlagen. Manche Verſtöße gegen die Wahrjchein- 
lichkeit find jo grell, daß fie für ſich allein genügten, um zu beweilen, daß 
Lawſon die Reife überhaupt nicht gemadt hat. So, wenn er jeine Unkenntniß 
davon fundgibt, daß in den Tropen Neu-Guinea’3 die Sonne um 6 Uhr auf: 
‚und um 6 Uhr untergeht. ©. 73—76 wie viele andere Stellen liefern dafür 
die jchlagendften Beweije. Geradezu fomijch aber ift e8, daß Lawſon in 151, 
Stunden einen Berg ca. 23000‘ hoch, wovon 10,000° im Schnee und Eis, hinauf: 
und herabgeftiegen fein will (S. 160).*) Dies ift jo plump erdadt, daß mir 
una jcheuen, im Einzelnen die Unmöglichkeit, dieſes auszuführen, darlegen zu 
wollen. An zu vielen Dingen nur ift e3 Klar zu erjehen, daß Lawſon nichts 
als ein Yantafiebild entworfen hat. Wenn er 3. B. ©. 61 jagt, daß ein Papua 
Tabak rauchte, den er jelten befommen konnte, und ihn denjelben von den Hol- 
ländern beziehen läßt, jo fteht dagegen, daß man bis jet überall auf Neu- 
Guinea die Papuas im urſprünglichen Beſitz von Tabak gefunden hat, und zwar 
an allen Küftenpunkten, die befucht tworden find, und im Innern ebenfall3, denn 
hier im Innern wird der Tabak von den Papuas gebaut. Es ift nicht am Orte, 
zu unterjudhen, auf welche Weije die Tabakapflanze nad) Neu-Guinea gekommen 
fein mag, aber ic) möchte doch aus einigen Reifeberichten meine obige Behaup- 
tung kurz belegen. In der Humboldt-Bai im Norden fand man Tabak im 
Yahre 1858 **), in der Aftrolabe-Bai 1872, wie ih aus mündlichen Mittheilungen 
zuffiicher Seefahrer weiß, im Süden Neu-Guinea’3 fand Jules auf der Ver- 


) Der Montblanc ift nicht ganz 15,000° hoch, der Mount Evereft, die höchſte Spipe 
bes Himalaya, ca. 27,000° und biefer letztere gilt ala höchfter Berg der Erde. Der von Lawſon 
beftiegene Berg auf Neu⸗Guinea wäre alfo mehr ala doppelt jo hoch, als der Montblanc. 

**) Nieuw Guinea enthnogr. en nat. k. onderzocht. Amfterdam 1862, ©. 180. 





Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu-Guinea“. 77 


meſſungsreiſe des Fly (1842—46) denjelben*), und auf dem Arfakgebirge im 
Weſten endlich jah ich ihn jelbft angebaut im Jahre 1873, 

Faſt fommt man bei der Lectüre dieſes Buches auf den Gedanken, daß 
der Autor eine Satire auf moderne Reijebeichreibungen hat geben wollen, und 
erwartet, daß fi) auf der letzten Seite der Schalt herauskehren fol; allein 
nichts davon; e3 ift ihm bitterer Ernſt mit dem, was er und zumuthet 
zu glauben. Wirde Jemand geſprächsweiſe dergleichen auftiſchen, jo könnte 
man fich getroft jchweigend abwenden. Anders, wenn ein Buch von faft 300 
Seiten vorliegt, da3 dem Urtheilslojen ftet3 wieder Anlaß gibt, auf darin 
erwähnte „Thatſachen“ zu recurriren. Hier ift es Pflicht, das Gewebe zu ent- 
wirren und ein= für allemal die Unglaubwürdigfeit nachzuweiſen.“) Nein, Neu— 
Guinea ift im Innern noch unerjchloffen! Wenn es mir im Jahre 1873 geglückt ift, 
da3 Land von einer Küfte zur andern zu Freuzen, jo war da3 an der jchmalften 
Stelle defjelben und die breitefte ift mindeftens 20 Mal jo breit. Der ruffiiche 
Naturforiher Maclay, der 15 Monate lang an der Aftrolabe-Bai im NO. der 
Inſel weilte, konnte abjolut nicht ins Innere dringen, kaum daß er den Küften- 
ftrih verließ, und ebenſo ging e8 ihm im Süden von Neu-Guinea. Es gelten 
daher heute noch troß Lawſon vollwichtig die im Jahre 1847 ausgejprochenen 
Worte des engliihen Naturforſchers Jukes (l. c. ©. 291): „Ich Tenne feinen 
Theil der Erde, deſſen Erforihung der Einbildungsktraft jo ſchmeichelhaft iſt, 
wobei interefjante Rejultate jo wahrjcheinlich, jei e3 für den Naturforjcher, den 
Ethnologen oder den Geographen, und wo Alles zujammen jo wohl berechnet 
ift, der aufgeflärten Wißbegierde eines abenteuerluftigen Forſchungsreiſenden 
zu genügen, al3 das nnere von Neu-Guinea. Neu:Guinea! Die Erwähnung 
nur davon, daß man in das Innere dieſes Landes gelangen könnte, Klingt 
jo, ala ob es Einem geftattet würde, irgend eine der verzauberten Gegenden der 
„Arabien Nächte” zu beſuchen, ein jo dichter Schleier ruht augenblidlic auf 
den Wundern, welche es wahricheinlich birgt.“ 

Nun, Heren Lawſon war e3 leider auch nicht beichieden, diefe Wunder ans 
Licht zu ziehen! \ 

63 ift auffallend, daß jo kurz nad) dem Erfcheinen dieſes Buches eine De- 
putation in London, geführt von dem Herzog von Mandefter, dem Staat3- 
jecretär der Golonien, dem Grafen von Carnarvon, aufwartete und die englische 
Regierung aufforderte, Neu-Guinea zu annectiren. Sollte das ſchon eine Folge 
diefer üppigen Bejchreibung des fernen Landes geweſen fein, welche dort Alles finden 
läßt, was einer handeltreibenden Nation wiünjchenswerth erjcheinen könnte? 
Oder ift dieje „sensation novel“ etwa „auf Beftellung“ gearbeitet? 

Dresden, Mai 1875. 


*) Narrative ot th@ 8. V. of H.M. S. Fly. London 1847. I. ©. 18. 
Im einer Beiprehung in der „Academy“ (Mai 8., 1875, ©. 468) wurben in ber That 
Lawſon's Berichte für baare Münze angenommen! 


3u Goethes Stella. 


Don 
Prof. 2. Urlichs in Würzburg. 


—ñif 


Als Friedrich Heinrich Jacobi Goethe im Februar 1775 nach kurzer 
Trennung zum zweiten Male beſuchte, fand er den Dichter mit dem Abſchluſſe 
des im Winter 1773 begonnenen, im Jahre 1774 liegen gebliebenen Singſpiels 
„Erwin und Elmire“ beſchäftigt; es erſchien im Märzhefte der Iris und wurde 
im Mai 1775 während Goethe's Abweſenheit in Frankfurt von der Marchand'ſchen 
Geſellſchaft aufgeführt. Unmittelbar nachher arbeitete Goethe an Stella; er ſchrieb 
fie in den erften Tagen des März in Frankfurt und Offenbach, im lebendigſten Ge— 
fühl feiner Liebe zu Lili, und in der That keins feiner Stücke wird von einer 
gleichen Gluth der Leidenfchaft erfüllt. Aber er jchrieb da3 Drama nicht allein 
als Liebender,, jondern auch für Liebende; ſchon die Schnelligkeit der Abfaffung, 
verglichen mit der ſtoßweiſe erfolgten Vollendung von Erwin und Glaudinen 
und dem fragmentariſchen Zuftande feiner übrigen Entwürfe, des Prometheus, 
Mahomet, Fauft, läßt vermuthen, daß Stella ebenfo wie die Trarce gegen Wieland, 
Glavigo, Werther einem realen Verhältniffe, welches den Dichter plöglich und 
lebendig anregte, ihren Urſprung verdankte, einem Verhältniffe, das er mit 
dichterijcher Freiheit auffaßte und ummodelte Bisher hat es nicht gelingen 
wollen, diefen äußern Anlaß zu der poetiſchen Schöpfung zu finden. Seht liefern 
die von mir herausgebenen Briefe Goethe’3 an Johanna: Fahlmer, 
Leipzig, ©. Hirzel, 1875 *), wo nicht den Schlüffel, jo doch wenigftens eine deut- 
lichere Spur. 

Unter den 50 Briefen an Johanna find drei (Nr. 20, 25, 35) von der 
Empfängerin Hand mit den Worten „Schik's mir wieder” oder „Schik’3 wieder“ 
bezeichnet. Der lebte, im Auguft 1775 geichrieben, enthält ein ungünftiges Urtheil 
Goethe's über eine Arbeit von Fri Jacobi, ohne Zweifel den Anfang von 
Allwill's Papieren, welche ex nicht gedrudt zu jehen wünſchte. Ebenſo bezieht 
ih Nr. 25, zu Anfang des Aprilmonats gejchrieben, auf eine Anfrage Jacobi's 
über den Verfafler der Farce Prometheus, Deufalion und feine Recenjenten, 
welche Goethe direct zu beantworten ablehnt. Folglich ift auch Nr. 20 von 
Johannen, welche Goethe’3 Beiträge zur Jris übermittelte und mit Jacobi im 
Briefwechjel ftand, an ihren Verwandten und Freund zur Anficht geſchickt worden. 
Dieſes Billet enthält noch eine weitere Notiz; es wird von der Empfängerin 
überſchrieben: „Sonntag Morgen den 5ten (März); ebenfo das folgende Nr. 21: 
„Montag Morgen“. Nur auf Nr. 29 findet fich eine ähnliche Bemerkung: 
„Sonntag Morgen 23. April 1775. Diefe Briefe müfjen aljo für Johanna 


*) Man vergleiche darüber unfre „Literarifche Rundſchau“ in Heft VIIL, p. 276. 
Anmerlung ber Redaction. 

















Zu Goethe'3 Stella. 79 


ein bejonderes perjönliches Intereffe gehabt haben, wie Nr. 25 und 35 für 
Kacobi, Nr. 20- für Beide. 

In Nr. 20 kündigt Goethe Stella an, im folgenden Briefe Nr. 21 über- 
jendet er die erften Bogen zur Abſchrift für Fri. Nachdem Johanna ihre 
Empfindungen mitgetheilt haben wird, ruft der Dichter in Nr. 22 aus: „Ad 
wußte, was Stella ihrem Herzen fein würde” und weiter: „Stella ift ſchon ihre, 
wird durch das Schreiben immer Ihrer, was wird Friz eine Freude haben!“ 

Aber Fritz hatte feine Freude. Ob ihm Goethe während ſeines Be- 
ſuchs in Frankfurt, wobei er dem Freunde erzählt haben wird, „in was für 
Tefleln man ihm, von Kindesbeinen an, Geift und Herz geſchmiedet“ hatte (Brief- 
wechjel zwilchen Goethe und F. H. Jacobi Nr. 7, 6. November 1774), von dem 
neuen Drama eine Mittheilung gemacht hatte, ſteht dahin; vielleicht tauchte der 
ganze Plan erft in Folge diefer Erzählungen auf: aber auf jeden Fall war er 
von Johanna über deifen Fortgang und Ausführung unterrichtet worden. Denn 
ihon am 21. März, bevor er da3 vollendete Stüd kennen lernte, ſchreibt Goethe: 
„Daß du meine Stella jo lieb haft, thut mir wohl“ (Briefw. Nr. 9), und am 
25. März (fo Dünter richtig ftatt 25. Mai) meldet Jacobi: „Diefen Abend er- 
wart’ ich Stella“ (ebd. Nr. 11). Goethe war durch Fritzens erften Beſuch vom 
Schriftftellern abgehalten (6. Febr. an Betty, Zöpprit, aus Jacobi's Nachlaß IL, 
©. 266), und während des zweiten vom 24. Februar bi3 2, März ſchwerlich 
weit über Erwin (F. H. Jacobi's auserl. Briefwechjel Nr. 71, I, ©. 205) 
hinausgefommen. Dann aber ging er mit doppeltem Eifer an das Stück, deſſen 
erfte Spur vielleiht in dem Briefe an Knebel vom 13. Januar Nr. 5, wahr- 
icheinlicher exft in dem Briefe an Auguſte Stolberg vom 13. Februar (G.’3 Briefe 
an die Gräfin Augufte zu Stolberg Nr. 2) ſich findet; am 6. März fandte er 
die erften Bogen an Johanna (Nr. 21); am 7. März jchrieb er unter dem Ein- 
drud von Lili’3 Liebe in Offenbach eine Scene (an Augufte Nr. 3); den vierten 
Act vollendete er vor dem 12,, jpäteftens dem 19. März (an Johanna Nr. 22); 
über den fünften fehlen die Nachrichten; da er aber im April mit dem Abjchluffe 
der aufgegrabenen Glaudine bejchäftigt war (an Johanna Nr. 27, an Knebel 
Nr. 4), ift es unwahridheinlid, daß ex die jo feurig in Angriff genommene 
Stella bis nad) der Schweizerreife liegen Tief. Alsbald nad) jeiner Rückkehr im 
Auguft verfandte er Abichriften. 

Genug, da3 Drama, ohne oder wahrſcheinlich mit dem Schlukacte, machte 
auf Jacobi einen unerwartet ungünftigen Eindrud; er muß ihn bitter gegen den 
Verfaſſer ausgeſprochen haben, da diejer nur auf Johanna’ Bitte feine enttvorfene 
Antwort an Fritz, „auf den er nicht bös, aber wild werden“ könne, zurückhielt 
(an oh. Nr. 28). Statt ihrer jandte er noch im April den im Brieftwechjel zwiſchen 
G. und J.©. 54 ganz oder theilweife abgedruckten Brief, worin er ausruft: „Befinne 
dich und noch einmal gib mir Stella zurüd! — Wenn du wühteft, twie ich fie 
liebe und um beinetwillen liebe!” Eine Antwort Jacobi’3 liegt nicht vor, aber 
aus dem Billet Goethe’3 an Johanna Nr. 29 erfieht man, dat Jacobi feine 
Ankunft in Frankfurt sanfündigte. Auch dies Billet ift mit Dem Datum: 
„Sonntag Morgen den 23. April 1775”, jorgfältig von der Empfängerin verjehen 
worden. Jene Ankunft erfolgte nicht, wahrſcheinlich weil Goethe bald darauf 


80 Deutiche Rundichau. 


verreifte, und das herzliche Verhältniß der Freunde ftellte fich Her; denn die Briefe 
Jacobi's vom 14. Juni und 12. Auguft (Briefw. Nr. 11 und 12) athmen die 
alte überihwängliche Liebe; indeffen gerieth, nachdem Goethe ſich über Fritzens 
Arbeit ungünftig ausgeſprochen hatte (an Joh. Nr. 35), die Correjpondenz ins 
Stoden. Goethe jandte zwar bis zum Jahre 1777, ja bis in den Herbſt 1779 
hinein, rigen jeine Grüße, aber die alte Innigkeit war gewichen: fie jollte erſt 
einer völligen Entfremdung Pla machen, ehe fie im Jahre 1782 wieder auflebte. 

„Um bdeinetwillen” liebe ih Stella, hatte Goethe ausgerufen; alfo muß 
das Stück eine perfönliche Bedeutung für Jacobi gehabt haben, welche der Dichter 
mit naiver Harmlofigkeit auffaßte, jein Freund als eine Beleidigung empfand. 
Suchen wir ihre Spuren in dem Drama jelbit auf, jo fällt uns vor Allem die 
Scene auf, worin die erfte Begegnung der Liebenden gejchildert wird. „Weißt 
du,“ Fragt Stella Fernando Act IV, 1, „den Nachmittag im Garten, bei 
„meinem Ontel? Wie du zu uns hereintrat’ft? Wir jaßen unter den großen 
„Kaftanienbäumen hinter dem Luſthaus!“ Diefe Scenerie führt und in den 
Jacobi'ſchen Garten zu Pempelfort. Dort ftehen noch jet manche anjehnliche 
Kaftanienbäume; das Lufthaus ift zwar verichwunden, aber der von Schaumburg, 
Jacobi's Garten, Aachen 1873, herausgegebene alte Plan zeigt an dem noch vor= 
handenen Teiche zwei Lufthäuschen; wenn mich meine Erinnerung nicht täujcht, 
auch da3 jpäter in derjelben Scene erwähnte Bosket. Ebenjo erinnert Manches 
an Perjonen des dortigen Kreiſes. Daß Jacobi, wie Goethe, Mufik trieb, beweiſt 
der Rath, ſich darin zu erholen, welchen ihm 1762 jein Lehrer Le Sage gab (auserl. 
Briefiv. Nr. 1); e8 war aljo nicht unmöglich, ihn als Violinjpieler auftreten zu 
lafjen, wenn auch natürlich die plögliche Wirkung des Anblids der Geliebten 
mehr aus Romeo und Julie als aus einem wirklichen Vorgange entnommen 
wurde. Beftimmter erinnert die ergreifende Erzählung von dem Tode eines 
Kindes, Act II, 2, an den Verluft, welchen Jacobi am 2. September 1772 be— 
trauert (auserl. Briefiw. Nr. 23) und am 13. November 1774 von Neuem fich vor 
die Seele führt (ebd. Nr. 65). Das in dem lettern Briefe angeführte Gedicht 
„An ein fterbendes Kind“ hatte Goethe in der Iris 1774 gelefen. Undeutlicher 
ſchwebt ihm der Bermögensverfall des Jacobi'ſchen Hauſes (auserl. Briefiv. Nr. 52) 
dor Augen, indem er Gäciliend Verarmung dem Betruge eines faljchen Freundes 
zuichreibt (Act II, 2). 

Diefe Anfpielungen würden vielleicht hinreichen, einzelne Züge des Dramas 
auf Goethe's Belanntihaft mit dem Düffeldorfer Kreiſe zurückzuführen; die 
eigentliche Handlung und die Charaktere ihrer Träger, das Wort „um beinet- 
willen“ laſſen fie unerflärt. Hier enticheiden andere Stellen, denen wir einige 
Notizen über die Vermittlerin der Freundſchaft zwiſchen Goethe und Jacobi 
vorausichiden. 

Johanna Fahlmer Hatte von 1758 bis 1766 in Mannheim gelebt. Als fie 
Düffeldorf verließ, war fie ein Kind von 13 Jahren, ihr Neffe Fri Jacobi 
15 Jahre alt. Auch er hatte fi in demielben Jahre von jeiner Vaterftadt 
entfernt, zuerft in Frankfurt, dann in Genf aufgehalten, war im Jahre 1761 
zurüdgefehrt, im Jahre 1764 mit der liebenswürdigen, natürlichen und herzens— 
guten Betty von Clermont verheirathet worden. In diejen Kreis trat im 


Zu Goethe’ Stella. 81 


Jahre 1766 die idealer angelegte Johanna mit ihrer Mutter umd früheren Er- 
zieherin Frl. Bogner, welche ſich mit hingebender Anhänglichleit an Jacobi an- 
ihloß (auserl. Briefiv. Nr. 48). Bon Johannens Leben während der erften Jahre 
erfahren twir nichts, als daß fie mit dem fentimentalen Namen Adelaide nad) 
dem Mufter von Wielands Philaide bezeichnet wurde (Roth in der Anm. zum 
auserl. Brief. I, ©. 148), und daß ihr, ohne Zweifel ala einer Freundin der 
Jacobi's, im Jahre 1768 oder 69 Gleim feine neuen Gedichte jchenkte. Aber, 
wie jener Zeit überfhwängliche Gefühle eigen waren, jcheint zwiſchen den Ver— 
wandten eine ſchwärmeriſche Freundſchaft fich gebildet zu haben, welche allmälig 
einen wärmeren Ton annahm, ala Johannens Gejundheit und der Ruhe der 
Familie zuträglicd war. Im Frühjahr 1770 trennte fich ihre liebe Bogner von 
ihr, um nad) Vaals zu Clermont's zu ziehen; fie jelbft reifte nach einigen Wochen 
ihrer Kränklichkeit wegen, von Betty, Jacobi und einem Berliner Präfidenten 
v. Glermont begleitet, nad) Spaa, jpäter nad Vaals, wo fie mit Frl. Bogner 
zufammentohnte und das °, Stunde entfernte Aachener Bad gebrauchte. Im 
Haufe der alten Frau dv. Clermont in Aachen verfiel fie in ein hitziges Fieber, 
worin die getreue Bogner Tag und Nacht ihrer wartete. Diefe Aufzeichnungen 
ſchließt im Tagebuche die in den Briefen ©. 6 abgedrudte Bemerkung „eine 
große Kriſezeit meines Lebens, auch anderer ala phyfiicher Leiden“. 

Mit diefer Erzählung vergleiche man Stella, Act IV, 2: „Wie du an der 
„Hand meiner Freundin, die du dor mir fennen lernteft, durchs Bosket 
„streifteft* — — — „meine gute Sara jagte mir's wohl, gleich jelbigen Abend” — — 
„wenn meine Sara meine Freuden jehen könnte! Es war ein gutes Geichöpf; 
„sie weinte viel um mich, da ich jo frank, jo liebeskrank war. ch hätte fie 
„gern mitgerfommen, da ich um bdeinetwillen alles verlieh.“ Sofort wird 
man in Sara die Bogner, in der Krankheit jene nicht blos phyfiichen Leiden 
erfennen, welche die Pflege der Bogner linderte; in der Freundin, welche 
Fernando vor Stella kennen lernte, Betty, jeit 1864 Fritzens Gattin, und num 
auch in dem Onkel (IV, 1) deifen Vater, welchen der Dichter der Handlung 
wegen nicht mit dem richtigen Namen Better bezeichnen durfte. 

Johanna kehrte körperlich geheilt nad) Düffeldorf zurüd, aber nicht auf 
lange Zeit. Im Jahre 1772 fiedelte fie mit ihrer Mutter nad) Frankfurt über. 
Der Neifebegleiter war nad) dem Tagebuche der mit Jacobi eng befreumbdete 
Maler, jpätere Galleriedirector Mannlich aus Zweibrüden, welcher wahricheinlich 
in feine Heimath zurückkehrte (auserl. Briefw. Nr. 21, 10 Auguft 1772). Auch dieje 
Trennung jchildert der Dichter (Act V, 3), indem er Gäcilien den Vorichlag in 
den Mund legt: „Wir wollen jcheiden, ohne getrennt zu fein. Ich will entfernt 
„von dir leben und ein Zeuge deines Glüds bleiben. Deine Vertraute will 
„ich fein; du ſollſt Freude und Kummer in meinen Bufen ausgiehen. Deine 
„Briefe jollen mein einziges Leben jein, und die meinen dir als ein lieber 
„Beſuch erſcheinen.“ 

So geſchah es; Johannens ſchwärmeriſche Freundſchaft wurde durch die 
Trennung nicht gemindert. „Die liebe, liebevolle, ſchwermüthige Seele feiner 
„edlen Freundin“ preift Jacobi, indem er fi ihrer Sophie La Roche gegenüber 
beitig annimmt (auserl. Briefw. Nr. 58, vgl. Nr. 53). Die Düffeldorfer blieben 

Deutfäpe Rundihan. 1, In. 6 


82 Deutſche Rundſchau. 


mit ihr im engſten Verkehr; im Frühling 1773 wurde Fritzens Schweſter 
Charlotte zu ihrer Geſellſchaft geſandt, im Sommer folgte die treffliche Betty 
ſelbſt; ſie nahm ihre Freundin zum Beſuche mit nach Düſſeldorf. Jedes zweite 
Jahr wurde er bis zu ihrer Verheirathung wie nach einem Abkommen wieder— 
holt, die Bogner zur Theilnahme von Vaals beſchieden. Auch als Frau und 
Wittwe war Johanna ihrem brüderlichen Freunde, wie ſie ihn ſelbſt nennt, bis 
an ſeinen Tod treu zugethan. 

Goethe wird dies eigenthümlid zarte Verhältniß beider Freundinnen, der 
Grund von Johannens Schwermuth nicht unbekannt geblieben fein. Wie Jacobi 
a. a.D. fi) ausdrüdlich auf Betty's Zuftimmung beruft, wunderte er ſich über 
ihr ungeftörtes Zufammenleben,; und als Betty dem Dichter am 6. November 
1773 verfichert hatte (Briefw. Nr. 3, ©. 11): „daß die Tante und ich unſeren 
„ebenen und graden Weg neben einander ohne jtumpen und ftolpern gehen, ift 
„wahr, obgleich noch immer ein Räthjel für den Herrn Doctor Goethe Lobejan“ ; 
al3 er nad) jeiner Rückkehr vom Niederrhein Johanna am 13. Auguft 1773 
jwiedergejehen und jeinem Freunde gejchrieben hatte: „Sie darf mit mir von 
„ihrem Fri reden — heute zum erften Mal“ u. j. w. (Briefw., ©. 28): da 
geftaltete fi) in feiner Seele von dem innigen Bunde, in welchem zwei gleich 
edle Frauen unter einem Dache in der Neigung zu einem Manne ſich begegneten, 
ein Bild, welchem jeine finnliche Phantafie unwillkürlich die Erinnerung an die 
Doppelehe des Grafen Gleihen unterjchob. Fritzens Bejuc ließ es wachjen und 
deutlicher werden, und binnen tvenigen Tagen, wie es geichah, wenn fein Herz 
von einem reellen Eindrude erfüllt war, drückte fich diefe Vorftellung in dem 
Drama für Liebende aus. Was er von der Familie und beiden Frauen wußte, 
wob fich jo ineinander, daß er mit dichterifcher Freiheit intereffante Züge von 
der einen Freundin auf die andere übertrug. Was Johanna ausgeführt hatte, 
die auf einen Briefwechjel beſchränkte Trennung, läßt er Gäcilien anbieten; 
Betty's verftorbenes Kind läßt er von Stella betrauern. In der Löfung des 
Knotens gibt er platonijche Liebe auf und jet die deutiche Sage an ihre Stelle, 
der Liebhaber wird frei erfunden und nad) Art eines Weislingen und Clavigo 
charakteriſirt. 

In den Ausdrücken, welche Johannens vorausgeſetzte Auffaſſung jenes ver— 
klärten und verdüſterten Spiegelbildes bezeichnen, iſt eine merkwürdige Steigerung 
unverkennbar. Zuerſt (Nr. 21) nimmt Goethe nur an, daß Stella fie unter— 
hält, dann (Nr. 22) weiß er, was fie ihrem Herzen fein wird; endlich, ſelbſt in 
hohem Maße aufgeregt, weiß er, was in ihr vorgeht (Nr. 29). 

Sehr begreiflich aber ift es, daß der holerijche Jacobi über die elende Rolle, 
welche Fernando pielt, erzürnt, über die Profanation eines rein fittlichen Ver— 
hältnifjes entrüftet wurde. Goethe ging es gerade fo, wie beim Werther; jein 
Erftaunen über die unerwartete Wirkung drüden beide Briefwechjel aus, und 
wenn wir Jacobi’3 Briefe hätten, würden wir den pathetijchen Ausdruc feines 
Untoillens mit der erzürnten Proja des nüchternen Keſtner vergleichen können, 

Aber dieje Briefe haben ſich nit erhalten; auch der ganze Briefwechſel 
mit Johanna ift bi3 auf einen Brief von 1779 (Briefiv. 14) und einen anderen 
von 1792 (Zöpprig Nr. 50) verſchwunden. Faſt ſcheint es, daß Jacobi, welcher 


Zu Goethe’s Stella. 83 


auch Goethe'3 Briefe an Johanna bis zu feinem Tode befaß (Briefw. S. 271), 
diejelben nicht erhalten wifjen wollte, und daß fie ſich unter denen befanden, 
welche nad) jeinem Tode verbrannt wurden (Roth, auserl. Briefw. ©. V). 
Glücklicherweiſe hat er es nicht über ſich vermocht, Goethe's Briefe zu zerftören; 
und jo gelingt es, drei gleich vortreffliche Menſchen in Beziehungen kennen zu 
lernen, welche allen zur Ehre gereichen, Beziehungen, welche des Dichter Herz 
ertvärmt und durch die Verklärung der Poefie einen idealen Glanz erlangt haben. 

Was er fi Andern gegenüber naiv erlaubte, gejtattete Goethe gegen ſich 
Andern nicht gern. Als Jacobi Gleiches mit Gleichem vergalt und feinem All- 
will unverfennbare Züge des Bildes, welches er fich jet von Goethe machte, 
beigab, war es jchtverlich blos äfthetiiches Mißbehagen, das diejer bei.der Lectüre 
empfand (Nr. 35). *) 

Intereſſant ift der Eindrud, welchen Stella auf Lenz machte. Er dichtete 
jofort 1776 eine umgekehrte Stella, die Komödie „Die Freunde machen den 
Philoſophen“, eine Frau mit zwei Männern, darunter einen platonijhen. Zum 
begünftigten macht er fich jelbjt, Reinhold Strephon (Act I, 4); merkwürdig, 
daß die Geliebte Seraphine heißt, wie in dem Gedicht (Zöpprik 2, ©. 312) 
und — wie Frau Sarafin in Bajel (Pfeffel bei Dünger, Frauenbilder ©. 87). **) 

L. Urlichs. 


*) Ich ſehe gänzlich von den unklaren Beziehungen ab, welche Goethe's Aeußerungen über 
„ihr ander garflig Verhältniß“ (Brfw. ©. 28) und Jacobi's Brief an frau von La Roche 
(auserl. Brfw. I, ©. 161 und 174) bezeichnen. An der La Roche Mifdeutungen jcheint ſich 
Jacobi jelbft die Schuld beizumefjen, Goethe's Worte find unverftändlich; fie fönnen ebenſowol 
die Zuftände Anderer andeuten, welche Johanna jchweigen ließen, ala ihre eigenen, vielleicht gar 
feine reellen, jondern don der La Rode und danach von ihm vorausgeſetzte. 

**) Bei dieſer Gelegenheit erlaube ich mir zu meiner Schrift einen Nachtrag. Die „Liebes: 
worte” von Lenz, twelche Goethe nach Nr. 18 und 19 mit Freuden empfing, habe ich deswegen 
nicht für die fchöne „Nachtſchwärmerey“ (Zöpprik II, ©. 314) halten zu bürfen geglaubt, weil 
Lenz in dem auf bemfelben Blatte ftehenden Briefe die „Societät" erwähnt. Da der Brief 
gewiß nach dem Ericheinen des Götz (1773), wahricheinlich auch nach Werther (1774) gefchrieben 
wurde, fonnte ich unter der „Societät“ nicht die ältere „Gelehrte Uebungsgeſellſchaft“ verftehen, 
und da bie neuere erft am 2. November 1775 eröffnet wurde, glaubte ich, der Brief und das 
Gedicht müſſe fpäter entftanden fein. Goethe müßte es aljo von Weimar aus an Jacobi 
(Zöpprik II, ©. 287) geichiet haben, an ben er am 22, November jchreiben wollte (Nr. 38). 
Jacobi bezeugt aber ausdrücklich Griefw. S. 271), daß ihm fein Brief von Goethe verloren 
gegangen war; folglich hat er feinen Brief Goethe'3 von jenem Datum bejeffen. Johannen aber 
würde ©. das Gedicht nicht ohne Bemerkung gejandt Haben. Aljo muß die Sendung im März 
erfolgt fein (Brfw. ©. 47, wo Düntzer „Lenz“ ftatt „Tanz“ herſtellt). Ein Liebeswort ift die 
Nachtſchwärmerey, worin ©. „ber Freunde erfter“ genannt wird, gewiß. Alſo ift der Ausdrud 
„Societät“ nicht von ber Gefellichaft im engern, ſondern in weiterem Sinne von der Straßburger 
Gefellichaft der Freunde, zumächft der Zijchgeiellichaft, zu verftehen, in einer Bedeutung, welche 
er in Goethe'3 „Wahrheit und Dichtung“ regelmäßig hat. Eine Frucht der Bemühungen von 
Lenz, welche er in jenem Briefe erwähnt, jcheint eben die Stiftung der ‚Geſellſchaft“ geweſen 
zu fein, an ber er fich lebhaft betheiligte. 


6* 


Kirhenfreiheit und Bildofswahlen. 


Don 
Projefior Ottokar Lorenz in Wien. 








II. 


Die gegenwärtigen ſtaatskirchlichen Verhältniffe Deutjchlands find in den 
erften Decennien des Jahrhunderts feftgeftellt worden. Sie beruhen ſämmtlich 
auf Verträgen zwiſchen den einzelnen deutjchen Regierungen und dem päpftlichen 
Stuhle Die Verhandlungen, melde zum Abjchluffe derjelben führten, Liegen 
heute in vortrefflichen geihichtlihen Darftellungen vor, und wenn Unklarheiten 
und Streitfragen, wie zu allen Zeiten, jo auch im Verlaufe unjeres Jahrhunderts 
ala Folge von Concordaten hervortreten, jo mangelt e3 wenigſtens nicht an den 
gelehrtejten und gründlichiten Arbeiten der Jurisprudenz, um die von den 
Staaten erworbenen Rechte zu erklären und zu ſchützen.“) 

Für die hiſtoriſche Betrachtung ftellt fich jedoch die Frage in den Vorder— 
grund, durch welche Umftände die großen Gonflicte herbeigeführt wurden, die 
faft überall bald nach dem Abſchluß der Goncordate in ftetig gefteigertem Maße 
zwijchen Staat und Kirche entftanden. 

Wenn man den Inhalt der jeit 1803 mit Nom verhandelten Verträge in's 
Auge faht, jo bemerkt man, daß der Schwerpunkt der ſtaatskirchlichen Fragen 
jowol von der Curie, als aud) von den Staatsmännern in die Bejegung der 
geiftlichen Aemter verlegt wurde. Die Diplomaten, welche die neuen Grund» 
lagen des Staatskirchenrechts ſchufen, hielten gewiffermaßen an den alten Tra- 
ditionen feft, nad) welchen die Hoheitsrechte des Staates durch die Rechte des 
Landesherrn bei den Wahlen der Biſchöfe ihren Ausdrud erhielten. Das äußer- 
liche Princip, welches den mittelalterlihen Staat zum Inveſtiturſtreit führte, 
galt auch in unjerm Jahrhunderte noch für das Weſen der ftaatzkicchlichen 
Frage, und es ift troß der genaueren Durchforſchung zahlreicher perjönlicher und 


*) Bon ber umfangreichen Literatur über diefen Gegenftand bringe ich durch dieſe Zeilen 
bie beiden erheblichiten neueren Werke zur Anzeige: Mejer, Zur Geichichte der römiſch-deutſchen 
Frage. Roftod, 1871 ff. — Emil Friedberg, Der Staat und bie Biichofäwahlen in Deutſch— 
land. Leipzig, 1874. 


Kirchenfreiheit und Biſchofswahlen. 85 


amtlicher Acten ſchwer zu entſcheiden, ob dieſe Einſeitigkeit der modernen Staat3- 
kunſt mehr auf einer Unter- oder Ueberſchätzung der Papſtkirche beruhte. 

Von dem hervorragendſten und geiſtig bedeutendſten Manne, der den Ab— 
ſchluß der Verträge Preußens mit Rom bewirkte, von Niebuhr, bemerkt der 
neueſte Geſchichtsſchreiber, „er wäre in den Anſchauungen einer Zeit befangen 
geweſen, der jede Auflehnung der Kirche gegen den Staat als eine wunderbare 
Mähr erſchien, und die nur eine Verſchmelzung ftaatlicher und kirchlicher In— 
tereſſen kannte, bei der die letzteren den erjteren dienftbar zu jein hätten“. Und 
in der That laffen die Gefinnungen der meiſten Staat3männer jener Zeit dar- 
über feinen Zweifel, daß fie die römiſch-katholiſche Kirche mehr ſchutzbedürftig 
al3 gefährlich anjehen. Andererjeit3 aber darf nicht vergeffen werben, daß man 
die Gefangenschaft des Papftes Pius noch in lebendigem Gedächtniß hatte, und 
daß man mol wußte, welche Verlegenheiten dem franzöfiichen Imperator er- 
wuchjen, al3 die Bisthümer des Landes nicht bejegt werden fonnten, weil ſich 
der Gefangene weigerte, die Einjegungsbullen hinauszugeben, ohne welche fein 
katholiſcher Geiftlicher eine Kirche übernehmen mochte. Der Hartnädigkeit gegen- 
über, welche die römiſche Curie in allen Dingen unter Conſalvi's Eluger Führung 
bewies, ift e8 im Grunde doc ein ſtarkes Stüd, Männern wie Hardenberg und 
Niebuhr zuzutrauen, fie hätten die Macht der Kirche für gering gehalten. Und 
war man nicht in allen Staaten von peinlicher Aengftlichkeit gegenüber den 
Schriften und Aeußerungen päpftlich gefinnter Männer? Zeigt e$ von Unter— 
ſchätzung der Tatholii hen Machtanſprüche, wenn der abjolute Staat des vorigen 
Sahrhundert3 eigene Prämien auf die Widerlegung des päpftlichen Syſtems ſetzte? 
Die Gejandtichaftsgefhichte der deutichen Staaten in Rom lehrt auch überdies 
deutlich genug, daß man fi) von dem Staatsjecretär der päpftlichen Curie gar 
Vieles gefallen ließ. Als Hannover die erften Schritte der Unterhandlung mit 
Rom über die zu feinem Territorium gehörenden Bisthümer machte, gab man 
ſich von Seite der Regierung den größten Hoffnungen hin und jchien entſchloſſen, 
ſogar das Ernennungsreht als erfte Bedingung jedes Vertrags mit Rom zu 
behaupten. Die hannover’ihe Regierung meinte, durch die Gelehrſamkeit eines 
PBrofefford, der dem Gejandten beiftehen jollte, das päpftliche Staatsjecretariat 
nicht wenig einzufchüchtern; aber wenn Niebuhr, der diefe Dinge beſſer kannte 
und verftand, gleich bei der Ankunft der hannover'ſchen Gejandtichaft voraus— 
jagte, es würde mit dem Anſpruch auf die Ernennung der Biſchöfe durch den 
Landesfouverän gar nicht? durchzufegen fein, jo Klingt da3 in der That nicht 
jo, wie wenn der Diplomatie jener Zeit eine Auflehnung der Kirche gegen den 
Staat al3 eine wunderbare Mähr erjchienen wäre. 

Wenn nicht Alles trügt, jo lagen die Gründe der ungeheuren Nachgiebigfeit 
der beutjchen Regierungen gegenüber der katholiſchen Kicche doc in anderen Um— 
ftänden, und e3 bleibt eine nimmer zu läugnende Thatjache, daß die weltlichen 
Gewalten in jenem entjcheidenden Augenblide, da fie daran gingen, das neue 
Staatskirchenrecht feftzuftellen, troß aller Aufklärung, troß aller proteftantijchen 
Gelehriamkeit in einem Zauberbanne Rom's ſich befanden, dejjelben Rom’3, twel- 
ches eben rüftete, fich wieder einmal zu reformiren, d. h. Kriegsvölfer in Geftalt 
von Jeſuiten, Schulbrüdern und Bruderſchaften zu werben, um dem alternden 


86 Deutſche Rundſchau. 


Europa der reſtaurirten Dynaſtien und dem neuernden Zeitgeiſt zugleich den 
Handſchuh hinzuwerfen. Gerade in den diplomatiſchen Kreiſen war man ſeit 
dem Jahre 1815 wol beſſer in der Lage, als irgendwo ſonſt, das Wetterleuchten 
des vaticaniſchen Geiſtes zu beobachten. Es mag ſein, daß die ſchöngeiſtige 
Welt Deutſchlands bei dem ſtarken Glauben an ſich ſelbſt und in kindlicher 
Verehrung der Allmacht der Philoſophie die katholiſche Mobilmachung nicht 
bemerkte, und in der That würde man kaum im Stande ſein, auch nur eine 
einzige Stelle in den zahlreichen Briefwechſeln dieſer Zeit zu finden, wo das 
Ereigniß der Wiedereinführung des Jeſuitenordens beachtet worden wäre; allein 
die gleiche Unterſchätzung der römiſchen Macht, deren fich die gebildeten Stände 
Deutjchlands bis in die allerleten Jahre fortwährend ſchuldig machten, hat 
man fein Recht, der in Rom weilenden und unterhandelnden Diplomatie des 
zweiten Jahrzehnts zum Vorwurfe zu machen. 

Eine diplomatijche Action, in welche alle deutjchen Souveräne jofort nad) 
dem Jahre 1815 mit auffallender Beichleunigung eintraten, muß ohne Frage 
die ernfteften Gründe gehabt haben. Man muß ſich vergegenwärtigen, wie die 
gefammten Staats- und Befitverhältniffe völlig verändert worden waren. Alle 
einzelnen Regierungen waren von Schtwierigfeiten jeder Art bedrängt. Nachdem 
da3 heilige Teuer des Befreiungskrieges ausgelodert war, fühlten ſich die ver- 
jchiedenften Stämme und Länder in einer neuen und daher unbehaglichen Lage 
ber Dinge. Politiſche Schwärmereien, religiöfe Gegenfäte, Stammesfeindſchaften 
ertvachten mit ihrer alten hiftorifchen Kraft und machten in dem größten und 
beftorganifirten Staate Deutſchlands eine verfaffungsmäßige Entwidelung vorerft 
faft zur Unmöglichkeit. Alle particularen Elemente regten fih: Stände gegen 
Stände, Regierung gegen Regierung zeigten Miftrauen; es war, ala ob die 
neuen Staat3fleider Niemandem an den Leib paßten. In dieſer Unficherheit 
der bejtehenden Verhältniffe erichien die Beruhigung der Fatholijchen Bevölkerung 
al3 eine Nothivendigfeit; und ganz abgejehen von aller Revolutionzfurdht, von 
welcher indeß nur die wenigften Gemüther jener Zeit völlig frei waren, weiſt 
ſchon das conjervative ntereffe der Staaten zu einer möglichften Befriedigung 
der katholiſchen Kirche. 

Zugleich aber wuchien in den Ideen der Menſchen einige andere Schling- 
pflanzen empor, welche Literatur und Politik gleihmäßig umrankten, und die 
ſich der katholiſchen Weltmacht jo günftig al3 möglich erwieſen. Dem büreau- 
fratifch und polizeilich centralifirten Staate des vorigen Jahrhunderts ftellte ſich 
in dem Betwußtjein eine duch wunderbare Schidjale hindurchgeführten Ge- 
ichlechts die dee der perfünlichen Freiheit der inneren Vertiefung der eigenen 
Beltimmung gegenüber. Die Romantik beherrſchte die Welt. Mit den ahnungs- 
vollen Empfindungen altdeutjcher Ritter wanderte man noch einmal nad dem 
etvigen Nom. Was der Nationalismus des vorigen Jahrhundert? nur noch 
belachte, wurde plößlich wieder zu etwas wunderbar alterthümlich Erhabenem, 
mindeſtens zu etwas höchſt Merkwürdigem geftempelt, was auch von dem pro— 
teftantifchen Denker „gerechte Würdigung” zu fordern ſchien. Es ift nicht nöthig, 
zu meinen, daß von ſolchen Erwägungen die diplomatijhen Schritte der Regie- 
zungen in Rom ausgegangen wären, aber diefe Stimmung der Zeit machte die- 


Kicchenfreiheit und Bilchofäwahlen. 87 


jelben möglich. Man empfand feine Abneigung gegen den heiligen Petrus und 
jeine prächtigen Sentenzen; er war den Einen intereffant, den Anderen verehrungs- 
wirdig und Allen gleich willlommen, wenn er die neue Ordnung der Dinge 
befeftigen half. Und was war e8 denn im Grunde jo Gefährliches, was der 
alte römische Riefe von dem modernen Staate verlangte? Nichts als Freiheit 
de3 Gewifjenz feiner Anhänger, nichts Anderes, al3 daß dieje nad) den uralten 
Satungen ihrer Kirche leben und nach den Ganonen ihre Vorfteher, ihre Seelen: 
birten haben dürften. War e3 nicht gerecht, wenn der Staat endlich aufhörte, 
die umleidliche und in einzelnen Fällen nachweisbar abgejhmadte und nußloje 
Bevormundung über die Kirche zu üben? DBerlangten nicht auch andere Cor— 
porationen nach Freiheit und Selbftbeftimmungsreht? Auf diefem Wege der 
allgemeinen Gulturüberzeugungen wußte fich abermals das verhängnißvolle Wort 
der Menjchen zu bemächtigen, welches einft an den alten deutſchen Kaijern be- 
geifterte Verfechter fand. Wiederum Klang die Sirenenftimme der Kirchenfreiheit 
an das Ohr der Mächtigen und Staatälenker, und fie öffneten ihm die Pforten 
des Staatd, damit e3 fich zeigen könne und feine Wirkungen offenbare. Aber 
die Politiker jahen es und wußten nicht recht, was es zu bedeuten habe. Hätte 
man ihnen gejagt, e8 bedeute Gregor VII, jo hätten fie entſetzt e3 zurückgewieſen, 
hätte man auf die Bullen Bonifaz’ VII. und Johann's XXII. verwieſen, um 
den ſchweren Begriff der Kirchenfreiheit deutlich zu machen, jo hätte Fein Staat 
fih mit demjelben einlaffen mögen; allein die Kirchenfreiheit, die man jet 
meinte, ſollte wieder etwwa3 Anderes fein. Und ſicherlich war es auch etivas 
Anderes, was nunmehr die Kirche anftrebte, al3 was fie zur Zeit der Clunia- 
cenjer-Reform, oder zur Zeit der Goncilien oder zur Zeit der Jeſuitenmiſſionen 
wollte. Allemal handelte e3 fi um Kicchenfreiheit, und allemal verftand man 
etwas Anderes darunter, jo daß es wahrlich den Staatgmännern unſeres Jahr: 
hundert3 nicht verdacht werden Kann, wenn auch fie das twiederauferftandene 
Wort nicht gleich nad) feinem wahren Sinne beurtheilten. 

Die moderne Kicchenfreiheit hatte in der That einen idealeren und uneigen= 
nüßigeren Zug in ihrem Charakter, al3 jene der früheren Jahrhunderte. Die 
moderne Kirchenfreiheit verlangte vom Kaiſer keine großen Lehen, keinen aus— 
gedehnten Länderbefi, keine Zölle und Münzgerechtigkeit, fie machte nicht ein- 
mal übermäßige Geldanſprüche an den Staat, fie forderte fein Aſylrecht für 
Verbrecher, kaum hie und da verjuchte fie ſchüchterne Eremtionen der Geiftlichen 
von der Strafgewwalt des Staates. Die moderne Kirchenfreiheit verlangte nichts, 
als dem Papſte gehorhen und die Laien katholiſch erziehen zu dürfen. Die 
moderne Kirchenfreiheit beruhte aber gleich bei ihrer Geburt auf der innigen 
Berbindung und Unterordnung der Biſchöfe unter der discretionären römifchen 
Gewalt, wie fie zu feiner Zeit vorher in der Kirche beftand. Das bijchöfliche 
Amt al3 ein römiſches Amt zu conftituiven, war der klare Zweck der Concor- 
date und Verträge, welche die römische Curie mit den modernen Staaten jeit 
1815 ſchloß. 

Unter den Grundjägen, welche die päpftliche Politik ftets fefthielt und 
weldje der Staatsjecretär Gonjalvi wiederholt und mit anerkennenswerther Offen- 
heit ausſprach, fiel ſchon damals der Unterjchied auf, welcher in Rom zwiſchen 


88 Deutjche Rundichau. 


Staaten gemacht wurde, welche von katholiſchen, und ſolchen, welche von pro= 
teſtantiſchen Fürften regiert wurden. Das Princip der Gleichberechtigung der 
Gonfejfionen, welches durch Verträge und DVerfaffungen anerkannt war, machte 
in Rom feinen Eindrud; es wurde vielmehr gänzlich ignorirt, und die päpftliche 
Politik ftellte fi) auf einen ganz perfönlichen Standpunkt gegenüber dem Staat3- 
oberhaupt. Ein Ernennungsrecht der Biſchöfe erklärte man deutlich nur katho— 
lichen Fürften zuerfennen zu können. Dean jcheute in Rom jelbft die Behaup- 
tung nicht, daß ein katholiſcher Fürft das Erneuerungsrecht verlöre, falls er 
von dem wahren Glauben abfiele, und es blieb eine offene Frage, ob ſolcher 
Abfall durch einen förmlichen Uebertritt zu einer anderen Konfejfion, oder im 
Einne der fatholiichen Dogmatik ſchon durch Begünftigung ketzeriſcher Meinun— 
gen conftatirt werden könnte. Das ganze Verhältniß der Kirche zum Staate 
wurde auf die rein perjönlichen Beziehungen des Papftes zu den Fürſten gebaut. 
Dan verweigerte Preußen, Hannover, Württemberg, Baden u. j. f. die 
Rechte, die man Defterreih und Bayern zugeftand, und indem man den 
proteſtantiſchen Staaten nicht einmal die Form eines Goncordates bewilligte, 
jo hielt man ſich für die Zukunft die Hände frei, um in jedem Augenblide nad) 
der Gunft, in welcher ſich die Perjönlichkeit der regierenden Fürften befand, die 
Zugeftändniffe zu verringern oder zu vermehren. Wenn der Papft die Anerken— 
nung aller der Staatöverträge verweigerte, auf denen der Zuftand Europa's 
beruhte, wenn jelbft der Wiener Congreß für die Kirche nicht eriftirte, jo war 
ihr Verhalten in Betreff der ſtaatskirchlichen Verhältniffe eine ſcharf gezogene 
Gonjequenz ihrer Principien. Und nad) diefen hatte fie nicht3 mit dem Staate 
al3 ſolchem zu ſchaffen, jondern nur im Einverftändniß mit factifch regierenden 
Herren die Angelegenheiten der katholiſchen Kirche umd ihrer Gläubigen in 
Deutichland zu ordnen. 

Waren es wirklich diefe ftrammen, aus den alten Anſprüchen der Gurie 
gezogenen Grundjähe, welche in den Verhandlungen Rom’s mit den deutjchen 
Staaten Ausdrud fanden, jo mag es erflärlich jein, dat die Geſchichtſchreibung 
zuieilen einen Tadel ausſprach, weil die Diplomatie jener Zeit ſich zum Ab- 
ſchluß jo ziweideutiger Verträge bereit zeigte. Allein hierbei darf nicht außer Acht 
gelaffen werden, daß für's Erfte ein Einverftändni gefunden werden mußte, 
und daß e3 deſto nüßlicher jein konnte, je vajcher e8 erzielt wurde. Wenn Nie 
buhr von der Ueberzeugung ausging, daß mehr als das Erreichte für Preußen 
in Rom nicht zu erreichen war, jo liegt fein Grund vor, dies zu beftreiten, 
und wenn andere Staat3männer, voran die verbündeten Regierungen der ober- 
rheiniſchen Kirchenprovinz, meinten, größere Forderungen durchſetzen zu können, 
jo wurden fie bitter genug enttäufcht, und ihre Verhandlungen in Rom zeigten 
blos, was die päpftliche Curie nicht zu gewähren entjchlojjen war. 

Gerade in diefer Richtung bewährte fich jchon in den Verhandlungen Han— 
noverd mit Rom der praftijchere und jchärfere Blick der preußiſchen Staats— 
männer; noch deutlicher aber beivies das Scheitern aller Anträge der verbündeten 
oberrheiniihen Staaten in Rom, daß man dort, feines Ziels vollftändig bewußt, 
die eben angedeuteten Principien wirkli und in aller Schärfe fefthielt. In 
dem Streite über die Beſetzung der in der oberrheiniichen Kirchenprovinz ge- 


SKirchenfreiheit und Bilchofäwahlen. 89 


legenen Bisthümer jchreibt Conjalvi unter Anderem am 27. Februar 1823: „Ein 
ſolches Benehmen (der vereinigten Fürſten) hat ſich bei Sr. Heiligkeit um 
fo mißfälliger hervorgeftellt, al3 die größte Publicität, welche die von den pro- 
teftantiichen Fürften und Staaten vorgenommene Nomination der Bijchöfe in 
Deutſchland erlangt Hat, zu dem Glauben Beranlaffung geben könnte, daß ber 
heil. Vater nichtkatholiichen Fürften das Privilegium ertheilt hätte, Bijchöfe 
zu ernennen, ein Privilegium, das der heil. Stuhl nie einem Souverän, aud) 
dem mächtigjten nicht, der ſich nicht zur katholiſchen Religion befennt, zugeftan- 
den hat, ungeachtet die Kirche davon die erheblichſten Vortheile hätte erwarten 
können. Was endlich die Betrübniß des heil. Vaters unendlich vermehrt hat, 
ift — was er ebenfall3 von mehreren Seiten vernommen hat —, daß den zu 
Biihöfen erwählten Geiftlicden von den rejp. Regierungen einige Artikel einer 
fogenannten Kirchenpragmatit übergeben worden find, mit der Auflage, fi 
fchriftlich zu erklären, daß fie von ihnen pünktlich) beobachtet und ala die kirch— 
liche Verfaffung der Provinz ausgeführt werden würde, und daß fie endlich fein 
Hindernig der Inſtitution der zu Canonikern bejtimmten Geiftlihen in den 
Weg legen würden.“ 

Mit den angeführten Worten find die beiden Hauptpunfte angedeutet, um 
welche der Kampf zwiſchen der Curie und den Frankfurter Verbündeten am 
beftigften geführt wurde. Schon der bloße Glaube, und jo jchreibt ein der ſo— 
genannten gemäßigten Richtung ergebener Mann, wie Conjalvi, wäre dem heiligen 
Vater jchmerzlich geweſen, daß er einem nichtkatholiichen Souverän das „Privi- 
legium“ ertheilen könnte, Bijchöfe zu ernennen. Nicht zum Staate jollte der 
Biſchof in ein Verhältniß geſetzt werden, das auf den allgemeinen Rechten und 
Pflichten der Unterthanen zu beruhen jcheinen könnte, jondern gewiſſen Landes— 
herren erxtheilte der Papft ein perjünliches Recht, bei den Biichofswahlen zu 
interveniren, und da zufälliger Weije in den Verträgen auch die Eidesleiftung 
der Biſchöfe zum Gegenftande bejtimmter Feſtſtellungen gemacht ift, jo war es 
im Sinn der curialen Anjchauungen, wenn man jagte, gewillen Fürſten jei das 
Privilegium extheilt worden, daß ihnen die Bijchöfe einen Eid der Treue ſchwören 
dürfen. Noch bejtimmter tritt die Abneigung der päpftlichen Curie gegen Alles, 
was Staat heißt, in der principiellen Verwerfung jeder Hirchenpragmatif hervor. 
Ganz abgejehen von dem Inhalt eines ſolchen Staatsgeſetzes über Firchliche 
Dinge jollte e8 überhaupt feinem Biſchof erlaubt fein Verſprechungen in dieſer 
Richtung zu geben. Sa, es ift davon die Rede, daß Jemand, der gegenüber be— 
ftimmten Staatägejeßen, wie die Hirchenpragmatif, Verpflichtungen eingegangen 
wäre, ein canoniſches Hinderniß feiner Wahl zum Biſchofe geichaffen hätte und 
daher vom Papjte nie confirmirt twerden könnte Frei und ohne weltliche Rück— 
fihten jollte der Biſchof jein Amt antreten. Hier lag aljo ein Streit über 
die Grenzen der ftantlichen und weltlichen Gewalt in der allerichärfiten Form 
vor, und wenn man die Stimmung der Zeit, die Stellung der großen deutjchen 
Staaten zum Papfttgum und die geringe Einigkeit der verbündeten Regierungen 
der oberrheiniichen Kirchenprovinz in Betracht zog, jo fonnte man ſich nicht 
wundern, daß die Staatögewalt eine neue Niederlage gegenüber der wohlunter- 
richteten Curie Rom's zu verzeichnen hatte. Ein Verdienſt aber bleibt den Re— 


gierumgen, welche den Verſuch gemacht hatten, in dem neuen Staatskirchenrecht 
die ſouveräne Gewalt des Landesheren und die Autorität der weltlichen Gejehe 
in ausgedehnterer Weiſe zu wahren: das Verdienft, die Kirchenfrage muthig und 
in ihren Grundlagen erfaßt zu haben und den Schwierigkeiten ihrer Löſung 
nicht aus dem Wege gegangen zu fein. Allerdings trugen die Vorjchläge der 
oberrheinifchen Regierungen im Einzelnen vielfach den Stempel eines veralteten 
bureaufratiihen Syftem3 an fi; da fie ſich aber auf Gebräuche und Rechte 
beziehen konnten, welche der Staat de3 vorigen Jahrhunderts thatſächlich in 
Anſpruch nahm, jo nöthigten fie zu einer abermaligen umfafjenderen und prin= 
cipiellen Erörterung, in welcher die Grundjäße der Curie in voller Breite vor 
den Augen der politiichen Welt enthüllt werden mußten. 

So vermochte man wenigftend um die Mitte der zwanziger Jahre ſich 
nicht mehr über die eigentlichen Abfichten der römiſchen Curie zu täuſchen. 
Wie perjünlich die letere die in den Verträgen über die Bilchofswahlen ge- 
machten Zugeftändniffe an einzelne Landesherren auffaßte, hatte man eben damals 
auch in Preußen Gelegenheit wahrzunehmen. Gleich die erſte auf Grund der 
Verträge vorgenommene Bilhofswahl zu Breslau erregte in Rom einigen 
Anftoß. Die Einwirkung, welche die Regierung auf das Capitel bei der Wahl 
des Biſchofs Schimonsky ausübte, mißfiel in Rom im hohen Grade, ımd wenn 
ein Conflict über die Auslegung der früheren Vereinbarungen verhütet wurde, 
jo lag der Grund Lediglich in den perſönlichen Stimmungen des Papftes gegen- 
über dem Könige Friedrich Wilhelm II. Sehr bezeichnend ift der Ausspruch, 
welchen Zeo XII. bei diefem Anlafje über die faum nod in's Leben getretenen 
Zugeftändniffe feines Vorgängers machte: „Der Einfluß der Regierungen auf 
die Gapitelwahlen ift allerdings nicht ſtreng canoniſch; ich kenne aber die des- 
fallfige Sitte in Deutſchland und weiß, daß die Sache unvermeidlich ift. Wei 
einer Regierung wie die de3 Königs von Preußen ift mir diefer Einfluß aber 
auch unbedenklich.“ 

Klangen diefe Worte nicht jo, ala wenn das Zugeltändnig einer Einfluß- 
nahme der preußiichen Regierung auf die Biihofswahlen von der jeweiligen 
guten Gefinnung abhinge, welche der Souverän gegenüber der päpftlichen Regie- 
rung hegte? Die Urkunden, auf denen da3 ftaatskicchliche Verhältniß zwiſchen 
Preußen und der päpftlicen Curie beruhte und heute noch beruht, find in 
der That mancdherlei Jnterpretationen fähig, und ſchon ift ein heftiger, vorläufig 
theoretiicher Streit über einen der wichtigſten Punkte entbrannt. In dem Breve, 
mittelft welches den Gapiteln die päpftlichen Entſchließungen mitgetheilt wurden, 
ift jene fundamentale Beftimmung enthalten, welche die Einflußnahme des 
Königs auf die Gapitelwahlen in Preußen fichert. Die Stelle lautet: „Da aber 
zum Nuben der Religion, zur nüblicheren Handhabung des biſchöflichen Amtes 
ſehr viel daran gelegen ift, daß die wechieljeitige Eintracht zwijchen beiden 
Mächten erhalten bleibt, jo wird e8 Euch obliegen, nur Soldhe aufzunehmen, 
welche außer den durch das Kirchenrecht feſtgeſetzten Eigenſchaften noch durd) das 
Lob ihrer Klugheit empfohlen werden, und von denen Ihr wiſſet, daß fie dem 
durchl. Könige nicht weniger genehm find, und müßt Ihr Vorjorge treffen, dat 


90 Deutſche Rundſchau. 


Kirchenfreiheit und Biſchofswahlen. 91 


Euch diejes gewiß fei, bevor Ihr den fürmlichen Act der Wahl in der vorjchrifts- 
mäßigen canonijchen Weile vornehmet.“ 

Die Frage, welche in neuefter Zeit bereit3 erhoben wurde, ift die, ob diejer 
Empfehlung des Papſtes an die Gapitel ein vertragsmäßiger Charakter zutomme, 
und es fann im Grunde fein großes Erjtaunen erregen, wenn eifrige Partei- 
gänger der römiichen Kirche dies läugnen. Wir möchten in den juriftiichen 
Streit, der hierüber geführt wurde, keinesfalls eintreten; doch dürfte man an 
der Hand der römischen Praxis, wie fie jeit Jahrhunderten in diefen Dingen 
gleichmäßig geübt wurde, fi) über die Bedeutung einer päpftlichen Weiſung an 
die Domcapitel nicht täufchen. Ohne daß man auf eine Mentaltrejfervation 
Seiten? der päpftliden Curie bei Abſchluß der Verhandlungen zu jchliegen 
braucht, erſcheint es doc Klar, daß der Papft jederzeit alle Mittel in Händen 
behielt, um das Zugeftändniß des Breves vollkommen illuforiich zu machen. 
Die päpftliche Curie kann zwar die Gapitel von der Verpflichtung nicht entheben, 
nur einen ſolchen Mann zu wählen, der fich des Beifalla des Königs erfreut, 
aber fie kann die Konfirmation und Weihe Jeden verjagen, der ſich den Beifall 
der Regierung in einer der Gurie mikfälligen Weiſe erworben. Indem die 
päpftliche Curie den Anformativproceß über die ftattgefundenen Wahlen jo gut 
tie ganz in ihrer Haud hat, wird es ihr niemals eine Schwierigkeit bieten, die 
Gonfirmation eines Bijchofs, der nicht ihr volles Vertrauen befitt, zu verfagen. 

Das in dem päpftlichen Breve dem preußiſchen Staate gemachte Zugeftändnig 
fonnte unter diefen Umftänden nur jo lange einen Werth befigen, als ein Conflict 
zwiichen Staat und Kirche nicht beftand. Im alle aber das Papftthum auf 
die Treue und den Gehorfam des deutjchen Clerus mehr und ficherer rechnen 
kann, al3 der Staat, ericheint das Zugeftändnig Pius VII an die preußiiche 
Regierung fruchtlos und ungeeignet, einen ftaatstreuen Mann in die biichöfliche 
Stellung zu bringen. Anders geftaltete ji) die Sache, wenn der deutiche Clerus 
mit der deutjchen Regierung Front gegen die römischen Anfprüche machen würde; 
allein man hat das Schlagwort der modernen Kirchenfreiheit nicht umſonſt 
erfunden, man hat die Lehre von der oberjten Gewalt des römiſchen Biſchofs 
nicht vergeblich verbreitet, man hat nicht ohne Gejchiclichfeit die Identität der 
Intereſſen des Papftthums mit denen der Hierardhie zu einem Glaubensartikel 
gemacht, dem jchließlich jede beffere Meberzeugung den Platz räumte. Heute noch 
wie vor 800 Jahren wird mit dem Zauberjtabe der Kicchenfreiheit, die in 
den wunderlichſten Verkleidungen einherging, das nationale und ftaatliche Ge— 
willen von Laien und Geiftlichen berüdt. Daß demnach durch die Verträge der 
deutichen Regierungen mit dem römijchen Stuhle im Anfange unſeres Jahr— 
hunderts eine theoretiiche oder praftiich genügende Rechtsgrundlage geichaffen 
worden wäre, wird wol kaum behauptet werden können. 

Wie man auch über die juriftiihe Seite jener Verträge indefjen denken 
mag, der Ueberzeugung wird fi Niemand verjchließen können, daß der Staat 
durch die Anwendung derjelben wenig Erfolge erzielte. Welche Mühe wurde 
von manchen Regierungen angewendet, um mißliebige Perjünlichkeiten von der 
Wahl zu Biihöfen auszuschließen, und dennoch zeigten ſich unter dem deutjchen 
Glerus ftaatsfreundliche und nationale Gefinnungen in fteter Abnahme begriffen. 


92 Deutjche Rundſchau. 


Die letzten fünfzig Jahre unjerer Gejhichte find durch eine Verihärfung der 
Gegenfäße zwiſchen Staat und Kirche bezeichnet, und wenn ſich das vielbeſprochene 
Breve Pius’ VII. an die deutſchen Capitel auf die Worte eines mittelalterliche, 
in der Kirche hochgefeierten Gelehrten beruft, nach welchen die Welt gut regiert 
wird, wenn Königthum und Priefterthum einig wären, jo erfüllte ſich dieſe 
Hoffnung nur unter der Vorausſetzung ſtaatlicher Schwäche und Nachgiebigkeit. 

Die hierarchiſchen Anſprüche wuchſen troß des Einfluffes, den man von 
Seiten Rom’3 in beicheidenften Grenzen den proteftantijchen Staaten bei der Be- 
jegung der geiftlihen Stühle einräumte; fie wuchjen aber auch ganz in dem— 
jelben Maße in allen den Ländern, wo der landesherrlichen Gewalt die aus- 
gedehnteften Rechte in der Ernennung der Biſchöfe jeit älteren Zeiten zu Gebote 
ftanden. Es jcheint demnach, daß ſich weder das ältere noch das neuere Syſtem 
der Staaten gegenüber der Kirche bewährte; die Hierarchie wußte jedenfalls 
über beide gleihmäßig und gleichzeitig den Sieg davon zu tragen. 

Alle möglihen Formen ergaben ſich aus der DVergleihung der Gebräuche, 
die in Frankreich, Defterreih, Deutjchland bei Beſetzung der bijchöflichen Aemter 
in Anwendung kamen, und dennocd waren die Rejultate faſt überall diefelben. 
Dean darf daher aus einer fünfzigjährigen Geſchichte die Lehre ziehen, daß es 
überhaupt nicht von jehr großer Wichtigkeit fei, welchen Antheil die Regierungen 
an der Bejehung der geiftlichen Nemter Haben. Daß man fi) im vorigen und 
im Anfange diefes Jahrhunderts jehr heftig für diefe Frage interejfirte, war 
eine hiſtoriſche Reminiscenz, allein die fiscaliſchen Gründe, welche im alten In— 
veftiturftreit entjicheidend waren, fallen für die Antereffen des modernen Staats 
hinweg. Und wenn die Souveräne ala ſolche zu den Wahlen der Biſchöfe nach 
den neuen Verträgen heute noch wie in einer höchftperfönlichen Angelegenheit 
herangezogen werden, jo ift das ein Reſt der alten Borftellung der Lehns— 
monarchie, nach welcher die Lehnsertheilung ein perjönlicher Act des Königs 
war, während doch das heutige Staatsrecht die Dotation des Bisthums zu 
einer ganz gewöhnlichen Budgetfrage madt. Die höchfteigenen Bemühungen, 
welche aber die Verträge von den Souveränen der Staaten in Angelegenheiten 
der Biſchofswahlen fordern, gaben, wie die Erfahrung zeigte, den lebteren 
lediglich ein unverdientes Anjehen, während die Regierungen nicht behaupten 
konnten, daß unter der Hierarchie deshalb eine ftaatstreue Gefinnung herrſchend 
getvorden wäre. In erſter Linie leiden alle Verträge, die al3 Grundlagen des 
heutigen Kirchenrecht betrachtet werden, an dem Gebrechen, daß fie nicht den 
Staat ala ſolchen mit jeinem Gejehgebungsrechte, mit jeiner Verfaſſung, 
mit feinem legal geregelten Haushalt, daß fie nicht den modernen Staat, 
den conftitutionellen Staat einfach anerkennen, jondern in der Form 
von unbeftimmten Zugeftändniffen an einzelne Perjonen der Hierarchie jede 
Hinterthür offen laffen. Daß e3 überhaupt in unſerem Jahrhundert zu den 
unerwarteten und unferen Gulturverhältniffen jo mwiderftrebenden Kämpfen mit 
der Kirche fommen konnte, lag zum Theil darin, daß an die Kirche noch 
nie die Frage geftellt wurde, ob fie mit dem modernen Staate als joldhem 
concordiren könne und wolle, und ob fie den Berfaffungsftaat als ſolchen 
anerfenne oder nicht. Wäre dieje Vorfrage zur Zeit des Abjchluffes der gegen» 





Kirchenfreiheit und Bilchofswahlen. 95 


mwärtig geltenden Verträge entihieden geweſen, jo hätte fein Streit darüber 
entjtehen können, ob Kirchendiener auf eine Kirchenpragmatif verpflichtet 
werden dürfen. Die Anerkennung der Staatsgeſetze von Seiten der Kirchen- 
beamten wird an Stelle der vagen Beftimmungen über den Einfluß der Sou- 
veräne bei Biihofswahlen treten müſſen, wenn die Kirchenfrage auf dem Wege 
des Bertrages mit Rom noch einmal gelöft werden ſollte. Nicht darin, ob 
einige Gandidaten dem Könige mehr oder minder angenehm wären, liegt der 
Schwerpunft der ſtaatskirchlichen Rechte, jondern darin, daß die Bilchöfe ihr 
Amt nur unter der Bedingung des Staatsgehorfams üben und daß ihre Abjeh- 
barkeit im Falle der Eidesverlegung von der päpftlichen Gewalt zugeftanden ift. 

Ich Habe an einer anderen Stelle aus der hiftoriihen Entwidelung der 
Kirche nachweiſen Eönnen, daß der Moment der Verhandlung eine Vertrags 
mit der römijchen Curie jedesmal beim PBontificatswechjel, bei einer neuen 
Papftwahl gefommen ift.*) Wenn der eine Papſt die Anerkennung feiner 
Gewalt und jeiner Rechte von den Staaten erwartet, jo ift es eine im Kirchen— 
recht begründete Forderung der Staatögewalt, daß die Curie die im Staate 
geltenden Rechte und Gejee ihrerſeits ritdhalt3los anerkennt. Wenn die Rechte 
und Pflichten der von dem Staate anerkannten Kirche durch gejehliche Beftim- 
mungen geregelt find, jo wird der Abſchluß eines Vertrags mit der römischen 
Curie aud über die Bijchofswahlen auf den freieften Grundlagen möglich fein. 
Bermweigert aber der Papft den Abſchluß eines Vertrags mit dem Staate, dann 
begibt ex ſich freiwillig der Rechte, die bisher zugeftanden waren, ex iſt e8, der 
die Verträge zerriß, und feiner Verantwortung fallen die Folgen des Vaticani— 
fchen Non possumus anheim. Das Kaijerthum würde dann nicht mehr einer 
legalen Gewalt, jondern einem auswärtigen Revolutionär gegenüber ftehen, der 
den inneren Frieden de3 Reiches zerftört. 

Wie man aber aud) über die Methode denken mag, um einen neuen ftaat3- 
rechtlichen Standpunkt in der Kirchenfrage zu gewinnen, darin ftimmmen alle 
Kritiken des beftehenden Rechtes überein, daß e3 dem Staate feine ausreichenden 
Garantien gewährt, und hierbei ift die Frage der Biſchofswahlen von unter- 
geordnetfter Bedeutung; denn mit Recht bemerkt der treffliche Kenner dieſer 
Dinge, Emil Friedberg, dab fein Recht der Bilhofswahlen denkbar ift, 
welches an und für fich geeignet wäre, dem Staate qute Biſchöfe zu Tchaffen. 
„Sole werden nur großgezogen, wenn der Staat dem Clerus die aufmerf- 
ſamſte Pflege widmet. Wenn er Sorge trägt, daß die Bildung der jungen 
Geiftlichen eine wiſſenſchaftliche und nationale ift; wenn er die Unabhängigkeit 
des niederen Clerus fichert, in der Vorausſetzung, daß ein jelbftändiger Pfarrer 
auch als Biſchof Rom gegenüber unabhängigen Sinn bewahren werde; wenn 
er endlich die Geiftlichen und die Biſchöfe jeder Zeit fühlen läßt, daß fie niemals 
dem vom Staate erftrebten guten Einvernehmen mit der römiſchen Curie ge— 
opfert werden, jondern in dem Staate die feften Wurzeln auch fire ihre kirchliche 
Stellung finden.” 

Der Friede, welchen der moderne Staat mit den Kirchen überhaupt und 


*) Bol. meine Schrift: Papftwahl und Kaiſerthum. Berlin, Reimer, 1874. 


1 


94 Deutſche Rundichau. 


daher auch mit der katholiſchen Kirche anftrebt, wird nie auf der Grundlage 
von Verträgen mit auswärtigen Mächten allein gefichert. Erjt dann, wenn die 
Bafıs des Kirchenrecht durch eine gründliche Landesgejeßgebung gefunden ſein 
twird, kann bei der Eigenartigkeit der katholiſchen Kirche und ihrer vom Staate 
anerfannten Organijation der nubbringende Vertrag mit dem Papſtthum ab— 
geichloffen werden, der das Werk der inneren Beruhigung krönen mag. 

Und jo ift denn die Hiftorifche und kritiſche Erörterung zu der Nothwendig— 
feit einer ftaatlihen Geſetzgebung über die kirchlichen Angelegenheiten gelangt, 
neben welcher und in welcher die größtmöglichjte Freiheit der Biſchofswahlen 
beftehen kann und beftehen ſollte. Die große Frage, vor welcher demnach der 
heutige Staat fteht, ift die einer zum Ziele führenden ſtaatskirchlichen Gejeßgebung. 
Die neuefte Zeit hat diefe Aufgabe erkannt und ihre Löjung angetreten. Zahl- 
reiche Kirchengeſetze find in neuefter Zeit in verichiedenen Staaten entftanden oder 
im Entjtehen begriffen, allein unter den Geſetzgebern jelbft zeigt fi) nur eine 
jehr geringe Uebereinftimmung der Ziele, Abfichten und Mitte. Was man in 
neuejter Zeit in Oeſterreich als jogenannte Kirchengeſetze bezeichnete, twurde zwar 
vielfach mit dem verglichen, was in Preußen geſchaffen wurde, aber der ungeheure 
Unterfchied in den Wirkungen diejer jcheinbar verwandten Kirchengeſetze muß es 
wol Jedermann klar machen, daß die wahren Aufgaben der Kirchengejeggebung 
weder theoretijch noch praftijc erkannt find. 

Denn da3 Maß der Trreiheit, welche der moderne Staat einer großen Gor- 
poration nicht zu verfagen vermag, ift in Anwendung auf die beftimmten Ver— 
hältniffe und Zuftände der Gejellihaft jo ſchwer zu definiren, daß es wenigſtens 
zu einem glücklichen Ausgleich noch nirgends gefommen zu fein jcheint. Sollte 
die Urſache hiervon nicht vielleicht auch darin zu finden fein, daß die politifche 
Beobachtung der Dinge zu jehr auf die momentanen Verhältniffe und zu wenig 
auf das Gejammtbild der hiſtoriſchen Entwidelung gerichtet war? 

Die Trage der Kirchenfreiheit ift jo alt als unjere Geſchichte. Sie hat ſich 
in den mannigfaltigften Abwandlungen, Gutes und Böſes herborbringend, in 
den Meberzeugungen der Menjchen durch alle Jahrhunderte behauptet. Und in 
dem immer wiederkehrenden Worte muß doch ein Fünkchen Wahrheit verborgen 
fein. Thatſache ift es, daß Alle, welche verfucht haben, dafjelbe gänzlich zu 
erſticken und zu verlöfchen, die Erfahrung machen mußten, daß es jofort in ver- 
zehrenden Flammen emporjchlug. 

In dem Wejen der hriftlichen Kirche liegt eine unbeftreitbare Unabhängig- 
keitsidee. Vergleiht man die chriſtliche Entwidelung im Weſten und Often 
Guropa’3 oder vergleiht man fie mit den großen Religionsgründungen des 
Morgenlandes, jo kann e8 nicht zweifelhaft fein, daß aus der religiöjen Freiheit 
das höchſte fittliche Princip erwuchs. Die erſte hriftliche Gemeinde beruhte auf 
der Forderung der Kirchenfreiheit. Die freie Entwickelung des chriſtlichen Bewußt⸗ 
jeins begünftigte die Bildung der neueren europäifchen Staaten. Durch die Frei— 
heit der Kirche, in rihtigem Sinn verftanden, war der weltlichen Gewalt in 
mandem Jahrhundert das tieffte fittliche Princip eingeimpft worden. Nicht 
jelten befand fich der Staat um fo beffer, je freier fich die chriſtliche Kirche ent» 
wiceln fonnte. Wer aljo die Thatjadhen der Gejchichte nicht läugnen will, der 


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Kicchenfreiheit und Biſchofswahlen. | 95 


muß anerkennen, daß es ein urfprüngliches Ndealbild der Kirchenfreiheit gab, 
und daß e3 jo mächtig in den Gemüthern der Menfchen gewefen fein muß, daß 
e3 noch in der jcheußlichjten Verzerrung Anhänger und Gläubige fand. Und 
war e3 denn wirklich ein Kampf zwijchen Staat und Kirche, was Gregor VII. 
begonnen und was bis heute fortdauert? War e8 nicht vielmehr der Kampf 
um die hierarhiiche Gewalt gegenüber den Laien? 

Der Staat hat in diefem Kampfe gegen die Hierarchie in dem langen Laufe 
der Jahrhunderte faſt alle erdenklichen Mittel erſchöpft, um ſich zu behaupten; 
nur eins it niemals verſucht worden, und die Gründe davon find für den 
Geſchichtskundigen nicht dunkel. Niemals wurde von einem mweltlihen Macht— 
haber, nie von einer ſtaatskirchlichen Gejeßgebung neuerer oder neuefter Zeit der 
ernftliche, dauernde Verſuch gemacht, den Laien in der katholiſchen Kirche noch 
einmal den Mund zu eröffnen. Die ariftofratiiche Gejellichaft des Mittelalters 
und die bureaufratifche Gejellichaft der Neuzeit waren darin ſich gleich, daß fie 
lieber der Gewalt der Geiftlichen jelbft unterlagen, als daß fie der Gemeinde 
ein Recht in der Kirche wiedergeſchaffen hätten, welches die hierarchiſchen Jahr— 
hunderte vernichtet hatten. 

Die heutige Geſchichtswiſſenſchaft ift geneigt, Thatſachen diefer Art ala 
unausweichlich, nothwendig, providentiell und nicht disputabel anzuerkennen, 
und wir unterlaffen e8 auch unſererſeits, an diefem Orte zu unterjuchen, ob es 
im 16. Jahrhundert nicht möglich gewejen wäre, die hierarhiiche Kirche voll- 
ftändig aus den Angeln zu heben, und ob es nothwendig war, daß Pfarrer und 
Rolizeidiener vor den Staatswagen des vorigen Jahrhunderts gefpannt werden 
mußten; für unjere Zeit wenigſtens darf die Trage noch als eine offene be- 
trachtet werden, welches die beiten ſtaatskirchlichen Gefete fein werden, und 
die mehr demokratiichen Strömungen des Staatälebens können, richtig verwen— 
det, in einem Zeitalter de3 allgemeinen Stimmrechts nicht mehr für widernatür- 
lich gelten. 

Aber man wird fragen, wie e3 denn möglich wäre, dem jeit Jahrhunderten 
todtgejchlagenen Laienelement in der katholiſchen Kirche durch die Gejehgebung 
neued Leben einzuflößen? — Biel ift e8 allerdings nicht, worüber der Staat 
in diefer Beziehung heute verfügen kann, aber über da3 ganze große Gebiet der 
materiellen Werhältniffe der Hierarchie, twelches die alten Päpſte der weltlichen 
Gewalt nicht zu entziehen vermochten, und welches unter dem bejcheidenen Namen 
der Temporalien zu allen Zeiten feinen Einfluß auf die Kirche nicht verfehlte, 
berriht der Staat noch mit fefter Hand. Hier eröffnet fich für das Laien- 
element innerhalb der Kirche eine Thätigkeit, die um jo fruchtbringender fein 
fan, je ernfter fih im deutſchen Wolfe die religiöjen Gefinnungen erhalten 
haben. Sollte es nicht viel zwedmäßiger fein, wenn Ordnung und Regelung 
der kirchlichen Angelegenheiten auf Grund der Gefege durch die jelbftändigen 
Kirchengemeinden vor fich ginge? Wird nicht der Staat von gehäffigen Maß- 
regeln gegenüber einzelnen Widerfadhern enthoben jein, wenn er es den Kirchen— 
gemeinden überläßt, mit den Sirchendienern auf Grund der Geſetze fertig zu 
werden, gleichwie ja auch die politiſche Gemeinde ihre Selbftändigkeit heute 
nirgend3 zum Nachtheil des Staates mißbraucht? Bildung von Kirchengemeinden 


96 Deut nundſchau. 


und freie Verwaltung der kirchlichen Wermögensangelegenheiten durch diefelben: 
hierin liegt die große geſetzgeberiſche Aufgabe der Neuzeit, durch welche der jeit 
Gregor VII. geborne hierarchiſche Drache einzig und allein bejiegt werden Tann. 
Mag e8 zunächſt auch nur ein bejchränkterer Wirkungskreis jein, welchen die 
Kirchengemeinden in der Berwaltung des Kirchenvermögens beſitzen würden: 
mit der zunehmenden Thätigfeit und Bedeutung der Laien in der Kirche wird 
auch ihr Einfluß ein ftetig fteigender jein. Sollte fi) das katholiſche Wolf 
durchaus nicht mehr zu erinnern fähig fein, daß die alte canonifche Formel für 
die Wahlen geheißen bat: „clerus cum populo“, daß das Bolt jo gut wie 
der Glerus einftmal3 Antheil an der Bejekung, ja an der Wahl jelbft von 
Biſchöfen Hatte? 

Es würde hier nicht am Plate fein, über die Grundgedanken einer Reform 
der Staatsgeſetzgebung hinauszugehn, welche, wenn man fich den Hiftorijchen 
Gang der Dinge recht vor Augen hält, das einzige Mittel zur Beruhigung der 
religiöfen Fragen zu fein jcheint. E3 wäre die lohnendfte Aufgabe der Juris- 
prudenz, die ftaatlichen Rechte aufzufuchen, welche den Kirchengemeinden über- 
tragen werden können, die Organijation und den Zulammenhang feftzuftellen, 
durch welche die Kirchengemeinden unter einander und mit dem Gtaate ver- 
bunden würden. Die modernen Verfaffungen gewähren den Kirchen ſchon jet 
weitgehende Rechte, aber es befteht, wenn wir nicht irren, feine volle Klarheit 
darüber, welche und wie viele Perfonen zu der einen oder anderen Kirche zu 
zählen find. Die katholiſche Kirche Ipricht häufig und in manchen Fällen jehr 
gern don ſolchen Mitgliedern, die zwar in ihren Taufbüchern ftänden, denen 
fie aber den katholiſchen Charakter nicht zuzuerkennen vermöge, und unfere Zeit 
hat dafür den Ausdruck „Namenkatholifen” erfunden, gegen welchen gewiß nichts 
Sadliches einzuwenden ift. Aber diejelbe Kirche, welche fortwährend einen großen 
Theil ihrer Mitglieder al3 ausgejchieden erklärt, macht, wenn es fich um ftatiftifche 
Nachweiſungen handelt, auf alle Leute Anſpruch, die jemals unter ihrer Firma 
getauft wurden. Iſt nun diefer Zuftand ein entjprechender, hat der Staat 
wirklich ein Intereſſe daran, die hierarhiichen Erfindungen zu ſchützen und zu 
erhalten? Wäre es nicht bejfer, wenn die Anerkennung der Kirchen im Staate 
auf die beftimmt nachzuweiſende Anzahl von wirklichen Gemeindegliedern begründet 
wäre? Auch in diefer Beziehung müßte durch die Bildung organifirter Kirchen— 
gemeinden jede Täuſchung und Untwahrheit ſchwinden. 

Nur in der Kirchengemeinde und bei ihren Vorftehern kann der Staat hoffen, 
Gehorjam mit feinen Geſetzen zu finden, und in der Kirchengemeinde können die 
Keime einer Entwidelung gefucht twerden, welche die Conflicte zwiſchen der Kirche 
und den nationalen und ftaatlichen Intereſſen befeitigt. Dann aber mag man 
vertrauensvoll den uralten Begriff der Kirchenfreiheit wieder hervorſuchen, den 
Begriff der wahren Freiheit Firchlicher Meberzeugung, und der nationale Staat, 
welcher der Communalfreiheit und Gewerbefreiheit die Thore öffnete, mag ſich 
auch die Kraft zutrauen, eine dee zu verwirklichen, welche durch alle Jahr- 
hunderte hindurch fich mächtig ertvies und nur durch Mißbrauch und Entftellung 
dem Staate gefährlich fein konnte, in ihrer reinen Geftalt jedoch zu den unver— 
äußerlichen Gütern der geiftigen und fittlichen Cultur zählt. 





Die Entwickelung der Dampfldifffahrt auf hoher See. 


Don 
A. Lammers. 








Im Jahre 1873 find nad einer amerikaniſchen Quelle zwiſchen Europa 
und den Vereinigten Staaten nicht weniger al3 1368 einzelne Dampferfahrten 
vollbracht worden, oder durchſchnittlich faft vier an jedem Tage, mit einer Ge- 
lammteinnahme von nahezu jehzig Millionen Dollar, davon zwei Drittel für 
Waaren und ein Drittel für Neijende. Es find aber noch feine vierzig Jahre 
ber, da galt die Dampfichifffahrt über ein jo weites injellojes Gewäſſer wie 
den Atlantii den Ocean überhaupt noch für eine Chimäre. 

Ein englijcher Phyſiker, Dr. Dionyftus Lardner, hat eine nicht jehr erfreu- 
lihe Art von Berühmtheit erlangt durch die Zweifel, welche er in diefer Hin- 
fiht hegte und ausſprach. Er war feineswegs ein bejchränkter, am Alten Ele- 
bender Geift. Schon daß er an der Londoner Univerfität ftand, der Schöpfung 
der vorgefchrittenen engliichen Liberalen im Gegenjaß zu Orford und Cambridge, 
fönnte ihn vor diefem Verdacht behüten. Aber bejonder3 gerade die mechani- 
ihen Erfindungen des Jahrhunderts erfüllten ihn mit Bertrauen und hoher 
Zuverfiht. Er jagt in feinem Buche über die Dampfſchifffahrt wörtlih: „Die 
Wiſſenſchaft zeigt ſchon mit dem Finger auf einen neuen Springquell uner- 
ihöpflicher Kraft in den Phänomenen der Electrizität und de Magnetismus, 
und viele Gründe vereinigen fich, um die Erwartung zu rechtfertigen, daß wir 
am Vorabend noch größerer Entdedungen al3 aller ſchon gemachten ftehen, und 
dab die Dampfmaſchine jelbft mit dem Riejenkräften, welche der unfterbliche 
Matt ihr verliehen hat, doch in Bedeutungslofigkeit verſinken wird neben den 
noch. aufzudedenden verborgenen Kräften der Natur, ja daß der Tag kommen wird, 
wo diefe Majchine, die nun die Segnungen der Givilifation zu den entlegenften 
Strichen de3 Erdballs trägt, zu eriftiren aufhören wird außer in der 
Geſchichte.“ Wenn ein jo denkender Mann auf der Verfammlung der Briti- 
ihen Wiſſenſchaftlichen Gejelichaft zu Briftol im September 1836 erklärte, bei 
dem gegenwärtigen Stande der Anwendung der Dampfkraft auf die Schifffahrt 
jet eine dauernde und erſprießliche Dampferverbindung zwiſchen England und New— 
Hort Höhft unwahrjcheinlich, jo konnten auch die hoffnungsvollſten Fortichritts- 
ſchwärmer wol entmuthigt werden. Allerdings trat nach ihm ein Mitglied 
einer bekannten Schiffs-und Maſchinenbau-Firma auf und wies nach, daß Dr. 
Lardner ſich auf lauter vor 1834 gemachte Erfahrungen ſtütze, men das in 

Deutfche Kundſchau. I, 10. 


98 Deutſche Rundſchau. 


Rede ſtehende Verfahren ſeitdem weſentliche Verbeſſerungen erfahren habe. Allein 
dieſen Einwand entkräftete ein nachfolgender Aufſatz in der Edinburgh Review 
durch die Ergebniſſe amtlicher Unterſuchungen ſeit dem Jahre 1834. 

So ſtand in England die öffentliche Discuſſion unmittelbar vor dem Be— 
ginn der regelmäßigen Dampfiifffahrt über die Breite des Atlantifchen Ocean, 
welche heute einen jo gewaltigen Umfang erlangt hat und ein jo unentbehrlicjer, 
tiefeingreifender Beftandtheil in dem Leben der civilifirten Nationen geworden 
it. Alle damals gegebenen guten Rathichläge, den erſten Verſuch doch min- 
deftens zwijchen dem äußerften weftlichen Theile von Irland und einem vorge— 
fchobenen Hafen Neuſchottlands oder Neufundlands zu machen und die furdht- 
bare Entfernung einzujchränten, die mit jo vielen unbefannten Schrednifjen 
drohte, haben fi” als müßig erwieſen und find von der Praris gänzlich) un- 
beachtet geblieben. Das erfte Schiff fuhr von England ab und landete in New— 
York gerade ein Jahr nad dem Artikel der Edinburgh Review, der die Un— 
möglichkeit darthat, — anderthalb Fahre nad Dr. Lardner’3 ofterwähntem 
Ausiprud). 

Die erſte Dampfiifffahrt über den Dcean war indefjen auch dies nicht 
mehr. Schon am 20. Juni 1819 war in Liverpool die „Savannah“ eingetroffen, 
welche in 26 Tagen die Reife von dem amerikaniſchen Hafen gleichen Namens 
zurückgelegt hatte und, wofern mit Segel nicht mehr als vier Seemeilen oder 
Knoten in der Stunde zu machen waren, durch eine Dampfmafchine, die auf ein 
Rad an jeder Seite wirkte, nachhalf. Später gingfie nad) Stockholm, wo Bernadotte, 
und nad) Kronftadt, wo der Czar Alerander an Bord kam. Aber das blieb aller- 
dings ein Erfolg ohne nachhaltige Folgen. Die oceaniſche Dampfſchifffahrt ala 
wirthſchaftliche Einrichtung datirt vom Frühling des Jahres 1838, — von den 
Fahrten des Kleinen „Sirius,” der zu Cork am 5., und des „Great Weſtern“, 
der zu Briftol am 8. April die britifche Küfte verlaffen hatte, und die beide 
am 23. April, Shafejpeare'3 Tag, unter dem Jubel einer unermeßlichen Men— 
ſchenmenge in New-York eintrafen. 

Es war gut dreißig Jahre, jeitdem überhaupt die Dampfidifffahrt ein 
Verkehrsmittel geworden war. In diefer Hinficht bezeichnet Robert Fulton's 
„Glermont“, der im Jahre 1807 zwiſchen New-York und Albany den Fluß 
Hudſon auf: und niederfuhr, den Anfang; und was Guropa betrifft, Henry 
Bell's „Komet“ auf dem Clyde bei Glasgow. Die Idee jelbft war allerdings 
weit älter. Schon im Jahre 1543 joll ein ſpaniſcher Schiffscapitän, Don 
Blasco de Garay, den „Dampf fiedenden Waſſers“ ala Mittel, ein Schiff in 
Windftille vorwärtszubringen, bei Barcelona vor Kaiſer Karl dem Fünften und 
feinem Sohn Philipp praktiſch demonftrirt Haben, aber aus finanziellen Rück— 
fihten ließ man ſich nicht weiter auf die Sache ein, jondern begnügte fich, den 
Erfinder ſchadlos zu halten und auszuzeichnen. Es dauerte geraume Zeit, be- 
vor der menjchliche Geift in diefer Richtung von Neuem vorwärts drang. Der 
franzöfiiche Gelehrte Denis Papin machte im Jahre 1707 ein Experiment ohne 
praftiiche Folgen auf der Fulda von Kaſſel bis Münden. Ein gewiſſer Jona— 
than Hulls in England erlangte 1736 ein Patent auf eine Art Dampfichifi 
und veröffentlichte daneben eine Flugſchrift, doch ebenfalls ohne weiteren Erfolg. 





Die Entwidelung ber Dampfichifffahrt auf Hoher See. 99 


Die Erfindung der Dampfmaſchine durch James Watt, welche 1769 patentirt 
wurde, gab den letzten enticheidenden Anftoß, denn nun ruhten die Verſuche 
nicht eher, ala bis Fulton dem Gedanken feine ſchließlich durchdringende lebens— 
fähige Form verliehen Hatte. Er bot bekanntlich Napoleon dem Erften feine 
Erfindung an, der fie, auf ein ungünſtiges Gutachten feiner Akademie geftüßt, 
von der Hand wies. Im Jahre 1819 wurde die „Savannah“ gleihwol von 
den Engländern argwöhniſch überwacht, ob fie auch nicht etwa beftimmt jei, 
den gefangenen Eroberer von St. Helena nad) Frankreich zurücdzuführen. 

Die „Savannah“ hatte fich vergeblich erboten, Paflagiere nad) Europa mit- 
zunehmen. Auf dem „Great Weſtern“ wagten e8 im Jahre 1838 fieben ver- 
wegene Leute, ſich nach New-York einzuſchiffen. Heute hält e8 Niemand mehr 
für ein beſonderes Wageftüd, und Deutjche, die in Amerika, wie Amerikaner, 
die in Europa leben, machen leicht alle paar Jahre die Reife hin und zurück. 
Es ift, wie man drüben ganz richtig zu Jagen fich gewöhnt hat, ein Yährdienft 
geworden, berechenbar beinahe wie über irgend einen Strom oder Landjee, nur 
etiva3 länger dauernd. 

Mit dem Beweis der techniſchen Ausführbarkeit war jedoch nicht auch ſo— 
gleih ſchon der Beweis der ökonomiſchen Einträglichkeit gegeben. Die erften 
Unternehmer, welche fi) daran wagten, machten jchlechte Geſchäfte. Die Bri- 
tiſh and American Steam Navigation Company, welcher der „Sirius“ gehörte, fam 
faum bei einer einzigen Reije auf ihre Koften und mußte ſich auflöfen, ala ihr 
„Prefident” im Jahre 1841 — ein damals viel Aufjehen erregendes, verhäng- 
nißvolles Ereignig — auf der Fahrt von New-York nach Liverpool verjcholl. 
Nicht viel befjer ging e3 der zweiten, 1838 entftandenen Geſellſchaft, welcher ber 
„Great Weftern“ gehörte und die im Jahre 1848 liquidirte. Auch die erfte 
Liverpooler Gejellihaft, die Transatlantic Steamfhip Company, blieb ohne 
geihäftlichen Erfolg. Dieſer war erft der 1839 gegründeten fogenannten Gunarbd- 
Geſellſchaft vorbehalten, welche heute noch blüht, weil fie jo Klug war, ſich 
da3 allmälig entftandene Bedürfniß der Regierung nad) raſcher und regel- 
mäßiger Poftverbindung mit ihren nordamerifanijhen Colonien zu Nube zu 
maden, und dafür bis auf den heutigen Tag einen Staatszuſchuß empfängt, 
der die bloße Poſtentſchädigung nicht unbeträchtlich überfteigt. 

Damal3 mußte fi) bereit3 zu Jedermanns Befriedigung ergeben haben, 
wa3 der Dampf vor dem Segel ald Triebkraft über den Ocean voraus hat. 
Es ift nicht blos die Schnelligkeit; es ift vor Allem die Regelmäßigkeit und 
Berehenbarfeit. Bor dem Eintritt der Dampfer in die Concurrenz bejorgten 
eigne, bejonders ſchnelle, ſchön eingerichtete Schiffe, die jogenannten Liners, den Poft- 
und Perjonen-Transport zwijchen Liverpool und New-York, und ihre durdh- 
ſchnittliche Fahrzeit hin betrug 32 Tage. Dies kürzten die Dampfer bald auf 
ein Drittel ab. Aber da3 war höchſtens die eine Hälfte ihrer Ueberlegenheit. 
Die andere verfteht man, wenn man beifpielsweife Lieft, daß einer jener Liner 
einmal 55 Zage nad) der Abfahrt noch einige taufend Seemeilen vom Ziel ent- 
fernt war, — oder daß ein Segelihiff aus Belfaft, das nad Neubraunſchweig 
fahren jollte, zwei Donate jpäter, unverrichteter Dinge, nad) Belfaft zurückehrte, 
nachdem e3 feinem Beftimmungshafen jhon auf hundert Seemeilen nahe ge— 

78 


100 Deutſche Rundſchau. 


weſen war, — oder daß am 20. März 1838 ein Schiff von Demerara in Liver— 
pool eintraf, ftatt wie es follte in Halifax, verjchlagen aljo um die ganze 
Breite des Atlantijchen Oceans. Wie verfchieden und unberedhenbar jelbft unter 
den gleichartigften Umftänden Segelſchifffahrt ausfallen fonnte, wurde zu jener Zeit 
gern an dem Beifpiel dreier Schiffe dargethan, die zur jelben Zeit, im Januar 
1838, die britifche Küfte verlaffen hatten, von denen aber eins in 49 Tagen nad) 
Halifar, eins in 57 umd eins in 62 Tagen nad) New-York fam. Ind was 
ftand bei ungewöhnlicher Verlängerung der Reife Alles auf dem Spiel! Dafür 
nur zwei gleichzeitige Fälle Im Februar 1837 erreichte der „Diamond“ von 
New-York feinen Beftimmungshafen Liverpool erft in hundert Tagen; er hatte 
180 Pafjagiere an Bord, von denen 17 an Entkräftung ftarben, da die gewöhn— 
liche Nahrung zulegt in Waſſer getauchte Kartoffelichalen gewejen war. Die 
Bart „Ellen“ von Livorno war erft nad) 103 Tagen bei Sandy Hook, nachdem die 
Mannſchaft ſchon jeit 15 Tagen von nichts als Maccaroni und Del gelebt hatte; fie 
fuchte dort, aber fand feinen Lootſen und fuhr dann noch einen vollen Monat 
in der Winterfälte umher ohne Fyeuerung an Bord. Doch nit auf Pafjagiere 
und Mannihaft allein erftredite fi) der Fluch diefer verhängnißvollen Ab— 
hängigfeit von Wind und Wogen. Während der Gejchäftskrifis von 1837 wur— 
den in London mehrere große amerikanische Häufer nur deshalb bankerott, weil 
Poftichiffe mit großen für fie beftimmten Geldfendungen bei ftändigem Oftwind 
zwei Monate lang von Tag zu Tag vergebens erwartet wurden. Heute hat 
man hierfür den Dampfer, der höchſtens einmal einen oder zwei Tage auf fich warten 
läßt, und obendrein den transatlantifchen Telegraphen, der fast ohne jeden Zeit- 
verluft den Augenbli anzeigt, in welchem jener vom jenjeitigen Ufer abge- 
ftoßen iſt. 

In demjelben Jahre, wo fich die Cunard-Compagnie bildete, die die ocea— 
niſche Dampfichifffahrt zuerft zu einem nachhaltig rentirenden Geſchäft zu machen 
veritand, 1839, Tief auch der „Archimedes“ vom Stapel, der die jchon zehn 
Jahre früher von Joſeph Refjel erfundene Schraube ftatt der Räder ald Bewe— 
gungsmittel praktiſch machte. Sein Erbauer, Sir Francis Pettit Smith, durch 
die Ritterwürde, eine Staat3penfion und ein Nationalgefchent ausgezeichnet, ift 
vor einiger Zeit geſtorben. 1843 lief die von dem berühmten Brumel erbaute 
„Great Britain” vom Stapel, der erfte oceaniſche Schraubendampfer. Gegen- 
wärtig hat die Schraube da3 Rad vom Ocean beinahe verdrängt. Das amt- 
liche Verzeichniß der deutſchen Kauffahrteiichiffe von 1873 führt 200 Schrauben- 
dampfer und 25 Radbdampfer auf; davon hatten dieje durchſchnittlich 73 Ton— 
nen Tragfähigkeit und 56 Pferdekraft, jene Hingegen 852 Tonnen und 160 
Pferdekraft. Die Schraube ift alfo das bevorzugte Bewegungsmittel großer, 
das Rad dasjenige Heiner Dampfichiffe geworden. In der Krieggmarine herricht 
jene ihrer weit höheren Unverwundbarfeit halber faft unumſchränkt. Nur für die 
Schnelligkeit des Depejchendienftes haben Räderdampfer noch einen gewiljen 
Vorzug, wenigftens bei der englijchen Regierung. Der Erfolg der Cunard— 
Linie rief bald neue, gleichartige Unternehmungen hervor. Zuerſt eine englifche 
Nebenbuhlerin, die Inman-Linie; fie gedieh troß geringerer Gunft der Umftände 
und befteht noch gegenwärtig. Zwei Glasgower Verſuche dahingegen jchei- 


Die Entwidelung der Dampfiifffahrt auf hoher See. 101 


terten. Daſſelbe war der Fall mit einem Anlauf des bekannten amerifa- 
niſchen Geſchäftsmanns Commodore Banderbilt (1855—1861) troß jeiner gewal- 
tigen finanziellen Mittel, und vorher ſchon mit der ebenfalls in New-York 
unternommenen Gollins-Linie (1849) troß der hohen Subfidien der Unions— 
Regierung. Trotz, oder auch wegen derjelben, wie es vielleicht richtiger heißen 
muß. In blindem Bertrauen auf dieje jcheinbar unerſchöpfliche Quelle, die 
die Eiferſucht des amerifaniichen Volkes auf die bis dahin allein den Dcean 
mit Dampf durchkreuzenden Engländer offen erhalten follte, wurden die Dampfer 
der United States Mail Line oder Collind-Dampfer, wie man fie nad) dem 
Hauptunternehmer nannte, mit einem unerhörten Luxus ausgeftattet und haben 
jo ein gewiſſes augenjcheinliches Uebermaß defjelben in die Concurrenz der 
europäifch-amerifanifchen Linien eingeführt. Aber obgleich fie zulegt für jede 
Fahrt nicht weniger als 33,000 Dollars Zuſchuß erhielten, war die Gejellichaft 
doc binnen jechs Jahren banferott. Die Amerikaner haben es ſchließlich aufgeben 
müfjen, mit Engländern und Deutjchen zu concurriren. Die Schubzölle, welche 
bei ihnen den Schiffsbau überhaupt niederhalten, und ein engherziges Geſetz 
über die Nationalifirung auswärts gebauter Schiffe haben fie wirkſam verhin- 
dert, den einmal gewonnenen Vorſprung der Europäer in diefer Beziehung wie— 
der einzuholen. 

Neben Gunard und Inman haben fi inzwiſchen verjchiedene andere 
mächtige Gejellihaften geftellt. Da ift die Anker- Linie in Glasgow, welche 
einerjeit8 nach Nordamerifa und andererjeit3 nad) dem Meittelmeere fährt; die 
National-Linie in Liverpool, welche durch eine irreführende (Meſſing'ſche) Anzeige 
in öffentliden Blättern anjcheinend ſogar unſer Generalpoftamt eine Weile 
glauben gemacht hat, fie domicilire in Stettin; die Guion-Linie, die White 
Star-Linie und die State-Guion=Linie, letere in Glasgow, erftere beiden in Liver- 
pool. Das Hauptziel aller diefer Linien ift Nordamerika. — Weftindien, Südamerika 
und Afrika bejorgt die Royal Mail Company, — Oſtaſien und Auftralien auf 
dem Wege über den Suez-Ganal die Peninjular and Oriental Company; 
beide von Southampton aus, dem Vorhafen Londons im Canal. Damit find 
übrigens noch nicht einmal die englijchen Dcean-Linien erſchöpft, ſondern nur 
die hauptjächlichften von ihnen aufgeführt. 

Wie alle, oder jaft alle, dieſe englijchen Linien, jo werden auch die franzöſiſchen 
Dcean-Linien durch Regierungs-Subventionen am Leben erhalten. Sie ‚gehen 
von Hadre, St. Nazaire — dem Seehafen von Nantes — und Bordeaur nad) 
MWeftindien und Südamerika, von Marjeille nad) dem öſtlichen Afrika und Afien. 
ALS die Niederlage von 1870 den Finanzen Frankreichs jo tiefe Wunden jchlug, 
mußten die Unterftüßungen und folglih auch die damit beftrittenen Yahrten 
eingejchräntt werden. 

Eine vergleichsweiſe alte Schöpfung ift der Defterreihijche Lloyd, den die 
Thatkraft des jpäteren Minifters von Brud zu Trieft um die Mitte der vierziger 
Jahre ins Leben rief. Staatszuſchüſſe hat indefjen auch er von jeher erheiſcht 
und ift troßdem noch nicht recht zu gefichertem Gedeihen emporgewachſen. 

Der Welt das Beifpiel der Unentbehrlichkeit aller Staatszuſchüſſe zu liefern, 
ihr zu zeigen, dab auch regelmäßige oceaniſche Dampfſchifffahrt als Lohnendes, 


102 Deutſche Rundſchau. 


ſich ſelbſt erhaltendes Geſchäft betrieben werden kann, war zwei deutſchen Linien 
vorbehalten. Die Hamburg⸗Amerikaniſche Packetfahrt-Actien-Geſellſchaft, welche 
ihren Dampferdienft 1856, und der Norddeutiche Lloyd in Bremen, der ihn 
1858 in Scene jeßte, fühlten ſich jchon duch den bewußten freihändleriichen 
Geift, der in ihren Gemeinweſen herrſchte, verhindert nach Staatzunterftüßung 
zu ftreben. Hamburg und Bremen, als Kleine ſtädtiſche Republifen, wären aber 
auch entgegengejegten Falles ſchwerlich in der Lage gewejen, ihnen der Mühe 
werthe Zuſchüſſe zu gewähren; und einen dazu befähigten deutſchen Gejammt- 
ftaat gab es um jene Zeit noch nit. So mußten die Unternehmer es im Ber- 
trauen auf ihre eigenen Kräfte wagen und haben es glänzend durchgeführt. Im 
Metteifer mit den fo viel älteren, jo viel capitalmächtigeren, auf einen jo über- 
legenen Eigenhandel geftüßten und obendrein vom Staate freigebig unterftüßten 
englijchen Linien find die Bremer und die Hamburger Gejellihaft in ber 
New-Yorker Fahrt zu volllommen ebenbürtigen Mitbewerbern emporgewachſen. 
Sie jelbft Haben niemals eigentlihen Staatszufhuß von Hüben oder drüben 
- erlangt oder begehrt, nur jeweils eine billige Entſchädigung für die Beförderung 
de3 freitwillig ihnen anvertrauten transatlantiſchen Poſtverkehrs im Verhältniß 
zu deſſen größerem oder geringerem Umfang. Anfangs zwar hatten fie ein paar 
harte Jahre durchzumachen: fie waren Kinder des überſchwunghaften Unter: 
nehmungögeiftes, der nach der Beſchwörung des Rothen Gejpenft3 in Frankreich 
und der Beendigung des Krim-Krieges ausbrach, und kamen daher eben erſt recht 
in Gang, als auf diefen Raufch der Kabenjammer folgte, das Daniederliegen 
aller Gejchäfte nach der Kriſis von 1857. Dann aber haben fie viele Jahre 
hindurch ftetig den befriedigendften Reinertrag abgeworfen, in der Regel 10—20 
Procent. Selbft die zeitweilige Verſperrung des Meeres durch die Franzöftiche 
Kriegöflotte von Mitte Sommer 1870 bi3 zum Frühſommer 1871 konnte ihre 
Rente nur mäßig afficiren. In Bedrängniß find fie erft durch die raſche und 
ftarfe Abnahme der Auswanderung gerathen, welche feit anderthalb Jahren ein- 
getreten ift, und die man in New-York jo bedeutend anſchlägt, daß man bejorgt, 
die jährlihe Einwanderungszahl aus ganz Europa werde von einer BViertel- 
. million auf wenig mehr als die Hälfte ſinken. 

Gleich nad) dem Franzoſenkriege hatte es umgekehrt ausgeſehen. Die deutjch- 
amerifanijche Auswanderung, durch die Kriegsjperre ein Jahr lang gewaltjam 
geſtaut, ergoß fi) in jo mädhtigem Schwall, da Sorge und Zorn über dieje 
mafjenhafte Vaterlandsflucht alle patriotijchen Kreiſe ergriff, — daß andererjeit3 
aber auch unternefmende Kaufleute in den Seepläßen fanden, mit neuen 
Dampferlinien nad Amerika müſſe ein gutes Gejchäft zu machen fein. So 
entjtanden der Baltiſche Lloyd in Stettin, die erfte von der Oſtſee ausgehende 
transatlantiihe Dampfichifffahrt, und eine zweite Hamburger Linie, die joge- 
nannte Adler-Linie. Die damalige Gapitalfülle und VBertrauenswilligkeit machten 
e3 leicht, die erforderlichen Zeichnungen und auch die erften Einzahlungen zu 
erlangen. Aber nun, bevor noch das gezeichnete Actiencapital voll eingezahlt 
war, ftellte fi) heraus, daß die Börfe im Allgemeinen mehr Zahlungen über- 
nommen hatte, als fie zu leiften vermochte, und gleichzeitig nahm jeit dem vor—⸗ 
legten Sommer die Auswanderung reißend ab, auf die für ihr leeres Zwiſchen— 


Die Entwidelung der Dampfiifffahrt auf hoher See. 103 


deck jene neuen Dampfichifffahrtsgefellihaften hauptjächlich gerechnet hatten. 
So mußte denn die volle Wucht des Rückſchlages, der auf den fein Ziel über- 
ſchießenden geſchäftlichen Unternehmungsgeiſt eintrat, ſie mittreffen, als zu den— 
jenigen neuen Anlagen gehörig, die nicht raſch genug oder vielleicht überhaupt 
nicht Rente für das hineingeſteckte Capital verſprachen. Der Baltiſche Lloyd 
hat ſchon im Frühjahr ſeine Fahrten wieder eingeſtellt: Stettin und die Oſtſee 
ſtehen in keinem regelmäßigen Dampfverkehr mehr mit der Neuen Welt. Die 
Hamburger Adler-Linie jete den Kampf gegen ein widriges Geſchick noch eine 
Weile tapfer fort, mußte aber am Ende froh fein, zu annehmbaren Bedingungen 
in die Hamburg-Amerifanijche Gejellichaft aufzugehen. Haben doch jelbft die 
beiden alten, wohlbegründeten Gejellichaften ihre Noth, da nicht allein die Menge 
der Auswanderer abgenommen, fondern gleichzeitig die Zahl der in fie ſich 
theilenden Unternehmungen und Schiffe jo beträchtlich zugenommen bat, und 
durch deren verzweifelten Streit um einen möglichft großen Antheil an der 
abnehmenden reijeluftigen Schaar die Fahrpreiſe jo gefallen find, daß fie nicht 
einmal mehr die eigenen Auslagen decken. Auf die Länge mußte natürlich dieje 
erbifterte Concurrenz wie jede andere ähnliche damit enden, daß das Angebot 
von Dampferpläßen fich zu der verminderten Nachfrage ins Gleichgewicht ſetzte, 
die Zahl ber Fahrten und der fahrenden Schiffe beſchränkt ward, die ſchwächſten 
Geſellſchaften nöthigenfals ganz ausſchieden und die am Leben gebliebenen 
ſtärkften dann wieder einen leidlihen Lohn für ihr Capital und ihre Arbeit 
davontrugen. Nachdem die Adler- Linie außer Spiel war, haben ihre ältere 
Hamburger Schweſter und der Norddeutiche Lloyd fich jofort über erhöhte Fahr— 
und Frachtpreiſe geeinigt. 

E3 war übrigens gut, daß die Poft ſchon Reichsſache war, als die letztge— 
ſchilderten Ereigniffe eintraten. Sonft wäre für Preußen die Verfuhung ſtark 
geweſen, dad an ſich jo ſchöne und gemeinnützige Unternehmen des Baltijchen 
Lloyd in Stettin durch Staatszuſchüſſe flott zu erhalten, und die Zahlung einer 
feften Summe ftatt fteigender und fallender Verhältnigfäte für die Beförderung 
von Poftftiiden wäre das bequem ſich darbietende Mittel geweſen, dieſes Almojen 
aus dem großen Beutel zu verkleiden. Die preußijchen Steuerzahler hätten 
dann zu den mandherlei anderen Wohlthaten, welche fie nur halb freiwillig und 
bewußt dem Einen oder Anderen aus ihrer Mitte erweiſen, auch noch das Ver— 
grügen gehabt, Amerifa-Reijenden einen Zufhuß zum Fahrpreije oder Stettiner 
Kaufleuten und Spediteuren einen ſolchen zu den Koften ihrer Waarenverfrad)- 
tungen zu gewähren. Vor diefer Verfuhung der preußifchen Staatsgewalten, 
Regierung und Landtag, hat uns die Eriftenz der Reichspoft behütet. Ihr 
müffen die Hamburger und Bremer Linien ebenfojehr am Herzen liegen tie 
deren junge Schwefter von der Dftfee, und fie hätte es nicht verantworten 
önnen, dieſer Geſchenke zuzuwenden, welche jenen die Concurrenz erſchwert 
hätten, und welche auch ihnen anzubieten kein rechter Grund vorhanden war. 
Beſſer, daß eine Erwerbsgeſellſchaft ſich unverrichteter Dinge wieder auflöſen 
muß, als daß die Fälle vervielfältigt werden, in denen der Staat den Kampf 
um die wirthſchaftliche Exiſtenz dem Einen dadurch unverdient erleichtert, daß 
er ihn dem Anderen unverdient erſchwert. So Lange ſolche ſelbſtverſchuldete Nieder— 





104 Deutiche Rundſchau. 


lagen eintreten können, find fie auch nöthig und gut, um Nachfolger auf der 
gefährlichen Bahn zu warnen. 

Die wirthſchaftliche Unabhängigkeit der beiden älteften deutſchen Ocean— 
Linien hat nicht lange verfehlt, auch in England ernftliche Zweifel an der Noth- 
twendigkeit und Nützlichkeit des Syſtems ftaatliher Subventionen zu erwecken. 
Schon im Jahre 1853 hatte ein Parlamentsausſchuß empfohlen, die Bezahlung 
für Dampfer- Beförderung nad) der Zahl ber beförderten Briefe zu bemefjen und 
nit in großen runden Summen zuaugeftehen. Ein zweiter, 1859 und 60 
figender derartiger Ausſchuß faßte die Ergebniffe feiner Unterſuchung folgender: 
geftalt zufammen: „Es ift vollfommen thunlich, ohne große Subfidien auszu— 
kommen in Fällen, wo der gewöhnliche Verkehr ſchon verfchiedene Dampferlinien 
unterhält, und unter den Umftänden, wie fie jeit einigen Jahren für die Ver- 
bindung zwiſchen diefem Lande und Nordamerika beftehen, bedarf es folcher 
Subfidien nit, um einen regelmäßigen, raſchen und wirkſamen Poftdienft 
zu fihern.” Als damals das Generalpoftamt von der Admiralität es über- 
nahm, die Poftverträge wegen des überfeeiichen Dienftes abzuſchließen, gab das 
Schabamt ala oberfte Finanzbehörde ihm folgende Grundſätze mit auf den Weg: 
jeden Dienft möglichft fich jelbft bezahlen zu laffen und lange Verträge zu ver- 
meiden. Leider lief nur der Vertrag mit der Cunard-Linie, 1858 auf zehn Jahre 
abgeiehloffen, noch bis Ende 1867. Sie’ bezog dazumal für zwei wöchentliche 
Fahrten, eine nad) New-York, die andere über Halifar nad) Bofton, 173,000 £. 
jährlid, und Lord Stanley of Mlderley, in den jechziger Jahren Generalpoft- 
meilter, ſchlug die Zubuße der Staatsfaffe dabei auf rund 100,000 2. oder 
zwei Millionen Mark an. Das Monopol aber, da3 damit verliehen war — 
denn ein jo bedeutender einjeitiger Zuſchuß aus Staatsmitteln mußte wol alle 
Goncurrenz niederhalten — übte feine gewöhnlichen Wirkungen. Die bevorzugte 
Geſellſchaft wurde hochmüthig, träge und filzig. Da fein ſcharfer Wettbewerbs— 
porn fie in Athem hielt, baute fie jo wenig neue Schiffe wie möglich und lieh 
folglich den durch fie beforgten Dienft von den Fortſchritten der Schiffsbau— 
funft feinen Nuben ziehen. Im Jahre 1869 waren unter ihren zwanzig 
Dampfern nur ſechs jchnelle und vierzehn langſame. Während die beiden 
deutichen Gejellichaften von 1866 bis 69 jede fünf neue Schiffe in Fahrt geſetzt 
hatten, war bei Gunards jeitdem ein völliger Stillftand eingetreten. Sie 
wollten, wie ihr Vertreter vor dem Unterhausausihuß des Jahres 1869 naiv 
erklärte, exft wieder einen langjährigen Vertrag in der Taſche haben, bevor fie 
neue Aufträge zum Bauen ertheilten; und ſelbſt nach dem neuen achtjährigen 
Abſchluß des Vertrags im December 1868 ließen fie noch Monate verftreichen, 
ohne mehr zu thun, als jo im Allgemeinen daran zu denken. Vorher hatte das 
Generalpoftamt allerdings einen Anlauf genommen, im Sinne des Unterfuchjungs- 
ausſchuſſes von 1853 umd 1860 und der ihm danach extheilten Vorſchriften des 
Schatzamts zu handeln. E3 hatte ein öffentliches Ausjchreiben zu Meldungen 
für die englifch-amerikanifche Poftbeförderung erlaſſen, für welche das Seeporto 
und weiter nicht? die Entihädigung ausmachen ſollte. Auf diefer Grundlage 
hatten die Vereinigten Staaten ſchon jeit einiger Zeit ihren Poftverfehr mit 
Europa geregelt, und auf diefer Grundlage erbot fich auch der Rheder Inman 


Die Entwidelung ber Dampfihifffahrt auf Hoher See. 105 


in Liverpool, einen wöchentlichen Dienft zu übernehmen. Die Cunard-Compagnie 
reichte im Vollgefühl der gebietenden Stellung, zu der fie fih Dank reichlichen 
Subventionen und langen Gontracten emporgefhwungen hatte, gar feine Be- 
werbung ein, da ihr jene Verhandlungsgrundlage begreiflicher Weiſe gründlich 
mißfiel. Hätte fie ihr doch nach Lord Stanley of Alderley’3 Berechnung allein 
in den Jahren 1858—67 eine Million £. oder zwanzig Millionen Mark entzogen ! 
Aber bald kam man ihr, da jie nit kam. In der Regierung trat ein 
MWechjel der Anſchauungen ein. Die obere Leitung des Geepoftdienftes im 
Generalpoftamt wurde dem Bruder de3 damals bereit3 verftorbenen berühmten 
Voftreformators Sir Rowland Hill, Frederic Hill, der fich ſtark und beharrlich 
gegen alle öffentliche Fütterung von Dampferlinien, auch der Peninjular and 
Driental Company, ausgeſprochen hatte, wahrjcheinlich unter dem Drude der 
mächtigen oftindijchen und chinefifch-japanifchen Intereffen abgenommen; eine 
mehr vermittelnde, Subventionen nicht grundjäßlich abgeneigte Richtung kam 
obenauf, getragen von den Generalpoftamtsjecretären Tilley und Scudamore, — 
und man beichloß, auch den hochfahrenden Cunards einen Schritt entgegen- 
zuthun. Dean bot ihnen 80,000 £. (1,600,000 Mark) für einmal wöchentliche 
Fahrt. Als dis Mr. Inman erfuhr, der baffelbe für den ungewiffen und 
niedrigen Betrag des Seeporto hatte thun wollen, ſchlug er natürlich Lärm; 
man tröftete ihn, indem man ihm für die Tyolgezeit einen ähnlichen fetten Biſſen 
in Ausfiht ftellte. Dieſer Verſuchung jcheint feine ftrenge Tugend nicht wider— 
ftanden zu haben. Er, „der große Champion freier Concurrenz gegen Mono— 
pole“ — wie der Präfident des Unterſuchungsausſchuſſes von 1869 ihn ironiſch 
fragend nannte, worauf er jelbftgefällig erwiderte: „fie nennen mid) jo in 
Amerika“ —, der „jeit jiebzehn Jahren den ungleichen aber rühmlichen Kampf 
gegen die hohe Subvention jeiner Rivalen geführt“, der jeit Jahren das See- 
porto für eine hinlängliche Vergütung erklärt, auf das Jahr 1868 als ſolche 
factiſch acceptirt hatte und no am 1. März 1868 auch für die Zukunft an- 
nehmen wollte, — er ließ ſich im Auguft deffelben Jahres von den Cunards 
in ein gemeinfames Dtonopolinterefje loden. Sie reichten für die Zeit jenjeits 
des 1. Januar 1869 eine ineinsgreifende Bewerbung ein, laut welcher Cunards 
zweimal die Woche für 100,000 V., Inman einmal für 50,000 £., beide 
aber auf nicht weniger als zehn Jahre fahren wollten, und das jollten die 
ſchlechthin billigften Bedingungen fein. Sie thaten e8 dann freilich doch auf 
acht Jahre, und die Einen für 70,000, der Andere für 35,000 £. Einem nod) 
weitergehenden Verſuch der Regierung aber, die Dauer des Vertrags auf jechs 
Jahre einzufchränten, leifteten fie mit Erfolg Widerftand. Und jo vollftändig brachten 
fie nun die entjcheidenden Staatdmänner auf ihre Seite, daß es der ausdrüd- 
lien Beſchwerde von achtzig der angejehenften Londoner Kaufleute, N. M. Roth- 
ſchild & Söhne an der Spite, bedurfte, um neben dem dreimal wöchentlichen 
Roftdienft über Queenstown den einmal wöchentlichen über Southampton durch 
die Dampfer des Norddeutichen Lloyd zu retten. Dieje gewichtigen Bittfteller 
wünfjchten der „bewährten Wohlthat“ nicht beraubt zu werden, welche fie „dem 
bisher jo erfolgreich erfüllten Dienft der jchnellen deutſchen Schiffe“ zu ver- 
danken anerkannten; und fie ftellten andererjeit3 feft, daß die in Liverpool ver- 


106 Deutſche Rundſchau. 


fügbare Zahl von Dampfſchiffen erſten Ranges für einen wirkſamen Dienſt 
dreimal wöchentlich nicht ausreiche, ſo daß die Verwendung langſamer und 
minder guter Giterfchiffe nothiwendig werde. Wir haben e3 hier offenbar 
mit einem jehr unnöthigen und überflüffigen Rückſchlag des britiſchen Nativis- 
mus gegen den Aufſchwung der deutſchen Dampfihifffahrtsrhederei zu thun. 
Um die Hamburger und Bremer Linien nicht vollends da3 Uebergewicht erlangen 
zu laflen, zahlte man den ins Hintertreffen gerathenen engliſchen Unternehmern 
wider befjere Ueberzeugung, wider alle jonft geltenden freihändlerifchen und haus— 
bälterifchen Grundfäße von Neuem Subventionen; und um fi) womöglich nicht 
geftehen zu müfjen, daß die Engländer von den Deutjchen bereit3 überflügelt 
jeien, erfand man ſich allerhand eingebildete Nachtheile, mit denen die erfteren 
zu kämpfen haben follten. Bei Lichte bejehen, ftanden denjelben durchweg andere, 
mindeftens gleich ſchwere gegenüber, welchen die deutjchen Linien allein ausge- 
jet waren. Die Hauptſache war, daß es ſowol den Cunards wie dem bis 
dahin fo freifinnig thuenden Mr. Inman paßte und gelang, da3 befannte alt- 
engliſche Gefühl gegen die Fremden aufzuregen. So ſprachen denn die Einen 
von dem „ſtarken Widerwillen“, der in Liverpool unter den Kaufleuten herrſchen 
follte gegen die Beförderung britijcher Briefbeutel auf fremden Dampfern, und 
troß ihres eben erſt erlojchenen faſt dreißigjährigen ergiebigen nationalen Mono- 
pols davon, daß ihr eigenes Land fie nicht gegen „auswärtige Angriffe” beſchütze, 
al3 wären die Bremer und Hamburger Dampfer Piraten, die den Cunard— 
Schiffen auf dem Meere nachftellten; der Andere aber, der „große Champion 
der freien Concurrenz“, gedachte gar mit kaum unterdrüdtem Schmerze der 
Aufhebung der Navigationsacte, vermöge welcher fremde Gejellihaften ihre 
Schiffe hart neben den feinigen auf ſchottiſchen Werften bauen lafjen dürften 
und dann, ohne in England unterfucdht zu werden, alle engliichen Privilegien 
(jo!) für die Aufnahme von Paffagieren, Poft und Gütern in Anſpruch 
nähmen, jo daß fie wahrhaftig Alles, was fie könnten, erft von ihren eigenen 
Ländern zu verdienen juchten und dann noch nad) England kämen, um die 
legten Lücken ihres Raumes zu füllen. Was man im Schoße der Regierung 
auch von derartigen beſchränkten Anfichten gehalten haben mag, gewiß ift, daß 
fie praktiſch in diejelben zurückfiel und daß die Folge ein niederhaltender Drud 
auf die Entwidelung der oceaniſchen Dampfſchifffahrt war. Wir befiken das 
Zeugnig Mr. Frederic Hill’3 dafür, daß der mehrgenannte Generalpoftmeifter 
Lord Stanley of Mlderley ſchon 1866 eine tägliche Poft nach Amerika für 
praftifabel hielt. Zwei Liverpooler Compagnien, die von William und Guion und 
die National Steam Ship Company, waren 1868 bereit, für einen Penny die 
Unze — auf die im Durchſchnitt 3—4 Briefe gehen — die amerifanijche Poft 
zu übernehmen. Der bekannte Statiftifer Baxter, im Jahre 1869 einer der 
Lords der Admiralität, ftellte vor dem damaligen Unterfuhungsausfhuß nach— 
ftehendes einfaches Programm auf: die Poft jedem Dampfer (nicht blos jeder 
Dampfer- Linie, wie in Amerika bereits galt), der gewiſſe Bedingungen erfüllt, 
— Bezahlung nach Briefezahl oder Briefbeutelgewiht. Dann erwartete er zu= 
verfichtlih binnen zwei Jahren eine tägliche Verbindung mit den Vereinigten 
Staaten hergeftellt zu jehen, bei viel billigerem Porto, größerer Geſchwindigkeit 


Die Entwidelung der Dampfichifffahrt auf hoher See. 107 


und ganz eben jo großer Regelmäßigfeit. Er hatte ſchon im März 1868, gleich 
nad) dem Erlöfchen des Cunard-Contracts, den Antrag geftellt, feine Dampfer- 
jubvention mehr auf Meeren zu zahlen, two active und effective Concurrenz 
beftehe. Damals rieth ihm nicht blos der Tory-Schatzkanzler Ward Hunt ab, 
auf feinem Antrag zu beftehen, jondern auch der große Freihändler Bright; und 
die Whigs haben fi im Amte wiederholt der gleichberechtigten Zulaffung aus» 
wärtiger Dampfer zur Bewerbung um den engliichen Poftdienft noch feindjeliger 
faft als die Tories erwieſen, obwol die Trreihandelsidee doch unter ihre Erb— 
ftücdle gehört, Gladſtone ihr Führer ift und Mr. Goſchen, der 1867 der Ham- 
burger Gejelihaft die Southampton-Poft rettete, zu ihren einflußreichften Mit— 
gliedern zählt. So thun denn jet vielleicht die regierenden Tories den Schritt, 
der in dem Dampferverfehr zwiſchen Europa und Amerika endlich zu freier 
Goncurrenz führt: Abſchaffung der Staatögejchente nah dem Erlöjchen des 
laufenden Vertrags der Poft. 

Nicht nur der Atlantiſche Ocean und dag Mittelmeer, auch der Indiſche 
Ocean wird von Europa aus mit Dampferfahrten verforgt. Auf dem Stillen 
Dcean dagegen, der den unermeßlihen Raum zwiſchen Amerika, Aſien und 
Auftralien füllt, Herrfcht die Flagge der Vereinigten Staaten. Seit etwa ſechs 
Jahren fahren regelmäßige PBoftdampfer von San Francisco nad Yokohama 
in Japan und Schanghai oder Hongkong in China,’ von Wajhington aus reichlich 
jubventionirt. Sie fahren jet, ohne anzuhalten; es bedarf aber vielleicht nur 
eines einzelnen Unfall3 auf hoher See, denen auf die Länge feine große Dampfer- 
linie entgeht, um gebieterifch die längft laut gewordene Forderung auftreten 
zu laſſen, daß fie Honolulu anlaufen und dadurch ſowol die Gefahr ala den 
Umfang des mitzunehmenden Kohlenvorrath3 angemefjen vermindern. 

Seit die Pacifichbahn den Schienenweg von New-York nad) San Francisco 
vollendet und die erwähnte Dampferlinie nad) Japan fi) daran gereiht Hat, 
ift der elaftifche Ring gejchloffen, den der vom Dampfe beflügelte menjchliche 
Verkehr ſichtlich ſchon jeit geraumer Zeit um die Exde zu legen ftrebte. In 
fnappen drei Monaten läßt fich jet diefe Reife der Reifen machen, zu der es 
noch in unſerer Knabenzeit dreier Jahre bedurfte; und während damals Niemand 
fie anders machen konnte, al3 vermittelft einer bejonderen Expedition, eines 
eigens dafür ausgerüfteten Schiffes, braucht man heute nur Geld und Zeit zu 
haben, um jeden beliebigen Tag die Fahrt anzutreten und menschlicher Maßen 
gewiß fein zu können, neunzig Tage jpäter twieder daheim zu fein. So läßt 
fh am Ende eine Zukunft vorausfehen, in welcher die Umdampfung der Exde 
zu den Erfordernifjen vollendeter Ausbildung gehören wird. Einen „Spazier- 
gang um die Welt“, gemacht mit den neueften Verkehrsmitteln, befiten wir 
bereits anziehend und lehrreich dargeftellt vom Freiheren Alexander von Hübner; 
und wenn auch in dem Titel wie in dem Buche jelbft ein wenig Stofetterie 
ſteckt, jo charakteriſirt derjelbe andererjeit3 doch vortrefflich die heute zeitgemäß 
gewordene Verachtung der Fährlichkeiten eines noch unlängft jo außerordentlich 
eriheinenden Unternehmens. 

Die Gefahren langer Dampfihifffahrt find in der That jehr unerheblich. 
Man darf ihren Maßſtab nur nicht von den berüchtigten Wettfahrten auf den 





108 Deutiche Rundſchau. 


Milfifippi hernehmen, deren erzeugende. Stimmung uns Sealäfield in feinem 
Ralph Doughby jo naturtreu geichildert hat: dieſes Product des abenteuer- 
furchenden Geifte3, der fi) an den Grenzen vorrüdender Givilijation bei freien, 
männlichen Völkern üppig zu entwideln pflegt, und der zügellofen, ihr eigentliches 
Gebiet überjchreitenden Concurrenz in der Jagd nad) Erwerb. Etwas annähernd 
Aehnliches, wie diefe tollen Wettfahrten, hat fih auf dem Ocean jchon 
deshalb nicht entwiceln können, weil hier der gejegtere Sinn europäiſcher See- 
leute und Gejhäftsmänner den Ton angab. Allerdings kommt von Zeit zu 
Zeit ein Unglüd vor: ein Dampfer ftrandet, oder ftößt mit einem anderen zu— 
fammen, oder geht jpurlos und für immer verfhollen zu Grunde. Aber was 
dabei an Menjchenleben gefährdet wird, ift verhältnigmäßig nit jo viel. 
Zwiſchen Europa und den Vereinigten Staaten find im Ganzen bis jeßt noch 
nicht jechzig Dampfidiffe auf die eine oder andere Art verloren gegangen, durch— 
fchnittlih etwa anderthalb im Jahre, und meiftens ohne Verluft an menſchlichem 
Leben. Ein engliicher Schriftfteller ſchätzt die dabei verunglüdten Menſchen auf 
höchſtens 5000, oder rund 150 im Jahre; es Fahren aber ungefähr 400,000 Menſchen 
altljährli hinüber und herüber, jo daß die Gefahr für den Einzelnen nicht mehr 
al3 1 zu 2—3000 beträgt, eine jehr geringe Wahricheinlichkeit. Der Eindrud 
der vorhandenen Gefährlichkeit ift nur deshalb ftärker, weil die vorlommenden 
Unfälle faft immer mafjenhaft und mit dramatijcher Gewalt eintreten, während 
fie ſich bei Segelichiffen und Ruderfähnen mehr vertheilen und deshalb nicht über 
einen beftimmten, engbegrenzten Krei3 hinaus vernommen werden. So hat denn 
auch der Untergang des Hamburger Dampfers „Schiller“ in der Naht vom 7. 
auf den 8. Mai bei den Scilly-Anjeln durch den damit verbundenen Verluſt zahl- 
reiher Menjchenleben nicht umhin gekonnt, den Eindrud der Gefährlichkeit 
oceaniſcher Dampfſchifffahrt auf's Neue weiten Kreifen mitzutheilen. Aber was 
den unglüdlihen Gapitän Thomas vorwärts getrieben hat, ala Stillliegen oder 
Zurüddrehen der Schraube ficherer geweſen wäre, war nicht ein undermeid- 
lies, in der Sache an fich gelegenes Verhängniß, jondern ein fünftlich ent- 
zündeter Wetteifer. Die Poftverwaltungen find gewohnt, ihre einträgliche 
Kundihaft dem ſchnellſten Schiff und der ſchnellſten Linie zuzumenden, ohne 
Rüdficht auf die Sicherheit der Fahrt; ihnen aber folgt die Mafje der Reijen- 
den in der Wahl von Linie und Schiff. Sp kommt e3, dat die Compagnien, 
zumal bei der Seltenheit jchwerer Unfälle, blos um den Preis der höchſten 
Schnelligkeit mit einander ringen und ihre Gapitäne ausdrücklich oder ftill- 
ſchweigend vor Allem auf geichwindefte Reife verpflichten. Diefem ein- 
jeitigen Triebe jollte durch Einſetzung ftändiger Seegerichte zur Unterfuchung 
jedes derartigen Falles ein Gegengewicht geboten, und auch von Seiten der 
PVoftbehörden auf Sicherheit ebenfojehr wie auf Najchheit gejehen werden. Im 
Allgemeinen ift es jonft mit der vermeintlichen Unficherheit der Dampfſchifffahrt 
grade wie mit der des Eijenbahnfahrens, wenn man neben fie die weit zahl- 
reicheren, aber vereingelten und deshalb leichter verhallenden Unfälle mit Wagen 
und Pferden hält; oder mit der Noth unter den arbeitenden Claſſen in der 
Zeit der concentrirenden großen Anduftrie, verglichen mit den weit ſchlimmeren 
Zuftänden der fie zerjtreut und unbefannter haltenden Vergangenheit. 


Die Entwidelung ber Dampfiifffahrt auf hoher Eee. 109 


Eifenbahn und Dampfihiff find beide ohne Trage gewaltige Hebel ber 
Gulturbewegung; welder von beiden der größere, wäre ſchwer zu entjcheiden. 
Aber während die Eiſenbahn mehr im Innern der Culturvölker revolutionirend 
wirkt, unterwirft das Dampfſchiff mehr neue barbarifche Gebiete den Einflüffen 
der modernen Givilifation. Vermöge der Allgegenwart des Waſſers, das ihm 
ohne Weiteres Straße ift, dringt e8 rajcher überallhin und bürgert fich Leichter 
ein al3 die Locomotive, der ihr Weg erft mit großen Mühen und Koften ge- 
Ihaffen werden muß. Trockenen Fußes auf gejchienter Bahn wird der Menſch 
die Erde ſchwerlich jemals überfliegen, auch wenn die Behringzftraße und andere 
fleine nafje Hindernifje überbrückt gedacht würden; dagegen trägt ihn das Dampf- 
ichiff ohne jede Hilfe eines anderen Verkehrsmittels heute ſchon in wenig mehr ala 
der kürzeſten möglichen Frift herum. Wir wollen una hier nicht mehr in die 
weitreichenden Einflüffe vertiefen, welche die noch jo junge Dampfſchifffahrt über 
den Ocean bereit3 auf die Entwidelung des Menſchengeſchlechts geübt Hat und 
übt. Nur andeutungsweije jei zum Schluffe bemerkt, daß ohne die Rajchheit 
und Regelmäßigfeit des Dampferverkehrs 3. B. Charles Dickens ſchwerlich je die 
Vereinigten Staaten bejucht und dort jene tiefgehende Literarifch-politiiche Auf- 
regung erzeugt hätte, — ohne fie nicht jo viele Amerikaner jahraus jahrein zur 
Alten Welt reifend und fich längere oder kürzere Zeit niederlaffend herüber- 
fommen würden, — ohne fie das fich verjüngende ferne Inſelreich Japan kaum 
daran denfen könnte, Hunderte von jungen Leuten zur Aneignung der europäijch- 
amerikaniſchen Gulturideen herüberzufenden. Und auf einem anderen Felde: hätte 
ohne Dampfihifffahrt der Krimkrieg geführt werden können? jähe nicht Eng— 
land am Ende jelbft in Oftindien ſchon feine Herrſchaft ernſtlich erjchüttert, 
wenn e3 nicht in den Befit diejes rajchen, bequemen und ficheren Mittels für 
Paffentransporte gefommen wäre? Man jagt einem berühmten deutjchen Reichs— 
tagsmitgliede nach, e8 habe einmal bei bejonderer Veranlaſſung eine merkwürdig 
ausgeprägte Abneigung gegen die transatlantifchen Dampfer an den Tag gelegt, 
weil dieſe jo viele Auswanderer von Deutſchland entführten. Ohne Zweifel 
wirkt ihre bequeme, gefahrlofere und zeiterfparende Fahrgelegenheit befürdernd 
auf die Reiſe- und Weberfiedelungsluft ein. Aber fie Ichafft dieſelbe doch nicht, 
und wenn fie Einige mehr zur Fahrt in die Ferne verleitet, jo ſchützt fie dafür 
faft Alle vor den hundert gejundheitlichen, wirthichaftlichen und fittlichen Ge— 
fahren eines dreis oder mehrmals fo langen Aufenthalts im Zwiſchendeck, 
denn jeit der Ausbildung der Dampfichifffahrt hat der Antheil der Segelichiffe 
an der Nustwandererbeförderung von Jahr zu Jahr reißend abgenommen und 
beträgt faum noch mehr al3 ein Fünftel des Ganzen. Aber auch die Aus- 
wanderung jelbft läßt, ala ein Mittel focialer und culturgefhichtlicher Aus— 
gleihung, noch eine andere Betrachtungsweije zu als die, daß fie ung jo und fo 
viel Arbeit3- und Gapitalkräfte alljährlich entrüdt. Daher wollen wir uns 
durch fie jedenfalls den Blick nicht trüben laſſen für die gewaltige und über- 
wiegend höchſt wohlthätige civilifatorifche Bedeutung, welche die Dampfſchifffahrt 
erlangt hat, jeit fie fi) vor der wüften Weite de3 Oceans nicht mehr jcheut. 





Fin heimlihes Vexhältniß. 


Humoresfe von Otto Girndt. 








Echluß.) 
IV. 


In ſeinem Studirzimmer ſaß Doctor Reinhold Spangenberg, als ſich ein 
alter Mann durch die Thür ſchob mit einem großen Stoß Bücher, die zum 
Theil noch bedeutend älter waren, als er. Sie fielen auf den Sophatiſch, und 
der Träger rieb ſich die Arme: „Hier, Herr Reinhold, bringe ich die Folianten 
vom Antiquar.“ 

„Laſſen Sie ſehen, Hinze!“ Der junge Gelehrte mufterte die Titel und 
zählte die Bände. 

Der alte Mann blickte fopfjchüttelnd darauf: „Wo hat das Alles Platz in 
einem menſchlichen Schädel? ch denke mandhmal: Sie müſſen ein Gehirn von 
Gummi haben.“ 

„Die Bücher find in ſchönſter Ordnung, Hinze!“ erklärte Reinholb. 

„Natürlicherweiſe!“ ſagte der Ueberbringer mit ruhigem Selbftbewußtjein. 
„Was Hinze bejorgt, ift immer in Ordnung.“ 

„Und wie fteht'3 mit dem Brief an Fräulein von Buſſe?“ erkundigte fich 
der Abjender. 

„Sie könnten jetzt ſchon Antwort haben,“ berechnete Hinze. 

„Die Augen hätte ich jehen mögen!” lachte Reinhold abgewendet leije. „Sie 
muß mid) mit Geiftern im Bunde glauben.“ 

„Aber hören Sie, Herr Reinhold,” fuhr der Alte fort, „in das Haus gehe 
ich nicht mehr!“ 

Der Doctor kehrte ih um: „DO! Warum nicht?“ 

„Ich Habe mich zu ſchwer geärgert.“ 

„Wer wird fich ärgern, alter Freund? Dabei kommt nichts heraus. 
Worüber Haben Sie ſich denn geärgert?“ 

„Ueber den Bedienten.“ Hinze ballte die Fauſt. „Der Laffe ficht mid 
von oben bis unten an, als wäre ich nicht ehrlih. So läßt Hirze fich nicht 
anjehen!“: 

Reinhold juchte zu begütigen: „Der Menjch faßt vielleicht Jeden jcharf in's 
Auge, weil er Damen dient, die ängftlicher Natur find.“ 


Ein heimliches Verhältnih, 111 


Dod der Beleidigte blieb aufgebradht: „ch wollte es ihm allenfalls noch 
vergeben, wenn e3 geftern gewejen wäre, wo bie Fyledermäufe ſchon flogen; 
aber heute, wo ex mich doch fennen mußte, jo von oben bis unten? Braucht 
Hinze ſich jo anjehen zu Lafjen?“ 

„Künftig,“ rieth ihm der junge Spangenberg, „wenn Sie Jemand jo an- 
fieht, jehen Sie ihn wieder fo an!“ 

Hinze beadhtete die Zwiſchenbemerkung nicht: „Beinahe hätte id ihm 
Etwas gejagt! ch bin deutjcher Bürger jo gut wie jeder Andre!“ 

„Eben darum, Bater Hinze!“ jagte Reinhold. „Wir Deutjchen dürfen im 
Kleinen wie im Großen einander nichts mehr übelnehmen.“ 

Auch das verfing nicht; denn Hinze fuhr noch beftiger fort: „Denkt der 
Laffe etwa, weil er eine Livree trägt, fo ift er's? Ihm werben höchftens 
Trinkgelder verabreicht, ich trage Ruffen und Türken in meinem Beutel; ich 
bin al3 Gomptoirdiener der Firma Spangenberg grau geworben; ich verlange 
die Achtung, die mir zulommt!“ 

„Begnügen Sie fi) mit der Achtung Ihrer näheren Bekannten!” erwibderte 
Reinhold, und jet hatte er endlich den rechten Ton getroffen. Die Entrüftung 
des alten Mannes legte ſich. 

„Das ift wahr,“ ließ er fich befriedigt aus, „mein Principal und Sie 
und die Herren im Gejchäft achten mid. Ein einziges Mal, Herr Reinhold, 
haben Sie fi vergefjen.“ 

Diejer hob den Kopf: „Bei welcher Gelegenheit?“ 

„Sie waren freilich gerade in den Tylegeljahren.“ 

„Das Vergehen ift mir total entfallen, mein guter Hinze!“ 

„Mir aber nit! Sie famen einen Mittag aus dem Gymnafium und 
ſchrieen in unfer Gomptoir: „„Wo ift Hinze, der Kater?““ fo daß ich am ganzen 
Leibe zufammenfuhr. Ehe id mich von dem Schred erholt hatte, war Rein- 
holdchen verſchwunden. Hinze, der Kater! Mir das von Ihnen!“ 

Der Doctor Hopfte ihm auf die Schulter: „Warten Sie, Alterchen!“ unb 
ging an ein Bücherbrett, worauf die Quartausgabe des Goethe'ſchen Reinecke 
Fuchs mit den Kaulbach'ſchen lluftrationen ftand. Er nahm das Wert 
herunter, ſchlug e8 auf umd deutete auf eine Stelle: „Hier, bitte, leſen Sie!” 

- Der Gomptoirdiener that e8 laut: „Dritter Geſang. Nun war Hinze, ber 
Kater, ein Stüdchen Weges gegangen.“ Verwundert hielt er inne und ſah den 
jungen Mann an. 

„Sehen Sie,“ fagte dieſer, „das hatte uns damals der Lehrer in der Klaſſe 
vorgetragen. Es ift das berühmte Gedicht Reinede Fuchs, und ein berühmter 
Maler hat es mit jehr gefälligen Bildern ausgeftattet, die Jhnen Freude machen 
werden. Dies Exemplar nehmen Sie von mir an ald Buße für meine Jugend- 
fünde und unterhalten ſich Abends nad) dem Comptoirſchluß damit!“ 

Hinze fand überrafht: „Herr Reinhold! Den jchönen Einband kann id) 
doch nicht nehmen?“ 

Der bisherige Eigenthümer drüdte ihm aber den jchönen Einband feſt in 
die Hände: „I hoffe, das Vergnügen an dem Buch wird Sie für die Hrän- 





112 Deutiche Rundſchau. 


fung entihädigen, daß ein Kleiner Bube Ihre treue Seele einft unter das falſche 
Katzengeſchlecht verſetzt.“ 

Hinze öffnete den Mund, kam jedoch zu keiner Dankſagung; denn Papa 
Spangenberg's rundes Geſicht glänzte plötzlich in der geräuſchlos geöffneten Thür, 
und der Banquier nickte den Alten an: „Dacht' ich's doch! Hier ſteckt er! 
Entſchuldige, mein Sohn,“ fuhr er näher tretend fort, „ſeit Du aus dem Felde 
zurück biſt, iſt Hinze im Comptoir ſo gut wie gar nicht mehr zu haben.“ 

„Herr Spangenberg,“ verſetzte furchtlos der Diener, „Sie kümmern ſich 
ſeitdem ja auch weniger um's Geſchäft!“ 

Der Principal lachte: „Da hab' ich mein Theil!“ 

„Entſchuldige Du, Papa!“ begann Reinhold. „Hinze iſt ſo gut geweſen, 
mir einige Werke, die ich beim Antiquar erſtanden, herzuſchaffen.“ 

Der Vater blickte nach Hinze: „Damit Sie mir meinen Sohn nicht ganz 
und gar verziehen, ſollen Sie jetzt einen Gang für mich thun.“ 

„Gleich?“ 

„Sa wol, gleich!“ 

Hinze zauderte: „Ich weiß nicht, ob ich kann, ob unſer Herr Reinhold mich 
nicht mehr braucht.“ 

Schnell ſagte der Genannte: „Nein, Hinze! Verzeih', Papa!“ 

Der Banquier lachte noch ſtärker, als zuvor: „So gehört ſich's! Er 
muß vor Dir mehr Reſpect haben, als vor mir. Du biſt ein Mann der 
Wiſſenſchaft. Alſo, Hinze —“ und er zog ein verſiegeltes Packet aus der 
Bruſttaſche — „tragen Sie das Packet an ſeine Adreſſe! Es enthält bedeutende 
Werthpapiere. Sie geben es daher nicht an den Bedienten ab, ſondern fragen 
nach Frau von Buſſe ſelbſt.“ 

Hinze zuckte: „Nach wem?“ 

„Frau von Buſſe!“ wiederholte der Auftraggeber. „Der Name ſteht klar 
und deutlich auf dem Umſchlag. Und wenn die Dame ſich wundert, ſo können 
Sie, was Sie ja gern thun, grob werden, Hinze!“ 

„Wie?“ rief hier Reinhold frappirt. 

„Er kann grob werden, ſage ich, mein Sohn!“ 

„Geben Sie nur her, Herr Spangenberg!“ forderte jetzt Hinze, dem der 
Gedanke, in dem verhaßten Hauſe ſein Müthchen kühlen zu können, ungemein 
behagte. 

Doch Reinhold trat dazwiſchen: „O, ich bitte, Papa! Warſt Du nicht erft 
heut vor der Börſe bei Frau von Buſſe?“ 

„Wer hat Dir das geſagt?“ 

„Du ſelbſt!“ log der Sohn keck. 

„Ich?“ fragte der Vater förmlich betroffen. 

„Beim Frühſtück, entfinne Dich doch, erzählteſt Du mir, Du wollteſt zu 
ihr, fie habe Dir geftern geſchrieben.“ Die Worte rannen jo glatt von Rein- 
hold’3 Zunge, daß er fih im Stillen jelbft darüber wunderte. 

Der Vater legte die Hand an's Kinn: „Das hätte ich Dir erzählt? Dod 
woher wüßteſt Du es jonft? Sonderbar! — Aber ih will mit der Frau 
fernerhin nichts zu thun Haben, das können Sie ihr ganz deutjch erklären, 


Ein heimliches Verhältniß. 113 


Hinze, ih ſchicke ihr alle ihre Effecten zurück, die fie mir in Verwahrung 
gegeben.“ 

„Rur her damit, Herr Spangenberg,” ſchmunzelte der Comptoirdiener, „ich 
will das ſchon ausrichten!“ 

Indeſſen Reinhold litt es nicht, jondern bat: „Laffen Sie uns allein, 
lieber Hinze! Ich muß mit meinem Vater jprechen, bevor Sie gehen.“ 

„Aha!“ jagte der Alte leiſe mit einem bedeutjamen Blid. 

„Still!” ermahnte ihn der junge Mann ebenjo, und Hinze trollte ſich 
hinaus. Vater und Sohn blieben ohne Zeugen. Jener begann in Erwartung 
der Dinge, die da fommen jollten: „Du mußt mit mir ſprechen, mein Sohn?“ 

„Was hat Dir Frau von Bufje gethan, Papa ?“ 

Der Banquier räufperte ih: „Nachdem ich ihr Hundert Gefälligkeiten er- 
zeigt, fordre ich einmal eine ganz geringe von ihr und — vergebens.” 

Der Sohn legte ihm ſanft die Hand auf die Schulter: „Deshalb willit Du 
mit einer alten Freundin breden? Den Frauen muß der Mann Vieles nach— 
ſehen, bejonder3 ihren Kleinen Eigenfinn, der einmal in ihrer Natur liegt.” 

„Erlaube, mein Sohn,” entgegnete Spangenberg Senior, „es ift richtig, 
daß wir befreundet waren, aber woher weißt Du das nun wieder? Ich behellige 
Did doch grundjäglich nicht mit meinen gejchäftlichen Beziehungen, weil Dein 
Geift zu hoch darüber fteht.“ 

„Liebfter Vater,“ verſetzte Reinhold Iebhaft, „nicht einmal, jo und jo oft 
haft Du mir Deine Intimität mit Frau von Buſſe geſchildert.“ Bei Seite 
aber jprad) er: „Gott verzeihe mir die Lüge!“ 

Der Banquier heftete jein Auge an den Boden: „Sonderbar, jehr ſonderbar!“ 

„Und les Ithäte mir,“ ſetzte fein Sprößling fi) wieder in Zug, „Deiner 
jelbft wegen weh, wenn ein geringfügiger Anlaß Euch auseinanderbrächte. Ge- 
trennt find Menjchen bald, vereinigt weit ſchwerer. Vertraue mir die Papiere 
an, ich werde zu der Dame gehen und Alles in’3 Gleis zu bringen fuchen. 
Merke ich, Papa, daß fie nicht einficht, was fte an Dir verlieren wide, dann 
liefre ih ihr die Effecten ohne Weiteres aus; finde ich fie jedoch geneigt, Dir 
entgegenzufommen, jo jchließe ich in Deinem Namen den Frieden. Und Deinen 
früheren Beichreibungen nad) Hoffe ich, Frau von Buſſe gibt Dir Satisfaction.” 

Der Bater ftarrte abermal3 zur Erde: „Meinen früheren Beichreibungen 
nah! Ganz jonderbar!” 

Im Innerſten beluftigt über fein Spiel, jehte der Cohn es fort: „Du 
ſchwärmteſt bisher für die Dame und ihre Tochter.“ 

„Auch von der Tochter hätte ih —?“ 

„Du nannteft fie mehrmals ein reizendes, liebenswürdiges Mädchen.“ 

Der Banquier ſtrich fi) über den Scheitel, dann ſprach er langjam: „Höre, 
mein Sohn!“ 

Diefer konnte kaum mehr jeine Heiterkeit bemeiftern: „Was foll ich hören, 
mein Bater?“ 

Ammer den Bli auf denjelben Punkt gerichtet, jagte der Banquier: „Ich 
glaube, Reinhold, ich lebe nicht mehr Tange.“ 

„Papa!“ 

Deutjche Rundſchau. T, 10. 8 


114 Deutiche Rundſchau. 


„Du machſt mid) aufmerkſam, wie mein Gedächtniß ſchwindet. Und wenn 
die Schwäche jo auf einmal eintritt, pflegt e3 mit dem Menjchen raſch zu Ende 
zu gehen.“ 

„Um Himmeläwillen!“ rief der junge Mann. Diefe Wirkung jeines 
Scherzes hat er nicht vorausgefehen. Er fühlte, daß er zu weit gegangen und 
feinen Fehler redrefjiren müſſe. Der Vater ſprach ohne wahrnehmbare Erregung 
weiter: „Deshalb wäre mir’3 allerdings lieb, Du bemühteft Di zu Frau von 
Buſſe; denn ich ließe, wenn es gejchieden jein muß, nicht gern eine Feindſchaft 
zurüd.” Er hielt dem Sohn da3 Padet Hin. 

Reinhold ſteckte die Werthpapiere zu ih: „Dein Auftrag twird erfüllt wer— 
den, doc ſetze Dir nihts in den Kopf, mein guter Papa!" Er hob ihm das 
Kinn in die Höhe. „Wer von feinem nahen Tode ſpricht, dem ift Freund Hain 
in der Regel jehr fern.” 

„Denkſt Du, ich fürchte mich vor ihm?” gab der Banquier zurüd, „ch 
kann jeden Tag hingehen, nöthig bin ich nicht mehr auf Erden, mein Haus ift 
beftellt und Deine Zukunft geborgen. Dein Name hat jchon einen lang in 
der gelehrten Welt, Du wirft Profeffor, Du wirft auch Geheimrath werden, ja 
der Weg zum Eultusminifterium fteht Dir offen.“ 

„Das ift ein undanfbares Portefeuille, Papa!“ jcherzte der Doctor. „Aber 
num verbanne die ſchwarzen Gedanken! Ich ſage Dir: vorläufig laſſe ih Did 
nicht fterben!“ 

Leichter, ala bisher, eriwiderte der Mann, der den Tod jo geringichäßte: 
„Eigentlih, Reinhold, möchte ich auch noch nicht fort!” 

Der Sohn jhüttelte ihm die Hand: „So iſt's recht und geſcheidt! Wir 
bleiben noch manch' Jährchen zuſammen.“ 

„Manch' Jährchen? Wenn ich nur einen gewiſſen Tag erlebte!“ 

„Nämlich?“ 

Die Laune des Banquiers ward immer beffer: „Deinen Hochzeitstag!” 

„Wer weiß,“ lachte Reinhold, „ob ich ſelbſt den Tag erlebe?“ 

Spangenberg Vater war jet ganz und gar wieder der joviale Herr, der 
er ſonſt gewejen, und murmelte jeitwärts: „Er will mir eine Ueberraſchung be— 
reiten.“ Dann aber bob er feine Stimme wie ein Prediger: „Die Ehe ift 
Euch jungen Männern insgefammt jebt patriotifche Pflicht. Wer fein Vater- 
land Tiebt, der jeßt den Goldſchmied in Nahrung und beftellt Ringe.“ 

Reinhold drückte feine Anerkennung aus: „Der Gedanke ift neu. Nur läßt 
da3 Ding fich heutzutage nicht mehr jo fpielend ausführen, wie in jenen Zeiten, 
von denen die Schrift erzählt: „„er ging hin und nahm ein Weib.“ “ 

Der Bangquier legte eine Hand auf den Rüden, die andre ſteckte er in die 
Bruſttaſche: „Sollten fih Dir Schwierigkeiten entgegenftellen, jo jag’ & mir 
nur, mein Sohn, wir wollen fie ſchon bejeitigen.” 

„Du bift jehr freundlich, Papa,” dankte Reinhold fir dag Anerbieten. 

„Wählſt Du,“ fuhr der alte Herr mit Feſtigkeit fort, „zum Beifpiel Deine 
Braut in den Girkeln der Ariſtokratie — und id) glaube faft, Dein feiner Ge- 
Ihmad wird Di dahin führen —“ 

Der Bräutigam in spe ließ ihn nicht ausreden: „Was fein wird, gehört 


Ein heimliches Verhältniß. 115 


der Zukunft an. Einftweilen müſſen wir und bequemen, unfre Suppe noch 
allein zu effen. Und vielleicht ift’3 am beften, e3 bleibt jo; denn bisher haben 
wir einig und zufrieden gelebt,. Du Deiner, ich meiner Arbeit froh, warum 
wünjcheft Du uns nun einen Kleinen Zankteufel in’3 Haus?“ 

„Ah was, Zankteufel!” wies der Vater da3 Prädicat feiner Schwieger- 
tochter zurück. 

Reinhold jedoch bemerkte: „Wie ein Mädchen fi als Frau geberdet, läßt 
fih nie vorausjehen.” 

„Das wäre ſchlimm!“ exeiferte fich der Papa. „Ein mohlerzogenes Mädchen 
wird ‘ein bravdes Weib.“ Und Halb vorwurfsvoll, halb bittend ſchloß er an: 
„Reinhold! Ach will Deine Frau fehr Lieb haben, ſehr Lieb!“ 

„Aber einziger Papa, ich kann mir doch Feine herbeizaubern ?“ 

„Warte, Spitbube!” drohte der Bangquier leife und blickte auf einmal 
ungewöhnlich Yiftig, während er die Trage ftellte: „Verzweifelſt Du, weil Dein 
Zauberftäbchen geftern den Dienft verſagt? Einmal kann fie ſchon ausbleiben, 
darum iſt fie noch nicht untreu. Wie lange haft Du geſeſſen oder biſt umher⸗ 
gelaufen in Erwartung der Erſehnten?“ 

Reinhold ſtand perplex, der Sinn der Worte war ihm unfaßlich: „Papa, 
wie redeft Du?“ 

Da richtete diefer fi auf, jo Hoch er konnte: „Höre, jet leugne nicht 
mehr! ch hab’3 gelejen!“ 

„Was gelejen?“ 

„Es war Deine Hand, darauf nehme ih Gift! Wo ift das befannte 
Plägchen, Böjewicht ?“ 

„Alle neun Muſen!“ fuhr der Verrathene auf. 

„Laß die Muſen und jage: pater peccavi!“ verlangte der Banquier. 

Statt defjen rief Reinhold: „Mich jet nur in Erftaunen, wie man Dir 
den Brief hat zeigen können.” 

„Das Räthjel will ich Dir löſen,“ erklärte der Vater. „Deine Beftellung 
ift, ftatt an das Fräulein Tochter, an die Frau Mama gekommen.“ 

„An die Mutter? Abjcheulih!” grollte der anonyme Brieffteller. „Aber 
woher in aller Welt weiß jie, daß ich die Zeilen geichrieben? Halt!” brachte 
er fich jelbft auf die Spur, „der Bediente hat unſern Hinze gekannt!“ 

Der Banquier verzog das Geficht: „Unjern Hinze? Ei, ſieh, da erfährt 
man ja immer mehr! Aljo der Alte hat den Briefträger geipielt ?“ 

„Sid aber bitter bei mir beklagt,“ ergänzte Reinhold, „wie garftig der Be- 
diente ihn angejehen. Nun liegt der Grund am Tage.“ 

„Du irrft, mein Sohn,“ belehrte der Vater; „Hinze ift jo wenig erkannt 
worden, wie Du jelbft; jonft wäre ja die Mama Deiner Angebeteten geftern 
nicht zu Frau von Buffe geflogen und hätte gefragt, was anfangen.” 

„Wie?“ fragte Jener gedehnt, da er auf's Neue nicht aus dem Bericht: 
erftatter Hug wurde, der ſogleich feinen Rapport vervollſtändigte: 

„Und da Frau von Buſſe aud) feinen Rath gewußt, find die Damen einig 


getvorden, an mich zu appelliren.“ 
8* 


—116 Deutſche Rundſchau. 


— „Alles!geſtern?!“ betonte Reinhold, der den Zuſammenhang nun durch— 
aute, 

Der alte Herr nickte bejahend und lachte: „Das \ift nun eigentlich ſehr 
tomiſch, Reinhold !“ 

„Sehr, Papa!“ lachte auch der Sohn, nur aus einem andern Grunde. 

Seht brauchte der Bangquier ja mit nicht? mehr Hinter dem Berge zu 
halten, deshalb eröffnete ex jeinem Liebling: „Du kannt Dir vorftellen, wie ich 
daranf brannte, die Adreffe zu jehen.” 

„Die Dir jedoch,“ reimte Reinhold fich richtig zufammen, „von der klugen 
Dame vorenthalten wurde.” 

„Bis wir Beide Feuer und Flamme waren,“ geftand Frau von Buſſe's 
alter Freund. 

„Ich danke Dir Herzlich für diefe Mittheilungen, mein Tieber Vater, nun 
werde ich zu rau von Buſſe gehen.“ Der junge Mann wollte nad) feinem 
Dut greifen, allein der Vater hielt fihn feft: 

„Langſam, langjam, mein Sohn! Du vergißt, daß ich noch immer nad) 
der Adreſſe lechze“ In dem Moment Elopfte es draußen. 

Reinhold deutete nad) der Thür: „Es kommt Jemand, Papa!“ und rief 
laut: „Herein!“ 

Die Störung war zu verdrießlich Für den Banquier. Er verlor all’ feine 
Gutmüthigkeit und jchimpfte: „Sapperlot! Ewig beläftigen die Menſchen 
Einen zur Unzeit!“ 

Die Thür that ſich auf. „Spangenberg! Liebſter Doctor!“ grüßte der faſt 
athemloſe Beſuch, änderte aber im Nu ſeinen Ton und nahm das gemeſſenſte 
Weſen an: „Ah, Sie ſind nicht allein!“ 

„Mein Vater!“ ſtellte Reinhold vor. „Mein wackrer Kriegskamerad, Herr 
Rittmeiſter von Hill!“ 

„Gehorſamer Diener!” ſagte der Banquier kurz mit ſchlecht verhehltem 
Mißmuth. 

Deſto freundlicher ward dagegen der Offizier: „Ich freue mich, den Vater 
kennen zu lernen, an dem der Sohn mit jo großer Liebe hängt. Ich befitze ein 
ähnliches Prachteremplar von Papa. Als der Krieg ausbrach, bezahlte er alle 
meine Schulden.“ 

„Das Hatte ich für fmeinen Sohn nicht nöthig, Herr Rittmeifter,” er— 
tiderte der Angeredete etwas jchneidend. 

„Er ift auch ein Juwel, Herr Spangenberg,“ rühmte Hill, „und ein 
Phänomen! Was Keiner unter den Kameraden im Felde wußte, der Doctor 
wußte es ftet3; daher hieß ex nie anders, al3 „„unjer Brodhaus.”“ 

Das böſe Wetter auf des Banquiers Zügen wich wie durch Zauberei dem 
glängendften Sonnenſchein. Wohlgefällig lief fein Auge von dem einen der 
jungen Leute zum andern: „Wirklih? Sehr angenehm, Herr Rittmeifter, Yhre 
Bekanntſchaft zu machen!“ 

„Die ih mit der Parzenjcheere trennen muß,“ fiel Reinhold ein, dem 
Better Leontinens verftohlen winkend. „Herr von Hill ift liebenswürdig gemug, 

t mir zu gehen. Ich habe einen unaufichiebbaren Weg im Intereſſe meines Vaters.” 


Ein heimliches Verhältniß. 117 


„Ich bin zu Ihrer Ordre,“ fügte fih Hill. „Herr Spangenberg?" Er 
verneigte fi) gegen den Banquier. 

Diejer verneigte fi) noch um die Hälfte tiefer: „Ungemein erfreut gewejen.“ 
Zu feinem Sohn aber, der ihm die Hand reichte, jagte er flehend leife: „Die 
Adreſſe, Reinhold!” 

Der Doctor, der ihn an Wuchs überragte, bückte fich ein wenig, begierig 
hielt der alte Herr das Ohr hin, doch wider Erwarten jchallte es ganz laut 
hinein: „Wenn ich wiederfomme, Papa!“ Eine Secunde jpäter war der Flücht- 
ling mit feinem Begleiter jchon auf dem Flur. 

Der Banquier ward aufgebracht: „Es ift, als jollte ich fie nicht erfahren. 
Und doch wäre ihm dann mit einem Schlage geholfen; denn Papa begäbe ſich 
hurtig in aller Stille zu der Fünftigen Frau Schwiegermama und fegte ihr aus— 
einander, daß ihrem Fräulein Tochter fein größer Glüd unter Gottes Sonne 
blühen kann, al3 wenn ein Dann iwie Reinhold fie heimführt.“ Auf einmal 
ichlug er fi mit der flahen Hand vor die Stimm: „Aber es geht ja zu 
machen, ich darf nur unjerm Hinze auf den Zahn fühlen.“ Geſagt, gethan. 
Er öffnete die Thür und rief über die Treppenbrüftung: „Hin—ze!” 

„sa — a!” hallte es aus dem Parterre des Haujes empor. 

„Herauffommen!” befahl lakoniſch der Principal. 

„Ja!“ erklärte der Komptoirdiener ebenjo ſeine Bereitwilligfeit. Bis er 
erichien, ging jein Chef, die Hände auf dem Rüden, ftill. überlegend hin und 
ber in dem kleinen Zimmer, defjen ganze Einrichtung einen Gelehrten als Be- 
mwohner verkündete. 

Hinze betrat es mit der naheliegenden Frage: „Soll ich jet gehen ?“ 

„Mein Sohn hat Ihnen den Weg abgenommen,” antwortete Spangenberg. 

„Aha!“ machte Hinze ſich jeinen eignen Vers daraus. 

Sein Brodherr faßte ihn ſcharf in's Auge: „Wiefo Aha?“ 

Der Alte fuhr fi mit den Fingern um den Mund: „Seht willen wir, 
wie der Haje läuft. Unſer Herr Reinhold möchte natürlicherweije nicht haben, 
daß Sie mit der Frau von Buſſe auseinanderfommen, Herr Spangenberg.“ 

„Allerdings!“ bejtätigte der Banquier. „Aber warum jagen Sie: natür- 
licherweije ?“ 

„Weil ich Ahnen gleich etwas Andres jagen will, Here Spangenberg!“ 

„Müſſen Sie erft Athen dazu holen?“ 

„Demnächſt,“ begann Hinze wichtig, „ereignet fi) Etwas bei ung.“ 

Spangenberg trippelte ungeduldig: „Menſch, was find Sie langweilig!” 
Da Hinze in ein mäßiges, aber tanhaltendes Lachen überging, ftand er ftill: 
„Und jet lacht er gar noch fünf Minuten dazwijchen!” 

„Geben Sie Achtung,“ nahm der Alte wieder das Wort, „Sie werden 
auch gleich ladhen, Herr Spangenberg! Wir Eriegen nämlich bald eine Schwie- 
gertochter!“ 

Jetzt faßte ihn der Banquier mit beiden Händen bei den zwei oberften 
Knöpfen ſeines Rocks, jchüttelte ihn wie einen Inorrigen Baum und fchrie ihn 
vor brennender Wißbegier an: „Wer ift es?“ 


118 Deutſche Rundſchau. 


Mit voller Gemüthsruhe befriedigte Hinze den Dränger: „Wer denn ſonſt, 
als Fräulein Leontine von Buſſe?“ 

Spangenberg ließ die Knöpfe fahren: „Hinze!“ 

„Darum hat mir unſer Herr Reinhold ja blos den Weg abgenommen.“ 

„Hinze!“ wiederholte der Beglückte ſchwächer, die Füße zitterten ihm vor 
Freude. „Iſt es auch wahr? Mein Sohn ſagt mir, Sie haben geſtern früh 
einen Brief für ihn ausgetragen —“ 

„Geſtern Abend, Herr Spangenberg!“ berichtigte der Bote. 

„Geſtern früh!“ corrigirte ſeinerſeits der Banquier. „Wird Ihr Ge— 
dächtniß auch ſchwach, alter Peter?“ Spangenberg hielt ſich an die Zeit, die 
Frau von Buſſe ihm angegeben. Aber Hinze wußte, was er ſagte, und daß 
ein Irrthum nur bei ſeinem Herrn möglich war; daher erinnerte er dieſen: 

„Sie verwechjeln das mit heute früh, Herr Spangenberg.“ 

„Daß Did) die Maus beit! Meinetwegen!“ rief der Banquier, um ein 
Ende zu maden, und ging auf die Hauptſache los: „Was ftand auf ber 
Adrefje ?“ 

„Beide Male: an Fräulein Leontine von Buffe.“ 

Spangenberg’3 Phyfiognomie leuchtete wie verflärt: „Das Engelskind 
meine Tochter?” Er ftredite die Hände nad) dem Diener aus: „Hinze! Treues, 
altes Hausthier!” 

Hinze wich auf die Seite: „Damit gehen Sie mir, Herr Spangenberg!“ 

Freude kann körperlich erihöpfen wie Schmerz, das jpürte der Banquier 
und warf fich in einen Seffel: „Dinge, ich bin der glücklichſte Vater auf deutjcher 
Erde; Heut jollen Sie eine Flaſche Champagner trinten! Gehen Sie, holen Sie 
ein Paar Bouteillen aus dem Keller!“ 

Hinze ſchickte ſich an, zu geboren, machte jedoch an ber Schwelle Halt 
und bat mit jehr energiſchem Accent: „Aber nur nicht wieder den Kater, Herr 
Spangenberg!” 


V. 


Mährend dieſer Vorgänge im Spangenberg'ſchen Haufe war Johann dahin 
unterwegs geivefen, um Frau von Buſſe's jorgfältig ftylifirtes und in jedem 
Wort mwohlberechnetes Schreiben an den verlorenen Freund, den fie wieder- 
gewinnen wollte, zu überbringen. Wie der Bediente fich feiner Sendung ent- 
ledigt, was ihm dabei paffirt, welche unerwarteten Entdedungen er gemacht, 
alles das vernahm jeine Gebieterin, als er fichtlich erhitzt zu ihr zurückkehrte. 
Sie ſchrieb die Röthe feiner Wangen anfangs dem Dienfteifer zu, ben fie an 
ihm kannte, und fragte deswegen ohne den geringften Arg einfah: „Wird er 
fommen?“ 

„Herr Spangenberg — wird fih — bie Ehre geben!” feuchte Johann. 

Sie lächelte zufrieden und machte fi), ohne daß der Domeſtik e3 hören 
fonnte, jelbft die Eloge: „Was hab’ ich gejagt?“ 

„Aber, gnädige Frau — in das Haus gehe ich nicht mehr!“ erklärte Jo— 
hann umtiflentlid mit demjelben Wortlaut, der Hinze's Weigerung, fi 
wieder bei Frau von Buſſe jehen zu laffen, ausgedrüdt hatte. 


Ein heimliched Verhältniß. 119 


Die Herrin, bisher nur an blinde Ergebenheit bei dem guten Menſchen 
gewöhnt, mufterte ihn überrafcht: „Wie?“ 

63 fehlte ihm jetzt nicht mehr an Luft, er fprad) zufammenhängend: „Dan 
hätte mich bei einem Haar geprügelt.“ 

„Wer hätte?“ 

„Der alte Menſch, der ſich bei meiner gnädigen Herrſchaft für einen be— 
drängten Tyamilienvater ausgegeben.” 

Frau von Buffe horchte hoch auf: „Johann!“ 

Er fuhr fort: „Ich treffe ihn bei Heren Spangenberg im Zimmer, er hatte 
foeben Champagner hereingebradjt, und als ich frage, ob Herr Spangenberg ihn 
fennt, und jage, daß er ein armer fyamilienvater jei und unfer gnädiges Fräu— 
lein zweimal mit Briefen beläftigt habe, um Unterftügungen zu erhalten, da 
fährt der alte Menſch wüthend auf mich los: ich wäre ein Lügner, wie er zu 
Familie fommen jollte, ev wäre fein Lebtage ledig und Gomptoirdiener bei 
Herrn Spangenberg gewejen —“ 

„Was?“ rief Frau von Buſſe, heftig erjchredend, dazwiſchen. 

„Und ehe ic) mir’3 verjehe,“ beendete Johann feine Leidensgefhichte, „bin 
ih um und um gedreht und ftehe draußen.“ 

Eine Pauje entftand. Die Stirn der Dame hatte ih in Falten gezogen; 
Johann glaubte, fein Schickſal alterire fie. Um fo minder war ihm erklärlich, 
daß fie endlich jagen konnte: „E3 ift gut, Johann!“ 

„But, gnädige Frau? ch bin mehr zurüdgeflogen, ala gegangen. Wenn 
ein folder Menſch —“ 

Sie wirkte ihm Schweigen: „Genug! Ich werde mit Herrn Spangenberg 
reden. Seht lafje ich meine Tochter bitten, daß fie zu mir fommt. Sie wird 
mit Fräulein von Brüning in der Laube fien.“ Ein nochmaliger Wink ent» 
fernte den Bedienten, die tieferregte Tyrau hatte ſich keinen Zwang mehr anzu= 
thun. Sie rang die Hände: „Sein Comptoirdiener — welch' Licht über Alles!“ 
Die Betroffenheit des Banquiers beim Exbliden der Handſchrift jeines Sohnes, 
feine Begierde, die Adrefje des Briefes zu jehen, feine Empfindlichkeit über ihre 
Ablehnung waren ihr nun volllommen begreiflih. Die Gedanken ſchoſſen pfeil 
geihwind durch ihren Kopf, und ein Entihluß erwadte. Es blieb in ihrer 
Lage fein andrer übrig. „Der junge Spangenberg muß Leontinen auf der Stelle 
heirathen!“ entſchied fie, that ein paar Schritte durch den Salon, blieb wieder 
ftehen, und es zudte wie ein Krampf um ihre Lippen: „Alſo Fühlhörner waren 
es, die fie geftern im Kaffeegarten ausgeftredt! Und heut das kindlich naive, 
treuberzige Wejen! Bon wen hat fie da3? Von mir nit! — Ein Verhältniß 
mit dem Sohne meines Banquiers!" — Sie veradhtete ihre Toter. „Doch 
ärgern will ich mid) nicht! Rein!“ Was Hinter ihrem Rüden geſchehen, lieh 
ſich nicht ändern, nur die Zukunft war in's Auge zu faflen, und jo unziemlid 
Leontinens Wahl der ftolgen Mutter einerjeits erſchien, mußte fie ſich bei ihrem 
Berftande doch bald geftehen, daß andrerjeit3 fein wirkliches Unglüd darin Liege. 
Dieſe Betrachtung führte fie zu dem Refultat: „Zulegt kann ich mir den Doctor 
Spangenberg übrigens noch eher gefallen Lafjen, als jeden Andern; der Bater ift 
in guten, ſehr guten Umftänden, der junge Mann bat das eiferne Kreuz — aber 


120 Deutſche Rundſchau. 


keine Spur von Anſtand!“ loderte fie neu auf, beſchwichtigte ihren Zorn jedoch 
ſofort: „Ich will mich ja nicht ärgern!“ 

Da' kam Leontine, die Johann im Gärtchen geſucht und gefunden: „Liebe 
Mama?“ 

Frau von Buſſe war wieder ganz Herrin über ſich und kehrte ſich ruhig 
um: „Da biſt Du!“ 

Das Mädchen näherte ſich und ſah ihr zutraulich in die Augen: „Haſt 
Du Dir die häßliche Geſchichte endlich aus dem Sinn geſchlagen?“ 

Die Mutter verſuchte zu lächeln: „Ich erwarte ſogar meinen alten Freund 
Spangenberg noch vor Tiſche, um mich mit ihm auszuſöhnen.“ 

„Mama, Du biſt reizend!“ rief Leontine lebhaft. „Herzensmama, ich kann 
Dir nicht beſchreiben, wie mich das freut! Es hätte mir zu weh gethan, wenn 
Ihr Beide ganz zerfallen wär't. Ich überlegte ſchon, wie ich Euch wieder zu— 
ſammenbringen wollte.“ 

„Nun brauchſt Du Deinen Scharfſinn eben nicht anzuſtrengen,“ ſpottete 
die Mutter, ohne daß die Tochter in ihrer Unſchuld es merkte. Sonſt hätte 
Leontine ſchwerlich jetzt noch den Zuſatz gemacht: 

„Eine Frau, ſo gut wie Du, lebt nirgend!“ 

Die unvergleichliche Frau fühlte ſich von zwei weichen Armen umſchloſſen, 
hielt es aber nicht darin aus, ſondern entwand ſich ihnen mit der Bemerkung: 
„Das ſcheint Dir nur, weil Du jelbft ein jo gutes Kind bift.“" 

Leontine verftand die zweite Satyre jo wenig wie die erfte. „Doc ein- 
mal eine Anerkennung!” lachte fie. „Aber weshalb rief mic Johann? Sollte 
ich nur hören, daß der Papa Spangenberg wiederfommen wird?“ 

„Ich habe mehr auf dem Herzen,“ verjehte die Mutter. „Mar war bei 
mir —“ 

Pi 

„Um mir Eure Abendunterhaltung mitzutheilen.“ 

Leontine erwiderte den firirenden Blick, der fie traf: „Er hätte den Muth 
gehabt ?“ 

„Der Dir zu fehlen jcheint,“ ſprach Frau von Buſſe. 

Das Mädchen bemäcdhtigte fi) der mütterlihden Hand: „Mama, liebe 
Mama, wenn Mar offen geweſen, darf ih mir auch, ein Herz faſſen. Sieh, 
einzig und allein aus Rüdficht auf Di konnten wir uns doch nimmermehr 
heirathen!“ 

„Wir?“ fragte Jene nahdrüdlid. „Hat er fih etwa den Schein ge- 
geben, Dich zu lieben, da Deine Zurückweiſung ihn im Ziefften kränkt?“ 

„Ah, der Better ift groß!“ rief die Couſine. „So haben wir denn aber 
doc nicht miteinander gewettet), Ichöner Herr! Mama, jet muß id Dir eine 
Illuſtration unferer Nationaltugend, der deutichen Ehrlichkeit, geben: komm mit 
in die Laube zu Wanda!“ 

„Was da?“ rief Frau von Buſſe und trat zurüd. 

„Komm nur und fieh Dir Deinen Liebling an! Die Wangen blühen, die 
Augen ftrahlen, der Mund lat, daß die Kleinen Zähne bliten,; denn hier in 


Ein heimliches Verhältnif. 121 


diefen vier Wänden hab’ ich's herausgelodt: Wunda liebt Deinen Mar! Und 
wie es in ihr brennt, brennt e8 au in ihm — nun weißt Du Alles!“ 

Ohne ein Wort zu jagen, jehte die Mutter ſich jchnell nieder. Leontine 
fniete neben ihr nieder und fuhr mit einer Miſchung von Ernft und Scherz fort: 
„Sieht Du, Mama, das ift die Strafe für Mütter, die ihr eigenes Kind 
immer herabjegen und andre Mädchen nicht genug zu loben wiſſen. Jetzt wirft 
Du innewerden, wa3 Dir der Himmel an mir beicheert. Ich habe Dir nie- 
mals große Leidenschaft für die Ulanenkaſerne, noch entichiedene Abneigung 
gegen den heiligen Stand der Ehe geheuchelt. Aber darum erzähle ih Dir 
nicht, wie es mit Mar und Wanda fteht, dat fi) Dein herziges Gefiht wieder 
verfinftern fol. Wanda bat in der That Deinetwegen, weil fie Deine 
Pläne mit mir kannte, alle Kraft aufgeboten, ihre Liebe zu erſticken.“ 

Hier brad Frau von Buſſe ihr Schweigen, um jarkaftiich hinzuwerfen: 
„Das himmlische Mädchen!“ 

Augenblids nahm Leontine ihren Gaft in Shub: „Du haft wirklich feinen 
Grund, ihr zu grollen. Und aud unjerm Dear darfft Du nicht böſe jein. 
Glaube nur: Freude hat es ihm nicht gemacht, jeine wahren Empfindungen 
zu verbergen. E3 war eben auch die Rüdfiht —“ 

„Schweige ftill!” jchnitt die Mutter den Reit der Vertheidigung ab. „Wer 
mich einmal getäufcht, wird mich öfter zu betrügen fuchen. Ich muthmaße 
Etwas.” Sie ſchob da3 knieende Mädchen hinweg und ftand auf. 

Leontine jprang leiht vom Boden empor: „Was, liebe Mama?“ 

Frau don Buſſe durhmah das Gemah und murmelte: „Wie ich myjfti- 
ficirt bin, ift num Klar!“ 

Die Tochter folgte ihr: „Was muthmaßeft Du?“ 

„Geh weg!” wies die Entrüftete ihre Begleitung zurüd und ſprach wieder 
für fih: „Deshalb fteht auch gejchrieben: man zittert nicht vor ihm. Sie 
fteden unter einer Dede.“ 

„So ſprich do, Mama!“ bat Leontine. 

Indeß Mama blieb in fi gelehrt: „Aber wir find vorgejehen, mein 
Freund!“ 

Das Mädchen ſtand kopfſchüttelnd da: „Du fängſt an, mich zu ängſtigen!“ 

Frau von Buſſe brach ihren Spaziergang ab und lachte: „Aengſtige Did 
gar nicht! Ihr jollt erfahren, daß Ihr ſämmtlich bei mir in die Schule gehen 
tönnt!“ 

„Das trifft mid) mit?“ rief Leontine. 

Ich denke.“ 

„Sa, wieſo?“ 

„Sei ohne Furcht! Tu biſt mein gutes Kind, Du belügſt mich nicht, Du 
betrügft mich nit. Laß Deine freundin Wanda in Gotte3 Namen Braut 
werden, Du jollft es auch bald jein!“ 

Leontine jehte den Zeigefinger auf die Bruft: „Ich Braut ?“ 

„Ganz nad) Deiner Wahl!“ verficherte die Mutter. 

„Wie deut’ ih mir das?“ ſuchte ihr Kind nad einer Erklärung. „Bis 
jet bin ich noch nicht jo umſchwärmt von Herren geiveien, dab id) die Wahl 





122 Deutiche Rundſchau. | 


gehabt hätte.“ Bevor fie fich nähern Aufſchluß erbitten konnte, bewegte ſich die 
Thür zum Vorzimmer. 

Yohann ward fihtbar: „Gnädige Frau!“ 

Dieje machte eine rafche Wendung: „Was gibt's?“ 

„Der Herr Rittmeifter ift da mit einem andern Herrn. Hier feine Karte.“ 

„a3 will er denn jchon wieder?“ wunderte ſich Leontine. 

Frau don Buffe hatte inzwiſchen da3 Kleine Pergamentblatt genommen. 
„Richtig!“ ſagte fie, es anjehend, und inftruirte den Bedienten: „Sehr ſchön! 
Außerordentlich willlommen! Die Herren mögen nur einen Augenblid ver— 
ziehen!” Johann ging, fie trat auf ihre Tochter zu: „Leontine, Mar bringt 
Dir einen lieben Bekannten mit.” 

Das Befremden des Mädchens wuchs: „Mir?“ 

„Das Schickſal will, da die Mebrigen Freude haben, daß Du nicht leer 
ausgehſt,“ Lächelte die Mama mit großer Selbftüberwindung und wies auf ihr 
Boudoir: „Verfüge Did da hinein, bis ich Dich rufe!” 

Leontine leiftete ‚nicht jogleich Folge: „Ich Toll verſteckt werben wie ein 
Dfterei? Ein lieber Bekannter? Wer könnte das fein?“ 

Mit erkünftelter Zärtlichkeit bat die Mutter: „Verdirb mir nidht die 
Ueberraſchung! Geh, mein gutes Kind!“ 

Jetzt gehorchte das Mädchen: „Da bin ich aber neugierig!” Als fie hinaus 
war, öffnete Frau von Buffe eigenhändig die Antihambre- Pforte und lud die 
draußen Harrenden kurz ein: „Meine Herren?“ Johann jchloß hinter den 
beiden jungen Männern. 

„Berehrte Tante,“ bob Hill an, „ic habe das Vergnügen, Dir Herrn 
Doctor Spangenberg, Sohn Deines Banquiers, vorzuftellen.“ 

Die Dame prüfte da3 Aeußere des Doctord: „Ja, ich weiß, daß die Herren 
fih kennen.“ 

Ihr Neffe jah fie groß an: „Du weißt?“ 

Ohne fi zu wiederholen, forjchte fie den jungen Gelehrten aus: „Wo 
wurden Sie befreundet, wenn ich fragen darf?“ 

„Unter der Fahne, gnädige Frau!“ 

Sie blidte nah Hill: „Daß Du uns nie davon erzählt, lieber Sohn!“ 

„Um To auffallender Deine Kenntniß, liebe Tante,” äußerte Mar. 

„An das Auffallende,“ entgegnete fie, „muß fich Jeder im Leben wohl oder 
übel gewöhnen. Sie, Herr Doctor, hätten übrigens diejer Einführung nicht 
bedurft, jelbft ohne Ihre Karte würde ih Sie erkannt haben.“ 

„Wol an der Aehnlichkeit mit meinem Water?“ 

„Nein, Sie haben Nichts von meinem ehrlichen Freunde.“ 

Der eigenthümliche Ton, den fie auf die zwei Worte legte, ließ den Ritt» 
meifter Verdacht ſchöpfen. „Hier ift Etwas nicht richtig!” rief er mit Laune. 

„Defto richtiger,“ erwiderte ernjthaft die Tante, „wirft Du Alles finden, 
mein braver Mar, wenn Du Dich unverzüglich zu Fräulein von Brüning 
begibft.” 

Tante!“ 

„Du triffſt fie einſam wie Precioſa in der Gartenlaube.“ 


Ein heimliche Berhältniß. 123 


Hill ſchlug auf den Arm feines Gefährten: „Doctor, wir find in eine 
Zaubergrotte gerathen; jehen Sie, wie Sie hinausfommen! Gott mit Ihnen!“ 
So eilte er davon und überließ den Freund feinem Schickſal. 

Frau don Bufje machte eine graziöfe Handbewegung: „Nehmen Sie Plab, 
Herr Doctor Spangenberg!“ 

Reinhold wartete, bis fie jelbjt fich niedergelaffen, und begann zögernd: 
„Deine gnädige Frau —“ 

Sie unterbrach ihn, aber mit aller Feinheit: „Mein Neffe hat Sie unter- 
richtet, welches Vergehens ich mich ſchuldig gemacht. Briefunterfchlagung ift 
ftraffällig.“ 

„Frau von Buffe,“ verjeßte er, „meine Abſicht war, mich Ihnen ala Schreiber 
beider Briefe zu entdeden. ch faſſe nicht, wer mir zuvorgelommen, wer mir 
zuborfommen fonnte.“ 

„Sie jehen, der Verräther ſchläft nicht,” ſagte fie ruhig. 

„In wen aber joll ich ihm juchen?“ fragte er. „Herr von Hill ift es 
natürlich nicht, ebenfowwenig mein guter Papa —“ 

„Der in Kurzem bei uns jein wird,“ fiel fie ein. 

Reinhold ſchaute fie, und fie ſchaute Reinhold ſprachlos an. | 

Auf einmal brad) er aus: „Dann halte ih Alles für möglich!” 

Auf dies Wort ſchien fie nur gewartet zu haben; denn fie benußte es 
ſchnell: „So geht es mir ebenfalls, feit ich im Befit Ihrer Zeilen bin. Bor 
vierundzwanzig Stunden hätte ich es noch für unmöglich gehalten, daß meine 
Tochter die Annäherung eines jungen Mannes in diejer Yorm nicht mit 
Entrüftung zurückgewieſen.“ 

„Um Gotteswillen!“ rief Reinhold entjegt. 

„Sie hören, ich ſpreche ſehr gelaffen,“ beruhigte fie ihn. „Ich habe mir 
vorgenommen, mich nicht zu ärgern, weil ich ſonſt büßen würde, was Andere 
gefündigt. Der Makel, der nun einmal an der Sache haftet, kann nur ver- 
wiſcht werden, wenn das Verſteckte jofort an’3 Licht der Deffentlichkeit tritt.“ 

„Hrau von —“ ſetzte er mit halber Stimme an. 

„Ich bitte!” verwies fie ihm mit Gravität die verfuchte Entziehung des 
Wortes. „Ih frage deshalb auch jet weder umftändli, wo und wie Sie 
meine Tochter kennen gelernt, noch feit warın Ihr Verhältniß befteht, ich erlaſſe 
Ihnen desgleichen vorläufig die Gründe, aus denen ein hochgebildeter Mann 
Wege eingefchlagen, die ich in meiner Einfalt bisher nur von der tiefften Un— 
bildung betreten glaubte.“ 

Reinhold ſprang auf: „Länger halte ich die Tortur nicht aus, gnädige 
Frau, wenn ich fie auch verdient habe!“ 

„Der Zufaß,“ ſprach fie, ſich würdevoll erhebend, „beweift wenigftens, daß 
Sie fühlen, wie ſchwer ich beleidigt worden bin. Ihre Gewiſſensbiſſe müſſen 
Sie num ſchon tragen und ſich mit meiner Tochter darin theilen. Machen wir's 
kurz, bevor der Papa kommt!” Und fie machte es jo kurz, daß es dem jungen 
Mann rein unmöglid) ward, ihr den Wahn, worin er fie befangen jah, zu 
nehmen; denn fie war mit zwei Schritten am Nebenzimmer, öffnete und rief 
Binein: „Zeontine!” 


124 Deutſche Rundſchau. 


„Herr, erbarme Dich meiner armen Seele!“ betete Reinhold in ſeiner 
Deſperation. 

Frau von Buſſe kehrte zurück, ſtreifte in vornehmſter Haltung an ihm 
vorüber und ſagte: „Setzen Sie meine Tochter von meiner Einwilligung in 
Kenntniß!“ Ohne ihn noch eines Blicks zu würdigen, verließ ſie den Salon. 
Der Unglückliche ſtand wie zerſchmettert, und doch that ihm die höchſte Geiſtes— 
gegenwart noth, um ſich mit Ehren aus der Affaire zu ziehen. Im Kugelregen 
vor dem Feinde, wenn Mann und Roß um ihn ſtürzten, hatte ihm nie das 
Herz geſchlagen, wie es in dieſer Secunde hämmerte, da Leontine erſchien und 
er nicht wußte, wo anfangen, wo enden. 

„Was iſt das?“ ftußte dasI Mädchen. „Mama kündigt mir einen Be— 
fannten an und läßt mich allein mit "einem Fremden? Wen hab’ ich die 
Ehre?“ 

„Mein gnädiges Fräulein,“ nahm er ſich zuſammen, „ob jemals, jeit die 
Welt fteht, ein Sterblicher in jo verzweifelter Lage gejchwebt, ich weiß es 
nicht.“ 

„Roc einmal: wen hab’ ich die Ehre?“ Klang ihre Stimme, 

„Mein Name ift mir entfallen, jo wirbelt mir Alles im Hirn!“ Er juchte 
Zeit zu gewinnen; al3 Zeontine ihn aber ein ftrenges, faft gebieterifches „mein 
Herr!“ hören ließ, jeufzte er, fich in das Unvermeidliche ergebend: „ch bin die 
Niſche Nummer Drei!“ 

Die Antwort beftürzte fie nicht, erheiterte fie vielmehr. Reinhold merkte 
e3 an der Färbung ihrer jchnellen Trage: „Sie?“ 

„Aufzuwarten, und nebenbei,“ legitimirte ex fich weiter, „ein Kriegskamerad 
des Nittmeifter von Hill, dem ich geftern zum erften Mal feit dem Frieden 
wieder begegnet.“ 

„D, diejer Vetter!” drohte die Coufine; denn nun wußte fie, daß Mar am 
vergangenen Abend ein !chändliches Spiel mit ihr getrieben, wenngleich jie es 
noch nicht gänzlich durchſchaute. 

Die Niſche Nummer Drei aber ſprach ihr nad: „O, diejer Vetter begleitete 
mich aus dem Kaffeegarten in meine Wohnung, wo ich unter feinen Augen 
meinen Pegafus jattelte, der Yhnen aber jedenfalls eher wie ein Rocinante vor— 
gefommen.“ 

„Mindeſtens,“ entgegnete Leontine, „macht jein Reiter in diefem Moment 
einigermaßen den Eindrud eines Ritters von der traurigen Geftalt.“ 

„Das glaube ich Herzlich gern,“ gab er zu. „Den Eindrud antiter Götter 
würde ich indeß aud unter bejjeren Umftänden ſchwerlich hervorbringen.“ 

„Antife Götter?“ fragte fie, plötzlich etwas zaghaft und gedrückt. 

Er nidte traurig: „Mit Apollo und Mars in Einer Perſon kann ich zu 
feiner Zeit aushelfen.“ 

Leontine griff nach einer Stuhllehne, als fühlte fie ſich der Stübe bedürftig: 
„Sie wären — Herr Reinhold Spangenberg ſelbſt?“ 

„Wie mag Sie das erjchreden, Fräulein von Buffe, da Sie ſich doch nur 
überführen, wie richtig Ihr Ahnungsvermögen Sie geleitet? Water Gellert bleibt 
beftehen: der Hund ift nur jo groß, wie alle Hunde find.“ 


Ein heimliches Verhältniß. 125 


Sie ſchlug die Wimpern nieder: „DO, Here Doctor, wie beihämen Sie mich!“ 

„Die Beſchämung,“ betheuerte er dagegen, „it ganz auf meiner Seite nad) 
der entjeglichen Converſation mit der gnädigen Frau.“ 

Der geſenkte Blick hob fich wieder: „Ja, jagen Sie, was ift das mit der 
Mama?“ 

Der Doctor ftöhnte leife: „Die Dinge gehen immer anders, al3 der Menſch 
ausgeflügelt hat. Herr von Hill patrouillirte geftern Abend von mir zu Ihnen 
und ſchlich noch bei nachtichlafender Zeit von Ihnen wieder zu mir.“ 

„Wenn wir abrechnen, Better!” verhieß Leontine dem Nittmeifter eine an- 
genehme Stunde. Ihre Augen funkelten. Reinhold fuhr fort: 

„Darauf fühlte ich den unmiderftehlihen Drang, Ihnen heut in’ der) Frühe 
einen zweiten — Bettelbrief zu ſchreiben.“ 

„Wie?“ 

„Diesmal in Proſa, da ich mir dachte, an meinen Verſen würden Sie ein 
für alle Mal genug haben.“ 

Haſtig verſetzte ſie: „Der Brief iſt mir nicht zugeſtellt worden.“ 

Reinhold drehte ſeinen Hut in den Händen: „Daher rührt die ganze himmel— 
Ichreiende Kataftrophe, die jet hereingebrocdhen. Ihre gnädige Frau Mama hat 
mein Scriptum in Empfang genommen.“ 

Leontine zuedte auf: „Mamal?" Und gedehnt ließ fie folgen: „DO, nun —“ 

„Wiſſen Sie erſt dag Geringfte,” jagte der Doctor. 

„Was enthielt denn der Brief?” 

„Namenloſes!“ 

„Herr Doctor!“ rief ſie vorwurfsvoll. 

„Anonymes, wollte ich jagen.“ 

„Ah jo!“ 

Er zuckte die Achſel: „Wir Deutſchen müſſen zu Fremdwörtern greifen, um 
uns verſtändlich zu machen. Ich gab Ihnen die kurze Verſicherung, daß ich vor 
Ihrem Herrn Vetter nicht bebe und mich heut wieder an dem bekannten Plätzchen 
einfinden würde.“ 

„Verzeihen Sie, lich muß lachen!“ ſagte Leontine und konnte in der That 
ihre Natur nicht mehr zügeln. 

Reinhold aber warnte: „Wenn Sie nur nicht bald Thränen vergießen! 
Denn das bekannte Plätzchen hat die gnädige Frau zu ſchauderhaften Schlüſſen 
geführt, deren fie ſich zunächſt fgegen meinen Papa entledigt, Vorſichts halber 
jedoch gleichfalls anonym.” 

Die Miene des jumgen Mädchens verwandelte ſich, die Mittheilung verlete 
das feinfühlende Herz gewaltig: „Was hör’ ich! Von mir jelbft konnte Mama 
denken —“ fie ftodte unwillkürlich. 

„Wastfih — der Himmel weiß, wodurch — als kraſſe Meberzeugung bei 
ihr eingewwurzelt bat,“ führte der Doctor den Sat zu Ende, „jo daß fie Ihnen 
in beiligem Exnft zumuthet, unjerem heimlichen Verhältniß vor der Welt Recht3- 
fraft zu verleihen.” 

„Dein Herr!” mwallte Leontine auf. 


126 Deutſche Rundichau. 


Doch er ließ ſich nicht einſchüchtern: „Sch bin zu diefer Eröffnung aus- 
drücklich von der gnädigen Frau autorifirt.“ 

„Haben Sie ihr denn nicht den Zufammenhang erklärt?“ fragte dad Fräulein 
geſchwind. 

Reinhold rechtfertigte ſich, daß er dies unterlaſſen: „Ich gelangte ſelten zu 
Worte, und meine Zwiſchenreden fielen alle wie Tropfen auf einen heißen Stein.“ 

Leontine richtete halb an ihn, halb an ſich ſelbſt die Frage: „Wie kommen 
wir heraus?“ 

Der junge Mann wußte keinen Rath: „Finden Sie ein Mittel! Mir 
ſchwirrt der Kopf zu arg.“ 

Da fiel ihr ein, wer helfen könnte: „Wohin iſt mein Vetter Max ver— 
ſchwunden?“ 

„Die Gartenlaube hat ihn aufgenommen,“ gab Reinhold zur Auskunft. 

„Sp iſt Mama ihm gefolgt, und er leiftet uns ohne Zweifel N, 
ſprach Hill's Couſine ihre Hoffnung aus. 

Der Doctor theilte dieſelbe wenig: „Es bleibt immerhin rathſam, man ver— 
läßt ſich nicht mehr auf Andre, als auf die eigne Kraft.“ 

„Wir könnten,“ meinte Leontine, „doch nur gemeinſchaftlich betheuern, daß 
Mama im allergrößten Irrthum geweſen?“ 

„Hoffentlich,“ verjegte der Andre, „hat Frau von Bufje noch nicht meinen 
Papa, den fie erivartet, in ihr Eheproject eingeweiht.“ 

„Was läge daran?“ jchaltete das Fräulein ein. 

„Für Sie wenig,“ ſagte Reinhold, „Für mic) leider viel; denn die Seele 
von Bater hat mein falſch eingelaufenes Sendichreiben gelejen und den Löwen 
an der Kralle erkannt, wenn das Bild nicht zu kühn ift. Wäre ihm nun kund— 
geworden, daß die Adrefjatin Ihren Namen trägt, ich glaube —“ ex hielt offenen 
Mundes inne. 

„Was glauben Sie?" drängte Leontine. 

Der Doctor bog den Kopf nach der Borzimmerthür: „ch glaube, da kommt 
er. Wahrhaftig, das ift feine Stimme!“ 

Der Eingang zum Salon that ſich auf, der Banquier ward hörbar, wenn- 
gleich noc nicht fichtbar. Er verhandelte mit Johann: „Zu melden brauchen 
Sie mid nicht, nehmen Sie mir nur den Hut ab!” Warum er das lebte Ver— 
langen jtellte, ergab ſich aus der Figur, die er jpielte, als ex den jungen Leuten 
jeßt vor Augen fam. In jeder feiner Hände prangte ein Toftbares Bouquet. 
Gr jah feinen Reinhold, er jah das Mädchen, und er fand nur einen Gruß: 
„Mein Sohn! Meine Tochter!“ 

Der Sohn wechſelte die Farbe: „Da hören wir’3, Yhre Frau Mama hat 
es ihm verrathen!“ 

„Nein, Du Strid," widerſprach der Vater, „nicht Frau von Buffe, unfer 
alter Hinze!“ 

„Dem dreh’ ich das Genid um!” nahm Reinhold fi vor. „Vater, Papa, 
id beihwöre Did, nimm ſammt Deinen unglüdlichen Blumen Flügel der 
Morgenröthe umd made, daß Du nad Haufe kommſt; denn Heiner von uns ift 
hier am Pla!“ 





Ein heimliches Verhältniß. 127 


Der Banquier rührte ſich nicht: „Was joll das heißen?“ 

„Du bift im Traum! Zwijchen Fräulein von Buffe und mir ift von nichts 
weniger die Rede, ald von einem Verlöbniß.“ 

Wie konnte der alte Herr das für Ernſt halten? Er machte ein gutmüthig 
bittendes Gefiht: „Nein, Kinder, jo müßt Ihr mich nicht an der Naje führen, 
das ift Unrecht. Ich möchte troß meiner Jahre deckenhoch jpringen vor Freude. 
Nun kann ich getroft in die Grube fahren; denn jehen Sie, mein liebes gnädiges 
Fräulein, mehr nad) meinem Sinn hätte Reinhold nicht wählen können, gerade 
ſolche Schwiegertochter, wie Sie, habe ich mir immer gewünſcht. Ja, ja, fragen 
Sie nur die Mama, was ich heut früh von Ihnen gejagt!” 

Reinhold Jah Leontinen mit flehender Geberde an und flüfterte: „Verzeihung! 
Ich bitte!“ 

„Was hat er zu tujcheln?“ rief der Vater. „Laffen Sie fi) nicht von ihm 
den Mund verbieten, reden Sie, laden Sie, Herzenskind! Er ſoll Sie nit 
beherrjchen, wie er feinen alten Vater beherrfcht! Laſſen Sie ſich feine Tyrannei 
gefallen! Und,“ fuhr er wieder bittend fort, „befreien Sie mich) von den Bou— 
quet3, die in der Geſchwindigkeit nicht geſchmackvoller aufzutreiben waren, damit 
ic) mein holdes Töchterchen in die Arme ſchließen kann!“ 

In die Wangen des Mädchens ftieg dad Blut. „Herr Spangenberg,“ ſagte 
fie, „Ihre Güte ift rührend, aber Ihr Herr Sohn Hat nicht entfernt den Vorſatz 
gehegt, mich Ihnen als Tochter zuzuführen.“ 

„Ah, Ihr jeid Beide garſtig!“ jchmollte der Banquier. „Was habt Yhr 
davon, mich aufzuziehen und Hinzuhalten, ftatt mir um den Hals zu fallen? 
Ich richte Euch das ganze Haus neu ein. Eine Hochzeitsreife macht hr, Jo 
weit es Euch gefällt, nach Venedig, Florenz, Neapel, meinetwegen bejucht den 
DVicefönig von Aegypten, und wenn Ihr heimfommt, jollt Ihr ein Neft finden, 
jo traulid wie für zwei Turteltauben. Und die Mama muß mit überfiedeln! 
Die Mama laſſen wir nit weg! Kinderchen, dad Leben wird himmliſch!“ 

Was der Sohn bei dem Herzenderguß des Vaters empfand, drängte er in 
wenig Worte zufammen: „Deine Liebe, guter Vater, jhafft mir zur Stunde 
vielmehr die Hölle Willft Du uns Allen wohl, jo fahre nach Haufe, ich folge 
Dir ſehr ſchnell!“ 

„Rein,“ erklärte der Banquier mit gerunzelter Stirne, „das geht mir über 
den Spaß, das nehm’ ich übel!” Er warf die Bouquet3 an die Erde. „Wo ift 
Frau von Bufje?“ , 

„Hinten im Gärtchen, Herr Spangenberg,“ unterrichtete ihn Leontine mit 
gepreßter Stimme. 

„Hinten im Gärtchen!“ brummte er nad) und drehte fih um. Die Aus» 
gangsthür fiel hart in's Schloß. 

Der Doctor ftand dem Mädchen wieder allein gegenüber. „Sehen Sie nun, 
gnädiges Fräulein,” begann er, „wie begründet meine Bejorgniß war? Die Ent- 
täufhung, die mein Vater erfährt, ift graufam.“ 

Leontine blickte zu Boden: „Ich könnte weinen, doch bin ih Schuld daran ?“ 

„Mache ich Ahnen einen Vorwurf?” verjeßte er. 


128 Deutiche Rundſchau. 


„Mancher Andre würde es thun,“ jagte fie; „denn meine vorlaute Zunge 
gejtern im Kaffeegarten gab den erjten Anlaß zu der jegigen Berwirrung.“ 

„Unter der jelbft die armen Maiglödchen leiden,“ knüpfte Reinhold an, 
bückte fi und hob die Bouquet vom Teppih auf. „Meinem Papa ift nicht 
zu helfen, er muß das Ungemad) überftehen und wird es, da er ſich ausflagen 
kann; doch diefe duftenden Kleinen gehen ala ftille Dulder zu Grunde, wenn 
feine ſanfte Hand fich ihrer erbarmt. Will Fräulein von Buſſe ihnen das 
blühende Dafein eine Spanne verlängern? Der Spender kann fie unmöglich 
wieder mitnehmen.“ Er legte die Blumen auf den Tiſch. 

„Und ich darf fie nicht annehmen,“ jagte Zeontine. 

„Warum nicht?“ entgegnete Reinhold. „Legen wir einfach eine andre Be- 
deutung hinein! Betrachten Sie die farbigen Gewinde al3 kleines Dantgejchent 
bon mir für das große Vergnügen, das unjere geftrige!Nifchen - Ren! 
mir gewährt hat!“ 

„Welcher Spott!“ Tiipelte ſie. 

„Dazu mangelt mir das Talent,“ Eritifirte er fich jelbft. „Auch wird Herr 
von Hill, wenn fie ſich bei ihm erkundigen wollen, nad Pflicht und Gewiffen 
bezeugen, daß Sie meine wahre Meinung hören. Die Stunde bejagter 
Nahbarihaft wird mir eine entzüdende Erinnerung bleiben, und erlebe ich fie 
im nächften Jahr wieder, jo werde ich fie auf bejondere Weife in Niiche Nummer 
Drei feiern.“ 

Leontine blieb niedergeihlagen: „it dies etwa fein Spott?” 

„Zuletzt kann ich Sie,“ ſprach der Doctor, „vom Gegentheil nicht anders 
überzeugen, al3 daß ich mein Herz bis auf den Grund vor Ihnen ausſchütte, 
tie ich's gegen den liebenstwürdigen Rittmeifter gewagt.“ 

Neues Gelifpel antwortete ihm: „Ich verftehe Sie nicht.“ 

„Muß es denn fein,” tönte e8 ihr Fräftig entgegen, „wohlan, jo jchreiben 
Sie es ſich jelbft zu, wenn Ihr Ohr unangenehmer berührt wird, al3 meins in 
der Niſche! Papa Spangenberg verläßt traurig Ihr Haus, aber Einer, der mit 
ihm geht, ift noch trauriger, er trägt es nur nicht zur Schau. In feiner Klauſe 
ichlägt er das fünfte Buch Mofis auf ımd findet den Troft, daß ein Größerer, 
ala er, fi mit dem Anblid des gelobten Landes und dem Verlangen danach 
begnügen mußte, ohne es zu erreichen. Dann wird es, jo Gott will, ftiller in 
feiner Seele, und kann ex fi) vielleiht auch noch eine Zeit lang nicht wieder 
an den alltäglichen Gang des Lebens gewöhnen, jo wird ihn die Arbeit zuleßt 
doch erlöſen.“ 

Reinhold verſtummte. Doch war es nur eine kurze Pauſe, die eintrat, 
bi3 ex weich fragte: „Bin ich jet von Ihnen verftanden, gnädiges Fräulein?“ 

Sie fuhr ſich verwirrt mit den ſchlanken Fingern über die Stim: „Nein, 
nein!” 

„Roc nit? Dann thut mir's Leid.“ 

„Sie mid) lieben? Das kann nicht fein!“ 

„Sie wollten meine Erklärung,“ erwiderte er feſt 

Grit jebt jah fie zu ihm auf: „Es wäre wirklich wahr?“ 

„Wirklich wahr!” beftätigte das jonore Echo. 


Ein Heimliches Verhältniß. 129 


Die ganze Schalfhaftigkeit, die dem Wejen Leontinens innewohnte, blitte 
plöglih aus ihren Augen: „Ja, was macht man denn da mit Ihnen?“ 

„Das weiß ich nicht.“ 

„Meberläßt man Sie Ihrem Schickſal?“ 

„Jedenfalls das Bequemfte,“ meinte er. 

Sie legte ihre Arme ineinander: „Wie tief lieben Sie mich eigentlich ?“ 

„Laſſen Sie den Schiffer fein Senkblei auswerfen, wo da3 Meer bodenlos 
fluthet, ich meſſe meine Leidenſchaft dagegen.” 

„Und was verlangen Sie von Ihrer Frau?“ 

„Daſſelbe.“ 

Ihren Mund umſpielte ein kleines Lächeln: „Kurz und beſtimmt! Man 
merkt, Sie ſind Offizier geweſen.“ 

Er verneigte ſich leicht: „Ohne die Lorbeeren zu verdienen, die Sie mir 
geftern in der Nijche geftreut.” 

„Willen Sie aber, wa3 Sie verdienen?“ 

„Rein.“ 

„Daß ih Ihnen die Beleidigung, die in Mama's Verdacht auch für Sie 
lag, rächen helfe.“ 

„Wodurch?“ fragte er gejpannt. 

„Es gibt,“ entgegnete Leontine, „nur eine unjerer würdige Rache: ich 
verliebe mich in Sie!“ 

An ſich Haltend, jcheinbar mit voller Ruhe, jagte er: „Gott, wenn Sie dad 
thäten !” 

Sofort erwiderte fie: „Wer mir troß meiner Ungezogenheit fein Herz zu— 
wendet, ber ift ein fo guter Mann, daß ich feinen bejjern finde. Und wer mir 
Verſe jchreibt wie: „„In einem Garten vor dem Thor —““ 

„Da war's, wo ic mein Herz verlor!” fiel er, einen neuen Reim impro- 
vifirend, ein. 

„Hier haben Sie meine Hand!“ Leontine bot ihm ihre Rechte. 

Er ließ fie unberührt: „Ziehen Sie raſch die Kleinen Finger zurück! Denn 
halte ich fie einmal, jo gebe ich fie nicht los bis an mein Ende!“ 

„Hier haben Sie beide Hände!” 

Da ergriff ex fie: „Leontinel* Stürmiſche Küſſe bededten die eine wie 
die andere. 

„Artig, mein Herr!" brachte fie ihn jchnell zur Beſinnung. „Mama 
fommt!” 

In Wahrheit öffnete fich die Thür für Frau von Buffe, aber nicht für fie 
allein; neben ihr zeigte fi) Spangenberg Vater und Hinter Beiden, Arm in 
Arm, Wanda mit Mar von Hill. Der Banquier jah äußerft verftimmt aus. 
„Lab uns gehen, mein Sohn!” forderte er diefen auf. 

Frau don Buffe trat dem jungen Mann in nicht geringer Verlegenheit 
entgegen: „Kerr Doctor, wie ſoll ich mich entichuldigen, daß ich Ihnen bittres 
Unrecht gethan, und wodurd kann ich Ihnen Genugthuung geben?“ 

„Gnädige Frau,” verjeßte Reinhold ehrerbietig, „durch ſtrenge Aufrecht- 
haltung Ihres Willens.” 

Dentjche Rundfehau. 1, 10. 9 


130 Deutſche Rundichau. | 


„Victoria, Kamerad!“ rief der Rittmeifter, luftig den Hut ſchwenkend. 

Frau von Buffe ftand wie angewurzelt: „Habe ich recht gehört?“ 

„Ja, liebe Mama,“ verficherte Leontine, „ich unterwerfe mid in Gehorjam 
Deinem Befehl.“ Sie nahm die Bouquet? vom Tiſch und wandte fi damit 
an den Banquier: „Papa Spangenberg, welches Bouquet war für Mama be- 
ftimmt und welches für das garjtige Töchterchen ?“ 

An Stelle de3 Vaters antwortete geihwind ‚der Sohn: „Mit Erlaubniß, 
für die Mama war dies bejtimmt.“ Er 309 das Effecten-Padet aus der Tajche 
und präfentirte es: „Gnädige Frau, mein Papa hatte mich beauftragt, Ihnen 
diefe Papiere auszuliefern, Ihr Vermögen, das er nicht länger verivalten mag, 
und ich jchlechter Sohn vergaß den Zweck meiner Sendung total.“ 

Zum erften Mal an diefem Tage jhimmerte ein freundlicher Zug im 
Antlit der Dame auf, während fie die Papiere nahm und in die Hände des 
Banquiers zurüclegte: „Das wollte mein alter Freund mir anthun? Ei, ei!“ 

Der alte Freund führte ein Tuch über feine Augen und rief, mit Schluchzen 
in der Stimme: „Ich höre nicht? — ich jehe nichts — mein Sohn — meine 
einzige Tochter!” In der Meinung, LZeontinen vor fich zu haben, jchloß er die 
Mutter in die Arme und küßte fie unabläjfig, bis das allgemeine Gelächter der 
Umftehenden ihn feinen Irrthum innewerden ließ. 


Fiterarifhe Rundſchan. 





1. Urfjprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792. 
Bon Leopold von Ranke. Leipzig, Dunder u. Humblot. 1875. 


„Die Aufhebung der Herrenrechte überhaupt hat die Stürme der innern Revo» 
„lution hervorgerufen; zufammentwirfend mit der Aufhebung der Zehnten hat fie 
„auch den größten Antheil an dem Ausbruch des allgemeinen Krieges." In diefen 
Morten de8 Verfaſſers drängt fi) das Gejammtergebniß diefer Unterfuchungen zu— 
fammen. Wer fi) wundern wollte, diefelben gar nicht einmal im Haupttert, jondern 
in einem Gdchen der angehängten „Analekten“, in einer Kritik des Moniteurs, zu 
finden (p. 339 am Ende), der würde die ganze Natur des vorliegenden Buches ver- 
fennen. Augenfcheinlich hat die Abficht der Geſchichtſchreibung im künſtleriſchen 
Sinne des Wortes dem berühmten Berfafjer der „Fürſten und Völker“ Hier vollkom— 
men fern gelegen. Er erzählt nicht, gruppirt nicht, ſondern trägt einfach die Ergeb— 
niſſe archivaliicher Studien zufammen, welche ihm geeignet erjcheinen, die verbreiteten 
Urtheile über den Uriprung des Revolutionsfrieges zu ergänzen und zu berichtigen. 
An wem nun die Schuld lag? Ranke würde die Frage gar nicht fo ftellen; nicht 
an wem fie lag, jondern woran fie lag, tritt mit jedem neuen archivaliichen Funde 
deutlicher hervor. Sie lag in der eifernen Nothwendigfeit der Dinge, und bei feinem 
einzelnen Menfchen, bei feiner Gruppe von Menfchen ftand es, innerhalb der gegebe- 
nen Grenzen unferer Natur, den Krieg zu vermeiden. Die Revolution hatte die 
Nechte der eljäjfiichen Reichaftände verlegt. Gewiß! Aber lag es in der Möglichkeit, 
daß der elfäjfifche Bauer zum Vortheil deutjcher Duodeziürften und Prälaten feudale 
Zaften weiter trug, während feine Landsleute und Nachbarn freie Staatöbürger wur- 
den? Die Verpflichtung einer Entichädigung in Geld ift auf franzöfifcher Seite nie 
beitritten worden. Selbſt unmittelbar nach der Kriegserklärung (April 1792) fand 
fie in Gondorcet’3 berühmter Rede noch ausdrüdliche Anerkennung. Auf der andern 
Seite bedarf die franzöfiiche Empfindlichkeit über das Treiben der Emigranten eben- 
fowenig einer Erklärung und Rechtfertigung, als der Zorn der lehtern. Aber es geht 
auch unwiderleglich aus den Verhandlungen der’ deutjchen Regierungen hervor, daß 
man in Berlin und jelbft in Wien erft jehr allmälig und bedingungsweife und nur 
unter dem Drud eigener Gefahr mit der bewaffneten Gegenrevolution fich 
einlieh. Was die Gabinete in erfter Linie bewegte, waren, wie jchon Sybel aus 
führlich gezeigt Hat, ihre Macht: und Vergrößerungspläne, ihre überlieferten 
Ginfluß- und Gleichgewichtsforgen. Noch im Herbſt 1791, nachdem Ludwig XVI. 
die franzöſiſche Verfaffung beichworen hatte, war man in Berlin jeder Einmiſchung 
abgeneigt; noch im December deffelben Jahres fanden Marie Antoinette’ Anträge 
auf einen europäifchen Gongreß bei Kaunitz keineswegs günftige Aufnahme Dan 
gefiel fich in Wien wie in Berlin in der Borftellung eines durch innere Wirren ge— 
ſchwächten Frankreichs, dem gegenüber man ungeftört die eigenen Zwecke verfolgen 

9% 





132 Deutihe Rundſchau. 


würde. Und biefe Zwede gehörten zunächft noch ganz und gar der alten Gabinets- 
politif des achtzehnten Jahrhunderts an, die nur mit materiellen Größen rechnete und 
nur materielle Zwede verfolgte. In Preußen blidte man begehrlih auf Polen; 
Dejterreich glaubte den Augenblid endlich gelommen, die Hand auf Bayern zu legen. 
Erjt im Frühlinge 1792 (7. Februar), ala Defterreich ernftlih und mit Grund bie 
franzöfifchen Einflüffe auf die Volksſtimmung in Belgien fürchtet, als fogar die 
belgijhen Klerikalen mit den Jakobinern liebäugelten, bradten 
Bilchofswerder und Reuß das Bündniß zu Stande. Und auch da ftehen bei Preu- 
Ben noch durchaus nicht principielle Erwägungen im Wordergrunde, am allerwenig- 
jten Eifer für die Emigranten. Bielmehr dachte man, ſehr bezeichnend, Tür den 
äußerften Fall an Rüderoberung des Eljaß für — Defterreih, wofür man dann 
jelbjt da8 Herzogthum Berg beanfpruchen, am Niederrhein feſten Fuß fallen würde. 
Und nun erft, unter dem Drud nächjter, eigner Befürchtungen und geheimer Miß- 
gunft gegen die Stärkung Preußens gibt Kaunit der Sachlage jene entjcheidende, 
principielle Wendung, aus welcher die Signatur der ganzen Kriegdepoche, das Met— 
ternich’sche Syſtem in feinen Grundzügen prophetifch uns anfieht. Nun ftellt er dem 
deutihen Eroberungsgedanken Preußens das Syſtem ber conjerva- 
tiven Interejjen entgegen, den Plan des europäifchen Congrefjes zu Herftel- 
lung der Zöniglichen Würde und des öffentlichen Rechts in Frankreich. Bon da ab 
wächſt denn auch der Einfluß der Emigranten, Defterreich Hatte jür feine Nieder- 
lande fürchten, es hatte die Gefahr des wachjenden preußifchen Einfluffes im Reiche 
wahrnehmen müflen, um fich für die Sache des göttlichen Königsrechts zu erwärmen. 

Und Frankreih? Nun, die unbändige Herrfchaft der Demagogen, die Rüdfichts- 
Lofigfeit der jacobinifchen Principienreiter, wie Sybel fie jo fchlagend dargethan hat, 
fie wird auch bier weder verſteckt noch entichuldigt. Aber ebenjo augenjcheinlich 
tritt die ſchwankende, unzweckmäßige Haltung des Königs, die Unverföhnlichkeit Marie 
Antoinette'3 hervor. Und bie Einen hatten genau fo viel Recht wie die Andern. 
Die Natur der Dinge drängt zur Kraftprobe; Niemand kanır dagegen, und es iſt lehr- 
reich, wie dann in der unklaren Lage allerdings der Zufall perjönlicher Einflüfje die 
Führung nimmt. So war das berüchtigte erſte Manifeft de Herzogd von Braun- 
ſchweig faum mehr als eine Gelegenheitsmaßregel, deren Tragweite die Urheber am 
wenigiten ernjthaft nahmen. Kein Menſch dachte im preußiſchen Hauptquartier an 
einen Marſch auf Paris, und Kaunitz, der Urheber des Ganzen, wollte überhaupt 
feinen ernftlichen Angriff, jondern lediglich bewaffnete Vermittelung in confervativem 
Sinne Er trat zurüd, als er die gerufenen Geifter nicht [o8 wurde. Zum Marche 
in die Champagne haben fpäter erft die jchnellen Anfangserfolge gereizt. Man un- 
ternahm ihn im vollen Bewußtfein ganz ungenügender, d. h. für einen ernften Kampf 
ungenügender Kraft, aber in der Hoffnung, feinem ernften Widerftand zu begegnen, 
und fo ging das Abenteuer denn auch Angefichts des erjten Hinberniffes in eine Ka— 
taftrophe aus, die wahrlich mehr an das Intriguenſtück als an die Tragödie mahnt. 
Nichts Lehrreicher, ald der Briefwechſel zwijchen Dumouriez und Mannftein, ald der 
Bericht Luccheſini's an das Minifterium, den der Anhang mittheilt. Dumouriez ift 
ganz Liebenswirdigfeit und Sympathie für „den König, der in Frankreich jo geliebt 
und geichäßt ift,‘ und „Tür die brave preußifche Nation“, die natürliche Bundesge— 
noffin der Franzoſen. Mit fiherm Inſtinct jchlägt er von vorn herein die Richtung 
jener Politik ein, welche, auf Trennung der deutſchen Großmächte berechnet, erjt nach 
Bafel, dann nach Aufterlig und Jena führte. Auf preußiicher Seite wiegte man 
ſich indeffen in der Hoffnung, ben General für die königliche Sache zu gewinnen. 
Als man dann merkte, wie jehr man fich geirrt habe, rafft Luccheſini zu der wirklich 
charakteriftiichen Kundgebung des Manifejtes vom 26. September 1792 ſich auf. 
Dafielbe bezeichnet „die Freiheit, Sicherheit, Würde des Königs” ala Zweck des Feld— 
zugs, bedroht die Widerjtrebenden mit gerechter und außerordentlicher Rache, und 
dazu bemerkt der biedere Diplomat feinem Minifterium (29. September 1792): „Die 
angewandten Ausdrüde werden uns alle Freiheit laffen, ihren Sinn fowol auf eine 


Literarifche Rundſchau. 133 


glüdliche Zukunft ala auf einen Zuftand unvollftändiger Erfolge anzuwenden" — 
und gleichzeitig war man fchon zum Rüdzuge entſchloſſen, „wegen der borgerüdten 
Jahreszeit, der fchlechten Wege, der Strapazen der Truppen, der Srankheiten, der 
Entfernung der Magazine, des Mangels an futter, des fchlechten Zuftandes der 
Pferde.“ Solchen Gegnern gegenüber hatte Dumouriez denn freilich keine Mühe, 
den Helden zu fpielen. Drohungen ohne Entſchluß, Principien im Munde und im 
Herzen die Heinlichiten, eigennüßigften Ränfe, jo unternahm das alte Europa mit 
ungenügenden Mitteln und halbem Herzen den Kampf gegen die Revolution, die einen 
Jeden am eignen Heerd bedrohte. Die von Ranke mitgetheilte Correfpondenz zwi⸗ 
ſchen Reuß (öfterreihifchem Gelandten in Berlin) und Kaunitz, die Inftructionen Bir 
fchofswerders, des preußischen Unterhändlers in Wien, deffen Berichte an feine Mini- 
fter find in diefer Beziehung das Lehrreichite, was man lejen kann, fowie fie denn, 
ganz ehrlich geitanden, wol auch dad Anregendite im vorliegenden Buche find. — 


— N 


2. Zeiten, Völker und Menſchen von Karl Hillebrand. Zweiter 
Band. Wälfches und Deutfches. Berlin, Robert Oppenheim. 1875. 

Er habe Wiederholungen und Widerfprüche aus diefer Sammlung literarifcher 
Feuilletons und Eſſays abfichtlih nicht fortgeichafft, erflärt der Verfafler in der 
Vorrede (p. XI): denn es kam ihm weniger darauf an, feine Gonfequenz zu zeigen, 
ala den jedesmaligen Gegenftand fo vollftändig als möglich zu behandeln, und „über 
dies wollen folche Arbeiten auch gelefen jein, wie fie entitanden, nämlich 
tüdweije“ Sie wollen es. Haben fie aber auch noch ein Recht darauf, 
wenn fie in Buchform ericheinen? Und darf der Berfafler dieſes Buchs für etwaige 
Ginfeitigleiten, Uebertreibungen, Widerfprüche auf das zweideutige Beneficium halb 
aufmerfender, bald vergefjender Leſer rechnen, deflen der Tagesichriftfteller fich aller 
dings (leider!) getröften darf, und fchriebe er auch für die Ausgsburger Allgemeine 
oder — für die Deutſche Rundihau? Wir find nicht der Meinung und jagen das 
unferm verehrten Mitarbeiter mit der Aufrichtigkeit, die wir feinem Talent und jei- 
nem Charakter jchuldig find. 

Das ſoll nun nicht jo verftanden werden, ala ob diefer Sammlung von Schil- 
derungen, Urtheilen, Betrachtungen die geiftige Ginheit fehlte. So verfchieden die 
„Zeiten, Länder, Menſchen“ find, von denen uns Hillebrand hier unterhält (Ita— 
liener, von Petrarca bis Garducci und Guerreri, franzöfiiche Zeitgenoflen, deutſches 
„zünftiges und unzünftiges“ Schriftthum des neungehnten Jahrhunderts), jo deutlich 
laſſen fich gleichwol gewiffe Grundanjchauungen und Stimmungen durch die ganze 
bunte Bilderreihe verfolgen. Hillebrand ift vor Allem ein ächter und überzeugter 
Ariftotrat des Geiftes: er pactirt fo leicht nicht (dürften wir doch „niemals“ 
fagen!) mit der anmaßenden Mittelmäßigkeit; obwol warm fühlender deuticher Patriot, 
wahrt er fich doch in jeltenem Maße den unbefangenen Blid des Weltbürgerd; mit wohl» 
thuender Begeifterung pflegt er die Grinnerungen unferer großen Literaturepoche, 
deren Familienzüge er jo marfig ala treffend zeichnet: „auf das Höchite gerichtet, un« 
empfänglich gegen die Aermlichkeit des materiellen Daseins, nachfichtig gegen menich- 
lie Schwäche, begeiftert für menschliche Größe, überzeugt ohne Intoleranz oder 
Parteigeift, fühn ohne Frechheit, unbewuht des eigenen Werth." (Im Auffahe über 
Barnhagen und Rahel p. 446.) Wol ift ihm bewußt, was wir jeitdem gewonnen 
haben: wiflenjchaftliche, zuverläffige Methoden, eine fefte, felten verlehte Orbmung 
der Ehe und familie, Mare Begriffe über Religion, ein mächtiges Staatsgefühl. 
Aber es fehlt nicht viel, dab ihm das Alles zu theuer erfauft fchiene, wenn bie 
Entwidelung der freien, ideal ftrebenden Perfönlichkeit darunter zu leiden hätte. So 
find denn auch feine literarifchen Sympathien mehr bei den genialen, wenn auch 
baroden und einfeitigen Dentern, den feinen, immerhin ercentriichen und wiber- 
fpruchsvollen Künftlernaturen, jelbft bei den „Ichönen Seelen“ und „Anempfindern“, 
als bei den matter-of-fact-men der Gegenwart, oder gar den Doctrinärs ber lleber- 





134 Deutiche Rundſchau. 


gangzzeit. Die Leteren werden einer fummarifchen und — barbarifchen Execution 
unterworfen in einem ihrer Hauptvertreter, Gervinus, „dem Schriftjteller ohne Styl, 
„dem Gelehrten ohne Methode, dem Denker ohne Tiefe, dem Politiker ohne Vor— 
„außficht, dem Menjchen ohne Zauber und Macht der Perfönlichkeit, der e8 dabei im 
„Srößenwahnfinn den erften Specialitäten der Gattung, den Lamartine und Victor 
„Hugo, den Schopenhauer und Wagner zuvorthat.“ Nur ein Lafter kennen die „Atta 
Trolls“, an deren Spitze er einherzog. „Es ift ihnen Alles zu fein erlaubt, eitel, 
hochmüthig, hart, neidiich, heftig, herrſchſüchtig, heuchleriſch, jelbftfüchtig — jo lange 
fie nur ernfthaft find, ihren Schneider bezahlen und feinem Mädchen in die Wange 
tneifen (wenigſtens nicht Öffentlich),“ und — ſetzen wir Hinzu — den Parteikatechismus 
hübſch regelmäßig herbeten. Daß die methodenftolze Zunftgelehrfamkeit der Gegenwart 
nicht beſſer behandelt wird, als die doctrinäre Rhetorik der vierziger Jahre, verfteht 
fih von jelbft. Ein eifriger Berehrer der guten Form, auch auf wiſſenſchaftlichem 
Gebiete (er hat jeine Zeit unter den „Wälfchen“ nicht verloren), wird Hillebrand 
nicht müde, unſern Gelehrten die claffifchen englifchen und franzöfifchen Mufter 
eleganter und beredter Grünbdlichkeit vorzuhalten: jein Patriotismus ift eben auf 
Fortjchritt, auf Verbrüderung aller Wohlmeinenden und Begabten gerichtet, nicht auf 
dünkelhaftes Einhüllen in den eigenen Werth und die eigenen — Lieblingsfehler. 
Und das Alles ftrömt jo warm, jo überzeugt auß feinem beredten Munde, daß man 
nichts Lieber thäte, ala mit ihm zu Lieben, zu haſſen, zu jchwärmen, wenn — nun, 
wenn Er (oder auch nur jeine Manier?) nicht dafür geforgt hätte, daß man fich 
bald begnügt, nur mit ihm zu denfen: und zwar mit mißtrauifcher Vorficht. Iſt 
es das verhängnißvolle Formgeſetz der von ihm -cultivirten literarifchen Gattung, 
oder liegt es in feinem Charakter: der trefflihe Mann entwicelt doch eine bedent- 
liche Vorliebe für dietatoriiche Superlative, für verblüffende Paradorien, für jcharf 
aufgejehte, blendende Lichter. Nur zu oft hat der aufmerkſame Leſer Gelegenheit, 
fich jenes, etwas naiven Bekenntniſſes der Vorrede zu erinnern, So ift die Rejtau- 
rationgepoche für Hillebrand, je nach Bedürfniß, eine paradiefifche Poetenzeit, heiter, 
tolerant, fleptifch, „ein blühender Egmont,“ oder auch eine Zeit der bureaufra= 
tiſchen Pedanterie, der patriarchalifchen Willkür, der moraliſchen Stidluft, über welche die 
Aulirevolution wie ein reinigendes® Gewitter, die Geifter aufrüttelnd, daher fahren 
mußte. Wenn des Berfafjerd Zorn gegen unſere unclaffiiche Zeit entbrennt, jo muß 
die „Schmaroßerliteratur” abgejchafft werden, d. h. Aeſthetik, Kunſt- und Literatur- 
gefchichte (auch die von Hillebrand?), — ferner das Ueberſetzerhandwerk: denn von 
Rechtswegen ift jeder wirklich Gebildete die fünf Hauptiprachen zu leſen verpflichtet, 
und die Andern zählen nicht mit. Doch laſſen wir das. In der Hibe des Gefechts fällt 
wol einmal ein Hieb daneben. Nur das Völkerrecht (auch das äfthetifche) darf dabei 
nicht unter die Füße gerathen. Man darf (wenigjtens nach unferm Gefühl), nicht fo 
beiläufig einen gewiffen David Strauß wegen — feines jchlechten Styls ohrfeigen und 
feine äfthetiichen Ausführungen (im letzten Abjchnitte des „Neuen Glaubens”) jchlant- 
weg, ohne Beweis, ald eine Blumenlejfe von breitgetretenen Gemeinpläßen und „ranzig 
getwordenen‘ (sic!) Urtheilen bezeichnen, wie feine unferer dreihundert Literaturgeichichten 
fie enthalte! Und das — während man rau Ludmilla Affing-Grimelli ala mufterhaft 
forgfältige, gewiflenhafte und talentvolle Herausgeberin feiert, bie nur zuweilen 
an übertriebener Bejheidenheit leide (die wird fich wundern!); während 
man (p. 394) gar für die ächte und tiefe Religiofität, die natürliche Würde und 
Vornehmheit, ja die hohe und freie Weltanfchauung einer Ida Hahn-Hahn eine 
ritterliche Lanze einlegt. Und damit diefen herrlichen, jungdeutjchen Jdealen auch die 
wirkſame Folie nicht mangele, werden dann gleichzeitig die ſämmtlichen zeitgendffi- 
ſchen Schriftjtellerinnen als prätentiöje, nüchterne, poefielofe, bürgerlich” gemeinpläß- 
liche Blauftrümpfe Literarifch geächtet. Nicht einmal für Fräulein Louife von 
François, deren „legte Redenburgerin" Hillebrand doch an anderer Stelle 
„als den beften feit fünfundzwanzig Jahren erfhienenen deut- 
Ihen Roman“ feiert, wird bier eine Ausnahme gemacht. Es ift eben FFeuilleton- 


Literariſche Rundſchau. 135 


ſtyl, der auf koſtende und blätternde, nicht auf „leſende“ Leſer rechnet. Und doch, 
wie ſchade! Wie viele treffliche, feine Bemerkungen, wie viele brave, tüchtige, le— 
benskräftige Gedanken werden durch dieſe blitzenden und blendenden Superlative in 
ihrer reinen, vollen Wirkung geſtört! Das vor uns liegende Sündenregiſter würde 
Seiten füllen. Es iſt ja wahr, das reizt, prickelt im Feuilleton einer Zeitung; aber 
einem Manne wie Karl Hillebrand ſollte dieſe wegwerfende, auftrumpfende, Alles an 
die augenblidliche Wirkung jegende Manier doch nicht gut genug fein. Er hat's 
ja nicht nöthig! Und dann, wenn ſich auch Manche verblüffen lafjen, jo thun's doch 
nicht Alle! Weitaus den Vorzug geben wir vor den hier gebotenen deutjchen Eſſays 
den italienischen, und ganz beſonders den franzöfiichen. Da ift Hillebrand ebenjo 
gerecht, mäßig, liebenswürdig, als gegen die zeitgenöffifchen Landsleute nur zu oft 
abiprechend, Hart und unbillig. 





— — 


3. Die deutſche Literatur 1770—1870. — Beiträge zu ihrer Geſchichte 
mit Benußung handichriftlicher Quellen von Eduard Grijebad. Wien, 
8. Rosner. 1875. 


Ein Seitenftüd zu K. Hillebrand’3 oben befprochenem Werke: in Bezug auf 
Entjtehungsweife, Tonart, Vorzüge und — jehr bedenkliche Eigenheiten! Wie Hille- 
brand Hat Grifebach Gelegenheitsarbeiten in einem Bande vereinigt; aber anfpruchs- 
voller und weniger aufrichtig möchte er den zufällig zufammen gerathenen Studien 
den Schein eines bedeutungsvollen Ganzen verjchaffen. In ficherem, jagen wir fedem 
Auftreten, in Verwerthung von verblüffenden Paradorien thut er es dem literar- 
hiſtoriſchen Berächter und Verurtheiler der Literaturgefchichte wo möglich zuvor; 
aber nicht minder entjchädigt er den vorfichtigen, jfeptijchen Lejer durch 
frifche, eigenartige Auffafjung und einen markigen, charaktervollen Styl. Man mag 
fich wundern, ungläubig den Kopf jchütteln: auf alle Fälle lieft man weiter, zu Ende, 
fobald man einmal das Büchlein auffchlug. Das ift Etwas, oder jagen wir, das ift 
Viel; aber es nöthigt auch, dem Dinge etwas jchärfer auf den Leib zu rüden, als es 
fonft unsre Art ift. 

Zunächſt der Plan. Die Einleitung beginnt mit ein paar halbverfchämten Ge- 
ftändniffen über „jubjective Anfichten”, über „theil® zu weitläufige, theils zu kurze 
Behandlung”, veripriht dann aber doch zulegt ganz unbefangen „eine vollftändige 
Weberficht über das, was die deutjche Literatur der legten Hundert Jahre 
ausmacht“! Dann folgen, durchzogen und umrahmt von mehr oder weniger pifanten 
Gedanten-Arabesten, die Literargeichichtlichen Silhouetten von — Lichtenberg, Herder, 
Bürger, Blumauer (!), Clemens Brentano und Heinrich Heine. Man reibt fich die 
Augen! Alſo, was die Literatur der leten Hundert Jahre ausmacht, ohne Kant, 
Leifing, Goethe, Schiller? Doch nicht ganz. Kant wird als Schöpfer und Chor- 
führer begrüßt; aber er ift fein Nationalichriftteller; jo muß ihn denn — etwa 
Schiller? nicht doch! — Lichtenberg vertreten. Goethe hat Herder's Programm 
ausgeführt umd empfängt gelegentlich feine Kniebeugung; was aber die „vielfach 
überſchätzten“ Leffing und Schiller anbetrifft, jo müfjen fie fich jchon mit einem ge= 
legentlichen mitleidigen Verweis begnügen, etwa im Styl der bekannten Schlegel’jchen 
Urtheile über die „Slode“. Wir erfahren, daß Leffing’3 Dramaturgie von Herder 
längſt „todtgeichlagen war”, als Schiller nach den Zügen diejes Leichnams und nach 
Kantiſchem Schematismus feine Aeſthetik formte, Wir werden ferner belehrt, daß 
von einem nationalen deutfchen Drama bis jetzt nicht die Nede jein kann, troß 
Minna von Barnhelm, Emilia Galotti, Nathan, Carlos, Wallenftein, Tell, denn — 
„das Drama ftellt nur am Baume eine® mächtigen, fiegreichen Staates ala goldene 
Frucht fich ein“. Höchitens hätten wir einige Vorläufer zu verzeichnen, wie Kleift, 
Grabbe und — einen gewiſſen Grafen Beltheim, der fich leider am 5. April 1854, 
noch nicht ganz 36 Jahre alt, in feinem Park zu Harble bei Braunschweig erſchoß. 
Wenn dann auch Schiller'3 und Uhland's Balladen einfach zu den Zodten geworfen 


136 Deutſche Rundſchau. 


werden, jo dürfen ſich natürlich die Dichter des Hainbundes, „denen man unbegreif- 
licher Weife eine Bedeutung für unjere Literatur beigelegt bat,“ über einen gelegent- 
lichen romantifchen Fußtritt nicht weiter beflagen. Auch die begeifterte Bevorzugung 
Herder's, Bürger's, Brentano’8 dürfte verftändlich werden. Nur vor einer frage 
bleiben wir ftehen: wie in aller Welt kommt Lichtenberg in dieje Gejelljchaft? 
Lichtenberg — der ffeptifche, Tcharffinnige, nüchterne Beobachter, der Mann des 
treffenden jchneidigen Wites, der „deutſche Larochefoucauld“, dem nicht nur die 
Dichter des Hainbundes „unaugftehliche Pinfel* waren (ganz bejonderd Voß, der 
Schöpfer des deutjchen Homer, der Louife, des fiebzigften Geburtstag, der Dichter, 
ohne den wir auch „Hermann umd Dorothea“ nicht hätten), fondern der um 1780, 
Angefichts der Minna, der Emilia, des Göß, über „den gänzlichen Verfall der 
deutjchen Schaufpielfunft und Literatur” jammert, dem um biefelbe Zeit Goethe noch 
ein „Gras freffender Böotier” ijt, dem Goethe's Werke erft 1795 (freilich in einem 
Briefe an den Autor) „zum Gedankenfeſt“ werden? Und Blumauer, der jpaßhaite, 
cyniſche Erjefuit, der Nüchternfte unter den Nüchternen, der „poetiſche“ Dolmeticher des 
jojephinifchen Nationalismus! Iſt Lichtenberg, der zwiſchen moniftifchem Spinozismus 
und abergläubigen Anwandlungen jchwanfende Yragmentift, wirklich der Vertreter 
Kant’3 in unferer NRationalliteratur? 

Sch denfe, wir fommen der ratio dispositionis wol näher, wenn wir uns ein- 
fach erinnern, daß Grifebach feinen Lichtenberg für die Brodhaus’schen „Lichtftrahlen“ 
(1871), feinen Blumauer für die Brodhaus’fche „Bibliothek der Nationalliteratur” be— 
arbeitete, und wenn wir annehmen, daß er die einmal gejchriebenen Einleitungen in zeit= 
gemäßer Weife nochmals verwerthen wollte. Das ift ja an und für fich feine Sünde. 
Aber warum denn diefen einfachen Sachverhalt auf Koften Leſſing's und Schiller's 
in die weiten falten einer paradoren Theorie hüllen? Lichtenberg und Blumauer 
bleiben darum doch Epifoden (eine intereffante und eine zweideutige) unſerer Geiftes- 
arbeit; Leffing und Schiller, troß aller „genialen“ Nafenftüber und giftigen Seiten- 
blide, bleiben doch die feften, unerfchütterlichen Grundfäulen des gebildeten deutfchen 
Bemwußtjeind. Ich rede von „Bewußtſein“, wolgemerkt, nicht von Stimmungen, von 
unbewußten, dunfeln Gewalten. Gewiß find ja auch diefe vollberechtigt im Leben 
der Völker wie der Einzelnen: denn died bedarf nicht nur ber fejten Form und fichern 
Führung, fondern auch der Wärme, der Farbe; und innerhalb der menjchlichen Un- 
volltommenheit wird die Entfaltung der Gulturblüthe weit öfter durch das Mechiel- 
fpiel fämpfender Einfeitigkeiten al durch eine harmonische Gefammtwirkung gefördert. 
Es müflen Jahrhunderte vergehen, ehe die Natur einen ganzen Menfchen mit der 
gefeiten Waffe des Genius umgürtet; gravitirt doch felbft Goethe, unfer vollendetſter 
Typus, ein wenig nach dem „Unbewußten”“, dem „ewig Weiblichen“ hin. So ift 
es ja denn ganz natürlih, daß die Polarität der Schaffenden ſich auch in den 
Eympathien, Antipathien, Urtheilen der Genießenden und Prüfenden außdrüdt. Mag 
der Eine die „Poeſie“ da fuchen, wo aus dem bewußten Kampfe mit dem Gemeinen 
fich die Ideale erheben; mag der Andere in den aufregenden Stimmungswechjeln des 
zwifchen Sehnjucht, Genuß und — Buße fich verzehrenden Lebens ihre Geheimniffe 
belaufchen : das war immer fo und wird jo bleiben. Der Mondjchein Hat feine 
Poeſie, aber auch der thaufrische Morgen, die Hagende Oboe wie die fjchmetternde 
Trompete. So gönnen wir denn dem Verfaſſer Herzlich gern feine Freude an Bürger’fchen, 
finnlich-überfinnlichen Gefühlsergüffen, an Herder's Offenbarungen aus dem Geheime 
leben der Volksſeele, an Brentano’3 ftimmungsvollen, naiv-koketten Anwandlungen, 
vollends an Heine's Föftlichen Romanzen. Ja, wir find von Herzen geneigt, einen 
guten Theil dieſes Glaubensbekenntniſſes zu unterjchreiben. Wahrlih, nicht wir 
werden zu den „Nazarenern” gehören, die dem Dichter für jeden bejungenen oder 
empfangenen Kuß gleich den Traufchein abfordern; und was die herzliche poetijche 
Andacht bei einem ächten Vollsliede anbetrifft, jo gehört die wol auch nicht zu dem 
beionderen Gnadenwirkungen der allerneuejten Romantit. Aber Eine® möchte doch 
zu verbitten erlaubt fein: nämlich, daß man rein jubjective Stimmungsbetenntniffe 


Literarifche Rundſchau. 137 


friſchweg wie unbezweifelbare Ariome und Thatfachen verausgabt, noch dazu mit 
verächtlichen Seitenbliden auf die in Kampf und Sturm bewährten Führer des 
deutfchen Geiftes. Das irrt manchen Schwachen, und da wird dann fcharfer Wider- 
Ipruch Pflicht. Mag Griſebach die „Poeſie“ ala Tochter des Sinnenraufches und der 
Zerknirſchung verehren, mag ihm in der „Buße“ das Geheimniß aller ethifchen 
Schönheit liegen (wobei denn freilich Frau dv. KHrüdener und Ida Hahn-Hahn viel 
poetifcher werden als z. B. Macbeth); mag er fich an dem Lüderlichen Romantiter erbauen, 
dem fich am lebten Ende das Welträthfel in den Delirien einer Hyfterifchen Nonne 
enthüllt: das ift Geſchmacksſache. Auch der Verſuch, unferem olympifchen Altmeifter 
die fpätgeborenen, froftigen Schlußdecorationen des Fauft ala VBeichtzettel in Rechnung 
zu ftellen, ift wenigftens nicht neu. Aber auf Schiller’8 und Leſſing's Unkoſten follte 
man ſolche Liebhabereien im neuen deutichen Reich doch nicht cultiviren, biß zur un— 
barmherzigen Verurtheilung des rheiniichen, unter Napoleon’3 Herrichaft geborenen 
und erzogenen Juden Heinrich Heine, bis zur Verberrlihung W. Menzel’, des Ober- 
denuncianten. Heine hatte feine politifche und fpeciell feine national»politifche Aber; fein 
deutſches Selbftgefühl war ganz umd gar jubjectiver, weiblicher Natur. Sein „Deutjch- 
land“ war das deutiche Heimathhaus, die deutiche Jugendliebe, der deutiche Wald, 
die deutiche Wiſſenſchaft, vor Allem das deutjche Lied. Den bdeutichen Staat kannte, 
ben preußifchen liebte er nicht. Aber find denn die Reben zu verbrennen, weil fie 
blos Wein geben und nicht auch das Brod dazu? Ne quid nimis! Danken wir 
doch Gott, daß wir vier „jolche Leute haben“ wie Leffing, Goethe, Schiller, Heine! 
Im deutichen Dichterwalde ift Iuftiger Plab für viele Gäfte. Auch Herr Griſebach 
it willlommen zu allerlei Zwieſprach; aber unsere alten Herren foll er, wenn's ja 
fein muß, mit Gründen umd nicht mit lofen Reden angreifen. Wie das deutſche 
Boll zu Schiller fteht, Hat man 1859 gefehen. Mögen e8 die neuromantifchen Kraft⸗ 
enies, nationale wie antinationale, doch bei Gelegenheit einmal mit einem von 
ihren „Luftigen Muſikanten“ verfuchen ! 


— 


4. Deutſchland im achtzehnten Jahrhundert. Von Dr. Karl 
Biedermann. II. Band. Geiſtige, ſittliche und geſellige Zuſtände. 
Zweiter Theil. Zweite Abtheilung. Leipzig, J. J. Weber. 1875. 

Gegen die beiden oben angezeigten literarhiſtoriſchen Sammlungen bildet dies 

Bert einen Gegenſatz, der nicht jchärfer gedacht werden kann. Es liegt das zum 
Theil jchon in der Natur des Plans und der Aufgabe; denn eine zufammenhängende, 
ausführliche Darftellung hat mit anderen Verhältnifien zu rechnen, als der auf ſchnelle, 
intenfive Wirkung in engen Grenzen angewielene Efjay. Aber auch des Verfafſers 
verfönliche, eigenfte Art hat daran ihren Antheil. Biedermann ift befanntlich nie der 
Mann der glänzenden Ueberrafchungen geweien. Er jpielt fich nie auf, erlaubt fich nie 
äfthetifche oder ethiſche Machtgebote mit einem nervenerfchütternden quos ego dahinter, 
fucht feiner Anerkennung nicht durch die Folie paradoren, wegwerienden Tadels 
Werth zu geben. Und wenn jo von neufranzöfiichem Einfluffe im bedenflichen Sinne 
nichts bei ihm zu fpüren ift, jo zeigt er fich frangöfiicher Art, immerhin unwillkür— 
lich, auch da unzugänglich, wo fie ihre Verdienfte hat. Er rechnet nach alter deuticher 
Gelehrtenweife auf ein entgegenfommendes, ernſtes und ausdauerndes Intereſſe des 
Leſers, und ohne gerade formlos und unſchön zu werden, läßt er fich über der künft- 
leriichen Geftaltung des Gedanfens doch auch Feine grauen Haare wachen. So 
t fich feine Darftellung, bier wie überall, auf der ebenen, ſanft anfteigenden 
oder fallenden Bahn eines guten, geordneten Vortrages, wie eine bequeme Land- 
kutſche durch eine wohlangebaute, anziehende, aber nirgends überrafchende, ergreifende 
Gegend. Der erite Band des Werkes, ſchon 1854 erfchienen, umfaßte die politifchen, 
tehtlichen, wirthichaftlichen, materiell-focialen Verhältniffe Deutichlands im acht 
zehnten Jahrhundert. Der Darlegung des geiftigen, fittlichen, gefelligen Lebens nach 
allen Richtungen Hin ift diefer zweite Band gewidmet. Er führte diefelbe im erften 


138 Deutiche Rundichau, 


Theile biß 1740; in der erſten Abtheilung des zweiten Theiles handelt e8 ſich um 
die „Periode der Empfindfamkeit in ber Literatur und im Leben“, um Gellert, Gleim, 
Klopftod, und um deren Umſchlag in epifuräifchen Weltfinn, der fich (theoretifch) 
in Wieland verkörpert. Die Hier vorliegende zweite Abtheilung beichäftigt 
fi mit der „Neubelebung der deutjchen Literatur durch Friedrich den Großen und 
feine Thaten“, mit Leifing, ala dem Vertreter der dadurch erwedten realiftiichen 
Poejie, und mit dem erjten Ausbruche des dann erft in voller Kraft fich ential- 
tenden individuellen Gefühlslebens in der Sturm- und Drangperiode, mit Herder 
und mit Goethe's Jugend. Daß von einer bloßen Literaturgejchichte hier nicht die 
Rede ift, ergibt ſich ſchon aus diefem Plane. Biedermann ift überall in der ſorg— 
fältigften, umfichtigften Weije bemüht, die Zufammenhänge der Geiftesarbeit mit der 
Welt der materiellen Thatjachen zu entdefen und zur Geltung zu bringen: und 
wenn fich dabei manche Lücke zeigt, wenn manche aufgejtellte formel von zweifel- 
hafter Allgemeingültigkeit fein möchte, jo nimmt das der überall von gejundem 
Sinne und redlichjtem Fleiße getragenen Forjchung durchaus nicht ihren Werth. Es 
darf ja ohnehin kaum ausdrüdlich betont werden, wie bedenklich es ift, irgend eine 
organiiche Entwidelung, und vollends die des deutichen Geiftes im achtzjehnten Jahr- 
hundert mit feften Formeln ausmeſſen zu wollen. Bielleiht nie war das rein 
perfönliche, jeelifche Leben weniger abhängig von den greifbaren Einflüffen des 
Staates und der Gejellichaft, ala in jemen- merkwürdigen Jahrzehnten, welche die 
Wunderblume der deutjchen Dichtung aus den Trümmern des verfallenden Reiches 
hervorwachſen ließen. Nichts von jener mächtigen nationalen Strömung, die jebt 
auch den Widerftrebenden ergreift und Stellung zu nehmen zwingt; feine beein- 
fluffende Hauptitadt, feine Theilnahme der Privaten am Staat; die religiöfen Kämpfe 
der Vergangenheit eingejargt in die erjtarrten, aber harmlojen Formen einer Terri— 
torialfirche, neben denen der Einzelne ziemlich unbehelligt feinen Weg ging; dabei, 
nad langem Kriegselend und Verfall, von 1763 an ein langjähriger Friede und, 
wenn auch jehr bejcheidene, Anfänge behaglichen Lebend. Mußte unter ſolchen Ver— 
hältniffen in einem hochbegabten, ferngefunden Volke nicht das feelifche und geiftige 
Einzelleben zu feiner höchiten, freieften Entwidelung fommen? zumal, wenn aus 
der weftlichen Gulturwelt gleichzeitig gerade auf dieſes Gebiet mächtigfte Anregungen 
berüber wirkten. Aber nicht in Mafjenbewegungen, jondern unter dem fortwäh- 
renden Einfluffe zahllofer, fich vielfach kreuzender, meift individueller, nur bier 
und da in Gruppen zufammentretender Kräfte vollzog fich der Fortſchritt, und möchte 
e8 darum auch ziemlich müßig fein, darüber zu ftreiten, ob die Geniezeit eine Reac- 
tion gegen die Aufklärung oder deren Fortführung war. In jedem gefunden neuen 
Lebenstriebe fteden ja mit Nothiwendigkeit beide Momente. Zum aufrichtigen Dank 
aber verpflichtet jede liebevolle, dem Ginzelnen ohne Vorurtheil gerecht werdende For- 
Ihung auf diefem für unſere Theilnahme immer neuen Gebiete. Und als eine 
folche, nicht zu flüchtiger Lectüre, nicht als Anleitung zu geiftreichem Abiprechen, 
ſondern zu ruhiger, redlicher, nachdenklicher Betrachtung empfiehlt ſich Biedermann’s 
Merk neben Hettner's trefflicher Arbeit. 


5. 2a Mettrie. Rede in der öffentlichen Sitzung der Königl. Preuß. Ala- 
demie der Wiffenfchaften zur Gedächtnißfeier Friedrich’3 II. Am 25. Januar 
1875 gehalten von Emil du Boiß-Reymond, beftändigem Secretär. 
Berlin, Auguft Hirſchwald. 1875. 
6. Der Menſch eine Maſchine von de la Mettrie. MUeberjeßt, er- 
läutert und mit einer Einleitung über den Materialiamus verjehen von 
Dr. Adolf Ritter, Königl. Preuß. Sanitätsrath zu Berlin. Leipzig, 
Erih Koſchny. 1875. 
Du Boiß-Reymond hat den Gedäcdhtniktag Friedrich's des Großen mit einer 
„Rettung“ gefeiert, einer Rettung des Mannes, welchen Friedrich durch einc felbft- 


Literarifche Rundſchau. 139 


verfaßte Lobjchrift ehrte, den Mit- und Nachtvelt deffen ungeachtet nicht müde ge- 
worden find, als den Schandfle der Tafelrunde von Sansſouci zu bezeichnen. La 
Mettrie! der freche, herzloſe Spötter, der ruchlofe Gotteßleugner, der cynifche, in 
jeinen Sünden verfommene Genußmenſch! Denn mit befanntem „ibealiftifchem Tact“ 
haben die frommen und gelehrten Berurtheiler nicht ermangelt, des Mannes frühen 
Zod (er Hatte fi) muthmaßlich bei Lord Tyrconell an einer Fafanenpafjtete den 
Magen verdorben) als Gottesurtheil gegen jeinen Charakter auszubeuten. Nun hat 
Du Bois-Reymond (daß war von feinem guten Gefchmad zu erwarten) das heiß- 
blütige, übermüthige Enfant perdu der franzöfiichen Aufllärungs-Armee auch zu 
feinem Tugendmuſter gemacht. Es ſteckt nichts vom Kantianer in dem ächt keltiſchen 
Landsmanne Chäteaubriand’3 (La Mtettrie war in St. Malo am 25. December 1709 ge= 
boren). Nur bis zu feinem jechzehnten Jahre hielten feine janfeniftifchen Lehrer ihn 
in ihrer ftrengen, theologischen Zucht. Dann ging er ihnen davon, wie Voltaire 
jeinen lieben Jeſuiten, unter dem Doppeldrud der aufftrebenden realiftiichen Zeitbe— 
wegung und des heißen Blutes. Der erfte naturwiffenschaftliche Unterricht im Gollöge 
Harcourt zu Paris beftimmte für immer feine Richtung. Er wird Arzt, Boerhave’s 
begeifterter Schüler. In begünftigter Stellung, ala Stab3arzt der Gardes frangaises, 
fieht er die großen Schaupläße der Zeitereigniffe, die Schlachtfelder von Dettingen 
(1743), Freiburg (1744), Fontenoy (1745). An den Symptomen des Fiebers, das 
er im Xazareth vor Freiburg überjteht, entwidelt fich ihm die Ueberzeugung von der 
Einheit des Menjchen, und mit einer Kedheit, die inmitten der heutigen moni« 
ſtiſchen Literatur freilich wie fchüchterne Bejcheidenheit ausſieht, gibt er ihr 
Ausdruf in der „Histoire naturelle de l’äme*. Damit hat ihn denn der Strom 
der Bewegung ergriffen, und mit einem fedem „Vogue la Galère“ überläßt er ihm fein 
leichtes Lebensſchiffchen. Die Parifer Facultät begegnet dem wiffenfchaftlichen Keber in 
herkömmlicher Weife; fie denuneirt ihn und treibt ihn vom Amte, d. 5. man degra- 
dirt ihn vom Garde-Stabsarzt zum Ober-Lazareth-Inipector für Lille, Gent, Brüffel, 
Antwerpen, Worms. Er antwortet mit Pamphleten im Styl des Malade imaginaire. 
Seine „Politique du medeein de Macchiavel*, feine „Facult& vengee*, fein „Oeuvre 
de P6nelope“ werden vom Henker verbrannt. Defto beffer. So wirft er alle Rüd- 
fihten Hinter fich und jchreibt als Flüchtling in Holland „I’Homme machine‘, 
das Buch, welches ihm die Gunft eines philofophifchen Königs einträgt und feinen 
Namen für ein Jahrhundert an den Pranger der Sittengeſchichte heftet. Wunbder- 
licher Weife! Denn wo bliebe da wol der Plab, an der königlichen Tafelrunde wie 
am Pranger, wenn man heute alle Aerzte einlüde, bie Leib und Seele für ein uns 
trennbares Ganzes halten, alle Denker, welche Belohnung und Beftrafung außerhalb 
des natürlichen Zufammenhanges von Urfache und Wirkung für ein Unding erklären! 
Und was la Mettrie'3 Leben und Sitten angeht, jo war das Schlimmfte an ihnen 
feine Unfähigkeit, einen Wit zu verhalten. Hatte er fich doch micht gejcheut, den 
ehrwürdigen, rechtgläubigen Haller, den er nie gefannt noch gejehen, in der Wid— 
mung des „Homme machine“ ala freund und Gefinnimgsgenofjen zu grüßen, jpäter 
gar, ala der ernjthafte Herr ärgerlich wurde, ihn als „Studiengenofjen“ und „Jugend⸗ 
freund” ſehr defpectirlich zu neden! Friedrich nahm das nicht übel, denn er lachte 
gern auf Anderer Koften und wußte fich im Nothiall kurzer Hand gegen übermüthige 
Zungen zu helfen; dejto unwilliger ertrugen natürlich die Berliner Fachgenoſſen den 
begünftigten ausländifchen. Spötter, und jo wurde denn der geiftreiche, fleißige 
Fachgenoffe, der witige, lachluftige, auch wol ungezogene Lebemann für fie und durch 
fie zum moralifchen Auswurf: und es ift danach doppelt erfreulich, daß jeht nicht 
ein heißblütiger Vertreter, jondern ein befonnener, gemäßigter und überlegener Gegner des 
abiprechenden Materialiamus die jpäte Gerechtigkeit übt. — Für manche, den Quellen 
ferner ſtehende Leſer wird denn auch gerade jeht die Ritter'ſche deutiche Ausgabe 
des „Homme machine“ (in der Kirchmann’schen philofophifchen Bibliothek) bequem 
und erwünfcht fommen. freilich ift fie, was Sorgfalt der Arbeit und gute Form 
angeht, mit du Boiß-Reymond’3 bekannter, claffifcher Art nicht zu vergleichen. Die 


140 Deutiche Rundſchau. 


Einleitung ift dürftig, die Meberjegung nur mäßig gewandt. Was bedeutet 3. B.: 
„Der Melancholiiche allein ift niedergedrüdt und der Mann des Studiums ift hierzu 
nicht mehr geeignet” ? Und warum ift La Mettrie's Verhältniß zu Haller mit feiner 
Sylbe erflärt? Der Ueberſetzer Hat die Widmung doch nicht etwa gar für Ernſt 
genommen ? Friedrich Kreyſſig. 


— 


Ein Statiftifer und Philoſoph.“) 


Mit Beziehung auf „G. Rümelin’3 Reden und Aufjähe* (Tübingen, H. Laupp'ſche Buchhand—⸗ 
lung. 1875). 


Mit diefer Fürzlich erfchienenen Schrift Hat und der Kanzler der Univerfität 
Zübingen ein wahres Dftergeichent gemacht. So dürfen wir fie nennen nicht nur 
wegen des Zeitpunkts ihrer Veröffentlichung, nicht nur wegen ihres bunten Inhaltes, 
fondern auch weil ihr die weſentliche Eigenſchaft eines Geſchenks zukommt, Genuf 
und Vergnügen zu bereiten. Mag es fi um Statiftit oder Piychologie, um Politik 
oder Religion handeln, wir folgen mit Genuß der Haren und eleganten Darftellung 
mit ihren jchlagenden Beilpielen, ihren treffenden Bergleichungen. Der mannigfaltige 
Inhalt aber hat bald anziehend, bald abjtoßend auf uns gewirkt, und wir können das 
Geſetz diefer Polarität kurz dahin formuliren, daß wir mit dem Verfaſſer am meiften 
in Sachen der Politik und Statiftif übereinftimmen, am wenigjten in Sachen ber 
Metaphyſik. Bor Allem wiederholen wir den ungetheilten Beifall, den wir jchon vor 
einem Jahr der Kaiferrede Rümelin's zum 22. März 1874 gezollt haben, mit 
ihrer vortrefflichen Schilderung der vier Klaſſen von Reichsfeinden. Wir finden es 
auch ebenjo im Intereſſe des Lejerd ala in dem gerechten Selbjtgefühl des Berjaffers 
begründet, wenn er mit feiner Feſtrede die Rede über die Neichsoberhauptfrage zu— 
fammenftellt, welche er vor jechaundzwanzig Jahren als jüngeres Mitglied des Franf- 
furter Parlaments für die damals nichts weniger ala populäre Idee des preußifch- 
deutfchen Kaiſerthums gehalten hat. 

Mit faſt durchgängiger Uebereinftimmung haben wir die jämmtlichen Reben und 
Aufſätze gelefen, welche die Statiftit betreffen und den größeren Theil der Schrift 
einnehmen. Es gehören hierher zwei Abhandlungen zur Theorie der Statiftif von 
1863 und 1874, wovon die zweite zur Berichtigung und Ergänzung der eriten be— 
ftimmt ift; ferner über den Begriff und die Dauer einer Generation, über bie 
Malthus’schen Lehren, über Stadt und Land, endlich die Rede über den Begriff eines 
focialen Geſetzes; auch berühren das ftatiftiiche Gebiet noch einige der Aphorismen 
im dritten Theil der Schrift, nämlich über die menfchliche Lebensdauer, über die 





*) Mit dem Gefühle tiefer Wehmuth übergeben wir obigen Artikel Profefjor Carl Guftav 
Reuſchle's ber Deffentlichkeit: es ift fein letes Wort; mit diefem Zeugniß für feinen ihm 
im Tode dorangegangenen Freund und Gefinnungsgenofien David Friedrih Strauß ift 
er dieſem felber im Tode nachgefolgt. Noch am 4. Mai Hatten wir einen Brief von ihm, 
in welchem er bie Beiprehung von Du Bois-Reymond's „La Mettrie" zuſagte — eine Ber 
iprechung, die, wie ber Leſer aus vorliegendem Hefte fieht, wir jetzt einer andern Hand über: 
tragen mußten. Ein Mathematiker erften Ranges, beſaß Reuſchle zugleich bie liebenswer— 
theften perfönlichen Eigenfchaften, die ihn feiner Familie, feinen Fachgenoſſen und einem weiten 
Freundeskreiſe gleich thener machten. Im 64. Jahre feines Lebens, in voller Kraft und Friſche, 
durch einen tüdiichen Zufall dahingerafft, hatte er doch noch die hohe Genugthuung, das große 
Merk, an welchem er 19 Jahre lang mit unermüdlichem Fleiße gearbeitet und welches auf 
Koften der Berliner Akademie gedrudt warb, die „Tafeln complerer Primzahlen®, faum brei 
Wochen vor feinem Tode vollendet zu ſehen. Wir jelber befiben noch einen werthvollen Beitrag 
von ihm, „Die lekten fechzig Jahre in der Phyſik“, welchen wir, ala das literariiche Vermächt-— 
niß unſeres undergehlichen Mitarbeiters, demnächſt publiciren werben. 

Die Rebaction der „Deutihen Rundſchau“. 


Literariſche Rundichau. 141 


angebliche Aufhebung der Willensfreiheit durch die Thatſachen der Moralftatiftit, über 
die falſche Berechnung des Militäraufwands von Seiten der Gegner des „Militarig- 
mus". Die Statiftik ift die Wifjenfchaft, welche Rümelin als Univerfitätälehrer ver- 
tritt, nachdem er einige Jahre hindurch ala VBorftand des ftatiftifch-topographiichen Amts 
in Stuttgart in die ftatiftiiche Prarig fich Hineingelebt und von der Technik zur 
wifjenfchaftlichen Betrachtung fich aufgeſchwungen hatte. In der erften Abhandlung 
(zur Theorie der Statiftif) hatte er der Statiftif ald einer „allgemeinen Hülfswiffen- 
ſchaft“ — jo allgemein, daß fie keineswegs auf die jocialen Wiſſenſchaften beſchränkt 
fei — die GStatiftif als die Wiſſenſchaft von den Zuftänden und Verhältniffen der 
menschlichen Gejellichaft gegenüber geftellt und zur Firirung diefer Unterfcheidung 
für Iebtere den Namen „Demographie“ vorgefchlagen. Dies berichtigt er in ber 
zweiten Abhandlung dahin, daß man vielmehr die ftatiftifhe Methode von ber 
vorzugsweiſe mit Hilfe derfelben zu Stande fommenden focialen Wiffenjchaft zu unter- 
jcheiden Habe; dieje fönne dann wol den Hergebrachten Namen der Statijtif behalten, 
während jene Methode, die auch in allen anderen Wiſſenszweigen in Anwendung 
fomme, zuleßt ihre Stelle in dem methodologifchen Theil der Logik finde. 

Dies ift gewiß das Richtige; allein minder treffend erjcheint uns Rümelin's 
Antwort auf die Frage, weßhalb die ftatiftiiche Methode der Maffenzählungen und 
der daraus gezogenen Durchſchnitte mehr in den focialen als in den Natur-MWiffen- 
Ichaften zur Anwendung fomme. Er jagt: „in der Natur ift das Einzelne typiſch, in 
der Menfchenwelt aber individuell. Dies ift jedenfall® nur eine grabuelle oder 
flüffige Unterfcheidung, was fi auch Rümelin nicht verhehlt. Richtig ift nur, daß 
die Individuation, je weiter hinauf in der Stufenfolge der Weſen, um jo weiter geht, 
eben weil die Organifation um fo complicirter wird, und daß fie fich in der Men— 
Ichenwelt am reichjten entfaltet; die Hauptfache ift aber, daß fie uns hier am meiften 
intereffirt, und um fo weniger, je tiefer wir in der Natur herabfteigen. Wir er- 
heben 3.8. die fyragen der Bevölferungsftatiftif wol noch bei den gezähmten Thieren, 
bei allen anderen erheben wir fie gar nicht, weil e8 uns gleichgiltig ift, wie viel 
Grasmüden in Württemberg leben, wie viele davon männlich, wie viele weiblich find 
u. f. w. Wenn auf der anderen Seite Rümelin jagt, ein Beifpiel oder eine einzige 
Beobachtungsreihe genüge, um zu willen, wie die Grasmücke ihr Neft baue, ihre Jun— 
gen ernähre u. ſ. w., jo dürfte man auch ohne Maffenzählungen ausfommen, um 
zu erfahren, wie der Indianer jein Wigwam baut, wie der deutſche Bauer fein Feld 
beftellt u. dgl. Und follte Hingegen bemerkt werden, man werde 3. B. Hinfichtlich 
des Feldbaues wol mehr Fälle zu unterfcheiden haben ala bei dem Neft der Gras- 
müde, jo dürfte zurüdgefragt werden, ob die Mehrheit der Fälle nicht auch Hier vor— 
handen fei, nur daf die geringeren Unterfchiede uns nicht intereffiren. 

Gemwohnt, bei feinen Unterfuchungen an die Wiflenjchaften der Logif und Piycho- 
logie anzufnüpfen, hat Rümelin, neben feinem ftatiftiichen Hauptfach, auch pfycholo- 
giſche Borlefungen in feinen Bereich gezogen. Auf Piychologie beziehen ſich in 
der vorliegenden Schrift die Reden über die Lehre von dem Geelenvermögen, über 
das NRechtägefühl, über den Begriff des Volks; ja wir können auch, vermöge ihres 
Ausgangspunkts, die Rebe Über das Verhältniß der Politik zur Moral hierher rechnen, 
Rümelin verwahrt fich gegen die Anficht von angeborenen Ideen, ala urjprünglichen 
Mitgaben des Menjchen, und jet an ihre Stelle einen Jnbegriffvon Trieben 
(niederen und höheren), von welchen jede befondere Unterfuchung, wie 3. B. die 
über den Urſprung des Rechtsgefühls, auszugehen habe. Den „animalijchen” Trieben 
der Selbſterhaltung, der Selbftvermehrung (Gejchlechtätrieb) und der Gejelligkeit, 
welche den Gompler „elementarer Grundfräfte” bilden, gejellen fich bei dem Men— 
ſchen einige weitere Triebreize hinzu, die „humanen“ Triebe, und zwar in drei Haupt» 
formen: Mitgefühl, intellectueller Functionstrieb (Erfenntnißtrieb, deſſen glänzendites 
Erzeugniß die Sprache jei) und Orbnungstrieb (Vernunfttrieb, Trieb der Lebens» 
harmonie). Diefer höchſte Trieb gliedere fich abermals dreifah, je nachdem er auf 
die Sphäre des Intellects oder des Willens oder auf den Einigungspunft beider, das 


142 Deutſche Rundſchau. 


„Centrum der Seele“, gerichtet ſei. Als contemplativer Ordnungstrieb ſuche er die 
Einheit und Harmonie für die Weltbetrachtung und erzeuge die Ideen des Schönen 
und des Wahren, die Kunſt und die Wiſſenſchaft. Als praktiſcher Trieb ſuche er die 
Einheit und Harmonie für die Bethätigung de Trieblebend und erzeuge bie Idee 
des Guten mit der Unterfcheidung einer fubjectiven und einer focialen Form, die 
Sittlichleit und dad Recht. Seine letzte Geftalt erreiche der Ordnungstrieb, wenn er, 
Intellect und Willen, dad Ich und die Welt zufammenfaflend, unfer ganzes indivi« 
duelles Dafein in eine lebendige Harmonie und Einheit mit dem Höchiten und Beften 
zu fegen juche, was wir noch zu denken und zu ahnen vermögen, und jo die Ideen 
Gottes und die Formen des religiöfen Lebens erzeuge. 

Könnten wir und hier auf dieſes piychologiihe Syitem Rümelin’3 aus— 
führlicher einlafien, jo würden unjere Gegenbemerfungen zunächft darauf fich richten, 
daß der ganze Inbegriff jener Triebe, wie er in dem Gulturmenjchen allerdings vor» 
handen ift, gleich urjprünglich fein fol. Denn da doch der Verfaſſer darin mit ums 
übereinftimmt, daß die Menjchheit von der Pike auf gedient und von nahezu thieri- 
ichen Zuftänden aus die Bahn zu höheren Zielen zu finden gehabt habe, jo können 
wir nicht umhin, ihm entgegenzubalten, daß dieſe „Bahn zu höheren Zielen‘ eben 
darin beftanden habe, alle jene ‚höheren‘ Triebe (und Ideen) jucceffiv zu erwerben, 
eben auf dem Grunde jener „elementaren Grundkräfte‘. Sollte 3. B. der Selbit- 
erhaltungstrieb im Kampf ums Dafein zunächſt nur zu dem zerftörenden Kriege Aller 
gegen Alle führen, jo Eonnte bei diefer Erfahrung der Gedanke nicht ausbleiben, daß 
der Selbiterhaltung, dem natürlichen Uregoismus, weit befier genügt werde durch 
gejellige Vereinigung unter gegenjeitigen Beichränfungen und Anbequemungen, und 
diefe von hervorragenden Individuen geltend gemachte Meberlegung mußte ja wol den 
Fortjchritt zu einem rechtlichen Gemeinwejen anbahnen, und um jo mehr, als die 
erften Anfänge von gejelichen Vereinen weit in die Thierwelt zurüdreichen, bis zu 
Ameifen und Bienen hinab mit ihren vielbewunderten „Thierftaaten‘. Wir wollen 
und indefjen Hier nicht auf den Darwiniftiichen Boden begeben und bemerken nur 
no, einmal, daß Rümelin die pſychologiſche Grundlage der Religion 
nicht mit Schleiermadher in das Gefühl jchlechthiniger Abhängigkeit jeht, vielmehr 
in das Gefühl einer „unbedingten Zugehörigkeit zu dem Plane de8 Weltgangen‘ ; 
fann aber in einem Gefühl „Unbedingtes“ vorfommen, wenn dies, wie Rümelin thut, 
vom „Schlechthinigen‘ verneint wird? Aladann möchten wir die Bemerkung nicht 
unterdrüden, daß Rümelin von der „Unjterblichfeit der menjchlichen Seele“ ganz 
jchweigt, freilich ein heiller Punkt für den, welcher „wider den neuen Glauben“ und 
zugleich „wider die Formeln des alten Glaubens“ zu Felde zieht. 

Dies find die Titel einer Reihenfolge von Aphorismen, mit welchen Rümelin’s 
Buch fließt. Außer diefen und den bisher befprochenen Stüden enthält das Buch 
noch eine Rede über Hegel, aus dem Jahr des Hegeljubiläums (1870), worin der 
Verfaſſer aus eigener Erfahrung den Eindrud ſehr anziehend jchildert, den ein Stu- 
birender von der Hegel’ichen Philojophie in jener Zeit erhalten mußte, als diejelbe 
eben in Tübingen zum großen Wort gelangt war; worin er auch das Hinfällige und 
das bleibend Werthvolle in diejer Philofophie treffend bezeichnet. Wir nennen ferner 
die Aphorismen über die Delonomie der Aemter, über Furcht und Mitleid in der 
Tragödie, zu Hermann und Dorothea („ein neunzehnjähriger Hermann ift ein Un— 
ding“), über die Eintheilung der Univerfalgefchichte und über Strauß. Ueber die 
beiden leßteren, ſowie über die jchon genannten wider den neuen und wider den alten 
Glauben — alle zufammen bilden den dritten Theil der Schrift unter dem Geſammt— 
titel „EleineBetratungen und Bekenntniſſe“ — erlauben wir und nod) 
einige Worte der Nichtübereinftimmung. 

Ob man mit Recht die neue Geſchichte ſchon mit dem fechzehnten Jahr: 
hundert beginne, oder nicht vielmehr exit mit dem neunzehnten beginnen follte? fragt 
Nümelin und antwortet : wenn man nicht die drei dem unfrigen vorangehenden Jahrhun— 
berte noch dem Mittelalter jelbft zurechnen wolle, jo jei wenigftens in Nachahmung geolo= 


Literariſche Rundſchau. 143 


giſcher Kunſtausdrücke das ſechzehnte Jahrhundert als „eocän“, das fiebzehnte und 
achtzehnte als „miocän“, unſeres aber, indem man um elf Jahre (bis 1789) zurück— 
gehe, als „pliocän“, ja, fügt er bei, als „pantocän‘ zu bezeichnen. Pantocän? d. h. 
von dem zu jagen wäre: daß Alte ift vergangen, fiehe! es ift Alles neu geworben. 
Alles? Geht denn, um nur ein Beifpiel zu nennen, dad Baticanifche Concil nicht 
noch weit über das jechzehnte Jahrhundert zurüd? Und das achtzehnte Jahrhundert 
miocän? d. 5. wo das Neue gegen das Alte noch in der Minderheit ift? Friedrich 
M., Voltaire, Euler, Leifing, Kant u. j. w. miocäne Gebilde? Und was für ein 
. . .can wäre im Hundert und aber Hundert Jahren zu erwarten, wenn das 
„Pantocän’ jet ſchon erreicht ift? Im Gedanken an die Zukunft muß man das 
„Wie wir’ jo Herrlich weit gebracht‘ jedenfall vergeffen, wenn einen nicht ſchon 
im Hinblid auf die Vergangenheit die Erwägung bedenklich gemacht hat, daß bie 
eriten maßgebenden Schritte ſtets die epochemachenbditen find. Unſere Geographie und 
unjere Univerfalgeichichte jtehen zwar nothiwendig auf dem — sit venia verbo — europa= 
centrifchen Standpunkt ; daher wird die große germanifche Völkerwanderung , welche 
neue Völker auf den alten Schauplaß führte, mit der Zertrümmerung des römischen 
Weltreichs tet? einen Haupteinjchnitt unferer Univerfalgefchichte bilden, wenn fie 
auch für Indien und China feine Epoche if. Allein auf der anderen Seite muß 
bei der Feſtſetzung der Hauptepochen doch vorzugsweiſe auf jolche Thatfachen reflec- 
tirt werden, welche für die gefammte Menjchheit epochenhaft find. Eine ſolche wirk— 
Lich univerjelle Bedeutung hat aber weiterhin nur, oder vor Allem, die Entdedung 
Amerika’, womit den alten Völkern ein neuer Schauplab von vielen hundert— 
taufend Duadratmeilen eröffnet worden ift, zumal da diejelbe gleichzeitig mit einer 
Reihe anderer welthiftorifcher Ereigniffe und in innerem Zuſammenhang damit aufs 
getreten ijt. 

Den Artikel über Strauß beginnt Rümelin mit den Worten: „Chriften find 
wir nicht mehr; Religion brauchen wir nicht; die Welt erflären wir für die Welt (?), 
indem wir ihr Titel und Rang ded Univerfums verleihen; unfer Leben ordnen wir 
von dem Standpunkt eines wohlhabenden, gelehrten und kunſtſinnigen Deutichen aus 
dem Bismarck'ſchen Zeitalter, — und das Alles zufammen nennen wir dann ben 
neuen Glauben.‘ Das ift eine herabwürdigende Daritellung, eine Garicatur! Könnte 
nicht einer, dem verführerifchen Beifpiel der Garicatur folgend, andere Belenntniffe 
fo verzerren: man gibt den Synoden ein Mißtrauensvotum, behält aber Fühlung 
mit den Doctoren der Theologie; man verwahrt fich gegen den Wunderglauben, 
fchmeichelt aber dem Anthropomorphismus in göttlichen Dingen; man erinnert ſich 
des Kanzlers vor vierhundert Jahren, pakt aber feine Ausfprüche dem Bismard’ichen 
Zeitalter an und jagt: „Natur und Geift, jo jpricht man jet zu Chriften“ u. ſ. w.? 
Wir find weit entfernt, ein jolches Urtheil über Rümelin's „Belenntniffe* zu dem 
unfrigen zu machen, ſchon um nicht jelbft in den Fehler zu verfallen, den wir rügen. 
Wir find im Gegentheil jehr befriedigt von der Oppofition, welche von jo gewichtiger 
Seite und mit folder Entjchiedenheit dem Wunder zu Theil geworben ift, wenn 
Rümelin unter Anderem jagt: „Wiſſenſchaft und Wunder find jo unvereinbare Dinge, 
daß das eine genau da aufhört, wo das andere anfängt“; und: „eine Kirche, deren 
Dogma fi) mit den elementaren Grundvorausfegungen aller Wiſſenſchaft in Wider- 
ſpruch ſehzt, kann diefen Zuftand nicht auf die Länge ertragen”;.... „es ijt bie 
höchſte Zeit, daß man in den leitenden Kreifen den Ernſt der Lage erkenne und auf 
wirkffamere Mittel finne als die obligaten Predigten gegen den Unglauben, welche 
von den ficheren SKanzelbrüftungen aus an die Adrefjen der Abwejenden ergehen“. 
Seine Auffafjung des Chriſtenthums, nach Ausfcheidung der „Formeln des alten Glau- 
bens“, nähert fich derjenigen, welche Strauß in den „Selbitgefprächen über Vergäng- 
liches und Bleibendes im Chriſtenthum“ aus der Zeit des erften Lebens Jeſu auf: 
geitellt Hat (‚„‚Friedliche Blätter‘ 1839). 

Gleichwol ift nicht zu verfennen, daß Rümelin auch den Strauß von damals, 
den theologifchen Kritiker, möglichjt zu bemängeln und herabzuſetzen ſucht. Nur über 


144 Deutſche Rundſchau. 


feine ſchriftſtelleriſche Virtuoſität ſpricht er ſich mit unumwundener Anerkennung aus 
und rechnet ſeine biographiſchen, publiciſtiſchen, literargeſchichtlichen Arbeiten, ſowie 
die kleineren „Genrebilder““ zu den „Schmuckſachen der deutſchen Literatur. Dabei 
bemängelt er aber, vom Standpunkt des Hiftorifer® aus, den gegenftändlichen Werth 
ber gejchichtlichen Monographien; die Bedeutung Hutten’3 ſei überfchägt und feine 
Geſtalt nicht (?) in den gejchichtlichen Hintergrund eingezeichnet; Friſchlin fei ein jo 
dickes und gutes Buch gar nicht werth. Wenn er vollends behauptet, die Gefhichte 
des Urchriſtenthums werde durch Strauß faum gefördert, fo müflen wir ſtau— 
nend fragen: gehört denn die Entjtehung der Sagen und Dogmen über Jeſus von 
Nazareth nicht zur Gefchichte des Urchriſtenthums? Und wer Hat Hierin mehr ge= 
leiftet al Strauß? Es handelte fi) ja nicht blos um den negativen Beweis, daß 
die Evangelien feine wirkliche Gejchichte enthalten, vielmehr um den durch alle Ein— 
zelheiten Hindurch geführten pofitiven Nachweis, wie der ganze Kreis der Vorſtellun— 
gen, in welchen die Evangelien fich bewegen, entjtanden ſei. Jenes wäre allerdings 
ſchon einem Schiller und Goethe nicht neu geweſen, gewiß aber biejes; und wie man 
die hiſtoriſche Combinationsgabe, welche Strauß dabei an den Tag legt, verfennen 
fann, ift und jo „unverftändlich”, wie dem DBerfaffer der Titel des zweiten Lebens 
Sefu, nämlih „für das deutſche Volk“. Uns aber iſt Hierbei wieder unver- 
ftändlich, wie der Urheber einer jo trefflichen Kaiferrede wegen der Berechtigung jenes 
Titeld an die Franzoſen appelliven mochte, anftatt fich zunächſt in Deutjchland 
umaufehen, wo in Schloſſer's Weltgefchichte „Tür das deutjche Volk’ ein jo achtungs— 
werther Borgang vorlag. Die Sache liegt fo einfach ala möglich; das zweite Leben 
Jeſu jollte, dem fachwiſſenſchaftlichen erften gegenüber, als populär bezeichnet werben, 
und, im Gegenfaß zu den vortrefflih auf das franzöfiiche Volk berechneten ‚roman 
haften Anftrichen des Lebens Jeju von Renan, war auch die Erinnerung an das 
folcher Tändelei nicht bedürftige „‚deutjche Volk“ am Ort. 

Bliden wir endlich auf das Gebiet, wo allerdings die Bedeutung von Strauß 
am disputabelften fein mag, jo jehen wir Rümelin in der Herabfegung der pbilojophi- 
hen Bedeutung des großen Kritikers mit Fr. Viſcher, der ihn dagegen um ber 
mythiſchen Gejchichte Jeſu willen in die ftolze Reihe der Entdeder erhebt, und mit 
€. v. Hartmann zufammentreffen, der ihm das philofophiiche Talent geradezu ab- 
ſpricht, der auch in Religionsſachen ungleich Fühner vorangegangen ift, indem 
er eine neue Volksreligion anzufündigen gewagt hat, während Strauß ja nur einen 
„neuen Glauben im Freundekreis“ bekannt hat. Rümelin geht übrigend von einem 
anderen philofophiichen Standpunkt aus, ala die beiden anderen pantheijtifch denken— 
den Gegner der Strauß’fchen Philofophie. Nachdem er fich vor etwa zwölf Jahren 
von der Schopenhauer’ichen Philofophie in hohem Maße angeiprochen gefühlt hatte, 
ſcheint er jet am meiften zu Lotze Hinzuneigen, deſſen theiftiiche Metaphyfif er auch 
vorzugsweife im Auge bat, wenn er Strauß vorwirft, er hätte fein Buch vom neuen 
Glauben nicht fo jchreiben können, wenn er von dem Notiz genommen hätte, was 
nach Hegel auf philofophifchem Gebiet geleiftet worden ſei. Denn von Schopenhauer, 
Hartmann, auch von Trendelenburg hat Strauß Notiz genommen und fogar be- 
merkt, man folle fi mit Schopenhauer nicht zu flüchtig befaffen, weil man von 
ihm etwas lernen fünne. Aber wie? wenn nun eben Strauß bei Darwin und Haedel, 
bei Helmholg und Du Bois-Reymond nicht nur überhaupt mehr Belehrung, fondern 
auch mehr PHilofophie gefunden Hat, als bei Lotze oder bei anderen Philoſophen 
vom Fach? Ebendeshalb werden Alle, deren Metaphyſik Hinter die Phyfif auf Ge- 
bilde der Phantafie zurüdgeht, über ihn den Stab brechen, während Diejenigen ihm 
eine ſpecifiſche philofophifche Bedeutung zufchreiben, für welche die Metaphyſik nichts 
Anderes ift, ala die allgemeinite Zufammenfaffung unſeres Wiſſens vom Univerſum. 


Stuttgart. C. ©. Reuſchle. 


Das Gaftfpiel der Meininger und die Klaffikervorkellungen 
im Königl, Schanfpielhaufe zu Berlin. 


— — — 


Berlin, den 15. Juni. 


Wenn auch beim diesjährigen Gaftipiel des Meininger Hoftheaters das Ueber— 
tafchende der ganzen Ericheinung fich nicht wiederholen konnte, jo dürfen die Gäfte 
troßdem immer noch mit dem Berliner Publicum zufrieden fein. Es ift ein hervor— 
jtechender Zug der Berliner, daß fie das Fremde, das fich jelbft ihnen entgegen bringt, 
um ein entjcheidendes kritiſches Gutachten zu erlangen, mit Vorliebe protegiren. Und 
wenn die Leiftungen von irgend einer reizvollen Eigenartigkeit begleitet find, wie es 
bei den Meiningern der Fall ift, jo fteigert fich die beifällige Aufnahme jehr Leicht 
zu einer enthufiaftiichen. Das Berliner Publicum hat fi) auch diesmal nicht un— 
dankbar für die ihm gebotenen Gaben gezeigt. Den an diejer Stelle ſchon beiprochenen 
BVorftellungen — Die Herrmannsichlacht, Ejther und Die gelehrten Frauen — ſchloß 
fi zunächſt Schillers „Fiesco“ an. 

Meine im vorigen Bericht ſchon geäußerten Bedenken gegen den Luxus in der 
fcenifchen Ausfhmüdung finden eine nicht geringe Unterftühung in der Thatjache, 
daß die Meininger Theaterleitung es jelbft für nöthig hält, das jchon Gebotene in 
jener Richtung noch fortwährend zu überbieten. 

Auch die Aufführungen des „Fiesco“ follten wieder Neues und Unerhörtes 
binfichtlich der fcenifchen Ausrüftung bringen. In der That waren die Decorationen 
nicht nur an fich ſchön, jondern auch mit dem genaueften Studium der erforderlichen 
Localfarbe hergeſtellt. Sowol die verjchiedenen Gemächer mit ihrem üppigen Schmud:, 
wie auch der Schloßhof bei Fiesco, die Säulenhalle mit der Ausficht auf Genua und 
auf die Seealpen, endlich im lebten Acte das Thomasthor mit dem Blick auf den 
Hafen —: das Alles waren Bilder, welche im Verein mit den wahrhaft prachtvollen 
biftorifchen Goftümen wol geeignet waren, uns das Genua des 16. Jahrhunderts 
vorzuzaubern und das Auge zu entzüden. Und das Drama, die Dichtung ala ſolche — ? 
war fie in diefem jchönen Gewande lebendig? Sprach aus diefen jchönen Bildern, 
die und vorgeführt wurden, zu und der Geiſt der Schiller’schen Dichtung ? 

Es muß conftatirt werden, daß beim Publicum der Erfolg im Ganzen wieder 
ein fehr großer war; und es ift weder eine danfbare noch angenehme Aufgabe, diejer 
blendenden Erfcheinung und ihrer thatjächlich großen Wirkung mit den Einwänden 
bes nicht befriedigten kritiſchen Gewiffens zu folgen. Der Kritifer übernimmt bier die 
Rolle des mißvergnügten Republifanerd gegenüber dem vom Erfolg beglüdten Fiesco, 
nur daß er fein jo draftifches Mittel befitt, wie Berrina, den Sieger unfchädlich zu 
machen. Aber ich fann troßdem nicht verichweigen, daß mir das Mißverhältniß 
zwifchen den fchaufpielerifchen Leiftungen und dem ganz ungewöhnlichen Aufwand 
äußerlicher glänzender Hilfsmittel gerade in der VBorftellung des ya fühlbar 

Deutiche Runbſchau. I, 10, 





146 Deutiche Rundſchau. 


war. In der Hauptrolle der Tragödie habe ich nicht den eigentlichen Inhaber 
derjelben, Seren Nesper, gejehen, jondern Herrn Reinau, welcher an zwei Abenden 
für den Genannten eingetreten war. Herr Reinau bat fich einen leichten Conver— 
fationston angeeignet, der an fich gewiß jehr Löblich ift, d. 5. wo er Hingehört. 
Unter allen Umftänden aber darf die Leichtigkeit der Rede nicht bis zur Farblofigkeit 
berabfinfen, am allerwenigjten in einer Tragödie wie diefe ift. Es iſt jehr möglich, 
daß Herr Reinau im modernen bürgerlichen Schaufpiel ein ſehr angenehmer Darfteller 
ift, ein Fiesco war er aber durchaus nicht. Die Nonchalance feiner Darftellung 
wurde um jo auffälliger, als er fich damit im ſtärkſten Gegenſatze zu der Mehrzahl 
der Mitipielenden befand, bei denen die Schon im Allgemeinen charakterifirte, über 
die künjtlerifche Grenze Jo oft hinausgehende übergroße Deutlichleit und Handgreif— 
lichkeit der Darjtellung in diefer Tragödie ganz bejonderd vorwaltete, Ein Schiller’- 
jche8 Drama aus der erften Periode des Dichterd würde ja eine gewiffe Meberichtväng- 
Tichfeit im Spiel noch am eheften vertragen können, eher als eine allzu jubtile und 
bedächtige Daritellungsweile. Es würde dafür aber auch erforderlich fein, daß das 
hitige Temperament der Dichtung die Schauspieler wirklich durchdringt, daß dem 
überjchwänglichen Pathos der Rede auch deſſen urjprüngliche Kraftfülle zuertheilt 
werde. Die Schiller’jchen Figuren gerade diefer Tragödie haben alle Feuer im Leibe, 
dom Bourgognino bis hinauf zum greifen Doria, aber e8 muß das wirkliche poetische 
Teuer fein umd nicht nur das Geberdenjpiel, welches uns zu fagen fcheint, dab es 
irgendwo brenne, 

In den fcenifchen Arrangement? wurde auch in diefer Aufführung viel Sinn— 
reiches und Vortreffliches geboten, wenn auch manchmal die ftet3 maleriiche Wirkung 
auf Koften der Dichtung erreicht wurde, und wenn auch in einzelnen Fällen wieder 
das auf die möglichſte Wahrfcheinlichkeit der fichtbaren Vorgänge gerichtete Streben 
weiter ging, als mir für die Erreichung des poetijchen Eindrud® nöthig zu fein fcheint. 
In der letzten Scene der Tragödie hat das dabei getroffene Arrangement — während 
des entjcheidenden lebten Zwiegeſpräches des Fiesco mit Verrina — verfchiedene Beur- 
theilung gefunden. Bei der Darftellung im Königl. Schaufpiel war es von einer 
Seite gerügt worden, daß in dem Fahrzeug, welches Fiesco und Verrina befteigen, 
um zu den Galeeren zu gelangen, fich fein Schiffer befunden habe. Die Meininger 
lafjen hier in der That einen in dem fahrzeug ruhenden Bootämann Theil an der 
Scene nehmen, was don anderer Seite — und ich glaube mit Recht — ftörend 
gefunden wurde. Die Trage aber, welches hier das Richtige ift, wird überhaupt ganz 
überflüffig, jobald man fich einfach nur an den Schiller’fchen Tert hält. Diejer 
aber jchreibt wörtlich vor: „Sie ftehen auf: einem Brett, das zu einer Galeere 
führt.“ Hier ift alfo von einem Boot gar feine Rede, und es fommt daher gar nicht 
in Frage, ob fie fich jelbft Hinüber rudern wollen, oder fich müßten hinüberrudern 
laſſen. Warum alfo Hier nicht die Vorſchrift des Dichters, der ja doc ſtets das 
Theatralifche jehr im Auge hatte, einfach acceptiren — ? 

Ich würde auf derartige Einzelheiten Fein jolches Gewicht legen, wenn nicht 
unfere Aufmerkfamfeit dafür durch die ganze Art der Meininger Darftellungen fo 
entichieden beansprucht würde. Daß man im lebten Acte die Erftürmung des Thomas: 
thores zu einer jo großen Action ausdehnte, könnte man fich fchon gefallen laſſen, 
da es vortrefflich ausgeführt wird; wenn man aber zu Gunften diefer Pantomime die 
jo bedeutende Scene wegläßt, in welcher Fiesco jelbft vor das Haus des Dogen 
fommt, ihn zu warnen, jo muß die Kritik fich ohne Bedenken für die Hoheitsrechte 
des Dichters erklären. 

Es unterliegt gewiß feinem Zweifel, daß — ebenfo wie durch Decorationen und 
Goftüme — fo auch durch die forgfältige Behandlung derartiger, nur dad Auge 
beichäftigender, Dinge poetilche Stimmungen im Drama oft fehr gefördert werben 
können. Dennoh muß ich an dem Schlußrefultat aller meiner Erwägungen feit- 
halten, daß eine übertriebene Beichäftigung de8 Auges der inneren Theilnahme für 
bie Dichtung Abbruch thut. Käme es bei künſtleriſchen Productionen einzig darauf 


Das Gaſtſpiel d. Meininger u. die Hlajfitervorftellungen im K. Schaufpielhaufe zu Berlin. 1-47 


an, daß der Zufchauer keine Langeweile empfinde, jo hätte man über daß Wefen der 
ſtunſt und über die Urſachen fünftlerifcher Eindrüde nicht weiter zu ftreiten. Das 
Theaterpublicum ift wol von jeher aus den mannigfaltigiten Bildungselementen 
zufammengefet gewwejen. In neuerer Zeit ift es aber noch unverhältnigmäßig größer 
geworden, und diefe Erweiterung der Kreife des Publicums führt mancherlei Uebel» 
fände mit ji. Zu diefen gehört auch das Größerwerden der Schaufpielhäufer. Die 
Meininger gerade genießen den Vortheil einer Eleineren Bühne, von welcher aus 
die Darftellung ftet3 in intimerem Gonner mit dem Publicum fteht. Aber im All— 
gemeinen ift doch durch die ftet3 größer werdenden Schaufpielhäufer die bloße Schau- 
Iuft bereits jehr gefteigert worden. Und wie das eine llebel wieder ein anderes 
hervorruft oder auf das frühere Uebel gleichzeitig zurüdwirtt, das jehen wir auch 
an ber jeit mehreren Jahren am den meiſten Bühnen beitehenden Einrichtung des 
Zwiſchenvorhangs, welcher die während eines Actes auf der Bühne zu beierf- 
ftelligende DVerwandelung der Scene zu verdeden bat. Ich Habe in der That in 
diejer Einrichtung nach mancherlei dabei gemachten Beobachtungen und Erfahrungen 
ein entjchiedenes Uebel erkennen müſſen und ich möchte bier gelegentlich ein paar 
Bemerkungen darüber einichalten. Diefe Einrichtung des Zwiſchenvorhangs war 
zumächft aus dem Motiv hervorgegangen, die Zufchauer nicht durch den fichtbaren 
Mechanismus der Bühne in der Jllufion des Schaufpield zu ftören, wie es ſonſt 
durch das fichtbare Schieben der Couliffen, das Auf» oder Niederlafien der hinteren 
Decoration, dad Wechfeln der Tifche und Stühle u. dal. m. geihah. Indem man 
aber hiermit zu Gunften ber zu erhaltenden Täufchung zu wirken fuchte, führte 
man auf der anderen Seite den llebeljtand herbei, daß die einzelnen Scenen eines 
Actes durch den fallenden Zwilchenactsvorhang viel jchärfer von einander ge 
trennt werden, als es dem organifchen Baue des Drama’ angemeflen und dem Ein— 
drud günftig if. Es wurde und gerade in jüngfter Zeit, auch bei den clafftichen 
Vorftellimgen im Königl. Schaufpielhaufe, Hinlängliche Gelegenheit geboten, dieſe 
Ichädigenden Wirkungen des Zwiſchenactsvorhangs zu beobachten. So ift ed 3. ®. in 
den erften Acten des „Kaufmann von Venedig” geradezu unleidlich, bei dem häufigen 
Wechſel der Scene, nach oft ganz kurzen Auftritten, den jchnellen und leichten Gang 
der Handlung durch diefen ftet3 fich dazwiſchen drängenden Vorhang gehemmt u 
iehen. Der fallende Vorhang trennt die Scenen ebenfo wie der Vorhang bei den 
Actichlüffen,, gleichviel, wa8 für eine farbe der Vorhang hat. Diefe Trennung der 
Scenen wird aber um fo jchlimmer, jemehr diefe Vorrichtung dazu verleitet, für bie 
nächftfolgende Scene die decorative Veränderung der Bühne zu compliciren. Dies 
wurde uns bei den Borftellungen der Meininger Gäfte — auch bei den Aufführungen 
der „Herrmannsſchlacht“ und des „Fiesco“ — nachdrücklichſt demonftrirt; denn die 
Zwifchenpaufen, welche die Scenen trennen, geriethen oft ebenfo lang wie die Act 
Theilungspaufen. Dadurch fallen aber die einzelnen Theile des Drama’d um jo mehr 
andeinander und das Schluß-Refultat ift, daß die Jllufion, welche ınan zu wahren 
glaubt, dadurch erjt recht geichädigt wird. Die Paufen zwiichen den Scenen geitatten 
dem Zufchauer noch mehr, fich während der Vorjtellung von dem Gegenftand des 
Drama’d abzuwenden, und wenn nach der Scenenpaufe der Vorhang wieder in bie 
Höhe geht, Hat man fich eiligft wieder in die Stimmung zu verfeßen, welche die Dich- 
tung in uns erregt hat und welche die Theilungspaufen ftören. Diefe Vorhangs- 
frage fteht, wie man fieht, mit dem Ausftattungsprincip in jehr innigem Zufammen- 
bange. Man wird aber aus den hier gemachten Andeutungen erfennen, daß die 
Frage Feine blos theoretifche ift, fondern daß bie unmittelbaren Wirkungen davon 
abhängen. 

Daß die Einfachheit der altengliihen Bühne, auf welcher die Schauluft der 
Menge nicht durch Decorationen befriedigt wurde, wo einyig und allein die Tichtung 
und ihre Verkörperung duch den Schaufpieler die Eindrücke bewirkte, wo endlich fein 
Borhang das Stück in lauter einzelne Bilder theilte, indem der Vorhang nicht einmal 
bei den Actſchlüſſen fiel, welche nur dadurch markirt wurden, daß die Bühne wenige 

10* 





148 Deutiche Rundſchau. 


Minuten leer blieb, — daß diefe Einfachheit der Shakeſpeare'ſchen Bühne, welche 
heute jo viel bejpöttelt wird, nicht nur dem fünftlerifchen Zwede der dramatiſchen 
Darftellung viel angemeffener war als unfere moderne Decorationsbühne, wird an 
jedem beliebigen Shafejpeareihen Drama leicht nachzuweiſen fein. Die Neutralität 
des Schauplaßes, welche 3. B. in den Meininger Aufführungen von Shalejpeare’3 
„Bas ihr wollt“ durch ein finnreiches fcenifches Arrangement annähernd erreicht 
wurde, bot ja auch dem Dichter enorme Vortheile, indem er auf ſolchem Boden den 
Zufchauer viel Leichter über die Beichränkungen von Ort und Zeit hinmwegführte, 

Das Theater und das Drama ift nun freilich ein anderes geworden und wir 
müfjen Beides, wie es ift, mit einander in Einklang zu erhalten juchen. Wir werden 
aber bei alledem, jo lange von dramatifcher „Kunſt“ die Rede fein fann, den Schwer 
punkt derjelben in der Dihtung und in der künjtleriichen Thätigkeit des Schau— 
fpielers zu erkennen haben. Die äjthetilche Kritik wird freilich in folchen Fällen, 
wo fich’8 nicht um Einzelheiten, fondern um eine ganze Richtung handelt, mit ihren 
Einwendungen wenig ausrichten fünnen; denn bei einer jolchen Erjcheinung pflegen 
mehrere Factoren zufammen zu wirken, denen gegenüber principielle Bedenken macht: 
[08 find. 

Aber auch mit Beziehung auf die Meininger Aufführungen möchte ich noch- 
mals darauf zurüdtommen, daß troß aller Hier erhobenen Bedenken dem vielen wirk— 
lich Bedeutenden in dieſen intereffanten Darftellungen fein Werth und die ihm zu— 
fommende jreubige Anerkennung nicht geſchmälert werden ſoll. 

Auch der „Kaufmann von Venedig“, den man erft gegen das Ende bes 
diesjährigen Gaftjpield brachte, bot wieder in den jcenifchen Arrangements viel außer- 
ordentlich Schönes und Sinnreiched. So war dad Stimmungsbild gleich im Anfang 
des Stückes von wahrhaft poetiichem Zauber, wenn es auch fraglich fein mag, ob 
die Melancholie, die doch nur das Gemüth Antonio’ beherrfchen joll, uns aus dem 
ganzen Bilde, das wir bier dor Augen Haben, entgegenwehen dürfe. Dieje jo 
überaus jarbenreiche Komödie, mit ihrem lebhaften und anziehenden Wechſel echt 
dramatiicher Spannung und heiter märchenhafter Elemente, reizt bejonders dazu, für 
die theatralifche Darftellung alle Mittel, die der Bühne zu Gebote ftehen, in Scene 
zu ſetzen. Die Meininger Regie machte denn auch von diefen Mitteln im volliten 
Umfange Gebrauch, ohne daß irgendwie die Grenzen dabei überjchritten wurden. So 
vollftommen auch nach diefer Seite hin die gehegten Erwartungen erfüllt wurden, jo 
blieb allerdings Hinfichtlich der Schaufpielerifchen Leitungen Vieles zu wünjchen übrig. 
Porzia (Frau Mofer) bemühte fich merklich, den diefer reizenden Geftalt zukommen— 
den Ton jchalkhafter Grazie zu finden, aber es gelang ihr die nur jelten. In den 
Momenten jtärkerer Affecte zeigte fich die nach diefer Seite Hin jchöne Begabung 
der Frau Moſer; doch fehlte der Darftellung durchgehende die überlegene geiftige 
Hoheit; fie ftand in diefer Beziehung auf gleicher Stufe mit Nerijfa, die übrigens 
von Fräulein Pauli allerliebft gefpielt wurde. — Herr Weilenbef brachte ala 
Shylod ausſchließlich die finjtere Seite des Bildes zur Geltung und fteigerte, von 
diejem Grundzuge ausgehend, den Charakter bis zum Heroifchen. In dieſer Auffaffung 
war die Leiftung des tüchtigen Künftlers eine durchaus fertige. Wenn uns aber das 
Geſchick dieſes mittelalterlichen Juden nicht auf's tieffte verſtimmen ſoll, fo ift & 
durchaus unerläßlich, daß die individuelle Häßlichkeit diejes Charakters zum 
volliten Ausdrud fommt. Auch die fchneidende Ironie, der beikende Wit, der ja jo 
glänzend jelbft aus dem Haß und Rachedurſt diejes ungewöhnlichen Charakters hervor« 
blitzt, fehlte in dieſer Darftellung faft ganz, und demgemäß war auch dad Tempo 
durchgängig zu jchwer genommen. Daß diefem Menjchen von jeinen chriftlichen 
Gegnern übel mitgeipielt wird, bat ja allerdings der Dichter wiederholt in bedeut- 
famen Zügen durchſchimmern Lafjen; aber tragijch darf und darum doch nicht fein 
Untergang ergreifen, ſonſt ift es um die ganze Komödie gejchehen. Grit wenige 
Tage zuvor Hatte an einem der KHlaffiker-Abende im Königl. Schaufpiel Theodor 
Döring den Shylod geipielt, und erfreute ganz beſonders wieder dadurch, dab er 


Das Gaftipiel d. Meininger u. die Hlaffiterborftellungen im 8. Schaufpielhaufe zu Berlin. 149 


das Genrehafte des Bildes, im Gegenfaß zum hiſtoriſchen Gemälde, jo richtig in 
Ton und Geberde fejtzuhalten weiß. Dadurch bleibt auch in der Gerichtäfcene der 
Ernſt der Komödie in den richtigen Grenzen; während in ber Meininger Aufführung 
Shylod und alle Andern den beften Willen Haben, das Blut der Zuhörer erjtarren 
zu machen. Namentlic) wäre in bdiefer Scene allen Freunden Antonio’3 jehr zu 
rathen, in ihren fortwährenden mimifchen Zeichen ungeheuerften Schmerzes etwas 
maßboller zu fein. Ueberhaupt wurde bei den meijten Darſtellern der männlichen 
Rollen — ganz abgejehen von den oft jehr wunderlichen und unmotivirten Betonun- 
gen — die Rebe durchweg mit viel zu jchweren Accenten ausgeſtattet. 

Das Arrangement der Scene bei der Käſtchenwahl verdient ala ganz be 
Tonders fchön hervorgehoben zu werden. Das anmuthige Bild der um Porzia grup- 
pirten Frauen, die Aufftellung der drei Käftchen in dem üppigen Blumenrahmen, 
die Auftritte der drei Freier mit ihrer Begleitung — das Alles wirkte jo ftimmungs- 
voll zufammen, daß man fich ganz in ein Märchen aus „Taufend und Eine Nacht“ 
verjegt fühlte Ebenſo vortrefflih war die Scene der Entführung Jeſſica's ein- 
gekleidet, nur durch ganz discrete Andeutungen des Maskenſcherzes, die aber gerade 
beöwegen ben beablichtigten Eindrud machten. Ebenſo vortrefflich) war das Arrange- 
ment der Gerichtöfcene, don durchaus jelbjtändiger Erfindung, zwedmäßig für alle 
Mitwirkenden und dabei von maleriiher Schönheit. 

Im Ganzen möchte ich, was finnreiche und geichmadvolle Infcenirung betrifft, 
ber Aufführung diefer Komödie neben Allem, was die Meininger Regie jonft geleiftet 
bat, den Preis zuerfennen. So wenig ic) auch mit meinen Bedenken gegen Manches, 
was mir über die Grenze des Statthaften hinauszugehen jchien, zurüdgehalten habe, 
fo wenig ich auch geneigt bin, die Richtung im Ganzen und in allen Theilen als 
muftergültig für die Zukunft des deutjchen Theaters zu erkennen, jo muß doch diefe 
ganze Erfcheinung der Meininger Aufführungen als eine in hohem Grade interefjante 
Specialität bezeichnet werden. Auch Haben diefe Aufführungen für die wichtigften 
Fragen der Kunft jo lebhafte umd ganz neue Anregungen gegeben, daß ſchon in 
dieſer Beziehung das Verdienſt ein unbeftreitbares und großes ift. 

In der Borftellung des „Kaufmann von Venedig” wirkte Herr Barnay 
mit, und zwar in ber epifodiichen, aber jehr.anziehenden und auf's trefflichite zur 
Geltung gebrachten Rolle des Prinzen von Marokko. Herr Barnay, welcher bei der 
früheren Anwejenheit der Meininger Gejellichait einen bedeutenden Antheil an den 
Erfolgen derjelben hatte, trat auch diesmal, wenngleich erjt gegen den Schluß der 
Saifon, an mehreren Abenden auf, ala Fiesco (in welcher Rolle er den ganz bejon= 
ders ſtark in Anipruch genommenen Herrn Nesper ablöfte) und ala Marc Anton. 
Heren Barnay’3 Darftellungen laſſen oft ein etwas ſtärkeres Maß von Leidenjchaft- 
lichkeit und Feuer wünſchen. Aber die fchönen Mittel, mit denen ihn die Natur 
außgeftattet hat, und der wahrhaft künſtleriſche Ernft, den wir in allen Leiftungen 
dieſes Darftellers in wohlthuenditer Weife empfinden, laſſen e8 doch jehr bedauern, 
dab eine jo beachtenämwerthe künſtleriſche Kraft nur in einer derartigen ausnahms— 
weifen Stellung in Berlin zur Geltung kommt. 

Die Fluth der Gaftjpiele hat feit diefem Frühjahr an den verjchiedenen 
Berliner Theatern wieder eine ungewöhnliche Höhe erreiht. Manche der Gäfte, wie 
Herr Barnay, der zuerft längere Zeit am National-Theater wirkte, richteten fich 
häuslich ein, während Andere nicht viel weiter famen, als bis zur Abgabe der Bifiten- 
farte. Leider fonnte auch das längere Gaftipiel des Herin Robert am Stadttheater 
und nicht viel freude gewähren, da dieje einft jo große Hoffnungen erregende jchöne 
jugendliche Kraft in troden Elügelnder Speculation erjchlafft if. Andere Gajtipiele 
jtehen für diefen Sommer noch in Ausficht; Wien ift dabei wieder ſtark vertreten, 
und ganz befonders wird Lewinsky's Gaftipiel auı Wallner-Theater und reinen künſt— 
leriichen Gewinn bringen. 

Immer mehr in Mode fommen die Mafjengaftipiele, und zwar diejenigen 
im eigentlichen Sinne des Worts umd in Unterjcheidung von den uns jchon jeit 


150 Deutſche Rundſchau. 


Jahren bekannten bloßen Gruppengaſtſpielen. Bei den Maſſengaſtſpielen voll— 
ſtändiger Theaterperſonale wird die geſchäftliche Initiative den Bühnenmitgliedern 
abgenommen und von den betreffenden Directionen, denen ſie angehören, ſelbſt er— 
griffen. Man rechnet bei ſolchen Unternehmungen — und nicht ohne Grund — auf 
die bei jedem Publicum vorhandene Neigung nach Abwechſelung. Schon im vorigen 
Sommer war dem erften Erjcheinen der Meininger Gäfte das Gaſtſpiel der Garl- 
Schulze'ſchen Gejellichaft aus Hamburg mit ihren vortrefflichen plattdeutichen Dar- 
ftellungen gefolgt. Während der diesjährigen Meininger Saifon in dem Winterlocal 
der Friedrich-Wilhelmftadt war Anfangs Mai die jtehende Gejellichaft diejes Theaters 
mit ihrem für ein gewifles Operettengenre mufterhaften Enjemble auf ein paar 
Wochen nach Dresden übergefiedelt. Dagegen wurde das Berliner Publicum einige 
Zeit darnach mit dem Gejammtperjonal eines Dresdener Theaters befannt ge= 
macht, indem die Direction des dortigen Nejidenz- Theaters fih im Hiefigen 
Refidenz-Theater einquartirte. Die Jdee war feine ganz glüdliche, denn gerade das— 
jenige Genre, welches das Repertoire des Herrn Hugo Müller hauptiächlich ausfüllt, 
ift bisher auch von dem Berliner Refidenz-Theater mit Sorgfalt, und in mehreren 
Fällen mit großem Glück, cultivirt worden. Eine bejondere Anziehungskraft konnte 
daher die Hugo Müller'ſche Gejellichaft nicht ausüben, obwol fie jehr rejpectable 
fünftlerifche Kräfte aufzuweifen hat und dabei ſich durch ein fleißiges und lebendiges 
Zufammenfpiel auszeichnet. Bejonders gewährte die Vorjtellung von Sardou's jaty- 
rifceher Komödie „Rabagas“ die volljte Beiriedigung. Auch in unjerem Königl. 
Hoftheater jehlten die üblichen Frühlingsgäfte nicht. Hier aber haben die Gaſt— 
jpiele einen wejentlich anderen Zwed, als bei den übrigen Bühnen, indem es dabei 
nur auf Probeleiftungen ankommt, aus denen fich die Dualificirung der Gandidaten 
für den Perfonalverband der Hoftheater ergeben fol. Aber auch dieſem Verſuchs— 
felde jcheint die Trodenheit des diesjährigen Frühlings nicht günftig gewejen zu fein. 

Dagegen hat die Intendanz der Königl. Hoftheater vor dem Ende der Saifon 
eine neue Einrichtung in's Leben gerufen, mit der man fich nicht allein um die 
fünftlerifchen Intereffen des Publicums jehr verdient gemacht hat, ſondern welche auch 
glüdlicherweife vom glänzendften Erfolge gekrönt war. Es find dies die Aufführun— 
gen Elaffifher Stüde zu ermäßigten Preijen. Man hatte das Unter: 
nehmen, wie es fchien, mit einiger Schüchternheit begonnen, und es konnte wirklich 
jehr fraglich fein, ob im folcher Jahreszeit das Publicum ſich daran in jo vollem 
Maße betheiligen werde, wie es — ohne erheblichen financiellen Schaden für das 
Theater — nöthig war. Aber der an allen diejen Abenden herrichende enorme An— 
drang des Publicums Hatte jchnell bewirkt, daß dieſe Vorftellungen immer dichter fich 
aneinander jchloffen, daß man auch die Oper an diejer glüdlichen Epoche theilnehmen 
ließ, und daß endlich die Parole „ermäßigte Preife” ganz und gar die Herrichaft 
gewann. Auf diefe Weile ift man in diejen letzten Fünf Wochen bis zum Schluß 
der Saifon auf die rejpectable Zahl von dreiundvierzig Klaſſikervorſtellungen 
zu ermäßigten Preifen gelangt, die Opernvorftellungen mit eingejchloffen. Der große 
Andrang zu allen diefen Abenden war nicht nur erfreulich, jondern auch jehr lehr— 
reich, da er zeigte, welchen großen Kreifen der Bevölkerung der Beſuch guter Theater 
durch die immer geiteigerten Gintvittöpreife allmälig verleidet worden if. So war 
denn auch die Phyfiognomie des Publicums an diefen Abenden eine ganz neue und 
intereffante. Im eriten Range ſah man weder glänzende Uniformen, noch die auf- 
fallenden Toiletten gelangweilter Damen. Somwol die eigentliche Ariftofratie trat 
zurück, wie auch derjenige Theil des Publicums, welcher in Folge leichten und 
ichnellen Geldgewinnes bejondere Neigung fühlt, fich mit der Ariftofratie zu vermifchen. 
An Stelle jener Elemente jah man die compacte Maffe des fleißigen und für geiftige 
Erfriſchung lebhaft empfänglichen Mittelitandes, den arbeitiamen Bürger und Ge— 
ſchäftsmann, jowie die Vertreter des Lehrftandes in allen Abftufungen. E3 war in 
der That ein neues Publicum, vor welchem unfere Hoffchaufpieler auch eine Art von 
Maflengaftjpiel gaben, ohne daß fie deshalb den Boden ihrer Thätigkeit zu wechjeln 


Das Gaftipiel d. Meininger u. die Haffikervorftellungen im K. Schaufpielhanfe zu Berlin. 151 


brauchten. Der Bortheil war auch für die Schaufpieler ein großer, denn fie erhielten 
durch das angeregte und rücdhaltlos fich äußernde Publicum für fich ſelbſt neue Ein- 
drüde und frifche Anregungen. Ganz bejonders rühmend muß e3 anerkannt werden, 
daß die Theaterintendanz bei diefem Unternehmen über den Preis nicht ängstlich 
vechnete, jondern mit vollen Händen gab, indem die Eintrittspreife um mehr als 
die Hälfte herabgejegt waren. In dem Repertoire war Shakeſpeare dominirend, 
aber er war hauptjächlich in der Komödie vertreten; denn neben Diel Lärm um 
Nichte, Was ihr wollt, Widerjpänftige, Sommernachtstraum und Kaufmann von 
Venedig kamen nur zwei feiner tragiichen Schöpfungen vor: Richard III. und Romeo 
und Julie. Bon Luftipielen anderer Nationen erhielten Zutritt: Moreto’3 Donna 
Diana - und Scribe3 Glas Waſſer. Bon deutichen Dichtungen endlich find zu 
verzeichnen: Die Herrmannsſchlacht, Maria Stuart, Nathan der Weile, Götz von 
Berlihingen, Taſſo und Yauft. Zu mwünfchen wäre, daß künftig gerade bei diejen 
Borftellungen Schiller etwas reichlicher vertreten wäre, derjenige dramatijche Dich- 
ter, der doch immer noch dem Herzen unferer Nation am nächiten jteht, und ber 
gerade für das klaſſiſche Repertoire mit der größten Sorgfalt confervirt werden müßte. 
Leider kann dabei nicht verjchwiegen werden, daß die augenblidliche mangelhafte 
Bejegung mehrerer wichtigen Fächer im Schaufpiel einige der Schiller’fchen Dramen 
vom Repertoire geradezu ausſchließt. Diefe Situation kann aber die erfte Bühne 
der Hauptitadt des deutfchen Reiches unmöglich noch lange fortdauern laffen. Daß 
der Geſchmack des großen Publicums für das höhere Drama feineswegs geringer ge— 
worden ift, haben im Königl. Hoftheater die bedeutenden Erfolge der mit dem 
12. Juni an ihrem Ende angelangten Saifon hinlänglich bewiejen. 
Rudolph Gense. 


Politische Rundſchan. 


un 





Berlin, den 15. Juni. 


Die Mahn- und Wedrufe, welche im Laufe der letzten Wochen, ohne Zweifel 
zunächit von injpirirter Seite ausgehend, dem deutſchen Volke die Möglichkeit nahe 
legten, daß es vielleicht jchneller, ala es bisher bejorgt Hatte, feinen friedlichen Stre— 
bungen entriffen werden fönne, waren als folche keineswegs unberechtigt. Dem regie- 
renden Frankreich, dem, wie man nur zu wohl mußte, eine jefuitifche Gamarilla zur 
Seite ftand — wenn anders diefe Bezeichnung aus den Zeiten des abjoluten Staates 
auf die republifaniichen Verhältnifje an der Seine angewendet werden darf — dem 
regierenden Frankreich mußte ein Wink gegeben werden, der ihm Klar mache, wohin 
es jteuere, wenn e8 dieſer mehr römischen, als franzöfifchen Neben-Regierung geftatte, 
ihren Einfluß in der bisherigen Weile zur Geltung zu bringen. In Frankreich, wie 
im Batican, trug man fich ziemlich offen mit der Idee, das Einvernehmen der drei 
nordiichen Mächte zu jprengen, demfelben womöglich eine ultramontane Liga entge- 
genzuftellen. Mit der leicht erhihbaren jüdlichen Phantafie, von Leuten noch dazu, 
die Alles zu gewinnen, faum etwas zu verlieren hatten, beraufchte man fich an po= 
litifchen Truggebilden und war in feinem Ueberſchwang nur zu gewiß, Gonftellatio- 
nen im günftigjten Sinne für diefe Pläne aufzufaffen, die alles Andere eher, als eine 
derartige Auslegung vertrugen. Hier alfo galt e& für den deutjchen Staatsmann, 
welcher den Frieden wollte und dem Alles darauf ankam, die Entwidelungs-Ar- 
beit des deutjchen Reiches durch fein plumpes Ungefähr durchkreuzt zu ſehen, reinen 
Tiſch und reine Verhältniffe zu ſchaffen. So patriotifch und wohl concipirt dieſer 
Plan indeß auch fein mochte, man bedurfte in der Wilhelmftrafe auch untergeord» 
neter Geifter, von denen jeder an feinem Theile in der auszuführenden diplomatifchen 
Schadhpartie mitzuwirken Hatte. In diefem Detail nun kam der Wille und die 
Abficht des leitenden Staatömannes nicht immer rein und unverfälſcht zum Ausdrud. 
Da, wo anderswo vielleicht eine zu gelegener Zeit eingebrachte parlamentariiche In— 
terpellation genügt hätte, um die nöthige Einficht zu erzeugen, mußte man fid — 
der Reichstag war nicht mehr verfammelt — mit den Schleichwegen begnügen, welche 
ber officiöfen Preffe zur Verfügung ftanden. Die Kräfte derjelben waren indeß ber 
großen Aufgabe nicht gewachſen. Da, wo ihr die Rolle einer Warnerin und Bera- 
therin der Öffentlichen Meinung zugewiefen war, gefielen fich einzelne ihrer Organe 
darin, diefen Auftrag tragifch zu nehmen, und als den mahnenden Prophezeihungen 
nicht überall bereitwillig Glauben geſchenkt wurde, meinten die doch auch nur bruch— 
ſtücksweiſe Eingeweihten, daß es ihnen zieme, einen kriegeriſchen Ton anzufchlagen, 
damit ihren Worten eine erhöhte Beachtung zu Theil werde. So kam die Reiche- 
politif in den ungerechtfertigten Verdacht, Eriegerifche Ziele zu verfolgen, und ihre 
Gegner verſtanden vortrefflich, aus diefer begangenen Ungefchidlichkeit entiprechenden 
Nutzen zu ziehen, { 


a 


Politifche Rundſchau. 153 


Während man alfo in Berlin nichts als ein Warnungsfignal zu geben im 
Sinne hatte, während man an leitender Stelle jchwerlich an etwas Anderes dachte, 
als eine allgemeine europäifche Pulsfühlung vorzunehmen, deren Ergebniß 
raſch mit allen den Illuſionen aufräumen follte, in denen die Gegner Deutichlands, 
im Borgenuß künftigen Triumphes, fich wiegten, während all’ dem glaubte man fich 
in Folge einer ungeſchickten Preßcampagne im franzöfiichen Minifterium des Aeußern 
berechtigt, die angeblichen Anjchläge den Gabinetten Europa’3 zu denunciren, mit de— 
nen die deutfche Staatskunſt gegen das wehrloje Frankreich ſchwanger ginge. Es 
war auch bier wieder die jo virtuos dom Herzog Decazes gehandhabte Tactik, fich 
als das unjchuldige Lamm hinzuftellen, das der gierige Wolf anfchuldige, ihm das 
MWäfferlein zu trüben, damit er einen befferen Borwand habe, über das nichtsahnende 
Geichöpf Herzufallen. 

Herzog Decazed war in diefem Bemühen nicht ohne Verbündete. In London 
wie in St. Peteräburg gab es Regionen, welche den deutichen Reichslanzler der 
Ichwärzeften Pläne gegen die Ruhe Europa’s für fähig Hielten oder die ſich doch den 
Anſchein gaben, zu glauben, Fürft Bismard ftehe auf dem Punkte, vor dem Andrän- 
gen einer imaginären Militärpartei die Segel zu freichen. Diefe Regionen waren, 
obwol fie in beiden Hauptftädten nicht zu den regierenden gehören, darum nicht 
weniger einflußreich. Allein während man in St. Peteräburg die Denunciation 
mehr ala eine Art von Guriofität behandelte, der man allerhöchjitens den Werth 
eine? Symptoms zugeftehen könne, war man in London günftiger disponirt, um bie 
Seufzer und Wehllagen, die von jenfeits des Kanals herübertönten, für wahre Em- 
pfindung und für wohl begründet zu erachten. Die ruffifche Hegierung konnte jagen: 
„Wir fennen den friedlichen Sinn des deutjchen Kaiſers und feines Kanzlers zu gut, 
um alles das aufs Wort zu glauben, was ihr ihm unterichiebt; obwol wir die 
Weberhaftung, mit welcher Ihr Eure Reorganijations-Rüftungen betreibt, einigerma- 
ben für übertrieben finden, jo daß fie jelbit dem friedliebenden Deutichland Anlaß 
zur Beunruhigung geben können; allein, wenn Euch ein jo großer Gefallen damit 
geichieht, jo können wir uns auch in Berlin erfundigen, wie man dort über Euer 
Berhalten denkt.“ In diefen Zeitpunkt etwa fiel die Nüdreife des Grafen Schuwa— 
low, des ruffifchen Botſchafters in London auf feinen Poften, und diefer Bertrauens- 
mann Kaiſer Alerander’& II. konnte denn auch, während er Berlin paffirte, die fried- 
lichften Dispofitionen der maßgebenden Perfönlichkeiten des deutſchen Reiches ohne 
beiondere Mühe conjtaticen. Die franzöfiiche Unterftellung, die fich mittlerweile aus 
den Reihen der Diplomatie auch in die öffentliche Discuffion der Preſſe gewagt hatte, 
„pöchait par la base.“ Dean war mithin vollftändig im Klaren über Alles, was 
zu fürchten oder zu hoffen war, ala Kaiſer Alerander in Begleitung des Fürften 
Gortichafow feine jährliche Reife nach Deutichland antrat und bei diefem Anlaß dem 
Hofe feines jo hoch verehrten Cheims einen Beſuch abitattete. 

Während jedoch der ruffische Kanzler in einer gemeinverftändlichen, „in claris‘* 
abgefaßten, von Berlin datirten Depeihe an die ruffiichen diplomatijchen Agenten 
im Auslande die Thatfache conjtatirte, daß fein Faiferlicher Herr in der deutichen 
Reichshauptſtadt die friedlichften Geftinnungen vorgefunden, war eine geichäftige 
Prebliga bemüht, den Zufammenhang der Dinge in anderem Lichte darzuftellen. Da 
galt e8 vor Allem, Kaifer Alerander als den Friedensfürſten Europa's willlommen 
zu beißen. Ihm war die Bändigung der wilden preußifchen Kriegsluft zugufchreiben 
und hoch anzurechnen. Seinem quos ego! hatte es Guropa zu danfen, daß die 
Sriegäpartei am deutjchen Hofe Klein beigeben mußte. Alerander war als Schieds- 
richter Europa’s aufgetreten, und Frankreich trug ihm jubelnd Dankeshymnen entge- 
gen, deren maßlofe Uebertreibung einen weniger ſchlichten und minder gefefteten Cha- 
ralter, als den des Gzaren,, leicht hätten in Selbftüberhebung verfallen laſſen können. 
Sich auf allen Strafen ala den friedenftiftenden Herm Europa's anfingen zu hören, 
jegt eine jeltene Seelengröße voraus, foll man nicht fchließlich jelbft an die Miffion 
glauben, von der fich ein jo großer Theil der gedrudten öffentlichen Meinung voll» 


154 Deutſche Rundichau. 


fommen überzeugt erweift. Dennoch war der Verfuch, auf diefe Weife Eindrud auf 
das Gemüth Alerander’3 II. zu machen, gleichzeitig aber in Berlin eine Verftimmung 
gegen den angeblichen Dictator des Friedens wach zu rufen und jomit die Bafis der 
Drei⸗Kaiſer-Verſtändigung zu erichüttern, als durchaus gejcheitert zu betrachten. Das 
Berhältniß der beiden Monarchen zu einander-war ein freundjchaftlich zu innig ge- 
fejtetes, ala daß derartige Ausftreuungen irgend welche Macht über fie hätten ge- 
winnen mögen. Unter andern Umftänden wäre die franzöfiiche Tactik wol die rich- 
tige gewejen. Es mußte dem ruſſiſchen Stolze jchmeicheln, ſich als den Hort des 
europäischen FFriedenszuftandes in allen Zungen feiern zu hören. Es konnte in Ber— 
lin verjtimmend wirken, daß man der Peteröburger Staatskunſt jo befliffen einen 
Einfluß zuwies, den fie weit entfernt war in Anfpruch zu nehmen, gejchweige denn 
auszuüben, — aber alle diefe Elugen Berechnungen mußten an dem Umſtande 
jcheitern, den eben kleine Geifter nicht zu erfafien vermochten, daß die Gefühle, welche 
Alerander II. mit Wilhelm I. verknüpfen, über kleinliche Regungen jolcher Art 
„thurmhoch erhaben” find. 

Glücklicher war man jchlieklich in London, obwol die Erfolge, welche mit Hülfe 
der britiichen Staatsfunjt davon getragen wurden, jchwer zu claffificiren find. In 
der englischen Hauptjtadt war e8 namentlich ein Theil der katholifirenden Ariftofratie, 
welcher für die vorgeblich in Frankreich gehegten Bejorgniffe vor der Kriegsluſt 
Deutichlands empfänglichen Boden darbot. Es bleibe dahingeitellt, ob wirklich der 
Herzog von Norfolk, Schwager des engliichen Botſchafters in Paris, als der Haupt: 
mittelsmann anzujehen jei, welcher der franzöfiichen Anjchauungsweile in feinem 
Vaterlande Eingang und Cours verichaffte; genug, in England Ichien man es für 
ganz natürlich zu halten, wenn Deutichland ſich anfchicte, durch einen Vorbeugungs— 
frieg den Gefahren einer künftigen Revanche Frankreichs zuvorzukommen, noch ehe 
dafielbe fertig gerüftet daftehe. Der praftiichen Sinnesweile der Engländer mochte 
ein ſolches Verfahren einleuchten, das überdies eine gewille Verwandtichaft mit jener 
Art Politik verrieth, welche britifche Staatäfunft jelbjt wol gelegentlich in — In— 
dien zur Anwendung brachte. Anders ift es kaum möglich, die Xeichtfertigkeit 
piuchologifch zu erklären, mit welcher man auf engliihem Grund und Boden das 
franzöfiiche Hirngelpinnft für dafeinsberechtigt anjah. Nun fam es dem Tory— 
Minifterium darauf an, dem Vorwurf zu entgehen, welchen feine Mitglieder einft 
jelbft ihren Vorgängern im Amte, den Whigs, gemacht: fie hätten die alte Macht- 
jtellung Großbritanniens im Rathe der Nationen, ohne die geringfte Anjtrengung 
dagegen, vollftändig beeinträchtigen laſſen. Man glaubte der friedlichen Dispofitionen 
der anderen Gabinette ficher zu fein, und wurde jomit zur Annahme verführt, es 
laſſe fich auf diefem Wege mit leichter Mühe ein großer diplomatijcher Erfolg zu 
Gunjten des Friedens davontragen, deffen unfriegeriiche Lorbeern auch dem Zwei— 
felnden beweijen mußten, der britiiche Leopard habe noch Klauen und Krallen — 
wenn es die Toried feien, die über feine Kräfte verfügten. Allein die wohlaus— 
geflügelte Rechnung jollte für die Herren in Downingſtreet doch Enttäufchung im 
Gefolge Haben. Sie wandten fih zunächſt an die leitenden Staatämänner von 
Defterreih und Italien, jollen aber auch nicht verfchmäht haben, in Liffabon, Madrid, 
im Haag, Stodholm ꝛc. anzupochen, um mit einem möglichjt großen Gefolge fried- 
liebender Klienten in Berlin aufzutreten und als Führer gleichiam einer europätichen 
Friedensliga in der Wilhelmftraße deito willigere Gehör zu erlangen. Der Plan 
war ficherlich gut gemeint, allein er ftieß auf unvorhergefehene Hinderniffe, ala man 
ihn zunähft in Wien zur Annahme empfahl. 

Graf Andrajiy war nicht gemeint, den Herren Derby und Disraöli, welche 
über ihn verfügen zu können glaubten, ohne Weiteres Heeresfolge zu leiften. Er 
war überdies genau über das unterrichtet, wa8 man in Berlin wolle und nicht 
wolle. Seine Information über die Ziele der Bismard’ichen Politit ließ an 
Präcifion nichts zu wünjchen übrig, und als der englifche Botichafter, Sir A. Bus 
Hanan, ihn zur Theilnahme an der Friedenskundgebung einlud, die man infceniren 


Politiiche Rundſchau. 155 


wollte, konnte ihm der gemeinfame Minifter der auswärtigen Angelegenheiten 
Defterreich-Ungarns jagen, daß mit diefer Friedensvermittelung England in die Lage 
eine® Mannes geriethe, welcher die Herzhafteften Anftrengungen mache, um offene 
Thüren einzuftoßen. Mit einem Wort, Graf Andraffy weigerte fih, dem englifchen 
Beginnen, als einem gegenjtandslofen Unternehmen, auch nur den geringften Vor— 
ſchub zu leiften. Abgejehen von den freundjchaftlichen Gefinnungen, welche dieſe Ab— 
lehnung für Deutjchland befundete, lag darin noch eine ebenjo tiefe, als wahrhaft 
ftaatsmännijche Erwägung, die wol hervorgehoben zu werden verdient. Graf Andrafiy 
fagte fich, daß er dem europäifchen Frieden einem bei weiten größeren Dienft leiſte, 
wenn ex fich der Theilnahme an der englifchen Friedenskundgebung enthalte, als wenn 
er fih an derjelben betheilige. In der That, wenn Dejterreich-Ungarn im Verein 
mit England und anderen Staaten in Berlin erfchiene, um dort durch das Gewicht 
feines Wortes etwa vorhandene Kriegaftrömungen einzubämmen und niederzuhalten, 
jo mußte man diefen Schritt in Frankreich ald eine zu Gunften und im Intereſſe 
diejes letzteren Landes eingeleitete Action auffaſſen. Schaarte fich aljo nahezu ganz 
Europa um das britiiche Gabinet, formulixte e8 dem Fürſten Bismard Friedens— 
Boritellungen, deren Inbetrachtnahme man ihm octroyirte: jo lag darin ohne Zweifel 
der Keim, der Anfang einer antideutjchen Coalition Europa’; gerade ein 
Ziel, das man in Verſailles um fo emfiger erjtreben mußte, je ifolirter man fich bis 
dahin, jeit dem Frankfurter Frieden, in der europäifchen Staatenfamilie gefunden. 
Selbſt der Schatten einer ſolchen Coalition, wenn er überhaupt heraufbeſchworen 
wurde, mußte in Frankreich alle Revanche Hoffnungen über Nacht in die Halme 
Ichießen laffen, und wenn fich Europa auch nur zu einem bejtimmten Zwede gegen 
das deutjche Reich geeinigt Hatte, Konnte in Frankreich die Illuſion feſte Wurzel 
Taffen, daß von diefem Schritt bis zu einer wirklichen antideutfchen Goalition der 
Mächte fein weiter Weg mehr ſei. Hoffte man aber erſt auf eine Coalition, jo war 
damit auch das Ende des Triedenszuftandes gegeben; denn alle friedlichen Zufiche- 
rungen Frankreichs, feiner regierenden wie nicht regierenden Politifer, waren immer 
unter der ftillen Vorausſetzung ertheilt worden, daß fie nur jo lange Giltigfeit zu 
beiten brauchten, ala Frankreich fich Für einen neuen Kriegszug ohne Alliirten wife. 
Diejes Verhältniß zuerft erkannt zu haben, bleibt das unbeftrittene Verdienſt der 
weitblidenden Neutralität des Grafen Andraffy, und indem er mithin durch feine 
Nichtbetheiligung an der englifchen Vermittelung jede Goalitionshoffnung von vorn= 
berein tödtete, jchüßte er den Friedenszuſtand Europa's nachhaltiger und wirkjamer, 
ala wenn er mit Lord Derby nach Berlin „freundichaftliche Mahnungen“ gegen eine 
Kriegäluft gerichtet hätte, von deren Nichtvorhandenjein er ohnedies die bündigjten 
Beweiſe beſaß. 

Das Schickſal des engliſchen Vermittelungsvorſchlages in Berlin ſelbſt iſt bekannt. 
Man kann nicht kühler abgefertigt werden, als es den britiſchen Staatsmännern 
geſchah. Allein das Cabinet von St. James brauchte eine Gloriole um jeden 
Preis, und ſo ließ denn Graf Derby den Mächten nach kurzer Zeit erklären, er müſſe 
nach den ihm von Berlin aus gewordenen Aufklärungen den Frieden als geſichert 
betrachten; worauf freilich Graf Andraſſy nicht ohne ironiſche Wendung des Aus— 
druckes zu erwidern in der Lage war, das britiſche Cabinet habe damit nur eine 
Ueberzeugung gewonnen, in deren Beſitz man ſich in Wien ſchon lange vor dem Be— 
ginne der diplomatischen Action Englands befunden. Freilich hinderte diefe Abfertigung 
den englifchen Staatsfecretär des Auswärtigen nicht, fich in offener Oberhausfigung 
jelbft den größten Ruhm und Preis ob feiner gewaltigen Friedensthaten zuzuer— 
fennen, in deren Verlauf, wie er nicht hinzuzuſetzen verfehlte, die englifche Politik 
überdies keine Verbindlichkeit eingegangen war, welche derjelben für jet oder fünftig- 
bin irgendwie die Hände zu binden oder Verpflichtungen aufzuerlegen geeignet jei. 
Damit war denn die neuejte Phaſe großbritannischer Politik, „die Intervention durch 
die Nicht-Intervention” auf das Würdigſte inaugurirt. 

Daß namentlich in Frankreich diejes englifche Vorgehen, jo rejultatlos es im 


156 Deutſche Rundſchau. 


Grunde auch verlaufen war, beſondere Begeiſterung erwecken mußte, war ein ganz 
natürlicher Rückſchlag. Ebenſo leicht begreiflich aber erſcheint es, daß man dem 
Verhalten des Grafen Andraſſh, eben weil es in jo bezeichnender Weiſe jedem Ver— 
ſuch, die Dreikaiſer-Verſtändigung zu ſprengen, die Wege wies, keinen beſondern Ge— 
ſchmack abzugewinnen vermochte. In einem gewiſſen Kreiſe franzöſiſch-klerikaler Poli— 
tiker hatte man gerade auf Oeſterreich ſo große Hoffnungen gebaut, die man nun 
fämmtlich als Truggebilde zerrinnen ſah. Es ſollte dieſen Enthuſiaſten feine Art der 
Enttäuſchung erſpart werden. Nicht nur blieben die aufgepufften Vorgänge gegen 
den Infanten Don Alfonſo in Graz ohne die jo ſehnſüchtig erhoffte Rück— 
wirkung auf die innere Politit Cisleithaniens — und man hatte bereit? mehrfach 
dad „undermeidliche” Wieder-Einlenfen in feubal-ultramontane Bahnen esftomptirt, — 
fondern man mußte noch den Schmerz erleben, gerade den Dann fich rüdhaltlos der 
deutjchfreundlichen Politik, zu der fich Kaifer Franz Joſeph II. jeit drei Jahren befannte, 
anjchließen zu fehen, der im ihren Augen bisher ala der Hort des „wahren“ zu 
einer „antibismard’fchen” Allianz geneigten, hochtonfervativen und militärifchen 
Oeſterreicherthums gegolten hatte. Der Bejuch des Erzherzogs Albrecht, de 
bedeutenditen unter den Prinzen des Erzhauſes, bei den Kaifern von Rußland und 
Deutichland in YJugenheim und Ems, feine demonftrativ angefündigte Theilnahme 
an den bevorftehenden preußischen Herbſtmandvern in Schlefien mußten nad) diefer 
Richtung hin auch der legten Jllufion ein Ende machen. Der Erzherzog-Sieger, an und 
für fich feine gewöhnliche Ericheinung, war von jeher ala ein Mann aufgetreten, der 
aus jeinen perjönlichen Neigungen niemals ein Hehl machte. Aber er hatte aud) 
Selbftverleugnung genug bejeflen, um jeine „perjönliche Politik“ den Bedürfniffen des 
Staates anzupaflen, wie fie der Kaiſer, ala Chef des Hauſes und als Monarch, zum 
Wohle des Neiches zu befriedigen vorfchrieb. Die Rechnung alfo, welche auf eine 
frondirende, die gegenwärtige politifche Richtung untergrabende Thätigkeit des Feld— 
marjchall-Erzherzogd aufgebaut worden war, hatte ein Koch — man hatte fein patrio- 
tifches Pflichtgefühl außer Anfchlag gelaffen. Diejer Ernüchterung gegenüber war die 
platonifche Unterftübung, welche England gewährte, für die franzöftfchen Politiker, 
fo jehr man fich auch dankbar dafür zu erweifen ftrebte, doch nur von untergeord« 
netem Preis. Englands thatjächliche Actionsfähigkeit in Dingen, welche den Con— 
tinent betrafen, war erwiejenermaßen eine geringe, und jelbjt feinen guten Willen 
vorausgeſetzt, — der doch immer noch fragwürdig genug erichien, — Frankreich even- 
tuell mit Waffengewalt zu unterjtüßen: jo war der Grad feiner Leitungen von vorn— 
herein ein jo beichränkter, daß man bei den großen Truppenmajjen, mit denen die 
moderne Kriegführung zu operiren pflegt, ein englifches Hilfäheer faum ernſtlich in 
Betracht ziehen konnte, während die letzten Kriege die praftifche Wirkſamkeit der 
Kriegäflotten nicht eben in glänzendem Lichte Hatten erjcheinen laſſen. Als End» 
ergebniß des mit jo frohen Ausfichten in's Werk gejegten diplomatifch-publiciftischen 
Feldzuges fand fich denn nur die ziemlich betrübfame Gewißheit für Frankreich ein, 
daß ein Kriegsfall es noch auf längere Zeit hinaus europäijch ijolirt an- 
treffen würde, und jo ward es denn ein Gebot der Nothwendigfeit, jene friedfer- 
tigen Uebergeugungen, mit denen man jo fünftlerifch coquettirt und die man 
jo vortrefflich zur Schau zu tragen gewußt hatte, nun auch wirklich ernft zu 
nehmen und bie Erkenntniß diefer Nothiwendigfeit wiederum war ein Triumph, wie 
ihn die jriedebebürftige deutfche Staatäkunft nicht glängender, nicht ausgeſprochener 
wünfchen Eonnte. 

Damit bliebe denn auch für längere Zeit der Kriegsſpectakel von der zeitgenöffifchen 
Tagesordnung abgejeßt. Das deutiche Neich zunächit kann und ſoll darum auch in 
aller Ruhe ſich den Obliegenheiten hingeben, welche ihm der weitere Gang feiner 
inneren GEntwidelung vorfchreibt. Fürſt Bismard für feine Perſon mag jeht 
immerhin des „Urlaubes auf unbeftimmte Zeit“ genießen, den er jeit dem Februar d. J. 
erftrebt und den er fich beruhigten Gemüthes erſt geftatten durfte, nachdem er Rom 
und Frankreich gegenüber, durch den Ausbau der Kirchengeſetze und durch die Diplo» 


Politifche Rundichau. 157 


matifche Eindämmung jedes Vergeltungs- und Goalitionagelüftes, die nächſte Zukunft 
feiner Schöpfung vor allen unliebfamen Zufälligkeiten, joweit dies menschliche Vor— 
ausficht überhaupt vermag, geſchützt hatte. Wir betrachten es als ein Glüd, daß Nie- 
mand auf die dee verfiel, ihm neben den bewährten Kräften Delbrüd’s und 
Camphauſen's einen jpeciellen diplomatifchen Erfagmann zu geben, und fo fann 
es unter den heutigen Verhältniffen nahezu ohne Unzuträglichkeit gefchehen, wenn 
man dem bdiplomatifchen Ausſchuß des Bundesrathes für die auswärtigen Ange: 
legenheiten, der biß dahin ein arbeitsloſes Scheinleben friftete, für die Zeit der Ab- 
weſenheit des Kanzlers einen — tieferen Einblid in den Gang und die Ordnung der 
Geichäfte des deutſchen auswärtigen Amtes gejtattet. Seitdem im Uebrigen das 
preußiſche Herrenhaus Ja und Amen zu ben neuen firchenpolitifchen Geſetzen 
gejagt, ift auch auf diefer Seite ein Einbruch in das fefte Gefüge der Bismarck'ſchen 
Politik faum mehr zu beforgen. Die Duplif der preußiichen Biſchöfe auf das minifte 
rielle Schreiben, defjen Inhalt die Kirchenfürſten dreifacher Lügen beichuldigt hatte, 
war ein wirkungslos verpuffendes Zeitungsplaidoyer, in welchen die Prälaten fich 
in ihrer Weife, für Leute, die jolche Documente zu leſen verjtehen, dennoch eine 
Hinterthür zu jpäterer Verftändigung vorfihtig offen gehalten hatten. Die Reorgani- 
fation der inneren Verwaltung Preußens, wie fie die neue Provinzial-Ordnung 
anjtrebt, hatte fchon bei der Berathung im Abgeordnetenhaufe einige „Verbefjerungen“ 
in conjervativem Sinne erfahren müflen, die vielleicht vom Standpunkte der praftifchen 
Durchführbarkeit und im Intereffe altpreußifcheftrammer Diciplin wirklich „Verbeſſe— 
rungen“ fein mögen. Im Herrenhaufe jchien der Vater des Entwurfes, der Minifter 
des Inneren, Graf Eulenburg, ein directered Vorgehen in conjervativer Amen- 
dirung des Geſetzes nicht zu mißbilligen, und ein bei diefem Staatsmann fonft jelten 
zu Tage tretendes Schwanken ftellte für einen Augenblid das Schidjal der Provinzial- 
Ordnung in Frage. Glüdlicherweife blieb diesmal das Befjere oder das Freifinnigere 
nicht ohne Widerrede ein abgejagter Feind des Guten oder des Conjervativeren, und 
jo fonnte der „Heilige Compromiß“ abermals Triumphe feiern, welche Diejenigen 
hoffentlich nicht zu bereuen haben werden, die fich feiner Führung anbequemten. 
Der preußiiche Parlamentarismus insbejondere hatte den Berluft eines feiner 
bewährtejten Veteranen zu bedauern, der troß feine Kampfesmuthes jehr davon durch- 
drungen war, daß alles politiiche Leben jchließlich darauf angewiejen ift, fich dem 
Gejeh des Parallelogramma der Kräfte, d. 5. dem Compromiß, zu unterwerfen. Der 
Zod Georg dv. Vincke's, der allerdings fein „preußijcher Mirabeau”, aber immer- 
bin der fchlagiertigfte Debatter unjeres Parlamentarismus genannt werden durfte, 
bat in allen politijchen Kreifen wehmüthige Erinnerung wachgerufen. Binde’s Name 
ift ungertrennlich verknüpft mit den Geburtäwehen, die unjer VBerfaffungsftaat zu über- 
ftehen hatte, und wenn es ihm auch an Stetigkeit und fchöpferiicher Kraft gebrach, 
um von epochemachender Bedeutung für den politifchen Ausbau der conjtitutionellen 
Zuftände zu werden, jo hat er doch mehr als einmal dem Entwidelungsgange 
preußifch-deutfcher Verhältniffe den Stempel feines ehrenfejten Geiftes, feines uner- 
Ichütterlichen Rechtsgefühls aufgeprägt. Der Antheil, welchen er an der Anerkennung 
des Königreiches Italien durch Preußen gehabt, wird ihm unvergefien bleiben. 
Für altpreußiiche Gemüther mußte eine gewiſſe Poeſie des Contraſtes in dem 
Umftande liegen, daß gerade in dem Jahre, in welchem die zweihundertjährige Ge⸗ 
dächtnißfeier der Schlacht bei Fehrbellin begangen wird, ein König von 
Schweden zu freundſchaftlichem Beſuche in Berlin eintraf. Directe politiſche 
Zwecke wurden ſchwerlich mit dem Verweilen Oskar's II. am preußiſchen Hofe ver- 
folgt. Allein man darf immerhin einen Beweis darin erblicken, daß franzöſiſcher 
Geift und Franzöfiiche Gefinnung aufgehört haben, in Stodholm maßgebend zu fein, 
wie fie dort unter der Regierung Karl® XV. vorgewaltet hatten. Die Zeiten find 
borüber, in denen Schweden eine mächtige, in die Geſchichte Europa’3 eingreifende 
Rolle fpielte. Dan erjehnt auch die Rückkehr diefer Zeiten nirgend® minder eifrig, 
ala in Schweden jelbft. Sogar die Haffende Wunde, welche der Berluft Finnlands 


158 Deutſche Rundichau. 


im Jahre 1809 ſchwediſchem Selbftgefühl jchlug, ift nahezu verharricht, und die be- 
vorftehende Reife des Königs nach St. Peterdburg ift in dieſer Richtung politifch 
wol bebeutungsvoller als fein Erjcheinen in Berlin, welches viel weniger mit poli= 
tiichen Erwägungen, ala mit perjönlichen Neigungen des Monarchen in einem ur— 
jählihen Zujammenhange ftand. Dan hat es jeltfam finden wollen, daß Oskar II. 
jeinen Beſuch nicht auch auf Wien ausdehnte, und meinte, daß die Anwejenheit eines 
Prinzen Waja am öfterreichifchen Hofe den Enkel Bernadotte'8 vielleicht abgehalten 
habe, auch Kaifer Franz Joſeph zu begrüßen. Allein von diejer Erwägung kann 
ion um deswillen erntlich nicht die Rede fein, weil der König von Schweden an» 
ſtandslos bei dem jächfiichen Hofe in Dresden vorſprach, da doch die Gemahlin 
König Albert's eine geborene Prinzeffin Wafa if. Indeß auch Fürſten find den 
Factoren, welche die Welt regieren, Zeit und Geld, kaum minder unterworfen, als 
andere Menjchenkinder. 

Berfagte fich doch auch Kaiſer Franz Joſef von Defterreich, den feine 
jechawöchentliche dalmatinifche Reife nach jeder Richtung Hin angeftrengt hatte, einen 
bereit3 im Princip feſtgeſetzt geweſenen Ausflug nach Galizien und der Bulowina, 
welche Iettere den vor Hundert Jahren ohne Schwertftreich erfolgten Anſchluß an 
das öfterreichifche Staatsgebiet mit vieler Begeifterung feierte. Auch eine erneute 
Dreilaiferbegegnung, die von publiciftifcher Seite dem Monarchen angefonnen wurde, 
fonnte nicht als durch die Umftände geboten angefehen werden. Kurz nach feiner 
Rückkehr aus Dalmatien, wo die Anwejenheit des Souverains die nationalen Leiden- 
ſchaften mehr angefacht ala befchwichtigt zu haben jcheint, konnte Kaifer Franz Hofer 
der Eröffnung des großen Donaudurchſtichs beitvohnen, ein Rieſenwerk, das, nahezu 
dem Ganal von Guez vergleichbar, für Wien dereinft von wirthichaftlich weit— 


tragendfter Bedeutung zu werden veripridht. Die ölonomijche Krifis, von welcher ' 


das Land heimgefucht ift, jchiebt Freilich die erhofften glänzenden Wirkungen über 
Gebühr hinaus, und die überfchwänglichen Hoffnungen, welche man an die Vollendung 
der koſtſpieligen Donau-Regulirung geknüpft, werden länger, ala Wien und den 
Wienern lieb fein mag, ihre Erfüllung erharren laſſen. Dieje nationalötonomijche 
Mißlage des Reiches verleiht auch der hochgehenden jchußzöllnerifchen Bewegung in 
Defterreich ihre befondere Bedeutung. Schon jet darf als jeitjtehend angenommen 
werden, daß die Nachtragsconvention zum Zollvertrag mit England, vom Grafen 
Beuft im Jahre 1869 mehr aus politifchen, denn wirthichaftlichen Rüdfichten abge- 
ichloffen, gekündigt umd nicht erneuert werden wird. Gine mit Empfehlungen vom 
britiichen Foreign office reich ausgeftattete Deputation englifcher Induftrieller mußte 
in Wien dieje Erfahrung verzeichnen. Die Erneuerung des Handelabündnifjes zwifchen 
Defterreih und Ungarn, über welche die Eröffnung gemeinfamer Verhandlungen un— 
mittelbar bevorjteht, ift gleichfalls dazu angethan, wirthichaftliche Fragen und deren 
Erörterung in den Bordergrund zu ftellen. 

In Italien Haben inzwiichen parlamentarische Stürme eigenthümlicher Art 
geherrſcht. Die Lage einzelner Provinzen, namentlich der füdlichen, ift ſchon ſeit 
geraumer Zeit eine Quelle der Beforgniß für die aufrichtigen Vaterlandsfreunde. Ge- 
heime Gejellichaften, nicht felten zu verbrecheriichen Zwecken geftiftet, terrorifiren das 
platte Land und die Hleineren Städte. Die Maffia und die Camorra find zu einer 
Macht getvorden, der gegenüber die Majeftät des Gejehes hinfällig erjcheint. Ver— 
beſſerter Jugendunterricht, exleuchtete Volkserziehung können da erſt für fpätere Gene- 
rationen jegensreich wirten. Aber das Uebel heifcht fchnelle, eingreifende Heilmittel. 
Das Minifterium glaubte diejelben lediglich in der Rüſtkammer des abjoluten Polizei- 
ftaats finden zu können, und jo ward ein Gejehentwurf gezeitigt, der in jeiner all- 
gemeinen Faſſung die perfönlishe Freiheit ſelbſt in jenen Provinzen ſtark beichränfte, 
welche von dem Uebel bisher verichont geblieben. Diejer Umftand wedte eine jcharje 
Oppofition umd e8 kam zu den heftigjten Scenen im Parlament, welche den Begriff 
eines parlamentarifchen Verfahrens illuforisch machten. Indeffen fand man mit jener 


[U 


Politische Rundſchau. 159 


den Italienern eigenen praftifchen Klugheit jchließlich doch einen Ausweg, welcher 
den Leidenſchaften gejtattete, zu verrauchen, und es ift natürlich, daß das allzeitbereite 
Auskunftsmittel einer parlamentarifchen Unterfuhung auch diesmal dazu herhalten 
mußte — Zeit zu gewinnen. Unberührt von dieſen Vorgängen blieb Garibaldi 
lediglich auf feine Tiberregulivungspläne bejchränkt, und aus den Reihen feiner bis— 
herigen Gefinnungsgenofien, welche überall wenig Sinn haben für Thätigfeiten, die 
praftijche Ziele verfolgen, werden bereit? Klagen und Anklagen laut, die auch ben 
Mann von Gaprera daran erinnern müflen, daß ich dicht neben dem Capitol noch 
heut der tarpejifche Felfen befindet. » 

Gambetta Hat in Frankreich diefe Erfahrung noch nicht gemacht, obwol auch 
er zum Beſten eines feſt im Auge gehaltenen Zieles mehr Zugeftändniffe an bie 
Grundſätze feiner politiichen Gegner ſich abrang, als fich ſonſt mit dem Gewiſſen 
eine principientreuen Republifaner8 verträgt. Seine Haltung in der Frage der 
Freiheit des höheren Unterrichts, Lediglich durch den Wunſch beeinflußt, auf dieſem 
Mege eine Anzahl gutgläubige Katholiken, welche weder Legitimiften noch Kaiferliche 
find, mit der Republik ala Staatsform auszuföhnen, gab in diejer Beziehung einen 
deutlichen Fingerzeig, wie wenig er mehr als Parteimann auftritt und wie jehr er 
fih nur noch ala Staatsmann fühlt. Ob e8 auch möglich fein werde, eine ähnlich 
nachgiebige Tactik bei der großen Wahlgefegfrage zu beobachten, dürfte indeß zu be= 
zweifeln fein, denn jo gewiß ein republikaniſcher Sieg mit dem Liſtenſkrutinium als 
MWahlmodus in Ausficht fteht, jo fragwürdig erfcheint ein Erfolg bei Arrondiffements- 
wahlen, und hier einen Compromiß eingehen, hieße ohne Zweifel den Fortbeſtand 
der Republit muthwillig gefährden. 

In einem für die ganzen Vereinigten Staaten beftimmten, wiewol nur 
an die Republikaner von Pennfylvanien gerichteten Briefe hat Präfident Grant 
fich zum erjten Male über jeine perjönliche Stellung zur fommenden Präfidentenwahl 
vernehmen laſſen. Er hat in diefem wunberlichen Briefe erklärt, daß die Verfaſſung 
ein Verbot eines dritten Präfidentichaitsterming nicht enthalte, daß er jedoch nicht 
Gandidat für die Wiederwahl ſei und eine Wiederwahl nicht annehmen würde, wenn 
nicht Umftände eintreten würden, die ihm im Intereſſe des Landes dazu zwingen. 
Das heißt für den unbefangenen Leſer: Ich würde mich freuen, wenn Umftände 
eintreten würden, welche mich zur Annahme zwingen. Werden fie aber eintreten? 
Wird fich ein Krieg heraufbeſchwören laſſen? Doch nur mit Spanien; denn zu irgend 
welchen Befürchtungen im Innern find feine Gründe vorhanden. Selbſt Jefferfon 
Davis hat vor wenigen Wochen in einer in Teras gehaltenen Anſprache an ehemalige 
Rebellenfoldaten denjelben gerathen, nun treu zur Sahne der Union zu ftehen. Wenn 
auch ohne politifche Bedeutung, jo find diefe Worte doch bemerfenswertd ala ein 
Zeichen, welch’ ein Umſchwung ſich in den Anfichten auch der fanatifchiten Führer 
der Seceffion vollzogen hat. Und nicht nur durch diefe Worte, auch durch ein an— 
deres trauriged Ereigniß find die büfteren Tage des Krieges wieder heraufbeſchworen. 
Frau Mary Lincoln, die Wittwe des unvergeklichen Abraham Lincoln, ift von dem 
Kreisgeriht in Chicago einer Irrenanſtalt als unheilbar überwiejen worden. In 
derjelben Nacht, in welcher ihr Gatte unter der Hand des Meuchelmörders fiel, um— 
nachtete fich ihr Geift. 

Der Mangel einer einheitlichen verftändigen Forſtverwaltung in Amerifa macht fich 
durch das unglaublich fchnelle Verschwinden der Wälder bemerflih. Was nicht gefällt 
wird, das geht durch Waldbrände verloren. So fieht man fich den in den Ber. 
Staaten immer heißer werdenden Sommern und immer fälter werdenden Wintern 
gegenüber. — Die katholifche Kirche hatte Gelegenheit, einen Bruchtheil ihrer wohl- 
disciplinirten Macht bei Gelegenheit des Convents des „römiſch-katholiſchen 
Unterftüßungsvereins“ zu zeigen. Es waren mehr als dreihundert Vereine mit 
25,000 Mitgliedern vertreten. Daß bei den Reden manch unerfreuliches Wort über 
unfern „Marc Trebonius“ fiel, ift felbftverftändlihd. — Einen weit erfreulicheren 
Eindrud machte das wenige Tage zuvor ebenfall3 in Gincinnati ftattgehabte Muſik— 


160 Deutiche Rundſchau. 


feft unter der Leitung von Theodor Thomas. Achthundert Sänger und ein Orchefter 
von 100 Mann führten klaſſiſche Programme in trefflicher Weile aus und lieferten 
den Beweis, daß auch in den Der. Staaten die Kunft eine Stätte gefunden. 


Die Märztage des Jahres 1848 in Pofen. 


— — 


Hochgeehrter Herr Redacteur! 

Das kürzlich in meine Hände gelangte Juni-Heft Ihrer ſehr geichägten „Deutihen Rund 
hau“ enthält in den Aufzeichnungen des verftorbenen General von Brandt über „die März 
tage be3 Jahres 1848 in Pojen* auf Seite 402 eine Darftellung der hiefigen Ereigniffe 
vom 22, März 1848, nach welcher ich, der damalige Aſſeſſor v. Eroujaz (der Name v. Groniay 
fann nur ein Drudjehler fein), an einer von ben Deutichen „in honorem ber Polen ge 
machten Demonftration“ Theil genommen und „eine emphatijhe Rede gehalten 
habe.“ Meine Hochachtung des verftorbenen General v. Brandt fannn mich nicht abhalten, dieje 
Darftellung dahin zu berichtigen: 

daß die Berfammlung, welche am 22. März 1848 vor dem hiefigen Landſchaftsgebäude 
ftattfand, lediglich zu dem Zwecke veranftaltet war, bie aufgeregte Stimmung ber beiben 
Nationalitäten zu beruhigen reſp. den Frieden zwijchen ihnen zu erhalten, und daß 
meine Anſprache nur diefem Zwede diente. 

Sch darf mich zur Beftätigung vorfiehender Behauptung auf bie fpecielle Schilderung in 
bem Ertrablatt zu Nr. 70 der Pojener Zeitung vom 23. März 1848 und auf die Breslauer 
Zeitung vom 25. März 1848 (Nr. 72), wo aud der Wortlaut meiner jehr einfachen Rede 
mitgeteilt ift, jo wie auf eine große Zahl hiefiger Zeugen berufen. Für Diejenigen, welchen bie 
Zeitungen aus jenen Tagen nicht erreichbar find, theile ich in Folgendem ben Wortlaut meiner 
Ansprache, wie ihn die Breslauer und Pofener Zeitungen berichten, mit: 

„Polen! Wir ergreifen gern die Bruderhand, die Ihr und mit Eurem geiftigen Zuruf 
gereicht habt. Wir verftehen, wir achten die Begeifterung, die Euch durchglüht, denn wir wünjchen, 
daß eö nur freie Völker auf bem Erdballe gebe. Aber die Gejeße vernünftiger freiheit wollen, 
daß das Beftehenbe nur geändert, nicht, dab es zerftört werde. Euer Zuruf läßt uns glauben, 
dab Ihr die Bedeutung dieſes Unterfchiedes erfannt habt. Fahret fort, durch die Waffen bes 
Geiftes, durch das frei gewordene Wort Eurer Nation zu dienen, Die Sympathien der Völler 
find mit Euch, fie werden Euch unterftügen. Polen! Wir wollen nicht Eure Feinde heißen, wir 
nennen und Eure Brüder. Seib nicht durch zu jchnellen Eifer Schuld, daß der Stahl des 
Bruders gegen den Bruder gezücdt werde, daß der Bürger das Schwert brauche zum Schutze 
feined Eigenthums. Friede, Friede, Friede fei unter ung, damit wir ſtark feien gegen ben all: 
gemeinen Feind. Seid Ihr mit dieſem Ausdruck unferer Anfichten einverftanden, wie und Euer 
geiftiger Zuruf glauben läßt, jo beweift ed dadurch, dag Ihr unfere Nationalfarben neben den 
Eurigen tragt. Wir werden Eurem Beifpiele folgen.“ 

Wo enthalten diefe Worte eine Berherrlihung der Polen, wo eine Emphaje? 

Auf Grund bes $ 11 des Reichprehgefehes dv. 7. Mai 1874 erſuche ich Sie, hochgeehrter 
Herr Rebacteur, um Aufnahme biefer Berichtigung in das nächite Heft ber „Runojchau*. 

Poſen, ben 12. Juni 1875. Hochachtungsvoll 

Ihr ganz ergebener 
von Crouſaz, 
Appell»Ger.:Rath. 





Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Pierer'ſchen Hofbuchdruckerei in Altenburg. 
Für die Nebaction verantwortlid: Elwin Paetel in Berlin. 
Unberechtigter Nachbrud aus dem Inhalt diefer Zeitfchrift unterfagt. Ueberfegungsrecht vorbehalten. 


Deutfde Aundfdan. 


Heraußgegeben 


Yulins Nodenberg. 





Erſter Jahrgang. Heft 11. Auguſt 1875. 





Berlin. 


Verlag von Gebrüder Paetel. 





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Huber & Go. — Brüffel, 6. Muquardt's Hofbuchhandlung. — Budabeſt, Karl DO. Stolp. — Buenos Aires, 
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&. Wende & Go, — Wien, Faeſt & Frid. — Meddo, H. Ahrens & Go. — Zürich, C. M. Ebell. 








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Pi 


Dnhalts-Derzeihniß. 





Wilhelm Icnfen, Wilhelm von Grumbad. Novelle. . . 
E. 3cller, Die Sage von Petrus ala römiſchem — 
Serdinand Hiller, L'Abbaye-aux-Bois u 
Oscar Schmidt, Dalmatien 
Mar Horwitz, Der deutſche Anterrit. in rn öffentlichen 
Schulen der Vereinigten Staaten von Amerila . 
W. D. Whitney, Streitfragen der heutigen Sprad- 
pbilofopbie . . . 

G. zu Putlik, Die Erfüllung zeligiäfer Hufgaben dura 
die dramatiſche Kunft i 
Friedrich Spielhagen, Sommerläben. Gedicht ; 
Stiedrich Kreyſſig, Literariſche Rundihau 

a) Die Geier-Wally. Eine Gefchichte auß den Tyroler Alpen von 

Wilhelmine von Hillern, geb. Birch. 

b) Erzählungen von Marie Freiin von Ebner-Eſchenbach. 

ec) Gabriel. Roman von ©. Kohn. Zweite umgearbeitete Auflage. 
d) Ein Spiegel der Gegenwart. Roman von S. Kohn. 

e) Juſchu. Tagebuch eines Schaufpielers. Von Hans Hopfen. 
f) Novellen von Ernſt Edftein. 

g) Gefammelte Gedichte von Hermann Grieben. 

h) Laube's gejammelte Schriften. I. Band. Erinnerungen, 1810 

bis 1840. 


X. Zur neueren bHiftorifch=-politijhen und volkswirth— 


XI. 


Ihaftliden Literatur . Mn ta 

a) Maurice et Barneveldt. Etude historique par Groen van 
Prinsterer. 2 

b) Comment les peuples deviennent libres, par Albrespy. 

c) Das vaticaniſche Syftem. Bon W. E. Gladftone. Autorifirte 
Ueberjegung. 

d) Der Socialiamus und feine Gönner. Bon Heinrich von Treitjchte. 

e) Die Frau auf dem Gebiete der Nationalöfonomie. Von Dr. 
Lorenz don Stein. 

Politiſche Rundihau. 


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Wilhelm von Grumbad. 


— 


Novelle von Wilhelm Jeuſen. 








Wo aus dem Herzen der Stadt Würzburg als jchnurgrade Verlängerung 
der Domgafje die mit mannigfachen fteinernen Heiligen bejeßte altmächtige Main— 
brüde auf das unter dem Dtarienberg gelagerte fogenannte Mainviertel der 
Stadt zuführt, fteht gleich zur Rechten als eines der erften Gebäude ein großes, 
den Bli auf fich lenkendes Haus mit prächtigem Balcon, der nad) unten ſpitz 
in die Mauer ausläuft. Da hodt ein Kleines Männchen mit einem Wappen 
ſchild und fieht jonderbar, halb drollig, halb nachdenklich -ernfthaft in die Welt 
hinaus. Das Haus, an deſſen Wand es als ftummer Wächter manch' Jahr: 
hundert an fich vorübergehen ließ, trägt den Namen der Wirthichaft „Zu den 
drei Kronen“. Es liegt für eine jolche bejonders günftig, denn die großen Straßen 
aus aller Welt Richtung, darunter al3 die wichtigften von Alters her die gegen 
Frankfurt und Nürnberg, kreuzen daran vorüber; wer von der Stadt her fommt, 
um, aus twelcherlei Anlaß und Gewerbe immer, die enge, teil aufwärts klimmende 
Gaſſe zum Schloßbere hinan zu fteigen, findet leichtlich nicht minder Anlaß, 
vorher zu friihem Trunk in den drei Kronen einzufprechen, und ebenjo einladend 
öffnen diefe für Jenen die Thür, welcher auf umgekehrtem Weg erft den luſtig 
mit grausgrünem Waller raufchenden Main zu überjchreiten trachtet. Es war 
jedenfalls ein vorbedächtiger und erfahrener Mann, der ſich die „Ecke der Winde 
und Straßen“ al3 Pla für ein Gafthaus auserfah, wol ſchon manchen Tag 
zuvor, eh’ auf halbe Steinwurfsweite faum davon, grad’ dem plätjchernden 
Brunnen gegenüber, die fteinerne Gedenkjäule errichtet ward, vor deren Inſchrift 
jeit Jahrhunderten gar Mancher, durch die Zellergaſſe fremd herabkommend oder 
ſie hinanſchreitend, neugierig innegehalten und wol gedankenvolleren Blickes ſeinen 
Weg fortgeſetzt. 

Um die Zeit jedoch, als der genannte Denkſtein errichtet ward, gab es noch 
fein Königreich Bayern, ſondern mainauf- und abwärts nur fränkiſche Lande, 
die unter vielerlei und wechſelnde Herrſchaft zerſpalten waren. Oben, wo die 
Doppelquellen des Fluſſes aus dem Fichtelgebirge und fränkiſchen Jura hervor— 
ſtrömen, ſaß auf ſeinen ſtarken Felsburgen Blaſſenburg und as — der 

Deutſche Rundſchau. I, II. 


162 Deutſche Rundichau. 


Markgraf Albrecht der Jüngere von Brandenburg-Culmbach, ein noch junger, 
doch in vielen Kämpfen und Fehden des deutichen Reich gar erprobter Herr, 
ber glei” wie die Mehrzahl feiner im Höheren Norden anſäſſigen Brüder und 
Mettern ſich der kaum jeit einem Vierteljahrhundert erft ausgegangenen neuen 
lutberifchen Lehre zubekannt hatte. Er genoß, der Kleinheit feiner Erblande un— 
geachtet, großes Anſehn bei den Fürften und dem Kaiſer des deutjchen Reiches, 
Herrn Karl dem Fünften jelbft, denn er war mit diefem wie mit den meiften 
der Erfteren blutsverwandt und feiner unerfchrodenen Mannhaftigkeit und Kriegs— 
kunde halber weit gerühmt und gefürchtet. Doch ebenjomwol befannt nad) Mittag 
und Mitternacht war fein Starrfinn, mit dem er an einmal Erfaßtem auf Leben 
und Tod fefthielt, und die gewaltige Schuldenlaft, die ihn und jein Land in 
Folge feiner zahlreichen, nicht immer mit glüdlichem Ausgang endenden Fehden 
und Händel bedrüdte ine Klage um die andere lief wider ihn auf in den 
Actengebirgen des kaiſerlichen Reichskammergerichts zu Speier, doch Markgraf 
Albrecht achtete ihrer nicht mehr, al3 die andern Reichaftände e3 zu thun gewohnt 
waren, und obwol fein unjugendlich ftrenges Antlig nur felten den Ausdrud der 
Fröhlichkeit annahm, jo geſchah's doch am leichteften, wenn Einer ihm Botſchaft 
neu gegen ihn beim Reichsfammergericht erhobener Beſchwerde überbrachte. Dann 
lachten feine ſcharfen Mundwinkel wol auf und er deutete auf den Wahlfpruch 
feines Wappenfchildes: „Fortem exarmat fortior“, und überjegte es jpöttijch: 
„Eilen ift beſſer ala Tinte“. 

Daß es zumeift befjeren Erfolg hatte, mochte freilich Keiner, der mit ihm 
und bi3 an’3 Ende des 16. Jahrhunderts lebte, Läugnen. 

An Markgraf Albrechts Lande ftieß gegen Süden das Gebiet der mächtigen 
Reichs⸗ und Handelöftadt Nürnberg, die faum mehr ald dem Namen nad) unter 
der alleinigen Oberherrlichteit des Kaiſers ftand, und mainabwärt3 das Bis— 
thum Bamberg, auf deſſen Schlofje der alternde Biſchof Weygand mwechielvolle 
Tage erlebt. Dann folgten zu beiden Seiten des Fluſſes Befisthümer von Grafen, 
Freiherren und freien vom Adel des Reichs, Hin und wieder noch markgräfliche 
Burgen, Dörfer, Wälder und jelbft Städte, wie die Stadt Schweinfurt, da= 
zwifchen, die fich in wunderlichem Zwitterverhältnif der Zeit bald als Angehörige 
de3 Culmbacher Landes, bald ala freie Reichsſtadt geberdete, je nach guten und 
üblen Tagen. Eine bunte Mufterfarte von Hoheit, Grenziteinen und Wegfperren, 
von Anſprüchen, Hader und Gewaltthaten der Herren, von Zöllen, Abgaben, 
Bedrüdungen und Kriegsnoth der Bewohner, bi3 dort, wo der Main von jeinem 
erften tief nad) Süden gebogenen Knie ſich wieder nordwärts hinaufichlägt, mit 
ihren Thürmen, Kuppeln und feiten Wällen die Stadt Würzburg, die Haupt» 
ftadt?des reichen Bisthums gleichen Namens aufftieg, überragt von gewaltiger 
Burg auf dem Scheitel des vierhundert Fuß hohen Marienberges, an deſſen 
fteilem Abfall gen Süden jchon aus alter Zeit her die Sonne die Trauben de3 
feurigen Leiftentweines reifte. Auf der Burg aber jaß als Biſchof Herr Melchior 
von Zobel, der fich, jeinen Vorgängern feit juft einem Jahrhundert gleich, Herzog 
zu Franken und des heiligen römiſchen Reiches Fürſt nannte, wozu ihn die Größe - 
feines Reichthums und der weite Umfang der ihm angehörigen Länder gar wohl vor 
manchem geborenen Fürften berechtigte. Er ftand an der Grenze der Hälfte eines 





Wilhelm von Grumbad. 163 


Jahrhunderts; doc günftige Natur und feuriges Blut, das ihn jederzeit bereit- 
willig den Prunk und die Ueppigkeit ſeines Schloffes mit Harniſch und Streitroß 
vertaufchen ließ, hatten ihm jugendlicheres Ausfehen bewahrt, und wer ihn fah, 
tie er allmorgenlic) bereit3 um die fechfte Stunde nad) Anhörung der Frühmefje 
mit jeinem adligen Gefolge durch die fteile Schloßgafje herab in die Stadt zur 
Kanzlei feines Stiftes ritt, mochte faum glauben, daß er überhaupt ſchon den 
Beginn der vierziger Jahre erreicht habe. Ya, wer ihn dann unbekümmert lachen 
und auch wol an heißen oder falten Tagen vor der Herberge am Mainufer einen 
Becher Weins auf einen Zug leeren jah, mochte faum für wahr halten, der, den 
er vor fich erblickte, jei der Biſchof Melchior Zobel von Würzburg, defjen bitter- 
liche Klage über Gewaltthaten und jchier völligen Untergang, den ihm Markgraf 
Albrecht von Brandenburg bereitet, zugleich mit Schwertflang, Sugelpfeifen und 
Tlammengeprafjel jahrelang das deutſche Reich, die Säle der Kaiſerburg und die 
Acten de3 Reichskammergerichts durchhallt hatte. 

Es gab wol Niemanden von der Dftjee bis an die Alpen, der nicht um die 
blutigen Fehden zwiichen dem Markgrafen Albrecht von Brandenburg und den 
Biihöfen von Bamberg und Würzburg im Bündniß mit der Stadt Nürnberg 
wußte; aber e3 gab ficherlich gar Wenige nur im deutſchen Reich, die fich ver— 
maßen, ohne Gunft und Mißgunſt enticheiden zu twollen, auf welcher Seite das 
Recht jei, und noch Wenigere, die überhaupt in ihrer eigenen Drängniß Zeit 
und Luft befaßen, dies Recht mit der Wage der Themis zu bemefjen. Denn 
Dieles und Ungeheures war in den lebten Jahren im heiligen römiſchen Reiche 
deutſcher Nation gejchehen, da3 wol überall zu denfen gab, nicht ohne Grund 
babe das Altertum die Augen jener Göttin mit einer feften Binde umgürtet 
dargeftellt. Die angejehenften Chur- und Reichsfürften hatten den ſchmalkaldiſchen 
Bund geftiftet unter der Vorgabe, fi) bei der bedrohten neuen Lehre Martin 
Luther's zu erhalten, doch im kaiſerlichen Rathsgemach wußte man gar wohl, 
daß es fich nicht allein um den Schub des freien Glaubens, jondern weit mehr 
um Erhöhung der Unabhängigkeit vom Oberhaupt des Reiches handle, und nad 
mancherlei Zug und Gegenzug lag der jchmalkaldiiche Bund bei Mühlberg zer- 
jchmettert am Boden und Churfürft Johann Friedrich von Sachſen und Lande 
graf Philipp von Heflen, bis vor Kurzem die mächtigſten Fürſten des Reichs, 
zogen in harter Gefangenschaft Hinter dem fiegreichen Kaifer Karl dem Fünften 
auf allen feinen Wegen drein. Durch jcheinbaren Abfall des Eidams des Lande 
grafen Philipp, des jelbft lutheriſchen Churfürften Mori von Sadjjen, jchien die 
Sadje des Proteftantismus verloren und e8 eine Gnade des allmächtig daftehen- 
den Kaiferd zu fein, daß er dem Andrängen des Tridentiner Concils auf jofortige 
vollkommene Ausrottung der Ketzerei nicht nachgab, ſondern, bis zum endgültigen 
Austrag einer Glaubensordnung, zu Augsburg ein „Interim“ erließ, das in 
proteftantifchen Ländern den Wegfall einiger der hauptſächlichſten Mißbräuche 
der fatholiichen Kirche verftattete. Karl der Fünfte war ein ebenjo kluger Mann 
al3 frommer Katholif, der gar gut wußte, wie gewaltig im Lauf eines Menjchen« 
alter3 die „Peft der neuen Lehre” bei Groß und Klein um fich gefreflen Hatte, 
daß ein Ausrotten derfelben mit dem Schwert neun Zehntheile des deutjchen 


Reichs und vielleicht manden Palaft jogar betroffen haben würde, in welchem 
11° 


164 Deutſche Rundſchau. 


Kurzſichtigere Niemanden als die treueſten Söhne und Diener Roms vermutheten. 
Hatte doch der Erzbiſchof zu Köln, Herrmann von Wied, offen feine Abſicht aus— 
geiprochen, ſich zu vermählen und fein Erzbisthum zu verweltlichen, und Die 
Gejandten des DVenetianiichen hohen Rathes am faijerlichen Hofe meldeten in 
ihren geheimen Berichten, in den öfterreihifchen Erblanden ſelbſt jei nur noch 
ein Dreißigftel und im ganzen deutjchen Reich höchſtens ein Zehntel der Bevölfe- 
rung katholiſch, dem jelbft in Bayern, Franken, am Rhein und in Meftphalen 
huldigten Adel, Bürger und Bauern der neuen Lehre, zu Münfter fei eine 
„Dompröpftin” gar angejehen, und überall von hundert Prieftern faum ein 
einziger ledigen Standes. 

So erließ Karl der Fünfte, dem Siege feiner Waffen zum Trotz, das In— 
terim, und e3 zeigte fich bald, daß mit der äußeren Heeresmacht de3 Proteftan- 
tismus die innere Kraft defjelben doch noch nicht einmal jo weit gebrochen war, 
daß der Kaiſer überall auf Botmäßigfeit jeinem interimiftiichen Erlaß gegenüber 
zu rechnen vermochte. Beſonders im Norden des Reiches weigerten fi) manche 
feften Städte, vor allen Magdeburg, jenen anzunehmen, und um ein Beijpiel 
aufzuftellen, ſprach Karl der Fünfte über die widerjpänftige Stadt die Reichs— 
acht und beauftragte jeinen Günftling Churfürft Mori von Sachſen, zuſammt 
dem Markgrafen Albreht von Brandenburg-Culmbach, mit Vollftredung der— 
jelben. Allein Dtagdeburg, von dem alten Landsknechts-Feldhauptmann Sebaftian 
Schärtlin von Burtenbach vertheidigt, wehrte ſich mannhaft Jahr und Tag lang 
gegen die für jene Zeit großen Heerhaufen der beiden Fürften, jo daß Morit 
von Sachſen guten Grund zu haben ſchien, ringsum in allen Landen nod 
immer neue Söldner zu werben, um das Eaijerliche Geheiß zu erfüllen. Dann 
aber im Frühlingsbeginn des Jahres 1552 wandte er fich plößlic) von den 
Thoren Magdeburg'3 gen Süden, erließ einen Ruf an Alle und Jeden, Fürſten, 
Adel, Städte, Bürger und Bauern im deutjchen Reich, dat er Ordnung, freien 
Glauben und deutjches Recht darin wiederherjtellen, das ausländiiche Kriegsvolk 
und hiſpaniſch-römiſche „Praktik“ jedoch draus verjagen wolle, und rüdte wie 
ein Nordſturm bis in’3 Herz der Alpen nad Innsbruck, wo Karl der Fünfte, 
von Gicht gelähmt, kaum jelbft vor ihm der Gefangennahme entrann. Fünf 
Jahre hatten zu völliger Umgejtaltung der Dinge in deutſchen Landen hingereicht, 
den Weltbeherrihungsgedanten Karl's des Fünften einem Kinderjpielgeug gleich 
zerbrochen, die Gefangenen defjelben befreit und den Kaiſer gezwungen, jet jelbjt 
um Frieden zu bitten. Nah Ablauf eines Menſchenalters an den Ausgang 
zurückgeworfen, von two er jeine Pläne zur Beherrſchung Deutjchlands begonnen, 
legte Karl der Fünfte, der Politif und der Hoffnung müde, den Abſchluß der 
deutichen Angelegenheit in die Hände jeines Bruders, des Königs Ferdinand von 
Böhmen, der für den Sommer des nämlichen Jahres 1552 zum Behuf endgül- 
tigen riedensvertrags einen Reihstag nach Paffau an der Donau ausjchrieb. 

Während dieje großen Umtwälzungen aber das deutjche Reich in allen feinen 
Velten raftlos erichütterten, jpann fi) in kleinerem Maßſtab ebenſo raftloje 
Fehde zwiichen dem Markgrafen Albrecht von Brandenburg und den Bilchöfen 
von Bamberg und Würzburg fort, wie die nachbarlichen Verhältniffe fie faft 
überall von Zeit zu Zeit bedingten, Hier aber jeit alten Tagen bejonders zum 


Wilhelm von Grumbad). 165 


Ausbruch gelangen ließen und, kaum erlojchen, auf’3 Neue wieder anjchürten. 
Es ift Schon gejagt worden, daß die Entjcheidung, auf weſſen Seite Recht und 
Unrecht dabei gewejen, bereit3 damals ebenjo jchwierig bi3 in ihre lebte oder 
erſte Entwidelung zu verfolgen war, ala heut’; gewiß ift, daß auf beiden Seiten, 
wenn nicht in gleicher Anzahl, jo doch in gleicher Weije Städte, Dörfer, Burgen 
und Wälder verbrannt, Pferde, Rinder, Vieh und Güter aller Art ala Beute 
fortgejchleppt, Löjegelder erpreßt, Männer erjchlagen, hinterrücks ermordet, ges 
pfählt, geviertheilt, Greife und Kinder gemartert, Weiber und Mädchen ver- 
getvaltigt worden. 

Markgraf Albrecht von Brandenburg aber zog nicht mit dem Churfürften 
Morit von Magdeburg aus gegen den Kaifer nad Innsbruck, ſondern wandte 
fich mit feinem gefammelten ftarfen Heerhaufen gegen das fränkische Land, fiel 
in die Bisthümer Bamberg und Würzburg, jchlug allerorten die geringe Söldner- 
macht der beiden Biſchöfe und zwang fie zum Abſchluß der langjährigen Fehde 
durch einen „Bamberger Vertrag“, in welchem ihm alle jeine Forderungen, be= 
jonders eine gewaltige Geldjumme, deren er durch feine Schulden Hoch benöthigt 
war, zugejagt und Friede und Freundſchaft Hinfort zwiſchen den von Alters 
feindlichen Nachbarn geichloffen ward. Mit knirſchenden Zähnen unterjchrieben 
die beiden entwaffneten Bilchöfe den Vertrag, doc wohin fie blickten, war nicht 
Hilfe und Beiftand zu gewwärtigen. Der Kaiſer jelbft geichlagen und flüchtig 
in Billah, der König Tyerdinand gezwungen, den Frieden um jeden Preis zu 
erkaufen, die Sache des Proteftantismus triumphirend von der See bis an die 
Alpen und der Markgraf Albrecht Lager: und Bundesgenoſſe de3 Sieger und 
gegenwärtigen unumfchränkten Herrn im deutichen Reich, de3 Churfürften Morik 
von Sachſen. Doch während Biſchof Weygand von Bamberg, ein grämlicher 
und zu heftigen Ausbrüchen geneigter Herr, feinen Grimm nicht wol zu bergen 
wußte, fügte fih Biſchof Melchior von Würzburg gleihmiüthiger, wie e3 jchien, 
in das Unvermeidliche, war fröhlich und guter Dinge in feiner Schloßburg auf 
der Höhe, die damals nicht Marien-, jondern Frauenberg hieß, und Leerte, 
wenn er an der Herberge neben der Mainbrüde vorſprach, die damals nicht ben 
Namen „Zu den drei Kronen“, jondern „Zum Schmeltzenhof“ führte, jeinen 
Becher Stein- oder Leiſtenweins mit ebenjo viel Wohlgefallen auf die Neige, 
wie vordem. 

Da ſaß an einem Hochſommernachmittag im offenen Hofraum des Schmelen- 
hof3 unter den Würzburger Bürgern, die des Tages Laft und Hite, auch bei 
Manchen die Gewohnheit zur Einkehr betvogen, ein Gaft, wie die Zeit ihn wol 
mit ſich brachte. Unter dem Schatten einer Akazie hatte er den Eurzbehaarten 
Kopf an die Wand gelehnt, die langen, doc; Fraftvollen Beine unbefümmert 
weit vor ſich hingeftredt und hielt zwijchen diejen die Hände auf den blanken 
Kreuzgriff eines ihm mehr als bis zur Hüfte ragenden Schwertes geftübt, das 
die Nechte nur verließ, um ab und zu einen vor ihm jtehenden Weinkrug zu 
tüchtigem Zug an die Lippen zu führen. Es war ein noch junger Gejell mit 
gradlinigem, jcharfem Najenrift im hagern Gefiht und ungewöhnlich vielem 
Weiß um den Kleinen, ſcharfrunden Augenftern; doc) ein hartentjchlojfener Aus— 
drud, zu dem die lange Narbe vom linken Schläfenbein faft bis zum Mund» 


166 Deutſche Rundſchau. 


winkel paßte, beſagte, daß er ſchon mehr durchgemacht und erfahren, als bie 
Jugendlichkeit ſeiner Züge andeutete. Ein etwas wilder Bart der Oberlippe, 
mehr roth als braun, ſtand im Einklang zu dem kaum zolllangen Kopfhaar; 
das bartloſe Kinn bildete, wenn der Mund ſich feſt hinaufſchloß, ein eigenthüm— 
liches ſtempelartiges Gepräge aus. Sein Wamms und ſeine Hoſen, ſpaniſch 
aufgeſchlitzt, beneſtelt und beſchleift, waren enger, als der Tagesbrauch ſie bei 
Landsknechten zur Gewohnheit gemacht, und obendrein neu und friſch, als hätten 
ſie noch keinen Ritt auf ſtaubiger Straße mitgemacht, denn der lange Stachel 
auf derben Schuhen kündete den Reitersmann. Er ſaß allein vor ſeinem Trunk, 
kaum beachtet und ſcheinbar ſich ſelbſt ebenſowenig um ſeine Umgebung kümmernd. 
Seine Augdeckel waren gleichgültig, nachmittagsmüde heruntergelaſſen, und nur 
ab und zu verrieth ein unmerkliches Aufblinzeln der Wimpern, daß ſein Ohr 
die um ihn her erklingenden Geſpräche vernehmen und darauf hinhorchen mochte. 

Es war Anlaß genug für die guten Bürger Würzburg's, von Vergangenem 
und Gegenwärtigem zu reden, von Laſt, Noth und Plage, zumal von der ſchweren 
Steuer, welche ſie mitaufbringen gemußt, um die hohe Kriegsentſchädigung an 
den Markgrafen Albrecht zu zahlen. Aber der Wein des Vorjahrs war trotz 
allen Unheils trefflich gerathen und trank ſich köſtlich in der ſchwülen Luft aus 
den kühlen Steinkrügen. Auch der Main rauſchte von unten etwas Kühlung 
herauf, die Glocke vom Dom klang mit hübſchem Geläut herüber, und der Krieg 
im Frankenland war vorbei, jo daß Fabian Brede, der Wirth zum Schmeltzen— 
hof, und ſeine Tochter Hand und Füße brauchen mußten, dem Klappern der 
leeren Gefäße durch hurtigen Schritt in den Keller zu genügen. Fabian Brede 
hatte ſelber etwas von einem alten Landsknecht in Art, Haltung, Blick und Be— 
wegung, nur war ſein Rücken breit, ſeine Geſtalt behäbig geworden und es 
mußte manches Jahr verfloſſen ſein, ſeitdem er, wenn er's zuvor gethan, mit 
Hackenbüchſe oder Hellebarde in's Feld gezogen: jedenfalls ſo lange Zeit, als ſein 
braunzöpfiges Töchterlein mit den nußbraunen Augen in die Welt geſehen, und 
das mochten ſiebzehn Jahre ſein. 

Jetzt ſchlug auch der fremde Kriegsgeſell auf den Tiſch und rief, ohne ſich 
zu rühren: „Zu trinken!” Seine Stimme war jchneidig, wie fein Ausjehen, 
und da3 Mädchen, das einen Augenblid geraftet und über den Main nad) der 
fonnbeglänzten Stadt hinübergeſchaut hatte, ſchrak faft etivas zufammen. Sie 
chien zu zögern und nad ihrem Bater zu jehen, allein diefer war beichäftigt, 
und ſich jchnell wendend trat fie nun an den Tiſch des Rufers, nahm ſchweigend 
den Krug deſſelben, füllte ihn im Seller und ftellte ihn ſchweigend vor den 
Fremden zurüd. Diejer öffnete die Augen und nicte kurz, dann richtete ex ſich 
ein wenig auf und hielt die wieder Fortichreitende mit der Frage zurüd: 

„Wie viel macht's?“ 

Sie gab Antwort und er warf einen neufunfelnden Gulden auf den Tiſch; 
wie fie auf dem Tiſch Münzen aus ihrer Taſche juchte, um zu wechſeln, heftete 
fein Blick ſich ſchärfer auf fie, und er frug: 

„Kommt Euer Biſchof hier vorüber, wenn er auf’3 Schloß reitet?“ 

Das Mädchen warf einen Blick nad) dem Schatten an der Hauswand auf 
und verjehte: 


— — 


un ge 


Wilhelm von Grumbad). 167 


„In einer Stund’ wird der gnädigjte Herr fommen.“ 

„Du weißt’3 ja genau, Sibylle Brede. Haft Du die Uhr in den Augen, 
oder im Herzen?“ 

Sie jah halb befremdet, halb neugierig drein. „Woher kennt Ihr mid — ?" 

„Bon meinen Augen, ob fie Dir gefallen mögen, oder nit. Den Meiften 
von Deiner Art thun ſie's nicht; es muß bei Dir nicht jo ſchlimm geweſen jein; 
wär’3 wie bei den Andern, hätt'ſt Du fie wol nicht jo ſchnell vergefjen. Haft 
freilih wol viel erlebt jeit drei Jahren, two ich zum Lebtenmal hier war. Das 
Mieder jpannte Dir damal3 noch nicht über die Bruft; um die Zeit, wo's kommt, 
habt Ihr den Kopf voll umd vergeßt häßliche Gefichter über feineren.“ 

Er ſagte es ſpöttiſch, aber es war fein jcherzender Ton, jondern etwas 
Stachliges, Verwundendes und Verwundetes lag darin, daß Sibyllen? Auge 
unmwillfürlich einen Moment ji wie prüfend, ob er die Wahrheit geiprochen, 
in das Geſicht des Spredher3 richtete. Sie hatte vergefien, daß fie jchon zuvor 
bei feinem erſten Anblick daffelbe gedacht, was er jebt gejagt; nun drehte fie 
raſch erröthend den Kopf wieder ab, und er fuhr haftig fort: 

„Nicht wahr, nun weißt Du's und behältft das häßliche Geficht im Ge— 
dächtniß? Kann’ Dich tröften, jo hab’ ich auch ſchon hübjchere gejehen als 
Did, und fie Haben mich doch gefüßt, wenn's auch nicht gern geihah; man 
fragt nicht allemal erft darnad. Es macht Spaß, wenn man fieht, wie’3 Einer 
davor graut; die's gern thun, darauf pfeif’ ih! Thuſt's auch nicht aus Ver— 
gnügen, Sibylle Brede, drauf will ich ſchwören, drum könnt's mir gefallen —“ 

Er ſchlang ihr mit unſchönem Lachen den Arm um die ſchlanke Mitte des 
Leibes; fie ſuchte fich eilig loszuringen, doch der Arm war wie eine eijerne 
Klammer. „Laßt mich,“ zürnte fie, „ich bin feine Schenkdirne, oder ich ruf’ 
nad dem Vater!“ 

„Hoho, Mädel, glaubft, wenn ich einen Kuß von Dir will, fümmert’3 mich, 
ob's Andre woll’n oder nicht?“ 

Mit einem Ruck zog er fie dichter an ſich, daß er fie zwang, ſich halb 
ſchwankend auf fein Knie zu jeßen; doch ihr Kopf bog fich, jo weit er’3 ver- 
mochte, von ihm fort, und fie bat jet ängſtlich: 

„Zreibt nicht Spaß, Ihr bringt mich in üble Nachred’ bei den Leuten —“ 

„Pah, ’3 wird Keiner Dir wa3 nachſagen, wenn er und beijammen fieht! 
Fortem exarmat fortior! heißt’3 bei uns; verftehft’3 heut’ noch nicht, wirſt's 
morgen begreifen. Könnt’ft mit mir über Land reiten, ’3 würd’ Kleiner glauben, 
Du thätft’3 aus freiem Stüd, denn ich hab’ Dich angelogen vorher, daß im 
leiten Jahrgang eine hübjchere Magd im Frankenland gewachſen ift, als Du. 
Aber drum eben ift’3 mir fein Spaß —“ 

Er ſprach nicht aus, jondern hob den Arm, ihn um ihren Naden zu jchlin- 
gen und ihren Kopf heranzubiegen. Doc die Secunde, in der er fie dergeftalt 
aus ihrer Haft entlaffen, benützte Sibylle, um behend wie eine Eidechſe unter 
feinem Arm duchzuichlüpfen und davon zu fliegen. Mit einem Ruf, der halb 
drohend, Halb über ihre Hurtigkeit erftaunt ang, ſprang er ihr nad: „Bei 
meiner Mutter Milch, jo fommft Du mir nicht fort!” 

Don den Bürgern umher lachten einige, andre machten ein unwilliges Ge- 


re 


168 Deutſche Rundichau. 


fiht, Einer ftieß den Andern ermunternd mit Knie und Ellbogen, allein Jeder 
hütete gleicherweife das erſte Wort auf der Zunge und zog die Füße zurüd, über 
welche der dem flüchtenden Mädchen um die Tiſche Nachjegende hätte ftraucheln 
fönnen. Dann trat juft ein neuer Gaft von der Straße herein, jah die Mädchen- 
jagd und rief verwundert den Arm vorftredend: 

„Hoho, Junker Kreger, auf dem Taubenfang? 'nmal wieder am Stein, 
wo der Würzquell fließt? Sind die Weiber bei Euch nicht eingejchloffen im 
Bamberg’ichen Vertrag?“ 

Der Eintretende war don flattlicher Bürgerart, graubärtig ſchon etwas, 
doch mit heiter jugendlichen Ausdrud im Elugen Auge Er trug nad) Zeitbraud) 
Wehrgehänge und kurzes Schwert dran, aber beides von jo ungewohnt kunftvoller 
Zier, daß es den Selbtverfertiger errathen ließ. Der junge Landsknecht ftußte 
untoillfürlich bei dem Anblid und den Worten des Waffenjchmiedes, die ihm zu 
rechter Zeit etwas in Beftinnung rufen mochten. „Habt Gruß, Herr Dietrich) 
Spumber,” verjeßte er, die Hand des Angeſprochenen mit einer gewiſſen Eilfertig- 
feit ergreifend, als diene fie ihm nicht unerwünſcht zum Vorwand, von feiner 
Verfolgung abzuftehen. „Der Bamberg’iche Vertrag gilt nur für Kinder, wie 
fie aus Eurer Werkftatt hervorgehn, dent’ ich; mit aufjäßigen Lippen hab’ ich 
feine Urphed’ beſchworen. Es find drei Jahr', jeit ich bei Euch im Haus lag, 
und ic Hab’ Euch manchmal Dank unter der Zeit gewußt, daß Eure Klinge 
hier fi gut gehalten; mander Mutter Sohn am Main freilicd; weiß Euch viel- 
leicht weniger Dank dafür. Habt Euch auch gut gehalten, Meifter Spumber, 
aber ich bin fein Junker geworden derweil, jondern der Kretzer geblieben. Der 
Nam’ paßt auf mich, wie auf den Bamberger Wein, denkt die Sibylle; da 
wollt’ ich, fie Jollt’ ihn auch Eoften!“ 

„Run, mit dem Würzburger Wein, den’ ich, habt Ihr auch Feine Urphed' 
geſchworen, Chriftoff Kretzer,“ entgegnete lachend der Waffenichmied. „Du da, 
Sibylle, zwei Krüge vom 47iger! War ein heißer Jahrgang im Reich und 
nicht ohne Grund der Rothe drin gerathen. Freu’ mid, Euch zu jehn, id) 
meine, Euch hier jehn zu können, hätten’3 jo bald kaum geglaubt. Iſt's wahr, 
Mädel, dat Du ihm jchiefe Augen gemaht? Dein Vater ift aud) ein Reiters- 
mann gewejen, und Landsknechte müffen fein, jonft könnten die Schwertfeger 
in den Main fpringen. Aber drum doch auf gute Nahbarihaft und langen 
Frieden! iſt befler, wenn Ihr unfre Klingen bei den Heiden im Donauland 
verichartet, al3 da, wo dieſer Wein wächſt!“ 

Sie ftießen mit den Krügen an, die Sibylle gebradht und hinter Spumber's 
Sit herüber auf den Tiſch geichoben. Ahr Geficht jchien noch roth von dem 
vorherigen Ringen und dem Lauf; fich halb abwendend antiwortete fie auf die 
Trage des Waffenſchmieds: „Ach Hab’ ihn nicht ſchief angejehn, Herr Pathe, 
aber er wollt’3 durchaus haben, ich ſollt's thun.“ 

Chriſtoff Kreker trank, ohne des Mädchens Gegenwart mehr zu beachten. 
„Was mic) hergebracht, fragt Ihr? Neu ausftaffirt hab’ ich mich bei Euren 
Krämern. Hätt’ ich’3 vor einem Mond noch draußen mit ihnen gehandelt, 
wollt’ ich ihnen ein Draufgeld aus Eurer Münze gezahlt haben, daß der Wein 
ihnen noch heut’ ſauer ſchmeckte! Fünf Goldgulden für den Lumpentand! Euer 


Wilhelm von Grumbad). 169 


Ellenmaß hier bricht den Landfrieden! Wär’ ich Kaiſer, ich ſpräch's in Vehm 
und Acht und machte Eure Kaufhäufer für jeden ehrlichen Reiter vogelfrei!” 

Dennoch glitt fein Bli nit ohne Wohlgefallen an dem neuen Wamms 
und den gejchligten Hofen herunter, und der Waffenſchmied Dietrich Spumber 
ladte: 

„Als ich Euch das Jüngſtemal jah, hattet Ihr Euch bei den Magdeburgern 
ausftaffirt. Wollt’3 wol durchproben, ob das Wamms befjer mit dem lutheri- 
Ichen Segen hält, oder mit dem katholiſchen?“ 

„sch ſcheer' mich nicht um die Pfaffen Hüben und drüben —“ 

„Aber Ihr helft fie mit jcheeren.“ 

„Daß ich ein Schaf wäre! Wozu macht Ihr Eure Scheermefjer, Mteifter?“ 
lachte auch der junge Kriegsknecht jeßt. „Ich denke, um die Wolle abzunehmen, 
two fie wächſt.“ Er warf einen gleichgültigen Blick auf Sibylle Brede hinüber, 
die in einiger Entfernung zubörend ftehen geblieben war, und fügte Hinzu: 
„Was ficht’3 Eure braunen Kopfftränge an? Sie find nit von Wolle, däucht 
mich, und wären ſie's, laſſ' ich fie jedem Andern, daß ex ſich dran auffnüpft!“ 

Das Mädchen trat, roth werdend, einen Schritt weiter zurüd; in des 
Waffenſchmieds Geficht malte fich eine Frage, für die er eine Einkleidung juchte, 
doch nicht fand. Er trank einen Zug aus feinem Krug und meinte: 

„Ein heißer Ritt heut’, wenn Ihr von weit kommt.“ 

„Bon Untern-Bleichfeldt.“ 

„War’t bei der Frau Anna von Grumbad), des markgräf’ichen Kanzlers 
Ehefrau? Steht’3 bejjer mit ihr?“ 

„Schlecht.“ 

„hut mir leid, war eine ſchöne rau, als fie und ich jung waren. 's ift 
leider nicht wie mit dem Wein, daß die Jahre uns kräftiger machen. Seh’ noch, 
wie fie da die Gaffe vom Frauenberg mit Seiner fürftlihen Gnaden herunter- 
reitet auf nem Zelter wie friſche Milch, und fie jelber drauf wie Milch und 
Blut. Da wart Ihr noch nicht zur Welt, Freund, und ich ein junger Burſch 
wie Ihr. Dem hochwürdigen Herren Biſchof fieht man die zwanzig Jahr’ am 
wenigften an; er könnt’ noch heut’ wie der Blitz aus dem Bügel jpringen, fie 
vom Sattel heben und fi) den Schloßwein von ihr Fredenzen laſſen, wie er's 
damals hier vor diejer Thür’ that. Sie lachte, al3 fie getrunken, ich hör's noch, 
und ihr Geficht ward roth von dem heißen Leiten. a, zwanzig Jahre — 
zwei noch drauf find’! Darin ift die Welt um Mtancherlei ander3 geworden. 
Die Lutherichen waren ein Pflänzchen in der Scherbe; wer dachte damals, daß 
ein Baum draus wachſen könnt’? it fie bettlägerig ?“ 

„Schon jeit 'nem Jahr.“ 

Dietrih Spumber jtredte jeine Fräftigen Glieder. „Woll' uns Gott behüten! 
Gin Jahr im Bett, Lieber hätt’3 ein End’ mit mir! ch hab's jagen gehört, 
jie liegt drüben allein in Untern-Bleichfeldt und ihr Mann ift von ihr?“ 

„Er hat zu ichaffen auf dem Gebirg.“ 

„Du Ichaffen ?“ 

„Ein marfgräf icher Kanzler hat viel zu ſchaffen; er iſt Statthalter des 
Markgrafen im fräntijchen Gebirg.“ 


170 Deutiche Rundſchau. 


Der Waffenſchmied trank abermals, einen Blic über den Krugrand werfend. 
„Wißt Ihr, was man fpricht, Freund? Er hat viel zu Ichaffen, aber er macht's 
Andern mehr und mandem Chriftenkind im Rei), das nicht weiß, woher ihm 
der Wind auf einmal Sand in die Augen jchlägt. Oben, wo der Nordiwind 
geht, im Hamburg'ſchen, Lübeck'ſchen, Holftein’schen, jollen ſie's auch willen, oder 
mindften3 drauf rathen.“ 

„Ihr ſeid hier zu Würzburg wol in den Läuften beiwanderter, Meiſter 
Spumber; davon fommt un auf dem Pferd nicht viel zu Ohren. Was ich 
vernommen, ift, daß Einer aus dem Braunſchweig'ſchen gejchrieben, ein Sohn 
de3 ältern Raths Ebner zu Nürnberg, e8 hätten fränkische — Hat nicht zugeſetzt, 
von wo — und herzogijche Reiter droben von Lüneburg bi3 gegen Lübeck an 
hundert Dörfer und Orte geplündert und verbrannt. Aber Ihr wißt's wol 
beſſer hier unter'm Frauenberg, Meifter. Was ficht's mid) an? Mir ift’s 
herein= und herausgeklungen.“ 

Chriftoff Kreger trank ebenfalls; die heiße Nachmittagsjonne warf eine Weile 
ihweigfam die Schatten der Beiden gegen die gelbe Hauswand und zwiſchen 
hinein das obere Stück von dem zierlichen Köpfchen Sibylle Brede's. Der 
Waffenſchmied hob nadhläffig den Kopf: 

„Laßt droben jeine Klingen verhauen, wer will! Dem Reich thut’3 weh, 
fagt man, aber ’3 ift ein altes Sprüchtwort und lange her, daß die rechte Hand 
fih drum kümmert, ob man die linke abhadt. Es follt’ wol anders jein, wer 
will’3 ander? machen? Bringt Eud) font fein Gewerb in unfre Stadt?“ 

„Der Wein.“ 

Zum Zeugniß feiner lakoniſchen Antwort koftete der Sprecher wohlgefällig; 
die Erwiderung mochte ihm ſelbſt etwas allzufurz gefaßt erjcheinen, denn er 
jeßte Hinzu: 

„Ich denke, er wird aud meiner Frau von Grumbah für ihre Schwäche 
gut thun.“ 

„Drum jehn wir Euch hier — ala Küfer?” lachte Spumber. „ch trau’ 
Eurer Zunge, daß fie fich drauf auskennt, nicht den jchlechteften auszuprobiren. 
Freut mich, daß Ihr's mit dem weißen Rebenjaft jett haltet, vom rothen und 
leider vom edelften iſt's lang’ genug gefloffen allwärt3 in deutichen Landen, 
und ’3 hat feiner durftigen Kehle Nub gebradt. Wohl befomm’s Eurer Frau 
von Grumbad und ihrem Siehthum!” 

Sie fließen Elappernd mit den Steinfrügen wider einander; de3 Waffen- 
ſchmieds Wißbegier ſchien etwas, doch nicht vollkommen noch befriedigt. Er rief 
der Sibylle nad) friſchem Trunk, jah über die goldflimmernde Mainbrüde gegen 
die Stadt und ſagte: 

„Dan jpricht, es ſeien braunſchweigiſche Völker im Anzug über den Wald.“ 

„Sprit man's?“ 

Chriftoff Kretzer's Lider hoben ſich einen Augenblid weniger nadhmittagsträg 
auf; fein Gegenüber fuhr fort: 

„Wißt Ihr oder mögt Ihr denken, für wen oder gegen wen?“ 

„Wißt Ihr's vielleiht? Wißt ja jo allerhand unterm Frauenberg, was 
andre Leute nicht wiſſen. Wenn ich dafür halten joll, ift’3 für den Papft und 


Wilhelm von Grumbad). 171 


gegen den Großtürfen. Wer hätt’ jonft Futter für Hackenbüchſen nöthig zwiſchen 
Auf und Niedergang ?“ 

„Ich dacht’ nur jo, Herr Wilhelm von Grumbach könnt's etiva vorhaben, 
Treibjagden zu halten im Gebirg.“ 

„Auf Wölfe, meint Ihr? Die haben wir aus markgräfichen Landen aus— 
getrieben, und die Füchſe fiten im Stollen, daß man ihnen ohne Räucheriverk 
nicht mehr beikommt. hr wißt, 's ift Schonzeit am Main, und ich denke, die 
Braunſchweigiſchen werden's auch wiſſen. ch glaub’3 aber nicht; Weibergered’ 
twird’3 fein, denen's über die glatte Haut friert dabei — ic mag Euren Wein 
nicht mehr!“ 

Sibylle Brede hatte den Krug ihres Pathen gefüllt zurückgebracht und bie 
Hand nad) dem geleerten des jungen Reiter? ausgeſtreckt, doch er zog benjelben 
mit den lebten, an fie gerichteten Worten heftig an fi) und ftieß ihre Hand, 
die er mitgefaßt hatte, zurüd. „Mögt keinen Wein mehr?“ fragte der Waffen- 
ichmied verwundert. „Da habt Ihr Eure Natur geändert, Freund.“ 

„Die Natur ändert viel. Der Jungfer da hat fie die Augen auch geändert. - 
Vor drei Jahren war fie noch blind wie ein Katzenwurf von acht Tagen; jet 
find ihr die Augen ausgewachſen.“ 

„Zröft Di, Kind, wenn fie ihm nicht gefallen,“ lächelte Dietrich Spumber, 
dem Mädchen den Arm über die Hüften legend. „Wär’ ich jo jung, wie er, 
mir gefielen fie, thun's auch) jo noch —“ 

Sie fiel ihm hochroth in's Wort: „Solltet’3 Eurer Mutter nicht anthun, 
jo zu reden, Herr Kretzer. Ich weiß es jebt gar wohl, daß ich Euch gejehn 
hab’ vor dreien Jahren, und daß Ihr freundlich damals mit mir twaret, anders 
al3 heut’! Wenn Ihr heim fommt und Eure Mutter Euch anjchaut, werden 
ihre Augen fich freuen, und wär’ ich auch Eurer Mutter Kind, hätt’ ich’3 ebenjo 
gethan, denn da hättet Ihr nicht jo herriſch mit mir geredet und mich jo hart 
angefaßt, twie’3 bei Leuten, bie Ihr lieb habt, nicht Eure Art fein mag.“ 

Aus den grauen Augen Chriftoff Kretzer's ſchoß ein ben haſtigen Worten 
des Mädchens entgegnender, jäh aufglühender Strahl. Er zog mit einem Rud 
den blanfen Kreuzgriff feines langen Schwertes herauf, ftieß es klirrend in den 
Boden zurüd, hob den leeren Steinfrug vor fi) und ſchlug ihn auf den Tiſch— 
rand, daß er in Scherben zerberftend umherflog. Dazu ftieß er mit zornig 
anjchwellenden Schläfen aus: 

„Meint auch noch mit der Otternzunge dreinzuftechen, weil Du Dein Bruft- 
tuch Hiebfeft glaubft? Das ift wälſche Kunft und wäljche Zunge! Meine hat 
nichts damit zu jhaffen! Heißt fie gehn, Meifter, wenn Ihr wollt, daß id) 
noch bleibe!“ 

Sibylle war erſchreckt zurüdgefahren; unter dem weißen Bruſttuch, von 
dem er geſprochen, bob es fich jchneller auf und nieder; der Waffenſchmied be- 
ſchwichtigte: 

„Ihr irrt Euch, fie hat's gut gemeint, nicht arg, Freund, denn fie weiß 
nicht, daß es Euch) an’3 Herz geht —“ 

„An's Herz?" fiel Chriftoff Kreber mit rauhem Hohn ein, „ich hab’ keins, 
mir geht nichts dran!“ 


172 Deutſche Runbichau. 


„Er hat mir's ehmald beim Wein erzählt, Kind; es gibt ein Lied, das 

paßt, als wär’3 auf ihn gemadt: 

Es ward getroffen auch ein Weib, 

Ihr Haupt gejchofien von dem Leib, 

Todt blieb fie allda liegen; 

Sie jtillet gleich ihr armes Kind, 

Das Blut fprang über die Wiegen. 
Er weiß nicht einmal, wer’3 gewejen, die ihn da zuleßt mit der rothen Milch 
geftillt; der Mann, der ihn gefunden, hat ihn nach fich geheißen, drum bringt’3 
ihn auf, wenn man von feiner Mutter jpricht und von Leuten, die ihn lieb 
haben, denn er meint, Seiner hätt's.“ 

- Sibylle Brede’3 Hände hatten ſich unwillkürlich ineinander gefaltet, fie 
ftand mit gejenktem Bli und bewegte nur ſtumm das Knie um einen Schritt 
vorwärts gegen den Tiſch. Doch fie fuhr wieder zurücd, denn gleichzeitig jprang 
der junge Reiter ungeftüm auf, ftreifte fie mit einem finjtern Bli und jchattete 
dann das Auge mit der Hand gegen die Mainbrüde Er nahm feinen Sit 
wieder ein und fragte gleichgültigen Tones, als ob er nicht3 von der Mitthei— 
lung des Waffenſchmiedes vernommen: 

„Was fommt da?“ 

Spumber folgte dem gegen die beiden Domthürme deutenden Finger; eine 
Reiterſchaar hob ſich drüben über den abwärtäfteigenden Anfang der Brücke 
herauf; man unterjchied noch nichts, als ein gleißendes Durcheinanderfunkeln 
an der Spibe der Herannahenden, allein der Beſchauer erwiderte: 

„Seine fürftliche Gnaden, der Herr Biſchof, kommt aus der Stadt zurüd; 
man erkennt's von Weiten; er reitet den Bucephalus, den dalmatiſchen Hengft 
mit dem Gofdfettenbehang, den ihm der heilige Vater Julius der Dritte im 
vorigen Jahre geichenkt.“ 

Alle Köpfe der vor dem Schmelgenhof Verfammelten waren jet der Brüde 
zugewandt, auf der die Reiter zwijchen den fteinernen Bildjäulen rechts und 
lintks mit vernehmlichem Hufgetrappel, da3 ſich unter den Wölbungen verftärkte, 
näher famen. Es waren fieben männliche Geftalten und eine weibliche, die mit 
an ber Spibe des Kleinen Zuge zur Linken des Biſchofs ritt, jo nahe jetzt 
ihon, daß Dietrih Spumber nicht mehr mit der Hand wies, jondern nur halb» 
laut die Namen nannte: 

„Der gleich zunächſt in der braunen Schaube mit dem xothen Vollbart ift 
ber Freiherr Wolf Carol von Weindheim, Amtmann zu Iphoven, des Fürften 
vertrautejter Rath, und neben ihm Herr Hans Eytel von Knöringen, auch Seiner 
fürftlihen Gnaden Rath. Dahinter reitet der Truchſeß Chriftoff Veit von Riened, 
Herr David von Rot und der Kämmerer Herr Jacob Fuchs. Der mit diefem 
lat und wie lauter Lebenzluft ausfieht, ift des Heren Herzogs Neffe, Herr 
Hana von Zobel — e8 liegt im Blut —“ 

„Und die jchöne Dame neben dem Biſchof?“ frug Chriftoff Kretzer. 

Der Waffenſchmied warf einen kurzen Blid in die Richtung, wo Fabian 
Brede's Töchterlein ftand, und dämpfte feine Stimme noch mehr herumter. „E3 
ift die Freiin Theodora von Grafened, Schweiter des Freiherrn Friederich zu 


Wilhelm von Grumbad) 173 


Grafened, auch Hofjunker Seiner fürftlichen Gnaden, eine kluge Dame, jo Flug, 
daß die Augen des Herrn Biſchofs hart neben ihr etwas thun, wa3 Eure und 
meine nur von bier aus vermögen, fie noch für jchön Halten. Sie war's ein- 
mal faft jo jehr, wie die rau Anna von Grumbach, aber am Hof mögen ſechs 
Jahre länger fein, al3 ein Dutzend anderswo —“ 

„Was braucht's auch Schönheit bei einem geiftlichen Herrn!“ fiel Kretzer 
ſpöttiſch ein. 

Um die Lippen des Waffenſchmieds ging ein jchalfhafter Zug. „Habt Recht, 
der Herr Biſchof wird nicht drauf jehen, aber der Herzog von Franken mag ab 
und zu ein Auge dafür haben —“ - 

Der Spredher ftand auf und zog haftig jein Baret vom Kopf; Alle um ihn 
ber thaten das Nämliche, und mechaniſch folgte auch der junge Kriegsknecht 
ihrem Beifpiel, denn der Fürftbiihof Melchior von Zobel hielt im nächſten 
Augenblid jein mit goldenen Schaumünzen an Hals und Bruft dichtverhängtes 
Roß vor dem Schmeltenhof an. Eine ftattliche, faft noch jugendlich-Fraftvolle 
Erſcheinung, der eilerne Tyeldrüftung oder ein jpanifches Hofkleid angemefjener 
geftanden hätte, al3 die wideripruchsvoll feine Geftalt verdedende dunkle Sammt- 
ſchaube, welche über die rothflammende Schabrade Herunterfloß; in den heiter- 
blidenden Zügen lag ein harmlos-gewinnendes Lächeln, mit dem er den ehrfurdhts- 
vollen Gruß der Bürger eriwiderte, während feine Hand in jpielender Leichtigkeit 
den jeurig in die Stange beißenden und mit dem Hufe jcharrenden Hengft bän- 
digte. Nun drehte er feiner Begleiterin die breitgewölbte Stirn zu und fragte: 

„Was meint hr, Frau Gottesgabe, zu einer anderen Gottesgabe aus der 
Hand unjerer jungen Hebe bier, ehe wir den jchmalen und fteilen Zugendiveg zu 
unjerem Zion hinauf fortjegen?“ 

Die Freiin don Grafened, deren Namen er aus dem Griedhijchen in's 
Deutiche übertragen hatte, hielt gewandt ihr milchweißes Pferd an jeiner Seite 
an und nidte zuftimmend: 

„Wie e3 Eurer fürftlihen Gnaden gefällt. Komm, junge Hebe, und bringe 
und Deinen beten Wein!“ 

Die von einem Wink begleitete Anforderung galt Sibylle Brede, welche, 
offenbar über den Auftrag nicht befremdet, eilig einen ſchön cijelirten Pokal 
berbeiholte und ihn bis zum Rande gefüllt der vornehmen Reiterin darreichte. 
Man jah, fie that auch das ala etwas Gewohntes und wartete, daß bie Fyreiin 
dem Biſchof den Trunk Fredenzen werde. 

Der Waffenſchmied Dietrih Spumber hatte Recht, die Edeldame, neben der 
das Mädchen ftand, mußte von ausnehmender Schönheit geweſen fein. Sie war 
noch ſchön; die reich-prächtige Kleidung hob ihren jchlanfen, hohen Wuchs, die 
feine Hand, welche den Naden ihres Pierdes Elopfte, ſtach kaum von der perlen- 
den Weihe deflelben ab, und unter dem von Pfauenfedern jchillernden und 
Hatternden Baret blidte ein ebenjo geift- und bedeutungsvolles, al3 in jeinen Linien 
faft claſſiſch vollendetes Geſicht hervor. Nur war e3 vielleiht ein wenig zu 
viel Verſtändniß, das in den Elugen Augen, nicht der erfte Frühduft der Jugend 
hr, der über den Wangen und der hier und da kaum merklich noch durch- 

ıtteten Stimm lag. Aber jo wenig Jemand Sibylle Brede für älter als ihre 


174 Deutſche Rundſchau. 


Jahre halten konnte, ſo wenig war es möglich, der ſchönen Reiterin die doppelte 
Anzahl derſelben abzuſprechen. Rang, Reichthum und Vorzüge des Geiſtes lagen 
unfraglich in der einen Schale vereinigt und in der andern nichts als die roſige 
Morgenröthe der Jugend; doch ein Richter, der nur der Schönheit den Preis 
ertheilen wollte, mußte ſeine Goldkugel in die Schale des Wirthstöchterleins 
legen, ohne befürchten zu dürfen, daß ſein Urtheil von einem menſchlichen Auge 
angefochten werde. 

Es erregte einen Moment den Eindruck als ob der Fürſtbiſchof Melchior 
ſelbſt ſich unwillkürlich in die Lage eines ſolchen Preisrichters hineinverſetzt denke. 
Sein Blick glitt über die vornehme Geſtalt der Reiterin und von dieſer, länger 
haftend, auf das ſchlichte Bürgermädchen, das im Begriff ſtand, jener den Pokal 
emporzureichen, und er hielt, plötzlich die Hand ausſtreckend, den Arm der jungen 
Schenkin mit den Worten zurück: 

„sh habe Dich lange nicht geſehen, däucht mich, Sibylle Brede, Du biſt 
gewachſen ſeitdem.“ 

Die Angeredete ſchrak bei der unerwarteten Anſprache leicht zuſammen, 
daß ihre Hand einige Tropfen von dem Inhalt des Pokals in den Wegſtaub 
verſchüttete, und ſie wandte zugleich das Geſicht vor dem eigenthümlich auf ihr 
haftenden Auge der Edeldame zur Seite. Die Freiin Theodora von Grafeneck 
hatte unverkennbar den Blick ihres fürſtlichen Begleiters wahrgenommen und 
ſchien ein Urtheil aus demſelben herausgefühlt zu haben, das ſie aufmerkſam 
ihrer eignen Entſcheidung unterzog. In ihren großen Augen ſpiegelte ſich das 
Bild des anmuthigen Mädchens, als ſuche ſie dies bis in ſeine feinſten Nuancen 
voll in ſich aufzunehmen, dann legte auch der Ausdruck ihrer Züge nicht nur 
neidlos, ſondern ſogar wie mit zuſtimmender Befriedigung die goldene Preiskugel 
in die Schale Sibylle Brede's. Sie nickte freundlich und lächelte: 

„Du biſt die Nymphe des friſchen Quelles hier, es ſteht Dir zu, Seiner 
fürſtlichen Gnaden den Wein zu kredenzen, Kind.“ 

Sibylle ſtand blutroth vor Verlegenheit und hielt unſchlüſſig den Pokal; 
der Biſchof lachte: 

„Wenn unſer Durſt ſich noch Hoffnung machen darf, müſſen wir wol die 
Aufforderung unſerer ſchönen Freundin unterſtützen, meine Tochter. Der edle 
Wein iſt Deiner Lippen würdiger als des Staubes, der ihn uns vorweg zu 
ſchlürfen droht.” 

Noch immer ſtand das Mädchen ungewiß; nun tönte ihres Vaters Stimme 
in ihrem Rücken. Fabian Brede wollte flüſtern, aber es gelang ihm nicht, und 
er ſagte, Allen rundum vernehmlich: 

„Was ſtehſt denn und gaffſt auf's Mieder, dumm's Mädel? Zier' Dich 
nicht — ſie hat's von mir nicht gelernt, Hochwürdigſter! Wenn Seine fürſtliche 
Gnaden Dir die hohe Ehre anthun will —“ 

Sibylle gehorchte jetzt und hob den Becher ſchnell an ihre Lippen. Aber es 
lief ein Schauer bei der Berührung über ſie, daß ſie haſtig den Pokal nochmals 
abſetzte. 

„Dein Willkomm iſt nicht einladend, Kind,“ ſagte die Edeldame leicht 
tadelnd. „Es iſt, als brächteſt Du Seiner Gnaden Gift ſtatt des Weines zu.“ 


Wilhelm von Grumbad). 175 


Nun trank die Zurechtgewielene mit raſchem Entihluß, doch in ihrer ver- 
legenen Scheu neßte fie nicht nur die Lippen, jondern trank wirflid in athem— 
Iofem Zug. „Genug, Mädel,“ fiel Fabian Brede ihr in den Arm; „ich glaube, 
jegt willft Du Seiner fürftlichen Gnaden nichts übrig laſſen. Nehmt's nicht 
übel auf, Hochwürdigſter, fie ift noch ein Kind und weiß nicht, was ſich vor 
hohen Herrſchaften ziemt. Ihre Mutter war auch jo und blieb’3 ihr Lebelang.“ 

„Scheltet fie nicht, fie ift, wie fie jein joll, und mög’ ihrer Mutter Vorbild 
nachfolgen!” rief die Freiin Theodora. „Wenn Dein Vater Dih zantt, fomm 
zu mir, Sind, ich nehme Dich in Schuß!“ 

Sibylle reichte jeht den Pokal empor. Sie neigte fi) mit natürlicher An— 
muth und jagte leife: 

„Es befomm’ Euch, Herr.“ 

„Herr Herzog, oder Hochwürdigſter!“ ergänzte ihr Vater faft zornig. „it 
der hochwürdigſte Herr Biſchof ein Herr, wie ein Junker von der Hofburg? 
Verzeiht ihr, fürftliche Gnaden, fie hat’3 auch von ihrer Mutter und weiß nicht, 
was fie jpricht.” 

„Ihre Mutter muß eine vortreffliche Frau geweſen fein!“ rief die Edeldame 
abermald. „Zankt mir Euer Töchterlein noch einmal und ich nehme es noch 
heut’ Nachmittag mit mir aufs Schloß!” 

Der Biſchof Melchior hatte den Becher genommen, allein er trank nicht, 
fondern fein Blick ruhte noch wohlgefällig auf der jungen Darbieterin des Pokals. 
Dann ſetzte er diefen an den Mund, zog ihn jedoch gleich wieder zurück, denn 
eine plößliche Anſprache unterbrad) ihn. Chriftoff Kretzer war, feine abgezogene 
Lederfappe in der Hand haltend, raſch Herzugetreten und jagte faft barſchen Tones: 

„Ich habe Eurer fürftlichen Gnaden zu vermelden —“ 

Der Biihof wandte über die Stimme und ihre Art verwundert den Kopf, 
maß den jungen Reifigen mit kurzem Blick und eriwiderte vornehm herablaffend: 
„Rachher, mein Sohn! — Es befomm auch Dir, Sibylle Brede!” 

Der Waffenſchmied Dietrih Spumber fuchte feinen vorherigen Zechgenofjen 
am Wamms zurüdzubalten, doch diejer fuhr unbefümmert um die ihm zu Theil 
gewordene Abweiſung fort: 

„Sc komme von Untern-Bleichfeldt, fürftlihe Gnaden.“ 

Nun unterbrach Meldhior von Zobel, abermals den Kopf wendend, feinen 
Trunk, mit anderem Ausdrud indeß al3 zuvor. 

„Ein tüchtiger Weg; er verdient wol, daß ich Dich zuerft höre, mein Sohn. 
Du haft mir etiwa3 zu melden?“ 

„Nur zwei Worte. ‚Ya‘, und —“ 

„Sa, ift ein gute Wort, es bedeutet immer Gute. Man darf es das 
Wort Gotte3 und feiner Freunde heißen; nein, jagt der hölliſche Erzfeind und 
feine Anhänger. Und da andre?” 

„Heute.“ 

„Auch ein gutes Wort. Heute ift beifer als geftern, denn das Heut’ ift 
näher, und vielleicht befjer al3 morgen, — wer weiß, wa3 una morgen beftimmt 
it? Gutes Doppelmwort verdient guten Doppellohn, Weindheim.“ 

Der Biſchof drehte lächelnd die Stirn zu dem Hinter ihm Haltenden Roth- 


176 Deutiche Rundſchau. 


bärtigen und nidte, wie der Freiherr Wolf Carol von Weindheim aus feiner 
Börje einen Doppelgulden hervorzog, nahm denfelben und reichte ihn Kretzer mit 
den Worten: 

„Rimm, mein Sohn, und gedente meiner dabei. Es ift fein Handgeld, denn 
meine Reifigen find nicht von diefer Welt und Dein Schwert würde mir nichts 
nußen. Aber ich weiß, das Eifen hat Verwandtſchaft mit dem Silber und zieht 
es gern an. Es wird wol feine Glaubens, der Berge verjeßt, bei Dir bedürfen, 
dab Du ein Wunder vollbringft und es in flüſſiges Gold von dieſer Art ver- 
wanbdelft.“ 

Er leerte mit heiterer Deutung den Reft des Pokals, gab dem Mädchen 
denjelben zurüd und fügte hinzu: : 

Met es Dir aud, Sibylle Brede: Ja ift beffer als Nein. Ya ift Gott 
und den Menſchen mwohlgefällig, bringt Glück und Zufriedenheit, nein ſpricht 
das verſtockte Herz, und die Reue folgt Hinterdrein. — Behüt’ Euch Gott, meine 
Freunde!” 

Die Bürger grüßten ehrerbietig und jahen dem fich fortbeiwegenden Reiter- 
zug nad. Sie murmelten untereinander: „Ein leutjeliger Herr! — Seiner ift 
ihm zu gemein. — &3 gibt feinen Zweiten twie ihn im deutichen Land. — Ein 
Fürſt und ein Biſchof und ein Menjch.“ 

„Schreib’ Dir die Worte des Hochwürdigſten auf Dein Täfelchen, Mädel, “ 
fagte Fabian Brede, „und daß Du mir ein andermal nicht wieder Schand’ 
machſt und Di jo dumm beträgft! Glaubft wol, daß Du der vornehmen 
Freifrau wirklich gefallen? Ausgeſpottet hat fie Dich, dumme: Ding! Schau’, 
da hält der Hochwürdigſte noch an und fieht zurück!” 

Die Reiter hatten ihren Weg nur ein Dutzend Schritte weit fortgejeßt und 
hemmten ihre Pferde noch einmal an der Ede des Schmeltenhofs. Sie folgten 
darin dem Beilpiel ihres Gebieter3, der, offenbar in heiterfter Laune, mit ber 
Hand auf das Kleine, drollig nachdenklich an der Erkerwand hockende Stein- 
männchen hinwies und, fich zu feiner Begleiterin wendend, jcherzenden Tons fagte: 

„Der Kleine Kobold hat etwas im Sinn; jo oft ich vorüber fomme, guet 
er immer auf denjelben Fleck drüben hinunter, Wir müſſen doch einmal nad)- 
jpüren, ob er uns eine Stelle, wo Gold vergraben Liegt, kundthun will.“ 

„Das liegt anderswo,“ lachte die Freiin, „an einer Stelle, wo man nicht 
darnach zu graben, jondern e8 nur zu nehmen braucht.“ 

„Slaubt Yhr? Glaubt Ihr? Mir wäre da3 Koboldchen da als Hüter 
Vieber. Das Gold ift gemeiniglich unter der Hut von Drachen, und wer es 
nehmen will, muß etwas dafür geben, verjchreiben, heißt's in den Märchen.“ 

„Aber das Märchen gibt fi aud mit einigen Keßerjeelen zufrieden,” warf 
Theodora von Grafeneck hurtig ein, „und mich däucht, das ift ein guter Handel, 
mit dem der Himmel den Höllendrachen betrügt.“ 

Der Biſchof Melchior von Zobel Tächelte vergnügt: „Pia fraus — pia fraus. 
hr jeid eine Gottesgabe, die ftet3 gute Deutung weiß. Ueberlegen wir's! Sie 
fommt aljo.“ 

„Ber?“ 


Wilhelm von Grumbad). 177 


„Eure —“, der Sprecher blinzelte einen Augenblick ſchalkhaft mit den 
Lidern — „wie jagt man’3 in der Spradhe Eures Märchens? Votre devaneiere.” 

„Ich glaube, Ihr dächtet heut’ weniger der Vorfahren als nachkommender 
Enkelgeſchlechter,“ lachte die Edeldame mit jchnell vorbeihujchendem Blick, und 
ihren Zelter leicht mit der Gerte anjpornend flog fie den fteil zum Frauenberg 
emporführenden Weg vorauf, an deifen Ende hinter breit herabgelafjener Zug- 
brücke hochgewölbtes Steinthor des fürſtbiſchöflichen Schloffes die vornehme Reiter- 
gruppe aufnahm und jet völlig den nachblickenden Augen der vor dem Schmelen- 
hof Zuriücgebliebenen entzog. Die Spätnachmittagjonne vergoldete ſchweigſam 
die Zinnen, Thürmchen, das Gemäuer um die dunklen Schießicharten der mächtig 
in’3 Blau ftrebenden Veſte und lag unter diefer noch heit auf dem fteilen Abhang, 
wo die grünen Trauben des Schloßmweines fi) noch faum mit winzigen Beeren 
zwiichen den Blättern hervordrängten. Die Gäfte Fabian Brede's aber waren 
an den Rebenjaft de3 Vorjahres zurückgekehrt, und nur da3 kleine Männchen an 
der Steinwand des Schmeltenhofes blickte an feinem Wappenjchild vorüber un- 
ausgelegt mit ernfthaften Augen auf einen dem plätjchernden Brunnen grad’ 
gegenüber befindlichen Exrdfled an der „Ede der Straßen und Winde“. 

Chriſtoff Kretzer ftand noch mit den beiden empfangenen Gulden in ber Hand 
neben dem Waffenjchmied, der ihn neugierig fragte: 

„Ihr hattet aljo doch ein Gewerb bei uns? Dacht's mir wol, man ſieht 
Euch Oberländiichen ſonſt felten bier; aber verftanden hab’ ich Eure Ausricht 
nicht. Was ift Ja umd Heute?“ 

„Fragt's Waſſer, das da vorbeiſchwimmt; ich Hab’ nicht beſſeres Willen 
davon.” 

„Weil Ihr wie der Fiſch drin ſeid!“ 

„Weil's mich nicht angeht und Euch nicht, wenn ich's wüßte.“ 

Spumber late. „Da Ihr von der nämlichen Höflichkeit gegen die hübſcheſten 
Mädel feid, muß fich’3 ein grauer Bart auch wol gefallen laſſen. Kännt’ ic) 
Euch nicht von vordem, ſo hieß’ ich Euch nicht bleiben, Junker Grobian! Aber 
Ihr kocht die Suppe heißer, ala hr fie anrichtet. Kühlt Euch noch mit einem 
friſchen Schluck, wie's der Herr Biſchof Euch jelber gerathen!“ 

„Ein Trinkgeld für einen mweglagernden Schluder wie ih, nicht wahr?“ 
verjeßte der junge Kriegsknecht mit rauhem Gelächter. Er machte eine ver- 
ächtliche Geberde, die Gulden fortzujchleudern; der Waffenſchmied hielt ihn 
am Arm: 

„Kein übles, mein’ ich, und ich denke, zu Würzburg unterm Stein fändet 
Ihr wol beifere Verwendung dafür!” 

„Habt Net, 3 ift Silber, man kann Freikugeln draus gießen.” Ex 
ftedtte die Münzen in jein Wamms und fuhr heftig fort: 

„Sagt, Meifter, warum reitet der Herr Melhior von Zobel auf dem 
Goldhengft als Fürftbiihof und Herzog von Franken und wirft mir, dem 
reifigen Knecht Chriſtoff Kretzer, ein Trinkgeld für meine Botihaft zu? Wißt 
Ihr's? Warum fite nicht ich, der Chriftoff Kretzer, auf der rothen Schabrade 
und werfe dem Melchior Zobel einen Heller von meinem Weberfluß in den 
Staub? Wißt Ihr's? Schmedt ihm der Wein anderd auf der u Hat 

Deutihe Rundſchau. I, 11. 


178 Deutiche Rundſchau. 


er mehr Kraft in feinem Arm? Kommt andre Blut, al3 mein’3, heraus, 
wenn Eure Klingen ihm in den Leib fahren? Wißt Ihr's? — Wo ift mein 
Pferd? Ich Hab’ Eure Stadt jatt! Draußen ift’s beſſer!“ 

Der Bürger lächelte. „Warum bin ich der Schwertfeger Dietrich) Spumber 
zu Würzburg und nicht von Gottes Gnaden König Carolus der Tyünfte, des 
heiligen römiſchen Reiches Kaiferlihe Majeftät? Wenn das Blut noch heiß 
gährt, fragt man's fi) wol manchmal und hat nicht viel kluge Antwort drauf. 
Aber fie kommt, wenn's Gottes Wille ift, fie mit den Jahren wachſen zu laffen, 
und jagt’3 Einem jedesmal deutlicher: Sei zufrieden, daß du Dietrih Spumber 
bift, der da3 Eiſen ſchweißt und ſich hernach an fühlem Trunk gut thut. Dente 
mir, der Schweiß unterm Goldbehang und der Edelfteinfrone ift nit von 
andrer Natur und trodnet vielleicht nicht jo jchnell beim Weinfrug als meiner. 
Habt aber Recht, 's fiel mir auch jo ein, wie id Euch vor dem fürftlichen 
Herrn ftehn jah. Ihr habt jo was von feiner Art, wie er vor ein zwanzig 
Jahren dreinihaute und jeinen Schatten warf — nur nicht jo finfterbrauig, 
Freund — und wenn Ihr in der Sammtjchaube auf dem Goldhengft gefeifen 
hättet, dürft” Euch auch Keiner für den reifigen Knecht Chriftoff Kretzer an— 
gejehen haben. Macht's ihm nach, Freund, die Welt fteht Euch offen! Seine 
Mutter hat ihm auch feinen Purpurvorhang um die Wiege geichlagen, er war 
einmal ein Reitersmann wie Ihr. Kirchenſegen ift goldner Regen, und Prieſter— 
tonfur die halbe Chur. Wenn Ihr's wollt, will ich Euer Pathe jein, wie ich's 
bei der Sibylle da gewejen, und meine bejte Hlinge als Taufgeſchenk drauf 
geben. Wär's nicht qut für meine Sünden, Mädel, wenn ic mir das Verdienft 
erwürb', jolche Ketzerſeele aus der ewigen Weißglüheſſe loszuſchmieden?“ 

Der junge Reiter hatte antiwortlos fein an der Hauswand befeftigtes Pferd 
herbeigezogen, und die lebte Trage Spumber’3 war an Sibylle Brede gewendet, 
die mit langjam zögernden Schritten näher getreten. Sie ftand niedergefchlagenen 
Blides, nickte nur ftumm zu der Trage des Waffenjchmiedes, und ſagte nach 
einer Weile mit unficherer Stimme: 

„Wollt ſchon verreiten, Herr Kretzer?“ 

Der Angeredete ſchwang fi) ohne Erwiderung mit einem Sat auf fein 
Pferd und jchlug diefem den ſpitzen Ferſenſtachel in die Seite, daß es ferzengrad 
mit ihm in die Luft ſtieg. Nun fuhr das Mädchen raſch fort: 

„Weiß nicht, ob ich Euch je wieder jehe, — wollt’ Euch noch abbitten, 
daß ich Euch vorhin weh gethan. 's muß hart fein, wenn man feine Mutter 
hat — id) Hab’ auch feine mehr —“ 

„Habt Dank für Red’ und Trunk, Herr Dietrich Spumber, und gebt Adht, 
daß Ihr nicht Löcher in den Bamberger Vertrag ſchweißt! Thut Ihr's, jo 
ficht's mich nicht an, ob Ihr des römischen Reiches Majeftät jelbjt geworden 
wäret und ich nur der Chriftoff Kretzer geblieben, und Ihr jeht mich wieder 
am Stein! Sonft wol nimmer! B’hüt Euch der Hinkende, Meifter! — Daß 
di Gott’3 Element jchänd’, Gaul! Was Haft noch unterm Fyrauenberg zu 
ſchaffen?“ 

Der Reiter hieb ſeinem widerſtrebenden Thier die Ferſen härter in die Weichen 
und es ſchoß in wieherndem Aufſprung fort; der Waffenſchmied rief hinterdrein: 


Wilhelm von Grumbad). 179 


„Wenn mich der Hinkende behüten joll, jo b’hüt’ Euch feine rau! Könnt’ 
nicht jchaden, wenn fie Euch einmal für eine Stund’ ihren Gürtel umthät, 
Freund! Und jeht Ihr Euren Statthalter auf dem Gebirg, jagt ihm, jollt’ 
fi auch lieber um jeine kranke Frau kümmern, al um Wind und Wetter im 
römiſchen Reih! Die dran herumjchaffen, machen’3 nicht beijer, jondern ärger!“ 

Der Reiter war an der Ede der Zeller Gafje verſchwunden; Sibylle jah 

mit leife zitternder Wimper in die leere Richtung nad); ihr Pathe lachte: 
| „Weiß, was Du denkſt, Mädel. Wollt’ft, Du wär'ſt ein Mannsbild, um 
ihm jeine Grobheit heimzahlen zu können, daß er auf Deine artige Red’ nicht 
einmal Antwort gegeben.“ 

Das Mädchen drehte fich bald. „Er hat feine Mutter gehabt und kann 
nicht dafür; ich glaub’, der Vater ift auch jo gewejen, al er noch ledig war 
Mas ift’3 mit dem Hinkenden, Herr Pathe, jeiner Frau, die ihn behüten fol, 
und ihrem Gürtel, der ihm gut thät'?“ 

Mancher Tropfen aus der Hippofrene des Altertfums, die unter Völker: 
trümmern und Mönchsſchutt eines Yahrtaufends vergraben die Wünjchelruthe 
der Humaniften im Beginn des Säculums neu aufgefunden? war bi3 unter bie 
Dächer de3 deutſchen Bürgerthums hinabgefidert, aber bis in Sibylle Brede's 
Kämmerlein war die Kunde von dem hinkenden Schmied und feiner jchönen 
Frau doch nicht gedrungen. Dafür theilte Spumber’3 Gelehrſamkeit es ihr 
bereittwillig und weitſchweifig mit, ohne Arg Manches vielleicht in ausführlicherer 
Art, als jpäteres Jahrhundert es für ein Mädchenohr paſſend gefunden. Dod) 
Sibylle hörte es ebenfo ohne Arg, nur mit großblidenden Augen, und dann 
verſetzte fie: 

„Und wen fie den Gürtel lieh, der ward jo, dab alle ihn lieb haben 
mußten? Wißt, Herr Pathe, beſſer, däucht mich, wär's geweſen, er hätt’ ge— 
macht, daß Einer allein ihn jo recht lieb haben gemußt.” 

„Was Dein Züngle jchwaßt, Kind! Willft den Herrn Erasmus von 
Rotterdam, den Mutianus Rufus und Eobanus Heſſe verbeffern? Arg gottloje 
Menſchenkinder ſind's wol und Ketzer mögen’3 auch im Herzensgrund fein, 
aber von den luftigen Dingen wiljen jie beifer Beſcheid ala ih und Du.“ 

„Luftig heißt Ihr's, Herr Pathe? Mich däucht's gar ernft, al3 ob's nichts 
Ernſt'res auf der Welt gäb’.“ 

„Bott behüt', Kind, was für ernſthaft-närr'ſche Augen Du machſt! Läfter- 
liches Heidenthum iſt's, Gott wird’3 auch wol vergeben, ex hat’3 ja zugelaflen 
und in uns Menſchen hineingelegt. Davon weißt Du noch nicht3 mit Deinem 
Kindagefiht! Aber dem Kretzer thät’3 wol qut, wenn mind'ſtens Giner ihn 
einmal mit dem Gürtel jehen könnt’, denn er mag Recht haben, daß ihn Keiner 
auf der Welt mit dem Herzen anfieht, und ’3 ift nur nach Verdienſt. Müßt' 
wunderliche Augen haben, das Herz, was es jollt’! Haft ’3 freilich nach guter 
MWeiberart mit dem richtigen Wort gefagt; man kann ihn nicht drum wie ein 
Pfaff zwiſchen's Gebiß nehmen. Er ift unter die Wölfe gefallen von jeiner 
Mutter Bruft, hat Wolfsblut getrunken und ift nad) Wolfsart geworden. 
Wär's anderd gekommen, ritt' er vielleicht als ein vornehmer Junker wie Hans 
Zobel Hinter dem fürftlichen Herrn drein. ’3 ift die Welt, Kind, und wird's 

12* 


180 Deutiche Rundichau. 


bleiben, wie man an joldem Tag durftig bleibt, jo Mel Krüge man aud trinkt. 
Wie wär's noch mit Einem auf den Bamberger Vertrag, Mädel, dat wir Fried’ 
und Ruh’ behalten für den Reft, der uns nod) bleibt?“ 

„Wüßt' Befleres drauf zu trinken, al3 daß der Beitand hat, Herr Pathe —“ 

E3 entfuhr dem Mädchen und fie ward roth, ala hätt’ fie'3 zurückhalten 
mögen; doch der Waffenſchmied gab nicht Acht drauf und meinte: 

„Haft Recht, Dein Reft ift voller, haft kaum die Blume davon weggenippt, 
und bis für Dich die Leje drankommt, wird’3 gejorgt fein, daß der Wein am 
Main noch mandhmal gährt. Schau’, wie die Abendjonne auf dem Käppele 
blinkt, al würf’ Einer rothe Träuble dawider umd der Saft liefe dran her= 
unter. Woll'n doch lieber auf den Bamberger Vertrag noch Eins trinken, Kind!“ 

Dietrich Spumber ſetzte ſich zu abendlicher Zwieſprach neben die andern 
Bürger, Sibylle brachte ihm den gefüllten Steinfrug und ging. Die Krüge 
Happten jelt’ner, der Beſuch im Schmeltenhof verringerte fi) mit der mälig 
einbrechenden Dämmerung. Das Töchterlein Fabian Brede's ftand weiter hinaus 
an der Steinbrüftung des väterlichen Hof3 und ſah auf den grün vorüber» 
jchnellenden Main * hinunter. Die Strudel hüpften, wirbelten, löften fich und 
ihhoffen davon; auf der Brüde ftanden wie vor Jahrhunderten die alten Stein- 
geftalten und blicdten auf das raftlo8 unter ihnen ziehende Wafler. Darüber 
ragte vom Bergvorjprung das Käppele in’3 Abendblau, die Bergkapelle draußen 
vorm Thor Sanct Burkhardi, auf der das letzte Roth jet in dünnen, blafjen 
Streifen zerrann. Es war Alles, wie am Abend zuvor, wie jeit mandem 
langen Jahr, und doch ſah's Sibylle Brede ander? an al3 geftern und als je. 
Oder thaten’3 ihre Augen, daß fie ander? drauf Hinblidten? Sie wußt' es 
nicht; aber es war jo traurig und jchön zugleich, jo Jahrhunderte alt und jo 
faum zu denfen neu, daß es wol nicht anders fein fonnte, e8 mußte eine Thräne 
in die Augen heraufziehen. Und Sibylle jah nad, wie der Tropfen ſich von 
der Wimper losmachte und über die Steinwehr in den Main binunterfiel, und 
die eiligen Waſſer trugen ihn zu Thal. 

Dann war Alles ftill in tiefer Sommernadt, nur der Fluß raufchte lauter 
al3 im Zagesliht, manchmal rief ein Wächterhorn wie aus Wolkenhöh' droben 
herab vom Frauenberg. Das Kämmerchen Sibylle Brede’3, das rückwärts auf 
leerem Platz gegen den Main hinausging, füllte die Luft jo ſchwül; fie mußte 
das Fenſter aufthun. Der Vollmond ftand drüben hinter dem Strom über den 
ihtwarzen Dächerumriſſen der Stadt; ihre Augen waren jo müde und konnten 
doch nicht ablafjen, zu ihm aufzufehn; er war aud jo traurig-[hön und kam 
und ging jo über die Berge und die Städte, die fteinernen Brücdengeftalten und 
die immer neuen Menjchen darunter von Ewigkeit zu Ewigkeit. Warum that 
er’3 und warum famen und gingen die Menſchen und warum war die Welt 
jo jhön und doch jo traurig? So todtenruhig lag Alles, nur filberner Glanz 
und ſchwarzer Schatten, und dann zerfloß beides ineinander, wie die Schönheit 
und die Traurigkeit, die unfihtbar daraus aufftieg. 

63 war wol nur wacher Traum der müden Augen, daß ſich drunten im 
Schatten dicht vor dem Fenſter etwas regte. Das Hare Mondlicht fiel auf des 


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Wilhelm von Grumbad). 181 


Mädchens weißes Bruſttuch, über ihr Gefiht und webte blendend ungewiſſes 
Strahlenne vor ihren Augen. 

War es auch eine Traumftimme der jchönen, traurigen Nacht, die jetzt 
plötzlich aus dem Schatten aufflang? Sie jah großblidend hinab, der Schatten 
bewegte fich, wuchs an über den beftrahlten Boden und ftieg langjam an ihr 
Tenfter hinauf, bis zu ihrer Hand, als wolle er darnad) greifen. Dann ftand 
inmitten des webenden Strahlenneßes eine hochwüchſige Geftalt und jagte mit 
harten Lippen: 

„Der Mond jcheint auf Dein Brufttuch, ich kenne Did, Sibylle Brede. 
Es ift gut, daß Du noch wacht, denn Du bift’s, die ich ſuche. Dein Pathe 
hat mid) gefragt heut’, weshalb ih nad) Würzburg gefommen, und ich habe 
gelogen, als ich ihm Antwort gab. Verdammt jei mein Mund, ich will feine 
Lüge reinwaſchen an Deinem Hohn! Jh bin nad) Würzburg geritten, um Dich 
noch einmal mit meinen Augen zu jehen, Sibylle Brede; der Teufel, der mid) 
zuerft in den Schmeltenhof gebracht, hab’ die Lüge zurüd, und wenn er Dich 
in feine Hölle hineinloden tann, will ich jein Knecht jein in alle Ewigfeit!“ 

Der Sprecher wandte fich gegen den Schatten zurüd, aus dem Sibylle ſich 
jet den glänzend gemähnten Kopf eines Pferdes hervorftreden jah. Sie war 
erichredit aufgefahren und blickte wie betäubt drein; ihr nur loder gegen bie 
Nachtkühle beim Auskleiden wieder um den Naden gejchlungenes Tuch glitt bei 
der Bewegung herab, ſchwebte flatternd in die Zjefe und lag weiß beftrahlt 
drunten am Boden. Chriftoff Kretzer ſprang darauf zu und rief: 

„Soll das Schnee jein, den Dein Hohn mir in die Hölle nachwirft, Sibylle 
Brede?“ 

„Bewwahrt’3 — und ſchaut es an, wenn hr denkt, daß Euch Keiner auf 
der Welt lieb hat — und kommt wieder — bald — und bringt’3 mir zurüd!“ 

Ahr Mund hatte es zitternd durch's Mondlicht geflüftert; doch gleich dem 
eines Raubvogels hatte jein Ohr den Ieijen lang aufgefangen, und mit dem 
Stoß und Schrei eines auf jeine Beute ſchießenden Falken aud) riß er das weiße 
Tuch vom Boden, drüdte jein Gefidht hinein und flog auf's Pferd. 

„B'hüt Euch Gott!” jagte Sibylle noch einmal mit bebender Stimme, doch 
antiwortlos, wie am Nachmittag, mit weißflatterndem Fähnlein in der Hand 
jagte er durch's flimmernde Licht davon, die Zeller Gaffe hinab, unter dem 
Frauenberg hin, und an den flaunenden Wächtern vorüber durch das geöffnet 
barrende Zeller Thor; datın verſchwamm jein Hufichlag mit dem Raufchen des 
Fluſſes in die mondübergoffene Naht hinaus. 


Um mande Stunde früher ſchon hatten fi) im umzäumten Geheg eines 

der Höfe des biſchöflichen Schlofjes die Kapaunen und Faſanen, Pfauen und 
Kraniche in geionderten Gruppen zur Ruh' gelebt; doch die Inſaſſen der alten 
Burggemäder huldigten nicht dem gefiederten Vorbild, jondern aus dem faft 
Hafterdiden Steingemäuer der Fenſterhöhlungen hervor flangen Gelächter, Becher⸗ 
Hall, Gemenge von Stimmen und Mufittönen. Männliche und weibliche 
timmen durcheinander; das legte Tageslicht erhellte und verhüllte ein Bild, 

= nad der Anſchauung jpäterer Zeit mandes Schleier bedurfte, den die 


182 Deutiche Rundſchau. 


Dämmerung darüber breitete. Die großen Thüren einer Reihe ineinander 
laufender Säle ſtanden geöffnet, und die Kämmerer und Truchſeſſen, Stallmeiſter, 
Räthe, Junker, Verwandte und Gäſte des fürſtbiſchöflichen Hofes gaben ſich 
mannigfachſter Kurzweil und Beluſtigung hin. Schalksnarren ſtanden hier und 
entriſſen durch Worte und Poſſen den Zuhörern ſchallendes Auflachen, weiterher 
Hang das Eiſengeklirr von Fechtenden, aus anderem Raum Gläſer- und Pokal— 
geklirr. Hin und wieder ſaß ein Paar ernſthaft in's Brettſpiel vertieft, daneben 
ſchoſſen eifrige Hände um hohen Einſatz nach der Pilketafel, Edeldamen und 
Junker tanzten zu Geſang und Inſtrumentenklang hiſpaniſch-italieniſche Tänze, 
Algarde und Paſſioneſa. Doch das einbrechende Zwielicht ſetzte gleichmäßig allen 
dieſen Unterhaltungen ein Ziel und zog die Theilnehmer allmälig in einen großen, 
koſtbar ausgeſtatteten Saal, den ſchön geſchnitzte Bänke und Seſſel an den 
Wänden umgürteten und in welchen die adeligen Frauenzimmer des fürſtlichen 
Hofs ſich zuſammengefunden. Doch die jungen Freiinnen und Edeldamen ſaßen 
nicht auf den Stühlen und Bänken, ſondern lagen hingeſtreckt auf weichen, in 
die Mitte des Gemachs gebreiteten Teppichen und Tapeten, und die Herren und 
Junker lagerten ſich, von der Anſtrengung ermüdet und vom Wein neu belebt, 
zu ihnen auf den Boden. Mancherlei Witzwort klang hin und wieder, der Art, 
daß ein Entfliehen der Frauen dabei zu erwarten ſtand; allein ſtatt deſſen 
ward es händeklatſchend von ihnen belacht, und manches Flüſtern zog das Ohr 
bereitwillig zu ſich heran. Die Hände ſpielten durcheinander und hie und da 
begegneten ſich die Lippen; ein keckerer Arm ſtreckte ſich aus und die tiefere 
Dämmerung verbarg ſein Ziel. Nur halb erſchreckt, doch nicht unwillig durch— 
tönte manchmal der leichte Aufruf eines Mundes das Gelächter und Geflüſter — 
es war das ſechzehnte Jahrhundert, nicht mehr verſtändlich heut', doch vom 
Kaiſerſchloß der römiſchen Majeſtät und der Churfürſten des Reichs bis zur 
Ritterburg hinab ſich gleich an Sitte und — Freiheit. 

Der Fürſtbiſchof Melchior von Zobel befand ſich heut' nicht in den 
abendlichen Zuſammenkunftsſälen, ſondern er ſaß in ſeinem dichtverhängten und 
von einer Lampe erhellten geheimen Schreibgemach und auf Armeslänge ihm 
zur Seite die Freiin Theodora, nachläſſig halb auf eine Ruhebank ausgeſtreckt 
und in's Licht blickend. Als Dritter und Letzter theilte den Raum der Freiherr 
Wolf Carol von Weinckheim. Er hatte vielfache Papiere vor ſich auf dem Tiſch 
liegen und warf bald auf dies, bald auf jenes aufmerkſamen Blick. Offenbar 
hatte er eine Rechnung angeſtellt und recapitulirte dieſe laut jetzt an den Fingern: 

„Würzburg — Biſchof Weygand zu Bamberg — Biſchof Moritz zu Aich— 
ſtatt — der Teutſchordensmeiſter, Herr Wolfgang, Adminiſtrator des Hochmeifter- 
thums in Preußen — die Städte Nürnberg, Windsheim, Rothenburg an der 
Tauber —“ 

Der Biſchof nickte. „hr vergeht unfern Vetter von Braunſchweig, Wolf. 
Haltet Ihr's zu gering, den Bären in feinem Erdloch aufzuftöbern ?“ 

„Blaffenburg und Hohenlandiperg find Felslöcher, gnädigfter Herr, und der 
Bär hat uns öfter beiviefen, daß wir feine Tagen zu gering geſchätzt haben. 
Ihr wißt, es ift fo feine Art, fich neue Kraft hineinzuleden. Was auf Bürger: 
meifter und Rath fällt, jo find die von Nürnberg feheriih; außerdem hängen 


eN — 


Wilhelm von Grumbad). 183 


fie dort nad) dem Wort Keinen, eh’ fie ihn haben, und man thut Hug, es ihnen 
nachzumachen und an ihrem Wort nicht zu hängen, bevor man ihre Ducaten 
im Sad hat.“ 

Melchior von Zobel lachte troß des Ernſtes, der jebt jein Geſicht umwölkte. 
„Ma foi! ketzeriſch? Wer ift’3 nicht, Wolf Weindheim? hr etwa oder ber 
Alte auf Sanct Petri Stuhl? Ich denke, Gottesgabe, wir haben alle etwas 
von dem klugen Auguftiner in uns, der Wein, Weib und Gejang liebt.“ 

Die Freiin drehte den Kopf. „Das heißt, wenn der Eine alt und das 
Andere jung if. Den Gejang können wir dann allenfalls am Leichteften 
entbehren.“ 

Auch Wolf Weindheims Mund unter dem rothen Barte mußte fi zu 
einem halben Lachen verziehen, der Biſchof that dafjelbe und erwiderte: 

„Du läfterft, Gottesgabe, und verläumdeft. Ich Habe heut’ mit Vergnügen 
jungen Wein getrunfen, und ehe noch einige Stunden vergehen, werde ich meine 
Thür einer alten rau öffnen, um fie vor Bedrängniß und Gewaltthätigfeit, 
die ihr drohen könnte, zu bewahren.“ 

Theodora entgegnete mit näjelndem Ton: „Eine fromme Handlung für 
Eure einftige Himmel3abrehnung, Hochwürdigſter. Es müſſen wahrhafte Un— 
geheuer jein, vor denen hr jie gegen Gewaltthat zu ſchützen nöthig habt. 
Fängt man in Braunſchweig Feuer, wenn man eine Mumie fiehbt? Doc laßt 
uns auf der Erde und bei ihrer Rechnung bleiben; mich däucht, die Zeit drängt.“ 

Weindheim ftimmte zu. „Mir ift’3 gleicherweile unverftändlid, durch 
welche leberredung und zu welchem Zweck Jhr die Kranke hieher gebracht Habt, 
gnädigfter Herr. Gedenkt Ihr Euch ihrer als Geißel zu bedienen? Ich glaube 
nicht, daß hr ein wichtiges Löjegeld dafür erzielen werdet. Vorhin ſprachen 
wir von Bären, aber Jhr wißt, der Fuchs, der mit ihm hauft, Hat nicht nur 
feine Schlauheit, jondern den Muth dazu, wenn er in der Falle figt, ſich das 
gefangene Glied vom eigenen Leibe wegzubeißen, und ich kann mir nicht denken, 
da er mit diejem viel Umftände maden würde.“ 

„Ihr ſeid noch jung, Wolf, ich beneide Euch d’rum. Du bift’3 aud), Gottes- 
gabe, aber Eure Natur verfieht Euch in joldden Dingen mit feinerem Verſtändniß. 
Zu weldem Zwed? Du vermagft e3 zu denken, nit wahr?“ 

Die Angeredete bejahte. „Er hat Recht, Weindheim — vielleicht; ich weiß 
e3 nicht, doch ich fenne den Zweck.“ Der Biſchof fuhr lächelnd fort: 

„Bielleiht nur, meinft Du? Die Jahre find ſchlimme Ketzer, fie laſſen 
uns in Alles Zweifel jeßen; bitten wir den Herem, uns auch ihmen gegenüber 
findli gläubigen Sinn zu bewahren! Durch welche Neberredung, fragt hr, 
Wolf? Sind wir nit alle Chriften und — wenigſtens jeit dem Bamberger 
Vertrag — alle Brüder und Schweftern? Soll ein Bruder nit warnen, 
tathen, helfen, wenn er befürdjten zu müſſen glaubt, jeiner Schweſter könne eine 
Gefahr drohen? Um wie viel mehr, wenn dieje frank, ſchutzlos, von ihrem 
"ann verlafien ift. Und kann man willen, ob der Böltertroß unjeres Vetters 

Braunſchweig darauf Rüdfiht genommen haben würde? Die beften 
ijchen find Heut’ oft nicht wie wir, jondern von rauher Art; wir hätten die 


184 Deutſche Rundſchau. 


Schuld ihres Todes auf uns laden können. Das habe ich ihr geſchrieben und 
ihr angeboten, bis der lärmende Durchzug vorüber ſei, bei uns fichere Zuflucht 
in ihrer Hülflofigfeit zu juchen.“ 

„Und Habt, um fie völlig zu beruhigen, zugleich Untern-Bleichfeldt mit in 
Schub genommen, gnädigfter Herr: der Grund dazu war gut, und der Fuchs 
wird es jo leicht nicht wieder aus dem Eijen herausbeißen. Doc trogdem Hat 
fie zuftimmend geantwortet?“ 

„Ihr hörtet’3 jelbft; ‚Ja‘ und ‚heute‘.“ 

„Verzeiht, dieſe Bereitwilligkeit erjcheint mir auffällig groß.“ 

„I ſagte es ſchon, Ihr jeid noch zu jung, Wolf, troß Eurer Klugheit; 
vor einem PVierteljahrhundert dachte man anders, und Leute, die fich defjen zu 
erinnern vermögen, thun’® noch heut’. Laßt uns zu Anderem! Die braun- 
ſchweigiſchen Völker gehen nad) Schwaben und machen nur Raft am Main, die 
fi gegen unjern Wunſch von Tag zu Tag Hinzieht. Man kann laut Einfpradhe 
dagegen in Speier erheben.“ 

„Gut, gnädiger Herr.” 

„Der Erzherzog Marimilian joll zu Wien ſchwer erkrankt jein.“ 

„Nach meinen Nachrichten noch nicht.“ 

„So ift vorauszujehen, daß Gott die Strafe für feinen Uebertritt zum 
Ketzerthum nicht lange mehr verzögern wird. Vielleicht fteht es in feiner Abficht, 
au den Sohn der Lüge, den Hofprediger Pfaufer, an der feinem Herrn be— 
ftimmten Vergeltung mit Theil nehmen zu laffen: ich ftelle e8 der höheren 
Weisheit anheim. Tragt Sorge, daß die erfahrenen Heilkundigen nicht3 außer 
Acht lafjen. Der Verluft würde den König Ferdinand in tiefe Trauer verjeßen, 
doc) fein frommes Gemüth ſich ohne Groll der Hand der Vorjehung beugen.” 

„Wenigften ohne Uebertragung defjelben auf ihre ſchwachen irdiſchen Werk— 
zeuge. — Churfürft Moritz, gnädiger Herr?“ 

Der Biſchof ftand auf und ging einigemal antwortlos im Zimmer bin und 
wieder. Dann hielt er vor jeinem Rath inne und entgegnete: 

„Er hat erwidert, daß er für die Aufrechthaltung de3 Bamberger Vertrags 
bürgen und feine Verlegung defjelben dulden werde.“ 

„Dur den Markgrafen?“ 

„Bielmehr zweideutig, wie immer; offene Hand.“ 

„Sorgen wir für die richtige Deutung, gnädiger Herr! Der Churfürft if 
mächtig aufgewachſen wie ein Eihenftamm, doch er ift nur ein Stamm, der 
im Sturm über Nacht brechen kann, während jchwächerer, aber vielftämmiger 
Strauch ſolchen Windſtoß nicht zu fürchten braucht. Es wäre befjer, er wäre 
nit — ba er ift, muß man dem Wind nachahmen und fein Aftwerk zu biegen 
trachten — ſo lange er ift.“ 

„Nein, nichts Heimliches gegen ihn, Weindheim! Ich will's nicht, ich baue 
noch auf ihn. Er ift ehrgeizig und liebt die Weiber — wenn Du jünger wärft, 
Gottesgabe — es ift ein Baum, der den im Sturz mit zerjchmettern würde, 
dem e3 gelänge, ihn zu fällen. Außerdem trägt er ein venetianijches Panzer: 
hemd, und der Verſuch ift ſchon mehr als einmal mißglüdt. Findet ein Mittel, 
ihn gegen den Markgrafen aufzubringen!“ 





Wilhelm don Grumbad). 185 


„So lange Grumbad lebt — hr kennt die Thierfabel, gnädiger Herr: 
der Bär ift jähzornig und wird täppiich dadurch, aber jo lange der Fuchs fein 
Rathgeber ift, wird er jorgen, daß der Löwe feinen Groll auf ihn wirft.“ 

„So ſchafft den Fuchs aus dem Bau!“ 

„Es ift eben ein alter Fuchs, Gnädigfter, bei dem Köder und Halseiſen 
nicht verfangen. Man müßte ein Treibjagen von Seiten des Reichs gegen ihn 
anftellen.“ 

„Wie meint Ahr?“ 

„Daß ein Wild leichter vor dem Anftand wechſelt, wenn es etwa von des 
römiſchen Reichs Bann und Acht eingepfählt wäre. Aber es bleibt immerhin 
weit vorm Schuß, und beſſer wäre —“ 

„Bas?“ 

„Aller ſolcher geringfügigen und unficheren Mittel nicht zu bedürfen.“ 

Wolf Weindheim hielt, obiwol er unverkennbar etwas beifügen wollte, 
einen Moment inne; hinter dem Rüden des Biſchofs warf die Freiin Theodora 
ihm einen Augenwink zu, und er fuhr fort: 

„Es wird ſchwer, muthmaßlich unmöglich ſein, Grumbach zu einer Handlung 
zu verlocken, daß ſich eine kaiſerliche Achterklärung gegen ihn erwirken ließe. 
Die Beſetzung von Untern-Bleichfeldt iſt ein kluger Einfall; es wäre denkbar, 
daß er fich zu Gewalt fortreißen laſſen könnte, um ſich Dorf und Burg wieder 
anzueignen, jo daß wir vor Kaijer und Reich als die arglos Ueberfallenen und 
er als Friedbrecher des Bamberger Vertrag’3 daftänden; doch ich glaube nicht 
daran. Aber alle dieſe ungewiſſen Vorausſetzungen würden als überflüffig hin- 
fällig werden, wenn —“ 

Der Sprecher ftocte wiederum, Biſchof Melchior drehte ſich ihm mit fragen- 
dem Bli zu — 

„Wenn Ihr Herren Friederich Spet, der ſich jchon jeit zwei Tagen zu 
Würzburg in der Herberge zum Klingenberg aufhält, empfangen wolltet, gnä- 
diger Herr.“ 

Der Biichof machte eine heftige Geberde. „Ahr verjuchtet’3 geftern, mid) 
dazu zu bewegen, und ich hieß Euch jchweigen, Weindheim! Bei meinem Miß- 
fallen, ich will nichts mehr davon hören! ch bin des Reiches Fürſt, defien 
Kaiſer ſich allzeit Mehrer nennt, und man fol mich nicht den Minderer heißen. 
Vermeldet's ihm von mir, er mag'3 jeinem Könige jagen! Staatskunſt ift hart 
und hat ein weites Gewiſſen, aber franzöfiiche Praktik geht nicht mit Hinein,“ 

Wolf Weindheim zudte die Achſel. „Franzöſiſches Gold ift jo gut mie 
anderes, befier, da es ein Quell ift, der fich jo leicht nicht verftopft. Des 
römijchen Reiches Majeftät heißt fih auch König von Yerufalem, zu Tripolis 
und der Terrae firmae des oceanijchen Meeres, mid) bäucht mit ebenfoviel Recht, 
wie allzeit Mehrer des Reihe, und Churfürft Mori wird als deutjcher Held 
gepriejen, obwohl die Söldner König Heinrich’3 des Zweiten fih in Gambray, 
Virten, Tull und Met gute Tage machen. Man kann verjdhiedener Meinung 
fein, gnädiger Herr, doch die meinige ift, daß die Natur den Rhein in diejer 
Weiſe hat fließen laffen, damit er die Grenze zwiſchen dem deutjchen Reich und 
dem franzöfifchen bilden jolle, und wie Herr Friederich Spet mir mitgetheilt, 


186 Deutiche Rundichau. 


pflichtet König Heinrich diefer Anficht bei. Als katholiſchem Fürften liegt ihm 
nicht3 mehr am Herzen, al3 die Wiederherftellung de3 Glaubens auch in allen 
deutſchen Landen, und er ift zu nahhaltigfter Unterftügung Derer bereit, welche 
befähigt find, dies große Werk mit Einficht zu planen und mit Entichlofjenheit 
durchzuführen. Geſchieht dies nicht jett, jo zerfällt das römiſche Reich, der 
Proteftantismus zerbricht es in Stüde und wird die Bisthümer aufzehren. 
Der Kaiſer ift machtlos, fein Neffe Marimilian, wenn er am Leben erhalten 
bleibt, einft jein Nachfolger, jelbft vom Glauben gefallen, Mißtrauen und Hader 
der Tutheriichen- Fürften untereinander unſer treuefter, doch einziger Bundes— 
genoß. Bis jetzt ift und gelungen, jelbft den Churfürften Mori und feinen 
Carlowitz zu täujchen, daß fie in unferer Fränkischen Vereinigung nicht? Anderes 
al3 Maßregeln zur Abwehr gegen erneuerten Angriff de3 Markgrafen jehen: 
diefer jelbft und Grumbach denken nichts, al3 daß es ſich um das alte Kinder- 
jpiel am Main handelt, und jeder Tag erweitert und befeftigt die Mafchen 
unſeres Garn, bis e3 ftarf genug ift, plöglih im Nothfall auch den Churfürften 
Moritz und die römijche Krone mit ihm zu halten. Was uns mangelt, gnädiger 
Herr, ift Gold und wieder Gold, und der Einzige, der e8 uns zu bieten vermag 
und gewillt ift, heißt König Heinrih —“ 

„Für deutjches Land und deutſche Seelen, Weindheim —“ 

„Tür nichts, gnädiger Herr, al3 ein Stüdchen Erde, das, wie gejagt, die 
Natur ihm von Anbeginn zugeſprochen, und für die Keberfeelen, die darauf 
haufen. Er begehrt für feine volle Unterftüßung bis zur Erreihung unjeres 
Ziels einzig, daß wir ihm Bürgſchaft wider jede Einmiſchung des Reichs leiften, 
wenn er feine vereinzelten Beſitzthümer in Lothringen und im Eljaß bis an 
den Rhein ausrundet.“ 

„Sehr großmüthig, Weindheim, eines Königs würdig. Wir find auch ein 
katholiſcher Fürſt und wollen darin nicht nachſtehen; zahlt in der Herberge zum 
Klingenberg die Zehrung des Herrn Unterhändler® und heißt. ihn das Gold 
jenes Königs ſparen und heimkehren. Ich jagte Euch, wir wollen an der Stelle 
nachgraben, auf die der Kleine Kobold drunten am Schmeltenhof jo zuverſichtlich 
hinſchaut — wenn der Lindwurm überm Rhein auch Alberih’3 Schaf hütet, 
er mag ihn behalten. Es ift mein Exrnft, und nichts mehr davon! — Was will 
das Horn?“ 

Draußen Hang ein Hornruf durch's Dunkel; der Biſchof ſchlug die ſchwere 
Gobelintapete dor dem Fenſter zurück und jah auf die hie und da flimmernden 
Lichter der Stadt hinunter. Gerade unter ihm ſenkte ſich mit klirrendem 
Kettengerafjel die Zugbrüde der Frauenbergvefte, Frage und Antwort bon 
Stimmen eriholl und ein leichter Wagen rollte über die Brüde in's Innere 
des erſten Burghofs. Wolf Weindheim war im Rüden feines fürftlichen Herrn 
an die Edeldame getreten und flüfterte: 

„Der Spet darf um feinen Prei3 jo die Stadt verlafjen; ich babe mid) 
verbürgt, und ohne Frankreichs Mithülfe zerfällt dev ganze Bund, oder jeden- 
falls ift uns ein abermaliges Unterliegen gewiß. Hört Ihr, um feinen Preis! 
Meine Kunft ift exichöpft, verfucht, was Ihr könnt! Aber Hug! Er ift in 
jonderbarer Stimmung heut’, an der jede Rechnung fehl jchlägt,; wenn ich den 


—N 


Wilhelm von Grumbach. 187 


Grund ahnte, fänd' ich vielleicht auch ein Mittel. Freilich, er hat geſagt, die 
Jahre ſind ſchlimme Ketzer und laſſen uns in Alles Zweifel ſetzen —“ 

„Sprecht aus, Weinckheim — auch in meine Fähigkeit, ihn zu etwas zu 
bewegen, meint Ihr? Ihr habt Recht, ſie ſind ſchlimme Ketzer und befeinden 
das Ebenbild Gottes, wenigſtens das von unſerer Art, wenn der Spiegel nicht 
lügt; aber, mich däucht, als mehrten ſie drinnen, was ſie draußen nehmen. 
Klug, ſagt Ihr, und um jeden Preis? Das weiß ich ſelbſt, Freund, wußte es 
ſchon vor Euch. Der Preis iſt nur etwas hoch, und wenn auch die Klugheit nicht 
verhehlt, daß er ſchließlich doch einmal bezahlt werden muß, bleibt's trotzdem 
menſchlich, oder heißt's weiblich, noch zu zögern und den Augenblick hinaus— 
zuſchieben. Doch Ihr ſollt Euch nicht in mir täuſchen, um dieſen Preis muß 
es ſein.“ 

Weinckheim ſah ihr fragend in's Gefiht: „Ich verſtehe Euch nicht, was 
wollt Ihr?“ 

„Für Frankreich thun, was ich in Kurzem für Nichts, für ein paar blaue 
oder braune Augen mit blondem oder dunklem Gelock herum hätte thun müſſen. 
Es iſt kein Ruhm für Euer Geſchlecht, Weinckheim, daß ſie die Welt regieren, 
und um ſo unumſchränkter, je kürzer erſt dieſe Augen in die Welt hineingeſehen; 
doch eine größere Thorheit meines Geſchlechtes wär's, ſich darüber verblenden 
zu wollen, worauf ſeine Macht ruht. Wenn wir nur dieſe Thorheit meiden, 
ſind wir nicht ſo hilflos, wie wir ſcheinen, und können das Wichtigſte unſerer 
Errungenſchaft auch noch in den beginnenden Falten unſeres Gefichtes bewahren.“ 

„Berjtehe ich Euch recht, — Ihr wolltet —?“ 

„Zheilen, Weindheim; dem Kaijer geben, was des Kaiſers ift, und Gott, 
was Gottes ift, oder jagen wir dafür, dem Leben in der Sinnenwelt und im 
Gedanken, dem Körper und dem Geift. Sorgen wir mur, daß diejer die Ober- 
herrſchaft behält und jener nichts weiter, al3 was ihm zukommt; das ift die 
Aufgabe, und ich denke, ich habe fie gelöft.“ 

„Ihr habt?“ 

„Dder werde, und zugleich diejenige, welche Ihr mir ftellt. Sucht den 
Abgejandten des Königs jedenfalls bis morgen zu halten — till!“ 

Der Biſchof wandte ſich aus der tiefen Fenſterniſche in's Gemach zurüd; 
gleichzeitig trat ein Diener in die Thür und meldete: 

„Die Freifrau Anna von Grumbad läßt Eurer hochwürdigſten Gnaden 
Gruß und Dank entbieten.“ 

„Unjere Schußbefohlene, mir erſchien's, daß fie es ſei.“ 

Melchior von Zobel nickte und der Diener ging. „Du haft Fürſorge für 
fie getroffen, wie es ihr Zuftand erheifcht, nicht wahr, Gottesgabe?“ 

„In dem Zimmer, das Ihr angeordnet.” 

„So empfange und geleite fie — oder — eine alte Frau, eine Kranke, und 
ein alter Mann, ein Diener des Herrn — es ziemt vielleicht und die Welt wird 
nicht3 d'rüber raumen, wenn ich jelbft fie in ihr Gemach geleite.. Der Anblid 
eines fremden Gefichtes, auch wenn es jo wohl gebildet wie das Deinige ift, 
Gottesgabe, könnte fie in ſchädliche Aufregung verjegen, und es ift unjere Pflicht, 
das zu verhüten. Gehabt Euch wohl, Wolf, morgen wollen wir Euren vor- 


188 Deutiche Rundſchau. 


trefflihen Rathſchlag weiter vernehmen: heut’ Nacht liegt ung ein Werk der 
Barmherzigkeit ob.“ 

Die Thür Schloß fih Hinter dem Hinausfchreitenden und Weinckheim 
fragte haftig: 

„Ihr jagtet, daß Ihr's wüßtet — was hat er mit ber Frau?“ 

Die Freiin lächelte. „Ihr fragt in faljcher Zeit; er hat nicht, er Hatte. 
Würde es Euch nicht reizen, wenn Ihr in der Lage wäret, Mancherlei hören zur 
fönnen, wie Euer Freund der Statthalter de3 Markgrafen Albrecht auf dem 
Gebirg, Herr Wilhelm von Grunbach, lebt, mit wen er fi) unterhält, ob er 
feiner Gefundheit ſchadet, was er betreibt, jchreibt, ſpricht oder verſchweigt?“ 

„Das Lebte würde ich vermuthlid am Meiften vernehmen. Und von jeiner 
rau jollte ich das erfahren?“ 

„Nehmt an, fie ſei e8 nicht immer gewejen, oder, daß unſer Geſchlecht 
ſchwache Augenblice hat, in denen es — wenn ich ein jo junges Mädchen wäre, 
wie das MWirthstöchterlein, da3 dem Fürften heut’ Nachmittag den Pokal zu— 
brachte, würde Euer Tragen mich xoth machen, Weindheim. Wie gefiel das 
Kind Euh? Ich meine, was Eure Augen ſah'n; dafür hält Männerurtheil 
befier die Probe ala unſeres. Was fie nicht gejehen, ift freilich das Werthvollſte, 
‚aber darüber verlange ich von Euch fein Urtheil, jondern bin jelbft genug unter- 
richtet. Mir gefiel da3 Wenige, befonderd, was mein Ohr hörte. Ich Liebe 
unſchuldige Einfältigkeit, Freund, die rei) an Schönheit und arm an Geift ift; 
der Himmel hat fie ebenjo brauchbar als fügjam erſchaffen, und da ich fühle, 
daß meine Jahre einer hülfreichen Hand, nein vielmehr einer Vertrauten, einer 
Freundin bedürfen, habe ich den Entſchluß gefaßt, die Kleine Sibylle aus dem 
Schmeltenhof ala Dienerin und Freundin zu mir zu nehmen. Schon morgen, 
denn bei ihrer Schönheit und Einfalt fürchte ich, fie fünnte mir von böfen 
Leuten Eurer Art vorweggenommen und ih um fie betrogen werden.“ 

Sie jagte e3 lachend; Wolf Weindheim entgegnete mit nachdenklich exnit- 
haftem Geſicht: 

„Ihr beweiſt, daß Ihr klüger ſeid, als die Mehrzahl Eurer Schweſtern, 
Theodora. Wenn es nöthig iſt — und das könnt Ihr allein entſcheiden —, ſo 
billige ich Eure Theilung und bewundere den Scharfblick Eurer Wahl. Jeden— 
falls iſt dieſe die ungefährlichſte, die Ihr treffen konntet, und wer ſich Verdienſt 
erwirbt, erntet Gewinn, ob der Kopf oder die“ — er hielt ſchalkhaft lächelnd 
einen Augenblick inne — „Hand ſich verdient macht. Eure — Hand hat es 
lang genug gethan, daß Ihr jüngeren die Pflicht übertragen könnt, wenn Ihr 
der Kopf des fügſamen Gliedes bleibt. Ich bewundere Euch, Theodora, und 
könnte ſelbſt — wenn Ihr nicht ein Anrecht auf ruhigere Tage hättet —“ 

„Tage?“ wiederholte fie, mit verhaltenem Lachen einfallend. „Wenn der 
Kopf fid) den Tag hindurch doppelt zerbredden muß, meint Ihr, hat Alles, was 
ihm angehört, auch des Nachts doppelt Ruhe nöthig? Ich danke Euch, Freund, 
und bin Eurer Meinung, ohne Eure Schmeichelei zu unterjchäßen. ch denke, 
ich habe Euch manchmal Beweiſe gegeben, daß ich fein Weib bin, two ich es 
nicht jein muß; da ich aufhören Tann, es zu fein, bin ich auch ftarf genug, 
den Antrag des einzigen Mannes abzuweiſen, der mir nicht Verachtung und 


— 


Wilhelm von Grumbach. 189 


Widerwillen einflößen würde. Ich danke Euch, daß Ihr mein Geſchlecht anders 
zu beurtheilen wißt, als die pfahlbürgerliche Dummheit, nach dem Kopf und 
nicht nach dem Zufall, den die Natur uns nutzen läßt. Laßt uns unſere Köpfe 
noch beſſer vereinigen, Weinckheim, das iſt das ſicherſte Band, mit dem wir 
unſere Herrſchaft umwinden und verſtärken. Wir ſind die Köpfe dieſer ab— 
ſonderlichen Welt — wenn die Weiber nicht mit Ihm zu ſpielen vermöchten, 


gehörte auch Er dazu; da meine Jahre vorrücken, rücke ich mit vor und gebe 


den Zeltdienſt auf, um wichtigere Stellung im Felddienſt einzunehmen. Haltet 
Euren Poſten ſo wachſam inne, Freund, wie ich meinen, und wir führen unſern 
Oberfeldhauptmann zum Siege, wie in allen Schlachten, die nicht der gewinnt, 
welcher die Befehle auszutheilen glaubt, ſondern Diejenigen, aus deren Köpfen 
fie entſpringen. A revoir! würde König Heinrich jagen — ſagt Ihr es ſeinem 
Boten! Ich habe Dienſtpflicht und — da ich Euch meine Stärke gezeigt, darf 
ich Euch auch meine Schwäche verrathen — einige Zollbreit an mir gehören 
noch meinem früheren Geſchlecht an, und die find neugierig.“ 

Sie deutete auf ihre Augen, verneigte ſich mit jcherzender FFeierlichkeit und 
verſchwand durch die Thür. Wie fie durch den langen Burgcorridor dahin 
Ichritt, verwandelte fich der Ausdruck ihrer Züge nicht; fie hatte geiprochen, 
wie fie empfand und dachte. Es war nichts Erfünfteltes in dem Gebahren, 
der Luftigkeit, Zuverficht und Gewiffensgleihmüthigkeit der Freiin Theodora 
von Grafened, der alternden Geliebten des Fürſtbiſchofs Melchior Zobel von 
Würzburg, jondern, ihr Ziel in’3 Auge fafjend, erwog fie die Wege dorthin ala 
jelbftverftändliche, jobald fie der Endabſicht entſprachen; eine Tochter des Jahr: 
hundert3 und der Kirche, die um ein Menjchenalter früher Inigo von Loyola 
als ihren ähnlichjten Sohn gezeugt und Paul den Dritten auf den Stuhl Petri 
berufen hatte, den Orden zu beftätigen, dem die Mittel als gleichbedeutend 
erſchienen, durch welche der Zweck erreicht ward. Die Edeldame ftieg im labyrin- 
thiſchen Innern der alten Burg einige dunkle Treppen hinan, verfolgte wiederum 
unbeirrt lichtlofe Gänge und trat dann durch eine Mauerthür in ebenfalls 
finfteren Raum, in den nur bie und da durch Spalten der Schimmer eines 
Lichtes hineinfiel und kundthat, daß fie ſich hinter den ſchweren Gobelintapeten 
eines erhellten Gemaches befand. Harrend lehnte fie fi dort an die Wand, 
denn ihr Herz ſchlug heftig, doch nur von der Eile ihres Schrittes, von nichts 
ſonſt, und es befhwichtigte jich gleihmüthig in der ruhenden Stellung, die fie 
einnahm. 

Der Biſchof war auf den Burghof hinausgeichritten, einige Fackeln rauchten 
auf demjelben in die ftille Sommernadtluft und überhellten einen Wagen, auf 
dem fich ein Bett befand und in diefem da3 aus Decken hervorblidende Gejicht 
einer Frau. Es war rothloderndes Licht, das auf fie fiel, doch es vermochte 
ihre eingefuntenen, fahlweißen Züge mit feinem Anhaud zu färben. Das 
gebleichte Haar lag unordentlih und gleichgültig in vereinzelten Strähnen über 

wächſernen Stirn; an dem hageren, faft einem Mefferrüden ähnelnden 

enriſt fanden zwei matte und doch unruhvoll bewegte ſchwarze Augenfterne. 

te Blick ließ erkennen, daß die Beſitzerin derjelben todtkrank und die 
fte Schonung bei ihrer Hieherführung dringend geboten geweſen ſei. 


190 Deutiche Rundichau. 


Der Herzutretende hemmte unwillkürlich einige Schritte vor ihr jenen Fuß 
und jah mit regloſem Bli auf fie hin. Er öffnete den Mund und ſchloß ihn 
wieder, und feine Stimme klang unficher, beinahe ftotternd, wie er fragte: 

„hr jeid — Ihr —? Seid hr Frau Anna von Grumbach?“ 

Die Kranke hob mühſelig etwa3 den Kopf und ihre Augen juchten aus 
dunkler Tiefe die des Trragftellers, dann antiworteten die herb umfurchten, ver— 
blaßten Lippen ſchwach und langjam: 

„Ih bin’3, hochwürdiger Herr, und Ahr ſeid's. Meine Augen haben fich 
weniger gut gehalten, ala Eure, und doch erkennen fie Euch leichter. Aber ich 
danke ihnen, daß fie Euch noch jehen, Biichof Melchior. Es ift lange her, daß 
ich unter Eurem Schuß oft über dieje Brücke ritt, und es war Tag damals und 
warm. Seht iſt's Naht und kalt —“ 

Die Sprecherin legte jchaudernd den Kopf auf die Kiffen zurüd; es war, 
als überliefe ein Schauer der Kälte, von der fie geſprochen, plötzlich auch den 
Biſchof; er fiel ſchnell ein: 

„Ihr habt das ?yieber, e3 ift warme Sommernadjt. Aber Ihr jeid wieder 
unter meinem Schub, baut auf ihn — die Reife hat Euch angegriffen, morgen 
werdet Ihr Euch erholen. Ich will Euch in mein Gebet zu Gott einfchliegen, 
daß er Euer Siehthum von Euch nimmt. Er ift der beite Arzt.“ 

„Der befte? Für mich gibt es nur Einen.“ Die Kranke ftarrte wild und 
geiftesabtwejend auf die glühenden und qualmenden Fadeln. „Bift Du der Arzt? 
Und find fie Deine Diener, die mit den Bränden auf mich warten, mich in 
Deine Feuerburg zu jchleppen? Ich will nicht — noch nit — hab’ Erbarmen 
— gib mir no Friſt, daß ich bete —!“ 

Sie flammerte die Finger ineinander, riß fie wieder los und frallte die 
langen Nägel in’3 Bettzeug. Ihre Bruſt ſtöhnte klanglos: 

„Mein Kind — er will auch mein Kind in der ewigen Gluth ertränken — 

„Sie redet irr' — bringt ſie hinauf!“ Biſchof Melchior wandte ſich mit 
dem haſtigen Befehl ab; ihr Gefolge, das ſie geleitet, mit der langen Geſtalt 
Chriſtoff Kretzer's an der Spitze, kehrte über die Zugbrücke zurück, und Anna 
von Grumbach ward in ihrem Bett herabgehoben und in das für ſie beſtimmte 
Gemach getragen. Sie war in Bewußtloſigkeit gefallen, die allmälig in ruhiger 
athmenden Schlaf überging. Dann hatten die Diener das Zimmer geräumt, 
umd in dem dämmernd erhellten Raume jaß nur der Biſchof ſelbſt neben dem 
Lager der Schlummernden. Mit jchweigfamen Gedanken ruhte fein Blid auf 
dem wie ſchon von der Hand des Todes geftreiften, entjtellten Antlitz; manch— 
mal glitt ex fich jchnelltaftend über die Fraftvolle Stirn. Er fuhr zufammen, 
denn e3 fnifterte hinter ihm; wie er den Blick drehte, trat Theodora von Grafened 
hinter der Tapete hervor. Sie jchritt geräufchlos näher und betrachtete eben: 
fall3 die Schlafende. Melchior von Zobel nidte traumhaft -jonderbar mit der 
Stirn und fagte, auch wie im Traume, leife: 

„Sie war Ihön, jo jchön wie Du — wie aud) Du warf. Warum muß 
Schönheit welfen? Warum bin ich, der ich war, und fie das? Iſt das die Ge- 
rechtigfeit des Himmels, die wir den Blöden predigen? Mir graut’3, Theodora, 
wenn ich denfe —“ 


Wilhelm von Grumbach. 191 


„Daß Ihr Euch einftmals der vollen Blume gefreut; aber es iſt ihr Loos, 
aller — * 

Er jah gedanfenlos auf und wiederholte: „Ja, aller.“ 

„Und meines.” 

Sie lächelte, wie fie es jagte, er verjeßte zerftreut: „Noch nicht — vielleicht 
einft — Du bift eine Roje neben diefem gelb vermodernden Blatt.“ 

„Rod nicht, aber — wann? Eure Augen ſprachen heut’ Nachmittag auf- 
richtiger und jagten, daß neben dem Veilchen auch die Roje nicht beftehe, deren 
Blätter zu fallen beginnen.“ 

Gr murmelte: „Du täufcheft Did — mir graut vor der Schönheit —“ 

„Dann graut Euch nicht vor mir. — Laßt fie Ichlafen Heut’, fie hat e8 
um Euch verdient; morgen wird fie Euch beſſer auf Eure Fragen Rede ftehen. 
Kommt, der Anblick ift nicht für Euch !” 

Er ließ fi willenlos von ihr wegführen, durch dunkle Gänge in ein 
kleines, mit verſchwenderiſcher Ueppigkeit ausgeftattetes Gemach, da3 eine ſchwe— 
bende Ampel mit roſenrothem Schein durchfloß. In die Wand gefügt, bildete 
ein breites Ruhebett aus duftendem Sandelholz mit ſeidenen Decken den Hinter— 
grund; Theodora ſetzte ſich an den Rand deſſelben, Melchior von Zobel ſtand 
vor ihr, blicte fie ungewiß und ausdruckslos an, und man ſah, er ſuchte ein 
Bild, das noch vor jeinen Augen haftete, von fich zu ſcheuchen. Endlich jagte ex: 

„Was willft Du?“ 

„Nichts — ala daß Ahr mic) anjeht. Noch bin ich weniger abjchredend, 
als Anna von Grumbad, nicht wahr?“ 

„Du verlangft feine Schmeichelei zu hören.” 

„Rein, deshalb habe ich Euch nicht begleitet. Aber um jo viel ich weniger 
abſchreckend bin als fie, grad’ um fo viel jchöner ift Sibylle Brede aus dem 
Schmeltzenhof ald ih — wäre ſie's, wenn fie ftatt meiner hier ſäße.“ 

„Geh, es ift jpät, wir wollen zur Ruh’! Du bift eiferfüchtig jeit heut’ Nach— 
mittag.“ 

„sh bin gerecht, und deshalb braucht Ihr nicht zu fordern, daß ich gehen 
joll, denn ich that's, eh’ Ihr's verlangt hattet. Eiferſucht ift Eigenfuht und 
blendet die Augen. Haben meine bewieſen, daß fte blind find?“ 

Gr jah fie verftummt an und ein anderer Ausdruck lag in feinem Geficht, 
erkennbar deutlich ſprach derjelbe von anderem Bild vor den Augen. Es war 
nicht mehr das der Entftellung, des halben Todes und des Graufens, doch auch 
nicht das wirkliche, von dem Rahmen des Lagerd umfaßte, auf das fich der 
Bli richtete. Aber Theodora kannte, gewahrte es jo genau, wie e8 vor ihm 
von jenem Rahmen umfchlofjen ſich hob, und fie lächelte: 

„Da meine Augen nicht blind find, jagen fie mir, daß mein Alter einer 
Stüße bedarf, umd ich denke, morgen in den Schmelgenhof zu gehn, mid) nad) 
einer ſolchen umzuſchau'n. Habe ic; Eure Billigung ?“ 

65 war, ala ob ein Funke von ihren Lippen geflogen, der in der Tiefe 
feiner Augenfterne gezündet. „Du fragft fonderbar, ſchöne Freundin,“ verſetzte 
er zögernd. „Meine Bewunderung, mein Vertrauen, meine Liebe haft Du — 
"les, was ich Dir geben kann, und wirft e8 immer behalten. Wenn Du es 


192 Deutſche Rundſchau. 


für gut hältft, etwas zu thun — was bedarf es meiner Billigung in einer ſo 
geringfügigen Sache, die — nur Dich angeht?“ 

„Ein wenig, dünkt mich, auch Euch — weil es von Euch abhängt, ob ich 
dazu gelange, dies geringfügige Ding, meinen Vorſatz, meine ich, auszuführen.“ 

„Von mir?” 

Sie ftredte ihre beiden Hände aus und ſchloß, ala ob fie etwas in ihnen 
halte, die Finger zujammen. „Die Rechte thut fih nur zugleih mit der 
Linken auf.“ 

„Das ift wider die Schrift. Die Rechte ſoll nicht wiſſen, was die Linke 
thut.“ 

„Doch ift e3 meine Vorſchrift.“ 

„Und was beherbergen Deine Hände?“ 

„Zwei Herbergen; die eine heißt zum Schmeltenhof, die andere zum 
Klingenberg.“ 

Melchior von Zobel rungelte die Stirn. „Ach habe Weindheim jchon 
Antwort gegeben; was verlangft auch Du fie von mir?“ 

Die Freiin von Grafeneck fand von ihrem Sit auf. „Wenn Ihr feine 
andere für mich habt, kann ich Euch nur Eure Worte wiederholen: es ift jpät —“ 

Er hielt ſie. „Bleib!“ — Sie wiederholte abermals: 

„Es ift ſpät.“ 

„Ich will's bedenken — morgen —“ 

„Zu ſpät.“ 

„Du verlangſt Ungeheures.“ 

„Ich gebe mehr. Was ich verlange, iſt nur, daß Ihr Euer Ohr der ge— 
rechten Bitte, der Klage des Unglücks, der Menſchlichkeit nicht verſchließt. Wer 
beſchirmt das Recht, wenn Ihr ihm Eure Hilfe weigert?“ 

„Ich verſtehe Dich nicht. Wer bittet, klagt? Weſſen Recht iſt gekränkt? 
Kann ich Dir zuſagen, was ich Weinckheim verweigert?“ 

„Der Preis, ſcheint mir, ändert alle Dinge: er konnte nur Gold bieten,“ 
lachte die Frreiin. „Doc ich vernahm nichts davon, daß Ahr Euch geweigert, 
Herrn Friederih Spet zu empfangen, um aus feinem Munde zu Hören, wie 
ihmerzlic König Heinrich von Frankreich die Gefangenichaft feines Vetters, des 
Herzogs von Aumale, empfindet, der nod immer von Met her in der Gewalt 
des Markgrafen Albreht auf der Blafjenburg ſchmachtet, und daß der König 
jedes Löjegeld für die Befreiung des Herzogs gering achten würde. Es hieße, 
dem Mitgefühl, der Trauer, der Barmherzigkeit fi) weigern, wenn hr den 
Abgejandten ungehört aus der Herberge zum Klingenberg fortziehen ließet.“ 

„Rein, davon hat Weindheim mir nit geſprochen; Du haft Recht, es 
wäre unmenſchlich — ich werde ihn tadeln. Der arme Aumale — die Koft in 
der Höhle des Bären fteht nicht im üppigften Ruf.” — Biſchof Melchior machte 
eine kurze Paufe und fuhr näher an Theodora hinantretend fort: „Du bift ein 
beredter Anwalt, Gottesgabe. Weißt Du wol, daß Dein Mitleid mit dem 
armen Aumale Dich verjüngt, Dich jo ſchön macht, daß Du Gefahr läufft, den 
Werth Deines Preijes zu verringern —“ 

Sein Arm ſtreckte ſich nad) ihrer Rechten. „Er wird fteigen, jobald Ihr 


Wilhelm von Grumbad). 193 


Eigenthumsrecht erworben,” Tachte fie. „Im Mebrigen fordert als Draufgabe, 
wa3 hr wollt — aber beide Hände, oder feine!“ 

Sie ſetzte ſich zurück und hielt ihm die Hände nebeneinander entgegen. 
„Bei Kaiſer Karl’3 Bart, Du hätteft es noch nicht nöthig,“ murmelte er. „Gib 
fie mir beide denn und gib mit, was zu ihnen gehört!“ 

„Hier, zum Klingenberg, und bier, zum Schmelgenhof!” Sie öffnete die 
Finger und machte eine Bewegung, die Arme um jeinen Naden zu legen. „Und 
bier, wenn Ihr's jo wollt —“ 

Doch fie brad) ab und zog die Hände zurüd. „Es ift jpät, jagt Ihr, und 
morgen —” 

Sie jah ihn lächelnd an, und es war wirklich, ala habe jeit einer Minute 
eine unfichtbare Hand die leiten Furchen von ihrer jchönen Stirn mweggeglättet, 
und mit ihrer vornehm jchmalen Hand die goldenen Spangen ihres Gürtels 
auseinanderhaftelnd, ergänzte fie: 

„Und morgen — morgen ift es zu ſpät.“ 


———— 


Es war um die Mitte des Vormittags, als Chriſtoff Kretzer, ſich vom 
Main gegen Oſt abwendend, unter Stadt und Burg Iphoven vorbei den ſteilen 
Hang des Steiger Waldes hinanritt. Sein Pferd triefte von Schweiß und 
zeigte, daß er demſelben die Nacht hindurch keine Raſt gegönnt; jetzt auf dem 
Hochrücken des Berglandes ließ er's eine Minute lang verſchnaufen. Das Ge— 
birg führte ſeinen Namen mit mehr Recht als heut'; dichter, wegloſer Wald 
legte ſeinen Kniegürtel ringsumher, ſchlang ihn bis zur Bruſt hinauf, und nur 
vereinzelt ſtieg da und dort eine kahle Stirn in's Blau. Darüber kreiſten 
dunkle Raubvögel, gegen Oſten ging der Blick weit und frei hinaus, in ſchim— 
mernder Ferne ſtiegen die Domthürme und auf emporſchwellendem Mainufer das 
Biſchofsſchloß zu Bamberg auf; ſüdwärts hinunter unterſchied das bewanderte 
Auge im blauen Duft als graue Streifen Thürme und Veſte Nürnberg’s, der 
reichjten und mäcdhtigften Stadt des Reid. Im Schatten der Bäume hing 
bier oben noch bligender Thau an den Gräfern, Morgenftille und Einjamteit 
überbreiteten Alles, nur der Wind führte leiſe, ſummende Zwieſprache mit 
den Wipfeln und jchauerte abwärts in die dunfelgrünen Thäler. 

In den Augen des anhaltenden und flüchtig rundblidenden jungen Reiters 
lag ein ihnen fremdartiger, faft träumerifcher Schimmer. „Es ift gut, lebendig 
zu jein,“ murmelte er, „und der Urheber verdient Dank dafür.“ Er jah zum 
ftahlblauen Gewölb’ über fich und wiederholte: „Der Urheber? Wenn er Dant 
wollte, wär’3 an ihm, deutlich zu jagen: Ich bin’s. Aber mir däucht, er ſpielt 
gleiches DVerfted .mit den Pfaffen hüben und drüben. Macht er’3 meinem Ur— 
heber nad), oder hat der’3 von ihm? Narrethei iſt's Alles; fie juchen den Einen 
und find jo närriich wie ich, der den Andern ſucht. Nur Eins finden wir alle 
fiher, das Lo, in dem man uns verſcharrt. s iſt auch nicht gewiß, denn 
Manchen freſſen die Raben in freier Luft. Was ift gewiß?“ 

Chriſtoff Kretzer lachte bitter, und der träumerifche Glanz in feinen Augen 
var verſchwunden. Aber glei; darauf griff er in fein Wamms, zog ein 

Deutfche Runbſchau. T, 11. 13 


194 Deutſche Rundichau. 


weißes Tüchelchen heraus und murmelte: „Das ift gewiß — was braucht's 
mehr?" Sein Mund drückte fi) ungeftüm auf das Tuch, er warf einen Blick 
zum Himmel und rief: „ Hab’ Dank, wenn Du ihn mwillft!“ Dann ftieß er 
jeinem Pferd den Stachel in die Seite umd jprengte zur Linken vom Weg ab, 
in grasverwachſenen Walddurchhau hinein. 

Nach einer guten Viertelſtunde Wegs öffnete ſich das dichte Geſtrüpp, und 
auf kreisrunder, kuppenartig aufgewölbter Lichtung lag eine Burg von mäßigem 
Umfang und unbedeutendem Ausſehen vor ihm. Die Zugbrücke fiel wie von 
ſelbſt bei ſeinem Herannahen, er ritt hinüber und nickte dem Thorwart zu, der 
den Gruß erwidernd ſagte: „Der geſtrenge Herr hat ſchon nad) Euch gefragt, 
Kreker. Habt Ihr Aufenthalt gehabt? Er jagte vor zwei Stunden, Ihr könntet 
zurück jein.“ 

„Wollt’ ein Täuble nicht fliegen Laffen, Hans Muffel,” lachte der junge 
Reiter, fi) vom Sattel ſchwingend. „Mußte warten, daß es mir vor's Rohr kam.“ 

„Wer heißt's Euch?“ brummte der Alte mürriſch. „Hütet Euch, daß der 
Eber Euch die Jagd nicht mit dem Zahn heimzahlt. Wo habt Ihr's?“ 

„Hier!“ Kretzer ſchlug fich übermüthig mit der Hand auf die Bruft. „Ich 
fürcht' mich nicht vor ihm. Was weiß Dein grauer Schädel von weißen Tau— 
ben, Hans Muffel!“ 

Er wandte fih und trat eine alte Steintreppe hinan in’s Innere der Burg. 
Dann pochte er an eine Thür, es antiwortete Niemand, aber er jchritt hinein 
und blieb wartend ftehen. 

Ein Mann, ſchon beträchtlich über die Mitte des Lebens hinaus, jaß ohne 
aufzubliden an einem Tiſch. Er trug die volle Eifenrüftung eines Ritters, der 
im Begriff ftand, zu Eriegeriichem Zuge aufzubrechen, nur Helm und Armſchienen 
lagen jeitwärt3, weil er jaß und jchrieb. Durch da3 Hohe, doc ſchmale Fyenfter 
fiel fein Licht auf fein Geficht, denn er wendete ihm den Rüden, und man unter- 
ſchied zunächſt in jeinen Zügen nur eine breite Schwertnarbe, die ſich jchräg 
über die Stirn zog und das Auge überjpringend bi3 zum linken Mundwinkel 
fortfeßte. Aber dann gewahrte man, daß der Schatten nicht nur auf dem Ge- 
ficht, jondern auch darin lag. Harten Willen, zähe Ausdauer und raftloje Ge— 
dankenarbeit prägte der Bau feines Gerüftes aus; daneben lagen, faft wie im 
Miderjprud) und Kampf miteinander, raſche Entichloffenheit und zögernde Be— 
rechnung. Doch Alles überlagerte der Schatten einer düftern, nad) Innen ge— 
wandten Schweigjamteit, die nur ſich jelbft Rede ftand und bedingungslofe Ober- 
herrichaft übte. Daraus blickten zwei Augen wie aus dem Dunkel eines Wald» 
dickichts, reglos ſpähend, Alles auffaffend, haltend und verbergend; der gewöhnlich 
feftgeichloffene, die Lippen beinahe zurücziehende Mund veränderte, wenn ex ſich 
öffnete, den Ausdrud des Gefichtes, denn beim Sprechen durchbrach plößlich der 
Aufglarız ftark vordrängender, marmorweißer und kraftvoller Zähne den Schatten. 
Wer den Sibenden in der Rüftung gewahrte, konnte troßdem nicht darüber in 
Zweifel bleiben, daß er einen Mann umfaffender geiftiger Thätigkeit vor ſich 
babe; dod) hätte er Kleid und Baret des Gelehrten getragen, würde fi) darin 
ebenjo unverfennbar Art und Stolz des edelgeborenen Kriegsmanns ausgeprägt 
haben. 


Wilhelm von Grumbad). 195 


Der dunfelbärtige Schreiber war Herr Wilhelm von Grumbad), des Mark— 
arafen Mbreht von Brandenburg-Culmbadh vertrautefter Rath und Statthalter 
„auf dem Gebirg.“ 

Es dauerte eine Weile, eh’ er auflah; zugleich legte ex die Feder zur Seite 
und trat auf Chriftoff Kreber zu. Die Stahlſchienen an jeinen Beinen und der 
Harniſch um den hochgewölbten, madhtvollen Oberkörper Elirrten, unter feinem 
Fuß jchütterte der Boden. Er warf kurz deutenden Blid auf ein an der Wand 
nad Art der Nürnberger Saduhren hängendes Horologium und jagte: 

„Du verjpäteft Dich zum Erftenmal; beim Ziweitenmal führt Dein Weg 
nicht wieder hierher zurück.“ 

Der junge Gejell juchte den auf ihn gerichteten Blick auszuhalten, doch nad) 
wenigen Secunden wichen jeine troßigen Augen jcheu zur Seite aus, und er ent- 
gegnete: " 

„Ich bin geritten, wie Ihr befohlen, Herr, nachdem ih Eure Hausfrau 
auf dem Wege nad) Würzburg wieder angetroffen und bis zum Schloß zurüd- 
gebracht.“ | 

„Du lügft. Meine Frau ift um die elfte Stunde dort angefommen und 
Du bift erft nach Mitternacht aufgebrochen. “ 

Chriſtoff Kreber antwortete tonlos: „Ich log; fie fam um die elfte Stunde 
und ich ritt erſt nah Mitternacht.“ 

„Weshalb ?“ 

„Weil ic) Jemanden hafte. “ 

„Du lügft wieder. Weil Du Jemanden Liebteft.“ 

„Ic wußte es damals noch nicht. Haß und Liebe können ihre Farben 
ſchnell taujchen.“ 

Er verfuchte wieder aufzujehen, ſchrak jedoch abermals vor einem jonder- 
baren, weißaufleuchtenden Blik aus den Augen des Statthalter8 zur Seite. 
Die Zähne deffelben traten noch gewaltjamer durch die Lippen als bisher, wie 
er mit kaltſchneidendem Spott verjeßte: 

„Du bift jehr Hug für Dein Alter, Burſch. Glaubft Du, ihre Farben zu 
unterjcheiden? Alſo eine Würzburger Dirne? Dan joll jeine Feinde Lieben, jagt 
Martinus Luther, und hat uns gute Beijpiele dafür hinterlaffen. Heirathe fie, 
ih will Euch ausftenern. Du weißt, ich verſprach Dir, für Dich zu forgen, um 
Deines Vaters und Deiner Mutter willen — greif’ zu! Ich will Deiner Frau 
Kind aus der Taufe heben und Dir eine gute Fauſtbüchſe ala Hochzeitsmitgift 
ichenten. Und ſollt's der Zufall wollen, daß fie losginge und Deiner Frau 
eine Kugel durch die Bruft jagte, an der ihr Kind ſöge, jo will ih Dich 
tröften, Dich zum Ritter jchlagen und Dir eine meiner Burgen zu Zehn geben. 
Was meint Du, Chriftoff Kreer? Du weißt, ich halte, was ich zuſage. Wirb 
und freie!“ 

Wilhelm von Grumbad late, doch es ang nicht wie zwiſchen feinen 
weißen Zähnen hervor, fondern al3 komme e3 mißtönig, ein aufgeftörtes Echo, 
aus einem Winkel des alten, finftren Gemäuers. Der Mund jelbft ſchien über 
diefe ungewohnte Regung zornig, denn er preßte fich jäh zurüd und fragte 
dann hart: 

13" 


196 Deutiche Nundichan. 


„Wer empfing fie?“ 

„Der Biichof.“ 

„Er ſelbſt? — Und Unter-Bleichfeldt ?“ 

„Iſt von Würzburger Knechten beſetzt — zum Schub, bis die Braunfchweiger 
vorüber find.“ 

„Gut.“ — Das Wort drücte Zufriedenheit aus, ob mit dem Boten oder 
feiner Nachricht. „Der Schutz wird guten Beftand haben, denn Wind und Wetter 
werden fie am Main fefthalten oder der Wein ihnen munden, oder — einerlei 
was: auf dem Frauenberg wird man Rath dafür willen. Was jpricht man in 
Würzburg?“ 

„Die Bürger trauen dem Bamberger Vertrag nicht.“ 

„Wackre Leute, die dem Pad mit dem Böſen mißtrauen! Geh’ und ruh” 
aus, ich laſſſ Dich rufen; am Abend reitet Du. Bis auf die Verfpätung bin 
ih mit Dir zufrieden, auch mit Deiner Liebſchaft. Weiber haben gute Ohren 
und hören Manches; Du darfjt fie befuchen. Laß Dir Wein geben! Was noch?“ 

Der junge Reifige hatte fi) gewandt, ftand jedoch noch zögernd an der 
Schwelle. Auf die lebte Trage hob er den Kopf umd verjeßte ungewiß: 

„Ihr ſagtet mir zu, Herr, wenn ich etwas zu Eurer Zufriedenheit voll- 
brächte, wolltet Ihr mich dafür belohnen.“ 

„Mit dem Namen, den Dein Bater Dir hätte geben jollen? Du jchlägjt 
Deine Dienfte hoch an, Burj; mich däucht, ich habe Dix ein gutes Theil vor— 
aus bezahlt. Ach Fand Did auf der Gaffe im Blut, Deiner Mutter, fagten 
die Leute, habe Dich aufwachſen laffen, genährt, gekleidet‘, einen Reiter aus Dir 
gemacht. Hab’ ich Dank dafür verlangt? Ich weiß: Du würdeſt mich um bej- 
jeren Preis verrathen, es liegt Dir im Blut. Aber Du heuchelft wenigſtens 
Danf und Treue, weil ich der Einzige bin, der von Deiner Herkunft weiß. 
Meinft Du, ein Ritt nad) Würzburg genüge, um die Kette, an der ih Dich 
balte, durchzuſchlagen? Ich bin mit Dir zufrieden, jagte ih; Du bift geworden, 
wie ih Dich gewollt, ein Wolf, der an der Kette raffelt und die Zähne fletidht. 
Pade, wen Dein Gebiß fallen fann, und beiße ihm Deinen Haß gegen mich in's 
Fleisch! Vielleicht kommt ein Tag, wo id Dich heiße: Thu’ das, Chriftoff 
Kretzer! Wenn Du's gethan, jage ih Dir den Namen Deines Vaters. — Jetzt 
lafj’ mid! 

Der Abgefertigte verlieh das Gemach; ein jonderbarer Blid Grumbach's 
folgte ihm nach, als ob der Haß, von dem er geſprochen, hundertfach verftärkt 
unter jeinen eigenen Lidern hervorglühe. Einigemale ging er mit Elirrenden 
Schritten auf und ab, dann ſetzte er fich an den Tiſch zurück und jchrieb. Aber 
feine Gedanken waren nicht bei der Feder, fie glitt achtlos über das Blatt, und 
er ftarrte auf fie nieder, zerfnickte fie und warf fie zu Boden. „Ein Werkzeug, 
und Du willft nicht gehorchen?“ knirſchten feine Zähne. Doch gleich darauf 
ah er erftaunt um, in den dunflen, tiefen Rahmen einer Mauerede. Ein leije 
fnarrender Ton fam von dort und eine Thür wich) wie von ſelbſt zurüd. Sie 
flog nicht auf, ſondern verihwand nur im Gemäuer, und mit vorgebüdtem Kopf 
trat eine, Geficht und Körper unter langem Mönchskleid bergende, hochgewach— 


Wilhelm von Grumbad). 197 


jene Geftalt durch die niedrige Deffnung. Der Statthalter ſprang überraſcht 
auf, trat der ımerwarteten Erſcheinung entgegen und ſagte: 

„Wer feid hr? Ihr fünnt Niemand anders in diefer Thür jein, ala —“ 

„Einer, der Deine Beichte zu hören kommt, mein Sohn,“ ergänzte eine er- 
fünfteltsnäjelnde Stimme. „Seid Ihr allein, Grumbach?“ 

Der Gefragte ftieß einen Riegel vor die Thür, durch welche ſtretzer das 
Gemach verlaffen. „Allein und ungeftört, Herr Markgraf. Was bringt Euch 
unvermuthet hierher?“ 

„Ungeduld, Langeweile, Grumbach; Ihr macht mir die Zeit lang.“ Es 
klirrte unter dem zurüdgeworfenen Mönchsgewand des Sprechers, der die Ga- 
puze in den Naden jchüttelte, und über feingliederigem Mafchenpanzer, auf den 
ein langer Spihbart bis zur Mitte der Bruft hinunterftieh, fam das noch jugend» 
liche, doc ſchon vielfach durchfurchte und ernft-finftre Geficht des Markgrafen 
Albreht von Brandenburg-Culmbadh zum Vorſchein. Er warf fih auf einen 
Seſſel und lade: 

„Ich bin luftiger Laune, Grumbad. Durch Bamberg bin ich geritten, und 
die Bürger haben mir den Saum gefüht und mich um meinen Segen gebeten. 
Ich hatte Luft, ihnen nah Wunſch zu thun, mit dem Stiefelabiah.“ 

„Sr ſeid tolllühn, gnädiger Herr. Wenn man Euch erkannt hätte, wäret 
Ihr vielleicht jet Biſchof Weygand's Gaft, doch nicht an feiner Tafel.“ 

„Dann hoffentlich in feinem Weinkeller. Pah, haben wir nicht den Bam- 
berger Vertrag, leider ohne das Geld mehr, das er uns eingebradht hat ?“ Das 
bringt mich zu Euch, Grumbach; ich brauche Geld. Yacob Oßburg's Fähnlein 
auf Hohenlandsberg haben jeit Magdeburg keinen Sold und wollen auseinander 
laufen. Schafft! Straß weiß feinen Rath.“ 

„Laht fie laufen, gnädiger Herr! Das find ſchlechte Landsknechte, die Euch 
ſchwören und in acht Striegsjahren nicht jo viel übrigen, ein halbes Friedens- 
jahr auszudauern. Das ift mein Rath; Geld habe ich jo wenig wie hr. 
Biſchof Melchior hat mir geftern Burg und Dorf Untern-Bleichfeldt beſetzt —“ 

Der Markgraf fprang auf. „Und Ihr fiht Hier?!“ 

„Sr möchte, daß ich's nicht thäte, jondern nady Eurer Meinung handelte. 
Es wäre ein guter Grund, bei Sailer und Reich um Vertrags- und Land» 
friedensbruch zu klagen, wenn ich mein Gigenthum wieder an mich nähme, denn 
er bat fich deilen nicht aus Eigennutz bemädhtigt, jondern aus chriſtlicher Er— 
barmni und Freundſchaft als des Leibgedinges meiner fiechen Hausfrau, um 
es gegen Wildniß und Unbill der beranziehenden braunſchweigiſchen Ariegsvölter 
zu fichern. Auch meine Hausfrau jelbft hat er zu ſich unter den Schub des 
Frauenbergs genommen.“ 

„Seid Ihr toll, Grumbach?“ 

„D, in Ehren, Herr Markgraf! Ich gebe Eudy mein Wort darauf, fie kann 
auf keinem Fleck der Erde ficherer fein.“ Die Lippen Wilhelm’s von Grumbad) 
hatten fi) einen Moment höher über die aufflammenden Zähne gehoben, janten 
zurücd und er fügte hinzu: 

„Sie hat die Einladung auf meinen Rath angenommen, wenn Ihr wollt, 
auf meinen Befehl.“ 


198 Deutſche Rundſchau. 


„Der Befehl däucht mir nicht liebevoll.“ 

Durch des Statthalter Gefiht ging ein ſcharfes Zuden und die rothe 
Narbe auf feiner Stirn wandelte fi) einen Augenblid in einen weißen Strid) 
um. Dann erwiderte er ruhig: 

„Euer Dienft hat mir nicht viel Zeit zur Liebe gelaffen, Herr Markgraf; 
vielleicht ift dies das erſte Werk hriftlicher Liebe, das ich mir zum Verdienſt 
rechnen kann. Ihr wißt, meine Frau ift jeit Langem krank und römiſchgläubig; 
wo fände fie beſſer Erlöfung und heiligeren Troſtſpruch als bei einem der 
oberften und ehrwiürdigften Diener der Kirche? Der Herzog von Franken war 
mein Feind, aber der Biſchof von Würzburg wird meines Weibes Tröfter fein, 
und die Liebe zu ihr ift ſtark genug in mir, ſolchen Unterſchied zu machen.” 

Markgraf Albrecht wirbelte lachend feinen jpiten Bart. „Es ift faft jo 
beluftigend, Euch ala Pfaffenlobredner zu hören, Grumbach, wie jelbft als Mönd 
dur Bamberg zu reiten. Sagt mir mit dürrem Wort, weshalb habt hr 
Eure Hausfrau auf den Frauenberg geſchickt?“ 

„Um von ihr zu erfahren, ob Wolf MWeindheim luſtig oder verdroffen ift, 
gnädiger Herr. hr wißt, ich nehme an feiner Laune Antheil.“ 

„Do der Biſchof — wie fommt er dazu, Euer Weib —?“ 

„Das alt, entftellt und fiechen Leibes ift? Spottet nit, Herr Markgraf! 
Er beweift jeine chriftliche Liebe, indem ex fie an der Nächften jeines Feindes 
übt, und legt Zeugniß ab für feine Fromme Gläubigfeit, denn er baut darauf, 
daß vor den Augen meiner rau fein Bild machtvollere Wirkung befitt als 
meines, weil er ein altes Recht auf fie hat — ich meine, als das eines Ober- 
hirten ihrer Kirche. Wer ift jo ſündlos, daß er nicht der Vergebung bedürfte? 
So denkt vielleiht Herr Meldior von Zobel, und er rechnet darauf, daß lang 
gehäufte Sündenlaft — iſt's nicht genug, daß fie eines Ketzers Weib ift? — 
meine Frau erdrückt, jo daß fie, Vergebung ihrer Schuld zu erlangen, für ihr 
Seelenheil ein Wenige von dem zeitlihen Wandel ihres Mannes preisgibt. 
Auch die hochwürdigſten Herren haben Stunden, in denen fie irdiſche Neugier 
anwandelt, und befiten vom Himmel ftammende Kraft der Ueberredung verſchie— 
dener Art, je bei Jung und Alt.“ 

„Do Ihr glaubt, daß er fidh bei Eurer Hausfrau verrechnet?” 

„Diesmal thut er's.“ 

Wilhelm von Grumbach ftieß es Fury, abgebrochen zwiſchen den Zähnen 
hervor, in einer Weije, die den Markgrafen unwillkürlich veranlaßte, verwundert 
die Augen auf ihn zu richten und zu entgegen: 

„Ihr jeid Klug, Grumbach; Eure Freunde wiſſen's Euch jeit manchem 
langen Jahre Dank, und es ift Keiner unter Euren Feinden, dem Ihr Grund 
gegeben, es Euch abzuftreiten. Doc auch Klugheit, jcheint’s, muß ihren Fall» 
ftrid haben; dem Einen legt ihn der Wein, dem Andern die Weiber. Mid 
däucht jchon von Alters ber, Eurer könnt’ den Namen Biſchof Melchior von 
Würzburg tragen; jeht vor, daß Ihr nicht einmal über ihn ftolpert und im die 
Grube fallt. Jch weiß, daß Euer Kopf Herr ift und Euer Herz fich nicht mit 
menſchlichen Leidenichaften befaſſen läßt, jonft würde ich glauben, Ihr haftet 
ben Biſchof.“ 


202 


Wilhelm von Grumbadh. 199 


„Und würdet fürdten, Hab made blind, wie Liebe, Herr Markgraf. 
Habt mein Wort, der Haß gegen ihn ift nicht blinder ala die Liebe zu 
meinem Weibe.“ 

Der Statthalter hatte feinen Sit verlaffen, jchritt hin und wider, blieb 
ftehn und fuhr mit verändertem Zone fort: 

„Mein Thun hat nit mit Hab und Liebe zu ſchaffen; wenn es Euch bie 
Zeit lang macht, gnädiger Herr, fo bin ich geduldiger, ala Ihr, denn ich weiß, 
daß ein Baum, der feft wurzeln ſoll, nicht über Naht aufſchießen kann, wie 
ein Pilz. Es find zwanzig Jahre, die ich für Euch gearbeitet Habe —“ 

„pur mich?” fiel der Markgraf ein. „Ich dächte eher, gegen den Biſchof. 
Wenn Ihr Euer Werk für mich angefangen, hätte ih Euch ſchon an meiner 
Mutter Bruft Dank geichulbet.“ 

„So jagt, für's deutiche Neih, Markgraf Albrecht, bis ich den Mann für 
meinen Gedanken fand.“ 

Die Worte enthielten vielleicht eine ſchmeichelhafte Anerkennung, aber in ihrem 
Klang lag etwas ſtolz Unumwundenes, faft Souveränes, ala jei Wilhelm von 
Grumbach der Fürft, der Lenker eines vor ihm fißenden Werkzeugs, das er ala 
unbedingt feinem Willen untergeben betrachte, und er ſetzte raſch hinzu: 

„hr Habt Recht, ich bin älter ala Ihr, gnädiger Herr. Als Ihr in der 
Wiege lagt, ftand die Stammburg meines Geſchlechts zu Rimpar noch, und ber 
„arme Konrad“ Fam über den ſtramſchatzer Wald und brad fie in Stein- 
ſchutt und Aſche. Meine Mutter traf eine Steinkugel aus den ungeſchlachten 
Geſchützrohren der Bauern, und meinen Vater jagten fie durch ihre Spiehe, wie 
fie'3 mit Ludwig von Helfenftein gethban. Dann kam Euer Ohm, Markgraf 
Gafimir, ließ den gefangenen Bauern die fyinger abhaden und die Augen aus- 
ftehen, weil fie vordem geſagt, fie wollten ihm nicht mehr anſehn, und der 
Biſchof Konrad zu Würzburg zog mit Henfern und Steckenknechten durch's 
Frankenland. Bei Fyrantenhaufen mwürgten die Herzoge, der Landgraf und bie 
Mansfelder das Bauernheer, das Martinus Luther verflucht hatte, ala jähe er 
auf Petri Stuhl. E3 waren die Räder, doch ich habe fie nicht geliebt, und 
ic) habe die Bauern nicht gehaßt, die meine Stammburg gebrodhen. Da war't 
Ihr ein Kind, Markgraf Albrecht, an Eurer Mutter Bruft! Ich habe fie nicht 
gehaßt, denn ih ſah in die Welt der Noth, des Mißwachſes und Untergangs 
hinein umd jab, fie hatten Recht; wenn dem Reich geholfen werden follte, waren 
fie der Arzt mit Eifen und Feuer. Sie verlangten ein weltliches Oberhaupt 
und ein geiftliches, nicht in einem Scheinpurpur, fondern mit wirklicher Kraft 
und Macht; nur Zwei follten im Reich jein, ber Kaiſer und das Volt! Zum 
Ende mit der taufendfältigen Herrichaft der Fürſten und Grafen, Bifchöfe, 
Dechanten, Pröpfte und Domberren! Es war ein roher Troß, der es mit plum⸗ 
pem Maul aus der Tiefe des Elends heraufichrie, und feine gemeine Fauſt erlag 
dem Betrug, dem glatten Wort und der Stlugheit; doch mit ihm erlag das 
deutiche Reich und fiel im fpaniiche Hand. Sie hatten gewagt, was fie nicht 
fonnten; von Unten verfudht, was von Oben geichehen mußte. Das wußt' id) 
an Eurer Wiege, gnädiger Herr, und mwuhte, wo die Thorheit und wo die Schuld 
ihr Blut vermengt hatten. Tann vergaß ich's, denn idy nahm ein Weib —" 


200 Deutſche Runbichau. 


Der Sprecher brach ab, ſchwieg einige Secunden und fuhr fort: 

„Mein Geſchlecht fteht zu Eurem Haufe aus alter Zeit, Markgraf Albrecht, 
und Ihr wuchſt herauf. Ich weiß den Tag und den Ort no, an dem es mir 
zum Grftenmal kam, Ihr könntet der Dann werden, von Oben auszuführen, 
wa3 von Unten mißrann, und von der Stunde an habe ich nicht geraftet, für 
Euch und für mid.“ 

„Die Biſchöfe haben’3 gefühlt, Grumbach. Doc ich jehe nicht, daß wir 
fett Jahren Eurem Biel weiter entgegengerüdt find.“ 

„Ih habe Eure Macht im Frankenlande vergrößert, Herr Markgraf. Was 
ift ein Haus ohne Fundament, was ein Kaiſer ohne Hausmacht? Der Biihof 
zu Wilrzburg nennt ſich Herzog von Franken; Ihr ſeid's. Das fieht die Welt. 
Mas fie nicht ſieht, dent’ ich, ift das Gewichtigere.“ 

Der Markgraf zuckte leicht die Achiel. „Ich gleiche darin der weniger jcharf- 
fichtigen Welt, Grumbad. Nur auf den Boden meiner Geldtruhe jehe ich jehr 
deutlih. Eure Umtriebe an der Unterelbe find wie ein freſſendes Geſchwür 
geweſen.“ 

„Ihr haltet den Purpur für billig, gnädiger Herr; Wolf Weinckheim würde 
Euch antworten, daß die dreifache Krone mehr für ihre Zwecke aufwendet. Die 
Biichöfe haben ein Bündnig mit Nürnberg, Rotenburg, Windsherm, dem Biſchof 
zu Aichftatt, dem Teutſchorden und dem Herzog von Braunſchweig geſchloſſen.“ 

„Woher wißt Ihr — ?“ 

„Hätte ich ein Anrecht, Euer Rathgeber zu jein, wenn ich e8 nicht wüßte? 
Ein Bündniß zur Abwehr gegen und — die proteftantiichen Städte wiſſen jo 
wenig, um was e3 fi in Weinckheim's Gedanken handelt, al3 unjere Bundes» 
genoffen in Mittag und Mitternacht, daß fie an ihrer eignen Grube mitgraben. 
Zug um Zug, Weindheim, aber jo gut Du Deine Pläne Hehlft, Dein König 
wird matt! Ihr jeht nichts, Herr Markgraf, dat wir dem Ziel näher fommen ? 
Vertraut meinen Augen, fie jehen das Eiſennetz, das ſich ihnen um die Glieder 
legt (wie der hinkende Schmied jein Garn um den Kriegsgott und fein jchönes 
Buhlweib Ipann), und mein Ohr Hört das olympijche Gelächter, das auch in 
die Luft brechen wird, wenn fich die Maſchen um unjeren Mars und feine alt: 
gewordene Venus zujammengezogen haben. Er glaubt fih ſchon auf dem Sitz 
des Donnererd; aber die Blite, die Wolf Weindheim, fein Merkur, zufammen- 
gehandelt, find Blendfeuer und zerglühen das Net nicht, da3 wir ihm geichmiedet.“ 

„Eure Rechnung hat einen Fehler, Grumbach; er heißt Moritz.“ 

In des Statthalter Augen blitzte ein ungebändigter Strahl auf, wie der, 
mit weldem ein Lehrmeifter thörichten und unbotmäßigen Schüler ftraft. „Wer 
trägt die Schuld daran, Markgraf Albrecht, daß der Fehler vorhanden, in's Ge— 
waltige angewachſen ift? Bor Magdeburg war’t Ihr gleih, Ihr und er! 
Was liegt Ihr den Hurfürften und zogt nicht mit gegen Innsbruck? Dann 
hätte Deutjchland heut’ zwei Herren gehabt und nur einen Zweikampf 
zu beftehen. Aber Ihr warft uns um Jahre zurüd, wie die Thorheit der Ge— 
nofjen des Odyſſeus das Schiff von der faſt erreichten Heimathfüfte twieder in 
die Schlla und Charybdis hinaustrieb; denn hr verlangtet Geld und hörtet 
auf Eure Straß, Oßburg und Tüngen, die Euch riethen, Eure gefammelte 


Wilhelm von Grumbad). 201 


Macht zu nützen, um die Biſchöfe zu zwingen, Euch ihre Truhen auszuleeren. 
Damals verfauftet Ihr die Krone für Pfennige, Herr Markgraf! Was zählt 
Ihr mir den Fehler auf, den Ihr in meine Rechnung gebracht?“ 

Es mußte eine wunderbare dämoniſche Macht fein, die Wilhelm von Grum- 
bad) über den feines fürftlichen Selbftgefühls, Starrfinns und heftigen Jähzorns 
halber gefürchteten Markgrafen Albrecht von Brandenburg-Culmbach übte, denn 
diefer blickte, gejcholtenem Schulfnaben ähnlih, zu Boden und verjeßte nad) 
einer Weile gelajfen: 

„Ich that Unrecht, nicht Euch zu folgen, Grumbach; rechnet darauf, daß 
es nicht wieder gejchieht. Aber ich brauchte Geld — wo iſt's geblieben? Erupit 
— evasit —“ 

Der Markgraf ftand auf; Grumbacdh hatte fich offenbar zu einer Heftigkeit 
fortreißen lafjen, die er gut zu machen, in Vergeſſenheit zu bringen trachtete, 
Er lenkte auf etwas Anderes über und jagte ruhig: 

„Ich habe heute einen Boten nad) Wien an den Erzherzog Maximilian mit 
dringender Warnung abgejandt. Die Loyoliten ex societate Jesu haben den 
Auftrag, ihn langfam zu vergiften; fein Leben ift unihäßbar, wir dürfen uns 
um feinen Preis die Ausficht vauben laſſen, einen proteftantiichen Kaiſer aus 
dem Haufe Habsburg zu getwinnen. Wenn es möglich wäre, eine Trennung zu 
bewerkjtelligen, gnädiger Herr, eine Beihränfung Habsburg’s auf Defterreih, und 
daneben ein wahrhaftes deutjches Reich, beide zu feftem Bund gegen Nom und 
das Ausland vereint — die Thronbefteigung des Erzherzogs Mtarimilian könnte 
einen Moment in der Gejchichte bilden, der vielleicht niemals wiederkehrt.“ 

Markgraf Albrecht nickte, doch unverkennbar ermaß er nicht die Tragweite 
des überrafchenden, mit zögernder Vorficht ausgedrüdten Gedankens feines Statt- 
halters. „Bergiften?“ erwiderte er; „ich glaube, Ihr habt Raben abgerichtet, 
Grumbach, die Euch Alles zutragen, nicht nur was geichieht, jondern was noch 
im Gehirn der Menjchenköpfe dämmert. Man wird Euch in Wien guten und 
ichlehten Dank dafür willen. Doch id fam, Euch zu fragen —“ 

Er ftocte einen Augenblidt — „Ih muß Geld haben, Grumbad. Der 
Herzog von Aumale bietet ziweihunderttaufend Gulden für feine Löjung — was 
rathet Ihr?“ 

„Laßt ihn frei, gnädiger Herr.“ 

„Für jo geringen Preis?“ 

„Rein, für höheren.“ 

„Wie hoch meint hr?“ 

„Umfonft.“ 

„Seid Ihr von Sinnen?“ 

Grumbad) öffnete die verriegelte Thür und rief einige Worte hinaus. Dann 
drehte er den Kopf: „Umjonft, oder für den Werth der Juwelen in König Hein- 
richs Krone. Ich will Euch den Preis übermorgen jagen, gnädiger Herr.“ 

Die Thür ging auf und Chriftoff Kretzer trat ein. Der Statthalter jchritt 

* ihm zu: „Ach ändere Deinen Auftrag; Du reiteft in einer halben Stunde 

Würzburg zurüd, kehrſt in der Herberge zum Klingenberg ein und erforichft, 

ih dort no ein Gaft, Namens Herr Friederich Spet, aufhält, oder ob der- 


202 Deutiche Rundſchau. 


jelbe bereits abgereift ift. Dann begibft Du Dich auf den Frauenberg, verlangft 
in meinem Auftrag Vorlaß bei meiner Hausfrau, erkundigft Dih nad ihrem 
Gejundheitsftand und bringft mir ohne Aufenthalt ihre Antwort. Ohne Aufent- 
halt — umd wir leben mit Allem, wa3 innerhalb Würzburg’3 Mauern ift, in 
Frieden und Freundſchaft — verſtehſt Du?“ 

Das Auge des jungen Gejellen hatte bliartig aufgeleuchtet, er ließ das 
Lid halb darüber fallen und entgegnete: 

„Ich habe verftanden.“ 

„So handle barnad)!“ 

Kreher verließ mit einer halb linkiſchen Berneigung gegen den Markgrafen 
das Gemach; diefer jagte: 

„Der Burſch ift klüger ala ih, Grumbach, denn ich verftehe Euch nicht. 
Mer ift er? Ich weiß nicht, an wen ex mich erinnert.“ 

„Bielleiht an den Teufel, denn er würde in die Hölle hineinreiten, wenn 
ich’3 ihn hieße. Verlaßt Euch drauf, es ift der befte Bote auf den Frauenberg. 
Erweift mir die Ehre, Herr Markgraf, mit mir zu theilen, was unjer Mittagd- 
tiich auf dem Gebirg hat, und ich will Euch jagen, weshalb ich dazu gerathen, 
dem Herzog von Aumale noch zwei Tage Gaftfreundichaft auf der Blaffenburg 
zu gönnen. Die Wünjche unferer Freunde treffen nicht immer mit unjeren 
eigenen überein, und obwol Wolf Weindheim mein Freund ift — denn ich wüßte 
wenig Menjchen auf Erden, vor denen ich jo viel Rejpect hätte, wie vor ihm — 
jo weichen unjere Anſchauungen über die Brauchbarkeit Eures herzoglichen Ge- 
fangenen doch voneinander ab. Ich fagte Eu, daß wir vielleicht das reichite 
Löjegeld erzielen, wenn unſere Großmuth feines begehrt. Warten wir auf den 
Beicheid, mit dem Herr Friederich Spet den Frauenberg verlaffen und den meine 
Hausfrau mir berichten wird.” 

„Sprecht deutlicher, Grumbah — Ihr habt Recht, der Ritt durch Bam- 
berg hat mich hungrig gemacht; beim Trunk hört ſich's am beften.” Der Mark— 
graf nahm vertraulich den Arm feines Berathers, und fie jchritten in den Speije- 
jaal der Burg, während draußen der Hufichlag des Pferdes ericholl, dad Chriftoff 
Kreßer noch jchneller, ala ihm befohlen worden, aus dem Stall wieder hervorzog. 

(Schluß im nächſten Heft.) 


Die Sage von Yelrus als xömiſchem Bildof. 


Bon 


Prof. €. Beller in Berlin. 








Die Päpfte leiten befanntlich alle die Rechte, welche fie für ſich in Anſpruch 
nehmen, von dem Apoftel Petrus her, deffen Nachfolger fie jein wollen und 
ohne Zweifel auch zu fein glauben. Mögen dieje Aniprüche nod jo weit gehen, 
mögen fie fi) auf die Lehre, auf die Disciplin oder die Jurisdiction, auf fird)- 
liche oder auf bürgerliche Dinge beziehen: immer ift es Petrus, dem bie Befug- 
niffe urſprünglich übertragen worden jein follen, welche fi von ihm, wie ver- 
fichert wird, auf die römiſchen Biichöfe vererbten. Auch in ber neueften feier- 
lichen Berfündigung päpftliher Machtanſprüũche, in den vaticaniichen Goncilien- 


204 Deutiche Rundichan. 


übergegangen. Auch ihnen fteht mithin die Leitung der Kirche unbedingt und 
unbeſchränkt zu: fie find die Lehrer, denen man feinen Irrthum zutrauen, die 
Regenten, denen man nicht widerjprechen, die Richter, von deren Urtheil man 
nicht appelliven darf.“ Dieſe wenigen Worte enthalten den dogmatijchen Kern 
de3 Syſtems, welches nicht? geringeres bezwedt, als die Aufrihtung einer 
unbejchräntten, die ganze Menjchheit umfafjenden, auf alle Lebensverhältnijie 
und Thätigfeiten fich erftredenden klerikalen MWeltherrichaft. 

Wenn man näher zufteht, zeigt fi nun freilich jehr bald, daß die Grund- 
lage dieſes Syſtems viel zu ſchmal und ihr Gefüge viel zu Loje ift, um ein jo 
colofjale8 Gebäude zu tragen. Unter allen jenen Sätzen ift nicht Einer, der der 
hiftorifchen Kritik auch nur einen Augenblid Stand hielte. Chriftus joll dem 
Apoftel Petrus die oberfte Leitung der Kirche übertragen haben; aber in unjern 
Evangelien gibt er ihm feine Vollmacht und feinen Auftrag, die nicht aud) 
den andern Apofteln in allem wejentlichen ebenſo extheilt würden; und wie 
hoch man immer die Stellung anſchlagen mag, weldhe dem Petrus an der 
Spibe der zwölf Apoftel angewiefen wird, jo erſcheint dies doch nur als ein 
perjönlicher und auf perſönlichem Anjehen beruhender Vorzug ; von der Abficht, 
eine bleibende Einrichtung, eine monarchiſch conftituirte oberfte Kirchenleitung 
zu ſchaffen, zeigt fich feine Spur. Ebenjo wenig kennt die Geſchichte der älteften 
Kirche das Dafein einer ſolchen Kicchenleitung. Paulus wenigftens erklärt 
auf's nachdrücklichſte ſeine volllommene Nnabhängigkeit von den älteren Apofteln: 
er verhandelt Gal. 2 mit Petrus, Johannes und Jakobus auf dem Fuß der 
unbedingteften Gleichheit, und ala Petrus aus Scheu vor dem Andringen judaiftiicher 
Fanatiker feiner Uebereinkunft mit Paulus untreu wird, hält ihm dieſer eine 
Strafpredigt, die gar nicht darnad) ausfieht, als ob er in ihm feinen geiftlichen 
Dberen verehrt, von einem ihm zuftehenden „primatus jurisdietionis* etwas gewußt 
hätte. Hört man vollends, was alles in diefem Primat enthalten jein joll, jo fragt 
man fich erftaunt, twie die römischen Theologen und Ganoniften, allerdings nicht erft 
jeit heute, in den neuteftamentlihen Ausſprüchen Dinge finden fonnten, von 
denen jchlechterdings nichts darin fteht. Daß fich ferner dieje angeblichen Amts— 
befugnifie des Petrus jammt und jonder3 auf jeine Nachfolger vererbt haben, 
dies behandelt zwar die päpftliche Theorie als ganz jelbftverjtändlich; aber jelbft- 
verftändlich ift es eben nur für demjenigen, welcher zum voraus überzeugt ift, fie 
jeien dem Petrus nicht blos für jeine Perſon übertragen worden, welcher jomit 
dad, was beiwiejen twerden joll, jchon vorausjegt. Wer jich dieſen Zirkelichluß 
nicht erlaubt, wird fich vergeblich nad) einem Beweis dafür umjehen; und wer 
mit der Kirchengeſchichte nur einigermaßen befannt ift, der weiß, welcher Mittel 
es bedurfte, bis fich die römiſchen Biſchöfe allmälig in zwölfhundertjährigen 
Anftrengungen und Kämpfen, von den PVerhältnifjen begünftigt, die Stellung 
errangen, in deren Vollbeſitz fie nach der Behauptung der Romaniften von 
Anfang an gewejen wären, umd wie beftritten und bedingt jelbjt auf der Höhe 
der päpftlichen Macht ihre thatjählih anerfannten Befugniffe immer noch im 
Vergleih; mit dem waren, was das curialiftiiche Syſtem jeit den Zeiten der 
Apojtel ihr unbeftrittenes, auf unmittelbarer göttliher Einſetzung beruhendes 
Recht jein läßt. Möchte es ich daher mit dem Primat des Petrus verhalten, 


Die Sage von Petrus als römiſchem Biſchof. 205 


wie e3 wollte: daß dieſer Primat durch das Recht der Amtsnachfolge auf die 
römiſchen Biſchöfe übergegangen jet, läßt fich nicht blos nicht beweifen, jondern 
dieje Annahme ift auch ganz unvereinbar mit der Thatſache, daß Jahrhunderte 
lang niemand in der Chriftenheit von einem ſolchen Primat der römiſchen 
Biſchöfe etwas gewußt hat, daß diefe vielmehr außerordentlich lange Zeit nöthig 
hatten, um jich die Rechte jenes Primats Schritt für Schritt in einem Theil 
der hriftlichen Kirche, und auch hier nicht in dem vollen Umfang, in dem fie 
in Anſpruch genommen wurden, zu eriverben. 

Wie fteht e8 num aber mit der Thatjache, welche bei allen diejen Deductionen 
vorausgejeßt wird und deshalb die erfte und unentbehrlichite Grundlage des 
ganzen Papaljyftems bildet? War Petrus überhaupt römiſcher Biſchof, und 
find deshalb die jegigen römiſchen Biſchöfe, die Päpfte, als jeine Nachfolger zu 
betrachten? Die Beantwortung diefer Frage joll im folgenden, jo weit dies 
ohne tiefergehende gelehrte Erörterungen geichehen kann, dem gegenwärtigen 
Stand der wiſſenſchaftlichen Forſchung entiprechend, verſucht werden. 

Es wird jedoch zweckmäßig jein, hiebei eine Unklarheit, zu der unjere Frage— 
ftellung jelbft Anlaß geben könnte, zum voraus zu beieitigen. Die heutigen 
fatholiichen Bischöfe find hohe kirchliche Würdenträger, Theile eines großen hier- 
archiſchen Organismus, in dem fie al3 die Regenten und Vertreter ihrer Sprengel 
eine hervorragende Stellung einnehmen; wie jehr auch immer die neneften 
Goncilienbeihlüffe ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt und fie aus Kirchenfürſten 
mit eigenem Recht zu umjelbftändigen päpftlihen Beamten herabgeſetzt haben. 
Zur Zeit der Apoftel kann nit allein an Bilhöfe in diefem Sinn nicht 
gedacht twerden, jondern e3 waren überhaupt von der jpäteren Epijtopalverfaj- 
jung kaum die erften Heime vorhanden: es gab hriftliche Vereine in den einzelnen 
Orten, wo der neue Glaube Wurzel gefaßt hatte, aber es gab nod) feine über 
die Ortögemeinden hinausgehenden kirchlichen Verbände, und die Einzelgemeinden 
jelbft wurden nit monarchiſch, jondern collegialiſch, nicht durch einen Bilchof, 
jondern durch Aeltefte (Presbyter) geleitet. Auch der Name der „Epiikopen“ 
oder Aufieher bedeutet in den wenigen Stellen des Neuen Teſtaments, in denen 
er vorkommt, wiewol dieje jelbit ſchon Schriften des zweiten Jahrhunderts 
angehören, und ebenjo in anderen hriftlichen Schriften aus dem nadhapoftoliichen 
Zeitalter, noch daſſelbe, wie „Presbyter“. Erft um die Mitte und nad der 
Mitte des zweiten Jahrhunderts hat ſich allmälig aus der collegialiichen 
Gemeindeverfaffung die monarchiſche und mit ihr der Unterichied des Epiſtopos 
von den Presbytern (des Biſchofs von den Gemeindeälteften oder „Prieftern“) 
herausgebildet. Nur in der Gemeinde zu Jeruſalem, und vielleiht aud in 
anderen jubenchriftlidhen Gemeinden, ſcheint dies etwas früher geſchehen zu fein. 
Bon der römischen Gemeinde dagegen können wir mit Sicherheit annehmen, 
daß es in ihr bis in’3 zweite Jahrhundert hinein einen Biichof in der jpäteren 
Bedeutung des Wortes nicht gegeben hat. Wenn man daher fragt, ob Petrus 
Riſchof von Rom war, jo kann dies, richtig verftanden, nicht bedeuten: ob er 

3 Amt eines Biichofs (welches es damals nody gar nicht gab) dort bekleidet, 
“n nur, ob er überhaupt an der Spite der römiichen Chriftengemeinde 
n, ob er fie durch feinen perſönlichen Einfluß und fein apoftoliiches 


206 Deutiche Rundſchau. 


Anſehen in ähnlicher Weije geleitet habe, wie Paulus ohne Zweifel die von ihm 
gegründeten Chriftenvereine in Ephejus und Korinth während feines mehrjährigen 
Aufenthaltes in diejen Städten geleitet hat. Die päpftlichen Anfprüche freilich, 
welche auf die „Nachfolge Petri“ gegründet werden, wären aud mit der 
Bejahung diefer Frage, wie bemerkt, noch lange nicht bewiejen; um jo unwider— 
jprechlicher folgt dagegen aus ihrer Verneinung die völlige Unhaltbarfeit dieſer 
Ansprüche, jo lange fie ſich auf feinen anderen Rechtsgrund ftühen können. 

Eben dies ift aber der Fall, in dem wir uns befinden. Daß Petrus 
Biſchof von Rom mar, ift unbedingt und in jedem Sinn, den man mit diejer 
Behauptung verbinden könnte, zu läugnen. 

Zum Erweis einer Thatjache, die wir nicht aus eigener Wahrnehmung fennen, 
ift befanntlich zweierlei nöthig: e8 müfjen uns in glaubwürdigen Zeugnifjen 
oder in ihrem Zuſammenhang mit andern beglaubigten Thatſachen ausreichende 
Gründe gegeben fein, um fie al3 wahr anzunehmen, und es dürfen dieſer 
Annahme feine glaubwürdigen Zeugniffe und feine geficherten Thatſachen 
entgegenftehen. Fehlt e3 an dem erften von diejen Erforderniffen, jo können 
wir die Gejchichtlichkeit deifen, was uns erzählt wird, nicht behaupten; fehlt 
es an dem zweiten, jo müſſen wir fie beftreiten. Nach den gleichen Geſichts— 
punkten ift auch die Meberlieferung, welche Petrus zum Biſchof von Rom macht, 
zu beurtheilen. 

Dieje Angabe findet ſich nun allerdings jeit dem lebten Drittheil des zweiten 
SJahrhundert3 n. Chr. ganz allgemein. Die römiſche Kirche, jagt der Biſchof 
Irenäus von Lyon um’3 Jahr 180— 190, ſei von den zwei berühmteften 
Apofteln, Petrus und Paulus, gegründet worden; nachdem fie diejelbe geftiftet 
hatten, haben fie das Bilhofsamt in ihr dem Linus übertragen. Diejelbe 
Kirche preift um das Ende des Hahrhunderts der karthagiſche Presbyter 
Zertullian, weil in ihr die Apoftel ihre Lehre mit ihrem Martyrium 
befiegelt haben, Petrus hier gefreuzigt, Paulus enthauptet, Johannes, ohne 
Schaden zu nehmen, in fiedendes Del geworfen und dann nad) Patmos verbannt 
worden jei; während jein Zeitgenofje Clemens, der berühmte alerandrinijcdhe 
Lehrer, wie wir aus Eujebius erfahren, aus den Vorträgen,, die Petrus in 
Rom gehalten habe, das Marcusevangelium entftanden fein ließ. Ein anderer 
Zeitgenofje diefer Männer, der römiſche Presbyter Cajus, (um 200—220) ver- 
weilt bei Eujeb auf die Gräber der beiden Apoftel, von welchen das eine auf 
dem Batican, das andere an der Straße nad) Dftia liege. Noch älter ift das 
Bruchſtück aus einem Schreiben des Biſchofs Dionyfius in Korinth an den 
römiſchen Biſchof Soter, worin behauptet wird, Petrus und Paulus haben 
zufammen die Gemeinde in Korinth gegründet, und ebenſo gemeinſchaftlich in 
Italien gelehrt und den Märtyrertod erlitten. Dieje8 Schreiben jheint um 
das Jahr 170 verfaßt zu fein, und der gleichen Zeit mögen zwei Schriften 
angehört haben, welche das Zujammentreffen des Petrus und Paulus in Rom, 
ihre dortigen Wunderthaten und Lehrreden und ihr gemeinjames Ende darftellten: 
die „Gejchichte des Petrus und Paulus“ und die „Predigten des Petrus und 
Paulus“. Die erfte von dieſen Schriften ift uns wahrjcheinlich ihrem twejent- 
lihen Inhalt nad), nur mit mandherlei jpäteren Zuthaten vermilcht, in den 


* — _—— 


Die Sage von Petrus als römischen Biſchof. 207 


noch vorhandenen Acta Petri et Pauli erhalten, die in ihrer jetzigen Geftalt 
allerdings nicht vor dem fünften Jahrhundert verfaßt fein können, und jchon 
in ihr war ohne Zweifel erzählt, wie Paulus nah) Rom kam, wo fi) Petrus 
bereit3 im Streit mit dem Magier Simon befand, wie dann die beiden Apoftel 
vor dem Kaifer Nero mit dem Magier disputirten, wie diejer ſich erbot, jeine 
Gottheit durch einen Flug in den Himmel zu beweijen, aber auf die Beſchwö— 
rung des Petrus herabftürzte, wie Nero, darüber erzürnt, die Apoftel zum 
Tode verurtheilte, und nun Paulus an der Straße nad Oftia enthauptet, Petrus, 
erſt entflohen, aber durch eine Chriftuserjcheinung zur Rückkehr beftimmt, kopf— 
abwärts gefreuzigt wurde. Dies ift denn auch die officielle Legende der römi— 
ichen Kirche geblieben, und noch heute zeigt man in Rom, die Dertlichkeiten, 
to fi die einzelnen von ihr berichteten Vorgänge zugetragen haben jollen, 
und die Denkmäler, die dem Andenken derjelben gewidmet wurden. An der Stelle 
des Haufes, in dem eine hriftliche Familie den Apoftelfürften aufgenommen haben 
joll, fteht jet die Kirche der heiligen Pudenziana. Das Felſengewölbe unter dem 
Capitol, der uralte mamertinijche Kerker, der ſchon jeit Jahrhunderten im 
Gebrauh war, als Jugurtha und jpäter die Gatilinarier darin endeten, heißt 
jet San Pietro in carcere, und von der Quelle, die darin aus dem Felſen her- 
vorſprudelt, wird erzählt, fie jei auf Geheiß des Apoſtels entjprungen, um die 
von ihm befehrten Soldaten der Gefängnißwache zu taufen. Die Ketten, die er 
trug, find in San Pietro in vinculis aufgehängt. An der Straße nad Oftia 
erinnert die Kleine Kirche Domine quo vadis an die Erjcheinung, durch welche 
Chriſtus den Petrus von der Flucht zurückrief; eine zweite Capelle an die, wo 
die beiden Apoftel auf ihrem letzten Wege ſich trennten. An den drei Punkten, 
wo der Kopf des enthaupteten Paulus die Exde berührte, quollen aus derjelben 
nad der Sage drei Brunnen hervor: dem Fremden, der die Kloſterkirche von 
Tre Fontane bejucht, wird noch heute ein Trunk aus ihnen geihöpft. Cine 
Heine halbe Stunde davon entfernt fteht über dem angeblichen Grabe des 
Paulus an der Stelle der alten Bafilica, die i. J. 1823 abbrannte, die pradht- 
volle Kirche San Paolo fuori le mura, die freilich einem Goncertjaal noch ähn- 
licher ſieht, als einer Kirche; über dem des Petrus hat Michel Angelo jeine 
herrliche Kuppel gewölbt, während auf der Höhe des Janiculus San Pietro in 
montorio die Stätte bezeichnet, two der Apojtelfürft feinem Meifter im Kreuzes— 
tod nachfolgte. Kann man fi) wundern, wenn unter den Zaufenden, welche 
dieje Denkmäler betrachten, kaum der eine oder der andere ſich die Trage vor- 
legt, ob wol die Ereigniffe, deren Zeugen fie jein wollen, ſich auch wirklich 
zugetragen haben? 

So weit wir bis jetzt find, wifjen wir nur jo viel, daß ein Jahrhundert 
und mehr nad) dem Zeitpunft, in dem fie fich zugetragen haben jollten, nicht 
blos in der römijchen Kirche, jondern auch in andern chriftlichen Gemeinden an 
ihre Gefchichtlichkeit geglaubt mwurde. Aber ein Jahrhundert ift da, wo es 
fih um die Treue der geichichtlichen Ueberlieferung handelt, ein langer Zeitraum, 
der Mihverftändniffen, Exrdichtungen und Unterſchiebungen ein weites Feld offen 
läßt. Eine wirkliche Bürgſchaft für die Glaubwitrdigkeit einer Angabe haben 
wir nur dann, wenn wir fie bis zu den Augenzeugen der Begebenheiten verfolgen 

’ 


208 Deutſche Rundichau. 


und an der Zuverläfiigkeit der legteren nicht zweifeln können, oder wenn das, 
was uns erzählt wird, mit anderen geficherten Thatſachen, als Vorausſetzung 
oder als Folge derjelben, jo eng zufammenhängt, daß wir mit diefen auch jenes 
anzuerkennen genöthigt find. Wenn gegen das Ende des zweiten Jahrhundert3__ 
an die römilche Lehrthätigkeit und den römiſchen Märtyrertod des Petrus 
geglaubt wurde, jo ift damit die Wahrheit diejes Glaubens noch lange nicht 
erwieſen; jondern es fragt fich eben, ob er fich auf eine Meberlieferung gründet, 
die zu den Thatjachen jelbjt hinaufreicht, oder ob er aus bloßen VBermuthungen 
und Dichtungen und ähnlichen unlauteren Quellen entiprungen ift. 

Es ift nun zuzugeben, daß ſich feine Spuren noch eine geraume Strecke 
über den oben bezeichneten Zeitpunkt hinauf verfolgen laffen. Aber je weiter 
wir uns von demfelben entfernen, um fo unficherer werden fie, und um Jo 
unverfennbarer führen fie und aus dem Reich der Geichichte in das der Sage, 
ja de3 Betrugs. Im Yohannesevangelium läßt fich allerdings in den Worten, 
welche Jeſus Gap. 21, 18 in den Mund gelegt werden, eine Anjpielung auf die 
Kreuzigung des Petrus nicht verfennen, wie ja auch der Verfaffer beifügt, Jeſus 
habe damit jeine Todesart andeuten wollen. Aber daß der Apoftel in Rom 
gefreuzigt werden jolle, liegt nicht darin, und auch wenn es darin läge, könnte 
man nicht viel daraus jchließen, da das 21fte Capitel de8 Johannesevangeliums 
nachweisbar ein jpäterer Zuſatz ift, der nicht vom Verfaffer des Evangeliums 
herrührt, nicht vor dem Ende des zweiten Jahrhunderts angeführt wird, und 
jchwerlich jehr lange vorher verfaßt wurde. Der angebliche Jgnatius jchreibt 
im 4. Gapitel ſeines Brief3 an die Römer: „nicht wie Petrus und Paulus 
gebiete ich euch“; er jcheint aljo den Petrus bereit3 neben Paulus ala Apoftel 
der Römer zu fennen. Aber die ignatianiichen Briefe find nachweisbar (tie 
jet auch faſt allgemein anerkannt ift) unterfchoben, und auch ihre ältefte 
Necenfion reiht gewiß nicht über das Todesjahr des Polykarpus von Smyrna 
(155/6), wahrjcheinlich nicht über 160 n. Chr. hinauf; jene Worte können daher 
beften Falls nur beweifen, daß um dieje Zeit in Rom, wo der Verfafler der 
ignatianiichen Briefe gelebt zu haben jcheint, von Petrus Anweſenheit in diejer 
Stadt erzählt wurde. Etwas weiter führt und der erſte Brief des Petrus. 
Wenn bier der Apoftel am Schluß feines Schreibens den Lejern Grüße von 
„der Mitauserwählten in Babylon“ und feinem Sohn Marcus beftellt, jo ift 
e3 allerdings wahrſcheinlich, daß mit Babylon Rom und mit der „Mitauser- 
wählten * dajelbft die römijche Chriftengemeinde gemeint ift (Luther überträgt 
dieje Erklärung unberechtigter Weije jchon in jeine Ueberſetzung), daß mithin 
der Brief in Rom gejchrieben fein will. Wir jehen nämlich) aus der Offen- 
barung des Johannes und aus einem von den chriftlichen Stüden der fibylli- 
niſchen Weiffagungen, daß Rom jchon frühe von den Chriften mit jenem 
ſymboliſchen Namen bezeichnet wurde. Allein beweifen läßt fi) jene Annahme 
durchaus nicht, und auch wahrſcheinlich ift fie doch nur dann, wenn jener 
Brief von einem andern, ald dem Apoftel verfaßt ift, dem er ſelbſt fich beilegt. 
Denn Babylon heißt Rom (nad Offb. Joh. 17, 6. 18, 24) als die Hauptftadt 
der chriftenfeindlichen Welt, die Stadt, welche trunfen ift vom Blute der 
Chriften. Dies wurde aber Rom erft durch die neroniſche Chriftenverfolgung; 


Die Sage von Petrus ald römiſchem Bifchof. 209 


bi3 dahin hatten die Chriften unangefochten dort gelebt, und noch unmittelbar 
vor jenem Ereigniß hatte Paulus, nad) den Schlußworten der Apoftelgefhichte, 
den neuen Glauben volle zwei Jahre mit dem bedeutenditen Erfolge offen 
verfündigt, ohne im diefer Thätigkeit geftört zu werden. Es ift daher ſehr 
unwahriheinlih, daß Rom ſchon von Petrus als Babylon bezeichnet tworden 
fein follte; wäre vielmehr der Brief, der feinen Namen trägt, wirkli von 
ihm geichrieben, jo würde fi die Annahme weit mehr empfehlen, ex fei nicht 
in Nom, jondern in der befannten Stadt am Guphrat verfaßt worden, welche 
damals zwar von ihrer früheren Größe herabgefommen, aber doch immer noch 
ein bedehtender Ort war. Indeſſen ift an die Aechtheit diefer Schrift nicht zu 
denken, die vielmehr ganz unverkennbar von einem Pauliner unter den Verhält- 
niffen des zweiten Jahrhunderts verfaßt wurde und der greifbarften Beziehungen 
auf ächte und unächte paulinifche Briefe, auf den Hebräer- und Jalobusbrief, 
voll ift; und ſelbſt diejenigen maden fie ohne Zweifel zu alt, welche ihre 
Abfaffung in die legten Jahre Trajan’3 (113 f.) verlegen; fie wird vielmehr 
eher erſt dem vierten, two nicht dem fünften Jahrzehend des zweiten Jahrhunderts 
angehören. So wahrſcheinlich es daher auch ift, daß fie ein von Petrus aus 
Rom geichriebener Brief fein will, jo kann man doc daraus nicht mehr jchließen, 
al3 da zur Zeit ihrer Abfaffung, um 130—140 n. Chr., in der vömifchen 
Gemeinde oder doc) bei einem Theil diefer Gemeinde der Glaube verbreitet war, 
Petrus fei in Rom gewejen; wäre fie andererjeit3 (was ich nicht annehme) 
wirklich von Petrus verfaßt, jo könnte nicht Rom, jondern nur Babylon der 
Ort ihrer Abfaffung fein. 

At aber aud) die Ueberlieferung von dem Aufenthalt des Petrus in Rom 
durch diefes Ergebniß der Zeit, in die diefer Aufenthalt fallen müßte, um ein 
erhebliches näher gerüdt, jo Liegen doch zwiſchen 130 —140 n. Chr. und den 
legten Jahren des Nero, in denen der Apoftel umgefommen fein joll, nod) 
immer zwei Menfchenalter. Wer da weiß, wie jchnell ſich oft ungeſchichtliche 
Annahmen bilden und verbreiten, wer auch nur beachtet hat, wie viele grundlofe 
Legenden jelbft in unferer mit der Kunft und den Hilfsmitteln der Kritik jo 
reich ausgerüfteten Zeit in Umlauf gefommen find und den einleuchtendften 
MWiderlegungen zum Trotz mit unverwüſtlicher Hartnädigkeit immer neu auf- 
tauchen, der wird zugeben müfjen, daß in einer Periode und in Streifen, denen 
es an jener Kunſt und jenen Hilfsmitteln ganz und gar fehlte, ſchon die Hälfte 
diefes Zeitraumes mehr als ausreihen mußte, um nicht allein die Entftehung, 
fondern auch die allgemeine Verbreitung einer ungejhichtlichen Sage zu ermög- 
lichen, wenn dieje Sage den Neigungen und ntereffen derer entiprad), an deren 
Glauben fie fid) wandte. Wir ftehen daher auf’3 neue vor der frage: wie ſich 
beweifen läßt, daß die Ueberlieferung von der Anweſenheit des Petrus in Rom 
ihrem erften Urjprung nad) aus der Lebenszeit des Apoftels und von jolchen 
Perjonen herrühre, die ihn in Rom gejehen Hatten und Augenzeugen jeiner 
dortigen Wirkſamkeit geweſen waren? 

In dieſer Beziehung iſt es jedoch ſchon zum voraus von übler Vorbedeu—⸗ 
tung, daß jene Ueberlieferung bei allen den Zeugen, die wir bisher abgehört 
haben, jo weit fie irgend auf die Umftände näher eingehen, unter er Petrus 

Detſche Rundfau. 1, 11. 


210 Deutſche Rundſchau. 


nach Rom gekommen ſein ſoll, mit offenbar ungeſchichtlichen Angaben in engem 
Zuſammenhang ſteht. Der Verfaſſer des erſten Petrusbriefes jagt uns, nach der 
wahrſcheinlichſten Erklärung feiner Worte, Petrus habe diefen Brief in Rom 
geichrieben. Aber was kann diejes Zeugniß beweilen, nachdem wir und über- 
zeugt haben, daß er ihn überhaupt nicht gejchrieben hat? Wenn der Verfaſſer 
dieſes Briefes fein Bedenken trug, jeinem eigenen Werke zu defjen Empfehlung 
den Namen des Apoftel3 vorzujegen (und wir jehen aus zahllojen Beijpielen, 
daß in jener Zeit niemand Bedenken trug, jo zu verfahren): was hätte ihn 
abhalten jollen, diefem Namen auch den der Gemeinde beizufügen, der es, ala 
von ihr ausgegangen, fpeciell an’3 Herz gelegt werden jollte? Oder wenn ihm 
diefer Schon durch die Meberlieferung gegeben war: was hätte ihn veranlaffen 
jollen, dieſe Ueberlieferung, die feinem eigenen Intereſſe jo vollkommen entiprad), 
auf ihre Glaubwürdigkeit und ihren Urfprung zu prüfen, wenn er auch die 
Fähigkeit und die Mittel dazu gehabt hätte, was doch gleichfalls höchſt fraglich 
ift? Sein Zeugniß kann daher diefer Ueberlieferung feine Auctorität, die fie 
nicht vorher jchon befißt, zubringen. Nicht anders verhält es ſich mit den 
Zeugen aus dem letzten Drittheil des zweiten Jahrhunderts. Ein Diony3 von 
Korinth redet von der gemeinjchaftlicden Reife de3 Petrus und Paulus nad 
Rom, ihrem dortigen Lehren und Sterben; aber welches Licht Fällt auf die 
Zuverläffigkeit diejes Gewährsmanns, wenn er die beiden Apoftel, troß der 
Apoftelgeihichte und den Korintherbriefen, erft die Gemeinde in Korinth gemein« 
Ihaftlich ftiften und dann von hier aus zujammen nad) Rom reifen läßt! Die 
Acten des Petrus und Paulus erzählen, Baulus habe, als er nad) Rom kam, 
den Petrus bier jchon getroffen, aber wer bürgt uns dafür, daß dieſe Angabe 
mehr Grund hat, ala das, was diejelbe Schrift weiter von dem Streit gegen 
den Magier Simon mit allen feinen Wundern und Ungeheuerlichfeiten berichtet? 
Die kirchliche Ueberlieferung legt den größten Werth darauf, daß die römifche 
Kirche von den beiden Apofteln gemeinjam gegründet ſei, wenn fie auch dabei 
Petrus einen getwilfen Vorrang einräumt und deshalb ihn und nicht Paulus 
al3 ihren erſten Biſchof betrachtet. Aber gerade dieſer Zug, in dem ſich für 
fie da3 ganze Intereſſe der Petruslegende zufammenfaßt, ift ganz ficher un- 
geihichtlich, da aus der Apoftelgejchichte und dem Römerbrief (wie auch unten noch 
gezeigt werden wird) ſonnenklar hervorgeht, daß Petrus weder der Stifter nod) 
der Mitftifter der römiſchen Gemeinde ift, und weder mit Paulus nah Rom 
fam, noch bei feiner Ankunft jchon dort war. it aber diejes ungefchichtlich, 
woher willen wir, daß dasjenige geichichtlicher ift, was una im engften Zuſam— 
menhang mit jenem und von den gleichen Gewährsmännern berichtet wird, daß 
Petrus überhaupt in Rom war und dort gleichzeitig mit Paulus bingerichtet 
worden ijt? 

Noch bedenklicher ift indeifen ein weiterer Umftand. Was den Petrus nad 
Rom führte, war der kirchlichen Leberlieferung zufolge die Abficht, dem Zauberer 
Simon, den er ſchon früher in Paläftina und in Syrien befämpft hatte‘, nun 
auch in der Hauptftadt des römijchen Weltreich3 entgegenzutreten, und je weiter 
wir jene Ueberlieferung zu ihrem Urſprung zurüd verfolgen, um fo ausichlieh- 
licher tritt dieſes Motiv in derjelben hervor. Der Zauberer Simon ift aber 


Die Sage von Petrus ala römischen Bilchof. 211 


eine durchaus ungeſchichtliche Perſon, die Erzählung von feinem Streit mit 
Petrus eine Erfindung des Parteigeiftes, die jeder thatjächlichen Begründung 
ermangelt. Für was anderes wird da die Anweſenheit des Petrus in Rom, 
von der urjprünglid” nur im Zufammenhang der Simonsſage erzählt, die mur 
mit diefer Fabel motivirt wurde, gelten können, ala für einen Theil diejer 
Dichtung, und two follte die Kritik das Recht hernehmen, diefen Zug der Legende 
für geihichtlich zu erklären, während das Ganze, von dem er urjprünglich einen 
integrivenden Theil bildet, den unverfennbaren Stempel der Erfindung an der 
Stirne trägt? 

Ich will diefes Bedenken an der Hand der neueren Unterfuchungen, unter 
denen nächſt Baur's grundlegenden Arbeiten die Schrift von Lipfius über 
„die Quellen der römischen Petrusſage“ (1872) die bervorragendfte Stelle ein- 
nimmt, etwas näher erläutern. 

Wir haben nun bereit? gehört, wie die römiſche Wirffamkeit und ber 
Märtyrertod des Petrus und Paulus in den Acta Petri et Pauli, noch vor 
den Ende des zweiten Jahrhunderts, mit der Geihichte des Magier Simon 
verknüpft wurde. Diefer Zauberer tritt hier den beiden Apofteln in Rom mit 
feinen Irrlehren und feinen dämonijchen Wundern entgegen; als ihn Petrus 
durch größere Wunder überwindet, kommt die Sache vor Nero, wo fie den 
oben erzählten Verlauf nimmt. Noch früher, ſchon um's Jahr 150, erwähnt 
des Magier Yuftinus der Märtyrer in feiner größeren Apologie. Gin gewifler 
Simon, erzählt er (Gap. 26), ein Samaritaner, habe unter Kaifer Claudius mit 
Hilfe der Dämonen in Rom jo außerordentliche Zaubereien verrichtet, da er als 
ein Gott verehrt und ihm auf der Tiberinjel eine Bildjäule errichtet worden 
fei mit der Inſchrift: Simoni Deo Sancto. Diejer Simon werde in Samarien 
faft allgemein ala der höchſte Gott angebetet, und eine gewiſſe Helena, eine 
Öffentliche Dirne, die mit ihm herumgezbgen jei, werde als fein erfter Gedanke 
bezeichnet. Wird auch Petrus bei diejer Gelegenheit nicht genannt, fo ift doch 
die letzte Quelle diefer Angaben ohne Zweifel eine Darftellung, welde außer 
dem Auftreten des Simon in Rom auch feinen Kampf mit Petrus und jein 
Ende behandelte; und vielleiht war dem Kirchenvater in diefer Darftellung 
bereit3 auch die Combination de8 Simon mit einer jamaritaniichen Landes— 
gottheit und der Helena mit dem „erften Gedanten“ (der „Eñoia“) der gnoftifchen 
Balentinianer und die heitere Umdeutung jener Inſchrift auf der Tiberinjel 
gegeben, die vor dreihundert Jahren wieder aufgefunden wurde und jeht im 
Vorſaal der vaticaniihen Bibliothef aufbewahrt wird, die aber in der Wirk— 
lichkeit unter der Bildjäule eines altrömiichen Gottes ftand, und nicht, wie 
Juſtin jagt, „Simoni Deo Sancto“, jondern „Semoni Sanco Deo Fidio*, Semo 
Sancus, dem Gott des Eides, gewidmet ift. Wir befiten aber auch noch zwei 
altchriftliche Schriften, welche fi ganz um die Sage von Simon und Petrus 
drehen und uns in die Geſchichte diefer Sage einen tieferen Einblid eröffnen: 
die „clementiniichen Homilieen“ und die „clementinifchen Recognitionen“. Die 
erfte von diefen Schriften, deren Abfaffungszeit von dem Jahre 180 n. Ghr. 
ſchwerlich weit abliegt, ift aus der Partei der antipauliniichen Judenchriſten, der 
fogenannten Gbjoniten, hervorgegangen, und fie verräth diefen ihren Urſprung 

14° 


212 Deutiche Rundſchau. 


noch deutlich durch die Erbitterung, mit der hier Paulus, unter der Maske 
des Magierd Simon, angegriffen, jeine große geichichtliche Leitung dagegen, die 
Ausbreitung des ChriftenthHums in der Heidenwelt, auf Petrus übertragen, und 
die Eriftenz eine? Apoftels Paulus jo vollftändig ignorirt wird, daß jein 
Name in dem ganzen ausführlichen Werke nicht einmal genannt if. Denn dem 
Verfaſſer diejes Werks war eben Paulus nicht der Apoftel, fondern der „feind— 
jelige Menſch“ (wie er hier genannt wird), der Eindringling, welcher ſich auf 
angebliche Bifionen Hin die Apoftelwürde angemaßt bat, der Abtrünnige, welcher 
dem Glauben feiner Väter, dem „Geſetz“, untreu geworden ift, und nun die 
Welt zu demjelben Abfall verleitet, die ächten Apoftel dagegen, den Petrus an 
ihrer Spite, mit feinen Schmähungen (e3 bezieht fich dies namentlich auf die 
Aeußerungen des Paulus Gal. 2, 11 ff.) verfolgt hat. Eine fatholijche Bear- 
beitung des gleichen Stoffes find die „Recognitionen”, in ihrer jetzigen Geftalt 
wol etwas jpäter verfaßt, al3 die „Homilieen“. In beiden Schriften laſſen 
ſich aber ältere und jüngere Beftandtheile noch deutlich unterſcheiden, und aus 
der Unterfuchung dieſer verjchiedenen, in der fortjchreitenden Entwicklung der 
Sage gebildeten Ablagerungsihichten läßt fich ein Bild von der urfprünglichen 
Geftalt und Tendenz und den jpäteren Wandlungen der Erzählung gewinnen, 
durch deren Bearbeitung fie entjtanden find. Auf diefem Wege ergibt fi), daß der 
Zauberer Simon — mag es nun im apoftoliichen Zeitalter einen Goeten diejes 
Namens gegeben haben, oder nit — jedenfalls in der Sage, mit der wir es 
hier zu thun Haben, urjprünglid) nichts anderes war, als eine von dem ebjonitijchen 
Parteihaß aufgebrachte Bezeichnung des Paulus, welcher dadurch als ein 
Abtrünniger (oder, wie die Sage die ausdrüdt: ein Samaritaner), al3 ein 
Verführer, als ein Feind des Geſetzes und der gejegestreuen Apoftel dargeftellt wird, 
und daß die Erzählung von dem Streit des Simon mit Petrus, feiner Ueber— 
twindung duch dieſen Apoftel und feinem jchmählihen Ende ihrer erſten 
Abzweckung nad den römiſchen Chriften jagen wollte: nicht Paulus, der 
antinomiftiiche Irrlehrer, den ſchließlich (durch fein Ende unter Nero) die 
verdiente Strafe ereilt habe, jei der Stifter, nicht der antijüdiiche Paulinismus, 
jondern das petrinifche Judenchriſtenthum jei der eigentliche und allein berechtigte 
Glaube der römijchen Gemeinde. Da die Urheber diefer Erdichtung e3 bereits 
nöthig fanden, ihre Angriffe auf Paulus hinter der Simonsmaske zu verfteden, 
jo muß diejelbe einer Zeit angehören, in der es auch feine leidenjchaftlichiten 
Gegner feinem anerkannten apoftoliihen Anjehen gegenüber nicht mehr wagen 
fonnten, mit ihren Vorwürfen gegen ihn offen aufzutreten. Da andererjeits 
die Apoſtelgeſchichte (Cap. 8, 9 ff.), deren Abfaſſung fi) annähernd um 120—125 
n. Chr. anjegen läßt, die Erzählung von Simon, dem jamaritanifchen Zauberer, 
bereit3 fennt und derjelben ihre antipauliniiche Spite dadurch abbricht, daß fie 
den Streit des Simon mit Petrus in die Zeit vor der Belehrung des Paulus 
verlegt, jo werden wir die Entjtehung diejer Erzählung, deren Geburtsort wir 
ohne Zweifel ebenjo, wie den der Apoftelgeihichte, in Rom zu ſuchen haben, 
in. die zwei erſten Jahrzehende des zweiten Jahrhunderts hinaufrüden müſſen. 
In der Folge wurde dann auf den Magier, welcher zuerft nur den großen 
Heidenapoftel im Zerrbild dargeftellt hatte, alles das übertragen, was bei den 


Die Sage von Petrus als römiſchem Biichof. 213 


Männern und Parteien, die ala das häretiſche Ertrem de3 Paulinismus der 
jubdaiftifchen Form des Chriſtenthums am jchroffften entgegentraten, bei den 
fogenannten Gnoftifern, zum Hauptanftoß gereichte; e8 wurden ihm die Lehren 
der bafilidianiichen und valentinianifhen und jpäter die der marcionitischen 
Gnofis in den Mund gelegt, als deren Vertreter er in unfern clementinifchen 
Homilieen auftritt, ohne daß doch deshalb feine urfprüngliche Beziehung auf 
Paulus aufgegeben worden wäre; und er wurde fo zu dem Stammpvater aller 
Ketzereien, für den er der alten Kirche gegolten hat, und als den ihn ſchließlich 
auch manche von den jüngeren Gnoftifern jelbft ſich gefallen ließen, wenn fie 
Darftellungen ihrer Lehre feinen Namen vorjegten. Erſt durch eine Umbildung 
diefer altebjonitiihen Simonsjage ift die Fatholiiche Legende von dem Kampf 
des Petrus mit Simon entftanden. In ihr mußte natürlich jede Erinnerung 
daran getilgt werden, daß Simon urfprünglich nichts anderes geweſen war, als 
Paulus im Zerrbild; ftatt von Petrus befämpft zu werden, mußte Paulus 
jet als Begleiter des Petrus an der Ueberwindung des Magierd theilnehmen; 
während ber ebjonitiihe Tendenzroman fein Ende zum ſchmachvollen Ausgang 
eines gottlojen Lebens gemadt, jeine Märtyrerglorie dagegen auf Petrus über- 
tragen hatte, wurde jeßt die Perſon des Zauberer, den Petrus’ Wort aus 
den Lüften herabgeftürzt haben follte, von der jeinigen unterſchieden, und er 
jelbft wurde zum Genofjen des Petrus im Märtyrertode, wobei aber dieſer 
doch immer an Ruhm und an Thaten den Vortritt behielt, jo dab er umd 
nicht Paulus zu dem eigentlichen Apoftel der Römer und zum erften Biſchof 
der römischen Ghriftengemeinde gemacht wurde. 

So ftellt fich die Ueberlieferung von dem römiſchen Bisthum de3 Petrus, 
wenn man ihren Quellen auf den Grund geht, am Ende ala ein vielverſchlun— 
gened Gewebe von Erdichtungen und Vermuthungen dar, beffen einzelne Fäden 
wir freilich nicht mehr zu entwirren, deſſen Entſtehung und Hauptbeftandtheile 
wir aber im weſentlichen noch mit binreichender Sicherheit zu erfennen vermögen. 
Ihre erfte Grundlage bildet jener ebjonitifche Tendenzroman, welcher den Paulus 
in Rom als falſchen Apoftel von dem Haupte der ächten Apoftel entlarvt und 
geftürzt werden ließ; ihre ſpätere, katholiſch-kirchliche Geftalt erhielt fie dadurch, 
daß diejer ebjonitiihen Dichtung ihr antipauliniiher Charakter genommen und 
Paulus aus dem Gegner zum Genoflen des Petrus gemacht wurde. Aber da 
die kirchliche Legende eben nur durch diefe Umbildung der alten ebjonitifchen 
entftanden ift, und da fie im übrigen alle die ungeſchichtlichen und abenteuerlichen 
Züge der lehteren, alle jene Miratel de3 Simon und des Petrus in fi auf- 
genommen bat, liegt am Tage, dab die eine auf geihichtlie Glaubwürdigkeit 
nicht mehr Anſpruch machen kann, als die andere, daß ſich die eine gerade fo 
gut in dem Reiche ber Dichtung bewegt wie die andere, und daß ihr einziger 
Unterfchied in ihrer Tendenz liegt: die ebjonitiiche Legende verläumbet den 
Paulus, die katholifche bringt ihn wieder zu Ehren, aber um bie geichichtliche 
Wahrheit befümmert fich diefe jo wenig, wie jene, und was fie von der Reife 
bes Petrus nad) Rom jagen, das wird von beiden mit denjelben, einer ebjo- 
nitiſchen Parteilüge entiprungenen Fabeln über den Magier Simon und feinen 
Streit mit Petrus begründet. 


214 Deutihe Rundſchau. 


Dean könnte vielleicht hiegegen einmwenden, diefe Annahmen über den Ur— 
fprung und die urfprüngliche Bedeutung der Simonsjage jeien doc bloße 
Hypotheſen, Combinationen, die vielleiht an fich jelbft beftechend gemug jein 
mögen, die aber gegen Zeugnifje, wie fie uns für die römiſche Wirkſamkeit des 
Petrus zu Gebot ftehen, nit auffommen können. Allein dies hieße die Natur 
und die Bedingungen einer Unterfuhung, wie die, welche uns gegenwärtig 
beichäftigt, verfennen. Lägen uns über die Anweſenheit des Petrus in Rom 
bejtimmte Ausjagen glaubwürdiger Perfonen vor, welche erklärten, daß fie den 
Apoftel dort gejehen haben, oder daß ihnen zuverläffige Leute befannt jeien, 
bie ihn dort gejehen zu haben verficherten, oder bejäßen wir ein Schriftſtück von 
feiner Hand, da3 aus Rom datirt wäre oder von feinem römiſchen Aufenthalt 
ſpräche, dann fünnte man von Zeugniffen reden, denen gegenüber unjere Com— 
binationen verftummen müffen. In Wirklichkeit verhält e8 ſich ja aber ganz 
anderd. Kirchliche Schriftfteller jeit dem lebten Drittheil des zweiten Jahr» 
hunderts fprechen von der Anweſenheit und dem Märtyrertod des Petrus in 
Rom; aber fie jagen uns nicht, woher fie diefe Nachricht haben, und fie geben 
diejelbe, wie bereit3 nachgewiejen wurde, im unmittelbaren Zufammenhang mit 
fo offenbaren Erdichtungen — über den Magier Simon, über die gemeinjchaftliche 
Reife des Petrus und Paulus nah Rom, über den Antheil des Petrus an der 
Stiftung der korinthiſchen Gemeinde —, daß auf ihr Zeugniß nicht der geringfte 
Derlaß ift. Der erjte Petrusbrief will, wie es jcheint, in Rom verfaßt jein; 
aber daß er dies will, fteht nicht unbedingt ficher, und wahrjcheinlich ift e8 nur 
dann, wenn er nicht von dem Apoftel herrührt; und dann kann fein Zeugniß 
eben nur beweifen, daß Petrus zur Zeit feiner Abfaffung, d. h. im vierten oder 
fünften Jahrzehend des zweiten Jahrhunderts, von manden für einen Apoftel 
der Römer gehalten wurde. Das gleiche beweiſt die früher beſprochene Neuerung 
de3 faljchen Jgnatius für das jechste oder fiebente Jahrzehend, wodurch indeſſen 
ber leberlieferung ſachlich feine Verſtärkung zuwächſt. Läßt fich endlich die 
ebjonitiiche Simonälegende, welche den Petrus nad) Rom führt, bis in die erften 
Jahrzehende des zweiten Jahrhunderts verfolgen, jo ift doch diefe Quelle eine jo 
trübe und ihr Bericht ein jo abenteuerlicher, daß man bier wol am wenigften 
von urkundlichen Zeugniffen wird reden wollen. Es handelt fi mithin im 
vorliegenden Fall nicht um ein Auftreten von Hhpothejen gegen Zeugniffe, 
fondern die Trage ift lediglich die: welche von den verjchiedenen Meberlieferungen, 
die fi fammt und jonders über ihren Urfprung nicht ausweijen können und 
fih mit ungeſchichtlichen Elementen ſtark verſetzt zeigen, für die relativ ältefte 
und für die Quelle der andern zu halten ſei; und auf diefe Frage läßt ſich nad 
allen Geſetzen hiſtoriſcher Wahrjcheinlichkeit nur antworten, daß es diejenige 
fein werde, deren Vorkommen fi am früheften nachweiſen läßt, und die ſich 
am beften dazu eignet, alle andern zu erklären. Dieje ift aber im vorliegenden 
Tall die altebjonitiiche Legende von dem Magier Simon und feiner Beſiegung 
durch Petrus. Die Wahrjcheinlichkeit ſpricht daher entjchieden für die Annahme, 
dieſe antipauliniiche Petrusfage fei der Stamm, von dem jich erft in der Folge 
die fatholiiche, petropaulinijche Ueberlieferung abgezweigt habe. 

Doch es ift nicht blos der verdächtige Urſprung und der jagenhafte Charakter 


Die Sage von Petrus ala römischen Bifchof. 215 


diefer Meberlieferung, der una nöthigt, ihr den Glauben zu verfagen: fie fteht 
auch mit den urkundlicheren Quellen und mit den beglaubigtiten Thatjachen der 
älteften Kirchengefhichte in einem jo unverjöhnlicden Widerſpruch, daß wir fie 
ſchon deshalb unmöglich für richtig halten können. 

Wenn Petrus nad) Nom gefommen wäre, jo müßte ex entweder zugleich 
mit Paulus, oder vor ihm, oder nad ihm dorthin gekommen jein. Das erfte 
behauptet, wie wir gejehen haben, die Fatholifche Legende, wie fie fich jeit der 
zweiten Hälfte des zweiten Jahrhundert3 geftaltet hat. Aber die ältere und 
zuverläfjigere Neberlieferung jchließt diefe Annahme unbedingt aus. Wir jehen 
aus der Apoftelgefhichte (Gap. 27 f.), welche hier gerade den Reijebericht eines 
Augenzeugen aufgenommen hat, daß diejer Apoftel von Cäſarea aus, wo er über 
zwei Jahre in Haft gehalten worden war, ala Gefangener nad) Rom gebracht 
wurde, und daß fich Petrus hiebei nicht in feiner Gejellihaft befand, geht aus 
der Darftellung dieſes Abjchnitt3 unwiderſprechlich hervor. Es iſt daher offenbar 
unrichtig, wenn behauptet wird, diejer Apoftel jei in Begleitung des Paulus 
nad Rom gefommen; von den weiteren Zufäßen der Berichterftatter, daß er 
den Zauberer Simon dorthin verfolgt, und daß er bei diejer Gelegenheit die 
korinthiſche Gemeinde mitgeftiftet habe, nicht zu reden. Wir befiten ferner in 
unjerer neuteftamentlihen Sammlung eine Reihe von Briefen, welche uns theils 
ausdrücklich, theils in Andeutungen, die nicht zu verfennen find, jagen, daß fie 
von Paulus während feiner römiſchen Gefangenihaft geichrieben jeien: Die 
Briefe an die Gemeinden in Ephejus, Coloſſae und Philippi, den Brief an Phile- 
mon und den zweiten von den beiden an Timotheus gerichteten. Die meiften 
von dieſen Briefen enthalten num Grüße von den römiſchen Freunden de3 
Apoftel3 (m. ſ. Philipper 4, 22. Philem. 23 f. Col. 4, 10 fi. 2 Tim. 4, 21) 
und Nachrichten über fein eigenes Ergehen wie über jeine Umgebungen und 
Gehilfen (Philipp. 1, 12 ff. 2, 19 ff. 4,2 f. Col. 4,7 ff. 2 Tim. 4 9 ff), 
und es wird bei diefer Gelegenheit eine erhebliche Anzahl von Perjonen genannt, 
die mit dem Apoftel in Rom zufammengewefen feien: Epaphroditus und Timo— 
theus, Marcu3 und Lucas, Clemens und Linus, Pudens und Creſcens, Tychicus, 
Oneſimus, Ariftarhus, Eubulus, Demas, Jeſus genannt Juſtus, Euodia, Syn- 
tyche und Claudia. Nur ein Name fehlt, dem wir vor allen andern zu begegnen 
erwarten müßten: der des Petrus. Wie wäre dies möglich, wenn die jpätere 
Deberlieferung Recht hätte, wenn Petrus gleichzeitig mit Paulus in Rom gewirkt, 
gemeinſchaftlich mit ihm die römische Gemeinde geftiftet hätte? 

Num ift freilich unter jenen Briefen keiner, den die neuere Kritik unangetaftet 
gelafjen hätte, und von einem derjelben, dem zweiten Brief an Timotheus, kann e3 
al3 ausgemacht gelten, daß er ebenjo, wie der erſte Timotheusbrief und der an 
Zitus, nicht allein unächt, jondern auch erft um die Mitte des zweiten Jahr— 
hunderts, oder doch nicht lange vor dieſem Zeitpunkt, verfaßt ift. Aber für die 
vorliegende Frage ift diefer Umftand nicht jo wichtig, als es zunächſt fcheinen 
fönnte. Sind jene Briefe unächt, jo müſſen wir jchließen, e8 jei ihren Ver— 
fafjern von einem Zufammenjein de3 Petrus mit Paulus in Rom nichts bekannt 
geweſen; mochte ihnen nun dieje Angabe noch gar nicht zu Ohren gefommen 
fein, oder mochten fie derjelben, nad ihrer fonftigen Kenntniß der Verhältnifie, 


216 Deutiche Rundichau. 


feinen Glauben jchenfen. Denn auch daran ift nicht zu denken, daß die Ver- 
fafjer diefer Briefe (Falls fie unächt find) von der ihnen überlieferten und be= 
fannten Wirkjamfeit des Petrus in Rom abfichtlich gefchtwiegen hätten, um den 
Paulus zum alleinigen Apoftel der Römer zu machen. Da fie vielmehr fichtbar 
darauf ausgehen, an der VBerjöhnung des Gegenſatzes von Juden- und Heiden- 
chriſten, Petrinern und Paulinern, zu arbeiten, und da fie in diefem Intereſſe 
auch die perjönliche Verbindung de3 Paulus mit Judenchriſten und befannten 
Gefährten de3 Petrus, wie Marcus und Jeſus-Juſtus, Linus, Clemens und 
Pudens, auf’3 geflifjentlichfte hervorheben, hätten fie für ihren Zweck gar nichts 
wirfjameres thun können, al3 die große judenchriftliche Auftorität, den Petrus 
jelbft, ihren Leſern in freundichaftlichem Verkehr und gemeinfchaftlicher Arbeit 
mit Paulus in Rom zu zeigen. Wenn fie && troßdem unterlafjen, jo beweiſt 
dies, daß fie eben von dem Zufammentreffen der beiden Apoftel in Rom noch 
nicht3 wußten oder nicht daran glaubten. Iſt e8 andererfeit3 Paulus jelbft, der 
die Briefe während feiner Gefangenihaft jchrieb und des Petrus darin nicht 
erwähnte, während ex ſonſt alle möglichen Perjonen aus feiner Belanntjchaft 
nambaft macht, jo ift e8 nur um fo einleuchtender, daß Petrus bis gegen das 
Ende der Gefangenschaft des Paulus nicht in Rom geweſen fein kann. Wir 
find daher ſowol dutch die Apoftelgeihichte als durch die paulinijchen Briefe 
berechtigt, die Behauptung, daß Petrus zugleih mit Paulus nah Rom 
gekommen ei, mit aller Beftimmtheit für ungejchichtlich zu erklären. 

Schon hieraus ergibt fih nun auch die Unrichtigfeit derjenigen Ueberliefe— 
rung, welche den Petrus vor Paulus nah Nom kommen läßt; man müßte 
denn annehmen, ex habe diefe Stadt noch vor Paulus’ Anweſenheit in derjelben 
wieder verlafjen, oder ſei vor diefem Zeitpunkt geftorben; dies würde aber der 
firchlichen Ueberlieferung von ihrem gleichzeitigen Märtyrertod ſchnurſtracks 
widerjprechen, und e8 wird auch von feinem einzigen umferer Zeugen und in 
feiner Wendung der Petrusfage behauptet, jondern alle find darüber einverftanden, 
daß Petrus mit Paulus in Rom zufammengewejen und zugleich mit ihm getödtet 
worden jei. Jene Ueberlieferung hat aber auch abgejehen davon jehr viel gegen 
ih. Nach der ſpäteren kirchlichen Legende wäre Petrus 25 Jahre lang römijcher 
Biſchof geweſen. Auf diefe Legende bezieht ſich 3. DB. die befannte Weiflagung, 
die der gegenwärtige Papft freilich thatjächlich widerlegt hat, daß feiner von den 
Nachfolgern des Petrus die Jahre feines Epijtopats überjchreiten werde. Nach 
diejer Annahme müßte Petrus, da er auf Nero’3 Befehl hingerichtet worden 
fein joll, und Nero im Sommer des Jahres 68 n. Chr. ermordet wurde, Tpäte- 
ftend um ben Anfang des Jahres 43, im zweiten Jahr des Kaijerd Claudius, 
nach Rom gefommen fein. Und Eufebius berichtet allerdings (K.G. II, 14): 
nachdem der Magier Simon unter Claudius nad) Rom gekommen jei, habe die 
Vorjehung noch unter demfelben Claudius den Petrus dorthin geführt; und die 
gleiche Zeitbeftimmung gab die Erzählung von Simon ohne Zweifel von Anfang 
an, da ſchon Juſtin den Magier unter Claudius nah Rom kommen läßt, und 
unſere pjeudo-clementiniihen Schriften die Streitreden zwiichen Petrus und 
Simon ebenfalls in die Regierung des Claudius verlegen. Aber der Geichicht- 
lichkeit dieſer Darftellung Tann ihre Herkunft aus der altebjonitiiden Simons- 





Die Sage von Petrus ala römiſchem Biſchof. 217 


Tabel nicht zur Empfehlung gereichen; wird doch in derjelben, neben allen andern 
Abenteuerlichkeiten, auch mit der Chronologie jo rückſichtslos umgeſprungen, 
daß Clemens, der 96 n. Chr. Hingerichtet wurde, nicht allein unter Claudius 
den Petrus begleitet und jeine Reden aufgezeichnet, jondern ſchon vor dem Tode 
Chriſti die evangeliiche Botihaft vernommen und den Entihluß zur Reife nad) 
Paläftina gefaßt haben joll; wird do, da mit Simon urfprünglid Paulus 
gemeint ift, durch die Behauptung, der Magier jei unter Claudius nad) Rom 
gekommen, die Ankunft diejes Apoftels in der Reihshauptftadt um 10—20 Jahre 
zu weit hinaufgerüdt. Die Faljchheit jener Angabe läßt ſich vielmehr mit voll- 
fommener Sicherheit nachweiſen. Wir jehen aus dem Galaterbrief (Gap. 2) und 
der Apoftelgeihichte (Gap. 15), daß Petrus — nad) der einen Erklärung vierzehn, 
nach der andern, die mehr für fich hat, fiebzehn Jahre nad) der Belehrung des 
Paulus no in Jerufalem tvar, wo Paulus bei ihm und den übrigen Apofteln 
die Anerkennung des Heidenchriſtenthums durchſetzte, und daß er noch jpäter 
(der Zeitpunkt läßt fich nicht näher beftimmen) zu Paulus und Barnabas nad 
Antiohia kam. Schon dies führt uns nun jedenfall in die allerlekten Jahre 
des Claudius, welcher 54 n. Chr. farb, wahricheinlich aber bereit3 in Die 
Regierungszeit des Nero herab. An ein fünfundzwanzigjähriges römijches Bis— 
tum des Petrus kann daher unter feinen Umftänden gedacht werden. Meiter 
erzählt und aber Paulus in der angeführten Stelle des Galaterbriefes, er habe 
mit den paläftinenfiichen Apofteln die Webereinkunft getroffen, daß jie den 
Juden, er den Heiden das Evangelium verfündigen jolle; und dem entjprechend 
jagt er den Römern in feinem Sendichreiben (1, 13): ex habe Schon längft den 
Vorſatz gefaßt, fie zu beſuchen, um fi auch ihnen, „wie den übrigen Heiden“, 
nüßlich zu machen. Er rechnet daher Rom, wiewol die dortige Chriftengemeinde 
damals noch ohne Zweifel ganz überiviegend aus mefftasgläubigen Juden beftand, 
zu der Heidenwelt, die jein eigenthümliches Miſſionsgebiet ausmachte. Wie war 
dies mögli, wenn eben damals Petrus jchon Längft die römiſche Chriften- 
gemeinde ala ihr anerkanntes Oberhaupt mit apoftoliicher Auftorität leitete ? 
Oder wenn je Paulus trotzdem eine bejondere Veranlaffung gehabt hätte, fich in 
einem jo ausführlichen umd in feine ganze Auffaffung des Chriftenthums jo tief 
eingehenden Schreiben an die römijche Gemeinde zu wenden: wie läßt es ſich 
denken, daß er in demſelben feines Mitapoftels und feines Verhältniffes zu dem- 
jelben mit feiner Silbe erwähnt hätte? Aber noch mehr. Das jechzehnte 
Gapitel des Römerbrief3 enthält namentlihe Grüße an nicht weniger als 
28 Perfonen. Aber auch Hier, wie in den Briefen aus der römijchen Gefangen 
Ichaft, fehlt der Name des Petrus. Läßt ſich da annehmen, Petrus ſei eben 
damals Biſchof der römischen Gemeinde gewejen? Nun hat zwar Baur ohne 
Zweifel Recht mit der Vermuthung, der e8 aud) an äußeren Stübßen nicht fehlt, 
daß das 15. und 16. Kapitel des Nömerbriefs erft von einem Späteren dem 
ächten pauliniichen Schreiben beigefügt jeien, wenn auch vielleicht (wie Holf- 
mann annimmt) der Schluß des lekteren in Gap. 16, 21—24 nod) erhalten ift. 
Aber was über die Gefangenichaftsbriefe bemerkt wurde, das gilt auch bier. 
Wenn Gap. 15 und 16 aus der nachpauliniſchen Zeit herrühten, jo kann ihr Ver— 
fafler unmöglich angenommen haben, daß damals, als Paulus fein Sendichreiben 


218 Deutſche Rundſchau. 


nad Rom richtete, Petrus ſich in dieſer Stadt aufgehalten Habe, da er ihn 
andernfalls in den Grüßen nicht übergangen haben würde; denn für eine ab= 
ſichtliche Mebergehung liegt Hier gleichfalls nicht blos Fein Grund vor, jondern 
e3 hätte vielmehr dem Verfaſſer jener Capitel bei der conciliatoriſchen, auf die 
Gewinnung der Judenchriſten berechneten Tendenz, die er verfolgt, nur erwünſcht 
fein können, wenn ihn die Ueberlieferung feiner Zeit in den Stand geſetzt hätte, 
dem Paulus einen Gruß an Petrus und ein Zeugniß feines Einvernehmens mit 
demjelben in den Mund zu legen. Wenn ex e3 nicht gethan hat, jo beweift 
dies, daß zu feiner Zeit in Rom von einer Anweſenheit des Petrus dajelbft, die 
der Abfafjung des Römerbriefes voranging, nichts befannt war. Ebenjowenig 
verträgt fich die Annahme derjelben mit der Darftellung der Apoftelgeihichte. 
Denn diefe Schrift ſchweigt nicht allein gänzlich von Petrus, wo fie die An— 
funft des Paulus in Rom und jeine Begrüßung durch die römiſchen „Brüder“ 
erwähnt (Gap. 28, 15); fondern auch in dem Bericht über die Verhandlungen des 
Apoftel mit den römischen Juden und über feine zweijährige Wirkſamkeit in 
der Hauptjtadt wird der Name des Petrus nicht genannt, was doch nothwendig 
geichehen mußte, wenn der Verfaffer annahm, Paulus habe diejen feinen apofto= 
liſchen Collegen in Rom ſchon vorgefunden. So wenig daher Petrus mit Paulus 
dorthin kam, ebenjowenig fann er vor ihm dort gewejen fein: die Tixchliche 
Meberlieferung ift in ihren beiden Geftalten, derjenigen, welche ihn mit Paulus, 
und derjenigen, weldhe ihn vor Paulus dorthin kommen läßt, mit der be- 
glaubigten Geſchichte gleich unvereinbar. 

Kann aber Petrus weder mit Paulus noch vor Paulus nad) Rom ge= 
fommen fein: ließe fich feine Anweſenheit in dieſer Stadt nicht vielleiht da— 
durch retten, daß man annähme, er ſei nach ihm in diejelbe gefommen? Allein 
davon ift für's erfte der gefammten kirchlichen Ueberlieferung nicht das geringite 
befannt. Alle unjere Zeugen, ohne Ausnahme, laffen den Petrus entweder vor 
Paulus oder zugleich mit ihm nad) Rom kommen; nur die ebjonitiiche Simons- 
Tabel läßt ihren Petrus dem Zauberer, welcher das Zerrbild des Heidenapoftels 
ift, dorthin nachreifen, worin doch niemand einen gejchichtlichen Beweis dafür, 
daß Petrus dem Paulus nad Rom gefolgt fei, wird jehen wollen. Iſt er mın 
doc) nachweisbar weder vor ihm noch mit ihm dorthin gefommen, find alfo alle 
die Angaben, welche ihn überhaupt dorthin fommen laffen, in dem, was fie 
jagen, unwahr: twie fann man eben dieſe Annahmen gebrauchen, um aus ihnen 
etiva3 zu beweijen, wa3 fie nicht jagen und was fich mit ihren Ausfagen gar 
nicht vereinigen läßt? Will man auf Grund der Firchlichen Meberlieferung eine 
Anweſenheit des Petrus in Rom behaupten, jo muß man diefe Ueberlieferung 
in irgend einer Geftalt fo, wie fie lautet, als geſchichtlich nachzuweiſen oder dod) 
den Nachweis ihrer Ungejhichtlichkeit zu entkräften im Stande fein, man muß 
zeigen, daß Petrus entweder mit Paulus oder vor Paulus nah Rom gekommen 
jein kann. Muß man andererfeit3 zugeben, daß ſich weder dieſes noch jenes ans 
nehmen läßt, jo hat man fein Recht, "eine dritte Annahme zu erfinnen und der 
Ueberlieferung, die von ihr nichts weiß, zu unterjchieben. 

Dieje Annahme ift aber auch an fich jelbft höchſt unwahrſcheinlich. Es ift 
ſchon oben gezeigt tworden, daß für diejenige römijche Gefangenschaft des Paulus, 


Die Sage von Petrus als römischen Biſchof. 219 


von twelcher die Apoftelgefhichte erzählt und auf welche mehrere paulinische 
Briefe ſich beziehen, ein Zufammenjein des Paulus mit Petrus fi nicht an— 
nehmen läßt. Man hat deshalb vermuthet, Paulus jei aus dieſer Gefangen» 
ichaft wieder frei geworden; jpäter ein zweitesmal nad) Rom gekommen 
und jet erſt zugleich mit Petrus hingerichtet worden. Allein diefer Vermuthung 
fehlt e8 an jeder traditionellen Grundlage, da eine zweite Gefangenichaft des 
Apoftel3 (abgejehen von einer ganz vereinzelten unficheren Andeutung in dem 
um 190—200 verfaßten Muratori’ihen Canon) nicht vor dem vierten Jahr: 
hundert und aud) hier (bei Eufebins K.-G. II, 22) nur als ein „Gerücht“ er- 
wähnt wird, das aus einer mißverftandenen Bibelftelle (2 Tim. 4, 16) ent- 
ftanden zu fein jcheint. Sollen wir nun annehmen, Thatjachen von jo allgemeinem 
Intereſſe, wie die Befreiung, die jpätere Wirkſamkeit und die erneuerte Gefangen 
nehmung des großen Heidenapoſtels, haben fich zwar zugetragen, fie jeien aber 
aus der Meberlieferung de3 zweiten und dritten Jahrhunderts jo vollftändig ver— 
ſchwunden, daß jelbjt ein Euſebius keinen beſtimmten Gewährsmann dafür an— 
zugeben wußte, um dann im vierten Jahrhundert als Gerücht wieder aufzu— 
tauchen? Wenn ferner die Apoſtelgeſchichte mit der Bemerkung ſchließt, Paulus 
habe nach ſeiner Ankunft in Rom das Evangelium dort zwei Jahre lang uns 
gehindert verfündigt, Jo ift dies nur dann ein paffender Schluß diejer Schrift, 
wenn der Apoftel damit überhaupt an dem Biel jeiner evangeliichen Verkündigung 
angelangt war; hatte er fie dagegen noch länger fortgejegt, um dann noch ein= 
mal nad) Rom zurüczufehren, jo jollte man irgend eine Hindeutung auf diejen 
Abſchluß feiner apoftoliichen Wirkfamkeit erwarten. Auch die früher angeführte 
Behauptung de3 Dionys von Korinth, daß Petrus und Paulus nach der Grün 
dung der Eorinthijchen Gemeinde nah Rom gegangen feien und dort den Mär- 
tyrertod erlitten haben, jo jagenhaft fie an fich jelbft ift, beweift doch immer, 
daß man zu feiner Zeit nur von Einer Gefangenschaft des Paulus wußte; und 
ähnlich jchließt Origenes (um 240) die Annahme einer zweiten mittelbar aus, 
wenn er jagt: Paulus habe (nad) Röm. 15, 19) von Jeruſalem bis Yllyrien 
das Evangelium verfündigt und ſei dann unter Nero in Rom zum Märtyrer 
getvorden. Da endlich) das Ende der zwei Jahre, während deren Paulus nad) 
der Apoftelgefhichte in Rom da3 Evangelium verfündigte, jedenfall ganz nahe 
an die Zeit der Neronifchen Chriftenverfolgung heranreiht, jo müßte Paulus, 
wenn man eine zweimalige römische Gefangenjchaft deijelben annimmt, aus der 
erften ummittelbar vor jener Kataftrophe befreit worden fein, aber jchon in einem 
der nächſtfolgenden Jahre fich ebenjo, wie Petrus, freiwillig auf diejen für die 
Ghriften jo gefährlichen Boden zurücbegeben haben, was doch gewiß alle Wahr- 
icheinlichkeit gegen fich hat. Aber wie gejagt: in der kirchlichen Ueberlieferung 
ift diefe Annahme nicht begründet; es ift eine Auskunft dev Verlegenheit, die 
von jeder haltbaren traditionellen Grundlage verlafien ift. 

Mas fih) und mithin jchon früher aus der Prüfung der Neberlieferungen 
über die Anweſenheit des Petrus in Rom ergab, das beftätigt fih, wenn wir 
die Möglichkeit derjelben näher unterſuchen: er kann weder vor Paulus, noch 
mit ihm, noch nach ihm dorthin gefommen fein, er ift alſo überhaupt nicht dort 
getvejen, und die Berichte, die ihn nad Rom kommen lafjen, liefern uns — jo 


220 Deutiche Rundichau, 


weit fich irgend nach hiſtoriſcher Wahrſcheinlichkeit urtheilen läßt — feine Ge— 
ſchichte, ſondern eine durchaus ungeſchichtliche Sage. 

Wir befiten aber außer den bisher bejprochenen auch noch’ein weiteres Zeug— 
niß, aus dem Klar hervorgeht, dab um das Ende des erften Jahrhunderts in 
Royı von dem römijchen Aufenthalt und Märtyrertod des Petrus noch nichts 
befannt war. Unter den Schriften der jogenannten „apoftoliihen Väter” be— 
findet ſich ein Schreiben, welches die römijche Chriftengemeinde an die forinthifche- 
richtete, um bei Streitigkeiten, die in der letzteren ausgebrochen waren, zum 
Frieden zu mahnen. Als der Verfaffer diefes Schreibens wird jeit Dionys von 
Korinth und Irenäus jener Clemens genannt, welcher in der jpäteren, auf bie 
Simonsſage bezüglichen Literatur eine jo große Rolle fpielt, und welcher ſchon 
zur Zeit des Irenäus für den dritten, andern jogar für den zweiten Biſchof der 
römischen Gemeinde nach Petrus galt. Sein Tod fällt nad Eujebius in das 
dritte Jahr Trajan's; er ift aber in der Wirklichkeit noch ſechs Jahre Früher zu 
jegen, da unfer Clemens ohne Zweifel von dem Titus Flavius Clemens nicht 
verichieden ift, der nad) Dio Caſſius und Sueton mit dem flaviichen Kaijerhaufe 
verwandt und mit einer Enfeltochter Vespaſian's vermählt war, troßdem aber 
unmittelbar nad feinem Confulat, 96 n. Ehr., auf Befehl Domitian’3 unter 
der Anklage des Atheismus, der ftehenden Anſchuldigung gegen die Chriften, 
mit anderen, „zu den jüdijchen Gebräuchen (d. h. in diefem Falle zum chriftlichen 
Meifiasglauben) Mebergetretenen“ hingerichtet ourde. Nun fteht e3 freilich nicht 
ficher, daß jenes Sendjchreiben an die korinthiſche Gemeinde wirklich von Clemens 
verfaßt wurde; daß es aber ein ächtes Schreiben der römijchen Gemeinde ift, 
Yäßt fich nicht bezweifeln, und wenn es auch nicht von Clemens herrührt, wird 
es doch kaum fpäter, als unmittelbar nad) feinem und Domitian’3 Tod, aljo 
etwa 97 n. Chr., verfaßt fein. In diefem Sendjchreiben wird nun den Korin— 
thern unter anderem zu bedenken gegeben, was für verderbliche Wirkungen der 
Streit von jeher gehabt, wie er von Anfang an zur Verfolgung und Mißhand— 
lung der Frommen geführt habe, und nachdem dies an der Hand verjchiedener 
altteftamentlicher Erzählungen nachgewiejen ift, fährt der Verfaffer Cap. 5 fort: 
„Um aber die Beifpiele aus der Vorzeit nicht weiter zu verfolgen, wollen wir 
uns den Glaubensfämpfern aus der nächjten Vergangenheit zuwenden, wir tollen 
bie erhabenen Vorbilder unjerer Zeit in’3 Auge faſſen. Der Streit und Neid hat 
e3 bewirkt, daß die größten und frömmſten Säulen der Kirche verfolgt und zum 
Tode gebradht wurden. Stellen wir uns die trefflichen Apoftel vor Augen. 
Petrus hat um des ungerechten Streite willen nicht blos eine oder zwei, ſon— 
dern vielfahe Mühen erduldet, und ift jo al3 Glaubenszeuge in den tohlver- 
dienten Ort der Herrlichkeit eingegangen. Um des Streites willen mußte auch 
Paulus um den Preis des Ausharrens ringen, wurde er fiebenmal in Ketten 
gelegt, ausgetrieben, gefteinigt. Ein Herold der Wahrheit im Often und im 
Weſten, hat er den herrlichen Ruhm feines Glaubens gewonnen, und nachdem 
er die ganze Welt in der Gerechtigkeit unterwieſen, das Ziel feines Laufes im 
Weiten erreicht und vor den Regierenden Zeugniß abgelegt hatte, ift er jo aus 
der Welt geichieden und als das größte Mufter der Glaubensfeftigkeit in den 
heiligen Ort eingegangen.“ Beim Lejen diefer merkwürdigen Stelle fällt jofort 


Die Sage von Petrus als römiſchem Bilchof. 221 


ber Unterfchied in den Aeußerungen über Petrus und über Paulus in’3 Auge. 
Bon jenem erhellt aus ihr nicht einmal da3 mit Beftimmtheit, daß er um 
feines Belenntnifjes willen getödtet worden ift; denn al3 Glaubenszeuge (oder 
mit griechiſchem Ausdrud: als Martyr) konnte er nad) dem Sprachgebraud) jener 
Zeit nicht blos dann bezeichnet werden, wenn er aus diefem Grunde das Leben 
verloren, jondern auch wenn er andere empfindliche Uebel, Mifhandlung, Gefäng- 
niß oder Verbannung, erduldet Hatte. Noch weniger fteht hier ein Wort davon, 
daß Petrus in Rom Märtyrer geworden oder überhaupt nad; Rom gekommen 
ſei. Er wird wol neben Paulus als der hervorragendfte unter den Apofteln 
genannt; aber die war er allem nad wirklich, und er konnte auch in jolchen 
Gemeinden dafür gelten, die jein Fuß nie betreten hatte; war ja dod) 3. B. in 
Korinth (nad) 1. Kor. 1, 12) noch zu Paulus’ Lebzeiten jogar eine eigene Par- 
tei, die lieber nad) Petrus, als nad) jenem, genannt fein wollte. Dagegen 
heißt es von Paulus, er habe nicht allein im Often, jondern auch im Weſten das 
Evangelium verfündigt, er habe hier das Ziel feines Laufes erreicht (oder ganz 
wörtlich: er jei „an das Ziel des Weſtens“, d. h. in den Weften, als jein Ziel, 
gekommen), er habe vor den Regierenden, dem römiſchen Kaifer und feiner Um— 
gebung, Zeugniß abgelegt. Vergleicht man dieje beiden Ausfagen, jo muß man 
fragen: Wenn Petrus doch gleichfalls nad der Annahme des Verfafjers in den 
Weiten gekommen war, wenn er gleichfall3 die ganze Welt im Chriftenthum 
unterrichtet und in Rom feinen Glauben vor dem Kaiſer mit feinem Blute be— 
fiegelt hatte: warum wird dies alles nur von Paulus ausgefagt, bei Petrus 
dagegen mit feinem Wort angedeutet? Warum ſagte der Verfaffer nicht, wie 
jeder Spätere, auf dem Boden der kirchlichen Ueberlieferung Stehende unfehlbar 
gejagt hätte: die zwei größten der Apoftel haben im Morgen» und Abendland 
unter vielfachen Mühjeligkeiten gewirkt und ſeien jchlieglid in Rom in gemein- 
ſamem Märtyrertode der Verfolgung zum Opfer gefallen? (wobei das, was etwa 
von Paulus noch bejonders hervorgehoben werden follte, feine fiebenmalige Ein— 
ferferung u. ſ. w., jich immerhin auch hätte anbringen laſſen). Man wird nur 
antworten können, daß er es deshalb nicht gejagt Habe, weil er noch nichts da= 
von wuhte. Wenn aber diejes, jo iſt die ebenbeiprochene Stelle au dem Send: 
ichreiben der römiſchen Gemeinde ein durchichlagender Beweis dafür, daß diefer 
Gemeinde bis zum Ende de3 erften Jahrhunderts von einer Anweſenheit des 
Petrus in Rom und von feiner hier erfolgten Hinrichtung nicht das geringjte 
befannt war. 

Die Sadje liegt demnach jo. Daß Petrus nad) Rom gefommen ſei, daß er 
hier gelehrt habe und als Märtyrer feines Glaubens umgekommen jei, dies 
wird zuerft in der Legende von jeinen Kämpfen mit dem Zauberer Simon be= 
hauptet. Dieje Legende läßt fich in ihrer urfprünglichen, antipaulinifchen Ge— 
ftalt bis gegen den Anfang des zweiten Jahrhunderts Hinauf verfolgen; von 
ihrer petropaulinifchen Umbildung zeigt fih um 130— 140 die erfte Spur, 
und jeit dem lebten Drittheil des zweiten Jahrhunderts wird fie in diefer 
Faſſung, unter mancherlei Abweihungen im einzelnen, von der katholiſchen 
Kirche allgemein angenommen. Aber die ebjonitiiche Simonslegende ift eine 
greifbare Tendenzdichtung der abenteuerlichften Art, die katholiſche, in Anlage 


222 Deutſche Rundſchau. 


und Ausführung nicht minder abenteuerlich, eine bloße Umbildung der erſteren; 
und wenn jene mit dreiſter Verhöhnung der geſchichtlichen Wahrheit den Paulus 
als falſchen Apoſtel von Petrus bis nach Rom verfolgt und hier beſiegt werden 
läßt, ſo behauptet dieſe nicht minder ungeſchichtlich, Petrus ſei zugleich mit Paulus 
dorthin gekommen. Die urkundlichſten Geſchichtsquellen aus dem erſten Jahr— 
hundert und der erſten Hälfte des zweiten ſtellen es vielmehr außer Zweifel, 
daß er weder vor Paulus, noch mit ihm, noch nach ihm in Rom geweſen ſein 
kann, daß man in der Chriſtengemeinde dieſer Stadt bis zum Ende des erſten 
Jahrhunderts von ſeiner Anweſenheit in derſelben nichts gewußt hat, daß die 
Verfaſſer der unächten pauliniſchen Briefe aus der Gefangenſchaft ſo wenig, wie 
der der Apoſtelgeſchichte, daran geglaubt haben. Dieſe ganze Ueberlieferung entbehrt 
mit Einem Wort aller und jeder thatſächlichen Begründung. Aus einer ebjo— 
nitiſchen Parteilüge entſprungen, iſt fie bei der Vereinigung der römiſchen 
Judenchriſten mit den Paulinern dem Intereſſe dieſer Vereinigung, dem katho— 
liſch-kirchlichen Intereſſe, und zugleich ſchon damals dem der römiſchen Gemeinde 
und ihrer Biſchöfe, dienſtbar gemacht worden. In der Folge haben dieſe die 
meitgehendften Folgerungen, die jchrankenlojeften Anſprüche darauf gegründet ; 
feine Anmaßung war jo unerhört, feine Selbjtüberhebung jo vertwegen, daß 
nicht die römische Biſchofswürde des Petrus den Rechtsvorwand dafür hätte 
hergeben müſſen. Dieje Sage eröffnet jo nicht allein die lange Reihe jener Ge- 
ſchichtsfälſchungen, welche der päpftlichen Weltherrihaft zum Baugerüfte gedient 
haben, ſondern fie ift auch der Kern, an den alle anderen anjchoffen, der eigent- 
lie Grundmythus der römiſchen Kirche. Aber ein Mythus ift fie, und zwar 
ein reiner Mythus, ohne jede geihichtliche Unterlage, von der Parteifucht er- 
jonnen, von der Unwiſſenheit geglaubt, von einer hierarchiſchen Politik auf’3 
beijpiellojefte ausgebeutet. So wenig es die wirklichen Gebeine des Apoftel- 
fürften find, über denen die ftolzen Hallen der Peterskirche ſich wölben, ebenjo= 
wenig ift es der wirkliche Petrus, deſſen Nachfolger die römijchen Päpfte find, 
fondern es ift dies lediglich der Petrus einer Sage, die nicht der Erinnerung 
an gejhichtliche Vorgänge, jondern dem Parteiintereffe ihren Urfprung, dem 
Intereſſe der römischen Kirche und ihrer Biſchöfe ihre ſpätere Umbildung zu 
verdanken hat. 

Das wäre nun freilich eine oberflächliche und verkehrte Vorftellung, wenn 
man glaubte, jene Sage, die dem Papftthum jo große Dienfte geleitet hat, und 
bon der es ſelbſt feine kirchliche Machtjtellung herleitet, ſei auch der eigentliche 
und legte Grund diefer Macht. Auch hier gilt vielmehr, was wir in ähnlichen 
Fällen jo oft wahrnehmen können: Erzählungen, auf denen ein Glaube feiner 
eigenen Meinung nach beruht, find in Wahrheit jelbft erſt ein Product diejes 
Glaubens; Behauptungen, welche die Berechtigung eines Anſpruchs begründen 
jollen, find urſprünglich nur um diejes Anſpruchs willen aufgeftellt und nur 
deshalb allgemein angenommen worden,Siveil man diejelben aus andermweitigen 
Beweggründen zuzugeftehen geneigt war. Die abendländiichen Völker Liegen ſich 
im Mittelalter eine einheitliche Kirchliche Leitung gefallen, weil fie diefer Leitung 
bedurften, und fie ließen ſich die römische Suprematie gefallen, weil die Gunft 
dev Verhältniffe und die kluge und Fräftige Benußung diefer Verhältnifje der 


Die Sage von Petrus als römiſchem Bilchof. 223 


römischen Gemeinde und den römischen Biſchöfen ſchon längſt einen beherrſchenden 
Einfluß verihafft hatten. Wenn dieſe Kirche jelbft ihre Stellung nicht von 
diefen geichichtlichen Verhältniffen, jondern von einem rein kirchlichen Vorzug 
herleiten wollte, wenn fie diejelbe darauf gründete, daß die hervorragendſten 
unter den Apofteln, und in erfter Reihe der Apoftelfürft Petrus, ihre Stifter 
geweſen jeien, jo zeigt dies nur, wie frühe fie ihrer Bedeutung fi bewußt 
wurde, wie geſchickt fie alles, was derjelben zugute fommen konnte, für fich zu 
verwenden wußte. Ihrer urjprünglichen Abzweckung nach hatte die ebjonitijche 
Dichtung, welche den Petrus in Verfolgung des Zauberer? Simon nad) Rom 
fommen ließ, nicht die Abficht, für die römische Gemeinde und ihre Vorfteher, 
als Nachfolger des Petrus, einen Primat über die Kirche in Anſpruch zu nehmen; 
denn al3 den eigentlichen Mittelpunft der letzteren betrachteten jene alten Juden- 
chriſten, aus deren Mitte die Simonsfage hervorging, nicht Rom, jondern Jeru— 
ſalem, al3 ihren oberften Biſchof nicht Petrus, jondern Jakobus, den Bruder 
des Herin, den Vorfteher der jerufalemitiichen Gemeinde, und es wird deshalb 
in einem angeblichen Briefe des Petrus, welcher einer von den älteften ebjoni- 
tiichen Bearbeitungen der Simonsfabel angehörte, Jakobus von Petrus als jein 
„Herr und Biſchof“ angeredet. Die Legende von Simon und Petrus follte viel- 
mehr urfprünglich, wie jchon oben bemerkt wurde, nur dazu dienen, die römijche 
ChHriftengemeinde für das Judenchriſtenthum in Anspruch zu nehmen, indem 
Petrus als ihr Stifter, die jubaiftiiche Lehre als ihr Bekenntniß, Paulus da- 
gegen, unter dem Namen des Magiers, als ein falicher Apoftel, der Paulinis- 
mus als eine rrlehre dargeftellt wurde. Als aber bei der Verfchmelzung der 
beiden Parteien, der judenchriftlichen und der paulinifchen, die Simonsjage in 
ihrer älteren, ebjonitijchen Geftalt ſich nicht länger fefthalten ließ, da erkannte 
man in Rom jofort, welche Dienfte diefe Sage unter den veränderten Verhält- 
niſſen leiften konnte: fie wurde nicht einfach befeitigt, jondern nur im katho— 
liſchen Sinn und Intereſſe umgebildet; Paulus wurde von feinem Doppelgänger, 
dem Magier Simon, beſtimmt unterjchieden und dem Petrus als fein Gehilfe 
in der Beftreitung des Zaubererd zur Seite geftellt, und es wurde jo dieſelbe 
Erzählung, welche urjprünglich eine Kriegserklärung des extremen Ebjonitismus 
an den Paulinismus geweſen war, in eine Urkunde des Friedens und der Freund— 
ichaft zwijchen beiden verwandelt. Wenn der Ebjonitismus behauptet Hatte, 
nicht Paulus, jondern Petrus jei der Apoftel der Römer, jo ließ man ſich 
diejes auf kirchlicher Seite gern gefallen, aber jenes gab man nicht zu; 
ftatt: „Petrus, nicht Paulus”, jagte man: „Petrus und Paulus“, räumte 
aber dabei den gegneriichen Anfprüchen doch immerhin fo viel ein, daß Paulus 
den Ruhm des Römerapofteld mit feinem Genofjen, der dies in Wirklichkeit 
nit war, nicht nur theilen mußte, jondern auch gegen denjelben entjchieden 
zurücgejeßt, in die zweite Stelle heruntergedrüdt wurde. Dafür wurde aber 
nicht allein für die Bereinigung der Hauptparteien eine annehmbare Grundlage, 
jondern aud) für die römifche Kirche der unſchätzbare Vorzug gewonnen, daf die 
beiderfeitigen höchften Auktoritäten, der Juden- und der Heidenapoftel, zu ihrer 
Stiftung brüderlic zufammengewirkt haben follten; die Hauptftadt des römischen 


224 Deutiche Rundichau. 


Reichs wurde zugleich für die kirchliche Metropole deffelben, für die einzige 
apoftoliiche Gemeinde des Abendlandes erklärt, bei welcher kraft diejes ihres 
Urjprungs die reine apoſtoliſche Lehre mit voller Sicherheit zu finden fei: die 
Formel für den Anſpruch auf den Primat in der Kirche war gefunden. 

Diefer Anſpruch ift ſpäter auf die äußerſte Spitze getrieben worden; alle 
die Vorrechte und Vorzüge, welche da3 Kirchliche Altertfum der römischen Ge- 
meinde zuerkannt hatte, find auf die Perjon des römischen Biſchofs über- 
tragen und beſchränkt, und e3 find daraus jo weitgreifende und maßloſe Forde— 
rungen abgeleitet worden, wie jie in den erjten Jahrhunderten der chrijtlichen 
Kirche niemand zu erheben, und noch viel weniger einem anderen zuzugeftehen, 
fih auch nur im Traum hätte einfallen laſſen. In demſelben Maß aber, wie 
die römiſche Hegemonie von der Gemeinde auf ihreneBiſchof überging, trat auch 
in der Sage über die Stiftung jener Gemeinde, und mehr nod) in der Benützung 
diefer Sage, das Intereſſe der kirchlichen Alleinherrjchaft ftärker hervor. Irenäus 
verweiſt die Häretifer auf die Ueberlieferung der römischen Kirche, als ber 
„größten und älteften und allgemein befannten”, welche „von den zwei vor— 
nehmſten Apofteln, Petrus und Paulus, geftiftet”, und in welcher die apofto- 
Yifche Ueberlieferung von Männern aus der ganzen Chriftenheit betvahrt worden 
jei, weil hier, in der Hauptjtadt (dies nämlich ift die Meinung der vielbeſpro— 
henen Worte), Gläubige aus der ganzen Welt zufammentommen. Zertullian 
preijt fie glüclich, daß „die Apoftel” über fie ihre Lehre mit ihrem Blut aus- 
gegoffen haben. Nach den apoftoliihen Conftitutionen wäre der erfte römiſche 
Biſchof (Linus) von Paulus, erſt der zweite (Clemens) von Petrus eingejeht 
toorden. In der jpäteren Ueberlieferung dagegen tritt der Antheil des Paulus 
an der Stiftung der Gemeinde, die in ihm zwar auch nicht ihren erſten Be— 
gründer, aber doch wenigſtens den einzigen an ihr thätigen Apoftel zu verehren 
hatte, immer mehr zurück, und nicht als Nachfolger des Petrus und Paulus, 
fondern lediglich ala Nachfolger des Petrus nehmen die Päpfte die geiftliche 
Weltherrſchaft für fi in Anſpruch. Jene monarchiſche Verfaffung, die in der 
römischen Kirche durchgefeßt und fiir die ganze Chriftenheit gefordert wurde, 
wird ala angebliche Thatſache in den Anfang ihrer Geſchichte zurückverlegt, der 
große Heidenapoftel, welcher dem Petrus und den Jeruſalemiten jo mannhaft 
widerftand, welcher über einen Petrus, Jakobus und Johannes jo rund jchreibt: 
„wer fie immer waren, ift mir gleichgültig“, wird zum dienenden Bruder feines 
Mitapoſtels herabgejegt, und an der großen That feines Lebens, an der Aus- 
breitung des Chriftenthums bis in die Hauptftadbt der heidnijchen Welt, wird 
dem „Apoftel der Beſchneidung“ der Löwentheil zugetviejen. 

Die Biſchöfe, welche ſich Nachfolger des Petrus nennen, haben die Stellung, 
die fie daher für fich ableiten, aufs rückſichtsloſeſte auszubeuten, in ihre äußerften 
Conſequenzen zu verfolgen gewußt. Aus Nachfolgern des Petrus find fie zu 
Stellvertretern Gottes und Chrifti geworden; und wie einft in dem alten Franken— 
reich die Könige ihren Hausmaiern gegenüber zu Schatten herabfanten, jo find 
auch Hier jchlieglich diejenigen, deren Stelle die Päpſte vertreten wollten, über 
ihren Stellvertretern fast vergeffen worden. Die Nachfolger des Petrus hatten 


Die Sage von Petrus als römiſchem Biſchof. 295 


fi ftatt des Apoftels den Zauberer zum Vorbild gewählt, den ihm die Sage 
zum Gegner gibt; und Jahrhunderte lang war es ihnen wirklich gelungen: wie 
der Magier von feinen Dämonen, jo hatten fie fi von den finjteren Geiftern 
der Unwiſſenheit, des Aberglaubens und des Fanatismus zu einer ſchwindelnden 
Höhe emportragen laſſen. Im jechzehnten Jahrhundert endete der tikarijche 
Flug mit einem jähen und jchmählichen Sturze. Unſeren Tagen war e8 vor- 
behalten, ihn auf's neue und in der vermeflenften Weiſe wiederholen zu jehen. 
Aber der männliche Geift germanifcher Freiheit, welcher damals die Dämonen 
beſchworen hat, wird auch jetzt dazu kräftig [genug fein; und fo mag denn 
ſchließlich die alte Sage von Simon und Petrus, auf welde das Papftthum 
feine maßlojeften Anjprüche aufgebaut hat, ihm jelbft zum Wahrzeichen des 
Schidjal3 dienen, dem jeder unfehlbar anheimfällt, wenn er einen Thurm in 
den Himmel hinaufführen will, defjen fittlihe Grundlagen längft unterhöhlt, 
defjen geiftige Stüßen durch und duch morſch find. 


Deutſche Rundigan. I, 11. 15 


ST — u —— RL 


L’Abbaye-aux-Bois. 


Don 
Dr. Ferdinand Hiller in Köln. 








Ein Band*), den mir der Zufall in die Hände fpielt, erweckt in mix eine 
der intereffanteften Erinnerungen aus meiner Yugendzeit und bringt mir ein 
Bild vor die Augen, welches fich zu vergegenwärtigen heute ſicherlich nur noch 
MWenigen vergönnt ift — den Salon der Frau Recamier. Der Name der be- 
rühmten Frau ift Allen befannt, welche einen Einblid in das gejellichaftliche 
Leben der franzöſiſchen Hauptftadt zur Zeit des Directoriums und des Confulats 
gethan. Man weiß, wie ſchön, wie anmuthig, wie liebenstwürdig die Freundin der 
Frau von Staöl geweſen und in welchem Grade fie die Bewunderung der Pariſer 
Welt auf fich gezogen hat. Aber gerade die Höhe jener außerordentlichen Schrift- 
ftellerin war vielleiht Schuld, dak Frau Recamier in geiftiger Hinſicht unterſchätzt 
ward, wie denn ein liebenswürdig fein twollender Gavalier, dem das Glüd zu 
Theil geworden war, bei Tiſche feinen Pla zwilchen den beiden Damen zu 
finden, ausrief: „welch' eine Gunft des Schickſals! ein Sit zwijchen dem Geifte 
und der Schönheit!" und jo jeder von ihnen zu nahe trat. Frau Recamier 
war freilich nicht, tva3 man eine geiftreiche Frau zu nennen pflegt — aber fie 
hatte geiftige Eigenſchaften, die einer rau vielleicht noch mehr zu Statten 
fommen, al3 der größte Reichthum an Geift: fie verftand e8, bedeutende Männer 
zu verftehen, fie wußte ihren Arbeiten zu folgen und anregend auf fie zu wirken. 
Nicht viele Frauen mag es gegeben haben, welche fich eines Freundeskreiſes zu 
rühmen hätten, wie der war, welcher mit unerjchütterlicher Treue und Hin- 
gebung, ja theilweije mit wahrer Anbetung fie durch ihr ganzes Leben hindurch 
umgab — und alle dieje intimen Beziehungen zu jüngeren und älteren Männern 
haben nie auf ihren weiblichen Ruf auch nur den Schatten eines Schattens 
geworfen. Gemahlin eines reichen Banquiers, verbrachte fie ihre exfte Jugend 
im größten Glanze, nad) dem Falle des Gejhäftshaufes aber den größten Theil 
ihres Lebens in durchaus bejcheidenen Verhältniffen. Selbft ohne Kinder, hatte 
fie eine anmuthige Nichte bei fi) aufgenommen und erzogen, welche die Gattin 
des bekannten Archäologen Charles Lenormant wurde; ihr bat man die Zu- 
fammenftellung und Abfaſſung des intereffanten Buches, welches mir vorliegt, 
zu danken. 





*) Madame R&camier, les amis de sa jeunesse et sa correspondence intime, par 
l’auteur des souvenirs de Mad. Recamier. 


L’Abbaye-aux-Bois. 297 


Die befannteften Namen unter den Verehrern ber Frau NRecamier find 
Gamille Jordan, die beiden Brüder Mathieu und Adrien Herzöge von Mont» 
morency, der Philojoph Ballandde, 3. 3. Ampere und Chateaubriand. Ihren 
Beziehungen zur rau von Stadl hatte fie, nad) einem längeren Bejuche, welchen 
fie derjelben in Coppet abgeftattet, eine dreijährige Verbannung aus Paris zu— 
zujchreiben. Die faiferlihe Regierung mochte bekanntlich nicht die Leijefte Oppo— 
fition vertragen, und man weiß, wie mißliebig ſich die berühmte Tochter Necker's 
bei Napoleon gemacht Hatte. Von den eben genannten Männern gehörte Camille 
Jordan zu den früheften Freunden der rau Récamier — er hatte jchon, ala 
er im Rath der Fünfhundert ſaß, ihr feine ernſteſte Verehrung geichenkt und 
war ihr nicht weniger ergeben, al3 er fünfundziwanzig Jahre jpäter, einer der 
Beredteften, in der Deputirtenfammer feinen Sit einnahm. Im Jahre 1812 
machte er feinen Freund und Landsmann Ballandhe (beide waren Lyonejer) mit 
Frau Recamier bekannt. Ballanche, deſſen etwas myftiich-philojophiiche Schriften 
von einem auserlefenen Kreije in Frankreich hochgeſchätzt find, der aber auch in 
feinem Baterlande noch nicht den Rang einnimmt, welchen jeine Verehrer für 
ihn in Anſpruch nehmen, widmete von nım an bis an fein Ende (im Jahre 1847) 
fein ganzes Dafein, jo zu jagen, der unmwiderftehlichen rau. Chateaubriand’3 
freundichaftliche Verbindung mit derjelben datirt aus fpäterer Zeit — aber die 
Ießten fünfundzwanzig Jahre feines Lebens war ihm der Mo möglich tägliche 
Umgang mit ihr Troft und Stärkung in feinen wecjelvollen Unternehmungen 
und Gelchiden. Die merkwürbdigfte, vielleiht auch die jchmeichelhaftefte Zu— 
neigung, die Frau von Recamier zu Theil geworden, war die des genialen %. J. 
Ampere, des Sohnes de3 hochberühmten Phyfiters, deſſen zahlreiche Schriften, 
in welchen der gelehrte Hiftorifer fi mit dem ſcharfblickenden Reiſenden ver— 
bündet, den deutjchen Lejern der Revue des deux mondes aus jener Zeit befannt 
fein werden. Ampere wurde im Jahre 1828, als 1Sjähriger Jüngling, der 
gefeierten Frau vorgeftellt, welche damal3 (nad) dem Alter ſchöner Frauen 
darf man nicht fragen — nicht einmal forichen) jedenfalls nicht mehr jung war. 
Der Eindrud, welchen fie auf ihn machte, war derart, daß während ihres ganzen 
Lebens feine andere, der Liebesiphäre zugehörige Neigung in jeinem Herzen Plat 
fand. Bis zum Zode der rau Recamier (fie ftarb an der Cholera den 
11. Mai 1849) war fie ihm Mutter, Schwefter, Freundin, Geliebte. 

Ampere, einer der geiftreichften Männer des neuern Frankreichs, hatte ſich 
vorzugsweije die Kenntniß jener „Weltliteratur“ zur Aufgabe gemacht, zu wel: 
cher in Deutichland Herder den erften Anftoß gegeben und welcher Goethe, 
namentlich in jeinen jpäteren Lebensjahren, ſich mit jo großer Vorliebe widmete. 
Die Würdigung unfered großen Dichter? war der neuen literariichen Schule, 
welche in den zwanziger Jahren in Paris das Yournal „le Globe“ zu ihrem 
Organ machte, zu einer Hauptaufgabe geworden, und Ampere war einer feiner 
leidenſchaftlichſten Bewunderer. Nachdem er im Winter 26—27 in Bonn die 
Vorlefungen Niebuhr’3 und Schlegel’3 angehört, machte er fi nad Weimar auf 
und wurde von Goethe, welcher es jehr angenehm empfand, von den bedeutendften 
jungen Franzoſen ftudirt und gepriefen zu werden, auf das freundlichſte empfangen. 
Als Schüler Hummel’3 damals in Ilm-Athen verweilend, wurde ich Ampere 

15* 


228 Deutſche Rundſchau. 


vorgeſtellt, der mich dann in ſeiner einfach herzlichen Weiſe einlud, ihn in Paris 
aufzuſuchen, ſobald ich jemals hinkäme. Die Gelegenheit, der freundlichen Ein— 
ladung zu gedenken, ſtellte ſich bald ein, denn ſchon im Jahre 1829 wanderte ich, 
ein 17jähriger Jüngling, nach der franzöſiſchen Hauptſtadt, wo ich denn auch 
nicht verſäumte, Ampere zu beſuchen. 

Ich war einige Monate in Paris, als mir das Glüd zu Theil wurde, eine 
recht ehrenvolle Anftellung zu erhalten, und zwar an der Institution royale de 
musique religieuse et classique, deren Gründer und Director der befannte Chorou 
war. Tür da3 Thema diefer Zeilen genügt e8, zu bemerken, daß in diefem, von 
der Regierung jubventionirten Inſtitute vorzugsweiſe Gejang getrieben wurde 
(Clara Norello und Duprez haben dort-ihre erfte Bildung erhalten), und zwar 
nicht allein Solo fondern auch Chorgefang. Chorou war vielleicht der Erſte, 
der in Frankreich Händel’iche Oratorien zur Aufführung brachte — zwar nur am 
Glavier — aber was die Ausführung der Chöre betrifft, mit Correctheit, Feuer 
und Leben. 

Als ich eines Tages im Garten des Palais royal meinen politiſchen Studien, 
nämlich) dem Zeitungslefen, mid) hingab, fand ich im Journal des débats Aus- 
züge aus dem Schaufpiele „Moise“ von Chateaubriand und darunter einen Chor 
der Leviten, der mir außerordentlich gefiel. Ich Faufte mir die Zeitung, lief 
nad Haufe und jeßte ihn in Muſik. Wenige Tage darauf begegne ich Ampere 
und erzähle ihm geſprächsweiſe auch von meiner neueften Compoſition. 

„Der Taufend,” jagte er, „das iſt hübſch, das müßte Chateaubriand hören, 
e3 würde ihm große Freude machen. Läßt ſich das nicht einrichten?“ 

„Doc wol,“ erwiderte ich, des jugendlichen Chores meiner Institution 
gedentend, „aber twie? wo? wann?“ 

„Das müſſen wir bei Frau Recamier veranftalten,” rief mein liebens— 
würdiger Freund, „laſſen Sie mic) nur machen und bereiten Sie Ihre Truppen vor.“ 

Chorou gab gerne jeine Einwilligung, und jo wurde ich bei der berühmten 
Dame eingeführt. Nach einem Antrittsbefuche, in welchen die näheren Be— 
ftimmungen getroffen wurden, hatte die feierliche Aufführung des Chores vor einer 
zahlreichen, die berühmteften Namen enthaltenden Berfammlung ftatt, und e8 wurde 
mir viel Ehre angethan — aber Chateaubriand, dem es hauptſächlich gegolten, 
war verhindert, jenen Abend zu erjcheinen. Für mich jedoch hatte die Kleine 
Production die angenehme Folge, daß mir der Recamier’iche Salon von nun an 
offen jtand. Leider habe ich von diejer glüdlichen Gonftellation weder jo häufig, 
noch fo lange Gebrauch gemacht, ala ich es hätte thun jollen, (man weiß in der 
Jugend das Belte nicht zu ſchätzen) — aber doch oft und lange genug, um mit 
Freude jener Abende gedenken zu können. Sie find für mid das deal ber 
ſchönſten Gejelligfeit geblieben. 

Frau Récamier bewohnte damals und bis an ihr Lebensende einige Zimmer 
in einem, dem Kloſter der Abbaye-aux-bois angehörigen Nebengebäude, weit 
draußen im Quartier latin. Der Salon, in welchem fie gewöhnlich empfing, 
war nicht groß; ein Dubend Menjchen füllten ihn hinreichend aus. Rechts 
über dem Sopha, auf weldem Frau Recamier ſaß, hing ein großes, glänzendes 
Bild von Gerard, Corinna darjtellend. Zwei Lampen warfen ihr vollites Licht 


— 


L’Abbaye-aux-Bois. 229 


auf dafjelbe, die Gejellichaft aber und vor Mllem die Herrin waren vor ihm 
durch dichte Schirme bewahrt. Frau Recamier litt an den Augen (fie mußte 
fih in jpäteren Jahren jogar einer Operation unterwerfen, da der Staar ſich 
eingeftellt hatte) — es war alſo nicht Goquetterie, die den Grund bildete zum 
Diertelsdunfel, in welchem man fidy befand. Indeß iftnicht zu leugnen, daß 
die etwas dbämmerhafte Beleuchtung ihr vortreffli ſtand. Ihre lieblichen Züge 
erſchienen wie von myſtiſchem Glanze umwoben — das anmuthige Lächeln, welches 
auf ihren Lippen fpielte, war durch einen Hier und da faft wehmüthigen Aus» 
druck gedämpft — dazu die ſchlanke Figur — die ruhigen, man fünnte jagen 
leiſen Bewegungen ihrer Hände und ihres Hauptes — es war ein Bild voll- 
endeter Grazie und Vornehmdeit. Sie ſprach nie viel hintereinander — warf 
aber häufig einige Worte ein, das Geſpräch belebend, führend, feine Lebhaftig- 
feit hier und da mildernd — und immer dafjelbe mit der ununterbrochenften Auf- 
merkſamkeit verfolgend. In ihrem Sinne, aber mit lebendigerer Yugendlichkeit, 
theilte fi) mit ihr in die Ehre des Empfangens ihre Kluge, graciöſe Nichte, Frau 
Lenormant. Ihr Gatte, Ampere und Ballandje waren die ftehenden Gäfte, die 
Habitues. Der lektere, ein ſchon älterer, ziemlich häßlicher, aber unendlich gut— 
müthig und finnig darein jchauender Mann, gab meiften3 nur den ftummen Zu— 
hörer ab und warf nur jelten, aber dann immer irgend ein gewichtiges Wort 
in die Discuffion. Er jaß in der Nähe feiner Gebieterin auf einem nied- 
rigen Stuhle, einer Art von Schemel — ich mag das Bild nicht ausſprechen, 
zu welchem fein Dajein dort Veranlaffung geben konnte, jedenfall wäre es 
nur im bejten Sinne zu nehmen. Die Hauptlämpen der anſpruchsloſen, aber 
unendlich anziehenden Geiftesturniere, die gefämpft wurden, waren Lenormant 
und Ampere, beide im jeltenjten Grade Meifter ihrer Spradhe und von der viel: 
feitigften Bildung. Beſaß der erjtere neben feinen Fachſtudien ein außerorbent- 
lich jcharfes Einjehen in die jhönen Künfte, jogar in die Muſik, jo hatte der 
leßtere, welchen feine Freunde faft noch mehr als „Cauſeur“ denn ala Schrift- 
fteller bewunderten, die Literaturen aller Zeiten und Völker, von den Edda's 
bi3 zu den Veda's, von Hefiod bis zu Goethe, in jedem Moment gegenwärtig. 

Unter den zahlreichen Bejudhern, die fih ab umd zu einftellten, ift mir 
Merimee am lebhafteften in der Erinnerung geblieben. Diejer eminente Schrift- 
fteller, welcher in der neueften Zeit noch einmal in feiner ganzen Lebendigkeit 
dem Publicum durch die „lettres à une inconnue“ vor die Augen getreten, der 
Verfaſſer der „Colomba“ und fo vieler anderer Meiſterwerke, beſaß auch mündlich 
ein Talent des Erzählens, welches ic) unter mir befannt gewordenen Menſchen 
nur bei Mori Hartmann wieder gefunden habe. Er erzählte, wie er jchrieb, 
und wenn ich jpäter Novellen las, in welchen der Held jelbft feine Erlebniſſe 
geſprächsweiſe zum Beſten gibt, gedadhte ic; Merimee’3, um mir hinaus zu 
helfen über die zuweilen doc alles Maß überjchreitende Virtuoſität des Vor— 
tragenden. Merimee hatte die ultrasromantijchen Dramen Victor Hugo’s, welche 
zu jener Zeit ziemlich jchnell einander folgten, gewöhnlid vom Dichter jelbft 
vor der Aufführung vorlejen hören oder einer Generalprobe derjelben beigetwohnt. 
Bis in die Hleinften Einzelheiten waren fie ihm lebendig geblieben, und jeine 
ausführlichen Darlegungen derjelben, das längfte Feuilleton weit überjchreitend, 


230 Deutjche Rundſchau. 


mit dem binreißendften Fluffe, der ruhigſten Lebendigkeit vorgebracht, bildeten 
wahre Feſte für das Kleine, aber auserlefene Publicum der Abbaye-aux-bois, 

Chateaubriand erfchien Abends nie oder nur bei außerordentlihen Gelegen- 
heiten — nahm aber die Nahmittagsftunden feiner Freundin regelmäßig in 
Anſpruch. Bei einem Beſuche, den ich einft zu dieſer eigentlich” verpönten 
Zeit machte, wurde mir die Ehre zu Theil, empfangen zu werden. Der glän— 
zende Vicomte machte einen eigenthümlichen Eindrud, mit feinem ſchönen, ftolzen, 
etwas zu großen Kopfe und feiner Kleinen, allzufleinen Figur. Er grollte den 
politiihen Zuftänden und verlangte von mir, Näheres zu hören über die da= 
mal3 noch quasi republifanifchen Einrichtungen meiner Baterftadt Frankfurt am 
Main. Mit meiner Beichreibung derjelben bezeigte ex fich viel zufriedener, ala es 
Bürgermeifter und Senat des Trreiftaates ficherlich gewefen fein würden. 

Wie man fieht, war der Freundeskreis "der anziehenden rau aus ver— 
ſchiedenen Elementen gebildet; ſowol in wiſſenſchaftlichen und Titerarifchen wie 
in politijchen Dingen waren die Männer, die fie umgaben, zum Theil jehr ver— 
ichiedener Anfiht. Aber alle Erörterungen, die in ihrem Salon ftatthatten, 
behielten, wenn fie auch noch jo lebendig geführt wurden, eine reizvoll gedämpfte 
Farbe — es war Sammermufil. Dean ftand vor dem Kamine, man horcdhte 
dem Geſpräche Einzelner, ſetzte fich in die Nähe der Herrin, oder zu Ziweien in 
einen Winkel — man fam oder ging zu früher oder jpäter Stunde, wie denn 
das jchließlich auch in den unberühmteften Salons geichieht — aber man nahm 
ftet3 Anregendes, Willenswerthes mit auf den Weg und die Empfindung, in 
einer reineren, leichteren, ftärkenden Atmofphäre geathmet zu Haben. Die Art 
und Weile, wie die jo vielfach hoch verehrte Frau ihre an jenen Abenden ver- 
fammelten Freunde nicht allein zu vereinigen, jondern auch zu einigen wußte, 
fonnte eine dee davon geben, mit welcher Gewandtheit, Fyeinfühligkeit und Güte 
fie diefelben auch ſonſt nicht allein an fich zu feſſeln, ſondern auch größtentheils 
unter ſich nahe zu bringen verftand, troß aller Verſchiedenheit ihrer Beftrebungen, 
ihrer Anſchauungen und ihrer Stellungen. Sie jcheint freilich” die Hauptaufgabe 
ihres Lebens daraus gemacht zu haben, Denjenigen, welche jie mit ſolcher Ver— 
ehrung umgaben, auch ihre Pfade zu erleichtern, zu verfchönern und fie ihren 
Zielen näher zu bringen; aber wenn auch in diefen Bemühungen ein wenig 
von dem, wa3 man allzuleiht Egoismus zu nennen pflegt, mit im Spiele ge= 
weſen jein mag, jo war e3 ein joldder, wie man nur wünjchen kann, daß er 
recht allgemein verbreitet wäre. 

Als ich in jpäteren Jahren Ampere wieder zu jehen die freude hatte (in 
den erften Zeiten des zweiten Kaiſerreiches), Hagte er, daß die geift- und ans 
muthsvolle Gejelligkeit, die unter Louis Philippe nicht allein im Salon feiner 
verewigten Freundin zu finden gewejen, gänzlich verſchwunden jei. Ob er hierin 
Recht hatte, ob es damit wieder beifer geworden, ob überhaupt der Glanz, in 
welchem jene Zeiten fi) uns zeigten, nicht einen Theil defjelben der Sonne unjerer 
Jugend verdankte, welche fie beftrahlt hatte? — ich weiß es nicht zu jagen. 


Dalmatien. 





Don 
Profejjor Oscar Schmidt in Straßburg. 





Wenn man, von Laibach ſüdwärts reifend, die hier und da noch bewaldeten, 
größtentheil3 aber fahlen, öden Rüden des Carſtes mit eigenthümlich zerbröckelter 
und zerflüfteter Oberfläche und den wunderlich trichterförmigen Einjentungen 
überjchritten, bietet fi) auf der Höhe von Optſchina und Nabrefina ein Schau 
jpiel des entzücdendften Gegenjaßes dar. Dean tritt ohne irgend welche land- 
Ichaftliche Vorbereitung zu einem jähen Abfturze des Gebirges und blidt, noch 
in der Todeserftarrung des Carftes ftehend, auf die Lebensfülle des adriatijchen 
Meere3 und jeiner Hüften. Zur Rechten jchiebt fi) daS von den Bergen 
herabgeführte Schwemmland flach in das Meer hinein, wo einft dag im Anprall 
der Völkerwanderung faft Tpurlos vertilgte Aquileja mit Rom wetteiferte. 
Rechts davon hauen wir in die gejegnete Friauler Ebene, das Parterre eines 
großartigen Alpenamphitheaterd. Vor uns bi3 an den Horizont erſtreckt fi — 
wir haben einen fonnigen Morgen getroffen — die blaue Adria. Links kehrt 
das Auge an der Küfte der iſtriſchen Halbinjel zurüd, um an dem ftolgen und 
reigenden, terraffenfürmig am Berge auffteigenden Zrieft und jeinem Hafen 
haften zu bleiben. Es gibt, glaube ich, feinen Punkt, wo der Eintritt in den 
italiſchen Himmel jo überrajchend ſchön und großartig wäre. 

Wir laffen die Fluth der Touriſten rechts abſchwenken, begeben uns auch 
nicht auf die große Route über Corfu nach Athen oder Alerandrien, jondern 
befteigen in Trieft einen der kleineren Dampfer, um die dalmatinijche Hüfte zu befehen 
und ein Land kennen zu lernen, welches in jeiner phyfifaliichen und landſchaft— 
lihen Beichaffenheit in vollitem Kontraft zur gegenüberliegenden Seite Jtaliens 
fteht, wie denn auch in feinen Bewohnern das Bewußtſein, nicht Jtaliener zu 
fein, jondern der großen flaviichen Völkerfamilie anzugehören, bedeutende und 
politiich folgenreiche Fortſchritte gemacht hat. Das langgeftredte Küften- und 
Inſelland wollen wir bejuchen, das erft die Griechen zu mächtigen Nieder- 
laffungen, wie Epidaurus (Ragufa), Cerkyra (Gurzola), Pharia (Lefina) einlud, 
da3 den Römern wegen des Reichthums an Wald, Del und hochgewachjenen 
friegeriihen Menjchen höchſt begehrungstwürdig erſchien, wo die Templer in 


232 Deutſche Rundſchau. 


den Jahrhunderten der Kreuzzüge feſten Fuß faßten, und wieder die Venetianer 
im heftigſten Ringen gegen die kroatiſche und türkiſche Macht ſich zu behaupten 
ſuchten, aus demſelben Grunde, wie die Römer, weil das Land ihnen Holz und 
Leute lieferte. Auch Napoleon hat daſſelbe auf Jahre unter ſeiner Herrſchaft 
gehabt. Und wenn alle dieſe Coloniſten und Eroberer dem Lande Andenken 
hinterlaſſen haben von den griechiſchen Münzen an bis zu den von Marſchall 
Marmont angelegten Landſtraßen und Befeſtigungen, ſo iſt jetzt die öſterreichiſche 
Regierung bemüht, durch Eiſenbahnen die ärmere Küſte mit dem reichen Hinter— 
lande zu verbinden und die Verkehrswege nad jenen türkifchen Provinzen zu 
eröffnen, welche bei früherer oder jpäterer Löfung der fogenannten orientalifchen 
Frage eine Rolle zu jpielen beftimmt find. 

Dies Land in feinen hiſtoriſchen Erinnerungen und dem jetzigen Zuftande 
zu Ichildern jchien mir an fich fein verfehltes Unternehmen, und ich fühlte mich 
dazu angeregt, da ich fiebzehn Jahre mit feinen Bewohnern in einem politi- 
ichen Berbande gelebt habe und durch häufigeren längeren Aufenthalt mit Mteer 
und Land, Gewächſen, Thieren und Menjchen ziemlich vertraut geworden bin. 

Die dalmatiniichen Dampfer pflegen Trieft um die Mittagaftunde zu ver— 
lafjen. Man Hat Muße, die niedrige iftrifche Küſte bis zu den hügligen Um— 
gebungen von Pola an ſich vorübergleiten zu laffen. Während der Nacht Hat 
man den jeiner Nordftürme wegen gefürchteten Guarnero paffirt, und am Morgen 
befindet man fich zwiſchen der iftriichen Inſel Luffin und Zara, der Haupt- 
ftadt von Dalmatien, in einer neuen Scenerie. Sie ift charakteriſtiſch, aber bei 
ungünftigem Licht entjchieden häßlich. Man hat nämlich eine Inſelwelt um 
fi herum, welche durch Kahlheit und die graue Farbe der zerflüfteten Felſen 
una ‚nad dem Carſt zurückverſetzt. Und in der That hat das Carftgebirge im 
NO. von Trieft in das croatiſche Gebirge eingebogen, ift zu den Mtafjen des 
Vellebitſch angeſchwollen, und von diefem aus erſtrecken ſich die dalmatinifchen 
Bergzüge in ſüdöſtlicher Richtung. Eben diefe Richtung haben die zahlreichen, 
in ihrem Geftein mit dem Feſtlande übereinftimmenden Inſeln. Als ich 1852 
da3 erfte Mal diejes Gewühl von Meerengen, Straßen und Buchten befuhr, 
glaubte ich mich an die kurz vorher bejuchten norwegischen Scheeren und Fjorde 
verjegt. Allein der Vergleich ift durchaus unpaffend. Peſchl hat die Erklärung 
gegeben, daß die Fjordbildung dur) die Erhebung von Steilfüften in Ver— 
bindung mit Gletfcherbildung bedingt ift. Die dalmatinijche Küftenzerfplitterung 
it aber hervorgebracht durch allmälige Senkung eines Gebirgslandes mit vielen, 
von NW. nah SD. ftreihenden Thälern. Das ganze Gerippe war fertig, 
ehe die Senkung begann, an der Tiordkirfte [aber beginnt die Spaltung umd 
Ablöfung erft mit der Hebung. Durch diefe Betradhtung wird uns das dal- 
matinijche Küftenland eine geographiiche Individualität. Sie ift in Folge ihrer 
Entjtehung reih an Häfen, an Zufluchtsorten für die Schiffe; deswegen hat 
aber auh im Mittelalter bier die Piraterei wie kaum irgend wo geblüht. 
Die gegenüberliegende italifche Hüfte ift mit Ausnahme des den Sporn am 
Stiefel bildenden Monte Gargano fund der Umgebung von Ancona ziemlich 
flah und ſeit Jahrhunderten in allmäliger Erhebung, die in der befannten 
Thatſache ſich ausdrückt, daß Städte, die noch im Beginn des Mittelalters 


Dalmatien. 233 


nahe am Meere lagen, wie Rimini und Ravenna, zu Landftädten geworben. 
Brindifi, Brundufium der Römer, ift zwar noch heute ein Hafen, der fich aber 
in Folge der Hebung jehr verichlechtert hat. Man iſt jeit einigen Jahren dort 
mit der Ausgrabung neuer Becken und Dods beihäftigt, und ich konnte 1870 
beobachten, daß die jetzige Küfte zu einem großen Theile aus den abgelagerten 
Reiten von Seethieren befteht, alſo einftiger Mteeresboden ift. Doch wir fehren 
auf die andere Seite der Adria zurüd und vervollftändigen unfere Kenntniß 
de3 die Phyfiognomie des Landes bedingenden Skelett durch die Beobachtung, 
daß jeine Maſſe dem Goridefalfe angehört. Auch der, zwiſchen der eigentlichen 
Greide und den älteften Tertiärformationen eingefjhobene Nummulithenkalk ift 
ftellenweije jehr ftarf vertreten, 3. B. bei Sebenico. Die Nummulithen oder 
Münzfteine find die, Kleinen Münzen an Umfang gleihenden Schalenreſte ge— 
wiſſer niedrigjter Thiere, die einft in jo ungeheuren Mengen eriftirten, daß fie, 
zu Boden geſunken und durch einen Schlamm verfittet, das Material zu diden 
Schichten einer jehr harten Felsart wurden. Aus jpäterer Zeit erwähnen wir 
die tertiären Kohlenlager de3 Monte Promina, einige Meilen von Sebenico, 
deren Ausbeutung eben jet ernftlich in Angriff genommen werden fol, ferner die 
Diluvial- und Alluvialablagerungen in der Ebene von Cnin und im Thal und 
am Ausfluß, der Narenta. 

MWegen jenes zur Küfte parallelen Streichens der Gebirge gehört die Fluß— 
entwidelung jenfrecht zur Küfte zu den Ausnahmen, und die dem Greidefalt 
ganz bejonders eigene Zerklüftung ift überhaupt der Anfammlung de3 atmo- 
ſphäriſchen Waflers‘ höchſt ungünftig. Es rächen ſich Hier die Sünden ber 
waldverderbenden Vorfahren auf furchtbare Weile. Denn es war einft anders, 
als Wald, Unterholz und Mtoosdede den das Waſſer Haltenden Schwamm 
bildeten und Feſtland und Inſeln ſich des üppigften Ausjehens freuten. Die 
Wald- und ftellenweile yänzliche. Begetationslofigkeit reicht vom nördlichen 
Dalmatien bi3 zum Meerbufen von Gattaro; nur einzelne Dajen, der Walb- 
beftand der Inſeln Gurzola und Lacroma erquiden vorher da3 Auge. Dann 
wieder zwijchen Raguſa und der Bocca ift eine grauenvolle Felſenwüſte, deren 
Schreckniſſe und melancholiſches Ausjehen nur dur die vollkommen kahlen, 
im Sonnenſchein wie Schnee glänzenden Hochgebirge Albaniens übertroffen 
werden. Wenn man in Corfu vom Gipfel des Monte Deca auf den unver- 
gleichlich üppigen Garten diefer Phäakeninjel und weiter über die Meerenge auf 
die in der Abendjonne violett Teuchtenden albaneftichen Alpen blict, jo hat man 
in dieſer vollfommenften Landichaft, die ich gejehen, die jchroffiten Gegenſätze 
vereint. Der Farbencontraft ift ein fo auffallender, daß von alteräher die 
dichter bewaldeten Punkte damit bezeichnet wurden, womit zugleich bewieſen ift, 
bat die Entblöhung ſchon vor Jahrtauſenden begonnen hat. Kerkyra melaina, 
die Schwarze Kerkyra, hieß die Inſel Eurzola, die noch heute wegen ihrer, wenn 
auch ſchon ftark gelichteten Kiefernwälder (Pinus laricio) auf diefen Namen 
Anspruch Hat, und noch heute erhebt ſich über Gephalonien das Haupt des 
Monte Nero, des ſchwarzen Berges, von dem man auf das ſchon zu Alyſſes 
Zeiten von der Ziege kahl gefrefjene Theaki, Ithaka, hinabfieht. Ueberall aber, 
wo man in dieſen jüdlichen Küftenländern noch Kleine Waldbeftände antrifft, 


234 Deutihe Rundſchau. 


muß man mit Ingrimm Zeuge fein der finnlojeften und barbariſchſten Aus- 
rottung dieſer Refte, wie mein Freund und Reifegenofje, der Botaniker Unger, 
in feinen Reifewerfen und den botanijchen Streifzügen auf dem Gebiete der 
Culturgeſchichte dargeftellt hat. Wir haben und die ganze Küfte bi3 Griechen- 
land hinunter einſt bedeckt zu denken, die höheren Streden mit Waldungen jener 
ſchon genannten Kiefer und der Steineihe, die niedrigeren Strandgegenden 
mit der Strandfiefer. Von der lebteren ift auf dem lieblichen Eiland Lacroma 
bei Raguja noch ein Bejtand, ein Baum, der durch jeine dünnen, langen, hell- 
grünen, loder ftehenden Nadeln und die zahlreichen feineren Verzweigungen der 
Hefte ein ſehr Lichtes, Fast durchfichtiges Anjehen gewinnt (Unger), und bei 
leiſem Luftzuge ein ganz eigenthümliches Säufeln hervorbringt. Daß die erften 
Anfiedler, um Raum für ihre Anpflanzungen zu befommen, an die theilweije 
Ausrottung diefer Wälder gingen, ift Klar, zeigen doch die älteften griechiichen 
Münzen da3 Haupt der Gere und den Meinbecher. Auch da& die jchiffahrt- 
fundigen Männer nicht jparfam mit dem Bauholze umgingen, ift begreiflid; 
ihnen half mit der ihr eigenthümlichen Rüdfichtslofigkeit ihre Begleiterin, die 
ebenfall3 auf den älteften Münzen verewigte Ziege. Das Zerftörungswerk ift 
bis jetzt ununterbrochen im Gange geblieben. Wa3 Unger von Leſina jagt, gilt 
für alle jene Hüften. Er macht auf den Holzbedarf für den Fiſchfang auf- 
merkſam, nämlich) beim Stechen mit der vierzinfigen Gabel bei Kienfeuer, auf 
die durch grenzenlojen Leichtfinn hervorgerufenen Waldbrände, wovon wir auf 
Gephalonien nur zu ſprechende Spuren ſahen, auf das barbariſche Entrinden 
der jungen Bäume behufs Gerbung und Feſtigung der Nebe, endlich) auf das 
Kalkbrennen, wozu man die legten Stümpfe und Wurzeln ausrodet. 

Wie gejagt, ift ſchon im Altertum der Weinftod für den Waldbaum an- 
gejiedelt und mit ihm auch der Delbaum. Das erſtere Gewächs verlangt 
unausgejegte Pflege; für geringere Mühe der Loderung des Boden? und des 
Beichneidens jpendet der Delbaum jeinen Segen. Er ift in Dalmatien allent- 
halben angepflanzt, wo nicht die Sorglofigkeit der früheren Bewohner das 
foftbare Erdreich) ganz in’3 Meer Hat ſchwemmen laſſen, doch ift er weniger 
al3 die verdrängten Nadelbäume zu einem farbigen Vegetationsbilde geeignet. 
Nur in Eorfu habe ich Delhaine gejehen, von hoben, jchattengebenden Bäumen 
gebildet, deren jeder dem Maler al3 Studie dienen konnte, und wie fie wol 
jenen heiligen Hain zujammenjegten, in den Sophofles den lebensmüden 
Dedipus eingehen läßt. Meift aber bietet der Delbaum einen projatichen 
Anblick. Don jpäteren Eindringlingen in unſer Land können wir noch der 
Aloeftaude gedenken, die auf Lejina jo üppig gedeiht, daß fie auf dem Feſtungs— 
berge ein natürliches Verhau bildet, jo wie einzelner Palmen, die zu venetia- 
niſcher Zeit in die Gärten gelommen zu fein fcheinen. Wenden wir uns aber 
wieder der gemißhandelten Natur zu, jo tritt unter der Iparfamen Straud)- 
und Geftrüppvegetation einiger Diftricte, namentlich) von Lefina, der Rosmarin 
hervor. Schon wenn man fich diefer bevorzugten Inſel nähert, bringen die 
Lüfte auf eine halbe Meile das ftarfe Aroma des Rosmarin entgegen, de3 mit 
dem jchlechteften Boden vorlieb nehmenden Wunderfrautes, wie Unger jagt, 
„das dem Landmanne in feinem Nothftande noch Glück und Segen verheißt, 


Dalmatien. 235 


zumal ihm die Cultur defjelben feinen einzigen Tropfen Schweiß abnöthigt.” 
Man jchneidet Ende Mai die zwei» und dreijährigen Zweige ab und deftillirt 
auf rohe Weije aus den getrodneten Blättern das ätherifche Del, deſſen Ertrag 
fih für die Stadt Lefina auf jährliche 30,000 Gulden beläuft. Der wichtigfte 
Verbrauch de3 in Trieft eingeführten Rosmarindles befteht darin, daß man das 
für techniſche Zwecke beftimmte Olivenöl damit ungenießbar macht zum Zwecke 
der Steuerherabjeßung. Ich könnte noch einige vereinzelt vorlommende Bäume 
nennen und Gefträuche, welche ftellenweife, wie auf der vorgejchobenen Inſel 
Lagofta, undurchdringliches Geftrüpp bilden. Es geht ſchon aus dem Gejagten 
hervor, daß die jparfame Vegetation die Abhänge und Thäler nur mit dürftigem 
Schleier bededt und ihnen, zumal wenn die höhere Sonne gewirkt hat, kaum 
eine andere Yarbe gibt, ala das Weißgrau des act bis dreißig und vierzig 
Fuß breiten, völlig nadten Strandgürtels. Wandert man in der ſchweren Mittags» 
gluth über die fteinigen Pfade hin, jo will fich nichts recht zu einem erfreulichen 
Bilde geftalten,; geht aber die Sonne zur Rüfte, dann verwandelt fi) das fahle 
Antlitz, das die Landſchaft bis jetzt gezeigt, in eine Farbenpradht jonder Gleichen. 
Sie erglüht in Roth und allen Tönen von Gelb und Violet, und dieje die 
Landpartien umfleidenden Farben vereinigen ſich mit der Abendbläue des viel- 
zerjtückelten Meeres zu einem wunderbaren Gejammteffect. Dalmatien, das ic) 
früher häßlich genannt, ift daher auch von Malern, wie Hildebrandt, für ihre 
großen Tarbenbilder bejucht worden, und da die Configuration von Berg und 
Meer an manchen Stellen, wie bei Sebenico, Lefina, Raguſa, auch der Bergfeſte 
Cliſſa hinter Spalato, der Compoſition äußerſt günftig find, jo wetteifern dieje 
Landichaften mit den berühmteften Farbenbildern, zu denen ägyptiſche Studien 
den Vorwurf gaben. Ich habe aber einen Punkt Dalmatien? noch nicht 
erwähnt, der für fich eine Reife lohnt: die Bucht von Gattaro. 

Hat man Ragufa mit feinen ſchönen Umgebungen hinter fi, jo erjcheint 
die einförmige, hier infellofe Küfte wie ausgeftorben. Sie erhebt fi) mehr und 
mehr, bi3 einige gewaltige, iiber 5000 Fuß hohe Kuppen die Nähe von Gattaro 
und dem dahinterliegenden Montenegro anzeigen. Das Schiff biegt um eine 
mit einem Feſtungswerk gefrönte Landipie, Punta d'Oſtro, und wir befinden 
uns dem Städtchen Gaftelnuovo gegenüber. Der Kriegsdampfer, auf welchem 
ich zulegt 1870 die Bucht befuchte, anferte bei dem Flecken Meligne, von wo 
ein quter Reitweg längs des fteilen Geftades ſich hebend und jenfend nad) 
Gaftelnuovo führt. Ungefähr halbwegs Liegt, einige hundert Fuß hoch, ein 
Klofter, von deſſen Kirchhof aus man eine entzüdende Ausſicht landeinwärts 
bi3 zu den über Gattaro aufjteigenden Bergen hat. Auch die nächften Um— 
gebungen find bedeutend und wegen lleppigkeit des Pflanzentwuchjes von an— 
iprechendfter Lieblichkeit. Zwilchen KHlofter und Stadt ift hochſtämmiger Eichen- 
wald, welcher reizende Durchblide auf die Bai und weiter hinaus auf das offene 
Meer gewährt. Gaftelnuovo ift an und zwiſchen die Felſen geklebt, und wie— 
derum war e3 die Ausficht aus einem von den Officieren der Garnifon mit 
Beichlag belegten Kaffeehaufe, von dem wir Reifegefährten uns nur ſchwer 
trennten. Von den nadten Bergen im Norden wird die Hüfte durch ein jchönes, 
wegjames Thal getrennt, doch durften wir die Befteigung derjelben nicht unter- 


236 Deutiche Rundichau. 


nehmen, ohne Gefahr, ausgeraubt zu werden. Der großartigite Theil des tiefen, 
vielgewundenen Meerbufens ift aber der Hintergrund, in welchem Gattaro Liegt, 
und von wo aus man zurüdgebogenen Hauptes die Zichzackſtraße nad) den 
ſchwarzen Bergen hinauf verfolgt. Um die Bekanntſchaft der montenegrinijchen 
Barbaren zu machen, braucht man fie nicht in ihrer Hauptftadt Gettinje auf- 
zuſuchen; fie fommen in Schaaren zu Markt nad) Gattaro. Holz, Hühner, 
Schafe werden von den Weibern mühſam geichleppt und getrieben, während der 
Gemahl ſchmauchend und mit Waffen geipidt nebenher reitet. Sie nehmen auf 
einem Pla vor dem Thore für ihre ärmlichen Erzeugnifje allerhand Producte 
der Givilijation in Empfang, und wer fi unter fie begibt, trägt oft außer 
einem unauslöſchlichen Eindrud lebendige Andenken von den montenegrinijchen 
Räubern und ihren Damen davon. | 

Wir vervollftändigen nun, unjere Schilderung, die bis jetzt faſt ausſchließlich 
der Natur gegolten, indem wir den Charakter einiger weniger bemerfenswerthen 
Städte zu jlizziren verſuchen. Wir halten uns nicht bei Zara auf, das zwar 
einige ſchöne und intereffante Kirchen, auch Feſtungswerke und eine pradhtvolle 
Gifterne aus der venetianifhen Blüthezeit befitt, ſonſt aber modern erſcheint 
und troftloje Umgebungen hat. Dagegen ift Spalato, ein Name, hervorgegangen 
aus palatium, Palaft, rei an römiſchen Bauten; denn der größte Theil diejer 
ziemlich volfreichen Stadt ift in den Ruinen de3 Prachtbaues enthalten, den 
Kaijer Diocletian, ein Dalmatiner, fi für jeine letzte Lebenszeit ſchuf. Die 
halbe, dem Meere zugekehrte Front der Stadt ift die ehemalige Mauer des 
Hauptgebäudes, die zum Theil unverjehrt, zum Theil eingerifjen und zu Fenſter— 
niſchen und Gaffenöffnungen zurecht gemacht if. Mehrere Thore des Palaft- 
complere3 dienen noch heute als Stadtthore; im Tempel des Jupiter mit präch— 
tigem Säulengang unter einem ebenfall3 nod erhaltenen jäulengezierten Hofe 
wird jeit einem Jahrtauſend zum Chriftengotte gebetet, und ich jah den bunteften 
Frohnleichnamszug ſich über diejelben Steine und nad) derjelben Opferftelle 
beivegen, wo die römijche Kaijerwelt ihren Pomp entfaltet. Die Zujammen- 
fegung dieſes Zuges war jehr merkwürdig. Voran eine Militärcapelle und 
Soldaten, Kleine Kinder, dann Mönche, Geiſtliche und unter dem goldgeftickten 
Baldahin der Bilchof, eine Sammlung von intereffanten Phyfiognomien. Hinter 
ihnen die befradten Magiftratsperjonen und die öfterreihiichen Staatsbeamten 
in Uniform, an welche ſich ein endlofer Zug von Bürgern, Brüderfchaften zum 
Theil mit vermummten Gejichtern, Mädchen und Knaben, welche Heiligenbilder 
auf Tragbaren jchleppen, morlakiſche Landbewohner in höchſt maleriſcher Tracht 
anſchließen. 

Wir verlaſſen ſie, um noch einen Weg nach dem faſt eine Meile landein— 
wärts gegen den Paß von Cliſſa zu liegenden Ruinenfelde von Salona (Martia 
Julia) zu machen, auch eine Schöpfung der diocletianischen Zeit. Man kann 
die Wafferleitungen und Mauern ftundenlang verfolgen, und e3 bedarf wol nur 
nachhaltiger Ausgrabungen, um ſchöne Refultate für die Alterthumskunde zu 
erzielen. Die tiefe Bucht, welche von Traurion, dem heutigen Trau, ſich bis 
Salona erftredt, jebt verihlammt, war einjt ein trefflicher Hafen und machte 
da3 üppige, fi) an hohe bewaldete Berge anlehnende Salona zu einer der wich— 


Dalmatien. 237 


tigften Städte des jpäteren römiſchen Culturlebens. Weiter oben Pola, ımten 
in Albanien Dyrrhachium, jegt Durazzo, find Zeugen der geſchwundenen Größe. 

Gehen wir in die Jahrhunderte der Kreuzzüge, jo verdankt ihnen das ober: 
halb Spalato liegende Sebenico feine heutige Geftalt. Wer nur einige Stunden 
in diejer Stadt fid aufhält, welche, von mehreren venetianischen und napoleonifchen 
Forts umgeben, in einem höchft merkwürdig geformten Meeresbecken liegt, meint, 
das ganze Land habe feine Bettler und Krüppel Hierher gefendet. Indeſſen 
überzeugt man fi) bald von einem gewiſſen Wohlftande der gewerbfleigigen und 
Del» oder Weinhandel treibenden Stadt. Sie war ein wichtiger Sit ber 
Templer, und der prächtige, theils gothiſche, theils im älteren Renaiffanceftil 
ausgebaute Dom und die zahlreichen geiftlichen und ritterlichen Wappen über 
den Thoren jehr jolid und hochgebauter Häufer mit ftilvollen Fyenftern und den 
eleganteften Freitreppen belehren uns über eine reiche Periode, während welcher 
ber Krummſtab und die ihm holden Schwerter der geiftlichen Ritterorden hier 
unumſchränkt walteten, freilich oft gedrängt von der See her durch die Türken, 
von der Landjeite her durch die Groaten. Man erreiht von Sebenico in einigen 
Stunden die berühmten Wafjerfälle der Cerka, die an ſich ſchon jehr impofant 
find und noch mehr im Gontraft zur denkbar ödeften Umgebung wirken. 

In die jpätere Herrichaft über einen großen Theil Dalmatiens theilten fi 
die Republiten Ragufa und Venedig. Raguſa, von geringem Umfang, hat mit 
großer Schlauheit fi bis zur Napoleoniihen Herrſchaft zu erhalten gewußt, 
und die Stadt bietet in ihrer heutigen Geftalt wol fo ziemlich das Ausfehen, wie 
e3 vor einigen Jahrhunderten war. Zwar der große Canal, der einft die Stadt 
durchſchnitt und die Galeeren und Kauffahrer trug, ift zugeichüttet und zur 
fahrbaren Hauptftraße geworden, aber noch arbeiten zahlreiche Goldſchmiede in 
den Werfftätten, von wo aus fie einft die Waare unmittelbar in die Schiffe 
reihen konnten, und überhaupt macht das prächtig gelegene Ragufa unter den 
balmatinifchen Städten den Eindrud der relativ größten Wohlhabenheit und 
Behaglichkeit. Wir dürfen auch annehmen, daß wie heute, fo zu den guten 
Zeiten der Republik Landhäufer in üppigen Gärten den Weg längs der Steil- 
füfte bis zu feiner Senkung nad) der lieblihen Bai von Gravofa ſchmückten. 

Abgeſehen von Ragufa begegnen wir nun in allen dalmatinifchen Städten 
und Fleden den Zeichen der venetianiichen Herrichaft; two es irgend ſchicklich, 
richtete fie ihr Wahrzeichen, den Löwen bes heiligen Marcus, auf. Zum Schube 
gegen Groaten und Türken wurden die Städte neu umwallt, an wichtigen 
Engen am Ufer, auf dominirenden Höhen Feſtungswerke angelegt, und unter 
deren Schuß erjtanden bie zierlichen Häufer und Paläfte des befannten Stiles. 
Ein wichtiger Punkt venetianischer Niederlaffung war wegen des ſchönen Hafens 
die Stadt Lefina, und an diefe Periode erinnert eine Reihe theils unveriehrter, teils 
in Ruinen liegender Bauwerke. ch weiß von dem Verhältniß diejer einftigen 
Herrlichkeit zu heute kein befferes Bild zu geben, als wenn ich befchreibe, wie ich 
dor zwanzig Jahren, als ich zum erften Male auf qutes Naturforicherglüd nad) 
Lefina reifte, dort einquartiert war. Es ift indeh ſchwer, fidh eine Vorftellung 
von der Locanda zu machen, nad) welcher mich und meinen Gefährten einer der 
in Dalmatien immer vorhandenen Herumlungerer führte, indem ſich daran die 


238 Deutſche Rundſchau. 


Geſchichte des Diocletianspalaſtes im Kleinen darſtellt. Unſere Locanda war 
einft ein venetianiſcher Palazzo geweſen. In den vernachläſſigten und zum 
Theil eingeftürzten Mauern des ſchönen Kaufmannshaufes hatten die Epigonen 
mit Benußgung der ftehen gebliebenen Ruinen eine Wohnung zujammengeflickt, 
oder, was auf dafjelbe hinauskommt, man hatte die Ruinen bewohnbar gemacht, 
hier einige Bogenfenfter vermauert, dort eine ungeſchickte, fenfterähnliche Luke 
in die Mauer gehauen, innerhalb der Ruinenmauern neue plumpe und unſym— 
metriſche Mauern aufgeführt, daneben aber gelafjen, wa3 man von der Ruine 
nicht. hatte als Baumaterial verwenden können. Und das gab unjerer Stube 
einen romantijchen Anſtrich. Sie war niedrig und jo ſchlecht gedielt, daß wir 
uns mit den im unteren Gemache befindlichen Wirthsleuten unterhalten konnten. 
Aber blickten wir durch das eine, nach der Piazza hinausgehende Fenfterchen, 
fo mußten wir zugleid) durch ein breites prächtiges Fenſter der Ruine ſchauen, 
da3 von den Töchtern des Haufes als Altan benußt wurde. Natürlich richteten 
fih die Venetianer auch ihre Landhäufer nach italienischer Weije ein, wovon 
gerade wieder Lefina eine Menge von Andenken zeigt. Jene Veranden und 
Laubgänge, von zierlicden Säulen geſtützt, wie man fie in Venedig in den Heinen 
verſteckten Gärtchen fieht, fie finden ſich auch in Lefina, faſt durchweg im höchſten 
Derfalle.. Wenn ich aber mit meinem Gajtfreunde, dem trefflichen Pater Bona 
Grazia, in jeinem Kloftergarten am Mteeresftrande wandelte, der Mond die 
Mängel der Terraflen und Säulengänge mild verflärte und den untadelhaften, 
unverlegten Bau de3 luftig durchbrochenen Kloſterthurmes jchön hervorhob, oder 
wenn ich mit ihm und andern Freunden auf dem Markte mich erging, im 
Hintergrunde den ftattlihen Dom, auf der einen Seite die von Meifter San— 
micheli erbaute Loggia, auf der andern das venetianifche Zeughaus mit Frei— 
treppe, vor uns den Hafen, jo konnte man ſich wol in die Zeiten der venetia- 
niſchen Herrlichkeit lebhaft zurückverſetzen. 

Die Ylufion mußte verſchwinden, wenn id mit Bona Grazia in unfere 
Glaufur zurückkehrte. Zwar mögen auch früher, wie das jet Morgens und 
Abends geihah, die Mägde der Stadt aus der unerſchöpflichen Ciſterne des 
Klofterd unter Aufficht eines Fraters das Trinkwaſſer geihöpft haben, zwar 
werden auch jonft die Brüder, wie der einzige, der jebt dem Prior Bona Grazia 
zugefellt war, ihre Beinkleider und Kutten ausgebefjert haben. Aber wenn id) 
dann, ehe ich mich in meine primitiv eingerichtete Zelle zurückzog, meinem Gaft- 
freunde deutſche Studentenlieder mit Begleitung auf einem ungeftimmten alten 
Spinet vortrug, jo war da3 ein Fräftiges Memento der Gegenwart. 

Und was ift num überhaupt aus der faft immer von fremder Neberfluthung 
außgebreiteten Bevölkerung getvorden? Bleiben wir zunächft bei der ftädtijchen. 
Nur auf fie hat die venetianische Herrſchaft einen entjchiedenen Einfluß geübt; 
ja, fieht man von vereinzelten Erjcheinungen der Pflege jlavifcher Literatur ab, 
fo ift, was bis jet in der neueren Zeit von Bildung in Dalmatien vorhanden, 
ausſchließlich italienifches Pfropfreis. Die Städtebevölferung ſpricht italienisch, 
und zwar find, wie die Familiennamen beweijen, nur verhältnigmäßig wenige 
venetianifche Familien Hier jeßhaft geworden. Die Dalmatiner der Städte 
nahmen die italieniſche Cultur an; nicht wenige haben in neuerer Zeit an der 





Dalmatien. 239 


italieniichen Literatur und Wiſſenſchaft mit gearbeitet, und ein Theil der 
Profefforen in Pavia und Padua waren Dalmatiner, Gegenwärtig gibt es 
jedoch nur eine Keine Partei der Italianiffimi, welche nicht blos die Ueber— 
legenheit der von drüben gelommenen Gultur anerkennt, jondern aud mit 
politiihen Sympathien an alien hängt und die chimäriſche Hoffnung auf 
Einverleibung in das geeinigte Jtalien nährt, wovon aber der größere Theil 
der Städtebewohner und die Landbevölterung nichts wifjen wollen. Denn jeit 
einigen Jahrzehnten ift die Pflege der illyriſch-ſlaviſchen Nationalität in ben 
Städten mit Vorliebe getrieben worden, und hierbei ift ganz bejonders bie 
Geiftlichkeit betheiligt. Noch herrſcht in den ftädtifchen Schulen die italienische 
Unterrichtsſprache, allein das Schickſal derjelben unter dem Einfluß des Slavismus 
jcheint befiegelt. Man wird fragen, wie man denn in den dalmatinijchen 
Städten lebt? Einförmig, wie überhaupt im Süden, einige große Verkehrs 
centren ausgenommen. Der Mittelftand ift meift färgli daran, nährt ſich 
ſehr mäßig, nach unjern Begriffen faft kümmerlich; die Männer verfiken viele 
Zeit im Kaffeehaus und Frauen und Mädchen, zu Haufe oft weniger als einfad) 
gekleidet, kommen nad) Sonnenuntergang zum Vorſchein zu einer etwa ein- 
ftündigen Promenade in der Stadt, dem Corſo. Die größeren der früher 
genannten Städte werden auch zu verichiedenen Jahreszeiten durch Oper und 
Schauspiel unficher gemaht, wohin Alles eilt, was eine Loge oder einen Platz 
erihtwingen kann. In den Hleineren Städten fpielen die religiöfen Feſtlichleiten 
eine große Rolle, wie ja auch in Italien die meiften reellen VBergnügungen des 
Volkes ſich an die Ehrentage der Heiligen anſchließen. Zwar ift, was Dalmatien 
bietet, immer nur ein Abglanz italienischen Feſtgetümmels, und wer etiva in 
Neapel einen ſolchen Höllenlärm mit durchgemacht hat, wie fie ihn mit Feuer— 
werk, Kononenſchlägen und gräulicher Muſik außerhalb und innerhalb der Kirchen 
zur Ehre Gottes aufführen, erfährt auf der gegenüberliegenden Küſte nicht viel 
Neues. Aber es ift noch nicht lange ber, daß in Dalmatien ein wirklicher 
Menſch bei der Auferftehungsicene Chriftus darftellte. 

Man erlaube, da ich einmal von diefen an das Heidenthum erinnernden 
Mißbräuchen und Sitten des Südens jpreche, daß ich eine cannibalifche Chriften- 
thumsſcene jchildere, deren Zeuge id in Corfu war. Ich hielt mich dort zum 
griehiichen DOfterfeft auf. Mit Samftag 11 Uhr follte die ftille Woche ihr 
Ende erreihen, und ih war gewarnt, zu diejer Stunde auf der Straße 
zu fein, weil man ba leidht verunglüden könnte. So beichränfte ih mich auf 
die Ueberſicht einiger Straßen aus dem Fenſter. Mit dem Nahen der elften 
Stunde trat an jede Hausthür der Hausvater oder jonft ein Hausgenoſſe mit 
einem Schlachtmeſſer und einem Lamm, dad er an ben Hinterbeinen an dem 
Pfoſten aufhing. Kaum ertönte der erfte Glodenichlag, jo war auch ſchon 
jämmtlichen Opfern der Leib aufgeriffen und über jeder Thür mit dem rauchenden 
Blute ein Kreuz gezeichnet. Zugleich aber ſchoß Jung und Alt unter furdht- 
barem Jubelgeichrei aus den Fyenftern, auf Plätzen und Straßen, Töpfe wurden 
aufs Pflafter geworfen, kurz, man glaubte unter einer plötzlich wahnfinnig 
geivordenen Bevölkerung ſich zu befinden, bis die noch lebenswarm auf den Roft 
gethanen Ofterlämmer das wüſte Treiben jänftigten. 


240 Deutiche Rundſchau. 


Da war dod) ein anderes Opferfeft harmlojer und reiner, das und wieder 
nad Dalmatien zurüdführt. Ein junger, vor Kurzem geweihter Priefter hatte 
die Faftenpredigten zur großen Befriedigung feiner Stadtgenofjen gehalten. Am 
erften oder zweiten Feiertage, id) entfinne mich nicht genau, wurde er mit Muſik 
und im großen Feſtzuge aus der Kirche nad) dem elterlichen Haufe geleitet, 
wo wir Reijegenoffen uns mit den Honoratioren al3 geladene Gäfte befanden. 
Allgemeines Glüdwünjhen und Händedrüden; ſüße Weine und Confecte wurden 
von den Schweftern und Freundinnen des gefeierten Prediger herumgereicht, 
und ein luſtiges Tanzvergnügen hielt uns bis tief in die Nacht beifammen. 

Don den Städtern hebt fi am jchärfiten die morlakiſche Landbevölterung 
ab, die nad) Lebensweife und Tracht offenbar ſchon jeit Jahrhunderten, in 
manchen Dingen wol jeit zwei Jahrtauſenden ftationär geblieben. Ich meine 
nämlich, daß die vom jechsten Jahrhundert an zunehmende ſlaviſche Invaſion 
der alten liburniſch- illyriſchen Bevölkerung nicht ihr Gepräge genommen, 
fondern im MWejentlichen in ihr aufgegangen ift. Auch die Landbewohner 
der joniſchen Inſeln als Pfleger der Rebe und de3 Delbaumes haben mir 
diefen Eindrud gemacht, und ich möchte behaupten, daß die Bundſchuhe, der 
Reiſeſack und alle jene aus Schaf» und Ziegenhaar jelbjtgefertigten Kleidungs— 
ftüde von den griehijchen und römiſchen Zeiten an bis jetzt faft unverändert 
geblieben find. Auch auf die Werkzeuge des MWein- und Ackerbaues bezieht ſich 
diefe Bemerkung; die kurze, ſchwere Hade, die Hippe, der Pflug, fie find diejelben, 
wie zu Homer’3 Zeiten. Aus den albanefifchen Töpfereien habe ich Krüge mit- 
gebracht von der edelften und zierlichften antiken Vajenform. Und wenn man 
in Spalato und Sebenico die morlakiſchen Bauern den diden rothen Wein im 
Schlau, d. i. in dem wieder zugenähten und zugebundenen elle des Schafe: 
und der Ziege, zu Markte bringen fieht, jo hat man aud) ein Stüd Alter- 
thums vor fi. Mit jolch’ älterer Ueberlieferung hat ſich aber ein gut Theil 
türkiſchen, überhaupt morgenländiichen Weſens gemiſcht. Man fieht häufig um 
die allgemein gebräuchliche rothe Kappe ein Tuch zum Turban gewunden. Bon 
dort her ftammt die Liebe für Dolce, Piftolen und lange Flinten; Sattel, 
Zaum und jehwere, bunte Steigbügel weijen ebenfalls nad) Often. Wohin id) 
aber einen Hauptjtolz der morlakiſchen Männer thun ſoll, den dien und langen 
Zopf, weiß ich nicht. Den Bart nehmen fie fich bis auf den Schnurrbart ab. 
Faſt ausnahmslos hochgewachjene, wohlgebaute Geftalten von kühnem Geſichts— 
ſchnitt, find fie die Rachkommen jener Illyrier, welche einen der wichtigften Beſtand— 
theile der römiſchen Kaiſerheere bildeten. 

Weit minder fallen die Bewohner der Küften und Inſeln auf, die neben 
dem Ertrag des Bodens auf die Früchte des Meeres angewiejen. In langer Be- 
rührung mit den meerauf, meerab, herüber und hinüber ziehenden Nationen tragen 
fie den Typus ihrer tiefer im Lande ſitzenden Brüder nicht mehr fo rein an 
der Stirn und Haben die meiften Gigenthümlichkeiten der Tracht abge- 
legt. Dennod ſprechen auch fie meift nur ſlaviſch, wenn nicht der Verkehr 
mit der Stadt oder Schiffsdienft fie italienifch gelehrt hat. Es verfteht fich 
von jelbit, daß jeder am Meere liegende Hof einen Theil des Lebensunterhaltes 
dem Meere abgewinnt. Im Allgemeinen aber bietet daS Meer viel mehr dar, 





Dalmatien, 241 


al3 man ihm abnimmt, und auf der anderen Seite ift die unfinnige Fiſcherei 
mit dem großen, engmajchigen Netze die Urſache, daß Millionen der jungen Fiſch— 
brut zerjtört werden und ftellenmweife über Mangel an werthvollen ausgewachjenen 
Speijefiichen geklagt wird. Nur einzelne Diftricte zeichnen fich durch befondere 
Snclination zur Fiſcherei und peciellere Filchereiarten aus. Im Bezirk von 
Lefina und Liſſa liegt man vom Mai bis Auguft dem Sardinenfang ob. Die 
großen, Eoftipieligen Nebe befinden ſich im Beſitz von Genoſſenſchaften, welche 
in ruhigen, aber dunklen Nächten bei Feuerſchein den Yang betreiben, der leider 
nicht jelten geftört wird, wenn eine Schaar ungefüger, den Sardinen nachziehender 
Delphine in die Netze geräth, diefe verwirrt und zerreißt. Eine andere Specialität 
betreibt die Genofjenjchaft der Schiffer von Zlarin unweit Sebenico. Sie rüften 
ihre Boote zur Gorallenfiicherei, welche aber erſt zwijchen den jonifchen Inſeln 
ettva3 ergiebig wird, jedoch auch hier nicht concurriren kann mit derjenigen an 
der Küfte von Tunis und Algier. 

Die originellfte Zunft ift die der Schwammfiſcher der Kleinen Inſel Crapano. 
Man begegnet ihren Booten während der guten Monate von Yftrien bis Gurzola ; 
am häufigften aber findet fi) der Badeihwamm an den Inſeln von Sebenico 
bi3 zu den ſpalmadoriſchen Telfeneilanden oder Scoglien bei Leſina. Ein jedes 
diefer Fahrzeuge ift mit zwei Fiſchern bejeßt. Der eine, im Hintertheile ftehend, 
das Geficht nach vorn gewendet, hantirt mit zwei langen Rudern, welche auf 
feitlih über den Bord hinausragenden Gabeln ruhen, und womit der Mann 
dem Boote äußerft feine Wendungen und Bewegungen zu geben verfteht. Der 
andere biegt ſich aus einer vieredfigen Vertiefung des vorderen Dedes über Bord, 
jo daß jein Gefiht faum einen Fuß über dem Wafjerfpiegel ift, und jpäht 
icharfen Auges nach dem erjehnten Naturerzeugniß, welches in einer Tiefe von 
etwa 6 bi3 30 und 40 Fuß am häufigften vorfommt. Es bedarf eines ſehr 
geübten Auges, den brauchbaren Badeihwamm von den jogenannten wilden 
Schwämmen zu unterjheiden, und ich bin wiederholt Zeuge gewejen, wie ein 
folder von dem betrogenen Fiſcher mit großem Aerger wieder feinem Elemente 
übergeben wurde. Beide befiten im natürlichen friichen Zuftande eine glänzende 
ſchwarze Oberhaut, welche beim Badeſchwamm etwas matter ift und zahlreichere 
kleine Kuppen und Erhabenheiten zeigt. Hat der Späher einen Schwamm ent- 
deckt, jo ſenkt er eine vierzadige Lanze, deren er immer mehrere von verjchie- 
dener Länge über fih auf einigen an Bord befeftigten Holzgabeln liegen hat, 
in’3 Waſſer, ein Zeichen für den Genofjen, ftill zu halten und je nad) den Zu- 
rufen des Harpunierd jo zu manövriren, daß der letztere möglichſt jenkrecht über 
dem Schwamme fteht. Es gehört ficher eine lange Uebung dazu, aus einiger 
Tiefe den Schwamm heraufzuholen, bejonder3 bei etwas beivegter See. In 
dieſem Falle jpritt der Fiſcher, während er jpäht, etwas Del auf das Waſſer. 
Indem ſich diejes ungemein jchnell zu einer unmeßbar feinen Schicht ausbreitet, 
hindert es die Bildung Kleiner, fich kreuzender und den Blick in die Tiefe er- 
ihwerender Wellen. Das Schaufpiel diejer Beruhigung und Glättung der Ober- 
fläche, welches ſchon den Griechen und Römern bekannt war, macht einen wun— 
derbaren Eindrud. Endlich ift der Schwamm angefpießt, und das ſchöne ſchwarze 
Gebilde wird möglichft behutſam, um e8 vor Zerreigungen zu — von 

Deutſche Rundſchau. 1,11. 


— —— 





242 Deutſche Rundſchau. 


dem Widerhaken losgemacht und in's Boot geworfen. Iſt das Einſammeln 
beendet, ſo rudern die Fiſcher an's Ufer und drücken, quetſchen und treten die 
erbeuteten Schwämme ſo lange, bis die das Horngerüſt erfüllende klebrige und 
dickflüſſige Subſtanz gänzlich entfernt, ſowie die ſchwarze Oberhaut abgeſchält 
iſt. Ein mehrſtündiges Liegenlaſſen in ſüßem Waſſer erleichtert dieſen Proceß 
und verleiht dem Schwamme diejenige Reinheit, welche ſeine allſogleiche An— 
wendung bei der Toilette geſtattet. 

Wem dieſer Fang nicht gefällt, und er iſt in der Sonnengluth anſtrengend 
genug, ſei zu einem anderen Sport eingeladen. Wir haben uns auf einige Tage 
bei unſerm treuen Freunde, dem katholiſchen Prieſter Don Giacomo Boglie 
auf jeinem Landgute Milna an einer Heinen Bucht von Lefina einquartiert, um 
zu baden, zu mikroſkopiren, zu fiſchen und halb italieniſch, Halb lateiniſch zu 
converfiren. Am Abend vorher hat Don Giacomo, der fih nicht minder treff- 
li auf die Fiſcherei verfteht, al3 er ein jehr guter Kenner und Forſcher der 
illyriſchen Sprache und Geſchichte ift, dad Grundnetz aufgeftellt, eine mehrere 
hundert Fuß lange, weitmaſchige Wand, deren eine lange Kante durch Blei am 
Boden gehalten wird, während Kork fie jenfrecht ftellt. Mit diejer Wand wird 
jo eine Art von Heerftraße am Mteeresgrunde abgejperrt, und e3 verheddern 
fi in ihr die Riefen unter den Krebjen und eine Menge der köftlichiten und 
wunderjamften Fiſche. Wir rudern daher bald nah Sonnenaufgang hinaus 
und holen die Beute ein. Hummern und Languften, Kleinere Haie, der Mteer- 
igel und der Stadhelroche, der feinjchmedende Branzin und Andere werden 
aufgezogen, und während wir nad der Rüdfehr einen Theil für die Sammlung 
präpariren, leitet der Wirth in der Küche die Zubereitung des anderen Theiles 
zum fröhlichen Mahle. 

Nah Sonnenuntergang erwartet und ein anderes Yagdvergnügen. Das 
Boot ift zum Stechen gerüftet. Ueber das Vordertheil hinaus ragt ein korb— 
fürmiger Roft, auf welchem Harzreiches Holz hell lodert. Nicht nur die nächite 
Umgebung, die felfige, zerriffene Küfte, wird grell und zauberhaft beleuchtet, auch 
20 bis 30 Fuß tief vermögen wir auf den Meeresgrund zu ſehen, daß wir 
Kiejel und Tange und Thiere genau unterfcheiden. Ein Diener rudert und unſer 
Gaftfreund führt die vierzinfige Gabel, das Wahrzeichen des alten Neptun. 
Die Ruder werden kaum eingetaudht, wir ſprechen nicht, halten uns fo ruhig 
al3 möglich, und das Wafjer durchſpähend, die Gabel zum Stoße bereit, gibt 
ihr Träger leiſe Winke, um das Boot langjam über die glatte Fläche zu wenden. 
Eine Handbewegung hat es zum Stehen gebradht, wir folgen dem bdeutenden 
Finger und gewahren einen mächtigen Tintenfiſch, den Polpo, wie er mit feinen 
ichlangenartigen Armen ſich in den Schatten zurücdzuziehen ſucht. Aber jchon 
ift er getroffen und in's Boot geworfen. Auch die großen Krebje gerathen bei 
biejem Fackelſchein in eine ihnen verderbliche Ueberraſchung und Verwirrung, 
am leichteften aber gewifje Fiſcharten, welche unbeweglich, wie jchlafend, ftehen 
bleiben und bei gehöriger Gejchiclichkeit des Fiſchers ſelten unter der Gabel 
fortſchnellen. Wir Haben uns nad) und nach eine halbe Meile von der Bucht 
von Milna entfernt und können uns bei der mitternäcdhtigen Rüdfahrt ganz ber 
phantaftiihen Scenerie hingeben, während die tiefe Stille der Natur nur durch 


Dalmatien. 243 


da3 regelmäßige Geräufch der Ruder unterbrochen wird und dann und warın 
durch den Flügelſchlag einer aufgefcheuchten Felstaube. 

Ich Habe aus bunten Steinen das Bild eines Streifens europäiſchen Landes 
zufammenzufegen verjucht, der nie das Glück gehabt, fich längere Zeit hindurch 
ala ein jelbftändiges kleineres Ganzes zu fühlen, oder ala ein Glied einer natio- 
nalen Einheit. Geographiich abgejondert von den großen Gulturträgern alter 
und neuer Zeit, lag die Bevölkerung doch wieder zu nahe an der Heerftraße der 
Weltgeihichte, als daß fie nicht Hätte in Mitleidenfchaft gezogen werden müfjen. 
Aber es erwuchd dem Lande aus diefen Berührungen kein nachhaltiges Glück. 
Wir haben lauter unterbrochene Entwidelungen vor und, von den Segnungen 
de3 Fortſchrittes und der Givilifation find nur einzelne Stellen des Küftenfaumes 
belect, die Natur aber ift einer mehrtaufendjährigen Mißhandlung faſt erlegen. 
Dennoch haben wir diefer Natur, wie ich Hoffe, Intereſſe abgewinnen fünnen; 
fie bot uns, wenn auch wilde, doch effectvolle Scenen und bier und da Daien, 
auf denen da3 Auge ausruhte. Auch die Menjchen find uns nicht blos als 
ethnographiiches Material vorgelommen, fondern mande unter ihnen durften 
al3 liebenswitrdige Gaftfreunde und klar und unparteiiſch urtheilende Patrioten 
dem Herzen näher treten. Mit diefem verjöhnenden Rückblicke jcheiden wir. 


16* 


Der deutfhe Anterricht 


in den 


öffentlihen Schulen der Vereinigten Staaten von Amerika. 


Bon 
Mar Horwih. 


a Ten 


Mit der Beantwortung der Frage: „Welche Stellung nimmt der deutiche 
Unterriht in den öffentlihen Schulen der Vereinigten Staaten von Amerika 
ein ?“, ift auch die Frage beanttwortet, welche Geltung ſich das deutſche Element 
in den Vereinigten Staaten von Amerika zu verihaffen gewußt hat. Sie hängt 
innig zujammen mit dem Kampfe, welcher, bewußt und unbewußt, fich in 
taujend kleinen und großen Dingen auf amerifaniihem Boden zwijchen dem 
Eingewanderten und dem Gingeborenen abſpielt. Es handelt fi in dieſem 
Kampfe darum, ob der Eingewanderte jofort jeine Eigenart und das Ver— 
mächtniß jeines Geburtslandes aufgeben joll, um fi), wie es jelbft einer der 
fiberalften und bedeutendften Geiftlichen Amerika's, Robert Collyer in Chicago, 
bei Gelegenheit eines im December 1874 gehaltenen Vortrages verlangte, jofort 
zu „veramerifanern“, oder ob der Eingewanderte, welcher Bürger geworden, 
nun auch das Recht haben joll, von jeinem befjeren Willen abzugeben und zur 
Bildung des noch immer nicht abgejchlofjenen amerikaniſchen Volkscharakters 
beizutragen. 

Der deutſch-amerikaniſchen Preſſe gebührt das große Verdienft, in diejer 
wichtigen Frage nit nur Stellung genommen zu haben, jondern auch eifer- 
ſüchtig darauf zu achten, daß dem fremdgeborenen Beftandtheil des amerikanischen 
Volkes jein Recht nicht verkfümmert werde. Denn dem deutjchen Wolke ift der 
vorderfte Poſten in diefem Kampfe angewieſen. Fyranzojen, Italiener, Scandi- 
navier, Slaven und andere Nationalitäten find nicht ftark genug vertreten, 
um duch ihre Zahl zu imponiren, und wenngleich fich Viele unter ihnen eine 
achtunggebietende gejellichaftliche und geihäftliche Stellung errungen, jo find fie 
doch mit dem amerifaniichen Handel und Wandel nicht jo innig verwachſen, 


Der deutjche Unterricht in den Öffentl. Schulen der Vereinigten Staaten von Amerifa. 245 


wie es die Deutichen find. Die Jrländer, welche an Seelenzahl noch ftärker 
vertreten find al3 die Deutſchen — wenigſtens in den Städten —, bringen 
einen folchen unausrottbaren Haß gegen England mit über's Meer, daß fie ſchon aus 
diefem Grunde und weil fie das Heil Irlands nur in Verwidelungen zwijchen 
England und den Vereinigten Staaten erhoffen, ſich jehr ſchnell amerikanifiren, 
abgejehen davon, daß die harakteriftiichen Merkmale, durch welche fie jich hervor— 
thun, durchaus nicht derart find, daß es wünjchenswerth fein könnte, dieſelben 
auf den amerifanijhen Stamm zu pfropfen. 

Die Zeit der „Knownothings“, welche „Amerifa für die Amerikaner“ ver- 
langten, d. 5. Aemter nur Denen geben wollten, welche ihre in Amerika ge- 
borenen Ahnen mehrere Generationen zurück datiren konnten, ift allerdings 
vorüber. Dennoch wäre die Annahme, daß bei der großen Maſſe der nament- 
fh aus den Neu-Englandjtaaten ftammenden Amerikaner die Verleugnung der 
Knownothing - Ideen auf wirklich Liberalen Anjchauungen beruht, eine irrige. 
Ahnen ift der Einwanderer noch immer nicht eine willlommene und freudig zu 
eınpfangende Bereicherung de3 Landes, jondern „ein der Tyrannei von Despoten 
entronnener Sclave”, deſſen erſte Pflicht nach der Landung es ift, den ihn gaft- 
ih aufnehmenden Boden zu küſſen und dann alle feine bisherigen Lebens— 
anjchauungen aufzugeben und gegen neue zu vertaufchen. Wenn dieje Anfichten 
nicht mehr häufig in den Vordergrund treten, jondern ſich unter einer gewiſſen 
Vorſicht verbergen, jo iſt das lediglih dem numeriſchen Stimmengewicdht der 
Deutichen zuzufchreiben. Denn der amerikaniſche Politiker ift jehr praktiich und 
verfteht es, jeine Gefinnungen und Verſprechungen den Umftänden anzupaffen. 
Da nun bis in die jüngfte Zeit hinein die große Maſſe der Deutjchen mit der 
republifanifchen Partei ftimmte, jo fanden ſich auch gehäffige Bemerkungen, wie 
3.82: „Wenn e8 den Deutſchen hier nicht gefällt, jo können fie ja wieder in 
die „Tyrannei” (sic!) zurüdkehren,“ zumeift in demokratiſchen Partei-Organen, 
wie 3. B. der New-York World, der Chicago Times u. j. w. Aber jelbft die 
den Deutſchen am freundlichften gefinnten engliſch-amerikaniſchen Zeitungen 
geben nur zu oft noch den Beweis, daß auch der beftunterrichtete Amerikaner 
mit dem Weſen jeiner jet nahezu vier Millionen zählenden deutſchen Mit- 
bürger nicht volllommen vertraut ift. 

Die deutſch-amerikaniſche Preſſe hat es als eine unerläßliche Bedingung für 
die achtunggebietende Stellung der Deutſchen und ihren Einfluß auf die öffent- 
lichen Angelegenheiten erfannt, daß wenigſtens die im Lande geborene erfte 
Generation von Deutichen, nicht blos dem Namen nad), jondern aud) im Denten 
und Empfinden deutjch bleibe. Als das mächtige Band aber, das die zer- 
ftreuten Glieder zufammenhält, betrachtet man die Mutterfprade, auf 
deren Erhaltung — und beiläufig bemerkt Freihaltung von einem deutjch- 
amerifanifchen Jargon — von allen Seiten bingearbeitet wird. Die deutjche 
Preſſe der Vereinigten Staaten unterläßt es nicht, von Zeit zu Zeit Artikel zu 
bringen, in denen es den deutſchen Eltern nahdrüdlich zur Pflicht gemacht 
wird, ihre Kinder anzuhalten, im Haufe deutſch zu reden. In zahlreichen 
deutjchen Privatichulen wird verjucdht, dem Uebel abzuhelfen. Indeſſen ift es den 
Eltern, welche durch das Geje gezwungen werben, eine Steuer für die Er- 


246 Deutſche Rundſchau. 


haltung der öffentlichen Schulen zu zahlen, nicht leicht zuzumuthen, auch noch eine 
fernere Ausgabe für Privatichulen zu machen; und zudem droht von Seiten der mit 
Kirchen in Verbindung ftehenden Schulen eine andere Gefahr, melde die Vor— 
theile des deutjchen Unterrichts überwiegt. Denn die namentlich in katholiſchen 
Kirchenſchulen erzogene Jugend liefert der Geiftlichkeit jpäter ein nur allzu 
brauchbares Material. Gehören doch die Fälle, daß in Amerika, dem Lande, 
welches Staat und Kirche dem Geſetze nad) ftreng trennt, der Erfolg der Can— 
didatur eines Mannes davon abhängt, ob er katholiſch oder akatholiſch ift, nicht 
mehr zu ben jeltenen. 

Aus dem Dilemma: die deutſche Jugend ohne allen deutjchen Unterricht 
aufwachſen zu jehen, was in ben meiften Fällen gleichbedeutend ift mit voll- 
ftändiger Verwahrlofung, da den deutjchredenden und allein deutſch verftehenden 
Eltern aladann jede Controle fehlt; oder die Kinder in deutjche Kirchſpielſchulen 
zu ſchicken, in denen fie für ihr ganzes Leben in den Dienft von Dogmen ge- 
preßt werden, die ber freien Entwidelung nicht minder Hinderlih find, — aus 
diefem Dilemma gibt e8 nur einen Ausweg: Einführung des deutjchen Unter: 
richts in die öffentliden Schulen Amerika's. 

Dem am 15. Januar 1875 erjchienenen Bericht des Lehrplan-Eomite’3 
des Erziehungsrathes von New-York, welcher auf immer weitere Ausdehnung 
de3 deutjchen Unterricht in den Elementarſchulen der Stadt New-York dringt, 
find folgende zwei Stellen entnommen: „Ganze Schaaren von Schülern, bie 
früher Privatſchulen befucht Hatten, ftrömten jeit Einführung des deutjchen Unter- 
richts den öffentlichen Schulen zu.” Und um nicht mißverftanden zu werden, 
fügt derjelbe Bericht ferner Hinzu: „...... Die Wichtigkeit diefer Beftrebungen 
muß uns ganz beſonders einleuchten, wenn wir bedenten, daß mindeftens 11,000 
deutſche Schüler Tag für Tag katholiſche und proteftantifche Kirchen- und andere 
deutſche Privatichulen bejuchen.” 

Wenn im Eingange gejagt worden ift, daß aus dem Stande des beutjchen 
Unterriht3 in den öffentlihen Schulen ein Schluß auf die Höhe des deutjchen 
Einfluffes gezogen werden kann, jo wird dieje Behauptung durch die Thatfache 
bewiejen, daß in den öffentlichen Schulen der weſtlichen Staaten der Union 
der deutſche Unterricht weit feftere und tiefere Wurzeln geichlagen hat, ala im 
Dften. Die große Maſſe der Deutichen lebt im Weften; ihre Forderungen 
treten bier gebieterifher auf, verfügen fie doch über mehr Stimmen. Den 
beutlichften Beweis dafür, daß mit dem Steigen des deutjchen Anſehens auch 
der deutſche Unterricht in den öffentlichen Schulen freiere Bahn findet, Liefert 
da3 Jahr 1870. Wie auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, jo machten 
fi auch in dieſer Richtung die Siege, welche Deutichland auf den Schladt- 
feldern Frankreichs errungen, in jegensreicher Weiſe bemerklih. Es ſetzt keinen 
bejonder3 großen Scharfblid voraus, Urſache und Wirkung bier in richtige 
Verbindung zu bringen. Sagt doch der Erziehungsrath der Stadt New-York 
für das Jahr 1873 wörtlih*):....... „Im Jahre 1854 wurde der franzöfiiche 


*) cf. Thirly, Second annual report of the Board of Education of the City and County 
of New-York. 1874 Cushing and Bardua, Seite 32 und 33. 


Der deutſche Unterricht in den öffentl. Schulen der Vereinigten Staaten von Amerita. 247 


und deutſche Unterriht in den öffentlichen Schulen ala ein freier Unterricht3- 
gegenftand eingeführt. Durch neuere, im Jahre 1870 angenommene Bejchlüffe 
aber wurde der deutjche Unterricht in allen Claſſen obligatorijch auf den Stunden- 
plan gejeßt, Hauptjählich wegen der immer mehr wadhjenden Be- 
deutung des deutſchen Elemente3 unjerer Bevölkerung in ſocialer 
und gejhäftlider Beziehung (mainly in consideration of the increasing 
social and commercial importante of the German element of our population).“ 
Diefe Beftimmung ift jo durchgeführt worden, daß demjelben Berichte zufolge 
in den öffentliden Schulen der Stadt New-York während des Jahres 1873 in 
464 Claſſen 19,396 Kinder deutjchen Unterricht erhielten, während nur 1609 
Kinder in 50 Claſſen ih am franzöfifchen Unterrichte betheiligten. Es kann 
genau demjelben Einfluffe, welcher dies erfreuliche Reſultat herbeiführte, zu— 
geſchrieben werden, daß von den 1200 Schülerinnen de3 New-Yorker Lehrerinnen- 
Seminars, denen man e3 in einer Abftimmung am Schluffe des Herbitquartals 
1874 freiftellte, ob fie fernerhin Deutſch oder Franzöſiſch lernen wollten, ſich 
1180 für den deutjchen und nur 20 für den franzöfiichen Unterricht erklärten. 

Nicht minder intereffant ift ein ftatiftiicher Ausweis, welcher dem officiellen 
Berichte des Erziehungsrathes von St. Louis entnommen ift.*) Es heißt 
darin: Im Jahre 1865 wurde in St. Louis der deutiche Unterricht 450 Kindern 
in 5 Claſſen von 5 Lehrern ertheilt. Im Jahre 1872 nahmen an diefem Unter: 
richte Theil 13,724 Kinder in 41 Clafjen, während der Unterricht von 59 Lehrern 
ertheilt wurde. Der große Umſchwung trat einerjeit3 im Jahre 1866 nad) dem 
deutjch-öfterreihiichen Kriege ein, wo die Zahl der Deutjch lernenden Kinder 
von 1400 auf 2400 fprang, andererjeit3 im Jahre 1870, wo ſich die Zahl von 
6200 auf 10,300 erhöhte. 

Um das Verhältniß des deutjchen Unterrichts zu den übrigen Lehrgegen- 
ftänden in ben öffentlichen Schulen Amerika's richtig beurtheilen zu können, 
jeien hier einige allgemeine Bemerkungen über das öffentlihe Schulwejen in den 
Vereinigten Staaten vorausgeſchickt. 

Der Staat zwingt zwar die einzelnen Gemeinden, Schulen zu unterhalten, 
aber er zwingt die Kinder nicht, fie zu bejuchen, umd er mijcht fich, mit 
faum nennenäwerther Ausnahme, in den Schulbetrieb nit ein. Ein von 
dem beutjchen Vertreter der Stadt Chicago in der Gejehgebung des Staates 
Illinois jeit mehreren Jahren wiederholentlih eingebradhter Antrag, ben 
Schulzwang einzuführen, ift mit bedeutender Majorität eben jo oft abge- 
lehnt worden, ala er geftellt wurde. In Wafhington, dem Site der Bundes- 
regierung, befteht zwar ein „Bureau of Education“ ; die Arbeiten defjelben find 
jedod rein ftatiftiicher Natur. Ein Unterrihtsminifterium in dem Sinne, wie 
man e3 in Deutichland verftehen würde, ift es nicht. Ein Aufſichtsrecht fteht 
ihm nicht zu. In das Unterrichtötwejen der Städte hat es nicht das Recht, ein 
Wort hineinzureden, ebenjowenig wie den Schulfuperintendenten der Einzelftaaten 
eine ſolche Berechtigung zufteht. Während ſich eine allgemeine Regel für bie 


*) Nineteenth annual Report of the Board of Directors of the St. Louis Public Schools. 
Democrat Printing Co. 1874, Seite 29. 


248 Deutiche Rundichau. 


Leitung des öffentlichen Unterrichts nicht aufftellen läßt, trifft es wol im 
Großen und Ganzen al3 richtig zu, wenn gejagt wird, daß in faft allen Städten 
die gejammte Leitung des öffentlichen Schulwejens einem Erziehungsrathe über- 
geben ift, der in den meiften Fällen aus nicht weniger als zwölf und nicht 
mehr ala zwanzig Mitgliedern befteht.*) Diefem Erziehungsrathe, der je nad) 
Zufall und Laune „Board of Education“, „Commissioners of Publie Schools“, 
oder „Board of School-Commissioners* heißt, ftehen zur Durchführung feiner 
Pflichten die Mittel zu Gebote, welche die Stadtverordnetenverfammlung (Com- 
mon-Council) mit Zuftimmung de3 Bürgermeifterd für Schulzwede bewilligt 
und welche auf Grund eines Staatsgeſetzes aus allgemeinen Steuern erhoben 
werden, joweit nicht die Einkünfte von Grundftüden, die für Schulzwede be- 
ftimmt find, ausreichen. Der Erziehungsrath verdankt feine Zufammenjeßung 
der directen oder indirecten Wahl, in einzelnen Fällen wird er auch ernannt. 
Die Bejegung der Aemter ift innerhalb derjelben Körperſchaft oft in kurzer Zeit 
vielfadhen Nenderungen unterworfen. Ob jedoch der Staatsgouverneur die frag— 
lien Beamten ernennt, ob das Volk an der Wahlurne fie in directer Wahl 
wählt, oder ob fie aus der indirecten Wahl Seitens der Stadtverordneten- 
verfammlung hervorgehen: immer wird die Tyolge fein, daß auch der Exrziehungs- 
rath eine beftimmte politiiche Farbe Hat. 

Tür die Zukunft des deutſchen Unterrichts in den öffentlichen Schulen ift 
e3 daher von durchaus nicht zu unterfhäßender Bedeutung, ob die Maſſe der 
deutjchen Stimmgeber mit der fiegenden Partei geftimmt hat, oder gegen ſie. 
Wie in der Knownothing-Prefje, jo gibt es in den Erziehungsräthen noch immer 
Leute, welche bei der Trage des deutjichen Unterricht? nicht ettva erwägen, ob 
dadurch eine gebeihliche Entwidelung der Schüler gefördert oder gehemmt wird, 
und denen jede ſachliche und fachmänniſche Unterſuchung fremd ift; die vielmehr 
aus Abneigung gegen alles Deutſche „on general principles“, wie der Ameri— 
faner jagt, dem deutjchen Unterricht opponiren. So erklärt es ſich zur Genüge, 
daß die Einführung, rejp. die Ausdehnung des deutichen Unterrichts, außer ihrer 
allgemeinen, mehr und mehr aud) die Bedeutung einer politifchen Frage gewinnt. 

In faft allen größeren Städten der Union find bis jet vier Schulabftufun- 
gen eingeführt worden, welche wie folgt benannt find: Primary-Schools (den 
biefigen Elementarſchulen entjprechend), Grammar-Schools (höhere Knaben- und 
Mädchenſchulen), High-School (etwa dem Progymnafium entjprechend) und 
Normal-School (Seminar). Nicht in allen Städten jedoch fteht mit dem Se- 
minar auch eine Seminarſchule (Model-School) in Verbindung. Auf einem jüngft 
in Cleveland in Ohio jtattgehabten Lehrertage, der von den hervorragendften 
Schulmännern aller bedeutenden Städte der Union beſucht war, wurde der Be- 


”) Die Privatichulen find durchaus aufſichtslos. Der abſoluten Lernfreiheit entipricht 
eine ebenjo unbedingte Lehrfreiheit: es darf lehren, wer ba will, wie, wo und was er will. Aud 
die Pädagogik genieht in ben Vereinigten Staaten ber unbedingteften Gewerbefreiheit. Sogar 
wenn Jemand, der faft nicht leſen und fchreiben kann, eine Schule errichten will, kann es 
ihm Niemand wehren, vorausgejeht, daß er Schüler findet. Leider gibt es am deutſchen Privat: 
ichulen in Amerika genug jogenannte deutſche Lehrer, welche mit ihrer Mutteriprache auf 
immerwährendem Kriegäfuhe ftehen, ohne die mindefte Auaficht auf Friedensſchluß. 


Der deutſche Unterricht in ben öffentl. Schulen ber Vereinigten Staaten von Amerifa. 249 


ſchluß gefaßt, auf eine möglichfte Uebereinſtimmung der Glaffenftufen in allen 
Städten hinzuarbeiten. Es ift diefe Eintheilung deshalb hier erwähnt worden, 
weil in vielen Städten, jelbft nachdem da3 Zugeftändniß der Einführung des 
deutſchen Unterrichtes errungen war, ſich eine neue Schwierigkeit bei der Frage 
erhob, in welcher Schulfategorie num Deutſch unterrichtet werden ſolle. Denn 
e3 wäre verlorene Zeit und Mühe, wenn der in ben Elementarclafjen begonnene 
Unterricht in den höheren Claſſen nicht weiter fortgeführt werben jollte. 

In der That handelt es ſich in diefem Augenblide nicht mehr jowol darum, 
einen wichtigen Sieg zu erringen, als ihn zu behaupten und auszunußen. In 
faft vierzig Städten der Union ift der deutjche Unterricht jet eingeführt, aller- 
dings noch nicht überall obligatoriich. Die großen Städte der Ilnion, von New— 
Hort am atlantiichen bis San Francisco am ftillen Ocean, von St. Paul hoch 
oben an den nordiihen Seen bis New-Orleans am Golf von Merico, waren 
die Borkämpfer für Kleinere Städte, jelbft Naſhville in Tenneſſee mit 23,000 
Einwohnern, unter denen die Deutjchen nur in geringer Zahl vertreten find, 
ift nicht zurücigeblieben. Von größeren Städten, in denen in den öffentlichen 
Schulen Deutſch unterrichtet wird, jeien erwähnt: New-York, Bofton, Buffalo, 
Philadelphia, Pittsburgh, Cincinnati, Columbus, Cleveland, Dayton, Chicago, 
Quincy, Peoria, Milwaufie, Nafhville, San Francisco, St. Louis, Indianopolis, 
Fort Wayne, Terre Haute, Newarf, Springfield, Patterfon, Davenport, St. Paul, 
New-Drleand. Wo, wie es im Jahre 1874 in Buffalo geichehen, ein kurzfich- 
tiger Grziehungsrath den Verſuch machen follte, das Deutſche aus den öffent- 
lihen Schulen wieder hinauszuweiſen, da würde fi ein ſolcher Sturm des 
Unwillens erheben, daß die Maßregel alsbald wieder rücdgängig gemacht werden 
müßte. Denn e3 hat viel, jehr viel Mühe und Sorge gefoftet, die Sachen nur 
jo weit zu bringen, wie fie jet find. Oft bat der politiihe Schadher, wenn 
der Ausdrud gejtattet ift, mit in Rechnung gezogen werden müfjen. Vor den 
Wahlen mußte die deutjche Preſſe und die deutfche Bevölkerung ganz beftimmte 
Forderungen aufftellen, Verſprechungen wurden erzwungen und ihre Erfüllung 
eiferfüchtig überwacht. 

In den verichiedenen hervorragenditen Städten der Union gelten die ver— 
ichiedenften Normen fir ben deutichen Unterricht in den öffentlichen Schulen. 
An New⸗York ift der Unterricht in den Glaffen, in denen er eingeführt ift, obli- 
gatoriſch für alle Schüler; ebenjo in Cleveland, Ohio. In St. Louis, Chicago, 
Milwaukie müflen die Eltern von wenigſtens Hundert eine beftimmte Schule 
befuchenden Kindern petitioniren, ehe der Erziehungsrath den deutſchen Unter— 
richt einführen darf, und dann bleibt es dem Ermefjen jedes Schulfindes frei— 
geftellt, ob e3 an dem Unterrichte Theil nehmen will oder nit. In San Fran— 
cisco mit feiner großen gemiſchten Bevölkerung gibt e3 jogenannte „cosmopolitan 
schools“, je nach der Dichtigkeit der fremdländiichen Bevölkerung in einem be- 
ftimmten Stabdttheil mit deutſch-engliſchem, franzöſiſch-engliſchem, ja jelbft deutjch- 
franzöfiich-engliihen Lehrplan. In Nafhville, Tenneffee, ift der deutſche Unter: 
richt obligatorisch für alle Schulen, fängt aber erft, etwa wie das Griechiiche 
auf deutichen Gymnafien, in den höheren Glafjen an. Es würde zu weit führen, 
aus jeder Stadt, welche den deutichen Unterricht eingeführt hat, dariiber genaue 


250 Deutiche Rundſchau. 


Mittheilung zu machen, wie fie ihn eingeführt. Als Beilpiel möge Cleveland 
dienen, welches ih mit Recht rühmt, den Schwefterftädten in den Vereinigten 
Staaten in dieſer Beziehung voraus zu ſein. 

Bis zu einem gewiſſen Grade iſt der deutſche Unterricht in Gleveland obli⸗ 
gatoriſch. In einem am 1. Mai 1873 von der Legislatur des Staates Ohio 
angenommenen neuen Schulgejege heißt es: 

„Es ſoll die Pflicht des Erziehungsrathes fein, zu veranlaffen, daß Die 
deutiche Sprache in jeder öffentlichen Schule dieſes Staates gelehrt werde, wenn 
von 75 Bürgern, Bewohnern genannten Schuldiftrictes, welche nicht weniger 
al3 40 Schüler vertreten, die bona fide verlangt wird, und die Schüler die 
deutfche und die engliſche Sprache gleichzeitig erlernen wollen, vorausgeſetzt, daß 
Nichts, was hierin enthalten ift, jo verftanden werden joll, daß e3 genannte 
Erziehungsräthe verhindern joll, zu veranlaffen, daß die deutiche Sprache oder 
andere Sprachen in genannten Schulen gelehrt werden, und vorausgejeßt weiter, 
daß alle Unterrichtszweige, weldhe in den öffentlihen Schulen dieſes Staates 
gelehrt werden, in englifcher Sprache gelehrt werden.“ 

Entfleidet man diejes Gejeß der Förmlichkeiten ſeines Styls, jo enthält e3 
neben einer Verwahrung zu Gunften der engliihen Sprade als Unterrichts- 
ſprache die Beftimmung, daß der Erziehungsrath den deutjchen Unterricht jeder 
Zeit einführen darf, wenn er will, ihn aber einführen muß, wenn die An- 
gehörigen von vierzig Schulkindern in einem Diftricte darum erjuchen. 

Auf diefes Geſetz Hin hat der Erziehungsrath von Gleveland beichloffen, daß 
in allen Elementarclafjen, in denen wenigſtens achtzig Schüler den deutjchen 
Unterriht wünjchen, jämmtlshe Schüler an demjelben Theil nehmen müſſen. 
Die Claffe wird in zwei Abtheilungen getheilt und unter Leitung eines englijchen 
und eines deutjchen Lehrers geftellt, welche an jedem Tage miteinander abwechſeln. 
Bon den 22 wöchentlichen Lehrftunden werden dann 11 in englifcher und 11 in 
deutfcher Sprache ertheilt. Dem Lehrplan ift Folgende Tabelle darüber entnommen: 


Gegenftand. Engliſch. Deutſch. 
Rechnen . . 3 Stumden. — 

Anfheuungs-Unteriht  ..; 2 &t. 30 Min. 
Leſen . . . 2... 30 Min. 2 „ 90 „ 

Rechtichreiben J : ı Jap 2 „0 „ 

Schreiben . E — —6 

Singen . — — 2:30: 

11 Stunden. 11 Stunden. 


Während jomit der Rechenunterriht nur in der engliichen Sprache ertheilt 
wird, was fi) aus naheliegenden praftiichen Gründen als jehr richtig erweiſt 
und was das Staatägejeß ja auch ausdrüdlich verlangt, wird in allen Elaffen, 
auch den Höheren, in denen fich der obige Stundenplan verfchiebt, der Geſangs— 
unterricht nur in der deutichen Sprache ertheilt. Denn der Amerikaner betrad)- 
tet, wie jehr er auch auf anderen Gebieten mit dem Deutjchen differiven mag, 
die Muſik ala deſſen jpecielle, unantaftbare Domäne. Als Curioſum mag bier 
angeführt werden, daß bei Gelegenheit des letzten großen deutſch-amerikaniſchen 


Der beutiche Unterricht in dem öffentl. Schulen der Bereinigten Staaten von Amerika. 251 


Eängerfeftes, welches im Juni 1874 in Gleveland ftattfand, 1500 Schulkinder 
Glevelands, unter denen fi, außer Deutichen, nicht nur Irländer, Scandinavier 
und taliener, ſondern auch Franzofen und Neger befanden, die „Wacht am 
Rhein“ mit außerordentlich jauber articulirtem Terte von Anfang bis zu Ende 
deutſch vortrugen. 

Bon einer Gefammtzahl von 10,362 während des Jahres 1873 die öffent: 
lichen Schulen bejuchenden Kindern nahmen 3572 Kinder am deutſchen Unterrichte 
Theil. Von ihnen waren 2435 Kinder deuticher, 1137 Kinder englisch iprechen- 
der Eltern. Mit dem Erfolge, den fie in ſolcher Weife errungen, wächſt den 
Deutjchen denn auch der Muth. Der von der Stadt angeftellte Superintendent 
des deutſchen Unterrichts, ein Deutfcher, jagt (fiehe Auszug aus dem 37. Jahres- 
berichte de3 Erziehungsrathes, Cleveland, Anzeiger-Druderei 1874): 

„Bon 244 Schülern der A-Grammar-Glaffen, welche geprüft wurden, um 
in die Hochſchule einzutreten, hatten 135 das Studium des Deutjchen ein, zwei 
oder drei Jahre lang betrieben. Bon diefen 135 Schülern wurden 123 für reif 
erklärt, etwas über 91 Procent. Bon den übrigen 109, welche nicht Deutſch 
gelernt hatten, wurden nur 85 für reif erflärt, nicht ganz 78 Procent. Obgleich 
der Erfolg diefer gelfammten Prüfung von dem Prüfungsrefultate im Rechnen 
und in der engliihen Grammatik abhing, jo trugen do die Schüler, welche 
Deutich lernten, den Preis über Diejenigen davon, deren Ehrgeiz fi nur bis 
zu „a Common English Education“ verftieg, troßdem fie viel mehr Zeit den 
erftgenannten Studien zuwandten.“ 

Und nicht das allein. Der Deutiche begnügt ſich nicht damit, zu fordern, 
daß jeinen Kindern Gelegenheit gegeben werde, Deutich zu lernen; er beweift 
dem Amerikaner, weshalb auch des Lehteren Ktinder fich dem beutichen Unterrichte 
anſchließen jollten. „Manches VBorurtheil verſchwindet dadurch,“ jagt der eifrige 
Vorkämpfer in Cleveland, deſſen Worte einen um jo größeren Nachdruck haben, 
als er in officieller Eigenſchaft jpricht, „welches unter andern Umftänden die 
freundlichen Beziehungen zwiſchen den verichiedenen Nationalitäten geftört haben 
würde, Es ift nicht genug, daß die Deutſchen Engliich lernen jollten. Sie thum 
es ohne Widerrede, obgleich fie, bei Lichte bejehen, es in großen Städten nicht 
‚abiolut nöthig hätten, um in Ruhe und Frieden zu leben. Zeitungen, in ihrer 
Mutteriprache gedrudt, machen fie mit Allem befannt, was ihnen in der Politik 
und im gefellichaftlichen Leben wiſſenswerth ericheint. Sie können genug deutiche 
Kaufleute finden, um dajelbft ihre Einkäufe zu bejorgen, und im geielligen Ber- 
fehr brauchen fie nicht wider Willen mit Leuten zu verkehren, die eine frembe 
Sprache reden — und doc lernen fie Engliich, einfach deswegen, weil fie Leute 
find, die ſich leicht den Sitten Anderer anſchmiegen, Leute, die nicht jo thöricht 
find, einen Staat im Staate bilden zu wollen. Freilich ift es nicht mehr ala 
natürlich, daß fie nicht blos aufzunehmen, fondern auch mitzutheilen ſich bemühen. 
Sie find der Anficht, dab dieſe Republik ein Schmelztiegel ift, in welchem alle 
Nationalitäten der Erde ihre Vertreter haben; da fie mum einer der drei vor- 
herrichenden Theile der Miſchung find, jo möchten fie nicht nur die Cuantität 
vermehren, fondern, was mehr gilt, aud Einfluß auf die Cualität haben. Sie 
find der Anficht, daß fie Eigenichaften befiten, welche bei der Berichmelzung ber 


252 | Deutiche Rundſchau. 


Maſſen der neuen Miſchung größeren Werth geben können, und zu dem Ende 
muß e8 fie freuen, daß ihre Englifch redenden Mitbürger das Deutjche erlernen.“ 

Es hat der vorftehende Auszug hier eine Stelle gefunden, nicht nur, um zu 
zeigen, bon welchen verjchiedenen Gefichtspunften aus die Frage des deutichen 
Unterricht3 in den öffentlichen Schulen von Seiten der Deutfh- Amerikaner be— 
trachtet wird, ſondern auch als Abwehr einer kürzlich an hervorragender Stelle 
erfolgten Verunglimpfung der Deutſchen in Amerika. In einer Correfpondenz 
des Herren Friedrich Nabel, der von der „Kölniichen Zeitung“ nad) Nordamerika 
geſchickt wurde, um Leben und Treiben der dortigen Deutjchen zu ftudiren, heißt 
es, nachdem gejagt worden, die Deutjchen hätten das früher einmal angeregte 
Project, eine deutſch-amerikaniſche Univerfität zu gründen, wieder aufgegeben, 
wörtlih: „Ich bin nun allerdings auch der Meinung getvorden, daß eine deutich- 
amerikaniſche Hochſchule ihren Zweck nicht erfüllen würde und daher befjer unter- 
bleibt. Unjere Landsleute eriparen ſich dadurch auch ſo viele Unannehmlichkeiten. 
Sie wollen die Amerikaner um feinen Preis vor den Kopf ftoßen, wollen mit 
ihnen abfolut in Frieden leben, und dazu paßt ein activer Nationalftolz, eine in 
Thaten fich befundende Werthſchätzung des eigenen Volksthums natürlich jehr 
wenig. Solche Gefühle ftören Einen auch jo empfindlich im Geldmachen.“ Die 
ein volles Jahr vor der letzteren Bemerkung geichriebenen obigen Bemerkungen 
des Superintendenten in Cleveland ftehen übrigens durchaus nicht allein. 

In dem officiellen Berichte von St. Louis über das Schuljahr 1872—73 jagt 
der Superintendent: „Der Proceß, aus den verichiedenften Elementen eine Natio- 
nalität zu bilden, geht ununterbrochen vorwärts. Wir müſſen in einem Gemein 
weſen zufammenleben, yamilienbeziehungen, geichäftlihe Verbindungen, gemein- 
ſame ntereffen halten ums aneinander. Das große Problem alſo bejteht darin, 
alle diefe Scheidelinien zu überbrüden und eine homogene Nation zu bilden. 
Mährend diefe Verichmelzung vor fich geht, ift es aber Aufgabe des Erziehers, 
darauf zu achten, daß die Ellenbogenfühlung des Alten mit dem Neuen nicht 
verloren geht. Wenn der hierher Eingewanderte fich jofort losſagen wollte von 
allen jeinen nationalen Wiünfchen und Hoffnungen, von feinen Familienbeziehungen, 
von feinen moralifchen und religiöfen Anſchauungen, jo könnte eine bedenkliche 
Veränderung in jenem Charakter nicht ausbleiben. Es ift das Bewußtſein der 
Zufammengehörigkeit, welches dem Einzelnen Kraft gibt. Den Thaten feiner 
Nation entnimmt der Bürger den Maßſtab feines eigenen Könnens. Den Erin: 
nerungen an die Thaten der Ahnen entjpringt der Ehrgeiz, es ihnen gleich zu 
thun. Mit diefen Grundjäßen ausgerüftet Hat der Erzieher die ſchwierige Auf: 
gabe vor fich, für die gemiſchte Bevölkerung eine Erziehung anzubahnen, die das 
jeder Nationalität eigenthümliche Gute bewahrt und doch eine Baſis findet, auf 
der Alle friedlich zulammenftehen können.“ Aus diefen Anfängen heraus beweift 
der Bericht jodann die Nothwendigkeit des deutichen Unterrichtes. 

MWährend in diefem Sinne fi auch die Berichte vieler anderer Städte, wie 
San Francisco, Milwaufie, Buffalo und Louisville, vernehmen laſſen, begegnen 
wir andererjeit3 auch ſchon Gründen anderer Art für die Einführung des deut: 
chen Unterrichtes. In manchen Städten hat der Deutiche nicht mehr nöthie, 
feinen Worten einen politiichen Nachdruck zu geben; er überläßt das Schickſal 


Der beutiche Unterricht in ben öffentl. Schulen der Vereinigten Staaten von Amerita. 253 


des deutſchen Unterrichts getroft dem fachmänniſchen Gutachten. Wenngleich die 
nachfolgenden Worte des erften Schulmannes von New-York durchaus nichts 
abjolut Neues enthalten, jo find fie do aus dem Munde eines Amerikaners 
intereffant. Er jagt: 

„Die Befürworter unjeres Syſtems der öffentlichen Schulen befreunden ſich 
aber nicht blos aus rein praftiichen Gründen mit der Einführung einer lebenden 
Sprade in den Stundenplan. Als ein Mittel zu geiftiger Anregung, eine be- 
deutendere Unterftüßung bei der Erziehung des Kindes im Allgemeinen hat da3 
Studium einer zweiten Sprache neben der englifchen jeine große Bedeutung be= 
wiejen. Praktiſche Erfahrungen, die fi auf eingehende Beobachtungen ſtützen, 
haben den aufmerffamen Schulmann überzeugt, daß das Studium einer zweiten 
Sprache die Fortichritte des Schülers im Englischen nicht nur nicht hemmt, 
fondern dazu in hohem Grade beiträgt, ihn zu fördern, feinen Verſtand jchärft, 
und ihn ſelbſt zu einem befjeren Schüler im Englifchen macht, als es jonft hätte 
geichehen können.” Im weitern Verlaufe des Berichtes heißt es dann, anknüpfend 
an das oben Erwähnte, weiter: „Allerdings wird es jehr darauf ankommen, 
welche Sprache wir neben der englifchen einführen jollen.“ Daß die Wahl 
ichließlih auf den deutſchen Unterricht gefallen, ift bereits im Eingange diejes 
Artifeld erwähnt. 

Und welche Rejultate find bis jetzt erzielt worden ? 

Was die Betheiligung am deutſchen Unterrichte anbetrifft, jedenfalls in An— 
betracht der kurzen Zeit, während welcher überhaupt Deutich unterrichtet wird, 
ſehr bedeutende. Die verfchiedenen Fyactoren, welche das Endrejultat beeinfluffen, 
dürfen, um ein gerechtes Urtheil zu fällen, nicht aus den’ Augen verloren werden. 
Menn in einer Stadt die Hälfte der Bevölkerung deutſch ift, jo kann es nicht 
Wunder nehmen, dab auch ein weit größerer Procentjat ſich am deutichen Unter- 
richt betheiligt, als da, wo der Bruchtheil der deutichen Bevölkerung ein weit 
Hleinerer ift. Ob von Seiten der anderen Lehrer dem deutjchen Gollegen, der ja 
bisher nur in einem gebuldeten Gegenftand unterrichtete, wohlwollende Unter— 
ftügung entgegengebracht, oder ihm durch kleinliche Nörgeleien feine Arbeit erſchwert 
wurde, hatte jelbft auf die Betheiligung der Kinder am Unterrichte großen Einfluß. 
An ſolcher abfichtlichen Erſchwerung hat es nicht gefehlt und fehlt es wol auch 
heute nicht. Wenigftens ericheint in Chicago eine von dem Director (Principal) 
einer ftädtiichen Schule herausgegebene pädagogische Monatsſchrift „The Teacher“, 
in welcher diefer Beamte ımaufhörliche Angriffe gegen den deutichen Unterricht 
bringt und auf feine Abjichaffung dringt, was er kaum twagen würde, wenn er 
nicht auf ſtarken Rückhalt im Erziehungsrathe rechnen könnte. 

Die Jahresberichte der Erziehumgsräthe find zum großen Theile aus ftatifti- 
ichen Tabellen zufammengeftellt, denen wichtige Daten bezüglich der Frequenz des 
deutichen Unterrichts entnommen werden fünnen. So weift der Bericht der Stadt 
Milwaukie nad), dat es in der Stadt 21,610 ſchulpflichtige Kinder gibt. Unter 
ihulpflichtig find micht Kinder zu verftehen, welche thatſächlich die Schule be- 
juchen müflen, fondern alle Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren, welche ſchul— 
pflichtig jein würden, wenn einmal ein Schulzwanggejeß angenommen iver- 
den follte. Bei den von Zeit zu Zeit ftattfindenden Volkszählungen wird bereits 


254 Deutiche Rundſchau. 


auf diefe Altersclaffe Rüdjicht genommen. Der Ausdrud „ſchulpflichtig“ iſt 
einfach anticipirt. Von den oben erwähnten 21,610 jchulpflichtigen Kindern 
bejuchen die öffentlichen Schulen in der That nur 10,850, aljo gerade die Hälfte, 
und von ihnen betheiligen fich am deutſchen Unterrichte 4214, von denen 3235 
deutjcher, 979 anderer Abkunft find. In Milwaufie ftellt ſich das Verhältniß 
aber noch günftigr. Milwaufie, mit feinen alten Anſiedlern, ift vielleicht die 
deutjchefte Stadt in den Vereinigten Staaten. Als Spitzname ift ihr die Bezeichnung 
„Deutjch- Athen” zugefallen. In der That find die geiftigen Beftrebungen unter 
den Deutſchen Milwaufie'3 reger al3 in irgend einer andern Stadt der Vereinigten 
Staaten, St. Louis ausgenommen. Dieje beiden Städte haben ein feſtes, com= 
pactes Deutſchthum, bei dem die Fälle nicht zu den jeltenen gehören, in denen 
die Enkel von Eingetvanderten, aljo die dritte Generation, noch gut Deutſch Ipricht, 
denkt und handelt. Deshalb haben auch diefe beiden Städte in der That vor- 
zügliche deutjche Privatinftitute, und alle Beftrebungen, welche, wie jpäter gezeigt 
werden wird, in den Vereinigten Staaten darauf hinftreben, den deutjchen Unter- 
richt und den deutjchen Lehrer in Amerika zu heben, gehen von jenen beiden aus. 
In Milwaukie find unter den 24 Schulrathömitgliedern 15 Deutſche, der Super- 
intendent des geſammten jtädtiichen Schulweſens ift ein Deuticher. In St. Louis 
ift der Director der Hochſchule ein Deutjcher, einer der tüchtigften Schulmänner 
des Landes. 

Se mehr Zahlen ein Bericht gibt, defto mehr ftellen fich Ergebnifje Heraus, 
auf die in den meiften Fällen der Deutjche mit Stolz blicken darf. Der officielle 
Beriht von St. Louis für das Jahr 1872/73 jagt, daß im Ganzen 34,063 
Kinder die öffentlichen Schulen befuchten. Auf Seite 21 defjelben Berichts führt 
der Erziehungsrath dann beiläufig an, daß von der Gelfammtbevölferung von 
St. Louis 24%, Deutſche und Defterreiher find. Setzte man nun bei allen 
Nationalitäten einen gleihmäßigen Schulbeſuch voraus, jo würden von den obigen 
34,063 die öffentlichen Schulen bejuchenden Kindern 24%, Deutjche jein müſſen, 
d. h. 8074. Wie viel deutiche Kinder die öffentlichen Schulen bejuchen, jagt der 
Bericht zwar nicht, wol aber heißt e8 an anderer Stelle, daß von den 13,724, 
die fi) am deutjchen Unterricht betheiligen, 11,656 Kinder deuticher Eltern find, 
alio nahezu 4000 oder 12%, mehr, al3 man von ihnen erwarten dürfte. Und 
dabei ift zu berücfichtigen, daß es dort noch eine große Anzahl von deutjchen 
Privatichulen gibt. 

In Chicago mit feiner großen deutichen Bevölkerung befuchen von 103,000 
Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren, 32,000 die öffentlichen Schulen, und 
von ihnen betheiligen fi am deutjchen Unterricht 2889, alfo kaum 9%, gegen 
45%, in Milwaufie und 35%, in St. Louis. Die Urſache liegt an dem Wider- 
ſtande, den — wie bereit3 oben berührt — der Erziehungsrath von Chicago bis 
vor Kurzem der Einführung des deutichen Unterrichts geleiftet, jowie daran, daß 
das große feuer von 1871 wichtigere Lebensfragen in den Vordergrund gedrängt 
hatte. Seit einem halben Jahre aber fteht ein Deutjcher an der Spitze des Er- 
ziehumgsrathes, der auch fir Chicago befjere Zeiten herbeiführen wird. Der 
Chicagoer Bericht enthält ferner eine Tabelle, die fi) in feinem anderen Berichte 
findet, und die eine neue Thatſache enthüllt. Von den obigen, am deutjchen 


Der deutiche Unterricht in den öffentl. Schulen der Vereinigten Staaten von Amerika. 255 


Unterricht Theil nehmenden Kindern find 745 von amerikanifchen Eltern, 285 
von iriihen Eltern, 445 Scandinavier und 1314 deutjcher Abkunft. Von diejen 
leßteren aber find 1207 in Amerika geboren und nur 107 in Deutichland. Wenn 
man bedenkt, daß die eintwandernden Yamilien oft eine ganze Anzahl von Kindern 
mitbringen, jo erjcheint die Zahl von 107 al3 auffallend gering und legt die 
Vermuthung nahe, daß den mit den Eltern einmwandernden Kindern die Seg- 
nungen de3 Schulbejuchd nicht in dem Maße zu Theil werden, wie den im Lande 
geborenen. Während der erften Jahre, die oft Jahre des Ringen? um die Eriftenz 
find, müſſen die miteinwandernden Kinder jofort helfen, Brod verdienen. Viel— 
leicht ift der Schluß ein irriger, die Zahlen aber, welche der Erziehungsrath von 
Chicago veröffentlicht, Laffen ihn als einen richtigen wenigſtens erjcheinen. 

In Buffalo beſuchen von 35,000 ſchulpflichtigen Kinder 11,151 die öffent- 
lihen Schulen, von ihnen betheiligen fi 1168 Schüler in 12 Clafjen am 
deutſchen Unterrichte. Der Superintendent von Buffalo hat in Folge ander» 
weitig eingezogener Erfundigungen ermittelt, daß in 54 anderen als öffentlichen 
Schulen Buffalo’3 (Privat: und Kirchenſchulen) noch 11,064 Kinder unterrichtet 
wurden, daß aljo in Buffalo im Ganzen etwa 66%, aller Kinder zwijchen 6 und 
14 Jahren die Schule bejuchen. 

In New-York beſuchten die öffentlichen Schulen 151,878 Kinder. Die am 
deutichen Unterricht Theil nehmenden 19,396 bildeten alfo faft 14%,. Ihre 
Zahl aber ift in ſchnellem, ftetigem Steigen begriffen und dürfte ſehr bald 
25 °/, erreichen. 

Die wichtigfte Frage, um die es fich aber in diefem Augenblicke handelt, ift 
die Lehrerfrage. Woher Lehrer nehmen? Der Mangel an geeigneten Lehrkräften 
ift ein ganz außerordentliher. Zunächft ift der Lehrer verdrängt, theilweiſe ſogar 
ausgeſchloſſen durch die Lehrerin. So jehr der Deutſche in Amerika auch gegen die 
ausſchließliche Ertheilung des Unterrichtes in Mädchen- und Knabenclaffen durch 
Lehrerinnen ift und jo jehr die deutſchen Mitglieder der Erziehungsräthe derjelben 
Anficht find, jo bleibt ihnen doch nicht? Anderes, als fich zu fügen. Indem fie darauf 
ausgehen, für fi Ausnahmezugeftändniffe zu erreichen, dürfen fie es nicht wagen, 
an einer Fundamentaleinrichtung des amerikaniſchen Schulwejens zu rütteln, 
welche darin bejteht, daß das Katheder in der Schule, mit Ausnahme der 
Directorenftelle, den Frauen gehört. Amerika ift das Land der Bortämpferinnen 
für die Rechte der Frauen. Ihrer Bewegung und der thatfächlichen Furcht, 
welche der Amerikaner vor den rauen hat und die fich vergeblich unter dem 
Dedmantel von Hochachtung zu verbergen jucht, ift es zuzufchreiben, daß auch 
nie ein Verſuch gemacht worden ift, das Lehreramt Männern zu übertragen. 
Ein ſolcher Verſuch würde jogleih eine Belagerung de3 Sitzungsſaales durch 
Hunderte von Frauen herbeiführen, die nicht weichen würden, bis man ihnen 
ihre „geheiligten Rechte” zugefichert. Es find noch nicht zwei Jahre her, daß 
in allen Städten der Union ſolche Weiberfeldzüge gegen die Wirthahäufer unter- 
nommen wurden. 

Aber abgejehen davon würden ſich auch nicht genug Lehrer in Amerika 
finden, die Lehrerinnen zu erſetzen. Es fällt einem Amerikaner nicht ein, bis 
zu jeinem zwanzigften Jahre zu lernen, um dann eine Stelle anzunehmen, bie 


256 Deutiche Rundſchau. 


im Anfange mit 600 Dollar3 dotirt ift und nur langjam beffer wird. Er zieht 
ed vor, „feine Chancen abzuwarten“ („to run his chances”), und verjucht fein 
Glück anderweitig. In diefe gegebenen VBerhältniffe aljo Hat fich der Deutjche 
hinein zu pafjen. Will er den deutjchen Unterricht überhaupt in den öffentlichen 
Schulen eingeführt willen, jo muß er den Compromiß ber Lehrerin eingehen. 
Nur die Stadt Milwaufie in ganz Amerifa macht eine Ausnahme. Während 
alle Lehrerftellen an allen Schulen durch Lehrerinnen bejegt find, welche von 
500 bis 700 Dollars, je nach der Anciennität erhalten, wird in Milwaukie der 
deutjche Unterricht ausſchließlich von Männern ertheilt, deren Gehalt im erften 
Jahre taujend Dollars beträgt. 

Die deutſche Lehrerin, oder richtiger die Lehrerin fur den deutſchen Unter— 
richt an den öffentlichen Schulen, iſt aber nicht gar häufig zu finden. Denn es 
darf nicht überſehen werden, daß ſie auch nicht-deutſche Kinder zu unterrichten 
hat, und daß eine vollſtändige Kenntniß der engliſchen Sprache daher unerläßlich 
iſt. Sie würde ſonſt bei den deutſchen Kindern durch ihr ſchlechtes Engliſch 
verderben, was der deutſche Unterricht gut machen ſoll. Aus Deutſchland ein— 
wandernde Damen find daher zum großen Theile nicht geeignet, und man iſt 
thatjächlich faft ausjchlieglich auf junge Mädchen deutjcher Abkunft angetviejen, 
die in Amerika die öffentlihen Schulen beſucht und fi) auf Privativege im 
Deutſchen haben vorbereiten laſſen. Aus Gründen, die jehr ſchwer feftzuftellen 
find, ift die Zahl der jungen Mädchen, die fi dem Lehrfache widmen wollen, 
unter den Deutjchen gering, jo gering, daß Hin und wieder mehr Vacanzen an 
den Schulen vorhanden, als Lehrerinnen, fie zu bejegen. Bejtenfall3 aber, auch 
wenn fie die Prüfung gut beftanden haben, fehlt e3 den jungen Damen an jeder 
Erfahrung im Unterrichten. Dieje müfjen fie ſich erjt in der Praris aneignen, 
denn ein Seminar für Deutiche gibt e8 bis jet noch nicht. 

Die Prüfung der deutjchen Lehrerinnen wird in mehreren Städten, wol in 
den meiften, in denen nicht der Superintendent des Schulweſens gerade ein 
Deuticher ift, durch die deutſchen Mtitglieder des Erziehungsrathes vorgenommen. 
Die Candidatinnen werden im Engliihen und Deutichen derartig geprüft, 
daß fie aus einer Spradhe in die Andere ſchriftlich überſetzen, dann den über- 
jeßten Eat grammatikaliſch analyjiren müſſen und ſchließlich einige mündliche 
Fragen zu beantworten haben. Schreiber diejfer Zeilen wohnte vor Jahren in 
einer weſtlichen Stadt einem ſolchen Examen bei; dafjelbe dauerte für ſechs 
Gandidatinnen etwa zwei Stunden. Die Mädchen durften mit einander con— 
feriren, fi aushelfen und ihre Fehler verbeſſern. Das Prüfungscomite 
beftand aus drei Herren, die allefammt tüchtige, gute Bürger, aber auch alle 
drei nicht im Stande waren, einen deutſchen Brief von zwanzig Zeilen ganz 
fehlerfrei zu jchreiben. Damit joll nicht etwa ein Vorwurf gegen fie erhoben 
werden. Wol aber iſt es wichtig, ein Mares Bild von der Situation zu gewinnen. 

Unter jolden Umftänden wird die Lehrerfrage die „brennende Frage“ des 
deutſchen Unterrichtes in den öffentlichen Schulen Amerika’3 werden. Das hat 
auch der deutjch-amerifanifche Lehrerverein erkannt, weldher aus Schulmännern 
bejteht, die zumeift an Privatichulen thätig find, aber auch einige in ſtädtiſchem 
Dienſt ftehende Pädagogen zu feinen Mitgliedern zählt. Zunächſt um dem ſich 





Der deutiche Unterricht in ben öffentl. Schulen der Vereinigten Staaten von Amerifa. 257 


auch in den Privatichulen fühlbar machenden Mangel tüchtiger Lehrkräfte ab- 
zubelfen, will dieſer Verein ein deutjch-amerifanijches Lehrerfeminar für die 
ganze Union bilden. Der unlängjt (im November 1874) erjchienene Aufruf 
wendet fi) an die Deutichen der Union mit der Bitte, 100,000 Dollars zu 
diejem Zwecke aufzubringen. Das Seminar joll dann der meiftbietenden Stadt 
zugewiejen, d. h. e8 joll in derjenigen Stadt erbaut werden, welche ſich con- 
tractlich verpflichtet, auf eine längere Reihe von Jahren den größten Zuſchuß 
zu geben. Dan fieht, der Plan, jo tüchtig er ift, wurde in echt amerikanischer 
Manier zugeichnitten. Die Sammlungen nehmen vet günftigen Fortgang. 
Darüber aber kann der leiſeſte Zweifel nicht herrichen, daß ſchließlich auch dem 
deutſchen Unterrichte in den öffentlichen Schulen die Rejultate zu gute fommen, 
welche zunächft nur für die deutjchen Privatichulen angeftrebt werden. 

Tür jene, d. h. für die öffentlihe Schule, ift mit jener Sicherheit, Die 
immer da unausbleiblid, wo man Schritt für Schritt — slow but sure — 
vorwärts geht und fich vor jähen Sprüngen hütet, das Befte zu erwarten. Denn 
man hat bereits erkannt, von welchen Uebelftänden man hier gehemmt war, und 
arbeitet eifrig daran, dieje zu bejeitigen. Die erfte und dringendfte Forderung 
war. und ijt überall, wo jie bisher noch nicht bewilligt worden, die Anftellung 
eine3 dem Superintendenten für das gejammte Schulwejen einer Stadt zur 
Seite ftehenden Hilf8-Superintendenten für den deutſchen Unter- 
richt, der zwar in allen Fragen der Disciplin und der äußeren Verfafjung 
der Schulen unter dem Haupt-Superintendenten fteht und jich in die allgemeinen 
Schulregeln Hineinzupafjen Hat, der aber über alle den deutſchen Unterricht und 
die deutiche Lehrmethode betreffenden Fragen allein und endgiltig zu befinden 
bat und dafür Sorge tragen muß, daß für alle Schulen ein einheitlidher 
Lehrplan gilt. Wo das Amt der deutjchen Hilfs-Superintendenten noch nicht 
beitand, lag der Unterricht jehr im Argen. Jede Lehrerin unterrichtete, wie fie 
es für das Richtigfte hielt, und wenn ein Schüler in Folge eine! Wohnungs- 
wechſels in eine andere Schule zu gehen gezwungen war, jo fand ex fich plößlich, 
jelbft in derjelben Glafjenftufe, einer durchaus anderen Methode gegenüber. Bon 
der Einheitlichkeit der Unterrichtsmethode wird ſich ſicherlich Vortreffliches 
erwarten lafjen. Der zweite Schritt — und e3 werden hier nicht etwa Vor— 
ſchläge gemacht, ſondern Thatſachen berichtet — geht darauf hinaus, den deutjchen 
Unterricht aus feiner beſchämenden Lage, geduldet zu jein, zu erheben und zu 
einem den andern Lehrfächern coordinirten zu machen. Denn jelbjt da, wo, wie 
in Gleveland, in den Elementarclafjen mander Schulen elf Stunden wöchentlich 
in deuticher Sprache ertheilt wurden, erfolgte die halbjährige Prüfung, von deren 
Ausfall die Verſetzung abhängig gemacht wurde, nur in engliſcher Grammatif, 
in Rechnen und Geographie. Es ift erfreulich, daß fich den deutichen Beftrebungen, 
dem deutſchen Unterrichte eine würdigere Stellung zu erreichen, aud) maßgebende 
Amerikaner bereit? angefchloffen haben. Der umfichtige amerikaniſche Super- 
intendent des öffentliden Schulweiens in New-York jagt (fiehe officieller 
Bericht für 1873, Seite 321): „Die Verſetzungen in eine höhere Claſſe erfolgen, 
ohne im Geringften auf den Fleiß und die Frortichritte des Schülers im Deutjchen 
Rüdficht zu nehmen. Und das ift ein großes Unrecht. Seine Leijtungen im 

Deutſche Rundſchau. I, 11. 17 


258 Deutiche Rundſchau. 


Deutichen fjollen bei der Trage feiner Verfegung nicht minder berüchichtigt 
werden, wie feine Fortjchritte im Englifchen, im Rechnen und in der Grammatif. 
Unterläßt man es, jo ſchwächt man den Einfluß des Lehrers auf den Schüler. 
Derjelbe gewöhnt ſich jehr ſchnell an die Auffaffung, daß der deutfche Unterricht 
nur geduldet wird und daß e3 jchließlih nur auf jeinen guten Willen anfommt, 
ob er etwas lernen will, oder nicht. Um es kurz zu jagen, es entjtehen aus 
diefer Duelle zahlloje Uebel.“ 
Als drittes und ſehr bedeutjames Mittel, den deutſchen Unterricht wirk- 
famer zu machen, betrachten die deutjchen Lehrer, und auf ihre Empfehlung hin 
auch die deutjchen Mitglieder der Erziehungsräthe, eine Beſtimmung, welche den 
Schüler, der in der leßten Elafje den deutſchen Unterricht angefangen hat, zwingt, 
ihn aud durch alle Claſſen fortzufeßen, jo zwar, daß feine Duldung in der 
Schule davon abhängig gemadt ift. 

Daß diefe drei Bedingungen — gleihmäßige Lehrmethode, Koordination 
mit den übrigen Lehrgegenftänden und ſyſtematiſches Heranziehen der Schüler 
zum Unterrichte — ehe fünf Jahre verfloſſen find, in faft allen Städten bewilligt 
fein werden, dafür darf al3 eine Gewißheit das bisher unter viel jchtwierigeren 
Berhältniffen Errungene betrachtet werden. Und in demjelben Maße ala die 
Leiftungen in die Augen jpringen, wird fich auch bei dem Amerikaner die Ueber— 
zeugung Bahn brechen, daß mit der vollftändigen Aufnahme des deutſchen Unter- 
richtes m die Lehrpläne der öffentlichen Schulen nicht nur eine Pflicht gegen die 
eingewanderten Bürger erfüllt wird, jondern daß damit der Gefammtheit ein 
außerordentlicher Dienjt geleiftet wird. 

Noch mehr. Bei der Verjchiedenartigkeit der Elemente, aus denen ſich die 
amerikaniſche Nation zujammenjegt, muß es um jo werthvoller fein, an den 
Deutjchen eine feſte Stüße zu haben, die fi) auch ohne Gejeh dem Schulzwang 
unterwerfen, al3 die Kinder der Jrländer, Scandinavier und Italiener in bedenk- 
licher Zahl ohne allen Unterricht aufwachſen. Ihren Anſpruch auf neue Rechte 
können die Deutjchen begründen mit der Erfüllung von ihnen noch nicht einmal 
geforderter Pflichten. Denn fie find es, die Ichließlich dem Lande die Männer 
liefern, denen e8 vorbehalten jein wird, die Pfleger von Kunft und MWiffenjchaft 
zu fein. Es ift nicht blos ein Zufall, ſondern eine Folge deutſchen Strebeng, 
wenn fich unter den 21 Jünglingen, welche da3 „College of the City of New 
York“, die höchftftehende Erziehungsanftalt der Stadt, im April 1872 abjolvirten 
und den Zitel „Bachelors of Science* errangen, fich dreizehn Namen befanden, 
die ganz unzweifelhaft auf deutfchen Urſprung hinweiſen. 

Die Frage des deutjchen Unterrichts in den öffentlichen Schulen Amerika's 
fann getroft den Händen überlafjen bleiben, in denen fie bisher geruht. Es hat 
auf den voranstehenden Blättern gezeigt werden jollen, daß fie auch für Deutjch- 
land jelbjt von dem allergrößten Intereſſe iſt. Das Samentorn, durch welches 
deutiche Sitte, deutſche Anſchauungen, deutjches Empfinden im fernen MWeften 
eine Stätte finden jollen, ift die deutiche Sprade; das wenigftens hofft der 
Deutſche in Amerifa. Sie ift das unfichtbare Band, welches ihn an die Hei- 
math fettet; und wie warm er an ihr hängt, das zeigt er durch feinen Kampf 
für die Mutterſprache. 


Hfreitfragen der heutigen Sprahphilofophie. 


Don 


W. D. Whitney, 
Profeffor des Sanskrit und der vergleichenden Philologie an Yale-Eollege, New: Haven. 


—h 


Die Wiſſenſchaft der vergleichenden Sprachforſchung, welche von Bopp und 
Grimm gegründet und von unzähligen Nachfolgern würdig weitergeführt worden 
iſt, hat in unſerm Jahrhundert erſtaunliche Fortſchritte gemacht. Man kann 
jetzt in großen Zügen die Verbreitung, die Verwandtſchaft und den Bau der 
menſchlichen Sprache erkennen, die Claſſification der Dialekte, ihre Trennung und 
hiſtoriſche Entwickelung, die Vorgänge phonetiſcher Veränderungen — alle dieſe 
Dinge verſteht man jetzt bis zu einem Grade, von dem unſere Vorgänger noch 
vor fünfundfiebzig Jahren keinen Begriff hatten. Aber die vergleichende 
Philologie hat bisher den Vorrang behauptet über dad, was wir die Sprad)- 
wiſſenſchaft im Bejonderen, die Glottik, nennen könnten. Ueber die Zufammen- 
jtellung und Erklärung der mannigfaltigen Thatjadhen in der Spradhengejchichte, 
das Erkennen der Kräfte, welche ihnen zu Grumde liegen und fie hervorrufen, 
kurz, über Grundlehrſätze der Sprachenphilojophie herrſcht durchaus nicht die 
Gleichheit der Anfichten, welche einen Zweig vorgejchrittenen Willens kenn— 
zeichnen jollte, jondern vielmehr eine große Meinungsverichiedenheit, welche oft 
mit Nichtbeachtung augenfälliger Facta, oberflächlicher Beweisführung und einer 
auffallenden Vernachläſſigung des Zufammenhanges verbunden ift. 

Einige Beijpiele werden genügen, dies zu erläutern: Die Anfiht Bopp’s, 
da grammatikaliiche Formen durch Anordnung, Zufammenjegung und Ver— 
Ihmelzung uriprünglich jelbftändiger Wörter gemacht werden und immer ge— 
macht worden find, kann als die leitende und orthodore Anfiht der modernen 
Schule der Philologen betrachtet werden, der Schule, deren Haupt vor allen 
anderen jebt Lebenden Georg Gurtius if. Dennoch gibt es Gelehrte erften 
Ranges, welche diefe Anficht verwerfen und behaupten, daß die Endungen der 
Ableitung und Beugung, die geftaltenden Theile der Wörter, zugleich; mit dem 
Thema, an welches fie angehängt zu fein fcheinen, entftanden, oder aud) auf 
irgend eine geheimnißvolle Art demjelben entiprofien find. Die meiften Sprad)- 
gelehrten behaupten, daß die Entwidelung des grammatiihen Baues einer 


17° 





260 Deutjche Rundſchau 


Sprache das Werk von Jahrtaufenden gewejen ift, daß fie anfängt in den früheften 
Zeiten, daß fie fortgejegt wird durch die ganze Lebensdauer einer Sprache, und 
daß fie niemals endet; während eine berühmte und bewunderte Autorität das 
ganze Gebilde einer jeden Spradhe für etwas auf einen Schlag (d’un seul 
eoup) Entftandenes erklärt; und andere, obgleich fie ſich vielleicht nicht zu 
diefer Lehre befennen möchten, vertreten doc Anfichten, in denen dieſelbe ent- 
halten ift. Die vorherrjchende Anficht ift, daß die ganze Welt von Familien 
vertvandter Dialekte erfüllt ift, und daß eine Familie von Sprachen jowol 
al3 von Individuen und Raffen, durch Verbreitung und Abzweigung von einem 
Hauptftamm entfteht, doc ein oder zwei Lehrer von allgemein anerkannten 
Ruf verlangen dagegen von ung, zu glauben, daß die Sprache in einem Zuftande 
unendlicher dialektiſcher Vielfältigkeit angefangen und immer nad Vereinigung 
geftrebt hat, daß e3 daher überhaupt nur zwei oder drei wirkliche Sprachen 
familien gibt, welche da8 durchaus ungewöhnliche Rejultat bejonderer und un— 
erflärbarer Vorgänge willfürlicher Concentration in grauer Vergangenheit find; 
und nod ein anderer fühner Zweifler macht großes Aufjehen, indem er die ge— 
wöhnliche Theorie eines Stammbaumes ſprachlicher VBerwandtichaft leugnet und 
an ihre Stelle eine Theorie von Wellenbewegung fett, die von einem Mittel- 
punkt ausgeht. In Bezug auf die alte Frage über den Urjprung und die An— 
gemeffenheit von Namen find die Stimmen noch getheilt zwiſchen den beiden 
Antworten gvoe: und eve. Einige behaupten mit mehr oder weniger Con— 
fequenz, daß die Sprache ein Naturorganismus ift, der aus eigener Kraft und 
nach eigenen Gejeßen wächſt und woran die Menjchen nichts ändern können; 
Andere erklären fie für ein Werkzeug, welches in jeder Einzelnheit von Den- 
jenigen, welche es gebrauchen, hervorgebradt iſt. Manche jprechen von ihr ala 
von einer menjchlichen Kraft oder Fähigkeit, wie Gefiht oder Gehör, als einer 
Gabe, als identiſch mit Denken und Vernunft, al3 der einzigen unterjcheidenden 
Eigenſchaft des Menſchen; Andere betrachten fie als eine der verichiedenen 
Aeußerungen der Fähigkeiten und Antriebe, weldhe den Menſchen joweit über 
die niederen Gejchöpfe erheben; al3 eine, welche unter normalen Bedingungen 
ficher ift in’3 Leben zu treten, aber durch die bloße Gewalt äußerer zufälliger 
Verhältniffe zurücdgedrängt werden kann, nicht aus einem Mangel in feiner 
Naturanlage, jondern in jeiner Erziehung. Die Meiften behaupten, daß das Kind 
feine eigene Sprache lernt; Andere beftreiten heftig, dat Lehren oder Lernen 
irgend etwas damit zu thun hat. Manche erklären ihr Studium für eine 
phyſikaliſche Wifjenjchaft, während fie Anderen nicht weniger eine hiftorifche oder 
moralifche Wiſſenſchaft, als irgend ein Zweig der Gejchichte des Menſchen und 
feiner Werfe zu fein jcheint. 

Alle diefe Punkte find, wie man leicht jehen kann, von der größten und 
tiefften Bedeutung. Es find Punkte, in Bezug auf welche nır Eine Partei 
möglicherweije Recht haben kann. Wielleicht können wir den Grund der faljchen 
Anficht angeben und Diejenigen entſchuldigen, weldje fie vertreten, indem mir 
zeigen, wo fie irre geführt find, weil fie die Thatſachen von einem faljchen 
Geſichtspunkt anjehen, die Bedeutung eines Ausdruckes falſch verftehen oder jeine 
doppelte Beziehung vergefjen und verwechſeln, wichtige Beweije unbeachtet Lafjen, 


Streitfragen ber heutigen Sprachphilojophie. 261 


unter der Herrichaft alter, bereit3 twiderlegter Vorurtheile bleiben u. dal.; aber 
Unrecht haben fie dennoch. Und es ift jehr bedauernäwerth, dat über jolche 
Gegenftände die Meinungen der Sprachgelehrten jo verjchieden fein können. 
Wahrlich, dad Studium der Sprache, welches von allen Seiten wegen der Ge- 
nauigfeit feiner Methoden umd der Gediegenheit feiner Nefultate jo laut ge- 
priejen worden ift, jollte heute jo weit vorgejchritten jein, daß jeine Vertreter 
eine wenigften3 annähernd übereinftimmende Meinung, 3. B. darüber, was ein 
Wort ift in Beziehung zu dem Begriff, den es ausdrückt, abgeben und dann dieje 
Meinung logiſch und vernunftgemäß bis in ihre lebten Gonjequenzen verfolgen 
fönnten. Ohne Zweifel fehlt e8 der großen Gejammtheit der Sprachgelehrten 
nicht an der Kenntniß und Einficht, welche fie zu richtigen und übereinftimmenden 
Anfichten Führen könnten, wenn fie nur dazu zu bringen wären, die Noth- 
wendigkeit der Mlarheit und Folgerichtigkeit in diefer Sache einzujehen. Aber 
fie find bis jet von den endlofen, dringenden, noch bei Weitem nicht erichöpften 
Detail3 ihrer Aufgabe in Anſpruch genommen geweien. Deutichland ift die 
wahre Heimath der philologiſchen und Linquiftiichen Studien. Die Welt ift jeit 
lange gewöhnt, von den deutſchen Gelehrten die einzig competente Enticheidung 
aller Fragen in diefem Gebiete zu erwarten, und ehe fie ein Urtheil gebildet 
und ausgefprochen haben, kann von feiner weltbeherrichenden Theorie die Rede 
fein. Leider find fie ebenfo wie die Gelehrten anderer Länder gleichgültig gegen 
die Fragen der Spracdhphilojophie, oder fie können ſich nicht von ungeſunden 
und inconjequenten Auffaffungen frei machen. Auf beiden Seiten der oben 
erwähnten Streitfragen ftehen deutjche Namen von höchfter Berühmtheit, und 
die deutjchen Kritiker, welche die Werke über die allgemeine Theorie der Sprachen 
behandeln und vergleichen, pflegen kaum zu beachten, daß fie widerftreitende 
Lehrfäße vor ſich haben, von denen der eine begünftigt und zuleßt, unter Aus- 
ſchluß des anderen, angenommen werden jollte Kurz, die Sprachwiſſenſchaft 
ift in allen diejen Beziehungen in einem Zuftande, der chaotiſch genannt werden 
darf. Und diejer Zuftand jollte jo bald als möglich auf eine oder die andere 
Art beendet werden. Vielleicht bedarf es dazu eines heftigen Anftoßes, vielleicht 
mußten die Stimmen ſich laut erheben und erjchütternd aneinander jchlagen, 
ehe Ruhe und Harmonie erreicht werden könnte. Je fchneller daher der Zu— 
fammenftoß herbeigeführt wird, defto beffer. Diejenigen, welche ftreben, die 
Dinge auf der Oberfläche zu glätten und zu thun, ala wenn in der Tiefe Alles 
eben und friedlich wäre, find feine wahren Freunde des Fortſchrittes der Wiſſen— 
ſchaft. Das Ziel, welches erreicht werden muß, ift hauptſächlich dies: die Auf- 
merkſamkeit der Gelehrten auf dieſe Gegenftände zu lenken, fie zu veranlafjen, 
die Ktenntnifje, welche fie befigen, zu ordnen und dazu zu benußen, eine bewußtere 
Schlußfolgerung einzuführen, den Styl der Discuffion logiſcher und weniger 
abjchweifend zu machen, eine wiſſenſchaftliche Methode zu begründen, von welcher 
der Einzelne nicht abweichen, und doch ertvarten darf, Aufmerkſamkeit von feinen 
Mitarbeitern zu erzwingen. In der Sprachenvergleichung ift dies in den Haupt- 
ſachen ſchon geichehen; in der linguiſtiſchen Philojophie ift man noch weit davon 
entfernt. 


262 Deutiche Rundſchau. 


Ich will nicht verfuchen, die verjchiedenen herrſchenden Richtungen und 
Neigungen in der Sprachwiſſenſchaft zu charakteriſiren. Wahrſcheinlich könnte 
ich es nicht, — ficher nicht in dem mir bewilligten Raume, — ohne die Vor- 
urtheile zu verrathen, welche einer jehr entjchiedenen Richtung angehören. Biel- 
mehr will ich, jo kurz ala möglich, meine Anfichten über die hauptſächlichſten 
ftreitigen Punkte und die Methode, nach welcher diejelben geprüft werden follten, 
um einen erfolgreichen Abſchluß zu erlangen, darlegen. Meine Anfichten, befenne 
ich von vorn herein, gehören nicht zu denen, die jet am meiften „en vogue“ 
find, beſonders unter den Sprachgelehrten von ad. »Sie find mehr in 
Nebereinftimmung mit der populären, ungelehrten Anficht über die Sprache, der- 
jenigen der großen Maſſe der Gebildeten, derjenigen, welche die meiften Belenner 
unter den Naturforjchern Hat, welche an die Sache vom Standpunkt der all- 
gemeinen Anthropologie herantreten. Diefer Umftand ift unzweifelhaft ein 
prima facie Beweis gegen mid; dennod macht dies nicht viel aus, weil, 
wie ich gezeigt habe, die Meinungen der Sprachgelehrten über Fundamental: 
punfte noch in einem chaotiſchen Zuftande find und daher fein vereintes Gewicht 
haben können. 

Im Studium der Sprache, wie in faft allen übrigen Studien, hängt Alles 
von der Art ab, in welcher die bezüglichen Fragen aufgetvorfen und angefaßt 
werden. Meiner Meinung nad) gibt es in diefem Falle Keine jo fichere und er- 
folgreiche Methode als die, zu unterfuchen, was unfere eigene Sprache uns ift, 
und warum fie e3 ift, wie wir fie erlangten, und mit welchem Recht wir fie 
befigen. Die allgemeine Spracdhenphilojophie, zu der wir uns befennen, muß 
zuerft und vor allen Dingen mit den nächften und wohlbekannteſten Facta der 
jeßt Iebenden Sprachen in Nebereinftimmung fein. Wir werden zwar nicht im 
Stande fein, diefe Facta aus fich ſelbſt allein zu erklären; aber unjere Doctrin 
darf auf feinen Fall diefelben beftreiten. Das gegenwärtige Stadium der 
Sprade kann nur vollftändig verftanden werden durch ein Begreifen der ver- 
gangenen Stadien, dieje aber twieder fünnen durchaus nicht verftanden werden 
außer durch die gegenwärtigen; und aljo ift die Gegenwart unjer Ausgangspunkt. 
Wenn die Naturwiſſenſchaft Werth Hat durch ihren Einfluß auf andere Wifjen- 
ichaften, jo ift es dadurch, daß fie ihnen ihre Methode der Forſchung mitgetheilt 
hat, welche darin befteht, daß man mit dem Belannteften anfängt und haupt= 
ſächlich berüdfichtigt, was man vor Augen hat; daß man die unter feiner 
eigenen birecten Beobachtung wirkenden Kräfte und ihre Weife zu wirken ſtu— 
dirt, und zurüdgeht in die Vergangenheit, durch jorgfältige, analoge Beweis— 
führung, immer jchließend von gleichen Wirkungen auf gleiche Urfachen, nie- 
mal3 neue Kräfte und neue Arten des Vorganges annehmend, ausgenommen, 
wenn die befannten ganz unfähig find, die vorliegenden Thatjachen zu er— 
Hären; und jelbft dann nur unter den vorfichtigften Reftrictionen. 

Natürlich) muß die Verfchiedenheit der Bedingungen und Umftände berück— 
fihtigt werden. Der Sprachforſcher mag zu einer frühen Stufe der Sprache 
gelangen, die der Gegenwart jo wenig gleicht, wie ein civilifirtes Land, erfüllt 
von den Werfen jeiner Bewohner, einer nır von reißenden Thieren bewohnten 
Wildniß, oder wie der Kosmos der Gegenwart dem nebelhaften Chaos, dem er 


Streitfragen der heutigen Spradhphilofophie. 263 


entftieg; dennoch darf der Unterſchied nur al3 die Summe einer allmäligen An- 
häufung von Rejultaten in einer ununterbrodhenen Linie von Thätigfeit be- 
trachtet werden. Die wejentlihe Einheit der Sprachengeſchichte in allen ihren 
Phajen und Stadien muß zum Hauptprincip unjerer Forſchung gemacht werben, 
wenn biejelbe einen wiſſenſchaftlichen Charakter haben fol. Die unmittelbare 
Annahme, daß frühere Vorgänge in der Spradhenbildung verjchieden von den 
neueren waren und jein mußten, und daß die erjteren nicht nad) den letzteren 
beurtheilt werden können, würde, wenn die Sprachwiſſenſchaft ein ebenjo vor- 
geſchrittener Zweig des Willens wäre, wie die Geologie, hinreichen, den Be— 
fenner diefer Annahme von den Reihen der wiſſenſchaftlichen Sprachforſcher 
auszufchließen. 

Auch dürfen wir die Sprade, wie fie fich jet darftellt, nicht in ihrer 
Totalität betrachten, wenn wir nicht fehlgreifen und una in endloje Allgemein= 
heiten und Alltäglichkeiten verlieren ſollen. Wir wollen ein individuelles 
Spradhenfragment nehmen, ein einzelnes Wort, welches wir gleihjam in der 
Hand Halten und genügend beurtheilen können. 3. DB. das Wort Bud. Der 
Begriff, den es ausdrüdt, ift ein ſehr complicixter, bedarf jedoch hier feiner 
Definirung. Wie erlangten wir dies Wort? Jede andere Sprachgemeinſchaft 
der Welt, die das Ding befigt, hat aud) einen Namen dafür; aber die Namen 
find alle verjchieden — livre, libro, book, biblion, kniga, kitäb, pustaka u. ſ. f. 
— vielleiht ein ganzes Hundert. Warum gebrauchen wir für unfere Vorftel- 
lung von der Sache gerade dies eine Wort von hundert? E3 gibt nur eine Ant- 
wort darauf, eine nüchterne Antwort, welche feine Philojophie wegraijonniren 
fann. Wir lernten dad Wort, weil wir e8 gebrauchen hörten, während wir be= 
Ihäftigt waren, die Dinge und ihre Namen fennen zu lernen; es vielmals ge— 
brauchen hörten, und in Beziehungen, die und zeigten, was es bedeutete; wir 
lernten eine Reihe von Tönen hervorzubringen, und fie mit der Vorftellung zu 
verbinden, gerade wie wir ein anderes von den Hundert, oder eins von taufend 
anderen Zeichen, wie twir eine Bewegung der Hand oder eine vieredige Figur 
fennen gelernt hätten. Es befteht für und durchaus feine Verbindung zwiſchen 
dem Zeichen und dem bezeichneten Dinge, außer diejer geiftigen, künſtlich gebil- 
deten Aijociation, welche durch den Vorgang Anderer, nad) ihrem Beijpiel, durch 
feinen inneren Antrieb hervorgerufen ift. Freilich willen Einige unter uns, daß 
das Wort eine ſeltſame Geſchichte hat, daß es verwandt jein joll mit Bude, 
weil Buchenftäbe das erfte Material waren, da3 unjere rauhen Vorfahren be— 
nußten, um Runen darauf zu rigen. Doch ift dies nichts als ein gelehrtes 
Curioſum; unſer Wiffen oder Nichtwiſſen, unjer Glaube oder Nidhtglaube an die 
und gegebene Erflärung Haben nichts zu thun mit unjerem Gebrauch des 
Wortes Bud. Wir gebrauchen es, weil Andere, mit denen das Schidjal uns 
in Berührung gebracht hat, es auch gebrauchen, weil wir uns durch dafjelbe 
mit ihnen verftändigen können. Wenn ein Sind deuticher Eltern zufällig in 
London, Paris, Rom oder Peking geboren wäre, würde es ein von diejem ver- 
ſchiedenes Wort, oder neben ihm ein anderes von derfelben Bedeutung gelernt 
haben; und es gibt gemifchte Nationen, wie 3. B. die amerikanische, in welchen 


264 Deutſche Rundſchau. 


Abkömmlinge von faſt allen Raſſen der Welt ein und daſſelbe Wort (book) als 
ihr „angeborenes“ Zeichen gebrauchen und ſogar kein anderes kennen. 

Alles dies iſt nicht richtiger in Beziehung auf das Wort Buch als in 
Beziehung auf die anderen Wörter, aus denen unſere Sprache zuſammengeſetzt 
iſt. Wir erlangten ſie alle auf dieſelbe Weiſe; wir behalten ſie alle nach dem— 
ſelben Rechte. Selbſt wenn wir die ſeltene That vollbringen, ein neues Wort 
zu machen, haben wir nur aus dem alten Material eine neue Münze gleich all' 
den übrigen geprägt. 

Dies beweiſt hinreichend, daß in eigentlichem Sinne unſere Wörter will— 
kürliche und conventionelle Bezeichnungen ſind: willkürlich, nicht weil kein Grund 
für die Wahl eines jeden Wortes zu ſeinem Gebrauch angegeben werden kann, 
ſondern weil der Grund nur ein Hiftorifcher, nicht ein nothwendiger ift, und 
weil irgend ein anderes von den hundert gebräuchlichen oder von den taufend 
möglichen Wortzeichen von uns hätte gewählt fein können, um genau demjelben 
Zweck zu entiprechen; conventionell, nicht weil e8 von einer Convention erwählt 
wurde (welches conventionelle Ding wurde dies jemals?), noch weil die Men— 
Then fich dariiber jpeciell irgendwie verftändigt hätten, jondern weil feine An- 
nahme duch uns ihren Grund Hatte in dem iübereinftimmenden Gebraucdhe. 
Niemand kann diefe beiden Epitheta der Sprache leugnen, wenn er nicht ihre 
Bedeutung mißverfteht. 

Uebrigens macht ſich der Lernende nicht zuerft eine unabhängige und angemej- 
jene Vorftellung von einem Bud) und nimmt dann von Anderen den Namen 
an, mit dem er es nennen will. Er eignet fi) ſowol die Vorftellung als die 
Bezeihnung allmälig und mit Anleitung feiner Lehrer an. Er gibt zuerft viel- 
leicht nur eine unvollkommene Andeutung des Wortes, die höchſtens jeiner 
nächſten und bäufigften Umgebung verftändlich iſt. Er würde ſelbſt dieje nicht 
machen, wenn er nicht einen ungefähren Begriff von der Sache hätte, die damit 
bezeichnet wird. Aber fein Begriff ift äußerft roh und unzureichend, die Sache 
ift ihm noch ein Geheimniß, zu dem er erſt jpäter den Schlüffel findet, und 
da3 er in jeiner vollen Bedeutung exrft dann würdigen kann, wenn er dazu ge- 
langt ift, die Geſchichte der Givilifation zu verftehen, von der ja ein ganzes 
Gapitel in diefem einen Wort gewiljermaßen zufammengedrängt if. Ebenſo 
ift es mit faft allen jeinen Erwerbungen in der Sprade. Eine Menge von 
Borftellungen wird mit Hilfe von Wörtern feinem jungen Geifte zugeführt und 
darin feftgehalten durch eine oder zwei oberflächliche Affociationen, während es 
der jpäteren Entwidelung überlaſſen bleibt, diejelben mit Etwas zu erfüllen, 
das ihrem wahren Werth näher fommt. Dem Kinde ift im Anfang die Bes 
deutung ſolcher Worte wie: Gott, gut, Glaube, Gemwijjen, unverftänd- 
lich; fogar die Worte: Sonne, Mond, Hite und Farbe fließen unendlich 
viel mehr in fich, ala es ahnen fan. In jedem einzelnen Falle gibt das Wort 
ihm nur einen beftimmten Kernpunkt, um welchen herum größeres Verftändnik 
fih gruppiren kann. Es jucht beftändig der richtigen Vorftellung näher zu 
fommen, jelbft wenn es eine ift, die menſchliches Wiſſen bisher nicht erreicht Hat. 
Und jo wiederholt e8 in Kürze den Proceß, welchen die ganze Menjchheit durch— 
gemacht hat, wie ein oder zwei weitere Beijpiele zeigen werden, Der Begriff 


Streitfragen ber heutigen Sprachphiloſophie. 265 


Planet ift von unjern Lehtern, den Griechen, auf uns gefommen und nad) der 
am oberflächlichiten fichtbaren Eigenthümlichkeit der bezeichneten Gegenftände 
benannt worden: nämlich nad) der des Wanderns oder Bewegens zwiichen den 
anderen Sternen. Stein ungebildgter Menſch würde darauf verfallen, eine Glaffe 
von Himmelskörpern mit diefem Namen zu bezeichnen ; viele Völker haben ſich 
nicht einmal eine dee von ihnen machen können. Für die, welche gelehrt ge— 
nug dazu waren, wurde die Bedeutung des Wortes erweitert durch die Beziehung 
auf das Ptolemäiiche Syſtem von Kreiſen und Nebenkreifen. Dann veränderte 
Kopernifus mit einem Schlage die Anſchauung von dem Worte und wandelte 
die Glaffification, welche es darftellt, indem er die Sonne -und den Mond aus: 
ſchied und die Erde ımter die Planeten aufnahm. Und alles dies dient nun 
dazu, der anfangs unbeftimmten und formlojen Jdee, welche der Sprachenerlerner 
zugleich mit dem erlernten Zeichen beibehalten muß, Geftalt zu geben. Ebenſo 
muß das Kind zählen lernen, und daher werden jeine VBorftellungen von Zahlen 
in ein Decimal- Syftem gebracht, nad weldem jeder höhere Factor durd) 
Verbindung von zehn der nächſten niederen Fyactoren gefunden wird, bis 
es zu ber Vorftellung kommt, daß dieſe Zehnfältigkeit eine weſentliche Eigen: 
Ihaft der Zahl ift. ragen wir nun, wie dies eigenthümliche Syftem ent- 
ftanden ift, jo finden wir, daß es fi aus der einfachen Thatſache ergeben 
hat, dat wir zwei Hände und fünf Finger an jeder haben. Ein fo völlig 
äußerlicher und zufälliger Umftand wie diefer, der von den einfachen Völkern, 
welche ben erften Grund zu unjerer mathematiihen Wiflenichaft legten, in Be— 
tracht gezogen wurde, beſtimmt die innere Geftalt, welche in jedem neuen Gliede 
unjerer Nation die mathematiichen Vorftellungen annehmen; natürlich; ganz ohne 
jein Wiflen. 

Auf diefe Weile nimmt der junge Lernende mit Hilfe der Wörter die Ideen 
in fi) auf, welde das Willen und die Erfahrung älterer Menichen geformt 
haben; ex acceptirt die herrichenden Begriffe und Abftractionen feiner Nation, 
zuerft nur unvolltommen, dann mit voller und unabhängiger eigener Thätigfeit, 
bis er zuletzt heranwächſt zu der Höhe feiner Sprache und wenigftens in einigen 
Fächern nicht3 mehr von feiner Umgebung zu lernen bat. Im Anfang und 
etwas ſpäter wurde er von der lleberlegenheit feiner Lehrer an Kenntniſſen umd 
geiftiger Entwidlung jo jehr vorwärts gedrängt, daß er weder Zeit noch Nei- 
qung hatte, originell zu fein; nun wird er jeinerjeitö ein Lehrer und ein Bildner. 
Durch feine eigene und die Einwirkung Anderer erleidet die allgemeine Aus- 
drucksweiſe eine beftändige langfame Veränderung. Die neu ertivorbenen Stennt- 
niffe müflen darin aufgenommen werden. Dies geichieht entweder wie bei 
Planet duch Neugeftaltung der in alten Wörtern enthaltenen Vorftellungen, 
duch Aufhebung der Grenzlinien früherer Glaffificationen, oder durch das Ktennen- 
lernen neuer Eingelnheiten, welche unter alte Namen gebracht werden, gleich- 
zeitig deren Inhalt ausdehnend, wie wenn Uranus umd Neptun in die Glafle 
der Planeten aufgenommen werden, und die Satelliten des Jupiter und 
Saturn aus der früher individuellen Benennung Mond eine Glaffe bilden, oder 
durch Einführung neuer Namen für Gegenftände, Producte, Eigenschaften, Be: 
ziehungen, die vorher unbemerkt, oder jo umdeutlih wahrgenommen waren, 


266 Deutſche Rundichau. 


daß fie feiner Bezeichnung zu bedürfen fchienen. Und die Bereicherung wird 
bewirkt, indem man theilweife wohl überlegt Material von anderen Sprachen 
entlehnt (wie Uranus umd Neptun), theilweije neue Zufammenjegungen 
aus eigenem Material macht (wie Dampfſchiff, Eijenbahn), oder, wie 
e3 am häufigften geichieht, alten Wörtern neue Bedeutungen ſubſtituirt oder 
hinzutretende beilegt. 

So wird die Sprache beftändig von Demjenigen, der fie gebraucht, angewendet, 
den modificitten Inhalt feines Geiftes auszudrüden. Zugleich erleidet fie als 
Inſtrument innerlih und unbewußt einen noch größeren Wechſel. Ihre phone- 
tiſche ſowol als ihre grammatifche Form wird bequemer gemacht; durch die 
Vergeiftigung materieller Elemente werden neue Beziehungen und Hin und wieder 
eine neue Form eingeführt. 

Jede Sprache iſt daher eine Anhäufung von Gewohnheiten, die durch Lehren 
und Lernen von einer Generation auf die andere übertragen und durch wiſſent— 
fihe und umwiffentliche Nahahmung ertvorben werden. Sie befitt daher eine ge— 
wiſſe vis inertiae, eine Widerftandskraft wider Wechjel. Sie ift im Ganzen ftabil 
und bleibt faft diefelbe. Aber wie alle Gewohnheiten, ift fie im Einzelnen dem 
Wechſel zugänglid duch Einwirkung Derjenigen, die fie gebrauchen. Bis zu 
diefem Grade ift fie aljo nicht ftabil; und fie verändert fich in der That überall 
und zu jeder Zeit. Es gibt feinen lebenden oder verflungenen Dialekt, der 
nieht don feinen Vorgängern verjchieden wäre, und im Ganzen verjchieden nad) 
dem Maße der zeitlichen Trennung von ihnen. Der Unterjchied bejteht in 
einer gewiſſen Zahl befonderer Einzelnheiten verjchiedener, oben erwähnter Arten, 
und jede Einzelnheit ift fichtlich das Werk derjenigen Perſonen, die den Dialekt _ 
ſprechen. Sie ift vollftändig und leicht als ſolche erflärbar, fie zeigt feine Spur 
von dem Vorhandenſein einer anderen Kraft. In dem gegenwärtigen Stadium 
deſſen, was wir das Wachsthum der Sprache oder die Sprachengeſchichte nennen, 
geſchieht nichts, was nicht unbeftreitbar die Wirkung menſchlicher Vermittelung 
wäre. Die einzige Unklarheit darüber entfteht aus der Thatjache, daß die all- 
gemeine Zuftimmung zu der perſönlichen Handlung Hinzufommen muß; denn 
die Spradhe ift kein blos individuelles Eigenthum, jondern auch und vorzugsweiſe 
eine gejellihaftliche AInftitution, und ihr bewußter und vorherrjchender Zweck 
die Mittheilung. Da e3 gegenwärtig jo ift, und in den früheren Stadien der 
Sprache ſich nichts bietet, was eine andere Erklärung verlangte, haben wir feinen 
Grund, vorauszufegen, daß es ſich bis zurück in die früheften Zeiten anders ver- 
halten habe. Denn, wie oben dargethan ift, die willenichaftliche Methode ver- 
bietet uns, Kräfte und Vorgänge anzunehmen, die von denen verjchieden find, 
welche wir durch eigene Beobachtung fennen, jo lange dieje für ihren Zweck aus— 
reichen. Wenn die Methoden der Wortbildung und Formenbildung, die jich in 
der hiſtoriſchen Periode darftellen, für das vorhandene Material und die Geftal- 
tung der Sprache genügen, müfjen wir mit ihnen aufrieden jein und feine an— 
deren verlangen. Und man kann mit der größten Zuverfiht annehmen, daß die 
Sade fi jo verhält. Während aller geihichtlichen Perioden find, wenigftens 
in unferer Spradenfamilie, durch die Zuſammenſetzung unabhängiger Elemente 
und die Beſchränkung eines derjelben auf einen blos formalen Werth mit Hilfe 


Streitfragen ber heutigen Spradhphilofophie. 967 


des Formenwechſels und der Sinnveränderung, wie fie fi in jedem Theil der 
Sprache zeigen, Formen gebildet worden; und dieſes Verfahren, welches ſich 
nad den wechielnden Zuftänden einer fich entwidelnden Sprache richtet, Tann, 
ſoweit wir bis jeßt beurtheilen können, niemal3 unzureichend gefunden werden, 
den Bau der Sprade zu erklären. Wenn es ungelöfte Probleme in diejem Ge- 
biete gibt, werden fie, wie man erwarten darf, geſchickterer Forſchung weichen; 
oder jollte dies nicht geichehen, jo wäre es wahrjcheinlicy nur, weil die nöthigen 
Beweile fehlen. Das Namengeben ift nichts weiter ald das Benennen der ge— 
faßten dee, das Herbeiſchaffen einer Bezeichnung, die künftig mit einer bejon- 
deren Vorftellung verbunden und gebraucht werden joll, um diefelbe im gejelligen 
Verkehr und im Gedankenleben zu vertreten. Die Bezeichnung wird genommen, 
too fie jich nach den Verhältniffen und Gewohnheiten jeder Nation am leichteften 
finden läßt. In der Etymologie gibt e3 Feine Nothwendigkeit; nur die Paß- 
lichkeit verbindet den neuen Namen mit feinem Uriprung: bei Buch ift es die 
Verbindung Hiftoriicher Entwidlung, in Folge der zufälligen Wahl eines Ma— 
terial3; bei Planet ift es eine Verbindung beabfichtigter, doch augenfällig un— 
zureichender Beichreibung; bei Uranus und Neptun gelehrter und überlegter 
Wahl, mit derfelben Berückſichtigung der Analogie, welche auch die unwillkür— 
lichfte und populärfte Wahl der Benennungen leitet; und bei Decimal ift noch 
Niemand im Stande geweſen, die Verbindung zu finden. Doch, befannt oder 
unbefannt, genügend oder ungenügend, gelehrt oder volksthümlich, ift ganz gleich, 
jo weit e8 den praftiichen Gebrauch der Sprache betrifft. Wenn der Name ein- 
mal in Gebrauch gefommen ift, genügt er für feinen Zweck, woher er auch 
ftammen mag. Es wäre überflüffig, fich ängſtlich um den Urſprung der Wörter 
zu befümmern, während doch der Gebrauch bei jedem neuen Lerner immer nur 
von einer künftlich gebildeten Ideenaſſociation abhängen wird. 

Wo find nun die Spuren einer picıs zu entdeden in der Beziehung zwi— 
ichen unjeren Vorftellungen und den Zeichen für diejelben, die jo gefunden, To 
im Leben feftgehalten werden, jo beftändigen Veränderungen im Munde des 
Sprechenden unterworfen find? Und warum follten die aus ſolchen Zeichen be— 
jtehenden Sprachen für mehr ala die Werkzeuge, die fihtbare Ausrüftung des 
Gedankens gelten? Der Gedanke, ala eine den Menſchen Eennzeichnende Fähig— 
feit, ift die fpecielle Thätigkeit des Menjchengeiftes, zu begreifen, zu vergleichen, 
zu folgern. Aber jedes Wort ift eine Thätigkeit des Körpers allein, ausgeübt 
freilih unter der Führung des Geiftes, wie alle freiwilligen Thätigkeiten des 
Körpers, aber in nicht höherem Grade das Werk des Geiftes als das Biegen 
eines Fingers, das Schwingen des Armes, das Stoßen mit dem Fuß, oder 
die Verzerrungen des Gefichtes. Ich kann weder in dem gegenwärtigen noch in 
dem früheren Material der Sprache irgend welchen Beweis finden, daß eine 
unmittelbarere Verbindung des Gedanfenapparates mit den Sprechmuskeln als 
mit denen des Gefichtsausdrudes oder der Geberde befteht; umd ich jehe nichts 
im Gebrauch der Sprache oder dem daraus gezogenen Nuben, was uns beiwegen 
könnte, nach einem ſolchen Beweife zu fuchen. Der Gedanke wird wunderbar 
unterftüßt, feine Kraft und Tragweite werden unendlich vergrößert durch den Be— 
fit diefer Werkzeuge. Daffelbe geichieht aber auch mit den Fähigkeiten der Hand 


268 Deutiche Rundſchau. 


durch den Beſitz von Werkzeugen und Mafchinen, mit der Kraft und Aus» 
dehnung mathematifcher Analyje durch den Gebrauch geichriebener Symbole und 
Figuren. Hier ift eine wirkliche Analogie: die Hände jchreiten fort von einem 
Grade der Fertigkeit zum anderen, indem fte die Rejultate ihrer Erfahrung, in 
dem Mafe, wie fie fie erwerben, Werkzeugen von größerer Kraft einverleiben; 
der Mathematiker fteigt von Stufe zu Stufe in der Beherrihung mathematischer 
Begriffe und Schlüffe, mit Hilfe der neuen Symbole, welche er fi) ausdenkt, 
um jede neue Abftraction, die er bildet, auszudrüden; und jo legt das ſprechende 
Bolt die Erfolge jeiner zunehmenden Kenntniffe und Einfichten, feine wachſende 
Kraft in der Handhabung de3 Apparat und der Behandlung der Gedanken— 
objecte in immer neuen Zeichen nieder, mit deren Hilfe es bejtändig den Be— 
reich feiner Gedanken erweitert und vertieft. Wenn nur das Gedanke genannt 
werden kann, was in die Formen dev Spradhe gegojjen ift, wa3 wahrnehmbar 
und gewiſſermaßen bewußt geworden ift durch die Sprache, dann ift der Schluß, 
daß eins und zwei drei ift, fein mathematijcher Act, jo lange er nicht in Zeichen 
ausgedrückt werden kann, und die beſchränkte Thätigkeit der loben Hände kann 
dann nicht Arbeit genannt werden. 

Wenn wir weder in den lebenden Sprachen, nod) in — bekannten Vor— 
gängern, oder in irgend einem Stadium der Sprache, zu dem wir durch hiſto— 
riſche Forſchung und Folgerung gelangt find, eine Fähigkeit natürlichen und in— 
jtinctiven Ausdruds finden, der beftimmten Begriffen bejtimmte Bezeichnungen 
beilegt, jo haben wir fein Recht diefe Fähigkeit unnöthigerweije bei dem Uran— 
fange der Sprache vorauszujegen. Und diefen Anfang ohne fie zu erklären, ift 
nicht ſchwer, wenn wir den Trieb der Mittheilung als einen Factor in dem 
Vorgange der Sprabildung gebührend in Betracht ziehen. Indem wir diefem 
Triebe einen jo wichtigen Pla einräumen, thun wir nichts, was unjerer 
Kenntniß der Sprachengeſchichte zutwiderliefe; vielmehr das Gegentheil. Während 
ihrer ganzen Lebensdauer ift die Sprache zuerft und vor Allem ein jociales Be— 
ſitzthum, nicht ein individuelles; fte ift zuerft da zum Gebrauch des Individuums 
in jeinem Verkehr mit andern Jndividuen, und dann zur Förderung feines 
eigenen Geifteslebend. Die große Mehrzahl der Sprechenden, jelbft der gebil- 
deten Leute, wird nicht gewahr, daß die Sprade etwas Anderes ift, ala das 
Mittel, fi) mit Anderen zu unterhalten; ihr Werth als ein Werkzeug ihres 
geiftigen Vermögen? muß ihnen gezeigt und mühjam erklärt werden. Die 
Mittheilung iſt die beherrjchende Kraft in der Entwidelung der Sprade. Die 
Thätigkeit des Einzelnen muß von der Allgemeinheit gutgeheißen werden, bevor 
fie die Sprache beeinfluffen kann; die Einheit der Sprache befteht in alljeitiger 
Verftändlichkeit, und ihre Grenzen werden durch die Gejammtheit beftimmt. 
Man nehme den Trieb der Mittheilung Hinmweg, und feine Geiftesgabe des 
Menſchen wird ihn zum Beſitz der Sprache führen: der vereinzelte Menſch ift 
ſprachlos. Indem man dies zugibt, ſchmälert man die Menſchenwürde durd)- 
aus nicht. Alle menjchlichen Kräfte bedürfen des äußern Anftoßes, um erweckt 
und gebildet zu werden; alle Künfte und Wiſſenſchaften find entftanden als die 
Folge der Bemühung, die natürlichen Zuftände zu verbejfern. Naturmenjchen 
haben niemal3 weder die geiftigen und perſönlichen Vortheile der Sprache noch 


Streitfragen ber heutigen Sprachphilojophie. 269 


den Genuß reinen Willens gewürdigt. Die Mittheilung ift der einzige Trieb, 
deſſen Einfluß jedes menschliche Weſen jeden Gulturgrades in vollem Maaße 
unterworfen ift. Wir find Furzfichtige Gefhöpfe; wir ſehen nur immer einen 
Schritt vorwärts, aber wir haben die Kraft, nachdem wir diefen Schritt gethan 
haben, zu jehen, was dadurd gewonnen ift; und jo weiter jchreitend erkennen 
wir mit Staunen, wie weit wir gefommen find. 

Das große Hinderniß, faßliche und richtige Anfichten in Bezug auf die 
Sprache herrichend zu machen, ift, wie mir jcheint, die Mehrbeutigkeit des Wortes 
„Sprache“. Es bedeutet zwei ganz verjchiedene Dinge: eine Fähigkeit, und ein 
Product der Ausübung diejer Fähigkeit. Die Sprade im erfteren Sinne — 
nämlich al3 eine Kraft, Gedanken durch Zeichen auszudrüden, und dieſe Kraft 
zu einer vieljeitigen und wunderbaren Einrichtung auszubilden, die den bedeu— 
tendften Einfluß auf den Fortjchritt des Individuums und der Rafje hat — ift 
eine Gabe, eine Eigenfchaft, ein Theil der Menjchennatur; aber dieje Kraft gibt 
feinem Menfchen jeine Spradhe: dieje zeigt ſich nur in Folge hiſtoriſcher Ent» 
wicelung, durch allmälige Anhäufung der Rejultate ihrer Ausübung. Sie madt 
jedes menſchliche Wejen fähig, irgend eine Sprache zu lernen und zu gebrauchen, 
jogar eine Sprache hervorzubringen — vorausgejeht, daß die Verhältnifje günftig 
find und ihm Zeit gegeben ift, das heißt einige Hundert oder Tauſend 
Menſchenleben. Aber die deutjche Sprache 3. B., oder irgend eine andere, ift 
nicht eine ſolche Fähigkeit: fie ift das concrete angefammelte Product der Be— 
mühungen fi) auszudrüden von Seiten der deutjch ſprechenden Nationen und 
ihrer Vorfahren, Bemühungen, die durch Taufende von Jahren fortgejegt worden 
find. Jedes derartige Product Hat jeine Geſchichte, d. h. es ift nur im Lauf 
der Zeit, unter dem unendlich verichieden modificirenden Einfluffe geihichtlicher 
Verhältniffe herausgearbeitet worden; jedes ift daher anders als die übrigen; 
taufend Producte, von jedem Grade der Verjchiedenheit, aber jedes demjelben 
allgemeinen Zweck entiprechend und geeignet, von allen normal begabten menſch— 
lichen Wejen irgend einer Raſſe erlernt und gebraucht zu werden. Jedes bildet 
einen integrivenden Theil der Cultur jeines Volkes und ift, wie alle Fünfte 
und Einrichtungen des civilifirten Lebens, durch Lehren und Lernen von Einem 
auf den Anderen übergegangen; gewöhnlich, aber nicht nothwendig, nur in der 
Raſſe, welche es hervorgebradt hat. Eine Rafjeneigenthümlichkeit kann nicht 
übertragen werden; aber eim Raſſenbeſitzthum kann, wenn die Umftände es 
fordern oder begünftigen, von denen, die es erworben haben, aufgegeben werden, 
oder auf Andere übergehen. Man lafje ein europäiſches Kind ganz unter Wilden 
aufwachſen, und jein Leben wird in allen Theilen wild jein — in jeinen Be— 
Ihäftigungen, feinen Spielen, jeinem Wifjen, jeinem Glauben; aud in jeiner 
Sprade. Dagegen ein afrilanifches Kind, das unter Europäern erzogen wird, 
zeigt in allen diefen Dingen eine Uebereinſtimmung mit Denen, unter die das 
Schickſal es geworfen hat; es nimmt ihre Givilifation und damit ihre Sprache 
an, und kann nur innerhalb der Formen und Grenzen dieſer Sprache feine 
Raffeneigenthümlichkeit zeigen; ebenfo wie es und die Anderen ihre individuelle 
Eigenthümlichkeit nur immer innerhalb derjelben Grenzen zeigen fünnen. 


370 Deutiche Rundichan. 


Ein weiteres Hinderniß, anderer Art, ift das (natürlich unbewußte) Ver- 
langen nad) hochfliegenden, poetiſchen Ideen, deren bloßes Erfaſſen Die, welche 
fie erfaßt haben, jcheinbar erheben jol. Die oben ausgeführten Lehrjäße find 
in vieler Hinſicht iconoclaftiih, und daher ihnen widerftrebend. Sie wollen 
des Menjchen geiftige Beſitzthümer als unmittelbare Geſchenke von jeinem 
Schöpfer, oder al3 freitwillige Aeußerungen feiner edlen Natur betrachtet 
wiſſen. M. Renan jagt (Origine du Lang., chap. III): „Die Spraden 
find vollftändig fertig aus der Bildform des Meenfchengeiftes entiprungen, wie 
Minerva aus dem Haupte des Jupiter.“ Ganz rihtig, möchten wir jagen; ber 
Vergleich paßt jogar beifer al3 der beredte Autor meinte; das Eine hat ebenjo 
viel Wahrheit in ſich, wie das Andere: Jedes ift eine jchöne Mythe, und e8 
ift Schwer einzufehen, warum der, welcher die erftere ernftlicd annimmt, nicht 
auch die leßtere annehmen ſollte. Dem einen Menfchen haben wir alle Poefie 
des Lebens geraubt, wenn wir ihm zeigen, daß nicht fein Gott, auf einem 
mächtigen Wagen durch die Himmel dahinrollend und Geſchoſſe auf die Dämonen 
fchleudernd, den Donner macht, jondern daß nur projaijche meteorologijche Kräfte 
ihn verurſachen. Einen Anderen haben wir vielleicht um Religion und Selbft- 
achtung gebracht, wenn wir ihm erklären, wie die Exde ſich allmälig abgekühlt 
und verdichtet, und mit vegetabiliihem und animaliihem Leben geſchmückt hat; 
und wie der Menſch jelbft aus einem Zuftande der Wildheit nah) und nad 
emporgeflommen und dazu gelangt ift, jeine Kräfte kennen zu lernen und zu 
üben, Einrichtungen zu machen und weiter zu bilden — unter ihnen die Sprache, — 
und fi) mühjam die Stenntniffe und die Weisheit erivorben hat, die ihn einft 
zum Herrn der Natur erheben follen. Wir find alle abgeneigt, eine nüchterne 
Wahrheit an die Stelle eines glänzenden Irrthums zu jeßen,; und wir jehen 
nur langjam ein, daß, was uns bleibt, nachdem die täufchenden Farben aus— 
gelöfcht find, mehr werth ift, ala was wir vorher zu haben glaubten. 

Wenn diefe Ideen über die Sprache richtig find, dann trifft der Vorwurf 
der Oberflächlichkeit, der zuweilen unüberlegt gegen die Vertreter derjelben erhoben 
wird, vielmehr die Gelehrten, die, in dem falfchen Bemühen, tief zu fein, bie 
wahre Grundlage und Methode der Sprachwiſſenſchaft verlaffen und verfuchen, 
fie in die Sphäre der Piychologie Hinaufzuheben, oder in das Gebiet der Phyſik 
zu verjeßen. Jeder Vorgang bei der Entftehung und dem Gebrauch der Sprache 
ſchließt unendliche Myſterien ein, mit denen der Sprachforſcher ala ſolcher nur 
in zweiter Reihe oder gar nicht zu thun hat. Um unfer Früheres Beifpiel wieder 
aufzunehmen: die piychologiichen Procefje, durch welche der erſte Begriff von 
einem Buch zum Theil durch Belehrung gebildet und nad) und nad) zu Um— 
fang und Genauigkeit entwickelt wird, find ein Gegenstand des Studiums; die 
phyſiologiſchen Proceffe, durch welche man das Wort Buch hört und dann im 
Stande ift, es durd) einen nachahmenden Verſuch zu wiederholen, find ein anderer 
Gegenstand; die Geihichte der Givilifation, welche ein folches Product hervor- 
gerufen hat, und der Künſte, durch welche es zu Stande gebracht wird, ift noch 
ein weiterer; und es gruppiren ſich noch viele um dafjelbe Wort; während, 
wie in jedem Gebiete, da3 wir zu erforjchen verjuchen, die großen Probleme 
de3 Dafeins und der Beltimmung des Menjchen im Hintergrunde emporragen. 


Streitfragen der heutigen Spracdhphilofophie. 71 


Aber von allen diejen ift feiner der Standpunkt des Sprachforſchers; für ihn 
ift der Ausgangspunkt, daß eine Hörbare Bezeihnung Buch eriftirt, die in 
einer gewiſſen Sprachgemeinſchaft einen beftimmten Begriff darftellt, die von 
einer Mafje von Leuten gebraucht wird, welche nichts von der Geſchichte der 
Bücher, noch von der Thätigkeit der Sprachorgane, noch von der Analyje geiftiger 
Vorgänge willen, und die ihren Zwecken ebenfo qut dient, al3 wenn fie es Alles 
müßten. Die Bezeichnung hatte eine beftimmte Zeit, Dertlichkeit und Grund 
be3 Urſprunges; fie wurde ihrem Zweck angepaßt aus Urſachen, welche weder 
in der geiftigen noch phyſiſchen Natur des Menſchen, jondern in feinen hiſtoriſchen 
Verhältniſſen lagen; fie hat, bis fie in unjeren Gebrauch fam, gewiſſe Verände- 
rungen der Form und der Anwendung durchgemacht. Hier ift der Standpunft, 
den der Sprachforjcher einnehmen muß. Bon dieſem aus fieht er Alles in der 
richtigen Stellung relativer Wichtigkeit. Die Sprade ift eine Gejammtheit, 
nit von Gedanken, noch von phyſiſchen Handlungen, ſondern von phyſiſch 
wahrnehmbaren Zeichen des Gedankens; und der Sprachforſcher beginnt fein 
Merk mit diefen Zeichen, ihrem Zweck und ihrer Geſchichte. Zwiſchen ihm und 
den Sprachgelehrten der anderen, oben erwähnten Fächer der Wiſſenſchaft, 
befteht eine Beziehung gegenjeitiger Hilfsleiftung, aber Jeder ift unabhängig von 
dem Anderen. Die Beiträge der Sprache zur Piychologie übertreffen bei Weiten 
an Werth diejenigen der Piychologie zur Sprachwiſſenſchaft, da die letztere der 
Schlüſſel zur hiſtoriſchen Entwidelung de menſchlichen Gedankens ift, und da 
Worte nicht das unmittelbare Product von Vorgängen des Erkennens, des 
Abftrahirens, oder des Folgerns find, jondern nur das Refultat freiwilliger 
Verſuche, jene Vorgänge mitzutheilen. 

Vor ungefähr acht Jahren (London und Newyork, 1867) veröffentlichte ich 
eine zufammenhängende und jorgfältig begründete Darlegung meiner Anfichten 
über die Sprache unter dem Titel „Language and the study of language“. 
Diejes Werk ift jeitdem (München 1874) in deutſcher Sprache, mit Modifici- 
rungen und Beiträgen von Dr. J. Jolly, erichienen. In demfelben beichäftigte 
ich mich nur wenig mit den abweichenden Meinungen Anderer, fondern erwartete, 
daß meine eigenen fi durch ihre Folgerichtigkeit, ihre Mebereinftimmung mit 
wohlbefannten Thatſachen und ihre Kraft, die verichiedenen, von der Wiſſen— 
ichaft vorgelegten Probleme zu Löjen, empfehlen wirden. Ich kann mich nicht 
über die Aufnahme beklagen, welche dieje Schrift gefunden hat, und habe mid) 
gewiß nie beflagt. Aber ich habe während diejer acht Jahre wiederholt Gelegen- 
heit genommen, die entgegengejeßten Anfichten Anderer und die Gründe, durch 
welche diejelben unterftüßt werden, genau zu prüfen und freimüthig im Einzelnen 
zu kritiſiren. Bejonders habe ic) dies gethan, hervorragenden und berühmten 
Männern gegenüber, Männern, die dad Publicum gewöhnt ift, in allen auf 
die Sprachwiſſenſchaft bezüglicden Dingen ala Führer zu betrachten. Dies 
fann gewiß faum unnatürlich oder unpafjend gefunden werden. Was unbekannte 
und unbeadhtete Perfonen jagen, ift von gar feiner Bedeutung; aber wenn 3. B. 
Schleicher und Steinthal, Renan und Müller lehren, was mir ein 
Irrthum zu fein jcheint, und es mit Beweifen zu ftüßen juchen, bin ich nicht 
nur berechtigt, jondern ſogar berufen, fie zu widerlegen, wenn ich kann. Unter 


272 Deutſche Rundſchau. 


dieſen Forſchern ſcheint indeß der letztgenannte anderer Meinung zu ſein. In 
ſeinem Artikel in der ‚Deutſchen Rundſchau“ vom letzten März (pp. 387 bis 
412), betitelt „Meine Antwort an Herrn Darwin“, findet er es nöthig, 
mir eine ftrenge Lection über meine Anmaßung zu geben — obgleich er mir 
zugleich jehmeichelt durch die Andeutung, daß meine Art, nur die hervorragendften 
Männer zu kritifiren, anerfannt wird, und daß die auf dieje Weile Kritifirten 
fich dadurch ausgezeichnet fühlen. Ich fürchte kaum, daß die allgemeine Mei- 
nung der Gelehrten ihn in der Stellung, die er eingenommen hat, unterftüen 
wird. Jede ſolche Streitfrage muß durchaus nad) ihrem wahren Werth allein 
beurtheilt werden. Wenn e3 mix nicht gelungen ift, meine Einwände gegen bie 
Anfichten Derer, die ich einer Kritik unterzogen habe, gehörig zu begründen, dann 
babe ich mich, mögen deren Vertreter bedeutend oder unbedeutend fein, der An— 
maßung ſchuldig gemacht, und verdiene eine Zurechtweilung; wenn ich dagegen 
meine Meinung mit triftigen Gründen gegen die ihrigen vertheidigt habe, bin 
ih im Recht. Unter diefer Vorausfegung bin ich vollfommen bereit, mich dem 
Urtheil unparteiticher Lejer zu unterwerfen. 

Ich halte Heren Prof. Müller nicht für befähigt, mich ganz gerecht zu 
beurtheilen. Denn erſtens habe ich, in Folge feiner außerordentlichen Popularität 
und der bejonderen Wichtigkeit, die feinen Ausjprüchen beigelegt wird, mich 
veranlaßt gefühlt, feine Meinungen öfter al3 die irgend eines anderen Mannes 
zu Eritifiven, und ihnen mehr oder weniger abweichende Anfichten entgegen- 
zuftellen; wobei ich mich doch immer auf's Aeußerfte bemüht Habe, in feinen 
Werfen zu entdeden und zu loben, was ic) nach meinem Gewiſſen billigen 
fonnte — welches Verfahren ex nicht gehörig zu würdigen jcheint. Und zweitens 
jcheint er es für überflüffig zu Halten, ſich durch jorgfältige Prüfung meiner 
Schriften zur Beurtheilung fähig zu machen. Meine Beleuchtung jeiner Vor— 
(efungen über „Darwinismus und Sprache“, deren Mittheilung in der „Contem- 
porary Review“ dur Mr. George Darwin jeine Antwort hervorrief, hat er 
während der ganzen neun Monate, die jeit ihrer Veröffentlichung verfloffen find, 
ji nicht die Mühe genommen, zu Geftcht zu befommen und vollftändig zu leſen, 
beantwortet fie aber, oft auf's Gerathewohl, einzig nah Mr. Darwin’3 Auszug. 
Mein Werk über die Sprache behauptet er niemals angejehen zu haben, bevor 
er durch die beifällige Erwähnung meiner Anfichten in der „Contemporary“ 
dazu angeregt wurde. Selbft die Prüfung, der ev meine Schrift jet endlich 
unterworfen hat, ift augenjcheinlich nur äußerft flüchtig gewweien. Er hat nicht 
bemerkt, daß fie in England und nicht nur „in Amerika“ gedruckt und verlegt 
worden ift. Er hat nicht entdedt, daß die Sprache darin „ſyſtematiſch“ behandelt 
iſt. Er ift hauptſächlich frappirt von der ANehnlichkeit des Wertes mit feinem 
eigenen; da wirfli auf den erften Blick Aehnlichkeiten immer mehr in die 
Augen fallen als Unterfchiede,; wenn ex jeine Unterſuchung fortjegen will, werden 
die tieferliegenden Verſchiedenheiten der Anfichten und des Entwurfes ihm viel- 
leicht mehr und mehr einleuchten. 3. DB. wird er es möglicherweije für mehr 
al3 eine Sache der Terminologie und der technijchen Definition anjehen, daß er, 
obgleich jaft auf der gleichen Grundlage von Thatſachen weiter arbeitend, das 
Sprachſtudium für eine phyſikaliſche Wiſſenſchaft erklärt, weil die Menjchen 


Streitfragen der heutigen Spradhphilojophie. 273 


ihre Sprache nicht machen, und ich für eine hiſtoriſche Wiſſenſchaft, weil fie es 
thun. Der Unterſchied erſcheint Anderen wichtig genug, nad) der Thatſache zu 
ſchließen, daß Georg Curtius in der zweiten Ausgabe feiner „Chronologie der 
Sprachforſchung“ von der erfteren Anficht ala einer jet überwundenen ſpricht, 
und dabei auf meine Erörterung des Gegenftandes hinmeift. 

Aber, was am ſchlimmſten ift, Herr Prof. Müller führt einige angebliche 
Irrthümer und Inconfequerzen don mir an, in einer Art, die nur durch außer» 
ordentliche Haft entjchuldigt werden kann, da fie durch Berüdfichtigung des 
Zujammenhanges der Stellen vollftändige Aufklärung erhalten würden. Er 
wählt jogar, mehr al3 einmal, einen Sat, um zu zeigen, daß ich eine Meinung 
aufrechthalte, geradezu aus einem Argumente für die entgegengejeßte Meinung. 
3. B., indem er (p. 393) meinen Ausſpruch anführt: „Die Facta der Sprache 
find faft ebenjowenig das Werk des Menſchen als die Form feines Schäbels“, 
überfieht ex die vorhergehenden Clauſeln defjelben Sabes: „Gegenüber den Zwecken, 
die er (dev Sprachforſcher) bei feinen Unterſuchungen verfolgt, und den Rejultaten, 
die er zu erreichen hofft“. Das Ganze ift nämlich ein Theil eines Abjchnittes, 
welcher beweijen joll, daß „das Mangeln der Reflection und bewußter Abficht 
e3 ift, wa3 den Erſcheinungen des Sprachlebens das jubjective Weſen benimmt, 
welches ihnen jonft ala Erzeugnijjen der freien Willensthätig- 
keit anhaften würde”. Weiter ift mein Kritiker entfeßt, „das phöniciſche Alpha- 
bet noch immer ala den Urquell aller Alphabete bezeichnet zu ſehen“. Sicher ift e3 
der Urquell in der gemeinten Bedeutung — nämlich da3 Alphabet, von dem 
die anderen fich herleiten, zum Theil duch manche Zwifchenftufen; der Punkt, 
in welchem fie alle zufammenlaufen. Aber wenn Herr Prof. Müller meine 
zwölfte Vorlefung beachtet hätte, wo die phöniciſche Schreibart zum Gegenftand 
von etwas mehr ala einer blos flüchtigen Bemerkung gemacht worden ift, würde 
er ihre eigene jecundäre Beichaffenheit eingehend erörtert gefunden haben. 

Wenn Herr Prof. Müller erft ganz neuerdings das Werk gelefen hat, in 
welchem ich jelbftändig und zufammenhängend mein eigenes Syftem auseinander- 
geſetzt habe, jo ift er natürlich nicht in der Lage geweſen, die kritiſchen Artikel 
richtig zu beurtheilen, in welchen ich die zugeftanden polemijche Abficht Hatte, 
zu verſuchen, ob daſſelbe den entgegengejegten Anfichten anderer Autoren gegen- 
über fich behaupten Könnte. Vielleicht ift e8 natürlich, daß ich ihm zu ftreit- 
fühtig erſchien. Aber ih kann nicht umhin zu fragen, ob er jemals dieſe 
Artikel gelefen hat? oder ob er auch fie nur auf diejelbe Weile kennt, wie den 
einen, fürzlich in den Blättern der „Contemporary“ von Mr. Darwin benußten ? 
nämlih nur in Fragmenten und aus Anführungen Anderer. Sonft hätte er 
fiherlidy ihren Sinn nicht jo mißverftehen können. Er jcheint zu glauben, daß 
ic) die Gewohnheit habe, allgemeine herabjegende Bemerkungen über die Ge- 
Iehrten zu machen, deren Werke ich ftudire, und ihnen harte Worte ftatt der 
Beweiſe Hinzumerfen. Er gibt eine Kleine Lifte ſolcher Wörter, die ihm beim 
Durchblättern meiner Arbeiten in’3 Auge gefallen find, und die er darin als 
„zu twiederholten Malen“ auf ihm jelbft bezüglich gefunden hat. Ich kann 
in feiner deutſchen Ueberſetzung derjelben nicht genau genug die Stellen heraus— 
finden, die er meint, um jein bebauerliches Mißverftändnig im Einzelnen 

Deutſche Rundſchau. T, 11. 18 


274 Deutſche Rundſchau. 


aufzuklären; denn ein Mißverſtändniß iſt es ſicherlich. Die, denen meine 
Werke wirklich bekannt ſind, werden, ich bin deſſen gewiß, es ſogleich als 
ſolches erkennen und mir in meiner Vertheidigung beipflichten. Ich pflege nicht 
die Menſchen zu beurtheilen und zu qualificiren, ſondern vielmehr ihre An— 
ſichten, ſpeciell die Argumente, durch welche dieſe Anſichten verfochten werden. 
Wenn ich die Letzteren gänzlich unzureichend oder irrthümlich finde, bekenne ich, 
daß ich meine Meinung darüber offen, vielleicht zu offen, auszuſprechen pflege. 
Wenn man ein ganzes Argument auf die Annahme baſirt findet, daß zwei und 
zwei fünf iſt, mag es höflicher ſein, zu ſagen: „Leibnitz und Gauß würden nicht 
ſolche Schlußfolgerungen gemacht haben, und wir werden im Ganzen beſſer thun 
zu ihnen zu ſtehen,“ als die Annahme einfach für falſch, und alles darauf 
Baſirte für unhaltbar zu erklären; dennoch, wenn das Letztere wirklich richtig 
und die Veranlaſſung, die Wahrheit vorzubringen, eine genügende iſt, wenn 
außerdem der Kritiker zeigt, daß er den erniten Willen hat, die Wahrheit zu 
finden und feinen Gegner mit unbedingter Gerechtigkeit zu behandeln, dann darf 
die fürzere und derbere Weiſe nicht zu ſtreng verurtheilt werden. Es ift ein 
großer Unterfchied, ob man zum Beifpiel das Wort „falſch“ auf einen Menjchen 
jelbft oder auf eine von ihm geäußerte Annahme und gebrauchte Beweisführung 
anwendet; ob man jeinen Gegner jelbft „anmaßend“ oder „ungeheuer“ nennt, 
oder mit diefen Ausdrüden Anfichten bezeichnet, zu deren Vertretern derſelbe 
zu rechnen ift. ch glaube, unter den getadelten Epitheten ift nicht eines, das 
man nicht unter rechtfertigenden Umftänden, in ftrenger Beweisführung zu ge- 
brauchen befugt wäre. Und, wie gejagt, ich bin bereit, nach der fubftantiellen 
Wahrheit oder Unwahrheit meiner Behauptungen mich beurtheilen zu laſſen. 
Die ungefhminktefte Offenheit ift weit weniger beleidigend, als unbedadhte 
falſche Darftellung oder Verkleinerung unter der Maske äußerſter Höflichkeit. 
In allen meinen Schriften ift ficherlich nicht jo viel unbedingte Herabſetzung, ja 
Unterfhiebung unwürdiger Motive zu finden, als Herr Prof. Müller in diefem 
einen Artikel gegen mich) vorbringt. Ich würde e8 faum dem „Zorn eines 
amerikaniſchen Republikaners“ Schuld gegeben haben, wenn Jemand fi einem 
Verſuch widerſetzte, durch von Kaiſern entlehnte Beifpiele zu beweijen, daß die 
Menſchen keine Veränderungen in den Sprachen bewirken fünnen. ch würde 
nicht den Anſpruch darauf erhoben haben, einen „Durchbruch der lange zu— 
rüdgehaltenen orthodoren Galle” zu entdeden, im dem einfachen Beftehen 
auf der gewöhnlichen Unterſcheidung zwiſchen phyſikaliſcher und moralifcher 
Wiffenihaft, die ja lediglih auf dem factiſchen Vorhandenſein der freien 
MWillensthätigkeit des Menſchen unter den Thatjachen der letzteren bafirt. Ich 
würde nicht wagen, Jemand zu beichuldigen, daß er zu jeinen literariſchen 
Arbeiten nur durch perjönliche Eitelfeit und ein Verlangen, fi bemerkbar zu 
machen, getrieben werde: audgenommen vielleiht nad) der Aufzählung einer 
langen Reihe von Einzelheiten und Beweifen — ich glaube, jelbft dann nicht. 
Wenn ich von Jemand jagte, er mache Lärm über eine Sache in umgekehrtem 
Verhältnig zu feiner Unterfuchhung derjelben, würde ich wenigftens das Be- 
dürfniß fühlen, mid auf Beiſpiele zu berufen, die diefe Eigenthümlichkeit 
illuſtriren könnten. Bringt mein Kritiker diefe Beichuldigungen vor ala ein 


Streitfragen ber heutigen Sprachphiloſophie. 275 


Mufter, wie eine Controverfe in anftändiger, eines Gentleman würdiger Weije 
zu führen jei? Wenn ich anführte, daß Jemand „fich bitterlich beklagt, daß Die, 
welche ex ausgefhimpft, ihn nicht wieder ſchimpfen“, würde ich mich für in 
Ehren verpflichtet fühlen, die Stelle genau anzugeben, two das gejchehen ift: kann 
Herr Prof. Müller dies thun? Ich fordere ihn heraus, eine Sylbe von mir 
anzuführen, die in der Weiſe mißverftanden werden könnte. Im Gegentheil, 
betrachte ich dies als einen der deutlichſten Beweiſe feiner flüchtigen und un- 
zureichenden Prüfung meiner Schriften. Ich Tann nicht begreifen, twoher er 
feinen falſchen Eindruck empfangen hat, wenn nicht vielleicht durch eine Anklage, 
die Steinthal gegen mich vorbringt. Ich tabdelte e8 von Steinthal, daß er in 
feinem Gapitel über den Urſprung der Sprade nur die entgegengejeßten 
Meinungen der Forſcher ded vorigen Jahrhunderts angeführt und wiberlegt 
bat, al3 ob es feine jpäteren Meinungen über diejen Gegenftand gäbe, bie 
beachtet zu werden verdienten; und er beliebte dies dahin auszulegen, ala ob 
ich e& ihm zum Vorwurf mache, mich nicht erwähnt zu haben! ch würde viel 
übler von ihm und Herrn Prof. Müller denten, als ich es thue, wenn ich fie 
für unfähig bielte, in kühleren Momenten zu begreifen, daß ein Dann, ohne 
anftößig egoiftiiche Empfindungen zu hegen, erftaunt, jogar entrüftet fein kann, 
wenn er fieht, daß die Anfichten, die er mit vielen Anderen theilt, voll= 
ftändig ignorirt werden; und daß er diefe Anfichten jo werth halten Tann, 
daß er fich berufen fühlt, für fie aufzutreten und fie zu vertheidigen, jobald fie 
unrechtmäßiger Weile übergangen oder mit, feiner Meinung nad), unhaltbaren 
Gründen angegriffen werden. 

Mein Artikel über Steinthal war jo gänzlich verjchieden von dem, was 
Herr Prof. Miller darin zu jehen jcheint, wenn er von diefem Gelehrten jagt, 
er habe „mit denjelben Geſchoſſen, die der Amerikaner gebraucht, zurückgeſchoſſen“, 
daß ich eben wieder nur annehmen Tann, auch er müfle ihm einzig durch 
Andere befannt fein, die ihn falſch angeführt Haben. In einem Gapitel feines 
jüngften Werkes „Abriß der Sprachwiſſenſchaft,“ das eine der wichtigften und 
tiefgehendften Fragen der Wifjenichaft, nämlich den Urfprung der Sprache behan- 
delt, jchien mir Prof. Steinthal eine von Grund aus falſche Methode angewendet 
zu haben und durch eine Reihenfolge von Paradoxen zu einem höchft unbefriedigen- 
den und werthloſen Rejultat gelangt zu jein. Seine Schlußfolgerungen find dieje 
(pp. 85, 86): „Der Urmenſch jah nicht anderd und ſprach nicht anders ala 
wir in dem Augenblide, wo wir jpreden...... Ein Unterfchied zwiſchen 
der Urihöpfung, dem Sprechenlernen der Kinder und der täglich und ftündlich, 
wo Menſchen find, ſich wiederholenden Rede findet wejentlic gar nicht ftatt.“ 
Dieje Anfichten, die dem jo entgegengejeßt find, was andere Erforjcher der Ge— 
ihichte des Menjchen und jeiner Rede behaupten, vorgebradht von einem Manne, 
ber in Deutjchland in jo hohem Anjehen fteht und nach vielen Richtungen jo 
Bedeutendes geleiftet hat, wie Steinthal, jchienen mir gründliche Unterfuchung 
und, wenn möglich, Widerlegung zu verlangen. In einem Artikel, der zuerft 
in der „North American Review“ (April 1872) erſchien, und in meinen 
„Oriental and Linguistic Studies“ wieder abgebrudt wurde, ging ich deshalb 
das Gapitel durch, Paragraph für Paragraph, führte faft die Hälfte von des Ver— 

18* 


276 Deutiche Rundichau. 


faſſers eigenen Worten an, und beiprad) im Einzelnen die von ihm auf- 
geftellten Punkte. Wenn ich die Discuffion mit größerer Schärfe führte, als 
nöthig oder wünſchenswerth war, jo unterwerfe ich mid jedem deshalb gegen 
mi gerichteten billigen Tadel: ich war aufrichtig erftaunt, Theorien, die mir 
von meinem Standpunkt aus wenig befjer ala Unfinn erjchienen, jo aufgeftellt 
und jo vertheidigt zu jehen. Aber ich bejtreite durchaus, daß, was ich fchrieb, 
im geringften perſönlich war; e8 war durchaus nur eine ftreng wiſſenſchaftliche, 
wenn auch polemiiche Beweisführung; fie richtete fich einzig gegen die Meinungen, 
die fie befämpfte, und gegen die Betrachtungen, durch welche diejelben geſtützt 
wurden. Wenn ich wirklich einige dev „Geſchoſſe“ gebraucht hätte, welche man 
auf mich „zurückgeſchoſſen“ Haben joll, glaube ich, daß Prof. Müller, der jetzt 
zum dritten oder vierten Mal — in weldem Intereſſe mag Jeder jelbft be— 
urtheilen — eine erlejene Sammlung derjelben vor ein bei Weiten zahlveicheres 
Publicum gebracht hat, als jonft davon gewußt, mir deren Veröffentlichung 
nicht erjpart Haben würde. Nach Verlauf von zwei Jahren antivortete Stein- 
thal letzten Sommer in einer Art, die feine Anhänger und Freunde nit - 
weniger in Erftaunen gejeßt haben muß, al3 mid. Seine Erwiderung ift ein 
bloßer Erguß von Schmähungen gegen meine Perjönlichkeit. Er geht auf feine 
Beweisführung ein, er verjudht feine Vertheidigung, wenn man nicht Ver— 
theidigung nennen will, daß er gewijjermaßen den Anſpruch erhebt, Alles jagen 
zu dürfen, was ihm gefällt, ohne dafür verantwortlich zu fein, blos weil er 
hier erſt nur die Einleitungen treffe zu der Behandlung des Gegenftandes jelbft. 
Gr zerplaßt vor Grimm und Hohn in zwei Perjonen und fiht ala boppeltes 
Tribunal über den Fall zu Gericht; er läßt fich jelbft einen Weiſen und einen 
Seher nennen, und feinen Gegner einen Lügner und einen Geden jchelten. 
Auf ſolche Tiraden ift nur ‘eine Antwort in demjelben Ton möglich, und ich 
fühle feine Neigung, mich dazu herbeizulaffen. Ich bin gern bereit, die Acten der 
Streitfrage dem Publicum gerade fo, wie fie find, vorzulegen: Steinthal’3 Gapitel, 
meine Kritif, und feine Erwiderung, ohne ein weiteres Wort; und ich bin 
eines allgemeinen Urtheils zu meinen Gunften gewiß. 

Herr Profeffor Müller fürchtet, daß ich allmälig zu der Ueberzeugung 
fommen werde, es jei unmöglich, mir zu antworten. Bielleicht läuft Jeder dieje 
Gefahr, der, nach dem was ihm genügende Unterfuhung und Erwägung jcheint, 
zu beftimmten Meinungen gelangt ift, die er mit größter Zuverficht feithält, 
und der, beim beften Willen, unter entgegengejegten Anſichten und Argumenten 
feines findet, das ftärfer ift, ala jein eigenes. Eins weiß ich gewiß: daß weder 
Herr Prof. Müller noch Steinthal mir irgendwie geantwortet haben. Da der 
Erftere die Gefahr, in der ich mich befinde, jo deutlich erkennt, wundere ich mich, 
daß er nicht bereit ift, mir die Hand zu reichen, um mich davor zu retten. 
Seinem Beijpiele nicht folgend, verſpreche ich, Alles, was er jagen würde, mit 
ber größten Aufmerkfamfeit zu leſen und zu erwägen; wie ich mir denn ja be= 
wußt bin, auch bisher jchon ftet3 die größte Mühe aufgewendet zu haben, feine 
Anfichten zu verftehen und fie richtig vorzutragen. Mit ihm und Steinthal 
babe ich, jo weit es mich angeht, nur eine wifjenjchaftliche Gontroverje, indem 
ich meine Theorie der Sprache gegen ihre entgegengejegten und von einander 


Streitfragen ber heutigen Sprachphilofophie. 277 


abweichenden Meinungen vertheidige. Wenn ich etwa dabei als Angreifer zu 
hitzig gewejen bin, ift es ebenjofehr mein Schaden al3 mein Fyehler, da ich mich 
dadurch einem um jo heftigeren Gegenangriff ausfege, und ich fein Recht habe, 
eine jchonendere Behandlung zu verlangen. Mber ich habe ein Recht, dagegen 
zu proteftiren, daß eine rein wifjenfchaftliche Controverſe zu einer perjönlichen 
gemadt wird; dak man mir den Einwand macht, meine Argumente verdienten 
feine Aufmerffamkeit, weil ich zu refpectwidrig gegen die Koryphäen der Wiffen- 
ſchaft aufgetreten jei. Eine foldhe Antwort wird im Allgemeinen, und mit 
Recht, ala gleichbedeutend mit einem Bekenntniß der Schwäche angefehen. 

Der Unterfchied zwiſchen Prof. Müller und mir ift keineswegs jo geringer 
Art, ala er in feinem Artikel angibt: er reicht bis in die Tiefe. Ich habe in 
dem Aufſatz, welchen zu leſen er fi nicht die Mühe geben will, meine Miß— 
billigung der Beweisführungsart, die er in feinen Vorlefungen über die Sprache 
in Bezug auf das Verhältniß derjelben zum Darwinismus angenommen hat, aus— 
einandergejegt; und ich kann nicht erwarten, daß jein verheißenes Werk „Ueber 
die Sprache, al3 die wahre Grenze zwiſchen Thier und Menſch,“ das auf dieje 
Vorträge gegründet ift, fi als ein Beitrag von ernftliher Bedeutung für die 
Erörterung diejes Gegenftandes erweiſen wird. Auch jcheint mir wirklich feine 
vernünftige Ausfiht vorhanden, daß fich aus diefer „Grenze“ mehr ergeben 
twird als aus den anderen, welche von Zeit zu Zeit aufgeftellt worden find, 
und die eine tiefere zoologijche und anthropologiſche Wiſſenſchaft eine nad) der 
anderen umgeworfen bat, um zu dem Rejultat zu gelangen, daß eben feine 
unüberfteigbare Grenze die Beiden trennt, jondern nur eine unwegſame Ent- 
fernung, die fie freilich annoch ebenſo abjolut wirkfam trennt. Die Trage ift 
eine vom höchſten theoretiichen Intereſſe, und e3 erjcheint mir angemefjen, hier, 
ehe ich jchließe, no ein Paar Worte darüber zu jagen, die dazu dienen jollen, 
einige der bezüglicden Punkte in ein etwas helleres und einigermaßen neues 
Licht zu ftellen. 

Wenn die oben dargelegten Anfichten über die Natur der Sprache die richtigen 
find, dann ift das Fehlen der Sprache bei den Thieren leicht ala den anderen 
Unvolltommenbheiten entjprechend zu erkennen, die ihrer allgemeinen, erſichtlichen 
nferiorität der Begabung eigen find. Sie haben feine gefammelten Producte 
der Uebung ihrer Fähigkeiten, keine Cultur, keinerlei Inftitutionen; nicht3, was 
durch Tradition fortlebt, was gelehrt und gelernt wird. Ihre Art der Mit- 
theilung ift nicht willfürlih und conventionell, welche Züge die wejentlichiten 
und höchften Attribute unferer Sprache find; fie ift faft ganz inftinctiv. Ich 
fage „faft“, weil ich diefe Bezeichnung doch nicht für abfjolut Halte Die 
Anfänge der Sprache find im Gegentheil bei den Thieren gerade jo weit ver- 
treten ala zum Beijpiel die des Gebrauchs von Werkzeugen; und wenn wir in 
leßterer Beziehung mit Heren Prof. Müller „die Benußung von Werkzeugen“ 
nicht al3 Grenze anerkennen, jo müſſen wir in der That daffelbe Urtheil über 
„den Gebrauch der Sprache” fällen. 

Wir haben ſchon gefehen, daß der Jmpuls zur Mittheilung die unmittelbare 

raft ift, welche die unbewußten Fähigkeiten des Menſchen zur Spracdhenbildung 
Ientt. Die menſchliche Sprache fing in Wirklichkeit an, ala die Zeicheniprache 


278 Deutiche Rundſchau. 


au Inſtinct in eine Zeichenſprache mit Abficht überging; ala 3. B. ein Schrei 
des Schmerzes oder der Freude, der zuerft durch unmittelbare Erregung hervor— 
gerufen war, nahahmend wiederholt wurde, nicht mehr als eine inftinctive 
Aeußerung, jondern zu dem Zweck, einem Anderen anzudeuten: „ich bin (war 
oder werde jein) leidend oder fröhlich“; fie fing an, als ein unwilliges Murten, 
anfangs der directe Ausdrud der Leidenſchaft, wieder hervorgebracht wurde, um 
Mikbilligung oder Drohung auszubrüden, u. ſ. f.; das heißt, ala der Ausdrud 
für perjönliche Erleichterung ein Ausdrud zur Verftändigung wurde. Der 
Menjchenverftand hatte die Fähigkeit, einzufehen, twa8 dadurch getvonnen wurde, 
und e3 weiter zu verjuchen; er konnte auf derjelben Bahn weiter gehen, bis eine 
ganze Zeichenſprache das Reſultat war. Hierin, und nicht in der Qualität der 
uranfänglien Thätigkeiten oder in dem Werth der hervorgebrachten Zeichen, 
zeigt fi) die große und ausjchließliche Meberlegenheit der menfchlichen Begabung. 
Denn es kann nicht mit Unbedingtheit behauptet werden, daß die Thiere unfähig 
find, auch nur den erften Schritt in diefer Richtung zu thun. Wenn ein Hund 
vor einer Thür fteht und bellt oder kratzt, um Aufmerkſamkeit zu erregen, und 
dann wartet, bi3 Jemand fommt, ihn herein zu laffen, jo ift dies in jeder 
weſentlichen Hinficht ein Act der Sprachenbildung; und der Hund, wie mehrere 
andere Thiere können noch viel mehr thun ala blos dies. Auf diefen Punkt 
jollte die Aufmerkſamkeit der Naturforicher gerichtet werden, wenn fie beftimmen 
wollen, wie weit die Thiere auf dem Wege zur Sprache gelangen: bis zu welchem 
Umfange find die Thiere im Stande, Zeihen — fie mögen Laute, Geberden, 
Stellungen oder Grimafjen fein — zu dem Zweck und mit der Abficht einer 
Kundgebung zu gebrauchen? Teftzuftellen, twa3 für beftimmte natürliche Schreie 
fie haben, wenn es deren gibt, ift, obgleich intereffant und in feiner Weiſe 
wichtig genug, doch verhältnigmäßig zwecklos; denn ſolche Schreie find der menſch— 
lichen Sprache nicht analog. Die Forſchung auf diefen Boden zu ftellen, würde 
den großen Irrthum in ſich tragen, der menjchlichen Stimme eine jpecielle Be— 
ziehung zu dem Apparat der Geiftesthätigfeit, als ob fie das natürliche Aus- 
drudsmittel defjelben wäre, zuzujchreiben, anftatt die lautliche Neuerung lediglich 
al3 diejenige Form körperlicher Thätigkeit anzufehen, die im Ganzen für den 
Ausdrud am leichteften verwendbar ift, und die daher auch, nad) genügender 
Erfahrung über ihre Vortheile, von den Menfchen am meisten angewendet wird. 
Das wirklich Bedeutungsvolle der menſchlichen Schreie und Ausrufe Liegt weit 
mehr in ihrer Betonung als in ihren articulirten Elementen, ihren Vocalen umd 
Conſonanten — fall3 es nota bene möglich ift, zu beweijen, daß ſolche Elemente 
überhaupt zu ihnen gehören: denn jo anftedend ift die blos conventionelle Eigen- 
thümlichkeit unjerer Sprache, daß jelbft unfere Interjectionen Zmwittergefchöpfe 
find, eine Miſchung herkömmlicher Articulationen mit dem natürlichen Ton— 
element ; fie werben nicht jo jehr gebraucht als directe Ausdrüde von Gefühlen, 
fondern vielmehr als Mittheilungen an Andere über die Beichaffenheit unferer 
Gefühle Die natürliche Ausdrudsfülle des Tones wie der Geberde und der 
Miene behalten wir bei als eines der werthvollſten Hilfsmittel unferer articulirten 
Sprade, jpeciell für die Fälle, wo wir Eindrud machen und überreden 
tollen. 


Streitfragen ber heutigen Spradhphilofophie. 279 


Es ift augenſcheinlich, daß einige Thiere gerade jo viel in abjichtlicher Mit- 
theilung ihrer Wünjche als im Gebraud von Werkzeugen leiften können, und 
daß eine abjolute Grenze zwijchen uns und ihnen nicht mehr in dem einen ala 
in dem anderen Falle befteht. Die Thiere können auf dem Wege, ihre unendlich 
fleinen Anfänge freiwilligen Ausdrudes zur Sprache zu entwideln, nicht weiter 
al3 auf dem Wege, ihre unendlich rohen Werkzeuge zu einer mechaniſchen Kunft 
mit allen ihren verfchiedenen Verwendungen zu vervolllommmen; nicht weil ihnen 
eine jpecielle Fähigkeit zur Spradhenbildung fehlt, jondern weil fie überhaupt 
jene höheren Begabungen nicht befigen, auf welchen die Fähigkeit der Ent- 
widelung, nad) allen den verjchiedenen Rihtungen hin, baſirt. Man Tann 
natürlich auch behaupten, daß der Beſitz diejer hohen Befähigung einen ent- 
ſprechend großen Unterjchied jelbft zwiſchen der allerunvollftommenften That eines 
menſchlichen Weſens und der eines Thieres bedingt; dennoch kann dies nicht 
wahrer gefunden werden von der Neußerung eines Lautes al3 von dem Stod 
oder Stein, der das erfte Werkzeug ſowol des Menſchen als des Anthropoiden 
ift; und es ift in der That in feinem anderen Sinne wahr. Das erfte Werkzeug 
und fein Gebraud find in beiden Fällen wejentlich diefelben. Die Geiftesgaben, 
die und zu einer unbegrenzten Weiterentwidelung aus einem Zuftande, welcher 
bereinft dem Naturzuftande der Thiere analog war, fähig machen — und zwar 
fie jelbft, nicht eine bejondere Art ihrer Ausübung, noch weniger eine Gejammt- 
heit von gehäuften Refultaten ihrer Ausübung —, bilden den Unterjchied des 
Menjchen: einen Unterfchied, der den anſpruchsvollſten Bewunderer feiner Species 
befriedigen jollte. 

Was den Beſitz allgemeiner Begriffe und der Abftractionsgabe be— 
trifft, die Herr Prof. Müller ebenfall3 für fi und jeine Mitmenjchen 
allein in Anſpruch nimmt, Halte ih mich zu Denen, welde behaupten, 
daß diefelben, nicht weniger al3 die Sprachfähigkeit, ala ſchwache Anfänge 
in den Thieren gegenwärtig find. So lange er und die Autoritäten, auf 
die er fi beruft, ihren ausſchließlichen Anjpruh nur auf den Umftand 
gründen, daß die Thiere feine Spradhe haben, kann er nicht eriwarten, viele 
Anhänger der entgegengejeßten Partei für fich zu gewinnen. „Der Grund, 
warum die Thiere nicht ſprechen, ift, daß fie feine allgemeinen Begriffe haben; 
und fie haben augenscheinlich feine allgemeinen Begriffe, weil fie nicht ſprechen“ 
— bies ift entichieden ein jo hübſcher Kreis, wie jemals einer mit Cirkeln ge- 
zogen wurde, eine gedoppelte Wiederholung jene® Dogma’s, daß der Gedanke 
ohne Worte unmöglich ift, daß der Verſtand Aehnlichkeiten und Unterſchiede 
nicht wahrnehmen, nicht vergleichen und jchließen kann, ohne daß die körperlichen 
Organe Außerliche verftändliche Zeichen dafür geben. Mir jcheint hierin etwas 
von dem Fetiſchbildenden Geift enthalten zu fein; es ift eine Art abergläubifcher 
Neberihäßung des Werthes der Sprache auf Koften einer entjprechenden Herab- 
jeßung der Kraft des Geiftes. 


Die Srfüllung religiöfer Aufgaben durd die 
dramafifhe Kunfl. 


Bon 6. zu Patlib. 








Stets war ich der Meinung, daß es jehr wohl mit in die Aufgaben der Bühne 
gezogen werden könne, wie die Stimmung ber Zeit, fo auch die des Tages fünft- 
leriſch aufzufafjen und wiederzugeben. Daß dieje Aufgabe eine ephemere jein muß, 
liegt in ihrer Natur. Ich habe mich bereit3 über diefen Gegenftand bei Ge- 
legenheit der Feſtſpiele, die ih in Schwerin in’3 Leben rief, ausgeſprochen. 
Immerhin wird das Feſtſpiel eine untergeordnete Stufe in der dramatijchen 
Literatur einnehmen, etwa wie bie Allegorie, mit der es ſich in vielen Fällen 
behelfen muß, unter den Vorwürfen der bildenden Kunſt. E3 wird einen Theil 
feines Intereſſes, wenn nicht das ganze, mit der Stimmung verlieren, die es 
hervorrief und fi kaum je von einem gewiflen dilettantiihen Anflug befreien 
können, den auch die Allegorie in Bild oder Plaftit mehr oder weniger behält. 
Auch joll das Feftipiel in der dramatifchen Literatur feinen Pla nicht ver- 
langen, feine Darftellung aber gebührt der Bühne, mit dem gefallenen Vorhang 
jedoch joll es feinen Zweck vollkommen erreicht, feine Aufgabe erſchöpft haben. 
Hier aber muß ich es wieder bejonderd und ausdrüdlich hervorheben, daß die 
Bühne, wie überhaupt die Kunft, meiner Auffaffung nad, wol an der Erhebung, 
dem Ernſt und dem Jubel des Tages ihren Theil haben joll, niemals aber 

an dem Kampf der Meinung, an dem Zwieſpalt der Parteien. Der Dichter 
nicht allein, die ganze Kunft fteht auf einer Höheren Warte, als auf den Zinnen 
der Partei. 

Nun war ich aber lange der Anficht geweien, daß nicht allein die politiſche 
Stimmung des Tages, jondern auch die religiöje ſich abzufpiegeln hätte in der 
Darjtellung der Bühne, wenn id) aud) die Schwierigkeiten eines joldhen Wag- 
nifjes, die namentlich in den mehr oder weniger beredhtigten VBorurtheilen gegen 
ba3 Theater wurzeln, nicht verfannte. Daß ich diefe Vorurtheile in feiner 
Weiſe theile, bedarf Feiner Auseinanderſetzung. Die Frage, inwieweit bie 
Bühne, oder jagen wir lieber die dramatijche Darftellung, berechtigt ift, das 
Religidje, die geheiligte Tradition in den Kreis ihrer Aufgaben zu ziehen, reli- 


Die Erfüllung religiöjer Aufgaben durch die dramatiſche Kunft. 981 


giös, in priefterlicher Weile, auf die Empfindung zu wirken, und inwieweit fie 
im Stande ift, da3 zu erfüllen, dieſe Frage war es, die mich in dem friedlichen 
Frühlingsmonat des dann jo blutig jchliegenden Jahres 1870 zur weltberühms 
ten Baffionsaufführung im Oberammergau führte. Die Anjchauung dieſer er- 
greifenden und auf das Höchfte anregenden Darftellung hat mir die Wichtigkeit 
der Trage ziwar nur noch klarer gemacht, die Antwort auf diejelbe ift fie mir 
aber ſchuldig geblieben, denn fie wurzelt auf jo eigenthümlichem Boden, daß 
man fie volllommen eigenartig betrachten muß und feinerlei Confequenz aus 
ihrer Wirkung ziehen darf, wollte man fie verpflanzen oder auch nur einen 
Theil deffen, was fie erreicht, von einem nachbildenden Verſuch erivarten. 

Es kann nicht meine Abficht fein, hier eine Schilderung der vielbejchriebenen 
Paifionsaufführung zu verfuchen, jo viel neue Gefichtspuntte derjelben auch ab- 
jugewinnen wären, aber fie ift zu eingreifend in die Frage, die ich erörtern 
möchte, um fie nicht in ihren Grundzügen wenigſtens darzuftellen, um nicht zu 
enttwideln wie weit fie auch für den Dramatiker, für den Bühnenleiter, für den 
Regiffeur wichtig und anregend ift. In die Aufzählung meiner ergreifendften 
Lebenserinnerungen gehört fie ficher, und in die der Theatererinnerungen durch 
ihre Folge, die fie, wenn auch erſt mehrere Jahre ſpäter, befam. 

Noch ſchien tiefer Frieden in der Welt zu fein und ein Kleiner Kreis von Freun⸗ 
ben hatte fich mit und gemeinfam auf die Reife begeben nad) dem Oberammergau. 
Es war mein Wunjch gewejen, eine der erften Aufführungen des Paſſionsſpieles 
in biefem Jahrzehnt zu fehen, weil ich meinte, die häufigen Wiederholungen, 
die für jeden Sonntag durch den ganzen Sommer bi3 in den Herbſt hinein 
projectirt waren, würden die Naivetät und Friſche der Darftellung verwijchen, 
der große Zuzug von Fremden aber dem Eindrud jchaden. So reiften wir ſchon 
in den Maitagen über Münden in das eben im erften Frühlingsgrün prangende 
Oberland, über den Kochel- und Walchenjee, das Thal entlang, nad) dem jchon 
von früheren Ausflügen bekannten Partenkirchen. Die im erften Blüthenſchmuck 
erwachte Natur in der lieblichen Landſchaft war die ergreifendfte Vorbereitung 
zu ber feier, ablöjend von allem Zerjtreuenden, von allem VBerftimmenden in 
dem beimathlichen täglichen Treiben. Die Stimmung des freien Wallfahrers 
fam über und Alle und doch zogen wir in jehr verjchiedenen Erwartungen dem 
Schaufpiel entgegen. Mich lodte vor Allem das Intereſſe des Dramatifers, 
der nicht allein Dichtung und Darftellung eines früheren Jahrhunderts, gleich- 
fam die Wurzel unferes deutichen Dramas und der erften Bühnenaufführungen, 
fondern aud eine Wiedergabe zu finden hoffte, aus ber, jchon der Mafjen- 
wirkung nad), der Regiffeur auch für die Feinere Bühne lernen könnte. Aber 
auch Scheu und Beſorgniß vor der Aufführung war in unjerem Kreiſe ver- 
treten, denn man fürchtete doch eine Profanation des Heiligften und religiöſe Be- 
denfen gegen die ganze Schauftellung machten fidy geltend. Je näher wir dem 
Orte des Feſtes famen, defto deutlicher trat die Aufregung und Theilnahme der 
ganzen Bevölkerung uns entgegen. Ginzelne Leute hatten ſchon einer Probe 
und der einen, erften Aufführung des Jahres beigewohnt, Alle fannten fie aus 
früheren Jahren, das breite, gemeinjame Intereſſe fteigerte die Erwartung, aber 
es vermochte die Bejorgniffe nicht zu zerftreuen, denn alle Erzählungen hefteten 


282 Deutiche Rundichan. 


fi an einzelne unbedeutende Details, zuweilen an komiſche Vorkommniſſe, ar 
Eouliffengefhichten naivfter Art. So konnte ein Poftillon, der uns eine Sta— 
tion weit fuhr, nicht aufhören, den Hund zu rühmen, der auf einem lebenden 
Bilde, dem Abſchied Hiob's, mitwirkte, und jo vortrefflich drefjirt jei, daß man 
ihn in jeiner Unbeweglichkeit für außgeftopft halten würde, und aud den 
Schimmel de3 Mühlenmeifters, der im Zuge nad) Golgatha benußt wurde, 
erwähnte er immer wieder mit Anerkennung. Alle diefe Beobachtungen gingen 
aber doch auf in einer allgemeinen Bewunderung und in dem Stolz, dem Frem— 
den gegenüber, auf da8 den heimathlichen Bergen entjproffene Schaufpiel, das 
die Zufchauer aller Länder herbeilodte und fie jogar über da3 Meer herführte. 
Se näher wir der Stunde der Feier und dem Orte derjelben kamen, defto ent- 
fchiedener nahm der Zug der herzuftrömenden Menge den Charakter der Wallfahrt 
an. Am Tage vor der Aufführung, einem prächtigen Frühlings-Sonnabend zogen 
wir jelbft hinauf und pilgerten den fteilen Bergweg hinan, der, kaum für leichtes 
Fuhrwerk erflimmbar, nad Ettal führte, einem früheren Kloſter mit jchöner, 
reichgeſchmückter Kirche, am Eingange des Oberammergauer Thale. Dort war 
und von dem und befreundeten Beſitzer des Kloſters, dem Grafen Pappenheim, 
gaftlihe Aufnahme bereitet, und mit ung zog in Schaaren das Landvolk der 
Umgegend in heiterer Andacht, mit den Roſenkränzen in den Händen und Alle 
Inieten erft nieder in der Kirche zu Ettal und beteten vor dem heiligen Wall- 
fahrt3-Bilde der Mutter Gottes. Schon auf dem Wege wurde es uns Klar, 
daß wir nicht zu einem Schaufpiel, nicht zu einer dramatiihen Aufführung, 
die und da3 Heilige profaniven könnte, jondern zu einer religiöfen Feier gingen, 
die man mit Andacht, nicht mit der Kritik als Studium hinnehmen müſſe. 
Das auch ift der einzige richtige Standpunkt, von dem aus man dieſe Dar- 
ftellung beurtheilen muß, und da3 wurde mir unzweifelhaft, ala ich im bicht- 
gefüllten Zufchauerraum jaß und die Vorftellung ihren Anfang nahm. Selten 
in meinem Leben habe ich einem feierlicheren, unvergeßlicheren Gottesdienfte bei- 
gewohnt, ala dem der Paffionsaufführung im Oberammergau, nie eine tiefere, 
erhebendere Wirkung von einem Kunftwerfe, von einem menſchlichen Schaffen 
empfangen, ala durch das dramatiſche Zufammentwirken dieſer jchlichten, Fromm - 
naiven Thalbewohner, und nie ift ein Eindrud bleibender geweſen als diejer. 
Aber man muß von vorn herein jeden Vergleich mit einer anderen dramatiſchen 
Darftellung aufgeben, nicht weil die Palftonsaufführung im Oberammergau 
denfelben zu jcheuen hätte, aber weil fie auf ganz anderem Fundamente fteht, 
durch andere al3 die künſtleriſche Begabung hervorgerufen, zu anderem als fünft- 
leriſchem Genuß ausgeführt wird. Und doch ift fie Kunft im edelften Sinne 
des Mortes, denn fie ift Kunft im Dienfte des Glaubens. „ft die dramatiſche 
Darftellung zu ſolchem Dienfte berechtigt und tauglich?” hat man oft gefragt, 
und das Paſſionsſpiel im Oberammergau giebt die beftimmte, nicht anzuzwei⸗ 
felnde bejahende Antwort. Man müßte auch die darjtellende Kunſt auf niedrigere 
Stufe ftellen, ala die Schwefterfünfte, wollte man die Frage verneinen und ihr 
damit die höchfte Aufgabe jeder Kunft beftreiten. Niemand fällt e8 ein, das 
Heiligfte für profanirt zu halten, wenn der Pinjel des Malers oder der Meißel 
de3 Bildhauerd wagt, e3 uns in irdifcher Auffafjung vor die Augen zu ftellen, 





Die Erfüllung religidfer Aufgaben durch die bramatiiche Kunſt. 283 


oder wenn Wort und lang uns in religiöfe Andacht zu verſenken, zu frommer 
Begeifterung zu erheben verſuchen; „Jeder betritt da8 Bauwerk, das dem Gottes- 
dienfte geweiht ift und den religiöfen Gedanken geheimnißvollen Aufftrebens 
zum Himmel verkörpert, mit geheiligter Empfindung und nur die Schaubühne 
follte einer Aufgabe fern bleiben, die doch die höchſte wäre und die allein fie 
gleihberehtigte mit den Schwefterkünften? Ich weiß wohl, daß das Bedenken 
nicht volllommen unbegründet ift, denn die Schaubühne jelbft lenkte ſich ab 
von edlem künſtleriſchem Ziele, und fie jelbft, ihre Vertreter und das Publicum 
profanirten fie, ja zogen fie in den Staub, und darin eben liegt der Haupt- 
unterfchied der Oberammergauer Darftellung, daß ihr Boden rein ift von der 
Abirrung, daß fie nur einem Zwede dient und daß nur Andacht, nicht frivole 
Eitelkeit oder noch niedrigere Beweggründe, die Darfteller zu ihren Aufgaben 
führt. Im diefem Sinne aber muß fie Höheres, mädtiger Wirkendes erreichen 
al3 jede andere Kunſt für fid) e8 vermag, denn fie greift alle andern zufammen 
und vereinigt fie zu gemeinfamem Werke, die Baukunft ſchafft ihr das Gerüft 
und ſchmückt es mit ihren Schöpfungen, die Malerei entwirft ihr den land» 
ſchaftlichen Hintergrund, und fie und die Plaftif vereinigen ſich, den lebenden 
Bildern Entwurf und Geftalt zu geben. Entlehnend aus dem höchſten Gedicht, 
aus der heiligen Schrift, hat die Dichtkunſt das Wort, die Mufif dazu den 
melodifhen und harmonifchen Rhythmus gegeben, und die Darftellungstunft 
bringt uns in menſchlichen Geftalten, wandelnd, lehrend, leidend und begeifternd 
zur Anſchauung, was uns als das Heiligfte im Gemüth lebt. Und num tritt 
dem, der diefe Darftellungen nicht Tannte, eine neue Frage entgegen: „Wenn 
wir bier die höchfte Aufgabe der dramatiichen Kunſt erfüllt jehen, woher fommen 
in dies ftille, abgejchlofiene Thal, unter dieje Landbevöllerung Talente, die fi 
an folche höchſte Aufgabe wagen und fie mit jo gewaltiger Wirkung durch— 
führen?“ Die Beantwortung diejer Frage deckt uns den ganzen Schaden unferer 
Schaufpieltunft auf einmal auf und zeigt fie und als unnatürliche Künſtelei, 
die die naive Natürlichkeit weit überflügelt. Der Unterfchied zwiſchen Spielen 
und Darftellen tritt uns Far entgegen. Im Oberammergau wird nicht geipielt, 
ed wird bargeftellt, aber, jpredhen wir das gleich aus, es wird dargeftellt zu— 
gleich mit religiöfer Begeifterung und Inſpiration, mit andächtiger Hingabe 
und mit künftleriider Empfindung. Der größte Theil der Bevölkerung 
dieſes geichlofjenen Thales beſchäftigt fich nicht mit dem Landbau, denn bieje 
Hochebene ift arm in ihrer Vegetation und läßt zwar die Bergabhänge 
von prächtigen Waldungen bewachſen, giebt frijche, duftige Weiden für das 
Bieh, aber der Ader ift fteril, der Sommer zu kurz, um die Mühe des 
Landbauerd zu belohnen. Die meiften Bewohner find Holzihniger, wozu 
die Bergwaldungen das vortrefflichſte Material liefern, und zwar ſchnitzen fie, 
faft ohne Ausnahme und durch ein ganzes Leben immer wieder den gefreuzigten 
Heiland. So begegnet fi die Aufgabe der täglichen Berufsarbeit mit der 
alle zehn Jahre wiederkehrenden, der Paffionsaufführung, jo wird dieſe durch 
jene vorbereitet und künftlerifche Empfindung und Berftändniß in der Zeichen⸗ 
und Schnik-Schule ausgebildet, die zugleich für die dramatiſche Darftellung 
als Borftudie gilt. Dabei bleibt diefe Empfindung naiv und wurzelt in ber 


284 Deutſche Rundſchau. 


Tradition, denn ſchon die Kinder treten in die Aufführung mit ein bei den 
Bildern und Aufzügen und wachſen jo in die Aufgaben hinein, die ihnen ſpätere 
Jahrzehnte verheißen. Ein jo wunderbarer Erfolg Tann freilich” nur durch das 
Zufammentreten jo eigenthümlicher Vorbedingungen erreicht werden und deshalb 
eben laſſen fi) aus ihm feine Conjequenzen ziehen. 

Ich habe jo die Wirkung der Aufführung vorausgenommen und zu erflären 
gefucht, weil ich die Darftellung jelbft, theils aus eigener Anſchauung, theils 
aus den vielfadhen Schilderungen ala bekannt meine annehmen zu dürfen. ch 
will alfo nur kurz recapituliren, daß fie die ganze Paſſionsgeſchichte des Hei- 
landes vom Einzug in Jeruſalem bis zum Sreuzestode, der Auferftehung und 
Himmelfahrt dramatiſch vor dem Zufchauer vorübergehen läßt, wobei lebende 
Bilder aus dem alten Teftamente die Verheifungen und Parallelftellen vor- 
führen und ein Chor, in der Art der Chöre aus der antiken Tragödie, in Ge- 
fang und Recitation die Verbindung giebt. Drei Factoren alſo find es, die 
zufammengreifen: die dramatiſche Darftellung, das lebende Bild und der ver— 
mittelnde Chor. Demgemäß ift auch die Bühneneinrichtung getroffen: ein 
großes Profcenium, vorzugsweije für den Chor und die dramatiſche Darftellung 
der Maſſen, eine tiefe architektoniſche Landſchaft auf beiden Seiten, beſonders 
für die Aufzüge, zum Theil praftifabel für einzelne Scenen, und eine innere 
Bühne mit jchliegendem Vorhang für die dramatiihe Handlung und für bie 
lebenden Bilder. Die Bühne fteht ſomit der griechiſchen am nächften und hat 
auch twie diefe den Zufchauerraum unter freiem Himmel, hat aber auch mit der 
ſhakeſpeariſchen Bühneneinrichtung die Kleinere, geichloffene Bühne gemein, von 
unjerer modernen aber nur den wechjelnden decorativen Schmud dieſer Bühne. 

Daß der Hauptaccent der Wirkung immer auf die dramatiſche Handlung 
fallen muß, ift felbftverftändlich, zugleih aber bewunderungswürdig, wie die 
Chorgejänge diefe Wirkung vorbereiten, in die empfängliche Stimmung ver- 
jegen, und wie die den Gedanken fortführenden lebenden Bilder die Wirkung 
austönen laffen durch ihre ftumme Ruhe und die Theilnahme immer wieder 
anregen, jo daß die faft adhtftündige Darftellung keinerlei Ermüdung noch Ab- 
ſpannung beim Zuſchauer hervorruft. 

Wie gejagt, die Oberammergauer Paflionsaufführung war mir im unver- 
gehlichften Eindruc geblieben; niemals aber hatte ich daran gedacht, eine auch 
nur annähernd ähnliche Darftellung auf der Bühne zu verfuchen, was mir auch 
unmöglich geweſen wäre, da ich mit feinem Theater mehr in irgend welcher 
directen Verbindung ftand. Ganz unerwartet, wenigſtens für mich, übernahm 
ich die Leitung des Hoftheaterd in Carlsruhe und jah mic auf einmal wieder 
mitten in der bewegten, immer wechjelnden Beihäftigung und Verpflichtung, 
die ih in Schwerin mit jo großer Hingabe übernommen, mit aufrichtiger 
Befriedigung durchgeführt und mit Bedauern aufgegeben hatte. Der Boden, 
ben ich fand, die Verhältniffe waren freilich ganz andere als dort, aber e8 war 
doch die Kunſt, zu der ich immer wieder zurückgekehrt war im Leben, der ich 
mid, an Erfahrungen zwar reicher, aber ärmer an Jllufionen, hingab. Alte 
Pläne lebten twieder auf und drängten zur Verwirklichung, zunächft mußten 
aber Kräfte, Stimmung des Publicums ruhig beobadhtet und geprüft werden. 


Die Erfüllung religiöfer Aufgaben durch bie dramatiſche Kunſt. 285 


So vergingen die erften Monate; der erfte Winter der neuen Thätigfeit neigte 
zu Ende und das Ofterfeft rückte heran. In den letzten Jahren war über die 
Charwoche hinaus aud am DOfterfonntage noch das Theater gejchlofjen geblieben, 
theils um der religiöjen Feſtſtimmung Rechnung zu tragen, theil® um den 
Arbeitern des Theaters die Feſtfeier nicht zu ſchmälern. Auf der anderen Seite 
war im Publicum vielfah der Wunfch laut geworden, an diefem Abend das 
Theater nicht zu entbehren. Es kam aljo darauf an, beide Anfichten und 
Wünſche zu berücdjichtigen und eine Theatervorftellung für den erften Oftertag 
in’3 Leben zu rufen, die die religiöfe Stimmung des Tages aufnähme Die 
Erinnerung an das Paſſionsſpiel trat natürlich ſofort hervor. Dort war ein 
Vorbild für das, was ich Juchte, aber ein Vorbild, das mehr abmahnte, als 
ermunterte, denn e3 konnte fich nicht um eine religiöfe Feier handeln wie dort, 
es mußte eine Theatervorftellung werden, freilich eine, die von der gewohnten 
Weiſe bedeutend abwidhe und die Grenze dramatiſcher Vorftellung in das 
religiöfe Gebiet erweiterte. Der Plan war jchnell entworfen und die freund» 
liche Hilfe, ihn zur Ausführung zu bringen, fand fich jofort. Ein vecitivender 
Chor, injofern aber perjonificirt, ald er eine jüdijche Familie darftellte, aus der 
babylonijchen Gefangenjchaft ausgewandert, Vater, Mutter, Sohn und Tochter, 
gab in Rede und Wechſelrede den Grundgedanken, der fich durch eine Reihe von 
lebenden Bildern illuftrirte, die wieder durch Chor oder Sologefang, oder durch 
orchejtrale Muſik eingeleitet und begleitet wurden und ala Abſchluß zum Ofter- 
auferftehungsgedanfen hinführten. Ich Hatte aljo vom PBaffionsjpiel lebendes 
Bild und mufifaliiche Begleitung volllommen adoptirt, dagegen die Recitation 
mit der dramatiſchen Handlung verſchmolzen, jo freilih, daß lehtere faſt ganz 
in erfterer aufging. Schon aus diefem Grunde wäre die Ausdehnung diejer 
Vorſtellung auf einen ganzen Theaterabend ermüdend geworden, denn die Bühne 
verlangt die dramatiſche Situation und Handlung und kann diejelbe nicht füg— 
fi für einen ganzen Abend entbehren, jelbft wenn fie eine exceptionelle, nur 
auf einen bejonderen Tag berechnete Vorjtellung in Ausficht ſtellt. Es war 
aber ſchwer, ein einleitendes Stück zu finden, das der Stimmung und dem Ge— 
danken der Hauptaufführung nicht widerjprochen, ja das auf diejelbe Hingeleitet 
hätte. Ich wählte dazu den Ofterfonntagsipaziergang aus dem Yauft, der dies— 
mal ohne Kürzungen gegeben wurbe und den ich mit dem Ofterchor des 1. Actes, 
gefungen von vorüberziehenden Wallfahrern, abſchloß. Pedantijche Kritiker 
hatten dagegen ihre Bedenken, die ich heute noch nicht zu teilen vermag. Sollte 
ih die Dichtung überhaupt zu meinem Zwede benußen, und fie iſt, abgejehen 
von ihrem poetifchen Werth, die pafjendfte aus unferer ganzen dramatijchen 
Literatur, jo mußte fie fih, um nicht ohne Schluß zu bleiben, dieſe Umftellung 
gefallen laſſen, denn ich hielt es für pietätsvoller, mit des Dichter eigenen 
Worten, als mit fremden, ihnen angehängten das Fragment feines Werkes abzu- 
ſchließen. Der Erfolg gab mir Recht. Die beabfihtigte Vorbereitung war beim 
Publicum hervorgerufen und der Ofterchor führte vortrefflich von dem lebensvollen 
Bilde des bürgerlichen Stadttreibens am Sonntag im erwachenden Frühling zu 
der religiöfen Stimmung hinüber, deren die folgende Darftellung bedurfte. 
Die Einleitung zur Schöpfung von Haydn führte die Darftellung ein, 


286 Deutſche Rundichau. 


dann hob fi der Vorhang und zeigte ein wildes Tyelfenthal, zwiſchen deſſen 
Steinblöden ein einfamer Tempel, in ägyptiſcher Architektur, düfter und ge- 
heimnißvoll lag. Stufen führten zu demfelben hinauf und der Eingang erſchien 
durch eine Wand geichlofjen ; die ganze Decoration, gewiffermaßen das Profcenium 
der Darftellung, lag im Halbdunfel. Nun ftiegen die Spreder, der Dann, 
das Weib, der Yüngling und die Jungfrau ſeitwärts von dem Telfen herunter 
und rafteten auf den Stufen des Tempels. Der Mann ſprach kurz und knapp 
die Klage über Zion’3 Fall, wie ihm überhaupt immer der einleitende allgemeine 
Gedanke zugetheilt war, den dann das Weib in der Mahnung, der Yüngling 
in der Hoffnung, die Jungfrau rein Iyrifeh, je nachdem e3 dem erläuternden 
Bilde angemefjen war, auf das Beſondere zurüdführten. 

Ich Hatte die Darftellung in drei Abtheilungen getheilt. Die erfte begann 
mit der Klage, dem Hinweis auf die Buße und die Verföhnung, und danad) 
waren die lebenden Bilder gewählt, die begleitende Muſik angepaßt. Zuerft 
zeigte das Weib den Fall Zion's als Strafe dafür, daß fie in Stolz und An- 
maßung gewähnt hätte, das Haupt zu Hoch erheben zu können, wie einft der 
Thurm zu Babel ftürzen mußte, als er in die Wolfen zu ragen ftrebte. Dazu 
erichien der Thurmbau zu Babel und der Auszug der drei Stämme im Bilde. 
Der Mann verkündete die Demuth vor Gott und zeigte Abraham’3 Opfer; die 
Sungfrau pries das Dienen in Demuth vor den Menſchen, dargeftellt in Rebecca, 
die ji) vor Eliefer beugt und jeine Kamele tränkt; der Jüngling feierte, ala 
Gegenjat zur babyloniſchen Knechtſchaft, den Dienft in Liebe an dem Beiſpiel 
Sjacob’3, der fieben Jahre um Rahel diente „und ihm jchienen’3 Tage kaum“; 
die rau mahnte gegen Neid und Arglift mit Hinweis auf Joſeph's Brüder 
und feinen Verkauf, und zeigte den Lohn der Tugend in Joſeph's Erhöhung, 
mwährend die höchfte Tugend, die Vergebung und Vergeltung der Unbill durch 
Wohlthat, ſich im Schlußbilde der erjten Abtheilung, in der Aufnahme der 
Brüder bei Joſeph darftellte. 

Die zweite Abtheilung zeigte das Geje und die Verheifung. Die Findung 
Moſe's, die Einjegung - des Paſſah, der Auszug mit der vorausjchreitenden 
Myriam ala Pjalmiftin, das Gebet Moje’3, und zum Schluß Salbung und 
Krönung David’3, aus deffen Stamm der Meſſias verheißen ift. Der Charakter 
der begleitenden Recitation war in dieſer Abtheilung injofern ein anderer ge— 
worden, ala er, wenn auch von denfelben Figuren gegeben, doch vom Subjectiven 
in das Objective überging und mehr zur Rede und Gegenrede wurde, aud) 
begleitet von Sologejang auf der Scene. 

Die letzte Abtheilung zeigte nur zwei Bilder, die bis dahin [prechenden 
Perjonen waren durch Hirten erjegt, die mit einem Weihnachtsliede das Bild 
der dem Stern nachziehenden heiligen drei Könige einführten, dann lenkte ein 
Hirt wieder auf den Dftergedanken der ganzen Darftellung zurüd, und die Gruppe 
der ausziehenden Chriften aus dem Kaulbach'ſchen Bilde der Zerftörung Jerufa- 
lem’3, begleitet vom Hallelujah aus dem Meiftas von Händel, gejungen vom 
ganzen Chor auf der Scene, madte den Schluß. Die Rede des Hirten mag 
den Ton des Ganzen und die Beziehung zum Tage zeigen. Sie lautete: 


Die Erfüllung religidfer Aufgaben durch die bramatiiche Kunft. 987 


Don unfrer beil’gen Kunde Schon zündet’3 im Gemüthe, 
Dernehmet jet den Schluß, Schon grünt’3 von Ort zu Ort — 
Aus Shlichter Hirten Munde So ſchloß der Andacht Blüthe 
Den frohen Dftergruß. Sich auf dem Gotteswort. 

Schon blüht e& in den Landen, Wie zu des Herzens Gründen 
Schon grünt’8 am Bergeshang — Das Licht des Glaubens drang, 
So iſt die Welt erjtanden So wurde ihr Verkünden 
Aus Winterträumen bang. Ein Oſterlerchenſang. 

Zum Himmel, fonnig blauen, Der Wahrheit Schwert, das jcharfe, 
Hebt fich der Lerche Schlag — Bringt fiegend, um und um, 

So grüßt mit Gottvertrauen Mit Pialter und mit Harfe, 
Den Auferftehungstag. Das Evangelium. 

Der Lenz zieht weit und weiter, Mas Winternacht verborgen, 
Siegreich im Sonnenſtrahl — Hat Frühlingslicht erhellt — 

So zogen Glaubenäftreiter So kam der Oftermorgen, 
Bon Land zu Land zumal, Der Glaubenslenz der Welt. 


Der Eindrud, den die ganze Borftellung hervorrief und hinterließ, war 
durchaus der beabfichtigte, ja er übertraf noch bei Weiten die Erwartung, denn 
einzelne Befürchtungen für das Gelingen konnte ich mir nicht verſchweigen. 
Würde zunächit das große Theaterpublicum in demjelben Raum, der in jo ganz 
anderer Weije jeine Theilnahme in Anfpruch zu nehmen beftimmt war, in die 
DOratorienftimmung eingehen und, wo es nur künſtleriſche Befriedigung erwarten 
durfte, religiöfer Erhebung zugänglich fein? Würde nicht nach der einen Rich— 
tung die religiöje Seite zu überwiegend hervortreten, während e3 der andern 
verletzend ericheinen könnte, diejelbe an diefem Orte jo ausſchließlich vertreten 
zu jehen? Würde nicht, was Freilich die geringere Gefahr geweſen wäre, der 
Glanz der Bilder, namentlih da fie von bekannten Perfönlichkeiten dargeftellt 
wurden, zerftreuen und die Gefammtwirfung beeinträchtigen? Alles das lag 
fo nahe, aber feine der Befürchtungen traf ein. Das Publicum ſchwankte feinen 
Augenblid in der Stimmung und faßte Wort, Mufit und Bild ala harmo- 
nifches Ganzes auf, von dem e3 fich willig rühren und erheben Vieh. 

Der Erfolg, denn als ſolchen kann ich den Eindruck dieſer Oftervorftellung 
entjchieden bezeichnen, an einer einzelnen Bühne, mit einer Gabe, die nur für 
einen Tag des Jahres beftimmt jein fann, mag auf den erften Blick ala un— 
wichtig erſcheinen. Er ift es in der That nicht, denn ex erweitert die Aufgabe 
der Bühne um ein Bedeutendes, wobei ich aber glei) dem möglichen Mißver— 
ftändniß begegnen will, als wolle ich dergleichen Darftellungen in den gewohnten 
Kreis der Repertoire aufgenommen fehen. Wie das Gotteshaus feinen Raum 
zuweilen der Oratorienaufführung leiht, jo fol die Bühne im Stande fein, in 
einzelnen Fällen die religiöfe Darftellung zu bieten, mit eigenen Kräften zwar, 
aber in discret gezogener Grenze. Ich muß es bejonders hervorheben: „in ein- 
zelnen Fällen“, denn ich habe auch Hierfür gleich die Erfahrung gemadjt. Der 
Erfolg des erften Abends verleitete mid, dem Wunſche einzelner Stimmen im 
Publicum nadjzugeben und die ganze Vorftellung in der Oſterwoche noch zwei— 


288 Deutfche Rundſchau. 


mal zu wiederholen. Nicht daß der Eindrud ein abgeſchwächter oder gar ab— 
mweichender geweſen wäre, aber wir ftanden mit ihm auf einmal auf dem Boden 
der gewohnten Theaterabende und die ungetwohnte Anforderung an das Publicum 
trat hervor. Man fühlte das Erxceptionelle, 

Und was foll e3 helfen, wird man fragen, für einen einzigen Abend, der 
nur nach weiten Zwiſchenraum twiederfehren könnte, der Bühne eine jchtwierige 
Aufgabe zuzumuthen? Wenn man den großen moraliihen Werth für die dar- 
ftellende Kunft in’3 Auge faßt, wird dieſe Trage leicht ihre Antwort finden, 
um jo mehr, ala ich behaupte, daß fie mit ſolcher Aufgabe durchaus nicht aus 
ihrer allgemein künſtleriſchen heraustritt. Sie erweitert ihre Grenzen, aber fie 
überjchreitet fie nit. Ob die Bühne durch ihre Leiftung erheitert, rührt, 
erjchitttert, oder religidg erhebt, immer bleibt fie in ihrer Aufgabe, wenn fie 
e3 in veredelnder Weiſe thut — ftet3 aber verläßt fie diejfelbe, wenn fie den 
Zweck der Veredelung aus dem Auge verliert. Darauf hat diefer Abend wieder 
fo entſchieden hingedeutet, daß darin allein er ſchon jeine Bedeutung hätte. Er 
wandte unjern Blick zurück auf die erften Anfänge der dramatijchen Kunft, und 
diefer Bli läßt ung erſchreckt ſehen, auf welche unmwürdigen, der Kunft Hohn 
Iprechenden Abwege wir geriethen. „Kehrt um!“ ift die Mahnung an die ge- 
jammten Bühnen, nicht zu den erften Anfängen, aber im Andenken an fie, auf 
die Pfade edler Kunſtrichtung. Was mit dem Heiligiten begann, ſoll nicht im 
Profanften verlaufen! 

Guftav zu Putlitz. 


4 


Sommerfäben. 


Auch bin ich überzeugt, nicht hat betrogen 

Das Yägerauge mich: durch die Prairien 

Bift taglang Du auf wilden Roß gezogen, 

Und Bifonheerden jahft Du vor Dir fliehen, 
Und ſahſt am wolkenloſen Himmelsbogen 

Die Wandertaube nach dem Süden ziehen — 
Nun kamſt Du ber die ungezählten Meilen, 

In Deutichlands Luft das kranke Blut zu heilen. 


„Das Eiſen fehlt im Blute, theure Miffis 

Smith (oder Jones) — zu ſchlank emporgeſchoſſen! 
Wir haben auch — doch ift das nichts Gewifles — 
Des Sportes Freuden allzufed genoffen. 

Wie dem auch fer: die Folgen ſind's des Riffes, 
Der leider trennt, was immerdar umſchloſſen 

Im Bunde follte fein: Natur und Leben — 

Miß Mary muß nad) Deutichland fich begeben! 


Ja, Deutichland ift der Ort für foldhe Euren! 

Da weilet unfrer Künfte theurer Meifter. 

Der pappt die problematifchen Naturen 

Zufammen nicht mit unhaltſamem Stleifter; 

Er jchneidet, brennt bis auf die letzten Spuren 

Ganz weg die Krankheit — Doctor Bismard heit er: 
Der große Nesculap in Blut und Eifen — 

Nah Deutihland, Deutihland mu Miß Mary reifen!“ 


So ſprach der Mann vom Broadway; und gepriefen 
Sei höchlich er ob feines guten Rathes, 

Der, theures Mädchen, Dich hierher gewielen. 

Auch darin hat er Recht: der Bismard that es, 
Der Graf und Fürſt aus dem Geſchlecht der Riefen, 
Der Atlas, der die Kuppel trägt des Staates, 

Deß edles Herz in lohem Zom entbrannte: 

Zum Teufel num die trente et quarante! 


Eins ſollt Ihr fein, wie Ihr es einft getvefen! 
Ein einig Volt von Brüdern — oder Betten — 
Gleichviel! Ihr mögt e8 nad Belieben leſen; 
Ich ſchreib' e8 Euch in's Herz mit Eifenlettern; 
Glaubt mir’s: Ihr könnt nicht ander mehr genefen, 
Als in des Krieges blut'gen Donnerwettern! 
An's große Spiel, mein Volt! va banque! ich wette, 
Die Kugel rollt für uns in der Roulette! 
19* 


291 





Deutſche Rundſchau. 


Er hat ſein prometheiſch' Wort gehalten; 

Das Glück, es war ihm keine leichte Dirne, 
Und keine leichte Hand zog ihm die Falten, 

Die tiefen, auf die breite Marmorſtirne. 

Wer von uns kennt die Stürme, die da walten 
In dieſem mächt'gen, zukunftsſchwangern Hirne? 
Nun wohll er hat das große Spiel gewonnen, 
Und über Deutſchland leuchten hellre Sonnen. 


Das große Spiel! vor nicht gar vielen Jahren, 

Da konnte man's ſtudiren hier im Kleinen. 

Sie kamen hergewallt in dichten Schaaren, 

Die Vielgeliebten, Treuen von den Seinen. 

Die zog heran er kräftig bei den Haaren, 

Die liefen ihm herzu auf beiden Beinen. 

's war amüſant zu ſehen, manchmal peinlich, 

Und, wenn man will, im Ganzen nicht ſehr reinlich. 


Denn auf die paar anſtändigen Geſichter, 

Die wol den Phyſiognomen konnten locken — 
Wie viel elend, verworfenes Gelichter — 

Die Schläfen kahl, die Wangen hohl, und trocken 
Das ftarre Auge, ganz, wie fie der Dichter 
Berfammelt zu Walpırgis auf dem Broden, 

Als Fauft das Herlein jung im Arm gehalten. 
(Sein würd’ger Mentor tanzte mit der alten.) 


Tür fleiß’ge Interpreten wär's ein Thema, 

Zu unterfuchen, welche von den beiden — 

Nicht war die hübjchere (denn dies Problema 

Wird gleich gelöft von Chriften, Juden, Heiden), 
Jedoch die ſchlimm're! Nach dem bloßen Schema 
Iſt diefe Frage gar nicht zu entjcheiden ; 

Nur an den Spieltiid — das will ich beſchwören — 
Blos allerſchlimmſte Hexen Hingehören. 


Die Liebe, jagt man, macht die Schönfte jchöner; 
Sie madt die Häßlichſte ſelbſt minder häßlich. 
Hier, dieſes Weib — ſo ſchrieen die Verhöhner 
Der Menſchlichkeit — geſündigt hat ſie gräßlich! 
Und er, der Menſchenſohn, der Weltverſöhner, 
Schrieb Zeichen in den Sand nachdenklich-läßlich: | 
Weil fie jo viel geliebt auf dieſer Exden, 
Wird ihr im Himmel viel vergeben werden! 





WPZEE o2Li. 


Sommerfäben. 


Jedoch das Spiel! Einft jchritt ich durch die Säle, 
An Andres dentend; plößlich blieb ich ftehen: 

Nun wahrlich, feine Seele Gott befehle, 

Wer dieſer hat in's Feueraug' gejehen] 

Wem die der Teufel zeigt und faget: wähle 

Seht zwiſchen ihr und einem fichern Lehen 

Im Himmelreihd — ich kenn’ manch braven Yungen, 
Der in die Hölle ihr wär’ nachgeiprungen! 


Ja, fie war ſchön! vom Scheitel bis zur Sohle! 

Und jung! ich meine: höchftens achtzehn Jahre. 

Die mandelförm’gen Augen ſchwarz wie Kohle, 

Und blond — cendre! — die feidenweichen Haare. 

Die Taille — doch den nächften Spiegel hole 

Die Leferin, damit fie gleich erfahre, 

Was ſchließlich doch micht Schildern kann der Dichter — 
Ein Vorwurf nur für Angely und Richter. 


„Faites votre jeu, messieurs!" — Die alte Leyer! 
„Le jeu est fait!“ — die Schöne pointirte! 

„Rien ne va plus!* — feine Kupferdreier 

Fürwahr, was fie da jet auf Roth riäfirte! 

Und: „rouge perds!* — fo blidt ein Lämmergeier, 
Wie fie jet ihren Nachbar ſcharf firirte! 

Jetzt greift fie zu — — Vous permettez, mon ange! 
Rouge a perdu — vous savez: couleur gagne! 


Ein alter Fuchs! er ging nicht in die Falle; 

Auch war er ja im Recht. O Scham und Schande! 
Ein ſchönſtes Mädchen plötzlich Gift und Galle, 
Frech Löfend frommer Scheu ehrwürd'ge Bande, 
Und keifend, zeternd, wie ein Weib der Halle! 
Entſetzlich Bild, verſchwinde! Hier zu Lande 

Hat keine Dame mehr die ſchlimme Chance, 

So zu verlieren alle Gontenance! 


Es ſei denn, daß, als fie zur Mittagsftunde 
(Für Bürgersleute) ihrer Freundin harte — 
Gelegentlich fam aus dem Rojenmunde 

Ein ungebuldiges: wenn fie mid) narrte! — 
Sie hatte heute eine weite Runde: 

Zu Gerfon, Herkog — und Almanfor ſcharrte! 
Mir fehlen an dem leide jechzehn Stufen — 
Das arme Thier ſchlägt ſich noch ab die Hufen! 


294 


Deutſche Rundſchau. 


Ein halber Sportsman ſie! — nahm ſelbſt die Zügel 
Gelegentlich; als Reit'rin ſchier unbändig; 

Ihr Gatte ſtand nicht ganz jo feſt im Bügel; 
Drum war e3 jehr erflärlidh, daß beftändig 

Zur Seite ihr — er ritt, ala hätt’ er Flügel, 

„Ein ſchlanker Fant, gar höfiſch und behändig,“ 

Ein Herr von — Namen thuen nichts zur Sache; 
Und überdies war Arthur heut' auf Wache. 


Da ſtürmt herein — nicht Arthur! — nein, ihr Gatte. 


„Gerechter Gott, Emil, was hat’3 gegeben?“ 
„Begeben? wie Du fragft? Du weißt, ich hatte 

Auf Baiſſe jpeculitt. In meinem Leben 

War ich jo fiher nicht — auf einem Blatte 

Stand mein Vermögen — Deines! und jo eben — 
Der Lond’ner Cours! Die Haare möcht’ ich raufen — 
Um Gott! Du wirft doch nicht in’3 Waffer laufen?“ 


Die Scene ift vielleicht ein wenig draſtiſch — 
Ich geb’ e8 zu. Jedoch aus feidnen Träumen 
Unſanft geweckt zu werden, und elaftijch 

Sich in Kattun zu hüllen ohne Säumen, 

Und auszumwandern, ruhig, Haffiich, plaftiich, 
Aus den geliebten, goldbrofatnen Räumen — 
Nicht Jede kann's; und kann es einmal Eine, 
So jag’ ih: Hut ab, Wandrer! fteh! und weine! 


Zum Glüde find ja nur die hohen Berge — 

So jagt Horaz — gern heimgeſucht vom Blitze. 

Mo Niejen hilflos, finden muntre Ziverge 

Noch immer eine Heine ſchlaue Rite; 

Und droht ein Banquerut — der grimme Scherge — 
Man ſchlägt ein Schnippchen ihm mit munterm Witze — 
Und Schließlich! muß das Wetter ſich entladen, 

So treff’ && uns in Homburg oder Baden! 


Sie find ja nicht mehr, was fie einftmals waren: 
Ein Paradies für uns; ein Sündenbabel 

Für Tugendwädter, (wo fern von den Zaren 
Der fühen Heimath Kain ſchlug den Abel — 
Der rechte Ort, zur Hölle ftrad3 zu fahren) — 
Im Ganzen aber noch recht amüjabel. 

So flattern wir denn um die Sprudelquellen 
Vergnüglich Hin ala wechjelnde Libellen. 





Sommerfäben. 295 


Ya, wie fie flattern, dieje lieben Stleinen, 

In goldnen Lüften ſchaukeln, fpielen, ſchweben, 
Das Süße mit dem Nühlichen vereinen, 

Und leben laſſen, wie fie jelber leben: 

In dulei jubilo! ch will nicht jcheinen 

Ein Beſſrer, ala ich bin, und zornig heben 
Zum Fluch die Hände ob jo graufer Sünden; 
Im Gegentheil! e8 ganz ergötzlich finden. 


Und do! „In unſers Bufens Reine“ — goldne Worte! 
Wer kennt fie nicht? wer trüg' fie nicht im Herzen? 
Wem wurden fie nicht ſchon zum fichern Horte, 

Daß es no Baljam gibt für tieffte Schmerzen ? 

Wem jchlofjen fie nicht auf des Himmels Pforte? 

„Wir heißen's: Fromm fein!“ — ad! und wie oft jchergen 
Wir mit dem „Höh’ren“! wagen nicht, zu nennen, 
Wozu wir und von Herzen gern befennen! 


Wer ift d’ran ſchuld? find wir's? ift e8 die Menge? 
Sind wir zu feig, die Fahne hoch zu tragen 

In diefes Lebens wildem Kampfgedränge ? 

Und lafjen freche Ratten fie benagen, 

Die immerdar geichäftig, ob gelänge, 

— Für das doch alle unſre Pulſe ſchlagen — 

Das Hohe in den ſchnöden Staub zu ſtrecken? — 
Wir beten nimmer an den Straßenecken! 


Gewiß nicht! Aber auch, es ſteht geſchrieben: 
Du ſollſt Dein Licht nicht unter'n Scheffel ſtellen, 
Wie herzlich gern ſie auch im Dunkeln blieben, 
Des Ahriman verdächtige Geſellen. 

Wir Andern aber, die den Ormuzd lieben, 

Den morgenrothgebornen, ftrahlenhellen — 

Für uns fei höchſte Pflicht und höchſte Wonne, 
Zu leuchten und zu glänzen wie die Sonne. 


ie ich fie einftmals leuchten jah und glänzen, 
Als von dem Bofilip ih niederichaute 

Auf jene Bai, die Städte rings umkränzen, 
Und ich den Augen kaum, den trunfnen, traute; 
Und ſprach zu mir: jo jah ich's nimmer lenzen; 
So nie dad Meer, jo nie der Himmel blaute! 

In ſolchem Lichtglanz wandelte der Heros; 

Dies wahrlich ift die Sonne des Homeros! 


Deutſche Rundſchau. 


Sie goß in's Herz ihm ihre lichten Strahlen, 
Auf daß es wieder ftrahle nun und leuchte 
Hinauf zu jel’ger Götter goldnen Mahlen, 
Hinab in's Auge, ad! das thränenfeuchte 
Penelope's; nachklinge alle Qualen 

Und Wonnen defjen, dem e3 göttlich däuchte, 
Um fpät’fter Nachwelt ew'gen Ruhm zu erben, 
In feiner Jugend Maienpracht zu fterben. 


"Und was ift göttlich, wenn e3 nicht da3 Streben, 
Uns zu bewähren als des Himmel Söhne? 
Auszugeftalten tiefgeheimftes Leben 

Zum hohen Exrdenabbild ew’ger Schöne? 

Dem großen Werke ganz und hinzugeben, 

Der Gottheit überlaſſend, ob ſie's kröne? 

Dies! und fürs Höchſte allzeit Kühn zu zeugen: 
Allzeit vor ihm das Fromme Knie zu beugen! 


Berfteht ih: in Gedanken! nur figürlich! 

Wie Schwer auch manchmal, aufrecht uns zu halten; 
Mie tief wir und auch neigen unwillkürlich 

Vor jenen hohen, himmlischen Geftalten. —” 

So wärft auch Du erjchroden jehr natürlich, 
Hätt’ft Du geſehn mich meine Hände falten 

Und niederfnieen — Du, die Hohe, Starke! — 
Als ich Dir heut’ begegnete im Parke. 


Ein Holder Morgen! In den Dämmerftunden 
Am bleihen Oſten hatte e3 gewittert; 

Längft hat die Sonne freie Bahn gefunden. 
Mit bunten Lichtern ift der Pfad gegittert; 
In breiten Schatten malen fi) die runden 
Baumfronen auf die Wieje, wo noch zittert 
Der Thau im Grafe; Vögel jubiliren, 

Und aus der Ferne leiſes Muficiren 


Dom Curorcheſter. — Nun, fo aus der Ferne, 

Ganz aus der Ferne, laß ich's mir gefallen; 

Doch in der Nähe — ich gefteh’ es gerne: 

Schier unerträglich ift mir diejes Schallen, 

Dies Schmettern! Wenn es wahr ift, daß die Sterne, 
Die ew'gen, tönend ihre Bahnen wallen, 

So woll’t mir, bitte, diefe Gunft gewähren: 

Macht Ihr Mufit, jo macht Muſik der Sphären! 


Sommerfäben. 


Setzt ift mir wohl! Der letzte Ton verſchwinde! 
Nur noch das ſanfte Raufchen in den Zweigen, 

Die in dem blüthenduft'gen Morgenwinde 

Sic) jpielend Heben, liebend wieder neigen. 

Wie bift Du ſchön, o Welt! jhön, wie dem Kinde 
Du einft erjchienft! jet bift Du erft mein eigen! — 
Da — auf der Wieje fonnig ftillen Wegen 

Aus Waldesdunkel kamſt Du mir entgegen. 


In ſchwarzem, jchlichten leide, grauem Hute, 

Wie ih Dich ftets gejehn in diefen Tagen. 

Doch nur für den Moment mein Auge rubte 

Auf Deiner Huldgeftalt; dann — muß ich's jagen? — 
Gar ſeltſam bange wurde mir zu Muthe, 

Nicht wagt’ ich mehr die Augen aufzuſchlagen, 

Als Hätteft Du es, zürnend, nicht gelitten. 

So bin ih Dir vorüber ftill geichritten. 


Denn, wie fie auch den hohen Menſchen gleichen, 
Wenn fie von des Olympos fchnee’gen Zinken 
Herabgeftiegen auf das Feld, wo Leichen 

Auf Leihen unter Heldenjpeeren finten — 

Man kennt fie doch an einem fihern Zeichen: 
Die Götteraugen können nimmer blinken! 

So hab’ ih auch, daß aöttlih Du, erfahren 

An Deinem Blid, dem großen, ftillen, Haren. 


Fürcht' ich den Blick? Was hat denn”der zu fcheuen, 
Der nichts erhofft, nichts will — er darf es ſchwören — 
Als fi an Deinem bolden Bild erfreuen, 

Als Deine janfte, fühe Stimme hören? 

Es wandeln fi in Parbdel und in Leuen, 

Die Thoren freilich, die ſichſſelbſt bethören; 

Doch, wenn auch jezumweilen jold ein Thor er, 

Die Haren Sinne diesmal nicht verlor er. 


Ya, bei dem Argostödter ſei's geichiworen: 
Ich habe, wie dem weiſen Mann gebühret, 
Das Kraut, das zauberkräft'ge, nicht verloren, 
Das er mit feinem heil’gen Stab berühret — 
Demielben Stab, Ihr Herrn GCommentatoren, 
Mit dem die Schatten er zum Hades führet! 
Denn um das ernfte Bild des Todes ranlen, 
Der Lebensweisheit duftigfte Gedanken. 


297 


298 


Deutſche Rundſchau. 


Der Tod iſt Trennung — Trennung von dem Leben 
Und von dem Lieben! ach, und von den Lieben, 

Die wir gehegt, gepflegt, an die gegeben 

Wir unſer Herz mit allen reinſten Trieben; 

Vom Werk, das aufgerichtet kühnſtes Streben, 

In das wir unſern Namen ſtolz geſchrieben! — 

„Den Baum, der einmal hat beſchirmt Dein Träumen, 
Sollſt Du verlaſſen ohne Raſt und Säumen!“ 


Schwermüth'ge Weisheit weltvergeßner Inder! 
Wir Andern freilich ſoll'n es anders halten; 

Wir ſollen wieder werden wie die Kinder, 

Uns freu'n des Lebens wechſelnder Geſtalten, 
Und, blumenreicher Pfade frohe Finder, 

Die Stirn nicht ziehn in grämlich düſtre Falten; 
Wir ſoll'n — ſo viel! beſonders auch: bereit ſein! 
Denn Keiner weiß, wie bald es wird ſo weit ſein. 


Trennung iſt Tod! wie bald muß ich mich trennen 
Von dem geliebten Bild der Guten, Schönen, 

Die ich nicht einmal kann mit Namen nennen, 

Ob die Philiſter mich darob verhöhnen 

Und Schwärmer ſchelten: lerne ſie nur kennen! 
Man kann ſich nicht zu früh daran gewöhnen, 
Daß, was da glänzt, mit nichten immer Gold iſt, 
Und eine Huldgeſtalt nicht immer hold iſt. 


Armſel'ge Spötter, die Ihr nichts begreifet, 
Wenn Ihr es nicht in plumpen Händen faſſet; 
Die Ihr vergnüglich in dem Schlamme ſchleifet, 
Was Euch in Euren ſchnöden Kram nicht paſſet; 
Und was in edlen Herzen blüht und reifet, 

So gründlich aus dem guten Grunde haſſet, 
Weil es Euch zeigt in Eurer ganzen Kleinheit, 
Und an den Pranger ſtellet die Gemeinheit. 


Hinweg! verbittert mir nicht dieſe Stunden, 

Die letzten nicht! ſchon ſinkt der Abend nieder, 

Es kommt die Nacht; ſie iſt dahingeſchwunden; 
Das Frührothlicht, die Sonne kehren wieder — 
Ich bin fein Prahler mit erlog’nen Wunden ; 

Ich weiß: die Vögel fingen ihre Lieder, 

Die Wieſen gligern, Morgenwinde wehen, 

Es rauſcht der Wald — ala wäre nichts geichehen! 





Sommerfäden. 299 


Was war’ denn auch? ich hab’ ein Buch geleien 
Doll jonnigfter, voll köftlichfter Gedanken; 

63 fand mid krank, nun bin ich ganz genejen — 
DVorüber ganz des Herzens banges Schwanken; 
Ich bin im Haus Melpomene's geweſen, 

Da fielen fie, des Alltags enge Schranten; 

Ich hab’ ein raphaeliich Bild erblidet, 

Das mir die tieffte Seele hat erquidet; 


Ih hab’ geihaut in traute Mondeshelle, 

Die auf das Pult des Grüblers ift gefallen; 

Ich hab’ gefniet, ein Pilger, auf der Schwelle 

Don eines Griechentempels Marmorbhallen; 

Mir hat geraufcht kryſtallen Flarfte Welle, 

Die ich zur reinften Kugel durfte ballen; — 

Sie koftet nichts die Helle, Hoheit, Klarheit; 

Mir find fie Pfand und Gleichniß ew'ger Wahrheit. 


Ade, ade! ich kann und will nicht jagen, 

Du mögeft meiner freundlich, mild gedenten! 
Dod Did mag ſanft des Lebens Woge tragen, 
Nie Bosheit Dir die ſchöne Seele kränken; 

Und wenn bes Zweifels Klippen Did umragen, 
Dein hoher Stern auf eb’ne Bahn Dich Ienten, 
Dir rein betvahren Deine reinen Schtwingen! 
Dein letzter Hauch, ein Schwanenlied, verflingen! 


Ade, ade! Du lieber Schwan vom Weiten! 
Kehr’ glücklich wieder heim zum beil’gen Grale! 
Grüß’ mir den Vater Parcival zum Beften; 
Die ftolge Burg Salvat gar viele Male! 

Und wenn bei edler Menichen Weihefeiten 

Das Kleinod wird verehrt, die Demantſchale — 
Auch mir einft ſprühten ihre Strahlenfunten! 
Auch ich Hab’ von dem theuren Blut getrunten! 


kiterarifhe Rundſchau. 





1. Die Geier-Wally. Eine Geſchichte aus den Tyroler Alpen von 
Wilhelmine von Hillern, geb. Bird. 2 Bde. Berlin, Gebrüder 
Paetel. 1875. 


Bekanntlich find die Triumphe der Dorfgefhichte eigentlich nie unbeftritten ge= 
weſen. UWeberwältigende Talente, wie George Sand, Immermann, Auerbadh, haben 
ihr im Sturm eine glänzende Stellung erobert, und mit der „Frau Profefforin“, der 
„Grille“ drang fie auf die Bühne vor, wo Anzengruber noch heute Erfolge feiert. 
Dennoch haben, mitten in der Hochfluth diefer Erfolge, Kritik, Lejer und, bis auf 
einen gewiffen Punkt, auch die Dichter die eigentHümlichen Schwierigkeiten und Ge— 
fahren der neuen Gattung wohl gemerkt. Es jchien nicht Jedermanns Sache, die 
Sprache des Landmannes poetifch zu verwenden, ohne fie zu berjtümmeln und zu 
fälfchen, wie der befannte, herzige Theaterdialeft jattfam beweift, zu dem unfere 
Künftler und Künftlerinnen fich verpflichtet fühlen, jobald fie Kniehofen, Nägelſchuhe, 
Gemsbarthüte, Mieder und kurze Rödchen anlegen. Auch jene taufend fleinen Züge, 
welche einem menjchlichen Xebensbilde erſt die volle, friſche Realität geben, gehorchen 
meiftens nur undolllommen dem Dichter, der uns in eine Sphäre führt, in der er 
jelber nur Gaft war. Und was noch mehr jagen will: die Lebens» und Bildungs— 
verhältniffe des Bauern, des Hirten, de ländlichen Arbeiter bedingen eine gewiffe 
elementare Einfachheit der Motive, welcher nur Kräfte erjten Ranges das Geheimniß 
einer vollen und ausgiebigen Wirkung entloden; das mittelmäßige Talent entgeht da 
ſchon ſchwer der Verfuchung, ſich mit Anleihen bei der Sphäre des gewohnten, ge 
bildeten Bewußtſeins zu helfen, nicht zum Vortheil der veinen, ungefälfchten Färbung 
des Bildes. Bei dem Gebilbeten jchafft die Thätigkeit des Geiftes ein weites, jo zu 
fagen neutrale Gebiet, auf welchem die Leidenschaften, wenn nicht Frieden ſchließen, 
fo doc fich in den Formen eines Völkerrechtes beivegen, und welche® dem Dichter 
reiche Hilfsquellen bietet für Belebung und Erbeiterung feiner Bilder, für Vermitte— 
lung der Gegenfäße, Abftufung der Farben. Auf alle diefe Vortheile muß die Dorf- 
geichichte verzichten. Sobald der Dichter hier über die enge Grenze der reinen Idylle 
hinaus geht, empfängt ihn der Kampf elementarer Leidenschaften und materieller In— 
terefjen in feiner ganzen unvermittelten Härte, und nur eine ungewöhnliche Reinheit 
und Stärke der Empfindung, eine nicht gemeine Sicherheit und Feſtigkeit der Zeich- 
nung kann es ihm gelingen laffen, diefe rauhen Kämpfe um die erften, einfachjten 
Güter des Lebens in den Grenzen ber jchönen Erfcheinung zu halten. 

Was nun die „Geier-Wally“ angeht, jo Hat fie der Dichterin feine dieſer 
Schwierigkeiten und Gefahren eripart; ja ed gewinnt den Anjchein, ala hätte Frau 
von Hillern gerade die allerbedenklichjten derjelben weit eher aufgejucht ala ängjtlich 
gemieden. Sie hat vor Allem den fühnen Wurf gewagt, eines der Härteften und 
poetifch bedenklichften Motive unferer nationalen Heldenfage uns in der belliten, 


Literarifche Rundſchau. 301 


nüchternjten Beleuchtung alltäglicher Wirklichkeit zu zeigen. Das Weib ala Trägerin 
ber wilden, ungebändigten Naturkraft, die Walküre in Bauerntraht, Brunhild im 
Tyrolerrock! Faft ausfchlielich dreht fich der äußere Verlauf der Handlung um Lei— 
ftungen Hünenhafter Körperfraft, um Ausbrüche dämonifcher Wildheit. Die Heldin 
kämpft mit dem Lämmergeier um feine Brut, erwidert die Mikhandlungen ihres 
Baterd mit ingrimmigem, fteinhartem Troß, jchlägt einen aufdringlichen Freier halb 
todt, treibt einen Haufen robufter Knnechte und Mägde mit brennenden Holzſcheiten 
in die Flucht, vertheidigt mit dem Aufgebot aller Kraft gegen ihren Geliebten den 
erften Kuß. Ihrer vermeintlichen Nebenbuhlerin Legt fie auf öffentlicher Kirchweih 
in Brunhild’8 Geift, aber in der Sprache des Dorfes den Text aus; den Geliebten, 
ber fie beleidigt, überliefert fie jo Fury angebunden wie eine alte Burgundenkönigin 
dem Meuchelmörder; und als dann die Reue fie überfällt, findet auch diefe zunächſt 
in einem graufigen Gewaltjtüde von Körperftärfe und ZTodesmuth ihren Ausbrud. 
Natürlich gehört dann auch ihre Liebe dem Manne der eifernen Muskeln und des 
grimmen, unbeugjamen Muthes, dem Bezwinger der Bären und wilden Thiere, dem 
Manne, der das Herz des fünfzehnjährigen Mädchens ein- für allemal bezaubert, als 
er ihr entgegen trat, mit dem blutigen Fell eines erlegten Ungeheuers geſchmückt, und 
als er ihren Vater bezwang, den wildeften, gefürchtetften Raufbold des Landes. Wie 
losgelafjene Naturgewalten ftoßen überall die Leidenfchaften auf einander, ohne Er- 
barmen wüthet die fchroffe, eigenwillige Selbftfucht von Vater zu Kind, von Nach— 
bar zu Nachbar; die Liebe unterwirit ihre Opfer zu unentrinnbarer Knechtichaft. 
Und bei diefer Ueberkühnheit der Motive und Situationen wird faum einmal gejagt 
werden dürfen, daß die Dichterin fich beſonders bemüht hätte, die Härten der 
Grundanlage in ungewöhnlihem Maße zu verdeden. Vielleicht ift e8 diefer Um— 
ftand, den wir zu tadeln hätten. Das Leben der „Geier-MWally“ in den Einöden 
des Hochjochs z. B. wird ganz in der Weife des Märchens geichildert, oder jagen wir, 
um nicht mißverftanden zu werden, nach der Seite der Empfindung bin, während es 
doch wol fchwerlich überflüffig war, überhaupt nur die Möglichkeit jolcher Eriftenz 
finnlich anfchaulich zu machen. Die epifche Darftellung hat vor der dramatifchen jo 
viele Bequemlichkeitsvortheile voraus, daß fie von Nechtöwegen nicht auch noch Be- 
freiung von den ihr eigenthümlichen bejondern Pflichten fordern darf, und unter 
diefen fteht Vollftändigkeit und Anjchaulichkeit der vorgeführten Bilder nicht in letzter 
Reihe. Auf der Bühne Hat der Dichter nur für das Empfinden und Handeln 
feines Helden zu forgen; für die finnliche Erfcheinung ift der Schaufpieler und Deco- 
rateur da. In der Erzählung muß uns die vom Dichter befruchtete Phantafie die 
finnliche Anſchauung erjeßen, und da gewinnen denn auch alle Kleinen Nebenzüge des 
Bildes ihre Bedeutung. 

Indeſſen hat die „Geier-Wally” nicht auf kritiſche Empfehlungen gewartet, um 
in wahrhaft glänzender Weile ihren Weg zu machen. Die „Rundichau“ ift ihr 
zu gutem Theile für die ungewöhnlichen Erfolge mehrerer ihrer Nummern vderpflich- 
tet; die Begeifterung, der Lejerinnen namentlich, jo weit unfere Beobachtung reicht, 
war ungetheilt, ohne Mißton; und auch der Schreiber diejer Zeilen darf hinzufügen, 
daß jenes oben ausgeſprochene Fritifche Bedenken ihn feinen Augenblid verhindert 
hat, der Erzählung mit fteigender, lebhafter Theilnahme und mit voller, warmer 
Empfindung ihres ungewöhnlichen dichteriichen Werthes zu Tolgn. Mag fie nad 
der Seite des feiner auögeführten Detaild manchem Wunfche Raum laffen; fie ent- 
Ihädigt dafür reichlich durch die beiden Hauptvorzüge einer erzählenden Dichtung: 
durch energifche, mächtige Führung der Handlung und duch Wahrheit und Tiefe der 
Gharakteriftil. In der Handlung feine Vacanz, fein jchattenhaftes Schwanken, eine 
Lähmung und Ankränkelung durch gemachte Reflerion; in der Charalteriſtik feine 
Unflarheit, fein Zugeftändniß an äußerliche Berechnung, fein Schwanken gegenüber 
den gefunden, natürlichen Conſequenzen feft umriffener, ar angeichauter und menſch— 
lich wahrer Grumdannahmen. Die „Geier-Wally“ mag hier und da hart, roh, unge- 
ſchlacht ericheinen; ihre braunen Fäuſte, ihre wuchtigen Tritte, unter denen die Dielen 


302 Deutiche Rundſchau. 


des Fußbodens frachen, ihre „Ichlagfertigen” Gewohnheiten mögen unfer Ideal weib- 
licher Liebenswürbdigfeit wol einmal in die Enge treiben. Dennoch gewinnen wir fie 
lieb, denn fie ift durch und durch wahr, gefund, urkräftig; al’ ihr Thun ift aus 
einem Stüd: fie hat immer den vollen Muth ihrer Meinung und ihres Gefühls; ihr 
Hab und Troß gegen den ungelegenen Bewerber und den eigenfinnigen Vater weiß 
freilich don feinem Zugeftändniß, feiner Verföhnung, nicht einmal am Sarge; aber 
fie weift auch feine, noch jo harte Folge ihre Handelns feige zurüd; fie zahlt im— 
mer ehrlich und voll ihre Schuld; und wie ihr Haß nur durch die Gluth ihrer 
Liebe übertroffen wird, fo ihre Schuld durch die heldenhafte Urkfraft ihrer Reue und 
Aufopferung. Es ift die Freude an dem ungebrochenen, reinen Auffchrei der Natur 
und an der ungejchwächten Gewalt fittlichen Empfindens und Wollens, die una An— 
geſichts diefer immerhin gewagten „hero iſchen“ Idylle für alle Härten entichädigen. 
Wir athmen überall frifche, lebenskräftige Bergluft und lernen dabei auch einen gelegent= 
lichen rauhen Windftoß ertragen. Die „Geiev-Wally”, um zufammen zu faffen, ift 
fein zartes Paftellbild, auch fein reich und voll ausgeführtes Oelgemälde; Schatti« 
rung, Färbung, Perfpective laſſen Manches zu wünjchen übrig; aber wie aus Stein 
oder Bronze treten die Hauptgeftalten in mächtigen, reinen Linien hervor zu ergrei= 
fender Wirkung. „Das Gewaltige ftirbt, aber es ftirbt nicht aus,“ jchließt die Ver— 
fafferin. In gewiffen Sinne mag fi das Wort von dem Heldenpaar der Dichtung 
auf die leßtere jelbft übertragen. 


— — — 


2. Erzählungen von Marie Freiin von Ebner-Eſchenbach. Stuttgart, 
J. G. Cotta'ſche Buchh. 1875. 

Wir wünſchen, die Aufmerkſamkeit unſerer Leſer ganz beſonders auf dieſes 
Bändchen zu lenken; es enthält nur fünf kleine Erzählungen, allein ſie gehören zu 
dem Beſten, was auf dem Gebiete der Novelle die letzten Jahre gebracht haben: 
Bilder modernſten Culturlebens, die der harten Realität des Lebenskampfes nicht 
ſchmeicheln und in einer Darſtellung voll ſchlichter, jedes gemachte Pathos, jede 
redſelige Reflexion ausſchließender Objectivität das Geheimniß der Wirkung finden. 
Aber dieſe Wirkung, unbeſchadet ihrer durchgreifenden Energie, iſt doch überall durch 
einen warmen, lieben, ächt weiblichen Grundzug gemildert. Die Verfaſſerin beſchö— 
nigt nirgends die Härten der Welt, welche ſie ſchildert; aber ſie hat ſolche Beſchöni— 
gung auch nicht nöthig, denn man fühlt auf's Gewiſſeſte, wie alle Formen, in denen 
‘ die Gemeinheit fich breit macht, feinen Augenblid im Stande find, ihren Glau— 
ben an den Adel des Herzens, an die Wirklichkeit und Unvergänglichkeit des Sittlich- 
Guten herabzuftimmen, Weitaus an die Spike der kleinen Sammlung tritt durch 
fünftlerifche Rundung der Form wie durch Reichtum und Bedeutung des Inhalts 
die erite Erzählung, „Ein Spätgeborener“ (p. 1—104), ein wahrhaft ergrei- 
fendes Blatt aus der Liebes: und Siegesgeichichte des deutfchen, oder jagen wir Lieber 
des echt menfchlichen Herzens. Ein Eleiner Beamter, claſſiſch, aber unpraftiich er 
zogen, lebt in engfter äußerer Beſchränkung einem glüdjeligen Cultus feiner Ideale. 
Mas ihm die peinlichfte Pflichterfüllung an Zeit und Kraft übrig läht, gehört der 
Mufe, einem theilnehmenden Freunde und der ftillen Verehrung einer Dame, zu ber 
er aufblidt wie zu den Sternen, „die man nicht begehrt, während man doch ihrer 
Pracht fich erfreut.” So jchreibt er alle Jahre fein Drama, lieſt e8 dem freunde 
vor, trägt e8 zur Intendantur und Holt e& auch wieder ab: bis er faum noch dem 
Gedanken Raum gibt, daß man ihn jemals nicht zuridweilen könne Da zieht 
denn diefen Gerechten urplößlich der Dämon des Intereffentampfes in feine verhäng- 
nißoollen Kreife. Man Hält fein jüngſtes Stüd für das Werk eines hochgeftellten 
Mannes. Es wird angenommen, geipielt und — von der Journaliſtik der politischen 
Gegner frivol und erbarmungslos in den Staub gezogen. Und nicht genug damit: 
auch fein ſüßes Herzensgeheimniß entreißt man dem Armen, ftellt e8 ſchamlos im 
Parteilampfe bloß, beutet e8 aus. Die Herren von der Tagesprefje behandeln ben 





Literariiche Rundſchau. 308 


Idealiſten Lediglich ald Object für amüfante und Iucrative Studien. So brechen 
denn alle feine bejcheidenen Lebensverhältnifie über feinem Haupte zufammen, und 
da endlich Liebe und edelmüthige Freundſchaft ihm zur Rettung die Hand reichen, 
ift e8 zu ſpät. Die Wirbel des Intereſſenkampfes fchlagen wieder einmal über einem 
gebrochenen Herzen zufammen, und der trübe Strom fluthet weiter. — Kaum weni- 
ger düfter ift der Grundton der zweiten Erzählung, „Chlodwig,” (p. 105—216), die 
Geſchichte eines einfachen, biedern Mannes, der verderben und verfommen muß, weil 
er Liebe bietet und Liebe hofft von jener „Gejellichait“, im welcher nur der Schein, 
die Rüdficht, die bankerotte Selbftfucht auf dem Throne fiht. Dabei erfreut ein 
durchlaufender Zug feinen, ungefuchten Humors, der fich nirgends aufdringt, ſondern 
überall nur mit der größten Bejcheidenheit den Hintergrund und die Nebenperfonen 
flreift. Es ift beinahe wie ein wehmüthiges Lächeln, welches unter all’ der Herzens- 
bärtigkeit, die den Helden erft zur Verzweiflung und dann zum Wahnftnn treibt, wie 
ein Beichen ericheint, daß das gute Menſchenthum, wenn es von der Selbitiucht 
gefliffentlich zurüdgedrängt wird, immer noch in dem Mitleid und der Liebe Derje 
nigen eine Stätte findet, die unbemerkt im Schatten wandeln. Die „Erfte Beichte“ 
(p. 217— 268), mehr ſtizzenhaft gehalten, gewährt einen überrafchenden Einblid in 
die Natur der Verwüftungen, mit welcher eine in Formen und Abftractionen eritarrte 
Religiofität die Jugenderziehung in gewifien Sphären der modernen Gejellichait be- 
droht. Die „Großmutter“, (p. 218—269) illuftrirt in einem kleinen, aber mit küh— 
nem, ficherem Zuge bingeworfenen Genrebilde die verhärtende Wirkung der grimmen 
Lebensnoth ſelbſt auf urfprünglich edle Gemüther. Die lehzte Erzählung, „Der 
Edelmann”, (p. 279— 345), wenn auch fünftlerifch vielleicht nicht gang auf der Höhe 
der übrigen Nummern der Sammlung, ift eine wahre Generalbeichte, das ergreiiende 
Glaubenäbelenntniß einer echt adligen, gegen die wüfte Noth des gemeinen Lebens— 
fampfes mit der Kraft einer wahren und urfprünglichen Natur anftrebenden Seele. 
Man braucht diefe Anfichten nicht ſämmtlich zu unterfchreiben, um fie gleichwol nach 
ihrem vollen Werthe zu ſchätzen. So ergibt fich denn die Verfafferin, wie geſagt, 
keineswegs optimiftiichen Jllufionen; fie erfpart dem Lefer nicht den Anblid jener 
umerbittlichen Gewalten, welche von jeder durchbrechenden höhern Gulturftufe auch 
den vollen Preis vermehrter Arbeit und Kämpfe fordern. Aber ihre Bilder wirken 
dennoch nicht verftimmend; denn fie find vor Allem nie unmwahr, nie verbittert, und 
ber feite, feine Zug ber Umriffe, die echt künftleriiche Vertheilung von Licht und 
Schatten, die vollflommene Beherrichung der Form umfleiden auch den Ernſt, ja die 

Härten des Inhalts mit dem Zauber der Schönheit und Poefie. E 


= 


3. Gabriel, Roman von S. Kohn. Zweite umgearbeitete Auflage. 2 Bde. 
Jena, 5. Goftenoble. 1875. 

4. Ein Spiegel der Gegenwart. Roman von ©. Kohn, Verfafler des 
„Gabriel“. 3 Bde. Jena, 5. Goftenoble. 1875. 

Wer oder was ift „Gabriel“? Das ift eine im deutichen Leſerkreiſen, wenn 
wir nicht irren, unbedenklich ohne Jemandes Beleidigung aufzumerfende Frage, obwol 
es um eim deutiches Buch fich handelt, welches zwanzig Jahre alt ift und in mehr 
als zehn Ausgaben, in franzöfiicher, englifcher, italienifcher, hebräifcher Ueberſetzung 
ben Weg um die Erde gemacht hat, bevor es in der vorliegenden Ausgabe zuerft das 
eigentlich deutiche Publicum erreicht bat. Aus der Prager Judenſtadt (ba erichien 
Gabriel zuerft, bei Wolf Pafcheles im Jahre 1854) nad Paris, New-Pork, Ein- 
einnati, Jerufalem, Warichau, Yondon, von da in engliichem Gewande zurüd in bie 
Tauchnitz'ſche Sammlung engliicher Ueberfegungen aus dem Deutichen und nun erft 
auf den großen bdeutichen Markt. Sind das nicht fata genug für einen libellus? 
Freilich, raus und wunderlich genug fieht auch das Ding aus ben Augen, und 
Erfolg wie Mißerfolg erflären ſich bei genauerer Belanntfchaft natürlich genug. Bor 
Allem ift die Sprache für den deutjchen Gaumen etwas fremdartig flarles üd. 





nn De 


304 Deutſche Rundſchau. 


Was heißt z. B. Bochurim? Aſchkenes? Schiur? Oberſchammes? Lamden? Schorim ? 
Was bedeutet: „Seid mir eleph peanim mahel?* Dieſe Blumenleſe iſt den erſten 
fünf Seiten entnommen und die folgenden find zum Theil noch ergiebiger. Man 
wünſchte die erflärenden Anmerkungen in den Text und das überfluthende hebräiſche 
Deutich unter denfelben. Aber freilich, Leben und Kraft ift dabei doch in dem 
Dinge, mehr ala in Dubenden glatter, vegelvchter Romane, und es ift ſchon zu 
begreifen, daß es Diejenigen pacdte, bei denen fein mächtig fluthender Gedanken⸗ und 
Empfindungsftrom den zudenden Nerv berührt. Wir haben es, wie man merkt, 
mit einer poetijchen Kundgebung ſpecifiſch-jüdiſchen Bemwußtfeins zu thun, und zwar 
ftellt fich diefelbe, im Gegenjate gegen die politifchen und focialen Tendenzen eines 
großen Theil der jüdifch-deutjchen Literatur, ganz ausdrüädlich in den reli- 
giöfen Mittelpunkt der altteftamentlichen Lebensanfchauung. Einem tragifchen Con— 
flict ftarrer, jüdifcher Gefegestreue und jüdifchen tiefen Familiengefühls entfließt das 
Intereſſe der Handlung, die fih um die Auffaffung und Wirkung jenes altteftament- 
lichen Wortes dreht, welches den „Mamfer“, d. h. den nicht im rechtmäßiger Ehe Er- 
zeugten, „aus der Gemeinde bed Herrn verbannt”. Gabriel, aus reicher Kaufmanns 
familie, glüdlicher, Leidenfchaftlich Tiebender Bräutigam, wird an das Gterbebett 
feiner Mutter gerufen, um zu hören — wie die geängftigte Frau fich ſelbſt des 
Ehebruchs anklagt und ihn, den Sohn, damit moralifch vernichtet. Alles meidet, 
verſtößt ihn; die Braut jelbft wendet fich in fanatifchem Grauen von ihm ab und reicht 
dem eriten, beten ungeliebten, fremden Manne ihre Hand, den die Familie ihr zuführt. 
Da „Flucht er den Weibern und frommen Hallunfen” und denkt nur noch an Rache. 
Er wird Chriſt, Krieggmann im Heere des kühnen Mansfeld, und trifft dann endlich 
in der Prager Yudenftadt feine lange gefuchte Beute. Das einft jo heit geliebte 
Weib weilt dort mit ihrem Kinde, während ihr Mann in die Hände der Mans- 
feldifchen gefallen ift und als Spion fein Echidjal erwartet. Charakteriftiich, von 
furchtbar poeticher Logik ift Gabriel’8 Nacheplan: dad durch feige Geſetzesfurcht 
graufame und treulofe Weib ſoll jetzt die Rettung ihre Gemahla mit — ihrer Ehre 
und ihrem guten Gewiſſen erfaufen. Sie foll ihrerfeitö zur Ehebrecherin werden und 
den Kelch der knechtiſchen Selbftverdammung bis auf den legten Tropfen leeren. Schon 
ſcheint ihr Schickſal beftegelt, da findet Gabriel den Gegenftand feiner quälenden 
Sehnſucht, jenen bleihen Mann, der einjt ihn, den noch glüdlichen Knaben jo 
ftürmifch auf der Straße Herzte und küßte und in dem er jeit jenem Geftändnifje der 
Mutter feinen wirklichen Vater ahnte. In der Erfennungsfcene jchließt fich die ge- 
waltjam zerriffene Kette, welche die Seele des jüdiſchen Mannes mit der Seele feines 
Volkes verbindet, die Furien entweichen und das gequälte Herz bricht in der Ver— 
fühnung des Todes. Iſt das nicht in tiefer Wahrheit geichaut und empfunden ? 
Ob nun in dem doch innerlich unvermittelten Gegenſatze dieſes ſelaviſchen Buchftaben- 
dienftes auf der einen und diefer unbezähmbaren Leidenjchaft auf der andern Seite 
wirflich der Kern des jüdifchereligiöjen Lebens ruht, darüber maßen wir uns natür- 
lich fein Urtheil an. Auf alle Fälle wird der durchichlagende fosmopolitiiche Erfolg 
des Romans wenigftens ebenſo jehr durch die Energie und Naturtreue der Charakter- 
zeichnung und durch das zwar ungejchulte, doch bedeutende Erzählungstalent des 
Verfaſſers bedingt worden fein, als durch nationalsreligiöfe Sympathien. Beide Eigen- 
Ichaften haben ihn denn auch in dem neueften dreibändigen Romane: „Ein Spiegel 
der Gegenwart“ nicht verlaſſen, obwol dieſes neue Werk des Verfſaſſers faft 
mehr von den Fehlern ala von den Vorzügen des früheren zeigt. Daß Kohn ein 
höchſt begabter Naturalift jei, läßt fich auch hier nicht verfennen. Aber während im 
„Gabriel“ das ungewöhnliche Intereffe des fremdartigen Stoffes den Mangel an Fünft- 
leriſchem Maß faft verdedte, tritt diefer im „Spiegel der Gegenwart“ um jo empfind- 
licher hervor. Wir befinden uns diesmal in dem heiteren, glänzenden Wien von 
1873. In den bdrittehalb Jahrhunderten, die feit jenen düſtern Greigniffen in ber 
Prager Judenſtadt vergingen, ift Vieles ander geworden in Israel. Die Juden 
reden nicht mehr halbhebräiſch, ſondern treffliches Deutsch; fie find Börſenbarone 


Literarifche Rundſchau. 305 


oder resp. grundgelehrte idealiftiiche Doctoren, mit der ftolgeften Nriftofratie auf Du 
und Du. Zu ihnen gehen die „Ritter“ in die Schule, ihre „Koftzettel“ und Gonto= 
corrents machen das fociale und politiiche Wetter, ihnen beichten Fürſten und Grafen, 
ihre Erbtöchter find der beneidete Siegespreiß der glüdlichen Helden, und felbft unter 
den Schreden des „Ktrrachs“ verlieren fie allein nicht den Kopf. Bravo! Mir freuen 
uns don Herzen des Fortſchritts und wollen mit dem Berfafler nicht darüber rechten, 
daß er in diejer Schilderung des modernen Wien zwiſchen den Cavalieren germanifcher, 
flavifcher und femitifcher Race für den geplagten, arbeitenden deutſchen Mittelftand 
fein Pläschen fand. Er mu ja feine Welt und feine Leute kennen; wenigftens ihre 
Geſchäfte kennt er gründlichit, wie die wahrhaft virtwojen Schilderungen des 
tabbaliftiichen Börfentreibens beweifen. Das Lieft fich denn doch noch befler ala der 
Proceh Ofenheim und der fünftige Gulturhiftorifer wird dieſe Camera obscura unferer 
Zuftände zu ſchähen wiſſen. Der feiner empfindende Leſer jedoch wird nur zu oft durch 
jene Uebertreibungen geftört werden, von denen wir oben jprachen, durch jene Häufung 
von Effecten, die eben dadurch des beften Theils ihrer Wirkung verluftig geben oder in 
das Gegentheil umfchlagen. So ift es 3. B. gewiß recht ehrenwerth und erbaulich, wenn 
ein braver Sohn fein Yebenäglüd daran ſetzt, um feines Vaters Schulden zu zahlen. 
Aber ift es nicht genug, wenn er dabei in vier Jahren einmal eine halbe Million 
verdient? Muß das Erperiment durchaus dreimal don vorn angefangen werben ? 
Und muß der ZTugendritter dabei nothwendiger Weile eine geliebte Braut ftill- 
Ihmweigend verlaflen, blos um des heldenmüthigen Opfers, um des übeln Echeins 
willen? Gehört es ferner zum „Spiegel ber Gegenwart“, daß ein genialer und 
großartig denfender Mann fich in folchen Tagen auch noch gefliffentlich den Schein 
des Geizes gibt, fich das Nothwendige verfagt, da er doch fehr wohl weiß, dak das 
den endlichen Erfolg eher erichwert ala erleichtert? Man muß aus bekannten Grün- 
den nicht zuviel beweifen wollen. Auch daß die Tugendhelden ſchließlich neben den 
jelbftverftändlichen wunderfchönen und engelguten Frauen und dem vielen, vielen 
Gelde auch noch hohe Orden und Titel befommen, dürfte auf daffelbe Blatt gehören, 
fo jelbftverftändlich e& im Vaterlande des „Ritters von Pont-Eurin“ auch Manchem 
ericheinen mag. Est modus in rebus! 


— —— 


5. Juſchu. Tagebuch eines Schauſpielers. Von Hans Hopfen. Stutt- 
gart, Eduard Hallberger. 1875. 


Dieje Erzählung bat, unbeichadet ihres Kunſtwerthes, ein ernftes culturhiſtoriſches 
Intereffe. Hans Hopfen fchneidet mit ſcharfem Meſſer in das wilde Fleiſch der Zeit. 
Ohne Groll, aber auch ohne Jllufion vermittelt er einen abkühlenden Blid in Lebens- 
freife, welche unfere Ueberlieferungen mit einer gewiflen Poeſie des Herzens fonit gar 
zu gem in Berbindung bringen. Wir befinden uns unter lauter jugendlichen, 
deutſchen Jüngern der Mufen, Doctoren, Studenten, Künftlen, und was wir fehen 
und erleben, ift eine Reihe von fchnöden Triumphen herzlos materialiftiicher Lebens⸗ 
anfchauung und überzeugtefter Selbitanbetung. Daß die Künſtler“ einen kranken 
Gameraden auf der Stelle jchnöde vernachläffigen, daß jelbit die „Geliebte“ „aus 
Furcht vor den Poden“ ihn meidet, mag hingehen. Auch die einft fo poetiichen 
„Bagabunden“ find ja heute zu Tage gute „Realiften” geworden, wenn auch noch 
nicht alle erſten Liebhaberinnen fo aufrichtig verfahren, wie bier die fchöne Prima- 
donna Erneſtine in einer Abichiedöfcene für's Leben (p. 85—86): „Na, denn nicht, 
lieber Mann!“ ruft fie, als der Geliebte ihr nicht den Willen thut, fpringt in einen 
Walter und — ftredt ihm unter Zornesthränen die Zunge heraus. Ueber Verhim- 
melung und Schönrednerei ift da nicht zu Magen. — Nun aber treten wir unter den 
jungen Nachwuchs der modernen Wiſſenſchaft, unter die eigentlichen Streiter bes 
Geiftes. Wir belaufchen fie in der Stunde der Arbeit und der Erholung, am Kranlen- 
bett, am Secirtiich, im vertrauten Freundesgeſprüch, wie bei Tanz und Spiel, bei 
Becherllang und Yiebesluft. Und was wir jehen, was wir hören, es ift überall und 

Deutije Rundſchau. 1, 11. 20 


306 Deutſche Rundſchau. 


in alle Wege daſſelbe: die harte, eiſerne Selbſtſucht, die Anbetung des eigenen 
Ich, modificirt durch Temperament, Umſtände, Bedürfniſſe, im Grunde aber überall 
Alleinbeherrſcherin der Lage. Die Titelheldin „Juſchu“ (Joſephine), ein ächtes 
Wiener Vollskind, luſtig, warmblütig, leichtſinnig, ohne alle Bildung, vertritt im 
Grunde allein die idealen Gewalten des Lebens. Sie geräth in die Hände eines 
jungen, ächt modernen Strebers, der ſich aus purem Eigenſinn ihretwegen mit ſeinen 
reichen Verwandten überwirft, ſie dann aber durch gräuliche Mißhandlungen das 
Opfer abbüßen läßt, bis ein Ausbruch der Verzweiflung den Knoten durchhaut. 
Wahrhaft verſöhnend wirkt nur die ſeeliſche Umwandlung Juſchu's unter dem Ein— 
drucke der Hoffnung, wirklich noch eine rechtliche, gute Frau werden zu können. 
Deſto ſchneidiger berührt dann freilich die Schlußkataſtrophe: das jähe, durch bloßen 
Zufall herbeigeführte Ende des herzloſen Burſchen, der ſich eben anſchickt, mit dem 
allerbeſten Gewiſſen, vor Eingehen einer reichen Heirath, von feinem durch das 
Schickſal der armen Juſchu nicht wefentlich verdüfterten Junggefellenleben feftlichen 
Abschied zu nehmen. „Zufall? Und wenn auch wirklich nur diefer! Sit denn der 
Zufall etwas Geringeres als der Heine Finger an der Hand des allmächtigen Gottes“ ? 
vi Ichließt der Verfaſſer. Ein trauriger Troft Angefichts eines Lebensbildes, wie 
ieſes! 


6. Novellen von Ernſt Eckſtein. 2 Bde. Leipzig, Günther. 1875. 


Eckſtein verfteht die nicht leichte Kunft, auf engem Raume die Fäden einer 
Ipannenden, raſcher und doch wohl vorbereiteter Entjcheidung zubrängenden Handlung 
zu ſchürzen, und diefer durch eine jcharf pointirte, wenn auch der Natur der Sache 
nah nur ſtizzenhafte Charakteriftit ein tieferes Interefje zu geben. Aus der Zahl 
der hier vorliegenden acht Novellen dürften vier nur als gut erzählte Anekdoten gelten: 
„Die Parthie zu Vieren“, „Der Leuchtturm in Livorno”, „Die beiden Luftipiel- 
dichter” und „Die Mofchee zu Cordova“ ; die leßtere eine allerliebite novelliftifche Reife 
ftudie über die Wirkung der maurifchen und der gothifchen Baufunft auf empfäng- 
liche Gemüther. Mehr Anfprüche erheben „Der Winternadhtstraum”, „Die Freunde 
des Todes“, „Margherita” und „Am Grabmal des Ceſtius“. In den „Freunden 
des Todes” triumphirt echt wohlthuend das geſammte thatkräftige Leben über 
egoiftiiche Blafirtheit. „Margherita“ und „Am Grabe des Ceſtius“ find Kleine, wirk— 
fame Tragddien in novelliftiicher Form, ergreifende Offenbarungen aus der geheim- 
nißvollen Werkjtatt, in welcher die Schuld die Machen des Schickſalsnetzes webt. 
Die Form ift durchweg don bemerfenswerther dramatifcher Kunft ohne Längen und 
von einer jprachlichen Sauberkeit und Sicherheit, die bei deutſchen Erzählern der 
Gegenwart leider nicht jo jelbftverftändlich find, ala e8 zu wünjchen wäre. 


nam 


7. Gejammelte Gedihte von Hermann Grieben. Heilbronn, Gebr. 
Henninger. 1875. 





— 


Kein Lieder-König oder Prinz, Gelegenheitsgedichte ſind's. 

Kein Dichterfürſt von Gottes Gnaden „Doch da jo mancher Wanderſpruch, 
„Hat hier zur Tafel Euch geladen; „Den ich bald hier, bald dort verfahte, 
„Sch biete nur beicheidnen Zins; „But Farbe hielt und nicht verblafte, 
„Statt eined großen Hauptgewinnd „So lad’ ich gern auf dieſes Bud) 
„Empfangt Ihr, was auf meinen Pfaden „Die alten Freunde zum Beſuch, 

„Ich fang in neun Olympiaden: „Und bitt’ auch neue mir zu Gaſte.“ 


Die Kritik wird diefe Widmung im Ganzen umterjchreiben können, ohne doch 
die Beicheidenheit de liebenswürdigen Dichter zu jcharf beim Worte zu nehmen. 
Denn durchweg bewährt fich Grieben als ein frifcher, fröhlicher, kerngeſunder Geſell, 
den man gern ein Stüd Weges begleitet. Es findet fich in diefen Gedichten jo ziem— 
lich Alles berührt, was einem wohlgearteten deutfchen Literarifchen Menſchenkinde 


Literarifche Rundſchau. 307 


biefer Tage ala fein Antheil an der allgemeinen Luft umd Plage ſchlecht und recht 
zufommen mag: von den fühen Jugenddnfeleien der eriten Fenſterparaden, ben Früh— 
lings⸗ und fFerien-Gelüften der Gymnaſiaſten- und Fuchszeit bis zum Mitwirken, 
Mitforgen und Mitgenieken des Mannes während der großen weltgeichichtlichen Action 
der letzten Jahrzehnte. Grieben war 1840—44 Student, ftand aljo mit vollem 
Bewußtjein inmitten der trüben und mächtigen Gährung des fünften Jahrzehntes, in 
welche alle Wurzeln unfrer heutigen Zuftände hinabreichen. Er hat dann erft in 
feiner nordiſchen Heimath (Pommern), dann am Rhein als ein Streiter der Prefie 
feine Stelle unter der Fahne des guten vaterländiichen Gedankens ausgefüllt, und in 
des Tages Lajt und Hitze, das fieht man deutlich, hat er fich ein fröhliches, unge 
brochenes Herz zu wahren gewußt. So fingt er denn von Frühlings» und Waldes- 
luft, von Familien-Glück und Leid, von den ftürmifchen Hoffnungen, den fchmerzlichen 
Enttäufchungen der vierziger, den glorreichen Erfolgen der jechziger und ſiebziger 
Jahre: und zwiſchen dieſen ernftern poetifchen Markfteinen feines Lebens gibt ein 
bunter Blumenflor von Gefellichafts-, Feſt- und Wander-Gedichten auch von jenen 
Kleinen Freuden und Wechjelfällen Kunde, die eine deutjche Schriftftellerthätigkeit mit 
Fug unterbrechen. Immer finden wir Grieben mitten in der Strömung des normalen 
gelunden Zeitbewußtjeine, immer beherricht er mühelos die Form zu freundlich an« 
regender Mittheilung. So fpricht uns diefe Sammlung denn an wie ein anmuthiges 
deutſches Normaltagebuch, in welchem jeder gejunde und wohlwollende deutiche Leſer 
fo zu fagen gute alte Bekannte aus fröhlichen und ernſten Tagen begrüßt. Das 
werden die „alten freunde“ diefer Lieder unterfchreiben, und auch die „neuen“, an 
welche die Einladung fich richtet, werden nicht ausbleiben. 


nm 


8. Laube’3 gefammelte Schriften. I. Band. Erinnerungen, 1810 
bis 1840, von Heinrich Laube Wien, Wilhelm Braumüller. 
1875, 


Man hat viel über das „redjelige Alter” gefpottet, und doch wußte ber alte 
Homer wohl, was er that, ala er die Gabe der „honiglühen“, immer nur erfreuenden, 
verfühnenden Rede gerade dem von drei Menfchenaltern gereiiten Neftor verehrte. 
Nichts Lieblicheres, Tröftlicheres fürwahr, als das Bild irdifcher Dinge, wie es, auf« 
tauchend aus den Nebeln leidenichaftlich-verworrenen Strebens, in einer geläuterten 
und berubigten, aber auch warm empfindenden Mannesfeele fich fpiegelt. Nun ift 
es allerdings vielleicht mehr, ala einem einzelnen, felbit dem bevorzugteiten, Manne ge= 
geben fein mag, die Reflere der überreichen, aber chaotifch gährenden Entwidelung, in 
deren Mitte wir leben, zum überfichtlichen Bilde zu geftalten. Auch Laube's Buch 
liefert nur Bruchftüde aus der Geſchichte jener ungeheuren geiftigen und focialen 
Umwälzung, die fich feit einem halben Jahrhundert um uns und an uns vollzieht. 
Aber was der Verfaſſer uns zeigt, das hat er wirklich gefehen, durchlebt, verarbeitet. 
Es trägt für den, der, wie der Berichterftatter, wenn auch immerhin einer jüngeren 
Generation angehörig, doch zu gutem Theile die Bilder mit eigenen Griahrungen ver- 
gleichen fan, in jedem Zuge den Stempel lauterfter Wahrheit. Und der Antheil 
des Verfaffer® an ben Kämpfen und Siegen, den Irrthümern und Errungenfchaften 
der inhaltichiweren dreißiger Jahre des Jahrhunderts ift ein jo bedeutender, daß ber 
Werth diefer Mittheilungen für die Belehrung, Warnung, Auferbauung des jüngeren 
Geichlechtes kaum überichägt werben kann. 

Heinrich Laube, im Jahre 1806 in Sprottau, Nieberichlefien, geboren, um⸗ 
faßt mit feinen Grinnerumgen die ganze grohartige Reihe von geiftigen Arbeiten und 
Kämpfen, welche für ums zwiſchen der Gründung des beutf Bundes und bes 
deutichen Kaiferreichd liegt. Seine YJugendeindrüde zeigen uns das norbdeutiche 
Landftädtchen, in welchem noch zehn Jahre nach Schiller's Tode die beiden „Rathö- 
tutſcher“, „Schiller und Wieland,” fich eines ruhigen Alleinbefipes ihrer claffiichen 
Namen erfreuten: denn wenn eine wanbdelnde Truppe auch einmal die „Räuber“ 

20* 


308 Deutſche Rundſchau. 


traveſtirte, wenn auch einmal ein geflügeltes Wort, ein Vers ſeinen Weg in die 
kleinbürgerlichen Kreiſe fand, ſo war man in dieſen doch noch weit davon entfernt, 
ſich um jo gleichgültige Dinge wie die Namen von Dichtern und Verfaſſern zu 
fümmern. Erwerb war Alles für den Bürger des Nderjtädtchens, mühjamer, küm— 
merlicher Erwerb; jchwer lafteten die Nachwehen des Franzoſenelends auf dem ge— 
fammten deutjchen Leben; jpärlich und unficher, jobald man fich von den großen 
Verlehrsmittelpunkten entfernte, waren die Berührungen der geiftigen Zeitftrömung 
mit den von der Nothdurft des täglichen Bedürfnifjes gedrüdten Maſſen, ſelbſt des 
Mittelftandes. Kaum daß bier und da einige Broden hausbadener Belletriftif in die 
Heinen bürgerlichen SKreife eindrangen. Die „Abendzeitung“, van der Velde, Tromliß, 
Alxinger, Ernft Schulze u. a. dergl. genügten dem Unterhaltungsbedürfniß der Winter- 
abende; Dramen, wie die „Kreuzfahrer“, „Clara von Hoheneichen“, „Die Räuber auf 
Maria-Culm“, der Abhub der Spätromantif, beberrfchten die Provinzialbühnen. 
Zwiſchen der gelehrten Fachbildung und der bewußtlofen Routine der materiellen 
Arbeit dehnte noch nicht die breite, mannigjaltig abgejtuite Sphäre des „gebildeten 
Zaienbewußtjeins“ fich aus, deren Einfluß im Leben der Gegenwart täglich mehr in's 
Gewicht fällt. Und jene Fachbildung ſelbſt, fie gehörte faſt ausſchließlich der Beein- 
fluffung des Staates an. „Das Studiren war Mode; von eracten Wiſſenſchaften 
„wußte man Nichte. Technik, Chemie oder jo etwas zur Lebensaufgabe machen, 
„hätte für einen bedauernäwerthen Irrthum gegolten, und im Grunde klammerte fich 
„Allee an den Staat“. 

63 Hat befanntlich bis in die vierziger Jahre gedauert, ehe fich das zu ändern 
begann, und jetzt, ein Menjchenalter weiter, find wir jo ziemlich bei dem entgegen- 
gejegten Extrem angelangt! So wurde denn auch Heinrich Yaube, (oder „der Laube 
Heinrich”, wie die Nachbarn jagten) auf den Gymnaften in Glogau und Schweibnik 
ſchlecht und recht mit der üblichen Lateinijch-griechiichen Wegzehrung für's Leben aus— 
gejtattet, wehrte fich nach Kräften gegen das aſchgraue Muderelend, welches befannt- 
li von dem Anfange der zwanziger Jahre an fich wie ein Mehlthau auf alle unjere 
Blüthen- und Hoffnungsfeime legte, und hielt dann im gejegneten Weinfommer 
1826, das Ränzel und die Öuitarre auf dem Nüden, wie ein Eichendorj’jcher fahren» 
der Schüler, mit leichtem Herzen und leichterem Beutel feinen Einzug in Halle. 
Die Glanztage der Burfchenjchaft, des Turnens, der jchwarz-roth-goldenen Studenten- 
berrlichfeit waren, wie man weiß, vorüber; aber, wenn „das Band zerjchnitten war”, 
der Geift lebte noch in Vielen, wenn nicht in Allen. Er ijt, Gott ſei Dank, in den 
ichlimmften Tagen der Reaction niemals erjtorben. Man war natürlich weit ent- 
fernt von politifchen Verſchwörungen, aber man pflegte den Gedanken des einigen 
deutichen Vaterlandes, diefe glorreiche, nie zu vergefjende Erfindung der Burjchen- 
ichafter, man beraujchte fi in Tugend, Idealismus, Freundſchaft und — Dünnbier, 
man war glüdlich und ftolz in aller Armuth und pfiff auf die „Philifter”, Es ift 
ein köftliches Genrebild, wie da 3. B. Yaube mit einem Freunde auf einer Ferien— 
wanderung durch Wilhelmsthal zieht und durch Goethe und Karl Auguft in eigener 
Perſon vor den beiden berüchtigten großen Neufundländern des Herzogs errettet wind. 
Der alte Gärtner belehrt die weiblich jchimpfenden Herren Studiofen über die vor— 
nehme Situation. „Auf uns aber,“ verfichert Laube, „machte das gar feinen Ein- 
„druck. Wir hatten noch fein Maß für bevorzugte Menſchen; wir fühlten uns ala 
„Studenten jelbjt bevorzugt vor aller Welt.“ Das waren eben die goldenen Flitter— 
wochen unferer Burfchengeit, die Gott unferer Jugend erhalten wolle für und für, 
wenn es nicht anders jein kann, auch mit allen Dummheiten, die allerdings darum 
und daran hängen. Für Yaube, wie für jo Viele, folgten dann Sturm- und Drang» 
jahre unreifer Erkenntniß und leidenjchaftlichen Strebens und Begehrend, und auch 
über fie wird gleich aufrichtig und gleich liebenswürdig berichtet. Neu wird es vielen 
Verehrern des Dichterd z. B. jein, wenn fie vernehmen, wie er einjt, ich denke im 
Jahre 1829, auf dem Punkte ftand, afademiicher wohlbejtallter — Fechtmeiſter in 
Breslau zu werden! Er Hatte in jeierlihem Qurnier einen franzöfifchen Maitre 


Literariiche Rundſchau. 309 


d’armes gründlich verhauen, und ‚wurde durch die „glänzenden Ausfichten“ der ge 
botenen Stelle (wol das Dreifache des beiten Studentenmwechjeld, man denke!) doc 
für einen Augenblid beinahe in Verſuchung geführt. In dieſes und die nächit- 
folgenden Jahre fallen denn auch die erften literarifchen Verfuche und Anregungen: Dispu- 
tationen in einem Shaleſpeare⸗ſtränzchen, Recenfionen für die Bredlauer Zeitung unter 
den Aufpicien des liebenswürdigen Goethe-Enthufiaften Karl Schall, und ein paar 
dramatifche Verſuche, im großen ſhakeſpeariſchen Styl natürlich, ein „Guſtav Adolph“ 
und ein „Mori von Sachſen“. Unter den erſten Schlachtopfern feiner Eritifchen 
Uebungen verzeichnet der Dichter mit vielem Humor feines verehrten Freundes Holtei 
„Lenore”, die damals ihren Triumphzug feierte. Laube hatte das reizende Singſpiel 
gründlichjt herunter gemacht und ging dann am andern Morgen, ganz ftolz auf feine 
Leiftung, zu Schall. Im Redactionszimmer fit ein fremder Herr, in die Zeitung 
vertieft. „Aber Schall,“ ruft er aufblidend, „wer ift denn der Flegel, der das ge- 
Ichrieben Hat?“ „Herr Doctor Laube!“ „Herr von Holtei!” Vorſtellung, Tableau! 
Der harmlofe Humor diefer und ähnlicher Mittheilungen kennzeichnet das ganze Buch; 
es find die Erinnerungen eines ehrlichen Arbeiter? und KHämpfers, ber in des Tages 
Hihe und Drang fi das Herz rein und das Auge klar erhielt und darum nie aufe 
hörte, „zu jenen Bejten zu gehören, die fich auch felbjt zum Beften haben können“. 
Mit dem politifchen Erdbeben des Jahres 1830 beginnen denn auch für Laube nad 
der Iuftigen Lehrlingszeit die jchweren Wanderjahre. Man weiß, wie verhängnißvoll 
das unklare Freiheitsevangelium der Julitage den geiftig erregbaren Theil der deutfchen 
Jugend ergriff, wie furchtbar dann der Rüdjchlag herein brach, und wie Laube hier 
in erfter Linie ein Recht hat zu jagen: quae ipse miserrima vidi et quorum pars 
magna fui. Während der dreißiger Jahre (jo weit reicht diefer Band) ijt er faſt 
allen Perjönlichkeiten, die bei uns in die Bewegung jo oder jo eingriffen, perjönlich 
oder doch jchriftjtellerifch begegnet. Seine Thätigfeit an der „Zeitung für die elegante 
Welt“, fein Roman „Das junge Europa”, feine Schrift „Ueber die polnische Revo» 
lution“ eröffneten neben Gutzkow's „Wally* und „Maha- Guru“, neben Wienbarg’s 
„Aefthetifchen Tyeldzügen“, neben Mundt’3 „Madonna“ die jung-deutfche Bewegung, 
die übrigens, wie auch hier twieder recht augenjcheinlich Hervortritt, weder von per- 
fönlichen noch von directen und bewußten geijtigen Wechjelbeziehungen der beteiligten 
Schriftfteller getragen wurde. Man ftand unter dem gemeinfamen Gindrud der 
franzöfiichen Revolution, der Saint-Simoniftifchen Lehren, der Heine’fchen Gedichte, der 
Börne'ſchen Publiciftik, der Hegel’chen pantheiftiichen Jmmanenz-PHilofophie, und — 
des alternden, über die Maßen gräulichen und efelhaften deutichen Polizeiftaates, 
Das erflärt Allee. Mit Gutzkow reifte Laube 1833 nad Italien; er befam aber 
den Eindrud, „daß fie zwei ganz verfchiedene Menfchen wären, die e& nicht leicht 
„haben würden, einander gegenfeitig gerecht zu werden“. Für das, was nun folgt, 
für die Reactiond-Orgien in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, die Polizeie 
Epopo& der Zichoppe, Dambach, Rochow, Wittgenftein, werden Laube's „Erinnerungen“ 
neben Reuter’8 „Ut mine Feſtungstid“ eine foftbare Erfenntnißquelle bleiben: aber 
freilich auch für die unverwüftliche Friſche und Gefundheit der deutichen Fortichrittö- 
bewegung, die durch alle diefe Gräuel keinen Augenblid irre gemacht oder verbittert 
wurde. Man nahm das Ungemadh Hin, wie der Landmann einen Spätfroft 
oder fchlechtes Maiwetter, auf die ja eben doch der Sommer nicht ausbleibt. So 
dachten die großen, gebildeten Kreife, jo die Betroffenen, jo — jelbft oft genug bie 
Inquifitoren. „Mit der Politik ift e8 wie mit den Jahreszeiten,” fagte Onkel Dam- 
bach ganz treuherzig zu feinem Inquifiten Heinrich Laube. „Wer trägt denn auch 
einen Pelz im Sommer und Nankinghoſen im Winter?" Bezeichnend ift auch die 
Bonhommie, mit welcher v. Rochow jelbft den faum aus der Haft entlaffenen Laube 
erfuchte, feine Hochzeitäreife im Intereſſe der preußifchen Regierung bis Straßburg 
auszubehnen und von bort über die Stimmung und die Auäfichten des Bonapartis- 
mus zu berichten. (E8 war 1836, nad dem Putih.) Man zweifelte eben feinen 
Augenblid an dem ehrlichen Patriotismus des gemißhandelten Demagogen und ver- 


310 Deutiche Rundſchau. 


traute feinem Worte mehr als den eigenen Agenten. — Bon ganz befonderem literar- 
hiſtoriſchem Interefje werden dann die Mittheilungen aus dem Jahre 1839, welches Laube 
zu längerem Aufenthalte nach Paris führte. In der Beurtheilung des eng und dauernd 
befreundeten Heine trägt jeder Zug das Gepräge feinjter Kennerjchaft, unbedingter 
Aufrichtigkeit und jener reinen Herzensgüte, die in allen diefen Mittheilungen jo 
wohlthuend anmuthet. Auszüge könnten bier zu weit führen. Das Werk bildet den 
erften Band einer auf 15 Bände berechneten Sammlung, welche außer den „Erinne- 
rungen“ die Romane „Gräfin Chateaubriand“, „Das junge Europa“, „Der deutjche 
Krieg”, „Der belgiihe Graf“, „Die Bandomire”, ferner die „Reifenovellen“ und 
die „Franzöſiſchen Luftfchlöffer” enthalten wird. Leider fteht der Abichluß der 
„Erinnerungen“ erſt für den lebten Band in Ausficht.*) Da jedoch das übrige 
Material fertig vorliegt, jo laſſen und Herausgeber und Verfaſſer hoffentlich nicht zu 
lange warten. Der verehrte Meifter hat, wie wir mit freude vernehmen, auf’3 Neue 
in Wien die jchwierige Aufgabe übernommen, von der er nach ruhmvollen Leiftungen 
unter dem Drude jchwerer Zeitverhältnifje einen Augenblick zurüdtrat. Möge eine 
lange und erfreuliche Thätigkeit diefes Omen ungebrochenen Kraftgefühles rechtfertigen ! 


Friedrich Kreyffig. 


— 


Zur neueren hiſtoriſch-politiſchen und volkswirthſchaftlichen Literatur. 


1. Groen van Prinsterer. Maurice et Barneveldt. Etude historique. 
Utrecht, Kemink & Fils. 1875. 


Der verdiente Herauägeber der „Archives de la Maison d’Orange-Nassau‘‘ macht 
es fich in diefem Buche zur Aufgabe, die Darftellung des Conflict? zwifchen dem 
Statthalter und dem Führer der Staatenpartei zu widerlegen, welche Lothrop Motley 
in feinem „Life and death of John of Barneveldt“ gegeben. Sachlich jcheint uns 
der Beweis gelungen, daß die farbenreiche Schilderung des amerikanischen Hiſtorikers 
parteiiſch und verfehlt ift. Derjelbe geht von dem vorgefaßten Standpunkt aus, daß 
der Galvinismus einen jehr heilfamen Einfluß auf die Eroberung religiöfer umd 
politifcher Freiheit geübt, daß aber deſſen dogmatifcher Kern, die Lehre von der 
Prädeftination, nicht blos ein fataliſtiſcher Irrthum, fondern verabſcheuungswürdig 
und lächerlich gewejen. Bon da kommt er zu dem Schluß, daß ein Mann, der 
geiftig jo bedeutend war wie Morit, ſich nur aus Berechnung zum Verfechter dieſes 
Dogmas machen konnte; derjelbe Habe nach der Souveränität geftrebt, vergeblich die 
Mitwirkung Barneveldt’3 gejucht und die Gelegenheit jenes Streites der Arminianer 
und Gomaraner benußt, um fich feines Nebenbuhlers zu entledigen. Der vertraute 
Briefwechjel zwifchen Mori und dem Grafen Wilhelm Ludwig von Naffau, Gouverneur 
von Friesland, würde, von Allem anderen abgejehen, hinreichen, um diefe Auffafjung 
zu widerlegen. Mori war allerdings auch ein bedeutender politifcher Kopf; er erfaßte 
voll und Klar die jchwierige Lage des Landes, die providentielle Beitimmung des 
jungen Staates, welcher dem Kampf der Reformation gegen den Fatholifchen Despo— 
tiamus fein Dafein verdankte, und wußte in den entjcheidenden Momenten mit 
ſchariem Blid und ficherer Hand zu handeln; aber er war in erjter Linie General 
und ftrebte keineswegs nach der oberjten politijchen Macht. Die Berichte der franzöfifchen 
Gejandten bezeugen, daß alle Anerbietungen Spaniens und Frankreich in dieſer 
Richtung bei ihm taube Ohren fanden; er wollte andrerjeit3 ebenjo wenig dem 
Namen nad) Graf und Herr von Holland und Seeland werden, um thatfächlich der 
Diener der Staaten zu ſein; er würde fich lieber, wie er fagte, von dem Haager 
Thurm ftürzen. Ganz feiner militärischen Aufgabe fich widmend, überließ er Barneveldt 


*) Die „Deutiche Rundſchau“ wird übrigens jchon früher in der Lage fein, Mittheilungen 
aus diefen „Neuen Erinnerungen“ ihren Lejern zu bieten. 





Literariiche Rundſchau. 311 


lange Zeit die eigentliche politiſche Leitung mit vollem Vertrauen. In dieſem ver— 
körperte ſich der Gedanke der Souveränität der Provinzen; er hatte in der kritiſchen 
Zeit nach dem Tode Wilhelm's die Republik durchgeſetzt; der Statthalter, bisher 
Stellvertreter des Königs, ſollte Miniſter der Staaten werden, in denen er ſelbſt 
durch ſeine große Perſönlichkeit die erſte Rolle ſpielte. Wahrſcheinlich hätte er ſeine 
ruhmreiche Laufbahn glücklich beendet, wenn er nicht in der am Ende derſelben ein— 
tretenden kirchlichen Kriſis in entſchiedenen Gegenſatz zu der Mehrheit der Bevölkerung 
getreten wäre. Die Reformation in den Niederlanden hatte von Anfang an einen 
ausgeſprochen calviniſtiſchen Charakter; die Ideen Wilhelm's von Oranien, welcher 
durch die Genter Pacification gleiche Duldung aller Bekenntniſſe durchzuführen 
hoffte, drangen nicht durch. Aber während Holland und Seeland ſich in ihrem 
engern Bunde verabredet, keinen andern Cultus zu dulden, als den calviniſchen, 
hielten ſie doch an dem Kirchenregiment der weltlichen Obrigkeit feſt, und zwar ſollte 
daſſelbe nicht in den Händen der Bundesgewalt, ſondern in denen der Provinz 
liegen, deren Regierung nicht nur das jus circa sacra, ſondern auch ein jus in sacra 
haben ſollte. Dieſe Auffaffung, welche mit der Herrichaft der Provinzialariftofratie 
jtimmte, aber ficher der calviniichen von der Selbjtändigkeit der Kirche widerfprach, 
vertrat Barneveldt in volljter Schärfe, und da die Arminianer dieſelbe acceptirten, 
weil fie beim Staate Schub für ihre Abweichungen von der Kirchenlehre fuchten, nahm 
Barneveldt ihre Partei, fuchte ihre Gegner zu unterdrüden, und verlangte, ala dies 
eine heftige Reaction und Aufftände hervorrief, von Moritz kategoriſch active mili— 
tärifche Hilfe. Diefer hielt fich jo lange ala möglich von den religiöfen Wirren 
fern und auch, als dies nicht mehr thunlich, in der Defenfive; der englische Gejandte 
Garleton bezeugt, daß er beiden Parteien gleiche Freiheit des Cultus zu gewähren 
wünſchte; aber dem Verlangen Barneveldt’3, die eine zu unterdrüden, weigerte er fich 
nachzufommen, und als die Umftände zu einer Entfcheidung drängten, nahm er, der 
die Aufrechterhaltung des reformirten Cultus bejchworen, die Partei der Contre— 
remonftranten. Unftreitig war der Spruch des Gerichtähofes, der einen Mann von 
Barneveldt’3 Berdienften ala Rebellen gegen die Union zum Tode verurtheilte, hart 
und ungerecht; aber man darf denfelben feinen Juſtizmord nennen. Barneveldt 
wollte, wie Grotius in feiner Apologie jelbjt zugibt, die Souveränität der Provinzen 
durcchfegen und in denjelben die Herrſchaft der Ariftofratie fichern; er fcheiterte, als 
er dies -auf das Firchliche Gebiet zu übertragen fuchte, an dem MWiderftande des 
Volkes, welches den alten Glauben und die Staatdeinheit erhalten wiffen wollte, 
und deflen Organ Morik war. Gewiß erwies fi Graf Wilhelm Ludwig weit— 
fihtiger und edler, als er Morit drängte, e& nicht zum Aeußerſten kommen zu laſſen, 
und feine Warnung war prophetiih: „O. E. Excell. hebben ook te bedenken, 
indien wat exorbitants, dat ik verhopen niet en will, kwam te gebeuren, dat het 
bij de gantze wereld U. E. Excell. alleen zoude geweeten worden.‘ Moritz berief 
fi zwar für feine Paffivität darauf, daß weder Barneveldt noch feine Familie und 
Freunde um Gnade gebeten; indeß triitig ift diefe Entjchuldigung ſchwerlich; er hätte 
die Hinrichtung verhindern können und follen. Wenn er es nicht that, theils aus Indolenz, 
theils weil ihm die Vernichtung eines gefährlichen Gegners vielleicht nothwendig erichien, 
fo war dies ebenfowenig politifch ala großmüthig, und fein Name hat genug darunter 
gelitten. Aber hingewirkt auf diefen Ausgang hat er jo wenig, ala er nachher feinen 
geftiegenen Einfluß benußt hat, nach der Souveränität zu ftreben ; Garleton, jchreibt 
vielmehr von ihm: „Pour lui il ne me paraft dispos6 à vouloir se charger d’autre 
chose, que de dire son avis dans des occasions de grande importance,“ 

Das Buch Groen von Prinfterer’s ftellt den wahren Sachverhalt durch die Quellen 
Har, feine Form ift jchwerfällig und unlesbar, und die vielen Gitate von Schrift- 
ftellern in vier Sprachen hätten füglich wegbleiben können; jpeciell war es unnüß, 
heute noch einmal Leo's Bertheidigung des Herzogs von Alba zu widerlegen. 


w 


312 Deutiche Rundſchau. 


2. Albrespy. Comment les peuples deviennent libres. Paris, Sandoz & 
Fischbacher. 1875. 

Der Berfaffer fragt fi) Angefichts der vergeblichen Verſuche des franzöfifchen 
Volkes, die Freiheit zu begründen, nach den Urfachen diefer Mikerfolge und ſucht 
die Antwort in der Gejchichte der Staaten, welche frei geworden. Cine derartige 
Unterfuhung kann unzweifelhaft jehr lehrreich fein; wenn man aber, wie der 
Verfaſſer, unternimmt, auf 258 Seiten die Entwidelung Deutfchlands, der Schweiz, 
der Niederlande, Englands und der Bereinigten Staaten darzulegen, jo kann eine 
folche Arbeit, wenn fie nicht mit Meifterhand die Summe langjähriger Studien zieht, 
faum anders als oberflächlich fein, und das trifft im vorliegenden Fall im hohen 
Grade zu. Deutichland, al3 das wenigſt freie Land, wird mit 9 Seiten abgefertigt *) ; 
bei der Schweiz ſpringt der Verfaffer von der Reformation auf den Sonderbund, die 
deutſchen Flüchtlinge und Fazy Über; auch die etwas ausführlicheren Skizzen, welche 
die Niederlande, England und die Bereinigten Staaten behandeln, bieten wenig 
mehr ala eine Compilation aus den Schriften Motley’3, Macaulay's, Billemain’s, 
Guizot's, Bancroit’3 u. U. Mehr Werth Hat der zweite Theil des Buches, welcher 
Frankreichs innere Entwidelung feit dem 16. Jahrhundert darſtellt. Mit Recht 
fieht der Verfaſſer das Unglüd feines VBaterlandes in der Unterdrüdung der Refor- 
mation; nur geht er zu weit, wenn er dafür allein bie verderbte und fanatifche 
Race der Valois verantwortlich macht, welche dem franzöfiichen Geift die Lafter der 
Italiener und die Graufamkeit der Spanier eingeimpft habe. Unftreitig hätte eine 
andere Dynaftie den Gejchiden des Landes eine günftigere Wendung geben können ; 
aber bie ernten Elemente der Nation, welche fich der Reformation zuwandten, waren 
eben nicht ſtark genug, den fchlechten Tendenzen des Thrones zu widerftehen, welcher 
fi auf den „esprit gaulois‘ der Mehrheit ftüßte, den der Verfaſſer treffend ala: 
„esprit l&ger, frivole, &goiste“ bezeichnet, und ala deſſen Hauptvertreter er Rabelaig, 
Montaigne und Voltaire nennt. Eingehend wird gezeigt, twie die Unterdrüdung der 
religiöfen Freiheit auch zum politifchen Despotismus einerfeits, zum Unglauben 
andrerſeits führte; wie die jogenannten „gallicanifchen Freiheiten“ die Kirche nur vom 
Staat abhängig machten, wie die Philofophie des 18. Jahrhunderts und die fittliche 
BVerberbtheit die alte Ordnung der Dinge derartig unterwühlen konnten, daß diejelbe 
in der großen Kataftrophe von 1789 zufammenbrechen mußte, dagegen aber der 
politifche Rationaliamus unfähig war, feine Theorien praktifch zu verwirklichen. 
Durchaus richtig ift auch die Revolution ſelbſt aufgefaßt, welche von wirklicher 
religiöfer Freiheit ebenfo fern war als das alte Regiment, kraft Autorität des 
Staate® die Kirche reformiren wollte und diejelbe, als dies nicht gelang, verfolgte, 
damit aber derjelben nur neues Leben gab und fie durch die Verfolgung reinigte. 
„La cause la plus reelle de la perte de la r&volution et de la tournure sanglante 
qu'elle prit, ce fut la constitution civile du clerge. En m&lant la politique A la 
religion, comme l’avait fait l’ancien regime, les partisans du régime nouveau ex- 
citörent des r&voltes. Ils voulurent les reprimer, et dans la lutte contre les inser- 
mentes, la constitution et la libert6 périrent.“ (p. 420). Das erichöpite Land fiel 
ala Leichte Beute dem Dictator in die Arme, der e8 von feinen elenden Tyrannen 
befreite, aber ihm für den Preis der Ruhe auch alle Freiheit nahm und die Kirche 
wieder der gemeinfamen Herrichait des Papftes und des Staates unterwarf. Im 
legten Gapitel prüft der Verfaſſer den Einfluß, den die Revolution auf die Folgezeit 
geübt, beleuchtet die verfchiedenen Doctrinen derfelben, die ultramontane, die radicale, 
die liberal-fatholifche, die liberal-proteftantifche, die Liberal-philofophiiche, und ſchließt 
dann, daß nur ein Wiedererwachen bes religiöfen Gewiſſens frankreich aus dem 
Kreislauf von Anarchie und Despotismus retten könne. Wir treten ihm darin voll- 
ftändig bei, glauben aber, daß die Ausſichten auf einen folchen Umſchwung ſehr 
gering find; der Verfaſſer täufcht fich felbft nicht darüber, daß die Trennung der 


*) Der Verfaſſer ichreibt 3. B. flatt „Neichätag” „Reichstadt de Berlin“, p. 600. 


Literariiche Rundſchau. 313 


Kirche vom Staat, die er befürwortet, von der fatholifchen Kirche, die doch einmal in 

Frankreich maßgebend ift, nur ausgebeutet werden würde, um den Staat mittelbar 

zu beberrichen, und daß eben deshalb der Rabicalismus in ihr eine tödtliche Feindin 

fieht. Unſtreitig zeigt die Gefchichte, daß dauernde und wahre freiheit am beften 

auf proteftantiichen Boden gedeiht; aber das Wort: „il faut &vangeliser la 

bat, wenn überhaupt, gewiß dermalen jchwerlich Ausficht auf irgend welchen 
olg. 


3. Das vaticanifhe Syftem. Bon W. E. Gladftone. Autorifirte 
Ueberfegung. Nördlingen, E. I. Beck'ſche Buchhandlung. 1875. 


Mir müßten uns fehr irren, wenn wohlmeinende und „gemäßigte” deutiche Leſer 
von ber berühmten Kundgebung des liberalen Er-Minifters, welche diefer jelbft als 
eine Antwort auf die, feiner früheren Schrift „Die vaticanifchen Decrete” zu Theil 
gewordenen, „Replilen und Vorwürfe” (an answer to replies and reproofs) bezeichnet, 
nicht zunächit mit einer leifen Empfindung der Enttäufchung berührt werden follten. 
Soviel Complimente an die Adreſſe der Gegner! folche Huldigungen an ihre Gelehr- 
famfeit und ihr Talent nicht nur, fondern auch an ihre Gefinnungen unb ihren 
Privatcharatter! „Soweit Gladftone ihr perlönlicher Charakter befannt ift, müßte 
er es für eine große Anmaßung halten, fich irgend einem von ihnen zu vergleichen 
oder gegenüber zu ſtellen!“ Der Gonvertit Dr, Newman wird geradezu ala eine Größe 
allererften Ranges gefeiert, fein Verluſt für die englifche Kirche mit dem des John 
Wesley, des bekannten Gründer der Methobiftenticche, verglichen. Wird bei folcher 
Fechtweiſe, jo fragt man fich, die Energie des Angriffs nicht am Ende die Koften 
der Gourtoifie zu tragen haben? — Nun, dad Wahre an der Sadıe ift, daß die 
ganze Frage für England die Grenze der theoretifchen Erwägungen noch nicht über- 
fchritten hat, wie wir dies bereits gelegentlich der Beiprechung jener früheren Schrift 
ausgeführt (Deutiche Rundichau, Band II, p, 129, ff.). Noch betheuern die engliichen 
Ultramontanen ihre Loyalität ganz fo eifrig, wie die preußifchen es thaten, jo lange die 
Reactiond- und Conflictszeit ihnen freie Hand ließ. Aber Gladftone, indem er vor diefen 
Verſicherungen als echter Gentleman feine Verbeugungen macht, täufcht fich offenbar über 
ihre Tragweite nicht mehr, und auch feinen Landsleuten diefe Täufchung zu nehmen, 
ift der Zweck feiner Schrift. Diefelbe führt ebenfo überzeugend und unerbittlich, 
als ruhig und fein den Nachweis, daß die vaticanifchen Decrete die Sachlage völlig 
geändert haben, dab das Papftthum jeine übertriebenften mittelalterlihen Anfprüche 
erneuert, daß diefe Ansprüche „die Unterthanentreue dem Papfte preisgeben“ und daß 
„Englands Regierung und Volt, als fie die Katholilen und die fatholifche Kirche 
emancipirten, berechtigt waren, den dem Papfte geichuldeten Gehorſam für einen durch 
die Landesgeſetze bejchränkten zu halten“. Der Beweis ift mit Meifterfchaft geführt, 
und der außerordentliche Abſatz diefer, wie der vorangehenden Schrift geftattet die 
Hoffnung, daß er Englands Bolt nicht gleichgültig gefunden Hat. Die vorliegende 
deutiche Ueberfegung ift gut und jorgfältig gearbeitet und reiht fich der, in demſelben 
Verlag erjchienenen, Uebertragung der „Baticanifchen Decrete“ würdig an. 


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4. Der Socialismus und ſeine Gönner. Nebſt einem Sendſchreiben 
an Guſtav Schmoller. Bon Heinrich v. Treitſchke. Berlin, Georg 
Reimer. 1875. 

Wenn man zu ben beiden Studien dieſer Sammelſchrift die dazwiſchen gehörige 
Entgegnung Schmoller’8 auf das erftere hinzunimmt, jo hat man einen der inter 
effanteften Literarifch-politifchen Streithändel unferer Zeit vor fi. Zugleich ift es der 
Abſchluß der Fehde zwiichen Freihändlern und Socialpolitifern, oder, wie bie üblich 
gewordenen Spignamen lauten, Manchefterleuten und Katheberfocialiften, wobei es den 
Gang der Sache treffend bezeichnet, daß ein urfprüngliches Mitglied des focial-politifchen 


314 Deutſche Runbichau. 


Eifenacher Congreſſes fich zuleßt gedrungen gefühlt hat, in allem Wejentlichen den 
focial=conjervativen Standpunkt der meijten Tyreihändler zu vertreten. Dies geichieht 
namentlich in dem Schlußftüde mit einer, jelbft bei Treitfchke, jeltenen Glafficität des 
Ausdruds, ohne jede Beimifchung der ihm ſonſt wol eignen hochgeſpannten Rhetorif. 
Der allgemeine Eindruck wird bei jedem halbwegs unbejfangenen Leſer Schmoller 
ungünftig fein. Er hat fich gegenüber nicht nur die noblere Natur, jondern auch 
den beiferen Denker und den umfaffenderen Kenner. Nur da mag man auf feine Seite 
treten, wo Zreitjchle dem Anſpruch der niederen arbeitenden Glafje auf mehr Wohl- 
ftand, Bildung und Lebensgenuß duch allzuwenig Recht und Hoffnung läßt, und das 
beitehende Erbrecht, das jo tiefgreifender Verbeſſerungen fähig und bedürftig er- 
—— einem gleich unerſchütterlichen Pfeiler der Geſellſchaft macht, wie Ehe und 
Eigenthum. 





5. Die Frauauf dem Gebiete der Nativnaldfonomie. Nach einem 
Vortrage in der Lejehalle der deutfchen Studenten in Wien. Bon Dr. Lorenz 
v. Stein. Stuttgart, J. G. Cotta'ſche Buchhandlung. 1875. 


Hätte Prof. 2. v. Stein diefem ganz hübfchen Kleinen Bortrage doch Lieber gar 
feine Vorrede mit auf den Weg gegeben! Die 54 Seiten würden ja auch jo durch 
die Welt gefommen fein. Aber wenn er feiner anonymen „verehrten Freundin“ 
durchaus die Meinung beibringen mußte, daß man in feiner Sphäre „die Frau 
bisher gar nicht gefannt und noch weniger gewürdigt“ habe, jo war e8 ein wenig 
undorfichtig, die vor aller Deffentlichkeit zu thun, in der doch vielleicht der Eine 
oder Andere fich dunkel erinnert, einmal von einem gewiffen John Stuart Mill oder 
Präfident Lette vernommen zu haben. Dieje, nicht allein nicht ganz unbekannt ge= 
bliebenen, ſondern jelbft Leidlich tüchtigen und einflußreichen Männer haben der Frau 
das „Gebiet der Nationalötonomie“ oder die „Welt“ der dazu gehörigen Profeflore:: 
und Agitatoren bereit? erobert, ala ihr Wiener Fachgenoffe noch ausſchließlich in 
theoretijcher Verwaltungswiſſenſchaft ſteckte. Allerdings bricht diefer nun nach einer 
etwas anderen Richtung Hin der allgemeinen Würdigung der Frauenthätigkeit die 
Bahn. Er kämpft nicht wie die englifchen Forſcher für focialpolitifche, auch nicht 
mit dem undergeßlichen deutjchen Volksfreunde für dbkonomiſche Gleichberechtigung des 
Weibes: er macht vielmehr auf den hohen wirthichaftlichen Werth und auf die Eigen- 
thümlichkeiten der weiblichen Arbeit im Haufe aufmerkſam. Aber das ift doch faum 
ein neuer Weg. Schon Mancher — 3. B. Emminghaus — hat ihn betreten, wenn 
auch nicht Jeder auf ihm jo finnige Gedanken und Bilder gefunden hat, wie Prof. 
dv. Stein. Vor Allem die rauen felbft, denen er fich faſt etwas über die Linie des 
guten Gefhmads hinaus galant erweilt, können aus feinen Betrachtungen lernen, ihr 
eignes Thun willenfchaftlich zu würdigen. Denn nicht blos den Mann, jeden Menſchen 
ja zieret, wie der Dichter jagt, „daß er's im innern Herzen jpüret, was er erjchafft 
mit feiner Hand.“ 


Politifhe Rundſchau. 





Berlin, den 15. Juli. 


Schon in unferer legten Chronik vermochten wir darauf hinzuweifen, welch be- 
merfenäwerthes Symptom in dem Beſuche zu finden fei, den der Öfterreichifche Erz— 
berzog Albrecht, der Sieger von Guftozza, den Kaifern von Rußland und Deutichland 
am Rhein abftattete. Die fich daran fnüpfende Begegnung des Kaiſers Franz Joſeph 
mit dem Gzaren im „Gifenbahnwagen“ war ohne Zweifel eine Ergänzung des ein- 
mal eingeführten Syſtems der perfönlichen Verftändigung der Souveräne, das gerade 
in diefen Tagen durch die Begrüßung, welche Wilhelm I. der öfterreichiichen Kaiſer— 
familie in Iſchl abftattet, für das laufende Jahr feinen Abfchluß empfängt. Daß 
allen diefen Begegnungen gen Weiten hin ein den gegenwärtigen geographiichen Zu— 
ftand der Karte Europa's verbürgendes Bertragsverhältnig zu Grunde liegt, dürfte 
faum einem Ginwurf begegnen, wenngleich auch Diejenigen vielleicht nicht gang im 
Irrthum find, welche annehmen, daß biefe Freundſchaft der Monarchen gleichzeitig 
auch der Actionsfähigkeit der Staatsmänner der drei Reiche gewille Feſſeln auf- 
erlegt. Es geht im Hochpolitiichen Leben zu, wie in der Ehe. Ein friedliches Zu— 
fanımenleben ift nur bei gegenfeitigen Gompromiffen denkbar, und jo wird denn auch 
bier dem oberften Ziele diefer fürftlichen Freundſchaft, der Aufrechterhaltung des 
europäifchen Fyriedenäzuftandes, von dieſer und jemer Seite manches Opfer gebracht 
werden müſſen. Deshalb wird der opfenwillige Staat noch nicht zum Bafallen der 
anderen Mächte, welche ihm das Opfer auferlegen. Denn felbft in der Dreizahl find 
die mannigfachſten Gombinationen denkbar, jo daß die Rolle des Nachgiebigen nicht 
ftetö auf den Einen unter den Betheiligten beichränft bleibt. 

In Deutichland ift übrigens die active auswärtige Politif durch die auch 
für dies Jahr auf längere Zeitdauer erfolgte Beurlaubung des Fürften Bismard 
für den Augenblid bei Seite geichoben worden. Man hat, wol mit Unrecht, in ben 
Ausdrüden, in welchen diefe Beurlaubung erfolgte, eine Beeinträchtigung der Freiheit 
des Reichslkanzlers erbliden wollen, feine Functionen dann wieder zu übernehmen, 
wann er den Zeitpunkt für gelommen hält. Da der Sailer ausdrüdlich erflärt hatte, 
er behalte fih vor, auch während der Beurlaubung Bismarch's deflen Rath in allen 
Fällen einzuholen, welche er für wichtig genug dafür erachte, glaubte man folgern 
zu dürfen, daß die Wahl des Zeitpunftes, in welchem er feinen Rath ertbeilen, ſich 
alfo praftifch wieder an den Staatägeichäften betheiligen dürfe, ſomit nicht in das 
Belieben des Fürſten Reichskanzlers geftellt jei. Dieje wenig freundichaftliche Aus» 
legung einer von Wilhelm I. in feiner Rüdficht für den erprobten Staatädiener ge 
wählten Form erwies fich indeh bald genug als wenig ftichhaltig, und die Erwägungen, 
welche man bereit3 an einzelnen Höfen an ein fo enticheidendes Greigniß geknüpft, 
waren verurtheilt, abermals ſchätzbares Material zu bleiben. 

Nicht befier erging e8 jenen Verunglimpfungen, mit denen man von frondirend- 
feudaler Seite die Finanzpolitik des Reichslanzlers und feines vornehmſten Gehilfen 
zu überjchütten ſuchte. Man nahm fich nicht einmal die Mühe, fie ernſthaft zu 
widerlegen, denn man erkannte fie bald genug als den matten Abllatjch jener ver 


316 Deutiche Rundſchau. 


floffenen Experimente, welche gegen den Liberalismus das große, ebenſo bombaftifche, 
als leere Schlagwort von der „Verjudung des chriftlich-germanifchen Staates” aus— 
zufpielen trachteten. Daß man den offenbaren VBerleumdungen, von denen dieje Unter: 
jtellungen begleitet waren, fein Wort an den Staatsanwalt entgegenjeßte, mag viel» 
leicht in einer Regung zu Gunften ehemaliger Gefinnungsgenoffen feinen Grund gehabt 
haben. Indeß bei der einmal zur Uebung gelangten gegentheiligen Praris wäre auch 
in diefem Falle ein gleiches Verfahren wol am Plabe geweſen. Mindejtens wird 
es den Maflen des großen politifchen Publicums ſchwer, fich den Unterjchied Elar zu 
machen und zu begreifen, aus welchen ethifchen Gründen man in diefem Falle den 
Strafrichter zu meiden bejchloß. 

Mittlerweile hat der preußiiche Eultusminifter in des heiligen römiſchen Reiches 
Pfaffenſtraße feftzuftellen vermocht, daß dajelbjt die Herrichaft des Ultramontaniamus 
nicht jo ſehr gefejtet ift, al® man nach ben letzten Wahlen wol hatte annehmen 
müſſen. Den, wie wir gern zugeben wollen, etwas einfeitig überichwänglich gehaltenen 
Berichten liberaler Zeitungen zufolge glich die Reife des Dr. Falck durch die bedeu- 
tenditen Städte der NRheinprovinz einem förmlichen Triumphzuge. Allein wenn wir 
auch den natürlichen Ueberſchwang der Parteiorgane gebührend in Anrechnung bringen, 
fo bleibt doch die Thatjache beftehen, daß alle größeren Städte jener Hauptprovinz 
römischen Geiftes in Deutfchland, daß Trier wie Bonn, Köln wie Aachen und Düffel- 
dorf fich im begeifterter Weife zu der Kirchenpolitit befannten, welche der Eultus- 
minifter vertritt, und daß die Fatholifchen Bürger diefer Municipien jomit den Beweis 
führten, wie jehr fie erfannt, daß der Kampf nicht der Kirche und ihren Lehren, 
fondern lediglich den Anmaßungen der römiichen Hierarchie gelte. Dieſes machtvolle 
Hervortreten des liberalen Rheinlands ift ohne Zweifel eine Folge der Anftrengungen 
des von Bonn aus geleiteten und in's Leben gerufenen „Deutjchen Vereins“, deſſen 
Propaganda fi mit langem Athemzuge und angemefjenem Erfolge der römijchen 
Agitation der Capläne entgegenzuftenmen beginnt. Allerdings, auf dem Lande und 
in den Eleineren Städten vermochte er bisher noch wenig greifbare Erfolge zu erringen. 
Indeß, man weiß ja, der Liberalismus ift anftedend, namentlich wenn er, wie hier, 
mit den nationalen Intereſſen identiſch ift. 

Auch die fich eben vollziehenden Wahlen zum Landtage des Königreiches Bayern 
werden namentlich im Fatholifchen Auslande ganz befonderer Aufmerkſamkeit für werth 
gehalten. Es ift, ald ob die Gegner des deutichen Reiches der Ueberzeugung lebten, 
ein im eminent ultramontanen Sinne ausfallendes Wahlergebniß werde die verhaßte 
Folge der Greigniffe des lebten Krieges in ihren Grundveſten erfchüttern und jomit 
allen Denen Vorſchub Leilten, welche da8 Werk des Fürſten Bismard mit unverhohlenem 
Mißtranen betrachten. Jedoch ein dem nationalen Gedanken jelbft noch viel un— 
günftigerer Ausfall der Wahlen, als er in der That vorausgejehen werden darf, würde 
uns troßdem noch feinerlei Bejorgniffe einflößen, obwol wir ung nicht verhehlen, 
daß bei bejonderd hochgehenden Wogen eine ftreng ultramontane Landtagsmajorität 
in Bayern leicht einen Berfajfungsconflict zwifchen Krone und Landesvertretung 
zur Folge haben könnte, da König Ludwig II., fo feltfamer Regungen er auch fähig 
fein mag, jchwerlich dazu bejtimmt werden könnte, dem Geift und dem Inhalt der 
Verſailler Verträge ungetreu zu werden. In diefem Gonflicte würde — wol ein 
Unicum in der parlamentarifchen Geſchichte — die Mafje des deutjchen Volkes feft 
zur Krone Bayerns ftehen, und gar leicht könnte in der folge dem DVatican und 
feinen Anhängern zum Berberben ausfchlagen, was beide zunächft für einen Triumph 
zu halten verfucht fein möchten. Dennoch hat der eventuelle Sieg der ultramontanen 
Reichsfeinde in Bayern noch eine Gefahr. Er könnte namentlich in Frankreich ver- 
hängnißvolle Slufionen weden, in derſelben Art, wie fie im Juli 1870 beftanden, 
als man fich dort in der Hoffnung wiegte, gang Südbdeutichland werde die rothen 
Hofen ala Befreier vom preußifchen Joch empfangen. Aehnlichen Täufchungen könnte 
man fich leicht wieder hingeben, und fie wären jchließlich beifer geeignet, ala manches 
andere Trugbild, den kaum geficherten Frieden wieder zu gefährden. 


Politiſche Rundſchau. 317 


Daß dieſer Friede überhaupt nur für „auf Zeit“ geſichert gilt, beweiſen zunächſt 
auch die Anſtrengungen, welche man in Oeſterreich-Ungarn macht, durch eine 
zeitgemäße Umiormung der Artillerie den kommenden Greigniffen nicht unvorbereitet 
gegenüber zu ftehen. 

Indeflen hat der Tod bes alten Kaiſers Ferdinand, ded „Gütigen“, wie ihn 
Grillparzer einjt genannt, der num jchon jeit 27 Jahren till und wohlthätig in 
Prag auf dem Hradichin haufte, ganz Defterreich für einen Moment in eine thränen- 
felige leichte Rührung verjeßt. Der Mann, welcher in den ftürmifchen Märztagen 
des Jahres 1848 auf feine Wiener „nit ſchießen“ laffen wollte, ohne es verhindern 
zu können, daß im biutigen October defjelben Jahres Fürft Windiſchgrätz mit 
Bombardement und Standrecht in derjelben Hauptſtadt der „guten Sache” zum 
Siege verhalf, war in einem Anfalle von Ueberdruß, den einzelne feiner Familien- 
glieder gefliffentlich genährt, nach dreizehnjähriger Regierung vom Throne geftiegen. 
Er war ohne Zweifel der neu berauffteigenden Zeit, welche auch an einen Herrſcher 
Defterreichs ftrengere Anforderungen ftellte, geiftig nicht gewachien, und dennoch war 
die Trauer, welche die Deffentlichleit bei feinem Hintritt zeigte, keine erheuchelte. Das 
gutmüthige, jede Unbill Leicht vergefliende Volk Hatte es in feiner Erinnerung be— 
halten, daß es der Gewährung Ferdinand's die erfte Verfaſſung verdanfe, und dieſe 
Verleihung erhielt fein Andenken in jegensvollem Gedächtniß. Kaiſer Ferdinand war 
der lebte gefrönte König von Böhmen, und die czechifchen Agitatoren liehen es fich nicht 
nehmen, am offenen Grabe des Gejchiedenen aus diefer Thatſache in ihrer Weile 
Gapital zu fchlagen — natürlich ohne den mindeiten wägbaren Vortheil für ihre 
Sade. An der Bahre des todten Kaiferö gaben fich die Kronprinzen von Deutjch- 
land, Rußland und Italien ein Stelldichein. England blieb, anjcheinend aus Miß— 
verftändniß, undertreten. Dennoch war man in der diplomatiichen Welt der Anficht, 
dab ein folcher Zufall ausgeichloflen geblieben wäre, wenn fich Graf Andrafiy im 
vorhergehenden Monate der engliichen jogenannten „Friedendaction “ bereitwilliger 
geneigt erwiejen hätte. 

Das Zufammentreffen der drei Thronfolger, jo undorbereitet es war, warf doch 
ein bedeutungsvolles Licht auf das Verhältniß, in welchem Oefterreich-Ungarn gegen- 
wärtig zu den tonangebenden Staaten des europäiichen Gontinents ſteht. Faſt gleich- 
zeitig auch war Graf Andrafiy in der Lage geweſen, den eriten greifbaren und für 
Defterreich-Ingam direct werthvollen Erfolg, welcher der Dreifaiferpolitit zunächft 
entiprang, für fich einzuheimfen. Die vielbefprochene Zoll» und Handeläcon- 
vention mit Rumänien gelangte endlich zum Abichluß. Indem Graf Andrafiy 
mit den Rumänen eine für beide Theile vortheilhaite Zoll- und Handelsconvention 
ſchloß, Hatte er noch die weitere Abficht, dem ſchwer darniederliegenden öfterreichiichen 
Erporthandel und der damit verbundenen Induſtrie neue Abjahgebiete zu erichliehen, 
auf denen ed ihnen möglich werden follte, das Monopol zu brechen, welches jeit dem 
Krimkriege in jenen Gegenden in bandeläpolitiichen Dingen fich ausſchließlich in den 
Händen anglo-franzöfiicher Producenten und Grporteure befindet. Deshalb auch ift 
die wirthichaftliche Bedeutung der Gandeläconvention fo hoch zu veranichlagen. 

Es find ja vornehmlich auch Gegenftände wirthichaftlicher Natur, welche gegen- 
wärtig die öffentliche Meinung in Defterreich-Ungarn in Bewegung halten. Zwiſchen 
beiden jo eng verbundenen Neichshäliten gilt es die Grundlagen des gemeinfamen 
Budgets für das nächſte Jahr feitzuftellen, die Principien zu vereinbaren, auf welche 
die künftige internationale Handelspolitit zu begründen ſei, fich über die Berände- 
rungen Klar zu werden, welche in dem gemeinfamen Zoll-e und Handelsbündniß an- 
zubringen find, deilen Ablauf bevorſteht und das doch erneut werden will, ſowie 
endlich das große jeit fieben Jahren noch ungelöfte Problem der Bankfrage einer 
entiprechenden Beſchlußfaffung zuzuführen. Mit einem Wort, es giebt Arbeit in 
Hülle und Fülle, bei welcher die Veritändigung der außichlaggebenden Factoren nicht 
eben ey leichtes Ding fein dürfte. Es find eben ftreitige Intereſſen, welche verlöhnt 
werden follen. 


318 Deutſche Rundichau. 


Während Jo in Defterreich-Ungarn hauptſächlich wirthichaftliche Fragen die Sorge 
der Leiter und Geleiteten bilden, find es in Rußland vornehmlich fociale Probleme, 
welche die Befürchtungen der regierenden Kreife rege erhalten. Der in Dingen der 
Eultur noch jehr jugendliche Staat mußte die Erfahrung machen, daß die Fülle 
philofophifcher, Jocialwiffenjchaftlicher und überhaupt moderner Ideen, mit denen er 
fich überfluthet jah, auf die nicht jtreng und nicht ſyſtematiſch vorbereiteten Gemiüther, 
namentlich feiner jüngeren Generationen, einen überwältigenden Eindrud hervorbrachte, 
vor welchem feine der traditionellen Gegengewichte Stich halten wollte. Der Mi— 
nifter für Volksaufklärung legte die Beforgnifje, welche das Umfichgreifen halb- oder 
übelverftandener jocialiftiicher Theorien gerade unter der Jugend der Hochſchulen ihm 
einflößen mußte, in einem Rundfchreiben nieder, deffen Inhalt infofern das Richtige 
traf, als er mit Nachdrud betonte, wie jehr in Rußland das Haus die Schule ohne 
die nöthige Ergänzung und Unterftügung laſſe. Allein jo wahr diefe Bemerkung ift, 
von jo zweifelhafter Berechtigung dürfte die Klage über diefe Beobachtung erfcheinen ; 
denn woher joll der ruffiichen Familie (diefe Familie eben im Durchſchnitt genom⸗ 
men) der jo nothwendige Bildungsgrad fommen, um fo, wie es der wohlmeinende 
Minifter wünfcht, erziehlich einwirken zu können? Die Gefahr iſt viel größer, daß 
die lernbegierige Jugend mit ihrem Halbwiffen das Elternhaus inficive, ala die Mög- 
lichkeit vorhanden fcheint, vom Haufe Flärend auf die junge Generation einzuwirken. 
Alle diefe Erfahrungen halten indeß den Kaifer Alerander nicht ab, in feinen 
humanitären Strebungen fortzufahren. Und während jo Rufland, indem es joeben 
der dritten internationalen Telegraphenconferenz die Gaftfreundichaft 
feiner Hauptjtabt gewährte, ſich mit an die Spihe der Eulturftaaten ftellte — ein 
Ereigniß, das noch unter Nicolaus I. für undenkbar erklärt worden wäre —, fährt 
der Ezar fort, fein Project einer internationalen Verftändigung zur Eodificirung des 
Kriegsrechtes wärmftens zu befürworten. Gin newerliches Rundjchreiben an die 
Mächte, Hauptfächlich beftimmt, den Widerftand Englands zu brechen und der kalten 
Zurüdhaltung ein Ende zu machen, welche in Folge defjen eine ganze Reihe Hleinerer 
und mittlerer Staaten beobachtete, gibt mehr ein beredtes Zeugniß für die ideale 
Gefinnung Aleranders II., ala daß es befleren Erfolg wie alle die vorher in gleicher 
Richtung unternommenen Schritte veripräche. 

Und dennoch konnte Angefichts diefer und mancher andern Gegenfätlichkeit einen 
Augenblid lang die fühne Idee allen Ernftes in die Welt gefeht und behandelt werben, 
daß eine DVerftändigung und intime Allianz zwijchen Rußland und England im 
Werke jei, beftimmt, die Dreifaifer- Politik und ihre friedlichen Ziele zu erſetzen oder 
doch zu ergänzen. Es gejchah dies in demfelben Augenblide, in welchem in England 
die eiferfüchtige Beobachtung der ruffifchen Fortichritte in Gentralafien immer acutere For— 
men annahm. Der Gedanke an eine folche Allianz mußte daher jelbft von ihren Autoren 
als gegenjtandslos fallen gelaffen werden. Zwar juchten die Briten durch unzählige 
Sournalartifel, parlamentarifche Interpellationen und minifterielle Antworten fich jelbft 
und Anderen den Glauben beizubringen, daß fie weit entfernt jeien, auch nur das 
Mindefte fiir ihre indifchen Befitungen zu befürchten, zwar erflärten es ihre leitenden 
Organe für unpatriotifh, auch nur im Geringften dergleichen Beforgniffe ala vor— 
handen erjcheinen zu laſſen, allein e8 wollte nimmermehr gelingen, den Eindrud zu 
verwiſchen, daß die Öffentliche Meinung Altenglands den bisher ungefährdeten Befik 
Indiens durch das Vorſchreiten Rußlands ernftlich bedroht glaubt. Diefer eine Ton 
drang durch alle Hundgebungen, welche in diefer Angelegenheit vom Stapel gelaffen 
wurden, und jo zuverfichtlich auch die Erklärungen von der Minifterbant regelmäßig 
in ihren Eingängen lauteten, fie endeten nicht minder regelmäßig in einen zitternden 
Fiſchſchwanz, und die befonderd betonte Phrafe, daß die Unabhängigkeit Afghaniſtans, 
dieje® „Tampons“ zwiſchen Rußland und England in Afien fichergeftellt bleiben 
müffe, bewies zur Genüge, von welchen Bellemmungen felbft die regierenden Politiker 
heimgefucht wurden. In der That ift ihre ernſteſte Aufmerkſamkeit jet auf Indien 


Politiſche Rundſchau. 319 


concentrirt, und die Reiſe des Prinzen von Wales, der zwar als Thronfolger, 
aber nicht „als Repräſentant der Königin“ — eine für continentale Logik ſehr 
merkwürdige Unterſcheidung — die Länder des heiligen Ganges beſuchen ſoll, ent— 
ſpricht weit mehr den Aufgaben wahrhaft engliſcher Politik, als alle die mehr oder 
minder verunglüdten Verſuche, fich in continentalen Händeln ala ein maßgebender 
Factor Hinzuftellen. 

Diefe Art englifcher Bemühungen werden nur no in Frankreich einiger 
maßen ernjt genommen, und auch dort nur fo lange, als die europäifche Eonftellation 
geitattet, die Anftrengungen des Gabinet? von St. James ala im Intereſſe des 
gallifchen Nachbars auszulegen. Im Uebrigen war man in Frankreich von inneren 
Angelegenheiten jo vollauf in Anfpruch genommen, da man in glüdlichjter Weije die 
Behandlung auswärtiger Fragen darüber vergefien konnte. Es ift diefer Zuftand für 
Europa jtet3 der beruhigendfte. Zwar machte die Frage der Auflöfung der Verfailler 
Rationalverfammlung bisher noch keinen bejonderen Fortſchritt, dafür aber gelang 
es dem Jeſuitismus, ein Ziel zu erreichen, das er jeit vier Jahren in verzweifelten 
Ringen immer vergebens angeftrebt und das ihm nun geftattet, unter dem verloden- 
den Aushängefchild der „Freiheit des Unterrichts" die gefammte höhere geiſtige Er— 
ziehung der Nation der katholiſchen Kirche und den Organen des Vaticans faſt voll- 
jtändig in die Hände zu jpielen. Das Werk, welches Fallour im Jahre 1850 für 
die Volls- und Mittelfchulen zu Gunften des Glerus begonnen, hat nun durch die 
Ueberantwortung der Hochjchulen feine entjprechende Krönung gefunden. Der Staat 
bat auf eines feiner edeljten Vorrechte, den Unterricht zu jpenden, wie er das Recht 
fpendet, zu Gunsten einer Macht verzichtet, die einem ausländiſchen Oberen gehorcht, 
und die Zugeftändniß, welches die fatholifche Republit dem Papft machte, würde 
fchwerlich in ähnlich unbejchränkter Weile von irgend einem Monarchen, jelbjt von 
Heinrich V. nicht, durch Ueberantwortung eines jo koftbaren Hoheitsrechtes vollzogen 
worden fein. Wer franzöfiiches Univerfitätsleben nur einigermaßen fennt, der weiß 
auch, daß das Färglich auägeftattete Unterrichtsbudget des Staates förmlich außer 
Stande ift, mit den reichen Mitteln zu concurriren, welche die Kirche bei der Grün— 
dung höherer Unterrichtsanftalten in's Treffen zu führen vermag. Sie wird ihre freien 
Univerfitäten reicher ausftatten, wird ihren Beſuch auf alle denkbare Weife erleichtern, 
den Prüfungen ihre Schredniffe nehmen und jo den größeren Theil der ftudirenden 
Jugend, vielleicht auch durch die Ausficht befferer und ſchnellerer Verforgung, zu ſich 
beranziehen. Die Tranzöfiiche Gefellichaft wird auf diefe Art in zwei ftreng geichie- 
dene Hälften zerfallen, in eine ftaatlich und in eine jejuitifch gebildete, und beide 
werden fich jchroff, two nicht feindfelig gegenüberftehen, Mit einem Wort, es ift dies ein 
großer Triumph des Migr. Dupanloup, dem in Anbetracht diefer Errungenschaft ficher- 
lich für manche bifchöfliche Unbotmäßigkeit gegen die Autorität des Publiciften Louis 
Veuillot, die ihm bereitö verfchiedene päpftliche Ermahnungen zugezogen, volle Ver— 
zeihung zu Theil werden dürfte. Dennoch bleibt bei alledem ein Troft: die Elafti- 
cität des franzöfifchen Geiftes. Und wie der größere Theil des gegenwärtig in Ver— 
faille8 tagenden clericalen Gonventes aus ftaatlichen, nicht direct von Jeſuiten ge= 
leiteten Hochſchulen hervorging, jo muß man fi) auch daran erinnern, daß die 
Heroen des unabhängigen Geifteslebens in Frankreich, daß die Voltaire und Diderot, 
und mit ihnen ihr ganzes ſteptiſches Gefchlecht, ihre Erziehung lediglich den Jeſuiten 
verdankten. Die Freiheit des höheren Unterrichtes, ein Schlagwort, welches jelbit 
auf einen Zaboulaye fo große Macht ausübte, daß er mit dazu helfen konnte, die 
Univerfitäten dem Clerus auszjuantworten, könnte daher jehr leicht Folgen zeitigen, 
bie ald berechtigte Reaction des gallifchen Geiftes gegen das römische Joch, in das 
man ihn zwängen will, in Zukunft mehr als einen Bifchof ob ihres Gontraftes in 
heiliges Staunen verfeßen mögen. 

Neben diejer Unterrichtöirage war es ganz beſonders die Verhandlung über die 
bloßgelegte bonapartiftifche Verſchwörung, welche die Geifter in Frankreich 
in Aufregung verſetzte. Indeß nahm auch diefe Angelegenheit einen ganz anderen 


220 Deutſche Rundſchau. 


Verlauf, als man namentlich in den Reihen der gemäßigten Republikaner erwartet 
haben mochte. Die Enthüllungen des Abgeordneten Savary über das weite Netz, 
welches die Kaiſerlichen über alle Schichten der Geſellſchaft gebreitet haben, konnten 
in einem Lande kaum mehr als momentane moraliſche Entrüſtung hervorrufen, in 
welchem den politiſchen Parteien jederzeit alle Mittel recht und billig waren, die 
ihre Zwecke zu fördern verſprachen. Daß Verſchwörer und Bonapartiſt gleichbedeutend 
ſei, wußte alle Welt von langer Hand, und ſo konnte es dem Anſehen der Kaiſer— 
lichen nur wenig ſchaden, daß man den Beweis erbrachte, wie weit ihre Organiſa— 
tion gediehen und über das ganze Land gebreitet ſei. Freilich war man ihnen dabei 
auf mehrere unſaubere Geſchichten gekommen, auf die Beeinfluſſung von Zeugen im 
Prozeſſe Bazaine, auf den Verkehr ihrer Agenten mit den Communarden. Aber das 
Alles find Dinge, welche, wie es ſcheint, der Coder der politiſchen Parteien Frank— 
reichs für nicht eben jehr ehrenrührig hält, und fo konnte ſich das Unerwartete be— 
geben, daß aus der parlamentarifchen Debatte, die fi an den Eavary’ichen Bericht 
fnüpfte, die bonapartiftiiche Partei ziemlich unbeanjtandet hervorging, während Die 
gemäßigten, „janften“ Republilaner unter ihrem Führer Gambetta eine eclatante 
Niederlage erlitten. Daß bei derjelben die verjchiedenartigiten Motive mitjpielten, 
ift klar; ebenjo, daß alle veactionären und clericalen Elemente der Berfailler Ver— 
fammlung damit lediglich den Kaijerlichen ihren Dank abtrugen für dad Votum 
derjelben zu Gunſten der freiheit des höheren Unterricht. Der PVicepräfident des 
Miniſterraths, Buffet, erwies fich bei diefem Anlaß dem Dictator Gambetta ala 
„thurmhoch“ überlegen, um einen Bismarck'ſchen Ausdruck zu gebrauchen, freilich nur 
überlegen an parlamentarijcher Schlauheit und Gewandtheit. Er verjtand es, bie 
conjervativen Inſtincte der alten Majorität, welche einſt Thiers gejtürzt hatte und 
die das Votum, durch welches die Republik in Frankreich als definitive Staatsform 
anerfannt worden war, noch immer nicht verwinden konnte, in Wallung zu bringen, 
und jo wurden die Republifaner die Prügelfnaben der Bonapartiften, deren Sache 
durch diefe Escamotage den ſonderbarſten Borjchub erhielt. Aber diefe Niederlage 
Gambetta’3 hat ohne Zweifel noch die andere Folge, dak damit auch die Rolle der 
fanftmüthigen Republitaner für einige Zeit außgeipielt ift. Die Nabdicalen vom 
Schlage Louis Blanc’, denen der jtaatgmännifche, compromißjüchtige Republikanis— 
mus Gambetta’3 jtet3 ein Dorn im Auge gewejen, haben nun wieder Oberwaſſer in 
der Partei, während ſich im Parlamente die alte conjervative Majorität wie durch 
ein Wunder wiederhergeftellt. Auch in parlamentarifchen Dingen bleibt Frankreich 
das Land der Ueberraſchungen. 

Aber während hier die Republifaner, wenn auch nicht die Republik, unterlagen, 
fcheint fich das Königthum in Spanien und Griechenland neu zu befeftigen. 
In letzterem Lande freilich ift auf die augenblidliche Ruhe, welche daſelbſt herricht, 
nicht viel zu geben. Jedenfalls hatte König Georg das Experiment bisher nicht zu 
bereuen, welches er mit der Berufung des Cabinets Trikupis gemacht.” Was aber 
Spanien anbelangt, jo jcheinen endlich die militärischen Operationen gegen die Car- 
liften jene Erfolge zu zeitigen, welche fie feit jo langer Zeit blos veriprochen hatten. 
Die Grundzüge der Verfaſſung, welche gleichzeitig in die Deffentlichkeit drangen, ver— 
rathen in mehr ala einer Hinficht eine Hingabe an Rom, welche an die franzöftiche 
Unterrichtsfreiheit gemahnt. Freilich mag dies ſpaniſchen Traditionen entjprechen, 
und doch wäre es ſeltſam, wenn das Wort Ludwig's XIV., „es gibt feine Pyrenäen 
mehr“, heute nur für die Gefellichaft Jefu noch Geltung haben jollte. 


Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Pierer'fhen Hofbuchbruderei in Altenburg. 
Für die Rebaction verantwortlid: Elwin Paetel in Berlin. 
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt diefer Zeitfchrift unterfagt. Ueberſetzungsrecht vorbehalten. 


An unfere Sefer. 


Die „Deutfhe Rundſchau“ beſchließt mit dem vorliegenden Hefte für 
September ihren erften Jahrgang. 

Wenn unſere Zeitihrift vor einem Jahre, bei der Ausgabe bes erften 
Heftes, das Publitum um feine Gunft und fein Vertrauen bat: fo ift fie heute 
in der glüclichen Lage, dafür danken zu können, daß Beides ihr in reichem 
Maße zu Theil geworden. Der Erfolg war ein unmittelbarer. Nachdem das 
Probeheft ausgegeben, erjchienen in raſcher Folge hintereinander: von Heft I 
der fünfte, von Heft II der fünfte, von Heft IV ber dritte, von Heft V ber 
zweite Abdruck, bis mit Heft VI unfre Auflage die Höhe von 9000 Eremplaren 
gewonnen hatte, tweldhe fie gegenwärtig behauptet. 

Die Verbreitung der „Deutichen Rundſchau“ beſchränkt fich nicht auf 
Deutichland; fie wird verhältnigmäßig nicht minder ftark gelejen in Amerika, 
Rußland, England, den Niederlanden, dem jcandinadviichen Norden; und in 
allen überſeeiſchen Plägen, wo Deutjche find, findet man bereits die „Deutſche 
Rundſchau“. 

Dieſer Erfolg, welchen wir ohne jede Verleugnung deſſen, was ſich ziemt, 
offen anerkennen dürfen, beruht, nach unſrer Meinung, auf zwei Thatſachen, 
die wir von Anfang an für uns geltend gemacht haben: auf der politiſchen 
Machtſtellung des Deutſchen Reiches und dem daraus hervorgehenden Bedürfniß 
nach einem literariſchen Organ, welches die Geſammtheit des deutſchen geiſtigen 
Lebens in ſeinen charakteriſtiſchen und maßgebenden Beſtrebungen und Reſultaten 
möglichft vollſtändig umfaßt. 

Nun Tann zwar Niemand weniger, ald Herausgeber und Verleger der 
„Deutihen Rundſchau“, fich einer Täufchung über Dasjenige Hingeben, was 
die Zeitichrift bisher geleiſtet; noch Jemand mehr, als fie, davon überzeugt fein, 
daß das Ziel, weldyes fie fich jelber geſteckt Haben, wol deutlich bezeichnet, aber 
nit vollftändig erreicht ſei. 


Was jedoch erreicht worden ift, das haben wir durchaus der freudigen 





Bereittwilligkeit zu danken, mit welcher viele von Deutjchlands anerkannt erſten 
Männern fich beeifert haben, unſer Werk zu fördern. Diejes Zufammentwirken 
repräfentativer Namen der deutfchen Literatur und Willenfchaft, unter ſtrengem 
Ausschluß des Dilettantifchen auf beiden Gebieten, hat das Meifte gethan, 
da3 Programm der „Deutichen Rundſchau“, jo weit e8 bis jet geſchehen, zur 
Mahrheit zu machen und unfrer Zeitjchrift ihre Signatur zu geben. 


Der erfte Jahrgang der „Deutichen Rundſchau“ brachte: 


I. Beiträge zur fhönen FKilerafur, von ı 
Berthold Auerbad), Emanuel Geibel, ; 
Anaſtaſius Grün, Karl Gutzkow, Paul : 
Heyje, Wilhelmine von Hillern, geb. | 
Birch, Wilhelm Jenjen, Heinrich Laube, | 
Fanny Lewald,R. Lindau, Alfred Meike : 
ner, ©. zu Putlig, I. 2. Scheffel, | 
Friedrich Spielhagen, Theodor Storm, | 
Adolf Wilbrandt. i 


II Beiträge zur allgemeinen Guttur-, | 
Medts- und Kirchengeſchichte, bon Prof. : 


Prof. W. Preyer, Prof. Oslar Shmibt; 
Geographie nnd Völkerkunde, von Marines 
Stab3arzt Dr. €. Böhr, Fr. von Hell 
wald, Director A. B. Meyer, Dr. Ger: 
hard Rohlfs, Dr. Georg Schweinfurt, 
Prof. H. Vambéry; Vehnofogie, von Hof: 
rath M. M. von Weber; Wilttärwifen- 
fdjaft, von General von H. Brandt (aus 
befien unperöffentlichten Denkwürdigleiten), 
Oberſt F. von Meerheimb, Oberft 3. von 
Derby bu Vernois. 


I. Bernays, Dr. Georg Brandes, Prof. III. Kine fiterarifhe Aundſchau, in welcher 


F. Dahn, Prof. 2. Frieblaender, Prof. | 
5.9. Geffcken, Prof. U. de Gubernatis, : 
Prof. Ottolar Lorenz, Prof. H. von Sybel; | 
Siferafur- und Kunfigefhidte, von Prof. : 
9. Hettner, Prof. K. Hillebrand, i 
Dr. Gerd. Hiller, Prof. H. Hüffer, | 
Prof. Br. Meyer, Dr. Julian Schmidt, ! 
Prof. 8. Urlichs, Prof. U. Woltmann; 
Dolkswiriäfdaft und Irziehungsfrage, von ! 
Dr. 8. Bamberger, Dr. 4. Lammers, | 
Dr. Eduard Laster; Yhilofopfie, von Dr. ; 
Eduard von Hartmann, + Prof. C. G. 
Reuſchle, Prof. E. Zeller; Hprahwifen- | 
(daft, von Prof. Mag Müller, Prof. H. 
D. Whitney; Naturwifenfdaft, von Prof. ; 
FJ. Cohn, Prof. A. Fi, Prof. W.oerfter, ! 


von Monat zu Monat bie hervorragenderen 
Ericheinungen belletriftiichen ober allgemein 
wiffenichaftlichen Inhalts von Dr. Fr. 
Kreyffig, beſonders wichtige Fachſchriften 
von Fachmännern aus ber Zahl ber oben 
Genannten befprochen wurben; eine Berliuer 
Ghronik über Theater, von Dr. Karl 
Grenzel, und über Mufit von 2. Ehlert 
und Dr. DO. Gumpredt; eine Wiener 
Shronik über Theater von Prof. Bayer und 
Dr. Heinrich Laube, und über Muſik von 
Prof. Ed. Hanslid; und eine politifde 
Rundſchau, welche, von einem nationalen 
und freifinnigen Gefichtöpunfte, bie GEreig- 
niffe des Monats überfichtlich zufammenftellte. 


Wir glaubten den Leſern der „Deutſchen Rundſchau“ diefen Rückblick auf 
unfern erften Jahrgang ſchuldig zu fein, um daran die Berfiherung zu Inüpfen, 


daß wir auch den folgenden in berfelben Weife fortführen werden, mit derjelben 
Aufmerkfamkeit für alle unfre Nation näher oder ferner berührenden Intereſſen, 
mit derjelben Sorgfalt und dem unermüdeten Beftreben, unſre raſch geficherte 
Geltung ung mit jedem neuen Hefte neu zu verdienen! 


Die „Deutiche Rundſchau“ wird in ihrem zweiten Jahrgange, außer der 
Berliner und Wiener Chronik über Theater und Muſik, der literariſchen und 
politiſchen Rundſchau, unter Anderem, folgende Beiträge veröffentlichen: 


Novellen von Gottfried Keller, Theodor 
Storm und Levin Shüding. 


Reiſen im öfliden, Nord- nnd Genfraf- | 


afrika. Bon Dr. ©. Nadtigal. 
Der geographifhe Congreß in Yaris. Don 
Dr. G. Rohlfs. 


Entwicklungsgeſchichtliche RXdobleme. Von | 


Prof. Ernſt Haeckel. 


FAeber Darwin's „Inseetivorous plants.““ 


Von Prof. Ferd. Cohn. 
Pie Principien der Auskelarbeit. Don 
Prof. A. Fid. 


Die Theorie der Materie, Bon Prof. W. | 


Dunbt. 


Die legten lechig Zahre in der Pfyfk. 


Bon Prof. E. G. Reuſchle. 


Aeber Man und Gewicht. Bon Prof. W. M 


Foerfter. 


Die Edelmetalle im Cullurleben. Don Prof. ; 


von Neumann:Spallart. 


Streitfragen des neueren Bölkerrehts. Don | 


Prof. Franz von Holtzendorff. 
Aeber die Lage in Frankreid. Von Prof. 
F. 9. Geffden. 


F. m. Seontjew und bie ruffiihe Preffe. : 


Bon "*** 


Erinnerungen eines ruſſiſchen Yudlicifien. 


Don Fr. Meyer von Walbed, kaiſ. zufl. 
Gofleg.:Rath a. D. 


Der amerikanifhe Bürgerkrieg, Von F. 


von Meerheimb, Oberft im Nebenetat des 
Großen Generalftabs. 


Die Heere der Großſtaalen und ihre ge- 

ſchichtliche Entwihelung. Bon M. Jahne, 

Hauptmann im Nebenetat des Großen Gene⸗ 

ralſtabs. 

Weitere Mitideilungen aus den Bisher un 

:  gedrudifen Denkwürdigkeiten des Gene: 

rals H. von Brandt. 

; Düffeldorfer Sehrjaßre. Ein autobiographifches 

Fragment von J. W. Schirmer. Mit Ein: 

: leitung von Prof. A. Woltmann. 

: Midelangelo. Bon Prof. W. Hente. 

: Heder Schliemann’s Troja, Yon Geh. Hof: 

rath W. Roßmann. 

Die jüngſten Ausgrabungen in Mom. Bon 

Fr. von Hellwald. 

NNeber die neueren Zearbeilungen und den 

: gegenwärtigen Stand der römiſchen Kaiſer · 

geſchichte. Yon Prof. 8. Friedla ender. 

: Die fiterarifhe Bewegung zur Beit Karl's 

des Großen in ihrem Zuſammenhang mit 

der Gründung der Weltmonardie, Bon 

Prof. U. Ebert. 

Die Borgia, Bon Prof. B. Augler. 

: Walfenflein, auf Grund neuaufgefundener 

:  eigenhändiger Briefe beffelben. Bon Prof. 

D. Lorenz. 

: VYapfithum und Kaiſerlhum im achtzehnten 

Zahrhundert. Bon Prof. Carlvon Roorden. 

: Ein $tüht Kfeinflaatliher Thenerungspofifik. 

: Bon Dr. O. Hartwig. Mit Vorwort von 
Prof. H. von Sybel. 

Zur Keſorm des höheren Anterrihiswefens. 
Bon Director Dr. Friedr. Kreyifig. 


Der Mechanismus der Nafur und die Frei- 
beit des Geifles. Von Prof. M. Carriere. 


Glauben und Gefhihte im Fichte des 


Prama’s. Don Prof. Rob. Zimmermann. 


Die griechiſchen Formen und Make in der ; 


beuffhen Dichtung. Don Prof. F. N. 
Lange. 

Weber Shaftefpeare’s Sonette. 
Karl Goedeke. 


Don Prof. 


Angedrudte Briefe von Goelfe an A. €. | 


Schubarth. Herausgegeben und erläutert von 
Prof. H. Hettner. 
Endwig Zeuerbach. Bon Prof. W. Bolin. 


Eduard von Hartmann’s nenere Schriften. : 


Bon Prof. U. Laſſon. 


: Paul Heyſe. Bon Dr. Georg Brandes. 

: Hermann Kurz. Sein Beben und feine Werke. 
Don Dr. 8. Raiftner. 

: Karl Maria von Weder und Roſſini. Per» 
fönliche Erinnerungen von M. M.v. Weber, 
Eherubint. Sein Leben.und feine Werte. Don 
| Dr. $erd. Hiller. 

Zoh. Sed. Bad. Don 8. Ehlert. 

: !den des Horaz, im Versmaße des Drigi» 
nals. Bon Emanuel Geibel. 

| Giacomo Leopardi’s Gefpräde. Don Paul 
GBeyſe. 

| Die englifhen Reviews. Bon Dr. M. 
Jutroſinskti. 

Ferien in England, Bon Jul. Rodenberg. 


Die „Deutſche Rundſchau“ erſcheint auch ferner, wie bisher, in monat- 
lichen Heften von 10 bis 11 Bogen in gr. 8° zum Preiſe von 6 Mark pro 
Quartal und ift durch jede Buchhandlung und Poftanftalt zu beziehen. 


Die Derlagshandfung: 


Gebrüder Yaetel 
Berlin, M. Kuhowſttahe 2, 


Der Herausgeber: 


Dr. Zulius Rodenberg 
Berlin, I, Shekingfrafe 16. 


Diezer’jge Hoftudbruderel, Erephan Geibel & Go. in Hlienburg. 


euifhe Rundfdan. 


Herausgegeben 


don 


Julius Nodenberg. 





Berlin. 
Derlag von Gebrüder Paetel. 


Amfterdam, Sehffardt'ſche Buchhandlung. — Athen, Karl Wilberg. — Baſel, Chr. Mehri. — Bern, 
Huber & Go. — Brüflel, 6. Muguarbt’3 Hofbuchhandlung. — Budapeit, Karl DO. Stolp. — Buenos⸗Aires, 
Yacobfen & Söberftedt. — Bulareft, Sotſchek & Go. — Ghriftiania, Albert Gammermeper. — Gonftantinopel, 
Ghr. Roth. — Dorpat, E. I. Rarow’s Univerf-Buhhandlung. — Florenz, H. Loeſchers Buchhandlung. — 
Kopenhagen, Wilhelm Prior’3 Buchhandlung. — Lima, &. Niemeyer & Ingbirami. — London, A, Siegle. 
Zrübner & Go, — Luzern, Doleſchal's Buchhandlung. — Mailand, Ulrico Hoepli. — Montevideo, Jacobſen 
& Söberftebt. — Mostau, J. Deubner, Edmund Kunth. Wlerander Lang. — Neapel, Ulrico Hoepli. — 
New⸗Nort, Stechert & Wolff. E. Steiger. — Odeſſa, Emil Berndt’ Buchhandlung. J. Deubner. — Paris, 
Sandoz & Fiſchbacher. — Petersburg, G. Häſſel's Buchhandlung. Garl Rider. — Pifa, Ulrico Hoepli — 
Niga, I. Deubner. R. Aymmel. — Nio de Janeiro, E. & H. Laemmert. — Mom, Loeſcher & Go. — 
Rotterdam, dan Hengel & Geltjed — Stodholm, Samjon & Wallin. — Tanunda (Süb-Auftralien), 
FJ. Bafedow. — Tiflis, G. Barrenftamm. — Valparailo, E. Niemeyer & Jughirami. — Warſchau 
6. Wende & Go. — Wien, Faeſth & Grid. — Deddo, H. Ahrens & Go. — Züri, 6. M. Ebel 


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xl. 


XI. 


Inhalts-Verzeihniß. 


Wilhelm Ienfen, Wilhelm von Grumbach. Novelle. (Schluß.) 
Alfred Woltmann, Gaftelfranco und Billa Mafer. 
Heinrich von KSrandt, Die Märztage des Jahres 1848 in 

Pojen. Aug feinen bisher unveröffentlichten Denkwürdigkeiten. II. 

Julian Schmidt, Schiller in feinen Briefen . ; 
Mar Hupbensz, Die Verbreherwelt von Wien . \ 
Selig Dahn, Leber altgermanifches zur in der 

Hriftliden Teufelsſage 

9. Yamberp, Mohammedaniſche Furſten — Reueit 
und die europäijche Givilifation. 

Alfred Meifiner, Hephäſtos. Gedicht 

Friedrich Krepffig, Literarifhe Rundihaun . —— 

a) Neue Studien von Karl Roſenkranz. Erſter Band: Studien 
zur Culturgeſchichte. Zweiter Band: Studien zur Literatur— 
geichichte. 

b) Gedichte von Giufeppe Giufti, deutfch von Paul Heyfe. Mit 
einem Anhange: Bittorio Alfieri ala Satirifer. — Vincenzo 
Monti. 

e) Dramatifche Sprichwörter von Carmontel und Theodore Leclerg, 
überjeßt von Wolf Grafen Baudilfin. 2 Bde. 

d) Unfichtbare Mächte. Hiftorifcher Roman aus der Gegenwart 
von A. Mels. 9 Bde. 

Oscar Schmidt, Kant und Darwin. Ein Beitrag zur Gejchichte 

der Entwidelungslehre von Fri Schulte. F 

Profeſſor Wuttke's „Deutſche ne And daB 

Ausland NR 

Angelo de Subernatis, Aus Italien 
Politiſche Rundihau. 


Seite 
321 
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Dilhelm von Grumbach. 





Novelle von Wilhelm Jenſen. 





Echluß.) 


Um die Mittagsſtunde war's, und neben der Ruhebank, auf der Frau Anna 
von Grumbach angekleidet lag, ſaß Biſchof Melchior von Zobel. Sie ſchlief, 
doch athmete ſie röchelnd aus zerſtörter Bruſt; ihr zur Linken ſtand das Fenſter 
weit geöffnet, und drunten in der Tiefe unter den Mauern und Weinbergen der 
Veſte rauſchte der grüne Main, goldhell ſpannte die Brücke ſich hinüber und 
drüben die breite Domgaſſe bis in's Herz der Stadt. Manchmal irrte das Ge— 
ſicht des Biſchofs von den aſchfahlen Zügen des Weibes ab und ging in den 
Sonnentag hinaus. Er ſaß ſchon geraume Zeit ſo, doch es regte ſich kein Aus— 
druck der Ungeduld auf ſeinem Antlitz, allein auch kein Schauer, wie er in der 
Nacht zuvor unwillkürlich darüber hingefahren. In heiter beſchaulichem Gleich— 
muth wartete er, wie Einer, der das Harren der Gegenwart mit Bildern der 
Vergangenheit und Zukunft ausfüllt und hinwegtäuſcht. 

Nun hub ein leiſer Klang an, als komme er von den Spitzen der beiden 
Domthürme; ſummend, ſich in mäligem Anſchwellen verſtärkend und im ver— 
änderten Windhauch wieder einſchlafend, tönte Mittagsgeläute durch die Luft. 
Eine Weile, dann ſchlug die Kranke ihre Augen auf, und ihr Blick haftete un— 
bewegt auf dem Geſicht des Mannes an ihrem Ruhelager. 

Sie ſah ihn anders an, als am Abend, wie der Fieberirrſinn ihre Glieder 
und Gedanken durchrüttelt. Mit leiſer Regung des Kopfes wandte ihr Ohr 
ſich aufhorchend dem fernen Klange zu, der aus dem blauen Gewölb nieder— 
zuſchweben ſchien, und ihre Lippen öffneten ſich zu ſanft-traumhaftem Tonfall 
der Stimme. 

„Ahr ſeid's, Melchior; die Domglocke fingt Mittagszeit. Wenn der Abend 
fommt, reiten wir über die Brüde, und der Main rauſcht am Wehr. Sind 
wir im Himmel? Ich möchte eine Ewigkeit jo liegen und Dich anfchauen. Liebft 
Du mid, Meldior? Jh Habe nur Dich geliebt und fürchte die ewige Ver- 
dammni nicht, wenn Du bei mir bleibftl. Horch, wie fie Klingen; das Herz 
ichlägt ihnen nad. Das ift nicht Reue, ift goldtönendes Glüd, daß nn bei Dir 

Deutiche Rundſchau. I, 12. 


322 Deutſche Rundſchau. 


bin. Nimm mich in Deinen Arm, daß er nicht kommt und mich in ſeine 
Gruft zurückholt! Er iſt wie der Stein, der nicht widertönt, wenn man ihn 
rührt; wer gab ihm Recht auf ein Menſchenherz? Ach, warum biſt Du ein 
Biſchof, daß ich nicht Dein Weib ſein kann — ach, warum?“ 

Sie ſeufzte tief auf, und aus ihren Wimpern quollen zwei Thränen lang— 
fam über die hageren Wangen. Melchior von Zobel fahte mit einem Wider- 
ftreben, da3 fie nit wahrnahm, ihre Hand und ſprach freundlich: 

„Ihr ſollt nicht zu ihm zurück, liebe Freundin. Fürchtet Euch nicht vor 
ihm und nicht vor der Verdammniß! Ihr ſagt's, ich bin Biſchof; die Kirche 
und der heilige Vater haben mir Macht gegeben, zu binden und zu löfen, auf 
Erden und im Himmel.“ 

„D, da3 Wort Deines Mundes löft von aller Dual. Ich habe Dich wieder, 
und der böſe Traum ift vorbei.“ 

Sie hielt feine Hand feft mit den dürren Fingern umfchloffen, ihr Geficht 
legte fi) matt, doch mit bleichem Lächeln um die Lippen, zurüd. „Armes 
Weib —“ flüfterte er beinahe zärtlich, „war der Traum fo böfe?“ 

Ein Schauer lief ihr fihtbar vom Scheitel zur Sohle. „Sprich nit 
von ihm!” 

„Warum nicht, Anna, da Du in meinem Schuß bit? Was kann er Dir 
bier noch anhaben? Weißt Du nicht, daß wir oft des Sturms und Unwetters 
gelacht, wenn wir den köſtlich ermiüdeten Leib wieder auf die Polfter der Ruh— 
bank Hinftredten? Dann ſprachen wir gern vom heißen Ritt, dem ſchweflichten 
Blitz, der und am Felsſturz umzudt, vom glührothen Wolfsauge und weißen 
Eberzahn, die aus dem Dickicht gefunkelt. So fien wir heut’ wieder, Anna. 
Du bift mild’ natürlich, ruh' aus, daß die Kraft Dir zurückkommt. Ruh’ aus 
an meiner Seite und erzähle mir, was Du gejehn und gehört, was Dich er- 
ſchreckt, bis ic) Dich wiederfand.“ 

Die Glocken des Doms ſummten noch immer, und wie auf den Wellen 
ihres Geläuts wiegte das todtkranke Weib ganz leiſe die Stirn. „Ja, er war's,“ 
murmelte ſie, „der Eber mit dem weißen Zahn, als ich Dich im Wald verlor. 
Er ſagte, ich gehöre ihm, und packte mich und trug mich in ſeine Höhle. Darin 
ſaß ich lang' in Nacht und athemloſer Luft. Ich dachte an Dich, das wußte 
er, denn fein regloſes Auge fieht durch Alles hindurch und las die Sehnſucht 
in meinem Herzen. Dann fam er und häufte Gewürm um mid), daß es mir 
den Leib umringelte und an meiner Seele äbte und fraß. Da ward mein Leib 
fieh und meine Seele verdarb.“ 

„Arme Anna — meine Liebe wird beide heilen. Sag’ mir, wie geſchah's, 
daß Du aus der Höhle des Ebers entkamſt, daß er Dich ließ und zu mir ließ?“ 

Seine Augen hielten die ihrigen wie an einer aus Glanz geſchmiedeten 
Kette, und fie nidte und ſprach: 

„Er jagte, daß ich ihn verrathen, ala ich jung und fein Weib geweſen. 
Und er jagte, daß er wiſſe, es wäre barmherzig geweſen, wenn er mid nicht 
zurücigefchleppt, jondern den weißen Zahn mir in die Bruft geftoßen hätte, daß 
Alles vorüber. Aber der Tod jei feine Marter, und ich müſſe erſt Dir thun, 
was ich ihm gethan — dann dürfe ich jterben.“ 





Wilhelm von Grumbad). 323 


Biſchof Melchior ließ unmilltürlih ihre Hand fahren und ihm entflog: 
„Mid verrathen? Dazu kamſt Du?“ 

Dod fie griff angftvoll nad) feinem Arm. „Nein, bleib’! Er denkt, daß 
ich es thue, aber ich will ja nicht fterben, jondern bei Dir glüdlich fein, mich 
der Sonne freuen nad) der langen Finfterniß.“ 

„D, ih weiß, Du Tiebft mich noch immer — wie ih Dih — wie id) 
Did, Anna.“ Aus den Zügen des Antwortenden war bie vorherige plößliche 
Neberrafhung geſchwunden; er gab jeine Hand in ihre Gefangenſchaft zurüd, 
lächelte und fuhr fort: 

„Du ſprachſt von dem mweißzahnigen Eber, er ift unſer beider Todfeind; 
feine Wuth brennt um Deinetwillen gegen mich, wie gegen Dich um meinethalb. 
Wir müſſen unfere Herzen, unfere Arme und Gedanken zuſammenſchließen, 
Anna, um und gemeinfam feiner zu eriwehren. Sag’ mir, weißt Du, mit was 
für anderen Thieren des Waldes feine Arglift und jein Grimm einen Bund 
geſchmiedet, um Dich mir zu entreißen und wieder in feine Gewalt zu bringen?“ 

Die Geiftesirre murmelte ungewiß: „Er ließ mich einen furdhtbaren Eid 
fhwören —“ 

„Den Namen feines Menjchen, keines Landes und feiner Stadt zu nennen. 
Ich könnte Di von dem Eid löjen, Kraft meines Amtes, könnte es von Dir 
begehren, Anna, kraft meines alten Rechts. Spricht Dein Herz, daß Du mein 
Weib bift, oder feines? War Dein Sohn ber jeinige?“ 

In ihren Zügen ging eine Veränderung vor, fie ſchrak zufammen und 
murmelte tonlos: „Das Sind der Sünde — der Teufel fam auf rothem Roß 
und lachte, fein Kind jei’s, und nahm es mit fi. Mitunter höre ich es ſich 
wieder in der rothen Gluth regen, und es jchreit gegen meine Hand, die es in 
den Schwefelpfuhl bineingeftoßen.” 

Der Biſchof fiel haftig ein: „Du inft Did, Anna; meine Gebete haben 
unfern Sohn aus ber Tyeuerqual erlöſt. Er erwartet uns ala ein Lichtes 
Gngelsbild droben in der etwigen Freude, umd feine Stimme ift’3, die aus dem 
Himmelsblau dorther Dir in’s Herz klingt. Bor Vielen wählte Gottes Liebe 
ihn aus, daß fie ihn von der Bruft, die ihn nährte, aus dem Getümmel ber 
Erde zu ſich emporhob, und eine Verheißung ließ fie uns zurüd. Nicht um— 
jonft, jondern im ewigen Rathſchluß vorgejehen, nannte fi der Heimathsort 
des Weibes, dem Du ihn übergabft, Seligenftatt. Aus der irdiſchen Statt der 
Seligen rief die Barmherzigkeit der Gottesmutter ihm zu fich in die Statt der 
ewigen Seligkeit.“ 

„Slaubft Du — ?" 

„Ich weiß es, meine Tochter.“ 

63 waren nicht die Lippen, die Anna von Grumbach einft gefüht, ſondern 
der Mund des Biſchofs, der die troftvoll=zuverfichtlihe Antwort gab. Die 
Kranke erwwiderte ſchwach: „Hab’ Dank — und dem Himmel will ich danken, 
daß er ihn zu fich genommen. Wäre er auf Erden geblieben und in Seine 
Hand gefallen —“ 

Sie jhauderte und ftodte. „Du meinft, in die des Ebers? Vielleicht hätte 
er ihn aud in feine Höhle geichleppt und ein Ungeheuer mit fletichendem Zahn 

21” 





324 Deutſche Rundichau. 1 


aus ihm aufgenährt. Du wollteft mir jagen, Anna, mit wem — nicht Men— 
ſchen, Ländern und Städten, nad) Deinem Eid — mit wa3 für Thieren des 
finftren Waldes der Eber einen Bund wider und gejchloffen.“ 

Ihre Stirn büdte ſich etwas gegen ihn vor, doc fie ſchloß die Augen. 
„Laß mich nachdenken — mein Kopf hat es vergefjen, aber die Gloden wifjen 
es und raunen es mir zu aus alter Liebe. Er hat fie alle, Melchior, alle — 
fie liegen ihm zu Füßen wie eine Meute von Hunden und warten auf feinen 
Hornruf. Aber ihr Gebik ift vom Wolf und ihre Taken find von der wilden 
Kate und vom Luchs. Im Aufgang und Niedergang lauern fie, und gegen | 
Mitternacht jammeln fie fi) in den Wäldern —“ | 

„Dein Eid verbietet Dir nicht, von Ländern zu reden, wo bösartige Thiere 
haufen, meine Tochter. Sprid, was Du weißt, und beginne gegen Mitternacht!” 

„Da find fie vor Allem, die großen Wälder. Sie beginnen am Oderfluß 
und dehnen fich über den Elbfluß weithin bis in’3 Niederland, Darin wimmelt 
e3 von Thierhaufen überall. Und weiter hinauf noch ſchwimmt ein ſchuppiger 
Drade im Meer, der wartet auch auf den Ton des Ebers —“ 

„Shwimmt er dort, wo die Inſeln liegen, die man Dänemark heißt, 
Anna?“ 

„sa, dort.“ 

„Und weiter? Weiter, holdes Weib!” 

„Es ift ein Land, das heißt —“ 

Sie ſtockte, und Biſchof Melchior drehte zornig den Kopf, denn hinter ihm 
ertönte ein Geräufh, das die Kranke zum Innehalten veranlaßt. Die Thür 
hatte fi), von zögernder Hand geöffnet, aufgethan, und e3 trat Jemand herein, 
daß der Biſchof unwillig ausftieß: 

„Wer ift da? ch Habe befohlen, una nicht — meine kranke Freundin 
nicht zu ftören.“ 

Do beim letzten Wort ſchon verflog der Unwille jeiner Züge und feines 
Mundes und wandelte fich plötzlich in ein jein Geficht überglängendes freudiges 
Staunen um. Unwillfürlich trete jeine Hand ſich vor, und er fügte mit 
ftrahlendem Blick gütig Hinzu: 

„Du, meine Tochter? Das ift etwas Andres, Dein Kindergeficht ftört 
nicht. Was bringft Du mir? Gutes natürlich; fomm näher!“ 

Sibylle Brede ſtand ſchüchtern und erröthend an der Schwelle, fie trat auf | 
das Geheiß einen Schritt heran und verjegte leije: ‘ 

„Ich joll Eurer fürftlihen Gnaden vermelden, daß Herr Fyriederih Spet 
Eurer im Ritterfaal harrt.“ 

Die Brauen Melchior's von Zobel zogen fi einen Moment unwillkürlich 
zuſammen, aber dann lachte er: 

„Mit der Botjchaft hat man Dich betraut? ch wußte, daß Herr Fyriede- 
rich Spet gute Fürbitte beſaß, aber jeine Freunde find noch Elüger, ala ich | 
dachte. Geh, Sibylle, und bringe Antwort: ich komme,“ 

Das Mädchen ftand mit niedergeſchlagenen Lidern. „Darf ih Euch noch 
Dank zuvor jagen, hochwürdigſter Herr, daß Ihr der gnädigen Freiin verftattet 
habt, mid) in ihren Dienft zu nehmen?“ | 


„B- — — 


— — 





Wilhelm von Grumbad). 325 


„Du braucht nicht zu danken, meine Tochter. Wir erwerben und Dank 
und Lohn Gottes, daß wir auf Deine Jugend Bedacht und Dich aus dem 
Haufe genommen, defjen Gewerb und roher Verkehr Deinem Magdthum nicht 
anftehen. Geh zu Deiner Beſchützerin und jage ihr, Hand um Hand, und id) 
würde Herrn Friederich Spet in meinem Geheimgemadh empfangen.“ 

Sibylle neigte fi und verließ dad Zimmer; der Biſchof Hatte fie bis an 
die Schwelle geleitet und fehrte zu Anna von Grumbach zurüd. „Du jagteft, 
Anna, e8 ift ein Land, das heißt — 

Verwundert hielt er inne. Die Kranke ftarrte mit brennenden Augen auf 
die Thür, durch welche Sibylle Brede’3 Liebliches Bildniß verſchwunden war; 
da3 Traumhafte aus ihrem Gefiht war gewichen, und eine irre aufringende 
wache Verftörung kämpfte in den wächjernen Zügen. Ihre Zunge wollte jprechen, 
doch es dauerte eine Weile, eh’ der Geift Herrichaft über fie gewann, und hilf: 
los redeten nur die Augen jchredensvoll beängftigte, ftumme Sprade. Dann 
brachte ſie mühſam lallend hervor: 

„Was will das Kind — weshalb ift es bei Dir auf dem Frauenberg, 
Meldhior?“ 

„Was haſt Du, Anna? Es iſt eine neue Dienerin der Freiin von Grafeneck, 
die meinem Hofgeſinde vorſteht. Aus Barmherzigkeit hat ſie das junge Ding 
aus ſeines Vaters Herberge zum Schmeltzenhof in ihren Dienſt genommen.“ 

„Aus Barmherzigkeit? Wozu ſoll fie dienen auf dem Frauenberg, Melchior?“ 

Der Angeredete zudte die Achjel. „Ich verſtehe Dich nicht. Hatteft Du 
nicht Dienerinnen, 'al3 Du auf dem Frauenberg zu Gaft warft? Es ijt zu 
lang’ für Deinen armen Kopf, darum haft Du's vergeflen. Fahr’ fort, mir von 
dem zu erzählen, was Dein Kopf noch behalten — Du weißt, von dem Eber 
und jeinen Genoſſen. 

Wie nach einem Wolkenbruch plötzlich trüb anſchwellendes Hochwaſſer in 
ausgedörrtes Flußbett hineinſtürzt, ſo ſchwoll namenloſe, übermächtige Angſt 
in die leeren Augen des ſchwer athmenden Weibes. Ihre Hände umpreßten 
die bläulichen Schläfen, und fie murmelte: „Mein armer Kopf — zu lang’ — 
zu lang’ — mein Sohn wäre älter al3 fie, könnte fie freien, wenn er lebte — 
und Du bift noch immer der ſchöne Melchior. Führe uns nicht in Verfuhung —“ 

Sie klammerte die Finger zum Gebet ineinander, aber riß fie wieder los. 
„Ich kann nicht beten — Hilf mir, Meldior! Uebe auch Barmherzigkeit an 
mir und ſchicke das Mädchen fort von hier, zu ihrem Vater zurück! Dann will 
ic) Dir Alles jagen, was Du verlangft — Alles —” 

„Wenn Du e8 wünjcheft —“ 

„Nein, nicht jo — Du mußt ſchwören! O, was ift ein Eid? Betrug und 
Lüge und Verrath! Schwöre es bei mir! daß Du fo ſiech und elend und todes- 
fehnfüchtig werben willft, wie ich, wenn Dein Mund meineidig ift!“ 

Es überihauderte Melchior von Zobel, und feine Augen wichen mit einem 
unvderhehlbaren Ausdrud des Entjegens von ihrem Geſicht, aus dem deutlicher 
als je ber nadte Todtenichädel hervorftarrte. „Du bift thöriht — Dein Zus 
ftand regt Dich auf, Liebe Freundin,“ antwortete er ungewiß, „beruhige Di —“ 

„Du willſt nit ſchwören — nicht bei meinem Anblick? Ja, Du jagft es, 


326 Deutiche Rundſchau. 


thöricht — ich bin's nicht, ich wars! Zur Hilfe! Zur Hilfe! Er will bie 
Taube würgen! Es ift der Marder, der mir da3 Blut aus dem Leibe getrunfen 
— reißt ihm die Taube weg! Wo ift der Eber, daß er ihn mit dem weißen 
Zahn —“ 

Sie ſchrie e8 und fiel erſchöpft, mit keuchender Bruft zurüd. Der Biſchof 
warf noch einen Blid über fie und murmelte: „Wieder toll; ich glaube wahr- 
lich aus Eiferſucht.“ Er jchlug ein Kreuz über ihre Stirn: „Sei ruhig und 
bete, meine Tochter! Der böje Feind wird von Dir weichen; dann fomme ich 
zu Dir zurüd.“ 

Sie ſchien nichts zu hören und regte fich nicht, doch wie er ſchnellen Schrittes 
das Gemach verlaffen, jprang fie, einer durch übernatürliche Getvalt aus dem 
Leichentuch aufgerifjenen Todten gleich, vom Lager und ſchleppte ſich ſchwankend 
an die Schwelle nad. Ihr Wille wollte die Thür erreichen und zwang ben 
Körper hinan; ihr Ohr lag horchend an der Holzwand und hörte den Fuß des 
Tortichreitenden im langen Burgcorridor verhallen. Dann fam ed dumpf von 
ihren Lippen: „Thöricht — wieder thöricht. Es ift noch nicht Zeit, no) Tag — 
erft wenn die Nacht kommt, jchleiht der Marder nad jeinem Raub.” Und 
fi) mit taftender Hand an der Wand fortbewegend, fchleppte fie ſich auf die 
Ruhbank zurück. Die Sonne ging über die Thürme de3 Doms, deſſen Gloden 
verflungen waren; in unendlid langfamem, ſchrägem Goldbogen wanderte fie 
vor Anna’3 von Grumbach ſchweigſam folgendem Blick abwärts und kreuzte den 
Main. Ueber die Zugbrüde der Veſte trabte der eilige Hufjchlag eines Reiters 
zur Stadt hinab, nun drunten weiter auf der Brüde des Fluffes, und fein 
Schatten fiel ſchon lang’ zwiſchen denen der alten Steingeftalten wider den 
rauſchenden Strom empor. Die Strudel hüpften, wirbelten, löſten fi und 
ſchoſſen davon, wie fie es geftern Abend und vor Jahrhunderten gethan, doch 
Sibylle Brede ftand heut’ nicht an der Brüftung und ſah auf die raftlos ziehen 
den Waſſer nieder. Bald hier, bald dort emfig und fröhlih in den Sälen des 
Schloſſes beſchäftigt, gewahrte fie nur hin und wieder durch die hohen Tyenfter, 
wie da3 Roth die Berggelände drüben küßte und die Wangen berjelben mit 
glühendem Purpur überzog, und allmälig rann e8 auseinander, verblafjend und 
erſterbend, ala laſſe die freudige Farbe des Lebens zum legten Dal die ſchlummer— 
bereite Welt, fie in ewige Dunkel und Schweigen einzubüllen. So ſchön und 
traurig lag wieder Alles, wie tauſend und aber taujend Menjchenaugen in 
unendlichen Reihen kommend und gehend e3 gejehen; doc das Töchterlein Fabian 
Brede's gewahrte heut’ nicht? von der Traurigkeit, nur die Schönheit leuchtete 
ihr noch im dämmernden Ztwielicht allüberall entgegen und zauberte wonnig— 
lie, wachtraumhafte Bilder vor den braunen Sternen ihrer Augen auf. 

Aber dann wurden diefe Augen jühmüde, und der Traum kam in Wahr: 
heit über fie. Sibylle jaß wartend auf einem Sefjel im Vorgemach der Freiin 
Theodora von Grafened, wo dieſe ihr zu warten geboten. Sie jchlief und ſah 
nit, daß mälig da3 Dunkel des Abends vor leij’ wieder beginnender Helle 
wich, aber im Traume fühlte fie das rinnende Mondlicht vor den geichloijenen 
Kidern und lächelte. 

Da kamen zwei Geftalten von den lauten Sälen des Schlofjes herüber und 


Wilhelm von Grumbach. 327 


durchichritten das Gemach. Sie hielten unmwilltürli vor der Schläferin inne, 
an deren Gewandjaum der weiße Strahl empor zu Frieden begann, und Theo- 
dora von Grafeneck flüfterte: 

„Sie ſchläft ſchon — ift e8 nicht Unrecht, fie zu wecken, Melchior?“ 

Ihre Lippen lächelten leife dazu, der Biſchof entgegnete: 

„Wenn Du e8 vorziehft, Gottesgabe, in die Herberge zum Klingenberg zu 
hidden? Herr Friederich Spet wird vermuthlich diefe Nacht noch dort jein, 
und wir könnten ihn weden.“ 

„Hand um Hand, fagte ich geftern, und jo meint Ihr heute, Schlaf um 
Schlaf? Nein, da ift der feinige wichtiger, denn er hat weiten Ritt morgen 
vor fi, und fein Schlaf ift Goldes wert. Wenn er jo von Würzburg fort- 
reitet, wie dom Frauenberg, braudht Ihr nicht an der Stelle nadgraben zu 
laffen, auf die der fleine Kobold am Schmelgenhof hingafft.“ 

„fo war er zufrieden?“ 

„Er und Wolf Weindheim und ih. Nur der Eber auf dem Steiger Wald 
wird e8 nicht fein und fein Bär nicht und —“ 

„Und wer noch?“ fragte er, wie fie innebielt. 

Theodora murmelte: „Wir find fonderbar und thöricht mit ſechzehn Jahren. 
Dod was iſt's — wenn ich zufrieden bin — morgen wird fie'3 auch fein. 
Kommt, wir haben noch Manches zu bereden, eh’ Yhr Euer Recht heut’ habt 
— auf Schlaf.“ 

Sie gingen in das anftoßende Gemach, langſam hob ſich der Mondenftrahl 
über Sibylle Brede's Knie und Arme und Bruft. Sie athmete tief und un— 
ruhig dazwiſchen, doc) angftlos, in holdem Traum. An ihrem weichen Gefichts- 
rand ftieg das weiße Licht, Schritt um Schritt zu den langen Wimpern — ba 
zudten fie, denn ein Jubelruf tönte, und vor ihnen durch die ſchwarzen Schatten 
und die geifterhafte Mondnacht flatterte über jchnaubendem Pferd ein weißes 
Fähnlein davon. Nod im Schlaf taftete Sibylle's Hand über die Bruft, und 
ihre Lippen flüfterten, roth und bellbeglängt: 

„Bhüt Did Gott —“ 

Do zugleih fuhr fie auf und ſah jcdhlafverwirrt um ſich. Ueber der 
Schwelle einer geöffneten Thür vor ihr kämpfte gelbes Licht mit dem des herein- 
fallenden Mondes, und aus der Thür hervor war ein wirklicher Ruf erflungen, 
ber fie gewedt. Der Mund ihrer Herrin wiederholte ihn jeht, und das Mäd— 
hen erhob ſich und fam und ftand, leicht auf den Füßen noch ſchwankend, halb 
erichredt ob feiner Pflichtverfäumnig, halb no im Traum, vom Schlummer 
geröthet, mit unfäglidem kindlichem Liebreiz auf Wangen und Stirm. Selbft 
die Augen ber Freiin Theodora von Grafened hafteten einen Moment erftaunt 
auf dem lieblichen Kindergeficht, und ihr entflog unmwilltürlih: „Du Haft wol 
töftli geträumt, Kind?“ 

Dann ergriff fie einen koftbaren filbernen Armleuchter, auf dem fünf Kerzen 
mit Kleinen rothen Zungen um den Docht Loderten, und fagte, ihn dem Mädchen 
darreihend: „Leuchte dem hochwürdigſten Herrn, Eibylle — und dann bedarf 
ih Deiner heute nicht mehr.” 


— —⸗* 


328 Deutſche Rundſchau. 


Frieden und Freundſchaft herrſchten in den fränkiſchen Landen, und un— 
behindert ritt Chriſtoff Kretzer im taghellen Mondlicht durch das Sander Thor 
in die Stadt Würzburg ein. Eine Stunde fehlte noch, daß grad' Nacht und 
Tag vergangen, ſeitdem er dieſelbe verlaſſen, denn die neue Thurmuhr des Doms 
ſchlug die elfte Stunde, als er die Sandergaſſe entlang ritt. Nur hier und da 
begegnete ihm noch ein ſchweren Fußes nach Haus ſchreitender Bürger; in der 
breiten Neubaugaſſe hallte der Hufſchlag ſeines Pferdes weit und einſam an 
dem hohen Gemäuer um. Dann hielt er vor der Herberge zum Klingenberg 
und ſchwang ſich ab, doch kaum zehn Minuten ſpäter ſaß er wieder im Sattel 
und trabte mit der Kunde weiter, Herr Friederich Spet babe ſchon am Nach— 
mittag um die fünfte Stunde die Herberge und die Stadt verlaffen. „Guten 
Muths?“ Hatte der junge Reifige gefragt, und der Wirth entgegnete: „Als 
Einer, der fein Geſchäft gut zu Stand’ gebracht,“ und er prüfte, zufrieden 
Ihmunzelnd, den Goldflang zweier franzöfiicher Carolins und meinte: „Man 
ſah's ihm nicht an, aber ein freigebiger Herr war’3, dem’3 nicht drauf ankommt.“ 

Nun that das enge Gewirr der Gaffen und Giebel fi auseinander, und 
Chriſtoff Kretzer ritt die breite Mainbrücde hinan. Alles überglänzte der Mond, 
geifterhaft von Silberfäden umfponnen ftieg drüben in grauer Mächtigkeit die 
Beite des Frauenbergs auf. Sich heftig überftürzgend rauſchte der Fluß durch 
die Nacht, al3 jei weit oben Gewitterfturz im Gebirg eingebrochen und braufe 
fein Hochwaſſer in’3 Thal. 

Auch der Schmeltenhof lag dunkel an der Ede der Straßen und Winde, nur 
von dem Männlein unter dem Erker riejelte wie in Tropfen das Mondlicht, ala der 
Reiter an ihm vorüber um da3 Gemäuer bog und unter dem Fenſter anhielt, wo er 
bierundziwanzig Stunden zuvor im Schatten geharrt. Alles war ebenjo, nur das 
Fenſter geichloffen und lautlos, fein Schimmer regte fi) darin; er rief, leife 
im Beginn, dann ftärker. Doch keine Antwort kam, nur das jpiegelnde Mond» 
Licht täufchte ihn manchmal, al3 Habe fich etwas weiß Aufleuchtendes Hinter 
den Scheiben bewegt. 

Kretzer umritt das vereinzelt ftehende Haus bis an den Eingang zurüd. 
Da war noch ein trübes Licht in einem Raum de3 Erdgeſchoſſes, die Thür ftand 
offen und er trat ein. Mit dem breiten Rüden ihm zugewendet, ſaß Fabian 
Brede an eichenem Tiſch und zählte Geld: nicht Eleine Münzen, fondern einen 
Haufen Gulden, offenbar mehr, al3 der Ertrag des Tages eingebradt. Wie er 
ein Klirren hinter ſich hörte, fuhr er auf und griff nach dem Schwert an feiner 
Hüfte. Doc der Eintretende lachte rauf: 

„Komme nicht, Euer Geld zu rauben, Herr Brede; verlange nad) Beſſerem.“ 

Etwas mißtrauiſch jah der Wirth doch noch drein: „Seid ein ſpäter Gaft, 
Herr Kretzer, aber ich kann's mir feit geftern denen, Ihr habt Gewerb auf 
dem Frauenberg. Sollt das Beſſere haben und nicht durftig vom Schmeltenhof 
gehn. Fürſtliche Gnaden haben ein wohlgefälliges Auge auf Euch gehalten; 
nehmt gute Stunde und jeht Euch.“ 

Er rafite die Gulden zufammen, barg fie in einer Truhe und redete dazu: 

„8 ift nicht von Heut’ und geftern. ch wollt's morgen aufs Schloß 
tragen, aber der hochwürdigſte Herr hat mir die Jahresgült geſchenkt, mix 


— 





Wilhelm von Grumbad). 329 


fagen laſſen, ich jollt’ daheim bleiben, meine Beine verdienten Ruh, brauchten 
den Berg nicht mehr zu fteigen. Kommt zu guter Stund’ und jollt vom Beften 
für die hochfürſtliche Großmuth haben. Wartet, ih ſchaff' Euch gleich.“ 

Gleihgültig jah der junge Gejelle auf die Flirrenden Gulden. „Laßt Euch 
Zeit, Herr Brede, und ſchickt Euer Mädel in den Keller. Oder jchläft’s Schon ?“ 

„Wird’3 beſſer ala jonft,“ nickte der Alte, die Truhe ſchließend. „Ich 
bring’3 Euch.“ 

Er ging und kam mit gefülltem Steinfrug zurüd. „Was heißt's, daß 
Eure Tochter befjer ala jonft ſchläft?“ fragte der Gaft nachläſſig. 

Fabian Brede hatte auch ſich jelbft noch einen Trunk geſchöpft, ſetzte den 
Krug zufrieden vom Munde ab und antiwortete: 

„Bir wiſſen's zumal, Freund, Ihr von heut’, ich von ehmals, auf der 
Streu ſchläft jih’3 befjer al3 auf dem Stein. Das ift gut für unfre rauhe 
Haut, aber die Dirnen fticht fie auch noch, die Streu, und fie meinen gar zu— 
legt, ein ſeidnes Bett ſei noch befjer al3 Linnen. Den? ich’3 recht, iſt's mit 
der Gült nicht zu hoch bezahlt, denn ich muß mich nad einer Schenkdirn um— 
thun.“ 

„Was müßt Ahr?“ 

Chriſtoff Kreger war, ohne feinen Trunk zu berühren, aufgeiprungen und 
ftarrte den Sprecher an; diejer fuhr fort: 

„Weil die Sibyll' weg ift. Heut’ in der Früh kam die gnädige Fyreiin 
von Grafened herab — weiß Gott, wie's möglich, daß fie einen Narr'n an dem 
dummen Ding gefreien, aber ich merkt's jchon geftern — bracht' mir den Zins- 
nachlaß vom hochwürdigſten Herrn und jagte, ich möcht” ihr das Mädel mit 
auf's Schloß geben, fie wollt’3 fein zulehren, daß es mir feine Schand’ mehr 
machte, wie geftern. Wenn's Glüd kommen joll, dacht’ ih, kommt's auf'm 
Haufen. Aber wetten möcht’ ich, es dauert nicht lang’, bis fie mir fie wieder 
herunterſchicken, denn ich hab's nicht fertig bringen können, daß fie ſich geichickt 
anftellt, und die gnädige Freiin wird's auch nicht. Was anders iſt's, hochfürft- 
licher Gnaden nad) Gefallen aufzumwarten, als hier den Bürgern und Gevattern 
aus der Stadt. Wenn fie ſich da jo einfältig beträgt — was habt Ihr denn?“ 

Der Zuhörer hatte ihn wie mit verfteinten Augen angeftarrt; num ftammelte 
feine Zunge gelähmt: 

„Auf dem Frauenberg — auf den Trauenberg habt Ihr Eure Tochter — ?“ 

„Ahr macht närrische Augen. Trinkt!“ 

„eine jelbft, Narr, oder zähle Dein Geld!“ i 

63 ſchnitt wie der Schrei eines zu Tod’ verivundeten Thierd aus Chriftoff 
Kretzer's Bruft, gell, befinnungslos vor Schred und kochender Wuth. Seine 
Fauſt padte den Steinfrug und jchleuderte ihn gegen Fabian Brede; ohne um— 
zubliden ftürzte ex hinaus, auf's Pferd, und der Huf des keuchenden Thieres 
donnerte im Galopp die fteile Schloßgaſſe hinan. Da jprang er ab und hieb 
mit dem Schwertknauf wider die eichenen Pfoften der Zugbrüde und jchrie: 
Laßt nieder!“ 

63 dauerte lang’, bis der Wächter drüben frug: „Wer wedt aus dem Schlaf? 
Was wollt Jhr?“ 


330 Deutſche Rundſchau. 


„Zur gnädigen rau Anna von Grumbach! Macht auf! Meine Bot- 
ſchaft eilt!“ 

„Geht, Ihr ſeid trunken! Sie iſt krank und ſchläft. Kommt zum Hahnen— 
ſchrei wieder; es iſt nicht Brauch, im fürſtlichen Schloß um die Geiſterſtund' 
Einlaß zu fordern.“ 

„Laßt mich ein — ich lohn' es Euch —“ 

„Ihr hört, nein!“ 

„Ich erwürge Did — ich reife Deinen Berg in Stücke!“ ftöhnte der junge 
Kriegsknecht, mit dem Schwert gegen den Fels hHämmernd. Der Wächter lachte: 
„Hackt Euch den Weindunft aus dem Kopf und ruft mich, wenn Jhr fertig jeid. 
Aber macht Ihr zu viel Lärm bei der Arbeit, daß Ihr den hochwürdigſten 
Herrn im Schlaf ftört, ſchicke ich Knechte, Euch Nachtquartier am Baumaft zu 
ſchaffen.“ 

Er ging, und Alles war ſtill, und Chriſtoff Kretzer ſtürzte wie ein Irr— 
ſinniger um den jähen Abfall der alten Veſte. Der Graben hörte auf, denn der 
Fels ſchoß ſenkrecht in die Tiefe, wo er fehlte, ſtieg hohes Burggemäuer, jedem 
Verſuch, e3 zu erklimmen, troßend, auf. Bald ſchwarz undurhdringliche Schatten 
und Winkel, bald mondbeftrahlte Wandfläche, doch überall gleich unerreichhar. 
Mit zerriffenen Händen fiel der Aufwärtsringende herab; ihm war, ala ſchalle 
Hohngelächter Hinter ihm drein, doch das Kochen des Blutes in feinen Ohren 
betrog ihn, Alles war lautlos. 

Da jchimmerte von einem Fenſter her noch Etwas, ein mattrother Schein, 
ein Licht Hinter purpurnem Vorhang, in die weiße Naht. Der athemlos unten 
Stehende jah hinauf; ein hoher Söller, aus grauem Stein gehauen, ftieß daran. 
Und plötzlich ſchnitt von dorther der angftvolle Schrei einer Mädchenftimme 
durch die Luft. 

War es Geifterfpuf der Stunde, von welcher der Wächter geſprochen? Eine 
Geftalt floh Haftig auf den Söller hinaus, und rothes Licht, mit dem Monde 
fämpfend, ſchwankte ihr nad. Ein Schattenjpiel in der Höhe, dem ein zweiter 
Schatten folgte und ftredte die Arme nad. dem erſten, der jammernd: „Hilfe!“ 
tief und ftrauchelte und flehte: „Habt Exrbarmen, Herr Biſchof!“ 

„Sibylle!“ jchrie Chriftoff Kreger, in ohnmächtigem Wahnfinn die Nägel 
in den Fels frallend. Sie hörte e8 und raffte fi mit neubelebter Kraft auf, 
doc ihr Verfolger war ftärfer. 

Aber zugleich kam doch Etwas auf den verzweiflungsvollen Hilferuf, eine 
lang umflatterte weiße Geftalt; wie ein Geift fam fie heran und redte ben 
Arm nad) dem Sieger des ungleichen Ringlampfes. „Flieg', Taube, flieg!” 
ftieß fie aus jchrillpfeifender Bruft — „ic wußt's, es ift die Stunde, wo der 
Marder auf feinen Raub jchleicht, aber ich fenne feinen Bau und habe auf ihn 
gepaßt.“ 

Deutlich, mit ftodendem, zu Eid gerinnendem Herzen ſah der junge Kriegs- 
fnecht, was über ihm geſchah. Ein neues, kurzes Ringen, das Sibylle Brede 
einen Augenblick befreite. „Schweig' Weib, oder ich werfe Dich in die Tiefe!” 
drohte es zornig. Doc die weiße Geftalt ließ nicht ab und feuchte: „Zödtet 
den Marder! Rächt Alle an ihm, deren Herzblut er getrunken!“ 


Wilhelm von Grumbad. 331 


Nun bob ſich die geballte Hand des Mannes gegen fie und traf ihre Stirn, 
und dumpf röchelnd ſchlug fie rückwärts. Nur noch einmal brach aus ihrem 
Mund der irre Ruf: 

„Flieg', Taube —!” 

Sie, der es galt, hatte fi auf die Brüftung des Söllers gef htwungen, das 
Mondlicht riefelte in taufend Funken um ihr gelöftes Haar, ihr Antlitz, ihre 
flehend aufgeredtten Hände. Sie jah hinunter — drunten unter ihr fand die 
nämliche Geftalt, wie in der Naht zuvor — und Chriſtoff Kreber hatte Laut 
und Sprache wieder erfämpft; befinnungslos über die bebenden Lippen, wie 
Rajerei aus dem zudenden Herzen fuhr es: 

„Sibylle —!” 

„Ich komme, mein Liebfter —“ 

Das Kleid, das die Hand des Mannes droben ergriffen, ri, ein Schrei 
durchgellte die Nacht, die Söllerbrüftung war leer, und wie ein fluggelähmter, 
vergeblich flatternder Vogel ſchoß es in die Tiefe. Der unten Stehende ſprang 
mit dem Sab eines Raubthiered vorwärts, die Stürzende in den Armen auf- 
zufangen, doch um doppelte Länge vor ihm jchlug fie, dumpf dröhnend, auf den 
Felsgrund. Er fniete neben ihr, der Mond übergoß weiß ihr regungslofes Ge- 
ſicht; an ihr Obr die Lippen gepreft: „Sibylle* — der Mund antwortete nicht. 
Da riß feine Hand das Kleid auseinander und drüdte fi, über die junge 
Bruft gleitend, feft auf's Herz. Das Herz ſchlug nicht mehr, es war todt. 

Biſchof Meldior von Zobel büdte fi über den Söllerrand und jah, wie 
eine Mannögeftalt drunten das ihm entronnene Mädchen auf die Arme bob und 
ftumm mit der Bürde am Gemäuer der Befte entlang ſchritt. Er wandte fidh 
haftig über Anna von Grumbach's regungsloſen Leib in's Innere der Burg 
zurüd und rief: 

„Hinaus! Wacht auf! Ein Unglüd! Haltet ihn!“ 

Der junge Reiter hatte jein Pferd erreiht und hob feine ſchweigſame Laft 
vor fi auf den Naden des laut aufwiehernden Thiers. Dann ſchwang er ſich 
nad und ſchlug dem Roß den Stachel ein, daß es mit heftigem Satz anſprang. 
Doch gleichzeitig raffelte die Zugbrüde nieder, Stimmen riefen und Fackeln 
glühten vom Burghof her; mit geſchwungener Waffe in der Hand ftürzte der 
Wächter vorauf, jperrte dem Pferde den Weg umd gebot: „Halt! Ergib Did! 
Ich jagt’ es Dir, der Baum würde Dein Nachtquartier!“ 

Es war ein Augenblid, in dem Kretzer's lange Klinge vom Sattel her das 
Mondlicht durchſchnitt, dann kollerte ein ächzender Körper zu Boden, der Huf 
ging über ihn fort und in wild ballendem Lauf die jähe Schlohgaffe hinunter. 
Hinterdrein tönte Geichrei: „Friedbruch! Mord! oft Zedwitz liegt todt! Es 
ift ein Markgräfticher, der ihn erichlagen!” 

„Berfolgt ihn! Bringt ihn todt oder lebendig! Hundert Gulden auf jeinen 
Kopf!” tönte gebieteriih die Stimme Biſchof Melchior's, und es ftürmte die 
Gafje nad) zu Thal. 

Aber das Pferd hatte Vorſprung vor den Unberittenen, e8 jagte am Schmelten- 
hof und dem verwundert nachblidenden Erfermännlein vorüber dem Thor Sanct 
Burkhardi zu. „Macht auf!“ rief der Reiter dem hervortretenden Thorwart. 


332 Deutſche Rundſchau. 


„Wer ſeid Ihr?“ 

„Fried' und Freund vom Bamberger Vertrag! Ich bringe ein Geſchenk 
Eures Herrn an den Markgrafen. Eilt Euch!“ 

Das alte Thor warf feinen Schatten über Pferd und Bürde, der Wächter 
flirrte den ſchweren Schlüfjel in’3 Schloß und öffnete. Doch damm trat er neu— 
gierig mit feiner Leuchte heran und frug: 

„Was für ein Geſchenk iſt's, Freund, das ſolche Eile bei Nacht Hat?“ 

Gr ftußte auf, noch während er es ſprach, denn die Gafje herab ſchrie's: 
„Hieher! Haltet den Friedbrecher! Hundert Gulden auf jeinen Kopf!“ 

„Und das für Deinen!” Chriftoff Kretzer's Schwert pfiff und hieb den 
Kopf des Thorwarts in Stüde auseinander. Sein Mund kreiſchte hinterdrein: 
„Bamberger Vertrag!” und das Pferd ſchoß wie ein Pfeil durch die dunkle 
Thorwölbung in's Freie und ließ in wenigen Minuten die Verfolger athem— 
und hoffnungslos Hinter fich zurück. 

E3 war eine Mondnacht, wie fie am Tage zuvor geweſen, wie Mtenjchen- 
augen fie jeit Jahrhunderten ſchön und traurig gejehen. Nur Sibylle Brede's 
Augen jahen fie nicht mehr. Der Main raufchte jeine dunkle Hochwaſſerſprache 
gegen den raftlofen Hufichlag auf; nur Sibylle Brede’3 Ohr vernahm fie nicht 
mehr und nicht da3 irre Geflüfter, das die Nacht hindurch des Reiters Lippen 
tief über fie hinabbog. Ueber die alte Kaijerbrüde zu Ochſenfurt jprengte das 
Pferd und unter den jchlafenden Stadtmauern weiter gen Oft. Dann mäligen 
Gebirgspfad hinan und ſchaumbedeckt fteiler aufwärts zum Rücken des Steiger 
Walds; doc nun wegab in's Dickicht hinein, zu einfamer Kuppe empor. Der 
Morgenwind jäufelte in den Wipfeln, die das erfte Frühlicht heimlich erhellte. 
Da begrub Chriftoff Kretzer Sibylle Brede im grünen Wald. 

Er trug fie vom Pferd auf das weiche Moos, und wie fchlafend lag fie 
da; dann höhlte er mit Schwert und Händen am Baumftamm ein Grab. Durch 
da3 Laub fam die Sonne mit goldenem Geringel hoch herauf, bis er jeine Arbeit 
vollendet; er raftete nicht, ſondern ftreifte tief in den Wald und häufte fammet- 
artiges Moos auf, damit füllte er ſorgſam Grund und Wände der einfamen 
Nuhftatt des Mädchens. Er hob fie hinein, ſchloß das verichobene Gewand über 
ihrer Bruft, und fie lag noch immer wie jchlafend, auch in ihrem lekten Bett. 
Nun hallte jein Schwert durch die Stille, e8 ſchlug grünes Gezweig von den 
Bäumen; das häufte er wieder, und ald er es gethürmt, jehte er fich zum erften- 
mal an das Grab und jah unverwandten Auges hinab. Doch thränenlos; die 
Holztaube girrte, jein Pferd jcharrte feitab im Grumd, um Sibylle Brede’s Ge- 
ſicht ſpielte das Goldgeflimmer der Sonne. Langjam wich es aus der freund- 
lich grünumwandeten Erdtiefe, da ftand Chriftoff Kretzer auf und breitete das 
gefammelte Laubgeziweig als Dede über das ſtumme Kinderantlit. Doch wie 


er daB letzte über fie hingebettet, drängte » ein braı "ch aus 
dem Grün. Er wollte nicht weichen, wı des T reckte 
ſich hinab, ihn unter das zarte Lailach zı wie ume 
Haar berührte, da brach zum erjten Ma Sch — 


Bruſt, und es zog auch ſein Haupt niede Bett 





Wilhelm von Grumbad). 333 


den zudenden Mund mit dem Haar de3 einzigen Menfchenfindes, deſſen Herz 
ihn einen Tag lang geliebt. 

Als er den aufgeworfenen Erdrand zurüdgeglättet, rollte und trug er 
ſchweres Geftein herbei, die Gruftftatt zu ſchützen. Unermüdlich thürmte er 
Felstrümmer aufeinander und fügte fie zu fiherem Bau; aus dem Wipfel der 
Buche, die das Grab überjchattete, lugte befremdet ein Eichkätzchen auf bie 
Vollendung des mühvollen Werks. Es war hoher Mittag, als er's vollbracht; 
weit zwijchen die grauen Stämme der Bergkuppen hinaus ftiegen in ſchimmern— 
ber Ferne die Domthürme Bamberg’3 aus der Ebne, al3 Streifen im blauen 
Duft tauchten ſüdwärts hinunter Thürme und Veſte Nürnberg’3 empor. Ein 
freifender Raubvogel ſchrie aus hoher Luft, und Chriftoff Kretzer's Blick haftete 
unbewegt auf ihm, bis er mit plößlidem Stoß auf feine Beute in die Tiefe 
herabſchoß. Da wandte ſich zujammenfahrend der junge Kriegsknecht, bejtieg 
fein verwundert nad dem Steindenfmal zurüdichnaubendes Pferd und ritt 
waldein. 


— nn nenn 


Ueber das deutſche Reich aber famen und gingen ereignißvoll die Jahre. 
In den fränkiichen Landen am Main auf und ab vom Frichtelgebirg bis zum 
Speilart tobte und verwüftete, plünderte und brannte auf’3 Neue der Krieg. 
Menige wußten, aus welchem Anlaß derjelbe abermal3 entbrannt fei, noch 
Menigeren war der Urheber feiner Erneuerung befannt. Hüben rief man, mark— 
gräfliche Söldner hätten den Frieden gebrochen; drüben, man ſei nur den 
braunſchweigiſchen Kriegsvölfern zuvorgekommen, welche der Würzburger Bifchof 
unter faljcher Vorgabe in’3 Land gezogen, um den Markgrafen ungerüftet zu 
überfallen. Doch bald Hatte die alte Gewohnheit des Kampfgetümmel3 am 
Main ihr Recht jo jehr zurückgewonnen, daß kaum Jemand mehr daran dachte, 
der friegeriihe Zuftand ſei eine Weile durch den Bamberger Vertrag unter- 
brochen gewejen. Landichaften wurden gebrandihatt, Städte und Burgen be- 
lagert, viel Noth, Jammer und Weheichrei gellte aller Orten, allein troßdem 
lag etwas Läſſigeres in der Betreibung der Fehden, als vordem. Es tar, 
al? ſuche man fi) auf beiden Seiten den Schein aufgedrungener Abwehr 
zu geben und nur glei Wettlämpfern zu ringen, die ihre Kraft für 
einen exrharrten günftigeren Moment zurücdhalten. Aber allmälig wußte Jeder 
in jedem Ort zwiſchen dem deutſchen Meer und den Alpen, daß ber 
Kampf am Main nur ein vielleicht vorzeitiger localer Ausbruch geheimnigvoll 
unterixdiicher Kräfte fei, die das Neih vom Aufgang bis zum Niedergang, 
von Mittag bis Mitternacht durchwühlten. Ueberall unter dem Boden züngelte 
es von heimlichen Flammen, und daneben braufte es dumpf in der Tiefe, wie 
zurücgedämmte Grundwafler, die aufzubrechen trachteten, ſich über das glühende 
Erdreich zu ergiefen. Es war nicht mehr der alte Ruf: Hie Welf! Hie Waib- 
ling! do die ftumme Lofung in den Gejichtern des Nordens und Südens 
ähnelte jenem darin, daß es fich wie bei ihm um die Geftaltung des Reiches 
handelte. Ob xömijch-gläubig, ob proteftantiih — Jeder fühlte, die Namen 
Sekten es nicht, denn hüben und drüben waren Katholiken und Anhänger Luthers, 


334 Deutſche Rundſchau. x 


aber man bediente fich der Namen, weil man die eigentlichen nicht wußte. Obn- 
mächtig ſahen Kaifer und Reich darein; fie befaßen feine Gewalt mehr, ben 
Friedbruch zu trafen, dem drohenden allgemeinen Brand zuvorzukommen. Das 
Oberhaupt des Reiches, vor wenigen Jahren noch allmädhtig, war auch nur ein 
Name getvorden, bedeutungslojer und ſchwächer faft, als der irgend eines feiner 
großen Lehensträger im Reich. 

Es gab Einen, der nicht den Kaifernamen trug, aber der es war. Doch 
weit unten an der Donau kämpfte er gegen den Halbmond. 

Da kam's an einem ſchwülen Sommertag des Jahres 1553 wie ein Wetter 
von Süden. Als trüge fie Sturmfittig, jprengten die Reitergejchtvader des 
Churfürften Mori von Sahjen vom Donauland herauf, und mit der Windes: 
eile, die e8 einft auf dem Zug von Magdeburg gen Innsbruck bewiejen, folgte 
das Fußvolk ihnen nad. Gegen einander kämpften die Federn Wolf's Weinck— 
heim und Wilhelm’3 von Grumbach im Zelt des wirklichen Herrn des deut— 
ſchen Reichs — dann ſchrieb Churfürft Mori an den Markgrafen Albrecht von 
Brandenburg-Culmbach, daß er von ihm fordre, „auf daß Teutjch Land jämmer- 
lich nicht verderbet wilrde,” möge er von feiner Fehde gegen die bedrängten 
Biſchöfe ablaffen und mit ihnen Frieden jchließen in aeternum. 

Glaubten Markgraf Albrecht und fein Berather Wilhelm von Grumbad 
fih jchon ftark genug, um den Zweikampf mit dem alten Waffengenoffen aus 
Magdeburg’3 Tagen, mit dem Deutjchland überfchattenden Baume, der nur einen 
Stamm bejaß, wagen zu können? Die Geſchichte erhellt den jeltfamen Vorgang 
nicht, daß der Markgraf der Forderung des Churfürften Morit Troß bot; fie 
zeigte nur zum ziveiten Male, daß diefem das Heil de3 Reiches höher galt, ala 
Freundichaft und Glaubensgenofienichaft, denn wie damals gegen den hiſpaniſch— 
römiſchen Kaiſer hob er jebt jein entjcheidendes Schwert gegen den wider— 
ipänftigen proteftantiichen Freund. 

Dann trafen die Heere aufeinander am 9. Juli defjelben Jahres bei dem 
Dorf Sieveröhaufen im Fürſtenthum Hildesheim. Diele deutjche Fürften und 
Grafen deckten das blutige Feld, kaum entrann Markgraf Albrecht jelbft, ge— 
ſchlagen, vernichtet, mit einer Handvoll von Reifigen, unter ihnen Chriftoff 
Kretzer, dem Verderben; doch unter den Todten lag au, noch im Tode als 
Sieger, durch Verrath gefallen, Churfürft Mori von Sadjen, und für Jahr- 
hunderte mit ihm hingeſtreckt auf dem blutigen Feld lag die Zufunftshoffnung 
des deutjchen Reiche. Es war der beiten Söhne Einer, die deutfches Land ge= 
boren, der da am 11. Juli 1553, zweiunddreißig Jahre, drei Monate und ein- 
undzwanzig Tage alt, jeinen Geift aufgab, den einzigen, welcher Größe, Stärte 
und hoben, ehernen Willen bejeffen, da3 vielföpfige Verderben noch zu wenden. 
Eine ungeheure Erjchütterung ging durch das Reich, der jähe Stoß hatte ihm 
den kurz gewonnenen Schwerpunkt twieder genommen, und ein Chaos von Trüm— 
mern, die nur fich ſelbſt Zweck waren, blieb der Ref. Mori von Sadjjen hatte 
der getvaltig bändigenden Hand des Winterd geglichen, der dem Strom und 
feinen Zuflüffen, Bächen und Quellen in allen Thälern fefte Dede aufgezwungen ; 
nun brad ein Augenblick gleichzeitig fie überall in Schollen, zum Spiel der 
taufendfältig durcheinander fämpfenden, wider einander ftreitenden Waſſer. 


Wilhelm von Grumbad). 335 


Eine der am Hilflofeften zerichmetterten diefer Schollen war Markgraf 
Albrecht; willenlos riß ihn die Hochfluth der Tage und des harten Zwanges 
hierhin und dorthin. Landflühtig, aus Macht und Anjehn jäh herabgeftürzt, 
irrte er umber, jammelte dann und warn ein zeriprengtes Fähnlein um fich, 
fämpfte heut’ mit Glüd, um morgen zu unterliegen, bi3 er in feine Erblande 
zurüdfam. Dort aber waren derweil die hellen Haufen von Würzburg und 
Bamberg ftromaufgezogen, über Culmbach hinaus gen Oft, wo von fteilen Fels— 
fegeln die markgräflichen Veften Blafjenburg und Hohenlandäberg in den Himmel 
ftiegen. Der Winter ging, dann loderten, al3 Frühling und Sommer zurüd- 
famen, von den alten Binnen und Thürmen beider Bergveften die Flammen 
empor, welche die Brandkugeln der „fränkiſchen Einigungsftände“ bis zu den 
trogigen Adlerneften hinaufgejchleudert. Kaum entrann in dunkler Naht Mark: 
graf Albrecht jelbft von der Blaffenburg, und Hinter ihm drein traf ihn, den 
nicht mehr Gefürcdhteten, und feinen Statthalter Wilhelm von Grumbad jet 
aus Faijerliher Hand Acht und Bannftrahl des römiſchen Reiches, entjehte beide 
ihrer Lande, Städte, Dörfer, Burgen, Liegenichaften, ftehenden und fahrenden 
Habe und gab Leib und Leben der Geächteten al3 vogelfrei in Hand und Willkür 
Aller und Jedes in deutichen Landen. Würzburg und Bamberg herrſchten am 
Main, und der rothe Bart Wolf's Carol von Weindheim leuchtete deutungsvoll 
gewwichtiger in den Tag, wenn er hinter oder neben Biſchof Melchior von Zobel 
über die Mainbrüde zwiſchen den alten Steingeftalten dahinritt. 

lleber da3 deutjche Reich aber famen und gingen ereignißvoll die Jahre weiter. 
König Heinrich der Zweite von Frankreich Tegte ohne Widerſpruch feine Hand 
auf Städte und Feſtungen im lothringiichen Lande — mur hier und da raunte 
ein Mund, daß er fie, die jeinem Eiſen oft getroßt, mit goldenen Waffen erobert 
— und thrones= und hoffnungsmüd legte Carl der Fünfte die Kaiſerkrone vom 
Haupt. Immer noch irrte Markgraf Albreht umher; man wußte nicht, wo 
er fei, bald da, bald dort tauchte er auf und verſchwand, dann hieß e8, er habe 
Schuß und Aufnahme bei feiner Schweiter Mann, Herrn Karl, Markgrafen zu 
Baden und Hochberg, und dem Pfalzgrafen Friedrich) beim Rhein gefunden. 
Doch es war jeltfam: für den, der am Bauernherd und in der Werkftatt der 
Städte aufhorchte in den alten fränkiſch-culmbachiſchen Landen, erſchien's faft, 
als lebe der Name des Markgrafen Albrecht in vegerer Weile fort, al3 zu der 
Zeit, da er als gar ftolzer, ftrenger und mächtiger Herr auf feinem NRefidenz- 
ichloffe zu Culmbach geſeſſen. Nur heimlich ſprach die Lippe feinen geächteten 
Namen aus, allein wo e3 geichah, blickten die Augen der Redenden fich deutungs- 
voll dabei an, und es lag am Main ein Klang in dem Wort, ähnlich dem, 
welchen das deutſche Volk in den Namen des ftaufifchen Kaiſers hineingelegt, 
der nicht geftorben war, jondern in Bergesihooß jah und des Tags der Wieder- 
fehr harrte. Markgraf Albrecht von Brandenburg war gefürchtet geweſen, jo 
lange er in Glanz und Macht gelebt; da Beides, zerriffenem Gewand gleich, von 
ihm geſunken, war aud) die Furcht mit erlojchen, ein anderes Gefühl trieb aus 
ihrer leeren Keimftatt herauf. Wer Ohren beiaß, in die Stimmen des Tages 
und mehr noch die der Nacht hineinzuhorchen, der konnte nicht zweifeln, aus 
der Furcht ſei Liebe geworden, ein feftes, immer mehr ſich ftärkendes Band, das 


336 Deutiche Rundſchau. 


viele Tauſende mit der nämlichen geheimen Hoffnung verfette. Verſchollen aber 
jeit Jahren war der einftige marfgräflicde Statthalter „auf dem Gebirg“, Wil- 
helm von Grumbach, feine niederfränkiichen Befisthümer befanden ſich in der 
Hand des Biſchofs Melchior von Würzburg; wo er ſelbſt jei, ob ex noch lebe, 
oder wie jeine Hausfrau, die vor Jahren am Tage ihrer Ankunft auf dem 
Frauenberg plößlih vom Tode betroffen worden, ebenfalls aus dem Leben ge— 
ichieden fei, wußte Niemand. Die Wahrfcheinlichkeit ſprach am meiften dafür, 
und Diejenigen, welchen die befte Kenntniß zuzutrauen war, weil fie ihm ehemals 
al3 Freunde nahe geftanden, behaupteten mit Beftimmtheit, ex ſei landflüchtig 
in der Fremde untergegangen und geftorben. 

Da ritt in der Frühe eines ftürmijchen Januartages aus der Stadt Pforz= 
beim im Markgrafenthum Baden ein einzelner, eiliger Reiter das verjchneite 
Enzthal hinunter. Gin langer Mantel, unter dem eine breite Schwerticheide 
hervorſah, umwickelte ihn, feine Stirn und Augen verdedte ein tiefeingedrüdter, 
breitfrämpiger Spitzhut; es war ſchwierig, aus dem untern, von dichtem, zottigem 
Bollbart umwucherten Geficht die ehemaligen Züge des marfgräflichen Kriegs— 
fnechtes Chriftoff Kretzer herauszuleſen. Mehr Narben nocd hatten ſich dem 
breiten Strid) von den Haarwurzeln bis zum Mundwinkel Hinzugejellt, die 
brauntiffig vermwitterte Haut ließ faum einen Schluß auf das Alter des Reiters, 
doch defto mehr auf zahllos beftandene Eriegerifche Kreuz und Querzüge in Wind, 
Staub und Sonnenbrand zu. Nur Eins ſah man deutlich: der hartgepreßte 
Mund über und zwiſchen den Bartftacheln hatte nie gelacht, oder wenn er es je 
gethan, war lange Zeit vergangen, ſeitdem er fich deſſen zuleßt entwöhnt. Am 
Kenntlichſten dem alten Ausdruc entfprechend leuchtete noch das Weiß der Augen 
unter den buſchigen Brauen hervor, um zwei kleine dunkle Sehfterne gelagert, 
welche denen eine3 Raubvogel3 glichen, die ſich aus hoher Luft unverrüct auf 
eine Beute in der Tiefe hinuntergeipannt halten. Unftät, unheimlich, vertwildert 
und verwahrloft an Körper und Gemüth, das war der Eindrud, den ein Blick 
in das Geficht des Reiters wachrief, geeignet, Jeden zu veranlaflen, ihm auf der 
Landftraße oder in der Herberge aus dem Weg zu gehn. So Einer von Denen, 
tie die wilde Jahrhundertsmitte fie gezeugt und aufgenährt, doch mit jchlim- 
merer Milch noch jchien’3, al3 manch’ Andere feiner verrufenen Gewerbögenofjen 
im zerfeßten, blutenden römiſchen Reich deutjcher Nation. 

Wo die Thäler endeten und Päſſe über Gebirgsrüden den Pfad fortjegten, 
waren die Wege faft undurchdringlich, und es dauerte Tag und Nacht, eh’ Chriftoff 
Kretzer die letzten Ausläufer des dunklen Schwarzwald hinter fi) im Rücken 
ließ und oberhalb der alten Reichsſtadt Heilbronn das Nedarthal erreichte. Er 
raftete faum im derjelben, jondern brach nad Kurzer Einkehr ftromab wieder 
auf. Tagelang zog er in Regen und Sturm unter den Abhängen des Odenwalds 
hin, bi3 er an da3 Knie gelangte, mit dem der Speilart den Maifübme 
ausbuchtet. - Doc von Wertheim jchlug ev WEEbir grobe Straf 
burg ein, jondern wandte jich ſchräg gegen auf Karlitab” 
dort abermals an den Main kam, trieb di | 
mann verweigerte das Anfinnen, den Reitet u 
Kretzer ihm zehnfachen Fährlohn bot. „Der SE dem X 















Wilhelm von Grumbad). 337 


jo draus gurgelt,“ murrte er ablehnend. Der Ankömmling Tchleuderte ihm 
heiferen Fluch in’3 Geſicht und ftarrte einen Augenblid hinüber, dann murmelte 
er nad: „Der Böſe? Kommt er nicht daher herunter vom Frauenberg? Mich 
Lüftet’3, ihn an der Gurgel zu paden!“ Und er ftieß jeinem Pferd die langen 
Stachel wildplöglich in die Weichen, daß das Blut hervorſchoß und das jchmerz- 
gepeinigte Thier mit befinnungslofem Sprung in den Fluß hineinſetzte. „B'hüt' 
- Gott, ich glaub’, ’3 ift Per Böſe ſelbſt!“ jchüttelte fich mit dumpfem Grauen 
der Fährmann; ein höhniſcher Kehllaut vom Waller her antwortete ihm, dann 
ſah ex nad), wie das Roß Feuchend und jchnaubend gegen die treibenden Schollen 
fämpfte, und wie der Reiter mit feinem langen Schwert in die knirſchenden Eis— 
maſſen hieb, al3 jeien e3 andrängende Feindesköpfe. Bei jedem Streich ftieh er 
wilden, gellenden Schrei aus; manchmal war's, als padten Strom und Schollen 
die Frechen Eindringlinge in ihr Gebiet und riffen fie in die Tiefe. Doch der 
Wille de3 Reiter zwang fein Thier und den Fluß, er erreichte zum jprachlojen 
Staunen des alten Fährmanns das andere Ufer. „Es iſt der Böſe, fein Menſch 
hätt’3 gekonnt,“ murmelte diefer, ein Kreuz jchlagend und nadjjtarrend, wie 
drüben die dunkle Geftalt landein meiterjtob. 

Nun lenkte dieje etwas wieder gegen Sübdoft ab und ritt über Höhen und 
Thal einem dunkel aus der weiten weißen Schneefläche abftechenden led 
zu. Der Kramſchatzer Wald war's mit lautlos ftarrendem Gezweig; um bie 
Mittagsftunde hatte die Sonne einen flüchtigen Augenblid an dem Schnee auf 
den Aeften geledt, und der Frühabendiwind rüttelte jetzt bie und da eine ſich 
wieder verhärtende Krufte zwiichen die Stämme herunter; jonft ſchlug fein Ton 
an das Ohr des Reiters, der mit Sicherheit den unfichtbaren Weg durch den 
Wald verfolgte. Als er aus diefem auf öden Bergrüden hinaus gelangte, jant 
der Tag. Der Himmel war bunt mit grell contraftirenden Farben bemalt, aus 
zerrilfener Dede leuchtete ab und zu ein blaues Stüd, im Weſten ftrahlte feurig 
glühende Eſſe auf, doch gegenüber trieb jchweres, fliegendes Gewölk; man jah 
den Sturm, der ihm im Naden jaß, ohne ihn jelbft noch zu fühlen. Unter 
Allem kaltglänzend und troftlos lag die weiße, erftarıte Exde. 

Chriftoff Kretzer hielt jein Pferd auf der Höhe einen kurzen Moment an. 
Nordöftlic weiter hinauf jah ein Thurm aus der einförmigen Schneegegend ; 
er heftete flüchtig den Blid darauf und murmelte: „Seligenftatt”, dann ging 
fein Auge zur Rechten hinab, wo drüben, jenſeits de3 nicht wahrnehmbaren 
Maines, unter den düfteren Wolfenmafjen die höheren, ſchwärzlichen Bergköpfe 
des Steigerwaldes ſich aufguben. Sein Blid ſuchte ſchweigſam eine Weile zwischen 
ihnen umber, über feinen Scheitel fort krächzte vom Kramſchatzer Wald her ein 
Rabe thalabwärt3, der Reiter ftachelte jein Pferd und folgte dem Flug des 
ſchwarzen Vogels, der ſich in einiger Entfernung auf finfter aus dem Schnee 
ragendem zertrimmertem Thurmgemäuer niederließ. Gegenüber ftieg von ziem- 
lihem Hügel eine Dorfliche in die dDämmernde Luft, zu ihren Füßen im Thal 
lagerten fi die Dächer des Ortes Rimpar herum. Gin breiter, augenblicklich 
eisbebedter Bad) trennte das Dorf von weſtwärts wieder anfteigendem Gelände; 
an jeinem erftarrten Bett ftand eine regloje Wafjermühle, eine in Stein gegrabene 


Inſchrift an der Mauerwand derjelben that kund, daß Herr Johann von Grum- 
Deutiche Runbfau. I, 12, 22 


— 


338 Deutſche Rundſchau. 


bach ſie mit Gerechtigkeit verſehen. Zur Linken von ihr führte ſteinig und ſteil 
ein Weg den Bergrücken zu weitgedehnter, halb im Schnee vergrabener, halb 
ſchwärzlich aufſtarrender Burgruine hinan, über welche zum Theil mit leeren 
Fenſterhöhlen ein von zwei Thürmen geſtützter Flügel hoch emporragte. Auf 
einem derſelben ſaß der Rabe, die Fittige noch gegen den Wind ſchlagend; die 
Burg lag nicht auf dem Gipfel, ſondern auf halber Höhe des Berges, ſo daß 
dieſer hinter ihr, den Blick abſchließend, ſeine Felswand weiter emporſchob. Die 
Lage der alten Veſte war trefflich gewählt geweſen, auf drei Seiten hatte fie der 
Abfall und-das Waſſer, auf der vierten die Bergwand geſchützt, doch trotzdem 
lag jie in öde Trümmer gebrochen da, wie ein unter Schutt und Schnee ver- 
ſcharrtes Bild einftigen ftolzen Prangens, von dem nur hie und da der verfohlte 
Rahmen hervorjah. 

Chriſtoff Kreber war zu Thal und den fteilen Weg wieder emporgeritten 
und führte jein Pferd durch das mächtige Steintor, deffen Gebält lang’ hin— 
geſchwunden war und von deſſen Gewölb nur nod das in Stein gehauene 
Mappen des Geichlechtes Derer von Grumbach niederblidte, in den verwilderten 
Scloßhof hinein. Dort befeftigte er das Thier und ftieg über Steingeröll nieder- 
gebrannter Mauern vorwärts. Ein Rundgang umlief die Burg, durch Spih- 
bögen, die in den Fels Hineingebaut waren, ſchweifte der Blick weit in’3 Land, 
ringsum durchlöcherten Schießſcharten das Mauerwerk, manche hart am Boden, 
jo daß die Schüben auf dem Bauch liegend Hindurchgezielt haben mußten. Selt- 
fam wand ſich aus Schnee und Brandſchwärze, deren Geruch die Bruft noch 
zu athmen glaubte, durch die zerriſſenen Mauerwunden dunkel wuchernder Eppich 
hervor. 

Nun bog der Ankömmling zur Linken gegen den noch aufragenden Burg- 
flügel ab. Geländerloje Steintreppe führte zu diefem hinauf in eine leere Vor— 
halle, gegenüber ſah Dedenmalerei und Altar einer in den mittleren Thurm 
gebauten, verwüfteten Gapelle jonderbar hervor; um das Gefims liefen zahlreiche, 
von Flammen und Rauch angeloderte Wappen. Kretzer durchichritt eine Thür 
und trat in den ziemlich wohl erhaltenen Ritterjaal; das Echo feines Fußtritts 
hallte geifterhaft von den gleichfalla mit Wappen bedeckten Wänden, den Säulen 
zurüc, deren einftige Vergoldung roh-gierige Fauſt zerfragt und zerhauen hatte. 
Nur von der hohen Dede ſah noch kunſtvolle Studarbeit, die den Zerftörern 
unerreichbar geweſen, fremdartig in die Trümmerwelt herab. Zwei gleichgeartete 
hallende Säle jchloffen fi) an den erften, alle, ala ob feit Jahrhunderten jchon 
fein Menjchenfuß fie betreten; dann eine weite Küche, noch mit Aſche auf dem 
Herd, doch falt, unheimlich, Froftiger faft als der Schnee, den der Wind durch 
das zerbrödelnde Fyenfter daneben gehäuft. Der Sturm, der die fliegenden Wollen 
vom Steiger Wald bergepeitiht, hatte die Ruine erreicht und winjelte durch 
Winkel und Eden; e3 gehörte beherzter Muth oder eifige Gleichgültigkeit dazu, 
in dem Jahrhundert des üppigft wuchernden Aberglaubens durch das geipenftiiche 
Zwielicht einen Weg in der ödverfallenen Behaufung zu verfolgen, die wie zum 
nächtigen Unterfchlupf für den Wärwolf, die Nachtmar und hölliſches Spuf- 
treiben gemacht ſchien. Doch dem einfamen Wanderer Klang augenſcheinlich 
nicht3 aus dem tönenden Geifterecho auf, feine Einbildung mußte gegen bie 


Wilhelm von Grumbad). 339 


mebenden Schatten, das Seufzen des Windes und Anarren des Gebälfs gefeit 
fein, wie jein Leib fich gegen Schwerthieb und Kugel eriwiejen, die nur die Haut 
zu verlegen, doch das Leben nicht unter ihr hervorzureißen vermocht. Er jchritt 
jet an einer zu höherem Stockwerk aufführenden, morjchen Treppe vorüber und 
tauchte in die tiefe Finſterniß eines Ganges hinein, taftete ſich, ohne zu zögern, eine 
lichtloſe Stufenreihe abwärt3 und wandte ſich in ebenjo vollftändig nachtſchwar— 
zem Labyrinth unbeirrt links und rechts. Dann ſchlug fein Schwertknauf zwei— 
mal raſch Hinter einander und nad) längerer Paufe noch einmal wider eine Wand. 
Es war nicht Gejtein, gegen da3 er pochte, dumpf nachdröhnender Ton deutete, 
daß er ſchwere Holzbohle getroffen. Das hohle Summen derjelben zerrann, dann 
frug eine harte Stimme: „Wer iſt's?“ — „Der Kretzer!“ Und die Holzwand 
drehte ſich, Lichtjchein fiel hindurch, und der Eintretende ftand in gewölbtem 
Kellerraum oder Verließ vor dem ehemaligen markgräflichen Statthalter auf 
dem Gebirg, dem in des Reiches Acht und Bann befindlichen Ritter Wilhelm 
von Grumbad). 

Eine Lampe exrhellte trüb den feuchten Raum, doch ihr Licht alimmerte 
überall auf großen, von den Felswänden niederfidernden Tropfen. Auf den 
dumpfen Boden gebreitet, befand fih in der Ede ein Heulager mit wollener 
Dede; ein hoch mit Papieren, Schriften, Büchern bededter Eichentifch hätte an 
anderer Stelle den Eindrud des Arbeitsgemaches eines Gelehrten erregt. Ein 
roher Holzftuhl davor beſchloß die ganze Ausstattung der unterixdiichen Wohnung. 

MWilhelm’3 von Grumbach fahlweiße Gefichtsfarbe ſprach deutlih, daß er 
jeit langer Zeit in diefer gelebt. Seine Züge waren noch tiefer und ftarrer ein- 
geichnitten ala früher, ein vorjchnell alternder Ausdruck lag darin, aber er hatte 
ihre Verfinfterung noch erhöht. Unverfennbar aus brütender Gedantenwelt auf- 
geriffen, hafteten feine Augen ftumm eine Weile auf dem Ankömmling; geipannte 
Erregung leuchtete aus ihnen, doc durch ihren Schimmer brach in ſchweigſamer 
Sprache unverhehlt zugleich der alte Haß, mit dem fie den wilden Landsknecht 
von feiner Jugend auf jeltfam angefunfelt. Sie mufterten die Erfcheinung de3- 
jelben, dann war's, als zucke etwas wie Befriedigung um den gepreiten Mund 
Grumbach's, jeine weißen Zähne traten vor und er ftieß heifer aus: 

„Du, Chriftoff Kreger? Der Rabe beitm Schuhu? Wärſt Du ein 
Menichenalter früher Hieher gefommen, hätt’ft Du wacker mit gebrochen und 
gebrannt an meiner Väter Burg, nicht wahr? Du gefällft mir, haft was vom 
Bauernpad in Deiner Fratze, wie fie meinen Vater drunten im Dorf durch die 
Spiehe jagten. Kommft Du, weil’3 Di nad Gold lüftet? Was haben fie 
Dir geboten für meinen Kopf?“ 

In dem verwilderten Geficht Kretzer's, deffen Ausdrud Gott und Teufel 
‚Hohn ſprach, war als einziger Meberreft die mit ihm aufgewachſene Scheu vor 
dem Blick, der Stimme des Sprecher geblieben. Er ſah ungewiß an diefem 
vorbei und ftötterte: 

„Ihr wißt, Herr —“ 

„Daß Du mid nicht verkauft, weil ich Dir mehr werth bin, ala fie Dir 
“ten, ich weiß es. Der Hund liegt noch an der Kette und wedelt, ftatt zu 

‘en. Haft Du Botſchaft, daß der Zag kommt, wo wir unfer Gebik anjeßen 
22* 


340 Deutiche Rundichau. 


fünnen? Meine Arbeit ift fertig, der Markgraf braucht nur dazuftehen, und die 
Meute ift beifammen, daß ihr Gekläff vom Gebirg herunter die hochwürdigen 
Ohren wund bellen joll! Was bringft Du?“ 

„Botichaft aus Pforzheim, daß Seine fürftlihe Gnaden der Herr Markgraf 
Albrecht von Brandenburg-Culmbach dort im Beijein des Markgrafen Carol 
zu Baden, des Pfalzgrafen Friederich beim Rhein, wie beider fürftlicher Gnaden 
Ehgemahlen, auch de3 Oberften Jacob von Ofburg und Kanzlers Chriftoff 
Straß —“ 

„Was? Was?“ fiel Grumbach ungeduldig ein. 

„Am achten Jänner verftorben find.“ 

63 lag etwas verjtohlen Luftzitterndes in dem gleichgültigen Ton der legten 
Worte, etwas vom heimlichen Nahdrüden eines Dolches, den andre Hand in 
das Herz eines Todfeindes geftoßen. Wilhelm von Grumbad) taumelte in feiner 
Eijenrüftung rückwärts gegen den Tiſch, jeine Aniee brachen zufammen und ein 
erfticdend ächzender Laut ſchrie aus feiner Kehle: „Todt?“ Aber dann war's, 
ala xolle das Weiß jeiner Augen aus den Stirnhöhlen heraus, er jprang mit 
wilden Sat vorwärts, padte die Bruft des Boten und feuchte: 

„Du lügſt! Gefteh’s, daß Du lügſt, Hund, oder ich erwürge Did! Du 
willft Dich an mir rächen, für Dein ganzes Leben rächen durch einen Augenblic 
Marter, wie nur der Kopf des Satans ſie ausflügelt! Haſt's gethan, und wir 
Beiden find quitt! Nun ſprich: Er lebt! oder —!” 

Er griff befinnungslos nad) jeinem Schwert; Chriftoff Kretzer ftand hoch— 
aufgerichtet ruhig vor ihm, und zum erſten Mal jett feinen Blick furchtlos mit 
dem des Ritters mefjend, verjeßte ex kalt: 

„Ich kann Zodte nicht in’3 Leben rufen, gnädiger Herr. Wenn ich’3 könnte, 
thät’ ich’3, denn ich weiß, Ihr Habt umjonft jet gearbeitet, für ihn, für Euch, 
und auch für meine Fauſt. Der Markgraf ift todt — ſchickt mich ihm nad), 
ich leifte feine Gegenwehr, mir liegt nichts dran.“ 

Wilhelm's von Grumbach frampfhafte Finger Töften fih von dem Leder- 
toller Kretzer's, fein Auge ftierte ire hinaus und jein Mund ftöhnte bewußtlos: 
„Umfonft — fünf Jahre umjonft: — ohne ihn Alles umfonft.“ Er fiel auf den 
Stuhl, ſchlug die geballten Fäufte gegen die Stirn und ſaß, den Kopf ſchwer 
auf die beiden Stüben laftend, ftumpf, wie von Fieberſchauern durchrüttelt da. 
Lange Zeit, lautlos, man hörte das Fallen der Tropfen, die fi) von den Fels— 
wänden löften. Dann begann er manchmal ein Wort vor ſich hinzumurmeln. 

„Nicht Fünf — fünfundzwanzig — ein BVierteljahrhundert —“ 

Er fuhr auf und ftarrte den ſchweigſamen Genofjen feines Verließes an. 
„Biſt Du nicht ein Vierteljahrhundert alt, Chriftoff Kreger? Ein Jahr no 
drüber — umſonſt — umſonſt!“ 

Dumpf brütend ſaß er wieder. „Das wär's — daß meine Rache ohnmäch— 
tige Narrethei gewefen? Er triumphirt —“ 

Diesmal jprang er auf und ließ feine Augen mit glühendem, fonderbar 
mufterndem Blick über das jchrundige Geficht des Söldners gehen. Sein Kopf 
nidte und feine Hand deutete nach der Thür eines Nebenraumes: „AB und 
ſchlaf', Burſch! Dort ift, was mir die Kröteh gelafjen.“ 


fi 


Wilhelm von Grumbad). 341 


Kreger gehorhte und ging in das anftoßende Gelaß, wo auf roh für den 
Nothbedarf aus Steinen aufgeihichtetem Herd rothe Kohlen aus der Finſterniß 
glühten. Er blies fie an, legte Reifig, das gehäuft zur Seite lag, darauf, und 
die Flammen fnifterten dran in die Höh'. 

Stunden vergingen, die der Geäcdhtete in der vorigen Stellung, den Kopf 
über den Tiſch gebückt, zubrachte; dann rief er: 

„Schläfſt Du?“ 

„Rein, Herr.“ 

„So komm!“ 

Chriftoff Kreer Fam, und Grumbach trat ihm entgegen. Eine Minute 
ftand er noch jchweigend, bückte fi) darauf an da3 Ohr des Kriegsknechtes und 
wisperte einige Worte. Wie von einer Otter gebiffen, fuhr Kretzer's Kopf in 


die Höh’, und es war, ala jchlage eine Lohe zwijchen jeinen Lidern auf. Der 


Andere ftarrte ihn fihtbar befremdet an und murmelte: „Hab’ ih mich in Dir 
getäuſcht?“ Er ſetzte Haftig Hinzu: „Wenn Du beim fommft und mir jagft: 
e3 ift! — mein Ritterwort drauf, dann haft Du den Lohn, den Du bisher um— 
fonft von mir verlangt!” 

Kuechtswort drauf, Ihr zahlt ihn nicht umfonft, Herr Ritter!“ 

Es brach zugleich mit einer gellen Lache aus Chriſtoff Kretzer's Kehle. Zum 
andern Mal maßen fich die Augen der Beiden, dann kam wie ein Echo heiſeres 
Gelächter von den Lippen Grumbach's, doch obwol es Elanglojer war, ala der 
erfte markjchneidende Ausbruch, Tief es dämoniſcher an den ſickernden Wänden 
um; wie die weißen, gejenkten Stoßzähne eines Ebers flammte es Kretzer ent- 
gegen, und ber Ritter padte die Hand des Knechtes und fchüttelte fie: 

„Wort um Wort! Nicht wahr, e8 gibt noch Treu’ und Glauben, Chriftoff 
Kreber?” 

Dann ſaß Wilhelm von Grumbacd wieder brütend allein, manche Stunde. 
Zuletzt erhob er fi, um fich auf fein Heulager zu werfen, doch ein prafjelndes 
Geräufch aus dem Nebenraum beivog ihn, die Thür defjelben nochmals zu öffnen. 
Das Gelaß war vom blutrothen Schein des mächtig auf dem Herde lodernden 
Feuers erhellt, davor ftand Chriftoff Kretzer wie eine dunkle Höllengeftalt und 
ſchürte. Er hatte einen irdenen Ziegel in die faft weißrinnende Gluth geichoben, 
nun griff er in feine Bruft, 309 aus linnenem Sädchen einen Doppelgulden 
hervor und warf ihn in den Ziegel. Durch das Abzugloch des Rauchs ſchnob 
der Sturm, die Eſſe ziichte und das Silber in dem Gefäß rann langjam flüſſig 
auseinander. „Was treibft Du no, Burſch?“ fragte Grumbad). 

Der Angeredete fuhr herum, von der Hite war das Weiß feiner Augen 
roth unterlaufen, und er gab Antwort: 

„8 Mitternacht, Herr Ritter?“ 

Das Nürnberger Horologium aus der Burg auf dem Steiger Wald hatte 
den Weg mit hieher in die Unterwelt, gefunden. Grumbach warf mechaniſch 
einen Blick darauf und verjeßte: 

„Droben heißen ſie's jett jo; hier ift’3 immer Mitternacht.“ 

„So hilf mit gutem Zeichen, Satan!“ Chriftoff Kretzer's Fauſt griff mit 
inem Lederſchurz umtidelt in die Gluth hinein nad dem Stiel des Tiegels; 


342 Deutiche Rundſchau. 


mit heulendem Stoß ſchlug im jelben Augenblid der Sturmwind den Raud) in 
das niedrige Verließ herab, dichtgraues Gemenge, nur von blutigem Schein 
durchglüht, überwogte Alles, und Wilhelm von Grumbach wid, um nicht zu 
erfticen, in den Nebenraum zurück. 


— — —— 


Der 15. April des Jahres 1558 lag über den Mainlanden und der Stadt 
Würzburg mit zauberiicher Schöne. Wer ihn als Kind erlebt, gedachte feiner 
al3 Greis noch, ſah ihm nach zwei Menjchenaltern noch deutlicher vor ſich ala 
das Geftern. Mit feinem Morgen war der länger und hartnädiger denn je 
andauernde Winter plößlich entflohen, und wie aus dem Füllhorn der olympijchen 
Lenzesgöttin hatte die Sonne in den kurzen Stunden eines Vormittags Alles 
mit Blüthenjchnee, goldenem Glanz und ſüßer Wärme bis in’3 Herz hinein 
übergofjen. Das war ein Grund für das jpät und treu bewahrte Gedächtniß 
dieſes Taged. Dann ritt am Morgen defjelben zum erſten Mal nad langer 
Zeit wieder Seine fürftlihe Gnaden, der Bijchof zu Würzburg und Herzog von 
Franken, Herr Melchior von Zobel, vom Frauenberg in die Stadt unter feine 
ehrerbietig grüßenden und feinen Segen empfahenden Unterthanen herab. Das 
war ein andrer Grund für das treue Gedächtniß. 

Der Morgen lud wol nad langer Wintergefangenihaft zur Freiheit, und 
viel Volks wogte auf den Gaſſen. Lachende Dirnen, Junggejellen und Kinder, 
die ſich jchalkiich mit blauem Hollunder warfen; doch auch der Bürger gürtete 
nad) dem Mittag jeine Wehr um die Hüfte und widerjtand dem Lächeln des 
blauen Himmels und dem Anpochen feiner Strahlenfinger nicht mehr. Vor den 
Herbergen zum Klingenberg, zum Rebenftod, zum Schmeltzenhof, überall ſchafften 
hurtige Arme Bänke und Tiſche in's Freie, und kaum Hingeftellt, war jeder Sitz 
ſchon von heitren Gäften, mit durftigem Blid, überlagert. Es herrichte Frieden 
am Main und Wohlitand zu Würzburg, und der Wein des 57er Jahrs war 
gerathen. Dazu gab’3 Anlaß genug, von VBergangenem und Gegenwärtigem zu 
reden, von Lat, Noth und Plage, die Hoffentlich für manche Zeit jet dahinten 
lag, denn wie der Frühling heut’ den Winter von dannen gejagt, jo hatte der 
Tod auch den jchwerjten Stein von den jorglich ftet3 in die Zukunft blickenden 
Gemüthern abgewälzt, und man jah’s, die Augen jchauten mit ruhvollerer Zus 
verficht ala jeit lange auf ihre Steinkrüge und in den leuchtend beginnenden 
Sommer hinein. 

Ueber diefen erlöfenden Tod redeten denn auch zumeift die in Behaglichkeit 
fi dehnenden Gäfte des Wirths zum Schmelgenhof. Es war ſchön, jo in der 
Sonne wieder zu fißen, den Main am Wehr jchnellen und rauſchen, die Gloden 
von den Domthürmen fingen zu hören, und zu jprechen, iwie der Tod ded Mark— 
grafen Albreht von Brandenburg die Einwohner der biſchöflichen Städte und 
Lande nun für immer von ihrem ärgſten Feind und, jo weit zu ſehen, weit 
hinaus von aller Furt, Drängniß und drohenden Kriegsgefahr befreit habe, 
Zu rechter Stunde, wußte Mander, war der knöcherne Gejell mit der Hippe 
an das markgräflicde Bett zu Pforzheim getreten, denn droben, vom Fichtelberg 
herab, war allerorten in Stadt und Land Bürger und Bauer gerüftet geweſen, 


Wilhelm von Grumbad). 343 


mit gewaffneter Hand loszubrechen und den heimeriwarteten Geächteten troß 
Kaiſer und Reich wieder in feine Herrichaft einzujegen. Wie ein Feuer hatte 
es in der Tiefe fortgewühlt, und wäre die Flamme aufgeichlagen, fie Hätte alle 
Lande am Main und vielleicht das deutſche Reich jchlimmer denn je überlodert. 
Doch Gottlob, die Enz hatte von den Tannengipfeln des Schwarzwalds ftarres 
Januareis ala Grabftein darauf gethürmt, unter dem Markgraf Albrecht kinder— 
los eingebettet lag. Der Tod hatte deffen eignen Wahlſpruch an ihm bewährt: 
„Fortem exarmat fortior“, und e3 war köftli, beim Wein zu fiten und dem 
Todten Gerechtigkeit widerfahren zu lafjen, daß er ein gar ftreitbarer, gewaltiger 
und hochplanender Fürft und Herr gewejen, dem e3 wol gar hätte gelingen 
können, den höchften Zug zulegt noch im Glücdstopf des Reich zu thun, wenn 
nicht die Scheere der alten Heidengöttin gefommen und dem noch Jugendlichen 
den Lebensfaden abgejchnitten. Nun war’3 vorüber, hatte er vor feinen Plänen 
und Alle, die nad) ihm geblieben, vor ihm Ruh’, und was in geheimer Stille 
auf ihn gebaut worden, war eingefallen wie hoch auf rollende Sandkörner in 
den Himmel aufgethürmtes Gerüft. 

Ya, überaus köſtlich war's, am raujchenden Main davon zu ſchwatzen und 
gegen die Sonne auf die alten Steingeftalten der Brücke zu blinzeln, die ſich 
auch in Wärme und Licht badeten, als wollten fie anheben zu athmen, die 
ftarren Glieder zu regen und von ihren hohen Sodeln unter die frohlebendige 
Menjchheit herabzufteigen. Ebenjo ſchön gewiß war die Welt noch, wie fie e3 
zu ihrer Zeit, jeit Jahrhunderten gewejen; wohin man ſah, traf man Augen, 
die e3 freudig bejagten, und jo Viele ſich heut’ über die Steinbrüftung auf das 
hüpfende Wafjer niederbüdten, Keines ſprach, die Welt jei auch zu Tode traurig 
in ihrer Schönheit. 

Die Steinfrüge Happten, und Fabian Brede, der Wirth zum Schmeltzenhof, 
bewegte fi hin und her. Mechaniſch von Tiſch zu Tiſch; er nahm die leeren 
Krüge nicht, jondern deutete fie nur einer vollbufig blitäugigen Dirne, die mit 
ihnen in den Seller flog und fie gefüllt zurück brachte. Nur das Geld, daß die 
Gäſte zahlten, ftrih Fabian Brede mit zitternd haftigen Fingern felbft ein. 
Sein breiter Rüden war zufammengefrümmt, ftärker, als jechs Jahre auch in 
feinem Alter es erklärlich machten; in den Augen lag’3 erlojchen, nur beim 
Anblick des Silber irrte ein flüchtiger Strahl drin auf. Doch allmälig kamen 
der Gäfte zu viel, als daß die Schenkdirn ihrem Begehr allein hätte entiprechen 
fönnen, und Fabian Brede begann, von alter Gewohnheit geleitet, ihnen mit 
aufzuwarten. Es waren fremde Gefichter, offenbar nicht Bürgern der Stadt 
gehörig, zumeiſt ältlich-bedädhtig, mit kaufmänniſch berechnenden Zügen und 
Augen. Man jah, fie machten auf größere Reife Raft; hochbelaftete Pferde, 
Maulthiere, Karren und Wagen hielten wartend auf freiem Pla dem Schmelten- 
hof gegenüber. Hie und da ftand ein jüngerer Gejell mit verwegnem Ausdrud 
und langem Raufſchwert daneben, oder ſaß ebenfalls beim Wein, etwa in Allem 
ein: Dutzend. Das Ganze bildete eine Karavane von Menſchen und Thieren, 
wie die Zeit und die Eden ber Straßen und Winde fie allerorten im deutjchen 
Reich zu beftimmten Jahresabidhnitten häufig gewahrten. Lautes Stimmen- 
gejurre ging rund und vielerlei Rede Klang durcheinander. 


344 Deutſche Runbichau. 


Da kam noch ein Mann von ftattlicher Bürgerart über die Brüde, drehte 
ſich auf der Mitte derjelben um und ſchaute neugierig auf einen langgewachſenen 
Burſchen zurüd, der in hellgelbem, wie Sonnenlicht weit in die Ferne leuch— 
tendem Wamms an einem Sodel lehnte und beihäftigungslos zur Stadt durch 
die Domgafje hinüberblicte. Der nad) ihm ſah, war der Waffenſchmied Dietrich 
Spumber, ein wenig grauer geworden und vielleicht mit einem Zug um den 
Mund, wenn der Bart diefen nicht zu ſtark verdeckt hätte, als habe ihn etwas 
betroffen, das ſich dort jchmerzlich eingeprägt und das die Jahre nicht völlig 
wieder zu verwinden vermocht. Doc er jchritt Eraftvoll wie früher, und die 
Mugen Augen ſchauten mit dem alten ernftheiteren Lebensverftändnig in die 
Welt. . Sie war jo, diefe Welt, jagten die Augen, man mußte die fonnige 
Stunde fefthalten und genießen; alles Andre in unerforschlichen Rathichluffes 
Hand! Um die Hüfte des Meifters klirrte an kunſtvoll zierlihem Wehrgehänge 
das kurze Schwert, im leichten Nachmittagshauch flatterte die Feder feines 
Baretts; jo wanderte er, deutjcher Bürgerart treffliches Bild, dem Schmelen- 
hof zu. 

Freunde und Nachbarn traf er dort und ſetzte fih grüßend zu ihnen. 
Sein Blick mufterte die ungewohnten, fremdgefichtigen Gäfte weiter hinauf, und 
er frug: „Wer find fie?“ 

„Kaufleute aus Biſchofsheim an der Tauber,” Yautete die Antwort. „Sie 
ziehn mit Geleit zur Frankfurter Faſtenmeſſ', haben im Rebenſtock genächtet 
und find zu gutem Trunk unterm Leiften eingefehrt, denn fie haben nicht Eil. 
Aber ich wollte, ich hätt’, was ihre Maulthiere auf dem Rücken tragen.“ 

„Thut's auch nicht, Nachbar,“ erwiderte der Waffenfchmied, jeinen Krug 
bon den Lippen abjegend. „Das Glüd liegt anderswo, man handelt's nicht. 
Unglück kommt über Nacht, jeid zufrieden, jo lang’ die Sonne jcheint. Iſt's 
wahr, daß der Bilchof heut’ zum Erften feit feinem Beinbruch wieder vom 
Frauenberg niedergeritten? Ich Hört’3, er fei auf der Kanzlei in der Stadt.“ 

„Hab' ihn mit eignen Augen gejehn,” nickte der Andre. „Man gewahrt’3 
nicht, daß er jo lang’ gelegen; wie vor dreißig Jahren reitet er und lacht jein 
Gefiht in die Welt. Wär's nicht der Hochwürdigſte, man könnt’ argwohnen, 
er hätt’3 mit böjer Kunſt, fich ewig jung zu halten.“ 

Dietrih) Spumber late. „Die Kunft ſteckt im Blut, aber mich däucht, 
's ift faum nöthig, wem's der Himmel jo in den Topf wirft. Der ſchaut no 
über’3 Jahrhundert hinaus, Freund, und reitet mand)’ guten Ritt an unjern 
Gräbern vorbei. Sah’t Ihr die Freiin von Grafened im legten Jahr? Eine 
Venus war's noch vor zehn Jahren, jetzt fieht fie aus wie 'ne Maihere vom 
Blocksberg und trägt kaum jein halbes Alter auf dem greifen Haar. Die 
Freiin don Offenhaufen, Junker Garol’3 von Offenhaufen Schwefter, ift dafür 
defto jünger. Nitt fie mit zur Stadt?“ 

„Rein, ic jah fie noch nie, aber fie joll jhön fein —“ 

„Wie rau Anna von Grumbach vor dreißig Jahren war; 's wächſt 
immer neu, wie der Wein, aber es wird nicht befjer, wie der Wein, durch 
die Jahre. Trinkt, Nachbar, wer weiß, wie lang’ wir ihn haben. 's ift ein 
Landsknechtslied, will mir heut’ nicht aus dem Kopf: 


Wilhelm von Grumbach. 345 


Sch Teb’, weiß nicht wie Lang’, 

Ich fterbe, weiß nicht warn, 

Ih fahr’, weiß nicht wohin, 

Mich wundert, daß ich noch jo fröhlich bin.“ 

„Habt Net." Sie tranken. „'s hätt’ der fürftlihe Herr auch benfen 
können, als im Herbft der morſche Stein unter ihm glitt und er in den Mauer- 
graben ftürzte. Hätt’ fein Schußgeift über ihm gewacht, möcht's ihm um's 
Genick geiheh'n fein, nicht blos um's Bein.” 

Des Waffenihmieds Augen jahen den Sprecher jchalkhaft lächelnd an. 
„Wißt Ihr's? Hab’3 anders gehört, daß der Schußgeift auch Beine beſaß und 
zwar hurtigere, ala der, welder ſein's zerbrah. So kam’s, jagt man; was 
geht’3 und an? Wer mit andrem Maß mißt als wir, wird vielleicht auch mit 
andrem gemeſſen. Frieden und Wohlfahrt im Land, Nachbar! und das haben 
wir! Mög’ er lang’ noch leben und wir uns deß freuen! 's ift Alles Selbft- 
fucht, mit wa3 für Namen wir's heißen, fann nicht anders jein. Wer lebt, 
lernt's. Noch Einen, Fabian!“ 

Der Wirth war langjam herangefommen und ftand vorgebüdt und aufe 
horchend mit dem gelbweiß behaarten Kopf hinter ihm. „Schaff's, ſchaff's,“ 
antwortete er, „ein Wort, Herr Path'!“ 

„Was gibt's, Alter?“ Spumber ftand auf, und Fabian Brede zog ihn am 
Arm mit fich abjeitd. Seine Nafenflügel witterten wie die eines Pferdes in 
die Luft und er murmelte: „Riecht Jhr's?“ 

„Was, Fabian?“ 

„Nichts, nichts — aber es ift drin,“ wisperte der Alte, ſich ängftlich um- 
ſehend. „Behüt’ uns die hochheilige Jungfrau vor Brand und Blut!“ 

Mitleid ging aus des Waffenſchmieds Augen über fein Gefiht. „Habt 
taufend Mal fjelber drin geftanden, Fabian, und ſeid abergläubijch worden in 
Euren alten Tagen? Wovor habt Yhr Furt?“ 

Dur die ausdrudslos blöden Augen des Greifes lief ein geheimnißvoll 
irres Licht. Er hob den gebüdten Kopf an Spumber’3 Ohr und wiederholte: 

„Nur nicht Brand und Blut, Herr Path’, Euer Geſchäft geht dabei, aber 
meines nicht. Mir fehlen noch fünfzig Goldqulden — aber jagt’3 Niemandem! 
Ich Hab’ fie heut’ Nacht wiedergeſehn im Wald, der Lindwurm war fort und 
fie jaß im Mondichein vor der Höhle und flocht ihre braumen Zöpfe. Noch 
fünfzig Gulden, da hab’ ich das Löfegeld voll und hole fie. Ihr Geſicht war 
wie Schnee, denn fie trinkt nur Thau, der Nächtens in's Moos fällt. Doch 
ich habe noch Schloßwein vom Jahr 47 im Seller, der joll ihr das Blut 
wieder roth machen, und Ihr jollt auch davon trinken, Ihr auch, denn fie hat 
Euch lieb gehabt.“ 

Es zudte ſchmerzlich unter Dietrich Spumber’3 grauem Bart, und ihm ent» 
fuhr, wider Willen jchien’s: 

„Laßt die Thorheit, Fabian! Euer Kind ift todt und kommt nicht wieder.“ 

Unverkennbar that’3 ihm leid; er mochte gewöhnt fein, dem irrfinnigen 
Alten anders zu antworten. Doch diefer rüdte ungläubig - zuverſichtlich die 
Stirn hin und wieder. Todt? Bon todten Menſchen findet man den Leichnam. 


346 Deutſche Rundichan. 


Habt Ihr meines Kindes todten Leib gejehen? Wer Hat ihn gejehen? Wer? 
Ich will ihm die Augen vergolden, der’3 gethan. Wißt, Herr Path’, die Leute 
reden, ich hätt’ fie dem Drachen verfauft —“ 

Diesmal fiel der Waffenſchmied ſchnell ein: „Laßt fie reden, Tabian! Ihr 
habt’3 nicht, habt feine Schuld dran, ich weiß es.“ 

Neber das blöde Geficht, das ihn ängftlich-erwartungsvoll angejtiert, ging's 
mit freudiger Erlöfung. „Ahr wißt's — habt Dank! Sagt’3 den Andern auch, 
daß Ihr's wißt! Ihr jollt guten Trunk dafür haben.“ Und Fabian Brede 
lief auf jchleifenden Sohlen, jo ſchnell ihm feine fteifen Kniee erlaubten, in den 
Keller hinunter. 

Spumber jah ſchwermüthig überflorten Blid3 in die Sonnenwelt hinaus ; 
er murmelte: „Sie ſticht ſchon,“ und feine Hand fuhr raſch über die Wimper; 
dann beobachtete er klar, wie ftet3, die Dinge um ſich her. Drüben flammte 
noch das ftrohgelbe Wamms reglos an dem Sodel auf der Brücke; der lange 
Burſch ftand jelbft wie aus Stein gehauen und ließ fi) von der Frühlings— 
ſonne übergießen; über den Zinnen und Thürmen des Frauenbergs zitterte jchon 
ſommerlich die Luft. Warın behaglich jchritt der Waffenſchmied an den Tiſchen 
der trinfenden Gäfte vorüber gegen feinen verlafjenen Tiſch zurüd. Doch plöß- 
lich hielt er an und heftete den Blick auf eine unter weiten Mantel Tang« 
ausgeſtreckte, narbenbededte und früh verwitterte Geftalt, die mit tief in die 
Stirn gedrüdtem Filzhut zwiſchen den Biihofsheimer Kaufleuten dafah. Spum- 
ber juchte unter dem rothen, ftruppigen Bart zu lefen, der das Geficht zugleich 
vol umrahmte und überwucherte, twie zufällig drehte dafjelbe fich im nämlichen 
Moment zur Seite, allein für das jcharfe Auge des Schwertfegerd hatte die 
furze Schau Hingereiht, er trat an den Fremden hinan und ftreefte ihm die 
Hand entgegen mit dem Wort: 

„Seid’3, Junker Kretzer, obwol Ihr's Einem fauer mat, Euch aus dem 
roten Mummenjchanz, den Ihr Euch um's Geficht gethan, herauszufennen.“ 

Der Angejprochene zögerte eine Secunde lang, eh’ er die gebotene Hand 
ergriff. E3 war, als überlegte er, ob er wollte oder nicht, aber dann faßte er 
ſchnell die Hand, ftand auf und erwiderte: 

„Habt Gruß, Herr Dietrich Spumber; Ihr irrt Euch nicht, nur im Junker 
wieder, wie jchon ehmals.“ 

Der Meifter lachte. „Seid kein Fürft und Herr geworden deriveil, wie ich 
nicht römischen Reiches Majeftät? Weiß es noch gar wohl, wie Ihr damals in 
Grimm und Zorn davonrittet, hier auf dem nämlichen Fleck, weil Euch Jemand 
zu Leid geiprodhen, ohn’ daß er's gewollt. Wär’t vielleicht nicht jo herb gegen 
das arme Mädel geweſen, wenn Ihr's vorausgewuht hättet, was andern Tags 
mit ihm kommen jollte —“ Dietrich Spumber brach kurz ab umd fuhr eilig 
fort: „Habt nad) langer Zeit wieder einmal ein Gewerb in Würzburg? 's ift 
gut, daß die Sache vorbei, wo man nicht wiſſen konnt’, ob Ihr insgeheim ala 
Freund oder Feind hier ſäßet.“ 

„Habt Recht, ’3 ift friedlich's Gewerb’ heut’, Meifter, Geleitgmann auf 
die Frankfurter Meff’ zu fein. Man muß fi in die Zeit ſchicken und jein 
Brod ſuchen, wie der Hund den Knochen auf der Gaſſe.“ 


Wilhelm von Grumbad). 347 


Chriftoff Kretzer erwiderte e8 heiferen Tons und ſah gradaus auf bie 
Brüde hinüber, unwillkürlich geiellte fi) ihm der Blid des Waffenſchmieds, 
unb diejer frug: 

„Gehört der Gelbe drüben aud) zu Eurem Geleit? * ein ſonderlicher 
Burſch', der ſich lieber die Sonne in's Maul fallen läßt, als es zu gutem Trunk 
unter'm Leiſten aufſperrt.“ 

Kenn' ihm nicht, den Strohwiſch, hat mit uns nichts zu ſchaffen.“ 

Kreber drehte gleichgültig die Augen von dem bezeichneten, immer noch 
unbeweglichen Cegenftande ab, jchwieg kurze Weile und fehte dann hinzu: 

„8 fommt mir auch zurüd, wie ich damals von hier ritt. Mein Gaul 
wollt’ nicht, ala hätt! er noch 'was zu Schaffen; ich jagte, der Hintende jollt’ 
Euch behüten, Meifter, und Ihr rieft mir nach, mich feine Frau, ’3 könnt’ nicht 
ſchaden, wenn fie mir einmal für 'ne Stund’ ihren Gürtel umthät' — id) hört’s 
wol. Eu'r Wunſch hat gute Frucht getragen, Meifter, für 'ne Stund’; nur 
iſt's zu lang ber, und Ihr jeht’3 mir nicht mehr an. Was war's mit der 
Dien’, von der Ahr ſpracht? Es ftedt in Einem, daß man vom Eh'dem reden 
und hören mag. Ich weiß, ein dumm’s Ding war's, ſagte ihr Vater, als fie 
dem hochwürdigſten Herrn Biſchof, fürftlicher Gnaden, den filbernen Pocal zu—⸗ 
bringen ſollt'. Seh’ fie noch daftehn, juft auf dem Stein, und die Yulifonne 
fpiegelte auf ihrem braunen Zopf.“ 

„Gott weiß, wo er liegen mag unter der Erd’ irgendivo. Ich jah fie aud) 
an dem Zag zum lebten Mal.“ 

Dietrich Spumber'3 geprehte Stimme ſchwieg, der Andre ließ den Blid 
flüchtig wieder über die Brüde gehen und frug: 

„Warum? Iſt fie geftorben ?“ 

Nun nidte der Waffenſchmied: „Den Tag, nachdem Ihr damals rittet, die 
andre Nacht drauf. Geftorben?! Wer ſagt's? Die Freiin hatte fie zu fich 
aufs Schloß genommen, und um Mitternacht ſtürzte ſie vom Burgſöller herab 
auf den Fels. Es war Vollmond in der Nacht, und mondfuchtis, ſprach man, 
war ſie geweſen.“ 

„Und ala Ihr fie fandet, war fie todt?“ 

„Das iſt's, es fand fie Steiner, und drum glaubt der Alte — 's war eine 
böfe Nacht, Freund, da ging's wieder an, jo viel Jahre lang. Aber fragt Ihr 
mich, jo glaub’ ih, der Böſe jelber war's, der in der Nacht auf jchwarzem 
Pferd vom Frrauenberg heruntergedonnert und durch Sanct Burkhardi Thor. 
Sie fiel wol nicht, jondern jprang aus freiem Willen, drum hatt! er Macht 
über ihren todten Leib, der die Seele gerettet, und konnt’ ihn mit fi) nehmen. 
Doch die ihn im Mondlicht geiehn, jagten aus, er babe Wehr und leid von 
einem markgräfiſchen Reiter gehabt; er hatt's wol angenommen, um auf oft 
Zedwitz' und des Thorwächters Kopf den Bamberger Vertrag zu durchhauen, 
denn fie röchelten hinter feinem Huf im Blut, und fein Plan war erreicht, daß 
der Main wieder roth zu fließen anhub. s ift nicht gut, von der Nacht zu 
reden, Freund; es ging um in ihr, und aud Fabian Brede lag mit blutigem 
Geſicht an feiner Truhe; ſeitdem ift Alles fort aus feinem Hirn, bis auf den 


348 Deutſche Rundſchau. 


Klang des Geldes und den traurigen Wahn, daß ſein Kind im Wald ſitzt und 
wartet, bis er das Löſegeld für den Drachen voll hat.“ 

„Verdammt mit Eurem Aberglauben hier!“ Chriſtoff Kretzer ſchlug ſich 
mit der Fauſt hart gegen das Auge, deſſen Wimperrand zuckend zufammen- 
gefahren war. Dann lachte er mißtönig auf: 

„Ich ritt durch Euren Main in jüngſter Zeit, als er mit Schollen ging. 
Da ftand ein grauer Narr dran, Freuzte ſich und meinte, ich fei der Böje —“ 

Seine Lippen ftocdten wie unter einem Ruck, mit dem der Zaum die Kiefer 
des Pferdes zurücreißt, und einen Herzſchlag lang überrann es gleich zitterndem 
Froſt in der heißen Sonne feinen Leib. Dann wid) fein Auge von dem gelben 
Burſchen auf der Brüde ab, der fich in diefem Moment vom Sodel abgelöft 
und langjam jchlendernd gegen den Schmeltenhof heranfam. Kretzer trat gleich— 
zeitig einige Schritte vor und rief mit lauter Stimme über die Gaffe: 

„Hollah! Ihr da, Ichafft Wagen und Maulthier aus dem Weg! Der hoch— 
würdigfte Herr Biſchof kommt zurückgeritten; tummelt Euch, daß fürftlicher 
Gnaden nichts die Gafje jperrt!” 

Der Rufer mußte in gutem Anfehen bei den Knechten ftehen, denn eifriges 
„Hot!“ und „Hua!” erhub ſich jofort, die Peitſchen jauften und Enallten, und 
Fuhrwerk und Tragthier der Kaufmannskaravane ſetzten fih in langſame Be- 
wegung. Dietrid) Spumber blickte über die Brüde entlang und wandte ver— 
wundert den Kopf: 

„Ich dachte, meine Augen nähmen’3 noch auf mit Jedermann, aber Ihr 
müßt welche im Kopf tragen, die um die Ede herumguden, Freund. Nichts 
ſeh' ih, nicht vom Biſchof jelbft, noch irgend einem Reiter.” 

„Hab's dvermeint, mag fein, daß ich mich getäufcht,“ antwortete Kretzer, 
langjam auf jein am Gemäuer des Schmeltenhof3 befeftigtes Pferd zufchreitend. 
Er Löfte die Zügel deſſelben und Elopfte ihm den Hals: „Haft dich verſchnauft?“ 
und das Thier ſchnob ihm wie bejahend in’s Geſicht. 

„Hattet doch Recht,“ ſagte Spumber, der ihm nachgefolgt, „da kommt der 
Biſchof. Grad’ fo wie damals, ala Ihr hier Euer Gewerb’ an ihn ausrichtetet, 
nur reitet nicht die Freiin von Grafeneck an jeiner Linken, jondern Wolf 
Meindheim. Aber Hans von Knöringen und der Truchjeß von Rinned find 
juft jo Hinter ihm und Jacob Fuchs mit Herrn David von Rot aud. Nur 
Hana Zobel fehlt, ftatt deß ift der Treiherr Friedrich zu Grafened, der Bruder, 
im Gefolg’. Wißt Ihr's noch!” 

„Weiß es noch gut, Meifter Spumber.“ 

Kretzer jchlenderte in feinem langen Mantel der Straße entgegen, der Huf- 
ſchlag, fich unter den Wölbungen der Brücke verftärkend, dröhnte näher, die 
Reiter zogen zwiſchen den legten beiden Steinbildjäulen hindurch. Der Waffen- 
ſchmied warf einen Bli nad rechts hinüber und jagte halb verdroffen, halb 
lachend: 

„Seid übereifrig geweſen, Freund; hättet die Wagen und Thiere lafjen 
follen, two fie ftapden, dann hätt’ der Biſchof mindftens vorüber können. Jetzt 
fommen fie nicht zeitig genug vorbei und ſperren juft den Weg auf dem 
Frrauenberg.“ 


Wilhelm von Grumbad). 349 


„Bill nachhelfen! Man muß den Lausbuben jelbft die Peitiche um den 
Schädel hauen!“ 

Chriſtoff Kretzer ſchwang ſich mit einem Sprung auf fein Pferd und trieb 
es unter dem Steinmännlein an der Erkerwand vorbei auf das ineinander ver— 
fahrene, lärmende und fluchende Gemenge zu. An der Spitze der Reiter traf 
jet der Biſchof Melchior von Hobel vor dem Schmelgenhof ein. Er ritt den 
dalmatiſchen Bucephalus mit dem gleigenden und klirrenden Goldfettenbehang;; 
feine jugendlich kraftvolle Erjcheinung zeigte ſich noch immer faft unverändert. 
Das alte harmlos-gewinnende Lächeln lag in den heiterblidenden Zügen; er er 
twiderte leutjelig den ehrfurdhtsvollen Gruß der Bürger, die jämmtlid von ihren 
Sitzen aufftanden, aud die fremden Kaufleute und ihre Geleitsreifigen folgten 
dem Beifpiel. Der Biſchof jah vor ſich hinaus und ſprach launig feinen Ge- 
fährten zur Linfen an: 

„Es ſcheint, wir müfjen Geduld haben, Weindheim, und unfer'm himm— 
liſchen Oberhirten nacheifern, der auch an und manchmal Geduld üben muß. 
Aber es ift auch fein Gebot, keinen Augenblid unjeres Lebens thöricht und une 
genüßt vorüber gehen zu Laffen.“ 

Der Freiherr Wolf Carol von Weindheim winkte der ſchwarzäugigen 
Schentirn’: „Einen Trunk für Seine fürftlihe Gnaden!” doch ehe fie den Auf- 
trag vollziehen konnte, ſchwankte Fabian Brede jelbft mit einem Steinkrug 
heran. Er hob das Gefäß und ftarrte blöden Augs auf die goldenen Schau- 
müngen über dem Naden des Pferdes, und fein Mund murmelte irr: 

„Fünfzig Goldgülden — gebt mir fünfzig Goldgülden für den Trunk! 
dann löſ' ich fie aus von dem Lindwurm, der fie mir weggeholt — es wird 
dem Hohmwürdigften auch lieber fein, wenn fie zurückkommt und ihm den Trunk 
wieder zubringt. Es befomm’ aud Dir, Sibylle Brede, ſagte er — aber fie 
lann's noch nicht, lann's nit — und ih muß es für fie thun —“ 

Der Sprecher jete mit zitternder Hand den Krug an die Lippen, wie um 
ihn zu fredenzgen. Das Gefäh ſchwankte und der Wein floß über, und der Alte 
greinte finnverftört: 

„Das that fie au, ich will fie nicht mehr jchelten drum. Ich bin noch 
ungeſchickter als fie, denn ich bin älter — viel älter —“ 

Biſchof Melchior wandte fi mit einem Riß in die Zügel jeines Hengftes 
widerwillig ab. Sein Begleiter jagte: „Er ift kindiſch, gnädiger Herr, und 
redet Tollheit.“ 

„So gebt dem alten Mann — zahlt ihm feinen Wein, Weindheim — 
trinken mag id ihn nicht!” 

Der Biſchof jpornte mit unwilllürlicher Haft jein Pferd gegen die auf- 
geftaute Wagencolonne; fie zu umbiegen, ritt er hart unter dem Steinmännlein 
am Schmeltzenhof durch, jo dicht, daf fein Baret gegen den Wappenjchild der 
Heinen Figur ftieh und ihm von der Stirm fiel. Er haſchte darnach, es zu 
halten; in dem Augenblid tönte eine Stimme neben ihm: „Darf ih Eud) 
helfen, hochwürdigſter Herr?" Es war nicht die Stimme Wolf Weindheim’s, 
ber noch mit feiner Börſe beihäftigt vor Fabian Brede anhielt, noch die eines 
der übrigen Begleiter. Vom Schmeltzenhof her trat Dietrih Spumber ſchnell 


350 Deutſche Rundſchau. 


einige Schritte vor und ſprach zu einem neben ihm befindlichen Bürger: „Dacht' 
ich's doch halb nach jeiner curiofen Art, er habe wieder ein Gewerb bei dem 
Hochwürdigſten, juft wie damals.“ | 

„sch Half mir ſchon felbft, mein Sohn,“ antwortete der Biſchof, das auf- 
gefangene Baret .haltend. „Haft Du Jonft ein Anliegen ?“ 

Er jah mit einiger Befremdung in das Geficht des bärtigen Reiter, der 
fein Pferd noch dichter herantrieb, daß jeine Fußipite die Bruft des Bucephalus 
rührte. „Ach habe Handgeld von Eurer fürftlichen Gnaden befommen — grad’ 
hier auf diefem Fleck —“ eriwiderte der Kriegsknecht zögernd. 

„Wohl — wohl, mein Sohn — ich erinnere mich Deiner nicht, aber es 
wird ein Handgeld des Himmels für Deine Seele gewejen fein.“ 

Biſchof Melchior hob den Arm, da3 Baret wieder auf dem Kopf zu be= 
feftigen; zehn Schritte von ihm entflog ein unmwilltürlicher Aufichrei aus Diet- 
rich Spumber’3 Mund. Er ftürzte, nach jeinem Schwert greifend, vor — 
Chriſtoff Kreer hatte eine kurze Büchje unter feinem Mantel hervorgezogen, fie 
auf die Bruft des Biſchofs gejeht und drückte mit den Worten ab: 

„sch bring’ Euch das Handgeld zurüd — gebt’3 Sibylle Brede!“ 

Der Knall eines Schufjes lief am Gemäuer des Schmelgenhof3 um, Biſchof 
Melchior ftieß aus: „Gott jei mir gnädig!” und fiel auf den Rüden feines 
Hengftes zurüd, der mit wilden Schnauben anſprang. Wolf Weindheim’s Kopf 
fuhr in die Höh’, und feine goldgefüllte Börſe jchlug Elirrend zu Fabian Brede's 
Füßen nieder. Doc im ſelben Moment blikten und krachten ſechs andre Schüffe 
auf; Jacob Fuchs ftürzte todt vom Pferd und ber Freiherr Wolf Carol von 
Weinckheim ſchlug ebenfalls rückwärts über, aber fein Roß ging in wilder Flucht 
mit ihm davon. Leblos jank auch Friedrich von Grafened herab; mit einem 
Schuß dur den Rüden jagte David von Rot über die Brüde zur Stadt zu— 
rüd, neben ihm Chriftoff Veit von Rinned, an deſſen filbernem Driband die 
Kugel fich verfangen. Bligjchnellen Sprung: hatten die Geleitäreifigen der 
Biihofsheimer Kaufleute ſich auf ihre Pferde geſchwungen, die entladenen Büchſen 
durch den Fauſtriemen geworfen und ihre langen Schwerter herausgerifjen; die 
Mehrzahl der Bürger Würzburg’3 ftand noch ftarr in dem wildkreiſchenden Ge- 
tümmel. Nur einige eilten mit gezücdter Waffe dem Biſchof zu Hülfe, an ihrer 
Spite der Waffenjchmied Dietrih Spumber. Er ftürzte mit feinem kurzen 
Schwert gegen Chriftoff Kretzer und ſchrie: „Fahr zur Hölle, wohin du ge- 
hörft, Mörder!” doch die lange Klinge des Neiterd traf mit einem Hieb die 
Hand Spumbers, dat ihr die Waffe entfiel und er wehrlos unter dem wieder 
gehobenen Schwert daſtand. 

„In die Hölle — mag fein, doch Eure Klinge ſchickt Euch dahin vorauf, 
Meiſter!“ 

Chriſtoff Kretzer ſtieß es mit ſtier und blutig hervortretenden Augen aus, 
und die breite Klinge fuhr herunter. Doch im Hieb drehte plötzlich die Hand, 
durchſchnitt nur die Baretfeder des Waffenſchmieds und pfiff wieder in die 
Höh'. Starr niederblickend murmelte der Reiter: „Sie hat Euch lieb gehabt 
— fahrt wohl!“ und er richtete ſich in den Bügeln auf und donnerte in's Ge— 
tümmel: „Fort! Es iſt geſchehn!“ 


\ 


Wilhelm von Grumbad). 351 


Keine Minute war jeit dem erften Schuß vergangen, und mit ftiebendem 
Huf jagte ein Dutzend Reiter, in ihrer Mitte das ftrohgelb flammende Wamms, 
bligesjchnell durch die Burkharder Gaſſe dem Thor zu. 

Die teile Gafje zum Frauenberg hinan fchleppte Wolf Carol von Weind- 
heim's Pferd feinen bewußtlojen Reiter bis an's Thor des Schloßhofs. Die 
Zugbrüde rafjelte nieder, und über fie hin ftürzten der Hofmeifter Sebaftian 
Nothafft zum Bodenftein und Georg Ludwig von Sainaheim zu Hohen-Kotten- 
heim. Bor ihre Füße jchlug Wolf Weindheim vom Roß und ächzte: „Das 
war Grumbach's Kugel,“ und fterbend Frallte jeine Hand in’3 Geftein. An ihm 
vorüber flogen die beiden Edelleute die Schloßgaffe nieder, der Stelle zu, wo 
irre Gejchrei das Schlimmfte fündigte. Rathlos, wie verftandesberaubt und 
betäubt, trieb Alles durcheinander; die entjegten Kaufleute jammerten und 
drängten nad) ihren verfahrenen Wagen und Maulthieren; niemand, jelbft Diet- 
rich Spumber nicht, aus defjen durchhauener Hand ein dunkler Blutftrom jchoß, 
befümmerte fi um den aus dem Sattel niederhängenden Biſchof. Nur Fabian 
Brede ſchwankte auf jchleifenden Sohlen an ihn heran. Sein blödes Geficht 
war von einem irren Lachen wie überlodert, feine Hand klirrte mit einer gold» 
gefüllten Börſe, und er ftand und verbeugte fi) unabläffig vor dem regungs— 
loſen Biſchof und ſprach: 

„Habt Dank, Hochwürdigſter — nun geh' ich in den Wald mit Eurer fürſt— 
lichen Gnaden Gold — und die Sibylle kommt mit mir heim, heut' noch, heut' 
— und morgen bringt ſie Euer fürſtlichen Gnaden wieder den Pocal zu — 
habt Dank, Hochwürdigſter, habt Dank!“ 

Er klirrte mit dem Beutel, und Biſchof Melchior von Zobel öffnete geiſter— 
haft die Lider. Aus ſeiner Bruſt quoll das Blut, einen Augenblick ſtarrte er 
wie in’3 Leere auf das kleine Steinmännlein, das mit dem Wappenjchild 
unter dem Erfer des Schmelbenhof3 noch unverwandt ernfthaft=jeltfam hinab- 
blickte; dann jchloffen fich feine Augen. Bon der Schloßgafje her kamen Se- 
baftian Nothafft und Georg von Saindheim geftürzt und führten den gold- 
flirrenden Bucephalus mit feinem fterbenden Herrn auf die ftolze Veſte des 
Frauenbergs zurück. 

Das war der dritte und der Hauptgrund, weshalb jeder der Einwohner 
der Stadt Würzburg, der den 15. April des Jahres 1558 als Kind erlebt, 
dieſes Tags noch als Greis gedachte, ihn nach zwei Menſchenaltern noch deut— 
licher als das Geſtern in ſeiner zauberiſchen Frühlingsſchöne vor ſich ſah, über 
bie, wie aus dem Füllhorn der olympiſchen Lenzesgöttin, die Sonne Blüthen- 
fchnee, goldnen Glanz und jühe Wärme bis in’3 Herz hinein gegofjen. 

Die alte Chronik jagt: 

„Und nad) begangenen dieſen Mordthaten, riffen die Thäter aus. Und 
hat Hand Zobel, des Biſchofs Vetter, jelben Tags von Weſpelhauſen nad) 
Würzburg mit zweyen Dninern reiten wöllen, ftöft Kretzer obgemelt, mit fieben 
feiner Rottgejellen auff jhnn, gibt jhm ein Schuß, und weiß er und feine Ge- 
fellen nicht anderft, denn er, Zobel, werde diß Schuß fterben. Aber Zobel ift 
doch hernacher wieder aufflommen, daf ihm dieſer Schuß am Leben nichts 

eſchadet. 


352 Deutſche Rundſchau. 


„Und ſeyen die Mordthäter geweſen: 

„Jobſt von Zetwitz, mit dreyen Dinnern. Zetwitz iſt durch die Bawern 
in Franckreich erſchoſſen worden. 

„Ditterih Picht. Ein Märkiſcher mit zwey Dinnern. 

„Peter Weigel (ſonſt der dick Peter), Bürger von Elfeldt, im Land zu 
Heſſen. Ein reiſig einſpennig Knecht. Der iſt zu Ach geköpfft worden. 

„Hans Beheim. Ein reiſig einſpennig Knecht. Der Beheim ift zu Birden- 
feldt erjoffen, aufm Hunds-Rüd. 

„Michel Feiftlin, jonft Herbft genannt. Ein einjpennig Knecht. 

„Der Kretzer mit noch vier entwichnen Buben und einjpennigen Knechten. 
Der Kretzer — — — 

„Dieſe haben auch vier Fußgehende bey ſich gehabt, die von einer Herberig 
zur andern gegangen, und Kundſchafft gemacht.“ 


— EEE — 


Die Sonne des fünfzehnten April 1558 wich von den ärmlichen Dachſtühlen 
der Häufer de3 Dorfes Rimpar, eine Weile länger noch lag fie mit rothem 
Gold drüben auf dem über grünem Bergrüden in die Luft fteigenden Thurme 
von Seligenftatt und auf dem alten Gemäuer der verödeten Stammburg des 
Grumbach'ſchen Geſchlechts, dann ſank fie hinter den Kramſchatzer Wald, und 
nur in weiter Ferne oftwärt3 glühten die Spiten der Steigerwald-fuppen noch 
einige Minuten, wie von feurigem Brande angeftrahlt, fort. Der Schnee des 
Winter war aus ber weiten Trümmerftatt geflohen, und ewig jugendliches 
Grün überwucherte allerorten Steinſchutt und ſchwarzverkohltes Gebälk; es 
drängte fich Fe über die morjche Freitreppe durch die balfenloje Thür bis an 
die Schwelle des Ahnenſaals hinan, e3 griff mit ranfenden Fingern zu ben ehr- 
würdigen Wappenfchildern auf und Fletterte au8 Spalt und Fuge über den 
Altar fort. Doc troß der Herrfchaft, die der Lenz begonnen, ſchimmerte es da 
und dort noch mit fchneeiger Weiße. Der Wind mandes Jahrzehnts Hatte 
Flugſamen verweht, der Zufall keimfähige Frucht mit ſich getragen, und jchlanfe 
MWildlinge waren auf dem Schloßhof und im alten Gemäuer aufgejhoffen und 
wiegten blüthenbededt ihre weißen Kronen ſchon hoch im Abendhauch des 
Frühlings. 

Todtenſtill, einſam und ſchwermüthig war es zwiſchen den geborſtenen 
Ringmauern der öden Burg. Man ſah, daß unheimliche Scheu den Fuß der 
Bewohner des Thales drunten ſelbſt im hellen Mittagslicht zurückhielt, fie zu 
betreten; jetzt, wo die Schatten in den düſtren Winkeln ſich zu ſchwärzen be— 
gannen, wagte ficher der keckſte Hirtenbube jogar fih um hohen Preis nicht 
mehr in den Bann der verrufenen Trümmer, aus deren Tiefe die Leute zu 
Rimpar dann und wann in ftürmilcher Mitternacht rothe Funken aufjprühn 
gejehn haben wollten. Nur eine Goldammer jchaufelte auf dev höchſten Spitze 
eined® Baums, der aus der Plattform des Wartthurms zur Rechten herauf: 
gewachſen. Sie blicte der abfinfenden Sonne nad und hob in Paufen ihren 
immergleichen, eintönig melancholiſchen Gejang und ließ ihn wieder fallen, 
Schwermüthiger noch ala die Hangloje Stille flötete der lebte, Tanggezogene Ton 


Wilhelm von Grumbad). 353 


durch die leeren Säle und über die ſchweigſame Gruft ſtolzer DVergangen- 
heit Hin. 

Doch nun ſchlug auc der Vogel feine Schwingen, und feine gelbe Bruft 
verſchwand in’3 Dämmerlicht hinaus. Auch er war erjchredt davon geflogen, 
denn unter ihm am Fuß des Thurmes hatte fich etwas geregt, ein Stein, der 
ſich gelöft umd in die Tiefe gefollert, und eine dunkle Geftalt, deren Fuß ihn 
geftürzt, ftand und blickte hinterdrein. Reglos den Blick in die Ferne geheftet, 
wie ein aus hoher Luft jpähender Geier, und fieberhaft aufhorchenden Ohrs. 
Das Zwielicht vertwebte Alles; allmälig, langjam kamen die Sterne der milden 
Naht. Fernher von Seligenftatt verflang mattes Glodengeläut, und in den 
weißen Blüthen jchauerte der Fühlere Wind, daß es wie leifer Regen auf die 
dunkle Geftalt niedertropfte. Aber fie harrte umbewweglih aus, Stunde um 
Stunde, bis die Mitternadht faft heranfommen mochte. Da hallte durch das 
ftille Dunkel fernherüber der Huf eines einzelnen Pferdes, weit hinaus ſchon 
vernehmlich; ab und zu verſchwand der Ton auf weicherem Erdreich, doch er 
tauchte, ſich ſtets nähernd, wieder aus der Nacht, bis er deutlich von dem Fels— 
grund des fleinigten Weges emporklang, der zur Ruine heranführte Einen 
Augenblid horchte die dunkle Geftalt noch, dann ſchimmerte es mit gefpenftifcher 
Weite zwiſchen den Lippen auf, die ein kurzes, heiſeres Lachen ausftießen, und 
Wilhelm von Grumbach ſchien, nachdem er fi) einige Schritte an dem finftren 
Gemäuer, fortbeivegt, von der Erde verſchlungen. 

Eine Eule jchrie und funkelte mit den Augfternen aus dichtem Eppich« 
gerant, ala im Schloßhof der heraufgefommene Reiter fid) vom Sattel ſchwang. 
Furchtlos und von der Finſterniß umbeirrt, durchſchritt er den wiberhallenden 
Ritterfaal, einige Minuten jpäter dröhnte in der Tiefe ſchwere Eichenbohle 
unter pochendem Schwertgriff. Eine Stimme frug: „Wer ift’3?" — „Der 
Kretzer.“ — Und die Holzwand drehte fih, im gewölbten, lampenerhellten Ver— 
ließ ftand wie in der Januarnacht Chriftoff Kretzer vor dem geächteten Ritter. 

Grumbach's Geftalt war von einem lang bis zu ben Füßen fallenden 
Mantel verhüllt, doch er trug einen eifernen Helm mit aufgefchlagenem Fall- 
gatter auf dem Kopf, und wenn er fich beivegte, verrieth ein Klirren unter dem 
Mantel die volle Rüftung. Brennend forſchte fein Blid in den wilden Zügen 
des Gintyetenden; diejer wartete noch einen Moment, eh’ er harttönig ſprach: 

„Es ift.“ 

„Iſt? Von Deiner Hand?“ Wilhelm von Grumbach padte Kretzer's Arm: 
Todt ?* 

„Freikugel war's, er ſelbſt hatte ihr ſeinen Segen gegeben und ich gab 
ihn zurück. Knechtswort, Herr Ritter, wenn er heut' noch lebt, morgen 
nicht mehr!“ 

„Und Wolf Weinckheim?“ 

„Todt. Auch durch die Bruſt geſchoſſen, von Ditterich Picht.“ 

„Ich Lebe, Wolf Weinckheim!“ 

Grumbach ſtieß es mit triumphirendem Hohn aus; mehr denn je ähnelte 
er einem Eber, der ſeinem Todfeind die weißen Hauer in die a geftoßen. 

Deutfäe Runbidjau. I, 12, 


354 Deutſche Rundſchau. 


Er trat mit raſchem Schritt an den Tiſch, auf dem die Lampe ſtand, zurück, 
und die beiden Inhaber des unterirdiſchen Gemachs blickten ſich eine Weile in 
eigenthümlichem Schweigen an. Es war ſo ſtill, daß man den Fall der von 
der Mauer niederſickernden Tropfen vernahm; endlich ſagte Chriſtoff Kretzer: 

„Ich habe Knechtswort gehalten, Ihr habt mir Lohn zugeſagt auf 
Ritterwort.“ 

„Willſt du ihn, Chriſtoff Kretzer?“ 

„Däucht's Euch nicht, daß ich ihn endlich verdient?“ 

Ein flammender, weiß dämoniſcher Glanz loderte aus Wilhelm von Grum— 
bach's Augen, und ſeine Lippen ſprachen nach: 

„Verdient? Du willſt endlich, was Du verdient haft? Es iſt Dir nicht 
genug, daß ich Dich von der Gaſſe aus dem Blut gehoben, Dich mit Blut auf— 
genährt und ein wildes Thier, eine fletſchende Beſtie aus Dir gemacht habe? 
Den Stamm willſt Du wiſſen, von dem Du abgefallen? Wort um Wort ver— 
hieß ich Dir, es gibt noch Treu und Glauben, Chriftoff Kretzer. Deine Mutter 
war nicht da3 Weib, in deffen Blut Du am Brunnen zu Seligenftatt drüben 
lagit. Eine Säugamme war’3 nur, der die Kugel da die Bruft durchpfiff, an 
der Du trankſt; man hatte Di ihr gegeben, um Deiner ledig zu fein. Deine 
Mutter, die Dich zur Luft in diefe Welt geboren, hieß Arına von Grumbach —“ 

Kretzer ftarrte irrbetäubt auf den Sprecher; feine Knie ſchwankten, feine 
Zunge ftammelte: 

„Anna von Grumbad —? und Ahr — Ihr feid mein —?“ 

„sh? Die Ehre wäre zu hoch, Burfh! Du bift von edlerem Stamm —“ 

„hr wollt mich täufchen — wenn Ihr nit — wer ift mein Vater?“ 

Ein Blitz tödtlihen, in Wolluft befriedigten Haffes ſchoß in das Geficht 
des Landsknechtes, um den die Felswände fich Freifend zu drehen begomnen. 
„Mein Rittertvort drauf, ich täuſche Dich nicht, Chriſtoff Kretzer, ich zahle Dir 
den vollen Lohn, den Du um mich verdient! Du haft Deinen Bater gekannt, 
doch Ihr jeid nicht freundlich von einander geſchieden, denn er ift nicht mehr, er 
war. Aber heut’ Morgen noch nannte die Welt ihn Meldior von Zobel, Fürft- 
biihof von Würzburg!” 

Ein befinnungslojer Schrei, mit dem Chriftoff Kreber fein Schwert von 
der Seite riß, entgegnete auf das letzte Wort. Einen Augenblid funfelte die 
lange, blutbedeckte Klinge aus der Werkſtatt Dietrih Spumber's im Lichtjchein 
des nächtlichen Verließes, doch im jelben Moment jchmetterte der gehobene Arm 
Grumbach's die Lampe vom Tiſch zur Erde. Sie erloſch, und todte Finfterniß 
deckte Alles; Kretzer's Schwert jprang im Dunkel klingend von eifernem Helm 
oder Harniſch ab, er ſchrie: „Du entrinnft mir nicht, Teufel!” und jtürzte in 
die Richtung, aus ber er das Klirren der Rüftung vor fi vernahm. Dod 
mit donnerndem Krach jchlug gleichzeitig recht3 von ihm eine in der Mauer 
verborgene ſchwere Thür in's Schloß, draußen ftieß eine Hand kreiſchenden Riegel 
vor, und Wilhelm von Grumbad’s Stimme rief dem wie wahnfinnig gegen die 
jchwere Bohlenwand Hämmernden mit eifigem Hohn hindurd): 

„Der Herzogsſitz Deines Vaters in Franken ift leer, Chriftoff Kretzer — 


Wilhelm von Grumbad). 355 


fteig’ hinauf! Du warſt zu Hohem geboren, und ich Half Dir dazu. Nun find 
wir quitt!” 

Der Schritt des Rufers verhallte klirrend durch unterirdiichen Gang der 
alten Burg, und Chriftoff Kreker brach bewußtlos in der Finfterniß zufammen. 
Dann lief eine Stunde jpäter fein irrgelles Lachen durch den öden Schloßhof 
und hallte geifterhaft au3 den Trümmerjälen zurüd; Pferdehuf ftob Funken 
au3 dem Geftein, und den fteilen Pfad hinab durch die Nacht jagte nordwärts 
der Reiter, daß die Bewohner Rimpar’3 aus dem Schlaf auffuhren und, ein 
Kreuz ſchlagend, den Kopf unter die Dede zurückkauerten. 

Am Frühmorgen aber, als die erften Mägde in Seligenftatt zum Brunnen 
gingen, flogen fie mit kreiſchendem Entſetzen zurüd. An einer Krampe in der 
Steinröhre, aus der da3 Waller ſprudelte, hing eine Geftalt mit narbigem, 
tothhärtigem Geſicht; die weitaufgerifjenen Augen ftarrten weiß und geifterhaft 
aus den todten Zügen vor fi) hinaus. Im Brunnen lag ein langes, blutiges 
Schwert, ein Pferd ftand daneben und ſchnob in der Morgenluft zu dem Todten 
auf. Niemand kannte ihn, Männer kamen, jchnitten ihn herab und verſcharrten 
ihn unter dem Galgen. 

Die alte Chronik jagt in * Abſchnitt „Und ſeyen die Mordthäter 
geweſen“: 

„Der Kretzer mit noch vier entwichnen Buben und einſpennigen Knechten. 
Der Kretzer hat ſich zu Seligenftatt erhenckt.“ 


Es war um fünf Jahre jpäter, daß Wilhelm von Grumbach, noch immer 
in Acht und Bann des Reid, mit großem Anhang des Adels der ehemals 
markgräflichen fränkiichen Lande und im Bunde mit dem Herzog Johann Fried— 
rich von Gotha, vor Würzburg z0g, die Stadt mit ftürmender Hand eroberte 
und Brand und Blut durch die Gafjen bis an den Main hinabwälzte. Strom= 
auf und ab, vom Fichtelberg bis zum Speffart loderte vier Jahre lang wieder 
Krieganoth und Gräuel; an Markgraf Albredt’3 von Brandenburg Statt hatte 
ber Geächtete für feine Pläne ein lenkſames, willenlojes Werkzeug in dem 
Herzog Johann Friederich gefunden. Dann traf aud) diejen die Acht des Reichs, 
nordwärt3 in feine Erblande drängte ihn Churfürft Auguft von Sachſen, Moritz' 
von Sachſen Nachfolger, und zwang am 13. April des Jahres 1567 die in ihr 
letztes Afyl, die Veſte Grimmenftein zu Gotha, Emporgeflüchteten zur Ergebung. 
Neun Jahre genau waren feit Melchior's von Zobel Tode vergangen, und der 
Frühling ftreute jeinen weißen Blüthenjchnee über das Thüringer Land, da 
trug ein Wagen den Herzog Johann Friederich von Gotha zu ewiger Gefangen- 
ſchaft an der Richtftatt vorbei, wo Henkershand den Ritter Wilhelm von Grum- 
bad) lebendigen Leibes zuviertheilte und die zudenden Stüde in die Wind- 
richtungen hinauswarf. 

Zu Würzburg aber, wo an ber Ede der Straßen und Winde bie Zeller— 
gaffe mit der fteil abwärtäfteigenden Schloßgaffe in ſpitzem Winkel zujammen- 
läuft, erhob fich grad’ dem plätjchernden Brunnen gegenüber an der Stelle, wo 
der Fürftbiihof und Herzog zu Franken Melchior von Zobel durch Chriftoff 

23 * 


356 Deutiche Rundſchau. 


Kretzer's Kugel fiel, ſchon manches Jahr zuvor die fteinerne Gedenkjäule mit 
der Akroſtichon⸗Inſchrift: 
„Im Jar MDLVIU am XV Aprilz 


Melchior der Löblich Fürst und Herr 
Erschossen war mit List und Gfer 
Laidiglich hie an disser Statt 
Christlich sein End genommen Hatt. 
Hart bey dem Schlos am berg mit clag 
Iacob Fuchs blieb auch an disen Tag. 
On Schuld des andren Tags darneben 
Räumt Wolf Karl von Weinckheim dis Leben. 
Zwen Edle und ein freiher ward 

On Ursach auch geschossen hartt, 
Bliben mit Schmertzen doch zu leben. 
Ewig den selen Gott Woll geben 
Leben Freud Whunn u Seligkeit 
Letzlich auch unnz ynn Ewigkeit. 


ANNO. DNI. MDLVIO. XVI Cal. MAIL. 


Noch immer blickt das Kleine Steinmännlein mit dem Wappenfchild unter 
dem Erker des Schmeltenhofs, der heut’ den Namen „Zu den brei Kronen“ 
trägt, ernfthaftsunvertvandt auf den led hin, wo dem plätjchernden Brunnen 
gegenüber die fteinerne Gedenkjäule aufragt, und wer durch die Zellergaffe fremd 
daherfommt oder fie Hinanjchreitet, hält wol aufmerkſam einen Augenblick vor 
der alten Inſchrift an und jet gedantenvoller feinen Weg über die Brücke fort, 
unter welcher der Main mit graugrünen Waſſern Luftig feit vielen Jahr— 
hunderten dahinjchnellt. 


Gaftelfranco und Villa Mafer. 


Don 
Alfred Woltmann. 





Den vorlegten Tag, der mir im Herbfte 1874 auf italieniichem Boden 
vergönnt war, benußte ich zu einem Ausfluge von Treviſo aus, den deutjche 
Reijende jonft jelten zu machen pflegen. Mein erjtes Ziel war Caftelfranco, 
die Heimath de3 großen Maler? Giorgione, mein zweites Majer mit einer 
Villa, die Paolo Beroneje mit Fresken geſchmückt hat. Wenn man fich einen 
Wagen nimmt und früh aufbriht — ich fuhr ſchon um fieben Uhr ab — jo 
fann man Beides in einem Tage aufjuchen. Die Fahrt ift feine beſonders reiz- 
volle, denn Gaftelfranco liegt völlig in der Ebene, etwa 27 Kilometer weftlic) 
von Trevilo, an der Straße, die über Gittadella nad) Vicenza führt. Das Land 
ift reich bebaut, aber einförmig, Freundliche Ortichaften Liegen am Wege, oft mit 
ftattlihen Kirchen, neben denen meift ein ftolger Campanile, eine verkleinerte 
Nahahmung des Marcusthurmes in Venedig, ifolirt emporfteigt. Mit der 
Zeit verlor ſich der Nebel, welcher die Ferne verhüllte, und num tauchte zur 
Rechten die Kette der julifchen Alpen hervor. 

Gaftelfranco kündigt fi) endlih von Weitem durch ein paar malerijche 
Thürme an. Man fährt durch ausgedehnte Vorftädte und wird dann plößlich 
durch einen großartigen Anblid überrafht. Da fteigen riefenhafte Mauern auf, 
die vierftöcige Häufer an Höhe überragen; fie umgürten maleriſch den älteren 
Kern der kleinen Stadt. Stellenweije verfallen, mit Buſchwerk dicht bewachſen, 
ericheinen fie doch noch immer kühn und troßig. Ueber den ausgetrodneten 
Graben führt eine Brüde zum ehemaligen Stadtthor, das mit dem Löwen des 
heiligen Marcus geihmüdt ift und über welchem ſich ein mächtiger Thurm mit 
Zinnenkranz erhebt. Um diejes abenteuerliche Neft zieht ſich dann ein weiter, 
tingförmiger Pla hin, dem ſich die neueren Stadttheile anſchließen. 

Hier war Giorgio Barbarelli, genannt Giorgione „wegen jeiner 
Grokmüthigkeit”, wie Sandrart fi ausdrüdt, geboren, und zwar im Jahre 
1477, falls Vaſari uns recht berichtet. Er war von unehelicher Geburt und 
ift auch jpäter nicht legitimirt worden; aber als er in der folge berühmt geworden, 
war die Familie Barbarelli doch auf ihn ſtolz und rechnete ihn zu den Ihrigen. 
In Venedig, in der Werkftatt des Giovanni Bellini, empfing er feine künſtleriſche 


358 Deutſche Rundſchau. 


Bildung, aber über die Grenze der Schule wuchs er bald hinaus. Jüngere 
Genoſſen, in erſter Linie Tizian, riß er mit fort auf neue Bahnen, einen völlig 
modernen Stil bildete er aus. Durch ſeine Kunſt wie durch feine Perjönlichkeit 
ſchuf er fich eine bevorzugte Stellung. Seine edlen Sitten und jein mufifalijches 
Talent machten ihn zu einem Liebling der Gejelichaft, die Vornehmften durfte 
er porträtiren, größere Aufträge wurden ihm zu Theil. Aber feinem Leben voll 
Arbeit, Ruhm und Genuß ward plößli ein Ziel gejeßt; er ftarb im Jahre 
1511 an der Beft. 

So groß jein Ruhm ift, jo Klein ift dennoch die Zahl der Arbeiten, die 
heute von feiner Hand nachweisbar find. Die Spuren jeiner Anfänge find ver- 
weht; jeine größeren decorativen Arbeiten, wie die Wandbilder am Aeußeren des 
Kaufhaufes der Deutjchen in Venedig, find zu Grunde gegangen. Zahlreiche 
Gemälde werden ihm in öffentlichen Galerien wie in Privatjammlungen bei= 
gemejjen, aber bei weiten zum größten Theil mit Unrecht. Vor der modernen 
wiſſenſchaftlichen Kritif, wie fie namentlich Crowe und Cavalcaſelle neuerdings 
geübt Haben*), hält nur wenig Stand. Bilder, die auf jeinen Namen gingen, 
find verjchiedenen Schülern, Nachfolgern, Zeitgenofjen zugewiejen tvorden. Was 
in Italien wirklich von Giorgione übrig ift, beſchränkt ſich auf Vereinzeltes. 
In den Ufficien zu Florenz befinden fich zivei Jugendbilder, eine Scene aus der 
Kindheit des Moſes und das Urtheil Salomo’3. Der Palazzo Pitti befigt das 
berühmte Hauptbild feiner reifften Zeit, da3 Concert: jene drei Halbfiguren, die 
an fi) als Charaktere jo großartig und zugleich durch eine jo geheimnikvolle 
Macht der Stimmung zujammengehalten find. In Rovigo enthält die kleine 
ftädtiiche Galerie einen männlichen Bildnißkopf in Eleinem Maßftabe, aber von 
feltener Kraft und Gluth, den auch die neueften Forjcher dem Meifter laffen. In 
der faſt gänzlich zeriplitterten Galerie Manfrin zu Venedig fieht man noch jene 
Landſchaft von Giorgione’3 Hand, auf welcher Thürme, ganz denen von Gajtel- 
franco ähnlih, aus dem Gebüſch hervortaucdhen, während ein faft nacktes 
Weib, das, ihr Kind im Schoofe, am Bache fitt, und ein anmuthiger Jüngling 
mit einem Speer die Staffage bilden, der wieder ein unenträthjeltes novelliftiiches 
Intereffe zu Grunde zu liegen jcheint. 

Das wichtigſte Bild Giorgione’3 muß man indeljen in feiner Vaterſtadt 
aufjuchen. Es iſt das einzige, welches wirklich ala beglaubigt gelten kann, und . 
in Folge deſſen ift es von unſchätzbarem Werthe, indem es einen Maßftab für 
die Beurtheilung de3 Meifterd gewährt. Das Gemälde, ein Altarbild, ift weit: 
älter als die jetzige Kicche, ein Bau im Stil des 17. Jahrhunderts, in welchem 
e3 jeinen Platz jeitwärt3 im Chor gefunden hat. 

Es jtellt in etwa zweidrittel-lebensgroßgen Figuren die thronende Madonna 
mit dem Kinde und zu ihren Füßen die heiligen Liberale und Franciscus dar. 
Der Thron ift jo hoch, daß die Jungfrau über alle unmittelbaren Beziehungen 
zu den beiden Heiligen hinausgehoben ift. Aber der ftreng ſymmetriſche Aufbau 
Ihließt das Ganze jo harmoniſch zufammen, daß doch feine Vereinzelung der 
Geftalten eintritt. Maria, deren Stirn durch einen Schleier fein beichattet wird, 


*) A History of painting in North Italy, ®b. II., London 1871. 


Gaftelfranco und Billa Majer. 359 


ift im Ausdrud mild und lieblid; das Kind, in den nadten Partien reizend 
durchgebildet, blickt freundlich herab. Der heilige Liberale, dem es ſich zuneigt, 
ift das Bild eines edlen, jugendlichen Krieger, ganz in blinfende Stahlrüftung 
gehüllt. St. Franciscus, mit dem Ausdrud ſchwärmeriſcher Erregung, aber dabei 
vol Maß und Würde, fteht auf der anderen Seite. Unter Maria’3 Füßen 
liegen zwei farbenreiche Teppiche; ein weißer Teppich) mit goldener Mufterung 
bei ſchwarzer und blauer Füllung fällt an der Rückwand des Thrones herab. 
Saftiges3 Grün und leuchtendes Roth find in dem Kleide und dem Mantel der 
Maria unmittelbar zufammengeftellt. Den Hintergrund bildet eine Landichaft, 
baumreich mit malerifchen Gebäuden und dem Blick auf Gebirge und Meeresküſte. 
Einige Kleinere Figuren tauchen in der Ferne als Staffage auf. Die Stimmung 
ift duftig und heiter. 

Volle Schlihtheit bei eigener Tiefe der Empfindung zeichnet dies Gemälde 
aus. Die Anordnung ift durchaus anſpruchslos, und doc ift mit Sicherheit das 
Nechte getroffen. Das feinfte Verftändni aller Fünftleriichen Mittel, die ge- 
diegenfte Zeichnung treten uns entgegen, und namentlich) ift die Anordnung 
der Gewänder von einer Einfachheit und einem Gejchmad, gegen den faft alle 
ſpäteren Venetianer, Tizian nicht ausgenommen, zurückbleiben. Durchaus farbig 
ift das Ganze gedacht, und das Golorit ift bei aller Kraft des Vortrags, aller 
Energie der Schattengebung durchſichtig und von goldiger Klarheit. Die ziem- 
li Eleinen Köpfe bei jchlanfen Figuren find eine Eigenthümlichkeit, die auch in 
Giorgione’3 Bildern in den Uffizien wiederkehrt. 

Am Sodel des Thrones befindet ji) das Wappen der Familie Conftanzi. 
Tuzio Conſtanzo, ein alter, erprobter Capitano, der feine Refidenz in Gaftel- 
franco Hatte, ift der Stifter. Er ließ es von dem großen Meifter, der aus 
diefer Stadt hervorgegangen, anfertigen, ala jein Sohn Matteo im blühenden 
Sünglingsalter im Jahre 1504 bei Ravenna gefallen war. Dan darf annehmen, 
daß die Geftalt des heiligen Liberale ein Bildniß des Matteo jelbit if. Crowe 
und Gavalcajelle haben darauf aufmerkjam gemadt, daß Matteo auf feinem Grab» 
ftein, im Friedhofe eben dieſer Kirche, in ganz gleicher Rüftung erjcheint. Eine 
fleine, ganz meifterhafte Studie zu dieſent ritterlichen Heiligen befindet ſich in 
der Nationalgalerie in London. Der Yüngling erjcheint hier ebenjo, nur ohne 
Helm. Das Altarbild ftand früher in einer bejonderen Fyamiliencapelle, die 
Giorgione aud mit Fresken geſchmückt Hatte; diefe aber bat mit ber älteren 
Kirche dem jegigen Bau Pla machen müſſen. 

Don Gaftelfranco aus jchlug mein Kutſcher die Richtung nad) dem Abhang 
der Alpen, mit einer leifen Wendung oſtwärts ein. Der Weg war ihm jelbit 
unbekannt oder ungewohnt, aber uns halfen gelegentliche Anfragen auf den be— 
lebten Straßen Weiter. Die Landichaft gewinnt an Anmuth, Ortſchaften, 
Thürme, Landhäufer und freundlich gelegene Hlöfter winken von den Abhängen 
herüber; nur da3 Wafler fehlt. Etwas zur Linken bleibt Aſolo liegen, wo einft 
Katharina Cornaro, die ehemalige Königin von Cypern, refidirte, und wo Pietro 
Bembo in den erften Jahren des 16. Jahrhunderts, noch vor Beginn feiner 
glänzenden Laufbahn am päpftlichen Hofe, feine Aſolani jchrieb. Maſer ift der 
Name de3 Dorfes, neben welchem die Villa fi aufbaut. Sie liegt auf dem Ab- 


360 Deutſche Rundichan. 


bange eine Hügel3, der von der Landitrafe anfteigt, von Gärten umgeben. 
Etwas unterhalb befindet fich eine Kleine Kuppelkirche, welche bald nad) dem 
Landhauſe errichtet ward. 

Die Billa ift von Balladio für den edlen Venetianer Marcantonio 
Barbaro und feinen Bruder Daniele, den Patriarchen von Aquileja, erbaut 
worden. Aleſſandro PBittoria, der berühmte Bildhauer, fertigte ihren 
plaftiſchen Schmud, Paolo Veroneſe malt fie in Fresco aus. Schon jeit 
der Zeit ihrer Entftehung war fie berühmt. Palladio jelbjt gab ihren Plan in 
feinen „vier Büchern der Architektur” heraus. Joachim von Sandrart, deijen 
„Teutſche Akademie” eine jehr beachtenswerthe Biographie Paolo’3 enthält, ge= 
denkt ihrer mit folgenden Worten: „Unter anderm hatte Paulus zu Mafiera 
bey Ajolo in das ZTrivifianifche, den jchönen Palaft des Heren Daniel Barbaro, 
Patriarchen von Aquileja, gemahlt.“ Auch ſonſt ift in der älteren Kunftliteratur 
von ihr die Rede, aber in neuerer Zeit war fie jeltener beachtet worden. Erſt 
im Jahre 1866 erinnerte H. Reinhardt an fie durch einen Kleinen Aufjaß in 
der Zeitjchrift für bildende Kunſt. Eine ausführlichere Schilderung hat dann 
ein franzöſiſcher Schriftjteller, Charles Nriarte, in der Revue des deux mondes, 
September 1873, veröffentlicht. Diejer Aufſatz war der Vorläufer eines ftatt- 
lihen Bandes: „La vie d’un patricien de Venise au seizieme sièele“, der 
kürzlich (Paris, E. Plon, 1874) erjchienen ift, Marcantonio Barbaro’3 Geſchichte 
behandelt und an die einzelne intereffante Perjönlichkeit eine Schilderung des 
damaligen venetianiichen Lebens, der Sitten, der gejellihaftlichen Verhältniſſe, 
der Stellung und Thätigfeit der Patricier im Staatsleben knüpft. 

Heute ift die Villa das Eigenthum des Heren Giacomelli, eines reichen In— 
buftriellen, der ihr eine würdige und discrete Herftellung zu Theil werden lieh. 
Der Beſucher, den ächtes Kunftintereffe hierherführt, ift wohl aufgenommen. 
Sch ſelbſt kann nur mit dem wärmſten Dank die Zuvorfommenheit rühmen, mit 
welcher die antvejenden Damen mir gejtatteten, mehrere Stunden zu verweilen, 
in den Zimmern, in denen fie ſelbſt ſich aufhielten, ganz in Muße zuzufchauen, 
zu ftudiren, Notizen zu machen. 

Das Bauwerk ſelbſt ift einfach, fein foftbares Material ift aufgewendet, es 
ift ein Pußbau, defjen reichere Ausftattung wejentlih dem Inneren aufbehalten 
blieb. Palladio, deſſen Sache es vielleicht mehr war, Monumentalgebäude im 
größten Stil zu componiren, bequemte fich überhaupt nicht jo leicht dem Cha— 
rakter des. Landhaufes an. Reizvolle Unterbrechungen der Symmetrie, ein Comes 
poniren auf malerij he Wirkung hin find bei ihm feltener zu finden. 

Der Abhang ift regelmäßig terraffirt und mit jymmetrifchen, ftrengen Garten- 
anlagen geſchmückt. Die Front des Gebäudes wendet fi) gerade gegen Süden, 
mit freiem Blick auf die lachende, jonnige Ebene. Nur ein Stockwerk fteigt 
über dem niedrigen Erdgeſchoß empor. In der Witte der langeftrediten Façade 
tritt ein jchmaler Flügel weit nad) vorn heraus, mit einem Giebel gekrönt. In 
den zurüdliegenden Theilen beiderjeits zieht fich eine Bogenhalle in der Höhe 
beider Stodwerfe hin. Die Edrijalite zeigen wieder hohe Giebel, diesmal aber 
Ihwerfällig, faft zopfig, mit plumpen, anfteigenden Voluten. Die Rückſeite des 
Haufe wendet ſich gegen einen etwas höher gelegenen, anmuthigen, von zwei 


Gaftelfranco und Billa Mafer. 361 


Edflügeln umfchloffenen Hof unter dem fteileren Abfall des Berges. Hier baut 
fi eine Eredra in den Hügel hinein, die eine Grotte mit fprudelndem Waſſer, 
Statuen in Stud und Injchriften in Verſen enthält. Gegen dieſen frifchen, 
geſchützten, immer ſchattigen Platz find die Fenſter der Hauptgemächer gerichtet. 











Unten, im mittleren Vorbau, ift der Haupteingang; man tritt in ein ziem- 
lich niedrige, ſchmuckloſes Beftibül, aus welchem, in den Eden des Vorſprungs 
und der Arcaden, zwei Treppen zum Hauptgeihoß emporführen. Oben betritt 
man zunächft eine kreuzförmige Halle, die den größten Theil des Vorbaues ein- 
nimmt (I auf unferem Grundriß). Sie ift an der Vierung von einem Kreuz⸗ 
gewölbe, jonft von Tonnengewölben bedeckt. Dieſer Raum, mit feiner jchönen 


362 Deutſche Rundichau. 


PVeripective, jeiner reizvollen Lichtwirkung, ift in der farbigen Ausftattung ein- 
fach) gehalten, Vittoria’3 Stuccaturen ſchmücken die Dede, die Wände aber haben 
hier wie in den übrigen Gemächern rein durch die Malerei ihre architektoniſche 
Eintheilung und Decoration empfangen. Gannelirte Pilafter, Frieſe mit reihem 
Fruchtgehänge, Thüreinfaffungen mit claffiicher Gliederung und verzierten Giebeln 
find in täufchender Wirkung an die Wand gemalt, und der Querflügel des 
Raumes enthält in act Nijchen Hohe FFrauengeftalten mit mufikalifchen 
Anftrumenten, in edlen Stellungen, mit dem Ausdrud ſtimmungsvoller Be— 
geifterung. 

Ueberrafchend wirkt dann namentlich ein liebenswürdiger Scherz des Malers. 
Den Thüren zu den zwei ganz Eleinen Gabinetten gegenüber find zwei ent— 
Iprechende Thüren gemalt, die Flügel der einen öffnet ein zierlicher Page in 
verbindlicher Haltung, aus der andern laujcht ein freundliches Kleines Land 
mädchen hervor. Im richtigen Größenverhältniß ftehen uns beide gegenüber, fie 
find fo naid und unmittelbar in ihrer Bewegung, daß wir nicht blos beim 
erften Eintreten, fondern auch jpäter, jo oft wir an diefe Stellen zurückkehren, 
ein lebendes Wejen zu exbliden meinen, das uns begrüßt und artig nad) unjerem 
Begehr Trägt. 

Die beiden ifolirt an der Hauptfront gelegenen Gemächer (II und I), 
offenbar Gejellihaftsräume, welche in Gemeinſchaft mit dem kreuzförmigen Vor— 
faal das eigentliche Repräjentationslocal der Villa bildeten, find in ihrem 
Schmucke ungleich reicher. Die größeren Gemälde an den Tonnengewölben find 
in der Ausführung das Schönfte unter allen diejen Malereien; flüchtiger, aber 
flott und glücklich erfunden ift die gemalte Wanddecoration. Zwiſchen ioniſchen 
Säulen glaubt man in das Freie hinauszubliden, denn bier find Landichaften, 
allerdings ganz decorativ und vedutenhaft, jedem Stimmungsleben ebenjo fern, 
twie die Landichaften von den Wänden Pompeji's, dargeftellt. Statuen in Bronze- 
oder Steinfarbe ftehen in den Niſchen, Reliefs, ebenfall3 täuſchend wirkungs— 
voll, find im Sodel und in den Ztwideln angebradht. Ueber den gemalten 
Thürgiebeln und den Kaminen, welche mit dem Frieſe das einzige Plaftijche 
bilden, ruhen Geftalten von nadten Männern und Frauen oder Faunen und 
Bachantinnen, jcheinbar plaftüch, in fühnen Stellungen, ſich jymmetrijch ent- 
Iprechend, nach dem Vorbilde Michelangelo’3. An jeder Dede jehen wir dann 
drei große Gemälde, das reichjte in der Mitte, während der übrige Theil der 
MWölbung in eine freundliche Laube verwandelt ift. 

Die Gemälde zu bejchreiben, ihren geiftigen Inhalt enträthjeln zu wollen, ift 
feine leichte Sache; auch Priarte hat es in jeinem Buche nicht verjucht. Dem 
Maler kam e3 auch ficher nicht in erfter Linie darauf an, fein gegliederte Gedanken— 
reihen ſichtbar fich ausbreiten zu laſſen; für Paolo Veroneje war das MWejent- 
lichte, die Räume mit feftlichen, jchön bewegten und reich gruppirten Figuren zu 
füllen, deren Anblid dem Auge behagte. Es überwiegt die Geftaltenmwelt der 
claſſiſchen Mythe. Mitunter jpielen künſtliche allegoriiche Beziehungen nad) der 
Mode der Zeit hinein, wie e8 auch bei Paolo’3 Malereien im Dogenpalafte der 
Tal ift; aber die Friiche und Phantafie des Künftlers reift ihm über die Ab— 
gründe der Lehrhaftigkeit, Abfichtlichkeit und Phrafe, die bei ſolchen Vorwürfen 


Gaftelfranco und Vila Mafer. 363 


nahe liegen, hinweg. Sämmtliche Bilder find feit Kurzem in trefflichen Photo- 
graphien von Naya in Venedig zu haben. Dieje liegen vor mir, während id) 
Ichreibe, fie ergänzen die an Ort und Stelle gemachten Notizen, und jo ift es 
möglich, mehr, ala bisher gejchehen, auf das Einzelne jchildernd einzugehen. 

Den frohen Genuß des Daſeins, harmonijches häusliches Glück, ein durch 
Kunft und geiftige Interefjen verjchönertes Leben zu feiern, jcheint in den Deden- 
bildern diejer beiden Vorderzimmer da3 Thema gewejen zu fein; die Inſchrift 
über dem Eingang de3 einen: „Et genio et laribus,“ ift qut gewählt. In dem Zim— 
mer linf3 (IT), über der Thüre, fitt eine Geftalt, halb Charitas, halb Abundantia, 
auf dem Boden, ein blühendes Weib, umgeben von Prachtgefäßen und umringt 
von Flügelknaben, von denen der jüngfte ihr auf den Schooß Hlettert und nad) 
ihrer Mutterbruft verlangt. Das entjprechende Feld über dem Camine mag ein 
Sinnbild der Harmonie jein: drei jchöne junge Weiber führen auf Geige und 
Gello ein Concert auf. Auf dem Mittelfeld thronen drei göttliche Weſen auf 
Wolken, ein Dann mit einem ‘Pfeilbündel, vielleicht die Eintracht (il accorso), 
und zu jeinen Seiten zwei frauen, vielleicht Liebe und Treue repräfentirend; 
die eine wenigſtens erſcheint nackt wie eine Venus, der Amorknabe jpielt zu ihren 
Füßen, den Zeigefinger der Rechten hält fie bedeutungsvoll an die Lippen. Bor 
diejer Gruppe erbliden wir in Verehrung zwei Männer und eine Inieende Frau, 
auf welche ſchwebende Amoretten Blumen herabftreuen. Man darf diefe drei 
wahrjcheinlich für idealifirte Bilder der beiden Brüder Barbaro und der Gattin 
Marcanton’3 halten. Die Männer find ſich ähnlich) wie Brüder, und die Züge 
de3 weiter vorn Stehenden ließen fi) wohl mit dem Bildniß des Marcantonio 
Barbaro in Einklang bringen, welches da3 Wiener Belvedere von Paolo’3 Hand 
bejigt und da3 dem Buche von Priarte in Radirung beigegeben ift. 

Das Mittelbild des anderen Gemaches (III) zeigt uns wieder zwei Brüder- 
geftalten auf Wolken, diesmal als Jäger, mit ihren Hunden. Dem Einen, der 
fi) bequem Hingelagert hat, preßt ein derber Bacchus-Jüngling den Saft einer 
Traube in die hingehaltene Schale. Seitwärt3 ruht ein Greis mit dem Füll- 
born, eine geigende Mufe, von Genien umringt, ſchwebt in der Luft. Auf 
einem der Seitenfelder fauert Apoll mit der Lyra, in ruhiger Unterredung 
mit einem jchönen Weibe — ift e8 Venus? — dem ein Knabe rüdlings, nad) 
der Bruft der Mutter juchend, im Schoofe liegt; an meilterhafter Behand: 
lung des Nadten und anmuthiger Fülle der Motive eines der trefflichiten 
Bilder der ganzen Villa. Gegenüber fit Ceres mit dem Füllhorn, neben ihr 
lagert Pluto mit der Krone und dem Schlüffel der Erde, das Antlitz düſter 
geneigt. 

Auf der anderen Seite der Halle liegt der Salotto, ein behagliches Wohn- 
gemach, aus dem der Blick gerade auf die Grotte mit ihrer Fontäne fällt, und 
in da3 die Zugänge der Zimmerreihen beiderjeit3 münden. Zwei große Gemälde 
in den Schildbögen über dem Eingang und über den Fenſtern ſcheinen Darftel- 
lungen von Jahreszeiten, aber nur von denen, die Blumen und Früchte bringen, 
zu enthalten. Dort ift Frühling; Grazien und Liebesgötter nahen der Venus, 
die — eben erwachend — üppig auf den Wolken hingegofjen ruht — eine Geftalt, 
die in der Macht und Größe der Motive von Michelangelo infpirirt if. Eine 


364 Deutſche Rundſchau. 


Nymphe rüſtet den Amorknaben mit Köcher und Bogen aus. Und drüben iſt 
Sommer. Wir erblicken heitere, mit Weinlaub und Aehren bekränzte Geſtalten, 
eine ruhende Schnitterin, deren Knabe auf einem Aehrenbündel lagert, und 
Bacchus, umringt von Nymphen, wie er Trauben in eine Schale auspreßt. 

Oben an dem Tonnengewölbe entfaltet ſich nun aber ein ganzer Olymp, 
aufgebaut mit jener kühnen Anwendung der Untenſicht, welche die Geſtalten hin— 
ſetzt, als exiſtirten ſie wirklich an der beſtimmten Stelle, aber zugleich mit 
ſtilvoller Theilung und Umrahmung. Das große achteckige Mittelfeld enthält 
die Planeten, welche einen Kreis um die Erde bilden, die — ſeltſamerweiſe — 
von einem Drachen getragen einherſchwebt. Rings Saturn, Jupiter, Mars, 
Apollo, Venus, Mercur und endlih Diana (Luna), deren Motiv ein bejonders 
anfprechendes it; fie liebfoft einen ihrer Hunde. Größere Felder an den vier 
ſchmäleren Achteckjeiten enthalten die Elemente: die Luft ala Juno, die Erde 
al3 Cybele mit zwei Löwen, dann Vulcan und Neptun, von Genien begleitet, 
als Feuer und Wafler. Kleinere Felder mit Darftellungen grau in Grau ver— 
binden dieje. 

Am Beginn des Tonnengewölbes jederjeit3 findet nun der Maler twieder 
eine glückliche, friih empfundene Verknüpfung diejer idealen Geftalten mit der 
wirklichen Welt. Altane mit Marmorbaluftraden ſcheinen fih Herauszubauen, 
und auf ihnen ftehen Geftalten im Zeitcoftüm, frappant, als ob fie lebten. 
Links eine ftattliche rau mit ganz individuellen Zügen, ihr zur Seite eine 
Dienerin mit gebräuntem Geficht, dann ein Kleiner Bube, und auf dem Geländer 
ein Hündchen und ein Papagei. Auf dem Balcon gegenüber zwei elegant 
gefleidete, erheblich ältere Knaben, von denen der eine Lieft, der andere mit einem 
Hund ſpielt. Es ift wol Feine zu kühne Vermuthung, wenn wir in diejen 
Gejtalten Bildnifje der Gattin des Marcantonio Barbaro und jeiner drei älteften 
Söhne zu jehen glauben. Priarte ſetzt den Beginn diefer Billa um 1564 an. 
Damals waren die Söhne Francesco, Almoro und Luigi, von denen er bio: 
graphiiche Daten mittheilt, achtzehn, jechzehn und zehn Jahre alt, der vierte 
Sohn, Antonio, aber noch nicht geboren. Es ift ganz reizend, wie die Phan- 
taſie des Malerd die Geftalten, die unten wandelten und lebten, noch einmal 
mit ſolcher Wirklichkeitätreue oben Hinjeßt und in das eigene Haus hinab« 
ſchauen läßt. 

Jederſeits ſchließt fich ein jchmales, einfenftriges Gemach an den Salotto 
(V und VI), mit Gemälden an deng&ewölben, die in der Ausführung aller 
dings gegen diejenigen der drei eben bejchriebenen Zimmer zurückſtehen, aber, 
wenn auch unter Beihilfe von Schülern gemalt, doc von Paolo erfunden und 
angeordnet find. Ueber der Gingangsthür des Gabinettes zur Linken, am 
Beginn des Tonnengewölbes, fit der Gott der Zeit neben einer hoheitsvollen 
Figur, die mit der Rechten ein großes Buch Hält, mit der Linken in die Ferne 
weit — offenbar die Gejchichtee Die Gruppe gegenüber wird ala Krönung 
des Verdienftes durch die Göttin des Nuhmes gedeutet. Ein üppige, nacktes 
Weib ſetzt die Königskrone auf das Haupt eines müden Greijes, der das Haupt 
in die Hand lehnt und die Augen ſenkt. Stride und Feſſeln hängen von ihrem 
Sit herab. In dem Mittelfeld der Dede jehen wir die Stärke, ein Tühnes 


Gaftelfranco und Billa Maier. 365 


Weib, da3 ein Löwe begleitet, entichloffen nah dem Füllhorn der thronenden 
Abundantia greifen, die ihr in den Arm fällt. Zwei ovale Seitenfelder enthalten 
ein paar ſchwebende Genien. 

Der geiftige Inhalt ift hier alſo ebenfalls erkennbar. Feierten die zwei 
Gemäder an der Front den heiteren Genuß des Daſeins, jo wird hier das 
thätige Leben, jein Streben, feine Mühe, fein Lohn gefeiert, in einer Weife, 
welche dem Haufe eines edlen venetianiihen Staatsmannes angemefjen ift. 

Die Bilder des entiprechenden Zimmers (VI) fügen Mahnungen, wie fie 
beim Handeln und Wirken des Mannes noth thun, Hinzu. Bor Leidenſchaft 
und wollüftiger Erihlaffung warnen zunächſt die zwei Gruppen, die einander 
gegenüber ftehen. Ein Mann in der Toga, Mäßigung oder Tugend verfinn- 
bildlichend, legt einem wild erregten Weibe Gebiß und Zügel an; eine Geftalt, 
wie ein Hercules, mit der Keule, lehnt müßig an der Schulter eines ſchönen 
Meibes, die einen Spiegel hält. In dem Mittelfelde nimmt der moralifirende 
Ton, der hier angejchlagen ift, jogar eine Wendung in das Religiöfe: auf den‘ 
Wolken thront eine weibliche Figur, die wol nur der Glaube fein Tann; ihr 
empfiehlt eine zweite, die wie die Unſchuld ausfieht — fie hat ein Lamm zur 
Seite — einen inbrünftig flehenden Mann. Die Areale an den Seiten enthalten 
je einen Flügelknaben, von denen der eine eben aus dem Rahmen herauszufliegen 
ſcheint — ein keckes Motiv, dad Paolo’3 fpäterer Nachfolger Tiepolo jo oft 
aufgegriffen und nach allen Seiten hin ausgenüßt hat. In jedem dieſer beiden 
Gemächer befindet fi) außerdem noch eine religiöje Darftellung, nämlid) eine 
heilige Familie, in der Lünette dem Fenſter gegenüber, jede übrigens jehr flüchtig 
im Machwerk. 

Die vier Zimmer, die num beiberjeit3 ſich anſchließen (VII—X) haben 
feine Malereien aus diejer Zeit. Das letzte Zimmer links enthält aber Gemälde, 
die nicht von Paolo Veroneje jelbft, jondern von einem Nachfolger, angeblid) 
von Zelotti, ausgeführt find: vier Thaten des Hercules und zwei ftehende 
allegoriſche Frauengeſtalten; über diefen Hauptbildern, in Feldern von mäßiger 
Höhe, allegoriiche Gruppen, die auf dem Gebälf der unteren Bildnifchen gelagert 
find, und an der Dede ein Feld mit jchwebenden Amoretten. Dem Eingang 
gegenüber ift endlich eine Thür, die in das Freie führt, gemalt, und durch 
diefe tritt eine Dame in fiattlihem Anzuge mit einem Fächer ein. Durd) die 
ganze Flucht der Gemächer ift diejelbe fihtbar, und ihr entjpricht im äußerſten 
Zimmer zur Linken, das jonft feine Malereien aufweiſt (XII), eine ähnliche: 
ein Herr im Jagdcoſtüm, der eben in die Thür tritt. Eine unbegründete Sage, 
die dem anerkannt ehrbaren Familienvater Paolo Veronefe zu nahe tritt, gibt 
biefes Paar für den Dealer und feine Geliebte aus. Eher hat man in ihm 
wieder Marcantonio Barbaro und jeine Gattin zu vermuthen. 

Im: Sommer 1564 war Marcantonio von feiner diplomatiſchen Miffion 
nach Frankreich zurückgekehrt, im Mai 1568 ward er zum Gejandten in Conſtanti— 
nopel erwählt. In die Jahre der Zwifchenzeit müſſen Erbauung und Aus- 
ſchmückung feines Landhaufes auf dem Feſtland fallen. Es war eine Zeit, in 
welcher er auch officiell mit der Künſtlerwelt von Venedig fortwährend in 
Beziehungen ftand, denn im Jahre 1566 war er zum Proveditore al sale ernannt 





Deutſche Rundichau. 


worden, aus den Mitteln der Salzverwaltung aber wurden alle öffentlichen 
Bauunternehmungen und die ganze Kunftpflege des venetianischen Staates 
beftritten. 

Paolo Veroneje begann alfo dieſe Arbeiten, kurz nachdem er. feine Reife nach 
Rom unternommen hatte, die er im Jahre 1563, im Gefolge des venetianifchen 
Gejandten Girolamo Grimani, angetreten. Man Hat bisher auf diefe Reife 
und ihre Einwirkung auf feinen fünftlerifchen Stil zu wenig Gewicht gelegt; 
die unmittelbar hernach entftandenen Fresken der Billa Barbaro zeugen dagegen 
für die Macht der Eindrüde, die er hier empfing Am ftärkften waren die- 
jenigen von Michelangelo’3 Dedenmalereien in der Sixtiniſchen Gapelle. 

Sp abgeſchloſſen und jelbftändig ſich die venetianiihe Schule entwicdelt 
hatte, jo fremd ihr gerade Michelangelo's Auffaffung von Hauje aus fein 
‚mußte, jo mächtig ergriff der große Meifter doch aud nad umd nad) die 
Benetianer. Im Jahre 1557 ſchrieb Lodovico Dolce feinen Dialog über die 
Malerei, der darauf berechnet ift, die einfeitigen Schätzer Michelangelo’3 davor 
zu warnen, über der Bewunderung diefer genialen Natur nicht andere ebenjo 
berechtigte Richtungen, Raphael, Venedig's einheimijche Meifter, an der 
Spite Tizian, zu vergefjen. Nicht nur einem Theil des Publicums, jondern 
auch einer beftimmten Gruppe von jüngern venetianifchen Künftlern gegenüber 
war eine ſolche Mahnung am Plate. Tintoretto hat fi durch da3 Vor— 
bild Michelangelo’3 nur zu oft aus feiner eigentlihen Bahn heraustreiben Laffen, 
hat einer zu weit getriebenen Plaftit der Geftalten, einem colojjalen Apparat 
verwickelter Gruppen und Körper, auf das äußerfte beivegter Stellungen häufig 
die heitre Ruhe, die unbefangene Natürlichkeit, den leuchtenden Farbenzauber der 
venetianijchen Kunft geopfert. Solche Klippen wußte Paolo Veroneje zu ver- 
meiden. Aber wie jehr au ihm Michelangelo Autorität war, zeigen jchon 
jene Worte, mit denen ex fi im Jahre 1573, bei feiner famojen Vernehmung 
durch das Anquifitionsgeriht*), auf ihn beruft. Künſtleriſch hat er, wie die 
Villa Barbaro beweift, namentlih für den Stil monumentaler Compofition 
von ihm gelernt und ihm auch in kühnen Verkürzungen, mächtigen Motiven und 
ſymmetriſch fi) entſprechenden Stellungen der Körper nachgeftrebt. 

Die in Steinfarbe gemalten Geftalten über den Thiren und Gaminen zeigen 
dies am deutlichjten; nicht um irgend etwas geiftig auszudrüden, fondern nur 
de3 formalen Motivs wegen find fie da, üben aber durch diejes eine großartige, 
geheimnißvolle Wirkung auf die Phantafie. An gewaltfamen Einzelheiten fehlt 
e3 auch bei ihnen nicht; es jcheint mitunter, ald gebe der Maler plaftifche Werke 
wieder, deren Schöpfer fich bei der Ausführung verhauen. Dem glüdlichen, 
feden Wurf entfpricht die breite, leichte Durchführung nicht immer. Bei ſolchen 
Geftalten gerade fiel den Gehilfen da3 Meifte zu, und hier wurde ficher nicht 
nad) Modellen, nicht in fortwährender Anſchauung der Natur gearbeitet. 

Motive, die an Michelangelo erinnern, fommen aber auch in den Haupt- 
bildern vor. Paolo Veroneſe ift durch dieſes Vorbild zu einer größern Freiheit 
in Behandlung der nadten Form, zu größerer Sicherheit in Haltung und Be- 


*) Publicirt von A. Bafchet, Gazette des beaux-arts, 1867, 


Gaftelfranco unb Billa Majer. 367 


wegung durcchgedrungen. In den Gewändern tritt allerdings, rein malerijcher 
Anordnung zu Liebe, die ftrenge, ftilvolle Behandlung auch diesmal zurüd. 

Auch für den Stil der Compofition war die Dede der Sirtina beftimmend. 
Paolo wandte die Untenfiht an, aber nicht ausſchließlich. Er wahrte fi) vor 
jenen Webertreibungen des Princips, die wir bei Gorreggio und bei den Mei- 
ftern de3 17. und 18. Jahrhunderts finden. Die Gruppen, die unmittelbar am Be: 
ginn der Wölbung auf den Gefimjen ftehen, find jo verkürzt, ala befänden fie 
fih wirkli an diejer Stelle; man vergißt die Begrenzung des Raumes, man 
fieht fie leibhaft oben ftehen und ihre Fräftigen Schatten auf die Architektur 
werfen. Im Salotto, wo die Planeten des Himmel3 gemalt find, blieb der 
Meifter diefem Princip auch oben treu, aber mit Mäßigung und Geihmad. 
Sonft erjcheinen aber die Figuren der größern Mittelfelder am Gewölbe ohne 
Untenſicht, wie auf eine Fläche, einen oben ausgejpannten Teppich gemalt. 

War Paolo auch jonft weſentlich an die Delmalerei gewöhnt, in der auch 
jeine großen Decorationsbilder im Dogenpalaft ausgeführt find, jo zeigt ex ſich doch 
hier auch al3 ein Meifter in der Frescomalerei. Daß er in diefer dafjelbe colo- 
riſtiſche Gefühl, diejelbe Freiheit des Vortrags befitt, befunden die Gemälde 
der Villa Mafer eben jo jehr, wie die zwei großen Frescobilder, die man neuer- 
dings auf der Empore der Kirche San Sebaftiano in Venedig bei Gelegenheit 
ihrer Reftauration entdeckt hat. Die Farbe hat hier, der Technik gemäß, minder 
glühend und jchillernd zu fein; aber bei dem Klaren, leiſe gedämpften Grundton 
ift doch auch hier die Scala der Töne reich und von harmoniſchem Vollklang. Mehr 
als jonft hat der Künftler Gelegenheit gefunden, das Nadte zu voller maleriſcher 
Geltung zu bringen; die reichen Stoffe, die Nebendinge, Prachtgefäße, Blumen 
wirfen mit; die zarte Luftperfpective jteigert die Illuſion. 

Noch in einer Beziehung zeigt fich endlich das Studium der größten Meifter 
monumentalec Malerei, wie Rom fie dargeboten, fruchtbar und werthvoll. Der 
Künftler, der ſich jonft am Tiebften in Compofitionen mit unerfhöpflicher Figu— 
renfülle ergeht, Epijoden einflicht, Nebenfiguren hereinzieht, nur weil fie dem 
Blick gefallen, mag auch ihr Uebermaß oft der Elaren Entfaltung des Hauptvor- 
gangs nicht günftig fein, weiß ſich in diejen Frescobildern zu beichränfen, durch 
plaftifch empfundene, ftreng in fich abgeichloffene Gruppen zu wirken. Während 
die durchgehende Tonart ſchwungvoll und heroijch ift, wirken die Inbefangenheit, 
die doch immer gewahrt ift, das naive Hineingreifen in die Wirklichkeit, das 
frohe Lebensgefühl um jo anziehender. 

Sp tritt uns in der Villa Barbaro zu Mafer die Zeit, der fie ihre Ent— 
ftehung dankt, in überrajchender Kraft des finnlichen Eindruds vor Augen. 
Heiterer Genuß des Dafeins, behagliche Ruhe von ernfter und ſelbſtloſer Thätig- 
feit im Dienfte des Staates, glüdliches Familienleben, Freude an der jchönen 
Natur, feine claffiihe Bildung, die auf der Höhe der Zeit ftand, und edles 
Kunftgefühl fanden hier ihre Stätte. 


Die Märztage des Bahres 1848 in Xofen. 





Aus den bisher unveröffentlichten Dentwürbigfeiten des Generals der Infanterie 5. D. 
Dr. Heinridy von Srandt.*) 





I. 


Am 22. März mußte ich Polen auf kurze Zeit verlafjen. 

Da man nämlid von Berlin feine Nachrichten, noch weniger gemefjene 
Befehle erhielt, den Zeitungen nur theilweife Glauben jchenten konnte und 
dennoch einer Autorijation zu bedürfen meinte, um entjchieden und mit Gonjequenz 
einzujchreiten, jo beſchloß man, einen Officier nad) Berlin zu ſenden, ber ſich 
dort von dem Zuftande der Dinge überzeugen, dem Kriegsminiſter, eventuell 
dem Könige jelbft, über die Verhältniffe der Provinz Pojen Vortrag halten und 
zugleich für das fernere Verhalten der Meilitärbehörden Weiſungen einholen 
follte. Die Wahl fiel auf mid). 

Un demielben Tage gerade fand ein großer politifcher Umzug ftatt; man 
wollte, glaube ih, den von Berlin anlangenden Akademikern oder einigen 
Emiflären entgegenziehen. Ganz Pojen, alle Gewerke mit ihren Fahnen waren 
auf den Beinen; die Schübengilde und eine Schaar von Prieftern im Ornat 
begleiteten die Menge. Da man aber, um vom Markte auf die Berliner 
Straße zu gelangen, über den Wilhelmsplatz mußte, auf dem noch Truppen 
bivoualirten, und einen Gonflict mit diejen fircchtete, jo ftellten die Polen an 
die Behörden das Geſuch, die Truppen für diefen Tag auf den Kanonenplak 
zurüdzuziehen. Nach langen Berathungen und vielem Schwanfen ging man 
endlid, gegen den Willen des Generallieutenant3 von Steinäder, hierauf ein. 
Der General aber zog auf den ihm zugehenden Befehl endlich ab, ließ, ſowie 
er auf dem Sanonenpla angelommen war, vier Geihühe abproßen, auf die 
Wilhelmsſtraße richten und mit Kartätichen laden. Die Truppen jehten ſich 
in Gefechtöbereitichaft. Der General jelbft ftellte ſich zu dem Officier, der bie 
Batterie befehligte, und bedeutete ihn, er werde eventuell jelbft Feuer! comman- 
diren. Aber die Proceffion zog ruhig von der neuen Straße nad) dem Wilhelms- 


*) Man vergl. „Deutiche Runbichau”, Heft IX, p. 392 fi. 





Die Märztage bes Jahres 1848 in Pojen. 369 


platz und fein Menſch zeigte fich in der Wilhelmsftraße. Der Zug faßte viele 
taujend Menjchen, und die Töten defjelben hatten bereit? die Höhe Jerzyce 
erreicht, al3 die Queue eben erft die Stadt verlief. Sobald man jah, daß 
dieje gefürchtete Expedition eine durchaus friedliche Wendung nahm, und aud) 
hörte, daß die Reigenführer jede und alle Ausſchreitungen gegen die Preußen und 
Juden auf das Ernftlichite unterfagt Hatten, erhielt ich meine Anftructionen und 
Briefe und den Befehl zur jofortigen Abreiſe. Nach einer halben Stunde (um 
3 Uhr) ſaß ich im Wagen. Aber nun galt es, fich durch den langen Zug durch— 
zuarbeiten. Anfangs ging die Sache ganz gut, aber al3 ich an die Gewerke mit 
ihren Fahnen kam, ward fie jchwieriger. Hier und dort hatte man eine Art von 
Kanzeln errichtet, wahrſcheinlich, um von ihnen herab Reden zu halten; um dieſe 
hatten fich dichte Mafjen gebildet. Als mein Poftillon mit aller Vorficht durch 
eine derjelben fahren wollte, hielt man ihn an und ein Betrunfener ſchlug auf 
die Pferde los. „ft das der Anfang der polniichen Freiheit, daß ihr den Rei- 
jenden die Pferde todt ſchlagt?!“ Herrjchte ich den Thäter an, und augenblicklich 
erhoben fi) eine Menge Mißbilligungen über deſſen That. Zugleih eriholl 
von mehreren Seiten her ein „Laßt den Herrn dur), er ift einer von den 
Unjern!“ und jo kam ich glücklich bis in die Nähe der Téte. Wahrſcheinlich 
ließ der Umftand, daß ich die Leute polniſch anredete und eine polnifche Buska 
trug, mi für einen Polen gelten. Mein Poftillon brauchte dennoch einen 
Teldweg, der ihm jehr genau befannt war, eine Strede mit der Chauffee 
parallel lief und dann in diejelbe twieder mündete, um aus dent Zuge zu fommen, 
was uns denn. auch ohne alle Abenteuer gelang. 

In Berlin orientirte ich mich zunächſt über die Phyfiognomie der Stadt 
jo vollfommen, um über das, was zu erwarten oder zu befürchten ftand, unter- 
richtet zu fein, und begab mich jodann zum Sriegsminifter. Während ihm 
Jemand meine Ankunft meldete, ward ich in ein Vorzimmer geführt, das nur 
jehr ſchwach erleuchtet war. Mit einem Male gewahrte ich eine Dame eine 
Wendeltreppe hinunterfteigen, die nicht wenig erftaunt war, hier einen Unbekannten 
zu finden. „Wer find Sie, mein Herr,“ fragte die Dame etwas verlegen, „und 
wa3 wollen Sie?" „Jh bin,” entgegnete ich kurz, „der Oberft v. Brandt und 
wünjche, den Herrn Kriegsminifter zu ſprechen.“ „Alſo Sie find Militär, 
das ift ja gut; ich werde Sie jogleich meinem Dann annonciren.“” Unmittelbar 
darauf fam mir auch ſchon der Minifter entgegen. Er empfing mid) wie einen 
alten Fyreund und Bekannten. „Wie die Sahen bier ftehen,“ jagte er mir, 
„werden Sie mit einem Blick gejehen haben.“ ch konnte ihm dies leider 
beftätigen. „Aber wie fieht e8 bei Ihnen aus? Das find ja ganz infame 
Geſchichten. Warum ift der General von Colomb nicht längft darunter gefahren? 
Er hat ja Leute genug, — erhebt ſich die Stadt, jo mag er fie bombardiren laſſen!“ 
„Das würde Alles längft geichehen fein,“ antwortete id ihm, „wenn ihm von 
bier aus nicht die Hände gebunden würden; aber da kommt ein Befehl über 
den andern an den Oberpräfidenten, und alle laufen auf Milde, Sanftmuth, 
oder, um richtiger zu ſprechen, auf völliges Nachgeben gegen die forderungen 
der Rebellen hinaus.“ „Aber warum kehrt ſich der General an den Ober: 
präfidenten? Warum macht er Politit? Mit einem formirten Bataillon kann 

Deutiche Nundſchau. 1, 12. 24 


370 Deutiche Rundſchau. 


er durch das ganze Großherzogthum marſchiren; warum treibt er die Kerle 
nicht zu Paaren?“ „Excellenz,“ antwortete ih, „die Ruhe wird im Poſen'ſchen 
bald hergeftellt jein — nur ein energiicher Schritt, und alle die Gefahren dort 
werden vor unjern Waffen zerftieben; aber die Beruhigung der Provinz und 
deren geficherter Bei Liegen in Berlin.“ „Wie jo das?“ fragte der Miniſter. 
„Alle unjere Hin= und Herzüge, das Zerſprengen der einzelnen Banden, das 
Hintertreiben eines Aufftandes werden uns nicht3 helfen, wenn man in Berlin 
nicht Ordnung macht. Der Herd aller Unruhen liegt hier.” — „Das mag 
wahr jein, aber wie jol man der Sade hier abhelfen?“ „Es fehlt Hier nicht 
an Truppen,“ entgegnete ih, „und überall ift noch Militär disponibe. Macht 
man im Poſen'ſchen der Sade mit einem Sclage ein Ende, concentrirt dann 
Alles, was man haben kann, zwiſchen Berlin, Frankfurt und Sagan, jo bleibt 
man Herr von Berlin, Breslau und Polen; jeßen die Rebellen irgendwo ihr 
unfinniges Treiben fort, jo bemächtigt man ji) der Stadt und Umgegend, ftellt 
die Ruhe und Ordnung wieder her und verichafft den Geſetzen ihre Geltung.” — 
Zugleich theilte ich dem Minifter meine Anſichten über die Dinge, wie fie mir 
erichienen, iiber den Geift, wie ich ihn gefunden, mit. „Sch glaube,” fügte ich 
hinzu, „wenn Ercellenz fi) dazu verftänden, die Sade in die Hand zu nehmen, 
fo wäre die Ruhe hier jehr bald hergeſtellt.“ „Der Vorſchlag ift gewiß ganz 
gut, aber wie ihn durchführen?“ „Nichts leichter als dies! Der Aufftand im 
Pojen’schen gibt den Vorwand zur Goncentrirung von Truppen; den Rufjen- 
freffern jagt man unter der Hand, daß man gegen Rußland auf feiner Hut 
fein müffe Niemand kann die Stärke der zujammengezogenen Truppen control- 
liren, und ift man ftarf genug, ift der Moment zum Handeln gelommen, dann 
wirft man die Maske ab.“ — „Der Vorſchlag verdient jedenfalls reifliche 
Meberlegung; er ift zu gut, um nicht in Betrachtung gezogen zu werden. Ich 
werde fogleih Veranftaltung treffen, daß die Truppen im Großherzogthum 
Poſen verftärkt werden. Sie jollen einen Brief an General Colomb erhalten. 
Stellen Sie fi) in einigen Stunden wieder bei mir vor.” 

Als ich wieder zum Minifter kam, fand ich zwei Generalftabs - DOfficiere 
bei ihm, beide, wenn ich nicht irre, in Montirungen — in diejen Tagen ein 
getvagtes Unternehmen und eine jeltene Erſcheinung. „Dieje Herren,“ jagte der 
Minifter zu mir, „gehen nad) Breslau und Bromberg, um den Marſch der 
Verftärkungen zu bejchleunigen. Sagen Sie dem General v. Colomb, ex folle 
ftreng alles Ungejeglihe unterdrüden, die Revolution niederrennen und unter 
allen Bedingungen die Provinz dem Könige erhalten. Der Brief, den ich Ihnen 
mitgebe, enthält dafjelbe. — Können Sie Ihren Truppen dort trauen?“ fragte 
der Minifter nad) einer Pauſe. „Sie werden immer ihre Schuldigkeit thun,“ 
entgegnete ih; „noch ift ihre Treue durch nichts erſchüttert, jo ftark auch die 
Verführung geweſen.“ „Nun denn, meine Herren, veijen Sie mit Gott! Mit 
der Ruhe in Pojen haben wir einen großen Schritt vorwärts gethan und 
gewinnen zugleich Kräfte, um anderweitig entjcheidend aufzutreten.“ 

Nach einem kurzen Aufenthalt war ich wieder unterwegs und nad) boſtün— 
diger Abwejenheit nad Poſen zurücgefehrt, wo mich nod Niemand erwartete. 

General dv. Colomb war mit meiner Eile und dem Briefe des Minifters, 


Die Märztage des Jahres 1848 in Pojen. 371 


den ih ihm einhändigte, jehr einverftanden. Er drüdte mir mehrmals feine 
Zufriedenheit aus und meinte, daß man doch nun hoffen dürfe, mit der Sache 
fertig zu werden, da man endlich eine Norm habe, um danach zu handeln. 

Ich begab mich darauf zu den Truppen meiner Brigade, von denen ein 
Theil auf dem Kanonenplaß bivouafixte, zugleich; um mich bei General v. Stein- 
äder, den man dort jagte, zu melden. Er jchenkte meinem Berichte die größte 
Aufmerkfamkeit und beauftragte mich, den Sicherheitsdienft zwiſchen der Berliner 
Straße und dem Kirchhofs- Revier zu organifiren, die Worpoftenlinie aufzu= 
ftellen, die Piquet3 zu placiren und die dahinter bivouakirenden Truppen unter 
meine Befehle zu nehmen. 

‚ Da der Theil der Stadt zwiſchen den benannten Punkten noch ohne jegliche 
Befeftigung war und ich überdies das Terrain nicht genau kannte, jo war dies 
für die erfte Zeit ein ſchweres Stüd Arbeit. So lange man e8 jedoch mit der 
Linie zu thun hatte, machte ſich die Sache leicht; aber von den Schwierigkeiten, 
die man jpäter mit der Landwehr hatte, kann man fich eigentlich feinen Begriff 
maden. Man kann fich nichts Unbeholfeneres, Feine ungejchielteren und beque- 
meren Leute denken, al3 diefe Landivehren. Wehte dem Mann auf feinem 
Poſten der Wind um die Nafe, jo wählte er ſich rückwärts oder ſeitwärts einen 
bequemeren Poften, verhüllte fich die Ohren und meinte dann obenein wol noch, 
daß er feinen Vorgänger hier abgelöft habe. Bei Patrouillen zottelten fie 
Einer Hinter dem Anderen her wie die wilden Gänfe, jede Pfübe war ihnen 
ein ſchwer zu überwältigendes Hinderniß. Auf den Bivouaf3 endlich jchliefen 
fie wie die Murmelthiere und waren kaum wach zu erhalten; aus den Alların- 
häufern befam man fie nur mit der größten Mühe heraus. Es ift mir begegnet, 
daß ich die Leute auf den Poſten häufig mit falfcher Front gefunden, meiftens 
wol, weil fie, wenn der Wind von ber Frontſeite her fie erfaßte, fich abwendeten 
und Hinterher nicht wußten, wie fie urſprünglich geftanden Hatten. Dabei 
bejeelte fie ein ſchwer zu unterdrüdender Trieb zu Gewaltthätigfeiten, zur 
Marode, zur Bernadhläffigung ihrer Kleider und Waffen. Hauptſache für fie 
war die Verpflegung. Daß nicht Viele hierin eine Ausnahme gemadht, will ic) 
nicht jagen; aber jeder Officier von Einfiht und Wahrheitsliebe wird geftehen, 
daß meine Schilderung nur die Wahrheit enthält. Leider jollte ich diefe Truppe 
bald von einer noch jchlechtern Seite fennen lernen. Was bier und dort zur 
Entihuldigung für fie angeführt worden, daß fie in Kurzer Zeit dreimal dem 
häuslichen Herde entriffen und zur Unterdrüdung von Unruhen nad) dem Groß- 
herzogthum berufen, daß eine Art Racenhaß provocirt worden, daß fie dur 
dad, freilich arrogante Betragen der Polen gereizt, ift nicht ſtichhaltig. Wir 
dürfen ihre Untauglichkeit lediglich in der ſchlechten Organifation, in der nod) 
ſchlechteren Ausführung, in den ſpottſchlechten Unterofficieren und endlid in dem 
wenig geeigneten Officiercorps juchen. — 

Während meiner Abweienheit hatten ſich die Gegenjäße zwijchen den Par- 
teien mehr und mehr geihärft, die Exrbitterung bei den Reigenführern war 
gewachſen, die Gefahren, die Bejorgniffe wuchſen täglih, man konnte einem 
Ausbruch der Unruhen ftündlich entgegenjehen. Das polnische Comité bejonders 
war kühner hervorgetreten. Es hatte fi) in mehrere Abtheilungen gegliedert 

24° 





373 Deutiche Rundſchau. 


und auch eine für den Krieg gebildet. Mehrere ehemalige alte polnijche Officiere, 
die gefommen, ſich die Sache in der Nähe anzujehen, hatten fi), jobald fie die 
Berhältniffe einigermaßen überblickt, nicht veranlaßt gefunden, in diejes Kriegs— 
Departement einzutreten. Dafür aber hatten fich Andere, die von den Dingen 
wahrſcheinlich weniger verftanden, oder fie auf die Spihe treiben wollten, dazu 
bereit finden laſſen: Biatoskorski, ein ehemaliger Officier des 18. Regiments, 
der jeinen Abjchied genommen, ruhig, bejonnen, unterrichtet und mit Fähigkeiten 
für den Krieg ausgerüftet, aber dem faljchen Patriotismus ganz ergeben und 
eben darum blind für den Lauf der Dinge. Garczynski, ein alter Conjpirateur, 
der 1831 auf der Fähnrichsſchule gewejen, Emigrant, Clubift, der in alle 
Umtriebe verwickelt, dann aber jeit längerer Zeit verheirathet und jet mehr, zu 
diejen Sachen gedrängt war, als ihn fein eigener Wille dazu beftimmte. Graf 
Seweryn Mielzynski aus Miloslaw, ein Schüler Dufour’3 in der Schweiz, 
ein Dann von Bildung und bejonder3 von manden Kenntnifjen im Militär- 
fa, ein gründlicher Preußenhaffer, aber unentſchloſſen, furchtſam und unfähig 
zum Handeln, wenn e3 galt, ohne jenen politiichen Muth, der allein zum Ziele 
führen kann; unflar über die Bewegung, die jich entwickelte, vepräjentirte er 
zugleich die Adelspartei im Comité, die bereit3 die Vernichtung des Adels aus- 
gejprochen hatte; übrigens auch ſchon von 1831 her befannt, wo er mit Umindi 
zugleih aus Glogau entflohen und dann einige Zeit Adjutant bei Chlopicki 
gewejen war. Bronislam Dabrowski, der Sohn des bekannten Generals gleichen 
Namens, der bei der preußijchen Garde-Artillerie feine Zeit abgedient, Mitglied 
aller Clubs, die antipreußiſche Tendenzen verfolgten, nicht ohne Kenntniſſe und 
einen gewiſſen Muth, aber ohne Gonjequenz und vor allen Dingen fein politifcher 
Charakter. Er war 1846 nad) Polen geſchickt, um in der Gegend von Kuflew 
den Aufftand zu organifiren, und ward hier nur durch die Beftechlichkeit der 
ruſſiſchen Behörden und die Treue feiner Gattin gerettet. Sonft war er von 
Ruſſen und Preußen wohl gelitten und hatte namentlich den General v. Grol- 
mann jo berücdt, daß diefer von ihm zu jagen pflegte, er jei der einzige treue 
Pole. Brudzewski (Braufe), der Sohn des ehemaligen Landrath3 im Meſeritzer 
Kreife, ein enragirter Pole, leidenſchaftlich, von Ausdauer, ein guter Reiter und 
der Sache mit einer Art Leidenjchaft ergeben. Guttry, in Verſchwörungen geübt, 
ehrfüchtig und ambitionirend, ein guter Pole zu heißen, und einen großen Werth 
darauf legend, als Militär etwas zu gelten. — Bon mehreren Seiten ber 
bejhuldigt, daß fie durch ihre Erlaffe und Anordnungen das Meifte zum Auf: 
ftande beigetragen, diejertvegen getadelt und angefeindet, läßt es ich nicht leugnen, 
daß fie weſentlich dazu mitgewirkt, die Sache in gewiſſe Formen zu gießen, daß 
fie eine Menge Menſchen zufammengetrieben, die, freilich nur ſchlecht bewaffnet, 
zuleßt einen materiellen Mittelpunkt bildeten. Sie jeßten ſich mit den revo— 
lutionären Comites in den kleineren Städten in Verbindung und entjandten 
überall Hin entichloffene und entichiedene Leute; fie wußten überall Geld und 
Geldeswerth, patriotiiche Beifteuern u. dergl. aufzutreiben und fanden auch 
Mittel, au dem chaotiſchen Gewirre eine Art tactifche Ko: nlion zu fchaffen. 
Die höheren Befehlöhaberftellen wurden ‘ .cıynafi, Biatost: nd Braeyanaki 
übergeben. Letzterer war ein ehemalige: er der polnii nee, ber als 





Die Märztage bes Jahres 1848 in Pojen. 373 


Tactiker einen quten Ruf hatte. Mieroslawski aber wirft ihm in jeiner 
Beichreibung des Gefechts bei Miloslaw vor, nır immer an die Schonung 
feiner Pferde gedacht und kaum jonderliche Kampfesluft bewielen zu haben. 

Das Militärcomits veranlaßte auch die Zujammenziehung der polnijchen 
Auftwiegler in Poſen jelbft, in Dobrojewo, Obiezierze, Welna, Wreſchen, Oſtrowo 
und Xiond, wo fleißig exercirt und nad) der Scheibe geichofjen wurde und wo 
fich eigentlich der bewaffnete Widerftand organifirte. Die Seele von Allem aber 
jollte Ludwig Mieroslawski werden, der von Berlin mit Ungeduld 
erwartet wurde. Diefer erihien denn au) am 28. gegen Abend, von jungen 
Leuten umgeben, die fich jeine Garde nannten, unter einem unglaublichen Zulauf 
von Menſchen. Er ward mit einem Tadelzuge unter ftetem Vivatrufen, das 
dem aus dem Grabe erftandenen Führer galt, auf den Markt geführt, wo er 
von den Stufen des Rathhaujes eine feurige Rede an da3 Volk hielt. Die ganze 
Garnıjon war confignirt und theilweije unter den Waffen. Die hellerleuchteten 
Straßen einzelner Stadttheile glänzten unter dem unendlichen Gewoge der 
Menge, unjerer Wachen und Piquet3, die jo ruhig und unangefocdhten blieben, 
als im tiefjten Frieden. Der Markt jelbft war mit bengalifchen Flammen 
erleuchtet. Junge Polen in den wunderbarſten Anzügen Elapperten mit ihren 
Schleppjäbeln durd die Straßen, und aus den Tabagien erſchallte munter das: 
„Roc ift Polen nicht verloren!” Aber unjere Soldaten ſchauten unwirſch in dies 
Getreibe und hätten gern dem Spectafel ein Ende gemadt. Sehr häufig hörte 
man Soldaten polniſcher Nationalität fragen: „Warum befiehlt denn der König 
nicht, die Kerle zufammen zu hauen? In ein paar Stunden wäre die Sache zu 
Ende!" „Aber,“ fügten wol Andere hinzu, „mit den vornehmen Herren werden 
immer Umftände gemacht.“ 

Mieroslawski fand allerdings im Nationalcomite jelbft wenig Sympathie; 
er hatte fie dadurch verjcherzt, daß er fich im Gefängniß zu Moabit von Dunder 
auf eine jo unglaubliche Art hatte dupiren Laffen, wodurch obendrein eine Menge 
der Verſchworenen von 1846 bedeutend compromittirt worden waren. Dennod 
ward er zum Präfidenten der Militärabtheilung und zum Oberanführer ber 
polnischen Armee ernannt. 

Wie es jcheint, war Mieroslawski mit der Abſicht nad) Poſen gefommen, 
die vielen Kräfte hier zu einem Kampfe gegen Rußland zu organifiren. Wenig» 
ftend jagte man allgemein, daß dies das Nejultat feiner Unterredungen mit 
General Willijen in Berlin gewejen und daß er bona fide darauf eingegangen. 
Da er fi im Comité gegen die Senjen erklärte und dem römiſchen Pilum den 
Vorzug gab, überdies zwei Monate zur nothdürftigen Organijation der Truppen 
verlangte, während er doc) 1846 im Fluge von Wilna gegen ten Dniepr und 
die Düna vorzugehen verſprochen, jo brachte ihn dies bald in eine Art Span— 
nung mit dem Gomite. Aber er ging raſch an's Werk, errichtete aus den 
Berliner Alademikern eine Art Kriegsſchule, um fie für Officierftellen auszu- 
bilden, und that auch jonft Manches, um die Bewaffnung mit Gewehren vorzu= 
bereiten umd dem Ganzen eine Art militärifher Haltung zu geben. — Die 
Berichte hierüber, jowie manche Mittheilungen, die man über die Gefinnungen 
und Verhandlungen des Militärcomites erhielt, bewogen die beiden oberen 


374 Deutſche Rundſchau. 


Militärbehörden jetzt ernſtlich, an eine Remedur, welche von den deutſchen 
Einſaſſen der Provinz überdies dringend verlangt wurde, zu denken. In einem 
Aufruf vom 30. März, den ſie an die Polen richteten, warnten ſie dieſe, ſich 
zu bewaffnen und zu verſammeln, vor allen Dingen aber den Militärbehörden 
und der Obrigkeit Trotz zu bieten, widrigenfalls ſie ſich unnöthigerweiſe harten 
Strafen ausſetzen würden. 

Das Militärcomité aber, als wenn es ein Paroli auf dieſe Warnung hätte 
biegen wollen, erließ am 31. März an die Bewohner des Großherzogthums 
einen Aufruf, worin es ihnen anzeigte, daß es jetzt mit des Königs Erlaub— 
niß an eine Reorganiſation des Großherzogthums im polniſchen Sinne gehen, 
und daß es, um den Deutſchen den Beweis zu geben, wie ſehr es auf deren Sprache, 
Religion und Freiheit Rückſicht nehmen würde, den Oberbürgermeiſter Naumann 
und den Rath Boie in die Organiſationscommiſſion berufen werde. Dieſe beſtand 
aus Libelt, Kraszewski, Mielzynski, Potworowski, dem Prieſter Pruſinowski, 
Leon Szumann, dem Generallandſchaftsdirector und dem Gerichtsrath Gregor. 
Wunderbarerweiſe machte das Militärcomité zugleich kund, daß es ſich mit dem 
königlichen Commiſſarius in dieſer Angelegenheit, dem Oberpräſidenten Beur— 
mann, in zwei Sitzungen dahin geeinigt habe, daß 1) ein polniſches Corps mit 
polniſchen Feldzeichen, mit polniſchem Commando und unter einem polniſchen 
Anführer auf Staatskoſten gebildet und aus Staatsfonds unterhalten werden 
folle; 2) daß ein Pole die Civilorganijation leiten, und 3) daß die polnijche 
Sprache die Dienftjpradhe jein werde. Als Schlußwort ward diefem Aufruf 
hinzugefügt, daß, wenn man fich troß alledem nicht auf dem Wege der Güte 
mit dem Könige und der Regierung einige, da3 Comité auch Feine weitere Ver— 
antwortung übernehmen könne. Das Document aber war nur von den enragir— 
eſten Mitgliedern des Comité's, das ih nun „Gentral-Nationalcomite” nannte, 
unterzeichnet, nämlich von Jarochowski, Moraszewski, Jan Palacz, Szerwinsti 
und Ehmann, die man aus der Organifationscommilfion ausgeſchloſſen Hatte, 
und endete mit der demofratijchen Formel: „Gruß und Brüderſchaft!“ 


Am 1. April ließ das Comité ferner „zur weiteren Entwidelung“ jeines 
bereit3 am 25. März erlafjenen Proclama’3 noch ein Placat anjchlagen und ver- 
jandte es in die Provinzen, wodurch 


. jedes Mitglied einer Familie, welche eine mit Zins belegte Aderwirthichaft beſaß, jofort 
von ber Zahlung des Zinſes befreit ward, wenn fich daſſelbe den polnischen Reihen 
anſchloß; 

. bie frauen und Kinder ber Komornils, der Knechte und anderer Dienſtleute, welche in 
dem polnifchen Heere dienen würden und mithin ihren eingegangenen Verpflichtungen 
nicht weiter nadhfommen könnten, die Gärten, das Deputat und das Getreide in Garben 
behalten und benußen und außerdem ben britten Theil des Dienftlohnes befommen follten, 
welchen die Väter und Männer früher erhalten; 

3. die Familien ber in dem Nationalheere dienenden Taglöhner aus den Kreisfonds unter 

halten werden follten; 

4. dad Verbienft und die Auszeichnung der in bem Kriege Gefallenen oder beim Leben Ge: 

bliebenen nach beendigtem Kriege durch die ganze Nation derart belohnt werde, daß 

alle Aderleute, d. h. ſowol Aderwirthe als auch alle mit Aderbau beichäftigten Arbeiter, 

Aderbefig aus den Nationaldomänen erhalten würden; andere, dem Aderbau nicht An- 


fer 


80 


Die Märztage des Jahres 1848 in Polen. 375 


gehörige würden ihrer Fähigleit gemäß entweber bad Vorrecht zu ben öffentlichen Aemtern 
haben, oder eine Geldunterftühung zur Ausführung ihres Geichäftäbetriebes empfangen; 

5. bie auf ben ftäbtilchen ober bäuerlichen Aderwirthichaften Laftenden Domanial-, Jagd» 
und Fiſchfangrechte, ſowie dad LYaubemium aufgehoben fein follten. 

Auch dies Document, das die Unmöglichkeit der Erfüllung der verheißenen 
Zufagen an der Stirn trug, war vom Gentral-Nationalcomite unterzeichnet, 
doch hatten noch Stomizewäli, die berüchtigten Stefanski und Krauthofer und 
auch Libelt ihre Namen hinzugefügt. (Auf dem polnischen Placat fehlte jedoch 
der Name Krauthofer.) 

Das deutjche Nationalcomite, welches ſich am 26. März mit einem Aufruf 
an das polniihe Nationalcomite gewandt und von diefem und dem polniichen 
Club in feiner Antwort vom 29. defjelben Monats etwas jchnöde zurecht ge— 
wiejen worden, nahm hiervon Gelegenheit, in einem Proclama vom 2, April 
gegen dies Benehmen zu proteftiren und hervorzuheben, daß die Berechtigung 
der allmäligen Berbreitung des deutichen Elements in dem Lande aus der Ge- 
ſchichte micht werde verwwiicht werden können. Es war von den Herren Seger, 
Dr. Barth, 2. Fall, Kaah, Günter, E. Mamroth, Crouſaz, E. Brachvogel, 
Vanſelow, Dr. Suttinger und Edler unterzeichnet, die ſich jpäter alle mehr oder 
weniger der Frankfurter Partei anfchloffen. 

In der umreinen Mitte aber, in der die polnische Partei fich herumtrieb, 
nahm fie diefe Nothwehr für free Anmaßung und konnte es nicht begreifen, 
daß die finfteren Schlangenwege ihrer Politik fie nur tiefer und tiefer in Irrſal 
verftriden mußten, Der Racentampf war die unmittelbare Folge davon. 

Die Antwort auf alle die Erlaffe und Placate beider Parteien Seitens der 
Regierung war die Erklärung derjelben vom 3. April, wodurch Poſen in Bes 
lagerungazuftand verjeßt wurde. Bei aller Schonung, die das darüber ſprechende 
Document verhieß, ward doc) ſehr entichieden angedeutet, daß die Gewalt der 
Waffen zur Herftellung der Ruhe angewendet werden würbe. 

Das einleitende Vorwort des Proclama’3 aber wies auf die noch bevor- 
ftehende Ankunft des mit der Reorganijation des Großherzogthums Pojen beauf- 
tragten Commiſſarius hin. 

Ich fuhr derweilen in meinen militäriichen Functionen fort, warb aber zu 
allen Berathungen herangezogen, ohne daß man deswegen auf meinen Rath das 
mindefte Gewicht legte, wahricheinlich, weil derfelbe immer nur auf entichiedene 
Mafregeln binauslief. Gemerallieutenant v. Steinäder hielt fi) von demjelben 
ganz entfernt und fam nur ab und zu, gewöhnlich um ſich über dies oder das 
zu bejchweren, was er als Eingriff in feine Rechte ald Commandant oder ala 
zu große Nachgiebigkeit betrachtete. Uebrigens hatte man vor Allem, was auf 
Energie bindeutete, eine emtichiedene Abneigung. So 3. B. fürditete man, daß 
mit Ankunft der Deputation und befonders des Erzbiſchofs von Poſen der Auf: 
ftand losbrechen werde. Wenn dies glei, wie ſich hinterher herausftellte, eine 
ganz faliche Vorausſetzung war, jo rieth ich doch, ſich aller Gomitemitglieder zu 
verfichern und eventuell jelbft den Erzbiichof ſchon unterwegs feftzunehmen. Aber 
der Oberpräfident ſowol ala der Polizeidirector befamen vor diefem Vorſchlag 
einen ſolchen Schred, daf fie auf das Entichiedenfte dagegen proteftirten. Wenn 


376 Deutihe Rundſchau. 


ich ihnen num auch entgegenjehte, daß eben das feſte Zugreifen in ſolchen Kriſen 
das Weſentlichſte, das allein Rechte jei, daß man vor dergleichen nicht zurück- 
ſchrecken dürfe, jo kam doch mein Antrag gar nicht weiter in Betradht. Ueber— 
haupt liefen alle diefe Beiprehungen auf Nichts hinaus, und meiftens traten 
hinterher ganz andere Anordnungen in's Leben, als in den Verfammlungen be= 
fprochen worden. 

Eines Tages, & war kurz nad Ankunft Mieroslawski's in Polen, war 
ih im Bureau der Fortification, das unmittelbar am Kanonenplaß liegt, be= 
ichäftigt meine Toilette, die vom Bivouaf etwas gelitten, wieder zu ordnen, als 
der Graf Severin Mielzynski und Mieroslawski zu mir ind Zimmer traten. 
Ich bat die Herren nad den erften Eingangscomplimenten um Verzeihung, fie 
ſchlecht empfangen zu müfjen, ihnen nur Schemel zum Siten anbieten zu können ; 
„aber,“ jehte ich zu Mieroslawski mich wendend Hinzu, „das ift Ihre Schuld!“ 
„Dein Gott,“ entgegnete diejer, „ich komme, um mit Jhrer Regierung Hand in 
Hand zu gehen.“ — „Wenn das der Fall ift,“ antwortete ih, „warum haben 
Sie fih dann nit beim commandirenden General gemeldet und ſich dem 
Dberpräfidenten vorgeftellt ?" — „Dieje Herren,” ſagte Mieroslawski, „find jo 
gegen Alles, was Polen heißt, eingenommen, daß e3 ganz vergebene Mühe ift, 
fi mit ihnen aud) nur einigermaßen zu verftändigen.“ — „Sit es Ihnen ge= 
fällig,“ entgegnete ih, „jo werde ich gern den Vermittler machen, und ift es 
Ihnen Ernſt, mit den Behörden Hand in Hand zu gehen, und find die Nachrichten, 
die Ihr Nationalcomite in Umlauf gejegt, begründet, jo werden Sie in den 
Behörden feinen Widerftand finden, denn fie find, Gott jei Dank, dem Könige 
noch ganz ergeben.” — „Das glaube ich,” fiel jegt Graf Mielzynski mir ins 
Wort; „nur jchade, daß fich Niemand mit diefen Leuten verftändigen kann. Sie 
glauben nicht, wie ich diefe Behörden haſſe und verabſcheue, — ich bin in ftetem 
Kampfe mit ihnen.” — „Das weiß ich, lieber Graf,“ entgegnete ich, „deshalb 
ift man gegen Sie auch jehr auf der Hut, und es würde nur geringer Ueber— 
fchreitungen Ihrerſeits bedürfen, um hr allerliebftes Schloß jofort in Be— 
lagerungszuftand zu erklären. ch höre, es ift jo allerliebft, jo ſchön eingerichtet, 
daß ich e3 gleich mit meinem Aufenthalt hier vertaufchen möchte.” — „Nun, 
ich hoffe, Sie beſuchen mich vecht bald,” verjegte der Graf, und wir brachen das 
Geſpräch über diejen Gegenftand ab. — „Sie find bei der Unterredung zugegen 
geweſen,“ jagte ich zu Mieroslawski, „welche die Pofener Botſchaft mit Seiner 
Majeftät gehabt?” — „a wol!“ — „Und was hat Ihnen der König gejagt?“ — 
„Er Hat ich kurz umgedreht, ald er mich zu Gefichte befommen.“ (NM a fait 
pirouette en me voyant.) 

Die Unterredung ging jo noch eine Weile fort; die Herren waren unerjchöpf- 
fh in Anklagen unferer Beamten, im Tadeln unjerer Maßregeln, — ich gab 
mir alle Mühe, dieje zu vertheidigen und den Polen unjere Beſchwerden vor- 
zuhalten. Die Ankunft meines Adjutanten machte der Unterhaltung ein Ende, 
worauf fich denn die beiden Herren entfernten. Des andern Tages jedoch um 
diejelbe Zeit kamen fie wieder. Mieroslawski fing jogleih von dem Kriege 
gegen Rußland wieder an. „ch weiß nicht,“ entgegnete ich, „was der König 
beichließen dürfte; jedenfalls wiürde ein Krieg mit Rußland, unter den Ber- 


Die Märztage des Jahres 1848 in Pojen. 377 


hältniſſen wie fie find, eine große Unklugheit fein. Rußland ift jeit Jahren an 
der Grenze Preußens gelagert, feine Armee iſt beſſer organifirt ala je, e8 herrſcht 
dort ein Wille, ein Sinn. Wir können heute nur auf unjere Linie vechnen, die 
Landwehren find unſicher und werden durch die Männer der Bewegung täglich 
mehr verführt und in dem Maße untauglicher für den Krieg. Ein Krieg gegen 
Rußland verlangt eine vollkommen jchlagfertige, tüchtige und dabei zahlreiche 
Armee. Es kommt nicht allein darauf an, fie zu ſchlagen, man muß fie ver- 
nichten. Erinnern Sie fi eines Wortes Friedrichs des Großen, der ſich über 
fie dahin äußerte, daß man die Ruffen nicht allein todtichlagen, jondern dann 
auch noch umdrehen müßte.“ „Ich kenne die Ruffen wie irgend Jemand,“ 
entgegnete leidenschaftlich Dtieroslamwati. „Es wird nur darauf anlommen, ent: 
Ichieden den Kampf gegen fie zu wollen. Haben wir fie 1831 nicht faſt überall 
geichlagen? Sind wir nicht auf allen Schladhtfeldern faft Sieger geblieben ?" — 
„sa wol,“ jagte ich, „Sie haben fich zulegt gar todt bis über die Grenzen 
Polens hinaus gefiegt. Ich habe Ihr vortreffliches Werk über den polnischen 
Feldzug von 1831 nicht allein gelejen, ſondern ftudirt; ich habe Soltozki’s und 
Brzozowski's Schriften damit jorgfältig verglichen, — ich ſelbſt habe lange Zeit 
gegen Rußland gefämpft, aber Alles dies genau gegen einander erivogen, gibt mir 
die Ueberzeugung, daß man einen Kampf mit diefem gefährlichen Gegner nicht 
leichtſinnig heraufbeſchwören muß.“ 

Nun fing Mieroslawski an, von den Kräften Rußlands zu ſprechen und 
das zu wiederholen, was er in ſeinem Buche darüber geſagt. Ich meinerſeits 
blieb bei meiner Anſicht ſtehen und verſtärkte meine Argumente dadurch, daß 
ich mich über den Krieg von 1831 mit Brzozowski dahin ausſprach, daß man 
die Ruſſen damals à l’improviste überraſcht habe und jene Zeiten mit den 
heutigen nicht in Vergleich jeen dürfe. Wir ſprachen noch mancdherlei über 
dieſe Verhältniffe und jchieden, ohne die Gegenwart berührt zu haben. — 

Einige Tage darauf fam er mit Guſtav Potworowski wieder. Ich fand 
ihn weniger gut gelaunt. Unſer Geſpräch betraf faft nur die Gegenwart. Er 
äußerte fidh bitter über die Art und Weife, wie man die gemeinſchaftliche 
Sade behandle, wie man mit einzelnen feiner Leute umginge ch jagte 
ihm frei heraus, daß dies einerjeit3 die Schuld der Reigenführer der polnifchen 
Sache, dann aber die der Clubs fei. Dieje hätten die Antipathie der Deutjchen 
gegen die beabjichtigte Bewegung heraufbeſchworen, und wenn man nicht bald 
Anftalt made, fi mit den Behörden zu verftändigen, jo twerde die Sadje un— 
bedingt fein gutes Ende nehmen. In den deutſchen Bezirken rege fi) das 
deutiche Element gewaltig, es trete jchon eine Art Slavenhaß hervor, überall 
ipräche fi unverhohlen und laut Unwille gegen die polniſchen Comités aus, 
und käme es zwiſchen ihnen und der Regierung nicht bald zu einem Abſchluß, 
jo werde in letter Inſtanz die Gewalt der Waffen entſcheiden müfjen. So 
könne die Sadje nicht bleiben, zwei befehlende Gewalten neben einander könnten 
nicht beftehen. — Mieroslawski nahm dies etwas übel, nannte die Regierung 
unzuverläffig und meinte, daß die Polen ſich nicht gegen, jondern für das Geſetz 
empört hätten, und fügte endlich hinzu, daß das Schidjal Preußens nur von 
Polen abhinge; vereinige fich dies mit Rußland, dann fei e8 um Preußen ge- 


378 Deutſche Rundſchau. 


ſchehen. Der Panſlavismus werde das Germanenthum von der Erde vertilgen. 
— „Run,“ entgegnete ich ihm ruhig, „das wäre nicht der erſte Kampf des ro— 
manijch-germanifchen Princip3 gegen da3 Slaventhum. Bis jet hat des Erfteren 
Banner noch immer fiegreich geweht, und noch hat das Reich der Finſterniß 
nicht begonnen, in dem die Materie den Geift beherrichen wird.“ Wir wurden 
beide animirt und unfere ziemlich lebhafte Unterhaltung endete damit, daß ich 
ihm fagte: „Glauben Sie mir, bringen Sie die Verhältnifje nicht in vollſtän— 
digjtem Einklang mit der Regierung zu Stande, jo kann die Bewegung nur im 
Blut erſtickt werden, und Ahnen ſelbſt blüht feine andere Zukunft als in Wi— 
niary. Die Regierung ift noch jehr ftark; wir haben noch volllommen Kräfte 
genug, um Herren der Greigniffe zu bleiben, und Sie mit allen Ihren höheren 
militäriſchen Eigenſchaften, Ihrer Erfahrung und Intelligenz“ — ſetzte ich be— 
ſänftigend hinzu — „werden die Entſcheidung um keine Stunde aufhalten!“ — 
„Nur vorwärts!“ unterbrach mich Mieroslawski, „wenn Sie und vernichten 
wollen. Am Ende iſt es beſſer, das Leben zu verlieren als darum zu betteln.“ 
— „Wann erwarten Sie General Williſen?“ unterbrach ihn hierauf Guſtav Pot— 
worowski, und ala ich ihm jagte, daß die Militärbehörden von deſſen Miſſion 
noch feine Silbe wüßten, meinte er, daß deſſen Ankunft die Wirren löjen würde, 

Mieroslawski wiederholte feine Bejuche noch einige Male, und ich ſelbſt er— 
mwiderte ihm einft diejelben Morgens um 6 Uhr. ch hatte dieje Zeit gewählt, 
einerjeit3 um mich zu überzeugen, ob in jeinem Quartier wirklich Alles jo ruhig 
fei, wie ex es verficherte, dann aber, um wegen Arretirung eines jungen Menjchen, 
dem man zu Leibe wollte und für den er fich verwandt hatte, Rückſprache zu 
nehmen. Die Bifite befam jo zugleich einen freundichaftlichen Charakter. ch 
fand in der That Alles im Hauje jchlafend. Ein alter Hauswart, der mich 
fannte, führte mid in eine Stube, in der ich wol eine halbe Stunde warten 
mußte. Dann erjchien eine Art Adjutant, dann ein anderer Herr und endlich 
Mieroslawski jelbft, dem man es anjah, daß er joeben erſt aufgeftanden war. 
In der Stube, in der ich vollauf Zeit Hatte, mich umzubliden, jah es etwas 
unordentlih aus. ch fand einige Säbel, die im Winkel ftanden, einige Pilen, 
eine Menge Schriften revolutionären Inhalts, Reglements für die Infanterie 
und Gavallerie, Vorſchriften für das Excerciren mit der Senje und eine Menge 
Zeitungen. Die Kurnatowsti’iche Karte vom Großherzogthum hing aufgezogen 
an der Wand und lag zugleich in mehreren Exemplaren auf dem Tiſche. Ich 
fand in dem einen die Orte Pojen, Miloslam, Wreſchen, Schroda, Kions, 
Pleſchen, Raſchkow u. U. unterftrichen. Sonft bemerkte ich durchaus nichts, was 
auf die Unruhen und Wirren im Lande bindeutete. 

Mieroslawski nahm meine Mitteilung, den jungen Arreftanten betreffend, 
freundlich auf; aber ich glaubte dennoch zu bemerken, daß ihm mein Beſuch 
nicht ganz angenehm ſei. Ob er befürchtete, hierdurch den ertravaganten Pit» 
gliedern des Comité's verdächtig zu werden, oder ob er ihn als eine Art Re 
cognoscirung betrachtete, ob es ihm endlich unangenehm war, in einer Zeit wie 
diefe, wo Minuten gegen Wochen auftwiegen, im Bette überraſcht worden zu 
fein, laſſe ich dahin gejtellt. 

Zwei Tage darauf kam Mieroslawsfi mit dem Grafen Mielzynski wieder 


Die Märztage des Jahres 1848 in Pofen. 379 


zu mir. Er war außer fich über einige Gonflicte, die zwiſchen jungen, bewaff- 
neten Polen und unjern Leuten ftattgefunden, eine Thatſache, die ſich leider nicht 
leugnen ließ. Ih mußte die wirklich brutale Behandlung jener jungen Leute 
duch nichts zu entichuldigen und konnte nur verfichern, fie wäre nicht durch 
Leute meiner Brigade begangen. Bei dem Hin- und Heriprechen über diejen 
Gegenftand ließ Mieroslawäti die Aeußerung fallen, daß dem nur ein Ende 
gemacht werden könne, wenn man einen preußiichen Officier an die Spihe der 
Organifation ftelle und wenn man mid hierzu ernenne. ch that, ala wenn 
ich die Sache überhörte; aber ala er wieder darauf zurüdtam, jagte ich ihm, 
daß fich Hierzu ſchwerlich ein preußiicher Officier verftehen werde. Die Sache 
fei politifcher Natur und gänzlich verichoben. Als Militär müffe man nur ge 
horchen und den Pflichten der Ehre genügen; unter einer Herrichaft aber, wie 
die jetzige, wo ein unjchlüffiges, ſchwaches Regime Alles veriwirre, das polnijche 
Comité die Provinz mit demokratiichen Geſetzen überſchwemme, two alle Welt 
von der Bewegung hingeriffen, der preußiiche commandirende General und der 
zu erwartende Organiſations-Commiſſarius wahricheinlid durcheinander befehlen 
würden, da würde man jehr bald, entweder mit feiner Pflicht oder feiner Ehre, ban- 
querott machen. „ch will Ahnen,“ fuhr ich fort, „mein Glaubensbelenntniß 
darlegen; es ift aus dem Teftamente eines Mannes, den jeder Pole hochadhtet. 
Als wir am Tage des Gefechts von Libertwolkwitz dem Fürften Poniatowski 
unjere Glückwünſche zu feiner Marichalldernennung darbradten, äußerte Je— 
mand im Laufe des Geſprächs und in Bezug auf die Tagesereigniffe: „Aber, 
mein Fürſt, was wird aus und werden, wenn twir geichlagen, die Franzoſen 
zum Rüdzuge gezwungen werben jollten?* Der Fürſt ſchwieg eine Weile; „die 
Verhältniſſe find allerdings ſchwieriger Natur,“ fuhr er dann fort, „wir können 
nah Oft und nad Weit zerftreut, das arme Polen ganz überſchwemmt werben, 
aber wenn jeder Pole den Begriff des Biedermannes feithält und ihm gemäß 
handelt, jo wird die Nationalehre nie untergehen und der Name „Pole“ immer 
eine Ehrenbenennung bleiben.“ Diefem Vermächtniß bin ich treu geblieben, ihm 
verdanfe ic; meine ehrenvolle Stellung; die fernere Befolgung deffelben veranlaht 
mich, jede und alle Betheiligung am Oberbefehl über die polnischen Truppen 
auf das Entichiedenfte abzulehnen.“ — Nach dieſer Zeit jah ich Mieroslawäti, 
wenn ich nicht irre, nicht wieder bei mir. Nach des General Williien Ankunft 
babe ih ihn nur wieder ala Gefangenen in dem ort Winiary geiehen. 
Mieroslamwati mußte auf Jedermann den Eindruck eines wohl unterrich- 
teten, gebildeten Mannes machen; aber was ihm ohne Zweifel abging, waren 
Genie und Willensftärke. Im Geſpräch war er liebenswäürdig; aber er war un- 
angenehm und heftig, wenn er ſich hinreiken ließ, was öfter vorlam. Poller 
Pläne und Projecte, fehlte es ihm an Kraft, fie auszuführen. Er hatte Muth, 
aber es gebrad ihm an Kühnheit; er beſaß ſchöne Kenntniſſe, aber er verftand 
fie nicht anzuwenden. „Il ne sait ni organiser ni commander,“ ſagten jelbft 
feine Freunde von ihm. Er ſprach mit großer Geläufigkeit über die verjchie- 
denften Gegenftände, aber öfters ohne Tiefe des Urtheils und ohne Reife. Die 
Befriedigung feines bedeutenden Ghrgeizes, welcher durch feine Eigenſchaften 
nicht gerechtfertigt ward, erwartete er von der Revolution, weswegen er fi 


380 Deutiche Rundſchau. 


fopfüber in die Bewegung ftürzte. Und doch verlor er beim erften Widerftand, 
beim erften Unglüd, das ihn traf, die Faſſung, ohne dabei zu fühlen, wie jchlecht 
ihn fein Ehrgeiz berathen. Hier in Polen nahm er Zufälligkeiten für wirkliche 
Urſachen und unternahm e8, eine Sache ohne innere Kraft, ohne Wurzeln und 
ic möchte Hinzufügen ohne Nationalität herzuftellen. Er hatte bei alledem 
nicht begriffen, daß die ungeftümen Menjchen ſich nur zu bald durch ihre Hef- 
tigkeit abnußen. Auf die Maſſen hatte er bald einen Einfluß erlangt, der größer 
als jeine Fähigkeiten war. Die Stunde der Entjcheidung fand ihn aud hier 
zaghaft und ohne Muth, jo brav er auch jonft im Kampfe feinen Feinden gegen- 
über gewejen. In jeinem Aeußern war Mieroslawski in feinen guten Tagen 
das, was die alten Franzoſen einen „muscadin“* nennen, wie ihn auch die Ber- 
liner fennen gelernt haben; — es war in ihm Heldenjinn und Stleinlichkeit, 
männliches Wejen und Eindijche Eitelkeit, Eraltation und Verſchlagenheit. Seine 
Eigenfucht täufchte ihn unaufhörlich. Nach feinem Falle fand ſich Niemand, der 
fein Unglüd nad) feiner Kraft gemefjen, im Gefängniß von Winiary verlor er 
fih unbeklagt und unbedauert in dem Haufen der jubalternen Geifter, die es 
mit ihm unternommen, in dem Lande des Adels die jociale Republik aufrichten 
zu wollen. 

Mährend die Parteien in Pojen fi zum Kampfe rüfteten, ward auch das 
Militär von Zweifeln und Unruhe bewegt. Lange Ichon durch die Unjchlüffigkeit, 
welche die Behörden an den Tag legten, durch die Anmaßungen, welche das 
Nationalcomite zur Schau trug, durch die öffentlichen Aufzüge, welche die Be— 
mwegungspartei faft täglich veranftaltete, beunruhigt, beleidigt durch die Waffen- 
übungen, die man die Polen unter fremden Zeichen öffentlich betreiben ſah — 
ward die Garnifon plötzlich durch das Gerücht allarmirt, es ſei eine Königliche 
Gabinet3ordre an den Oberpräfidenten eingegangen, wodurch Pojen jo qut 
wie aufgegeben jei. Ich darf wol nicht erſt jagen, daß die Nachricht hiervon 
eine tiefe Indignation hervorrief. Hätte fich diejelbe beftätigt, jo würde fie 
ficherlich eine Kataftrophe herbeigeführt haben. Das Gerücht hierüber lief von 
Mund zu Mund, und wäre es bis zu den Unterofficieren und Soldaten gekom— 
men, jo hätte es ohne Zweifel eine Indisciplin herbeigeführt, während man bis 
jet die Subordination ſtreng aufrecht erhalten. Ich hielt e8 daher für meine 
Pflicht, mit dem commandirenden General zu jprechen und ihn auf die Folgen, 
die ein Verheimlichen eines jo wichtigen Actes herbeiführen müffe, aufmerkſam 
zu machen. Der Commandirende meinte, er wolle die Sache in Erwägung ziehen. 

Des andern Tags, Nachmittags, es war am 27. oder 28., wurden die Offi- 
ciere der Garnifon auf das Fort Winiary in eine der disponiblen Hallen des 
Kehlgebäudes bejchieden. Alle twaren in höchſter Spannung. Die Nachrichten, 
welche die Polen und bejonders die von Berlin zurückgekehrten Deutjchen über 
die Art und Weile der vorzunehmenden Organifation verbreitet und die mit dem 
jpäter vom Comité befannt gemachten Erlaß vom 31. März nur zu ſehr über- 
einftimmten, hatten die Gemüther wunderbar ergriffen. Als der Commandirende 
in unferer Mitte erſchien, empfing ihn eine Todtenjtille. 

„Die Ereignifje, die bis jet ſtattgefunden,“ xedete ı 'ere an, „haben 


Die Märztage des Jahres 1848 in Pofen. 381 


uns ſchwer geprüft; aber fie haben auch dargethan, welcher Geift Sie belebt, 
was der König von Ihnen zu erwarten hat. Es haben uns harte, unerwartete 
Schläge getroffen, und es jcheint, als wenn das Maß derjelben noch nicht er- 
Ihöpft wäre. Ich habe Ihnen einen Königlichen Erlaß mitzutheilen, der unfere 
ganze Zukunft in Frage ftellt.“ 

Hier entfaltete der General die Königliche Gabinet3ordre vom 24. März 
und las deren Anfang laut vor. Aber allmälig unterbrad ihn Schluchzen — 
endlich verhinderte ihn ein Thränenjtrom, fortzufahren. Sein patriotifches, fein 
ächt preußiiches Gefühl hatte ihn überwältigt. Er gab den Gabinet3erlaf 
feinem Chef des Generalftabes, der die] Leſung vollendete. „Sie jehen, meine 
Herren, wie weit es mit und gefommen ift; ich kann mich nur unglüdlich ſchätzen, 
diefen Tag erlebt zu haben.” — Hiermit verließ der General den reis. 

Der Erlaß lautete: 

„Auf den Mir von Ihnen vorgetragenen Wunſch will ic gern eine 
nationale Reorganijation des Großherzogthums Poſen, welche in möglichft 
kurzer Friſt ftattfinden joll, anbahnen. Ich genehmige daher auch die Bildung 
einer Commiſſion aus beiden Nationalitäten, die mit Meinem Oberpräfidenten 
gemeinjchaftlich iiber dieſe Reorganifation zu berathen und nach dem Rejultate 
diefer Berathung Mir die nöthigen Anträge zu ftellen haben wird. Die ge- 
dachte Commiſſion kann aber nur wirkjam fein, wenn und jo lange die gejeßliche 
Ordnung und alle Autorität der Behörden im Großherzogthum Pojen auf- 
recht erhalten wird. 

Berlin, den 24. März 1848. Friedrich Wilhelm.“ 

MWenngleih der Erlaß Deprimirendes genug enthielt, jo war er auf der 
andern Seite doch nicht geeignet, alle Hoffnung niederzufchlagen. Aber die Ent- 
muthigung war allgemein. Diele Officiere weinten. Doc allmälig machte fich 
ein anderes Gefühl Plab. „Lieber doch wie die Ritter von Rhodos fterben,“ 
jagten Einige, „ala Winiary den Inſurgenten übergeben.“ „Das hieße ja ſchimpf— 
licher wie 1806 enden,“ meinten Andere. Ich rief hierauf mit lauter Stimme: 
„Die Herren DOfficiere meiner Brigade!” Aber nicht diefe allein, jondern faft 
alle jammelten fi um mid). 

„Meine Herren,“ redete ich fie an, „der Erlaß Sr. Majeftät ſcheint falſch 
verftanden tuorden zu fein. Don einem Aufgeben Poſens ift darin nichts 
gejagt; davon kann nicht die Rede fein, jo lange deſſen Obhut Männern wie 
Sie anvertraut ift. Der Geift, der die Garnijon belebt, ift die befte Bürgſchaft 
für Pojens Erhaltung, und ſeien Sie überzeugt, meine Herren, daß ih nie zu— 
geben werde, daß die Ehre unferer Fahnen auch nur im mindeften alterirt 
werde.” Gin beifälliges Murmeln durchlief hierauf die Reihen, die fich zugleich 
öffneten, um dem commandirenden General, der wieder in unjerer Mitte erfchien, 
Plaß zu machen. 

„Meine Herren!“ rief der General laut, „Sie jcheinen mid mißverftanden 
zu haben. Die Gabinet3ordre jagt nichts von einem Berlafjen oder Aufgeben 
Polens. Es ift darin nur von einer Reorganifation im nationalen Sinne die 
Rede. Bleiben Sie ja der eberzeugung, daß ich die Ehre unjerer Fahnen ſtets 
aufrecht erhalten werde.“ 


382 Deutihe Rundſchau. 


Die Dfficiere äußerten über diefe Erklärung ihre laute Freude, die fi in 
einem Lebehoch auf den König Luft machte. Wie ich fpäter gehört, hatte der 
Major von Olberg, Chef des Generalftabes, den Commandirenden zu diejer 
Erklärung vermocht. Und fie war auch wirklich nöthig. Denn die Art und 
Weite, tvie der Erlaß früher mitgetheilt, und dasjenige, twa8 bvorangegangen war, 
hatten einen betrübenden Eindrud gemacht. In entjcheidenden Kriſen müffen 
die Behörden vorzugsweiſe Energie beweiſen und entjchiedene Haltung bewahren. 
Wehe ihnen, wenn fie diefe verlieren! Den unbedeutenden Charakteren hier fehlte 
das providentielle Merkmal ihrer Stellung und Macht, ihrer Sicherheit, fich 
mit DBertrauen der Perioden der vaterländijchen Geſchichte zu erinnern, in denen 
fich der preußifche Genius in feiner ganzen Größe und Höhe bewährt Hatte. 
Was jedoch jehr üble Folgen hätte haben können, waren die Zugeftändniffe, 
welche da3 Minifterium damals zugleih gemacht, wenn biejelben befannter 
geworden wären. Doc circulirten fie glüclicher Weile nur in einigen Kreiſen 
und wurden dort zugleich al3 verfälicht bezeichnet. — Hier find fie nad) einer 
handſchriftlichen Mittheilung : 

.Das gegenwärtig in Poſen befindliche Comité joll ein Regierungscomite einfeken, dem bie 

königlichen Gommiffarien für Militär: und Givilangelegenheiten, ber General v. Willijen 

und ber Oberpräfibent dv. Beurmann beizuorbnen find. 

Das Comité wird einen Polen zum Oberpräfidenten der Provinz ernennen. 

Mikliebige Verwaltungsbeamte und Richter, ſowie dergleichen Diftrictdcommifjäre und 

Zandräthe follen auf den Wunſch des Comité's entfernt werben, doch ift ihnen ein zwei— 

jährige Gehalt als Entihädigung zu gewähren. Dad Comité wählt an beren Stelle 

neue Beamte, 

. Dad Militär foll polnisch organifirt werben, doch ift den Deutfchen und Juden ber Ein- 
tritt in daflelbe ganz unbenommen. 

. Die Feſtung behält vorläufig preußiiche Beſatzung, doch darf fie ohne Zuftimmung bes 
Gomite’3 nicht verwandt werben. 

. Die polnifche und beutjche Sprache follen gleichberechtigt fein und eine oder bie ‚andere 

nach Bebürfnik gebraucht werden. Das polniſche Schulwejen wirb jofort organifirt und 
für gemeinnüßige polniſche Anftalten ſoll gejorgt werden. 
Ferner hatte man Nachrichten von der Unterredung der polnijchen Ab- 
geordneten mit Sr. Majeftät. So verſchieden die einzelnen Stellen auch nüancirt 
wurden, jo liefen doch alle darauf hinaus, daß Kraszewski fich jelbit und die Vortheile 
der Polen übereilt habe. Ich kenne Kraszewski jeit einer langen Reihe von Jahren, 
habe 'in intimen Verhältniffen mit ihm geftanden, ex jelbft ift ein zu gründlicher 
Kenner der polnischen Berhältniffe, um aud nur entfernt daran glauben zu 
können, daß durch eine Revolution, wie er fie jah, Polen herzuftellen jei. Wahr: 
ſcheinlich war e8 ein Anflug patriotifcher Eitelkeit, der ihn bewog, fich gehen 
zu laſſen. Daß man jpäter im Großherzogthum Pofen Niemanden fand, ber 
fih dazu hergeben wollte, Oberpräfident zu werden, beweift am beften, wie 
wenig Vertrauen man zur Sade hatte und wie wenig fi) die Herren jelbit 
vertrauten. Ueber den Erzbiſchof ſprach man mit einiger Rüdhaltung. Er hatte 
dem Könige gejagt, daß er feinen treueren Diener als ihn habe. Das hatte man 
ihm übel genommen. Er hielt fich fpäter auch jehr zurüd. 

Wenn bis jetzt die Parteien in der Stadt nebeneinander fortgegangen waren, 
ohne fich entjchieden feindlich gegenüberzutreten, jo fing dies an, jet anders zu 


— 


5 50 


Po Be 


je >) 








Die Märztage bes Jahres 1848 in Pofen, 383 


werden. Alle Augenblide liefen Klagen ein, daß man polnifche Soldaten infultirt, 
ihnen die Cocarden abgeriffen, die Sporen abgetreten, die Säbel zerbrochen habe. 
Und meiftens war hierbei das Unrecht auf Seite unferer Leute, deren fich all- 
mälig eine gewiſſe Bitterfeit bemächtigte, die von deutſchen Bewohnern an— 
geftachelt ward. Die Polen ertrugen dies Alles mit einer großen NRefignation, 
aber fie verfolgten dafür ihren Hauptzweck mit um jo entjchiedenerer Energie. 
Es wurden Leute ausgehoben, Waffen bejorgt, Lebensmittel ausgejchrieben, — 
der Aufftand ward durch da3 ganze Land organifirt, und da man diejen bereits 
jeit 1846 vorbereitet, alle Einleitungen getroffen, die Rollen vertheilt und die 
Eventualitäten erwogen hatte, jo war dies das Werk, ich möchte fajt jagen, 
eines Augenblides. Das Land war wie mit einem Zauberjchlage von Kempen 
bi3 Poln.-Erone und von Inowraclaw bi8 Schwerin mit Comités, Organifations- 
Commiſſionen durchzogen, mit Reviforen diejer Anftalten überſchwemmt und mit 
Stationen wie durchwebt, die die Befehle und Erlaſſe des Gentralcomites nad) 
allen Seiten beförderten. 

In der Stadt Pofen jelbft bildeten fich Truppen, die auf dem Plaße bei 
den Bernhardinern erercirten, und man erzählt, daß der Commandirende einft der 
Uebung einer Abtheilung zugejehen und geäußert habe, daß e3 für die furze Zeit 
gut genug ginge. Aus der Landichaft erichollen die Commandorufe bis auf die 
Straße. Das Dzialinski'ſche Palais und mehrere andere Gebäude waren vollftändige 
DOrdonnanzhäufer, von dem Rathhauſe herab wehte die polniſche Fahne. Das 
Kriegscomite war nebenher jehr eifrig, ohne jedoch bei den Landbewohnern in 
Bezug auf feine Forderungen den gewünjchten Anklang zu finden. Hier und 
dort hatten jogar bei polniſchen Einſaſſen offene Auflehnungen gegen bdafjelbe 
ftatt. Die deutſchen Comités, die fi, nachdem Pojen, Rawicz, Frauftadt und 
Bromberg das Beijpiel gegeben, hier und dort ebenfalls bildeten, wirkten dem 
polnischen Treiben entjchteden entgegen, und die Landwehren, die vom 23. ab 
begannen, fich auf Kriegsſtärke zu ſetzen, fingen allmälig an, jo viel Halt zu 
gewähren, um die nächjten Umgegenden der Stab3quartiere gegen die ‘offenen 
Auflehnungen des Adels ſchützen zu können. In der Stadt Pojen war man in 
Bezug auf einen Ausbruch von Unruhen völlig ruhig. Am 25. März ſchon 
waren drei Escadrons de3 2. Leib-Hufarenregiments3 in Eilmärjchen eingerüct, 
und wenn ſich der Bejonnene auch jagen mußte, daß dieſe bei einem etwaigen 
Bufammenftoß mit dem Volfe wenig mitzuwirken vermögen würden, jo hatte 
der Einmarſch doch einen wunderbaren Eindrud auf Deutjche und Polen gemacht. 
Die Deutfchen waren wie neu erfräftigt, die Polen aber fingen an, zu begreifen, 
daß e3 mit der Ohnmacht des Staates denn doc nur eine erbauliche Redensart 
jet, und daß die Regierung endlich) wol daran denken könnte, ihre Autorität mit 
Gewalt der Waffen herzuſtellen. Als vollends am 2. April drei jchleftiche Land- 
wehrbataillone in der vollen Kriegsſtärke einrüdten, Tießen jelbjt erhitzte 
Patrioten die Hoffnung finten. 

War nun hiermit auch noch nicht viel geſchaffen, jo deutete es doch darauf 
bin, daß man deutſcher Seit3 angefangen, fi zu befinnen. Den Anmaßungen 
ber Polen war ein Damm entgegengejeßt,: und man begann, von allen Seiten 


384 Deutſche Rundſchau. 


wieder Muth zu ſchöpfen. Der Meſſias aber, auf den Alle hofften, von dem 
Alle ihr Heil erwarteten, war der General v. Williſen. 

In einer Staatsrathsſitzung nämlich war beſchloſſen worden, dieſen zur 
Pacification der Provinz nach Poſen zu ſchicken und ihm zugleich den Vorſitz 
der Reorganiſationscommiſſion zu übertragen. Merkwürdig bleibt es, daß 
man ſchon ſeit Mieroslawski's Ankunft auch von Williſen's Ankunft geſprochen. 
Wenn nun ſchon die Inſtruction des letzteren erſt am 3. April erlaſſen ward, 
jo hatte man doch ſchon am 1. von dem Tenor derſelben Kenntniß in Poſen. 
Ebenfo waren die Erlafje des Nationalcomite3 vom 31. März und 1. April 
in Berlin befannt, als man die Inftruction für General von Willijen entwarf. 

Am 5. April Abends endlich traf General v. Willifen in Pojen ein. Bevor 
ich mich über deffen Thätigkeit jelbft auslaffe, ein paar Worte zu feiner Cha= 
rakteriftif, die uns vielleiht den Schlüffel zu feiner Handlungsweije gibt. 

Der General von Willifen, der in feinem Weſen etwas Gehaltenes Hatte, 
das ſich in den harten Linien feines Geſichts ausſprach, und durch dad Arifto- 
fratiihe in feinem Benehmen die Popularität vericheuchte, die er durch Mäßi— 
gung in feinen Anfichten hätte gewinnen fünnen, gehörte ganz unbedingt zu den 
unterrichtetften DOfficieren der Armee. Er hatte aus dem Kriege einen guten 
Ruf mitgebradt. Früh in Beziehungen zum Hofe gefommen, war er hierdurch 
an unerfreulicher Menjchenkenntnig nur zu reich geworden, und vielleicht war 
gerade diefer Umftand Schuld, daß er früh ſchon in eine falſche Fährte gericth. 
Der alte Feldmarihall York Hatte ihn betvogen, jenen Sohn auf feinen Reifen 
nad Italien und England zu begleiten und hier hatte er die Vorliebe für con— 
ftitutionelles Wejen eingefogen, dem er laut und überall das Wort redete. Als 
Chef des Generalftabes de3 V. Corps war er in Pojen viel mit Polen in Be- 
rührung gelommen und hatte dort durch eine gewiſſe Ruffenantipathie ſich Sym- 
pathien unter den Polen und zugleich auch Umgang erworben, den er in feiner 
fpätern Stellung als Brigadecommandeur in Breslau fortiebte. 

Seine Aufjäße in der „Stant3-Zeitung“ vom 3. März 1831 und im 
„Militär-Wochenblatt” vom 19. März über die Operationen der Ruſſen, be- 
ſonders aber fein Buch „über die Theorie des großen Krieges, angewandt auf 
den ruſſiſch-polniſchen Feldzug von 1831,” das von polnischen Militär-Schrift- 
ftellern vielfach als Autorität angezogen worden, hatten die Polen einerjeits 
ohne Zweifel mit Bewunderung für feinen militärifchen Geift, andererjeit3 aber 
mit einer gewiljen Zuneigung erfüllt. Die Deutſchen hatten hierauf wol nicht 
geachtet ; jobald er aber zum Organijations- Commifjarius ernannt worden, 
fnüpften fie hieran ſofort Verdächtigungen aller Art, die der edlen Seele des 
General weit entfernt lagen und die jelbft Polen verachten würden, ihm zu 
imputiren. Geängftigt durch jedes Gerücht, das als eine angebliche Begünftigung 
der Polen auftauchte, von vertvorrenen Gefühlen irre geleitet, die die Frankfurter 
Ereigniffe erregten, ward die Gährung unter den Deutſchen immer ftärker; bald 
geriethen auch die Bejonnenern in die Hände prodocirender Agenten, und jo 
brachte die kleine Politik feiner Gegner Willifen binnen Kurzem in die größte 
Verlegenheit. Boshafte Jnfinuationen aller Art raubten ihm jchnell jeden 
Gredit; er fand nirgends Mitwirkung zum Guten, und jo | !! er unter einer 


u # 


Die Märztage des Jahres 1848 in Pofen. 385 


unverjöhnlichen Oppofition zu einer Sache, deren Umfang er nicht kannte, die 
er jogar injofern verfannte, als er eine philanthropifche Vermittelung zur Be- 
deutjamfeit eines polnischen Schiedsgerihts zu erheben gedachte, der gegenüber 
jeder Widerftand, jede Oppofition verftummen werde. Wenn es ſchon diplomatiſch 
ſchwierig geweſen wäre, Polen als ein altes Volk zu reconftruiren, jo war dies 
vollends den Berhältniffen in der Provinz jelbft gegenüber unmöglich geworden, 
und num endlich jenes Minifterium ohne Klarheit, Einfiht und Schwung, ohne 
Muth und Kraft, dem er untergeordnet war! Man hat dem General infofern 
entjchieden Unrecht gethan, ala man jeine Sympathien für die Polen mit Ent- 
würfen feines eigenen Chrgeizes in Zujammenhang gebracht, wenn man ihn 
beichuldigt, als habe er die Exrniedrigung Preußens unterzeichnen wollen. 

Wie hart und unbedacht aber auch die Polen den General Willifen beur- 
theilten, beweift bejonders Moraszewski in jeinem Büchlein. Dem guten Mann 
twiderfährt hierbei noch das Kleine Malheur, daß er General Willifen II. mit 
dem älteren General Willifen verwechſelt. Moraszewski jchreibt: 

„Auf die Konvention von Jaroslawice jah die Menge und jehen heute die 
Geichichtsichreiber, welche die Ereigniffe jener Zeit erklären, als auf ein Wert 
Williſen's, welcher die Beruhigung des Großherzogthums durch eine Bildung 
polnijchen Militärs bezwedte. Er traf jedoch nur ein, um den Polen das Ge- 
twehr aus der Hand zu reißen und Vorbereitungen zu der jogenannten Demar- 
cationslinie zu treffen. Einen andern Auftrag hatte er nicht umd dachte auch 
nicht daran, einen andern auszuführen. Man muß hier bemerken, daß er gleich 
am Tage nad) der Convention den Regierungsafleffor Bornemann, den ex bei 
fih hatte, mit Vorſtellungen nad dem Lager von Miloslam jandte, daß die 
Gadres fich auflöjen jollten; es wäre nicht nöthig, den Bürgern Koften zu ver- 
urſachen, welche ſich durch die Beiträge ohnehin vermehrten; daß in zivei Wochen 
die Organifation des Militärs im Großherzogthum beginnen und Seder eine 
Aufforderung erhalten werde, fich einzuftellen; ferner daß er ſich in feinen ge— 
druckten VBertheidigungen gegen die Deutſchen bejonder3 damit rühmte, durch 
Worte die Polen entwaffnet zu haben, was auf dem Wege der Gewalt viel 
deutjches Blut gekoftet haben würde. Er betrachtet in diefer Darlegung die 
Polen als reißende Thiere, denen man die Zähne ausbrechen müfje, damit fie 
nicht biffen. Endlich jprad er gleich nad) feiner Ankunft in Poſen von der 
Armee, jpäter aber in feiner Anſprache ftimmte er dies auf eine andere Organi- 
jation der Landwehr herunter, wie fie längjt beftanden. Im Ganzen genommen 
war Willifen ohne Syftem, von hin- und herſchwankendem Charakter, er war zu 
jener Zeit das Werkzeug eines unklaren, ſchwankenden Mtinifterrums. Alle jeine 
Werke verrathen diejelbe Charaktereigenthümlichkeit; was er auf der einen Seite 
kräftig beweift, widerlegt ex auf der andern noch Eräftiger.” 

Williſen Hat injoferm gefehlt, als er ſchon beim Antritt feiner Miffion 
Schritte that, die ihn verderben mußten. Statt die Polen fommen zu lafien, 
lief er ihnen entgegen. Statt den einflußreichen Aufwieglern entſchieden ent- 
gegenzutreten, jchonte er in ihnen die künftigen Stüßen einer neuen Herrichaft, 
— er ließ ſich mit einem Worte von der Bewegung hinreißen, und indem er die 


Deutſchen in ihren allerdings aus der Frankfurter Bewegung aufgefaßten Ideen 
Deutſche Runbſchau. I, 12. 


388 Deutſche Rundichau. 


denzen in einzelne Kleine Sammlungen, und fich dieje volljtändig zu verichaffen, 
ift, auch abgejehen von dem Preife, eine ſchwierige Aufgabe. Es ſoll das fein 
Vorwurf gegen Veit und Lehfeldt fein, fie konnten nichts Anderes geben, als 
was fie hatten, und wa3 fie gaben, war wahrlich reichhaltig genug; aber jollte 
es num, nachdem da3 Meifte au Schiller's Nachlaß wirklich zum Vorſchein ge- 
fommen ift, nicht möglich fein, den urſprünglichen Mangel zu ergänzen? Dies- 
mal wird hoffentlich der Verkauf des Buchs nicht lange auf ſich warten laſſen; 
wenn e8 dann unmöglich jein Jollte, die größern Brieffammlungen, die mit 
Goethe und Humboldt, und Lottens Nachlaß darin aufzunehmen, ginge es dann 
nicht wenigſtens an, die Heinen, aber zum Theil hochwichtigen Gorrefpondenzen, 
die mit Schlegel, mit Herder, mit den Mitarbeitern der Horen u. ſ. w. an ber 
betreffenden Stelle einzujchalten? Man hätte dann doch wenigjtens den Haupt- 
ſtamm beifammen, während jetzt Vieles blos in Journalen fteht. Bis das aber 
geichieht, ſollte wenigſtens dahin gearbeitet werden, das Orientiren möglich zu 
machen. Die vorliegende Sammlung ift nach dem allein richtigen Princip ge- 
ordnet, nach dem ftreng chronologiſchen, dagegen ift Lottens Nachlaß, der uns 
über jo Vieles aufklärt und an fich jelbft jo höchſt anziehend ift, nach Abſendern 
und Empfängern rubricirt, To daß ein lebendiges Bild daraus nicht hervorgeht. 
Don diefem Buch wird doch auch einmal eine neue Auflage fommen; ich möchte 
dringend empfehlen, fie chronologiſch einzurichten. 

Der langjame Abjah der Körner'ſchen Briefe bringt mich noch auf einen 
andern Gedanken. 

Schiller ift ohne Zweifel von unſern Dichtern der populärfte, und doch ver- 
rathen die Vorftellungen, die von ihm im Publicum umgehn, eine höchſt unvoll- 
fommene Kenntniß deffelben. Diejer Icheinbare Widerjpruch hebt fich, wenn wir 
den Grund feiner Popularität unterjuchen, 

Von feinem unjerer Dichter wiſſen wir jo viel auswendig: Balladen, Elegien, 
Sinngedihte, Monologe aus den Trauerfpielen und andere ſchöne Stellen, von 
der gedankenvollen Sentenz bis zu den „ichönen Tagen von Aranjuez“ herunter; 
das Alles haben wir ſchon auf der Schule gelernt und vergefjen e8 nie wieder. 

Den Lehrern ift es erfreulich, ihren Knaben und Mädchen einen Claſſiker 
vorzulegen, in welchem durch jernelle Motive fein Anftoß gegeben wird — was 
in den ältern Stüden und Gedichten davon vorkommt, hat für die Jugend feine 
Gefahr, da es fie nicht anſpricht. Für die Jugend jelbft, namentlich) in der 
Periode des Uebergangs, ift die Sprache feines Dichters jo wohlgefällig, ala die 
jeinige: ein prachtvoller Klang, großer Schwung der Rede, ein Schaf von Ge- 
danken und Bildern, die ſich ſchnell einprägen und deren Verftändniß im Ganzen 
feine Schwierigkeit macht; was in den Gedichten der „dritten Periode” etwa 
dunfel bleibt, eignet ſich vortrefflich zur Interpretation in der Secunda und 
Prima, und hat nebenbei den Nußen, den philologiſchen Wortſchatz zu bereichern. 

So ift Schiller dem Jüngling, der zur Univerfität tritt, wie auch der 
Jungfrau im entjprechenden Alter jcheinbar ein gefichertes Eigenthum. In 
ſpätern Jahren wird er verhältnigmäßig wenig mehr gelefen; warum follte man 
immer wieder von Neuem lejen, was man auswendig weiß? So bleibt von 
dem Dichter das Bild in der Seele haften, welches man ſich ala Knabe gemacht. 


Schiller in jeinen Briefen. 389 


Es ift das kein jchlechtes Bild; der Knabeninſtinct trifft eben jo oft das Rich— 
tige, als die Neflerion des Alters. Aber es iſt einjeitig und unvolljtändig, und 
gerade ein Dichter, der mit jo unendlicher Anftrengung an feiner Bildung gear- 
beitet hat, würde oft richtiger gewürdigt werden, wenn er einem reiferen umd 
gebildeteren Alter friich und neu entgegenträte. Dieje Snabeneindrüde werden 
verjtärft durch eine weit verbreitete Tendenzliteratur, die Schiller hauptſächlich 
als Autorität für ihre eigenen Wünſche benußt. Zu Sciller’3 bekannteften 
Gedichten gehören außer der „Glocke“ die „Drei Worte des Glaubens“: Freiheit, 
Tugend und Gott; auf Gott wird in der Regel weniger Gewicht gelegt, dafür 
nimmt man aus der Anrede Bertha's an Rudenz: „An's Vaterland, an's theure, 
ſchließ' dich an!“ das Vaterland, und aus dem Gedicht „Die Jdeale“ die Ueber— 
ſchrift. So ift denn Schiller der Dichter der Freiheit, der Tugend, des Vater: 
lands und des deals, und nad) diefer Schablone wird nicht blos feine poetifche 
Entwidlung, jondern fein ganzes Leben zurecht gelegt: wenn man über ihn redet, 
hält es ſchwer, nicht in’3 Erbauliche zu fallen. 

Nun ift die Erbauung ein volllommen berechtigte Gorrectiv des gedanfen- 
lojen Alltagslebens, aber fie ift unfähig, ein jprechendes Bild zu geben; wenn 
fie zu zeichnen verſucht, jo bringt fie es nur zu nichtsjagenden Modellgefichtern. 
Schiller ift aber ein jehr bedeutender, ein jehr jprechender Charaftertopf, von 
ganz auferordentlicher Realität und gar nicht geeignet zu Modekupfern aus dem 
Handgelent. 

Gerade in dieſer Beziehung ift der Briefwechiel mit Körner jo unſchätzbar, 
ja id) möchte jagen, er fteht einzig da in umjerer Literatur. Zwanzig Jahre 
unausgeſetzter Freundſchaft und angeftrengten Gedankenverkehrs, — man bedente, 
was das jagen will! Schon die Ausführlichkeit der Schiller'ſchen Briefe ift 
wichtig, die Hauptſache aber ift, daß fie im Gegenſatz gegen die meiften Correſpon⸗ 
denzen jener Zeit fich nicht an Iuftige Dinge halten, jondern einen jehr realen 
Inhalt bieten. Schiller erzählt im Detail, was ihm widerfährt, den Eindrud, 
welchen die verichiedenen bedeutenden Menichen auf ihn machen; er ift von einer 
iharfen, Mugen, man möchte jagen jchlauen Beobachtung. Freilich täufcht er 
fi) mitunter, da er den erften Eindrud zu ſchnell firirt, aber er ift von diefem 
erſten Eindrud durchaus nicht abhängig, er weiß ihn ftetö zu ergänzen und zu 
corrigiren. Er ift gegen Körner von einer Aufrichtigkeit, die in feinen übrigen 
Gorreipondenzen, auch in der mit Goethe, nur in viel geringerem Grabe anzu= 
treffen ift. Goethe gegenüber hat er feine beftimmten Rejerven, auch in der Zeit 
ihrer engften Freundſchaft zieht er es doch vor, ſich ihm im Gejellichaftätleid 
zu zeigen; Körner zeigt er ſich volllommen wie er ift, mit dem reinften Vertrauen, 
immer richtig verftanden zu werden. Das einzige Mal, wo er zurüd hält, bei 
Gelegenheit feiner Heirath, hatte er vollen Grund dazu. 

Der Herausgeber der neuen Auflage bemerkt, er würde Schiller mehrfach 
das Wort entzogen haben, wenn er mit der erſten Auflage betraut geweſen wäre. 
Es ift doch gut, daß das nicht geichehen ift, denn der Hauptwerth diejer Briefe 
liegt in ihrer unbedingten Aufrichtigkeit, und für Leſer, die ſich nicht an einzelne 
Stellen Hemmen, jondern den großen Zug des Ganzen überjehen, ift bei Schiller 
eine Ausgabe in usum Delphini nicht nöthig. 


390 Deutſche Rundſchau. 


Als Goethe's Taſſo erſchien, ſchrieb Huber an Körner, das Original dieſes 
poetiſchen Gemäldes ſei ihm doppelt gegenwärtig, in Rouſſeau und in noch 
Einem. Diefer „no Eine” ift Schiller. Die Bemerkung trifft, wenn man fie 
nur auf Schiller’3 Jugend bezieht; fie paßt aber gar nicht auf fein Mannesalter. 
Das Eigenthümliche in der krankhaften Richtung Rouffeau’s, wie fie Goethe im 
„Taſſo“ vollkommen correct wiedergibt, Liegt darin, daß fie mit reiferer Bildung 
nicht aufhörte, ſondern ſich fteigerte, und alle Erjcheinungen des ſogenannten 
BVerfolgungswahnfinns zeigte. In Schiller’3 Jugend wird fie durch die äußere 
Lage erklärt und bedingt, und hört volllommen auf, jobald dieje Lage bejeitigt 
if. Man kann fi) kaum einen Menjchen vorftellen, der dem Weltganzen mit 
größerer Heiterkeit gegenüberftände, ala Schiller in feinen reiferen Jahren. Auch 
darum ift e8 wichtig, die verjchiedenen Perioden feines Lebens ſcharf zu ſondern. 

Schiller jelbft bietet dazu den beften Anhalt durch die Eintheilung feiner 
lyriſchen Gedichte nach drei Perioden. Daß er die erfte mit 1785 ſchließt, mit 
der Abreife au Mannheim nad) Leipzig, ergibt ſich von jelbft; bemerkenswerther 
ift, daß er die zweite bis 1795 ausdehnt, da man auf den erſten Blick annehmen 
follte, die Neberfiedlung von Dresden nad) Weimar hätte Epoche gemadt. Auf 
den erſten Blick jcheinen die „Götter Griechenlands” und die „Künftler” ſchärfer 
gegen das „Lied an die Freude“ und die „Refignation“ abzuftechen, ala gegen 
die „Ideale“, den „Spaziergang“ u. ſ. w. Aber Schiller hat im Großen und 
Ganzen volllommen vet; die zweite Periode feiner Entwidlung begann in 
der That mit feiner Abreife aus Mannheim und jchloß mit der Eroberung 
Goethe’3, deffen Freundſchaft feinem Leben zuerft ‚den feften Halt und Mittel- 
punft gab. | 

In der erften Periode geht er gleihjam bewußtlos in leidenſchaftlichem 
Schaffen auf der Bahn, die fein Talent ihm anwies; die Periode ſchließt mit 
dem Zweifel an feinem Zalent. Nun folgen zehn Jahre eines raftlojen, ange— 
ftrengten Suchens und Orientirens, eine Streben nad) innerem Glauben und 
nad äußerer Anerkennung, bis endlich Goethe’3 Freundſchaft ihm Brief und 
Siegel für feinen Werth wird. Er hatte im Zweifel an feinem poetifchen Genius 
fih mit Philojophie und Geſchichte eingelaffen, in Goethe's Spiegel jah er nun, 
daß er von Natur ein Dichter ſei. 

Ich würde noch eine vierte Periode annehmen, die Schiller jelbft, mitten 
im Uebergang, nicht bemerken konnte: die Zeit, two er auch gegen Goethe eine 
jelbftftändige Stellung gewann, two er durch den Wallenftein, wenn auch nur in 
einer beftimmten Gattung, ſich ihm ebenbürtig erachten konnte. 

Die Folge diefer Perioden wird durch einen Grundtrieb im Leben Schiller'3 
bedingt, der fi) mehr oder minder im Scidjal aller ftrebjamen Menſchen nach— 
weijen läßt: es ift der Trieb, der in Hegel’3 „Philofophie der Gedichte“ unter 
der Bezeihnung „Kampf um Anerkennung“ eine große Rolle fpielt, den man 
neuerdings nad) Darivin roher den „Kampf um’3 Dafein“ nennt. Von unjern 
hervorragenden Schriftjtellern zeigt er fi) am geringften bei Goethe, am ſtärkſten 
bei Schiller; und wenn Schiller einmal in einem Augenblid des Grolls ſich 
darüber beflagt, wie leicht Goethe „vom Geſchick getragen“ jei, jo hatte er zu 
diefem bittern Vergleich allen Grund. 


Schiller in feinen Briefen, 391 


Freilich hatte er Eins gemeinfam mit Goethe: feine Perfönlichkeit war von 
einem ungemeinen Zauber. Dafür haben wir vollgültige Zeugniffe auch aus 
den früheren Perioden: wir haben Streiher, Wolzogen, Reinwald, Körner, 
Huber, wir haben Humboldt, Hölderlin und Novalis. Die Leidenjchaftliche 
Hingebung der drei Lebtern ift jehr bezeichnend, da fie dem Dichter in einer 
Zeit begegnete, two er noch durchaus nicht fertig war, und da fie nicht ſehr 
warm exwidert wurde. Schiller zog gewaltig an, auch wo er nicht daran dachte. 

Der Kampf um Anerkennung tritt am ftärfften in der erften Periode hervor, 
weil er da am einfachften ift; in der zweiten wird er mehr zurücd gehalten, er 
ift aber eigentlich noch intenfiver: in der erften ift Schiller von der Macht jeines 
Genius jo ſtark durchdrungen, wie kaum fonft ein Dichter in feinen Jahren, in 
der zweiten ift er irre daran geiworden. 

Goethe hatte in jeiner Jugend eine äußere Anerkennung nicht nöthig, weil 
er in dem Kreiſe, dem er angehörte, kaum etwas vermißte. In Frankfurt ge 
hört feine Familie zu den Honoratioren, oder, was in der bürgerlichen Stadt 
daſſelbe jagen wollte, zur Ariftofratie,; al3 junger Mann von Stande tritt er 
ohne erhebliche Anftrengung auch in Leipzig, Straßburg und Wehlar auf. Es 
macht ihm zuweilen Spaß, ſich al3 armen Schluder zu verkleiden, weil das jo 
außerordentlich; lächerlich ausſah. In Weimar intriguirt zwar das abdelige 
Beamtenthum gegen ihn, aber er nimmt das nicht ſchwer, weil er feiner ganzen 
geſellſchaftlichen Stellung nad) von oben auf dieje Fachleute herabjah. Er ift 
ganz verwundert, al3 man dem wirklichen Geheimrath aud) noch ein Adelsdiplom 
geben zu müſſen meint, er hatte feine Ahnung gehabt, daß ihm noch etwas fehle. 

Bei Schiller war der Geldmangel in jeiner Jugend das wenigſte: er hatte 
das ftarke Gefühl, daß er eigentlich berufen jei, zur Ariftofratie der Welt zu 
gehören; und daß er in der That nicht dazu gehörte, machte fich ihm nur zu 
fühlbar. Er hat für feine Familie fein Leben hindurch treue und rührende An- 
bänglichkeit bewahrt, aber e8 konnte ihm nicht entgehen, daß ihre Formen nicht 
die Formen der feinen Welt waren: es war in der feinen Welt nicht mehr Sitte, 
daß der Bater den Sohn mit „er“ anrebete. Der Vater war Dienftmann eines 
Despoten — es ift recht unhiſtoriſch, daß man neuerdings den „alten Herodes“ 
bat „retten“ wollen. Er jelbft, der folge Jüngling, war verpflichtet, alljährlich 
vor diefem Despoten in Reimen niederzufnieen und jeinen unterthänigen Dant 
für gnädige Fürſorge abzuftatten. Als er ſich endlich diefem Drud entzieht, 
fommt ex in die zweideutige Gejellichaft der Schaufpieler und wird als Jhres- 
gleichen behandelt. Seine Schwefter verlobt ſich wider feinen Willen mit feinem 
bypochondriichen Freunde Reinwald, der nicht blos unbemittelt war, fondern 
deſſen Schweiter ala Kammerjungfer in Weimar diente — Alles Nadelſtiche für 
ein ſtolzes Gemüth. Dan würde e8 leicht begreifen, wenn Schiller in Folge 
deſſen eine demagogifche Stellung gegen die herrjchende Ariftofratie eingenommen 
hätte, ungefähr wie Voß und Bürger; man bat es auch zuweilen jo aufgefaßt, 
und ben Dichter des Carl Moor, des Verrina, der Luife Millerin und bes 
Marquis Poja für einen Demokraten angejehen. Schiller ift das aber nie ge- 
weſen; er hat nie die Welt nad dem Syſtem der Freiheit verändern wollen, 
er wollte nur für fi) den Plab gewinnen, wo er dem Gemeinen entzogen wäre. 


392 Deutiche Rundichau. 


Er ging, wie ex fich bei Gelegenheit der Jenenſer Profeffur ausdrückt, auf „eine 
gewiſſe Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung“, auf eine geordnete und acceptirte 
Stellung in der Gejellihaft aus; es ift rührend, wie ex jedes Zeichen der An 
erfennung auf fich wirken läßt, wie er davon zehrt: die Aufnahme in die Kur— 
pfälziihe Gejellichaft, der weimarifche Rathötitel, der Verkehr mit den adeligen 
Familien Wolzogen, Kalb, Lengefeld, Arnim. Den ablehnenden Stolz des 
Bürgerd dem Adel gegenüber Hatte er nicht; fein ſpäteres Adelsdiplom war 
ihm nicht äußerlich aufgedrungen. Es zu wünfchen, Hatte er freilih Grund, 
den er geradezu ausſpricht: jeine Schwägerin nahm eine der erften Stellen bei 
Hofe ein, feine Frau hatte die Hoffähigkeit verloren; er glaubte fich ſchuldig, fie 
ihr wieder zu ſchaffen. 

Wie verträgt fi) das nun aber mit der allgemein angenommenen bemo- 
fratijchen Tendenz jeiner erften Stüde? 

Selten hat ein Dichter mit fo ficherem Inſtinct glei beim erften Griff 
die Sphäre gefunden, die ihm zufam. Schiller war der geborene dramatijche 
Dichter; aus feinem Stüd erkennt man es jo ficher, ald aus den Räubern, jo 
niedrig die Stufe der Bildung ift, die e3 einnimmt. Die Räuber beginnen für 
Deutjchland eine neue Gattung. Die beiden Stüde, die kurz vorher die deutſche 
Bühne bewegt und die Verjuche der andern dramatiſchen Dichter beftimmt Hatten, 
Emilia Galotti und Clavigo, hatten faſt gar nit auf Schiller eingewirkt, 
höchſtens hatte er einige Motive daraus genommen. Das Charakteriftiiche der 
beiden Stüde, namentlich der Emilia, ift in theatralifcher Rüdficht die Sorgfalt, 
mit der die Folge aller einzelnen Scenen motivirt wird. Man erfährt bei 
jedem Auftritt, wie es zugeht; e8 wird erklärt, warum die eine und die andere 
Perjon gerade an den Ort fommt; im Glavigo wird fogar ertvogen, wie Clavigo 
auf jeiner Flucht bei Mtariens Haus vorbei fommen fonnte. Gegen dieje Moti- 
virung verhält ſich Schiller völlig gleichgültig, wo er die Perjonen gerade 
braucht, da hat er fie; es fommt ihm nicht darauf an, eine verfleidete Räuber- 
bande aus den böhmiſchen Wäldern nad) Franken marjchiren zu laſſen. Diefe 
Nichtachtung der äußeren Wahrjcheinlichkeit ift nicht etwa eine Schwäche des 
dramatifchen Dichters, fie ift nothiwendig zum kühneren Schwung de3 Dramas. 

Das pofitiv Neue nun, auch der Sturm- und Drangzeit gegenüber, lag in 
der gewaltigen Bewegung der Maffen und in dem langen Athem der theatrali- 
ſchen Spannung. Gewöhnlich gelingt dem talentvollen Anfänger die Erpofition;, 
diefe ift bei Schiller ganz ſchwach, dagegen find die beiden letzten Acte der 
Räuber, theatralifch betrachtet, ein Meifterftiid. 

Reife und Tiefe der Charakteriftit wird man von einem unerfahrenen jungen 
Mann nicht erwarten; jehr bezeichnend aber für Schiller, den man den fubjec- 
tiven Dichter zu nennen pflegt, ift, daß er jeine Helden nicht von Innen heraus 
gearbeitet hat. 

Faſt überall, wo man ſich über eine Eigenthümlichkeit Schiller’3 im Leben 
oder in der Dichtung durch Vergleihung zu verftändigen ſucht, ſtößt man auf 
Goethe. Sp aud) hier. 

Goethe Hat, jo weit wir jeine Arbeit controlliven können, überall eine 
äußerlich ihm gegebene Darftellung zu Grunde gelegt und fie zum Theil recht 


Schiller in feinen Briefen. 393 


reichlich benußt: jo im Götz die Selbftbiographie de3 Helden, im Clavigo das 
Memorial de Beaumardais, im Werther die Relation Keſtner's über den Tod 
Serufalem’3 u. ſ. w. Aber überall, wo e3 auf das Gharafterifiren und Mo— 
- tiviren anlam, bat er feine eigenen Erfahrungen zu Rathe gezogen: ex hat eigene 
Erlebniffe eingetwebt und jedem jeiner Helden etwas vom eigenen Fleiſch und 
Blut gegeben. Nehmen wir die ganze Reihe feiner Helden zulammen, und wohl- 
gemerkt auch immer die entgegengejeßten Pole, aljo Elavigo und Carlos, Werther 
und Wilhelm Meifter, Wilhelm Meifter und den Oheim, Tafjo und Antonio, 
und jo fort, jo haben wir wenigjtens eine ungefähre Vorftellung von der Natur 
des Dichterd überhaupt. Zuweilen, 3. B. bei Gelegenheit des Tafjo, bemerkt 
er, daß er vielleicht zu viel von jeinem Herzblut darin transfundirt habe. Dar- 
aus ergibt fich eine gewiſſe Verwandtichaft unter den ſämmtlichen Goethe’jchen 
Helden. 

Wie machte e8 nun Schiller? — An einen äußerlich gegebenen Stoff hielt et 
ſich gleichfalls. Für die Räuber ift neuerdings eine Kleine Erzählung ala Quelle 
nachgewieſen; die Novellen, welche dem Fiesco und Don Carlos zu Grunde liegen, 
bat er jelber angegeben. — Wie fteht e8 aber mit der Motivirung und den 
Charakteren? Eine ftarke Yyamilienähnlichkeit tritt unter jeinen Helden aller- 
dings hervor, und zwar merkiwürdigerweile eine Yamilienähnlichkeit mit den 
Goethe'ſchen Helden. Man hat im Fiesco die Beziehung zur Julia getadelt, bie 
in der That aus dem Rahmen der Handlung herauszutreten Scheint, und Schiller 
ſelbſt hat fich nachträglich gewiffermaßen gerechtfertigt, indem Fiesco zum Schluß 
erklärt, er habe die ganze Poſſe nur geipielt, um die Doria ficher zu machen. 
Fiesco wird bei der Gelegenheit nicht blos ungalant, jondern geradezu ungenteel. 
Aber manche ſehr bezeichnende Stellen widerſprechen dieſer nadhträglichen Recht— 
fertigung, und wer den Gang der Handlung mit Aufmerkſamkeit verfolgt, muß 
einſehen, daß die Doppelleidenſchaft zu Julia und zu Leonore urſprünglich ein 
weſentliches Charaktermerkmal des Helden ſein ſollte. Rouſſeau, den Schiller 
in ſeiner Jugend ſehr viel las, ſagt vom Plutarch, er habe darum ſo herrliche 
Biographien geſchrieben, weil er keine halbgroßen Menſchen wählte, ſondern 
große, tugendhafte und erhabene Verbrecher. „In der neuern Geſchichte,“ ſetzt 
Rouſſeau hinzu, „gab es einen Mann, der ſeinen Pinſel verdient: Fiesco.“ 
Schiller ſelbſt ſchreibt in ſeiner mediciniſchen Probeſchrift, ein Jahr vor Ab— 
ſchluß der Räuber: „Zerrüttungen im Körper können den ſchlimmſten Leiden— 
ſchaften den Weg bahnen. Catilina war ein Wollüſtling, ehe er Mordbrenner 
wurde, und Doria hatte ſich gewaltig geirrt, wenn er den wollüſtigen Fiesco 
nicht fürchten zu dürfen glaubte.“ 

Gehen wir von dieſem Geſichtspunkt aus, ſo finden wir auch in den übrigen 
Stücken ähnliche Anläufe. So in „Cabale und Liebe“ die Scene zwiſchen der 
Lady und Ferdinand. Er bekennt ſeiner Luiſe ſpäter, er habe einen Augenblick 
geſchwankt, und die Lady ſelbſt, die zuerſt als ganz laſterhaftes Weib geſchildert 
wird, erhebt ſich bei der Umklehr, wenigſtens in den Augen des Dichters, zu 
einer wahrhaft antiken Größe. In der erften Anlage des Don Carlos, wo 
von Poja noch gar nicht, von Politif wenig die Rede war, fpielte die Eboli eine 
viel bedeutendere Rolle, das leidenichaftliche Verhältniß zur Stiefmutter war 


394 Deutſche Rundſchau. 


ſtärker accentuirt, und die Briefe an Reinwald verrathen, wie innig Schiller 
den leidenſchaftlichen Jüngling, den er beſang, in ſein Herz geſchloſſen hatte. 

In den Räubern beſchämt Franz Moor ſeinen Vater wegen ſeiner früheren 
Vorliebe für Carl: „Der feurige Geiſt, der in dem Buben lodert, jagtet Ihr 
immer, der ihn für jeden Reiz von Größe und Schönheit ſo empfindlich macht, 
dieſe Offenheit, die ſeine Seele aus dem Auge ſpiegelt, dieſe Weichheit des Ge— 
fühls, die ihn bei jedem Leiden in weinende Sympathie dahin ſchmelzt .... 
werden ihn bdereinft zu einem großen, großen Manne machen!” u. ſ. w. Es 
ift grade, ala ob von einem Goethe’jchen Helden die Rede wäre, von Clavigo, 
von Grugantino u. ſ. w. 

In der Vorrede erklärt fih Schiller noch weiter darüber. „Ein Geift, den 
da3 äußerfte Lafter nur reizt um der Größe willen, die ihm anhängt, um der 
Kraft willen, die es erheiſcht, um der Gefahren willen, die e3 begleiten, ein 
erfwürdiger wichtiger Menſch, ausgeftattet mit aller Kraft, nad) der Richtung, 
die dieje befommt, nothwendig entweder ein Brutus oder ein Catilina zu werden. 
Unglüdliche Conjuncturen entjcheiden für das zweite, und erſt am Ende einer 
ungeheuern Berirrung gelangt er zu dem erften. Falſche Begriffe von Thätigkeit 
und Einfluß, Fülle oder Kraft, die alle Geſetze überjprudelt, mußten fih an 
bürgerlichen Berhältniffen zerſchlagen, und zu diefem enthufiaftiichen Träumen von 
Größe und Wirkfamkeit durfte fi) nur eine Bitterfeit gegen die unidealijche 
Welt gejellen, jo war der jeltjame Don Quichote fertig, den wir im Räuber 
Moor verabjcheuen und lieben, beivundern und bedauern“. 

Schiller rechtfertigt fich, daß er diefen Charakter auch von Seiten feiner 
glänzenden Eigenſchaften gezeigt hat. „Auch dem Kafterhafteften ift gewifjer- 
maßen der Stempel de3 göttlichen Ebenbilds aufgedrückt, und vielleiht hat der 
große Böjewicht feinen jo weiten Weg zum Rechtſchaffnen als der Kleine, denn 
die Moralität hält gleiden Gang mit den Kräften.... Wenn e3 mir darum 
zu thun ift, ganze Menſchen Hinzuftellen, jo muß ich auch ihre Bolllommen- 
heiten mitnehmen, die auch dem böjeften nie ganz fehlen. Auch ift ein Menſch, 
der ganz Bosheit ift, jchlechterdings Fein Gegenftand der Kunft, und äußert 
eine zurüdjtoßende Kraft, ftatt daß er die Aufmerkfamkeit der Lefer feſſeln jollte; 
man würde umblättern, wenn er redet: eine edle Seele erträgt jo wenig an— 
haltende moraliſche Difjonanzen, als das Ohr das Gekritzel eines Meſſers 
auf Glas.“ 

Es ift merkwürdig, daß diefe Stelle grade in der Vorrede zu den Räubern 
fteht, wo Schiller den ?yehler, den er rügt, in der Zeichnung des Franz in 
einem höheren Grade begangen hatte, al3 je ein Dichter vor oder nah ihm. 
Das Fehlerhafte liegt in noch etwas Anderem. Dean hat von Goethe bemerft, 
daß er feine rechten Böjewichte zu zeichnen wiſſe: auch jeinem Carlos, feinem 
Mephiftopheles, feiner Adelheid, feinem Alba hat er Züge feines eigenen Innern 
geliehen, er hat den Gaufalnerus ihrer Gedanken und Empfindungen fich jelbft 
und Andern verftändlich gemacht und damit bis zu einem gewiffen Grade ihre 
Paradorie (das Böje ift für die Betrachtung immer parador) aufgehoben. Davon 
ift bei Schiller nicht die MRede, weder m Franz no in Nurm, noch im Prä— 
fidenten, nod in irgend einem Bü der ältere: te, Daraus ent: 


Zn 


Schiller in feinen Briefen. 395 


fpringt dramatiih das Mißverhältniß, daß er fich die Operation ihres Geiftes 
nur mit dem Verſtande zurechtmachen kann, daß er fie nicht nachfühlt, und jo 
haben alle dieje Figuren etwas Inlebendiges. 

Bei den eigentlichen Helden dagegen ift augenſcheinlich, daß Schiller ihren 
Charakter im gewiſſen Sinn al3 feinen eigenen empfand. Er beichreibt fi 
wiederholt in der Art, und noch in Weimar äußert er einmal über Reinhold, 
diejer könne nie fein freund fein: er könne nur folche lieben, die Anlage zum 
großen Verbrecher, zum großen Helden oder auch zu beiden Haben. 

Nun ift e8 allerdings ein mißliches Geſchäft, auch bei Menjchen, die man 
fehr genau kennt, den eigentlichen Kern des Weſens ergründen zu wollen. Bei 
Schiller aber liegen die entjcheidenden Charakterzüge jo auf der Hand, daß ich die 
Behauptung wage, er habe fich über fich jelbft getäufcht. Dom Räuberhauptmann 
ganz zu jchiveigen, er hatte auch nicht die geringfte Anlage, ein „Libertiner“, 
mit andern Worten ein Vagabund zu werden. Bei feinem unſerer Dichter 
ſpricht ſich das Bedürfniß nad einer rangirten Eriftenz jo entichieden aus, ala 
bei Schiller: er will von der Welt acceptirt fein, und geichieht e8 nicht beim 
erften Wurf, jo verliert er nicht die Geduld, jondern verjucht ben zweiten. 

Ich glaube nicht, daß er von ftarken Leidenichaften war. Don Käthchen 
Baumann und Henriette von Arnim wiſſen wir wenig, dagegen können wir 
da3 Berhältnig zu rau von Kalb aus dem, was wir ſonſt über diefe Dame 
willen, mit vollkommener Sicherheit conftruiren, und Schiller’ 3 Ausſpruch in 
einem Brief an fie aus dem Jahre 1799, da3 Verhältniß fei ein reines und 
ſchönes gewejen, unbedingt befräftigen. Man hat die „Tyreigeifterei der Leiden- 
ſchaft“ auf dies Verhältnig gedeutet: ficher ift es Schiller nie im Traum ein- 
gefallen, den guten Kalb umbringen zu wollen, mit dem er vielmehr recht leidlich 
ftand, wie aud) mit Beulwiß, dem Gatten feiner andern Freundin Caroline; 
er machte wiederholt den Vermittler. 

Bei vielen Dichtern jener Zeit, jo bei Goethe und Lejfing, finden wir eine 
entjchiedene Heirathsſcheu; es ift ihnen läftig, ſich zu binden, fie wollen nicht 
genirt fein. Schiller, jobald er Neigung fühlt, ift jofort mit einem Heiraths— 
antrag bei der Hand: bei Lotte Wolzogen, bei Margarethe Schwan, ich glaube 
auch bei Fräulein von Arnim; das einzige Mißverhältnig mit Körner geht 
daraus hervor, daß er es für abjolut nothwendig erklärt, zu heirathen, und daß 
Körner das nicht zugeben will. Eben dreißig Jahre alt, heirathet er: wir haben 
allen Grund, feine Wahl für eine glüdlihe zu halten. Seitdem kommt aber 
auch nicht mehr die leiſeſte Spur irgend einer Herzensirrung vor, wovon man 
bei der unbedingten Publicität der Weimarer Zuftände gewiß gehört haben würde; 
er lebt nur mit jeiner Lotte, die ihn, beiläufig gejagt, nicht übertrieben be- 
ihäftigt, und die andern Damen müſſen fi mit dem bejcheidenen Plab be- 
gnügen, der einer quten yreundin zulommt. Wenn überhaupt ein Inductions— 
ſchluß geftattet ift, jo darf man wol behaupten, daß die Leidenſchaftlichkeit nad) 
diefer Richtung hin bei Schiller nicht ſtark entwidelt war. Im 36. Jahre erklärte 
er für das letzte und bleibendfte jeiner Ideale die Freundſchaft und die „Beichäf- 
tigung, die nie ermattet”. Er war fein Fiesco. 

Diefer Umftand ift für Schiller's Verftändnif darum von Wichtigkeit, weil 


396 Deutſche Rundichau. 


er die innern Widerfprüche feiner dramatiichen Helden erklärt. Ich glaube, es 
war Kuno Fiſcher, der zuerst die Bemerkung machte, Schiller’3 Helden jeien 
nicht das, wofür fie ſich halten: fie rühmen fich eines concentrirten Willens und 
find im Grunde weiche Gefühlamenjchen. 

Nun pflegt man aber zu jagen, da3 wirkliche Innere diefer Stüde ſei viel- 
mehr die allgemeine Tendenz gegen die beftehenden jchlechten Einrichtungen Der 
Geſellſchaft. Dies jcheint in der That in dem Inhalt der Stüde zu liegen, 
wie auch in der Vignette: ein aufbäumender Löwe mit dem Motto: in tyrannos! 
der Spruch de3 Hippofrates, daß man durch Eifen und Teuer heilen müffe, was 
duch Medicin nicht geheilt würde, die Aufzählung des Räuber? Moor vor 
feinen Mordthaten, an ſchändlichen Großen begangen; die Erzählung des Ko— 
ſinsky, die republifanifchen Theorien im Fiesco, die in Cabale und Liebe ge— 
ſchilderte Schandwirthichaft, der ſpaniſche Despotismus mit feinen Beichtvätern 
und Henfern. Es ift auch fein Zweifel, daß Schiller dieſe Uebelftände lebhaft 
empfand: die Kritik derjelben ift aber keineswegs da3 Motiv feines dramatiſchen 
Schaffens. Er ift Dramatiker sang pur, er will große Wirkungen erzielen, dazu 
jucht er ergreifende Begebenheiten, blendende Figuren und fittliche Motive, die 
fih in ihrer Wirkſamkeit bereit3 erprobt haben. Die Anklagen gegen Präfidenten, 
Schranzen und Hofmarſchälle, gegen Beichtväter, Yeluiten und Henker waren 
jeit der Sturm- und Drangzeit, eigentlich) Tann man jagen jeit Emilia Galotti, 
ein ftehendes und wirkſames Theater- Motiv. Es war auch nicht gerade die 
wirkliche Einrichtung der Geſellſchaft, die Schiller anfocht. „Ueber die verfluchte 
Ungleichheit in der Welt! das Geld verroftet in den Kiften ausgedörrter Pickel: 
häringe, und Mangel muß Blei an die kühnſten Begierden des Jünglings legen... 
Das Gejeh hat noch feinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit ſpringt über 
die Palliaden des Herkommens und brütet Colofje und Extremitäten auß.... 
Ich weiß nicht, Morik, ob Du den Milton gelefen haft? Jener, der es nicht 
dulden konnte, daß einer über ihm war, und fi) anmaßte, den Allmäcdhtigen 
vor feine Klinge zu fordern, war er nicht ein ausgezeichnetes Genie?... Wer 
möchte nicht lieber im Badofen Belials braten mit Borgia und Gatilina, als 
mit jedem Alltagsejel da droben zu Tiſche ſitzen?“ Dieje Stellen find jpäter 
geftrichen, aber was übrig geblieben ift, geht genau nad derjelben Richtung. 
Es ift durchaus feine Kritik der fittlichen Zuftände Deutichlands aus der Zeit 
des fiebenjährigen Krieges, Fein Revolutionsplan mit reformatoriſchen Zwecken. 

Im Fiesco ift zwar viel von republifanifcher Freiheit die Nede, aber die 
Republifaner wie Galcagno und Sacco werden in ihren Motiven lächerlich ge— 
macht, Verrina kehrt jchließlich zum Andreas zurück, und die eigentliche Tendenz 
ift doch, zu zeigen, daß Fiesco troß feiner Wolluft furchtbar, troß feiner Hoch— 
herzigkeit der gefährlichfte Despot iſt. „Mein Verhältniß mit der bürgerlichen 
Melt,“ heißt e8 in der Vorrede, „machte mich mit dem Herzen bekannter als 
mit dem Gabinet, und vielleicht ift eben diefe politiihe Schwäche zu einer 
poetifchen Tugend geworden.“ Nachher meinte er, das Publicum würde einen 
andern Ausgang vorziehen; er brach feiner ganzen Tendenz die Spite ab, ließ 
Fiesco mit einer edlen Entjagung enden, Bertha wird nicht geſchändet, Leonore 
bleibt am Leben, jelbft der Mohr entwijcht. Ich wiederhole: die Tyrannen, die 








Schiller in feinen Briefen. 397 


Republikaner, die Präfidenten und Hofräthe waren nicht der Zweck, der dem 
Dichter die Feder in die Hand gab, ein Drama zu jchreiben, jondern fie waren 
da3 erprobte Mittel, dramatiiche Wirkungen zu erzielen. 

DVielleiht wird man jagen: wenn Schiller fi nicht im Näuber Moor, 
Fiesco, im Ferdinand, Walther abgejhildert hat, jo entſchädigen dafiir jpätere 
Figuren, etwa Marquis Poſa und Mar Piccolomini; damit haben wir den 
vollfommenen Freiheitshelden ſowie den tugendhaften Idealiſten. 

Ich will darauf fein großes Gewicht legen, daß Poſa erft nachträglich ein- 
geihoben ift, daß der urjprüngliche Held und Liebling des Dichters Don Carlos 
war; das hätte ſich im Laufe der Jahre ändern können. Es ſteckt allerdings etwas 
von Schiller in Poja, aber gerade das verwirrt den dramatifchen Charakter, wie 
er ihn ſich gedacht Hat. 

Man erinnere fi an die berühmte Unterredung mit König Philipp. Im 
Laufe des Geſprächs kommt der König auf den Verdacht, daß es Poſa mit den 
Proteftanten, mit den Neuerern überhaupt halte. Dieſen Vorwurf lehnt Pofa 
auf das entichiedenfte ab. Er habe mit diejen Leuten nichts zu jchaffen, „das 
Jahrhundert ift meinem deal nicht reif, ich lebe ein Bürger derer, die da 
fommen werden.“ Das war im Munde Poja’s, der eben den Aufftand in den 
Niederlanden anſchürte, eine ausgemachte Lüge, und zwar eine Lüge unter 
erſchwerenden Umftänden: einen Tyrannen, den man ftürgen will, über That- 
ſachen zu betrügen, ift erlaubt, aber ihm, dem Vertrauenden, ein Gefühl zu heucheln, 
das bringt in das Bild einen Zug, den der Dichter nicht gewollt hat. Auch in 
der ausführlichen Selbftkritik ift ihm diefer Widerfpruch entgangen. Woher fommt 
da3? — Der hier ſpricht, iſt nicht Poja, ſondern Schiller, der jpätere Dichter 
der „Künftler“, der jpätere Briefichreiber über die äfthetijche Erziehung. Das waren 
jeine wirklichen Grundjäße: er hielt jede gewaltjame Staat3veränderung für 
verkehrt und fträflich, jo lange nicht eine vollftändige Läuterung des fittlichen 
Charakters in der gefammten Nation vorher gegangen war. Aber eben dieje 
Läuterung machte jpäter den gewaltjamen Umſturz unnöthig. Sciller’3 Ten— 
den; war zuerft inftinctartig, dann mit vollem Bewußtjein, den Geſchmack der 
Deutichen zu bilden und dadurch indirect die Sitten zu veredeln. Wie jehr er 
ſich von Poſa unterfchied, das ſpricht am beiten die Selbftkritif aus, in welcher 
das Phantaftiiche und Despotiihe in Poſa's Unternehmen geiftreih und über- 
zeugend nachgewiefen wird. 

Freilich gehört dieſe Selbftkritif einer Periode an, in welcher das urjprüng- 
lihe naive dramatiihe Schaffen dur ein ſehr abweichendes Bildungsmotiv 
umgewandelt war. Die Eultur feines Talents hatte jeinem allgemeinen Bildungs- 
trieb weichen müſſen. 

Die wirkliche Blüthe eines Theater? hat zur nothivendigen Vorausſetzung, 
dab Dichter und Darfteller im lebendigen Verkehr bleiben. So war es bei den 
Engländern in ihrer guten Zeit, jo bei den Spaniern umd Franzoſen. Unſere 
Sturm- und Drangperiode mit ihrer entichiedenen Neigung auf's Dramatifiren 
litt zum Theil darunter, daß die Dichter den weiten Umfang ihres Wollens 
nicht an den pofitiven Bedingungen der Darftellung beſchränken wollten; es 
'hien aljo ein günftiges Geichid, daß der Dichter, der von Natur die höchften 


398 Deutiche Rundſchau. 


Anlagen zum Drama mitbrachte, gleich zu Anfang mit dem wirklichen Theater 
in Verbindung fam. Da3 Mannheimer Theater war nicht ſchlecht, und Iffland 
nicht blos ein außerordentliche Talent, jondern ein denkender Künftler, der fich 
die Vorausfeßungen feiner Kunft vollftändig klar gemacht hatte. Seine Stücke 
— und einige der beften jchrieb er noch in der Zeit, da Schiller in Mannheim 
war — bewegen fi in einer jehr mäßigen Sphäre, aber ihre Technik verdient 
volle Anerkennung, und Schiller konnte um jo leichter von ihm lernen, da Iff- 
land, wenn auch al3 Praktiker ihm überlegen, fi) dem Geift des gleichalterigen 
Freundes willig unterordnete. Als Schiller Mannheim verließ, ging diejer äußere 
Halt für ihn verloren. 

Zum zweiten Mal trat die Gelegenheit an ihn heran, da nad) Vollendung 
des Don Carlos Schröder, der fih im Anfang gegen feine Neuerungen heftig 
gefträubt, ihn aufforderte, als Theaterdichter nad) Hamburg zu fommen. Schröder 
war nicht blos als ausübender Künftler und Dirigent der Erfte, er hatte auch 
einen hellen Blid für das Große, da3 über die Dimenfionen der Bühne, die 
ihm zur Verfügung ftand, hinaus ging. Schiller lehnte ab, und wurde in Folge 
deffen volle zehn Jahre lang der Uebung jeines höchſten Talents entfremdet. Er 
fehrte erft wieder dazu zurüd, als Goethe ihn, wenn auch nur vorübergehend, 
an der Leitung der Weimarer Bühne betheiligte: mit Iffland's Gaſtſpiel in 
Weimar 1796 beginnen auch die ernfthaften Arbeiten am Wallenftein. 

. Es ift ſchwer zu jagen, was gejchehen fein würde, wenn Schiller in beiden 

Fällen anders entjchieden hätte. Sein dramatifches Talent würde ſich gewiß 
ſchneller und vielleicht correcter entwicelt, er würde gewiß die Bühne mit einer 
Reihe durchgreifender Stücke bejchenkt haben. Ganz konnte ihm Weimar Mann- 
heim und Hamburg nicht erjeßen, denn dort hatte das Publicum einfach zu ge— 
horchen, während Iffland und Schröder den Anforderungen des Publicums, jo 
weit fie al3 berechtigt erjchienen, Rechnung trugen. 

Was Schiller beftimmte, waren zum Theil Gründe perfönlicher Art, haupt- 
fähhlich aber der Drang nad) univerſeller Bildung, dem er durch die einfeitige 
Beihäftigung mit dem Theater nicht genügen zu können meinte. Leider haben 
wir über das, wa3 er in Leipzig und Dresden für feine Bildung that, nur jehr 
lückenhafte Nachrichten, während uns der Körner’iche Briefwechjel über das, was 
in Weimar und Jena geſchah, auf das reichhaltigfte belehrt. | 

Seinen Bildungsgang haben wir hauptjähli nach drei Richtungen zu 
verfolgen: da3 Studium der Geichichte, die Antike und die Philojophie. 

Schiller ging von der ganz richtigen Vorausfegung aus, daß er reife Werke 
nur dann ſchaffen würde, wenn er jeinen Geift jelbft hatte reifen laffen. Nun 
war e3 ihm aber nicht blos äußerlich verfagt, feine Studien ganz unbefangen 
zu treiben, er mußte jofort juchen, fie zu verwerthen: e8 lag auch tief in feiner 
Natur, mit jedem Lernen das Produciren zu verbinden. So entftanden die ver- 
jchiedenen Arbeiten über Geſchichte, ſo fam die Profeffur in Jena zu Stande. 
Daß ein Profeffor Vorlefungen über römiſche Gefchichte hält, während er den 
Livius zum erften Mal in die Hand nimmt, würde heute als Monftrofität er- 
ſcheinen, damals ftand man diejen Dingen naiver gegenüber. Schiller täujchte 
fich nicht im mindeften über fi; man darf nur die verſchiedenen Briefftellen 


Schiller in feinen Briefen. 399 


an Körner zufammenftellen, jo kann man ſich jede Kritik eriparen. Wenn er 
fi einmal über feinen Beruf ſanguiniſch ausſpricht, jo geichieht es nur, weil 
er in fih den philojophifchen Kopf findet, der aus dem hiſtoriſchen Roh— 
material etwas Neues machen könne; daß jemald die Nachwelt aus feinen 
Schriften wirkliche Geſchichte werde lernen wollen, hat er fich niemals ein- 
gebildet. _ 

Bei der Gelegenheit muß ich eine Anmerkung des Herausgeber3 der Kör— 
ner'ſchen Briefe rügen. An dem Ort jedenfalls, wo fie fteht, ift fie unſchicklich. 
Bon dem Leſer diefer Briefe ift nicht vorauszuſetzen, daß er auswendig weiß, 
was der Dr. Schmidt im Jahre 1858 gejagt hat, er kann aljo in jener An- 
merkung, deren Beziehung er nicht verfteht, nur den ungezogenen Ausbruch einer 
alten Rancune finden. — 

Für Sciller’3 jpätere dramatiſche Production waren feine hiſtoriſchen 
Studien ungemein erſprießlich; nicht blos in Beziehung auf den beftimmten 
Stoff, jondern weil fie ihm einen Einblid in Hiftorijches Leben überhaupt gaben 
und ihn befähigten, hiſtoriſches Leben überhaupt darzuftellen. Auch waren fie 
damals nicht ohne Wirkung, fie haben nicht wenig dazu beigetragen, die liberale 
proteftantiiche Auffaffung des 16, und 17. Jahrhunderts im größern Publicum 
zu verbreiten. 

Diejenigen Aufſätze nun, die eine allgemein philoſophiſche Auffaffung der 
Geſchichte ausſprechen, 3. B. die Vorrede zu Vertöt, ftehen unter dem Einfluß 
eines Schriftjteller3, defjen Einwirkung auf Schiller man, jo viel ich weiß, noch 
nicht genügend gewürdigt hat. Der Briefwechjel mit Körner zeigt, wie eifrig 
er damals Herder’3 Heine Schriften ftudirte: in ihnen fand er die Auffaffung 
des Mittelalterd, welche er in jenem Aufjag mit großer Beredtjamkeit vortrug 
und welche er ſich aus eigener Einficht in die Quellen nicht erwerben konnte; in 
ihnen (3. B. in der „Nemefi3“) fand er auch die Auffaffung der Antike, die er 
in den „Göttern Griechenlands“ ausſprach, noch ehe er die franzöfiiche Ueber— 
ſetzung des Euripides und den Voß'ſchen Homer gelejen hatte. Auch das Haupt» 
motiv zu den „Künftlern“ ift eine Herder'ſche dee. 

So viel ich überjehe, beginnt bei ihm die Wärme für die Alten erſt in 
Weimar, two durch Herder und Goethe das Gefühl für Alterthum, wie es zuerft 
Winkelmann verkündet, gleichjam in die allgemeine Atmojphäre des Denkens 
und Empfindens aufgenommen war; er theilte dann feine neu gewonnene Be— 
geifterung den Rudolftädter Freundinnen mit, und gewöhnte ſich daran, fie ala 
Mapftab und deal auch für jein dramatiiches Schaffen zu betrachten. Der 
Einfluß auf feine Praris, worauf e8 hauptjählih ankommt, hat jeine zwei 
Seiten. Auf der einen war e8 gewiß ein Gewinn, daß er auch in der Diction 
nach höheren und reineren ?yormen, nad) Sättigung ſeines Ausdrucks durch be- 
deutende würdige Gedanken ftrebte; auf der andern Seite fam in feine nädjften 
Gedichte durch dieſes Studium ein gewiſſes Prunken mit Gelehrjamkeit, eine 
Hingabe an griehijche Formen und Symbole, welche die Kraft de3 eigentlich 
Lyriſchen, des Individuellen, der Empfindung beeinträchtigte. 

Am nachtheiligſten finde ich die Einwirkung auf fein dramatische Schaffen. 
Er hielt eine Verjöhnung der griehiihen und germaniſchen Form im Drama 


400 Deutiche Runbichau. 


für das wahrhaft wünjchenswerthe Ziel, und hatte ſich nicht ar gemadt, da 
die beiden Formen einander ausſchließen. Die Bewegung de3 allgemeinen 
Geiftes in Deutſchland führte zur Shakejpeare’ichen Form, zum Charakterdrama; 
indem er num die griehijche Form, das Schicjalsdrama (man geftatte der Kürze 
wegen diejen Ausdrud, der nicht ganz dedt!), damit verbinden wollte, geihah 
es, daß die beiden Motive nicht recht ftimmten. „Das ift das Loos des Schönen 
auf der Erde!“ „Ich leide unschuldig, doch in Ehre bleiben die Orakel!" Das 
fommt nicht blos al3 gelegentlicher Stoßſeufzer vor, es jcheint ſich als entſchei— 
dendes Motiv der Tragödie darftellen zu twollen, während der andere Spruch: 
„In deiner Bruft find deines Schickſals Sterne!” ſich häufig jehr glänzend ver- 
gegenmwärtigt. Schiller hatte Kühnheit genug, in die Seele des tragiſchen Helden 
die volle Berantwortlichkeit aufzunehmen, und dann verſuchte er doch Wieder, 
„die größere Hälfte der Schuld den unglücdjeligen Geftirnen zuzumwälzen.“ Das 
hatte noch eine weitere Folge. Seine eigentliche Kraft lag in der Bewältigung 
des Hiſtoriſchen; hier war nun feine höchſte Aufgabe, das wahrhaft Typijche, 
das Sittliche und Allgemeine im Hiftorifchen zu ergreifen und an's Licht zu 
ftellen. Statt dejjen juchte er nad) dem Vorbild der Alten, denen ftatt des 
Hiftoriichen das Mythiſche Gegenftand war, das Typiſche, Allgemeine und Sitt- 
liche im Außerhiftoriichen, wie in der Thefla, in der Jungfrau von Orleans, 
in der ganzen Braut von Meſſina. Das war nicht Mangel an Vermögen, 
jondern falſches Kunftprincip. Kein dramatijcher Dichter hat jo glänzend und 
jo wahrhaftig das Typiſche und Sittlihe im Hiftorifchen gezeigt als Schiller 
in den erponixenden Scenen des Wilhelm Tell, der um diefer Scenen willen 
auch fortleben wird, troß des mangelhaften dramatiichen Aufbaues. 

Diejer Einfluß der Antike auf fein Schaffen wurde verftärft durch jeine 
philojophiichen Ueberzeugungen. Diejer Theil feiner Bildungsgeſchichte ift wol 
der interefjantefte, weil er darin am ernfthafteften und gründlichften vorging, 
ja mit einer gewiljen Leidenſchaft. Um hier den Gang jeiner Bildungsrichtung 
aufzufaffen, muß man zwei Gedanfenketten verfolgen, die fi in einander ver- 
flechten, aber nicht zujammenfallen. 

Betrachtet man nämlih nur jeine philoſophiſchen Studien, jo tritt ein 
Augenblid ein, wo feine Gefinnung ſich völlig umwandelt: ex ift in den „Briefen 
des Julius an Rafael” Spinozift, oder wie man das ſonſt nennen will, und 
wird dann Kantianer. Er fühlt jich zuletzt jo tactjeft, daß er Goethe, dem 
Spinoziften, als Vertreter der Kantiſchen Schule gegenüber treten Tann, und fo 
für den Aufbau der gejammten deutjchen Literatur eine höchſt merkwürdige 
Bedeutung getvinnt. 

Seit der „Kritil der reinen Vernunft“ lagerten fi nicht blos unter den 
Philojophen von Profeſſion, jondern unter allen, die dachten und dichteten, zwei 
große Gruppen gegen einander. Die einen, an ihrer Spite Herder und Goethe, 
verfochten die Einheit des Göttlichen und Natürlihen, des Dinges an fi und 
der Erſcheinung; die andern, in ihren zivei freilich von einander jehr abweichenden 
Hauptvertretern Kant und Jakobi, fanden zwijchen beiden eine Mluft. Indem 
nun Schiller jo weit auf Goethe einwirkte, dem gegenjählichen Syftem, wie es 
fi in der „Kritik der Urtheilskraft“ zur vollften Höhe entwidelt hatte, wenigftens 


Schiller in jeinen Briefen. 401 


die Berechtigung zuzugeftehen, die er dem Jakobi'ſchen Dualismus ſtets verjagt 
hatte, trat ein Zuſammenwirken der beiden Richtungen ein, aus welchem die 
päteren Syſteme de3 transcendentalen Ydealismus zu begreifen find. Dan 
vergeſſe nicht, daß fich diefe Syſteme zuerft in Jena entwidelten, nicht zwar 
unter der directen Mitwirkung Goethe’3, aber doc) jo, daß jeder der neuen Er- 
finder auf jein Urtheil lauſchte und feinen Beifall zu gewinnen ftrebte. 

Der Zeitpunkt des Umjchlagd bei Schiller ift genau zu conftatiren. Er 
wird zuerjt veranlaßt dur den Brief von Rafael an Julius, in dem fi 
Körner auf die Höhe des gejättigten Kantianismus ftellt. Merkwürdigerweiſe 
war e8 in Leipzig und Dresden im Verkehr mit diefem Kantianer nicht zum 
Durchbruch gefommen. Dann folgt Reinhold’3 Einwirkung; das eigentliche 
Studium beginnt erft nach der großen Krankheit und wird am eifrigften fort- 
gejeßt in der jchwäbiichen Reife; wie gewöhnlich fo, dat Schiller ſich ſofort 
productiv verhält. „Anmuth und Würde“ wird gejchrieben, von Kant troß der 
feeriichen Anfichten jehr bewundert; e3 folgen die Briefe an den Herzog von 
Auguftendurg. Hier nun find die Briefe an Körner von der größten Wichtig— 
feit, weil fie weit mehr al3 die ftilifirten Eſſays zeigen, wie gründlich fich 
Schiller da3 Syſtem Klar zu legen juchte und wie weit e8 ihm gelang. 

Dies ift die eine Kette in Schiller’3 Entwiclung: die Briefe des Julius, 
Anmuth und Würde, die äfthetifche Erziehung, Man muß aber eine andere 
Kette daneben halten, in der fi, ganz abaejehen von allen philoſophiſchen 
Syitemen, eine größere Einheit de3 Empfindens nachweijen läßt. 

Schiller, gegen Körner aufrichtig wie immer, befennt dem freunde, fein 
Julius habe fi) darum zuerft mit dem Univerjum eingelaffen, weil ihm zufällig 
ſolche Schriften zuerft in die Hände gefallen waren; er befennt ferner, daß nicht 
jelten da3 erſte Motiv feiner Gedichte der Klang war, daß nad) diefem Klang 
- Sdeen ſich mehr oder weniger vertvorren fügten, die fi dann allmälig läuterten 
oder auch durch andere veifere erjeßt wurden, während der Klang blieb. Damit 
harakterifirt ex jein Verfahren von einer gewiffen Seite richtig; ex thut ſich 
aber injofern Unrecht, als e8 durchaus nicht gedanfenlojfe Klänge waren, die 
ihn zum Schaffen erregten. 

Halten wir eins jeiner früheften Gedichte aus der Anthologie: „Freund! 
genügjam ift der Weſenlenker!“ neben das aus der dritten Periode: „Ewig Kar 
und jpiegelrein und eben,“ welches er damals für fein bedeutendftes hielt — 
zwijchen beiden liegen 14 Jahre —, jo werden wir in vielen Punkten eine große 
Nebereinftimmung gewahr. Auch die Sprache erhebt ſich in dem erften Gedicht, 
freilich durch manche Rohheiten beeinträchtigt, oft zu einer wunderbaren Schön- 
heit. Das Weltall wird ala belebt angenommen, belebt durch das Princip der 
Liebe; durch fie ift die Welt erichaffen, durch fie ift fie erhalten. „Freundlos 
war ber große Weſenmeiſter, fühlte Mangel, darım ſchuf er Geifter, jel’ge 
Spiegel feiner Seligkeit. Fand das höchſte Wejen jchon fein Gleiches, aus dem 
Kelch des ganzen Wejenreiches ſchäumt ihm die Unendlichkeit.“ 

An dem zweiten Gedicht wird num freilich von dem Leben nicht jo günftig 
geurtheilt: man hört von der „Angft des Jrdiichen“, von dem „engen, dumpfen 
Leben“, und man twird aufgefordert, in das Neich des deals zu fliehen, oder, 

Deutliche Rundſchau. 1, 12. 26 


402 Deutſche Rundſchau. 


wie es in der erſten Ausgabe hieß, in's „Reich der Schatten“; manche Leſer 
meinten, es wäre das Jenſeits gemeint. Das war aber nicht Schiller's Abſicht, 
er wollte nur die Flucht aus dem Drang der Intereſſen in die intereſſeloſe 
Betrachtung empfehlen. Darin hatte ja ſchon Spinoza das Ziel der Weisheit 
gefunden, nur daß Schiller als Künftler die Betrachtung mehr in der Kunft 
ſuchte, Spinoza in der Philofophie. 

Ein ähnlicher Dualismus jpricht fich bereits in dem erft genannten Gedicht 
aus: „Höher ftet3 und höher... wallen wir einmüth’gen NRingeltanzes, bis fich 
dort im Meer des ew'gen Glanzes fterbend untertauden Maaß und Zeit.“ 
Das ift alfo wieder ein Jenſeits, und zwar ein beſſeres. Sucht man nad) dem 
Sinn der dunklen Worte, jo kann es nicht3 anderes jein, al3 die von den Ver— 
ftandesformen Raum und Zeit befreite intellectuelle Anſchauung, deren Mög— 
lichkeit innerhalb der intelligibeln Welt Kant in der „Kritik der Urtheilstraft“ 
anerkannte, und deren Wirklichkeit Schiller in der Kunſt fand. 

Stellen wir nun die philojophiichen Gedichte zufammen, in denen Schiller 
jeine Weltanfhauung ausſprach: das „Lied an die Freude” (ein anderer Aus— 
druck für daſſelbe, das er früher „Liebe“ nannte), „die Entjagung“, die im 
Dualismus ftehen bleibt, die „Götter Griechenlands“ (poetijches Bild der Zeit, 
in welcher nach Annahme de3 Dichters wirklich die Freude die Welt regierte), 
„die Künſtler“ (doppelte Bedeutung der Kunſt als erfte Führerin in’3 Reich der 
Humanität und als letztes Ziel, welches der geiftig arbeitenden Menſchheit vor- 
ſchwebt), endlich das „deal und das Leben“, jo haben wir eine fortlaufende 
Reihe, die duch den Kantianismus in feiner Weiſe unterbrochen wird und an 
welche fich die vorher genannten projaiichen Schriften al3 weitere Erläuterung 
anfügen. Der Kantianer gefteht da3 Recht der Würde ein, aber der Künftler 
fügt al3 Gorrectiv die Anmuth hinzu und gibt damit dem Kantifchen Princip 
eine andere Farbe. 

Diefe Umwandlung erftredfte jich nicht blos auf Schillers philoſophiſche 
Seen, jondern auch auf feine Hiftorifchen Anfichten. Auf die Conftruction der 
Literaturgefhichte Hat Schiller jehr bedeutend eingetwirkt, jeine been find jogar 
in Lehrbücher übergegangen, und nod heute wird es jchwer, fi von ihnen 
loszumaden: ich meine die Abhandlung über das Naive und Sentimentale, 
wonach die antife Dichtfunft naiv, die moderne Dichtkunft jentimental jein joll. 

Es muß in diefer Conftruction befremden, daß als die Hauptgattungen der 
jentimentalen Poeſie Elegie, Satire und Idyll bezeichnet werden; darnach wären 
aljo Ovid, Juvenal und Theofrit jentimentale Dichter. Das ift im gewiſſen 
Sinne freilich wahr; aber eben darin zeigt fi), daß die Eintheilung nicht ftimmt: 
antik und naiv fällt keineswegs zuſammen. 

63 ift jehr lehrreih, den Weg zu verfolgen, der Schiller zu diefem Irr— 
thum führte. Von der erften Zeit an, wo er nad Weimar fam, war Goethe 
fein Jdeal: auch da er ihn noch hafte, betwunderte er ihn mit Leidenſchaft. Er 
fühlte zugleich, daß er ihn in feinem Felde nie erreichen werde, und doch fühlte 
er in feinem Innern eine Kraft, die fi) gar wohl mit Goethe meſſen könne. 
Um nun ein Gebiet zu geiwinnen, auf dem er den Wettftreit wagen könne, juchte 
er die Berechtigung des Sentimentalen für die moderne Poefie nachzuweiſen. 


Schiller in feinen Briefen. 405 


verfolgen, wie Schiller dazu Fam, bald das Eine, bald das Andere einzuſchieben, 
wie ihm ein Act zu lang wurde und er ihn in zwei zerlegte, wie dann dieſe 
wieder zu kurz waren und er dann, um fie zu füllen, wieder neue Scenen ein- 
ſchob u. ſ. w. 

Ein mächtiges Werk individuell zu würdigen, muß man ſich zuerſt die 
allgemeinen Dogmen aus dem Sinn ſchlagen. Dogmen ſind Reſultate früherer 
Erfahrungen, jedes große Dichterwerk iſt eine neue Erfahrung und führt zu 
einem neuen Dogma, das bis auf Weiteres gilt. 

Was iſt die Aufgabe des Wallenſtein? — 

Eine große, merkwürdige und räthſelhafte hiſtoriſche Begebenheit ſoll uns vor 
Augen geführt werden; wir ſollen ihre Vorausſetzungen begreifen, die Menſchen, 
die darin bandelnd oder leidend auftreten, jollen uns ſichtbar und bis zu einem 
gewiſſen Grade begreiflich werden. 

Hier famen nun dem dramatiihen Dichter die Studien über den dreißig— 
jährigen Krieg jehr zu ftatten; er verfügte über das geſammte Detail, und konnte 
mit Sicherheit überall die entiprechenden Züge wählen. Das Heer, weldes 
nad Schiller’3 ganz richtigen Ausſpruch da3 Verbrechen des Helden erklärt, 
tritt uns lebhaft vor Augen, die andern fittlihen Mächte, die in Betracht 
fommen, finden theils in den Reden der Betheiligten, theil3 auch unmittelbar 
ihren Plab. 

Durch Ranke's neueſte Forihungen wird die alte Vorftellung Wallenftein’s 
im Großen und Ganzen betätigt, vielleiht fommt der Held etwas beſſer fort. 
Sein Plan war wirklid, Deutichland den Frieden zu verichaffen, die Schweden, 
Spanier und Franzoſen zu vertreiben, die verfchiedenen Religionen zu toleriren; 
er hoffte das auf diplomatiſchem Wege durch den Drud feiner mächtigen Armee 
und durch Verbindung mit den gemäßigten deutichen Proteftanten zu erreichen. 

In fofern war fein Unternehmen löblih, und daß er für fich eine hervor- 
ragende Stelle, die eines Reichsfürften oder vielleicht eines Reichskanzlers, er= 
jtrebte, war ein nicht unberedhtigter Ehrgeiz. 

Nun ift e8 aber immer ein Wageftüd, und in gewifjen Verhältniffen durch— 
aus nicht zu dulden, dab ein General auf eigene Hand Politik treibt. Das 
Verhältnig zum Landesheren ift ein fittliches, der General hat nur die Mittel 
der Gewalt, und was für einer Gewalt! Eine zügelloje Soldatesfa, von allen 
Banden der Religion und Volksgemeinſchaft gelöft! Um fie zu benußen, muß 
er ihren Intereſſen dienftbar werden, und bringt dadurch dad Gemeinwohl in 
ſchwere Gefahr. 

Und dann liegt ein Rechnungsfehler nahe. Wallenftein führte feine Armee 
nicht in napoleonijcher Weile von Sieg zu Sieg und hielt fie jo im Rauſch; 
jeine Kriegführung war nüchtern, die Soldaten und namentlid die Oberften 
waren nur durch das Intereſſe an ihn gebunden, und dem ließ fi aud von 
anderen Seiten beilommen. 

Alle dieſe Momente, die bei den fittlihen wie bei den phyſiſchen Ent- 
ſcheidungen in's Gewicht fallen, treten in Schiller's Drama vollftändig und 
harakteriftiich hervor. Der Vorwurf, man jähe im Wallenftein niemals die 
wirkliche Kraft, ift nur halb begründet: man fieht fie in den Refleren, und 


406 Deutſche Runbichau, 


da3 reicht aus, um Antereffe für ihn zu erregen. Man fieht die Greuel, mit 
welchen dieje vertwilderte Armee Deutſchland bedroht, aber man interejfirt fich 
auch für fie, für ihr frifches, dreiftes, übermüthiges Wejen. Man ftimmt voll- 
kommen mit Queftenberg überein: „In fein friedländiich Lager fomme, wer von 
dem Kriege Schlimmes denten will!“ 

Die Stimmung des Zuſchauers ift genau jo getheilt, wie es für die dra— 
matiſche Wirkung nothiwendig ift: er fieht die Nothivendigkeit ein, dieje furcht- 
bare Bande aufzulöfen — denn im Grunde ift nicht Wallenftein der Held, 
fondern da3 Wallenftein’fche Lager —, auf der andern Seite empfindet er ein 
gewiſſes Afthetifches Mitleid, wie ungefähr beim Untergang Richard's II. Wie 
nun die verjchiedenen Hebel angejegt werden, fittlide und unfittliche, erſt um 
den Schritt zu erziwingen, den Wallenftein vermeiden möchte, das Bündniß mit 
den Schweden, die er gerade aus Deutſchland vertreiben will; die Hebel ferner, 
das Unternehmen jcheitern zu machen: das ift mit einer Meifterichaft gegen- 
wärtig gemacht, von der wir in Deutjchland fonft fein Beifpiel haben. Die 
Verhandlung mit Wrangel ift jchon von Tief mit Recht gerühmt: die Beſchä— 
mung Wallenftein’3 einer wirklich fittlihen Macht gegenüber ift feine Scham 
aus abftract moraliſchem Motiv, jondern ganz realiſtiſch; und jo geht es fort 
bi3 zum Abfall der Truppen, dem Höhepunkt des Stücks. Damit ift die Sache 
entichieden, das Folgende ift zu breit angelegt. 

Daß Wallenftein unſchlüſſig erſcheint und durch feine Unfchlüffigkeit fein 
Derderben beichleunigt, hebt die Theilnahme für ihn nicht unbedingt auf, denn 
feine Action ding nicht von feinem Willen allein ab, jondern auch von dem 
Willen derer, mit denen er verhandelte: ihr Mißtrauen ift der finnliche Beleg 
für das Unfittliche des ganzen Unternehmens. Das aftrologifhe Motiv ferner 
— bei einem kühnen Abenteurer überhaupt in der Natur, und diesmal im all« 
gemeinen Glauben der Zeit begründet — gibt dem Verhängniß etwas Greif- 
bares: es ift grade wie der Wald von Dunfinan bei Macbeth, e8 wiegt den 
Helden in Sicherheit und lähmt wieder im entjcheidenden Augenblid feine Hand. 

So ift die ganze Haltung des Stückes eine realiftiihe, und Schiller hat, 
wie wir aus feinen Briefen jehen, ein volllommen klares Bewußtſein darüber. 
Nun aber, ala das Stüd beinahe fertig ift, glaubt er, daß noch etwas fehlt: 
er drängt gewaltjam jeine bisherige poetiſche Stimmung zurüd, um einer neuen, 
entgegengejegten Raum zu geben. Daraus wird zunächſt eine Epifode, die Epi— 
fode gewinnt endlich die Herrſchaft über das Stüd und treibt e8 aus den Fugen. 

Was fehlte eigentlih? — Die gewöhnliche Routine ſagte: zu einem claj- 
fiihen Drama gehört eine Liebesgeihichte. Nun hätte Schiller durch Cäfar 
und Gorioları, die er damals eifrig ftudirte, eines Beſſeren überführt werden 
fönnen, aber — kurz, er dachte, er könne der Liebesepijode eine tiefere Bedeutung 
abgewinnen. 

Schiller als Kantianer glaubte an den kategorifchen Imperativ, wenn er 
auch die Würde durch Anmuth mildern wollte Daß in dem VBorgange, den er 
ſchilderte, die verjchiedenen fittlichen Motive nach der Reihe zum Vorſchein 
famen, genügte ihm nicht: er wollte eine Stimme vom Himmel, die ſchließlich 
dad Donnerwort Schuldig! ausſprach. Alle übrigen Perfonen waren in ihren 


Schiller in feinen Briefen. 407 


eigenen Intereſſen befangen, konnten aljo dies kategoriſche Urtheil nicht aus— 
ſprechen, es mußte ein ganz unjchuldiges Wejen fein. Der Küraffier - Oberft 
Piccolomini ſchwankt zwifchen der Liebe zu feinem Vater und der Liebe zu 
MWallenftein’3 Tochter, zwiſchen der Pflicht gegen den Kaiſer und der Pflicht 
gegen den Feldherrn; er verlangt die Entjcheidung von einer Stimme vom 
Himmel: durch eine Eingebung erkennt er dieje in der eigenen Tochter des Ge- 
neral3, und dieſe fällt denn auch das fategorifche Urtheil: der Vater ift im 
Unrecht, der Oberft gehört zu feinem Kaiſer. Damit ift die Tragödie in die 
Sphäre des Ideals gerüdt. 

Wunderlicher ift noch nie mit dem fategorijchen Imperativ gefpielt worden. 
Er lautet: Handele jo, daß du wollen kannſt, die Maxime deines Handelns 
folle allgemeines Naturgefeg werden. Das ift in gewöhnlichen Verhältniſſen 
leicht zu entjcheiden: das Kind, durch die in fein Gewiljen aufgenommene fitt- 
liche Ueberlieferung belehrt, findet ich bald zurecht; in verwidelten ift es aber 
ſchwer, da die Marime des hiftorifchen Handelns aus verichiedenen Momenten 
zuſammengeſetzt ift, über die fich nicht das Gefühl, jondern die Vernunft orien- 
tirt. Das allein rechtfertigt e8, wenn man die Grundjähe der gemeinen bürger- 
lichen Moral nicht ohne Weiteres auf die Geichichte überträgt. Ob das, was 
MWallenftein zu thun im Begriff war, Verrath zu nennen oder nicht, darüber 
hat ein junges Fräulein, das eben aus der Penfion fommt, durchaus nicht mit- 
zureden, und wenn ein junger Oberft fi) vor der Verantwortlichkeit jcheut, jo 
darf fie ihm diefe Verantwortlichkeit nicht abnehmen. 

Das Schlimmfte aber ift, daß dieſe Epijode auf den Charakter des Helden 
zurückwirkt. Er ift jonft der harte, eigenmwillige, ehrgeizige Menſch, der Kalt 
berechnet, jogar mitunter zu gemeinen Mitteln greift: er hat Buttler betrogen, 
er weiß um Illo's Betrug, er jcheint auch zu überjehen, was jeine Schwejter 
mit Mar und Thekla im Schilde führt; damit nun aber die Stimme vom 
Himmel erfhütternd auf ihn wirke, verwandelt fi) auf einmal feine Natur: 
er fühlt fich als der treuherzige, biedere, ſchlichte Mann, er liebt nicht nur Mar, 
ſondern ſchwärmt auch für ihn; wird gegen Thella nicht nur ein gütiger, ſon— 
dern ein zärtlicher und verftändniginniger Vater. Sein Untergang wird lange 
ausgeiponnen, um den Zuhörer ganz weich zu machen, durchaus gegen den Sinn 
der echten Tragödie; jelbjt das aftrologiihe Motiv gewinnt eine ganz neue 
Bedeutung, es fieht aus, wie verihämter dichteriicher Pantheismus. 

Mir ift dabei nur eins ſchwer verftändlid. Schiller hat über diefe Dinge 
mit Goethe jehr ausführlich verhandelt: er war für guten Rath, namentlid) 
wenn er von Goethe fam, jehr zugänglih: warum hat ihn Goethe nicht ge— 
warnt? Oder wurde er jelber getäufcht? — In einem verwandten Falle, früher, 
bei Gelegenheit des Egmont, hatte Schiller ihn zurecht gewieſen, er bat die 
Himmelfahrt Clärchens als unrealiftiich getadelt; aber Goethe Hatte doch die 
Entihuldigung, dat dieſes Traumgebild Glärhens aus Egmont's Seele auf- 
flieg, während Thella eine wirkliche Perſon jein joll. 

Schiller ift überall groß, wo er ein maffives hiftorifches Leben in Scene 
ſetzt. Das Fragment vom Demetrius, der erfte Act des Tell jchließt fich eben- 
bürtig dem Wallenftein an. Aber nur wenn er realiftiich verfuhr; und e3 war 


408 Deutſche Rundſchau. 


nicht blos die antike, ſondern die alte angeſtammte Neigung, was ihn zuweilen 


verführte, an die Geſchichte eine beſſernde Hand legen zu wollen: er nahm ſeine 
Motive nicht aus der Sache ſelbſt, ſondern er ſuchte ſie nach dem Maß ihrer 
Wirkſamkeit zuſammen. 

Man hat an der Maria Stuart getadelt, daß die rechte Spannung fehle: 
im Grunde ftehe das Todesurtheil von vornherein feft, und gar zwijchen dem 
vorletten und lebten Act jeien alle Möglichkeiten der Rettung befeitigt. Ich 
finde den Vorwurf nicht begründet: wenn Schiller überhaupt den Stoff wählte, 
fo war doc wol jeder Lejer jo weit in der Geſchichte beiwandert, daß er mußte, 
Maria Stuart war wirklich Hingerichtet worden; alfo eine Spannung der Neu— 
gier war ausgeſchloſſen. 

Die Aufgabe ift, zu zeigen, wie die verjchiedenen intereffanten Perſonen, 
die und vorgeftellt werden, in der Kataftrophe, die man allerdings von Anfang 
an mit Beltimmtheit fommen fieht, fich benehmen. Da das Schiller fo, daß 
die Gaufalverbindung deutlich hervor tritt, lebendig und geiftreich ausgeführt 
hat, jo hat er feine Aufgabe vollkommen gelöft; der Fehler Liegt nur darin, 
daß er die Hiftoriichen Typen nicht mit genügender Deutlichkeit hervortreten 
läßt: fie find alle vorhanden, fie werden aber verdunfelt durch die zufälligen, 
perjönlichen Motive. 

Das Tragifche in Maria’3 Schickſal liegt darin, daß fie al3 Opfer zweier 
furchtbar mit einander ringender Weltmächte fiel. E3 war die Blüthezeit in 
dem erbarmungslofen Kampf zwiichen Proteftantismus und Katholicismus, 

Dies entjcheidende Motiv tritt zu wenig hervor. Der jämmerlicje Lei- 
cefter macht fi) zu breit, Elifabeth zeigt faſt nur die perjönliche Eiferfucht, 
und wenn fie von der abgöttijchen Liebe ihres Volkes redet, jo möchte man 
nad Schiller's Darftellung meinen, es jei nur Comödie; und bei Burleigh 
überſchreit der bösartige Intrigant bei weiten den warmen Patrioten. Mor— 
timer könnte ein vortrefflicher Typus fein, und auch über das pofitive Ver- 
hältniß der Heldin zu der großen Frage, welche die Welt beiwegte, hätte man 
in’3 Klare fommen können, wenn die Bedeutung der Communionsſcene für den 
Charakter und die Religiofität Mariens ebenjo deutlich herausgeftellt wäre, 
al3 durch die Scene mit dem Großinquifitor der Charakter und die Religiofität 
Philipp's. 

Dieſer Fehler gegen die Geſchichte wirkt auch äſthetiſch. Freilich erregt 
Maria Mitleid, aber da ſie nur als Opfer bösartiger Feinde zu fallen ſcheint, 
iſt dieſes Mitleid zu weich: „das iſt das Loos des Schönen auf der Erde!“ Das 
tragische Mitleid wird nicht vermindert, jondern erhöht, wenn Schuld im Spiel 
ift, betwußte oder unbewußte. Maria’ Charakter, geſellſchaftliche Stellung, 
Vorgeſchichte, Telhft ihre Schönheit und glänzenden Eigenjchaften twaren dazu 
angethan, England in’s Elend zu ftürzen; ihren Tod zu wünjchen, war für den 
Engländer natürlich; wie diefer Wunſch bei an fich nicht ſchlechten Naturen 
allmälig zum Juftizmord führen konnte, und wie mit der That dann doch jofort 
das Gewiſſen eintrat, das hätte ein höchſt intereflantes hiſtoriſch-pſychologiſches 
Problem geboten. 

Schiller ftand mit feiner Gefinnung gewiß auf demjelben Standpunft; er 








Schiller in feinen Briefen. 409 


hat es ja im Don Carlos und in der niederländiichen Rebellion deutlich) genug 
ausgeſprochen; aber — und das ift, worauf es mir ankommt — dieſe Gefinmung 
war ihm nicht das Beftimmende beim dramatiihen Schaffen; er wollte 
Mitleid erregen, im Don Garlos für die Opfer des Katholicismus, in Maria 
für den geopferten Katholicismus. Er fahte die Begebenheiten rein menschlich, 
d. h. unhiſtoriſch auf. Diefe eigenthümliche Stellung zu den Stoffen tritt 
noch deutlicher bei der Jungfrau von Orleans heraus. Das Stüd ift, thea— 
tralifch betradhtet, neben den Räubern vielleiht das glänzendfte, was Schiller 
geihaffen: eine Hauptrolle, wie fie prächtiger nicht gedadht werden kann; die 
Bewegung feurig, unausgeſetzt überrafchend, voll athemlojer Spannung. Was 
aber ift der eigentlihe Sinn der Tragödie? 

Der Stoff an fich ift ergiebig genug. Der leidenſchaftliche Patriotismus 
der Franzoſen verdichtet fich in der Seele einer einfamen Hirtin in dem Glauben 
an einen göttlichen Ruf; diefer Glaube thut Wunder, da der latente Patriotis- 
mus nur eines Funkens bedurfte, um in Flammen aufzugeben; nachdem aber 
das Ziel des Wunders erreicht, fängt man an, über die Kraft, die es bewirkt, 
Zweifel zu hegen, die Wunderthäterin wird ala Here verbrannt. 

Diejen Stoff hat Schiller in zwei Punkten weientlich verändert. Ginmal 
glaubt Johanna nicht nur, Wunder zu thun, ſondern thut wirklich Wunder, fie 
offenbart dem König feine geheimften Gebete, fie zerreißt centnerſchwere Stetten, 
fie weiß aus der Entferming, dab Lord Salisbury gefallen if. Sonderbarer 
Weiſe nahm Schiller diefe Motive aus Shakefpeare, dem es gerade darauf an— 
fam, die Feindin feines Landes al3 Here darzuftellen und ihre Verbrennung zu 
rechtfertigen. 

Sodann hat die Umkehr einen merkwürdigen Grund. Johanna fühlt ſich 
ſchuldig, weil fie ihr Gelübde der Keuſchheit, wern auch nur durch ein Gefühl, 
verleht hat. Sie hat Lionel verfhont, während fie jonft alle Engländer tödtete — 
die wirkliche Johanna hat feine Menſchen umgebradht. Im Gefühl diefer Schuld 
ichweigt fie, den furchtbaren Anklagen ihres Vaters gegenüber, welche durch den 
Donner de3 Himmels unterftügt werden — der Himmel ſpricht wirklich, denn 
ein zufällig ausbrechendes Gewitter in diefem Zulammenhang wäre doch ein zu 
ungerechtfertigter Theaterſtreich. 

Es ſoll alſo durch das, was vor unfern Augen vorgeht, in uns der Glaube 
erweckt werden, die Mutter Gottes thue ein Wunder, um Garl VII. in Rheims 
frönen zu laffen, und fie halte es für eine Sünde, daß die Jungfrau aus Mit- 
leid, dem fi Neigung beimiſcht, einen Engländer verſchont. 

Die Frage kann ganz unberührt bleiben, ob in einer Zeit, die an feine 
Wunder glaubt, Wunder auf dem Theater zuläffig find? Auf dem Theater 
aller Nationen find Wunder ftet3 Aeuferungen derjenigen göttlichen Kraft, an 
welche der Dichter oder das Publicum glaubt. Galderon bringt viel tollere 
Wunder zu Wege als Schiller, aber fein Publicum war jo bigott katholiſch, 
da es fie ganz in der Ordnung fand, 

Wie ftellte ſich nun das deutiche Theater, noch bevor Galderon eingeführt 
wurde (dem Dichter der Jungfrau war er noch unbelannt) anders: es gebrauchte 
das Wunder ala Hunftmittel, auf der Bühne große Wirkungen hervorzurufen, 


410 Deutſche Rundſchau. 


ohne daß es von dem Glauben der Zuhörer, ſittlich oder phyſiſch, getragen 
wurde. Aehnlich die Orakel in der Braut von Meſſina und Aehnliches. 

Hätte Schiller in den Stoffen, die ſich ihm als dramatiſch wirkſam boten, 
vaterländiſche oder ſonſt in dem ſittlichen Gefühl der Zeit gegründete Motive 
angetroffen, ſo hätte er ſie gewiß vorgezogen; er traf ſie aber nicht, wenigſtens 
nur in einzelnen Fällen. Dies charakteriſirt nicht nur ihn, ſondern die ganze 
Tendenz feiner Zeit, die Romantifer wie die Glaffifer, die in der Poefie ein 
„Mädchen aus der Fremde jahen“. Um die Zeit zu verftehen, muß man ſich 
das ftet3 vor Augen halten. 

Ich jollte wol mit einem Schwung jhließen, thue e8 aber abſichtlich nicht. 
Daß Schiller ein großer dramatiſcher Dichter war, braucht Keinem gejagt zu 
werden; aber tworin lag feine Größe? Nicht in der Gefinnung, in dem deal, 
in dem Patriotismus; nicht in der piychologiichen Vertiefung, ſondern in 
der Macht, große, gewaltig wirkende Scenen harmoniſch aufzubauen. Will man 
ihn „idealiſiren“, d. h. ihm Eigenjchaften andichten, die er nicht hatte, jo thut 
man ihm jelber am meiften Unrecht. Er ift groß genug, um gejehen zu werden, 
wie er ift; und wer feinen Brieftvechjel mit Körner vorausjegungslos jtudirt, 
wird am bejten erfennen, wie er empfand, wie er dachte, wie er arbeitete: ein 
Charakterkopf mit ausdrudsvollen Zügen, der wahrhaftig nicht nad) dem Mode— 
geſchmack überfärbt zu werden braudt. 

Julian Shmidt. 


Pie Derbredherwelt von Wien. 


— — vu 


Mit Benützung von Acten der K. K. Polizeidirection in Wien 
von 


Mar Huybensz. 





Die Schilderung der Verbrecherwelt einer Großſtadt erfordert die Berück— 
fihtigung mannigfadher Factoren, welche theils ala ein Product allgemeiner 
Bedingungen und Verhältniſſe ericheinen, theils aus fpecifiichen Eigenthümlich— 
feiten und jocialen Gebrechen hervorgehen. Die geographiiche Lage, Berührung 
von Nationalitäten, Handels- und Gewerbethätigfeit, Kaftengeift, Capitals— 
anfammlung und Mafjenarmuth, allgemeine Lebensgewohnheiten und beſonders 
der durchichnittliche Bildungsgrad der unteren Glaffen nehmen Einfluß auf die 
Zahl und Art der Verbrechen, wie auf die Eriftenz und die Bedeutung jener 
lichticheuen Verbindungen, deren Mitglieder gewerbemäßig verbredheriiche Hand- 
lungen betreiben. Eine gewifjenhafte Schilderung der Verbrechermwelt ift endlich 
nit möglih ohne Berüdfichtigung des ftatiftiihen Momentes und jener 
Operationen, welche da3 Inſtitut der Eriminalpolizei zum Schube der bedrohten 
Gejellihaft in Anwendung bringen muß. 

Trotz der erjchütternden politiichen Schläge, welche Defterreih erlitt und 
welche den Sturz de centraliftiichen Regierungsiyftems und die Zweitheilung 
des Reiches zur Folge hatte, ift die Entwicklung der Hauptjtadt Wien nicht ge- 
hemmt worden; im Gegentheil, der Zuwachs an Bevölkerung, der Werth des 
liegenden Eigenthums und die Bauthätigfeit erlitten rapide Steigerungen. Die 
Bevölkerung Wien’s hat in den Jahren 1846 bis 1857 im Durchſchnitte jähr- 
lih um 1.7 und von diefem Zeitpunfte bis 1869 um 3.1 Procent zugenommen. 
Bon 1869 bis 1872 jchritt die Vollsvermehrung um 1 Procent vor. Eine noch 
rapidere Zunahme weijen jene bedeutenden Gemeinden auf, welche ſich außerhalb 
des Linienwalles der Vorftädte entwidelten und mit dem Gollectivnamen „Vor— 
orte Wien's“ bezeichnet werden. Hier betrug der Bevölkerungszuwachs in dem 
Zeitraume von 1846 bis 1857 28 bis 6.5 Procent, von 1869 bis 1872 2,5 
Procent. Eine Meberficht diefer Steigerungen bietet die folgende Zufammenftellung: 

Jahr 1846 1857 1869 1872 
Bevölkerung der Stadt Wien 408,000 . 476,200 . 607,500 . 619,000 
u „ Bororte. . 88,000 . 114,000 . 203,000 . 308,000 


496,000 590,200 810,500 927,000 








412 Deutiche Rundſchau. 


Die Stadt Wien zerfällt in neun Gemeindebezirke, welche unter ſich ſowol 
in Bezug auf den wirthichaftlihen Charakter, al3 den Grad des Wohlftandes 
ſehr verjchieden find. Die innere Stadt wird von den reichen und vornehmen 
Glafjen bewohnt, fie zählt beijpielaweife 4713 Haus- und Rentenbefiter, 2826 
jelbftändige Handeldunternehmer, 432 Rechtsanwälte und Notare, hingegen gar 
feine Arbeiterbevölferung, ausgenommen die Diener für perjönliche Leiftungen, 
deren Zahl auf 17,500 berechnet wird. Die mittleren und die arbeitenden 
Glafjen vertheilen fih auf die aht Vorftadtbezirfe, von denen einzelne, 
wie Margarethen, Mariahilf und Neubau, eine Arbeiterbevölferung von 30,000 
bi3 40,000 Köpfen aufweifen. Nah Branden geordnet zählt Wien 20,000 
Kunftgewerbe-, 45,000 Metall- und Steingewerbe-, 50,000 Weberei:, 24,000 
Ledergewerbe-Hilfsarbeiter. In den VBororten endlich bilden die arbeitenden 
Glafjen den überwiegenden Theil der Bevölkerung, und es verdient bemerkt zu 
werden, daß die Mehrzahl diefer Arbeiter, die in der Stadt Beichäftigung finden, 
in den Vororten, wo fie ihre Wohnftätten befiten, conjeribirt erjcheinen. 

Der Sicherheitsdienft und das Polizeiweſen in Wien mußten in Folge des 
wiederholt wechjelnden Regierungs- und Adminiftrationsiyftemes, der rapiden 
Steigerung der Bevölkerungszahl und der ungeahnt raſchen Entwidelung der 
Vorort-Gemeinden mannigfahen Veränderungen unterworfen werden. In der 
vormärzlichen Zeit bewahrte der Polizeiapparat noch die primitiven Formen, 
welche er zu Anfang diejes Jahrhunderts erhalten hatte Das nicht genug zu 
brandmarfende Sedlnitzky'ſche Regime hatte die Polizei zu einem Inſtitute poli- 
tiſcher Aushorcherei gemacht ; eine Griminalpolizei beftand gar nicht, einen Sicher- 
heit3dienft zu organijiren fand man an maRßgebender Stelle unnöthig. Die 
Polizeibeamten waren materiell jehr Tchlecht geftellt, der Büreaudienſt beſchränkte 
fih auf büreaufratifche Vieljchreiberei und leeres Formenweſen. Die Organe 
der Polizei waren die jogenannten „Vertrauten“, meift ausgediente Unterofficiere, 
in den Aemtern als Kanzleidiener verwendet, ſonſt in Gafthäufern und bei Volks— 
beluftigungen mißtrauifche Horcher, von der Bevölkerung mehr verjpottet, ala 
gefürchtet. Unter jolchen Umftänden war e3 mit der Sicherheit des Eigentums 
und der Perjon nicht gut beftellt. Die weitläufigen Glacisgründe, welche da— 
mal3 die innere Stadt von den Vorftädten trennten, waren zur Nachtzeit von 
Banden gefährlicher Stroldhe, den jogenannten „Koppelbuben“, occupirt und der 
Meg zu ſpäter Stunde daher ftet3 gefährlid. Diebftähle und Räubereien auf den 
vier Straßenzügen nad) Oberöfterreih, Böhmen, Ungarn und der Triefter Reichs- 
ftraße gehörten zu den täglichen Vorkommniſſen. Das Revolutionsjahr brachte keine 
Beſſerung diefer traurigen Sicherheitszuftände, im Gegentheil: nad) der Ein 
nahme Wien’3 duch den Fürſten Windiſchgrätz begann eine Periode, welche an 
anarchiſche Zeiten mahnte. Die Unficherheit innerhalb und außerhalb der Stabt 
war jo groß, dab häufig Militär aufgeboten werden mußte. 

Die nad) der Befiegung Ungarns neugekräftigte Regierung beſchäftigte fich 
energiſch, das Syſtem politiicher Centralijation und ftrammen Militarismus 
durchzuführen. Für die Aufrehthaltung der Ordnung und Sicherheit in der 
unter dem Drude des Belagerungszuftandes jeufzenden Hauptftadt wurden groß- 
artige Maßregeln getroffen. Der Sicherheitsdienft der Hauptſtadt wurde dem 


Die Verbrecherwelt von Wien. 413 


Chef der Gendarmerie unterftellt, und ein ftreng militäriſch organifirtes, aus 
Mannſchaften der Armee gebildetes „Militär-Polizeiwachcorps“ gebildet. Der 
gejammte executive Polizeidienft wurde diefem, von DOfficieren befehligten Corps 
übertragen, und charakteriftiich für die damaligen Zuftände ift, daß der K. K. 
Hofrath und Polizeidirector es nicht wagen durfte, einem Lieutenant diejes 
Militär-Polizeiwachcorps einen Auftrag zu ertheilen, daß der Chef des Corps 
direct über den Polizeidirector hinweg mit dem Minifter oder dem General ber 
Gendarmerie correfpondirte. Häufig ereignete e8 fi, daß der Commandant 
dieſer Militärpolizei die wichtigsten Befehle vom Mtinifter oder perfönlich von 
dem allmädhtigen Generaladjutanten de3 Kaiſers erhielt, während man es über- 
flüſſig fand, den Polizeidirector auch nur zu verftändigen. „Militäriſche Or- 
ganifation“ war die Loſung der leitenden Kreife, und felbftverftändlich wurde 
daher auch die Schaffung einer Griminalpolizei als ganz überflüjfig betrachtet; 
da3 verhöhnte Inſtitut der „Vertrauten“ wurde beibehalten; es war die Blüthe- 
zeit des Horcherweſens. Die wahnfinnige That, welche der ungarische Schneider- 
gejelle Libenyi am 18. Februar 1852 auf der Bafteimauer gegen das Leben des 
Monarchen unternahm, wirkte wie ein Donnerſchlag. Man erzählt, daß der 
damalige Polizeidirector, der tödtlich gehaßte Hofrath Weiß v. Starkenfels, ala 
er die Nachricht vom Attentate erhielt, vor Schreden von jeinem Stuhle gefallen 
fei; der Sturz hatte eine ſymboliſche Bedeutung, der Polizeidirector erhielt die 
beftigften Vorwürfe und wurde abgejegt. In Regierungskreifen herrichte die — 
übrigens unbegründete — Angſt, man hätte es mit einem organifirten Mörber- 
bunde zu thun, und man dachte an eine gründliche Reform der Polizei. Das 
Minifterium ließ umfangreiche Elaborate, Reformvorichläge enthaltend, anfertigen 
und jendete einige Beamte nad) Paris, um die dortigen Polizeitünfte zu ftudiren. 
Weiter al3 zu diefem Anlaufe fam e3 jedoch nicht. — 

63 kam die Zeit des Goncordates, der Marienandachten und der officiellen 
Frömmigkeit. Die Polizei, ohnedies mit Gejchäften aller Art überhäuft, follte 
nun auch die Heilighaltung de3 Sonntags überwachen. An den Feittagen der 
katholiſchen Kirche konnte man Polizeibeamte durch die Straßen eilen jehen, um 
Acht zu haben, daß ja fein Gewölbe geöffnet jei, vor der Mittagsftunde fein 
Drehorgelmann ſich blicken lieh, in den Werkſtätten nicht gearbeitet wurde u. j. w. 
(3 war dies jene düftere Zeit, während der von allen Angeftellten de3 Staates 
eine oftenfible, zur Schau getragene Frömmigkeit geradezu gefordert wurde, ja 
in einem Minifterium ein föürmlicher Beichtzwang für die Angeftellten beftand. 

Das Syſtem der ftaatlichen Bevormundung und ftrammften Gentralifation 
nahm, wie befannt, kein rühmliches Ende; der Zuſammenbruch wurde jelbft in 
der Beamtenwelt mit Frohlocken aufgenommen. Die Schäden und Mißgriffe 
traten bald grell genug zu Tage, und jpeciell in Wien erwies ſich die Organi- 
jation der Polizei als ganz unzureichend. Die Klagen über die Unficherheit 
mehrten ſich in bedenklichem Grade; große Einbruchsdiebftähle, nächtliche Anfälle 
auf Perjonen, Banknotenfälihungen, das Treiben organifirter Diebsbanden 
waren zu verzeichnen. Das Militär-Poligeiwachcorps vermochte die Sicherheit 
de3 Gigenthums und der Perfon nicht herzuftellen; ja jogar der gewöhnliche 
Grecutivdienft lieh die billigften Forderungen unbefriedigt. Als einer der haupt- 


414 Deutiche Rundſchau. 


fächlichften Gründe diefer bedauerlichen Thatjachen erjchien die Marime der Re- 
gierung, Rekruten aus den Provinzen, bejonders den ſlaviſchen Kronländern, in 
diejes Corps zu ſtecken. Diefe Mannichaften, welche häufig nicht der deutſchen 
Sprache mächtig waren, Teinerlei Localkenntniß bejaßen, von den Fintern des 
Gaunerweſens feine Ahnung Hatten, jollten die Sicherheit der Hauptftadt ver- 
bürgen! Die Folgen diefer Mißgriffe, welche einem ungerechtfertigten Argwohne 
gegen die Wiener Bevölkerung entjprangen, ließen nicht auf fi warten. Die 
dem Eigenthum gefährlichen Individuen hatten damal3 goldene Zeiten, und e3 
fonnte nicht befremden, daß fich in diefer Periode jene Gaunerbanden bildeten, 
welche jpäter der neu organifirten Polizei außerordentliche Schwierigkeiten be- 
reiteten und deren Ausrottung erſt in die allerjüngfte Zeit fällt. Wir gelangen 
nun zur Schilderung de3, Treiben der Verbrecherwelt in dieſer Periode. 

An dem Jahrzehnte von 1860 bis 1870 wurden in Wien ebenſo zahlreiche 
al3 bedeutende Waarendiebjtähle verübt. Leinwand, Wirk, Woll- und Seiden- 
waaren verſchwanden in nennenswerthen Quantitäten, und die Entwendungen 
geihahen ſowol mittel3 Einbruchs in Magazine und Gewölbe, als durch Ge- 
legenheitsdiebftahl von Wagen, welche die Kiſten und Ballen der Stadt zu— 
führten. Die Nachforſchungen ergaben ein unbefriedigendes Refultat; es wurde 
einerjeit3 fejtgejtellt, daß die geftohlenen Waaren nit in Wien blieben, aber 
e3 fehlte jeder Anhaltspunkt, wohin diejelben gebracht wurden. Die Polizei 
hegte lange Zeit hindurch den Verdacht, daß dieje Güter nad) Ungarn verfrachtet 
würden, wo in Folge der Vertreibung der Beamten und Zollauffihtsorgane, 
wie der politiichen Wirren, eine Polizei gar nicht beftand. Auch dieſe Hoffnung 
erwies fi als trügeriih; denn e3 gelang nicht, die geheimen Abſatzwege der 
geftohlenen Waaren zu entdeden. Ein größerer Pretiojendiebftahl führte zur 
Verhaftung eines längft berüchtigten Einbredherd, und aus dem Munde bdiejes 
Individuums erhielt die Behörde die erften Andeutungen über den Weg, welchen 
gejtohlene Waaren aus Wien nahmen. Langwierige Ueberwachungen führten 
endlich zur Entdedung der Eriftenz einer weitverzweigten und im großartigen 
Style organifirten Verbindung, welde fih von Wien über Nordungarn und 
Galizien bis Warſchau und Moskau erftredte. Trotzdem nunmehr diefe geheim: 
nißvollen Fäden in Händen der Sicherheitsbehörde lagen, bedurfte es längerer 
Zeit, um eine namhaftere Zahl der zu diefer Bande gehörigen Verbrecher aus— 
zuforſchen und der Gerechtigkeit zu überliefern. Die Entdedung dieſer weit ver- 
zweigten Genoſſenſchaft von Einbrechern, Diebshehlern und Vermittlern Hatte 
nicht unmittelbar das gehoffte Rejultat; die Folge bewies, wie jchlau und er- 
finderifch die unentdecten Meitglieder zu Werke gingen, um ihr gewinnreiches 
Geſchäft fortzufegen, und wirklich gelang es erft Jahre ſpäter, durch die Aus- 
führung der weiterhin zu beiprechenden großen Polizeireformen, das Nebel an der 
Wurzel zu fallen. Die widtigfte und wohlthätigfte Folge diefer Entdeckung 
war, den maßgebenden Regierungskreifen die Nothwendigkeit einer bejonderen, 
ausschließlich für Wien beftimmten Griminalpolizei zu beweiſen; ſpät genug 
indeß, denn das rapide Anwachſen der Bevölkerung, der Zuzug neuer Elemente 
aus den Provinzen, die erhöhte Handel3- und Gewerbethätigfeit und der fteigende 
Luxus waren nicht ohne Einfluß auf die Bildung einer Verbrecherwelt geweſen, 


Die Verbrecherwelt von Wien. 415 


welche fich in genau zu präcifirende formen jchied und als jolde hier num 
zunächit betrachtet werden joll. 

Die erfte und wichtigſte Gruppe ift die der Einbrecher. Die Mitglieder, 
welche ſich überwiegend aus entlaffenen Sträflingen recrutiren, waren, bevor fie 
zum erften Male mit dem Geſetze in Gollifion geriethen, zum größten Theile 
Profeifioniften, und zwar, nad) der Art des Gewerbes, vorzugsweiſe Schloſſer, 
Tiſchler, Bäder und Mafchinenarbeiter. Die Erfahrung lehrt, daß häufig In— 
dividuen, welche wegen leichter Eigenthumsverlegungen in Haft gehalten, dort 
durch den Umgang mit gewohnheitsmäßigen Einbrechern zu profelfionellen Ver— 
brechern derjelben Art werden. Die Mitglieder erfreuen ſich der genaueften 
gegenjeitigen Bekanntſchaft und nennen fich bei gewillen Spitznamen, welche 
meift auf eine charakteriftiiche Eigenthümlichkeit der äußeren Erjcheinung des 
Individuums, oder auf deifen Herkunft Bezug haben, 3. B. der „Schärglete“, 
der „Juden-Pepi“. Die verbrecheriichen Unternehmungen vereinigen gewöhnlich 
zwei bis drei Individuen, größere Gruppen treten faft nie zufammen. Die 
Localverhältniffe und Gewohnheiten der Bewohner von Quartieren oder Läden, 
in welchen ein Einbruch ftattfinden joll, werden jorgfältig ftudirt; der Jüngſte 
oder Unerfahrenfte übernimmt, während der Ausführung, die Rolle des „Auf: 
pafjers“ und trägt nie Einbruchäwerkzeuge bei fih. Häufig erfcheint er mit 
einer ſchweren Laft auf dem Rüden, oder fteht, während er den Späherdienft 
bejorgt, Teuchend bei jeinem Ballen. Ein nicht ungewöhnlicher Kunftgriff ift, 
dat der „Aufpaſſer“ das Dienftmädchen in ein Geſpräch vertwidelt, oder zum 
Hausthore lot, während die Genofjen in die Wohnung dringen. Die gewöhn- 
lien Inftrumente, welche die Einbrecher bei fich tragen, um Thüren und 
Schränke zu öffnen, find Dietrich, Teile und Stemmeifen; doch find wiederholt 
Einbrecher feitgenommen worden, welche ein fürmliches Arjenal führten und in 
die Lage geſetzt waren, jeden ſich ihnen darbietenden Widerftand zu befiegen. Bei 
einem im Jahre 1869 verhafteten Individuum fand man 32 verjchiedene In— 
ftrumente, welde der Verbrecher fich ſelbſt zubereitet hatte, und von denen 
mehrere einen jo hohen Grad von Kumftfertigkeit verriethen, daß diejelben die 
Zierden einer Mufterfammlung von Werkzeugen hätten bilden können. Die 
Wiener Verbrecher find ohne Ausnahme, jobald fie Geld in der Taſche haben, 
leichtfinnige Verſchwender; ift eine Operation gelungen, jo wird die Beute an 
einen der vielen Diebshehler verkauft und der Erlös getheilt. Es gilt ala 
Negel, daß fich die Theilnehmer hierauf zerftreuen und Jeder für fi) das un- 
recht ertvorbene Geld auf möglichft raſche Weife vergeudet. Die Zufammentunfts- 
orte der Verbrecher bieten denjelben überreichliche Gelegenheit, fi) des Inhaltes 
ihrer Börſe jchnell zu entledigen. Ein geglüdter Raubzug madt den Einbrecher 
nicht nur verſchwenderiſch, jondern auch freigebig. Er tractirt die Genoffen und 
das leichtfinnige Volt, welches ſich ſchnell um Denjenigen drängt, der den Befit 
einiger überflüffiger Gulden verräth. Von dem jplendiden Diebe heit es dann 
im Kreiſe feiner Umgebung, er hat es „miedergehen laſſen“, oder er hat „Krenn 
gemacht“ — Bezeichnungen, die in der Verbrecherwelt jo viel bedeuten, ala das 
Gelingen eines größeren Diebftahles. Die Schenken oder Spelunfen, in denen 
fi) die Verbrecherivelt verfammelt, find nicht nur Orte, die ſich der befonderen 


416 Deutſche Rundſchau. 


Fürſorge der Sicherheitsbehörde erfreuen, ſondern die auch häufig von Perſonen 
aufgeſucht werden, welche aus Neugierde die Verbrecherwelt beobachten wollen. 
Dieſen Beſuchern verdankt man die romanhaften Schilderungen, welche gewöhn— 
lich ſehr weit von der Wahrheit entfernt ſind. In Wien iſt übrigens der Be— 
ſuch der Verbrecherſpelunken ſtets gefährlich und namentlich Fremden durchaus 
abzurathen; die Stammgäſte dieſer Locale dulden keine Zuſchauer, und die Wirthe 
haben gute Gründe, keine Ausſchreitungen zu wünſchen. 

Es find gegenwärtig drei Locale in Wien, in denen allabendlich zahlreiche 
Vertreter der Verbrecherwelt zu finden find. Das erfte und berüchtigfte derjelben 
ift der „Mirakelkeller”, im Herzen der Stadt, ferner die Spelunfe: „die 
Blecherne“ am Salzgries, endlich die „Alhambra“ in der Leopoldftadt. In dem 
legtgenannten Locale kommen weniger die gefährlichen Verbrecher, ala Leichtes 
Gefindel aller Art zufammen. 

Der Ruf des „Mirakelkellers“ bat fih, in jüngfter Zeit, einigermaßen ge— 
befjext; und es ift zu begreifen, daß die Polizei nicht im Centrum der Stadt, 
in einer ihrer Hauptverkehrsadern einen ftändigen VBerfammlungsort gefährlichen 
Gelichterd dulden konnte. Doc war es immer noch fein bejonders vertrauen- 
erweckender Eindrud, welchen da3 Local auf Schreiber diejer Zeilen machte, ala 
er dor etwas mehr als zwei Jahren, kurz vor Beginn der MWeltausftellung, 
aus dienftlihen Gründen einen Beſuch im „Mirakelkeller“ abjtatten mußte. 
Selbjtverftändlich war ich nicht allein, jondern in Begleitung don zwei hand— 
feften Polizeiagenten, deren bewährte Umſicht und Entichloffenheit für alle 
Fälle Bürgihaft bot. E3 war nahe an Mitternaht, als wir die fchmale 
Treppe hinabkletterten und in das hell erleuchtete Local traten, in welchem 
beiläufig jechzig Perfonen verfammelt waren. Da meine Begleiter der Mehr— 
zahl der Anweſenden bekannt jein mochten, jo erregte unjer Erjcheinen ein 
leicht zu begreifendes Aufiehen, welches ſich zunächſt durch ein von Tiſch zu 
Tisch Iaufendes Geflüfter fund gab. Der Lärm, welcher vor umjerem Eintritte 
geherricht hatte, war verftummt, ein leifes Summen an deſſen Stelle getreten; 
es war eine unheimliche Stille, doppelt unheimlich, wenn man den Blid über 
die Tiichreihen ftreifen ließ und alle die Augen jah, welche fragend oder drohend 
nad) uns gerichtet waren. Wir ließen uns an einem Zijche nieder, und ich 
hatte volle Muße, die unheimliche Gejellihaft zu muftern, in deren Mitte ich 
mich befand. Wenige robufte Geftalten ausgenommen, waren die Antvejenden 
phyſiſch herabgekommene Individuen, die auf den Gefichtern die Spuren eines 
lafterhaften und unftäten Lebens trugen. Alle mochten dem Alter nach zwijchen 
dem 24. umd 40. Lebensjahre ftehen. Die Mehrzahl der Gäfte hatte die Röcke 
abgelegt und ſaß in Hemdärmeln und wenig äfthetifchen Stellungen vor den 
Tiſchen; ein junger Burſche, von beſonders frechem Ausjehen, trug ein roth- 
jeidenes Zuavenhemd, da3 er wahrjcheinlich bei irgend einer Gelegenheit erfapert 
haben mochte. Die Herren jchienen es ſich jehr wohl fein zu laffen, tranfen 
aus hohen ungeichliffenen Gläfern Bier und rauchten Virginia» Gigarren oder 
balblange Pfeifen. Meine Begleiter hatten ſchnell die Gejellichaft durchmuſtert, 
und da eine Perſon, die fie ihrer Aufmerkſamkeit zu würdigen die triftigiten 
Gründe hatten, nicht anweſend war, jo lag für uns feine Veranlaffung vor, 


Die Verbrecheriwelt von Wien. 417 


länger in der häßlichen Spelunfe zu verweilen. Wir entfernten una und hatten 
faum die zur Straße führende Stiege betreten, als Hinter und ein heillojer 
Lärm, Schreien, Pfeifen und Zujammenjchlagen von Gläfern, eriholl. Wir 
quittirten dieſe unerwartete Katzenmuſik und gingen unjered Weges. So harm- 
los wie diesmal verlaufen indefjen nicht immer die Beſuche, weldhe Sicherheit3- 
organe den Diebsjpelunfen abzuftatten haben; häufig genug haben ſich dabei 
ernfte Gefechte entwickelt. 

Eine jehr zahlreihe und nächſt den Einbrechern die gefährlichfte Kategorie 
der Verbrecherwelt bilden die Tafchendiebe. Einige Jahre hindurch waren 
diejelben zu einer wahren Plage der Gejellihaft geworden, jo daß es außer- 
ordentlicher Maßregeln bedurfte, um diefe Gilde einzufchränfen, welche zu Ende 
der Hechziger Jahre gegen taufend Mitglieder zählen mochte. Die belebteften 
Paſſagen der Stadt, die Pferdebahn-Waggons, die Foyers der Theater, die Vor- 
zimmer der MWechjelftuben, die Nuctionslocale, jelbft die Gerichtsjäle bildeten 
die Tummelpläße der Tajchendiebe. Leider muß bemerkt werden, daß unter 
diefer Verbrecherſpecies ſich manche Perjonen befinden, die eine beſſere Erziehung 
genofjen haben und durch ſchlechte Geſellſchaft auf die abſchüſſige Bahn des 
Lafterd geführt worden find. Diefer traurigen Thatſache muß das nicht minder 
bedauerliche Factum zur Seite geftellt werden: mehr ala jechzig Procent der 
notoriſchen Taſchendiebe ftehen in einem jehr jugendlichen Lebensalter. Die 
Taſchendiebe recrutiren ſich aus den verjchiedenften Ständen; die Gewerbe ftellen 
ein ftattliches Kontingent von entlaufenen Lehrjungen, und dies nicht ohne 
Schuld der Meifter, welche häufig die Burjchen durch empörende Frohnarbeit 
zur Verzweiflung treiben. ine bejondere Verbindung bilden die Tajchendiebe 
nicht; aber die „Ritter vom Griff“ willen dennoch in Gruppen zu „arbeiten“ 
und ſich gegenfeitig wohl zu unterftühen. Die Ausrüftung der Tafchendiebe 
beſchränkt fi auf ein einziges Inftrument, eine Heine ftählerne Zange, welche 
jo Hein ift, daß fie in der geichloffenen Hand bequem verborgen werden kann. 
Aber mit diefem Kleinen Anftrumente willen die Diebe Außerordentliches zu 
leiften, fie verftehen es, mit einem Fingerdrude auch die ftärkften Uhrketten ab- 
zufneipen — die Wiener jagen „zwiden“ — und mit gleicher Fertigkeit Brief: 
taſchen, Tabatieren ꝛc. zu e8camotiren. Einem ruſſiſchen Gutsbeſitzer wurde 
in dem Foyer der Oper, während er das Treppenhaus bewunderte, Buſennadel, 
Uhr, Brieftaſche und ein Opernglas binnen wenigen Secunden geſtohlen, ohne 
daß er die geringſte Berührung gefühlt hätte. Die Polizei verſchaffte dem 
Fremden in den nächſten achtzehn Stunden die ſämmtlichen geſtohlenen Effecten 
wieder, aber der Mann wollte nicht zugeben, daß Menſchenhände ihn geplündert 
hätten, ſondern glaubte an Zauberei. Der verwegenſte Taſchendieb wurde im 
neunten Bezirke verhaftet; man fand in ſeiner Wohnung ein ganzes Lager von 
entwendeten Gegenſtänden, darunter Verſatzſcheine über 136 Uhren, welche dieſer 
König der Tajchendiebe innerhalb zweier Monate geftohlen zu haben geftand. 
Nah) dem amtlichen „Wiener Polizei-Anzeiger” wurden, in den Jahren 1869 
und 1870, in jedem Jahre über 2000 goldene und filberne Taſchenuhren ent- 
wendet. Unwillkürlich drängt ſich die Frage auf, wohin dieje Taſchenuhren 
gelangen. Die polizeilichen Erfahrungen berichten darüber, daß ein geringer 

Deutfdhe Rundſchau. T, 12. 27 


418 Deutiche Rundſchau. 


Theil von Uhren in die Winkelverfagämter wandert, der größte Theil aber den 
Dieböhehlern in die Hände gejpielt wird. Dieſe brechen die Gold- und Silber- 
bejtandtheile ab und jchmelzen die Metalle ein; die Uhrwerke gehen ſäuberlich 
verpadt durch die Hände verjchiedener dunkler Ehrenmänner in dad Ausland 
und kommen, häufig mit neuen Gehäufen verjehen, Jahr und Tag jpäter wieder 
nad Wien zurüd. Es iſt aljo der Fall gar nit unmöglid, daß Jemand 
feine geftohlene Uhr ein zmweitesmal al3 neu fauft. Geftohlene Tajchentücher, 
Handſchuhe, Brieftaſchen und Cigarrenſpitzen werden gleihfall von den Diebs- 
hehlern gekauft und nad) Galizien oder Ungarn verjendet. 

Der Wiener Tajchendieb „arbeitet“, wie der englijche Langfinger, jehr vor- 
fihtig; nur in Momenten dringender Noth wird er rüdfichtslos, und die Zahl 
ber auf friiher That ertappten Taſchendiebe ift daher verhältnigmähig Klein. 
Die Polizei weiß durch die genaue Ueberwachung der Abjakorte für geftohlenes 
Gut fih am jchnellften des Diebes zu bemächtign. Manchmal unternehmen 
die Diebe Compagniegeihäfte, doc diefe Verbindungen, welche leicht jehr ge- 
fährlicy werden könnten, halten nicht an, da gegenjeitiges Mißtrauen und Un— 
einigfeit bei der Theilung der Beute regelmäßig eintritt und häufig jogar 
Denunciationen zur Folge hat. Eine Gruppe von Tafchendieben, deren Bekäm— 
pfung geraume Zeit erforderte, hatte die Bahnen zu dem Schauplake ihrer 
wenig erwünjchten Thätigfeit erforen. Die Gleihmäßigkeit, mit welcher jolcher 
Diebftähle verdäcdhtige Perfonen verſchwanden, und aufgefangene Gommunicationen 
derjelben an wichtigen Stationen ließen die Behörde auf eine vollftändige 
Organifation jchliegen. Die Deft. Kaiſer-Ferdinands-Nordbahn war in den 
Jahren 1868—1871 bejonder3 von diefer Verbrechergejellichaft heimgeſucht. Im 
Einvernehmen mit der Direction dieſer Eijenbahn entjendete die Wiener Polizei- 
Direction fünf beſonders gewandte Agenten, deren Aufgabe es war, unter Ver- 
Heidungen die Streden zu befahren, abwechjelnd in Waggons verjchiedener 
Klaffen einzufteigen und die Paflagiere zu muftern. Nach kaum zwei Monaten 
faßen die meiften Mitglieder des Berbrecherconfortiums Hinter Schloß und 
Riegel; mancher Dieb, der, im Coupe erfter Glaffe, neben einem reichen Kauf: 
herrn aus Brody oder Lemberg zu ſitzen vermeinte und defjen goldene Uhr zu 
escamotiren verjuchte, fühlte in demjelben Momente zu feiner nicht geringen 
Ueberrafchung die Schliegfette am Handgelente. 

Zu den bejonderd charakteriftiichen Typen der Wiener Verbrecherwelt ge- 
hören die jogenannten „Kratzer“. Bankerottirte Kaufleute, Häufig Schmuggler, 
reifen nad Wien, erklären ſich bei achtbaren Firmen als die Vertreter leiftungs- 
fähiger Häufer in der Bukowina, in den Donaufürftenthümern oder Odeſſa und 
verfuchen Waaren aufzunehmen. Manchmal erlegen dieje Schwindler eine Fleine 
Baarzahlung, um ihr Opfer gründlicher zu täufchen. Die beftellten Waaren 
werden zu einem Spediteur gejendet, two aber ſchon ein Genofje des „Kratzers“ 
harrt und die Ballen unter falſcher Adrefje jofort mweiterjchaffen läßt. Der an— 
gebliche Agent wird nicht mehr fichtbar, und wenn der Beſchädigte nicht alsbald 
den Betrug gewahr wird und die Polizei zu Hilfe ruft, ift jeine Waare 
rettungslo3 verloren. Obwol der Wiener Kaufmannſchaft, in den letzten zehn 
Jahren, Waaren im Gefammtwerthe von vielen taufend Gulden entlodt wurden, 


Die Berbrecherivelt von Wien. 419 


finden ſich noch immer einige Unvorfichtige, die derartigen Betrügern in bie 
Falle gehen. 

Auf der niederften Stufe der Verbrecherwelt ftehen die „Koſacken“, meift 
abgeftrafte und berüchtigte Individuen, die es fich zur Aufgabe machen, Fremde, 
beſonders zugereifte Landleute, in Spelunfen zu loden und dort durch betrüge- 
riſches Hazardipiel auszuplündern. Größeres ntereffe nehmen die Agenten der 
vornehmen Spielhöllen in Anſpruch. E3 ift begreiflih, daß in einer 
Stadt wie Wien, in der viele begüterte Reiſende zufammentreffen, und die, wie 
jede Großftadt, einen Ueberfluß an catilinarifchen Eriftenzen befißt, die Unter— 
nehmer geheimer Spielbanken ihre Rehnung finden. Da die öfterreichiiche 
Geſetzgebung Hazardipiele aller Art ftreng verpönt, jo find derartige Inter: 
nehmer genöthigt, ihre Banken bei verichloffenen Thüren aufzulegen und koſt— 
fpielige Vorkehrungen zu treffen, um fich gegen unerwartete Beſuche von 
Sicherheitäbeamten zu wahren. Die Spielbanken find nur in den Winter: 
monaten in Thätigleit, während der Sommerfaifon halten fich die Unternehmer 
in ungarischen Badeorten auf, wo fie gute Gejhäfte machen. In den leten 
Jahren hat die Polizei diefen Herren jcharf auf die Finger gefehen, und es 
wurden fünf große Spielhöllen aufgehoben. Die Unternehmer hatten es nicht 
an Anftrengungen fehlen laffen, um der Sicherheitsbehörde die Entdedung 
ſchwierig zu machen. Die Spielhöllen waren in großen Wohnungen der 
eleganteften Stadttheile aufgejchlagen, eine Reihe von lururids eingerichteten 
Salons, freie Buffet mit einer ſchönen und galanten Dame harten der Gäfte. 
Machen an doppelten und geichloffenen Thüren jorgten dafür, daß nur Perfonen, 
welche im Befite des Außerft geheim gehaltenen Lojungswortes waren, das 
Local betraten. Man fpielte theils Macao theils Roulette, die Bank betrug 
häufig 20,000 Gulden, der Spielumjat eines Abends bis 30,000 Gulden. 
Hazardipieler von Profejfion, herabgefommene Adelige, die entarteten Söhne 
einiger reihen und ftadtbelfannten Familien, Schaufpieler und angelodte Fremde 
bildeten die Gejellihaft. Die Polizei wußte ſich durch verkleidete Agenten 
Kenntniß von diefem Zreiben zu verichaffen und überraſchte durch Ueberfall 
die Spieler, welche ſich vor den Gerichten zu verantworten hatten. Bei einer 
derartigen Ueberrumplung wurde ein Spieltijch entdedt, der mit einer mecha— 
niſchen Vorrichtung ausgerüftet war, die es ermöglichte, die auf der Tifchplatte 
liegenden Gegenstände, wie die Roulette, die Geldeinjäße, die Räteaur des Croupiers 
(Seldrehen), jofort verſchwinden zu laſſen. Diejes Kleine, einem parifer Mufter 
nachgeahmte Kunſtſtück, Hatte jedoch nicht die veriprochene Wirkung, fondern 
nur das unvorhergejehene Mißgeſchick zur Folge, daß einem Spieler jämmerlic) 
die Hand eingeflemmt wurde. Da da3 Stammpublicum diefer Spielhöllen 
verhältnigmäßig Hein ift, jo bejolden die Unternehmer bejondere Agenten, die es 
fih zur Aufgabe machen, wohlhabende Fremde anzuloden. Die energifchen 
Mahregeln der Polizei haben das Handwerk diefer Herren jehr erſchwert und 
die Gefahr für harmloſe Reifende auf den geringft möglichen Grad beichränft. 

In einem Reiche, welches jeit länger als einem Jahrhunderte Papiergeld 
ftatt Elingender Münze als öffentliche Werthzeichen benützt, konnte die gewerb— 
mäßige Fälſchung von Banknoten und Staatänoten nicht verhindert 

27* 


420 Deutiche Rundſchau. 


werden. Das öfterreihiiche Strafgejeg enthält für Verbrechen diefer Art jehr 
ftrenge Beitimmungen; aber diefelben find umſomehr nöthig, als ein großer 
Theil der ländlichen Bevölkerung des Reiches fih auf einer jo geringen Bil- 
dungäftufe befindet, daß jelbft der Vertrieb von nicht bejonders geſchickt an— 
gefertigten Falfificaten leicht erjcheint. Die Bigilirung auf falſche Banknoten 
und Staat3noten wird daher ununterbrochen betrieben; eine Aufmerkjamfeit, die 
ganz gerechtfertigt ift, da feine Woche vergeht, in welcher nicht, bei einer der 
ftaatlichen Zahlftellen, Notenfalfificate älteren oder jüngeren Datums auftauchen. 
Al eine erwähnenswerthe Erjcheinung verdient verzeichnet zu werden, daß die 
Banknotenfälihung zur Zeit politiicher Wirren immer am ſchwunghafteſten be- 
trieben wurde, ferner mit welch’ großem Antheile Ungarn an der Zahl ber 
Fälſchungen participirt. Die bedeutendfte Fälſchung öfterreihiicher Banknoten 
wurde in Ungarn, kurze Zeit nad) der Niederwerfung der Revolution, entdedt. 
Die Falfificate waren mit nennenswerthen techniſchen Hilfsmitteln erzeugt und 
nur für beſonders genaue Kenner von den echten ftaatlihen MWerthzeichen zu 
unterfcheiden. Die Gejfammtziffer diefer in Umlauf gebrachten Yalfificate ift nie 
genau ermittelt worden; jedenfall® muß diejelbe aber höchft bedeutend gewejen 
fein. Die Regierung ließ es in der Folge nicht an großen Anftrengungen 
fehlen, um durch kunftvolle Herftellung der Geldzeichen die Nachahmung zu 
erſchweren. Died hat fi) auch als das wirkjamjte Mittel gegen Fälſchungen 
im größeren Mafftabe erwiejen. In der neueren Zeit find Fälſcherbanden 
entdeckt und unſchädlich gemacht worden, welche in der Schweiz und in Stalien 
die Prefien beſaßen und von dort die Falfificate einſchmuggelten. Einzelne Fälle 
von Banknotenfälihung find auch in den jüngften Jahren zu Tage getreten, 
doch ohne jeden empfindlicheren Nachtheil fir die Gejfammtheit. Die erhöhte 
Vorſicht des Publicums und die unausgeſetzte Wachſamkeit der Sicherheits- 
behörden erichweren den Vertrieb. — Endlich ift noch ein nicht jelten geübter 
verbrecheriicher Gebrauh mit entwertheten Gredit- oder Anlage- 
papieren zu erwähnen. Die wiederholten öfonomijchen Krijen der lebten 
Sabre haben den Sturz einer bedeutenden Anzahl von Banken und Actien- 
Geſellſchaften für Jnduftrieunternehmungen zur Folge gehabt. Die meift jehr 
hübſch ausgeſtatteten Actienjcheine mit Talons und Couponsbögen befißen nur 
noch den Werth des bedrudten Papiers, d. i. jo viel wie Nichts, werden aber 
trotzdem vielfah geſucht. Induſtrieritter und Schwindler bringen derartige 
Actienmaculatur an fi, um damit bei unerfahrenen Perfonen Betrügereien zu 
verüben. Kleine Leute, die den Greigniffen des Geldmarktes fern ftehen, werden, 
durch die pompös ausgeftatteten Actienſcheine beftochen, von derartigen Betrügern 
verleitet, Darlehne auf diefe „Werthpapiere” zu geben. Der Schwindler läßt 
fi natürlich nicht mehr jehen, der Getäufchte erfährt zu fpät die vollitändige 
Merthlofigkeit des genommenen Pfandobjectes. Solche Manipulationen werden 
übrigens in den Provinzen viel häufiger geübt, als in Wien. Ein Kunſtſtück, 
das in allen Großftädten zur Anwendung kommt, befteht endlich darin, daß 
Perfonen, die einen betrügeriichen Bankerott anfagen wollten, ihr „Haben“ mit 
werthlojen Actien belaften. Zu bedauern ift, daß diefe Art von Betrug gelingt. 

Der Umſchwung, welcher nach den gewwaltigen Ereignifien des Jahres 1866 


Die Verbrecherwelt von Wien. 421 


in der inneren Politik und in ber Verwaltung Defterreich3 eintrat, jollte von 
großen Confequenzen für das Sicherheitsweien in Wien fein. Cine eingreifende 
und, wie die Tolge lehrte, ſehr nützliche Maßregel war die Auflöfung des 
Militär-Polizgeiwachcorp und die Gründung der Wiener Siherheitswade, 
eines Anftitutes, das heute al3 muftergiltig bezeichnet zu werden verdient. Bei 
dem Organiſationsentwurfe der neuen Wache ging die Regierung im Einverftänd- 
niffe mit der Commune Wien, welche einen bedeutenden Erhaltungsbeitrag zu 
leiften hat, von folgenden Gefichtspunften aus: die zum Grecutivdienft be= 
ftimmte Wache ift der Polizeibehörde jubordinirt, der Chargencadre ift mög— 
lichſt Hein formirt, die Mannjchaft darf nur aus Andividuen beftehen, welche 
genügende Localkenntniß beſitzen, Abſchaffung des Dienftwanges und aller ent- 
ehrenden Strafen, materielle Sicherftellung des Mannes, endlich das Syftem der 
Gratificationen für befondere Dienftleiftungen aller Art. Die Folge hat bewieſen, 
wie zweckentſprechend diefe Organifationsgrundjäße waren. Es wird, fir unjern 
Zweck, nicht nöthig fein, in die Details über Bewaffnung, Ausrüftung und 
Dienftbeftimmungen der, einen Perjonalftand von 2800 Köpfen zählenden, Sicher- 
heit3wache näher einzugehen. Indeſſen erlaubt der Zeitraum von ſechs Jahren, 
welcher jeit der Errichtung der Sicherheitswache verftrichen ift, ſchon ein Urtheil 
über die Leiftungen diejes Anftitutes, und dafjelbe kann nur günftig ausfallen. 

Doch immer noch fehlte, al3 da3 mit ausfchweifenden Hoffnungen begrüßte 
Bürgerminifterium duch die Mattherzigkeit feiner Mitglieder raſch zu Falle ge- 
kommen, eine wirkliche Griminalpoligei. Der Minifter des Innern Dr. Giskra 
hat aber in den allerlegten Tagen feiner Herrichaft eine dankenswerthe That 
vollbradht, ala er den Brünner Polizeidirector Minifterialratd von Le Mon» 
nier dem Monarchen zum Chef der Wiener Sicherheitäbehörde vorfchlug. In 
eingeweihten Kreiſen erzählte man damals, der Kaijer habe, al3 er das bezügliche 
Decret unterzeichnete, gegen den jcheidenden Minifter geäußert: „Ach hoffe, daß 
die Erwartungen, welche fi) an diefe Ernennung knüpfen, in Erfüllung gehen!“ 
Dies ift in der That auch erfolgt, denn Ritter von Le Monnier, wiewol er 
leider zu früh, Schon drei Jahre nach erfolgtem Dienfteintritt, verftarb, hat in 
biefer kurzen Zeit doch der Wiener Polizei ihre heutige Geftalt gegeben. 

Der erſte Schlag des neuen Chef3 ging gegen das alte, aus der Thugut’fchen 
Zeit der Yacobinerriecherei ftammende, mehr bejpöttelte, ala ernſthaft genom- 
mene Inſtitut der „Vertrauten“. 

Etwas früher war eine andere, ihrer Entftehung nach derjelben Periode 
angehörige und ihrem Weſen nad) auf der VBerquidung der Criminal- und der 
politiichen Polizei beruhende Einrichtung gefallen, welche, wiewol an fich ziemlich 
harmlos, doch zu mancherlei Mebertreibungen Anlaß gegeben hat. Der Mtinifter 
Thugut, der Bater des vormärzlichen öſterreichiſchen Polizeiweſens, hatte nämlich 
damit begonnen, dem Kaiſer jeden Morgen einen Bericht der Polizei über die 
Vorfälle der Refidenz in den letzten vierundzwanzig Stunden zu überreichen. 
Kaifer Franz I. liebte, wie ſchon der Hiftorifer Springer in feinem befannten 
Werle bemerkt, diefe Rapporte auferordentlih, diejelben bildeten feine erſte 
Lectüre vor dem Tagewerke. Diefe Rapporte enthielten indeß weniger Meldun- 
gen ernfter Natur, ala zum größten Theile albernen Stadtklatſch, häufig eine 


422 Deutiche Rundſchau. 


Wiederholung der albernften Späße. Nach dem Tode de3 Kaiſers gingen bie 
Rapporte regelmäßig an die Staat3conferenz, rejpeftive deren Haupt, den all- 
mächtigen Erzherzog Ludwig. Die Abfafjung diefer noch Heute in den Archiven 
mit der größten Heimlichkeit betwahrten Rapporte war der Polizeibehörde jo 
jehr zur Gewohnheit geworden, daß im Jahre 1848, ala der Hof fi nach 
Innsbruck geflüchtet hatte, noch jolche Berichte dorthin abgejendet wurden. Weit 
dem NRegierungsantritte de3 gegenwärtigen Kaifer wurden dieje Berichte ein- 
geftellt. Der Kaijer, von Natur ernſt und Ion im jugendlichen Alter allen 
Ohrenbläjereien feind, widmete den geheimen Polizeiberichten feine Aufmerk- 
famteit; überdies war der entjchiedene Militarismus zur Herrſchaft gefommen, 
die militärische Umgebung des Monarchen blickte mit Geringihäßung auf die, 
allerdings auch höchſt unnützen, Schreibereien ängftlicher Bolizei-Hofräthe herab. 
Aus der vormärzlichen Zeit blieb der Polizei nur das jogenannte „ſchwarze 
Gabinet”, eine Einrihtung, die aber mit den gleichbenannten Inſtitutionen 
anderer Staaten feine Aehnlichkeit beſaß. Das „ſchwarze Cabinet“ beftand aus 
einem einzigen höheren, beſonders vertrauenswürdigen Polizeibeamten, der all- 
wöchentlich die Lifte jener Perjonen erhielt, welche bei dem Oberhofmeifteramte 
um eine Audienz bei dem Monarchen eingefommen waren. Weber dieje Per- 
ſonen vollzog die Polizei vertrauliche Erhebungen, da3 Vorleben, das politifche 
Verhalten und die Lebensverhältnifje betreffend. Dieje Einrichtung war zunächſt 
gegen den von jeher in Defterreich blühenden Hofbettel gerichtet und auch ent- 
ſchieden nothwendig, da es nie an Leuten mangelte, welche den großen Wohl- 
thätigkeitsfinn der kaiſerlichen Yamilie in unverſchämter Weife auszubeuten 
verfuchten. Wie bis in die Gegenwart diejer Hofbettel blühte, mag die That- 
jache beweilen, daß im Nacjlaffe der im Mai 1872 verftorbenen Erzherzogin 
Sophie 22,000 umerledigte Bettelbriefe gefunden wurden. Zu Ende der fünf- 
ziger Jahre wurde das „ſchwarze Gabinet“ aufgehoben und deſſen bisherige 
Geſchäfte dem Präfidialbureau der k. k. Polizeidirection Wien zugetheilt. Das 
centralifirende Minifterium der Goncordatszeit regelte die Verſendung der 
PVolizeiberichte nach ftrengen Dienftesbeftimmungen. Weber die polizeilichen 
Vorkommniſſe der Refidenz mußte zweimal des Tages, von zwölf zu zwölf 
Stunden, ein jhriftliher Bericht dem Polizeiminifter übergeben werden. Als 
ipäter ein befonderes Polizeiminifterium verſchwand, gingen diefe Berichte an 
den Minifter des Innern. Die Abtheilung für Preßangelegenheiten der Wiener 
Polizeidivection erjtattete jede Nacht über die ihr vorliegenden Genfureremplare 
der Journale des kommenden Morgen einen jpeciellen Beriht. Diejer ging 
nod in der Naht an das Minifterium und wurde dem großen Preßrapport 
einverleibt, welcher zu früher Morgenftunde im Cabinete des Kaiſers aufliegen 
mußte. Der große Preßbericht enthielt das Bemerkenswertheſte der gefammten 
in» und ausländifchen Preffe und füllte oft ſechzehn engbejchriebene Folioſeiten. 
Der Dienft in den Prefabtheilungen des Miniſteriums und der Polizeidirection 
war ebenjo anftrengend als verantwortlich, und die Beamten, welche denjelben 
verjahen, durften ala wahre Märtyrer betrachtet werden. Bei der großen Menge 
von Geſchäften, die der Erledigung von Seite des Monarchen harrten, blieb 
diefer Monjtrebericht meift ungelefen, und im Jahre 1860 befahl der Kaifer 





Die Berbrecherivelt von Wien. 423 


ſelbſt die Einftellung deſſelben. Ein directer Verkehr zwiſchen der Polizeidirection 
und der Gabinetöfanzlei des Kaiſers befteht feitdem nicht mehr; innerhalb des 
letzten Jahrzehntes hat es fich bei außerordentlichen Anläffen nur einige Male 
ereignet, daß der Polizeidirector, zur mündlichen Berichterftattung aufgefordert, 
vor dem Monarchen erſchien. — 

Nicht lange nach der definitiven Befeitigung dieſes letzten Ueberreſtes aus 
dem alten Polizeimejen wurde auch, wie bereit3 oben bemerkt, da3 Inſtitut der 
„Bertrauten” aufgelöft und jofort an die Bildung eines Detectivcorp3 
nad) englifchem Muſter geichritten. Es koſtete dem Polizeidirector manchen 
harten Strauß mit dem Minifterium, ehe die für eine Criminalpolizei erforber- 
lichen, allerdings nicht unbedeutenden Auslagen betwilligt und in das Budget 
eingeftellt wurden. Nach Monate währenden Unterhandlungen waren aud) dieje 
Schwierigkeiten überwunden; das Wort jollte endlich zur That werden. Der 
Status des Detectivcorp8 wurde auf 150 Köpfe normirt, demjelben ein Ober- 
infpector und fünf Inſpectoren vorgeftellt.e Zu Mitgliedern wurden nur be 
ſonders gut empfohlene, verläßliche und ortsfundige Perfonen erwählt. Die 
Bejoldung ift, im Vergleiche mit Staatsangeftellten gleichen Ranges anderer 
Dienftestategorien, eine gute und wird durch die Einführung de3 Syftemes der 
Gratificationen noch erhöht. Die Gratificationen werden jowol für beſonders 
erfolgreiche Leiftungen, ala für gefährliche und anftrengende Inſpectionen be= 
willig. Dem Detectiv ift eine Jahreseinnahme von 625 — 900 fl., dem In— 
fpector von 850—1200 fl. gefichert. Der letztere Functionär genießt jomit un— 
gefähr diejelbe Einnahme wie der Sergeant de3 Londoner Detectivcorps, deffen 
wöchentliher Gehalt zwei Pfund Sterling beträgt. An die Spite des nftitutes 
wurde ein bejonderd erfahrener und kenntnißreicher Polizeicommiffär, Herr 
Stehling, mit dem Titel eines Oberinſpectors geftellt. In den Wintermonaten 
1872 ging die Conftituirung des neuen Inſtitutes vor fi, und am 1. März 
deſſelben Jahres begann bafjelbe feine Wirkjamkeit. Nach engliihen Mufter 
find die Mitglieder in Brigaden eingetheilt, und zwar beftehen ſolche für Eigen- 
thumsverlegungen, Fremdenweſen, Nachforſchungen, Beobahtung der Winkel- 
verfahämter, Ueberwahung aus den Strafhäufern zurückgekehrter profeffioneller 
Verbredher u. j. w. Mit der Errichtung de3 Detectivcorps wurden andere Re— 
formen verbunden. Die Polizeicommiffariate der Hauptftadt erhielten eine 
Dienfteseintheilung, nach welcher fie alle vorfommenden Fälle criminaliftiicher 
Natur dem Gentralficherheitsbureau übergeben mußten, in welchem die tüchtigften 
und erfahrenften Beamten vereinigt wurden. Den Bezirlscommiffariaten blieb 
nur bei Griminalfällen die erſte Thatbeftandsaufnahme überlaffen. Zur Her- 
ftellung der beabfichtigten ftrammen Gentralifation trug die Errichtung eines 
bejonderd Wien und die Vororte umfpannenden Polizeitelegraphen bei. Die 
ſämmtlichen Wachtſtuben der Sicherheitswadhe, die Commiffariate, die Bahnhöfe 
und die Fyeuerwehrcentrale ftehen mit dem Gentralficherheitsbureau in directer 
telegraphiicher Verbindung, jo daß jeder Befehl oder jedes Avifo binnen wenigen 
Minuten den jämmtlichen Sicherheitäbehörden der Hauptftadt bekannt gegeben 
werden kann. Die Verfolgung von Verbrediern und die Vigilirung auf ver- 
dächtige Jndividuen find dadurch außerordentlich erleichtert. Es ift nicht an- 


424 | Deutſche Rundſchau. 


genehm, aber nothwendig, zu betonen, daß dieſe heilſamen Reformen anfänglich 
auf den paſſiven Widerſtand eines nicht kleinen Theiles der Beamtenſchaft 
ſtießen, mannigfache Angriffe auf dieſe „Neuerungen“ erfolgten und die trefflichen 
Abſichten des Chefs der Polizeibehörde vielfach gehemmt wurden. Der Grund 
dieſer auffallenden Erſcheinung lag in der Beſchränkung der Wirkſamkeit der 
einzelnen Polizeicommiſſariate, die ſich die Amtshandlungen in Criminalfällen, 
und dadurch die Gelegenheit, ſich auszuzeichnen, entzogen ſahen. Die Intereſſen 
des Einzelnen mußten jedoch vor dem Vortheil des Ganzen ſchweigen. 

Nach der Bildung des Detectivcorps und des Gentralficherheitsburreans 
folgten zwei andere Neuerungen, deren Nothwendigkeit gleichfalls ſchon längſt 
erkannt worden war. Erſtens die Anlage des Verbrecheralbums der Polizei— 
direction, d. i. einer Sammlung der Photographien aller der in Wien und den 
niederöſterreichiſchen Strafhäuſern befindlichen Perſonen, welche wegen Eigen— 
thumsverletzungen jeder Art, Raub und Fälſchung öffentlicher Creditpapiere mit 
dem Strafgeſetze in Colliſion gerathen waren. Die Verbrecher wurden durch 
einen beſonders beſtellten Photographen aufgenommen, die Bilder, welche eine 
Höhe von 16, eine Breite von 10 Centimeter beſitzen, derart bezeichnet, daß die 
Rückſeite des Cartons den Namen, eine kurze Biographie und Claſſification des 
Verbrechers enthält. Dieſe Photographien werden dann alphabetiſch ſortirt, in 
beſonderen Schränken, deren Einrichtung das Nachſuchen erleichtert, verwahrt. 
Nach einem halben Jahre zählte das Verbrecheralbum bereits 2500 Blätter, und 
bis heute ift die Zahl der Photographien auf iiber 4000 geftiegen. Eine zweite 
wichtige Maßregel bildete die verjchärfte Ueberwachung entlajjener Sträf— 
linge. Die Erfahrung hatte gelehrt, welch’ ein bedeutender Procentja von 
ben verübten igenthumsverlegungen ſolchen Individuen zur Laft Fällt, die 
Thon wegen gleicher Vergehungen eine Freiheitsſtrafe abgebüßt Hatten. Eine 
genaue Gontrolle der im Stadtgebiete wohnhaften entlaffenen Sträflinge wurde 
angebahnt, indem die Meldungsvorſchriften für dieſe Individuen verjchärft wur— 
den und das Stadtgebiet eine Eintheilung erhielt, der zu Folge auch die Be— 
zirlscommiffariate zum permanenten Ueberwachungsdienſt herangezogen find. — 
Die mwohlthätigen Folgen diefer Reformen traten unvermuthet raſch zu Tage 
und exleichterten auch die ſchwierige Aufgabe, welche der Wiener Polizei wäh- 
rend des Ausftellungsjahres von 1873 zufiel. Es verdient hervorgehoben zu 
werden, daß troß des bedeutenden Trremdenzufluffes im Sommer 1873 die Zahl 
der Eigenthumsverlegungen um circa 40 Procent geringer war ala während des 
Sommer 1871. Nah dem Verfaſſer zu Gebote ftehenden Acten der k. k. 
Polizeidirection*) wurden durch das Detectivcorps in der Zeit vom 1. März 
1872 bis 31. December 1873 Verhaftungen von 4958 Perſonen, welche ſchwerer 
Verbrechen überwieſen wurden, vorgenommen. Bon dieſen Verhaftungen ge- 
ſchahen 22 wegen Raubes, 3 wegen Mordes, 24 wegen ſchwerer Eörperlicher 
Verlehung, 3 wegen Entführung, 1426 wegen größerer Diebftähle, 596 wegen 
Veruntreuung, 772 wegen Betruges, 270 wegen Einbruch u. |. w. 


*) Der Derfaffer erlaubt fich, dem Herrn Polizeipräfidenten Marr feinen Dank für bie 
geftattete Einficht in die Acten der Wiener K. K. Polizeidirection auszuſprechen. 


Die Verbrecherwelt von Wien. 425 


Welchen coloffalen Umfang die Geichäftsthätigkeit der Wiener Sicherheits- 
behörbe innerhalb der letzten Jahre erreiht hat, möge aus den nachitehenden 
Ziffern, welche die Zahl der Gejchäftsftüde bedeuten, hervorgehen. Nach den 
amtlichen Ausweiſen betrugen: 


Die I. Semefter ber Jahre 1871 1872 1873 
Geftiondnummern der Commiffariate . . 157,105 182,983 207,348 
Unterfuggungen auf — —F us en n 

freiem Buße. . ergehen . . . 272 

Uebertretungen . 6,323 8,080 9,601 
Unterfugjungen ) Verbreden . . 1,918 2,339 1,816 
egen Verbaftete Dergehen . . . 278 224 142 
geg “| Nebertretungen . 5,152 7,310 8,186 
Triedensrichterliche Functionen . . . . 23,749 22,011 25,201 
Thatbeftands-Erhebungen . . » » . . 6,740 8,683 22,220 
Leumunda-Zeugnifle - » » 2» 2 2... 17379 15,586 17,450 
PVolizei-:Straffälle. -. . 2» 2 2 2.2... 15,720 19,439 26,491 
Meldungen des Domicß . -. - » . . 612,000 720,000 1,870,000 


Die vorftehende gedrängte Darlegung der Entwidlung des Wiener Polizei- 
weſens in den letzten Jahren läßt erkennen, daß die jo erfolgreich begonnenen 
Reformen noch nicht ihren Abſchluß gefunden haben. Die Summe der Leiftungen 
ift nicht gering anzuſchlagen und beweift, daß auch auf diefem Gebiete die 
Würdigung der Bedürfniffe einer haftig vorwärts drängenden und eine neue 
gejellihaftlihe Organiſation vorbereitenden Zeit ebenjo im Intereſſe der Be— 
völlerungen twie der Staatögewalten liegt. Die große finanzielle, commercielle 
und gewerbliche Krije, welche vor zwei Jahren über Defterreich zog, und deren 
Nachwehen noch lange nicht vertvunden find, Hat düftere Schatten auf das 
jociale Leben der Hauptftadt Wien fallen laffen, und e8 fehlte nicht an Er- 
ſcheinungen, welche begründeten, in welcher Richtung noch weitere Reformen des 
Sicherheitsweſens dringend geboten find. Es ift nicht zu bezweifeln, daß bie 
maßgebenden Kreiſe ſowol die Erkenntniß, als die Energie befiten, dieje Re- 
formen vorzubereiten und durchzuführen. 


Ueber altgermanifdes Heidenthum 
in der chriſtlichen Teufels-Sage. 





Don 
Profejjor Dr. Felir Dahn in Königsberg. 





I 


Mir haben anderwärt3*) an zahlreichen Beijpielen die Fortdauer von An— 
ſchauungen und Gebräuchen des altgermanijchen Heidenthums in dem bdeutjchen 
Volksleben der Gegenwart nachgewiejen. 

An jene Darftellung jchließt fih die Unterfuhung, ob und in welchem 
Maße, in welcher Weile auch in die hriftlicde Sage vom Teufel ſolche alt- 
germanijche Ueberlieferungen herübergenommen wurden. 

Wir finden bei Betrachtung de3 modernen Volkslebens in Süddeutſchland 
und dem katholiſchen Deutſchland überhaupt, daß keineswegs nur das weltliche 
Treiben von Bauer und Hirt, Jäger und Sennin von Reminiscenzen aus 
Walhall erfüllt, daß auch in die kirchlichen Gebräuche manches Stüd Heiden- 
thum übergeglitten ift. 

Unſchwer beantwortet ſich daher die Fyrage, wie es möglich, ja nothwendig 
war, dat auch das Bild des hriftlichen Teufels mit zahlreihen Zügen des alt- 
germaniſchen Götterglaubens gezeichnet wurde. 

Als das Chriſtenthum von den arianifchen und katholiſchen Prieftern den 
Völkern der gothijchen Gruppe, dann den Langobarden und Burgunden, den 
Franken und Thüringen, den Alamannen und Bajuwaren, zulegt den Sachſen, 
riefen und Nordgermanen verkündet wurde, waren die Belehrer weit davon 
entfernt, die Eriftenz und Macht der von ihnen befämpften Heidengötter zu 
leugnen: fie glaubten vielmehr, daß diejelben beftünden und vielfach in das 
Leben der Natur und der Menfchen eingriffen: nur eben nicht ala Götter, ala 
wohlthätige und hilfreiche Weſen, jondern ala Dämonen, als den Menſchen 
ſchädliche Gewalten: fei e8, daß fie Leib und Leben und Vermögen mit äußeren 
Gefahren bedrohten, jei e8, daß fie die Seele mit Luft und Genuß verführten 
und um den Preis kurzen irdiſchen Glüdes mit jündhafter Freude den ewigen 
Qualen der Hölle überantworteten. 


*) Im neuen Reich 1873. 


Ueber altgermanifches Heibenthum in der chriftlichen Teufels-Sage. 427 


Das Chriſtenthum hatte die Vorftellung eines perjonificirten böfen Princips 
aus den Traditionen des jpäteren Judentums überfommen; urfprünglid war 
dem ftarren und phantafielojen Monotheismus Ifſraels ein joldyes Bild fremd 
geweſen, ebenfo wie die Vorjtellung der Fyortdauer der Seele nad) dem Tode; 
in den früheren Büchern des alten Bundes begegnet feine Spur einer folchen 
Geftalt, die Schlange im Paradiefe und der Verſucher (Berleumder, Läfterer: 
dıapokos) im Buche Hiob find noch keineswegs Lucifer, der König des Höllen- 
reiches, der mit feinen Engeln von Gott abgefallen, „wie ein Stern vom Himmel 
ftürzt,“ in den Abgrund geichleudert ift, von two er den Kampf gegen die All- 
madt, Allwiffenheit und Allgüte Gottes mit bewußter Bosheit fortführt. 
Erſt in der jogenannten „babylonijchen Gefangenſchaft“, im Exil, lernten die 
Juden den perfiichen Dualismus von Ahurömazdäo und Ahrömainjus (Ormuzd 
und Ahriman), dem guten umd böjen Princip, kennen, und von dieſer Auffaffung 
der Zend = Religion aus erhält nun auch der Satan, arabiſch Schaitan, eine 
ganz andere Bedeutung; eine reihe Dämonologie wird ausgebildet; Beelzebub, 
anfangs nur der Name eine Göhenbildes der Heiden, wird zu der „Teufel 
DOberftem“. (Luther) 

Das neue Teftament fand aljo diefe Vorftellungen vor: es ift nicht an- 
zunehmen, daß der Begründer der chriftlichen Ideen ganz frei von bdenfelben 
gewejen wäre, wenn auc die Mirakelſucht und das mythiſche Bedürfniß feiner 
nächſten, ganz auf dem jüdiichen Volksglauben fußenden Umgebung ſchon frühe 
den weitaus größten Theil der Teufelsaustreibungen, Bejeßgnen = Heilungen zc. 
producirte und die Verſuchung in der Wüfte, einen innerlichen Seelenfampf, ver- 
gröberte und veräußerlichte: der wüſte vifionäre Myfticismus ber Apokalypie 
fteht wol von den Lehren Chrifti weit ab. — 

Als nun die chriftlicden Ideen auch von den Einflüffen der helleniſtiſchen 
Philojophen, beſonders Aegyptens (Alerandria’8) und Sleinafiend, von den 
Schwärmereien neupythagoräiicher und neuplatoniicher Syfteme, von Traditionen 
altorientalijcher Religionen ergriffen wurden, reproducirten mächtige Secten 
auch den alten zendiichen Dualismus von Ormuzd und Ahriman in neuen 
Wendungen: jo vor Allem die manidhäijche Ketzerei. 

Aber erſt jehr jpät, erſt bei Eujebius, der im Jahre 340 ſtirbt, begegnet 
die Anknüpfung Lucifers umd feines höllifchen Reiches ala eines Gegenbildes zu 
dem bimmlijchen mit feinen Engeln, Thronen und Fürſtenthümern der Tiefe, 
an die jchöne Stelle des Jeſaias 44, 12: „wie bift du doch vom Himmel ge- 
fallen, du Schöner Morgenftern”. — 

Schon von Anfang, lange ehe hriftliche Sendboten mit Germanen in Be- 
rührung traten, hatten die Chriften, Priefter und Laien, die Götter und 
Göttinnen Griechenlands, Roms und Aegyptens in diefem Sinne für Dämonen 
erklärt, fie gehabt und gefürchtet; Jupiter, Apollo, Diana, Venus, Iſis wurden 
twol auch gelegentlich) wieder einmal mit Opfern verjöhnt, wenn man ihre Rache 
für den Abfall zu dem allzu unfichtbaren Gott empfunden zu haben glaubte 
und des Menjchen Sohn immer noch zögerte, in den Wolfen wiederzufehren 
und das Reich diefer übermüthigen Heiden zu zerftören, welche fortfuhren, Pro- 
binzen zu erobern, Triumphe zu feiern, fi) Häupter und Becher mit Rofen zu 


498 Deutiche Rundſchau. 


befrängen und die jüdiſchen Sectirer zu verachten, welche man gottloje jchalt, 
da fie eines National-Gottes entbehrten. 

As nun den chriftlichen Bekehrern neben den früher ſchon befannten 
Göttern der Hellenen und Römer, Xegypter und Selten die germanijchen 
Stämme mit ihren neuen Göttern entgegentraten, lag durchaus fein Grund vor, 
die Bewohner Walhalla irgend anders al3 die de3 Olympo3 zu behandeln: zum 
Theil nahmen die Chriftenpriefter, wie ja ſchon die claffiichen Schriftfteller, wie 
Cäſar und Tacitus, die Identität der griechiſch-römiſchen Götter mit den ger- 
manijchen an; der Zuftgott Mercur galt ihnen für den Luftgott Wodan, Ifis 
oder Diana für Freya; die hölliihen Dämonen hatten nur bei veridhiedenen 
Heidenvölfern verjchiedene Namen angenommen; an ihrer Eriftenz und relativen 
Macht, zu verſuchen und zu ſchaden, zweifelten fie durchaus nicht: die zahlloſen 
Warnungen und Bußdrohungen der Goncilien beweiſen es vom 5. bis in’3 
17. und 18. Jahrhundert — die Zeit der legten Herenprocefje. — Und mie 
nun zum Theil in unmwillfürlicher Selbfttäufhung, zum Theil in Elug ſchonender 
Anpaffung die heidniſchen Götter und Göttinnen veriwerthet werden, um Gott, 
Chriftus, den heiligen Geift, die Madonna, die Engel, die Apoftel und Die 
Heiligen mit allerlei entlehnten Zügen zu bereihern und der gewohnten Vor— 
ftellung näher zu bringen, jo werden denn auch zahlreiche Züge aus der ger- 
maniſchen Mythologie auf den Teufel als der Teufel Oberften oder auf ein- 
zelne Specialteufel, Unterteufel übertragen; denn wie man in den Heiligen die 
Tugenden und die wohlthätigen Wunderkräfte ſpecialiſirte, wie man bejondere 
Heilige der Keujfchheit und der Demuth, bejondere Helfer gegen Brandſchaden 
und Biehjterben, vorzügliche Sahverftändige gegen Kopfſchmerz oder Glieder- 
reißen aufftellte, jo ftatuirte man auch bejondere Teufel des Bechers und des 
Würfels, des Geizes und der Verſchwendung: kurz gejagt, wie ſich unjere Götter 
der Heiligiprejung, der Ganonifirung, erfreuen durften, mußten fie fich vielfach 
eine Verteufelung, eine Dämonifirung, gefallen laſſen. 

Obige kurze Bemühung des jüdijchchriftlichen Teufel war zur Orientirung 
unerläßlich, im Uebrigen geht er mich nichts an; es ift mir wohl bewußt, daß 
er einer andern Facultät angehört, — ic) meine natürlich nur ala Gegenftand! — 
der ich ihn neidlos überlaſſe. E 

Betrachten wir num jene Elemente des germanifchen Götterglaubens und 
Göttercults, welche in das Bild des chriſtlichen Teufels übergegangen find, fo 
bietet ſich von ſelbſt eine auffteigende Linie dar: von den dumpfen Naturgewalten, 
den Rieſen, welche als Feinde der Walhallagötter erſcheinen, durch die zahl- 
reichen Mittelweſen hindurch bis empor zu den höchften der Ajen. 

Belanntlih durchzieht die gefammte germanifche Mythologie der Kampf 
der Aſen mit den Riejen, weldde den Walhalla-Himmel zu ftürmen, die Götter 
zu ftürzen, die göttlidde und natürlide Ordnung der Welt zu zerftören trachten, 
denn Aſen, anses, aesir, bedeutet nichts anders ala Balken, als Tragbalten des 
Himmels, de3 Kosmos der Natur und de3 Geiftes. 

Es lag nun den hriftlicden Prieftern jehr nahe, in den Rieſen teuflifche 
Gewalten im Ringen mit Gott dem 9 erblicken, \ind denn zabl- 


zediby \ > 


Ueber altgermanifches Heibenthum in ber chriftlichen Teufels-Sage. 4239 


reiche Einzelzüge, ja ganze Gruppen von Vorftellungen und umfangreiche Ge— 
ichichten der Riefenfage in die Teufel3-Mythen herübergenommen worden. 

Im Berlaufe jenes, die Jahrhunderte erfüllenden Kampfes gelingt e8 den Göt- 
tern wiederholt, einzelne gefährliche riefiiche Ungeheuer zu bewältigen und in Stetten 
zu Schlagen. (Die Frage, warum fie diejelben nicht tödten, beanttwortet fich einfach 
aus dem Bedürfniß der mythologiſchen Gefammt-Defonomie: fie dürfen nicht Schon 
in der Gefangenſchaft getödtet werden, weil fie bei der Götterdämmerung auf- 
treten und erſt hier zugleich mit den ſie beftreitenden Aſen fallen jollen.) 

So die Midgardichlange (dad die betwohnbare Erde feindlich umgürtende 
MWeltmeer), den Fenris-Wolf (den perjonificirten Rechtsbruch: ein Schwert 
jperrt dem Gebändigten die beiden Kiefern auseinander, ganz ebenſo wie noch 
die im vierzehnten Jahrhundert entjtandenen Bilder zum Sachjenfpiegel den 
„echter“ [d. h. den friedlos geſetzten Rechtsbrecher) als einen wolfshäuptigen 
Mann mit einem Schwert im Rachen darftellen), den böjen Loki, den Liftigen 
Berderber (dad Feuer in feiner jchädlichen Wirkung) und andere Ungethüme 
riefiichen Wejend. Aber am Ende der Dinge, wann die Götterdämmerung naht, 
reißen fich die Gefeflelten los und jchalten dann Unheil ftiftend mit Lift und 
Gewalt über die Erde hin unter den Menſchen, und Einzelnen gelingt es auch 
früher ſchon, auf kurze Zeit ſich loszumachen und verderblich zu wüthen — 
wenigftens bejteht immer die Furcht davor, und wo Ungeheures in Natur oder 
Menſchengeſchick fich begibt, two Waflergewalten, Feuersgluth, Feljenfturz, Erd— 
beben oder Seuche, wo furchtbare Bruderkriege, Mordthaten, twahnfinnige 
Frevel ganze Gejchlechter und Völker heimfuchen und ergreifen, da führt ſolches 
Unheil das bange Gemüth auf jene rieſiſchen Dämonen zurücd, welche auf Zeit 
die wohlthätigen Feſſeln der Götter geiprengt haben. 

Diejer ganze Kreis von Vorftellungen nun ift auf den chriftlichen Teufel 
übertragen worden umd zwar theils abftract auf den Teufel im Allgemeinen und 
das große Welt- Drama — davon jpäter —, theils concret und Local auf be- 
ftimmte Gefahren, welche einzelne Gegenden und Orte bedrohen und zu Zeiten 
von hier gefeffelten und fich losreißenden Teufeln und teufliichen Ungethümen über 
diejelben herbeigeführt werden, — davon wollen wir hier einige Beijpiele geben. 

Da ift der Teufel los! Da ging der Teufel los (was nicht etwa urjprüng- 
lich heißt: „da fing er an,“ jondern ganz buchſtäblich und finnlich: „er machte 
ſich los“ — wie der gefangene Fiſch von dem Hamen „Los geht“) jagen wir ganz 
allgemein, wenn plößlich Verwirrung, Lärm, Streit, Unrecht in bisher fried- 
lichen Beziehungen der Menfchen anhebt: es ift der gefeflelte Dämon, der feine 
Bande geiprengt hat und num frei jchaltend Unheil anftiftet. 

Antereffanter, weil concreter und lebendiger, ift die Zocaliftrung derfelben An- 
ſchauung. An vielen Orten Deutſchlands und auch anderer Gebiete germanischen . 
Einfluſſes lebt der Glaube im Volk, daß in dem nahen See, Teich, Fluß, auf der 
Höhe oder in der Tiefe des überhangenden Berges, in dem Sumpf oder der 
Heide der Nachbarſchaft ein Rieſenfiſch oder ein Riefentwurm oder ein anderes 
Untbier oder einfach der Teufel von Chriftus oder von einem Heiligen oder 
frommen Helben gebändigt und gebunden verfenkt liege, und daß die Stadt, das 
Dorf, das Thal verloren, d. h. durch Ueberſchwemmung, Bergſturz, Erdfeuer, 


430 Deutſche Rundſchau. 


Seuche dem Untergang geweiht ſei, wenn es dem gefeſſelten Unhold dereinſt ge— 
lingen werde, ſich zu befreien. 

Manchmal findet ſich dabei die Wendung, daß die Losreißung und das 
Verderben ftattfinden, wenn Gottlofigfeit, Unglaube, Verſchwendung unter den 
Bewohnern den Gipfel erreicht habe — eine merfwiürdig getreue Erhaltung der 
dee der Götterdämmerung, welche mit der höchften Entfittlijung, mit der Zer— 
reißung der religiöfen und moraliſchen Bande zugleich die riefiihen Dämonen 
ihrer Bande ledig werden und die frevelverfallene Menjchheit untergehen läßt. 
In diefer Faſſung begegnet die Sage 3. B. in der Umgebung von München und 
den bayerischen Bergen: wenn in jener Hauptftabt Unglaube und Sündhaftigfeit 
auf3 Höchſte angewachſen, dann wird fich ein ungeheurer Waller (Fiſch), der 
im Grunde de3 Walchenjee vom heiligen Petrus mit einem Hamen angefettet 
liegt, losreißen, unter feinem ungefügen Schweifichlagen wird der See aus— 
treten, den Kefjelberg durchbrechen, fich mit den Fluthen des Kocheljees vereinen, 
und die verbündeten Wafler werden dann die ſchutzlos vor ihnen liegende Refidenz- 
ftadt mit all’ ihrer Pracht und Sünde raufchend unter ſich begraben. 

Aber auch andere Riefenfagen noch haben Beiträge geliefert zu der Teufels- 
Mythe: jo die Bau- und Sprung-Sagen, überhaupt jene Erzählungen, welche die 
Rieſen an Weisheit, Kraft, mancherlei Geihiclichkeit mit den Göttern wett— 
eifern, oder um einen beftimmten Preis wetten und dann regelmäßig verlieren lafjen. 
Mit wechlelnden Wendungen wiederholt fi) in zahlreichen Städten Europa's 
die Mythe, daß irgend ein wunderbares, Menjchenfräfte und Menſchenwitz ſchein— 
bar überragendes Bautverf, eine Kirche oder eine Brüde 3.B., vom Teufel her- 
geftellt worden, in ftaunenswerth kurzer Zeit, oder, jehr häufig, indem er ſich 
von dem Baumeifter, der an der Löſung feiner Aufgabe verzweifelt, für den 
Tall der rechtzeitigen Vollendung die eigne arme Seele oder die des erften 
Menſchen, welcher die Kirche, die Brücke betritt, verjprechen läßt; durch eine 
glückliche Lift wird dann der Teufel geprellt, indem 3. DB. bei der als Termin 
verabredeten Hahnenkraht der Sterbliche (oder fein findiges Weib) vor der Zeit 
jelbft die Stimme des Hahn nachmacht und dadurch alle Hähne zu vorzeitigen 
Krähen bringt, jo daß der Teufel den jcheinbar verjpäteten, faft ganz vollendeten 
Bau zornig verläßt oder ihn wieder zu zertrümmern trachtet durch einen da— 
wider geichleuderten Felsblod, der aber, abgelenkt durch das bereit3 auf dem 
Thurme angebrachte Kreuz, unſchädlich daneben niederfällt und nun etwa, wie 
eine umfertige Stelle im Dachbau, als Wahrzeichen der Teufelsgeſchichte noch 
heute den Bejuchern gezeigt wird. 

In diefem gefammten, jehr ausgedehnten Kreis von Vorftellungen ift nun 
der Teufel an die Stelle ber Rieſen getreten, zu Grunde liegt der eddiſche 
Mythus von Swadilfari, nad) welchem ein Riefe um den Preis, dat ihm Freya 
zur Braut gegeben werde, binnen beftimmter rift eine undurchdringliche Mauer 
um MWalhall zu bauen unternimmt und nur durch Loki's Lift an der Vollendung 
gehindert wird. — 

In vielen Gebirgsgegenden, Flußengen, Felspäſſen zeigt man den Ein- 
drud des Fußes oder Hufs des Teufels, der „Teufelsklaue“, welche ex bei einem 
MWett- und Wagejprung oder bei Verfolgung einer keuſchen Jungfrau oder 


Ueber altgermanifches Heibenthum in der chriftlichen Teufels-Sage. 431 


auf der Flucht vor einem Heiligen oder Erzengel hinterlaffen Hat — auch Hier 
ift der Teufel der Hriftliche Nachfolger der Riefen im Kampfe mit Thor oder 
auf der Flucht vor ihm oder in Verfolgung einer lichten Göttin Walhallas. — 

Wenn in mandem Schwank des Mittelalter der Teufel ſich ala der 
dumme, geprellte, von den Heiligen oder auch von Eugen Menſchen überliftete 
Feind erweift (3. B. ftatt der Seele des Menſchen erhält er die Seele eines 
Pudels, oder der „Schüler von Salamanca“ verweift ihn auf feinen Schatten 
als feinen Nachmann, den er erivürgen möge), jo ift auch hierin der tölpelhafte 
ſchwerfällige Riefe der Edda, welcher Loki's Lift oder Odhin's überlegener Weis- 
heit erliegt, da3 unverfennbare Vorbild geweſen. — 

Wie die ungeſchlachten Feinde der Götter, die Riejen, haben auch die win- 
zigen und zierlien Mittelwejen, die Zwerge und die Elben, ſich der Ver— 
gröberung und Verhäßlichung, der Herunterzerrung in die Kategorie der Teufel 
nicht eriwehren mögen. Gar mander Hausgeift und Hauskobold, manch Wichtel- 
männden und „Untersberger Mandl“, an dem nur etwa die Enten oder Ziegen- 
Füße die geifterhafte Natur verriethen, hat ſich das hübſche rothe Hauskäppchen 
durch die häßlichen Teufelshörner erſetzen laſſen müſſen. 

Von den Elben — wir haben und angewöhnt, nad) der engliſchen Laut— 
verichiebung „Elfen“ zu jagen, weil Shakeſpeare's Sommernadtstraum uns die 
liebenswitrdigen Wejen zuerft wieder nahe gebradjt hat; es ift dies aber ebenjo 
verkehrt, wie wenn wir von Weif und Kalf ftatt von Weib und Kalb ſprechen 
wollten; das gute deutſche Wort: die „Elben“, ſoll umvergefjen bleiben — ift 
befannt, daß fie in neckiſchem Muthwillen und, wenn man fie, die Leidht- 
erzürnten, reizt, wol auch um zu ftrafen, Menſchen und Thieren auf den 
Nacken zu fpringen und fie zu reiten lieben; (auch die Krankheiten, zumal Fieber 
und Hautausſchläge, dachte man fich durch Elbengeichoffe plöglich angeflogen, 
angeheftet;) auch hierin ift ihnen der Teufel nachgefolgt, und wenn wir jagen: 
„reitet dich der Teufel? plagt dich der Teufel, daß du dies oder jenes thuſt?“ 
fo Liegt diefem Ausdrud die Vorftellung zu Grunde, daß der Satan wie ehemals 
die Elben dem von ihm „Bejeffenen” — ganz buchſtäblich — auf dem Naden 
ſitzt und den völlig Beherrichten, Willenlofen, wie der Reiter da3 Roß nad) jeinem 
Gutdünken in alle Wege der Gefahr und Tollheit lenkt. 

Bon den oberen Göttern und Göttinnen endlich ift zu jagen, daß jede diejer 
Himmlifchen mit Namen oder Geftalt, Waffe oder Geräth, Begleitethier oder 
anderem äußerlichen Attribut, meift aber auch mit inneren Charakterzügen den 
mittelalterlihen Teufel germanifcher und romaniſcher Völker ausgeftattet hat; 
ſogar der Vertreter des denkbar jchroffiten Gegenjates zu dem König der Finfter- 
niß, der lichte Frühlings» umd Sonnengott Baldur jelbft, hat ſich ala mittel» 
und oberbeuticher „Phol” die Dämonifirung gefallen laſſen müſſen; aus der 
übergroßen Fülle des zu Gebote ftehenden Materiald jollen hier nur einzelne 
bejonderd merkwürdige oder minder befannte Beläge herausgegriffen twerden. — 

Wenige meiner Leer in Nord- und Mitteldeutichland haben wol ihrer 
Lebtage von dem „Bilmes- (oder Bilwis-) Schneider” gehört: das ift ein böjer 
Nachbar, der nad dem fremden reichen Kornfeld Gelüften trägt; er beſchwört 
ben Teufel, welcher ihm in Geftalt eines goldborftigen Ebers ericheint, und auf 


432 Deutſche Rundſchau. 


dem Rücken dieſes dämoniſchen Thieres umreitet in gewiſſen heiligen Nächten der 
Zauberer die Aecker, nach deren Garben er begehrt; die auf denſelben ſtehenden 
Aehren wachſen und reifen fortan in ſeiner Scheune, während ſie auf dem Feld 
abſterben und faulen. 

An dem Thiere, das ihn trägt, erkennen wir die urſprüngliche Natur des 
hier erſcheinenden Teufels; es ift Frö, der alte Gott der Fruchtbarkeit, des Feld— 
ſegens, der weiland auf ſolchem ihm geheiligten goldborftigen Eber ſchützend und 
Gedeihen Tpendend durch die Saaten ritt; ihn, den alten Gott der Ernte, riefen 
die deutſchen Bauern gern noch heimlich an, wenn Mißwachs und Dürre die 
Abgunft oder Ohnmacht des neuen Himmelsheren und feiner Heiligen zu be— 
kunden jchienen. 

Das männliche Geſchlecht de3 Teufeld verhinderte, daß unmittelbar auf ihn 
ſelbſt Züge der Walhallagöttinnen übertragen werden; aber bekanntlich erfreut 
fich der Teufel einer Großmutter, die noch viel Schlimmer ift ala ex jelbft, und 
einer zahlreihen Schaar von VBerehrerinnen oder Heren; und diejer fein weiblicher 
Hofftaat hat fih in die Garderobe und Ausrüftung der Göttinnen getheilt; 
Idunens goldne Aepfel, aber mit verderblicher, nicht mehr mit verjüngender, 
fegnender Wirkung, hat die Teufelin im Märchen von Schneewittchen erbeutet; 
Freya's goldnes Halögejchmeide, „das der Anmuth unfterblichen Zauber leiht,“ 
vergibt die zur Unholdin herabgejunfene rau Holle an eitle Weiber, Un— 
widerftehlichkeit jündigen Reize um den Preis ihrer Seelen gewährend, und das 
heilige Katzengeſpann, auf welchem die Göttin durch die Himmel fuhr, ift in die 
Hexenküche gewandert. 

Am reichlichſten aber haben begreiflicherweije die beiden oberften Götter der 
Germanen, haben Donar und Wodan Eigenihaften und Attribute zur Geftaltung 
des Teufels abgeben müſſen; fie waren einerjeit3 aus dem Leben und den Vor— 
ftellungen des deutjchen Bauer, Kriegers, Jägerd am ſchwierigſten zu entfernen, 
und andrerjeit3 mußten fie den Prieftern ald der Dämonen Oberfte gelten. 

Dem Gott des Blitzes war die rothe Farbe heilig; darum erſcheinen heute 
noch auf unfrer Bühne Mephifto und Samiel in rother Tracht, darum gelten 
rothe Thiere, Pflanzen, Beeren, ja auch rothhaarige Menſchen heute noch dem 
Volt als dämoniſch („rother Bart hat Teufels Art, rothes Haar — Teufels- 
gefahr”). Das dem Gott der Eultur geweihte Thier war die Ziege, weil fie 
gleihjam die äußerften VBorpoften menſchlicher Siedelungen auf den unwirthbaren 
Telögebirgen ausftellt; es ift aber bekannt, daß der Teufel nicht nur gern auf 
einem Bode reitet, daß er jelbjt Bodshörner, Bodsbart, Bocksſchweif, Bocks— 
klauen trägt, ja daß er ganz und gar in Geftalt eines ſchwarzen Bockes zu er« 
icheinen liebt, jo daß die Heren auf dem Blodsberg und manche Secten von 
Ketzern, welche man des Teufelscultus bezichtigte, auf der Folter darüber befragt 
wurden und oft geftändig ausjagten, daß fie den „ſchwarzen Bod“ geküßt oder 
angebetet. Die Waffe des Donnergottes ift der Hammer; der Teufel aber heißt 
euphemiftiich „Meifter Hämmerlein”. 

Thor's Hammer hat die Eigenſchaft, daß er nad) jedem Wurf von jelbft 
in die Hand des Entjenders zurüdfliegt (dev Blibftrahl, der, eben in die Erde 
gefahren, jchon wieder aus den Wolken herniederzudt) — einen folden Hammer 


Ueber altgermanijches Heidenthum in der chriftlichen Teufels-Sage. 433 


aber lieh der Teufel jeinem Sohne Wilhelm von der Normandie behufs der 
Eroberung von England, und alle jchlichte Tapferkeit König Harald’3 und jeiner 
Sadjen mußte erliegen vor den dämoniſchen Waffen (d. h. der befferen Aus» 
rüftung und Tactik) der Normannen. 

Donar führt ferner einen Stärfegürtel, der durch fefteres Anziehen feine 
Kraft vermehrt, und zwei Stahlhandihuhe, um den glühenden Blitz anfafjen 
und jchleudern zu können; ſolchen Stärkegürtel führt aber im Mittelalter der 
Teufel und umgürtet damit jeine Lieblinge für den Kampf mit hriftlichen Helden 
oder im Gottesurtheil des gerichtlichen Zweikampfs, wie er ihnen für das 
Tragen de3 glühenden Eiſens im Ordal unfihtbar die Stahlhandichuhe leiht. 
Endlich aber ift in zahlreichen Ausrufen des Schredens, des Zorns, des Er— 
ſtaunens der Name „Donner“ oder „Wetter“, „Strahl“ euphemiftifch für den 
Namen des Teufeld noch heute im Gebrauch. — 

Die Erbſtücke aber aus dem Nachlaß unjeres oberften Gottes, Wodan’s, 
welche der Teufel geholt hat, find jo mannigfaltig, daß wir uns hier nur auf 
ein Inventar der wichtigſten einlafjen können, ohne Vollſtändigkeit irgend 
anzuftreben. Schon in der äußeren Erjcheinung gleicht der Teufel, namentlich 
wie er in dem Acten der Herenprocefje geihildert wird, dem Götterfünig zum 
Verwechſeln. Er trägt des Gottes Schlapphut tief in die Stirne gedrückt, den 
langen blauſchwarzen reichjaltigen Mantel um die Schultern geichlagen, und 
„Junker Wöden“ ift einäugig — da3 andre Auge ruht ala Pfand, von Wodan 
eingejeßt, in Mimir’3 Brunnen. 

Die dem Gott des Schlachtfeld3 geheiligten Thiere find der Leichenwolf 
und der Wal-Rabe — oft mußt ich’3 gedenken, wenn ich ungeheure Schwärme 
diejes Gevögels dunfeln Wolken gleich hoch in den Lüften über unferem Heer 
in Frankreich folgen ſah, als wir von Barleduc nordwärts gen Sedan jchivent- 
ten —; befanntlidy aber find Wolf und Nabe die häufigften Begleiter, Boten 
oder auch ncarnationen des Satans; ein „Helltwolf“ geiftert auf der Dorf- 
ftraße um Mitternadht, und ein krächzender Rabe fitt auf der Schulter des 
Albertus Magnus oder des Erfinders des Schießpulvers, Berthold Schwarz, 
oder der Buchdruckerkunſt, Johann Fuft, oder des bibelüberjegenden Luther's; e3 
ift Hugin, Odhin's Gedanke, der auf feiner Schulter ſitzend ihm Weisheit in’3 
Ohr raunt. — 

Der Teufel ift auch, wie männiglich befannt, der Anführer des wilden 
Heeres, der wilden Jagd, und alle jeine Waidgejellen find der Hölle verfallen; 
der wilde Jäger aber ift fein anderer als Wodan, der König der Lüfte, der zur 
Zeit der Winterfonnentvende die Holzweiblein jagt, d. 5. der Sturm, der in jenen 
Nächten die Bäume im Walde nit; man entgeht dem wilden Jäger, wenn 
man ein Feldkreuz umflammert; an dem Zeichen des Chriſtenthums bricht fich 
des Heidengottes und des Teufels Gewalt. 

Als Beherriher der Lüfte vermag Odhin feine Lieblinge raſch durch den 
Himmel hinzutragen, fie zu entrüden und zu verjeßen, wenn an einem Orte 
Gefahr ihnen droht oder an einem andern ihr plößliches Erſcheinen geboten ift; 
auf feinem duntelfarbigen Woltenmantel — er ift ſpäter zu Dr. Fauſt's Zauber- 
mantel geworden — (oder Wolkenſchiff) trägt er fie ſturmgeſchwind — auch 

Deutſche Rundſchau. I, 12. 


434 Deutiche Runbichau. 


darin ift ihm der Teufel nachgefolgt; al3 des Ritters mit dem Löwen Weib (nad) 
andrer Verfion Heinrich des Löwen), ihren im gelobten Lande Freuzfahrenden 
Gatten für todt haltend, mit dem böſen Nachbar Hochzeit halten will, führt 
der Teufel denjelben ſammt jeinem Löwen in einer Stunde durch die Luft von 
Damascus nach Braunſchweig, und als in dem Sängerfrieg auf der Wartburg 
Heinrich von Ofterdingen zu erliegen fürchtet, führt auf fein Anrufen der Teufel 
in Einer Naht den Meifter Klingjor aus Ungarland zu jeiner Unterftüßung 
herbei. — Manchmal find die Mebergänge, welche von dem weisheit- und hoheit- 
vollen Götterfönig zu der meskinen Figur des Teufel Führen, jehr verſchlungen 
und überraſchend uno doch für ein geübtes Auge jedem Zweifel entrüdt. So 
in folgendem ſeltſamen Zujammenhang. 

Odhin ift bekanntlich der Erfinder der Runen und aller an fie gefnüpften 
Weisheit. Der Runenzeichen bediente man fi aber auch, um die Loosftäbe 
und Holztwürfel zu bezeichnen, mit denen man die Zukunft erforjchte oder zwei— 
felhafte ragen der Gegenwart entjchied; ja auch zum Spiel benußte man 
mit Runen verjehene Würfel. So wurde Odhin auch zum Erfinder und Be- 
herrſcher des Würfelſpiels, welchem die Germanen mit Leidenſchaft oblagen. 
Da nun aber unter den von der Kirche verfolgten Laftern auch die Spiel- 
fünden ganz regelmäßig in die Bußbücher, Beichtjpiegel und dergleichen auf- 
genommen wurden, bildete der Aberglaube einen bejonderen Spielteufel aus, 
welcher die Würfel erfunden und mit Geheimzeichen gerigt Hatte; baher 
heißt der Teufel auch Meifter Würflein, oder Junker Schänzlein (Schänzl 
— MWürfel), und ein Rabe ift e3, welcher den Zechern, die die Würfel vergefjen 
haben, ſolche aus der Luft zuwirft, — Odhin’3 Rabe, welcher hier feinen Gott ver- 
tritt. — Endlich aber ift der ganze umfang= und gehaltreiche Sagentreis, welcher 
fih um den Gedanken des Zeufel-Pactes, des Bündniffes mit dem ‚Teufel 
windet und die großartigfte Vertiefung und Vergeiftigung im Goethe'ſchen Fauſt 
gefunden hat, ebenfalls auf Odhin und zwar in überrafchendem Zufammenhang 
zurüdzuführen. 

Der Teufel Teiht auf Grund des mit Blut gejchriebenen Vertrages feinem 
Bundesbruder ein zauberhafte Geräth (den Wünſchelhut, den Zaubermantel, 
ein alle Krankheiten heilendes Kraut, ein immer fieghaftes Schwert, immer 
treffende Freikugeln) oder, ohne ſolche Verfinnlihung, übermenjchliches Wiſſen 
oder Reihthum und Genuß auf Lebenszeit, oder er verfauft ihm das Geheimniß 
einer bejonderen Erfindung: des Schießpulvers, des Buchdrucks; der Preis ift 
immer der gleihe: bei dem Tode de3 Bundesbruders verfällt deffen Seele dem 
Teufel und muß diefem dienen in dem Höllenreih. Diefe ganze Vorftellungs- 
reihe begegnet nun ſchon bei dem Ddhin der Edda: ala Anführer der Götter 
und ihrer Verbündeten, der Einherjar, in dem großen Kampfe gegen die Riejen, 
hat Odhin ein Intereſſe daran, daß gerade durch Geift, Kraft und Muth hervor- 
ragende Männer nicht den „Strohtod“ fterben, fondern den „Bluttod“, d. h. im 
Kampfe fallen, denn nur die Seelen folder Männer gehen in Walhall ein und 
verftärken das Heer der Einherjar. 

Deshalb jhlieht der Götterfönig mit ſolchen Männern, feinen Lieblingen, 
Verträge ab, in welchen er ihnen etwa in der Form der Verleihung eines Sieges- 


Ueber altgermanifches Heidenthum in ber chriftlichen Teufeld-Sage. 435 


ſpeeres oder Siegesichwertes für's Leben oder für eine Reihe von Jahren Sieg 
in jedem Kampf und damit aljo Ruhm, Macht und Herrlichkeit zufichert, wo— 
gegen ex ſich nur vorbehält, daß er zuleßt die Seele des Helden durch den Blut- 
tod fire jein Reich und Heer gewinnt; in der lebten Schlacht tritt dann dem 
Bundesbruder der Gott jelbft in halb verhüllter Geftalt entgegen, zerichlägt ihm 
den Siegesſpeer in der Fauft und ftöht ihm das Schwert in das Herz, ganz 
wie zulegt dem Freiſchützen der wilde Jäger jelbft entgegentritt, die nie fehlende 
Kugel, die diefer auf ihn abſchoß, ihm lachend in's Antlig wirft und ihn mitten 
durch's Herz ſchießt. — 

Wie aber im Heidenthum alle das Menſchenmaß überichreitenden Wunder- 
werke, Erfindungen, Bauten auf Odbin, den Meifter der Runenweisheit, zurüd- 
geführt wurden, jo läßt es fi unfer Volk auch heute noch nicht nehmen, daß 
ſolche Erfindungen, welche ihm als ein Unerhörtes ericheinen und von erftaunens- 
werthen Erfolgen begleitet find, von dem Nachfolger Odhin’s, dem Teufel, um 
den herföümmlichen ‘Preis erworben find; jo die Eifenbahn, bei weldyer immer 
ein Paſſagier weniger ausftieg, als eingeftiegen waren, weil den Lehten unterwegs 
ber Teufel geholt hat; jo dad Zündnadelgewehr, welches — wie man im Jahre 
1866 allgemein in Defterreihh und Bayern von dem Landvolk hören konnte — 
der Teufel dem Graf Bismard gegeben hatte — vermuthlih auch nur gegen 
die übliche Gegenleiftung, was una aber nichts angeht. — 

Haben wir jo eine ganze Reihe riefiiher und göttlicher Einzelweſen des 
Heidenthums als in dem dhriftlichen Teufel gleihjam aufgegangen und auf- 
bewahrt nadhgetwiejen, jo wiederholt ſich aud) in der Geſammtanſchauung, welche 
das Mittelalter beherrichte, in der ganzen Deconomie des Weltlaufs der Grund» 
gedanke der eddiſchen Mythologie. 

Das uns leider nur in Bruchftüden erhaltene althochdeutſche Gedicht 
Mufpilli zeigt dies am deutlichften, und zahlreiche jpätere Legenden wiederholen 
die gleiche Vorſtellung. Wie nämlich nach der Lehre der Edda am Ende ber 
Dinge Gottlofigkeit und Sünde aller Art ihren Höhepunkt erreichen, alle von 
ben Göttern gefeflelten Ungeheuer ſich losreißen und jchließlih in ungeheurem 
Kampf alle riefiichen und himmliſchen Streiter ſich gegenfeitig erlegen und das 
ganze Univerfum in Flammen aufgeht, aus deren reinigenden Lohen dann eine 
neue, paradieſiſche, fündenloje Schöpfung auftaucht, jo glaubte das Mittelalter, 
daß dem jüngften Tage das Reich des Antichrift auf Erden vorbergehen, daß 
der Prophet Elias vergeblich zu deffen Bekämpfung vom Himmel herabfteigen, 
vielmehr den im Zweilampf empfangenen Wunden erliegen werde — wobei ganz 
genau Züge der eddiichen Kämpfe Odhin's und Thor's wider den Fenriswolf 
und bie Midgardhichlange wiederholt werden —, bis endlidy Chriftus der Herr 
jelbft, nachdem die himmlischen Heerfchaaren vor den Teufeln fat erlegen find, 
durch Vernichtung des Antichrift die ungeheure Schladht beendigt, wobei eben» 
falls Erde, Meer, Hölle und alle Geftirne in Flammen aufgehen, jo dat Gott 
Bater einen neuen Himmel bauen muß, in welchem dann die hriftlidhen Götter, 
die Göttin Maria, die zahllojen Halbgötter und Untergötter, d. b. die Apoftel, 
Erzengel und Engel, die Heiligen und die Seelen der erlöften Menichen, den 

28% 


436 Deutſche Rundichau. 


Einherjar vergleichbar, das in's Chriftliche übertragene Walhalla-Leben in Ewig- 
feit fortführen. — 
II. 


Es drängt ſich aber doc) vor dem Abſchluß diejer Unterfuhung die Frage 
auf: warum Hat fi) das Mittelalter die Mühe gegeben, feinen Teufel aus 
diefer großen Zahl von heidnifchen Einzelwejen aufzubauen? Weshalb bat es 
nicht einfach den germaniſchen Teufel herübergenommen ? 

Die Anttvort lautet: weil es einen germanijchen Teufel nicht gab. Der 
Lichteultus, aus welchen ſich al3 dem allgemeinen Götterglauben der Völker der 
ariihen Race allmälig bei der Wanderung nah Nordweiten die Mythologie 
unferer Ahnen entwidelt hat, kannte feinen Repräjentanten des Böjen als 
Selbſtzwecks; tweder die Riejen noch Loki nehmen die Stellung des böjen Prin— 
cip3 ein; jene find der nothiwendige — „unbefangene“ würde Hegel jagen — 
Naturgegenfa der Ajen und Loki trägt die Doppelnatur eines bald ſchädlichen, 
bald wohlthätigen, immer aber tüdijchen Elements, des Feuers, an ſich. 

Damit ftimmt überein, daß nad) germaniſcher Auffaffung der Strafort der 
Verdammten nicht heiß und brennend, jondern kalt, finfter und naß ift; Jumpfige 
Ströme, welche Leichen, Schwerter, Schlangen durch die Nacht wälzen. 

Hel aber ift neutral: der hehlende, bergende Raum der Unterwelt; erſt das 
Chriſtenthum hat uns die Hölle hei gemacht. — 

Auffallend ift — ich werde nicht jo ungalant fein, es Icharffinnig zu 
finden —, daß ſich unjere Vorfahren das Böfe, Verlockende, Verderbliche meift 
in weiblichem Geſchlecht gedacht haben. 

Schon Wulfila überfegt das männliche oder neutrale daiuwr, dauucvıor 
jeines griechiſchen Tertes merkwürdigerweije mit dem Femininum: unhultho, 
„Die Unholdin“, und althochdeutſche Gloſſen gefallen ſich ohne allen zwingen- 
den Grund ihrer Terte in berjelben gereizten Auffaffung des Ewigweiblichen, 
welche ic}, wie gejagt, auf das Schmerzlichfte beflage, aber doc um der Wahr: 
haftigfeit willen nicht verſchweigen darf. 

Bekanntlich ift des Teufel3 Schwiegermutter das einzige Welen, vor welchem 
fich der böfe Feind fürchtet, und two er ſich jelber nicht hinwagt, da ſchickt er 
ein böjes altes Weib Hin. — 

Unfere moderne Weltanfhauung ift, in einem höheren Sinn, zu dem alt- 
ariſchen Lichteultus zurückgekehrt; fie kennt feinen perjönlichen Teufel, nur ſchäd— 
liche Naturkräfte, welche mit gleicher Nothwendigkeit wirken, wie die wohl— 
thätigen; im Gebiete des Geifteslebens aber kennt fie nur den Gegenjab des 
Bernunftgemäßen und des Vernunftwidrigen, des Unlogifchen, des Unfittlichen, 
bes Häßlichen; in dem Kampf gegen diefe Mächte der Finfternig wollen wir 
ausharren und uns die Verheißung aneignen: „die Pforten der Hölle jollen 
und nicht überwältigen!” — 


Mohammedanifhe Fürſten der Neuzeit 
und die europäiſche Civilifation. 


Don 
Profeſſor Dr. H. Pambery in Peith. 


—— — 


l. 


Unter den großen Umwandlungen, welche die geiftige Betvegung der Neu— 
zeit im gegenjeitigen Verhältniffe zwijchen dem Orient und Occident hervor— 
gerufen hat, ift nichts jo jehr in einer geradezu ganz umgekehrten Richtung her= 
vorgetreten, al3 der alte Sat: „Ex Oriente lux.* Die Gelehrten und Schön- 
geifter de3 Morgenlandes mögen ſich noch jo jehr dagegen fträuben: heute heißt 
es: „Ex Oceidente lux,“ und da diejes Licht, diefe Sonne des Weſtens, welche 
über den Orient nun aufgeht, zuerſt die allerhödhjften und dann die hohen 
Spiten bejcheinen muß, um in den unterften Schichten Licht und Wärme ver- 
breiten zu können, jo wird man es wol billigen, wenn wir uns nach diejen 
Gipfelpuntten der moslimiſchen Gejellihaft umfehen und die mohammedanijchen 
Majeftäten in jenem Lichte, richtiger gejagt, in jenem Scheine vorftellen wollen, 
welchen fie von dem noch allerdings Schwachen Strahlentrany einer aufgehenden 
Sonne erhalten haben. 

Wenn ich nun jagen werde, dab dieje leibhaften „Gottesſchatten auf 
der Erde“, wie die Monarchen des Islams fich zu nennen pflegen, bejchienen 
und doch nicht erleuchtet, beftrahlt und doch nicht erhellt worden find, jo habe 
ih mit Hinblick auf die noch lebhafte Erinnerung an die Europareifen des 
türliſchen Kaiſers und des perfiichen Königs wol leine große Neuigkeit gejagt. 
Dieſes ift jedenfall eine traurige Wahrnehmung; denn der Morgenländer ift 
noch gewohnt, das Sprichwort: „Das Volt befolgt den Glauben feiner Fürften“ 
durchaus buchftäblich zu nehmen. Der Fürſt, in den meiften Fällen göttliche und 
weltliche Autorität, ift die Leuchte des frommen Lebenswandels, die Richtſchnur 
im weltlichen Umgange, da3 Mtodebild in Bezug auf die Kleidung und der 
Tonangeber in Geſchmacksſachen. Die Rolle, welche den mohammedanijchen 
Fürſten der Neuzeit ala Givilifatoren ihrer Völker zugefallen, ift daher feine 
geringe; fie wird auch für die nächfte Zukunft, ja noch lange von hoher Wichtig- 
feit bleiben, und ift es nicht um jo mehr betrübend, zu finden, daß im Spiegel 
unferer bisherigen Erfahrungen kein einziger Fürft der modernen Islamwelt als 


438 Deutſche Rundichau. 


würdiges Mufter feiner Unterthanen fi) darftellt? Abgejehen davon, daß bie 
im höchften irdiſchen Glücke Geborenen eine zu außergewöhnlichen civilijatorifchen 
Milfionen nöthige Befähigung nur jelten mitbringen, eine jolde wol noch 
feltener entfalten können, wird der Beobachter der IUmgeftaltungsperiode des uns 
nahe gelegenen Oſtens jofort bemerken müſſen, daß e3 den hervorragenden mos— 
limiſchen Botentaten der Neuzeit vielleicht nicht jo jehr an Naturanlagen, als 
an fejtem Willen, würdigem Ernfte und aufrichtiger Begeifterung gebrad). 

Im moslimiſchen Afien gibt e3 zwei Staaten von politiicher Bedeutung. 
Beide find Kolofje mit hohlem Körper, beide altersſchwache, zahn- und mähnen- 
loje Löwen; aber demungeachtet find beide noch immer die Repräjentanten ber 
zwei Hauptfractionen der moslimiſchen Gejellihaft oder Welt, wie man es 
nehmen will. Das ottomanijhe Türkenthum, der Erbe jener Länder, 
welche der zuletzt ganz zitternden Hand des Chalifates durch turaniſche Horden 
entriffen wurden, ftellt den, oder richtiger gejagt fteht dem, wejtlichen Islam vor, 
während das iranijche Element, troß der ethnijchen und religiöfen Verſchieden— 
heit, von jeher der Hauptfactor im jocialen Leben des öftlihen Islam war 
und e3 noch heute ift. Wir haben demzufolge nur von Sultanen und Schahen zu 
ſprechen, wenn wir die Spiben jener beiden Fractionen berühren wollen. Zur Zeit, 
al3 der Geift des Abendlandes, getragen theil3 von dem weithin rollenden Donner 
der Kriegsgeſchütze, theils aber auch von dem mit dem Delziweig gefrönten Boten der 
Wiſſenſchaft und des Handels, im nahen Weften und im fernen Often der alten 
Welt häufiger und mit größerem Selbftbewußtjein auftrat: da herrſchten eben 
in den benannten Theilen der Islamwelt zwei ſolche Männer, deren Indivi— 
dualität und Charakter, nationale und religiöfe Auffaffung von einander ſich 
bedeutend unterjchied, von denen ein jeder eben dafjelbe entbehrte, was bei dem 
andern in Fülle war, daher fie al3 Einzelne nur Mittelmäßigkeiten blieben, 
während, mit einander verihmolzen, aus ihnen eine Macht von wahrhaft welt» 
geichichtlicher Bedeutung hätte erwachlen fünnen. Der eine war der Kadſchare 
Feth-Ali Schah, der andere der Dsmanide Sultan Mahmud II. Schon 
aus ihrer perjönlihen Erjcheinung trat ein frappanter Gegenjag zum Vorſchein. 

Teth- Ali Schah war von Ihmächtiger, hagerer Geftalt, mit langen Armen, 
langen Gefichtszügen und dem längften Barte im ganzen iraniſchen Reiche, auf 
ben er auch außerordentlich ſtolz war, und da es jeiner Eitelkeit bejonders 
jchmeichelte, wenn der Juwelenſchmuck des Gürtel durch die Endipiten des 
Bartes glikerte, jo mußte jeder wohlerzogene Jranier von ftärkerem Haarwuchſe, 
um der Majeftät nicht ähnlich zu jein, den Gürtel etwas tiefer tragen. Sul— 
tan Mahmud dagegen war von unterjeßtem Wuchje, eine breite, knochige Figur, 
mit breiten, platten Gefichtszügen und mit ſchwarzen, bisweilen wild vollenden 
Augen. Sein heute auf dem Throne figender Sohn fieht ihm ungefähr ähnlich, wie 
der Prinz Napoleon jeinem großen Obeim. Bon ethnographijchen Standpuntte kann 
daher der Schah ala wahres Prototyp der iraniſchen Race, der Sultan als echter 
Türke von Schrot und Korn angejehen werden. Dod) auch in diefer Annahme 
liegt eine Täufchung, denn die Kadſcharen find Türken, ja jogar Turkomanen von 
Urfprung, und in den Adern der Osmaniden rollt eine Miihung zahlreicher 
Elemente, von Griechen, Slaven, Abchafen, Addigis Lesghiern, Georgiern u. ſ. w., 


Mohammedanifche Fürften der Neuzeit und die europäiſche Givilifation, 439 


folglich Alles, nur nicht Turanier. Auch in den hervorragenden Zügen ihrer 
Charaktere waren die beiden Herrſcher grundverichieden von einander. Feth-Ali 
Schah war eitel bis zum Uebermaß, und joll z. B. unter Anderm verlangt 
haben, daß jelbft bei den Ruftemen, die in Perfien als grotesfe Malerei über 
Bädern und Fleiſcherbuden prangen, fein Antlib abgebildet werde. Was er auf 
feine Rubine und Diamanten hielt, davon haben uns die Generäle Gardanne 
und Malcolm und die Diplomaten Jaubert und Oufeley nicht genug erzählen 
können; aber der Schah war nicht nur auf feine Perfon, feinen Bart und feine 
Schätze, jondern auch auf fein Bolt nicht wenig eingebildet. Der iraniſche 
Nationalftolz, nad dem Sturz der Sefiden tief in den Staub gedrüdt, fing 
unter ihm wieder an, ſich emporzurichten, und als einft ein Lobredner auf 
Grund hiftorifher Forſchungen nachweiſen wollte, daß „Naupliun“ (Na— 
poleon I., den die Perjer jehr betvundern) in irgend einer Seitenverwandtichaft 
zu den alten Helden Irans ftehe, joll der Schah ausgerufen haben: „Das ift 
nicht möglih, Naupliun ift ein tüchtiger Mann, aber der Ehre des ranier- 
thums kann er nicht theilhaftig werden, denn es fehlt ihn der — Bart.” 

Mit diefem Hang nah Prunk und Schmud vereinigte der Schah aud) ein 
bedeutendes Maß von Schwärmerei, von Liebe zur Poefie, zur Muſik und von 
Zärtlichkeit für das jchöne Geſchlecht, von welch' letzterem er mehrere Hunderte 
feine „Sigah“ und „Nikiah“ (d. h. proviforiich und permanent getraute 
Frauen) nannte, wie er denn auch in Folge feiner zahlreichen Nachkommenſchaft 
ſich den Ehrentitel „Adam IL” erwarb. Daß ein ſolcher Fürft feinen Wider: 
fpruch duldete, ift begreiflih. Selbft ala Poet erften Ranges wollte er gelten, 
und als einft der kunſtbefliſſene Hofdichter an einem Gazel des Schah allzu= 
ftrenge Kritik übte, da gerieth Feth-Ali in Zorn und rief: „Hinaus mit ihm 
in den Stall, an die Eſelskrippe; bindet ihn an, Stroh und Gerfte gebt ihm 
zu freffen.” Der Laureatus wandelte in der That zu den Langohrigen. Nach 
einiger Zeit wurde er wieder in Gnaden eingeſetzt, doch als der Schah nım 
abermals die neuejten Ergüffe feiner Mufe vorlad, da jprang der gute Poet 
plöglich von feinem Site auf und lief von dannen. — „Wohin eilt er?“ 
forichte der König. „In den Stall, Majeftät, bevor Du mic) jelber dahin 
ſchickſt!“ war die Antwort. Alles in Allem genommen, war Feth-Ali Schah 
ein harmlofer, gutmüthiger Mann, ein Kind mit langem Barte, und ala folches 
wanktelmüthig, unihlüffig und jorglos, denn er hatte ſich nicht mit Unrecht ein- 
gebildet, dab die eiferne Hand feines tyranniichen Onkels und Begründers der 
Kadicharen » Dynaftie, der den Neffen Zeit feines Lebens verhätſchelt, auch nad) 
dem Tode noch eine ſchützende Macht für ihn jet. 

Sultan Mahmud, der im Gegentheil ſchon früh den Kelch der Leiden leeren 
mußte, deſſen Lenzjahre hinter dem Gitter des Haremgefängniffes nur von far- 
gen Hoffnungsftrahlen bejchienen wurden, brachte eine ftarfe Zugabe von Schwer- 
muth und Düfterfeit mit auf den Thron. Principiell böswillig könnte man 
den Vater der lebten zwei türkifchen Kaifer nicht nennen; doch vor den Augen 
dieſes Mannes jchwebten jelbft auf dem Purpurfite alle möglichen Schred- 
geipenfter. Drohende Würgeengel in der Geftalt herzlofer Eunuchen, da3 frene- 
che Mordgeichrei zügellofer Janitiharenhorden und das unaufhörliche Gemurr 


440 Deutiche Rundichau. 


unzufriedener Ulemas find in der That nichts weniger als beruhigend für die 
Nerven. Daher feine jo häufigen choleriſchen Anfälle, ja man könnte jagen 
Wuthparorismen und deren tragifche Folgen, von denen fein treuer Diener, kein 
alter Günftling, ja nicht einmal fein eigenes Kind geſchützt war; denn während 
eine3 derartigen Ausbruchs hatte er feinen Sohn und Thronfolger Abdul-Mted- 
ſchid in den Gartenteich geworfen, aus welchem ex nur durch die aufopfernde 
Hand des Deutichen Veſter, des damaligen Hofgärtners, gerettet wurde. Selten 
erftrahlte das ſchwarze Auge des Großheren in Fröhlichkeit; dann gab es frei- 
lich auch recht derbe Exceſſe. Sein Hofnarr hat und einen ganzen Band jener 
drolligen Späße und gewagten Scherze hinterlaffen, die für die derbe Natırr, 
aber nicht Bosheit de3 Sultans Zeugniß ablegen. So fiel e8 einmal dem Sul: 
tan ein, daß der Chef des Haufes, deſſen Gaftfreundichaft ich jahrelang genoß, 
ein hoher Wirrdenträger, deſſen guter Styl und feine Bildung eben jo berühmt 
waren, al3 jeine Furcht vor Waffen, die große Ramazan- Kanone im Parke zu 
Topchane, welche den Rechtgläubigen der Siebenhügelftadt den Schluß des 
Faſtens verkündet, abfeuern jolle. Der arme R...., erihöpft durch das lange 
Faſten, zitterte wie Espenlaub, als man ihm die brennende Lunte in die Hand 
gab, und al3 das Dröhnen des Geſchützes ihn in Ohnmacht zu Boden warf, 
da lachte der Padiichah jo Herzlich, daß er lange nachher fich die Thränen aus 
den Augen wiſchen mußte. War das Wejen Sultan Mahmud’3 wol derber und 
ungejchliffener, als das feines iranischen Fürſtenbruders, jo kann ihm anderer- 
jeit3 das Lob einer größern Energie und zähern Willenskraft nicht vorenthalten 
werden. Während jeiner ganzen Regierungszeit jagten die ſchwärzeſten Unglüds- 
wolfen über den Horizont des ottomanijchen Kaiſerreiches, eine Kataftrophe 
folgte jchnell auf die andere, und der Autofrat, defjen Minifter feine Nathgeber, 
fondern nur zitternde Diener waren, war Manns genug, um auszuharren ımd 
allen Widermwärtigfeiten kühn die Stirn zu bieten. Auch fein Gerechtigkeits— 
finn, natürlich jo weit diefer orientaliihen Despoten eigen fein kann, war ein 
viel fefterer. Zu jeiner Zeit waren die Fürſten des Orients noch nicht jo Weit 
europäifirt, um der alten Sitte der ncognitofahrten nicht zu huldigen, und 
von den zahlreichen jeiner diesbezüglichen Abenteuer jei nur folgendes er— 
wähnt. In Stambul herrichte ein außergewöhnlich ftrenger Winter und zu- 
gleih Mangel an Kohlen. Die alten Weiber, diefe Volkstribunen der moham- 
medaniichen Gejellichaft, durchzogen, von Froſt geichüttelt, die Straße und 
ftießen bittere Klagen gegen die Tyrannei der Kohlenhändler aus, die das über: 
aus theure Brennmaterial noch dazu auf faljcher Wage verkauften, Der be: 
rühmtefte unter den letztern war einer im Stadtviertel von Vlanga, und vor 
deifen Thür erichienen eines Morgens zivei ärmlich gefleidete, auf Stäben fid) 
ftügende, alte Weiber, um einige Okkas Kohlen zu kaufen. „Didanym Kömürd- 
ſchi (Lieber Kohlenhändler)! Ich bitte Dich, lege den rechten Stein auf die 
Mage,” jagte eine der Matronen, „Allah wird Did dafür ſchon jenjeitö be: 
lohnen.” — Der Krämer murrte leife in den Bart, erhob fi) don der Seite 
des wohlgenährten Mangals (Kohlenbeden), und als ex zurücklehrend den Weis 
bern das Geld abnahm und die Bündel einhändigte, bemerkte die ältere der 
leteren: 


Mohammedaniiche Fürſten der Neuzeit und bie europätiche Givilifation. 441 


„Kömürdihil Du jcheinft Dich geirrt zu haben, das Bündel dünkt mir 
zu leicht.“ 

Der Kohlenhändler machte eine ſpöttiſche Bemerkung und ſetzte fich wieder. 

„Kömürrdſchi! das Bündel ift zu leicht, ſage ich Dir,“ bemerkte nochmals 
die Matrone. 

Der Mann jchwieg. 

„Kömürrrdihi! das Bündel ift zu leicht, jage ih Dir zum lebten Male.“ 

„Knurre nicht jo viel, Du alte Kate,“ jagte der Kohlenhändler unwillig. 

„Kömürrrrrerdichi!” rief num das Weib vor Wuth mit den Zähnen Enir- 
ihend. In einem Nu fiel aber auch der ſchmutzige Schleier von dem Angeficht, 
und Sultan Mahmud jammt Begleiter ftanden dem Kohlenhändler gegen- 
über! Was nun folgte, ift bald erzählt. Zuerft wurde das Kohlenbündel ges 
wogen, und al3 e3 wirklich zu leicht befunden, an dem Eiſenhaken der faljchen 
Wage der Verkäufer ſofort erhängt. 

Nicht minder verſchieden war aber auch die Erziehung, welche genannten 
Fürſten in ihrer Jugend zu Theil geworden; denn der Zeitgeijt in beiden Län- 
dern, wenngleich bier jowol als dort in einer gewaltigen Gährung begriffen, 
hatte dennoch weſentlich verjchiedene Rejultate zur Folge gehabt. ran erlebte 
die Epoche einer neuen Dynaftiengründung. Die Kadſcharen feierten ihren Sieg 
auf den Trümmern der Sefiden-, Afſcharen- und Zendenmacht, und wenn aud) 
das gebildete iranijche Element von diejer Freier fich fern hielt (denn das Türfen- 
thum war Schiiten und Perjern von jeher verhaßt), jo erftrahlte dennoch die 
nächſte Umgebung des wilden Kadſcharenhäuptlings vom Glanze einer jedenfalls 
überſchätzten Zufunftsgröße. Der Brennpunkt diejes Glanzes war jelbftverftänd- 
lich der junge Yeth- Ali Mirza, der von feinem Oheim jchon früh beftimmte 
Nachfolger, und als ſolcher erhielt er auch die ftandes- und zeitgemäße Erziehung. 
Auf ritterlihe Uebungen, auf Gewandtheit im Schießen und Reiten warb die 
größte Sorgfalt verwendet. Die Geiftesbildung ſchritt nur langjam vorwärts. 
Don der außeriranifhen Welt hatte er nur dunfle und verworrene Begriffe; 
fein Wunder daher, wenn in der erften Zeit nad jeiner Thronbefteigung die 
Spiben feiner Dſchikka (Diamantenreiter) vom Winde des Eigendünkels jehr 
hoc) getragen wurden. Feth-Ali Schah dünkte fi anfangs ein Alerander an 
Größe, ein Napoleon; mit Männern wie Timur und Nadir wollte er gar 
nicht verglichen jein. Aus diefen Träumereien wurde er natürlich durch ruſ— 
ſiſche Bajonnette unter Leitung Paskiewitſch's gar bald und nur allzu unjanft 
gewedt. Der Verluft einer kaukaſiſchen Provinz, welche die jchönften rund» 
wangigen Mädchen und den feurigen Kachitwein geliefert, hätte ſelbſt den 
größten Schwärmer zur Befinnung bringen müſſen. Doc da3 Naturell des 
Verſerkönigs war nicht darnach angethan. Für die Ihmählichen Niederlagen 
feiner Armee fand er Revanche in den für eine jeltene Auszeichnung angejehenen 
Milfionen Englands und Frankreichs. Kamen doch Männer von hohem Range 
aus Hunderte von Meilen weit entfernten Ländern an jeinen Hof, die feiner 
Juwelenpracht, feinem Barte und feinem Waffenſchmucke das größte Lob jpen- 
beten und unter feinen Höflingen Geld umberftreuten. Die iraniſch-moslimiſche 
Givilifation, die fich jelbft Heute noch weigert, der abendländijchen Eultur den 


442 Deutſche Rundſchau. 


Vorrang einzuräumen, war damals ſelbſt zur Anſtellung von Vergleichen nicht 
zu bewegen. Der Europäer galt für Das, was uns etwa der Chineſe gegen 
Ende des vergangenen Jahrhunderts gegolten, d. h. er wurde angegafft, vielleicht 
auch bewundert, aber nicht verſtanden, daher auch nicht gewürdigt. Wenn da— 
her Feth-Ali Schah auf Anrathen der Generäle Gardanne und Malcolm ſeiner 
Armee einen europäiſchen Zuſchnitt zu verleihen gedachte, und bald engliſche, 
bald franzöſiſche „Instructeurs militairs“ in Sold nahm, jo darf dies noch 
lange nicht ala ein Einlenten in die Bahn der weſtlichen Welt betrachtet wer— 
den. Es war vielmehr das Gegentheil; denn man hoffte, in den Beſitz eines 
materiellen Bortheiles zu gelangen, um einen ſolchen dann al3 Waffe und Stütze 
der altafiatiiden Weltanſchauung gebrauchen zu können. Von der Tragweite 
einer focialen Umgeftaltung und eines mächtigen Geiftestampfes, den die aſiatiſch— 
mo3limijche Welt durchmachen muß, falls fie fich modernifiren will, hat man in 
Perfien jelbft heute exft einen Ichtvachen, hatte man damals aber noch gar feinen 
Begriff. Auf Abbas Mirza, den ziemlich talentvollen Sohn des Schah, hatten 
engliſche Dfficiere einen anregenden Einfluß ausgeübt; und wäre er nicht zu 
früh geftorben, wer weiß, wie die Geſchicke Irans unter ſeiner Leitung ſich ge= 
ftaltet hätten. Doch der Vater, jeine Umgebung, ja ganz Perfien blieben durch 
und durch aſiatiſch, und nichts ift ergöglicher, ala die Bemerkungen des eitlen 
Schah zu den Schilderungen, welche einige Gefandte ihm von den europäiſchen 
Anftitutionen gaben. Der Conftitutionalismus war in feinen Augen das größt- 
erdenkliche Räthjel der Welt. Als ihm Malcolm das Verhältniß des engliſchen 
Parlament zur Krone in kurzen Umrifjen dargelegt hatte, ſoll der Perſerkönig 
bemerkt haben: „Alſo Gejege und Verordnungen erlaffen die Gewählten des Vol— 
fe3, die der König ſodann zu beftätigen hat, folglich muß er ihnen gehorden. 
Auch der Yahresgehalt des Herrſcherhauſes wird nad) Luft und Willen des Volkes 
feftgefeßt, aljo er erhält einen Lohn, und nicht Andere werden von ihm bezahlt. 
Jetzt Frage ih Dich, lieber Melkum (Malcolm), wa3 für ein Vergnügen ift ein 
ſolches Königthum? Fürwahr, ich würde nicht mit Deinem Herrn taufchen.” 
Zur Annahme abendländiicher Gebräuche und Kleidung wagte man während 
feiner Regierung faum den Anfang zu machen, und jogar der fränkiſche Ge- 
jandte, den die Legende bei der Märtyrerjcene Hufein’s in der Wüfte von Ser: 
bela weinen läßt, um zu beweifen, daß die Schandthat ezid’3 jelbjt einen 
Chriſten gerührt hat, dieſer Frengi trat in den damaligen Paſſionsſpielen noch 
immer im alten Goftüme der Portugiefen und Holländer auf. Doch wie wäre 
dies ander? möglich gewejen? Wo war damals noch der Schienenftrang, diejes 
mächtige Zauberband der neuen Welt, wo der jchrille Ton des Dampfers, dejien 
mahnender Ruf erſt Jahrzehnte fpäter an der Hüfte des perfiichen Golfes und 
in den Urwäldern Gilans und Mazendrans zu widerhallen begann? 

Mit den Yugenderfahrungen Sultan Mahmud’3 hatte es natürlih jchon 
ein ganz anderes Bewandtniß. Seine literarifche Erziehung war twol nicht viel 
beſſer, vielleicht jogar geringer, al3 die Feth-Ali Schah's, da die höhere Gejell- 
ihaft Irans von jeher in orientalifcher Bildung den Osmanen bedeutend über- 
legen war. Die Zeit war vorüber, da osmanijche Prinzen nicht nur mit dem 
Schwerte, jondern aud mit der Feder alänıen wollten. Tie in Haremskreiſen 


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Mohammebdanifche Fürften der Neuzeit und die europäifche Givilifation. 443 


der Verweichlichung und dem Blödfinne entgegengeführten Herrſcherſöhne der 
neuern Generation hatten feine Ahnung davon, daß ein Selim L, diejer aller- 
wildefte Krieger auf dem Wahlplate von Thſchaldirim, begeifternde Gedichte, 
wie jene mit dem Anfangsverfe: 
„Chuni Husein mitalebem ja Ali!“ 
(Hufein’3 Blut will ih rächen, o Alt!) 

geichrieben Hatte, und jo wie viele feiner Vorgänger, jo hatte au Sultan 
Mahmud nur dur einen zumeift von launijchen Weibern und ungebildeten 
Eunuchen begünftigten Chodiha den landesüblichen Unterriht im Arabijchen 
und Perfiichen, in Logik und Rhetorik, in Koraneregefi3 und jonftigen moham- 
medaniichen Wiſſenſchaften in der oberflächlichſten Weije erhalten. Das heute 
am Bosporus jo jehr begünftigte Studium der franzöfiichen Sprache wäre in 
den erſten Decennien diejes Jahrhundert? noch geradezu für eine Sünde be- 
trachtet worden. Alſo baar einer guten orientaliichen Bildung — denn nur in 
den jpätern Jahren joll er ſich die mit Recht bewunderte ftyliftiiche Fertigkeit 
angeeignet haben — hatte der Sultan doch viel mehr Kenntniffe und Er— 
fahrungen Hinfichtlich der Vorgänge im MWeften, als fein perfiicher Zeitgenoffe. 
Die türkiſche Hauptjtadt, ja jämmtliche Provinzen des ottomanijchen Kaijer- 
reiches, waren jchon im vergangenen Jahrhunderte von Europäern zahlreich be= 
ſucht. Wir kannten bereit3 einigermaßen den nahen Oſten; der nahe Dften 
aber kannte au) und. Durch Touriften, Kaufleute, Miffionäre und Abenteurer 
drang in die höhere und niedere, ja in alle Schichten der Bevölkerung das bunt 
geſchmückte Märchen von den mannigfachen Wundern des Abendlandes, und tie 
hätte unter ſolchen Umſtänden das allerdings minder leicht zugängliche Serail 
dagegen verichlofjen bleiben können? Der Zutritt war bier freilih nur 
wenigen, durch Zufall Begünftigten geftattet. In den erften Regierungsjahren 
Mahmud's II. treffen wir einige Armenier, die Europa beſucht und kennen ge— 
lernt hatten, im vollen Vertrauen des Sultans an. Später var e8 ein Fran— 
zoſe, Dr..... ‚ der mehrere Jahre hindurch faſt täglich im Palafte von Tſchira— 
gan oder Beglerbeg erſchien, an deſſen Erzählungen der Sultan ein bejonderes 
Vergnügen fand, und der natürlich in feiner, d. h. galliſcher Weife von den 
Zuftänden des ertvachenden Europa’3 jprad. Wieder jpäter waren es diplo— 
matiſche Notabilitäten, theil3 jeine eigenen, von europäiſchen Gejandtichaften 
heimfehrenden Minifter, theils einige in Pera refidirende Repräfentanten des 
MWeftens, die von dem Leben und Treiben Europa's Bericht erftatteten. Von 
Rifaat Paſcha, Beim Efendi und Mehemmed Ali Paſcha, den erften türkiſchen 
Geſandten in Paris und Wien, wurden zwei ftattlide Bände von Rapporten 
an den Sultan abgeliefert, voll der Eleinften Details über AInftitutionen, Sitten 
und Gebräuche der betreffenden Länder, mitunter auch von kritiichen Anmerkungen 
begleitet, die, wie ſich leicht denken läßt, mehr zu Gunften der moslimijchen 
Gejellichaft auäfielen. Wir müflen hier aud) Erwähnung thun der zahlreichen, 
beredten und mächtig überzeugenden Boten unjerer erwachenden Jnduftrie und 
unferer Wiſſenſchaft, die an's Goldene Horn gelangten, um zu beweijen, daß 
Sultan Mahmud von Europa ſchon bedeutend mehr wußte, als fein öftlicher 
Nahbar, und daß man daher hätte vermuthen jollen, die türkiſche Geſellſchaft 





444 Deutiche Rundſchau. 


würde ſich, von den oftwärt3 drängenden Wogen der europäijchen Weltbetvegung 
aus dem Schlafe gewaltfam aufgerüttelt, wol eher haben ermannen fönnen, ala 
die übrigen Moslimen im tieferen Ajien. 

Und dennod war dies nicht der Fall, und hätte auch nicht der Fall jein 
fönnen! Um beim Sultan zu beginnen, jo lag e8 auf der Hand, daß die ganze 
reformatoriſche Bewegung jeiner langjährigen Regierungszeit eher dem dringen- 
den Gebote einer unerbittlihen Nothivendigkeit, als der gründlichen Neberzeugung 
von der Superiorität und Nüblichkeit der weltlichen Civilifation entiprungen 
war. Sultan Mahmud war ein Hitkopf, dem e3 aber an ruhigen Momenten 
und an Harer Einficht nicht mangelte. Er jah, wie dem großen Reiche feiner 
Ahnen ein Stück nad) dem andern abgebrochen wurde; aber er jah aud), daß 
der Kitt, welcher die einzelnen Theile des Staatsgebäudes ehedem zujammen- 
hielt, jeine Kraft verloren, dat die Speere, welche ihm einft als Stüte gedient, 
ſchon zufammenbradhen, und fo mußte er, wohl oder übel, zu anderen Mitteln 
feine Zuflucht nehmen. Guropa, hieß e3, verdanfe feine Größe nur dem Auf— 
ſchwunge auf dem Gebiete der Wiſſenſchaften und der Künfte, nur der freien 
Entfaltung jeiner bürgerlichen Inftitutionen, mit einem Worte: der geregelten 
Arbeit eine gefunden ftaatlihen und gejellihaftlihen Organismus. Nun müßte 
man freilich der unverzeihlichiten Jlufion fich hingeben, um glauben zu wollen, 
daß ein in den Principien der aſiatiſchen Despotie erwachſener Prinz die er- 
wähnten Mittel der europäilchen Givilifation in einem anderen oder höheren 
Lichte gejehen haben jollte, al3 etwa dem eines mwunderthätigen Elixirs. Als 
folches führte er fie ein, und weil er ſich deren Einführung feft vorgenommen 
hatte, jo mußten vor der Härte feiner Willenskraft alle entgegenftehenden Hinder- 
nifje, der Hochmuth der Janitſcharen, religiöfe Scrupel und Borurtheile aller 
Art, weichen. Wenn daher unjere europäifchen Kritiker, bei nicht genügender 
Berückſichtigung der großen Differenz zwiichen der Ideenwelt des Oftens und 
des Weſtens, fich die Mühe geben, in der Perfon Mahmud's II. einen Reformator 
im Style Friedrich's IL, Joſef's IL. und Peter’3 I. zu exbliden, fo irren fie 
jehr. Aus Mahmud I. hat nur die Noth einen Reformator gemacht, der, 
wenn allerdings auch ungern, zu gehorchen er flug genug war. Und wie der 
Fürft, jo auch jein Voll. Man muß die Schilderungen des gejellichaftlichen 
Leben? aus der erſten Hälfte der Regierungszeit Sultan Mahmud’3 kennen, 
man muß die zahlreichen, mitunter recht wißigen Spottgedichte gelejen haben, 
mit welchen die Einführung des einen oder andern europäiſchen Kleidungsſtückes 
befrittelt wurde, — nicht zu erwähnen, daß unter den Kritikern Günftlinge der 
Dezire Nagib, Pertew und Chosrew Paſcha, folglich der eigenen Bollftreder 
der großherrlichen Befehle, fich befanden, — dann erft wird man den großen 
Zwang, den mit dem Sultan die ganze türkiſche Geſellſchaft ſich anthat, vollauf 
würdigen können. Uesküdarly Rifaat Ejendi, ein dem Opium verfallener Schön- 
geift jener Epoche, der in jeinen alten Tagen vom Chef des Haufes, in welchem 
ich lebte, eine Penſion erhielt und dajelbft auch gern gejehen ward, hatte in 
feinen hellen Stunden, die leider ſehr jelten waren, mir, hierauf bezüglich, die 
ergöglichften Geſchichten erzählt. Die meiften diefer Anekdoten drehen ih um 
den MWidertoillen, von welchem die Annahme gewiſſer Kleidungsftücde begleitet 





Mohammedaniiche Fürſten der Neuzeit und die europäifche Eivilifation. 445 


war. Das europätiche Beinkleid, jpöttiich „die Gabel” genannt, war als der 
gerade Gegenja der kittelartigen, faltenreihen Pluderhofen die Zieljcheibe des 
bäufigften Spottes. Diejem zunächſt fonnte man fih nur mit größter Mühe 
daran gewöhnen, den bis zum Snöchel reichenden Kaftan und Dſchübbe gegen 
den europäiſchen Waffenrod zu vertaufchen. Mit diefem langen, talarartigen 
Kleide mußten viele Züge aus dem Sittengemälde der Türken und eine ganze 
Phrafeologie aus der türkiſchen Sprache verſchwinden. Das anftandsvolle Nieder- 
boden der Orientalen bedingt in erfter Reihe viel Bauch und Falten, um den 
Unterkörper und die Beine, dieje partes odiosae im Auge des Morgenländers, 
zu verhüllen, was mit dem Rockſchoße doc nicht wohl zu bewerfitelligen ift. 
So ift eine devote Begrüßung nur dann erſt regelveht, wenn der Saum bes 
Kleides, auf Dem Fuße anliegend, gefüßt wird, was bei dem nur bis zum 
Knie reichenden Schoße wiederum nicht möglich ift. Ferner hieß ehedem ge— 
mächlich einherſchreiten „etek sürtschmek* (dem Saum fchleppen), ſich 
eilen und fputen „etek siwamak“ (den Saum aufſchürzen) u. j. w., Redens— 
arten, die heute nur noch bildlich angewendet werden können, d. h. ihren ur— 
iprünglichen Sinn ganz verloren haben. Aehnliche Anomalien entftanden durch 
Veränderung der Kopfbekleidung, und wir dürfen uns daher nicht wundern, daß 
Sultan Mahmud jelbjt in ein homeriiches Gelächter ausbrach, als er ſich zum 
erften Mal in der europäiſchen Uniform im Spiegel erblidte, was natürlich 
fi) immer erneuerte, ja jogar heftiger wurde, jo oft einer jeiner wohlbeleibten 
MWürdenträger im proſaiſchen Anzuge des Weſtens fi ihm das erſte Mal 
präjentirte. 

Uns Europäern ift es faſt unbegreiflih, wie eine ganze Geſellſchaft auf 
ſolch' triviale Dinge jo großes Gewicht legen kann; aber wir vergefjen unjere 
eigenen, unter gewiſſen Umftänden noch prägnanter hervortretenden Schwächen ; 
trivial find diefe Dinge nur dem Scheine nad. Eine Gejellichaft, deren In— 
jtitutionen, Sitten und Gebräude nad den Gejegen der Natur als Producte 
einer eigenthümlichen Beichaffenheit de3 Bodens und des Klima's erwachſen 
find, kann nicht jo leicht diefen ihren alten, lieb gewordenen Gewohnheiten ent— 
jagen, um dafür andere, noch obendrein unter fremdem Himmel und auf frems 
dem Boden entjtandene, anzunehmen. Wir find ungerecht, wenn wir verlangen, 
das alte, jchwerfällig gewordene Afien möge mit jugendlicher Behendigkeit aus 
einer Ideenwelt in die andere hinüberipringen. „Non datur saltus in natura,‘ 
aber noch weniger in der Gultur! Der Zwang, den der Sultan und fein Volt 
beim erften Schritte zur Annäherung an Europa fi) angethan, eriftirt jelbft 
noch heute; doc daß er in gar vielen Stüden abgenommen hat, und daf die 
Sceidewand des orientaliihen Separatismus, obwol leider noch immer vor» 
handen, doch im Sinken begriffen ift: das darzuthun werden wir nunmehr ver- 


fuchen. a 


Wenn die erften drei Decennien diejes Jahrhunderts al3 der erfte Abſchnitt 
in dem Umgeftaltungsprocefje de3 nahen moslimifchen Oſtens bezeichnet werben 
fönnen, jo verdienen die auf denjelben folgenden weiteren dreißig oder vierzig 
Jahre um jo mehr den Namen einer zweiten Periode im Uebergangsſtadium. 


446 Deutſche Rundſchau. 


Im Alterthum, ja in der Vergangenheit überhaupt, würde auch das ſchwächſte 
Symptom der Umgeſtaltung kaum in einer zehnfach größeren Zeitdauer zum 
Vorſchein gekommen ſein; aber unſere Tage ſind die des Dampfes und der 
Elektricität, deren Kräften auch die alte Mutter Aſien nicht länger Widerſtand 
zu leiften vermag. Umſonſt widerhallt aus dem mohammedaniſchen Oſten der 
Sat: „Eilen iſt des Teufels Werk, Weilen iſt Gottes Werk,“ — der moderne 
Weſten antwortet mit ſeinem Wahlſpruche: „Time is money!“ 

Die Repräfentanten diefer neuen Epodhe find: Mehemmed Shah und 
Naſr-ed-din Schah in Perfien, Sultan Abdul Medihid und Sultan 
Abdul Aziz in der Türkei. Der förperlih und geiftig kranke Mehemmed 
Shah war allerdings ganz unſchuldig an jenen zeitweiligen Anläufen, die Iran 
gegen die Bahn der modernen Givilifation hin gethan Hatte. Aus ihm jpradh 
nur der Geift feines abenteuerlihen Vezirs und ehemaligen Lehrer? Hadſchi 
Mirza Agafi, und feine kurze Regierungszeit kennzeichnet nur jener Umftand, 
daß Perfien aus der erften unfanften Berührung Rußland die Einficht gewann, 
iraniſcher Redeprunk und Dichterglanz ſammt allen Monumenten nationaler 
Eigenart und Größe jeien Europa gegenüber doch nur höchſt unwirkſame Parade- 
ſtücke. Es war das erfte Nippen vom Kelche der Bitterfeit, doch der Anfang 
war gemadt. Der Schah jelbft, jahrelang ſchon am Rande des Grabes, hatte 
fih mit Vorliebe theoſophiſchen Speculationen zugewendet. Während er, ver- 
ſchiedene Religionen prüfend, zulegt zur Ueberzeugung gelangte: einem König 
von ran gezieme nur der alte iranijche Nationalcultus des Zerthufcht (Zoroafter), 
daher die Gebr3 fi auch feiner bejondern Protection erfreuten, ließ fein 
Dezir Riefenfanonen und Wafferleitungsröhren gießen, von denen der perfiiche 
Mit mit Net behauptete: „das Feuer der erftern jei dem Feinde ebenjotvenig 
ſchädlich, als das Waſſer der Iehtern dem Freunde nützlich“. Unter der Regie- 
rung Mehemmed Schah’3 gewann der Import europäiicher Fabrikate in Jran 
eine immer größere Ausdehnung; man legte zuerſt Kleider an, die halb nad 
perfiihem, halb nad) europäiſchem Mufter gemacht waren; einige Mirza's ver- 
legten fi auf's Franzöfifchiprechen, und da man zu jener Zeit in der perſiſchen 
Refidenz alle möglichen Saiten der „haute politique“ anzujchlagen gelernt, jo 
hatten die oberften Spitzen der perfifchen Geſellſchaft Schon damals einen ſchwachen 
Anftrih jener neuen Modebildung erhalten, die man dort zu Lande nad) 
einer Verdrehung des franzöfiichen Wortes Givilifation „Selvafun“ nannte. 
An diefem Allem aber, wir wiederholen e3, hatte Mehemmed Schah nicht die 
geringfte Schuld. Es war der leife Hauch einer fremden Geiftesregung, der — 
von Süden her durch einen häufigern Verkehr mit Angloindien, vom Nordweften 
ber durch den Umgang mit Ruffen und Europäern — zu wehen begonnen Hatte; 
dod) da der Same, ben er mitgebracht, auf einen fremden, gar nicht vorbereiteten 
Boden gefallen, jo ift e8 nicht zu wundern, wenn er, troß der Gulturfähigteit 
des allerdings genialen Perjervoltes, jelbft bis im die Neuzeit noch fo wenig 
Früchte getragen. 

Najr-ed-din Schah, der im Jünglingsalter feinem Vater auf dem 
Throne gefolgt war, ift zu Allem, nur nicht zum NReformator, geboren; ja ſelbſt 
die graufamfte Nothwendigkeit könnte ihn kaum zu einem ſolchen machen. Diejer 





Mohammedaniiche Fürften der Neuzeit und bie europäifche Eivilifation, 447 


jüngfte aſiatiſche Löwe der hohen europäifchen Geſellſchaft lebt noch zu jehr in der 
allgemeinen Erinnerung, als daß e3 nothivendig wäre, ihn an dieſer Stelle zu 
portraitiren. Dat man am Perjerkönig in Deutjchland jo wenig Gefallen fand, 
daran ift nicht der Schah, ſondern Deutſchland ſchuld. Deutichland Hat die 
größten Orientaliften der Welt. Was Europa von den Religionen, Sprachen 
und Literaturen des alten Ajiens weiß, das verdankt es in erjter Reihe deutichen 
Fleiße und deutſcher Wiſſenſchaft. Und doch ift andererjeit3 nicht zu leugnen, 
daß die praftiiche Vertrautheit mit den Spraden und Sitten, mit dem Leben 
und Treiben der modernen Moslimen in feinem Verhältniffe zu jener mit Recht 
bewunderten theoretijchen Gelehrſamkeit fteht. So wie der perfiihe Dolmetſch 
für den berliner Aufenthalt des Schah, aus St. Petersburg verjchrieben werden 
mußte, ebenjo weiſt der umfangreiche Katalog deutſcher Drientalia nur eine 
äußerft geringe Anzahl folder Werke auf, in welchen der Lebende Oft mit feiner 
fo höchſt intereffanten Umgeftaltungsperiode die gebührende Beachtung findet. 
Kein Wunder daher, wenn das größere Publicum und mit ihm auch die Your» 
naliftit durch jene luft, welche Najr-ed-din Schah ala Menſchen und Fürſten 
von dem Europäer und dem europäiichen Monarchen trennt, ſich enttäufcht jah. 
Und doch gehört der heutige Perjerkönig zu den janfteften und gewifjermaßen 
auch gebildetften und wohlwollendften Fürften des moslimijchen Afiens! Die 
Acte tyranniſcher Willfür, von welchen jeine Regierung nicht freigejprochen 
werden fann, find zumeift das Werk jeiner in Herzens- und Geiftesbildung ihm 
weit nachftehenden Diener und Verwandten, zu deren blindem Werkzeug bie 
dynaftifch- politiichen VBerhältniffe des Landes, noch mehr aber feine eigene 
Charakterſchwäche ihn gemacht haben. Ich kenne auch feinen Monarchen im 
heutigen moslimifchen Often, dem feine Umgebung jo gründlich verhaßt und 
beifen Miktrauen zu den nächſten Verwandten jo gerechtfertigt wäre, wie dies 
bei Naſr-ed-din Schah der Fall ift. Hieraus läßt fi auch feine faſt an 
Mifanthropie grenzende Zurücdgezogenheit erklären, denn der Schah verbringt 
gute zwei Drittel des Jahres auf einfamen Jagdausflügen, und nur mit Wider- 
willen folgt er dem Rufe dringender Staatsangelegenheiten in die Hauptftadt. 
Nur ein, allerdings gefährlicher Charakterzug bezeichnet die ganze bisherige Lauf: 
bahn diejes Fürſten. Es ift die große Wankelmüthigkeit, an welcher auch die 
verjchiedenen zeitweiligen Anläufe, die Bahn der europätichen Givilijation zu 
beichreiten, allemal geicheitert find. Schon als Thronfolger Hatte ein häufiger 
Verkehr mit Europäern in Täbris, wo er Statthalter war, ihn mit den Vor— 
zügen ber europäijchen Givilifation befannt gemacht, und da jelbft jeine Thron 
befteigung nur durch europäijche Geldmittel zu Stande kam, jo ift e8 erklärlich, 
daß er ſchon früh zu Givilifationserperimenten neigte. Die Triebfeder des 
erften Verfuhs war Meltum Chan, der jetige perfiiche Gefandte in London, 
damals jelbft noch ein junger Mann, aber von eminenten Geiftesgaben, der, 
eben von einem längeren Aufenthalte aus dem Weften heimgefehrt, durch wunder- 
liche Berichte aus dem „Fyrengiland“ da3 Gemüth des jugendlichen Fürſten zu 
gewinnen verftand. Doc die Jugend bleibt fich überall gleih. Ob im Morgen- 
oder im Abendlande, fie zieht überall das Außerordentliche dem zunächſt Ge- 
botenen vor, und jo fam es, dab der Anfang in den Neuerungen nicht mit 


448 Deutiche Rundſchau. 


Verbeflerungen in der Adminiftration, in Hebung des Aderbaues, des Handels 
und ber Induſtrie, jondern mit der Gründung einer — Freimaurer-Loge 
gemacht wurde! Der Schah, gar leicht zur Annahme des Schurzes beivogen, 
hatte anfangs eine Findijche Freude daran, wenn er mit „Bruder Maurer“ 
angeſprochen wurde, er, der fonft der „Wendepunkt de3 MWeltall3”, der „König 
aller Könige“ hieß, in deſſen Gegenwart der unterthänige Höfling die Augen 
nieberjenft oder mit den Händen bededt, um vom Strahlenglanze der Majeftät 
nicht geblendet zu werden! Natürlich konnte diejes Alles nur von kurzer Dauer 
fein; die Priefterclaffe jorgte. ſchon dafür. Naſr-ed-din Schah erſchrak, warf 
die Schürze weg, und jchleuderte mit ihr Freimaurerthum, Bruderſchaft, Re— 
formen, europäiiche Givilifation jammt Melkum Chan weit in die Ferne hinaus. 
Auf diefen erften, mißglückten Anlauf folgte nach) einigen Jahren der zweite zur 
Modernifirung Perfiend, und ziwar in einer ganz bejonnenen Weije, da Rath 
und That von Emiri Kebir, dem in der That „großen Vezir“, ausging, und 
der Schah blos feine Einwilligung zu geben hatte; doch kaum befand fich die 
große Staat3mafchine im Geleiſe eines Fortſchrittes, al3 der willenloje, ſchwache 
Nafr-ed-din, von den Intriguen der Gegenpartei gereizt, den oberften Leiter vom 
Magen ftieß und dem Tode überlieferte. Nun trat wieder ein mehrjähriger 
Stillftand ein. Der von tiefer Reue gequälte junge Schah wich noch mehr 
feiner Umgebung und mit ihr den Staatsgefchäften aus, bi3 er endlich in der 
allerjüngften Bergangenheit von der Wucht der Lethargie fich wieder erhob, 
und zwar mit Hülfe de3 klugen und europäijch gebildeten Mirza Hufein 
Chan und des nad) einer fünfzehnjährigen Verbannung wieder begnadigten 
Melkum Chan. 

Welche Erfolge von dem allerneueften Erperimente zu erwarten find, wird 
der Lejer nad) dem Borhergefagten ſich vorftellen fünnen. Dort, wo der Fürſt, 
der leitende Geift jeines Volkes, als Kind zur Regierung gelangt, al3 Kind 
ganze Decennien auf dem Throne verweilt, und wahrſcheinlich aud) ala Kind 
den lebten Weg zu feinen Vätern nad Kum oder Kerbela antreten wird, dort 
kann von ernten, anhaltenden und gedeihlichen Reformen ſchwerlich die Rede 
fein. Für Iran ift diefer Zuftand um jo mehr bedauerlich, al3 das Volk auf- 
geweckt, energiſch und culturfähig ift, und man feinem Fürften einen gewiſſen 
Grad von Wohlwollen, Berftändigkeit und Bildung nicht abſprechen kann. 
Naſr-ed-din Schah ift in der Geihichte und Literatur feines Landes ziemlich 
bewandert, ja e3 ift befannt, daß von allen Zobeserhebungen er für diejenigen 
am empfänglichften ift, welche feinen Gedichten, die er Morgens vor dem Früh— 
ſtücke den Höflingen vorzulejen pflegt, gezollt werden. Jedenfalls hat er noch 
vor jeiner Reife von den politifchen und jocialen Verhältniffen Europa’3 mehr 
gewußt, ala mancher europäifche Fürſt von den Ländern Aſiens weiß, und 
Geographie ift bekanntermaßen noch heute jein Lieblingsftudium. Einige Bes 
merfungen, die er in Wien in einer Converjation über die Bor- und Nachtheile 
der aſiatiſchen und perfiichen Eultur fallen ließ, würben mehr ala Einen frappirt 
haben. Doch was nützt Geift und Verſtändniß ohne Willenskraft und Cha— 
rakterfeftigkeit, in einem Lande, wo die Heilung Jahrtauſend alter Gebrechen 


Mohammedaniiche Fürſten der Neuzeit und bie europäiſche Eivilifation, 449 


jelbft einem Manne von eifernem Willen, nie erjchlaffender Thatkraft und 
zähefter Ausdauer jo unendlich viel zu jchaffen geben würde? 

Rollen wir nun da3 Bild etwas weiter gegen Weften auf, jo wird ein in 
mancher Hinfiht noch mehr betrübender Anblid unjerem Auge fich darbieten. 
Ein Staat, wie der türkijche, der ſchon längft auf morjchen, wurmftichigen 
Pfeilern ruhte, eine Geſellſchaft, wie die osmaniſche, jollte im Sturmlaufe 
zwed- und finnlojer Reformen der Regeneration entgegengeführt werden, und 
noch dazu unter der Regierung eines Sultan Abdul Medihid, eines Fürſten, 
deſſen Tugenden für die Türkei viel verhängnißvoller waren, als alle die Lafter 
feiner Vorgänger! Wo märe auch Abdul Medſchid mit feinem jchüchternen, 
zaghaften und weichen Charakter dem Rieſenwerke eines Reformators gewachſen 
in unjerem Jahrhunderte, in einem Lande, das in Folge der unmittelbaren Nähe 
von Europa den Brandungen des wildbewegten abendländiichen Geifteslebens 
am meijten ausgejeßt war? ch will zugeben: diejer ältefte Sohn Mahmud's II. 
war einer der janfteften, ruhigſten und fügjamften Menſchen der Welt. Hatte 
er doch jelbft ald Autofrat und Großherr einen gewifjen Grad von Furcht vor 
Allen, die mit irgend einem wenngleich noch jo unterthänig vorgebrachten Rathe 
fi ihm näherten. Eine Zeit lang waren Reihid, Fuad und Aali dem Namen 
nad) jeine Vezire, in der That aber feine Bormunde; ja jogar der alte Strat- 
ford Ganning, der noh am Hofe Mahmud’3 II. accreditirt war, wurde von 
Abdul Medihid als „Baba“ angeredet und demgemäß in größter Achtung ge= 
halten. Für die Verfeinerung der Sitten ſchon in Folge jeines zarten Naturells 
noch ala Thronfolger eingenommen, hatte Abdul Medihid nad feiner Thron- 
beteigung, ja bis zu feinem Tode e3 nie unterlaffen, gegen Alles, was an kaba 
türklük = (cohes Türkenthum) erinnerte, einen ungeheuchelten Abjcheu zu 
manifeftiren, und je mehr einer der mit ihm in Berührung fommenden Wür— 
denträger den Poftulaten des „A la franca“ entſprach, defto beliebter wurde er 
in feinen Augen. Unter ſolchen Umftänden wird e8 wol Niemand überrajchen, 
ben Sultan jelbjt ala Mufterbild der neuen Mode, als Haupt-Dandy, dargeftellt 
zu jehen. Ob auf dem Ritt zur Mofchee oder bei einem Beſuche im Bazar, 
ob bei feierlihen Audienzen oder militäriſchen Nevuen, überall erſchien er 
ä quatre epingles und überall wollte er ala der Faſhionablſte gelten. In den 
bei den erften Parijer Schneidern angefertigten Kleidern machte die hagere, 
ſchwache und müde ausfehende Geftalt des Sultans nie die angeftrebte ſtramme, 
militärifche Figur, denn troß Waffenrock und Strippenbeinkleid erinnerte jein 
bis zur Schläfrigkeit janfter Blick und äußerft gelafjenes Aufheben der Arme an 
Nichts weniger, al an einen Großtürfen oder Sultan. Der Nachfolger jener 
Fürſten, die einft halb Afien und Europa in Schreden jegten und die St. Paulskirche 
in Rom in einen Pferdeftall umzuwandeln drobten, legte ein beſonderes Gewicht 
darauf, die Gigarrentafhe dem ihm bei einer großen Feſtlichkeit 1857 gegen— 
überftehenden Gejandten einer europäiihen Großmacht nad) den Regeln der 
vollften Etiquette präjentiren zu können. Jede Bewegung des Körpers, nament- 
lid) der Hand, an welcher die jchneeweißen Tricothandſchuhe faſt nie fehlten, 
war jorgfältig einftudirt, der Sultan wollte in Allem umd überall das Prototyp 
eines feingebildeten, eleganten europätichen Ariftofraten darftellen, und jo jehr 

Seutie Rundſchau. I, 12. 29 


450 Deutiche Rundſchau. 


gefiel ihm der Begriff des frangöfifchen Wortes bon goüt, daß er dafjelbe in 
Ermangelung einer pafjenden Verdolmetſchung jelbft in der türkiſchen Conver- 
fation gebrauchte. 

Doch der Schein trügt, beſonders im Orient, in ber eigentlichen 
Heimath des Scheine und der BVerftellung, und man wird demzufolge nicht 
leicht auf einen größern Gontraft ftoßen, al3 jener war, in welchem das euro- 
päiſche Aeußere des Sultans mit feinem Innern ſich befand. Abdul Medſchid 
hatte eine nur höchft oberflädhliche, orientaliihe Bildung genofjen, nicht etiwa 
aus Widerwillen, jondern aus BVerhätichelung, denn die Mutter und der große 
Troß don Tanten wollten e3 nie zugeben, daß der kränkliche Jüngling zum 
Lernen angehalten werde. Nach feiner Thronbefteigung gab ex fich wol Mühe, 
das Verſäumte nachzuholen, do gelang ihm dies eben jo wenig, al3 all’ die 
Anftrengungen, die er zum Erlernen der franzöfiihen Sprache gemacht hatte, 
zu befriedigenden Rejultaten führten. Der Sultan vermochte wol einige nur 
kurze Sätze zufammenzubringen, allein jelbft hier begegnete ihm häufig das 
Unglül, daß er an franzöſiſche Hauptwörter türkiſche Suffire oder umgekehrt 
anhängte. „Nasl trouvez-vous ces femmelar?“ (mie finden Sie diefe Frauen?) 
jagte er zur Gemahlin des Großfürften Conftantin, als derjelben einige Perlen 
aus jeinem Harem vorgeftellt twurden. Die ſchöne Prinzeffin von Altenburg 
war natürlich nicht die einzige und nicht die erfte, welche in dieſem internatio- 
nalen Kauderwelſch fich zurecht finden mußte, und als der Sultan merkte, daß 
jeine mühjam erworbenen Spradfenntniffe Alles, nur fein Verftändniß zur 
Folge hatten, jo überließ er in jpätern Jahren ſich gänzlich der Hülfe feines 
Dragomansd. Nach dem Maße jeiner Vertrautheit mit der herrfchenden Sprache 
des Weſtens ift auch feine Bekanntichaft mit den Künften und Wiflenjchaften 
Europa's zu beurtheilen. Was hätte man auch vom Sultan in diefer Hinficht 
verlangen fünnen, wenn jeine Minifter, feine begabteften Würdenträger jelbft 
nad) mehrjährigem Aufenthalte im Abendlande von unjerer Givilifation nur 
beledt an die Ufer des Bosporus heimgefehrt waren? Diejes verfängliche 
Flittergold der europäijchen Bildung hat Abdul Medſchid allerdings am meiften 
und am beften zur Schau getragen; twobei es freilich nicht fehlen konnte, daß 
er mitunter in die größte Verlegenheit und bisweilen auch in eine poffixliche 
Stellung gerieth. So durfte ein Gefandter nur irgend eines in Pera an— 
gelangten, berühmten europäiſchen Tonkünſtlers Erwähnung thun — natürlich 
um den Schubbefohlenen einen Medichidie-Orden oder ein werthvolles Gejchent 
zu fichern —, als der Großherr auch jofort feinen Wunſch ausdrüdte, denfelben 
in einem Privatconcerte zu hören. Der Virtuos fam, und da mich der Zufall 
ein Mal ganz in die Nähe einer ſolchen Scene verjegte, jo ruft die Erinnerung 
mir noch heute einen erjchredenden Moment diefer Art zurüd. Der Sultan, 
ber dem Künſtler huldreich zuwinkt, nimmt mit einer erwartungsvollen Miene 
Pla. Beim Vorſpiel kann der türkifche Kaifer, der keinen einzigen Ton unferer 
Muſik zu verftehen vermag, die erfünftelte Aufmerkſamkeit noch bewahren, doch 
im weiteren Verlaufe de3 Goncertjtücdes muß ihm diefes wol rein unmöglich 
geworden jein, und twer jchildert die Werlegenheit des Künftlers, als diejer ſich 


Mohammedaniiche Fürſten der Neuzeit und bie europäifche Givilifation. 451 


einem — ſchlafenden Zuhörer gegenüber producirt, oder die des Sultans, ber 
nur duch die Schritte des fich entfernenden Europäer gewedt wird? 

Der Sanftmuth und Willfährigkeit des Sultan, richtiger gejagt: dieſer 
äußerften Nondhalance und: dem Mangel an Verſtändniß für eigentliche Refor- 
men, ift e8 in erfter Reihe zuzufchreiben, daß in dem ftaatlichen und gejellichaft- 
lichen Leben des ottomaniſchen Kaiferreiches viele Neuerungen Eingang fanden, 
die, im volllommenen Widerfpruche mit allen Verhältniffen des Landes ftehend, 
unmöglid eine Zukunft haben konnten. Hätte Abdul Medſchid nur den zehnten 
Theil der Charakterfeftigkeit feines Waters beieffen, jo würde das mannigfaltige 
Glüd, welches jeine Regierung fennzeichnet, gewiß viel mehr zum Wohle der 
Türkei beigetragen haben, ala wirklich der Fall if. So lange er auf dem 
Throne jaß, war die Türkei von Unfällen, glei der Schladht von Nizib, dem 
Seegefechte von Navarin, den Verträgen von Adrianopel und Hünkiar-Skeleſi, 
verihont geblieben, ja man jah vielmehr, wie die Bajonnette des chriftlichen 
Meftens dem ſſchwankenden Halbmond als Stübe dienten. Es galt für eine 
Ehre, dem „kranken Manne“ beigeftanden zu haben, und die ottomanifche Gejandt- 
ſchaft in Paris hatte jahrelang zu kämpfen gegen den Andrang franzöfifcher 
Dfficiere, die nad) der Auszeichnung des „Medſchidſchi-Ordens“ (wie der Gallier 
die Medſchidie nannte) ſchmachteten, trogdem man im Lauf eines einzigen Jahres 
mehrere hundert Ellen des rothen Atlasbandes jnebft zwei Gentnern Silber in 
Decorationen vertheilt haben ſoll. Ya, unter Abdul Medihid hat die Türkei 
der ungetheilten Sympathie ganz Europa's fich erfreut, überall wurde von dem 
erfreulichen Fortſchritte geſprochen, man pries die Aifimilationsfähigkeit ber 
Osmanli's, man überihäßte ihre Tugenden, man beihönigte ihre Fehler, und, 
mit Ausnahme des ruſſiſchen Reiches, hat jedes Land feinen Urquhart gehabt. 
At e8 daher nicht fraglid, was aus der Türkei, von ſolchen Umftänden be- 
günftigt, unter der Regierung eines andern, in der That fbegabten Fürſten ge- 
worden wäre, bejonder3 mit einem anderen Nachfolger, al3 Abdul Aziz? 

Die Annahme, dat aftatiihe Fürſten nur willenlofe Puppen in den Hän- 
den ihrer Minifter jeien, hat in unferem jegigen Jahrhundert feine Berechtigung 
mehr. Selbft Abdul Medſchid joll ein Mal, ala Hafib Paſcha, ein fonft jehr 
willfähriger Finanzminifter, mit der Auszahlung einer größeren Summe & conto 
des Serails zögerte, im Zorne ausgerufen haben: „Bin ich denn nicht der Nach— 
fomme Osman’s, des Begründers diejes Reiches; ift denn das Staatövermögen 
nit mein Eigentum?“ — Die moslimiichen Fürſten der Neuzeit werben 
nicht mehr, wie ihre Vorgänger, durch den mahnenden Ruf einflußreicher, vom 
Scheine der Heiligkeit umftrahlter Molla’s, durch Gewaltthaten übermüthiger 
Prätorianer eingefhräntt. Nichts auch ift irriger, als der Glaube, daß der 
balbgöttlicde Charakter, den die Herrſcher des Islams angenommen, — denn 
der Islam felbft hat ihnen diejen nie gewährt — der Hemmſchuh jeder freien 
Bewegung und da3 Hauptübel in den bisherigen Reformverjucdhen wäre. Der- 
artige Folgerungen der europäiſchen Kritik beruhen zumeift auf der Anihauung 
unferer eigenen diesbezüglichen Verhältniſſe; im Wirklichkeit gibt es in den 
höchſten Kreiſen der moslimijchen Gejellihaft Afiens und der Türkei, die 
Herriherfamilien Aftens mit eingerechnet, mehr Freidenler, als in den ents 

29° 


452 Deutſche Rundſchau. 


ſprechenden Schichten der weſtlichen Welt. Der muſelmaniſche Oſten hat keine 
„von Gottes Gnaden“ entſtandene Kaſte und bedarf daher auch keiner dem 
Gebiete des poſitiven Glaubens entnommenen Stützen für gewiſſe Prärogative. 
Es gehört nicht hierher, zu beweiſen, um wie viele Jahrhunderte der Islam 
ſeinen David Strauß früher gehabt, als das Chriſtenthum; doch da wir von 
Thatſachen und von der Gegenwart ſprechen, ſo darf nicht unerwähnt bleiben, 
daß die hervorragenden mohammedaniſchen Fürſten der Neuzeit alles Andren, 
nur nicht der Bigoterie und des Religionsfanatismus geziehen werden 
können. Die Kadſcharen auf dem Throne Irans waren der Reihe nach 
theils Zweifler, theils ausgeſprochene Atheiſten, während es von Sultan Mah— 
mud I. zur Genüge bekannt iſt, daß er für den Islam nur dann eine beſondere 
Wärme befundefe, wenn diefer in der Controverje dem Chriftenthume gegenüber 
geftellt ward. Tür Abdul Medſchid war die Lehre des arabifchen Propheten 
jehr wenig bindend, wofür die jpäter von Staatöwegen beglichenen Zahlungen 
koranwidriger Genüfje das befte Zeugniß abgeben; und als man ihm einmal 
bemerkte, daß die Koſten des mit ungewöhnlicher Pracht geſchmückten Taijer- 
lichen Hoftheaterd zur Erbauung zweier Moſcheen hinreichend geivejen wären, 
fol er mit gewohnter Ruhe geantwortet haben: „Mojcheen gibt es genug, aber 
wir haben nur ein Theater!“ 

Nicht der Islam, jondern jene Denkweije, welche gemäß Elimatifchen und 
ethnijchen Bedingungen ebenjojehr, aber in Folge einer analogen hiftorischen Ent» 
widelung den übrigen Völkern und Religionen Afiens mehr oder weniger eigen 
ift, muß al3 Hauptgrund der überall und allenthalben hervortretenden Unfähig- 
feit der mohammedanijchen Fürſten der Neuzeit bezeichnet werden. Wer das 
Ne von Intriguen und kleinlicher Rivalität, von welchem die Prinzen ſchon 
in der Wiege umftrict find, Kennen gelernt, wer e8 mit angejehen hat, welch’ 
einfeitige, vernachläffigte, den Herrjchenden Ideen fich keinesfalls anpafjende Er- 
ziehung den Thronfolgern zu Theil wird; und ſchließlich, wer die Lebensweiſe, 
die Hofetiquette und die Umgebung der morgenländiichen Herrjcher eines prüfenden 
Blickes gewürdigt, den wird es nicht Wunder nehmen, daß aus der Reihe der 
gefrönten Häupter des islamijchen Afiens bis jet noch feine wirklich bedeutende 
Perjönlichkeit hervortreten konnte. So lange aber die zukünftigen Herrſcher der 
mo3limijchen Länder von den Banden einer verfommenen Weltanfhauung in 
der freien Bewegung gehemmt, ala Geifteskrüppel auf dem Throne Platz nehmen, 
fo lange ift an eine gejunde und zwedmäßige Umgeftaltung der Dinge in dem 
uns nahe liegenden Theile Afiens auch gar nicht zu denken. Dem türkijchen 
Sprüchworte: „Balik baschdan kokar,* entjpricht ganz wörtlich unſer „a capite 
foetet piseis“; und um Türken, Perjer und Mittelafiaten zu bilden, müſſen 
erft Sultane, Schahe und Chane erzogen werden. Bei uns in Europa mag der 
Sat wol jeine Richtigkeit haben, daß die Aufklärung ihren Weg von unten 
nad) oben nimmt; in Afien ift dies aber nicht der Fall, denn hier muß die 
Sonne der Aufflärung erſt die Gipfel bejcheinen, um in den Thälern Licht und 
Märme verbreiten zu können. 


Sephäflos. 


Vernehm' ich aus Sicilien die Berichte, 
Wie dort der Netna treibt fein altes Weſen, 
Steht fie dor mir, die ſeltſame Gejchichte, 
Die einft in einer Chronik ich gelejen. 





Naht war’? — doch nimmer allzu fern dem Morgen. 


Das Land, das von Lo Stazzo biß La Gava 
Zum Aetna auffteigt, lag in Nacht geborgen. 
Gehöfte, rings umzäunt mit ind’schen Feigen, 
Auch Tags vom Hintergrund zerftörter Lava 
Kaum unterfcheidbar, lagen da in Schweigen. 


Da unterbradhen Schritte diefe Stille, 

In der nichts lebt, ala der Gicaden Schwirren. 
Ein Wandersmann, dem Angftichweißperlen tropfen 
Bon Bart und Stirne, wankt mit todedirren, 
Gebrochnen Bliden durch die wilde Dcdr 

Und fucht ein Haus, an defien Thür zu klopfen. 
Er hat’s gefunden — will um Hilfe rufen — 
Und fintt bewußtlos nieder auf die Stufen. 


So matt die Schritte und der Ruf — fie wedten 
Den Gampagnolen und er ſpäht hinaus; 

Da er nichts fieht, ala einen hingeftredten, 
Reglofen Körper, Öffnet er das Haus. 


Allmälig wieder im Beſitz der Glieder 
MWankt nun der nächt'ge Wandrer in die Stube, 
Zappt längs der Mauer hin und ſetzt fich nieder. 


Nun erft, da ihn gelabt des Winzer Bube, 
Hebt er den Kopf: „Seid taufendmal geiegnet!” 
Und ala nun Alle ihn umftehn im Sreife, 
Erzählt er, was ihm Schredliches begegnet. 


„Ein Roklamm bin ich, fpricht er, auf der Reife 
Nah Taormina fchon feit dreizehn Tagen. 

Dem Commandeur dort bring’ ich meine Fohlen — 
Wo fie geblieben, weiß ich nicht zu fagen. 


Im Hohlweg war's, von hier nicht taufend Schritte, 
Wo mid; drei nächt’ge Wandrer überholen, 
Fremdartig von Geftalt, Gewand und Eitte, 


Es waren Schmiede, nervige Geftalten, 

An Wuchs boch über Menfchengröße ragend, 
Ihr Handwerlszeug mühlelig aufwärts tragend, 
Die Bärte bis zum Gürtel niederwallten. 


454 Deutſche Rundichau. 


Zum Erſten wandt' ich mich nicht ohne Grauen: 
Wohin des Wegs? 
„gum Aetna.“ 
Und was dort? 

„Den Meifter dort ein neue Haus zu bauen.“ 
An Eiß und Schnee? 

„Für und nur Kleinigkeit! 
Do gute Naht. Der Meifter ift nicht weit.“ 


Ih ſann den Worten nach, die ich vernommen, 
Gar jeltfam war mir diejes Volks Gebahren, 
Da hört’ ich ſchnaubend etwas näher fommen, 
Als käm' ein Wagen rafjelnd angefahren. 


Allein der Vierte war’d. Der Meifter war es, 
Am Schurzfell kenntlich, ruffig von Gefichte, 
Mit Augen glühend gleich dem Effenlichte, 

Wild und zerzauft die Wellen feines Haares. 


Er hieß mich ftehn und hob die Schwarze Rechte: 
„Erſchrick nicht, Kleiner, thu’ dir nichts zu Leibe, 
Bangt dir jo jehr vor meinem ruff’gen Kleide? 

Du kamſt des Weges. Sahſt du meine Knechte? —“ 


„Sie find voraus!“ jagt’ ich, da ſtürmt' er hinkend, 
Doc mächtig vorwärts wie in größter Eile; 

Noch einmal wandt' er feinen ungeheuern 
MWildftrupp’gen Kopf nach mir, faſt ſcherzhaft winkend, 
Und ih, ein Mann, der manches Buch gelejen, 
Erfannt’ ihn glei: der Schmied der Donnerfeile, 
Bulcan, der Heidengott ift e8 gewejen! 


Er bat im Aetna jeine Schmiebeftätte, 
Gleich wird er wieder feine Eſſe feuern — 
Flieht! Sehe Jeder zu, wie er fich rette!“ 


Kaum war mit dem Bericht der Mann zu Ende, 

Da flammt's den Berg hinab in fernſte Weiten 

Mit grellem Schein. Es ift nicht Frührothsdämmern, 
Tief unterirdiſch dröhnt’3 von Riefenhämmern, 

Und ringsum berjten jchon des Hauſes Wände. 


Erihrodne Menfchen fliehn nach allen Seiten 
Und flüchten aus den Käufern ihre Habe, 
Denn dem, der zögert, wird das Haus zum Grabe. 


In FFeuerftrömen geht's vom Aetna nieber. 
Den Roßkamm aber, der die ſchreckdurchgraute 
Ericheinung meldete, jah Niemand wieder — 
Denn Keiner überlebt’8, der Götter jchaute. 


Alfred Meißner. 


Literarifhe Rundfdan. 


1. Neue Studien von Karl Roſenkranz. Erſter Band: Studien zur 
Eulturgefhichte. Zweiter Band: Studienzurfiteraturgeihicte. 
Leipzig, Erich Kofchny. 1875. , 

Unter den Philoſophen der Gegenwart vertritt Roſenkranz, wol wie fein Anderer, 
jene ſtolze und jchöne Ueberlieferung, welche für die Philofophie eine allumfaffende 
Stellung im Mittelpunft menfchlichen Wiffens in Anspruch nimmt. Das „Homo 
sum humani nihil a me alienum esse puto“ war von je, praftiich wie theoretiich, 
die Devife dieſes Neftord der Hegelianer, und mit welcher wahrhaft erftaunlichen 
Bruchtbarfeit und Unermüblichleit er ihr in einem bald halbhundertjährigen Wirken 
gerecht wurde, dafür geben auch die beiden vorliegenden Bände wieder rühmliches 
Zeugniß. Sie umfaffen eine lange Reihe von Auffähen, Neden, Abhandlungen aller 
Art, die von 1837 bis 1872, mitten in einer unermüdlichen Lehrtbhätigleit, unter 
weit angelegten wifjenjchaftlichen Arbeiten und unter lebendiger Theilnahme auch an 
der politifchen und jocialen Bewegung des Zeitalter entitanden find. Der erite 
Band, „Gulturgeihichtliches“, umfaßt in bunter Mannigfaltigkeit die verichieden- 

en Berührungspunfte des Verfaſſers mit den Beſtrebungen der Zeitgenofien. 
Roſenkranz belehrt hier, in der ihm eigenen feinen und liebenäwürbigen Weile, die 
alademifche Jugend über die Nachtheile der renommiftischen Duell-Epielereien; das 
größere Publicum orientirt er (1837), wol um mißverftändlichen Auffafjungen des Zur 
ſammenhanges ber Hegelianer mit gewiffen radicalen Strömungen zu wehren, über 
„die Emancipation des Frleifches“. In den Jahren 1843 und 1844 fagt er demielben 
über dad Weſen der politifchen Partei, über Republit und Gonftitutionalismus feine 
Meinung. Nach der Kataftrophe von 1848—50 fucht er zunächſt Beruhigung in 
Natur- und KHunftbetrachtung, ſpricht über Unger's „Urwelt“ (1852), über das Natur- 
gefühl bei den Alten (1852), über Venedig, Über Eintheilung der Malerei nach den 
Gegenjtänden (1853), über die weltgeichichtliche Behandlung der Kunft (1856), über 
die künftlerifchen Darftellungen Chriſti (1862). Der naturwiſſenſchaftlichen Invafion 
in das Gebiet der Philofophie begegnet er in dem Auffahe über „Piychologie als 
Naturwiſſenſchaft“ (1850, fteht Freilich ſeltſamer Weile im andern Bande), fowie 
in der Rebe über Helmholtz' Beweis für den endlichen Stillftand des Weltalld. Daran 
teihen fich dann ſpäter Darftellungen von weiter Peripective: über den religiöjen 
Weltproceh der Gegenwart (1858), über Japan (1860), über die Gefchichte der 
Menfchheit (1862), über die neueften geographiichen Entdedungen (1865), über Ghina 
und Hinterindien (1866). Gin theilnehmendes Wort für das belagerte Paris im 
Winter 1870 und eine Betrachtung über die Einförmigleitstendenzen unferer Givili- 
lation (1872) machen den Schluß. Daß die Jubiläumsrede über Herder (1844), 
ebenjo wie die über Peſtalozzi (1846) und Dinter (1848) in diefem Bande und nicht 
unter den literargefchichtlichen Auffähen fteht, hat wol feinen guten Grund. Rofen- 


456 Deutſche Rundſchau. 


kranz faßt auch Herder zunächſt von der Seite ſeiner anregenden, im großartigſten 
Sinne des Wortes „pädagogiſchen“ Wirkſamkeit, und er führt dieſen, für das Ver— 
ſtändniß Herder's unſerer Anſicht nach maßgebenden Gedanken mit einer bewunderungs- 
würdigen Feinheit und Wärme aus. Referent Hatte im Jahre 1844 die Freude, 
dieſe Rebe als Iebendiges Wort zu vernehmen: er wird den mächtigen, wahrhaft 
befruchtenden Eindruck jener Stunde ftet3 in danfbarer Erinnerung behalten. Die 
literariſchen Aufſätze des zweiten Bandes befchäftigen fich theils von den verſchiedenſten 
Gefichtäpunften aus mit Kant, theils begleiten fie den geiftigefittlichen Weltprocek 
der Gegenwart mit einer überall auf alljeitige Würdigung und Berftändigung an— 
gelegten, nie einjeitig und Lieblo8 abjprechenden Kritik. Neben den philofophiichen 
Abhandlungen haben dabei auch Gelegenheitsauffäge über einzelne Schriftjteller Auf- 
nahme gefunden: jo die Abhandlungen über Rahel, Bettina, Charlotte von Stieglit 
(1837), über die „Ritter vom Geift“ (1852), über den berüchtigten Roman „Eritis 
sicut Deus“ von Fräulein Marie Schwab, über Cholevius’ Gefchichte der deutichen 
Dichtlunft in ihren Beziehungen zur Antike (1856), über Narciß (1857), Robinet 
(1861), Rameau's Neffen (1864), Diderot (1868). Die philofophiiche Weltanfchauung 
des Ber. ijt bekanntlich die eines zu heiterer Refignation geftimmten Optimismus, 
der in der Welt der Ericheinungen überall die gejeßmäßige und nothwendige Ent— 
widelung eines unferm Geifte verwandten Urgedanfens erkennt und fich durch die 
Stichwörter der Materialiften nicht imponiren läßt. Seine Darftellungsweije vereinigt 
weitefte Umfchau, Klarheit und Maß zu wohlthuender Wirkung; man fühlt den 
Geelenhauch des ächten, nicht nur in jchwerer Arbeit und Mühen, fondern auch in 
ſchwerem, heldenmüthig getragenem Schickſal (Rojenkranz ift feit Jahren des Augen- 
lichtes faft gänzlich beraubt) bewährten Weijen, und eine liebenswürbige Wärme, 
deren Zauber fich wol feiner der Schüler des verehrten Meifters je entzogen hat, 
wird von feiner Perjönlichkeit auch dem gefchriebenen Worte mitgetheilt. 


—— — — 


2. Gedichte von Giuſeppe Giuſti, deutſch von Paul Heyſe. Mit 
einem Anhange: Vittorio Alfieri als Satiriker. — Vincenzo Monti. — 
Berlin, A. Hofmann & Comp. 1875. (Veröffentlichung des Allgemeinen 
Vereins für deutfche Literatur.) 

Mit aufrichtiger Freude haben wir wiederholt in bdiefen Blättern jene Be— 
ftrebungen begrüßt, welche neuerdings den feit einem halben Jahrhundert zwifchen 
Deutjchland und Jtalien beinahe abgebrochenen Gedankenaustaufch wieder in Fluß 
zu bringen verjuchen. Wir verfprechen ihnen nicht gerade fchnelle, glänzende Erfolge, 
weder hüben noch drüben; denn tief ift die Mluft zwifchen dem germanifch-proteftantifchen 
und dem romanijch-fatholifchen Bewußtfein, und es fehlt viel, daß der gegenwärtige 
gemeinjfame Gegenſatz gegen die Ufurpationen der Curie fie auch nur annähernd aus- 
gefüllt hätte. Gleichwol find aber die Wege zur Verftändigung nicht verichlofien. 
Der Italiener ift leidenfchaftlich, rhetorischen Wirkungen zugänglich, zum Generalifiren 
und Schematifiren geneigt, wie alle Romanen; aber er ift nicht frivol, er ift weniger 
eitel, als ſtolz, und feine Hervorragende wiflenfchaftliche und Fünftleriiche Begabung 
läßt ihn, jobald fein Intereffe einmal geweckt ift, wunderbar fchnell die Ergebniſſe 
ber langjamen, ftetigen Arbeit nachholen. So fcheint e& uns denn keinesweges aus- 
gemacht, daß die Zeit für immer vorüber ift, im welcher Deutfchland von jemjeits 
der Berge die ganze Fülle der geiftigen Anregung empfing; und bis e8 einmal wieder 
dahin kommt, darf auch fchon jetzt jeder Deutiche, der die zwifchen heute und den 
Tagen Manzoni’3 Eaffende Lüde in dem deutjcheitalienifchen Geiftesverfehr zu füllen 
bemüht ift, fich der vorbereitenden Theilnahme an einem hochwichtigen Gulturwerte 
getröften. So denn auch Paul Heyfe, indem er an die unendlich fchwierige Aufgabe 
berantrat, uns einen Giufti in deutjchem Gewande zu geben: und wenn wirklich, wie 
leicht möglich, der Erfolg der Arbeit fi) vor der Hand auf engere Kreiſe beichränkt, 
fo wird das den trefflichen Ueberirker nicht veritimmen fönnen. Weiß er doch am 


Literariſche Rundſchau. 457 


beſten, welche Fernen den italieniſchen Satiriker, den politiſchen Dichter einer nationalen 
antideutſchen Bewegung und einer unreifen, verworrenen Uebergangszeit von der 
gegenwärtigen Höhe unſeres nationalen Kraftbewußtſeins trennen! Giuſeppe Giuſti, 
Entel des gleichnamigen toskaniſchen Reform-Miniſters, wurde am 13. Mai 1809 
in Monfummano bei Florenz geboren, und hatte, nach ſehr oberflächlichen claffischen 
Studien, aber mit trefflicher häuslicher Erziehung, die Univerfität Piſa bezogen, ala 
die Julirevolution in Italien wie in Deutichland die Nera des kämpfenden, nationalen 
Liberalismus eröffnete; diefe Bewegung hat er denn bis zu feinem Tode (3. März 1850) 
mit feiner politiſchen Dichtung begleitet, angefpornt, vielfältig beeinflußt. Obne 
andern Ehrgeiz als den des Künſtlers, der fich felbft nie genügt, und des Denters, 
ber unter allen Umftänden eiferfüchtig feine Unabhängigkeit wahrt, begnügte Giufti fich 
mit dem freien, tiefeinjchneidenden Einfluffe feines Dichterwortes und mit der Freund⸗ 
Ichaft und Achtung der beiten Männer feines Volles. Der Menge, den Tagesapofteln 
der Öffentlichen Meinung, bat er nie geichmeichelt. Seine Satire brandmarkt alle 
Gebrechen der Zeit, die des Volls wie die feiner ausländiſchen Unterdrüder, und wo 
möglich jagt er feinen Landsleuten, den fchmarogenden Genußmenichen, den ehrlojen 
EStrebern, dem verfommenen, bettelftolzen Adel noch fchärfer die Meinung, ala den 
verhaßten Defterreichern ſelbſt. Die Satiren „Die Verlobung“ und „Gingillino“ 
techtjertigen in diefer Beziehung das Wort Heyſe's, der feinen Dichter unbedenklich 
neben Dante und Nriftophanes ftellt. Wie es von einer wahrhaft vornehmen Natur 
zu erwarten ift, hatte übrigens Giufti nicht nur den Muth des fchonungslofen Angriffs, 
fondern auch den größeren und fchwereren ber Mäßigung inmitten einer reißenden, 
aufgeregten Zeitftrömung und verlodender Popularitätserfolge. Die Declamationen 
ber Republikaner konnten ihn nicht verführen; feine patriotiiche Abneigung gegen bie 
Tedeschi hielt ihn nicht ab, die Reformen Leopold's im Jahre 1847 willlommen zu 
heißen und dankbar anzuerkennen; und als er in den Jahren 1848 und 1849 einem 
Rufe feiner Landsleute in die tosfanische Volfävertretung gefolgt war, fanden ihn 
die Angriffe der Radicalen ebenjo feft, wie früher die Reaction. 


„ern ſei's, daß ich im Tageslampf „Nie fol der Shimpf, mit Schmähungen 
Das goldne Jammerleben „Den Einzlen zu verſehren, 

„Den Aermften noch verbitterte, „Rie fol Ichamlofer Liebedienft 

„Die in der Höhe beben; „Die Feder mir entehren, 

„ern ſei's, daß ich die Leiche „Die Feder, beren Rügen 

„Geftürzter Hoffahrt fchänbete „Ein freier Muth, ein flammenber, 

„Mit Ichnödem Memmenftreiche.” „Beihwingt zu freiern Flügen.“ 


„D, wenn vom blinden Ungeftüm 
„Des erften Borna beieflen, 
„Jemals zu offner Läfterung 
„Die Reime fich vergefien, 

„Dann hilf, o keuſche Liebe 

„Zur Kunft, daß mein zerrifienes 
„Gedicht im Wind zerftiebe.* 


Diefe Strophen, in welchen er fich im Jahre 1848 der Theilnahme am jourma- 
liſtiſchen Parteitreiben verfagte, kennzeichnen ganz feine folge, vornehme, ächt Fünft- 
lerifche Art. Gr ift ftets im erfter Linie der unabhängige, ächte Gentleman und ber 
über dem keufchen Geheimniß der Form ſorgſam Wache haltende Künftler; und wenn 
das Eingeftändniß der dritten Strophe, das Belenntnik zu dem „quem Apollo negat 
facit indignatio versum®, auch keineswegs gegenftanbalos ift, wenn feine Satire 
wirklich je zuweilen das fchöne Maß verleht und zum birecten, Leidenfchaftlichen 
Angriffe wird, To bat fie fich doch nie zum Werkzeuge irgend eines unlauteren per» 
fönlichen oder Parteigwedes bergegeben. Diefem Umftande ift e8 denn auch wol zum 
Theil zuzufchreiben, daß Giufti’s Fruchtbarleit nur eine mäßige war, feine jämmt- 
lichen Satiren nicht mehr ala ein Bändchen füllen. Ob dieſes Bändchen, oder vielmehr 


458 Deutihe Rundſchau. 


die Auswahl aus demfelben, welche una Heyfe hier bietet, den Dichter in Deutſchland 
annähernd jo befannt machen wird, wie etwa Manzoni? Selbſt Angefichts der wahrhaft 
virtuofen Leiftung des Ueberſetzers möchten wir das bezweifeln. Die von Giufti ge- 
geißelten Nichtanupigkeiten liegen uns doch zu fern, tragen zu fehr den Stempel 
einer bejtimmten Zeit und eines beftimmten Landes, ald daß der Ausländer ihnen 
ein rein menjchliches Intereffe entgegen bringen könnte. Sie illuftriren eine über- 
wundene gejchichtliche Entwidelungsphafe, und jomit wird ihre Wirkung über die 
wirklich von Hiftoriichem Intereſſe bewegten Lejerkreife wol nicht hinausgehen. Aber 
auch in diefer Begrenzung ift Paul Heyſe's treffliche Arbeit (nur die Einleitung 
wünfjchten wir Elarer und beffer geordnet) eine hochverdienftliche Bereicherung unjeres 
beutjchen Bildungsapparates. Möge fie an ihrem Theile dazu beitragen, neue Fäden 
be Verſtändniſſes und der Theilnahme zwiſchen zwei Völkern zu Inüpfen, die durch 
ihre wejentlichjten und dauerndften Interefjen auf einträchtiges Zufammengehen an— 
gewiejen find. — Gar zu gerne hätten wir diefer Anzeige ein empfehlendes Wort über 
die gleichzeitig von dem „Allgemeinen Berein Tür deutjche Literatur“ veröffentlichte 
ArbeitBodenftedt’3 hinzugefügt, welche Shakeſpeare'sFrauencharaktere“ 
behandelt. Aber der Dichter des „Mirza Schaffy“ Hat fich feine Aufgabe diesmal 
wirklich zu leicht gemadt. Majjenhafte Auszüge aus Shafejpeare mit ganz ober- 
flächlichem verbindendem Tert find feine Leiftung, wie man fie an jolcher Stelle, von 
ſolchem Manne, über jolch einen Gegenjtand zu erwarten berechtigt war. Das Thema 
ift vielleicht da3 dankbarjte auf dem ganzen weiten Gebiete literarhiftorifcher Aefthetit ; 
wer e8 aber, nach Heine, in die Hand nimmt, der darf das ſchwerwiegende Noblesse 
oblige nicht vergefjen, welches mahnend und warnend daneben fteht, und zwar im 
vorliegenden alle mit dreifachem Gewicht. 





3. Dramatiihe Sprihwörter von Garmontel und Theodore Leclerg, über- 

jet von Wolf Grafen Baudijfin. Zwei Bände. Leipzig, S. Hirzel. 1875. 

Das „Sprichwort“ gehört bekanntlich mit dem Fabliau, der Chanfon und den 
„Memoiren“ zu den eigenthümlichen Literariichen Formen, durch welche der jpecifiich 
franzöfifche Geift, der esprit gaulois, die Weltliteratur bereichert hat. Gelbitver- 
ftändlich ift der Inftinkt der Gejelligkeit ihre gemeinfame Wurzel, die leichte, bequeme, 
gefällige Form der ihnen gemeinfame Reiz, Eigenliebe, Genuß» und Spottjucht, durch 
das Bedürfniß der Anerkennung gezähmt, ihre gemeinfame Seele. Die „Memoiren“ 
brapiren Gefchichte und Leben als elegantes Tyeitkleid um die Geftalt des Erzählers; 
die Chanjon läßt rhythmiſch und melodijch ausklingen, was etwa von frifcher, ur— 
Iprünglicher Lebensluſt und Wärme in der feinen, ſcharfen Atmofphäre der franzöfiichen 
Gejellichaft fich behaupten mag, und im modernen „Sprichwort“ wie im mittelalter- 
lichen Fabliau, fpiegelt fich das tägliche Thun und Treiben diefer Gejellichaft; nur 
freilich mit dem großen Unterfchiede, daß das Fabliau, ſchon in Folge der freiern, 
erzählenden Form, nicht im Geringften erclufiv war, weder in Perjonen noch in 
Bezug auf Sachen, während das Sprichwort fich ſtrict innerhalb der ſcharfen Grenzen der 
focialen Eonvenienz zu bewegen hat. Dieje Heinen Scenen und Scenengruppen überlaffen 
dem eigentlichen Luftjpiel die Abbildung komiſcher Charaktere und Situationen in 
ducchgeführter Handlung, der Tragödie die Darftellung der Leidenfchaft, dem Roman 
die poetifche Ausführung des nationalen Stimmungs- und Phantafielebend. Bon dem 
nahe verwandten Vaudeville wird das Sprichwort äußerlich durch den Mangel der 
Gouplet?, innerlich durch den Verzicht auf irgend welchen Abichluß der Hand» 
lung geichieden. Seine Typen entnimmt es faſt ausnahmslos der „Geſellſchaft“ im 
engern Sinne, dem auf Vergnügen, Unterhaltung, vor Allem auf Befriedigung der 
Eigenliebe gerichteten Verkehr der höhern Stände; feine Kraft, fein Reiz ruht aus 
ſchließlich in der Gonverfation, in den fFechterfünften des beißenden, jchneidigen, 
funkelnden, gaufelnden Worts, wie diefe eben nur in Frankreich verftanden und geübt 
werden. Das Eprichwort, welches den Titel hergibt, hängt mit der Handlung ſehr 


Biterariiche Rundſchau. 459 


Iofe zufammen, wird oft nur, wohl oder übel, der lehten Scene angepaßt, die dann 
mit ihm jchließt. Solcher Stüde eine hübſche Auswahl gibt num Hier Graf Wolf 
Baudiffin in einer Weberjegung, welche fich neben feiner berühmten Molisre-lleber- 
tragung getroft jehen laſſen kann. Er beginnt mit einer Probe aus den „Sprich- 
wörtern”“ der Frau don Maintenon (die nicht nach Mehr Lüftern macht) und läßt 
dann eilf Sprihwörter von Garmontel (1717—1806) und fünfzehn von Leclerg 
(1777—1851) folgen. Jedenfalls find Garmontel und Leclerg die Hauptvertreter 
der Gattung, wenngleich neben ihnen außer Madame Durand und Noederer auch 
Mouflier-Moifiy (+ 1777), 3. Patrat (F 1801) und Du Goudray genannt werden lün- 
nen, und Muffet hat außer „Il faut qu’une porte soit ouverte ou fermée“ auch noch 
das „Sprichwort“ „On ne saurait penser à tout‘ gefchrieben. Das herfömmliche Lob 
der harmlofen Jovialität und Natürlichkeit, welches den Sprichwörtern Garmontel’3 
auch Hier wieder geipendet wird, möchten wir doch nur jehr vorfichtig unterfchreiben. 
Unter den bier mitgetheilten Weberjehungen dürften es unſers Grachtens nur drei 
(„Der bürgerliche Kombdiant“, „Wie ein großer Herr Berfe macht“, „Der Schwätzer“) 
verdienen. Sie find in der That allerliebite, harmloſe, anmuthige Genrebilder, aus 
dem vollen Leben genommen. Sonft wird entweder die Infipidität zu getreu nach- 
geahmt („Daß Porträt”, „Die Gefchichte”, „Die Perrüde“), oder der Scherz artet in 
die Burleöfe aus, für die es weder mehr eine Grenze des Möglichen noch bes 
Heithetifchen gibt. Was foll man 3. B. in „der rothen Roſe“ zu jenem Maler 
fagen, der nur rothe Farbe befigt und nur Roſen zu malen gelernt bat, und darum 
feinem Nachbarn, dem Weinwirth, ftatt des beftellten goldnen Löwen eine rothe Roſe 
auf das Schild malt? Oder gar zu dem‘ Antiquar, der fich für Lieferung einer 
von ihm verkauften „Medaille des Otho“ eine Friſt erbitten muß, da er das Kleinod 
in der Angſt — verichludt Hat? Wären wir, wie Graf Baubdiffin in der Vorrede 
meint, wirklich in der Lage, für unſere gejelligen Unterhaltungen ſolche Späße von 
den Franzoſen des achtzehnten Jahrhunderts entlehnen zu follen oder zu müflen ? 
Oder vielleicht die jchöne Geichichte von dem Hungrigen Dfficier, der, um die 
Hammelteule für fich allein zu behalten, feinem Zifchlameraden von einem Hundebiß 
erzählt und dabei jezuweilen krampfhaft um fich jchnappt? Weit ausgeführter, feiner, 
fchärfer, bedeutender in jeder Beziehung zeichnet Leclerg in feinen „Sprichwörtern“ 
die Meinen und auch manche großen Mifören der „Gefellichaft“ feiner Zeit. Sein 
Dialog ift durchweg meifterhaft, die Situationen find pifant und natürlich, die 
Handlung lebhaft, die Charaktere jein, fcharf und anmuthig umriffen, wenn nicht 
ausgeführt. Die „Predigt im Salon” und „Der Vormittag eines Prälaten“ find 
fogar culturbiftorifche Zeitbilder erften Ranges, wie für die heutigen franzöfiichen 
Zuftände geichrieben. Und dennoch, bei alledem würden wir es geradezu für ein 
nationales Unglüd halten, wenn unfer guter, gebildeter Mittelftand jemals, nad) 
dem Rath des Herrn Ueberſetzers, mit Unterhaltungen im Sinne der meiften diefer 
Stüde feine gefelligen Abende füllte. Denn wie glatt umd elegant es da hergeht, 
wie zierlich in dieſen Wortgefechten geftoßen und parirt wird: es zieht durch das 
ganze bunte, flimmernde Weſen dennoch ein erfältender Hauch, bei dem deutichen 
Gemüthern Hoffentlich nie wohl werden wird. Diefe franzöfiiche Gefellichait kennt 
nicht jene frischen, übermütbigen oder begeifterungsfähigen Naturfinder, die uns z. B. 
in den beſſern Romanen der G. Sand und in den beſſern Chanfons von Beranger fo 
entzüden; fie ift dafür freilich auch frei von allem Anftößigen und Unfchidlichen. 
Da ift von der berüchtigten neufranzöfiichen Ehebruchspoefie Nichts zu ſpüren, da 
bleiben ungebeuerliche Berirrungen der Phantafie fo fern wie offenbare fFrivolitäten. 
Die Damen find alle sages, die Männer wahre Mufter des Anftandes. Aber dafür 
beherricht ein eifiges Gele der conventionellen Form und der ſtarren, kaltherzigen 
Selbſtſucht das ganze Getriebe. Die Liebe gehorcht ausnahmslos Gelb» und 
Familienrückſichten; unter dem guten, leichten Umgangston ſchaut überall die nadte 
Selbftfucht hervor, und das einzige wirflich bewegende, individuell-Iebendige Moment 
liegt in dem Geifte höhnender, wenn auch oft genug wihiger, Mediſance und fcharfer 


460 Deutjche Rundſchau. 


Gatire, der ben ganzen Verkehr, die ganze Unterhaltung beherrſcht. Man ſchüttelt 
fih, man athmet auf, wenn man biefe Geden, Charlatane, diefe naiven und oft 
genug auch reflectirten Anbeter des eigenen Ich einmal Hinter fich hat. Wer dies 
Urtheil ſtark finden follte, der lefe etwa „Die Reife”, oder „Die Empfangsfeierlichkeit”, 
„Das Schwurgericht“, „Der Brief“, „Die fehlgeſchlagene Heirath“ ꝛc. Freilich finden 
fich auch wirklich harmlos Heitere Scherze, wie „Der Grillenfänger“, „Der Kammer- 
diener”, „Die Boreingenommenen”, „Madame Sorbet”, in denen fällt dann aber der 
Witz ſofort in’ Wade. Daß das Wunderblümchen ächten, gutmüthig-ſchalkhaften 
Humors auf diefem Boden nicht wächjt, wird bei aller Anerkennung der guten Form und 
des junfelnden Esprit gejagt werden dürfen, und damit ift unfer Standpunkt zur 
Sache gegeben, wenn es um Benubung diefer fremden Lederbifien Tür deutiche Ge— 
ſellſchaftsabende fich Handelt. Gott bewahre una vor diefer Gewohnheit der Lieblojen 
PVerfifflage, vor diefem wohlgefälligen Spiegeln des eigenen Geijte® in fremden 
Schwächen! Natürlich ſoll durch diefe Bemerkungen der Dank für die treffliche 
Leiftung des Ueberſetzers nicht verkürzt werden. Wenige Härten und Wunberlichkeiten 
abgerechnet (3. B. „ich war mir’ erwarten”) bewegt fich das Gejpräch überall mit 
vollendeter Anmuth und Leichtigkeit, und in der Färbung des Ausdrucks ift jehr fein 
und gejchiet jene richtige Mitte getroffen, in der man den Klang des Originals noch 
durchhört, ohne daß der Ton hart und fremdartig wird, 





4. Unſichtbare Mächte — Hiftorifcher Noman aus der Gegenwart von 
A. Mels. 9 Bände. Leipzig, €. 3. Günther. 1875. 

Mir werden, bei einer anderen Gelegenheit, ein ernſtes Wort zu jagen haben 
über jenen frevelhaften Sykophantismus der politifchen und der religiöfen Parteien, 
der die erzählende Mufe zur Zwilchenträgerin der Verdächtigung, des Klatſches, der 
tendenziöfen Schmähung mißbraucht. Aber jchon Heute wollen wir eines zweiten 
wilden Schößlings gedenken, der, wenn auch nicht jo gehäffig und moraliſch verwerflich, 
doch unjerem öffentlichen politiichen und äfthetifchen Bewußtſein faum weniger gefähr- 
ich ift. Wir Haben e8 Hier mit jener formlofen, ungeheuerlichen Zwittergattung 
zu thun, die fich nachgerade immer anmaßender, durch leichte Erfolge ermuthigt, 
zwifchen die wifjenfchaftlich-gefchichtliche und die poetifche Darjtellung des Weltlaufes 
eindrängt und politifches Denken und guten Gejchmad mit einander in den Köpfen 
der gläubigen und aufregungsdurftigen Leſer gefährdet. Der alte Gtreit über die 
Berechtigung des Hiftoriichen Romans an fich foll Hier natürlich nicht erneuert 
werden. Er ift durch poetiiche Großthaten erſten Ranges über bie Competenz 
jeder Theorie hinaus entfchieden, und e8 würde vergeblich jein, die Nachahmer Walter 
Scott's durch Hinweiß auf die Schiffätrimmer einzufchüchtern, welche den Strand 
ihres gefährlichen Fahrwaſſers bededen. Aber jene großen Mufter der Gattung haben 
auch die feiten Grenzen bezeichnet, die man auf diefem Gebiete nicht ungeftraft über- 
fchreitet. Mag der Romandichter fich auf feine Gefahr Hin des gewaltigen hiſtoriſchen 
Hintergrumdes, der weiten geichichtlichen Perfpective bedienen. Wenn er ihre Ver— 
hältnifje treu und richtig erfaßt, ihre Färbung zu treffen weiß, wenn feine gefchicht- 
lichen Helden in reinen, fejten, monumentalen Umrifjen fi) aus dem Hintergrunde 
des Gemälbes abheben, die frei erfundenen Geftalten des Vordergrundes wahr und 
lebendig das rein Menfchliche mit dem Zeitcharakter vermitteln, jo wird die über- 
wundene Schwierigkeit den Preis des Werkes erhöhen, und dankbar wird der Lejer 
es anerkennen, wenn der poetische Genuß ihm gleichzeitig wiſſenſchaftliche Anregung 
gewährt. Schlimm aber ftände es um die äfthetifche wie um bie politiſch-hiſtoriſche 
Erziehung unferer großen Lejerkreife, wenn dieſes Zugeftändniß je zu einem Freipaſſe 
führte für den Parteiflatjch in novelliftifcher Form, für die Verquidung Hiftorifcher und 
nationaler Sympathien und Antipathien mit der grobfinnlichen Freude am Scandal, 
für die poetifche Habilitirung politifcher Kannegießerei fchlechtefter Sorte. Es iſt 
keine Kunſt, die Neugierde des Philiſters zu ſpannen, wenn der Dichter ihn in die 








Literarifche Rundſchau. 461 


Gabinete der zeitgenöffiichen Yürften und leitenden Staatsmänner, in die geheimen 
Berathungen der Minifter und Feldherren einführt, wenn er ihm enthüllt, was 
Napoleon und Eugenie unter vier Augen verhandelten, ihn belaufchen läßt, wie der 
Seiuitengeneral mit Heren Veuillot das Programm ber ultramontanen Tactik entwirft, 
ihn zum Mitwifjer aller geheimften Geheimniffe macht, die das Walten des MWelt- 
geiftes in den zeitgemöffifchen Ereigniffen umgeben: nicht zu gedenken des pilanten 
Apparates der Berfchwörungen, der geheimen Gefellichaften, der Diplomaten- und 
Polizeiintriguen, der verwegenen Gewaltthaten und frevelhafiten Ränfe, wobei dann 
jede Speculation auf die Reize des Sinnentikeld, der Graufamlfeit, des dämonijchen 
Schauderd dor dem Gräßlichen erlaubt und zur Hand if. Die Scheu vor ber 
Wahrheit, der letzte Neft des hiſtoriſch-politiſchen Gewiflend geht dabei mur zu 
leicht verloren. Die Parteiphraje, die Legende, die bloße Gonjectur nimmt bie 
Geftalt von Thatſachen an, dichteriiches und geichichtliches Intereſſe gehen in 
dem unäfthetiichen Chaos verloren, aber die Luft am gedankenlojen Mitiprechen 
und an finnlicher Aufregung finden nur zu fehr ihre Rechnung. Und jo ift denn 
dieje Literatur, wo nur einiges Darftellungstalent fich ihrer zweideutigen Vorrechte 
bemächtigt, des Erfolges bei der Menge ficher genug. Man denfe an Retcliffe und 
Samarow! Beiden ift der Berfafier des Hier vorliegenden Zeitromans in Bezug 
auf Erfindungsfraft und Darftellungstalent obne Zweifel überlegen. Mels, als 
bonapartiftiicher Parteigänger fchon im Jahre 1870 genannt, ftellt ſich bier die Auf- 
gabe, feinen treuberzigen deutichen Leſern in dem dritten Napoleon den verfannten 
Idealiſten, den größten und beiten Mann feiner Zeit zu zeigen. Der Kaifer erftidte 
zwei Republifen im Blute, um — die Demokratie zu organifiren; er überlieferte 
die franzöfifche Jugend den Jefuiten, um — die Ultramontanen aus ihren Verfteden 
hervor zu loden und fie dann um fo ficherer zu vernichten. Seine Heldengröße 
und Selbftverleugnung wurde nur durch jeine Herzensgüte übertroffen, und fein 
endliches Echidjal war — das des Schönen auf der Erde. Gin gutes Zeichen ber 
Zeit ift e8, daß ein fo kluger Geichichtserzähler, wie Here Mels, es boch für nöthig 
hält, vor dem bdeutichen Rationalgedanfen zu falutiren. Er muthet uns allerdings 
zu, in einem DVertrauten Napoleon’s, der äußerlich den rabiaten Republikaner fpielt, 
ben eigentlichen Ehrenhelden feines Romans zu ſchätzen; aber al& der Sailer jeine 
Schachzüge gegen Deutichland eröffnet, trennt er fi) von diefem feinem deutſchen 
Dertrauten, dem Doctor Oberdorf, denn er kennt und achtet deſſen unbeftechlichen 
Patriotismus. Das Gewürz des Romans, zufammengefeht aus heimlichen Anichlägen, 
Ueberfällen, Berkleidungen, Mord, Nothzucht, Somnambuliemus, Polizei-, Prieiter- 
und Gourtifanen-Myftil, läßt Nichts zu wünjchen übrig, ald — etwas Achtung vor 
dem gejunden Menfchenverftand der Leſer. Originell ift der Gedanke, einen Delin- 
quenten dadurch zu retten, daß man ihm während ber Procedur des Hängens 
unbemerkt die Kehle durchichneidet. Um die Erfindung hätte vielleicht Dumas pere 
Herrn Mels beneidet. Friedrich Kreyffig. 





Kant und Darwin. 


Kant und Darwin. Gin Beitrag zur Gefchichte der Entwidelungslehre von 
Fri Schulte. Jena, Hermann Dufft. 1875. 


Die Erklärung der Entftehung der Organismen aus mechanifchen Gründen erfchien 
Kant, ald er feine unfterbliche Theorie des Himmels bearbeitete, 1755, unthunlich. 
Aber Schon wenige Jahre fpäter, wo er im Programm zur phyſiſchen Geographie den 
erft in unferer Zeit zum allgemeineren Bewußtfein gelangten Unterfchied der an ber 
Oberfläche bleibenden Naturbeichreibung von der in den Zufammenhang dringenden 
Naturgeſchichte auseinanderjept, Äpricht er Anfichten aus, die heute, ſchärier gefaßt 
und mit reichlichen Erfahrungen geftüßt, eine neue Periode der organiichen Natur- 
forſchung eingeleitet haben. Er weift auf die fünftliche Zuchtwahl, auf die Einflüffe 


462 Deutſche Rundſchau. 


des Klimas u. A. bin, um die Ableitung neuer Formen aus Stammformen zu er— 
Hären. Sogar Darwin’ natural selection fann man in folgendem Satze Kant’s 
finden: „Selbjt int Baue eines Thieres ift zu vermuthen, daß eine einzige Anlage 
eine fruchtbare Tauglichkeit zu vielen vortheilhaften Folgen haben werde.“ 

Zwar hält er es für „ungereimt“, die erfte Erzeugung einer Pflanze oder eines 
Thierd als eine mechanische Nebenfolge aus allgemeinen Naturgefegen zu betrachten ; 
allein, ift eine folche Erſchaffung geichehen, dann wirken die mechanifchen Geſetze, 
und durch fie ift der Organismus zu ergründen, während durch Anwendung des Prin- 
ciped des Zwedes und der Zweckmäßigkeit wir nur überhaupt Ordnung und lieber» 
fiht gewinnen follen. 

In verichiedenen Stellen feiner Schriften und zu verjchiedenen Seiten kommt 
der große Denker auf die Möglichkeit zurüd, die Verwandtichaft ſämmtlicher Organis— 
men als eine Blutsverwandtichaft im Sinne unjerer Abftammungslehre aufzufaflen, 
been, die aber jo ungeheuer jeien, daß die Vernunft vor ihnen zurüdbebe. Und fo 
fann ich nicht umhin, dem zunehmenden Enthufiaamus, in Kant die heutige Ent— 
widelungslehre vorgebildet und, wie der Herausgeber unſeres Buches jagt, in feinem 
Kopfe nach Geburt ringend zu finden, einen Kleinen Dämpfer aufzufegen, wie ich 
ſchon Goethe’3 Gedanken über Umbildung und Berwandlung auf ihren richtigeren, 
beſchränkteren Inhalt zurüdzuführen verjucht habe. 

Wenn Kant theoretifch der Epigenefe, d. 5. der Lehre von der Entwidelung des 
Zufammengefegten und Höheren aus dem Einfachen, den Borzug einräumt, jo ftellt 
er fich praftifch, wo es fich 3. B. um die Erklärung der Menjchenracen handelt, auf 
die Seite der Auswidler oder Evolutioniften. Er läßt die Racen entitehen nicht 
durch reine Neubildung, fondern durch Entfaltung zwedmäßiger, dem Urſtamme ein- 
gepflanzter eriter Anlagen. Und was die Urftämme, nämlich die Arten, deren 
„phyſiſcher erfter Urjprung der menschlichen Vernunft unergründlich bleibt”, anbetrifft, 
fo fteht Kant auf dem Boden Linneifcher Anſchauung, daß zu einer Art gehört, was 
fih fruchtbar mit einander fortpflangt und in jolcher fruchtbaren Reihe von einander 
abjtammen ſolle. Allerdings tritt er einmal aus diefem unkritiichen Dogma heraus 
in der großartigen Stelle in der Kritit der Urtheilsfraft, wo er davon jpricht, daß 
aus der rohen Materie nach merhanifchen Gefegen die ganze Technit der Natur ab— 
zuftammen fcheine, die uns in organifirten Weſen jo unbegreiflich fei, daß wir uns 
dazu ein anderes (dad Zwed-) Princip zu denken genöthigt glaubten. Aber auch 
bier lenkt Kant jelbjt wieder ein, indem man doc aladann, jagt er, jener allgemeinen 
Mutter eine auf alle Geichöpfe zweckmäßig geftellte Organifation beilegen müſſe und 
damit den wahren Erflärungsgrund nur weiter aufgefchoben habe. 

Herr Dr. Fri Schulte in Jena Hat fich das Verdienſt erworben, durch die 
forgfältige und volle Zufammenftellung aller in Kant's Werken zerjtreuten Aeußerun— 
gen über die Möglichkeit des Verſtändniſſes der organifchen Natur die Lejer in den 
Stand gejeßt zu haben, fich ſelbſt über die Bedeutung des großen Königsberger 
Meilen in diefem Punkte ein Urtheil zu bilden. Wir erwarten, daß Viele das Buch 
in die Hand nehmen, um mit hohem Genuß das Ganze der Kant'ſchen Natur— 
anjchauung in der wunderbar treffenden Sprache an fich vorüberziehen zu laſſen. 


Straßburg i. €. Dscar Schmidt. 


—î — — 


Profeſſor Wuttke's „Deutſche Zeitſchriften“ und das Ausland. 


Die deutſchen Zeitſchriften und die Entſtehung der öffentlichen 
Meinung. Ein Beitrag zur Geſchichte des Zeitungsweſens von Heinrich 
Wuttke. Dritte fortgeführte Auflage. Leipzig, Krüger, 1875. 

Es ift immer ein mißliches Zeichen, wenn ein Buch, welches in der Heimath 
feines Verfaſſers nicht anerfannt oder gar abgelehnt worden ift, feinen Anfpruch auf 

Notorietät und feinen Antheil an Lob fich aus dem Auslande holen muß — mißlich 


Literarifche Rundſchau. 463 


für das Buch, mißlicher noch für den Verfaffer. Der Eindrud, welchen Wuttke's 
Schrift auf und gemacht, ift ſchwer zu fchildern. Nicht fo ſehr die Thatfachen find 
es, die uns dieſes Gefühl von Unbehagen erregt haben, als vielmehr der Gebrauch, den 
Prof. Wuttle davon gemacht. Wir wußten, vor Prof. Wuttke, daß in der deutichen 
Preffe gefündigt worden ift; aber wir fürchten, daß Prof. Wuttle nicht der Mann 
fei, fie zu reformiren, noch daß er fein Buch überhaupt in diefer Abficht gefchrieben 
babe. Wir fürchten, daß politifche Animofität und perfönliche Gereiztheit ihm ben 
Tert dictirt. Die von ihm angeführten Thatſachen mögen wahr oder fie mögen 
falſch, fie mögen, je nach feinem Bedürfniß, unterjchäßt oder übertrieben worden fein: 
darauf fommt es in erſter Linie nicht an. Aber wir jagen, nur eine im höchſten 
Sinne fittlihe Haltung kann es rechtfertigen, daß fo viel Schlamm aufgewühlt 
werde; nur in jehr ernfter Abficht darf man, in Gegenwart der ganzen Welt, feinem 
Bolte ſolche geheime Schäden aufdeden — es muß in ber Geele Desjenigen, ber 
diefed unternimmt, etwas von dem heiligen feuer, und in feiner Stimme etwas von 
dem göttlichen Zorne des Jeſaias und Demofthenes fein. Alle diefe Vorausſetzungen 
fehlen aber bei Prof. Wuttke, fein Ton und feine Haltung verrathen viel mehr das 
Gegentheil derjelben. Er darf fich daher nicht wundern, wenn „die Öffentliche Mei- 
nung“ in Deutfchland feine Arbeit entfprechend aufgenommen; wenn man, unbeichadet 
der Anficht, die man von feinen früheren wiſſenſchaftlichen Werken hegt, dieſes fein jüngftes 
zuerft mit Stillichweigen, dann — als diefes durch Beifall aus jehr verbächtigen 
Duartieren unterbrochen ward — mit unverhohlener Mikbilligung zurüdgerwielen hat. 
Er darf fih auch nicht auf ein Complott der deutichen Preffe gegen fein Buch be 
rufen; mag fie noch jo ſündhaft und fchuldbeladen fein: diefe eine Tugend befitt fie, 
den ächten Patriotismus von dem unächten unterfcheiden zu können. Allein das ift, 
in den Augen des Prof. Wuttfe, vielleicht ihr ſchlimmſter Fehler. 

Wir leugnen nicht, daß Prof. Wuttle’s Buch manche bittere Wahrheit enthält; 
namentlich der erfte, vor 1866 geichriebene, Theil deffelben ift ſehr beherzigenswerth 
in Allem, was er über die Lage der Schriftiteller und den Zuftand der Kritik in 
Deutichland jagt, wiewol fich ſeitdem in beiden Beziehungen Vieles gebeflert haben 
mag. Allein nicht das, was gut, fondern das, was uns dverwerflich ericheint in feiner 
Schrift, Hat ihm die lauten Acclamationen der uns feindlich gefinnten Preffe des 
Auslandes eingetragen. Weder die milerablen Honorare, welche, nad) des Verfaſſers 
Angabe, gewifje Blätter zahlen, noch die Reclame, welche, derjelben Quelle gemäß, 
andere betreiben, würden die Feder des Herzogs von Aumale oder des Herm B. Cher- 
buliez — wer von beiden nun auch den Wrtifel der „Revue des deux mondes“ 
(1. Mai 1875, p. 201—211), geichrieben haben mag — in Bewegung gefeht haben. 
Nur derjenige Theil feines Werkes, welcher, nach 1870 geſchrieben, ſich gegen das 
deutjche Reich und die beftehende Ordnung der Dinge richtet, Tieferte dem einen 
oder dem andern der beiden genannten Herren das Material, welches fie für ihre 
befonderen Zwede brauchbar erachteten. Ginen zweiten, noch mehr compromittirenben 
Bundesgenofien fand Prof. Wuttke in der zu Brüffel erfcheinenden „Revue generale“ 
(Juni 1875, p. 6389— 663), dem Organ der belgijchen Ultramontanen. Aus diefer 
Wirkung allein hätte Prof. Wuttle fich erflären mögen, warım das deutiche Publi- 
cum und die deutſche Prefle fein Werk unannehmbar fanden. 

Zwar meint der Profeffor, daß eine Echrift, wie die feine, wenn fie in Paris 
erihienen, „dort verfchlungen worden wäre und maſſenhafte Ausbreitung gefunden 
hätte”; eine Meinung, welche die „Revue des deux mondes“ nicht ohne feine Ironie 
zu ber ihrigen macht. Man würde fein Buch verfchlungen haben. „Assurément, 
mais du möme coup on aurait devoré l’auteur.“ Nun, nachdem wenige Wochen 
feit Ausgabe der zweiten Auflage die dritte gefolgt ift, wird der Verfaffer fich auch 
bei uns über Mangel an Erfolg nicht mehr beflagen dürfen, wenn es auch freilich, 
nach unferer Schäßung, mehr ein Erfolg der Mißachtung ift, als irgend etwas An- 
bered. Dennoch bezweifeln wir, troß der angeführten Autorität, dab eine Schrift, 
wie bie vorliegende, welche dem Auslande Etoff zu boshaften Bemerkungen und An» 


464 Deutiche Rundſchau. 


laß zur Schadenfreude gegeben, in Paris, in Frankreich mit befonderem Enthufiagmus 
aufgenommen ober dem Berfaffer jehr zur Ehre gerechnet worden wäre. Der 
Franzoſe hat viel zu viel Nationalgefühl dafür; ja, wir gehen weiter und behaupten, 
fein Nationalgefühl würde ihn abgehalten Haben, ein jolche® Buch, jo wie es ift, 
überhaupt zu jchreiben. Nicht Muth gehörte dazu, wie Prof. Wuttke uns glauben 
machen möchte, jondern Abmwejenheit jedes Begriffes von nationalem Anftand, Wohl 
durfte der Verfafjer jenes Artikels in der franzöfifchen Revue jagen: „Sedan war ein 
Sieg, welchen deutjche Tugend über unfere Lafter davongetragen.“ Denn er jagt es 
mit befümmertem Herzen; er jagt e8 mit einem gewiffen Stolze der Wehmuth, in— 
dem er zugleich, in der Kammer ober in der Preffe, thätig ift, den Glauben ber 
Nation an die Zukunft und an die Rache lebendig zu erhalten, und indem er an 
der Vervollkommnung des hierfür präbeftinirten Werkzeuges, ber Armee, nach beſten 
Kräften mitarbeitet. 

Mir befennen noch einmal, daß auch wir nicht blind für unfre „Lafter” find; 
daß wir und nicht zum Anwalt des vielverfchrieenen Preßbüreau’3 machen, noch bie 
Glienten des Reptilienfonds in unjern Schuß nehmen wollen. Sie mögen jelbjt jehen, 
was fie zu ihrer Vertheidigung jagen können. Allein wir beftreiten Heren Prof. 
Wuttke das Recht, ala Ankläger aufzutreten. Wir geftehen diejes Recht nur der un— 
antaftbaren Lauterkeit der Abficht zu, nur der volllommmen Freiheit von perfönlichen 
Motiven; und das ift in der That mehr, ald wir mit dem bejten Willen von Herrn 
Prof. Wuttke jagen könnten. Wir wollen die Wahrheit weder verjchwiegen, noch ver— 
tujcht, aber wenn wir fie haben follen, jo wollen wir fie ganz und rein haben, nicht 
halb, nicht von perfünlichem Aerger und politiicher Mißgunſt gefärbt. 

Schon in dem, an ich ziemlich hHarmlofen, Abjchnitte, der aus der Zeit unmittel- 
bar vor 1866 batirt, finden fich einige Beweife für die zweifelhaite Dualität des 
Artikels, den Herr Prof. Wuttke die „Wahrheit“ nennt. Wir willen nicht, was 
Herr Prof. Wuttle mit feinem Leipziger Gollegen, Herrn Prof. Zarnde, gehabt 
haben mag; aber es jcheint, als ob Zarnde’3 „Literarifches Gentralblatt”, welches 
jeit 25 Jahren in verdienten Anjehen bei der Gelehrtenwelt jteht, fi ein und 
dad andere Mal ungünftig über Prof. Wuttke's wiſſenſchaftliche Leitungen aus— 
geiprochen habe. Weswegen des Herrn Prof. Wuttke's ganzer Ingrimm fich 
zuerſt gegen „den Leipziger Profeffor” (Zarnde) richtet, der „ald Gelehrter viel zu 
unbedeutend ift, um den Büchermarkt zu überfchauen”, aladann gegen das „Gentral- 
blatt” jelber, deſſen „Bezahlung der Mitarbeiter dermaßen dürftig, daß diefe Niemand 
veranlafien fann, für daſſelbe zu fchreiben“; und zulegt gegen Denjenigen, welcher 
die ungünftige Recenfion gejchrieben, und von welchem Prof. Wuttle jpricht, ale „von 
einem jungen, wifjenfchaftlich ziemlich unbedeutenden außerordentlichen Profeſſor ber 
Leipziger Univerfität, Namens Ebers“ — womit fein Anderer gemeint jein joll, als 
der berühmte Entdeder und Herausgeber des nad ihm genannten Papyrus, der DVer- 
fafjer der „ägyptiſchen Königstochter“! 

Mir geftehen, dab in einem Buche von reformatorifcher Tendenz eine ſolche 
Vermiſchung rein perfönlicher und — fügen wir Hinzu — höchſt kleinlicher Händel 
mit den großen Dingen und Zielen, die e8 angeblich verfolgt, nicht befonders geeignet 
ift, unfer Vertrauen in die Aufrichtigkeit des Autors zu weden. Nicht beffer übrigens 
ergeht es einigen andern Männern, die wir gewohnt find, zu den Bierden der deutſchen 
Wiſſenſchaft zu rechnen, und deren einziger Fehler zu ſein ſcheint, daß ſie ſich zu 
einer anderen Politil bekennen, ala zu ber des Prof. Wuttke. Mommjen’s römifche 
Geichichte wird „in ihrer Auffaffung grundverfehrt und nicht einmal in ihren Einzel» 
heiten genau” genannt; die „Schriften von Häuffer, Sybel, Droyfen und ihren Nach» 
tretern“ erheben fich wenig „über das Mittelmäßige“ ! 

Hier nämlich ift der Punkt, wo Prof. Wuttke's zweites Motiv einſetzt, welches 
uns für einen ethiſchen Reformator nicht weniger bedenklich dünkt, als jenes erſte 
der verlegten Eitelkeit: nämlich politiſche Gehäſſigkeit. Die Profefforen Mommien, 
Häuffer, Sybel, Droyjen und ihre Nachtreter” find ihm verhaßt, weil fie durch 


Literarifche Rundſchau. 465 


Wort und Schrift, auf dem Katheder und der Tribüne viel dazu beigetragen 
haben, das deutjche Nationalgefühl zu weden und zu leiten, bi e&, nach mannig- 
fachen Fehlichlägen, geklärt genug war, um in einer ftaatlichen Drganifation feinen 
jetzigen ehrfucchtgebietenden Ausdrud zu gewinnen. Was uns Allen, wie jehr wir 
auch in den Einzelheiten von einander abweichen mögen, in feiner impofanten Ge» 
fammtericheinung die Erfüllung unferer heißeften und jehnlichiten Wünfche bedeutet, 
das ift Heren Prof. Wuttke ein Gegenftand des Abſcheues — „ein Militärftaat, in 
dem der Schulmeijter von einem Hungergehalte leben mußte, wurde über die anderen 
deutichen Staaten geſetzt“. Faſt jcheint es, wenn man diefe ewigen Klagen über 
ſchlechte Honorare und jchlechte Befoldungen anhören muß, ala ob Herr Prof. Wuttfe 
dennoch mehr von dem leidigen Mammon bielte, als mit der puritaniſchen Gefinnung 
verträglich, mit welcher er fich das Nichteramt über die deutjche Preſſe aumaßt! Als 
ob es, nach feiner Meinung, gar feinen anderen Grund gebe, der Nemanden „ver 
anlafjen kann, zu jchreiben”, ala „die Bezahlung“ ; ala ob es mit feinen Begriffen 
von Schriftftellerei ganz unvereinbar fei, dab man für die Sache jchreibe, nicht nur 
für dad Geld! Doc fern fei von uns jede NRecrimination, wenngleih ein Mann 
vielleicht nichts Befleres verdient hätte, welcher zu glauben vorgibt, daß des ganzen 
neuen deutjchen Neiches Herrlichkeit auf nichts Anderem berube, ald auf Fälfchung 
ber öffentlichen Meinung und Beftehung der Preffe! 

Die clericale belgifche „Revue generale“ gibt fich die Miene, ihm zu glauben. 
Indem fie wünſcht, daß der Verfaffer feine Studien auch über die neuefte Phaſe des 
„Culturkampfes“ ausdehne (was übrigens in der eben erjchienenen dritten Auflage 
des Wuttle’schen Werkes bis zu einem gewiſſen Grade jchon geichehen ift), fährt fie 
fort: „Man würde darin eine Erklärung jenes eigenthümlichen Phänomens finden, 
welches fich in Deutichland gezeigt hat, wo man eine Nation, welche ſeit zwei Jahr- 
hunderten in religiöfem Frieden gelebt, plößlih und auf Geheiß eines mäd- 
tigen Staatsmannes den Weg des Kampfes beichreiten, allen Handlungen 
der legalen (!) Vergewaltigung (?) gegen eine impofante Minorität Beifall rufen und 
feine Zuftimmung einer Verfolgung geben ſah, die, mitten im 19. Jahrhundert, i 
mancher Hinficht an diejenige der erften Jahrhunderte der Kirche erinnert.“ 

Wenn wir Herrn Prof. Wuttle umd der „Revue generale“ glauben wollen, fo 
wäre die Bewegung nur durch die corrumpirte Preffe hervorgerufen; ja, des Fürſten 
Bismard ganze Macht und Bedeutung hätte fein amderes Fundament, ala bie 
Gorruption, und jene wird zufammenbrechen, fobald diefe nur einmal gründlich be— 
feitigt. Wir müfjen zur Ehre der großen Parifer Revue jagen, daß fie für die Wirk- 
lichfeit der Dinge einen viel zu tiefen und klaren Blid hat, um ihrem Leipziger Ges 
währemann fo weit zu folgen. „Nein,“ ruft fie aus, gerechter ala unfer deutſcher 
Profeſſor, „das, was nicht künftlich gemacht ift, das ift die immenfe Popularität, 
deren Derjenige unter ihnen (dem Deutichen) genießt, welcher ehedem der unpopulärfte 
Mann war... Bor ihm befaß Deutichland, ohne Zweifel, den Frieden, den Wohl- 
ftand, die Annehmlichkeiten eines wohlgeführten Haushaltes, den wiffenfchaftlichen und 
literariichen Ruhm; eine Sache fehlte ihm, der politische Stolz. Der Mann, welcher 
ihm das Vergnügen verichafft hat, fich zu bewundern, und die freude, Furcht ein- 
zuflößen, fann es führen, wohin er will.“ So fpricht ein Fremder, ein Feind Deutich- 
lands! Und er fchließt, indem er auf Paul Louis Courrier's Aeußerung aus dem 
Jahre 1823: „Werden wir Gapuciner fein? werden wir es nicht fein? Das ift 
heute die frage!“ mit den Worten erwidert: „Nein, diefe Frage ift feine mehr, wir 
werden feine Gapuciner fein; es handelt fich dabei ebenjo jehr um unfere Ehre, wie 
um unfere Sicherheit!” 

Was kann, nach diefen Worten der „Revue des deux mondes“, auf die er ſich 
anf er fo vieler Genugthuung bezieht, Herr Prof. Wuttle für fich noch geltend 
machen 

Wir erinnern uns, au® einer anderen Zeit und aus einem anderen Lande, eine# 
Angriffes, der fich gleich demjenigen des Prof. Wuttle gegen die — der 

Deutſche Rundſchau. 1, 12. 


466 Deutiche Rundſchau. 


Öffentlichen Meinung in Parlament und Preffe richtete: der berühmten Junius-Briefe. 
An diefem Beifpiele hätte Herr Prof. Wuttke Iernen mögen, wie dergleichen gemacht 
fein muß, wenn e8 wahrhaft wirken, wenn es zünden joll! So fern lag dem Schreiber 
der Junius-Briefe die perjönliche Eitelkeit, daß er fich niemals genannt, daß Nie 
mandem, nicht einmal feinem Druder, feine Perfon bekannt, ja, daß der Streit über 
die Identität derfelben noch bis auf den heutigen Tag nicht endgültig beigelegt 
werden konnte, wiewol die meiften englifchen Hiftorifer fich, aber auch erit lange nad) 
feinem Tode, dafür entichieden haben, daß Sir Philipp Francis der große Unbelannte 
gewejen. In feiner Widmung „an die englijche Nation“ jagt er: „Diefes iſt nicht 
die Sprache der Eitelkeit. Wenn ich ein eitler Mann bin, fo liegt meine Befrie- 
digung innerhalb eines engen Kreiſes. Ich bin der einzige Vertraute meines Geheim- 
niffes, und es joll mit mir untergehen.“ Er hat fein Wort gehalten; und wenn — 
wie Macaulay und Stanhope annehmen — Sir Francis der DVerfaffer gewejen, fo 
hat nicht einmal feine Wittwe beftimmt darum gewußt, ſondern e8 nur vermuthet. 

Aber ebenfo fern, als dieſes Motiv, lag ihm das andere der politifchen Rancune. 
Mit Schneidigem Wort hat .er für die Freiheit der Preffe, „das Palladium aller 
bürgerlichen, politifchen und religiöfen Rechte“, gefämpft, und fo wenig Rüdficht auf 
die Perfon genommen, daß er des Königs jelber nicht geichont. Doch feine Tyeinde, 
auch die er am bitterften angegriffen, haben niemals an der Integrität feiner Ge- 
finnung, an der Ehrlichkeit feiner Abficht gezweifelt; fie haben, wie Macaulay jagt, 
niemals in Abrede geftellt, daß er einen furchtlofen und männlichen Geift bejeflen ; 
und jelbjt ein Schriitjteller derjenigen Partei, der Tories, die er zu feiner Zeit durch 
feine Enthüllungen faft vernichtete, der Earl of Stanhope (Kord Mahon), jagt von 
ihm: „Es find mannigiache Anzeichen vorhanden, daß ein wirklicher Eifer für dag, 
was er für die Wohlfahrt und die Ehre feines Landes hielt, oft in feinen Gedanken 
gegenwärtig war.“ 

Eingeichräntt, wie diefes Lob fein mag, jo zweifeln wir boch fehr, daß fich ein 
nationalgefinnter deutjcher Schriftfteller finden würde, der nur fo viel von Prof. 
Wuttle's Buch jagen möchte! 





Ans Italien. 


Florenz, im Sommer 1875. 


Deutichland und Italien haben fich gegenfeitig biöher immer von oben herunter 
angejehen, aber, wie mir fcheint, niemals gerade ins Geſicht. Wir waren ftet® den 
Deutihen gegenüber, was fie für uns geweien, Eroberer oder Groberte. Was 
früher durch Gewalt erreicht wurde, wird jeht durch Höflichkeit zu erlangen geſucht; 
aber immer noch wird mit Borliebe geftritten, da, wo ein gemeinfames Streben nad 
einem idealen Ziele jo viel befjer am Plate wäre. Die Erften jein wollen, heißt 
eigentlih nur die Herren fein wollen, und in einem SBeitalter, deſſen eifrigſtes Be— 
mühen dahin geht, die Entiernungen und die Verfchiedenheiten auszugleichen, ift auch 
die Herrichaft der einen Nation über die andere nicht zu dulden. Die Herrichaft 
über fich felbit ift es, die man haben muß, und bis nicht jede Nation dieſelbe er- 
reicht Hat, wird die bürgerliche Humanität in ber Minderheit fein, und die Geſchichte 
wird das Privileg diefer Heinen Minderheit bleiben. Die bürgerlichen Genofjen- 
Ichaften müffen alfo durch eine Vereinigung von freien Bölfern ftets wachſen; aber 
auch dad wird nicht geichehen, fo lange ein Theil der Menichheit es als ein Vor— 
recht feiner Race und feiner Nation betrachten wird, über den anderen zu herrſchen; 
fo lange die Nachbarvölter miktrauifch auf einander bliden werden, mehr darauf be 
dacht, fih gegenfeitig zu fchaden als zu nützen; fo lange die angeblich jchriftliche 
Brüderlichkeit, die fort und fort gepredigt wird, nicht zur unumftoßlichen Thatſache 
geworden, die alle Prediger und Apojtel überflüffig macht. Ich ſage hier nichts 
Neues, ich bin jogar überzeugt, nur das zu jagen, was Alle denten. Es genügt aber 
nicht, an etwas Gutes zu denken, man muß es mit einer gewiffen Wärme aus 
Iprehen und verfuchen, es auszuführen. Obwol wir num, deutiche und italieniſche 
Bürger, ſämmtlich innig davon überzeugt find, daß Haß, Neid und Mibtrauen 
zwiſchen Bölfern ein beflagenswerthes Ting fei, tragen wir doch alle gar wenig 
dazu bei, entgegengejehte Gefühle rege zu halten und bei der eriten Gelegenheit greifen 
wir zu den Waffen. Zwar find nicht alle Waffen Krupp’iche Kanonen und Zündnadel⸗ 
gewehre. Aber die Feder kann noch mehr Unheil anrichten, als dieje Waffen, die 
wol den Mann tödten, aber die Idee fortbeitehen laflen, während die Feder das 
Leben zwar jchont, aber die herrlichiten idealen Gebäude zertiümmern kann. Ic 
möchte, daß jeder Schriftiteller, ehe er die Feder in die Hand nimmt, fein Wlaubens- 
befenntniß ablegte; und der erite Artikel diefes Glaubensfages follte lauten: „Jedes 
bon mir gefchriebene Wort, welches zur Vermehrung des Hafles in der Welt bei» 
tragen könnte, ift eine Sünde, und einer ſolchen Sünde will ich mich nicht jchuldig 
machen.“ Damit jei nicht gefagt, dab man die Wahrheit unterdrüden ſoll, ich 
möchte nur, daß fie durch die Yiebe und nicht durch den Hab offenbart werde. Und 
ih bin überzeugt, daB jede Wahrheit, die aus der Wärme der Empfindung ent- 
ſpringt, wohlthätig wirken würde. Nachden ich nun in aller Kürze mein eigenes 
Belenntniß abgelegt habe, das Ginigen vielleicht naiv vorlommen mag, welches ich 

u0* 


468 | Deutiche Rundſchau. 


jedoch auszusprechen für nothwendig erachtete, wird man begreifen, daß derſelbe 
italienische Schriftiteller, der für feine franzöfifchen Brüder eine lebhafte Sympathie 
fühlt und fich ihnen durch Bande der Dankbarkeit und Verehrung für geiftig ver— 
bunden hält, jich dennoch den Deutichen jo nahe fühlt, daß er fich einen Mit- 
bürger des großen Baterlandes Goethe’3 nennt, dieſes Vorläufer der univerfalen 
Sprache und umniverjalen Literatur, an der wir Alle arbeiten müflen. Denn bie 
Sprache und die Literatur bejtehen nicht nur aus den materiellen Lauten, die je 
nach dem Lande wechjeln; die Einheit der geiftigen Töne muß man zu erhalten 
fuchen. Dieje innere Muſik der Sprache und des Lebens follen wir Alle fühlen; 
durch fie müſſen wir zu einander reden, uns einander nähern und vereinigen. Als 
Bürger diefer großen geiltigen Heimat werden wir daher durch jedes Mittel alle 
Diejenigen belehren müſſen, die durch einen Mikton die Harmonie unſeres Concertes 
ftören wollten. Ginjtweilen hoffe ich, daß es mir in diefem erjten längeren Geſpräch, 
welches ich die Ehre habe, mit den Lejern der Deutſchen Rundichau zu führen, 
gelingen wird, zu beweifen, wie ſehr Deutichland und Jtalien durch ihre Bemühungen 
fich gegenjeitig genüßt haben. 

63 war für die alten Römer eine weit härtere und jchwierigere Aufgabe, nach 
Deutichland Hinaufzufteigen, als für die alten Germanen nad Stalien berunter- 
zutommen. Das war natürlich, nicht nur weil man leichter herab- als hinaufjteigt, 
fondern auch weil der Deutjche, der nach Italien kommt, einen Himmel findet, der 
ihn anlächelt, während der Italiener, an das jtrahlende Licht feiner Heimath gewöhnt, 
ungern fich von demſelben entfernt und jchwer dem rauberen Klima des Auslandes 
zu troßen vermag. Ohne indefjen die vielen Urjachen aufzählen zu wollen, die das 
römifche Neich gefchwächt und für jeden Eroberer leicht befiegbar gemacht haben, 
glaube ich, daß es zu jeder Zeit Deutichland Leichter werden würde, Italien zu er- 
obern, als umgekehrt, aus dem einfachen Grunde, weil der. Deutjche mit weniger 
Schwierigkeit in Italien reift, ala der Italiener in Deutjchland. 

Ich ſage das keineswegs, um irgend einem Deutichen mit gefundem Dtenfchen- 
verjtand zuzumuthen, an eine künftige Eroberung Italiens auch nur zu denken, fon» 
dern einfach, um die Haupturfache zu bezeichnen, weswegen der Deutiche den Italiener 
beifer kennt, al3 der Italiener den Deutichen. Dazu fommt noch für uns die größere 
Schwierigkeit der deutichen Sprache, während die Deutſchen die italienische viel Leichter 
erlernen. Da die Deutjchen gründlich Latein ftudiren und gleichzeitig auch Fran— 
zöfiich regelmäßig lernen, können fie mit Hilfe diefer beiden Sprachen Bieles in der 
italienischen errathen, ohne ſich ihr gerade zu widmen. Wir treiben zwar auch ge- 
nügend Latein und bringen es nicht jelten jo weit, dafjelbe mit einer gewiſſen Eleganz 
zu fchreiben, und Franzöſiſch lernen wir, faſt ohne es zu merken; allein feine der 
beiden Sprachen leiftet uns die geringite Hilfe, um uns das Verſtändniß des Deut- 
chen zu erleichtern. Dies ift ein bedeutendes Hinderniß, und obwpl das erneute 
Stalien durch den vermehrten Unterricht der deutjchen Sprache in den: Schulen das— 
jelbe zu überjteigen trachtet, jo wird es ihm troßdem nicht gelingen, es gänzlich hin— 
wegzuräumen, wenn es nicht zu einem Radicalmittel greift und das Beifpiel Ruß— 
lands nachahmt, wo in jeder bürgerlichen Familie den Kindern von vornherein durch 
fremde Hauslehrer und Erzieherinnen das Franzöſiſche und das Deutjche gleichzeitig 
mit ihrer eigenen Sprache beigebracht wird. Indeſſen ijt e8 zweifelhaft, ob dies Er— 
ziehungsſyſtem, welches für Rußland paßt, auf Italien wohlthätig wirken würde. 
Rußland beabfichtigt, fich zu eivilifiren, indem es fich die Gultur des Weſtens aneignet ; 
und jelbft, wenn es einen Theil feiner nationalen Bejonderheit opfert, ift der Gewinn 
noch groß. Aber die Sache liegt anders für ein altes Gulturland, wie Italien; bier 
wird der Nuben gering fein im Vergleich mit dem Berluft. Jedes Volt muß fich 
feine natürliche Phyfiognomie und feine nationalen Sitten bewahren. Wenn, um 
und zu lieben, wir uns auch gleichen müßten, würde die Welt monoton und langweilig 
werden. Um die Deutfchen zu lieben, brauchen wir nicht Deutjche zu werden, fo 
wenig die Deutjchen den Jtalienern nachzuäffen brauchen, um diefe zu lieben, Die 


Aus Italien. 469 


Hauptjache ift, daß unfere Gefühle übereinftimmen, und Aufgabe der Schriftfteller in 
Deutichland und in Italien ift es, diefelben in Uebereinftimmung zu bringen. Was 
die Sprache betrifft, jo werden alle Diejenigen fie lernen, die das Bedürfniß dazu 
fühlen, fei e8 zum Studium, ſei e& zum Reifen, in Geichäften, oder zum Vergnügen. 
Ich will mich jedoch auf diefem minder wichtigen Punkt nicht länger aufhalten. 
Was liegt an der Sprache, die wir reden, wenn wir uns nicht erſt mit dem Herzen 
veritehen? Kain und Abel redeten wahricheinlich diefelbe Sprache, und dennoch haften 
fie fih. Die Savoyarden und die Piemontefen redeten eine verfchiedene Sprache 
und dennoch, jo lange fie beide dem Hauſe Savoyen unterthan waren, ftinmten 
fie volllommen überein; im Benetianifchen wurde vor dem Jahre 1859 das Deutiche 
mebr gelernt, ald in irgend einer anderen italienifchen Provinz, und doch trug das 
Nichts dazu bei, die Sympathie der Venetianer für die öfterreichiichen Herrſcher zu 
vergrößern. Die gemeinfame Sprache ıft freilich eine mächtige Förderung ber Zu— 
neigung, fie fann aber auch zur Förderung des Hafles werden. Diefen vor Allem 
muß man unmöglich machen, und dann wird es jedem Volk leicht fein, mit einem 
anderen zu harmoniren, welche Zunge fie untereinander auch reden mögen. Es gibt 
eine ftumme Spracdhe, die Thaten im Gefolge hat, und die berebter ift, als alle 
—— und dieſe ſtumme, ideale Sprache iſt es, die ich zwiſchen Bolt und Bolt 
verlange. 

Mit Ausnahme der Spanier, von denen Italien leider nur ein eitles, läftiges 
Geremoniell angenommen bat, das heute noch unferer Rede und unferen Gebräuchen 
binderlich ift, gab es kein fremdes Volt, das nach Jtalien gelommen wäre, ohne frucht« 
bare und wohlthätige Spuren feines Aufenthalts zurüdgelafien zu haben. Wenn 
auch Factifch Italien von Fremdlingen bejegt war, jo änderte es doch niemals in 
erheblicher Weife den eigenen Organismus. Givilifirte und barbarifche Völker jchritten 
über feinen Boden bin, die Etruäfer, die Phönizier, die Gelten, die Griechen, bie 
Hunnen, die Bandalen, die Gothen, die Yongobarden, die Franken, die Araber, bie 
Normannen, die Sachſen, die Schwaben, die Defterreicher, die Franzoſen, fie alle 
waren da, verichmolzen fich aber mit den Jtalienern. Daher birgt Italien feine 
Golonien derjenigen fremden Völker in fich, die es einft erobert; die wenigen und 
ärmlichen albanefifchen, dalmatinifchen, deutichen und griechifchen Golonien, die fich 
bier und da zeritreut finden, wurden nicht durch Eroberer gegründet, fondern eher 
durch Frlüchtlinge. Wer hierher am, um zu erobern, endete damit, erobert zu werden; 
der Italiener nahm den Fremden fo vollitändig in fich auf, daß, obwol Italien 
jtets eine Beute fremder Invafionen geweſen ift, einer unferer Schriftjteller, der es 
unternahm, die Geichichte der Fremdherrſchaften in Italien zu erzählen, 
Ichließlih damit endete, unſere ganze unglüdliche Geichichte wiederzugeben. Die 
Natur des Italieners jedoch ift jo zähe, daß das uriprüngliche Element bei ihm troß 
der vielen Wandlungen fi niemals gany zeritören läßt. Und wenngleich viele 
Staliener und viele Fremde geneigt find, die vergangene Zeit als eine beflere und 
ruhmreichere zu beklagen und die alten Italiener als volllommenere Menjchen zu 
betrachten, jo kann ich in diefe Klagen nicht einftimmen. Der alte Organismus war 
ermüdet und zum Theil erfchöpft; ohne neue äußere Berührungen wären wir viel- 
leicht ganz zu Grumde gegangen, wie jo viele orientalifche Voller nach einer Glany 
beriode der Bildung zu Grunde gegangen find, weil fie ifolirt gelebt, feine neue 
Krait, Leine neuen Xebenselemente in fi aufgenommen haben, feine Blutvermiſchung 
ftattgefunden bat; der Italiener hingegen, indem er das Beite des Fremden während 
der ganzen Reihenfolge feiner Geichichte in fich einfog, vermehrte dadurch feine Yebens- 
kraft und feine Macht. Als indeflen der jchwermüthige Genius des Tacitus, im 
MVorgefühl des nahen Falles des römischen Reichs, die Römer auf das Beifpiel des 
ftarten Deutichlands wies, beabfichtigte er nicht nur, das Reich auf die bevorftehende 
Gefahr aufmerfiam zu machen, jondern ihm auch vorzuftellen, wie viel Wohlthaten 
Atalien wieder genießen würde, wenn es vermocdht hätte, in feiner bürgerlichen 
Berlaffung einen Bortheil aus der Betrachtung jener einfachen, ftrengen, religiöien 


470 Deutſche Rundſchau. 


Sitten zu ziehen, denen dieſe angeblichen Barbaren huldigten. Gewiß iſt Tacitus 
von manchem ſeiner römiſchen Zeitgenoſſen für einen ſchlechten Bürger gehalten wor— 
den, da er Deutſchland nicht nur ſtudirte, ſondern auch bewunderte, und von jedem 
ſeiner Mitbürger das Gleiche verlangte; er hoffte wol, aus der Bewunderung bald 
den Wettſtreit entſtehen zu ſehen, der die alten lateiniſchen Tugenden wieder erwecken 
würde, welche den Vergleich mit den germaniſchen ohne Zweifel beſtanden hätten. 
Aehnlich erging e8 vor dem unbheilvollen deutjch-franzöfifchen Krieg in Frankreich den 
wenigen Franzojen, die Deutjchland jtudirt hatten und wohl wußten, wie groß und 
mächtig e3 jei, und wie gefährlich eine Herausforderung fich erweifen würde. Die 
öffentliche Meinung wandte fich erzümt von ihnen als von fchlechten Bürgern ab, 
während e& ficher nüßlicher gewejen wäre, auf fie zu hören und Deutfchland zu einem 
friedlichen Wettlampfe anzueifern. Für die Alten waren die Worte vis und virtus 
von gleichem Werth; wir Neueren jcheinen das Bewußtjein diefer Jdentität verloren 
zu haben. Den Franzoſen wurde es ebenjo verhängnißvoll, die deutſche Macht nicht 
genügend erkannt, wie den Römern, auf die prophetifchen Warnungen des Tacitus 
nicht gehört zu haben. Als nun die Germanen, ihre Bortheile merfend, kühn Italien 
als ein Eroberungsland betraten, famen fie ſtets als ein neues Volk, bald unter dem 
Namen der Gothen, bald unter dem der Longobarden. Das erſte Gefühl der Italiener 
bei ihrer Ankunft mußte das der großen Ueberrafchung gewejen fein; ala fie aber 
merkten, daß die Barbaren die genügende Macht hatten, ihre Eroberung feftzuhalten, 
befanden fie fich in der Lage, mit jenen da® Wunder der Graecia capta zu erw 
neuern, des befiegten Griechenlands, das ſeinerſeits feinen rohen und ftolzen römischen 
Sieger gefangen und bezwungen hatte. Die befiegten Römer fiegten nun über die 
fiegenden Germanen. Gie verzichteten auf die Herrſchaft, führten aber gleichzeitig 
ihre eigenen Gefeße ein, zwangen die Kleine Zahl der Eroberer, die Dialekte der 
eroberten Yänder zu reden, und als die Bezwinger ein eigenes Geſetz machen wollten, 
nöthigten fie fie nicht blos, fich dazu der Lateinischen Sprache zu bedienen, fondern 
um befjer verftanden zu werden, fahen fich die neuen Geſetzgeber jogar gezwungen, 
einige Ausdrüde der volfsthümlichen Dialekte anzunehmen, wie der würdige Profeffor 
Pott in Halle jo richtig bewiejen Hat. Kurz, alle fremden Elemente, die mit der 
Eroberung der Gothen und Longobarden nah Stalien kamen, verfchmolzen jo 
jehr mit dem Italieniſchen, wurden vielmehr von diefem fo vollftändig aufgefogen, 
daß das italienifche Element wieder herborzuragen begann und gewiß den Sieg davon 
getragen hätte, wenn nicht neue Einfälle vorgefommen wären. Wenn man aber 
den Italiener des zehnten Jahrhunderts mit dem des fünften vergleicht, wird man 
einen großen Unterjchied zwiichen beiden bemerken. Es läßt ſich zwar nicht behaup- 
ten, daß der damalige Italiener ſchon den neuen originalen Charakter hatte, der ihm 
mehr nach dem Jahre Tauſend eigen; aber man fühlt vecht gut, daß in den 
Italiener des zehnten Jahrhunderts ein neuer Geift gedrungen ift, der ihm bald eine 
neue nationale Form bedeuten wird. Die Germanen, die nach Italien gekommen 
waren, brachen jede Beziehung zur alten Heimath ab, jobald Italien ihr bleibender 
Aufenthalt geworden, fie wandelten fich dort zu Italienern um; dieſe ſelbſt aber, 
in deren Mitte und durch deren Vermittelung die Wandlung vor fich ging, verän- 
derten fich natürlicherteife ebenfalld, Ein gewiſſer Geift der Unabhängigkeit bemäch- 
tigte fich ihrer auf's Neue, nachdem er unter der Herrſchaft des römischen Reichs 
fi) faſt gänzlich verloren. Um ganz genau zu fein, war e8 übrigens im alten Rom 
nicht jo jehr ein Gefühl der Unabhängigkeit, als der Würde, welches vorherrichte; 
dad „„Romanus sum“ jollte nicht ſowol heißen: ich vertheidige die Nechte meines 
Daterlandes, welches Rom ift, als: mein Vaterland ijt groß und ich bin Bürger 
dieſes Vaterlandes. Die Germanen müfjen wol in das italienische Unabhängigfeits- 
gefühl etwas Fndividuelleres und Humaneres gebracht haben; außerdem haben fie 
durch ihre Heirathen und ihre Sitten unjere Nace gekräftigt, und wenn die Jtaliener 
des Nordens etwas regjamer find, ala die des Südens, fo jchreibe ich dies nicht nur 
dem Unterjchied des Klima's zu, jondern wol auch der größeren Zahl germanifcher 








Aus Italien. 471 


Glemente, die in Oberitalien zurüdgeblieben find. Aus Oberitalien daher mußten 
im Mittelalter wie in unferem eigenen Jahrhundert die erften Zeichen der Unab— 
hängigkeit fommen, und zwar eigenthümlicher Weile gerade gegen diefelben Deutichen, 
die von jenen alten Germanen abjtammen, die nicht ala Eroberer nach Italien ge» 
fommen waren. So bewahrheitete fich in Oberitalien zuerft daffelbe hiſtoriſche Phä- 
nomen, das fich nachmals in Nord» und Südamerifa wiederholte, wo die englifchen 
und fpanifchen Goloniften, die fich dort niedergelaffen, fich erft gegen ihr Mutterland 
erzürnten, um fich fchließlich gang von demfelben loszureißen. Freilich lag in Italien 
die Sache etwas anders, da die Majorität nach wie vor die lateinische Race war 
und ift; die germanifchen Elemente aber, die in diefe unſere lateinifche Welt ge— 
drungen waren, trugen, abgejehen von dem Willen des Einzelnen, viel eher dazu 
bei, den jelbitändigen Geift der Italiener zu heben, als ihn niederzudrüden, jo daß 
diefe beim Gricheinen der neuen fremden Eroberer fich ſofort rührten und zu den 
Waffen griffen, um fich zu vertbeidigen. 

So ſehen wir in unſerer Gefchichte, zwifchen dem neunten und zehnten Jahr- 
hundert, die Geftalten eined Berengar, eines Gredcenz, eines Arbuin und Lanzone 
ericheinen, und im zwölften Jahrhundert endlich den Krieg ausbrechen zwiichen dem 
alliirten lombardiſchen Gemeinweien und dem ſchwäbiſchen Kaiſer, bis diefer umd feine 
Nachfolger einfahen, daß, um fich in Italien ficher zu fühlen, fie Italiener werben 
und die wieder erftehende italienische Gultur fördern müßten. Die Schwaben handelten 
alfo im zwölften und dreizehnten Jahrhundert ähnlich, wie ihrer Zeit die Oſtgothen; 
fie waren wie dieje gleichzeitig die Sieger und die Befiegten. Die Longobarden, im 
höchſten Grade unwiflend, fchienen die Italiener in ihre Barbarei einjchläfern zu 
wollen, aber diefe zweihundertjährige Lethargie war für Jtalien vielleicht mehr wohl» 
thätig ala nachtheilig. Italien wurde roher und einfältiger, aber in diefer Rohheit 
und Einfalt erwarb es fich neues Blut und neue Kraft für den Tag des Wieder- 
erwachens; es eriebte den Gipfel des Elends und der Unterbrüdung, allein indem 
es litt, fühlte es, wie die Kraft feiner Muskeln zunahm. Der Yongobarde hatte den 
Römer überrumpelt, der in Trägheit und Schwelgerei dahinlebte; den Unthätigen zu 
bezwingen, ift ein Leichtes. Gr beraubte ihn, jchlug ihn und zwang ihn, zu dienen. 
Bald aber begann der Diener, den Herrn zu leiten, der Cine verband fich mit dem 
Anderen, und es entitand daraus Gin Mann, der nicht mehr ganz Lateiner war und 
noch weniger ganz Deuticher; der neue Italiener war aus der glüdlichen Zur 
fammenwirfung, der langjamen, mühevollen, geheimen Arbeit des Mittelalters, aus 
der natürlichen Miſchung der Eingeborenen und der Gingewanderten hervorgegangen. 

Unter den fremden Elementen, die in unfer Leben drangen, ift das wichtigfte 
unftreitig das germanifche; es wirkte am ftärfften und am wohlthätigften auf uns 
ein. In der That, in jenen Theilen, die von den Deutichen weniger berührt wur- 
den, wie die neapolitanifchen Provinzen, Sicilien und Sardinien, ift der Italiener 
zwar lebhaft und begabt, aber nicht fo thatkräftig, wie in den anderen italieniichen 
Provinzen, in denen unfer Yeben mit mehr Deutichthum verfeht worden ift. Diele 
glüdliche Kreuzung des Blutes, die fich auf italienifchem Boden zwilchen den beiden 
Stämmen vollzog, mußte ein über Erwarten wichtiger Factor unferer modernen Givili« 
fation werden. 

Aber auch in Deutichland felbft datirt die moderne Givilifation von der Zeit an, 
in welcher es aus feinem beichränften Nationalfreis heraus begann fich in das claffiiche 
Alterthum Rom’s und Griechenlands, in die Renaiffance Italiens und in das acht 
zehnte Nahrhundert Frankreichs zu vertiefen. So muß jedes Land eigenes Xeben, 
eigene Sitte, eigene Sprache haben, aber nicht unempfänglich fein gegen das, was 
e8 umgibt, um micht ftille zu ftehen inmitten einer Welt, die ftets weiter fchreitet. 
Ich weiß wahrlich nicht, was aus talien geworben wäre, wenn es, ftalt feine Kräfte 
durch die Berührung mit feinen Groberern aufzufriichen, fortgefahren hätte, ilolirt zu 
leben und nur vom eigenen Marl zu zehren. Wie gelagt, ich weiß es nicht, und 
Keiner kann es wiffen; zu befürdhten ift aber, dab es heutzutage als ein müdes Bolt 


472 Deutjche Rundichau. 


ericheinen würde, erichöpft durch das eigene Hiftorifche Leben, Es ift wol wahr, daß 
Italien in feiner Einheit. doch tet? ein mannigfaltiges und darum ein jehr reiches 
Land geweſen ift. Es läßt fich daher vermuthen, daß, wie einjt Mittelitalien von 
Nom aus eine etruskifche, und Süditalien eine griechifche Eultur erhielt, auch Nord— 
italien es erreicht hätte, aus eigener Kraft eine neue italienische Cultur zu fchaffen, 
bie vielleicht den celtifchen Einfluß aufgewiejen hätte. Und während dann ein Theil 
Italiens geherrfcht und neuen Glanz um fich verbreitet hätte, würden die übrigen 
Theile des Landes geruht und dadurch neuen Gulturftoff vorbereitet haben. Der 
Boden Saturn’ wird vielleicht niemals fich ganz erichöpfen können. Darum fahen 
wir nach der mittelalterlichen Ruhe über die etrußfifche Cultur eine neue toßcanifche 
fih erheben, die an Schönheit nur der alten hellenifchen verglichen werden kann. 
Ein Theil des Zaubers, den diefe neue Cultur der Renaiffance auf und ausübt, Liegt 
bauptfächlich in der harmonischen Verbindung der antifen Formen und des modernen 
Gedanken. Jene wurden durch Studium und den natürlichen guten Geſchmack, wel- 
cher in der Toscana herrichte, nur noch reizender; und diefer wurde vorbereitet und 
genährt durch das Zufammentreffen der lateinifchen und der germanijchen Race im 
Mittelalter. 

Es fteht mir nicht an, darauf Hinzumweifen, twie viel Dentichland von Italien 
angenommen und gelernt bat; ich beichränfe mich, hervorzuheben, wie unter all’ den 
Berührungen, die Italien je mit den Fremden gehabt, diejenige mit den Deutjchen 
die wirkſamſte gewefen if. Denn fie modificirte gründlich den italienischen Charakter 
und ließ ihm dennoch feine urjprüngliche und mächtige Originalität. Ich zweifle 
beinahe, ob aus den rein italienifchen Elementen, ohne die Grundlagen des durch 
germanijchen Geift beherrichten Mittelalters, das uritalienifche Gedicht eines Dante 
hätte entjtehen können. Ich möchte das weder durch die tiefe und ernſte Schwer- 
muth, die es durchweht, begründen, noch durch die Leidenjchaft, die e8 bewegt, auch 
wenn der Profeffor Mommſen in einer etwas übertriebenen und erclufiven Kritik meint, 
daß die Italiener einer ſolchen nicht fähig ſeien. Mit diefer jchwermüthigen Em— 
pfindung waren im Altertum jchon die Verſe des Lucrez, des Birgil, des Gatull 
erfüllt; und ihre Empfindung war feineswegs Rhetorik, wie Profeffor Mommſen be- 
haupten möchte. Die Leidenfchaft, die das Dante’sche Gedicht athmet, könnte ebenfo 
gut deutſch als italienifch fein, denn fie ift Human. Das ift ja dad Worrecht der 
großen Dichter, eminent Human zu fühlen, um über ihre Zeit,. über ihre Heimath 
hinaus Weltbürger zu fein. Der Aufbau des Dante’schen Gedichtes jedoch, das My— 
ftiiche, Gläubige, Strebende darin, find ein Prädicat jener merkwürdigen neuen Gul- 
tur, welche, durch die Verfchmelzung der nordilchen und füdlichen Glemente hervor: 
gebracht, zuerſt auf lateinischen Boden Fuß Takte, um don dort aus ſpäter auf den 
germanifchen zurücdzumwirten. So wurde denn die italienische Renaiffance, an der die 
Germanen geheimnißvoll und unbewußt mitgewirkt hatten, mit Recht ala ein eriter 
Vorbote der germanifchen religiöjen Reformation betrachtet, einer religiöjen Refor- 
mation, die jedoch auch einen politifchen Inhalt in fich ſchloß; die Verkündung des 
freien Gedankens mußte ja nothiwendiger Weile zur Beftätigung der Menichenrechte 
führen, die in der großen franzöfifchen Revolution zum Austrag fam. Wenn Deutich- 
land, welches uns aljo zu neuem Leben wieder erweckt, ſelbſt fich daraus bereicherte, 
fo wußte es, nachdem es dazu beigetragen hatte, die philoiophiiche Bewegung der 
frangöfifchen Encyelopädie zu ermöglichen, auch von den Franzoſen des achtzehnten 
Jahrhunderts Nuten zu ziehen und von diefen wie von den Jtalienern der Renail- 
jance die Liebe zur jchönen Form und zu den Elaren Gontouren zu entlehnen. Wenn 
nun — was Deutichland und Italien betrifft — Treundichaitliche Annäherung und 
Verbindung das Ziel fein joll, jo ift gegenfeitiges Sichkennen- und Berftchen = Lernen 
das Mittel, es zu erreichen. Sich näher kennen ijt Häufig fich lieben; die Antipathie 
entjteht nur zu oft auß der Unwiſſenheit. Laffet einen Italiener, der fein Wort 
Deutſch verjteht, in Deutjchland reifen, fo iſt darauf zu wetten, daß fait alle Ein- 
drücde, die er dort empfängt, ihm widerwärtig fein werden. Derſelbe Italiener, in 


— nr —— — — — — — — 


Aus Italien. 473 


der deutſchen Sprache wohl unterrichtet und im Stande, auf feinen Reifen in Deutich- 
land mit den Deutjchen zu reden, in ihre fyamilien zu fommen und an ihrem Xeben 
Theil zu nehmen, wird fich freuen, unter der Außenfeite des Deutichen den Menſchen 
zu finden, den er begreift, und der ihm nicht felten Liebe einflößen wird, nachdem er 
fih von ihm verftanden fieht. Ebenfo wird es dem Deutfchen in Italien ergehen — 
je nachdem er die Sprache mehr oder weniger inne hat. Um jedoch in dem Geift 
der Sprache zu dringen, muß man bie Literatur, die Kunſt, die Gefittung des be= 
treffenden Volkes kennen lernen. Auch die Eigenliebe fpielt ihre Rolle in Bezug auf 
die Kenntniffe, die man befigt, und die Eyınpathie, die man bezeigt. Wer fich gar 
nicht oder nur mangelhaft ausdrüden kann, ift bald auf fich angewiefen; fein Wune 
der alfo, wenn Alles, was an ihm vorübergeht, ihm gleichgültig oder antipathifch er- 
Icheint. Wer aber frei über die Sprachen gebieten kann, beutet diefelben mit Genug- 
thuung aus und hält befriedigende Zwieſprache mit der Welt um fich her. Es ge 
reicht mir daher zur lebhaften Freude, daß jeit einigen Jahren dad Studium der 
deutichen Sprache in Italien mit großer Vorliebe betrieben wird. Indeſſen, jo lieb 
mir die Thatſache ift, jo wenig kann ich es billigen, daß in den italienischen Schu— 
len ohne Weiteres deutiche Schulbücher eingeführt werden. Ich weiß wol, daß fie 
befler find, ala diejenigen, die biöher bei uns gebraucht wurben ; aber e& däucht mir, 
daß, wenn es auch richtig ift, die guten Schulbücher des Auslandes zu kennen, es 
dennoch nachtheilig ift, fie den Schulen zu octroyiren, aus Gründen, die jeder Päda- 
goge leicht einjehen wird. Die Methode, die für einen deutichen Kopf paflend ift, 
braucht e8 darum noch nicht für einen italienischen Kopf zu fein; und wenn es uns 
auch nüht, fie zu fennen und zu bewundern, fo geziemt es uns doch nicht, fie zu 
copiren, und noch weniger, fie und anzueignen. Unfere ganze Naturanlage fträubt 
fih dagegen, nicht aus Yeichtiertigkeit, wie man glauben könnte, fondern einzig aus 
dem Umſtande, daß die deutſche Geduld das allmälige Vorgehen verträgt, während 
die italienische Ungeduld unbedingter ein haftiges Fortſchreiten erheiſcht. Diefe Ver— 
Ichiedenheit der Anlagen erfordert natürlich eine Verſchiedenheit der Erziehungsmer 
thode. Deutichland und Italien haben fich gegenfeitig viel zu bieten und viel von 
einander zu empfangen. Aber ein Austaufch muß natürlich und fpontan fein; was 
fih gewaltiam und äußerlich anhängt, hat feine Dauer, denn es vermag nicht, in 
einen lebendigen Organismus zu dringen. Vorläufig ift es nothwendig, daß wir 
uns ſehen, fennen und mit einander verfehren. Indem wir uns ſympathiſch begeg- 
nen, werden wir, uns jelbft unbewußt, unfere guten Eigenfchaften austaufchen; denn 
Jedermann bat es ſchon wahrgenommen, daß wir zum Guten geneigt find, fobald 
wir uns angezogen, zum Bölen, fobald wir uns abgeftoßen fühlen. Das Häßliche 
fordert das Häßliche heraus; Darwin, der den Ausdrud der Thiere ftudirt hat, 
könnte uns die Beilpiele und die Urfachen diefes Natur» Phänomens darlegen. Und 
fo möchte ich, daß der letzte Eindrud, der dem deutſchen Yejer aus diefen beicheidenen, 


aber tiefgefühlten Seiten entgegen lächelt, derjenige der Sympathie ſei. Ich werde 


mir dann jchmeicheln, die Entfernung, die uns trennte, jei es auch nur um einen 
Schritt, verringert zu haben! 
Angelo de Gubernatis. 


Politische Rundfchan. 


Berlin, den 15. Auguft. 


Für die politifch-parlamentarifchen Parteien des VBaterlandes ift der unerwartete 
Hintritt des Abgeordneten Hoverbed ein jchwerer Schlag; Tür die Parteien, nicht blos 
für feine, die deutjche Fortſchrittspartei. Er ſelbſt war in hervorragender Weife mit 
thätig geweſen, als fich die oppofitionellen Anfänge „Junglitthauens” zur nationalen 
Parteides deutfchen Fortichritts ausweiteten, und feine Berfönlichkeit vor Allem Hatte 
es verjtanden, die weiter nach links gravitirenden Elemente unter feinen Gefinnungs- 
genoſſen vor dem völligen Anſchluß an die rein negativen Tendenzen des politischen 
Nadicaliamus zu bewahren. In der Debatte ein jtet3 jchlagfertiger Kämpe, blieb 
Hoverbedf bei allen Irrgängen der parlamentarifchen Strategie ein Mann des unbeug— 
ſamen Rechtsgefühls, und wenn deſſen ftarre Conſequenz ihn zuweilen verhinderte, 
jenen Anforderungen gerecht zu werden, welche das politiiche Parallelogramm der 
Kräfte an den Parlamentarier ftellt, der mit benannten Zahlen zu rechnen berufen 
ward, To Hat doch zu feiner Zeit ſelbſt der entichiedenfte Gegner die Lauterkeit feiner 
Gefinnung, oder die Reinheit feiner Vaterlandsliebe anzuzweifeln verfuht. In uns 
ſerem verhältnigmäßig jo jungen parlamentarifchen Leben find folche Charaktere, als 
Leuchtthürme, an deren ruhig jtrahlendem Schein fich ſchwächere Gemüther aufzurichten 
vermögen, von unjchäßbarem Werth, und darum ſchafft fein Tod, der ihn in herr— 
lichſter Manneskraft weiterem Wirken entriß, eine fo fchwer zu verwindende Lüde. 
Hoverbedf gehört nicht zu Denen, deren Verluft durch ein engeres Aneinanderichliegen 
der Glieder minder fühlbar gemacht werden fann, und wenn die Gejchichte einjt die 
Ahnen nennen wird, welche deutjches Verfaffungsleben werkthätig einbürgern halfen, 
fo muß fie auch jeined Namens rühmend gedenken. 

Unter ſolch friſchem Eindrud ift man faum in der Stimmung, des erften Er- 
gebnifjes fich ungetrübt, zu freuen, welches die gefeßgeberiiche Gonfequenz der preußi— 
Then Regierung dem Glerus gegenüber zu verzeichnen hat. Man beugte fich dem 
Gele über die Vermögensverwaltung der Kirchengemeinden, Fürſtbiſchof Heinrich 
gab von jeinem Öfterreichiichen Aiyl Johannisberg aus das erjte Signal zur Unter- 
werfung, und die bifchöflichen Gollegen folgten — secundum ordinem. Das Epi- 
ffopat Hatte begriffen, was das neue, von einem unleugbar demokratiſchen Geifte 
durd wehte Gejeg ihm anzuthun im Stande fei. Verlor er in Vermögensſachen 
die Gewalt über den gemeinen Mann, jo half er felbit feine Macht mituntergraben. 

So wirkſam fi nun auch der Schuß in’s Schwarze erwies, jo wenig hatte 
man ein Necht, zu mwähnen, daß mit dem Aufgeben des principiellen Widerſtreits 
die Halsjtarrigfeit des Epiffopats überhaupt gebrochen jei. Wenn man an einzelnen 
Regierungsftellen fi) mit Bezug auf diefe Vorgänge einer etwas ſanguiniſchen Aufs 
fafjung zuzuneigen und den praftifchen Werth der bifchöflichen Nachgiebigfeit höher 
anzufchlagen jchien, als eine fühlere Erwägung geftattet haben möchte, jo lag dem 
zweifelsohne viel mehr tactijches Bedürfniß, als wahre Verkennung der Sachlage zu 
Grunde. Man glaubte die Stellung des Gegners leichter zu erichüttern, indem man 
fi das Anjehen gab, ihn auf der ganzen Linie ala im Rückzug befindlich zu glauben. 
In Wahrheit konnte jchlechterdings eine weiter gehende Unterwerfung unter die Staats— 


Politische Rundſchau. 475 


geſetze kaum feftgeftellt werden. Selbſt das Sperrgeſetz, auf das man fo große Hoff- 
nungen gebaut, erwies fich nicht als das Univerjalmittel, für das man es angepriefen. 
Hier und da, dies konnte nicht in Abrede geftellt werden, raffte ſich das eine oder 
das andere Mitglied des Guratclerus zu einer ftaatätreuen Erklärung auf, um fich 
den Bezug der ftaatlichen Geldzufchüfe und Pfründen auch fernerhin zu fichern. Aber 
im Großen und Ganzen miktraute man in diefem Theil der niederen Geiftlichkeit, 
fei e8 der Machtfülle, fei e8 der Ausdauer des Staates, in welchem jene noch nicht 
gelernt hat, den Schirmherrn ihrer Rechte gegenüber den Biſchöfen zu erbliden. 

Iſt erft nach diefer Richtung ein ergebnifreicher Schritt gethan, wird man auch 
auf die glüdliche Beendigung des großen Kirchentampfes mit mehr Berechtigung bie 
Gläfer leeren dürfen — denn Alles ift ja nachgerade Vorwand zum Poculiren ge 
worden — als heute, da man die Folgen ber bifchöflichen Anerkennung des Kirchen- 
vermoögens-Geſetzes in patriotifcher Aufwallung übertreibt. Glüdlicherweile fcheint auch 
auf der anderen Seite die nltramontane Propaganda ihren Zenith überfchritten zu 
haben. Der Ausfall der bayriihen Wahlen, im fosmopolitifchen, clericalen 
Lager fo ungeheuerlich im Voraus verwerthet, zeigt zur Genüge, daß hier ein Still- 
ftand eingetreten. Allerdings ift man im Yande der Wittelsbacher von einem glän- 
zenden Siege der liberalen und reichätreuen Gefinnung noch ziemlich fern. Allein es 
ift Schon immer viel damit gewonnen, daß der ultramontanen Springfluth, welche 
bei Gelegenheit der Wahlen zum deutichen Reichstage in diefem Lande jo große Ver- 
beerungen antichtete, für's Erſte wenigftens Ginhalt gethan werden konnte. Ein 
Theil des Verdienftes kam augenicheinlich dem Schugdamm zu, welchen das bayriſche 
Minifterium durch feine neue Wahltreis-Eintheilung hatte aufrichten helfen. Der 
Ueberihwemmung der Städte durch die ultramontanen Landkreisbezirle war damit 
zum Theil vorgebeugt. 

Die moralifche Niederlage der bayriichen Ultramontanen und Particulariften — 
denn eine thatfächliche Schlappe haben fie ja nicht zu verzeichnen gehabt — liegt eben 
in dem großartigen Mißverhältniß ihrer Anftrengungen und Hoffnungen zu dem 
factifch erreichten Wahlergebniß. Obwol fich alle Gegner der neuen Reichseinheit 
um ihr Panier geichaart, waren fie doch außer Stande, jene großartige Kundgebung 
des jpecififch bayriich- „patriotifchen“ Geiftes zu organifiren, die fie vorher jo laut 
verkündet. Echade nur, daß es noch immer Vorgänge im beutichen Reiche gibt, 
welche ihnen die Verfekerung des Gedanfens an Kaiſer und Reich fo über Gebühr 
erleichtern, wie da® Verfahren gegen die „rankiurter Zeitung“, welches, obwol 
gegen die gefammte Publiciftit gerichtet, um fo gehäffiger ericheint, je directer es 
gerade ein anerkanntes Oppofitionsorgan trifft. Wir fürchten, daß man mit 
diefer Anwendung der drafoniichen Beitimmungen des dbeutichen Preßgeſetzes über den 
Zeugenzwang der Redacteure, wie fie eben in iranffiurt am Main ftaitgeiunden, das 
Gegentheil don dem erreichen wird, was man beabfichtigt; wenn nicht etwa bie 
Stantäanwaltichaft, indem fie auf den Antrag Dritter das Verfahren gegen das 
Frankfurter Blatt einleitete, um den Berfafler einer Gorrefponden, aus — Gera 
zu ermitteln, fich die Aufgabe geftellt, den betreffenden Zeugnikzwang- Paragraphen 
fo recht augenfällig ad absurdum zu führen. Denn kein Menſch mit jenen gefunden 
fünf Sinnen konnte darauf rechnen, daß anftändige Männer, denen ein Geheimniß 
anvertraut war, daffelbe Angefichts einer kürzeren oder längeren Zwangshaft verratben 
würden, ganz abgelehen davon, daß ein Cppofitioneblatt fih um feinen Preis die 
gute Gelegenheit entgehen laflen durfte, auf fo wohlieile Art ſich die Krone des 
Mariyriums zu erwerben. Länger als ſechs Monate konnte ja die Zwangshaft des 
NRedacteurs nicht dauern, und was dann, wenn die Hedacteure, wie vorauszufehen, 
ſtandhaft blieben ? 

63 war nur die „‚boutade‘ eines bumoriftiih anfgelegten Publiciften, welche 
die Herten von der Feder auf einen Act der ESelbithilie — frei nah Echulye 
Deligih — verwies und fie ermahnte, jo lange in der Parlamenteberichterftattung 
die Reden des Herrn X und die Motivenberichte des Herm Y todtzufchweigen, bis 


476 Deutſche Rundichau. 


der Reichstag Muße gefunden, die prefäre Lage der Preffe zu berüdfichtigen. Indeſſen 
fann die Langmuth der öffentlichen Organe zuweilen auch jehr weit gehen und auch 
das diesjährige Stuttgarter Schützenfeſt hat bei mehr als einem Redner Grund 
genug gehabt, fich zu der theilnehmenden Rüdficht der Publiciſtik Glück zu wünjchen. 
Nicht als ob der Gedanke diejer nationalen Vereinigungen zu berwerfen oder jet, nach 
errungener jtaatlicher Einheit, unter das alte Eiſen zu fteden wäre. Nichts fei ferner 
von und. Die ideale Zufammengehörigfeit aller nationalen Stämme durch die 
periodifche Wiederkehr folcher Feſte öffentlich documentirt zu ſehen, ift gewiß ein 
angemefjenes Beftreben. Aber folche Feſte jollten deshalb nicht aus dem Rahmen 
herauötreten, der ihnen der Natur der Sache nach angewiejen if. Dejterreichijche 
und jchweizeriihe Schüben mögen zu dem nationalen Feitplate geladen werden; 
Niemand wird daran etwas audzufegen haben. Aber man Hüte fich, die fremden 
Gäſte zu Schmerzenskindern der Mutter Germania zu degradiren, und man jei doppelt 
vorjichtig in der Aufnahme derartiger Hundgebungen, wenn fie von einer Seite fommen, 
deren deutjch-freundliche Gefinnung nicht als vollwichtig geprüft gelten daf. Wir 
begnügen uns mit diefer Andeutung, ohne den Namen eine gewiſſen Wiener 
Schützenmeiſters nennen zu wollen, der überdies noch in Jedermanns Erinnerung lebt. 

Neben den fogenannten „patriotiichen” Defterreichern deutjcher Zunge find es 
namentlich die öſterreichiſchen Slaven, welche feine Gelegenheit vorübergehen 
lafjen, die Saat des Argwohns gegen das deutiche Reich auszuftreuen, und in eriter 
Reihe find diefen nationalen Elementen des Kaiſerſtaats die Bildungsfactoren ein 
Dorn im Auge, welche die Schulen und Univerfitäten aus dem „Reich“ zu beziehen 
pflegen. Ginge es nach ihnen, jo würde man jederzeit den größten einheimijchen 
Mittelmäßigkeiten vor den vom Ausland zu berufenden Autoritäten unbedingt den 
Vorzug geben. Unter dem Schlagwort der „Schul-Verpreußung“ ift e8 denn auch 
diefer Partei gelungen, die deutſchen Profefjoren in den maßgebenden Regionen 
ziemlich in Mißeredit zu bringen, und ſelbſt das Minifterium Aueräperg, obwol 
feinem Wejen nad) antijlavifch und im dfterreichiichen Sinne verjaffungstreusdeutich, 
bat fich der Rüdwirkung nicht zu entziehen vermocht. Der fogenannte Prager 
Profejjoren-Eonflict, welcher dieſe Hochſchule ſeiner bewährteſten, allerdings 
deutſchländiſchen, Lehrkräfte zu berauben drohte, iſt in ſeinem tiefſten Grunde lediglich 
auf das Mißtrauen zurückzuführen, mit dem man in Wien alle jene Mitglieder des 
Lehrkörpers zu betrachten anfängt, welche nicht jpeciell öfterreichifchen Urſprungs 
find. Die Wahrheit zu jagen, ijt allerdings dieſes Mißtrauen nicht in allen Fällen 
gleich unberechtigt gewejen. Man hat verjchiedene Male beobachten fünnen, daß fremde 
Profefforen in ihren Vorlefungen, wie im jonftigen Verhalten, die Nüdfichten aus dem 
Auge jeßten, welche das Adoptiv» DVBaterland zu verlangen berechtigt war. Das 
Gabinet Auersperg, eben weil es jeiner Nationalität nach (öfterreichiich-)deutichen Ur- 
ſprungs ift, Hatte fich doppelt zu hüten, um feinen nach einer Blöße jpähenden 
Havifchen und föderaliſtiſchen Gegnern nicht Gelegenheit zu bieten, e& der Förderung 
unpatriotifcher Sinnesweile und Lehrmeinungen an höchiter Stelle zu zeihen. Daher jene 
übereilte Parteinahme des überhaupt mit wenig wiſſenſchaftlichem Sinne außgeitatteten 
Minifterpräfidenten Fürften Auersperg für den bureaufratijchen Prager Statthalterei- 
Rath gegen die von diefem beleidigten Profeſſoren. Der Gabinetächet glaubte mit 
jeinem jo jcharf pointirten Auftreten inſtinctiv eine Pflicht der Selbfterhaltung zu voll 
ziehen, jo daß der Unterrichtsminifter jchließlich alle Mühe hatte, die Sache, nicht ohne 
den allerdings zu beflagenden Verluſt des vorzüglichen Anatomen Prof. Henke, der einen 
Ruf nad Tübingen angenommen, in's Geleife zu bringen, was gerade bei der in frage 
ftehenden Prager Univerfität um jo nothwendiger jein mochte, weil die Gefahr nahe 
lag, dieſe Hochichule geradezu in czechifche Hände zu jpielen, wenn man den deutfchen 
wiſſenſchaftlichen Geift, der fie bisher in allen Kämpfen jo jtarf gemacht, dort gar 
auf die Proſcriptionsliſte ſetzte. 

Das Slaventhum in Defterreich hatte übrigens gerade in Iehter Zeit Gelegen- 
beit, fih lärmvoll in den Bordergrund zu ftellen. Der Aufftand in der 








Politiiche Rundſchau. 477 


Herzegowina bot dafür die erwünjchte Veranlaſſung. Es waren chriftliche, 
Havifche Stammesgenoffen, welche fich gegen das türfifche Joch erhoben Hatten, umd 
fie galt e8 zu ſtühzen. Diefen fjlavifchen Regionen lagen offenkundige Annerions- 
bejtrebungen, betreffend die chriftlichen „Hinterländer“ Dalmatiens, d. i. Bosniens 
und der Herzegowina, eingeftandenermaßen jehr nahe. Diefe Tendenzen auch der 
Regierung in Wien annehmbar zu machen, war das unverrüdbar im Auge behaltene 
Ziel der Agitatoren, deren Verbindungen, wie man fich nicht verhehlen darf, in hohe 
Kreiſe hinauf reichen, freilich ohne in den jeßt eben regierenden Regionen officielle Ver: 
treter zu beſihen. Von den drei Hauptelementen, aus denen der ungarifch-öfterreichiiche 
Staat bejteht, find gegenwärtig jenfeits der Yeitha die ungarifche, dieſſeits der Leitha 
die Öfterreichifche Nationalität ftühende Factoren der Monarchie. Beide ftehen in mehr 
oder minder offenem Kampf gegen das dritte, das jlavifche Element , welches zur 
Zeit das Heft nicht in Händen hat. Dennoch kann dafjelbe vom Monarchen nicht 
unberüdfichtigt bleiben. Indeß — von allen europäifch»diplomatifchen Bedenten 
ganz abgeſehen, welche eine Arrondirungspolitit Oeſterreich- Ungarns auf Koften der 
Türlei zur Zeit wenig thunlich erjcheinen laſſen — würde eine weitere Erwerbung 
flavifchen Gebietes, möchte es mun zur cid= oder zur transleithanijchen Reichshälfte 
geichlagen werden, jedenfalls das flaviiche Schwergewicht im Reiche vermehren, und 
ſchon aus diefem Grunde Hat dieſe AUnnerionsidee weder unter Magyaren noch unter 
Deutichen befondere Freunde gefunden. Dies hält natürlich den jlaviichen Theil der 
Bevölkerung nicht ab, auf feine Weile den Aufftändifchen im Kampfe gegen den 
Halbmond lebhaftefte Sympathien zu beweilen, und bis zu einem gewiffen Grabe ift 
es ihm denn auch gelungen, die öfterreichifche Politit, wie fie Graf Andrafiy 
vertritt, der Piorte gegenüber in ein ſchiefes Licht zu ftellen. 

Daß die chriftliche Bevöllerung der Herzegowina fich in einer ſehr gedrüdten 
Lage befindet, erjcheint ebenfowenig fraglich, als daß die Pforte, mit unbegreiflichem 
Thlegma und wol auch in traditionellem Fatalismus, ſich die thatfräftige Unter 
drüdung des Aufftandes nicht gerade angelegen fein ließ. Echon beginnt die Be— 
wegung aus dem Rahmen eines bloßen Guerillabandentrieges herauszuwachſen und 
die angrenzenden Yandestheile, fei es das türkifche Albanien, ſei es Montenegro, 
Serbien oder jelbit das füdliche Dalmatien, ſpüren in immer beitigeren Er— 
fchütterungen die Rüdjchläge der Empörung. Fürſt Nikita von Montenegro, 
welcher noch im lehten Frühjahr während der Podgoriga-Affaire den Mächten ob 
feiner maßvollen Zurüdhaltung volle Beweife feiner fyriedensliebe gegeben, ſah fich 
bereitö außer Stande, den Zuzug feiner Getreuen zu den nfurgenten zu verhindern. 
Sein Patriotismus wird von den flavifchen Agitatoren verbächtigt, und je geringer die 
Griolge find, welche die türkiichen Truppen gegen die Aufftändifchen davontragen, 
deito unwwiderftehlicher wird die Yuft der Söhne diefer ſchwarzen Berge, ſich ebenfalls 
am „heiligen Kampf” zu betheiligen, ein Kampf, bei welchem man nicht weiß, wo 
das nationale oder religiöfe Moment, oder gar die gemeine Raub- und Raufluft als 
leitendes Motiv mitzufprechen beginnt. Faſt Scheint e# unmöglich, daß Montenegro 
als ftaatliches Gemeinweien dem Aufftand noch lange fern bleibe. Hier fpielt auch 
die ſtille NRivalität zwiſchen Fürſt Nikita und Milan von Serbien eine Rolle, 
Je mehr fich diefer in confervativen, der Schlachtenaction abgeneigten Bahnen bewegt, 
deſto eifervoller fieht fich Nikita aufgefordert, ihm in der Popularität bei dem dhrift- 
lichen Bevölferungen der Ballanhalbinfel den Vorſprung abzugewinnen. 

Fürſt Milan von Serbien hat durch feine plögliche Reife nach Wien, der 
er freilich durch die gleichzeitige Betreibung einer Herzensangelegenbeit den politischen 
Parfüm zu benehmen bemüht war, die diplomatiiche Welt aus ihrer Sommerrube 
aufgefchredt. Er lam nad Wien mit dem ausgeiprcchenen Vorſatz, Hier Fühlung 
zu nehmen mit der herrichenden Strömung. Gr wollte fich jelbft überzeugen, ob die 
flavifche Richtung wirklich fo maßgebend geworden, ald man ihm vorzuipiegelm nicht 
müde geweien. In dieſer Beziehung hatte er nur Enttäufchungen zu erleben, Selbft 
der Hinweis auf feine prefäre Stellung der Omladina und den ſerbiſchen Wahlen 


478 Deutſche Rundſchau. 


gegenüber war nicht geeignet, ihm jene freie Hand zu verſchaffen, jene Rückendeckung 
zu ſichern, deren er nicht entrathen zu können meinte, wenn er ſich in das ihm an— 
geſonnene großſerbiſche Abenteuer ſtürzen ſollte. Die Dejterreich fich jelbft die 
ftrengfte Neutralität auferlegte, jo machte e8 deren Aufrechthaltung auch dem ferbifchen 
Fürſten zur loyaljten Pfliht. Wol mochte man ihm dafür gewiffe materielle Bor- 
theile in Ausſicht ftellen: einen Handelsvertrag in Form einer Bollconvention, wie 
man ihn Rumänien troß türkifcher Protefte gewährt Hatte, die Sicherung des An— 
Ichluffes der jerbiichen Bahnlinien an das türfifche Schienenneß, vielleicht jelbjt die 
Befürwortung der Räumung der noch von der Pforte bejegt gehaltenen Bergfefte 
Klein Zwornig, — aber jedenfalls jollte er fih von jedem Schritt fern halten, 
der einer factiſchen Theilnahme am Aufjtande gegen die Türkei gleichen könne. Der 
Rath war augenscheinlich Leichter zu geben, als zu befolgen; um jo mehr, als 
man ſich ſerbiſcherſeits darüber klar werden mußte, daß man von Wien aus keine 
Förderung der eigenen Vergrößerungspläne zu gewärtigen habe. In der That kann auch 
die großſerbiſche Idee dem öſterreichiſch-ungariſchen Staate nicht ſympathiſch ſein. Eben 
ſowenig aber auch — im Fall eines Gelingens der Empörung in der Herzegowina — 
die Bildung eines mehr oder minder ſelbſtändigen ſüdſlaviſchen Reiches, mag es ſich 
nun in das Gewand einer Conföderation hüllen, oder ſich einem der beiden halb— 
ſouveränen Fürſten, Nikita oder Milan, unterordnen. Die Attractionskraft eines ſolchen 
Staatengebildes auf die flaviſchen Elemente in der Völkerfamilie der Monarchie wäre 
für Dejterreich-Ungarn geradezu eine Gefahr. Graf Andrafiy fieht fich alfo durch 
die Thatlofigkeit der Türkei gleichlam gezwungen, auch die Eventualität in’® Auge 
zu faſſen, in welcher er fich vor das Dilemma gejtellt fieht, entweder die Formation 
einer jelbjtändigen jüdjlavischen Staatengruppe geichehen zu laſſen, welche für 
Dejterreich- Ungarns jlavifchen Befit nicht unbedenklich erjcheint, oder die Einverleibung 
biefer noch uncultivirten Bölferrudimente anzubahnen, deren Eintritt in den Reiche» 
verband gleichfalls fchwere Bedenken erweden müßte. Ob unter diefen Umjtänden 
nicht einer dritten Idee der Vorzug gebühre, welche für diefen Fall der neu zu 
bildenden Staatengruppe ein ähnliches Verhältniß zu Wien zumweift, wie e8 jetzt 
Serbien, Montenegro und Rumänien Konjtantinopel gegenüber einnehmen, muß die 
Zukunft Iehren. Genug, daß diefer Gedanke aufgetaucht ift und ernjter diploma= 
tifcher Erwägung unterzogen ward. 

Diefe hHochpolitifchen Vorgänge, welche Defterreich, ſei e8 durch vermehrte Truppen 
aufjtellung, ſei es durch die den flüchtigen Herzegowinern gewährte Geldunterjtüßung, 
bereitö pecuniäre Opfer auferlegten, haben der Discuffion faum Abbruch getan, welche 
ſich betreffs der Erneuerung des ablaujenden Zoll: und Handel3bündnijjes 
zwiſchen Cißleithanien und Ungarn entjponnen hat. Treten doch die finanziellen 
Probleme für beide Neichshälften immer gebieteriicher in's Vordertreffen. Die 
Finanz und Steuerfraft nimmt beitändig ab, denn das Land leidet noch immer an 
den Folgen der großen Gapitald- und Börjenkrifis des Weltausftellungsjahree. Das 
gegen werden die Anforderungen des Militärfiscus immer größer, und die Aniprüche 
des gemeinfamen Kriegaminifters für die Neorganifation der Artillerie ericheinen ſelbſt 
den befonnenften Patrioten jo unabweisbar, daß wohl oder übel Mittel gefunden 
werden müffen, die benöthigten Millionen aufzubringen. 

Der kriegeriiche Hintergrund im Orient fommt da dem Sriegäminifter ebenfo zu 
Hilfe, wie er dem ruſſiſchen Goudernement in feinen Bejtrebungen, zur 
Godification des Kriegsrechtes zu gelangen, abträglich erjcheint. Die neueſte Note 
des St. Peteröburger Cabinets läßt diefem Lieblingsplane Czar Alerander’s II. ſchon 
bedeutende Modificationen zu Theil werden. Bon einer fürmlichen internationalen 
Uebereinfunft, die man noch vor Jahresfrift im Auge hatte, wird bereits Abjtand ge— 
nommen, um die Bedenken der Eleineren und Mitteljtaaten, die fich einer Zwangs— 
lage gegenüber wähnten, zu beichwichtigen. 

Bei der engliſchen Regieru ng eg jedoch dies ruffiiche Entgegentommen 
ohne den gewünjchten Erfolg. Das GCabinet Derby hatte bereits zu ſchroff Poſto 


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Politiſche Rundſchau. 479 


gefaßt, als daß ihm Angeſichts feiner bindenden Erklärungen im Parlament ein 
Einlenten noch möglich gewejen wäre. Jet überhaupt, nachdem es in der Plimjoll- 
Affaire, wegen der unmotivirten Yurüdlegung der Handelsichiffiahrtsbill, der 
eigenen Autorität einen jo jchweren Stoß verſetzt, wäre ein Nachgeben vielleicht gleich- 
bedeutend mit politiichem Selbjtmord der Tories. Der parlamentarifche Sturm, welcher 
in Folge des Plimſoll'ſchen Auftretens jo unerwartet hereinbrach, fchien überhaupt 
anzudeuten, daß die Glanzperiode der Regierung Disraëli's vorüber ſei. Glüdlicher- 
weile für das Tory-Miniſterium befibt fein Leitender Minifter jene Schmiegfamteit 
und jenen Tact, der in jchwierigen Lagen zuweilen als Surrogat größerer ſtaats— 
männifcher Begabung zu dienen vermag. Mittels diefer Eigenfchaften gelang es auch, 
theilweife den Eindrud zu paralyfiren, welchen der moralifche Sieg Plimſoll's — 
moralifch in jeder Deutung des Wortes — hatte hervorbringen müſſen, und die un- 
geftüme Einfeitigkeit des jeemännischen Agitators fam den Charaftereigenthümlichkeiten 
des Premier vortrefflich zu ftatten. 

Auch in anderer Beziehung noch konnte Dieradli von Glüd jagen. Die jo demon- 
ftrativ in Scene geſetzte D’Connell- Feier verlief beinahe im Sande, wenigjtens 
was die internationale Tragweite anbetrifft, welche man dieſem Feſte hatte auiprägen 
wollen. Rein ultramontane Hundgebungen und Home-Rule-Zwecke ftanden ſich wie 
Wafler und Del unvermiſcht gegenüber. Der Verſuch des abfolutiftiichen Papftthums 
von heute, den irischen Demokraten für fich zu reclamiren, war eben nur möglich, 
weil der große Agitator nicht mehr unter den Lebenden wandelt. Auch die deutichen 
biichöflichen FFeudalherren fanden deshalb eine Fülle von Ausflüchten, um fich der 
Theilnahme an einer Feier zu entziehen, die ihnen vom fatholifchen Standpunkte aus 
beinahe zur Kampfespflicht gemacht worden war. Aber die Einladung an fich fonnte 
in England kaum mißverjtanden werden, und der Optimismus, den man faft alljeitig 
angeficht8 der wachjenden jejuitiich-ultramontanen Bewegung noch zur Schau tigt, 
ericheint nach diefen Vorgängen weniger gerechtfertigt, denn je zuvor. 

Wie denn überhaupt der Baticanigmus in Wejteuropa fi nur zu Forts 
fchritten Glüd zu wünjchen hat. Das Joch, welches ihm gelang über den gefammten 
höheren Unterricht Frankreichs aufzufteden, bezeichnet vielleicht den Höhepunkt 
feiner Triumphe. Echon haben die Klerikalen Frankreichs aufgchört, einer beftimmten 
politiichen Parteijchattirung anzugehören. Sie find nicht mehr legitimiftifch, nicht 
orleaniftifch, noch endlich kaiferlih. Ihr Banner weit nur noch nah Rom, und jo 
wurden fie, gleichzeitig mit und unter Buffet, die feftefte Stüße des Septennats, unter 
dem fie fich wohler fühlen, als unter irgend einer wirklich gefefteten Regierung, welche 
das traditionelle Bedürfniß empfände, den Rechten des Staates auch der Kirche gegen- 
über nichts zu vergeben. Sonſt berricht in Frankreichs politifchen Zuftänden er 
freuliche Ruhe. Gambetta wird verfuchen, fich in den parlamentarifchen Ferien von 
jener Niederlage zu erholen, die ihm Buffet in der Nationalverfammlung mit jo viel 
Verve beigebracht. Die Seffion der Generalväthe beginnt, und die politiichen Kund— 
gebungen werden diesmal aus den Berathungen diejer Körperſchaft ſchwerlich ganz 
verbannt bleiben, weil e& der Regierung jelbit darauf ankommt, die Strömung diejer 
conjervativeren Berfammlungen zu Gunſten ihres Projectes für die allgemeinen 
Wahlen nach Arrondifiements, nicht nach dem republifanifchen Liftenfcrutinium, 
die fünftigen Deputirten zu ernennen — möglichft vielfach zu verwerthen. Inzwiſchen 
fängt man aud in Frankreich an, deilen Handel und Wandel feit dem Kriege fc 
blühenden Auffchwung genommen, die Nüdichläge jener Kriſis zu fühlen, welche auf 
zwei jo wichtigen Grportländern für franzöfifche Induſtrie, auf Oeſterreich und Deutich- 
land, laften. Vielleicht, daß dieſe Seite der Solidarität aller Völker, weil fie für 
die materiellen FEntereſſen fühlbar ift, dem wachlenden franzöfiichen Friedensbedürfniſſe 
größeren Vorfd ab geleitet, ald man bisher ahnen mochte, 

Aus den Jereinigten Staaten von Amerita lommen zum erften Wale 
feit langen {uhren erfreulichere Nachrichten über die wirthichaitlihen Ausfichten, 
Aus allen Iheilen des Yandes meldet man übereinjtimmend das Herannahen beſſerer 


ee Le nn VV ⏑——— 


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480 Deutſche Rundſchau. 


Zeiten. Das Vertrauen ſcheint zurückzukehren, wozu nicht am wenigſten die außer— 
gewöhnlich große Getreideausfuhr nach Europa beiträgt. Hoffentlich wird dieſer 
Aufſchwung, deſſen Rüdwirktung auf Europa unausbleiblich ift, nicht durch die ſprich— 
wörtliche Gejchäftsftille, welche erfahrungsmäßig jede Präfidentenwahl begleitet, wieder 
gejtört werden. Die letztere tritt immer mehr in den Vordergrund. Allem Anfcheine 
nach wird es fich abermals nur um die beiden alten Parteien handeln, die fich jeit 
Jahren gegenüberjtehen, um die republifanifche und die demofratifche. Von der ſo— 
genannten Oppofitionspartei hört man nicht? mehr. Die Elemente, aus denen fie 
fich zuſammenſetzte, ftanden fich in den wichtigiten Fragen zu fchroff gegenüber. Zu 
diefen Fragen gehört in erfter Reihe die Goldfrage. Die große Mafje des Deutjch- 
thums und viele Liberale Amerikaner, welche thatjächlid mit der republifanijchen 
Partei gebrochen haben, würden dazu gezwungen werden, abermals zu ihr zurid- 
zufehren, falls die demofratifche Partei fortfährt, wie fie e8 in Ohio und anderen 
Staaten gethan, fich zu Gunften der „Papierverwäflerung“, d. 5. zur Vermehrung des 
Papiergeldes und jomit zur Hinausfchiebung der Wiederaufnahme der Goldwährung 
auszusprechen. Faſt hat es den Anfchein, ala ob dieß der Fall fein würde, und dann 
dürfte die dritte Gandidatur Grant’3 durchaus nicht zu den Unwahrfcheinlichkeiten ge= 
hören. Ein Gegner von Bedeutung innerhalb der republikaniſchen Partei könnte 
ihm nur in dem jebigen Gejandten der Ver. Staaten in Paris, Herrn Wafhburne, 
entjtehen, der auch bei den diegmal den Ausſchlag gebenden deutjchen Stimmgebern 
in gutem Andenken fteht, wegen des Schubeß, welchen er den Deutichen in Paris im 
Jahre 1870 angedeihen ließ. — Tweed, der berüchtigte Millionenräuber New-NYork's, 
welcher urfprünglich zu 12 Jahr Zuchthaus verurtheilt wurde, befindet fich, nach 
faum 18 Monaten, jchon wieder auf freiem Fuße. Advocatenkniffen ift e8 gelungen, 
das wahre Urtheil umzuftoßen. In einem gegen ihn angejtrengten Procefle auf 
Herausgabe der aus der Stadtkafje geftohlenen Millionen bat joeben das betreffende 
Gericht dem Staatdanwalte die Herbeilchaffung gewiſſer Originaldocumente ala un— 
erläßlich zu einer Berurtheilung aufgegeben, diejelben Documente, von denen es feſt— 
fteht, daß Tweed fie am Abend vor feiner Verhaftung vernichtet hat. Der größte 
Gauner feiner Zeit wird aljo feinen Raub in Frieden und in freiheit verzehren 
fünnen. — Der Tod des durch die Ermordung Lincoln’® zum „Zufallapräfidenten“ 
gewordenen Andrew Johnjon zwingt zu einer Parallele zwijchen der Conflicts— 
zeit, auß der er, als ſehr gejchlagener, Sieger hervorging und der heutigen politifchen 
Bewegung. In einem Jahrzehnt, mehr noch als heute, wird es Elar fein, daß nicht 


jowol das, was Johnſon in Bezug auf die Reconftruction des Südens erjtrebte, 

Miderftand fand, ald die Art, wie er, mit Verlegung der Verfafjung, feine Anfichten . 
durchjeßen wollte. Aus den unterften Schichten des Volkes und der Unbildung hatte | 
er fich zum erjten Bürger der Der. Staaten emporgefhwungen; aber feine große | 


natürliche Befähigung reichte nicht aus, ihn über die Fährlichkeiten feiner hohen 
Stellung Hinwegzugeleiten, und, in einem politifchen Sinne, war er bereit? lange 
vor feinem Hinjcheiden bejeitigt. 


Für die Nebaction verantwortlih: Elwin Paetel in Berlin. 


Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Pierer'ſchen Hofbuchbruderei in Altenburg. \ 
Unberedhtigter Nachdruck aus dem Inhalt diefer Zeitfchrift unterfagt, Ueberſetzungsrecht vorbehalten. 

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