DEUTSCHE
RUNDSCHAU
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eutfde Rundſchau.
Herausgegeben
von
Inlius Rodenberg.
Band IV.
(Dali — Auguſt — September 1875.)
— — — —
Berlin.
Derlag von Gebrüder Pactel.
Amfterdam, Sehffardt'ſche Buchhandlung. — Athen, Karl Wilberg. — Bafel, Chr. Meyri — Bern,
Huber & Go. — Brüffel, €. Muauarbt’3 Hofbuchhandlung. — Budapeft, Karl DO. Stolp. — Buenos Aires,
Jacobſen & Göberftebt. — Bulareft, Sotſchek & Go. — Ehriftiania, Albert Gammermeper. — Eonftantinopel,
Ghr. Roth. — Dorpat, €. I. Karow's Univerf-Buhhanblung. — Florenz, H. Loeſcher's Buchhandlung. —
Kopenhagen, Wilhelm Prior's Buchhandlung. — Lima, E. Niemeyer & Inghirami. — London, A. Giegle.
Zrübner 2 Go. — Luzern, Doleſchal's Buchhandlung. — Mailand, Ulrico Hoepli. — Montevideo, Jacobſen
& Söberftebt. — Moslau, J. Deubner. Edmund Kunth. Wlerander Lang. — Neapel, Ulrico Hoepli. —
NewsPort, Stechert & Wolff. G. Steiger. — Ddefla, Emil Berndt's Buchhandlung. J. Deubner. — Paris,
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Niga, I. Deubner. N. Kyınmel. — Rio de Janeiro, G. & 9. Laemmert. — Nom, Loeſcher & Go. —
Notterdam, dan Hengel & Geltſes. — Stodholm, Samfon & BWallin. — Tanunda (Süb- Auftralien),
F. Baſedow. — Tiflis, G. Baerenftamm. — Balparaiio, €. Niemeyer & Inghirami. — Warſchau,
6. Wende & Go. — Wien, Faeſh & Frick — Deddo, H. Ahrens & Go. — Zürich, C. M. Ebel
wu °
DInhalts-Derzeihniß
zum
vierten Bande (Juli — Auguft — September 1875).
— — *7?
I. Adolf Wilbrandt, Cerinthus und Sulpicia. Gedichte von
Sulpicia und Tibullus
UI. Eduard von Hartmann, Ernit Sardel. cn 7
II. BSerthold Auerbady, Gottfried Keller's Reue Säncln. er=
eftalten .
IV. Sannp £ewald, Ueber das Alter. Ein Brief an ——
Laster .
Adolf Bernhard Meyer, Sawfon’s „Wanderungen im In-
bon Reu-Guinea ERROR RE.
nern DD du
VI £. Urlihs, Zu Goethe’3 Stella
VO. ©ttokar £orenz, Richenfreiheit und Bilhofäwahlen. I. 84
VII. A. kammers, Die Entwidelung der Dampfſchifffahrt
Otto Girndt, Ein heimliches Verhältniß. umoreßfe,
X. Sried FR in, Literarifhe Rundihau. -. . . . . 1831
XI €. ©. Reufdle, Ein Statiftiter und ilojoph. Mit Be
iehung auf „G. Rümelin’3 Reben und Auflfäte* . . » . .„ 140
ZU. Rudolph Genese, Das Gaftjpiel der Meininger und bie
Klaffitervorftellungen im Königl. Schaufpielhauje
ET EEE EEE EEE EEE EZ TEE
xIV. von Eroufay, Die Mär — e * ahres 1848 in Poſen.
XV. Wilhelm Icnfen Bil — Fr rer Novelle . 161
XVI. €. Bcller, Die Sage von Petruß als cömifgem DEN 203
R — 226
Ferdinand Hiller L’Abba e-aux-Bois
XIX. Mlar Horwib, Der deutſche Unterriät in den öffentlichen
Schulen der Vereinigten Staaten von Amerila . 244
xx. W.D. Fern Streitfragen der heutigen Eyrad-
phi 259
XX. ©. zu Dash, Die Erfüllung seigiöfen Tufoaben Bari
er . 280
die dramatiſche Kunſt.
Gortſezung umftehend.)
149662
Deutiche Rundſchau.
Friedrich Spielhagen, Sommerfäden Geidt .
Friedrich Areyſſig, Literariihe Rundſchau
Zur neueren hiftorifhh=-politifhen und poliawirih:
ſchaftlichen Literatur.
Politiſche Rundſchau. . .
Wilhelm Jenſen, Wilhelmvon — Novelle, Echluß
Alfred Woltmann, Caſtelfranco und Billa Maſer
Heinrich von Grandt, Die Märztage des Jahres 1848 in
Poſen. Aus ſeinen bisher unveröffentlichten Denkwürdigkeiten. II.
Julian Schmidt, Schiller in ſeinen Briefen. 5*
Mar Hhuybensz, Die Verbrecherwelt von Wien
Selie Dahn, Leber altgermanifches Heidenthum in der
Hriftlihen Teufelsjage . :
9. Damberp, Mohammedaniſche Furſten der Reudeit
und die europäiſche Civiliſation F
Alfred Meißner, Hephäſtos. Gedicht
Friedrich Arepffig, Literariſche Rundſchau
Oscar Schmidt, Kant und Darwin. Ein Beitrag zur Geſchichte
der Entwickelungslehre von Fritz Schultze.
Profeſſor Wuttke's „Deutſche Ben und das
Ausland . : ; ; -
Angelo de &uberualis, Aus Ilalien
Politiſche Rundſchau.
Seite
289
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mn
euftſche Rundſchau.
Herausgegeben
von
Yulins Rodenberg.
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Erſter Jahrgang. Seft 10. zur 1875.
— — — ——
Berlin.
Derlag von Gebrüder Pactel.
Amfterdam, Sehffardt'ſche Buchhandlung. — Athen, Karl Wilberg. — Balel, Chr. Meyri. — Bern,
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XI.
XIV.
Dnhalts-Verzeihniß.
— —
Adolf Wilbrandt, Cerinthus und — Gedichte von
Sulpicia und Tibullus
Eduard von Hartmann, Ernſt Sackel ——
Bertthold Auerbach, Gottfried Keller's Neue ——
geralten . . .
Sanny £ewald, Leber das Alten Ein Brief a an Dr. ———
Ballet . „ »
Adolf Bernhard lege, —— 3 „Banderungen n im —
nern von Neu-Guinea“ ; ;
£. Urlichs, Zu Goethe's Stella
Öttokar Corenz, Kirchenfreiheit und Bifhofswahlen. IL.
A. fammers, Die Entwidelung der BEREIS HAN
auf bober See. . .
Otto Girndt, Ein — Verhattniß Sumont.
(Schluß). . - ; :
Sriedrich Arepſſig, Riterarifche Rundfehau er
a) Urfprung und Beginn der Revolutionäfriege 1791 und 1792,
Bon Leopold von Ranke.
b) Zeiten, Böller und Menſchen. Bon Karl Hillebrand. Zweiter
Band: Wälfches und Deutiches.
c) Die deutjche Literatur 1770— 1870. Beiträge zu ihrer Geſchichte
mit Benutzung handfchriftlicher Quellen von Eduard Griſebach.
d) Deutfchland im achtzehnten Jahrhundert. Bon Dr. Karl Vieder-
mann. Zweiter Band: Geiftige, fittliche und gefellige Zu-
ftände. II. Theil. 2. Abtheilung.
e) La Mettrie. Rede in der öffentlichen Sigung der Königl. Preuß.
Alademie der Wiſſenſchaften zur Gebächtnißfeier Friedrich's 11.
am 25. Januar 1875, gehalten von Emil bu Bois-Neymond.
f) Der Menſch eine Machine von de la Mettrie. Ueberſeht, er-
läutert und mit einer Einleitung über den Materialiömus
verjehen von Dr. Adolf Ritter.
€. ©. Reufdle, Ein Statiftiler und Philofoph. Wit De-
jiehung auf „G. Rümelin's Reden und Auffähe“ .
Rudolph Sende, Das Gaftfpiel der Meininger und die
EN im wi ——
u Berlin. . » ; —
Politiſche —
von Crouſaz, Die —— des Jahres 1848 in —
Berichtigung . er —
Se ite
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145
152
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1
Cexinthus und Sulpicia.
Gedichte von Sulpicia und Tibullus.
Ueberſetzt und mit einer Einleitung
von
Adolf Wilbrandt.
Wer führt nit Sappho im Munde; wer weiß etwas von Gulpicia ?
Und doch Hat die jchöne Römerin Sulpicia — wenn aud) der Sappho fo wenig
vergleichbar, wie die römijche Literatur der griechiſchen vergleichbar ift — die
innigften, bejeelteften Gedichte gejchrieben, die da3 ganze römiſche Alterthum her-
vorgebracht hat; und doch Lebt ein Theil diefer Gedichte bis auf dieſen Tag.
Ja in der Geftalt, in der fie leben, erzählen fie uns einen Eleinen Roman jo
liebenswürdig lebendig, daß ſchon die menjchliche Theilnahme, die Neugier uns
ftillftehen und horchen läßt. Warum weiß trogdem Niemand etwas von Sul-
picia? — Ich fürdhte, weil unſere ſchulmäßigen und jchulmeifterlichen Ueber—
ſetzungen in der Regel mehr dazu gemacht find, von der Antike „zu entwöhnen,
al3 dazu anzureizen”.
Ich Habe verfucht, diejen Elegiencyelus, der von der Liebe des Gerinthus
und der Sulpicia erzählt, jo treu und jo herzlich nachzudichten, daß er ähnlich
auf ums zu wirken vermöchte, wie er einft auf Römer und Römerinnen gewirkt
hat. Die Gedichte erklären fich ſelbſt; die Ueberſetzung muß für fich jelber
ſprechen. Nur über die Perjonen und die Entftehung diejer „Elegien” muß ich
dem Lejer mit einigen Worten jagen, was ich davon weiß oder vermuthe.
Im vierten und lebten Buch der Gedichte Tibull's, der des Auguftus
Zeitgenofje und der Freund des Horaz war, findet fi eine Reihe Kleinerer
Glegien und poetijcher Briefe, die offenbar nicht alle von ihm jelber gedichtet
find. Man hatte fie, wie es jcheint, in feinem Nachlaß gefunden; unter feinem
Namen gab man fie, ohne zu jondern, heraus. Anhalt, Vortrag, Versbau, Em—
pfindungsweije lafjen una wol fo deutlih, wie man wünſchen mag, erkennen,
welche diefer Gedichte da3 Eigentum der Sulpicia find. Die junge Sulpicia
liebte den jungen Gerinthus, einen Freund des Tibull. Sie jelber war dem
Deutſche Rundſchau. I, 10. 1
2 Deutiche Rundſchau.
Tibull befreundet, wie ſich aus Allem ergibt; fie, die Schöne, Vornehme, Viel-
ummorbene, auch von dem befannten M. Valerius Meſſala Gefeierte, die Enkelin
(jo vermuthet man) des berühmten Juriften Servius Sulpicius Rufus und Tochter
eines Freundes des Horaz, war vor Allem durch Bildung und Beruf mit den Mufen
vertraut. Der Süngling, den fie liebte, ftand ihr an Geburt nicht gleich: diejer
Gefahr, die fie durch Hingebende, ſtolze Treue überwand, verdanken wir, wie es
fcheint, die innigen Gedichte, in denen fie fi und ihm ihr holdes Geheimniß
verflärte, bis fie ihn endlich frei und ganz auch vor den Menfchen beſaß.
Man leſe num die einander ergänzenden Elegien des Tibullus und der Sul-
picia — in der pfychologiichen Reihenfolge, in der ich fie zufammenzuftellen ver-
fuht — und man wird wol aud in der Uebertragung empfinden, tie
eigenartig und wie liebenswerth die Gedichte der Sulpicia zwiſchen den andern
hervortreten; welche höhere Kraft fie aus der Unmittelbarkeit, der Innigkeit, der
Tiefe ihres weiblichen Gefühls ſchöpfen. Tibull verftand feine Kunft beffer, ala
Sulpicia; an feinen Verſen hat eine leichtere Hand mit zarterer Teile gearbeitet;
dafür legen fie fi uns nicht jo warn an’3 Herz. Dennoch wächſt auch er in
diefen Gedichten, mit denen er die ihren umrahmt, über fich jelbft hinaus. Der
Anblid einer fo edlen Herzenzliebe — wie weder Tibull, noch Horaz, noch
Gatull, noch Ovid fie je in ſich jelber erlebt und bejungen haben — trug, wie es
icheint, fein weiches Gemüth empor, bis in die Region, in der er jeine Delia, feine
Nemeſis vergaß und ein reines, zufunftsfähiges Glüd mit reiner Seele empfand.
So quellen auch aus ihm herzliche Töne herauf, die uns fein Mißklang der
ſittlichen Empfindung entwerthet; und jo vereinigen ſich dieje beiden Stimmen
zu einem ſchönen Wettgejang zärtlicher Gefühle, der in Wahrheit etwas Eigenes,
vielleiht Einziges ift.
Nur in dem erften von Tibullus’ Gedichten Klingt einmal da3 kalte, ge—
fünftelte, gelehrte Weſen, das die alten Römer oft ungenießbar macht, jo un—
herzlich an, daß es mir Recht und Pflicht zugleich ſchien, vier feiner Doppelverje
auszuftoßen; fie zu überjegen Hab’ ich mich nicht überwunden. Das zwölfte
und legte Gedicht ſcheint mir unzweifelhaft die Antwort Gerinth’3 auf die eifer-
füchtige Aufwallung der Geliebten zu fein; dennoch hat die Urſchrift (im drei—
zehnten Vers) den Namen Tibull ftatt Cerinth. Dieſen Irrthum des Heraus-
geber3? — benn für etwas Anderes kann ih ihn nicht halten — habe ich berich-
tigt und glaube mich im Recht. Sonft war Treue mein einziges Gebot; Treue
gegen Dichter und Dichterin, Treue gegen den Geift meiner Sprade. Dem
deutichen Vers iſt es nicht gegeben, mit dem römischen an Wohllaut und Gejeh-
lichkeit zu wetteifern,; aber in edler Natürlichkeit des Ausdruds, in Wahrheit
der Empfindung kann er ihm gleichen, ihn vielleicht überbieten.
I. Sulpicia.
(Bon Tibullus, vermuthlid.)
Erſter des März! Gulpicia ſchmückt fich, erhabener Mars, dir;
Haft du Geſchmack, jo komm ſelber zu fchauen herab!
Das wird Venus verzeihn. Doch hüte dich, ftürmender Krieger,
Daß vor Staunen dir nicht ſchmählich die Waffe entjällt.
Gerinthu3 und Sulpicia.
Will er Götter entflammen, der feurige Amor, er zündet
An Sulpicia’a Blid doppelte Fackeln fich an.
Was auch Sulpicia thut, wohin auch die Schritte fie leitet,
Anmuth wandelt um fie, wandelt verftohlen ihr nach.
Hat fie das Haar fich gelöft, wie ftehn ihr die wallenden Locken;
Knüpit fie es auf, fie knüpft himmlische Würde hinein.
Wenn ihr im Purpurgewand zu wallen gefiel, jo entflammt fie;
Kommt fie im fchneeigen Kleid leuchtend daher, fie entflammt .. .
Sie, o Mufen, befingt am feftlichen erften de Märzen,
Und, in des Schildpatts Glanz, Leier des hohen Apoll!
Werde dies heilige Feſt noch viele der Jahre gefeiert;
Guered Reigens ift feines der Mädchen jo werth!
I. Sulpicia's Geburtstag.
(Bon Zibullus.)
Die du das Leben ihr ſchirmſt, nimm Huldvoll, Juno, den Weihrauch,
Den dir die Dichterin heut opfert mit zärtlicher Hand.
Ganz ift heute fie dein; für dich geſchmücket in taufend
Freuden, vor deinem Altar, Weide den Augen, zu ftehn.
Zwar, warum fie ſich putzt, — dich einzig, Göttliche, nennt fie,
Doch verjtohlen und till Einem gefiele fie gern.
Sei du, Heilige, Hold! daß nichts die Liebenden trenne,
Und um den Jüngling auch jchlinge das nämliche Band!
So verknüpft du e8 gut: denn feinem befjeren Mädchen
Meiht er fein Herz, noch ihrs fich einem befjeren Mann.
Möge die Sehnenden nie ein fpähender Wächter ertappen;
Tauſend Wege ber Lift Iehre Gott Amor fie gehn.
Nide du zul Dom Purpurgewand umflofien, o keuſche
Göttin, o fomm! Dreimal weiht man dir Kuchen und Wein! —
„Dies erflehe dir, Kind!“ jo räth die forgliche Mutter;
Doch ſchon wünfcht fich das Kind Andres in heimlicher Bruft.
Wie der Altar entbrennt in der eilenden Flamme, jo brennt fie;
Ah, und ließ’ e8 fich auch Heilen, fie wünſchet e8 nicht.
Sei fie dem Jüngling werth! und kehr' im kommenden Jahre
Gleicher Liebe Gebet, dann jchon erprobter, zu dir!
II. Wahre liebe.
(Bon Sulpicia.)
Endlich fam eine Liebe, die ſchamhaft ftumm zu verbergen
Minder mich ehrt, als frei fie zu enthüllen der Welt.
‘a, e8 rührte mein flehendes Lied Cytherea; fie ſelbſt hat
Mir diefe Liebe gebracht, mir in den Schoß fie gelegt!
Venus erfüllte, was fie verfprah! — Es jchwahe von meinen
Freuden, wer nie biß heut eigene Freuden genoß.
Nie zwar möcht’ ich ein Wort verfiegelten Briefen vertrauen;
Daß kein Andrer fie Lieft, ehe der Meine fie las.
Doch fo jünd’gen ift ſüß! Mir efelt, heuchelnd zu jcheinen.
Sagt 8: fie gab ihr Herz würdig dem Würdigen hin!
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1*
Deutſche Rundſchau.
IV. An Cerinthus' Geburtstag.
(Von Sulpicia.)
Der dich, mein Cerinthus, mir gab, der Tag iſt mir heilig,
Und als wär' er ein Feſt, werd' ich ihn immer begehn.
Als zum Leben du kamſt, da ſangen die Parzen uns Mädchen
Neuen Gebieter und Herrn, gaben dir Fürſtengewalt.
Ich vor Andern entbrenne; doch daß ich entbrenne, wie wohl mir,
Wenn nur die nämliche Gluth mir den Cerinthus erfüllt!
Wechſelſeitige Gluth! Bei allen verſtohlenen Freuden
Fleh' ich dich, bei deinem Aug', bei deinem Engel dich an.
Schutzgeiſt, der du ihn führſt! nimm gern die Gaben, erhör' mich;
Wenn, ach! wenn nur auch Er, meiner gedenkend, erglübt.
Doch erfeufgt er ſchon jet um andre Liebe, fo wende
Bon diejer untreu’n Gluth, wende dich, Heil’ger, hinweg!
Sei auch du mir gerecht, o Venus: Beide gefettet,
Beide im Koch dir, — font nimm meine Ketten mir ab.
Doch es umfchling’ uns Lieber die ſtarke Feflel, ung beide,
Die kein kommender Tag wieder zu löfen vermag.
Was ich begehr’, auch der Jüngling begehrt's; doch Teifer begehrt er's;
Laut zu jagen das Wort, wagt der Beicheidene nicht.
Doch du, ſchützender Geift, du Göttlicher, Alles vernimmft du;
Nide; was thut’3, ob Er laut oder leife begehrt?
V. Sehnſucht.
(Von Sulpicia.)
Laß meinen Jüngling verſchont, der du die fetten Gefilde
Heimfuchft, oder verftedt jchattiger Berge Geklüft;
Eber, jchärfe mir micht die fchredlichen Hauer zum Kampfe!
Geb’ ihn mir unvderfehrt Amor der Hüter zurüd!
Ach, in die Fyerne entführt ihn Diana’ Freude: zu jagen.
Müpten die Wälder vergehn! ftürben die Hunde dahin!
Was für ein tolles Gelüft, den Hain von Hügel zu Hügel
Rings umgarnend, der Hand zärtliche Haut zu bedrohn?
Welch’ ein Vergnügen, den Schlupf der wilden Thiere bejchleichen
Und an des Brombeerd Dorn rigen den jchimmernden Fuß?
AH! doch könnt’ ich mit dir, Gerinthus, jchweifen und jagen,
Selber durch das Gebirg trüg’ ich die Nebe dahin;
Selber jucht’ ich im Walde die Spur des flüchtigen Hirjches,
Und dem Hurtigen Hund Löft’ ich das eiferne Band.
Dann, dann wird’ ich den Wäldern hold, wenn man nedend erzählte,
Daß, mein Leben, mit dir grad’ vor den Garnen ich lag.
Dann komm’ er ruhig an's Ne; mit heilen Gliedern entfelüpft er,
Daß ung der Eber die Luft ſehnender Liebe nicht ftört.
Seht, ohne mich, feine Liebe! O nein; nad) Diana's Gejehe
Spanne mit züchtiger Hand, züchtiger Knabe, das Neb.
Und will Eine geheim fich meinem Liebſten gejellen,
Komme fie wilden Gethier, das fie zerreikt, in den Weg! —
Doch du gönne dem Vater die Luft am Jagen, und kehre
Selber, fehre geihwind mir an den Bufen zurüd !
— — —
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Cerinthus und Eulpicia. 5
VL Freund Meflala,
(Bon Sulpicia.)
O verhaßter Geburtstag heut! Auf dem Läftigen Lande
Soll ich ihn ohne Gerinth, ſoll ich ihn traurig begehn.
Was ift mir ſüßer ala Rom? Was taugt dem Mädchen die Villa
Und der froftige Bach im Eretiner Gefild ?
Allzu gefälliger Freund, Meſſala, laß mich in Ruhe;
Naht deiner Freundin oft nicht zu gelegener Zeit.
Führft du mich fort, Hier Laff’ ich mein Herz und meine Gedanken,
Da dein Wille mir nicht jelber zu wählen vergönnt!
Vo. Troſt.
(Tibullus an Gerinthu3.)
Weißt du? Bertagt ift die traurige Fahrt, wie dein Mädchen e8 wünſchte;
Ihren Geburtstag läßt num er in Rom fie begehn.
Laß uns denn alle mitfammt ihn feiern, den frohen Geburtstag,
Den dir dies underhofft freundliche Schickſal gebracht !
VI. Eiferſucht. (AB er untreu jchien.)
(Zulpicia an Cerinthus.)
Schön doch, daß du jo ficher dich fühlſt, jo ganz mir vertraueft,
Nie von der Laune bethört könnt’ ich an dir mich vergehn !
Sit eine Dirne im kurzen Gewand, ein Schätzchen am Spinnkorb,
Lieber ala Servius' Kind, ala die Sulpicia dir:
Freunde hab’ ich genug, die mit mir die Kränkung empfinden,
Und von den Beiten geliebt, weich’ ich der Buhlerin nicht!
IX. Die Kranke.
(Sulpicia an Gerinthuß.)
Denkſt du denn auch mit befümmerter Bruft an dein Mädchen, Gerinthus,
Da nun die Glieder jo Heiß zehrendes Fieber mir quält?
Ah! ich wünſche mir nicht vom traurigen Bett zu genefen,
Wenn ich nicht glaub’, auch du willft e8 und wünſcheſt es dir.
Denn was nüßt’ e8 mir auch, vom traurigen Bett zu genefen,
Wenn mit gelafjener Bruft du meine Leiden erträgft ?
X. An Apollo.
(Bon Zibullus.)
Hierher fomm’ und verjcheuche dem zarten Mädchen die Krankheit;
Hierher, ftolger Apoll mit dem entwallenden Haar!
Glaub’ mir, eile herab: nie wird’3 dich reuen, Apollo,
Legft du die heilende Hand auf ihre holde Geftalt.
Lab nicht mager und welf vergehn die erbleichenden Glieder,
Nicht auf der Ichimmernden Haut häßliche Farben erblühn ;
Und was Schlimmes ihr droht, und was wir Trauriges fürchten,
Trag' e8 in’3 Meer des Stroms rajches Gewäſſer hinab!
Heiliger, komm! und bringe mit dir die fchläfernden Säfte,
Zaubernden Sprüche, die je welfende Glieder geftärkt;
Duäle den Jüngling nicht, der für fein Mädchen erzittert,
Hundert Gelübde für fie, faum mehr zu zählende, thut;
Deutſche Rundſchau.
Bald Gelübde und bald, weil ihm die Geliebte dahinwellt,
Harte Worte des Fluchs gegen die Ewigen jpricht.
Nein, nicht fürchten, Cerinthl Die Liebenden tödtet der Gott nicht.
Liebe nur für und für; bald ift dein Mädchen geſund.
Noch thut Weinen nicht noth. Erft dann laß fließen die Thränen,
Zeigte fie künftig einmal dir ein erfaltendes Herz!
Doch nun gehört fie dir ganz; an dich nur denkt fie, die Reine,
Und fie umlagert der Schwarm Hoffender Herzen umfonft.
rt o Hilf! Und gibft du in Einem geretteten Leben
wei dem Lichte zurüd, wird's dir ein herrlicher Ruhm.
Ehre dann wird’3, wird Freude dir fein, wenn Beid' um die Wette
Freudig Opfer des Dank bringen zum Heiligen Herb.
Glüdlich wird dann die Schaar der gütigen Götter dich preifen,
Und ein Seglicher wünjcht: hätt’ ich die Kunſt doch Apoll's!
XI. Reue.
(Sulpiria an Gerinthus.)
Mög’ ich, mein Aug’, nie mehr von dir jo feurig geliebt jein,
Wie ich e8 war, fo ſchien's, wenige Tage zuvor:
Wenn ich thörichtes Kind in all’ der thörichten Jugend
Srgendetwas beging, das ich jo innig bereut,
ALS daß geftern zu Nacht ich dich, Geliebter, allein Ließ,
Um zu verbergen vor dir meine verlangende Gluth!
XII. An Eulpicia.
(Bermuthlih von Zibullus in Cerinthus' Namen.)
Keine der Frauen wird je mich dir auß ben Armen entwinden;
War doch von Anfang dies unferer Liebe Geſetz!
Du nur gefällft mir allein; und feins mehr unter den Mädchen
Allen in Rom ift jetzt ſchön meinen Augen, ala du.
Ach, und könnteſt du doch nur mir noch reizend erjcheinen,
Daß du den Andern mißfielft! kennt' ich die Sorge nicht mehr!
Neides bedarf ich nicht; was foll die Menge mich preifen;
Wer da Bernunft hat, liebt felig in jchweigender Bruft.
Ya, wie wär’ ich zufrieden, in heimlichen Wäldern zu leben,
Wo fein menjchlicher Fuß je einen Weg fich ertrat.
Du, meine Sorgenruhe du mir! in fchwärzefter Nacht du
Licht, am einfamen Ort Fülle der Menfchen du mir!
Mag dem Gerinth vom Himmel herab ein Liebchen nun kommen,
Kommen würd’ es umfonft, Venus verlöre das Spiel;
Bei deiner Juno ſei's, die fromm dich hütet, geſchworen,
Die dor den Göttern allein groß mir und Heilig mir if.
Thor! was thu' ih? O wehe! Ich Thor; ich gebe mein Pfand Hin.
Unvorſichtiger Schwur! War deine Furcht doch mein Schuß!
Wie du nun ftark wirft fein; wie wirft du nun breifter mich quälen.
Hat die geſchwätzige Zung’, ach! mir dies Unheil gezeugt! —
Wohl; was immer du willft, ich thu's. Dein bleib’ ich auf immer,
Weigre mich nicht, dein Sklav', trautefte Herrin, zu jein.
Doch an der Venus Altar, da fih’ ich Gefeflelter nieder;
Graufame ftrait fie, und Schutz-Flehenden reicht fie die Hand!
Anſt Hacckel.*)
Bon Eduard von Hartmann.
Ernft Heinrich Haeckel ift am 16. Februar 1834 zu Potsdam geboren. Sein
Vater, preußiicher Regierungsrath, war der Sohn eines ſchleſiſchen Bauern, feine
Mutter die Tochter eines rheiniſchen Juriften und hohen Verwaltungsbeamten.
Ein Jahr nad) feiner Geburt wurde fein Vater nad) Merſeburg verſetzt, woſelbſt
Haedel feine Jugend bis zum Abgang auf die Univerjität verlebte. Frühzeitig
entwicelte ex eine Vorliebe für Naturwiſſenſchaften, insbeſondere für Botanif,
welche durch die Lectüre Schleiden’s, Humboldt’3 u. A. mehr genährt wurde.
Charakteriſtiſch für ſeine jpätere Richtung find die Zweifel des zwölfjährigen Knaben
über den Unterjchied der jogenannten guten und jchlechten Specien. In ein
Herbarium jammelte er die guten Arten der botanischen Syſtematik, in ein
anderes die zweifelhaften Mittelformen umd Uebergangaftufen, welche der Syſte—
matifer gern wegwirft. Niemand konnte feine Zweifel löfen, und man kann ſich
denfen, wie die Lectüre Darwin's jpäter auf ihn wirken mußte, der die Conftanz
der Species über den Haufen wirft.
Im J. 1852 zog er zum Studium der Botanik zuerft nach Jena und dann
nad Berlin; an erfterem Orte lehrte Schleiden, an leterem Alerander Braun.
Alsdann wandte er fi) der Anatomie des Menjchen zu, welche er in Würzburg
unter Kölliker ftudirte. 1854 kehrte er nad) Berlin zurüd und widmete fich der
vergleichenden Anatomie unter Johannes Müller's Leitung, mit welchem zuſam—
men er in Helgoland und zwei Jahre jpäter in Nizza niedere Seethiere unter-
ſuchte. Diefer bedeutende Mann wurde für die Enttwidelung feines Geiftes von
*) Generelle Morphologie ber Organiämen. I Band: Allgemeine Anatomie ber
Organiömen. II. Bad: Allgemeine Entwidelungsgeihichte der Organismen. Berlin,
Georg Reimer. 1866. Mit 10 Tafeln. 1228 ©. gr. 8.
Natürlide Schöpfungsgeihichte. 24 gemeinverftändliche wifjenjchaftliche Vorträge
über die Entwidelungslehre im Allgemeinen und biejenige von Darwin, Goethe und Lamoerek
im Belonderen. Berlin, Georg Reimer. 1. Aufl. 1868, 5. Aufl. 1874. Mit 17 Tafeln.
736 ©. 8.
Anthropogenie Entwidelungsgeichichte des Menſchen. Mit 12 Tafeln, 210 Holzichnitten
unb 36 genetifchen Tabellen. Leipzig, Wilhelm Engelmann. 1874.
8 Deutiche Rundſchau.
dem größten Einfluß; denn Müller war einer von jenen feltenen Naturforichern,
welche es nicht ertragen können, über der Erforſchung des Einzelnen das große
Ganze der Natırr aus den Augen zu verlieren. Ich glaube nicht zu irren, wenn
ih in Johannes Müller die hauptſächlichſte Mittelsperſon erkenne, welche zwijchen
der älteren naturphilojophilchen Periode Jena’3 unter Schelling und Ofen und
jeiner gegenwärtigen unter Haedel den freilich nur jehr loſe gefnüpften Verbin—
dungsfaden ſchlingt. Die Pietät, mit welcher Haedel von Müller ſpricht, und
die Ausfprüche, welche er grade bei naturphilojophiichen Abjchweifungen mit
Vorliebe von demjelben citirt, jcheinen diefen Schluß nahe zu legen.
1855 begab er ſich abermal3 nah Würzburg, um fi unter Virchow's Lei-
tung mit pathologijcher Anatomie zu beihäftigen. Nachdem er dann im Früh—
jahr 1857 bei der Berliner mediciniichen Facultät promovirt Hatte, ging er den
Sommer über nad) Wien, um fi in der ärztlichen Praris zu vervolllommnen,
und legte dann in Berlin die mediciniiche Staatsprüfung ab. Wenig befriedigt
von einer einjährigen mediciniichen Praris in Berlin kehrte er zu feiner Lieblings-
beichäftigung mit der vergleichenden Anatomie niederer Wafferthiere zurück, welche
von num an fein Specialfach als empirischer Naturforjcher bilden ſollte. Um
feine 1856 begonnenen Unterfuchungen der Fauna des Mittelmeers, jpeciell über
die Radiolarien, fortzujegen, begab er fih im J. 1859 auf fünfviertel Jahre nad
Stalien, wo er in Neapel und Mejfina überwinterte. Im %. 1865 ging er zum
zweiten Mal nad) Helgoland, 1866 und 1867 nad Liffabon, Madeira, Teneriffa
und Gibraltar, 1869 bejuchte ex die norwegiſchen Küften und 1873 die Hüften
Kleinafiens, Syriens und Egyptens. Dieje Reifen führten ihm in reihem Maße
das Material zu, welches er mit unermüdlichem Fleiße verarbeitete und feit 1855
in einer langen Reihe von Abhandlungen und Monographien erörtert. Es kam
ihm dabei zu Statten, daß er gelernt hatte, feine Beobadhtungen ſelbſt ala
Zeichner wiederzugeben, wodurch natürlich die Treue und Genauigkeit der Dar:
ftellung viel gewinnt. Der Erfolg Frönte feine Forjchermühen und fein richtig
geleitetes Suchen mit wichtigen Entdedungen, jo daß feine Stellung ala empi—
riſcher Naturforicher ſelbſt feinen theoretiichen Gegnern gegenüber eine ficher be—
gründete, wo nicht beneidete ift.
Am %. 1861 ließ er fich durch feinen älteren Freund Gegenbaur beftimmen,
fi) als Privatdocent in Jena zu habilitiren; ein Jahr darauf wurde er daſelbſt
zum außerordentlihen und 1865 zum ordentlichen Profeſſor der Zoologie be-
fördert. Außerdem fungirt er als Director des zoologiſchen Inſtituts und des
zoologischen Mufeums in Jena. Glänzende Anerbietungen aus Würzburg, Straß-
burg, Wien und Bonn hat er abgelehnt, vielleicht um ſich die Unbefangenheit
feiner unabhängigen Stellung an derjenigen Univerfität zu wahren, welche ſchon
mehr als einmal ſich als Freiſtatt kühn vorjchreitender Wiſſenſchaft bewährt hat.
Das Angeführte würde genügen, um Haecel eine ehrenvolle Stellung unter
den Naturforſchern Deutichlands zu fihern, aber es würde nicht im Stande
fein, die Popularität zu erklären, welche jein Name im größeren Publicum ges
nießt, die heftigen Anfeindungen, welche er aus achtungswerthen Kreiſen ber
Wiſſenſchaft erfährt, und die Begeifterung, mit welcher eine jüngere Schule um
ihn ſich ſchaart, und welche ſogar philofophifche Schriftfteller veranlagt, ihm
Ernſt Hacdel. 9
ihre Werke zu widmen. Dies wird nur dadurch verftändlih, daß Haeckel im
Anſchluß an Darwin eine neue Rihtung in der Naturwiſſenſchaft eingejchlagen
hat, welche al3 eine mit allen Hilfsmitteln der eracten Forſchung und unferer
heutigen Kenntniſſe unternommene Erneuerung der Verſuche der älteren Natur—
philojophie zum Verſtändniß der organischen Natur betrachtet werden Tann.
Darwin fteht dem natürlichen Ende des Lebens nahe und hat als Engländer
fein Intereſſe doch immer mehr der Anhäufung empirischen Materials, als deſſen
philofophijcher Verarbeitung zugewandt; Haeckel dagegen, in der Vollkraft männ-
licher Friſche und durchdrungen von dem Bewußtfein der Nothwendigkeit, die
Naturwiſſenſchaft zur Naturphilojophie zu erheben, ift im Begriff, Darwin's
Erbichaft anzutreten und deifen unvollendetes Werk fortzujeßen. |
Es handelt fih um nicht Geringeres, als um eine Revolution in allen
mit der organifchen Natur beichäftigten Wifjenfchaftszweigen und um die une
vermeidliche Rückwirkung einer ſolchen Ummwälzung auf unfere moderne Welt-
anſchauung und viele in derjelben noch conjervirte Vorurtheile. Da iſt e8 denn
fein Wunder, wenn jotwol von Seiten der Vertreter der bisherigen Richtungen
in der Wifjenichaft entichiedene Reactionen hervortreten, als auch von Seiten
der profejjionellen und habituellen Beſchützer der in ihrer Eriftenz bedrohten
Vorurtheile ein heftiger aggrejfiver Widerftand ſich kundgibt. Von Seiten der
enthufiaftiichen Anhänger wird das lebensfähige Neue in feiner Tragweite über—
Ihäbt und nur zu gern das Sind mit dem Bade verfchüttet, von der entgegen-
gejebten Seite werden feine befruchtenden Elemente verfannt und feine Gejammt-
bedeutung verleugnet, weil man ſich fträubt, in die dadurch unvermeidlich
gewordene Mtodification der bisherigen Weltanſchauung zu twilligen.
Haedel jelbft umterjcheidet vier Perioden der Zoologie und Botanik. In
der erften, Linné'ſchen Periode herricht die uüßerliche Syftematif, in der
zweiten, Lamard-Goetheihen, eine natur philoſophiſche Morphologie,
die aus Mangel an feſtem empiriichem Boden fih in die Phantaſtik der
Schelling-Okenſchen Naturphilojophie verläuft. Als Rückſchlag folgt die dritte
Periode, welche das zweite Drittheil des neungehnten Jahrhunderts einnimmt
und fih mit der empiriichen Erforihung der inneren Anatomie der
Organismen in allen ihren Details beſchäftigt. Die vierte Periode läßt er mit
der Veröffentliung von Darwin’3 Hauptwerk (1859) beginnen und fieht ihren
Charakter in der Wehjeldurhdringung von empirischer Forſchung und
philofophiicher Betrachtung (Gen. Morph. I., ©. 71—72).
Der neueren Biologie, d. 5. derjenigen ber dritten Periode, wirft er Be-
fangenheit in einer jeltjamen Selbfttäufchung vor, „wenn fie die nadte, gedanken—
Ioje Beihreibung innerer und feinerer, insbeſondere mikroſkopiſcher Form
verhältnifie al3 ‚wiſſenſchaftliche Zoologie‘ und ‚wiſſenſchaftliche Botanik‘ preift
und mit nicht geringem Stolze der früher ausschließlich herrſchenden reinen
Beſchreibung der äußeren und gröberen Formverhältniſſe gegenüberftellt, welche
die jogenannten ‚Syftematifer‘ bejchäftigt. Sobald bei diejen beiden Richtungen,
die ſich jo ſcharf gegenüberzuftehen belieben, die Beſchreibung an ſich das
Ziel ift (— gleichviel ob der inneren oder äußeren, der feineren oder gröberen
Formen —), jo ift die eine genau joviel werth al3 die andere. Beide werden
10 Deutiche Rundſchau.
erft zur Wiſſenſchaft, wenn fie die Form zu erklären und auf Geſetze zurück—
zuführen ftreben“ (ebenda ©. 71).
Ich Habe anderwärts die Stufe des Naturerkennens, welche bei der Be—
fchreibung beharrt, ohne zur Wiſſenſchaft vorzudringen, als Naturkunde be-
zeichnet; es ift dies die erſte der drei Stufen, auf welcher Botanif, Zoologie
und Chemie bi3 vor Kurzem im Wejentlichen ftehen geblieben waren. Ohne
Zweifel hat die mit Darwin beginnende Periode das Verdienft, von ber Kunde
der organiſchen Natur zu einer Wiſſenſchaft derjelben vordringen zu wollen,
indem fie die caufalen Zujammenhänge zwiſchen den gegebenen inneren
und äußeren Formverhältniſſen zu erkennen ftrebt und in dieſer Richtung bereits
unzweifelhafte Erfolge durch Aufftellung verjchiedener Theorien errungen hat.
Ebenjo gewiß ift e8, daß ein MWeiterjchreiten auf diefem Wege zur dritten
Stufe de3 Naturerfennens, zur Naturphilojophie, führen muß, welche den
Zufammenhang der caufal bedingten und mechaniſch vermittelten Natur-
erſcheinungen mit ihrem metaphyfiichen Grunde unterſucht, und daß das Natur-
erkennen erſt mit diejer letzten Stufe jeinen Abſchluß finden kann. Haedel
zielt offenbar darauf hinaus; aber jo Kar er fi) über den Interjchied von
Naturkunde und Naturwiffenichaft ift, jo wenig hat er ſich den Unterfchied
zwiichen Naturwiſſenſchaft und Naturphilojophie zur Klarheit gebracht, vielmehr
identificirt ex beide gefliffentlich, beijpielaweije in den großgedrudten Schluß-
lägen jeiner gen. Morph. II. 447: „Alle wahre Naturwiſſenſchaft ift Philo-
fophie, und alle wahre Philojophie ift Naturwiſſenſchaft. Alle wahre Wiſſen—
ſchaft aber ift Naturphilojophie.“ Er ftüßt fich Hierbei darauf, daß auch die
Naturwiffenihaft des Iynthetiihen Gedankens bedürfe, ohne zu erwägen,
daß da3 Denken in Specialwifjenihhaften, obwol denjelben logiſchen Geſetzen
wie das philoſophiſche Denken untertworfen, doch wegen feines Zieles ein
anderes ijt ala diejes, ähnlich wie das juriftiiche Denken ein anderes ift ala
da3 philologiſche oder naturwiſſenſchaftliche.
Haedel jagt (Morph. J., S. 73): „Nach unſerer feſteſten Ueberzeugung
können nur diejenigen Naturforſcher wahrhaft fördernd und ſchaffend in den
Gang der Wiſſenſchaft eingreifen, welche, bewußt oder unbewußt, ebenjo jcharfe
Denker als jorgfältige Beobachter find. Niemals kann die bloße Entdedung
einer nadten Thatſache, und wäre jie noch jo merkwürdig, einen wahrhaften
Fortſchritt in der Naturwiſſenſchaft herbeiführen, jondern ftet3 nur der Gedante,
die Theorie, welche diefe Thatſache erklärt, fie mit den verwandten That-
ſachen vergleichend verbindet und daraus ein Gejet ableitet. Betrachten wir
die größten Naturforjcher, welche zu allen Zeiten auf dem biologijchen Gebiete
thätig gewefen find, von Ariftoteles an, Linne und Cuvier, Lamard und Goethe,
Baer und Johannes Müller, und wie die Reihe glänzender Sterne erjter Größe,
bi3 auf Charles Darwin herab, weiter heißt, — fie alle find ebenjo große
Denker ala Beobachter geweſen, und fie alle verdanken ihren unfterbliden Ruhm
nit der Summe der einzelnen von ihnen entdedten Thatjachen, jondern ihrem
denfenden Geifte, der diefe Thatjadhen in Zufammenhang zu bringen und daraus
Geſetze abzuleiten verjtand. Die rein empiriſchen Naturforjcher, welche nur
durch Entdeckung neuer Thatſachen die Wiſſenſchaft zu fördern glauben, können
Ernſt Hacdel. 11
in berjelben ebenjo wenig etwas leiften, al3 die rein jpeculativen Philojophen,
welche der Thatjachen entbehren zu können glauben und die Natur aus ihren
Gedanken conftruiren wollen. Dieje werden zu phantaftiichen Träumern, jene
im beten Falle zu genauen-Gopirmafdhinen der Natur. Im Grunde freilich
geftaltet ſich das thatjächliche Verhältnig überall jo, daß die reinen Em—
pirifer fih mit einer unvollftändigen und unklaren, ihnen jelbft nicht beiwußten
Philojophie, die reinen Philoſophen dagegen mit einer eben ſolchen, un—
reinen und mangelhaften Empirie begnügen.“
Das find goldene Worte, die auf beiden Seiten in gleihem Maße Be—
herzigung finden follten. Aber Haedel hat bier eine zwiefache Antitheje ver-
miſcht, die zwiſchen bejchreibender Naturkunde und erflärender Naturwiſſenſchaft
und die zwilchen Naturwiſſenſchaft (al3 Einheit von Kunde und Wiſſenſchaft
gefaßt) und Philofophie. Es ift gewiß wahr, daß die großen Naturforjcher
nur darum jo Großes in der Naturwiſſenſchaft geleiftet haben, weil fie zugleich
fih mit Naturphilojophie beichäftigten, aber es ift nur darum wahr, weil die
Naturphilojophie auf die Entdeckung naturwiſſenſchaftlicher Erklärungen in
ganz ähnlicher Weije befruchtend einwirkt, wie die Natırwiflenichaft auf die
Förderung und Direction der Beobachtungen und auf die fruchtbringende An—
ordnung der Experimente,
Dieje Behauptung bewahrheitet fich nirgends ſchlagender als an Haeckel jelbft.
Nur deshalb, weil er, durchdrungen von großen naturphilojophijchen Geficht3-
punkten, überzeugt von der jubltantiellen Einheit der gefammten Natur über-
haupt und der des inneren und Aeußeren im Bejonderen, an jeine naturwiſſen—
Ichaftliche Aufgabe herantrat, nur deshalb konnte er jo kühnen Muthes Hinein-
greifen in den Bau geheiligter Vorurtheile und mit jo ficherer Zuverficht die
naturwiſſenſchaftlichen Erklärungsprincipien der Abftammung und der natürlichen
Zudtwahl als unumftößliche Wahrheiten verfündigen, die in empiriſcher Hin-
fiht doc immer noch auf jehr mangelhaften Grundlagen ruhen. Ex ift ſich
auch defjen, was er der Naturphilofophie verdankt, wohl bewußt, und bethätigt
feinen Dank durch fein energijches Eintreten für die Bedeutung und den Werth
der Philoſophie; nur darüber ift ex fi) unklar, daß die Naturphilojophie
ebenjogut der Unterfcheidung von der Naturwiſſenſchaft bedarf, wie dieje
von der Naturkunde, und indem er die nothwendige praktiſche Ver-
mählung von Naturwiſſenſchaft und Philoſophie zu einer unterjchiedslojen
Identität beider überfpannt, vernichtet er die Naturphilofophie als jolche,
indem er fie in der Naturwiſſenſchaft bereit3 erledigt und erſchöpft glaubt.
Letztere Auffaſſung wäre nur folgerichtig für einen Mtaterialiften, der jedes
Metaphyfiiche Hinter dem Phyfiichen, jedes Wejen Hinter den Erjcheinungen der
Natur leugnet. Denn wenn das Phyſiſche das Letzte ift, hinter dem es nichts
mehr gibt, jo muß jelbftverftändlich die Erfenntniß phyſiſchen Gaufalzufammen-
hangs die lebte Aufgabe aller menjhlichen Wiſſenſchaft fein. Dies ift aber
keineswegs Haeckel's Meinung; er ift vielmehr ſchon hinlänglich von philo=
ſophiſchem Bewußtſein durchtränkt, um fich gegen den Vorwurf des Mtaterialis-
mus zu verwahren. Er will weder im jpiritualiftiichen Sinne die Materie
ala ein Product des Geiftes, noch im materialiftiichen Sinne den Geift als ein
12 Deutiche Rundſchau.
Product der Materie gelten laſſen (Anthropogenie ©. 707). Er will Spiritua-
lismus und Materialiamus durch einen Monismu3 verjöhnen und gewinnt ala
Princip des lebteren ein vom göttlichen Geifte durchdrungenes AU (Nat.
Schöpfungsgeſch, Vorw. zur 2. Aufl), d. 5. eine einheitliche metaphyſiſche
Subftanz, welche als das Weſen der gefammten Naturericheinungen — ſowol
der äußeren oder materiellen, al3 auch der inneren oder geiftigen — gedacht
werden muß. In diefer moniſtiſchen Metaphyſik, welche wejentli mit der
meinigen übereinftimmt, ift aber der Gegenjat von Wejen und Erjcheinung, von
Metaphyſiſchem und Phyfiihem unmittelbar gegeben; denn die geforderte Ein-
heit von Geift und Materie in einer identijchen Subftanz wäre gar nicht
möglich, wenn ſich nicht Materie und Bewußtjein blos als äußere, beziehungs-
weiſe innere Erſcheinung zu dem beiden gemeinfam zu Grunde liegenden
Wejen verhielten. Hiermit aber ift zugeftanden, daß das Phyfifche nicht ein
Letztes jei, jondern ein Metaphyfiiches hinter ſich habe.
Da nun die Naturwiſſenſchaft als folche diefes Metaphyſiſche bei Seite
läßt und fih nur mit dem phyfiichen Cauſalzuſammenhang der Erjcheinungen
unter einander beihäftigt, jo würde fie nur dann die lebte Stufe des Natur-
erkennens jein können, wenn man die Einrichtung des menſchlichen Verftandes
mit Kant und Du Bois-Reymond fir eine jolche erklärt, daß ihr jedes Hinaus—
gehen über die Ericheinungen ſchlechterdings und für immer verjagt bleibt.
Dies gibt aber Haeckel auch nicht zu, betont vielmehr mit Recht gegen Du Bois—
Reymond die unbegrenzte Entwidelungsfähigkeit des menschlichen Intellects
(Anthrop., Vorw. S. XIL.—XIL) Demnach kann er fi aber gegen die
Tolgerung gar nicht mehr fträuben, daß es hinter der Naturwiſſenſchaft, welche
die Gejehe de3 Gaufalzufammenhangs der Erjcheinungen untereinander ermittelt,
noch eine Naturphilojophie geben müfje, welche die Beziehungen diejer Geſetze
zu der Einheit der Natur, zu dem hinter Geift und Materie ſpukenden meta-
phyſiſchen Wejen erörtert.
Haedel jelbft unternimmt häufig genug Ercurfionen vom naturtwifjenichaft-
lien auf das naturphilojophiiche Gebiet, und leider oft zum Nachtheil des von
ihm vertretenen naturwiſſenſchaftlichen Standpunftes; denn die naturphilo-
ſophiſchen Anfichten, welchen er Huldigt, find zum Theil unklar und nicht
durchgebildet, zum Theil gradezu irrthümlich, und doch werden fie dadurch, daß
er jeine Naturphilojophie mit feiner Naturwiſſenſchaft identificirt, anjcheinend zu
integrivenden Beftandtheilen feines naturwiſſenſchaftlichen Standpunftes, während
fie thatfächli mit demjelben gar nichts zu jchaffen haben. Unklar und ver-
worren ift e8 3. B., wenn er den Gegenjat von Kraft und Stoff (welcher be—
fanntlich innerhalb des Materialismus liegt) mit dem von Geift und Materie
identificirt und dem Materialismus die Anficht zujchreibt, daß der Stoff die
Kraft geihaffen Habe (Anthrop. S. 707— 708). Verhängnißvoll aber wird fein
Irrthum, wenn er folgenden Schluß macht: Die Naturwiſſenſchaft ala ſolche
hat e8 nur mit einer caujalen Gejegmäßigkeit (nicht mit einer teleologijchen)
zu thun; die Naturphilofophie ift mit der Naturwiſſenſchaft identiſch; folglich
darf auch die Naturphilojophie ſich mit feiner andern al3 der caufalen Gejeh-
mäßigteit befaffen, d. h. die Teleologie ift gänzlich aus der Philofophie zu ver—
Ernſt Hacdel. 13
bannen. Die erfte Vorausſetzung ift richtig, aber die zweite faljh, und darum
muß auch der aus beiden gezogene Schluß falſch fein. Wenn die Naturtifjen-
ſchaft ala jolche nur die Aufgabe hat, die gejegmäßigen caujalen Zujammen-
hänge der äußeren d. h. materiellen Naturerfcheinungen zu unterfuchen, jo folgt
daraus zunächſt gar nicht3 darüber, ob die Naturphilojophie gleichfalls bei der
mechaniſchen Gaufalität ftehen zu bleiben Hat, und ob fie nicht vielmehr durch
die Erfüllung ihrer eigenthümlichen Aufgabe noch zu ganz anderen Gefſichts—
punkten geführt wird. Befteht ja doch ihre Aufgabe grade darin, die Natur-
eriheinungen, jowol die materiellen al3 die geiftigen, jammt ihren caufalen
Gejegen in ihrer Rückbeziehung auf die Einheit der gefammten Natur, d. h. in
ihrer phänomenalen Abhängigkeit von ihrem metaphyfiichen Grunde zu unter-
juchen, und ba ift die Trage, ob nicht grade diefe Rückbeziehung ber urſprüng—
lich gegebenen Beichaffenheit der Naturelemente und der wunderbaren Harmonie
ihrer Geſetze auf ihren fie begründenden metaphyfiichen Einheitspunft unmittel-
bar jelbjt jchon eine teleologijche Betrachtungsweiſe genannt werden muß.
Albert Lange präcifirt die Frage in feiner Geſch. d. Materialismus
(zweite Aufl., Bd. IL, ©. 275) folgendermaßen: „it diefe Welt ein Special-
fall zwiſchen unzähligen gleich denkbaren Welten, welche entiveder ewig
haotijch oder ewig ſtarr bleiben würden, oder ift etwa zu behaupten, daß
bei jeder beliebigen Bejchaffenheit der Uranfänge nad dem
Darwin'ſchen Princip ſich Ichlieglich Ordnung, Schönheit, Vollendung in gleichem
Make, wie wir fie beobachten, ergeben mußten?” Und er beantwortet fich
jelbft diefe Frage: „Ohne Zweifel wird man zugeben, daß unjere Welt in
diefem Sinne ein Specialfall genannt werden darf; denn twie jehr auch alles
Geſchehen fi) aus einfahen Annahmen mathematijch entwideln läßt: pofitive
Annahmen, und zwar ſolche, melde die Entwidelung unjerer Welt er—
mögliden, während fie ohne dieje Rückſicht ganz anders fein könnten, müſſen
eben doch gemacht werden.“ Diejen einfachſten Grundgedanken der Teleologie
weiter durchzubilden, davon wird Lange nur durch jeinen jubjectiven Idealismus
verhindert, welcher jede Metaphyſik ala leeres Hirngeipinnft erjcheinen läßt, alfo
auch jede Naturphilojophie ala jolche verbietet. Aber ſchon die Thatjache, daß
ein jo craſſer Materialift und Verächter aller Metaphyſik, wie Lange, abgejehen
von feiner unbaltbaren jubjectiv-idealiftiichen Erkenntnißtheorie, einer ift, ich zu
ſolchen Zugeftändniffen gedrängt fieht, jollte hinreichen, um einen Haedel ftußig
zu machen über feine Befehdung der Teleologie.
Haedel gelangt zu feinem Widerwillen gegen die Teleologie einfach dadurch,
daß er in Bezug auf diejes Problem in der Reaction der dritten naturwiſſen—
ihaftlihen Periode gegen die zweite fteden bleibt. Die phantaftiiche Natur-
philojophie hatte unrechtmäßiger Weije.die Naturwiſſenſchaft mißachtet
und fi) ſammt ihren teleologiichen Speculationen an deren Stelle jegen wollen.
Sie hatte damit gegen die alte Lehre Baco's verftoßen, daß die Naturwiſſenſchaft
fih nur mit caufalen Zujfammenhängen zu befaffen habe, und jeder andere
Erklärungsverſuch als ein caufaler keine naturwijjenjhaftlide Erklärung
heißen könne. Die Periode der „eracten Forſchung“ reagirte mit Recht gegen
diefe Anmaßung, ging aber, wie jede Reaction, zu weit, indem fie die Teleo-
14 Deutſche Rundſchau.
logie und Naturphiloſophie überhaupt als werthloſe Phantaſtik verpönte. Dieſer
antiteleologiſche Standpunkt der „exacten Forſchung“ hat aber thatſächlich die
öffentliche Meinung in wachſendem Maße beſtimmt und hat es zu Wege ge—
bracht, daß die Verachtung der Teleologie und Naturphiloſophie in allen dem
Einfluß der naturwiſſenſchaftlichen Denkweiſe unterworfenen Kreiſen als ein
unantaſtbares Dogma gilt, welchem nicht beizuftimmen den Stempel der wifjen-
Ichaftlichen Unzurechnungsfähigkeit aufdrüdt. So jehr terrorifirte die Naturtvifjen-
Ihaft mit ihrer Verhöhnung der Philojophie die öffentliche Meinung, daß jelbft
Philoſophen von diefem Vorurtheil fi) blenden ließen und den Beruf der Philo-
fophie nur noch darin erfannten, philojophiich zu beweifen, daß die Philofophie
Unfinn jei und zu Gunften der Naturwifjenichaft abzudanken habe (3.8. Lange,
Dühring u. A. m.).
Es ift Haedel nicht hoch genug anzurechnen, daß er mit offnem Wort für
den Werth und die Nothwendigkeit der Philojophie (beſonders auch der philo-
ſophiſchen Bildung für die Naturforjcher) aufgetreten ift, dat er die Verdrängung
der einen Seite durch die andere für gleich unftatthaft nach beiden Richtungen
erflärte und eine Wechſeldurchdringung beider Seiten forderte. Indem er
aber die Cooperation und gegenjeitige Befruchtung irethümlicher Weile als
Identität auffaßte, blieb ihm doch wieder fein Raum für verjchiedene Gefichts-
punkte der Betrachtung übrig, und darum blieb er in dem Vorurtheil der dritten
naturtiffenihaftlien Periode gegen die Teleologie befangen, deijen un—
geachtet, daß er fih von ihrem Vorurtheil gegen die Philoſophie frei-
gemacht hatte.
Es ift indeffen unſchwer zu erfennen, daß von dem Augenblid an, wo bie
Naturphilojophie neben ſich die Berechtigung der Naturwiſſenſchaft mit einer
ausſchließlich cauſalen Betrachtungsweiſe anerkennt, auch die Naturwifjenichaft
neben ſich die Berechtigung einer (nit mit ihr zujammenfallenden) Natur—
philojophie ohne jeden Schaden für fich anerkennen darf, und daß die etwaige
teleologijhe Betrachtungsweiſe der Naturphilojophie dann in feiner Weile mehr
im Stande ift, die caufalen Unterſuchungen der Naturwiſſenſchaft zu ftören.
Als Naturforfher Hat daher Haedel gar keine Veranlaffung, fih um
die außerhalb feines Gebiets liegende Teleologie der Naturphilojophie zu be=
fümmern, und ließe fich leicht auf diefe Abgrenzung der Gebiete hin mit ihm
Frieden ſchließen. Nur indem er als Naturphilofoph auftritt, kann er die
Teleologie befämpfen, und auf diefem Gebiete glaube ich ihm anderwärts *) nad)»
gewieſen zu haben, daß feine Naturphilofophie nicht nur irrig fei, jondern daß
auch diejer irrthümliche naturphilofophiiche Standpunkt von verhängnigvollem
Einfluß auf feinen naturwiſſenſchaftlichen Standpuntt getworden jei, indem er
ihn zur Ueberſchätzung der Transmutationstheorie und Selectionstheorie verführt
habe. Auf leteren Punkt fommen wir weiter unten noch zurück.
Worauf e8 mir hier ankam, war der Nachweis, daß die Tyeindjeligkeit gegen
die Teleologie, oder mit anderen Worten die rein mechaniſche Weltanfhauung,
*) „Wahrheit und Irrthum im Darwinismus.” Berlin, C. Dunder’3 Verlag. 1875. Bes
fonders Abjchn. VIL: „Mechanismus und Teleologie”.
Ernft Haeckel. 15
fein integrirender Beftandtheil der Naturwiſſenſchaft ift, daß dieſe vielmehr
gar nicht davon berührt wird, ob eine ihre Grenzen rejpectirende Natur=
philofophie fich zur Teleologie bekennen will oder nicht, und daß Haedel ſich
im Irrthum befindet, wenn ex die entgegengejeßte Anficht vertritt. Diejer Nach—
weis jcheint mir deshalb jo wichtig, weil e8 grade Haedel’3 grundloje Ver—
quidung der mechaniſchen Weltanfhauung mit feiner Abftammungslehre ift,
welche die beten Geifter von der leßteren fern hält, und daß mit einem Schlage
die Wahrheit der Dejcendenztheorie in Philojophie und Theologie zum Durch—
bruch gelangen muß, jobald man diefe unfelige Verquidung ala ein bloßes
Vorurteil begreift, welches den bisherigen Hauptvertretern der Dejcendenztheorie
wie ein Stüd beim Auskriechen aus der dritten Periode mit herübergejchleppter
Eierſchale anhaftet. Der Kern der gegen die Dejcendenztheorie gerichteten Vor—
urtheile ift der von den Naturforjchern Fritiflo3 übernommene Glaube an die
Unabtrennbarkeit derjelben von der mechanischen Weltanjchauung, und darum
glaube ich, durch die Enthüllung diefes Glaubens al3 Aberglauben Niemandem
einen größeren Dienft zu erweiſen al3 Denjenigen, welche ſich den Sieg der Deicen-
benztheorie zu ihrem Lebensziel gejeht haben, vor Allen Ernft Haedel, defjen
Leitungen wir nach diejer vorausgeſchickten Orientirung näher treten wollen.
Als Haedel mit feinem Hauptwerk, der „Generellen Morphologie”, auftrat,
tar von Darwin erft das Werk über „Die Entftehung der Arten“ erjchienen, nebft
der erläuternden Materialjammlung: „Ueber das Variiren der Thiere und
Pflanzen“. In beiden übertvog da3 zujammengetragene Material die daraus
gezogenen Schlüffe, nur mit dem alten Dogma von der Konftanz der Specien
hatte Darwin mit Entjchiedenheit gebrochen und die Möglichkeit einer Um—
wandlung einer Specie3 in eine andere durch natürliche Einflüffe verkündet.
Dagegen hatte er den Gott-Schöpfer der englijchen Nationalkirche unangetaftet
gelaffen, war der Frage nad) der Abftammung des Menſchen ängſtlich aus dem
Wege gegangen und hatte es ganz dahin geftellt jein laſſen, wie weit ein genea—
logiſcher Zuſammenhang zwilchen verjchiedenen Ordnungen und Stämmen de3
Thier- nnd Pflanzenreihs anzunehmen je. Nur Karl Vogt Hatte eine Zeit
lang durch feine Behauptung der Abftammung der Menjchenracen von Drang,
Gorilla und Chimpanje das deutiche Publicum in vorübergehende Aufregung
verjegt, hatte aber in Folge der Oberflächlichkeit feiner Behandlungsweife des
Problems nur zu bald ein verdientes Fiasco gemacht.
Da trat Haedel mit jeinem erften großen Werke hervor, welches eingegeben
von der Begeifterung für die naturphilofophiiche Idee einer abjoluten Einheit
der Natur (Bd. IL, ©. 446—447), getragen von einer umfaffenden Kenntniß
der organischen Natur und genährt von dem Teuer eines jugendlichen En—
thuſiasmus für Wahrheit und Fortſchritt, die Einheit der organiſchen Natur,
welche bis dahin nur ideell poftulirt war, auf Grund der Deicendenztheorie
al3 eine real vermittelte zu erweiſen unternahm. Dies ift der Grundgedanke
des Buches, welches ih al3 das bedeutendfte naturwifjenjhaftlide
Werk von naturphilofophiicher Tendenz bezeichnen möchte, welches
die gefammte Literatur der Wiſſenſchaften aufzumweifen hat. Die „Morphologie“
iſt gleihjam das Programm für das ganze Leben und Streben ihres Ver—
16 Deutſche Rundichau.
faſſers; Alles was Haedel jeitdem geleiftet Hat, und wahrſcheinlich Alles, was
er noch leiften wird, find nur Ausführungen der Ideen, welche ex hier bereit3
‚ niedergelegt.
Die Wirkung war „ein allgemeines Schütteln des Kopfes“. Die Natur-
forſcher befreuzigten fi vor dem Collegen, ber doch jonft gezeigt hatte, daß er
ganz jolide arbeiten fünne, und num auf einmal zum „Durchgänger“ geworden
war; fie jahen in dem Buche eine völlige Verleugnung der vorfichtigen Methode
der eracten Forſchung, eine Thon äußerlich durch die majjenhaften Kitate und
Motto’3 aus Goethe angekündigte Wiederaufwärmung der verachteten und ver-
fpotteten Phantaſtik der Naturphilofophie und eine Ueberpurzelung der damals
noch mit dem äußerften Mißtrauen aufgenommenen Dejcendenztheorie zu den
mwagehaljigften Conjequenzen. Die Philoſophen Haben wol nur zum jehr Fleinen
Theil etwas von der Exiſtenz des Buches erfahren und konnten jedenfalls feiner
Inhalt aus dem Titel nicht ahnen; immerhin mußte auf philofophiiche Kreife
die Teindjeligfeit gegen die Teleologie und die Prätenfion, die Naturphilojophie
durch Naturwiſſenſchaft zu erſchöpfen, abftoßend wirken. Auf das große Publicum
aber war da3 umfangreiche Werk mit feiner wiſſenſchaftlichen Haltung und feiner
Ichwerfälligen (öfters nicht einmal glüdlih gewählten) Terminologie gar nicht
berechnet; einen berühmten Namen hatte Haedel damals noch nicht einzujeßen,
um das Laienpublicum zur Kenntnignahme zu veranlafjen, und jo fehlte denn
auch von dieſer Seite jede Unterftügung. Kurz, das Rejultat war nad) allen
Seiten ein entſchiedener Mißerfolg, welcher natürlih die Würdigung durch
Einzelne nit ausſchloß.
In der That kann man den Gegnern nicht abſprechen, daß Haeckel zu viel
auf einmal hatte umfpannen wollen und fich zu hohe Ziele geſteckt hatte im
Verhältniß zu dem damaligen Stand der empiriichen Begründung der vertretenen
Theorien. Auf der einen Seite wies er felbjt immer auf das Problematiſche
und Schwankende feiner conereten Aufftellungen, Eintheilungen und Stamm—
bäume bin, auf der andern Seite zeigte er fi) von einem fo feljenfeften Glauben
an die allgemeine Wahrheit feiner Ideen befeelt, daß die Empiriker fich beides
nicht zujammenreimen konnten und einerjeit3 die Verwahrungen wegen der
provijoriihen Bedeutung nicht für Ernſt nahmen, andererfeit3 die Zuverficht in
die Wahrheit der Principien für unwiſſenſchaftliche Einbildung anjahen. Ohne
Zweifel war Hacdel’3 Verſuch, die reale Einheit der Natur mit Hilfe der De-
fcendenztheorie aufzuzeigen, verfrüht, — aber wann wäre ein Verſuch Thfte-
matijcher Syntheje im Verhältniß zu dem Stand de3 empirischen Wiſſens nicht
verfrüht zu nennen? Daß Haedel den kühnen Wurf gewagt und das Odium
der Empirifer gegen allen jynthetifchen Geiftesflug nicht geicheut hat, das allein
it ihm zum höchſten Verdienft anzurechnen, um jo mehr, al3 der zuerft aus—
bleibende Erfolg ſich bald nachher doch an feine Ferſen gefettet hat und er that-
ſächlich einen mächtigen Anftoß zu dem gegenwärtig in der Naturtijjenichaft
ſich vollziehenden Umſchwung (dem Uebergang von der dritten zur vierten Periode)
gegeben hat.
Während Haedel jeinen Fachgenoſſen gegenüber durch anerkannt tüchtige
energiiche Forſchungen feine Stellung zu befeftigen fortfuhr, gelang e3 ihm,
Ernſt Haeckel. 17
mit der im Jahre 1868 herausgegebenen „natürlichen Schöpfungsgeſchichte“
das Intereſſe des größeren Publicums in ungewöhnlichem Maße zu erregen,
was unvermeidlich auch auf die Meinung der Naturforſcher eine gewiſſe Rück—
wirkung äußern mußte. 1870 erſchien die zweite, 1874 bereit3 die fünfte
Auflage dieſes populären Werkes, welches man recht eigentlich ala das Evan-
gelium der Dejcendenztheorie in Deutjchland bezeichnen kann. Hier war aud)
äußerlich die Abftammungslehre in den Mittelpunkt der Betrachtung gerüdt,
welche in der Morphologie ſich noch mit der zweiten Hälfte des zweiten Bandes
begnügen mußte; alles ſtrengwiſſenſchaftliche Detail war vermieden und der
ei Inhalt der Morphologie nur inſoweit herangezogen, al3 er zur alljeitigen
terung und Begründung der Dejcendenztheorie behülflich ſchien, welche
bier — eine Art von Zauberſchlüſſel für die weittragendſten Probleme der
Natırk- und Geiftesphilojophie angepriefen wurde. Die Fortſchritte der empi-
then Kenntniffe, 3. DB. die weiteren Entdedungen der Moneren, und die
Forikhungen in der Embryologie des Amphiorus, boten mit dem Fortgang ber
neuen Auflagen eine immer günftigere empirijche Grundlage, und die hiftorifchen
Rückblicke der einleitenden Capitel trugen dazu bei, der Einſicht Bahn zu
brechen, daß die Abſtammungslehre keineswegs etwa von Darwin funkelnagelneu
aus den Fingern geſaugt ſei, ſondern ſich geſchichtlich mit zunehmender Be—
ſtimmtheit allmälig entwickelt habe.
In ſeinen monographiſchen Studien, welche anfänglich gleich denen ſeiner
Fachgenofſen einen mehr beſchreibenden Charakter innegehalten hatten, emanci—
pirte er ſich nun auch mehr und mehr von dem gewohnten Herkommen und
ließ immer deutlicher ſeine Tendenz hervortreten, durch ſeine empiriſchen
Forſchungen die Wahrheit der Abſtammungslehre zu beweiſen. Am ſchärfſten
tritt dieſe Tendenz in der „Monographie der Kalkſchwämme“ hervor, welche
fi) bereits auf dem Titel als ein „Verſuch zur analytiſchen Löſung des
Problems der Entſtehung der Arten“ angekündigt, und in der That als die
vollſtändigſte Durchführung des fraglichen Princips auf einem eng umgrenzten
zoologiſchen Gebiet betrachtet werden kann. Der Abſchnitt „Philoſophie der
| Kaltihwämme”, welcher ala Rejume den erften, allgemein gehaltenen Band
beſchließt, erinnert freilich durch feinen Titel allzuſehr an den Mißbrauch des
Wortes „Philofophie”, wie er in England üblih ift, als daß fich nicht das
| deutiche Sprachgefühl dagegen fträuben jollte. Leider harmonirt diefer Mißbrauch
nur zu ſehr mit Haedel’3 Glauben an die Abjorption der Naturphilofophie
durch die Naturwifjenihaft, als daß es geftattet wäre, in joldem termino-
logiſchen Mißgriff nur eine harmloje Reminiscenz an da3 Studium englifcher
Literatur zu jehen.
Bald nad der „Natürlihen Schöpfungsgefhichte" war Darwin’? Werk
ı „Die Abftammung des Menjchen und die geichlechtliche Zuchtwahl“ erſchienen,
{ welches Darwin ohne Zweifel beſſer gethan hätte, in zwei ganz getrennte Bücher
# zu theilen, deren eines die geſchlechtliche Zuchtwahl und das andere die Ab-
fammung des Menjchen hätte behandeln jollen, da beide Seiten des Werkes
nur ſehr loſe Beziehungen zu einander haben. Darwin ift bier von feiner
früheren hochgradigen Ueberſchätzung der natürliden — zurüd-
Deutiche Rundſchau. I, 10.
—
— —
—
18 Deutſche Rundſchau.
gekommen, verfällt dafür aber in eine noch auffallendere Ueberſchätzung der
geſchlechtlichen Zuchtwahl. Auch in Bezug auf letztere läßt er wieder bei aller
Zuſammenhäufung des intereſſanteſten Materials die volle begriffliche Durch⸗
dringung des Gegenſtandes vermiſſen,“) und Haeckel hat dieſem Mangel bisher nicht
abgeholfen. Was aber die andere Seite des Buches betrifft, welche die Ab—
ſtammung des Menſchen behandelt, jo füllt Darwin damit zwar eine empfind-
liche Lücke jeines Hauptwerkes aus, indeß keineswegs in der umfafjenden Weiſe
und unter jo großartigen Gefichtäpunften, wie dies Haeckel in feiner „Natürlichen
Schöpfungsgeſch.“ gethan, wenngleich er auch hier weit mehr in forgfältige Behand-
lung minutiöjer Details eingeht als feine deutfchen Jünger. Es gibt deshalb faum
ein ehrenvolleres Zeugniß für den Charakter und die Bejcheidenheit des großen
englijchen Naturforjchers als die Aeußerung im Vorwort jeines Werkes: „Wäre
dies Werk erjchienen, ehe meine Arbeit „Die Abftammung des Menjchen“ nieder-
geſchrieben war, jo würde ich fie wahrſcheinlich nie zu Ende geführt haben;
faft alle die Folgerungen, zu denen ich gefommen bin, find durch diefen Forjcher
bejtätigt, deffen Kenntniffe in vielen Punkten reicher find als die meinen.“
63 wäre gewiß jehr ſchade, wenn wir die eigenartige Arbeit Darwin's, welche
Haeckel's Leiftungen in jo anziehender Weije ergänzt, entbehren jollten. Zugleich
widerlegt aber obige Aeußerung die öfters ausgejprochene Meinung, daß Darwin
ſich erſt durch Haeckel habe in's Schlepptau nehmen laffen, und zeigt, daß die
Macht der Gonjequenz ftarf genug war, um Darwin auch unabhängig von
äußerem Nahdrängen zur Eingliederung des Menſchen in die genetiiche Stufen-
reihe der Organifation zu zwingen.
Was man in Darwin’ Werken durchweg vermißt, ift die Rüdfichtnahme
auf die Embryologie; und doch bietet die Embryologie die wichtigſten Finger-
zeige für die directe Ahnenreihe eines Typus und liefert zugleich die bedeu-
tendften Stüßen für die Abftammungslehre überhaupt. Schon die „Morpho—
logie“ und die „Natürliche Schöpfungsgefhichte“ hatten gerade dadurch Darwin
überflügelt, daß fie die Embryologie in ausgedehntem Maße für ihre Dar-
legungen und Beweisführungen verwerthet hatten; jedoch konnte diefer Wiflen-
ihaftszweig in der Defonomie des erften Werkes nur einen eng begrenzten
Raum und in leßterem nur eine auriliäre Bedeutung beanſpruchen. Grade
auf diefem Gebiete aber waren jeit Veröffentlihung der Morphologie die be-
trächtlichſten Fortſchritte gemacht worden, und Haedel jelbft Hatte durch feine
1874 in der Jenaiſchen Zeitſchrift für Naturwiſſenſchaft veröffentlichte „Gafträa-
Theorie” einen der wichtigften Baufteine für die Vollendung der Deſcendenz⸗
theorie aus embryologiſchen Unterſuchungen in Verbindung mit ſeinem Studium
der Kalkſchwämme zu Tage gefördert. Er hatte an dieſem Beiſpiel den Beweis
geliefert, wie fruchtbar die Vereinigung der vergleichenden Anatomie und Em—
bryologie werden kann, wenn die Dejcendenztheorie zum leitenden Geſichtspunkt
für die Deutung der Beobadhtungen auf jedem dieſer Gebiete durch die deg
andern genommen wird, und hat e8 durch feine Kritik einfeitiger anatomifcher
*) Vol. meine Schrift: „Wahrheit und Irrthum im Darwinismus“, Abſchn. VI: „Die
auriliären Erflärungsprineipien Darwin's“; c. „Die geſchlechtliche Zuchtwahl“.
Ernſt Hacdel. 19
ober einjeitiger embryologiiher Studien zur Evidenz gebracht, daß von nun an
die beiden Wiſſenſchaftszweige nur noch in gegenjeitiger Beziehung auf einander
fürderfam betrieben werden fünnen. Ec fühlte nun das Bedürfniß, feine in den
früheren Werfen nur ſtizzirte Begründung der Dejcendenztheorie durch den
Parallelismus der embryoniſchen Entwidelung de3 Individuums und der
genealogiichen Entwidelung de3 Typus in ausführlicherer Geftalt darzuftellen
und wählte zu diejem Behuf als jpecielles Beiſpiel die Entwickelungsgeſchichte
de3 Menſchen. Dur dieſe Beſchränkung gewann er einerjeit3 eine Concen—
tration des behandelten Stoff3, welche der Vollftändigkeit und Neberfichtlichkeit
der Darftellung im begrenzten Raume eines Bandes zu Gute kommt, und
andrerjeit3 eine Concentration des Intereſſes bei dem Lejer, der natürlich einem
direct auf die Löſung der Trage nad) der Stellung des Menſchen in der
Natur gerichteten Vortrag mehr Aufmerkſamkeit und Theilnahme entgegenbringt,
al3 wenn es fih etwa blos um die Abſtammung der Inſecten handelte.
Andrerjeit3 berührt doch wieder die Genealogie des Menjchen jo viele Stufen
der Entwidelung des Thierreichs, daß fie allein im Stande ift, mit Hilfe
einiger orientirenden Seitenblide eine annähernde VBorftellung von dem genea-
logiſchen Zufammenhang de3 ganzen Thierreichs zu geben.
Aus allen diefen Gründen ftehe ich nicht an, die „Anthropogenie” für
Haedel’3 reifſtes Werk zu erklären und die darin eingejchlagene Behandlungs-
weile für epochemachend in der Gejchichte der Naturwifjenichaft anzujehen.
Wie viele Behauptungen aud hier noch problematiich find, wie viele Aufftel-
lungen aud) bier blos eine provijorifche Gültigkeit beanfpruchen Eönnen, darüber
verſchließt ſich der Verfaſſer keineswegs einer Fritiichen Einficht,; aber trotzdem
it das Werk eine höchſt bedeutende Leiftung, indem fie den Rahmen der
menſchlichen Entwidelungsgefhichte in großen Grundlinien zeichnet, welche zwar
noch überall der Ausfüllung und vielfältig der Correctur bedürfen, aber doch
im Princip als richtige Grundlage weiterer Erörterungen anerkannt werben
mäfjen.
Wie groß der vollbrachte Fortichritt ift, darüber kann man ſich eine un—
gefähre Vorftellung maden, wenn man eines der beiferen populären Bücher
über vergleichende Anatomie aus den lebten Decennien (etwa Karl Vogt's
„Zoologiſche Briefe”) mit Haeckel's Anthropogenie vergleicht und ſich dabei des
Umftandes erinnert, daß ein für den Laien genießbares Werk über Embryologie
bisher überhaupt nicht eriftirte.
Die Anthropogenie zeichnet ſich auch dadurch vor Haeckel's anderen größeren
Merken aus, dab ſowol jeine ſchiefe Naturphilojophie als auch feine Ueber—
ſchätzung der Selectionstheorie in erfterer weit weniger zudringlich herbortritt;
das Werk hält ſich ftrenger auf naturwifjenichaftlidem Gebiet und macht darum
einen ungetrübteren Eindrud.
Der Titel bezeichnet das Buch als „gemeinverftändliche wiſſenſchaftliche
Vorträge,“ und der Anhalt trägt der populären Abficht injoweit Rechnung,
daß die Vorausſetzung anatomijcher Vorkenntniffe vermieden wird. Populär
aber im gewöhnlichen Sinne de3 Wortes ift das Buch deshalb doch nicht, auch
nicht in dem Grade, wie die natürliche Schöpfungsgefhichte es ift; dazu ift
2*
20 Deutiche Rundſchau.
der Stoff jedenfalls zu ſpröde. Es gehört eine beträchtliche Sammlung und
Aufmerkjamkeit dazu, um die Darlegungen des Tertes in Verbindung mit den zahl-
reichen Jlluftrationen zu verftehen, und ftellenmweife vermißt man jogar den Grad
von Deutlichkeit, welcher nöthig ift, um jchiwierige, verwickelte Verhältniffe völlig
far zu machen. Das Buch kann jeiner Natur nad nicht auf ein Publicum
rechnen, welches allgemeine Bildungszwede verfolgt, jondern nur auf ein ſolches,
welches mit jpeciellen naturwiſſenſchaftlichen Intereſſen an den Gegenftand
herantritt. Für einen ſolchen Lejerfreis war aber auch die Form der Ein-
theilung in Worlefungen ein überflüjfiger Popularitätsföder. Diefe Form
zwingt zu einer Gruppirung des Stoff3 nad der äußerlihen Rückſicht gleich
langer und in fich geichloffener Abjchnitte, läßt darum die Ueberſichtlichkeit ver-
mifjen, welche durch eine rationelle Architektonik (wie in der „generellen ‘Dtor-
phologie“) gewährt wird, und jucht das Fehlende durch häufige Wiederholungen
zum Zweck der Orientirung zu erjegen, welche beim mündlichen Vortrag
unvermeidlich find, beim Leſen aber ermüdend wirken. ch glaube daher, daß
der Verfaſſer nicht glücklich berathen geweſen ift, ala er bei der Redaction des
ftenographiichen Manufcripts feiner im Sommer 1873 gehaltenen akademiſchen
Borlefungen beftrebt war, denfelben möglichft jene freie Form zu laffen, welche
fi bei der „Nat. Schöpfungsgeich.” bewährt hat (Vorwort S. XV.), und hoffe,
daß er bei einer neuen Auflage die Mühe der Umänderung nicht ſcheuen wird.
Auch die ftiliftiiche Behandlung läßt allzufehr den Urſprung aus der improdi-
firten Rede erkennen und fteht weit ab von ber ſprachlichen Abrundung und
Eleganz, welche die hervorragenden englifchen und franzöfiichen Naturforjcher zu
entfalten für angezeigt halten, wenn fie eine Veröffentlichung dem größeren
Publicum vorlegen. Dagegen ift die Ausftattung des Buches, insbejondere
die reichliche Beigabe von Holzſchnitten und Kupfertafeln, zu rühmen. Mancher
Lefer der „Nat. Schöpfungsgeſch.“, der nicht die Geduld befitt, den Text der
„Anthropogenie“ zu lejen, wird jchon aus der Betrachtung der Illuſtrationen
und dem Studium ihrer Erklärungen reiche Belehrung und Anregung mit
nah Haufe tragen.
Nach diefer allgemeinen Charakteriftif der drei Hauptwerke Haedel’3 jei es
mir geftattet, noch) einige Angaben über den Anhalt derjelben hinzuzufügen und
einige wichtige Punkte aus demfelben herauszugreifen.
Was die „Generelle Morphologie“ betrifft, jo dient dieſes Werk zunächſt
einer Darlegung jeines methodologiſchen und naturphilofophiichen Standpunttes
behufs der Begründung jeiner Oppofition gegen die bisher übliche Behandlungs-
weile der Naturtoifjenichaften in der „dritten Periode”. Zu dem in diejer
Hinficht bereit? oben Angeführten ift noch hinzuzufügen, daß er die Natur-
foricher beſchuldigt, über der einjeitigen Pflege der Analyje die Syntheſe
ungebührlich zu vernadläffigen, während nad) feiner Meinung Analyje und
Syntheſe untrennbar zufammengehören wie Ein- und Ausathmen (Bd. I., ©. 79).
So viel Richtiges in diefer Bemerkung ift, jo würde diejelbe doch erft durch
eine präcife Beftimmung ber vieldeutigen und darum unklaren Ausdrücke
„Analyje* und „Syntheſe“ ihren rechten Werth erhalten; dieje ſucht man aber
bei Haedel vergeblid. In ähnlicher Weile behauptet er die umtrennbare Zu-
Ernſt Hacdel. 21
fammengehörigfeit von Jnduction und Deduction, und behauptet mit John
Stuart Mill, daß die bisher vernadjläffigte Deduction das Höhere der vorauf-
gehenden Induction fei, und daß ohne fie die letztere zu allgemeinen, ficher
bewieſenen Gejegen und der Erfenntniß des fundamentalen Zujammenhangs
der Erſcheinungen nicht gelangen könne (I. 83). Dies bedarf der Einjchräntung.
Ihrem Begriff nad ift nämlich die Induction allein völlig zureichend, um
zu allgemeinen Gejegen zu gelangen, und würde eine vollftändige Induction
die Erkenntniß alles Dajeienden ohne Reft erihöpfen, fo daß für die De-
duction gar fein Gegenftand übrig bliebe, der nicht jchon im Syitem in der
inductiven Erfenntniß enthalten und erledigt wäre. Nur wegen ber Involl-
ftändigfeit unjerer Inductionen jehen wir uns oft genöthigt, zur Deduction
ala einer Aushilfe zu greifen, welche einen neuen Specialfall unter das durch
unvollftändige Induction gewonnene allgemeine Gejeß begreift. Sobald die
Deduction dazu gelangt, durch Erfahrung beftätigt zu werden, Hört fie auf, ala
Deduction vollzogen zu werden, und der nunmehr empiriich betätigte Spe-
cialfall tritt al3 eine neue Stüße und Vervollftändigung der Induction zu
den übrigen Fällen hinzu, aus denen das inductive Gejeh gewonnen war.
Den Abſchnitt über „Zeleologie und Cauſalität“ oder „Bitalismus und
Mechanismus” beginnt Haedel mit folgendem beachtenswerthen Ausiprud von
Johannes Müller: „Ein mechaniſches Kunſtwerk ift hervorgebracht nad) einer
dem SKünftler vorjchtvebenden dee, dem Zwecke feiner Wirkung Eine Idee
liegt aud jedem Organismus zu Grunde, ımd nad) diefer dee werden
alle Organe zweckmäßig organifirt; aber diefe Jdee ift außer der Ma—
fhine, dagegen in dem Organismus, und bier jchafft fie mit Noth-
wendigfeit und ohne Abſicht“ (d. h. ohne bewußte Abfiht). „Denn
die zweckmäßig wirkende wirkſame Urſache der organiihen Körper hat
feinerlei Wahl, und die Verwirklichung eines einzigen Planes ift ihre
Nothwendigkeit, vielmehr ift zweckmäßig wirken und nothwendig
wirken in diefer wirkſamen Urſache ein und dajjelbe Man darf daher
die organifirende Kraft nicht mit etwas dem Geiſtesbewußtſein Ana-
logen, man darf ihre blinde nothiwendige Thätigkeit mit feinem Begriffbilden
vergleichen. Organismus ift die factiiche Einheit von organiſcher Schöpfungskraft
umd organischer Materie” (Handb. d. Phyf. des Menſchen L 28, II. 505).
Haedel bemerkt Hierzu, daß Müller, den er „als den größten Phyfiologen
und Morphologen der erften Hälfte diefes Jahrhundert3 verehrt,“ bekanntlich
Ditalift war, daß er fich aber öfter und jo auch in diefem Ausiprud „von
der allein richtigen mechaniſchen Beurtheilungsweife auch der organiſchen Natur-
körper fortreißen ließ“ (I. 94). Haedel jchließt aber hier ganz falſch, wenn er
meint, daß daS behauptete Zujammenfallen der causa finalis und der
causa efficiens die Unterordnung der erfteren unter die letztere, d. h. das
Aufgeben der Zeleologie, bedeute (I. 9). Müller fucht in diefer Stelle un-
zweideutig nach einer höheren Einheit von Teleologie und Gaufalität, in
welcher beide al3 gleihwahre Momente erhalten bleiben. Er jucht die
‚wirkſame Urſache“, d. 5. die causa efficiens der thatjächlich gegebenen Zweck—
mäßigfeit der Organismen in einer — nicht etwa außerhalb (3. B. im Bewußt-
22 Deutiche Rundichau.
fein eines transcendenten Gottes) gelegenen — jondern dem Organismus
immanenten dee Er jagt, daß dieſe dee nicht mit unferer (abftracten)
Begriffsbildung zu vergleichen fei, d. 5. fie muß intuitiv fein; ex erklärt,
daß fie nicht dem Bewußtſein unferes Geiftes analog ſei, — d. h. fie muß
unbemwußt jein. Die dem Organismus immanente, intuitive, unbewußte
See hat feine discurfive Meberlegung wie wir, fie hat feine Wahl zwiſchen
verichiedenen Möglichkeiten, jondern mit logiſcher Nothwendigfeit ergreift fie
einen einzigen Inhalt (der dem Einen „Plan“ entſpricht) und verwirklicht dieſen
„blind“, d. h. ungeflectirt und unbewußt, aber ohne darum aufzuhören, zweck—
mäßig wirkende Idee zu jein. So ift nothwendig wirken und zweckmäßig
wirken in ihr ein und dafjelbe, nicht, wie Haedel meint, indem die causa
finalis zu Gunften der causa efficiens abdankt. Es ift klar, daß bie jpeculative
Durchbildung der Gedanken Johannes Müller's genau auf denjelben philo-
ſophiſchen Standpunkt führt, den ich in der „Philofophie des Unbewußten“ aus—
geführt habe, und es ift nur zu bedauern, daß Haeckel über die erhellenden
Lichtblike feines großen Meiſters dem naturforfcherlichen Vorurtheil der „dritten
Periode” zu Liebe jo Furzer Hand zur Tagesordnung übergeht, um bei der
maßlos überjchäßten Selectionstheorie ald dem „definitiven Tod aller teleo=
logiſchen Beurtheilung der Organismen“ anzulangen (I. 100).
Die Einleitung dient außer zu den erwähnten Auseinanderjegungen noch
zu der Darlegung der Stellung der Morphologie zu der Phyfiologie, zu der fie
fih ala Geftaltenlehre zur Functionenlehre verhält. Der Verfaſſer tritt hier
der unverdienten Vernachläſſigung entgegen, unter welcher die Morphologie
während de3 jüngjten großen Aufſchwunges der Phyfiologie zu leiden hatte.
Das zweite Buch behandelt die Unterjcheidung zwijchen anorganifcher und
organiicher Natur, den Uebergang aus dem einen Gebiet in dad andere (Schöp-
fung oder Urzeugung?) und die Unterjcheidung des Pflanzen und Thierreichs,
— tie man fieht, lauter Gegenftände, welche in dem Anhalt einer Vorlefung
über Naturphilofophie nicht fehlen dürfen, weil fie, obwol an und für ſich
zur Naturwiffenichaft gehörig, doch die Probleme in fich enthalten, welche un=
mittelbar das metaphyfiiche Gebiet berühren, alfo recht eigentlich die unerläß—
lichen Anſatzpunkte für die naturphilofophiiche Betrachtung geben.
Im erften Abſchnitt diefes Buches entwickelt Haedel unter Anderm jeine
jogenannte Kohlenftofftheorie, d. h. die Anficht, daß die chemiſche Viertverthigkeit
des Kohlenftoffs, welche ihn zur Grundlage bejonderd complicirter chemischer
Verbindungen macht, die zureichende Urſache der Vebenserjcheinungen der orga=
niſchen WVerbindungen, welche eigentlich Kohlenftoffverbindungen heißen müßten,
ſei. Bekanntlich ift aber auch das Silicium vierwerthig und geftattet der
chemiſchen Syntheje analoge Berbindungen wie der Kohlenftoff, ohne daß diejes
Element im Stande wäre, irgendwie ala Grundlage natürlicher Verbindungen
zu dienen, an denen ſich Lebenserjcheinungen zeigten.
Am zweiten Abjchnitt tritt ex für die Urzeugung ein, welches Problem
durch Haeckel's Entdedung der Moneren und ihrer Definition ala fernlojer
(und zum Theil auch wandlojer) Plasmaklümpchen ohne Zweifel wejentlich ver-
einfacht ericheint, wenngleich es der Löjung aus rein mechaniſchen Urſachen
Ernſt Haedel. 23
darum nicht näher gerücdt ift, wie Haedel irrthümlid annimmt. Wäre wirklich
nad) des Verfaſſers Meinung auf dem Grunde der See und der ſüßen Gewäſſer
noch heute ein beftändiger Urzeugungsproceß duch Zufammenballen zufällig
vorhandener Proteinftoffe im Gange, jo wäre es völlig unbegreiflih, daß uns
die Experimente, aus Eiweißtröpfchen Moneren entjtehen zu laffen, gar nicht
gelingen tollen. &3 folgt daraus meines Erachtens, daß die Moneren „Bathy—
bius“ und „Protamöba“, welche den Meeres- und Süßtwafjerboden füllen,
troß ihres amfcheinend homogenen Baues doch noch etwas ganz Andres jein
müfjen als zujammengelaufene Tröpfchen von verdünntem Eiweiß. Sollten
nicht die Körnchen, welche ihre Körpermaffe durchjegen, ſchon darauf hindeuten,
daß ihre Homogenität doch nur eine relative im Verhältniß zu den kern—
haltigen Amöben ift, und daß vielleicht gerade dieſe Körnchen e3 fein dürften,
welche bei ihmen diejenigen Functionen vertreten, die bei den Amöben und
übrigen Organismen der Kern zu verjehen hat (insbejondere alfo die Initiative
zur Theilung und Vermehrung) ? |
Im dritten Abſchnitt begrimdet Haeckel die Nothwendigkeit, neben, oder
vielmehr vor dem Pflanzen» und Thierreich ein drittes Reich der Organijation
aufzuftellen, deifen Glieder fi) noch nicht zur Eigenthümlichkeit des Pflanzen-
oder Thiertypus herausdifferenzirt haben, welches aber den Stammvater ſowol
bes Pflanzen- ald des Thierreichs bildet. Er erkennt an, daß die Grenzen
zwiſchen diejem Protiſtenreich einerjeit3 und dem Thier- und Pflanzenreich
andrerjeit3 ebenjo wenig feft und ſtarr gezogen werden können, al3 die zwilchen
Pflanzen und Thierreich bei Bejeitigung des Protiftenreichs, aber dieje Unficher-
heit liegt eben in den genealogiichen Uebergängen begründet, in Folge deren
gewiſſe Glieder des Protiftenreihs (3. B. die Diatomeen) ſchon mehr zur
pflanzlichen, andere (3. B. die Schwämme) jchon mehr zur thieriichen Eonfti-
tution binneigen. In jeinen „Biologiſchen Studien” (S. 54—61) hat Haedel
feine Gintheilung des Protiftenreichs felbft einer Revifion unterworfen; er
nimmt neuerdings an, daß alle ſich ungejchlechtlich fortpflanzenden Organismen
dem Protiſtenreich, dagegen die geichlechtlich ſich Fortpflanzenden dem Thier-
oder Pflanzenreich einzuordnen ſeien. Hieraus würde zu folgern jein, daß die
gemeiniamen Vorfahren der Thiere und Pflanzen feine geſchlechtliche Fortpflan-
zung bejeflen hätten, Thiere und Pflanzen aljo den geſchlechtlichen Fortpflanzungs-
modus auch nicht von einem gemeinfamen Vorfahren ererbt haben könnten,
fondern unabhängig von einander jpäter enttwidelt haben müßten. Dies darf
bei Haedel einigermaßen auffallen, da derjelbe jonft jo wichtige gemeinjame
Charaktere ftet3 auf gemeinfame Ererbung derjelben zurüdzuführen ſucht. Uebri—
gens bin ich mit der Aufftellung eines neutralen Gebietes indifferenter Orga-
niämen (vor der Differenzirung in Thier- und Pflanzentypus) ganz einverftanden
und bin, noch bevor ich Haedel’3 Arbeiten kannte, zu dem nämlichen Rejultat
gelangt (Phil. d. Unb. Cap. C. IV.).
Das dritte Buch ift überjchrieben: „Generelle Tektologie oder allgemeine
Structurlehre der Organismen“. Man denkt hier eher an Gewebelehre oder
Hiftologie als an eine Darftellung der verfchiedenen Ordnungen der organijchen
Individualität und des Aufbaues der höheren aus den niederen Ordnungen.
24 Deutſche Rundſchau.
Letzterer Gegenſtand iſt von der höchſten Wichtigkeit für das naturphiloſophiſche
Verſtändniß des Lebens; auch ich habe den Nachweis der Relativität des In—
dividualitätsbegriffes unabhängig von Haeckel (ebenſo wie von Herbert Spencer)
zu führen verſucht (Phil. d. Unb. Cap. C. VI.) und habe auf die fundamentale
Bedeutung dieſer Erkenntniß für die Metaphyſik hingewieſen, die zu verbreiten
um ſo dringlicher iſt, je ferner dem gewöhnlichen Bewußtſein der Gebildeten
gegenwärtig noch die Einſicht ift, daß jeder höhere Organismus nur das ein—
heitliche Ganze eines ftufenförmigen Aufbaues mehrerer Ordnungen von relativen
Andividuen ift. Nirgends ift dieje Lehre mit folder Syftematik durchgebildet wie
bei Haedel und fie Liefert bei ihm die Grundlage für jeine Reform der eigent-
lihen Morphologie, die ein ganz anderes Gepräge dadurch erhält, daß fie mit
Bezug auf die verjchiedenen Ordnungen der organischen Individualität durch—
gearbeitet wird.
Diefe Morphologie im engeren Sinne, als Lehre von den allgemeinen
Grundformen der Organismen, wird nun in der angedeuteten Weile im
vierten Buch behandelt und bietet damit denjenigen Theil des Inhalts, welchen
der Uneingeweihte hinter dem Titel de3 ganzen Werkes ala alleinigen Inhalt
defjelben zu erivarten geneigt ift.
Der zweite Band beginnt mit einer langen Einleitung, welche den Verſuch
einer „genealogifchen Ueberſicht des natürlichen Syſtems der Organismen“ dar-
ſtellt. Man kann fich denken, daß ein ſolches Unternehmen es Keinem recht
machen kann und von allen Seiten Angriffen ausgelegt fein muß, auch von
ſolchen, die eingeftehen, es nicht beſſer machen zu können, jondern fi nur im
Allgemeinen iiber die Vermeſſenheit eines ſolchen Wagniſſes entrüften. Haeckel
jelbft hat durch die Modificationen, die er an verjchiedenen Stellen vorgenommen,
gezeigt, dak es ihm mit dem von ihm proclamirten proviſoriſchen Charakter
feines Verſuches Ernft ift, und jo verftanden darf man ein ſolches Unternehmen
wol jelbft dann willkommen heißen, wenn man anerkennt, daß dafjelbe nad) dem
Stande unferer Kenntniffe im Ganzen als verfrüht bezeichnet werden muß. Es
dient dann wenigſtens als vorläufiger Anhalt und als Leitfaden für die Richtung
weiterer Forſchungen.
Das fünfte Buch ift betitelt „Generelle Ontogenie, oder allgemeine Ent-
wickelungsgeſchichte der organiſchen Individuen (Embryologie und Metamorpho-
logie)”. Die erſte Hälfte deffelben erörtert die verjchiedenen Modalitäten der
Vermehrung und Fortpflanzung der Organismen in jehr ausführlicher und
iyftematifcher Weife, die zweite Hälfte gibt eine zufammenhängende Darftellung
des Darwinismus, al3 Einheit von Dejcendenztheorie und Selectionstheorie
gefaßt. Das ſechſte Buch ſchließt ſich der zweiten Hälfte des fünften an, indem
es unter dem Titel „Generelle Phylogenie“ die Entwickelungsgeſchichte der orga—
nifchen Stämme beſpricht und dabei unter Anderem eine Kritik des Species-
begriffes Liefert.
Ich glaube nicht, daß es angezeigt Wäre, an diejer Stelle auf eine kurze
Darlegung der Principien des Darwinismus einzugehen, da der größere Theil
der Lejer tool entiweder aus der im fünf Auflagen verbreiteten „Natürlichen
Schöpfungsgeſchichte“, oder aus andern jo reichlich fließenden Quellen beveit3 mit
Ernſt Haeckel. 25
denjelben vertraut fein dürfte. Aus demfelben Grunde verzichte ich darauf, den
Inhalt der „Natürlihen Schöpfungsgeſchichte“ in gleicher Weiſe vorzuführen.
Dagegen möchte ich noch einmal darauf hinweiſen, daß Hacdel’3 befannteftes
Werk eben nicht fein beftes iſt; an philofophiichem anregendem Ideengehalt ift
ihm die „Morphologie”, an naturtoiffenschaftlicher Bedeutung die „Anthropogenie“
entichieden überlegen. Daß es das relativ oberflächlichfte der drei Werke ift,
mag durch die populäre Abficht entjchuldigt fein und gibt vielleicht grade die
treffendfte Erklärung für den relativ großen Erfolg defjelben; aber es zeigt auch
Haedel am wenigjten von der Seite eine originellen Denkers, da die Principien,
welche er darin verficht, wejentlich diejenigen Darwin’s find, nur in etwas uni-
verjellerer Anwendung, bei welcher grade die Ueberſchätzung ihrer Tragweite in
übertriebenfter Weije hervortritt. Für diefe Ueberſchätzung und für die fchiefe
Naturphilofophie, aus welcher jene entjpringt, entjchädigt weder wie in ber
Morphologie eine Fülle philoſophiſch werthvoller origineller Gedanken, noch wie
in der Anthropogenie ein Reichthum wiſſenſchaftlicher Belehrung und die Frudt-
barkeit der Wechjeldurchdringung zweier bisher iſolirter Wiſſenſchaftskreiſe. Ach
made hauptſächlich deshalb auf den relativ geringeren Werth der „Natürlichen
Schöpfungsgeſchichte“ aufmerkſam, weil mancher dentende Leſer, der nur dieje
Arbeit des Verfaſſers kennen gelernt hat, nad) diefer Probe geneigt fein könnte,
die wiljenjchaftliche Bedeutung des Autors geringer anzufchlagen, als fie es ver-
dient, wenn man da3 Gejammtbild jeiner Leiftungen überblidt.
Was die mehrfach erwähnte Ueberſchätzung des Darwinismus und der von
ihm umfaßten Theorien betrifft, jo ift diejelbe einfach ein Ausfluß feines natur-
philojophiichen Vorurtheils: de3 Glaubens an die ausſchließliche und alleinige
Geltung der mechaniſchen Weltanfhauung. Die genealogiiche Abftammung der
ſpecifiſch verjchiedenen Typen von einander ift allerdings eine der wichtigften
Bermittelungsweifen der ideellen Verwandtichaft derjelben, aber e8 gibt außer
diefer Realifationsform der ideellen Verwandtſchaft noch verjchiedene andere,
welche ein ähnliches Reſultat erzielen, 3. B. die Analogien der gejeßmäßigen
parallelen Entwidelung. Die gradlinigen Zuſammenhänge des genealogijchen
Stammbaum können die Vielfeitigkeit der ideellen Verwandtichaft niemals er-
ihöpfen, aber die mechaniſche Weltanficht iübertreibt die Bedeutung der Ab-
ftammung für die Erklärung der VBerwandtichaft, weil fie bis jet nur dieſe
mechaniiche Vermittelungsweile anzugeben weiß.
Die allmälige Umwandlung eine Typus in einen jpecifiich verjchiedenen
durch unmerflich Kleine Schritte iſt durch Darwin's Umſtoßung der Conſtanz der
Arten zu einer möglichen und zuläffigen Hypotheſe geworden, aber ihr that-
jächliches Plabgreifen in der fich jelbjt überlaffenen Natur ift noch in feinem
einzigen alle empiriſch conftatirt worden. Die paläontologijchen Funde liefern
bei hinreichend vorfichtiger Eritifher Deutung derjelben ebenjowenig directe Be—
weile für die Lehre einer allmäligen Umwandlung der Arten in einander
(Zransmutationstheorie), wie die Erfahrungen des gegenwärtigen organijchen
Lebens, und die Embryologie, welche der Dejcendenztheorie die ftärffte Stübe
bietet, vermag ihrer Natur nach über die allmälige oder ſprungweiſe Beichaf-
fenheit der Ummandlungsprocefje in der genealogijchen Geſchichte ber Species
26 Deutſche Rundſchau.
niemals irgend welches Material beizubringen. Dagegen ſcheinen die verſchieden—
artigſten Erwägungen dafür zu ſprechen, daß grade die entſcheidenden Schritte
der Umwandlung eines Typus in einen andern durch eine plötzlich und ſprung—
weile auftretende Modification gethan werden, welche von Köllifer treffend als
„heterogene Zeugung“ bezeichnet ift. Haedel jedoch verwirft diefe Hypotheje und
hält an dem Zuftandefommen aller Veränderungen durch allmälige Umwand—
lung feft, offenbar nur deshalb, weil letztere Hypotheje durch den leichter zu
wahrenden Schein der Zufälligfeit der auftretenden Modificationen der
mechaniſchen Weltanficht günftiger ift. Erft ein Zuſammenwirken der allmäligen
und der jprungweilen Typenumwandlung kann meines Erachtens die genetiſche
Entwidelung des Thier- und Pflanzenreichs wirklich erklären.
Die Selectionstheorie endlich, oder die Lehre von der natürlichen Zucht—
wahl, ift nur in ſolchen Fällen im Stande, eine ftattgehabte Modification zu
erklären, wo eine große Anzahl von Bedingungen erfüllt ift, welche im Ein-
zelnen zu erörtern hier zu weit führen würde, und die Thatjache, daß in jolchen
Tällen, wo die natürliche Zuchtwahl ausgejchlofjen ift, von der Natur ähnliche
Rejultate erzielt werden, wie in ſolchen, wo fie mitwirkt, beweift, daß diejelbe
nicht den Rang eines fundamentalen, jondern nur den eines cooperativen oder
auriliären Princips in Anſpruch nehmen darf, daß fie nur ein techniſcher Behelf
ift, deſſen fich die Natur zur Verhinderung der Degeneration und zur gleich-
mäßigen Regulirung correlativer Entwidelungsprocefje bedient. Seine Theorie
wird aber von Haedel in höherem Grade überſchätzt als diefe, und auch dies
twieder offenkundig aus dem Grunde, weil er in ihr ein rein mechaniſches
Erklärungsprincip für zweckmäßige Rejultate gefunden zu haben glaubt.
Dieje Annahme ift aber jelbjt jehr anfechtbar. Die Ausleje in der Con—
currenz gleichartiger Jndividuen, welche fich durch den Untergang der minder
Kräftigen und das lleberleben der beftangepaßten Individuen vollzieht, iſt aller-
dings ein rein mechanischer Vorgang; daß aber diefer Vorgang im Stande ift,
zur Umwandlung eines Arttypus mitzuwirken, das fommt nur davon her,
weil er fih auf dem Boden organiſcher Entwidelungsgejege vollzieht, welche
nicht3 weniger als mechaniſch zu verftehen find. Keine Auslefe kann beſſer
angepaßte Jndividuen überleben laffen, wenn ſolche nicht vorher durch eine
planmäßig gerichtete Bariationstendenz hervorgebracht worden find; feine
Bererbung kann die individuell ertvorbenen Merkmale durch Summation fteigern,
wenn nicht die Variationstendenz durch mehrere Generationen in der gleichen
Richtung fortdauert und fich zugleich als Bererbungstendenz kundgibt
(denn der Regel nad) werden individuell erworbene Merkmale eben nicht
vererbt, wie Darwin ausdrücklich anerkennt).
Vererbung und Anpaffung find beides gleich dunkle organiſche Proceffe,
welche ein jpontanes Entgegenftommen bed Organismus gegenüber den
äußeren Verhältniffen vorausjegen und welche Haedel ohne jeglichen Rechtstitel
für mechaniſche Momente ausgibt. Wenn ex jeinerjeit3 Kölliker gegenüber
erklärt, daß der von diefem gegen Darwin behauptete „Entwickelungsplan“, der
fih durch von innen herauswirfende organijche Entwicelungsgejehe realifitt,
„ein leeres und nichtsſagendes Wort“ fei (Morph. J. S. 101), jo ift daran
Ernft Haedel. 37
nur ſoviel richtig, daß der „Entwidelungsplan“ nicht in die naturwiſſenſchaft—
liche, jondern in? die naturphiloſophiſche Betrachtungsweiſe gehört; falſch aber
ift die Prätenfion; der Naturwiſſenſchaft, Alles in der Welt durch ihren
Erflärungsmodus ohne Reft erihöpfen zu können, und deshalb die Berechtigung
der naturphilofophiichen Erklärung einfach leugnen zu können. Der Darwinismus
fteht ji) von allen Seiten auf die Anerkennung eines organijchen Entwicelungs-
geſetzes, als den Grundſtock für die Anheftung aller feiner Erklärungsprincipien,
unausweichlich hingedrängt, welches ex unter dem Namen des Gorrelations-
geſetzes bereit3 anerfannt und in den Kreis feiner Erflärungdprincipien auf-
genommen hat; die Ausbreitung der Defcendenztheorie wird um jo rajcher und
ftegreiher erfolgen, je mehr Bejcheidenheit die Darwinianer in Bezug auf die
Tragweite ihrer einzelnen Theorien annehmen. Es ift im Intereſſe diefer Aus—
breitung nicht3 dringender zu wünſchen, als daß Haedel die Bejonnenheit und
Selbftverleugnung Darwin’3 nachahme, der bereit3 in dem Werk über bie
Abftammung des Menſchen feine frühere Ueberſchätzung der Selectionstheorie
offen eingeräumt und den Geltungsbereich derjelben ausdrüdlich auf phyfio-
logiſche Anpafjungen (unter Ausſchluß dev morphologiſchen) beſchränkt hat.
Wenn Haedel im Gegenſatz zu feinem bisherigen Glauben an eine Beftim-
mung des MWeltprocefjes durch accidentielle äußerliche Accommodation die
Hppotheje eine jpontan von innen heraus wirkenden organijchen Ent—
widelungsgejeßes adoptirte, jo bliebe es ihm deshalb noch immer unbenommen,
an jeiner mechaniſchen Weltanficht feſtzuhalten. Der Fortichritt der Organi-
fation wäre dann nur nicht mehr wie bisher ala ein äußerlicher, fondern
ala ein innerlider materieller Mechanismus aufzufaffen. Wohin eine folge
richtige Ausbildung dieſes Standpunktes führt, habe ich in meiner Kritik der
Wigand’ichen Lehre von der „Genealogie der Urzellen“ gezeigt (vgl. „Wahrheit
und Irrthum im Darwinismus” Cap. IV); für Haedel würde ſich nur der
Unterjchied herausftellen, daß er nicht bei der Ururzelle (oder -»Eytode) als bei
der Präformation der gefammten organiichen Welt ftehen bliebe, jondern über
dieje hinaus zu der Beichaffenheit der Kohlenftoff-Molecule, beziehungsweiſe des
fosmilhen Zuftandes der Materie, aus welchem jene fich bildeten, zurück—
gehen müßte, und dadurd die Wigand’schen Ungeheuerlichkeiten noch weiter
potenziren würde.
Alle die hier berührten Differenzen zwiſchen meiner Anficht über dieje Fragen
und derjenigen Haedel’3 können meine Werthſchätzung defjelben als des kühnſten
und conjequentejten Vertreters der Defcendenztheorie nicht beeinträchtigen. Die
Deicendenztheorie ift freilich nur eine Hypotheje, aber fie theilt diejes Loos
mit den wichtigften anderweitigen Erflärungsprincipien, welche ebenſowenig durch
Erfahrung demonftrirt werden können, und hat den Vorzug, eine der beit-
beglaubigten Hypotheſen zu fein, welche die moderne Naturwiſſenſchaft auf-
zumweifen bat. Diejelbe fommt außerdem einem dringenden metaphyſiſchen
Bedürfniß in befriedigendfter Weife entgegen, nämlich dem Bedürfniß, die ideell
concipirte Einheit der organiichen Natur auch al3 eine real vermittelte zu wiſſen
und zu erkennen. Die Deicendenztheorie ift im Grunde genommen weiter nichts
ala die Anwendung und Durchführung der dee der „Enttwidelung” für das
28 Deutſche Rundſchau.
Gebiet der organiſchen Natur, jener Idee, welche von Leſſing und Herder bis
zu Hegel für die Entfaltung des deutſchen Geiſteslebens beſtimmend geworden
ift und in immer fteigendem Maße für unſer VBerftändnig der Welt bedeur-
tungsvoll werden wird. Schon Oken jagte: „Der Menſch ift entwidelt, nicht
geihaffen“, und die moderne Abftammungslehre ift nur die naturwiſſenſchaft-
lihe Durcharbeitung diefer naturphiloſophiſchen Gonception. Heute fträubt fich
die Theologie und der von theologiichen Einflüffen beherrichte Theil der Gebildeten
noch ebenjo jehr gegen die Anerkennung diefer einfachen Wahrheit, wie einſtmals
gegen das Kopernikaniſche Weltſyſtem; aber derjenige Theil der Vertreter
theologiſcher Intereſſen, welcher diejelben recht verfteht, wird in jenem wie irn
dieſem alle gar bald lernen, den bildlihen Ausdrud einer kindlichen Auf-
faſſungsweiſe von dem tieferen philoſophiſchen Sinn des Bildes zu unterjheiden,
und wird erkennen, daß ed Gottes Schöpfermadt und Weisheit nicht zu nahe
tritt, wenn fie den Moſaiſchen Schöpferbericht jo deuten, daß Gott die Stufen-
reihe der irdiſchen Organismen aus einander ſich habe entwickeln laſſen, anftatt an
jedem Schöpfungsmorgen fein Schöpfungswerf aus dem Nichts von vorn an
zu beginnen.
Ganz thöricht und unwiſſenſchaftlich find die aus dem Gefühl der Menſchen—
würde entlehnten Argumente gegen die Dejcendenztheorie.. Der Menſch ift ein
zweihändiges Säugethier; da3 weiß man längft. Wenn aber feine unbeftreit-
bare anatomiſche Aehnlichkeit mit den Thieren jeine geiftige Würde nicht
compromittirt, jo kann es wol ebenjowenig der genealogiſche Zufammen-
bang mit denjelben. Wer jeinen Begriff „Ihier” von den Thieren mit Aus—
ſchluß des Menſchen abftrahirt.hat, der muß freilich in der Bezeichnung des
Menſchen als „Thier“ eine Herabjegung defjelben finden; wer aber erwägt, daß
‚die Einordnung des Menjchen in da3 Thierreich eben dazu nöthigt, den Begriff
de3 Thiered um jo viel weiter zu beftimmen, daß er die Merkmale des Men—
Ihen mit unter fich begreift, der wird einjehen, daß die Bezeichnung des
Menſchen ala Thier das Weſen des Begriffes „Menſch“ gar nicht alteriren
fann. Der Menſch bleibt, was erift, mag er nun von Göttern oder
von Würmern abftammen, d. h. die Vergangenheit jeines Geſchlechts Tann feiner
gegenwärtigen Beichaffenheit und jeinen augenblidlihen Fähigkeiten auch nicht
um eines Haares Breite zujegen oder abnehmen, fie kann höchſtens dazu bei-
tragen, die Zukunft jeines Geſchlechts durch die Analogie feiner Vergangenheit
zu erhellen. Und da muß man denn doc wol geftehen, daß die Ausfichten bes
Menſchengeſchlechts für die Zukunft weit verheißungsvoller find, wenn jeine
Vergangenheit ein Emporarbeiten vom Wurm zum Menſchen war, als wenn
fie in einem Herabfinten aus einem Zuftande gottverliehener paradieſiſcher Rein-
heit zu jeinem gegenwärtigen Elend beftand. Aus letzterem Tann nur das
Hinaufziehen durch die Gnade von oben erlöfen, aber erfterer gibt der Hoffnung
Raum, die bisherige natürliche Entwidelung auf natürlihem Wege noch meiter
aufwärts zu führen, zumal die erften Schritte im Emporarbeiten immer die
jchwierigften zu jein pflegen. Wer aber nur den Gedanken ſcheut, daß bie
Defcendenztheorie einen mechanijch-materialiftiichen Urfprung des Geiftes bedinge,
ber möge ſich der obigen Darlegungen über die Unrechtmäßigkeit der Befehdung
Ernſt Hacdel. 29
der naturphiloſophiſchen Teleologie durch die mechaniſche Betrachtungsweiſe der
Naturwiſſenſchaft erinnern umd mit dem Hinweis tröften laffen, daß die gene-
tiſche Entwidelung jowol des Individuums wie der gefammten Organijation
nur möglich ift durch ein inneres organiſches Entwickelungsgeſetz, durch welches
die unbewußte Vernunft der jchöpferiichen Idee fich beftändig offenbart und
verwirflidt, daß mit andern Worten aus der Entwidelung nichts heraus-
fommen kann, wa3 nicht potentiell jchon immer dringeftecdt hat. Es bleibt
Jedem überlafjen, fich diefe Immanenz der Vernunft in der Entwidelung auf
feine Weije zu deuten; der Naturalift wird e8 in hylozoiſtiſchem, der Pantheift
in panlogiftiihem, der Theolog in theiftiichem Sinne thun, umd es iſt nicht
der geringfte Fürſprecher für die allgemeine und von bejonderen metaphyfifchen
Borausjeßungen unabhängige Wahrheit der Dejcendenztheorie, daß fie fich jo
verjchiedenen Deutungen gleich willig darbietet. Wenn Naturwiſſenſchaft und
Naturphilojophie heute darin übereinftimmen, die Geſchichte der Erde und der
von ihr getragenen Organijation als Entwidelung aufzufaffen, jo ift die
Naturwiſſenſchaft ebenjojehr im Recht, das Spätere (3. B. den Menfchen) als
Product der Caufalität des Früheren (der thierifchen Organifation) anzufehen,
als die Naturphilvjophie im Recht ift, das Frühere als feiner Beichaffenheit
nad beftimmt durch die Wirkungen anzufehen, welche es hervorbringen fol.
63 ift ein und derjelbe Zufammenhang, der von der einen Seite gejehen caufal,
von der andern gejehen teleologifch ericheint, und der am Ende das Eine nicht
fein kann, ohne auch das Andere zu fein, der unter einem jeden der beiden Geſichts—
puntte nur darum aufgefaßt werden kann, weil er die zeitlich - räumliche Ver—
wirflichung der logiſchen Nothivendigkeit der dem Proceß immanenten unbewußten
MWeltvernunft if. Aus diefer metaphyfifchen Höhe betrachtet müſſen mithin
alle Bejorgnifje vor einer Schädigung der teleologiihen Weltanſchauung durch
die Annahme der Dejcendenztheorie als völlig nichtig erſcheinen; die Defcendenz-
theorie kann von einer fich ihrer Aufgaben und Ziele Klar bewußten Philofophie
nur ala ein höchſt willkommener Bundesgenofje des Idealismus willkommen
geheigen werden, indem fie eine neue und mächtige naturwiſſenſchaftliche Stütze
der Idee der „Entwickelung“ zugeführt, welche jelbft nichts ift als die zeitliche
Form für die Verwirklichung der abjoluten dee.
Nah dieſer philofophiichen Abſchweifung werden hoffentlich Keine Bedenken
mehr gegen den Eintritt in den Gedankenkreis der Anthropogenie obwalten, des
Werkes, das recht eigentlich als die vorläufige Erfüllung deffen betrachtet werden
darf, was Darwin in feiner „Abftammung des Menſchen“ ſich zur Aufgabe
geftellt hatte. Außer einer Einleitung, welche die Gedichte der Embryologie
und Dejcendenztheorie bejpricht, zerfällt das Buch Haedel’3 in drei Haupttheile;
der erſte behandelt die Embryologie, der zweite die Stammesgeihichte des
Menſchen im Allgemeinen, und der dritte geht auf die Entwidelungsgeichichte
der verichiedenen Organjyfteme und Organe des menjhlichen Organismus ein,
wo Embryologie und Stammesgejchichte zugleich berücfichtigt werden. Auch
in dem allgemeinen embryologiihen Theil werden beftändig Seitenblide auf die
Genealogie geworfen, ſowie in noch höherem Grade im ftammesgefchichtlichen
Theil die Embryologie mit herbeigezogen wird. Der Schwerpunkt des Buches
30 Deutiche Rundichau.
liegt in dem 16. bis 19. Vortrag, wo die genealogiiche Stufenreihe von den
Moneren bis zum Menichen im Zufammenhange vorgeführt wird. Von ganz
bejonderem Werthe find außer den Illuſtrationen auch die zahlreichen tabellari-
ſchen Zujammenftellungen, welche die Meberfiht außerordentlih erleichtern.
Haedel hat gewiß Recht, wenn er bemerkt, daß man e3 diejen Tabellen nicht
anjehe, wie viel Arbeit in ihnen ftede.
Um eine ungefähre Vorftellung von der von Haedel eingeſchlagenen Behand-
lungsweije feines Gegenftandes zu geben, greife ich den 16. Vortrag heraus, dem
ich einige Bemerkungen aus früheren Vorträgen voranjchide.
Es ift anzunehmen, daß die gejchlechtliche Fortpflanzung hervorgegangen
fei aus der Copulation oder Verwachſung der Schwärmfporen niederer Orga=
nismen. ine ſolche Copulation ift einerjeit3 der Ausdrud der Flüffigkeit und
leichten Selbftentäußerung der Yndividualität bei einfachften Organismen, andrer-
ſeits ift darin der Wahlſpruch „viribus unitis“ verwirklicht und, was das
Wichtigſte iſt, Gelegenheit gegeben zu einem compenſatoriſchen Ausgleich einſeitig
entwickelter Eigenthümlichkeiten durch die Verſchmelzung. Letzteres Moment
führt nun in ſolchen Fällen, wo die Copulation der Regel nach nicht zwiſchen
einer größeren Anzahl, ſondern nur zwiſchen zwei Schwärmſporen ſtattfindet,
zur ſyſtematiſchen Differenzirung der Fortpflanzungszellen in männliche und
weibliche. Der genetiſche Unterſchied dieſer beiden Claſſen ſcheint nach ganz
neuen, noch der Beſtätigung bedürftigen Unterſuchungen von E. van Benedin
in Lüttich darin begründet zu ſein, daß die männlichen vom äußeren, die weib—
lichen vom inneren Keimblatt abgeſondert werden. Wie dem auch ſei, es iſt
feſtzuhalten, daß beides einfache Zellen ſind, bei verſchiedenen Thiergattungen
verſchieden entwickelt und mit Anhängen (z. B. dem ſogenannten Nahrungs-
dotter) verſehen, bald mit Flimmer- oder Geißelbewegung (Spermatozoiden),
bald mit amöboider Bewegung (z. B. die frei herumkriechenden und früher für
ſchmarotzende Amöben gehaltenen Eizellen der Schwämme). Die NReminiscenz
an den Urſprung der geſchlechtlichen Fortpflanzung aus einer ungeichlechtlichen
erhält fi) noch ziemlich lange im Thierreich, wie die weite Verbreitung der
Parthenogenefis bei den Inſecten beweift. Bei den höheren Thieren jedoch ift
die geichlechtliche Fortpflanzung die allein vorfommende, d. h. nur aus der
Gopulation der männlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen kann ein neues
Individuum ſich enttwiceln.
Dieſer Copulationsact iſt eine wirkliche Verſchmelzung beider Zellen zu
einer einzigen, welche durch Eindringen der Spermatozoiden in das Ei und
völlige Auflöſung in dem Protoplasma des letzteren vollzogen wird. Gleich—
zeitig aber verſchwindet auch der der Eizelle zugehörige Kern ſammt Kern—
körperchen durch Auflöſung im Zelleninhalt, jo daß der erſte Entwickelungs—
ſchritt des befruchteten Ei's ein Rückſchritt von der kernhaltigen Zelle zur
kernloſen Cytode iſt. Dies iſt eine höchſt merkwürdige Thatſache, welche von
Häedel dahin phylogenetiſch gedeutet wird, daß das Ei, welches vor der Befruch—
tung bereit3 der Stufe einer Amöbe homolog ift, auf die Stufe der Moneren
zurückfallen muß, um ben ontogenetijchen Entwidelungsgang mit der wirklich
erſten umd niedrigsten Stufe des organijchen Lebens zu beginnen,
Ernft Hacdel. 3l
Nun exit bildet fich ein neuer Kern, und das Ei repräfentirt von Neuem
die Stufe der Amöbe, mwährend fein vorheriger Befit eines Kernes außerhalb
der ontogenetiihen Entwidelung lag und ala eine Anpaffung an fein Zellen-
leben im Organismus vor der Befruchtung gedeutet wird. Hierauf beginnt ein
Zellentheilungsproceß, der in den wachſenden Potenzen von 2 fortichreitet, und
deſſen nächſtes Rejultat ein kugliger Haufen zahlreicher gleichförmiger Zellen
(Morula) ift. In diefer Stufe ftellt das Ei eine Zellencolonie dar, wie ſolche noch
jegt im Meere und ſüßen Waller freilebend getroffen werden (Labyrinthuleen
und mehrere Arten von Cyſtophrys); es find letztere in der Art entftanden
zu denten, daß Amöben bei ihrer Vermehrung durch Zellentheilung die jofortige
räumliche Bejonderung unterliegen und e3 vorzogen, ein Individuum höherer
Ordnung zu bilden.
Als vierte Stufe der Entwidelung ergibt fi) die Keimhautblaje (Vesicula
blastodermica), die dadurd) aus der Morula entfteht, daß ſämmtliche Zellen
an die Oberfläche treten und der Innenraum blos mit Flüſſigkeit ausgefüllt
bleibt. Auch ſolche Organismen leben noch jeßt frei im Wafjer (Synura, Magno-
sphaera planula), nur daß die Zellen nad) außen flimmernde Fortſätze behufs
der Locomotion entwicelt haben; bei vielen anderen Thieren bildet diefe Stufe
auch ein frei im Waſſer Iebendes Larvenftadium (Planula). Daß die Keimhaut-
blaje dieje Stufe mit Fortlaſſung der Flimmerhaare reproducirt, ift leicht
begreiflih, da ſolche unter den Verhältniffen des embryonalen Lebens zwecklos
wären. Die phylogenetiihe Umwandlung de3 compacten Zellenhaufens in die
hohle Blaje kann man fi) daraus erklären, daß die Leiſtungskraft der inneren
Zellen dur) Verrücken an die Oberfläche beijere Verwendung fand.
Bis jet waren alle Zellen gleihmäßig und gleichwerthig; nun tritt beim
Nebergang zur fünften Stufe die erfte Differenzirung durch Arbeitstheilung auf.
Nimmt man an, daß gewilje Zellen der Planula befjer zur Nahrungsaufnahme
geeignet waren, jo werden dieje weniger zur Ortsbewegung haben leiften können,
und umgekehrt; für das Gefammtindividuum mußte e3 dann vortheilhaft fein,
wenn bie Locomotionszellen einen möglichft großen Theil der Oberfläche des
ſchwimmenden Thieres einnahmen, die Verdauungszellen aber fi vermittelft
einer Einftülpung eine gejchüßtere Lage ficherten. Wenn diefe Einftülpung bis
zur Aneinanderlagerung der inneren und äußeren Zellenfchicht vervollftändigt
gedacht wird, jo ift aus der Planula die Graftula oder Darmlarve geworden;
denn der innere, von Verdauungszellen umſchloſſene Raum ift num der Urdarm
des Thierreichs, während die äußere Zellenſchicht der Keim aller übrigen Theile des
Körpers ift. Dieje beiden Zellenihichten nennt man die „Keimblätter” ; fie fehren
in mehr oder minder rumdlicher oder abgeplatteter Form bei allen Thieren mit
Ausnahme der Urthiere oder Protogoen wieder und zeigen ſich zuerft bei den
Kallihwämmen, wo die Gaftrula ala eiförmige, freiſchwimmende Larve Lebt,
die ſpäter mit ihrem unteren Ende feftwädft. Obwol num ein Thier, welches
dieſen Zuftand als Endzuftand behielte, gegenwärtig nicht mehr nachzuweiſen ift,
jo glaubt Haeckel doch, aus der allgemeinen Uebereinſtimmung des Thierreichs
in der ontogenetifchen Reproduction diefer Stufe Schließen zu müſſen, daß ſolche
Organismen früher eriftirt haben, und daß fie al3 der Stammvater aller Thiere
323 Deutiche Rundſchau.
zu betrachten find, welche die Keimblätter in ihrem Embryonalleben enttwideln.
Dieje Hypotheſe, welche mir nad) der gegebenen Sachlage durchaus begründet
ericheint, ift Haeckel's „Gafträa - Theorie”.
Aus der Stufe der Gaftrula gehen verjchiedenartige Typen hervor: 1) Pflanzen⸗
thiere (Schwämme und Neffelthiere), 2) Wurmthiere und aus den Wurmthieren
wieder 3) MWeichthiere, 4) Sternthiere, 5) Gliederthiere und 6) Wirbelthiere. So
ergibt jich eine gemeinfame (monophyletijche) Abftammung für Typen des Thier-
reichs, welche man vorher für jchlechterdings getrennte angejehen hatte, und es
ift das Verdienſt Haedel’3, durch feine Gafträatheorie wieder ein bedeutendes
Stüd mehr von der Natur aus der ſcheinbaren Zuſammenhangsloſigkeit getrennter
Gebiete durch den Nachweis genealogiihen Zufammenhanges zur realen Einheit
zuricgeführt zu haben. Außerhalb des jo geichaffenen monophyletiichen Thier-
reichs bleiben nur die zu den Protiften gehörigen Moneren, Amöben, Grega=
rinen und Anfuforien. *
Ich muß mich mit diefer Probe, wie Haedel jeine Aufgabe zu löſen bemüht
ift, begnügen, hoffe aber durch diejelbe das Intereſſe mandjes Leſers jo weit
erregt zu haben, um ihn zum eignen Studium der Anthropogenie zu ver-
anlafjen.
Ich Icheide von diefer Betrachtung der bisherigen Leiftungen Ernſt Haedel’3
mit dem Wunſche, daß es demjelben vergönnt jein möge, feine frijche und
reiche Kraft ungeftört zur Bereicherung der Wiſſenſchaft durch noch recht viele
Werke von gleihem Werthe zu verwenden. Wenn e3 aber geftattet ift, an diejer
Stelle einen perſönlichen Wunſch auszufprechen, jo wäre e3 der, daß ihm nad
Decennien Gelegenheit und Anregung werden möge, unter Anerkennung bes
Verhältniſſes zwiſchen Naturwiſſenſchaft und Naturphilojophie und feiner Conſe—
quenzen die „generelle Morphologie” einer vollftändig neuen Bearbeitung zu unter-
werfen, und mit einer jolchen in jeder Hinficht reifen Arbeit dereinft ein Facit
feines ganzen Lebenswerfes zu ziehen, wie er mit deren erfter Veröffentlichung
dad Programm defjelben aufgejtellt hat.
Gottfried Keller's
Nene Shweizergefalten.
Don
Berthold Anerbad).
Die Leute don Sceldwyla. Erzählungen von Gottfried Keller. Zweite vermehrte Auflage
in vier Bänden. Stuttgart, G. J. Göſchen'ſche Verlagsbuchhandlung.
Fünf neue Erzählungen von Gottfried Keller! Schön und gut. Warum
Ichreibt aber der Mann nicht mehr?
- Darauf gibt es eine Antwort in einer Geſchichte von dem alemannifchen
Dichter Hebel. Den befucht einmal Ludwig Tied in Karlsruhe und fragt ihn:
„Herr Prälat, warum jchreiben Sie nichts mehr?“
„Es fallt mir nichts mehr ein,“ eriwidert Hebel.
Das iſt's! Wie Viele jchreiben, ohne daß ihnen was einfällt, fie zwingen
unergiebige Motive aus, Probleme und Aufgaben, die fie eigentlich) gar nichts
angehen.
Der Director im Fauſt-Prolog jagt dem Dichter:
Gebt ihr euch einmal für Poeten,
So commandirt die Poefte.
Die Forderung jcheint widerfinnig. Und doch hat der Meifter auch Hier nichts
abjolut Widerjprechendes zu Wort kommen laſſen. Denn wer jeine Seele be-
ftimmt, in einem gewiſſen Bereiche zu arbeiten, der gewöhnt fich nicht nur an
Treue im Ausführen des einmal Begonnenen, jondern e3 ftellt fih ihm aud)
die Welt bei aller menihlih und bürgerlich warmen Hingebung an das Un—
mittelbare unter den Gefichtspunft der Berufspflicht, und hier der dichterifchen.
Man kann fi am hell lodernden Teuer erwärmen und dabei dod) an
der Pracht des Farbenſpiels und an der Bewegung der Flamme erfreuen, ja
man fan, wie da3 auch Gottfried Keller in einem feiner jchönften Gedichte
gezeigt hat, einen Brand Löfchen helfen und dabei — wenn auch nicht gleid)-
zeitig, doc in unmehbarer Kürze — künſtleriſche Wahrnehmungen in Bewegung
der Gruppen und Lichtwirkungen machen. Der Berufsdichter iſt an inmitten
Deutfäe Rundfäau. T, 10.
34 Deutſche Rundſchau.
der Lebenskämpfe ein Schlachtenbummler, der ſich das Treiben unbewegt be—
trachtet; der Dichter iſt bei jedem Daſeinskampfe, wie beim Freudenergebniß,
menſchlich betheiligt, und je lebhafter er das ift, um jo lebendiger wird die fünft-
leriſche Reproduction, oder vielmehr die freie Production jein.
Warum kann aber der Dichter nicht in gleicher Weije wie der Genremaler
ausgehen, um Motive und Studienköpfe zur Verarbeitung heimzutragen? Ein—
fach weil der Dialer e8 mit der Erjcheinung der Dinge zu thun hat, der Dichter
dagegen mit der inneren Bewegung, mit Schidjal und Gemüth. Der Maler
firirt das Gonterfei einer alten Frau, ihre charakteriftiihen Züge, ihre eigen—
thümliche Gewandung; er hat nicht das innere Leben derjelben zu feinem Ob—
jecte, ja er kann dieſe Figur, ſei fie beijpielsweije traurig, abgehärmt und ein—
jam, zu einer verflärten, jegnenden, reichen Großmutter verwenden, und wie—
derum Studienktöpfe, Luftbewegungen, ganz in der erichauten Weile einjehen.
Der Maler kann eine Figur ganz wie fie ift, oder vielmehr ericheint, für
ein Bild verwenden, der Dichter nicht. Denn die Figur hat diefe Erſcheinungen
nur in feiner Betrachtungsweiſe, ihre Empfindungen und Strebungen find bei
aller Vertrautheit doc nicht ftreng factiſche.
Der Maler jchafft ftehendes Leben, den Hochpunkt einer Situation mit
enger oder weiter Skala der Empfindungswelt in den betheiligten Figuren.
Anders der Dichter. Er Schafft bewegtes Leben, Entwidlung, Wandlung, Ein—
wirkung der Welt auf den Handelnden und Auswirkung des Handelnden auf
die Welt. Der Dichter ift wol gefördert, wenn er eine reiche Fülle von Wahr-
nehmungen de3 Lebens hat, er empfängt „der Dichtung Schleier aus der Hand
der Wahrheit“, aber da alle jeine Wahrnehmungen in’3 Wort, in Empfindung und
Gedanke ſich überjegen müſſen, die nicht wie Farbe und Geſtalt twiedergegebene
Ericheinungen find, jo muß er alles Object gewilfermaßen ſich aſſimilirt haben.
Naturen wie der Alemanne Peter Hebel und der Alemanne Gottfried Keller,
die nicht in fortgefeßter dichteriſcher Berufsarbeit ftehen; haben für ihre einzelnen
Productionen eine bejonders günftige Stellung.
Sie leben — noch dazu in Staatäbedienftungen — das unmittelbare Leben
für fich fort und folgen nur der Luft eines bejonderen Anreizes, Freie Geftaltungen
aus Wahrnehmung und Phantafie zu bilden. Geſchieht das aber, dann ift jedes
Wort und jede Wendung nicht nur gejättigt von reihen Anſchauungen, jondern
fließt auch aus einer von Innen quellenden Fülle des Empfindungsftromes.
Für und Berufsgenoffen ift ein neues Werk von Gottfried Keller immer
die Sicherheit eines Feſtſchmauſes, und wir willen, die Speijen find nicht aus
der Garküche geholt umd wieder aufgewärmt, jondern am eigenen Herde und
mit bejonderer Würze gekocht. Vor neunzehn Jahren, im Jahre 1856, find die
erjten beiden Bände der Leute von Seldivyla erjchienen. ch Treue mich, jagen
zu Können, daß ich einer der Erjten war, der die hohe Bedeutung Gottfried
Keller's ſofort öffentlich ausiprach, twie auch, daß der frühere Roman des Dichters:
„Der grime Heinrich“, troß mannigfaltiger Compofttionsfehler und der gewalt:
famen Schlußwendung doch Schönheiten von ſolchem Range enthält, die dem
Beten in deutſcher Sprache an die Seite zu ftellen find.
Seit jener Zeit find nur noch „Die fieben Legenden“ erjchienen, die von
Gottfried Keller's Neue Schweizergeftalten. 35
einer feltenen Anmuth in Erfindung oder vielmehr in Ausführung gegebener
Motive und im kernigen Vortrage find.
Die vorliegenden Erzählungen find num bereit3 mehrere Monate erſchienen,
und ich Mwiederhole, was ich an einem anderen Orte ausgeſprochen: wenn
& gewiß gut und förderlich ift, das Werk eines Unbekannten raſch und nad-
drüdlich öffentlich zu beurtheilen, jo ift es angemefjener, da3 Werk eines be-
kannten und in fortgejeßter Kundgebung ftehenden Autors erſt dann zu beur-
tbeilen, wenn e3, wie ficher zu erwarten, bereit3 in den Händen des Publicums
ift, jo daß Jeder beiftimmend oder abweichend jeine eigene Wahrnehmung damit
vergleichen Tann. Könnte man nur jagen, daß die Dichtung Gottfried Keller's
alabald mit Sicherheit in der Phantafie aller gebildeten Deutſchen ſich feſtſetzt!
Gottfried Keller hat in jeiner Geltung und Aufnahme viel Aehnlichkeit mit
einem-jdichterifchen Zeitgenofjen erſten Ranges, ich meine mit Eduard Mörike.
Eduard Mörike? Wer ift das? Was hat er gejchrieben? So fragen noch
heute viele Leute. Und dabei hat er eine Gemeinde von Kunftverftändigen, die
ihm mit berzhafter Liebe anhängt. Denn er hat Dichtungen gejchaffen, mit
denen er daS dichteriſche Beſitzthum der deutjchen Nation wie Wenige jeit bem
Tode Goethe’3 vermehrt hat. Woher aber die Läjfigkeit und Kälte des Publicums
gegen zwei ſolche Dichter? Es ift nicht nur, weil fie — und das mit vollem
Recht — gar nicht auf Gefallen bedacht find und zunächſt in der eigenen Freude
om Schaffen ftehen; denn da3, was zu eigenem Genügen geichaffen ift, tritt ja
vermöge feiner freien Organijation wieder in die Seele Anderer; jondern es
ft, weil in den Werfen beider Dichter eine Sprödigfeit und Selbtheit fich
der leichteren Aufnahme Anderer entgegenftellt. Dieſe Selbftheit ift aber jo in
ihre Eigenart eingefchloffen, daß fie ſchwer herauszufinden if. In allen mo-
dernen Dichtungen — Goethe ift da wiederum höchſtes Beifpiel — ift die Im—
manenz des Dichter, die aus der Faſſung der Gegenftände hervorleuchtet, das
Wirkſamſte. Bei Eduard Mörike und Gottfried Keller iſt diefe Selbftheit auch
da, aber fie wehren faſt gefliffentli jeden Aufichluß, jede Kundgebung ab.
Sie haben Beide eine jelbftverjtändliche Unbefümmertheit um die Welt, ja jogar
einen Trotz gegen diejelbe.
Bei Gottfried Keller tritt noch ein Weiteres hinzu. Das ift kurz gejagt der
Schweizer. Bevor ich hierauf eingebe, noch eine ftoffliche Bemerkung. Das
ewig Weibliche oder das vorherrjchend Weibliche hat in unferer deutjchen jchönen
Literatur überhand genommen. &3 lag, wie ich jpäter nachzuweiſen fuche, in
unferm politifchen Leben, oder vielmehr im Mangel an demjelben, zugleich aber
aud in der Thatjache, dat das Seelenleben der Frau, al3 defien Mittelpuntt
die Liebe, in allen Lebensſchichten und allen Zeiten ein ähnliches ift und ſich
domehmlich nur in Aeußerlichkeiten unterfcheidet. Dadurch ift es an ſich er-
giebig und alljeitig aufnahmsfähig, eine Frauengeftalt zum Mittelpunkt einer
Tihtung zu „machen. Gottfried Keller nun hat aus feinem bejonderen Na—
turell und aus feiner allgemeinen Schweizernatur dies vermieden oder eigentlich
unterlaffen.
Hier alfo der Schweizer. Wir Deutſche im Neiche find feit dem dreißig—
jährigen Kriege des natürlichen gefunden politifchen Lebens entwöhnt. Das
ge
36 Deutſche Rundichau.,
Wort des Perifles: „Bei und wird Einer, der von Staatsjachen fi) ganz fern
hält, nicht für einen Ruhe Tiebenden, jondern für einen unnützen Menſchen ge=
halten,“ galt im deutſchen Volke nicht. Als Schiller die Horen herauszugeben
beabfichtigte, ward den Mitarbeitern mitgetheilt, daß Religion und Politif aus—
geſchloſſen ſei. Und Schiller äußerte damals jelber, daß er dazu bejtimmt ſei
aus Rücdficht auf die Macht und auf die Dummheit. Der Privatmenſch in
Wiſſenſchaft und Kunft bildete fich eben vorherrſchend aus. Der Schiweizer
dagegen ift jeit Jahrhunderten in jeinem Sein und Denken eingeihlofien in das
politijche Leben und in das kirchliche. Es erjcheint deutichen Lejern oft ver—
wunderfam, wenn die Geftalten, die und Gottfried Keller aufftellt, hHarthändige,
derbe, bürgerlich thätige, plöglich eine Einfiht und ein allgemeines Denken über
Staat und Kirche fundgeben, da3 uns überraſcht und mit der Sphäre, aus der
fie gegriffen find, gar nicht vereinbar ericheint. Denn wir Deutjche find ge=
wöhnt, die Bildungsitufe eines Menjchen vorherrichend nach feiner äſthetiſchen
Einficht abzufchägen. In unſerer Ausgeſchloſſenheit vom unmittelbaren Staats-
leben konnte ſich der Hinblid auf die äfthetiiche Erziehung firiren. Schiller
toirft in den Briefen über die äfthetiiche Erziehung des Menſchen die Frage auf,
warum er fi nicht mit dem Politiſchen beichäftige, und warum er die Schön-
heit der Freiheit vorangehen laffe.. Er glaubt, daß man, um das politijche
Problem der Erfahrung zu löſen, den Weg durch das Wefthetiiche nehmen muß,
weil es die Schönheit ift, durch welche man zu der freiheit wandert. Er fommt
zu dem großen Sabe, daß die Kunft wie die Wiſſenſchaft ſich einer abjoluten
Ammunität von der Willkür der Menjchen erfreue. Schiller faßt freilich den
Begriff des Wefthetiichen jo weit, daß er zulegt auf den äfthetiichen Staat
hinausfommt, der dem Bedürfniß nach in jeder fein gebildeten Seele, der That
nad) aber wie die reine Kirche und die reine Republif nur in einigen wenigen
auserlefenen Zirkeln gefunden wird. Der äfthetiiche Menjch ift der homo liber,
in welchem das Geje wieder zur Natur geworden. Und jo fam es, daß fein
zweites Volk der Erde eine ſolche klaſſiſche Literatur und eine jo hohe äfthetiiche
Gultur erreicht hat, bevor e8 ein Staat war. Wir find aus der Aeſthetik und
Wiſſenſchaft zum Staat gelommen, vom Weltbürgerthum zum Staatsbürgerthum
und Volksbürgerthum. Die höchften Kräfte Deutſchlands bethätigen ſich literariſch
und künftleriich in Philoiophie, in Dichtung und Muſik. Der Jdealismus ift aber
nicht blos ein äfthetijcher, wenn er auch im Gebiete des Schönen am reinſten als
folder ericheint. Es ift nicht ganz jo, aber doc) ähnlich, al3 ob man die feineren
Sinne, Auge und Ohr, durch Kunſtgenüſſe erfreuen wollte, während die anderen
Sinne noch hungern und dürften. Ich meine, das eigentliche Leben muß ext feit
erhalten und auferbaut fein, bevor ihm der Schmuck des Schönen zufteht. Anders
war es in der Schweiz. Durch die ftetige Betheiligung an Geftaltung des Staates
ift in die weiteſten Kreiſe hinein eine politische und religiöfe Urtheilskraft gedrungen,
die durchaus nicht parallel mit dem Aeſthetiſchen ift. Und darum ift es voll»
fommen wahr und berechtigt, wenn Gottfried Keller Geftalten aus Harthändigen
Lebenskreilen eine höhere allgemeine Betrachtnahme in den genannten Gebieten
zuerkennt, die uns in Deutichland fremd und unzukömmlich ericheinen kann.
Die fortwirfende Kraft der demokratiſchen Staatäverfaffung hat den Schweizern
Gottfried Keller's Neue Schweizergeftalten. 37
weniger Lejebildung, aber defto mehr Lebensbildung verliehen. Der Schweizer
bat wenig Abftractionskraft, aber viel gefunden Menſchenverſtand, der fich aus
ber Nothwendigkeit des politiſchen Urtheils mit entwidelt. In jedem Schweizer
ift ein Staat3bewußtjein, und das Vaterlandsgefühl ift zugleid Grund und
Duelle des Ehrgefühls.
Es ift faſt ein Dogma geworden, daß das politifche Leben im Gegenſatz
zum fünftleriichen, vor Allem aber zum dichteriichen ftehe. Unjere großen Dichter
lebten und wirkten in der ausflingenden Zeit Friedrichs des Großen in einem
Zeitalter politicher Verfümmerung. Sie fahen ein Volt vor fi, das in Un—
mündigkeit gehalten wurde, ſich niedertreten und mißhandeln ließ. Die Dichter-
beroen ſchwangen ſich in den heitern Aether des Olymp, wo tief unter ihnen
die politiichen Gewitterwolken dahinziehen. Ya man fam fo weit, daß die
führenden Geifter da3 Nationalbewußtjein für eine niedere Bildungsſtufe unreifer
Völker erklärten.
Nicht vergeflen darf aber werden, daß aus der idealiftiichen und kosmopolitiſchen
Allgemeinheit unferer klaſſiſchen Dichtungsweiſe nicht nur für una die geiftigen Hoch—
punkte fich ausgebildet haben, jondern vor Allem auch den Schweizern eine Blüthe
von underwelflihem Duft und eine Frucht von unverfiegbarem Saft fich entwidelte.
Wenn e3 eines Beweifes bedürfte, wie der moderne Dichtergeift faſt parallel mit
der alten Mythen=bildenden Kraft zu wirken vermag, tie die Dichterjeele auf-
gehen kann in ein ganzes Volksthum, jo ift Schiller’3 Tell das lebendigſte Zeug-
nid. Die Tradition, worauf ſich das jchweizer Freiheits- und Selbitgefühl gründet,
die Ermwedung des Vaterlands- und Freiheitsſinnes in der ganzen Eidgenoſſen—
ihaft hat den reichiten Quell in der Scillerjhen Dichtung. Und gerade, daß
hier ein Volksleben in die klaſſiſche Höhe gehoben wurde, das dem unſern jo
nahe verwandt umd doch durch ftaatliche Abtrennung eine eigenthümliche Ferne
und freie Ueberſchau darbot, gerade das macht die Schiller’iche Dichtung zu
einer Größe dichterifcher und culturgeſchichtlicher Bedeutung. Nicht ein eingebore=
ner Schtweizer, jondern ein Sohn de3 Nachbarlandes jchuf den Schweizern Urbild
und Vorbild. Schiller ſpannte den Bogen des Schüßen Tell und ſchoß den
Schweizern das Beſt aus dem Gabentempel unferer Elajfischen Literatur. In
Gottfried Keller's „Grünem Heinrich“ wird auch Schiller's Tell von den Schweizern
in der gegebenen Landichaft unter freiem Himmel aufgeführt. Wenn Manchen,
die fich Praktiker nennen, die Poefie als ein Luxus erjcheinen mag, jo iſt Schiller’3
Tell ein glänzendes Zeugniß von der erziehenden Kraft der dichteriichen Bildung,
denn Schiller hat ein Stüd ſeines Ideals der äfthetiichen Erziehung durch
feinen Zell am Schweizervolfe vollzogen, wie er auch im Waterlande einen poli=
tiichen und patriotifchen Sinn erweckte, der freilich erft nad) feinem Tode zur
Griheinung kam.
Im weiteſten Sinne genommen, hat der Roman „Der grüne Heinrich“ ein
ähnliches Thema wie Goethe'3 Wilhelm Meifter: die Erziehung des Menschen
aus dem Aeſthetiſchen heraus zum Politifchen. Aber wie ganz anders fat dies
der Schweizer. Ich möchte es jymbolifch nennen, daß Wilhelm Mteifter auf
feine Abenteuer zu Pferde ausreitet, während Heinrich Lee aus Heinen und
engen Verhältniffen in die Welt hinauswandert. Und ſchon das ift bedeutiam,
38 Deutſche Rundſchau.
wie Heinrich Lee ſchon früh mit der religiöſen Frage ſich beſchäftigt — wie denn
überhaupt Gottfried Keller jo muthig als unnachſichtlich durch alle ſeine Probduc-
tionen hindurch das hohle Phraſenthum in der Religion aufzeigt — während Goethe
das religiöfe Element ausgeſchieden hat oder auch als gar nit vorhanden be-
trachtet. Noch ein anderes Element de3 Schweizertfums kommt hinzu. In der
ſchweizeriſchen Republik, wie in Amerika, find die Berufsarten weder jo getrennt,
noch jo verhärtet wie bei und. Der Geiſtliche, der mit feinem Beruf zerfallen
ift, wird Kaufmann; der Officer wird Fabrikant oder ift das zugleih mit
feiner militärifchen Stellung (da3 verlorene Lachen). Der Bürger wählt feinen
Geiftlichen, feinen Lehrer, feinen Beamten; er ift jo berechtigt al3 verpflichtet,
über die Lehren und Thätigkeiten derjelben zu urtheilen.
Ein gewifjes Gleihmaß der Eultur bindet auch die verjchiedenen Stände;
der Dichter hat nicht nöthig, die llebergänge als etwas Bejonderes zu motiviren.
Die Gebildeten find nicht blos immer die Gebenden, jondern auch die Empfangen=
den. Wenn bei der Confirmation Heinrich Lee’3 die Taglöhnerin mit zu Tifche
fit, und wenn Juftine von der Wallfahrerin lernt und bei den Fabrikarbeiterin-
nen die höhere Einfiht zu gewinnen jucht, jo ift darin auch nicht entfernt
etwas Gewaltjames.
Bon diefem Hiftoriichen und thatſächlichen Untergrunde aus betrachtet,
find daher die Charaktere, die Stimmungen und die thatjächlichen Wendungen
in den Erzählungen des Schweizer Gottfried Keller auf guten und feften
Grund gejtellt.
Die Localftimmung im weiteften Sinne, in den Menfchen wie in der Natur-
umgebung, ift mit Sicherheit und Beftimmtheit feftgehalten.
Wo ift nun aber Seldivyla? it 8 Rapperſchwyl? Um den Züricher See
fpielen dieje Geihichten. Aber der Dichter läßt fi wohlweislich nicht auf einen
geographijch genau zu bezeichnenden Ort interniren. Er jagt in der Vorrede zu
den neuen Leuten von Seldiwyla, daß ſich etwa ſieben Städte im Schweizerland
darum ftreiten, welche unter ihnen mit Seldwyla gemeint jei. Er bleibt da—
bei, in jchelmifcher Weiſe Verftel zu jpielen. Mit vollem Recht. Denn e3 ift
ergiebig, eine beftimmte Zocalität zu wählen, aber mißlich, eine wirkliche zu be—
namfen. Hat der Dichter eine beftimmte Localität gewählt, jo gewinnt jene
Darftellung finnlide Anſchaulichkeit und Beftimmtheit, die auch auf den
Leſer übergeht. Solches könnte keine frei componirte Landichaft erjeßen. Die
Menſchen und die Städte fommen in's Schwanken, wenn der Hintergrund, auf
den fie aufgelegt find, ein ſchwankender if. „Was das Auge fieht, glaubt
das Herz,” jagt das Sprüchwort. Das ift dichteriih) genommen eine Haupt:
fache. Hat der Dichter wirklich gejehen, Landſchaft und Geftalt, und Tann er
den Leſer das ſehen machen, dann glaubt das Herz des Leſers, jo Verwunderliches
ihm auch manchmal vor Augen gerückt wird. Sehen und jehen machen, da
Tiegt’3. Indem aber der Dichter feinen wirklichen Namen einjegt, hat ex doch
wieder Freiheit genug, in Perfonen und Verhältniffen nach der Laune der frei»
fpielenden Phantafie zu jehalten und walten. Damit hat er ein gut Stück der
romantifchen Freizügigkeit betvahrt oder auch eine Flugkraft, die vom realen
Boden aus fich frei in die Lüfte ſchwingt.
Gottfried Keller's Neue Schweizergeitalten. 39
Der Dichter jagt ferner, es jei an der Zeit, in der Vergangenheit umd den
guten, luſtigen Tagen der Stadt noch eine Fleine Nachernte zu halten, Denn
die überall verbreitete Speculationsbethätigung in befannten und unbefannten
Werthen habe die grundmäßige Leichtfertigkeit der Seldivyler umgewwandelt und
für fie ein Feld eröffnet, da3 wie jeit Urbeginn für fie geſchaffen fchien.
Es wäre zu wünjchen, daß Gottfried Keller damit einen neuen Boden ge—
Iegt hätte für künftige Gefhichten, in denen Weinlaume und kluge Berechnung
durcheinander ſchwirren. Denn deſſen kann man ficher fein, wenn Gottfried
Keller diefe Aufgaben erfaßt, fo ftattet er fie jo lebendig als dichteriſch aus.
Der Muth ift auch in der Kunft, zumal in der Dichtkunft, von großer Be—
beutimg; er kann Gewaltiges bewirken, freilid aud Gewaltſames. Im
Muthe der Phantafte fteht Gottfried Keller feinem der Romantifer nad, aber
er übertrifft fie an Geftaltungsfähigkeit. Denn fein Muth ift ein gejunder. Im
Gegenjaß zu den Romantifern wählt er nicht, wie fie, Muſiker, Maler, Dichter
oder gar Seiltänzer, die allen phyfiologiichen und piychologijchen Gejeßen der
Zweibeiner jpotten und ftaunenerregende Verrenkungen machen können. Ihm
genügt eine nüchterne Geſtalt, wie ein Schneider mit einigen feltfamen Attri—
buten. Er verzichtet aber nicht auf jenes Privilegium des Dichters, da man
ihm gegenüber dem bloßen Alltag und der gemeinen Realität einige Schritte vor—
geben muß. Beim Beginn mancher Erzählung Gottfried Keller's denkt der Lejer
bei fih: Ei, das ift ja nicht möglich, das ift übertrieben u. ſ. w. Aber ifter
nur erft einige Schritte gefolgt, jo fteht er in dem Zauber der bichterifchen
Atmosphäre, und unfer Dichter entläßt ihn nicht mehr daraus.
Bei den Romantifern find die Menjchen und die Abenteuer unberechenbar.
Die logiſchen Confiftenzen in den Charakteren und die logiichen Confequenzen in
den Zuftänden und Greigniffen find aufgehoben, zur traumhaften Phantaftik
gemacht. Gottfried Keller verjegt uns auch in überrafchende, nicht vorher:
gejehene abenteuerliche Exlebniffe; aber find fie eingetreten, jo ſehen wir, baß fie
grumdhaltig vorbereitet waren. Er hält die Figuren feſt und zwingt die Ver-
hältniffe in das Maß.
Friedrich Viſcher hat in feiner Studie über Gottfried Keller eine Meifter-
darlegung über das traumhaft Phantaftiiche gegeben und dabei ein Bild gefaßt,
das jo deckend wie jelten eins ift. Denn er jagt, daß auch im Traumhaften
und Phantaftiichen die Phantafie ji nicht vom Bande des Sinnes losreißen
dürfe. Das Band dürfe fich beliebig zum Flattern verlängern, aber nicht reißen.
Gegenüber dev Romantik hat fi in unjern Tagen da3 Senjationelle auf-
gethan. Die Verwidlungen gehen auf die Findigkeiten der Detectivs hinaus.
Es ift ein Wettkampf vielfeitiger Verichlagenheit, unjcheinbare Spuren werden
überrafchend ausgebeutet, der Gefuchte gibt falſche Spuren u. ſ. w. Die Polizei-
phantafie ift ein ganz neues Element. Die Senjationsdichtung bewegt ſich daher
gerne in diefer Sphäre. Eine andere Art der Senfation ift das Wirthichaften mit
incommenjurablen Figuren, wobei auf das Kopfichütteln des Leſers erwidert
wird: Bitte, bedenke, daß das eben Ausnahmen find, die ſich nicht nach dem
beftimmten Aichmaß abſchätzen laſſen. Da iſt Alles urgeivaltig, colofjal. Aber
die echte Kunſt, jelbft diejenige, die den freieften Flug der Phantafie zu wagen
40 Deutiche Rundſchau.
im Stande ift, verfteigt ſich nicht in’3 Uebermenſchliche und Außerweltliche.
Denn fie weiß und empfindet, ihre Aufgabe ift Durchklärung der wirklichen
Melt. Worin liegt denn eigentlich die Fyriiche und Belebung einer gefunden er-
zählenden Dichtung? Die jogenannte Fabel, die Handlung und ihre Motive,
twiederholt ſich, nach Zeit und Dertlichkeit variirt, in einer leicht überfhaubaren
Reihe; unzählbar aber find die Erſcheinungen der Charaktere. Das allgemein
Menſchliche bleibt ſich gleich; die Ericheinungsformen aber, wie fie ſich indivi-
duell ausprägen, find unzählbar. Die ethiſchen Naturfräfte find diejelben; Die
Hormation in dem Individuum unterliegt fort und fort neuem Wandel. Das
neu Erfaſſende der dichteriichen Productton liegt daher mwejentlih in Hervor—
bringung und Feſtigung neuer Geftalten. Neue Geftalten bringen, durch die—
jelben das Gontingent der durch Dichterwerfe zu unvergänglichen Leben ge=
brachten Menjchengebilde mehren, das ift die Hauptſache. Legt ſich dagegen
der Accent auf die Fabel allein, ift die Spannung auf die Ereignifje vor—
nehmliches Augenmerk, jo entjteht das Senfationelle, dad intriguenhaft Auf-
gebaufchte, Ruheloſe und Ueberwürzte. So find jene Senfationsdichtungen ent—
ftanden und entftehen noch fort und fort, die eine Jagd nad) einem Geheimniß
darftellen, deſſen Entdeckung von Blatt zu Blatt erreicht jcheint und immer
wieder verichwindet. Da wird dann mit den Schwerenöthern von Verbrechern,
Verführern amd myfteriöfen Menjchen, auch mit tugendhaften Männern und Frauen
hin und her Schach gejpielt, und die verſchwundenen Figuren werden ohne
Weiteres tvieder eingejeßt. Der auf dem einen Blatte vor den Augen des Leſers
in's Meer geworfen, erſchoſſen oder natürlich geftorben tft, taucht auf dem andern
wieder auf. Das nennt man dann reiche Phantafie. — Anders aber ift e8, wo
der Accent auf der Geftaltenfülle liegt. Da ift e8 nicht nöthig, ja ſogar hin—
derlich, das Spannungsintereſſe fort und fort zu fteigern. Die einfachſten Vor:
gänge find ausreichend, um die Fülle inneren Leben? auszulegen. Eine ſpan—
nende Fabel, eine verfnotete Intrigue ift das Vergängliche. Was ift die Fabel
von Don Quichote umd Wilhelm Meifter? wer kann fie ganz erzählen? Aber
Don Quichote und Sancho, Wilhelm Meifter, Philine, Mignon haften wie
Lebensbegegnungen in der Erinnerung. Und jo kann man jagen, daß auch in den
Dichtungen Gottfried Keller's die Fabeln der Geichichten aus der Erinnerung
ſchwinden mögen; aber Figuren, wie Jucundus und AYuftine, wie Dietegen
und Küngolt, wie der Förfter und Gritlt, die bleiben und mehren den Lebens—
inhalt jedes Lejerd. Die Liebe und Luft, die den Dichter in der Ausarbeitung
bejeelte, geht auch auf den Lejer über. Gottfried Keller macht keine Geſchichten,
die — es läßt fich nicht anders jagen — ihn nicht? angehen. Man merkt in
jedem Zuge das volle, innere Dabeifein, in Uebermuth wie in Trauer, in Kampf
wie in Friedſamkeit. Und dieſes Dabeijein des Dichters, das aber nirgends ſich
vordringlich macht, geht auf den Lejer über. Im Gegenjat Hierzu ift ein Da-
nebenjein vieler Erzähler gang umd gäbe getworden. Der Autor ftellt ſich daneben
und ftupft den Leſer, indem er ihm bejonders gern das Wort „prächtig“ zuruft:
wie prächtig glänzte das Antlitz Florines, wie prächtig Ichritt fie im braunen
Sammetfleide durch den Saal, wie prächtig ſetzte Florette die Heinen Füßchen
Gottfried Keller's Neue Schweizergeftalten. 41
mit den Goldladjtiefelletten auf den jonnenblumengelben Sandiveg des prächtig
angelegten Gartens u. ſ. w.
Der Humor Gottfried Keller’3 ift nicht jener großproßige, der fi) damit
was weiß, die Puppen tanzen zu lafjen und immer wie an den Rand jchreibt:
bitte recht jehr, Lieber Lejer, ich weiß recht wol, was für ein närriicher Kauz
die Perjon da ift; ich aber bin ein jehr vornehmer, jehr gelehrter, weltmän-
niſch gebildeter Mann. — Wie ein guter Maler, der jeine Freude an der Farbe
bat und der Kraft, mit der ſich Alles abhebt, jo behandelt der Dichter jede Figur
mit gleicher Liebe und gleichem Ernſt. Und diejer Ernſt widerjpricht der Luftig-
feit des Dargeftellten feineswegs. Denn e3 heißt hier, wie in allem Echten: der
Sache die Ehre geben.
Gottfried Keller kennt feine Rückſicht auf die Ansprüche des Publicums.
Und das mit Recht. Es wäre traurig, wenn der gerechte Stolz der Dichter
verloren ginge. Die Pfahlwurzel am Baume der Poefie würde dadurch krank
und der Stamm fernfaul, das Gonciliante nähme überhand, und die reine, un-
barmberzige Conjequenz im freien Ausftrom der Phantafie wie in der Feſthal—
tung der nothiwendigen Folgerung der Gonflicte und Charaktere zerflöfle in
Mohlgefälligkeit.
Wie weit der Dichter ſich ein Publicum denkt, aus welchen Lebensſphären
er ſich dafjelbe zujammenjegt und ob er überhaupt ein beftimmtes im Auge hat,
das ift eine der ſchwierigſten Fragen. Jedenfalls muß es jo bleiben, daß der
Dichter nicht ein Publicum denkt, das ihn beherricht, das Anforderungen an ihn
ftellt, jondern ein jolches, das er lenkt, das ihm folgen muß durch die Conje=
quenzen, jeien diefe nun genehm oder nicht. Die Rejpectabilität, die Rückficht
auf die Familie umd die halbwüchfigen Töchter, wie fie den Engländern zum
Geſetz geworden, ift ebenjo jchädigend, wie das andere Ertrem der Franzoſen,
die vorzugsweiſe in eine Welt oder in die jogenannte Halbwelt führen, deren
Gricheinungen in feiner geordneten Familie als perſönliche Beziehungen gedacht
werden fünnen.
Es jollte fein Vorzug fein, aber es ift leider ein ſolcher: Gottfried Keller
ift durchaus phrajenlos (er hat feinen Superlativ), den ganzen bereit3 in der
Trödelbude aufgeipeicherten Apparat von Redensarten verſchmäht er, und wenn
er dergleichen herausholt, wie 3. B. von der Schlange, die am Buſen genährt
wird (III. Seite 132), jo verleiht er fie in Humorijtiicher Weije dem Herrn Litumlei.
Gottfried Keller erzählt ganz naiv, oft jeheinbar troden. Aber wer Künftler
ift, erfennt und empfindet die Naivität und geftaltet fie; durch das Geftalten
fteht ex wieder drüber oder draußen, wie man e3 fallen mag; ex fennt und
übt das Geſetz der Perjpective, wie da3 von Schatten und Licht, ex erhöht und
vertieft je nad Erfordernig. Aber er jpringt nicht dazwiſchen, um einen
Charakter zu analyjiren und zu zeigen, wa3 für ein Schwerenöther er ift, der die
Seele der Handelnden fennt und der dem Lejer zugleich damit jchmeichelt, indem
er ihn geicheiter macht, al3 die handelnden Perjonen. Keller motivirt aud),
aber fort und fort ſachlich, er ftattet jede Figur mit dem nothiwendigen Maß
fleiner Züge aus. Und dieje Figuren haben, was das Beſte ift, nicht blos
42 Deutſche Rundſchau.
Geiſt, ſondern Seele, aus welcher der urſprüngliche Naturlaut hervorbricht, den
der Dichter nicht als rohen Aufſchrei erfaßt, ſondern künſtleriſch articulirt.
Die humoriſtiſchen Erzählungen gehen voraus. Die erſte iſt betitelt:
„leider machen Leute.” Was enthält fie? Einen ſcheinbar ganz trivialen
Borwurf: Ein ftromender Schneider, der für einen Grafen gehalten und jchließ-
lich ala Schneider erkannt wird. Das Hat ſcheinbare Aehnlichkeit mit den
Vagabunden und Zaugenichtfen der Romantifer. Solch ein Thema hätten
Andere luftig romantiſch in Eichendorff’icher Weife oder in grauer, jogenann»
ter ftrenger Realiftit durchgeführt. Gottfried Keller vermeidet Beides, er macht
eine anmuthige Geichichte mit dem Hintergrunde ziveier Städte daraus, wie
eben nur er es machen kann. Es bringt uns in jolde Sympathie mit
Strapinzti, daß wir Alles jelbft mitthun, und daneben läßt er die leiſe Jronie
durchſchimmern, daß in den Republiten — in Amerika, wie in der Schweiz —
der vornehme Name und was drum und dran, noch jeinen bejonderen Reiz hat.
Es wird jeden Lejer ſchön anmuthen, wie die Reihe der Schlitten aus dem
Walde hervorfommt; für den Kunſtgenoſſen aber ift diefe mit einfachiten
Mitteln erzeugte Wirkung noch eine befondere Luft. Und wie humoriftiich und
innig zugleih ift Wendung in Empfinden und Thun von de3 Amtsraths
Nettchen.
Die zweite Erzählung: „Der Schmied jeines Glückes,“ iſt in der Faſſung
wie in der Peripetie immer an der Grenze des Möglichen gehalten. Aber der
Dichter entläßt un nie aus dem Bereiche des übermüthigen Schwanfes. Es
geht dem Leſer bei diefer Geichichte faſt wie Herrn Litumlei, dem der fremde
das Raſirmeſſer aus der Hand nimmt und ihn ohne Weiteres barbirt.
In den Atelierd reihbegabter Künftler findet man oft ein Product mit
Nuditäten und Phantaftereien der übermüthigften Laune, kühn entworfen und
fühn ausgeführt. Der Künftler wollte einmal das Waghalfige loslaſſen, oder
auch er mußte es ausführen. Aehnlich ift dieſe Erzählung. Kein Anderer durfte
das machen. Das Häßliche und Schlechte ift nur von der komiſchen Seite an—
gefaßt; und das würde in anderen Händen unleidlih. Nur der Schluß, in dem
der Schmied feines Glückes zum Nagelihmied wird, hat etwas kalt Allegoriiches.
Wie weiß aber auch Hier der Dichter in kurzen, einfachen Worten ein Bild hin-
zuzeichnen! „Dankbarlich lie ex jchöne Kürbisftauden und Winden an dem nie-
drigen, ſchwärzlichen Häuschen emporranfen, da3 außerdem von einem großen
Hollunderbaum überjchattet war, und deifen Eſſe immer ein freundliches Teuer:
lein hegte.“
Die Erzählung: „Die mißbrauchten Liebesbriefe,“ baut ſich auf jo Schrullen-
haften auf, daß man dem Dichter nur widerwillig folgt. Aber bei jedem wei—
teren Schritte weiß; er uns durch friiche Geftalten jo feit zu halten, daß ir
den Angang vergeffen und in behaglicher Laune weiter jchreiten. Der über:
ſchraubte Gatte, die Nettigkeit der Frau fefleln durch ihre Lebenstwahrheit.
Mit guter Laune jchildert Hier’ auch Gottfried Keller das auf die Sude
gehen nach Motiven und charakfteriftiichen Beſonderheiten, wie Biggi Störteler,
genannt Kurt vom Walde, Baum und Gethier und Menſch in jein Notizbuch
einträgt, in das bejondere mit dem Stahlſchlößchen (Seite 155). Und überaus
Gottfried Keller's Neue Schweizergeftalten. 43
föftlich ift es, wie dann in der Betroffenheit des Geſchickes der Literat ausruft:
„Wer jebt ala ein Fremder, Unbetheiligter dieje ſchöne Geichichte betrachten
könnte, wahrlich, ich glaube, er fünnte jagen, ex habe einen guten Stoff gefunden
für — Hier bra er ab und jchüttelte fih, da eine Ahnung in ihm auf-
ging, daß er nun ſelbſt der Gegenftand einer förmlichen Geſchichte geworden jei.
Und da3 wollte er nicht, er wollte ein ruhiges, unangefochtenes Leben führen“.
Aber Kurt vom Walde ift dann wiederum glüdjelig, al3 er e3 findet, das große
Wort: „Seine Frau ift eine Gans mit Geierkrallen,‘ und da fett er jofort
hinzu: „Das ift gut. Warum fallen mir dergleichen Dinge nicht ein, wenn
ich ſchreibe ?“
Wie mit Händen zu greifen find die Literaten geſchildert, die in ihrer
Grundverlogenheit und Affectirtheit ſich gegenſeilig einander und jo auch der
Welt aufſchwindeln. Da iſt die Geſellſchaft, „in der man nur noch die Worte
Honorar, Verleger, Clique, Koterie hört und was noch mehr den Zorn ſolchen
Volkes reizt und ſeine Phantaſie beſchäftigt.“ „Und der Refrain bei Jedem war
ſchließlich ein trocken ſein ſollendes: er iſt übrigens Jude, worauf es im Chor
ebenſo trocken hieß: ja, er ſoll ein Jude ſein.“ Die Geſchichte der Heimkehr,
der Scheidung, der Wiederverheirathung, alles ergibt ſich wie ſelbſtverſtändlich.
Und wie dann der Schullehrer ſich im Weinbergshäuschen anſiedelt, wie ſich
Gritli jo ſauber und friſch heraushebt, das Alles iſt jo gut geſehen und jo in
die Schaubarkeit für den Leſer geftellt, daß man zulegt gar nicht mehr an das
jeltfame Gerümpel denkt, über das hinüber man zu dem anmuthigen Idyll
gelangen mußte. Und Scenen, wie die Berjuhung des Schullehrerd durch die
Freundin Aennchen, find von einer Meifterfchaft, wie fie felten in der Literatur
aller Zeiten ift.
Wenn bei den beiden letzten Gejchichten: „Der Schmied feines Glückes“ und
„Die mißbrauchten Liebesbriefe“ eine gewiſſe Gewaltfamfeit im Unterbau und
auch in einzelnen Ausführungen nicht zu verfennen ift, jo ift e8 eine freude,
mit uneingeſchränktem Lobe der Schönheit und den Schönheiten der Erzählungen
des vierten Bandes: „Dietegen“ und „Das verlorene Lachen“, nachzugehen.
„Dietegen“ ift eine wohlgeſchloſſene runde Compofition, in vollendeter Kunft
aufgebaut und alles Einzelne in guter Richte gefügt und in leuchtenden, jatten
Farben ausgeführt. Eine Geſchichte in 102 Seiten, und doch toie reich und voll.
Der Inhalt bewegt ſich nicht blos um die Wendung eine Ereigniſſes, es ift
nicht blos ein einzelner Drehpunkt gegeben, vielmehr find ſämmtliche Charaktere
mit vollendeter Beherrihung der Kunftmittel vor una in ihrer Entftehung umd
Bewährung ausgelegt. Die Handlung jet mehrfach neu an, aber das ift eben
twie die Bildung des Halmes, aus dem zuleßt die Kornähre ſchlüpft; es jeßen
ſich Knoten an, die wie im Licht erftehende neue Einwurzelungen betrachtet
werden können.
Zuerft das Kinderleben. Der Dilettantismus nimmt die Schilderung des—
jelben jo Leicht, umd doch ift e8 eines der jchiwierigften Momente in der Dicht:
tunft. Denn bier ift Miſchung von naider Gebumdenheit und plößlicher Auf-
leuchtung und Befreiung. Goethe bat den Knaben Felix Meifter und Schiller
den Knaben des Tell nur kurz und ſachlich eingefügt.
44 Deutſche Rundſchau.
Schon einmal hat Gottfried Keller das Kinderleben, einen Knaben und ein
Mädchen, in der Erzählung: „Romeo und Julie auf dem Dorfe“, mit vollendeter
Meiſterſchaft gegeben, und hier in Dietegen und Küngolt in gleicher Weiſe;
Trotz und Innigkeit, Nichtwiſſen und Weisheit ergeben ſich in feinen Kinder—
figuren fo natürlid. Er führt die Charaktere von der Kindheit an conſequent
weiter, das heit conjequent nicht in der graden Logijchen Linie — denn jo ent—
wickelt fich fein Naturwejen — jondern mit all’ den abirrenden Bewegungen, Die
der MWiderftand der Welt erheiſcht. Und unfer Dichter hat nie in eine Ver-
gangenheit zurückzugreifen. Wir jehen die Züge der Sindergefichter no in den
Erwachſenen, wir erkennen fort und fort die Grundformen ihrer Piyche. fie find
tie zwei Bäume, die hoch auftwachlen, fie bleiben Ddiejelben, aber Wind und
Wetter formt und biegt das Gezweige jedes einzelnen eigenthümlid. Was der
Philoſoph ala freie Nothiwendigkeit bezeichnet und den jcheinbaren Widerjpruch
diefer beiden Begriffe in ihrer Einheit faßt, das zeigt uns der Dichter hier; zwei
Menjchentinder leben und erwachſen, jo naturfeft und fo frei zugleich. — Die Er-
zählung jpielt gegen Ende des 15. Jahrhunderts bis in’s 16. hinein, und Alles
bewegt fih vor uns jo frei und naturwahr. Wie oft haben wir bei den
hiftoriichen Romanen das Gefühl, Menſchen, die das Licht der Welt zur Zeit
des Gaslichts erblickt, betvegen ſich da in Harniſchen; es ift ihnen unheimiſch,
und dem Dichter jelber wurde die Ueberſetzung aus der Gegenwart in das
hiftoriiche Coſtüm jchwer. Indem Gottfried Keller die Zeit vor der Murtener
Schlacht und dieje jelber in den Hintergrund drängt, weiß er die Menſchen na=
türlich und friſch ſich bewegen zu laſſen. „Jeder in Zuverläffigkeit und Furcht—
loſigkeit eine Welt für ſich und Alle zuſammen doch nur ein Häuflein Menſchen—
kinder.“ Bei aller Innigkeit nichts von Schönſeligkeit. Die Charaktere leben
ſich in Sturm und Wetter aus, und die ganze Mannigfaltigkeit des Lebens iſt
in den engen Rahmen ſo weniger Seiten ohne eine Spur von Beengung ein—
gefügt. Zwei ganze Städte mit ihren Beſonderheiten, zwei Hauptfiguren mit
ihren wunderſamen Schickſalen, dazu der Förſter und die Förſterin, die Halb—
nonne; Ruhe und Bewegung, Luſtbarkeit und Kampf, Verfall und Aufrichtung,
Alles iſt da und noch das Beſte dazu, der freie Humor. Die eiſernen Helden
der Ritterzeit waren nach ihren Trinkgelagen gewiß auch nicht von jenen Nach—
wirkungen verſchont, für welche die deutſche Sprache die unvermeidliche Bezeich—
nung Katzenjammer hat. In der Regel wird uns aber von dieſem andern Morgen
der mannlichen Reden nichts gejagt. Wie trefflich wei num beiſpielsweiſe Gott—
fried Keller diefen Zuftand einer jeiner Hauptperjonen zu jchildern. Der brave
Förſter, der das ganze Jahr in feinem wohligen Haufe im grünen Walde fich
aufhält, geht auf den einen oder andern Tag nad) Seldwyla und holt fich einen
gefunden Rauſch. Und da ift e8 nun eine wahre Luft, den Tag darauf mitzu—
erleben, wie da der gewaltige Menſch jo zärtlich und jo janft ift, und Alles um
ihn ber ift jo zärtlich und jo ſanft. Mit der vollendeten Beherrſchung der
Kunftmittel jchildert das der Dichter, und was das Befte dabei ift, wir jehen
feiner Darftellung keinerlei Mühe an. Das geht Alles jo ruhig fort, wie eine
einmal angefangene gute Melodie, und die fernfeften Bezeichnungen ftellt ex
bin, ohne irgend einen Druder aufzufeßen, jo 3. B. wenn er die frau des
Gottfried Keller's Neue Schtweizergeftalten. 45
Forſtmeiſters der machtvollen Figur de3 Mannes gegenüber jchildert und jagt:
„Sie war von äußerft zarter Beichaffenheit und von wehrloſer Herzensgüte.“
Wehrloſe Herzensgüte! In zwei Worten, die gar nichts Superlatives haben,
ift da eine volle und innige Charakteriftif gegeben.
Ich ehe die Bekanntichaft des Lejer3 mit dem Inhalt der Erzählung vor—
aus und will nur noch auf einige technische Vorzüglichkeiten aufmerkſam machen.
Ein Motiv, gegen deſſen Natürlichkeit wir uns leife und kurz fträuben, aber eben
nur leife und kurz, ift jogar wiederholt, nämlich die Rettung aus Henkers Hand.
Aber wie erhöht und neu und wie in einer Symphonie dafjelbe Thema in
einer anderen und höheren Zonart mit verändertem Tempo. Auch Figuren
wiederholen fich bei dem Dichter. Kätter Ambach, die intriguante alte Jungfer
mit ihrem faljchen äfthetiichen Chignon, die ſchon ihr DVierteljahrhundert bei
Liebhabertheatern des Städtchens gefpielt und „beträchtliche Gaben von Fleiſch
und Brot zermalmen kann,“ hat entjchiedene Aehnlichkeit mit der Halbnonne
Violande. Dieje Aehnlichkeit in Perfon und Situation hebt aber gerade die
Berichiedenheit in phyfiognomifchen Bejonderheiten um jo mehr hervor. Das
menjchliche Gemüth, auch das verfäuerte im Weibe, ift zu allen Zeiten und Ver—
hältniffen da. Eben die jcharfe Charakterifirung der Aefthetifirenden dort und
der in der Halbmaske des Nonnenthums ſich Gefallenden hier, zeigt, wie der
Dichter die fich zu allen Zeiten gleichbleibenden Grundformen des Mtenjchen-
thums in ihrer Einheit und in ihrer Verſchiedenheit faßt.
Ein Hauptzug dieſer Erzählung, der uns auch über alles Verwunderliche
hinweghebt, iſt der treuherzige Ton, der jo glaubhaft und jo untermiſcht mit
augenjcheinlichen Lebenswirklichkeiten, daß auch gegen das Verwunderlichſte jeder
Widerjprud in der Empfindung verftummt. Man merkt es diefer Erzählung
an, daß zwiſchen den erſten Erzählungen der Leute von Seldiwyla und den nun=
mehr vorliegenden unſer Dichter die fieben Legenden bearbeitet hat. In „Dietegen“
ift der Ton der fieben Legenden noch voll herauszuhören, ein Ton der jelbjt-
verftändlichen Wahrhaftigkeit, der da8 Wunderfamfte vorträgt, als ob es das
Altäglihe wäre, und doch dabei ein jehr discretes, neckiſch ſchalkhaftes, inſtru—
mentales Begleiten.
Aus einer fernen Hiftorischen Zeit mit ihren Schönheiten und Greueln werden
wir in da3 gegenwärtige Leben mit feinen Bewegungen in Induſtrie, Kirche
und Staat verjeßt. Zwei junge Menjchenfeelen mit ihren Angehörigen und
Umgebungen müfjen das Alles in ſchwerem Kampfe durchleben. Es Liegt ein
Schmerzenston ſchon in dem Titel: „Das verlorene Lachen“. Aber bei aller Tragit,
die die Kämpfe unſerer Zeit mit ſich führen, hält fi) der Dichter in der Kunft.
Und die Kunft ift die Heiterkeit, Harmonifirung, Bildung der Organijation
aus dem Chaos; wie das Individuum ſich in das Allgemeine findet und wie es
das Allgemeine wiederum aus dem individuellen Bewußtjein mitgeftaltet, das
find die großen Probleme unjerer Zeit. Gottfried Keller hat in dieſer Ge—
ihichte an jeinem Theil ein gut Stüd davon dichteriich erlöſt. Dieje Erzählung
ift auf dem Hintergrund induftriellen, veligiöjen und politifchen Lebens aufgebaut.
Aber der Dichter hat nicht nöthig, da erft zu grundiren, es ift alles hiſtoriſch
feft. Die Seidenmanufactur, in die Jucundus eintritt, ift in der Schweiz heimiſch,
—
46 Deutiche Rundſchau.
und das politijche und religiöfe Leben hat feine feſten Formen und Entwicelungen.
Es gibt in der Welt noch andere Dinge al3 Liebesichmerzen und Liebesiwonnen.
Wie Jucundus und feine Frau ſich nad) Verheirathung und Trennung aus ihrem
Selbſt entwideln und dann erft einander neu und voll wieder finden, das ift jo
geichildert, daß man fieht, der Dichter hat ſich nicht erft zu befinnen, aus welchem
Topf er diefe oder jene Farbe auftragen fol. Es geht bei ihm jo ficher wie
beim Setzer, der die Lettern aus dem Kaſten nimmt; denn er hat für alle Er-
ſcheinungsweiſen fefte Bilder aus dem Leben und für alle Empfindungsarten die
reiche innere Vorbereitung. Jucundus wird zum mannhaften Bürgerbewußtjein,
zur gefunden Theilnahme am republifaniichen Staatäleben entwidelt, er wird
nichts Außgezeichnetes, aber etwas Tüchtiges, und das ift beſſer. Wie ganz
anders müßte da ein Dichter in Deutſchland zum Berftändnig Grund legen;
und da unfer eben ſich bisher in der Peripherie und nicht im Centrum aus—⸗
gebildet hat, wäre man des tieferen Verftändniffes in anderer als der gegebenen
Landſchaft kaum ficher.
Bevor ih indeß auf die ebenmähige Schönheit diefer Erzählung und auf
Einzelheiten hinweije, nur noch ein Wort über eine Seite des Dichters, die als
fein pſychiſches Monogramm erjcheint. Ich habe bei „Dietegen” darauf hin—
gewiejen, wie Gottfried Keller das Kinderleben jo feft und treu faßt. Bei diejer
Erzählung zeigt ſich noch eine jeiner ftärkfften Beſonderheiten, nämlich die
Variation des Verhältniffes von Mutter und Sohn. Bekanntlich jpielt in den
Halbwelt-Romanen der Ausruf: o ma möre! eine Hauptrolle Aber die Mutter
felbft bleibt im Hintergrunde, fie ift eine Erinnerung, fie hat ein Kreuz binter-
laſſen oder dergleichen; die Mutter jelber hat hier anftändiger Weiſe todt zu fein.
Schiller hat den Kampf zwiſchen zwei Weltanfhauungen wiederholt in
den Conflict zwiſchen Vater und Sohn überjegt. In den Dichtungen Gottfried
Keller's kehrt das Verhältnig von Mutter und Sohn jtets in neuer Weije wieder.
So ſchon im „Grünen Heinrich“, jo in „Regel Amrain“, in „Pankraz der Schmoller“
und nun hier in Yucundus und feiner Mutter. Aber jo innig auc die Weile,
fie ift immer in neuer Tonart gefaßt. Der Conflict zwiichen Vater und Sohn,
al3 ein in beiden Theilen actionsberechtigter, ift damit auch ein dramatijcher;
der Conflict zwiſchen Mutter und Sohn, der eigentlich nicht Conflict werden
kann, weil die eine Seite unmittelbar nachgiebig ift, ift in feiner Innerlichkeit
ein epiſcher. Dort ift Refiftenz, hier ift Rejonanz.
Die Mutter des grünen Heinrich ift lauter Zärtlichkeit, Innigkeit und
Duldung. Wer vergißt je die Scene, wie der heimgefehrte Sohn eben zum
Leichenbegängniß feiner tiefgeliebten und jo ſchwer gefränften Mutter fommt?
Die Mutter Regel Amrain ift eine ftilvoll gehaltene machtvolle Geftalt, voll
Klugheit und Klarheit und dabei jo voll weiblid. Die Mutter von Jucundus
ift eine Miſchung von beiden.
Wie weit eine Dichterivirfung geht, wie fie vorbildlich wirft, das ift hier |
mit liebenswürdigem Humor gezeigt in der Mutter Juftinens, der Stauffacherin,
die aber dann ſpäter von der Alten auf dem Berge noch überftauffachert wird,
Und die Mutter des Jucumdus ift die klug Vorſorgliche, die die Naivitäts-
intrigue zu handhaben weiß.
Gottfried Keller's Neue Schweizergeftalten. 47
Jucundus und Juſtine und die ganze Sippe der lekteren ift jauber und
glaubhaft durchgeführt. Der Dichter Hält die Zügel feſt. In anderer Hand
wäre die Galamität der Fabrik Mittelpunkt und Peripetie geworden, er aber
bat es auf Fortentwicklung der Charaktere nah Seiten der Politit und der
religiöjen Freiheit abgejehen, und er lenkt im Schritt, Trab und Galopp: Die
Freiheit und die Kühnheit, mit der das religiöfe und politiche Leben im Gleich-
maße fortgeführt ift, ift jo grundgediegen, daß man fich deſſen voll erquickt.
Nur in der Einführung der Delwittiwe find die Farben zu ftark aufgetragen und
ftimmen nicht in den Farbenton des Ganzen. Sehen wir vom Ende zurüd auf
den ſchönen Fahnenträger des Geſangvereins, jo Haben wir reich gegliedertes
GEinzelleben wie allgemeines in fejter Anjchaulichkeit vor uns.
An der Phyſik iſt nachgewielen, daß Wärme und Bewegung zwei Erſchei—
nungen ein und derjelben Subftanz find. Auch piychiich ift das Gleiche erkennbar.
Wie alles Lebende, jo entiteht und befteht auch das Kunſtwerk nur durch die
Wärme, die zugleich als Bewegung fihtbar ift. Gottfried Keller ift erwärmt
und bewegt in feinen Productionen.
Die Erzählung „Da3 verlorene Lachen“ ift politifch »veligiöfen Inhalt, es
ift ein beftimmtes Zeitleben darin feitgehalten. Ich muß nochmals darauf hin-
weiſen, daß da3 Dogma vom Widerjpruche der Politif und Poefie ein vergäng-
fiches ift. Wenn Goethe das Gelegenheitsgedicht in eminenter Weile hervorhebt,
fo liegt eben der Accent darin, daß aus dem gelegenheitlichen Wurf von Stimmung
und Greigniß ein Gedicht geichaffen wird. Das concret Gelegenheitliche gibt
Anlaß und feften Halt, zu dem das unzeitlich und unverwelklich Dichterijche
binzutreten muß. Der Selbſtzweck, den die Kunft bewahren muß, jchließt die
Tendenz nicht aus. Die Gemüthswärme und Gemüthsbewegung, die im politijchen
Leben ebenjo gut jein fann ala im Liebesleben, muß nur den dichterifchen Aus—
druck gewinnen, der nicht in der Rhetorik ſtecken bleiben darf. Iſt dies gediehen,
wie in der letzten Erzählung Gottfried Keller's, fo ift der dichterifche Beſtand
auch fiir andere Zeiten und Tendenzen gefihert. Es fommt immer wieder darauf
an, dat Geftalten geichaffen werden wie Jucundus und Juſtine, die aud
über zeitlide und örtliche Strebungen hinaus ihre menjchliche Lebenskraft
bewahren. Denn der Dichter fteht nicht im Pathos der Gereiztheit, das die
politiiche Tagesfrage mit fich bringt; fein innerfter Antheil al3 Sohn jeiner
Zeit und feines Landes ift ein Gemüthszuftand geworden; der glühende Fluß
der Empfindung vollendet fih im Guß fefter Geftalten.
Dies die letzten Erzählungen Gottfried Keller's in diefen Bänden. Es ift
fo jelten, daß man wieder etwas lieſt, wobei man feine volle Freude während
des Leſens bat, mit Behagen zu dem Buche zurückkehrt und mit Schmerz wahr.
nimmt, dab nur noch wenig Seiten zu lejen find. Es ijt eine Luft, einem
Tichter zu folgen, wo man weiß, daß man auf Schritt und Tritt feften, un—
vergeibaren Anſchauungen und gefunden und wahrhaftigen Empfindungen be=
gegnet. „Sie find ein weſentlicher Menſch,“ Tagt der Graf im „Grünen Hein-
rich“ zu dem Helden. E3 gilt au) vom Dichter, und der Kritiker kann noch
hinzufügen, was Gritli zu Wilhelm jagt: „So bift du aljo einer von den
Rechten, bei denen feine Mühe verloren ift.“
48 Deutſche Rundſchau.
Berlin, 4. Juni.
Eduard Mörike.
Wer ift Eduard Mörike? So mußte ich noch in vorftehenden Blättern
fragen gegenüber der Lauheit, die einen zeitgenöffiichen Dichter beſter Art nicht
zu erfennen und zu würdigen wußte.
Nun heißt es: wer war?
Das Telegramm der heutigen Abendzeitung lautet: „Stuttgart, 4. Juni.
Der Dichter Eduard Mörike ijt heute geftorben.“ Man fügt Hinzu: er war
geboren am 8. September 1804 in Ludwigsburg.
Als ih vor Wochen den vorftehenden Aufjat gejchrieben und im Drud
bereit corrigirt hatte, durfte ich noch hoffen, daß meine Bemerkung dem Dichter
jenes ſchalkhaft innige Lächeln erwecke, das wir Freunde an ihm kannten.
Nun ift er todt.
Ich komme wol ein andermal dazu, von ihm zu erzählen. Heute nicht.
Als wir das leßtemal beifammen waren, jprad er davon, daß er den
Roman „Maler Nolten“ neu bearbeiten und mit jeinen gefammelten Schriften
herauögeben wolle.
Jetzt werden jeine Werfe gefammelt erjcheinen und auch durch eine begleitende
Lebensgeihichte wird man dem Berftändniß näher rüden und erkennen, welch
eine dichterifche Natur und dichteriiche Kraft mit uns athmete.
Lebenslang konnte er wie in jenem Liede „Am Wintermorgen“ von jich jagen:
Einem Kryſtall gleicht meine Seele nun,
Die noch fein faljcher Strahl des Lichts getroffen;
Zu fluthen jcheint mein Geift, er jcheint zu ruh'n,
Dem Eindrud naher Wunderkräfte offen.
Es wird Nacht und — doc) der Dichter Hat jelber da Todesweh gefungen:
Gin Tännlein grünet wo, Auf der Wiefe,
Mer weiß, im Walde, Sie kehren heim zur Stadt
Ein Rofenftrauch, wer jagt In muntern Sprüngen.
In welchem Garten? Sie werden jchrittweis gehn
Sie find erlefen ſchon, Mit deiner Leiche;
Den?’ es, o Seele, Vielleicht, vielleicht noch eh’
Auf deinem Grab zu wurzeln An ihren Hufen
Und zu wachſen. Das Eijen los wird,
Zwei ſchwarze Rößlein weiden Das ich bliten ſehe!
Berthold Auerbad.
Ueber das Alter.
Ein Brief an Dr. Eduard Lasker
bon
Fanny Lewald.
Eine Vorrede ftatt der Nachſchrift.“)
Diefer gedrudte Brief hat das Schickſal, während Ihrer Krankheit Liegen
geblieben zu fein, ficherlich mit einer großen Menge von anderen Zujchriften an
Sie getheilt, verehrter Freund.
Geſchrieben gleich) nad) dem Erſcheinen Ihrer Rede „Ueber Anlage und
Erziehung“, hatte ich ihn der Redaktion diejer Blätter Ende Januar übergeben,
die ihn im März ericheinen laffen wollte. Sie ſchob jedoch den Drud bis in
den folgenden Monat hinaus, und Ihr Erkrankten veranlaßte mich danach, mit
der Veröffentlichung des Briefes bis zu Ihrer erfolgten Genefung zu verziehen.
Wenn wir in unferem Haufe während Ihrer langen und gefährlichen
Krankheit mit lebhafter Beſorgniß Ihrer dachten, jo gab mir der gute Glaube,
den Sie von dem Alter und von deifen Vorzügen hegen, ſtets den Muth zum
Hoffen wieder; und und mit einem Scherze über die Bejorgniß forthelfend, ſagte
ich oftmals: ach! er kann ja gar nicht fterben! Ex muß leben bleiben, um an
ſich jelber die Schönheit des Alters zu erproben, das ſich ihm auch günftig er—
weiſen twird, weil ex beifer al3 wir Andern von demjelben dent.
Möchte wie der erjte Theil meiner prophezeihenden Hoffnungen, jo auch der
zweite ſich für Sie bewähren.
Berlin, im April 1875. F. L.
*) Auch wir ergreifen die Gelegenheit, den großen Vollsmann und Politiker, an welchen
ber obige Brief gerichtet if, mit einem Worte der innigften Theilnahme zu begrüßen. Erſtanden
von dem Schmerzenälager, an weldhem, man darf wol jagen, die Wünſche, die Furcht und die
Hoffnung unferer Beiten fi täglid) begegneten; volltommen wieder hergeftellt von einer Krank—
heit, welche jeden ehrlichen Freund des Volkswohls um das Yeben eines feiner edelſten und um:
erichrodenften Vertreter bangen machte: jo ift Eduard Lasker dem DVaterlande gleichlam zum
zweitenmale geichenft worden, umd indem es einen jorgenvollen Augenblid lang fühlte, was es
in ihm verlieren würde, darf es ſich jeht auf's Neue ber frohen Gewißheit Deſſen hingeben, was
e3 im ihm befigt. Der „Deutichen Rundſchau“, die jeiner literariichen Mitwirkung nicht am
Wenigiten für den Plab zu danken hat, welchen fie jich rafch in der Meinung der Nation erwor:
ben, mag e3 daher wol ziemen, diejer allgemeinen Empfindung auch ihrerjeits Ausdruck zu leihen;
weit fie doch, daß aus ihrem weiten Leſerkreiſe demſelben ein freudiger Widerhall antworten wird.
Die Rebaction ber „Deutihen Rundidan.*
Deutſche Rundſchau. T, 10. 4
50 Deutiche Rundichan.
Berlin, d. 28. Dezember 1874.
In dem verwichenen Frühjahr, oder im Frühjahr von 1873 muß es ge—
weſen fein, als Sie, verehrter Herr und Freund, uns nad) beendigter parla-
— wentariſcher Sitzungszeit eine Ihrer Mußeſtunden zu gute kommen ließen. Es
war ein Sonntag-Morgen, wir waren behaglich bei einander, ſprachen Don
Diefem und Jenem, und e8 mochte dabei von Stahr oder mir einer leichten
Klage über das Alter Ausdrud gegeben worden jein.
Sie wollten es nicht gelten laffen, daß wir ſchon Urſache zu folder Klage
hätten, und wollten e3 überhaupt nicht zugeben, daß das Alter ein Zuſtand
jei, über den man fich beklagen dürfe. Sie ergingen jich vielmehr weitläufig
in einer Zobpreifung der ſpäten Lebensjahre, deren Heiterkeit und Schönheit Sie
priefen, auf deren ruhigen Frieden man mit freudigen Vertrauen hinzubliden
habe, weil fie nad) Ihrer Anfiht „die Krone des ganzen Lebens“ bilden
follten; und Sie ſprachen das Alles mit ſolcher Zuverficht aus, dag man Ihnen
gern zuhörte und ſich faſt ebenjo geneigt fühlte, Ihnen auf Ihr Wort zu glauben,
al3 man ein MWiderftreben empfinden mußte, Sie in Jhren ſchönen Hoffnungen
irgendwie zu ftören. Indeß das Glaubenwollen ift ein mißlid Ding, wo man
eine Sache aus eigner Erfahrung anders weiß, und twie jehr ich auch geneigt war
und bin, mich Ihrem Urtheil unterzuordnen, jofern ich es vermag, meinte ich von
dem Alter doch bereit3 mehr als Sie ausjagen zu können. Ich Fannte Sie
daneben auch al3 einen Mann der Thatſachen und einen Freund der Wahrheit,
ich ftand nicht an, Ihnen meine bejcheidenen Zweifel gegen die Richtigkeit Ihrer
Behauptungen auszufprechen, und id) that das mit den Worten jchließend: „Ver—
ſuchen Sie das Alter erft einmal.“
Ich weiß nicht, ob Ihnen jener Morgen noch jo deutlich in der Seele lebt wie
mir, der ſich die Erinnerung an denjelben lebhaft erneuert hat, al3 ic) vor einigen
Tagen in der Deutichen Rundſchau Ihren Aufſatz „Ueber Anlagen und Erziehung“
las. Ich hatte ihn mit einem doppelten Jntereffe in die Hand genommen. Ein-
mal wünjchte ich, da ich Sie Leider jelten jehe, mich wenigjtens im Geifte mit
Ahnen zu unterhalten, und zweitens hoffte ic in dem Aufſatze mancherlei zu
finden, das nützlich werden könnte für die Enkel meines Mannes, die gut be=
anlagt, gut erzogen werden, und mit denen ich gern und viel verfehre.
Das Lehtere werden Sie natürlich finden, denn Sie ſprechen es gleich im
Anfange Ihrer Arbeit aus, dab „die Frauen in der Erziehung ihren heiligften
Beruf erkennen, und kaum der eigenen Borbildung entwachſen, nach Erkenntniß
der Aufgabe ftreben, welche im natürlichen Verlaufe eines Frauenlebens früh-
zeitig einer Jeden zufällt“.
Das ift nun in der That auch mein Tall gewejen. Obſchon ich feine
eigenen Kinder gehabt habe, bin ich frühzeitig und faft mein ganzes Leben hin-
durch in der Lage geivejen, auf Kinder und auf jüngere Perjonen erziehend ein-
zuwirken, und ich ftimme mit Jhnen völlig in der Anficht überein, daß es „die
Aufgabe der Erziehung ift, auf alle denkbaren Lagen des Lebens vorzubereiten,
dab auf fie eingerichtet zu fein, der Inhalt der Bildung iſt.“ — Danach gehört
nun die Ausbildung der Phantafie, die uns befähigt, uns die verichiedenen Lebens—
lagen vorzuftellen, in die wir gerathen können, zu einer der wichtigften Auf-
Ueber da3 Alter, 51
gaben der Erziehung; und ich habe es oftmals gegen meine Freunde ausge:
ſprochen, daß die jogenannte Faſſung, gegenüber hereinbrechenden Unglüdsfällen
oder jonftigen unerwarteten Ereigniffen, ſich am häufigften bei denjenigen Per-
jonen zu erweiſen pflegte, die ebenjo mit Phantafie ala mit Verftand begabt,
der Worausficht Fähig, und geneigt geiwejen waren, ſich es im Voraus Klar zu
machen, wie fie in den betreffenden Fällen zu handeln und fich zu benehmen
haben würden. Auch ift diefe unfere Meinung alt genug; denn ſchon Shafe-
ipeare jagt im Hamlet: „Worbereitet fein ift Alles.“
Aber ich will abjehen von dem, was Sie über Anlagen und Erziehung
im Allgemeinen jagen, um mich ganz ausjchlieglic an Ihre Betrachtungen über
da3 Alter zu halten, deſſen Zuftände Sie, Jhrem Grundjah treu, ſich auch in
der Phantafie Har zu machen bemüht gewejen find.
Sie ſprechen in der That eine große Wahrheit damit aus, wenn Sie jagen,
dab man fi für das Alter recht eigentlich zu erziehen, ſich ganz bejonders
darauf einzurichten babe, ehe e3 in einer Weiſe an uns herantritt, die uns
übermannt und knechtet. Das ift eine Meberzeugung, in der ich mit Ihnen
volllommen zujammentreffe.
Indeß über das Alter im Allgemeinen, wie über jeine Schönheit, bin ich
Ahrer Meinung ganz und gar nicht; und da Sie in der Fülle männlicher That-
kraft fich zu einem Lobredner der AMltersichönheit machen, jo mag e3 mir, bie
fih, Dank einem gütigen Geſchick, eines jehr bevorzugten Alters zu erfreuen hat,
wol anftehen, Ihnen zu verfichern, daß dieje Altersichönheit fernt — wie man
zu jagen pflegt — mag ich es mir wol herausnehmen, Sie an jenes: „pro=
biren Sie's erft einmal!“ Heute wieder zu erinnern, und Ihnen Goethe’3
Worte zuzurufen: „Doc Etwas anders fand ich das.“
Wenn ic Yhnen, dem philofophiich geſchulten Manne, dem jcharfen Dia-
lektiker mit einer von der Ihrigen abweichenden Meinung entgegentrete, jo ift
das ein gewagtes Unternehmen, denn jene Eigenjchaften fehlen mir. Aber da
es doch nicht nur die Philofophen und die ausgezeichneten Dialektiker find, die
ſich mit dem Alter in das Gleiche zu jegen haben, jondern wir Alle zujehen
müfjen, wie wir damit fertig werden, falls wir es erreichen, jo mögen Sie es
fich gefallen Lafjen, wenn ich, angeregt durch Ihren Aufſatz, Ihnen mittheile,
was ich von dem Alter an vielen Andern und num auch an mix jelbft erfahren
habe, und wie ich von dem Alter und der Jugend — im Vergleich zu einander —
denke, nachdem ich in Jugend und Lebenshöhe ein reiches und ſchönes Leben
genofjen, und vom Alter bereit3 auch ein gutes Stüd in aller relativen Er-
freulichkeit gekoſtet habe. Sie harakterifiren Seite 206 im 2. Hefte der Rundſchau
die Vorftellungen, welche die Menfchheit ſich von dem menjchlichen Lebenslauf, von
der Kindheit bi3 zum Greijenalter und bis zum Ende des Lebens madt. Sie
ftellen dabei die Reihe der Eriheinungen auf, und knüpfen daran die Trage,
ob diefe Erjcheinungen einem Naturgejeh entipringen, ob fie eine Nothiwendig-
teit, oder ob fie die Folge „Fehlerhafter Einrichtungen“ find? umd Sie zeigen fich
geneigt, das Lebtere anzunehmen, „weil e8 jedem vernünftigen Plane wider-
ftreite, daß das Leben mit der Höhe des Glückes anfange und zu verringertem
Glüde ſich Fortentwidle”. —
4*
52 Deutſche Rundſchau.
Sie ſagen ferner: „Der Tod beendet jedes Menſchenleben, aber
das nothwendige Ende iſt kein Beweis für eine frühere (meinen
Sie damit vorhergehende?) Abnahme des Lebenswerthes; von dem
MWejen des Todes wiljen wir Nichts, was und zum Rückſchluß
auf einen vorangehenden Zuftand beredtigte Ein phyſiolo—
giiches Gejet unvermeidliher Rüdbildung ift am Gehirn des Men—
hen nit erfannt worden. Auf- und Niedergang al3 Verſchlech—
terung der geſchaffenen Wejen ift fein allgemeines Naturgejeß.“
Das ift eine menfchenfreundliche und ermuthigende Anficht, verehrter Freund!
und ich wollte, Sie hätten mit diefen Ihren Behauptungen Recht. Trogdem
dürften Sie unter den alten Leuten nicht eben viele finden, die Ihren Glauben
theilen, und noch viel Wenigere, die gewillt jein möchten, ſich Ihrem Ausjpruch
zu unteriverfen, daß ein gejundes, hohes, freudenreiches und arbeitsfräftiges Alter
nicht „ein Geſchenk des Gejhides an einen Auserwählten, jondern
erreihbar jedem Menſchen ſei, welder nit durd die fehler-
haften Einrihtungen der Geſellſchaft, durch verfehlte Erziehung
oder eigene Schuld von den VBorbedingungen ausgeſchloſſen ift,
fofern er mit geeigneten Mitteln da3 Leben für einen jolden
Abſchluß vorbereitet“.
Ein inhaltſchweres und ein jehr hartes Wort, deſſen Richtigkeit, auch wenn
wir feine Bedeutung in dem weiteſten Sinne faſſen, ebenjo ſchwer zu erweiſen
fein möchte, als jene frühere Behauptung, daß: „Auf- und Niedergang als
Berfhlehterung der geſchaffenen Weſen fein allgemeines Natur
gejeß jei." Sie jagen ferner: „An den Pflanzen erlangen Schönheit
und Nutzenoft den höchſten Grad, jobald das Wahsthum gänzlich
verjiegt iſt!“ — Gewiß, mein Freund! Aber haben Sie e8 nicht erlebt, daß
auch die Herrlichiten und Fruchtreichiten Bäume allmälig abfterben? nicht er-
fahren, daß das Holz, wenn der Baum nicht zur rechten Zeit gefällt wird, nicht
einmal mehr dem Zijchler brauchbar, jondern kaum noch zum Verbrennen gut
ift? — Und was das Gehirn des Menjchen betrifft, jo habe ih von Nerzten
die Gedähtnigabnahme, der man bei Greijert immer wieder begegnet, auf das
Bulammentrodnen des Gehirns zurückführen, und vielfach ausiprechen hören, wie
man es auch in Phyliologien leſen kann, daß im Alter das Gehirn zufammen=
ihrumpft, daß in dem Schädel jehr alt getwordener Leute jich dadurch oftmals
unausgefüllte Stellen fänden, welche das Gehirn in feiner reifen Entwidlung
früher völlig eingenommen habe.
Sie geben allerdings zu, daß auch: „andere Thiere, als der Menſch,
mit dem zunehmenden Alter zu verfallenſcheinen“, aber Sie fügen
hinzu: „die Stimmung, welde Jugend und Alter in den Thieren
bewirken, ſei niht genügend erforſcht!“ — und Sie werden dabei
wahricheinlich ebenjowol an das Thier und an den Menjcdhen in ihrem Ur—
azuftande, wie an das Hausthier und den durch Gultur veredelten Mtenjchen ge—
dacht haben. Ich fürchte indeffen, jo gern ich zweifeln möchte, die nähere
Betrachtung und die genauere Erforſchung dürften dieſen Ihren hoffenden
Erwartungen keineswegs entſprechen.
. Ueber da3 Alter. 53
Denn die Thiere anlangend, jo haben Landleute und Förſter mir oftmal3
gejagt, daR 3. B. das Tödten des Wildes für dafjelbe in gewiſſem Sinne eine
Wohlthat jei, da es nichts Jämmerlicheres gäbe, als da3 Verenden der alten, .
in der Regel dem Hungertode erliegenden Thiere des Waldes. Und in Betreff
unjerer Hausthiere, wird jeder alte, ſich zuſammenkauernde und ſchweigend in
feinem Bauer auf dem Boden hodende Vogel Ahnen darthun, daß ihm nicht
mehr jo wohl zu Muthe ift, als in den Tagen, da er mit feinem Weibchen
Neſter baute und Fröhlich beim Tagesihimmer da3 Sonnenlicht anjubelte. Und
fehen Sie ji) den alten Hofhund, den alten Bolognejer oder den alten Jagd—
hund einmal darauf an, die Huftend, lahm und halb erblindet in ihrem Winkel
liegen, bi3 man ihrer fiechen Verdrieklichkeit aus Mitleiden den Garaus madt!
Betrachten Sie doc) das alte Roß, ich meine nicht das arme Thier, das ſich
Ichließlic vor der Karre unter Peitichenhieben müde Hinjchleppt, jondern das
wohlgehaltene Lieblingspferd jeines Herrn, das er leben läßt und füttert, auch
wenn es ihm nicht mehr dienen kann. Es war ein anderes Thier, al3 es noch
feinen Herren trug, und übermüthig wiehernd den heißen Stallmuth in weiten
Sprüngen auszutoben ſuchte. — Mit der Heiterkeit der alten Thiere hat es
nicht viel auf fi! und von der Tröhlichkeit des alten Menſchen, an die Sie
glauben, ift auch nicht viel zu rühmen.
Angenehm ift es freilich nicht, vielmehr recht traurig, daß jelbft der Menſch
nicht bis zu feiner lebten Lebensſtunde in der Schönheit und der Freudigkeit
der Jugend fortbeftehen kann; indeß jene geheimnißvolle unerfannte Kraft, in
der und durch die wir find und leben, wirkt und waltet ruhig fort, gleichviel
ob die Nothwendigkeit des Werdens, Wachſens, Reifens und Verfallens, der
wir unterivorfen find wie die Roſe, wie der Vogel, wie der Erdball und die
Legionen Welten, zwijchen denen wir mit ihm ummbergewirbelt werden, uns
wohlgefällt, ob nicht. Die Natur und ihre Bedingniffe oder ihre Gejehe, ich
weiß nicht, wie ich es nennen joll, find weder mild noch graufam, jondern nur
unumſtößlich; und Unterwerfung unter fie ift, dünkt mich, Alles, was uns bleibt.
Sie jedoch ſcheinen fich der Hoffnung hinzugeben, e8 könne dem Menjchen im
Allgemeinen dereint ein ganz anderes und weit befjeres Alter beſchieden werden, als
dasjenige, unter deffen Beſchwerden wir jet die Mehrzahl der Menjchen leben
iehen, und das thue ich nicht. Aber ich komme darin wieder mit Ihnen zuſam—
men, daß eine fortgejeßte Selbfterziehung una die unabweislichen und traurigen
Bedingungen de3 Altern leichter tragen macht, und daß e3 einzelnen Menſchen
unter einem Zufammentirfen vieler und beſonders günftiger Umftände möglich wer: -
ben könne, freundliche und edle Bilder eines bevorzugten Alters in ſich darzuftellen.
Einzelnen! Wenigen! Sie jelber geben e3 ja zu, daß „niemals einem
Jeden ein zufriedenes Loos verbürgt, niemals die Gleichheit
in jedem Einzelnen dargeitellt jein könne“.
Ganz gewiß nicht! denn e3 wird ja niemals eine Geſellſchaft geben können,
in welcher nicht die weitaus größte Mehrzahl der Menſchen fich jener ſchweren
Unterbau-Arbeit zu unterziehen haben wird, auf deren Leiftung, auf deren
Grundlage allein, die fortichreitenden höheren geiftigen Arbeiten gethan werden
fönnen. Diefe Unterbau-Arbeit aber, wie jehr die Maſchinen fie dem Einzelnen
54 Deutiche Rundſchau.
auch in der Zukunft noch erleichtern, und gute Ernährung feiner Gonftitution
zu Hilfe fommen mögen, wird fort und fort einen Einjaß von Kraft verzehren,
der fic) dem Menſchen, der ihr obzuliegen hat, durch frühes Altern und in den
Beichwerden bes Alters merklich fühlbar machen wird.
Man bat Ihnen gejagt, und Sie glauben es, daß unter den Landleuten
ein rüftiges Alter bis zu achtzig Jahren ein gewöhnliches oder doch häufiges
ſei. Davon habe ich indeffen, wohin ich auch gefommen bin, nur gar wenig
Beifpiele gefunden. Die Landarbeit, fraglos eine der naturgemäßeften Bejchäf-
tigungen, macht die Menſchen früh verwittern, und wenn fie fi in dieſem
Buftande bisweilen auch geraume Zeit erhalten, jo find fie von den wirklichen
Leiden, von den eigentlichen Gebrechen des Alters nicht mehr frei al3 wir Andern
auch — im Gegentheil vielleicht von denjelben noch ſchwerer heimgejucht ala wir.
Indeß jelbft zugegeben — was ic), ehrlich geftanden, zu thun nicht vermag
— daß bereinft eine befjere Erziehung, befjere Ernährung und mäßigerer Kräfte-
Aufwand einer größeren Anzahl von Menſchen mit einer. zunehmenden Lang-
lebigfeit auch ein rüftigeres Alter herbeiführen werden, jo wird damit niemals der
Vorzug der Jugend und der vollen Lebenskraft ausgeglichen, niemals das Alter der
Jugend an Glüd, an Schönheit und an Freude ähnlich gemacht, niemals das geiftige
Leid und die ſchmerzlichen Empfindungen des Alter aufgehoben werden können.
Die unvergleihliche Herrlichkeit, die der FYarbenzauber des Morgens, die
der heiße, volle, Fruchtreifende Sonnenſchein de3 Tages und bieten, find auch
mit dem helliten Sonnenuntergange nicht mehr zu vergleichen; denn die Luft
um uns wird beim Untergange der Sonne kühl und Fühler, und wie ihr xojig
jtrahlendes Licht und auch blendet und entzückt, müſſen wir uns dennod) un=
willkürlich jagen: noch ein Augenblid und Alles ift vorbei!
Nein, mein theurer Freund! Es entjprang einer richtigen Erkenntniß der
Mirklichkeit, daß die feinfühligen und in ihrer tieffinnigen Weisheit jo ſchön—
heitsfeligen Griechen ihren Göttern, in denen fie ihre Ideale verkörperten, das
Glück ewiger Jugend andichteten! E3 war nit umfonft, daß ſie das Loos
des Achilles priejen, der in der Fülle der jugendlichen Manneskraft dem Leben
entrüct ward; und Goethe, den wir als das Vorbild einer glücklich beanlagten
und durch unausgejeßte Selbfterziehung zu hoher menſchlicher Vollendung ent=
wicelten Natur bezeichnen dürfen, wußte, was er damit meinte, wenn er in
freudiger Rüderinnerung ausrief:
„Jugend ift Trunfenheit ohne Wein!”
jene Trunfenheit, jenes Schwelgen im Vollgenuffe des bewußten SKraftgefühls
— da3 dem Alter ein= für allemal verloren ift.
Auch Haben, jo weit mir bekannt ift, alle Dichter aller Zeiten die traurige
Mühſal des Alters eingeftanden und beklagt. Homer läßt den Neftor nie von
feinem Alter jprechen ohne das Bedauern, daß er nicht mehr derſelbe ei, der
er einft gewejen, und er erwähnt überhaupt des Alters nicht, ohne e8 mit den
Beitvorten des traurigen, widerwärtigen, ſchwer zu ertragenden Alters zu belegen.
— Im Oedipus auf Golonos nennt der Chor der Greije das Alter:
„ſchwach und finfter
voller Grillen, das der Uebel
Uebel all umwohnen!“
Ueber das Alter, 55
An der Rhetorik des Ariſtoteles, die mir durch Adolf Stahr's Ueberſetzung
zugänglich geworden ift, fällt das Urtheil des tieffinnigften griechiſchen Denkers,
wenn er die Vorzüge der verjchiedenen Lebensalter gegen einander abwägt,
keineswegs zu Gunften de3 Alters, jondern jehr entſchieden zu Gunften der
Augend und der reifen Mannesjahre aus, welche letzteren er an den Schluß der
vierziger Lebensjahre verſetzt, und denen er nahrühmt, daß fie „alle nüßlichen
Eigenſchaften befiten, welche bei Jugend und Alter getrennt auftreten, und von
allen, worin jene zu viel oder zu wenig haben, da3 richtige und ſchickliche Maß
befigen“. Und wie fich die Gulturverhältniffe feit den Tagen, in welden
Ariftoteles ſchrieb, bis zu unferer Zeit auch umgeftaltet haben, an dem Charakter
des Alters und der Jugend, wie er ihn darftellt, haben fie nichts gewandelt; jo
dat vorausfichtli die nächſten paar Jahrtaufende ihn ebenſo wenig ändern
dürften, als die beiden zuletzt verfloffenen.
Aber nicht allein die Griechen, auch die von ihnen jo verjchiedenen Juden
haben das Alter al3 etwas jchwer zu Ertragendes angejehen. Sie ſprechen in
ihrem Gebete, wie ic) von meinem Vater jagen hörte, nachdem fie Gott dafür
gedankt, daß er fie als Männer und nicht als Weiber habe geboren werden
lafjen, in dem Vorgefühl der unvermeidlichen Altersſchwäche den bittenden Wunſch
aus: „Herr, verlaß mich nicht, wenn meine Kräfte ſchwinden;“ und ebenjo
waren die Deutjchen zu allen Zeiten diejer Anficht.
Der greife Walther von der Vogelweide hat bei jeiner Rückkehr in die Heimath
die rührende Klage, welche Jakob Grimm in feiner „Rede über das Alter” anführt:
O weh, wohin find verichwunden all meine Jahre!
Iſt mein Leben mir geträumet oder ift e& wahr!
— — — — — — — —
Die mir Geſpielen waren, ſie ſind jetzt träg und alt,
Bereitet iſt das Feld, verhauen iſt der Wald,
Nur daß das Waſſer fließet, wie es einſtmals floß!
und Jakob Grimm's ſchöne Rede ſelber, was iſt ſie anders als der Verſuch
eines Troſtes und einer Ermuthigung für Diejenigen, über welche des Alters
Schatten ſich gelagert haben. — Wen aber fällt es ein, die Jugend, das Mannes—
alter oder einen Glücklichen zu tröſten und zu ermuthigen? — Und um wieder
und immer wieder auf den erhabenen Geiſt zurückzukommen, den wir faſt nach
allen Richtungen hin als den tiefſten Erkenner der menſchlichen Natur innerhalb
unſerer gegenwärtigen Zuſtände zu verehren haben, um auf Goethe zurückzukommen,
ſo ſagt er ſeufzend:
Keine Kunſt iſt's, alt zu werden,
Es iſt Kunſt, es zu ertragen.
Das Alles wiſſen Sie, mein Freund, ebenſo gut und beſſer noch als ich, und
trotzdem hoffen Sie, es ſolle anders, es ſolle beſſer werden! Trotzdem vertröſten
Sie die Menſchheit auf dieſe Beſſerung?
Sind Ihre Hoffnungen nicht ein wenig zu ſanguiniſch und thut man wohl
daran, den Menſchen Hoffnungen zu erregen, deren Erfüllung jo unwährſcheinlich
ift? Wäre es nicht vielmehr gerathen, fie ohne Weichmüthigkeit auf die unab-
änderliche Naturnothivendigkeit zu verweilen und ihnen mit dem Rathe: „nube
Deine jungen Tage, denn fie find Dein köſtlichſter Beth!” den Antrieb zum
56 Deutſche Rundſchau.
Handeln, und zugleich die Mahnung zur Reſignation zukommen zu laſſen, die
unſer einzig Theil iſt, wenn wir uns an den freundlichen Bildern nicht mehr
genügen laſſen können und wollen, mit welchen alle poſitiven, alle ſogenannten
geoffenbarten Religionen den armen Erdenſohn über die engen Schranken ſeines
Daſeins hinaus auf eine unabſehbare und ſchönere Zukunft vertröſten, um ihm
das Altern und den Tod ſo viel als möglich zu erleichtern?
Daß eine ererbte geſunde Natur, daß günſtige Lebensverhältniſſe und eine
richtige Lebensführung, daß geiſtige Entwicklung und eine Beſchäftigung mit
ernſten Dingen, ein verhältnißmäßig geſundes und ſchönes Alter befördern, wird
Niemand leugnen. Ich gebe Ihnen ſogar zu, daß ich, ſelbſt wenn ich nur bis
in meine eigenen frühen Erinnerungen zurückblicke, ein Abnehmen des Früh—
Alterns in den bürgerlichen Ständen, denen ich angehöre, verfolgen kann. Unſere
Väter und Mütter erſchienen uns Jungen, als ſie fünfzig, ſechzig Jahre zählten,
nicht nur viel älter als wir uns jetzt in dem gleichen Alter fühlen, ſondern
ſie waren in der That von der Theilnahme an dem Allgemeinen in der Regel
weiter entfernt, als wir es gegenwärtig ſind. Sie waren durch die Unbeweg—
lichkeit des damaligen Lebens, durch den engeren Geſichtskreis, in dem fie fich
befanden, jelbft eingeengter, unbeweglicher geworden, als wir gegenwärtig Alten;
und in der Geburts- und Geiftes-Ariftofratie habe ich zahlreiche, erfreuliche Bei—
Ipiele jowohl in vergangenen Tagen, al3 gegenwärtig zu beobachten Gelegenheit
gehabt, daß das Alter den Jahren der Reife lange ähnlich bleiben könne.
Die Beijpiele, die Sie in diefer Beziehung anführen, der Hinweis auf die
Brüder Humboldt, auf Goethe, auf die Grimm’s, auf Blücher, Palmerfton und
auf jo manche unferer Zeitgenofjen, befräftigen den Glauben an die mögliche
Kraft des Alters, wenn ſchon nicht alle Ihre Beiſpiele dazu angethan find, die
Rüftigkeit deſſelben als den Erfolg und Lohn einer weilen und mäßigen Lebens-
führung, al3 eine Art von Monthyon'ſchen Tugendpreis erjcheinen zu laſſen.
Denn unſer alter Marſchall Vorwärts war fein Lebelang ein gar wilder Gefell,
war ein maßlos leidenschaftliher Spieler; und von Lord Palmerfton jang ein
Spottlied noch in feinem Greiſes-Alter:
Der Palmy ift ein Dandy
Und füß wie Zuderfandy!
Erlauben Sie mir jedoch nad) Alle dem, was ich Ihnen jo eben eingeräumt
und zugeftanden habe, Sie zunächſt daran zu erinnern, daß das Alter für die
verjchiedenen Menſchen eine durchaus verjchiedene Sache ift; und daß, wie id)
glaube, die höher angelegten und voller enttwidelten Naturen an gewiljen, nie
abzuändernden Bedingungen de Alters geiftig und gemüthlich ſchwerer zu
tragen und von ihnen tiefer zu leiden haben, als die große Maſſe, der Sie die
Ausfiht auf einen glüclicheren Lebensabend eröffnen zu können glauben.
Ich habe in dem Kreiſe meiner Lebensgenofjen Perjonen gekannt, die man,
um mid) Ihres Ausdrucds zu bedienen, wirklich faſt „Wundergreife“ nennen
fonnte, und die man nur deshalb nicht alſo nannte, weil das Wunder ihres in
Jahrenkommens fich natürlich jehr allmälig vor uns vollzog, und weil wir das
Wort no nicht in unjerm Sprachſchatz haben.
Ich Habe den Vorzug gehabt, Alexander von Humboldt jchon um 1842
Ueber da3 Alter. 57
perjönlich Fennen zu lernen, und ihn in Eleineren und größeren Zwiſchenräumen
vielfach twiederzujehen. Ich durfte mic) an dem Verkehr mit dem Fürſten
Pückler duch eine Reihe von Jahren erfreuen, nachdem fein abenteuernder und
ehr bedenflicher Lebensweg auf der Höhe des Alter3 angelangt, und er felber
ein jehr liebenswürdiger Greis geworden war. Wir haben vor allen Dingen
den trefflichen General der Infanterie, den edlen Ernſt von Pfuel, zu unfern
Freunden zählen können, den ich weit über fein achtzigftes Lebensjahr hinaus,
noch im Rheine und in der Nordjee mit jungen Männern um die Wette
ſchwimmen jah, und dem bis an feinen, nach dem neunzigften Jahre erfolgten
Tod jeine geiftigen Fähigkeiten und auch jeine Sinne wunderbar treu geblieben
waren. Nur jeiner Augen Licht hatte angefangen abzunehmen. Wir haben
una an der Geiftesflarheit des prächtigen, achtzigjährigen Rauch noch wenige
Wochen vor jeinem Tode in Rietjchel’3 gaftlihem Haufe erquickt; auch Varn—
bagen, unſer langjähriger Freund, befand ji, als ex mit zwei und fiebzig
Jahren ftarb, noch in voller Rüftigfeit, und eben an ihm, wie an General
von Pfuel habe ich niemals eine jener Altersſchwächen wahr genommen, die bei
Humboldt doch mehr und mehr, und recht bemerkbar, hervorgetreten waren.
Neben diefen Männern habe ich auch verjchiedene Matronen gefannt, die
für eine Art von Wunder gelten konnten. Die Präfidentin Bloc) war bis zu
den Siebzigern in der That noch ſchön und in voller Anmuth. Frau Sahra Levy,
die Zeitgenojfin und Freundin Alerander von Humboldt’s, hatte tro mancher
förperlichen Gebrechen, die fie ftandhaft trug, mit neunzig Jahren noch ihre
männliche Verſtandesſchärfe und ihr beivundernswerthes Gedächtniß behalten.
Die berühmte Hofräthin Herz durfte ſich faſt gleichen Glückes erfreuen, wenn
ihre Körperleiden ihr Ruhe gönnten; und die Tochter von Charlotte von Kalb,
die kluge, geiftvofle, und vor allen Dingen liebenswürdige Hofdame Edda
von Kalb, rief mir einmal, al3 ich fie daran erinnerte, wie lange wir einander
fennten, mit einer wirklich” noch bezaubernden Grazie lachend zu: „wenn Sie
mit Ihren 60 oder 61 Jahren nur nicht jo pomphaft von langer Zeit reden
wollten! Was willen Sie von langer Zeit? — Seien Sie erft einmal über
achtzig Jahre alt, jo wie id), dann wollen wir weiter davon reden!“
Und — troß alledem und alledem — waren feinem dieſer bevorzugten
Menichen, jene geiftigen Altersleiden eripart geblieben, von denen feine Gultur
die Menſchen je befreien, und an denen, ich wiederhole es gefliſſentlich, der
Menſch, der auf ein thätiges Leben, auf ein erfolgreiches Wirken zurüczubliden
bat, faft immer jchwerer zu tragen haben wird, als der unbedeutende; jo daß
die Anhänger der Ausgleihungslehre darin eine Beitätigung für ihre Anficht
finden mögen. Denn im Allgemeinen erleiden natürlich wenig begabte, in mitt-
leren Berhältnifjen lebende Menjchen, die fich in Keinen Thätigkeiten fortbewegen,
durch das Alter die geringfte Einbuße. Eine ſchlichte Hausfrau kann im Kreiſe
ihrer Kinder und Enkel faft ohne Glüdsverminderung, vielleicht jogar mit einem
Zuwachs von Behagen, immer und immer fort, jo lang der Lebensfaden reicht,
in ihren Stuben und Schränten Ordnung halten, ihre Enkel überwachend ftriden
und plaudern, und fich über Kleines und Geringes, das fie und die Ihren per-
fönli angeht, freuen und betrüben wie von Anbeginn. Ein Calculator, ein
58 Deutſche Rundſchau.
gelaſſener Rentner, können ihre Geſchäfte lang beſorgen, ihr Capital verwalten,
und Abends bei der Pfeife und dem Kruge mit ſiebzig Jahren kannegießern wie
mit vierzig. — Und da die Naturen der Menſchen immer verſchieden bleiben
werden, ſo werden die ruhigen, zum Aufnehmen, zum Studiren, zum Betrachten
geneigten Naturen das Alter behaglicher durchleben, als die auf das Schaffen,
das Handeln, auf das Leiten und Herrſchen geſtellten Menſchen. Auch der
Gläubige, welcher ſich der perſönlichen Unſterblichkeit verfichert hält, wird das
Alter und den ihm nahe bevorftehenden Tod gelaffener betrachten, als viele
jener Andern, denen der Glaube unmöglich ift, während das Aufgehen und Neu—
werden in dem Al’ ihnen nicht Erſatz bietet für ihr individuelles Sein. Ya,
ich ſcheue mich nicht, zu behaupten, daß jelbft der körperlich jchöne und ftarke
Menſch es viel ſchwerer hat, als denkender Beobachter feinem allmäligen Ver—
gehen beizuwohnen, als der unſchöne und ſchwache.
Iſt die Schönheit wirklich das, als was wir fie preiſen, ein hohes Geſchenk
der Natur, haben wir uns dazu herangebildet, ſie zu erkennen, ſie zu lieben, uns
an ihr zu erfreuen, wo immer ſie uns entgegentritt, ſo muß der durchgebildete,
ſchöne Menſch nothwendig auch die eigene Schönheit lieben, und wie ihm die
Zerſtörung oder die Beſchädigung eines ſchönen Kunſtwerkes wehe thut, muß
ſein eigener körperlicher Verfall ihn ſchmerzen, muß er ihn beklagen. Es iſt ja
eine wirkliche, bewußte Freude, den ſchönen Kopf in jungen Tagen hoch zu tragen!
Es iſt ein Genuß, mit elaſtiſchem Schritte den weiteſten und ſchwerſten Weg
leicht zu durchmeſſen. — Und es ſollte kein Schmerz ſein, wenn der Rücken
— wie bei Humboldt — ſich mehr und mehr in Schwäche krümmt, wenn der
Nacken das Haupt nicht mehr empor zu halten vermag, daß es niederſinkt und
ſich beugt wie die volle, ſchwere, zum Schneiden reife Aehre? — Es ſollte nicht
ein Kummer ſein, wenn das einſt ſo ſchnelle Auge ſich erſt gefliſſentlich erheben
muß, um denen nachzublicken, die raſchbeſchwingten Fußes an der Bank vorüber—
eilen, auf der man wider ſeinen Willen raſten muß?
Lauf Du nur! ſagte Stahr eines Tages, als wir im Clary'ſchen Park zu
Tepli mit Bewunderung einen prächtigen jungen Mann ſchnell an uns vorübergehen
jahen. Lauf Du nur! Du befommft doc) einmal das Podagra und mußt hier
figen, während Andere laufen! — Und wir brachen Beide in ein helles Lachen
aus, denn uns fielen al3 komiſche Parallele Goethe's Worte bei:
Ich neide nichts, ic) laß es gehn
Und kann mich immer Manchem gleich erhalten!
Zahnreihen aber, junge, neidlos anzufehen,
Das iſt die größte Prüfung mein, des Alten!
Sie, mein Freund! Ste wollen das freilich nicht gelten laſſen. Sie wollen
nicht glauben, daß die Natur „die Abnahme der Kräfte, die Vermin—
derung der fyreuden und der Genußfähigkeit, derjpäteren Lebens—
hälfte auferlegt haben werde“. Obſchon wir: „überwiegende Bei-
ipiele eines jolden Entwidelungsganges ſehen“, können Sie fi
nicht überzeugen, daß in diefen Fällen „die Naturnothwendigfeit als
Urſache jich beftätigt habe“!
Sie mahnen mid) mit diefen Zweifeln an den alten Pfuel und an einen
Ueber das Alter. 59
uns befreundeten, berühmten Zoologen. Pfuel pflegte, wenn er recht friſch und
munter war, oftmals jcherzend auszurufen: „es ift noch gar nicht betviejen, daß
die Menſchen alle fterben müſſen! Es find zwar bisher noch Alle geftorben, aber
dat der Menſch fterben muß, ift damit noch keineswegs bewieſen.“
Und eben}o behauptete jener geiftreiche und liebenswürdige Gelehrte, während
er an feinem gaftlichen Tiſche einen großen Schinken anjchnitt: wenn der Menſch
jich jelber, feine eigene individuelle Subftanz effen könnte, könnte er ewig leben!
So lange dies Lebtere aber nicht der Fall ift, und jenes Erftere nicht er—
tiefen wird, werden auch Sie, werther Freund, bei der verftändigften und weiſe—
jten Lebensführung es dereinjt erfahren müſſen, daß in der zweiten Lebenshälfte
Ihre Kräfte ſchwinden; und fie werden — ich hoffe, jo ſpät als irgend möglich —
e3 erleben, daß dem Alter ein geiftiges Erduldenmüſſen auferlegt ift, welches die
zweckmäßigſte Ernährung, die befte Erziehung, die günftigften Lebensverhältniffe
und jelbjt der Wunderbau fünftiger idealer Gejellichafts- und Staatsgeftaltungen,
ihm nicht erſparen können. Sie werden dann auch dahin fommen, mit weniger
Zuverfiht auf die barmherzige Weisheit der Natur zu bauen, und nicht darüber
in Zweifel bleiben fünnen, ob die Jahre der Jugend und der Kraft denen de3
Alters vorzuziehen find.
Die Jugend und da3 Mannesalter find zunächit eben durch ihre Kraft und
die mittelft derjelben mögliche Bedürfniklofigkeit, unendlich freier al3 das Alter;
und der Tag der Jugend ift aus dem gleichen Grunde jehr viel länger, al3 de3
Greifes Tag. Das Alter wird bedürfnigreih, es wird langjam in feinem
Thun und hat Raften nöthig, wie e3 fi) auch dagegen jtemmt und wehrt. Es
büßt dadurd) mit jedem Tage mehr und mehr an jeiner perjönlichen Freiheit
ein. Der Greis wird abhängig von dem Beiftand Anderer, während er al3 Dann
Berftand gewähren konnte, er wird abhängig von des Wetters Gunft und Un—
gunſt, denen er al3 Mann getroßt; er kann nicht mehr wie der willensftarfe
Mann beftimmen, was er an dem Tage, der vor ihm Liegt, vollbringen wird.
Goethe ſpricht einmal mit Edermann darüber, daß ex die wichtigften Nemter
im Staate, obſchon er, der Grei3, noch ein jolches befleidet, nicht von Greifen,
ſondern von Männern in der Fülle der Kraft verwaltet jehen möchte. Ecker—
mann verweift ihn, wie aud Sie das in Ihrer Arbeit gethan, auf eine Anzahl
von Männern, die in hohem Alter noch Bedeutendes geleitet Haben, und Goethe
giebt darauf zu, daß bejonders begabte Naturen bisweilen eine Art von Ver:
jüngung, eine Epoche neuer Productivität erleben können, „aber,“ jet ex Hinzu,
„wie mächtig ſich auch eine Entelechie erwweile, fie wird doc) über das Körperliche
nie ganz Herr werden, und es ift ein gewaltiger Unterichied, ob fie an ihm einen
Alliirten oder einen Gegner findet. Ich Hatte in meinem Leben eine Zeit, in
der ich täglich einen gedructen Bogen von mir fordern konnte, und es gelang
mir mit Leichtigkeit. — — Jetzt Toll ich dergleichen wol bleiben laſſen; und doc)
fann ich über Mangel an Productivität jelbft in meinem hohen Alter mid) feines-
weg3 beflagen. Was mir aber in meinen jungen Jahren täglich und unter allen
Umftänden gelang, gelingt mir jet nur periodenweije und unter gewiſſen gün-
ftigen Bedingungen.“
Weil nun der über fi) nachdenkende Menſch fi im Alter der Unficherheit
60 Deutiche Rundichau.
feiner Arbeitskraft und feiner Dauer überhaupt durchaus bewußt jein muß, ver-
liert er den Muth zu großen Unternehmungen, zu weit ausjehenden Arbeiten,
fo fern dieje eben nur von ihm vollendet, und nicht von einem Andern da fort
gejeßt werden fünnen, two das Lebensende des Beginners fie ftille ftehen macht.
Es hilft Nichts, daß man ſich jagt: vielleicht gelingt’3, daß Du's zu Ende
führft! daß man ſich vorhält, wie auch in der Jugend die nächte Stunde und
der nächſte Tag uns nicht gewiß find; daß man fich dahin gewöhnt, an das uns
bevorftehende Ende in der Weile zu denfen, in welcher Leifing uns anräth: „die
Unfterblichkeit jo gelaflen zu erwarten, wie den nächſten Tag.‘
Das Alter und die Jugend befinden jich in diefem, wie in allen Fällen, in
einer ganz verichiedenen Glückeslage. Die Jugend ift hoffnungsreich, das Alter
hat Nichts oder doch nicht viel zu hoffen. Selbſt der nicht bejonders Fräftige
Jüngling und Mann haben, mwofern fie ihre Kräfte nicht geradezu verwüften,
einen verhältnigmäßigen Anſpruch auf Gejundheit und auf lange Dauer. Sie
haben ein Recht darauf, während jelbft das Fräftigfte Alter ſich der Erkenntniß
nicht verſchließen kann, daß es eine Gunſt des Schiejals ift, wenn jeine Tage
fi in leidliher Gejundheit mehr und mehr verlängern. Wer aber ein
Recht zu haben glaubt, ift demjenigen weit überlegen, der mit
Ihwanfender Zuverſicht ji) auf eine bejondere Gnade zu ver—
tröften hat. Des Jünglings wachjender Muth, des Greijes wachſende Ver—
zagtheit; des Mannes Zuverficht, des Greiſes Bedenklichkeit; de Mannes Frei-
gebigkeit, des Greijes oft bis zum Geize ausartende Sparjamtfeit find eben Natur-
bedingniffe; denn jene Eigenſchaften entipringen bei dem Einen aus der Einficht
in jeine Kraft, bei dem Andern aus dem Bewußtſein feiner zunehmenden
Schwähe — und die Ausnahmen, die man findet, heben dieje Regel keinesweges
auf. Für Jeden fommt einmal der Tag, für den Einen früher, für den Andern
ipäter, an dem er fi) jagen muß: Dies oder Jenes, was du noch vor einem
Jahre konnteſt, das kannt du jet nicht mehr! — und Sie mögen fich das Alter
Ihrer Zukunftsmenſchen vorftellen, wie Sie wollen: über das bittre Weh einer
jolchen Erkenntniß werden Sie auch den Weijeften nicht hinweg bringen, wenn
ichon er, weil er e8 muß, fi) vor der Nothwendigkeit bejcheidet.
Eben jo wenig kann die vollfommenfte Staatsorganilation dem Alter den
Schmerz eriparen, den Goethe in den Worten ausipricht:
Ein alter Mann ift jtet3 ein König Lear! —
Was Hand in Hand mitwirkte, jtritt,
Iſt Tängjt vorbei gegangen;
Was mit und an Dir liebte, Litt,
Hat fi) wo anderd angehangen.
Die Jugend ift um ihretwillen hier;
63 wäre thöricht, zu verlangen:
Komm, ältle Du mit mir!
Mit diefem „„Hingehen‘ feiner Zeitgenofjen gehen dem Menſchen aber mehr
al3 nur jeine Freunde verloren. Es wird ihm damit eines der edelften Vorrechte
bes freien Mannes geraubt: Das Recht von feines Gleichen beurtheilt und ge
richtet zu werden.
Wer lange lebt, wer mehr als zwei jogenannte Menjchenalter durchwandert
Ueber das Alter, 61
bat, lebt, auch wenn er jeine Geburtsftätte nicht verlafjen hat, in gewilfem Sinne
nicht mehr in jeiner eigentlichen Heimath, und kaum noch unter feinen Lands—
leuten: am wenigſten in unjerer To jchnelllebig gewordenen Zeit. Die An-
ſchauungen, die Empfindungsweije der Generationen bleiben nicht diejelben; der
Charakter der Völker jogar geftaltet ſich allmälig um. Dem Yüngling unferer
Tage ift e8 faum mehr möglich, fich in das Entzücen Hineinzudenten, mit welchem,
als wir jung gewejen find, uns die Dichtungen eines Klopftod, eines Fouqué,
eines Jean Paul erfüllten. — Den Mann, der uns jeßt zur Seite fteht, macht die
gegenwärtige Entwidlung unferer politiihen Zuftände weniger freudig und ftolz
ala und. Er ift weniger al3 wir mit dem bereit3 Errungenen zufrieden geftellt.
Gr verlangt nad) immer neuem, raſchem Fortichritt, weil er die Zeiten nicht
gleih uns durchlebt, und nicht mit und durchlitten und durchkämpft hat, in
denen unfjere gegenwärtigen Verhältniffe al3 ein faft Unerreichbares angejtrebt
und angejehen wurden. Und wie der Greis ſich jelber hiftoriich wird, im Hin-
bli auf jeine Jugend, jo hat er unter dem ihn umgebenden jüngeren Geichlechte,
wenn ex nicht zu den wenigen Glücdlichen gehört, die fich eines Nachſommers
ihrer Kraft zu rühmen haben, fi häufig auf eine nicht gerechte, oftmal3 auf
eine falſche Beurtheilung feines Weſens und feiner Leiftungen, umd nur in den
jeltenften Fällen auf ein volles Verftändnif derjelben gefaßt zu machen; während
es ihm ſelber hingegen jehr wol möglich ift, das um ihn her fich entwickelnde und
fortichreitende Gejchlecht mit ruhig erwägender Betrachtung zu begleiten. Ya
mehr noch! Die Zufriedenheit des Menjchen mit fich jelber, der Glaube an
fein Können, an feine Bedeutung für das Allgemeine, ſchwinden mit dem Alter.
63 gibt kaum einen einigermaßen begabten jungen Mann, der nicht den
Glauben hegt, mit ihm beginne eine neue Aera; die Welt habe auf ihn gewartet!
Und wie mancher reife Dann genießt das erfreuende Bewußtiein, eine der Säulen
zu fein, von denen das Wohl der Gejammtheit getragen und geftübt wird. —
Der Greis hingegen, der jo viele Große neben fich jterben Jah, ohne daß es den
Weltlauf ftille ftehen machte, fieht meist lächelnd auf jein vergangenes Thun
zurüd, und lernt e8, fich zu jagen, daß Niemand unentbehrlich ift, daß jeder
freigewordene Pla fi ausfüllt. Er hat die Ermuthigung weit nöthiger, als
die Jugend, der man fie jo freigebig angedeihen läßt.
Und denfen Sie num erſt an die Herzensvereinfamung, die des Alters Theil
it. Kaum ein Tag vergeht, an welchem die Zeitungen dem reife nicht die
Nahriht von dem Tode eines feiner Bekannten, eines feiner Mitjtrebenden,
eines feiner Freunde bringen! — Es fommt dabei ganz unwillkürlich die Em-
vfindung in ihm auf, mit twelcher man in jpäter Stunde ſich in einem Gejell-
ſchaftsſaale umblidt. Der Raum um ihn ber ijt leer und weit geworden, das
fröhliche Geſpräch, an dem er Theil genommen, ift verjtummt. Er fieht ſich
um, die Gäfte, jeine Freunde, find fat alle fort — und mit einer Art von
Schreden jagt er jich: aber dur mußt jet gleichfalls gehen! das Feſt ijt aus!
Es hat uns einmal jehr erichüttert, ala Pfuel, nachdem er uns von feinem
Leben mit Heintih von Kleiſt, mit Ernſt Moritz Arndt, von dem ruffiichen
Feldzug, von der Schlacht bei Ligny, von der Zeit, in welcher er Commandant
bon Paris, und von jener andern, in welcher er 1848 preußiicher Kriegsminifter
62 Deutiche Rundſchau.
geweſen war, in klarſter Lebendigkeit lang erzählt hatte, plötzlich die einge»
ſunkenen und doch noch bligenden Augen mit der fnöchernen Hand verdedend,
mit mächtiger Stimme in den Ruf ausbrach: „es ift ein ungeheurer Kirchhof
um mid her!“
Vielleicht muß das Herz jchon halb erftarrt fein, um, wie es doch geichieht,
mit verhältnigmäßiger Gelaffenheit auf jo zahlveihe Gräber Hin zu bliden.
Denn in gar vielen Briefen, die ich während des letzten Kriegs von unjern
jüngern Kämpfern empfangen, habe ich herzerſchütternde, lebhafte Klagen wieder-
tönen hören, wenn der Tod den Kampfgenofjen aus den Reihen riß, wenn
immer tvieder das traurige:
Ah hatt’ einen Kameraden,
Einen befjern findſt Du nit!
gejungen werden mußte. Und die Jugend darf mit Gewißheit darauf rechnen,
neue Kameraden zu gewinnen, fie befitt dazu fich jelbft noch ganz, und alle
ihre Hoffnungen und Freuden. Das Mlter Hingegen bat für die ihm ent-
riffenen Lebensgenofjen nicht mehr auf Erfolg zu hoffen. Und Freuden? — —
Nein, mein Freund! hoffen und erwarten Sie von dem Alter nicht, daß es
befjer, oder daß es auch mur jo qut jei, als die Zeiten der menſchlichen Kraft.
Es bleibt wünjchenswerth, ein höheres Alter zu erreichen, zu Jahren zu kommen,
weil „das Athmen im rofigen Lichte” dem Nichtmehrjein vorzuziehen, und je
nad) der Kraft, mit welcher diejes Athmen noch geichieht, erfreulich ift. Ich
gebe aljo unbedenklich zu: das Alter ift uns wünjchenswerth, kann ſogar erfreulich
und ſchön fein, Jo lange uns die Menjchen noch zur Seite ftehen, die am engjten
und verftändnißvollften zu uns gehören, für die zu leben uns ein Glüd, ung ein
hohes Glück ift. Aber gerade in diejes Liebesglüd des Alters miſcht fi am
bitterften das Bewußtſein der nahen Endlichkeit. Alltäglich möchte man mit
Franz dem Erften einftimmen in die jchmerzlich ſehnſuchtsvolle Klage: „C'est
trop peu d’une vie pour tant d’amour!* — Mit Goethe'3 Fauft möchte man
ausrnfen: „Nein! Kein Ende? kein Ende!” — denn mitten in da3 ftille unver:
änderte Glücksgefühl getheilter und durch ein ganzes Leben gleich und groß ge-
bliebener Liebe ertönt in unferm Herzen des armen Veilchens wehmüthiges:
„Ach! nur ein Kleines Weilchen“ und füllt mit Thränen unſer Auge.
Hat das Alter Freude, To ift fie doc) feine recht perfünliche mehr. Sie wird
überiviegend Theilnahme an Anderen, an Fremdem. Das Alter kann erquict
twerden durch die Liebe der Seinen, beruhigt und zufrieden geftellt durch deren
Wohlergehen. Es kann erhoben werden durch dad Schöne in der Kunſt, durch
die Fortſchritte in der Wiljenichaft, durch Zunahme in dem allgemeinen Ge-
deihen, wenn es ihm vergönnt ift, im Zeiten zu leben, in denen große fort-
Ichreitende Entwiclungen ſich vollziehen. Es fann eine Beruhigung darin finden,
wen die Wirklichkeit an der Herftellung jeiner Ideale arbeitet. E3 kann eine
Genugthuung darin genießen, wenn ihm die Arbeit noch gelingt, wenn die neue,
es umgebende Generation ſich noch an derjelben erfreut, wenn ihm nod) eine
Wirkfamkeit zu üben möglich ift — und das ift allerdings recht viel. Indeß
die Freude, jene ausfüllende, überwältigende Freude, die das Blut wallen, das
Herz höher ſchlagen, das Auge ftrahlen macht, jene jubelnde, zweifelloje, hoff
Ueber das Alter. 63
nungsjelige Freude, die im Moment für jahrelanges Leid entichädigt, jene Freude,
in welcher der Menſch fich wie ein vollfommenes, zu jedem Glüd, und nur zum
Glück berufenes Weſen empfindet, diefe Freude ift dem Alter ein für allemal
verjagt. — Wer aber jollte diefe Art von Freude nicht vermiffen immerdar? Wer
die Nothwendigkeit ihres DVerluftes nicht immerfort beflagen, der fie einjt voll
und ganz genofjen hat?
Man Hat im Alter Schon zufrieden zu jein, wenn man in demjelben von
den jelten fehlenden Schwächen und Gebrechen des Alters verfchont bleibt. Wenn
der Schlaf una nicht verläßt, wenn das Gedächtniß uns nicht ſchwindet, wenn
unſere Sinne vorhalten, tvern Taubheit, Blindheit, Lähmung, uns den Verkehr
mit den Menjchen, ung die Selbftbeihäftigung, uns den Genuß der Natur nicht
verfümmern; wenn e3 uns gelingt, liebevoll theilnehmend zu bleiben, das Herz
vor Selbtiucht zu bewahren, und uns in entjagender Ruhe, in jogenannter
Weisheit, bejcheiden zu lernen. Aber die muthige Thorheit der Jugend hat vor
des Alter Weisheit mancherlei voraus; und Goethe felber hatte nöthig, ich
zu feinem Troſte zuzurufen:
Die Jahre nehmen Dir, Du jagft, jo Vieles:
Die eigentliche Luft des Sinnenfpieles;
Erinnerung des allerliebjten Tandes
Bon geftern; weit und breiten Landes
Durchſchweifen frommt nicht mehr! jelbft nicht von oben
Der Ehren anerfannte Bier, das oben,
Erfreulich fonjt. Aus eignem Thun Behagen
Quillt nicht mehr auf, Dir fehlt ein dreiftes Wagen!
Nun wüht ich nicht, was Dir Beſondres bliebe!
„Mir bleibt genug! Es bleibt Idee und Liebe!”
dee und Liebe! — Das find die Schwingen, mit denen da3 Alter fich
über feine traurigen Bedingungen erheben, fich zu eigner und Anderer Befrie—
digung erhalten, und verhältnigmähig wirkſam machen kann, jo daß man bis
zu einem gewiljen Grade von des Alters Schönheit Tprechen darf.
Aber Michel Angelo, der wahrlich feiner von den ſchwachen, von den. ver—
zagten Greifen war, und der auf eine erhabene Vergangenheit zurüdzubliden
batte, jchreibt dennoch in einem feiner Briefe, ala Entgegnung auf eine ihm
geipendete Anerkennung: „Ich bin alt und der Tod hat mich von den Jugend»
gedanken abgewandt. Wer aber nit weiß, was e3 mit dem Alter
auf ji hat, der warte nur, bi3 er jelber hineinfommt; vorher
fann er es ſich do nicht denken!“
Sie jehen, werther Freund! da3 läuft, obſchon in edlerem Style ausgedrückt,
auf mein damaliges: „Probiren Sie e3 erſt!“ hinaus. Und wenn Sie dereinft
im Alter, wie es bei Jhnen nicht ander möglich fein kann, auch auf eine
würdige und wirkſame Vergangenheit zurüczubliden haben werden, jo werden
Cie es, fürchte ich, troßdem nicht läugnen Können, daß es fich heiterer lebt mit
jener langen, weiten Ausficht vor fi), wie die Jugend fie bejitt, ala mit einer
nicht fortzubarmenden Schranke vor dem trüber gewordenen Blick! — Sogar die
Freude an allem Erwerbe ift eine andere, wenn man den Beſitz noch Yang zu
nugen hoffen darf, als wenn man, erwerbend und befigend, ſich unwillkürlich
64 Deutiche Rundichau.
die allerdings jelbftiiche Frage aufzumwerfen nicht vermeiden kann: wozu das
Alles? was joll Dir's noh? und weshalb fam e3 nicht in den Tagen, da Du
es jo nöthig brauchteſt, jo jehr begehrteft und erjehnteft ?
Sieht man daneben, daß jogar ein Goethe fich des el nit ent=
ichlagen konnte:
Sp gieb mir auch die Zeiten wieder,
Da ich noch jelbft im Werden war,
Da fich ein Duell gedrängter Lieder
Ununterbrochen neu gebar,
Da Nebel mir die Welt verhüllten,
Die Knospe Wunder noch veriprach,
Da ich die taufend Blumen brach,
Die alle Thäler reichlich füllten.
Ich Hatte Nichts, und doch genug:
Den Drang nah Wahrheit und die Luft am Trug,
Das tiefe, ſchmerzenvolle Glüd,
Des Hoffens Kraft, die Macht der Liebe,
Gieb meine Jugend mir zurüd!
jo werden Sie es wol verzeihlih finden, wenn die Mehrzahl der Menjchen,
und ich mit ihnen, an die entflohene Jugend mit folder Sehnjucht denken, wie
unfer großer Meifter es gethan; und wenn ich nicht zu hoffen wage, daß das
ipäte Alter, dem ich allgemach, wenn auch in dankenswerther Kraft entgegen
gehe, mir in den Freuden, welche Sie demjelben möglid) glauben, auch nur einen
Schatten de3 Glückes darbieten könne und werde, da3 meine Jugend und mein
bisheriges Leben mit feinem Sonnenjchein belebte.
Fragen Sie mich nun endlich, weshalb ich alle diefe Betrachtungen nicht
für mi) behalte? weshalb ich diefelben Ihren Anfichten entgegenjtelle? jo
antworte ic) Ihnen: mein Brief ift eine „Rede für das Haus” — und weiter
Nichts! Sie müffen es ja willen, daß mir an Jhrer guten Meinung viel gelegen
ift. Ich möchte aljo natürlich nicht, daß Sie, wenn die Trübjal, die Gebrechen,
die Schwachheit des Alters dereinft auch mich, twie jeden Andern, befallen wer—
den, deshalb übel von mir dächten. Ich möchte nicht, daß Sie meinen könnten,
ich hätte mich über „eine verfehlte Erziehung“ zu beflagen, oder ich hätte mic
„durch eigenes Berichulden von den Vorbedingungen ausgejchloffen“, die den
Menschen zu jenem hohen, gefunden und glüdlihen Alter befähigen und be-
rehtigen, das Sie den kommenden Gejchlechtern in einem vervolltommneten
Geſellſchaftszuſtande in Ausficht ftellen zu können glauben.
Ich hoffe vielmehr, daß Sie dann Gnade fir Recht ergehen Laffen werden
an Ihrer alten Freundin; und ich verfichere Ihnen, daß Niemand es Ahnen
aufrichtiger wünjchen kann als id, daß Ihrem, in jedem Betrachte jo ehrenvoll
ausgezeichneten Mannesalter das von Ihnen geglaubte jchöne Greijenalter folgen,
dat Sie bis in die fpäteften Jahre ein rüftiger Kämpfer im Streite der Männer
bleiben, und in unverminderter leiblicher und geiftiger Jugendkraft, allſommerlich
des Hochgebirges Gipfel frohen Sinn’s erklimmen mögen.
In Verehrung und Freundſchaft Fanny Lewald.
Lawſon's
„Wanderungen im Innern von Neu-Huinea.“
Don
Dr. Adolf Bernhard Meyer,
Director am Königl. natur-hiſtor. Muſeum in Dresden.
— ——
Wanderings in the interior of New-Guinea by Captain J. A. Lawson. With
a frontispiece and map. (London, Chapmann & Hall, 1875.) 283 8. 8°,
Im Jahre 1857 erichien im „Ausland“ *) ein anonymer Artikel eines Deutjchen
— aus einer St. Franzisco-Zeitung entnommen — über einen Ausflug in's
Innere von Neu-Öuinea. Diejer Ausflug jollte von Dore aus, an der Nordküſte
der Inſel, dem von vielen Neu-Guinea-Fahrern bejuchten Orte in der Geelvinks—
Bai, angetreten worden jein, allein dem mit der Localität Bekannten wird bei
Durchleſung des Artikels jofort ar, daß die ganze Erzählung eine fingirte ift.
Der Verfaſſer beichreibt eine Fahrt einen Fluß hinauf, melde mehre Tage
gewährt haben joll. Der größte Fluß, welcher fich in der Nähe von Dore vor-
findet, ift der Fluß von Andei — mehre Stunden von Dore entfernt — und diefer
ift höchſtens, je nach feinem Wafjerftande, 4, —!/, Stunde weit aufwärts befahrbar.
Die ganze Geelvinks-Bai erhält in der That feinen größeren Zufluß, jo weit bis
jetzt bekannt; es ſei denn, daß vielleicht in der Gegend der Niederungen von Wan-
dammen oder Nachbarſchaft fich noch ein nennenswerther Strom befände, was jedoch
wegen der Schmalbeit des Landes hier nicht gerade wahrjcheinlich ift. Auch ift jene
Sumpfgegend äußerft jchiwierig zu erreichen, und die pofitiven Angaben des
Anonymus laffen den Verſuch überflüffig erfcheinen, eben durch Umdeutung der—
jelben den Autor vor dem Vorwurf, eine Reijebejchreibung erfunden zu haben, be-
wahren zu wollen. Der große Fluß, welcher eine mehrtägige Fahrt ſtromaufwärts
ermöglichen könnte, liegt am Oftende der Geelvinkt3-Bai — der Amberno**) —,
allein jeine ungeheuer ftarfe Strömung wird eine unter gewöhnlichen Verhält-
niffen umternommene Befahrung geradezu vereiteln. Es Tann daher darüber
fein Zweifel obwalten, daß jener Berichterftatter feine Lejer zu täufchen beab-
fihtigte, und es verlohnt ſich nicht der Mühe, zu unterfuchen, wie viel an feiner
Schilderung wahr, wie viel fingirt jein mag. Die immerhin anſpruchsloſe
*) ©. 523.
**) Richtiger „Mamberan“.
Deutſche Rundiäau. I, 10, 5
66 Deutſche Rundichau.
Weiſe der Veröffentlichung jener Reijebefchreibung forderte auch keineswegs die
Kritik heraus, und es verfiel der betreffende Artikel daher jeiner verdienten
Vergefjenheit. Auch mir würde e3 kaum eingefallen fein, nach 18 Jahren die
Aufmerkjamkeit des Lejers auf denjelben Hinzulenten, wenn ich in ihm nicht ein
Heines Vorfpiel zu dem in der Meberfchrift genannten Buche des Gapt. Lawſon
erblickte, da3 mir paffend erſchien, der Beſprechung diejes Buches als Einleitung
zu dienen.
Gapt. Lawſon behauptet nichts mehr und nichts weniger, als von Anfang
Juli des Jahres 1872 bi3 Anfang Februar 1873 von der Südküſte Neu-
Guinea’3 aus, von einem Plate Namens Houtree, der auf 143° 17° 8” 5.2. und
99 8° 18. Br. liegt, die ganze Inſel in ihrer größten Breite von Süden nach
Norden bis etwa 20 oder 30 engliihe Meilen von ber Nordfüfte entfernt
(S. 216) durchkreuzt und denjelben Weg zurück gemacht zu haben; er erreichte den
bezeichneten nördlichſten Punkt am 30. October, brauchte alfo circa 4 Monate
für die Hin- und circa 3 Monate für die Rückreiſe und legte in diefer Zeit
eine Strede von circa 200 deutjchen Meilen zurüd. Auf einer Kartenfkizze ohne
Eintheilung und Scala iſt diefe Route ziemlich genau verzeichnet, und es
ift beſonders zu bemerken, daß unſer Reifender die ganze Rüdtour ohne Compaß
machte, da ihm diefer, wie all’ jeine Habe, in Folge eines Gefechtes mit den
Papuas im Norden verloren gegangen war, und daß er troßdem faft an der—
jelben Stelle, von der er ausgegangen, die Südküfte wieder erblidte. Lawſon
machte dieje Reife in Begleitung von zwei Eingebornen Auftraliens und einem
Lasfar, welche drei Leute er von Sydney mitnahm, und in Begleitung von
zwei Papuas, die er in Houtree engagirte. Dieje leteren zwei ſprachen außer
engliſch ſowol etwas franzöfiih, holländiſch, portugiefiih, als auch ver-
ſchiedene malayiſche Dialecte, und empfahlen fi durch ihre genaue Kenntniß
de3 Innern von Neu-Guinea (©. 6). Einer diejer fünf Begleiter legte Hand an
fi) jelbft während der Reife in Folge eines Sonnenftiches, zwei famen um in
einem Gefecht mit den Papuas im Norden und zwei brachte Lawſon mit zurüd,
Um in kurzen Zügen den Lejer mit den geographiichen Rejultaten diejer
Reife befannt zu machen, jo jei Folgendes referirt:
Lawſon ging mit einer Heinen Kauffahrteibrigg von 220 Tons von Sydney
nad) Houtree an der Torresftraße, eine Reife, welche etwa 4 Wochen dauerte;
er fand an der Südküfte einige wenige Dörfer: Houtree mit 263 Einwohnern
(S. 8), Mahalla’3 Dorf etwas landeinwärts, und eine Reihe kleinerer Nieder-
lafjungen, die nicht namentlich bezeichnet werden. Die erfte größere, von Weften
nad) Oſten verlaufende Bergkette, die paffirt wurde, nennt Lawſon die „Papuan
Ghauts“ mit „Mount Mifty“ von 10,762° Höhe, welcher Berg erftiegen wurde,
und zwei anderen Spiben mehr nad) Weften von 12,580‘ und 12,945. Im
Norden diefer Bergkette fanden fich noch einige Dörfer, von denen eines, „Bur-
temmy Zara“ (Feigenbaumdorf), nambaft gemacht wird. „Viele Bewohner diejes
Dorfes konnten holländiſch ſprechen“ (S. 67). „Immenſe Mengen Geflügel treiben
fih auf den Straßen herum, und alle Papuas find eingefleijchte Liebhaber des
Hahnentampfes.” (!) Etwa 100 englifche Meilen von der Südküſte entfernt entdeckte
Lawſon einen großen, 60 bis 70 englijche Meilen langen und 15 bis 30 Meilen breiten
Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu-Guinea“. 67
Zandjee, den er zu Ehren der Gemahlin des Prinzen von Wales „Lake Aleran-
drina” taufte; derjelbe hat der kartographiichen Skizze zufolge feinen Ausfluß;
er wurde umgangen. Nördlich von diefem See beginnt eine vulkaniſche Region ;
eine Reihe von ausgebrannten und thätigen Kratern wird bejchrieben; unter
feteren ift hervorzuheben der 16,743° hohe „Mount Vulcan“ und der weftlich
davon liegende, 15,091’ hohe „Dutpoft“. Jedoch bei weiten übertroffen werden
diefe Berge durch den „Mount Hercules“; derjelbe erreicht eine Höhe von 32,783‘
über der See, von 30,901‘ über dem umgebenden Lande, und feine Schneegrenze
beginnt bei 15,000. Lawſon beftieg denjelben bis zu einer Höhe von 25,314‘
in Begleitung eines einzigen Mannes, von Morgen? 4 Uhr bis Nachmittags
1 Uhr und war benjelben Abend um 71, Uhr wieder am Fuße de3 Berges
an jeinem Lagerplaß angelangt!! (S. 160.) In der luftverdünnten Höhe floß
ihm Blut aus Nafe und Ohren und feine Hände erftarrten. „Sobald er wieder,
in wärmeren Gefilden angelangt, den Gebrauch jeiner Hände befam, jo daß er
die Flaſche halten konnte, genoß er etwas Branntwein, der ihm neues Leben
einflößte.“ Das Titelbild des Buches gibt ein Panorama des „Mount Hercules“
und jeiner Umgebung. Ueber eine große, von Büffelheerden bevölferte Ebene ge-
langte die Gejellichaft dann an einen bedeutenden, 600° breiten Fluß („River Glad-
ftone“), über den gejegt wurde, und darauf, nad Dften den Fluß entlang ziehend,
an den „River Royal“, der bis zu einer englifchen Mteile breit wird und gerade
nad Norden fließt. Die Schaaren von Krokodillen, welche die Flußufer be-
völfern, zwangen unſere Reifenden, eine Strecke landeinwärt3 dem Lauf des Fluffes
durch Urwald zu folgen, bi3 an einen großen Waflerfall, der, 900° breit, 179°
tief, mit ſolchem Getöje herabjtürzt, daß man einen Flintenſchuß in 50 Schritt
Entfernung nicht vernimmt (S. 200). Am linken Ufer erheben fich die Berge
hier bis zu 5000° Höhe. Im Norden diejes Gataractes trafen fie erft wieder
auf Papuas und zwar auf mit Schießgewehren bewaffnete (S. 205). Lawſon
hatte inzwijchen genügende Kenntniß der Papuaſprache erlangt, um ſich hier ver-
ftändlih machen zu können. Sie nannten den großen Fluß „Chingoo mellan“,
d. h. „Fluß des Gottes Chin“ (S. 209), „welcher nad) der papuaniichen Mytho—
Iogte alle Meere, Flüffe und Seen der Welt erfchuf, und zugleich die Fiſche, welche
in ihnen haufen, während feine drei Brüder, Am, Loojhang und Dillah, die
Erde, die Pflanzen und die Thiere ſchufen und ihre Schwefter, Moufhat, allen
beihmwingten Welen: Vögeln, ledermäufen und Anjecten, Leben gab.” Dieje
Papuas des Nordens jagten aus, daß die See in circa 1Y/, Tagen zu erreichen
je. Sie hatten nie vorher einen Europäer oder einen Schwarzen gefehen,
aber von beiden gehört. Malayijche und hinefiiche Schiffe Frequentiren die Nord-
füfte, welche, wie ein Blick auf die Karte ergibt, hier etwa 2 Grade von der
Humboldtbai im Weften und etwa 3 Grade von der Aftrolabebai im Oſten
entfernt liegt. Leider ſchildert Lawſon diefe Papuas nicht im Detail; aus obiger
Bemerkung, daß fie noch feinen Schwarzen gejehen, geht hervor, daß fie jelbft
nicht ſchwarz find, um jo bemerfenswerther, ala die Bewohner der genannten zwei
Baien wol ſchwarz von Farbe. Auch Lawjon’3 Papuas der Südküfte fcheinen
„rahlgelblich” gefärbt (S. 11). Der kühne Capitän und jeine Begleiter ließen ſich
zu einer Bootfahrt flußabwärts in Gejellichaft diefer Papua verleiten; e3 ent-
5*
68 Deutjche Runbichau.
ftand ein Streit, ein Kampf, und Lawſon rettete fich flüchtend mit zweien in
den Wald nach Weiten. Sie legten, unabläſſig fliehend, an einem Tage vom
Morgen bis Abend mehr ala 50 engliiche Meilen zurück (S. 220), eilten unge-
fäumt weiter nad) Süden, paffirten erft einige Dörfer, dann tagelang Wälder,
endlich parkartige Ebenen und trafen wieder auf den „River Gladftone“, etwa
10 engliſche Meilen von der Stelle entfernt, an der fie den Fluß auf ihrem
Marie nad) Norden überihritten Hatten, jegten wieder über, umgingen den
„Mount Hercules” und marjchirten dann dem weftlichen Ufer des „Lake Aleran-
drina“ entlang, Freuzten die „Papuan Ghauts“ und trafen, wie bereit3 gemeldet,
twohlbehalten, wenn auch arg ftrapazirt, in Mahalla’3 Dorf wieder auf ihren
Ausgangspunkt, von [wo in kurzem Houtree erreicht wurde. Im Hafen lagen
9 malayiiche und 2 hinefiihe Schiffe, und mit einem der leßteren ging Lawſon
nah Banda. Dort traf er am 1. März 1873 ein, mußte fi krankheitshalber
3 Monate im Militärhofpital verpflegen laffen, two er von „einem Doctor van
Handel jehr Freumdlich behandelt wurde” (S. 282), und reifte am 7. Juni über
Singapore und Galcutta nad) England.*)
So weit bemühten wir uns, möglichft objectiv Gapt. Lawſon's Reiſeweg
kurz zu Folgen troß der Ungeheuerlichkeiten, welche dieje nadte Aneinanderreihung
der geihilderten Thatſachen Ichon dem Leſer zumuthet. Gehen wir daran, ehe
über den jonftigen Inhalt des Buches einige Worte gejagt werden follen, jo kurz
wie möglich) nachzuweiſen, daß Gapt. Lawſon diefe Reife nicht gemacht haben
kann, deutlicher geſprochen, daß es ſich um eine fingirte Reiſegeſchichte handelt.
Der Punkt auf Neu-Guinea, auf welchem nad) Lawſon's Beftimmung
Houtree, fein Ausgangspunkt, Tiegt, würde nad) der Admirality Chart 2759a
(Sept. 1873) oder nad) Imray's Karte: East India Arch. Eastern Passage to
China and Japan Chart N. 3 (London 1872), in der See, ein Klein wenig nad
Dften von Briftow Is. liegen, im Often des großen Warrior-Riffs, welches die
Torresitraße nach Welten zu ſperrt. Hier alfo hat Gapt. Latofon fich jedenfalls
geirrt, wenn er überhaupt in diefer Gegend eine Ortsbeftimmung vornahm.
Denn daß die Angabe der Karten irrthümlich fein ſollte, ift durchaus nicht
annehmbar. Gapt. Blackwood hielt fi) gerade an diefem Punkte, im Often
von Briſtow %3., auf der Vermeſſungsreiſe des Schiffes „Fly“ Längere Zeit mit
feinem Stabe auf**), und e8 wurden viele Punkte hier vermefjen, was bei der
unbezweifelten Tüchtigkeit jener englii den Seefahrer feinen Zweifel an der
Nichtigkeit der Aufnahmen zuläßt. Zudem erfuhr Jules auf Eroob (Darnley
Island) von den Bewohnern die Namen von 17 an der Hüfte Neu-Guinea's
gelegenen Dörfern ***), aber fein Houtree ift darunter. Allerdings Könnte ſich
*) Zwei Monate jpäter war ich felbft in Banda und verkehrte kurze Zeit mit bort
anfälfigen Europäern. Ich kam von Neu-Guineg zurüd und erzählte von meinen Reilen, aber
Niemand erwähnte mir gegenüber des Gapt. Lawſon, der quer durch Neu-Guinea gegangen
fein will an jeiner breiteften Stelle, und der fich vor zwei Monaten drei Monate lang auf dem
fleinen Banda aufgehalten habe.
**, Narrative of the Surveying Voyage of H.M. S. Fly, commanded by Capt. F. P. Black-
wood, 1842—46, by J. B. Jukes. London, 1847. 1. S. 211 fie.
2) L c. S. 211.
Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu-Guinea“. 69
das in 30 Jahren geändert haben, wenn es auch, da man andere Erfahrungen
nach diejer Richtung Hin auf Neu-Guinea zu Rathe ziehen kann, nicht wahrichein-
lich ift, jo daß diejer Umstand die Bedeutung von Lawſon's Angabe weiter herab-
tet. ©. 9 jagt num unfer Autor ferner, daß Houtree jährlich von 3 oder 4
kleinen holländiichen und von einigen Hundert malayijchen und chineſiſchen
Schiffen bejucht werde, und daß während jeiner l4tägigen Anweſenheit über
20 Schiffe dort anliefen; ein jolder Hafen aber fann an dem bezeichneten Orte
gar nicht Liegen. Die Schifffahrt durch die Torresftraße von Weften ber ift
durch die ungeheuer ſtarke Strömung und dur das große, von Norden nad)
Süden ſich erjtredende Warrior» Riff*) für jene feinen Schiffe jo gefahrbrin-
gend, daß ein jehr großer Procentjat jährlich dabei jcheitern würde, und es
kann Schon aus diefem Grunde gar nicht ernfthaft darüber debattirt werden, ob
Houtree ein jo großer Hafen jei, oder nicht. Am Dftrande dieſes Warrior-Riffs
liegt alſo Houtree feinesfalls. Allein auch abgejehen davon, würde es auf
anderem Wege längft bekannt jein, wenn ein jo ſtark frequentirter Hafen hier
oder in der Nähe läge. Die nächfte holländiiche Anfiedelung wäre etwa 200
deutiche Meilen entfernt. Bon Ceram und Banda ꝛc. wird wol nad) der gegen-
überliegenden Küſte Neu-Guinea’3 Handel getrieben, aber nicht bis in jo weite
Ferne, und jene Flottille inländiicher Fahrzeuge, welche von Makaſſar auf Ge-
lebes jährlich nad Oſten zieht, wirft fi auf die Aru-Inſeln oder auf die nähere
Küfte Neu-Guinea’3; es hat daher pofitiv feine reale Unterlage, wenn Gapt.
Lawſon einen großen Hafen jo weit nad) Often verjeßt und ihn Houtree nennt.
Wenn er überhaupt eriftirt, wenn er fein ganz leeres Gebilde der Fantaſie ift,
jo wäre er möglicheriveife um über 100 deutjche Meilen weiter nad) Weſten zu
juchen. Das Wenige, was Lawſon von den Bewohnern der bejuchten Küfte jagt,
zeigt, daß fie nicht mehr auf der niedrigsten Stufe der Entwidlung ftehen, während
wir gerade willen, daß die Papuas faft der ganzen Südküfte nadt gehen (ſ. u. A.
Jukes 1. c. ©. 214) und daß fie keinesfalls mit Weihen und mit Malayen und
Chineſen in intimere Berührung gelommen find.
Laffen wir nun die Reife im Innern Neu-Guinea’3, die Capt. Lawſon
gemacht haben will, vorläufig noch bei Seite, und betradhten wir uns den End—
punft jeiner Tour nahe der Nordküfte. Da Lawjon gerade nad) Norden gegangen
jein will, jo wirde der große Fluß, den ex befahren, der „River Royal“, etwa
2 Grad öftlih von der Humboldtbai in den Ocean ſich ergießen. Zu Herrn
Lawſon's Unglücd aber ift auf der berühmten Reife der „Aftrolabe“ im Jahre
1827 an diefer ganzen Nordküfte von Dumont D’Urville entlang gefahren, jedoch
nirgends der Ausfluß ſolcher Maſſen ſüßen Waſſers fignalifirt tworden**). Erſt
der jchon eingangs genannte Mamberan, 75 deutiche Meilen weiter nad) Wejten,
ift ein Fluß, der für Lawſon's River Royal in Frage kommen könnte. Die
Bewohner ferner diejer Nordküfte, welcher Lawjon nahe gewejen zu jein behauptet,
zeigen, ebenſo wie die jeiner Südküfte, ſchon tiefer gehenden Einfluß von Seiten
*) Es wurde daher im Beginne des 17. Jahrhunderts jo lange vergebens nad) einer Durch:
fahrt geſucht; man hielt hier Neu-Guinea und Auftralien für ein Land.
”*) Siehe die franzöfiiche Karte ber Expedition der Astrolabe. Hyd. Fr. Nr. 765, Nr. 28
unb Nr. 767, Nr. 30.
70 Deutſche Rundſchau.
handeltreibender Völker. Sie haben Gewehre und Piſtolen,“) nicht etwa nur
an der Küfte jelbft, jondern meilenweit im Innern; fie verftehen die Sprache
bes Südens, während e3 von Neu-Guinea aufs jpeciellfte befannt ift, wie fi
faft von Dorf zu Dorf die Eingeborenen gegenfeitig nicht mehr verftehen. Zwar
ſagt Herr Lawjon ausdrüdlih**), daß nur eine Sprade auf Neu-Guinea ge=
ſprochen wird und daß viele Wörter diefer Sprache zweifellos vom Malayiichen,
Hindoftaniichen, Chinefifchen und anderen Sprachen abgeleitet feien, allein eine
jolde Bemerkung ift in einem soit disant wiſſenſchaftlichen Buche doch gar zu
thöricht, ala daß es nöthig wäre, näher auf diejelbe einzugehen, und der Verfafjer
zeigt damit allein jchon nur zu deutlih, daß der Endpunkt feiner Reife nahe
der Nordfüfte ganz wo ander? gewejen fein muß — wenn dieſer Endpunkt
überhaupt irgendivo war — al3 zwiichen Humboldt- und Aftrolabe-Bai, deſſen Be-
wohner heute noch faft unbeeinflußt in der Steinzeit Ieben, und deren Sprachen wir
auch ſchon ala grundverſchieden in faft allen Ausdrücden kennen. So heißt 3. 2.
in der Humboldt=-***), in der Ajtrolabe-Baif)
Teuer ai bia
Waſſer (ſüß) naan 1
„Galz) taar wal
Tabak sabegei kas
Kofospalme niem munki
Huhn olin tu
Paradiesvogel tiaar omul
u. ſ. w.
Doch ſchon in der Aftrolabe-Bai jelbft gibt es eine Reihe von verjchiedenen
Dialekten, und kurzum, es bedarf feines Wortes eines weiteren Beweiſes, daß es
gerade ein Charakterifticum der Bewohner Neu-Guinea's ift, womöglich in noch
höherem Grade, al3 es auch bei andern wilden Völkern der Erde vorkommt,
daß ihre Sprache fich in unzählbare, einander unverftändliche Dialekte jpaltet +),
und die Behauptung des Capt. Lawwjon, daß er im Norden Neu-Guinen’3 ſich
mit der Spradhe des Südens verftändlich machen Tonnte, beweift daher zur
Evidenz wenigftens das, daß dieſer Reifende mit der Wahrheit auf feinem freund-
ſchaftlichen Fuße lebt.
Da Lawjon alfo die Reife, welche er vorgibt gemacht zu haben, ſchon aus
obigen Gründen platterdings nicht gemacht haben Tann, jo könnte man vielleicht
die Frage aufwerfen, ob er etiva Neu-Guinea mehr nad) Weften hin, von Süden
nad Norden und zurüd gekreuzt habe, und zwar etwa zwiichen dem 136. und
*) ©. 205.
2 6, 277.
») v. Rojenberg: Nat. T. voor Ned. Indie XXIV. S. 349.
+) U. B. Meyer: Tydschr. v. indische Taal, land en volkenk. 1872 und briefliche Mit:
theilungen an ben Verfaſſer von Herrn von Ronticheväty, der auf ruffiichen Kriegafchiffen zwei—
mal bie Aftrolabebai befucht hat.
tt) ©. auch A. B. Meyer: Ueber bie Mafoor'ſche und einige andere Papua-Sprachen auf
Neu⸗Guinea; herausgeg. von ber k. k. Akademie der Wiſſenſch. zu Wien, Bd. LXXVI. ©. 299
unb flg., wo id u. U. auf ©. 355 die Zahlen von 1 bi 5 in 21 verfchiebenen Dialekten nur
des norbweftlihen Theiles von Neu:Guinea zufammenftellte.
Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu-Guinea“. 71
138.° ö. &. Dort wird an der Südküfte Handel von Malayen und Chinejen
getrieben, und auch europäifche Heine Schiffe dürften dann und wann jene
Gegenden beſuchen; dort erhebt fi im Binnenlande eine hohe, von Dften nad)
Weſten verlaufende Bergkette, auf welcher man ſogar Schnee gefehen haben will*),
an deren Nordabhängen der Mamberan entipringen muß, der jeine ungeheuren
MWaflermafjen an der Oftipie der Geelvint3-Bai ind Meer jendet, und an deſſen
Ausfluß ich jelbit im Jahre 1873 verweilte.e Wäre nun der weitere Inhalt des
Lawſon'ſchen Buches der Art, daß er Vertrauen erweckte zu der Wahrheitsliebe
des Berfaflers, jo lohnte es ſich vielleicht, jene Frage zu discutiren, und den
möglichen Irrthümern, Tehlerquellen oder Motiven nachzufpüren, um die Aus-
fagen des Reijenden verftehen zu lernen, und um fie zur Erweiterung unjerer
Kenntnig jenes noch jo unbekannten großen Landes zu verwerthen. Allein die
folgenden Notizen und Auszüge werden den Lejer vollends überzeugen, daß
Gapt. Lawjon rein erfunden hat und zu feinem Schaden recht unglüdlich er-
funden bat, und daß es fich nicht lohnen Tann, vielleicht einen Kleinen Kern von
Wahrheit aus einem dichten Gewebe grober Täuſchung Herauszujchälen. Die
Unmafje von geradezu haarfträubenden Behauptungen, die auf jeder der 283
Seiten des Buches ausgeftreut find, macht es mir jchiwer, eine Auswahl zu
treffen, um meine obige Behauptung zu belegen, da der Leſer meinen könnte, ich
juchte einzelne Abjonderlichkeiten heraus, während aber, jelbft wenn ich eine große
Reihe aufzählte, noch Hundertmal mehr unberührt bleiben würden.
Neu-Guinen ift befanntlich, was die Säugethier-Fauna anlangt, wie Auftra-
lien im Weſentlichen nur von Beutelthieren bevölkert. Der Tiger geht nicht
weiter nad Often ald Java, der Affe nicht weiter nad Oſten als Timor und
Batjan und dorthin mag er ſchon von Menjchenhand gebracht worden jein, der
Hirſch nicht weiter nad Oſten als Halmahera, der von Menjchenhand über den
oftindiichen Archipel verbreitete Büffel iſt noch nicht bis Neu-Guinea geführt u. |. w.
Wir fennen von größeren Thieren auf diefer Inſel nur das Schwein, und es
haben Naturforicher jchon viele Eden der großen Inſel genugfam benagt, jo daß
man getroft behaupten darf, der Charakter der Thierbevölferung ſei in dem
ganzen Lande derjelbe. Es jchließt das nit aus, daß das Innere nicht noch
ungeahnte Schäße an unbekannten Thierformen bergen könne, aber jo viel ift
ficher, diefe Funde werden nicht all’ unjere bisherigen Kenntniffe von der Ver—
breitung der Organismen und von den Grenzen ihrer Verbreitungsbezirke über
den Haufen werfen.
Sehen wir nun, was Gapt. Lawſon auf Neu-Öuinea an vierfüßigen Thieren
gefunden haben will:
Nahe dem Strande der Südfüfte, in der Umgebung von „Mahalla’3 Dorf“
fand er Schwärme einer großen, langgeſchwänzten Affenart (S. 23) und Lawſon
und feine Begleiter jchoffen hier an 20, vertoundeten außerdem eine Reihe. Sie ver-
) ©. Sal. Müller’3 Reifen im Jahre 1828 (Amft. 1858, ©. 17) und Carſtensz' Reife im
Jahre 1623 (v. Dyt: Mededeelingen uit het Ost. Ind. Arch. Amst. 1859, S. 11 und 6.
Journald S.15): „landtwaer in, na gissinge 10 mylen, verthoonde hem overhooch geberchte
dat op vele plaeten wit met snee bedect lach, wesende certain vry wat vremts als op bergen,
soo na de linie equinoctialis gelegen, snee te hebben.“
72 Deutſche Rundſchau.
ſpeiſten zum Abend einen dieſer Affen geröſtet (S. 24). Am folgenden Tage
nordwärts wandernd ſah Lawſon Hirſchſpuren (S. 25) und hörte von Tigern
(S. 26), „Moolahs“ in der Sprache des Landes. Bald auch begegnete ihm ein
Rudel Hirſche von 50 bis 60 Stüd (S. 33), und er ſchoß den alten Bock, der
die Heerde führte; derfelbe wog 140—150 Pfund; nicht viel ſpäter (5.39) fand
Lawſon ala Ueberreft einer Mahlzeit eines Tigers einen großen Hirſch, einer Art
angehörig, welche fich von allen, die er bisher gejehen, unterjchied. Auf papuanifch
heißt diefer Hirſch „das mellan“. Lawſon unterläßt nicht, ihn jo genau zu be-
ichreiben, wie die von dem Tiger übrig gebliebenen Reſte es erlauben, und ſpricht
nad) Anleitung der Berichte der ihn begleitenden Papuas über die Art und
Meile, wie diefe Hirſche mit ihren außerordentlich harten und ſcharfen Hufen
fih oft mit Erfolg der Tiger erivehren. ©. 99 trifft unfere Reiſegeſellſchaft eine
Heerde von 2= bis 300 Hirſchen und erlegt 5 Stüd, jedes 40-50 Pfund wiegend.
63 würden mehr erlegt worden fein, wenn nicht Lawſon ein Feind nublofer
Tödtung wäre. Diefe Hiriche gehörten einer anderen und Eleineren Art an, ala
der erfterwähnte, und auch dieje Art wird beichrieben bis auf den Mageninhalt
hin, der aus Pflanzenfafern beftand in nahezu runden Ballen von Wallnuf-
bi3 Drangengröße. ©. 56 wird wieder ein Hirih von 100—120 Pfund erlegt.
©. 227 endlich — abgejehen von einigen anderen Stellen, an denen von Hirſchen
die Rede ift, 3. B. ©. 84, ©. 181 u. a. m. — erwähnt der glückliche Reifende
4 oder 5 verjchiedene Arten von Hirichen, was um jo bemerkenswerther ift, als
alle Vorgänger auf Neu-Guinea zulammen genommen noch nicht eine Art ent-
deckt haben. Daß in dem ganzen weltlichen Theil von Neu-Guinea feine Hirjche
wild vorkommen, kann ich mit Beltimmtheit behaupten, denn aus Hirſchgeweih
geſchnitzte Amulette und Mefjerklingen werden dort von den Papuas jehr hoch
geihäßt, wie jo leicht nicht etwas, was fie in ihrem eigenen Lande haben; und
da ich) Beweiſe genug jah, daß alle möglichen Gegenftände dur Taufchhandel,
der durch jehr viele Hände geht, von einer Hüfte, quer über das Land und Ge-
birge, zur anderen gelangen, jo würden auch Hirichgeweihe aus dem Innern an
die Küfte fommen, wenn ihre Träger dort in wilden Zuftande hauften. Ein
Shiffscapitän brachte vor einigen Jahren ein Paar Hiriche von Halmahera nad
Neu-Guinea und ließ fie dort los; ich habe jedoch Grund zu glauben, daf fie
ſich nicht vermehrt haben, jondern daß fie wahrſcheinlich, ehe diejes möglich ge-
wejen, von den Eingebornen erlegt worden find.
Auf den „Papuan Ghauts“ Fand Lawſon Heerden wilder Ziegen. Sie hatten
6—9 Zoll langes Haar (S. 47). In dem Dorf „Burtemmy Tara“ nördlich
der ebengenannten Bergfette bejaß ein Papua 100 Stüd zahmes Vieh (©. 63),
Och ſen und mildhgebende Kühe, welde (S. 66) in ihren zoologijchen Charakteren
ſtizzirt werden, auch begegnen fie jpäter (S. 74) Vieh und Ziegen hütenden
Papuas. In den Straßen der Dörfer Tiefen viele Ziegen, Schweine und Hunde
umber (S.65). Später ſchoß Lawjon 7 „Neu-Guinea-Hajen” (©. 85), die faft
ebenjo find wie die europäiichen, aber nur halb jo groß und nicht ganz jo hoch—
beinig. ©. 115 traf er auf einer parkartigen Ebene im Graje die Neu-Guinea—
Hafen jo eng zujammen, daß er fie mit Stöden todt ſchlug. Am 6. Auguft
paffirte die Reifegefellichaft eine Heerde von etwa 100 Büffeln, „von genau
Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu:Guinen”. 73
derjelben Art wie die indiichen“ (S. 87). Bald jahen fie noch größere Heerden:
„Wir kamen bei weiteren 3 Büffelheerden vorbei, die eine muß 3- oder 400
Thiere groß geweſen jein“ (S.88). Später (S. 117) befteht Lawſon einen fieg-
reihen Kampf mit einem großen alten Büffel, der eine Heerde führte; der kühne
Jäger wurde von diefem Büffel mindeftens 30 Fuß hoch in die Luft gefchleudert
(S. 123). Gegen Ende des Buches (S. 240) aber erzählt ex von einer immenjen
Büffelheerde, die fie innerhalb */, engl. Meile paifirten, und die mindeftens
10,000 Stüd groß war! Gin Pärchen großer, menjchenähnlicher Affen erlegte
Lawſon mehr im Innern; er hatte dafjelbe überraicht, ala das Männchen dem
Weibchen Tiebkojend aprikofenartige Früchte präfentirte (S. 144 u. flg.); das
Männchen maß 5° 3* und hatte 42* Bruftumfang; das Weibchen 5° und 39%,
„Am Rüden hatten fie faft fein Haar, in Folge von Reiben an Felſen und
Bäumen; Hand und Fuß aud ganz nadt. Nede Hand hatte 4 Finger und
einen Daumen, aber an jedem Fuß waren 4 Zehen! Das Gehirn des
MWeibchens war ein wenig größer als das des Männchens.“ Auch an der Süd—
füfte fommen fie vor und die Papuas nennen fie „tilang-noo* i. e. „der wilde
Verrückte“ (S. 146). Vorher jhon (S. 97) Hatten unſere Reifenden andere
Abenteuer mit Affen zu beftehen: Ein großer Trupp warf von den Bäumen
herab mit Nüffen und jelbft mit Unrath, umd der Leiter des Trupps „ſpuckte
mit dem ganzen Ernft eines menfchlichen Weſens“ auf fie herab, für welche
Frrevelthat Lawſon ihn tödtete. In Folge deffen wurden fie drei volle Stunden
von den Affen verfolgt, bombardirt und jämmerlich zugerichtet; endlich ließen
fie ab, aber jo lange die Reilenden in Sicht waren, drohten die Affen mit den
Fäuſten, herausfordernd und rachſüchtig. Auch ein Kampf zwiſchen Krokodilen
und Affen wird (S. 188) beſchrieben, wobei ein Affe einem Krokodil mit einem
ſpitzen Stock das Auge durchbohrt, und bei welcher Gelegenheit ſowol Krokodil
als auch Affe mit menſchlichem Geberdenſpiel dem feinen Beobachter die geheimen
Regungen ihrer Herzen offenbarten.
Auch Füchſe ſah Lawſon bei mehren Gelegenheiten (S. 143 und 229),
Eichhörnchen (©. 54), Ratten-artige Thiere ohne Zähne (S. 173), und ſollte
es bei den obenerwähnten Spuren von Tigern nicht bleiben. ©. 164 u. flq.
wird ein Kampf mit einem Tiger geichildert, der ja in einer richtigen Reife
beichreibung nicht fehlen durfte, und in welchem Lawjon nur „dur des All-
mächtigen Hülfe“ mit dem Leben davon kam (S. 169). Der erbeutete Tiger
war von Geftalt genau wie der indiſche, auch nicht Kleiner, aber viel hibjcher.
Seine Länge betrug 7° 3“. Die Haut diejes Tigers hat Lawſon jogar mit nad)
Europa gebracht. Einen zweiten exlegte er ſpäter (S. 182) von 7° 10“ Länge,
das ift 2” länger, als Herr Lawjon es jemals in Indien gejehen hat. Endlich
war ein dritter jo unverihämt, einen von Lawſon's Begleitern im Schlafe
davonzutragen, allein, da diefer das Unthier mit der Fauſt gut bearbeitete,
lie es feine Beute wieder fahren und ſetzte fie wohlbehalten im Jungle ab.
Lawion bemerkt hierzu (S. 203), daß er jelbft ſchon zwiſchen ben Zähnen eines
Tigerd geweſen fei, und daß er viele bemerfenswerthe Rettungen Anderer erlebt
babe, allein jo etwas war jelbft ihm noch nicht vorgelommen. Wir ichließen
74 Deutiche Rundſchau.
und dem Erftaunen unſeres Autor an, wenn wir auch jeinen weiteren Erflä-
rungsverſuch dieſer Jagdgeihichte nicht acceptiren können.
Nach alledem aber fieht der geneigte Lejer, daß hier nur die folgende
Alternative obwalten kann: entweder müfjen wir unſere Anſchauungen von der
Verbreitung der vierfüßigen Thiere umändern und als Bewohner Neu-Guinea’3
Affen, Tiger, Hirſche, Büffel, Ochſen, Füchſe und Hafen regiftriren, oder wir
müſſen Herrn Lawſon feinen Glauben ſchenken. Es ift dies eine leidige Alter-
native, allein über ihre Entſcheidung kann fein Zweifel obwalten.
Ich wählte Obiges zu einer etwas ausführlicheren Darftellung, um jo dem
Lefer die Daten jelbft an die Hand zu geben, daß er ſich ein Urtheil über diejes
Buch bilden könne. Allein e3 enthält noch andere Abfurditäten, welche jene
vielleiht an Kühnheit übertreffen. E3 jeien kurz nur die folgenden Punkte
gejtreift.
Vögel gibt es in der größten Mannigfaltigkeit und Schönheit auf Neu-
Guinea, wie männiglich befannt, und e3 wäre daher auffallend, wenn fie Herrn
Lawſon nicht begegnet jein jollten. Da er nun in anderen (wiſſenſchaftlichen)
Reijebeichreibungen gelejen, daß ein Naturforjcher bei jolcden Gelegenheiten „neue
Arten“ entdeckt und fie beichreibt, jo beichreibt auch er flott weg feine neuen
Arten, troßdem es kaum einen Ornithologen von Fach geben mag, der im
Stande wäre, an Ort und Stelle darüber zu urtheilen, ob ein Vogel, der ihm
im tropifchen Walde begegnet und den er auch manchmal exlegt, der Wiſſenſchaft
befannt jei oder nicht; dazu bedarf es eines gründlichen Literariihen Studiums
und des directen Vergleiches des betreffenden Objectes mit den in Muſeen auf-
beiwahrten verwandten Formen oder deren Beichreibungen. So findet Lawſon
(S. 92) eine „neue“ Ente und bejchreibt fie. Auf S. 93 wird ein Eisvogel in
allen Einzelheiten geſchildert, aber dieſe Schilderung verftößt gegen den allge-
meinen Charakter der genannten Gruppe, und man kann getroft jagen, daß ein
derartig gefärbter Eisvogel nicht eriftirt. ©. 55 werden wir mit einem Faſan
auf Neu-Guinea und einer Reihe anderer unbelannter „Vögel“ bekannt gemacht,
ebenjo auf S. 1%. Da aud ein neuer Paradiesvogel naturgemäß zu einer
Entdeeungsreife auf Neu-Guinea gehört, jo werden auc zwei jolche entdeckt
und beſchrieben (S. 194). Natürlich zeigen fie bunte und abenteuerliche Formen.
Allein nicht nur hierdurch verfuht Capt. Lawjon in vergeblihem Bemühen,
jeinem Buche da3 Gepräge der Wahrheit aufzudbrüden, er jchildert an vielen
Stellen aud) das Leben der Vögel. So (©. 18) da3 von Nasiterna pygmaea, den die
Papuas „siskin“ nennen follen, jenen merkwürdigen Ziwergpapagei von Neu-
Guinea; nur jchade, daß dieſe Schilderung nicht den Thatſachen entipricht, fo
gut fie erfunden jcheinen könnte. Die Nefter und Eier der Paradiesvögel find
für den Ornithologen nod) ein pium desiderium, um das ſich die verfchiedenften
Reifenden bis jetzt vergeblich bemühten. Herrn Lawſon gelang es leicht und
jofort, fie zu finden (S. 26). Da er wol unflar darüber ift, daß es mehr ala
20 Arten von Paradiesvögeln gibt, jo jpricht er bei diejer Gelegenheit nur von
„ven“ PBaradiesvogel und meint damit wahrjcheinlich Paradisea papuana. Jedes
Neft enthielt 5 Eier, zart roſa mit roth gefledt. Aber ſchon an der Bejchreibung
des Schreied von Paradisea papuana ift erfichtlih, daß Herr Lawſon diejen
Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu-Guinea“. 75
Vogel nit im Freien gefehen bat; denn jein lauter Ruf prägt dem Walde
Neu» Guinea’3 einen Charakterzug, möchte ich jagen, auf, man hört ihn
Morgens und Abends und überall, und nur die Flüchtigkeit des Vogels und
feine Gewohnheit, die höchſten Bäume zu frequentiren, bewirken, daß man ihn
jo jchwer erlegt. Nach Lawſon befteht die Nahrung des Paradiesvogels aus-
ſchließlich aus Inſecten (S. 28), allein e8 ift befannt, daß er ebenjotwol Früchte ver-
zehrt. S.44 wird auch eine Pflangenfafer beichrieben, aus der der Paradiesvogel
fein Neft macht; allein Lawſon jagt vorfichtig dazu, daß nur die Paradiesvögel
gewiſſer Diftricte fich diefer Pflanze zu diefem Zwecke bedienen, und daß fie es
ſelbſt in diefen Diftricten nicht ftet3 thun! Diefe Pflanze trägt eine narciffen-
artige Blume von 9 Zoll Durchmeffer, weiß mit roth gefledt!
Auch die Menge der Vögel, die Lawſon trifft, ift bemerkenswert. Enten
und Waflerhühner jo dicht zufammen wie Grashüpfer (S. 190); er -tödtete oft
6 oder 7 mit einem Schuß, fogar einmal mit 2 Schüffen 19 (S. 107). Im
einer Stunde: 39 Enten, 5 Ibiſſe, 2 Stördhe, 7 Eisvögel und 3 „neue“ Vögel
(S. 1%). Nach einem Sturm mit Hagel von der Größe von Hühnereiern
(S. 82) lagen Hunderte von todten Paradiesvögeln, Papageien und anderen
Bögeln zufammen mit vielen Affen todt auf der Erde (S. 84). Ein Baum
(S. 29) beherbergte Zaufende von Papageien und anderen Vögeln. ©. 228
endlich zählte Lawſon in einem Baum über 1000 Nefter und in der betreffenden
Gruppe von Bäumen nit weniger ala 20,000!!
Große Schlangen findet der Reifende häufig, 3. B. ©. 261 eine von 40’
Länge. Einmal aud eine Eleinere mit */,“ langen Hörnern über den Augen
(S. 86). Dur einen Prairiebrand (S. 173) werden Hunderte erichredte
Schlangen herausgetrieben und jchodtweije von den Reifenden erſchlagen. Durch
einen Sumpf gehend, mußten fie bei jedem Schritt auf Fröſche treten und
tödteten auf diefe Weile Zaufende (S. 131). In dieſen Sumpf verjant einer
der Begleiter Lawſon's bis an den Kopf, wurde aber zu unjerer Beruhigung
noch glüdlich gerettet (S. 129). An den Ufern der großen Flüſſe im Norden
gab es unglaublich viele Krofodile; einen Frechen Gefellen, der fie angriff (S. 180),
erſchoß Lawſon, allein er fand an Krokodilſteals feinen Lederbiffen. In einer
Stunde kamen fie einmal an 314 Krokodilen vorbei! (S. 193.)
Damit feine Abtheilung der Thierwelt leer ausgeht, jo werden auch viele
Fiſche beichrieben (S. 94 u. a. m.). Skorpione, die ımjer Autor wiederholt
zu den Reptilien zählt, begegnen ihm bis zu einer Größe von 13 Zoll (S. 230), und
einmal (S. 80) ift er dabei, wie ein Papua in Folge eines Storpionftiches in
kurzer Zeit ftirbt. „Der Körper wird jchnell eine Mafje lebender Fäulniß, bis
das fermentirte Blut einen Ausweg durch die Deffnungen des Kopfes findet
und der Unglückliche von feinem Glend durch den Tod erlöft wird“ (©. 81).
Ein Käfer, 5'/,“ lang und 3* breit, mit 2” langen Hömern, „ber größte ber
Welt”, wird auf ©. 58 befchrieben, ſowie ein Schmetterling, der mit ausge—
breiteten Flügeln einen Fuß maß, deffen Körper 6* und deffen Fühler 7* lang
waren! Kurzum, von Allen das Abenteuerlichfte und Größte war es Herm
Lawſon's gutes Glück, wenigftens etwas zu finden! Ginmal trifft er fogar auf
3 menſchliche Stelette (S. 236), die Individuen angehörten, welde erft vor
76 Deutiche Rundichau.
wenigen Stunden getöbtet worden waren; die Ameijen Hatten fie in diejer
kurzen Zeit zu Sfeletten abgezehrt! Auch S. 40 leiften die Ameijen ihr Mög—
lichftes. Im eine Probe von Lawſon's Naturbeichreibung zu geben, citiren wir bie
Schilderung der Blumenpradt, die er irgendivo gefunden (S. 189): „Nie vorher
hatte ich jo viele verjchiedene Arten zujammen gejehen. Unter den Convolvulus:
artigen Blumen waren einige gelb mit xoth gefledt, andere weiß mit roth
gefleckt, blaß violett, ultramarin mit weiß geftreift, ſchwarz mit gelb gejtreift
und geflecdt, ſcharlach, ſcharlach mit weiß und gelb, braun mit weiß, und einige
hellgelb.“ Herr Lawjon hat hier jeinen ganzen Farbentopf ausgeleert. Bäume
und Holzarten gibt es nad Wunſch. Lawſon maß 3 „ulmenartige“ Bäume
mit folgenden Dimenfionen: 337‘, 312° und 298° hoch, 22°, 25° 9“ und 19° 11”
Durchmeſſer, und der Umfang des Stammes beim größten diejer drei 84’ 7“
(S. 29). Metalle fommen nad unferem Autor zur Genüge auf Neu-Guinea vor
(S. 280): Gold nicht allzuviel, Silber ift gewöhnlich, es müfjen ausgedehnte
Minen irgendwo fein; Kupfer, Blei, Eiſen, Zinn in Ueberfluß, wie auch Edel-
fteine, doc) leßtere meift nicht von hohem Werthe. Alfo es fehlt nichts! Um
jo frivoler aber erjcheint e8 bei alle dem rein Erfundenen, daß Lawſon ſich nicht
ſcheut, Gott zum Zeugen anzurufen und ihm für jeine wunderbare Errettung
zu danken (S. 169, 230 und 238).
Man fieht, keine Mittel wurden gefcheut, um dem Buch Reiz zu verleihen, und
alle Regifter wırrden deshalb angejchlagen. Manche Verſtöße gegen die Wahrjchein-
lichkeit find jo grell, daß fie für ſich allein genügten, um zu beweilen, daß
Lawſon die Reife überhaupt nicht gemadt hat. So, wenn er jeine Unkenntniß
davon fundgibt, daß in den Tropen Neu-Guinea’3 die Sonne um 6 Uhr auf:
‚und um 6 Uhr untergeht. ©. 73—76 wie viele andere Stellen liefern dafür
die jchlagendften Beweije. Geradezu fomijch aber ift e8, daß Lawſon in 151,
Stunden einen Berg ca. 23000‘ hoch, wovon 10,000° im Schnee und Eis, hinauf:
und herabgeftiegen fein will (S. 160).*) Dies ift jo plump erdadt, daß mir
una jcheuen, im Einzelnen die Unmöglichkeit, dieſes auszuführen, darlegen zu
wollen. An zu vielen Dingen nur ift e3 Klar zu erjehen, daß Lawſon nichts
als ein Yantafiebild entworfen hat. Wenn er 3. B. ©. 61 jagt, daß ein Papua
Tabak rauchte, den er jelten befommen konnte, und ihn denjelben von den Hol-
ländern beziehen läßt, jo fteht dagegen, daß man bis jet überall auf Neu-
Guinea die Papuas im urſprünglichen Beſitz von Tabak gefunden hat, und zwar
an allen Küftenpunkten, die befucht tworden find, und im Innern ebenfall3, denn
hier im Innern wird der Tabak von den Papuas gebaut. Es ift nicht am Orte,
zu unterjudhen, auf welche Weije die Tabakapflanze nad) Neu-Guinea gekommen
fein mag, aber ic) möchte doch aus einigen Reifeberichten meine obige Behaup-
tung kurz belegen. In der Humboldt-Bai im Norden fand man Tabak im
Yahre 1858 **), in der Aftrolabe-Bai 1872, wie ih aus mündlichen Mittheilungen
zuffiicher Seefahrer weiß, im Süden Neu-Guinea’3 fand Jules auf der Ver-
) Der Montblanc ift nicht ganz 15,000° hoch, der Mount Evereft, die höchſte Spipe
bes Himalaya, ca. 27,000° und biefer letztere gilt ala höchfter Berg der Erde. Der von Lawſon
beftiegene Berg auf Neu⸗Guinea wäre alfo mehr ala doppelt jo hoch, als der Montblanc.
**) Nieuw Guinea enthnogr. en nat. k. onderzocht. Amfterdam 1862, ©. 180.
Lawſon's „Wanderungen im Innern von Neu-Guinea“. 77
meſſungsreiſe des Fly (1842—46) denjelben*), und auf dem Arfakgebirge im
Weſten endlich jah ich ihn jelbft angebaut im Jahre 1873,
Faſt fommt man bei der Lectüre dieſes Buches auf den Gedanken, daß
der Autor eine Satire auf moderne Reijebeichreibungen hat geben wollen, und
erwartet, daß fi) auf der letzten Seite der Schalt herauskehren fol; allein
nichts davon; e3 ift ihm bitterer Ernſt mit dem, was er und zumuthet
zu glauben. Wirde Jemand geſprächsweiſe dergleichen auftiſchen, jo könnte
man fich getroft jchweigend abwenden. Anders, wenn ein Buch von faft 300
Seiten vorliegt, da3 dem Urtheilslojen ftet3 wieder Anlaß gibt, auf darin
erwähnte „Thatſachen“ zu recurriren. Hier ift es Pflicht, das Gewebe zu ent-
wirren und ein= für allemal die Unglaubwürdigfeit nachzuweiſen.“) Nein, Neu—
Guinea ift im Innern noch unerjchloffen! Wenn es mir im Jahre 1873 geglückt ift,
da3 Land von einer Küfte zur andern zu Freuzen, jo war da3 an der jchmalften
Stelle defjelben und die breitefte ift mindeftens 20 Mal jo breit. Der ruffiiche
Naturforiher Maclay, der 15 Monate lang an der Aftrolabe-Bai im NO. der
Inſel weilte, konnte abjolut nicht ins Innere dringen, kaum daß er den Küften-
ftrih verließ, und ebenſo ging e8 ihm im Süden von Neu-Guinea. Es gelten
daher heute noch troß Lawſon vollwichtig die im Jahre 1847 ausgejprochenen
Worte des engliihen Naturforſchers Jukes (l. c. ©. 291): „Ich Tenne feinen
Theil der Erde, deſſen Erforihung der Einbildungsktraft jo ſchmeichelhaft iſt,
wobei interefjante Rejultate jo wahrjcheinlich, jei e3 für den Naturforjcher, den
Ethnologen oder den Geographen, und wo Alles zujammen jo wohl berechnet
ift, der aufgeflärten Wißbegierde eines abenteuerluftigen Forſchungsreiſenden
zu genügen, al3 das nnere von Neu-Guinea. Neu:Guinea! Die Erwähnung
nur davon, daß man in das Innere dieſes Landes gelangen könnte, Klingt
jo, ala ob es Einem geftattet würde, irgend eine der verzauberten Gegenden der
„Arabien Nächte” zu beſuchen, ein jo dichter Schleier ruht augenblidlic auf
den Wundern, welche es wahricheinlich birgt.“
Nun, Heren Lawſon war e3 leider auch nicht beichieden, diefe Wunder ans
Licht zu ziehen! \
63 ift auffallend, daß jo kurz nad) dem Erfcheinen dieſes Buches eine De-
putation in London, geführt von dem Herzog von Mandefter, dem Staat3-
jecretär der Golonien, dem Grafen von Carnarvon, aufwartete und die englische
Regierung aufforderte, Neu-Guinea zu annectiren. Sollte das ſchon eine Folge
diefer üppigen Bejchreibung des fernen Landes geweſen fein, welche dort Alles finden
läßt, was einer handeltreibenden Nation wiünjchenswerth erjcheinen könnte?
Oder ift dieje „sensation novel“ etwa „auf Beftellung“ gearbeitet?
Dresden, Mai 1875.
*) Narrative ot th@ 8. V. of H.M. S. Fly. London 1847. I. ©. 18.
Im einer Beiprehung in der „Academy“ (Mai 8., 1875, ©. 468) wurben in ber That
Lawſon's Berichte für baare Münze angenommen!
3u Goethes Stella.
Don
Prof. 2. Urlichs in Würzburg.
—ñif
Als Friedrich Heinrich Jacobi Goethe im Februar 1775 nach kurzer
Trennung zum zweiten Male beſuchte, fand er den Dichter mit dem Abſchluſſe
des im Winter 1773 begonnenen, im Jahre 1774 liegen gebliebenen Singſpiels
„Erwin und Elmire“ beſchäftigt; es erſchien im Märzhefte der Iris und wurde
im Mai 1775 während Goethe's Abweſenheit in Frankfurt von der Marchand'ſchen
Geſellſchaft aufgeführt. Unmittelbar nachher arbeitete Goethe an Stella; er ſchrieb
fie in den erften Tagen des März in Frankfurt und Offenbach, im lebendigſten Ge—
fühl feiner Liebe zu Lili, und in der That keins feiner Stücke wird von einer
gleichen Gluth der Leidenfchaft erfüllt. Aber er jchrieb da3 Drama nicht allein
als Liebender,, jondern auch für Liebende; ſchon die Schnelligkeit der Abfaffung,
verglichen mit der ſtoßweiſe erfolgten Vollendung von Erwin und Glaudinen
und dem fragmentariſchen Zuftande feiner übrigen Entwürfe, des Prometheus,
Mahomet, Fauft, läßt vermuthen, daß Stella ebenfo wie die Trarce gegen Wieland,
Glavigo, Werther einem realen Verhältniffe, welches den Dichter plöglich und
lebendig anregte, ihren Urſprung verdankte, einem Verhältniffe, das er mit
dichterijcher Freiheit auffaßte und ummodelte Bisher hat es nicht gelingen
wollen, diefen äußern Anlaß zu der poetiſchen Schöpfung zu finden. Seht liefern
die von mir herausgebenen Briefe Goethe’3 an Johanna: Fahlmer,
Leipzig, ©. Hirzel, 1875 *), wo nicht den Schlüffel, jo doch wenigftens eine deut-
lichere Spur.
Unter den 50 Briefen an Johanna find drei (Nr. 20, 25, 35) von der
Empfängerin Hand mit den Worten „Schik's mir wieder” oder „Schik’3 wieder“
bezeichnet. Der lebte, im Auguft 1775 geichrieben, enthält ein ungünftiges Urtheil
Goethe's über eine Arbeit von Fri Jacobi, ohne Zweifel den Anfang von
Allwill's Papieren, welche ex nicht gedrudt zu jehen wünſchte. Ebenſo bezieht
ih Nr. 25, zu Anfang des Aprilmonats gejchrieben, auf eine Anfrage Jacobi's
über den Verfafler der Farce Prometheus, Deufalion und feine Recenjenten,
welche Goethe direct zu beantworten ablehnt. Folglich ift auch Nr. 20 von
Johannen, welche Goethe’3 Beiträge zur Jris übermittelte und mit Jacobi im
Briefwechjel ftand, an ihren Verwandten und Freund zur Anficht geſchickt worden.
Dieſes Billet enthält noch eine weitere Notiz; es wird von der Empfängerin
überſchrieben: „Sonntag Morgen den 5ten (März); ebenfo das folgende Nr. 21:
„Montag Morgen“. Nur auf Nr. 29 findet fich eine ähnliche Bemerkung:
„Sonntag Morgen 23. April 1775. Diefe Briefe müfjen aljo für Johanna
*) Man vergleiche darüber unfre „Literarifche Rundſchau“ in Heft VIIL, p. 276.
Anmerlung ber Redaction.
Zu Goethe'3 Stella. 79
ein bejonderes perjönliches Intereffe gehabt haben, wie Nr. 25 und 35 für
Kacobi, Nr. 20- für Beide.
In Nr. 20 kündigt Goethe Stella an, im folgenden Briefe Nr. 21 über-
jendet er die erften Bogen zur Abſchrift für Fri. Nachdem Johanna ihre
Empfindungen mitgetheilt haben wird, ruft der Dichter in Nr. 22 aus: „Ad
wußte, was Stella ihrem Herzen fein würde” und weiter: „Stella ift ſchon ihre,
wird durch das Schreiben immer Ihrer, was wird Friz eine Freude haben!“
Aber Fritz hatte feine Freude. Ob ihm Goethe während ſeines Be-
ſuchs in Frankfurt, wobei er dem Freunde erzählt haben wird, „in was für
Tefleln man ihm, von Kindesbeinen an, Geift und Herz geſchmiedet“ hatte (Brief-
wechjel zwilchen Goethe und F. H. Jacobi Nr. 7, 6. November 1774), von dem
neuen Drama eine Mittheilung gemacht hatte, ſteht dahin; vielleicht tauchte der
ganze Plan erft in Folge diefer Erzählungen auf: aber auf jeden Fall war er
von Johanna über deifen Fortgang und Ausführung unterrichtet worden. Denn
ihon am 21. März, bevor er da3 vollendete Stüd kennen lernte, ſchreibt Goethe:
„Daß du meine Stella jo lieb haft, thut mir wohl“ (Briefw. Nr. 9), und am
25. März (fo Dünter richtig ftatt 25. Mai) meldet Jacobi: „Diefen Abend er-
wart’ ich Stella“ (ebd. Nr. 11). Goethe war durch Fritzens erften Beſuch vom
Schriftftellern abgehalten (6. Febr. an Betty, Zöpprit, aus Jacobi's Nachlaß IL,
©. 266), und während des zweiten vom 24. Februar bi3 2, März ſchwerlich
weit über Erwin (F. H. Jacobi's auserl. Briefwechjel Nr. 71, I, ©. 205)
hinausgefommen. Dann aber ging er mit doppeltem Eifer an das Stück, deſſen
erfte Spur vielleiht in dem Briefe an Knebel vom 13. Januar Nr. 5, wahr-
icheinlicher exft in dem Briefe an Auguſte Stolberg vom 13. Februar (G.’3 Briefe
an die Gräfin Augufte zu Stolberg Nr. 2) ſich findet; am 6. März fandte er
die erften Bogen an Johanna (Nr. 21); am 7. März jchrieb er unter dem Ein-
drud von Lili’3 Liebe in Offenbach eine Scene (an Augufte Nr. 3); den vierten
Act vollendete er vor dem 12,, jpäteftens dem 19. März (an Johanna Nr. 22);
über den fünften fehlen die Nachrichten; da er aber im April mit dem Abjchluffe
der aufgegrabenen Glaudine bejchäftigt war (an Johanna Nr. 27, an Knebel
Nr. 4), ift es unwahridheinlid, daß ex die jo feurig in Angriff genommene
Stella bis nad) der Schweizerreife liegen Tief. Alsbald nad) jeiner Rückkehr im
Auguft verfandte er Abichriften.
Genug, da3 Drama, ohne oder wahrſcheinlich mit dem Schlukacte, machte
auf Jacobi einen unerwartet ungünftigen Eindrud; er muß ihn bitter gegen den
Verfaſſer ausgeſprochen haben, da diejer nur auf Johanna’ Bitte feine enttvorfene
Antwort an Fritz, „auf den er nicht bös, aber wild werden“ könne, zurückhielt
(an oh. Nr. 28). Statt ihrer jandte er noch im April den im Brieftwechjel zwiſchen
G. und J.©. 54 ganz oder theilweife abgedruckten Brief, worin er ausruft: „Befinne
dich und noch einmal gib mir Stella zurüd! — Wenn du wühteft, twie ich fie
liebe und um beinetwillen liebe!” Eine Antwort Jacobi’3 liegt nicht vor, aber
aus dem Billet Goethe’3 an Johanna Nr. 29 erfieht man, dat Jacobi feine
Ankunft in Frankfurt sanfündigte. Auch dies Billet ift mit Dem Datum:
„Sonntag Morgen den 23. April 1775”, jorgfältig von der Empfängerin verjehen
worden. Jene Ankunft erfolgte nicht, wahrſcheinlich weil Goethe bald darauf
80 Deutiche Rundichau.
verreifte, und das herzliche Verhältniß der Freunde ftellte fich Her; denn die Briefe
Jacobi's vom 14. Juni und 12. Auguft (Briefw. Nr. 11 und 12) athmen die
alte überihwängliche Liebe; indeffen gerieth, nachdem Goethe ſich über Fritzens
Arbeit ungünftig ausgeſprochen hatte (an Joh. Nr. 35), die Correjpondenz ins
Stoden. Goethe jandte zwar bis zum Jahre 1777, ja bis in den Herbſt 1779
hinein, rigen jeine Grüße, aber die alte Innigkeit war gewichen: fie jollte erſt
einer völligen Entfremdung Pla machen, ehe fie im Jahre 1782 wieder auflebte.
„Um bdeinetwillen” liebe ih Stella, hatte Goethe ausgerufen; alfo muß
das Stück eine perfönliche Bedeutung für Jacobi gehabt haben, welche der Dichter
mit naiver Harmlofigkeit auffaßte, jein Freund als eine Beleidigung empfand.
Suchen wir ihre Spuren in dem Drama jelbit auf, jo fällt uns vor Allem die
Scene auf, worin die erfte Begegnung der Liebenden gejchildert wird. „Weißt
du,“ Fragt Stella Fernando Act IV, 1, „den Nachmittag im Garten, bei
„meinem Ontel? Wie du zu uns hereintrat’ft? Wir jaßen unter den großen
„Kaftanienbäumen hinter dem Luſthaus!“ Diefe Scenerie führt und in den
Jacobi'ſchen Garten zu Pempelfort. Dort ftehen noch jet manche anjehnliche
Kaftanienbäume; das Lufthaus ift zwar verichwunden, aber der von Schaumburg,
Jacobi's Garten, Aachen 1873, herausgegebene alte Plan zeigt an dem noch vor=
handenen Teiche zwei Lufthäuschen; wenn mich meine Erinnerung nicht täujcht,
auch da3 jpäter in derjelben Scene erwähnte Bosket. Ebenjo erinnert Manches
an Perjonen des dortigen Kreiſes. Daß Jacobi, wie Goethe, Mufik trieb, beweiſt
der Rath, ſich darin zu erholen, welchen ihm 1762 jein Lehrer Le Sage gab (auserl.
Briefiv. Nr. 1); e8 war aljo nicht unmöglich, ihn als Violinjpieler auftreten zu
lafjen, wenn auch natürlich die plögliche Wirkung des Anblids der Geliebten
mehr aus Romeo und Julie als aus einem wirklichen Vorgange entnommen
wurde. Beftimmter erinnert die ergreifende Erzählung von dem Tode eines
Kindes, Act II, 2, an den Verluft, welchen Jacobi am 2. September 1772 be—
trauert (auserl. Briefiw. Nr. 23) und am 13. November 1774 von Neuem fich vor
die Seele führt (ebd. Nr. 65). Das in dem lettern Briefe angeführte Gedicht
„An ein fterbendes Kind“ hatte Goethe in der Iris 1774 gelefen. Undeutlicher
ſchwebt ihm der Bermögensverfall des Jacobi'ſchen Hauſes (auserl. Briefiv. Nr. 52)
dor Augen, indem er Gäciliend Verarmung dem Betruge eines faljchen Freundes
zuichreibt (Act II, 2).
Diefe Anfpielungen würden vielleicht hinreichen, einzelne Züge des Dramas
auf Goethe's Belanntihaft mit dem Düffeldorfer Kreiſe zurückzuführen; die
eigentliche Handlung und die Charaktere ihrer Träger, das Wort „um beinet-
willen“ laſſen fie unerflärt. Hier enticheiden andere Stellen, denen wir einige
Notizen über die Vermittlerin der Freundſchaft zwiſchen Goethe und Jacobi
vorausichiden.
Johanna Fahlmer Hatte von 1758 bis 1766 in Mannheim gelebt. Als fie
Düffeldorf verließ, war fie ein Kind von 13 Jahren, ihr Neffe Fri Jacobi
15 Jahre alt. Auch er hatte fi in demielben Jahre von jeiner Vaterftadt
entfernt, zuerft in Frankfurt, dann in Genf aufgehalten, war im Jahre 1761
zurüdgefehrt, im Jahre 1764 mit der liebenswürdigen, natürlichen und herzens—
guten Betty von Clermont verheirathet worden. In diejen Kreis trat im
Zu Goethe’ Stella. 81
Jahre 1766 die idealer angelegte Johanna mit ihrer Mutter umd früheren Er-
zieherin Frl. Bogner, welche ſich mit hingebender Anhänglichleit an Jacobi an-
ihloß (auserl. Briefiv. Nr. 48). Bon Johannens Leben während der erften Jahre
erfahren twir nichts, als daß fie mit dem fentimentalen Namen Adelaide nad)
dem Mufter von Wielands Philaide bezeichnet wurde (Roth in der Anm. zum
auserl. Brief. I, ©. 148), und daß ihr, ohne Zweifel ala einer Freundin der
Jacobi's, im Jahre 1768 oder 69 Gleim feine neuen Gedichte jchenkte. Aber,
wie jener Zeit überfhwängliche Gefühle eigen waren, jcheint zwiſchen den Ver—
wandten eine ſchwärmeriſche Freundſchaft fich gebildet zu haben, welche allmälig
einen wärmeren Ton annahm, ala Johannens Gejundheit und der Ruhe der
Familie zuträglicd war. Im Frühjahr 1770 trennte fich ihre liebe Bogner von
ihr, um nad) Vaals zu Clermont's zu ziehen; fie jelbft reifte nach einigen Wochen
ihrer Kränklichkeit wegen, von Betty, Jacobi und einem Berliner Präfidenten
v. Glermont begleitet, nad) Spaa, jpäter nad Vaals, wo fie mit Frl. Bogner
zufammentohnte und das °, Stunde entfernte Aachener Bad gebrauchte. Im
Haufe der alten Frau dv. Clermont in Aachen verfiel fie in ein hitziges Fieber,
worin die getreue Bogner Tag und Nacht ihrer wartete. Diefe Aufzeichnungen
ſchließt im Tagebuche die in den Briefen ©. 6 abgedrudte Bemerkung „eine
große Kriſezeit meines Lebens, auch anderer ala phyfiicher Leiden“.
Mit diefer Erzählung vergleiche man Stella, Act IV, 2: „Wie du an der
„Hand meiner Freundin, die du dor mir fennen lernteft, durchs Bosket
„streifteft* — — — „meine gute Sara jagte mir's wohl, gleich jelbigen Abend” — —
„wenn meine Sara meine Freuden jehen könnte! Es war ein gutes Geichöpf;
„sie weinte viel um mich, da ich jo frank, jo liebeskrank war. ch hätte fie
„gern mitgerfommen, da ich um bdeinetwillen alles verlieh.“ Sofort wird
man in Sara die Bogner, in der Krankheit jene nicht blos phyfiichen Leiden
erfennen, welche die Pflege der Bogner linderte; in der Freundin, welche
Fernando vor Stella kennen lernte, Betty, jeit 1864 Fritzens Gattin, und num
auch in dem Onkel (IV, 1) deifen Vater, welchen der Dichter der Handlung
wegen nicht mit dem richtigen Namen Better bezeichnen durfte.
Johanna kehrte körperlich geheilt nad) Düffeldorf zurüd, aber nicht auf
lange Zeit. Im Jahre 1772 fiedelte fie mit ihrer Mutter nad) Frankfurt über.
Der Neifebegleiter war nad) dem Tagebuche der mit Jacobi eng befreumbdete
Maler, jpätere Galleriedirector Mannlich aus Zweibrüden, welcher wahricheinlich
in feine Heimath zurückkehrte (auserl. Briefw. Nr. 21, 10 Auguft 1772). Auch dieje
Trennung jchildert der Dichter (Act V, 3), indem er Gäcilien den Vorichlag in
den Mund legt: „Wir wollen jcheiden, ohne getrennt zu fein. Ich will entfernt
„von dir leben und ein Zeuge deines Glüds bleiben. Deine Vertraute will
„ich fein; du ſollſt Freude und Kummer in meinen Bufen ausgiehen. Deine
„Briefe jollen mein einziges Leben jein, und die meinen dir als ein lieber
„Beſuch erſcheinen.“
So geſchah es; Johannens ſchwärmeriſche Freundſchaft wurde durch die
Trennung nicht gemindert. „Die liebe, liebevolle, ſchwermüthige Seele feiner
„edlen Freundin“ preift Jacobi, indem er fi ihrer Sophie La Roche gegenüber
beitig annimmt (auserl. Briefw. Nr. 58, vgl. Nr. 53). Die Düffeldorfer blieben
Deutfäpe Rundihan. 1, In. 6
82 Deutſche Rundſchau.
mit ihr im engſten Verkehr; im Frühling 1773 wurde Fritzens Schweſter
Charlotte zu ihrer Geſellſchaft geſandt, im Sommer folgte die treffliche Betty
ſelbſt; ſie nahm ihre Freundin zum Beſuche mit nach Düſſeldorf. Jedes zweite
Jahr wurde er bis zu ihrer Verheirathung wie nach einem Abkommen wieder—
holt, die Bogner zur Theilnahme von Vaals beſchieden. Auch als Frau und
Wittwe war Johanna ihrem brüderlichen Freunde, wie ſie ihn ſelbſt nennt, bis
an ſeinen Tod treu zugethan.
Goethe wird dies eigenthümlid zarte Verhältniß beider Freundinnen, der
Grund von Johannens Schwermuth nicht unbekannt geblieben fein. Wie Jacobi
a. a.D. fi) ausdrüdlich auf Betty's Zuftimmung beruft, wunderte er ſich über
ihr ungeftörtes Zufammenleben,; und als Betty dem Dichter am 6. November
1773 verfichert hatte (Briefw. Nr. 3, ©. 11): „daß die Tante und ich unſeren
„ebenen und graden Weg neben einander ohne jtumpen und ftolpern gehen, ift
„wahr, obgleich noch immer ein Räthjel für den Herrn Doctor Goethe Lobejan“ ;
al3 er nad) jeiner Rückkehr vom Niederrhein Johanna am 13. Auguft 1773
jwiedergejehen und jeinem Freunde gejchrieben hatte: „Sie darf mit mir von
„ihrem Fri reden — heute zum erften Mal“ u. j. w. (Briefw., ©. 28): da
geftaltete fi) in feiner Seele von dem innigen Bunde, in welchem zwei gleich
edle Frauen unter einem Dache in der Neigung zu einem Manne ſich begegneten,
ein Bild, welchem jeine finnliche Phantafie unwillkürlich die Erinnerung an die
Doppelehe des Grafen Gleihen unterjchob. Fritzens Bejuc ließ es wachjen und
deutlicher werden, und binnen tvenigen Tagen, wie es geichah, wenn fein Herz
von einem reellen Eindrude erfüllt war, drückte fich diefe Vorftellung in dem
Drama für Liebende aus. Was er von der Familie und beiden Frauen wußte,
wob fich jo ineinander, daß er mit dichterifcher Freiheit intereffante Züge von
der einen Freundin auf die andere übertrug. Was Johanna ausgeführt hatte,
die auf einen Briefwechjel beſchränkte Trennung, läßt er Gäcilien anbieten;
Betty's verftorbenes Kind läßt er von Stella betrauern. In der Löfung des
Knotens gibt er platonijche Liebe auf und jet die deutiche Sage an ihre Stelle,
der Liebhaber wird frei erfunden und nad) Art eines Weislingen und Clavigo
charakteriſirt.
In den Ausdrücken, welche Johannens vorausgeſetzte Auffaſſung jenes ver—
klärten und verdüſterten Spiegelbildes bezeichnen, iſt eine merkwürdige Steigerung
unverkennbar. Zuerſt (Nr. 21) nimmt Goethe nur an, daß Stella fie unter—
hält, dann (Nr. 22) weiß er, was fie ihrem Herzen fein wird; endlich, ſelbſt in
hohem Maße aufgeregt, weiß er, was in ihr vorgeht (Nr. 29).
Sehr begreiflich aber ift es, daß der holerijche Jacobi über die elende Rolle,
welche Fernando pielt, erzürnt, über die Profanation eines rein fittlichen Ver—
hältnifjes entrüftet wurde. Goethe ging es gerade fo, wie beim Werther; jein
Erftaunen über die unerwartete Wirkung drüden beide Briefwechjel aus, und
wenn wir Jacobi’3 Briefe hätten, würden wir den pathetijchen Ausdruc feines
Untoillens mit der erzürnten Proja des nüchternen Keſtner vergleichen können,
Aber dieje Briefe haben ſich nit erhalten; auch der ganze Briefwechſel
mit Johanna ift bi3 auf einen Brief von 1779 (Briefiv. 14) und einen anderen
von 1792 (Zöpprig Nr. 50) verſchwunden. Faſt ſcheint es, daß Jacobi, welcher
Zu Goethe’s Stella. 83
auch Goethe'3 Briefe an Johanna bis zu feinem Tode befaß (Briefw. S. 271),
diejelben nicht erhalten wifjen wollte, und daß fie ſich unter denen befanden,
welche nad) jeinem Tode verbrannt wurden (Roth, auserl. Briefw. ©. V).
Glücklicherweiſe hat er es nicht über ſich vermocht, Goethe's Briefe zu zerftören;
und jo gelingt es, drei gleich vortreffliche Menſchen in Beziehungen kennen zu
lernen, welche allen zur Ehre gereichen, Beziehungen, welche des Dichter Herz
ertvärmt und durch die Verklärung der Poefie einen idealen Glanz erlangt haben.
Was er fi Andern gegenüber naiv erlaubte, gejtattete Goethe gegen ſich
Andern nicht gern. Als Jacobi Gleiches mit Gleichem vergalt und feinem All-
will unverfennbare Züge des Bildes, welches er fich jet von Goethe machte,
beigab, war es jchtverlich blos äfthetiiches Mißbehagen, das diejer bei.der Lectüre
empfand (Nr. 35). *)
Intereſſant ift der Eindrud, welchen Stella auf Lenz machte. Er dichtete
jofort 1776 eine umgekehrte Stella, die Komödie „Die Freunde machen den
Philoſophen“, eine Frau mit zwei Männern, darunter einen platonijhen. Zum
begünftigten macht er fich jelbjt, Reinhold Strephon (Act I, 4); merkwürdig,
daß die Geliebte Seraphine heißt, wie in dem Gedicht (Zöpprik 2, ©. 312)
und — wie Frau Sarafin in Bajel (Pfeffel bei Dünger, Frauenbilder ©. 87). **)
L. Urlichs.
*) Ich ſehe gänzlich von den unklaren Beziehungen ab, welche Goethe's Aeußerungen über
„ihr ander garflig Verhältniß“ (Brfw. ©. 28) und Jacobi's Brief an frau von La Roche
(auserl. Brfw. I, ©. 161 und 174) bezeichnen. An der La Roche Mifdeutungen jcheint ſich
Jacobi jelbft die Schuld beizumefjen, Goethe's Worte find unverftändlich; fie fönnen ebenſowol
die Zuftände Anderer andeuten, welche Johanna jchweigen ließen, ala ihre eigenen, vielleicht gar
feine reellen, jondern don der La Rode und danach von ihm vorausgeſetzte.
**) Bei dieſer Gelegenheit erlaube ich mir zu meiner Schrift einen Nachtrag. Die „Liebes:
worte” von Lenz, twelche Goethe nach Nr. 18 und 19 mit Freuden empfing, habe ich deswegen
nicht für die fchöne „Nachtſchwärmerey“ (Zöpprik II, ©. 314) halten zu bürfen geglaubt, weil
Lenz in dem auf bemfelben Blatte ftehenden Briefe die „Societät" erwähnt. Da der Brief
gewiß nach dem Ericheinen des Götz (1773), wahricheinlich auch nach Werther (1774) gefchrieben
wurde, fonnte ich unter der „Societät“ nicht die ältere „Gelehrte Uebungsgeſellſchaft“ verftehen,
und da bie neuere erft am 2. November 1775 eröffnet wurde, glaubte ich, der Brief und das
Gedicht müſſe fpäter entftanden fein. Goethe müßte es aljo von Weimar aus an Jacobi
(Zöpprik II, ©. 287) geichiet haben, an ben er am 22, November jchreiben wollte (Nr. 38).
Jacobi bezeugt aber ausdrücklich Griefw. S. 271), daß ihm fein Brief von Goethe verloren
gegangen war; folglich hat er feinen Brief Goethe'3 von jenem Datum bejeffen. Johannen aber
würde ©. das Gedicht nicht ohne Bemerkung gejandt Haben. Aljo muß die Sendung im März
erfolgt fein (Brfw. ©. 47, wo Düntzer „Lenz“ ftatt „Tanz“ herſtellt). Ein Liebeswort ift die
Nachtſchwärmerey, worin ©. „ber Freunde erfter“ genannt wird, gewiß. Alſo ift der Ausdrud
„Societät“ nicht von ber Gefellichaft im engern, ſondern in weiterem Sinne von der Straßburger
Gefellichaft der Freunde, zumächft der Zijchgeiellichaft, zu verftehen, in einer Bedeutung, welche
er in Goethe'3 „Wahrheit und Dichtung“ regelmäßig hat. Eine Frucht der Bemühungen von
Lenz, welche er in jenem Briefe erwähnt, jcheint eben die Stiftung der ‚Geſellſchaft“ geweſen
zu fein, an ber er fich lebhaft betheiligte.
6*
Kirhenfreiheit und Bildofswahlen.
Don
Projefior Ottokar Lorenz in Wien.
II.
Die gegenwärtigen ſtaatskirchlichen Verhältniffe Deutjchlands find in den
erften Decennien des Jahrhunderts feftgeftellt worden. Sie beruhen ſämmtlich
auf Verträgen zwiſchen den einzelnen deutjchen Regierungen und dem päpftlichen
Stuhle Die Verhandlungen, melde zum Abjchluffe derjelben führten, Liegen
heute in vortrefflichen geihichtlihen Darftellungen vor, und wenn Unklarheiten
und Streitfragen, wie zu allen Zeiten, jo auch im Verlaufe unjeres Jahrhunderts
ala Folge von Concordaten hervortreten, jo mangelt e3 wenigſtens nicht an den
gelehrtejten und gründlichiten Arbeiten der Jurisprudenz, um die von den
Staaten erworbenen Rechte zu erklären und zu ſchützen.“)
Für die hiſtoriſche Betrachtung ftellt fich jedoch die Frage in den Vorder—
grund, durch welche Umftände die großen Gonflicte herbeigeführt wurden, die
faft überall bald nach dem Abſchluß der Goncordate in ftetig gefteigertem Maße
zwijchen Staat und Kirche entftanden.
Wenn man den Inhalt der jeit 1803 mit Nom verhandelten Verträge in's
Auge faht, jo bemerkt man, daß der Schwerpunkt der ſtaatskirchlichen Fragen
jowol von der Curie, als aud) von den Staatsmännern in die Bejegung der
geiftlichen Aemter verlegt wurde. Die Diplomaten, welche die neuen Grund»
lagen des Staatskirchenrechts ſchufen, hielten gewiffermaßen an den alten Tra-
ditionen feft, nad) welchen die Hoheitsrechte des Staates durch die Rechte des
Landesherrn bei den Wahlen der Biſchöfe ihren Ausdrud erhielten. Das äußer-
liche Princip, welches den mittelalterlihen Staat zum Inveſtiturſtreit führte,
galt auch in unjerm Jahrhunderte noch für das Weſen der ftaatzkicchlichen
Frage, und es ift troß der genaueren Durchforſchung zahlreicher perjönlicher und
*) Bon ber umfangreichen Literatur über diefen Gegenftand bringe ich durch dieſe Zeilen
bie beiden erheblichiten neueren Werke zur Anzeige: Mejer, Zur Geichichte der römiſch-deutſchen
Frage. Roftod, 1871 ff. — Emil Friedberg, Der Staat und bie Biichofäwahlen in Deutſch—
land. Leipzig, 1874.
Kirchenfreiheit und Biſchofswahlen. 85
amtlicher Acten ſchwer zu entſcheiden, ob dieſe Einſeitigkeit der modernen Staat3-
kunſt mehr auf einer Unter- oder Ueberſchätzung der Papſtkirche beruhte.
Von dem hervorragendſten und geiſtig bedeutendſten Manne, der den Ab—
ſchluß der Verträge Preußens mit Rom bewirkte, von Niebuhr, bemerkt der
neueſte Geſchichtsſchreiber, „er wäre in den Anſchauungen einer Zeit befangen
geweſen, der jede Auflehnung der Kirche gegen den Staat als eine wunderbare
Mähr erſchien, und die nur eine Verſchmelzung ftaatlicher und kirchlicher In—
tereſſen kannte, bei der die letzteren den erjteren dienftbar zu jein hätten“. Und
in der That laffen die Gefinnungen der meiſten Staat3männer jener Zeit dar-
über feinen Zweifel, daß fie die römiſch-katholiſche Kirche mehr ſchutzbedürftig
al3 gefährlich anjehen. Andererjeit3 aber darf nicht vergeffen werben, daß man
die Gefangenschaft des Papftes Pius noch in lebendigem Gedächtniß hatte, und
daß man mol wußte, welche Verlegenheiten dem franzöfiichen Imperator er-
wuchjen, al3 die Bisthümer des Landes nicht bejegt werden fonnten, weil ſich
der Gefangene weigerte, die Einjegungsbullen hinauszugeben, ohne welche fein
katholiſcher Geiftlicher eine Kirche übernehmen mochte. Der Hartnädigkeit gegen-
über, welche die römiſche Curie in allen Dingen unter Conſalvi's Eluger Führung
bewies, ift e8 im Grunde doc ein ſtarkes Stüd, Männern wie Hardenberg und
Niebuhr zuzutrauen, fie hätten die Macht der Kirche für gering gehalten. Und
war man nicht in allen Staaten von peinlicher Aengftlichkeit gegenüber den
Schriften und Aeußerungen päpftlich gefinnter Männer? Zeigt e$ von Unter—
ſchätzung der Tatholii hen Machtanſprüche, wenn der abjolute Staat des vorigen
Sahrhundert3 eigene Prämien auf die Widerlegung des päpftlichen Syſtems ſetzte?
Die Gejandtichaftsgefhichte der deutichen Staaten in Rom lehrt auch überdies
deutlich genug, daß man fi) von dem Staatsjecretär der päpftlichen Curie gar
Vieles gefallen ließ. Als Hannover die erften Schritte der Unterhandlung mit
Rom über die zu feinem Territorium gehörenden Bisthümer machte, gab man
ſich von Seite der Regierung den größten Hoffnungen hin und jchien entſchloſſen,
ſogar das Ernennungsreht als erfte Bedingung jedes Vertrags mit Rom zu
behaupten. Die hannover’ihe Regierung meinte, durch die Gelehrſamkeit eines
PBrofefford, der dem Gejandten beiftehen jollte, das päpftliche Staatsjecretariat
nicht wenig einzufchüchtern; aber wenn Niebuhr, der diefe Dinge beſſer kannte
und verftand, gleich bei der Ankunft der hannover'ſchen Gejandtichaft voraus—
jagte, es würde mit dem Anſpruch auf die Ernennung der Biſchöfe durch den
Landesfouverän gar nicht? durchzufegen fein, jo Klingt da3 in der That nicht
jo, wie wenn der Diplomatie jener Zeit eine Auflehnung der Kirche gegen den
Staat al3 eine wunderbare Mähr erjchienen wäre.
Wenn nicht Alles trügt, jo lagen die Gründe der ungeheuren Nachgiebigfeit
der beutjchen Regierungen gegenüber der katholiſchen Kicche doc in anderen Um—
ftänden, und e3 bleibt eine nimmer zu läugnende Thatjache, daß die weltlichen
Gewalten in jenem entjcheidenden Augenblide, da fie daran gingen, das neue
Staatskirchenrecht feftzuftellen, troß aller Aufklärung, troß aller proteftantijchen
Gelehriamkeit in einem Zauberbanne Rom's ſich befanden, dejjelben Rom’3, twel-
ches eben rüftete, fich wieder einmal zu reformiren, d. h. Kriegsvölfer in Geftalt
von Jeſuiten, Schulbrüdern und Bruderſchaften zu werben, um dem alternden
86 Deutſche Rundſchau.
Europa der reſtaurirten Dynaſtien und dem neuernden Zeitgeiſt zugleich den
Handſchuh hinzuwerfen. Gerade in den diplomatiſchen Kreiſen war man ſeit
dem Jahre 1815 wol beſſer in der Lage, als irgendwo ſonſt, das Wetterleuchten
des vaticaniſchen Geiſtes zu beobachten. Es mag ſein, daß die ſchöngeiſtige
Welt Deutſchlands bei dem ſtarken Glauben an ſich ſelbſt und in kindlicher
Verehrung der Allmacht der Philoſophie die katholiſche Mobilmachung nicht
bemerkte, und in der That würde man kaum im Stande ſein, auch nur eine
einzige Stelle in den zahlreichen Briefwechſeln dieſer Zeit zu finden, wo das
Ereigniß der Wiedereinführung des Jeſuitenordens beachtet worden wäre; allein
die gleiche Unterſchätzung der römiſchen Macht, deren fich die gebildeten Stände
Deutjchlands bis in die allerleten Jahre fortwährend ſchuldig machten, hat
man fein Recht, der in Rom weilenden und unterhandelnden Diplomatie des
zweiten Jahrzehnts zum Vorwurfe zu machen.
Eine diplomatijche Action, in welche alle deutjchen Souveräne jofort nad)
dem Jahre 1815 mit auffallender Beichleunigung eintraten, muß ohne Frage
die ernfteften Gründe gehabt haben. Man muß ſich vergegenwärtigen, wie die
gefammten Staats- und Befitverhältniffe völlig verändert worden waren. Alle
einzelnen Regierungen waren von Schtwierigfeiten jeder Art bedrängt. Nachdem
da3 heilige Teuer des Befreiungskrieges ausgelodert war, fühlten ſich die ver-
jchiedenften Stämme und Länder in einer neuen und daher unbehaglichen Lage
ber Dinge. Politiſche Schwärmereien, religiöfe Gegenfäte, Stammesfeindſchaften
ertvachten mit ihrer alten hiftorifchen Kraft und machten in dem größten und
beftorganifirten Staate Deutſchlands eine verfaffungsmäßige Entwidelung vorerft
faft zur Unmöglichkeit. Alle particularen Elemente regten fih: Stände gegen
Stände, Regierung gegen Regierung zeigten Miftrauen; es war, ala ob die
neuen Staat3fleider Niemandem an den Leib paßten. In dieſer Unficherheit
der bejtehenden Verhältniffe erichien die Beruhigung der Fatholijchen Bevölkerung
al3 eine Nothivendigfeit; und ganz abgejehen von aller Revolutionzfurdht, von
welcher indeß nur die wenigften Gemüther jener Zeit völlig frei waren, weiſt
ſchon das conjervative ntereffe der Staaten zu einer möglichften Befriedigung
der katholiſchen Kirche.
Zugleich aber wuchien in den Ideen der Menſchen einige andere Schling-
pflanzen empor, welche Literatur und Politik gleihmäßig umrankten, und die
ſich der katholiſchen Weltmacht jo günftig al3 möglich erwieſen. Dem büreau-
fratifch und polizeilich centralifirten Staate des vorigen Jahrhunderts ftellte ſich
in dem Betwußtjein eine duch wunderbare Schidjale hindurchgeführten Ge-
ichlechts die dee der perfünlichen Freiheit der inneren Vertiefung der eigenen
Beltimmung gegenüber. Die Romantik beherrſchte die Welt. Mit den ahnungs-
vollen Empfindungen altdeutjcher Ritter wanderte man noch einmal nad dem
etvigen Nom. Was der Nationalismus des vorigen Jahrhundert? nur noch
belachte, wurde plößlich wieder zu etwas wunderbar alterthümlich Erhabenem,
mindeſtens zu etwas höchſt Merkwürdigem geftempelt, was auch von dem pro—
teftantifchen Denker „gerechte Würdigung” zu fordern ſchien. Es ift nicht nöthig,
zu meinen, daß von ſolchen Erwägungen die diplomatijhen Schritte der Regie-
zungen in Rom ausgegangen wären, aber diefe Stimmung der Zeit machte die-
Kicchenfreiheit und Bilchofäwahlen. 87
jelben möglich. Man empfand feine Abneigung gegen den heiligen Petrus und
jeine prächtigen Sentenzen; er war den Einen intereffant, den Anderen verehrungs-
wirdig und Allen gleich willlommen, wenn er die neue Ordnung der Dinge
befeftigen half. Und was war e8 denn im Grunde jo Gefährliches, was der
alte römische Riefe von dem modernen Staate verlangte? Nichts als Freiheit
de3 Gewifjenz feiner Anhänger, nichts Anderes, al3 daß dieje nad) den uralten
Satungen ihrer Kirche leben und nach den Ganonen ihre Vorfteher, ihre Seelen:
birten haben dürften. War e3 nicht gerecht, wenn der Staat endlich aufhörte,
die umleidliche und in einzelnen Fällen nachweisbar abgejhmadte und nußloje
Bevormundung über die Kirche zu üben? DBerlangten nicht auch andere Cor—
porationen nach Freiheit und Selbftbeftimmungsreht? Auf diefem Wege der
allgemeinen Gulturüberzeugungen wußte fich abermals das verhängnißvolle Wort
der Menjchen zu bemächtigen, welches einft an den alten deutſchen Kaijern be-
geifterte Verfechter fand. Wiederum Klang die Sirenenftimme der Kirchenfreiheit
an das Ohr der Mächtigen und Staatälenker, und fie öffneten ihm die Pforten
des Staatd, damit e3 fich zeigen könne und feine Wirkungen offenbare. Aber
die Politiker jahen es und wußten nicht recht, was es zu bedeuten habe. Hätte
man ihnen gejagt, e8 bedeute Gregor VII, jo hätten fie entſetzt e3 zurückgewieſen,
hätte man auf die Bullen Bonifaz’ VII. und Johann's XXII. verwieſen, um
den ſchweren Begriff der Kirchenfreiheit deutlich zu machen, jo hätte Fein Staat
fih mit demjelben einlaffen mögen; allein die Kirchenfreiheit, die man jet
meinte, ſollte wieder etwwa3 Anderes fein. Und ſicherlich war es auch etivas
Anderes, was nunmehr die Kirche anftrebte, al3 was fie zur Zeit der Clunia-
cenjer-Reform, oder zur Zeit der Goncilien oder zur Zeit der Jeſuitenmiſſionen
wollte. Allemal handelte e3 fi um Kicchenfreiheit, und allemal verftand man
etwas Anderes darunter, jo daß es wahrlich den Staatgmännern unſeres Jahr:
hundert3 nicht verdacht werden Kann, wenn auch fie das twiederauferftandene
Wort nicht gleich nad) feinem wahren Sinne beurtheilten.
Die moderne Kicchenfreiheit hatte in der That einen idealeren und uneigen=
nüßigeren Zug in ihrem Charakter, al3 jene der früheren Jahrhunderte. Die
moderne Kirchenfreiheit verlangte vom Kaiſer keine großen Lehen, keinen aus—
gedehnten Länderbefi, keine Zölle und Münzgerechtigkeit, fie machte nicht ein-
mal übermäßige Geldanſprüche an den Staat, fie forderte fein Aſylrecht für
Verbrecher, kaum hie und da verjuchte fie ſchüchterne Eremtionen der Geiftlichen
von der Strafgewwalt des Staates. Die moderne Kirchenfreiheit verlangte nichts,
als dem Papſte gehorhen und die Laien katholiſch erziehen zu dürfen. Die
moderne Kirchenfreiheit beruhte aber gleich bei ihrer Geburt auf der innigen
Berbindung und Unterordnung der Biſchöfe unter der discretionären römifchen
Gewalt, wie fie zu feiner Zeit vorher in der Kirche beftand. Das bijchöfliche
Amt al3 ein römiſches Amt zu conftituiven, war der klare Zweck der Concor-
date und Verträge, welche die römische Curie mit den modernen Staaten jeit
1815 ſchloß.
Unter den Grundjägen, welche die päpftliche Politik ftets fefthielt und
weldje der Staatsjecretär Gonjalvi wiederholt und mit anerkennenswerther Offen-
heit ausſprach, fiel ſchon damals der Unterjchied auf, welcher in Rom zwiſchen
88 Deutjche Rundichau.
Staaten gemacht wurde, welche von katholiſchen, und ſolchen, welche von pro=
teſtantiſchen Fürften regiert wurden. Das Princip der Gleichberechtigung der
Gonfejfionen, welches durch Verträge und DVerfaffungen anerkannt war, machte
in Rom feinen Eindrud; es wurde vielmehr gänzlich ignorirt, und die päpftliche
Politik ftellte fi) auf einen ganz perfönlichen Standpunkt gegenüber dem Staat3-
oberhaupt. Ein Ernennungsrecht der Biſchöfe erklärte man deutlich nur katho—
lichen Fürften zuerfennen zu können. Dean jcheute in Rom jelbft die Behaup-
tung nicht, daß ein katholiſcher Fürft das Erneuerungsrecht verlöre, falls er
von dem wahren Glauben abfiele, und es blieb eine offene Frage, ob ſolcher
Abfall durch einen förmlichen Uebertritt zu einer anderen Konfejfion, oder im
Einne der fatholiichen Dogmatik ſchon durch Begünftigung ketzeriſcher Meinun—
gen conftatirt werden könnte. Das ganze Verhältniß der Kirche zum Staate
wurde auf die rein perjönlichen Beziehungen des Papftes zu den Fürſten gebaut.
Dan verweigerte Preußen, Hannover, Württemberg, Baden u. j. f. die
Rechte, die man Defterreih und Bayern zugeftand, und indem man den
proteſtantiſchen Staaten nicht einmal die Form eines Goncordates bewilligte,
jo hielt man ſich für die Zukunft die Hände frei, um in jedem Augenblide nad)
der Gunft, in welcher ſich die Perjönlichkeit der regierenden Fürften befand, die
Zugeftändniffe zu verringern oder zu vermehren. Wenn der Papft die Anerken—
nung aller der Staatöverträge verweigerte, auf denen der Zuftand Europa's
beruhte, wenn jelbft der Wiener Congreß für die Kirche nicht eriftirte, jo war
ihr Verhalten in Betreff der ſtaatskirchlichen Verhältniffe eine ſcharf gezogene
Gonjequenz ihrer Principien. Und nad) diefen hatte fie nicht3 mit dem Staate
al3 ſolchem zu ſchaffen, jondern nur im Einverftändniß mit factifch regierenden
Herren die Angelegenheiten der katholiſchen Kirche umd ihrer Gläubigen in
Deutichland zu ordnen.
Waren es wirklich diefe ftrammen, aus den alten Anſprüchen der Gurie
gezogenen Grundjähe, welche in den Verhandlungen Rom’s mit den deutjchen
Staaten Ausdrud fanden, jo mag es erflärlich jein, dat die Geſchichtſchreibung
zuieilen einen Tadel ausſprach, weil die Diplomatie jener Zeit ſich zum Ab-
ſchluß jo ziweideutiger Verträge bereit zeigte. Allein hierbei darf nicht außer Acht
gelaffen werden, daß für's Erfte ein Einverftändni gefunden werden mußte,
und daß e3 deſto nüßlicher jein konnte, je vajcher e8 erzielt wurde. Wenn Nie
buhr von der Ueberzeugung ausging, daß mehr als das Erreichte für Preußen
in Rom nicht zu erreichen war, jo liegt fein Grund vor, dies zu beftreiten,
und wenn andere Staat3männer, voran die verbündeten Regierungen der ober-
rheiniſchen Kirchenprovinz, meinten, größere Forderungen durchſetzen zu können,
jo wurden fie bitter genug enttäufcht, und ihre Verhandlungen in Rom zeigten
blos, was die päpftliche Curie nicht zu gewähren entjchlojjen war.
Gerade in diefer Richtung bewährte fich jchon in den Verhandlungen Han—
noverd mit Rom der praftijchere und jchärfere Blick der preußiſchen Staats—
männer; noch deutlicher aber beivies das Scheitern aller Anträge der verbündeten
oberrheiniihen Staaten in Rom, daß man dort, feines Ziels vollftändig bewußt,
die eben angedeuteten Principien wirkli und in aller Schärfe fefthielt. In
dem Streite über die Beſetzung der in der oberrheiniichen Kirchenprovinz ge-
SKirchenfreiheit und Bilchofäwahlen. 89
legenen Bisthümer jchreibt Conjalvi unter Anderem am 27. Februar 1823: „Ein
ſolches Benehmen (der vereinigten Fürſten) hat ſich bei Sr. Heiligkeit um
fo mißfälliger hervorgeftellt, al3 die größte Publicität, welche die von den pro-
teftantiichen Fürften und Staaten vorgenommene Nomination der Bijchöfe in
Deutſchland erlangt Hat, zu dem Glauben Beranlaffung geben könnte, daß ber
heil. Vater nichtkatholiichen Fürften das Privilegium ertheilt hätte, Bijchöfe
zu ernennen, ein Privilegium, das der heil. Stuhl nie einem Souverän, aud)
dem mächtigjten nicht, der ſich nicht zur katholiſchen Religion befennt, zugeftan-
den hat, ungeachtet die Kirche davon die erheblichſten Vortheile hätte erwarten
können. Was endlich die Betrübniß des heil. Vaters unendlich vermehrt hat,
ift — was er ebenfall3 von mehreren Seiten vernommen hat —, daß den zu
Biihöfen erwählten Geiftlicden von den rejp. Regierungen einige Artikel einer
fogenannten Kirchenpragmatit übergeben worden find, mit der Auflage, fi
fchriftlich zu erklären, daß fie von ihnen pünktlich) beobachtet und ala die kirch—
liche Verfaffung der Provinz ausgeführt werden würde, und daß fie endlich fein
Hindernig der Inſtitution der zu Canonikern bejtimmten Geiftlihen in den
Weg legen würden.“
Mit den angeführten Worten find die beiden Hauptpunfte angedeutet, um
welche der Kampf zwiſchen der Curie und den Frankfurter Verbündeten am
beftigften geführt wurde. Schon der bloße Glaube, und jo jchreibt ein der ſo—
genannten gemäßigten Richtung ergebener Mann, wie Conjalvi, wäre dem heiligen
Vater jchmerzlich geweſen, daß er einem nichtkatholiichen Souverän das „Privi-
legium“ ertheilen könnte, Bijchöfe zu ernennen. Nicht zum Staate jollte der
Biſchof in ein Verhältniß geſetzt werden, das auf den allgemeinen Rechten und
Pflichten der Unterthanen zu beruhen jcheinen könnte, jondern gewiſſen Landes—
herren erxtheilte der Papft ein perjünliches Recht, bei den Biichofswahlen zu
interveniren, und da zufälliger Weije in den Verträgen auch die Eidesleiftung
der Biſchöfe zum Gegenftande bejtimmter Feſtſtellungen gemacht ift, jo war es
im Sinn der curialen Anjchauungen, wenn man jagte, gewillen Fürſten jei das
Privilegium extheilt worden, daß ihnen die Bijchöfe einen Eid der Treue ſchwören
dürfen. Noch bejtimmter tritt die Abneigung der päpftlichen Curie gegen Alles,
was Staat heißt, in der principiellen Verwerfung jeder Hirchenpragmatif hervor.
Ganz abgejehen von dem Inhalt eines ſolchen Staatsgeſetzes über Firchliche
Dinge jollte e8 überhaupt feinem Biſchof erlaubt fein Verſprechungen in dieſer
Richtung zu geben. Sa, es ift davon die Rede, daß Jemand, der gegenüber be—
ftimmten Staatägejeßen, wie die Hirchenpragmatif, Verpflichtungen eingegangen
wäre, ein canoniſches Hinderniß feiner Wahl zum Biſchofe geichaffen hätte und
daher vom Papjte nie confirmirt twerden könnte Frei und ohne weltliche Rück—
fihten jollte der Biſchof jein Amt antreten. Hier lag aljo ein Streit über
die Grenzen der ftantlichen und weltlichen Gewalt in der allerichärfiten Form
vor, und wenn man die Stimmung der Zeit, die Stellung der großen deutjchen
Staaten zum Papfttgum und die geringe Einigkeit der verbündeten Regierungen
der oberrheiniichen Kirchenprovinz in Betracht zog, jo fonnte man ſich nicht
wundern, daß die Staatögewalt eine neue Niederlage gegenüber der wohlunter-
richteten Curie Rom's zu verzeichnen hatte. Ein Verdienſt aber bleibt den Re—
gierumgen, welche den Verſuch gemacht hatten, in dem neuen Staatskirchenrecht
die ſouveräne Gewalt des Landesheren und die Autorität der weltlichen Gejehe
in ausgedehnterer Weiſe zu wahren: das Verdienft, die Kirchenfrage muthig und
in ihren Grundlagen erfaßt zu haben und den Schwierigkeiten ihrer Löſung
nicht aus dem Wege gegangen zu fein. Allerdings trugen die Vorjchläge der
oberrheinifchen Regierungen im Einzelnen vielfach den Stempel eines veralteten
bureaufratiihen Syftem3 an fi; da fie ſich aber auf Gebräuche und Rechte
beziehen konnten, welche der Staat de3 vorigen Jahrhunderts thatſächlich in
Anſpruch nahm, jo nöthigten fie zu einer abermaligen umfafjenderen und prin=
cipiellen Erörterung, in welcher die Grundjäße der Curie in voller Breite vor
den Augen der politiichen Welt enthüllt werden mußten.
So vermochte man wenigftend um die Mitte der zwanziger Jahre ſich
nicht mehr über die eigentlichen Abfichten der römiſchen Curie zu täuſchen.
Wie perjünlich die letere die in den Verträgen über die Bilchofswahlen ge-
machten Zugeftändniffe an einzelne Landesherren auffaßte, hatte man eben damals
auch in Preußen Gelegenheit wahrzunehmen. Gleich die erſte auf Grund der
Verträge vorgenommene Bilhofswahl zu Breslau erregte in Rom einigen
Anftoß. Die Einwirkung, welche die Regierung auf das Capitel bei der Wahl
des Biſchofs Schimonsky ausübte, mißfiel in Rom im hohen Grade, ımd wenn
ein Conflict über die Auslegung der früheren Vereinbarungen verhütet wurde,
jo lag der Grund Lediglich in den perſönlichen Stimmungen des Papftes gegen-
über dem Könige Friedrich Wilhelm II. Sehr bezeichnend ift der Ausspruch,
welchen Zeo XII. bei diefem Anlafje über die faum nod in's Leben getretenen
Zugeftändniffe feines Vorgängers machte: „Der Einfluß der Regierungen auf
die Gapitelwahlen ift allerdings nicht ſtreng canoniſch; ich kenne aber die des-
fallfige Sitte in Deutſchland und weiß, daß die Sache unvermeidlich ift. Wei
einer Regierung wie die de3 Königs von Preußen ift mir diefer Einfluß aber
auch unbedenklich.“
Klangen diefe Worte nicht jo, ala wenn das Zugeltändnig einer Einfluß-
nahme der preußiichen Regierung auf die Biihofswahlen von der jeweiligen
guten Gefinnung abhinge, welche der Souverän gegenüber der päpftlichen Regie-
rung hegte? Die Urkunden, auf denen da3 ftaatskicchliche Verhältniß zwiſchen
Preußen und der päpftlicen Curie beruhte und heute noch beruht, find in
der That mancdherlei Jnterpretationen fähig, und ſchon ift ein heftiger, vorläufig
theoretiicher Streit über einen der wichtigſten Punkte entbrannt. In dem Breve,
mittelft welches den Gapiteln die päpftlichen Entſchließungen mitgetheilt wurden,
ift jene fundamentale Beftimmung enthalten, welche die Einflußnahme des
Königs auf die Gapitelwahlen in Preußen fichert. Die Stelle lautet: „Da aber
zum Nuben der Religion, zur nüblicheren Handhabung des biſchöflichen Amtes
ſehr viel daran gelegen ift, daß die wechieljeitige Eintracht zwijchen beiden
Mächten erhalten bleibt, jo wird e8 Euch obliegen, nur Soldhe aufzunehmen,
welche außer den durch das Kirchenrecht feſtgeſetzten Eigenſchaften noch durd) das
Lob ihrer Klugheit empfohlen werden, und von denen Ihr wiſſet, daß fie dem
durchl. Könige nicht weniger genehm find, und müßt Ihr Vorjorge treffen, dat
90 Deutſche Rundſchau.
Kirchenfreiheit und Biſchofswahlen. 91
Euch diejes gewiß fei, bevor Ihr den fürmlichen Act der Wahl in der vorjchrifts-
mäßigen canonijchen Weile vornehmet.“
Die Frage, welche in neuefter Zeit bereit3 erhoben wurde, ift die, ob diejer
Empfehlung des Papſtes an die Gapitel ein vertragsmäßiger Charakter zutomme,
und es fann im Grunde fein großes Erjtaunen erregen, wenn eifrige Partei-
gänger der römiichen Kirche dies läugnen. Wir möchten in den juriftiichen
Streit, der hierüber geführt wurde, keinesfalls eintreten; doch dürfte man an
der Hand der römischen Praxis, wie fie jeit Jahrhunderten in diefen Dingen
gleichmäßig geübt wurde, fi) über die Bedeutung einer päpftlichen Weiſung an
die Domcapitel nicht täufchen. Ohne daß man auf eine Mentaltrejfervation
Seiten? der päpftliden Curie bei Abſchluß der Verhandlungen zu jchliegen
braucht, erſcheint es doc Klar, daß der Papft jederzeit alle Mittel in Händen
behielt, um das Zugeftändniß des Breves vollkommen illuforiich zu machen.
Die päpftliche Curie kann zwar die Gapitel von der Verpflichtung nicht entheben,
nur einen ſolchen Mann zu wählen, der fich des Beifalla des Königs erfreut,
aber fie kann die Konfirmation und Weihe Jeden verjagen, der ſich den Beifall
der Regierung in einer der Gurie mikfälligen Weiſe erworben. Indem die
päpftliche Curie den Anformativproceß über die ftattgefundenen Wahlen jo gut
tie ganz in ihrer Haud hat, wird es ihr niemals eine Schwierigkeit bieten, die
Gonfirmation eines Bijchofs, der nicht ihr volles Vertrauen befitt, zu verfagen.
Das in dem päpftlichen Breve dem preußiſchen Staate gemachte Zugeftändnig
fonnte unter diefen Umftänden nur jo lange einen Werth befigen, als ein Conflict
zwiichen Staat und Kirche nicht beftand. Im alle aber das Papftthum auf
die Treue und den Gehorfam des deutjchen Clerus mehr und ficherer rechnen
kann, al3 der Staat, ericheint das Zugeftändnig Pius VII an die preußiiche
Regierung fruchtlos und ungeeignet, einen ftaatstreuen Mann in die biichöfliche
Stellung zu bringen. Anders geftaltete ji) die Sache, wenn der deutiche Clerus
mit der deutjchen Regierung Front gegen die römischen Anfprüche machen würde;
allein man hat das Schlagwort der modernen Kirchenfreiheit nicht umſonſt
erfunden, man hat die Lehre von der oberjten Gewalt des römiſchen Biſchofs
nicht vergeblich verbreitet, man hat nicht ohne Gejchiclichfeit die Identität der
Intereſſen des Papftthums mit denen der Hierardhie zu einem Glaubensartikel
gemacht, dem jchließlich jede beffere Meberzeugung den Platz räumte. Heute noch
wie vor 800 Jahren wird mit dem Zauberjtabe der Kicchenfreiheit, die in
den wunderlichſten Verkleidungen einherging, das nationale und ftaatliche Ge—
willen von Laien und Geiftlichen berüdt. Daß demnach durch die Verträge der
deutichen Regierungen mit dem römijchen Stuhle im Anfange unſeres Jahr—
hunderts eine theoretiiche oder praftiich genügende Rechtsgrundlage geichaffen
worden wäre, wird wol kaum behauptet werden können.
Wie man auch über die juriftiihe Seite jener Verträge indefjen denken
mag, der Ueberzeugung wird fi Niemand verjchließen können, daß der Staat
durch die Anwendung derjelben wenig Erfolge erzielte. Welche Mühe wurde
von manchen Regierungen angewendet, um mißliebige Perjünlichkeiten von der
Wahl zu Biihöfen auszuschließen, und dennoch zeigten ſich unter dem deutjchen
Glerus ftaatsfreundliche und nationale Gefinnungen in fteter Abnahme begriffen.
92 Deutjche Rundſchau.
Die letzten fünfzig Jahre unjerer Gejhichte find durch eine Verihärfung der
Gegenfäße zwiſchen Staat und Kirche bezeichnet, und wenn ſich das vielbeſprochene
Breve Pius’ VII. an die deutſchen Capitel auf die Worte eines mittelalterliche,
in der Kirche hochgefeierten Gelehrten beruft, nach welchen die Welt gut regiert
wird, wenn Königthum und Priefterthum einig wären, jo erfüllte ſich dieſe
Hoffnung nur unter der Vorausſetzung ſtaatlicher Schwäche und Nachgiebigkeit.
Die hierarchiſchen Anſprüche wuchſen troß des Einfluffes, den man von
Seiten Rom’3 in beicheidenften Grenzen den proteftantijchen Staaten bei der Be-
jegung der geiftlihen Stühle einräumte; fie wuchjen aber auch ganz in dem—
jelben Maße in allen den Ländern, wo der landesherrlichen Gewalt die aus-
gedehnteften Rechte in der Ernennung der Biſchöfe jeit älteren Zeiten zu Gebote
ftanden. Es jcheint demnach, daß ſich weder das ältere noch das neuere Syſtem
der Staaten gegenüber der Kirche bewährte; die Hierarchie wußte jedenfalls
über beide gleihmäßig und gleichzeitig den Sieg davon zu tragen.
Alle möglihen Formen ergaben ſich aus der DVergleihung der Gebräuche,
die in Frankreich, Defterreih, Deutjchland bei Beſetzung der bijchöflichen Aemter
in Anwendung kamen, und dennocd waren die Rejultate faſt überall diefelben.
Dean darf daher aus einer fünfzigjährigen Geſchichte die Lehre ziehen, daß es
überhaupt nicht von jehr großer Wichtigkeit fei, welchen Antheil die Regierungen
an der Bejehung der geiftlichen Nemter Haben. Daß man fi) im vorigen und
im Anfange diefes Jahrhunderts jehr heftig für diefe Frage interejfirte, war
eine hiſtoriſche Reminiscenz, allein die fiscaliſchen Gründe, welche im alten In—
veftiturftreit entjicheidend waren, fallen für die Antereffen des modernen Staats
hinweg. Und wenn die Souveräne ala ſolche zu den Wahlen der Biſchöfe nach
den neuen Verträgen heute noch wie in einer höchftperfönlichen Angelegenheit
herangezogen werden, jo ift das ein Reſt der alten Borftellung der Lehns—
monarchie, nach welcher die Lehnsertheilung ein perjönlicher Act des Königs
war, während doch das heutige Staatsrecht die Dotation des Bisthums zu
einer ganz gewöhnlichen Budgetfrage madt. Die höchfteigenen Bemühungen,
welche aber die Verträge von den Souveränen der Staaten in Angelegenheiten
der Biſchofswahlen fordern, gaben, wie die Erfahrung zeigte, den lebteren
lediglich ein unverdientes Anjehen, während die Regierungen nicht behaupten
konnten, daß unter der Hierarchie deshalb eine ftaatstreue Gefinnung herrſchend
getvorden wäre. In erſter Linie leiden alle Verträge, die al3 Grundlagen des
heutigen Kirchenrecht betrachtet werden, an dem Gebrechen, daß fie nicht den
Staat ala ſolchen mit jeinem Gejehgebungsrechte, mit jeiner Verfaſſung,
mit feinem legal geregelten Haushalt, daß fie nicht den modernen Staat,
den conftitutionellen Staat einfach anerkennen, jondern in der Form
von unbeftimmten Zugeftändniffen an einzelne Perjonen der Hierarchie jede
Hinterthür offen laffen. Daß e3 überhaupt in unſerem Jahrhundert zu den
unerwarteten und unferen Gulturverhältniffen jo mwiderftrebenden Kämpfen mit
der Kirche fommen konnte, lag zum Theil darin, daß an die Kirche noch
nie die Frage geftellt wurde, ob fie mit dem modernen Staate als joldhem
concordiren könne und wolle, und ob fie den Berfaffungsftaat als ſolchen
anerfenne oder nicht. Wäre dieje Vorfrage zur Zeit des Abjchluffes der gegen»
Kirchenfreiheit und Bilchofswahlen. 95
mwärtig geltenden Verträge entihieden geweſen, jo hätte fein Streit darüber
entjtehen können, ob Kirchendiener auf eine Kirchenpragmatif verpflichtet
werden dürfen. Die Anerkennung der Staatsgeſetze von Seiten der Kirchen-
beamten wird an Stelle der vagen Beftimmungen über den Einfluß der Sou-
veräne bei Biihofswahlen treten müſſen, wenn die Kirchenfrage auf dem Wege
des Bertrages mit Rom noch einmal gelöft werden ſollte. Nicht darin, ob
einige Gandidaten dem Könige mehr oder minder angenehm wären, liegt der
Schwerpunft der ſtaatskirchlichen Rechte, jondern darin, daß die Bilchöfe ihr
Amt nur unter der Bedingung des Staatsgehorfams üben und daß ihre Abjeh-
barkeit im Falle der Eidesverlegung von der päpftlichen Gewalt zugeftanden ift.
Ich Habe an einer anderen Stelle aus der hiftoriihen Entwidelung der
Kirche nachweiſen Eönnen, daß der Moment der Verhandlung eine Vertrags
mit der römijchen Curie jedesmal beim PBontificatswechjel, bei einer neuen
Papftwahl gefommen ift.*) Wenn der eine Papſt die Anerkennung feiner
Gewalt und jeiner Rechte von den Staaten erwartet, jo ift es eine im Kirchen—
recht begründete Forderung der Staatögewalt, daß die Curie die im Staate
geltenden Rechte und Gejee ihrerſeits ritdhalt3los anerkennt. Wenn die Rechte
und Pflichten der von dem Staate anerkannten Kirche durch gejehliche Beftim-
mungen geregelt find, jo wird der Abſchluß eines Vertrags mit der römischen
Curie aud über die Bijchofswahlen auf den freieften Grundlagen möglich fein.
Bermweigert aber der Papft den Abſchluß eines Vertrags mit dem Staate, dann
begibt ex ſich freiwillig der Rechte, die bisher zugeftanden waren, ex iſt e8, der
die Verträge zerriß, und feiner Verantwortung fallen die Folgen des Vaticani—
fchen Non possumus anheim. Das Kaijerthum würde dann nicht mehr einer
legalen Gewalt, jondern einem auswärtigen Revolutionär gegenüber ftehen, der
den inneren Frieden de3 Reiches zerftört.
Wie man aber aud) über die Methode denken mag, um einen neuen ftaat3-
rechtlichen Standpunkt in der Kirchenfrage zu gewinnen, darin ftimmmen alle
Kritiken des beftehenden Rechtes überein, daß e3 dem Staate feine ausreichenden
Garantien gewährt, und hierbei ift die Frage der Biſchofswahlen von unter-
geordnetfter Bedeutung; denn mit Recht bemerkt der treffliche Kenner dieſer
Dinge, Emil Friedberg, dab fein Recht der Bilhofswahlen denkbar ift,
welches an und für fich geeignet wäre, dem Staate qute Biſchöfe zu Tchaffen.
„Sole werden nur großgezogen, wenn der Staat dem Clerus die aufmerf-
ſamſte Pflege widmet. Wenn er Sorge trägt, daß die Bildung der jungen
Geiftlichen eine wiſſenſchaftliche und nationale ift; wenn er die Unabhängigkeit
des niederen Clerus fichert, in der Vorausſetzung, daß ein jelbftändiger Pfarrer
auch als Biſchof Rom gegenüber unabhängigen Sinn bewahren werde; wenn
er endlich die Geiftlichen und die Biſchöfe jeder Zeit fühlen läßt, daß fie niemals
dem vom Staate erftrebten guten Einvernehmen mit der römiſchen Curie ge—
opfert werden, jondern in dem Staate die feften Wurzeln auch fire ihre kirchliche
Stellung finden.”
Der Friede, welchen der moderne Staat mit den Kirchen überhaupt und
*) Bol. meine Schrift: Papftwahl und Kaiſerthum. Berlin, Reimer, 1874.
1
94 Deutſche Rundichau.
daher auch mit der katholiſchen Kirche anftrebt, wird nie auf der Grundlage
von Verträgen mit auswärtigen Mächten allein gefichert. Erjt dann, wenn die
Bafıs des Kirchenrecht durch eine gründliche Landesgejeßgebung gefunden ſein
twird, kann bei der Eigenartigkeit der katholiſchen Kirche und ihrer vom Staate
anerfannten Organijation der nubbringende Vertrag mit dem Papſtthum ab—
geichloffen werden, der das Werk der inneren Beruhigung krönen mag.
Und jo ift denn die Hiftorifche und kritiſche Erörterung zu der Nothwendig—
feit einer ftaatlihen Geſetzgebung über die kirchlichen Angelegenheiten gelangt,
neben welcher und in welcher die größtmöglichjte Freiheit der Biſchofswahlen
beftehen kann und beftehen ſollte. Die große Frage, vor welcher demnach der
heutige Staat fteht, ift die einer zum Ziele führenden ſtaatskirchlichen Gejeßgebung.
Die neuefte Zeit hat diefe Aufgabe erkannt und ihre Löjung angetreten. Zahl-
reiche Kirchengeſetze find in neuefter Zeit in verichiedenen Staaten entftanden oder
im Entjtehen begriffen, allein unter den Geſetzgebern jelbft zeigt fi) nur eine
jehr geringe Uebereinftimmung der Ziele, Abfichten und Mitte. Was man in
neuejter Zeit in Oeſterreich als jogenannte Kirchengeſetze bezeichnete, twurde zwar
vielfach mit dem verglichen, was in Preußen geſchaffen wurde, aber der ungeheure
Unterfchied in den Wirkungen diejer jcheinbar verwandten Kirchengeſetze muß es
wol Jedermann klar machen, daß die wahren Aufgaben der Kirchengejeggebung
weder theoretijch noch praftijc erkannt find.
Denn da3 Maß der Trreiheit, welche der moderne Staat einer großen Gor-
poration nicht zu verfagen vermag, ift in Anwendung auf die beftimmten Ver—
hältniffe und Zuftände der Gejellihaft jo ſchwer zu definiren, daß es wenigſtens
zu einem glücklichen Ausgleich noch nirgends gefommen zu fein jcheint. Sollte
die Urſache hiervon nicht vielleicht auch darin zu finden fein, daß die politifche
Beobachtung der Dinge zu jehr auf die momentanen Verhältniffe und zu wenig
auf das Gejammtbild der hiſtoriſchen Entwidelung gerichtet war?
Die Trage der Kirchenfreiheit ift jo alt als unjere Geſchichte. Sie hat ſich
in den mannigfaltigften Abwandlungen, Gutes und Böſes herborbringend, in
den Meberzeugungen der Menjchen durch alle Jahrhunderte behauptet. Und in
dem immer wiederkehrenden Worte muß doch ein Fünkchen Wahrheit verborgen
fein. Thatſache ift es, daß Alle, welche verfucht haben, dafjelbe gänzlich zu
erſticken und zu verlöfchen, die Erfahrung machen mußten, daß es jofort in ver-
zehrenden Flammen emporjchlug.
In dem Wejen der hriftlichen Kirche liegt eine unbeftreitbare Unabhängig-
keitsidee. Vergleiht man die chriſtliche Entwidelung im Weſten und Often
Guropa’3 oder vergleiht man fie mit den großen Religionsgründungen des
Morgenlandes, jo kann e8 nicht zweifelhaft fein, daß aus der religiöjen Freiheit
das höchſte fittliche Princip erwuchs. Die erſte hriftliche Gemeinde beruhte auf
der Forderung der Kirchenfreiheit. Die freie Entwickelung des chriſtlichen Bewußt⸗
jeins begünftigte die Bildung der neueren europäifchen Staaten. Durch die Frei—
heit der Kirche, in rihtigem Sinn verftanden, war der weltlichen Gewalt in
mandem Jahrhundert das tieffte fittliche Princip eingeimpft worden. Nicht
jelten befand fich der Staat um fo beffer, je freier fich die chriſtliche Kirche ent»
wiceln fonnte. Wer aljo die Thatjadhen der Gejchichte nicht läugnen will, der
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Kicchenfreiheit und Biſchofswahlen. | 95
muß anerkennen, daß es ein urfprüngliches Ndealbild der Kirchenfreiheit gab,
und daß e3 jo mächtig in den Gemüthern der Menfchen gewefen fein muß, daß
e3 noch in der jcheußlichjten Verzerrung Anhänger und Gläubige fand. Und
war e3 denn wirklich ein Kampf zwijchen Staat und Kirche, was Gregor VII.
begonnen und was bis heute fortdauert? War e8 nicht vielmehr der Kampf
um die hierarhiiche Gewalt gegenüber den Laien?
Der Staat hat in diefem Kampfe gegen die Hierarchie in dem langen Laufe
der Jahrhunderte faſt alle erdenklichen Mittel erſchöpft, um ſich zu behaupten;
nur eins it niemals verſucht worden, und die Gründe davon find für den
Geſchichtskundigen nicht dunkel. Niemals wurde von einem mweltlihen Macht—
haber, nie von einer ſtaatskirchlichen Gejeßgebung neuerer oder neuefter Zeit der
ernftliche, dauernde Verſuch gemacht, den Laien in der katholiſchen Kirche noch
einmal den Mund zu eröffnen. Die ariftofratiiche Gejellichaft des Mittelalters
und die bureaufratifche Gejellichaft der Neuzeit waren darin ſich gleich, daß fie
lieber der Gewalt der Geiftlichen jelbft unterlagen, als daß fie der Gemeinde
ein Recht in der Kirche wiedergeſchaffen hätten, welches die hierarchiſchen Jahr—
hunderte vernichtet hatten.
Die heutige Geſchichtswiſſenſchaft ift geneigt, Thatſachen diefer Art ala
unausweichlich, nothwendig, providentiell und nicht disputabel anzuerkennen,
und wir unterlaffen e8 auch unſererſeits, an diefem Orte zu unterjuchen, ob es
im 16. Jahrhundert nicht möglich gewejen wäre, die hierarhiiche Kirche voll-
ftändig aus den Angeln zu heben, und ob es nothwendig war, daß Pfarrer und
Rolizeidiener vor den Staatswagen des vorigen Jahrhunderts gefpannt werden
mußten; für unjere Zeit wenigſtens darf die Trage noch als eine offene be-
trachtet werden, welches die beiten ſtaatskirchlichen Gefete fein werden, und
die mehr demokratiichen Strömungen des Staatälebens können, richtig verwen—
det, in einem Zeitalter de3 allgemeinen Stimmrechts nicht mehr für widernatür-
lich gelten.
Aber man wird fragen, wie e3 denn möglich wäre, dem jeit Jahrhunderten
todtgejchlagenen Laienelement in der katholiſchen Kirche durch die Gejehgebung
neued Leben einzuflößen? — Biel ift e8 allerdings nicht, worüber der Staat
in diefer Beziehung heute verfügen kann, aber über da3 ganze große Gebiet der
materiellen Werhältniffe der Hierarchie, twelches die alten Päpſte der weltlichen
Gewalt nicht zu entziehen vermochten, und welches unter dem bejcheidenen Namen
der Temporalien zu allen Zeiten feinen Einfluß auf die Kirche nicht verfehlte,
berriht der Staat noch mit fefter Hand. Hier eröffnet fich für das Laien-
element innerhalb der Kirche eine Thätigkeit, die um jo fruchtbringender fein
fan, je ernfter fih im deutſchen Wolfe die religiöjen Gefinnungen erhalten
haben. Sollte es nicht viel zwedmäßiger fein, wenn Ordnung und Regelung
der kirchlichen Angelegenheiten auf Grund der Gefege durch die jelbftändigen
Kirchengemeinden vor fich ginge? Wird nicht der Staat von gehäffigen Maß-
regeln gegenüber einzelnen Widerfadhern enthoben jein, wenn er es den Kirchen—
gemeinden überläßt, mit den Sirchendienern auf Grund der Geſetze fertig zu
werden, gleichwie ja auch die politiſche Gemeinde ihre Selbftändigkeit heute
nirgend3 zum Nachtheil des Staates mißbraucht? Bildung von Kirchengemeinden
96 Deut nundſchau.
und freie Verwaltung der kirchlichen Wermögensangelegenheiten durch diefelben:
hierin liegt die große geſetzgeberiſche Aufgabe der Neuzeit, durch welche der jeit
Gregor VII. geborne hierarchiſche Drache einzig und allein bejiegt werden Tann.
Mag e8 zunächſt auch nur ein bejchränkterer Wirkungskreis jein, welchen die
Kirchengemeinden in der Berwaltung des Kirchenvermögens beſitzen würden:
mit der zunehmenden Thätigfeit und Bedeutung der Laien in der Kirche wird
auch ihr Einfluß ein ftetig fteigender jein. Sollte fi) das katholiſche Wolf
durchaus nicht mehr zu erinnern fähig fein, daß die alte canonifche Formel für
die Wahlen geheißen bat: „clerus cum populo“, daß das Bolt jo gut wie
der Glerus einftmal3 Antheil an der Bejekung, ja an der Wahl jelbft von
Biſchöfen Hatte?
Es würde hier nicht am Plate fein, über die Grundgedanken einer Reform
der Staatsgeſetzgebung hinauszugehn, welche, wenn man fich den Hiftorijchen
Gang der Dinge recht vor Augen hält, das einzige Mittel zur Beruhigung der
religiöfen Fragen zu fein jcheint. E3 wäre die lohnendfte Aufgabe der Juris-
prudenz, die ftaatlichen Rechte aufzufuchen, welche den Kirchengemeinden über-
tragen werden können, die Organijation und den Zulammenhang feftzuftellen,
durch welche die Kirchengemeinden unter einander und mit dem Gtaate ver-
bunden würden. Die modernen Verfaffungen gewähren den Kirchen ſchon jet
weitgehende Rechte, aber es befteht, wenn wir nicht irren, feine volle Klarheit
darüber, welche und wie viele Perfonen zu der einen oder anderen Kirche zu
zählen find. Die katholiſche Kirche Ipricht häufig und in manchen Fällen jehr
gern don ſolchen Mitgliedern, die zwar in ihren Taufbüchern ftänden, denen
fie aber den katholiſchen Charakter nicht zuzuerkennen vermöge, und unfere Zeit
hat dafür den Ausdruck „Namenkatholifen” erfunden, gegen welchen gewiß nichts
Sadliches einzuwenden ift. Aber diejelbe Kirche, welche fortwährend einen großen
Theil ihrer Mitglieder al3 ausgejchieden erklärt, macht, wenn es fich um ftatiftifche
Nachweiſungen handelt, auf alle Leute Anſpruch, die jemals unter ihrer Firma
getauft wurden. Iſt nun diefer Zuftand ein entjprechender, hat der Staat
wirklich ein Intereſſe daran, die hierarhiichen Erfindungen zu ſchützen und zu
erhalten? Wäre es nicht bejfer, wenn die Anerkennung der Kirchen im Staate
auf die beftimmt nachzuweiſende Anzahl von wirklichen Gemeindegliedern begründet
wäre? Auch in diefer Beziehung müßte durch die Bildung organifirter Kirchen—
gemeinden jede Täuſchung und Untwahrheit ſchwinden.
Nur in der Kirchengemeinde und bei ihren Vorftehern kann der Staat hoffen,
Gehorjam mit feinen Geſetzen zu finden, und in der Kirchengemeinde können die
Keime einer Entwidelung gefucht twerden, welche die Conflicte zwiſchen der Kirche
und den nationalen und ftaatlichen Intereſſen befeitigt. Dann aber mag man
vertrauensvoll den uralten Begriff der Kirchenfreiheit wieder hervorſuchen, den
Begriff der wahren Freiheit Firchlicher Meberzeugung, und der nationale Staat,
welcher der Communalfreiheit und Gewerbefreiheit die Thore öffnete, mag ſich
auch die Kraft zutrauen, eine dee zu verwirklichen, welche durch alle Jahr-
hunderte hindurch fich mächtig ertvies und nur durch Mißbrauch und Entftellung
dem Staate gefährlich fein konnte, in ihrer reinen Geftalt jedoch zu den unver—
äußerlichen Gütern der geiftigen und fittlichen Cultur zählt.
Die Entwickelung der Dampfldifffahrt auf hoher See.
Don
A. Lammers.
Im Jahre 1873 find nad einer amerikaniſchen Quelle zwiſchen Europa
und den Vereinigten Staaten nicht weniger al3 1368 einzelne Dampferfahrten
vollbracht worden, oder durchſchnittlich faft vier an jedem Tage, mit einer Ge-
lammteinnahme von nahezu jehzig Millionen Dollar, davon zwei Drittel für
Waaren und ein Drittel für Neijende. Es find aber noch feine vierzig Jahre
ber, da galt die Dampfichifffahrt über ein jo weites injellojes Gewäſſer wie
den Atlantii den Ocean überhaupt noch für eine Chimäre.
Ein englijcher Phyſiker, Dr. Dionyftus Lardner, hat eine nicht jehr erfreu-
lihe Art von Berühmtheit erlangt durch die Zweifel, welche er in diefer Hin-
fiht hegte und ausſprach. Er war feineswegs ein bejchränkter, am Alten Ele-
bender Geift. Schon daß er an der Londoner Univerfität ftand, der Schöpfung
der vorgefchrittenen engliichen Liberalen im Gegenjaß zu Orford und Cambridge,
fönnte ihn vor diefem Verdacht behüten. Aber bejonder3 gerade die mechani-
ihen Erfindungen des Jahrhunderts erfüllten ihn mit Bertrauen und hoher
Zuverfiht. Er jagt in feinem Buche über die Dampfſchifffahrt wörtlih: „Die
Wiſſenſchaft zeigt ſchon mit dem Finger auf einen neuen Springquell uner-
ihöpflicher Kraft in den Phänomenen der Electrizität und de Magnetismus,
und viele Gründe vereinigen fich, um die Erwartung zu rechtfertigen, daß wir
am Vorabend noch größerer Entdedungen al3 aller ſchon gemachten ftehen, und
dab die Dampfmaſchine jelbft mit dem Riejenkräften, welche der unfterbliche
Matt ihr verliehen hat, doch in Bedeutungslofigkeit verſinken wird neben den
noch. aufzudedenden verborgenen Kräften der Natur, ja daß der Tag kommen wird,
wo diefe Majchine, die nun die Segnungen der Givilifation zu den entlegenften
Strichen de3 Erdballs trägt, zu eriftiren aufhören wird außer in der
Geſchichte.“ Wenn ein jo denkender Mann auf der Verfammlung der Briti-
ihen Wiſſenſchaftlichen Gejelichaft zu Briftol im September 1836 erklärte, bei
dem gegenwärtigen Stande der Anwendung der Dampfkraft auf die Schifffahrt
jet eine dauernde und erſprießliche Dampferverbindung zwiſchen England und New—
Hort Höhft unwahrjcheinlich, jo konnten auch die hoffnungsvollſten Fortichritts-
ſchwärmer wol entmuthigt werden. Allerdings trat nach ihm ein Mitglied
einer bekannten Schiffs-und Maſchinenbau-Firma auf und wies nach, daß Dr.
Lardner ſich auf lauter vor 1834 gemachte Erfahrungen ſtütze, men das in
Deutfche Kundſchau. I, 10.
98 Deutſche Rundſchau.
Rede ſtehende Verfahren ſeitdem weſentliche Verbeſſerungen erfahren habe. Allein
dieſen Einwand entkräftete ein nachfolgender Aufſatz in der Edinburgh Review
durch die Ergebniſſe amtlicher Unterſuchungen ſeit dem Jahre 1834.
So ſtand in England die öffentliche Discuſſion unmittelbar vor dem Be—
ginn der regelmäßigen Dampfiifffahrt über die Breite des Atlantifchen Ocean,
welche heute einen jo gewaltigen Umfang erlangt hat und ein jo unentbehrlicjer,
tiefeingreifender Beftandtheil in dem Leben der civilifirten Nationen geworden
it. Alle damals gegebenen guten Rathichläge, den erſten Verſuch doch min-
deftens zwijchen dem äußerften weftlichen Theile von Irland und einem vorge—
fchobenen Hafen Neuſchottlands oder Neufundlands zu machen und die furdht-
bare Entfernung einzujchränten, die mit jo vielen unbefannten Schrednifjen
drohte, haben fi” als müßig erwieſen und find von der Praris gänzlich) un-
beachtet geblieben. Das erfte Schiff fuhr von England ab und landete in New—
York gerade ein Jahr nad dem Artikel der Edinburgh Review, der die Un—
möglichkeit darthat, — anderthalb Fahre nad Dr. Lardner’3 ofterwähntem
Ausiprud).
Die erſte Dampfiifffahrt über den Dcean war indefjen auch dies nicht
mehr. Schon am 20. Juni 1819 war in Liverpool die „Savannah“ eingetroffen,
welche in 26 Tagen die Reife von dem amerikaniſchen Hafen gleichen Namens
zurückgelegt hatte und, wofern mit Segel nicht mehr als vier Seemeilen oder
Knoten in der Stunde zu machen waren, durch eine Dampfmafchine, die auf ein
Rad an jeder Seite wirkte, nachhalf. Später gingfie nad) Stockholm, wo Bernadotte,
und nad) Kronftadt, wo der Czar Alerander an Bord kam. Aber das blieb aller-
dings ein Erfolg ohne nachhaltige Folgen. Die oceaniſche Dampfſchifffahrt ala
wirthſchaftliche Einrichtung datirt vom Frühling des Jahres 1838, — von den
Fahrten des Kleinen „Sirius,” der zu Cork am 5., und des „Great Weſtern“,
der zu Briftol am 8. April die britifche Küfte verlaffen hatte, und die beide
am 23. April, Shafejpeare'3 Tag, unter dem Jubel einer unermeßlichen Men—
ſchenmenge in New-York eintrafen.
Es war gut dreißig Jahre, jeitdem überhaupt die Dampfidifffahrt ein
Verkehrsmittel geworden war. In diefer Hinficht bezeichnet Robert Fulton's
„Glermont“, der im Jahre 1807 zwiſchen New-York und Albany den Fluß
Hudſon auf: und niederfuhr, den Anfang; und was Guropa betrifft, Henry
Bell's „Komet“ auf dem Clyde bei Glasgow. Die Idee jelbft war allerdings
weit älter. Schon im Jahre 1543 joll ein ſpaniſcher Schiffscapitän, Don
Blasco de Garay, den „Dampf fiedenden Waſſers“ ala Mittel, ein Schiff in
Windftille vorwärtszubringen, bei Barcelona vor Kaiſer Karl dem Fünften und
feinem Sohn Philipp praktiſch demonftrirt Haben, aber aus finanziellen Rück—
fihten ließ man ſich nicht weiter auf die Sache ein, jondern begnügte fich, den
Erfinder ſchadlos zu halten und auszuzeichnen. Es dauerte geraume Zeit, be-
vor der menjchliche Geift in diefer Richtung von Neuem vorwärts drang. Der
franzöfiiche Gelehrte Denis Papin machte im Jahre 1707 ein Experiment ohne
praftiiche Folgen auf der Fulda von Kaſſel bis Münden. Ein gewiſſer Jona—
than Hulls in England erlangte 1736 ein Patent auf eine Art Dampfichifi
und veröffentlichte daneben eine Flugſchrift, doch ebenfalls ohne weiteren Erfolg.
Die Entwidelung ber Dampfichifffahrt auf Hoher See. 99
Die Erfindung der Dampfmaſchine durch James Watt, welche 1769 patentirt
wurde, gab den letzten enticheidenden Anftoß, denn nun ruhten die Verſuche
nicht eher, ala bis Fulton dem Gedanken feine ſchließlich durchdringende lebens—
fähige Form verliehen Hatte. Er bot bekanntlich Napoleon dem Erften feine
Erfindung an, der fie, auf ein ungünſtiges Gutachten feiner Akademie geftüßt,
von der Hand wies. Im Jahre 1819 wurde die „Savannah“ gleihwol von
den Engländern argwöhniſch überwacht, ob fie auch nicht etwa beftimmt jei,
den gefangenen Eroberer von St. Helena nad) Frankreich zurücdzuführen.
Die „Savannah“ hatte fich vergeblich erboten, Paflagiere nad) Europa mit-
zunehmen. Auf dem „Great Weſtern“ wagten e8 im Jahre 1838 fieben ver-
wegene Leute, ſich nach New-York einzuſchiffen. Heute hält e8 Niemand mehr
für ein beſonderes Wageftüd, und Deutjche, die in Amerika, wie Amerikaner,
die in Europa leben, machen leicht alle paar Jahre die Reife hin und zurück.
Es ift, wie man drüben ganz richtig zu Jagen fich gewöhnt hat, ein Yährdienft
geworden, berechenbar beinahe wie über irgend einen Strom oder Landjee, nur
etiva3 länger dauernd.
Mit dem Beweis der techniſchen Ausführbarkeit war jedoch nicht auch ſo—
gleih ſchon der Beweis der ökonomiſchen Einträglichkeit gegeben. Die erften
Unternehmer, welche fi) daran wagten, machten jchlechte Geſchäfte. Die Bri-
tiſh and American Steam Navigation Company, welcher der „Sirius“ gehörte, fam
faum bei einer einzigen Reije auf ihre Koften und mußte ſich auflöfen, ala ihr
„Prefident” im Jahre 1841 — ein damals viel Aufjehen erregendes, verhäng-
nißvolles Ereignig — auf der Fahrt von New-York nach Liverpool verjcholl.
Nicht viel befjer ging e3 der zweiten, 1838 entftandenen Geſellſchaft, welcher ber
„Great Weftern“ gehörte und die im Jahre 1848 liquidirte. Auch die erfte
Liverpooler Gejellihaft, die Transatlantic Steamfhip Company, blieb ohne
geihäftlichen Erfolg. Dieſer war erft der 1839 gegründeten fogenannten Gunarbd-
Geſellſchaft vorbehalten, welche heute noch blüht, weil fie jo Klug war, ſich
da3 allmälig entftandene Bedürfniß der Regierung nad) raſcher und regel-
mäßiger Poftverbindung mit ihren nordamerifanijhen Colonien zu Nube zu
maden, und dafür bis auf den heutigen Tag einen Staatszuſchuß empfängt,
der die bloße Poſtentſchädigung nicht unbeträchtlich überfteigt.
Damal3 mußte fi) bereit3 zu Jedermanns Befriedigung ergeben haben,
wa3 der Dampf vor dem Segel ald Triebkraft über den Ocean voraus hat.
Es ift nicht blos die Schnelligkeit; es ift vor Allem die Regelmäßigkeit und
Berehenbarfeit. Bor dem Eintritt der Dampfer in die Concurrenz bejorgten
eigne, bejonders ſchnelle, ſchön eingerichtete Schiffe, die jogenannten Liners, den Poft-
und Perjonen-Transport zwijchen Liverpool und New-York, und ihre durdh-
ſchnittliche Fahrzeit hin betrug 32 Tage. Dies kürzten die Dampfer bald auf
ein Drittel ab. Aber da3 war höchſtens die eine Hälfte ihrer Ueberlegenheit.
Die andere verfteht man, wenn man beifpielsweife Lieft, daß einer jener Liner
einmal 55 Zage nad) der Abfahrt noch einige taufend Seemeilen vom Ziel ent-
fernt war, — oder daß ein Segelihiff aus Belfaft, das nad Neubraunſchweig
fahren jollte, zwei Donate jpäter, unverrichteter Dinge, nad) Belfaft zurückehrte,
nachdem e3 feinem Beftimmungshafen jhon auf hundert Seemeilen nahe ge—
78
100 Deutſche Rundſchau.
weſen war, — oder daß am 20. März 1838 ein Schiff von Demerara in Liver—
pool eintraf, ftatt wie es follte in Halifax, verjchlagen aljo um die ganze
Breite des Atlantijchen Oceans. Wie verfchieden und unberedhenbar jelbft unter
den gleichartigften Umftänden Segelſchifffahrt ausfallen fonnte, wurde zu jener Zeit
gern an dem Beifpiel dreier Schiffe dargethan, die zur jelben Zeit, im Januar
1838, die britifche Küfte verlaffen hatten, von denen aber eins in 49 Tagen nad)
Halifar, eins in 57 umd eins in 62 Tagen nad) New-York fam. Ind was
ftand bei ungewöhnlicher Verlängerung der Reife Alles auf dem Spiel! Dafür
nur zwei gleichzeitige Fälle Im Februar 1837 erreichte der „Diamond“ von
New-York feinen Beftimmungshafen Liverpool erft in hundert Tagen; er hatte
180 Pafjagiere an Bord, von denen 17 an Entkräftung ftarben, da die gewöhn—
liche Nahrung zulegt in Waſſer getauchte Kartoffelichalen gewejen war. Die
Bart „Ellen“ von Livorno war erft nad) 103 Tagen bei Sandy Hook, nachdem die
Mannſchaft ſchon jeit 15 Tagen von nichts als Maccaroni und Del gelebt hatte; fie
fuchte dort, aber fand feinen Lootſen und fuhr dann noch einen vollen Monat
in der Winterfälte umher ohne Fyeuerung an Bord. Doch nit auf Pafjagiere
und Mannihaft allein erftredite fi) der Fluch diefer verhängnißvollen Ab—
hängigfeit von Wind und Wogen. Während der Gejchäftskrifis von 1837 wur—
den in London mehrere große amerikanische Häufer nur deshalb bankerott, weil
Poftichiffe mit großen für fie beftimmten Geldfendungen bei ftändigem Oftwind
zwei Monate lang von Tag zu Tag vergebens erwartet wurden. Heute hat
man hierfür den Dampfer, der höchſtens einmal einen oder zwei Tage auf fich warten
läßt, und obendrein den transatlantifchen Telegraphen, der fast ohne jeden Zeit-
verluft den Augenbli anzeigt, in welchem jener vom jenjeitigen Ufer abge-
ftoßen iſt.
In demjelben Jahre, wo fich die Cunard-Compagnie bildete, die die ocea—
niſche Dampfichifffahrt zuerft zu einem nachhaltig rentirenden Geſchäft zu machen
veritand, 1839, Tief auch der „Archimedes“ vom Stapel, der die jchon zehn
Jahre früher von Joſeph Refjel erfundene Schraube ftatt der Räder ald Bewe—
gungsmittel praktiſch machte. Sein Erbauer, Sir Francis Pettit Smith, durch
die Ritterwürde, eine Staat3penfion und ein Nationalgefchent ausgezeichnet, ift
vor einiger Zeit geſtorben. 1843 lief die von dem berühmten Brumel erbaute
„Great Britain” vom Stapel, der erfte oceaniſche Schraubendampfer. Gegen-
wärtig hat die Schraube da3 Rad vom Ocean beinahe verdrängt. Das amt-
liche Verzeichniß der deutſchen Kauffahrteiichiffe von 1873 führt 200 Schrauben-
dampfer und 25 Radbdampfer auf; davon hatten dieje durchſchnittlich 73 Ton—
nen Tragfähigkeit und 56 Pferdekraft, jene Hingegen 852 Tonnen und 160
Pferdekraft. Die Schraube ift alfo das bevorzugte Bewegungsmittel großer,
das Rad dasjenige Heiner Dampfichiffe geworden. In der Krieggmarine herricht
jene ihrer weit höheren Unverwundbarfeit halber faft unumſchränkt. Nur für die
Schnelligkeit des Depejchendienftes haben Räderdampfer noch einen gewiljen
Vorzug, wenigftens bei der englijchen Regierung. Der Erfolg der Cunard—
Linie rief bald neue, gleichartige Unternehmungen hervor. Zuerſt eine englifche
Nebenbuhlerin, die Inman-Linie; fie gedieh troß geringerer Gunft der Umftände
und befteht noch gegenwärtig. Zwei Glasgower Verſuche dahingegen jchei-
Die Entwidelung der Dampfiifffahrt auf hoher See. 101
terten. Daſſelbe war der Fall mit einem Anlauf des bekannten amerifa-
niſchen Geſchäftsmanns Commodore Banderbilt (1855—1861) troß jeiner gewal-
tigen finanziellen Mittel, und vorher ſchon mit der ebenfalls in New-York
unternommenen Gollins-Linie (1849) troß der hohen Subfidien der Unions—
Regierung. Trotz, oder auch wegen derjelben, wie es vielleicht richtiger heißen
muß. In blindem Bertrauen auf dieje jcheinbar unerſchöpfliche Quelle, die
die Eiferſucht des amerifaniichen Volkes auf die bis dahin allein den Dcean
mit Dampf durchkreuzenden Engländer offen erhalten follte, wurden die Dampfer
der United States Mail Line oder Collind-Dampfer, wie man fie nad) dem
Hauptunternehmer nannte, mit einem unerhörten Luxus ausgeftattet und haben
jo ein gewiſſes augenjcheinliches Uebermaß defjelben in die Concurrenz der
europäifch-amerifanifchen Linien eingeführt. Aber obgleich fie zulegt für jede
Fahrt nicht weniger als 33,000 Dollars Zuſchuß erhielten, war die Gejellichaft
doc binnen jechs Jahren banferott. Die Amerikaner haben es ſchließlich aufgeben
müfjen, mit Engländern und Deutjchen zu concurriren. Die Schubzölle, welche
bei ihnen den Schiffsbau überhaupt niederhalten, und ein engherziges Geſetz
über die Nationalifirung auswärts gebauter Schiffe haben fie wirkſam verhin-
dert, den einmal gewonnenen Vorſprung der Europäer in diefer Beziehung wie—
der einzuholen.
Neben Gunard und Inman haben fi inzwiſchen verjchiedene andere
mächtige Gejellihaften geftellt. Da ift die Anker- Linie in Glasgow, welche
einerjeit8 nach Nordamerifa und andererjeit3 nad) dem Meittelmeere fährt; die
National-Linie in Liverpool, welche durch eine irreführende (Meſſing'ſche) Anzeige
in öffentliden Blättern anjcheinend ſogar unſer Generalpoftamt eine Weile
glauben gemacht hat, fie domicilire in Stettin; die Guion-Linie, die White
Star-Linie und die State-Guion=Linie, letere in Glasgow, erftere beiden in Liver-
pool. Das Hauptziel aller diefer Linien ift Nordamerika. — Weftindien, Südamerika
und Afrika bejorgt die Royal Mail Company, — Oſtaſien und Auftralien auf
dem Wege über den Suez-Ganal die Peninjular and Oriental Company;
beide von Southampton aus, dem Vorhafen Londons im Canal. Damit find
übrigens noch nicht einmal die englijchen Dcean-Linien erſchöpft, ſondern nur
die hauptjächlichften von ihnen aufgeführt.
Wie alle, oder jaft alle, dieſe englijchen Linien, jo werden auch die franzöſiſchen
Dcean-Linien durch Regierungs-Subventionen am Leben erhalten. Sie ‚gehen
von Hadre, St. Nazaire — dem Seehafen von Nantes — und Bordeaur nad)
MWeftindien und Südamerika, von Marjeille nad) dem öſtlichen Afrika und Afien.
ALS die Niederlage von 1870 den Finanzen Frankreichs jo tiefe Wunden jchlug,
mußten die Unterftüßungen und folglih auch die damit beftrittenen Yahrten
eingejchräntt werden.
Eine vergleichsweiſe alte Schöpfung ift der Defterreihijche Lloyd, den die
Thatkraft des jpäteren Minifters von Brud zu Trieft um die Mitte der vierziger
Jahre ins Leben rief. Staatszuſchüſſe hat indefjen auch er von jeher erheiſcht
und ift troßdem noch nicht recht zu gefichertem Gedeihen emporgewachſen.
Der Welt das Beifpiel der Unentbehrlichkeit aller Staatszuſchüſſe zu liefern,
ihr zu zeigen, dab auch regelmäßige oceaniſche Dampfſchifffahrt als Lohnendes,
102 Deutſche Rundſchau.
ſich ſelbſt erhaltendes Geſchäft betrieben werden kann, war zwei deutſchen Linien
vorbehalten. Die Hamburg⸗Amerikaniſche Packetfahrt-Actien-Geſellſchaft, welche
ihren Dampferdienft 1856, und der Norddeutiche Lloyd in Bremen, der ihn
1858 in Scene jeßte, fühlten ſich jchon duch den bewußten freihändleriichen
Geift, der in ihren Gemeinweſen herrſchte, verhindert nach Staatzunterftüßung
zu ftreben. Hamburg und Bremen, als Kleine ſtädtiſche Republifen, wären aber
auch entgegengejegten Falles ſchwerlich in der Lage gewejen, ihnen der Mühe
werthe Zuſchüſſe zu gewähren; und einen dazu befähigten deutſchen Gejammt-
ftaat gab es um jene Zeit noch nit. So mußten die Unternehmer es im Ber-
trauen auf ihre eigenen Kräfte wagen und haben es glänzend durchgeführt. Im
Metteifer mit den fo viel älteren, jo viel capitalmächtigeren, auf einen jo über-
legenen Eigenhandel geftüßten und obendrein vom Staate freigebig unterftüßten
englijchen Linien find die Bremer und die Hamburger Gejellihaft in ber
New-Yorker Fahrt zu volllommen ebenbürtigen Mitbewerbern emporgewachſen.
Sie jelbft Haben niemals eigentlihen Staatszufhuß von Hüben oder drüben
- erlangt oder begehrt, nur jeweils eine billige Entſchädigung für die Beförderung
de3 freitwillig ihnen anvertrauten transatlantiſchen Poſtverkehrs im Verhältniß
zu deſſen größerem oder geringerem Umfang. Anfangs zwar hatten fie ein paar
harte Jahre durchzumachen: fie waren Kinder des überſchwunghaften Unter:
nehmungögeiftes, der nach der Beſchwörung des Rothen Gejpenft3 in Frankreich
und der Beendigung des Krim-Krieges ausbrach, und kamen daher eben erſt recht
in Gang, als auf diefen Raufch der Kabenjammer folgte, das Daniederliegen
aller Gejchäfte nach der Kriſis von 1857. Dann aber haben fie viele Jahre
hindurch ftetig den befriedigendften Reinertrag abgeworfen, in der Regel 10—20
Procent. Selbft die zeitweilige Verſperrung des Meeres durch die Franzöftiche
Kriegöflotte von Mitte Sommer 1870 bi3 zum Frühſommer 1871 konnte ihre
Rente nur mäßig afficiren. In Bedrängniß find fie erft durch die raſche und
ftarfe Abnahme der Auswanderung gerathen, welche feit anderthalb Jahren ein-
getreten ift, und die man in New-York jo bedeutend anſchlägt, daß man bejorgt,
die jährlihe Einwanderungszahl aus ganz Europa werde von einer BViertel-
. million auf wenig mehr als die Hälfte ſinken.
Gleich nad) dem Franzoſenkriege hatte es umgekehrt ausgeſehen. Die deutjch-
amerifanijche Auswanderung, durch die Kriegsjperre ein Jahr lang gewaltjam
geſtaut, ergoß fi) in jo mädhtigem Schwall, da Sorge und Zorn über dieje
mafjenhafte Vaterlandsflucht alle patriotijchen Kreiſe ergriff, — daß andererjeit3
aber auch unternefmende Kaufleute in den Seepläßen fanden, mit neuen
Dampferlinien nad Amerika müſſe ein gutes Gejchäft zu machen fein. So
entjtanden der Baltiſche Lloyd in Stettin, die erfte von der Oſtſee ausgehende
transatlantiihe Dampfichifffahrt, und eine zweite Hamburger Linie, die joge-
nannte Adler-Linie. Die damalige Gapitalfülle und VBertrauenswilligkeit machten
e3 leicht, die erforderlichen Zeichnungen und auch die erften Einzahlungen zu
erlangen. Aber nun, bevor noch das gezeichnete Actiencapital voll eingezahlt
war, ftellte fi) heraus, daß die Börfe im Allgemeinen mehr Zahlungen über-
nommen hatte, als fie zu leiften vermochte, und gleichzeitig nahm jeit dem vor—⸗
legten Sommer die Auswanderung reißend ab, auf die für ihr leeres Zwiſchen—
Die Entwidelung der Dampfiifffahrt auf hoher See. 103
deck jene neuen Dampfichifffahrtsgefellihaften hauptjächlich gerechnet hatten.
So mußte denn die volle Wucht des Rückſchlages, der auf den fein Ziel über-
ſchießenden geſchäftlichen Unternehmungsgeiſt eintrat, ſie mittreffen, als zu den—
jenigen neuen Anlagen gehörig, die nicht raſch genug oder vielleicht überhaupt
nicht Rente für das hineingeſteckte Capital verſprachen. Der Baltiſche Lloyd
hat ſchon im Frühjahr ſeine Fahrten wieder eingeſtellt: Stettin und die Oſtſee
ſtehen in keinem regelmäßigen Dampfverkehr mehr mit der Neuen Welt. Die
Hamburger Adler-Linie jete den Kampf gegen ein widriges Geſchick noch eine
Weile tapfer fort, mußte aber am Ende froh fein, zu annehmbaren Bedingungen
in die Hamburg-Amerifanijche Gejellichaft aufzugehen. Haben doch jelbft die
beiden alten, wohlbegründeten Gejellichaften ihre Noth, da nicht allein die Menge
der Auswanderer abgenommen, fondern gleichzeitig die Zahl der in fie ſich
theilenden Unternehmungen und Schiffe jo beträchtlich zugenommen bat, und
durch deren verzweifelten Streit um einen möglichft großen Antheil an der
abnehmenden reijeluftigen Schaar die Fahrpreiſe jo gefallen find, daß fie nicht
einmal mehr die eigenen Auslagen decken. Auf die Länge mußte natürlich dieje
erbifterte Concurrenz wie jede andere ähnliche damit enden, daß das Angebot
von Dampferpläßen fich zu der verminderten Nachfrage ins Gleichgewicht ſetzte,
die Zahl ber Fahrten und der fahrenden Schiffe beſchränkt ward, die ſchwächſten
Geſellſchaften nöthigenfals ganz ausſchieden und die am Leben gebliebenen
ſtärkften dann wieder einen leidlihen Lohn für ihr Capital und ihre Arbeit
davontrugen. Nachdem die Adler- Linie außer Spiel war, haben ihre ältere
Hamburger Schweſter und der Norddeutiche Lloyd fich jofort über erhöhte Fahr—
und Frachtpreiſe geeinigt.
E3 war übrigens gut, daß die Poft ſchon Reichsſache war, als die letztge—
ſchilderten Ereigniffe eintraten. Sonft wäre für Preußen die Verfuhung ſtark
geweſen, dad an ſich jo ſchöne und gemeinnützige Unternehmen des Baltijchen
Lloyd in Stettin durch Staatszuſchüſſe flott zu erhalten, und die Zahlung einer
feften Summe ftatt fteigender und fallender Verhältnigfäte für die Beförderung
von Poftftiiden wäre das bequem ſich darbietende Mittel geweſen, dieſes Almojen
aus dem großen Beutel zu verkleiden. Die preußijchen Steuerzahler hätten
dann zu den mandherlei anderen Wohlthaten, welche fie nur halb freiwillig und
bewußt dem Einen oder Anderen aus ihrer Mitte erweiſen, auch noch das Ver—
grügen gehabt, Amerifa-Reijenden einen Zufhuß zum Fahrpreije oder Stettiner
Kaufleuten und Spediteuren einen ſolchen zu den Koften ihrer Waarenverfrad)-
tungen zu gewähren. Vor diefer Verfuhung der preußifchen Staatsgewalten,
Regierung und Landtag, hat uns die Eriftenz der Reichspoft behütet. Ihr
müffen die Hamburger und Bremer Linien ebenfojehr am Herzen liegen tie
deren junge Schwefter von der Dftfee, und fie hätte es nicht verantworten
önnen, dieſer Geſchenke zuzuwenden, welche jenen die Concurrenz erſchwert
hätten, und welche auch ihnen anzubieten kein rechter Grund vorhanden war.
Beſſer, daß eine Erwerbsgeſellſchaft ſich unverrichteter Dinge wieder auflöſen
muß, als daß die Fälle vervielfältigt werden, in denen der Staat den Kampf
um die wirthſchaftliche Exiſtenz dem Einen dadurch unverdient erleichtert, daß
er ihn dem Anderen unverdient erſchwert. So Lange ſolche ſelbſtverſchuldete Nieder—
104 Deutiche Rundſchau.
lagen eintreten können, find fie auch nöthig und gut, um Nachfolger auf der
gefährlichen Bahn zu warnen.
Die wirthſchaftliche Unabhängigkeit der beiden älteften deutſchen Ocean—
Linien hat nicht lange verfehlt, auch in England ernftliche Zweifel an der Noth-
twendigkeit und Nützlichkeit des Syſtems ftaatliher Subventionen zu erwecken.
Schon im Jahre 1853 hatte ein Parlamentsausſchuß empfohlen, die Bezahlung
für Dampfer- Beförderung nad) der Zahl ber beförderten Briefe zu bemefjen und
nit in großen runden Summen zuaugeftehen. Ein zweiter, 1859 und 60
figender derartiger Ausſchuß faßte die Ergebniffe feiner Unterſuchung folgender:
geftalt zufammen: „Es ift vollfommen thunlich, ohne große Subfidien auszu—
kommen in Fällen, wo der gewöhnliche Verkehr ſchon verfchiedene Dampferlinien
unterhält, und unter den Umftänden, wie fie jeit einigen Jahren für die Ver-
bindung zwiſchen diefem Lande und Nordamerika beftehen, bedarf es folcher
Subfidien nit, um einen regelmäßigen, raſchen und wirkſamen Poftdienft
zu fihern.” Als damals das Generalpoftamt von der Admiralität es über-
nahm, die Poftverträge wegen des überfeeiichen Dienftes abzuſchließen, gab das
Schabamt ala oberfte Finanzbehörde ihm folgende Grundſätze mit auf den Weg:
jeden Dienft möglichft fich jelbft bezahlen zu laffen und lange Verträge zu ver-
meiden. Leider lief nur der Vertrag mit der Cunard-Linie, 1858 auf zehn Jahre
abgeiehloffen, noch bis Ende 1867. Sie’ bezog dazumal für zwei wöchentliche
Fahrten, eine nad) New-York, die andere über Halifar nad) Bofton, 173,000 £.
jährlid, und Lord Stanley of Mlderley, in den jechziger Jahren Generalpoft-
meilter, ſchlug die Zubuße der Staatsfaffe dabei auf rund 100,000 2. oder
zwei Millionen Mark an. Das Monopol aber, da3 damit verliehen war —
denn ein jo bedeutender einjeitiger Zuſchuß aus Staatsmitteln mußte wol alle
Goncurrenz niederhalten — übte feine gewöhnlichen Wirkungen. Die bevorzugte
Geſellſchaft wurde hochmüthig, träge und filzig. Da fein ſcharfer Wettbewerbs—
porn fie in Athem hielt, baute fie jo wenig neue Schiffe wie möglich und lieh
folglich den durch fie beforgten Dienft von den Fortſchritten der Schiffsbau—
funft feinen Nuben ziehen. Im Jahre 1869 waren unter ihren zwanzig
Dampfern nur ſechs jchnelle und vierzehn langſame. Während die beiden
deutichen Gejellichaften von 1866 bis 69 jede fünf neue Schiffe in Fahrt geſetzt
hatten, war bei Gunards jeitdem ein völliger Stillftand eingetreten. Sie
wollten, wie ihr Vertreter vor dem Unterhausausihuß des Jahres 1869 naiv
erklärte, exft wieder einen langjährigen Vertrag in der Taſche haben, bevor fie
neue Aufträge zum Bauen ertheilten; und ſelbſt nach dem neuen achtjährigen
Abſchluß des Vertrags im December 1868 ließen fie noch Monate verftreichen,
ohne mehr zu thun, als jo im Allgemeinen daran zu denken. Vorher hatte das
Generalpoftamt allerdings einen Anlauf genommen, im Sinne des Unterfuchjungs-
ausſchuſſes von 1853 umd 1860 und der ihm danach extheilten Vorſchriften des
Schatzamts zu handeln. E3 hatte ein öffentliches Ausjchreiben zu Meldungen
für die englifch-amerikanifche Poftbeförderung erlaſſen, für welche das Seeporto
und weiter nicht? die Entihädigung ausmachen ſollte. Auf diefer Grundlage
hatten die Vereinigten Staaten ſchon jeit einiger Zeit ihren Poftverfehr mit
Europa geregelt, und auf diefer Grundlage erbot fich auch der Rheder Inman
Die Entwidelung ber Dampfihifffahrt auf Hoher See. 105
in Liverpool, einen wöchentlichen Dienft zu übernehmen. Die Cunard-Compagnie
reichte im Vollgefühl der gebietenden Stellung, zu der fie fih Dank reichlichen
Subventionen und langen Gontracten emporgefhwungen hatte, gar feine Be-
werbung ein, da ihr jene Verhandlungsgrundlage begreiflicher Weiſe gründlich
mißfiel. Hätte fie ihr doch nach Lord Stanley of Alderley’3 Berechnung allein
in den Jahren 1858—67 eine Million £. oder zwanzig Millionen Mark entzogen !
Aber bald kam man ihr, da jie nit kam. In der Regierung trat ein
MWechjel der Anſchauungen ein. Die obere Leitung des Geepoftdienftes im
Generalpoftamt wurde dem Bruder de3 damals bereit3 verftorbenen berühmten
Voftreformators Sir Rowland Hill, Frederic Hill, der fich ſtark und beharrlich
gegen alle öffentliche Fütterung von Dampferlinien, auch der Peninjular and
Driental Company, ausgeſprochen hatte, wahrjcheinlich unter dem Drude der
mächtigen oftindijchen und chinefifch-japanifchen Intereffen abgenommen; eine
mehr vermittelnde, Subventionen nicht grundjäßlich abgeneigte Richtung kam
obenauf, getragen von den Generalpoftamtsjecretären Tilley und Scudamore, —
und man beichloß, auch den hochfahrenden Cunards einen Schritt entgegen-
zuthun. Dean bot ihnen 80,000 £. (1,600,000 Mark) für einmal wöchentliche
Fahrt. Als dis Mr. Inman erfuhr, der baffelbe für den ungewiffen und
niedrigen Betrag des Seeporto hatte thun wollen, ſchlug er natürlich Lärm;
man tröftete ihn, indem man ihm für die Tyolgezeit einen ähnlichen fetten Biſſen
in Ausfiht ftellte. Dieſer Verſuchung jcheint feine ftrenge Tugend nicht wider—
ftanden zu haben. Er, „der große Champion freier Concurrenz gegen Mono—
pole“ — wie der Präfident des Unterſuchungsausſchuſſes von 1869 ihn ironiſch
fragend nannte, worauf er jelbftgefällig erwiderte: „fie nennen mid) jo in
Amerika“ —, der „jeit jiebzehn Jahren den ungleichen aber rühmlichen Kampf
gegen die hohe Subvention jeiner Rivalen geführt“, der jeit Jahren das See-
porto für eine hinlängliche Vergütung erklärt, auf das Jahr 1868 als ſolche
factiſch acceptirt hatte und no am 1. März 1868 auch für die Zukunft an-
nehmen wollte, — er ließ ſich im Auguft deffelben Jahres von den Cunards
in ein gemeinfames Dtonopolinterefje loden. Sie reichten für die Zeit jenjeits
des 1. Januar 1869 eine ineinsgreifende Bewerbung ein, laut welcher Cunards
zweimal die Woche für 100,000 V., Inman einmal für 50,000 £., beide
aber auf nicht weniger als zehn Jahre fahren wollten, und das jollten die
ſchlechthin billigften Bedingungen fein. Sie thaten e8 dann freilich doch auf
acht Jahre, und die Einen für 70,000, der Andere für 35,000 £. Einem nod)
weitergehenden Verſuch der Regierung aber, die Dauer des Vertrags auf jechs
Jahre einzufchränten, leifteten fie mit Erfolg Widerftand. Und jo vollftändig brachten
fie nun die entjcheidenden Staatdmänner auf ihre Seite, daß es der ausdrüd-
lien Beſchwerde von achtzig der angejehenften Londoner Kaufleute, N. M. Roth-
ſchild & Söhne an der Spite, bedurfte, um neben dem dreimal wöchentlichen
Roftdienft über Queenstown den einmal wöchentlichen über Southampton durch
die Dampfer des Norddeutichen Lloyd zu retten. Dieje gewichtigen Bittfteller
wünfjchten der „bewährten Wohlthat“ nicht beraubt zu werden, welche fie „dem
bisher jo erfolgreich erfüllten Dienft der jchnellen deutſchen Schiffe“ zu ver-
danken anerkannten; und fie ftellten andererjeit3 feft, daß die in Liverpool ver-
106 Deutſche Rundſchau.
fügbare Zahl von Dampfſchiffen erſten Ranges für einen wirkſamen Dienſt
dreimal wöchentlich nicht ausreiche, ſo daß die Verwendung langſamer und
minder guter Giterfchiffe nothiwendig werde. Wir haben e3 hier offenbar
mit einem jehr unnöthigen und überflüffigen Rückſchlag des britiſchen Nativis-
mus gegen den Aufſchwung der deutſchen Dampfihifffahrtsrhederei zu thun.
Um die Hamburger und Bremer Linien nicht vollends da3 Uebergewicht erlangen
zu laflen, zahlte man den ins Hintertreffen gerathenen engliſchen Unternehmern
wider befjere Ueberzeugung, wider alle jonft geltenden freihändlerifchen und haus—
bälterifchen Grundfäße von Neuem Subventionen; und um fi) womöglich nicht
geftehen zu müfjen, daß die Engländer von den Deutjchen bereit3 überflügelt
jeien, erfand man ſich allerhand eingebildete Nachtheile, mit denen die erfteren
zu kämpfen haben follten. Bei Lichte bejehen, ftanden denjelben durchweg andere,
mindeftens gleich ſchwere gegenüber, welchen die deutjchen Linien allein ausge-
jet waren. Die Hauptſache war, daß es ſowol den Cunards wie dem bis
dahin fo freifinnig thuenden Mr. Inman paßte und gelang, da3 befannte alt-
engliſche Gefühl gegen die Fremden aufzuregen. So ſprachen denn die Einen
von dem „ſtarken Widerwillen“, der in Liverpool unter den Kaufleuten herrſchen
follte gegen die Beförderung britijcher Briefbeutel auf fremden Dampfern, und
troß ihres eben erſt erlojchenen faſt dreißigjährigen ergiebigen nationalen Mono-
pols davon, daß ihr eigenes Land fie nicht gegen „auswärtige Angriffe” beſchütze,
al3 wären die Bremer und Hamburger Dampfer Piraten, die den Cunard—
Schiffen auf dem Meere nachftellten; der Andere aber, der „große Champion
der freien Concurrenz“, gedachte gar mit kaum unterdrüdtem Schmerze der
Aufhebung der Navigationsacte, vermöge welcher fremde Gejellihaften ihre
Schiffe hart neben den feinigen auf ſchottiſchen Werften bauen lafjen dürften
und dann, ohne in England unterfucdht zu werden, alle engliichen Privilegien
(jo!) für die Aufnahme von Paffagieren, Poft und Gütern in Anſpruch
nähmen, jo daß fie wahrhaftig Alles, was fie könnten, erft von ihren eigenen
Ländern zu verdienen juchten und dann noch nad) England kämen, um die
legten Lücken ihres Raumes zu füllen. Was man im Schoße der Regierung
auch von derartigen beſchränkten Anfichten gehalten haben mag, gewiß ift, daß
fie praktiſch in diejelben zurückfiel und daß die Folge ein niederhaltender Drud
auf die Entwidelung der oceaniſchen Dampfſchifffahrt war. Wir befiken das
Zeugnig Mr. Frederic Hill’3 dafür, daß der mehrgenannte Generalpoftmeifter
Lord Stanley of Mlderley ſchon 1866 eine tägliche Poft nach Amerika für
praftifabel hielt. Zwei Liverpooler Compagnien, die von William und Guion und
die National Steam Ship Company, waren 1868 bereit, für einen Penny die
Unze — auf die im Durchſchnitt 3—4 Briefe gehen — die amerifanijche Poft
zu übernehmen. Der bekannte Statiftifer Baxter, im Jahre 1869 einer der
Lords der Admiralität, ftellte vor dem damaligen Unterfuhungsausfhuß nach—
ftehendes einfaches Programm auf: die Poft jedem Dampfer (nicht blos jeder
Dampfer- Linie, wie in Amerika bereits galt), der gewiſſe Bedingungen erfüllt,
— Bezahlung nach Briefezahl oder Briefbeutelgewiht. Dann erwartete er zu=
verfichtlih binnen zwei Jahren eine tägliche Verbindung mit den Vereinigten
Staaten hergeftellt zu jehen, bei viel billigerem Porto, größerer Geſchwindigkeit
Die Entwidelung der Dampfichifffahrt auf hoher See. 107
und ganz eben jo großer Regelmäßigfeit. Er hatte ſchon im März 1868, gleich
nad) dem Erlöfchen des Cunard-Contracts, den Antrag geftellt, feine Dampfer-
jubvention mehr auf Meeren zu zahlen, two active und effective Concurrenz
beftehe. Damals rieth ihm nicht blos der Tory-Schatzkanzler Ward Hunt ab,
auf feinem Antrag zu beftehen, jondern auch der große Freihändler Bright; und
die Whigs haben fi im Amte wiederholt der gleichberechtigten Zulaffung aus»
wärtiger Dampfer zur Bewerbung um den engliichen Poftdienft noch feindjeliger
faft als die Tories erwieſen, obwol die Trreihandelsidee doch unter ihre Erb—
ftücdle gehört, Gladſtone ihr Führer ift und Mr. Goſchen, der 1867 der Ham-
burger Gejelihaft die Southampton-Poft rettete, zu ihren einflußreichften Mit—
gliedern zählt. So thun denn jet vielleicht die regierenden Tories den Schritt,
der in dem Dampferverfehr zwiſchen Europa und Amerika endlich zu freier
Goncurrenz führt: Abſchaffung der Staatögejchente nah dem Erlöjchen des
laufenden Vertrags der Poft.
Nicht nur der Atlantiſche Ocean und dag Mittelmeer, auch der Indiſche
Ocean wird von Europa aus mit Dampferfahrten verforgt. Auf dem Stillen
Dcean dagegen, der den unermeßlihen Raum zwiſchen Amerika, Aſien und
Auftralien füllt, Herrfcht die Flagge der Vereinigten Staaten. Seit etwa ſechs
Jahren fahren regelmäßige PBoftdampfer von San Francisco nad Yokohama
in Japan und Schanghai oder Hongkong in China,’ von Wajhington aus reichlich
jubventionirt. Sie fahren jet, ohne anzuhalten; es bedarf aber vielleicht nur
eines einzelnen Unfall3 auf hoher See, denen auf die Länge feine große Dampfer-
linie entgeht, um gebieterifch die längft laut gewordene Forderung auftreten
zu laſſen, daß fie Honolulu anlaufen und dadurch ſowol die Gefahr ala den
Umfang des mitzunehmenden Kohlenvorrath3 angemefjen vermindern.
Seit die Pacifichbahn den Schienenweg von New-York nad) San Francisco
vollendet und die erwähnte Dampferlinie nad) Japan fi) daran gereiht Hat,
ift der elaftifche Ring gejchloffen, den der vom Dampfe beflügelte menjchliche
Verkehr ſichtlich ſchon jeit geraumer Zeit um die Exde zu legen ftrebte. In
fnappen drei Monaten läßt fich jet diefe Reife der Reifen machen, zu der es
noch in unſerer Knabenzeit dreier Jahre bedurfte; und während damals Niemand
fie anders machen konnte, al3 vermittelft einer bejonderen Expedition, eines
eigens dafür ausgerüfteten Schiffes, braucht man heute nur Geld und Zeit zu
haben, um jeden beliebigen Tag die Fahrt anzutreten und menschlicher Maßen
gewiß fein zu können, neunzig Tage jpäter twieder daheim zu fein. So läßt
fh am Ende eine Zukunft vorausfehen, in welcher die Umdampfung der Exde
zu den Erfordernifjen vollendeter Ausbildung gehören wird. Einen „Spazier-
gang um die Welt“, gemacht mit den neueften Verkehrsmitteln, befiten wir
bereits anziehend und lehrreich dargeftellt vom Freiheren Alexander von Hübner;
und wenn auch in dem Titel wie in dem Buche jelbft ein wenig Stofetterie
ſteckt, jo charakteriſirt derjelbe andererjeit3 doch vortrefflich die heute zeitgemäß
gewordene Verachtung der Fährlichkeiten eines noch unlängft jo außerordentlich
eriheinenden Unternehmens.
Die Gefahren langer Dampfihifffahrt find in der That jehr unerheblich.
Man darf ihren Maßſtab nur nicht von den berüchtigten Wettfahrten auf den
108 Deutiche Rundſchau.
Milfifippi hernehmen, deren erzeugende. Stimmung uns Sealäfield in feinem
Ralph Doughby jo naturtreu geichildert hat: dieſes Product des abenteuer-
furchenden Geifte3, der fi) an den Grenzen vorrüdender Givilijation bei freien,
männlichen Völkern üppig zu entwideln pflegt, und der zügellofen, ihr eigentliches
Gebiet überjchreitenden Concurrenz in der Jagd nad) Erwerb. Etwas annähernd
Aehnliches, wie diefe tollen Wettfahrten, hat fih auf dem Ocean jchon
deshalb nicht entwiceln können, weil hier der gejegtere Sinn europäiſcher See-
leute und Gejhäftsmänner den Ton angab. Allerdings kommt von Zeit zu
Zeit ein Unglüd vor: ein Dampfer ftrandet, oder ftößt mit einem anderen zu—
fammen, oder geht jpurlos und für immer verfhollen zu Grunde. Aber was
dabei an Menjchenleben gefährdet wird, ift verhältnigmäßig nit jo viel.
Zwiſchen Europa und den Vereinigten Staaten find im Ganzen bis jeßt noch
nicht jechzig Dampfidiffe auf die eine oder andere Art verloren gegangen, durch—
fchnittlih etwa anderthalb im Jahre, und meiftens ohne Verluft an menſchlichem
Leben. Ein engliicher Schriftfteller ſchätzt die dabei verunglüdten Menſchen auf
höchſtens 5000, oder rund 150 im Jahre; es Fahren aber ungefähr 400,000 Menſchen
altljährli hinüber und herüber, jo daß die Gefahr für den Einzelnen nicht mehr
al3 1 zu 2—3000 beträgt, eine jehr geringe Wahricheinlichkeit. Der Eindrud
der vorhandenen Gefährlichkeit ift nur deshalb ftärker, weil die vorlommenden
Unfälle faft immer mafjenhaft und mit dramatijcher Gewalt eintreten, während
fie ſich bei Segelichiffen und Ruderfähnen mehr vertheilen und deshalb nicht über
einen beftimmten, engbegrenzten Krei3 hinaus vernommen werden. So hat denn
auch der Untergang des Hamburger Dampfers „Schiller“ in der Naht vom 7.
auf den 8. Mai bei den Scilly-Anjeln durch den damit verbundenen Verluſt zahl-
reiher Menjchenleben nicht umhin gekonnt, den Eindrud der Gefährlichkeit
oceaniſcher Dampfſchifffahrt auf's Neue weiten Kreifen mitzutheilen. Aber was
den unglüdlihen Gapitän Thomas vorwärts getrieben hat, ala Stillliegen oder
Zurüddrehen der Schraube ficherer geweſen wäre, war nicht ein undermeid-
lies, in der Sache an fich gelegenes Verhängniß, jondern ein fünftlich ent-
zündeter Wetteifer. Die Poftverwaltungen find gewohnt, ihre einträgliche
Kundihaft dem ſchnellſten Schiff und der ſchnellſten Linie zuzumenden, ohne
Rüdficht auf die Sicherheit der Fahrt; ihnen aber folgt die Mafje der Reijen-
den in der Wahl von Linie und Schiff. Sp kommt e3, dat die Compagnien,
zumal bei der Seltenheit jchwerer Unfälle, blos um den Preis der höchſten
Schnelligkeit mit einander ringen und ihre Gapitäne ausdrücklich oder ftill-
ſchweigend vor Allem auf geichwindefte Reife verpflichten. Diefem ein-
jeitigen Triebe jollte durch Einſetzung ftändiger Seegerichte zur Unterfuchung
jedes derartigen Falles ein Gegengewicht geboten, und auch von Seiten der
PVoftbehörden auf Sicherheit ebenfojehr wie auf Najchheit gejehen werden. Im
Allgemeinen ift es jonft mit der vermeintlichen Unficherheit der Dampfſchifffahrt
grade wie mit der des Eijenbahnfahrens, wenn man neben fie die weit zahl-
reicheren, aber vereingelten und deshalb leichter verhallenden Unfälle mit Wagen
und Pferden hält; oder mit der Noth unter den arbeitenden Claſſen in der
Zeit der concentrirenden großen Anduftrie, verglichen mit den weit ſchlimmeren
Zuftänden der fie zerjtreut und unbefannter haltenden Vergangenheit.
Die Entwidelung ber Dampfiifffahrt auf hoher Eee. 109
Eifenbahn und Dampfihiff find beide ohne Trage gewaltige Hebel ber
Gulturbewegung; welder von beiden der größere, wäre ſchwer zu entjcheiden.
Aber während die Eiſenbahn mehr im Innern der Culturvölker revolutionirend
wirkt, unterwirft das Dampfſchiff mehr neue barbarifche Gebiete den Einflüffen
der modernen Givilifation. Vermöge der Allgegenwart des Waſſers, das ihm
ohne Weiteres Straße ift, dringt e8 rajcher überallhin und bürgert fich Leichter
ein al3 die Locomotive, der ihr Weg erft mit großen Mühen und Koften ge-
Ihaffen werden muß. Trockenen Fußes auf gejchienter Bahn wird der Menſch
die Erde ſchwerlich jemals überfliegen, auch wenn die Behringzftraße und andere
fleine nafje Hindernifje überbrückt gedacht würden; dagegen trägt ihn das Dampf-
ichiff ohne jede Hilfe eines anderen Verkehrsmittels heute ſchon in wenig mehr ala
der kürzeſten möglichen Frift herum. Wir wollen una hier nicht mehr in die
weitreichenden Einflüffe vertiefen, welche die noch jo junge Dampfſchifffahrt über
den Ocean bereit3 auf die Entwidelung des Menſchengeſchlechts geübt Hat und
übt. Nur andeutungsweije jei zum Schluffe bemerkt, daß ohne die Rajchheit
und Regelmäßigfeit des Dampferverkehrs 3. B. Charles Dickens ſchwerlich je die
Vereinigten Staaten bejucht und dort jene tiefgehende Literarifch-politiiche Auf-
regung erzeugt hätte, — ohne fie nicht jo viele Amerikaner jahraus jahrein zur
Alten Welt reifend und fich längere oder kürzere Zeit niederlaffend herüber-
fommen würden, — ohne fie das fich verjüngende ferne Inſelreich Japan kaum
daran denfen könnte, Hunderte von jungen Leuten zur Aneignung der europäijch-
amerikaniſchen Gulturideen herüberzufenden. Und auf einem anderen Felde: hätte
ohne Dampfihifffahrt der Krimkrieg geführt werden können? jähe nicht Eng—
land am Ende jelbft in Oftindien ſchon feine Herrſchaft ernſtlich erjchüttert,
wenn e3 nicht in den Befit diejes rajchen, bequemen und ficheren Mittels für
Paffentransporte gefommen wäre? Man jagt einem berühmten deutjchen Reichs—
tagsmitgliede nach, e8 habe einmal bei bejonderer Veranlaſſung eine merkwürdig
ausgeprägte Abneigung gegen die transatlantifchen Dampfer an den Tag gelegt,
weil dieſe jo viele Auswanderer von Deutſchland entführten. Ohne Zweifel
wirkt ihre bequeme, gefahrlofere und zeiterfparende Fahrgelegenheit befürdernd
auf die Reiſe- und Weberfiedelungsluft ein. Aber fie Ichafft dieſelbe doch nicht,
und wenn fie Einige mehr zur Fahrt in die Ferne verleitet, jo ſchützt fie dafür
faft Alle vor den hundert gejundheitlichen, wirthichaftlichen und fittlichen Ge—
fahren eines dreis oder mehrmals fo langen Aufenthalts im Zwiſchendeck,
denn jeit der Ausbildung der Dampfichifffahrt hat der Antheil der Segelichiffe
an der Nustwandererbeförderung von Jahr zu Jahr reißend abgenommen und
beträgt faum noch mehr al3 ein Fünftel des Ganzen. Aber auch die Aus-
wanderung jelbft läßt, ala ein Mittel focialer und culturgefhichtlicher Aus—
gleihung, noch eine andere Betrachtungsweije zu als die, daß fie ung jo und fo
viel Arbeit3- und Gapitalkräfte alljährlich entrüdt. Daher wollen wir uns
durch fie jedenfalls den Blick nicht trüben laſſen für die gewaltige und über-
wiegend höchſt wohlthätige civilifatorifche Bedeutung, welche die Dampfſchifffahrt
erlangt hat, jeit fie fi) vor der wüften Weite de3 Oceans nicht mehr jcheut.
Fin heimlihes Vexhältniß.
Humoresfe von Otto Girndt.
Echluß.)
IV.
In ſeinem Studirzimmer ſaß Doctor Reinhold Spangenberg, als ſich ein
alter Mann durch die Thür ſchob mit einem großen Stoß Bücher, die zum
Theil noch bedeutend älter waren, als er. Sie fielen auf den Sophatiſch, und
der Träger rieb ſich die Arme: „Hier, Herr Reinhold, bringe ich die Folianten
vom Antiquar.“
„Laſſen Sie ſehen, Hinze!“ Der junge Gelehrte mufterte die Titel und
zählte die Bände.
Der alte Mann blickte fopfjchüttelnd darauf: „Wo hat das Alles Platz in
einem menſchlichen Schädel? ch denke mandhmal: Sie müſſen ein Gehirn von
Gummi haben.“
„Die Bücher find in ſchönſter Ordnung, Hinze!“ erklärte Reinholb.
„Natürlicherweiſe!“ ſagte der Ueberbringer mit ruhigem Selbftbewußtjein.
„Was Hinze bejorgt, ift immer in Ordnung.“
„Und wie fteht'3 mit dem Brief an Fräulein von Buſſe?“ erkundigte fich
der Abjender.
„Sie könnten jetzt ſchon Antwort haben,“ berechnete Hinze.
„Die Augen hätte ich jehen mögen!” lachte Reinhold abgewendet leije. „Sie
muß mid) mit Geiftern im Bunde glauben.“
„Aber hören Sie, Herr Reinhold,” fuhr der Alte fort, „in das Haus gehe
ich nicht mehr!“
Der Doctor kehrte ih um: „DO! Warum nicht?“
„Ich Habe mich zu ſchwer geärgert.“
„Wer wird fich ärgern, alter Freund? Dabei kommt nichts heraus.
Worüber Haben Sie ſich denn geärgert?“
„Ueber den Bedienten.“ Hinze ballte die Fauſt. „Der Laffe ficht mid
von oben bis unten an, als wäre ich nicht ehrlih. So läßt Hirze fich nicht
anjehen!“:
Reinhold juchte zu begütigen: „Der Menjch faßt vielleicht Jeden jcharf in's
Auge, weil er Damen dient, die ängftlicher Natur find.“
Ein heimliches Verhältnih, 111
Dod der Beleidigte blieb aufgebradht: „ch wollte es ihm allenfalls noch
vergeben, wenn e3 geftern gewejen wäre, wo bie Fyledermäufe ſchon flogen;
aber heute, wo ex mich doch fennen mußte, jo von oben bis unten? Braucht
Hinze ſich jo anjehen zu Lafjen?“
„Künftig,“ rieth ihm der junge Spangenberg, „wenn Sie Jemand jo an-
fieht, jehen Sie ihn wieder fo an!“
Hinze beadhtete die Zwiſchenbemerkung nicht: „Beinahe hätte id ihm
Etwas gejagt! ch bin deutjcher Bürger jo gut wie jeder Andre!“
„Eben darum, Bater Hinze!“ jagte Reinhold. „Wir Deutjchen dürfen im
Kleinen wie im Großen einander nichts mehr übelnehmen.“
Auch das verfing nicht; denn Hinze fuhr noch beftiger fort: „Denkt der
Laffe etwa, weil er eine Livree trägt, fo ift er's? Ihm werben höchftens
Trinkgelder verabreicht, ich trage Ruffen und Türken in meinem Beutel; ich
bin al3 Gomptoirdiener der Firma Spangenberg grau geworben; ich verlange
die Achtung, die mir zulommt!“
„Begnügen Sie fi) mit der Achtung Ihrer näheren Bekannten!” erwibderte
Reinhold, und jet hatte er endlich den rechten Ton getroffen. Die Entrüftung
des alten Mannes legte ſich.
„Das ift wahr,“ ließ er fich befriedigt aus, „mein Principal und Sie
und die Herren im Gejchäft achten mid. Ein einziges Mal, Herr Reinhold,
haben Sie fi vergefjen.“
Diejer hob den Kopf: „Bei welcher Gelegenheit?“
„Sie waren freilich gerade in den Tylegeljahren.“
„Das Vergehen ift mir total entfallen, mein guter Hinze!“
„Mir aber nit! Sie famen einen Mittag aus dem Gymnafium und
ſchrieen in unfer Gomptoir: „„Wo ift Hinze, der Kater?““ fo daß ich am ganzen
Leibe zufammenfuhr. Ehe id mich von dem Schred erholt hatte, war Rein-
holdchen verſchwunden. Hinze, der Kater! Mir das von Ihnen!“
Der Doctor Hopfte ihm auf die Schulter: „Warten Sie, Alterchen!“ unb
ging an ein Bücherbrett, worauf die Quartausgabe des Goethe'ſchen Reinecke
Fuchs mit den Kaulbach'ſchen lluftrationen ftand. Er nahm das Wert
herunter, ſchlug e8 auf umd deutete auf eine Stelle: „Hier, bitte, leſen Sie!”
- Der Gomptoirdiener that e8 laut: „Dritter Geſang. Nun war Hinze, ber
Kater, ein Stüdchen Weges gegangen.“ Verwundert hielt er inne und ſah den
jungen Mann an.
„Sehen Sie,“ fagte dieſer, „das hatte uns damals der Lehrer in der Klaſſe
vorgetragen. Es ift das berühmte Gedicht Reinede Fuchs, und ein berühmter
Maler hat es mit jehr gefälligen Bildern ausgeftattet, die Jhnen Freude machen
werden. Dies Exemplar nehmen Sie von mir an ald Buße für meine Jugend-
fünde und unterhalten ſich Abends nad) dem Comptoirſchluß damit!“
Hinze fand überrafht: „Herr Reinhold! Den jchönen Einband kann id)
doch nicht nehmen?“
Der bisherige Eigenthümer drüdte ihm aber den jchönen Einband feſt in
die Hände: „I hoffe, das Vergnügen an dem Buch wird Sie für die Hrän-
112 Deutiche Rundſchau.
fung entihädigen, daß ein Kleiner Bube Ihre treue Seele einft unter das falſche
Katzengeſchlecht verſetzt.“
Hinze öffnete den Mund, kam jedoch zu keiner Dankſagung; denn Papa
Spangenberg's rundes Geſicht glänzte plötzlich in der geräuſchlos geöffneten Thür,
und der Banquier nickte den Alten an: „Dacht' ich's doch! Hier ſteckt er!
Entſchuldige, mein Sohn,“ fuhr er näher tretend fort, „ſeit Du aus dem Felde
zurück biſt, iſt Hinze im Comptoir ſo gut wie gar nicht mehr zu haben.“
„Herr Spangenberg,“ verſetzte furchtlos der Diener, „Sie kümmern ſich
ſeitdem ja auch weniger um's Geſchäft!“
Der Principal lachte: „Da hab' ich mein Theil!“
„Entſchuldige Du, Papa!“ begann Reinhold. „Hinze iſt ſo gut geweſen,
mir einige Werke, die ich beim Antiquar erſtanden, herzuſchaffen.“
Der Vater blickte nach Hinze: „Damit Sie mir meinen Sohn nicht ganz
und gar verziehen, ſollen Sie jetzt einen Gang für mich thun.“
„Gleich?“
„Sa wol, gleich!“
Hinze zauderte: „Ich weiß nicht, ob ich kann, ob unſer Herr Reinhold mich
nicht mehr braucht.“
Schnell ſagte der Genannte: „Nein, Hinze! Verzeih', Papa!“
Der Banquier lachte noch ſtärker, als zuvor: „So gehört ſich's! Er
muß vor Dir mehr Reſpect haben, als vor mir. Du biſt ein Mann der
Wiſſenſchaft. Alſo, Hinze —“ und er zog ein verſiegeltes Packet aus der
Bruſttaſche — „tragen Sie das Packet an ſeine Adreſſe! Es enthält bedeutende
Werthpapiere. Sie geben es daher nicht an den Bedienten ab, ſondern fragen
nach Frau von Buſſe ſelbſt.“
Hinze zuckte: „Nach wem?“
„Frau von Buſſe!“ wiederholte der Auftraggeber. „Der Name ſteht klar
und deutlich auf dem Umſchlag. Und wenn die Dame ſich wundert, ſo können
Sie, was Sie ja gern thun, grob werden, Hinze!“
„Wie?“ rief hier Reinhold frappirt.
„Er kann grob werden, ſage ich, mein Sohn!“
„Geben Sie nur her, Herr Spangenberg!“ forderte jetzt Hinze, dem der
Gedanke, in dem verhaßten Hauſe ſein Müthchen kühlen zu können, ungemein
behagte.
Doch Reinhold trat dazwiſchen: „O, ich bitte, Papa! Warſt Du nicht erft
heut vor der Börſe bei Frau von Buſſe?“
„Wer hat Dir das geſagt?“
„Du ſelbſt!“ log der Sohn keck.
„Ich?“ fragte der Vater förmlich betroffen.
„Beim Frühſtück, entfinne Dich doch, erzählteſt Du mir, Du wollteſt zu
ihr, fie habe Dir geftern geſchrieben.“ Die Worte rannen jo glatt von Rein-
hold’3 Zunge, daß er fih im Stillen jelbft darüber wunderte.
Der Vater legte die Hand an's Kinn: „Das hätte ich Dir erzählt? Dod
woher wüßteſt Du es jonft? Sonderbar! — Aber ih will mit der Frau
fernerhin nichts zu thun Haben, das können Sie ihr ganz deutjch erklären,
Ein heimliches Verhältniß. 113
Hinze, ih ſchicke ihr alle ihre Effecten zurück, die fie mir in Verwahrung
gegeben.“
„Rur her damit, Herr Spangenberg,” ſchmunzelte der Comptoirdiener, „ich
will das ſchon ausrichten!“
Indeſſen Reinhold litt es nicht, jondern bat: „Laffen Sie uns allein,
lieber Hinze! Ich muß mit meinem Vater jprechen, bevor Sie gehen.“
„Aha!“ jagte der Alte leiſe mit einem bedeutjamen Blid.
„Still!” ermahnte ihn der junge Mann ebenjo, und Hinze trollte ſich
hinaus. Vater und Sohn blieben ohne Zeugen. Jener begann in Erwartung
der Dinge, die da fommen jollten: „Du mußt mit mir ſprechen, mein Sohn?“
„Was hat Dir Frau von Bufje gethan, Papa ?“
Der Banquier räufperte ih: „Nachdem ich ihr Hundert Gefälligkeiten er-
zeigt, fordre ich einmal eine ganz geringe von ihr und — vergebens.”
Der Sohn legte ihm ſanft die Hand auf die Schulter: „Deshalb willit Du
mit einer alten Freundin breden? Den Frauen muß der Mann Vieles nach—
ſehen, bejonder3 ihren Kleinen Eigenfinn, der einmal in ihrer Natur liegt.”
„Erlaube, mein Sohn,” entgegnete Spangenberg Senior, „es ift richtig,
daß wir befreundet waren, aber woher weißt Du das nun wieder? Ich behellige
Did doch grundjäglich nicht mit meinen gejchäftlichen Beziehungen, weil Dein
Geift zu hoch darüber fteht.“
„Liebfter Vater,“ verſetzte Reinhold Iebhaft, „nicht einmal, jo und jo oft
haft Du mir Deine Intimität mit Frau von Buſſe geſchildert.“ Bei Seite
aber jprad) er: „Gott verzeihe mir die Lüge!“
Der Banquier heftete jein Auge an den Boden: „Sonderbar, jehr ſonderbar!“
„Und les Ithäte mir,“ ſetzte fein Sprößling fi) wieder in Zug, „Deiner
jelbft wegen weh, wenn ein geringfügiger Anlaß Euch auseinanderbrächte. Ge-
trennt find Menjchen bald, vereinigt weit ſchwerer. Vertraue mir die Papiere
an, ich werde zu der Dame gehen und Alles in’3 Gleis zu bringen fuchen.
Merke ich, Papa, daß fie nicht einficht, was fte an Dir verlieren wide, dann
liefre ih ihr die Effecten ohne Weiteres aus; finde ich fie jedoch geneigt, Dir
entgegenzufommen, jo jchließe ich in Deinem Namen den Frieden. Und Deinen
früheren Beichreibungen nad) Hoffe ich, Frau von Buſſe gibt Dir Satisfaction.”
Der Bater ftarrte abermal3 zur Erde: „Meinen früheren Beichreibungen
nah! Ganz jonderbar!”
Im Innerſten beluftigt über fein Spiel, jehte der Cohn es fort: „Du
ſchwärmteſt bisher für die Dame und ihre Tochter.“
„Auch von der Tochter hätte ih —?“
„Du nannteft fie mehrmals ein reizendes, liebenswürdiges Mädchen.“
Der Banquier ſtrich fi) über den Scheitel, dann ſprach er langjam: „Höre,
mein Sohn!“
Diefer konnte kaum mehr jeine Heiterkeit bemeiftern: „Was foll ich hören,
mein Bater?“
Ammer den Bli auf denjelben Punkt gerichtet, jagte der Banquier: „Ich
glaube, Reinhold, ich lebe nicht mehr Tange.“
„Papa!“
Deutjche Rundſchau. T, 10. 8
114 Deutiche Rundſchau.
„Du machſt mid) aufmerkſam, wie mein Gedächtniß ſchwindet. Und wenn
die Schwäche jo auf einmal eintritt, pflegt e3 mit dem Menjchen raſch zu Ende
zu gehen.“
„Um Himmeläwillen!“ rief der junge Mann. Diefe Wirkung jeines
Scherzes hat er nicht vorausgefehen. Er fühlte, daß er zu weit gegangen und
feinen Fehler redrefjiren müſſe. Der Vater ſprach ohne wahrnehmbare Erregung
weiter: „Deshalb wäre mir’3 allerdings lieb, Du bemühteft Di zu Frau von
Buſſe; denn ich ließe, wenn es gejchieden jein muß, nicht gern eine Feindſchaft
zurüd.” Er hielt dem Sohn da3 Padet Hin.
Reinhold ſteckte die Werthpapiere zu ih: „Dein Auftrag twird erfüllt wer—
den, doc ſetze Dir nihts in den Kopf, mein guter Papa!" Er hob ihm das
Kinn in die Höhe. „Wer von feinem nahen Tode ſpricht, dem ift Freund Hain
in der Regel jehr fern.”
„Denkſt Du, ich fürchte mich vor ihm?” gab der Banquier zurüd, „ch
kann jeden Tag hingehen, nöthig bin ich nicht mehr auf Erden, mein Haus ift
beftellt und Deine Zukunft geborgen. Dein Name hat jchon einen lang in
der gelehrten Welt, Du wirft Profeffor, Du wirft auch Geheimrath werden, ja
der Weg zum Eultusminifterium fteht Dir offen.“
„Das ift ein undanfbares Portefeuille, Papa!“ jcherzte der Doctor. „Aber
num verbanne die ſchwarzen Gedanken! Ich ſage Dir: vorläufig laſſe ih Did
nicht fterben!“
Leichter, ala bisher, eriwiderte der Mann, der den Tod jo geringichäßte:
„Eigentlih, Reinhold, möchte ich auch noch nicht fort!”
Der Sohn jhüttelte ihm die Hand: „So iſt's recht und geſcheidt! Wir
bleiben noch manch' Jährchen zuſammen.“
„Manch' Jährchen? Wenn ich nur einen gewiſſen Tag erlebte!“
„Nämlich?“
Die Laune des Banquiers ward immer beffer: „Deinen Hochzeitstag!”
„Wer weiß,“ lachte Reinhold, „ob ich ſelbſt den Tag erlebe?“
Spangenberg Vater war jet ganz und gar wieder der joviale Herr, der
er ſonſt gewejen, und murmelte jeitwärts: „Er will mir eine Ueberraſchung be—
reiten.“ Dann aber bob er feine Stimme wie ein Prediger: „Die Ehe ift
Euch jungen Männern insgefammt jebt patriotifche Pflicht. Wer fein Vater-
land Tiebt, der jeßt den Goldſchmied in Nahrung und beftellt Ringe.“
Reinhold drückte feine Anerkennung aus: „Der Gedanke ift neu. Nur läßt
da3 Ding fich heutzutage nicht mehr jo fpielend ausführen, wie in jenen Zeiten,
von denen die Schrift erzählt: „„er ging hin und nahm ein Weib.“ “
Der Bangquier legte eine Hand auf den Rüden, die andre ſteckte er in die
Bruſttaſche: „Sollten fih Dir Schwierigkeiten entgegenftellen, jo jag’ & mir
nur, mein Sohn, wir wollen fie ſchon bejeitigen.”
„Du bift jehr freundlich, Papa,” dankte Reinhold fir dag Anerbieten.
„Wählſt Du,“ fuhr der alte Herr mit Feſtigkeit fort, „zum Beifpiel Deine
Braut in den Girkeln der Ariſtokratie — und id) glaube faft, Dein feiner Ge-
Ihmad wird Di dahin führen —“
Der Bräutigam in spe ließ ihn nicht ausreden: „Was fein wird, gehört
Ein heimliches Verhältniß. 115
der Zukunft an. Einftweilen müſſen wir und bequemen, unfre Suppe noch
allein zu effen. Und vielleicht ift’3 am beften, e3 bleibt jo; denn bisher haben
wir einig und zufrieden gelebt,. Du Deiner, ich meiner Arbeit froh, warum
wünjcheft Du uns nun einen Kleinen Zankteufel in’3 Haus?“
„Ah was, Zankteufel!” wies der Vater da3 Prädicat feiner Schwieger-
tochter zurück.
Reinhold jedoch bemerkte: „Wie ein Mädchen fi als Frau geberdet, läßt
fih nie vorausjehen.”
„Das wäre ſchlimm!“ exeiferte fich der Papa. „Ein mohlerzogenes Mädchen
wird ‘ein bravdes Weib.“ Und Halb vorwurfsvoll, halb bittend ſchloß er an:
„Reinhold! Ach will Deine Frau fehr Lieb haben, ſehr Lieb!“
„Aber einziger Papa, ich kann mir doch Feine herbeizaubern ?“
„Warte, Spitbube!” drohte der Bangquier leife und blickte auf einmal
ungewöhnlich Yiftig, während er die Trage ftellte: „Verzweifelſt Du, weil Dein
Zauberftäbchen geftern den Dienft verſagt? Einmal kann fie ſchon ausbleiben,
darum iſt fie noch nicht untreu. Wie lange haft Du geſeſſen oder biſt umher⸗
gelaufen in Erwartung der Erſehnten?“
Reinhold ſtand perplex, der Sinn der Worte war ihm unfaßlich: „Papa,
wie redeft Du?“
Da richtete diefer fi auf, jo Hoch er konnte: „Höre, jet leugne nicht
mehr! ch hab’3 gelejen!“
„Was gelejen?“
„Es war Deine Hand, darauf nehme ih Gift! Wo ift das befannte
Plägchen, Böjewicht ?“
„Alle neun Muſen!“ fuhr der Verrathene auf.
„Laß die Muſen und jage: pater peccavi!“ verlangte der Banquier.
Statt defjen rief Reinhold: „Mich jet nur in Erftaunen, wie man Dir
den Brief hat zeigen können.”
„Das Räthjel will ich Dir löſen,“ erklärte der Vater. „Deine Beftellung
ift, ftatt an das Fräulein Tochter, an die Frau Mama gekommen.“
„An die Mutter? Abjcheulih!” grollte der anonyme Brieffteller. „Aber
woher in aller Welt weiß jie, daß ich die Zeilen geichrieben? Halt!” brachte
er fich jelbft auf die Spur, „der Bediente hat unſern Hinze gekannt!“
Der Banquier verzog das Geficht: „Unjern Hinze? Ei, ſieh, da erfährt
man ja immer mehr! Aljo der Alte hat den Briefträger geipielt ?“
„Sid aber bitter bei mir beklagt,“ ergänzte Reinhold, „wie garftig der Be-
diente ihn angejehen. Nun liegt der Grund am Tage.“
„Du irrft, mein Sohn,“ belehrte der Vater; „Hinze ift jo wenig erkannt
worden, wie Du jelbft; jonft wäre ja die Mama Deiner Angebeteten geftern
nicht zu Frau von Buffe geflogen und hätte gefragt, was anfangen.”
„Wie?“ fragte Jener gedehnt, da er auf's Neue nicht aus dem Bericht:
erftatter Hug wurde, der ſogleich feinen Rapport vervollſtändigte:
„Und da Frau von Buſſe aud) feinen Rath gewußt, find die Damen einig
getvorden, an mich zu appelliren.“
8*
—116 Deutſche Rundſchau.
— „Alles!geſtern?!“ betonte Reinhold, der den Zuſammenhang nun durch—
aute,
Der alte Herr nickte bejahend und lachte: „Das \ift nun eigentlich ſehr
tomiſch, Reinhold !“
„Sehr, Papa!“ lachte auch der Sohn, nur aus einem andern Grunde.
Seht brauchte der Bangquier ja mit nicht? mehr Hinter dem Berge zu
halten, deshalb eröffnete ex jeinem Liebling: „Du kannt Dir vorftellen, wie ich
daranf brannte, die Adreffe zu jehen.”
„Die Dir jedoch,“ reimte Reinhold fich richtig zufammen, „von der klugen
Dame vorenthalten wurde.”
„Bis wir Beide Feuer und Flamme waren,“ geftand Frau von Buſſe's
alter Freund.
„Ich danke Dir Herzlich für diefe Mittheilungen, mein Tieber Vater, nun
werde ich zu rau von Buſſe gehen.“ Der junge Mann wollte nad) feinem
Dut greifen, allein der Vater hielt fihn feft:
„Langſam, langjam, mein Sohn! Du vergißt, daß ich noch immer nad)
der Adreſſe lechze“ In dem Moment Elopfte es draußen.
Reinhold deutete nad) der Thür: „Es kommt Jemand, Papa!“ und rief
laut: „Herein!“
Die Störung war zu verdrießlich Für den Banquier. Er verlor all’ feine
Gutmüthigkeit und jchimpfte: „Sapperlot! Ewig beläftigen die Menſchen
Einen zur Unzeit!“
Die Thür that ſich auf. „Spangenberg! Liebſter Doctor!“ grüßte der faſt
athemloſe Beſuch, änderte aber im Nu ſeinen Ton und nahm das gemeſſenſte
Weſen an: „Ah, Sie ſind nicht allein!“
„Mein Vater!“ ſtellte Reinhold vor. „Mein wackrer Kriegskamerad, Herr
Rittmeiſter von Hill!“
„Gehorſamer Diener!” ſagte der Banquier kurz mit ſchlecht verhehltem
Mißmuth.
Deſto freundlicher ward dagegen der Offizier: „Ich freue mich, den Vater
kennen zu lernen, an dem der Sohn mit jo großer Liebe hängt. Ich befitze ein
ähnliches Prachteremplar von Papa. Als der Krieg ausbrach, bezahlte er alle
meine Schulden.“
„Das Hatte ich für fmeinen Sohn nicht nöthig, Herr Rittmeifter,” er—
tiderte der Angeredete etwas jchneidend.
„Er ift auch ein Juwel, Herr Spangenberg,“ rühmte Hill, „und ein
Phänomen! Was Keiner unter den Kameraden im Felde wußte, der Doctor
wußte es ftet3; daher hieß ex nie anders, al3 „„unjer Brodhaus.”“
Das böſe Wetter auf des Banquiers Zügen wich wie durch Zauberei dem
glängendften Sonnenſchein. Wohlgefällig lief fein Auge von dem einen der
jungen Leute zum andern: „Wirklih? Sehr angenehm, Herr Rittmeifter, Yhre
Bekanntſchaft zu machen!“
„Die ih mit der Parzenjcheere trennen muß,“ fiel Reinhold ein, dem
Better Leontinens verftohlen winkend. „Herr von Hill ift liebenswürdig gemug,
t mir zu gehen. Ich habe einen unaufichiebbaren Weg im Intereſſe meines Vaters.”
Ein heimliches Verhältniß. 117
„Ich bin zu Ihrer Ordre,“ fügte fih Hill. „Herr Spangenberg?" Er
verneigte fi) gegen den Banquier.
Diejer verneigte fi) noch um die Hälfte tiefer: „Ungemein erfreut gewejen.“
Zu feinem Sohn aber, der ihm die Hand reichte, jagte er flehend leife: „Die
Adreſſe, Reinhold!”
Der Doctor, der ihn an Wuchs überragte, bückte fich ein wenig, begierig
hielt der alte Herr das Ohr hin, doch wider Erwarten jchallte es ganz laut
hinein: „Wenn ich wiederfomme, Papa!“ Eine Secunde jpäter war der Flücht-
ling mit feinem Begleiter jchon auf dem Flur.
Der Banquier ward aufgebracht: „Es ift, als jollte ich fie nicht erfahren.
Und doch wäre ihm dann mit einem Schlage geholfen; denn Papa begäbe ſich
hurtig in aller Stille zu der Fünftigen Frau Schwiegermama und fegte ihr aus—
einander, daß ihrem Fräulein Tochter fein größer Glüd unter Gottes Sonne
blühen kann, al3 wenn ein Dann iwie Reinhold fie heimführt.“ Auf einmal
ichlug er fi mit der flahen Hand vor die Stimm: „Aber es geht ja zu
machen, ich darf nur unjerm Hinze auf den Zahn fühlen.“ Geſagt, gethan.
Er öffnete die Thür und rief über die Treppenbrüftung: „Hin—ze!”
„sa — a!” hallte es aus dem Parterre des Haujes empor.
„Herauffommen!” befahl lakoniſch der Principal.
„Ja!“ erklärte der Komptoirdiener ebenjo ſeine Bereitwilligfeit. Bis er
erichien, ging jein Chef, die Hände auf dem Rüden, ftill. überlegend hin und
ber in dem kleinen Zimmer, defjen ganze Einrichtung einen Gelehrten als Be-
mwohner verkündete.
Hinze betrat es mit der naheliegenden Frage: „Soll ich jet gehen ?“
„Mein Sohn hat Ihnen den Weg abgenommen,” antwortete Spangenberg.
„Aha!“ machte Hinze ſich jeinen eignen Vers daraus.
Sein Brodherr faßte ihn ſcharf in's Auge: „Wiefo Aha?“
Der Alte fuhr fi mit den Fingern um den Mund: „Seht willen wir,
wie der Haje läuft. Unſer Herr Reinhold möchte natürlicherweije nicht haben,
daß Sie mit der Frau von Buſſe auseinanderfommen, Herr Spangenberg.“
„Allerdings!“ bejtätigte der Banquier. „Aber warum jagen Sie: natür-
licherweije ?“
„Weil ich Ahnen gleich etwas Andres jagen will, Here Spangenberg!“
„Müſſen Sie erft Athen dazu holen?“
„Demnächſt,“ begann Hinze wichtig, „ereignet fi) Etwas bei ung.“
Spangenberg trippelte ungeduldig: „Menſch, was find Sie langweilig!”
Da Hinze in ein mäßiges, aber tanhaltendes Lachen überging, ftand er ftill:
„Und jet lacht er gar noch fünf Minuten dazwijchen!”
„Geben Sie Achtung,“ nahm der Alte wieder das Wort, „Sie werden
auch gleich ladhen, Herr Spangenberg! Wir Eriegen nämlich bald eine Schwie-
gertochter!“
Jetzt faßte ihn der Banquier mit beiden Händen bei den zwei oberften
Knöpfen ſeines Rocks, jchüttelte ihn wie einen Inorrigen Baum und fchrie ihn
vor brennender Wißbegier an: „Wer ift es?“
118 Deutſche Rundſchau.
Mit voller Gemüthsruhe befriedigte Hinze den Dränger: „Wer denn ſonſt,
als Fräulein Leontine von Buſſe?“
Spangenberg ließ die Knöpfe fahren: „Hinze!“
„Darum hat mir unſer Herr Reinhold ja blos den Weg abgenommen.“
„Hinze!“ wiederholte der Beglückte ſchwächer, die Füße zitterten ihm vor
Freude. „Iſt es auch wahr? Mein Sohn ſagt mir, Sie haben geſtern früh
einen Brief für ihn ausgetragen —“
„Geſtern Abend, Herr Spangenberg!“ berichtigte der Bote.
„Geſtern früh!“ corrigirte ſeinerſeits der Banquier. „Wird Ihr Ge—
dächtniß auch ſchwach, alter Peter?“ Spangenberg hielt ſich an die Zeit, die
Frau von Buſſe ihm angegeben. Aber Hinze wußte, was er ſagte, und daß
ein Irrthum nur bei ſeinem Herrn möglich war; daher erinnerte er dieſen:
„Sie verwechjeln das mit heute früh, Herr Spangenberg.“
„Daß Did) die Maus beit! Meinetwegen!“ rief der Banquier, um ein
Ende zu maden, und ging auf die Hauptſache los: „Was ftand auf ber
Adrefje ?“
„Beide Male: an Fräulein Leontine von Buffe.“
Spangenberg’3 Phyfiognomie leuchtete wie verflärt: „Das Engelskind
meine Tochter?” Er ftredite die Hände nad) dem Diener aus: „Hinze! Treues,
altes Hausthier!”
Hinze wich auf die Seite: „Damit gehen Sie mir, Herr Spangenberg!“
Freude kann körperlich erihöpfen wie Schmerz, das jpürte der Banquier
und warf fich in einen Seffel: „Dinge, ich bin der glücklichſte Vater auf deutjcher
Erde; Heut jollen Sie eine Flaſche Champagner trinten! Gehen Sie, holen Sie
ein Paar Bouteillen aus dem Keller!“
Hinze ſchickte ſich an, zu geboren, machte jedoch an ber Schwelle Halt
und bat mit jehr energiſchem Accent: „Aber nur nicht wieder den Kater, Herr
Spangenberg!”
V.
Mährend dieſer Vorgänge im Spangenberg'ſchen Haufe war Johann dahin
unterwegs geivefen, um Frau von Buſſe's jorgfältig ftylifirtes und in jedem
Wort mwohlberechnetes Schreiben an den verlorenen Freund, den fie wieder-
gewinnen wollte, zu überbringen. Wie der Bediente fich feiner Sendung ent-
ledigt, was ihm dabei paffirt, welche unerwarteten Entdedungen er gemacht,
alles das vernahm jeine Gebieterin, als er fichtlich erhitzt zu ihr zurückkehrte.
Sie ſchrieb die Röthe feiner Wangen anfangs dem Dienfteifer zu, ben fie an
ihm kannte, und fragte deswegen ohne den geringften Arg einfah: „Wird er
fommen?“
„Herr Spangenberg — wird fih — bie Ehre geben!” feuchte Johann.
Sie lächelte zufrieden und machte fi), ohne daß der Domeſtik e3 hören
fonnte, jelbft die Eloge: „Was hab’ ich gejagt?“
„Aber, gnädige Frau — in das Haus gehe ich nicht mehr!“ erklärte Jo—
hann umtiflentlid mit demjelben Wortlaut, der Hinze's Weigerung, fi
wieder bei Frau von Buſſe jehen zu laffen, ausgedrüdt hatte.
Ein heimliched Verhältniß. 119
Die Herrin, bisher nur an blinde Ergebenheit bei dem guten Menſchen
gewöhnt, mufterte ihn überrafcht: „Wie?“
63 fehlte ihm jetzt nicht mehr an Luft, er fprad) zufammenhängend: „Dan
hätte mich bei einem Haar geprügelt.“
„Wer hätte?“
„Der alte Menſch, der ſich bei meiner gnädigen Herrſchaft für einen be—
drängten Tyamilienvater ausgegeben.”
Frau von Buffe horchte hoch auf: „Johann!“
Er fuhr fort: „Ich treffe ihn bei Heren Spangenberg im Zimmer, er hatte
foeben Champagner hereingebradjt, und als ich frage, ob Herr Spangenberg ihn
fennt, und jage, daß er ein armer fyamilienvater jei und unfer gnädiges Fräu—
lein zweimal mit Briefen beläftigt habe, um Unterftügungen zu erhalten, da
fährt der alte Menſch wüthend auf mich los: ich wäre ein Lügner, wie er zu
Familie fommen jollte, ev wäre fein Lebtage ledig und Gomptoirdiener bei
Herrn Spangenberg gewejen —“
„Was?“ rief Frau von Buſſe, heftig erjchredend, dazwiſchen.
„Und ehe ic) mir’3 verjehe,“ beendete Johann feine Leidensgefhichte, „bin
ih um und um gedreht und ftehe draußen.“
Eine Pauje entftand. Die Stirn der Dame hatte ih in Falten gezogen;
Johann glaubte, fein Schickſal alterire fie. Um fo minder war ihm erklärlich,
daß fie endlich jagen konnte: „E3 ift gut, Johann!“
„But, gnädige Frau? ch bin mehr zurüdgeflogen, ala gegangen. Wenn
ein folder Menſch —“
Sie wirkte ihm Schweigen: „Genug! Ich werde mit Herrn Spangenberg
reden. Seht lafje ich meine Tochter bitten, daß fie zu mir fommt. Sie wird
mit Fräulein von Brüning in der Laube fien.“ Ein nochmaliger Wink ent»
fernte den Bedienten, die tieferregte Tyrau hatte ſich keinen Zwang mehr anzu=
thun. Sie rang die Hände: „Sein Comptoirdiener — welch' Licht über Alles!“
Die Betroffenheit des Banquiers beim Exbliden der Handſchrift jeines Sohnes,
feine Begierde, die Adrefje des Briefes zu jehen, feine Empfindlichkeit über ihre
Ablehnung waren ihr nun volllommen begreiflih. Die Gedanken ſchoſſen pfeil
geihwind durch ihren Kopf, und ein Entihluß erwadte. Es blieb in ihrer
Lage fein andrer übrig. „Der junge Spangenberg muß Leontinen auf der Stelle
heirathen!“ entſchied fie, that ein paar Schritte durch den Salon, blieb wieder
ftehen, und es zudte wie ein Krampf um ihre Lippen: „Alſo Fühlhörner waren
es, die fie geftern im Kaffeegarten ausgeftredt! Und heut das kindlich naive,
treuberzige Wejen! Bon wen hat fie da3? Von mir nit! — Ein Verhältniß
mit dem Sohne meines Banquiers!" — Sie veradhtete ihre Toter. „Doch
ärgern will ich mid) nicht! Rein!“ Was Hinter ihrem Rüden geſchehen, lieh
ſich nicht ändern, nur die Zukunft war in's Auge zu faflen, und jo unziemlid
Leontinens Wahl der ftolgen Mutter einerjeits erſchien, mußte fie ſich bei ihrem
Berftande doch bald geftehen, daß andrerjeit3 fein wirkliches Unglüd darin Liege.
Dieſe Betrachtung führte fie zu dem Refultat: „Zulegt kann ich mir den Doctor
Spangenberg übrigens noch eher gefallen Lafjen, als jeden Andern; der Bater ift
in guten, ſehr guten Umftänden, der junge Mann bat das eiferne Kreuz — aber
120 Deutſche Rundſchau.
keine Spur von Anſtand!“ loderte fie neu auf, beſchwichtigte ihren Zorn jedoch
ſofort: „Ich will mich ja nicht ärgern!“
Da' kam Leontine, die Johann im Gärtchen geſucht und gefunden: „Liebe
Mama?“
Frau von Buſſe war wieder ganz Herrin über ſich und kehrte ſich ruhig
um: „Da biſt Du!“
Das Mädchen näherte ſich und ſah ihr zutraulich in die Augen: „Haſt
Du Dir die häßliche Geſchichte endlich aus dem Sinn geſchlagen?“
Die Mutter verſuchte zu lächeln: „Ich erwarte ſogar meinen alten Freund
Spangenberg noch vor Tiſche, um mich mit ihm auszuſöhnen.“
„Mama, Du biſt reizend!“ rief Leontine lebhaft. „Herzensmama, ich kann
Dir nicht beſchreiben, wie mich das freut! Es hätte mir zu weh gethan, wenn
Ihr Beide ganz zerfallen wär't. Ich überlegte ſchon, wie ich Euch wieder zu—
ſammenbringen wollte.“
„Nun brauchſt Du Deinen Scharfſinn eben nicht anzuſtrengen,“ ſpottete
die Mutter, ohne daß die Tochter in ihrer Unſchuld es merkte. Sonſt hätte
Leontine ſchwerlich jetzt noch den Zuſatz gemacht:
„Eine Frau, ſo gut wie Du, lebt nirgend!“
Die unvergleichliche Frau fühlte ſich von zwei weichen Armen umſchloſſen,
hielt es aber nicht darin aus, ſondern entwand ſich ihnen mit der Bemerkung:
„Das ſcheint Dir nur, weil Du jelbft ein jo gutes Kind bift.“"
Leontine verftand die zweite Satyre jo wenig wie die erfte. „Doc ein-
mal eine Anerkennung!” lachte fie. „Aber weshalb rief mic Johann? Sollte
ich nur hören, daß der Papa Spangenberg wiederfommen wird?“
„Ich habe mehr auf dem Herzen,“ verjehte die Mutter. „Mar war bei
mir —“
Pi
„Um mir Eure Abendunterhaltung mitzutheilen.“
Leontine erwiderte den firirenden Blick, der fie traf: „Er hätte den Muth
gehabt ?“
„Der Dir zu fehlen jcheint,“ ſprach Frau von Buſſe.
Das Mädchen bemäcdhtigte fi) der mütterlihden Hand: „Mama, liebe
Mama, wenn Mar offen geweſen, darf ih mir auch, ein Herz faſſen. Sieh,
einzig und allein aus Rüdficht auf Di konnten wir uns doch nimmermehr
heirathen!“
„Wir?“ fragte Jene nahdrüdlid. „Hat er fih etwa den Schein ge-
geben, Dich zu lieben, da Deine Zurückweiſung ihn im Ziefften kränkt?“
„Ah, der Better ift groß!“ rief die Couſine. „So haben wir denn aber
doc nicht miteinander gewettet), Ichöner Herr! Mama, jet muß id Dir eine
Illuſtration unferer Nationaltugend, der deutichen Ehrlichkeit, geben: komm mit
in die Laube zu Wanda!“
„Was da?“ rief Frau von Buſſe und trat zurüd.
„Komm nur und fieh Dir Deinen Liebling an! Die Wangen blühen, die
Augen ftrahlen, der Mund lat, daß die Kleinen Zähne bliten,; denn hier in
Ein heimliches Verhältnif. 121
diefen vier Wänden hab’ ich's herausgelodt: Wunda liebt Deinen Mar! Und
wie es in ihr brennt, brennt e8 au in ihm — nun weißt Du Alles!“
Ohne ein Wort zu jagen, jehte die Mutter ſich jchnell nieder. Leontine
fniete neben ihr nieder und fuhr mit einer Miſchung von Ernft und Scherz fort:
„Sieht Du, Mama, das ift die Strafe für Mütter, die ihr eigenes Kind
immer herabjegen und andre Mädchen nicht genug zu loben wiſſen. Jetzt wirft
Du innewerden, wa3 Dir der Himmel an mir beicheert. Ich habe Dir nie-
mals große Leidenschaft für die Ulanenkaſerne, noch entichiedene Abneigung
gegen den heiligen Stand der Ehe geheuchelt. Aber darum erzähle ih Dir
nicht, wie es mit Mar und Wanda fteht, dat fi) Dein herziges Gefiht wieder
verfinftern fol. Wanda bat in der That Deinetwegen, weil fie Deine
Pläne mit mir kannte, alle Kraft aufgeboten, ihre Liebe zu erſticken.“
Hier brad Frau von Buſſe ihr Schweigen, um jarkaftiich hinzuwerfen:
„Das himmlische Mädchen!“
Augenblids nahm Leontine ihren Gaft in Shub: „Du haft wirklich feinen
Grund, ihr zu grollen. Und aud unjerm Dear darfft Du nicht böſe jein.
Glaube nur: Freude hat es ihm nicht gemacht, jeine wahren Empfindungen
zu verbergen. E3 war eben auch die Rüdfiht —“
„Schweige ftill!” jchnitt die Mutter den Reit der Vertheidigung ab. „Wer
mich einmal getäufcht, wird mich öfter zu betrügen fuchen. Ich muthmaße
Etwas.” Sie ſchob da3 knieende Mädchen hinweg und ftand auf.
Leontine jprang leiht vom Boden empor: „Was, liebe Mama?“
Frau don Buſſe durhmah das Gemah und murmelte: „Wie ich myjfti-
ficirt bin, ift num Klar!“
Die Tochter folgte ihr: „Was muthmaßeft Du?“
„Geh weg!” wies die Entrüftete ihre Begleitung zurüd und ſprach wieder
für fih: „Deshalb fteht auch gejchrieben: man zittert nicht vor ihm. Sie
fteden unter einer Dede.“
„So ſprich do, Mama!“ bat Leontine.
Indeß Mama blieb in fi gelehrt: „Aber wir find vorgejehen, mein
Freund!“
Das Mädchen ſtand kopfſchüttelnd da: „Du fängſt an, mich zu ängſtigen!“
Frau von Buſſe brach ihren Spaziergang ab und lachte: „Aengſtige Did
gar nicht! Ihr jollt erfahren, daß Ihr ſämmtlich bei mir in die Schule gehen
tönnt!“
„Das trifft mid) mit?“ rief Leontine.
Ich denke.“
„Sa, wieſo?“
„Sei ohne Furcht! Tu biſt mein gutes Kind, Du belügſt mich nicht, Du
betrügft mich nit. Laß Deine freundin Wanda in Gotte3 Namen Braut
werden, Du jollft es auch bald jein!“
Leontine jehte den Zeigefinger auf die Bruft: „Ich Braut ?“
„Ganz nad) Deiner Wahl!“ verficherte die Mutter.
„Wie deut’ ih mir das?“ ſuchte ihr Kind nad einer Erklärung. „Bis
jet bin ich noch nicht jo umſchwärmt von Herren geiveien, dab id) die Wahl
122 Deutiche Rundſchau. |
gehabt hätte.“ Bevor fie fich nähern Aufſchluß erbitten konnte, bewegte ſich die
Thür zum Vorzimmer.
Yohann ward fihtbar: „Gnädige Frau!“
Dieje machte eine rafche Wendung: „Was gibt's?“
„Der Herr Rittmeifter ift da mit einem andern Herrn. Hier feine Karte.“
„a3 will er denn jchon wieder?“ wunderte ſich Leontine.
Frau don Buffe hatte inzwiſchen da3 Kleine Pergamentblatt genommen.
„Richtig!“ ſagte fie, es anjehend, und inftruirte den Bedienten: „Sehr ſchön!
Außerordentlich willlommen! Die Herren mögen nur einen Augenblid ver—
ziehen!” Johann ging, fie trat auf ihre Tochter zu: „Leontine, Mar bringt
Dir einen lieben Bekannten mit.”
Das Befremden des Mädchens wuchs: „Mir?“
„Das Schickſal will, da die Mebrigen Freude haben, daß Du nicht leer
ausgehſt,“ Lächelte die Mama mit großer Selbftüberwindung und wies auf ihr
Boudoir: „Verfüge Did da hinein, bis ich Dich rufe!”
Leontine leiftete ‚nicht jogleich Folge: „Ich Toll verſteckt werben wie ein
Dfterei? Ein lieber Bekannter? Wer könnte das fein?“
Mit erkünftelter Zärtlichkeit bat die Mutter: „Verdirb mir nidht die
Ueberraſchung! Geh, mein gutes Kind!“
Jetzt gehorchte das Mädchen: „Da bin ich aber neugierig!” Als fie hinaus
war, öffnete Frau von Buffe eigenhändig die Antihambre- Pforte und lud die
draußen Harrenden kurz ein: „Meine Herren?“ Johann jchloß hinter den
beiden jungen Männern.
„Berehrte Tante,“ bob Hill an, „ic habe das Vergnügen, Dir Herrn
Doctor Spangenberg, Sohn Deines Banquiers, vorzuftellen.“
Die Dame prüfte da3 Aeußere des Doctord: „Ja, ich weiß, daß die Herren
fih kennen.“
Ihr Neffe jah fie groß an: „Du weißt?“
Ohne fi zu wiederholen, forjchte fie den jungen Gelehrten aus: „Wo
wurden Sie befreundet, wenn ich fragen darf?“
„Unter der Fahne, gnädige Frau!“
Sie blidte nah Hill: „Daß Du uns nie davon erzählt, lieber Sohn!“
„Um To auffallender Deine Kenntniß, liebe Tante,” äußerte Mar.
„An das Auffallende,“ entgegnete fie, „muß fich Jeder im Leben wohl oder
übel gewöhnen. Sie, Herr Doctor, hätten übrigens diejer Einführung nicht
bedurft, jelbft ohne Ihre Karte würde ih Sie erkannt haben.“
„Wol an der Aehnlichkeit mit meinem Water?“
„Nein, Sie haben Nichts von meinem ehrlichen Freunde.“
Der eigenthümliche Ton, den fie auf die zwei Worte legte, ließ den Ritt»
meifter Verdacht ſchöpfen. „Hier ift Etwas nicht richtig!” rief er mit Laune.
„Defto richtiger,“ erwiderte ernjthaft die Tante, „wirft Du Alles finden,
mein braver Mar, wenn Du Dich unverzüglich zu Fräulein von Brüning
begibft.”
Tante!“
„Du triffſt fie einſam wie Precioſa in der Gartenlaube.“
Ein heimliche Berhältniß. 123
Hill ſchlug auf den Arm feines Gefährten: „Doctor, wir find in eine
Zaubergrotte gerathen; jehen Sie, wie Sie hinausfommen! Gott mit Ihnen!“
So eilte er davon und überließ den Freund feinem Schickſal.
Frau don Bufje machte eine graziöfe Handbewegung: „Nehmen Sie Plab,
Herr Doctor Spangenberg!“
Reinhold wartete, bis fie jelbjt fich niedergelaffen, und begann zögernd:
„Deine gnädige Frau —“
Sie unterbrach ihn, aber mit aller Feinheit: „Mein Neffe hat Sie unter-
richtet, welches Vergehens ich mich ſchuldig gemacht. Briefunterfchlagung ift
ftraffällig.“
„Frau von Buffe,“ verjeßte er, „meine Abſicht war, mich Ihnen ala Schreiber
beider Briefe zu entdeden. ch faſſe nicht, wer mir zuvorgelommen, wer mir
zuborfommen fonnte.“
„Sie jehen, der Verräther ſchläft nicht,” ſagte fie ruhig.
„In wen aber joll ich ihm juchen?“ fragte er. „Herr von Hill ift es
natürlich nicht, ebenfowwenig mein guter Papa —“
„Der in Kurzem bei uns jein wird,“ fiel fie ein.
Reinhold ſchaute fie, und fie ſchaute Reinhold ſprachlos an. |
Auf einmal brad) er aus: „Dann halte ih Alles für möglich!”
Auf dies Wort ſchien fie nur gewartet zu haben; denn fie benußte es
ſchnell: „So geht es mir ebenfalls, feit ich im Befit Ihrer Zeilen bin. Bor
vierundzwanzig Stunden hätte ich es noch für unmöglich gehalten, daß meine
Tochter die Annäherung eines jungen Mannes in diejer Yorm nicht mit
Entrüftung zurückgewieſen.“
„Um Gotteswillen!“ rief Reinhold entjegt.
„Sie hören, ich ſpreche ſehr gelaffen,“ beruhigte fie ihn. „Ich habe mir
vorgenommen, mich nicht zu ärgern, weil ich ſonſt büßen würde, was Andere
gefündigt. Der Makel, der nun einmal an der Sache haftet, kann nur ver-
wiſcht werden, wenn das Verſteckte jofort an’3 Licht der Deffentlichkeit tritt.“
„Hrau von —“ ſetzte er mit halber Stimme an.
„Ich bitte!” verwies fie ihm mit Gravität die verfuchte Entziehung des
Wortes. „Ih frage deshalb auch jet weder umftändli, wo und wie Sie
meine Tochter kennen gelernt, noch feit warın Ihr Verhältniß befteht, ich erlaſſe
Ihnen desgleichen vorläufig die Gründe, aus denen ein hochgebildeter Mann
Wege eingefchlagen, die ich in meiner Einfalt bisher nur von der tiefften Un—
bildung betreten glaubte.“
Reinhold ſprang auf: „Länger halte ich die Tortur nicht aus, gnädige
Frau, wenn ich fie auch verdient habe!“
„Der Zufaß,“ ſprach fie, ſich würdevoll erhebend, „beweift wenigftens, daß
Sie fühlen, wie ſchwer ich beleidigt worden bin. Ihre Gewiſſensbiſſe müſſen
Sie num ſchon tragen und ſich mit meiner Tochter darin theilen. Machen wir's
kurz, bevor der Papa kommt!” Und fie machte es jo kurz, daß es dem jungen
Mann rein unmöglid) ward, ihr den Wahn, worin er fie befangen jah, zu
nehmen; denn fie war mit zwei Schritten am Nebenzimmer, öffnete und rief
Binein: „Zeontine!”
124 Deutſche Rundſchau.
„Herr, erbarme Dich meiner armen Seele!“ betete Reinhold in ſeiner
Deſperation.
Frau von Buſſe kehrte zurück, ſtreifte in vornehmſter Haltung an ihm
vorüber und ſagte: „Setzen Sie meine Tochter von meiner Einwilligung in
Kenntniß!“ Ohne ihn noch eines Blicks zu würdigen, verließ ſie den Salon.
Der Unglückliche ſtand wie zerſchmettert, und doch that ihm die höchſte Geiſtes—
gegenwart noth, um ſich mit Ehren aus der Affaire zu ziehen. Im Kugelregen
vor dem Feinde, wenn Mann und Roß um ihn ſtürzten, hatte ihm nie das
Herz geſchlagen, wie es in dieſer Secunde hämmerte, da Leontine erſchien und
er nicht wußte, wo anfangen, wo enden.
„Was iſt das?“ ftußte dasI Mädchen. „Mama kündigt mir einen Be—
fannten an und läßt mich allein mit "einem Fremden? Wen hab’ ich die
Ehre?“
„Mein gnädiges Fräulein,“ nahm er ſich zuſammen, „ob jemals, jeit die
Welt fteht, ein Sterblicher in jo verzweifelter Lage gejchwebt, ich weiß es
nicht.“
„Roc einmal: wen hab’ ich die Ehre?“ Klang ihre Stimme,
„Mein Name ift mir entfallen, jo wirbelt mir Alles im Hirn!“ Er juchte
Zeit zu gewinnen; al3 Zeontine ihn aber ein ftrenges, faft gebieterifches „mein
Herr!“ hören ließ, jeufzte er, fich in das Unvermeidliche ergebend: „ch bin die
Niſche Nummer Drei!“
Die Antwort beftürzte fie nicht, erheiterte fie vielmehr. Reinhold merkte
e3 an der Färbung ihrer jchnellen Trage: „Sie?“
„Aufzuwarten, und nebenbei,“ legitimirte ex fich weiter, „ein Kriegskamerad
des Nittmeifter von Hill, dem ich geftern zum erften Mal feit dem Frieden
wieder begegnet.“
„D, diejer Vetter!” drohte die Coufine; denn nun wußte fie, daß Mar am
vergangenen Abend ein !chändliches Spiel mit ihr getrieben, wenngleich jie es
noch nicht gänzlich durchſchaute.
Die Niſche Nummer Drei aber ſprach ihr nad: „O, diejer Vetter begleitete
mich aus dem Kaffeegarten in meine Wohnung, wo ich unter feinen Augen
meinen Pegafus jattelte, der Yhnen aber jedenfalls eher wie ein Rocinante vor—
gefommen.“
„Mindeſtens,“ entgegnete Leontine, „macht jein Reiter in diefem Moment
einigermaßen den Eindrud eines Ritters von der traurigen Geftalt.“
„Das glaube ich Herzlich gern,“ gab er zu. „Den Eindrud antiter Götter
würde ich indeß aud unter bejjeren Umftänden ſchwerlich hervorbringen.“
„Antife Götter?“ fragte fie, plötzlich etwas zaghaft und gedrückt.
Er nidte traurig: „Mit Apollo und Mars in Einer Perſon kann ich zu
feiner Zeit aushelfen.“
Leontine griff nach einer Stuhllehne, als fühlte fie ſich der Stübe bedürftig:
„Sie wären — Herr Reinhold Spangenberg ſelbſt?“
„Wie mag Sie das erjchreden, Fräulein von Buffe, da Sie ſich doch nur
überführen, wie richtig Ihr Ahnungsvermögen Sie geleitet? Water Gellert bleibt
beftehen: der Hund ift nur jo groß, wie alle Hunde find.“
Ein heimliches Verhältniß. 125
Sie ſchlug die Wimpern nieder: „DO, Here Doctor, wie beihämen Sie mich!“
„Die Beſchämung,“ betheuerte er dagegen, „it ganz auf meiner Seite nad)
der entjeglichen Converſation mit der gnädigen Frau.“
Der geſenkte Blick hob fich wieder: „Ja, jagen Sie, was ift das mit der
Mama?“
Der Doctor ftöhnte leife: „Die Dinge gehen immer anders, al3 der Menſch
ausgeflügelt hat. Herr von Hill patrouillirte geftern Abend von mir zu Ihnen
und ſchlich noch bei nachtichlafender Zeit von Ihnen wieder zu mir.“
„Wenn wir abrechnen, Better!” verhieß Leontine dem Nittmeifter eine an-
genehme Stunde. Ihre Augen funkelten. Reinhold fuhr fort:
„Darauf fühlte ich den unmiderftehlihen Drang, Ihnen heut in’ der) Frühe
einen zweiten — Bettelbrief zu ſchreiben.“
„Wie?“
„Diesmal in Proſa, da ich mir dachte, an meinen Verſen würden Sie ein
für alle Mal genug haben.“
Haſtig verſetzte ſie: „Der Brief iſt mir nicht zugeſtellt worden.“
Reinhold drehte ſeinen Hut in den Händen: „Daher rührt die ganze himmel—
Ichreiende Kataftrophe, die jet hereingebrocdhen. Ihre gnädige Frau Mama hat
mein Scriptum in Empfang genommen.“
Leontine zuedte auf: „Mamal?" Und gedehnt ließ fie folgen: „DO, nun —“
„Wiſſen Sie erſt dag Geringfte,” jagte der Doctor.
„Was enthielt denn der Brief?”
„Namenloſes!“
„Herr Doctor!“ rief ſie vorwurfsvoll.
„Anonymes, wollte ich jagen.“
„Ah jo!“
Er zuckte die Achſel: „Wir Deutſchen müſſen zu Fremdwörtern greifen, um
uns verſtändlich zu machen. Ich gab Ihnen die kurze Verſicherung, daß ich vor
Ihrem Herrn Vetter nicht bebe und mich heut wieder an dem bekannten Plätzchen
einfinden würde.“
„Verzeihen Sie, lich muß lachen!“ ſagte Leontine und konnte in der That
ihre Natur nicht mehr zügeln.
Reinhold aber warnte: „Wenn Sie nur nicht bald Thränen vergießen!
Denn das bekannte Plätzchen hat die gnädige Frau zu ſchauderhaften Schlüſſen
geführt, deren fie ſich zunächſt fgegen meinen Papa entledigt, Vorſichts halber
jedoch gleichfalls anonym.”
Die Miene des jumgen Mädchens verwandelte ſich, die Mittheilung verlete
das feinfühlende Herz gewaltig: „Was hör’ ich! Von mir jelbft konnte Mama
denken —“ fie ftodte unwillkürlich.
„Wastfih — der Himmel weiß, wodurch — als kraſſe Meberzeugung bei
ihr eingewwurzelt bat,“ führte der Doctor den Sat zu Ende, „jo daß fie Ihnen
in beiligem Exnft zumuthet, unjerem heimlichen Verhältniß vor der Welt Recht3-
fraft zu verleihen.”
„Dein Herr!” mwallte Leontine auf.
126 Deutſche Rundichau.
Doch er ließ ſich nicht einſchüchtern: „Sch bin zu diefer Eröffnung aus-
drücklich von der gnädigen Frau autorifirt.“
„Haben Sie ihr denn nicht den Zufammenhang erklärt?“ fragte dad Fräulein
geſchwind.
Reinhold rechtfertigte ſich, daß er dies unterlaſſen: „Ich gelangte ſelten zu
Worte, und meine Zwiſchenreden fielen alle wie Tropfen auf einen heißen Stein.“
Leontine richtete halb an ihn, halb an ſich ſelbſt die Frage: „Wie kommen
wir heraus?“
Der junge Mann wußte keinen Rath: „Finden Sie ein Mittel! Mir
ſchwirrt der Kopf zu arg.“
Da fiel ihr ein, wer helfen könnte: „Wohin iſt mein Vetter Max ver—
ſchwunden?“
„Die Gartenlaube hat ihn aufgenommen,“ gab Reinhold zur Auskunft.
„Sp iſt Mama ihm gefolgt, und er leiftet uns ohne Zweifel N,
ſprach Hill's Couſine ihre Hoffnung aus.
Der Doctor theilte dieſelbe wenig: „Es bleibt immerhin rathſam, man ver—
läßt ſich nicht mehr auf Andre, als auf die eigne Kraft.“
„Wir könnten,“ meinte Leontine, „doch nur gemeinſchaftlich betheuern, daß
Mama im allergrößten Irrthum geweſen?“
„Hoffentlich,“ verjegte der Andre, „hat Frau von Bufje noch nicht meinen
Papa, den fie erivartet, in ihr Eheproject eingeweiht.“
„Was läge daran?“ jchaltete das Fräulein ein.
„Für Sie wenig,“ ſagte Reinhold, „Für mic) leider viel; denn die Seele
von Bater hat mein falſch eingelaufenes Sendichreiben gelejen und den Löwen
an der Kralle erkannt, wenn das Bild nicht zu kühn ift. Wäre ihm nun kund—
geworden, daß die Adrefjatin Ihren Namen trägt, ich glaube —“ ex hielt offenen
Mundes inne.
„Was glauben Sie?" drängte Leontine.
Der Doctor bog den Kopf nach der Borzimmerthür: „ch glaube, da kommt
er. Wahrhaftig, das ift feine Stimme!“
Der Eingang zum Salon that ſich auf, der Banquier ward hörbar, wenn-
gleich noc nicht fichtbar. Er verhandelte mit Johann: „Zu melden brauchen
Sie mid nicht, nehmen Sie mir nur den Hut ab!” Warum er das lebte Ver—
langen jtellte, ergab ſich aus der Figur, die er jpielte, als ex den jungen Leuten
jeßt vor Augen fam. In jeder feiner Hände prangte ein Toftbares Bouquet.
Gr jah feinen Reinhold, er jah das Mädchen, und er fand nur einen Gruß:
„Mein Sohn! Meine Tochter!“
Der Sohn wechſelte die Farbe: „Da hören wir’3, Yhre Frau Mama hat
es ihm verrathen!“
„Nein, Du Strid," widerſprach der Vater, „nicht Frau von Buffe, unfer
alter Hinze!“
„Dem dreh’ ich das Genid um!” nahm Reinhold fi vor. „Vater, Papa,
id beihwöre Did, nimm ſammt Deinen unglüdlichen Blumen Flügel der
Morgenröthe umd made, daß Du nad Haufe kommſt; denn Heiner von uns ift
hier am Pla!“
Ein heimliches Verhältniß. 127
Der Banquier rührte ſich nicht: „Was joll das heißen?“
„Du bift im Traum! Zwijchen Fräulein von Buffe und mir ift von nichts
weniger die Rede, ald von einem Verlöbniß.“
Wie konnte der alte Herr das für Ernſt halten? Er machte ein gutmüthig
bittendes Gefiht: „Nein, Kinder, jo müßt Ihr mich nicht an der Naje führen,
das ift Unrecht. Ich möchte troß meiner Jahre deckenhoch jpringen vor Freude.
Nun kann ich getroft in die Grube fahren; denn jehen Sie, mein liebes gnädiges
Fräulein, mehr nad) meinem Sinn hätte Reinhold nicht wählen können, gerade
ſolche Schwiegertochter, wie Sie, habe ich mir immer gewünſcht. Ja, ja, fragen
Sie nur die Mama, was ich heut früh von Ihnen gejagt!”
Reinhold Jah Leontinen mit flehender Geberde an und flüfterte: „Verzeihung!
Ich bitte!“
„Was hat er zu tujcheln?“ rief der Vater. „Laffen Sie fi) nicht von ihm
den Mund verbieten, reden Sie, laden Sie, Herzenskind! Er ſoll Sie nit
beherrjchen, wie er feinen alten Vater beherrfcht! Laſſen Sie ſich feine Tyrannei
gefallen! Und,“ fuhr er wieder bittend fort, „befreien Sie mich) von den Bou—
quet3, die in der Geſchwindigkeit nicht geſchmackvoller aufzutreiben waren, damit
ic) mein holdes Töchterchen in die Arme ſchließen kann!“
In die Wangen des Mädchens ftieg dad Blut. „Herr Spangenberg,“ ſagte
fie, „Ihre Güte ift rührend, aber Ihr Herr Sohn Hat nicht entfernt den Vorſatz
gehegt, mich Ihnen als Tochter zuzuführen.“
„Ah, Ihr jeid Beide garſtig!“ jchmollte der Banquier. „Was habt Yhr
davon, mich aufzuziehen und Hinzuhalten, ftatt mir um den Hals zu fallen?
Ich richte Euch das ganze Haus neu ein. Eine Hochzeitsreife macht hr, Jo
weit es Euch gefällt, nach Venedig, Florenz, Neapel, meinetwegen bejucht den
DVicefönig von Aegypten, und wenn Ihr heimfommt, jollt Ihr ein Neft finden,
jo traulid wie für zwei Turteltauben. Und die Mama muß mit überfiedeln!
Die Mama laſſen wir nit weg! Kinderchen, dad Leben wird himmliſch!“
Was der Sohn bei dem Herzenderguß des Vaters empfand, drängte er in
wenig Worte zufammen: „Deine Liebe, guter Vater, jhafft mir zur Stunde
vielmehr die Hölle Willft Du uns Allen wohl, jo fahre nach Haufe, ich folge
Dir ſehr ſchnell!“
„Rein,“ erklärte der Banquier mit gerunzelter Stirne, „das geht mir über
den Spaß, das nehm’ ich übel!” Er warf die Bouquet3 an die Erde. „Wo ift
Frau von Bufje?“ ,
„Hinten im Gärtchen, Herr Spangenberg,“ unterrichtete ihn Leontine mit
gepreßter Stimme.
„Hinten im Gärtchen!“ brummte er nad) und drehte fih um. Die Aus»
gangsthür fiel hart in's Schloß.
Der Doctor ftand dem Mädchen wieder allein gegenüber. „Sehen Sie nun,
gnädiges Fräulein,” begann er, „wie begründet meine Bejorgniß war? Die Ent-
täufhung, die mein Vater erfährt, ift graufam.“
Leontine blickte zu Boden: „Ich könnte weinen, doch bin ih Schuld daran ?“
„Mache ich Ahnen einen Vorwurf?” verjeßte er.
128 Deutiche Rundſchau.
„Mancher Andre würde es thun,“ jagte fie; „denn meine vorlaute Zunge
gejtern im Kaffeegarten gab den erjten Anlaß zu der jegigen Berwirrung.“
„Unter der jelbft die armen Maiglödchen leiden,“ knüpfte Reinhold an,
bückte fi und hob die Bouquet vom Teppih auf. „Meinem Papa ift nicht
zu helfen, er muß das Ungemad) überftehen und wird es, da er ſich ausflagen
kann; doch diefe duftenden Kleinen gehen ala ftille Dulder zu Grunde, wenn
feine ſanfte Hand fich ihrer erbarmt. Will Fräulein von Buſſe ihnen das
blühende Dafein eine Spanne verlängern? Der Spender kann fie unmöglich
wieder mitnehmen.“ Er legte die Blumen auf den Tiſch.
„Und ich darf fie nicht annehmen,“ jagte Zeontine.
„Warum nicht?“ entgegnete Reinhold. „Legen wir einfach eine andre Be-
deutung hinein! Betrachten Sie die farbigen Gewinde al3 kleines Dantgejchent
bon mir für das große Vergnügen, das unjere geftrige!Nifchen - Ren!
mir gewährt hat!“
„Welcher Spott!“ Tiipelte ſie.
„Dazu mangelt mir das Talent,“ Eritifirte er fich jelbft. „Auch wird Herr
von Hill, wenn fie ſich bei ihm erkundigen wollen, nad Pflicht und Gewiffen
bezeugen, daß Sie meine wahre Meinung hören. Die Stunde bejagter
Nahbarihaft wird mir eine entzüdende Erinnerung bleiben, und erlebe ich fie
im nächften Jahr wieder, jo werde ich fie auf bejondere Weife in Niiche Nummer
Drei feiern.“
Leontine blieb niedergeihlagen: „it dies etwa fein Spott?”
„Zuletzt kann ich Sie,“ ſprach der Doctor, „vom Gegentheil nicht anders
überzeugen, al3 daß ich mein Herz bis auf den Grund vor Ihnen ausſchütte,
tie ich's gegen den liebenstwürdigen Rittmeifter gewagt.“
Neues Gelifpel antwortete ihm: „Ich verftehe Sie nicht.“
„Muß es denn fein,” tönte e8 ihr Fräftig entgegen, „wohlan, jo jchreiben
Sie es ſich jelbft zu, wenn Ihr Ohr unangenehmer berührt wird, al3 meins in
der Niſche! Papa Spangenberg verläßt traurig Ihr Haus, aber Einer, der mit
ihm geht, ift noch trauriger, er trägt es nur nicht zur Schau. In feiner Klauſe
ichlägt er das fünfte Buch Mofis auf ımd findet den Troft, daß ein Größerer,
ala er, fi mit dem Anblid des gelobten Landes und dem Verlangen danach
begnügen mußte, ohne es zu erreichen. Dann wird es, jo Gott will, ftiller in
feiner Seele, und kann ex fi) vielleiht auch noch eine Zeit lang nicht wieder
an den alltäglichen Gang des Lebens gewöhnen, jo wird ihn die Arbeit zuleßt
doch erlöſen.“
Reinhold verſtummte. Doch war es nur eine kurze Pauſe, die eintrat,
bi3 ex weich fragte: „Bin ich jet von Ihnen verftanden, gnädiges Fräulein?“
Sie fuhr ſich verwirrt mit den ſchlanken Fingern über die Stim: „Nein,
nein!”
„Roc nit? Dann thut mir's Leid.“
„Sie mid) lieben? Das kann nicht fein!“
„Sie wollten meine Erklärung,“ erwiderte er feſt
Grit jebt jah fie zu ihm auf: „Es wäre wirklich wahr?“
„Wirklich wahr!” beftätigte das jonore Echo.
Ein Heimliches Verhältniß. 129
Die ganze Schalfhaftigkeit, die dem Wejen Leontinens innewohnte, blitte
plöglih aus ihren Augen: „Ja, was macht man denn da mit Ihnen?“
„Das weiß ich nicht.“
„Meberläßt man Sie Ihrem Schickſal?“
„Jedenfalls das Bequemfte,“ meinte er.
Sie legte ihre Arme ineinander: „Wie tief lieben Sie mich eigentlich ?“
„Laſſen Sie den Schiffer fein Senkblei auswerfen, wo da3 Meer bodenlos
fluthet, ich meſſe meine Leidenſchaft dagegen.”
„Und was verlangen Sie von Ihrer Frau?“
„Daſſelbe.“
Ihren Mund umſpielte ein kleines Lächeln: „Kurz und beſtimmt! Man
merkt, Sie ſind Offizier geweſen.“
Er verneigte ſich leicht: „Ohne die Lorbeeren zu verdienen, die Sie mir
geftern in der Nijche geftreut.”
„Willen Sie aber, wa3 Sie verdienen?“
„Rein.“
„Daß ih Ihnen die Beleidigung, die in Mama's Verdacht auch für Sie
lag, rächen helfe.“
„Wodurch?“ fragte er gejpannt.
„Es gibt,“ entgegnete Leontine, „nur eine unjerer würdige Rache: ich
verliebe mich in Sie!“
An ſich Haltend, jcheinbar mit voller Ruhe, jagte er: „Gott, wenn Sie dad
thäten !”
Sofort erwiderte fie: „Wer mir troß meiner Ungezogenheit fein Herz zu—
wendet, ber ift ein fo guter Mann, daß ich feinen bejjern finde. Und wer mir
Verſe jchreibt wie: „„In einem Garten vor dem Thor —““
„Da war's, wo ic mein Herz verlor!” fiel er, einen neuen Reim impro-
vifirend, ein.
„Hier haben Sie meine Hand!“ Leontine bot ihm ihre Rechte.
Er ließ fie unberührt: „Ziehen Sie raſch die Kleinen Finger zurück! Denn
halte ich fie einmal, jo gebe ich fie nicht los bis an mein Ende!“
„Hier haben Sie beide Hände!”
Da ergriff ex fie: „Leontinel* Stürmiſche Küſſe bededten die eine wie
die andere.
„Artig, mein Herr!" brachte fie ihn jchnell zur Beſinnung. „Mama
fommt!”
In Wahrheit öffnete fich die Thür für Frau von Buffe, aber nicht für fie
allein; neben ihr zeigte fi) Spangenberg Vater und Hinter Beiden, Arm in
Arm, Wanda mit Mar von Hill. Der Banquier jah äußerft verftimmt aus.
„Lab uns gehen, mein Sohn!” forderte er diefen auf.
Frau don Buffe trat dem jungen Mann in nicht geringer Verlegenheit
entgegen: „Kerr Doctor, wie ſoll ich mich entichuldigen, daß ich Ihnen bittres
Unrecht gethan, und wodurd kann ich Ihnen Genugthuung geben?“
„Gnädige Frau,” verjeßte Reinhold ehrerbietig, „durch ſtrenge Aufrecht-
haltung Ihres Willens.”
Dentjche Rundfehau. 1, 10. 9
130 Deutſche Rundichau. |
„Victoria, Kamerad!“ rief der Rittmeifter, luftig den Hut ſchwenkend.
Frau von Buffe ftand wie angewurzelt: „Habe ich recht gehört?“
„Ja, liebe Mama,“ verficherte Leontine, „ich unterwerfe mid in Gehorjam
Deinem Befehl.“ Sie nahm die Bouquet? vom Tiſch und wandte fi damit
an den Banquier: „Papa Spangenberg, welches Bouquet war für Mama be-
ftimmt und welches für das garjtige Töchterchen ?“
An Stelle de3 Vaters antwortete geihwind ‚der Sohn: „Mit Erlaubniß,
für die Mama war dies bejtimmt.“ Er 309 das Effecten-Padet aus der Tajche
und präfentirte es: „Gnädige Frau, mein Papa hatte mich beauftragt, Ihnen
diefe Papiere auszuliefern, Ihr Vermögen, das er nicht länger verivalten mag,
und ich jchlechter Sohn vergaß den Zweck meiner Sendung total.“
Zum erften Mal an diefem Tage jhimmerte ein freundlicher Zug im
Antlit der Dame auf, während fie die Papiere nahm und in die Hände des
Banquiers zurüclegte: „Das wollte mein alter Freund mir anthun? Ei, ei!“
Der alte Freund führte ein Tuch über feine Augen und rief, mit Schluchzen
in der Stimme: „Ich höre nicht? — ich jehe nichts — mein Sohn — meine
einzige Tochter!” In der Meinung, LZeontinen vor fich zu haben, jchloß er die
Mutter in die Arme und küßte fie unabläjfig, bis das allgemeine Gelächter der
Umftehenden ihn feinen Irrthum innewerden ließ.
Fiterarifhe Rundſchan.
1. Urfjprung und Beginn der Revolutionskriege 1791 und 1792.
Bon Leopold von Ranke. Leipzig, Dunder u. Humblot. 1875.
„Die Aufhebung der Herrenrechte überhaupt hat die Stürme der innern Revo»
„lution hervorgerufen; zufammentwirfend mit der Aufhebung der Zehnten hat fie
„auch den größten Antheil an dem Ausbruch des allgemeinen Krieges." In diefen
Morten de8 Verfaſſers drängt fi) das Gejammtergebniß diefer Unterfuchungen zu—
fammen. Wer fi) wundern wollte, diefelben gar nicht einmal im Haupttert, jondern
in einem Gdchen der angehängten „Analekten“, in einer Kritik des Moniteurs, zu
finden (p. 339 am Ende), der würde die ganze Natur des vorliegenden Buches ver-
fennen. Augenfcheinlich hat die Abficht der Geſchichtſchreibung im künſtleriſchen
Sinne des Wortes dem berühmten Berfafjer der „Fürſten und Völker“ Hier vollkom—
men fern gelegen. Er erzählt nicht, gruppirt nicht, ſondern trägt einfach die Ergeb—
niſſe archivaliicher Studien zufammen, welche ihm geeignet erjcheinen, die verbreiteten
Urtheile über den Uriprung des Revolutionsfrieges zu ergänzen und zu berichtigen.
An wem nun die Schuld lag? Ranke würde die Frage gar nicht fo ftellen; nicht
an wem fie lag, jondern woran fie lag, tritt mit jedem neuen archivaliichen Funde
deutlicher hervor. Sie lag in der eifernen Nothwendigfeit der Dinge, und bei feinem
einzelnen Menfchen, bei feiner Gruppe von Menfchen ftand es, innerhalb der gegebe-
nen Grenzen unferer Natur, den Krieg zu vermeiden. Die Revolution hatte die
Nechte der eljäjfiichen Reichaftände verlegt. Gewiß! Aber lag es in der Möglichkeit,
daß der elfäjfifche Bauer zum Vortheil deutjcher Duodeziürften und Prälaten feudale
Zaften weiter trug, während feine Landsleute und Nachbarn freie Staatöbürger wur-
den? Die Verpflichtung einer Entichädigung in Geld ift auf franzöfifcher Seite nie
beitritten worden. Selbſt unmittelbar nach der Kriegserklärung (April 1792) fand
fie in Gondorcet’3 berühmter Rede noch ausdrüdliche Anerkennung. Auf der andern
Seite bedarf die franzöfiiche Empfindlichkeit über das Treiben der Emigranten eben-
fowenig einer Erklärung und Rechtfertigung, als der Zorn der lehtern. Aber es geht
auch unwiderleglich aus den Verhandlungen der’ deutjchen Regierungen hervor, daß
man in Berlin und jelbft in Wien erft jehr allmälig und bedingungsweife und nur
unter dem Drud eigener Gefahr mit der bewaffneten Gegenrevolution fich
einlieh. Was die Gabinete in erfter Linie bewegte, waren, wie jchon Sybel aus
führlich gezeigt Hat, ihre Macht: und Vergrößerungspläne, ihre überlieferten
Ginfluß- und Gleichgewichtsforgen. Noch im Herbſt 1791, nachdem Ludwig XVI.
die franzöſiſche Verfaffung beichworen hatte, war man in Berlin jeder Einmiſchung
abgeneigt; noch im December deffelben Jahres fanden Marie Antoinette’ Anträge
auf einen europäifchen Gongreß bei Kaunitz keineswegs günftige Aufnahme Dan
gefiel fich in Wien wie in Berlin in der Borftellung eines durch innere Wirren ge—
ſchwächten Frankreichs, dem gegenüber man ungeftört die eigenen Zwecke verfolgen
9%
132 Deutihe Rundſchau.
würde. Und biefe Zwede gehörten zunächft noch ganz und gar der alten Gabinets-
politif des achtzehnten Jahrhunderts an, die nur mit materiellen Größen rechnete und
nur materielle Zwede verfolgte. In Preußen blidte man begehrlih auf Polen;
Dejterreich glaubte den Augenblid endlich gelommen, die Hand auf Bayern zu legen.
Erjt im Frühlinge 1792 (7. Februar), ala Defterreich ernftlih und mit Grund bie
franzöfifchen Einflüffe auf die Volksſtimmung in Belgien fürchtet, als fogar die
belgijhen Klerikalen mit den Jakobinern liebäugelten, bradten
Bilchofswerder und Reuß das Bündniß zu Stande. Und auch da ftehen bei Preu-
Ben noch durchaus nicht principielle Erwägungen im Wordergrunde, am allerwenig-
jten Eifer für die Emigranten. Bielmehr dachte man, ſehr bezeichnend, Tür den
äußerften Fall an Rüderoberung des Eljaß für — Defterreih, wofür man dann
jelbjt da8 Herzogthum Berg beanfpruchen, am Niederrhein feſten Fuß fallen würde.
Und nun erft, unter dem Drud nächjter, eigner Befürchtungen und geheimer Miß-
gunft gegen die Stärkung Preußens gibt Kaunit der Sachlage jene entjcheidende,
principielle Wendung, aus welcher die Signatur der ganzen Kriegdepoche, das Met—
ternich’sche Syſtem in feinen Grundzügen prophetifch uns anfieht. Nun ftellt er dem
deutihen Eroberungsgedanken Preußens das Syſtem ber conjerva-
tiven Interejjen entgegen, den Plan des europäifchen Congrefjes zu Herftel-
lung der Zöniglichen Würde und des öffentlichen Rechts in Frankreich. Bon da ab
wächſt denn auch der Einfluß der Emigranten, Defterreich Hatte jür feine Nieder-
lande fürchten, es hatte die Gefahr des wachjenden preußifchen Einfluffes im Reiche
wahrnehmen müflen, um fich für die Sache des göttlichen Königsrechts zu erwärmen.
Und Frankreih? Nun, die unbändige Herrfchaft der Demagogen, die Rüdfichts-
Lofigfeit der jacobinifchen Principienreiter, wie Sybel fie jo fchlagend dargethan hat,
fie wird auch bier weder verſteckt noch entichuldigt. Aber ebenjo augenjcheinlich
tritt die ſchwankende, unzweckmäßige Haltung des Königs, die Unverföhnlichkeit Marie
Antoinette'3 hervor. Und bie Einen hatten genau fo viel Recht wie die Andern.
Die Natur der Dinge drängt zur Kraftprobe; Niemand kanır dagegen, und es iſt lehr-
reich, wie dann in der unklaren Lage allerdings der Zufall perjönlicher Einflüfje die
Führung nimmt. So war das berüchtigte erſte Manifeft de Herzogd von Braun-
ſchweig faum mehr als eine Gelegenheitsmaßregel, deren Tragweite die Urheber am
wenigiten ernjthaft nahmen. Kein Menſch dachte im preußiſchen Hauptquartier an
einen Marſch auf Paris, und Kaunitz, der Urheber des Ganzen, wollte überhaupt
feinen ernftlichen Angriff, jondern lediglich bewaffnete Vermittelung in confervativem
Sinne Er trat zurüd, als er die gerufenen Geifter nicht [o8 wurde. Zum Marche
in die Champagne haben fpäter erft die jchnellen Anfangserfolge gereizt. Man un-
ternahm ihn im vollen Bewußtfein ganz ungenügender, d. h. für einen ernften Kampf
ungenügender Kraft, aber in der Hoffnung, feinem ernften Widerftand zu begegnen,
und fo ging das Abenteuer denn auch Angefichts des erjten Hinberniffes in eine Ka—
taftrophe aus, die wahrlich mehr an das Intriguenſtück als an die Tragödie mahnt.
Nichts Lehrreicher, ald der Briefwechſel zwijchen Dumouriez und Mannftein, ald der
Bericht Luccheſini's an das Minifterium, den der Anhang mittheilt. Dumouriez ift
ganz Liebenswirdigfeit und Sympathie für „den König, der in Frankreich jo geliebt
und geichäßt ift,‘ und „Tür die brave preußifche Nation“, die natürliche Bundesge—
noffin der Franzoſen. Mit fiherm Inſtinct jchlägt er von vorn herein die Richtung
jener Politik ein, welche, auf Trennung der deutſchen Großmächte berechnet, erjt nach
Bafel, dann nach Aufterlig und Jena führte. Auf preußiicher Seite wiegte man
ſich indeffen in der Hoffnung, ben General für die königliche Sache zu gewinnen.
Als man dann merkte, wie jehr man fich geirrt habe, rafft Luccheſini zu der wirklich
charakteriftiichen Kundgebung des Manifejtes vom 26. September 1792 ſich auf.
Dafielbe bezeichnet „die Freiheit, Sicherheit, Würde des Königs” ala Zweck des Feld—
zugs, bedroht die Widerjtrebenden mit gerechter und außerordentlicher Rache, und
dazu bemerkt der biedere Diplomat feinem Minifterium (29. September 1792): „Die
angewandten Ausdrüde werden uns alle Freiheit laffen, ihren Sinn fowol auf eine
Literarifche Rundſchau. 133
glüdliche Zukunft ala auf einen Zuftand unvollftändiger Erfolge anzuwenden" —
und gleichzeitig war man fchon zum Rüdzuge entſchloſſen, „wegen der borgerüdten
Jahreszeit, der fchlechten Wege, der Strapazen der Truppen, der Srankheiten, der
Entfernung der Magazine, des Mangels an futter, des fchlechten Zuftandes der
Pferde.“ Solchen Gegnern gegenüber hatte Dumouriez denn freilich keine Mühe,
den Helden zu fpielen. Drohungen ohne Entſchluß, Principien im Munde und im
Herzen die Heinlichiten, eigennüßigften Ränfe, jo unternahm das alte Europa mit
ungenügenden Mitteln und halbem Herzen den Kampf gegen die Revolution, die einen
Jeden am eignen Heerd bedrohte. Die von Ranke mitgetheilte Correfpondenz zwi⸗
ſchen Reuß (öfterreihifchem Gelandten in Berlin) und Kaunitz, die Inftructionen Bir
fchofswerders, des preußischen Unterhändlers in Wien, deffen Berichte an feine Mini-
fter find in diefer Beziehung das Lehrreichite, was man lejen kann, fowie fie denn,
ganz ehrlich geitanden, wol auch dad Anregendite im vorliegenden Buche find. —
— N
2. Zeiten, Völker und Menſchen von Karl Hillebrand. Zweiter
Band. Wälfches und Deutfches. Berlin, Robert Oppenheim. 1875.
Er habe Wiederholungen und Widerfprüche aus diefer Sammlung literarifcher
Feuilletons und Eſſays abfichtlih nicht fortgeichafft, erflärt der Verfafler in der
Vorrede (p. XI): denn es kam ihm weniger darauf an, feine Gonfequenz zu zeigen,
ala den jedesmaligen Gegenftand fo vollftändig als möglich zu behandeln, und „über
dies wollen folche Arbeiten auch gelefen jein, wie fie entitanden, nämlich
tüdweije“ Sie wollen es. Haben fie aber auch noch ein Recht darauf,
wenn fie in Buchform ericheinen? Und darf der Berfafler dieſes Buchs für etwaige
Ginfeitigleiten, Uebertreibungen, Widerfprüche auf das zweideutige Beneficium halb
aufmerfender, bald vergefjender Leſer rechnen, deflen der Tagesichriftfteller fich aller
dings (leider!) getröften darf, und fchriebe er auch für die Ausgsburger Allgemeine
oder — für die Deutſche Rundihau? Wir find nicht der Meinung und jagen das
unferm verehrten Mitarbeiter mit der Aufrichtigkeit, die wir feinem Talent und jei-
nem Charakter jchuldig find.
Das ſoll nun nicht jo verftanden werden, ala ob diefer Sammlung von Schil-
derungen, Urtheilen, Betrachtungen die geiftige Ginheit fehlte. So verfchieden die
„Zeiten, Länder, Menſchen“ find, von denen uns Hillebrand hier unterhält (Ita—
liener, von Petrarca bis Garducci und Guerreri, franzöfiiche Zeitgenoflen, deutſches
„zünftiges und unzünftiges“ Schriftthum des neungehnten Jahrhunderts), jo deutlich
laſſen fich gleichwol gewiffe Grundanjchauungen und Stimmungen durch die ganze
bunte Bilderreihe verfolgen. Hillebrand ift vor Allem ein ächter und überzeugter
Ariftotrat des Geiftes: er pactirt fo leicht nicht (dürften wir doch „niemals“
fagen!) mit der anmaßenden Mittelmäßigkeit; obwol warm fühlender deuticher Patriot,
wahrt er fich doch in jeltenem Maße den unbefangenen Blid des Weltbürgerd; mit wohl»
thuender Begeifterung pflegt er die Grinnerungen unferer großen Literaturepoche,
deren Familienzüge er jo marfig ala treffend zeichnet: „auf das Höchite gerichtet, un«
empfänglich gegen die Aermlichkeit des materiellen Daseins, nachfichtig gegen menich-
lie Schwäche, begeiftert für menschliche Größe, überzeugt ohne Intoleranz oder
Parteigeift, fühn ohne Frechheit, unbewuht des eigenen Werth." (Im Auffahe über
Barnhagen und Rahel p. 446.) Wol ift ihm bewußt, was wir jeitdem gewonnen
haben: wiflenjchaftliche, zuverläffige Methoden, eine fefte, felten verlehte Orbmung
der Ehe und familie, Mare Begriffe über Religion, ein mächtiges Staatsgefühl.
Aber es fehlt nicht viel, dab ihm das Alles zu theuer erfauft fchiene, wenn bie
Entwidelung der freien, ideal ftrebenden Perfönlichkeit darunter zu leiden hätte. So
find denn auch feine literarifchen Sympathien mehr bei den genialen, wenn auch
baroden und einfeitigen Dentern, den feinen, immerhin ercentriichen und wiber-
fpruchsvollen Künftlernaturen, jelbft bei den „Ichönen Seelen“ und „Anempfindern“,
als bei den matter-of-fact-men der Gegenwart, oder gar den Doctrinärs ber lleber-
134 Deutiche Rundſchau.
gangzzeit. Die Leteren werden einer fummarifchen und — barbarifchen Execution
unterworfen in einem ihrer Hauptvertreter, Gervinus, „dem Schriftjteller ohne Styl,
„dem Gelehrten ohne Methode, dem Denker ohne Tiefe, dem Politiker ohne Vor—
„außficht, dem Menjchen ohne Zauber und Macht der Perfönlichkeit, der e8 dabei im
„Srößenwahnfinn den erften Specialitäten der Gattung, den Lamartine und Victor
„Hugo, den Schopenhauer und Wagner zuvorthat.“ Nur ein Lafter kennen die „Atta
Trolls“, an deren Spitze er einherzog. „Es ift ihnen Alles zu fein erlaubt, eitel,
hochmüthig, hart, neidiich, heftig, herrſchſüchtig, heuchleriſch, jelbftfüchtig — jo lange
fie nur ernfthaft find, ihren Schneider bezahlen und feinem Mädchen in die Wange
tneifen (wenigſtens nicht Öffentlich),“ und — ſetzen wir Hinzu — den Parteikatechismus
hübſch regelmäßig herbeten. Daß die methodenftolze Zunftgelehrfamkeit der Gegenwart
nicht beſſer behandelt wird, als die doctrinäre Rhetorik der vierziger Jahre, verfteht
fih von jelbft. Ein eifriger Berehrer der guten Form, auch auf wiſſenſchaftlichem
Gebiete (er hat jeine Zeit unter den „Wälfchen“ nicht verloren), wird Hillebrand
nicht müde, unſern Gelehrten die claffifchen englifchen und franzöfifchen Mufter
eleganter und beredter Grünbdlichkeit vorzuhalten: jein Patriotismus ift eben auf
Fortjchritt, auf Verbrüderung aller Wohlmeinenden und Begabten gerichtet, nicht auf
dünkelhaftes Einhüllen in den eigenen Werth und die eigenen — Lieblingsfehler.
Und das Alles ftrömt jo warm, jo überzeugt auß feinem beredten Munde, daß man
nichts Lieber thäte, ala mit ihm zu Lieben, zu haſſen, zu jchwärmen, wenn — nun,
wenn Er (oder auch nur jeine Manier?) nicht dafür geforgt hätte, daß man fich
bald begnügt, nur mit ihm zu denfen: und zwar mit mißtrauifcher Vorficht. Iſt
es das verhängnißvolle Formgeſetz der von ihm -cultivirten literarifchen Gattung,
oder liegt es in feinem Charakter: der trefflihe Mann entwicelt doch eine bedent-
liche Vorliebe für dietatoriiche Superlative, für verblüffende Paradorien, für jcharf
aufgejehte, blendende Lichter. Nur zu oft hat der aufmerkſame Leſer Gelegenheit,
fich jenes, etwas naiven Bekenntniſſes der Vorrede zu erinnern, So ift die Rejtau-
rationgepoche für Hillebrand, je nach Bedürfniß, eine paradiefifche Poetenzeit, heiter,
tolerant, fleptifch, „ein blühender Egmont,“ oder auch eine Zeit der bureaufra=
tiſchen Pedanterie, der patriarchalifchen Willkür, der moraliſchen Stidluft, über welche die
Aulirevolution wie ein reinigendes® Gewitter, die Geifter aufrüttelnd, daher fahren
mußte. Wenn des Berfafjerd Zorn gegen unſere unclaffiiche Zeit entbrennt, jo muß
die „Schmaroßerliteratur” abgejchafft werden, d. h. Aeſthetik, Kunſt- und Literatur-
gefchichte (auch die von Hillebrand?), — ferner das Ueberſetzerhandwerk: denn von
Rechtswegen ift jeder wirklich Gebildete die fünf Hauptiprachen zu leſen verpflichtet,
und die Andern zählen nicht mit. Doch laſſen wir das. In der Hibe des Gefechts fällt
wol einmal ein Hieb daneben. Nur das Völkerrecht (auch das äfthetifche) darf dabei
nicht unter die Füße gerathen. Man darf (wenigjtens nach unferm Gefühl), nicht fo
beiläufig einen gewiffen David Strauß wegen — feines jchlechten Styls ohrfeigen und
feine äfthetiichen Ausführungen (im letzten Abjchnitte des „Neuen Glaubens”) jchlant-
weg, ohne Beweis, ald eine Blumenlejfe von breitgetretenen Gemeinpläßen und „ranzig
getwordenen‘ (sic!) Urtheilen bezeichnen, wie feine unferer dreihundert Literaturgeichichten
fie enthalte! Und das — während man rau Ludmilla Affing-Grimelli ala mufterhaft
forgfältige, gewiflenhafte und talentvolle Herausgeberin feiert, bie nur zuweilen
an übertriebener Bejheidenheit leide (die wird fich wundern!); während
man (p. 394) gar für die ächte und tiefe Religiofität, die natürliche Würde und
Vornehmheit, ja die hohe und freie Weltanfchauung einer Ida Hahn-Hahn eine
ritterliche Lanze einlegt. Und damit diefen herrlichen, jungdeutjchen Jdealen auch die
wirkſame Folie nicht mangele, werden dann gleichzeitig die ſämmtlichen zeitgendffi-
ſchen Schriftjtellerinnen als prätentiöje, nüchterne, poefielofe, bürgerlich” gemeinpläß-
liche Blauftrümpfe Literarifch geächtet. Nicht einmal für Fräulein Louife von
François, deren „legte Redenburgerin" Hillebrand doch an anderer Stelle
„als den beften feit fünfundzwanzig Jahren erfhienenen deut-
Ihen Roman“ feiert, wird bier eine Ausnahme gemacht. Es ift eben FFeuilleton-
Literariſche Rundſchau. 135
ſtyl, der auf koſtende und blätternde, nicht auf „leſende“ Leſer rechnet. Und doch,
wie ſchade! Wie viele treffliche, feine Bemerkungen, wie viele brave, tüchtige, le—
benskräftige Gedanken werden durch dieſe blitzenden und blendenden Superlative in
ihrer reinen, vollen Wirkung geſtört! Das vor uns liegende Sündenregiſter würde
Seiten füllen. Es iſt ja wahr, das reizt, prickelt im Feuilleton einer Zeitung; aber
einem Manne wie Karl Hillebrand ſollte dieſe wegwerfende, auftrumpfende, Alles an
die augenblidliche Wirkung jegende Manier doch nicht gut genug fein. Er hat's
ja nicht nöthig! Und dann, wenn ſich auch Manche verblüffen lafjen, jo thun's doch
nicht Alle! Weitaus den Vorzug geben wir vor den hier gebotenen deutjchen Eſſays
den italienischen, und ganz beſonders den franzöfiichen. Da ift Hillebrand ebenjo
gerecht, mäßig, liebenswürdig, als gegen die zeitgenöffifchen Landsleute nur zu oft
abiprechend, Hart und unbillig.
— —
3. Die deutſche Literatur 1770—1870. — Beiträge zu ihrer Geſchichte
mit Benußung handichriftlicher Quellen von Eduard Grijebad. Wien,
8. Rosner. 1875.
Ein Seitenftüd zu K. Hillebrand’3 oben befprochenem Werke: in Bezug auf
Entjtehungsweife, Tonart, Vorzüge und — jehr bedenkliche Eigenheiten! Wie Hille-
brand Hat Grifebach Gelegenheitsarbeiten in einem Bande vereinigt; aber anfpruchs-
voller und weniger aufrichtig möchte er den zufällig zufammen gerathenen Studien
den Schein eines bedeutungsvollen Ganzen verjchaffen. In ficherem, jagen wir fedem
Auftreten, in Verwerthung von verblüffenden Paradorien thut er es dem literar-
hiſtoriſchen Berächter und Verurtheiler der Literaturgefchichte wo möglich zuvor;
aber nicht minder entjchädigt er den vorfichtigen, jfeptijchen Lejer durch
frifche, eigenartige Auffafjung und einen markigen, charaktervollen Styl. Man mag
fich wundern, ungläubig den Kopf jchütteln: auf alle Fälle lieft man weiter, zu Ende,
fobald man einmal das Büchlein auffchlug. Das ift Etwas, oder jagen wir, das ift
Viel; aber es nöthigt auch, dem Dinge etwas jchärfer auf den Leib zu rüden, als es
fonft unsre Art ift.
Zunächſt der Plan. Die Einleitung beginnt mit ein paar halbverfchämten Ge-
ftändniffen über „jubjective Anfichten”, über „theil® zu weitläufige, theils zu kurze
Behandlung”, veripriht dann aber doch zulegt ganz unbefangen „eine vollftändige
Weberficht über das, was die deutjche Literatur der legten Hundert Jahre
ausmacht“! Dann folgen, durchzogen und umrahmt von mehr oder weniger pifanten
Gedanten-Arabesten, die Literargeichichtlichen Silhouetten von — Lichtenberg, Herder,
Bürger, Blumauer (!), Clemens Brentano und Heinrich Heine. Man reibt fich die
Augen! Alſo, was die Literatur der leten Hundert Jahre ausmacht, ohne Kant,
Leifing, Goethe, Schiller? Doch nicht ganz. Kant wird als Schöpfer und Chor-
führer begrüßt; aber er ift fein Nationalichriftteller; jo muß ihn denn — etwa
Schiller? nicht doch! — Lichtenberg vertreten. Goethe hat Herder's Programm
ausgeführt umd empfängt gelegentlich feine Kniebeugung; was aber die „vielfach
überſchätzten“ Leffing und Schiller anbetrifft, jo müfjen fie fich jchon mit einem ge=
legentlichen mitleidigen Verweis begnügen, etwa im Styl der bekannten Schlegel’jchen
Urtheile über die „Slode“. Wir erfahren, daß Leffing’3 Dramaturgie von Herder
längſt „todtgeichlagen war”, als Schiller nach den Zügen diejes Leichnams und nach
Kantiſchem Schematismus feine Aeſthetik formte, Wir werden ferner belehrt, daß
von einem nationalen deutfchen Drama bis jetzt nicht die Nede jein kann, troß
Minna von Barnhelm, Emilia Galotti, Nathan, Carlos, Wallenftein, Tell, denn —
„das Drama ftellt nur am Baume eine® mächtigen, fiegreichen Staates ala goldene
Frucht fich ein“. Höchitens hätten wir einige Vorläufer zu verzeichnen, wie Kleift,
Grabbe und — einen gewiſſen Grafen Beltheim, der fich leider am 5. April 1854,
noch nicht ganz 36 Jahre alt, in feinem Park zu Harble bei Braunschweig erſchoß.
Wenn dann auch Schiller'3 und Uhland's Balladen einfach zu den Zodten geworfen
136 Deutſche Rundſchau.
werden, jo dürfen ſich natürlich die Dichter des Hainbundes, „denen man unbegreif-
licher Weife eine Bedeutung für unjere Literatur beigelegt bat,“ über einen gelegent-
lichen romantifchen Fußtritt nicht weiter beflagen. Auch die begeifterte Bevorzugung
Herder's, Bürger's, Brentano’8 dürfte verftändlich werden. Nur vor einer frage
bleiben wir ftehen: wie in aller Welt kommt Lichtenberg in dieje Gejelljchaft?
Lichtenberg — der ffeptifche, Tcharffinnige, nüchterne Beobachter, der Mann des
treffenden jchneidigen Wites, der „deutſche Larochefoucauld“, dem nicht nur die
Dichter des Hainbundes „unaugftehliche Pinfel* waren (ganz bejonderd Voß, der
Schöpfer des deutjchen Homer, der Louife, des fiebzigften Geburtstag, der Dichter,
ohne den wir auch „Hermann umd Dorothea“ nicht hätten), fondern der um 1780,
Angefichts der Minna, der Emilia, des Göß, über „den gänzlichen Verfall der
deutjchen Schaufpielfunft und Literatur” jammert, dem um biefelbe Zeit Goethe noch
ein „Gras freffender Böotier” ijt, dem Goethe's Werke erft 1795 (freilich in einem
Briefe an den Autor) „zum Gedankenfeſt“ werden? Und Blumauer, der jpaßhaite,
cyniſche Erjefuit, der Nüchternfte unter den Nüchternen, der „poetiſche“ Dolmeticher des
jojephinifchen Nationalismus! Iſt Lichtenberg, der zwiſchen moniftifchem Spinozismus
und abergläubigen Anwandlungen jchwanfende Yragmentift, wirklich der Vertreter
Kant’3 in unferer NRationalliteratur?
Sch denfe, wir fommen der ratio dispositionis wol näher, wenn wir uns ein-
fach erinnern, daß Grifebach feinen Lichtenberg für die Brodhaus’schen „Lichtftrahlen“
(1871), feinen Blumauer für die Brodhaus’fche „Bibliothek der Nationalliteratur” be—
arbeitete, und wenn wir annehmen, daß er die einmal gejchriebenen Einleitungen in zeit=
gemäßer Weife nochmals verwerthen wollte. Das ift ja an und für fich feine Sünde.
Aber warum denn diefen einfachen Sachverhalt auf Koften Leſſing's und Schiller's
in die weiten falten einer paradoren Theorie hüllen? Lichtenberg und Blumauer
bleiben darum doch Epifoden (eine intereffante und eine zweideutige) unſerer Geiftes-
arbeit; Leffing und Schiller, troß aller „genialen“ Nafenftüber und giftigen Seiten-
blide, bleiben doch die feften, unerfchütterlichen Grundfäulen des gebildeten deutfchen
Bemwußtjeind. Ich rede von „Bewußtſein“, wolgemerkt, nicht von Stimmungen, von
unbewußten, dunfeln Gewalten. Gewiß find ja auch diefe vollberechtigt im Leben
der Völker wie der Einzelnen: denn died bedarf nicht nur ber fejten Form und fichern
Führung, fondern auch der Wärme, der Farbe; und innerhalb der menjchlichen Un-
volltommenheit wird die Entfaltung der Gulturblüthe weit öfter durch das Mechiel-
fpiel fämpfender Einfeitigkeiten al durch eine harmonische Gefammtwirkung gefördert.
Es müflen Jahrhunderte vergehen, ehe die Natur einen ganzen Menfchen mit der
gefeiten Waffe des Genius umgürtet; gravitirt doch felbft Goethe, unfer vollendetſter
Typus, ein wenig nach dem „Unbewußten”“, dem „ewig Weiblichen“ hin. So ift
es ja denn ganz natürlih, daß die Polarität der Schaffenden ſich auch in den
Eympathien, Antipathien, Urtheilen der Genießenden und Prüfenden außdrüdt. Mag
der Eine die „Poeſie“ da fuchen, wo aus dem bewußten Kampfe mit dem Gemeinen
fich die Ideale erheben; mag der Andere in den aufregenden Stimmungswechjeln des
zwifchen Sehnjucht, Genuß und — Buße fich verzehrenden Lebens ihre Geheimniffe
belaufchen : das war immer fo und wird jo bleiben. Der Mondjchein Hat feine
Poeſie, aber auch der thaufrische Morgen, die Hagende Oboe wie die fjchmetternde
Trompete. So gönnen wir denn dem Verfaſſer Herzlich gern feine Freude an Bürger’fchen,
finnlich-überfinnlichen Gefühlsergüffen, an Herder's Offenbarungen aus dem Geheime
leben der Volksſeele, an Brentano’3 ftimmungsvollen, naiv-koketten Anwandlungen,
vollends an Heine's Föftlichen Romanzen. Ja, wir find von Herzen geneigt, einen
guten Theil dieſes Glaubensbekenntniſſes zu unterjchreiben. Wahrlih, nicht wir
werden zu den „Nazarenern” gehören, die dem Dichter für jeden bejungenen oder
empfangenen Kuß gleich den Traufchein abfordern; und was die herzliche poetijche
Andacht bei einem ächten Vollsliede anbetrifft, jo gehört die wol auch nicht zu dem
beionderen Gnadenwirkungen der allerneuejten Romantit. Aber Eine® möchte doch
zu verbitten erlaubt fein: nämlich, daß man rein jubjective Stimmungsbetenntniffe
Literarifche Rundſchau. 137
friſchweg wie unbezweifelbare Ariome und Thatfachen verausgabt, noch dazu mit
verächtlichen Seitenbliden auf die in Kampf und Sturm bewährten Führer des
deutfchen Geiftes. Das irrt manchen Schwachen, und da wird dann fcharfer Wider-
Ipruch Pflicht. Mag Griſebach die „Poeſie“ ala Tochter des Sinnenraufches und der
Zerknirſchung verehren, mag ihm in der „Buße“ das Geheimniß aller ethifchen
Schönheit liegen (wobei denn freilich Frau dv. KHrüdener und Ida Hahn-Hahn viel
poetifcher werden als z. B. Macbeth); mag er fich an dem Lüderlichen Romantiter erbauen,
dem fich am lebten Ende das Welträthfel in den Delirien einer Hyfterifchen Nonne
enthüllt: das ift Geſchmacksſache. Auch der Verſuch, unferem olympifchen Altmeifter
die fpätgeborenen, froftigen Schlußdecorationen des Fauft ala VBeichtzettel in Rechnung
zu ftellen, ift wenigftens nicht neu. Aber auf Schiller’8 und Leſſing's Unkoſten follte
man ſolche Liebhabereien im neuen deutichen Reich doch nicht cultiviren, biß zur un—
barmherzigen Verurtheilung des rheiniichen, unter Napoleon’3 Herrichaft geborenen
und erzogenen Juden Heinrich Heine, bis zur Verberrlihung W. Menzel’, des Ober-
denuncianten. Heine hatte feine politifche und fpeciell feine national»politifche Aber; fein
deutſches Selbftgefühl war ganz umd gar jubjectiver, weiblicher Natur. Sein „Deutjch-
land“ war das deutiche Heimathhaus, die deutiche Jugendliebe, der deutiche Wald,
die deutiche Wiſſenſchaft, vor Allem das deutjche Lied. Den bdeutichen Staat kannte,
ben preußifchen liebte er nicht. Aber find denn die Reben zu verbrennen, weil fie
blos Wein geben und nicht auch das Brod dazu? Ne quid nimis! Danken wir
doch Gott, daß wir vier „jolche Leute haben“ wie Leffing, Goethe, Schiller, Heine!
Im deutichen Dichterwalde ift Iuftiger Plab für viele Gäfte. Auch Herr Griſebach
it willlommen zu allerlei Zwieſprach; aber unsere alten Herren foll er, wenn's ja
fein muß, mit Gründen umd nicht mit lofen Reden angreifen. Wie das deutſche
Boll zu Schiller fteht, Hat man 1859 gefehen. Mögen e8 die neuromantifchen Kraft⸗
enies, nationale wie antinationale, doch bei Gelegenheit einmal mit einem von
ihren „Luftigen Muſikanten“ verfuchen !
—
4. Deutſchland im achtzehnten Jahrhundert. Von Dr. Karl
Biedermann. II. Band. Geiſtige, ſittliche und geſellige Zuſtände.
Zweiter Theil. Zweite Abtheilung. Leipzig, J. J. Weber. 1875.
Gegen die beiden oben angezeigten literarhiſtoriſchen Sammlungen bildet dies
Bert einen Gegenſatz, der nicht jchärfer gedacht werden kann. Es liegt das zum
Theil jchon in der Natur des Plans und der Aufgabe; denn eine zufammenhängende,
ausführliche Darftellung hat mit anderen Verhältnifien zu rechnen, als der auf ſchnelle,
intenfive Wirkung in engen Grenzen angewielene Efjay. Aber auch des Verfafſers
verfönliche, eigenfte Art hat daran ihren Antheil. Biedermann ift befanntlich nie der
Mann der glänzenden Ueberrafchungen geweien. Er jpielt fich nie auf, erlaubt fich nie
äfthetifche oder ethiſche Machtgebote mit einem nervenerfchütternden quos ego dahinter,
fucht feiner Anerkennung nicht durch die Folie paradoren, wegwerienden Tadels
Werth zu geben. Und wenn jo von neufranzöfiichem Einfluffe im bedenflichen Sinne
nichts bei ihm zu fpüren ift, jo zeigt er fich frangöfiicher Art, immerhin unwillkür—
lich, auch da unzugänglich, wo fie ihre Verdienfte hat. Er rechnet nach alter deuticher
Gelehrtenweife auf ein entgegenfommendes, ernſtes und ausdauerndes Intereſſe des
Leſers, und ohne gerade formlos und unſchön zu werden, läßt er fich über der künft-
leriichen Geftaltung des Gedanfens doch auch Feine grauen Haare wachen. So
t fich feine Darftellung, bier wie überall, auf der ebenen, ſanft anfteigenden
oder fallenden Bahn eines guten, geordneten Vortrages, wie eine bequeme Land-
kutſche durch eine wohlangebaute, anziehende, aber nirgends überrafchende, ergreifende
Gegend. Der erite Band des Werkes, ſchon 1854 erfchienen, umfaßte die politifchen,
tehtlichen, wirthichaftlichen, materiell-focialen Verhältniffe Deutichlands im acht
zehnten Jahrhundert. Der Darlegung des geiftigen, fittlichen, gefelligen Lebens nach
allen Richtungen Hin ift diefer zweite Band gewidmet. Er führte diefelbe im erften
138 Deutiche Rundichau,
Theile biß 1740; in der erſten Abtheilung des zweiten Theiles handelt e8 ſich um
die „Periode der Empfindfamkeit in ber Literatur und im Leben“, um Gellert, Gleim,
Klopftod, und um deren Umſchlag in epifuräifchen Weltfinn, der fich (theoretifch)
in Wieland verkörpert. Die Hier vorliegende zweite Abtheilung beichäftigt
fi mit der „Neubelebung der deutjchen Literatur durch Friedrich den Großen und
feine Thaten“, mit Leifing, ala dem Vertreter der dadurch erwedten realiftiichen
Poejie, und mit dem erjten Ausbruche des dann erft in voller Kraft fich ential-
tenden individuellen Gefühlslebens in der Sturm- und Drangperiode, mit Herder
und mit Goethe's Jugend. Daß von einer bloßen Literaturgejchichte hier nicht die
Rede ift, ergibt ſich ſchon aus diefem Plane. Biedermann ift überall in der ſorg—
fältigften, umfichtigften Weije bemüht, die Zufammenhänge der Geiftesarbeit mit der
Welt der materiellen Thatjachen zu entdefen und zur Geltung zu bringen: und
wenn fich dabei manche Lücke zeigt, wenn manche aufgejtellte formel von zweifel-
hafter Allgemeingültigkeit fein möchte, jo nimmt das der überall von gejundem
Sinne und redlichjtem Fleiße getragenen Forjchung durchaus nicht ihren Werth. Es
darf ja ohnehin kaum ausdrüdlich betont werden, wie bedenklich es ift, irgend eine
organiiche Entwidelung, und vollends die des deutichen Geiftes im achtzjehnten Jahr-
hundert mit feften Formeln ausmeſſen zu wollen. Bielleiht nie war das rein
perfönliche, jeelifche Leben weniger abhängig von den greifbaren Einflüffen des
Staates und der Gejellichaft, ala in jemen- merkwürdigen Jahrzehnten, welche die
Wunderblume der deutjchen Dichtung aus den Trümmern des verfallenden Reiches
hervorwachſen ließen. Nichts von jener mächtigen nationalen Strömung, die jebt
auch den Widerftrebenden ergreift und Stellung zu nehmen zwingt; feine beein-
fluffende Hauptitadt, feine Theilnahme der Privaten am Staat; die religiöfen Kämpfe
der Vergangenheit eingejargt in die erjtarrten, aber harmlojen Formen einer Terri—
torialfirche, neben denen der Einzelne ziemlich unbehelligt feinen Weg ging; dabei,
nad langem Kriegselend und Verfall, von 1763 an ein langjähriger Friede und,
wenn auch jehr bejcheidene, Anfänge behaglichen Lebend. Mußte unter ſolchen Ver—
hältniffen in einem hochbegabten, ferngefunden Volke nicht das feelifche und geiftige
Einzelleben zu feiner höchiten, freieften Entwidelung fommen? zumal, wenn aus
der weftlichen Gulturwelt gleichzeitig gerade auf dieſes Gebiet mächtigfte Anregungen
berüber wirkten. Aber nicht in Mafjenbewegungen, jondern unter dem fortwäh-
renden Einfluffe zahllofer, fich vielfach kreuzender, meift individueller, nur bier
und da in Gruppen zufammentretender Kräfte vollzog fich der Fortſchritt, und möchte
e8 darum auch ziemlich müßig fein, darüber zu ftreiten, ob die Geniezeit eine Reac-
tion gegen die Aufklärung oder deren Fortführung war. In jedem gefunden neuen
Lebenstriebe fteden ja mit Nothiwendigkeit beide Momente. Zum aufrichtigen Dank
aber verpflichtet jede liebevolle, dem Ginzelnen ohne Vorurtheil gerecht werdende For-
Ihung auf diefem für unſere Theilnahme immer neuen Gebiete. Und als eine
folche, nicht zu flüchtiger Lectüre, nicht als Anleitung zu geiftreichem Abiprechen,
ſondern zu ruhiger, redlicher, nachdenklicher Betrachtung empfiehlt ſich Biedermann’s
Merk neben Hettner's trefflicher Arbeit.
5. 2a Mettrie. Rede in der öffentlichen Sitzung der Königl. Preuß. Ala-
demie der Wiffenfchaften zur Gedächtnißfeier Friedrich’3 II. Am 25. Januar
1875 gehalten von Emil du Boiß-Reymond, beftändigem Secretär.
Berlin, Auguft Hirſchwald. 1875.
6. Der Menſch eine Maſchine von de la Mettrie. MUeberjeßt, er-
läutert und mit einer Einleitung über den Materialiamus verjehen von
Dr. Adolf Ritter, Königl. Preuß. Sanitätsrath zu Berlin. Leipzig,
Erih Koſchny. 1875.
Du Boiß-Reymond hat den Gedäcdhtniktag Friedrich's des Großen mit einer
„Rettung“ gefeiert, einer Rettung des Mannes, welchen Friedrich durch einc felbft-
Literarifche Rundſchau. 139
verfaßte Lobjchrift ehrte, den Mit- und Nachtvelt deffen ungeachtet nicht müde ge-
worden find, als den Schandfle der Tafelrunde von Sansſouci zu bezeichnen. La
Mettrie! der freche, herzloſe Spötter, der ruchlofe Gotteßleugner, der cynifche, in
jeinen Sünden verfommene Genußmenſch! Denn mit befanntem „ibealiftifchem Tact“
haben die frommen und gelehrten Berurtheiler nicht ermangelt, des Mannes frühen
Zod (er Hatte fi) muthmaßlich bei Lord Tyrconell an einer Fafanenpafjtete den
Magen verdorben) als Gottesurtheil gegen jeinen Charakter auszubeuten. Nun hat
Du Bois-Reymond (daß war von feinem guten Gefchmad zu erwarten) das heiß-
blütige, übermüthige Enfant perdu der franzöfiichen Aufllärungs-Armee auch zu
feinem Tugendmuſter gemacht. Es ſteckt nichts vom Kantianer in dem ächt keltiſchen
Landsmanne Chäteaubriand’3 (La Mtettrie war in St. Malo am 25. December 1709 ge=
boren). Nur bis zu feinem jechzehnten Jahre hielten feine janfeniftifchen Lehrer ihn
in ihrer ftrengen, theologischen Zucht. Dann ging er ihnen davon, wie Voltaire
jeinen lieben Jeſuiten, unter dem Doppeldrud der aufftrebenden realiftiichen Zeitbe—
wegung und des heißen Blutes. Der erfte naturwiffenschaftliche Unterricht im Gollöge
Harcourt zu Paris beftimmte für immer feine Richtung. Er wird Arzt, Boerhave’s
begeifterter Schüler. In begünftigter Stellung, ala Stab3arzt der Gardes frangaises,
fieht er die großen Schaupläße der Zeitereigniffe, die Schlachtfelder von Dettingen
(1743), Freiburg (1744), Fontenoy (1745). An den Symptomen des Fiebers, das
er im Xazareth vor Freiburg überjteht, entwidelt fich ihm die Ueberzeugung von der
Einheit des Menjchen, und mit einer Kedheit, die inmitten der heutigen moni«
ſtiſchen Literatur freilich wie fchüchterne Bejcheidenheit ausſieht, gibt er ihr
Ausdruf in der „Histoire naturelle de l’äme*. Damit hat ihn denn der Strom
der Bewegung ergriffen, und mit einem fedem „Vogue la Galère“ überläßt er ihm fein
leichtes Lebensſchiffchen. Die Parifer Facultät begegnet dem wiffenfchaftlichen Keber in
herkömmlicher Weife; fie denuneirt ihn und treibt ihn vom Amte, d. 5. man degra-
dirt ihn vom Garde-Stabsarzt zum Ober-Lazareth-Inipector für Lille, Gent, Brüffel,
Antwerpen, Worms. Er antwortet mit Pamphleten im Styl des Malade imaginaire.
Seine „Politique du medeein de Macchiavel*, feine „Facult& vengee*, fein „Oeuvre
de P6nelope“ werden vom Henker verbrannt. Defto beffer. So wirft er alle Rüd-
fihten Hinter fich und jchreibt als Flüchtling in Holland „I’Homme machine‘,
das Buch, welches ihm die Gunft eines philofophifchen Königs einträgt und feinen
Namen für ein Jahrhundert an den Pranger der Sittengeſchichte heftet. Wunbder-
licher Weife! Denn wo bliebe da wol der Plab, an der königlichen Tafelrunde wie
am Pranger, wenn man heute alle Aerzte einlüde, bie Leib und Seele für ein uns
trennbares Ganzes halten, alle Denker, welche Belohnung und Beftrafung außerhalb
des natürlichen Zufammenhanges von Urfache und Wirkung für ein Unding erklären!
Und was la Mettrie'3 Leben und Sitten angeht, jo war das Schlimmfte an ihnen
feine Unfähigkeit, einen Wit zu verhalten. Hatte er fich doch micht gejcheut, den
ehrwürdigen, rechtgläubigen Haller, den er nie gefannt noch gejehen, in der Wid—
mung des „Homme machine“ ala freund und Gefinnimgsgenofjen zu grüßen, jpäter
gar, ala der ernjthafte Herr ärgerlich wurde, ihn als „Studiengenofjen“ und „Jugend⸗
freund” ſehr defpectirlich zu neden! Friedrich nahm das nicht übel, denn er lachte
gern auf Anderer Koften und wußte fich im Nothiall kurzer Hand gegen übermüthige
Zungen zu helfen; dejto unwilliger ertrugen natürlich die Berliner Fachgenoſſen den
begünftigten ausländifchen. Spötter, und jo wurde denn der geiftreiche, fleißige
Fachgenoffe, der witige, lachluftige, auch wol ungezogene Lebemann für fie und durch
fie zum moralifchen Auswurf: und es ift danach doppelt erfreulich, daß jeht nicht
ein heißblütiger Vertreter, jondern ein befonnener, gemäßigter und überlegener Gegner des
abiprechenden Materialiamus die jpäte Gerechtigkeit übt. — Für manche, den Quellen
ferner ſtehende Leſer wird denn auch gerade jeht die Ritter'ſche deutiche Ausgabe
des „Homme machine“ (in der Kirchmann’schen philofophifchen Bibliothek) bequem
und erwünfcht fommen. freilich ift fie, was Sorgfalt der Arbeit und gute Form
angeht, mit du Boiß-Reymond’3 bekannter, claffifcher Art nicht zu vergleichen. Die
140 Deutiche Rundſchau.
Einleitung ift dürftig, die Meberjegung nur mäßig gewandt. Was bedeutet 3. B.:
„Der Melancholiiche allein ift niedergedrüdt und der Mann des Studiums ift hierzu
nicht mehr geeignet” ? Und warum ift La Mettrie's Verhältniß zu Haller mit feiner
Sylbe erflärt? Der Ueberſetzer Hat die Widmung doch nicht etwa gar für Ernſt
genommen ? Friedrich Kreyſſig.
—
Ein Statiftifer und Philoſoph.“)
Mit Beziehung auf „G. Rümelin’3 Reden und Aufjähe* (Tübingen, H. Laupp'ſche Buchhand—⸗
lung. 1875).
Mit diefer Fürzlich erfchienenen Schrift Hat und der Kanzler der Univerfität
Zübingen ein wahres Dftergeichent gemacht. So dürfen wir fie nennen nicht nur
wegen des Zeitpunkts ihrer Veröffentlichung, nicht nur wegen ihres bunten Inhaltes,
fondern auch weil ihr die weſentliche Eigenſchaft eines Geſchenks zukommt, Genuf
und Vergnügen zu bereiten. Mag es fi um Statiftit oder Piychologie, um Politik
oder Religion handeln, wir folgen mit Genuß der Haren und eleganten Darftellung
mit ihren jchlagenden Beilpielen, ihren treffenden Bergleichungen. Der mannigfaltige
Inhalt aber hat bald anziehend, bald abjtoßend auf uns gewirkt, und wir können das
Geſetz diefer Polarität kurz dahin formuliren, daß wir mit dem Verfaſſer am meiften
in Sachen der Politik und Statiftif übereinftimmen, am wenigjten in Sachen ber
Metaphyſik. Bor Allem wiederholen wir den ungetheilten Beifall, den wir jchon vor
einem Jahr der Kaiferrede Rümelin's zum 22. März 1874 gezollt haben, mit
ihrer vortrefflichen Schilderung der vier Klaſſen von Reichsfeinden. Wir finden es
auch ebenjo im Intereſſe des Lejerd ala in dem gerechten Selbjtgefühl des Berjaffers
begründet, wenn er mit feiner Feſtrede die Rede über die Neichsoberhauptfrage zu—
fammenftellt, welche er vor jechaundzwanzig Jahren als jüngeres Mitglied des Franf-
furter Parlaments für die damals nichts weniger ala populäre Idee des preußifch-
deutfchen Kaiſerthums gehalten hat.
Mit faſt durchgängiger Uebereinftimmung haben wir die jämmtlichen Reben und
Aufſätze gelefen, welche die Statiftit betreffen und den größeren Theil der Schrift
einnehmen. Es gehören hierher zwei Abhandlungen zur Theorie der Statiftif von
1863 und 1874, wovon die zweite zur Berichtigung und Ergänzung der eriten be—
ftimmt ift; ferner über den Begriff und die Dauer einer Generation, über bie
Malthus’schen Lehren, über Stadt und Land, endlich die Rede über den Begriff eines
focialen Geſetzes; auch berühren das ftatiftiiche Gebiet noch einige der Aphorismen
im dritten Theil der Schrift, nämlich über die menfchliche Lebensdauer, über die
*) Mit dem Gefühle tiefer Wehmuth übergeben wir obigen Artikel Profefjor Carl Guftav
Reuſchle's ber Deffentlichkeit: es ift fein letes Wort; mit diefem Zeugniß für feinen ihm
im Tode dorangegangenen Freund und Gefinnungsgenofien David Friedrih Strauß ift
er dieſem felber im Tode nachgefolgt. Noch am 4. Mai Hatten wir einen Brief von ihm,
in welchem er bie Beiprehung von Du Bois-Reymond's „La Mettrie" zuſagte — eine Ber
iprechung, die, wie ber Leſer aus vorliegendem Hefte fieht, wir jetzt einer andern Hand über:
tragen mußten. Ein Mathematiker erften Ranges, beſaß Reuſchle zugleich bie liebenswer—
theften perfönlichen Eigenfchaften, die ihn feiner Familie, feinen Fachgenoſſen und einem weiten
Freundeskreiſe gleich thener machten. Im 64. Jahre feines Lebens, in voller Kraft und Friſche,
durch einen tüdiichen Zufall dahingerafft, hatte er doch noch die hohe Genugthuung, das große
Merk, an welchem er 19 Jahre lang mit unermüdlichem Fleiße gearbeitet und welches auf
Koften der Berliner Akademie gedrudt warb, die „Tafeln complerer Primzahlen®, faum brei
Wochen vor feinem Tode vollendet zu ſehen. Wir jelber befiben noch einen werthvollen Beitrag
von ihm, „Die lekten fechzig Jahre in der Phyſik“, welchen wir, ala das literariiche Vermächt-—
niß unſeres undergehlichen Mitarbeiters, demnächſt publiciren werben.
Die Rebaction der „Deutihen Rundſchau“.
Literariſche Rundichau. 141
angebliche Aufhebung der Willensfreiheit durch die Thatſachen der Moralftatiftit, über
die falſche Berechnung des Militäraufwands von Seiten der Gegner des „Militarig-
mus". Die Statiftik ift die Wifjenfchaft, welche Rümelin als Univerfitätälehrer ver-
tritt, nachdem er einige Jahre hindurch ala VBorftand des ftatiftifch-topographiichen Amts
in Stuttgart in die ftatiftiiche Prarig fich Hineingelebt und von der Technik zur
wifjenfchaftlichen Betrachtung fich aufgeſchwungen hatte. In der erften Abhandlung
(zur Theorie der Statiftif) hatte er der Statiftif ald einer „allgemeinen Hülfswiffen-
ſchaft“ — jo allgemein, daß fie keineswegs auf die jocialen Wiſſenſchaften beſchränkt
fei — die GStatiftif als die Wiſſenſchaft von den Zuftänden und Verhältniffen der
menschlichen Gejellichaft gegenüber geftellt und zur Firirung diefer Unterfcheidung
für Iebtere den Namen „Demographie“ vorgefchlagen. Dies berichtigt er in ber
zweiten Abhandlung dahin, daß man vielmehr die ftatiftifhe Methode von ber
vorzugsweiſe mit Hilfe derfelben zu Stande fommenden focialen Wiffenjchaft zu unter-
jcheiden Habe; dieje fönne dann wol den Hergebrachten Namen der Statijtif behalten,
während jene Methode, die auch in allen anderen Wiſſenszweigen in Anwendung
fomme, zuleßt ihre Stelle in dem methodologifchen Theil der Logik finde.
Dies ift gewiß das Richtige; allein minder treffend erjcheint uns Rümelin's
Antwort auf die Frage, weßhalb die ftatiftiiche Methode der Maffenzählungen und
der daraus gezogenen Durchſchnitte mehr in den focialen als in den Natur-MWiffen-
Ichaften zur Anwendung fomme. Er jagt: „in der Natur ift das Einzelne typiſch, in
der Menfchenwelt aber individuell. Dies ift jedenfall® nur eine grabuelle oder
flüffige Unterfcheidung, was fi auch Rümelin nicht verhehlt. Richtig ift nur, daß
die Individuation, je weiter hinauf in der Stufenfolge der Weſen, um jo weiter geht,
eben weil die Organifation um fo complicirter wird, und daß fie fich in der Men—
Ichenwelt am reichjten entfaltet; die Hauptfache ift aber, daß fie uns hier am meiften
intereffirt, und um fo weniger, je tiefer wir in der Natur herabfteigen. Wir er-
heben 3.8. die fyragen der Bevölferungsftatiftif wol noch bei den gezähmten Thieren,
bei allen anderen erheben wir fie gar nicht, weil e8 uns gleichgiltig ift, wie viel
Grasmüden in Württemberg leben, wie viele davon männlich, wie viele weiblich find
u. f. w. Wenn auf der anderen Seite Rümelin jagt, ein Beifpiel oder eine einzige
Beobachtungsreihe genüge, um zu willen, wie die Grasmücke ihr Neft baue, ihre Jun—
gen ernähre u. ſ. w., jo dürfte man auch ohne Maffenzählungen ausfommen, um
zu erfahren, wie der Indianer jein Wigwam baut, wie der deutſche Bauer fein Feld
beftellt u. dgl. Und follte Hingegen bemerkt werden, man werde 3. B. Hinfichtlich
des Feldbaues wol mehr Fälle zu unterfcheiden haben ala bei dem Neft der Gras-
müde, jo dürfte zurüdgefragt werden, ob die Mehrheit der Fälle nicht auch Hier vor—
handen fei, nur daf die geringeren Unterfchiede uns nicht intereffiren.
Gemwohnt, bei feinen Unterfuchungen an die Wiflenjchaften der Logif und Piycho-
logie anzufnüpfen, hat Rümelin, neben feinem ftatiftiichen Hauptfach, auch pfycholo-
giſche Borlefungen in feinen Bereich gezogen. Auf Piychologie beziehen ſich in
der vorliegenden Schrift die Reden über die Lehre von dem Geelenvermögen, über
das NRechtägefühl, über den Begriff des Volks; ja wir können auch, vermöge ihres
Ausgangspunkts, die Rebe Über das Verhältniß der Politik zur Moral hierher rechnen,
Rümelin verwahrt fich gegen die Anficht von angeborenen Ideen, ala urjprünglichen
Mitgaben des Menjchen, und jet an ihre Stelle einen Jnbegriffvon Trieben
(niederen und höheren), von welchen jede befondere Unterfuchung, wie 3. B. die
über den Urſprung des Rechtsgefühls, auszugehen habe. Den „animalijchen” Trieben
der Selbſterhaltung, der Selbftvermehrung (Gejchlechtätrieb) und der Gejelligkeit,
welche den Gompler „elementarer Grundfräfte” bilden, gejellen fich bei dem Men—
ſchen einige weitere Triebreize hinzu, die „humanen“ Triebe, und zwar in drei Haupt»
formen: Mitgefühl, intellectueller Functionstrieb (Erfenntnißtrieb, deſſen glänzendites
Erzeugniß die Sprache jei) und Orbnungstrieb (Vernunfttrieb, Trieb der Lebens»
harmonie). Diefer höchſte Trieb gliedere fich abermals dreifah, je nachdem er auf
die Sphäre des Intellects oder des Willens oder auf den Einigungspunft beider, das
142 Deutſche Rundſchau.
„Centrum der Seele“, gerichtet ſei. Als contemplativer Ordnungstrieb ſuche er die
Einheit und Harmonie für die Weltbetrachtung und erzeuge die Ideen des Schönen
und des Wahren, die Kunſt und die Wiſſenſchaft. Als praktiſcher Trieb ſuche er die
Einheit und Harmonie für die Bethätigung de Trieblebend und erzeuge bie Idee
des Guten mit der Unterfcheidung einer fubjectiven und einer focialen Form, die
Sittlichleit und dad Recht. Seine letzte Geftalt erreiche der Ordnungstrieb, wenn er,
Intellect und Willen, dad Ich und die Welt zufammenfaflend, unfer ganzes indivi«
duelles Dafein in eine lebendige Harmonie und Einheit mit dem Höchiten und Beften
zu fegen juche, was wir noch zu denken und zu ahnen vermögen, und jo die Ideen
Gottes und die Formen des religiöfen Lebens erzeuge.
Könnten wir und hier auf dieſes piychologiihe Syitem Rümelin’3 aus—
führlicher einlafien, jo würden unjere Gegenbemerfungen zunächft darauf fich richten,
daß der ganze Inbegriff jener Triebe, wie er in dem Gulturmenjchen allerdings vor»
handen ift, gleich urjprünglich fein fol. Denn da doch der Verfaſſer darin mit ums
übereinftimmt, daß die Menjchheit von der Pike auf gedient und von nahezu thieri-
ichen Zuftänden aus die Bahn zu höheren Zielen zu finden gehabt habe, jo können
wir nicht umhin, ihm entgegenzubalten, daß dieſe „Bahn zu höheren Zielen‘ eben
darin beftanden habe, alle jene ‚höheren‘ Triebe (und Ideen) jucceffiv zu erwerben,
eben auf dem Grunde jener „elementaren Grundkräfte‘. Sollte 3. B. der Selbit-
erhaltungstrieb im Kampf ums Dafein zunächſt nur zu dem zerftörenden Kriege Aller
gegen Alle führen, jo Eonnte bei diefer Erfahrung der Gedanke nicht ausbleiben, daß
der Selbiterhaltung, dem natürlichen Uregoismus, weit befier genügt werde durch
gejellige Vereinigung unter gegenjeitigen Beichränfungen und Anbequemungen, und
diefe von hervorragenden Individuen geltend gemachte Meberlegung mußte ja wol den
Fortjchritt zu einem rechtlichen Gemeinwejen anbahnen, und um jo mehr, als die
erften Anfänge von gejelichen Vereinen weit in die Thierwelt zurüdreichen, bis zu
Ameifen und Bienen hinab mit ihren vielbewunderten „Thierftaaten‘. Wir wollen
und indefjen Hier nicht auf den Darwiniftiichen Boden begeben und bemerken nur
no, einmal, daß Rümelin die pſychologiſche Grundlage der Religion
nicht mit Schleiermadher in das Gefühl jchlechthiniger Abhängigkeit jeht, vielmehr
in das Gefühl einer „unbedingten Zugehörigkeit zu dem Plane de8 Weltgangen‘ ;
fann aber in einem Gefühl „Unbedingtes“ vorfommen, wenn dies, wie Rümelin thut,
vom „Schlechthinigen‘ verneint wird? Aladann möchten wir die Bemerkung nicht
unterdrüden, daß Rümelin von der „Unjterblichfeit der menjchlichen Seele“ ganz
jchweigt, freilich ein heiller Punkt für den, welcher „wider den neuen Glauben“ und
zugleich „wider die Formeln des alten Glaubens“ zu Felde zieht.
Dies find die Titel einer Reihenfolge von Aphorismen, mit welchen Rümelin’s
Buch fließt. Außer diefen und den bisher befprochenen Stüden enthält das Buch
noch eine Rede über Hegel, aus dem Jahr des Hegeljubiläums (1870), worin der
Verfaſſer aus eigener Erfahrung den Eindrud ſehr anziehend jchildert, den ein Stu-
birender von der Hegel’ichen Philojophie in jener Zeit erhalten mußte, als diejelbe
eben in Tübingen zum großen Wort gelangt war; worin er auch das Hinfällige und
das bleibend Werthvolle in diejer Philofophie treffend bezeichnet. Wir nennen ferner
die Aphorismen über die Delonomie der Aemter, über Furcht und Mitleid in der
Tragödie, zu Hermann und Dorothea („ein neunzehnjähriger Hermann ift ein Un—
ding“), über die Eintheilung der Univerfalgefchichte und über Strauß. Ueber die
beiden leßteren, ſowie über die jchon genannten wider den neuen und wider den alten
Glauben — alle zufammen bilden den dritten Theil der Schrift unter dem Geſammt—
titel „EleineBetratungen und Bekenntniſſe“ — erlauben wir und nod)
einige Worte der Nichtübereinftimmung.
Ob man mit Recht die neue Geſchichte ſchon mit dem fechzehnten Jahr:
hundert beginne, oder nicht vielmehr exit mit dem neunzehnten beginnen follte? fragt
Nümelin und antwortet : wenn man nicht die drei dem unfrigen vorangehenden Jahrhun—
berte noch dem Mittelalter jelbft zurechnen wolle, jo jei wenigftens in Nachahmung geolo=
Literariſche Rundſchau. 143
giſcher Kunſtausdrücke das ſechzehnte Jahrhundert als „eocän“, das fiebzehnte und
achtzehnte als „miocän“, unſeres aber, indem man um elf Jahre (bis 1789) zurück—
gehe, als „pliocän“, ja, fügt er bei, als „pantocän‘ zu bezeichnen. Pantocän? d. h.
von dem zu jagen wäre: daß Alte ift vergangen, fiehe! es ift Alles neu geworben.
Alles? Geht denn, um nur ein Beifpiel zu nennen, dad Baticanifche Concil nicht
noch weit über das jechzehnte Jahrhundert zurüd? Und das achtzehnte Jahrhundert
miocän? d. 5. wo das Neue gegen das Alte noch in der Minderheit ift? Friedrich
M., Voltaire, Euler, Leifing, Kant u. j. w. miocäne Gebilde? Und was für ein
. . .can wäre im Hundert und aber Hundert Jahren zu erwarten, wenn das
„Pantocän’ jet ſchon erreicht ift? Im Gedanken an die Zukunft muß man das
„Wie wir’ jo Herrlich weit gebracht‘ jedenfall vergeffen, wenn einen nicht ſchon
im Hinblid auf die Vergangenheit die Erwägung bedenklich gemacht hat, daß bie
eriten maßgebenden Schritte ſtets die epochemachenbditen find. Unſere Geographie und
unjere Univerfalgeichichte jtehen zwar nothiwendig auf dem — sit venia verbo — europa=
centrifchen Standpunkt ; daher wird die große germanifche Völkerwanderung , welche
neue Völker auf den alten Schauplaß führte, mit der Zertrümmerung des römischen
Weltreichs tet? einen Haupteinjchnitt unferer Univerfalgefchichte bilden, wenn fie
auch für Indien und China feine Epoche if. Allein auf der anderen Seite muß
bei der Feſtſetzung der Hauptepochen doch vorzugsweiſe auf jolche Thatfachen reflec-
tirt werden, welche für die gefammte Menjchheit epochenhaft find. Eine ſolche wirk—
Lich univerjelle Bedeutung hat aber weiterhin nur, oder vor Allem, die Entdedung
Amerika’, womit den alten Völkern ein neuer Schauplab von vielen hundert—
taufend Duadratmeilen eröffnet worden ift, zumal da diejelbe gleichzeitig mit einer
Reihe anderer welthiftorifcher Ereigniffe und in innerem Zuſammenhang damit aufs
getreten ijt.
Den Artikel über Strauß beginnt Rümelin mit den Worten: „Chriften find
wir nicht mehr; Religion brauchen wir nicht; die Welt erflären wir für die Welt (?),
indem wir ihr Titel und Rang ded Univerfums verleihen; unfer Leben ordnen wir
von dem Standpunkt eines wohlhabenden, gelehrten und kunſtſinnigen Deutichen aus
dem Bismarck'ſchen Zeitalter, — und das Alles zufammen nennen wir dann ben
neuen Glauben.‘ Das ift eine herabwürdigende Daritellung, eine Garicatur! Könnte
nicht einer, dem verführerifchen Beifpiel der Garicatur folgend, andere Belenntniffe
fo verzerren: man gibt den Synoden ein Mißtrauensvotum, behält aber Fühlung
mit den Doctoren der Theologie; man verwahrt fich gegen den Wunderglauben,
fchmeichelt aber dem Anthropomorphismus in göttlichen Dingen; man erinnert ſich
des Kanzlers vor vierhundert Jahren, pakt aber feine Ausfprüche dem Bismard’ichen
Zeitalter an und jagt: „Natur und Geift, jo jpricht man jet zu Chriften“ u. ſ. w.?
Wir find weit entfernt, ein jolches Urtheil über Rümelin's „Belenntniffe* zu dem
unfrigen zu machen, ſchon um nicht jelbft in den Fehler zu verfallen, den wir rügen.
Wir find im Gegentheil jehr befriedigt von der Oppofition, welche von jo gewichtiger
Seite und mit folder Entjchiedenheit dem Wunder zu Theil geworben ift, wenn
Rümelin unter Anderem jagt: „Wiſſenſchaft und Wunder find jo unvereinbare Dinge,
daß das eine genau da aufhört, wo das andere anfängt“; und: „eine Kirche, deren
Dogma fi) mit den elementaren Grundvorausfegungen aller Wiſſenſchaft in Wider-
ſpruch ſehzt, kann diefen Zuftand nicht auf die Länge ertragen”;.... „es ijt bie
höchſte Zeit, daß man in den leitenden Kreifen den Ernſt der Lage erkenne und auf
wirkffamere Mittel finne als die obligaten Predigten gegen den Unglauben, welche
von den ficheren SKanzelbrüftungen aus an die Adrefjen der Abwejenden ergehen“.
Seine Auffafjung des Chriſtenthums, nach Ausfcheidung der „Formeln des alten Glau-
bens“, nähert fich derjenigen, welche Strauß in den „Selbitgefprächen über Vergäng-
liches und Bleibendes im Chriſtenthum“ aus der Zeit des erften Lebens Jeſu auf:
geitellt Hat (‚„‚Friedliche Blätter‘ 1839).
Gleichwol ift nicht zu verfennen, daß Rümelin auch den Strauß von damals,
den theologifchen Kritiker, möglichjt zu bemängeln und herabzuſetzen ſucht. Nur über
144 Deutſche Rundſchau.
feine ſchriftſtelleriſche Virtuoſität ſpricht er ſich mit unumwundener Anerkennung aus
und rechnet ſeine biographiſchen, publiciſtiſchen, literargeſchichtlichen Arbeiten, ſowie
die kleineren „Genrebilder““ zu den „Schmuckſachen der deutſchen Literatur. Dabei
bemängelt er aber, vom Standpunkt des Hiftorifer® aus, den gegenftändlichen Werth
ber gejchichtlichen Monographien; die Bedeutung Hutten’3 ſei überfchägt und feine
Geſtalt nicht (?) in den gejchichtlichen Hintergrund eingezeichnet; Friſchlin fei ein jo
dickes und gutes Buch gar nicht werth. Wenn er vollends behauptet, die Gefhichte
des Urchriſtenthums werde durch Strauß faum gefördert, fo müflen wir ſtau—
nend fragen: gehört denn die Entjtehung der Sagen und Dogmen über Jeſus von
Nazareth nicht zur Gefchichte des Urchriſtenthums? Und wer Hat Hierin mehr ge=
leiftet al Strauß? Es handelte fi) ja nicht blos um den negativen Beweis, daß
die Evangelien feine wirkliche Gejchichte enthalten, vielmehr um den durch alle Ein—
zelheiten Hindurch geführten pofitiven Nachweis, wie der ganze Kreis der Vorſtellun—
gen, in welchen die Evangelien fich bewegen, entjtanden ſei. Jenes wäre allerdings
ſchon einem Schiller und Goethe nicht neu geweſen, gewiß aber biejes; und wie man
die hiſtoriſche Combinationsgabe, welche Strauß dabei an den Tag legt, verfennen
fann, ift und jo „unverftändlich”, wie dem DBerfaffer der Titel des zweiten Lebens
Sefu, nämlih „für das deutſche Volk“. Uns aber iſt Hierbei wieder unver-
ftändlich, wie der Urheber einer jo trefflichen Kaiferrede wegen der Berechtigung jenes
Titeld an die Franzoſen appelliven mochte, anftatt fich zunächſt in Deutjchland
umaufehen, wo in Schloſſer's Weltgefchichte „Tür das deutjche Volk’ ein jo achtungs—
werther Borgang vorlag. Die Sache liegt fo einfach ala möglich; das zweite Leben
Jeſu jollte, dem fachwiſſenſchaftlichen erften gegenüber, als populär bezeichnet werben,
und, im Gegenfaß zu den vortrefflih auf das franzöfiiche Volk berechneten ‚roman
haften Anftrichen des Lebens Jeju von Renan, war auch die Erinnerung an das
folcher Tändelei nicht bedürftige „‚deutjche Volk“ am Ort.
Bliden wir endlich auf das Gebiet, wo allerdings die Bedeutung von Strauß
am disputabelften fein mag, jo jehen wir Rümelin in der Herabfegung der pbilojophi-
hen Bedeutung des großen Kritikers mit Fr. Viſcher, der ihn dagegen um ber
mythiſchen Gejchichte Jeſu willen in die ftolze Reihe der Entdeder erhebt, und mit
€. v. Hartmann zufammentreffen, der ihm das philofophiiche Talent geradezu ab-
ſpricht, der auch in Religionsſachen ungleich Fühner vorangegangen ift, indem
er eine neue Volksreligion anzufündigen gewagt hat, während Strauß ja nur einen
„neuen Glauben im Freundekreis“ bekannt hat. Rümelin geht übrigend von einem
anderen philofophiichen Standpunkt aus, ala die beiden anderen pantheijtifch denken—
den Gegner der Strauß’fchen Philofophie. Nachdem er fich vor etwa zwölf Jahren
von der Schopenhauer’ichen Philofophie in hohem Maße angeiprochen gefühlt hatte,
ſcheint er jet am meiften zu Lotze Hinzuneigen, deſſen theiftiiche Metaphyfif er auch
vorzugsweife im Auge bat, wenn er Strauß vorwirft, er hätte fein Buch vom neuen
Glauben nicht fo jchreiben können, wenn er von dem Notiz genommen hätte, was
nach Hegel auf philofophifchem Gebiet geleiftet worden ſei. Denn von Schopenhauer,
Hartmann, auch von Trendelenburg hat Strauß Notiz genommen und fogar be-
merkt, man folle fi mit Schopenhauer nicht zu flüchtig befaffen, weil man von
ihm etwas lernen fünne. Aber wie? wenn nun eben Strauß bei Darwin und Haedel,
bei Helmholg und Du Bois-Reymond nicht nur überhaupt mehr Belehrung, fondern
auch mehr PHilofophie gefunden Hat, als bei Lotze oder bei anderen Philoſophen
vom Fach? Ebendeshalb werden Alle, deren Metaphyſik Hinter die Phyfif auf Ge-
bilde der Phantafie zurüdgeht, über ihn den Stab brechen, während Diejenigen ihm
eine ſpecifiſche philofophifche Bedeutung zufchreiben, für welche die Metaphyſik nichts
Anderes ift, ala die allgemeinite Zufammenfaffung unſeres Wiſſens vom Univerſum.
Stuttgart. C. ©. Reuſchle.
Das Gaftfpiel der Meininger und die Klaffikervorkellungen
im Königl, Schanfpielhaufe zu Berlin.
— — —
Berlin, den 15. Juni.
Wenn auch beim diesjährigen Gaftipiel des Meininger Hoftheaters das Ueber—
tafchende der ganzen Ericheinung fich nicht wiederholen konnte, jo dürfen die Gäfte
troßdem immer noch mit dem Berliner Publicum zufrieden fein. Es ift ein hervor—
jtechender Zug der Berliner, daß fie das Fremde, das fich jelbft ihnen entgegen bringt,
um ein entjcheidendes kritiſches Gutachten zu erlangen, mit Vorliebe protegiren. Und
wenn die Leiftungen von irgend einer reizvollen Eigenartigkeit begleitet find, wie es
bei den Meiningern der Fall ift, jo fteigert fich die beifällige Aufnahme jehr Leicht
zu einer enthufiaftiichen. Das Berliner Publicum hat fi) auch diesmal nicht un—
dankbar für die ihm gebotenen Gaben gezeigt. Den an diejer Stelle ſchon beiprochenen
BVorftellungen — Die Herrmannsichlacht, Ejther und Die gelehrten Frauen — ſchloß
fi zunächſt Schillers „Fiesco“ an.
Meine im vorigen Bericht ſchon geäußerten Bedenken gegen den Luxus in der
fcenifchen Ausfhmüdung finden eine nicht geringe Unterftühung in der Thatjache,
daß die Meininger Theaterleitung es jelbft für nöthig hält, das jchon Gebotene in
jener Richtung noch fortwährend zu überbieten.
Auch die Aufführungen des „Fiesco“ follten wieder Neues und Unerhörtes
binfichtlich der fcenifchen Ausrüftung bringen. In der That waren die Decorationen
nicht nur an fich ſchön, jondern auch mit dem genaueften Studium der erforderlichen
Localfarbe hergeſtellt. Sowol die verjchiedenen Gemächer mit ihrem üppigen Schmud:,
wie auch der Schloßhof bei Fiesco, die Säulenhalle mit der Ausficht auf Genua und
auf die Seealpen, endlich im lebten Acte das Thomasthor mit dem Blick auf den
Hafen —: das Alles waren Bilder, welche im Verein mit den wahrhaft prachtvollen
biftorifchen Goftümen wol geeignet waren, uns das Genua des 16. Jahrhunderts
vorzuzaubern und das Auge zu entzüden. Und das Drama, die Dichtung ala ſolche — ?
war fie in diefem jchönen Gewande lebendig? Sprach aus diefen jchönen Bildern,
die und vorgeführt wurden, zu und der Geiſt der Schiller’schen Dichtung ?
Es muß conftatirt werden, daß beim Publicum der Erfolg im Ganzen wieder
ein fehr großer war; und es ift weder eine danfbare noch angenehme Aufgabe, diejer
blendenden Erfcheinung und ihrer thatjächlich großen Wirkung mit den Einwänden
bes nicht befriedigten kritiſchen Gewiffens zu folgen. Der Kritifer übernimmt bier die
Rolle des mißvergnügten Republifanerd gegenüber dem vom Erfolg beglüdten Fiesco,
nur daß er fein jo draftifches Mittel befitt, wie Berrina, den Sieger unfchädlich zu
machen. Aber ich fann troßdem nicht verichweigen, daß mir das Mißverhältniß
zwifchen den fchaufpielerifchen Leiftungen und dem ganz ungewöhnlichen Aufwand
äußerlicher glänzender Hilfsmittel gerade in der VBorftellung des ya fühlbar
Deutiche Runbſchau. I, 10,
146 Deutiche Rundſchau.
war. In der Hauptrolle der Tragödie habe ich nicht den eigentlichen Inhaber
derjelben, Seren Nesper, gejehen, jondern Herrn Reinau, welcher an zwei Abenden
für den Genannten eingetreten war. Herr Reinau bat fich einen leichten Conver—
fationston angeeignet, der an fich gewiß jehr Löblich ift, d. 5. wo er Hingehört.
Unter allen Umftänden aber darf die Leichtigkeit der Rede nicht bis zur Farblofigkeit
berabfinfen, am allerwenigjten in einer Tragödie wie diefe ift. Es iſt jehr möglich,
daß Herr Reinau im modernen bürgerlichen Schaufpiel ein ſehr angenehmer Darfteller
ift, ein Fiesco war er aber durchaus nicht. Die Nonchalance feiner Darftellung
wurde um jo auffälliger, als er fich damit im ſtärkſten Gegenſatze zu der Mehrzahl
der Mitipielenden befand, bei denen die Schon im Allgemeinen charakterifirte, über
die künjtlerifche Grenze Jo oft hinausgehende übergroße Deutlichleit und Handgreif—
lichkeit der Darjtellung in diefer Tragödie ganz bejonderd vorwaltete, Ein Schiller’-
jche8 Drama aus der erften Periode des Dichterd würde ja eine gewiffe Meberichtväng-
Tichfeit im Spiel noch am eheften vertragen können, eher als eine allzu jubtile und
bedächtige Daritellungsweile. Es würde dafür aber auch erforderlich fein, daß das
hitige Temperament der Dichtung die Schauspieler wirklich durchdringt, daß dem
überjchwänglichen Pathos der Rede auch deſſen urjprüngliche Kraftfülle zuertheilt
werde. Die Schiller’jchen Figuren gerade diefer Tragödie haben alle Feuer im Leibe,
dom Bourgognino bis hinauf zum greifen Doria, aber e8 muß das wirkliche poetische
Teuer fein umd nicht nur das Geberdenjpiel, welches uns zu fagen fcheint, dab es
irgendwo brenne,
In den fcenifchen Arrangement? wurde auch in diefer Aufführung viel Sinn—
reiches und Vortreffliches geboten, wenn auch manchmal die ftet3 maleriiche Wirkung
auf Koften der Dichtung erreicht wurde, und wenn auch in einzelnen Fällen wieder
das auf die möglichſte Wahrfcheinlichkeit der fichtbaren Vorgänge gerichtete Streben
weiter ging, als mir für die Erreichung des poetijchen Eindrud® nöthig zu fein fcheint.
In der letzten Scene der Tragödie hat das dabei getroffene Arrangement — während
des entjcheidenden lebten Zwiegeſpräches des Fiesco mit Verrina — verfchiedene Beur-
theilung gefunden. Bei der Darftellung im Königl. Schaufpiel war es von einer
Seite gerügt worden, daß in dem Fahrzeug, welches Fiesco und Verrina befteigen,
um zu den Galeeren zu gelangen, fich fein Schiffer befunden habe. Die Meininger
lafjen hier in der That einen in dem fahrzeug ruhenden Bootämann Theil an der
Scene nehmen, was don anderer Seite — und ich glaube mit Recht — ftörend
gefunden wurde. Die Trage aber, welches hier das Richtige ift, wird überhaupt ganz
überflüffig, jobald man fich einfach nur an den Schiller’fchen Tert hält. Diejer
aber jchreibt wörtlich vor: „Sie ftehen auf: einem Brett, das zu einer Galeere
führt.“ Hier ift alfo von einem Boot gar feine Rede, und es fommt daher gar nicht
in Frage, ob fie fich jelbft Hinüber rudern wollen, oder fich müßten hinüberrudern
laſſen. Warum alfo Hier nicht die Vorſchrift des Dichters, der ja doc ſtets das
Theatralifche jehr im Auge hatte, einfach acceptiren — ?
Ich würde auf derartige Einzelheiten Fein jolches Gewicht legen, wenn nicht
unfere Aufmerkfamfeit dafür durch die ganze Art der Meininger Darftellungen fo
entichieden beansprucht würde. Daß man im lebten Acte die Erftürmung des Thomas:
thores zu einer jo großen Action ausdehnte, könnte man fich fchon gefallen laſſen,
da es vortrefflich ausgeführt wird; wenn man aber zu Gunften diefer Pantomime die
jo bedeutende Scene wegläßt, in welcher Fiesco jelbft vor das Haus des Dogen
fommt, ihn zu warnen, jo muß die Kritik fich ohne Bedenken für die Hoheitsrechte
des Dichters erklären.
Es unterliegt gewiß feinem Zweifel, daß — ebenfo wie durch Decorationen und
Goftüme — fo auch durch die forgfältige Behandlung derartiger, nur dad Auge
beichäftigender, Dinge poetilche Stimmungen im Drama oft fehr gefördert werben
können. Dennoh muß ich an dem Schlußrefultat aller meiner Erwägungen feit-
halten, daß eine übertriebene Beichäftigung de8 Auges der inneren Theilnahme für
bie Dichtung Abbruch thut. Käme es bei künſtleriſchen Productionen einzig darauf
Das Gaſtſpiel d. Meininger u. die Hlajfitervorftellungen im K. Schaufpielhaufe zu Berlin. 1-47
an, daß der Zufchauer keine Langeweile empfinde, jo hätte man über daß Wefen der
ſtunſt und über die Urſachen fünftlerifcher Eindrüde nicht weiter zu ftreiten. Das
Theaterpublicum ift wol von jeher aus den mannigfaltigiten Bildungselementen
zufammengefet gewwejen. In neuerer Zeit ift es aber noch unverhältnigmäßig größer
geworden, und diefe Erweiterung der Kreife des Publicums führt mancherlei Uebel»
fände mit ji. Zu diefen gehört auch das Größerwerden der Schaufpielhäufer. Die
Meininger gerade genießen den Vortheil einer Eleineren Bühne, von welcher aus
die Darftellung ftet3 in intimerem Gonner mit dem Publicum fteht. Aber im All—
gemeinen ift doch durch die ftet3 größer werdenden Schaufpielhäufer die bloße Schau-
Iuft bereits jehr gefteigert worden. Und wie das eine llebel wieder ein anderes
hervorruft oder auf das frühere Uebel gleichzeitig zurüdwirtt, das jehen wir auch
an ber jeit mehreren Jahren am den meiſten Bühnen beitehenden Einrichtung des
Zwiſchenvorhangs, welcher die während eines Actes auf der Bühne zu beierf-
ftelligende DVerwandelung der Scene zu verdeden bat. Ich Habe in der That in
diejer Einrichtung nach mancherlei dabei gemachten Beobachtungen und Erfahrungen
ein entjchiedenes Uebel erkennen müſſen und ich möchte bier gelegentlich ein paar
Bemerkungen darüber einichalten. Diefe Einrichtung des Zwiſchenvorhangs war
zumächft aus dem Motiv hervorgegangen, die Zufchauer nicht durch den fichtbaren
Mechanismus der Bühne in der Jllufion des Schaufpield zu ftören, wie es ſonſt
durch das fichtbare Schieben der Couliffen, das Auf» oder Niederlafien der hinteren
Decoration, dad Wechfeln der Tifche und Stühle u. dal. m. geihah. Indem man
aber hiermit zu Gunften ber zu erhaltenden Täufchung zu wirken fuchte, führte
man auf der anderen Seite den llebeljtand herbei, daß die einzelnen Scenen eines
Actes durch den fallenden Zwilchenactsvorhang viel jchärfer von einander ge
trennt werden, als es dem organifchen Baue des Drama’ angemeflen und dem Ein—
drud günftig if. Es wurde und gerade in jüngfter Zeit, auch bei den clafftichen
Vorftellimgen im Königl. Schaufpielhaufe, Hinlängliche Gelegenheit geboten, dieſe
Ichädigenden Wirkungen des Zwiſchenactsvorhangs zu beobachten. So ift ed 3. ®. in
den erften Acten des „Kaufmann von Venedig” geradezu unleidlich, bei dem häufigen
Wechſel der Scene, nach oft ganz kurzen Auftritten, den jchnellen und leichten Gang
der Handlung durch diefen ftet3 fich dazwiſchen drängenden Vorhang gehemmt u
iehen. Der fallende Vorhang trennt die Scenen ebenfo wie der Vorhang bei den
Actichlüffen,, gleichviel, wa8 für eine farbe der Vorhang hat. Diefe Trennung der
Scenen wird aber um fo jchlimmer, jemehr diefe Vorrichtung dazu verleitet, für bie
nächftfolgende Scene die decorative Veränderung der Bühne zu compliciren. Dies
wurde uns bei den Borftellungen der Meininger Gäfte — auch bei den Aufführungen
der „Herrmannsſchlacht“ und des „Fiesco“ — nachdrücklichſt demonftrirt; denn die
Zwifchenpaufen, welche die Scenen trennen, geriethen oft ebenfo lang wie die Act
Theilungspaufen. Dadurch fallen aber die einzelnen Theile des Drama’d um jo mehr
andeinander und das Schluß-Refultat ift, daß die Jllufion, welche ınan zu wahren
glaubt, dadurch erjt recht geichädigt wird. Die Paufen zwiichen den Scenen geitatten
dem Zufchauer noch mehr, fich während der Vorjtellung von dem Gegenftand des
Drama’d abzuwenden, und wenn nach der Scenenpaufe der Vorhang wieder in bie
Höhe geht, Hat man fich eiligft wieder in die Stimmung zu verfeßen, welche die Dich-
tung in uns erregt hat und welche die Theilungspaufen ftören. Diefe Vorhangs-
frage fteht, wie man fieht, mit dem Ausftattungsprincip in jehr innigem Zufammen-
bange. Man wird aber aus den hier gemachten Andeutungen erfennen, daß die
Frage Feine blos theoretifche ift, fondern daß bie unmittelbaren Wirkungen davon
abhängen.
Daß die Einfachheit der altengliihen Bühne, auf welcher die Schauluft der
Menge nicht durch Decorationen befriedigt wurde, wo einyig und allein die Tichtung
und ihre Verkörperung duch den Schaufpieler die Eindrücke bewirkte, wo endlich fein
Borhang das Stück in lauter einzelne Bilder theilte, indem der Vorhang nicht einmal
bei den Actſchlüſſen fiel, welche nur dadurch markirt wurden, daß die Bühne wenige
10*
148 Deutiche Rundſchau.
Minuten leer blieb, — daß diefe Einfachheit der Shakeſpeare'ſchen Bühne, welche
heute jo viel bejpöttelt wird, nicht nur dem fünftlerifchen Zwede der dramatiſchen
Darftellung viel angemeffener war als unfere moderne Decorationsbühne, wird an
jedem beliebigen Shafejpeareihen Drama leicht nachzuweiſen fein. Die Neutralität
des Schauplaßes, welche 3. B. in den Meininger Aufführungen von Shalejpeare’3
„Bas ihr wollt“ durch ein finnreiches fcenifches Arrangement annähernd erreicht
wurde, bot ja auch dem Dichter enorme Vortheile, indem er auf ſolchem Boden den
Zufchauer viel Leichter über die Beichränkungen von Ort und Zeit hinmwegführte,
Das Theater und das Drama ift nun freilich ein anderes geworden und wir
müfjen Beides, wie es ift, mit einander in Einklang zu erhalten juchen. Wir werden
aber bei alledem, jo lange von dramatifcher „Kunſt“ die Rede fein fann, den Schwer
punkt derjelben in der Dihtung und in der künjtleriichen Thätigkeit des Schau—
fpielers zu erkennen haben. Die äjthetilche Kritik wird freilich in folchen Fällen,
wo fich’8 nicht um Einzelheiten, fondern um eine ganze Richtung handelt, mit ihren
Einwendungen wenig ausrichten fünnen; denn bei einer jolchen Erjcheinung pflegen
mehrere Factoren zufammen zu wirken, denen gegenüber principielle Bedenken macht:
[08 find.
Aber auch mit Beziehung auf die Meininger Aufführungen möchte ich noch-
mals darauf zurüdtommen, daß troß aller Hier erhobenen Bedenken dem vielen wirk—
lich Bedeutenden in dieſen intereffanten Darftellungen fein Werth und die ihm zu—
fommende jreubige Anerkennung nicht geſchmälert werden ſoll.
Auch der „Kaufmann von Venedig“, den man erft gegen das Ende bes
diesjährigen Gaftjpield brachte, bot wieder in den jcenifchen Arrangements viel außer-
ordentlich Schönes und Sinnreiched. So war dad Stimmungsbild gleich im Anfang
des Stückes von wahrhaft poetiichem Zauber, wenn es auch fraglich fein mag, ob
die Melancholie, die doch nur das Gemüth Antonio’ beherrfchen joll, uns aus dem
ganzen Bilde, das wir bier dor Augen Haben, entgegenwehen dürfe. Dieje jo
überaus jarbenreiche Komödie, mit ihrem lebhaften und anziehenden Wechſel echt
dramatiicher Spannung und heiter märchenhafter Elemente, reizt bejonders dazu, für
die theatralifche Darftellung alle Mittel, die der Bühne zu Gebote ftehen, in Scene
zu ſetzen. Die Meininger Regie machte denn auch von diefen Mitteln im volliten
Umfange Gebrauch, ohne daß irgendwie die Grenzen dabei überjchritten wurden. So
vollftommen auch nach diefer Seite hin die gehegten Erwartungen erfüllt wurden, jo
blieb allerdings Hinfichtlich der Schaufpielerifchen Leitungen Vieles zu wünjchen übrig.
Porzia (Frau Mofer) bemühte fich merklich, den diefer reizenden Geftalt zukommen—
den Ton jchalkhafter Grazie zu finden, aber es gelang ihr die nur jelten. In den
Momenten jtärkerer Affecte zeigte fich die nach diefer Seite Hin jchöne Begabung
der Frau Moſer; doch fehlte der Darftellung durchgehende die überlegene geiftige
Hoheit; fie ftand in diefer Beziehung auf gleicher Stufe mit Nerijfa, die übrigens
von Fräulein Pauli allerliebft gefpielt wurde. — Herr Weilenbef brachte ala
Shylod ausſchließlich die finjtere Seite des Bildes zur Geltung und fteigerte, von
diejem Grundzuge ausgehend, den Charakter bis zum Heroifchen. In dieſer Auffaffung
war die Leiftung des tüchtigen Künftlers eine durchaus fertige. Wenn uns aber das
Geſchick dieſes mittelalterlichen Juden nicht auf's tieffte verſtimmen ſoll, fo ift &
durchaus unerläßlich, daß die individuelle Häßlichkeit diejes Charakters zum
volliten Ausdrud fommt. Auch die fchneidende Ironie, der beikende Wit, der ja jo
glänzend jelbft aus dem Haß und Rachedurſt diejes ungewöhnlichen Charakters hervor«
blitzt, fehlte in dieſer Darftellung faft ganz, und demgemäß war auch dad Tempo
durchgängig zu jchwer genommen. Daß diefem Menjchen von jeinen chriftlichen
Gegnern übel mitgeipielt wird, bat ja allerdings der Dichter wiederholt in bedeut-
famen Zügen durchſchimmern Lafjen; aber tragijch darf und darum doch nicht fein
Untergang ergreifen, ſonſt ift es um die ganze Komödie gejchehen. Grit wenige
Tage zuvor Hatte an einem der KHlaffiker-Abende im Königl. Schaufpiel Theodor
Döring den Shylod geipielt, und erfreute ganz beſonders wieder dadurch, dab er
Das Gaftipiel d. Meininger u. die Hlaffiterborftellungen im 8. Schaufpielhaufe zu Berlin. 149
das Genrehafte des Bildes, im Gegenfaß zum hiſtoriſchen Gemälde, jo richtig in
Ton und Geberde fejtzuhalten weiß. Dadurch bleibt auch in der Gerichtäfcene der
Ernſt der Komödie in den richtigen Grenzen; während in ber Meininger Aufführung
Shylod und alle Andern den beften Willen Haben, das Blut der Zuhörer erjtarren
zu machen. Namentlic) wäre in bdiefer Scene allen Freunden Antonio’3 jehr zu
rathen, in ihren fortwährenden mimifchen Zeichen ungeheuerften Schmerzes etwas
maßboller zu fein. Ueberhaupt wurde bei den meijten Darſtellern der männlichen
Rollen — ganz abgejehen von den oft jehr wunderlichen und unmotivirten Betonun-
gen — die Rebe durchweg mit viel zu jchweren Accenten ausgeſtattet.
Das Arrangement der Scene bei der Käſtchenwahl verdient ala ganz be
Tonders fchön hervorgehoben zu werden. Das anmuthige Bild der um Porzia grup-
pirten Frauen, die Aufftellung der drei Käftchen in dem üppigen Blumenrahmen,
die Auftritte der drei Freier mit ihrer Begleitung — das Alles wirkte jo ftimmungs-
voll zufammen, daß man fich ganz in ein Märchen aus „Taufend und Eine Nacht“
verjegt fühlte Ebenſo vortrefflih war die Scene der Entführung Jeſſica's ein-
gekleidet, nur durch ganz discrete Andeutungen des Maskenſcherzes, die aber gerade
beöwegen ben beablichtigten Eindrud machten. Ebenſo vortrefflich) war das Arrange-
ment der Gerichtöfcene, don durchaus jelbjtändiger Erfindung, zwedmäßig für alle
Mitwirkenden und dabei von maleriiher Schönheit.
Im Ganzen möchte ich, was finnreiche und geichmadvolle Infcenirung betrifft,
ber Aufführung diefer Komödie neben Allem, was die Meininger Regie jonft geleiftet
bat, den Preis zuerfennen. So wenig ic) auch mit meinen Bedenken gegen Manches,
was mir über die Grenze des Statthaften hinauszugehen jchien, zurüdgehalten habe,
fo wenig ich auch geneigt bin, die Richtung im Ganzen und in allen Theilen als
muftergültig für die Zukunft des deutjchen Theaters zu erkennen, jo muß doch diefe
ganze Erfcheinung der Meininger Aufführungen als eine in hohem Grade interefjante
Specialität bezeichnet werden. Auch Haben diefe Aufführungen für die wichtigften
Fragen der Kunft jo lebhafte umd ganz neue Anregungen gegeben, daß ſchon in
dieſer Beziehung das Verdienſt ein unbeftreitbares und großes ift.
In der Borftellung des „Kaufmann von Venedig” wirkte Herr Barnay
mit, und zwar in ber epifodiichen, aber jehr.anziehenden und auf's trefflichite zur
Geltung gebrachten Rolle des Prinzen von Marokko. Herr Barnay, welcher bei der
früheren Anwejenheit der Meininger Gejellichait einen bedeutenden Antheil an den
Erfolgen derjelben hatte, trat auch diesmal, wenngleich erjt gegen den Schluß der
Saifon, an mehreren Abenden auf, ala Fiesco (in welcher Rolle er den ganz bejon=
ders ſtark in Anipruch genommenen Herrn Nesper ablöfte) und ala Marc Anton.
Heren Barnay’3 Darftellungen laſſen oft ein etwas ſtärkeres Maß von Leidenjchaft-
lichkeit und Feuer wünſchen. Aber die fchönen Mittel, mit denen ihn die Natur
außgeftattet hat, und der wahrhaft künſtleriſche Ernft, den wir in allen Leiftungen
dieſes Darftellers in wohlthuenditer Weife empfinden, laſſen e8 doch jehr bedauern,
dab eine jo beachtenämwerthe künſtleriſche Kraft nur in einer derartigen ausnahms—
weifen Stellung in Berlin zur Geltung kommt.
Die Fluth der Gaftjpiele hat feit diefem Frühjahr an den verjchiedenen
Berliner Theatern wieder eine ungewöhnliche Höhe erreiht. Manche der Gäfte, wie
Herr Barnay, der zuerft längere Zeit am National-Theater wirkte, richteten fich
häuslich ein, während Andere nicht viel weiter famen, als bis zur Abgabe der Bifiten-
farte. Leider fonnte auch das längere Gaftipiel des Herin Robert am Stadttheater
und nicht viel freude gewähren, da dieje einft jo große Hoffnungen erregende jchöne
jugendliche Kraft in troden Elügelnder Speculation erjchlafft if. Andere Gajtipiele
jtehen für diefen Sommer noch in Ausficht; Wien ift dabei wieder ſtark vertreten,
und ganz befonders wird Lewinsky's Gaftipiel auı Wallner-Theater und reinen künſt—
leriichen Gewinn bringen.
Immer mehr in Mode fommen die Mafjengaftipiele, und zwar diejenigen
im eigentlichen Sinne des Worts umd in Unterjcheidung von den uns jchon jeit
150 Deutſche Rundſchau.
Jahren bekannten bloßen Gruppengaſtſpielen. Bei den Maſſengaſtſpielen voll—
ſtändiger Theaterperſonale wird die geſchäftliche Initiative den Bühnenmitgliedern
abgenommen und von den betreffenden Directionen, denen ſie angehören, ſelbſt er—
griffen. Man rechnet bei ſolchen Unternehmungen — und nicht ohne Grund — auf
die bei jedem Publicum vorhandene Neigung nach Abwechſelung. Schon im vorigen
Sommer war dem erften Erjcheinen der Meininger Gäfte das Gaſtſpiel der Garl-
Schulze'ſchen Gejellichaft aus Hamburg mit ihren vortrefflichen plattdeutichen Dar-
ftellungen gefolgt. Während der diesjährigen Meininger Saifon in dem Winterlocal
der Friedrich-Wilhelmftadt war Anfangs Mai die jtehende Gejellichaft diejes Theaters
mit ihrem für ein gewifles Operettengenre mufterhaften Enjemble auf ein paar
Wochen nach Dresden übergefiedelt. Dagegen wurde das Berliner Publicum einige
Zeit darnach mit dem Gejammtperjonal eines Dresdener Theaters befannt ge=
macht, indem die Direction des dortigen Nejidenz- Theaters fih im Hiefigen
Refidenz-Theater einquartirte. Die Jdee war feine ganz glüdliche, denn gerade das—
jenige Genre, welches das Repertoire des Herrn Hugo Müller hauptiächlich ausfüllt,
ift bisher auch von dem Berliner Refidenz-Theater mit Sorgfalt, und in mehreren
Fällen mit großem Glück, cultivirt worden. Eine bejondere Anziehungskraft konnte
daher die Hugo Müller'ſche Gejellichaft nicht ausüben, obwol fie jehr rejpectable
fünftlerifche Kräfte aufzuweifen hat und dabei ſich durch ein fleißiges und lebendiges
Zufammenfpiel auszeichnet. Bejonders gewährte die Vorjtellung von Sardou's jaty-
rifceher Komödie „Rabagas“ die volljte Beiriedigung. Auch in unjerem Königl.
Hoftheater jehlten die üblichen Frühlingsgäfte nicht. Hier aber haben die Gaſt—
jpiele einen wejentlich anderen Zwed, als bei den übrigen Bühnen, indem es dabei
nur auf Probeleiftungen ankommt, aus denen fich die Dualificirung der Gandidaten
für den Perfonalverband der Hoftheater ergeben fol. Aber auch dieſem Verſuchs—
felde jcheint die Trodenheit des diesjährigen Frühlings nicht günftig gewejen zu fein.
Dagegen hat die Intendanz der Königl. Hoftheater vor dem Ende der Saifon
eine neue Einrichtung in's Leben gerufen, mit der man fich nicht allein um die
fünftlerifchen Intereffen des Publicums jehr verdient gemacht hat, ſondern welche auch
glüdlicherweife vom glänzendften Erfolge gekrönt war. Es find dies die Aufführun—
gen Elaffifher Stüde zu ermäßigten Preijen. Man hatte das Unter:
nehmen, wie es fchien, mit einiger Schüchternheit begonnen, und es konnte wirklich
jehr fraglich fein, ob im folcher Jahreszeit das Publicum ſich daran in jo vollem
Maße betheiligen werde, wie es — ohne erheblichen financiellen Schaden für das
Theater — nöthig war. Aber der an allen diejen Abenden herrichende enorme An—
drang des Publicums Hatte jchnell bewirkt, daß dieſe Vorftellungen immer dichter fich
aneinander jchloffen, daß man auch die Oper an diejer glüdlichen Epoche theilnehmen
ließ, und daß endlich die Parole „ermäßigte Preife” ganz und gar die Herrichaft
gewann. Auf diefe Weile ift man in diejen letzten Fünf Wochen bis zum Schluß
der Saifon auf die rejpectable Zahl von dreiundvierzig Klaſſikervorſtellungen
zu ermäßigten Preifen gelangt, die Opernvorftellungen mit eingejchloffen. Der große
Andrang zu allen diefen Abenden war nicht nur erfreulich, jondern auch jehr lehr—
reich, da er zeigte, welchen großen Kreifen der Bevölkerung der Beſuch guter Theater
durch die immer geiteigerten Gintvittöpreife allmälig verleidet worden if. So war
denn auch die Phyfiognomie des Publicums an diefen Abenden eine ganz neue und
intereffante. Im eriten Range ſah man weder glänzende Uniformen, noch die auf-
fallenden Toiletten gelangweilter Damen. Somwol die eigentliche Ariftofratie trat
zurück, wie auch derjenige Theil des Publicums, welcher in Folge leichten und
ichnellen Geldgewinnes bejondere Neigung fühlt, fich mit der Ariftofratie zu vermifchen.
An Stelle jener Elemente jah man die compacte Maffe des fleißigen und für geiftige
Erfriſchung lebhaft empfänglichen Mittelitandes, den arbeitiamen Bürger und Ge—
ſchäftsmann, jowie die Vertreter des Lehrftandes in allen Abftufungen. E3 war in
der That ein neues Publicum, vor welchem unfere Hoffchaufpieler auch eine Art von
Maflengaftjpiel gaben, ohne daß fie deshalb den Boden ihrer Thätigkeit zu wechjeln
Das Gaftipiel d. Meininger u. die Haffikervorftellungen im K. Schaufpielhanfe zu Berlin. 151
brauchten. Der Bortheil war auch für die Schaufpieler ein großer, denn fie erhielten
durch das angeregte und rücdhaltlos fich äußernde Publicum für fich ſelbſt neue Ein-
drüde und frifche Anregungen. Ganz bejonders rühmend muß e3 anerkannt werden,
daß die Theaterintendanz bei diefem Unternehmen über den Preis nicht ängstlich
vechnete, jondern mit vollen Händen gab, indem die Eintrittspreife um mehr als
die Hälfte herabgejegt waren. In dem Repertoire war Shakeſpeare dominirend,
aber er war hauptjächlich in der Komödie vertreten; denn neben Diel Lärm um
Nichte, Was ihr wollt, Widerjpänftige, Sommernachtstraum und Kaufmann von
Venedig kamen nur zwei feiner tragiichen Schöpfungen vor: Richard III. und Romeo
und Julie. Bon Luftipielen anderer Nationen erhielten Zutritt: Moreto’3 Donna
Diana - und Scribe3 Glas Waſſer. Bon deutichen Dichtungen endlich find zu
verzeichnen: Die Herrmannsſchlacht, Maria Stuart, Nathan der Weile, Götz von
Berlihingen, Taſſo und Yauft. Zu mwünfchen wäre, daß künftig gerade bei diejen
Borftellungen Schiller etwas reichlicher vertreten wäre, derjenige dramatijche Dich-
ter, der doch immer noch dem Herzen unferer Nation am nächiten jteht, und ber
gerade für das klaſſiſche Repertoire mit der größten Sorgfalt confervirt werden müßte.
Leider kann dabei nicht verjchwiegen werden, daß die augenblidliche mangelhafte
Bejegung mehrerer wichtigen Fächer im Schaufpiel einige der Schiller’fchen Dramen
vom Repertoire geradezu ausſchließt. Diefe Situation kann aber die erfte Bühne
der Hauptitadt des deutfchen Reiches unmöglich noch lange fortdauern laffen. Daß
der Geſchmack des großen Publicums für das höhere Drama feineswegs geringer ge—
worden ift, haben im Königl. Hoftheater die bedeutenden Erfolge der mit dem
12. Juni an ihrem Ende angelangten Saifon hinlänglich bewiejen.
Rudolph Gense.
Politische Rundſchan.
un
Berlin, den 15. Juni.
Die Mahn- und Wedrufe, welche im Laufe der letzten Wochen, ohne Zweifel
zunächit von injpirirter Seite ausgehend, dem deutſchen Volke die Möglichkeit nahe
legten, daß es vielleicht jchneller, ala es bisher bejorgt Hatte, feinen friedlichen Stre—
bungen entriffen werden fönne, waren als folche keineswegs unberechtigt. Dem regie-
renden Frankreich, dem, wie man nur zu wohl mußte, eine jefuitifche Gamarilla zur
Seite ftand — wenn anders diefe Bezeichnung aus den Zeiten des abjoluten Staates
auf die republifaniichen Verhältnifje an der Seine angewendet werden darf — dem
regierenden Frankreich mußte ein Wink gegeben werden, der ihm Klar mache, wohin
es jteuere, wenn e8 dieſer mehr römischen, als franzöfifchen Neben-Regierung geftatte,
ihren Einfluß in der bisherigen Weile zur Geltung zu bringen. In Frankreich, wie
im Batican, trug man fich ziemlich offen mit der Idee, das Einvernehmen der drei
nordiichen Mächte zu jprengen, demfelben womöglich eine ultramontane Liga entge-
genzuftellen. Mit der leicht erhihbaren jüdlichen Phantafie, von Leuten noch dazu,
die Alles zu gewinnen, faum etwas zu verlieren hatten, beraufchte man fich an po=
litifchen Truggebilden und war in feinem Ueberſchwang nur zu gewiß, Gonftellatio-
nen im günftigjten Sinne für diefe Pläne aufzufaffen, die alles Andere eher, als eine
derartige Auslegung vertrugen. Hier alfo galt e& für den deutjchen Staatsmann,
welcher den Frieden wollte und dem Alles darauf ankam, die Entwidelungs-Ar-
beit des deutjchen Reiches durch fein plumpes Ungefähr durchkreuzt zu ſehen, reinen
Tiſch und reine Verhältniffe zu ſchaffen. So patriotifch und wohl concipirt dieſer
Plan indeß auch fein mochte, man bedurfte in der Wilhelmftrafe auch untergeord»
neter Geifter, von denen jeder an feinem Theile in der auszuführenden diplomatifchen
Schadhpartie mitzuwirken Hatte. In diefem Detail nun kam der Wille und die
Abficht des leitenden Staatömannes nicht immer rein und unverfälſcht zum Ausdrud.
Da, wo anderswo vielleicht eine zu gelegener Zeit eingebrachte parlamentariiche In—
terpellation genügt hätte, um die nöthige Einficht zu erzeugen, mußte man fid —
der Reichstag war nicht mehr verfammelt — mit den Schleichwegen begnügen, welche
ber officiöfen Preffe zur Verfügung ftanden. Die Kräfte derjelben waren indeß ber
großen Aufgabe nicht gewachſen. Da, wo ihr die Rolle einer Warnerin und Bera-
therin der Öffentlichen Meinung zugewiefen war, gefielen fich einzelne ihrer Organe
darin, diefen Auftrag tragifch zu nehmen, und als den mahnenden Prophezeihungen
nicht überall bereitwillig Glauben geſchenkt wurde, meinten die doch auch nur bruch—
ſtücksweiſe Eingeweihten, daß es ihnen zieme, einen kriegeriſchen Ton anzufchlagen,
damit ihren Worten eine erhöhte Beachtung zu Theil werde. So kam die Reiche-
politif in den ungerechtfertigten Verdacht, Eriegerifche Ziele zu verfolgen, und ihre
Gegner verſtanden vortrefflich, aus diefer begangenen Ungefchidlichkeit entiprechenden
Nutzen zu ziehen, {
a
Politifche Rundſchau. 153
Während man alfo in Berlin nichts als ein Warnungsfignal zu geben im
Sinne hatte, während man an leitender Stelle jchwerlich an etwas Anderes dachte,
als eine allgemeine europäifche Pulsfühlung vorzunehmen, deren Ergebniß
raſch mit allen den Illuſionen aufräumen follte, in denen die Gegner Deutichlands,
im Borgenuß künftigen Triumphes, fich wiegten, während all’ dem glaubte man fich
in Folge einer ungeſchickten Preßcampagne im franzöfiichen Minifterium des Aeußern
berechtigt, die angeblichen Anjchläge den Gabinetten Europa’3 zu denunciren, mit de—
nen die deutfche Staatskunſt gegen das wehrloje Frankreich ſchwanger ginge. Es
war auch bier wieder die jo virtuos dom Herzog Decazes gehandhabte Tactik, fich
als das unjchuldige Lamm hinzuftellen, das der gierige Wolf anfchuldige, ihm das
MWäfferlein zu trüben, damit er einen befferen Borwand habe, über das nichtsahnende
Geichöpf Herzufallen.
Herzog Decazed war in diefem Bemühen nicht ohne Verbündete. In London
wie in St. Peteräburg gab es Regionen, welche den deutichen Reichslanzler der
Ichwärzeften Pläne gegen die Ruhe Europa’s für fähig Hielten oder die ſich doch den
Anſchein gaben, zu glauben, Fürft Bismard ftehe auf dem Punkte, vor dem Andrän-
gen einer imaginären Militärpartei die Segel zu freichen. Diefe Regionen waren,
obwol fie in beiden Hauptftädten nicht zu den regierenden gehören, darum nicht
weniger einflußreich. Allein während man in St. Peteräburg die Denunciation
mehr ala eine Art von Guriofität behandelte, der man allerhöchjitens den Werth
eine? Symptoms zugeftehen könne, war man in London günftiger disponirt, um bie
Seufzer und Wehllagen, die von jenfeits des Kanals herübertönten, für wahre Em-
pfindung und für wohl begründet zu erachten. Die ruffifche Hegierung konnte jagen:
„Wir fennen den friedlichen Sinn des deutjchen Kaiſers und feines Kanzlers zu gut,
um alles das aufs Wort zu glauben, was ihr ihm unterichiebt; obwol wir die
Weberhaftung, mit welcher Ihr Eure Reorganijations-Rüftungen betreibt, einigerma-
ben für übertrieben finden, jo daß fie jelbit dem friedliebenden Deutichland Anlaß
zur Beunruhigung geben können; allein, wenn Euch ein jo großer Gefallen damit
geichieht, jo können wir uns auch in Berlin erfundigen, wie man dort über Euer
Berhalten denkt.“ In diefen Zeitpunkt etwa fiel die Nüdreife des Grafen Schuwa—
low, des ruffifchen Botſchafters in London auf feinen Poften, und diefer Bertrauens-
mann Kaiſer Alerander’& II. konnte denn auch, während er Berlin paffirte, die fried-
lichften Dispofitionen der maßgebenden Perfönlichkeiten des deutſchen Reiches ohne
beiondere Mühe conjtaticen. Die franzöfiiche Unterftellung, die fich mittlerweile aus
den Reihen der Diplomatie auch in die öffentliche Discuffion der Preſſe gewagt hatte,
„pöchait par la base.“ Dean war mithin vollftändig im Klaren über Alles, was
zu fürchten oder zu hoffen war, ala Kaiſer Alerander in Begleitung des Fürften
Gortichafow feine jährliche Reife nach Deutichland antrat und bei diefem Anlaß dem
Hofe feines jo hoch verehrten Cheims einen Beſuch abitattete.
Während jedoch der ruffische Kanzler in einer gemeinverftändlichen, „in claris‘*
abgefaßten, von Berlin datirten Depeihe an die ruffiichen diplomatijchen Agenten
im Auslande die Thatfache conjtatirte, daß fein Faiferlicher Herr in der deutichen
Reichshauptſtadt die friedlichften Geftinnungen vorgefunden, war eine geichäftige
Prebliga bemüht, den Zufammenhang der Dinge in anderem Lichte darzuftellen. Da
galt e8 vor Allem, Kaifer Alerander als den Friedensfürſten Europa's willlommen
zu beißen. Ihm war die Bändigung der wilden preußifchen Kriegsluft zugufchreiben
und hoch anzurechnen. Seinem quos ego! hatte es Guropa zu danfen, daß die
Sriegäpartei am deutjchen Hofe Klein beigeben mußte. Alerander war als Schieds-
richter Europa’s aufgetreten, und Frankreich trug ihm jubelnd Dankeshymnen entge-
gen, deren maßlofe Uebertreibung einen weniger ſchlichten und minder gefefteten Cha-
ralter, als den des Gzaren,, leicht hätten in Selbftüberhebung verfallen laſſen können.
Sich auf allen Strafen ala den friedenftiftenden Herm Europa's anfingen zu hören,
jegt eine jeltene Seelengröße voraus, foll man nicht fchließlich jelbft an die Miffion
glauben, von der fich ein jo großer Theil der gedrudten öffentlichen Meinung voll»
154 Deutſche Rundichau.
fommen überzeugt erweift. Dennoch war der Verfuch, auf diefe Weife Eindrud auf
das Gemüth Alerander’3 II. zu machen, gleichzeitig aber in Berlin eine Verftimmung
gegen den angeblichen Dictator des Friedens wach zu rufen und jomit die Bafis der
Drei⸗Kaiſer-Verſtändigung zu erichüttern, als durchaus gejcheitert zu betrachten. Das
Berhältniß der beiden Monarchen zu einander-war ein freundjchaftlich zu innig ge-
fejtetes, ala daß derartige Ausftreuungen irgend welche Macht über fie hätten ge-
winnen mögen. Unter andern Umftänden wäre die franzöfiiche Tactik wol die rich-
tige gewejen. Es mußte dem ruſſiſchen Stolze jchmeicheln, ſich als den Hort des
europäischen FFriedenszuftandes in allen Zungen feiern zu hören. Es konnte in Ber—
lin verjtimmend wirken, daß man der Peteröburger Staatskunſt jo befliffen einen
Einfluß zuwies, den fie weit entfernt war in Anfpruch zu nehmen, gejchweige denn
auszuüben, — aber alle diefe Elugen Berechnungen mußten an dem Umſtande
jcheitern, den eben kleine Geifter nicht zu erfafien vermochten, daß die Gefühle, welche
Alerander II. mit Wilhelm I. verknüpfen, über kleinliche Regungen jolcher Art
„thurmhoch erhaben” find.
Glücklicher war man jchlieklich in London, obwol die Erfolge, welche mit Hülfe
der britiichen Staatsfunjt davon getragen wurden, jchwer zu claffificiren find. In
der englischen Hauptjtadt war e8 namentlich ein Theil der katholifirenden Ariftofratie,
welcher für die vorgeblich in Frankreich gehegten Bejorgniffe vor der Kriegsluſt
Deutichlands empfänglichen Boden darbot. Es bleibe dahingeitellt, ob wirklich der
Herzog von Norfolk, Schwager des engliichen Botſchafters in Paris, als der Haupt:
mittelsmann anzujehen jei, welcher der franzöfiichen Anjchauungsweile in feinem
Vaterlande Eingang und Cours verichaffte; genug, in England Ichien man es für
ganz natürlich zu halten, wenn Deutichland ſich anfchicte, durch einen Vorbeugungs—
frieg den Gefahren einer künftigen Revanche Frankreichs zuvorzukommen, noch ehe
dafielbe fertig gerüftet daftehe. Der praftiichen Sinnesweile der Engländer mochte
ein ſolches Verfahren einleuchten, das überdies eine gewille Verwandtichaft mit jener
Art Politik verrieth, welche britifche Staatäfunft jelbjt wol gelegentlich in — In—
dien zur Anwendung brachte. Anders ift es kaum möglich, die Xeichtfertigkeit
piuchologifch zu erklären, mit welcher man auf engliihem Grund und Boden das
franzöfiiche Hirngelpinnft für dafeinsberechtigt anjah. Nun fam es dem Tory—
Minifterium darauf an, dem Vorwurf zu entgehen, welchen feine Mitglieder einft
jelbft ihren Vorgängern im Amte, den Whigs, gemacht: fie hätten die alte Macht-
jtellung Großbritanniens im Rathe der Nationen, ohne die geringfte Anjtrengung
dagegen, vollftändig beeinträchtigen laſſen. Man glaubte der friedlichen Dispofitionen
der anderen Gabinette ficher zu fein, und wurde jomit zur Annahme verführt, es
laſſe fich auf diefem Wege mit leichter Mühe ein großer diplomatijcher Erfolg zu
Gunjten des Friedens davontragen, deffen unfriegeriiche Lorbeern auch dem Zwei—
felnden beweijen mußten, der britiiche Leopard habe noch Klauen und Krallen —
wenn es die Toried feien, die über feine Kräfte verfügten. Allein die wohlaus—
geflügelte Rechnung jollte für die Herren in Downingſtreet doch Enttäufchung im
Gefolge Haben. Sie wandten fih zunächſt an die leitenden Staatämänner von
Defterreih und Italien, jollen aber auch nicht verfchmäht haben, in Liffabon, Madrid,
im Haag, Stodholm ꝛc. anzupochen, um mit einem möglichjt großen Gefolge fried-
liebender Klienten in Berlin aufzutreten und als Führer gleichiam einer europätichen
Friedensliga in der Wilhelmftraße deito willigere Gehör zu erlangen. Der Plan
war ficherlich gut gemeint, allein er ftieß auf unvorhergefehene Hinderniffe, ala man
ihn zunähft in Wien zur Annahme empfahl.
Graf Andrajiy war nicht gemeint, den Herren Derby und Disraöli, welche
über ihn verfügen zu können glaubten, ohne Weiteres Heeresfolge zu leiften. Er
war überdies genau über das unterrichtet, wa8 man in Berlin wolle und nicht
wolle. Seine Information über die Ziele der Bismard’ichen Politit ließ an
Präcifion nichts zu wünjchen übrig, und als der englifche Botichafter, Sir A. Bus
Hanan, ihn zur Theilnahme an der Friedenskundgebung einlud, die man infceniren
Politiiche Rundſchau. 155
wollte, konnte ihm der gemeinfame Minifter der auswärtigen Angelegenheiten
Defterreich-Ungarns jagen, daß mit diefer Friedensvermittelung England in die Lage
eine® Mannes geriethe, welcher die Herzhafteften Anftrengungen mache, um offene
Thüren einzuftoßen. Mit einem Wort, Graf Andraffy weigerte fih, dem englifchen
Beginnen, als einem gegenjtandslofen Unternehmen, auch nur den geringften Vor—
ſchub zu leiften. Abgejehen von den freundjchaftlichen Gefinnungen, welche dieſe Ab—
lehnung für Deutjchland befundete, lag darin noch eine ebenjo tiefe, als wahrhaft
ftaatsmännijche Erwägung, die wol hervorgehoben zu werden verdient. Graf Andrafiy
fagte fich, daß er dem europäifchen Frieden einem bei weiten größeren Dienft leiſte,
wenn ex fich der Theilnahme an der englifchen Friedenskundgebung enthalte, als wenn
er fih an derjelben betheilige. In der That, wenn Dejterreich-Ungarn im Verein
mit England und anderen Staaten in Berlin erfchiene, um dort durch das Gewicht
feines Wortes etwa vorhandene Kriegaftrömungen einzubämmen und niederzuhalten,
jo mußte man diefen Schritt in Frankreich ald eine zu Gunften und im Intereſſe
diejes letzteren Landes eingeleitete Action auffaſſen. Schaarte fich aljo nahezu ganz
Europa um das britiiche Gabinet, formulixte e8 dem Fürſten Bismard Friedens—
Boritellungen, deren Inbetrachtnahme man ihm octroyirte: jo lag darin ohne Zweifel
der Keim, der Anfang einer antideutjchen Coalition Europa’; gerade ein
Ziel, das man in Verſailles um fo emfiger erjtreben mußte, je ifolirter man fich bis
dahin, jeit dem Frankfurter Frieden, in der europäifchen Staatenfamilie gefunden.
Selbſt der Schatten einer ſolchen Coalition, wenn er überhaupt heraufbeſchworen
wurde, mußte in Frankreich alle Revanche Hoffnungen über Nacht in die Halme
Ichießen laffen, und wenn fich Europa auch nur zu einem bejtimmten Zwede gegen
das deutjche Reich geeinigt Hatte, Konnte in Frankreich die Illuſion feſte Wurzel
Taffen, daß von diefem Schritt bis zu einer wirklichen antideutfchen Goalition der
Mächte fein weiter Weg mehr ſei. Hoffte man aber erſt auf eine Coalition, jo war
damit auch das Ende des Triedenszuftandes gegeben; denn alle friedlichen Zufiche-
rungen Frankreichs, feiner regierenden wie nicht regierenden Politifer, waren immer
unter der ftillen Vorausſetzung ertheilt worden, daß fie nur jo lange Giltigfeit zu
beiten brauchten, ala Frankreich fich Für einen neuen Kriegszug ohne Alliirten wife.
Diejes Verhältniß zuerft erkannt zu haben, bleibt das unbeftrittene Verdienſt der
weitblidenden Neutralität des Grafen Andraffy, und indem er mithin durch feine
Nichtbetheiligung an der englifchen Vermittelung jede Goalitionshoffnung von vorn=
berein tödtete, jchüßte er den Friedenszuſtand Europa's nachhaltiger und wirkjamer,
ala wenn er mit Lord Derby nach Berlin „freundichaftliche Mahnungen“ gegen eine
Kriegäluft gerichtet hätte, von deren Nichtvorhandenjein er ohnedies die bündigjten
Beweiſe beſaß.
Das Schickſal des engliſchen Vermittelungsvorſchlages in Berlin ſelbſt iſt bekannt.
Man kann nicht kühler abgefertigt werden, als es den britiſchen Staatsmännern
geſchah. Allein das Cabinet von St. James brauchte eine Gloriole um jeden
Preis, und ſo ließ denn Graf Derby den Mächten nach kurzer Zeit erklären, er müſſe
nach den ihm von Berlin aus gewordenen Aufklärungen den Frieden als geſichert
betrachten; worauf freilich Graf Andraſſy nicht ohne ironiſche Wendung des Aus—
druckes zu erwidern in der Lage war, das britiſche Cabinet habe damit nur eine
Ueberzeugung gewonnen, in deren Beſitz man ſich in Wien ſchon lange vor dem Be—
ginne der diplomatischen Action Englands befunden. Freilich hinderte diefe Abfertigung
den englifchen Staatsfecretär des Auswärtigen nicht, fich in offener Oberhausfigung
jelbft den größten Ruhm und Preis ob feiner gewaltigen Friedensthaten zuzuer—
fennen, in deren Verlauf, wie er nicht hinzuzuſetzen verfehlte, die englifche Politik
überdies keine Verbindlichkeit eingegangen war, welche derjelben für jet oder fünftig-
bin irgendwie die Hände zu binden oder Verpflichtungen aufzuerlegen geeignet jei.
Damit war denn die neuejte Phaſe großbritannischer Politik, „die Intervention durch
die Nicht-Intervention” auf das Würdigſte inaugurirt.
Daß namentlich in Frankreich diejes englifche Vorgehen, jo rejultatlos es im
156 Deutſche Rundſchau.
Grunde auch verlaufen war, beſondere Begeiſterung erwecken mußte, war ein ganz
natürlicher Rückſchlag. Ebenſo leicht begreiflich aber erſcheint es, daß man dem
Verhalten des Grafen Andraſſh, eben weil es in jo bezeichnender Weiſe jedem Ver—
ſuch, die Dreikaiſer-Verſtändigung zu ſprengen, die Wege wies, keinen beſondern Ge—
ſchmack abzugewinnen vermochte. In einem gewiſſen Kreiſe franzöſiſch-klerikaler Poli—
tiker hatte man gerade auf Oeſterreich ſo große Hoffnungen gebaut, die man nun
fämmtlich als Truggebilde zerrinnen ſah. Es ſollte dieſen Enthuſiaſten feine Art der
Enttäuſchung erſpart werden. Nicht nur blieben die aufgepufften Vorgänge gegen
den Infanten Don Alfonſo in Graz ohne die jo ſehnſüchtig erhoffte Rück—
wirkung auf die innere Politit Cisleithaniens — und man hatte bereit? mehrfach
dad „undermeidliche” Wieder-Einlenfen in feubal-ultramontane Bahnen esftomptirt, —
fondern man mußte noch den Schmerz erleben, gerade den Dann fich rüdhaltlos der
deutjchfreundlichen Politik, zu der fich Kaifer Franz Joſeph II. jeit drei Jahren befannte,
anjchließen zu fehen, der im ihren Augen bisher ala der Hort des „wahren“ zu
einer „antibismard’fchen” Allianz geneigten, hochtonfervativen und militärifchen
Oeſterreicherthums gegolten hatte. Der Bejuch des Erzherzogs Albrecht, de
bedeutenditen unter den Prinzen des Erzhauſes, bei den Kaifern von Rußland und
Deutichland in YJugenheim und Ems, feine demonftrativ angefündigte Theilnahme
an den bevorftehenden preußischen Herbſtmandvern in Schlefien mußten nad) diefer
Richtung hin auch der legten Jllufion ein Ende machen. Der Erzherzog-Sieger, an und
für fich feine gewöhnliche Ericheinung, war von jeher ala ein Mann aufgetreten, der
aus jeinen perjönlichen Neigungen niemals ein Hehl machte. Aber er hatte aud)
Selbftverleugnung genug bejeflen, um jeine „perjönliche Politik“ den Bedürfniffen des
Staates anzupaflen, wie fie der Kaiſer, ala Chef des Hauſes und als Monarch, zum
Wohle des Neiches zu befriedigen vorfchrieb. Die Rechnung alfo, welche auf eine
frondirende, die gegenwärtige politifche Richtung untergrabende Thätigkeit des Feld—
marjchall-Erzherzogd aufgebaut worden war, hatte ein Koch — man hatte fein patrio-
tifches Pflichtgefühl außer Anfchlag gelaffen. Diejer Ernüchterung gegenüber war die
platonifche Unterftübung, welche England gewährte, für die franzöftfchen Politiker,
fo jehr man fich auch dankbar dafür zu erweifen ftrebte, doch nur von untergeord«
netem Preis. Englands thatjächliche Actionsfähigkeit in Dingen, welche den Con—
tinent betrafen, war erwiejenermaßen eine geringe, und jelbjt feinen guten Willen
vorausgeſetzt, — der doch immer noch fragwürdig genug erichien, — Frankreich even-
tuell mit Waffengewalt zu unterjtüßen: jo war der Grad feiner Leitungen von vorn—
herein ein jo beichränkter, daß man bei den großen Truppenmajjen, mit denen die
moderne Kriegführung zu operiren pflegt, ein englifches Hilfäheer faum ernſtlich in
Betracht ziehen konnte, während die letzten Kriege die praftifche Wirkſamkeit der
Kriegäflotten nicht eben in glänzendem Lichte Hatten erjcheinen laſſen. Als End»
ergebniß des mit jo frohen Ausfichten in's Werk gejegten diplomatifch-publiciftischen
Feldzuges fand fich denn nur die ziemlich betrübfame Gewißheit für Frankreich ein,
daß ein Kriegsfall es noch auf längere Zeit hinaus europäijch ijolirt an-
treffen würde, und jo ward es denn ein Gebot der Nothwendigfeit, jene friedfer-
tigen Uebergeugungen, mit denen man jo fünftlerifch coquettirt und die man
jo vortrefflich zur Schau zu tragen gewußt hatte, nun auch wirklich ernft zu
nehmen und bie Erkenntniß diefer Nothiwendigfeit wiederum war ein Triumph, wie
ihn die jriedebebürftige deutfche Staatäkunft nicht glängender, nicht ausgeſprochener
wünfchen Eonnte.
Damit bliebe denn auch für längere Zeit der Kriegsſpectakel von der zeitgenöffifchen
Tagesordnung abgejeßt. Das deutiche Neich zunächit kann und ſoll darum auch in
aller Ruhe ſich den Obliegenheiten hingeben, welche ihm der weitere Gang feiner
inneren GEntwidelung vorfchreibt. Fürſt Bismard für feine Perſon mag jeht
immerhin des „Urlaubes auf unbeftimmte Zeit“ genießen, den er jeit dem Februar d. J.
erftrebt und den er fich beruhigten Gemüthes erſt geftatten durfte, nachdem er Rom
und Frankreich gegenüber, durch den Ausbau der Kirchengeſetze und durch die Diplo»
Politifche Rundichau. 157
matifche Eindämmung jedes Vergeltungs- und Goalitionagelüftes, die nächſte Zukunft
feiner Schöpfung vor allen unliebfamen Zufälligkeiten, joweit dies menschliche Vor—
ausficht überhaupt vermag, geſchützt hatte. Wir betrachten es als ein Glüd, daß Nie-
mand auf die dee verfiel, ihm neben den bewährten Kräften Delbrüd’s und
Camphauſen's einen jpeciellen diplomatifchen Erfagmann zu geben, und fo fann
es unter den heutigen Verhältniffen nahezu ohne Unzuträglichkeit gefchehen, wenn
man dem bdiplomatifchen Ausſchuß des Bundesrathes für die auswärtigen Ange:
legenheiten, der biß dahin ein arbeitsloſes Scheinleben friftete, für die Zeit der Ab-
weſenheit des Kanzlers einen — tieferen Einblid in den Gang und die Ordnung der
Geichäfte des deutſchen auswärtigen Amtes gejtattet. Seitdem im Uebrigen das
preußiſche Herrenhaus Ja und Amen zu ben neuen firchenpolitifchen Geſetzen
gejagt, ift auch auf diefer Seite ein Einbruch in das fefte Gefüge der Bismarck'ſchen
Politik faum mehr zu beforgen. Die Duplif der preußiichen Biſchöfe auf das minifte
rielle Schreiben, defjen Inhalt die Kirchenfürſten dreifacher Lügen beichuldigt hatte,
war ein wirkungslos verpuffendes Zeitungsplaidoyer, in welchen die Prälaten fich
in ihrer Weife, für Leute, die jolche Documente zu leſen verjtehen, dennoch eine
Hinterthür zu jpäterer Verftändigung vorfihtig offen gehalten hatten. Die Reorgani-
fation der inneren Verwaltung Preußens, wie fie die neue Provinzial-Ordnung
anjtrebt, hatte fchon bei der Berathung im Abgeordnetenhaufe einige „Verbefjerungen“
in conjervativem Sinne erfahren müflen, die vielleicht vom Standpunkte der praftifchen
Durchführbarkeit und im Intereffe altpreußifcheftrammer Diciplin wirklich „Verbeſſe—
rungen“ fein mögen. Im Herrenhaufe jchien der Vater des Entwurfes, der Minifter
des Inneren, Graf Eulenburg, ein directered Vorgehen in conjervativer Amen-
dirung des Geſetzes nicht zu mißbilligen, und ein bei diefem Staatsmann fonft jelten
zu Tage tretendes Schwanken ftellte für einen Augenblid das Schidjal der Provinzial-
Ordnung in Frage. Glüdlicherweife blieb diesmal das Befjere oder das Freifinnigere
nicht ohne Widerrede ein abgejagter Feind des Guten oder des Conjervativeren, und
jo fonnte der „Heilige Compromiß“ abermals Triumphe feiern, welche Diejenigen
hoffentlich nicht zu bereuen haben werden, die fich feiner Führung anbequemten.
Der preußiiche Parlamentarismus insbejondere hatte den Berluft eines feiner
bewährtejten Veteranen zu bedauern, der troß feine Kampfesmuthes jehr davon durch-
drungen war, daß alles politiiche Leben jchließlich darauf angewiejen ift, fich dem
Gejeh des Parallelogramma der Kräfte, d. 5. dem Compromiß, zu unterwerfen. Der
Zod Georg dv. Vincke's, der allerdings fein „preußijcher Mirabeau”, aber immer-
bin der fchlagiertigfte Debatter unjeres Parlamentarismus genannt werden durfte,
bat in allen politijchen Kreifen wehmüthige Erinnerung wachgerufen. Binde’s Name
ift ungertrennlich verknüpft mit den Geburtäwehen, die unjer VBerfaffungsftaat zu über-
ftehen hatte, und wenn es ihm auch an Stetigkeit und fchöpferiicher Kraft gebrach,
um von epochemachender Bedeutung für den politifchen Ausbau der conjtitutionellen
Zuftände zu werden, jo hat er doch mehr als einmal dem Entwidelungsgange
preußifch-deutfcher Verhältniffe den Stempel feines ehrenfejten Geiftes, feines uner-
Ichütterlichen Rechtsgefühls aufgeprägt. Der Antheil, welchen er an der Anerkennung
des Königreiches Italien durch Preußen gehabt, wird ihm unvergefien bleiben.
Für altpreußiiche Gemüther mußte eine gewiſſe Poeſie des Contraſtes in dem
Umftande liegen, daß gerade in dem Jahre, in welchem die zweihundertjährige Ge⸗
dächtnißfeier der Schlacht bei Fehrbellin begangen wird, ein König von
Schweden zu freundſchaftlichem Beſuche in Berlin eintraf. Directe politiſche
Zwecke wurden ſchwerlich mit dem Verweilen Oskar's II. am preußiſchen Hofe ver-
folgt. Allein man darf immerhin einen Beweis darin erblicken, daß franzöſiſcher
Geift und Franzöfiiche Gefinnung aufgehört haben, in Stodholm maßgebend zu fein,
wie fie dort unter der Regierung Karl® XV. vorgewaltet hatten. Die Zeiten find
borüber, in denen Schweden eine mächtige, in die Geſchichte Europa’3 eingreifende
Rolle fpielte. Dan erjehnt auch die Rückkehr diefer Zeiten nirgend® minder eifrig,
ala in Schweden jelbft. Sogar die Haffende Wunde, welche der Berluft Finnlands
158 Deutſche Rundichau.
im Jahre 1809 ſchwediſchem Selbftgefühl jchlug, ift nahezu verharricht, und die be-
vorftehende Reife des Königs nach St. Peterdburg ift in dieſer Richtung politifch
wol bebeutungsvoller als fein Erjcheinen in Berlin, welches viel weniger mit poli=
tiichen Erwägungen, ala mit perjönlichen Neigungen des Monarchen in einem ur—
jählihen Zujammenhange ftand. Dan hat es jeltfam finden wollen, daß Oskar II.
jeinen Beſuch nicht auch auf Wien ausdehnte, und meinte, daß die Anwejenheit eines
Prinzen Waja am öfterreichifchen Hofe den Enkel Bernadotte'8 vielleicht abgehalten
habe, auch Kaifer Franz Joſeph zu begrüßen. Allein von diejer Erwägung kann
ion um deswillen erntlich nicht die Rede fein, weil der König von Schweden an»
ſtandslos bei dem jächfiichen Hofe in Dresden vorſprach, da doch die Gemahlin
König Albert's eine geborene Prinzeffin Wafa if. Indeß auch Fürſten find den
Factoren, welche die Welt regieren, Zeit und Geld, kaum minder unterworfen, als
andere Menjchenkinder.
Berfagte fich doch auch Kaiſer Franz Joſef von Defterreich, den feine
jechawöchentliche dalmatinifche Reife nach jeder Richtung Hin angeftrengt hatte, einen
bereit3 im Princip feſtgeſetzt geweſenen Ausflug nach Galizien und der Bulowina,
welche Iettere den vor Hundert Jahren ohne Schwertftreich erfolgten Anſchluß an
das öfterreichifche Staatsgebiet mit vieler Begeifterung feierte. Auch eine erneute
Dreilaiferbegegnung, die von publiciftifcher Seite dem Monarchen angefonnen wurde,
fonnte nicht als durch die Umftände geboten angefehen werden. Kurz nach feiner
Rückkehr aus Dalmatien, wo die Anwejenheit des Souverains die nationalen Leiden-
ſchaften mehr angefacht ala befchwichtigt zu haben jcheint, konnte Kaifer Franz Hofer
der Eröffnung des großen Donaudurchſtichs beitvohnen, ein Rieſenwerk, das, nahezu
dem Ganal von Guez vergleichbar, für Wien dereinft von wirthichaftlich weit—
tragendfter Bedeutung zu werden veripridht. Die ölonomijche Krifis, von welcher '
das Land heimgefucht ift, jchiebt Freilich die erhofften glänzenden Wirkungen über
Gebühr hinaus, und die überfchwänglichen Hoffnungen, welche man an die Vollendung
der koſtſpieligen Donau-Regulirung geknüpft, werden länger, ala Wien und den
Wienern lieb fein mag, ihre Erfüllung erharren laſſen. Dieje nationalötonomijche
Mißlage des Reiches verleiht auch der hochgehenden jchußzöllnerifchen Bewegung in
Defterreich ihre befondere Bedeutung. Schon jet darf als jeitjtehend angenommen
werden, daß die Nachtragsconvention zum Zollvertrag mit England, vom Grafen
Beuft im Jahre 1869 mehr aus politifchen, denn wirthichaftlichen Rüdfichten abge-
ichloffen, gekündigt umd nicht erneuert werden wird. Gine mit Empfehlungen vom
britiichen Foreign office reich ausgeftattete Deputation englifcher Induftrieller mußte
in Wien dieje Erfahrung verzeichnen. Die Erneuerung des Handelabündnifjes zwifchen
Defterreih und Ungarn, über welche die Eröffnung gemeinfamer Verhandlungen un—
mittelbar bevorjteht, ift gleichfalls dazu angethan, wirthichaftliche Fragen und deren
Erörterung in den Bordergrund zu ftellen.
In Italien Haben inzwiichen parlamentarische Stürme eigenthümlicher Art
geherrſcht. Die Lage einzelner Provinzen, namentlich der füdlichen, ift ſchon ſeit
geraumer Zeit eine Quelle der Beforgniß für die aufrichtigen Vaterlandsfreunde. Ge-
heime Gejellichaften, nicht felten zu verbrecheriichen Zwecken geftiftet, terrorifiren das
platte Land und die Hleineren Städte. Die Maffia und die Camorra find zu einer
Macht getvorden, der gegenüber die Majeftät des Gejehes hinfällig erjcheint. Ver—
beſſerter Jugendunterricht, exleuchtete Volkserziehung können da erſt für fpätere Gene-
rationen jegensreich wirten. Aber das Uebel heifcht fchnelle, eingreifende Heilmittel.
Das Minifterium glaubte diejelben lediglich in der Rüſtkammer des abjoluten Polizei-
ftaats finden zu können, und jo ward ein Gejehentwurf gezeitigt, der in jeiner all-
gemeinen Faſſung die perfönlishe Freiheit ſelbſt in jenen Provinzen ſtark beichränfte,
welche von dem Uebel bisher verichont geblieben. Diejer Umftand wedte eine jcharje
Oppofition umd e8 kam zu den heftigjten Scenen im Parlament, welche den Begriff
eines parlamentarifchen Verfahrens illuforisch machten. Indeffen fand man mit jener
[U
Politische Rundſchau. 159
den Italienern eigenen praftifchen Klugheit jchließlich doch einen Ausweg, welcher
den Leidenſchaften gejtattete, zu verrauchen, und es ift natürlich, daß das allzeitbereite
Auskunftsmittel einer parlamentarifchen Unterfuhung auch diesmal dazu herhalten
mußte — Zeit zu gewinnen. Unberührt von dieſen Vorgängen blieb Garibaldi
lediglich auf feine Tiberregulivungspläne bejchränkt, und aus den Reihen feiner bis—
herigen Gefinnungsgenofien, welche überall wenig Sinn haben für Thätigfeiten, die
praftijche Ziele verfolgen, werden bereit? Klagen und Anklagen laut, die auch ben
Mann von Gaprera daran erinnern müflen, daß ich dicht neben dem Capitol noch
heut der tarpejifche Felfen befindet. »
Gambetta Hat in Frankreich diefe Erfahrung noch nicht gemacht, obwol auch
er zum Beſten eines feſt im Auge gehaltenen Zieles mehr Zugeftändniffe an bie
Grundſätze feiner politiichen Gegner ſich abrang, als fich ſonſt mit dem Gewiſſen
eine principientreuen Republifaner8 verträgt. Seine Haltung in der Frage der
Freiheit des höheren Unterrichts, Lediglich durch den Wunſch beeinflußt, auf dieſem
Mege eine Anzahl gutgläubige Katholiken, welche weder Legitimiften noch Kaiferliche
find, mit der Republik ala Staatsform auszuföhnen, gab in diejer Beziehung einen
deutlichen Fingerzeig, wie wenig er mehr als Parteimann auftritt und wie jehr er
fih nur noch ala Staatsmann fühlt. Ob e8 auch möglich fein werde, eine ähnlich
nachgiebige Tactik bei der großen Wahlgefegfrage zu beobachten, dürfte indeß zu be=
zweifeln fein, denn jo gewiß ein republikaniſcher Sieg mit dem Liſtenſkrutinium als
MWahlmodus in Ausficht fteht, jo fragwürdig erfcheint ein Erfolg bei Arrondiffements-
wahlen, und hier einen Compromiß eingehen, hieße ohne Zweifel den Fortbeſtand
der Republit muthwillig gefährden.
In einem für die ganzen Vereinigten Staaten beftimmten, wiewol nur
an die Republikaner von Pennfylvanien gerichteten Briefe hat Präfident Grant
fich zum erjten Male über jeine perjönliche Stellung zur fommenden Präfidentenwahl
vernehmen laſſen. Er hat in diefem wunberlichen Briefe erklärt, daß die Verfaſſung
ein Verbot eines dritten Präfidentichaitsterming nicht enthalte, daß er jedoch nicht
Gandidat für die Wiederwahl ſei und eine Wiederwahl nicht annehmen würde, wenn
nicht Umftände eintreten würden, die ihm im Intereſſe des Landes dazu zwingen.
Das heißt für den unbefangenen Leſer: Ich würde mich freuen, wenn Umftände
eintreten würden, welche mich zur Annahme zwingen. Werden fie aber eintreten?
Wird fich ein Krieg heraufbeſchwören laſſen? Doch nur mit Spanien; denn zu irgend
welchen Befürchtungen im Innern find feine Gründe vorhanden. Selbſt Jefferfon
Davis hat vor wenigen Wochen in einer in Teras gehaltenen Anſprache an ehemalige
Rebellenfoldaten denjelben gerathen, nun treu zur Sahne der Union zu ftehen. Wenn
auch ohne politifche Bedeutung, jo find diefe Worte doch bemerfenswertd ala ein
Zeichen, welch’ ein Umſchwung ſich in den Anfichten auch der fanatifchiten Führer
der Seceffion vollzogen hat. Und nicht nur durch diefe Worte, auch durch ein an—
deres trauriged Ereigniß find die büfteren Tage des Krieges wieder heraufbeſchworen.
Frau Mary Lincoln, die Wittwe des unvergeklichen Abraham Lincoln, ift von dem
Kreisgeriht in Chicago einer Irrenanſtalt als unheilbar überwiejen worden. In
derjelben Nacht, in welcher ihr Gatte unter der Hand des Meuchelmörders fiel, um—
nachtete fich ihr Geift.
Der Mangel einer einheitlichen verftändigen Forſtverwaltung in Amerifa macht fich
durch das unglaublich fchnelle Verschwinden der Wälder bemerflih. Was nicht gefällt
wird, das geht durch Waldbrände verloren. So fieht man fich den in den Ber.
Staaten immer heißer werdenden Sommern und immer fälter werdenden Wintern
gegenüber. — Die katholifche Kirche hatte Gelegenheit, einen Bruchtheil ihrer wohl-
disciplinirten Macht bei Gelegenheit des Convents des „römiſch-katholiſchen
Unterftüßungsvereins“ zu zeigen. Es waren mehr als dreihundert Vereine mit
25,000 Mitgliedern vertreten. Daß bei den Reden manch unerfreuliches Wort über
unfern „Marc Trebonius“ fiel, ift felbftverftändlihd. — Einen weit erfreulicheren
Eindrud machte das wenige Tage zuvor ebenfall3 in Gincinnati ftattgehabte Muſik—
160 Deutiche Rundſchau.
feft unter der Leitung von Theodor Thomas. Achthundert Sänger und ein Orchefter
von 100 Mann führten klaſſiſche Programme in trefflicher Weile aus und lieferten
den Beweis, daß auch in den Der. Staaten die Kunft eine Stätte gefunden.
Die Märztage des Jahres 1848 in Pofen.
— —
Hochgeehrter Herr Redacteur!
Das kürzlich in meine Hände gelangte Juni-Heft Ihrer ſehr geichägten „Deutihen Rund
hau“ enthält in den Aufzeichnungen des verftorbenen General von Brandt über „die März
tage be3 Jahres 1848 in Pojen* auf Seite 402 eine Darftellung der hiefigen Ereigniffe
vom 22, März 1848, nach welcher ich, der damalige Aſſeſſor v. Eroujaz (der Name v. Groniay
fann nur ein Drudjehler fein), an einer von ben Deutichen „in honorem ber Polen ge
machten Demonftration“ Theil genommen und „eine emphatijhe Rede gehalten
habe.“ Meine Hochachtung des verftorbenen General v. Brandt fannn mich nicht abhalten, dieje
Darftellung dahin zu berichtigen:
daß die Berfammlung, welche am 22. März 1848 vor dem hiefigen Landſchaftsgebäude
ftattfand, lediglich zu dem Zwecke veranftaltet war, bie aufgeregte Stimmung ber beiben
Nationalitäten zu beruhigen reſp. den Frieden zwijchen ihnen zu erhalten, und daß
meine Anſprache nur diefem Zwede diente.
Sch darf mich zur Beftätigung vorfiehender Behauptung auf bie fpecielle Schilderung in
bem Ertrablatt zu Nr. 70 der Pojener Zeitung vom 23. März 1848 und auf die Breslauer
Zeitung vom 25. März 1848 (Nr. 72), wo aud der Wortlaut meiner jehr einfachen Rede
mitgeteilt ift, jo wie auf eine große Zahl hiefiger Zeugen berufen. Für Diejenigen, welchen bie
Zeitungen aus jenen Tagen nicht erreichbar find, theile ich in Folgendem ben Wortlaut meiner
Ansprache, wie ihn die Breslauer und Pofener Zeitungen berichten, mit:
„Polen! Wir ergreifen gern die Bruderhand, die Ihr und mit Eurem geiftigen Zuruf
gereicht habt. Wir verftehen, wir achten die Begeifterung, die Euch durchglüht, denn wir wünjchen,
daß eö nur freie Völker auf bem Erdballe gebe. Aber die Gejeße vernünftiger freiheit wollen,
daß das Beftehenbe nur geändert, nicht, dab es zerftört werde. Euer Zuruf läßt uns glauben,
dab Ihr die Bedeutung dieſes Unterfchiedes erfannt habt. Fahret fort, durch die Waffen bes
Geiftes, durch das frei gewordene Wort Eurer Nation zu dienen, Die Sympathien der Völler
find mit Euch, fie werden Euch unterftügen. Polen! Wir wollen nicht Eure Feinde heißen, wir
nennen und Eure Brüder. Seib nicht durch zu jchnellen Eifer Schuld, daß der Stahl des
Bruders gegen den Bruder gezücdt werde, daß der Bürger das Schwert brauche zum Schutze
feined Eigenthums. Friede, Friede, Friede fei unter ung, damit wir ſtark feien gegen ben all:
gemeinen Feind. Seid Ihr mit dieſem Ausdruck unferer Anfichten einverftanden, wie und Euer
geiftiger Zuruf glauben läßt, jo beweift ed dadurch, dag Ihr unfere Nationalfarben neben den
Eurigen tragt. Wir werden Eurem Beifpiele folgen.“
Wo enthalten diefe Worte eine Berherrlihung der Polen, wo eine Emphaje?
Auf Grund bes $ 11 des Reichprehgefehes dv. 7. Mai 1874 erſuche ich Sie, hochgeehrter
Herr Rebacteur, um Aufnahme biefer Berichtigung in das nächite Heft ber „Runojchau*.
Poſen, ben 12. Juni 1875. Hochachtungsvoll
Ihr ganz ergebener
von Crouſaz,
Appell»Ger.:Rath.
Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Pierer'ſchen Hofbuchdruckerei in Altenburg.
Für die Nebaction verantwortlid: Elwin Paetel in Berlin.
Unberechtigter Nachbrud aus dem Inhalt diefer Zeitfchrift unterfagt. Ueberfegungsrecht vorbehalten.
Deutfde Aundfdan.
Heraußgegeben
Yulins Nodenberg.
Erſter Jahrgang. Heft 11. Auguſt 1875.
Berlin.
Verlag von Gebrüder Paetel.
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Huber & Go. — Brüffel, 6. Muquardt's Hofbuchhandlung. — Budabeſt, Karl DO. Stolp. — Buenos Aires,
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Pi
Dnhalts-Derzeihniß.
Wilhelm Icnfen, Wilhelm von Grumbad. Novelle. . .
E. 3cller, Die Sage von Petrus ala römiſchem —
Serdinand Hiller, L'Abbaye-aux-Bois u
Oscar Schmidt, Dalmatien
Mar Horwitz, Der deutſche Anterrit. in rn öffentlichen
Schulen der Vereinigten Staaten von Amerila .
W. D. Whitney, Streitfragen der heutigen Sprad-
pbilofopbie . . .
G. zu Putlik, Die Erfüllung zeligiäfer Hufgaben dura
die dramatiſche Kunft i
Friedrich Spielhagen, Sommerläben. Gedicht ;
Stiedrich Kreyſſig, Literariſche Rundihau
a) Die Geier-Wally. Eine Gefchichte auß den Tyroler Alpen von
Wilhelmine von Hillern, geb. Birch.
b) Erzählungen von Marie Freiin von Ebner-Eſchenbach.
ec) Gabriel. Roman von ©. Kohn. Zweite umgearbeitete Auflage.
d) Ein Spiegel der Gegenwart. Roman von S. Kohn.
e) Juſchu. Tagebuch eines Schaufpielers. Von Hans Hopfen.
f) Novellen von Ernſt Edftein.
g) Gefammelte Gedichte von Hermann Grieben.
h) Laube's gejammelte Schriften. I. Band. Erinnerungen, 1810
bis 1840.
X. Zur neueren bHiftorifch=-politijhen und volkswirth—
XI.
Ihaftliden Literatur . Mn ta
a) Maurice et Barneveldt. Etude historique par Groen van
Prinsterer. 2
b) Comment les peuples deviennent libres, par Albrespy.
c) Das vaticaniſche Syftem. Bon W. E. Gladftone. Autorifirte
Ueberjegung.
d) Der Socialiamus und feine Gönner. Bon Heinrich von Treitjchte.
e) Die Frau auf dem Gebiete der Nationalöfonomie. Von Dr.
Lorenz don Stein.
Politiſche Rundihau.
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Wilhelm von Grumbad.
—
Novelle von Wilhelm Jeuſen.
Wo aus dem Herzen der Stadt Würzburg als jchnurgrade Verlängerung
der Domgafje die mit mannigfachen fteinernen Heiligen bejeßte altmächtige Main—
brüde auf das unter dem Dtarienberg gelagerte fogenannte Mainviertel der
Stadt zuführt, fteht gleich zur Rechten als eines der erften Gebäude ein großes,
den Bli auf fich lenkendes Haus mit prächtigem Balcon, der nad) unten ſpitz
in die Mauer ausläuft. Da hodt ein Kleines Männchen mit einem Wappen
ſchild und fieht jonderbar, halb drollig, halb nachdenklich -ernfthaft in die Welt
hinaus. Das Haus, an deſſen Wand es als ftummer Wächter manch' Jahr:
hundert an fich vorübergehen ließ, trägt den Namen der Wirthichaft „Zu den
drei Kronen“. Es liegt für eine jolche bejonders günftig, denn die großen Straßen
aus aller Welt Richtung, darunter al3 die wichtigften von Alters her die gegen
Frankfurt und Nürnberg, kreuzen daran vorüber; wer von der Stadt her fommt,
um, aus twelcherlei Anlaß und Gewerbe immer, die enge, teil aufwärts klimmende
Gaſſe zum Schloßbere hinan zu fteigen, findet leichtlich nicht minder Anlaß,
vorher zu friihem Trunk in den drei Kronen einzufprechen, und ebenjo einladend
öffnen diefe für Jenen die Thür, welcher auf umgekehrtem Weg erft den luſtig
mit grausgrünem Waller raufchenden Main zu überjchreiten trachtet. Es war
jedenfalls ein vorbedächtiger und erfahrener Mann, der ſich die „Ecke der Winde
und Straßen“ al3 Pla für ein Gafthaus auserfah, wol ſchon manchen Tag
zuvor, eh’ auf halbe Steinwurfsweite faum davon, grad’ dem plätjchernden
Brunnen gegenüber, die fteinerne Gedenkjäule errichtet ward, vor deren Inſchrift
jeit Jahrhunderten gar Mancher, durch die Zellergaſſe fremd herabkommend oder
ſie hinanſchreitend, neugierig innegehalten und wol gedankenvolleren Blickes ſeinen
Weg fortgeſetzt.
Um die Zeit jedoch, als der genannte Denkſtein errichtet ward, gab es noch
fein Königreich Bayern, ſondern mainauf- und abwärts nur fränkiſche Lande,
die unter vielerlei und wechſelnde Herrſchaft zerſpalten waren. Oben, wo die
Doppelquellen des Fluſſes aus dem Fichtelgebirge und fränkiſchen Jura hervor—
ſtrömen, ſaß auf ſeinen ſtarken Felsburgen Blaſſenburg und as — der
Deutſche Rundſchau. I, II.
162 Deutſche Rundichau.
Markgraf Albrecht der Jüngere von Brandenburg-Culmbach, ein noch junger,
doch in vielen Kämpfen und Fehden des deutichen Reich gar erprobter Herr,
ber glei” wie die Mehrzahl feiner im Höheren Norden anſäſſigen Brüder und
Mettern ſich der kaum jeit einem Vierteljahrhundert erft ausgegangenen neuen
lutberifchen Lehre zubekannt hatte. Er genoß, der Kleinheit feiner Erblande un—
geachtet, großes Anſehn bei den Fürften und dem Kaiſer des deutjchen Reiches,
Herrn Karl dem Fünften jelbft, denn er war mit diefem wie mit den meiften
der Erfteren blutsverwandt und feiner unerfchrodenen Mannhaftigkeit und Kriegs—
kunde halber weit gerühmt und gefürchtet. Doch ebenjomwol befannt nad) Mittag
und Mitternacht war fein Starrfinn, mit dem er an einmal Erfaßtem auf Leben
und Tod fefthielt, und die gewaltige Schuldenlaft, die ihn und jein Land in
Folge feiner zahlreichen, nicht immer mit glüdlichem Ausgang endenden Fehden
und Händel bedrüdte ine Klage um die andere lief wider ihn auf in den
Actengebirgen des kaiſerlichen Reichskammergerichts zu Speier, doch Markgraf
Albrecht achtete ihrer nicht mehr, al3 die andern Reichaftände e3 zu thun gewohnt
waren, und obwol fein unjugendlich ftrenges Antlig nur felten den Ausdrud der
Fröhlichkeit annahm, jo geſchah's doch am leichteften, wenn Einer ihm Botſchaft
neu gegen ihn beim Reichsfammergericht erhobener Beſchwerde überbrachte. Dann
lachten feine ſcharfen Mundwinkel wol auf und er deutete auf den Wahlfpruch
feines Wappenfchildes: „Fortem exarmat fortior“, und überjegte es jpöttijch:
„Eilen ift beſſer ala Tinte“.
Daß es zumeift befjeren Erfolg hatte, mochte freilich Keiner, der mit ihm
und bi3 an’3 Ende des 16. Jahrhunderts lebte, Läugnen.
An Markgraf Albrechts Lande ftieß gegen Süden das Gebiet der mächtigen
Reichs⸗ und Handelöftadt Nürnberg, die faum mehr ald dem Namen nad) unter
der alleinigen Oberherrlichteit des Kaiſers ftand, und mainabwärt3 das Bis—
thum Bamberg, auf deſſen Schlofje der alternde Biſchof Weygand mwechielvolle
Tage erlebt. Dann folgten zu beiden Seiten des Fluſſes Befisthümer von Grafen,
Freiherren und freien vom Adel des Reichs, Hin und wieder noch markgräfliche
Burgen, Dörfer, Wälder und jelbft Städte, wie die Stadt Schweinfurt, da=
zwifchen, die fich in wunderlichem Zwitterverhältnif der Zeit bald als Angehörige
de3 Culmbacher Landes, bald ala freie Reichsſtadt geberdete, je nach guten und
üblen Tagen. Eine bunte Mufterfarte von Hoheit, Grenziteinen und Wegfperren,
von Anſprüchen, Hader und Gewaltthaten der Herren, von Zöllen, Abgaben,
Bedrüdungen und Kriegsnoth der Bewohner, bi3 dort, wo der Main von jeinem
erften tief nad) Süden gebogenen Knie ſich wieder nordwärts hinaufichlägt, mit
ihren Thürmen, Kuppeln und feiten Wällen die Stadt Würzburg, die Haupt»
ftadt?des reichen Bisthums gleichen Namens aufftieg, überragt von gewaltiger
Burg auf dem Scheitel des vierhundert Fuß hohen Marienberges, an deſſen
fteilem Abfall gen Süden jchon aus alter Zeit her die Sonne die Trauben de3
feurigen Leiftentweines reifte. Auf der Burg aber jaß als Biſchof Herr Melchior
von Zobel, der fich, jeinen Vorgängern feit juft einem Jahrhundert gleich, Herzog
zu Franken und des heiligen römiſchen Reiches Fürſt nannte, wozu ihn die Größe -
feines Reichthums und der weite Umfang der ihm angehörigen Länder gar wohl vor
manchem geborenen Fürften berechtigte. Er ftand an der Grenze der Hälfte eines
Wilhelm von Grumbad. 163
Jahrhunderts; doc günftige Natur und feuriges Blut, das ihn jederzeit bereit-
willig den Prunk und die Ueppigkeit ſeines Schloffes mit Harniſch und Streitroß
vertaufchen ließ, hatten ihm jugendlicheres Ausfehen bewahrt, und wer ihn fah,
tie er allmorgenlic) bereit3 um die fechfte Stunde nad) Anhörung der Frühmefje
mit jeinem adligen Gefolge durch die fteile Schloßgafje herab in die Stadt zur
Kanzlei feines Stiftes ritt, mochte faum glauben, daß er überhaupt ſchon den
Beginn der vierziger Jahre erreicht habe. Ya, wer ihn dann unbekümmert lachen
und auch wol an heißen oder falten Tagen vor der Herberge am Mainufer einen
Becher Weins auf einen Zug leeren jah, mochte faum für wahr halten, der, den
er vor fich erblickte, jei der Biſchof Melchior Zobel von Würzburg, defjen bitter-
liche Klage über Gewaltthaten und jchier völligen Untergang, den ihm Markgraf
Albrecht von Brandenburg bereitet, zugleich mit Schwertflang, Sugelpfeifen und
Tlammengeprafjel jahrelang das deutſche Reich, die Säle der Kaiſerburg und die
Acten de3 Reichskammergerichts durchhallt hatte.
Es gab wol Niemanden von der Dftjee bis an die Alpen, der nicht um die
blutigen Fehden zwiichen dem Markgrafen Albrecht von Brandenburg und den
Biihöfen von Bamberg und Würzburg im Bündniß mit der Stadt Nürnberg
wußte; aber e3 gab ficherlich gar Wenige nur im deutſchen Reich, die fich ver—
maßen, ohne Gunft und Mißgunſt enticheiden zu twollen, auf welcher Seite das
Recht jei, und noch Wenigere, die überhaupt in ihrer eigenen Drängniß Zeit
und Luft befaßen, dies Recht mit der Wage der Themis zu bemefjen. Denn
Dieles und Ungeheures war in den lebten Jahren im heiligen römiſchen Reiche
deutſcher Nation gejchehen, da3 wol überall zu denfen gab, nicht ohne Grund
babe das Altertum die Augen jener Göttin mit einer feften Binde umgürtet
dargeftellt. Die angejehenften Chur- und Reichsfürften hatten den ſchmalkaldiſchen
Bund geftiftet unter der Vorgabe, fi) bei der bedrohten neuen Lehre Martin
Luther's zu erhalten, doch im kaiſerlichen Rathsgemach wußte man gar wohl,
daß es fich nicht allein um den Schub des freien Glaubens, jondern weit mehr
um Erhöhung der Unabhängigkeit vom Oberhaupt des Reiches handle, und nad
mancherlei Zug und Gegenzug lag der jchmalkaldiiche Bund bei Mühlberg zer-
jchmettert am Boden und Churfürft Johann Friedrich von Sachſen und Lande
graf Philipp von Heflen, bis vor Kurzem die mächtigſten Fürſten des Reichs,
zogen in harter Gefangenschaft Hinter dem fiegreichen Kaifer Karl dem Fünften
auf allen feinen Wegen drein. Durch jcheinbaren Abfall des Eidams des Lande
grafen Philipp, des jelbft lutheriſchen Churfürften Mori von Sadjjen, jchien die
Sadje des Proteftantismus verloren und e8 eine Gnade des allmächtig daftehen-
den Kaiferd zu fein, daß er dem Andrängen des Tridentiner Concils auf jofortige
vollkommene Ausrottung der Ketzerei nicht nachgab, ſondern, bis zum endgültigen
Austrag einer Glaubensordnung, zu Augsburg ein „Interim“ erließ, das in
proteftantifchen Ländern den Wegfall einiger der hauptſächlichſten Mißbräuche
der fatholiichen Kirche verftattete. Karl der Fünfte war ein ebenjo kluger Mann
al3 frommer Katholif, der gar gut wußte, wie gewaltig im Lauf eines Menjchen«
alter3 die „Peft der neuen Lehre” bei Groß und Klein um fich gefreflen Hatte,
daß ein Ausrotten derfelben mit dem Schwert neun Zehntheile des deutjchen
Reichs und vielleicht manden Palaft jogar betroffen haben würde, in welchem
11°
164 Deutſche Rundſchau.
Kurzſichtigere Niemanden als die treueſten Söhne und Diener Roms vermutheten.
Hatte doch der Erzbiſchof zu Köln, Herrmann von Wied, offen feine Abſicht aus—
geiprochen, ſich zu vermählen und fein Erzbisthum zu verweltlichen, und Die
Gejandten des DVenetianiichen hohen Rathes am faijerlichen Hofe meldeten in
ihren geheimen Berichten, in den öfterreihifchen Erblanden ſelbſt jei nur noch
ein Dreißigftel und im ganzen deutjchen Reich höchſtens ein Zehntel der Bevölfe-
rung katholiſch, dem jelbft in Bayern, Franken, am Rhein und in Meftphalen
huldigten Adel, Bürger und Bauern der neuen Lehre, zu Münfter fei eine
„Dompröpftin” gar angejehen, und überall von hundert Prieftern faum ein
einziger ledigen Standes.
So erließ Karl der Fünfte, dem Siege feiner Waffen zum Trotz, das In—
terim, und e3 zeigte fich bald, daß mit der äußeren Heeresmacht de3 Proteftan-
tismus die innere Kraft defjelben doch noch nicht einmal jo weit gebrochen war,
daß der Kaiſer überall auf Botmäßigfeit jeinem interimiftiichen Erlaß gegenüber
zu rechnen vermochte. Beſonders im Norden des Reiches weigerten fi) manche
feften Städte, vor allen Magdeburg, jenen anzunehmen, und um ein Beijpiel
aufzuftellen, ſprach Karl der Fünfte über die widerjpänftige Stadt die Reichs—
acht und beauftragte jeinen Günftling Churfürft Mori von Sachſen, zuſammt
dem Markgrafen Albreht von Brandenburg-Culmbach, mit Vollftredung der—
jelben. Allein Dtagdeburg, von dem alten Landsknechts-Feldhauptmann Sebaftian
Schärtlin von Burtenbach vertheidigt, wehrte ſich mannhaft Jahr und Tag lang
gegen die für jene Zeit großen Heerhaufen der beiden Fürften, jo daß Morit
von Sachſen guten Grund zu haben ſchien, ringsum in allen Landen nod
immer neue Söldner zu werben, um das Eaijerliche Geheiß zu erfüllen. Dann
aber im Frühlingsbeginn des Jahres 1552 wandte er fich plößlic) von den
Thoren Magdeburg'3 gen Süden, erließ einen Ruf an Alle und Jeden, Fürſten,
Adel, Städte, Bürger und Bauern im deutjchen Reich, dat er Ordnung, freien
Glauben und deutjches Recht darin wiederherjtellen, das ausländiiche Kriegsvolk
und hiſpaniſch-römiſche „Praktik“ jedoch draus verjagen wolle, und rüdte wie
ein Nordſturm bis in’3 Herz der Alpen nad Innsbruck, wo Karl der Fünfte,
von Gicht gelähmt, kaum jelbft vor ihm der Gefangennahme entrann. Fünf
Jahre hatten zu völliger Umgejtaltung der Dinge in deutſchen Landen hingereicht,
den Weltbeherrihungsgedanten Karl's des Fünften einem Kinderjpielgeug gleich
zerbrochen, die Gefangenen defjelben befreit und den Kaiſer gezwungen, jet jelbjt
um Frieden zu bitten. Nah Ablauf eines Menſchenalters an den Ausgang
zurückgeworfen, von two er jeine Pläne zur Beherrſchung Deutjchlands begonnen,
legte Karl der Fünfte, der Politif und der Hoffnung müde, den Abſchluß der
deutichen Angelegenheit in die Hände jeines Bruders, des Königs Ferdinand von
Böhmen, der für den Sommer des nämlichen Jahres 1552 zum Behuf endgül-
tigen riedensvertrags einen Reihstag nach Paffau an der Donau ausjchrieb.
Während dieje großen Umtwälzungen aber das deutjche Reich in allen feinen
Velten raftlos erichütterten, jpann fi) in kleinerem Maßſtab ebenſo raftloje
Fehde zwiichen dem Markgrafen Albrecht von Brandenburg und den Bilchöfen
von Bamberg und Würzburg fort, wie die nachbarlichen Verhältniffe fie faft
überall von Zeit zu Zeit bedingten, Hier aber jeit alten Tagen bejonders zum
Wilhelm von Grumbad). 165
Ausbruch gelangen ließen und, kaum erlojchen, auf’3 Neue wieder anjchürten.
Es ift Schon gejagt worden, daß die Entjcheidung, auf weſſen Seite Recht und
Unrecht dabei gewejen, bereit3 damals ebenjo jchwierig bi3 in ihre lebte oder
erſte Entwidelung zu verfolgen war, ala heut’; gewiß ift, daß auf beiden Seiten,
wenn nicht in gleicher Anzahl, jo doch in gleicher Weije Städte, Dörfer, Burgen
und Wälder verbrannt, Pferde, Rinder, Vieh und Güter aller Art ala Beute
fortgejchleppt, Löjegelder erpreßt, Männer erjchlagen, hinterrücks ermordet, ges
pfählt, geviertheilt, Greife und Kinder gemartert, Weiber und Mädchen ver-
getvaltigt worden.
Markgraf Albrecht von Brandenburg aber zog nicht mit dem Churfürften
Morit von Magdeburg aus gegen den Kaifer nad Innsbruck, ſondern wandte
fich mit feinem gefammelten ftarfen Heerhaufen gegen das fränkische Land, fiel
in die Bisthümer Bamberg und Würzburg, jchlug allerorten die geringe Söldner-
macht der beiden Biſchöfe und zwang fie zum Abſchluß der langjährigen Fehde
durch einen „Bamberger Vertrag“, in welchem ihm alle jeine Forderungen, be=
jonders eine gewaltige Geldjumme, deren er durch feine Schulden Hoch benöthigt
war, zugejagt und Friede und Freundſchaft Hinfort zwiſchen den von Alters
feindlichen Nachbarn geichloffen ward. Mit knirſchenden Zähnen unterjchrieben
die beiden entwaffneten Bilchöfe den Vertrag, doc wohin fie blickten, war nicht
Hilfe und Beiftand zu gewwärtigen. Der Kaiſer jelbft geichlagen und flüchtig
in Billah, der König Tyerdinand gezwungen, den Frieden um jeden Preis zu
erkaufen, die Sache des Proteftantismus triumphirend von der See bis an die
Alpen und der Markgraf Albrecht Lager: und Bundesgenoſſe de3 Sieger und
gegenwärtigen unumfchränkten Herrn im deutichen Reich, de3 Churfürften Morik
von Sachſen. Doch während Biſchof Weygand von Bamberg, ein grämlicher
und zu heftigen Ausbrüchen geneigter Herr, feinen Grimm nicht wol zu bergen
wußte, fügte fih Biſchof Melchior von Würzburg gleihmiüthiger, wie e3 jchien,
in das Unvermeidliche, war fröhlich und guter Dinge in feiner Schloßburg auf
der Höhe, die damals nicht Marien-, jondern Frauenberg hieß, und Leerte,
wenn er an der Herberge neben der Mainbrüde vorſprach, die damals nicht ben
Namen „Zu den drei Kronen“, jondern „Zum Schmeltzenhof“ führte, jeinen
Becher Stein- oder Leiſtenweins mit ebenjo viel Wohlgefallen auf die Neige,
wie vordem.
Da ſaß an einem Hochſommernachmittag im offenen Hofraum des Schmelen-
hof3 unter den Würzburger Bürgern, die des Tages Laft und Hite, auch bei
Manchen die Gewohnheit zur Einkehr betvogen, ein Gaft, wie die Zeit ihn wol
mit ſich brachte. Unter dem Schatten einer Akazie hatte er den Eurzbehaarten
Kopf an die Wand gelehnt, die langen, doc; Fraftvollen Beine unbefümmert
weit vor ſich hingeftredt und hielt zwijchen diejen die Hände auf den blanken
Kreuzgriff eines ihm mehr als bis zur Hüfte ragenden Schwertes geftübt, das
die Nechte nur verließ, um ab und zu einen vor ihm jtehenden Weinkrug zu
tüchtigem Zug an die Lippen zu führen. Es war ein noch junger Gejell mit
gradlinigem, jcharfem Najenrift im hagern Gefiht und ungewöhnlich vielem
Weiß um den Kleinen, ſcharfrunden Augenftern; doc) ein hartentjchlojfener Aus—
drud, zu dem die lange Narbe vom linken Schläfenbein faft bis zum Mund»
166 Deutſche Rundſchau.
winkel paßte, beſagte, daß er ſchon mehr durchgemacht und erfahren, als bie
Jugendlichkeit ſeiner Züge andeutete. Ein etwas wilder Bart der Oberlippe,
mehr roth als braun, ſtand im Einklang zu dem kaum zolllangen Kopfhaar;
das bartloſe Kinn bildete, wenn der Mund ſich feſt hinaufſchloß, ein eigenthüm—
liches ſtempelartiges Gepräge aus. Sein Wamms und ſeine Hoſen, ſpaniſch
aufgeſchlitzt, beneſtelt und beſchleift, waren enger, als der Tagesbrauch ſie bei
Landsknechten zur Gewohnheit gemacht, und obendrein neu und friſch, als hätten
ſie noch keinen Ritt auf ſtaubiger Straße mitgemacht, denn der lange Stachel
auf derben Schuhen kündete den Reitersmann. Er ſaß allein vor ſeinem Trunk,
kaum beachtet und ſcheinbar ſich ſelbſt ebenſowenig um ſeine Umgebung kümmernd.
Seine Augdeckel waren gleichgültig, nachmittagsmüde heruntergelaſſen, und nur
ab und zu verrieth ein unmerkliches Aufblinzeln der Wimpern, daß ſein Ohr
die um ihn her erklingenden Geſpräche vernehmen und darauf hinhorchen mochte.
Es war Anlaß genug für die guten Bürger Würzburg's, von Vergangenem
und Gegenwärtigem zu reden, von Laſt, Noth und Plage, zumal von der ſchweren
Steuer, welche ſie mitaufbringen gemußt, um die hohe Kriegsentſchädigung an
den Markgrafen Albrecht zu zahlen. Aber der Wein des Vorjahrs war trotz
allen Unheils trefflich gerathen und trank ſich köſtlich in der ſchwülen Luft aus
den kühlen Steinkrügen. Auch der Main rauſchte von unten etwas Kühlung
herauf, die Glocke vom Dom klang mit hübſchem Geläut herüber, und der Krieg
im Frankenland war vorbei, jo daß Fabian Brede, der Wirth zum Schmeltzen—
hof, und ſeine Tochter Hand und Füße brauchen mußten, dem Klappern der
leeren Gefäße durch hurtigen Schritt in den Keller zu genügen. Fabian Brede
hatte ſelber etwas von einem alten Landsknecht in Art, Haltung, Blick und Be—
wegung, nur war ſein Rücken breit, ſeine Geſtalt behäbig geworden und es
mußte manches Jahr verfloſſen ſein, ſeitdem er, wenn er's zuvor gethan, mit
Hackenbüchſe oder Hellebarde in's Feld gezogen: jedenfalls ſo lange Zeit, als ſein
braunzöpfiges Töchterlein mit den nußbraunen Augen in die Welt geſehen, und
das mochten ſiebzehn Jahre ſein.
Jetzt ſchlug auch der fremde Kriegsgeſell auf den Tiſch und rief, ohne ſich
zu rühren: „Zu trinken!” Seine Stimme war jchneidig, wie fein Ausjehen,
und da3 Mädchen, das einen Augenblid geraftet und über den Main nad) der
fonnbeglänzten Stadt hinübergeſchaut hatte, ſchrak faft etivas zufammen. Sie
chien zu zögern und nad ihrem Bater zu jehen, allein diefer war beichäftigt,
und ſich jchnell wendend trat fie nun an den Tiſch des Rufers, nahm ſchweigend
den Krug deſſelben, füllte ihn im Seller und ftellte ihn ſchweigend vor den
Fremden zurüd. Diejer öffnete die Augen und nicte kurz, dann richtete ex ſich
ein wenig auf und hielt die wieder Fortichreitende mit der Frage zurüd:
„Wie viel macht's?“
Sie gab Antwort und er warf einen neufunfelnden Gulden auf den Tiſch;
wie fie auf dem Tiſch Münzen aus ihrer Taſche juchte, um zu wechſeln, heftete
fein Blick ſich ſchärfer auf fie, und er frug:
„Kommt Euer Biſchof hier vorüber, wenn er auf’3 Schloß reitet?“
Das Mädchen warf einen Blick nad) dem Schatten an der Hauswand auf
und verjehte:
— —
un ge
Wilhelm von Grumbad). 167
„In einer Stund’ wird der gnädigjte Herr fommen.“
„Du weißt’3 ja genau, Sibylle Brede. Haft Du die Uhr in den Augen,
oder im Herzen?“
Sie jah halb befremdet, halb neugierig drein. „Woher kennt Ihr mid — ?"
„Bon meinen Augen, ob fie Dir gefallen mögen, oder nit. Den Meiften
von Deiner Art thun ſie's nicht; es muß bei Dir nicht jo ſchlimm geweſen jein;
wär’3 wie bei den Andern, hätt'ſt Du fie wol nicht jo ſchnell vergefjen. Haft
freilih wol viel erlebt jeit drei Jahren, two ich zum Lebtenmal hier war. Das
Mieder jpannte Dir damal3 noch nicht über die Bruft; um die Zeit, wo's kommt,
habt Ihr den Kopf voll umd vergeßt häßliche Gefichter über feineren.“
Er ſagte es ſpöttiſch, aber es war fein jcherzender Ton, jondern etwas
Stachliges, Verwundendes und Verwundetes lag darin, daß Sibyllen? Auge
unmwillfürlich einen Moment ji wie prüfend, ob er die Wahrheit geiprochen,
in das Geſicht des Spredher3 richtete. Sie hatte vergefien, daß fie jchon zuvor
bei feinem erſten Anblick daffelbe gedacht, was er jebt gejagt; nun drehte fie
raſch erröthend den Kopf wieder ab, und er fuhr haftig fort:
„Nicht wahr, nun weißt Du's und behältft das häßliche Geficht im Ge—
dächtniß? Kann’ Dich tröften, jo hab’ ich auch ſchon hübjchere gejehen als
Did, und fie Haben mich doch gefüßt, wenn's auch nicht gern geihah; man
fragt nicht allemal erft darnad. Es macht Spaß, wenn man fieht, wie’3 Einer
davor graut; die's gern thun, darauf pfeif’ ih! Thuſt's auch nicht aus Ver—
gnügen, Sibylle Brede, drauf will ich ſchwören, drum könnt's mir gefallen —“
Er ſchlang ihr mit unſchönem Lachen den Arm um die ſchlanke Mitte des
Leibes; fie ſuchte fich eilig loszuringen, doch der Arm war wie eine eijerne
Klammer. „Laßt mich,“ zürnte fie, „ich bin feine Schenkdirne, oder ich ruf’
nad dem Vater!“
„Hoho, Mädel, glaubft, wenn ich einen Kuß von Dir will, fümmert’3 mich,
ob's Andre woll’n oder nicht?“
Mit einem Ruck zog er fie dichter an ſich, daß er fie zwang, ſich halb
ſchwankend auf fein Knie zu jeßen; doch ihr Kopf bog fich, jo weit er’3 ver-
mochte, von ihm fort, und fie bat jet ängſtlich:
„Zreibt nicht Spaß, Ihr bringt mich in üble Nachred’ bei den Leuten —“
„Pah, ’3 wird Keiner Dir wa3 nachſagen, wenn er und beijammen fieht!
Fortem exarmat fortior! heißt’3 bei uns; verftehft’3 heut’ noch nicht, wirſt's
morgen begreifen. Könnt’ft mit mir über Land reiten, ’3 würd’ Kleiner glauben,
Du thätft’3 aus freiem Stüd, denn ich hab’ Dich angelogen vorher, daß im
leiten Jahrgang eine hübjchere Magd im Frankenland gewachſen ift, als Du.
Aber drum eben ift’3 mir fein Spaß —“
Er ſprach nicht aus, jondern hob den Arm, ihn um ihren Naden zu jchlin-
gen und ihren Kopf heranzubiegen. Doc die Secunde, in der er fie dergeftalt
aus ihrer Haft entlaffen, benützte Sibylle, um behend wie eine Eidechſe unter
feinem Arm duchzuichlüpfen und davon zu fliegen. Mit einem Ruf, der halb
drohend, Halb über ihre Hurtigkeit erftaunt ang, ſprang er ihr nad: „Bei
meiner Mutter Milch, jo fommft Du mir nicht fort!”
Don den Bürgern umher lachten einige, andre machten ein unwilliges Ge-
re
168 Deutſche Rundichau.
fiht, Einer ftieß den Andern ermunternd mit Knie und Ellbogen, allein Jeder
hütete gleicherweife das erſte Wort auf der Zunge und zog die Füße zurüd, über
welche der dem flüchtenden Mädchen um die Tiſche Nachjegende hätte ftraucheln
fönnen. Dann trat juft ein neuer Gaft von der Straße herein, jah die Mädchen-
jagd und rief verwundert den Arm vorftredend:
„Hoho, Junker Kreger, auf dem Taubenfang? 'nmal wieder am Stein,
wo der Würzquell fließt? Sind die Weiber bei Euch nicht eingejchloffen im
Bamberg’ichen Vertrag?“
Der Eintretende war don flattlicher Bürgerart, graubärtig ſchon etwas,
doch mit heiter jugendlichen Ausdrud im Elugen Auge Er trug nad) Zeitbraud)
Wehrgehänge und kurzes Schwert dran, aber beides von jo ungewohnt kunftvoller
Zier, daß es den Selbtverfertiger errathen ließ. Der junge Landsknecht ftußte
untoillfürlich bei dem Anblid und den Worten des Waffenjchmiedes, die ihm zu
rechter Zeit etwas in Beftinnung rufen mochten. „Habt Gruß, Herr Dietrich)
Spumber,” verjeßte er, die Hand des Angeſprochenen mit einer gewiſſen Eilfertig-
feit ergreifend, als diene fie ihm nicht unerwünſcht zum Vorwand, von feiner
Verfolgung abzuftehen. „Der Bamberg’iche Vertrag gilt nur für Kinder, wie
fie aus Eurer Werkftatt hervorgehn, dent’ ich; mit aufjäßigen Lippen hab’ ich
feine Urphed’ beſchworen. Es find drei Jahr', jeit ich bei Euch im Haus lag,
und ic Hab’ Euch manchmal Dank unter der Zeit gewußt, daß Eure Klinge
hier fi gut gehalten; mander Mutter Sohn am Main freilicd; weiß Euch viel-
leicht weniger Dank dafür. Habt Euch auch gut gehalten, Meifter Spumber,
aber ich bin fein Junker geworden derweil, jondern der Kretzer geblieben. Der
Nam’ paßt auf mich, wie auf den Bamberger Wein, denkt die Sibylle; da
wollt’ ich, fie Jollt’ ihn auch Eoften!“
„Run, mit dem Würzburger Wein, den’ ich, habt Ihr auch Feine Urphed'
geſchworen, Chriftoff Kretzer,“ entgegnete lachend der Waffenichmied. „Du da,
Sibylle, zwei Krüge vom 47iger! War ein heißer Jahrgang im Reich und
nicht ohne Grund der Rothe drin gerathen. Freu’ mid, Euch zu jehn, id)
meine, Euch hier jehn zu können, hätten’3 jo bald kaum geglaubt. Iſt's wahr,
Mädel, dat Du ihm jchiefe Augen gemaht? Dein Vater ift aud) ein Reiters-
mann gewejen, und Landsknechte müffen fein, jonft könnten die Schwertfeger
in den Main fpringen. Aber drum doch auf gute Nahbarihaft und langen
Frieden! iſt befler, wenn Ihr unfre Klingen bei den Heiden im Donauland
verichartet, al3 da, wo dieſer Wein wächſt!“
Sie ftießen mit den Krügen an, die Sibylle gebradht und hinter Spumber's
Sit herüber auf den Tiſch geichoben. Ahr Geficht jchien noch roth von dem
vorherigen Ringen und dem Lauf; fich halb abwendend antiwortete fie auf die
Trage des Waffenſchmieds: „Ach Hab’ ihn nicht ſchief angejehn, Herr Pathe,
aber er wollt’3 durchaus haben, ich ſollt's thun.“
Chriſtoff Kreker trank, ohne des Mädchens Gegenwart mehr zu beachten.
„Was mic) hergebracht, fragt Ihr? Neu ausftaffirt hab’ ich mich bei Euren
Krämern. Hätt’ ich’3 vor einem Mond noch draußen mit ihnen gehandelt,
wollt’ ich ihnen ein Draufgeld aus Eurer Münze gezahlt haben, daß der Wein
ihnen noch heut’ ſauer ſchmeckte! Fünf Goldgulden für den Lumpentand! Euer
Wilhelm von Grumbad). 169
Ellenmaß hier bricht den Landfrieden! Wär’ ich Kaiſer, ich ſpräch's in Vehm
und Acht und machte Eure Kaufhäufer für jeden ehrlichen Reiter vogelfrei!”
Dennoch glitt fein Bli nit ohne Wohlgefallen an dem neuen Wamms
und den gejchligten Hofen herunter, und der Waffenſchmied Dietrich Spumber
ladte:
„Als ich Euch das Jüngſtemal jah, hattet Ihr Euch bei den Magdeburgern
ausftaffirt. Wollt’3 wol durchproben, ob das Wamms befjer mit dem lutheri-
Ichen Segen hält, oder mit dem katholiſchen?“
„sch ſcheer' mich nicht um die Pfaffen Hüben und drüben —“
„Aber Ihr helft fie mit jcheeren.“
„Daß ich ein Schaf wäre! Wozu macht Ihr Eure Scheermefjer, Mteifter?“
lachte auch der junge Kriegsknecht jeßt. „Ich denke, um die Wolle abzunehmen,
two fie wächſt.“ Er warf einen gleichgültigen Blick auf Sibylle Brede hinüber,
die in einiger Entfernung zubörend ftehen geblieben war, und fügte Hinzu:
„Was ficht’3 Eure braunen Kopfftränge an? Sie find nit von Wolle, däucht
mich, und wären ſie's, laſſ' ich fie jedem Andern, daß ex ſich dran auffnüpft!“
Das Mädchen trat, roth werdend, einen Schritt weiter zurüd; in des
Waffenſchmieds Geficht malte fich eine Frage, für die er eine Einkleidung juchte,
doch nicht fand. Er trank einen Zug aus feinem Krug und meinte:
„Ein heißer Ritt heut’, wenn Ihr von weit kommt.“
„Bon Untern-Bleichfeldt.“
„War’t bei der Frau Anna von Grumbad), des markgräf’ichen Kanzlers
Ehefrau? Steht’3 bejjer mit ihr?“
„Schlecht.“
„hut mir leid, war eine ſchöne rau, als fie und ich jung waren. 's ift
leider nicht wie mit dem Wein, daß die Jahre uns kräftiger machen. Seh’ noch,
wie fie da die Gaffe vom Frauenberg mit Seiner fürftlihen Gnaden herunter-
reitet auf nem Zelter wie friſche Milch, und fie jelber drauf wie Milch und
Blut. Da wart Ihr noch nicht zur Welt, Freund, und ich ein junger Burſch
wie Ihr. Dem hochwürdigen Herren Biſchof fieht man die zwanzig Jahr’ am
wenigften an; er könnt’ noch heut’ wie der Blitz aus dem Bügel jpringen, fie
vom Sattel heben und fi) den Schloßwein von ihr Fredenzen laſſen, wie er's
damals hier vor diejer Thür’ that. Sie lachte, al3 fie getrunken, ich hör's noch,
und ihr Geficht ward roth von dem heißen Leiten. a, zwanzig Jahre —
zwei noch drauf find’! Darin ift die Welt um Mtancherlei ander3 geworden.
Die Lutherichen waren ein Pflänzchen in der Scherbe; wer dachte damals, daß
ein Baum draus wachſen könnt’? it fie bettlägerig ?“
„Schon jeit 'nem Jahr.“
Dietrih Spumber jtredte jeine Fräftigen Glieder. „Woll' uns Gott behüten!
Gin Jahr im Bett, Lieber hätt’3 ein End’ mit mir! ch hab's jagen gehört,
jie liegt drüben allein in Untern-Bleichfeldt und ihr Mann ift von ihr?“
„Er hat zu ichaffen auf dem Gebirg.“
„Du Ichaffen ?“
„Ein marfgräf icher Kanzler hat viel zu ſchaffen; er iſt Statthalter des
Markgrafen im fräntijchen Gebirg.“
170 Deutiche Rundſchau.
Der Waffenſchmied trank abermals, einen Blic über den Krugrand werfend.
„Wißt Ihr, was man fpricht, Freund? Er hat viel zu Ichaffen, aber er macht's
Andern mehr und mandem Chriftenkind im Rei), das nicht weiß, woher ihm
der Wind auf einmal Sand in die Augen jchlägt. Oben, wo der Nordiwind
geht, im Hamburg'ſchen, Lübeck'ſchen, Holftein’schen, jollen ſie's auch willen, oder
mindften3 drauf rathen.“
„Ihr ſeid hier zu Würzburg wol in den Läuften beiwanderter, Meiſter
Spumber; davon fommt un auf dem Pferd nicht viel zu Ohren. Was ich
vernommen, ift, daß Einer aus dem Braunſchweig'ſchen gejchrieben, ein Sohn
de3 ältern Raths Ebner zu Nürnberg, e8 hätten fränkische — Hat nicht zugeſetzt,
von wo — und herzogijche Reiter droben von Lüneburg bi3 gegen Lübeck an
hundert Dörfer und Orte geplündert und verbrannt. Aber Ihr wißt's wol
beſſer hier unter'm Frauenberg, Meifter. Was ficht's mid) an? Mir ift’s
herein= und herausgeklungen.“
Chriftoff Kreger trank ebenfalls; die heiße Nachmittagsjonne warf eine Weile
ihweigfam die Schatten der Beiden gegen die gelbe Hauswand und zwiſchen
hinein das obere Stück von dem zierlichen Köpfchen Sibylle Brede's. Der
Waffenſchmied hob nadhläffig den Kopf:
„Laßt droben jeine Klingen verhauen, wer will! Dem Reich thut’3 weh,
fagt man, aber ’3 ift ein altes Sprüchtwort und lange her, daß die rechte Hand
fih drum kümmert, ob man die linke abhadt. Es follt’ wol anders jein, wer
will’3 ander? machen? Bringt Eud) font fein Gewerb in unfre Stadt?“
„Der Wein.“
Zum Zeugniß feiner lakoniſchen Antwort koftete der Sprecher wohlgefällig;
die Erwiderung mochte ihm ſelbſt etwas allzufurz gefaßt erjcheinen, denn er
jeßte Hinzu:
„Ich denke, er wird aud meiner Frau von Grumbah für ihre Schwäche
gut thun.“
„Drum jehn wir Euch hier — ala Küfer?” lachte Spumber. „ch trau’
Eurer Zunge, daß fie fich drauf auskennt, nicht den jchlechteften auszuprobiren.
Freut mich, daß Ihr's mit dem weißen Rebenjaft jett haltet, vom rothen und
leider vom edelften iſt's lang’ genug gefloffen allwärt3 in deutichen Landen,
und ’3 hat feiner durftigen Kehle Nub gebradt. Wohl befomm’s Eurer Frau
von Grumbad und ihrem Siehthum!”
Sie fließen Elappernd mit den Steinfrügen wider einander; de3 Waffen-
ſchmieds Wißbegier ſchien etwas, doch nicht vollkommen noch befriedigt. Er rief
der Sibylle nad) friſchem Trunk, jah über die goldflimmernde Mainbrüde gegen
die Stadt und ſagte:
„Dan jpricht, es ſeien braunſchweigiſche Völker im Anzug über den Wald.“
„Sprit man's?“
Chriftoff Kretzer's Lider hoben ſich einen Augenblid weniger nadhmittagsträg
auf; fein Gegenüber fuhr fort:
„Wißt Ihr oder mögt Ihr denken, für wen oder gegen wen?“
„Wißt Ihr's vielleiht? Wißt ja jo allerhand unterm Frauenberg, was
andre Leute nicht wiſſen. Wenn ich dafür halten joll, ift’3 für den Papft und
Wilhelm von Grumbad). 171
gegen den Großtürfen. Wer hätt’ jonft Futter für Hackenbüchſen nöthig zwiſchen
Auf und Niedergang ?“
„Ich dacht’ nur jo, Herr Wilhelm von Grumbach könnt's etiva vorhaben,
Treibjagden zu halten im Gebirg.“
„Auf Wölfe, meint Ihr? Die haben wir aus markgräfichen Landen aus—
getrieben, und die Füchſe fiten im Stollen, daß man ihnen ohne Räucheriverk
nicht mehr beikommt. hr wißt, 's ift Schonzeit am Main, und ich denke, die
Braunſchweigiſchen werden's auch wiſſen. ch glaub’3 aber nicht; Weibergered’
twird’3 fein, denen's über die glatte Haut friert dabei — ic mag Euren Wein
nicht mehr!“
Sibylle Brede hatte den Krug ihres Pathen gefüllt zurückgebracht und bie
Hand nad) dem geleerten des jungen Reiter? ausgeſtreckt, doch er zog benjelben
mit den lebten, an fie gerichteten Worten heftig an fi) und ftieß ihre Hand,
die er mitgefaßt hatte, zurüd. „Mögt keinen Wein mehr?“ fragte der Waffen-
ichmied verwundert. „Da habt Ihr Eure Natur geändert, Freund.“
„Die Natur ändert viel. Der Jungfer da hat fie die Augen auch geändert. -
Vor drei Jahren war fie noch blind wie ein Katzenwurf von acht Tagen; jet
find ihr die Augen ausgewachſen.“
„Zröft Di, Kind, wenn fie ihm nicht gefallen,“ lächelte Dietrich Spumber,
dem Mädchen den Arm über die Hüften legend. „Wär’ ich jo jung, wie er,
mir gefielen fie, thun's auch) jo noch —“
Sie fiel ihm hochroth in's Wort: „Solltet’3 Eurer Mutter nicht anthun,
jo zu reden, Herr Kretzer. Ich weiß es jebt gar wohl, daß ich Euch gejehn
hab’ vor dreien Jahren, und daß Ihr freundlich damals mit mir twaret, anders
al3 heut’! Wenn Ihr heim fommt und Eure Mutter Euch anjchaut, werden
ihre Augen fich freuen, und wär’ ich auch Eurer Mutter Kind, hätt’ ich’3 ebenjo
gethan, denn da hättet Ihr nicht jo herriſch mit mir geredet und mich jo hart
angefaßt, twie’3 bei Leuten, bie Ihr lieb habt, nicht Eure Art fein mag.“
Aus den grauen Augen Chriftoff Kretzer's ſchoß ein ben haſtigen Worten
des Mädchens entgegnender, jäh aufglühender Strahl. Er zog mit einem Rud
den blanfen Kreuzgriff feines langen Schwertes herauf, ftieß es klirrend in den
Boden zurüd, hob den leeren Steinfrug vor fi) und ſchlug ihn auf den Tiſch—
rand, daß er in Scherben zerberftend umherflog. Dazu ftieß er mit zornig
anjchwellenden Schläfen aus:
„Meint auch noch mit der Otternzunge dreinzuftechen, weil Du Dein Bruft-
tuch Hiebfeft glaubft? Das ift wälſche Kunft und wäljche Zunge! Meine hat
nichts damit zu jhaffen! Heißt fie gehn, Meifter, wenn Ihr wollt, daß id)
noch bleibe!“
Sibylle war erſchreckt zurüdgefahren; unter dem weißen Bruſttuch, von
dem er geſprochen, bob es fich jchneller auf und nieder; der Waffenſchmied be-
ſchwichtigte:
„Ihr irrt Euch, fie hat's gut gemeint, nicht arg, Freund, denn fie weiß
nicht, daß es Euch) an’3 Herz geht —“
„An's Herz?" fiel Chriftoff Kreber mit rauhem Hohn ein, „ich hab’ keins,
mir geht nichts dran!“
172 Deutſche Runbichau.
„Er hat mir's ehmald beim Wein erzählt, Kind; es gibt ein Lied, das
paßt, als wär’3 auf ihn gemadt:
Es ward getroffen auch ein Weib,
Ihr Haupt gejchofien von dem Leib,
Todt blieb fie allda liegen;
Sie jtillet gleich ihr armes Kind,
Das Blut fprang über die Wiegen.
Er weiß nicht einmal, wer’3 gewejen, die ihn da zuleßt mit der rothen Milch
geftillt; der Mann, der ihn gefunden, hat ihn nach fich geheißen, drum bringt’3
ihn auf, wenn man von feiner Mutter jpricht und von Leuten, die ihn lieb
haben, denn er meint, Seiner hätt's.“
- Sibylle Brede’3 Hände hatten ſich unwillkürlich ineinander gefaltet, fie
ftand mit gejenktem Bli und bewegte nur ſtumm das Knie um einen Schritt
vorwärts gegen den Tiſch. Doch fie fuhr wieder zurücd, denn gleichzeitig jprang
der junge Reiter ungeftüm auf, ftreifte fie mit einem finjtern Bli und jchattete
dann das Auge mit der Hand gegen die Mainbrüde Er nahm feinen Sit
wieder ein und fragte gleichgültigen Tones, als ob er nicht3 von der Mitthei—
lung des Waffenſchmiedes vernommen:
„Was fommt da?“
Spumber folgte dem gegen die beiden Domthürme deutenden Finger; eine
Reiterſchaar hob ſich drüben über den abwärtäfteigenden Anfang der Brücke
herauf; man unterjchied noch nichts, als ein gleißendes Durcheinanderfunkeln
an der Spibe der Herannahenden, allein der Beſchauer erwiderte:
„Seine fürftliche Gnaden, der Herr Biſchof, kommt aus der Stadt zurüd;
man erkennt's von Weiten; er reitet den Bucephalus, den dalmatiſchen Hengft
mit dem Gofdfettenbehang, den ihm der heilige Vater Julius der Dritte im
vorigen Jahre geichenkt.“
Alle Köpfe der vor dem Schmelgenhof Verfammelten waren jet der Brüde
zugewandt, auf der die Reiter zwijchen den fteinernen Bildjäulen rechts und
lintks mit vernehmlichem Hufgetrappel, da3 ſich unter den Wölbungen verftärkte,
näher famen. Es waren fieben männliche Geftalten und eine weibliche, die mit
an ber Spibe des Kleinen Zuge zur Linken des Biſchofs ritt, jo nahe jetzt
ihon, daß Dietrih Spumber nicht mehr mit der Hand wies, jondern nur halb»
laut die Namen nannte:
„Der gleich zunächſt in der braunen Schaube mit dem xothen Vollbart ift
ber Freiherr Wolf Carol von Weindheim, Amtmann zu Iphoven, des Fürften
vertrautejter Rath, und neben ihm Herr Hans Eytel von Knöringen, auch Seiner
fürftlihen Gnaden Rath. Dahinter reitet der Truchſeß Chriftoff Veit von Riened,
Herr David von Rot und der Kämmerer Herr Jacob Fuchs. Der mit diefem
lat und wie lauter Lebenzluft ausfieht, ift des Heren Herzogs Neffe, Herr
Hana von Zobel — e8 liegt im Blut —“
„Und die jchöne Dame neben dem Biſchof?“ frug Chriftoff Kretzer.
Der Waffenſchmied warf einen kurzen Blid in die Richtung, wo Fabian
Brede's Töchterlein ftand, und dämpfte feine Stimme noch mehr herumter. „E3
ift die Freiin Theodora von Grafened, Schweiter des Freiherrn Friederich zu
Wilhelm von Grumbad) 173
Grafened, auch Hofjunker Seiner fürftlichen Gnaden, eine kluge Dame, jo Flug,
daß die Augen des Herrn Biſchofs hart neben ihr etwas thun, wa3 Eure und
meine nur von bier aus vermögen, fie noch für jchön Halten. Sie war's ein-
mal faft jo jehr, wie die rau Anna von Grumbach, aber am Hof mögen ſechs
Jahre länger fein, al3 ein Dutzend anderswo —“
„Was braucht's auch Schönheit bei einem geiftlichen Herrn!“ fiel Kretzer
ſpöttiſch ein.
Um die Lippen des Waffenſchmieds ging ein jchalfhafter Zug. „Habt Recht,
der Herr Biſchof wird nicht drauf jehen, aber der Herzog von Franken mag ab
und zu ein Auge dafür haben —“ -
Der Spredher ftand auf und zog haftig jein Baret vom Kopf; Alle um ihn
ber thaten das Nämliche, und mechaniſch folgte auch der junge Kriegsknecht
ihrem Beifpiel, denn der Fürftbiihof Melchior von Zobel hielt im nächſten
Augenblid jein mit goldenen Schaumünzen an Hals und Bruft dichtverhängtes
Roß vor dem Schmeltenhof an. Eine ftattliche, faft noch jugendlich-Fraftvolle
Erſcheinung, der eilerne Tyeldrüftung oder ein jpanifches Hofkleid angemefjener
geftanden hätte, al3 die wideripruchsvoll feine Geftalt verdedende dunkle Sammt-
ſchaube, welche über die rothflammende Schabrade Herunterfloß; in den heiter-
blidenden Zügen lag ein harmlos-gewinnendes Lächeln, mit dem er den ehrfurdhts-
vollen Gruß der Bürger eriwiderte, während feine Hand in jpielender Leichtigkeit
den jeurig in die Stange beißenden und mit dem Hufe jcharrenden Hengft bän-
digte. Nun drehte er feiner Begleiterin die breitgewölbte Stirn zu und fragte:
„Was meint hr, Frau Gottesgabe, zu einer anderen Gottesgabe aus der
Hand unjerer jungen Hebe bier, ehe wir den jchmalen und fteilen Zugendiveg zu
unjerem Zion hinauf fortjegen?“
Die Freiin don Grafened, deren Namen er aus dem Griedhijchen in's
Deutiche übertragen hatte, hielt gewandt ihr milchweißes Pferd an jeiner Seite
an und nidte zuftimmend:
„Wie e3 Eurer fürftlihen Gnaden gefällt. Komm, junge Hebe, und bringe
und Deinen beten Wein!“
Die von einem Wink begleitete Anforderung galt Sibylle Brede, welche,
offenbar über den Auftrag nicht befremdet, eilig einen ſchön cijelirten Pokal
berbeiholte und ihn bis zum Rande gefüllt der vornehmen Reiterin darreichte.
Man jah, fie that auch das ala etwas Gewohntes und wartete, daß bie Fyreiin
dem Biſchof den Trunk Fredenzen werde.
Der Waffenſchmied Dietrih Spumber hatte Recht, die Edeldame, neben der
das Mädchen ftand, mußte von ausnehmender Schönheit geweſen fein. Sie war
noch ſchön; die reich-prächtige Kleidung hob ihren jchlanfen, hohen Wuchs, die
feine Hand, welche den Naden ihres Pierdes Elopfte, ſtach kaum von der perlen-
den Weihe deflelben ab, und unter dem von Pfauenfedern jchillernden und
Hatternden Baret blidte ein ebenjo geift- und bedeutungsvolles, al3 in jeinen Linien
faft claſſiſch vollendetes Geſicht hervor. Nur war e3 vielleiht ein wenig zu
viel Verſtändniß, das in den Elugen Augen, nicht der erfte Frühduft der Jugend
hr, der über den Wangen und der hier und da kaum merklich noch durch-
ıtteten Stimm lag. Aber jo wenig Jemand Sibylle Brede für älter als ihre
174 Deutſche Rundſchau.
Jahre halten konnte, ſo wenig war es möglich, der ſchönen Reiterin die doppelte
Anzahl derſelben abzuſprechen. Rang, Reichthum und Vorzüge des Geiſtes lagen
unfraglich in der einen Schale vereinigt und in der andern nichts als die roſige
Morgenröthe der Jugend; doch ein Richter, der nur der Schönheit den Preis
ertheilen wollte, mußte ſeine Goldkugel in die Schale des Wirthstöchterleins
legen, ohne befürchten zu dürfen, daß ſein Urtheil von einem menſchlichen Auge
angefochten werde.
Es erregte einen Moment den Eindruck als ob der Fürſtbiſchof Melchior
ſelbſt ſich unwillkürlich in die Lage eines ſolchen Preisrichters hineinverſetzt denke.
Sein Blick glitt über die vornehme Geſtalt der Reiterin und von dieſer, länger
haftend, auf das ſchlichte Bürgermädchen, das im Begriff ſtand, jener den Pokal
emporzureichen, und er hielt, plötzlich die Hand ausſtreckend, den Arm der jungen
Schenkin mit den Worten zurück:
„sh habe Dich lange nicht geſehen, däucht mich, Sibylle Brede, Du biſt
gewachſen ſeitdem.“
Die Angeredete ſchrak bei der unerwarteten Anſprache leicht zuſammen,
daß ihre Hand einige Tropfen von dem Inhalt des Pokals in den Wegſtaub
verſchüttete, und ſie wandte zugleich das Geſicht vor dem eigenthümlich auf ihr
haftenden Auge der Edeldame zur Seite. Die Freiin Theodora von Grafeneck
hatte unverkennbar den Blick ihres fürſtlichen Begleiters wahrgenommen und
ſchien ein Urtheil aus demſelben herausgefühlt zu haben, das ſie aufmerkſam
ihrer eignen Entſcheidung unterzog. In ihren großen Augen ſpiegelte ſich das
Bild des anmuthigen Mädchens, als ſuche ſie dies bis in ſeine feinſten Nuancen
voll in ſich aufzunehmen, dann legte auch der Ausdruck ihrer Züge nicht nur
neidlos, ſondern ſogar wie mit zuſtimmender Befriedigung die goldene Preiskugel
in die Schale Sibylle Brede's. Sie nickte freundlich und lächelte:
„Du biſt die Nymphe des friſchen Quelles hier, es ſteht Dir zu, Seiner
fürſtlichen Gnaden den Wein zu kredenzen, Kind.“
Sibylle ſtand blutroth vor Verlegenheit und hielt unſchlüſſig den Pokal;
der Biſchof lachte:
„Wenn unſer Durſt ſich noch Hoffnung machen darf, müſſen wir wol die
Aufforderung unſerer ſchönen Freundin unterſtützen, meine Tochter. Der edle
Wein iſt Deiner Lippen würdiger als des Staubes, der ihn uns vorweg zu
ſchlürfen droht.”
Noch immer ſtand das Mädchen ungewiß; nun tönte ihres Vaters Stimme
in ihrem Rücken. Fabian Brede wollte flüſtern, aber es gelang ihm nicht, und
er ſagte, Allen rundum vernehmlich:
„Was ſtehſt denn und gaffſt auf's Mieder, dumm's Mädel? Zier' Dich
nicht — ſie hat's von mir nicht gelernt, Hochwürdigſter! Wenn Seine fürſtliche
Gnaden Dir die hohe Ehre anthun will —“
Sibylle gehorchte jetzt und hob den Becher ſchnell an ihre Lippen. Aber es
lief ein Schauer bei der Berührung über ſie, daß ſie haſtig den Pokal nochmals
abſetzte.
„Dein Willkomm iſt nicht einladend, Kind,“ ſagte die Edeldame leicht
tadelnd. „Es iſt, als brächteſt Du Seiner Gnaden Gift ſtatt des Weines zu.“
Wilhelm von Grumbad). 175
Nun trank die Zurechtgewielene mit raſchem Entihluß, doch in ihrer ver-
legenen Scheu neßte fie nicht nur die Lippen, jondern trank wirflid in athem—
Iofem Zug. „Genug, Mädel,“ fiel Fabian Brede ihr in den Arm; „ich glaube,
jegt willft Du Seiner fürftlichen Gnaden nichts übrig laſſen. Nehmt's nicht
übel auf, Hochwürdigſter, fie ift noch ein Kind und weiß nicht, was ſich vor
hohen Herrſchaften ziemt. Ihre Mutter war auch jo und blieb’3 ihr Lebelang.“
„Scheltet fie nicht, fie ift, wie fie jein joll, und mög’ ihrer Mutter Vorbild
nachfolgen!” rief die Freiin Theodora. „Wenn Dein Vater Dih zantt, fomm
zu mir, Sind, ich nehme Dich in Schuß!“
Sibylle reichte jeht den Pokal empor. Sie neigte fi) mit natürlicher An—
muth und jagte leife:
„Es befomm’ Euch, Herr.“
„Herr Herzog, oder Hochwürdigſter!“ ergänzte ihr Vater faft zornig. „it
der hochwürdigſte Herr Biſchof ein Herr, wie ein Junker von der Hofburg?
Verzeiht ihr, fürftliche Gnaden, fie hat’3 auch von ihrer Mutter und weiß nicht,
was fie jpricht.”
„Ihre Mutter muß eine vortreffliche Frau geweſen fein!“ rief die Edeldame
abermald. „Zankt mir Euer Töchterlein noch einmal und ich nehme es noch
heut’ Nachmittag mit mir aufs Schloß!”
Der Biſchof Melchior hatte den Becher genommen, allein er trank nicht,
fondern fein Blick ruhte noch wohlgefällig auf der jungen Darbieterin des Pokals.
Dann ſetzte er diefen an den Mund, zog ihn jedoch gleich wieder zurück, denn
eine plößliche Anſprache unterbrad) ihn. Chriftoff Kretzer war, feine abgezogene
Lederfappe in der Hand haltend, raſch Herzugetreten und jagte faft barſchen Tones:
„Ich habe Eurer fürftlichen Gnaden zu vermelden —“
Der Biihof wandte über die Stimme und ihre Art verwundert den Kopf,
maß den jungen Reifigen mit kurzem Blick und eriwiderte vornehm herablaffend:
„Rachher, mein Sohn! — Es befomm auch Dir, Sibylle Brede!”
Der Waffenſchmied Dietrih Spumber fuchte feinen vorherigen Zechgenofjen
am Wamms zurüdzubalten, doch diejer fuhr unbefümmert um die ihm zu Theil
gewordene Abweiſung fort:
„Sc komme von Untern-Bleichfeldt, fürftlihe Gnaden.“
Nun unterbrach Meldhior von Zobel, abermals den Kopf wendend, feinen
Trunk, mit anderem Ausdrud indeß al3 zuvor.
„Ein tüchtiger Weg; er verdient wol, daß ich Dich zuerft höre, mein Sohn.
Du haft mir etiwa3 zu melden?“
„Nur zwei Worte. ‚Ya‘, und —“
„Sa, ift ein gute Wort, es bedeutet immer Gute. Man darf es das
Wort Gotte3 und feiner Freunde heißen; nein, jagt der hölliſche Erzfeind und
feine Anhänger. Und da andre?”
„Heute.“
„Auch ein gutes Wort. Heute ift beifer als geftern, denn das Heut’ ift
näher, und vielleicht befjer al3 morgen, — wer weiß, wa3 una morgen beftimmt
it? Gutes Doppelmwort verdient guten Doppellohn, Weindheim.“
Der Biſchof drehte lächelnd die Stirn zu dem Hinter ihm Haltenden Roth-
176 Deutiche Rundſchau.
bärtigen und nidte, wie der Freiherr Wolf Carol von Weindheim aus feiner
Börje einen Doppelgulden hervorzog, nahm denfelben und reichte ihn Kretzer mit
den Worten:
„Rimm, mein Sohn, und gedente meiner dabei. Es ift fein Handgeld, denn
meine Reifigen find nicht von diefer Welt und Dein Schwert würde mir nichts
nußen. Aber ich weiß, das Eifen hat Verwandtſchaft mit dem Silber und zieht
es gern an. Es wird wol feine Glaubens, der Berge verjeßt, bei Dir bedürfen,
dab Du ein Wunder vollbringft und es in flüſſiges Gold von dieſer Art ver-
wanbdelft.“
Er leerte mit heiterer Deutung den Reft des Pokals, gab dem Mädchen
denjelben zurüd und fügte hinzu: :
Met es Dir aud, Sibylle Brede: Ja ift beffer als Nein. Ya ift Gott
und den Menſchen mwohlgefällig, bringt Glück und Zufriedenheit, nein ſpricht
das verſtockte Herz, und die Reue folgt Hinterdrein. — Behüt’ Euch Gott, meine
Freunde!”
Die Bürger grüßten ehrerbietig und jahen dem fich fortbeiwegenden Reiter-
zug nad. Sie murmelten untereinander: „Ein leutjeliger Herr! — Seiner ift
ihm zu gemein. — &3 gibt feinen Zweiten twie ihn im deutichen Land. — Ein
Fürſt und ein Biſchof und ein Menjch.“
„Schreib’ Dir die Worte des Hochwürdigſten auf Dein Täfelchen, Mädel, “
fagte Fabian Brede, „und daß Du mir ein andermal nicht wieder Schand’
machſt und Di jo dumm beträgft! Glaubft wol, daß Du der vornehmen
Freifrau wirklich gefallen? Ausgeſpottet hat fie Dich, dumme: Ding! Schau’,
da hält der Hochwürdigſte noch an und fieht zurück!”
Die Reiter hatten ihren Weg nur ein Dutzend Schritte weit fortgejeßt und
hemmten ihre Pferde noch einmal an der Ede des Schmeltenhofs. Sie folgten
darin dem Beilpiel ihres Gebieter3, der, offenbar in heiterfter Laune, mit ber
Hand auf das Kleine, drollig nachdenklich an der Erkerwand hockende Stein-
männchen hinwies und, fich zu feiner Begleiterin wendend, jcherzenden Tons fagte:
„Der Kleine Kobold hat etwas im Sinn; jo oft ich vorüber fomme, guet
er immer auf denjelben Fleck drüben hinunter, Wir müſſen doch einmal nad)-
jpüren, ob er uns eine Stelle, wo Gold vergraben Liegt, kundthun will.“
„Das liegt anderswo,“ lachte die Freiin, „an einer Stelle, wo man nicht
darnach zu graben, jondern e8 nur zu nehmen braucht.“
„Slaubt Yhr? Glaubt Ihr? Mir wäre da3 Koboldchen da als Hüter
Vieber. Das Gold ift gemeiniglich unter der Hut von Drachen, und wer es
nehmen will, muß etwas dafür geben, verjchreiben, heißt's in den Märchen.“
„Aber das Märchen gibt fi aud mit einigen Keßerjeelen zufrieden,” warf
Theodora von Grafeneck hurtig ein, „und mich däucht, das ift ein guter Handel,
mit dem der Himmel den Höllendrachen betrügt.“
Der Biſchof Melchior von Zobel Tächelte vergnügt: „Pia fraus — pia fraus.
hr jeid eine Gottesgabe, die ftet3 gute Deutung weiß. Ueberlegen wir's! Sie
fommt aljo.“
„Ber?“
Wilhelm von Grumbad). 177
„Eure —“, der Sprecher blinzelte einen Augenblick ſchalkhaft mit den
Lidern — „wie jagt man’3 in der Spradhe Eures Märchens? Votre devaneiere.”
„Ich glaube, Ihr dächtet heut’ weniger der Vorfahren als nachkommender
Enkelgeſchlechter,“ lachte die Edeldame mit jchnell vorbeihujchendem Blick, und
ihren Zelter leicht mit der Gerte anjpornend flog fie den fteil zum Frauenberg
emporführenden Weg vorauf, an deifen Ende hinter breit herabgelafjener Zug-
brücke hochgewölbtes Steinthor des fürſtbiſchöflichen Schloffes die vornehme Reiter-
gruppe aufnahm und jet völlig den nachblickenden Augen der vor dem Schmelen-
hof Zuriücgebliebenen entzog. Die Spätnachmittagjonne vergoldete ſchweigſam
die Zinnen, Thürmchen, das Gemäuer um die dunklen Schießicharten der mächtig
in’3 Blau ftrebenden Veſte und lag unter diefer noch heit auf dem fteilen Abhang,
wo die grünen Trauben des Schloßmweines fi) noch faum mit winzigen Beeren
zwiichen den Blättern hervordrängten. Die Gäfte Fabian Brede's aber waren
an den Rebenjaft de3 Vorjahres zurückgekehrt, und nur da3 kleine Männchen an
der Steinwand des Schmeltenhofes blickte an feinem Wappenjchild vorüber un-
ausgelegt mit ernfthaften Augen auf einen dem plätjchernden Brunnen grad’
gegenüber befindlichen Exrdfled an der „Ede der Straßen und Winde“.
Chriſtoff Kretzer ftand noch mit den beiden empfangenen Gulden in ber Hand
neben dem Waffenjchmied, der ihn neugierig fragte:
„Ihr hattet aljo doch ein Gewerb bei uns? Dacht's mir wol, man ſieht
Euch Oberländiichen ſonſt felten bier; aber verftanden hab’ ich Eure Ausricht
nicht. Was ift Ja umd Heute?“
„Fragt's Waſſer, das da vorbeiſchwimmt; ich Hab’ nicht beſſeres Willen
davon.”
„Weil Ihr wie der Fiſch drin ſeid!“
„Weil's mich nicht angeht und Euch nicht, wenn ich's wüßte.“
Spumber late. „Da Ihr von der nämlichen Höflichkeit gegen die hübſcheſten
Mädel feid, muß fich’3 ein grauer Bart auch wol gefallen laſſen. Kännt’ ic)
Euch nicht von vordem, ſo hieß’ ich Euch nicht bleiben, Junker Grobian! Aber
Ihr kocht die Suppe heißer, ala hr fie anrichtet. Kühlt Euch noch mit einem
friſchen Schluck, wie's der Herr Biſchof Euch jelber gerathen!“
„Ein Trinkgeld für einen mweglagernden Schluder wie ih, nicht wahr?“
verjeßte der junge Kriegsknecht mit rauhem Gelächter. Er machte eine ver-
ächtliche Geberde, die Gulden fortzujchleudern; der Waffenſchmied hielt ihn
am Arm:
„Kein übles, mein’ ich, und ich denke, zu Würzburg unterm Stein fändet
Ihr wol beifere Verwendung dafür!”
„Habt Net, 3 ift Silber, man kann Freikugeln draus gießen.” Ex
ftedtte die Münzen in jein Wamms und fuhr heftig fort:
„Sagt, Meifter, warum reitet der Herr Melhior von Zobel auf dem
Goldhengft als Fürftbiihof und Herzog von Franken und wirft mir, dem
reifigen Knecht Chriſtoff Kretzer, ein Trinkgeld für meine Botihaft zu? Wißt
Ihr's? Warum fite nicht ich, der Chriftoff Kretzer, auf der rothen Schabrade
und werfe dem Melchior Zobel einen Heller von meinem Weberfluß in den
Staub? Wißt Ihr's? Schmedt ihm der Wein anderd auf der u Hat
Deutihe Rundſchau. I, 11.
178 Deutiche Rundſchau.
er mehr Kraft in feinem Arm? Kommt andre Blut, al3 mein’3, heraus,
wenn Eure Klingen ihm in den Leib fahren? Wißt Ihr's? — Wo ift mein
Pferd? Ich Hab’ Eure Stadt jatt! Draußen ift’s beſſer!“
Der Bürger lächelte. „Warum bin ich der Schwertfeger Dietrich) Spumber
zu Würzburg und nicht von Gottes Gnaden König Carolus der Tyünfte, des
heiligen römiſchen Reiches Kaiferlihe Majeftät? Wenn das Blut noch heiß
gährt, fragt man's fi) wol manchmal und hat nicht viel kluge Antwort drauf.
Aber fie kommt, wenn's Gottes Wille ift, fie mit den Jahren wachſen zu laffen,
und jagt’3 Einem jedesmal deutlicher: Sei zufrieden, daß du Dietrih Spumber
bift, der da3 Eiſen ſchweißt und ſich hernach an fühlem Trunk gut thut. Dente
mir, der Schweiß unterm Goldbehang und der Edelfteinfrone ift nit von
andrer Natur und trodnet vielleicht nicht jo jchnell beim Weinfrug als meiner.
Habt aber Recht, 's fiel mir auch jo ein, wie id Euch vor dem fürftlichen
Herrn ftehn jah. Ihr habt jo was von feiner Art, wie er vor ein zwanzig
Jahren dreinihaute und jeinen Schatten warf — nur nicht jo finfterbrauig,
Freund — und wenn Ihr in der Sammtjchaube auf dem Goldhengft gefeifen
hättet, dürft” Euch auch Keiner für den reifigen Knecht Chriftoff Kretzer an—
gejehen haben. Macht's ihm nach, Freund, die Welt fteht Euch offen! Seine
Mutter hat ihm auch feinen Purpurvorhang um die Wiege geichlagen, er war
einmal ein Reitersmann wie Ihr. Kirchenſegen ift goldner Regen, und Prieſter—
tonfur die halbe Chur. Wenn Ihr's wollt, will ich Euer Pathe jein, wie ich's
bei der Sibylle da gewejen, und meine bejte Hlinge als Taufgeſchenk drauf
geben. Wär's nicht qut für meine Sünden, Mädel, wenn ic mir das Verdienft
erwürb', jolche Ketzerſeele aus der ewigen Weißglüheſſe loszuſchmieden?“
Der junge Reiter hatte antiwortlos fein an der Hauswand befeftigtes Pferd
herbeigezogen, und die lebte Trage Spumber’3 war an Sibylle Brede gewendet,
die mit langjam zögernden Schritten näher getreten. Sie ftand niedergefchlagenen
Blides, nickte nur ftumm zu der Trage des Waffenjchmiedes, und ſagte nach
einer Weile mit unficherer Stimme:
„Wollt ſchon verreiten, Herr Kretzer?“
Der Angeredete ſchwang fi) ohne Erwiderung mit einem Sat auf fein
Pferd und jchlug diefem den ſpitzen Ferſenſtachel in die Seite, daß es ferzengrad
mit ihm in die Luft ſtieg. Nun fuhr das Mädchen raſch fort:
„Weiß nicht, ob ich Euch je wieder jehe, — wollt’ Euch noch abbitten,
daß ich Euch vorhin weh gethan. 's muß hart fein, wenn man feine Mutter
hat — id) Hab’ auch feine mehr —“
„Habt Dank für Red’ und Trunk, Herr Dietrich Spumber, und gebt Adht,
daß Ihr nicht Löcher in den Bamberger Vertrag ſchweißt! Thut Ihr's, jo
ficht's mich nicht an, ob Ihr des römischen Reiches Majeftät jelbjt geworden
wäret und ich nur der Chriftoff Kretzer geblieben, und Ihr jeht mich wieder
am Stein! Sonft wol nimmer! B’hüt Euch der Hinkende, Meifter! — Daß
di Gott’3 Element jchänd’, Gaul! Was Haft noch unterm Fyrauenberg zu
ſchaffen?“
Der Reiter hieb ſeinem widerſtrebenden Thier die Ferſen härter in die Weichen
und es ſchoß in wieherndem Aufſprung fort; der Waffenſchmied rief hinterdrein:
Wilhelm von Grumbad). 179
„Wenn mich der Hinkende behüten joll, jo b’hüt’ Euch feine rau! Könnt’
nicht jchaden, wenn fie Euch einmal für eine Stund’ ihren Gürtel umthät,
Freund! Und jeht Ihr Euren Statthalter auf dem Gebirg, jagt ihm, jollt’
fi auch lieber um jeine kranke Frau kümmern, al um Wind und Wetter im
römiſchen Reih! Die dran herumjchaffen, machen’3 nicht beijer, jondern ärger!“
Der Reiter war an der Ede der Zeller Gafje verſchwunden; Sibylle jah
mit leife zitternder Wimper in die leere Richtung nad); ihr Pathe lachte:
| „Weiß, was Du denkſt, Mädel. Wollt’ft, Du wär'ſt ein Mannsbild, um
ihm jeine Grobheit heimzahlen zu können, daß er auf Deine artige Red’ nicht
einmal Antwort gegeben.“
Das Mädchen drehte fich bald. „Er hat feine Mutter gehabt und kann
nicht dafür; ich glaub’, der Vater ift auch jo gewejen, al er noch ledig war
Mas ift’3 mit dem Hinkenden, Herr Pathe, jeiner Frau, die ihn behüten fol,
und ihrem Gürtel, der ihm gut thät'?“
Mancher Tropfen aus der Hippofrene des Altertfums, die unter Völker:
trümmern und Mönchsſchutt eines Yahrtaufends vergraben die Wünjchelruthe
der Humaniften im Beginn des Säculums neu aufgefunden? war bi3 unter bie
Dächer de3 deutſchen Bürgerthums hinabgefidert, aber bis in Sibylle Brede's
Kämmerlein war die Kunde von dem hinkenden Schmied und feiner jchönen
Frau doch nicht gedrungen. Dafür theilte Spumber’3 Gelehrſamkeit es ihr
bereittwillig und weitſchweifig mit, ohne Arg Manches vielleicht in ausführlicherer
Art, als jpäteres Jahrhundert es für ein Mädchenohr paſſend gefunden. Dod)
Sibylle hörte es ebenfo ohne Arg, nur mit großblidenden Augen, und dann
verſetzte fie:
„Und wen fie den Gürtel lieh, der ward jo, dab alle ihn lieb haben
mußten? Wißt, Herr Pathe, beſſer, däucht mich, wär's geweſen, er hätt’ ge—
macht, daß Einer allein ihn jo recht lieb haben gemußt.”
„Was Dein Züngle jchwaßt, Kind! Willft den Herrn Erasmus von
Rotterdam, den Mutianus Rufus und Eobanus Heſſe verbeffern? Arg gottloje
Menſchenkinder ſind's wol und Ketzer mögen’3 auch im Herzensgrund fein,
aber von den luftigen Dingen wiljen jie beifer Beſcheid ala ih und Du.“
„Luftig heißt Ihr's, Herr Pathe? Mich däucht's gar ernft, al3 ob's nichts
Ernſt'res auf der Welt gäb’.“
„Bott behüt', Kind, was für ernſthaft-närr'ſche Augen Du machſt! Läfter-
liches Heidenthum iſt's, Gott wird’3 auch wol vergeben, ex hat’3 ja zugelaflen
und in uns Menſchen hineingelegt. Davon weißt Du noch nicht3 mit Deinem
Kindagefiht! Aber dem Kretzer thät’3 wol qut, wenn mind'ſtens Giner ihn
einmal mit dem Gürtel jehen könnt’, denn er mag Recht haben, daß ihn Keiner
auf der Welt mit dem Herzen anfieht, und ’3 ift nur nach Verdienſt. Müßt'
wunderliche Augen haben, das Herz, was es jollt’! Haft ’3 freilich nach guter
MWeiberart mit dem richtigen Wort gefagt; man kann ihn nicht drum wie ein
Pfaff zwiſchen's Gebiß nehmen. Er ift unter die Wölfe gefallen von jeiner
Mutter Bruft, hat Wolfsblut getrunken und ift nad) Wolfsart geworden.
Wär's anderd gekommen, ritt' er vielleicht als ein vornehmer Junker wie Hans
Zobel Hinter dem fürftlichen Herrn drein. ’3 ift die Welt, Kind, und wird's
12*
180 Deutiche Rundichau.
bleiben, wie man an joldem Tag durftig bleibt, jo Mel Krüge man aud trinkt.
Wie wär's noch mit Einem auf den Bamberger Vertrag, Mädel, dat wir Fried’
und Ruh’ behalten für den Reft, der uns nod) bleibt?“
„Wüßt' Befleres drauf zu trinken, al3 daß der Beitand hat, Herr Pathe —“
E3 entfuhr dem Mädchen und fie ward roth, ala hätt’ fie'3 zurückhalten
mögen; doch der Waffenſchmied gab nicht Acht drauf und meinte:
„Haft Recht, Dein Reft ift voller, haft kaum die Blume davon weggenippt,
und bis für Dich die Leje drankommt, wird’3 gejorgt fein, daß der Wein am
Main noch mandhmal gährt. Schau’, wie die Abendjonne auf dem Käppele
blinkt, al würf’ Einer rothe Träuble dawider umd der Saft liefe dran her=
unter. Woll'n doch lieber auf den Bamberger Vertrag noch Eins trinken, Kind!“
Dietrich Spumber ſetzte ſich zu abendlicher Zwieſprach neben die andern
Bürger, Sibylle brachte ihm den gefüllten Steinfrug und ging. Die Krüge
Happten jelt’ner, der Beſuch im Schmeltenhof verringerte fi) mit der mälig
einbrechenden Dämmerung. Das Töchterlein Fabian Brede's ftand weiter hinaus
an der Steinbrüftung des väterlichen Hof3 und ſah auf den grün vorüber»
jchnellenden Main * hinunter. Die Strudel hüpften, wirbelten, löften fich und
ihhoffen davon; auf der Brüde ftanden wie vor Jahrhunderten die alten Stein-
geftalten und blicdten auf das raftlo8 unter ihnen ziehende Wafler. Darüber
ragte vom Bergvorjprung das Käppele in’3 Abendblau, die Bergkapelle draußen
vorm Thor Sanct Burkhardi, auf der das letzte Roth jet in dünnen, blafjen
Streifen zerrann. Es war Alles, wie am Abend zuvor, wie jeit mandem
langen Jahr, und doch ſah's Sibylle Brede ander? an al3 geftern und als je.
Oder thaten’3 ihre Augen, daß fie ander? drauf Hinblidten? Sie wußt' es
nicht; aber es war jo traurig und jchön zugleich, jo Jahrhunderte alt und jo
faum zu denfen neu, daß es wol nicht anders fein fonnte, e8 mußte eine Thräne
in die Augen heraufziehen. Und Sibylle jah nad, wie der Tropfen ſich von
der Wimper losmachte und über die Steinwehr in den Main binunterfiel, und
die eiligen Waſſer trugen ihn zu Thal.
Dann war Alles ftill in tiefer Sommernadt, nur der Fluß raufchte lauter
al3 im Zagesliht, manchmal rief ein Wächterhorn wie aus Wolkenhöh' droben
herab vom Frauenberg. Das Kämmerchen Sibylle Brede’3, das rückwärts auf
leerem Platz gegen den Main hinausging, füllte die Luft jo ſchwül; fie mußte
das Fenſter aufthun. Der Vollmond ftand drüben hinter dem Strom über den
ihtwarzen Dächerumriſſen der Stadt; ihre Augen waren jo müde und konnten
doch nicht ablafjen, zu ihm aufzufehn; er war aud jo traurig-[hön und kam
und ging jo über die Berge und die Städte, die fteinernen Brücdengeftalten und
die immer neuen Menjchen darunter von Ewigkeit zu Ewigkeit. Warum that
er’3 und warum famen und gingen die Menſchen und warum war die Welt
jo jhön und doch jo traurig? So todtenruhig lag Alles, nur filberner Glanz
und ſchwarzer Schatten, und dann zerfloß beides ineinander, wie die Schönheit
und die Traurigkeit, die unfihtbar daraus aufftieg.
63 war wol nur wacher Traum der müden Augen, daß ſich drunten im
Schatten dicht vor dem Fenſter etwas regte. Das Hare Mondlicht fiel auf des
#
Wilhelm von Grumbad). 181
Mädchens weißes Bruſttuch, über ihr Gefiht und webte blendend ungewiſſes
Strahlenne vor ihren Augen.
War es auch eine Traumftimme der jchönen, traurigen Nacht, die jetzt
plötzlich aus dem Schatten aufflang? Sie jah großblidend hinab, der Schatten
bewegte fich, wuchs an über den beftrahlten Boden und ftieg langjam an ihr
Tenfter hinauf, bis zu ihrer Hand, als wolle er darnad) greifen. Dann ftand
inmitten des webenden Strahlenneßes eine hochwüchſige Geftalt und jagte mit
harten Lippen:
„Der Mond jcheint auf Dein Brufttuch, ich kenne Did, Sibylle Brede.
Es ift gut, daß Du noch wacht, denn Du bift’s, die ich ſuche. Dein Pathe
hat mid) gefragt heut’, weshalb ih nad) Würzburg gefommen, und ich habe
gelogen, als ich ihm Antwort gab. Verdammt jei mein Mund, ich will feine
Lüge reinwaſchen an Deinem Hohn! Jh bin nad) Würzburg geritten, um Dich
noch einmal mit meinen Augen zu jehen, Sibylle Brede; der Teufel, der mid)
zuerft in den Schmeltenhof gebracht, hab’ die Lüge zurüd, und wenn er Dich
in feine Hölle hineinloden tann, will ich jein Knecht jein in alle Ewigfeit!“
Der Sprecher wandte fich gegen den Schatten zurüd, aus dem Sibylle ſich
jet den glänzend gemähnten Kopf eines Pferdes hervorftreden jah. Sie war
erichredit aufgefahren und blickte wie betäubt drein; ihr nur loder gegen bie
Nachtkühle beim Auskleiden wieder um den Naden gejchlungenes Tuch glitt bei
der Bewegung herab, ſchwebte flatternd in die Zjefe und lag weiß beftrahlt
drunten am Boden. Chriftoff Kretzer ſprang darauf zu und rief:
„Soll das Schnee jein, den Dein Hohn mir in die Hölle nachwirft, Sibylle
Brede?“
„Bewwahrt’3 — und ſchaut es an, wenn hr denkt, daß Euch Keiner auf
der Welt lieb hat — und kommt wieder — bald — und bringt’3 mir zurüd!“
Ahr Mund hatte es zitternd durch's Mondlicht geflüftert; doch gleich dem
eines Raubvogels hatte jein Ohr den Ieijen lang aufgefangen, und mit dem
Stoß und Schrei eines auf jeine Beute ſchießenden Falken aud) riß er das weiße
Tuch vom Boden, drüdte jein Gefidht hinein und flog auf's Pferd.
„B'hüt Euch Gott!” jagte Sibylle noch einmal mit bebender Stimme, doch
antiwortlos, wie am Nachmittag, mit weißflatterndem Fähnlein in der Hand
jagte er durch's flimmernde Licht davon, die Zeller Gaffe hinab, unter dem
Frauenberg hin, und an den flaunenden Wächtern vorüber durch das geöffnet
barrende Zeller Thor; datın verſchwamm jein Hufichlag mit dem Raufchen des
Fluſſes in die mondübergoffene Naht hinaus.
Um mande Stunde früher ſchon hatten fi) im umzäumten Geheg eines
der Höfe des biſchöflichen Schlofjes die Kapaunen und Faſanen, Pfauen und
Kraniche in geionderten Gruppen zur Ruh' gelebt; doch die Inſaſſen der alten
Burggemäder huldigten nicht dem gefiederten Vorbild, jondern aus dem faft
Hafterdiden Steingemäuer der Fenſterhöhlungen hervor flangen Gelächter, Becher⸗
Hall, Gemenge von Stimmen und Mufittönen. Männliche und weibliche
timmen durcheinander; das legte Tageslicht erhellte und verhüllte ein Bild,
= nad der Anſchauung jpäterer Zeit mandes Schleier bedurfte, den die
182 Deutiche Rundſchau.
Dämmerung darüber breitete. Die großen Thüren einer Reihe ineinander
laufender Säle ſtanden geöffnet, und die Kämmerer und Truchſeſſen, Stallmeiſter,
Räthe, Junker, Verwandte und Gäſte des fürſtbiſchöflichen Hofes gaben ſich
mannigfachſter Kurzweil und Beluſtigung hin. Schalksnarren ſtanden hier und
entriſſen durch Worte und Poſſen den Zuhörern ſchallendes Auflachen, weiterher
Hang das Eiſengeklirr von Fechtenden, aus anderem Raum Gläſer- und Pokal—
geklirr. Hin und wieder ſaß ein Paar ernſthaft in's Brettſpiel vertieft, daneben
ſchoſſen eifrige Hände um hohen Einſatz nach der Pilketafel, Edeldamen und
Junker tanzten zu Geſang und Inſtrumentenklang hiſpaniſch-italieniſche Tänze,
Algarde und Paſſioneſa. Doch das einbrechende Zwielicht ſetzte gleichmäßig allen
dieſen Unterhaltungen ein Ziel und zog die Theilnehmer allmälig in einen großen,
koſtbar ausgeſtatteten Saal, den ſchön geſchnitzte Bänke und Seſſel an den
Wänden umgürteten und in welchen die adeligen Frauenzimmer des fürſtlichen
Hofs ſich zuſammengefunden. Doch die jungen Freiinnen und Edeldamen ſaßen
nicht auf den Stühlen und Bänken, ſondern lagen hingeſtreckt auf weichen, in
die Mitte des Gemachs gebreiteten Teppichen und Tapeten, und die Herren und
Junker lagerten ſich, von der Anſtrengung ermüdet und vom Wein neu belebt,
zu ihnen auf den Boden. Mancherlei Witzwort klang hin und wieder, der Art,
daß ein Entfliehen der Frauen dabei zu erwarten ſtand; allein ſtatt deſſen
ward es händeklatſchend von ihnen belacht, und manches Flüſtern zog das Ohr
bereitwillig zu ſich heran. Die Hände ſpielten durcheinander und hie und da
begegneten ſich die Lippen; ein keckerer Arm ſtreckte ſich aus und die tiefere
Dämmerung verbarg ſein Ziel. Nur halb erſchreckt, doch nicht unwillig durch—
tönte manchmal der leichte Aufruf eines Mundes das Gelächter und Geflüſter —
es war das ſechzehnte Jahrhundert, nicht mehr verſtändlich heut', doch vom
Kaiſerſchloß der römiſchen Majeſtät und der Churfürſten des Reichs bis zur
Ritterburg hinab ſich gleich an Sitte und — Freiheit.
Der Fürſtbiſchof Melchior von Zobel befand ſich heut' nicht in den
abendlichen Zuſammenkunftsſälen, ſondern er ſaß in ſeinem dichtverhängten und
von einer Lampe erhellten geheimen Schreibgemach und auf Armeslänge ihm
zur Seite die Freiin Theodora, nachläſſig halb auf eine Ruhebank ausgeſtreckt
und in's Licht blickend. Als Dritter und Letzter theilte den Raum der Freiherr
Wolf Carol von Weinckheim. Er hatte vielfache Papiere vor ſich auf dem Tiſch
liegen und warf bald auf dies, bald auf jenes aufmerkſamen Blick. Offenbar
hatte er eine Rechnung angeſtellt und recapitulirte dieſe laut jetzt an den Fingern:
„Würzburg — Biſchof Weygand zu Bamberg — Biſchof Moritz zu Aich—
ſtatt — der Teutſchordensmeiſter, Herr Wolfgang, Adminiſtrator des Hochmeifter-
thums in Preußen — die Städte Nürnberg, Windsheim, Rothenburg an der
Tauber —“
Der Biſchof nickte. „hr vergeht unfern Vetter von Braunſchweig, Wolf.
Haltet Ihr's zu gering, den Bären in feinem Erdloch aufzuftöbern ?“
„Blaffenburg und Hohenlandiperg find Felslöcher, gnädigfter Herr, und der
Bär hat uns öfter beiviefen, daß wir feine Tagen zu gering geſchätzt haben.
Ihr wißt, es ift fo feine Art, fich neue Kraft hineinzuleden. Was auf Bürger:
meifter und Rath fällt, jo find die von Nürnberg feheriih; außerdem hängen
eN —
Wilhelm von Grumbad). 183
fie dort nad) dem Wort Keinen, eh’ fie ihn haben, und man thut Hug, es ihnen
nachzumachen und an ihrem Wort nicht zu hängen, bevor man ihre Ducaten
im Sad hat.“
Melchior von Zobel lachte troß des Ernſtes, der jebt jein Geſicht umwölkte.
„Ma foi! ketzeriſch? Wer ift’3 nicht, Wolf Weindheim? hr etwa oder ber
Alte auf Sanct Petri Stuhl? Ich denke, Gottesgabe, wir haben alle etwas
von dem klugen Auguftiner in uns, der Wein, Weib und Gejang liebt.“
Die Freiin drehte den Kopf. „Das heißt, wenn der Eine alt und das
Andere jung if. Den Gejang können wir dann allenfalls am Leichteften
entbehren.“
Auch Wolf Weindheims Mund unter dem rothen Barte mußte fi zu
einem halben Lachen verziehen, der Biſchof that dafjelbe und erwiderte:
„Du läfterft, Gottesgabe, und verläumdeft. Ich Habe heut’ mit Vergnügen
jungen Wein getrunfen, und ehe noch einige Stunden vergehen, werde ich meine
Thür einer alten rau öffnen, um fie vor Bedrängniß und Gewaltthätigfeit,
die ihr drohen könnte, zu bewahren.“
Theodora entgegnete mit näjelndem Ton: „Eine fromme Handlung für
Eure einftige Himmel3abrehnung, Hochwürdigſter. Es müſſen wahrhafte Un—
geheuer jein, vor denen hr jie gegen Gewaltthat zu ſchützen nöthig habt.
Fängt man in Braunſchweig Feuer, wenn man eine Mumie fiehbt? Doc laßt
uns auf der Erde und bei ihrer Rechnung bleiben; mich däucht, die Zeit drängt.“
Weindheim ftimmte zu. „Mir ift’3 gleicherweile unverftändlid, durch
welche leberredung und zu welchem Zweck Jhr die Kranke hieher gebracht Habt,
gnädigfter Herr. Gedenkt Ihr Euch ihrer als Geißel zu bedienen? Ich glaube
nicht, daß hr ein wichtiges Löjegeld dafür erzielen werdet. Vorhin ſprachen
wir von Bären, aber Jhr wißt, der Fuchs, der mit ihm hauft, Hat nicht nur
feine Schlauheit, jondern den Muth dazu, wenn er in der Falle figt, ſich das
gefangene Glied vom eigenen Leibe wegzubeißen, und ich kann mir nicht denken,
da er mit diejem viel Umftände maden würde.“
„Ihr ſeid noch jung, Wolf, ich beneide Euch d’rum. Du bift’3 aud), Gottes-
gabe, aber Eure Natur verfieht Euch in joldden Dingen mit feinerem Verſtändniß.
Zu weldem Zwed? Du vermagft e3 zu denken, nit wahr?“
Die Angeredete bejahte. „Er hat Recht, Weindheim — vielleicht; ich weiß
e3 nicht, doch ich fenne den Zweck.“ Der Biſchof fuhr lächelnd fort:
„Bielleiht nur, meinft Du? Die Jahre find ſchlimme Ketzer, fie laſſen
uns in Alles Zweifel jeßen; bitten wir den Herem, uns auch ihmen gegenüber
findli gläubigen Sinn zu bewahren! Durch welche Neberredung, fragt hr,
Wolf? Sind wir nit alle Chriften und — wenigſtens jeit dem Bamberger
Vertrag — alle Brüder und Schweftern? Soll ein Bruder nit warnen,
tathen, helfen, wenn er befürdjten zu müſſen glaubt, jeiner Schweſter könne eine
Gefahr drohen? Um wie viel mehr, wenn dieje frank, ſchutzlos, von ihrem
"ann verlafien ift. Und kann man willen, ob der Böltertroß unjeres Vetters
Braunſchweig darauf Rüdfiht genommen haben würde? Die beften
ijchen find Heut’ oft nicht wie wir, jondern von rauher Art; wir hätten die
184 Deutſche Rundſchau.
Schuld ihres Todes auf uns laden können. Das habe ich ihr geſchrieben und
ihr angeboten, bis der lärmende Durchzug vorüber ſei, bei uns fichere Zuflucht
in ihrer Hülflofigfeit zu juchen.“
„Und Habt, um fie völlig zu beruhigen, zugleich Untern-Bleichfeldt mit in
Schub genommen, gnädigfter Herr: der Grund dazu war gut, und der Fuchs
wird es jo leicht nicht wieder aus dem Eijen herausbeißen. Doc trogdem Hat
fie zuftimmend geantwortet?“
„Ihr hörtet’3 jelbft; ‚Ja‘ und ‚heute‘.“
„Verzeiht, dieſe Bereitwilligkeit erjcheint mir auffällig groß.“
„I ſagte es ſchon, Ihr jeid noch zu jung, Wolf, troß Eurer Klugheit;
vor einem PVierteljahrhundert dachte man anders, und Leute, die fich defjen zu
erinnern vermögen, thun’® noch heut’. Laßt uns zu Anderem! Die braun-
ſchweigiſchen Völker gehen nad) Schwaben und machen nur Raft am Main, die
fi gegen unjern Wunſch von Tag zu Tag Hinzieht. Man kann laut Einfpradhe
dagegen in Speier erheben.“
„Gut, gnädiger Herr.”
„Der Erzherzog Marimilian joll zu Wien ſchwer erkrankt jein.“
„Nach meinen Nachrichten noch nicht.“
„So ift vorauszujehen, daß Gott die Strafe für feinen Uebertritt zum
Ketzerthum nicht lange mehr verzögern wird. Vielleicht fteht es in feiner Abficht,
au den Sohn der Lüge, den Hofprediger Pfaufer, an der feinem Herrn be—
ftimmten Vergeltung mit Theil nehmen zu laffen: ich ftelle e8 der höheren
Weisheit anheim. Tragt Sorge, daß die erfahrenen Heilkundigen nicht3 außer
Acht lafjen. Der Verluft würde den König Ferdinand in tiefe Trauer verjeßen,
doc) fein frommes Gemüth ſich ohne Groll der Hand der Vorjehung beugen.”
„Wenigften ohne Uebertragung defjelben auf ihre ſchwachen irdiſchen Werk—
zeuge. — Churfürft Moritz, gnädiger Herr?“
Der Biſchof ftand auf und ging einigemal antwortlos im Zimmer bin und
wieder. Dann hielt er vor jeinem Rath inne und entgegnete:
„Er hat erwidert, daß er für die Aufrechthaltung de3 Bamberger Vertrags
bürgen und feine Verlegung defjelben dulden werde.“
„Dur den Markgrafen?“
„Bielmehr zweideutig, wie immer; offene Hand.“
„Sorgen wir für die richtige Deutung, gnädiger Herr! Der Churfürft if
mächtig aufgewachſen wie ein Eihenftamm, doch er ift nur ein Stamm, der
im Sturm über Nacht brechen kann, während jchwächerer, aber vielftämmiger
Strauch ſolchen Windſtoß nicht zu fürchten braucht. Es wäre befjer, er wäre
nit — ba er ift, muß man dem Wind nachahmen und fein Aftwerk zu biegen
trachten — ſo lange er ift.“
„Nein, nichts Heimliches gegen ihn, Weindheim! Ich will's nicht, ich baue
noch auf ihn. Er ift ehrgeizig und liebt die Weiber — wenn Du jünger wärft,
Gottesgabe — es ift ein Baum, der den im Sturz mit zerjchmettern würde,
dem e3 gelänge, ihn zu fällen. Außerdem trägt er ein venetianijches Panzer:
hemd, und der Verſuch ift ſchon mehr als einmal mißglüdt. Findet ein Mittel,
ihn gegen den Markgrafen aufzubringen!“
Wilhelm don Grumbad). 185
„So lange Grumbad lebt — hr kennt die Thierfabel, gnädiger Herr:
der Bär ift jähzornig und wird täppiich dadurch, aber jo lange der Fuchs fein
Rathgeber ift, wird er jorgen, daß der Löwe feinen Groll auf ihn wirft.“
„So ſchafft den Fuchs aus dem Bau!“
„Es ift eben ein alter Fuchs, Gnädigfter, bei dem Köder und Halseiſen
nicht verfangen. Man müßte ein Treibjagen von Seiten des Reichs gegen ihn
anftellen.“
„Wie meint Ahr?“
„Daß ein Wild leichter vor dem Anftand wechſelt, wenn es etwa von des
römiſchen Reichs Bann und Acht eingepfählt wäre. Aber es bleibt immerhin
weit vorm Schuß, und beſſer wäre —“
„Bas?“
„Aller ſolcher geringfügigen und unficheren Mittel nicht zu bedürfen.“
Wolf Weindheim hielt, obiwol er unverkennbar etwas beifügen wollte,
einen Moment inne; hinter dem Rüden des Biſchofs warf die Freiin Theodora
ihm einen Augenwink zu, und er fuhr fort:
„Es wird ſchwer, muthmaßlich unmöglich ſein, Grumbach zu einer Handlung
zu verlocken, daß ſich eine kaiſerliche Achterklärung gegen ihn erwirken ließe.
Die Beſetzung von Untern-Bleichfeldt iſt ein kluger Einfall; es wäre denkbar,
daß er fich zu Gewalt fortreißen laſſen könnte, um ſich Dorf und Burg wieder
anzueignen, jo daß wir vor Kaijer und Reich als die arglos Ueberfallenen und
er als Friedbrecher des Bamberger Vertrag’3 daftänden; doch ich glaube nicht
daran. Aber alle dieſe ungewiſſen Vorausſetzungen würden als überflüffig hin-
fällig werden, wenn —“
Der Sprecher ftocte wiederum, Biſchof Melchior drehte ſich ihm mit fragen-
dem Bli zu —
„Wenn Ihr Herren Friederich Spet, der ſich jchon jeit zwei Tagen zu
Würzburg in der Herberge zum Klingenberg aufhält, empfangen wolltet, gnä-
diger Herr.“
Der Biichof machte eine heftige Geberde. „Ahr verjuchtet’3 geftern, mid)
dazu zu bewegen, und ich hieß Euch jchweigen, Weindheim! Bei meinem Miß-
fallen, ich will nichts mehr davon hören! ch bin des Reiches Fürſt, defien
Kaiſer ſich allzeit Mehrer nennt, und man fol mich nicht den Minderer heißen.
Vermeldet's ihm von mir, er mag'3 jeinem Könige jagen! Staatskunſt ift hart
und hat ein weites Gewiſſen, aber franzöfiiche Praktik geht nicht mit Hinein,“
Wolf Weindheim zudte die Achſel. „Franzöſiſches Gold ift jo gut mie
anderes, befier, da es ein Quell ift, der fich jo leicht nicht verftopft. Des
römijchen Reiches Majeftät heißt fih auch König von Yerufalem, zu Tripolis
und der Terrae firmae des oceanijchen Meeres, mid) bäucht mit ebenfoviel Recht,
wie allzeit Mehrer des Reihe, und Churfürft Mori wird als deutjcher Held
gepriejen, obwohl die Söldner König Heinrich’3 des Zweiten fih in Gambray,
Virten, Tull und Met gute Tage machen. Man kann verjdhiedener Meinung
fein, gnädiger Herr, doch die meinige ift, daß die Natur den Rhein in diejer
Weiſe hat fließen laffen, damit er die Grenze zwiſchen dem deutjchen Reich und
dem franzöfifchen bilden jolle, und wie Herr Friederich Spet mir mitgetheilt,
186 Deutiche Rundichau.
pflichtet König Heinrich diefer Anficht bei. Als katholiſchem Fürften liegt ihm
nicht3 mehr am Herzen, al3 die Wiederherftellung de3 Glaubens auch in allen
deutſchen Landen, und er ift zu nahhaltigfter Unterftügung Derer bereit, welche
befähigt find, dies große Werk mit Einficht zu planen und mit Entichlofjenheit
durchzuführen. Geſchieht dies nicht jett, jo zerfällt das römiſche Reich, der
Proteftantismus zerbricht es in Stüde und wird die Bisthümer aufzehren.
Der Kaiſer ift machtlos, fein Neffe Marimilian, wenn er am Leben erhalten
bleibt, einft jein Nachfolger, jelbft vom Glauben gefallen, Mißtrauen und Hader
der Tutheriichen- Fürften untereinander unſer treuefter, doch einziger Bundes—
genoß. Bis jetzt ift und gelungen, jelbft den Churfürften Mori und feinen
Carlowitz zu täujchen, daß fie in unferer Fränkischen Vereinigung nicht? Anderes
al3 Maßregeln zur Abwehr gegen erneuerten Angriff de3 Markgrafen jehen:
diefer jelbft und Grumbach denken nichts, al3 daß es ſich um das alte Kinder-
jpiel am Main handelt, und jeder Tag erweitert und befeftigt die Mafchen
unſeres Garn, bis e3 ftarf genug ift, plöglih im Nothfall auch den Churfürften
Moritz und die römijche Krone mit ihm zu halten. Was uns mangelt, gnädiger
Herr, ift Gold und wieder Gold, und der Einzige, der e8 uns zu bieten vermag
und gewillt ift, heißt König Heinrih —“
„Für deutjches Land und deutſche Seelen, Weindheim —“
„Tür nichts, gnädiger Herr, al3 ein Stüdchen Erde, das, wie gejagt, die
Natur ihm von Anbeginn zugeſprochen, und für die Keberfeelen, die darauf
haufen. Er begehrt für feine volle Unterftüßung bis zur Erreihung unjeres
Ziels einzig, daß wir ihm Bürgſchaft wider jede Einmiſchung des Reichs leiften,
wenn er feine vereinzelten Beſitzthümer in Lothringen und im Eljaß bis an
den Rhein ausrundet.“
„Sehr großmüthig, Weindheim, eines Königs würdig. Wir find auch ein
katholiſcher Fürſt und wollen darin nicht nachſtehen; zahlt in der Herberge zum
Klingenberg die Zehrung des Herrn Unterhändler® und heißt. ihn das Gold
jenes Königs ſparen und heimkehren. Ich jagte Euch, wir wollen an der Stelle
nachgraben, auf die der Kleine Kobold drunten am Schmeltenhof jo zuverſichtlich
hinſchaut — wenn der Lindwurm überm Rhein auch Alberih’3 Schaf hütet,
er mag ihn behalten. Es ift mein Exrnft, und nichts mehr davon! — Was will
das Horn?“
Draußen Hang ein Hornruf durch's Dunkel; der Biſchof ſchlug die ſchwere
Gobelintapete dor dem Fenſter zurück und jah auf die hie und da flimmernden
Lichter der Stadt hinunter. Gerade unter ihm ſenkte ſich mit klirrendem
Kettengerafjel die Zugbrüde der Frauenbergvefte, Frage und Antwort bon
Stimmen eriholl und ein leichter Wagen rollte über die Brüde in's Innere
des erſten Burghofs. Wolf Weindheim war im Rüden feines fürftlichen Herrn
an die Edeldame getreten und flüfterte:
„Der Spet darf um feinen Prei3 jo die Stadt verlafjen; ich babe mid)
verbürgt, und ohne Frankreichs Mithülfe zerfällt dev ganze Bund, oder jeden-
falls ift uns ein abermaliges Unterliegen gewiß. Hört Ihr, um feinen Preis!
Meine Kunft ift exichöpft, verfucht, was Ihr könnt! Aber Hug! Er ift in
jonderbarer Stimmung heut’, an der jede Rechnung fehl jchlägt,; wenn ich den
—N
Wilhelm von Grumbach. 187
Grund ahnte, fänd' ich vielleicht auch ein Mittel. Freilich, er hat geſagt, die
Jahre ſind ſchlimme Ketzer und laſſen uns in Alles Zweifel ſetzen —“
„Sprecht aus, Weinckheim — auch in meine Fähigkeit, ihn zu etwas zu
bewegen, meint Ihr? Ihr habt Recht, ſie ſind ſchlimme Ketzer und befeinden
das Ebenbild Gottes, wenigſtens das von unſerer Art, wenn der Spiegel nicht
lügt; aber, mich däucht, als mehrten ſie drinnen, was ſie draußen nehmen.
Klug, ſagt Ihr, und um jeden Preis? Das weiß ich ſelbſt, Freund, wußte es
ſchon vor Euch. Der Preis iſt nur etwas hoch, und wenn auch die Klugheit nicht
verhehlt, daß er ſchließlich doch einmal bezahlt werden muß, bleibt's trotzdem
menſchlich, oder heißt's weiblich, noch zu zögern und den Augenblick hinaus—
zuſchieben. Doch Ihr ſollt Euch nicht in mir täuſchen, um dieſen Preis muß
es ſein.“
Weinckheim ſah ihr fragend in's Gefiht: „Ich verſtehe Euch nicht, was
wollt Ihr?“
„Für Frankreich thun, was ich in Kurzem für Nichts, für ein paar blaue
oder braune Augen mit blondem oder dunklem Gelock herum hätte thun müſſen.
Es iſt kein Ruhm für Euer Geſchlecht, Weinckheim, daß ſie die Welt regieren,
und um ſo unumſchränkter, je kürzer erſt dieſe Augen in die Welt hineingeſehen;
doch eine größere Thorheit meines Geſchlechtes wär's, ſich darüber verblenden
zu wollen, worauf ſeine Macht ruht. Wenn wir nur dieſe Thorheit meiden,
ſind wir nicht ſo hilflos, wie wir ſcheinen, und können das Wichtigſte unſerer
Errungenſchaft auch noch in den beginnenden Falten unſeres Gefichtes bewahren.“
„Berjtehe ich Euch recht, — Ihr wolltet —?“
„Zheilen, Weindheim; dem Kaijer geben, was des Kaiſers ift, und Gott,
was Gottes ift, oder jagen wir dafür, dem Leben in der Sinnenwelt und im
Gedanken, dem Körper und dem Geift. Sorgen wir mur, daß diejer die Ober-
herrſchaft behält und jener nichts weiter, al3 was ihm zukommt; das ift die
Aufgabe, und ich denke, ich habe fie gelöft.“
„Ihr habt?“
„Dder werde, und zugleich diejenige, welche Ihr mir ftellt. Sucht den
Abgejandten des Königs jedenfalls bis morgen zu halten — till!“
Der Biſchof wandte ſich aus der tiefen Fenſterniſche in's Gemach zurüd;
gleichzeitig trat ein Diener in die Thür und meldete:
„Die Freifrau Anna von Grumbad läßt Eurer hochwürdigſten Gnaden
Gruß und Dank entbieten.“
„Unjere Schußbefohlene, mir erſchien's, daß fie es ſei.“
Melchior von Zobel nickte und der Diener ging. „Du haft Fürſorge für
fie getroffen, wie es ihr Zuftand erheifcht, nicht wahr, Gottesgabe?“
„In dem Zimmer, das Ihr angeordnet.”
„So empfange und geleite fie — oder — eine alte Frau, eine Kranke, und
ein alter Mann, ein Diener des Herrn — es ziemt vielleicht und die Welt wird
nicht3 d'rüber raumen, wenn ich jelbft fie in ihr Gemach geleite.. Der Anblid
eines fremden Gefichtes, auch wenn es jo wohl gebildet wie das Deinige ift,
Gottesgabe, könnte fie in ſchädliche Aufregung verjegen, und es ift unjere Pflicht,
das zu verhüten. Gehabt Euch wohl, Wolf, morgen wollen wir Euren vor-
188 Deutiche Rundſchau.
trefflihen Rathſchlag weiter vernehmen: heut’ Nacht liegt ung ein Werk der
Barmherzigkeit ob.“
Die Thür Schloß fih Hinter dem Hinausfchreitenden und Weinckheim
fragte haftig:
„Ihr jagtet, daß Ihr's wüßtet — was hat er mit ber Frau?“
Die Freiin lächelte. „Ihr fragt in faljcher Zeit; er hat nicht, er Hatte.
Würde es Euch nicht reizen, wenn Ihr in der Lage wäret, Mancherlei hören zur
fönnen, wie Euer Freund der Statthalter de3 Markgrafen Albrecht auf dem
Gebirg, Herr Wilhelm von Grunbach, lebt, mit wen er fi) unterhält, ob er
feiner Gefundheit ſchadet, was er betreibt, jchreibt, ſpricht oder verſchweigt?“
„Das Lebte würde ich vermuthlid am Meiften vernehmen. Und von jeiner
rau jollte ich das erfahren?“
„Nehmt an, fie ſei e8 nicht immer gewejen, oder, daß unſer Geſchlecht
ſchwache Augenblice hat, in denen es — wenn ich ein jo junges Mädchen wäre,
wie das MWirthstöchterlein, da3 dem Fürften heut’ Nachmittag den Pokal zu—
brachte, würde Euer Tragen mich xoth machen, Weindheim. Wie gefiel das
Kind Euh? Ich meine, was Eure Augen ſah'n; dafür hält Männerurtheil
befier die Probe ala unſeres. Was fie nicht gejehen, ift freilich das Werthvollſte,
‚aber darüber verlange ich von Euch fein Urtheil, jondern bin jelbft genug unter-
richtet. Mir gefiel da3 Wenige, befonderd, was mein Ohr hörte. Ich Liebe
unſchuldige Einfältigkeit, Freund, die rei) an Schönheit und arm an Geift ift;
der Himmel hat fie ebenjo brauchbar als fügjam erſchaffen, und da ich fühle,
daß meine Jahre einer hülfreichen Hand, nein vielmehr einer Vertrauten, einer
Freundin bedürfen, habe ich den Entſchluß gefaßt, die Kleine Sibylle aus dem
Schmeltenhof ala Dienerin und Freundin zu mir zu nehmen. Schon morgen,
denn bei ihrer Schönheit und Einfalt fürchte ich, fie fünnte mir von böfen
Leuten Eurer Art vorweggenommen und ih um fie betrogen werden.“
Sie jagte e3 lachend; Wolf Weindheim entgegnete mit nachdenklich exnit-
haftem Geſicht:
„Ihr beweiſt, daß Ihr klüger ſeid, als die Mehrzahl Eurer Schweſtern,
Theodora. Wenn es nöthig iſt — und das könnt Ihr allein entſcheiden —, ſo
billige ich Eure Theilung und bewundere den Scharfblick Eurer Wahl. Jeden—
falls iſt dieſe die ungefährlichſte, die Ihr treffen konntet, und wer ſich Verdienſt
erwirbt, erntet Gewinn, ob der Kopf oder die“ — er hielt ſchalkhaft lächelnd
einen Augenblick inne — „Hand ſich verdient macht. Eure — Hand hat es
lang genug gethan, daß Ihr jüngeren die Pflicht übertragen könnt, wenn Ihr
der Kopf des fügſamen Gliedes bleibt. Ich bewundere Euch, Theodora, und
könnte ſelbſt — wenn Ihr nicht ein Anrecht auf ruhigere Tage hättet —“
„Tage?“ wiederholte fie, mit verhaltenem Lachen einfallend. „Wenn der
Kopf fid) den Tag hindurch doppelt zerbredden muß, meint Ihr, hat Alles, was
ihm angehört, auch des Nachts doppelt Ruhe nöthig? Ich danke Euch, Freund,
und bin Eurer Meinung, ohne Eure Schmeichelei zu unterjchäßen. ch denke,
ich habe Euch manchmal Beweiſe gegeben, daß ich fein Weib bin, two ich es
nicht jein muß; da ich aufhören Tann, es zu fein, bin ich auch ftarf genug,
den Antrag des einzigen Mannes abzuweiſen, der mir nicht Verachtung und
—
Wilhelm von Grumbach. 189
Widerwillen einflößen würde. Ich danke Euch, daß Ihr mein Geſchlecht anders
zu beurtheilen wißt, als die pfahlbürgerliche Dummheit, nach dem Kopf und
nicht nach dem Zufall, den die Natur uns nutzen läßt. Laßt uns unſere Köpfe
noch beſſer vereinigen, Weinckheim, das iſt das ſicherſte Band, mit dem wir
unſere Herrſchaft umwinden und verſtärken. Wir ſind die Köpfe dieſer ab—
ſonderlichen Welt — wenn die Weiber nicht mit Ihm zu ſpielen vermöchten,
gehörte auch Er dazu; da meine Jahre vorrücken, rücke ich mit vor und gebe
den Zeltdienſt auf, um wichtigere Stellung im Felddienſt einzunehmen. Haltet
Euren Poſten ſo wachſam inne, Freund, wie ich meinen, und wir führen unſern
Oberfeldhauptmann zum Siege, wie in allen Schlachten, die nicht der gewinnt,
welcher die Befehle auszutheilen glaubt, ſondern Diejenigen, aus deren Köpfen
fie entſpringen. A revoir! würde König Heinrich jagen — ſagt Ihr es ſeinem
Boten! Ich habe Dienſtpflicht und — da ich Euch meine Stärke gezeigt, darf
ich Euch auch meine Schwäche verrathen — einige Zollbreit an mir gehören
noch meinem früheren Geſchlecht an, und die find neugierig.“
Sie deutete auf ihre Augen, verneigte ſich mit jcherzender FFeierlichkeit und
verſchwand durch die Thür. Wie fie durch den langen Burgcorridor dahin
Ichritt, verwandelte fich der Ausdruck ihrer Züge nicht; fie hatte geiprochen,
wie fie empfand und dachte. Es war nichts Erfünfteltes in dem Gebahren,
der Luftigkeit, Zuverficht und Gewiffensgleihmüthigkeit der Freiin Theodora
von Grafened, der alternden Geliebten des Fürſtbiſchofs Melchior Zobel von
Würzburg, jondern, ihr Ziel in’3 Auge fafjend, erwog fie die Wege dorthin ala
jelbftverftändliche, jobald fie der Endabſicht entſprachen; eine Tochter des Jahr:
hundert3 und der Kirche, die um ein Menjchenalter früher Inigo von Loyola
als ihren ähnlichjten Sohn gezeugt und Paul den Dritten auf den Stuhl Petri
berufen hatte, den Orden zu beftätigen, dem die Mittel als gleichbedeutend
erſchienen, durch welche der Zweck erreicht ward. Die Edeldame ftieg im labyrin-
thiſchen Innern der alten Burg einige dunkle Treppen hinan, verfolgte wiederum
unbeirrt lichtlofe Gänge und trat dann durch eine Mauerthür in ebenfalls
finfteren Raum, in den nur bie und da durch Spalten der Schimmer eines
Lichtes hineinfiel und kundthat, daß fie ſich hinter den ſchweren Gobelintapeten
eines erhellten Gemaches befand. Harrend lehnte fie fi dort an die Wand,
denn ihr Herz ſchlug heftig, doch nur von der Eile ihres Schrittes, von nichts
ſonſt, und es befhwichtigte jich gleihmüthig in der ruhenden Stellung, die fie
einnahm.
Der Biſchof war auf den Burghof hinausgeichritten, einige Fackeln rauchten
auf demjelben in die ftille Sommernadtluft und überhellten einen Wagen, auf
dem fich ein Bett befand und in diefem da3 aus Decken hervorblidende Gejicht
einer Frau. Es war rothloderndes Licht, das auf fie fiel, doch es vermochte
ihre eingefuntenen, fahlweißen Züge mit feinem Anhaud zu färben. Das
gebleichte Haar lag unordentlih und gleichgültig in vereinzelten Strähnen über
wächſernen Stirn; an dem hageren, faft einem Mefferrüden ähnelnden
enriſt fanden zwei matte und doch unruhvoll bewegte ſchwarze Augenfterne.
te Blick ließ erkennen, daß die Beſitzerin derjelben todtkrank und die
fte Schonung bei ihrer Hieherführung dringend geboten geweſen ſei.
190 Deutiche Rundichau.
Der Herzutretende hemmte unwillkürlich einige Schritte vor ihr jenen Fuß
und jah mit regloſem Bli auf fie hin. Er öffnete den Mund und ſchloß ihn
wieder, und feine Stimme klang unficher, beinahe ftotternd, wie er fragte:
„hr jeid — Ihr —? Seid hr Frau Anna von Grumbach?“
Die Kranke hob mühſelig etwa3 den Kopf und ihre Augen juchten aus
dunkler Tiefe die des Trragftellers, dann antiworteten die herb umfurchten, ver—
blaßten Lippen ſchwach und langjam:
„Ih bin’3, hochwürdiger Herr, und Ahr ſeid's. Meine Augen haben fich
weniger gut gehalten, ala Eure, und doch erkennen fie Euch leichter. Aber ich
danke ihnen, daß fie Euch noch jehen, Biichof Melchior. Es ift lange her, daß
ich unter Eurem Schuß oft über dieje Brücke ritt, und es war Tag damals und
warm. Seht iſt's Naht und kalt —“
Die Sprecherin legte jchaudernd den Kopf auf die Kiffen zurüd; es war,
als überliefe ein Schauer der Kälte, von der fie geſprochen, plötzlich auch den
Biſchof; er fiel ſchnell ein:
„Ihr habt das ?yieber, e3 ift warme Sommernadjt. Aber Ihr jeid wieder
unter meinem Schub, baut auf ihn — die Reife hat Euch angegriffen, morgen
werdet Ihr Euch erholen. Ich will Euch in mein Gebet zu Gott einfchliegen,
daß er Euer Siehthum von Euch nimmt. Er ift der beite Arzt.“
„Der befte? Für mich gibt es nur Einen.“ Die Kranke ftarrte wild und
geiftesabtwejend auf die glühenden und qualmenden Fadeln. „Bift Du der Arzt?
Und find fie Deine Diener, die mit den Bränden auf mich warten, mich in
Deine Feuerburg zu jchleppen? Ich will nicht — noch nit — hab’ Erbarmen
— gib mir no Friſt, daß ich bete —!“
Sie flammerte die Finger ineinander, riß fie wieder los und frallte die
langen Nägel in’3 Bettzeug. Ihre Bruſt ſtöhnte klanglos:
„Mein Kind — er will auch mein Kind in der ewigen Gluth ertränken —
„Sie redet irr' — bringt ſie hinauf!“ Biſchof Melchior wandte ſich mit
dem haſtigen Befehl ab; ihr Gefolge, das ſie geleitet, mit der langen Geſtalt
Chriſtoff Kretzer's an der Spitze, kehrte über die Zugbrücke zurück, und Anna
von Grumbach ward in ihrem Bett herabgehoben und in das für ſie beſtimmte
Gemach getragen. Sie war in Bewußtloſigkeit gefallen, die allmälig in ruhiger
athmenden Schlaf überging. Dann hatten die Diener das Zimmer geräumt,
umd in dem dämmernd erhellten Raume jaß nur der Biſchof ſelbſt neben dem
Lager der Schlummernden. Mit jchweigfamen Gedanken ruhte fein Blid auf
dem wie ſchon von der Hand des Todes geftreiften, entjtellten Antlitz; manch—
mal glitt ex fich jchnelltaftend über die Fraftvolle Stirn. Er fuhr zufammen,
denn e3 fnifterte hinter ihm; wie er den Blick drehte, trat Theodora von Grafened
hinter der Tapete hervor. Sie jchritt geräufchlos näher und betrachtete eben:
fall3 die Schlafende. Melchior von Zobel nidte traumhaft -jonderbar mit der
Stirn und fagte, auch wie im Traume, leife:
„Sie war Ihön, jo jchön wie Du — wie aud) Du warf. Warum muß
Schönheit welfen? Warum bin ich, der ich war, und fie das? Iſt das die Ge-
rechtigfeit des Himmels, die wir den Blöden predigen? Mir graut’3, Theodora,
wenn ich denfe —“
Wilhelm von Grumbach. 191
„Daß Ihr Euch einftmals der vollen Blume gefreut; aber es iſt ihr Loos,
aller — *
Er jah gedanfenlos auf und wiederholte: „Ja, aller.“
„Und meines.”
Sie lächelte, wie fie es jagte, er verjeßte zerftreut: „Noch nicht — vielleicht
einft — Du bift eine Roje neben diefem gelb vermodernden Blatt.“
„Rod nicht, aber — wann? Eure Augen ſprachen heut’ Nachmittag auf-
richtiger und jagten, daß neben dem Veilchen auch die Roje nicht beftehe, deren
Blätter zu fallen beginnen.“
Gr murmelte: „Du täufcheft Did — mir graut vor der Schönheit —“
„Dann graut Euch nicht vor mir. — Laßt fie Ichlafen Heut’, fie hat e8
um Euch verdient; morgen wird fie Euch beſſer auf Eure Fragen Rede ftehen.
Kommt, der Anblick ift nicht für Euch !”
Er ließ fi willenlos von ihr wegführen, durch dunkle Gänge in ein
kleines, mit verſchwenderiſcher Ueppigkeit ausgeftattetes Gemach, da3 eine ſchwe—
bende Ampel mit roſenrothem Schein durchfloß. In die Wand gefügt, bildete
ein breites Ruhebett aus duftendem Sandelholz mit ſeidenen Decken den Hinter—
grund; Theodora ſetzte ſich an den Rand deſſelben, Melchior von Zobel ſtand
vor ihr, blicte fie ungewiß und ausdruckslos an, und man ſah, er ſuchte ein
Bild, das noch vor jeinen Augen haftete, von fich zu ſcheuchen. Endlich jagte ex:
„Was willft Du?“
„Nichts — ala daß Ahr mic) anjeht. Noch bin ich weniger abjchredend,
als Anna von Grumbad, nicht wahr?“
„Du verlangft feine Schmeichelei zu hören.”
„Rein, deshalb habe ich Euch nicht begleitet. Aber um jo viel ich weniger
abſchreckend bin als fie, grad’ um fo viel jchöner ift Sibylle Brede aus dem
Schmeltzenhof ald ih — wäre ſie's, wenn fie ftatt meiner hier ſäße.“
„Geh, es ift jpät, wir wollen zur Ruh’! Du bift eiferfüchtig jeit heut’ Nach—
mittag.“
„sh bin gerecht, und deshalb braucht Ihr nicht zu fordern, daß ich gehen
joll, denn ich that's, eh’ Ihr's verlangt hattet. Eiferſucht ift Eigenfuht und
blendet die Augen. Haben meine bewieſen, daß fte blind find?“
Gr jah fie verftummt an und ein anderer Ausdruck lag in feinem Geficht,
erkennbar deutlich ſprach derjelbe von anderem Bild vor den Augen. Es war
nicht mehr das der Entftellung, des halben Todes und des Graufens, doch auch
nicht das wirkliche, von dem Rahmen des Lagerd umfaßte, auf das fich der
Bli richtete. Aber Theodora kannte, gewahrte es jo genau, wie e8 vor ihm
von jenem Rahmen umfchlofjen ſich hob, und fie lächelte:
„Da meine Augen nicht blind find, jagen fie mir, daß mein Alter einer
Stüße bedarf, umd ich denke, morgen in den Schmelgenhof zu gehn, mid) nad)
einer ſolchen umzuſchau'n. Habe ic; Eure Billigung ?“
65 war, ala ob ein Funke von ihren Lippen geflogen, der in der Tiefe
feiner Augenfterne gezündet. „Du fragft fonderbar, ſchöne Freundin,“ verſetzte
er zögernd. „Meine Bewunderung, mein Vertrauen, meine Liebe haft Du —
"les, was ich Dir geben kann, und wirft e8 immer behalten. Wenn Du es
192 Deutſche Rundſchau.
für gut hältft, etwas zu thun — was bedarf es meiner Billigung in einer ſo
geringfügigen Sache, die — nur Dich angeht?“
„Ein wenig, dünkt mich, auch Euch — weil es von Euch abhängt, ob ich
dazu gelange, dies geringfügige Ding, meinen Vorſatz, meine ich, auszuführen.“
„Von mir?”
Sie ftredte ihre beiden Hände aus und ſchloß, ala ob fie etwas in ihnen
halte, die Finger zujammen. „Die Rechte thut fih nur zugleih mit der
Linken auf.“
„Das ift wider die Schrift. Die Rechte ſoll nicht wiſſen, was die Linke
thut.“
„Doch ift e3 meine Vorſchrift.“
„Und was beherbergen Deine Hände?“
„Zwei Herbergen; die eine heißt zum Schmeltenhof, die andere zum
Klingenberg.“
Melchior von Zobel rungelte die Stirn. „Ach habe Weindheim jchon
Antwort gegeben; was verlangft auch Du fie von mir?“
Die Freiin von Grafeneck fand von ihrem Sit auf. „Wenn Ihr feine
andere für mich habt, kann ich Euch nur Eure Worte wiederholen: es ift jpät —“
Er hielt ſie. „Bleib!“ — Sie wiederholte abermals:
„Es ift ſpät.“
„Ich will's bedenken — morgen —“
„Zu ſpät.“
„Du verlangſt Ungeheures.“
„Ich gebe mehr. Was ich verlange, iſt nur, daß Ihr Euer Ohr der ge—
rechten Bitte, der Klage des Unglücks, der Menſchlichkeit nicht verſchließt. Wer
beſchirmt das Recht, wenn Ihr ihm Eure Hilfe weigert?“
„Ich verſtehe Dich nicht. Wer bittet, klagt? Weſſen Recht iſt gekränkt?
Kann ich Dir zuſagen, was ich Weinckheim verweigert?“
„Der Preis, ſcheint mir, ändert alle Dinge: er konnte nur Gold bieten,“
lachte die Frreiin. „Doc ich vernahm nichts davon, daß Ahr Euch geweigert,
Herrn Friederih Spet zu empfangen, um aus feinem Munde zu Hören, wie
ihmerzlic König Heinrich von Frankreich die Gefangenichaft feines Vetters, des
Herzogs von Aumale, empfindet, der nod immer von Met her in der Gewalt
des Markgrafen Albreht auf der Blafjenburg ſchmachtet, und daß der König
jedes Löjegeld für die Befreiung des Herzogs gering achten würde. Es hieße,
dem Mitgefühl, der Trauer, der Barmherzigkeit fi) weigern, wenn hr den
Abgejandten ungehört aus der Herberge zum Klingenberg fortziehen ließet.“
„Rein, davon hat Weindheim mir nit geſprochen; Du haft Recht, es
wäre unmenſchlich — ich werde ihn tadeln. Der arme Aumale — die Koft in
der Höhle des Bären fteht nicht im üppigften Ruf.” — Biſchof Melchior machte
eine kurze Paufe und fuhr näher an Theodora hinantretend fort: „Du bift ein
beredter Anwalt, Gottesgabe. Weißt Du wol, daß Dein Mitleid mit dem
armen Aumale Dich verjüngt, Dich jo ſchön macht, daß Du Gefahr läufft, den
Werth Deines Preijes zu verringern —“
Sein Arm ſtreckte ſich nad) ihrer Rechten. „Er wird fteigen, jobald Ihr
Wilhelm von Grumbad). 193
Eigenthumsrecht erworben,” Tachte fie. „Im Mebrigen fordert als Draufgabe,
wa3 hr wollt — aber beide Hände, oder feine!“
Sie ſetzte ſich zurück und hielt ihm die Hände nebeneinander entgegen.
„Bei Kaiſer Karl’3 Bart, Du hätteft es noch nicht nöthig,“ murmelte er. „Gib
fie mir beide denn und gib mit, was zu ihnen gehört!“
„Hier, zum Klingenberg, und bier, zum Schmelgenhof!” Sie öffnete die
Finger und machte eine Bewegung, die Arme um jeinen Naden zu legen. „Und
bier, wenn Ihr's jo wollt —“
Doch fie brad) ab und zog die Hände zurüd. „Es ift jpät, jagt Ihr, und
morgen —”
Sie jah ihn lächelnd an, und es war wirklich, ala habe jeit einer Minute
eine unfichtbare Hand die leiten Furchen von ihrer jchönen Stirn mweggeglättet,
und mit ihrer vornehm jchmalen Hand die goldenen Spangen ihres Gürtels
auseinanderhaftelnd, ergänzte fie:
„Und morgen — morgen ift es zu ſpät.“
————
Es war um die Mitte des Vormittags, als Chriſtoff Kretzer, ſich vom
Main gegen Oſt abwendend, unter Stadt und Burg Iphoven vorbei den ſteilen
Hang des Steiger Waldes hinanritt. Sein Pferd triefte von Schweiß und
zeigte, daß er demſelben die Nacht hindurch keine Raſt gegönnt; jetzt auf dem
Hochrücken des Berglandes ließ er's eine Minute lang verſchnaufen. Das Ge—
birg führte ſeinen Namen mit mehr Recht als heut'; dichter, wegloſer Wald
legte ſeinen Kniegürtel ringsumher, ſchlang ihn bis zur Bruſt hinauf, und nur
vereinzelt ſtieg da und dort eine kahle Stirn in's Blau. Darüber kreiſten
dunkle Raubvögel, gegen Oſten ging der Blick weit und frei hinaus, in ſchim—
mernder Ferne ſtiegen die Domthürme und auf emporſchwellendem Mainufer das
Biſchofsſchloß zu Bamberg auf; ſüdwärts hinunter unterſchied das bewanderte
Auge im blauen Duft als graue Streifen Thürme und Veſte Nürnberg’s, der
reichjten und mäcdhtigften Stadt des Reid. Im Schatten der Bäume hing
bier oben noch bligender Thau an den Gräfern, Morgenftille und Einjamteit
überbreiteten Alles, nur der Wind führte leiſe, ſummende Zwieſprache mit
den Wipfeln und jchauerte abwärts in die dunfelgrünen Thäler.
In den Augen des anhaltenden und flüchtig rundblidenden jungen Reiters
lag ein ihnen fremdartiger, faft träumerifcher Schimmer. „Es ift gut, lebendig
zu jein,“ murmelte er, „und der Urheber verdient Dank dafür.“ Er jah zum
ftahlblauen Gewölb’ über fich und wiederholte: „Der Urheber? Wenn er Dant
wollte, wär’3 an ihm, deutlich zu jagen: Ich bin’s. Aber mir däucht, er ſpielt
gleiches DVerfted .mit den Pfaffen hüben und drüben. Macht er’3 meinem Ur—
heber nad), oder hat der’3 von ihm? Narrethei iſt's Alles; fie juchen den Einen
und find jo närriich wie ich, der den Andern ſucht. Nur Eins finden wir alle
fiher, das Lo, in dem man uns verſcharrt. s iſt auch nicht gewiß, denn
Manchen freſſen die Raben in freier Luft. Was ift gewiß?“
Chriſtoff Kretzer lachte bitter, und der träumerifche Glanz in feinen Augen
var verſchwunden. Aber glei; darauf griff er in fein Wamms, zog ein
Deutfche Runbſchau. T, 11. 13
194 Deutſche Rundichau.
weißes Tüchelchen heraus und murmelte: „Das ift gewiß — was braucht's
mehr?" Sein Mund drückte fi) ungeftüm auf das Tuch, er warf einen Blick
zum Himmel und rief: „ Hab’ Dank, wenn Du ihn mwillft!“ Dann ftieß er
jeinem Pferd den Stachel in die Seite umd jprengte zur Linken vom Weg ab,
in grasverwachſenen Walddurchhau hinein.
Nach einer guten Viertelſtunde Wegs öffnete ſich das dichte Geſtrüpp, und
auf kreisrunder, kuppenartig aufgewölbter Lichtung lag eine Burg von mäßigem
Umfang und unbedeutendem Ausſehen vor ihm. Die Zugbrücke fiel wie von
ſelbſt bei ſeinem Herannahen, er ritt hinüber und nickte dem Thorwart zu, der
den Gruß erwidernd ſagte: „Der geſtrenge Herr hat ſchon nad) Euch gefragt,
Kreker. Habt Ihr Aufenthalt gehabt? Er jagte vor zwei Stunden, Ihr könntet
zurück jein.“
„Wollt’ ein Täuble nicht fliegen Laffen, Hans Muffel,” lachte der junge
Reiter, fi) vom Sattel ſchwingend. „Mußte warten, daß es mir vor's Rohr kam.“
„Wer heißt's Euch?“ brummte der Alte mürriſch. „Hütet Euch, daß der
Eber Euch die Jagd nicht mit dem Zahn heimzahlt. Wo habt Ihr's?“
„Hier!“ Kretzer ſchlug fich übermüthig mit der Hand auf die Bruft. „Ich
fürcht' mich nicht vor ihm. Was weiß Dein grauer Schädel von weißen Tau—
ben, Hans Muffel!“
Er wandte fih und trat eine alte Steintreppe hinan in’s Innere der Burg.
Dann pochte er an eine Thür, es antiwortete Niemand, aber er jchritt hinein
und blieb wartend ftehen.
Ein Mann, ſchon beträchtlich über die Mitte des Lebens hinaus, jaß ohne
aufzubliden an einem Tiſch. Er trug die volle Eifenrüftung eines Ritters, der
im Begriff ftand, zu Eriegeriichem Zuge aufzubrechen, nur Helm und Armſchienen
lagen jeitwärt3, weil er jaß und jchrieb. Durch da3 Hohe, doc ſchmale Fyenfter
fiel fein Licht auf fein Geficht, denn er wendete ihm den Rüden, und man unter-
ſchied zunächſt in jeinen Zügen nur eine breite Schwertnarbe, die ſich jchräg
über die Stirn zog und das Auge überjpringend bi3 zum linken Mundwinkel
fortfeßte. Aber dann gewahrte man, daß der Schatten nicht nur auf dem Ge-
ficht, jondern auch darin lag. Harten Willen, zähe Ausdauer und raftloje Ge—
dankenarbeit prägte der Bau feines Gerüftes aus; daneben lagen, faft wie im
Miderjprud) und Kampf miteinander, raſche Entichloffenheit und zögernde Be—
rechnung. Doch Alles überlagerte der Schatten einer düftern, nad) Innen ge—
wandten Schweigjamteit, die nur ſich jelbft Rede ftand und bedingungslofe Ober-
herrichaft übte. Daraus blickten zwei Augen wie aus dem Dunkel eines Wald»
dickichts, reglos ſpähend, Alles auffaffend, haltend und verbergend; der gewöhnlich
feftgeichloffene, die Lippen beinahe zurücziehende Mund veränderte, wenn ex ſich
öffnete, den Ausdrud des Gefichtes, denn beim Sprechen durchbrach plößlich der
Aufglarız ftark vordrängender, marmorweißer und kraftvoller Zähne den Schatten.
Wer den Sibenden in der Rüftung gewahrte, konnte troßdem nicht darüber in
Zweifel bleiben, daß er einen Mann umfaffender geiftiger Thätigkeit vor ſich
babe; dod) hätte er Kleid und Baret des Gelehrten getragen, würde fi) darin
ebenjo unverfennbar Art und Stolz des edelgeborenen Kriegsmanns ausgeprägt
haben.
Wilhelm von Grumbad). 195
Der dunfelbärtige Schreiber war Herr Wilhelm von Grumbad), des Mark—
arafen Mbreht von Brandenburg-Culmbadh vertrautefter Rath und Statthalter
„auf dem Gebirg.“
Es dauerte eine Weile, eh’ er auflah; zugleich legte ex die Feder zur Seite
und trat auf Chriftoff Kreber zu. Die Stahlſchienen an jeinen Beinen und der
Harniſch um den hochgewölbten, madhtvollen Oberkörper Elirrten, unter feinem
Fuß jchütterte der Boden. Er warf kurz deutenden Blid auf ein an der Wand
nad Art der Nürnberger Saduhren hängendes Horologium und jagte:
„Du verjpäteft Dich zum Erftenmal; beim Ziweitenmal führt Dein Weg
nicht wieder hierher zurück.“
Der junge Gejell juchte den auf ihn gerichteten Blick auszuhalten, doch nad)
wenigen Secunden wichen jeine troßigen Augen jcheu zur Seite aus, und er ent-
gegnete: "
„Ich bin geritten, wie Ihr befohlen, Herr, nachdem ih Eure Hausfrau
auf dem Wege nad) Würzburg wieder angetroffen und bis zum Schloß zurüd-
gebracht.“ |
„Du lügft. Meine Frau ift um die elfte Stunde dort angefommen und
Du bift erft nach Mitternacht aufgebrochen. “
Chriſtoff Kreber antwortete tonlos: „Ich log; fie fam um die elfte Stunde
und ich ritt erſt nah Mitternacht.“
„Weshalb ?“
„Weil ic) Jemanden hafte. “
„Du lügft wieder. Weil Du Jemanden Liebteft.“
„Ic wußte es damals noch nicht. Haß und Liebe können ihre Farben
ſchnell taujchen.“
Er verfuchte wieder aufzujehen, ſchrak jedoch abermals vor einem jonder-
baren, weißaufleuchtenden Blik aus den Augen des Statthalter8 zur Seite.
Die Zähne deffelben traten noch gewaltjamer durch die Lippen als bisher, wie
er mit kaltſchneidendem Spott verjeßte:
„Du bift jehr Hug für Dein Alter, Burſch. Glaubft Du, ihre Farben zu
unterjcheiden? Alſo eine Würzburger Dirne? Dan joll jeine Feinde Lieben, jagt
Martinus Luther, und hat uns gute Beijpiele dafür hinterlaffen. Heirathe fie,
ih will Euch ausftenern. Du weißt, ich verſprach Dir, für Dich zu forgen, um
Deines Vaters und Deiner Mutter willen — greif’ zu! Ich will Deiner Frau
Kind aus der Taufe heben und Dir eine gute Fauſtbüchſe ala Hochzeitsmitgift
ichenten. Und ſollt's der Zufall wollen, daß fie losginge und Deiner Frau
eine Kugel durch die Bruft jagte, an der ihr Kind ſöge, jo will ih Dich
tröften, Dich zum Ritter jchlagen und Dir eine meiner Burgen zu Zehn geben.
Was meint Du, Chriftoff Kreer? Du weißt, ich halte, was ich zuſage. Wirb
und freie!“
Wilhelm von Grumbad late, doch es ang nicht wie zwiſchen feinen
weißen Zähnen hervor, fondern al3 komme e3 mißtönig, ein aufgeftörtes Echo,
aus einem Winkel des alten, finftren Gemäuers. Der Mund jelbft ſchien über
diefe ungewohnte Regung zornig, denn er preßte fich jäh zurüd und fragte
dann hart:
13"
196 Deutiche Nundichan.
„Wer empfing fie?“
„Der Biichof.“
„Er ſelbſt? — Und Unter-Bleichfeldt ?“
„Iſt von Würzburger Knechten beſetzt — zum Schub, bis die Braunfchweiger
vorüber find.“
„Gut.“ — Das Wort drücte Zufriedenheit aus, ob mit dem Boten oder
feiner Nachricht. „Der Schutz wird guten Beftand haben, denn Wind und Wetter
werden fie am Main fefthalten oder der Wein ihnen munden, oder — einerlei
was: auf dem Frauenberg wird man Rath dafür willen. Was jpricht man in
Würzburg?“
„Die Bürger trauen dem Bamberger Vertrag nicht.“
„Wackre Leute, die dem Pad mit dem Böſen mißtrauen! Geh’ und ruh”
aus, ich laſſſ Dich rufen; am Abend reitet Du. Bis auf die Verfpätung bin
ih mit Dir zufrieden, auch mit Deiner Liebſchaft. Weiber haben gute Ohren
und hören Manches; Du darfjt fie befuchen. Laß Dir Wein geben! Was noch?“
Der junge Reifige hatte fi) gewandt, ftand jedoch noch zögernd an der
Schwelle. Auf die lebte Trage hob er den Kopf umd verjeßte ungewiß:
„Ihr ſagtet mir zu, Herr, wenn ich etwas zu Eurer Zufriedenheit voll-
brächte, wolltet Ihr mich dafür belohnen.“
„Mit dem Namen, den Dein Bater Dir hätte geben jollen? Du jchlägjt
Deine Dienfte hoch an, Burj; mich däucht, ich habe Dix ein gutes Theil vor—
aus bezahlt. Ach Fand Did auf der Gaffe im Blut, Deiner Mutter, fagten
die Leute, habe Dich aufwachſen laffen, genährt, gekleidet‘, einen Reiter aus Dir
gemacht. Hab’ ich Dank dafür verlangt? Ich weiß: Du würdeſt mich um bej-
jeren Preis verrathen, es liegt Dir im Blut. Aber Du heuchelft wenigſtens
Danf und Treue, weil ich der Einzige bin, der von Deiner Herkunft weiß.
Meinft Du, ein Ritt nad) Würzburg genüge, um die Kette, an der ih Dich
balte, durchzuſchlagen? Ich bin mit Dir zufrieden, jagte ih; Du bift geworden,
wie ih Dich gewollt, ein Wolf, der an der Kette raffelt und die Zähne fletidht.
Pade, wen Dein Gebiß fallen fann, und beiße ihm Deinen Haß gegen mich in's
Fleisch! Vielleicht kommt ein Tag, wo id Dich heiße: Thu’ das, Chriftoff
Kretzer! Wenn Du's gethan, jage ih Dir den Namen Deines Vaters. — Jetzt
lafj’ mid!
Der Abgefertigte verlieh das Gemach; ein jonderbarer Blid Grumbach's
folgte ihm nach, als ob der Haß, von dem er geſprochen, hundertfach verftärkt
unter jeinen eigenen Lidern hervorglühe. Einigemale ging er mit Elirrenden
Schritten auf und ab, dann ſetzte er fich an den Tiſch zurück und jchrieb. Aber
feine Gedanken waren nicht bei der Feder, fie glitt achtlos über das Blatt, und
er ftarrte auf fie nieder, zerfnickte fie und warf fie zu Boden. „Ein Werkzeug,
und Du willft nicht gehorchen?“ knirſchten feine Zähne. Doch gleich darauf
ah er erftaunt um, in den dunflen, tiefen Rahmen einer Mauerede. Ein leije
fnarrender Ton fam von dort und eine Thür wich) wie von ſelbſt zurüd. Sie
flog nicht auf, ſondern verihwand nur im Gemäuer, und mit vorgebüdtem Kopf
trat eine, Geficht und Körper unter langem Mönchskleid bergende, hochgewach—
Wilhelm von Grumbad). 197
jene Geftalt durch die niedrige Deffnung. Der Statthalter ſprang überraſcht
auf, trat der ımerwarteten Erſcheinung entgegen und ſagte:
„Wer feid hr? Ihr fünnt Niemand anders in diefer Thür jein, ala —“
„Einer, der Deine Beichte zu hören kommt, mein Sohn,“ ergänzte eine er-
fünfteltsnäjelnde Stimme. „Seid Ihr allein, Grumbach?“
Der Gefragte ftieß einen Riegel vor die Thür, durch welche ſtretzer das
Gemach verlaffen. „Allein und ungeftört, Herr Markgraf. Was bringt Euch
unvermuthet hierher?“
„Ungeduld, Langeweile, Grumbach; Ihr macht mir die Zeit lang.“ Es
klirrte unter dem zurüdgeworfenen Mönchsgewand des Sprechers, der die Ga-
puze in den Naden jchüttelte, und über feingliederigem Mafchenpanzer, auf den
ein langer Spihbart bis zur Mitte der Bruft hinunterftieh, fam das noch jugend»
liche, doc ſchon vielfach durchfurchte und ernft-finftre Geficht des Markgrafen
Albreht von Brandenburg-Culmbadh zum Vorſchein. Er warf fih auf einen
Seſſel und lade:
„Ich bin luftiger Laune, Grumbad. Durch Bamberg bin ich geritten, und
die Bürger haben mir den Saum gefüht und mich um meinen Segen gebeten.
Ich hatte Luft, ihnen nah Wunſch zu thun, mit dem Stiefelabiah.“
„Sr ſeid tolllühn, gnädiger Herr. Wenn man Euch erkannt hätte, wäret
Ihr vielleicht jet Biſchof Weygand's Gaft, doch nicht an feiner Tafel.“
„Dann hoffentlich in feinem Weinkeller. Pah, haben wir nicht den Bam-
berger Vertrag, leider ohne das Geld mehr, das er uns eingebradht hat ?“ Das
bringt mich zu Euch, Grumbach; ich brauche Geld. Yacob Oßburg's Fähnlein
auf Hohenlandsberg haben jeit Magdeburg keinen Sold und wollen auseinander
laufen. Schafft! Straß weiß feinen Rath.“
„Laht fie laufen, gnädiger Herr! Das find ſchlechte Landsknechte, die Euch
ſchwören und in acht Striegsjahren nicht jo viel übrigen, ein halbes Friedens-
jahr auszudauern. Das ift mein Rath; Geld habe ich jo wenig wie hr.
Biſchof Melchior hat mir geftern Burg und Dorf Untern-Bleichfeldt beſetzt —“
Der Markgraf fprang auf. „Und Ihr fiht Hier?!“
„Sr möchte, daß ich's nicht thäte, jondern nady Eurer Meinung handelte.
Es wäre ein guter Grund, bei Sailer und Reich um Vertrags- und Land»
friedensbruch zu klagen, wenn ich mein Gigenthum wieder an mich nähme, denn
er bat fich deilen nicht aus Eigennutz bemädhtigt, jondern aus chriſtlicher Er—
barmni und Freundſchaft als des Leibgedinges meiner fiechen Hausfrau, um
es gegen Wildniß und Unbill der beranziehenden braunſchweigiſchen Ariegsvölter
zu fichern. Auch meine Hausfrau jelbft hat er zu ſich unter den Schub des
Frauenbergs genommen.“
„Seid Ihr toll, Grumbach?“
„D, in Ehren, Herr Markgraf! Ich gebe Eudy mein Wort darauf, fie kann
auf keinem Fleck der Erde ficherer fein.“ Die Lippen Wilhelm’s von Grumbad)
hatten fi) einen Moment höher über die aufflammenden Zähne gehoben, janten
zurücd und er fügte hinzu:
„Sie hat die Einladung auf meinen Rath angenommen, wenn Ihr wollt,
auf meinen Befehl.“
198 Deutſche Rundſchau.
„Der Befehl däucht mir nicht liebevoll.“
Durch des Statthalter Gefiht ging ein ſcharfes Zuden und die rothe
Narbe auf feiner Stirn wandelte fi) einen Augenblid in einen weißen Strid)
um. Dann erwiderte er ruhig:
„Euer Dienft hat mir nicht viel Zeit zur Liebe gelaffen, Herr Markgraf;
vielleicht ift dies das erſte Werk hriftlicher Liebe, das ich mir zum Verdienſt
rechnen kann. Ihr wißt, meine Frau ift jeit Langem krank und römiſchgläubig;
wo fände fie beſſer Erlöfung und heiligeren Troſtſpruch als bei einem der
oberften und ehrwiürdigften Diener der Kirche? Der Herzog von Franken war
mein Feind, aber der Biſchof von Würzburg wird meines Weibes Tröfter fein,
und die Liebe zu ihr ift ſtark genug in mir, ſolchen Unterſchied zu machen.”
Markgraf Albrecht wirbelte lachend feinen jpiten Bart. „Es ift faft jo
beluftigend, Euch ala Pfaffenlobredner zu hören, Grumbach, wie jelbft als Mönd
dur Bamberg zu reiten. Sagt mir mit dürrem Wort, weshalb habt hr
Eure Hausfrau auf den Frauenberg geſchickt?“
„Um von ihr zu erfahren, ob Wolf MWeindheim luſtig oder verdroffen ift,
gnädiger Herr. hr wißt, ich nehme an feiner Laune Antheil.“
„Do der Biſchof — wie fommt er dazu, Euer Weib —?“
„Das alt, entftellt und fiechen Leibes ift? Spottet nit, Herr Markgraf!
Er beweift jeine chriftliche Liebe, indem ex fie an der Nächften jeines Feindes
übt, und legt Zeugniß ab für feine Fromme Gläubigfeit, denn er baut darauf,
daß vor den Augen meiner rau fein Bild machtvollere Wirkung befitt als
meines, weil er ein altes Recht auf fie hat — ich meine, als das eines Ober-
hirten ihrer Kirche. Wer ift jo ſündlos, daß er nicht der Vergebung bedürfte?
So denkt vielleiht Herr Meldior von Zobel, und er rechnet darauf, daß lang
gehäufte Sündenlaft — iſt's nicht genug, daß fie eines Ketzers Weib ift? —
meine Frau erdrückt, jo daß fie, Vergebung ihrer Schuld zu erlangen, für ihr
Seelenheil ein Wenige von dem zeitlihen Wandel ihres Mannes preisgibt.
Auch die hochwürdigſten Herren haben Stunden, in denen fie irdiſche Neugier
anwandelt, und befiten vom Himmel ftammende Kraft der Ueberredung verſchie—
dener Art, je bei Jung und Alt.“
„Do Ihr glaubt, daß er fidh bei Eurer Hausfrau verrechnet?”
„Diesmal thut er's.“
Wilhelm von Grumbach ftieß es Fury, abgebrochen zwiſchen den Zähnen
hervor, in einer Weije, die den Markgrafen unwillkürlich veranlaßte, verwundert
die Augen auf ihn zu richten und zu entgegen:
„Ihr jeid Klug, Grumbach; Eure Freunde wiſſen's Euch jeit manchem
langen Jahre Dank, und es ift Keiner unter Euren Feinden, dem Ihr Grund
gegeben, es Euch abzuftreiten. Doc auch Klugheit, jcheint’s, muß ihren Fall»
ftrid haben; dem Einen legt ihn der Wein, dem Andern die Weiber. Mid
däucht jchon von Alters ber, Eurer könnt’ den Namen Biſchof Melchior von
Würzburg tragen; jeht vor, daß Ihr nicht einmal über ihn ftolpert und im die
Grube fallt. Jch weiß, daß Euer Kopf Herr ift und Euer Herz fich nicht mit
menſchlichen Leidenichaften befaſſen läßt, jonft würde ich glauben, Ihr haftet
ben Biſchof.“
202
Wilhelm von Grumbadh. 199
„Und würdet fürdten, Hab made blind, wie Liebe, Herr Markgraf.
Habt mein Wort, der Haß gegen ihn ift nicht blinder ala die Liebe zu
meinem Weibe.“
Der Statthalter hatte feinen Sit verlaffen, jchritt hin und wider, blieb
ftehn und fuhr mit verändertem Zone fort:
„Mein Thun hat nit mit Hab und Liebe zu ſchaffen; wenn es Euch bie
Zeit lang macht, gnädiger Herr, fo bin ich geduldiger, ala Ihr, denn ich weiß,
daß ein Baum, der feft wurzeln ſoll, nicht über Naht aufſchießen kann, wie
ein Pilz. Es find zwanzig Jahre, die ich für Euch gearbeitet Habe —“
„pur mich?” fiel der Markgraf ein. „Ich dächte eher, gegen den Biſchof.
Wenn Ihr Euer Werk für mich angefangen, hätte ih Euch ſchon an meiner
Mutter Bruft Dank geichulbet.“
„So jagt, für's deutiche Neih, Markgraf Albrecht, bis ich den Mann für
meinen Gedanken fand.“
Die Worte enthielten vielleicht eine ſchmeichelhafte Anerkennung, aber in ihrem
Klang lag etwas ſtolz Unumwundenes, faft Souveränes, ala jei Wilhelm von
Grumbach der Fürft, der Lenker eines vor ihm fißenden Werkzeugs, das er ala
unbedingt feinem Willen untergeben betrachte, und er ſetzte raſch hinzu:
„hr Habt Recht, ich bin älter ala Ihr, gnädiger Herr. Als Ihr in der
Wiege lagt, ftand die Stammburg meines Geſchlechts zu Rimpar noch, und ber
„arme Konrad“ Fam über den ſtramſchatzer Wald und brad fie in Stein-
ſchutt und Aſche. Meine Mutter traf eine Steinkugel aus den ungeſchlachten
Geſchützrohren der Bauern, und meinen Vater jagten fie durch ihre Spiehe, wie
fie'3 mit Ludwig von Helfenftein gethban. Dann kam Euer Ohm, Markgraf
Gafimir, ließ den gefangenen Bauern die fyinger abhaden und die Augen aus-
ftehen, weil fie vordem geſagt, fie wollten ihm nicht mehr anſehn, und der
Biſchof Konrad zu Würzburg zog mit Henfern und Steckenknechten durch's
Frankenland. Bei Fyrantenhaufen mwürgten die Herzoge, der Landgraf und bie
Mansfelder das Bauernheer, das Martinus Luther verflucht hatte, ala jähe er
auf Petri Stuhl. E3 waren die Räder, doch ich habe fie nicht geliebt, und
ic) habe die Bauern nicht gehaßt, die meine Stammburg gebrodhen. Da war't
Ihr ein Kind, Markgraf Albrecht, an Eurer Mutter Bruft! Ich habe fie nicht
gehaßt, denn ih ſah in die Welt der Noth, des Mißwachſes und Untergangs
hinein umd jab, fie hatten Recht; wenn dem Reich geholfen werden follte, waren
fie der Arzt mit Eifen und Feuer. Sie verlangten ein weltliches Oberhaupt
und ein geiftliches, nicht in einem Scheinpurpur, fondern mit wirklicher Kraft
und Macht; nur Zwei follten im Reich jein, ber Kaiſer und das Volt! Zum
Ende mit der taufendfältigen Herrichaft der Fürſten und Grafen, Bifchöfe,
Dechanten, Pröpfte und Domberren! Es war ein roher Troß, der es mit plum⸗
pem Maul aus der Tiefe des Elends heraufichrie, und feine gemeine Fauſt erlag
dem Betrug, dem glatten Wort und der Stlugheit; doch mit ihm erlag das
deutiche Reich und fiel im fpaniiche Hand. Sie hatten gewagt, was fie nicht
fonnten; von Unten verfudht, was von Oben geichehen mußte. Das wußt' id)
an Eurer Wiege, gnädiger Herr, und mwuhte, wo die Thorheit und wo die Schuld
ihr Blut vermengt hatten. Tann vergaß ich's, denn idy nahm ein Weib —"
200 Deutſche Runbichau.
Der Sprecher brach ab, ſchwieg einige Secunden und fuhr fort:
„Mein Geſchlecht fteht zu Eurem Haufe aus alter Zeit, Markgraf Albrecht,
und Ihr wuchſt herauf. Ich weiß den Tag und den Ort no, an dem es mir
zum Grftenmal kam, Ihr könntet der Dann werden, von Oben auszuführen,
wa3 von Unten mißrann, und von der Stunde an habe ich nicht geraftet, für
Euch und für mid.“
„Die Biſchöfe haben’3 gefühlt, Grumbach. Doc ich jehe nicht, daß wir
fett Jahren Eurem Biel weiter entgegengerüdt find.“
„Ih habe Eure Macht im Frankenlande vergrößert, Herr Markgraf. Was
ift ein Haus ohne Fundament, was ein Kaiſer ohne Hausmacht? Der Biihof
zu Wilrzburg nennt ſich Herzog von Franken; Ihr ſeid's. Das fieht die Welt.
Mas fie nicht ſieht, dent’ ich, ift das Gewichtigere.“
Der Markgraf zuckte leicht die Achiel. „Ich gleiche darin der weniger jcharf-
fichtigen Welt, Grumbad. Nur auf den Boden meiner Geldtruhe jehe ich jehr
deutlih. Eure Umtriebe an der Unterelbe find wie ein freſſendes Geſchwür
geweſen.“
„Ihr haltet den Purpur für billig, gnädiger Herr; Wolf Weinckheim würde
Euch antworten, daß die dreifache Krone mehr für ihre Zwecke aufwendet. Die
Biichöfe haben ein Bündnig mit Nürnberg, Rotenburg, Windsherm, dem Biſchof
zu Aichftatt, dem Teutſchorden und dem Herzog von Braunſchweig geſchloſſen.“
„Woher wißt Ihr — ?“
„Hätte ich ein Anrecht, Euer Rathgeber zu jein, wenn ich e8 nicht wüßte?
Ein Bündniß zur Abwehr gegen und — die proteftantiichen Städte wiſſen jo
wenig, um was e3 fi in Weinckheim's Gedanken handelt, al3 unjere Bundes»
genoffen in Mittag und Mitternacht, daß fie an ihrer eignen Grube mitgraben.
Zug um Zug, Weindheim, aber jo gut Du Deine Pläne Hehlft, Dein König
wird matt! Ihr jeht nichts, Herr Markgraf, dat wir dem Ziel näher fommen ?
Vertraut meinen Augen, fie jehen das Eiſennetz, das ſich ihnen um die Glieder
legt (wie der hinkende Schmied jein Garn um den Kriegsgott und fein jchönes
Buhlweib Ipann), und mein Ohr Hört das olympijche Gelächter, das auch in
die Luft brechen wird, wenn fich die Maſchen um unjeren Mars und feine alt:
gewordene Venus zujammengezogen haben. Er glaubt fih ſchon auf dem Sitz
des Donnererd; aber die Blite, die Wolf Weindheim, fein Merkur, zufammen-
gehandelt, find Blendfeuer und zerglühen das Net nicht, da3 wir ihm geichmiedet.“
„Eure Rechnung hat einen Fehler, Grumbach; er heißt Moritz.“
In des Statthalter Augen blitzte ein ungebändigter Strahl auf, wie der,
mit weldem ein Lehrmeifter thörichten und unbotmäßigen Schüler ftraft. „Wer
trägt die Schuld daran, Markgraf Albrecht, daß der Fehler vorhanden, in's Ge—
waltige angewachſen ift? Bor Magdeburg war’t Ihr gleih, Ihr und er!
Was liegt Ihr den Hurfürften und zogt nicht mit gegen Innsbruck? Dann
hätte Deutjchland heut’ zwei Herren gehabt und nur einen Zweikampf
zu beftehen. Aber Ihr warft uns um Jahre zurüd, wie die Thorheit der Ge—
nofjen des Odyſſeus das Schiff von der faſt erreichten Heimathfüfte twieder in
die Schlla und Charybdis hinaustrieb; denn hr verlangtet Geld und hörtet
auf Eure Straß, Oßburg und Tüngen, die Euch riethen, Eure gefammelte
Wilhelm von Grumbad). 201
Macht zu nützen, um die Biſchöfe zu zwingen, Euch ihre Truhen auszuleeren.
Damals verfauftet Ihr die Krone für Pfennige, Herr Markgraf! Was zählt
Ihr mir den Fehler auf, den Ihr in meine Rechnung gebracht?“
Es mußte eine wunderbare dämoniſche Macht fein, die Wilhelm von Grum-
bad) über den feines fürftlichen Selbftgefühls, Starrfinns und heftigen Jähzorns
halber gefürchteten Markgrafen Albrecht von Brandenburg-Culmbach übte, denn
diefer blickte, gejcholtenem Schulfnaben ähnlih, zu Boden und verjeßte nad)
einer Weile gelajfen:
„Ich that Unrecht, nicht Euch zu folgen, Grumbach; rechnet darauf, daß
es nicht wieder gejchieht. Aber ich brauchte Geld — wo iſt's geblieben? Erupit
— evasit —“
Der Markgraf ftand auf; Grumbacdh hatte fich offenbar zu einer Heftigkeit
fortreißen lafjen, die er gut zu machen, in Vergeſſenheit zu bringen trachtete,
Er lenkte auf etwas Anderes über und jagte ruhig:
„Ich habe heute einen Boten nad) Wien an den Erzherzog Maximilian mit
dringender Warnung abgejandt. Die Loyoliten ex societate Jesu haben den
Auftrag, ihn langfam zu vergiften; fein Leben ift unihäßbar, wir dürfen uns
um feinen Preis die Ausficht vauben laſſen, einen proteftantiichen Kaiſer aus
dem Haufe Habsburg zu getwinnen. Wenn es möglich wäre, eine Trennung zu
bewerkjtelligen, gnädiger Herr, eine Beihränfung Habsburg’s auf Defterreih, und
daneben ein wahrhaftes deutjches Reich, beide zu feftem Bund gegen Nom und
das Ausland vereint — die Thronbefteigung des Erzherzogs Mtarimilian könnte
einen Moment in der Gejchichte bilden, der vielleicht niemals wiederkehrt.“
Markgraf Albrecht nickte, doch unverkennbar ermaß er nicht die Tragweite
des überrafchenden, mit zögernder Vorficht ausgedrüdten Gedankens feines Statt-
halters. „Bergiften?“ erwiderte er; „ich glaube, Ihr habt Raben abgerichtet,
Grumbach, die Euch Alles zutragen, nicht nur was geichieht, jondern was noch
im Gehirn der Menjchenköpfe dämmert. Man wird Euch in Wien guten und
ichlehten Dank dafür willen. Doch id fam, Euch zu fragen —“
Er ftocte einen Augenblidt — „Ih muß Geld haben, Grumbad. Der
Herzog von Aumale bietet ziweihunderttaufend Gulden für feine Löjung — was
rathet Ihr?“
„Laßt ihn frei, gnädiger Herr.“
„Für jo geringen Preis?“
„Rein, für höheren.“
„Wie hoch meint hr?“
„Umfonft.“
„Seid Ihr von Sinnen?“
Grumbad) öffnete die verriegelte Thür und rief einige Worte hinaus. Dann
drehte er den Kopf: „Umjonft, oder für den Werth der Juwelen in König Hein-
richs Krone. Ich will Euch den Preis übermorgen jagen, gnädiger Herr.“
Die Thür ging auf und Chriftoff Kretzer trat ein. Der Statthalter jchritt
* ihm zu: „Ach ändere Deinen Auftrag; Du reiteft in einer halben Stunde
Würzburg zurüd, kehrſt in der Herberge zum Klingenberg ein und erforichft,
ih dort no ein Gaft, Namens Herr Friederich Spet, aufhält, oder ob der-
202 Deutiche Rundſchau.
jelbe bereits abgereift ift. Dann begibft Du Dich auf den Frauenberg, verlangft
in meinem Auftrag Vorlaß bei meiner Hausfrau, erkundigft Dih nad ihrem
Gejundheitsftand und bringft mir ohne Aufenthalt ihre Antwort. Ohne Aufent-
halt — umd wir leben mit Allem, wa3 innerhalb Würzburg’3 Mauern ift, in
Frieden und Freundſchaft — verſtehſt Du?“
Das Auge des jungen Gejellen hatte bliartig aufgeleuchtet, er ließ das
Lid halb darüber fallen und entgegnete:
„Ich habe verftanden.“
„So handle barnad)!“
Kreher verließ mit einer halb linkiſchen Berneigung gegen den Markgrafen
das Gemach; diefer jagte:
„Der Burſch ift klüger ala ih, Grumbach, denn ich verftehe Euch nicht.
Mer ift er? Ich weiß nicht, an wen ex mich erinnert.“
„Bielleiht an den Teufel, denn er würde in die Hölle hineinreiten, wenn
ich’3 ihn hieße. Verlaßt Euch drauf, es ift der befte Bote auf den Frauenberg.
Erweift mir die Ehre, Herr Markgraf, mit mir zu theilen, was unjer Mittagd-
tiich auf dem Gebirg hat, und ich will Euch jagen, weshalb ich dazu gerathen,
dem Herzog von Aumale noch zwei Tage Gaftfreundichaft auf der Blaffenburg
zu gönnen. Die Wünjche unferer Freunde treffen nicht immer mit unjeren
eigenen überein, und obwol Wolf Weindheim mein Freund ift — denn ich wüßte
wenig Menjchen auf Erden, vor denen ich jo viel Rejpect hätte, wie vor ihm —
jo weichen unjere Anſchauungen über die Brauchbarkeit Eures herzoglichen Ge-
fangenen doch voneinander ab. Ich fagte Eu, daß wir vielleicht das reichite
Löjegeld erzielen, wenn unſere Großmuth feines begehrt. Warten wir auf den
Beicheid, mit dem Herr Friederich Spet den Frauenberg verlaffen und den meine
Hausfrau mir berichten wird.”
„Sprecht deutlicher, Grumbah — Ihr habt Recht, der Ritt durch Bam-
berg hat mich hungrig gemacht; beim Trunk hört ſich's am beften.” Der Mark—
graf nahm vertraulich den Arm feines Berathers, und fie jchritten in den Speije-
jaal der Burg, während draußen der Hufichlag des Pferdes ericholl, dad Chriftoff
Kreßer noch jchneller, ala ihm befohlen worden, aus dem Stall wieder hervorzog.
(Schluß im nächſten Heft.)
Die Sage von Yelrus als xömiſchem Bildof.
Bon
Prof. €. Beller in Berlin.
Die Päpfte leiten befanntlich alle die Rechte, welche fie für ſich in Anſpruch
nehmen, von dem Apoftel Petrus her, deffen Nachfolger fie jein wollen und
ohne Zweifel auch zu fein glauben. Mögen dieje Aniprüche nod jo weit gehen,
mögen fie fi) auf die Lehre, auf die Disciplin oder die Jurisdiction, auf fird)-
liche oder auf bürgerliche Dinge beziehen: immer ift es Petrus, dem bie Befug-
niffe urſprünglich übertragen worden jein follen, welche fi von ihm, wie ver-
fichert wird, auf die römiſchen Biichöfe vererbten. Auch in ber neueften feier-
lichen Berfündigung päpftliher Machtanſprüũche, in den vaticaniichen Goncilien-
204 Deutiche Rundichan.
übergegangen. Auch ihnen fteht mithin die Leitung der Kirche unbedingt und
unbeſchränkt zu: fie find die Lehrer, denen man feinen Irrthum zutrauen, die
Regenten, denen man nicht widerjprechen, die Richter, von deren Urtheil man
nicht appelliven darf.“ Dieſe wenigen Worte enthalten den dogmatijchen Kern
de3 Syſtems, welches nicht? geringeres bezwedt, als die Aufrihtung einer
unbejchräntten, die ganze Menjchheit umfafjenden, auf alle Lebensverhältnijie
und Thätigfeiten fich erftredenden klerikalen MWeltherrichaft.
Wenn man näher zufteht, zeigt fi nun freilich jehr bald, daß die Grund-
lage dieſes Syſtems viel zu ſchmal und ihr Gefüge viel zu Loje ift, um ein jo
colofjale8 Gebäude zu tragen. Unter allen jenen Sätzen ift nicht Einer, der der
hiftorifchen Kritik auch nur einen Augenblid Stand hielte. Chriftus joll dem
Apoftel Petrus die oberfte Leitung der Kirche übertragen haben; aber in unjern
Evangelien gibt er ihm feine Vollmacht und feinen Auftrag, die nicht aud)
den andern Apofteln in allem wejentlichen ebenſo extheilt würden; und wie
hoch man immer die Stellung anſchlagen mag, weldhe dem Petrus an der
Spibe der zwölf Apoftel angewiefen wird, jo erſcheint dies doch nur als ein
perjönlicher und auf perſönlichem Anjehen beruhender Vorzug ; von der Abficht,
eine bleibende Einrichtung, eine monarchiſch conftituirte oberfte Kirchenleitung
zu ſchaffen, zeigt fich feine Spur. Ebenjo wenig kennt die Geſchichte der älteften
Kirche das Dafein einer ſolchen Kicchenleitung. Paulus wenigftens erklärt
auf's nachdrücklichſte ſeine volllommene Nnabhängigkeit von den älteren Apofteln:
er verhandelt Gal. 2 mit Petrus, Johannes und Jakobus auf dem Fuß der
unbedingteften Gleichheit, und ala Petrus aus Scheu vor dem Andringen judaiftiicher
Fanatiker feiner Uebereinkunft mit Paulus untreu wird, hält ihm dieſer eine
Strafpredigt, die gar nicht darnad) ausfieht, als ob er in ihm feinen geiftlichen
Dberen verehrt, von einem ihm zuftehenden „primatus jurisdietionis* etwas gewußt
hätte. Hört man vollends, was alles in diefem Primat enthalten jein joll, jo fragt
man fich erftaunt, twie die römischen Theologen und Ganoniften, allerdings nicht erft
jeit heute, in den neuteftamentlihen Ausſprüchen Dinge finden fonnten, von
denen jchlechterdings nichts darin fteht. Daß fich ferner dieje angeblichen Amts—
befugnifie des Petrus jammt und jonder3 auf jeine Nachfolger vererbt haben,
dies behandelt zwar die päpftliche Theorie als ganz jelbftverjtändlich; aber jelbft-
verftändlich ift es eben nur für demjenigen, welcher zum voraus überzeugt ift, fie
jeien dem Petrus nicht blos für jeine Perſon übertragen worden, welcher jomit
dad, was beiwiejen twerden joll, jchon vorausjegt. Wer jich dieſen Zirkelichluß
nicht erlaubt, wird fich vergeblich nad) einem Beweis dafür umjehen; und wer
mit der Kirchengeſchichte nur einigermaßen befannt ift, der weiß, welcher Mittel
es bedurfte, bis fich die römiſchen Biſchöfe allmälig in zwölfhundertjährigen
Anftrengungen und Kämpfen, von den PVerhältnifjen begünftigt, die Stellung
errangen, in deren Vollbeſitz fie nach der Behauptung der Romaniften von
Anfang an gewejen wären, umd wie beftritten und bedingt jelbjt auf der Höhe
der päpftlichen Macht ihre thatjählih anerfannten Befugniffe immer noch im
Vergleih; mit dem waren, was das curialiftiiche Syſtem jeit den Zeiten der
Apojtel ihr unbeftrittenes, auf unmittelbarer göttliher Einſetzung beruhendes
Recht jein läßt. Möchte es ich daher mit dem Primat des Petrus verhalten,
Die Sage von Petrus als römiſchem Biſchof. 205
wie e3 wollte: daß dieſer Primat durch das Recht der Amtsnachfolge auf die
römiſchen Biſchöfe übergegangen jet, läßt fich nicht blos nicht beweifen, jondern
dieje Annahme ift auch ganz unvereinbar mit der Thatſache, daß Jahrhunderte
lang niemand in der Chriftenheit von einem ſolchen Primat der römiſchen
Biſchöfe etwas gewußt hat, daß diefe vielmehr außerordentlich lange Zeit nöthig
hatten, um jich die Rechte jenes Primats Schritt für Schritt in einem Theil
der hriftlichen Kirche, und auch hier nicht in dem vollen Umfang, in dem fie
in Anſpruch genommen wurden, zu eriverben.
Wie fteht e8 num aber mit der Thatjache, welche bei allen diejen Deductionen
vorausgejeßt wird und deshalb die erfte und unentbehrlichite Grundlage des
ganzen Papaljyftems bildet? War Petrus überhaupt römiſcher Biſchof, und
find deshalb die jegigen römiſchen Biſchöfe, die Päpfte, als jeine Nachfolger zu
betrachten? Die Beantwortung diefer Frage joll im folgenden, jo weit dies
ohne tiefergehende gelehrte Erörterungen geichehen kann, dem gegenwärtigen
Stand der wiſſenſchaftlichen Forſchung entiprechend, verſucht werden.
Es wird jedoch zweckmäßig jein, hiebei eine Unklarheit, zu der unjere Frage—
ftellung jelbft Anlaß geben könnte, zum voraus zu beieitigen. Die heutigen
fatholiichen Bischöfe find hohe kirchliche Würdenträger, Theile eines großen hier-
archiſchen Organismus, in dem fie al3 die Regenten und Vertreter ihrer Sprengel
eine hervorragende Stellung einnehmen; wie jehr auch immer die neneften
Goncilienbeihlüffe ihre Unabhängigkeit beeinträchtigt und fie aus Kirchenfürſten
mit eigenem Recht zu umjelbftändigen päpftlihen Beamten herabgeſetzt haben.
Zur Zeit der Apoftel kann nit allein an Bilhöfe in diefem Sinn nicht
gedacht twerden, jondern e3 waren überhaupt von der jpäteren Epijtopalverfaj-
jung kaum die erften Heime vorhanden: es gab hriftliche Vereine in den einzelnen
Orten, wo der neue Glaube Wurzel gefaßt hatte, aber es gab nod) feine über
die Ortögemeinden hinausgehenden kirchlichen Verbände, und die Einzelgemeinden
jelbft wurden nit monarchiſch, jondern collegialiſch, nicht durch einen Bilchof,
jondern durch Aeltefte (Presbyter) geleitet. Auch der Name der „Epiikopen“
oder Aufieher bedeutet in den wenigen Stellen des Neuen Teſtaments, in denen
er vorkommt, wiewol dieje jelbit ſchon Schriften des zweiten Jahrhunderts
angehören, und ebenjo in anderen hriftlichen Schriften aus dem nadhapoftoliichen
Zeitalter, noch daſſelbe, wie „Presbyter“. Erft um die Mitte und nad der
Mitte des zweiten Jahrhunderts hat ſich allmälig aus der collegialiichen
Gemeindeverfaffung die monarchiſche und mit ihr der Unterichied des Epiſtopos
von den Presbytern (des Biſchofs von den Gemeindeälteften oder „Prieftern“)
herausgebildet. Nur in der Gemeinde zu Jeruſalem, und vielleiht aud in
anderen jubenchriftlidhen Gemeinden, ſcheint dies etwas früher geſchehen zu fein.
Bon der römischen Gemeinde dagegen können wir mit Sicherheit annehmen,
daß es in ihr bis in’3 zweite Jahrhundert hinein einen Biichof in der jpäteren
Bedeutung des Wortes nicht gegeben hat. Wenn man daher fragt, ob Petrus
Riſchof von Rom war, jo kann dies, richtig verftanden, nicht bedeuten: ob er
3 Amt eines Biichofs (welches es damals nody gar nicht gab) dort bekleidet,
“n nur, ob er überhaupt an der Spite der römiichen Chriftengemeinde
n, ob er fie durch feinen perſönlichen Einfluß und fein apoftoliiches
206 Deutiche Rundſchau.
Anſehen in ähnlicher Weije geleitet habe, wie Paulus ohne Zweifel die von ihm
gegründeten Chriftenvereine in Ephejus und Korinth während feines mehrjährigen
Aufenthaltes in diejen Städten geleitet hat. Die päpftlichen Anfprüche freilich,
welche auf die „Nachfolge Petri“ gegründet werden, wären aud mit der
Bejahung diefer Frage, wie bemerkt, noch lange nicht bewiejen; um jo unwider—
jprechlicher folgt dagegen aus ihrer Verneinung die völlige Unhaltbarfeit dieſer
Ansprüche, jo lange fie ſich auf feinen anderen Rechtsgrund ftühen können.
Eben dies ift aber der Fall, in dem wir uns befinden. Daß Petrus
Biſchof von Rom mar, ift unbedingt und in jedem Sinn, den man mit diejer
Behauptung verbinden könnte, zu läugnen.
Zum Erweis einer Thatjache, die wir nicht aus eigener Wahrnehmung fennen,
ift befanntlich zweierlei nöthig: e8 müfjen uns in glaubwürdigen Zeugnifjen
oder in ihrem Zuſammenhang mit andern beglaubigten Thatſachen ausreichende
Gründe gegeben fein, um fie al3 wahr anzunehmen, und es dürfen dieſer
Annahme feine glaubwürdigen Zeugniffe und feine geficherten Thatſachen
entgegenftehen. Fehlt e3 an dem erften von diejen Erforderniffen, jo können
wir die Gejchichtlichkeit deifen, was uns erzählt wird, nicht behaupten; fehlt
es an dem zweiten, jo müſſen wir fie beftreiten. Nach den gleichen Geſichts—
punkten ift auch die Meberlieferung, welche Petrus zum Biſchof von Rom macht,
zu beurtheilen.
Dieje Angabe findet ſich nun allerdings jeit dem lebten Drittheil des zweiten
SJahrhundert3 n. Chr. ganz allgemein. Die römiſche Kirche, jagt der Biſchof
Irenäus von Lyon um’3 Jahr 180— 190, ſei von den zwei berühmteften
Apofteln, Petrus und Paulus, gegründet worden; nachdem fie diejelbe geftiftet
hatten, haben fie das Bilhofsamt in ihr dem Linus übertragen. Diejelbe
Kirche preift um das Ende des Hahrhunderts der karthagiſche Presbyter
Zertullian, weil in ihr die Apoftel ihre Lehre mit ihrem Martyrium
befiegelt haben, Petrus hier gefreuzigt, Paulus enthauptet, Johannes, ohne
Schaden zu nehmen, in fiedendes Del geworfen und dann nad) Patmos verbannt
worden jei; während jein Zeitgenofje Clemens, der berühmte alerandrinijcdhe
Lehrer, wie wir aus Eujebius erfahren, aus den Vorträgen,, die Petrus in
Rom gehalten habe, das Marcusevangelium entftanden fein ließ. Ein anderer
Zeitgenofje diefer Männer, der römiſche Presbyter Cajus, (um 200—220) ver-
weilt bei Eujeb auf die Gräber der beiden Apoftel, von welchen das eine auf
dem Batican, das andere an der Straße nad) Dftia liege. Noch älter ift das
Bruchſtück aus einem Schreiben des Biſchofs Dionyfius in Korinth an den
römiſchen Biſchof Soter, worin behauptet wird, Petrus und Paulus haben
zufammen die Gemeinde in Korinth gegründet, und ebenſo gemeinſchaftlich in
Italien gelehrt und den Märtyrertod erlitten. Dieje8 Schreiben jheint um
das Jahr 170 verfaßt zu fein, und der gleichen Zeit mögen zwei Schriften
angehört haben, welche das Zujammentreffen des Petrus und Paulus in Rom,
ihre dortigen Wunderthaten und Lehrreden und ihr gemeinjames Ende darftellten:
die „Gejchichte des Petrus und Paulus“ und die „Predigten des Petrus und
Paulus“. Die erfte von dieſen Schriften ift uns wahrjcheinlich ihrem twejent-
lihen Inhalt nad), nur mit mandherlei jpäteren Zuthaten vermilcht, in den
* — _——
Die Sage von Petrus als römischen Biſchof. 207
noch vorhandenen Acta Petri et Pauli erhalten, die in ihrer jetzigen Geftalt
allerdings nicht vor dem fünften Jahrhundert verfaßt fein können, und jchon
in ihr war ohne Zweifel erzählt, wie Paulus nah) Rom kam, wo fi) Petrus
bereit3 im Streit mit dem Magier Simon befand, wie dann die beiden Apoftel
vor dem Kaifer Nero mit dem Magier disputirten, wie diejer ſich erbot, jeine
Gottheit durch einen Flug in den Himmel zu beweijen, aber auf die Beſchwö—
rung des Petrus herabftürzte, wie Nero, darüber erzürnt, die Apoftel zum
Tode verurtheilte, und nun Paulus an der Straße nad Oftia enthauptet, Petrus,
erſt entflohen, aber durch eine Chriftuserjcheinung zur Rückkehr beftimmt, kopf—
abwärts gefreuzigt wurde. Dies ift denn auch die officielle Legende der römi—
ichen Kirche geblieben, und noch heute zeigt man in Rom, die Dertlichkeiten,
to fi die einzelnen von ihr berichteten Vorgänge zugetragen haben jollen,
und die Denkmäler, die dem Andenken derjelben gewidmet wurden. An der Stelle
des Haufes, in dem eine hriftliche Familie den Apoftelfürften aufgenommen haben
joll, fteht jet die Kirche der heiligen Pudenziana. Das Felſengewölbe unter dem
Capitol, der uralte mamertinijche Kerker, der ſchon jeit Jahrhunderten im
Gebrauh war, als Jugurtha und jpäter die Gatilinarier darin endeten, heißt
jet San Pietro in carcere, und von der Quelle, die darin aus dem Felſen her-
vorſprudelt, wird erzählt, fie jei auf Geheiß des Apoſtels entjprungen, um die
von ihm befehrten Soldaten der Gefängnißwache zu taufen. Die Ketten, die er
trug, find in San Pietro in vinculis aufgehängt. An der Straße nad Oftia
erinnert die Kleine Kirche Domine quo vadis an die Erjcheinung, durch welche
Chriſtus den Petrus von der Flucht zurückrief; eine zweite Capelle an die, wo
die beiden Apoftel auf ihrem letzten Wege ſich trennten. An den drei Punkten,
wo der Kopf des enthaupteten Paulus die Exde berührte, quollen aus derjelben
nad der Sage drei Brunnen hervor: dem Fremden, der die Kloſterkirche von
Tre Fontane bejucht, wird noch heute ein Trunk aus ihnen geihöpft. Cine
Heine halbe Stunde davon entfernt fteht über dem angeblichen Grabe des
Paulus an der Stelle der alten Bafilica, die i. J. 1823 abbrannte, die pradht-
volle Kirche San Paolo fuori le mura, die freilich einem Goncertjaal noch ähn-
licher ſieht, als einer Kirche; über dem des Petrus hat Michel Angelo jeine
herrliche Kuppel gewölbt, während auf der Höhe des Janiculus San Pietro in
montorio die Stätte bezeichnet, two der Apojtelfürft feinem Meifter im Kreuzes—
tod nachfolgte. Kann man fi) wundern, wenn unter den Zaufenden, welche
dieje Denkmäler betrachten, kaum der eine oder der andere ſich die Trage vor-
legt, ob wol die Ereigniffe, deren Zeugen fie jein wollen, ſich auch wirklich
zugetragen haben?
So weit wir bis jetzt find, wifjen wir nur jo viel, daß ein Jahrhundert
und mehr nad) dem Zeitpunft, in dem fie fich zugetragen haben jollten, nicht
blos in der römijchen Kirche, jondern auch in andern chriftlichen Gemeinden an
ihre Gefchichtlichkeit geglaubt mwurde. Aber ein Jahrhundert ift da, wo es
fih um die Treue der geichichtlichen Ueberlieferung handelt, ein langer Zeitraum,
der Mihverftändniffen, Exrdichtungen und Unterſchiebungen ein weites Feld offen
läßt. Eine wirkliche Bürgſchaft für die Glaubwitrdigkeit einer Angabe haben
wir nur dann, wenn wir fie bis zu den Augenzeugen der Begebenheiten verfolgen
’
208 Deutſche Rundichau.
und an der Zuverläfiigkeit der legteren nicht zweifeln können, oder wenn das,
was uns erzählt wird, mit anderen geficherten Thatſachen, als Vorausſetzung
oder als Folge derjelben, jo eng zufammenhängt, daß wir mit diefen auch jenes
anzuerkennen genöthigt find. Wenn gegen das Ende des zweiten Jahrhundert3__
an die römilche Lehrthätigkeit und den römiſchen Märtyrertod des Petrus
geglaubt wurde, jo ift damit die Wahrheit diejes Glaubens noch lange nicht
erwieſen; jondern es fragt fich eben, ob er fich auf eine Meberlieferung gründet,
die zu den Thatjachen jelbjt hinaufreicht, oder ob er aus bloßen VBermuthungen
und Dichtungen und ähnlichen unlauteren Quellen entiprungen ift.
Es ift nun zuzugeben, daß ſich feine Spuren noch eine geraume Strecke
über den oben bezeichneten Zeitpunkt hinauf verfolgen laffen. Aber je weiter
wir uns von demfelben entfernen, um fo unficherer werden fie, und um Jo
unverfennbarer führen fie und aus dem Reich der Geichichte in das der Sage,
ja de3 Betrugs. Im Yohannesevangelium läßt fich allerdings in den Worten,
welche Jeſus Gap. 21, 18 in den Mund gelegt werden, eine Anjpielung auf die
Kreuzigung des Petrus nicht verfennen, wie ja auch der Verfaffer beifügt, Jeſus
habe damit jeine Todesart andeuten wollen. Aber daß der Apoftel in Rom
gefreuzigt werden jolle, liegt nicht darin, und auch wenn es darin läge, könnte
man nicht viel daraus jchließen, da das 21fte Capitel de8 Johannesevangeliums
nachweisbar ein jpäterer Zuſatz ift, der nicht vom Verfaffer des Evangeliums
herrührt, nicht vor dem Ende des zweiten Jahrhunderts angeführt wird, und
jchwerlich jehr lange vorher verfaßt wurde. Der angebliche Jgnatius jchreibt
im 4. Gapitel ſeines Brief3 an die Römer: „nicht wie Petrus und Paulus
gebiete ich euch“; er jcheint aljo den Petrus bereit3 neben Paulus ala Apoftel
der Römer zu fennen. Aber die ignatianiichen Briefe find nachweisbar (tie
jet auch faſt allgemein anerkannt ift) unterfchoben, und auch ihre ältefte
Necenfion reiht gewiß nicht über das Todesjahr des Polykarpus von Smyrna
(155/6), wahrjcheinlich nicht über 160 n. Chr. hinauf; jene Worte können daher
beften Falls nur beweifen, daß um dieje Zeit in Rom, wo der Verfafler der
ignatianiichen Briefe gelebt zu haben jcheint, von Petrus Anweſenheit in diejer
Stadt erzählt wurde. Etwas weiter führt und der erſte Brief des Petrus.
Wenn bier der Apoftel am Schluß feines Schreibens den Lejern Grüße von
„der Mitauserwählten in Babylon“ und feinem Sohn Marcus beftellt, jo ift
e3 allerdings wahrſcheinlich, daß mit Babylon Rom und mit der „Mitauser-
wählten * dajelbft die römijche Chriftengemeinde gemeint ift (Luther überträgt
dieje Erklärung unberechtigter Weije jchon in jeine Ueberſetzung), daß mithin
der Brief in Rom gejchrieben fein will. Wir jehen nämlich) aus der Offen-
barung des Johannes und aus einem von den chriftlichen Stüden der fibylli-
niſchen Weiffagungen, daß Rom jchon frühe von den Chriften mit jenem
ſymboliſchen Namen bezeichnet wurde. Allein beweifen läßt fi) jene Annahme
durchaus nicht, und auch wahrſcheinlich ift fie doch nur dann, wenn jener
Brief von einem andern, ald dem Apoftel verfaßt ift, dem er ſelbſt fich beilegt.
Denn Babylon heißt Rom (nad Offb. Joh. 17, 6. 18, 24) als die Hauptftadt
der chriftenfeindlichen Welt, die Stadt, welche trunfen ift vom Blute der
Chriften. Dies wurde aber Rom erft durch die neroniſche Chriftenverfolgung;
Die Sage von Petrus ald römiſchem Bifchof. 209
bi3 dahin hatten die Chriften unangefochten dort gelebt, und noch unmittelbar
vor jenem Ereigniß hatte Paulus, nad) den Schlußworten der Apoftelgefhichte,
den neuen Glauben volle zwei Jahre mit dem bedeutenditen Erfolge offen
verfündigt, ohne im diefer Thätigkeit geftört zu werden. Es ift daher ſehr
unwahriheinlih, daß Rom ſchon von Petrus als Babylon bezeichnet tworden
fein follte; wäre vielmehr der Brief, der feinen Namen trägt, wirkli von
ihm geichrieben, jo würde fi die Annahme weit mehr empfehlen, ex fei nicht
in Nom, jondern in der befannten Stadt am Guphrat verfaßt worden, welche
damals zwar von ihrer früheren Größe herabgefommen, aber doch immer noch
ein bedehtender Ort war. Indeſſen ift an die Aechtheit diefer Schrift nicht zu
denken, die vielmehr ganz unverkennbar von einem Pauliner unter den Verhält-
niffen des zweiten Jahrhunderts verfaßt wurde und der greifbarften Beziehungen
auf ächte und unächte paulinifche Briefe, auf den Hebräer- und Jalobusbrief,
voll ift; und ſelbſt diejenigen maden fie ohne Zweifel zu alt, welche ihre
Abfaffung in die legten Jahre Trajan’3 (113 f.) verlegen; fie wird vielmehr
eher erſt dem vierten, two nicht dem fünften Jahrzehend des zweiten Jahrhunderts
angehören. So wahrſcheinlich es daher auch ift, daß fie ein von Petrus aus
Rom geichriebener Brief fein will, jo kann man doc daraus nicht mehr jchließen,
al3 da zur Zeit ihrer Abfaffung, um 130—140 n. Chr., in der vömifchen
Gemeinde oder doc) bei einem Theil diefer Gemeinde der Glaube verbreitet war,
Petrus fei in Rom gewejen; wäre fie andererjeit3 (was ich nicht annehme)
wirklich von Petrus verfaßt, jo könnte nicht Rom, jondern nur Babylon der
Ort ihrer Abfaffung fein.
At aber aud) die Ueberlieferung von dem Aufenthalt des Petrus in Rom
durch diefes Ergebniß der Zeit, in die diefer Aufenthalt fallen müßte, um ein
erhebliches näher gerüdt, jo Liegen doch zwiſchen 130 —140 n. Chr. und den
legten Jahren des Nero, in denen der Apoftel umgefommen fein joll, nod)
immer zwei Menfchenalter. Wer da weiß, wie jchnell ſich oft ungeſchichtliche
Annahmen bilden und verbreiten, wer auch nur beachtet hat, wie viele grundlofe
Legenden jelbft in unferer mit der Kunft und den Hilfsmitteln der Kritik jo
reich ausgerüfteten Zeit in Umlauf gefommen find und den einleuchtendften
MWiderlegungen zum Trotz mit unverwüſtlicher Hartnädigkeit immer neu auf-
tauchen, der wird zugeben müfjen, daß in einer Periode und in Streifen, denen
es an jener Kunſt und jenen Hilfsmitteln ganz und gar fehlte, ſchon die Hälfte
diefes Zeitraumes mehr als ausreihen mußte, um nicht allein die Entftehung,
fondern auch die allgemeine Verbreitung einer ungejhichtlichen Sage zu ermög-
lichen, wenn dieje Sage den Neigungen und ntereffen derer entiprad), an deren
Glauben fie fid) wandte. Wir ftehen daher auf’3 neue vor der frage: wie ſich
beweifen läßt, daß die Ueberlieferung von der Anweſenheit des Petrus in Rom
ihrem erften Urjprung nad) aus der Lebenszeit des Apoftels und von jolchen
Perjonen herrühre, die ihn in Rom gejehen Hatten und Augenzeugen jeiner
dortigen Wirkſamkeit geweſen waren?
In dieſer Beziehung iſt es jedoch ſchon zum voraus von übler Vorbedeu—⸗
tung, daß jene Ueberlieferung bei allen den Zeugen, die wir bisher abgehört
haben, jo weit fie irgend auf die Umftände näher eingehen, unter er Petrus
Detſche Rundfau. 1, 11.
210 Deutſche Rundſchau.
nach Rom gekommen ſein ſoll, mit offenbar ungeſchichtlichen Angaben in engem
Zuſammenhang ſteht. Der Verfaſſer des erſten Petrusbriefes jagt uns, nach der
wahrſcheinlichſten Erklärung feiner Worte, Petrus habe diefen Brief in Rom
geichrieben. Aber was kann diejes Zeugniß beweilen, nachdem wir und über-
zeugt haben, daß er ihn überhaupt nicht gejchrieben hat? Wenn der Verfaſſer
dieſes Briefes fein Bedenken trug, jeinem eigenen Werke zu defjen Empfehlung
den Namen des Apoftel3 vorzujegen (und wir jehen aus zahllojen Beijpielen,
daß in jener Zeit niemand Bedenken trug, jo zu verfahren): was hätte ihn
abhalten jollen, diefem Namen auch den der Gemeinde beizufügen, der es, ala
von ihr ausgegangen, fpeciell an’3 Herz gelegt werden jollte? Oder wenn ihm
diefer Schon durch die Meberlieferung gegeben war: was hätte ihn veranlaffen
jollen, dieſe Ueberlieferung, die feinem eigenen Intereſſe jo vollkommen entiprad),
auf ihre Glaubwürdigkeit und ihren Urfprung zu prüfen, wenn er auch die
Fähigkeit und die Mittel dazu gehabt hätte, was doch gleichfalls höchſt fraglich
ift? Sein Zeugniß kann daher diefer Ueberlieferung feine Auctorität, die fie
nicht vorher jchon befißt, zubringen. Nicht anders verhält es ſich mit den
Zeugen aus dem letzten Drittheil des zweiten Jahrhunderts. Ein Diony3 von
Korinth redet von der gemeinjchaftlicden Reife de3 Petrus und Paulus nad
Rom, ihrem dortigen Lehren und Sterben; aber welches Licht Fällt auf die
Zuverläffigkeit diejes Gewährsmanns, wenn er die beiden Apoftel, troß der
Apoftelgeihichte und den Korintherbriefen, erft die Gemeinde in Korinth gemein«
Ihaftlich ftiften und dann von hier aus zujammen nad) Rom reifen läßt! Die
Acten des Petrus und Paulus erzählen, Baulus habe, als er nad) Rom kam,
den Petrus bier jchon getroffen, aber wer bürgt uns dafür, daß dieſe Angabe
mehr Grund hat, ala das, was diejelbe Schrift weiter von dem Streit gegen
den Magier Simon mit allen feinen Wundern und Ungeheuerlichfeiten berichtet?
Die kirchliche Ueberlieferung legt den größten Werth darauf, daß die römifche
Kirche von den beiden Apofteln gemeinjam gegründet ſei, wenn fie auch dabei
Petrus einen getwilfen Vorrang einräumt und deshalb ihn und nicht Paulus
al3 ihren erſten Biſchof betrachtet. Aber gerade dieſer Zug, in dem ſich für
fie da3 ganze Intereſſe der Petruslegende zufammenfaßt, ift ganz ficher un-
geihichtlich, da aus der Apoftelgejchichte und dem Römerbrief (wie auch unten noch
gezeigt werden wird) ſonnenklar hervorgeht, daß Petrus weder der Stifter nod)
der Mitftifter der römiſchen Gemeinde ift, und weder mit Paulus nah Rom
fam, noch bei feiner Ankunft jchon dort war. it aber diejes ungefchichtlich,
woher willen wir, daß dasjenige geichichtlicher ift, was una im engften Zuſam—
menhang mit jenem und von den gleichen Gewährsmännern berichtet wird, daß
Petrus überhaupt in Rom war und dort gleichzeitig mit Paulus bingerichtet
worden ijt?
Noch bedenklicher ift indeifen ein weiterer Umftand. Was den Petrus nad
Rom führte, war der kirchlichen Leberlieferung zufolge die Abficht, dem Zauberer
Simon, den er ſchon früher in Paläftina und in Syrien befämpft hatte‘, nun
auch in der Hauptftadt des römijchen Weltreich3 entgegenzutreten, und je weiter
wir jene Ueberlieferung zu ihrem Urſprung zurüd verfolgen, um fo ausichlieh-
licher tritt dieſes Motiv in derjelben hervor. Der Zauberer Simon ift aber
Die Sage von Petrus ala römischen Bilchof. 211
eine durchaus ungeſchichtliche Perſon, die Erzählung von feinem Streit mit
Petrus eine Erfindung des Parteigeiftes, die jeder thatjächlichen Begründung
ermangelt. Für was anderes wird da die Anweſenheit des Petrus in Rom,
von der urjprünglid” nur im Zufammenhang der Simonsſage erzählt, die mur
mit diefer Fabel motivirt wurde, gelten können, ala für einen Theil diejer
Dichtung, und two follte die Kritik das Recht hernehmen, diefen Zug der Legende
für geihichtlich zu erklären, während das Ganze, von dem er urjprünglich einen
integrivenden Theil bildet, den unverfennbaren Stempel der Erfindung an der
Stirne trägt?
Ich will diefes Bedenken an der Hand der neueren Unterfuchungen, unter
denen nächſt Baur's grundlegenden Arbeiten die Schrift von Lipfius über
„die Quellen der römischen Petrusſage“ (1872) die bervorragendfte Stelle ein-
nimmt, etwas näher erläutern.
Wir haben nun bereit? gehört, wie die römiſche Wirffamkeit und ber
Märtyrertod des Petrus und Paulus in den Acta Petri et Pauli, noch vor
den Ende des zweiten Jahrhunderts, mit der Geihichte des Magier Simon
verknüpft wurde. Diefer Zauberer tritt hier den beiden Apofteln in Rom mit
feinen Irrlehren und feinen dämonijchen Wundern entgegen; als ihn Petrus
durch größere Wunder überwindet, kommt die Sache vor Nero, wo fie den
oben erzählten Verlauf nimmt. Noch früher, ſchon um's Jahr 150, erwähnt
des Magier Yuftinus der Märtyrer in feiner größeren Apologie. Gin gewifler
Simon, erzählt er (Gap. 26), ein Samaritaner, habe unter Kaifer Claudius mit
Hilfe der Dämonen in Rom jo außerordentliche Zaubereien verrichtet, da er als
ein Gott verehrt und ihm auf der Tiberinjel eine Bildjäule errichtet worden
fei mit der Inſchrift: Simoni Deo Sancto. Diejer Simon werde in Samarien
faft allgemein ala der höchſte Gott angebetet, und eine gewiſſe Helena, eine
Öffentliche Dirne, die mit ihm herumgezbgen jei, werde als fein erfter Gedanke
bezeichnet. Wird auch Petrus bei diejer Gelegenheit nicht genannt, fo ift doch
die letzte Quelle diefer Angaben ohne Zweifel eine Darftellung, welde außer
dem Auftreten des Simon in Rom auch feinen Kampf mit Petrus und jein
Ende behandelte; und vielleiht war dem Kirchenvater in diefer Darftellung
bereit3 auch die Combination de8 Simon mit einer jamaritaniichen Landes—
gottheit und der Helena mit dem „erften Gedanten“ (der „Eñoia“) der gnoftifchen
Balentinianer und die heitere Umdeutung jener Inſchrift auf der Tiberinjel
gegeben, die vor dreihundert Jahren wieder aufgefunden wurde und jeht im
Vorſaal der vaticaniihen Bibliothef aufbewahrt wird, die aber in der Wirk—
lichkeit unter der Bildjäule eines altrömiichen Gottes ftand, und nicht, wie
Juſtin jagt, „Simoni Deo Sancto“, jondern „Semoni Sanco Deo Fidio*, Semo
Sancus, dem Gott des Eides, gewidmet ift. Wir befiten aber auch noch zwei
altchriftliche Schriften, welche fi ganz um die Sage von Simon und Petrus
drehen und uns in die Geſchichte diefer Sage einen tieferen Einblid eröffnen:
die „clementiniichen Homilieen“ und die „clementinifchen Recognitionen“. Die
erfte von diefen Schriften, deren Abfaffungszeit von dem Jahre 180 n. Ghr.
ſchwerlich weit abliegt, ift aus der Partei der antipauliniichen Judenchriſten, der
fogenannten Gbjoniten, hervorgegangen, und fie verräth diefen ihren Urſprung
14°
212 Deutiche Rundſchau.
noch deutlich durch die Erbitterung, mit der hier Paulus, unter der Maske
des Magierd Simon, angegriffen, jeine große geichichtliche Leitung dagegen, die
Ausbreitung des ChriftenthHums in der Heidenwelt, auf Petrus übertragen, und
die Eriftenz eine? Apoftels Paulus jo vollftändig ignorirt wird, daß jein
Name in dem ganzen ausführlichen Werke nicht einmal genannt if. Denn dem
Verfaſſer diejes Werks war eben Paulus nicht der Apoftel, fondern der „feind—
jelige Menſch“ (wie er hier genannt wird), der Eindringling, welcher ſich auf
angebliche Bifionen Hin die Apoftelwürde angemaßt bat, der Abtrünnige, welcher
dem Glauben feiner Väter, dem „Geſetz“, untreu geworden ift, und nun die
Welt zu demjelben Abfall verleitet, die ächten Apoftel dagegen, den Petrus an
ihrer Spite, mit feinen Schmähungen (e3 bezieht fich dies namentlich auf die
Aeußerungen des Paulus Gal. 2, 11 ff.) verfolgt hat. Eine fatholijche Bear-
beitung des gleichen Stoffes find die „Recognitionen”, in ihrer jetzigen Geftalt
wol etwas jpäter verfaßt, al3 die „Homilieen“. In beiden Schriften laſſen
ſich aber ältere und jüngere Beftandtheile noch deutlich unterſcheiden, und aus
der Unterfuchung dieſer verjchiedenen, in der fortjchreitenden Entwicklung der
Sage gebildeten Ablagerungsihichten läßt fich ein Bild von der urfprünglichen
Geftalt und Tendenz und den jpäteren Wandlungen der Erzählung gewinnen,
durch deren Bearbeitung fie entjtanden find. Auf diefem Wege ergibt fi), daß der
Zauberer Simon — mag es nun im apoftoliichen Zeitalter einen Goeten diejes
Namens gegeben haben, oder nit — jedenfalls in der Sage, mit der wir es
hier zu thun Haben, urjprünglid) nichts anderes war, als eine von dem ebjonitijchen
Parteihaß aufgebrachte Bezeichnung des Paulus, welcher dadurch als ein
Abtrünniger (oder, wie die Sage die ausdrüdt: ein Samaritaner), al3 ein
Verführer, als ein Feind des Geſetzes und der gejegestreuen Apoftel dargeftellt wird,
und daß die Erzählung von dem Streit des Simon mit Petrus, feiner Ueber—
twindung duch dieſen Apoftel und feinem jchmählihen Ende ihrer erſten
Abzweckung nad den römiſchen Chriften jagen wollte: nicht Paulus, der
antinomiftiiche Irrlehrer, den ſchließlich (durch fein Ende unter Nero) die
verdiente Strafe ereilt habe, jei der Stifter, nicht der antijüdiiche Paulinismus,
jondern das petrinifche Judenchriſtenthum jei der eigentliche und allein berechtigte
Glaube der römijchen Gemeinde. Da die Urheber diefer Erdichtung e3 bereits
nöthig fanden, ihre Angriffe auf Paulus hinter der Simonsmaske zu verfteden,
jo muß diejelbe einer Zeit angehören, in der es auch feine leidenjchaftlichiten
Gegner feinem anerkannten apoftoliihen Anjehen gegenüber nicht mehr wagen
fonnten, mit ihren Vorwürfen gegen ihn offen aufzutreten. Da andererjeits
die Apoſtelgeſchichte (Cap. 8, 9 ff.), deren Abfaſſung fi) annähernd um 120—125
n. Chr. anjegen läßt, die Erzählung von Simon, dem jamaritanifchen Zauberer,
bereit3 fennt und derjelben ihre antipauliniiche Spite dadurch abbricht, daß fie
den Streit des Simon mit Petrus in die Zeit vor der Belehrung des Paulus
verlegt, jo werden wir die Entjtehung diejer Erzählung, deren Geburtsort wir
ohne Zweifel ebenjo, wie den der Apoftelgeihichte, in Rom zu ſuchen haben,
in. die zwei erſten Jahrzehende des zweiten Jahrhunderts hinaufrüden müſſen.
In der Folge wurde dann auf den Magier, welcher zuerft nur den großen
Heidenapoftel im Zerrbild dargeftellt hatte, alles das übertragen, was bei den
Die Sage von Petrus als römiſchem Biichof. 213
Männern und Parteien, die ala das häretiſche Ertrem de3 Paulinismus der
jubdaiftifchen Form des Chriſtenthums am jchroffften entgegentraten, bei den
fogenannten Gnoftifern, zum Hauptanftoß gereichte; e8 wurden ihm die Lehren
der bafilidianiichen und valentinianifhen und jpäter die der marcionitischen
Gnofis in den Mund gelegt, als deren Vertreter er in unfern clementinifchen
Homilieen auftritt, ohne daß doch deshalb feine urfprüngliche Beziehung auf
Paulus aufgegeben worden wäre; und er wurde fo zu dem Stammpvater aller
Ketzereien, für den er der alten Kirche gegolten hat, und als den ihn ſchließlich
auch manche von den jüngeren Gnoftifern jelbft ſich gefallen ließen, wenn fie
Darftellungen ihrer Lehre feinen Namen vorjegten. Erſt durch eine Umbildung
diefer altebjonitiihen Simonsjage ift die Fatholiiche Legende von dem Kampf
des Petrus mit Simon entftanden. In ihr mußte natürlich jede Erinnerung
daran getilgt werden, daß Simon urfprünglich nichts anderes geweſen war, als
Paulus im Zerrbild; ftatt von Petrus befämpft zu werden, mußte Paulus
jet als Begleiter des Petrus an der Ueberwindung des Magierd theilnehmen;
während ber ebjonitiihe Tendenzroman fein Ende zum ſchmachvollen Ausgang
eines gottlojen Lebens gemadt, jeine Märtyrerglorie dagegen auf Petrus über-
tragen hatte, wurde jeßt die Perſon des Zauberer, den Petrus’ Wort aus
den Lüften herabgeftürzt haben follte, von der jeinigen unterſchieden, und er
jelbft wurde zum Genofjen des Petrus im Märtyrertode, wobei aber dieſer
doch immer an Ruhm und an Thaten den Vortritt behielt, jo dab er umd
nicht Paulus zu dem eigentlichen Apoftel der Römer und zum erften Biſchof
der römischen Ghriftengemeinde gemacht wurde.
So ftellt fich die Ueberlieferung von dem römiſchen Bisthum de3 Petrus,
wenn man ihren Quellen auf den Grund geht, am Ende ala ein vielverſchlun—
gened Gewebe von Erdichtungen und Vermuthungen dar, beffen einzelne Fäden
wir freilich nicht mehr zu entwirren, deſſen Entſtehung und Hauptbeftandtheile
wir aber im weſentlichen noch mit binreichender Sicherheit zu erfennen vermögen.
Ihre erfte Grundlage bildet jener ebjonitifche Tendenzroman, welcher den Paulus
in Rom als falſchen Apoftel von dem Haupte der ächten Apoftel entlarvt und
geftürzt werden ließ; ihre ſpätere, katholiſch-kirchliche Geftalt erhielt fie dadurch,
daß diejer ebjonitiihen Dichtung ihr antipauliniiher Charakter genommen und
Paulus aus dem Gegner zum Genoflen des Petrus gemacht wurde. Aber da
die kirchliche Legende eben nur durch diefe Umbildung der alten ebjonitifchen
entftanden ift, und da fie im übrigen alle die ungeſchichtlichen und abenteuerlichen
Züge der lehteren, alle jene Miratel de3 Simon und des Petrus in fi auf-
genommen bat, liegt am Tage, dab die eine auf geihichtlie Glaubwürdigkeit
nicht mehr Anſpruch machen kann, als die andere, daß ſich die eine gerade fo
gut in dem Reiche ber Dichtung bewegt wie die andere, und daß ihr einziger
Unterfchied in ihrer Tendenz liegt: die ebjonitiiche Legende verläumbet den
Paulus, die katholifche bringt ihn wieder zu Ehren, aber um bie geichichtliche
Wahrheit befümmert fich diefe jo wenig, wie jene, und was fie von der Reife
bes Petrus nad) Rom jagen, das wird von beiden mit denjelben, einer ebjo-
nitiſchen Parteilüge entiprungenen Fabeln über den Magier Simon und feinen
Streit mit Petrus begründet.
214 Deutihe Rundſchau.
Dean könnte vielleicht hiegegen einmwenden, diefe Annahmen über den Ur—
fprung und die urfprüngliche Bedeutung der Simonsjage jeien doc bloße
Hypotheſen, Combinationen, die vielleiht an fich jelbft beftechend gemug jein
mögen, die aber gegen Zeugnifje, wie fie uns für die römiſche Wirkſamkeit des
Petrus zu Gebot ftehen, nit auffommen können. Allein dies hieße die Natur
und die Bedingungen einer Unterfuhung, wie die, welche uns gegenwärtig
beichäftigt, verfennen. Lägen uns über die Anweſenheit des Petrus in Rom
bejtimmte Ausjagen glaubwürdiger Perfonen vor, welche erklärten, daß fie den
Apoftel dort gejehen haben, oder daß ihnen zuverläffige Leute befannt jeien,
bie ihn dort gejehen zu haben verficherten, oder bejäßen wir ein Schriftſtück von
feiner Hand, da3 aus Rom datirt wäre oder von feinem römiſchen Aufenthalt
ſpräche, dann fünnte man von Zeugniffen reden, denen gegenüber unjere Com—
binationen verftummen müffen. In Wirklichkeit verhält e8 ſich ja aber ganz
anderd. Kirchliche Schriftfteller jeit dem lebten Drittheil des zweiten Jahr»
hunderts fprechen von der Anweſenheit und dem Märtyrertod des Petrus in
Rom; aber fie jagen uns nicht, woher fie diefe Nachricht haben, und fie geben
diejelbe, wie bereit3 nachgewiejen wurde, im unmittelbaren Zufammenhang mit
fo offenbaren Erdichtungen — über den Magier Simon, über die gemeinjchaftliche
Reife des Petrus und Paulus nah Rom, über den Antheil des Petrus an der
Stiftung der korinthiſchen Gemeinde —, daß auf ihr Zeugniß nicht der geringfte
Derlaß ift. Der erjte Petrusbrief will, wie es jcheint, in Rom verfaßt jein;
aber daß er dies will, fteht nicht unbedingt ficher, und wahrjcheinlich ift e8 nur
dann, wenn er nicht von dem Apoftel herrührt; und dann kann fein Zeugniß
eben nur beweifen, daß Petrus zur Zeit feiner Abfaffung, d. h. im vierten oder
fünften Jahrzehend des zweiten Jahrhunderts, von manden für einen Apoftel
der Römer gehalten wurde. Das gleiche beweiſt die früher beſprochene Neuerung
de3 faljchen Jgnatius für das jechste oder fiebente Jahrzehend, wodurch indeſſen
ber leberlieferung ſachlich feine Verſtärkung zuwächſt. Läßt fich endlich die
ebjonitiiche Simonälegende, welche den Petrus nad) Rom führt, bis in die erften
Jahrzehende des zweiten Jahrhunderts verfolgen, jo ift doch diefe Quelle eine jo
trübe und ihr Bericht ein jo abenteuerlicher, daß man bier wol am wenigften
von urkundlichen Zeugniffen wird reden wollen. Es handelt fi mithin im
vorliegenden Fall nicht um ein Auftreten von Hhpothejen gegen Zeugniffe,
fondern die Trage ift lediglich die: welche von den verjchiedenen Meberlieferungen,
die fi fammt und jonders über ihren Urfprung nicht ausweijen können und
fih mit ungeſchichtlichen Elementen ſtark verſetzt zeigen, für die relativ ältefte
und für die Quelle der andern zu halten ſei; und auf diefe Frage läßt ſich nad
allen Geſetzen hiſtoriſcher Wahrjcheinlichkeit nur antworten, daß es diejenige
fein werde, deren Vorkommen fi am früheften nachweiſen läßt, und die ſich
am beften dazu eignet, alle andern zu erklären. Dieje ift aber im vorliegenden
Tall die altebjonitiiche Legende von dem Magier Simon und feiner Beſiegung
durch Petrus. Die Wahrjcheinlichkeit ſpricht daher entjchieden für die Annahme,
dieſe antipauliniiche Petrusfage fei der Stamm, von dem jich erft in der Folge
die fatholiiche, petropaulinijche Ueberlieferung abgezweigt habe.
Doch es ift nicht blos der verdächtige Urſprung und der jagenhafte Charakter
Die Sage von Petrus ala römischen Bifchof. 215
diefer Meberlieferung, der una nöthigt, ihr den Glauben zu verfagen: fie fteht
auch mit den urkundlicheren Quellen und mit den beglaubigtiten Thatjachen der
älteften Kirchengefhichte in einem jo unverjöhnlicden Widerſpruch, daß wir fie
ſchon deshalb unmöglich für richtig halten können.
Wenn Petrus nad) Nom gefommen wäre, jo müßte ex entweder zugleich
mit Paulus, oder vor ihm, oder nad ihm dorthin gekommen jein. Das erfte
behauptet, wie wir gejehen haben, die Fatholifche Legende, wie fie fich jeit der
zweiten Hälfte des zweiten Jahrhundert3 geftaltet hat. Aber die ältere und
zuverläfjigere Neberlieferung jchließt diefe Annahme unbedingt aus. Wir jehen
aus der Apoftelgefhichte (Gap. 27 f.), welche hier gerade den Reijebericht eines
Augenzeugen aufgenommen hat, daß diejer Apoftel von Cäſarea aus, wo er über
zwei Jahre in Haft gehalten worden war, ala Gefangener nad) Rom gebracht
wurde, und daß fich Petrus hiebei nicht in feiner Gejellihaft befand, geht aus
der Darftellung dieſes Abjchnitt3 unwiderſprechlich hervor. Es iſt daher offenbar
unrichtig, wenn behauptet wird, diejer Apoftel jei in Begleitung des Paulus
nad Rom gefommen; von den weiteren Zufäßen der Berichterftatter, daß er
den Zauberer Simon dorthin verfolgt, und daß er bei diejer Gelegenheit die
korinthiſche Gemeinde mitgeftiftet habe, nicht zu reden. Wir befiten ferner in
unjerer neuteftamentlihen Sammlung eine Reihe von Briefen, welche uns theils
ausdrücklich, theils in Andeutungen, die nicht zu verfennen find, jagen, daß fie
von Paulus während feiner römiſchen Gefangenihaft geichrieben jeien: Die
Briefe an die Gemeinden in Ephejus, Coloſſae und Philippi, den Brief an Phile-
mon und den zweiten von den beiden an Timotheus gerichteten. Die meiften
von dieſen Briefen enthalten num Grüße von den römiſchen Freunden de3
Apoftel3 (m. ſ. Philipper 4, 22. Philem. 23 f. Col. 4, 10 fi. 2 Tim. 4, 21)
und Nachrichten über fein eigenes Ergehen wie über jeine Umgebungen und
Gehilfen (Philipp. 1, 12 ff. 2, 19 ff. 4,2 f. Col. 4,7 ff. 2 Tim. 4 9 ff),
und es wird bei diefer Gelegenheit eine erhebliche Anzahl von Perjonen genannt,
die mit dem Apoftel in Rom zufammengewefen feien: Epaphroditus und Timo—
theus, Marcu3 und Lucas, Clemens und Linus, Pudens und Creſcens, Tychicus,
Oneſimus, Ariftarhus, Eubulus, Demas, Jeſus genannt Juſtus, Euodia, Syn-
tyche und Claudia. Nur ein Name fehlt, dem wir vor allen andern zu begegnen
erwarten müßten: der des Petrus. Wie wäre dies möglich, wenn die jpätere
Deberlieferung Recht hätte, wenn Petrus gleichzeitig mit Paulus in Rom gewirkt,
gemeinſchaftlich mit ihm die römische Gemeinde geftiftet hätte?
Num ift freilich unter jenen Briefen keiner, den die neuere Kritik unangetaftet
gelafjen hätte, und von einem derjelben, dem zweiten Brief an Timotheus, kann e3
al3 ausgemacht gelten, daß er ebenjo, wie der erſte Timotheusbrief und der an
Zitus, nicht allein unächt, jondern auch erft um die Mitte des zweiten Jahr—
hunderts, oder doch nicht lange vor dieſem Zeitpunkt, verfaßt ift. Aber für die
vorliegende Frage ift diefer Umftand nicht jo wichtig, als es zunächſt fcheinen
fönnte. Sind jene Briefe unächt, jo müſſen wir jchließen, e8 jei ihren Ver—
fafjern von einem Zufammenjein de3 Petrus mit Paulus in Rom nichts bekannt
geweſen; mochte ihnen nun dieje Angabe noch gar nicht zu Ohren gefommen
fein, oder mochten fie derjelben, nad ihrer fonftigen Kenntniß der Verhältnifie,
216 Deutiche Rundichau.
feinen Glauben jchenfen. Denn auch daran ift nicht zu denken, daß die Ver-
fafjer diefer Briefe (Falls fie unächt find) von der ihnen überlieferten und be=
fannten Wirkjamfeit des Petrus in Rom abfichtlich gefchtwiegen hätten, um den
Paulus zum alleinigen Apoftel der Römer zu machen. Da fie vielmehr fichtbar
darauf ausgehen, an der VBerjöhnung des Gegenſatzes von Juden- und Heiden-
chriſten, Petrinern und Paulinern, zu arbeiten, und da fie in diefem Intereſſe
auch die perjönliche Verbindung de3 Paulus mit Judenchriſten und befannten
Gefährten de3 Petrus, wie Marcus und Jeſus-Juſtus, Linus, Clemens und
Pudens, auf’3 geflifjentlichfte hervorheben, hätten fie für ihren Zweck gar nichts
wirfjameres thun können, al3 die große judenchriftliche Auftorität, den Petrus
jelbft, ihren Leſern in freundichaftlichem Verkehr und gemeinfchaftlicher Arbeit
mit Paulus in Rom zu zeigen. Wenn fie && troßdem unterlafjen, jo beweiſt
dies, daß fie eben von dem Zufammentreffen der beiden Apoftel in Rom noch
nicht3 wußten oder nicht daran glaubten. Iſt e8 andererfeit3 Paulus jelbft, der
die Briefe während feiner Gefangenihaft jchrieb und des Petrus darin nicht
erwähnte, während ex ſonſt alle möglichen Perjonen aus feiner Belanntjchaft
nambaft macht, jo ift e8 nur um fo einleuchtender, daß Petrus bis gegen das
Ende der Gefangenschaft des Paulus nicht in Rom geweſen fein kann. Wir
find daher ſowol dutch die Apoftelgeihichte als durch die paulinijchen Briefe
berechtigt, die Behauptung, daß Petrus zugleih mit Paulus nah Rom
gekommen ei, mit aller Beftimmtheit für ungejchichtlich zu erklären.
Schon hieraus ergibt fih nun auch die Unrichtigfeit derjenigen Ueberliefe—
rung, welche den Petrus vor Paulus nah Nom kommen läßt; man müßte
denn annehmen, ex habe diefe Stadt noch vor Paulus’ Anweſenheit in derjelben
wieder verlafjen, oder ſei vor diefem Zeitpunkt geftorben; dies würde aber der
firchlichen Ueberlieferung von ihrem gleichzeitigen Märtyrertod ſchnurſtracks
widerjprechen, und e8 wird auch von feinem einzigen umferer Zeugen und in
feiner Wendung der Petrusfage behauptet, jondern alle find darüber einverftanden,
daß Petrus mit Paulus in Rom zufammengewejen und zugleich mit ihm getödtet
worden jei. Jene Ueberlieferung hat aber auch abgejehen davon jehr viel gegen
ih. Nach der ſpäteren kirchlichen Legende wäre Petrus 25 Jahre lang römijcher
Biſchof geweſen. Auf diefe Legende bezieht ſich 3. DB. die befannte Weiflagung,
die der gegenwärtige Papft freilich thatjächlich widerlegt hat, daß feiner von den
Nachfolgern des Petrus die Jahre feines Epijtopats überjchreiten werde. Nach
diejer Annahme müßte Petrus, da er auf Nero’3 Befehl hingerichtet worden
fein joll, und Nero im Sommer des Jahres 68 n. Chr. ermordet wurde, Tpäte-
ftend um ben Anfang des Jahres 43, im zweiten Jahr des Kaijerd Claudius,
nach Rom gefommen fein. Und Eufebius berichtet allerdings (K.G. II, 14):
nachdem der Magier Simon unter Claudius nad) Rom gekommen jei, habe die
Vorjehung noch unter demfelben Claudius den Petrus dorthin geführt; und die
gleiche Zeitbeftimmung gab die Erzählung von Simon ohne Zweifel von Anfang
an, da ſchon Juſtin den Magier unter Claudius nah Rom kommen läßt, und
unſere pjeudo-clementiniihen Schriften die Streitreden zwiichen Petrus und
Simon ebenfalls in die Regierung des Claudius verlegen. Aber der Geichicht-
lichkeit dieſer Darftellung Tann ihre Herkunft aus der altebjonitiiden Simons-
Die Sage von Petrus ala römiſchem Biſchof. 217
Tabel nicht zur Empfehlung gereichen; wird doch in derjelben, neben allen andern
Abenteuerlichkeiten, auch mit der Chronologie jo rückſichtslos umgeſprungen,
daß Clemens, der 96 n. Chr. Hingerichtet wurde, nicht allein unter Claudius
den Petrus begleitet und jeine Reden aufgezeichnet, jondern ſchon vor dem Tode
Chriſti die evangeliiche Botihaft vernommen und den Entihluß zur Reife nad)
Paläftina gefaßt haben joll; wird do, da mit Simon urfprünglid Paulus
gemeint ift, durch die Behauptung, der Magier jei unter Claudius nad) Rom
gekommen, die Ankunft diejes Apoftels in der Reihshauptftadt um 10—20 Jahre
zu weit hinaufgerüdt. Die Faljchheit jener Angabe läßt ſich vielmehr mit voll-
fommener Sicherheit nachweiſen. Wir jehen aus dem Galaterbrief (Gap. 2) und
der Apoftelgeihichte (Gap. 15), daß Petrus — nad) der einen Erklärung vierzehn,
nach der andern, die mehr für fich hat, fiebzehn Jahre nad) der Belehrung des
Paulus no in Jerufalem tvar, wo Paulus bei ihm und den übrigen Apofteln
die Anerkennung des Heidenchriſtenthums durchſetzte, und daß er noch jpäter
(der Zeitpunkt läßt fich nicht näher beftimmen) zu Paulus und Barnabas nad
Antiohia kam. Schon dies führt uns nun jedenfall in die allerlekten Jahre
des Claudius, welcher 54 n. Chr. farb, wahricheinlich aber bereit3 in Die
Regierungszeit des Nero herab. An ein fünfundzwanzigjähriges römijches Bis—
tum des Petrus kann daher unter feinen Umftänden gedacht werden. Meiter
erzählt und aber Paulus in der angeführten Stelle des Galaterbriefes, er habe
mit den paläftinenfiichen Apofteln die Webereinkunft getroffen, daß jie den
Juden, er den Heiden das Evangelium verfündigen jolle; und dem entjprechend
jagt er den Römern in feinem Sendichreiben (1, 13): ex habe Schon längft den
Vorſatz gefaßt, fie zu beſuchen, um fi auch ihnen, „wie den übrigen Heiden“,
nüßlich zu machen. Er rechnet daher Rom, wiewol die dortige Chriftengemeinde
damals noch ohne Zweifel ganz überiviegend aus mefftasgläubigen Juden beftand,
zu der Heidenwelt, die jein eigenthümliches Miſſionsgebiet ausmachte. Wie war
dies mögli, wenn eben damals Petrus jchon Längft die römiſche Chriften-
gemeinde ala ihr anerkanntes Oberhaupt mit apoftoliicher Auftorität leitete ?
Oder wenn je Paulus trotzdem eine bejondere Veranlaffung gehabt hätte, fich in
einem jo ausführlichen umd in feine ganze Auffaffung des Chriftenthums jo tief
eingehenden Schreiben an die römijche Gemeinde zu wenden: wie läßt es ſich
denken, daß er in demſelben feines Mitapoftels und feines Verhältniffes zu dem-
jelben mit feiner Silbe erwähnt hätte? Aber noch mehr. Das jechzehnte
Gapitel des Römerbrief3 enthält namentlihe Grüße an nicht weniger als
28 Perfonen. Aber auch Hier, wie in den Briefen aus der römijchen Gefangen
Ichaft, fehlt der Name des Petrus. Läßt ſich da annehmen, Petrus ſei eben
damals Biſchof der römischen Gemeinde gewejen? Nun hat zwar Baur ohne
Zweifel Recht mit der Vermuthung, der e8 aud) an äußeren Stübßen nicht fehlt,
daß das 15. und 16. Kapitel des Nömerbriefs erft von einem Späteren dem
ächten pauliniichen Schreiben beigefügt jeien, wenn auch vielleicht (wie Holf-
mann annimmt) der Schluß des lekteren in Gap. 16, 21—24 nod) erhalten ift.
Aber was über die Gefangenichaftsbriefe bemerkt wurde, das gilt auch bier.
Wenn Gap. 15 und 16 aus der nachpauliniſchen Zeit herrühten, jo kann ihr Ver—
fafler unmöglich angenommen haben, daß damals, als Paulus fein Sendichreiben
218 Deutſche Rundſchau.
nad Rom richtete, Petrus ſich in dieſer Stadt aufgehalten Habe, da er ihn
andernfalls in den Grüßen nicht übergangen haben würde; denn für eine ab=
ſichtliche Mebergehung liegt Hier gleichfalls nicht blos Fein Grund vor, jondern
e3 hätte vielmehr dem Verfaſſer jener Capitel bei der conciliatoriſchen, auf die
Gewinnung der Judenchriſten berechneten Tendenz, die er verfolgt, nur erwünſcht
fein können, wenn ihn die Ueberlieferung feiner Zeit in den Stand geſetzt hätte,
dem Paulus einen Gruß an Petrus und ein Zeugniß feines Einvernehmens mit
demjelben in den Mund zu legen. Wenn ex e3 nicht gethan hat, jo beweift
dies, daß zu feiner Zeit in Rom von einer Anweſenheit des Petrus dajelbft, die
der Abfafjung des Römerbriefes voranging, nichts befannt war. Ebenjowenig
verträgt fich die Annahme derjelben mit der Darftellung der Apoftelgeihichte.
Denn diefe Schrift ſchweigt nicht allein gänzlich von Petrus, wo fie die An—
funft des Paulus in Rom und jeine Begrüßung durch die römiſchen „Brüder“
erwähnt (Gap. 28, 15); fondern auch in dem Bericht über die Verhandlungen des
Apoftel mit den römischen Juden und über feine zweijährige Wirkſamkeit in
der Hauptjtadt wird der Name des Petrus nicht genannt, was doch nothwendig
geichehen mußte, wenn der Verfaffer annahm, Paulus habe diejen feinen apofto=
liſchen Collegen in Rom ſchon vorgefunden. So wenig daher Petrus mit Paulus
dorthin kam, ebenjowenig fann er vor ihm dort gewejen fein: die Tixchliche
Meberlieferung ift in ihren beiden Geftalten, derjenigen, welche ihn mit Paulus,
und derjenigen, weldhe ihn vor Paulus dorthin kommen läßt, mit der be-
glaubigten Geſchichte gleich unvereinbar.
Kann aber Petrus weder mit Paulus noch vor Paulus nad) Rom ge=
fommen fein: ließe fich feine Anweſenheit in dieſer Stadt nicht vielleiht da—
durch retten, daß man annähme, er ſei nach ihm in diejelbe gefommen? Allein
davon ift für's erfte der gefammten kirchlichen Ueberlieferung nicht das geringite
befannt. Alle unjere Zeugen, ohne Ausnahme, laffen den Petrus entweder vor
Paulus oder zugleich mit ihm nad) Rom kommen; nur die ebjonitiiche Simons-
Tabel läßt ihren Petrus dem Zauberer, welcher das Zerrbild des Heidenapoftels
ift, dorthin nachreifen, worin doch niemand einen gejchichtlichen Beweis dafür,
daß Petrus dem Paulus nad Rom gefolgt fei, wird jehen wollen. Iſt er mın
doc) nachweisbar weder vor ihm noch mit ihm dorthin gefommen, find alfo alle
die Angaben, welche ihn überhaupt dorthin fommen laffen, in dem, was fie
jagen, unwahr: twie fann man eben dieſe Annahmen gebrauchen, um aus ihnen
etiva3 zu beweijen, wa3 fie nicht jagen und was fich mit ihren Ausfagen gar
nicht vereinigen läßt? Will man auf Grund der Firchlichen Meberlieferung eine
Anweſenheit des Petrus in Rom behaupten, jo muß man diefe Ueberlieferung
in irgend einer Geftalt fo, wie fie lautet, als geſchichtlich nachzuweiſen oder dod)
den Nachweis ihrer Ungejhichtlichkeit zu entkräften im Stande fein, man muß
zeigen, daß Petrus entweder mit Paulus oder vor Paulus nah Rom gekommen
jein kann. Muß man andererfeit3 zugeben, daß ſich weder dieſes noch jenes ans
nehmen läßt, jo hat man fein Recht, "eine dritte Annahme zu erfinnen und der
Ueberlieferung, die von ihr nichts weiß, zu unterjchieben.
Dieje Annahme ift aber auch an fich jelbft höchſt unwahrſcheinlich. Es ift
ſchon oben gezeigt tworden, daß für diejenige römijche Gefangenschaft des Paulus,
Die Sage von Petrus als römischen Biſchof. 219
von twelcher die Apoftelgefhichte erzählt und auf welche mehrere paulinische
Briefe ſich beziehen, ein Zufammenjein des Paulus mit Petrus fi nicht an—
nehmen läßt. Man hat deshalb vermuthet, Paulus jei aus dieſer Gefangen»
ichaft wieder frei geworden; jpäter ein zweitesmal nad) Rom gekommen
und jet erſt zugleich mit Petrus hingerichtet worden. Allein diefer Vermuthung
fehlt e8 an jeder traditionellen Grundlage, da eine zweite Gefangenichaft des
Apoftel3 (abgejehen von einer ganz vereinzelten unficheren Andeutung in dem
um 190—200 verfaßten Muratori’ihen Canon) nicht vor dem vierten Jahr:
hundert und aud) hier (bei Eufebins K.-G. II, 22) nur als ein „Gerücht“ er-
wähnt wird, das aus einer mißverftandenen Bibelftelle (2 Tim. 4, 16) ent-
ftanden zu fein jcheint. Sollen wir nun annehmen, Thatjachen von jo allgemeinem
Intereſſe, wie die Befreiung, die jpätere Wirkſamkeit und die erneuerte Gefangen
nehmung des großen Heidenapoſtels, haben fich zwar zugetragen, fie jeien aber
aus der Meberlieferung de3 zweiten und dritten Jahrhunderts jo vollftändig ver—
ſchwunden, daß jelbjt ein Euſebius keinen beſtimmten Gewährsmann dafür an—
zugeben wußte, um dann im vierten Jahrhundert als Gerücht wieder aufzu—
tauchen? Wenn ferner die Apoſtelgeſchichte mit der Bemerkung ſchließt, Paulus
habe nach ſeiner Ankunft in Rom das Evangelium dort zwei Jahre lang uns
gehindert verfündigt, Jo ift dies nur dann ein paffender Schluß diejer Schrift,
wenn der Apoftel damit überhaupt an dem Biel jeiner evangeliichen Verkündigung
angelangt war; hatte er fie dagegen noch länger fortgejegt, um dann noch ein=
mal nad) Rom zurüczufehren, jo jollte man irgend eine Hindeutung auf diejen
Abſchluß feiner apoftoliichen Wirkfamkeit erwarten. Auch die früher angeführte
Behauptung de3 Dionys von Korinth, daß Petrus und Paulus nach der Grün
dung der Eorinthijchen Gemeinde nah Rom gegangen feien und dort den Mär-
tyrertod erlitten haben, jo jagenhaft fie an fich jelbft ift, beweift doch immer,
daß man zu feiner Zeit nur von Einer Gefangenschaft des Paulus wußte; und
ähnlich jchließt Origenes (um 240) die Annahme einer zweiten mittelbar aus,
wenn er jagt: Paulus habe (nad) Röm. 15, 19) von Jeruſalem bis Yllyrien
das Evangelium verfündigt und ſei dann unter Nero in Rom zum Märtyrer
getvorden. Da endlich) das Ende der zwei Jahre, während deren Paulus nad)
der Apoftelgefhichte in Rom da3 Evangelium verfündigte, jedenfall ganz nahe
an die Zeit der Neronifchen Chriftenverfolgung heranreiht, jo müßte Paulus,
wenn man eine zweimalige römische Gefangenjchaft deijelben annimmt, aus der
erften ummittelbar vor jener Kataftrophe befreit worden fein, aber jchon in einem
der nächſtfolgenden Jahre fich ebenjo, wie Petrus, freiwillig auf diejen für die
Ghriften jo gefährlichen Boden zurücbegeben haben, was doch gewiß alle Wahr-
icheinlichkeit gegen fich hat. Aber wie gejagt: in der kirchlichen Ueberlieferung
ift diefe Annahme nicht begründet; es ift eine Auskunft dev Verlegenheit, die
von jeder haltbaren traditionellen Grundlage verlafien ift.
Mas fih) und mithin jchon früher aus der Prüfung der Neberlieferungen
über die Anweſenheit des Petrus in Rom ergab, das beftätigt fih, wenn wir
die Möglichkeit derjelben näher unterſuchen: er kann weder vor Paulus, noch
mit ihm, noch nach ihm dorthin gefommen fein, er ift alſo überhaupt nicht dort
getvejen, und die Berichte, die ihn nad Rom kommen lafjen, liefern uns — jo
220 Deutiche Rundichau,
weit fich irgend nach hiſtoriſcher Wahrſcheinlichkeit urtheilen läßt — feine Ge—
ſchichte, ſondern eine durchaus ungeſchichtliche Sage.
Wir befiten aber außer den bisher bejprochenen auch noch’ein weiteres Zeug—
niß, aus dem Klar hervorgeht, dab um das Ende des erften Jahrhunderts in
Royı von dem römijchen Aufenthalt und Märtyrertod des Petrus noch nichts
befannt war. Unter den Schriften der jogenannten „apoftoliihen Väter” be—
findet ſich ein Schreiben, welches die römijche Chriftengemeinde an die forinthifche-
richtete, um bei Streitigkeiten, die in der letzteren ausgebrochen waren, zum
Frieden zu mahnen. Als der Verfaffer diefes Schreibens wird jeit Dionys von
Korinth und Irenäus jener Clemens genannt, welcher in der jpäteren, auf bie
Simonsſage bezüglichen Literatur eine jo große Rolle fpielt, und welcher ſchon
zur Zeit des Irenäus für den dritten, andern jogar für den zweiten Biſchof der
römischen Gemeinde nach Petrus galt. Sein Tod fällt nad Eujebius in das
dritte Jahr Trajan's; er ift aber in der Wirklichkeit noch ſechs Jahre Früher zu
jegen, da unfer Clemens ohne Zweifel von dem Titus Flavius Clemens nicht
verichieden ift, der nad) Dio Caſſius und Sueton mit dem flaviichen Kaijerhaufe
verwandt und mit einer Enfeltochter Vespaſian's vermählt war, troßdem aber
unmittelbar nad feinem Confulat, 96 n. Ehr., auf Befehl Domitian’3 unter
der Anklage des Atheismus, der ftehenden Anſchuldigung gegen die Chriften,
mit anderen, „zu den jüdijchen Gebräuchen (d. h. in diefem Falle zum chriftlichen
Meifiasglauben) Mebergetretenen“ hingerichtet ourde. Nun fteht e3 freilich nicht
ficher, daß jenes Sendjchreiben an die korinthiſche Gemeinde wirklich von Clemens
verfaßt wurde; daß es aber ein ächtes Schreiben der römijchen Gemeinde ift,
Yäßt fich nicht bezweifeln, und wenn es auch nicht von Clemens herrührt, wird
es doch kaum fpäter, als unmittelbar nad) feinem und Domitian’3 Tod, aljo
etwa 97 n. Chr., verfaßt fein. In diefem Sendjchreiben wird nun den Korin—
thern unter anderem zu bedenken gegeben, was für verderbliche Wirkungen der
Streit von jeher gehabt, wie er von Anfang an zur Verfolgung und Mißhand—
lung der Frommen geführt habe, und nachdem dies an der Hand verjchiedener
altteftamentlicher Erzählungen nachgewiejen ift, fährt der Verfaffer Cap. 5 fort:
„Um aber die Beifpiele aus der Vorzeit nicht weiter zu verfolgen, wollen wir
uns den Glaubensfämpfern aus der nächjten Vergangenheit zuwenden, wir tollen
bie erhabenen Vorbilder unjerer Zeit in’3 Auge faſſen. Der Streit und Neid hat
e3 bewirkt, daß die größten und frömmſten Säulen der Kirche verfolgt und zum
Tode gebradht wurden. Stellen wir uns die trefflichen Apoftel vor Augen.
Petrus hat um des ungerechten Streite willen nicht blos eine oder zwei, ſon—
dern vielfahe Mühen erduldet, und ift jo al3 Glaubenszeuge in den tohlver-
dienten Ort der Herrlichkeit eingegangen. Um des Streites willen mußte auch
Paulus um den Preis des Ausharrens ringen, wurde er fiebenmal in Ketten
gelegt, ausgetrieben, gefteinigt. Ein Herold der Wahrheit im Often und im
Weſten, hat er den herrlichen Ruhm feines Glaubens gewonnen, und nachdem
er die ganze Welt in der Gerechtigkeit unterwieſen, das Ziel feines Laufes im
Weiten erreicht und vor den Regierenden Zeugniß abgelegt hatte, ift er jo aus
der Welt geichieden und als das größte Mufter der Glaubensfeftigkeit in den
heiligen Ort eingegangen.“ Beim Lejen diefer merkwürdigen Stelle fällt jofort
Die Sage von Petrus als römiſchem Bilchof. 221
ber Unterfchied in den Aeußerungen über Petrus und über Paulus in’3 Auge.
Bon jenem erhellt aus ihr nicht einmal da3 mit Beftimmtheit, daß er um
feines Belenntnifjes willen getödtet worden ift; denn al3 Glaubenszeuge (oder
mit griechiſchem Ausdrud: als Martyr) konnte er nad) dem Sprachgebraud) jener
Zeit nicht blos dann bezeichnet werden, wenn er aus diefem Grunde das Leben
verloren, jondern auch wenn er andere empfindliche Uebel, Mifhandlung, Gefäng-
niß oder Verbannung, erduldet Hatte. Noch weniger fteht hier ein Wort davon,
daß Petrus in Rom Märtyrer geworden oder überhaupt nad; Rom gekommen
ſei. Er wird wol neben Paulus als der hervorragendfte unter den Apofteln
genannt; aber die war er allem nad wirklich, und er konnte auch in jolchen
Gemeinden dafür gelten, die jein Fuß nie betreten hatte; war ja dod) 3. B. in
Korinth (nad) 1. Kor. 1, 12) noch zu Paulus’ Lebzeiten jogar eine eigene Par-
tei, die lieber nad) Petrus, als nad) jenem, genannt fein wollte. Dagegen
heißt es von Paulus, er habe nicht allein im Often, jondern auch im Weſten das
Evangelium verfündigt, er habe hier das Ziel feines Laufes erreicht (oder ganz
wörtlich: er jei „an das Ziel des Weſtens“, d. h. in den Weften, als jein Ziel,
gekommen), er habe vor den Regierenden, dem römiſchen Kaifer und feiner Um—
gebung, Zeugniß abgelegt. Vergleicht man dieje beiden Ausfagen, jo muß man
fragen: Wenn Petrus doch gleichfalls nad der Annahme des Verfafjers in den
Weiten gekommen war, wenn er gleichfall3 die ganze Welt im Chriftenthum
unterrichtet und in Rom feinen Glauben vor dem Kaiſer mit feinem Blute be—
fiegelt hatte: warum wird dies alles nur von Paulus ausgefagt, bei Petrus
dagegen mit feinem Wort angedeutet? Warum ſagte der Verfaffer nicht, wie
jeder Spätere, auf dem Boden der kirchlichen Ueberlieferung Stehende unfehlbar
gejagt hätte: die zwei größten der Apoftel haben im Morgen» und Abendland
unter vielfachen Mühjeligkeiten gewirkt und ſeien jchlieglid in Rom in gemein-
ſamem Märtyrertode der Verfolgung zum Opfer gefallen? (wobei das, was etwa
von Paulus noch bejonders hervorgehoben werden follte, feine fiebenmalige Ein—
ferferung u. ſ. w., jich immerhin auch hätte anbringen laſſen). Man wird nur
antworten können, daß er es deshalb nicht gejagt Habe, weil er noch nichts da=
von wuhte. Wenn aber diejes, jo iſt die ebenbeiprochene Stelle au dem Send:
ichreiben der römiſchen Gemeinde ein durchichlagender Beweis dafür, daß diefer
Gemeinde bis zum Ende de3 erften Jahrhunderts von einer Anweſenheit des
Petrus in Rom und von feiner hier erfolgten Hinrichtung nicht das geringjte
befannt war.
Die Sadje liegt demnach jo. Daß Petrus nad) Rom gefommen ſei, daß er
hier gelehrt habe und als Märtyrer feines Glaubens umgekommen jei, dies
wird zuerft in der Legende von jeinen Kämpfen mit dem Zauberer Simon be=
hauptet. Dieje Legende läßt fich in ihrer urfprünglichen, antipaulinifchen Ge—
ftalt bis gegen den Anfang des zweiten Jahrhunderts Hinauf verfolgen; von
ihrer petropaulinifchen Umbildung zeigt fih um 130— 140 die erfte Spur,
und jeit dem lebten Drittheil des zweiten Jahrhunderts wird fie in diefer
Faſſung, unter mancherlei Abweihungen im einzelnen, von der katholiſchen
Kirche allgemein angenommen. Aber die ebjonitiiche Simonslegende ift eine
greifbare Tendenzdichtung der abenteuerlichften Art, die katholiſche, in Anlage
222 Deutſche Rundſchau.
und Ausführung nicht minder abenteuerlich, eine bloße Umbildung der erſteren;
und wenn jene mit dreiſter Verhöhnung der geſchichtlichen Wahrheit den Paulus
als falſchen Apoſtel von Petrus bis nach Rom verfolgt und hier beſiegt werden
läßt, ſo behauptet dieſe nicht minder ungeſchichtlich, Petrus ſei zugleich mit Paulus
dorthin gekommen. Die urkundlichſten Geſchichtsquellen aus dem erſten Jahr—
hundert und der erſten Hälfte des zweiten ſtellen es vielmehr außer Zweifel,
daß er weder vor Paulus, noch mit ihm, noch nach ihm in Rom geweſen ſein
kann, daß man in der Chriſtengemeinde dieſer Stadt bis zum Ende des erſten
Jahrhunderts von ſeiner Anweſenheit in derſelben nichts gewußt hat, daß die
Verfaſſer der unächten pauliniſchen Briefe aus der Gefangenſchaft ſo wenig, wie
der der Apoſtelgeſchichte, daran geglaubt haben. Dieſe ganze Ueberlieferung entbehrt
mit Einem Wort aller und jeder thatſächlichen Begründung. Aus einer ebjo—
nitiſchen Parteilüge entſprungen, iſt fie bei der Vereinigung der römiſchen
Judenchriſten mit den Paulinern dem Intereſſe dieſer Vereinigung, dem katho—
liſch-kirchlichen Intereſſe, und zugleich ſchon damals dem der römiſchen Gemeinde
und ihrer Biſchöfe, dienſtbar gemacht worden. In der Folge haben dieſe die
meitgehendften Folgerungen, die jchrankenlojeften Anſprüche darauf gegründet ;
feine Anmaßung war jo unerhört, feine Selbjtüberhebung jo vertwegen, daß
nicht die römische Biſchofswürde des Petrus den Rechtsvorwand dafür hätte
hergeben müſſen. Dieje Sage eröffnet jo nicht allein die lange Reihe jener Ge-
ſchichtsfälſchungen, welche der päpftlichen Weltherrihaft zum Baugerüfte gedient
haben, ſondern fie ift auch der Kern, an den alle anderen anjchoffen, der eigent-
lie Grundmythus der römiſchen Kirche. Aber ein Mythus ift fie, und zwar
ein reiner Mythus, ohne jede geihichtliche Unterlage, von der Parteifucht er-
jonnen, von der Unwiſſenheit geglaubt, von einer hierarchiſchen Politik auf’3
beijpiellojefte ausgebeutet. So wenig es die wirklichen Gebeine des Apoftel-
fürften find, über denen die ftolzen Hallen der Peterskirche ſich wölben, ebenjo=
wenig ift es der wirkliche Petrus, deſſen Nachfolger die römijchen Päpfte find,
fondern es ift dies lediglich der Petrus einer Sage, die nicht der Erinnerung
an gejhichtliche Vorgänge, jondern dem Parteiintereffe ihren Urfprung, dem
Intereſſe der römischen Kirche und ihrer Biſchöfe ihre ſpätere Umbildung zu
verdanken hat.
Das wäre nun freilich eine oberflächliche und verkehrte Vorftellung, wenn
man glaubte, jene Sage, die dem Papftthum jo große Dienfte geleitet hat, und
bon der es ſelbſt feine kirchliche Machtjtellung herleitet, ſei auch der eigentliche
und legte Grund diefer Macht. Auch hier gilt vielmehr, was wir in ähnlichen
Fällen jo oft wahrnehmen können: Erzählungen, auf denen ein Glaube feiner
eigenen Meinung nach beruht, find in Wahrheit jelbft erſt ein Product diejes
Glaubens; Behauptungen, welche die Berechtigung eines Anſpruchs begründen
jollen, find urſprünglich nur um diejes Anſpruchs willen aufgeftellt und nur
deshalb allgemein angenommen worden,Siveil man diejelben aus andermweitigen
Beweggründen zuzugeftehen geneigt war. Die abendländiichen Völker Liegen ſich
im Mittelalter eine einheitliche Kirchliche Leitung gefallen, weil fie diefer Leitung
bedurften, und fie ließen ſich die römische Suprematie gefallen, weil die Gunft
dev Verhältniffe und die kluge und Fräftige Benußung diefer Verhältnifje der
Die Sage von Petrus als römiſchem Bilchof. 223
römischen Gemeinde und den römischen Biſchöfen ſchon längſt einen beherrſchenden
Einfluß verihafft hatten. Wenn dieſe Kirche jelbft ihre Stellung nicht von
diefen geichichtlichen Verhältniffen, jondern von einem rein kirchlichen Vorzug
herleiten wollte, wenn fie diejelbe darauf gründete, daß die hervorragendſten
unter den Apofteln, und in erfter Reihe der Apoftelfürft Petrus, ihre Stifter
geweſen jeien, jo zeigt dies nur, wie frühe fie ihrer Bedeutung fi bewußt
wurde, wie geſchickt fie alles, was derjelben zugute fommen konnte, für fich zu
verwenden wußte. Ihrer urjprünglichen Abzweckung nach hatte die ebjonitijche
Dichtung, welche den Petrus in Verfolgung des Zauberer? Simon nad) Rom
fommen ließ, nicht die Abficht, für die römische Gemeinde und ihre Vorfteher,
als Nachfolger des Petrus, einen Primat über die Kirche in Anſpruch zu nehmen;
denn al3 den eigentlichen Mittelpunft der letzteren betrachteten jene alten Juden-
chriſten, aus deren Mitte die Simonsfage hervorging, nicht Rom, jondern Jeru—
ſalem, al3 ihren oberften Biſchof nicht Petrus, jondern Jakobus, den Bruder
des Herin, den Vorfteher der jerufalemitiichen Gemeinde, und es wird deshalb
in einem angeblichen Briefe des Petrus, welcher einer von den älteften ebjoni-
tiichen Bearbeitungen der Simonsfabel angehörte, Jakobus von Petrus als jein
„Herr und Biſchof“ angeredet. Die Legende von Simon und Petrus follte viel-
mehr urfprünglich, wie jchon oben bemerkt wurde, nur dazu dienen, die römijche
ChHriftengemeinde für das Judenchriſtenthum in Anspruch zu nehmen, indem
Petrus als ihr Stifter, die jubaiftiiche Lehre als ihr Bekenntniß, Paulus da-
gegen, unter dem Namen des Magiers, als ein falicher Apoftel, der Paulinis-
mus als eine rrlehre dargeftellt wurde. Als aber bei der Verfchmelzung der
beiden Parteien, der judenchriftlichen und der paulinifchen, die Simonsjage in
ihrer älteren, ebjonitijchen Geftalt ſich nicht länger fefthalten ließ, da erkannte
man in Rom jofort, welche Dienfte diefe Sage unter den veränderten Verhält-
niſſen leiften konnte: fie wurde nicht einfach befeitigt, jondern nur im katho—
liſchen Sinn und Intereſſe umgebildet; Paulus wurde von feinem Doppelgänger,
dem Magier Simon, beſtimmt unterjchieden und dem Petrus als fein Gehilfe
in der Beftreitung des Zaubererd zur Seite geftellt, und es wurde jo dieſelbe
Erzählung, welche urjprünglich eine Kriegserklärung des extremen Ebjonitismus
an den Paulinismus geweſen war, in eine Urkunde des Friedens und der Freund—
ichaft zwijchen beiden verwandelt. Wenn der Ebjonitismus behauptet Hatte,
nicht Paulus, jondern Petrus jei der Apoftel der Römer, jo ließ man ſich
diejes auf kirchlicher Seite gern gefallen, aber jenes gab man nicht zu;
ftatt: „Petrus, nicht Paulus”, jagte man: „Petrus und Paulus“, räumte
aber dabei den gegneriichen Anfprüchen doch immerhin fo viel ein, daß Paulus
den Ruhm des Römerapofteld mit feinem Genofjen, der dies in Wirklichkeit
nit war, nicht nur theilen mußte, jondern auch gegen denjelben entjchieden
zurücgejeßt, in die zweite Stelle heruntergedrüdt wurde. Dafür wurde aber
nicht allein für die Bereinigung der Hauptparteien eine annehmbare Grundlage,
jondern aud) für die römifche Kirche der unſchätzbare Vorzug gewonnen, daf die
beiderfeitigen höchften Auktoritäten, der Juden- und der Heidenapoftel, zu ihrer
Stiftung brüderlic zufammengewirkt haben follten; die Hauptftadt des römischen
224 Deutiche Rundichau.
Reichs wurde zugleich für die kirchliche Metropole deffelben, für die einzige
apoftoliiche Gemeinde des Abendlandes erklärt, bei welcher kraft diejes ihres
Urjprungs die reine apoſtoliſche Lehre mit voller Sicherheit zu finden fei: die
Formel für den Anſpruch auf den Primat in der Kirche war gefunden.
Diefer Anſpruch ift ſpäter auf die äußerſte Spitze getrieben worden; alle
die Vorrechte und Vorzüge, welche da3 Kirchliche Altertfum der römischen Ge-
meinde zuerkannt hatte, find auf die Perjon des römischen Biſchofs über-
tragen und beſchränkt, und e3 find daraus jo weitgreifende und maßloſe Forde—
rungen abgeleitet worden, wie jie in den erjten Jahrhunderten der chrijtlichen
Kirche niemand zu erheben, und noch viel weniger einem anderen zuzugeftehen,
fih auch nur im Traum hätte einfallen laſſen. In demſelben Maß aber, wie
die römiſche Hegemonie von der Gemeinde auf ihreneBiſchof überging, trat auch
in der Sage über die Stiftung jener Gemeinde, und mehr nod) in der Benützung
diefer Sage, das Intereſſe der kirchlichen Alleinherrjchaft ftärker hervor. Irenäus
verweiſt die Häretifer auf die Ueberlieferung der römischen Kirche, als ber
„größten und älteften und allgemein befannten”, welche „von den zwei vor—
nehmſten Apofteln, Petrus und Paulus, geftiftet”, und in welcher die apofto-
Yifche Ueberlieferung von Männern aus der ganzen Chriftenheit betvahrt worden
jei, weil hier, in der Hauptjtadt (dies nämlich ift die Meinung der vielbeſpro—
henen Worte), Gläubige aus der ganzen Welt zufammentommen. Zertullian
preijt fie glüclich, daß „die Apoftel” über fie ihre Lehre mit ihrem Blut aus-
gegoffen haben. Nach den apoftoliihen Conftitutionen wäre der erfte römiſche
Biſchof (Linus) von Paulus, erſt der zweite (Clemens) von Petrus eingejeht
toorden. In der jpäteren Ueberlieferung dagegen tritt der Antheil des Paulus
an der Stiftung der Gemeinde, die in ihm zwar auch nicht ihren erſten Be—
gründer, aber doch wenigſtens den einzigen an ihr thätigen Apoftel zu verehren
hatte, immer mehr zurück, und nicht als Nachfolger des Petrus und Paulus,
fondern lediglich ala Nachfolger des Petrus nehmen die Päpfte die geiftliche
Weltherrſchaft für fi in Anſpruch. Jene monarchiſche Verfaffung, die in der
römischen Kirche durchgefeßt und fiir die ganze Chriftenheit gefordert wurde,
wird ala angebliche Thatſache in den Anfang ihrer Geſchichte zurückverlegt, der
große Heidenapoftel, welcher dem Petrus und den Jeruſalemiten jo mannhaft
widerftand, welcher über einen Petrus, Jakobus und Johannes jo rund jchreibt:
„wer fie immer waren, ift mir gleichgültig“, wird zum dienenden Bruder feines
Mitapoſtels herabgejegt, und an der großen That feines Lebens, an der Aus-
breitung des Chriftenthums bis in die Hauptftadbt der heidnijchen Welt, wird
dem „Apoftel der Beſchneidung“ der Löwentheil zugetviejen.
Die Biſchöfe, welche ſich Nachfolger des Petrus nennen, haben die Stellung,
die fie daher für fich ableiten, aufs rückſichtsloſeſte auszubeuten, in ihre äußerften
Conſequenzen zu verfolgen gewußt. Aus Nachfolgern des Petrus find fie zu
Stellvertretern Gottes und Chrifti geworden; und wie einft in dem alten Franken—
reich die Könige ihren Hausmaiern gegenüber zu Schatten herabfanten, jo find
auch Hier jchlieglich diejenigen, deren Stelle die Päpſte vertreten wollten, über
ihren Stellvertretern fast vergeffen worden. Die Nachfolger des Petrus hatten
Die Sage von Petrus als römiſchem Biſchof. 295
fi ftatt des Apoftels den Zauberer zum Vorbild gewählt, den ihm die Sage
zum Gegner gibt; und Jahrhunderte lang war es ihnen wirklich gelungen: wie
der Magier von feinen Dämonen, jo hatten fie fi von den finjteren Geiftern
der Unwiſſenheit, des Aberglaubens und des Fanatismus zu einer ſchwindelnden
Höhe emportragen laſſen. Im jechzehnten Jahrhundert endete der tikarijche
Flug mit einem jähen und jchmählichen Sturze. Unſeren Tagen war e8 vor-
behalten, ihn auf's neue und in der vermeflenften Weiſe wiederholen zu jehen.
Aber der männliche Geift germanifcher Freiheit, welcher damals die Dämonen
beſchworen hat, wird auch jetzt dazu kräftig [genug fein; und fo mag denn
ſchließlich die alte Sage von Simon und Petrus, auf welde das Papftthum
feine maßlojeften Anjprüche aufgebaut hat, ihm jelbft zum Wahrzeichen des
Schidjal3 dienen, dem jeder unfehlbar anheimfällt, wenn er einen Thurm in
den Himmel hinaufführen will, defjen fittlihe Grundlagen längft unterhöhlt,
defjen geiftige Stüßen durch und duch morſch find.
Deutſche Rundigan. I, 11. 15
ST — u —— RL
L’Abbaye-aux-Bois.
Don
Dr. Ferdinand Hiller in Köln.
Ein Band*), den mir der Zufall in die Hände fpielt, erweckt in mix eine
der intereffanteften Erinnerungen aus meiner Yugendzeit und bringt mir ein
Bild vor die Augen, welches fich zu vergegenwärtigen heute ſicherlich nur noch
MWenigen vergönnt ift — den Salon der Frau Recamier. Der Name der be-
rühmten Frau ift Allen befannt, welche einen Einblid in das gejellichaftliche
Leben der franzöſiſchen Hauptftadt zur Zeit des Directoriums und des Confulats
gethan. Man weiß, wie ſchön, wie anmuthig, wie liebenstwürdig die Freundin der
Frau von Staöl geweſen und in welchem Grade fie die Bewunderung der Pariſer
Welt auf fich gezogen hat. Aber gerade die Höhe jener außerordentlichen Schrift-
ftellerin war vielleiht Schuld, dak Frau Recamier in geiftiger Hinſicht unterſchätzt
ward, wie denn ein liebenswürdig fein twollender Gavalier, dem das Glüd zu
Theil geworden war, bei Tiſche feinen Pla zwilchen den beiden Damen zu
finden, ausrief: „welch' eine Gunft des Schickſals! ein Sit zwijchen dem Geifte
und der Schönheit!" und jo jeder von ihnen zu nahe trat. Frau Recamier
war freilich nicht, tva3 man eine geiftreiche Frau zu nennen pflegt — aber fie
hatte geiftige Eigenſchaften, die einer rau vielleicht noch mehr zu Statten
fommen, al3 der größte Reichthum an Geift: fie verftand e8, bedeutende Männer
zu verftehen, fie wußte ihren Arbeiten zu folgen und anregend auf fie zu wirken.
Nicht viele Frauen mag es gegeben haben, welche fich eines Freundeskreiſes zu
rühmen hätten, wie der war, welcher mit unerjchütterlicher Treue und Hin-
gebung, ja theilweije mit wahrer Anbetung fie durch ihr ganzes Leben hindurch
umgab — und alle dieje intimen Beziehungen zu jüngeren und älteren Männern
haben nie auf ihren weiblichen Ruf auch nur den Schatten eines Schattens
geworfen. Gemahlin eines reichen Banquiers, verbrachte fie ihre exfte Jugend
im größten Glanze, nad) dem Falle des Gejhäftshaufes aber den größten Theil
ihres Lebens in durchaus bejcheidenen Verhältniffen. Selbft ohne Kinder, hatte
fie eine anmuthige Nichte bei fi) aufgenommen und erzogen, welche die Gattin
des bekannten Archäologen Charles Lenormant wurde; ihr bat man die Zu-
fammenftellung und Abfaſſung des intereffanten Buches, welches mir vorliegt,
zu danken.
*) Madame R&camier, les amis de sa jeunesse et sa correspondence intime, par
l’auteur des souvenirs de Mad. Recamier.
L’Abbaye-aux-Bois. 297
Die befannteften Namen unter den Verehrern ber Frau NRecamier find
Gamille Jordan, die beiden Brüder Mathieu und Adrien Herzöge von Mont»
morency, der Philojoph Ballandde, 3. 3. Ampere und Chateaubriand. Ihren
Beziehungen zur rau von Stadl hatte fie, nad) einem längeren Bejuche, welchen
fie derjelben in Coppet abgeftattet, eine dreijährige Verbannung aus Paris zu—
zujchreiben. Die faiferlihe Regierung mochte bekanntlich nicht die Leijefte Oppo—
fition vertragen, und man weiß, wie mißliebig ſich die berühmte Tochter Necker's
bei Napoleon gemacht Hatte. Von den eben genannten Männern gehörte Camille
Jordan zu den früheften Freunden der rau Récamier — er hatte jchon, ala
er im Rath der Fünfhundert ſaß, ihr feine ernſteſte Verehrung geichenkt und
war ihr nicht weniger ergeben, al3 er fünfundziwanzig Jahre jpäter, einer der
Beredteften, in der Deputirtenfammer feinen Sit einnahm. Im Jahre 1812
machte er feinen Freund und Landsmann Ballandhe (beide waren Lyonejer) mit
Frau Recamier bekannt. Ballanche, deſſen etwas myftiich-philojophiiche Schriften
von einem auserlefenen Kreije in Frankreich hochgeſchätzt find, der aber auch in
feinem Baterlande noch nicht den Rang einnimmt, welchen jeine Verehrer für
ihn in Anſpruch nehmen, widmete von nım an bis an fein Ende (im Jahre 1847)
fein ganzes Dafein, jo zu jagen, der unmwiderftehlichen rau. Chateaubriand’3
freundichaftliche Verbindung mit derjelben datirt aus fpäterer Zeit — aber die
Ießten fünfundzwanzig Jahre feines Lebens war ihm der Mo möglich tägliche
Umgang mit ihr Troft und Stärkung in feinen wecjelvollen Unternehmungen
und Gelchiden. Die merkwürbdigfte, vielleiht auch die jchmeichelhaftefte Zu—
neigung, die Frau von Recamier zu Theil geworden, war die des genialen %. J.
Ampere, des Sohnes de3 hochberühmten Phyfiters, deſſen zahlreiche Schriften,
in welchen der gelehrte Hiftorifer fi mit dem ſcharfblickenden Reiſenden ver—
bündet, den deutjchen Lejern der Revue des deux mondes aus jener Zeit befannt
fein werden. Ampere wurde im Jahre 1828, als 1Sjähriger Jüngling, der
gefeierten Frau vorgeftellt, welche damal3 (nad) dem Alter ſchöner Frauen
darf man nicht fragen — nicht einmal forichen) jedenfalls nicht mehr jung war.
Der Eindrud, welchen fie auf ihn machte, war derart, daß während ihres ganzen
Lebens feine andere, der Liebesiphäre zugehörige Neigung in jeinem Herzen Plat
fand. Bis zum Zode der rau Recamier (fie ftarb an der Cholera den
11. Mai 1849) war fie ihm Mutter, Schwefter, Freundin, Geliebte.
Ampere, einer der geiftreichften Männer des neuern Frankreichs, hatte ſich
vorzugsweije die Kenntniß jener „Weltliteratur“ zur Aufgabe gemacht, zu wel:
cher in Deutichland Herder den erften Anftoß gegeben und welcher Goethe,
namentlich in jeinen jpäteren Lebensjahren, ſich mit jo großer Vorliebe widmete.
Die Würdigung unfered großen Dichter? war der neuen literariichen Schule,
welche in den zwanziger Jahren in Paris das Yournal „le Globe“ zu ihrem
Organ machte, zu einer Hauptaufgabe geworden, und Ampere war einer feiner
leidenſchaftlichſten Bewunderer. Nachdem er im Winter 26—27 in Bonn die
Vorlefungen Niebuhr’3 und Schlegel’3 angehört, machte er fi nad Weimar auf
und wurde von Goethe, welcher es jehr angenehm empfand, von den bedeutendften
jungen Franzoſen ftudirt und gepriefen zu werden, auf das freundlichſte empfangen.
Als Schüler Hummel’3 damals in Ilm-Athen verweilend, wurde ich Ampere
15*
228 Deutſche Rundſchau.
vorgeſtellt, der mich dann in ſeiner einfach herzlichen Weiſe einlud, ihn in Paris
aufzuſuchen, ſobald ich jemals hinkäme. Die Gelegenheit, der freundlichen Ein—
ladung zu gedenken, ſtellte ſich bald ein, denn ſchon im Jahre 1829 wanderte ich,
ein 17jähriger Jüngling, nach der franzöſiſchen Hauptſtadt, wo ich denn auch
nicht verſäumte, Ampere zu beſuchen.
Ich war einige Monate in Paris, als mir das Glüd zu Theil wurde, eine
recht ehrenvolle Anftellung zu erhalten, und zwar an der Institution royale de
musique religieuse et classique, deren Gründer und Director der befannte Chorou
war. Tür da3 Thema diefer Zeilen genügt e8, zu bemerken, daß in diefem, von
der Regierung jubventionirten Inſtitute vorzugsweiſe Gejang getrieben wurde
(Clara Norello und Duprez haben dort-ihre erfte Bildung erhalten), und zwar
nicht allein Solo fondern auch Chorgefang. Chorou war vielleicht der Erſte,
der in Frankreich Händel’iche Oratorien zur Aufführung brachte — zwar nur am
Glavier — aber was die Ausführung der Chöre betrifft, mit Correctheit, Feuer
und Leben.
Als ich eines Tages im Garten des Palais royal meinen politiſchen Studien,
nämlich) dem Zeitungslefen, mid) hingab, fand ich im Journal des débats Aus-
züge aus dem Schaufpiele „Moise“ von Chateaubriand und darunter einen Chor
der Leviten, der mir außerordentlich gefiel. Ich Faufte mir die Zeitung, lief
nad Haufe und jeßte ihn in Muſik. Wenige Tage darauf begegne ich Ampere
und erzähle ihm geſprächsweiſe auch von meiner neueften Compoſition.
„Der Taufend,” jagte er, „das iſt hübſch, das müßte Chateaubriand hören,
e3 würde ihm große Freude machen. Läßt ſich das nicht einrichten?“
„Doc wol,“ erwiderte ich, des jugendlichen Chores meiner Institution
gedentend, „aber twie? wo? wann?“
„Das müſſen wir bei Frau Recamier veranftalten,” rief mein liebens—
würdiger Freund, „laſſen Sie mic) nur machen und bereiten Sie Ihre Truppen vor.“
Chorou gab gerne jeine Einwilligung, und jo wurde ich bei der berühmten
Dame eingeführt. Nach einem Antrittsbefuche, in welchen die näheren Be—
ftimmungen getroffen wurden, hatte die feierliche Aufführung des Chores vor einer
zahlreichen, die berühmteften Namen enthaltenden Berfammlung ftatt, und e8 wurde
mir viel Ehre angethan — aber Chateaubriand, dem es hauptſächlich gegolten,
war verhindert, jenen Abend zu erjcheinen. Für mich jedoch hatte die Kleine
Production die angenehme Folge, daß mir der Recamier’iche Salon von nun an
offen jtand. Leider habe ich von diejer glüdlichen Gonftellation weder jo häufig,
noch fo lange Gebrauch gemacht, ala ich es hätte thun jollen, (man weiß in der
Jugend das Belte nicht zu ſchätzen) — aber doch oft und lange genug, um mit
Freude jener Abende gedenken zu können. Sie find für mid das deal ber
ſchönſten Gejelligfeit geblieben.
Frau Récamier bewohnte damals und bis an ihr Lebensende einige Zimmer
in einem, dem Kloſter der Abbaye-aux-bois angehörigen Nebengebäude, weit
draußen im Quartier latin. Der Salon, in welchem fie gewöhnlich empfing,
war nicht groß; ein Dubend Menjchen füllten ihn hinreichend aus. Rechts
über dem Sopha, auf weldem Frau Recamier ſaß, hing ein großes, glänzendes
Bild von Gerard, Corinna darjtellend. Zwei Lampen warfen ihr vollites Licht
—
L’Abbaye-aux-Bois. 229
auf dafjelbe, die Gejellichaft aber und vor Mllem die Herrin waren vor ihm
durch dichte Schirme bewahrt. Frau Recamier litt an den Augen (fie mußte
fih in jpäteren Jahren jogar einer Operation unterwerfen, da der Staar ſich
eingeftellt hatte) — es war alſo nicht Goquetterie, die den Grund bildete zum
Diertelsdunfel, in welchem man fidy befand. Indeß iftnicht zu leugnen, daß
die etwas dbämmerhafte Beleuchtung ihr vortreffli ſtand. Ihre lieblichen Züge
erſchienen wie von myſtiſchem Glanze umwoben — das anmuthige Lächeln, welches
auf ihren Lippen fpielte, war durch einen Hier und da faft wehmüthigen Aus»
druck gedämpft — dazu die ſchlanke Figur — die ruhigen, man fünnte jagen
leiſen Bewegungen ihrer Hände und ihres Hauptes — es war ein Bild voll-
endeter Grazie und Vornehmdeit. Sie ſprach nie viel hintereinander — warf
aber häufig einige Worte ein, das Geſpräch belebend, führend, feine Lebhaftig-
feit hier und da mildernd — und immer dafjelbe mit der ununterbrochenften Auf-
merkſamkeit verfolgend. In ihrem Sinne, aber mit lebendigerer Yugendlichkeit,
theilte fi) mit ihr in die Ehre des Empfangens ihre Kluge, graciöſe Nichte, Frau
Lenormant. Ihr Gatte, Ampere und Ballandje waren die ftehenden Gäfte, die
Habitues. Der lektere, ein ſchon älterer, ziemlich häßlicher, aber unendlich gut—
müthig und finnig darein jchauender Mann, gab meiften3 nur den ftummen Zu—
hörer ab und warf nur jelten, aber dann immer irgend ein gewichtiges Wort
in die Discuffion. Er jaß in der Nähe feiner Gebieterin auf einem nied-
rigen Stuhle, einer Art von Schemel — ich mag das Bild nicht ausſprechen,
zu welchem fein Dajein dort Veranlaffung geben konnte, jedenfall wäre es
nur im bejten Sinne zu nehmen. Die Hauptlämpen der anſpruchsloſen, aber
unendlich anziehenden Geiftesturniere, die gefämpft wurden, waren Lenormant
und Ampere, beide im jeltenjten Grade Meifter ihrer Spradhe und von der viel:
feitigften Bildung. Beſaß der erjtere neben feinen Fachſtudien ein außerorbent-
lich jcharfes Einjehen in die jhönen Künfte, jogar in die Muſik, jo hatte der
leßtere, welchen feine Freunde faft noch mehr als „Cauſeur“ denn ala Schrift-
fteller bewunderten, die Literaturen aller Zeiten und Völker, von den Edda's
bi3 zu den Veda's, von Hefiod bis zu Goethe, in jedem Moment gegenwärtig.
Unter den zahlreichen Bejudhern, die fih ab umd zu einftellten, ift mir
Merimee am lebhafteften in der Erinnerung geblieben. Diejer eminente Schrift-
fteller, welcher in der neueften Zeit noch einmal in feiner ganzen Lebendigkeit
dem Publicum durch die „lettres à une inconnue“ vor die Augen getreten, der
Verfaſſer der „Colomba“ und fo vieler anderer Meiſterwerke, beſaß auch mündlich
ein Talent des Erzählens, welches ic) unter mir befannt gewordenen Menſchen
nur bei Mori Hartmann wieder gefunden habe. Er erzählte, wie er jchrieb,
und wenn ich jpäter Novellen las, in welchen der Held jelbft feine Erlebniſſe
geſprächsweiſe zum Beſten gibt, gedadhte ic; Merimee’3, um mir hinaus zu
helfen über die zuweilen doc alles Maß überjchreitende Virtuoſität des Vor—
tragenden. Merimee hatte die ultrasromantijchen Dramen Victor Hugo’s, welche
zu jener Zeit ziemlich jchnell einander folgten, gewöhnlid vom Dichter jelbft
vor der Aufführung vorlejen hören oder einer Generalprobe derjelben beigetwohnt.
Bis in die Hleinften Einzelheiten waren fie ihm lebendig geblieben, und jeine
ausführlichen Darlegungen derjelben, das längfte Feuilleton weit überjchreitend,
230 Deutjche Rundſchau.
mit dem binreißendften Fluffe, der ruhigſten Lebendigkeit vorgebracht, bildeten
wahre Feſte für das Kleine, aber auserlefene Publicum der Abbaye-aux-bois,
Chateaubriand erfchien Abends nie oder nur bei außerordentlihen Gelegen-
heiten — nahm aber die Nahmittagsftunden feiner Freundin regelmäßig in
Anſpruch. Bei einem Beſuche, den ich einft zu dieſer eigentlich” verpönten
Zeit machte, wurde mir die Ehre zu Theil, empfangen zu werden. Der glän—
zende Vicomte machte einen eigenthümlichen Eindrud, mit feinem ſchönen, ftolzen,
etwas zu großen Kopfe und feiner Kleinen, allzufleinen Figur. Er grollte den
politiihen Zuftänden und verlangte von mir, Näheres zu hören über die da=
mal3 noch quasi republifanifchen Einrichtungen meiner Baterftadt Frankfurt am
Main. Mit meiner Beichreibung derjelben bezeigte ex fich viel zufriedener, ala es
Bürgermeifter und Senat des Trreiftaates ficherlich gewefen fein würden.
Wie man fieht, war der Freundeskreis "der anziehenden rau aus ver—
ſchiedenen Elementen gebildet; ſowol in wiſſenſchaftlichen und Titerarifchen wie
in politijchen Dingen waren die Männer, die fie umgaben, zum Theil jehr ver—
ichiedener Anfiht. Aber alle Erörterungen, die in ihrem Salon ftatthatten,
behielten, wenn fie auch noch jo lebendig geführt wurden, eine reizvoll gedämpfte
Farbe — es war Sammermufil. Dean ftand vor dem Kamine, man horcdhte
dem Geſpräche Einzelner, ſetzte fich in die Nähe der Herrin, oder zu Ziweien in
einen Winkel — man fam oder ging zu früher oder jpäter Stunde, wie denn
das jchließlich auch in den unberühmteften Salons geichieht — aber man nahm
ftet3 Anregendes, Willenswerthes mit auf den Weg und die Empfindung, in
einer reineren, leichteren, ftärkenden Atmofphäre geathmet zu Haben. Die Art
und Weile, wie die jo vielfach hoch verehrte Frau ihre an jenen Abenden ver-
fammelten Freunde nicht allein zu vereinigen, jondern auch zu einigen wußte,
fonnte eine dee davon geben, mit welcher Gewandtheit, Fyeinfühligkeit und Güte
fie diefelben auch ſonſt nicht allein an fich zu feſſeln, ſondern auch größtentheils
unter ſich nahe zu bringen verftand, troß aller Verſchiedenheit ihrer Beftrebungen,
ihrer Anſchauungen und ihrer Stellungen. Sie jcheint freilich” die Hauptaufgabe
ihres Lebens daraus gemacht zu haben, Denjenigen, welche jie mit ſolcher Ver—
ehrung umgaben, auch ihre Pfade zu erleichtern, zu verfchönern und fie ihren
Zielen näher zu bringen; aber wenn auch in diefen Bemühungen ein wenig
von dem, wa3 man allzuleiht Egoismus zu nennen pflegt, mit im Spiele ge=
weſen jein mag, jo war e3 ein joldder, wie man nur wünjchen kann, daß er
recht allgemein verbreitet wäre.
Als ich in jpäteren Jahren Ampere wieder zu jehen die freude hatte (in
den erften Zeiten des zweiten Kaiſerreiches), Hagte er, daß die geift- und ans
muthsvolle Gejelligkeit, die unter Louis Philippe nicht allein im Salon feiner
verewigten Freundin zu finden gewejen, gänzlich verſchwunden jei. Ob er hierin
Recht hatte, ob es damit wieder beifer geworden, ob überhaupt der Glanz, in
welchem jene Zeiten fi) uns zeigten, nicht einen Theil defjelben der Sonne unjerer
Jugend verdankte, welche fie beftrahlt hatte? — ich weiß es nicht zu jagen.
Dalmatien.
Don
Profejjor Oscar Schmidt in Straßburg.
Wenn man, von Laibach ſüdwärts reifend, die hier und da noch bewaldeten,
größtentheil3 aber fahlen, öden Rüden des Carſtes mit eigenthümlich zerbröckelter
und zerflüfteter Oberfläche und den wunderlich trichterförmigen Einjentungen
überjchritten, bietet fi) auf der Höhe von Optſchina und Nabrefina ein Schau
jpiel des entzücdendften Gegenjaßes dar. Dean tritt ohne irgend welche land-
Ichaftliche Vorbereitung zu einem jähen Abfturze des Gebirges und blidt, noch
in der Todeserftarrung des Carftes ftehend, auf die Lebensfülle des adriatijchen
Meere3 und jeiner Hüften. Zur Rechten jchiebt fi) daS von den Bergen
herabgeführte Schwemmland flach in das Meer hinein, wo einft dag im Anprall
der Völkerwanderung faft Tpurlos vertilgte Aquileja mit Rom wetteiferte.
Rechts davon hauen wir in die gejegnete Friauler Ebene, das Parterre eines
großartigen Alpenamphitheaterd. Vor uns bi3 an den Horizont erſtreckt fi —
wir haben einen fonnigen Morgen getroffen — die blaue Adria. Links kehrt
das Auge an der Küfte der iſtriſchen Halbinjel zurüd, um an dem ftolgen und
reigenden, terraffenfürmig am Berge auffteigenden Zrieft und jeinem Hafen
haften zu bleiben. Es gibt, glaube ich, feinen Punkt, wo der Eintritt in den
italiſchen Himmel jo überrajchend ſchön und großartig wäre.
Wir laffen die Fluth der Touriſten rechts abſchwenken, begeben uns auch
nicht auf die große Route über Corfu nach Athen oder Alerandrien, jondern
befteigen in Trieft einen der kleineren Dampfer, um die dalmatinijche Hüfte zu befehen
und ein Land kennen zu lernen, welches in jeiner phyfifaliichen und landſchaft—
lihen Beichaffenheit in vollitem Kontraft zur gegenüberliegenden Seite Jtaliens
fteht, wie denn auch in feinen Bewohnern das Bewußtſein, nicht Jtaliener zu
fein, jondern der großen flaviichen Völkerfamilie anzugehören, bedeutende und
politiich folgenreiche Fortſchritte gemacht hat. Das langgeftredte Küften- und
Inſelland wollen wir bejuchen, das erft die Griechen zu mächtigen Nieder-
laffungen, wie Epidaurus (Ragufa), Cerkyra (Gurzola), Pharia (Lefina) einlud,
da3 den Römern wegen des Reichthums an Wald, Del und hochgewachjenen
friegeriihen Menjchen höchſt begehrungstwürdig erſchien, wo die Templer in
232 Deutſche Rundſchau.
den Jahrhunderten der Kreuzzüge feſten Fuß faßten, und wieder die Venetianer
im heftigſten Ringen gegen die kroatiſche und türkiſche Macht ſich zu behaupten
ſuchten, aus demſelben Grunde, wie die Römer, weil das Land ihnen Holz und
Leute lieferte. Auch Napoleon hat daſſelbe auf Jahre unter ſeiner Herrſchaft
gehabt. Und wenn alle dieſe Coloniſten und Eroberer dem Lande Andenken
hinterlaſſen haben von den griechiſchen Münzen an bis zu den von Marſchall
Marmont angelegten Landſtraßen und Befeſtigungen, ſo iſt jetzt die öſterreichiſche
Regierung bemüht, durch Eiſenbahnen die ärmere Küſte mit dem reichen Hinter—
lande zu verbinden und die Verkehrswege nad jenen türkifchen Provinzen zu
eröffnen, welche bei früherer oder jpäterer Löfung der fogenannten orientalifchen
Frage eine Rolle zu jpielen beftimmt find.
Dies Land in feinen hiſtoriſchen Erinnerungen und dem jetzigen Zuftande
zu Ichildern jchien mir an fich fein verfehltes Unternehmen, und ich fühlte mich
dazu angeregt, da ich fiebzehn Jahre mit feinen Bewohnern in einem politi-
ichen Berbande gelebt habe und durch häufigeren längeren Aufenthalt mit Mteer
und Land, Gewächſen, Thieren und Menjchen ziemlich vertraut geworden bin.
Die dalmatiniichen Dampfer pflegen Trieft um die Mittagaftunde zu ver—
lafjen. Man Hat Muße, die niedrige iftrifche Küſte bis zu den hügligen Um—
gebungen von Pola an ſich vorübergleiten zu laffen. Während der Nacht Hat
man den jeiner Nordftürme wegen gefürchteten Guarnero paffirt, und am Morgen
befindet man fich zwiſchen der iftriichen Inſel Luffin und Zara, der Haupt-
ftadt von Dalmatien, in einer neuen Scenerie. Sie ift charakteriſtiſch, aber bei
ungünftigem Licht entjchieden häßlich. Man hat nämlich eine Inſelwelt um
fi herum, welche durch Kahlheit und die graue Farbe der zerflüfteten Felſen
una ‚nad dem Carſt zurückverſetzt. Und in der That hat das Carftgebirge im
NO. von Trieft in das croatiſche Gebirge eingebogen, ift zu den Mtafjen des
Vellebitſch angeſchwollen, und von diefem aus erſtrecken ſich die dalmatinifchen
Bergzüge in ſüdöſtlicher Richtung. Eben diefe Richtung haben die zahlreichen,
in ihrem Geftein mit dem Feſtlande übereinftimmenden Inſeln. Als ich 1852
da3 erfte Mal diejes Gewühl von Meerengen, Straßen und Buchten befuhr,
glaubte ich mich an die kurz vorher bejuchten norwegischen Scheeren und Fjorde
verjegt. Allein der Vergleich ift durchaus unpaffend. Peſchl hat die Erklärung
gegeben, daß die Fjordbildung dur) die Erhebung von Steilfüften in Ver—
bindung mit Gletfcherbildung bedingt ift. Die dalmatinijche Küftenzerfplitterung
it aber hervorgebracht durch allmälige Senkung eines Gebirgslandes mit vielen,
von NW. nah SD. ftreihenden Thälern. Das ganze Gerippe war fertig,
ehe die Senkung begann, an der Tiordkirfte [aber beginnt die Spaltung umd
Ablöfung erft mit der Hebung. Durch diefe Betradhtung wird uns das dal-
matinijche Küftenland eine geographiiche Individualität. Sie ift in Folge ihrer
Entjtehung reih an Häfen, an Zufluchtsorten für die Schiffe; deswegen hat
aber auh im Mittelalter bier die Piraterei wie kaum irgend wo geblüht.
Die gegenüberliegende italifche Hüfte ift mit Ausnahme des den Sporn am
Stiefel bildenden Monte Gargano fund der Umgebung von Ancona ziemlich
flah und ſeit Jahrhunderten in allmäliger Erhebung, die in der befannten
Thatſache ſich ausdrückt, daß Städte, die noch im Beginn des Mittelalters
Dalmatien. 233
nahe am Meere lagen, wie Rimini und Ravenna, zu Landftädten geworben.
Brindifi, Brundufium der Römer, ift zwar noch heute ein Hafen, der fich aber
in Folge der Hebung jehr verichlechtert hat. Man iſt jeit einigen Jahren dort
mit der Ausgrabung neuer Becken und Dods beihäftigt, und ich konnte 1870
beobachten, daß die jetzige Küfte zu einem großen Theile aus den abgelagerten
Reiten von Seethieren befteht, alſo einftiger Mteeresboden ift. Doch wir fehren
auf die andere Seite der Adria zurüd und vervollftändigen unfere Kenntniß
de3 die Phyfiognomie des Landes bedingenden Skelett durch die Beobachtung,
daß jeine Maſſe dem Goridefalfe angehört. Auch der, zwiſchen der eigentlichen
Greide und den älteften Tertiärformationen eingefjhobene Nummulithenkalk ift
ftellenweije jehr ftarf vertreten, 3. B. bei Sebenico. Die Nummulithen oder
Münzfteine find die, Kleinen Münzen an Umfang gleihenden Schalenreſte ge—
wiſſer niedrigjter Thiere, die einft in jo ungeheuren Mengen eriftirten, daß fie,
zu Boden geſunken und durch einen Schlamm verfittet, das Material zu diden
Schichten einer jehr harten Felsart wurden. Aus jpäterer Zeit erwähnen wir
die tertiären Kohlenlager de3 Monte Promina, einige Meilen von Sebenico,
deren Ausbeutung eben jet ernftlich in Angriff genommen werden fol, ferner die
Diluvial- und Alluvialablagerungen in der Ebene von Cnin und im Thal und
am Ausfluß, der Narenta.
MWegen jenes zur Küfte parallelen Streichens der Gebirge gehört die Fluß—
entwidelung jenfrecht zur Küfte zu den Ausnahmen, und die dem Greidefalt
ganz bejonders eigene Zerklüftung ift überhaupt der Anfammlung de3 atmo-
ſphäriſchen Waflers‘ höchſt ungünftig. Es rächen ſich Hier die Sünden ber
waldverderbenden Vorfahren auf furchtbare Weile. Denn es war einft anders,
als Wald, Unterholz und Mtoosdede den das Waſſer Haltenden Schwamm
bildeten und Feſtland und Inſeln ſich des üppigften Ausjehens freuten. Die
Wald- und ftellenweile yänzliche. Begetationslofigkeit reicht vom nördlichen
Dalmatien bi3 zum Meerbufen von Gattaro; nur einzelne Dajen, der Walb-
beftand der Inſeln Gurzola und Lacroma erquiden vorher da3 Auge. Dann
wieder zwijchen Raguſa und der Bocca ift eine grauenvolle Felſenwüſte, deren
Schreckniſſe und melancholiſches Ausjehen nur dur die vollkommen kahlen,
im Sonnenſchein wie Schnee glänzenden Hochgebirge Albaniens übertroffen
werden. Wenn man in Corfu vom Gipfel des Monte Deca auf den unver-
gleichlich üppigen Garten diefer Phäakeninjel und weiter über die Meerenge auf
die in der Abendjonne violett Teuchtenden albaneftichen Alpen blict, jo hat man
in dieſer vollfommenften Landichaft, die ich gejehen, die jchroffiten Gegenſätze
vereint. Der Farbencontraft ift ein fo auffallender, daß von alteräher die
dichter bewaldeten Punkte damit bezeichnet wurden, womit zugleich bewieſen ift,
bat die Entblöhung ſchon vor Jahrtauſenden begonnen hat. Kerkyra melaina,
die Schwarze Kerkyra, hieß die Inſel Eurzola, die noch heute wegen ihrer, wenn
auch ſchon ftark gelichteten Kiefernwälder (Pinus laricio) auf diefen Namen
Anspruch Hat, und noch heute erhebt ſich über Gephalonien das Haupt des
Monte Nero, des ſchwarzen Berges, von dem man auf das ſchon zu Alyſſes
Zeiten von der Ziege kahl gefrefjene Theaki, Ithaka, hinabfieht. Ueberall aber,
wo man in dieſen jüdlichen Küftenländern noch Kleine Waldbeftände antrifft,
234 Deutihe Rundſchau.
muß man mit Ingrimm Zeuge fein der finnlojeften und barbariſchſten Aus-
rottung dieſer Refte, wie mein Freund und Reifegenofje, der Botaniker Unger,
in feinen Reifewerfen und den botanijchen Streifzügen auf dem Gebiete der
Culturgeſchichte dargeftellt hat. Wir haben und die ganze Küfte bi3 Griechen-
land hinunter einſt bedeckt zu denken, die höheren Streden mit Waldungen jener
ſchon genannten Kiefer und der Steineihe, die niedrigeren Strandgegenden
mit der Strandfiefer. Von der lebteren ift auf dem lieblichen Eiland Lacroma
bei Raguja noch ein Bejtand, ein Baum, der durch jeine dünnen, langen, hell-
grünen, loder ftehenden Nadeln und die zahlreichen feineren Verzweigungen der
Hefte ein ſehr Lichtes, Fast durchfichtiges Anjehen gewinnt (Unger), und bei
leiſem Luftzuge ein ganz eigenthümliches Säufeln hervorbringt. Daß die erften
Anfiedler, um Raum für ihre Anpflanzungen zu befommen, an die theilweije
Ausrottung diefer Wälder gingen, ift Klar, zeigen doch die älteften griechiichen
Münzen da3 Haupt der Gere und den Meinbecher. Auch da& die jchiffahrt-
fundigen Männer nicht jparfam mit dem Bauholze umgingen, ift begreiflid;
ihnen half mit der ihr eigenthümlichen Rüdfichtslofigkeit ihre Begleiterin, die
ebenfall3 auf den älteften Münzen verewigte Ziege. Das Zerftörungswerk ift
bis jetzt ununterbrochen im Gange geblieben. Wa3 Unger von Leſina jagt, gilt
für alle jene Hüften. Er macht auf den Holzbedarf für den Fiſchfang auf-
merkſam, nämlich) beim Stechen mit der vierzinfigen Gabel bei Kienfeuer, auf
die durch grenzenlojen Leichtfinn hervorgerufenen Waldbrände, wovon wir auf
Gephalonien nur zu ſprechende Spuren ſahen, auf das barbariſche Entrinden
der jungen Bäume behufs Gerbung und Feſtigung der Nebe, endlich) auf das
Kalkbrennen, wozu man die legten Stümpfe und Wurzeln ausrodet.
Wie gejagt, ift ſchon im Altertum der Weinftod für den Waldbaum an-
gejiedelt und mit ihm auch der Delbaum. Das erſtere Gewächs verlangt
unausgejegte Pflege; für geringere Mühe der Loderung des Boden? und des
Beichneidens jpendet der Delbaum jeinen Segen. Er ift in Dalmatien allent-
halben angepflanzt, wo nicht die Sorglofigkeit der früheren Bewohner das
foftbare Erdreich) ganz in’3 Meer Hat ſchwemmen laſſen, doch ift er weniger
al3 die verdrängten Nadelbäume zu einem farbigen Vegetationsbilde geeignet.
Nur in Eorfu habe ich Delhaine gejehen, von hoben, jchattengebenden Bäumen
gebildet, deren jeder dem Maler al3 Studie dienen konnte, und wie fie wol
jenen heiligen Hain zujammenjegten, in den Sophofles den lebensmüden
Dedipus eingehen läßt. Meift aber bietet der Delbaum einen projatichen
Anblick. Don jpäteren Eindringlingen in unſer Land können wir noch der
Aloeftaude gedenken, die auf Lejina jo üppig gedeiht, daß fie auf dem Feſtungs—
berge ein natürliches Verhau bildet, jo wie einzelner Palmen, die zu venetia-
niſcher Zeit in die Gärten gelommen zu fein fcheinen. Wenden wir uns aber
wieder der gemißhandelten Natur zu, jo tritt unter der Iparfamen Straud)-
und Geftrüppvegetation einiger Diftricte, namentlich) von Lefina, der Rosmarin
hervor. Schon wenn man fich diefer bevorzugten Inſel nähert, bringen die
Lüfte auf eine halbe Meile das ftarfe Aroma des Rosmarin entgegen, de3 mit
dem jchlechteften Boden vorlieb nehmenden Wunderfrautes, wie Unger jagt,
„das dem Landmanne in feinem Nothftande noch Glück und Segen verheißt,
Dalmatien. 235
zumal ihm die Cultur defjelben feinen einzigen Tropfen Schweiß abnöthigt.”
Man jchneidet Ende Mai die zwei» und dreijährigen Zweige ab und deftillirt
auf rohe Weije aus den getrodneten Blättern das ätherifche Del, deſſen Ertrag
fih für die Stadt Lefina auf jährliche 30,000 Gulden beläuft. Der wichtigfte
Verbrauch de3 in Trieft eingeführten Rosmarindles befteht darin, daß man das
für techniſche Zwecke beftimmte Olivenöl damit ungenießbar macht zum Zwecke
der Steuerherabjeßung. Ich könnte noch einige vereinzelt vorlommende Bäume
nennen und Gefträuche, welche ftellenweife, wie auf der vorgejchobenen Inſel
Lagofta, undurchdringliches Geftrüpp bilden. Es geht ſchon aus dem Gejagten
hervor, daß die jparfame Vegetation die Abhänge und Thäler nur mit dürftigem
Schleier bededt und ihnen, zumal wenn die höhere Sonne gewirkt hat, kaum
eine andere Yarbe gibt, ala das Weißgrau des act bis dreißig und vierzig
Fuß breiten, völlig nadten Strandgürtels. Wandert man in der ſchweren Mittags»
gluth über die fteinigen Pfade hin, jo will fich nichts recht zu einem erfreulichen
Bilde geftalten,; geht aber die Sonne zur Rüfte, dann verwandelt fi) das fahle
Antlitz, das die Landſchaft bis jetzt gezeigt, in eine Farbenpradht jonder Gleichen.
Sie erglüht in Roth und allen Tönen von Gelb und Violet, und dieje die
Landpartien umfleidenden Farben vereinigen ſich mit der Abendbläue des viel-
zerjtückelten Meeres zu einem wunderbaren Gejammteffect. Dalmatien, das ic)
früher häßlich genannt, ift daher auch von Malern, wie Hildebrandt, für ihre
großen Tarbenbilder bejucht worden, und da die Configuration von Berg und
Meer an manchen Stellen, wie bei Sebenico, Lefina, Raguſa, auch der Bergfeſte
Cliſſa hinter Spalato, der Compoſition äußerſt günftig find, jo wetteifern dieje
Landichaften mit den berühmteften Farbenbildern, zu denen ägyptiſche Studien
den Vorwurf gaben. Ich habe aber einen Punkt Dalmatien? noch nicht
erwähnt, der für fich eine Reife lohnt: die Bucht von Gattaro.
Hat man Ragufa mit feinen ſchönen Umgebungen hinter fi, jo erjcheint
die einförmige, hier infellofe Küfte wie ausgeftorben. Sie erhebt fi) mehr und
mehr, bi3 einige gewaltige, iiber 5000 Fuß hohe Kuppen die Nähe von Gattaro
und dem dahinterliegenden Montenegro anzeigen. Das Schiff biegt um eine
mit einem Feſtungswerk gefrönte Landipie, Punta d'Oſtro, und wir befinden
uns dem Städtchen Gaftelnuovo gegenüber. Der Kriegsdampfer, auf welchem
ich zulegt 1870 die Bucht befuchte, anferte bei dem Flecken Meligne, von wo
ein quter Reitweg längs des fteilen Geftades ſich hebend und jenfend nad)
Gaftelnuovo führt. Ungefähr halbwegs Liegt, einige hundert Fuß hoch, ein
Klofter, von deſſen Kirchhof aus man eine entzüdende Ausſicht landeinwärts
bi3 zu den über Gattaro aufjteigenden Bergen hat. Auch die nächften Um—
gebungen find bedeutend und wegen lleppigkeit des Pflanzentwuchjes von an—
iprechendfter Lieblichkeit. Zwilchen KHlofter und Stadt ift hochſtämmiger Eichen-
wald, welcher reizende Durchblide auf die Bai und weiter hinaus auf das offene
Meer gewährt. Gaftelnuovo ift an und zwiſchen die Felſen geklebt, und wie—
derum war e3 die Ausficht aus einem von den Officieren der Garnifon mit
Beichlag belegten Kaffeehaufe, von dem wir Reifegefährten uns nur ſchwer
trennten. Von den nadten Bergen im Norden wird die Hüfte durch ein jchönes,
wegjames Thal getrennt, doch durften wir die Befteigung derjelben nicht unter-
236 Deutiche Rundichau.
nehmen, ohne Gefahr, ausgeraubt zu werden. Der großartigite Theil des tiefen,
vielgewundenen Meerbufens ift aber der Hintergrund, in welchem Gattaro Liegt,
und von wo aus man zurüdgebogenen Hauptes die Zichzackſtraße nad) den
ſchwarzen Bergen hinauf verfolgt. Um die Bekanntſchaft der montenegrinijchen
Barbaren zu machen, braucht man fie nicht in ihrer Hauptftadt Gettinje auf-
zuſuchen; fie fommen in Schaaren zu Markt nad) Gattaro. Holz, Hühner,
Schafe werden von den Weibern mühſam geichleppt und getrieben, während der
Gemahl ſchmauchend und mit Waffen geipidt nebenher reitet. Sie nehmen auf
einem Pla vor dem Thore für ihre ärmlichen Erzeugnifje allerhand Producte
der Givilijation in Empfang, und wer fi unter fie begibt, trägt oft außer
einem unauslöſchlichen Eindrud lebendige Andenken von den montenegrinijchen
Räubern und ihren Damen davon. |
Wir vervollftändigen nun, unjere Schilderung, die bis jetzt faſt ausſchließlich
der Natur gegolten, indem wir den Charakter einiger weniger bemerfenswerthen
Städte zu jlizziren verſuchen. Wir halten uns nicht bei Zara auf, das zwar
einige ſchöne und intereffante Kirchen, auch Feſtungswerke und eine pradhtvolle
Gifterne aus der venetianifhen Blüthezeit befitt, ſonſt aber modern erſcheint
und troftloje Umgebungen hat. Dagegen ift Spalato, ein Name, hervorgegangen
aus palatium, Palaft, rei an römiſchen Bauten; denn der größte Theil diejer
ziemlich volfreichen Stadt ift in den Ruinen de3 Prachtbaues enthalten, den
Kaijer Diocletian, ein Dalmatiner, fi für jeine letzte Lebenszeit ſchuf. Die
halbe, dem Meere zugekehrte Front der Stadt ift die ehemalige Mauer des
Hauptgebäudes, die zum Theil unverjehrt, zum Theil eingerifjen und zu Fenſter—
niſchen und Gaffenöffnungen zurecht gemacht if. Mehrere Thore des Palaft-
complere3 dienen noch heute als Stadtthore; im Tempel des Jupiter mit präch—
tigem Säulengang unter einem ebenfall3 nod erhaltenen jäulengezierten Hofe
wird jeit einem Jahrtauſend zum Chriftengotte gebetet, und ich jah den bunteften
Frohnleichnamszug ſich über diejelben Steine und nad) derjelben Opferftelle
beivegen, wo die römijche Kaijerwelt ihren Pomp entfaltet. Die Zujammen-
fegung dieſes Zuges war jehr merkwürdig. Voran eine Militärcapelle und
Soldaten, Kleine Kinder, dann Mönche, Geiſtliche und unter dem goldgeftickten
Baldahin der Bilchof, eine Sammlung von intereffanten Phyfiognomien. Hinter
ihnen die befradten Magiftratsperjonen und die öfterreihiichen Staatsbeamten
in Uniform, an welche ſich ein endlofer Zug von Bürgern, Brüderfchaften zum
Theil mit vermummten Gejichtern, Mädchen und Knaben, welche Heiligenbilder
auf Tragbaren jchleppen, morlakiſche Landbewohner in höchſt maleriſcher Tracht
anſchließen.
Wir verlaſſen ſie, um noch einen Weg nach dem faſt eine Meile landein—
wärts gegen den Paß von Cliſſa zu liegenden Ruinenfelde von Salona (Martia
Julia) zu machen, auch eine Schöpfung der diocletianischen Zeit. Man kann
die Wafferleitungen und Mauern ftundenlang verfolgen, und e3 bedarf wol nur
nachhaltiger Ausgrabungen, um ſchöne Refultate für die Alterthumskunde zu
erzielen. Die tiefe Bucht, welche von Traurion, dem heutigen Trau, ſich bis
Salona erftredt, jebt verihlammt, war einjt ein trefflicher Hafen und machte
da3 üppige, fi) an hohe bewaldete Berge anlehnende Salona zu einer der wich—
Dalmatien. 237
tigften Städte des jpäteren römiſchen Culturlebens. Weiter oben Pola, ımten
in Albanien Dyrrhachium, jegt Durazzo, find Zeugen der geſchwundenen Größe.
Gehen wir in die Jahrhunderte der Kreuzzüge, jo verdankt ihnen das ober:
halb Spalato liegende Sebenico feine heutige Geftalt. Wer nur einige Stunden
in diejer Stadt fid aufhält, welche, von mehreren venetianischen und napoleonifchen
Forts umgeben, in einem höchft merkwürdig geformten Meeresbecken liegt, meint,
das ganze Land habe feine Bettler und Krüppel Hierher gefendet. Indeſſen
überzeugt man fi) bald von einem gewiſſen Wohlftande der gewerbfleigigen und
Del» oder Weinhandel treibenden Stadt. Sie war ein wichtiger Sit ber
Templer, und der prächtige, theils gothiſche, theils im älteren Renaiffanceftil
ausgebaute Dom und die zahlreichen geiftlichen und ritterlichen Wappen über
den Thoren jehr jolid und hochgebauter Häufer mit ftilvollen Fyenftern und den
eleganteften Freitreppen belehren uns über eine reiche Periode, während welcher
ber Krummſtab und die ihm holden Schwerter der geiftlichen Ritterorden hier
unumſchränkt walteten, freilich oft gedrängt von der See her durch die Türken,
von der Landjeite her durch die Groaten. Man erreiht von Sebenico in einigen
Stunden die berühmten Wafjerfälle der Cerka, die an ſich ſchon jehr impofant
find und noch mehr im Gontraft zur denkbar ödeften Umgebung wirken.
In die jpätere Herrichaft über einen großen Theil Dalmatiens theilten fi
die Republiten Ragufa und Venedig. Raguſa, von geringem Umfang, hat mit
großer Schlauheit fi bis zur Napoleoniihen Herrſchaft zu erhalten gewußt,
und die Stadt bietet in ihrer heutigen Geftalt wol fo ziemlich das Ausfehen, wie
e3 vor einigen Jahrhunderten war. Zwar der große Canal, der einft die Stadt
durchſchnitt und die Galeeren und Kauffahrer trug, ift zugeichüttet und zur
fahrbaren Hauptftraße geworden, aber noch arbeiten zahlreiche Goldſchmiede in
den Werfftätten, von wo aus fie einft die Waare unmittelbar in die Schiffe
reihen konnten, und überhaupt macht das prächtig gelegene Ragufa unter den
balmatinifchen Städten den Eindrud der relativ größten Wohlhabenheit und
Behaglichkeit. Wir dürfen auch annehmen, daß wie heute, fo zu den guten
Zeiten der Republik Landhäufer in üppigen Gärten den Weg längs der Steil-
füfte bis zu feiner Senkung nad) der lieblihen Bai von Gravofa ſchmückten.
Abgeſehen von Ragufa begegnen wir nun in allen dalmatinifchen Städten
und Fleden den Zeichen der venetianiichen Herrichaft; two es irgend ſchicklich,
richtete fie ihr Wahrzeichen, den Löwen bes heiligen Marcus, auf. Zum Schube
gegen Groaten und Türken wurden die Städte neu umwallt, an wichtigen
Engen am Ufer, auf dominirenden Höhen Feſtungswerke angelegt, und unter
deren Schuß erjtanden bie zierlichen Häufer und Paläfte des befannten Stiles.
Ein wichtiger Punkt venetianischer Niederlaffung war wegen des ſchönen Hafens
die Stadt Lefina, und an diefe Periode erinnert eine Reihe theils unveriehrter, teils
in Ruinen liegender Bauwerke. ch weiß von dem Verhältniß diejer einftigen
Herrlichkeit zu heute kein befferes Bild zu geben, als wenn ich befchreibe, wie ich
dor zwanzig Jahren, als ich zum erften Male auf qutes Naturforicherglüd nad)
Lefina reifte, dort einquartiert war. Es ift indeh ſchwer, fidh eine Vorftellung
von der Locanda zu machen, nad) welcher mich und meinen Gefährten einer der
in Dalmatien immer vorhandenen Herumlungerer führte, indem ſich daran die
238 Deutſche Rundſchau.
Geſchichte des Diocletianspalaſtes im Kleinen darſtellt. Unſere Locanda war
einft ein venetianiſcher Palazzo geweſen. In den vernachläſſigten und zum
Theil eingeftürzten Mauern des ſchönen Kaufmannshaufes hatten die Epigonen
mit Benußgung der ftehen gebliebenen Ruinen eine Wohnung zujammengeflickt,
oder, was auf dafjelbe hinauskommt, man hatte die Ruinen bewohnbar gemacht,
hier einige Bogenfenfter vermauert, dort eine ungeſchickte, fenfterähnliche Luke
in die Mauer gehauen, innerhalb der Ruinenmauern neue plumpe und unſym—
metriſche Mauern aufgeführt, daneben aber gelafjen, wa3 man von der Ruine
nicht. hatte als Baumaterial verwenden können. Und das gab unjerer Stube
einen romantijchen Anſtrich. Sie war niedrig und jo ſchlecht gedielt, daß wir
uns mit den im unteren Gemache befindlichen Wirthsleuten unterhalten konnten.
Aber blickten wir durch das eine, nach der Piazza hinausgehende Fenfterchen,
fo mußten wir zugleid) durch ein breites prächtiges Fenſter der Ruine ſchauen,
da3 von den Töchtern des Haufes als Altan benußt wurde. Natürlich richteten
fih die Venetianer auch ihre Landhäufer nach italienischer Weije ein, wovon
gerade wieder Lefina eine Menge von Andenken zeigt. Jene Veranden und
Laubgänge, von zierlicden Säulen geſtützt, wie man fie in Venedig in den Heinen
verſteckten Gärtchen fieht, fie finden ſich auch in Lefina, faſt durchweg im höchſten
Derfalle.. Wenn ich aber mit meinem Gajtfreunde, dem trefflichen Pater Bona
Grazia, in jeinem Kloftergarten am Mteeresftrande wandelte, der Mond die
Mängel der Terraflen und Säulengänge mild verflärte und den untadelhaften,
unverlegten Bau de3 luftig durchbrochenen Kloſterthurmes jchön hervorhob, oder
wenn ich mit ihm und andern Freunden auf dem Markte mich erging, im
Hintergrunde den ftattlihen Dom, auf der einen Seite die von Meifter San—
micheli erbaute Loggia, auf der andern das venetianifche Zeughaus mit Frei—
treppe, vor uns den Hafen, jo konnte man ſich wol in die Zeiten der venetia-
niſchen Herrlichkeit lebhaft zurückverſetzen.
Die Ylufion mußte verſchwinden, wenn id mit Bona Grazia in unfere
Glaufur zurückkehrte. Zwar mögen auch früher, wie das jet Morgens und
Abends geihah, die Mägde der Stadt aus der unerſchöpflichen Ciſterne des
Klofterd unter Aufficht eines Fraters das Trinkwaſſer geihöpft haben, zwar
werden auch jonft die Brüder, wie der einzige, der jebt dem Prior Bona Grazia
zugefellt war, ihre Beinkleider und Kutten ausgebefjert haben. Aber wenn id)
dann, ehe ich mich in meine primitiv eingerichtete Zelle zurückzog, meinem Gaft-
freunde deutſche Studentenlieder mit Begleitung auf einem ungeftimmten alten
Spinet vortrug, jo war da3 ein Fräftiges Memento der Gegenwart.
Und was ift num überhaupt aus der faft immer von fremder Neberfluthung
außgebreiteten Bevölkerung getvorden? Bleiben wir zunächft bei der ftädtijchen.
Nur auf fie hat die venetianische Herrſchaft einen entjchiedenen Einfluß geübt;
ja, fieht man von vereinzelten Erjcheinungen der Pflege jlavifcher Literatur ab,
fo ift, was bis jet in der neueren Zeit von Bildung in Dalmatien vorhanden,
ausſchließlich italienifches Pfropfreis. Die Städtebevölferung ſpricht italienisch,
und zwar find, wie die Familiennamen beweijen, nur verhältnigmäßig wenige
venetianifche Familien Hier jeßhaft geworden. Die Dalmatiner der Städte
nahmen die italieniſche Cultur an; nicht wenige haben in neuerer Zeit an der
Dalmatien. 239
italieniichen Literatur und Wiſſenſchaft mit gearbeitet, und ein Theil der
Profefforen in Pavia und Padua waren Dalmatiner, Gegenwärtig gibt es
jedoch nur eine Keine Partei der Italianiffimi, welche nicht blos die Ueber—
legenheit der von drüben gelommenen Gultur anerkennt, jondern aud mit
politiihen Sympathien an alien hängt und die chimäriſche Hoffnung auf
Einverleibung in das geeinigte Jtalien nährt, wovon aber der größere Theil
der Städtebewohner und die Landbevölterung nichts wifjen wollen. Denn jeit
einigen Jahrzehnten ift die Pflege der illyriſch-ſlaviſchen Nationalität in ben
Städten mit Vorliebe getrieben worden, und hierbei ift ganz bejonders bie
Geiftlichkeit betheiligt. Noch herrſcht in den ftädtifchen Schulen die italienische
Unterrichtsſprache, allein das Schickſal derjelben unter dem Einfluß des Slavismus
jcheint befiegelt. Man wird fragen, wie man denn in den dalmatinijchen
Städten lebt? Einförmig, wie überhaupt im Süden, einige große Verkehrs
centren ausgenommen. Der Mittelftand ift meift färgli daran, nährt ſich
ſehr mäßig, nach unjern Begriffen faft kümmerlich; die Männer verfiken viele
Zeit im Kaffeehaus und Frauen und Mädchen, zu Haufe oft weniger als einfad)
gekleidet, kommen nad) Sonnenuntergang zum Vorſchein zu einer etwa ein-
ftündigen Promenade in der Stadt, dem Corſo. Die größeren der früher
genannten Städte werden auch zu verichiedenen Jahreszeiten durch Oper und
Schauspiel unficher gemaht, wohin Alles eilt, was eine Loge oder einen Platz
erihtwingen kann. In den Hleineren Städten fpielen die religiöfen Feſtlichleiten
eine große Rolle, wie ja auch in Italien die meiften reellen VBergnügungen des
Volkes ſich an die Ehrentage der Heiligen anſchließen. Zwar ift, was Dalmatien
bietet, immer nur ein Abglanz italienischen Feſtgetümmels, und wer etiva in
Neapel einen ſolchen Höllenlärm mit durchgemacht hat, wie fie ihn mit Feuer—
werk, Kononenſchlägen und gräulicher Muſik außerhalb und innerhalb der Kirchen
zur Ehre Gottes aufführen, erfährt auf der gegenüberliegenden Küſte nicht viel
Neues. Aber es ift noch nicht lange ber, daß in Dalmatien ein wirklicher
Menſch bei der Auferftehungsicene Chriftus darftellte.
Man erlaube, da ich einmal von diefen an das Heidenthum erinnernden
Mißbräuchen und Sitten des Südens jpreche, daß ich eine cannibalifche Chriften-
thumsſcene jchildere, deren Zeuge id in Corfu war. Ich hielt mich dort zum
griehiichen DOfterfeft auf. Mit Samftag 11 Uhr follte die ftille Woche ihr
Ende erreihen, und ih war gewarnt, zu diejer Stunde auf der Straße
zu fein, weil man ba leidht verunglüden könnte. So beichränfte ih mich auf
die Ueberſicht einiger Straßen aus dem Fenſter. Mit dem Nahen der elften
Stunde trat an jede Hausthür der Hausvater oder jonft ein Hausgenoſſe mit
einem Schlachtmeſſer und einem Lamm, dad er an ben Hinterbeinen an dem
Pfoſten aufhing. Kaum ertönte der erfte Glodenichlag, jo war auch ſchon
jämmtlichen Opfern der Leib aufgeriffen und über jeder Thür mit dem rauchenden
Blute ein Kreuz gezeichnet. Zugleich aber ſchoß Jung und Alt unter furdht-
barem Jubelgeichrei aus den Fyenftern, auf Plätzen und Straßen, Töpfe wurden
aufs Pflafter geworfen, kurz, man glaubte unter einer plötzlich wahnfinnig
geivordenen Bevölkerung ſich zu befinden, bis die noch lebenswarm auf den Roft
gethanen Ofterlämmer das wüſte Treiben jänftigten.
240 Deutiche Rundſchau.
Da war dod) ein anderes Opferfeft harmlojer und reiner, das und wieder
nad Dalmatien zurüdführt. Ein junger, vor Kurzem geweihter Priefter hatte
die Faftenpredigten zur großen Befriedigung feiner Stadtgenofjen gehalten. Am
erften oder zweiten Feiertage, id) entfinne mich nicht genau, wurde er mit Muſik
und im großen Feſtzuge aus der Kirche nad) dem elterlichen Haufe geleitet,
wo wir Reijegenoffen uns mit den Honoratioren al3 geladene Gäfte befanden.
Allgemeines Glüdwünjhen und Händedrüden; ſüße Weine und Confecte wurden
von den Schweftern und Freundinnen des gefeierten Prediger herumgereicht,
und ein luſtiges Tanzvergnügen hielt uns bis tief in die Nacht beifammen.
Don den Städtern hebt fi am jchärfiten die morlakiſche Landbevölterung
ab, die nad) Lebensweife und Tracht offenbar ſchon jeit Jahrhunderten, in
manchen Dingen wol jeit zwei Jahrtauſenden ftationär geblieben. Ich meine
nämlich, daß die vom jechsten Jahrhundert an zunehmende ſlaviſche Invaſion
der alten liburniſch- illyriſchen Bevölkerung nicht ihr Gepräge genommen,
fondern im MWejentlichen in ihr aufgegangen ift. Auch die Landbewohner
der joniſchen Inſeln als Pfleger der Rebe und de3 Delbaumes haben mir
diefen Eindrud gemacht, und ich möchte behaupten, daß die Bundſchuhe, der
Reiſeſack und alle jene aus Schaf» und Ziegenhaar jelbjtgefertigten Kleidungs—
ftüde von den griehijchen und römiſchen Zeiten an bis jetzt faft unverändert
geblieben find. Auch auf die Werkzeuge des MWein- und Ackerbaues bezieht ſich
diefe Bemerkung; die kurze, ſchwere Hade, die Hippe, der Pflug, fie find diejelben,
wie zu Homer’3 Zeiten. Aus den albanefifchen Töpfereien habe ich Krüge mit-
gebracht von der edelften und zierlichften antiken Vajenform. Und wenn man
in Spalato und Sebenico die morlakiſchen Bauern den diden rothen Wein im
Schlau, d. i. in dem wieder zugenähten und zugebundenen elle des Schafe:
und der Ziege, zu Markte bringen fieht, jo hat man aud) ein Stüd Alter-
thums vor fi. Mit jolch’ älterer Ueberlieferung hat ſich aber ein gut Theil
türkiſchen, überhaupt morgenländiichen Weſens gemiſcht. Man fieht häufig um
die allgemein gebräuchliche rothe Kappe ein Tuch zum Turban gewunden. Bon
dort her ftammt die Liebe für Dolce, Piftolen und lange Flinten; Sattel,
Zaum und jehwere, bunte Steigbügel weijen ebenfalls nad) Often. Wohin id)
aber einen Hauptjtolz der morlakiſchen Männer thun ſoll, den dien und langen
Zopf, weiß ich nicht. Den Bart nehmen fie fich bis auf den Schnurrbart ab.
Faſt ausnahmslos hochgewachjene, wohlgebaute Geftalten von kühnem Geſichts—
ſchnitt, find fie die Rachkommen jener Illyrier, welche einen der wichtigften Beſtand—
theile der römiſchen Kaiſerheere bildeten.
Weit minder fallen die Bewohner der Küften und Inſeln auf, die neben
dem Ertrag des Bodens auf die Früchte des Meeres angewiejen. In langer Be-
rührung mit den meerauf, meerab, herüber und hinüber ziehenden Nationen tragen
fie den Typus ihrer tiefer im Lande ſitzenden Brüder nicht mehr fo rein an
der Stirn und Haben die meiften Gigenthümlichkeiten der Tracht abge-
legt. Dennod ſprechen auch fie meift nur ſlaviſch, wenn nicht der Verkehr
mit der Stadt oder Schiffsdienft fie italienifch gelehrt hat. Es verfteht fich
von jelbit, daß jeder am Meere liegende Hof einen Theil des Lebensunterhaltes
dem Meere abgewinnt. Im Allgemeinen aber bietet daS Meer viel mehr dar,
Dalmatien, 241
al3 man ihm abnimmt, und auf der anderen Seite ift die unfinnige Fiſcherei
mit dem großen, engmajchigen Netze die Urſache, daß Millionen der jungen Fiſch—
brut zerjtört werden und ftellenmweife über Mangel an werthvollen ausgewachjenen
Speijefiichen geklagt wird. Nur einzelne Diftricte zeichnen fich durch befondere
Snclination zur Fiſcherei und peciellere Filchereiarten aus. Im Bezirk von
Lefina und Liſſa liegt man vom Mai bis Auguft dem Sardinenfang ob. Die
großen, Eoftipieligen Nebe befinden ſich im Beſitz von Genoſſenſchaften, welche
in ruhigen, aber dunklen Nächten bei Feuerſchein den Yang betreiben, der leider
nicht jelten geftört wird, wenn eine Schaar ungefüger, den Sardinen nachziehender
Delphine in die Netze geräth, diefe verwirrt und zerreißt. Eine andere Specialität
betreibt die Genofjenjchaft der Schiffer von Zlarin unweit Sebenico. Sie rüften
ihre Boote zur Gorallenfiicherei, welche aber erſt zwijchen den jonifchen Inſeln
ettva3 ergiebig wird, jedoch auch hier nicht concurriren kann mit derjenigen an
der Küfte von Tunis und Algier.
Die originellfte Zunft ift die der Schwammfiſcher der Kleinen Inſel Crapano.
Man begegnet ihren Booten während der guten Monate von Yftrien bis Gurzola ;
am häufigften aber findet fi) der Badeihwamm an den Inſeln von Sebenico
bi3 zu den ſpalmadoriſchen Telfeneilanden oder Scoglien bei Leſina. Ein jedes
diefer Fahrzeuge ift mit zwei Fiſchern bejeßt. Der eine, im Hintertheile ftehend,
das Geficht nach vorn gewendet, hantirt mit zwei langen Rudern, welche auf
feitlih über den Bord hinausragenden Gabeln ruhen, und womit der Mann
dem Boote äußerft feine Wendungen und Bewegungen zu geben verfteht. Der
andere biegt ſich aus einer vieredfigen Vertiefung des vorderen Dedes über Bord,
jo daß jein Gefiht faum einen Fuß über dem Wafjerfpiegel ift, und jpäht
icharfen Auges nach dem erjehnten Naturerzeugniß, welches in einer Tiefe von
etwa 6 bi3 30 und 40 Fuß am häufigften vorfommt. Es bedarf eines ſehr
geübten Auges, den brauchbaren Badeihwamm von den jogenannten wilden
Schwämmen zu unterjheiden, und ich bin wiederholt Zeuge gewejen, wie ein
folder von dem betrogenen Fiſcher mit großem Aerger wieder feinem Elemente
übergeben wurde. Beide befiten im natürlichen friichen Zuftande eine glänzende
ſchwarze Oberhaut, welche beim Badeſchwamm etwas matter ift und zahlreichere
kleine Kuppen und Erhabenheiten zeigt. Hat der Späher einen Schwamm ent-
deckt, jo ſenkt er eine vierzadige Lanze, deren er immer mehrere von verjchie-
dener Länge über fih auf einigen an Bord befeftigten Holzgabeln liegen hat,
in’3 Waſſer, ein Zeichen für den Genofjen, ftill zu halten und je nad) den Zu-
rufen des Harpunierd jo zu manövriren, daß der letztere möglichſt jenkrecht über
dem Schwamme fteht. Es gehört ficher eine lange Uebung dazu, aus einiger
Tiefe den Schwamm heraufzuholen, bejonder3 bei etwas beivegter See. In
dieſem Falle jpritt der Fiſcher, während er jpäht, etwas Del auf das Waſſer.
Indem ſich diejes ungemein jchnell zu einer unmeßbar feinen Schicht ausbreitet,
hindert es die Bildung Kleiner, fich kreuzender und den Blick in die Tiefe er-
ihwerender Wellen. Das Schaufpiel diejer Beruhigung und Glättung der Ober-
fläche, welches ſchon den Griechen und Römern bekannt war, macht einen wun—
derbaren Eindrud. Endlich ift der Schwamm angefpießt, und das ſchöne ſchwarze
Gebilde wird möglichft behutſam, um e8 vor Zerreigungen zu — von
Deutſche Rundſchau. 1,11.
— ——
242 Deutſche Rundſchau.
dem Widerhaken losgemacht und in's Boot geworfen. Iſt das Einſammeln
beendet, ſo rudern die Fiſcher an's Ufer und drücken, quetſchen und treten die
erbeuteten Schwämme ſo lange, bis die das Horngerüſt erfüllende klebrige und
dickflüſſige Subſtanz gänzlich entfernt, ſowie die ſchwarze Oberhaut abgeſchält
iſt. Ein mehrſtündiges Liegenlaſſen in ſüßem Waſſer erleichtert dieſen Proceß
und verleiht dem Schwamme diejenige Reinheit, welche ſeine allſogleiche An—
wendung bei der Toilette geſtattet.
Wem dieſer Fang nicht gefällt, und er iſt in der Sonnengluth anſtrengend
genug, ſei zu einem anderen Sport eingeladen. Wir haben uns auf einige Tage
bei unſerm treuen Freunde, dem katholiſchen Prieſter Don Giacomo Boglie
auf jeinem Landgute Milna an einer Heinen Bucht von Lefina einquartiert, um
zu baden, zu mikroſkopiren, zu fiſchen und halb italieniſch, Halb lateiniſch zu
converfiren. Am Abend vorher hat Don Giacomo, der fih nicht minder treff-
li auf die Fiſcherei verfteht, al3 er ein jehr guter Kenner und Forſcher der
illyriſchen Sprache und Geſchichte ift, dad Grundnetz aufgeftellt, eine mehrere
hundert Fuß lange, weitmaſchige Wand, deren eine lange Kante durch Blei am
Boden gehalten wird, während Kork fie jenfrecht ftellt. Mit diejer Wand wird
jo eine Art von Heerftraße am Mteeresgrunde abgejperrt, und e3 verheddern
fi in ihr die Riefen unter den Krebjen und eine Menge der köftlichiten und
wunderjamften Fiſche. Wir rudern daher bald nah Sonnenaufgang hinaus
und holen die Beute ein. Hummern und Languften, Kleinere Haie, der Mteer-
igel und der Stadhelroche, der feinjchmedende Branzin und Andere werden
aufgezogen, und während wir nad der Rüdfehr einen Theil für die Sammlung
präpariren, leitet der Wirth in der Küche die Zubereitung des anderen Theiles
zum fröhlichen Mahle.
Nah Sonnenuntergang erwartet und ein anderes Yagdvergnügen. Das
Boot ift zum Stechen gerüftet. Ueber das Vordertheil hinaus ragt ein korb—
fürmiger Roft, auf welchem Harzreiches Holz hell lodert. Nicht nur die nächite
Umgebung, die felfige, zerriffene Küfte, wird grell und zauberhaft beleuchtet, auch
20 bis 30 Fuß tief vermögen wir auf den Meeresgrund zu ſehen, daß wir
Kiejel und Tange und Thiere genau unterfcheiden. Ein Diener rudert und unſer
Gaftfreund führt die vierzinfige Gabel, das Wahrzeichen des alten Neptun.
Die Ruder werden kaum eingetaudht, wir ſprechen nicht, halten uns fo ruhig
al3 möglich, und das Wafjer durchſpähend, die Gabel zum Stoße bereit, gibt
ihr Träger leiſe Winke, um das Boot langjam über die glatte Fläche zu wenden.
Eine Handbewegung hat es zum Stehen gebradht, wir folgen dem bdeutenden
Finger und gewahren einen mächtigen Tintenfiſch, den Polpo, wie er mit feinen
ichlangenartigen Armen ſich in den Schatten zurücdzuziehen ſucht. Aber jchon
ift er getroffen und in's Boot geworfen. Auch die großen Krebje gerathen bei
biejem Fackelſchein in eine ihnen verderbliche Ueberraſchung und Verwirrung,
am leichteften aber gewifje Fiſcharten, welche unbeweglich, wie jchlafend, ftehen
bleiben und bei gehöriger Gejchiclichkeit des Fiſchers ſelten unter der Gabel
fortſchnellen. Wir Haben uns nad) und nach eine halbe Meile von der Bucht
von Milna entfernt und können uns bei der mitternäcdhtigen Rüdfahrt ganz ber
phantaftiihen Scenerie hingeben, während die tiefe Stille der Natur nur durch
Dalmatien. 243
da3 regelmäßige Geräufch der Ruder unterbrochen wird und dann und warın
durch den Flügelſchlag einer aufgefcheuchten Felstaube.
Ich Habe aus bunten Steinen das Bild eines Streifens europäiſchen Landes
zufammenzufegen verjucht, der nie das Glück gehabt, fich längere Zeit hindurch
ala ein jelbftändiges kleineres Ganzes zu fühlen, oder ala ein Glied einer natio-
nalen Einheit. Geographiich abgejondert von den großen Gulturträgern alter
und neuer Zeit, lag die Bevölkerung doch wieder zu nahe an der Heerftraße der
Weltgeihichte, als daß fie nicht Hätte in Mitleidenfchaft gezogen werden müfjen.
Aber es erwuchd dem Lande aus diefen Berührungen kein nachhaltiges Glück.
Wir haben lauter unterbrochene Entwidelungen vor und, von den Segnungen
de3 Fortſchrittes und der Givilifation find nur einzelne Stellen des Küftenfaumes
belect, die Natur aber ift einer mehrtaufendjährigen Mißhandlung faſt erlegen.
Dennoch haben wir diefer Natur, wie ich Hoffe, Intereſſe abgewinnen fünnen;
fie bot uns, wenn auch wilde, doch effectvolle Scenen und bier und da Daien,
auf denen da3 Auge ausruhte. Auch die Menjchen find uns nicht blos als
ethnographiiches Material vorgelommen, fondern mande unter ihnen durften
al3 liebenswitrdige Gaftfreunde und klar und unparteiiſch urtheilende Patrioten
dem Herzen näher treten. Mit diefem verjöhnenden Rückblicke jcheiden wir.
16*
Der deutfhe Anterricht
in den
öffentlihen Schulen der Vereinigten Staaten von Amerika.
Bon
Mar Horwih.
a Ten
Mit der Beantwortung der Frage: „Welche Stellung nimmt der deutiche
Unterriht in den öffentlihen Schulen der Vereinigten Staaten von Amerika
ein ?“, ift auch die Frage beanttwortet, welche Geltung ſich das deutſche Element
in den Vereinigten Staaten von Amerika zu verihaffen gewußt hat. Sie hängt
innig zujammen mit dem Kampfe, welcher, bewußt und unbewußt, fich in
taujend kleinen und großen Dingen auf amerifaniihem Boden zwijchen dem
Eingewanderten und dem Gingeborenen abſpielt. Es handelt fi in dieſem
Kampfe darum, ob der Eingewanderte jofort jeine Eigenart und das Ver—
mächtniß jeines Geburtslandes aufgeben joll, um fi), wie es jelbft einer der
fiberalften und bedeutendften Geiftlichen Amerika's, Robert Collyer in Chicago,
bei Gelegenheit eines im December 1874 gehaltenen Vortrages verlangte, jofort
zu „veramerifanern“, oder ob der Eingewanderte, welcher Bürger geworden,
nun auch das Recht haben joll, von jeinem befjeren Willen abzugeben und zur
Bildung des noch immer nicht abgejchlofjenen amerikaniſchen Volkscharakters
beizutragen.
Der deutſch-amerikaniſchen Preſſe gebührt das große Verdienft, in diejer
wichtigen Frage nit nur Stellung genommen zu haben, jondern auch eifer-
ſüchtig darauf zu achten, daß dem fremdgeborenen Beftandtheil des amerikanischen
Volkes jein Recht nicht verkfümmert werde. Denn dem deutjchen Wolke ift der
vorderfte Poſten in diefem Kampfe angewieſen. Fyranzojen, Italiener, Scandi-
navier, Slaven und andere Nationalitäten find nicht ftark genug vertreten,
um duch ihre Zahl zu imponiren, und wenngleich fich Viele unter ihnen eine
achtunggebietende gejellichaftliche und geihäftliche Stellung errungen, jo find fie
doch mit dem amerifaniichen Handel und Wandel nicht jo innig verwachſen,
Der deutjche Unterricht in den Öffentl. Schulen der Vereinigten Staaten von Amerifa. 245
wie es die Deutichen find. Die Jrländer, welche an Seelenzahl noch ftärker
vertreten find al3 die Deutſchen — wenigſtens in den Städten —, bringen
einen folchen unausrottbaren Haß gegen England mit über's Meer, daß fie ſchon aus
diefem Grunde und weil fie das Heil Irlands nur in Verwidelungen zwijchen
England und den Vereinigten Staaten erhoffen, ſich jehr ſchnell amerikanifiren,
abgejehen davon, daß die harakteriftiichen Merkmale, durch welche fie jich hervor—
thun, durchaus nicht derart find, daß es wünjchenswerth fein könnte, dieſelben
auf den amerifanijhen Stamm zu pfropfen.
Die Zeit der „Knownothings“, welche „Amerifa für die Amerikaner“ ver-
langten, d. 5. Aemter nur Denen geben wollten, welche ihre in Amerika ge-
borenen Ahnen mehrere Generationen zurück datiren konnten, ift allerdings
vorüber. Dennoch wäre die Annahme, daß bei der großen Maſſe der nament-
fh aus den Neu-Englandjtaaten ftammenden Amerikaner die Verleugnung der
Knownothing - Ideen auf wirklich Liberalen Anjchauungen beruht, eine irrige.
Ahnen ift der Einwanderer noch immer nicht eine willlommene und freudig zu
eınpfangende Bereicherung de3 Landes, jondern „ein der Tyrannei von Despoten
entronnener Sclave”, deſſen erſte Pflicht nach der Landung es ift, den ihn gaft-
ih aufnehmenden Boden zu küſſen und dann alle feine bisherigen Lebens—
anjchauungen aufzugeben und gegen neue zu vertaufchen. Wenn dieje Anfichten
nicht mehr häufig in den Vordergrund treten, jondern ſich unter einer gewiſſen
Vorſicht verbergen, jo iſt das lediglih dem numeriſchen Stimmengewicdht der
Deutichen zuzufchreiben. Denn der amerikaniſche Politiker ift jehr praktiich und
verfteht es, jeine Gefinnungen und Verſprechungen den Umftänden anzupaffen.
Da nun bis in die jüngfte Zeit hinein die große Maſſe der Deutjchen mit der
republifanifchen Partei ftimmte, jo fanden ſich auch gehäffige Bemerkungen, wie
3.82: „Wenn e8 den Deutſchen hier nicht gefällt, jo können fie ja wieder in
die „Tyrannei” (sic!) zurüdkehren,“ zumeift in demokratiſchen Partei-Organen,
wie 3. B. der New-York World, der Chicago Times u. j. w. Aber jelbft die
den Deutſchen am freundlichften gefinnten engliſch-amerikaniſchen Zeitungen
geben nur zu oft noch den Beweis, daß auch der beftunterrichtete Amerikaner
mit dem Weſen jeiner jet nahezu vier Millionen zählenden deutſchen Mit-
bürger nicht volllommen vertraut ift.
Die deutſch-amerikaniſche Preſſe hat es als eine unerläßliche Bedingung für
die achtunggebietende Stellung der Deutſchen und ihren Einfluß auf die öffent-
lichen Angelegenheiten erfannt, daß wenigſtens die im Lande geborene erfte
Generation von Deutichen, nicht blos dem Namen nad), jondern aud) im Denten
und Empfinden deutjch bleibe. Als das mächtige Band aber, das die zer-
ftreuten Glieder zufammenhält, betrachtet man die Mutterfprade, auf
deren Erhaltung — und beiläufig bemerkt Freihaltung von einem deutjch-
amerifanifchen Jargon — von allen Seiten bingearbeitet wird. Die deutjche
Preſſe der Vereinigten Staaten unterläßt es nicht, von Zeit zu Zeit Artikel zu
bringen, in denen es den deutſchen Eltern nahdrüdlich zur Pflicht gemacht
wird, ihre Kinder anzuhalten, im Haufe deutſch zu reden. In zahlreichen
deutjchen Privatichulen wird verjucdht, dem Uebel abzuhelfen. Indeſſen ift es den
Eltern, welche durch das Geje gezwungen werben, eine Steuer für die Er-
246 Deutſche Rundſchau.
haltung der öffentlichen Schulen zu zahlen, nicht leicht zuzumuthen, auch noch eine
fernere Ausgabe für Privatichulen zu machen; und zudem droht von Seiten der mit
Kirchen in Verbindung ftehenden Schulen eine andere Gefahr, melde die Vor—
theile des deutjchen Unterrichts überwiegt. Denn die namentlich in katholiſchen
Kirchenſchulen erzogene Jugend liefert der Geiftlichkeit jpäter ein nur allzu
brauchbares Material. Gehören doch die Fälle, daß in Amerika, dem Lande,
welches Staat und Kirche dem Geſetze nad) ftreng trennt, der Erfolg der Can—
didatur eines Mannes davon abhängt, ob er katholiſch oder akatholiſch ift, nicht
mehr zu ben jeltenen.
Aus dem Dilemma: die deutſche Jugend ohne allen deutjchen Unterricht
aufwachſen zu jehen, was in ben meiften Fällen gleichbedeutend ift mit voll-
ftändiger Verwahrlofung, da den deutjchredenden und allein deutſch verftehenden
Eltern aladann jede Controle fehlt; oder die Kinder in deutjche Kirchſpielſchulen
zu ſchicken, in denen fie für ihr ganzes Leben in den Dienft von Dogmen ge-
preßt werden, die ber freien Entwidelung nicht minder Hinderlih find, — aus
diefem Dilemma gibt e8 nur einen Ausweg: Einführung des deutjchen Unter:
richts in die öffentliden Schulen Amerika's.
Dem am 15. Januar 1875 erjchienenen Bericht des Lehrplan-Eomite’3
des Erziehungsrathes von New-York, welcher auf immer weitere Ausdehnung
de3 deutjchen Unterricht in den Elementarſchulen der Stadt New-York dringt,
find folgende zwei Stellen entnommen: „Ganze Schaaren von Schülern, bie
früher Privatſchulen befucht Hatten, ftrömten jeit Einführung des deutjchen Unter-
richts den öffentlichen Schulen zu.” Und um nicht mißverftanden zu werden,
fügt derjelbe Bericht ferner Hinzu: „...... Die Wichtigkeit diefer Beftrebungen
muß uns ganz beſonders einleuchten, wenn wir bedenten, daß mindeftens 11,000
deutſche Schüler Tag für Tag katholiſche und proteftantifche Kirchen- und andere
deutſche Privatichulen bejuchen.”
Wenn im Eingange gejagt worden ift, daß aus dem Stande des beutjchen
Unterriht3 in den öffentlihen Schulen ein Schluß auf die Höhe des deutjchen
Einfluffes gezogen werden kann, jo wird dieje Behauptung durch die Thatfache
bewiejen, daß in den öffentlichen Schulen der weſtlichen Staaten der Union
der deutſche Unterricht weit feftere und tiefere Wurzeln geichlagen hat, ala im
Dften. Die große Maſſe der Deutichen lebt im Weften; ihre Forderungen
treten bier gebieterifher auf, verfügen fie doch über mehr Stimmen. Den
beutlichften Beweis dafür, daß mit dem Steigen des deutjchen Anſehens auch
der deutſche Unterricht in den öffentlichen Schulen freiere Bahn findet, Liefert
da3 Jahr 1870. Wie auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, jo machten
fi auch in dieſer Richtung die Siege, welche Deutichland auf den Schladt-
feldern Frankreichs errungen, in jegensreicher Weiſe bemerklih. Es ſetzt keinen
bejonder3 großen Scharfblid voraus, Urſache und Wirkung bier in richtige
Verbindung zu bringen. Sagt doch der Erziehungsrath der Stadt New-York
für das Jahr 1873 wörtlih*):....... „Im Jahre 1854 wurde der franzöfiiche
*) cf. Thirly, Second annual report of the Board of Education of the City and County
of New-York. 1874 Cushing and Bardua, Seite 32 und 33.
Der deutſche Unterricht in den öffentl. Schulen der Vereinigten Staaten von Amerita. 247
und deutſche Unterriht in den öffentlichen Schulen ala ein freier Unterricht3-
gegenftand eingeführt. Durch neuere, im Jahre 1870 angenommene Bejchlüffe
aber wurde der deutjche Unterricht in allen Claſſen obligatorijch auf den Stunden-
plan gejeßt, Hauptjählich wegen der immer mehr wadhjenden Be-
deutung des deutſchen Elemente3 unjerer Bevölkerung in ſocialer
und gejhäftlider Beziehung (mainly in consideration of the increasing
social and commercial importante of the German element of our population).“
Diefe Beftimmung ift jo durchgeführt worden, daß demjelben Berichte zufolge
in den öffentliden Schulen der Stadt New-York während des Jahres 1873 in
464 Claſſen 19,396 Kinder deutjchen Unterricht erhielten, während nur 1609
Kinder in 50 Claſſen ih am franzöfifchen Unterrichte betheiligten. Es kann
genau demjelben Einfluffe, welcher dies erfreuliche Reſultat herbeiführte, zu—
geſchrieben werden, daß von den 1200 Schülerinnen de3 New-Yorker Lehrerinnen-
Seminars, denen man e3 in einer Abftimmung am Schluffe des Herbitquartals
1874 freiftellte, ob fie fernerhin Deutſch oder Franzöſiſch lernen wollten, ſich
1180 für den deutjchen und nur 20 für den franzöfiichen Unterricht erklärten.
Nicht minder intereffant ift ein ftatiftiicher Ausweis, welcher dem officiellen
Berichte des Erziehungsrathes von St. Louis entnommen ift.*) Es heißt
darin: Im Jahre 1865 wurde in St. Louis der deutiche Unterricht 450 Kindern
in 5 Claſſen von 5 Lehrern ertheilt. Im Jahre 1872 nahmen an diefem Unter:
richte Theil 13,724 Kinder in 41 Clafjen, während der Unterricht von 59 Lehrern
ertheilt wurde. Der große Umſchwung trat einerjeit3 im Jahre 1866 nad) dem
deutjch-öfterreihiichen Kriege ein, wo die Zahl der Deutjch lernenden Kinder
von 1400 auf 2400 fprang, andererjeit3 im Jahre 1870, wo ſich die Zahl von
6200 auf 10,300 erhöhte.
Um das Verhältniß des deutjchen Unterrichts zu den übrigen Lehrgegen-
ftänden in ben öffentlichen Schulen Amerika's richtig beurtheilen zu können,
jeien hier einige allgemeine Bemerkungen über das öffentlihe Schulwejen in den
Vereinigten Staaten vorausgeſchickt.
Der Staat zwingt zwar die einzelnen Gemeinden, Schulen zu unterhalten,
aber er zwingt die Kinder nicht, fie zu bejuchen, umd er mijcht fich, mit
faum nennenäwerther Ausnahme, in den Schulbetrieb nit ein. Ein von
dem beutjchen Vertreter der Stadt Chicago in der Gejehgebung des Staates
Illinois jeit mehreren Jahren wiederholentlih eingebradhter Antrag, ben
Schulzwang einzuführen, ift mit bedeutender Majorität eben jo oft abge-
lehnt worden, ala er geftellt wurde. In Wafhington, dem Site der Bundes-
regierung, befteht zwar ein „Bureau of Education“ ; die Arbeiten defjelben find
jedod rein ftatiftiicher Natur. Ein Unterrihtsminifterium in dem Sinne, wie
man e3 in Deutichland verftehen würde, ift es nicht. Ein Aufſichtsrecht fteht
ihm nicht zu. In das Unterrichtötwejen der Städte hat es nicht das Recht, ein
Wort hineinzureden, ebenjowenig wie den Schulfuperintendenten der Einzelftaaten
eine ſolche Berechtigung zufteht. Während ſich eine allgemeine Regel für bie
*) Nineteenth annual Report of the Board of Directors of the St. Louis Public Schools.
Democrat Printing Co. 1874, Seite 29.
248 Deutiche Rundichau.
Leitung des öffentlichen Unterrichts nicht aufftellen läßt, trifft es wol im
Großen und Ganzen al3 richtig zu, wenn gejagt wird, daß in faft allen Städten
die gejammte Leitung des öffentlichen Schulwejens einem Erziehungsrathe über-
geben ift, der in den meiften Fällen aus nicht weniger als zwölf und nicht
mehr ala zwanzig Mitgliedern befteht.*) Diefem Erziehungsrathe, der je nad)
Zufall und Laune „Board of Education“, „Commissioners of Publie Schools“,
oder „Board of School-Commissioners* heißt, ftehen zur Durchführung feiner
Pflichten die Mittel zu Gebote, welche die Stadtverordnetenverfammlung (Com-
mon-Council) mit Zuftimmung de3 Bürgermeifterd für Schulzwede bewilligt
und welche auf Grund eines Staatsgeſetzes aus allgemeinen Steuern erhoben
werden, joweit nicht die Einkünfte von Grundftüden, die für Schulzwede be-
ftimmt find, ausreichen. Der Erziehungsrath verdankt feine Zufammenjeßung
der directen oder indirecten Wahl, in einzelnen Fällen wird er auch ernannt.
Die Bejegung der Aemter ift innerhalb derjelben Körperſchaft oft in kurzer Zeit
vielfadhen Nenderungen unterworfen. Ob jedoch der Staatsgouverneur die frag—
lien Beamten ernennt, ob das Volk an der Wahlurne fie in directer Wahl
wählt, oder ob fie aus der indirecten Wahl Seitens der Stadtverordneten-
verfammlung hervorgehen: immer wird die Tyolge fein, daß auch der Exrziehungs-
rath eine beftimmte politiiche Farbe Hat.
Tür die Zukunft des deutſchen Unterrichts in den öffentlichen Schulen ift
e3 daher von durchaus nicht zu unterfhäßender Bedeutung, ob die Maſſe der
deutjchen Stimmgeber mit der fiegenden Partei geftimmt hat, oder gegen ſie.
Wie in der Knownothing-Prefje, jo gibt es in den Erziehungsräthen noch immer
Leute, welche bei der Trage des deutjichen Unterricht? nicht ettva erwägen, ob
dadurch eine gebeihliche Entwidelung der Schüler gefördert oder gehemmt wird,
und denen jede ſachliche und fachmänniſche Unterſuchung fremd ift; die vielmehr
aus Abneigung gegen alles Deutſche „on general principles“, wie der Ameri—
faner jagt, dem deutjchen Unterricht opponiren. So erklärt es ſich zur Genüge,
daß die Einführung, rejp. die Ausdehnung des deutichen Unterrichts, außer ihrer
allgemeinen, mehr und mehr aud) die Bedeutung einer politifchen Frage gewinnt.
In faft allen größeren Städten der Union find bis jet vier Schulabftufun-
gen eingeführt worden, welche wie folgt benannt find: Primary-Schools (den
biefigen Elementarſchulen entjprechend), Grammar-Schools (höhere Knaben- und
Mädchenſchulen), High-School (etwa dem Progymnafium entjprechend) und
Normal-School (Seminar). Nicht in allen Städten jedoch fteht mit dem Se-
minar auch eine Seminarſchule (Model-School) in Verbindung. Auf einem jüngft
in Cleveland in Ohio jtattgehabten Lehrertage, der von den hervorragendften
Schulmännern aller bedeutenden Städte der Union beſucht war, wurde der Be-
”) Die Privatichulen find durchaus aufſichtslos. Der abſoluten Lernfreiheit entipricht
eine ebenjo unbedingte Lehrfreiheit: es darf lehren, wer ba will, wie, wo und was er will. Aud
die Pädagogik genieht in ben Vereinigten Staaten ber unbedingteften Gewerbefreiheit. Sogar
wenn Jemand, der faft nicht leſen und fchreiben kann, eine Schule errichten will, kann es
ihm Niemand wehren, vorausgejeht, daß er Schüler findet. Leider gibt es am deutſchen Privat:
ichulen in Amerika genug jogenannte deutſche Lehrer, welche mit ihrer Mutteriprache auf
immerwährendem Kriegäfuhe ftehen, ohne die mindefte Auaficht auf Friedensſchluß.
Der deutſche Unterricht in ben öffentl. Schulen ber Vereinigten Staaten von Amerifa. 249
ſchluß gefaßt, auf eine möglichfte Uebereinſtimmung der Glaffenftufen in allen
Städten hinzuarbeiten. Es ift diefe Eintheilung deshalb hier erwähnt worden,
weil in vielen Städten, jelbft nachdem da3 Zugeftändniß der Einführung des
deutſchen Unterrichtes errungen war, ſich eine neue Schwierigkeit bei der Frage
erhob, in welcher Schulfategorie num Deutſch unterrichtet werden ſolle. Denn
e3 wäre verlorene Zeit und Mühe, wenn der in ben Elementarclafjen begonnene
Unterricht in den höheren Claſſen nicht weiter fortgeführt werben jollte.
In der That handelt es ſich in diefem Augenblide nicht mehr jowol darum,
einen wichtigen Sieg zu erringen, als ihn zu behaupten und auszunußen. In
faft vierzig Städten der Union ift der deutjche Unterricht jet eingeführt, aller-
dings noch nicht überall obligatoriich. Die großen Städte der Ilnion, von New—
Hort am atlantiichen bis San Francisco am ftillen Ocean, von St. Paul hoch
oben an den nordiihen Seen bis New-Orleans am Golf von Merico, waren
die Borkämpfer für Kleinere Städte, jelbft Naſhville in Tenneſſee mit 23,000
Einwohnern, unter denen die Deutjchen nur in geringer Zahl vertreten find,
ift nicht zurücigeblieben. Von größeren Städten, in denen in den öffentlichen
Schulen Deutſch unterrichtet wird, jeien erwähnt: New-York, Bofton, Buffalo,
Philadelphia, Pittsburgh, Cincinnati, Columbus, Cleveland, Dayton, Chicago,
Quincy, Peoria, Milwaufie, Nafhville, San Francisco, St. Louis, Indianopolis,
Fort Wayne, Terre Haute, Newarf, Springfield, Patterfon, Davenport, St. Paul,
New-Drleand. Wo, wie es im Jahre 1874 in Buffalo geichehen, ein kurzfich-
tiger Grziehungsrath den Verſuch machen follte, das Deutſche aus den öffent-
lihen Schulen wieder hinauszuweiſen, da würde fi ein ſolcher Sturm des
Unwillens erheben, daß die Maßregel alsbald wieder rücdgängig gemacht werden
müßte. Denn e3 hat viel, jehr viel Mühe und Sorge gefoftet, die Sachen nur
jo weit zu bringen, wie fie jet find. Oft bat der politiihe Schadher, wenn
der Ausdrud gejtattet ift, mit in Rechnung gezogen werden müfjen. Vor den
Wahlen mußte die deutjche Preſſe und die deutfche Bevölkerung ganz beftimmte
Forderungen aufftellen, Verſprechungen wurden erzwungen und ihre Erfüllung
eiferfüchtig überwacht.
In den verichiedenen hervorragenditen Städten der Union gelten die ver—
ichiedenften Normen fir ben deutichen Unterricht in den öffentlichen Schulen.
An New⸗York ift der Unterricht in den Glaffen, in denen er eingeführt ift, obli-
gatoriſch für alle Schüler; ebenjo in Cleveland, Ohio. In St. Louis, Chicago,
Milwaukie müflen die Eltern von wenigſtens Hundert eine beftimmte Schule
befuchenden Kindern petitioniren, ehe der Erziehungsrath den deutſchen Unter—
richt einführen darf, und dann bleibt es dem Ermefjen jedes Schulfindes frei—
geftellt, ob e3 an dem Unterrichte Theil nehmen will oder nit. In San Fran—
cisco mit feiner großen gemiſchten Bevölkerung gibt e3 jogenannte „cosmopolitan
schools“, je nach der Dichtigkeit der fremdländiichen Bevölkerung in einem be-
ftimmten Stabdttheil mit deutſch-engliſchem, franzöſiſch-engliſchem, ja jelbft deutjch-
franzöfiich-engliihen Lehrplan. In Nafhville, Tenneffee, ift der deutſche Unter:
richt obligatorisch für alle Schulen, fängt aber erft, etwa wie das Griechiiche
auf deutichen Gymnafien, in den höheren Glafjen an. Es würde zu weit führen,
aus jeder Stadt, welche den deutichen Unterricht eingeführt hat, dariiber genaue
250 Deutiche Rundſchau.
Mittheilung zu machen, wie fie ihn eingeführt. Als Beilpiel möge Cleveland
dienen, welches ih mit Recht rühmt, den Schwefterftädten in den Vereinigten
Staaten in dieſer Beziehung voraus zu ſein.
Bis zu einem gewiſſen Grade iſt der deutſche Unterricht in Gleveland obli⸗
gatoriſch. In einem am 1. Mai 1873 von der Legislatur des Staates Ohio
angenommenen neuen Schulgejege heißt es:
„Es ſoll die Pflicht des Erziehungsrathes fein, zu veranlaffen, daß Die
deutiche Sprache in jeder öffentlichen Schule dieſes Staates gelehrt werde, wenn
von 75 Bürgern, Bewohnern genannten Schuldiftrictes, welche nicht weniger
al3 40 Schüler vertreten, die bona fide verlangt wird, und die Schüler die
deutfche und die engliſche Sprache gleichzeitig erlernen wollen, vorausgeſetzt, daß
Nichts, was hierin enthalten ift, jo verftanden werden joll, daß e3 genannte
Erziehungsräthe verhindern joll, zu veranlaffen, daß die deutiche Sprache oder
andere Sprachen in genannten Schulen gelehrt werden, und vorausgejeßt weiter,
daß alle Unterrichtszweige, weldhe in den öffentlihen Schulen dieſes Staates
gelehrt werden, in englifcher Sprache gelehrt werden.“
Entfleidet man diejes Gejeß der Förmlichkeiten ſeines Styls, jo enthält e3
neben einer Verwahrung zu Gunften der engliihen Sprade als Unterrichts-
ſprache die Beftimmung, daß der Erziehungsrath den deutjchen Unterricht jeder
Zeit einführen darf, wenn er will, ihn aber einführen muß, wenn die An-
gehörigen von vierzig Schulkindern in einem Diftricte darum erjuchen.
Auf diefes Geſetz Hin hat der Erziehungsrath von Gleveland beichloffen, daß
in allen Elementarclafjen, in denen wenigſtens achtzig Schüler den deutjchen
Unterriht wünjchen, jämmtlshe Schüler an demjelben Theil nehmen müſſen.
Die Claffe wird in zwei Abtheilungen getheilt und unter Leitung eines englijchen
und eines deutjchen Lehrers geftellt, welche an jedem Tage miteinander abwechſeln.
Bon den 22 wöchentlichen Lehrftunden werden dann 11 in englifcher und 11 in
deutfcher Sprache ertheilt. Dem Lehrplan ift Folgende Tabelle darüber entnommen:
Gegenftand. Engliſch. Deutſch.
Rechnen . . 3 Stumden. —
Anfheuungs-Unteriht ..; 2 &t. 30 Min.
Leſen . . . 2... 30 Min. 2 „ 90 „
Rechtichreiben J : ı Jap 2 „0 „
Schreiben . E — —6
Singen . — — 2:30:
11 Stunden. 11 Stunden.
Während jomit der Rechenunterriht nur in der engliichen Sprache ertheilt
wird, was fi) aus naheliegenden praftiichen Gründen als jehr richtig erweiſt
und was das Staatägejeß ja auch ausdrüdlich verlangt, wird in allen Elaffen,
auch den Höheren, in denen fich der obige Stundenplan verfchiebt, der Geſangs—
unterricht nur in der deutichen Sprache ertheilt. Denn der Amerikaner betrad)-
tet, wie jehr er auch auf anderen Gebieten mit dem Deutjchen differiven mag,
die Muſik ala deſſen jpecielle, unantaftbare Domäne. Als Curioſum mag bier
angeführt werden, daß bei Gelegenheit des letzten großen deutſch-amerikaniſchen
Der beutiche Unterricht in dem öffentl. Schulen der Bereinigten Staaten von Amerika. 251
Eängerfeftes, welches im Juni 1874 in Gleveland ftattfand, 1500 Schulkinder
Glevelands, unter denen fi, außer Deutichen, nicht nur Irländer, Scandinavier
und taliener, ſondern auch Franzofen und Neger befanden, die „Wacht am
Rhein“ mit außerordentlich jauber articulirtem Terte von Anfang bis zu Ende
deutſch vortrugen.
Bon einer Gefammtzahl von 10,362 während des Jahres 1873 die öffent:
lichen Schulen bejuchenden Kindern nahmen 3572 Kinder am deutſchen Unterrichte
Theil. Von ihnen waren 2435 Kinder deuticher, 1137 Kinder englisch iprechen-
der Eltern. Mit dem Erfolge, den fie in ſolcher Weife errungen, wächſt den
Deutjchen denn auch der Muth. Der von der Stadt angeftellte Superintendent
des deutſchen Unterrichts, ein Deutfcher, jagt (fiehe Auszug aus dem 37. Jahres-
berichte de3 Erziehungsrathes, Cleveland, Anzeiger-Druderei 1874):
„Bon 244 Schülern der A-Grammar-Glaffen, welche geprüft wurden, um
in die Hochſchule einzutreten, hatten 135 das Studium des Deutjchen ein, zwei
oder drei Jahre lang betrieben. Bon diefen 135 Schülern wurden 123 für reif
erklärt, etwas über 91 Procent. Bon den übrigen 109, welche nicht Deutſch
gelernt hatten, wurden nur 85 für reif erflärt, nicht ganz 78 Procent. Obgleich
der Erfolg diefer gelfammten Prüfung von dem Prüfungsrefultate im Rechnen
und in der engliihen Grammatik abhing, jo trugen do die Schüler, welche
Deutich lernten, den Preis über Diejenigen davon, deren Ehrgeiz fi nur bis
zu „a Common English Education“ verftieg, troßdem fie viel mehr Zeit den
erftgenannten Studien zuwandten.“
Und nicht das allein. Der Deutiche begnügt ſich nicht damit, zu fordern,
daß jeinen Kindern Gelegenheit gegeben werde, Deutich zu lernen; er beweift
dem Amerikaner, weshalb auch des Lehteren Ktinder fich dem beutichen Unterrichte
anſchließen jollten. „Manches VBorurtheil verſchwindet dadurch,“ jagt der eifrige
Vorkämpfer in Cleveland, deſſen Worte einen um jo größeren Nachdruck haben,
als er in officieller Eigenſchaft jpricht, „welches unter andern Umftänden die
freundlichen Beziehungen zwiſchen den verichiedenen Nationalitäten geftört haben
würde, Es ift nicht genug, daß die Deutſchen Engliich lernen jollten. Sie thum
es ohne Widerrede, obgleich fie, bei Lichte bejehen, es in großen Städten nicht
‚abiolut nöthig hätten, um in Ruhe und Frieden zu leben. Zeitungen, in ihrer
Mutteriprache gedrudt, machen fie mit Allem befannt, was ihnen in der Politik
und im gefellichaftlichen Leben wiſſenswerth ericheint. Sie können genug deutiche
Kaufleute finden, um dajelbft ihre Einkäufe zu bejorgen, und im geielligen Ber-
fehr brauchen fie nicht wider Willen mit Leuten zu verkehren, die eine frembe
Sprache reden — und doc lernen fie Engliich, einfach deswegen, weil fie Leute
find, die ſich leicht den Sitten Anderer anſchmiegen, Leute, die nicht jo thöricht
find, einen Staat im Staate bilden zu wollen. Freilich ift es nicht mehr ala
natürlich, daß fie nicht blos aufzunehmen, fondern auch mitzutheilen ſich bemühen.
Sie find der Anficht, dab dieſe Republik ein Schmelztiegel ift, in welchem alle
Nationalitäten der Erde ihre Vertreter haben; da fie mum einer der drei vor-
herrichenden Theile der Miſchung find, jo möchten fie nicht nur die Cuantität
vermehren, fondern, was mehr gilt, aud Einfluß auf die Cualität haben. Sie
find der Anficht, daß fie Eigenichaften befiten, welche bei der Berichmelzung ber
252 | Deutiche Rundſchau.
Maſſen der neuen Miſchung größeren Werth geben können, und zu dem Ende
muß e8 fie freuen, daß ihre Englifch redenden Mitbürger das Deutjche erlernen.“
Es hat der vorftehende Auszug hier eine Stelle gefunden, nicht nur, um zu
zeigen, bon welchen verjchiedenen Gefichtspunften aus die Frage des deutichen
Unterricht3 in den öffentlichen Schulen von Seiten der Deutfh- Amerikaner be—
trachtet wird, ſondern auch als Abwehr einer kürzlich an hervorragender Stelle
erfolgten Verunglimpfung der Deutſchen in Amerika. In einer Correfpondenz
des Herren Friedrich Nabel, der von der „Kölniichen Zeitung“ nad) Nordamerika
geſchickt wurde, um Leben und Treiben der dortigen Deutjchen zu ftudiren, heißt
es, nachdem gejagt worden, die Deutjchen hätten das früher einmal angeregte
Project, eine deutſch-amerikaniſche Univerfität zu gründen, wieder aufgegeben,
wörtlih: „Ich bin nun allerdings auch der Meinung getvorden, daß eine deutich-
amerikaniſche Hochſchule ihren Zweck nicht erfüllen würde und daher befjer unter-
bleibt. Unjere Landsleute eriparen ſich dadurch auch ſo viele Unannehmlichkeiten.
Sie wollen die Amerikaner um feinen Preis vor den Kopf ftoßen, wollen mit
ihnen abfolut in Frieden leben, und dazu paßt ein activer Nationalftolz, eine in
Thaten fich befundende Werthſchätzung des eigenen Volksthums natürlich jehr
wenig. Solche Gefühle ftören Einen auch jo empfindlich im Geldmachen.“ Die
ein volles Jahr vor der letzteren Bemerkung geichriebenen obigen Bemerkungen
des Superintendenten in Cleveland ftehen übrigens durchaus nicht allein.
In dem officiellen Berichte von St. Louis über das Schuljahr 1872—73 jagt
der Superintendent: „Der Proceß, aus den verichiedenften Elementen eine Natio-
nalität zu bilden, geht ununterbrochen vorwärts. Wir müſſen in einem Gemein
weſen zufammenleben, yamilienbeziehungen, geichäftlihe Verbindungen, gemein-
ſame ntereffen halten ums aneinander. Das große Problem alſo bejteht darin,
alle diefe Scheidelinien zu überbrüden und eine homogene Nation zu bilden.
Mährend diefe Verichmelzung vor fich geht, ift es aber Aufgabe des Erziehers,
darauf zu achten, daß die Ellenbogenfühlung des Alten mit dem Neuen nicht
verloren geht. Wenn der hierher Eingewanderte fich jofort losſagen wollte von
allen jeinen nationalen Wiünfchen und Hoffnungen, von feinen Familienbeziehungen,
von feinen moralifchen und religiöfen Anſchauungen, jo könnte eine bedenkliche
Veränderung in jenem Charakter nicht ausbleiben. Es ift das Bewußtſein der
Zufammengehörigkeit, welches dem Einzelnen Kraft gibt. Den Thaten feiner
Nation entnimmt der Bürger den Maßſtab feines eigenen Könnens. Den Erin:
nerungen an die Thaten der Ahnen entjpringt der Ehrgeiz, es ihnen gleich zu
thun. Mit diefen Grundjäßen ausgerüftet Hat der Erzieher die ſchwierige Auf:
gabe vor fich, für die gemiſchte Bevölkerung eine Erziehung anzubahnen, die das
jeder Nationalität eigenthümliche Gute bewahrt und doch eine Baſis findet, auf
der Alle friedlich zulammenftehen können.“ Aus diefen Anfängen heraus beweift
der Bericht jodann die Nothwendigkeit des deutichen Unterrichtes.
MWährend in diefem Sinne fi auch die Berichte vieler anderer Städte, wie
San Francisco, Milwaufie, Buffalo und Louisville, vernehmen laſſen, begegnen
wir andererjeit3 auch ſchon Gründen anderer Art für die Einführung des deut:
chen Unterrichtes. In manchen Städten hat der Deutiche nicht mehr nöthie,
feinen Worten einen politiichen Nachdruck zu geben; er überläßt das Schickſal
Der beutiche Unterricht in ben öffentl. Schulen der Vereinigten Staaten von Amerita. 253
des deutſchen Unterrichts getroft dem fachmänniſchen Gutachten. Wenngleich die
nachfolgenden Worte des erften Schulmannes von New-York durchaus nichts
abjolut Neues enthalten, jo find fie do aus dem Munde eines Amerikaners
intereffant. Er jagt:
„Die Befürworter unjeres Syſtems der öffentlichen Schulen befreunden ſich
aber nicht blos aus rein praftiichen Gründen mit der Einführung einer lebenden
Sprade in den Stundenplan. Als ein Mittel zu geiftiger Anregung, eine be-
deutendere Unterftüßung bei der Erziehung des Kindes im Allgemeinen hat da3
Studium einer zweiten Sprache neben der englifchen jeine große Bedeutung be=
wiejen. Praktiſche Erfahrungen, die fi auf eingehende Beobachtungen ſtützen,
haben den aufmerffamen Schulmann überzeugt, daß das Studium einer zweiten
Sprache die Fortichritte des Schülers im Englischen nicht nur nicht hemmt,
fondern dazu in hohem Grade beiträgt, ihn zu fördern, feinen Verſtand jchärft,
und ihn ſelbſt zu einem befjeren Schüler im Englifchen macht, als es jonft hätte
geichehen können.” Im weitern Verlaufe des Berichtes heißt es dann, anknüpfend
an das oben Erwähnte, weiter: „Allerdings wird es jehr darauf ankommen,
welche Sprache wir neben der englifchen einführen jollen.“ Daß die Wahl
ichließlih auf den deutſchen Unterricht gefallen, ift bereits im Eingange diejes
Artifeld erwähnt.
Und welche Rejultate find bis jetzt erzielt worden ?
Was die Betheiligung am deutſchen Unterrichte anbetrifft, jedenfalls in An—
betracht der kurzen Zeit, während welcher überhaupt Deutich unterrichtet wird,
ſehr bedeutende. Die verfchiedenen Fyactoren, welche das Endrejultat beeinfluffen,
dürfen, um ein gerechtes Urtheil zu fällen, nicht aus den’ Augen verloren werden.
Menn in einer Stadt die Hälfte der Bevölkerung deutſch ift, jo kann es nicht
Wunder nehmen, dab auch ein weit größerer Procentjat ſich am deutichen Unter-
richt betheiligt, als da, wo der Bruchtheil der deutichen Bevölkerung ein weit
Hleinerer ift. Ob von Seiten der anderen Lehrer dem deutjchen Gollegen, der ja
bisher nur in einem gebuldeten Gegenftand unterrichtete, wohlwollende Unter—
ftügung entgegengebracht, oder ihm durch kleinliche Nörgeleien feine Arbeit erſchwert
wurde, hatte jelbft auf die Betheiligung der Kinder am Unterrichte großen Einfluß.
An ſolcher abfichtlichen Erſchwerung hat es nicht gefehlt und fehlt es wol auch
heute nicht. Wenigftens ericheint in Chicago eine von dem Director (Principal)
einer ftädtiichen Schule herausgegebene pädagogische Monatsſchrift „The Teacher“,
in welcher diefer Beamte ımaufhörliche Angriffe gegen den deutichen Unterricht
bringt und auf feine Abjichaffung dringt, was er kaum twagen würde, wenn er
nicht auf ſtarken Rückhalt im Erziehungsrathe rechnen könnte.
Die Jahresberichte der Erziehumgsräthe find zum großen Theile aus ftatifti-
ichen Tabellen zufammengeftellt, denen wichtige Daten bezüglich der Frequenz des
deutichen Unterrichts entnommen werden fünnen. So weift der Bericht der Stadt
Milwaukie nad), dat es in der Stadt 21,610 ſchulpflichtige Kinder gibt. Unter
ihulpflichtig find micht Kinder zu verftehen, welche thatſächlich die Schule be-
juchen müflen, fondern alle Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren, welche ſchul—
pflichtig jein würden, wenn einmal ein Schulzwanggejeß angenommen iver-
den follte. Bei den von Zeit zu Zeit ftattfindenden Volkszählungen wird bereits
254 Deutiche Rundſchau.
auf diefe Altersclaffe Rüdjicht genommen. Der Ausdrud „ſchulpflichtig“ iſt
einfach anticipirt. Von den oben erwähnten 21,610 jchulpflichtigen Kindern
bejuchen die öffentlichen Schulen in der That nur 10,850, aljo gerade die Hälfte,
und von ihnen betheiligen fich am deutſchen Unterrichte 4214, von denen 3235
deutjcher, 979 anderer Abkunft find. In Milwaufie ftellt ſich das Verhältniß
aber noch günftigr. Milwaufie, mit feinen alten Anſiedlern, ift vielleicht die
deutjchefte Stadt in den Vereinigten Staaten. Als Spitzname ift ihr die Bezeichnung
„Deutjch- Athen” zugefallen. In der That find die geiftigen Beftrebungen unter
den Deutſchen Milwaufie'3 reger al3 in irgend einer andern Stadt der Vereinigten
Staaten, St. Louis ausgenommen. Dieje beiden Städte haben ein feſtes, com=
pactes Deutſchthum, bei dem die Fälle nicht zu den jeltenen gehören, in denen
die Enkel von Eingetvanderten, aljo die dritte Generation, noch gut Deutſch Ipricht,
denkt und handelt. Deshalb haben auch diefe beiden Städte in der That vor-
zügliche deutjche Privatinftitute, und alle Beftrebungen, welche, wie jpäter gezeigt
werden wird, in den Vereinigten Staaten darauf hinftreben, den deutjchen Unter-
richt und den deutjchen Lehrer in Amerika zu heben, gehen von jenen beiden aus.
In Milwaukie find unter den 24 Schulrathömitgliedern 15 Deutſche, der Super-
intendent des geſammten jtädtiichen Schulweſens ift ein Deuticher. In St. Louis
ift der Director der Hochſchule ein Deutjcher, einer der tüchtigften Schulmänner
des Landes.
Se mehr Zahlen ein Bericht gibt, defto mehr ftellen fich Ergebnifje Heraus,
auf die in den meiften Fällen der Deutjche mit Stolz blicken darf. Der officielle
Beriht von St. Louis für das Jahr 1872/73 jagt, daß im Ganzen 34,063
Kinder die öffentlichen Schulen befuchten. Auf Seite 21 defjelben Berichts führt
der Erziehungsrath dann beiläufig an, daß von der Gelfammtbevölferung von
St. Louis 24%, Deutſche und Defterreiher find. Setzte man nun bei allen
Nationalitäten einen gleihmäßigen Schulbeſuch voraus, jo würden von den obigen
34,063 die öffentlichen Schulen bejuchenden Kindern 24%, Deutjche jein müſſen,
d. h. 8074. Wie viel deutiche Kinder die öffentlichen Schulen bejuchen, jagt der
Bericht zwar nicht, wol aber heißt e8 an anderer Stelle, daß von den 13,724,
die fi) am deutjchen Unterricht betheiligen, 11,656 Kinder deuticher Eltern find,
alio nahezu 4000 oder 12%, mehr, al3 man von ihnen erwarten dürfte. Und
dabei ift zu berücfichtigen, daß es dort noch eine große Anzahl von deutjchen
Privatichulen gibt.
In Chicago mit feiner großen deutichen Bevölkerung befuchen von 103,000
Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren, 32,000 die öffentlichen Schulen, und
von ihnen betheiligen fi am deutjchen Unterricht 2889, alfo kaum 9%, gegen
45%, in Milwaufie und 35%, in St. Louis. Die Urſache liegt an dem Wider-
ſtande, den — wie bereit3 oben berührt — der Erziehungsrath von Chicago bis
vor Kurzem der Einführung des deutichen Unterrichts geleiftet, jowie daran, daß
das große feuer von 1871 wichtigere Lebensfragen in den Vordergrund gedrängt
hatte. Seit einem halben Jahre aber fteht ein Deutjcher an der Spitze des Er-
ziehumgsrathes, der auch fir Chicago befjere Zeiten herbeiführen wird. Der
Chicagoer Bericht enthält ferner eine Tabelle, die fi) in feinem anderen Berichte
findet, und die eine neue Thatſache enthüllt. Von den obigen, am deutjchen
Der deutiche Unterricht in den öffentl. Schulen der Vereinigten Staaten von Amerika. 255
Unterricht Theil nehmenden Kindern find 745 von amerikanifchen Eltern, 285
von iriihen Eltern, 445 Scandinavier und 1314 deutjcher Abkunft. Von diejen
leßteren aber find 1207 in Amerika geboren und nur 107 in Deutichland. Wenn
man bedenkt, daß die eintwandernden Yamilien oft eine ganze Anzahl von Kindern
mitbringen, jo erjcheint die Zahl von 107 al3 auffallend gering und legt die
Vermuthung nahe, daß den mit den Eltern einmwandernden Kindern die Seg-
nungen de3 Schulbejuchd nicht in dem Maße zu Theil werden, wie den im Lande
geborenen. Während der erften Jahre, die oft Jahre des Ringen? um die Eriftenz
find, müſſen die miteinwandernden Kinder jofort helfen, Brod verdienen. Viel—
leicht ift der Schluß ein irriger, die Zahlen aber, welche der Erziehungsrath von
Chicago veröffentlicht, Laffen ihn als einen richtigen wenigſtens erjcheinen.
In Buffalo beſuchen von 35,000 ſchulpflichtigen Kinder 11,151 die öffent-
lihen Schulen, von ihnen betheiligen fi 1168 Schüler in 12 Clafjen am
deutſchen Unterrichte. Der Superintendent von Buffalo hat in Folge ander»
weitig eingezogener Erfundigungen ermittelt, daß in 54 anderen als öffentlichen
Schulen Buffalo’3 (Privat: und Kirchenſchulen) noch 11,064 Kinder unterrichtet
wurden, daß aljo in Buffalo im Ganzen etwa 66%, aller Kinder zwijchen 6 und
14 Jahren die Schule bejuchen.
In New-York beſuchten die öffentlichen Schulen 151,878 Kinder. Die am
deutichen Unterricht Theil nehmenden 19,396 bildeten alfo faft 14%,. Ihre
Zahl aber ift in ſchnellem, ftetigem Steigen begriffen und dürfte ſehr bald
25 °/, erreichen.
Die wichtigfte Frage, um die es fich aber in diefem Augenblicke handelt, ift
die Lehrerfrage. Woher Lehrer nehmen? Der Mangel an geeigneten Lehrkräften
ift ein ganz außerordentliher. Zunächft ift der Lehrer verdrängt, theilweiſe ſogar
ausgeſchloſſen durch die Lehrerin. So jehr der Deutſche in Amerika auch gegen die
ausſchließliche Ertheilung des Unterrichtes in Mädchen- und Knabenclaffen durch
Lehrerinnen ift und jo jehr die deutſchen Mitglieder der Erziehungsräthe derjelben
Anficht find, jo bleibt ihnen doch nicht? Anderes, als fich zu fügen. Indem fie darauf
ausgehen, für fi Ausnahmezugeftändniffe zu erreichen, dürfen fie es nicht wagen,
an einer Fundamentaleinrichtung des amerikaniſchen Schulwejens zu rütteln,
welche darin bejteht, daß das Katheder in der Schule, mit Ausnahme der
Directorenftelle, den Frauen gehört. Amerika ift das Land der Bortämpferinnen
für die Rechte der Frauen. Ihrer Bewegung und der thatfächlichen Furcht,
welche der Amerikaner vor den rauen hat und die fich vergeblich unter dem
Dedmantel von Hochachtung zu verbergen jucht, ift es zuzufchreiben, daß auch
nie ein Verſuch gemacht worden ift, das Lehreramt Männern zu übertragen.
Ein ſolcher Verſuch würde jogleih eine Belagerung de3 Sitzungsſaales durch
Hunderte von Frauen herbeiführen, die nicht weichen würden, bis man ihnen
ihre „geheiligten Rechte” zugefichert. Es find noch nicht zwei Jahre her, daß
in allen Städten der Union ſolche Weiberfeldzüge gegen die Wirthahäufer unter-
nommen wurden.
Aber abgejehen davon würden ſich auch nicht genug Lehrer in Amerika
finden, die Lehrerinnen zu erſetzen. Es fällt einem Amerikaner nicht ein, bis
zu jeinem zwanzigften Jahre zu lernen, um dann eine Stelle anzunehmen, bie
256 Deutiche Rundſchau.
im Anfange mit 600 Dollar3 dotirt ift und nur langjam beffer wird. Er zieht
ed vor, „feine Chancen abzuwarten“ („to run his chances”), und verjucht fein
Glück anderweitig. In diefe gegebenen VBerhältniffe aljo Hat fich der Deutjche
hinein zu pafjen. Will er den deutjchen Unterricht überhaupt in den öffentlichen
Schulen eingeführt willen, jo muß er den Compromiß ber Lehrerin eingehen.
Nur die Stadt Milwaufie in ganz Amerifa macht eine Ausnahme. Während
alle Lehrerftellen an allen Schulen durch Lehrerinnen bejegt find, welche von
500 bis 700 Dollars, je nach der Anciennität erhalten, wird in Milwaukie der
deutjche Unterricht ausſchließlich von Männern ertheilt, deren Gehalt im erften
Jahre taujend Dollars beträgt.
Die deutſche Lehrerin, oder richtiger die Lehrerin fur den deutſchen Unter—
richt an den öffentlichen Schulen, iſt aber nicht gar häufig zu finden. Denn es
darf nicht überſehen werden, daß ſie auch nicht-deutſche Kinder zu unterrichten
hat, und daß eine vollſtändige Kenntniß der engliſchen Sprache daher unerläßlich
iſt. Sie würde ſonſt bei den deutſchen Kindern durch ihr ſchlechtes Engliſch
verderben, was der deutſche Unterricht gut machen ſoll. Aus Deutſchland ein—
wandernde Damen find daher zum großen Theile nicht geeignet, und man iſt
thatjächlich faft ausjchlieglich auf junge Mädchen deutjcher Abkunft angetviejen,
die in Amerika die öffentlihen Schulen beſucht und fi) auf Privativege im
Deutſchen haben vorbereiten laſſen. Aus Gründen, die jehr ſchwer feftzuftellen
find, ift die Zahl der jungen Mädchen, die fi dem Lehrfache widmen wollen,
unter den Deutjchen gering, jo gering, daß Hin und wieder mehr Vacanzen an
den Schulen vorhanden, als Lehrerinnen, fie zu bejegen. Bejtenfall3 aber, auch
wenn fie die Prüfung gut beftanden haben, fehlt e3 den jungen Damen an jeder
Erfahrung im Unterrichten. Dieje müfjen fie ſich erjt in der Praris aneignen,
denn ein Seminar für Deutiche gibt e8 bis jet noch nicht.
Die Prüfung der deutjchen Lehrerinnen wird in mehreren Städten, wol in
den meiften, in denen nicht der Superintendent des Schulweſens gerade ein
Deuticher ift, durch die deutſchen Mtitglieder des Erziehungsrathes vorgenommen.
Die Candidatinnen werden im Engliihen und Deutichen derartig geprüft,
daß fie aus einer Spradhe in die Andere ſchriftlich überſetzen, dann den über-
jeßten Eat grammatikaliſch analyjiren müſſen und ſchließlich einige mündliche
Fragen zu beantworten haben. Schreiber diejfer Zeilen wohnte vor Jahren in
einer weſtlichen Stadt einem ſolchen Examen bei; dafjelbe dauerte für ſechs
Gandidatinnen etwa zwei Stunden. Die Mädchen durften mit einander con—
feriren, fi aushelfen und ihre Fehler verbeſſern. Das Prüfungscomite
beftand aus drei Herren, die allefammt tüchtige, gute Bürger, aber auch alle
drei nicht im Stande waren, einen deutſchen Brief von zwanzig Zeilen ganz
fehlerfrei zu jchreiben. Damit joll nicht etwa ein Vorwurf gegen fie erhoben
werden. Wol aber iſt es wichtig, ein Mares Bild von der Situation zu gewinnen.
Unter jolden Umftänden wird die Lehrerfrage die „brennende Frage“ des
deutſchen Unterrichtes in den öffentlichen Schulen Amerika’3 werden. Das hat
auch der deutjch-amerifanifche Lehrerverein erkannt, weldher aus Schulmännern
bejteht, die zumeift an Privatichulen thätig find, aber auch einige in ſtädtiſchem
Dienſt ftehende Pädagogen zu feinen Mitgliedern zählt. Zunächſt um dem ſich
Der deutiche Unterricht in ben öffentl. Schulen der Vereinigten Staaten von Amerifa. 257
auch in den Privatichulen fühlbar machenden Mangel tüchtiger Lehrkräfte ab-
zubelfen, will dieſer Verein ein deutjch-amerifanijches Lehrerfeminar für die
ganze Union bilden. Der unlängjt (im November 1874) erjchienene Aufruf
wendet fi) an die Deutichen der Union mit der Bitte, 100,000 Dollars zu
diejem Zwecke aufzubringen. Das Seminar joll dann der meiftbietenden Stadt
zugewiejen, d. h. e8 joll in derjenigen Stadt erbaut werden, welche ſich con-
tractlich verpflichtet, auf eine längere Reihe von Jahren den größten Zuſchuß
zu geben. Dan fieht, der Plan, jo tüchtig er ift, wurde in echt amerikanischer
Manier zugeichnitten. Die Sammlungen nehmen vet günftigen Fortgang.
Darüber aber kann der leiſeſte Zweifel nicht herrichen, daß ſchließlich auch dem
deutſchen Unterrichte in den öffentlichen Schulen die Rejultate zu gute fommen,
welche zunächft nur für die deutjchen Privatichulen angeftrebt werden.
Tür jene, d. h. für die öffentlihe Schule, ift mit jener Sicherheit, Die
immer da unausbleiblid, wo man Schritt für Schritt — slow but sure —
vorwärts geht und fich vor jähen Sprüngen hütet, das Befte zu erwarten. Denn
man hat bereits erkannt, von welchen Uebelftänden man hier gehemmt war, und
arbeitet eifrig daran, dieje zu bejeitigen. Die erfte und dringendfte Forderung
war. und ijt überall, wo jie bisher noch nicht bewilligt worden, die Anftellung
eine3 dem Superintendenten für das gejammte Schulwejen einer Stadt zur
Seite ftehenden Hilf8-Superintendenten für den deutſchen Unter-
richt, der zwar in allen Fragen der Disciplin und der äußeren Verfafjung
der Schulen unter dem Haupt-Superintendenten fteht und jich in die allgemeinen
Schulregeln Hineinzupafjen Hat, der aber über alle den deutſchen Unterricht und
die deutiche Lehrmethode betreffenden Fragen allein und endgiltig zu befinden
bat und dafür Sorge tragen muß, daß für alle Schulen ein einheitlidher
Lehrplan gilt. Wo das Amt der deutjchen Hilfs-Superintendenten noch nicht
beitand, lag der Unterricht jehr im Argen. Jede Lehrerin unterrichtete, wie fie
es für das Richtigfte hielt, und wenn ein Schüler in Folge eine! Wohnungs-
wechſels in eine andere Schule zu gehen gezwungen war, jo fand ex fich plößlich,
jelbft in derjelben Glafjenftufe, einer durchaus anderen Methode gegenüber. Bon
der Einheitlichkeit der Unterrichtsmethode wird ſich ſicherlich Vortreffliches
erwarten lafjen. Der zweite Schritt — und e3 werden hier nicht etwa Vor—
ſchläge gemacht, ſondern Thatſachen berichtet — geht darauf hinaus, den deutjchen
Unterricht aus feiner beſchämenden Lage, geduldet zu jein, zu erheben und zu
einem den andern Lehrfächern coordinirten zu machen. Denn jelbjt da, wo, wie
in Gleveland, in den Elementarclafjen mander Schulen elf Stunden wöchentlich
in deuticher Sprache ertheilt wurden, erfolgte die halbjährige Prüfung, von deren
Ausfall die Verſetzung abhängig gemacht wurde, nur in engliſcher Grammatif,
in Rechnen und Geographie. Es ift erfreulich, daß fich den deutichen Beftrebungen,
dem deutſchen Unterrichte eine würdigere Stellung zu erreichen, aud) maßgebende
Amerikaner bereit? angefchloffen haben. Der umfichtige amerikaniſche Super-
intendent des öffentliden Schulweiens in New-York jagt (fiehe officieller
Bericht für 1873, Seite 321): „Die Verſetzungen in eine höhere Claſſe erfolgen,
ohne im Geringften auf den Fleiß und die Frortichritte des Schülers im Deutjchen
Rüdficht zu nehmen. Und das ift ein großes Unrecht. Seine Leijtungen im
Deutſche Rundſchau. I, 11. 17
258 Deutiche Rundſchau.
Deutichen fjollen bei der Trage feiner Verfegung nicht minder berüchichtigt
werden, wie feine Fortjchritte im Englifchen, im Rechnen und in der Grammatif.
Unterläßt man es, jo ſchwächt man den Einfluß des Lehrers auf den Schüler.
Derjelbe gewöhnt ſich jehr ſchnell an die Auffaffung, daß der deutfche Unterricht
nur geduldet wird und daß e3 jchließlih nur auf jeinen guten Willen anfommt,
ob er etwas lernen will, oder nicht. Um es kurz zu jagen, es entjtehen aus
diefer Duelle zahlloje Uebel.“
Als drittes und ſehr bedeutjames Mittel, den deutſchen Unterricht wirk-
famer zu machen, betrachten die deutjchen Lehrer, und auf ihre Empfehlung hin
auch die deutjchen Mitglieder der Erziehungsräthe, eine Beſtimmung, welche den
Schüler, der in der leßten Elafje den deutſchen Unterricht angefangen hat, zwingt,
ihn aud durch alle Claſſen fortzufeßen, jo zwar, daß feine Duldung in der
Schule davon abhängig gemadt ift.
Daß diefe drei Bedingungen — gleihmäßige Lehrmethode, Koordination
mit den übrigen Lehrgegenftänden und ſyſtematiſches Heranziehen der Schüler
zum Unterrichte — ehe fünf Jahre verfloſſen find, in faft allen Städten bewilligt
fein werden, dafür darf al3 eine Gewißheit das bisher unter viel jchtwierigeren
Berhältniffen Errungene betrachtet werden. Und in demjelben Maße ala die
Leiftungen in die Augen jpringen, wird fich auch bei dem Amerikaner die Ueber—
zeugung Bahn brechen, daß mit der vollftändigen Aufnahme des deutſchen Unter-
richtes m die Lehrpläne der öffentlichen Schulen nicht nur eine Pflicht gegen die
eingewanderten Bürger erfüllt wird, jondern daß damit der Gefammtheit ein
außerordentlicher Dienjt geleiftet wird.
Noch mehr. Bei der Verjchiedenartigkeit der Elemente, aus denen ſich die
amerikaniſche Nation zujammenjegt, muß es um jo werthvoller fein, an den
Deutjchen eine feſte Stüße zu haben, die fi) auch ohne Gejeh dem Schulzwang
unterwerfen, al3 die Kinder der Jrländer, Scandinavier und Italiener in bedenk-
licher Zahl ohne allen Unterricht aufwachſen. Ihren Anſpruch auf neue Rechte
können die Deutjchen begründen mit der Erfüllung von ihnen noch nicht einmal
geforderter Pflichten. Denn fie find es, die Ichließlich dem Lande die Männer
liefern, denen e8 vorbehalten jein wird, die Pfleger von Kunft und MWiffenjchaft
zu fein. Es ift nicht blos ein Zufall, ſondern eine Folge deutſchen Strebeng,
wenn fich unter den 21 Jünglingen, welche da3 „College of the City of New
York“, die höchftftehende Erziehungsanftalt der Stadt, im April 1872 abjolvirten
und den Zitel „Bachelors of Science* errangen, fich dreizehn Namen befanden,
die ganz unzweifelhaft auf deutfchen Urſprung hinweiſen.
Die Frage des deutjchen Unterrichts in den öffentlichen Schulen Amerika's
fann getroft den Händen überlafjen bleiben, in denen fie bisher geruht. Es hat
auf den voranstehenden Blättern gezeigt werden jollen, daß fie auch für Deutjch-
land jelbjt von dem allergrößten Intereſſe iſt. Das Samentorn, durch welches
deutiche Sitte, deutſche Anſchauungen, deutjches Empfinden im fernen MWeften
eine Stätte finden jollen, ift die deutiche Sprade; das wenigftens hofft der
Deutſche in Amerifa. Sie ift das unfichtbare Band, welches ihn an die Hei-
math fettet; und wie warm er an ihr hängt, das zeigt er durch feinen Kampf
für die Mutterſprache.
Hfreitfragen der heutigen Sprahphilofophie.
Don
W. D. Whitney,
Profeffor des Sanskrit und der vergleichenden Philologie an Yale-Eollege, New: Haven.
—h
Die Wiſſenſchaft der vergleichenden Sprachforſchung, welche von Bopp und
Grimm gegründet und von unzähligen Nachfolgern würdig weitergeführt worden
iſt, hat in unſerm Jahrhundert erſtaunliche Fortſchritte gemacht. Man kann
jetzt in großen Zügen die Verbreitung, die Verwandtſchaft und den Bau der
menſchlichen Sprache erkennen, die Claſſification der Dialekte, ihre Trennung und
hiſtoriſche Entwickelung, die Vorgänge phonetiſcher Veränderungen — alle dieſe
Dinge verſteht man jetzt bis zu einem Grade, von dem unſere Vorgänger noch
vor fünfundfiebzig Jahren keinen Begriff hatten. Aber die vergleichende
Philologie hat bisher den Vorrang behauptet über dad, was wir die Sprad)-
wiſſenſchaft im Bejonderen, die Glottik, nennen könnten. Ueber die Zufammen-
jtellung und Erklärung der mannigfaltigen Thatjadhen in der Spradhengejchichte,
das Erkennen der Kräfte, welche ihnen zu Grumde liegen und fie hervorrufen,
kurz, über Grundlehrſätze der Sprachenphilojophie herrſcht durchaus nicht die
Gleichheit der Anfichten, welche einen Zweig vorgejchrittenen Willens kenn—
zeichnen jollte, jondern vielmehr eine große Meinungsverichiedenheit, welche oft
mit Nichtbeachtung augenfälliger Facta, oberflächlicher Beweisführung und einer
auffallenden Vernachläſſigung des Zufammenhanges verbunden ift.
Einige Beijpiele werden genügen, dies zu erläutern: Die Anfiht Bopp’s,
da grammatikaliiche Formen durch Anordnung, Zufammenjegung und Ver—
Ihmelzung uriprünglich jelbftändiger Wörter gemacht werden und immer ge—
macht worden find, kann als die leitende und orthodore Anfiht der modernen
Schule der Philologen betrachtet werden, der Schule, deren Haupt vor allen
anderen jebt Lebenden Georg Gurtius if. Dennoch gibt es Gelehrte erften
Ranges, welche diefe Anficht verwerfen und behaupten, daß die Endungen der
Ableitung und Beugung, die geftaltenden Theile der Wörter, zugleich; mit dem
Thema, an welches fie angehängt zu fein fcheinen, entftanden, oder aud) auf
irgend eine geheimnißvolle Art demjelben entiprofien find. Die meiften Sprad)-
gelehrten behaupten, daß die Entwidelung des grammatiihen Baues einer
17°
260 Deutjche Rundſchau
Sprache das Werk von Jahrtaufenden gewejen ift, daß fie anfängt in den früheften
Zeiten, daß fie fortgejegt wird durch die ganze Lebensdauer einer Sprache, und
daß fie niemals endet; während eine berühmte und bewunderte Autorität das
ganze Gebilde einer jeden Spradhe für etwas auf einen Schlag (d’un seul
eoup) Entftandenes erklärt; und andere, obgleich fie ſich vielleicht nicht zu
diefer Lehre befennen möchten, vertreten doc Anfichten, in denen dieſelbe ent-
halten ift. Die vorherrjchende Anficht ift, daß die ganze Welt von Familien
vertvandter Dialekte erfüllt ift, und daß eine Familie von Sprachen jowol
al3 von Individuen und Raffen, durch Verbreitung und Abzweigung von einem
Hauptftamm entfteht, doc ein oder zwei Lehrer von allgemein anerkannten
Ruf verlangen dagegen von ung, zu glauben, daß die Sprache in einem Zuftande
unendlicher dialektiſcher Vielfältigkeit angefangen und immer nad Vereinigung
geftrebt hat, daß e3 daher überhaupt nur zwei oder drei wirkliche Sprachen
familien gibt, welche da8 durchaus ungewöhnliche Rejultat bejonderer und un—
erflärbarer Vorgänge willfürlicher Concentration in grauer Vergangenheit find;
und nod ein anderer fühner Zweifler macht großes Aufjehen, indem er die ge—
wöhnliche Theorie eines Stammbaumes ſprachlicher VBerwandtichaft leugnet und
an ihre Stelle eine Theorie von Wellenbewegung fett, die von einem Mittel-
punkt ausgeht. In Bezug auf die alte Frage über den Urjprung und die An—
gemeffenheit von Namen find die Stimmen noch getheilt zwiſchen den beiden
Antworten gvoe: und eve. Einige behaupten mit mehr oder weniger Con—
fequenz, daß die Sprache ein Naturorganismus ift, der aus eigener Kraft und
nach eigenen Gejeßen wächſt und woran die Menjchen nichts ändern können;
Andere erklären fie für ein Werkzeug, welches in jeder Einzelnheit von Den-
jenigen, welche es gebrauchen, hervorgebradt iſt. Manche jprechen von ihr ala
von einer menjchlichen Kraft oder Fähigkeit, wie Gefiht oder Gehör, als einer
Gabe, als identiſch mit Denken und Vernunft, al3 der einzigen unterjcheidenden
Eigenſchaft des Menſchen; Andere betrachten fie als eine der verichiedenen
Aeußerungen der Fähigkeiten und Antriebe, weldhe den Menſchen joweit über
die niederen Gejchöpfe erheben; al3 eine, welche unter normalen Bedingungen
ficher ift in’3 Leben zu treten, aber durch die bloße Gewalt äußerer zufälliger
Verhältniffe zurücdgedrängt werden kann, nicht aus einem Mangel in feiner
Naturanlage, jondern in jeiner Erziehung. Die Meiften behaupten, daß das Kind
feine eigene Sprache lernt; Andere beftreiten heftig, dat Lehren oder Lernen
irgend etwas damit zu thun hat. Manche erklären ihr Studium für eine
phyſikaliſche Wifjenjchaft, während fie Anderen nicht weniger eine hiftorifche oder
moralifche Wiſſenſchaft, als irgend ein Zweig der Gejchichte des Menſchen und
feiner Werfe zu fein jcheint.
Alle diefe Punkte find, wie man leicht jehen kann, von der größten und
tiefften Bedeutung. Es find Punkte, in Bezug auf welche nır Eine Partei
möglicherweije Recht haben kann. Wielleicht können wir den Grund der faljchen
Anficht angeben und Diejenigen entſchuldigen, weldje fie vertreten, indem mir
zeigen, wo fie irre geführt find, weil fie die Thatſachen von einem faljchen
Geſichtspunkt anjehen, die Bedeutung eines Ausdruckes falſch verftehen oder jeine
doppelte Beziehung vergefjen und verwechſeln, wichtige Beweije unbeachtet Lafjen,
Streitfragen ber heutigen Sprachphilojophie. 261
unter der Herrichaft alter, bereit3 twiderlegter Vorurtheile bleiben u. dal.; aber
Unrecht haben fie dennoch. Und es ift jehr bedauernäwerth, dat über jolche
Gegenftände die Meinungen der Sprachgelehrten jo verjchieden fein können.
Wahrlich, dad Studium der Sprache, welches von allen Seiten wegen der Ge-
nauigfeit feiner Methoden umd der Gediegenheit feiner Nefultate jo laut ge-
priejen worden ift, jollte heute jo weit vorgejchritten jein, daß jeine Vertreter
eine wenigften3 annähernd übereinftimmende Meinung, 3. B. darüber, was ein
Wort ift in Beziehung zu dem Begriff, den es ausdrückt, abgeben und dann dieje
Meinung logiſch und vernunftgemäß bis in ihre lebten Gonjequenzen verfolgen
fönnten. Ohne Zweifel fehlt e8 der großen Gejammtheit der Sprachgelehrten
nicht an der Kenntniß und Einficht, welche fie zu richtigen und übereinftimmenden
Anfichten Führen könnten, wenn fie nur dazu zu bringen wären, die Noth-
wendigkeit der Mlarheit und Folgerichtigkeit in diefer Sache einzujehen. Aber
fie find bis jet von den endlofen, dringenden, noch bei Weitem nicht erichöpften
Detail3 ihrer Aufgabe in Anſpruch genommen geweien. Deutichland ift die
wahre Heimath der philologiſchen und Linquiftiichen Studien. Die Welt ift jeit
lange gewöhnt, von den deutſchen Gelehrten die einzig competente Enticheidung
aller Fragen in diefem Gebiete zu erwarten, und ehe fie ein Urtheil gebildet
und ausgefprochen haben, kann von feiner weltbeherrichenden Theorie die Rede
fein. Leider find fie ebenfo wie die Gelehrten anderer Länder gleichgültig gegen
die Fragen der Spracdhphilojophie, oder fie können ſich nicht von ungeſunden
und inconjequenten Auffaffungen frei machen. Auf beiden Seiten der oben
erwähnten Streitfragen ftehen deutjche Namen von höchfter Berühmtheit, und
die deutjchen Kritiker, welche die Werke über die allgemeine Theorie der Sprachen
behandeln und vergleichen, pflegen kaum zu beachten, daß fie widerftreitende
Lehrfäße vor ſich haben, von denen der eine begünftigt und zuleßt, unter Aus-
ſchluß des anderen, angenommen werden jollte Kurz, die Sprachwiſſenſchaft
ift in allen diejen Beziehungen in einem Zuftande, der chaotiſch genannt werden
darf. Und diejer Zuftand jollte jo bald als möglich auf eine oder die andere
Art beendet werden. Vielleicht bedarf es dazu eines heftigen Anftoßes, vielleicht
mußten die Stimmen ſich laut erheben und erjchütternd aneinander jchlagen,
ehe Ruhe und Harmonie erreicht werden könnte. Je fchneller daher der Zu—
fammenftoß herbeigeführt wird, defto beffer. Diejenigen, welche ftreben, die
Dinge auf der Oberfläche zu glätten und zu thun, ala wenn in der Tiefe Alles
eben und friedlich wäre, find feine wahren Freunde des Fortſchrittes der Wiſſen—
ſchaft. Das Ziel, welches erreicht werden muß, ift hauptſächlich dies: die Auf-
merkſamkeit der Gelehrten auf dieſe Gegenftände zu lenken, fie zu veranlafjen,
die Ktenntnifje, welche fie befigen, zu ordnen und dazu zu benußen, eine bewußtere
Schlußfolgerung einzuführen, den Styl der Discuffion logiſcher und weniger
abjchweifend zu machen, eine wiſſenſchaftliche Methode zu begründen, von welcher
der Einzelne nicht abweichen, und doch ertvarten darf, Aufmerkſamkeit von feinen
Mitarbeitern zu erzwingen. In der Sprachenvergleichung ift dies in den Haupt-
ſachen ſchon geichehen; in der linguiſtiſchen Philojophie ift man noch weit davon
entfernt.
262 Deutiche Rundſchau.
Ich will nicht verfuchen, die verjchiedenen herrſchenden Richtungen und
Neigungen in der Sprachwiſſenſchaft zu charakteriſiren. Wahrſcheinlich könnte
ich es nicht, — ficher nicht in dem mir bewilligten Raume, — ohne die Vor-
urtheile zu verrathen, welche einer jehr entjchiedenen Richtung angehören. Biel-
mehr will ich, jo kurz ala möglich, meine Anfichten über die hauptſächlichſten
ftreitigen Punkte und die Methode, nach welcher diejelben geprüft werden follten,
um einen erfolgreichen Abſchluß zu erlangen, darlegen. Meine Anfichten, befenne
ich von vorn herein, gehören nicht zu denen, die jet am meiften „en vogue“
find, beſonders unter den Sprachgelehrten von ad. »Sie find mehr in
Nebereinftimmung mit der populären, ungelehrten Anficht über die Sprache, der-
jenigen der großen Maſſe der Gebildeten, derjenigen, welche die meiften Belenner
unter den Naturforjchern Hat, welche an die Sache vom Standpunkt der all-
gemeinen Anthropologie herantreten. Diefer Umftand ift unzweifelhaft ein
prima facie Beweis gegen mid; dennod macht dies nicht viel aus, weil,
wie ich gezeigt habe, die Meinungen der Sprachgelehrten über Fundamental:
punfte noch in einem chaotiſchen Zuftande find und daher fein vereintes Gewicht
haben können.
Im Studium der Sprache, wie in faft allen übrigen Studien, hängt Alles
von der Art ab, in welcher die bezüglichen Fragen aufgetvorfen und angefaßt
werden. Meiner Meinung nad) gibt es in diefem Falle Keine jo fichere und er-
folgreiche Methode als die, zu unterfuchen, was unfere eigene Sprache uns ift,
und warum fie e3 ift, wie wir fie erlangten, und mit welchem Recht wir fie
befigen. Die allgemeine Spracdhenphilojophie, zu der wir uns befennen, muß
zuerft und vor allen Dingen mit den nächften und wohlbekannteſten Facta der
jeßt Iebenden Sprachen in Nebereinftimmung fein. Wir werden zwar nicht im
Stande fein, diefe Facta aus fich ſelbſt allein zu erklären; aber unjere Doctrin
darf auf feinen Fall diefelben beftreiten. Das gegenwärtige Stadium der
Sprade kann nur vollftändig verftanden werden durch ein Begreifen der ver-
gangenen Stadien, dieje aber twieder fünnen durchaus nicht verftanden werden
außer durch die gegenwärtigen; und aljo ift die Gegenwart unjer Ausgangspunkt.
Wenn die Naturwiſſenſchaft Werth Hat durch ihren Einfluß auf andere Wifjen-
ichaften, jo ift es dadurch, daß fie ihnen ihre Methode der Forſchung mitgetheilt
hat, welche darin befteht, daß man mit dem Belannteften anfängt und haupt=
ſächlich berüdfichtigt, was man vor Augen hat; daß man die unter feiner
eigenen birecten Beobachtung wirkenden Kräfte und ihre Weife zu wirken ſtu—
dirt, und zurüdgeht in die Vergangenheit, durch jorgfältige, analoge Beweis—
führung, immer jchließend von gleichen Wirkungen auf gleiche Urfachen, nie-
mal3 neue Kräfte und neue Arten des Vorganges annehmend, ausgenommen,
wenn die befannten ganz unfähig find, die vorliegenden Thatjachen zu er—
Hären; und jelbft dann nur unter den vorfichtigften Reftrictionen.
Natürlich) muß die Verfchiedenheit der Bedingungen und Umftände berück—
fihtigt werden. Der Sprachforſcher mag zu einer frühen Stufe der Sprache
gelangen, die der Gegenwart jo wenig gleicht, wie ein civilifirtes Land, erfüllt
von den Werfen jeiner Bewohner, einer nır von reißenden Thieren bewohnten
Wildniß, oder wie der Kosmos der Gegenwart dem nebelhaften Chaos, dem er
Streitfragen der heutigen Spradhphilofophie. 263
entftieg; dennoch darf der Unterſchied nur al3 die Summe einer allmäligen An-
häufung von Rejultaten in einer ununterbrodhenen Linie von Thätigfeit be-
trachtet werden. Die wejentlihe Einheit der Sprachengeſchichte in allen ihren
Phajen und Stadien muß zum Hauptprincip unjerer Forſchung gemacht werben,
wenn biejelbe einen wiſſenſchaftlichen Charakter haben fol. Die unmittelbare
Annahme, daß frühere Vorgänge in der Spradhenbildung verjchieden von den
neueren waren und jein mußten, und daß die erjteren nicht nad) den letzteren
beurtheilt werden können, würde, wenn die Sprachwiſſenſchaft ein ebenjo vor-
geſchrittener Zweig des Willens wäre, wie die Geologie, hinreichen, den Be—
fenner diefer Annahme von den Reihen der wiſſenſchaftlichen Sprachforſcher
auszufchließen.
Auch dürfen wir die Sprade, wie fie fich jet darftellt, nicht in ihrer
Totalität betrachten, wenn wir nicht fehlgreifen und una in endloje Allgemein=
heiten und Alltäglichkeiten verlieren ſollen. Wir wollen ein individuelles
Spradhenfragment nehmen, ein einzelnes Wort, welches wir gleihjam in der
Hand Halten und genügend beurtheilen können. 3. DB. das Wort Bud. Der
Begriff, den es ausdrüdt, ift ein ſehr complicixter, bedarf jedoch hier feiner
Definirung. Wie erlangten wir dies Wort? Jede andere Sprachgemeinſchaft
der Welt, die das Ding befigt, hat aud) einen Namen dafür; aber die Namen
find alle verjchieden — livre, libro, book, biblion, kniga, kitäb, pustaka u. ſ. f.
— vielleiht ein ganzes Hundert. Warum gebrauchen wir für unfere Vorftel-
lung von der Sache gerade dies eine Wort von hundert? E3 gibt nur eine Ant-
wort darauf, eine nüchterne Antwort, welche feine Philojophie wegraijonniren
fann. Wir lernten dad Wort, weil wir e8 gebrauchen hörten, während wir be=
Ihäftigt waren, die Dinge und ihre Namen fennen zu lernen; es vielmals ge—
brauchen hörten, und in Beziehungen, die und zeigten, was es bedeutete; wir
lernten eine Reihe von Tönen hervorzubringen, und fie mit der Vorftellung zu
verbinden, gerade wie wir ein anderes von den Hundert, oder eins von taufend
anderen Zeichen, wie twir eine Bewegung der Hand oder eine vieredige Figur
fennen gelernt hätten. Es befteht für und durchaus feine Verbindung zwiſchen
dem Zeichen und dem bezeichneten Dinge, außer diejer geiftigen, künſtlich gebil-
deten Aijociation, welche durch den Vorgang Anderer, nad) ihrem Beijpiel, durch
feinen inneren Antrieb hervorgerufen ift. Freilich willen Einige unter uns, daß
das Wort eine ſeltſame Geſchichte hat, daß es verwandt jein joll mit Bude,
weil Buchenftäbe das erfte Material waren, da3 unjere rauhen Vorfahren be—
nußten, um Runen darauf zu rigen. Doch ift dies nichts als ein gelehrtes
Curioſum; unſer Wiffen oder Nichtwiſſen, unjer Glaube oder Nidhtglaube an die
und gegebene Erflärung Haben nichts zu thun mit unjerem Gebrauch des
Wortes Bud. Wir gebrauchen es, weil Andere, mit denen das Schidjal uns
in Berührung gebracht hat, es auch gebrauchen, weil wir uns durch dafjelbe
mit ihnen verftändigen können. Wenn ein Sind deuticher Eltern zufällig in
London, Paris, Rom oder Peking geboren wäre, würde es ein von diejem ver-
ſchiedenes Wort, oder neben ihm ein anderes von derfelben Bedeutung gelernt
haben; und es gibt gemifchte Nationen, wie 3. B. die amerikanische, in welchen
264 Deutſche Rundſchau.
Abkömmlinge von faſt allen Raſſen der Welt ein und daſſelbe Wort (book) als
ihr „angeborenes“ Zeichen gebrauchen und ſogar kein anderes kennen.
Alles dies iſt nicht richtiger in Beziehung auf das Wort Buch als in
Beziehung auf die anderen Wörter, aus denen unſere Sprache zuſammengeſetzt
iſt. Wir erlangten ſie alle auf dieſelbe Weiſe; wir behalten ſie alle nach dem—
ſelben Rechte. Selbſt wenn wir die ſeltene That vollbringen, ein neues Wort
zu machen, haben wir nur aus dem alten Material eine neue Münze gleich all'
den übrigen geprägt.
Dies beweiſt hinreichend, daß in eigentlichem Sinne unſere Wörter will—
kürliche und conventionelle Bezeichnungen ſind: willkürlich, nicht weil kein Grund
für die Wahl eines jeden Wortes zu ſeinem Gebrauch angegeben werden kann,
ſondern weil der Grund nur ein Hiftorifcher, nicht ein nothwendiger ift, und
weil irgend ein anderes von den hundert gebräuchlichen oder von den taufend
möglichen Wortzeichen von uns hätte gewählt fein können, um genau demjelben
Zweck zu entiprechen; conventionell, nicht weil e8 von einer Convention erwählt
wurde (welches conventionelle Ding wurde dies jemals?), noch weil die Men—
Then fich dariiber jpeciell irgendwie verftändigt hätten, jondern weil feine An-
nahme duch uns ihren Grund Hatte in dem iübereinftimmenden Gebraucdhe.
Niemand kann diefe beiden Epitheta der Sprache leugnen, wenn er nicht ihre
Bedeutung mißverfteht.
Uebrigens macht ſich der Lernende nicht zuerft eine unabhängige und angemej-
jene Vorftellung von einem Bud) und nimmt dann von Anderen den Namen
an, mit dem er es nennen will. Er eignet fi) ſowol die Vorftellung als die
Bezeihnung allmälig und mit Anleitung feiner Lehrer an. Er gibt zuerft viel-
leicht nur eine unvollkommene Andeutung des Wortes, die höchſtens jeiner
nächſten und bäufigften Umgebung verftändlich iſt. Er würde ſelbſt dieje nicht
machen, wenn er nicht einen ungefähren Begriff von der Sache hätte, die damit
bezeichnet wird. Aber fein Begriff ift äußerft roh und unzureichend, die Sache
ift ihm noch ein Geheimniß, zu dem er erſt jpäter den Schlüffel findet, und
da3 er in jeiner vollen Bedeutung exrft dann würdigen kann, wenn er dazu ge-
langt ift, die Geſchichte der Givilifation zu verftehen, von der ja ein ganzes
Gapitel in diefem einen Wort gewiljermaßen zufammengedrängt if. Ebenſo
ift es mit faft allen jeinen Erwerbungen in der Sprade. Eine Menge von
Borftellungen wird mit Hilfe von Wörtern feinem jungen Geifte zugeführt und
darin feftgehalten durch eine oder zwei oberflächliche Affociationen, während es
der jpäteren Entwidelung überlaſſen bleibt, diejelben mit Etwas zu erfüllen,
das ihrem wahren Werth näher fommt. Dem Kinde ift im Anfang die Bes
deutung ſolcher Worte wie: Gott, gut, Glaube, Gemwijjen, unverftänd-
lich; fogar die Worte: Sonne, Mond, Hite und Farbe fließen unendlich
viel mehr in fich, ala es ahnen fan. In jedem einzelnen Falle gibt das Wort
ihm nur einen beftimmten Kernpunkt, um welchen herum größeres Verftändnik
fih gruppiren kann. Es jucht beftändig der richtigen Vorftellung näher zu
fommen, jelbft wenn es eine ift, die menſchliches Wiſſen bisher nicht erreicht Hat.
Und jo wiederholt e8 in Kürze den Proceß, welchen die ganze Menjchheit durch—
gemacht hat, wie ein oder zwei weitere Beijpiele zeigen werden, Der Begriff
Streitfragen ber heutigen Sprachphiloſophie. 265
Planet ift von unjern Lehtern, den Griechen, auf uns gefommen und nad) der
am oberflächlichiten fichtbaren Eigenthümlichkeit der bezeichneten Gegenftände
benannt worden: nämlich nad) der des Wanderns oder Bewegens zwiichen den
anderen Sternen. Stein ungebildgter Menſch würde darauf verfallen, eine Glaffe
von Himmelskörpern mit diefem Namen zu bezeichnen ; viele Völker haben ſich
nicht einmal eine dee von ihnen machen können. Für die, welche gelehrt ge—
nug dazu waren, wurde die Bedeutung des Wortes erweitert durch die Beziehung
auf das Ptolemäiiche Syſtem von Kreiſen und Nebenkreifen. Dann veränderte
Kopernifus mit einem Schlage die Anſchauung von dem Worte und wandelte
die Glaffification, welche es darftellt, indem er die Sonne -und den Mond aus:
ſchied und die Erde ımter die Planeten aufnahm. Und alles dies dient nun
dazu, der anfangs unbeftimmten und formlojen Jdee, welche der Sprachenerlerner
zugleich mit dem erlernten Zeichen beibehalten muß, Geftalt zu geben. Ebenſo
muß das Kind zählen lernen, und daher werden jeine VBorftellungen von Zahlen
in ein Decimal- Syftem gebracht, nad weldem jeder höhere Factor durd)
Verbindung von zehn der nächſten niederen Fyactoren gefunden wird, bis
es zu ber Vorftellung kommt, daß dieſe Zehnfältigkeit eine weſentliche Eigen:
Ihaft der Zahl ift. ragen wir nun, wie dies eigenthümliche Syftem ent-
ftanden ift, jo finden wir, daß es fi aus der einfachen Thatſache ergeben
hat, dat wir zwei Hände und fünf Finger an jeder haben. Ein fo völlig
äußerlicher und zufälliger Umftand wie diefer, der von den einfachen Völkern,
welche ben erften Grund zu unjerer mathematiihen Wiflenichaft legten, in Be—
tracht gezogen wurde, beſtimmt die innere Geftalt, welche in jedem neuen Gliede
unjerer Nation die mathematiichen Vorftellungen annehmen; natürlich; ganz ohne
jein Wiflen.
Auf diefe Weile nimmt der junge Lernende mit Hilfe der Wörter die Ideen
in fi) auf, welde das Willen und die Erfahrung älterer Menichen geformt
haben; ex acceptirt die herrichenden Begriffe und Abftractionen feiner Nation,
zuerft nur unvolltommen, dann mit voller und unabhängiger eigener Thätigfeit,
bis er zuletzt heranwächſt zu der Höhe feiner Sprache und wenigftens in einigen
Fächern nicht3 mehr von feiner Umgebung zu lernen bat. Im Anfang und
etwas ſpäter wurde er von der lleberlegenheit feiner Lehrer an Kenntniſſen umd
geiftiger Entwidlung jo jehr vorwärts gedrängt, daß er weder Zeit noch Nei-
qung hatte, originell zu fein; nun wird er jeinerjeitö ein Lehrer und ein Bildner.
Durch feine eigene und die Einwirkung Anderer erleidet die allgemeine Aus-
drucksweiſe eine beftändige langfame Veränderung. Die neu ertivorbenen Stennt-
niffe müflen darin aufgenommen werden. Dies geichieht entweder wie bei
Planet duch Neugeftaltung der in alten Wörtern enthaltenen Vorftellungen,
duch Aufhebung der Grenzlinien früherer Glaffificationen, oder durch das Ktennen-
lernen neuer Eingelnheiten, welche unter alte Namen gebracht werden, gleich-
zeitig deren Inhalt ausdehnend, wie wenn Uranus umd Neptun in die Glafle
der Planeten aufgenommen werden, und die Satelliten des Jupiter und
Saturn aus der früher individuellen Benennung Mond eine Glaffe bilden, oder
durch Einführung neuer Namen für Gegenftände, Producte, Eigenschaften, Be:
ziehungen, die vorher unbemerkt, oder jo umdeutlih wahrgenommen waren,
266 Deutſche Rundichau.
daß fie feiner Bezeichnung zu bedürfen fchienen. Und die Bereicherung wird
bewirkt, indem man theilweife wohl überlegt Material von anderen Sprachen
entlehnt (wie Uranus umd Neptun), theilweije neue Zufammenjegungen
aus eigenem Material macht (wie Dampfſchiff, Eijenbahn), oder, wie
e3 am häufigften geichieht, alten Wörtern neue Bedeutungen ſubſtituirt oder
hinzutretende beilegt.
So wird die Sprache beftändig von Demjenigen, der fie gebraucht, angewendet,
den modificitten Inhalt feines Geiftes auszudrüden. Zugleich erleidet fie als
Inſtrument innerlih und unbewußt einen noch größeren Wechſel. Ihre phone-
tiſche ſowol als ihre grammatifche Form wird bequemer gemacht; durch die
Vergeiftigung materieller Elemente werden neue Beziehungen und Hin und wieder
eine neue Form eingeführt.
Jede Sprache iſt daher eine Anhäufung von Gewohnheiten, die durch Lehren
und Lernen von einer Generation auf die andere übertragen und durch wiſſent—
fihe und umwiffentliche Nahahmung ertvorben werden. Sie befitt daher eine ge—
wiſſe vis inertiae, eine Widerftandskraft wider Wechjel. Sie ift im Ganzen ftabil
und bleibt faft diefelbe. Aber wie alle Gewohnheiten, ift fie im Einzelnen dem
Wechſel zugänglid duch Einwirkung Derjenigen, die fie gebrauchen. Bis zu
diefem Grade ift fie aljo nicht ftabil; und fie verändert fich in der That überall
und zu jeder Zeit. Es gibt feinen lebenden oder verflungenen Dialekt, der
nieht don feinen Vorgängern verjchieden wäre, und im Ganzen verjchieden nad)
dem Maße der zeitlichen Trennung von ihnen. Der Unterjchied bejteht in
einer gewiſſen Zahl befonderer Einzelnheiten verjchiedener, oben erwähnter Arten,
und jede Einzelnheit ift fichtlich das Werk derjenigen Perſonen, die den Dialekt _
ſprechen. Sie ift vollftändig und leicht als ſolche erflärbar, fie zeigt feine Spur
von dem Vorhandenſein einer anderen Kraft. In dem gegenwärtigen Stadium
deſſen, was wir das Wachsthum der Sprache oder die Sprachengeſchichte nennen,
geſchieht nichts, was nicht unbeftreitbar die Wirkung menſchlicher Vermittelung
wäre. Die einzige Unklarheit darüber entfteht aus der Thatjache, daß die all-
gemeine Zuftimmung zu der perſönlichen Handlung Hinzufommen muß; denn
die Spradhe ift kein blos individuelles Eigenthum, jondern auch und vorzugsweiſe
eine gejellihaftliche AInftitution, und ihr bewußter und vorherrjchender Zweck
die Mittheilung. Da e3 gegenwärtig jo ift, und in den früheren Stadien der
Sprache ſich nichts bietet, was eine andere Erklärung verlangte, haben wir feinen
Grund, vorauszufegen, daß es ſich bis zurück in die früheften Zeiten anders ver-
halten habe. Denn, wie oben dargethan ift, die willenichaftliche Methode ver-
bietet uns, Kräfte und Vorgänge anzunehmen, die von denen verjchieden find,
welche wir durch eigene Beobachtung fennen, jo lange dieje für ihren Zweck aus—
reichen. Wenn die Methoden der Wortbildung und Formenbildung, die jich in
der hiſtoriſchen Periode darftellen, für das vorhandene Material und die Geftal-
tung der Sprache genügen, müfjen wir mit ihnen aufrieden jein und feine an—
deren verlangen. Und man kann mit der größten Zuverfiht annehmen, daß die
Sade fi jo verhält. Während aller geihichtlichen Perioden find, wenigftens
in unferer Spradenfamilie, durch die Zuſammenſetzung unabhängiger Elemente
und die Beſchränkung eines derjelben auf einen blos formalen Werth mit Hilfe
Streitfragen ber heutigen Spradhphilofophie. 967
des Formenwechſels und der Sinnveränderung, wie fie fi in jedem Theil der
Sprache zeigen, Formen gebildet worden; und dieſes Verfahren, welches ſich
nad den wechielnden Zuftänden einer fich entwidelnden Sprache richtet, Tann,
ſoweit wir bis jeßt beurtheilen können, niemal3 unzureichend gefunden werden,
den Bau der Sprade zu erklären. Wenn es ungelöfte Probleme in diejem Ge-
biete gibt, werden fie, wie man erwarten darf, geſchickterer Forſchung weichen;
oder jollte dies nicht geichehen, jo wäre es wahrjcheinlicy nur, weil die nöthigen
Beweile fehlen. Das Namengeben ift nichts weiter ald das Benennen der ge—
faßten dee, das Herbeiſchaffen einer Bezeichnung, die künftig mit einer bejon-
deren Vorftellung verbunden und gebraucht werden joll, um diefelbe im gejelligen
Verkehr und im Gedankenleben zu vertreten. Die Bezeichnung wird genommen,
too fie jich nach den Verhältniffen und Gewohnheiten jeder Nation am leichteften
finden läßt. In der Etymologie gibt e3 Feine Nothwendigkeit; nur die Paß-
lichkeit verbindet den neuen Namen mit feinem Uriprung: bei Buch ift es die
Verbindung Hiftoriicher Entwidlung, in Folge der zufälligen Wahl eines Ma—
terial3; bei Planet ift es eine Verbindung beabfichtigter, doch augenfällig un—
zureichender Beichreibung; bei Uranus und Neptun gelehrter und überlegter
Wahl, mit derfelben Berückſichtigung der Analogie, welche auch die unwillkür—
lichfte und populärfte Wahl der Benennungen leitet; und bei Decimal ift noch
Niemand im Stande geweſen, die Verbindung zu finden. Doch, befannt oder
unbefannt, genügend oder ungenügend, gelehrt oder volksthümlich, ift ganz gleich,
jo weit e8 den praftiichen Gebrauch der Sprache betrifft. Wenn der Name ein-
mal in Gebrauch gefommen ift, genügt er für feinen Zweck, woher er auch
ftammen mag. Es wäre überflüffig, fich ängſtlich um den Urſprung der Wörter
zu befümmern, während doch der Gebrauch bei jedem neuen Lerner immer nur
von einer künftlich gebildeten Ideenaſſociation abhängen wird.
Wo find nun die Spuren einer picıs zu entdeden in der Beziehung zwi—
ichen unjeren Vorftellungen und den Zeichen für diejelben, die jo gefunden, To
im Leben feftgehalten werden, jo beftändigen Veränderungen im Munde des
Sprechenden unterworfen find? Und warum follten die aus ſolchen Zeichen be—
jtehenden Sprachen für mehr ala die Werkzeuge, die fihtbare Ausrüftung des
Gedankens gelten? Der Gedanke, ala eine den Menſchen Eennzeichnende Fähig—
feit, ift die fpecielle Thätigkeit des Menjchengeiftes, zu begreifen, zu vergleichen,
zu folgern. Aber jedes Wort ift eine Thätigkeit des Körpers allein, ausgeübt
freilih unter der Führung des Geiftes, wie alle freiwilligen Thätigkeiten des
Körpers, aber in nicht höherem Grade das Werk des Geiftes als das Biegen
eines Fingers, das Schwingen des Armes, das Stoßen mit dem Fuß, oder
die Verzerrungen des Gefichtes. Ich kann weder in dem gegenwärtigen noch in
dem früheren Material der Sprache irgend welchen Beweis finden, daß eine
unmittelbarere Verbindung des Gedanfenapparates mit den Sprechmuskeln als
mit denen des Gefichtsausdrudes oder der Geberde befteht; umd ich jehe nichts
im Gebrauch der Sprache oder dem daraus gezogenen Nuben, was uns beiwegen
könnte, nach einem ſolchen Beweife zu fuchen. Der Gedanke wird wunderbar
unterftüßt, feine Kraft und Tragweite werden unendlich vergrößert durch den Be—
fit diefer Werkzeuge. Daffelbe geichieht aber auch mit den Fähigkeiten der Hand
268 Deutiche Rundſchau.
durch den Beſitz von Werkzeugen und Mafchinen, mit der Kraft und Aus»
dehnung mathematifcher Analyje durch den Gebrauch geichriebener Symbole und
Figuren. Hier ift eine wirkliche Analogie: die Hände jchreiten fort von einem
Grade der Fertigkeit zum anderen, indem fte die Rejultate ihrer Erfahrung, in
dem Mafe, wie fie fie erwerben, Werkzeugen von größerer Kraft einverleiben;
der Mathematiker fteigt von Stufe zu Stufe in der Beherrihung mathematischer
Begriffe und Schlüffe, mit Hilfe der neuen Symbole, welche er fi) ausdenkt,
um jede neue Abftraction, die er bildet, auszudrüden; und jo legt das ſprechende
Bolt die Erfolge jeiner zunehmenden Kenntniffe und Einfichten, feine wachſende
Kraft in der Handhabung de3 Apparat und der Behandlung der Gedanken—
objecte in immer neuen Zeichen nieder, mit deren Hilfe es bejtändig den Be—
reich feiner Gedanken erweitert und vertieft. Wenn nur das Gedanke genannt
werden kann, was in die Formen dev Spradhe gegojjen ift, wa3 wahrnehmbar
und gewiſſermaßen bewußt geworden ift durch die Sprache, dann ift der Schluß,
daß eins und zwei drei ift, fein mathematijcher Act, jo lange er nicht in Zeichen
ausgedrückt werden kann, und die beſchränkte Thätigkeit der loben Hände kann
dann nicht Arbeit genannt werden.
Wenn wir weder in den lebenden Sprachen, nod) in — bekannten Vor—
gängern, oder in irgend einem Stadium der Sprache, zu dem wir durch hiſto—
riſche Forſchung und Folgerung gelangt find, eine Fähigkeit natürlichen und in—
jtinctiven Ausdruds finden, der beftimmten Begriffen bejtimmte Bezeichnungen
beilegt, jo haben wir fein Recht diefe Fähigkeit unnöthigerweije bei dem Uran—
fange der Sprache vorauszujegen. Und diefen Anfang ohne fie zu erklären, ift
nicht ſchwer, wenn wir den Trieb der Mittheilung als einen Factor in dem
Vorgange der Sprabildung gebührend in Betracht ziehen. Indem wir diefem
Triebe einen jo wichtigen Pla einräumen, thun wir nichts, was unjerer
Kenntniß der Sprachengeſchichte zutwiderliefe; vielmehr das Gegentheil. Während
ihrer ganzen Lebensdauer ift die Sprache zuerft und vor Allem ein jociales Be—
ſitzthum, nicht ein individuelles; fte ift zuerft da zum Gebrauch des Individuums
in jeinem Verkehr mit andern Jndividuen, und dann zur Förderung feines
eigenen Geifteslebend. Die große Mehrzahl der Sprechenden, jelbft der gebil-
deten Leute, wird nicht gewahr, daß die Sprade etwas Anderes ift, ala das
Mittel, fi) mit Anderen zu unterhalten; ihr Werth als ein Werkzeug ihres
geiftigen Vermögen? muß ihnen gezeigt und mühjam erklärt werden. Die
Mittheilung iſt die beherrjchende Kraft in der Entwidelung der Sprade. Die
Thätigkeit des Einzelnen muß von der Allgemeinheit gutgeheißen werden, bevor
fie die Sprache beeinfluffen kann; die Einheit der Sprache befteht in alljeitiger
Verftändlichkeit, und ihre Grenzen werden durch die Gejammtheit beftimmt.
Man nehme den Trieb der Mittheilung Hinmweg, und feine Geiftesgabe des
Menſchen wird ihn zum Beſitz der Sprache führen: der vereinzelte Menſch ift
ſprachlos. Indem man dies zugibt, ſchmälert man die Menſchenwürde durd)-
aus nicht. Alle menjchlichen Kräfte bedürfen des äußern Anftoßes, um erweckt
und gebildet zu werden; alle Künfte und Wiſſenſchaften find entftanden als die
Folge der Bemühung, die natürlichen Zuftände zu verbejfern. Naturmenjchen
haben niemal3 weder die geiftigen und perſönlichen Vortheile der Sprache noch
Streitfragen ber heutigen Sprachphilojophie. 269
den Genuß reinen Willens gewürdigt. Die Mittheilung ift der einzige Trieb,
deſſen Einfluß jedes menschliche Weſen jeden Gulturgrades in vollem Maaße
unterworfen ift. Wir find Furzfichtige Gefhöpfe; wir ſehen nur immer einen
Schritt vorwärts, aber wir haben die Kraft, nachdem wir diefen Schritt gethan
haben, zu jehen, was dadurd gewonnen ift; und jo weiter jchreitend erkennen
wir mit Staunen, wie weit wir gefommen find.
Das große Hinderniß, faßliche und richtige Anfichten in Bezug auf die
Sprache herrichend zu machen, ift, wie mir jcheint, die Mehrbeutigkeit des Wortes
„Sprache“. Es bedeutet zwei ganz verjchiedene Dinge: eine Fähigkeit, und ein
Product der Ausübung diejer Fähigkeit. Die Sprade im erfteren Sinne —
nämlich al3 eine Kraft, Gedanken durch Zeichen auszudrüden, und dieſe Kraft
zu einer vieljeitigen und wunderbaren Einrichtung auszubilden, die den bedeu—
tendften Einfluß auf den Fortjchritt des Individuums und der Rafje hat — ift
eine Gabe, eine Eigenfchaft, ein Theil der Menjchennatur; aber dieje Kraft gibt
feinem Menfchen jeine Spradhe: dieje zeigt ſich nur in Folge hiſtoriſcher Ent»
wicelung, durch allmälige Anhäufung der Rejultate ihrer Ausübung. Sie madt
jedes menſchliche Wejen fähig, irgend eine Sprache zu lernen und zu gebrauchen,
jogar eine Sprache hervorzubringen — vorausgejeht, daß die Verhältnifje günftig
find und ihm Zeit gegeben ift, das heißt einige Hundert oder Tauſend
Menſchenleben. Aber die deutjche Sprache 3. B., oder irgend eine andere, ift
nicht eine ſolche Fähigkeit: fie ift das concrete angefammelte Product der Be—
mühungen fi) auszudrüden von Seiten der deutjch ſprechenden Nationen und
ihrer Vorfahren, Bemühungen, die durch Taufende von Jahren fortgejegt worden
find. Jedes derartige Product Hat jeine Geſchichte, d. h. es ift nur im Lauf
der Zeit, unter dem unendlich verichieden modificirenden Einfluffe geihichtlicher
Verhältniffe herausgearbeitet worden; jedes ift daher anders als die übrigen;
taufend Producte, von jedem Grade der Verjchiedenheit, aber jedes demjelben
allgemeinen Zweck entiprechend und geeignet, von allen normal begabten menſch—
lichen Wejen irgend einer Raſſe erlernt und gebraucht zu werden. Jedes bildet
einen integrivenden Theil der Cultur jeines Volkes und ift, wie alle Fünfte
und Einrichtungen des civilifirten Lebens, durch Lehren und Lernen von Einem
auf den Anderen übergegangen; gewöhnlich, aber nicht nothwendig, nur in der
Raſſe, welche es hervorgebradt hat. Eine Rafjeneigenthümlichkeit kann nicht
übertragen werden; aber eim Raſſenbeſitzthum kann, wenn die Umftände es
fordern oder begünftigen, von denen, die es erworben haben, aufgegeben werden,
oder auf Andere übergehen. Man lafje ein europäiſches Kind ganz unter Wilden
aufwachſen, und jein Leben wird in allen Theilen wild jein — in jeinen Be—
Ihäftigungen, feinen Spielen, jeinem Wifjen, jeinem Glauben; aud in jeiner
Sprade. Dagegen ein afrilanifches Kind, das unter Europäern erzogen wird,
zeigt in allen diefen Dingen eine Uebereinſtimmung mit Denen, unter die das
Schickſal es geworfen hat; es nimmt ihre Givilifation und damit ihre Sprache
an, und kann nur innerhalb der Formen und Grenzen dieſer Sprache feine
Raffeneigenthümlichkeit zeigen; ebenfo wie es und die Anderen ihre individuelle
Eigenthümlichkeit nur immer innerhalb derjelben Grenzen zeigen fünnen.
370 Deutiche Rundichan.
Ein weiteres Hinderniß, anderer Art, ift das (natürlich unbewußte) Ver-
langen nad) hochfliegenden, poetiſchen Ideen, deren bloßes Erfaſſen Die, welche
fie erfaßt haben, jcheinbar erheben jol. Die oben ausgeführten Lehrjäße find
in vieler Hinſicht iconoclaftiih, und daher ihnen widerftrebend. Sie wollen
des Menjchen geiftige Beſitzthümer als unmittelbare Geſchenke von jeinem
Schöpfer, oder al3 freitwillige Aeußerungen feiner edlen Natur betrachtet
wiſſen. M. Renan jagt (Origine du Lang., chap. III): „Die Spraden
find vollftändig fertig aus der Bildform des Meenfchengeiftes entiprungen, wie
Minerva aus dem Haupte des Jupiter.“ Ganz rihtig, möchten wir jagen; ber
Vergleich paßt jogar beifer al3 der beredte Autor meinte; das Eine hat ebenjo
viel Wahrheit in ſich, wie das Andere: Jedes ift eine jchöne Mythe, und e8
ift Schwer einzufehen, warum der, welcher die erftere ernftlicd annimmt, nicht
auch die leßtere annehmen ſollte. Dem einen Menfchen haben wir alle Poefie
des Lebens geraubt, wenn wir ihm zeigen, daß nicht fein Gott, auf einem
mächtigen Wagen durch die Himmel dahinrollend und Geſchoſſe auf die Dämonen
fchleudernd, den Donner macht, jondern daß nur projaijche meteorologijche Kräfte
ihn verurſachen. Einen Anderen haben wir vielleicht um Religion und Selbft-
achtung gebracht, wenn wir ihm erklären, wie die Exde ſich allmälig abgekühlt
und verdichtet, und mit vegetabiliihem und animaliihem Leben geſchmückt hat;
und wie der Menſch jelbft aus einem Zuftande der Wildheit nah) und nad
emporgeflommen und dazu gelangt ift, jeine Kräfte kennen zu lernen und zu
üben, Einrichtungen zu machen und weiter zu bilden — unter ihnen die Sprache, —
und fi) mühjam die Stenntniffe und die Weisheit erivorben hat, die ihn einft
zum Herrn der Natur erheben follen. Wir find alle abgeneigt, eine nüchterne
Wahrheit an die Stelle eines glänzenden Irrthums zu jeßen,; und wir jehen
nur langjam ein, daß, was uns bleibt, nachdem die täufchenden Farben aus—
gelöfcht find, mehr werth ift, ala was wir vorher zu haben glaubten.
Wenn diefe Ideen über die Sprache richtig find, dann trifft der Vorwurf
der Oberflächlichkeit, der zuweilen unüberlegt gegen die Vertreter derjelben erhoben
wird, vielmehr die Gelehrten, die, in dem falfchen Bemühen, tief zu fein, bie
wahre Grundlage und Methode der Sprachwiſſenſchaft verlaffen und verfuchen,
fie in die Sphäre der Piychologie Hinaufzuheben, oder in das Gebiet der Phyſik
zu verjeßen. Jeder Vorgang bei der Entftehung und dem Gebrauch der Sprache
ſchließt unendliche Myſterien ein, mit denen der Sprachforſcher ala ſolcher nur
in zweiter Reihe oder gar nicht zu thun hat. Um unfer Früheres Beifpiel wieder
aufzunehmen: die piychologiichen Procefje, durch welche der erſte Begriff von
einem Buch zum Theil durch Belehrung gebildet und nad) und nad) zu Um—
fang und Genauigkeit entwickelt wird, find ein Gegenstand des Studiums; die
phyſiologiſchen Proceffe, durch welche man das Wort Buch hört und dann im
Stande ift, es durd) einen nachahmenden Verſuch zu wiederholen, find ein anderer
Gegenstand; die Geihichte der Givilifation, welche ein folches Product hervor-
gerufen hat, und der Künſte, durch welche es zu Stande gebracht wird, ift noch
ein weiterer; und es gruppiren ſich noch viele um dafjelbe Wort; während,
wie in jedem Gebiete, da3 wir zu erforjchen verjuchen, die großen Probleme
de3 Dafeins und der Beltimmung des Menjchen im Hintergrunde emporragen.
Streitfragen der heutigen Spracdhphilofophie. 71
Aber von allen diejen ift feiner der Standpunkt des Sprachforſchers; für ihn
ift der Ausgangspunkt, daß eine Hörbare Bezeihnung Buch eriftirt, die in
einer gewiſſen Sprachgemeinſchaft einen beftimmten Begriff darftellt, die von
einer Mafje von Leuten gebraucht wird, welche nichts von der Geſchichte der
Bücher, noch von der Thätigkeit der Sprachorgane, noch von der Analyje geiftiger
Vorgänge willen, und die ihren Zwecken ebenfo qut dient, al3 wenn fie es Alles
müßten. Die Bezeichnung hatte eine beftimmte Zeit, Dertlichkeit und Grund
be3 Urſprunges; fie wurde ihrem Zweck angepaßt aus Urſachen, welche weder
in der geiftigen noch phyſiſchen Natur des Menſchen, jondern in feinen hiſtoriſchen
Verhältniſſen lagen; fie hat, bis fie in unjeren Gebrauch fam, gewiſſe Verände-
rungen der Form und der Anwendung durchgemacht. Hier ift der Standpunft,
den der Sprachforjcher einnehmen muß. Bon dieſem aus fieht er Alles in der
richtigen Stellung relativer Wichtigkeit. Die Sprade ift eine Gejammtheit,
nit von Gedanken, noch von phyſiſchen Handlungen, ſondern von phyſiſch
wahrnehmbaren Zeichen des Gedankens; und der Sprachforſcher beginnt fein
Merk mit diefen Zeichen, ihrem Zweck und ihrer Geſchichte. Zwiſchen ihm und
den Sprachgelehrten der anderen, oben erwähnten Fächer der Wiſſenſchaft,
befteht eine Beziehung gegenjeitiger Hilfsleiftung, aber Jeder ift unabhängig von
dem Anderen. Die Beiträge der Sprache zur Piychologie übertreffen bei Weiten
an Werth diejenigen der Piychologie zur Sprachwiſſenſchaft, da die letztere der
Schlüſſel zur hiſtoriſchen Entwidelung de menſchlichen Gedankens ift, und da
Worte nicht das unmittelbare Product von Vorgängen des Erkennens, des
Abftrahirens, oder des Folgerns find, jondern nur das Refultat freiwilliger
Verſuche, jene Vorgänge mitzutheilen.
Vor ungefähr acht Jahren (London und Newyork, 1867) veröffentlichte ich
eine zufammenhängende und jorgfältig begründete Darlegung meiner Anfichten
über die Sprache unter dem Titel „Language and the study of language“.
Diejes Werk ift jeitdem (München 1874) in deutſcher Sprache, mit Modifici-
rungen und Beiträgen von Dr. J. Jolly, erichienen. In demfelben beichäftigte
ich mich nur wenig mit den abweichenden Meinungen Anderer, fondern erwartete,
daß meine eigenen fi durch ihre Folgerichtigkeit, ihre Mebereinftimmung mit
wohlbefannten Thatſachen und ihre Kraft, die verichiedenen, von der Wiſſen—
ichaft vorgelegten Probleme zu Löjen, empfehlen wirden. Ich kann mich nicht
über die Aufnahme beklagen, welche dieje Schrift gefunden hat, und habe mid)
gewiß nie beflagt. Aber ich habe während diejer acht Jahre wiederholt Gelegen-
heit genommen, die entgegengejeßten Anfichten Anderer und die Gründe, durch
welche diejelben unterftüßt werden, genau zu prüfen und freimüthig im Einzelnen
zu kritiſiren. Bejonders habe ic) dies gethan, hervorragenden und berühmten
Männern gegenüber, Männern, die dad Publicum gewöhnt ift, in allen auf
die Sprachwiſſenſchaft bezüglicden Dingen ala Führer zu betrachten. Dies
fann gewiß faum unnatürlich oder unpafjend gefunden werden. Was unbekannte
und unbeadhtete Perfonen jagen, ift von gar feiner Bedeutung; aber wenn 3. B.
Schleicher und Steinthal, Renan und Müller lehren, was mir ein
Irrthum zu fein jcheint, und es mit Beweifen zu ftüßen juchen, bin ich nicht
nur berechtigt, jondern ſogar berufen, fie zu widerlegen, wenn ich kann. Unter
272 Deutſche Rundſchau.
dieſen Forſchern ſcheint indeß der letztgenannte anderer Meinung zu ſein. In
ſeinem Artikel in der ‚Deutſchen Rundſchau“ vom letzten März (pp. 387 bis
412), betitelt „Meine Antwort an Herrn Darwin“, findet er es nöthig,
mir eine ftrenge Lection über meine Anmaßung zu geben — obgleich er mir
zugleich jehmeichelt durch die Andeutung, daß meine Art, nur die hervorragendften
Männer zu kritifiren, anerfannt wird, und daß die auf dieje Weile Kritifirten
fich dadurch ausgezeichnet fühlen. Ich fürchte kaum, daß die allgemeine Mei-
nung der Gelehrten ihn in der Stellung, die er eingenommen hat, unterftüen
wird. Jede ſolche Streitfrage muß durchaus nad) ihrem wahren Werth allein
beurtheilt werden. Wenn e3 mix nicht gelungen ift, meine Einwände gegen bie
Anfichten Derer, die ich einer Kritik unterzogen habe, gehörig zu begründen, dann
babe ich mich, mögen deren Vertreter bedeutend oder unbedeutend fein, der An—
maßung ſchuldig gemacht, und verdiene eine Zurechtweilung; wenn ich dagegen
meine Meinung mit triftigen Gründen gegen die ihrigen vertheidigt habe, bin
ih im Recht. Unter diefer Vorausfegung bin ich vollfommen bereit, mich dem
Urtheil unparteiticher Lejer zu unterwerfen.
Ich halte Heren Prof. Müller nicht für befähigt, mich ganz gerecht zu
beurtheilen. Denn erſtens habe ich, in Folge feiner außerordentlichen Popularität
und der bejonderen Wichtigkeit, die feinen Ausjprüchen beigelegt wird, mich
veranlaßt gefühlt, feine Meinungen öfter al3 die irgend eines anderen Mannes
zu Eritifiven, und ihnen mehr oder weniger abweichende Anfichten entgegen-
zuftellen; wobei ich mich doch immer auf's Aeußerfte bemüht Habe, in feinen
Werfen zu entdeden und zu loben, was ic) nach meinem Gewiſſen billigen
fonnte — welches Verfahren ex nicht gehörig zu würdigen jcheint. Und zweitens
jcheint er es für überflüffig zu Halten, ſich durch jorgfältige Prüfung meiner
Schriften zur Beurtheilung fähig zu machen. Meine Beleuchtung jeiner Vor—
(efungen über „Darwinismus und Sprache“, deren Mittheilung in der „Contem-
porary Review“ dur Mr. George Darwin jeine Antwort hervorrief, hat er
während der ganzen neun Monate, die jeit ihrer Veröffentlichung verfloffen find,
ji nicht die Mühe genommen, zu Geftcht zu befommen und vollftändig zu leſen,
beantwortet fie aber, oft auf's Gerathewohl, einzig nah Mr. Darwin’3 Auszug.
Mein Werk über die Sprache behauptet er niemals angejehen zu haben, bevor
er durch die beifällige Erwähnung meiner Anfichten in der „Contemporary“
dazu angeregt wurde. Selbft die Prüfung, der ev meine Schrift jet endlich
unterworfen hat, ift augenjcheinlich nur äußerft flüchtig gewweien. Er hat nicht
bemerkt, daß fie in England und nicht nur „in Amerika“ gedruckt und verlegt
worden ift. Er hat nicht entdedt, daß die Sprache darin „ſyſtematiſch“ behandelt
iſt. Er ift hauptſächlich frappirt von der ANehnlichkeit des Wertes mit feinem
eigenen; da wirfli auf den erften Blick Aehnlichkeiten immer mehr in die
Augen fallen als Unterfchiede,; wenn ex jeine Unterſuchung fortjegen will, werden
die tieferliegenden Verſchiedenheiten der Anfichten und des Entwurfes ihm viel-
leicht mehr und mehr einleuchten. 3. DB. wird er es möglicherweije für mehr
al3 eine Sache der Terminologie und der technijchen Definition anjehen, daß er,
obgleich jaft auf der gleichen Grundlage von Thatſachen weiter arbeitend, das
Sprachſtudium für eine phyſikaliſche Wiſſenſchaft erklärt, weil die Menjchen
Streitfragen der heutigen Spradhphilojophie. 273
ihre Sprache nicht machen, und ich für eine hiſtoriſche Wiſſenſchaft, weil fie es
thun. Der Unterſchied erſcheint Anderen wichtig genug, nad) der Thatſache zu
ſchließen, daß Georg Curtius in der zweiten Ausgabe feiner „Chronologie der
Sprachforſchung“ von der erfteren Anficht ala einer jet überwundenen ſpricht,
und dabei auf meine Erörterung des Gegenftandes hinmeift.
Aber, was am ſchlimmſten ift, Herr Prof. Müller führt einige angebliche
Irrthümer und Inconfequerzen don mir an, in einer Art, die nur durch außer»
ordentliche Haft entjchuldigt werden kann, da fie durch Berüdfichtigung des
Zujammenhanges der Stellen vollftändige Aufklärung erhalten würden. Er
wählt jogar, mehr al3 einmal, einen Sat, um zu zeigen, daß ich eine Meinung
aufrechthalte, geradezu aus einem Argumente für die entgegengejeßte Meinung.
3. B., indem er (p. 393) meinen Ausſpruch anführt: „Die Facta der Sprache
find faft ebenjowenig das Werk des Menſchen als die Form feines Schäbels“,
überfieht ex die vorhergehenden Clauſeln defjelben Sabes: „Gegenüber den Zwecken,
die er (dev Sprachforſcher) bei feinen Unterſuchungen verfolgt, und den Rejultaten,
die er zu erreichen hofft“. Das Ganze ift nämlich ein Theil eines Abjchnittes,
welcher beweijen joll, daß „das Mangeln der Reflection und bewußter Abficht
e3 ift, wa3 den Erſcheinungen des Sprachlebens das jubjective Weſen benimmt,
welches ihnen jonft ala Erzeugnijjen der freien Willensthätig-
keit anhaften würde”. Weiter ift mein Kritiker entfeßt, „das phöniciſche Alpha-
bet noch immer ala den Urquell aller Alphabete bezeichnet zu ſehen“. Sicher ift e3
der Urquell in der gemeinten Bedeutung — nämlich da3 Alphabet, von dem
die anderen fich herleiten, zum Theil duch manche Zwifchenftufen; der Punkt,
in welchem fie alle zufammenlaufen. Aber wenn Herr Prof. Müller meine
zwölfte Vorlefung beachtet hätte, wo die phöniciſche Schreibart zum Gegenftand
von etwas mehr ala einer blos flüchtigen Bemerkung gemacht worden ift, würde
er ihre eigene jecundäre Beichaffenheit eingehend erörtert gefunden haben.
Wenn Herr Prof. Müller erft ganz neuerdings das Werk gelefen hat, in
welchem ich jelbftändig und zufammenhängend mein eigenes Syftem auseinander-
geſetzt habe, jo ift er natürlich nicht in der Lage geweſen, die kritiſchen Artikel
richtig zu beurtheilen, in welchen ich die zugeftanden polemijche Abficht Hatte,
zu verſuchen, ob daſſelbe den entgegengejegten Anfichten anderer Autoren gegen-
über fich behaupten Könnte. Vielleicht ift e8 natürlich, daß ich ihm zu ftreit-
fühtig erſchien. Aber ih kann nicht umhin zu fragen, ob er jemals dieſe
Artikel gelefen hat? oder ob er auch fie nur auf diejelbe Weile kennt, wie den
einen, fürzlich in den Blättern der „Contemporary“ von Mr. Darwin benußten ?
nämlih nur in Fragmenten und aus Anführungen Anderer. Sonft hätte er
fiherlidy ihren Sinn nicht jo mißverftehen können. Er jcheint zu glauben, daß
ic) die Gewohnheit habe, allgemeine herabjegende Bemerkungen über die Ge-
Iehrten zu machen, deren Werke ich ftudire, und ihnen harte Worte ftatt der
Beweiſe Hinzumerfen. Er gibt eine Kleine Lifte ſolcher Wörter, die ihm beim
Durchblättern meiner Arbeiten in’3 Auge gefallen find, und die er darin als
„zu twiederholten Malen“ auf ihm jelbft bezüglich gefunden hat. Ich kann
in feiner deutſchen Ueberſetzung derjelben nicht genau genug die Stellen heraus—
finden, die er meint, um jein bebauerliches Mißverftändnig im Einzelnen
Deutſche Rundſchau. T, 11. 18
274 Deutſche Rundſchau.
aufzuklären; denn ein Mißverſtändniß iſt es ſicherlich. Die, denen meine
Werke wirklich bekannt ſind, werden, ich bin deſſen gewiß, es ſogleich als
ſolches erkennen und mir in meiner Vertheidigung beipflichten. Ich pflege nicht
die Menſchen zu beurtheilen und zu qualificiren, ſondern vielmehr ihre An—
ſichten, ſpeciell die Argumente, durch welche dieſe Anſichten verfochten werden.
Wenn ich die Letzteren gänzlich unzureichend oder irrthümlich finde, bekenne ich,
daß ich meine Meinung darüber offen, vielleicht zu offen, auszuſprechen pflege.
Wenn man ein ganzes Argument auf die Annahme baſirt findet, daß zwei und
zwei fünf iſt, mag es höflicher ſein, zu ſagen: „Leibnitz und Gauß würden nicht
ſolche Schlußfolgerungen gemacht haben, und wir werden im Ganzen beſſer thun
zu ihnen zu ſtehen,“ als die Annahme einfach für falſch, und alles darauf
Baſirte für unhaltbar zu erklären; dennoch, wenn das Letztere wirklich richtig
und die Veranlaſſung, die Wahrheit vorzubringen, eine genügende iſt, wenn
außerdem der Kritiker zeigt, daß er den erniten Willen hat, die Wahrheit zu
finden und feinen Gegner mit unbedingter Gerechtigkeit zu behandeln, dann darf
die fürzere und derbere Weiſe nicht zu ſtreng verurtheilt werden. Es ift ein
großer Unterfchied, ob man zum Beifpiel das Wort „falſch“ auf einen Menjchen
jelbft oder auf eine von ihm geäußerte Annahme und gebrauchte Beweisführung
anwendet; ob man jeinen Gegner jelbft „anmaßend“ oder „ungeheuer“ nennt,
oder mit diefen Ausdrüden Anfichten bezeichnet, zu deren Vertretern derſelbe
zu rechnen ift. ch glaube, unter den getadelten Epitheten ift nicht eines, das
man nicht unter rechtfertigenden Umftänden, in ftrenger Beweisführung zu ge-
brauchen befugt wäre. Und, wie gejagt, ich bin bereit, nach der fubftantiellen
Wahrheit oder Unwahrheit meiner Behauptungen mich beurtheilen zu laſſen.
Die ungefhminktefte Offenheit ift weit weniger beleidigend, als unbedadhte
falſche Darftellung oder Verkleinerung unter der Maske äußerſter Höflichkeit.
In allen meinen Schriften ift ficherlich nicht jo viel unbedingte Herabſetzung, ja
Unterfhiebung unwürdiger Motive zu finden, als Herr Prof. Müller in diefem
einen Artikel gegen mich) vorbringt. Ich würde e8 faum dem „Zorn eines
amerikaniſchen Republikaners“ Schuld gegeben haben, wenn Jemand fi einem
Verſuch widerſetzte, durch von Kaiſern entlehnte Beifpiele zu beweijen, daß die
Menſchen keine Veränderungen in den Sprachen bewirken fünnen. ch würde
nicht den Anſpruch darauf erhoben haben, einen „Durchbruch der lange zu—
rüdgehaltenen orthodoren Galle” zu entdeden, im dem einfachen Beftehen
auf der gewöhnlichen Unterſcheidung zwiſchen phyſikaliſcher und moralifcher
Wiffenihaft, die ja lediglih auf dem factiſchen Vorhandenſein der freien
MWillensthätigkeit des Menſchen unter den Thatjachen der letzteren bafirt. Ich
würde nicht wagen, Jemand zu beichuldigen, daß er zu jeinen literariſchen
Arbeiten nur durch perjönliche Eitelfeit und ein Verlangen, fi bemerkbar zu
machen, getrieben werde: audgenommen vielleiht nad) der Aufzählung einer
langen Reihe von Einzelheiten und Beweifen — ich glaube, jelbft dann nicht.
Wenn ich von Jemand jagte, er mache Lärm über eine Sache in umgekehrtem
Verhältnig zu feiner Unterfuchhung derjelben, würde ich wenigftens das Be-
dürfniß fühlen, mid auf Beiſpiele zu berufen, die diefe Eigenthümlichkeit
illuſtriren könnten. Bringt mein Kritiker diefe Beichuldigungen vor ala ein
Streitfragen ber heutigen Sprachphiloſophie. 275
Mufter, wie eine Controverfe in anftändiger, eines Gentleman würdiger Weije
zu führen jei? Wenn ich anführte, daß Jemand „fich bitterlich beklagt, daß Die,
welche ex ausgefhimpft, ihn nicht wieder ſchimpfen“, würde ich mich für in
Ehren verpflichtet fühlen, die Stelle genau anzugeben, two das gejchehen ift: kann
Herr Prof. Müller dies thun? Ich fordere ihn heraus, eine Sylbe von mir
anzuführen, die in der Weiſe mißverftanden werden könnte. Im Gegentheil,
betrachte ich dies als einen der deutlichſten Beweiſe feiner flüchtigen und un-
zureichenden Prüfung meiner Schriften. Ich Tann nicht begreifen, twoher er
feinen falſchen Eindruck empfangen hat, wenn nicht vielleicht durch eine Anklage,
die Steinthal gegen mich vorbringt. Ich tabdelte e8 von Steinthal, daß er in
feinem Gapitel über den Urſprung der Sprade nur die entgegengejeßten
Meinungen der Forſcher ded vorigen Jahrhunderts angeführt und wiberlegt
bat, al3 ob es feine jpäteren Meinungen über diejen Gegenftand gäbe, bie
beachtet zu werden verdienten; und er beliebte dies dahin auszulegen, ala ob
ich e& ihm zum Vorwurf mache, mich nicht erwähnt zu haben! ch würde viel
übler von ihm und Herrn Prof. Müller denten, als ich es thue, wenn ich fie
für unfähig bielte, in kühleren Momenten zu begreifen, daß ein Dann, ohne
anftößig egoiftiiche Empfindungen zu hegen, erftaunt, jogar entrüftet fein kann,
wenn er fieht, daß die Anfichten, die er mit vielen Anderen theilt, voll=
ftändig ignorirt werden; und daß er diefe Anfichten jo werth halten Tann,
daß er fich berufen fühlt, für fie aufzutreten und fie zu vertheidigen, jobald fie
unrechtmäßiger Weile übergangen oder mit, feiner Meinung nad), unhaltbaren
Gründen angegriffen werden.
Mein Artikel über Steinthal war jo gänzlich verjchieden von dem, was
Herr Prof. Miller darin zu jehen jcheint, wenn er von diefem Gelehrten jagt,
er habe „mit denjelben Geſchoſſen, die der Amerikaner gebraucht, zurückgeſchoſſen“,
daß ich eben wieder nur annehmen Tann, auch er müfle ihm einzig durch
Andere befannt fein, die ihn falſch angeführt Haben. In einem Gapitel feines
jüngften Werkes „Abriß der Sprachwiſſenſchaft,“ das eine der wichtigften und
tiefgehendften Fragen der Wifjenichaft, nämlich den Urfprung der Sprache behan-
delt, jchien mir Prof. Steinthal eine von Grund aus falſche Methode angewendet
zu haben und durch eine Reihenfolge von Paradoxen zu einem höchft unbefriedigen-
den und werthloſen Rejultat gelangt zu jein. Seine Schlußfolgerungen find dieje
(pp. 85, 86): „Der Urmenſch jah nicht anderd und ſprach nicht anders ala
wir in dem Augenblide, wo wir jpreden...... Ein Unterfchied zwiſchen
der Urihöpfung, dem Sprechenlernen der Kinder und der täglich und ftündlich,
wo Menſchen find, ſich wiederholenden Rede findet wejentlic gar nicht ftatt.“
Dieje Anfichten, die dem jo entgegengejeßt find, was andere Erforjcher der Ge—
ihichte des Menjchen und jeiner Rede behaupten, vorgebradht von einem Manne,
ber in Deutjchland in jo hohem Anjehen fteht und nach vielen Richtungen jo
Bedeutendes geleiftet hat, wie Steinthal, jchienen mir gründliche Unterfuchung
und, wenn möglich, Widerlegung zu verlangen. In einem Artikel, der zuerft
in der „North American Review“ (April 1872) erſchien, und in meinen
„Oriental and Linguistic Studies“ wieder abgebrudt wurde, ging ich deshalb
das Gapitel durch, Paragraph für Paragraph, führte faft die Hälfte von des Ver—
18*
276 Deutiche Rundichau.
faſſers eigenen Worten an, und beiprad) im Einzelnen die von ihm auf-
geftellten Punkte. Wenn ich die Discuffion mit größerer Schärfe führte, als
nöthig oder wünſchenswerth war, jo unterwerfe ich mid jedem deshalb gegen
mi gerichteten billigen Tadel: ich war aufrichtig erftaunt, Theorien, die mir
von meinem Standpunkt aus wenig befjer ala Unfinn erjchienen, jo aufgeftellt
und jo vertheidigt zu jehen. Aber ich bejtreite durchaus, daß, was ich fchrieb,
im geringften perſönlich war; e8 war durchaus nur eine ftreng wiſſenſchaftliche,
wenn auch polemiiche Beweisführung; fie richtete fich einzig gegen die Meinungen,
die fie befämpfte, und gegen die Betrachtungen, durch welche diejelben geſtützt
wurden. Wenn ich wirklich einige dev „Geſchoſſe“ gebraucht hätte, welche man
auf mich „zurückgeſchoſſen“ Haben joll, glaube ich, daß Prof. Müller, der jetzt
zum dritten oder vierten Mal — in weldem Intereſſe mag Jeder jelbft be—
urtheilen — eine erlejene Sammlung derjelben vor ein bei Weiten zahlveicheres
Publicum gebracht hat, als jonft davon gewußt, mir deren Veröffentlichung
nicht erjpart Haben würde. Nach Verlauf von zwei Jahren antivortete Stein-
thal letzten Sommer in einer Art, die feine Anhänger und Freunde nit -
weniger in Erftaunen gejeßt haben muß, al3 mid. Seine Erwiderung ift ein
bloßer Erguß von Schmähungen gegen meine Perjönlichkeit. Er geht auf feine
Beweisführung ein, er verjudht feine Vertheidigung, wenn man nicht Ver—
theidigung nennen will, daß er gewijjermaßen den Anſpruch erhebt, Alles jagen
zu dürfen, was ihm gefällt, ohne dafür verantwortlich zu fein, blos weil er
hier erſt nur die Einleitungen treffe zu der Behandlung des Gegenftandes jelbft.
Gr zerplaßt vor Grimm und Hohn in zwei Perjonen und fiht ala boppeltes
Tribunal über den Fall zu Gericht; er läßt fich jelbft einen Weiſen und einen
Seher nennen, und feinen Gegner einen Lügner und einen Geden jchelten.
Auf ſolche Tiraden ift nur ‘eine Antwort in demjelben Ton möglich, und ich
fühle feine Neigung, mich dazu herbeizulaffen. Ich bin gern bereit, die Acten der
Streitfrage dem Publicum gerade fo, wie fie find, vorzulegen: Steinthal’3 Gapitel,
meine Kritif, und feine Erwiderung, ohne ein weiteres Wort; und ich bin
eines allgemeinen Urtheils zu meinen Gunften gewiß.
Herr Profeffor Müller fürchtet, daß ich allmälig zu der Ueberzeugung
fommen werde, es jei unmöglich, mir zu antworten. Bielleicht läuft Jeder dieje
Gefahr, der, nach dem was ihm genügende Unterfuhung und Erwägung jcheint,
zu beftimmten Meinungen gelangt ift, die er mit größter Zuverficht feithält,
und der, beim beften Willen, unter entgegengejegten Anſichten und Argumenten
feines findet, das ftärfer ift, ala jein eigenes. Eins weiß ich gewiß: daß weder
Herr Prof. Müller noch Steinthal mir irgendwie geantwortet haben. Da der
Erftere die Gefahr, in der ich mich befinde, jo deutlich erkennt, wundere ich mich,
daß er nicht bereit ift, mir die Hand zu reichen, um mich davor zu retten.
Seinem Beijpiele nicht folgend, verſpreche ich, Alles, was er jagen würde, mit
ber größten Aufmerkfamfeit zu leſen und zu erwägen; wie ich mir denn ja be=
wußt bin, auch bisher jchon ftet3 die größte Mühe aufgewendet zu haben, feine
Anfichten zu verftehen und fie richtig vorzutragen. Mit ihm und Steinthal
babe ich, jo weit es mich angeht, nur eine wifjenjchaftliche Gontroverje, indem
ich meine Theorie der Sprache gegen ihre entgegengejegten und von einander
Streitfragen ber heutigen Sprachphilofophie. 277
abweichenden Meinungen vertheidige. Wenn ich etwa dabei als Angreifer zu
hitzig gewejen bin, ift es ebenjofehr mein Schaden al3 mein Fyehler, da ich mich
dadurch einem um jo heftigeren Gegenangriff ausfege, und ich fein Recht habe,
eine jchonendere Behandlung zu verlangen. Mber ich habe ein Recht, dagegen
zu proteftiren, daß eine rein wifjenfchaftliche Controverſe zu einer perjönlichen
gemadt wird; dak man mir den Einwand macht, meine Argumente verdienten
feine Aufmerffamkeit, weil ich zu refpectwidrig gegen die Koryphäen der Wiffen-
ſchaft aufgetreten jei. Eine foldhe Antwort wird im Allgemeinen, und mit
Recht, ala gleichbedeutend mit einem Bekenntniß der Schwäche angefehen.
Der Unterfchied zwiſchen Prof. Müller und mir ift keineswegs jo geringer
Art, ala er in feinem Artikel angibt: er reicht bis in die Tiefe. Ich habe in
dem Aufſatz, welchen zu leſen er fi nicht die Mühe geben will, meine Miß—
billigung der Beweisführungsart, die er in feinen Vorlefungen über die Sprache
in Bezug auf das Verhältniß derjelben zum Darwinismus angenommen hat, aus—
einandergejegt; und ich kann nicht erwarten, daß jein verheißenes Werk „Ueber
die Sprache, al3 die wahre Grenze zwiſchen Thier und Menſch,“ das auf dieje
Vorträge gegründet ift, fi als ein Beitrag von ernftliher Bedeutung für die
Erörterung diejes Gegenftandes erweiſen wird. Auch jcheint mir wirklich feine
vernünftige Ausfiht vorhanden, daß fich aus diefer „Grenze“ mehr ergeben
twird als aus den anderen, welche von Zeit zu Zeit aufgeftellt worden find,
und die eine tiefere zoologijche und anthropologiſche Wiſſenſchaft eine nad) der
anderen umgeworfen bat, um zu dem Rejultat zu gelangen, daß eben feine
unüberfteigbare Grenze die Beiden trennt, jondern nur eine unwegſame Ent-
fernung, die fie freilich annoch ebenſo abjolut wirkfam trennt. Die Trage ift
eine vom höchſten theoretiichen Intereſſe, und e3 erjcheint mir angemefjen, hier,
ehe ich jchließe, no ein Paar Worte darüber zu jagen, die dazu dienen jollen,
einige der bezüglicden Punkte in ein etwas helleres und einigermaßen neues
Licht zu ftellen.
Wenn die oben dargelegten Anfichten über die Natur der Sprache die richtigen
find, dann ift das Fehlen der Sprache bei den Thieren leicht ala den anderen
Unvolltommenbheiten entjprechend zu erkennen, die ihrer allgemeinen, erſichtlichen
nferiorität der Begabung eigen find. Sie haben feine gefammelten Producte
der Uebung ihrer Fähigkeiten, keine Cultur, keinerlei Inftitutionen; nicht3, was
durch Tradition fortlebt, was gelehrt und gelernt wird. Ihre Art der Mit-
theilung ift nicht willfürlih und conventionell, welche Züge die wejentlichiten
und höchften Attribute unferer Sprache find; fie ift faft ganz inftinctiv. Ich
fage „faft“, weil ich diefe Bezeichnung doch nicht für abfjolut Halte Die
Anfänge der Sprache find im Gegentheil bei den Thieren gerade jo weit ver-
treten ala zum Beijpiel die des Gebrauchs von Werkzeugen; und wenn wir in
leßterer Beziehung mit Heren Prof. Müller „die Benußung von Werkzeugen“
nicht al3 Grenze anerkennen, jo müſſen wir in der That daffelbe Urtheil über
„den Gebrauch der Sprache” fällen.
Wir haben ſchon gefehen, daß der Jmpuls zur Mittheilung die unmittelbare
raft ift, welche die unbewußten Fähigkeiten des Menſchen zur Spracdhenbildung
Ientt. Die menſchliche Sprache fing in Wirklichkeit an, ala die Zeicheniprache
278 Deutiche Rundſchau.
au Inſtinct in eine Zeichenſprache mit Abficht überging; ala 3. B. ein Schrei
des Schmerzes oder der Freude, der zuerft durch unmittelbare Erregung hervor—
gerufen war, nahahmend wiederholt wurde, nicht mehr als eine inftinctive
Aeußerung, jondern zu dem Zweck, einem Anderen anzudeuten: „ich bin (war
oder werde jein) leidend oder fröhlich“; fie fing an, als ein unwilliges Murten,
anfangs der directe Ausdrud der Leidenſchaft, wieder hervorgebracht wurde, um
Mikbilligung oder Drohung auszubrüden, u. ſ. f.; das heißt, ala der Ausdrud
für perjönliche Erleichterung ein Ausdrud zur Verftändigung wurde. Der
Menjchenverftand hatte die Fähigkeit, einzufehen, twa8 dadurch getvonnen wurde,
und e3 weiter zu verjuchen; er konnte auf derjelben Bahn weiter gehen, bis eine
ganze Zeichenſprache das Reſultat war. Hierin, und nicht in der Qualität der
uranfänglien Thätigkeiten oder in dem Werth der hervorgebrachten Zeichen,
zeigt fi) die große und ausjchließliche Meberlegenheit der menfchlichen Begabung.
Denn es kann nicht mit Unbedingtheit behauptet werden, daß die Thiere unfähig
find, auch nur den erften Schritt in diefer Richtung zu thun. Wenn ein Hund
vor einer Thür fteht und bellt oder kratzt, um Aufmerkſamkeit zu erregen, und
dann wartet, bi3 Jemand fommt, ihn herein zu laffen, jo ift dies in jeder
weſentlichen Hinficht ein Act der Sprachenbildung; und der Hund, wie mehrere
andere Thiere können noch viel mehr thun ala blos dies. Auf diefen Punkt
jollte die Aufmerkſamkeit der Naturforicher gerichtet werden, wenn fie beftimmen
wollen, wie weit die Thiere auf dem Wege zur Sprache gelangen: bis zu welchem
Umfange find die Thiere im Stande, Zeihen — fie mögen Laute, Geberden,
Stellungen oder Grimafjen fein — zu dem Zweck und mit der Abficht einer
Kundgebung zu gebrauchen? Teftzuftellen, twa3 für beftimmte natürliche Schreie
fie haben, wenn es deren gibt, ift, obgleich intereffant und in feiner Weiſe
wichtig genug, doch verhältnigmäßig zwecklos; denn ſolche Schreie find der menſch—
lichen Sprache nicht analog. Die Forſchung auf diefen Boden zu ftellen, würde
den großen Irrthum in ſich tragen, der menjchlichen Stimme eine jpecielle Be—
ziehung zu dem Apparat der Geiftesthätigfeit, als ob fie das natürliche Aus-
drudsmittel defjelben wäre, zuzujchreiben, anftatt die lautliche Neuerung lediglich
al3 diejenige Form körperlicher Thätigkeit anzufehen, die im Ganzen für den
Ausdrud am leichteften verwendbar ift, und die daher auch, nad) genügender
Erfahrung über ihre Vortheile, von den Menfchen am meisten angewendet wird.
Das wirklich Bedeutungsvolle der menſchlichen Schreie und Ausrufe Liegt weit
mehr in ihrer Betonung als in ihren articulirten Elementen, ihren Vocalen umd
Conſonanten — fall3 es nota bene möglich ift, zu beweijen, daß ſolche Elemente
überhaupt zu ihnen gehören: denn jo anftedend ift die blos conventionelle Eigen-
thümlichkeit unjerer Sprache, daß jelbft unfere Interjectionen Zmwittergefchöpfe
find, eine Miſchung herkömmlicher Articulationen mit dem natürlichen Ton—
element ; fie werben nicht jo jehr gebraucht als directe Ausdrüde von Gefühlen,
fondern vielmehr als Mittheilungen an Andere über die Beichaffenheit unferer
Gefühle Die natürliche Ausdrudsfülle des Tones wie der Geberde und der
Miene behalten wir bei als eines der werthvollſten Hilfsmittel unferer articulirten
Sprade, jpeciell für die Fälle, wo wir Eindrud machen und überreden
tollen.
Streitfragen ber heutigen Spradhphilofophie. 279
Es ift augenſcheinlich, daß einige Thiere gerade jo viel in abjichtlicher Mit-
theilung ihrer Wünjche als im Gebraud von Werkzeugen leiften können, und
daß eine abjolute Grenze zwijchen uns und ihnen nicht mehr in dem einen ala
in dem anderen Falle befteht. Die Thiere können auf dem Wege, ihre unendlich
fleinen Anfänge freiwilligen Ausdrudes zur Sprache zu entwideln, nicht weiter
al3 auf dem Wege, ihre unendlich rohen Werkzeuge zu einer mechaniſchen Kunft
mit allen ihren verfchiedenen Verwendungen zu vervolllommmen; nicht weil ihnen
eine jpecielle Fähigkeit zur Spradhenbildung fehlt, jondern weil fie überhaupt
jene höheren Begabungen nicht befigen, auf welchen die Fähigkeit der Ent-
widelung, nad) allen den verjchiedenen Rihtungen hin, baſirt. Man Tann
natürlich auch behaupten, daß der Beſitz diejer hohen Befähigung einen ent-
ſprechend großen Unterjchied jelbft zwiſchen der allerunvollftommenften That eines
menſchlichen Weſens und der eines Thieres bedingt; dennoch kann dies nicht
wahrer gefunden werden von der Neußerung eines Lautes al3 von dem Stod
oder Stein, der das erfte Werkzeug ſowol des Menſchen als des Anthropoiden
ift; und es ift in der That in feinem anderen Sinne wahr. Das erfte Werkzeug
und fein Gebraud find in beiden Fällen wejentlich diefelben. Die Geiftesgaben,
die und zu einer unbegrenzten Weiterentwidelung aus einem Zuftande, welcher
bereinft dem Naturzuftande der Thiere analog war, fähig machen — und zwar
fie jelbft, nicht eine bejondere Art ihrer Ausübung, noch weniger eine Gejammt-
heit von gehäuften Refultaten ihrer Ausübung —, bilden den Unterjchied des
Menjchen: einen Unterfchied, der den anſpruchsvollſten Bewunderer feiner Species
befriedigen jollte.
Was den Beſitz allgemeiner Begriffe und der Abftractionsgabe be—
trifft, die Herr Prof. Müller ebenfall3 für fi und jeine Mitmenjchen
allein in Anſpruch nimmt, Halte ih mich zu Denen, welde behaupten,
daß diefelben, nicht weniger al3 die Sprachfähigkeit, ala ſchwache Anfänge
in den Thieren gegenwärtig find. So lange er und die Autoritäten, auf
die er fi beruft, ihren ausſchließlichen Anjpruh nur auf den Umftand
gründen, daß die Thiere feine Spradhe haben, kann er nicht eriwarten, viele
Anhänger der entgegengejeßten Partei für fich zu gewinnen. „Der Grund,
warum die Thiere nicht ſprechen, ift, daß fie feine allgemeinen Begriffe haben;
und fie haben augenscheinlich feine allgemeinen Begriffe, weil fie nicht ſprechen“
— bies ift entichieden ein jo hübſcher Kreis, wie jemals einer mit Cirkeln ge-
zogen wurde, eine gedoppelte Wiederholung jene® Dogma’s, daß der Gedanke
ohne Worte unmöglich ift, daß der Verſtand Aehnlichkeiten und Unterſchiede
nicht wahrnehmen, nicht vergleichen und jchließen kann, ohne daß die körperlichen
Organe Außerliche verftändliche Zeichen dafür geben. Mir jcheint hierin etwas
von dem Fetiſchbildenden Geift enthalten zu fein; es ift eine Art abergläubifcher
Neberihäßung des Werthes der Sprache auf Koften einer entjprechenden Herab-
jeßung der Kraft des Geiftes.
Die Srfüllung religiöfer Aufgaben durd die
dramafifhe Kunfl.
Bon 6. zu Patlib.
Stets war ich der Meinung, daß es jehr wohl mit in die Aufgaben der Bühne
gezogen werden könne, wie die Stimmung ber Zeit, fo auch die des Tages fünft-
leriſch aufzufafjen und wiederzugeben. Daß dieje Aufgabe eine ephemere jein muß,
liegt in ihrer Natur. Ich habe mich bereit3 über diefen Gegenftand bei Ge-
legenheit der Feſtſpiele, die ih in Schwerin in’3 Leben rief, ausgeſprochen.
Immerhin wird das Feſtſpiel eine untergeordnete Stufe in der dramatijchen
Literatur einnehmen, etwa wie bie Allegorie, mit der es ſich in vielen Fällen
behelfen muß, unter den Vorwürfen der bildenden Kunſt. E3 wird einen Theil
feines Intereſſes, wenn nicht das ganze, mit der Stimmung verlieren, die es
hervorrief und fi kaum je von einem gewiflen dilettantiihen Anflug befreien
können, den auch die Allegorie in Bild oder Plaftit mehr oder weniger behält.
Auch joll das Feftipiel in der dramatifchen Literatur feinen Pla nicht ver-
langen, feine Darftellung aber gebührt der Bühne, mit dem gefallenen Vorhang
jedoch joll es feinen Zweck vollkommen erreicht, feine Aufgabe erſchöpft haben.
Hier aber muß ich es wieder bejonderd und ausdrüdlich hervorheben, daß die
Bühne, wie überhaupt die Kunft, meiner Auffaffung nad, wol an der Erhebung,
dem Ernſt und dem Jubel des Tages ihren Theil haben joll, niemals aber
an dem Kampf der Meinung, an dem Zwieſpalt der Parteien. Der Dichter
nicht allein, die ganze Kunft fteht auf einer Höheren Warte, als auf den Zinnen
der Partei.
Nun war ich aber lange der Anficht geweien, daß nicht allein die politiſche
Stimmung des Tages, jondern auch die religiöje ſich abzufpiegeln hätte in der
Darjtellung der Bühne, wenn id) aud) die Schwierigkeiten eines joldhen Wag-
nifjes, die namentlich in den mehr oder weniger beredhtigten VBorurtheilen gegen
ba3 Theater wurzeln, nicht verfannte. Daß ich diefe Vorurtheile in feiner
Weiſe theile, bedarf Feiner Auseinanderſetzung. Die Frage, inwieweit bie
Bühne, oder jagen wir lieber die dramatijche Darftellung, berechtigt ift, das
Religidje, die geheiligte Tradition in den Kreis ihrer Aufgaben zu ziehen, reli-
Die Erfüllung religiöjer Aufgaben durch die dramatiſche Kunft. 981
giös, in priefterlicher Weile, auf die Empfindung zu wirken, und inwieweit fie
im Stande ift, da3 zu erfüllen, dieſe Frage war es, die mich in dem friedlichen
Frühlingsmonat des dann jo blutig jchliegenden Jahres 1870 zur weltberühms
ten Baffionsaufführung im Oberammergau führte. Die Anjchauung dieſer er-
greifenden und auf das Höchfte anregenden Darftellung hat mir die Wichtigkeit
der Trage ziwar nur noch klarer gemacht, die Antwort auf diejelbe ift fie mir
aber ſchuldig geblieben, denn fie wurzelt auf jo eigenthümlichem Boden, daß
man fie volllommen eigenartig betrachten muß und feinerlei Confequenz aus
ihrer Wirkung ziehen darf, wollte man fie verpflanzen oder auch nur einen
Theil deffen, was fie erreicht, von einem nachbildenden Verſuch erivarten.
Es kann nicht meine Abficht fein, hier eine Schilderung der vielbejchriebenen
Paifionsaufführung zu verfuchen, jo viel neue Gefichtspuntte derjelben auch ab-
jugewinnen wären, aber fie ift zu eingreifend in die Frage, die ich erörtern
möchte, um fie nicht in ihren Grundzügen wenigſtens darzuftellen, um nicht zu
enttwideln wie weit fie auch für den Dramatiker, für den Bühnenleiter, für den
Regiffeur wichtig und anregend ift. In die Aufzählung meiner ergreifendften
Lebenserinnerungen gehört fie ficher, und in die der Theatererinnerungen durch
ihre Folge, die fie, wenn auch erſt mehrere Jahre ſpäter, befam.
Noch ſchien tiefer Frieden in der Welt zu fein und ein Kleiner Kreis von Freun⸗
ben hatte fich mit und gemeinfam auf die Reife begeben nad) dem Oberammergau.
Es war mein Wunjch gewejen, eine der erften Aufführungen des Paſſionsſpieles
in biefem Jahrzehnt zu fehen, weil ich meinte, die häufigen Wiederholungen,
die für jeden Sonntag durch den ganzen Sommer bi3 in den Herbſt hinein
projectirt waren, würden die Naivetät und Friſche der Darftellung verwijchen,
der große Zuzug von Fremden aber dem Eindrud jchaden. So reiften wir ſchon
in den Maitagen über Münden in das eben im erften Frühlingsgrün prangende
Oberland, über den Kochel- und Walchenjee, das Thal entlang, nad) dem jchon
von früheren Ausflügen bekannten Partenkirchen. Die im erften Blüthenſchmuck
erwachte Natur in der lieblichen Landſchaft war die ergreifendfte Vorbereitung
zu ber feier, ablöjend von allem Zerjtreuenden, von allem VBerftimmenden in
dem beimathlichen täglichen Treiben. Die Stimmung des freien Wallfahrers
fam über und Alle und doch zogen wir in jehr verjchiedenen Erwartungen dem
Schaufpiel entgegen. Mich lodte vor Allem das Intereſſe des Dramatifers,
der nicht allein Dichtung und Darftellung eines früheren Jahrhunderts, gleich-
fam die Wurzel unferes deutichen Dramas und der erften Bühnenaufführungen,
fondern aud eine Wiedergabe zu finden hoffte, aus ber, jchon der Mafjen-
wirkung nad), der Regiffeur auch für die Feinere Bühne lernen könnte. Aber
auch Scheu und Beſorgniß vor der Aufführung war in unjerem Kreiſe ver-
treten, denn man fürchtete doch eine Profanation des Heiligften und religiöſe Be-
denfen gegen die ganze Schauftellung machten fidy geltend. Je näher wir dem
Orte des Feſtes famen, defto deutlicher trat die Aufregung und Theilnahme der
ganzen Bevölkerung uns entgegen. Ginzelne Leute hatten ſchon einer Probe
und der einen, erften Aufführung des Jahres beigewohnt, Alle fannten fie aus
früheren Jahren, das breite, gemeinjame Intereſſe fteigerte die Erwartung, aber
es vermochte die Bejorgniffe nicht zu zerftreuen, denn alle Erzählungen hefteten
282 Deutiche Rundichan.
fi an einzelne unbedeutende Details, zuweilen an komiſche Vorkommniſſe, ar
Eouliffengefhichten naivfter Art. So konnte ein Poftillon, der uns eine Sta—
tion weit fuhr, nicht aufhören, den Hund zu rühmen, der auf einem lebenden
Bilde, dem Abſchied Hiob's, mitwirkte, und jo vortrefflich drefjirt jei, daß man
ihn in jeiner Unbeweglichkeit für außgeftopft halten würde, und aud den
Schimmel de3 Mühlenmeifters, der im Zuge nad) Golgatha benußt wurde,
erwähnte er immer wieder mit Anerkennung. Alle diefe Beobachtungen gingen
aber doch auf in einer allgemeinen Bewunderung und in dem Stolz, dem Frem—
den gegenüber, auf da8 den heimathlichen Bergen entjproffene Schaufpiel, das
die Zufchauer aller Länder herbeilodte und fie jogar über da3 Meer herführte.
Se näher wir der Stunde der Feier und dem Orte derjelben kamen, defto ent-
fchiedener nahm der Zug der herzuftrömenden Menge den Charakter der Wallfahrt
an. Am Tage vor der Aufführung, einem prächtigen Frühlings-Sonnabend zogen
wir jelbft hinauf und pilgerten den fteilen Bergweg hinan, der, kaum für leichtes
Fuhrwerk erflimmbar, nad Ettal führte, einem früheren Kloſter mit jchöner,
reichgeſchmückter Kirche, am Eingange des Oberammergauer Thale. Dort war
und von dem und befreundeten Beſitzer des Kloſters, dem Grafen Pappenheim,
gaftlihe Aufnahme bereitet, und mit ung zog in Schaaren das Landvolk der
Umgegend in heiterer Andacht, mit den Roſenkränzen in den Händen und Alle
Inieten erft nieder in der Kirche zu Ettal und beteten vor dem heiligen Wall-
fahrt3-Bilde der Mutter Gottes. Schon auf dem Wege wurde es uns Klar,
daß wir nicht zu einem Schaufpiel, nicht zu einer dramatiihen Aufführung,
die und da3 Heilige profaniven könnte, jondern zu einer religiöfen Feier gingen,
die man mit Andacht, nicht mit der Kritik als Studium hinnehmen müſſe.
Das auch ift der einzige richtige Standpunkt, von dem aus man dieſe Dar-
ftellung beurtheilen muß, und da3 wurde mir unzweifelhaft, ala ich im bicht-
gefüllten Zufchauerraum jaß und die Vorftellung ihren Anfang nahm. Selten
in meinem Leben habe ich einem feierlicheren, unvergeßlicheren Gottesdienfte bei-
gewohnt, ala dem der Paffionsaufführung im Oberammergau, nie eine tiefere,
erhebendere Wirkung von einem Kunftwerfe, von einem menſchlichen Schaffen
empfangen, ala durch das dramatiſche Zufammentwirken dieſer jchlichten, Fromm -
naiven Thalbewohner, und nie ift ein Eindrud bleibender geweſen als diejer.
Aber man muß von vorn herein jeden Vergleich mit einer anderen dramatiſchen
Darftellung aufgeben, nicht weil die Palftonsaufführung im Oberammergau
denfelben zu jcheuen hätte, aber weil fie auf ganz anderem Fundamente fteht,
durch andere al3 die künſtleriſche Begabung hervorgerufen, zu anderem als fünft-
leriſchem Genuß ausgeführt wird. Und doch ift fie Kunft im edelften Sinne
des Mortes, denn fie ift Kunft im Dienfte des Glaubens. „ft die dramatiſche
Darftellung zu ſolchem Dienfte berechtigt und tauglich?” hat man oft gefragt,
und das Paſſionsſpiel im Oberammergau giebt die beftimmte, nicht anzuzwei⸗
felnde bejahende Antwort. Man müßte auch die darjtellende Kunſt auf niedrigere
Stufe ftellen, ala die Schwefterfünfte, wollte man die Frage verneinen und ihr
damit die höchfte Aufgabe jeder Kunft beftreiten. Niemand fällt e8 ein, das
Heiligfte für profanirt zu halten, wenn der Pinjel des Malers oder der Meißel
de3 Bildhauerd wagt, e3 uns in irdifcher Auffafjung vor die Augen zu ftellen,
Die Erfüllung religidfer Aufgaben durch die bramatiiche Kunſt. 283
oder wenn Wort und lang uns in religiöfe Andacht zu verſenken, zu frommer
Begeifterung zu erheben verſuchen; „Jeder betritt da8 Bauwerk, das dem Gottes-
dienfte geweiht ift und den religiöfen Gedanken geheimnißvollen Aufftrebens
zum Himmel verkörpert, mit geheiligter Empfindung und nur die Schaubühne
follte einer Aufgabe fern bleiben, die doch die höchſte wäre und die allein fie
gleihberehtigte mit den Schwefterkünften? Ich weiß wohl, daß das Bedenken
nicht volllommen unbegründet ift, denn die Schaubühne jelbft lenkte ſich ab
von edlem künſtleriſchem Ziele, und fie jelbft, ihre Vertreter und das Publicum
profanirten fie, ja zogen fie in den Staub, und darin eben liegt der Haupt-
unterfchied der Oberammergauer Darftellung, daß ihr Boden rein ift von der
Abirrung, daß fie nur einem Zwede dient und daß nur Andacht, nicht frivole
Eitelkeit oder noch niedrigere Beweggründe, die Darfteller zu ihren Aufgaben
führt. Im diefem Sinne aber muß fie Höheres, mädtiger Wirkendes erreichen
al3 jede andere Kunſt für fid) e8 vermag, denn fie greift alle andern zufammen
und vereinigt fie zu gemeinfamem Werke, die Baukunft ſchafft ihr das Gerüft
und ſchmückt es mit ihren Schöpfungen, die Malerei entwirft ihr den land»
ſchaftlichen Hintergrund, und fie und die Plaftif vereinigen ſich, den lebenden
Bildern Entwurf und Geftalt zu geben. Entlehnend aus dem höchſten Gedicht,
aus der heiligen Schrift, hat die Dichtkunſt das Wort, die Mufif dazu den
melodifhen und harmonifchen Rhythmus gegeben, und die Darftellungstunft
bringt uns in menſchlichen Geftalten, wandelnd, lehrend, leidend und begeifternd
zur Anſchauung, was uns als das Heiligfte im Gemüth lebt. Und num tritt
dem, der diefe Darftellungen nicht Tannte, eine neue Frage entgegen: „Wenn
wir bier die höchfte Aufgabe der dramatiichen Kunſt erfüllt jehen, woher fommen
in dies ftille, abgejchlofiene Thal, unter dieje Landbevöllerung Talente, die fi
an folche höchſte Aufgabe wagen und fie mit jo gewaltiger Wirkung durch—
führen?“ Die Beantwortung diejer Frage deckt uns den ganzen Schaden unferer
Schaufpieltunft auf einmal auf und zeigt fie und als unnatürliche Künſtelei,
die die naive Natürlichkeit weit überflügelt. Der Unterfchied zwiſchen Spielen
und Darftellen tritt uns Far entgegen. Im Oberammergau wird nicht geipielt,
ed wird bargeftellt, aber, jpredhen wir das gleich aus, es wird dargeftellt zu—
gleich mit religiöfer Begeifterung und Inſpiration, mit andächtiger Hingabe
und mit künftleriider Empfindung. Der größte Theil der Bevölkerung
dieſes geichlofjenen Thales beſchäftigt fich nicht mit dem Landbau, denn bieje
Hochebene ift arm in ihrer Vegetation und läßt zwar die Bergabhänge
von prächtigen Waldungen bewachſen, giebt frijche, duftige Weiden für das
Bieh, aber der Ader ift fteril, der Sommer zu kurz, um die Mühe des
Landbauerd zu belohnen. Die meiften Bewohner find Holzihniger, wozu
die Bergwaldungen das vortrefflichſte Material liefern, und zwar ſchnitzen fie,
faft ohne Ausnahme und durch ein ganzes Leben immer wieder den gefreuzigten
Heiland. So begegnet fi die Aufgabe der täglichen Berufsarbeit mit der
alle zehn Jahre wiederkehrenden, der Paffionsaufführung, jo wird dieſe durch
jene vorbereitet und künftlerifche Empfindung und Berftändniß in der Zeichen⸗
und Schnik-Schule ausgebildet, die zugleich für die dramatiſche Darftellung
als Borftudie gilt. Dabei bleibt diefe Empfindung naiv und wurzelt in ber
284 Deutſche Rundſchau.
Tradition, denn ſchon die Kinder treten in die Aufführung mit ein bei den
Bildern und Aufzügen und wachſen jo in die Aufgaben hinein, die ihnen ſpätere
Jahrzehnte verheißen. Ein jo wunderbarer Erfolg Tann freilich” nur durch das
Zufammentreten jo eigenthümlicher Vorbedingungen erreicht werden und deshalb
eben laſſen fi) aus ihm feine Conjequenzen ziehen.
Ich habe jo die Wirkung der Aufführung vorausgenommen und zu erflären
gefucht, weil ich die Darftellung jelbft, theils aus eigener Anſchauung, theils
aus den vielfadhen Schilderungen ala bekannt meine annehmen zu dürfen. ch
will alfo nur kurz recapituliren, daß fie die ganze Paſſionsgeſchichte des Hei-
landes vom Einzug in Jeruſalem bis zum Sreuzestode, der Auferftehung und
Himmelfahrt dramatiſch vor dem Zufchauer vorübergehen läßt, wobei lebende
Bilder aus dem alten Teftamente die Verheifungen und Parallelftellen vor-
führen und ein Chor, in der Art der Chöre aus der antiken Tragödie, in Ge-
fang und Recitation die Verbindung giebt. Drei Factoren alſo find es, die
zufammengreifen: die dramatiſche Darftellung, das lebende Bild und der ver—
mittelnde Chor. Demgemäß ift auch die Bühneneinrichtung getroffen: ein
großes Profcenium, vorzugsweije für den Chor und die dramatiſche Darftellung
der Maſſen, eine tiefe architektoniſche Landſchaft auf beiden Seiten, beſonders
für die Aufzüge, zum Theil praftifabel für einzelne Scenen, und eine innere
Bühne mit jchliegendem Vorhang für die dramatiihe Handlung und für bie
lebenden Bilder. Die Bühne fteht ſomit der griechiſchen am nächften und hat
auch twie diefe den Zufchauerraum unter freiem Himmel, hat aber auch mit der
ſhakeſpeariſchen Bühneneinrichtung die Kleinere, geichloffene Bühne gemein, von
unjerer modernen aber nur den wechjelnden decorativen Schmud dieſer Bühne.
Daß der Hauptaccent der Wirkung immer auf die dramatiſche Handlung
fallen muß, ift felbftverftändlich, zugleih aber bewunderungswürdig, wie die
Chorgejänge diefe Wirkung vorbereiten, in die empfängliche Stimmung ver-
jegen, und wie die den Gedanken fortführenden lebenden Bilder die Wirkung
austönen laffen durch ihre ftumme Ruhe und die Theilnahme immer wieder
anregen, jo daß die faft adhtftündige Darftellung keinerlei Ermüdung noch Ab-
ſpannung beim Zuſchauer hervorruft.
Wie gejagt, die Oberammergauer Paflionsaufführung war mir im unver-
gehlichften Eindruc geblieben; niemals aber hatte ich daran gedacht, eine auch
nur annähernd ähnliche Darftellung auf der Bühne zu verfuchen, was mir auch
unmöglich geweſen wäre, da ich mit feinem Theater mehr in irgend welcher
directen Verbindung ftand. Ganz unerwartet, wenigſtens für mich, übernahm
ich die Leitung des Hoftheaterd in Carlsruhe und jah mic auf einmal wieder
mitten in der bewegten, immer wechjelnden Beihäftigung und Verpflichtung,
die ih in Schwerin mit jo großer Hingabe übernommen, mit aufrichtiger
Befriedigung durchgeführt und mit Bedauern aufgegeben hatte. Der Boden,
ben ich fand, die Verhältniffe waren freilich ganz andere als dort, aber e8 war
doch die Kunſt, zu der ich immer wieder zurückgekehrt war im Leben, der ich
mid, an Erfahrungen zwar reicher, aber ärmer an Jllufionen, hingab. Alte
Pläne lebten twieder auf und drängten zur Verwirklichung, zunächft mußten
aber Kräfte, Stimmung des Publicums ruhig beobadhtet und geprüft werden.
Die Erfüllung religiöfer Aufgaben durch bie dramatiſche Kunſt. 285
So vergingen die erften Monate; der erfte Winter der neuen Thätigfeit neigte
zu Ende und das Ofterfeft rückte heran. In den letzten Jahren war über die
Charwoche hinaus aud am DOfterfonntage noch das Theater gejchlofjen geblieben,
theils um der religiöjen Feſtſtimmung Rechnung zu tragen, theil® um den
Arbeitern des Theaters die Feſtfeier nicht zu ſchmälern. Auf der anderen Seite
war im Publicum vielfah der Wunfch laut geworden, an diefem Abend das
Theater nicht zu entbehren. Es kam aljo darauf an, beide Anfichten und
Wünſche zu berücdjichtigen und eine Theatervorftellung für den erften Oftertag
in’3 Leben zu rufen, die die religiöfe Stimmung des Tages aufnähme Die
Erinnerung an das Paſſionsſpiel trat natürlich ſofort hervor. Dort war ein
Vorbild für das, was ich Juchte, aber ein Vorbild, das mehr abmahnte, als
ermunterte, denn e3 konnte fich nicht um eine religiöfe Feier handeln wie dort,
es mußte eine Theatervorftellung werden, freilich eine, die von der gewohnten
Weiſe bedeutend abwidhe und die Grenze dramatiſcher Vorftellung in das
religiöfe Gebiet erweiterte. Der Plan war jchnell entworfen und die freund»
liche Hilfe, ihn zur Ausführung zu bringen, fand fich jofort. Ein vecitivender
Chor, injofern aber perjonificirt, ald er eine jüdijche Familie darftellte, aus der
babylonijchen Gefangenjchaft ausgewandert, Vater, Mutter, Sohn und Tochter,
gab in Rede und Wechſelrede den Grundgedanken, der fich durch eine Reihe von
lebenden Bildern illuftrirte, die wieder durch Chor oder Sologefang, oder durch
orchejtrale Muſik eingeleitet und begleitet wurden und ala Abſchluß zum Ofter-
auferftehungsgedanfen hinführten. Ich Hatte aljo vom PBaffionsjpiel lebendes
Bild und mufifaliiche Begleitung volllommen adoptirt, dagegen die Recitation
mit der dramatiſchen Handlung verſchmolzen, jo freilih, daß lehtere faſt ganz
in erfterer aufging. Schon aus diefem Grunde wäre die Ausdehnung diejer
Vorſtellung auf einen ganzen Theaterabend ermüdend geworden, denn die Bühne
verlangt die dramatiſche Situation und Handlung und kann diejelbe nicht füg—
fi für einen ganzen Abend entbehren, jelbft wenn fie eine exceptionelle, nur
auf einen bejonderen Tag berechnete Vorjtellung in Ausficht ſtellt. Es war
aber ſchwer, ein einleitendes Stück zu finden, das der Stimmung und dem Ge—
danken der Hauptaufführung nicht widerjprochen, ja das auf diejelbe Hingeleitet
hätte. Ich wählte dazu den Ofterfonntagsipaziergang aus dem Yauft, der dies—
mal ohne Kürzungen gegeben wurbe und den ich mit dem Ofterchor des 1. Actes,
gefungen von vorüberziehenden Wallfahrern, abſchloß. Pedantijche Kritiker
hatten dagegen ihre Bedenken, die ich heute noch nicht zu teilen vermag. Sollte
ih die Dichtung überhaupt zu meinem Zwede benußen, und fie iſt, abgejehen
von ihrem poetifchen Werth, die pafjendfte aus unferer ganzen dramatijchen
Literatur, jo mußte fie fih, um nicht ohne Schluß zu bleiben, dieſe Umftellung
gefallen laſſen, denn ich hielt es für pietätsvoller, mit des Dichter eigenen
Worten, als mit fremden, ihnen angehängten das Fragment feines Werkes abzu-
ſchließen. Der Erfolg gab mir Recht. Die beabfihtigte Vorbereitung war beim
Publicum hervorgerufen und der Ofterchor führte vortrefflich von dem lebensvollen
Bilde des bürgerlichen Stadttreibens am Sonntag im erwachenden Frühling zu
der religiöfen Stimmung hinüber, deren die folgende Darftellung bedurfte.
Die Einleitung zur Schöpfung von Haydn führte die Darftellung ein,
286 Deutſche Rundichau.
dann hob fi der Vorhang und zeigte ein wildes Tyelfenthal, zwiſchen deſſen
Steinblöden ein einfamer Tempel, in ägyptiſcher Architektur, düfter und ge-
heimnißvoll lag. Stufen führten zu demfelben hinauf und der Eingang erſchien
durch eine Wand geichlofjen ; die ganze Decoration, gewiffermaßen das Profcenium
der Darftellung, lag im Halbdunfel. Nun ftiegen die Spreder, der Dann,
das Weib, der Yüngling und die Jungfrau ſeitwärts von dem Telfen herunter
und rafteten auf den Stufen des Tempels. Der Mann ſprach kurz und knapp
die Klage über Zion’3 Fall, wie ihm überhaupt immer der einleitende allgemeine
Gedanke zugetheilt war, den dann das Weib in der Mahnung, der Yüngling
in der Hoffnung, die Jungfrau rein Iyrifeh, je nachdem e3 dem erläuternden
Bilde angemefjen war, auf das Beſondere zurüdführten.
Ich Hatte die Darftellung in drei Abtheilungen getheilt. Die erfte begann
mit der Klage, dem Hinweis auf die Buße und die Verföhnung, und danad)
waren die lebenden Bilder gewählt, die begleitende Muſik angepaßt. Zuerft
zeigte das Weib den Fall Zion's als Strafe dafür, daß fie in Stolz und An-
maßung gewähnt hätte, das Haupt zu Hoch erheben zu können, wie einft der
Thurm zu Babel ftürzen mußte, als er in die Wolfen zu ragen ftrebte. Dazu
erichien der Thurmbau zu Babel und der Auszug der drei Stämme im Bilde.
Der Mann verkündete die Demuth vor Gott und zeigte Abraham’3 Opfer; die
Sungfrau pries das Dienen in Demuth vor den Menſchen, dargeftellt in Rebecca,
die ji) vor Eliefer beugt und jeine Kamele tränkt; der Jüngling feierte, ala
Gegenjat zur babyloniſchen Knechtſchaft, den Dienft in Liebe an dem Beiſpiel
Sjacob’3, der fieben Jahre um Rahel diente „und ihm jchienen’3 Tage kaum“;
die rau mahnte gegen Neid und Arglift mit Hinweis auf Joſeph's Brüder
und feinen Verkauf, und zeigte den Lohn der Tugend in Joſeph's Erhöhung,
mwährend die höchfte Tugend, die Vergebung und Vergeltung der Unbill durch
Wohlthat, ſich im Schlußbilde der erjten Abtheilung, in der Aufnahme der
Brüder bei Joſeph darftellte.
Die zweite Abtheilung zeigte das Geje und die Verheifung. Die Findung
Moſe's, die Einjegung - des Paſſah, der Auszug mit der vorausjchreitenden
Myriam ala Pjalmiftin, das Gebet Moje’3, und zum Schluß Salbung und
Krönung David’3, aus deffen Stamm der Meſſias verheißen ift. Der Charakter
der begleitenden Recitation war in dieſer Abtheilung injofern ein anderer ge—
worden, ala er, wenn auch von denfelben Figuren gegeben, doch vom Subjectiven
in das Objective überging und mehr zur Rede und Gegenrede wurde, aud)
begleitet von Sologejang auf der Scene.
Die letzte Abtheilung zeigte nur zwei Bilder, die bis dahin [prechenden
Perjonen waren durch Hirten erjegt, die mit einem Weihnachtsliede das Bild
der dem Stern nachziehenden heiligen drei Könige einführten, dann lenkte ein
Hirt wieder auf den Dftergedanken der ganzen Darftellung zurüd, und die Gruppe
der ausziehenden Chriften aus dem Kaulbach'ſchen Bilde der Zerftörung Jerufa-
lem’3, begleitet vom Hallelujah aus dem Meiftas von Händel, gejungen vom
ganzen Chor auf der Scene, madte den Schluß. Die Rede des Hirten mag
den Ton des Ganzen und die Beziehung zum Tage zeigen. Sie lautete:
Die Erfüllung religidfer Aufgaben durch die bramatiiche Kunft. 987
Don unfrer beil’gen Kunde Schon zündet’3 im Gemüthe,
Dernehmet jet den Schluß, Schon grünt’3 von Ort zu Ort —
Aus Shlichter Hirten Munde So ſchloß der Andacht Blüthe
Den frohen Dftergruß. Sich auf dem Gotteswort.
Schon blüht e& in den Landen, Wie zu des Herzens Gründen
Schon grünt’8 am Bergeshang — Das Licht des Glaubens drang,
So iſt die Welt erjtanden So wurde ihr Verkünden
Aus Winterträumen bang. Ein Oſterlerchenſang.
Zum Himmel, fonnig blauen, Der Wahrheit Schwert, das jcharfe,
Hebt fich der Lerche Schlag — Bringt fiegend, um und um,
So grüßt mit Gottvertrauen Mit Pialter und mit Harfe,
Den Auferftehungstag. Das Evangelium.
Der Lenz zieht weit und weiter, Mas Winternacht verborgen,
Siegreich im Sonnenſtrahl — Hat Frühlingslicht erhellt —
So zogen Glaubenäftreiter So kam der Oftermorgen,
Bon Land zu Land zumal, Der Glaubenslenz der Welt.
Der Eindrud, den die ganze Borftellung hervorrief und hinterließ, war
durchaus der beabfichtigte, ja er übertraf noch bei Weiten die Erwartung, denn
einzelne Befürchtungen für das Gelingen konnte ich mir nicht verſchweigen.
Würde zunächit das große Theaterpublicum in demjelben Raum, der in jo ganz
anderer Weije jeine Theilnahme in Anfpruch zu nehmen beftimmt war, in die
DOratorienftimmung eingehen und, wo es nur künſtleriſche Befriedigung erwarten
durfte, religiöfer Erhebung zugänglich fein? Würde nicht nach der einen Rich—
tung die religiöje Seite zu überwiegend hervortreten, während e3 der andern
verletzend ericheinen könnte, diejelbe an diefem Orte jo ausſchließlich vertreten
zu jehen? Würde nicht, was Freilich die geringere Gefahr geweſen wäre, der
Glanz der Bilder, namentlih da fie von bekannten Perfönlichkeiten dargeftellt
wurden, zerftreuen und die Gefammtwirfung beeinträchtigen? Alles das lag
fo nahe, aber feine der Befürchtungen traf ein. Das Publicum ſchwankte feinen
Augenblid in der Stimmung und faßte Wort, Mufit und Bild ala harmo-
nifches Ganzes auf, von dem e3 fich willig rühren und erheben Vieh.
Der Erfolg, denn als ſolchen kann ich den Eindruck dieſer Oftervorftellung
entjchieden bezeichnen, an einer einzelnen Bühne, mit einer Gabe, die nur für
einen Tag des Jahres beftimmt jein fann, mag auf den erften Blick ala un—
wichtig erſcheinen. Er ift es in der That nicht, denn ex erweitert die Aufgabe
der Bühne um ein Bedeutendes, wobei ich aber glei) dem möglichen Mißver—
ftändniß begegnen will, als wolle ich dergleichen Darftellungen in den gewohnten
Kreis der Repertoire aufgenommen fehen. Wie das Gotteshaus feinen Raum
zuweilen der Oratorienaufführung leiht, jo fol die Bühne im Stande fein, in
einzelnen Fällen die religiöfe Darftellung zu bieten, mit eigenen Kräften zwar,
aber in discret gezogener Grenze. Ich muß es bejonders hervorheben: „in ein-
zelnen Fällen“, denn ich habe auch Hierfür gleich die Erfahrung gemadjt. Der
Erfolg des erften Abends verleitete mid, dem Wunſche einzelner Stimmen im
Publicum nadjzugeben und die ganze Vorftellung in der Oſterwoche noch zwei—
288 Deutfche Rundſchau.
mal zu wiederholen. Nicht daß der Eindrud ein abgeſchwächter oder gar ab—
mweichender geweſen wäre, aber wir ftanden mit ihm auf einmal auf dem Boden
der gewohnten Theaterabende und die ungetwohnte Anforderung an das Publicum
trat hervor. Man fühlte das Erxceptionelle,
Und was foll e3 helfen, wird man fragen, für einen einzigen Abend, der
nur nach weiten Zwiſchenraum twiederfehren könnte, der Bühne eine jchtwierige
Aufgabe zuzumuthen? Wenn man den großen moraliihen Werth für die dar-
ftellende Kunft in’3 Auge faßt, wird dieſe Trage leicht ihre Antwort finden,
um jo mehr, ala ich behaupte, daß fie mit ſolcher Aufgabe durchaus nicht aus
ihrer allgemein künſtleriſchen heraustritt. Sie erweitert ihre Grenzen, aber fie
überjchreitet fie nit. Ob die Bühne durch ihre Leiftung erheitert, rührt,
erjchitttert, oder religidg erhebt, immer bleibt fie in ihrer Aufgabe, wenn fie
e3 in veredelnder Weiſe thut — ftet3 aber verläßt fie diejfelbe, wenn fie den
Zweck der Veredelung aus dem Auge verliert. Darauf hat diefer Abend wieder
fo entſchieden hingedeutet, daß darin allein er ſchon jeine Bedeutung hätte. Er
wandte unjern Blick zurück auf die erften Anfänge der dramatijchen Kunft, und
diefer Bli läßt ung erſchreckt ſehen, auf welche unmwürdigen, der Kunft Hohn
Iprechenden Abwege wir geriethen. „Kehrt um!“ ift die Mahnung an die ge-
jammten Bühnen, nicht zu den erften Anfängen, aber im Andenken an fie, auf
die Pfade edler Kunſtrichtung. Was mit dem Heiligiten begann, ſoll nicht im
Profanften verlaufen!
Guftav zu Putlitz.
4
Sommerfäben.
Auch bin ich überzeugt, nicht hat betrogen
Das Yägerauge mich: durch die Prairien
Bift taglang Du auf wilden Roß gezogen,
Und Bifonheerden jahft Du vor Dir fliehen,
Und ſahſt am wolkenloſen Himmelsbogen
Die Wandertaube nach dem Süden ziehen —
Nun kamſt Du ber die ungezählten Meilen,
In Deutichlands Luft das kranke Blut zu heilen.
„Das Eiſen fehlt im Blute, theure Miffis
Smith (oder Jones) — zu ſchlank emporgeſchoſſen!
Wir haben auch — doch ift das nichts Gewifles —
Des Sportes Freuden allzufed genoffen.
Wie dem auch fer: die Folgen ſind's des Riffes,
Der leider trennt, was immerdar umſchloſſen
Im Bunde follte fein: Natur und Leben —
Miß Mary muß nad) Deutichland fich begeben!
Ja, Deutichland ift der Ort für foldhe Euren!
Da weilet unfrer Künfte theurer Meifter.
Der pappt die problematifchen Naturen
Zufammen nicht mit unhaltſamem Stleifter;
Er jchneidet, brennt bis auf die letzten Spuren
Ganz weg die Krankheit — Doctor Bismard heit er:
Der große Nesculap in Blut und Eifen —
Nah Deutihland, Deutihland mu Miß Mary reifen!“
So ſprach der Mann vom Broadway; und gepriefen
Sei höchlich er ob feines guten Rathes,
Der, theures Mädchen, Dich hierher gewielen.
Auch darin hat er Recht: der Bismard that es,
Der Graf und Fürſt aus dem Geſchlecht der Riefen,
Der Atlas, der die Kuppel trägt des Staates,
Deß edles Herz in lohem Zom entbrannte:
Zum Teufel num die trente et quarante!
Eins ſollt Ihr fein, wie Ihr es einft getvefen!
Ein einig Volt von Brüdern — oder Betten —
Gleichviel! Ihr mögt e8 nad Belieben leſen;
Ich ſchreib' e8 Euch in's Herz mit Eifenlettern;
Glaubt mir’s: Ihr könnt nicht ander mehr genefen,
Als in des Krieges blut'gen Donnerwettern!
An's große Spiel, mein Volt! va banque! ich wette,
Die Kugel rollt für uns in der Roulette!
19*
291
Deutſche Rundſchau.
Er hat ſein prometheiſch' Wort gehalten;
Das Glück, es war ihm keine leichte Dirne,
Und keine leichte Hand zog ihm die Falten,
Die tiefen, auf die breite Marmorſtirne.
Wer von uns kennt die Stürme, die da walten
In dieſem mächt'gen, zukunftsſchwangern Hirne?
Nun wohll er hat das große Spiel gewonnen,
Und über Deutſchland leuchten hellre Sonnen.
Das große Spiel! vor nicht gar vielen Jahren,
Da konnte man's ſtudiren hier im Kleinen.
Sie kamen hergewallt in dichten Schaaren,
Die Vielgeliebten, Treuen von den Seinen.
Die zog heran er kräftig bei den Haaren,
Die liefen ihm herzu auf beiden Beinen.
's war amüſant zu ſehen, manchmal peinlich,
Und, wenn man will, im Ganzen nicht ſehr reinlich.
Denn auf die paar anſtändigen Geſichter,
Die wol den Phyſiognomen konnten locken —
Wie viel elend, verworfenes Gelichter —
Die Schläfen kahl, die Wangen hohl, und trocken
Das ftarre Auge, ganz, wie fie der Dichter
Berfammelt zu Walpırgis auf dem Broden,
Als Fauft das Herlein jung im Arm gehalten.
(Sein würd’ger Mentor tanzte mit der alten.)
Tür fleiß’ge Interpreten wär's ein Thema,
Zu unterfuchen, welche von den beiden —
Nicht war die hübjchere (denn dies Problema
Wird gleich gelöft von Chriften, Juden, Heiden),
Jedoch die ſchlimm're! Nach dem bloßen Schema
Iſt diefe Frage gar nicht zu entjcheiden ;
Nur an den Spieltiid — das will ich beſchwören —
Blos allerſchlimmſte Hexen Hingehören.
Die Liebe, jagt man, macht die Schönfte jchöner;
Sie madt die Häßlichſte ſelbſt minder häßlich.
Hier, dieſes Weib — ſo ſchrieen die Verhöhner
Der Menſchlichkeit — geſündigt hat ſie gräßlich!
Und er, der Menſchenſohn, der Weltverſöhner,
Schrieb Zeichen in den Sand nachdenklich-läßlich: |
Weil fie jo viel geliebt auf dieſer Exden,
Wird ihr im Himmel viel vergeben werden!
WPZEE o2Li.
Sommerfäben.
Jedoch das Spiel! Einft jchritt ich durch die Säle,
An Andres dentend; plößlich blieb ich ftehen:
Nun wahrlich, feine Seele Gott befehle,
Wer dieſer hat in's Feueraug' gejehen]
Wem die der Teufel zeigt und faget: wähle
Seht zwiſchen ihr und einem fichern Lehen
Im Himmelreihd — ich kenn’ manch braven Yungen,
Der in die Hölle ihr wär’ nachgeiprungen!
Ja, fie war ſchön! vom Scheitel bis zur Sohle!
Und jung! ich meine: höchftens achtzehn Jahre.
Die mandelförm’gen Augen ſchwarz wie Kohle,
Und blond — cendre! — die feidenweichen Haare.
Die Taille — doch den nächften Spiegel hole
Die Leferin, damit fie gleich erfahre,
Was ſchließlich doch micht Schildern kann der Dichter —
Ein Vorwurf nur für Angely und Richter.
„Faites votre jeu, messieurs!" — Die alte Leyer!
„Le jeu est fait!“ — die Schöne pointirte!
„Rien ne va plus!* — feine Kupferdreier
Fürwahr, was fie da jet auf Roth riäfirte!
Und: „rouge perds!* — fo blidt ein Lämmergeier,
Wie fie jet ihren Nachbar ſcharf firirte!
Jetzt greift fie zu — — Vous permettez, mon ange!
Rouge a perdu — vous savez: couleur gagne!
Ein alter Fuchs! er ging nicht in die Falle;
Auch war er ja im Recht. O Scham und Schande!
Ein ſchönſtes Mädchen plötzlich Gift und Galle,
Frech Löfend frommer Scheu ehrwürd'ge Bande,
Und keifend, zeternd, wie ein Weib der Halle!
Entſetzlich Bild, verſchwinde! Hier zu Lande
Hat keine Dame mehr die ſchlimme Chance,
So zu verlieren alle Gontenance!
Es ſei denn, daß, als fie zur Mittagsftunde
(Für Bürgersleute) ihrer Freundin harte —
Gelegentlich fam aus dem Rojenmunde
Ein ungebuldiges: wenn fie mid) narrte! —
Sie hatte heute eine weite Runde:
Zu Gerfon, Herkog — und Almanfor ſcharrte!
Mir fehlen an dem leide jechzehn Stufen —
Das arme Thier ſchlägt ſich noch ab die Hufen!
294
Deutſche Rundſchau.
Ein halber Sportsman ſie! — nahm ſelbſt die Zügel
Gelegentlich; als Reit'rin ſchier unbändig;
Ihr Gatte ſtand nicht ganz jo feſt im Bügel;
Drum war e3 jehr erflärlidh, daß beftändig
Zur Seite ihr — er ritt, ala hätt’ er Flügel,
„Ein ſchlanker Fant, gar höfiſch und behändig,“
Ein Herr von — Namen thuen nichts zur Sache;
Und überdies war Arthur heut' auf Wache.
Da ſtürmt herein — nicht Arthur! — nein, ihr Gatte.
„Gerechter Gott, Emil, was hat’3 gegeben?“
„Begeben? wie Du fragft? Du weißt, ich hatte
Auf Baiſſe jpeculitt. In meinem Leben
War ich jo fiher nicht — auf einem Blatte
Stand mein Vermögen — Deines! und jo eben —
Der Lond’ner Cours! Die Haare möcht’ ich raufen —
Um Gott! Du wirft doch nicht in’3 Waffer laufen?“
Die Scene ift vielleicht ein wenig draſtiſch —
Ich geb’ e8 zu. Jedoch aus feidnen Träumen
Unſanft geweckt zu werden, und elaftijch
Sich in Kattun zu hüllen ohne Säumen,
Und auszumwandern, ruhig, Haffiich, plaftiich,
Aus den geliebten, goldbrofatnen Räumen —
Nicht Jede kann's; und kann es einmal Eine,
So jag’ ih: Hut ab, Wandrer! fteh! und weine!
Zum Glüde find ja nur die hohen Berge —
So jagt Horaz — gern heimgeſucht vom Blitze.
Mo Niejen hilflos, finden muntre Ziverge
Noch immer eine Heine ſchlaue Rite;
Und droht ein Banquerut — der grimme Scherge —
Man ſchlägt ein Schnippchen ihm mit munterm Witze —
Und Schließlich! muß das Wetter ſich entladen,
So treff’ && uns in Homburg oder Baden!
Sie find ja nicht mehr, was fie einftmals waren:
Ein Paradies für uns; ein Sündenbabel
Für Tugendwädter, (wo fern von den Zaren
Der fühen Heimath Kain ſchlug den Abel —
Der rechte Ort, zur Hölle ftrad3 zu fahren) —
Im Ganzen aber noch recht amüjabel.
So flattern wir denn um die Sprudelquellen
Vergnüglich Hin ala wechjelnde Libellen.
Sommerfäben. 295
Ya, wie fie flattern, dieje lieben Stleinen,
In goldnen Lüften ſchaukeln, fpielen, ſchweben,
Das Süße mit dem Nühlichen vereinen,
Und leben laſſen, wie fie jelber leben:
In dulei jubilo! ch will nicht jcheinen
Ein Beſſrer, ala ich bin, und zornig heben
Zum Fluch die Hände ob jo graufer Sünden;
Im Gegentheil! e8 ganz ergötzlich finden.
Und do! „In unſers Bufens Reine“ — goldne Worte!
Wer kennt fie nicht? wer trüg' fie nicht im Herzen?
Wem wurden fie nicht ſchon zum fichern Horte,
Daß es no Baljam gibt für tieffte Schmerzen ?
Wem jchlofjen fie nicht auf des Himmels Pforte?
„Wir heißen's: Fromm fein!“ — ad! und wie oft jchergen
Wir mit dem „Höh’ren“! wagen nicht, zu nennen,
Wozu wir und von Herzen gern befennen!
Wer ift d’ran ſchuld? find wir's? ift e8 die Menge?
Sind wir zu feig, die Fahne hoch zu tragen
In diefes Lebens wildem Kampfgedränge ?
Und lafjen freche Ratten fie benagen,
Die immerdar geichäftig, ob gelänge,
— Für das doch alle unſre Pulſe ſchlagen —
Das Hohe in den ſchnöden Staub zu ſtrecken? —
Wir beten nimmer an den Straßenecken!
Gewiß nicht! Aber auch, es ſteht geſchrieben:
Du ſollſt Dein Licht nicht unter'n Scheffel ſtellen,
Wie herzlich gern ſie auch im Dunkeln blieben,
Des Ahriman verdächtige Geſellen.
Wir Andern aber, die den Ormuzd lieben,
Den morgenrothgebornen, ftrahlenhellen —
Für uns fei höchſte Pflicht und höchſte Wonne,
Zu leuchten und zu glänzen wie die Sonne.
ie ich fie einftmals leuchten jah und glänzen,
Als von dem Bofilip ih niederichaute
Auf jene Bai, die Städte rings umkränzen,
Und ich den Augen kaum, den trunfnen, traute;
Und ſprach zu mir: jo jah ich's nimmer lenzen;
So nie dad Meer, jo nie der Himmel blaute!
In ſolchem Lichtglanz wandelte der Heros;
Dies wahrlich ift die Sonne des Homeros!
Deutſche Rundſchau.
Sie goß in's Herz ihm ihre lichten Strahlen,
Auf daß es wieder ftrahle nun und leuchte
Hinauf zu jel’ger Götter goldnen Mahlen,
Hinab in's Auge, ad! das thränenfeuchte
Penelope's; nachklinge alle Qualen
Und Wonnen defjen, dem e3 göttlich däuchte,
Um fpät’fter Nachwelt ew'gen Ruhm zu erben,
In feiner Jugend Maienpracht zu fterben.
"Und was ift göttlich, wenn e3 nicht da3 Streben,
Uns zu bewähren als des Himmel Söhne?
Auszugeftalten tiefgeheimftes Leben
Zum hohen Exrdenabbild ew’ger Schöne?
Dem großen Werke ganz und hinzugeben,
Der Gottheit überlaſſend, ob ſie's kröne?
Dies! und fürs Höchſte allzeit Kühn zu zeugen:
Allzeit vor ihm das Fromme Knie zu beugen!
Berfteht ih: in Gedanken! nur figürlich!
Wie Schwer auch manchmal, aufrecht uns zu halten;
Mie tief wir und auch neigen unwillkürlich
Vor jenen hohen, himmlischen Geftalten. —”
So wärft auch Du erjchroden jehr natürlich,
Hätt’ft Du geſehn mich meine Hände falten
Und niederfnieen — Du, die Hohe, Starke! —
Als ich Dir heut’ begegnete im Parke.
Ein Holder Morgen! In den Dämmerftunden
Am bleihen Oſten hatte e3 gewittert;
Längft hat die Sonne freie Bahn gefunden.
Mit bunten Lichtern ift der Pfad gegittert;
In breiten Schatten malen fi) die runden
Baumfronen auf die Wieje, wo noch zittert
Der Thau im Grafe; Vögel jubiliren,
Und aus der Ferne leiſes Muficiren
Dom Curorcheſter. — Nun, fo aus der Ferne,
Ganz aus der Ferne, laß ich's mir gefallen;
Doch in der Nähe — ich gefteh’ es gerne:
Schier unerträglich ift mir diejes Schallen,
Dies Schmettern! Wenn es wahr ift, daß die Sterne,
Die ew'gen, tönend ihre Bahnen wallen,
So woll’t mir, bitte, diefe Gunft gewähren:
Macht Ihr Mufit, jo macht Muſik der Sphären!
Sommerfäben.
Setzt ift mir wohl! Der letzte Ton verſchwinde!
Nur noch das ſanfte Raufchen in den Zweigen,
Die in dem blüthenduft'gen Morgenwinde
Sic) jpielend Heben, liebend wieder neigen.
Wie bift Du ſchön, o Welt! jhön, wie dem Kinde
Du einft erjchienft! jet bift Du erft mein eigen! —
Da — auf der Wieje fonnig ftillen Wegen
Aus Waldesdunkel kamſt Du mir entgegen.
In ſchwarzem, jchlichten leide, grauem Hute,
Wie ih Dich ftets gejehn in diefen Tagen.
Doch nur für den Moment mein Auge rubte
Auf Deiner Huldgeftalt; dann — muß ich's jagen? —
Gar ſeltſam bange wurde mir zu Muthe,
Nicht wagt’ ich mehr die Augen aufzuſchlagen,
Als Hätteft Du es, zürnend, nicht gelitten.
So bin ih Dir vorüber ftill geichritten.
Denn, wie fie auch den hohen Menſchen gleichen,
Wenn fie von des Olympos fchnee’gen Zinken
Herabgeftiegen auf das Feld, wo Leichen
Auf Leihen unter Heldenjpeeren finten —
Man kennt fie doch an einem fihern Zeichen:
Die Götteraugen können nimmer blinken!
So hab’ ih auch, daß aöttlih Du, erfahren
An Deinem Blid, dem großen, ftillen, Haren.
Fürcht' ich den Blick? Was hat denn”der zu fcheuen,
Der nichts erhofft, nichts will — er darf es ſchwören —
Als fi an Deinem bolden Bild erfreuen,
Als Deine janfte, fühe Stimme hören?
Es wandeln fi in Parbdel und in Leuen,
Die Thoren freilich, die ſichſſelbſt bethören;
Doch, wenn auch jezumweilen jold ein Thor er,
Die Haren Sinne diesmal nicht verlor er.
Ya, bei dem Argostödter ſei's geichiworen:
Ich habe, wie dem weiſen Mann gebühret,
Das Kraut, das zauberkräft'ge, nicht verloren,
Das er mit feinem heil’gen Stab berühret —
Demielben Stab, Ihr Herrn GCommentatoren,
Mit dem die Schatten er zum Hades führet!
Denn um das ernfte Bild des Todes ranlen,
Der Lebensweisheit duftigfte Gedanken.
297
298
Deutſche Rundſchau.
Der Tod iſt Trennung — Trennung von dem Leben
Und von dem Lieben! ach, und von den Lieben,
Die wir gehegt, gepflegt, an die gegeben
Wir unſer Herz mit allen reinſten Trieben;
Vom Werk, das aufgerichtet kühnſtes Streben,
In das wir unſern Namen ſtolz geſchrieben! —
„Den Baum, der einmal hat beſchirmt Dein Träumen,
Sollſt Du verlaſſen ohne Raſt und Säumen!“
Schwermüth'ge Weisheit weltvergeßner Inder!
Wir Andern freilich ſoll'n es anders halten;
Wir ſollen wieder werden wie die Kinder,
Uns freu'n des Lebens wechſelnder Geſtalten,
Und, blumenreicher Pfade frohe Finder,
Die Stirn nicht ziehn in grämlich düſtre Falten;
Wir ſoll'n — ſo viel! beſonders auch: bereit ſein!
Denn Keiner weiß, wie bald es wird ſo weit ſein.
Trennung iſt Tod! wie bald muß ich mich trennen
Von dem geliebten Bild der Guten, Schönen,
Die ich nicht einmal kann mit Namen nennen,
Ob die Philiſter mich darob verhöhnen
Und Schwärmer ſchelten: lerne ſie nur kennen!
Man kann ſich nicht zu früh daran gewöhnen,
Daß, was da glänzt, mit nichten immer Gold iſt,
Und eine Huldgeſtalt nicht immer hold iſt.
Armſel'ge Spötter, die Ihr nichts begreifet,
Wenn Ihr es nicht in plumpen Händen faſſet;
Die Ihr vergnüglich in dem Schlamme ſchleifet,
Was Euch in Euren ſchnöden Kram nicht paſſet;
Und was in edlen Herzen blüht und reifet,
So gründlich aus dem guten Grunde haſſet,
Weil es Euch zeigt in Eurer ganzen Kleinheit,
Und an den Pranger ſtellet die Gemeinheit.
Hinweg! verbittert mir nicht dieſe Stunden,
Die letzten nicht! ſchon ſinkt der Abend nieder,
Es kommt die Nacht; ſie iſt dahingeſchwunden;
Das Frührothlicht, die Sonne kehren wieder —
Ich bin fein Prahler mit erlog’nen Wunden ;
Ich weiß: die Vögel fingen ihre Lieder,
Die Wieſen gligern, Morgenwinde wehen,
Es rauſcht der Wald — ala wäre nichts geichehen!
Sommerfäden. 299
Was war’ denn auch? ich hab’ ein Buch geleien
Doll jonnigfter, voll köftlichfter Gedanken;
63 fand mid krank, nun bin ich ganz genejen —
DVorüber ganz des Herzens banges Schwanken;
Ich bin im Haus Melpomene's geweſen,
Da fielen fie, des Alltags enge Schranten;
Ich hab’ ein raphaeliich Bild erblidet,
Das mir die tieffte Seele hat erquidet;
Ih hab’ geihaut in traute Mondeshelle,
Die auf das Pult des Grüblers ift gefallen;
Ich hab’ gefniet, ein Pilger, auf der Schwelle
Don eines Griechentempels Marmorbhallen;
Mir hat geraufcht kryſtallen Flarfte Welle,
Die ich zur reinften Kugel durfte ballen; —
Sie koftet nichts die Helle, Hoheit, Klarheit;
Mir find fie Pfand und Gleichniß ew'ger Wahrheit.
Ade, ade! ich kann und will nicht jagen,
Du mögeft meiner freundlich, mild gedenten!
Dod Did mag ſanft des Lebens Woge tragen,
Nie Bosheit Dir die ſchöne Seele kränken;
Und wenn bes Zweifels Klippen Did umragen,
Dein hoher Stern auf eb’ne Bahn Dich Ienten,
Dir rein betvahren Deine reinen Schtwingen!
Dein letzter Hauch, ein Schwanenlied, verflingen!
Ade, ade! Du lieber Schwan vom Weiten!
Kehr’ glücklich wieder heim zum beil’gen Grale!
Grüß’ mir den Vater Parcival zum Beften;
Die ftolge Burg Salvat gar viele Male!
Und wenn bei edler Menichen Weihefeiten
Das Kleinod wird verehrt, die Demantſchale —
Auch mir einft ſprühten ihre Strahlenfunten!
Auch ich Hab’ von dem theuren Blut getrunten!
kiterarifhe Rundſchau.
1. Die Geier-Wally. Eine Geſchichte aus den Tyroler Alpen von
Wilhelmine von Hillern, geb. Bird. 2 Bde. Berlin, Gebrüder
Paetel. 1875.
Bekanntlich find die Triumphe der Dorfgefhichte eigentlich nie unbeftritten ge=
weſen. UWeberwältigende Talente, wie George Sand, Immermann, Auerbadh, haben
ihr im Sturm eine glänzende Stellung erobert, und mit der „Frau Profefforin“, der
„Grille“ drang fie auf die Bühne vor, wo Anzengruber noch heute Erfolge feiert.
Dennoch haben, mitten in der Hochfluth diefer Erfolge, Kritik, Lejer und, bis auf
einen gewiffen Punkt, auch die Dichter die eigentHümlichen Schwierigkeiten und Ge—
fahren der neuen Gattung wohl gemerkt. Es jchien nicht Jedermanns Sache, die
Sprache des Landmannes poetifch zu verwenden, ohne fie zu berjtümmeln und zu
fälfchen, wie der befannte, herzige Theaterdialeft jattfam beweift, zu dem unfere
Künftler und Künftlerinnen fich verpflichtet fühlen, jobald fie Kniehofen, Nägelſchuhe,
Gemsbarthüte, Mieder und kurze Rödchen anlegen. Auch jene taufend fleinen Züge,
welche einem menjchlichen Xebensbilde erſt die volle, friſche Realität geben, gehorchen
meiftens nur undolllommen dem Dichter, der uns in eine Sphäre führt, in der er
jelber nur Gaft war. Und was noch mehr jagen will: die Lebens» und Bildungs—
verhältniffe des Bauern, des Hirten, de ländlichen Arbeiter bedingen eine gewiffe
elementare Einfachheit der Motive, welcher nur Kräfte erjten Ranges das Geheimniß
einer vollen und ausgiebigen Wirkung entloden; das mittelmäßige Talent entgeht da
ſchon ſchwer der Verfuchung, ſich mit Anleihen bei der Sphäre des gewohnten, ge
bildeten Bewußtſeins zu helfen, nicht zum Vortheil der veinen, ungefälfchten Färbung
des Bildes. Bei dem Gebilbeten jchafft die Thätigkeit des Geiftes ein weites, jo zu
fagen neutrale Gebiet, auf welchem die Leidenschaften, wenn nicht Frieden ſchließen,
fo doc fich in den Formen eines Völkerrechtes beivegen, und welche® dem Dichter
reiche Hilfsquellen bietet für Belebung und Erbeiterung feiner Bilder, für Vermitte—
lung der Gegenfäße, Abftufung der Farben. Auf alle diefe Vortheile muß die Dorf-
geichichte verzichten. Sobald der Dichter hier über die enge Grenze der reinen Idylle
hinaus geht, empfängt ihn der Kampf elementarer Leidenschaften und materieller In—
terefjen in feiner ganzen unvermittelten Härte, und nur eine ungewöhnliche Reinheit
und Stärke der Empfindung, eine nicht gemeine Sicherheit und Feſtigkeit der Zeich-
nung kann es ihm gelingen laffen, diefe rauhen Kämpfe um die erften, einfachjten
Güter des Lebens in den Grenzen ber jchönen Erfcheinung zu halten.
Was nun die „Geier-Wally“ angeht, jo Hat fie der Dichterin feine dieſer
Schwierigkeiten und Gefahren eripart; ja ed gewinnt den Anjchein, ala hätte Frau
von Hillern gerade die allerbedenklichjten derjelben weit eher aufgejucht ala ängjtlich
gemieden. Sie hat vor Allem den fühnen Wurf gewagt, eines der Härteften und
poetifch bedenklichften Motive unferer nationalen Heldenfage uns in der belliten,
Literarifche Rundſchau. 301
nüchternjten Beleuchtung alltäglicher Wirklichkeit zu zeigen. Das Weib ala Trägerin
ber wilden, ungebändigten Naturkraft, die Walküre in Bauerntraht, Brunhild im
Tyrolerrock! Faft ausfchlielich dreht fich der äußere Verlauf der Handlung um Lei—
ftungen Hünenhafter Körperfraft, um Ausbrüche dämonifcher Wildheit. Die Heldin
kämpft mit dem Lämmergeier um feine Brut, erwidert die Mikhandlungen ihres
Baterd mit ingrimmigem, fteinhartem Troß, jchlägt einen aufdringlichen Freier halb
todt, treibt einen Haufen robufter Knnechte und Mägde mit brennenden Holzſcheiten
in die Flucht, vertheidigt mit dem Aufgebot aller Kraft gegen ihren Geliebten den
erften Kuß. Ihrer vermeintlichen Nebenbuhlerin Legt fie auf öffentlicher Kirchweih
in Brunhild’8 Geift, aber in der Sprache des Dorfes den Text aus; den Geliebten,
ber fie beleidigt, überliefert fie jo Fury angebunden wie eine alte Burgundenkönigin
dem Meuchelmörder; und als dann die Reue fie überfällt, findet auch diefe zunächſt
in einem graufigen Gewaltjtüde von Körperftärfe und ZTodesmuth ihren Ausbrud.
Natürlich gehört dann auch ihre Liebe dem Manne der eifernen Muskeln und des
grimmen, unbeugjamen Muthes, dem Bezwinger der Bären und wilden Thiere, dem
Manne, der das Herz des fünfzehnjährigen Mädchens ein- für allemal bezaubert, als
er ihr entgegen trat, mit dem blutigen Fell eines erlegten Ungeheuers geſchmückt, und
als er ihren Vater bezwang, den wildeften, gefürchtetften Raufbold des Landes. Wie
losgelafjene Naturgewalten ftoßen überall die Leidenfchaften auf einander, ohne Er-
barmen wüthet die fchroffe, eigenwillige Selbftfucht von Vater zu Kind, von Nach—
bar zu Nachbar; die Liebe unterwirit ihre Opfer zu unentrinnbarer Knechtichaft.
Und bei diefer Ueberkühnheit der Motive und Situationen wird faum einmal gejagt
werden dürfen, daß die Dichterin fich beſonders bemüht hätte, die Härten der
Grundanlage in ungewöhnlihem Maße zu verdeden. Vielleicht ift e8 diefer Um—
ftand, den wir zu tadeln hätten. Das Leben der „Geier-MWally“ in den Einöden
des Hochjochs z. B. wird ganz in der Weife des Märchens geichildert, oder jagen wir,
um nicht mißverftanden zu werden, nach der Seite der Empfindung bin, während es
doch wol fchwerlich überflüffig war, überhaupt nur die Möglichkeit jolcher Eriftenz
finnlich anfchaulich zu machen. Die epifche Darftellung hat vor der dramatifchen jo
viele Bequemlichkeitsvortheile voraus, daß fie von Nechtöwegen nicht auch noch Be-
freiung von den ihr eigenthümlichen bejondern Pflichten fordern darf, und unter
diefen fteht Vollftändigkeit und Anjchaulichkeit der vorgeführten Bilder nicht in letzter
Reihe. Auf der Bühne Hat der Dichter nur für das Empfinden und Handeln
feines Helden zu forgen; für die finnliche Erfcheinung ift der Schaufpieler und Deco-
rateur da. In der Erzählung muß uns die vom Dichter befruchtete Phantafie die
finnliche Anſchauung erjeßen, und da gewinnen denn auch alle Kleinen Nebenzüge des
Bildes ihre Bedeutung.
Indeſſen hat die „Geier-Wally” nicht auf kritiſche Empfehlungen gewartet, um
in wahrhaft glänzender Weile ihren Weg zu machen. Die „Rundichau“ ift ihr
zu gutem Theile für die ungewöhnlichen Erfolge mehrerer ihrer Nummern vderpflich-
tet; die Begeifterung, der Lejerinnen namentlich, jo weit unfere Beobachtung reicht,
war ungetheilt, ohne Mißton; und auch der Schreiber diejer Zeilen darf hinzufügen,
daß jenes oben ausgeſprochene Fritifche Bedenken ihn feinen Augenblid verhindert
hat, der Erzählung mit fteigender, lebhafter Theilnahme und mit voller, warmer
Empfindung ihres ungewöhnlichen dichteriichen Werthes zu Tolgn. Mag fie nad
der Seite des feiner auögeführten Detaild manchem Wunfche Raum laffen; fie ent-
Ihädigt dafür reichlich durch die beiden Hauptvorzüge einer erzählenden Dichtung:
durch energifche, mächtige Führung der Handlung und duch Wahrheit und Tiefe der
Gharakteriftil. In der Handlung feine Vacanz, fein jchattenhaftes Schwanken, eine
Lähmung und Ankränkelung durch gemachte Reflerion; in der Charalteriſtik feine
Unflarheit, fein Zugeftändniß an äußerliche Berechnung, fein Schwanken gegenüber
den gefunden, natürlichen Conſequenzen feft umriffener, ar angeichauter und menſch—
lich wahrer Grumdannahmen. Die „Geier-Wally“ mag hier und da hart, roh, unge-
ſchlacht ericheinen; ihre braunen Fäuſte, ihre wuchtigen Tritte, unter denen die Dielen
302 Deutiche Rundſchau.
des Fußbodens frachen, ihre „Ichlagfertigen” Gewohnheiten mögen unfer Ideal weib-
licher Liebenswürbdigfeit wol einmal in die Enge treiben. Dennoch gewinnen wir fie
lieb, denn fie ift durch und durch wahr, gefund, urkräftig; al’ ihr Thun ift aus
einem Stüd: fie hat immer den vollen Muth ihrer Meinung und ihres Gefühls; ihr
Hab und Troß gegen den ungelegenen Bewerber und den eigenfinnigen Vater weiß
freilich don feinem Zugeftändniß, feiner Verföhnung, nicht einmal am Sarge; aber
fie weift auch feine, noch jo harte Folge ihre Handelns feige zurüd; fie zahlt im—
mer ehrlich und voll ihre Schuld; und wie ihr Haß nur durch die Gluth ihrer
Liebe übertroffen wird, fo ihre Schuld durch die heldenhafte Urkfraft ihrer Reue und
Aufopferung. Es ift die Freude an dem ungebrochenen, reinen Auffchrei der Natur
und an der ungejchwächten Gewalt fittlichen Empfindens und Wollens, die una An—
geſichts diefer immerhin gewagten „hero iſchen“ Idylle für alle Härten entichädigen.
Wir athmen überall frifche, lebenskräftige Bergluft und lernen dabei auch einen gelegent=
lichen rauhen Windftoß ertragen. Die „Geiev-Wally”, um zufammen zu faffen, ift
fein zartes Paftellbild, auch fein reich und voll ausgeführtes Oelgemälde; Schatti«
rung, Färbung, Perfpective laſſen Manches zu wünjchen übrig; aber wie aus Stein
oder Bronze treten die Hauptgeftalten in mächtigen, reinen Linien hervor zu ergrei=
fender Wirkung. „Das Gewaltige ftirbt, aber es ftirbt nicht aus,“ jchließt die Ver—
fafferin. In gewiffen Sinne mag fi das Wort von dem Heldenpaar der Dichtung
auf die leßtere jelbft übertragen.
— — —
2. Erzählungen von Marie Freiin von Ebner-Eſchenbach. Stuttgart,
J. G. Cotta'ſche Buchh. 1875.
Wir wünſchen, die Aufmerkſamkeit unſerer Leſer ganz beſonders auf dieſes
Bändchen zu lenken; es enthält nur fünf kleine Erzählungen, allein ſie gehören zu
dem Beſten, was auf dem Gebiete der Novelle die letzten Jahre gebracht haben:
Bilder modernſten Culturlebens, die der harten Realität des Lebenskampfes nicht
ſchmeicheln und in einer Darſtellung voll ſchlichter, jedes gemachte Pathos, jede
redſelige Reflexion ausſchließender Objectivität das Geheimniß der Wirkung finden.
Aber dieſe Wirkung, unbeſchadet ihrer durchgreifenden Energie, iſt doch überall durch
einen warmen, lieben, ächt weiblichen Grundzug gemildert. Die Verfaſſerin beſchö—
nigt nirgends die Härten der Welt, welche ſie ſchildert; aber ſie hat ſolche Beſchöni—
gung auch nicht nöthig, denn man fühlt auf's Gewiſſeſte, wie alle Formen, in denen
‘ die Gemeinheit fich breit macht, feinen Augenblid im Stande find, ihren Glau—
ben an den Adel des Herzens, an die Wirklichkeit und Unvergänglichkeit des Sittlich-
Guten herabzuftimmen, Weitaus an die Spike der kleinen Sammlung tritt durch
fünftlerifche Rundung der Form wie durch Reichtum und Bedeutung des Inhalts
die erite Erzählung, „Ein Spätgeborener“ (p. 1—104), ein wahrhaft ergrei-
fendes Blatt aus der Liebes: und Siegesgeichichte des deutfchen, oder jagen wir Lieber
des echt menfchlichen Herzens. Ein Eleiner Beamter, claſſiſch, aber unpraftiich er
zogen, lebt in engfter äußerer Beſchränkung einem glüdjeligen Cultus feiner Ideale.
Mas ihm die peinlichfte Pflichterfüllung an Zeit und Kraft übrig läht, gehört der
Mufe, einem theilnehmenden Freunde und der ftillen Verehrung einer Dame, zu ber
er aufblidt wie zu den Sternen, „die man nicht begehrt, während man doch ihrer
Pracht fich erfreut.” So jchreibt er alle Jahre fein Drama, lieſt e8 dem freunde
vor, trägt e8 zur Intendantur und Holt e& auch wieder ab: bis er faum noch dem
Gedanken Raum gibt, daß man ihn jemals nicht zuridweilen könne Da zieht
denn diefen Gerechten urplößlich der Dämon des Intereffentampfes in feine verhäng-
nißoollen Kreife. Man Hält fein jüngſtes Stüd für das Werk eines hochgeftellten
Mannes. Es wird angenommen, geipielt und — von der Journaliſtik der politischen
Gegner frivol und erbarmungslos in den Staub gezogen. Und nicht genug damit:
auch fein ſüßes Herzensgeheimniß entreißt man dem Armen, ftellt e8 ſchamlos im
Parteilampfe bloß, beutet e8 aus. Die Herren von der Tagesprefje behandeln ben
Literariiche Rundſchau. 308
Idealiſten Lediglich ald Object für amüfante und Iucrative Studien. So brechen
denn alle feine bejcheidenen Lebensverhältnifie über feinem Haupte zufammen, und
da endlich Liebe und edelmüthige Freundſchaft ihm zur Rettung die Hand reichen,
ift e8 zu ſpät. Die Wirbel des Intereſſenkampfes fchlagen wieder einmal über einem
gebrochenen Herzen zufammen, und der trübe Strom fluthet weiter. — Kaum weni-
ger düfter ift der Grundton der zweiten Erzählung, „Chlodwig,” (p. 105—216), die
Geſchichte eines einfachen, biedern Mannes, der verderben und verfommen muß, weil
er Liebe bietet und Liebe hofft von jener „Gejellichait“, im welcher nur der Schein,
die Rüdficht, die bankerotte Selbftfucht auf dem Throne fiht. Dabei erfreut ein
durchlaufender Zug feinen, ungefuchten Humors, der fich nirgends aufdringt, ſondern
überall nur mit der größten Bejcheidenheit den Hintergrund und die Nebenperfonen
flreift. Es ift beinahe wie ein wehmüthiges Lächeln, welches unter all’ der Herzens-
bärtigkeit, die den Helden erft zur Verzweiflung und dann zum Wahnftnn treibt, wie
ein Beichen ericheint, daß das gute Menſchenthum, wenn es von der Selbitiucht
gefliffentlich zurüdgedrängt wird, immer noch in dem Mitleid und der Liebe Derje
nigen eine Stätte findet, die unbemerkt im Schatten wandeln. Die „Erfte Beichte“
(p. 217— 268), mehr ſtizzenhaft gehalten, gewährt einen überrafchenden Einblid in
die Natur der Verwüftungen, mit welcher eine in Formen und Abftractionen eritarrte
Religiofität die Jugenderziehung in gewifien Sphären der modernen Gejellichait be-
droht. Die „Großmutter“, (p. 218—269) illuftrirt in einem kleinen, aber mit küh—
nem, ficherem Zuge bingeworfenen Genrebilde die verhärtende Wirkung der grimmen
Lebensnoth ſelbſt auf urfprünglich edle Gemüther. Die lehzte Erzählung, „Der
Edelmann”, (p. 279— 345), wenn auch fünftlerifch vielleicht nicht gang auf der Höhe
der übrigen Nummern der Sammlung, ift eine wahre Generalbeichte, das ergreiiende
Glaubenäbelenntniß einer echt adligen, gegen die wüfte Noth des gemeinen Lebens—
fampfes mit der Kraft einer wahren und urfprünglichen Natur anftrebenden Seele.
Man braucht diefe Anfichten nicht ſämmtlich zu unterfchreiben, um fie gleichwol nach
ihrem vollen Werthe zu ſchätzen. So ergibt fich denn die Verfafferin, wie geſagt,
keineswegs optimiftiichen Jllufionen; fie erfpart dem Lefer nicht den Anblid jener
umerbittlichen Gewalten, welche von jeder durchbrechenden höhern Gulturftufe auch
den vollen Preis vermehrter Arbeit und Kämpfe fordern. Aber ihre Bilder wirken
dennoch nicht verftimmend; denn fie find vor Allem nie unmwahr, nie verbittert, und
ber feite, feine Zug ber Umriffe, die echt künftleriiche Vertheilung von Licht und
Schatten, die vollflommene Beherrichung der Form umfleiden auch den Ernſt, ja die
Härten des Inhalts mit dem Zauber der Schönheit und Poefie. E
=
3. Gabriel, Roman von S. Kohn. Zweite umgearbeitete Auflage. 2 Bde.
Jena, 5. Goftenoble. 1875.
4. Ein Spiegel der Gegenwart. Roman von ©. Kohn, Verfafler des
„Gabriel“. 3 Bde. Jena, 5. Goftenoble. 1875.
Wer oder was ift „Gabriel“? Das ift eine im deutichen Leſerkreiſen, wenn
wir nicht irren, unbedenklich ohne Jemandes Beleidigung aufzumerfende Frage, obwol
es um eim deutiches Buch fich handelt, welches zwanzig Jahre alt ift und in mehr
als zehn Ausgaben, in franzöfiicher, englifcher, italienifcher, hebräifcher Ueberſetzung
ben Weg um die Erde gemacht hat, bevor es in der vorliegenden Ausgabe zuerft das
eigentlich deutiche Publicum erreicht bat. Aus der Prager Judenſtadt (ba erichien
Gabriel zuerft, bei Wolf Pafcheles im Jahre 1854) nad Paris, New-Pork, Ein-
einnati, Jerufalem, Warichau, Yondon, von da in engliichem Gewande zurüd in bie
Tauchnitz'ſche Sammlung engliicher Ueberfegungen aus dem Deutichen und nun erft
auf den großen bdeutichen Markt. Sind das nicht fata genug für einen libellus?
Freilich, raus und wunderlich genug fieht auch das Ding aus ben Augen, und
Erfolg wie Mißerfolg erflären ſich bei genauerer Belanntfchaft natürlich genug. Bor
Allem ift die Sprache für den deutjchen Gaumen etwas fremdartig flarles üd.
nn De
304 Deutſche Rundſchau.
Was heißt z. B. Bochurim? Aſchkenes? Schiur? Oberſchammes? Lamden? Schorim ?
Was bedeutet: „Seid mir eleph peanim mahel?* Dieſe Blumenleſe iſt den erſten
fünf Seiten entnommen und die folgenden find zum Theil noch ergiebiger. Man
wünſchte die erflärenden Anmerkungen in den Text und das überfluthende hebräiſche
Deutich unter denfelben. Aber freilich, Leben und Kraft ift dabei doch in dem
Dinge, mehr ala in Dubenden glatter, vegelvchter Romane, und es ift ſchon zu
begreifen, daß es Diejenigen pacdte, bei denen fein mächtig fluthender Gedanken⸗ und
Empfindungsftrom den zudenden Nerv berührt. Wir haben es, wie man merkt,
mit einer poetijchen Kundgebung ſpecifiſch-jüdiſchen Bemwußtfeins zu thun, und zwar
ftellt fich diefelbe, im Gegenjate gegen die politifchen und focialen Tendenzen eines
großen Theil der jüdifch-deutjchen Literatur, ganz ausdrüädlich in den reli-
giöfen Mittelpunkt der altteftamentlichen Lebensanfchauung. Einem tragifchen Con—
flict ftarrer, jüdifcher Gefegestreue und jüdifchen tiefen Familiengefühls entfließt das
Intereſſe der Handlung, die fih um die Auffaffung und Wirkung jenes altteftament-
lichen Wortes dreht, welches den „Mamfer“, d. h. den nicht im rechtmäßiger Ehe Er-
zeugten, „aus der Gemeinde bed Herrn verbannt”. Gabriel, aus reicher Kaufmanns
familie, glüdlicher, Leidenfchaftlich Tiebender Bräutigam, wird an das Gterbebett
feiner Mutter gerufen, um zu hören — wie die geängftigte Frau fich ſelbſt des
Ehebruchs anklagt und ihn, den Sohn, damit moralifch vernichtet. Alles meidet,
verſtößt ihn; die Braut jelbft wendet fich in fanatifchem Grauen von ihm ab und reicht
dem eriten, beten ungeliebten, fremden Manne ihre Hand, den die Familie ihr zuführt.
Da „Flucht er den Weibern und frommen Hallunfen” und denkt nur noch an Rache.
Er wird Chriſt, Krieggmann im Heere des kühnen Mansfeld, und trifft dann endlich
in der Prager Yudenftadt feine lange gefuchte Beute. Das einft jo heit geliebte
Weib weilt dort mit ihrem Kinde, während ihr Mann in die Hände der Mans-
feldifchen gefallen ift und als Spion fein Echidjal erwartet. Charakteriftiich, von
furchtbar poeticher Logik ift Gabriel’8 Nacheplan: dad durch feige Geſetzesfurcht
graufame und treulofe Weib ſoll jetzt die Rettung ihre Gemahla mit — ihrer Ehre
und ihrem guten Gewiſſen erfaufen. Sie foll ihrerfeitö zur Ehebrecherin werden und
den Kelch der knechtiſchen Selbftverdammung bis auf den legten Tropfen leeren. Schon
ſcheint ihr Schickſal beftegelt, da findet Gabriel den Gegenftand feiner quälenden
Sehnſucht, jenen bleihen Mann, der einjt ihn, den noch glüdlichen Knaben jo
ftürmifch auf der Straße Herzte und küßte und in dem er jeit jenem Geftändnifje der
Mutter feinen wirklichen Vater ahnte. In der Erfennungsfcene jchließt fich die ge-
waltjam zerriffene Kette, welche die Seele des jüdiſchen Mannes mit der Seele feines
Volkes verbindet, die Furien entweichen und das gequälte Herz bricht in der Ver—
fühnung des Todes. Iſt das nicht in tiefer Wahrheit geichaut und empfunden ?
Ob nun in dem doch innerlich unvermittelten Gegenſatze dieſes ſelaviſchen Buchftaben-
dienftes auf der einen und diefer unbezähmbaren Leidenjchaft auf der andern Seite
wirflich der Kern des jüdifchereligiöjen Lebens ruht, darüber maßen wir uns natür-
lich fein Urtheil an. Auf alle Fälle wird der durchichlagende fosmopolitiiche Erfolg
des Romans wenigftens ebenſo jehr durch die Energie und Naturtreue der Charakter-
zeichnung und durch das zwar ungejchulte, doch bedeutende Erzählungstalent des
Verfaſſers bedingt worden fein, als durch nationalsreligiöfe Sympathien. Beide Eigen-
Ichaften haben ihn denn auch in dem neueften dreibändigen Romane: „Ein Spiegel
der Gegenwart“ nicht verlaſſen, obwol dieſes neue Werk des Verfſaſſers faft
mehr von den Fehlern ala von den Vorzügen des früheren zeigt. Daß Kohn ein
höchſt begabter Naturalift jei, läßt fich auch hier nicht verfennen. Aber während im
„Gabriel“ das ungewöhnliche Intereffe des fremdartigen Stoffes den Mangel an Fünft-
leriſchem Maß faft verdedte, tritt diefer im „Spiegel der Gegenwart“ um jo empfind-
licher hervor. Wir befinden uns diesmal in dem heiteren, glänzenden Wien von
1873. In den bdrittehalb Jahrhunderten, die feit jenen düſtern Greigniffen in ber
Prager Judenſtadt vergingen, ift Vieles ander geworden in Israel. Die Juden
reden nicht mehr halbhebräiſch, ſondern treffliches Deutsch; fie find Börſenbarone
Literarifche Rundſchau. 305
oder resp. grundgelehrte idealiftiiche Doctoren, mit der ftolgeften Nriftofratie auf Du
und Du. Zu ihnen gehen die „Ritter“ in die Schule, ihre „Koftzettel“ und Gonto=
corrents machen das fociale und politiiche Wetter, ihnen beichten Fürſten und Grafen,
ihre Erbtöchter find der beneidete Siegespreiß der glüdlichen Helden, und felbft unter
den Schreden des „Ktrrachs“ verlieren fie allein nicht den Kopf. Bravo! Mir freuen
uns don Herzen des Fortſchritts und wollen mit dem Berfafler nicht darüber rechten,
daß er in diejer Schilderung des modernen Wien zwiſchen den Cavalieren germanifcher,
flavifcher und femitifcher Race für den geplagten, arbeitenden deutſchen Mittelftand
fein Pläschen fand. Er mu ja feine Welt und feine Leute kennen; wenigftens ihre
Geſchäfte kennt er gründlichit, wie die wahrhaft virtwojen Schilderungen des
tabbaliftiichen Börfentreibens beweifen. Das Lieft fich denn doch noch befler ala der
Proceh Ofenheim und der fünftige Gulturhiftorifer wird dieſe Camera obscura unferer
Zuftände zu ſchähen wiſſen. Der feiner empfindende Leſer jedoch wird nur zu oft durch
jene Uebertreibungen geftört werden, von denen wir oben jprachen, durch jene Häufung
von Effecten, die eben dadurch des beften Theils ihrer Wirkung verluftig geben oder in
das Gegentheil umfchlagen. So ift es 3. B. gewiß recht ehrenwerth und erbaulich, wenn
ein braver Sohn fein Yebenäglüd daran ſetzt, um feines Vaters Schulden zu zahlen.
Aber ift es nicht genug, wenn er dabei in vier Jahren einmal eine halbe Million
verdient? Muß das Erperiment durchaus dreimal don vorn angefangen werben ?
Und muß der ZTugendritter dabei nothwendiger Weile eine geliebte Braut ftill-
Ihmweigend verlaflen, blos um des heldenmüthigen Opfers, um des übeln Echeins
willen? Gehört es ferner zum „Spiegel ber Gegenwart“, daß ein genialer und
großartig denfender Mann fich in folchen Tagen auch noch gefliffentlich den Schein
des Geizes gibt, fich das Nothwendige verfagt, da er doch fehr wohl weiß, dak das
den endlichen Erfolg eher erichwert ala erleichtert? Man muß aus bekannten Grün-
den nicht zuviel beweifen wollen. Auch daß die Tugendhelden ſchließlich neben den
jelbftverftändlichen wunderfchönen und engelguten Frauen und dem vielen, vielen
Gelde auch noch hohe Orden und Titel befommen, dürfte auf daffelbe Blatt gehören,
fo jelbftverftändlich e& im Vaterlande des „Ritters von Pont-Eurin“ auch Manchem
ericheinen mag. Est modus in rebus!
— ——
5. Juſchu. Tagebuch eines Schauſpielers. Von Hans Hopfen. Stutt-
gart, Eduard Hallberger. 1875.
Dieje Erzählung bat, unbeichadet ihres Kunſtwerthes, ein ernftes culturhiſtoriſches
Intereffe. Hans Hopfen fchneidet mit ſcharfem Meſſer in das wilde Fleiſch der Zeit.
Ohne Groll, aber auch ohne Jllufion vermittelt er einen abkühlenden Blid in Lebens-
freife, welche unfere Ueberlieferungen mit einer gewiflen Poeſie des Herzens fonit gar
zu gem in Berbindung bringen. Wir befinden uns unter lauter jugendlichen,
deutſchen Jüngern der Mufen, Doctoren, Studenten, Künftlen, und was wir fehen
und erleben, ift eine Reihe von fchnöden Triumphen herzlos materialiftiicher Lebens⸗
anfchauung und überzeugtefter Selbitanbetung. Daß die Künſtler“ einen kranken
Gameraden auf der Stelle jchnöde vernachläffigen, daß jelbit die „Geliebte“ „aus
Furcht vor den Poden“ ihn meidet, mag hingehen. Auch die einft fo poetiichen
„Bagabunden“ find ja heute zu Tage gute „Realiften” geworden, wenn auch noch
nicht alle erſten Liebhaberinnen fo aufrichtig verfahren, wie bier die fchöne Prima-
donna Erneſtine in einer Abichiedöfcene für's Leben (p. 85—86): „Na, denn nicht,
lieber Mann!“ ruft fie, als der Geliebte ihr nicht den Willen thut, fpringt in einen
Walter und — ftredt ihm unter Zornesthränen die Zunge heraus. Ueber Verhim-
melung und Schönrednerei ift da nicht zu Magen. — Nun aber treten wir unter den
jungen Nachwuchs der modernen Wiſſenſchaft, unter die eigentlichen Streiter bes
Geiftes. Wir belaufchen fie in der Stunde der Arbeit und der Erholung, am Kranlen-
bett, am Secirtiich, im vertrauten Freundesgeſprüch, wie bei Tanz und Spiel, bei
Becherllang und Yiebesluft. Und was wir jehen, was wir hören, es ift überall und
Deutije Rundſchau. 1, 11. 20
306 Deutſche Rundſchau.
in alle Wege daſſelbe: die harte, eiſerne Selbſtſucht, die Anbetung des eigenen
Ich, modificirt durch Temperament, Umſtände, Bedürfniſſe, im Grunde aber überall
Alleinbeherrſcherin der Lage. Die Titelheldin „Juſchu“ (Joſephine), ein ächtes
Wiener Vollskind, luſtig, warmblütig, leichtſinnig, ohne alle Bildung, vertritt im
Grunde allein die idealen Gewalten des Lebens. Sie geräth in die Hände eines
jungen, ächt modernen Strebers, der ſich aus purem Eigenſinn ihretwegen mit ſeinen
reichen Verwandten überwirft, ſie dann aber durch gräuliche Mißhandlungen das
Opfer abbüßen läßt, bis ein Ausbruch der Verzweiflung den Knoten durchhaut.
Wahrhaft verſöhnend wirkt nur die ſeeliſche Umwandlung Juſchu's unter dem Ein—
drucke der Hoffnung, wirklich noch eine rechtliche, gute Frau werden zu können.
Deſto ſchneidiger berührt dann freilich die Schlußkataſtrophe: das jähe, durch bloßen
Zufall herbeigeführte Ende des herzloſen Burſchen, der ſich eben anſchickt, mit dem
allerbeſten Gewiſſen, vor Eingehen einer reichen Heirath, von feinem durch das
Schickſal der armen Juſchu nicht wefentlich verdüfterten Junggefellenleben feftlichen
Abschied zu nehmen. „Zufall? Und wenn auch wirklich nur diefer! Sit denn der
Zufall etwas Geringeres als der Heine Finger an der Hand des allmächtigen Gottes“ ?
vi Ichließt der Verfaſſer. Ein trauriger Troft Angefichts eines Lebensbildes, wie
ieſes!
6. Novellen von Ernſt Eckſtein. 2 Bde. Leipzig, Günther. 1875.
Eckſtein verfteht die nicht leichte Kunft, auf engem Raume die Fäden einer
Ipannenden, raſcher und doch wohl vorbereiteter Entjcheidung zubrängenden Handlung
zu ſchürzen, und diefer durch eine jcharf pointirte, wenn auch der Natur der Sache
nah nur ſtizzenhafte Charakteriftit ein tieferes Interefje zu geben. Aus der Zahl
der hier vorliegenden acht Novellen dürften vier nur als gut erzählte Anekdoten gelten:
„Die Parthie zu Vieren“, „Der Leuchtturm in Livorno”, „Die beiden Luftipiel-
dichter” und „Die Mofchee zu Cordova“ ; die leßtere eine allerliebite novelliftifche Reife
ftudie über die Wirkung der maurifchen und der gothifchen Baufunft auf empfäng-
liche Gemüther. Mehr Anfprüche erheben „Der Winternadhtstraum”, „Die Freunde
des Todes“, „Margherita” und „Am Grabmal des Ceſtius“. In den „Freunden
des Todes” triumphirt echt wohlthuend das geſammte thatkräftige Leben über
egoiftiiche Blafirtheit. „Margherita“ und „Am Grabe des Ceſtius“ find Kleine, wirk—
fame Tragddien in novelliftiicher Form, ergreifende Offenbarungen aus der geheim-
nißvollen Werkjtatt, in welcher die Schuld die Machen des Schickſalsnetzes webt.
Die Form ift durchweg don bemerfenswerther dramatifcher Kunft ohne Längen und
von einer jprachlichen Sauberkeit und Sicherheit, die bei deutſchen Erzählern der
Gegenwart leider nicht jo jelbftverftändlich find, ala e8 zu wünjchen wäre.
nam
7. Gejammelte Gedihte von Hermann Grieben. Heilbronn, Gebr.
Henninger. 1875.
—
Kein Lieder-König oder Prinz, Gelegenheitsgedichte ſind's.
Kein Dichterfürſt von Gottes Gnaden „Doch da jo mancher Wanderſpruch,
„Hat hier zur Tafel Euch geladen; „Den ich bald hier, bald dort verfahte,
„Sch biete nur beicheidnen Zins; „But Farbe hielt und nicht verblafte,
„Statt eined großen Hauptgewinnd „So lad’ ich gern auf dieſes Bud)
„Empfangt Ihr, was auf meinen Pfaden „Die alten Freunde zum Beſuch,
„Ich fang in neun Olympiaden: „Und bitt’ auch neue mir zu Gaſte.“
Die Kritik wird diefe Widmung im Ganzen umterjchreiben können, ohne doch
die Beicheidenheit de liebenswürdigen Dichter zu jcharf beim Worte zu nehmen.
Denn durchweg bewährt fich Grieben als ein frifcher, fröhlicher, kerngeſunder Geſell,
den man gern ein Stüd Weges begleitet. Es findet fich in diefen Gedichten jo ziem—
lich Alles berührt, was einem wohlgearteten deutfchen Literarifchen Menſchenkinde
Literarifche Rundſchau. 307
biefer Tage ala fein Antheil an der allgemeinen Luft umd Plage ſchlecht und recht
zufommen mag: von den fühen Jugenddnfeleien der eriten Fenſterparaden, ben Früh—
lings⸗ und fFerien-Gelüften der Gymnaſiaſten- und Fuchszeit bis zum Mitwirken,
Mitforgen und Mitgenieken des Mannes während der großen weltgeichichtlichen Action
der letzten Jahrzehnte. Grieben war 1840—44 Student, ftand aljo mit vollem
Bewußtjein inmitten der trüben und mächtigen Gährung des fünften Jahrzehntes, in
welche alle Wurzeln unfrer heutigen Zuftände hinabreichen. Er hat dann erft in
feiner nordiſchen Heimath (Pommern), dann am Rhein als ein Streiter der Prefie
feine Stelle unter der Fahne des guten vaterländiichen Gedankens ausgefüllt, und in
des Tages Lajt und Hitze, das fieht man deutlich, hat er fich ein fröhliches, unge
brochenes Herz zu wahren gewußt. So fingt er denn von Frühlings» und Waldes-
luft, von Familien-Glück und Leid, von den ftürmifchen Hoffnungen, den fchmerzlichen
Enttäufchungen der vierziger, den glorreichen Erfolgen der jechziger und ſiebziger
Jahre: und zwiſchen dieſen ernftern poetifchen Markfteinen feines Lebens gibt ein
bunter Blumenflor von Gefellichafts-, Feſt- und Wander-Gedichten auch von jenen
Kleinen Freuden und Wechjelfällen Kunde, die eine deutjche Schriftftellerthätigkeit mit
Fug unterbrechen. Immer finden wir Grieben mitten in der Strömung des normalen
gelunden Zeitbewußtjeine, immer beherricht er mühelos die Form zu freundlich an«
regender Mittheilung. So fpricht uns diefe Sammlung denn an wie ein anmuthiges
deutſches Normaltagebuch, in welchem jeder gejunde und wohlwollende deutiche Leſer
fo zu fagen gute alte Bekannte aus fröhlichen und ernſten Tagen begrüßt. Das
werden die „alten freunde“ diefer Lieder unterfchreiben, und auch die „neuen“, an
welche die Einladung fich richtet, werden nicht ausbleiben.
nm
8. Laube’3 gefammelte Schriften. I. Band. Erinnerungen, 1810
bis 1840, von Heinrich Laube Wien, Wilhelm Braumüller.
1875,
Man hat viel über das „redjelige Alter” gefpottet, und doch wußte ber alte
Homer wohl, was er that, ala er die Gabe der „honiglühen“, immer nur erfreuenden,
verfühnenden Rede gerade dem von drei Menfchenaltern gereiiten Neftor verehrte.
Nichts Lieblicheres, Tröftlicheres fürwahr, als das Bild irdifcher Dinge, wie es, auf«
tauchend aus den Nebeln leidenichaftlich-verworrenen Strebens, in einer geläuterten
und berubigten, aber auch warm empfindenden Mannesfeele fich fpiegelt. Nun ift
es allerdings vielleicht mehr, ala einem einzelnen, felbit dem bevorzugteiten, Manne ge=
geben fein mag, die Reflere der überreichen, aber chaotifch gährenden Entwidelung, in
deren Mitte wir leben, zum überfichtlichen Bilde zu geftalten. Auch Laube's Buch
liefert nur Bruchftüde aus der Geſchichte jener ungeheuren geiftigen und focialen
Umwälzung, die fich feit einem halben Jahrhundert um uns und an uns vollzieht.
Aber was der Verfaſſer uns zeigt, das hat er wirklich gefehen, durchlebt, verarbeitet.
Es trägt für den, der, wie der Berichterftatter, wenn auch immerhin einer jüngeren
Generation angehörig, doch zu gutem Theile die Bilder mit eigenen Griahrungen ver-
gleichen fan, in jedem Zuge den Stempel lauterfter Wahrheit. Und der Antheil
des Verfaffer® an ben Kämpfen und Siegen, den Irrthümern und Errungenfchaften
der inhaltichiweren dreißiger Jahre des Jahrhunderts ift ein jo bedeutender, daß ber
Werth diefer Mittheilungen für die Belehrung, Warnung, Auferbauung des jüngeren
Geichlechtes kaum überichägt werben kann.
Heinrich Laube, im Jahre 1806 in Sprottau, Nieberichlefien, geboren, um⸗
faßt mit feinen Grinnerumgen die ganze grohartige Reihe von geiftigen Arbeiten und
Kämpfen, welche für ums zwiſchen der Gründung des beutf Bundes und bes
deutichen Kaiferreichd liegt. Seine YJugendeindrüde zeigen uns das norbdeutiche
Landftädtchen, in welchem noch zehn Jahre nach Schiller's Tode die beiden „Rathö-
tutſcher“, „Schiller und Wieland,” fich eines ruhigen Alleinbefipes ihrer claffiichen
Namen erfreuten: denn wenn eine wanbdelnde Truppe auch einmal die „Räuber“
20*
308 Deutſche Rundſchau.
traveſtirte, wenn auch einmal ein geflügeltes Wort, ein Vers ſeinen Weg in die
kleinbürgerlichen Kreiſe fand, ſo war man in dieſen doch noch weit davon entfernt,
ſich um jo gleichgültige Dinge wie die Namen von Dichtern und Verfaſſern zu
fümmern. Erwerb war Alles für den Bürger des Nderjtädtchens, mühjamer, küm—
merlicher Erwerb; jchwer lafteten die Nachwehen des Franzoſenelends auf dem ge—
fammten deutjchen Leben; jpärlich und unficher, jobald man fich von den großen
Verlehrsmittelpunkten entfernte, waren die Berührungen der geiftigen Zeitftrömung
mit den von der Nothdurft des täglichen Bedürfnifjes gedrüdten Maſſen, ſelbſt des
Mittelftandes. Kaum daß bier und da einige Broden hausbadener Belletriftif in die
Heinen bürgerlichen SKreife eindrangen. Die „Abendzeitung“, van der Velde, Tromliß,
Alxinger, Ernft Schulze u. a. dergl. genügten dem Unterhaltungsbedürfniß der Winter-
abende; Dramen, wie die „Kreuzfahrer“, „Clara von Hoheneichen“, „Die Räuber auf
Maria-Culm“, der Abhub der Spätromantif, beberrfchten die Provinzialbühnen.
Zwiſchen der gelehrten Fachbildung und der bewußtlofen Routine der materiellen
Arbeit dehnte noch nicht die breite, mannigjaltig abgejtuite Sphäre des „gebildeten
Zaienbewußtjeins“ fich aus, deren Einfluß im Leben der Gegenwart täglich mehr in's
Gewicht fällt. Und jene Fachbildung ſelbſt, fie gehörte faſt ausſchließlich der Beein-
fluffung des Staates an. „Das Studiren war Mode; von eracten Wiſſenſchaften
„wußte man Nichte. Technik, Chemie oder jo etwas zur Lebensaufgabe machen,
„hätte für einen bedauernäwerthen Irrthum gegolten, und im Grunde klammerte fich
„Allee an den Staat“.
63 Hat befanntlich bis in die vierziger Jahre gedauert, ehe fich das zu ändern
begann, und jetzt, ein Menjchenalter weiter, find wir jo ziemlich bei dem entgegen-
gejegten Extrem angelangt! So wurde denn auch Heinrich Yaube, (oder „der Laube
Heinrich”, wie die Nachbarn jagten) auf den Gymnaften in Glogau und Schweibnik
ſchlecht und recht mit der üblichen Lateinijch-griechiichen Wegzehrung für's Leben aus—
gejtattet, wehrte fich nach Kräften gegen das aſchgraue Muderelend, welches befannt-
li von dem Anfange der zwanziger Jahre an fich wie ein Mehlthau auf alle unjere
Blüthen- und Hoffnungsfeime legte, und hielt dann im gejegneten Weinfommer
1826, das Ränzel und die Öuitarre auf dem Nüden, wie ein Eichendorj’jcher fahren»
der Schüler, mit leichtem Herzen und leichterem Beutel feinen Einzug in Halle.
Die Glanztage der Burfchenjchaft, des Turnens, der jchwarz-roth-goldenen Studenten-
berrlichfeit waren, wie man weiß, vorüber; aber, wenn „das Band zerjchnitten war”,
der Geift lebte noch in Vielen, wenn nicht in Allen. Er ijt, Gott ſei Dank, in den
ichlimmften Tagen der Reaction niemals erjtorben. Man war natürlich weit ent-
fernt von politifchen Verſchwörungen, aber man pflegte den Gedanken des einigen
deutichen Vaterlandes, diefe glorreiche, nie zu vergefjende Erfindung der Burjchen-
ichafter, man beraujchte fi in Tugend, Idealismus, Freundſchaft und — Dünnbier,
man war glüdlich und ftolz in aller Armuth und pfiff auf die „Philifter”, Es ift
ein köftliches Genrebild, wie da 3. B. Yaube mit einem Freunde auf einer Ferien—
wanderung durch Wilhelmsthal zieht und durch Goethe und Karl Auguft in eigener
Perſon vor den beiden berüchtigten großen Neufundländern des Herzogs errettet wind.
Der alte Gärtner belehrt die weiblich jchimpfenden Herren Studiofen über die vor—
nehme Situation. „Auf uns aber,“ verfichert Laube, „machte das gar feinen Ein-
„druck. Wir hatten noch fein Maß für bevorzugte Menſchen; wir fühlten uns ala
„Studenten jelbjt bevorzugt vor aller Welt.“ Das waren eben die goldenen Flitter—
wochen unferer Burfchengeit, die Gott unferer Jugend erhalten wolle für und für,
wenn es nicht anders jein kann, auch mit allen Dummheiten, die allerdings darum
und daran hängen. Für Yaube, wie für jo Viele, folgten dann Sturm- und Drang»
jahre unreifer Erkenntniß und leidenjchaftlichen Strebens und Begehrend, und auch
über fie wird gleich aufrichtig und gleich liebenswürdig berichtet. Neu wird es vielen
Verehrern des Dichterd z. B. jein, wenn fie vernehmen, wie er einjt, ich denke im
Jahre 1829, auf dem Punkte ftand, afademiicher wohlbejtallter — Fechtmeiſter in
Breslau zu werden! Er Hatte in jeierlihem Qurnier einen franzöfifchen Maitre
Literariiche Rundſchau. 309
d’armes gründlich verhauen, und ‚wurde durch die „glänzenden Ausfichten“ der ge
botenen Stelle (wol das Dreifache des beiten Studentenmwechjeld, man denke!) doc
für einen Augenblid beinahe in Verſuchung geführt. In dieſes und die nächit-
folgenden Jahre fallen denn auch die erften literarifchen Verfuche und Anregungen: Dispu-
tationen in einem Shaleſpeare⸗ſtränzchen, Recenfionen für die Bredlauer Zeitung unter
den Aufpicien des liebenswürdigen Goethe-Enthufiaften Karl Schall, und ein paar
dramatifche Verſuche, im großen ſhakeſpeariſchen Styl natürlich, ein „Guſtav Adolph“
und ein „Mori von Sachſen“. Unter den erſten Schlachtopfern feiner Eritifchen
Uebungen verzeichnet der Dichter mit vielem Humor feines verehrten Freundes Holtei
„Lenore”, die damals ihren Triumphzug feierte. Laube hatte das reizende Singſpiel
gründlichjt herunter gemacht und ging dann am andern Morgen, ganz ftolz auf feine
Leiftung, zu Schall. Im Redactionszimmer fit ein fremder Herr, in die Zeitung
vertieft. „Aber Schall,“ ruft er aufblidend, „wer ift denn der Flegel, der das ge-
Ichrieben Hat?“ „Herr Doctor Laube!“ „Herr von Holtei!” Vorſtellung, Tableau!
Der harmlofe Humor diefer und ähnlicher Mittheilungen kennzeichnet das ganze Buch;
es find die Erinnerungen eines ehrlichen Arbeiter? und KHämpfers, ber in des Tages
Hihe und Drang fi das Herz rein und das Auge klar erhielt und darum nie aufe
hörte, „zu jenen Bejten zu gehören, die fich auch felbjt zum Beften haben können“.
Mit dem politifchen Erdbeben des Jahres 1830 beginnen denn auch für Laube nad
der Iuftigen Lehrlingszeit die jchweren Wanderjahre. Man weiß, wie verhängnißvoll
das unklare Freiheitsevangelium der Julitage den geiftig erregbaren Theil der deutfchen
Jugend ergriff, wie furchtbar dann der Rüdjchlag herein brach, und wie Laube hier
in erfter Linie ein Recht hat zu jagen: quae ipse miserrima vidi et quorum pars
magna fui. Während der dreißiger Jahre (jo weit reicht diefer Band) ijt er faſt
allen Perjönlichkeiten, die bei uns in die Bewegung jo oder jo eingriffen, perjönlich
oder doch jchriftjtellerifch begegnet. Seine Thätigfeit an der „Zeitung für die elegante
Welt“, fein Roman „Das junge Europa”, feine Schrift „Ueber die polnische Revo»
lution“ eröffneten neben Gutzkow's „Wally* und „Maha- Guru“, neben Wienbarg’s
„Aefthetifchen Tyeldzügen“, neben Mundt’3 „Madonna“ die jung-deutfche Bewegung,
die übrigens, wie auch hier twieder recht augenjcheinlich Hervortritt, weder von per-
fönlichen noch von directen und bewußten geijtigen Wechjelbeziehungen der beteiligten
Schriftfteller getragen wurde. Man ftand unter dem gemeinfamen Gindrud der
franzöfiichen Revolution, der Saint-Simoniftifchen Lehren, der Heine’fchen Gedichte, der
Börne'ſchen Publiciftik, der Hegel’chen pantheiftiichen Jmmanenz-PHilofophie, und —
des alternden, über die Maßen gräulichen und efelhaften deutichen Polizeiftaates,
Das erflärt Allee. Mit Gutzkow reifte Laube 1833 nad Italien; er befam aber
den Eindrud, „daß fie zwei ganz verfchiedene Menfchen wären, die e& nicht leicht
„haben würden, einander gegenfeitig gerecht zu werden“. Für das, was nun folgt,
für die Reactiond-Orgien in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, die Polizeie
Epopo& der Zichoppe, Dambach, Rochow, Wittgenftein, werden Laube's „Erinnerungen“
neben Reuter’8 „Ut mine Feſtungstid“ eine foftbare Erfenntnißquelle bleiben: aber
freilich auch für die unverwüftliche Friſche und Gefundheit der deutichen Fortichrittö-
bewegung, die durch alle diefe Gräuel keinen Augenblid irre gemacht oder verbittert
wurde. Man nahm das Ungemadh Hin, wie der Landmann einen Spätfroft
oder fchlechtes Maiwetter, auf die ja eben doch der Sommer nicht ausbleibt. So
dachten die großen, gebildeten Kreife, jo die Betroffenen, jo — jelbft oft genug bie
Inquifitoren. „Mit der Politik ift e8 wie mit den Jahreszeiten,” fagte Onkel Dam-
bach ganz treuherzig zu feinem Inquifiten Heinrich Laube. „Wer trägt denn auch
einen Pelz im Sommer und Nankinghoſen im Winter?" Bezeichnend ift auch die
Bonhommie, mit welcher v. Rochow jelbft den faum aus der Haft entlaffenen Laube
erfuchte, feine Hochzeitäreife im Intereſſe der preußifchen Regierung bis Straßburg
auszubehnen und von bort über die Stimmung und die Auäfichten des Bonapartis-
mus zu berichten. (E8 war 1836, nad dem Putih.) Man zweifelte eben feinen
Augenblid an dem ehrlichen Patriotismus des gemißhandelten Demagogen und ver-
310 Deutiche Rundſchau.
traute feinem Worte mehr als den eigenen Agenten. — Bon ganz befonderem literar-
hiſtoriſchem Interefje werden dann die Mittheilungen aus dem Jahre 1839, welches Laube
zu längerem Aufenthalte nach Paris führte. In der Beurtheilung des eng und dauernd
befreundeten Heine trägt jeder Zug das Gepräge feinjter Kennerjchaft, unbedingter
Aufrichtigkeit und jener reinen Herzensgüte, die in allen diefen Mittheilungen jo
wohlthuend anmuthet. Auszüge könnten bier zu weit führen. Das Werk bildet den
erften Band einer auf 15 Bände berechneten Sammlung, welche außer den „Erinne-
rungen“ die Romane „Gräfin Chateaubriand“, „Das junge Europa“, „Der deutjche
Krieg”, „Der belgiihe Graf“, „Die Bandomire”, ferner die „Reifenovellen“ und
die „Franzöſiſchen Luftfchlöffer” enthalten wird. Leider fteht der Abichluß der
„Erinnerungen“ erſt für den lebten Band in Ausficht.*) Da jedoch das übrige
Material fertig vorliegt, jo laſſen und Herausgeber und Verfaſſer hoffentlich nicht zu
lange warten. Der verehrte Meifter hat, wie wir mit freude vernehmen, auf’3 Neue
in Wien die jchwierige Aufgabe übernommen, von der er nach ruhmvollen Leiftungen
unter dem Drude jchwerer Zeitverhältnifje einen Augenblick zurüdtrat. Möge eine
lange und erfreuliche Thätigkeit diefes Omen ungebrochenen Kraftgefühles rechtfertigen !
Friedrich Kreyffig.
—
Zur neueren hiſtoriſch-politiſchen und volkswirthſchaftlichen Literatur.
1. Groen van Prinsterer. Maurice et Barneveldt. Etude historique.
Utrecht, Kemink & Fils. 1875.
Der verdiente Herauägeber der „Archives de la Maison d’Orange-Nassau‘‘ macht
es fich in diefem Buche zur Aufgabe, die Darftellung des Conflict? zwifchen dem
Statthalter und dem Führer der Staatenpartei zu widerlegen, welche Lothrop Motley
in feinem „Life and death of John of Barneveldt“ gegeben. Sachlich jcheint uns
der Beweis gelungen, daß die farbenreiche Schilderung des amerikanischen Hiſtorikers
parteiiſch und verfehlt ift. Derjelbe geht von dem vorgefaßten Standpunkt aus, daß
der Galvinismus einen jehr heilfamen Einfluß auf die Eroberung religiöfer umd
politifcher Freiheit geübt, daß aber deſſen dogmatifcher Kern, die Lehre von der
Prädeftination, nicht blos ein fataliſtiſcher Irrthum, fondern verabſcheuungswürdig
und lächerlich gewejen. Bon da kommt er zu dem Schluß, daß ein Mann, der
geiftig jo bedeutend war wie Morit, ſich nur aus Berechnung zum Verfechter dieſes
Dogmas machen konnte; derjelbe Habe nach der Souveränität geftrebt, vergeblich die
Mitwirkung Barneveldt’3 gejucht und die Gelegenheit jenes Streites der Arminianer
und Gomaraner benußt, um fich feines Nebenbuhlers zu entledigen. Der vertraute
Briefwechjel zwifchen Mori und dem Grafen Wilhelm Ludwig von Naffau, Gouverneur
von Friesland, würde, von Allem anderen abgejehen, hinreichen, um diefe Auffafjung
zu widerlegen. Mori war allerdings auch ein bedeutender politifcher Kopf; er erfaßte
voll und Klar die jchwierige Lage des Landes, die providentielle Beitimmung des
jungen Staates, welcher dem Kampf der Reformation gegen den Fatholifchen Despo—
tiamus fein Dafein verdankte, und wußte in den entjcheidenden Momenten mit
ſchariem Blid und ficherer Hand zu handeln; aber er war in erjter Linie General
und ftrebte keineswegs nach der oberjten politijchen Macht. Die Berichte der franzöfifchen
Gejandten bezeugen, daß alle Anerbietungen Spaniens und Frankreich in dieſer
Richtung bei ihm taube Ohren fanden; er wollte andrerjeit3 ebenjo wenig dem
Namen nad) Graf und Herr von Holland und Seeland werden, um thatfächlich der
Diener der Staaten zu ſein; er würde fich lieber, wie er fagte, von dem Haager
Thurm ftürzen. Ganz feiner militärischen Aufgabe fich widmend, überließ er Barneveldt
*) Die „Deutiche Rundſchau“ wird übrigens jchon früher in der Lage fein, Mittheilungen
aus diefen „Neuen Erinnerungen“ ihren Lejern zu bieten.
Literariiche Rundſchau. 311
lange Zeit die eigentliche politiſche Leitung mit vollem Vertrauen. In dieſem ver—
körperte ſich der Gedanke der Souveränität der Provinzen; er hatte in der kritiſchen
Zeit nach dem Tode Wilhelm's die Republik durchgeſetzt; der Statthalter, bisher
Stellvertreter des Königs, ſollte Miniſter der Staaten werden, in denen er ſelbſt
durch ſeine große Perſönlichkeit die erſte Rolle ſpielte. Wahrſcheinlich hätte er ſeine
ruhmreiche Laufbahn glücklich beendet, wenn er nicht in der am Ende derſelben ein—
tretenden kirchlichen Kriſis in entſchiedenen Gegenſatz zu der Mehrheit der Bevölkerung
getreten wäre. Die Reformation in den Niederlanden hatte von Anfang an einen
ausgeſprochen calviniſtiſchen Charakter; die Ideen Wilhelm's von Oranien, welcher
durch die Genter Pacification gleiche Duldung aller Bekenntniſſe durchzuführen
hoffte, drangen nicht durch. Aber während Holland und Seeland ſich in ihrem
engern Bunde verabredet, keinen andern Cultus zu dulden, als den calviniſchen,
hielten ſie doch an dem Kirchenregiment der weltlichen Obrigkeit feſt, und zwar ſollte
daſſelbe nicht in den Händen der Bundesgewalt, ſondern in denen der Provinz
liegen, deren Regierung nicht nur das jus circa sacra, ſondern auch ein jus in sacra
haben ſollte. Dieſe Auffaffung, welche mit der Herrichaft der Provinzialariftofratie
jtimmte, aber ficher der calviniichen von der Selbjtändigkeit der Kirche widerfprach,
vertrat Barneveldt in volljter Schärfe, und da die Arminianer dieſelbe acceptirten,
weil fie beim Staate Schub für ihre Abweichungen von der Kirchenlehre fuchten, nahm
Barneveldt ihre Partei, fuchte ihre Gegner zu unterdrüden, und verlangte, ala dies
eine heftige Reaction und Aufftände hervorrief, von Moritz kategoriſch active mili—
tärifche Hilfe. Diefer hielt fich jo lange ala möglich von den religiöfen Wirren
fern und auch, als dies nicht mehr thunlich, in der Defenfive; der englische Gejandte
Garleton bezeugt, daß er beiden Parteien gleiche Freiheit des Cultus zu gewähren
wünſchte; aber dem Verlangen Barneveldt’3, die eine zu unterdrüden, weigerte er fich
nachzufommen, und als die Umftände zu einer Entfcheidung drängten, nahm er, der
die Aufrechterhaltung des reformirten Cultus bejchworen, die Partei der Contre—
remonftranten. Unftreitig war der Spruch des Gerichtähofes, der einen Mann von
Barneveldt’3 Berdienften ala Rebellen gegen die Union zum Tode verurtheilte, hart
und ungerecht; aber man darf denfelben feinen Juſtizmord nennen. Barneveldt
wollte, wie Grotius in feiner Apologie jelbjt zugibt, die Souveränität der Provinzen
durcchfegen und in denjelben die Herrſchaft der Ariftofratie fichern; er fcheiterte, als
er dies -auf das Firchliche Gebiet zu übertragen fuchte, an dem MWiderftande des
Volkes, welches den alten Glauben und die Staatdeinheit erhalten wiffen wollte,
und deflen Organ Morik war. Gewiß erwies fi Graf Wilhelm Ludwig weit—
fihtiger und edler, als er Morit drängte, e& nicht zum Aeußerſten kommen zu laſſen,
und feine Warnung war prophetiih: „O. E. Excell. hebben ook te bedenken,
indien wat exorbitants, dat ik verhopen niet en will, kwam te gebeuren, dat het
bij de gantze wereld U. E. Excell. alleen zoude geweeten worden.‘ Moritz berief
fi zwar für feine Paffivität darauf, daß weder Barneveldt noch feine Familie und
Freunde um Gnade gebeten; indeß triitig ift diefe Entjchuldigung ſchwerlich; er hätte
die Hinrichtung verhindern können und follen. Wenn er es nicht that, theils aus Indolenz,
theils weil ihm die Vernichtung eines gefährlichen Gegners vielleicht nothwendig erichien,
fo war dies ebenfowenig politifch ala großmüthig, und fein Name hat genug darunter
gelitten. Aber hingewirkt auf diefen Ausgang hat er jo wenig, ala er nachher feinen
geftiegenen Einfluß benußt hat, nach der Souveränität zu ftreben ; Garleton, jchreibt
vielmehr von ihm: „Pour lui il ne me paraft dispos6 à vouloir se charger d’autre
chose, que de dire son avis dans des occasions de grande importance,“
Das Buch Groen von Prinfterer’s ftellt den wahren Sachverhalt durch die Quellen
Har, feine Form ift jchwerfällig und unlesbar, und die vielen Gitate von Schrift-
ftellern in vier Sprachen hätten füglich wegbleiben können; jpeciell war es unnüß,
heute noch einmal Leo's Bertheidigung des Herzogs von Alba zu widerlegen.
w
312 Deutiche Rundſchau.
2. Albrespy. Comment les peuples deviennent libres. Paris, Sandoz &
Fischbacher. 1875.
Der Berfaffer fragt fi) Angefichts der vergeblichen Verſuche des franzöfifchen
Volkes, die Freiheit zu begründen, nach den Urfachen diefer Mikerfolge und ſucht
die Antwort in der Gejchichte der Staaten, welche frei geworden. Cine derartige
Unterfuhung kann unzweifelhaft jehr lehrreich fein; wenn man aber, wie der
Verfaſſer, unternimmt, auf 258 Seiten die Entwidelung Deutfchlands, der Schweiz,
der Niederlande, Englands und der Bereinigten Staaten darzulegen, jo kann eine
folche Arbeit, wenn fie nicht mit Meifterhand die Summe langjähriger Studien zieht,
faum anders als oberflächlich fein, und das trifft im vorliegenden Fall im hohen
Grade zu. Deutichland, al3 das wenigſt freie Land, wird mit 9 Seiten abgefertigt *) ;
bei der Schweiz ſpringt der Verfaffer von der Reformation auf den Sonderbund, die
deutſchen Flüchtlinge und Fazy Über; auch die etwas ausführlicheren Skizzen, welche
die Niederlande, England und die Bereinigten Staaten behandeln, bieten wenig
mehr ala eine Compilation aus den Schriften Motley’3, Macaulay's, Billemain’s,
Guizot's, Bancroit’3 u. U. Mehr Werth Hat der zweite Theil des Buches, welcher
Frankreichs innere Entwidelung feit dem 16. Jahrhundert darſtellt. Mit Recht
fieht der Verfaſſer das Unglüd feines VBaterlandes in der Unterdrüdung der Refor-
mation; nur geht er zu weit, wenn er dafür allein bie verderbte und fanatifche
Race der Valois verantwortlich macht, welche dem franzöfiichen Geift die Lafter der
Italiener und die Graufamkeit der Spanier eingeimpft habe. Unftreitig hätte eine
andere Dynaftie den Gejchiden des Landes eine günftigere Wendung geben können ;
aber bie ernten Elemente der Nation, welche fich der Reformation zuwandten, waren
eben nicht ſtark genug, den fchlechten Tendenzen des Thrones zu widerftehen, welcher
fi auf den „esprit gaulois‘ der Mehrheit ftüßte, den der Verfaſſer treffend ala:
„esprit l&ger, frivole, &goiste“ bezeichnet, und ala deſſen Hauptvertreter er Rabelaig,
Montaigne und Voltaire nennt. Eingehend wird gezeigt, twie die Unterdrüdung der
religiöfen Freiheit auch zum politifchen Despotismus einerfeits, zum Unglauben
andrerſeits führte; wie die jogenannten „gallicanifchen Freiheiten“ die Kirche nur vom
Staat abhängig machten, wie die Philofophie des 18. Jahrhunderts und die fittliche
BVerberbtheit die alte Ordnung der Dinge derartig unterwühlen konnten, daß diejelbe
in der großen Kataftrophe von 1789 zufammenbrechen mußte, dagegen aber der
politifche Rationaliamus unfähig war, feine Theorien praktifch zu verwirklichen.
Durchaus richtig ift auch die Revolution ſelbſt aufgefaßt, welche von wirklicher
religiöfer Freiheit ebenfo fern war als das alte Regiment, kraft Autorität des
Staate® die Kirche reformiren wollte und diejelbe, als dies nicht gelang, verfolgte,
damit aber derjelben nur neues Leben gab und fie durch die Verfolgung reinigte.
„La cause la plus reelle de la perte de la r&volution et de la tournure sanglante
qu'elle prit, ce fut la constitution civile du clerge. En m&lant la politique A la
religion, comme l’avait fait l’ancien regime, les partisans du régime nouveau ex-
citörent des r&voltes. Ils voulurent les reprimer, et dans la lutte contre les inser-
mentes, la constitution et la libert6 périrent.“ (p. 420). Das erichöpite Land fiel
ala Leichte Beute dem Dictator in die Arme, der e8 von feinen elenden Tyrannen
befreite, aber ihm für den Preis der Ruhe auch alle Freiheit nahm und die Kirche
wieder der gemeinfamen Herrichait des Papftes und des Staates unterwarf. Im
legten Gapitel prüft der Verfaſſer den Einfluß, den die Revolution auf die Folgezeit
geübt, beleuchtet die verfchiedenen Doctrinen derfelben, die ultramontane, die radicale,
die liberal-fatholifche, die liberal-proteftantifche, die Liberal-philofophiiche, und ſchließt
dann, daß nur ein Wiedererwachen bes religiöfen Gewiſſens frankreich aus dem
Kreislauf von Anarchie und Despotismus retten könne. Wir treten ihm darin voll-
ftändig bei, glauben aber, daß die Ausſichten auf einen folchen Umſchwung ſehr
gering find; der Verfaſſer täufcht fich felbft nicht darüber, daß die Trennung der
*) Der Verfaſſer ichreibt 3. B. flatt „Neichätag” „Reichstadt de Berlin“, p. 600.
Literariiche Rundſchau. 313
Kirche vom Staat, die er befürwortet, von der fatholifchen Kirche, die doch einmal in
Frankreich maßgebend ift, nur ausgebeutet werden würde, um den Staat mittelbar
zu beberrichen, und daß eben deshalb der Rabicalismus in ihr eine tödtliche Feindin
fieht. Unſtreitig zeigt die Gefchichte, daß dauernde und wahre freiheit am beften
auf proteftantiichen Boden gedeiht; aber das Wort: „il faut &vangeliser la
bat, wenn überhaupt, gewiß dermalen jchwerlich Ausficht auf irgend welchen
olg.
3. Das vaticanifhe Syftem. Bon W. E. Gladftone. Autorifirte
Ueberfegung. Nördlingen, E. I. Beck'ſche Buchhandlung. 1875.
Mir müßten uns fehr irren, wenn wohlmeinende und „gemäßigte” deutiche Leſer
von ber berühmten Kundgebung des liberalen Er-Minifters, welche diefer jelbft als
eine Antwort auf die, feiner früheren Schrift „Die vaticanifchen Decrete” zu Theil
gewordenen, „Replilen und Vorwürfe” (an answer to replies and reproofs) bezeichnet,
nicht zunächit mit einer leifen Empfindung der Enttäufchung berührt werden follten.
Soviel Complimente an die Adreſſe der Gegner! folche Huldigungen an ihre Gelehr-
famfeit und ihr Talent nicht nur, fondern auch an ihre Gefinnungen unb ihren
Privatcharatter! „Soweit Gladftone ihr perlönlicher Charakter befannt ift, müßte
er es für eine große Anmaßung halten, fich irgend einem von ihnen zu vergleichen
oder gegenüber zu ſtellen!“ Der Gonvertit Dr, Newman wird geradezu ala eine Größe
allererften Ranges gefeiert, fein Verluſt für die englifche Kirche mit dem des John
Wesley, des bekannten Gründer der Methobiftenticche, verglichen. Wird bei folcher
Fechtweiſe, jo fragt man fich, die Energie des Angriffs nicht am Ende die Koften
der Gourtoifie zu tragen haben? — Nun, dad Wahre an der Sadıe ift, daß die
ganze Frage für England die Grenze der theoretifchen Erwägungen noch nicht über-
fchritten hat, wie wir dies bereits gelegentlich der Beiprechung jener früheren Schrift
ausgeführt (Deutiche Rundichau, Band II, p, 129, ff.). Noch betheuern die engliichen
Ultramontanen ihre Loyalität ganz fo eifrig, wie die preußifchen es thaten, jo lange die
Reactiond- und Conflictszeit ihnen freie Hand ließ. Aber Gladftone, indem er vor diefen
Verſicherungen als echter Gentleman feine Verbeugungen macht, täufcht fich offenbar über
ihre Tragweite nicht mehr, und auch feinen Landsleuten diefe Täufchung zu nehmen,
ift der Zweck feiner Schrift. Diefelbe führt ebenfo überzeugend und unerbittlich,
als ruhig und fein den Nachweis, daß die vaticanifchen Decrete die Sachlage völlig
geändert haben, dab das Papftthum jeine übertriebenften mittelalterlihen Anfprüche
erneuert, daß diefe Ansprüche „die Unterthanentreue dem Papfte preisgeben“ und daß
„Englands Regierung und Volt, als fie die Katholilen und die fatholifche Kirche
emancipirten, berechtigt waren, den dem Papfte geichuldeten Gehorſam für einen durch
die Landesgeſetze bejchränkten zu halten“. Der Beweis ift mit Meifterfchaft geführt,
und der außerordentliche Abſatz diefer, wie der vorangehenden Schrift geftattet die
Hoffnung, daß er Englands Bolt nicht gleichgültig gefunden Hat. Die vorliegende
deutiche Ueberfegung ift gut und jorgfältig gearbeitet und reiht fich der, in demſelben
Verlag erjchienenen, Uebertragung der „Baticanifchen Decrete“ würdig an.
mm nm u
—ñ—
4. Der Socialismus und ſeine Gönner. Nebſt einem Sendſchreiben
an Guſtav Schmoller. Bon Heinrich v. Treitſchke. Berlin, Georg
Reimer. 1875.
Wenn man zu ben beiden Studien dieſer Sammelſchrift die dazwiſchen gehörige
Entgegnung Schmoller’8 auf das erftere hinzunimmt, jo hat man einen der inter
effanteften Literarifch-politifchen Streithändel unferer Zeit vor fi. Zugleich ift es der
Abſchluß der Fehde zwiichen Freihändlern und Socialpolitifern, oder, wie bie üblich
gewordenen Spignamen lauten, Manchefterleuten und Katheberfocialiften, wobei es den
Gang der Sache treffend bezeichnet, daß ein urfprüngliches Mitglied des focial-politifchen
314 Deutſche Runbichau.
Eifenacher Congreſſes fich zuleßt gedrungen gefühlt hat, in allem Wejentlichen den
focial=conjervativen Standpunkt der meijten Tyreihändler zu vertreten. Dies geichieht
namentlich in dem Schlußftüde mit einer, jelbft bei Treitfchke, jeltenen Glafficität des
Ausdruds, ohne jede Beimifchung der ihm ſonſt wol eignen hochgeſpannten Rhetorif.
Der allgemeine Eindruck wird bei jedem halbwegs unbejfangenen Leſer Schmoller
ungünftig fein. Er hat fich gegenüber nicht nur die noblere Natur, jondern auch
den beiferen Denker und den umfaffenderen Kenner. Nur da mag man auf feine Seite
treten, wo Zreitjchle dem Anſpruch der niederen arbeitenden Glafje auf mehr Wohl-
ftand, Bildung und Lebensgenuß duch allzuwenig Recht und Hoffnung läßt, und das
beitehende Erbrecht, das jo tiefgreifender Verbeſſerungen fähig und bedürftig er-
—— einem gleich unerſchütterlichen Pfeiler der Geſellſchaft macht, wie Ehe und
Eigenthum.
5. Die Frauauf dem Gebiete der Nativnaldfonomie. Nach einem
Vortrage in der Lejehalle der deutfchen Studenten in Wien. Bon Dr. Lorenz
v. Stein. Stuttgart, J. G. Cotta'ſche Buchhandlung. 1875.
Hätte Prof. 2. v. Stein diefem ganz hübfchen Kleinen Bortrage doch Lieber gar
feine Vorrede mit auf den Weg gegeben! Die 54 Seiten würden ja auch jo durch
die Welt gefommen fein. Aber wenn er feiner anonymen „verehrten Freundin“
durchaus die Meinung beibringen mußte, daß man in feiner Sphäre „die Frau
bisher gar nicht gefannt und noch weniger gewürdigt“ habe, jo war e8 ein wenig
undorfichtig, die vor aller Deffentlichkeit zu thun, in der doch vielleicht der Eine
oder Andere fich dunkel erinnert, einmal von einem gewiffen John Stuart Mill oder
Präfident Lette vernommen zu haben. Dieje, nicht allein nicht ganz unbekannt ge=
bliebenen, ſondern jelbft Leidlich tüchtigen und einflußreichen Männer haben der Frau
das „Gebiet der Nationalötonomie“ oder die „Welt“ der dazu gehörigen Profeflore::
und Agitatoren bereit? erobert, ala ihr Wiener Fachgenoffe noch ausſchließlich in
theoretijcher Verwaltungswiſſenſchaft ſteckte. Allerdings bricht diefer nun nach einer
etwas anderen Richtung Hin der allgemeinen Würdigung der Frauenthätigkeit die
Bahn. Er kämpft nicht wie die englifchen Forſcher für focialpolitifche, auch nicht
mit dem undergeßlichen deutjchen Volksfreunde für dbkonomiſche Gleichberechtigung des
Weibes: er macht vielmehr auf den hohen wirthichaftlichen Werth und auf die Eigen-
thümlichkeiten der weiblichen Arbeit im Haufe aufmerkſam. Aber das ift doch faum
ein neuer Weg. Schon Mancher — 3. B. Emminghaus — hat ihn betreten, wenn
auch nicht Jeder auf ihm jo finnige Gedanken und Bilder gefunden hat, wie Prof.
dv. Stein. Vor Allem die rauen felbft, denen er fich faſt etwas über die Linie des
guten Gefhmads hinaus galant erweilt, können aus feinen Betrachtungen lernen, ihr
eignes Thun willenfchaftlich zu würdigen. Denn nicht blos den Mann, jeden Menſchen
ja zieret, wie der Dichter jagt, „daß er's im innern Herzen jpüret, was er erjchafft
mit feiner Hand.“
Politifhe Rundſchau.
Berlin, den 15. Juli.
Schon in unferer legten Chronik vermochten wir darauf hinzuweifen, welch be-
merfenäwerthes Symptom in dem Beſuche zu finden fei, den der Öfterreichifche Erz—
berzog Albrecht, der Sieger von Guftozza, den Kaifern von Rußland und Deutichland
am Rhein abftattete. Die fich daran fnüpfende Begegnung des Kaiſers Franz Joſeph
mit dem Gzaren im „Gifenbahnwagen“ war ohne Zweifel eine Ergänzung des ein-
mal eingeführten Syſtems der perfönlichen Verftändigung der Souveräne, das gerade
in diefen Tagen durch die Begrüßung, welche Wilhelm I. der öfterreichiichen Kaiſer—
familie in Iſchl abftattet, für das laufende Jahr feinen Abfchluß empfängt. Daß
allen diefen Begegnungen gen Weiten hin ein den gegenwärtigen geographiichen Zu—
ftand der Karte Europa's verbürgendes Bertragsverhältnig zu Grunde liegt, dürfte
faum einem Ginwurf begegnen, wenngleich auch Diejenigen vielleicht nicht gang im
Irrthum find, welche annehmen, daß biefe Freundſchaft der Monarchen gleichzeitig
auch der Actionsfähigkeit der Staatsmänner der drei Reiche gewille Feſſeln auf-
erlegt. Es geht im Hochpolitiichen Leben zu, wie in der Ehe. Ein friedliches Zu—
fanımenleben ift nur bei gegenfeitigen Gompromiffen denkbar, und jo wird denn auch
bier dem oberften Ziele diefer fürftlichen Freundſchaft, der Aufrechterhaltung des
europäifchen Fyriedenäzuftandes, von dieſer und jemer Seite manches Opfer gebracht
werden müſſen. Deshalb wird der opfenwillige Staat noch nicht zum Bafallen der
anderen Mächte, welche ihm das Opfer auferlegen. Denn felbft in der Dreizahl find
die mannigfachſten Gombinationen denkbar, jo daß die Rolle des Nachgiebigen nicht
ftetö auf den Einen unter den Betheiligten beichränft bleibt.
In Deutichland ift übrigens die active auswärtige Politif durch die auch
für dies Jahr auf längere Zeitdauer erfolgte Beurlaubung des Fürften Bismard
für den Augenblid bei Seite geichoben worden. Man hat, wol mit Unrecht, in ben
Ausdrüden, in welchen diefe Beurlaubung erfolgte, eine Beeinträchtigung der Freiheit
des Reichslkanzlers erbliden wollen, feine Functionen dann wieder zu übernehmen,
wann er den Zeitpunkt für gelommen hält. Da der Sailer ausdrüdlich erflärt hatte,
er behalte fih vor, auch während der Beurlaubung Bismarch's deflen Rath in allen
Fällen einzuholen, welche er für wichtig genug dafür erachte, glaubte man folgern
zu dürfen, daß die Wahl des Zeitpunftes, in welchem er feinen Rath ertbeilen, ſich
alfo praftifch wieder an den Staatägeichäften betheiligen dürfe, ſomit nicht in das
Belieben des Fürſten Reichskanzlers geftellt jei. Dieje wenig freundichaftliche Aus»
legung einer von Wilhelm I. in feiner Rüdficht für den erprobten Staatädiener ge
wählten Form erwies fich indeh bald genug als wenig ftichhaltig, und die Erwägungen,
welche man bereit3 an einzelnen Höfen an ein fo enticheidendes Greigniß geknüpft,
waren verurtheilt, abermals ſchätzbares Material zu bleiben.
Nicht befier erging e8 jenen Verunglimpfungen, mit denen man von frondirend-
feudaler Seite die Finanzpolitik des Reichslanzlers und feines vornehmſten Gehilfen
zu überjchütten ſuchte. Man nahm fich nicht einmal die Mühe, fie ernſthaft zu
widerlegen, denn man erkannte fie bald genug als den matten Abllatjch jener ver
316 Deutiche Rundſchau.
floffenen Experimente, welche gegen den Liberalismus das große, ebenſo bombaftifche,
als leere Schlagwort von der „Verjudung des chriftlich-germanifchen Staates” aus—
zufpielen trachteten. Daß man den offenbaren VBerleumdungen, von denen dieje Unter:
jtellungen begleitet waren, fein Wort an den Staatsanwalt entgegenjeßte, mag viel»
leicht in einer Regung zu Gunften ehemaliger Gefinnungsgenoffen feinen Grund gehabt
haben. Indeß bei der einmal zur Uebung gelangten gegentheiligen Praris wäre auch
in diefem Falle ein gleiches Verfahren wol am Plabe geweſen. Mindejtens wird
es den Maflen des großen politifchen Publicums ſchwer, fich den Unterjchied Elar zu
machen und zu begreifen, aus welchen ethifchen Gründen man in diefem Falle den
Strafrichter zu meiden bejchloß.
Mittlerweile hat der preußiiche Eultusminifter in des heiligen römiſchen Reiches
Pfaffenſtraße feftzuftellen vermocht, daß dajelbjt die Herrichaft des Ultramontaniamus
nicht jo ſehr gefejtet ift, al® man nach ben letzten Wahlen wol hatte annehmen
müſſen. Den, wie wir gern zugeben wollen, etwas einfeitig überichwänglich gehaltenen
Berichten liberaler Zeitungen zufolge glich die Reife des Dr. Falck durch die bedeu-
tenditen Städte der NRheinprovinz einem förmlichen Triumphzuge. Allein wenn wir
auch den natürlichen Ueberſchwang der Parteiorgane gebührend in Anrechnung bringen,
fo bleibt doch die Thatjache beftehen, daß alle größeren Städte jener Hauptprovinz
römischen Geiftes in Deutfchland, daß Trier wie Bonn, Köln wie Aachen und Düffel-
dorf fich im begeifterter Weife zu der Kirchenpolitit befannten, welche der Eultus-
minifter vertritt, und daß die Fatholifchen Bürger diefer Municipien jomit den Beweis
führten, wie jehr fie erfannt, daß der Kampf nicht der Kirche und ihren Lehren,
fondern lediglich den Anmaßungen der römiichen Hierarchie gelte. Dieſes machtvolle
Hervortreten des liberalen Rheinlands ift ohne Zweifel eine Folge der Anftrengungen
des von Bonn aus geleiteten und in's Leben gerufenen „Deutjchen Vereins“, deſſen
Propaganda fi mit langem Athemzuge und angemefjenem Erfolge der römijchen
Agitation der Capläne entgegenzuftenmen beginnt. Allerdings, auf dem Lande und
in den Eleineren Städten vermochte er bisher noch wenig greifbare Erfolge zu erringen.
Indeß, man weiß ja, der Liberalismus ift anftedend, namentlich wenn er, wie hier,
mit den nationalen Intereſſen identiſch ift.
Auch die fich eben vollziehenden Wahlen zum Landtage des Königreiches Bayern
werden namentlich im Fatholifchen Auslande ganz befonderer Aufmerkſamkeit für werth
gehalten. Es ift, ald ob die Gegner des deutichen Reiches der Ueberzeugung lebten,
ein im eminent ultramontanen Sinne ausfallendes Wahlergebniß werde die verhaßte
Folge der Greigniffe des lebten Krieges in ihren Grundveſten erfchüttern und jomit
allen Denen Vorſchub Leilten, welche da8 Werk des Fürſten Bismard mit unverhohlenem
Mißtranen betrachten. Jedoch ein dem nationalen Gedanken jelbft noch viel un—
günftigerer Ausfall der Wahlen, als er in der That vorausgejehen werden darf, würde
uns troßdem noch feinerlei Bejorgniffe einflößen, obwol wir ung nicht verhehlen,
daß bei bejonderd hochgehenden Wogen eine ftreng ultramontane Landtagsmajorität
in Bayern leicht einen Berfajfungsconflict zwifchen Krone und Landesvertretung
zur Folge haben könnte, da König Ludwig II., fo feltfamer Regungen er auch fähig
fein mag, jchwerlich dazu bejtimmt werden könnte, dem Geift und dem Inhalt der
Verſailler Verträge ungetreu zu werden. In diefem Gonflicte würde — wol ein
Unicum in der parlamentarifchen Geſchichte — die Mafje des deutjchen Volkes feft
zur Krone Bayerns ftehen, und gar leicht könnte in der folge dem DVatican und
feinen Anhängern zum Berberben ausfchlagen, was beide zunächft für einen Triumph
zu halten verfucht fein möchten. Dennoch hat der eventuelle Sieg der ultramontanen
Reichsfeinde in Bayern noch eine Gefahr. Er könnte namentlich in Frankreich ver-
hängnißvolle Slufionen weden, in derſelben Art, wie fie im Juli 1870 beftanden,
als man fich dort in der Hoffnung wiegte, gang Südbdeutichland werde die rothen
Hofen ala Befreier vom preußifchen Joch empfangen. Aehnlichen Täufchungen könnte
man fich leicht wieder hingeben, und fie wären jchließlich beifer geeignet, ala manches
andere Trugbild, den kaum geficherten Frieden wieder zu gefährden.
Politiſche Rundſchau. 317
Daß dieſer Friede überhaupt nur für „auf Zeit“ geſichert gilt, beweiſen zunächſt
auch die Anſtrengungen, welche man in Oeſterreich-Ungarn macht, durch eine
zeitgemäße Umiormung der Artillerie den kommenden Greigniffen nicht unvorbereitet
gegenüber zu ftehen.
Indeflen hat der Tod bes alten Kaiſers Ferdinand, ded „Gütigen“, wie ihn
Grillparzer einjt genannt, der num jchon jeit 27 Jahren till und wohlthätig in
Prag auf dem Hradichin haufte, ganz Defterreich für einen Moment in eine thränen-
felige leichte Rührung verjeßt. Der Mann, welcher in den ftürmifchen Märztagen
des Jahres 1848 auf feine Wiener „nit ſchießen“ laffen wollte, ohne es verhindern
zu können, daß im biutigen October defjelben Jahres Fürft Windiſchgrätz mit
Bombardement und Standrecht in derjelben Hauptſtadt der „guten Sache” zum
Siege verhalf, war in einem Anfalle von Ueberdruß, den einzelne feiner Familien-
glieder gefliffentlich genährt, nach dreizehnjähriger Regierung vom Throne geftiegen.
Er war ohne Zweifel der neu berauffteigenden Zeit, welche auch an einen Herrſcher
Defterreichs ftrengere Anforderungen ftellte, geiftig nicht gewachien, und dennoch war
die Trauer, welche die Deffentlichleit bei feinem Hintritt zeigte, keine erheuchelte. Das
gutmüthige, jede Unbill Leicht vergefliende Volk Hatte es in feiner Erinnerung be—
halten, daß es der Gewährung Ferdinand's die erfte Verfaſſung verdanfe, und dieſe
Verleihung erhielt fein Andenken in jegensvollem Gedächtniß. Kaiſer Ferdinand war
der lebte gefrönte König von Böhmen, und die czechifchen Agitatoren liehen es fich nicht
nehmen, am offenen Grabe des Gejchiedenen aus diefer Thatſache in ihrer Weile
Gapital zu fchlagen — natürlich ohne den mindeiten wägbaren Vortheil für ihre
Sade. An der Bahre des todten Kaiferö gaben fich die Kronprinzen von Deutjch-
land, Rußland und Italien ein Stelldichein. England blieb, anjcheinend aus Miß—
verftändniß, undertreten. Dennoch war man in der diplomatiichen Welt der Anficht,
dab ein folcher Zufall ausgeichloflen geblieben wäre, wenn fich Graf Andrafiy im
vorhergehenden Monate der engliichen jogenannten „Friedendaction “ bereitwilliger
geneigt erwiejen hätte.
Das Zufammentreffen der drei Thronfolger, jo undorbereitet es war, warf doch
ein bedeutungsvolles Licht auf das Verhältniß, in welchem Oefterreich-Ungarn gegen-
wärtig zu den tonangebenden Staaten des europäiichen Gontinents ſteht. Faſt gleich-
zeitig auch war Graf Andrafiy in der Lage geweſen, den eriten greifbaren und für
Defterreich-Ingam direct werthvollen Erfolg, welcher der Dreifaiferpolitit zunächft
entiprang, für fich einzuheimfen. Die vielbefprochene Zoll» und Handeläcon-
vention mit Rumänien gelangte endlich zum Abichluß. Indem Graf Andrafiy
mit den Rumänen eine für beide Theile vortheilhaite Zoll- und Handelsconvention
ſchloß, Hatte er noch die weitere Abficht, dem ſchwer darniederliegenden öfterreichiichen
Erporthandel und der damit verbundenen Induſtrie neue Abjahgebiete zu erichliehen,
auf denen ed ihnen möglich werden follte, das Monopol zu brechen, welches jeit dem
Krimkriege in jenen Gegenden in bandeläpolitiichen Dingen fich ausſchließlich in den
Händen anglo-franzöfiicher Producenten und Grporteure befindet. Deshalb auch ift
die wirthichaftliche Bedeutung der Gandeläconvention fo hoch zu veranichlagen.
Es find ja vornehmlich auch Gegenftände wirthichaftlicher Natur, welche gegen-
wärtig die öffentliche Meinung in Defterreich-Ungarn in Bewegung halten. Zwiſchen
beiden jo eng verbundenen Neichshäliten gilt es die Grundlagen des gemeinfamen
Budgets für das nächſte Jahr feitzuftellen, die Principien zu vereinbaren, auf welche
die künftige internationale Handelspolitit zu begründen ſei, fich über die Berände-
rungen Klar zu werden, welche in dem gemeinfamen Zoll-e und Handelsbündniß an-
zubringen find, deilen Ablauf bevorſteht und das doch erneut werden will, ſowie
endlich das große jeit fieben Jahren noch ungelöfte Problem der Bankfrage einer
entiprechenden Beſchlußfaffung zuzuführen. Mit einem Wort, es giebt Arbeit in
Hülle und Fülle, bei welcher die Veritändigung der außichlaggebenden Factoren nicht
eben ey leichtes Ding fein dürfte. Es find eben ftreitige Intereſſen, welche verlöhnt
werden follen.
318 Deutſche Rundichau.
Während Jo in Defterreich-Ungarn hauptſächlich wirthichaftliche Fragen die Sorge
der Leiter und Geleiteten bilden, find es in Rußland vornehmlich fociale Probleme,
welche die Befürchtungen der regierenden Kreife rege erhalten. Der in Dingen der
Eultur noch jehr jugendliche Staat mußte die Erfahrung machen, daß die Fülle
philofophifcher, Jocialwiffenjchaftlicher und überhaupt moderner Ideen, mit denen er
fich überfluthet jah, auf die nicht jtreng und nicht ſyſtematiſch vorbereiteten Gemiüther,
namentlich feiner jüngeren Generationen, einen überwältigenden Eindrud hervorbrachte,
vor welchem feine der traditionellen Gegengewichte Stich halten wollte. Der Mi—
nifter für Volksaufklärung legte die Beforgnifje, welche das Umfichgreifen halb- oder
übelverftandener jocialiftiicher Theorien gerade unter der Jugend der Hochſchulen ihm
einflößen mußte, in einem Rundfchreiben nieder, deffen Inhalt infofern das Richtige
traf, als er mit Nachdrud betonte, wie jehr in Rußland das Haus die Schule ohne
die nöthige Ergänzung und Unterftügung laſſe. Allein jo wahr diefe Bemerkung ift,
von jo zweifelhafter Berechtigung dürfte die Klage über diefe Beobachtung erfcheinen ;
denn woher joll der ruffiichen Familie (diefe Familie eben im Durchſchnitt genom⸗
men) der jo nothwendige Bildungsgrad fommen, um fo, wie es der wohlmeinende
Minifter wünfcht, erziehlich einwirken zu können? Die Gefahr iſt viel größer, daß
die lernbegierige Jugend mit ihrem Halbwiffen das Elternhaus inficive, ala die Mög-
lichkeit vorhanden fcheint, vom Haufe Flärend auf die junge Generation einzuwirken.
Alle diefe Erfahrungen halten indeß den Kaifer Alerander nicht ab, in feinen
humanitären Strebungen fortzufahren. Und während jo Rufland, indem es joeben
der dritten internationalen Telegraphenconferenz die Gaftfreundichaft
feiner Hauptjtabt gewährte, ſich mit an die Spihe der Eulturftaaten ftellte — ein
Ereigniß, das noch unter Nicolaus I. für undenkbar erklärt worden wäre —, fährt
der Ezar fort, fein Project einer internationalen Verftändigung zur Eodificirung des
Kriegsrechtes wärmftens zu befürworten. Gin newerliches Rundjchreiben an die
Mächte, Hauptfächlich beftimmt, den Widerftand Englands zu brechen und der kalten
Zurüdhaltung ein Ende zu machen, welche in Folge defjen eine ganze Reihe Hleinerer
und mittlerer Staaten beobachtete, gibt mehr ein beredtes Zeugniß für die ideale
Gefinnung Aleranders II., ala daß es befleren Erfolg wie alle die vorher in gleicher
Richtung unternommenen Schritte veripräche.
Und dennoch konnte Angefichts diefer und mancher andern Gegenfätlichkeit einen
Augenblid lang die fühne Idee allen Ernftes in die Welt gefeht und behandelt werben,
daß eine DVerftändigung und intime Allianz zwijchen Rußland und England im
Werke jei, beftimmt, die Dreifaifer- Politik und ihre friedlichen Ziele zu erſetzen oder
doch zu ergänzen. Es gejchah dies in demfelben Augenblide, in welchem in England
die eiferfüchtige Beobachtung der ruffifchen Fortichritte in Gentralafien immer acutere For—
men annahm. Der Gedanke an eine folche Allianz mußte daher jelbft von ihren Autoren
als gegenjtandslos fallen gelaffen werden. Zwar juchten die Briten durch unzählige
Sournalartifel, parlamentarifche Interpellationen und minifterielle Antworten fich jelbft
und Anderen den Glauben beizubringen, daß fie weit entfernt jeien, auch nur das
Mindefte fiir ihre indifchen Befitungen zu befürchten, zwar erflärten es ihre leitenden
Organe für unpatriotifh, auch nur im Geringften dergleichen Beforgniffe ala vor—
handen erjcheinen zu laſſen, allein e8 wollte nimmermehr gelingen, den Eindrud zu
verwiſchen, daß die Öffentliche Meinung Altenglands den bisher ungefährdeten Befik
Indiens durch das Vorſchreiten Rußlands ernftlich bedroht glaubt. Diefer eine Ton
drang durch alle Hundgebungen, welche in diefer Angelegenheit vom Stapel gelaffen
wurden, und jo zuverfichtlich auch die Erklärungen von der Minifterbant regelmäßig
in ihren Eingängen lauteten, fie endeten nicht minder regelmäßig in einen zitternden
Fiſchſchwanz, und die befonderd betonte Phrafe, daß die Unabhängigkeit Afghaniſtans,
dieje® „Tampons“ zwiſchen Rußland und England in Afien fichergeftellt bleiben
müffe, bewies zur Genüge, von welchen Bellemmungen felbft die regierenden Politiker
heimgefucht wurden. In der That ift ihre ernſteſte Aufmerkſamkeit jet auf Indien
Politiſche Rundſchau. 319
concentrirt, und die Reiſe des Prinzen von Wales, der zwar als Thronfolger,
aber nicht „als Repräſentant der Königin“ — eine für continentale Logik ſehr
merkwürdige Unterſcheidung — die Länder des heiligen Ganges beſuchen ſoll, ent—
ſpricht weit mehr den Aufgaben wahrhaft engliſcher Politik, als alle die mehr oder
minder verunglüdten Verſuche, fich in continentalen Händeln ala ein maßgebender
Factor Hinzuftellen.
Diefe Art englifcher Bemühungen werden nur no in Frankreich einiger
maßen ernjt genommen, und auch dort nur fo lange, als die europäifche Eonftellation
geitattet, die Anftrengungen des Gabinet? von St. James ala im Intereſſe des
gallifchen Nachbars auszulegen. Im Uebrigen war man in Frankreich von inneren
Angelegenheiten jo vollauf in Anfpruch genommen, da man in glüdlichjter Weije die
Behandlung auswärtiger Fragen darüber vergefien konnte. Es ift diefer Zuftand für
Europa jtet3 der beruhigendfte. Zwar machte die Frage der Auflöfung der Verfailler
Rationalverfammlung bisher noch keinen bejonderen Fortſchritt, dafür aber gelang
es dem Jeſuitismus, ein Ziel zu erreichen, das er jeit vier Jahren in verzweifelten
Ringen immer vergebens angeftrebt und das ihm nun geftattet, unter dem verloden-
den Aushängefchild der „Freiheit des Unterrichts" die gefammte höhere geiſtige Er—
ziehung der Nation der katholiſchen Kirche und den Organen des Vaticans faſt voll-
jtändig in die Hände zu jpielen. Das Werk, welches Fallour im Jahre 1850 für
die Volls- und Mittelfchulen zu Gunften des Glerus begonnen, hat nun durch die
Ueberantwortung der Hochjchulen feine entjprechende Krönung gefunden. Der Staat
bat auf eines feiner edeljten Vorrechte, den Unterricht zu jpenden, wie er das Recht
fpendet, zu Gunsten einer Macht verzichtet, die einem ausländiſchen Oberen gehorcht,
und die Zugeftändniß, welches die fatholifche Republit dem Papft machte, würde
fchwerlich in ähnlich unbejchränkter Weile von irgend einem Monarchen, jelbjt von
Heinrich V. nicht, durch Ueberantwortung eines jo koftbaren Hoheitsrechtes vollzogen
worden fein. Wer franzöfiiches Univerfitätsleben nur einigermaßen fennt, der weiß
auch, daß das Färglich auägeftattete Unterrichtsbudget des Staates förmlich außer
Stande ift, mit den reichen Mitteln zu concurriren, welche die Kirche bei der Grün—
dung höherer Unterrichtsanftalten in's Treffen zu führen vermag. Sie wird ihre freien
Univerfitäten reicher ausftatten, wird ihren Beſuch auf alle denkbare Weife erleichtern,
den Prüfungen ihre Schredniffe nehmen und jo den größeren Theil der ftudirenden
Jugend, vielleicht auch durch die Ausficht befferer und ſchnellerer Verforgung, zu ſich
beranziehen. Die Tranzöfiiche Gefellichaft wird auf diefe Art in zwei ftreng geichie-
dene Hälften zerfallen, in eine ftaatlich und in eine jejuitifch gebildete, und beide
werden fich jchroff, two nicht feindfelig gegenüberftehen, Mit einem Wort, es ift dies ein
großer Triumph des Migr. Dupanloup, dem in Anbetracht diefer Errungenschaft ficher-
lich für manche bifchöfliche Unbotmäßigkeit gegen die Autorität des Publiciften Louis
Veuillot, die ihm bereitö verfchiedene päpftliche Ermahnungen zugezogen, volle Ver—
zeihung zu Theil werden dürfte. Dennoch bleibt bei alledem ein Troft: die Elafti-
cität des franzöfifchen Geiftes. Und wie der größere Theil des gegenwärtig in Ver—
faille8 tagenden clericalen Gonventes aus ftaatlichen, nicht direct von Jeſuiten ge=
leiteten Hochſchulen hervorging, jo muß man fi) auch daran erinnern, daß die
Heroen des unabhängigen Geifteslebens in Frankreich, daß die Voltaire und Diderot,
und mit ihnen ihr ganzes ſteptiſches Gefchlecht, ihre Erziehung lediglich den Jeſuiten
verdankten. Die Freiheit des höheren Unterrichtes, ein Schlagwort, welches jelbit
auf einen Zaboulaye fo große Macht ausübte, daß er mit dazu helfen konnte, die
Univerfitäten dem Clerus auszjuantworten, könnte daher jehr leicht Folgen zeitigen,
bie ald berechtigte Reaction des gallifchen Geiftes gegen das römische Joch, in das
man ihn zwängen will, in Zukunft mehr als einen Bifchof ob ihres Gontraftes in
heiliges Staunen verfeßen mögen.
Neben diejer Unterrichtöirage war es ganz beſonders die Verhandlung über die
bloßgelegte bonapartiftifche Verſchwörung, welche die Geifter in Frankreich
in Aufregung verſetzte. Indeß nahm auch diefe Angelegenheit einen ganz anderen
220 Deutſche Rundſchau.
Verlauf, als man namentlich in den Reihen der gemäßigten Republikaner erwartet
haben mochte. Die Enthüllungen des Abgeordneten Savary über das weite Netz,
welches die Kaiſerlichen über alle Schichten der Geſellſchaft gebreitet haben, konnten
in einem Lande kaum mehr als momentane moraliſche Entrüſtung hervorrufen, in
welchem den politiſchen Parteien jederzeit alle Mittel recht und billig waren, die
ihre Zwecke zu fördern verſprachen. Daß Verſchwörer und Bonapartiſt gleichbedeutend
ſei, wußte alle Welt von langer Hand, und ſo konnte es dem Anſehen der Kaiſer—
lichen nur wenig ſchaden, daß man den Beweis erbrachte, wie weit ihre Organiſa—
tion gediehen und über das ganze Land gebreitet ſei. Freilich war man ihnen dabei
auf mehrere unſaubere Geſchichten gekommen, auf die Beeinfluſſung von Zeugen im
Prozeſſe Bazaine, auf den Verkehr ihrer Agenten mit den Communarden. Aber das
Alles find Dinge, welche, wie es ſcheint, der Coder der politiſchen Parteien Frank—
reichs für nicht eben jehr ehrenrührig hält, und fo konnte ſich das Unerwartete be—
geben, daß aus der parlamentarifchen Debatte, die fi an den Eavary’ichen Bericht
fnüpfte, die bonapartiftiiche Partei ziemlich unbeanjtandet hervorging, während Die
gemäßigten, „janften“ Republilaner unter ihrem Führer Gambetta eine eclatante
Niederlage erlitten. Daß bei derjelben die verjchiedenartigiten Motive mitjpielten,
ift klar; ebenjo, daß alle veactionären und clericalen Elemente der Berfailler Ver—
fammlung damit lediglich den Kaijerlichen ihren Dank abtrugen für dad Votum
derjelben zu Gunſten der freiheit des höheren Unterricht. Der PVicepräfident des
Miniſterraths, Buffet, erwies fich bei diefem Anlaß dem Dictator Gambetta ala
„thurmhoch“ überlegen, um einen Bismarck'ſchen Ausdruck zu gebrauchen, freilich nur
überlegen an parlamentarijcher Schlauheit und Gewandtheit. Er verjtand es, bie
conjervativen Inſtincte der alten Majorität, welche einſt Thiers gejtürzt hatte und
die das Votum, durch welches die Republik in Frankreich als definitive Staatsform
anerfannt worden war, noch immer nicht verwinden konnte, in Wallung zu bringen,
und jo wurden die Republifaner die Prügelfnaben der Bonapartiften, deren Sache
durch diefe Escamotage den ſonderbarſten Borjchub erhielt. Aber diefe Niederlage
Gambetta’3 hat ohne Zweifel noch die andere Folge, dak damit auch die Rolle der
fanftmüthigen Republitaner für einige Zeit außgeipielt ift. Die Nabdicalen vom
Schlage Louis Blanc’, denen der jtaatgmännifche, compromißjüchtige Republikanis—
mus Gambetta’3 jtet3 ein Dorn im Auge gewejen, haben nun wieder Oberwaſſer in
der Partei, während ſich im Parlamente die alte conjervative Majorität wie durch
ein Wunder wiederhergeftellt. Auch in parlamentarifchen Dingen bleibt Frankreich
das Land der Ueberraſchungen.
Aber während hier die Republifaner, wenn auch nicht die Republik, unterlagen,
fcheint fich das Königthum in Spanien und Griechenland neu zu befeftigen.
In letzterem Lande freilich ift auf die augenblidliche Ruhe, welche daſelbſt herricht,
nicht viel zu geben. Jedenfalls hatte König Georg das Experiment bisher nicht zu
bereuen, welches er mit der Berufung des Cabinets Trikupis gemacht.” Was aber
Spanien anbelangt, jo jcheinen endlich die militärischen Operationen gegen die Car-
liften jene Erfolge zu zeitigen, welche fie feit jo langer Zeit blos veriprochen hatten.
Die Grundzüge der Verfaſſung, welche gleichzeitig in die Deffentlichkeit drangen, ver—
rathen in mehr ala einer Hinficht eine Hingabe an Rom, welche an die franzöftiche
Unterrichtsfreiheit gemahnt. Freilich mag dies ſpaniſchen Traditionen entjprechen,
und doch wäre es ſeltſam, wenn das Wort Ludwig's XIV., „es gibt feine Pyrenäen
mehr“, heute nur für die Gefellichaft Jefu noch Geltung haben jollte.
Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Pierer'fhen Hofbuchbruderei in Altenburg.
Für die Rebaction verantwortlid: Elwin Paetel in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt diefer Zeitfchrift unterfagt. Ueberſetzungsrecht vorbehalten.
An unfere Sefer.
Die „Deutfhe Rundſchau“ beſchließt mit dem vorliegenden Hefte für
September ihren erften Jahrgang.
Wenn unſere Zeitihrift vor einem Jahre, bei der Ausgabe bes erften
Heftes, das Publitum um feine Gunft und fein Vertrauen bat: fo ift fie heute
in der glüclichen Lage, dafür danken zu können, daß Beides ihr in reichem
Maße zu Theil geworden. Der Erfolg war ein unmittelbarer. Nachdem das
Probeheft ausgegeben, erjchienen in raſcher Folge hintereinander: von Heft I
der fünfte, von Heft II der fünfte, von Heft IV ber dritte, von Heft V ber
zweite Abdruck, bis mit Heft VI unfre Auflage die Höhe von 9000 Eremplaren
gewonnen hatte, tweldhe fie gegenwärtig behauptet.
Die Verbreitung der „Deutichen Rundſchau“ beſchränkt fich nicht auf
Deutichland; fie wird verhältnigmäßig nicht minder ftark gelejen in Amerika,
Rußland, England, den Niederlanden, dem jcandinadviichen Norden; und in
allen überſeeiſchen Plägen, wo Deutjche find, findet man bereits die „Deutſche
Rundſchau“.
Dieſer Erfolg, welchen wir ohne jede Verleugnung deſſen, was ſich ziemt,
offen anerkennen dürfen, beruht, nach unſrer Meinung, auf zwei Thatſachen,
die wir von Anfang an für uns geltend gemacht haben: auf der politiſchen
Machtſtellung des Deutſchen Reiches und dem daraus hervorgehenden Bedürfniß
nach einem literariſchen Organ, welches die Geſammtheit des deutſchen geiſtigen
Lebens in ſeinen charakteriſtiſchen und maßgebenden Beſtrebungen und Reſultaten
möglichft vollſtändig umfaßt.
Nun Tann zwar Niemand weniger, ald Herausgeber und Verleger der
„Deutihen Rundſchau“, fich einer Täufchung über Dasjenige Hingeben, was
die Zeitichrift bisher geleiſtet; noch Jemand mehr, als fie, davon überzeugt fein,
daß das Ziel, weldyes fie fich jelber geſteckt Haben, wol deutlich bezeichnet, aber
nit vollftändig erreicht ſei.
Was jedoch erreicht worden ift, das haben wir durchaus der freudigen
Bereittwilligkeit zu danken, mit welcher viele von Deutjchlands anerkannt erſten
Männern fich beeifert haben, unſer Werk zu fördern. Diejes Zufammentwirken
repräfentativer Namen der deutfchen Literatur und Willenfchaft, unter ſtrengem
Ausschluß des Dilettantifchen auf beiden Gebieten, hat das Meifte gethan,
da3 Programm der „Deutichen Rundſchau“, jo weit e8 bis jet geſchehen, zur
Mahrheit zu machen und unfrer Zeitjchrift ihre Signatur zu geben.
Der erfte Jahrgang der „Deutichen Rundſchau“ brachte:
I. Beiträge zur fhönen FKilerafur, von ı
Berthold Auerbad), Emanuel Geibel, ;
Anaſtaſius Grün, Karl Gutzkow, Paul :
Heyje, Wilhelmine von Hillern, geb. |
Birch, Wilhelm Jenjen, Heinrich Laube, |
Fanny Lewald,R. Lindau, Alfred Meike :
ner, ©. zu Putlig, I. 2. Scheffel, |
Friedrich Spielhagen, Theodor Storm, |
Adolf Wilbrandt. i
II Beiträge zur allgemeinen Guttur-, |
Medts- und Kirchengeſchichte, bon Prof. :
Prof. W. Preyer, Prof. Oslar Shmibt;
Geographie nnd Völkerkunde, von Marines
Stab3arzt Dr. €. Böhr, Fr. von Hell
wald, Director A. B. Meyer, Dr. Ger:
hard Rohlfs, Dr. Georg Schweinfurt,
Prof. H. Vambéry; Vehnofogie, von Hof:
rath M. M. von Weber; Wilttärwifen-
fdjaft, von General von H. Brandt (aus
befien unperöffentlichten Denkwürdigleiten),
Oberſt F. von Meerheimb, Oberft 3. von
Derby bu Vernois.
I. Bernays, Dr. Georg Brandes, Prof. III. Kine fiterarifhe Aundſchau, in welcher
F. Dahn, Prof. 2. Frieblaender, Prof. |
5.9. Geffcken, Prof. U. de Gubernatis, :
Prof. Ottolar Lorenz, Prof. H. von Sybel; |
Siferafur- und Kunfigefhidte, von Prof. :
9. Hettner, Prof. K. Hillebrand, i
Dr. Gerd. Hiller, Prof. H. Hüffer, |
Prof. Br. Meyer, Dr. Julian Schmidt, !
Prof. 8. Urlichs, Prof. U. Woltmann;
Dolkswiriäfdaft und Irziehungsfrage, von !
Dr. 8. Bamberger, Dr. 4. Lammers, |
Dr. Eduard Laster; Yhilofopfie, von Dr. ;
Eduard von Hartmann, + Prof. C. G.
Reuſchle, Prof. E. Zeller; Hprahwifen- |
(daft, von Prof. Mag Müller, Prof. H.
D. Whitney; Naturwifenfdaft, von Prof. ;
FJ. Cohn, Prof. A. Fi, Prof. W.oerfter, !
von Monat zu Monat bie hervorragenderen
Ericheinungen belletriftiichen ober allgemein
wiffenichaftlichen Inhalts von Dr. Fr.
Kreyffig, beſonders wichtige Fachſchriften
von Fachmännern aus ber Zahl ber oben
Genannten befprochen wurben; eine Berliuer
Ghronik über Theater, von Dr. Karl
Grenzel, und über Mufit von 2. Ehlert
und Dr. DO. Gumpredt; eine Wiener
Shronik über Theater von Prof. Bayer und
Dr. Heinrich Laube, und über Muſik von
Prof. Ed. Hanslid; und eine politifde
Rundſchau, welche, von einem nationalen
und freifinnigen Gefichtöpunfte, bie GEreig-
niffe des Monats überfichtlich zufammenftellte.
Wir glaubten den Leſern der „Deutſchen Rundſchau“ diefen Rückblick auf
unfern erften Jahrgang ſchuldig zu fein, um daran die Berfiherung zu Inüpfen,
daß wir auch den folgenden in berfelben Weife fortführen werden, mit derjelben
Aufmerkfamkeit für alle unfre Nation näher oder ferner berührenden Intereſſen,
mit derjelben Sorgfalt und dem unermüdeten Beftreben, unſre raſch geficherte
Geltung ung mit jedem neuen Hefte neu zu verdienen!
Die „Deutiche Rundſchau“ wird in ihrem zweiten Jahrgange, außer der
Berliner und Wiener Chronik über Theater und Muſik, der literariſchen und
politiſchen Rundſchau, unter Anderem, folgende Beiträge veröffentlichen:
Novellen von Gottfried Keller, Theodor
Storm und Levin Shüding.
Reiſen im öfliden, Nord- nnd Genfraf- |
afrika. Bon Dr. ©. Nadtigal.
Der geographifhe Congreß in Yaris. Don
Dr. G. Rohlfs.
Entwicklungsgeſchichtliche RXdobleme. Von |
Prof. Ernſt Haeckel.
FAeber Darwin's „Inseetivorous plants.““
Von Prof. Ferd. Cohn.
Pie Principien der Auskelarbeit. Don
Prof. A. Fid.
Die Theorie der Materie, Bon Prof. W. |
Dunbt.
Die legten lechig Zahre in der Pfyfk.
Bon Prof. E. G. Reuſchle.
Aeber Man und Gewicht. Bon Prof. W. M
Foerfter.
Die Edelmetalle im Cullurleben. Don Prof. ;
von Neumann:Spallart.
Streitfragen des neueren Bölkerrehts. Don |
Prof. Franz von Holtzendorff.
Aeber die Lage in Frankreid. Von Prof.
F. 9. Geffden.
F. m. Seontjew und bie ruffiihe Preffe. :
Bon "***
Erinnerungen eines ruſſiſchen Yudlicifien.
Don Fr. Meyer von Walbed, kaiſ. zufl.
Gofleg.:Rath a. D.
Der amerikanifhe Bürgerkrieg, Von F.
von Meerheimb, Oberft im Nebenetat des
Großen Generalftabs.
Die Heere der Großſtaalen und ihre ge-
ſchichtliche Entwihelung. Bon M. Jahne,
Hauptmann im Nebenetat des Großen Gene⸗
ralſtabs.
Weitere Mitideilungen aus den Bisher un
: gedrudifen Denkwürdigkeiten des Gene:
rals H. von Brandt.
; Düffeldorfer Sehrjaßre. Ein autobiographifches
Fragment von J. W. Schirmer. Mit Ein:
: leitung von Prof. A. Woltmann.
: Midelangelo. Bon Prof. W. Hente.
: Heder Schliemann’s Troja, Yon Geh. Hof:
rath W. Roßmann.
Die jüngſten Ausgrabungen in Mom. Bon
Fr. von Hellwald.
NNeber die neueren Zearbeilungen und den
: gegenwärtigen Stand der römiſchen Kaiſer ·
geſchichte. Yon Prof. 8. Friedla ender.
: Die fiterarifhe Bewegung zur Beit Karl's
des Großen in ihrem Zuſammenhang mit
der Gründung der Weltmonardie, Bon
Prof. U. Ebert.
Die Borgia, Bon Prof. B. Augler.
: Walfenflein, auf Grund neuaufgefundener
: eigenhändiger Briefe beffelben. Bon Prof.
D. Lorenz.
: VYapfithum und Kaiſerlhum im achtzehnten
Zahrhundert. Bon Prof. Carlvon Roorden.
: Ein $tüht Kfeinflaatliher Thenerungspofifik.
: Bon Dr. O. Hartwig. Mit Vorwort von
Prof. H. von Sybel.
Zur Keſorm des höheren Anterrihiswefens.
Bon Director Dr. Friedr. Kreyifig.
Der Mechanismus der Nafur und die Frei-
beit des Geifles. Von Prof. M. Carriere.
Glauben und Gefhihte im Fichte des
Prama’s. Don Prof. Rob. Zimmermann.
Die griechiſchen Formen und Make in der ;
beuffhen Dichtung. Don Prof. F. N.
Lange.
Weber Shaftefpeare’s Sonette.
Karl Goedeke.
Don Prof.
Angedrudte Briefe von Goelfe an A. €. |
Schubarth. Herausgegeben und erläutert von
Prof. H. Hettner.
Endwig Zeuerbach. Bon Prof. W. Bolin.
Eduard von Hartmann’s nenere Schriften. :
Bon Prof. U. Laſſon.
: Paul Heyſe. Bon Dr. Georg Brandes.
: Hermann Kurz. Sein Beben und feine Werke.
Don Dr. 8. Raiftner.
: Karl Maria von Weder und Roſſini. Per»
fönliche Erinnerungen von M. M.v. Weber,
Eherubint. Sein Leben.und feine Werte. Don
| Dr. $erd. Hiller.
Zoh. Sed. Bad. Don 8. Ehlert.
: !den des Horaz, im Versmaße des Drigi»
nals. Bon Emanuel Geibel.
| Giacomo Leopardi’s Gefpräde. Don Paul
GBeyſe.
| Die englifhen Reviews. Bon Dr. M.
Jutroſinskti.
Ferien in England, Bon Jul. Rodenberg.
Die „Deutſche Rundſchau“ erſcheint auch ferner, wie bisher, in monat-
lichen Heften von 10 bis 11 Bogen in gr. 8° zum Preiſe von 6 Mark pro
Quartal und ift durch jede Buchhandlung und Poftanftalt zu beziehen.
Die Derlagshandfung:
Gebrüder Yaetel
Berlin, M. Kuhowſttahe 2,
Der Herausgeber:
Dr. Zulius Rodenberg
Berlin, I, Shekingfrafe 16.
Diezer’jge Hoftudbruderel, Erephan Geibel & Go. in Hlienburg.
euifhe Rundfdan.
Herausgegeben
don
Julius Nodenberg.
Berlin.
Derlag von Gebrüder Paetel.
Amfterdam, Sehffardt'ſche Buchhandlung. — Athen, Karl Wilberg. — Baſel, Chr. Mehri. — Bern,
Huber & Go. — Brüflel, 6. Muguarbt’3 Hofbuchhandlung. — Budapeit, Karl DO. Stolp. — Buenos⸗Aires,
Yacobfen & Söberftedt. — Bulareft, Sotſchek & Go. — Ghriftiania, Albert Gammermeper. — Gonftantinopel,
Ghr. Roth. — Dorpat, E. I. Rarow’s Univerf-Buhhandlung. — Florenz, H. Loeſchers Buchhandlung. —
Kopenhagen, Wilhelm Prior’3 Buchhandlung. — Lima, &. Niemeyer & Ingbirami. — London, A, Siegle.
Zrübner & Go, — Luzern, Doleſchal's Buchhandlung. — Mailand, Ulrico Hoepli. — Montevideo, Jacobſen
& Söberftebt. — Mostau, J. Deubner, Edmund Kunth. Wlerander Lang. — Neapel, Ulrico Hoepli. —
New⸗Nort, Stechert & Wolff. E. Steiger. — Odeſſa, Emil Berndt’ Buchhandlung. J. Deubner. — Paris,
Sandoz & Fiſchbacher. — Petersburg, G. Häſſel's Buchhandlung. Garl Rider. — Pifa, Ulrico Hoepli —
Niga, I. Deubner. R. Aymmel. — Nio de Janeiro, E. & H. Laemmert. — Mom, Loeſcher & Go. —
Rotterdam, dan Hengel & Geltjed — Stodholm, Samjon & Wallin. — Tanunda (Süb-Auftralien),
FJ. Bafedow. — Tiflis, G. Barrenftamm. — Valparailo, E. Niemeyer & Jughirami. — Warſchau
6. Wende & Go. — Wien, Faeſth & Grid. — Deddo, H. Ahrens & Go. — Züri, 6. M. Ebel
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xl.
XI.
Inhalts-Verzeihniß.
Wilhelm Ienfen, Wilhelm von Grumbach. Novelle. (Schluß.)
Alfred Woltmann, Gaftelfranco und Billa Mafer.
Heinrich von KSrandt, Die Märztage des Jahres 1848 in
Pojen. Aug feinen bisher unveröffentlichten Denkwürdigkeiten. II.
Julian Schmidt, Schiller in feinen Briefen . ;
Mar Hupbensz, Die Verbreherwelt von Wien . \
Selig Dahn, Leber altgermanifches zur in der
Hriftliden Teufelsſage
9. Yamberp, Mohammedaniſche Furſten — Reueit
und die europäijche Givilifation.
Alfred Meifiner, Hephäſtos. Gedicht
Friedrich Krepffig, Literarifhe Rundihaun . ——
a) Neue Studien von Karl Roſenkranz. Erſter Band: Studien
zur Culturgeſchichte. Zweiter Band: Studien zur Literatur—
geichichte.
b) Gedichte von Giufeppe Giufti, deutfch von Paul Heyfe. Mit
einem Anhange: Bittorio Alfieri ala Satirifer. — Vincenzo
Monti.
e) Dramatifche Sprichwörter von Carmontel und Theodore Leclerg,
überjeßt von Wolf Grafen Baudilfin. 2 Bde.
d) Unfichtbare Mächte. Hiftorifcher Roman aus der Gegenwart
von A. Mels. 9 Bde.
Oscar Schmidt, Kant und Darwin. Ein Beitrag zur Gejchichte
der Entwidelungslehre von Fri Schulte. F
Profeſſor Wuttke's „Deutſche ne And daB
Ausland NR
Angelo de Subernatis, Aus Italien
Politiſche Rundihau.
Seite
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Dilhelm von Grumbach.
Novelle von Wilhelm Jenſen.
Echluß.)
Um die Mittagsſtunde war's, und neben der Ruhebank, auf der Frau Anna
von Grumbach angekleidet lag, ſaß Biſchof Melchior von Zobel. Sie ſchlief,
doch athmete ſie röchelnd aus zerſtörter Bruſt; ihr zur Linken ſtand das Fenſter
weit geöffnet, und drunten in der Tiefe unter den Mauern und Weinbergen der
Veſte rauſchte der grüne Main, goldhell ſpannte die Brücke ſich hinüber und
drüben die breite Domgaſſe bis in's Herz der Stadt. Manchmal irrte das Ge—
ſicht des Biſchofs von den aſchfahlen Zügen des Weibes ab und ging in den
Sonnentag hinaus. Er ſaß ſchon geraume Zeit ſo, doch es regte ſich kein Aus—
druck der Ungeduld auf ſeinem Antlitz, allein auch kein Schauer, wie er in der
Nacht zuvor unwillkürlich darüber hingefahren. In heiter beſchaulichem Gleich—
muth wartete er, wie Einer, der das Harren der Gegenwart mit Bildern der
Vergangenheit und Zukunft ausfüllt und hinwegtäuſcht.
Nun hub ein leiſer Klang an, als komme er von den Spitzen der beiden
Domthürme; ſummend, ſich in mäligem Anſchwellen verſtärkend und im ver—
änderten Windhauch wieder einſchlafend, tönte Mittagsgeläute durch die Luft.
Eine Weile, dann ſchlug die Kranke ihre Augen auf, und ihr Blick haftete un—
bewegt auf dem Geſicht des Mannes an ihrem Ruhelager.
Sie ſah ihn anders an, als am Abend, wie der Fieberirrſinn ihre Glieder
und Gedanken durchrüttelt. Mit leiſer Regung des Kopfes wandte ihr Ohr
ſich aufhorchend dem fernen Klange zu, der aus dem blauen Gewölb nieder—
zuſchweben ſchien, und ihre Lippen öffneten ſich zu ſanft-traumhaftem Tonfall
der Stimme.
„Ahr ſeid's, Melchior; die Domglocke fingt Mittagszeit. Wenn der Abend
fommt, reiten wir über die Brüde, und der Main rauſcht am Wehr. Sind
wir im Himmel? Ich möchte eine Ewigkeit jo liegen und Dich anfchauen. Liebft
Du mid, Meldior? Jh Habe nur Dich geliebt und fürchte die ewige Ver-
dammni nicht, wenn Du bei mir bleibftl. Horch, wie fie Klingen; das Herz
ichlägt ihnen nad. Das ift nicht Reue, ift goldtönendes Glüd, daß nn bei Dir
Deutiche Rundſchau. I, 12.
322 Deutſche Rundſchau.
bin. Nimm mich in Deinen Arm, daß er nicht kommt und mich in ſeine
Gruft zurückholt! Er iſt wie der Stein, der nicht widertönt, wenn man ihn
rührt; wer gab ihm Recht auf ein Menſchenherz? Ach, warum biſt Du ein
Biſchof, daß ich nicht Dein Weib ſein kann — ach, warum?“
Sie ſeufzte tief auf, und aus ihren Wimpern quollen zwei Thränen lang—
fam über die hageren Wangen. Melchior von Zobel fahte mit einem Wider-
ftreben, da3 fie nit wahrnahm, ihre Hand und ſprach freundlich:
„Ihr ſollt nicht zu ihm zurück, liebe Freundin. Fürchtet Euch nicht vor
ihm und nicht vor der Verdammniß! Ihr ſagt's, ich bin Biſchof; die Kirche
und der heilige Vater haben mir Macht gegeben, zu binden und zu löfen, auf
Erden und im Himmel.“
„D, da3 Wort Deines Mundes löft von aller Dual. Ich habe Dich wieder,
und der böſe Traum ift vorbei.“
Sie hielt feine Hand feft mit den dürren Fingern umfchloffen, ihr Geficht
legte fi) matt, doch mit bleichem Lächeln um die Lippen, zurüd. „Armes
Weib —“ flüfterte er beinahe zärtlich, „war der Traum fo böfe?“
Ein Schauer lief ihr fihtbar vom Scheitel zur Sohle. „Sprich nit
von ihm!”
„Warum nicht, Anna, da Du in meinem Schuß bit? Was kann er Dir
bier noch anhaben? Weißt Du nicht, daß wir oft des Sturms und Unwetters
gelacht, wenn wir den köſtlich ermiüdeten Leib wieder auf die Polfter der Ruh—
bank Hinftredten? Dann ſprachen wir gern vom heißen Ritt, dem ſchweflichten
Blitz, der und am Felsſturz umzudt, vom glührothen Wolfsauge und weißen
Eberzahn, die aus dem Dickicht gefunkelt. So fien wir heut’ wieder, Anna.
Du bift mild’ natürlich, ruh' aus, daß die Kraft Dir zurückkommt. Ruh’ aus
an meiner Seite und erzähle mir, was Du gejehn und gehört, was Dich er-
ſchreckt, bis ic) Dich wiederfand.“
Die Glocken des Doms ſummten noch immer, und wie auf den Wellen
ihres Geläuts wiegte das todtkranke Weib ganz leiſe die Stirn. „Ja, er war's,“
murmelte ſie, „der Eber mit dem weißen Zahn, als ich Dich im Wald verlor.
Er ſagte, ich gehöre ihm, und packte mich und trug mich in ſeine Höhle. Darin
ſaß ich lang' in Nacht und athemloſer Luft. Ich dachte an Dich, das wußte
er, denn fein regloſes Auge fieht durch Alles hindurch und las die Sehnſucht
in meinem Herzen. Dann fam er und häufte Gewürm um mid), daß es mir
den Leib umringelte und an meiner Seele äbte und fraß. Da ward mein Leib
fieh und meine Seele verdarb.“
„Arme Anna — meine Liebe wird beide heilen. Sag’ mir, wie geſchah's,
daß Du aus der Höhle des Ebers entkamſt, daß er Dich ließ und zu mir ließ?“
Seine Augen hielten die ihrigen wie an einer aus Glanz geſchmiedeten
Kette, und fie nidte und ſprach:
„Er jagte, daß ich ihn verrathen, ala ich jung und fein Weib geweſen.
Und er jagte, daß er wiſſe, es wäre barmherzig geweſen, wenn er mid nicht
zurücigefchleppt, jondern den weißen Zahn mir in die Bruft geftoßen hätte, daß
Alles vorüber. Aber der Tod jei feine Marter, und ich müſſe erſt Dir thun,
was ich ihm gethan — dann dürfe ich jterben.“
Wilhelm von Grumbad). 323
Biſchof Melchior ließ unmilltürlih ihre Hand fahren und ihm entflog:
„Mid verrathen? Dazu kamſt Du?“
Dod fie griff angftvoll nad) feinem Arm. „Nein, bleib’! Er denkt, daß
ich es thue, aber ich will ja nicht fterben, jondern bei Dir glüdlich fein, mich
der Sonne freuen nad) der langen Finfterniß.“
„D, ih weiß, Du Tiebft mich noch immer — wie ih Dih — wie id)
Did, Anna.“ Aus den Zügen des Antwortenden war bie vorherige plößliche
Neberrafhung geſchwunden; er gab jeine Hand in ihre Gefangenſchaft zurüd,
lächelte und fuhr fort:
„Du ſprachſt von dem mweißzahnigen Eber, er ift unſer beider Todfeind;
feine Wuth brennt um Deinetwillen gegen mich, wie gegen Dich um meinethalb.
Wir müſſen unfere Herzen, unfere Arme und Gedanken zuſammenſchließen,
Anna, um und gemeinfam feiner zu eriwehren. Sag’ mir, weißt Du, mit was
für anderen Thieren des Waldes feine Arglift und jein Grimm einen Bund
geſchmiedet, um Dich mir zu entreißen und wieder in feine Gewalt zu bringen?“
Die Geiftesirre murmelte ungewiß: „Er ließ mich einen furdhtbaren Eid
fhwören —“
„Den Namen feines Menjchen, keines Landes und feiner Stadt zu nennen.
Ich könnte Di von dem Eid löjen, Kraft meines Amtes, könnte es von Dir
begehren, Anna, kraft meines alten Rechts. Spricht Dein Herz, daß Du mein
Weib bift, oder feines? War Dein Sohn ber jeinige?“
In ihren Zügen ging eine Veränderung vor, fie ſchrak zufammen und
murmelte tonlos: „Das Sind der Sünde — der Teufel fam auf rothem Roß
und lachte, fein Kind jei’s, und nahm es mit fi. Mitunter höre ich es ſich
wieder in der rothen Gluth regen, und es jchreit gegen meine Hand, die es in
den Schwefelpfuhl bineingeftoßen.”
Der Biſchof fiel haftig ein: „Du inft Did, Anna; meine Gebete haben
unfern Sohn aus ber Tyeuerqual erlöſt. Er erwartet uns ala ein Lichtes
Gngelsbild droben in der etwigen Freude, umd feine Stimme ift’3, die aus dem
Himmelsblau dorther Dir in’s Herz klingt. Bor Vielen wählte Gottes Liebe
ihn aus, daß fie ihn von der Bruft, die ihn nährte, aus dem Getümmel ber
Erde zu ſich emporhob, und eine Verheißung ließ fie uns zurüd. Nicht um—
jonft, jondern im ewigen Rathſchluß vorgejehen, nannte fi der Heimathsort
des Weibes, dem Du ihn übergabft, Seligenftatt. Aus der irdiſchen Statt der
Seligen rief die Barmherzigkeit der Gottesmutter ihm zu fich in die Statt der
ewigen Seligkeit.“
„Slaubft Du — ?"
„Ich weiß es, meine Tochter.“
63 waren nicht die Lippen, die Anna von Grumbach einft gefüht, ſondern
der Mund des Biſchofs, der die troftvoll=zuverfichtlihe Antwort gab. Die
Kranke erwwiderte ſchwach: „Hab’ Dank — und dem Himmel will ich danken,
daß er ihn zu fich genommen. Wäre er auf Erden geblieben und in Seine
Hand gefallen —“
Sie jhauderte und ftodte. „Du meinft, in die des Ebers? Vielleicht hätte
er ihn aud in feine Höhle geichleppt und ein Ungeheuer mit fletichendem Zahn
21”
324 Deutſche Rundichau. 1
aus ihm aufgenährt. Du wollteft mir jagen, Anna, mit wem — nicht Men—
ſchen, Ländern und Städten, nad) Deinem Eid — mit wa3 für Thieren des
finftren Waldes der Eber einen Bund wider und gejchloffen.“
Ihre Stirn büdte ſich etwas gegen ihn vor, doc fie ſchloß die Augen.
„Laß mich nachdenken — mein Kopf hat es vergefjen, aber die Gloden wifjen
es und raunen es mir zu aus alter Liebe. Er hat fie alle, Melchior, alle —
fie liegen ihm zu Füßen wie eine Meute von Hunden und warten auf feinen
Hornruf. Aber ihr Gebik ift vom Wolf und ihre Taken find von der wilden
Kate und vom Luchs. Im Aufgang und Niedergang lauern fie, und gegen |
Mitternacht jammeln fie fi) in den Wäldern —“ |
„Dein Eid verbietet Dir nicht, von Ländern zu reden, wo bösartige Thiere
haufen, meine Tochter. Sprid, was Du weißt, und beginne gegen Mitternacht!”
„Da find fie vor Allem, die großen Wälder. Sie beginnen am Oderfluß
und dehnen fich über den Elbfluß weithin bis in’3 Niederland, Darin wimmelt
e3 von Thierhaufen überall. Und weiter hinauf noch ſchwimmt ein ſchuppiger
Drade im Meer, der wartet auch auf den Ton des Ebers —“
„Shwimmt er dort, wo die Inſeln liegen, die man Dänemark heißt,
Anna?“
„sa, dort.“
„Und weiter? Weiter, holdes Weib!”
„Es ift ein Land, das heißt —“
Sie ſtockte, und Biſchof Melchior drehte zornig den Kopf, denn hinter ihm
ertönte ein Geräufh, das die Kranke zum Innehalten veranlaßt. Die Thür
hatte fi), von zögernder Hand geöffnet, aufgethan, und e3 trat Jemand herein,
daß der Biſchof unwillig ausftieß:
„Wer ift da? ch Habe befohlen, una nicht — meine kranke Freundin
nicht zu ftören.“
Do beim letzten Wort ſchon verflog der Unwille jeiner Züge und feines
Mundes und wandelte fich plötzlich in ein jein Geficht überglängendes freudiges
Staunen um. Unwillfürlich trete jeine Hand ſich vor, und er fügte mit
ftrahlendem Blick gütig Hinzu:
„Du, meine Tochter? Das ift etwas Andres, Dein Kindergeficht ftört
nicht. Was bringft Du mir? Gutes natürlich; fomm näher!“
Sibylle Brede ſtand ſchüchtern und erröthend an der Schwelle, fie trat auf |
das Geheiß einen Schritt heran und verjegte leije: ‘
„Ich joll Eurer fürftlihen Gnaden vermelden, daß Herr Fyriederih Spet
Eurer im Ritterfaal harrt.“
Die Brauen Melchior's von Zobel zogen fi einen Moment unwillkürlich
zuſammen, aber dann lachte er:
„Mit der Botjchaft hat man Dich betraut? ch wußte, daß Herr Fyriede-
rich Spet gute Fürbitte beſaß, aber jeine Freunde find noch Elüger, ala ich |
dachte. Geh, Sibylle, und bringe Antwort: ich komme,“
Das Mädchen ftand mit niedergeſchlagenen Lidern. „Darf ih Euch noch
Dank zuvor jagen, hochwürdigſter Herr, daß Ihr der gnädigen Freiin verftattet
habt, mid) in ihren Dienft zu nehmen?“ |
„B- — —
— —
Wilhelm von Grumbad). 325
„Du braucht nicht zu danken, meine Tochter. Wir erwerben und Dank
und Lohn Gottes, daß wir auf Deine Jugend Bedacht und Dich aus dem
Haufe genommen, defjen Gewerb und roher Verkehr Deinem Magdthum nicht
anftehen. Geh zu Deiner Beſchützerin und jage ihr, Hand um Hand, und id)
würde Herrn Friederich Spet in meinem Geheimgemadh empfangen.“
Sibylle neigte fi und verließ dad Zimmer; der Biſchof Hatte fie bis an
die Schwelle geleitet und fehrte zu Anna von Grumbach zurüd. „Du jagteft,
Anna, e8 ift ein Land, das heißt —
Verwundert hielt er inne. Die Kranke ftarrte mit brennenden Augen auf
die Thür, durch welche Sibylle Brede’3 Liebliches Bildniß verſchwunden war;
da3 Traumhafte aus ihrem Gefiht war gewichen, und eine irre aufringende
wache Verftörung kämpfte in den wächjernen Zügen. Ihre Zunge wollte jprechen,
doch es dauerte eine Weile, eh’ der Geift Herrichaft über fie gewann, und hilf:
los redeten nur die Augen jchredensvoll beängftigte, ftumme Sprade. Dann
brachte ſie mühſam lallend hervor:
„Was will das Kind — weshalb ift es bei Dir auf dem Frauenberg,
Meldhior?“
„Was haſt Du, Anna? Es iſt eine neue Dienerin der Freiin von Grafeneck,
die meinem Hofgeſinde vorſteht. Aus Barmherzigkeit hat ſie das junge Ding
aus ſeines Vaters Herberge zum Schmeltzenhof in ihren Dienſt genommen.“
„Aus Barmherzigkeit? Wozu ſoll fie dienen auf dem Frauenberg, Melchior?“
Der Angeredete zudte die Achjel. „Ich verſtehe Dich nicht. Hatteft Du
nicht Dienerinnen, 'al3 Du auf dem Frauenberg zu Gaft warft? Es ijt zu
lang’ für Deinen armen Kopf, darum haft Du's vergeflen. Fahr’ fort, mir von
dem zu erzählen, was Dein Kopf noch behalten — Du weißt, von dem Eber
und jeinen Genoſſen.
Wie nach einem Wolkenbruch plötzlich trüb anſchwellendes Hochwaſſer in
ausgedörrtes Flußbett hineinſtürzt, ſo ſchwoll namenloſe, übermächtige Angſt
in die leeren Augen des ſchwer athmenden Weibes. Ihre Hände umpreßten
die bläulichen Schläfen, und fie murmelte: „Mein armer Kopf — zu lang’ —
zu lang’ — mein Sohn wäre älter al3 fie, könnte fie freien, wenn er lebte —
und Du bift noch immer der ſchöne Melchior. Führe uns nicht in Verfuhung —“
Sie klammerte die Finger zum Gebet ineinander, aber riß fie wieder los.
„Ich kann nicht beten — Hilf mir, Meldior! Uebe auch Barmherzigkeit an
mir und ſchicke das Mädchen fort von hier, zu ihrem Vater zurück! Dann will
ic) Dir Alles jagen, was Du verlangft — Alles —”
„Wenn Du e8 wünjcheft —“
„Nein, nicht jo — Du mußt ſchwören! O, was ift ein Eid? Betrug und
Lüge und Verrath! Schwöre es bei mir! daß Du fo ſiech und elend und todes-
fehnfüchtig werben willft, wie ich, wenn Dein Mund meineidig ift!“
Es überihauderte Melchior von Zobel, und feine Augen wichen mit einem
unvderhehlbaren Ausdrud des Entjegens von ihrem Geſicht, aus dem deutlicher
als je ber nadte Todtenichädel hervorftarrte. „Du bift thöriht — Dein Zus
ftand regt Dich auf, Liebe Freundin,“ antwortete er ungewiß, „beruhige Di —“
„Du willſt nit ſchwören — nicht bei meinem Anblick? Ja, Du jagft es,
326 Deutiche Rundſchau.
thöricht — ich bin's nicht, ich wars! Zur Hilfe! Zur Hilfe! Er will bie
Taube würgen! Es ift der Marder, der mir da3 Blut aus dem Leibe getrunfen
— reißt ihm die Taube weg! Wo ift der Eber, daß er ihn mit dem weißen
Zahn —“
Sie ſchrie e8 und fiel erſchöpft, mit keuchender Bruft zurüd. Der Biſchof
warf noch einen Blid über fie und murmelte: „Wieder toll; ich glaube wahr-
lich aus Eiferſucht.“ Er jchlug ein Kreuz über ihre Stirn: „Sei ruhig und
bete, meine Tochter! Der böje Feind wird von Dir weichen; dann fomme ich
zu Dir zurüd.“
Sie ſchien nichts zu hören und regte fich nicht, doch wie er ſchnellen Schrittes
das Gemach verlaffen, jprang fie, einer durch übernatürliche Getvalt aus dem
Leichentuch aufgerifjenen Todten gleich, vom Lager und ſchleppte ſich ſchwankend
an die Schwelle nad. Ihr Wille wollte die Thür erreichen und zwang ben
Körper hinan; ihr Ohr lag horchend an der Holzwand und hörte den Fuß des
Tortichreitenden im langen Burgcorridor verhallen. Dann fam ed dumpf von
ihren Lippen: „Thöricht — wieder thöricht. Es ift noch nicht Zeit, no) Tag —
erft wenn die Nacht kommt, jchleiht der Marder nad jeinem Raub.” Und
fi) mit taftender Hand an der Wand fortbewegend, fchleppte fie ſich auf die
Ruhbank zurück. Die Sonne ging über die Thürme de3 Doms, deſſen Gloden
verflungen waren; in unendlid langfamem, ſchrägem Goldbogen wanderte fie
vor Anna’3 von Grumbach ſchweigſam folgendem Blick abwärts und kreuzte den
Main. Ueber die Zugbrüde der Veſte trabte der eilige Hufjchlag eines Reiters
zur Stadt hinab, nun drunten weiter auf der Brüde des Fluffes, und fein
Schatten fiel ſchon lang’ zwiſchen denen der alten Steingeftalten wider den
rauſchenden Strom empor. Die Strudel hüpften, wirbelten, löſten fi und
ſchoſſen davon, wie fie es geftern Abend und vor Jahrhunderten gethan, doch
Sibylle Brede ftand heut’ nicht an der Brüftung und ſah auf die raftlos ziehen
den Waſſer nieder. Bald hier, bald dort emfig und fröhlih in den Sälen des
Schloſſes beſchäftigt, gewahrte fie nur hin und wieder durch die hohen Tyenfter,
wie da3 Roth die Berggelände drüben küßte und die Wangen berjelben mit
glühendem Purpur überzog, und allmälig rann e8 auseinander, verblafjend und
erſterbend, ala laſſe die freudige Farbe des Lebens zum legten Dal die ſchlummer—
bereite Welt, fie in ewige Dunkel und Schweigen einzubüllen. So ſchön und
traurig lag wieder Alles, wie tauſend und aber taujend Menjchenaugen in
unendlichen Reihen kommend und gehend e3 gejehen; doc das Töchterlein Fabian
Brede's gewahrte heut’ nicht? von der Traurigkeit, nur die Schönheit leuchtete
ihr noch im dämmernden Ztwielicht allüberall entgegen und zauberte wonnig—
lie, wachtraumhafte Bilder vor den braunen Sternen ihrer Augen auf.
Aber dann wurden diefe Augen jühmüde, und der Traum kam in Wahr:
heit über fie. Sibylle jaß wartend auf einem Sefjel im Vorgemach der Freiin
Theodora von Grafened, wo dieſe ihr zu warten geboten. Sie jchlief und ſah
nit, daß mälig da3 Dunkel des Abends vor leij’ wieder beginnender Helle
wich, aber im Traume fühlte fie das rinnende Mondlicht vor den geichloijenen
Kidern und lächelte.
Da kamen zwei Geftalten von den lauten Sälen des Schlofjes herüber und
Wilhelm von Grumbach. 327
durchichritten das Gemach. Sie hielten unmwilltürli vor der Schläferin inne,
an deren Gewandjaum der weiße Strahl empor zu Frieden begann, und Theo-
dora von Grafeneck flüfterte:
„Sie ſchläft ſchon — ift e8 nicht Unrecht, fie zu wecken, Melchior?“
Ihre Lippen lächelten leife dazu, der Biſchof entgegnete:
„Wenn Du e8 vorziehft, Gottesgabe, in die Herberge zum Klingenberg zu
hidden? Herr Friederich Spet wird vermuthlich diefe Nacht noch dort jein,
und wir könnten ihn weden.“
„Hand um Hand, fagte ich geftern, und jo meint Ihr heute, Schlaf um
Schlaf? Nein, da ift der feinige wichtiger, denn er hat weiten Ritt morgen
vor fi, und fein Schlaf ift Goldes wert. Wenn er jo von Würzburg fort-
reitet, wie dom Frauenberg, braudht Ihr nicht an der Stelle nadgraben zu
laffen, auf die der fleine Kobold am Schmelgenhof hingafft.“
„fo war er zufrieden?“
„Er und Wolf Weindheim und ih. Nur der Eber auf dem Steiger Wald
wird e8 nicht fein und fein Bär nicht und —“
„Und wer noch?“ fragte er, wie fie innebielt.
Theodora murmelte: „Wir find fonderbar und thöricht mit ſechzehn Jahren.
Dod was iſt's — wenn ich zufrieden bin — morgen wird fie'3 auch fein.
Kommt, wir haben noch Manches zu bereden, eh’ Yhr Euer Recht heut’ habt
— auf Schlaf.“
Sie gingen in das anftoßende Gemach, langſam hob ſich der Mondenftrahl
über Sibylle Brede's Knie und Arme und Bruft. Sie athmete tief und un—
ruhig dazwiſchen, doc) angftlos, in holdem Traum. An ihrem weichen Gefichts-
rand ftieg das weiße Licht, Schritt um Schritt zu den langen Wimpern — ba
zudten fie, denn ein Jubelruf tönte, und vor ihnen durch die ſchwarzen Schatten
und die geifterhafte Mondnacht flatterte über jchnaubendem Pferd ein weißes
Fähnlein davon. Nod im Schlaf taftete Sibylle's Hand über die Bruft, und
ihre Lippen flüfterten, roth und bellbeglängt:
„Bhüt Did Gott —“
Do zugleih fuhr fie auf und ſah jcdhlafverwirrt um ſich. Ueber der
Schwelle einer geöffneten Thür vor ihr kämpfte gelbes Licht mit dem des herein-
fallenden Mondes, und aus der Thür hervor war ein wirklicher Ruf erflungen,
ber fie gewedt. Der Mund ihrer Herrin wiederholte ihn jeht, und das Mäd—
hen erhob ſich und fam und ftand, leicht auf den Füßen noch ſchwankend, halb
erichredt ob feiner Pflichtverfäumnig, halb no im Traum, vom Schlummer
geröthet, mit unfäglidem kindlichem Liebreiz auf Wangen und Stirm. Selbft
die Augen ber Freiin Theodora von Grafened hafteten einen Moment erftaunt
auf dem lieblichen Kindergeficht, und ihr entflog unmwilltürlih: „Du Haft wol
töftli geträumt, Kind?“
Dann ergriff fie einen koftbaren filbernen Armleuchter, auf dem fünf Kerzen
mit Kleinen rothen Zungen um den Docht Loderten, und fagte, ihn dem Mädchen
darreihend: „Leuchte dem hochwürdigſten Herrn, Eibylle — und dann bedarf
ih Deiner heute nicht mehr.”
— —⸗*
328 Deutſche Rundſchau.
Frieden und Freundſchaft herrſchten in den fränkiſchen Landen, und un—
behindert ritt Chriſtoff Kretzer im taghellen Mondlicht durch das Sander Thor
in die Stadt Würzburg ein. Eine Stunde fehlte noch, daß grad' Nacht und
Tag vergangen, ſeitdem er dieſelbe verlaſſen, denn die neue Thurmuhr des Doms
ſchlug die elfte Stunde, als er die Sandergaſſe entlang ritt. Nur hier und da
begegnete ihm noch ein ſchweren Fußes nach Haus ſchreitender Bürger; in der
breiten Neubaugaſſe hallte der Hufſchlag ſeines Pferdes weit und einſam an
dem hohen Gemäuer um. Dann hielt er vor der Herberge zum Klingenberg
und ſchwang ſich ab, doch kaum zehn Minuten ſpäter ſaß er wieder im Sattel
und trabte mit der Kunde weiter, Herr Friederich Spet babe ſchon am Nach—
mittag um die fünfte Stunde die Herberge und die Stadt verlaffen. „Guten
Muths?“ Hatte der junge Reifige gefragt, und der Wirth entgegnete: „Als
Einer, der fein Geſchäft gut zu Stand’ gebracht,“ und er prüfte, zufrieden
Ihmunzelnd, den Goldflang zweier franzöfiicher Carolins und meinte: „Man
ſah's ihm nicht an, aber ein freigebiger Herr war’3, dem’3 nicht drauf ankommt.“
Nun that das enge Gewirr der Gaffen und Giebel fi auseinander, und
Chriſtoff Kretzer ritt die breite Mainbrücde hinan. Alles überglänzte der Mond,
geifterhaft von Silberfäden umfponnen ftieg drüben in grauer Mächtigkeit die
Beite des Frauenbergs auf. Sich heftig überftürzgend rauſchte der Fluß durch
die Nacht, al3 jei weit oben Gewitterfturz im Gebirg eingebrochen und braufe
fein Hochwaſſer in’3 Thal.
Auch der Schmeltenhof lag dunkel an der Ede der Straßen und Winde, nur
von dem Männlein unter dem Erker riejelte wie in Tropfen das Mondlicht, ala der
Reiter an ihm vorüber um da3 Gemäuer bog und unter dem Fenſter anhielt, wo er
bierundziwanzig Stunden zuvor im Schatten geharrt. Alles war ebenjo, nur das
Fenſter geichloffen und lautlos, fein Schimmer regte fi) darin; er rief, leife
im Beginn, dann ftärker. Doch keine Antwort kam, nur das jpiegelnde Mond»
Licht täufchte ihn manchmal, al3 Habe fich etwas weiß Aufleuchtendes Hinter
den Scheiben bewegt.
Kretzer umritt das vereinzelt ftehende Haus bis an den Eingang zurüd.
Da war noch ein trübes Licht in einem Raum de3 Erdgeſchoſſes, die Thür ftand
offen und er trat ein. Mit dem breiten Rüden ihm zugewendet, ſaß Fabian
Brede an eichenem Tiſch und zählte Geld: nicht Eleine Münzen, fondern einen
Haufen Gulden, offenbar mehr, al3 der Ertrag des Tages eingebradt. Wie er
ein Klirren hinter ſich hörte, fuhr er auf und griff nach dem Schwert an feiner
Hüfte. Doc der Eintretende lachte rauf:
„Komme nicht, Euer Geld zu rauben, Herr Brede; verlange nad) Beſſerem.“
Etwas mißtrauiſch jah der Wirth doch noch drein: „Seid ein ſpäter Gaft,
Herr Kretzer, aber ich kann's mir feit geftern denen, Ihr habt Gewerb auf
dem Frauenberg. Sollt das Beſſere haben und nicht durftig vom Schmeltenhof
gehn. Fürſtliche Gnaden haben ein wohlgefälliges Auge auf Euch gehalten;
nehmt gute Stunde und jeht Euch.“
Er rafite die Gulden zufammen, barg fie in einer Truhe und redete dazu:
„8 ift nicht von Heut’ und geftern. ch wollt's morgen aufs Schloß
tragen, aber der hochwürdigſte Herr hat mir die Jahresgült geſchenkt, mix
—
Wilhelm von Grumbad). 329
fagen laſſen, ich jollt’ daheim bleiben, meine Beine verdienten Ruh, brauchten
den Berg nicht mehr zu fteigen. Kommt zu guter Stund’ und jollt vom Beften
für die hochfürſtliche Großmuth haben. Wartet, ih ſchaff' Euch gleich.“
Gleihgültig jah der junge Gejelle auf die Flirrenden Gulden. „Laßt Euch
Zeit, Herr Brede, und ſchickt Euer Mädel in den Keller. Oder jchläft’s Schon ?“
„Wird’3 beſſer ala jonft,“ nickte der Alte, die Truhe ſchließend. „Ich
bring’3 Euch.“
Er ging und kam mit gefülltem Steinfrug zurüd. „Was heißt's, daß
Eure Tochter befjer ala jonft ſchläft?“ fragte der Gaft nachläſſig.
Fabian Brede hatte auch ſich jelbft noch einen Trunk geſchöpft, ſetzte den
Krug zufrieden vom Munde ab und antiwortete:
„Bir wiſſen's zumal, Freund, Ihr von heut’, ich von ehmals, auf der
Streu ſchläft jih’3 befjer al3 auf dem Stein. Das ift gut für unfre rauhe
Haut, aber die Dirnen fticht fie auch noch, die Streu, und fie meinen gar zu—
legt, ein ſeidnes Bett ſei noch befjer al3 Linnen. Den? ich’3 recht, iſt's mit
der Gült nicht zu hoch bezahlt, denn ich muß mich nad einer Schenkdirn um—
thun.“
„Was müßt Ahr?“
Chriſtoff Kreger war, ohne feinen Trunk zu berühren, aufgeiprungen und
ftarrte den Sprecher an; diejer fuhr fort:
„Weil die Sibyll' weg ift. Heut’ in der Früh kam die gnädige Fyreiin
von Grafened herab — weiß Gott, wie's möglich, daß fie einen Narr'n an dem
dummen Ding gefreien, aber ich merkt's jchon geftern — bracht' mir den Zins-
nachlaß vom hochwürdigſten Herrn und jagte, ich möcht” ihr das Mädel mit
auf's Schloß geben, fie wollt’3 fein zulehren, daß es mir feine Schand’ mehr
machte, wie geftern. Wenn's Glüd kommen joll, dacht’ ih, kommt's auf'm
Haufen. Aber wetten möcht’ ich, es dauert nicht lang’, bis fie mir fie wieder
herunterſchicken, denn ich hab's nicht fertig bringen können, daß fie ſich geichickt
anftellt, und die gnädige Freiin wird's auch nicht. Was anders iſt's, hochfürft-
licher Gnaden nad) Gefallen aufzumwarten, als hier den Bürgern und Gevattern
aus der Stadt. Wenn fie ſich da jo einfältig beträgt — was habt Ihr denn?“
Der Zuhörer hatte ihn wie mit verfteinten Augen angeftarrt; num ftammelte
feine Zunge gelähmt:
„Auf dem Frauenberg — auf den Trauenberg habt Ihr Eure Tochter — ?“
„Ahr macht närrische Augen. Trinkt!“
„eine jelbft, Narr, oder zähle Dein Geld!“ i
63 ſchnitt wie der Schrei eines zu Tod’ verivundeten Thierd aus Chriftoff
Kretzer's Bruft, gell, befinnungslos vor Schred und kochender Wuth. Seine
Fauſt padte den Steinfrug und jchleuderte ihn gegen Fabian Brede; ohne um—
zubliden ftürzte ex hinaus, auf's Pferd, und der Huf des keuchenden Thieres
donnerte im Galopp die fteile Schloßgaſſe hinan. Da jprang er ab und hieb
mit dem Schwertknauf wider die eichenen Pfoften der Zugbrüde und jchrie:
Laßt nieder!“
63 dauerte lang’, bis der Wächter drüben frug: „Wer wedt aus dem Schlaf?
Was wollt Jhr?“
330 Deutſche Rundſchau.
„Zur gnädigen rau Anna von Grumbach! Macht auf! Meine Bot-
ſchaft eilt!“
„Geht, Ihr ſeid trunken! Sie iſt krank und ſchläft. Kommt zum Hahnen—
ſchrei wieder; es iſt nicht Brauch, im fürſtlichen Schloß um die Geiſterſtund'
Einlaß zu fordern.“
„Laßt mich ein — ich lohn' es Euch —“
„Ihr hört, nein!“
„Ich erwürge Did — ich reife Deinen Berg in Stücke!“ ftöhnte der junge
Kriegsknecht, mit dem Schwert gegen den Fels hHämmernd. Der Wächter lachte:
„Hackt Euch den Weindunft aus dem Kopf und ruft mich, wenn Jhr fertig jeid.
Aber macht Ihr zu viel Lärm bei der Arbeit, daß Ihr den hochwürdigſten
Herrn im Schlaf ftört, ſchicke ich Knechte, Euch Nachtquartier am Baumaft zu
ſchaffen.“
Er ging, und Alles war ſtill, und Chriſtoff Kretzer ſtürzte wie ein Irr—
ſinniger um den jähen Abfall der alten Veſte. Der Graben hörte auf, denn der
Fels ſchoß ſenkrecht in die Tiefe, wo er fehlte, ſtieg hohes Burggemäuer, jedem
Verſuch, e3 zu erklimmen, troßend, auf. Bald ſchwarz undurhdringliche Schatten
und Winkel, bald mondbeftrahlte Wandfläche, doch überall gleich unerreichhar.
Mit zerriffenen Händen fiel der Aufwärtsringende herab; ihm war, ala ſchalle
Hohngelächter Hinter ihm drein, doch das Kochen des Blutes in feinen Ohren
betrog ihn, Alles war lautlos.
Da jchimmerte von einem Fenſter her noch Etwas, ein mattrother Schein,
ein Licht Hinter purpurnem Vorhang, in die weiße Naht. Der athemlos unten
Stehende jah hinauf; ein hoher Söller, aus grauem Stein gehauen, ftieß daran.
Und plötzlich ſchnitt von dorther der angftvolle Schrei einer Mädchenftimme
durch die Luft.
War es Geifterfpuf der Stunde, von welcher der Wächter geſprochen? Eine
Geftalt floh Haftig auf den Söller hinaus, und rothes Licht, mit dem Monde
fämpfend, ſchwankte ihr nad. Ein Schattenjpiel in der Höhe, dem ein zweiter
Schatten folgte und ftredte die Arme nad. dem erſten, der jammernd: „Hilfe!“
tief und ftrauchelte und flehte: „Habt Exrbarmen, Herr Biſchof!“
„Sibylle!“ jchrie Chriftoff Kreger, in ohnmächtigem Wahnfinn die Nägel
in den Fels frallend. Sie hörte e8 und raffte fi mit neubelebter Kraft auf,
doc ihr Verfolger war ftärfer.
Aber zugleich kam doch Etwas auf den verzweiflungsvollen Hilferuf, eine
lang umflatterte weiße Geftalt; wie ein Geift fam fie heran und redte ben
Arm nad) dem Sieger des ungleichen Ringlampfes. „Flieg', Taube, flieg!”
ftieß fie aus jchrillpfeifender Bruft — „ic wußt's, es ift die Stunde, wo der
Marder auf feinen Raub jchleicht, aber ich fenne feinen Bau und habe auf ihn
gepaßt.“
Deutlich, mit ftodendem, zu Eid gerinnendem Herzen ſah der junge Kriegs-
fnecht, was über ihm geſchah. Ein neues, kurzes Ringen, das Sibylle Brede
einen Augenblick befreite. „Schweig' Weib, oder ich werfe Dich in die Tiefe!”
drohte es zornig. Doc die weiße Geftalt ließ nicht ab und feuchte: „Zödtet
den Marder! Rächt Alle an ihm, deren Herzblut er getrunken!“
Wilhelm von Grumbad. 331
Nun bob ſich die geballte Hand des Mannes gegen fie und traf ihre Stirn,
und dumpf röchelnd ſchlug fie rückwärts. Nur noch einmal brach aus ihrem
Mund der irre Ruf:
„Flieg', Taube —!”
Sie, der es galt, hatte fi auf die Brüftung des Söllers gef htwungen, das
Mondlicht riefelte in taufend Funken um ihr gelöftes Haar, ihr Antlitz, ihre
flehend aufgeredtten Hände. Sie jah hinunter — drunten unter ihr fand die
nämliche Geftalt, wie in der Naht zuvor — und Chriſtoff Kreber hatte Laut
und Sprache wieder erfämpft; befinnungslos über die bebenden Lippen, wie
Rajerei aus dem zudenden Herzen fuhr es:
„Sibylle —!”
„Ich komme, mein Liebfter —“
Das Kleid, das die Hand des Mannes droben ergriffen, ri, ein Schrei
durchgellte die Nacht, die Söllerbrüftung war leer, und wie ein fluggelähmter,
vergeblich flatternder Vogel ſchoß es in die Tiefe. Der unten Stehende ſprang
mit dem Sab eines Raubthiered vorwärts, die Stürzende in den Armen auf-
zufangen, doch um doppelte Länge vor ihm jchlug fie, dumpf dröhnend, auf den
Felsgrund. Er fniete neben ihr, der Mond übergoß weiß ihr regungslofes Ge-
ſicht; an ihr Obr die Lippen gepreft: „Sibylle* — der Mund antwortete nicht.
Da riß feine Hand das Kleid auseinander und drüdte fi, über die junge
Bruft gleitend, feft auf's Herz. Das Herz ſchlug nicht mehr, es war todt.
Biſchof Meldior von Zobel büdte fi über den Söllerrand und jah, wie
eine Mannögeftalt drunten das ihm entronnene Mädchen auf die Arme bob und
ftumm mit der Bürde am Gemäuer der Befte entlang ſchritt. Er wandte fidh
haftig über Anna von Grumbach's regungsloſen Leib in's Innere der Burg
zurüd und rief:
„Hinaus! Wacht auf! Ein Unglüd! Haltet ihn!“
Der junge Reiter hatte jein Pferd erreiht und hob feine ſchweigſame Laft
vor fi auf den Naden des laut aufwiehernden Thiers. Dann ſchwang er ſich
nad und ſchlug dem Roß den Stachel ein, daß es mit heftigem Satz anſprang.
Doch gleichzeitig raffelte die Zugbrüde nieder, Stimmen riefen und Fackeln
glühten vom Burghof her; mit geſchwungener Waffe in der Hand ftürzte der
Wächter vorauf, jperrte dem Pferde den Weg umd gebot: „Halt! Ergib Did!
Ich jagt’ es Dir, der Baum würde Dein Nachtquartier!“
Es war ein Augenblid, in dem Kretzer's lange Klinge vom Sattel her das
Mondlicht durchſchnitt, dann kollerte ein ächzender Körper zu Boden, der Huf
ging über ihn fort und in wild ballendem Lauf die jähe Schlohgaffe hinunter.
Hinterdrein tönte Geichrei: „Friedbruch! Mord! oft Zedwitz liegt todt! Es
ift ein Markgräfticher, der ihn erichlagen!”
„Berfolgt ihn! Bringt ihn todt oder lebendig! Hundert Gulden auf jeinen
Kopf!” tönte gebieteriih die Stimme Biſchof Melchior's, und es ftürmte die
Gafje nad) zu Thal.
Aber das Pferd hatte Vorſprung vor den Unberittenen, e8 jagte am Schmelten-
hof und dem verwundert nachblidenden Erfermännlein vorüber dem Thor Sanct
Burkhardi zu. „Macht auf!“ rief der Reiter dem hervortretenden Thorwart.
332 Deutſche Rundſchau.
„Wer ſeid Ihr?“
„Fried' und Freund vom Bamberger Vertrag! Ich bringe ein Geſchenk
Eures Herrn an den Markgrafen. Eilt Euch!“
Das alte Thor warf feinen Schatten über Pferd und Bürde, der Wächter
flirrte den ſchweren Schlüfjel in’3 Schloß und öffnete. Doch damm trat er neu—
gierig mit feiner Leuchte heran und frug:
„Was für ein Geſchenk iſt's, Freund, das ſolche Eile bei Nacht Hat?“
Gr ftußte auf, noch während er es ſprach, denn die Gafje herab ſchrie's:
„Hieher! Haltet den Friedbrecher! Hundert Gulden auf jeinen Kopf!“
„Und das für Deinen!” Chriftoff Kretzer's Schwert pfiff und hieb den
Kopf des Thorwarts in Stüde auseinander. Sein Mund kreiſchte hinterdrein:
„Bamberger Vertrag!” und das Pferd ſchoß wie ein Pfeil durch die dunkle
Thorwölbung in's Freie und ließ in wenigen Minuten die Verfolger athem—
und hoffnungslos Hinter fich zurück.
E3 war eine Mondnacht, wie fie am Tage zuvor geweſen, wie Mtenjchen-
augen fie jeit Jahrhunderten ſchön und traurig gejehen. Nur Sibylle Brede's
Augen jahen fie nicht mehr. Der Main raufchte jeine dunkle Hochwaſſerſprache
gegen den raftlofen Hufichlag auf; nur Sibylle Brede’3 Ohr vernahm fie nicht
mehr und nicht da3 irre Geflüfter, das die Nacht hindurch des Reiters Lippen
tief über fie hinabbog. Ueber die alte Kaijerbrüde zu Ochſenfurt jprengte das
Pferd und unter den jchlafenden Stadtmauern weiter gen Oft. Dann mäligen
Gebirgspfad hinan und ſchaumbedeckt fteiler aufwärts zum Rücken des Steiger
Walds; doc nun wegab in's Dickicht hinein, zu einfamer Kuppe empor. Der
Morgenwind jäufelte in den Wipfeln, die das erfte Frühlicht heimlich erhellte.
Da begrub Chriftoff Kretzer Sibylle Brede im grünen Wald.
Er trug fie vom Pferd auf das weiche Moos, und wie fchlafend lag fie
da; dann höhlte er mit Schwert und Händen am Baumftamm ein Grab. Durch
da3 Laub fam die Sonne mit goldenem Geringel hoch herauf, bis er jeine Arbeit
vollendet; er raftete nicht, ſondern ftreifte tief in den Wald und häufte fammet-
artiges Moos auf, damit füllte er ſorgſam Grund und Wände der einfamen
Nuhftatt des Mädchens. Er hob fie hinein, ſchloß das verichobene Gewand über
ihrer Bruft, und fie lag noch immer wie jchlafend, auch in ihrem lekten Bett.
Nun hallte jein Schwert durch die Stille, e8 ſchlug grünes Gezweig von den
Bäumen; das häufte er wieder, und ald er es gethürmt, jehte er fich zum erften-
mal an das Grab und jah unverwandten Auges hinab. Doch thränenlos; die
Holztaube girrte, jein Pferd jcharrte feitab im Grumd, um Sibylle Brede’s Ge-
ſicht ſpielte das Goldgeflimmer der Sonne. Langjam wich es aus der freund-
lich grünumwandeten Erdtiefe, da ftand Chriftoff Kretzer auf und breitete das
gefammelte Laubgeziweig als Dede über das ſtumme Kinderantlit. Doch wie
er daB letzte über fie hingebettet, drängte » ein braı "ch aus
dem Grün. Er wollte nicht weichen, wı des T reckte
ſich hinab, ihn unter das zarte Lailach zı wie ume
Haar berührte, da brach zum erjten Ma Sch —
Bruſt, und es zog auch ſein Haupt niede Bett
Wilhelm von Grumbad). 333
den zudenden Mund mit dem Haar de3 einzigen Menfchenfindes, deſſen Herz
ihn einen Tag lang geliebt.
Als er den aufgeworfenen Erdrand zurüdgeglättet, rollte und trug er
ſchweres Geftein herbei, die Gruftftatt zu ſchützen. Unermüdlich thürmte er
Felstrümmer aufeinander und fügte fie zu fiherem Bau; aus dem Wipfel der
Buche, die das Grab überjchattete, lugte befremdet ein Eichkätzchen auf bie
Vollendung des mühvollen Werks. Es war hoher Mittag, als er's vollbracht;
weit zwijchen die grauen Stämme der Bergkuppen hinaus ftiegen in ſchimmern—
ber Ferne die Domthürme Bamberg’3 aus der Ebne, al3 Streifen im blauen
Duft tauchten ſüdwärts hinunter Thürme und Veſte Nürnberg’3 empor. Ein
freifender Raubvogel ſchrie aus hoher Luft, und Chriftoff Kretzer's Blick haftete
unbewegt auf ihm, bis er mit plößlidem Stoß auf feine Beute in die Tiefe
herabſchoß. Da wandte ſich zujammenfahrend der junge Kriegsknecht, bejtieg
fein verwundert nad dem Steindenfmal zurüdichnaubendes Pferd und ritt
waldein.
— nn nenn
Ueber das deutſche Reich aber famen und gingen ereignißvoll die Jahre.
In den fränkiichen Landen am Main auf und ab vom Frichtelgebirg bis zum
Speilart tobte und verwüftete, plünderte und brannte auf’3 Neue der Krieg.
Menige wußten, aus welchem Anlaß derjelbe abermal3 entbrannt fei, noch
Menigeren war der Urheber feiner Erneuerung befannt. Hüben rief man, mark—
gräfliche Söldner hätten den Frieden gebrochen; drüben, man ſei nur den
braunſchweigiſchen Kriegsvölfern zuvorgekommen, welche der Würzburger Bifchof
unter faljcher Vorgabe in’3 Land gezogen, um den Markgrafen ungerüftet zu
überfallen. Doch bald Hatte die alte Gewohnheit des Kampfgetümmel3 am
Main ihr Recht jo jehr zurückgewonnen, daß kaum Jemand mehr daran dachte,
der friegeriihe Zuftand ſei eine Weile durch den Bamberger Vertrag unter-
brochen gewejen. Landichaften wurden gebrandihatt, Städte und Burgen be-
lagert, viel Noth, Jammer und Weheichrei gellte aller Orten, allein troßdem
lag etwas Läſſigeres in der Betreibung der Fehden, als vordem. Es tar,
al? ſuche man fi) auf beiden Seiten den Schein aufgedrungener Abwehr
zu geben und nur glei Wettlämpfern zu ringen, die ihre Kraft für
einen exrharrten günftigeren Moment zurücdhalten. Aber allmälig wußte Jeder
in jedem Ort zwiſchen dem deutſchen Meer und den Alpen, daß ber
Kampf am Main nur ein vielleicht vorzeitiger localer Ausbruch geheimnigvoll
unterixdiicher Kräfte fei, die das Neih vom Aufgang bis zum Niedergang,
von Mittag bis Mitternacht durchwühlten. Ueberall unter dem Boden züngelte
es von heimlichen Flammen, und daneben braufte es dumpf in der Tiefe, wie
zurücgedämmte Grundwafler, die aufzubrechen trachteten, ſich über das glühende
Erdreich zu ergiefen. Es war nicht mehr der alte Ruf: Hie Welf! Hie Waib-
ling! do die ftumme Lofung in den Gejichtern des Nordens und Südens
ähnelte jenem darin, daß es fich wie bei ihm um die Geftaltung des Reiches
handelte. Ob xömijch-gläubig, ob proteftantiih — Jeder fühlte, die Namen
Sekten es nicht, denn hüben und drüben waren Katholiken und Anhänger Luthers,
334 Deutſche Rundſchau. x
aber man bediente fich der Namen, weil man die eigentlichen nicht wußte. Obn-
mächtig ſahen Kaifer und Reich darein; fie befaßen feine Gewalt mehr, ben
Friedbruch zu trafen, dem drohenden allgemeinen Brand zuvorzukommen. Das
Oberhaupt des Reiches, vor wenigen Jahren noch allmädhtig, war auch nur ein
Name getvorden, bedeutungslojer und ſchwächer faft, als der irgend eines feiner
großen Lehensträger im Reich.
Es gab Einen, der nicht den Kaifernamen trug, aber der es war. Doch
weit unten an der Donau kämpfte er gegen den Halbmond.
Da kam's an einem ſchwülen Sommertag des Jahres 1553 wie ein Wetter
von Süden. Als trüge fie Sturmfittig, jprengten die Reitergejchtvader des
Churfürften Mori von Sahjen vom Donauland herauf, und mit der Windes:
eile, die e8 einft auf dem Zug von Magdeburg gen Innsbruck bewiejen, folgte
das Fußvolk ihnen nad. Gegen einander kämpften die Federn Wolf's Weinck—
heim und Wilhelm’3 von Grumbach im Zelt des wirklichen Herrn des deut—
ſchen Reichs — dann ſchrieb Churfürft Mori an den Markgrafen Albrecht von
Brandenburg-Culmbach, daß er von ihm fordre, „auf daß Teutjch Land jämmer-
lich nicht verderbet wilrde,” möge er von feiner Fehde gegen die bedrängten
Biſchöfe ablaffen und mit ihnen Frieden jchließen in aeternum.
Glaubten Markgraf Albrecht und fein Berather Wilhelm von Grumbad
fih jchon ftark genug, um den Zweikampf mit dem alten Waffengenoffen aus
Magdeburg’3 Tagen, mit dem Deutjchland überfchattenden Baume, der nur einen
Stamm bejaß, wagen zu können? Die Geſchichte erhellt den jeltfamen Vorgang
nicht, daß der Markgraf der Forderung des Churfürften Morit Troß bot; fie
zeigte nur zum ziveiten Male, daß diefem das Heil de3 Reiches höher galt, ala
Freundichaft und Glaubensgenofienichaft, denn wie damals gegen den hiſpaniſch—
römiſchen Kaiſer hob er jebt jein entjcheidendes Schwert gegen den wider—
ipänftigen proteftantiichen Freund.
Dann trafen die Heere aufeinander am 9. Juli defjelben Jahres bei dem
Dorf Sieveröhaufen im Fürſtenthum Hildesheim. Diele deutjche Fürften und
Grafen deckten das blutige Feld, kaum entrann Markgraf Albrecht jelbft, ge—
ſchlagen, vernichtet, mit einer Handvoll von Reifigen, unter ihnen Chriftoff
Kretzer, dem Verderben; doch unter den Todten lag au, noch im Tode als
Sieger, durch Verrath gefallen, Churfürft Mori von Sadjen, und für Jahr-
hunderte mit ihm hingeſtreckt auf dem blutigen Feld lag die Zufunftshoffnung
des deutjchen Reiche. Es war der beiten Söhne Einer, die deutfches Land ge=
boren, der da am 11. Juli 1553, zweiunddreißig Jahre, drei Monate und ein-
undzwanzig Tage alt, jeinen Geift aufgab, den einzigen, welcher Größe, Stärte
und hoben, ehernen Willen bejeffen, da3 vielföpfige Verderben noch zu wenden.
Eine ungeheure Erjchütterung ging durch das Reich, der jähe Stoß hatte ihm
den kurz gewonnenen Schwerpunkt twieder genommen, und ein Chaos von Trüm—
mern, die nur fich ſelbſt Zweck waren, blieb der Ref. Mori von Sadjjen hatte
der getvaltig bändigenden Hand des Winterd geglichen, der dem Strom und
feinen Zuflüffen, Bächen und Quellen in allen Thälern fefte Dede aufgezwungen ;
nun brad ein Augenblick gleichzeitig fie überall in Schollen, zum Spiel der
taufendfältig durcheinander fämpfenden, wider einander ftreitenden Waſſer.
Wilhelm von Grumbad). 335
Eine der am Hilflofeften zerichmetterten diefer Schollen war Markgraf
Albrecht; willenlos riß ihn die Hochfluth der Tage und des harten Zwanges
hierhin und dorthin. Landflühtig, aus Macht und Anjehn jäh herabgeftürzt,
irrte er umber, jammelte dann und warn ein zeriprengtes Fähnlein um fich,
fämpfte heut’ mit Glüd, um morgen zu unterliegen, bi3 er in feine Erblande
zurüdfam. Dort aber waren derweil die hellen Haufen von Würzburg und
Bamberg ftromaufgezogen, über Culmbach hinaus gen Oft, wo von fteilen Fels—
fegeln die markgräflichen Veften Blafjenburg und Hohenlandäberg in den Himmel
ftiegen. Der Winter ging, dann loderten, al3 Frühling und Sommer zurüd-
famen, von den alten Binnen und Thürmen beider Bergveften die Flammen
empor, welche die Brandkugeln der „fränkiſchen Einigungsftände“ bis zu den
trogigen Adlerneften hinaufgejchleudert. Kaum entrann in dunkler Naht Mark:
graf Albrecht jelbft von der Blaffenburg, und Hinter ihm drein traf ihn, den
nicht mehr Gefürcdhteten, und feinen Statthalter Wilhelm von Grumbad jet
aus Faijerliher Hand Acht und Bannftrahl des römiſchen Reiches, entjehte beide
ihrer Lande, Städte, Dörfer, Burgen, Liegenichaften, ftehenden und fahrenden
Habe und gab Leib und Leben der Geächteten al3 vogelfrei in Hand und Willkür
Aller und Jedes in deutichen Landen. Würzburg und Bamberg herrſchten am
Main, und der rothe Bart Wolf's Carol von Weindheim leuchtete deutungsvoll
gewwichtiger in den Tag, wenn er hinter oder neben Biſchof Melchior von Zobel
über die Mainbrüde zwiſchen den alten Steingeftalten dahinritt.
lleber da3 deutjche Reich aber famen und gingen ereignißvoll die Jahre weiter.
König Heinrich der Zweite von Frankreich Tegte ohne Widerſpruch feine Hand
auf Städte und Feſtungen im lothringiichen Lande — mur hier und da raunte
ein Mund, daß er fie, die jeinem Eiſen oft getroßt, mit goldenen Waffen erobert
— und thrones= und hoffnungsmüd legte Carl der Fünfte die Kaiſerkrone vom
Haupt. Immer noch irrte Markgraf Albreht umher; man wußte nicht, wo
er fei, bald da, bald dort tauchte er auf und verſchwand, dann hieß e8, er habe
Schuß und Aufnahme bei feiner Schweiter Mann, Herrn Karl, Markgrafen zu
Baden und Hochberg, und dem Pfalzgrafen Friedrich) beim Rhein gefunden.
Doch es war jeltfam: für den, der am Bauernherd und in der Werkftatt der
Städte aufhorchte in den alten fränkiſch-culmbachiſchen Landen, erſchien's faft,
als lebe der Name des Markgrafen Albrecht in vegerer Weile fort, al3 zu der
Zeit, da er als gar ftolzer, ftrenger und mächtiger Herr auf feinem NRefidenz-
ichloffe zu Culmbach geſeſſen. Nur heimlich ſprach die Lippe feinen geächteten
Namen aus, allein wo e3 geichah, blickten die Augen der Redenden fich deutungs-
voll dabei an, und es lag am Main ein Klang in dem Wort, ähnlich dem,
welchen das deutſche Volk in den Namen des ftaufifchen Kaiſers hineingelegt,
der nicht geftorben war, jondern in Bergesihooß jah und des Tags der Wieder-
fehr harrte. Markgraf Albrecht von Brandenburg war gefürchtet geweſen, jo
lange er in Glanz und Macht gelebt; da Beides, zerriffenem Gewand gleich, von
ihm geſunken, war aud) die Furcht mit erlojchen, ein anderes Gefühl trieb aus
ihrer leeren Keimftatt herauf. Wer Ohren beiaß, in die Stimmen des Tages
und mehr noch die der Nacht hineinzuhorchen, der konnte nicht zweifeln, aus
der Furcht ſei Liebe geworden, ein feftes, immer mehr ſich ftärkendes Band, das
336 Deutiche Rundſchau.
viele Tauſende mit der nämlichen geheimen Hoffnung verfette. Verſchollen aber
jeit Jahren war der einftige marfgräflicde Statthalter „auf dem Gebirg“, Wil-
helm von Grumbach, feine niederfränkiichen Befisthümer befanden ſich in der
Hand des Biſchofs Melchior von Würzburg; wo er ſelbſt jei, ob ex noch lebe,
oder wie jeine Hausfrau, die vor Jahren am Tage ihrer Ankunft auf dem
Frauenberg plößlih vom Tode betroffen worden, ebenfalls aus dem Leben ge—
ichieden fei, wußte Niemand. Die Wahrfcheinlichkeit ſprach am meiften dafür,
und Diejenigen, welchen die befte Kenntniß zuzutrauen war, weil fie ihm ehemals
al3 Freunde nahe geftanden, behaupteten mit Beftimmtheit, ex ſei landflüchtig
in der Fremde untergegangen und geftorben.
Da ritt in der Frühe eines ftürmijchen Januartages aus der Stadt Pforz=
beim im Markgrafenthum Baden ein einzelner, eiliger Reiter das verjchneite
Enzthal hinunter. Gin langer Mantel, unter dem eine breite Schwerticheide
hervorſah, umwickelte ihn, feine Stirn und Augen verdedte ein tiefeingedrüdter,
breitfrämpiger Spitzhut; es war ſchwierig, aus dem untern, von dichtem, zottigem
Bollbart umwucherten Geficht die ehemaligen Züge des marfgräflichen Kriegs—
fnechtes Chriftoff Kretzer herauszuleſen. Mehr Narben nocd hatten ſich dem
breiten Strid) von den Haarwurzeln bis zum Mundwinkel Hinzugejellt, die
brauntiffig vermwitterte Haut ließ faum einen Schluß auf das Alter des Reiters,
doch defto mehr auf zahllos beftandene Eriegerifche Kreuz und Querzüge in Wind,
Staub und Sonnenbrand zu. Nur Eins ſah man deutlich: der hartgepreßte
Mund über und zwiſchen den Bartftacheln hatte nie gelacht, oder wenn er es je
gethan, war lange Zeit vergangen, ſeitdem er fich deſſen zuleßt entwöhnt. Am
Kenntlichſten dem alten Ausdruc entfprechend leuchtete noch das Weiß der Augen
unter den buſchigen Brauen hervor, um zwei kleine dunkle Sehfterne gelagert,
welche denen eine3 Raubvogel3 glichen, die ſich aus hoher Luft unverrüct auf
eine Beute in der Tiefe hinuntergeipannt halten. Unftät, unheimlich, vertwildert
und verwahrloft an Körper und Gemüth, das war der Eindrud, den ein Blick
in das Geficht des Reiters wachrief, geeignet, Jeden zu veranlaflen, ihm auf der
Landftraße oder in der Herberge aus dem Weg zu gehn. So Einer von Denen,
tie die wilde Jahrhundertsmitte fie gezeugt und aufgenährt, doch mit jchlim-
merer Milch noch jchien’3, al3 manch’ Andere feiner verrufenen Gewerbögenofjen
im zerfeßten, blutenden römiſchen Reich deutjcher Nation.
Wo die Thäler endeten und Päſſe über Gebirgsrüden den Pfad fortjegten,
waren die Wege faft undurchdringlich, und es dauerte Tag und Nacht, eh’ Chriftoff
Kretzer die letzten Ausläufer des dunklen Schwarzwald hinter fi) im Rücken
ließ und oberhalb der alten Reichsſtadt Heilbronn das Nedarthal erreichte. Er
raftete faum im derjelben, jondern brach nad Kurzer Einkehr ftromab wieder
auf. Tagelang zog er in Regen und Sturm unter den Abhängen des Odenwalds
hin, bi3 er an da3 Knie gelangte, mit dem der Speilart den Maifübme
ausbuchtet. - Doc von Wertheim jchlug ev WEEbir grobe Straf
burg ein, jondern wandte jich ſchräg gegen auf Karlitab”
dort abermals an den Main kam, trieb di |
mann verweigerte das Anfinnen, den Reitet u
Kretzer ihm zehnfachen Fährlohn bot. „Der SE dem X
Wilhelm von Grumbad). 337
jo draus gurgelt,“ murrte er ablehnend. Der Ankömmling Tchleuderte ihm
heiferen Fluch in’3 Geſicht und ftarrte einen Augenblid hinüber, dann murmelte
er nad: „Der Böſe? Kommt er nicht daher herunter vom Frauenberg? Mich
Lüftet’3, ihn an der Gurgel zu paden!“ Und er ftieß jeinem Pferd die langen
Stachel wildplöglich in die Weichen, daß das Blut hervorſchoß und das jchmerz-
gepeinigte Thier mit befinnungslofem Sprung in den Fluß hineinſetzte. „B'hüt'
- Gott, ich glaub’, ’3 ift Per Böſe ſelbſt!“ jchüttelte fich mit dumpfem Grauen
der Fährmann; ein höhniſcher Kehllaut vom Waller her antwortete ihm, dann
ſah ex nad), wie das Roß Feuchend und jchnaubend gegen die treibenden Schollen
fämpfte, und wie der Reiter mit feinem langen Schwert in die knirſchenden Eis—
maſſen hieb, al3 jeien e3 andrängende Feindesköpfe. Bei jedem Streich ftieh er
wilden, gellenden Schrei aus; manchmal war's, als padten Strom und Schollen
die Frechen Eindringlinge in ihr Gebiet und riffen fie in die Tiefe. Doch der
Wille de3 Reiter zwang fein Thier und den Fluß, er erreichte zum jprachlojen
Staunen des alten Fährmanns das andere Ufer. „Es iſt der Böſe, fein Menſch
hätt’3 gekonnt,“ murmelte diefer, ein Kreuz jchlagend und nadjjtarrend, wie
drüben die dunkle Geftalt landein meiterjtob.
Nun lenkte dieje etwas wieder gegen Sübdoft ab und ritt über Höhen und
Thal einem dunkel aus der weiten weißen Schneefläche abftechenden led
zu. Der Kramſchatzer Wald war's mit lautlos ftarrendem Gezweig; um bie
Mittagsftunde hatte die Sonne einen flüchtigen Augenblid an dem Schnee auf
den Aeften geledt, und der Frühabendiwind rüttelte jetzt bie und da eine ſich
wieder verhärtende Krufte zwiichen die Stämme herunter; jonft ſchlug fein Ton
an das Ohr des Reiters, der mit Sicherheit den unfichtbaren Weg durch den
Wald verfolgte. Als er aus diefem auf öden Bergrüden hinaus gelangte, jant
der Tag. Der Himmel war bunt mit grell contraftirenden Farben bemalt, aus
zerrilfener Dede leuchtete ab und zu ein blaues Stüd, im Weſten ftrahlte feurig
glühende Eſſe auf, doch gegenüber trieb jchweres, fliegendes Gewölk; man jah
den Sturm, der ihm im Naden jaß, ohne ihn jelbft noch zu fühlen. Unter
Allem kaltglänzend und troftlos lag die weiße, erftarıte Exde.
Chriftoff Kretzer hielt jein Pferd auf der Höhe einen kurzen Moment an.
Nordöftlic weiter hinauf jah ein Thurm aus der einförmigen Schneegegend ;
er heftete flüchtig den Blid darauf und murmelte: „Seligenftatt”, dann ging
fein Auge zur Rechten hinab, wo drüben, jenſeits de3 nicht wahrnehmbaren
Maines, unter den düfteren Wolfenmafjen die höheren, ſchwärzlichen Bergköpfe
des Steigerwaldes ſich aufguben. Sein Blid ſuchte ſchweigſam eine Weile zwischen
ihnen umber, über feinen Scheitel fort krächzte vom Kramſchatzer Wald her ein
Rabe thalabwärt3, der Reiter ftachelte jein Pferd und folgte dem Flug des
ſchwarzen Vogels, der ſich in einiger Entfernung auf finfter aus dem Schnee
ragendem zertrimmertem Thurmgemäuer niederließ. Gegenüber ftieg von ziem-
lihem Hügel eine Dorfliche in die dDämmernde Luft, zu ihren Füßen im Thal
lagerten fi die Dächer des Ortes Rimpar herum. Gin breiter, augenblicklich
eisbebedter Bad) trennte das Dorf von weſtwärts wieder anfteigendem Gelände;
an jeinem erftarrten Bett ftand eine regloje Wafjermühle, eine in Stein gegrabene
Inſchrift an der Mauerwand derjelben that kund, daß Herr Johann von Grum-
Deutiche Runbfau. I, 12, 22
—
338 Deutſche Rundſchau.
bach ſie mit Gerechtigkeit verſehen. Zur Linken von ihr führte ſteinig und ſteil
ein Weg den Bergrücken zu weitgedehnter, halb im Schnee vergrabener, halb
ſchwärzlich aufſtarrender Burgruine hinan, über welche zum Theil mit leeren
Fenſterhöhlen ein von zwei Thürmen geſtützter Flügel hoch emporragte. Auf
einem derſelben ſaß der Rabe, die Fittige noch gegen den Wind ſchlagend; die
Burg lag nicht auf dem Gipfel, ſondern auf halber Höhe des Berges, ſo daß
dieſer hinter ihr, den Blick abſchließend, ſeine Felswand weiter emporſchob. Die
Lage der alten Veſte war trefflich gewählt geweſen, auf drei Seiten hatte fie der
Abfall und-das Waſſer, auf der vierten die Bergwand geſchützt, doch trotzdem
lag jie in öde Trümmer gebrochen da, wie ein unter Schutt und Schnee ver-
ſcharrtes Bild einftigen ftolzen Prangens, von dem nur hie und da der verfohlte
Rahmen hervorjah.
Chriſtoff Kreber war zu Thal und den fteilen Weg wieder emporgeritten
und führte jein Pferd durch das mächtige Steintor, deffen Gebält lang’ hin—
geſchwunden war und von deſſen Gewölb nur nod das in Stein gehauene
Mappen des Geichlechtes Derer von Grumbach niederblidte, in den verwilderten
Scloßhof hinein. Dort befeftigte er das Thier und ftieg über Steingeröll nieder-
gebrannter Mauern vorwärts. Ein Rundgang umlief die Burg, durch Spih-
bögen, die in den Fels Hineingebaut waren, ſchweifte der Blick weit in’3 Land,
ringsum durchlöcherten Schießſcharten das Mauerwerk, manche hart am Boden,
jo daß die Schüben auf dem Bauch liegend Hindurchgezielt haben mußten. Selt-
fam wand ſich aus Schnee und Brandſchwärze, deren Geruch die Bruft noch
zu athmen glaubte, durch die zerriſſenen Mauerwunden dunkel wuchernder Eppich
hervor.
Nun bog der Ankömmling zur Linken gegen den noch aufragenden Burg-
flügel ab. Geländerloje Steintreppe führte zu diefem hinauf in eine leere Vor—
halle, gegenüber ſah Dedenmalerei und Altar einer in den mittleren Thurm
gebauten, verwüfteten Gapelle jonderbar hervor; um das Gefims liefen zahlreiche,
von Flammen und Rauch angeloderte Wappen. Kretzer durchichritt eine Thür
und trat in den ziemlich wohl erhaltenen Ritterjaal; das Echo feines Fußtritts
hallte geifterhaft von den gleichfalla mit Wappen bedeckten Wänden, den Säulen
zurüc, deren einftige Vergoldung roh-gierige Fauſt zerfragt und zerhauen hatte.
Nur von der hohen Dede ſah noch kunſtvolle Studarbeit, die den Zerftörern
unerreichbar geweſen, fremdartig in die Trümmerwelt herab. Zwei gleichgeartete
hallende Säle jchloffen fi) an den erften, alle, ala ob feit Jahrhunderten jchon
fein Menjchenfuß fie betreten; dann eine weite Küche, noch mit Aſche auf dem
Herd, doch falt, unheimlich, Froftiger faft als der Schnee, den der Wind durch
das zerbrödelnde Fyenfter daneben gehäuft. Der Sturm, der die fliegenden Wollen
vom Steiger Wald bergepeitiht, hatte die Ruine erreicht und winjelte durch
Winkel und Eden; e3 gehörte beherzter Muth oder eifige Gleichgültigkeit dazu,
in dem Jahrhundert des üppigft wuchernden Aberglaubens durch das geipenftiiche
Zwielicht einen Weg in der ödverfallenen Behaufung zu verfolgen, die wie zum
nächtigen Unterfchlupf für den Wärwolf, die Nachtmar und hölliſches Spuf-
treiben gemacht ſchien. Doch dem einfamen Wanderer Klang augenſcheinlich
nicht3 aus dem tönenden Geifterecho auf, feine Einbildung mußte gegen bie
Wilhelm von Grumbad). 339
mebenden Schatten, das Seufzen des Windes und Anarren des Gebälfs gefeit
fein, wie jein Leib fich gegen Schwerthieb und Kugel eriwiejen, die nur die Haut
zu verlegen, doch das Leben nicht unter ihr hervorzureißen vermocht. Er jchritt
jet an einer zu höherem Stockwerk aufführenden, morjchen Treppe vorüber und
tauchte in die tiefe Finſterniß eines Ganges hinein, taftete ſich, ohne zu zögern, eine
lichtloſe Stufenreihe abwärt3 und wandte ſich in ebenjo vollftändig nachtſchwar—
zem Labyrinth unbeirrt links und rechts. Dann ſchlug fein Schwertknauf zwei—
mal raſch Hinter einander und nad) längerer Paufe noch einmal wider eine Wand.
Es war nicht Gejtein, gegen da3 er pochte, dumpf nachdröhnender Ton deutete,
daß er ſchwere Holzbohle getroffen. Das hohle Summen derjelben zerrann, dann
frug eine harte Stimme: „Wer iſt's?“ — „Der Kretzer!“ Und die Holzwand
drehte ſich, Lichtjchein fiel hindurch, und der Eintretende ftand in gewölbtem
Kellerraum oder Verließ vor dem ehemaligen markgräflichen Statthalter auf
dem Gebirg, dem in des Reiches Acht und Bann befindlichen Ritter Wilhelm
von Grumbad).
Eine Lampe exrhellte trüb den feuchten Raum, doch ihr Licht alimmerte
überall auf großen, von den Felswänden niederfidernden Tropfen. Auf den
dumpfen Boden gebreitet, befand fih in der Ede ein Heulager mit wollener
Dede; ein hoch mit Papieren, Schriften, Büchern bededter Eichentifch hätte an
anderer Stelle den Eindrud des Arbeitsgemaches eines Gelehrten erregt. Ein
roher Holzftuhl davor beſchloß die ganze Ausstattung der unterixdiichen Wohnung.
MWilhelm’3 von Grumbach fahlweiße Gefichtsfarbe ſprach deutlih, daß er
jeit langer Zeit in diefer gelebt. Seine Züge waren noch tiefer und ftarrer ein-
geichnitten ala früher, ein vorjchnell alternder Ausdruck lag darin, aber er hatte
ihre Verfinfterung noch erhöht. Unverfennbar aus brütender Gedantenwelt auf-
geriffen, hafteten feine Augen ftumm eine Weile auf dem Ankömmling; geipannte
Erregung leuchtete aus ihnen, doc durch ihren Schimmer brach in ſchweigſamer
Sprache unverhehlt zugleich der alte Haß, mit dem fie den wilden Landsknecht
von feiner Jugend auf jeltfam angefunfelt. Sie mufterten die Erfcheinung de3-
jelben, dann war's, als zucke etwas wie Befriedigung um den gepreiten Mund
Grumbach's, jeine weißen Zähne traten vor und er ftieß heifer aus:
„Du, Chriftoff Kreger? Der Rabe beitm Schuhu? Wärſt Du ein
Menichenalter früher Hieher gefommen, hätt’ft Du wacker mit gebrochen und
gebrannt an meiner Väter Burg, nicht wahr? Du gefällft mir, haft was vom
Bauernpad in Deiner Fratze, wie fie meinen Vater drunten im Dorf durch die
Spiehe jagten. Kommft Du, weil’3 Di nad Gold lüftet? Was haben fie
Dir geboten für meinen Kopf?“
In dem verwilderten Geficht Kretzer's, deffen Ausdrud Gott und Teufel
‚Hohn ſprach, war als einziger Meberreft die mit ihm aufgewachſene Scheu vor
dem Blick, der Stimme des Sprecher geblieben. Er ſah ungewiß an diefem
vorbei und ftötterte:
„Ihr wißt, Herr —“
„Daß Du mid nicht verkauft, weil ich Dir mehr werth bin, ala fie Dir
“ten, ich weiß es. Der Hund liegt noch an der Kette und wedelt, ftatt zu
‘en. Haft Du Botſchaft, daß der Zag kommt, wo wir unfer Gebik anjeßen
22*
340 Deutiche Rundichau.
fünnen? Meine Arbeit ift fertig, der Markgraf braucht nur dazuftehen, und die
Meute ift beifammen, daß ihr Gekläff vom Gebirg herunter die hochwürdigen
Ohren wund bellen joll! Was bringft Du?“
„Botichaft aus Pforzheim, daß Seine fürftlihe Gnaden der Herr Markgraf
Albrecht von Brandenburg-Culmbach dort im Beijein des Markgrafen Carol
zu Baden, des Pfalzgrafen Friederich beim Rhein, wie beider fürftlicher Gnaden
Ehgemahlen, auch de3 Oberften Jacob von Ofburg und Kanzlers Chriftoff
Straß —“
„Was? Was?“ fiel Grumbach ungeduldig ein.
„Am achten Jänner verftorben find.“
63 lag etwas verjtohlen Luftzitterndes in dem gleichgültigen Ton der legten
Worte, etwas vom heimlichen Nahdrüden eines Dolches, den andre Hand in
das Herz eines Todfeindes geftoßen. Wilhelm von Grumbad) taumelte in feiner
Eijenrüftung rückwärts gegen den Tiſch, jeine Aniee brachen zufammen und ein
erfticdend ächzender Laut ſchrie aus feiner Kehle: „Todt?“ Aber dann war's,
ala xolle das Weiß jeiner Augen aus den Stirnhöhlen heraus, er jprang mit
wilden Sat vorwärts, padte die Bruft des Boten und feuchte:
„Du lügſt! Gefteh’s, daß Du lügſt, Hund, oder ich erwürge Did! Du
willft Dich an mir rächen, für Dein ganzes Leben rächen durch einen Augenblic
Marter, wie nur der Kopf des Satans ſie ausflügelt! Haſt's gethan, und wir
Beiden find quitt! Nun ſprich: Er lebt! oder —!”
Er griff befinnungslos nad) jeinem Schwert; Chriftoff Kretzer ftand hoch—
aufgerichtet ruhig vor ihm, und zum erſten Mal jett feinen Blick furchtlos mit
dem des Ritters mefjend, verjeßte ex kalt:
„Ich kann Zodte nicht in’3 Leben rufen, gnädiger Herr. Wenn ich’3 könnte,
thät’ ich’3, denn ich weiß, Ihr Habt umjonft jet gearbeitet, für ihn, für Euch,
und auch für meine Fauſt. Der Markgraf ift todt — ſchickt mich ihm nad),
ich leifte feine Gegenwehr, mir liegt nichts dran.“
Wilhelm's von Grumbach frampfhafte Finger Töften fih von dem Leder-
toller Kretzer's, fein Auge ftierte ire hinaus und jein Mund ftöhnte bewußtlos:
„Umfonft — fünf Jahre umjonft: — ohne ihn Alles umfonft.“ Er fiel auf den
Stuhl, ſchlug die geballten Fäufte gegen die Stirn und ſaß, den Kopf ſchwer
auf die beiden Stüben laftend, ftumpf, wie von Fieberſchauern durchrüttelt da.
Lange Zeit, lautlos, man hörte das Fallen der Tropfen, die fi) von den Fels—
wänden löften. Dann begann er manchmal ein Wort vor ſich hinzumurmeln.
„Nicht Fünf — fünfundzwanzig — ein BVierteljahrhundert —“
Er fuhr auf und ftarrte den ſchweigſamen Genofjen feines Verließes an.
„Biſt Du nicht ein Vierteljahrhundert alt, Chriftoff Kreger? Ein Jahr no
drüber — umſonſt — umſonſt!“
Dumpf brütend ſaß er wieder. „Das wär's — daß meine Rache ohnmäch—
tige Narrethei gewefen? Er triumphirt —“
Diesmal jprang er auf und ließ feine Augen mit glühendem, fonderbar
mufterndem Blick über das jchrundige Geficht des Söldners gehen. Sein Kopf
nidte und feine Hand deutete nach der Thür eines Nebenraumes: „AB und
ſchlaf', Burſch! Dort ift, was mir die Kröteh gelafjen.“
fi
Wilhelm von Grumbad). 341
Kreger gehorhte und ging in das anftoßende Gelaß, wo auf roh für den
Nothbedarf aus Steinen aufgeihichtetem Herd rothe Kohlen aus der Finſterniß
glühten. Er blies fie an, legte Reifig, das gehäuft zur Seite lag, darauf, und
die Flammen fnifterten dran in die Höh'.
Stunden vergingen, die der Geäcdhtete in der vorigen Stellung, den Kopf
über den Tiſch gebückt, zubrachte; dann rief er:
„Schläfſt Du?“
„Rein, Herr.“
„So komm!“
Chriftoff Kreer Fam, und Grumbach trat ihm entgegen. Eine Minute
ftand er noch jchweigend, bückte fi) darauf an da3 Ohr des Kriegsknechtes und
wisperte einige Worte. Wie von einer Otter gebiffen, fuhr Kretzer's Kopf in
die Höh’, und es war, ala jchlage eine Lohe zwijchen jeinen Lidern auf. Der
Andere ftarrte ihn fihtbar befremdet an und murmelte: „Hab’ ih mich in Dir
getäuſcht?“ Er ſetzte Haftig Hinzu: „Wenn Du beim fommft und mir jagft:
e3 ift! — mein Ritterwort drauf, dann haft Du den Lohn, den Du bisher um—
fonft von mir verlangt!”
Kuechtswort drauf, Ihr zahlt ihn nicht umfonft, Herr Ritter!“
Es brach zugleich mit einer gellen Lache aus Chriſtoff Kretzer's Kehle. Zum
andern Mal maßen fich die Augen der Beiden, dann kam wie ein Echo heiſeres
Gelächter von den Lippen Grumbach's, doch obwol es Elanglojer war, ala der
erfte markjchneidende Ausbruch, Tief es dämoniſcher an den ſickernden Wänden
um; wie die weißen, gejenkten Stoßzähne eines Ebers flammte es Kretzer ent-
gegen, und ber Ritter padte die Hand des Knechtes und fchüttelte fie:
„Wort um Wort! Nicht wahr, e8 gibt noch Treu’ und Glauben, Chriftoff
Kreber?”
Dann ſaß Wilhelm von Grumbacd wieder brütend allein, manche Stunde.
Zuletzt erhob er fi, um fich auf fein Heulager zu werfen, doch ein prafjelndes
Geräufch aus dem Nebenraum beivog ihn, die Thür defjelben nochmals zu öffnen.
Das Gelaß war vom blutrothen Schein des mächtig auf dem Herde lodernden
Feuers erhellt, davor ftand Chriftoff Kretzer wie eine dunkle Höllengeftalt und
ſchürte. Er hatte einen irdenen Ziegel in die faft weißrinnende Gluth geichoben,
nun griff er in feine Bruft, 309 aus linnenem Sädchen einen Doppelgulden
hervor und warf ihn in den Ziegel. Durch das Abzugloch des Rauchs ſchnob
der Sturm, die Eſſe ziichte und das Silber in dem Gefäß rann langjam flüſſig
auseinander. „Was treibft Du no, Burſch?“ fragte Grumbad).
Der Angeredete fuhr herum, von der Hite war das Weiß feiner Augen
roth unterlaufen, und er gab Antwort:
„8 Mitternacht, Herr Ritter?“
Das Nürnberger Horologium aus der Burg auf dem Steiger Wald hatte
den Weg mit hieher in die Unterwelt, gefunden. Grumbach warf mechaniſch
einen Blick darauf und verjeßte:
„Droben heißen ſie's jett jo; hier ift’3 immer Mitternacht.“
„So hilf mit gutem Zeichen, Satan!“ Chriftoff Kretzer's Fauſt griff mit
inem Lederſchurz umtidelt in die Gluth hinein nad dem Stiel des Tiegels;
342 Deutiche Rundſchau.
mit heulendem Stoß ſchlug im jelben Augenblid der Sturmwind den Raud) in
das niedrige Verließ herab, dichtgraues Gemenge, nur von blutigem Schein
durchglüht, überwogte Alles, und Wilhelm von Grumbach wid, um nicht zu
erfticen, in den Nebenraum zurück.
— — ——
Der 15. April des Jahres 1558 lag über den Mainlanden und der Stadt
Würzburg mit zauberiicher Schöne. Wer ihn als Kind erlebt, gedachte feiner
al3 Greis noch, ſah ihm nach zwei Menjchenaltern noch deutlicher vor ſich ala
das Geftern. Mit feinem Morgen war der länger und hartnädiger denn je
andauernde Winter plößlich entflohen, und wie aus dem Füllhorn der olympijchen
Lenzesgöttin hatte die Sonne in den kurzen Stunden eines Vormittags Alles
mit Blüthenjchnee, goldenem Glanz und ſüßer Wärme bis in’3 Herz hinein
übergofjen. Das war ein Grund für das jpät und treu bewahrte Gedächtniß
dieſes Taged. Dann ritt am Morgen defjelben zum erſten Mal nad langer
Zeit wieder Seine fürftlihe Gnaden, der Bijchof zu Würzburg und Herzog von
Franken, Herr Melchior von Zobel, vom Frauenberg in die Stadt unter feine
ehrerbietig grüßenden und feinen Segen empfahenden Unterthanen herab. Das
war ein andrer Grund für das treue Gedächtniß.
Der Morgen lud wol nad langer Wintergefangenihaft zur Freiheit, und
viel Volks wogte auf den Gaſſen. Lachende Dirnen, Junggejellen und Kinder,
die ſich jchalkiich mit blauem Hollunder warfen; doch auch der Bürger gürtete
nad) dem Mittag jeine Wehr um die Hüfte und widerjtand dem Lächeln des
blauen Himmels und dem Anpochen feiner Strahlenfinger nicht mehr. Vor den
Herbergen zum Klingenberg, zum Rebenftod, zum Schmeltzenhof, überall ſchafften
hurtige Arme Bänke und Tiſche in's Freie, und kaum Hingeftellt, war jeder Sitz
ſchon von heitren Gäften, mit durftigem Blid, überlagert. Es herrichte Frieden
am Main und Wohlitand zu Würzburg, und der Wein des 57er Jahrs war
gerathen. Dazu gab’3 Anlaß genug, von VBergangenem und Gegenwärtigem zu
reden, von Lat, Noth und Plage, die Hoffentlich für manche Zeit jet dahinten
lag, denn wie der Frühling heut’ den Winter von dannen gejagt, jo hatte der
Tod auch den jchwerjten Stein von den jorglich ftet3 in die Zukunft blickenden
Gemüthern abgewälzt, und man jah’s, die Augen jchauten mit ruhvollerer Zus
verficht ala jeit lange auf ihre Steinkrüge und in den leuchtend beginnenden
Sommer hinein.
Ueber diefen erlöfenden Tod redeten denn auch zumeift die in Behaglichkeit
fi dehnenden Gäfte des Wirths zum Schmelgenhof. Es war ſchön, jo in der
Sonne wieder zu fißen, den Main am Wehr jchnellen und rauſchen, die Gloden
von den Domthürmen fingen zu hören, und zu jprechen, iwie der Tod ded Mark—
grafen Albreht von Brandenburg die Einwohner der biſchöflichen Städte und
Lande nun für immer von ihrem ärgſten Feind und, jo weit zu ſehen, weit
hinaus von aller Furt, Drängniß und drohenden Kriegsgefahr befreit habe,
Zu rechter Stunde, wußte Mander, war der knöcherne Gejell mit der Hippe
an das markgräflicde Bett zu Pforzheim getreten, denn droben, vom Fichtelberg
herab, war allerorten in Stadt und Land Bürger und Bauer gerüftet geweſen,
Wilhelm von Grumbad). 343
mit gewaffneter Hand loszubrechen und den heimeriwarteten Geächteten troß
Kaiſer und Reich wieder in feine Herrichaft einzujegen. Wie ein Feuer hatte
es in der Tiefe fortgewühlt, und wäre die Flamme aufgeichlagen, fie Hätte alle
Lande am Main und vielleicht das deutſche Reich jchlimmer denn je überlodert.
Doch Gottlob, die Enz hatte von den Tannengipfeln des Schwarzwalds ftarres
Januareis ala Grabftein darauf gethürmt, unter dem Markgraf Albrecht kinder—
los eingebettet lag. Der Tod hatte deffen eignen Wahlſpruch an ihm bewährt:
„Fortem exarmat fortior“, und e3 war köftli, beim Wein zu fiten und dem
Todten Gerechtigkeit widerfahren zu lafjen, daß er ein gar ftreitbarer, gewaltiger
und hochplanender Fürft und Herr gewejen, dem e3 wol gar hätte gelingen
können, den höchften Zug zulegt noch im Glücdstopf des Reich zu thun, wenn
nicht die Scheere der alten Heidengöttin gefommen und dem noch Jugendlichen
den Lebensfaden abgejchnitten. Nun war’3 vorüber, hatte er vor feinen Plänen
und Alle, die nad) ihm geblieben, vor ihm Ruh’, und was in geheimer Stille
auf ihn gebaut worden, war eingefallen wie hoch auf rollende Sandkörner in
den Himmel aufgethürmtes Gerüft.
Ya, überaus köſtlich war's, am raujchenden Main davon zu ſchwatzen und
gegen die Sonne auf die alten Steingeftalten der Brücke zu blinzeln, die ſich
auch in Wärme und Licht badeten, als wollten fie anheben zu athmen, die
ftarren Glieder zu regen und von ihren hohen Sodeln unter die frohlebendige
Menjchheit herabzufteigen. Ebenjo ſchön gewiß war die Welt noch, wie fie e3
zu ihrer Zeit, jeit Jahrhunderten gewejen; wohin man ſah, traf man Augen,
die e3 freudig bejagten, und jo Viele ſich heut’ über die Steinbrüftung auf das
hüpfende Wafjer niederbüdten, Keines ſprach, die Welt jei auch zu Tode traurig
in ihrer Schönheit.
Die Steinfrüge Happten, und Fabian Brede, der Wirth zum Schmeltzenhof,
bewegte fi hin und her. Mechaniſch von Tiſch zu Tiſch; er nahm die leeren
Krüge nicht, jondern deutete fie nur einer vollbufig blitäugigen Dirne, die mit
ihnen in den Seller flog und fie gefüllt zurück brachte. Nur das Geld, daß die
Gäſte zahlten, ftrih Fabian Brede mit zitternd haftigen Fingern felbft ein.
Sein breiter Rüden war zufammengefrümmt, ftärker, als jechs Jahre auch in
feinem Alter es erklärlich machten; in den Augen lag’3 erlojchen, nur beim
Anblick des Silber irrte ein flüchtiger Strahl drin auf. Doch allmälig kamen
der Gäfte zu viel, als daß die Schenkdirn ihrem Begehr allein hätte entiprechen
fönnen, und Fabian Brede begann, von alter Gewohnheit geleitet, ihnen mit
aufzuwarten. Es waren fremde Gefichter, offenbar nicht Bürgern der Stadt
gehörig, zumeiſt ältlich-bedädhtig, mit kaufmänniſch berechnenden Zügen und
Augen. Man jah, fie machten auf größere Reife Raft; hochbelaftete Pferde,
Maulthiere, Karren und Wagen hielten wartend auf freiem Pla dem Schmelten-
hof gegenüber. Hie und da ftand ein jüngerer Gejell mit verwegnem Ausdrud
und langem Raufſchwert daneben, oder ſaß ebenfalls beim Wein, etwa in Allem
ein: Dutzend. Das Ganze bildete eine Karavane von Menſchen und Thieren,
wie die Zeit und die Eden ber Straßen und Winde fie allerorten im deutjchen
Reich zu beftimmten Jahresabidhnitten häufig gewahrten. Lautes Stimmen-
gejurre ging rund und vielerlei Rede Klang durcheinander.
344 Deutſche Runbichau.
Da kam noch ein Mann von ftattlicher Bürgerart über die Brüde, drehte
ſich auf der Mitte derjelben um und ſchaute neugierig auf einen langgewachſenen
Burſchen zurüd, der in hellgelbem, wie Sonnenlicht weit in die Ferne leuch—
tendem Wamms an einem Sodel lehnte und beihäftigungslos zur Stadt durch
die Domgafje hinüberblicte. Der nad) ihm ſah, war der Waffenſchmied Dietrich
Spumber, ein wenig grauer geworden und vielleicht mit einem Zug um den
Mund, wenn der Bart diefen nicht zu ſtark verdeckt hätte, als habe ihn etwas
betroffen, das ſich dort jchmerzlich eingeprägt und das die Jahre nicht völlig
wieder zu verwinden vermocht. Doc er jchritt Eraftvoll wie früher, und die
Mugen Augen ſchauten mit dem alten ernftheiteren Lebensverftändnig in die
Welt. . Sie war jo, diefe Welt, jagten die Augen, man mußte die fonnige
Stunde fefthalten und genießen; alles Andre in unerforschlichen Rathichluffes
Hand! Um die Hüfte des Meifters klirrte an kunſtvoll zierlihem Wehrgehänge
das kurze Schwert, im leichten Nachmittagshauch flatterte die Feder feines
Baretts; jo wanderte er, deutjcher Bürgerart treffliches Bild, dem Schmelen-
hof zu.
Freunde und Nachbarn traf er dort und ſetzte fih grüßend zu ihnen.
Sein Blick mufterte die ungewohnten, fremdgefichtigen Gäfte weiter hinauf, und
er frug: „Wer find fie?“
„Kaufleute aus Biſchofsheim an der Tauber,” Yautete die Antwort. „Sie
ziehn mit Geleit zur Frankfurter Faſtenmeſſ', haben im Rebenſtock genächtet
und find zu gutem Trunk unterm Leiften eingefehrt, denn fie haben nicht Eil.
Aber ich wollte, ich hätt’, was ihre Maulthiere auf dem Rücken tragen.“
„Thut's auch nicht, Nachbar,“ erwiderte der Waffenfchmied, jeinen Krug
bon den Lippen abjegend. „Das Glüd liegt anderswo, man handelt's nicht.
Unglück kommt über Nacht, jeid zufrieden, jo lang’ die Sonne jcheint. Iſt's
wahr, daß der Bilchof heut’ zum Erften feit feinem Beinbruch wieder vom
Frauenberg niedergeritten? Ich Hört’3, er fei auf der Kanzlei in der Stadt.“
„Hab' ihn mit eignen Augen gejehn,” nickte der Andre. „Man gewahrt’3
nicht, daß er jo lang’ gelegen; wie vor dreißig Jahren reitet er und lacht jein
Gefiht in die Welt. Wär's nicht der Hochwürdigſte, man könnt’ argwohnen,
er hätt’3 mit böjer Kunſt, fich ewig jung zu halten.“
Dietrih) Spumber late. „Die Kunft ſteckt im Blut, aber mich däucht,
's ift faum nöthig, wem's der Himmel jo in den Topf wirft. Der ſchaut no
über’3 Jahrhundert hinaus, Freund, und reitet mand)’ guten Ritt an unjern
Gräbern vorbei. Sah’t Ihr die Freiin von Grafened im legten Jahr? Eine
Venus war's noch vor zehn Jahren, jetzt fieht fie aus wie 'ne Maihere vom
Blocksberg und trägt kaum jein halbes Alter auf dem greifen Haar. Die
Freiin don Offenhaufen, Junker Garol’3 von Offenhaufen Schwefter, ift dafür
defto jünger. Nitt fie mit zur Stadt?“
„Rein, ic jah fie noch nie, aber fie joll jhön fein —“
„Wie rau Anna von Grumbach vor dreißig Jahren war; 's wächſt
immer neu, wie der Wein, aber es wird nicht befjer, wie der Wein, durch
die Jahre. Trinkt, Nachbar, wer weiß, wie lang’ wir ihn haben. 's ift ein
Landsknechtslied, will mir heut’ nicht aus dem Kopf:
Wilhelm von Grumbach. 345
Sch Teb’, weiß nicht wie Lang’,
Ich fterbe, weiß nicht warn,
Ih fahr’, weiß nicht wohin,
Mich wundert, daß ich noch jo fröhlich bin.“
„Habt Net." Sie tranken. „'s hätt’ der fürftlihe Herr auch benfen
können, als im Herbft der morſche Stein unter ihm glitt und er in den Mauer-
graben ftürzte. Hätt’ fein Schußgeift über ihm gewacht, möcht's ihm um's
Genick geiheh'n fein, nicht blos um's Bein.”
Des Waffenihmieds Augen jahen den Sprecher jchalkhaft lächelnd an.
„Wißt Ihr's? Hab’3 anders gehört, daß der Schußgeift auch Beine beſaß und
zwar hurtigere, ala der, welder ſein's zerbrah. So kam’s, jagt man; was
geht’3 und an? Wer mit andrem Maß mißt als wir, wird vielleicht auch mit
andrem gemeſſen. Frieden und Wohlfahrt im Land, Nachbar! und das haben
wir! Mög’ er lang’ noch leben und wir uns deß freuen! 's ift Alles Selbft-
fucht, mit wa3 für Namen wir's heißen, fann nicht anders jein. Wer lebt,
lernt's. Noch Einen, Fabian!“
Der Wirth war langjam herangefommen und ftand vorgebüdt und aufe
horchend mit dem gelbweiß behaarten Kopf hinter ihm. „Schaff's, ſchaff's,“
antwortete er, „ein Wort, Herr Path'!“
„Was gibt's, Alter?“ Spumber ftand auf, und Fabian Brede zog ihn am
Arm mit fich abjeitd. Seine Nafenflügel witterten wie die eines Pferdes in
die Luft und er murmelte: „Riecht Jhr's?“
„Was, Fabian?“
„Nichts, nichts — aber es ift drin,“ wisperte der Alte, ſich ängftlich um-
ſehend. „Behüt’ uns die hochheilige Jungfrau vor Brand und Blut!“
Mitleid ging aus des Waffenſchmieds Augen über fein Gefiht. „Habt
taufend Mal fjelber drin geftanden, Fabian, und ſeid abergläubijch worden in
Euren alten Tagen? Wovor habt Yhr Furt?“
Dur die ausdrudslos blöden Augen des Greifes lief ein geheimnißvoll
irres Licht. Er hob den gebüdten Kopf an Spumber’3 Ohr und wiederholte:
„Nur nicht Brand und Blut, Herr Path’, Euer Geſchäft geht dabei, aber
meines nicht. Mir fehlen noch fünfzig Goldqulden — aber jagt’3 Niemandem!
Ich Hab’ fie heut’ Nacht wiedergeſehn im Wald, der Lindwurm war fort und
fie jaß im Mondichein vor der Höhle und flocht ihre braumen Zöpfe. Noch
fünfzig Gulden, da hab’ ich das Löfegeld voll und hole fie. Ihr Geſicht war
wie Schnee, denn fie trinkt nur Thau, der Nächtens in's Moos fällt. Doch
ich habe noch Schloßwein vom Jahr 47 im Seller, der joll ihr das Blut
wieder roth machen, und Ihr jollt auch davon trinken, Ihr auch, denn fie hat
Euch lieb gehabt.“
Es zudte ſchmerzlich unter Dietrich Spumber’3 grauem Bart, und ihm ent»
fuhr, wider Willen jchien’s:
„Laßt die Thorheit, Fabian! Euer Kind ift todt und kommt nicht wieder.“
Unverkennbar that’3 ihm leid; er mochte gewöhnt fein, dem irrfinnigen
Alten anders zu antworten. Doch diefer rüdte ungläubig - zuverſichtlich die
Stirn hin und wieder. Todt? Bon todten Menſchen findet man den Leichnam.
346 Deutſche Rundichan.
Habt Ihr meines Kindes todten Leib gejehen? Wer Hat ihn gejehen? Wer?
Ich will ihm die Augen vergolden, der’3 gethan. Wißt, Herr Path’, die Leute
reden, ich hätt’ fie dem Drachen verfauft —“
Diesmal fiel der Waffenſchmied ſchnell ein: „Laßt fie reden, Tabian! Ihr
habt’3 nicht, habt feine Schuld dran, ich weiß es.“
Neber das blöde Geficht, das ihn ängftlich-erwartungsvoll angejtiert, ging's
mit freudiger Erlöfung. „Ahr wißt's — habt Dank! Sagt’3 den Andern auch,
daß Ihr's wißt! Ihr jollt guten Trunk dafür haben.“ Und Fabian Brede
lief auf jchleifenden Sohlen, jo ſchnell ihm feine fteifen Kniee erlaubten, in den
Keller hinunter.
Spumber jah ſchwermüthig überflorten Blid3 in die Sonnenwelt hinaus ;
er murmelte: „Sie ſticht ſchon,“ und feine Hand fuhr raſch über die Wimper;
dann beobachtete er klar, wie ftet3, die Dinge um ſich her. Drüben flammte
noch das ftrohgelbe Wamms reglos an dem Sodel auf der Brücke; der lange
Burſch ftand jelbft wie aus Stein gehauen und ließ fi) von der Frühlings—
ſonne übergießen; über den Zinnen und Thürmen des Frauenbergs zitterte jchon
ſommerlich die Luft. Warın behaglich jchritt der Waffenſchmied an den Tiſchen
der trinfenden Gäfte vorüber gegen feinen verlafjenen Tiſch zurüd. Doch plöß-
lich hielt er an und heftete den Blick auf eine unter weiten Mantel Tang«
ausgeſtreckte, narbenbededte und früh verwitterte Geftalt, die mit tief in die
Stirn gedrüdtem Filzhut zwiſchen den Biihofsheimer Kaufleuten dafah. Spum-
ber juchte unter dem rothen, ftruppigen Bart zu lefen, der das Geficht zugleich
vol umrahmte und überwucherte, twie zufällig drehte dafjelbe fich im nämlichen
Moment zur Seite, allein für das jcharfe Auge des Schwertfegerd hatte die
furze Schau Hingereiht, er trat an den Fremden hinan und ftreefte ihm die
Hand entgegen mit dem Wort:
„Seid’3, Junker Kretzer, obwol Ihr's Einem fauer mat, Euch aus dem
roten Mummenjchanz, den Ihr Euch um's Geficht gethan, herauszufennen.“
Der Angejprochene zögerte eine Secunde lang, eh’ er die gebotene Hand
ergriff. E3 war, als überlegte er, ob er wollte oder nicht, aber dann faßte er
ſchnell die Hand, ftand auf und erwiderte:
„Habt Gruß, Herr Dietrich Spumber; Ihr irrt Euch nicht, nur im Junker
wieder, wie jchon ehmals.“
Der Meifter lachte. „Seid kein Fürft und Herr geworden deriveil, wie ich
nicht römischen Reiches Majeftät? Weiß es noch gar wohl, wie Ihr damals in
Grimm und Zorn davonrittet, hier auf dem nämlichen Fleck, weil Euch Jemand
zu Leid geiprodhen, ohn’ daß er's gewollt. Wär’t vielleicht nicht jo herb gegen
das arme Mädel geweſen, wenn Ihr's vorausgewuht hättet, was andern Tags
mit ihm kommen jollte —“ Dietrich Spumber brach kurz ab umd fuhr eilig
fort: „Habt nad) langer Zeit wieder einmal ein Gewerb in Würzburg? 's ift
gut, daß die Sache vorbei, wo man nicht wiſſen konnt’, ob Ihr insgeheim ala
Freund oder Feind hier ſäßet.“
„Habt Recht, ’3 ift friedlich's Gewerb’ heut’, Meifter, Geleitgmann auf
die Frankfurter Meff’ zu fein. Man muß fi in die Zeit ſchicken und jein
Brod ſuchen, wie der Hund den Knochen auf der Gaſſe.“
Wilhelm von Grumbad). 347
Chriftoff Kretzer erwiderte e8 heiferen Tons und ſah gradaus auf bie
Brüde hinüber, unwillkürlich geiellte fi) ihm der Blid des Waffenſchmieds,
unb diejer frug:
„Gehört der Gelbe drüben aud) zu Eurem Geleit? * ein ſonderlicher
Burſch', der ſich lieber die Sonne in's Maul fallen läßt, als es zu gutem Trunk
unter'm Leiſten aufſperrt.“
Kenn' ihm nicht, den Strohwiſch, hat mit uns nichts zu ſchaffen.“
Kreber drehte gleichgültig die Augen von dem bezeichneten, immer noch
unbeweglichen Cegenftande ab, jchwieg kurze Weile und fehte dann hinzu:
„8 fommt mir auch zurüd, wie ich damals von hier ritt. Mein Gaul
wollt’ nicht, ala hätt! er noch 'was zu Schaffen; ich jagte, der Hintende jollt’
Euch behüten, Meifter, und Ihr rieft mir nach, mich feine Frau, ’3 könnt’ nicht
ſchaden, wenn fie mir einmal für 'ne Stund’ ihren Gürtel umthät' — id) hört’s
wol. Eu'r Wunſch hat gute Frucht getragen, Meifter, für 'ne Stund’; nur
iſt's zu lang ber, und Ihr jeht’3 mir nicht mehr an. Was war's mit der
Dien’, von der Ahr ſpracht? Es ftedt in Einem, daß man vom Eh'dem reden
und hören mag. Ich weiß, ein dumm’s Ding war's, ſagte ihr Vater, als fie
dem hochwürdigſten Herrn Biſchof, fürftlicher Gnaden, den filbernen Pocal zu—⸗
bringen ſollt'. Seh’ fie noch daftehn, juft auf dem Stein, und die Yulifonne
fpiegelte auf ihrem braunen Zopf.“
„Gott weiß, wo er liegen mag unter der Erd’ irgendivo. Ich jah fie aud)
an dem Zag zum lebten Mal.“
Dietrich Spumber'3 geprehte Stimme ſchwieg, der Andre ließ den Blid
flüchtig wieder über die Brüde gehen und frug:
„Warum? Iſt fie geftorben ?“
Nun nidte der Waffenſchmied: „Den Tag, nachdem Ihr damals rittet, die
andre Nacht drauf. Geftorben?! Wer ſagt's? Die Freiin hatte fie zu fich
aufs Schloß genommen, und um Mitternacht ſtürzte ſie vom Burgſöller herab
auf den Fels. Es war Vollmond in der Nacht, und mondfuchtis, ſprach man,
war ſie geweſen.“
„Und ala Ihr fie fandet, war fie todt?“
„Das iſt's, es fand fie Steiner, und drum glaubt der Alte — 's war eine
böfe Nacht, Freund, da ging's wieder an, jo viel Jahre lang. Aber fragt Ihr
mich, jo glaub’ ih, der Böſe jelber war's, der in der Nacht auf jchwarzem
Pferd vom Frrauenberg heruntergedonnert und durch Sanct Burkhardi Thor.
Sie fiel wol nicht, jondern jprang aus freiem Willen, drum hatt! er Macht
über ihren todten Leib, der die Seele gerettet, und konnt’ ihn mit fi) nehmen.
Doch die ihn im Mondlicht geiehn, jagten aus, er babe Wehr und leid von
einem markgräfiſchen Reiter gehabt; er hatt's wol angenommen, um auf oft
Zedwitz' und des Thorwächters Kopf den Bamberger Vertrag zu durchhauen,
denn fie röchelten hinter feinem Huf im Blut, und fein Plan war erreicht, daß
der Main wieder roth zu fließen anhub. s ift nicht gut, von der Nacht zu
reden, Freund; es ging um in ihr, und aud Fabian Brede lag mit blutigem
Geſicht an feiner Truhe; ſeitdem ift Alles fort aus feinem Hirn, bis auf den
348 Deutſche Rundſchau.
Klang des Geldes und den traurigen Wahn, daß ſein Kind im Wald ſitzt und
wartet, bis er das Löſegeld für den Drachen voll hat.“
„Verdammt mit Eurem Aberglauben hier!“ Chriſtoff Kretzer ſchlug ſich
mit der Fauſt hart gegen das Auge, deſſen Wimperrand zuckend zufammen-
gefahren war. Dann lachte er mißtönig auf:
„Ich ritt durch Euren Main in jüngſter Zeit, als er mit Schollen ging.
Da ftand ein grauer Narr dran, Freuzte ſich und meinte, ich fei der Böje —“
Seine Lippen ftocdten wie unter einem Ruck, mit dem der Zaum die Kiefer
des Pferdes zurücreißt, und einen Herzſchlag lang überrann es gleich zitterndem
Froſt in der heißen Sonne feinen Leib. Dann wid) fein Auge von dem gelben
Burſchen auf der Brüde ab, der fich in diefem Moment vom Sodel abgelöft
und langjam jchlendernd gegen den Schmeltenhof heranfam. Kretzer trat gleich—
zeitig einige Schritte vor und rief mit lauter Stimme über die Gaffe:
„Hollah! Ihr da, Ichafft Wagen und Maulthier aus dem Weg! Der hoch—
würdigfte Herr Biſchof kommt zurückgeritten; tummelt Euch, daß fürftlicher
Gnaden nichts die Gafje jperrt!”
Der Rufer mußte in gutem Anfehen bei den Knechten ftehen, denn eifriges
„Hot!“ und „Hua!” erhub ſich jofort, die Peitſchen jauften und Enallten, und
Fuhrwerk und Tragthier der Kaufmannskaravane ſetzten fih in langſame Be-
wegung. Dietrid) Spumber blickte über die Brüde entlang und wandte ver—
wundert den Kopf:
„Ich dachte, meine Augen nähmen’3 noch auf mit Jedermann, aber Ihr
müßt welche im Kopf tragen, die um die Ede herumguden, Freund. Nichts
ſeh' ih, nicht vom Biſchof jelbft, noch irgend einem Reiter.”
„Hab's dvermeint, mag fein, daß ich mich getäufcht,“ antwortete Kretzer,
langjam auf jein am Gemäuer des Schmeltenhof3 befeftigtes Pferd zufchreitend.
Er Löfte die Zügel deſſelben und Elopfte ihm den Hals: „Haft dich verſchnauft?“
und das Thier ſchnob ihm wie bejahend in’s Geſicht.
„Hattet doch Recht,“ ſagte Spumber, der ihm nachgefolgt, „da kommt der
Biſchof. Grad’ fo wie damals, ala Ihr hier Euer Gewerb’ an ihn ausrichtetet,
nur reitet nicht die Freiin von Grafeneck an jeiner Linken, jondern Wolf
Meindheim. Aber Hans von Knöringen und der Truchjeß von Rinned find
juft jo Hinter ihm und Jacob Fuchs mit Herrn David von Rot aud. Nur
Hana Zobel fehlt, ftatt deß ift der Treiherr Friedrich zu Grafened, der Bruder,
im Gefolg’. Wißt Ihr's noch!”
„Weiß es noch gut, Meifter Spumber.“
Kretzer jchlenderte in feinem langen Mantel der Straße entgegen, der Huf-
ſchlag, fich unter den Wölbungen der Brücke verftärkend, dröhnte näher, die
Reiter zogen zwiſchen den legten beiden Steinbildjäulen hindurch. Der Waffen-
ſchmied warf einen Bli nad rechts hinüber und jagte halb verdroffen, halb
lachend:
„Seid übereifrig geweſen, Freund; hättet die Wagen und Thiere lafjen
follen, two fie ftapden, dann hätt’ der Biſchof mindftens vorüber können. Jetzt
fommen fie nicht zeitig genug vorbei und ſperren juft den Weg auf dem
Frrauenberg.“
Wilhelm von Grumbad). 349
„Bill nachhelfen! Man muß den Lausbuben jelbft die Peitiche um den
Schädel hauen!“
Chriſtoff Kretzer ſchwang ſich mit einem Sprung auf fein Pferd und trieb
es unter dem Steinmännlein an der Erkerwand vorbei auf das ineinander ver—
fahrene, lärmende und fluchende Gemenge zu. An der Spitze der Reiter traf
jet der Biſchof Melchior von Hobel vor dem Schmelgenhof ein. Er ritt den
dalmatiſchen Bucephalus mit dem gleigenden und klirrenden Goldfettenbehang;;
feine jugendlich kraftvolle Erjcheinung zeigte ſich noch immer faft unverändert.
Das alte harmlos-gewinnende Lächeln lag in den heiterblidenden Zügen; er er
twiderte leutjelig den ehrfurdhtsvollen Gruß der Bürger, die jämmtlid von ihren
Sitzen aufftanden, aud die fremden Kaufleute und ihre Geleitsreifigen folgten
dem Beifpiel. Der Biſchof jah vor ſich hinaus und ſprach launig feinen Ge-
fährten zur Linfen an:
„Es ſcheint, wir müfjen Geduld haben, Weindheim, und unfer'm himm—
liſchen Oberhirten nacheifern, der auch an und manchmal Geduld üben muß.
Aber es ift auch fein Gebot, keinen Augenblid unjeres Lebens thöricht und une
genüßt vorüber gehen zu Laffen.“
Der Freiherr Wolf Carol von Weindheim winkte der ſchwarzäugigen
Schentirn’: „Einen Trunk für Seine fürftlihe Gnaden!” doch ehe fie den Auf-
trag vollziehen konnte, ſchwankte Fabian Brede jelbft mit einem Steinkrug
heran. Er hob das Gefäß und ftarrte blöden Augs auf die goldenen Schau-
müngen über dem Naden des Pferdes, und fein Mund murmelte irr:
„Fünfzig Goldgülden — gebt mir fünfzig Goldgülden für den Trunk!
dann löſ' ich fie aus von dem Lindwurm, der fie mir weggeholt — es wird
dem Hohmwürdigften auch lieber fein, wenn fie zurückkommt und ihm den Trunk
wieder zubringt. Es befomm’ aud Dir, Sibylle Brede, ſagte er — aber fie
lann's noch nicht, lann's nit — und ih muß es für fie thun —“
Der Sprecher jete mit zitternder Hand den Krug an die Lippen, wie um
ihn zu fredenzgen. Das Gefäh ſchwankte und der Wein floß über, und der Alte
greinte finnverftört:
„Das that fie au, ich will fie nicht mehr jchelten drum. Ich bin noch
ungeſchickter als fie, denn ich bin älter — viel älter —“
Biſchof Melchior wandte fi mit einem Riß in die Zügel jeines Hengftes
widerwillig ab. Sein Begleiter jagte: „Er ift kindiſch, gnädiger Herr, und
redet Tollheit.“
„So gebt dem alten Mann — zahlt ihm feinen Wein, Weindheim —
trinken mag id ihn nicht!”
Der Biſchof jpornte mit unwilllürlicher Haft jein Pferd gegen die auf-
geftaute Wagencolonne; fie zu umbiegen, ritt er hart unter dem Steinmännlein
am Schmeltzenhof durch, jo dicht, daf fein Baret gegen den Wappenjchild der
Heinen Figur ftieh und ihm von der Stirm fiel. Er haſchte darnach, es zu
halten; in dem Augenblid tönte eine Stimme neben ihm: „Darf ih Eud)
helfen, hochwürdigſter Herr?" Es war nicht die Stimme Wolf Weindheim’s,
ber noch mit feiner Börſe beihäftigt vor Fabian Brede anhielt, noch die eines
der übrigen Begleiter. Vom Schmeltzenhof her trat Dietrih Spumber ſchnell
350 Deutſche Rundſchau.
einige Schritte vor und ſprach zu einem neben ihm befindlichen Bürger: „Dacht'
ich's doch halb nach jeiner curiofen Art, er habe wieder ein Gewerb bei dem
Hochwürdigſten, juft wie damals.“ |
„sch Half mir ſchon felbft, mein Sohn,“ antwortete der Biſchof, das auf-
gefangene Baret .haltend. „Haft Du Jonft ein Anliegen ?“
Er jah mit einiger Befremdung in das Geficht des bärtigen Reiter, der
fein Pferd noch dichter herantrieb, daß jeine Fußipite die Bruft des Bucephalus
rührte. „Ach habe Handgeld von Eurer fürftlichen Gnaden befommen — grad’
hier auf diefem Fleck —“ eriwiderte der Kriegsknecht zögernd.
„Wohl — wohl, mein Sohn — ich erinnere mich Deiner nicht, aber es
wird ein Handgeld des Himmels für Deine Seele gewejen fein.“
Biſchof Melchior hob den Arm, da3 Baret wieder auf dem Kopf zu be=
feftigen; zehn Schritte von ihm entflog ein unmwilltürlicher Aufichrei aus Diet-
rich Spumber’3 Mund. Er ftürzte, nach jeinem Schwert greifend, vor —
Chriſtoff Kreer hatte eine kurze Büchje unter feinem Mantel hervorgezogen, fie
auf die Bruft des Biſchofs gejeht und drückte mit den Worten ab:
„sch bring’ Euch das Handgeld zurüd — gebt’3 Sibylle Brede!“
Der Knall eines Schufjes lief am Gemäuer des Schmelgenhof3 um, Biſchof
Melchior ftieß aus: „Gott jei mir gnädig!” und fiel auf den Rüden feines
Hengftes zurüd, der mit wilden Schnauben anſprang. Wolf Weindheim’s Kopf
fuhr in die Höh’, und feine goldgefüllte Börſe jchlug Elirrend zu Fabian Brede's
Füßen nieder. Doc im ſelben Moment blikten und krachten ſechs andre Schüffe
auf; Jacob Fuchs ftürzte todt vom Pferd und ber Freiherr Wolf Carol von
Weinckheim ſchlug ebenfalls rückwärts über, aber fein Roß ging in wilder Flucht
mit ihm davon. Leblos jank auch Friedrich von Grafened herab; mit einem
Schuß dur den Rüden jagte David von Rot über die Brüde zur Stadt zu—
rüd, neben ihm Chriftoff Veit von Rinned, an deſſen filbernem Driband die
Kugel fich verfangen. Bligjchnellen Sprung: hatten die Geleitäreifigen der
Biihofsheimer Kaufleute ſich auf ihre Pferde geſchwungen, die entladenen Büchſen
durch den Fauſtriemen geworfen und ihre langen Schwerter herausgerifjen; die
Mehrzahl der Bürger Würzburg’3 ftand noch ftarr in dem wildkreiſchenden Ge-
tümmel. Nur einige eilten mit gezücdter Waffe dem Biſchof zu Hülfe, an ihrer
Spite der Waffenjchmied Dietrih Spumber. Er ftürzte mit feinem kurzen
Schwert gegen Chriftoff Kretzer und ſchrie: „Fahr zur Hölle, wohin du ge-
hörft, Mörder!” doch die lange Klinge des Neiterd traf mit einem Hieb die
Hand Spumbers, dat ihr die Waffe entfiel und er wehrlos unter dem wieder
gehobenen Schwert daſtand.
„In die Hölle — mag fein, doch Eure Klinge ſchickt Euch dahin vorauf,
Meiſter!“
Chriſtoff Kretzer ſtieß es mit ſtier und blutig hervortretenden Augen aus,
und die breite Klinge fuhr herunter. Doch im Hieb drehte plötzlich die Hand,
durchſchnitt nur die Baretfeder des Waffenſchmieds und pfiff wieder in die
Höh'. Starr niederblickend murmelte der Reiter: „Sie hat Euch lieb gehabt
— fahrt wohl!“ und er richtete ſich in den Bügeln auf und donnerte in's Ge—
tümmel: „Fort! Es iſt geſchehn!“
\
Wilhelm von Grumbad). 351
Keine Minute war jeit dem erften Schuß vergangen, und mit ftiebendem
Huf jagte ein Dutzend Reiter, in ihrer Mitte das ftrohgelb flammende Wamms,
bligesjchnell durch die Burkharder Gaſſe dem Thor zu.
Die teile Gafje zum Frauenberg hinan fchleppte Wolf Carol von Weind-
heim's Pferd feinen bewußtlojen Reiter bis an's Thor des Schloßhofs. Die
Zugbrüde rafjelte nieder, und über fie hin ftürzten der Hofmeifter Sebaftian
Nothafft zum Bodenftein und Georg Ludwig von Sainaheim zu Hohen-Kotten-
heim. Bor ihre Füße jchlug Wolf Weindheim vom Roß und ächzte: „Das
war Grumbach's Kugel,“ und fterbend Frallte jeine Hand in’3 Geftein. An ihm
vorüber flogen die beiden Edelleute die Schloßgaffe nieder, der Stelle zu, wo
irre Gejchrei das Schlimmfte fündigte. Rathlos, wie verftandesberaubt und
betäubt, trieb Alles durcheinander; die entjegten Kaufleute jammerten und
drängten nad) ihren verfahrenen Wagen und Maulthieren; niemand, jelbft Diet-
rich Spumber nicht, aus defjen durchhauener Hand ein dunkler Blutftrom jchoß,
befümmerte fi um den aus dem Sattel niederhängenden Biſchof. Nur Fabian
Brede ſchwankte auf jchleifenden Sohlen an ihn heran. Sein blödes Geficht
war von einem irren Lachen wie überlodert, feine Hand klirrte mit einer gold»
gefüllten Börſe, und er ftand und verbeugte fi) unabläffig vor dem regungs—
loſen Biſchof und ſprach:
„Habt Dank, Hochwürdigſter — nun geh' ich in den Wald mit Eurer fürſt—
lichen Gnaden Gold — und die Sibylle kommt mit mir heim, heut' noch, heut'
— und morgen bringt ſie Euer fürſtlichen Gnaden wieder den Pocal zu —
habt Dank, Hochwürdigſter, habt Dank!“
Er klirrte mit dem Beutel, und Biſchof Melchior von Zobel öffnete geiſter—
haft die Lider. Aus ſeiner Bruſt quoll das Blut, einen Augenblick ſtarrte er
wie in’3 Leere auf das kleine Steinmännlein, das mit dem Wappenjchild
unter dem Erfer des Schmelbenhof3 noch unverwandt ernfthaft=jeltfam hinab-
blickte; dann jchloffen fich feine Augen. Bon der Schloßgafje her kamen Se-
baftian Nothafft und Georg von Saindheim geftürzt und führten den gold-
flirrenden Bucephalus mit feinem fterbenden Herrn auf die ftolze Veſte des
Frauenbergs zurück.
Das war der dritte und der Hauptgrund, weshalb jeder der Einwohner
der Stadt Würzburg, der den 15. April des Jahres 1558 als Kind erlebt,
dieſes Tags noch als Greis gedachte, ihn nach zwei Menſchenaltern noch deut—
licher als das Geſtern in ſeiner zauberiſchen Frühlingsſchöne vor ſich ſah, über
bie, wie aus dem Füllhorn der olympiſchen Lenzesgöttin, die Sonne Blüthen-
fchnee, goldnen Glanz und jühe Wärme bis in’3 Herz hinein gegofjen.
Die alte Chronik jagt:
„Und nad) begangenen dieſen Mordthaten, riffen die Thäter aus. Und
hat Hand Zobel, des Biſchofs Vetter, jelben Tags von Weſpelhauſen nad)
Würzburg mit zweyen Dninern reiten wöllen, ftöft Kretzer obgemelt, mit fieben
feiner Rottgejellen auff jhnn, gibt jhm ein Schuß, und weiß er und feine Ge-
fellen nicht anderft, denn er, Zobel, werde diß Schuß fterben. Aber Zobel ift
doch hernacher wieder aufflommen, daf ihm dieſer Schuß am Leben nichts
eſchadet.
352 Deutſche Rundſchau.
„Und ſeyen die Mordthäter geweſen:
„Jobſt von Zetwitz, mit dreyen Dinnern. Zetwitz iſt durch die Bawern
in Franckreich erſchoſſen worden.
„Ditterih Picht. Ein Märkiſcher mit zwey Dinnern.
„Peter Weigel (ſonſt der dick Peter), Bürger von Elfeldt, im Land zu
Heſſen. Ein reiſig einſpennig Knecht. Der iſt zu Ach geköpfft worden.
„Hans Beheim. Ein reiſig einſpennig Knecht. Der Beheim ift zu Birden-
feldt erjoffen, aufm Hunds-Rüd.
„Michel Feiftlin, jonft Herbft genannt. Ein einjpennig Knecht.
„Der Kretzer mit noch vier entwichnen Buben und einjpennigen Knechten.
Der Kretzer — — —
„Dieſe haben auch vier Fußgehende bey ſich gehabt, die von einer Herberig
zur andern gegangen, und Kundſchafft gemacht.“
— EEE —
Die Sonne des fünfzehnten April 1558 wich von den ärmlichen Dachſtühlen
der Häufer de3 Dorfes Rimpar, eine Weile länger noch lag fie mit rothem
Gold drüben auf dem über grünem Bergrüden in die Luft fteigenden Thurme
von Seligenftatt und auf dem alten Gemäuer der verödeten Stammburg des
Grumbach'ſchen Geſchlechts, dann ſank fie hinter den Kramſchatzer Wald, und
nur in weiter Ferne oftwärt3 glühten die Spiten der Steigerwald-fuppen noch
einige Minuten, wie von feurigem Brande angeftrahlt, fort. Der Schnee des
Winter war aus ber weiten Trümmerftatt geflohen, und ewig jugendliches
Grün überwucherte allerorten Steinſchutt und ſchwarzverkohltes Gebälk; es
drängte fich Fe über die morjche Freitreppe durch die balfenloje Thür bis an
die Schwelle des Ahnenſaals hinan, e3 griff mit ranfenden Fingern zu ben ehr-
würdigen Wappenfchildern auf und Fletterte au8 Spalt und Fuge über den
Altar fort. Doc troß der Herrfchaft, die der Lenz begonnen, ſchimmerte es da
und dort noch mit fchneeiger Weiße. Der Wind mandes Jahrzehnts Hatte
Flugſamen verweht, der Zufall keimfähige Frucht mit ſich getragen, und jchlanfe
MWildlinge waren auf dem Schloßhof und im alten Gemäuer aufgejhoffen und
wiegten blüthenbededt ihre weißen Kronen ſchon hoch im Abendhauch des
Frühlings.
Todtenſtill, einſam und ſchwermüthig war es zwiſchen den geborſtenen
Ringmauern der öden Burg. Man ſah, daß unheimliche Scheu den Fuß der
Bewohner des Thales drunten ſelbſt im hellen Mittagslicht zurückhielt, fie zu
betreten; jetzt, wo die Schatten in den düſtren Winkeln ſich zu ſchwärzen be—
gannen, wagte ficher der keckſte Hirtenbube jogar fih um hohen Preis nicht
mehr in den Bann der verrufenen Trümmer, aus deren Tiefe die Leute zu
Rimpar dann und wann in ftürmilcher Mitternacht rothe Funken aufjprühn
gejehn haben wollten. Nur eine Goldammer jchaufelte auf dev höchſten Spitze
eined® Baums, der aus der Plattform des Wartthurms zur Rechten herauf:
gewachſen. Sie blicte der abfinfenden Sonne nad und hob in Paufen ihren
immergleichen, eintönig melancholiſchen Gejang und ließ ihn wieder fallen,
Schwermüthiger noch ala die Hangloje Stille flötete der lebte, Tanggezogene Ton
Wilhelm von Grumbad). 353
durch die leeren Säle und über die ſchweigſame Gruft ſtolzer DVergangen-
heit Hin.
Doch nun ſchlug auc der Vogel feine Schwingen, und feine gelbe Bruft
verſchwand in’3 Dämmerlicht hinaus. Auch er war erjchredt davon geflogen,
denn unter ihm am Fuß des Thurmes hatte fich etwas geregt, ein Stein, der
ſich gelöft umd in die Tiefe gefollert, und eine dunkle Geftalt, deren Fuß ihn
geftürzt, ftand und blickte hinterdrein. Reglos den Blick in die Ferne geheftet,
wie ein aus hoher Luft jpähender Geier, und fieberhaft aufhorchenden Ohrs.
Das Zwielicht vertwebte Alles; allmälig, langjam kamen die Sterne der milden
Naht. Fernher von Seligenftatt verflang mattes Glodengeläut, und in den
weißen Blüthen jchauerte der Fühlere Wind, daß es wie leifer Regen auf die
dunkle Geftalt niedertropfte. Aber fie harrte umbewweglih aus, Stunde um
Stunde, bis die Mitternadht faft heranfommen mochte. Da hallte durch das
ftille Dunkel fernherüber der Huf eines einzelnen Pferdes, weit hinaus ſchon
vernehmlich; ab und zu verſchwand der Ton auf weicherem Erdreich, doch er
tauchte, ſich ſtets nähernd, wieder aus der Nacht, bis er deutlich von dem Fels—
grund des fleinigten Weges emporklang, der zur Ruine heranführte Einen
Augenblid horchte die dunkle Geftalt noch, dann ſchimmerte es mit gefpenftifcher
Weite zwiſchen den Lippen auf, die ein kurzes, heiſeres Lachen ausftießen, und
Wilhelm von Grumbach ſchien, nachdem er fi) einige Schritte an dem finftren
Gemäuer, fortbeivegt, von der Erde verſchlungen.
Eine Eule jchrie und funkelte mit den Augfternen aus dichtem Eppich«
gerant, ala im Schloßhof der heraufgefommene Reiter fid) vom Sattel ſchwang.
Furchtlos und von der Finſterniß umbeirrt, durchſchritt er den wiberhallenden
Ritterfaal, einige Minuten jpäter dröhnte in der Tiefe ſchwere Eichenbohle
unter pochendem Schwertgriff. Eine Stimme frug: „Wer ift’3?" — „Der
Kretzer.“ — Und die Holzwand drehte fih, im gewölbten, lampenerhellten Ver—
ließ ftand wie in der Januarnacht Chriftoff Kretzer vor dem geächteten Ritter.
Grumbach's Geftalt war von einem lang bis zu ben Füßen fallenden
Mantel verhüllt, doch er trug einen eifernen Helm mit aufgefchlagenem Fall-
gatter auf dem Kopf, und wenn er fich beivegte, verrieth ein Klirren unter dem
Mantel die volle Rüftung. Brennend forſchte fein Blid in den wilden Zügen
des Gintyetenden; diejer wartete noch einen Moment, eh’ er harttönig ſprach:
„Es ift.“
„Iſt? Von Deiner Hand?“ Wilhelm von Grumbach padte Kretzer's Arm:
Todt ?*
„Freikugel war's, er ſelbſt hatte ihr ſeinen Segen gegeben und ich gab
ihn zurück. Knechtswort, Herr Ritter, wenn er heut' noch lebt, morgen
nicht mehr!“
„Und Wolf Weinckheim?“
„Todt. Auch durch die Bruſt geſchoſſen, von Ditterich Picht.“
„Ich Lebe, Wolf Weinckheim!“
Grumbach ſtieß es mit triumphirendem Hohn aus; mehr denn je ähnelte
er einem Eber, der ſeinem Todfeind die weißen Hauer in die a geftoßen.
Deutfäe Runbidjau. I, 12,
354 Deutſche Rundſchau.
Er trat mit raſchem Schritt an den Tiſch, auf dem die Lampe ſtand, zurück,
und die beiden Inhaber des unterirdiſchen Gemachs blickten ſich eine Weile in
eigenthümlichem Schweigen an. Es war ſo ſtill, daß man den Fall der von
der Mauer niederſickernden Tropfen vernahm; endlich ſagte Chriſtoff Kretzer:
„Ich habe Knechtswort gehalten, Ihr habt mir Lohn zugeſagt auf
Ritterwort.“
„Willſt du ihn, Chriſtoff Kretzer?“
„Däucht's Euch nicht, daß ich ihn endlich verdient?“
Ein flammender, weiß dämoniſcher Glanz loderte aus Wilhelm von Grum—
bach's Augen, und ſeine Lippen ſprachen nach:
„Verdient? Du willſt endlich, was Du verdient haft? Es iſt Dir nicht
genug, daß ich Dich von der Gaſſe aus dem Blut gehoben, Dich mit Blut auf—
genährt und ein wildes Thier, eine fletſchende Beſtie aus Dir gemacht habe?
Den Stamm willſt Du wiſſen, von dem Du abgefallen? Wort um Wort ver—
hieß ich Dir, es gibt noch Treu und Glauben, Chriftoff Kretzer. Deine Mutter
war nicht da3 Weib, in deffen Blut Du am Brunnen zu Seligenftatt drüben
lagit. Eine Säugamme war’3 nur, der die Kugel da die Bruft durchpfiff, an
der Du trankſt; man hatte Di ihr gegeben, um Deiner ledig zu fein. Deine
Mutter, die Dich zur Luft in diefe Welt geboren, hieß Arına von Grumbach —“
Kretzer ftarrte irrbetäubt auf den Sprecher; feine Knie ſchwankten, feine
Zunge ftammelte:
„Anna von Grumbad —? und Ahr — Ihr feid mein —?“
„sh? Die Ehre wäre zu hoch, Burfh! Du bift von edlerem Stamm —“
„hr wollt mich täufchen — wenn Ihr nit — wer ift mein Vater?“
Ein Blitz tödtlihen, in Wolluft befriedigten Haffes ſchoß in das Geficht
des Landsknechtes, um den die Felswände fich Freifend zu drehen begomnen.
„Mein Rittertvort drauf, ich täuſche Dich nicht, Chriſtoff Kretzer, ich zahle Dir
den vollen Lohn, den Du um mich verdient! Du haft Deinen Bater gekannt,
doch Ihr jeid nicht freundlich von einander geſchieden, denn er ift nicht mehr, er
war. Aber heut’ Morgen noch nannte die Welt ihn Meldior von Zobel, Fürft-
biihof von Würzburg!”
Ein befinnungslojer Schrei, mit dem Chriftoff Kreber fein Schwert von
der Seite riß, entgegnete auf das letzte Wort. Einen Augenblid funfelte die
lange, blutbedeckte Klinge aus der Werkſtatt Dietrih Spumber's im Lichtjchein
des nächtlichen Verließes, doch im jelben Moment jchmetterte der gehobene Arm
Grumbach's die Lampe vom Tiſch zur Erde. Sie erloſch, und todte Finfterniß
deckte Alles; Kretzer's Schwert jprang im Dunkel klingend von eifernem Helm
oder Harniſch ab, er ſchrie: „Du entrinnft mir nicht, Teufel!” und jtürzte in
die Richtung, aus ber er das Klirren der Rüftung vor fi vernahm. Dod
mit donnerndem Krach jchlug gleichzeitig recht3 von ihm eine in der Mauer
verborgene ſchwere Thür in's Schloß, draußen ftieß eine Hand kreiſchenden Riegel
vor, und Wilhelm von Grumbad’s Stimme rief dem wie wahnfinnig gegen die
jchwere Bohlenwand Hämmernden mit eifigem Hohn hindurd):
„Der Herzogsſitz Deines Vaters in Franken ift leer, Chriftoff Kretzer —
Wilhelm von Grumbad). 355
fteig’ hinauf! Du warſt zu Hohem geboren, und ich Half Dir dazu. Nun find
wir quitt!”
Der Schritt des Rufers verhallte klirrend durch unterirdiichen Gang der
alten Burg, und Chriftoff Kreker brach bewußtlos in der Finfterniß zufammen.
Dann lief eine Stunde jpäter fein irrgelles Lachen durch den öden Schloßhof
und hallte geifterhaft au3 den Trümmerjälen zurüd; Pferdehuf ftob Funken
au3 dem Geftein, und den fteilen Pfad hinab durch die Nacht jagte nordwärts
der Reiter, daß die Bewohner Rimpar’3 aus dem Schlaf auffuhren und, ein
Kreuz ſchlagend, den Kopf unter die Dede zurückkauerten.
Am Frühmorgen aber, als die erften Mägde in Seligenftatt zum Brunnen
gingen, flogen fie mit kreiſchendem Entſetzen zurüd. An einer Krampe in der
Steinröhre, aus der da3 Waller ſprudelte, hing eine Geftalt mit narbigem,
tothhärtigem Geſicht; die weitaufgerifjenen Augen ftarrten weiß und geifterhaft
aus den todten Zügen vor fi) hinaus. Im Brunnen lag ein langes, blutiges
Schwert, ein Pferd ftand daneben und ſchnob in der Morgenluft zu dem Todten
auf. Niemand kannte ihn, Männer kamen, jchnitten ihn herab und verſcharrten
ihn unter dem Galgen.
Die alte Chronik jagt in * Abſchnitt „Und ſeyen die Mordthäter
geweſen“:
„Der Kretzer mit noch vier entwichnen Buben und einſpennigen Knechten.
Der Kretzer hat ſich zu Seligenftatt erhenckt.“
Es war um fünf Jahre jpäter, daß Wilhelm von Grumbach, noch immer
in Acht und Bann des Reid, mit großem Anhang des Adels der ehemals
markgräflichen fränkiichen Lande und im Bunde mit dem Herzog Johann Fried—
rich von Gotha, vor Würzburg z0g, die Stadt mit ftürmender Hand eroberte
und Brand und Blut durch die Gafjen bis an den Main hinabwälzte. Strom=
auf und ab, vom Fichtelberg bis zum Speffart loderte vier Jahre lang wieder
Krieganoth und Gräuel; an Markgraf Albredt’3 von Brandenburg Statt hatte
ber Geächtete für feine Pläne ein lenkſames, willenlojes Werkzeug in dem
Herzog Johann Friederich gefunden. Dann traf aud) diejen die Acht des Reichs,
nordwärt3 in feine Erblande drängte ihn Churfürft Auguft von Sachſen, Moritz'
von Sachſen Nachfolger, und zwang am 13. April des Jahres 1567 die in ihr
letztes Afyl, die Veſte Grimmenftein zu Gotha, Emporgeflüchteten zur Ergebung.
Neun Jahre genau waren feit Melchior's von Zobel Tode vergangen, und der
Frühling ftreute jeinen weißen Blüthenjchnee über das Thüringer Land, da
trug ein Wagen den Herzog Johann Friederich von Gotha zu ewiger Gefangen-
ſchaft an der Richtftatt vorbei, wo Henkershand den Ritter Wilhelm von Grum-
bad) lebendigen Leibes zuviertheilte und die zudenden Stüde in die Wind-
richtungen hinauswarf.
Zu Würzburg aber, wo an ber Ede der Straßen und Winde bie Zeller—
gaffe mit der fteil abwärtäfteigenden Schloßgaffe in ſpitzem Winkel zujammen-
läuft, erhob fich grad’ dem plätjchernden Brunnen gegenüber an der Stelle, wo
der Fürftbiihof und Herzog zu Franken Melchior von Zobel durch Chriftoff
23 *
356 Deutiche Rundſchau.
Kretzer's Kugel fiel, ſchon manches Jahr zuvor die fteinerne Gedenkjäule mit
der Akroſtichon⸗Inſchrift:
„Im Jar MDLVIU am XV Aprilz
Melchior der Löblich Fürst und Herr
Erschossen war mit List und Gfer
Laidiglich hie an disser Statt
Christlich sein End genommen Hatt.
Hart bey dem Schlos am berg mit clag
Iacob Fuchs blieb auch an disen Tag.
On Schuld des andren Tags darneben
Räumt Wolf Karl von Weinckheim dis Leben.
Zwen Edle und ein freiher ward
On Ursach auch geschossen hartt,
Bliben mit Schmertzen doch zu leben.
Ewig den selen Gott Woll geben
Leben Freud Whunn u Seligkeit
Letzlich auch unnz ynn Ewigkeit.
ANNO. DNI. MDLVIO. XVI Cal. MAIL.
Noch immer blickt das Kleine Steinmännlein mit dem Wappenfchild unter
dem Erker des Schmeltenhofs, der heut’ den Namen „Zu den brei Kronen“
trägt, ernfthaftsunvertvandt auf den led hin, wo dem plätjchernden Brunnen
gegenüber die fteinerne Gedenkjäule aufragt, und wer durch die Zellergaffe fremd
daherfommt oder fie Hinanjchreitet, hält wol aufmerkſam einen Augenblick vor
der alten Inſchrift an und jet gedantenvoller feinen Weg über die Brücke fort,
unter welcher der Main mit graugrünen Waſſern Luftig feit vielen Jahr—
hunderten dahinjchnellt.
Gaftelfranco und Villa Mafer.
Don
Alfred Woltmann.
Den vorlegten Tag, der mir im Herbfte 1874 auf italieniichem Boden
vergönnt war, benußte ich zu einem Ausfluge von Treviſo aus, den deutjche
Reijende jonft jelten zu machen pflegen. Mein erjtes Ziel war Caftelfranco,
die Heimath de3 großen Maler? Giorgione, mein zweites Majer mit einer
Villa, die Paolo Beroneje mit Fresken geſchmückt hat. Wenn man fich einen
Wagen nimmt und früh aufbriht — ich fuhr ſchon um fieben Uhr ab — jo
fann man Beides in einem Tage aufjuchen. Die Fahrt ift feine beſonders reiz-
volle, denn Gaftelfranco liegt völlig in der Ebene, etwa 27 Kilometer weftlic)
von Trevilo, an der Straße, die über Gittadella nad) Vicenza führt. Das Land
ift reich bebaut, aber einförmig, Freundliche Ortichaften Liegen am Wege, oft mit
ftattlihen Kirchen, neben denen meift ein ftolger Campanile, eine verkleinerte
Nahahmung des Marcusthurmes in Venedig, ifolirt emporfteigt. Mit der
Zeit verlor ſich der Nebel, welcher die Ferne verhüllte, und num tauchte zur
Rechten die Kette der julifchen Alpen hervor.
Gaftelfranco kündigt fi) endlih von Weitem durch ein paar malerijche
Thürme an. Man fährt durch ausgedehnte Vorftädte und wird dann plößlich
durch einen großartigen Anblid überrafht. Da fteigen riefenhafte Mauern auf,
die vierftöcige Häufer an Höhe überragen; fie umgürten maleriſch den älteren
Kern der kleinen Stadt. Stellenweije verfallen, mit Buſchwerk dicht bewachſen,
ericheinen fie doch noch immer kühn und troßig. Ueber den ausgetrodneten
Graben führt eine Brüde zum ehemaligen Stadtthor, das mit dem Löwen des
heiligen Marcus geihmüdt ift und über welchem ſich ein mächtiger Thurm mit
Zinnenkranz erhebt. Um diejes abenteuerliche Neft zieht ſich dann ein weiter,
tingförmiger Pla hin, dem ſich die neueren Stadttheile anſchließen.
Hier war Giorgio Barbarelli, genannt Giorgione „wegen jeiner
Grokmüthigkeit”, wie Sandrart fi ausdrüdt, geboren, und zwar im Jahre
1477, falls Vaſari uns recht berichtet. Er war von unehelicher Geburt und
ift auch jpäter nicht legitimirt worden; aber als er in der folge berühmt geworden,
war die Familie Barbarelli doch auf ihn ſtolz und rechnete ihn zu den Ihrigen.
In Venedig, in der Werkftatt des Giovanni Bellini, empfing er feine künſtleriſche
358 Deutſche Rundſchau.
Bildung, aber über die Grenze der Schule wuchs er bald hinaus. Jüngere
Genoſſen, in erſter Linie Tizian, riß er mit fort auf neue Bahnen, einen völlig
modernen Stil bildete er aus. Durch ſeine Kunſt wie durch feine Perjönlichkeit
ſchuf er fich eine bevorzugte Stellung. Seine edlen Sitten und jein mufifalijches
Talent machten ihn zu einem Liebling der Gejelichaft, die Vornehmften durfte
er porträtiren, größere Aufträge wurden ihm zu Theil. Aber feinem Leben voll
Arbeit, Ruhm und Genuß ward plößli ein Ziel gejeßt; er ftarb im Jahre
1511 an der Beft.
So groß jein Ruhm ift, jo Klein ift dennoch die Zahl der Arbeiten, die
heute von feiner Hand nachweisbar find. Die Spuren jeiner Anfänge find ver-
weht; jeine größeren decorativen Arbeiten, wie die Wandbilder am Aeußeren des
Kaufhaufes der Deutjchen in Venedig, find zu Grunde gegangen. Zahlreiche
Gemälde werden ihm in öffentlichen Galerien wie in Privatjammlungen bei=
gemejjen, aber bei weiten zum größten Theil mit Unrecht. Vor der modernen
wiſſenſchaftlichen Kritif, wie fie namentlich Crowe und Cavalcaſelle neuerdings
geübt Haben*), hält nur wenig Stand. Bilder, die auf jeinen Namen gingen,
find verjchiedenen Schülern, Nachfolgern, Zeitgenofjen zugewiejen tvorden. Was
in Italien wirklich von Giorgione übrig ift, beſchränkt ſich auf Vereinzeltes.
In den Ufficien zu Florenz befinden fich zivei Jugendbilder, eine Scene aus der
Kindheit des Moſes und das Urtheil Salomo’3. Der Palazzo Pitti befigt das
berühmte Hauptbild feiner reifften Zeit, da3 Concert: jene drei Halbfiguren, die
an fi) als Charaktere jo großartig und zugleich durch eine jo geheimnikvolle
Macht der Stimmung zujammengehalten find. In Rovigo enthält die kleine
ftädtiiche Galerie einen männlichen Bildnißkopf in Eleinem Maßftabe, aber von
feltener Kraft und Gluth, den auch die neueften Forjcher dem Meifter laffen. In
der faſt gänzlich zeriplitterten Galerie Manfrin zu Venedig fieht man noch jene
Landſchaft von Giorgione’3 Hand, auf welcher Thürme, ganz denen von Gajtel-
franco ähnlih, aus dem Gebüſch hervortaucdhen, während ein faft nacktes
Weib, das, ihr Kind im Schoofe, am Bache fitt, und ein anmuthiger Jüngling
mit einem Speer die Staffage bilden, der wieder ein unenträthjeltes novelliftiiches
Intereffe zu Grunde zu liegen jcheint.
Das wichtigſte Bild Giorgione’3 muß man indeljen in feiner Vaterſtadt
aufjuchen. Es iſt das einzige, welches wirklich ala beglaubigt gelten kann, und .
in Folge deſſen ift es von unſchätzbarem Werthe, indem es einen Maßftab für
die Beurtheilung de3 Meifterd gewährt. Das Gemälde, ein Altarbild, ift weit:
älter als die jetzige Kicche, ein Bau im Stil des 17. Jahrhunderts, in welchem
e3 jeinen Platz jeitwärt3 im Chor gefunden hat.
Es jtellt in etwa zweidrittel-lebensgroßgen Figuren die thronende Madonna
mit dem Kinde und zu ihren Füßen die heiligen Liberale und Franciscus dar.
Der Thron ift jo hoch, daß die Jungfrau über alle unmittelbaren Beziehungen
zu den beiden Heiligen hinausgehoben ift. Aber der ftreng ſymmetriſche Aufbau
Ihließt das Ganze jo harmoniſch zufammen, daß doch feine Vereinzelung der
Geftalten eintritt. Maria, deren Stirn durch einen Schleier fein beichattet wird,
*) A History of painting in North Italy, ®b. II., London 1871.
Gaftelfranco und Billa Majer. 359
ift im Ausdrud mild und lieblid; das Kind, in den nadten Partien reizend
durchgebildet, blickt freundlich herab. Der heilige Liberale, dem es ſich zuneigt,
ift das Bild eines edlen, jugendlichen Krieger, ganz in blinfende Stahlrüftung
gehüllt. St. Franciscus, mit dem Ausdrud ſchwärmeriſcher Erregung, aber dabei
vol Maß und Würde, fteht auf der anderen Seite. Unter Maria’3 Füßen
liegen zwei farbenreiche Teppiche; ein weißer Teppich) mit goldener Mufterung
bei ſchwarzer und blauer Füllung fällt an der Rückwand des Thrones herab.
Saftiges3 Grün und leuchtendes Roth find in dem Kleide und dem Mantel der
Maria unmittelbar zufammengeftellt. Den Hintergrund bildet eine Landichaft,
baumreich mit malerifchen Gebäuden und dem Blick auf Gebirge und Meeresküſte.
Einige Kleinere Figuren tauchen in der Ferne als Staffage auf. Die Stimmung
ift duftig und heiter.
Volle Schlihtheit bei eigener Tiefe der Empfindung zeichnet dies Gemälde
aus. Die Anordnung ift durchaus anſpruchslos, und doc ift mit Sicherheit das
Nechte getroffen. Das feinfte Verftändni aller Fünftleriichen Mittel, die ge-
diegenfte Zeichnung treten uns entgegen, und namentlich) ift die Anordnung
der Gewänder von einer Einfachheit und einem Gejchmad, gegen den faft alle
ſpäteren Venetianer, Tizian nicht ausgenommen, zurückbleiben. Durchaus farbig
ift das Ganze gedacht, und das Golorit ift bei aller Kraft des Vortrags, aller
Energie der Schattengebung durchſichtig und von goldiger Klarheit. Die ziem-
li Eleinen Köpfe bei jchlanfen Figuren find eine Eigenthümlichkeit, die auch in
Giorgione’3 Bildern in den Uffizien wiederkehrt.
Am Sodel des Thrones befindet ji) das Wappen der Familie Conftanzi.
Tuzio Conſtanzo, ein alter, erprobter Capitano, der feine Refidenz in Gaftel-
franco Hatte, ift der Stifter. Er ließ es von dem großen Meifter, der aus
diefer Stadt hervorgegangen, anfertigen, ala jein Sohn Matteo im blühenden
Sünglingsalter im Jahre 1504 bei Ravenna gefallen war. Dan darf annehmen,
daß die Geftalt des heiligen Liberale ein Bildniß des Matteo jelbit if. Crowe
und Gavalcajelle haben darauf aufmerkjam gemadt, daß Matteo auf feinem Grab»
ftein, im Friedhofe eben dieſer Kirche, in ganz gleicher Rüftung erjcheint. Eine
fleine, ganz meifterhafte Studie zu dieſent ritterlichen Heiligen befindet ſich in
der Nationalgalerie in London. Der Yüngling erjcheint hier ebenjo, nur ohne
Helm. Das Altarbild ftand früher in einer bejonderen Fyamiliencapelle, die
Giorgione aud mit Fresken geſchmückt Hatte; diefe aber bat mit ber älteren
Kirche dem jegigen Bau Pla machen müſſen.
Don Gaftelfranco aus jchlug mein Kutſcher die Richtung nad) dem Abhang
der Alpen, mit einer leifen Wendung oſtwärts ein. Der Weg war ihm jelbit
unbekannt oder ungewohnt, aber uns halfen gelegentliche Anfragen auf den be—
lebten Straßen Weiter. Die Landichaft gewinnt an Anmuth, Ortſchaften,
Thürme, Landhäufer und freundlich gelegene Hlöfter winken von den Abhängen
herüber; nur da3 Wafler fehlt. Etwas zur Linken bleibt Aſolo liegen, wo einft
Katharina Cornaro, die ehemalige Königin von Cypern, refidirte, und wo Pietro
Bembo in den erften Jahren des 16. Jahrhunderts, noch vor Beginn feiner
glänzenden Laufbahn am päpftlichen Hofe, feine Aſolani jchrieb. Maſer ift der
Name de3 Dorfes, neben welchem die Villa fi aufbaut. Sie liegt auf dem Ab-
360 Deutſche Rundichan.
bange eine Hügel3, der von der Landitrafe anfteigt, von Gärten umgeben.
Etwas unterhalb befindet fich eine Kleine Kuppelkirche, welche bald nad) dem
Landhauſe errichtet ward.
Die Billa ift von Balladio für den edlen Venetianer Marcantonio
Barbaro und feinen Bruder Daniele, den Patriarchen von Aquileja, erbaut
worden. Aleſſandro PBittoria, der berühmte Bildhauer, fertigte ihren
plaftiſchen Schmud, Paolo Veroneſe malt fie in Fresco aus. Schon jeit
der Zeit ihrer Entftehung war fie berühmt. Palladio jelbjt gab ihren Plan in
feinen „vier Büchern der Architektur” heraus. Joachim von Sandrart, deijen
„Teutſche Akademie” eine jehr beachtenswerthe Biographie Paolo’3 enthält, ge=
denkt ihrer mit folgenden Worten: „Unter anderm hatte Paulus zu Mafiera
bey Ajolo in das ZTrivifianifche, den jchönen Palaft des Heren Daniel Barbaro,
Patriarchen von Aquileja, gemahlt.“ Auch ſonſt ift in der älteren Kunftliteratur
von ihr die Rede, aber in neuerer Zeit war fie jeltener beachtet worden. Erſt
im Jahre 1866 erinnerte H. Reinhardt an fie durch einen Kleinen Aufjaß in
der Zeitjchrift für bildende Kunſt. Eine ausführlichere Schilderung hat dann
ein franzöſiſcher Schriftjteller, Charles Nriarte, in der Revue des deux mondes,
September 1873, veröffentlicht. Diejer Aufſatz war der Vorläufer eines ftatt-
lihen Bandes: „La vie d’un patricien de Venise au seizieme sièele“, der
kürzlich (Paris, E. Plon, 1874) erjchienen ift, Marcantonio Barbaro’3 Geſchichte
behandelt und an die einzelne intereffante Perjönlichkeit eine Schilderung des
damaligen venetianiichen Lebens, der Sitten, der gejellihaftlichen Verhältniſſe,
der Stellung und Thätigfeit der Patricier im Staatsleben knüpft.
Heute ift die Villa das Eigenthum des Heren Giacomelli, eines reichen In—
buftriellen, der ihr eine würdige und discrete Herftellung zu Theil werden lieh.
Der Beſucher, den ächtes Kunftintereffe hierherführt, ift wohl aufgenommen.
Sch ſelbſt kann nur mit dem wärmſten Dank die Zuvorfommenheit rühmen, mit
welcher die antvejenden Damen mir gejtatteten, mehrere Stunden zu verweilen,
in den Zimmern, in denen fie ſelbſt ſich aufhielten, ganz in Muße zuzufchauen,
zu ftudiren, Notizen zu machen.
Das Bauwerk ſelbſt ift einfach, fein foftbares Material ift aufgewendet, es
ift ein Pußbau, defjen reichere Ausftattung wejentlih dem Inneren aufbehalten
blieb. Palladio, deſſen Sache es vielleicht mehr war, Monumentalgebäude im
größten Stil zu componiren, bequemte fich überhaupt nicht jo leicht dem Cha—
rakter des. Landhaufes an. Reizvolle Unterbrechungen der Symmetrie, ein Comes
poniren auf malerij he Wirkung hin find bei ihm feltener zu finden.
Der Abhang ift regelmäßig terraffirt und mit jymmetrifchen, ftrengen Garten-
anlagen geſchmückt. Die Front des Gebäudes wendet fi) gerade gegen Süden,
mit freiem Blick auf die lachende, jonnige Ebene. Nur ein Stockwerk fteigt
über dem niedrigen Erdgeſchoß empor. In der Witte der langeftrediten Façade
tritt ein jchmaler Flügel weit nad) vorn heraus, mit einem Giebel gekrönt. In
den zurüdliegenden Theilen beiderjeits zieht fich eine Bogenhalle in der Höhe
beider Stodwerfe hin. Die Edrijalite zeigen wieder hohe Giebel, diesmal aber
Ihwerfällig, faft zopfig, mit plumpen, anfteigenden Voluten. Die Rückſeite des
Haufe wendet ſich gegen einen etwas höher gelegenen, anmuthigen, von zwei
Gaftelfranco und Billa Mafer. 361
Edflügeln umfchloffenen Hof unter dem fteileren Abfall des Berges. Hier baut
fi eine Eredra in den Hügel hinein, die eine Grotte mit fprudelndem Waſſer,
Statuen in Stud und Injchriften in Verſen enthält. Gegen dieſen frifchen,
geſchützten, immer ſchattigen Platz find die Fenſter der Hauptgemächer gerichtet.
Unten, im mittleren Vorbau, ift der Haupteingang; man tritt in ein ziem-
lich niedrige, ſchmuckloſes Beftibül, aus welchem, in den Eden des Vorſprungs
und der Arcaden, zwei Treppen zum Hauptgeihoß emporführen. Oben betritt
man zunächft eine kreuzförmige Halle, die den größten Theil des Vorbaues ein-
nimmt (I auf unferem Grundriß). Sie ift an der Vierung von einem Kreuz⸗
gewölbe, jonft von Tonnengewölben bedeckt. Dieſer Raum, mit feiner jchönen
362 Deutſche Rundichau.
PVeripective, jeiner reizvollen Lichtwirkung, ift in der farbigen Ausftattung ein-
fach) gehalten, Vittoria’3 Stuccaturen ſchmücken die Dede, die Wände aber haben
hier wie in den übrigen Gemächern rein durch die Malerei ihre architektoniſche
Eintheilung und Decoration empfangen. Gannelirte Pilafter, Frieſe mit reihem
Fruchtgehänge, Thüreinfaffungen mit claffiicher Gliederung und verzierten Giebeln
find in täufchender Wirkung an die Wand gemalt, und der Querflügel des
Raumes enthält in act Nijchen Hohe FFrauengeftalten mit mufikalifchen
Anftrumenten, in edlen Stellungen, mit dem Ausdrud ſtimmungsvoller Be—
geifterung.
Ueberrafchend wirkt dann namentlich ein liebenswürdiger Scherz des Malers.
Den Thüren zu den zwei ganz Eleinen Gabinetten gegenüber find zwei ent—
Iprechende Thüren gemalt, die Flügel der einen öffnet ein zierlicher Page in
verbindlicher Haltung, aus der andern laujcht ein freundliches Kleines Land
mädchen hervor. Im richtigen Größenverhältniß ftehen uns beide gegenüber, fie
find fo naid und unmittelbar in ihrer Bewegung, daß wir nicht blos beim
erften Eintreten, fondern auch jpäter, jo oft wir an diefe Stellen zurückkehren,
ein lebendes Wejen zu exbliden meinen, das uns begrüßt und artig nad) unjerem
Begehr Trägt.
Die beiden ifolirt an der Hauptfront gelegenen Gemächer (II und I),
offenbar Gejellihaftsräume, welche in Gemeinſchaft mit dem kreuzförmigen Vor—
faal das eigentliche Repräjentationslocal der Villa bildeten, find in ihrem
Schmucke ungleich reicher. Die größeren Gemälde an den Tonnengewölben find
in der Ausführung das Schönfte unter allen diejen Malereien; flüchtiger, aber
flott und glücklich erfunden ift die gemalte Wanddecoration. Zwiſchen ioniſchen
Säulen glaubt man in das Freie hinauszubliden, denn bier find Landichaften,
allerdings ganz decorativ und vedutenhaft, jedem Stimmungsleben ebenjo fern,
twie die Landichaften von den Wänden Pompeji's, dargeftellt. Statuen in Bronze-
oder Steinfarbe ftehen in den Niſchen, Reliefs, ebenfall3 täuſchend wirkungs—
voll, find im Sodel und in den Ztwideln angebradht. Ueber den gemalten
Thürgiebeln und den Kaminen, welche mit dem Frieſe das einzige Plaftijche
bilden, ruhen Geftalten von nadten Männern und Frauen oder Faunen und
Bachantinnen, jcheinbar plaftüch, in fühnen Stellungen, ſich jymmetrijch ent-
Iprechend, nach dem Vorbilde Michelangelo’3. An jeder Dede jehen wir dann
drei große Gemälde, das reichjte in der Mitte, während der übrige Theil der
MWölbung in eine freundliche Laube verwandelt ift.
Die Gemälde zu bejchreiben, ihren geiftigen Inhalt enträthjeln zu wollen, ift
feine leichte Sache; auch Priarte hat es in jeinem Buche nicht verjucht. Dem
Maler kam e3 auch ficher nicht in erfter Linie darauf an, fein gegliederte Gedanken—
reihen ſichtbar fich ausbreiten zu laſſen; für Paolo Veroneje war das MWejent-
lichte, die Räume mit feftlichen, jchön bewegten und reich gruppirten Figuren zu
füllen, deren Anblid dem Auge behagte. Es überwiegt die Geftaltenmwelt der
claſſiſchen Mythe. Mitunter jpielen künſtliche allegoriiche Beziehungen nad) der
Mode der Zeit hinein, wie e8 auch bei Paolo’3 Malereien im Dogenpalafte der
Tal ift; aber die Friiche und Phantafie des Künftlers reift ihm über die Ab—
gründe der Lehrhaftigkeit, Abfichtlichkeit und Phrafe, die bei ſolchen Vorwürfen
Gaftelfranco und Vila Mafer. 363
nahe liegen, hinweg. Sämmtliche Bilder find feit Kurzem in trefflichen Photo-
graphien von Naya in Venedig zu haben. Dieje liegen vor mir, während id)
Ichreibe, fie ergänzen die an Ort und Stelle gemachten Notizen, und jo ift es
möglich, mehr, ala bisher gejchehen, auf das Einzelne jchildernd einzugehen.
Den frohen Genuß des Daſeins, harmonijches häusliches Glück, ein durch
Kunft und geiftige Interefjen verjchönertes Leben zu feiern, jcheint in den Deden-
bildern diejer beiden Vorderzimmer da3 Thema gewejen zu fein; die Inſchrift
über dem Eingang de3 einen: „Et genio et laribus,“ ift qut gewählt. In dem Zim—
mer linf3 (IT), über der Thüre, fitt eine Geftalt, halb Charitas, halb Abundantia,
auf dem Boden, ein blühendes Weib, umgeben von Prachtgefäßen und umringt
von Flügelknaben, von denen der jüngfte ihr auf den Schooß Hlettert und nad)
ihrer Mutterbruft verlangt. Das entjprechende Feld über dem Camine mag ein
Sinnbild der Harmonie jein: drei jchöne junge Weiber führen auf Geige und
Gello ein Concert auf. Auf dem Mittelfeld thronen drei göttliche Weſen auf
Wolken, ein Dann mit einem ‘Pfeilbündel, vielleicht die Eintracht (il accorso),
und zu jeinen Seiten zwei frauen, vielleicht Liebe und Treue repräfentirend;
die eine wenigſtens erſcheint nackt wie eine Venus, der Amorknabe jpielt zu ihren
Füßen, den Zeigefinger der Rechten hält fie bedeutungsvoll an die Lippen. Bor
diejer Gruppe erbliden wir in Verehrung zwei Männer und eine Inieende Frau,
auf welche ſchwebende Amoretten Blumen herabftreuen. Man darf diefe drei
wahrjcheinlich für idealifirte Bilder der beiden Brüder Barbaro und der Gattin
Marcanton’3 halten. Die Männer find ſich ähnlich) wie Brüder, und die Züge
de3 weiter vorn Stehenden ließen fi) wohl mit dem Bildniß des Marcantonio
Barbaro in Einklang bringen, welches da3 Wiener Belvedere von Paolo’3 Hand
bejigt und da3 dem Buche von Priarte in Radirung beigegeben ift.
Das Mittelbild des anderen Gemaches (III) zeigt uns wieder zwei Brüder-
geftalten auf Wolken, diesmal als Jäger, mit ihren Hunden. Dem Einen, der
fi) bequem Hingelagert hat, preßt ein derber Bacchus-Jüngling den Saft einer
Traube in die hingehaltene Schale. Seitwärt3 ruht ein Greis mit dem Füll-
born, eine geigende Mufe, von Genien umringt, ſchwebt in der Luft. Auf
einem der Seitenfelder fauert Apoll mit der Lyra, in ruhiger Unterredung
mit einem jchönen Weibe — ift e8 Venus? — dem ein Knabe rüdlings, nad)
der Bruft der Mutter juchend, im Schoofe liegt; an meilterhafter Behand:
lung des Nadten und anmuthiger Fülle der Motive eines der trefflichiten
Bilder der ganzen Villa. Gegenüber fit Ceres mit dem Füllhorn, neben ihr
lagert Pluto mit der Krone und dem Schlüffel der Erde, das Antlitz düſter
geneigt.
Auf der anderen Seite der Halle liegt der Salotto, ein behagliches Wohn-
gemach, aus dem der Blick gerade auf die Grotte mit ihrer Fontäne fällt, und
in da3 die Zugänge der Zimmerreihen beiderjeit3 münden. Zwei große Gemälde
in den Schildbögen über dem Eingang und über den Fenſtern ſcheinen Darftel-
lungen von Jahreszeiten, aber nur von denen, die Blumen und Früchte bringen,
zu enthalten. Dort ift Frühling; Grazien und Liebesgötter nahen der Venus,
die — eben erwachend — üppig auf den Wolken hingegofjen ruht — eine Geftalt,
die in der Macht und Größe der Motive von Michelangelo infpirirt if. Eine
364 Deutſche Rundſchau.
Nymphe rüſtet den Amorknaben mit Köcher und Bogen aus. Und drüben iſt
Sommer. Wir erblicken heitere, mit Weinlaub und Aehren bekränzte Geſtalten,
eine ruhende Schnitterin, deren Knabe auf einem Aehrenbündel lagert, und
Bacchus, umringt von Nymphen, wie er Trauben in eine Schale auspreßt.
Oben an dem Tonnengewölbe entfaltet ſich nun aber ein ganzer Olymp,
aufgebaut mit jener kühnen Anwendung der Untenſicht, welche die Geſtalten hin—
ſetzt, als exiſtirten ſie wirklich an der beſtimmten Stelle, aber zugleich mit
ſtilvoller Theilung und Umrahmung. Das große achteckige Mittelfeld enthält
die Planeten, welche einen Kreis um die Erde bilden, die — ſeltſamerweiſe —
von einem Drachen getragen einherſchwebt. Rings Saturn, Jupiter, Mars,
Apollo, Venus, Mercur und endlih Diana (Luna), deren Motiv ein bejonders
anfprechendes it; fie liebfoft einen ihrer Hunde. Größere Felder an den vier
ſchmäleren Achteckjeiten enthalten die Elemente: die Luft ala Juno, die Erde
al3 Cybele mit zwei Löwen, dann Vulcan und Neptun, von Genien begleitet,
als Feuer und Wafler. Kleinere Felder mit Darftellungen grau in Grau ver—
binden dieje.
Am Beginn des Tonnengewölbes jederjeit3 findet nun der Maler twieder
eine glückliche, friih empfundene Verknüpfung diejer idealen Geftalten mit der
wirklichen Welt. Altane mit Marmorbaluftraden ſcheinen fih Herauszubauen,
und auf ihnen ftehen Geftalten im Zeitcoftüm, frappant, als ob fie lebten.
Links eine ftattliche rau mit ganz individuellen Zügen, ihr zur Seite eine
Dienerin mit gebräuntem Geficht, dann ein Kleiner Bube, und auf dem Geländer
ein Hündchen und ein Papagei. Auf dem Balcon gegenüber zwei elegant
gefleidete, erheblich ältere Knaben, von denen der eine Lieft, der andere mit einem
Hund ſpielt. Es ift wol Feine zu kühne Vermuthung, wenn wir in diejen
Gejtalten Bildnifje der Gattin des Marcantonio Barbaro und jeiner drei älteften
Söhne zu jehen glauben. Priarte ſetzt den Beginn diefer Billa um 1564 an.
Damals waren die Söhne Francesco, Almoro und Luigi, von denen er bio:
graphiiche Daten mittheilt, achtzehn, jechzehn und zehn Jahre alt, der vierte
Sohn, Antonio, aber noch nicht geboren. Es ift ganz reizend, wie die Phan-
taſie des Malerd die Geftalten, die unten wandelten und lebten, noch einmal
mit ſolcher Wirklichkeitätreue oben Hinjeßt und in das eigene Haus hinab«
ſchauen läßt.
Jederſeits ſchließt fich ein jchmales, einfenftriges Gemach an den Salotto
(V und VI), mit Gemälden an deng&ewölben, die in der Ausführung aller
dings gegen diejenigen der drei eben bejchriebenen Zimmer zurückſtehen, aber,
wenn auch unter Beihilfe von Schülern gemalt, doc von Paolo erfunden und
angeordnet find. Ueber der Gingangsthür des Gabinettes zur Linken, am
Beginn des Tonnengewölbes, fit der Gott der Zeit neben einer hoheitsvollen
Figur, die mit der Rechten ein großes Buch Hält, mit der Linken in die Ferne
weit — offenbar die Gejchichtee Die Gruppe gegenüber wird ala Krönung
des Verdienftes durch die Göttin des Nuhmes gedeutet. Ein üppige, nacktes
Weib ſetzt die Königskrone auf das Haupt eines müden Greijes, der das Haupt
in die Hand lehnt und die Augen ſenkt. Stride und Feſſeln hängen von ihrem
Sit herab. In dem Mittelfeld der Dede jehen wir die Stärke, ein Tühnes
Gaftelfranco und Billa Maier. 365
Weib, da3 ein Löwe begleitet, entichloffen nah dem Füllhorn der thronenden
Abundantia greifen, die ihr in den Arm fällt. Zwei ovale Seitenfelder enthalten
ein paar ſchwebende Genien.
Der geiftige Inhalt ift hier alſo ebenfalls erkennbar. Feierten die zwei
Gemäder an der Front den heiteren Genuß des Daſeins, jo wird hier das
thätige Leben, jein Streben, feine Mühe, fein Lohn gefeiert, in einer Weife,
welche dem Haufe eines edlen venetianiihen Staatsmannes angemefjen ift.
Die Bilder des entiprechenden Zimmers (VI) fügen Mahnungen, wie fie
beim Handeln und Wirken des Mannes noth thun, Hinzu. Bor Leidenſchaft
und wollüftiger Erihlaffung warnen zunächſt die zwei Gruppen, die einander
gegenüber ftehen. Ein Mann in der Toga, Mäßigung oder Tugend verfinn-
bildlichend, legt einem wild erregten Weibe Gebiß und Zügel an; eine Geftalt,
wie ein Hercules, mit der Keule, lehnt müßig an der Schulter eines ſchönen
Meibes, die einen Spiegel hält. In dem Mittelfelde nimmt der moralifirende
Ton, der hier angejchlagen ift, jogar eine Wendung in das Religiöfe: auf den‘
Wolken thront eine weibliche Figur, die wol nur der Glaube fein Tann; ihr
empfiehlt eine zweite, die wie die Unſchuld ausfieht — fie hat ein Lamm zur
Seite — einen inbrünftig flehenden Mann. Die Areale an den Seiten enthalten
je einen Flügelknaben, von denen der eine eben aus dem Rahmen herauszufliegen
ſcheint — ein keckes Motiv, dad Paolo’3 fpäterer Nachfolger Tiepolo jo oft
aufgegriffen und nach allen Seiten hin ausgenüßt hat. In jedem dieſer beiden
Gemächer befindet fi) außerdem noch eine religiöje Darftellung, nämlid) eine
heilige Familie, in der Lünette dem Fenſter gegenüber, jede übrigens jehr flüchtig
im Machwerk.
Die vier Zimmer, die num beiberjeit3 ſich anſchließen (VII—X) haben
feine Malereien aus diejer Zeit. Das letzte Zimmer links enthält aber Gemälde,
die nicht von Paolo Veroneje jelbft, jondern von einem Nachfolger, angeblid)
von Zelotti, ausgeführt find: vier Thaten des Hercules und zwei ftehende
allegoriſche Frauengeſtalten; über diefen Hauptbildern, in Feldern von mäßiger
Höhe, allegoriiche Gruppen, die auf dem Gebälf der unteren Bildnifchen gelagert
find, und an der Dede ein Feld mit jchwebenden Amoretten. Dem Eingang
gegenüber ift endlich eine Thür, die in das Freie führt, gemalt, und durch
diefe tritt eine Dame in fiattlihem Anzuge mit einem Fächer ein. Durd) die
ganze Flucht der Gemächer ift diejelbe fihtbar, und ihr entjpricht im äußerſten
Zimmer zur Linken, das jonft feine Malereien aufweiſt (XII), eine ähnliche:
ein Herr im Jagdcoſtüm, der eben in die Thür tritt. Eine unbegründete Sage,
die dem anerkannt ehrbaren Familienvater Paolo Veronefe zu nahe tritt, gibt
biefes Paar für den Dealer und feine Geliebte aus. Eher hat man in ihm
wieder Marcantonio Barbaro und jeine Gattin zu vermuthen.
Im: Sommer 1564 war Marcantonio von feiner diplomatiſchen Miffion
nach Frankreich zurückgekehrt, im Mai 1568 ward er zum Gejandten in Conſtanti—
nopel erwählt. In die Jahre der Zwifchenzeit müſſen Erbauung und Aus-
ſchmückung feines Landhaufes auf dem Feſtland fallen. Es war eine Zeit, in
welcher er auch officiell mit der Künſtlerwelt von Venedig fortwährend in
Beziehungen ftand, denn im Jahre 1566 war er zum Proveditore al sale ernannt
Deutſche Rundichau.
worden, aus den Mitteln der Salzverwaltung aber wurden alle öffentlichen
Bauunternehmungen und die ganze Kunftpflege des venetianischen Staates
beftritten.
Paolo Veroneje begann alfo dieſe Arbeiten, kurz nachdem er. feine Reife nach
Rom unternommen hatte, die er im Jahre 1563, im Gefolge des venetianifchen
Gejandten Girolamo Grimani, angetreten. Man Hat bisher auf diefe Reife
und ihre Einwirkung auf feinen fünftlerifchen Stil zu wenig Gewicht gelegt;
die unmittelbar hernach entftandenen Fresken der Billa Barbaro zeugen dagegen
für die Macht der Eindrüde, die er hier empfing Am ftärkften waren die-
jenigen von Michelangelo’3 Dedenmalereien in der Sixtiniſchen Gapelle.
Sp abgeſchloſſen und jelbftändig ſich die venetianiihe Schule entwicdelt
hatte, jo fremd ihr gerade Michelangelo's Auffaffung von Hauje aus fein
‚mußte, jo mächtig ergriff der große Meifter doch aud nad umd nad) die
Benetianer. Im Jahre 1557 ſchrieb Lodovico Dolce feinen Dialog über die
Malerei, der darauf berechnet ift, die einfeitigen Schätzer Michelangelo’3 davor
zu warnen, über der Bewunderung diefer genialen Natur nicht andere ebenjo
berechtigte Richtungen, Raphael, Venedig's einheimijche Meifter, an der
Spite Tizian, zu vergefjen. Nicht nur einem Theil des Publicums, jondern
auch einer beftimmten Gruppe von jüngern venetianifchen Künftlern gegenüber
war eine ſolche Mahnung am Plate. Tintoretto hat fi durch da3 Vor—
bild Michelangelo’3 nur zu oft aus feiner eigentlihen Bahn heraustreiben Laffen,
hat einer zu weit getriebenen Plaftit der Geftalten, einem colojjalen Apparat
verwickelter Gruppen und Körper, auf das äußerfte beivegter Stellungen häufig
die heitre Ruhe, die unbefangene Natürlichkeit, den leuchtenden Farbenzauber der
venetianijchen Kunft geopfert. Solche Klippen wußte Paolo Veroneje zu ver-
meiden. Aber wie jehr au ihm Michelangelo Autorität war, zeigen jchon
jene Worte, mit denen ex fi im Jahre 1573, bei feiner famojen Vernehmung
durch das Anquifitionsgeriht*), auf ihn beruft. Künſtleriſch hat er, wie die
Villa Barbaro beweift, namentlih für den Stil monumentaler Compofition
von ihm gelernt und ihm auch in kühnen Verkürzungen, mächtigen Motiven und
ſymmetriſch fi) entſprechenden Stellungen der Körper nachgeftrebt.
Die in Steinfarbe gemalten Geftalten über den Thiren und Gaminen zeigen
dies am deutlichjten; nicht um irgend etwas geiftig auszudrüden, fondern nur
de3 formalen Motivs wegen find fie da, üben aber durch diejes eine großartige,
geheimnißvolle Wirkung auf die Phantafie. An gewaltfamen Einzelheiten fehlt
e3 auch bei ihnen nicht; es jcheint mitunter, ald gebe der Maler plaftifche Werke
wieder, deren Schöpfer fich bei der Ausführung verhauen. Dem glüdlichen,
feden Wurf entfpricht die breite, leichte Durchführung nicht immer. Bei ſolchen
Geftalten gerade fiel den Gehilfen da3 Meifte zu, und hier wurde ficher nicht
nad) Modellen, nicht in fortwährender Anſchauung der Natur gearbeitet.
Motive, die an Michelangelo erinnern, fommen aber auch in den Haupt-
bildern vor. Paolo Veroneſe ift durch dieſes Vorbild zu einer größern Freiheit
in Behandlung der nadten Form, zu größerer Sicherheit in Haltung und Be-
*) Publicirt von A. Bafchet, Gazette des beaux-arts, 1867,
Gaftelfranco unb Billa Majer. 367
wegung durcchgedrungen. In den Gewändern tritt allerdings, rein malerijcher
Anordnung zu Liebe, die ftrenge, ftilvolle Behandlung auch diesmal zurüd.
Auch für den Stil der Compofition war die Dede der Sirtina beftimmend.
Paolo wandte die Untenfiht an, aber nicht ausſchließlich. Er wahrte fi) vor
jenen Webertreibungen des Princips, die wir bei Gorreggio und bei den Mei-
ftern de3 17. und 18. Jahrhunderts finden. Die Gruppen, die unmittelbar am Be:
ginn der Wölbung auf den Gefimjen ftehen, find jo verkürzt, ala befänden fie
fih wirkli an diejer Stelle; man vergißt die Begrenzung des Raumes, man
fieht fie leibhaft oben ftehen und ihre Fräftigen Schatten auf die Architektur
werfen. Im Salotto, wo die Planeten des Himmel3 gemalt find, blieb der
Meifter diefem Princip auch oben treu, aber mit Mäßigung und Geihmad.
Sonft erjcheinen aber die Figuren der größern Mittelfelder am Gewölbe ohne
Untenſicht, wie auf eine Fläche, einen oben ausgejpannten Teppich gemalt.
War Paolo auch jonft weſentlich an die Delmalerei gewöhnt, in der auch
jeine großen Decorationsbilder im Dogenpalaft ausgeführt find, jo zeigt ex ſich doch
hier auch al3 ein Meifter in der Frescomalerei. Daß er in diefer dafjelbe colo-
riſtiſche Gefühl, diejelbe Freiheit des Vortrags befitt, befunden die Gemälde
der Villa Mafer eben jo jehr, wie die zwei großen Frescobilder, die man neuer-
dings auf der Empore der Kirche San Sebaftiano in Venedig bei Gelegenheit
ihrer Reftauration entdeckt hat. Die Farbe hat hier, der Technik gemäß, minder
glühend und jchillernd zu fein; aber bei dem Klaren, leiſe gedämpften Grundton
ift doch auch hier die Scala der Töne reich und von harmoniſchem Vollklang. Mehr
als jonft hat der Künftler Gelegenheit gefunden, das Nadte zu voller maleriſcher
Geltung zu bringen; die reichen Stoffe, die Nebendinge, Prachtgefäße, Blumen
wirfen mit; die zarte Luftperfpective jteigert die Illuſion.
Noch in einer Beziehung zeigt fich endlich das Studium der größten Meifter
monumentalec Malerei, wie Rom fie dargeboten, fruchtbar und werthvoll. Der
Künftler, der ſich jonft am Tiebften in Compofitionen mit unerfhöpflicher Figu—
renfülle ergeht, Epijoden einflicht, Nebenfiguren hereinzieht, nur weil fie dem
Blick gefallen, mag auch ihr Uebermaß oft der Elaren Entfaltung des Hauptvor-
gangs nicht günftig fein, weiß ſich in diejen Frescobildern zu beichränfen, durch
plaftifch empfundene, ftreng in fich abgeichloffene Gruppen zu wirken. Während
die durchgehende Tonart ſchwungvoll und heroijch ift, wirken die Inbefangenheit,
die doch immer gewahrt ift, das naive Hineingreifen in die Wirklichkeit, das
frohe Lebensgefühl um jo anziehender.
Sp tritt uns in der Villa Barbaro zu Mafer die Zeit, der fie ihre Ent—
ftehung dankt, in überrajchender Kraft des finnlichen Eindruds vor Augen.
Heiterer Genuß des Dafeins, behagliche Ruhe von ernfter und ſelbſtloſer Thätig-
feit im Dienfte des Staates, glüdliches Familienleben, Freude an der jchönen
Natur, feine claffiihe Bildung, die auf der Höhe der Zeit ftand, und edles
Kunftgefühl fanden hier ihre Stätte.
Die Märztage des Bahres 1848 in Xofen.
Aus den bisher unveröffentlichten Dentwürbigfeiten des Generals der Infanterie 5. D.
Dr. Heinridy von Srandt.*)
I.
Am 22. März mußte ich Polen auf kurze Zeit verlafjen.
Da man nämlid von Berlin feine Nachrichten, noch weniger gemefjene
Befehle erhielt, den Zeitungen nur theilweife Glauben jchenten konnte und
dennoch einer Autorijation zu bedürfen meinte, um entjchieden und mit Gonjequenz
einzujchreiten, jo beſchloß man, einen Officier nad) Berlin zu ſenden, ber ſich
dort von dem Zuftande der Dinge überzeugen, dem Kriegsminiſter, eventuell
dem Könige jelbft, über die Verhältniffe der Provinz Pojen Vortrag halten und
zugleich für das fernere Verhalten der Meilitärbehörden Weiſungen einholen
follte. Die Wahl fiel auf mid).
Un demielben Tage gerade fand ein großer politifcher Umzug ftatt; man
wollte, glaube ih, den von Berlin anlangenden Akademikern oder einigen
Emiflären entgegenziehen. Ganz Pojen, alle Gewerke mit ihren Fahnen waren
auf den Beinen; die Schübengilde und eine Schaar von Prieftern im Ornat
begleiteten die Menge. Da man aber, um vom Markte auf die Berliner
Straße zu gelangen, über den Wilhelmsplatz mußte, auf dem noch Truppen
bivoualirten, und einen Gonflict mit diejen fircchtete, jo ftellten die Polen an
die Behörden das Geſuch, die Truppen für diefen Tag auf den Kanonenplak
zurüdzuziehen. Nach langen Berathungen und vielem Schwanfen ging man
endlid, gegen den Willen des Generallieutenant3 von Steinäder, hierauf ein.
Der General aber zog auf den ihm zugehenden Befehl endlich ab, ließ, ſowie
er auf dem Sanonenpla angelommen war, vier Geihühe abproßen, auf die
Wilhelmsſtraße richten und mit Kartätichen laden. Die Truppen jehten ſich
in Gefechtöbereitichaft. Der General jelbft ftellte ſich zu dem Officier, der bie
Batterie befehligte, und bedeutete ihn, er werde eventuell jelbft Feuer! comman-
diren. Aber die Proceffion zog ruhig von der neuen Straße nad) dem Wilhelms-
*) Man vergl. „Deutiche Runbichau”, Heft IX, p. 392 fi.
Die Märztage bes Jahres 1848 in Pojen. 369
platz und fein Menſch zeigte fich in der Wilhelmsftraße. Der Zug faßte viele
taujend Menjchen, und die Töten defjelben hatten bereit? die Höhe Jerzyce
erreicht, al3 die Queue eben erft die Stadt verlief. Sobald man jah, daß
dieje gefürchtete Expedition eine durchaus friedliche Wendung nahm, und aud)
hörte, daß die Reigenführer jede und alle Ausſchreitungen gegen die Preußen und
Juden auf das Ernftlichite unterfagt Hatten, erhielt ich meine Anftructionen und
Briefe und den Befehl zur jofortigen Abreiſe. Nach einer halben Stunde (um
3 Uhr) ſaß ich im Wagen. Aber nun galt es, fich durch den langen Zug durch—
zuarbeiten. Anfangs ging die Sache ganz gut, aber al3 ich an die Gewerke mit
ihren Fahnen kam, ward fie jchwieriger. Hier und dort hatte man eine Art von
Kanzeln errichtet, wahrſcheinlich, um von ihnen herab Reden zu halten; um dieſe
hatten fich dichte Mafjen gebildet. Als mein Poftillon mit aller Vorficht durch
eine derjelben fahren wollte, hielt man ihn an und ein Betrunfener ſchlug auf
die Pferde los. „ft das der Anfang der polniichen Freiheit, daß ihr den Rei-
jenden die Pferde todt ſchlagt?!“ Herrjchte ich den Thäter an, und augenblicklich
erhoben fi) eine Menge Mißbilligungen über deſſen That. Zugleih eriholl
von mehreren Seiten her ein „Laßt den Herrn dur), er ift einer von den
Unjern!“ und jo kam ich glücklich bis in die Nähe der Téte. Wahrſcheinlich
ließ der Umftand, daß ich die Leute polniſch anredete und eine polnifche Buska
trug, mi für einen Polen gelten. Mein Poftillon brauchte dennoch einen
Teldweg, der ihm jehr genau befannt war, eine Strede mit der Chauffee
parallel lief und dann in diejelbe twieder mündete, um aus dent Zuge zu fommen,
was uns denn. auch ohne alle Abenteuer gelang.
In Berlin orientirte ich mich zunächſt über die Phyfiognomie der Stadt
jo vollfommen, um über das, was zu erwarten oder zu befürchten ftand, unter-
richtet zu fein, und begab mich jodann zum Sriegsminifter. Während ihm
Jemand meine Ankunft meldete, ward ich in ein Vorzimmer geführt, das nur
jehr ſchwach erleuchtet war. Mit einem Male gewahrte ich eine Dame eine
Wendeltreppe hinunterfteigen, die nicht wenig erftaunt war, hier einen Unbekannten
zu finden. „Wer find Sie, mein Herr,“ fragte die Dame etwas verlegen, „und
wa3 wollen Sie?" „Jh bin,” entgegnete ich kurz, „der Oberft v. Brandt und
wünjche, den Herrn Kriegsminifter zu ſprechen.“ „Alſo Sie find Militär,
das ift ja gut; ich werde Sie jogleich meinem Dann annonciren.“” Unmittelbar
darauf fam mir auch ſchon der Minifter entgegen. Er empfing mid) wie einen
alten Fyreund und Bekannten. „Wie die Sahen bier ftehen,“ jagte er mir,
„werden Sie mit einem Blick gejehen haben.“ ch konnte ihm dies leider
beftätigen. „Aber wie fieht e8 bei Ihnen aus? Das find ja ganz infame
Geſchichten. Warum ift der General von Colomb nicht längft darunter gefahren?
Er hat ja Leute genug, — erhebt ſich die Stadt, jo mag er fie bombardiren laſſen!“
„Das würde Alles längft geichehen fein,“ antwortete id ihm, „wenn ihm von
bier aus nicht die Hände gebunden würden; aber da kommt ein Befehl über
den andern an den Oberpräfidenten, und alle laufen auf Milde, Sanftmuth,
oder, um richtiger zu ſprechen, auf völliges Nachgeben gegen die forderungen
der Rebellen hinaus.“ „Aber warum kehrt ſich der General an den Ober:
präfidenten? Warum macht er Politit? Mit einem formirten Bataillon kann
Deutiche Nundſchau. 1, 12. 24
370 Deutiche Rundſchau.
er durch das ganze Großherzogthum marſchiren; warum treibt er die Kerle
nicht zu Paaren?“ „Excellenz,“ antwortete ih, „die Ruhe wird im Poſen'ſchen
bald hergeftellt jein — nur ein energiicher Schritt, und alle die Gefahren dort
werden vor unjern Waffen zerftieben; aber die Beruhigung der Provinz und
deren geficherter Bei Liegen in Berlin.“ „Wie jo das?“ fragte der Miniſter.
„Alle unjere Hin= und Herzüge, das Zerſprengen der einzelnen Banden, das
Hintertreiben eines Aufftandes werden uns nicht3 helfen, wenn man in Berlin
nicht Ordnung macht. Der Herd aller Unruhen liegt hier.” — „Das mag
wahr jein, aber wie jol man der Sade hier abhelfen?“ „Es fehlt Hier nicht
an Truppen,“ entgegnete ih, „und überall ift noch Militär disponibe. Macht
man im Poſen'ſchen der Sade mit einem Sclage ein Ende, concentrirt dann
Alles, was man haben kann, zwiſchen Berlin, Frankfurt und Sagan, jo bleibt
man Herr von Berlin, Breslau und Polen; jeßen die Rebellen irgendwo ihr
unfinniges Treiben fort, jo bemächtigt man ji) der Stadt und Umgegend, ftellt
die Ruhe und Ordnung wieder her und verichafft den Geſetzen ihre Geltung.” —
Zugleich theilte ich dem Minifter meine Anſichten über die Dinge, wie fie mir
erichienen, iiber den Geift, wie ich ihn gefunden, mit. „Sch glaube,” fügte ich
hinzu, „wenn Ercellenz fi) dazu verftänden, die Sade in die Hand zu nehmen,
fo wäre die Ruhe hier jehr bald hergeſtellt.“ „Der Vorſchlag ift gewiß ganz
gut, aber wie ihn durchführen?“ „Nichts leichter als dies! Der Aufftand im
Pojen’schen gibt den Vorwand zur Goncentrirung von Truppen; den Rufjen-
freffern jagt man unter der Hand, daß man gegen Rußland auf feiner Hut
fein müffe Niemand kann die Stärke der zujammengezogenen Truppen control-
liren, und ift man ftarf genug, ift der Moment zum Handeln gelommen, dann
wirft man die Maske ab.“ — „Der Vorſchlag verdient jedenfalls reifliche
Meberlegung; er ift zu gut, um nicht in Betrachtung gezogen zu werden. Ich
werde fogleih Veranftaltung treffen, daß die Truppen im Großherzogthum
Poſen verftärkt werden. Sie jollen einen Brief an General Colomb erhalten.
Stellen Sie fi) in einigen Stunden wieder bei mir vor.”
Als ich wieder zum Minifter kam, fand ich zwei Generalftabs - DOfficiere
bei ihm, beide, wenn ich nicht irre, in Montirungen — in diejen Tagen ein
getvagtes Unternehmen und eine jeltene Erſcheinung. „Dieje Herren,“ jagte der
Minifter zu mir, „gehen nad) Breslau und Bromberg, um den Marſch der
Verftärkungen zu bejchleunigen. Sagen Sie dem General v. Colomb, ex folle
ftreng alles Ungejeglihe unterdrüden, die Revolution niederrennen und unter
allen Bedingungen die Provinz dem Könige erhalten. Der Brief, den ich Ihnen
mitgebe, enthält dafjelbe. — Können Sie Ihren Truppen dort trauen?“ fragte
der Minifter nad) einer Pauſe. „Sie werden immer ihre Schuldigkeit thun,“
entgegnete ih; „noch ift ihre Treue durch nichts erſchüttert, jo ftark auch die
Verführung geweſen.“ „Nun denn, meine Herren, veijen Sie mit Gott! Mit
der Ruhe in Pojen haben wir einen großen Schritt vorwärts gethan und
gewinnen zugleich Kräfte, um anderweitig entjcheidend aufzutreten.“
Nach einem kurzen Aufenthalt war ich wieder unterwegs und nad) boſtün—
diger Abwejenheit nad Poſen zurücgefehrt, wo mich nod Niemand erwartete.
General dv. Colomb war mit meiner Eile und dem Briefe des Minifters,
Die Märztage des Jahres 1848 in Pojen. 371
den ih ihm einhändigte, jehr einverftanden. Er drüdte mir mehrmals feine
Zufriedenheit aus und meinte, daß man doch nun hoffen dürfe, mit der Sache
fertig zu werden, da man endlich eine Norm habe, um danach zu handeln.
Ich begab mich darauf zu den Truppen meiner Brigade, von denen ein
Theil auf dem Kanonenplaß bivouafixte, zugleich; um mich bei General v. Stein-
äder, den man dort jagte, zu melden. Er jchenkte meinem Berichte die größte
Aufmerkfamkeit und beauftragte mich, den Sicherheitsdienft zwiſchen der Berliner
Straße und dem Kirchhofs- Revier zu organifiren, die Worpoftenlinie aufzu=
ftellen, die Piquet3 zu placiren und die dahinter bivouakirenden Truppen unter
meine Befehle zu nehmen.
‚ Da der Theil der Stadt zwiſchen den benannten Punkten noch ohne jegliche
Befeftigung war und ich überdies das Terrain nicht genau kannte, jo war dies
für die erfte Zeit ein ſchweres Stüd Arbeit. So lange man e8 jedoch mit der
Linie zu thun hatte, machte ſich die Sache leicht; aber von den Schwierigkeiten,
die man jpäter mit der Landwehr hatte, kann man fich eigentlich feinen Begriff
maden. Man kann fich nichts Unbeholfeneres, Feine ungejchielteren und beque-
meren Leute denken, al3 diefe Landivehren. Wehte dem Mann auf feinem
Poſten der Wind um die Nafe, jo wählte er ſich rückwärts oder ſeitwärts einen
bequemeren Poften, verhüllte fich die Ohren und meinte dann obenein wol noch,
daß er feinen Vorgänger hier abgelöft habe. Bei Patrouillen zottelten fie
Einer Hinter dem Anderen her wie die wilden Gänfe, jede Pfübe war ihnen
ein ſchwer zu überwältigendes Hinderniß. Auf den Bivouaf3 endlich jchliefen
fie wie die Murmelthiere und waren kaum wach zu erhalten; aus den Alların-
häufern befam man fie nur mit der größten Mühe heraus. Es ift mir begegnet,
daß ich die Leute auf den Poſten häufig mit falfcher Front gefunden, meiftens
wol, weil fie, wenn der Wind von ber Frontſeite her fie erfaßte, fich abwendeten
und Hinterher nicht wußten, wie fie urſprünglich geftanden Hatten. Dabei
bejeelte fie ein ſchwer zu unterdrüdender Trieb zu Gewaltthätigfeiten, zur
Marode, zur Bernadhläffigung ihrer Kleider und Waffen. Hauptſache für fie
war die Verpflegung. Daß nicht Viele hierin eine Ausnahme gemadht, will ic)
nicht jagen; aber jeder Officier von Einfiht und Wahrheitsliebe wird geftehen,
daß meine Schilderung nur die Wahrheit enthält. Leider jollte ich diefe Truppe
bald von einer noch jchlechtern Seite fennen lernen. Was bier und dort zur
Entihuldigung für fie angeführt worden, daß fie in Kurzer Zeit dreimal dem
häuslichen Herde entriffen und zur Unterdrüdung von Unruhen nad) dem Groß-
herzogthum berufen, daß eine Art Racenhaß provocirt worden, daß fie dur
dad, freilich arrogante Betragen der Polen gereizt, ift nicht ſtichhaltig. Wir
dürfen ihre Untauglichkeit lediglich in der ſchlechten Organifation, in der nod)
ſchlechteren Ausführung, in den ſpottſchlechten Unterofficieren und endlid in dem
wenig geeigneten Officiercorps juchen. —
Während meiner Abweienheit hatten ſich die Gegenjäße zwijchen den Par-
teien mehr und mehr geihärft, die Exrbitterung bei den Reigenführern war
gewachſen, die Gefahren, die Bejorgniffe wuchſen täglih, man konnte einem
Ausbruch der Unruhen ftündlich entgegenjehen. Das polnische Comité bejonders
war kühner hervorgetreten. Es hatte fi) in mehrere Abtheilungen gegliedert
24°
373 Deutiche Rundſchau.
und auch eine für den Krieg gebildet. Mehrere ehemalige alte polnijche Officiere,
die gefommen, ſich die Sache in der Nähe anzujehen, hatten fi), jobald fie die
Berhältniffe einigermaßen überblickt, nicht veranlaßt gefunden, in diejes Kriegs—
Departement einzutreten. Dafür aber hatten fich Andere, die von den Dingen
wahrſcheinlich weniger verftanden, oder fie auf die Spihe treiben wollten, dazu
bereit finden laſſen: Biatoskorski, ein ehemaliger Officier des 18. Regiments,
der jeinen Abjchied genommen, ruhig, bejonnen, unterrichtet und mit Fähigkeiten
für den Krieg ausgerüftet, aber dem faljchen Patriotismus ganz ergeben und
eben darum blind für den Lauf der Dinge. Garczynski, ein alter Conjpirateur,
der 1831 auf der Fähnrichsſchule gewejen, Emigrant, Clubift, der in alle
Umtriebe verwickelt, dann aber jeit längerer Zeit verheirathet und jet mehr, zu
diejen Sachen gedrängt war, als ihn fein eigener Wille dazu beftimmte. Graf
Seweryn Mielzynski aus Miloslaw, ein Schüler Dufour’3 in der Schweiz,
ein Dann von Bildung und bejonder3 von manden Kenntnifjen im Militär-
fa, ein gründlicher Preußenhaffer, aber unentſchloſſen, furchtſam und unfähig
zum Handeln, wenn e3 galt, ohne jenen politiichen Muth, der allein zum Ziele
führen kann; unflar über die Bewegung, die jich entwickelte, vepräjentirte er
zugleich die Adelspartei im Comité, die bereit3 die Vernichtung des Adels aus-
gejprochen hatte; übrigens auch ſchon von 1831 her befannt, wo er mit Umindi
zugleih aus Glogau entflohen und dann einige Zeit Adjutant bei Chlopicki
gewejen war. Bronislam Dabrowski, der Sohn des bekannten Generals gleichen
Namens, der bei der preußijchen Garde-Artillerie feine Zeit abgedient, Mitglied
aller Clubs, die antipreußiſche Tendenzen verfolgten, nicht ohne Kenntniſſe und
einen gewiſſen Muth, aber ohne Gonjequenz und vor allen Dingen fein politifcher
Charakter. Er war 1846 nad) Polen geſchickt, um in der Gegend von Kuflew
den Aufftand zu organifiren, und ward hier nur durch die Beftechlichkeit der
ruſſiſchen Behörden und die Treue feiner Gattin gerettet. Sonft war er von
Ruſſen und Preußen wohl gelitten und hatte namentlich den General v. Grol-
mann jo berücdt, daß diefer von ihm zu jagen pflegte, er jei der einzige treue
Pole. Brudzewski (Braufe), der Sohn des ehemaligen Landrath3 im Meſeritzer
Kreife, ein enragirter Pole, leidenſchaftlich, von Ausdauer, ein guter Reiter und
der Sache mit einer Art Leidenjchaft ergeben. Guttry, in Verſchwörungen geübt,
ehrfüchtig und ambitionirend, ein guter Pole zu heißen, und einen großen Werth
darauf legend, als Militär etwas zu gelten. — Bon mehreren Seiten ber
bejhuldigt, daß fie durch ihre Erlaffe und Anordnungen das Meifte zum Auf:
ftande beigetragen, diejertvegen getadelt und angefeindet, läßt es ich nicht leugnen,
daß fie weſentlich dazu mitgewirkt, die Sache in gewiſſe Formen zu gießen, daß
fie eine Menge Menſchen zufammengetrieben, die, freilich nur ſchlecht bewaffnet,
zuleßt einen materiellen Mittelpunkt bildeten. Sie jeßten ſich mit den revo—
lutionären Comites in den kleineren Städten in Verbindung und entjandten
überall Hin entichloffene und entichiedene Leute; fie wußten überall Geld und
Geldeswerth, patriotiiche Beifteuern u. dergl. aufzutreiben und fanden auch
Mittel, au dem chaotiſchen Gewirre eine Art tactifche Ko: nlion zu fchaffen.
Die höheren Befehlöhaberftellen wurden ‘ .cıynafi, Biatost: nd Braeyanaki
übergeben. Letzterer war ein ehemalige: er der polnii nee, ber als
Die Märztage bes Jahres 1848 in Pojen. 373
Tactiker einen quten Ruf hatte. Mieroslawski aber wirft ihm in jeiner
Beichreibung des Gefechts bei Miloslaw vor, nır immer an die Schonung
feiner Pferde gedacht und kaum jonderliche Kampfesluft bewielen zu haben.
Das Militärcomits veranlaßte auch die Zujammenziehung der polnijchen
Auftwiegler in Poſen jelbft, in Dobrojewo, Obiezierze, Welna, Wreſchen, Oſtrowo
und Xiond, wo fleißig exercirt und nad) der Scheibe geichofjen wurde und wo
fich eigentlich der bewaffnete Widerftand organifirte. Die Seele von Allem aber
jollte Ludwig Mieroslawski werden, der von Berlin mit Ungeduld
erwartet wurde. Diefer erihien denn au) am 28. gegen Abend, von jungen
Leuten umgeben, die fich jeine Garde nannten, unter einem unglaublichen Zulauf
von Menſchen. Er ward mit einem Tadelzuge unter ftetem Vivatrufen, das
dem aus dem Grabe erftandenen Führer galt, auf den Markt geführt, wo er
von den Stufen des Rathhaujes eine feurige Rede an da3 Volk hielt. Die ganze
Garnıjon war confignirt und theilweije unter den Waffen. Die hellerleuchteten
Straßen einzelner Stadttheile glänzten unter dem unendlichen Gewoge der
Menge, unjerer Wachen und Piquet3, die jo ruhig und unangefocdhten blieben,
als im tiefjten Frieden. Der Markt jelbft war mit bengalifchen Flammen
erleuchtet. Junge Polen in den wunderbarſten Anzügen Elapperten mit ihren
Schleppjäbeln durd die Straßen, und aus den Tabagien erſchallte munter das:
„Roc ift Polen nicht verloren!” Aber unjere Soldaten ſchauten unwirſch in dies
Getreibe und hätten gern dem Spectafel ein Ende gemadt. Sehr häufig hörte
man Soldaten polniſcher Nationalität fragen: „Warum befiehlt denn der König
nicht, die Kerle zufammen zu hauen? In ein paar Stunden wäre die Sache zu
Ende!" „Aber,“ fügten wol Andere hinzu, „mit den vornehmen Herren werden
immer Umftände gemacht.“
Mieroslawski fand allerdings im Nationalcomite jelbft wenig Sympathie;
er hatte fie dadurch verjcherzt, daß er fich im Gefängniß zu Moabit von Dunder
auf eine jo unglaubliche Art hatte dupiren Laffen, wodurch obendrein eine Menge
der Verſchworenen von 1846 bedeutend compromittirt worden waren. Dennod
ward er zum Präfidenten der Militärabtheilung und zum Oberanführer ber
polnischen Armee ernannt.
Wie es jcheint, war Mieroslawski mit der Abſicht nad) Poſen gefommen,
die vielen Kräfte hier zu einem Kampfe gegen Rußland zu organifiren. Wenig»
ftend jagte man allgemein, daß dies das Nejultat feiner Unterredungen mit
General Willijen in Berlin gewejen und daß er bona fide darauf eingegangen.
Da er fi im Comité gegen die Senjen erklärte und dem römiſchen Pilum den
Vorzug gab, überdies zwei Monate zur nothdürftigen Organijation der Truppen
verlangte, während er doc) 1846 im Fluge von Wilna gegen ten Dniepr und
die Düna vorzugehen verſprochen, jo brachte ihn dies bald in eine Art Span—
nung mit dem Gomite. Aber er ging raſch an's Werk, errichtete aus den
Berliner Alademikern eine Art Kriegsſchule, um fie für Officierftellen auszu-
bilden, und that auch jonft Manches, um die Bewaffnung mit Gewehren vorzu=
bereiten umd dem Ganzen eine Art militärifher Haltung zu geben. — Die
Berichte hierüber, jowie manche Mittheilungen, die man über die Gefinnungen
und Verhandlungen des Militärcomites erhielt, bewogen die beiden oberen
374 Deutſche Rundſchau.
Militärbehörden jetzt ernſtlich, an eine Remedur, welche von den deutſchen
Einſaſſen der Provinz überdies dringend verlangt wurde, zu denken. In einem
Aufruf vom 30. März, den ſie an die Polen richteten, warnten ſie dieſe, ſich
zu bewaffnen und zu verſammeln, vor allen Dingen aber den Militärbehörden
und der Obrigkeit Trotz zu bieten, widrigenfalls ſie ſich unnöthigerweiſe harten
Strafen ausſetzen würden.
Das Militärcomité aber, als wenn es ein Paroli auf dieſe Warnung hätte
biegen wollen, erließ am 31. März an die Bewohner des Großherzogthums
einen Aufruf, worin es ihnen anzeigte, daß es jetzt mit des Königs Erlaub—
niß an eine Reorganiſation des Großherzogthums im polniſchen Sinne gehen,
und daß es, um den Deutſchen den Beweis zu geben, wie ſehr es auf deren Sprache,
Religion und Freiheit Rückſicht nehmen würde, den Oberbürgermeiſter Naumann
und den Rath Boie in die Organiſationscommiſſion berufen werde. Dieſe beſtand
aus Libelt, Kraszewski, Mielzynski, Potworowski, dem Prieſter Pruſinowski,
Leon Szumann, dem Generallandſchaftsdirector und dem Gerichtsrath Gregor.
Wunderbarerweiſe machte das Militärcomité zugleich kund, daß es ſich mit dem
königlichen Commiſſarius in dieſer Angelegenheit, dem Oberpräſidenten Beur—
mann, in zwei Sitzungen dahin geeinigt habe, daß 1) ein polniſches Corps mit
polniſchen Feldzeichen, mit polniſchem Commando und unter einem polniſchen
Anführer auf Staatskoſten gebildet und aus Staatsfonds unterhalten werden
folle; 2) daß ein Pole die Civilorganijation leiten, und 3) daß die polnijche
Sprache die Dienftjpradhe jein werde. Als Schlußwort ward diefem Aufruf
hinzugefügt, daß, wenn man fich troß alledem nicht auf dem Wege der Güte
mit dem Könige und der Regierung einige, da3 Comité auch Feine weitere Ver—
antwortung übernehmen könne. Das Document aber war nur von den enragir—
eſten Mitgliedern des Comité's, das ih nun „Gentral-Nationalcomite” nannte,
unterzeichnet, nämlich von Jarochowski, Moraszewski, Jan Palacz, Szerwinsti
und Ehmann, die man aus der Organifationscommilfion ausgeſchloſſen Hatte,
und endete mit der demofratijchen Formel: „Gruß und Brüderſchaft!“
Am 1. April ließ das Comité ferner „zur weiteren Entwidelung“ jeines
bereit3 am 25. März erlafjenen Proclama’3 noch ein Placat anjchlagen und ver-
jandte es in die Provinzen, wodurch
. jedes Mitglied einer Familie, welche eine mit Zins belegte Aderwirthichaft beſaß, jofort
von ber Zahlung des Zinſes befreit ward, wenn fich daſſelbe den polnischen Reihen
anſchloß;
. bie frauen und Kinder ber Komornils, der Knechte und anderer Dienſtleute, welche in
dem polnifchen Heere dienen würden und mithin ihren eingegangenen Verpflichtungen
nicht weiter nadhfommen könnten, die Gärten, das Deputat und das Getreide in Garben
behalten und benußen und außerdem ben britten Theil des Dienftlohnes befommen follten,
welchen die Väter und Männer früher erhalten;
3. die Familien ber in dem Nationalheere dienenden Taglöhner aus den Kreisfonds unter
halten werden follten;
4. dad Verbienft und die Auszeichnung der in bem Kriege Gefallenen oder beim Leben Ge:
bliebenen nach beendigtem Kriege durch die ganze Nation derart belohnt werde, daß
alle Aderleute, d. h. ſowol Aderwirthe als auch alle mit Aderbau beichäftigten Arbeiter,
Aderbefig aus den Nationaldomänen erhalten würden; andere, dem Aderbau nicht An-
fer
80
Die Märztage des Jahres 1848 in Polen. 375
gehörige würden ihrer Fähigleit gemäß entweber bad Vorrecht zu ben öffentlichen Aemtern
haben, oder eine Geldunterftühung zur Ausführung ihres Geichäftäbetriebes empfangen;
5. bie auf ben ftäbtilchen ober bäuerlichen Aderwirthichaften Laftenden Domanial-, Jagd»
und Fiſchfangrechte, ſowie dad LYaubemium aufgehoben fein follten.
Auch dies Document, das die Unmöglichkeit der Erfüllung der verheißenen
Zufagen an der Stirn trug, war vom Gentral-Nationalcomite unterzeichnet,
doch hatten noch Stomizewäli, die berüchtigten Stefanski und Krauthofer und
auch Libelt ihre Namen hinzugefügt. (Auf dem polnischen Placat fehlte jedoch
der Name Krauthofer.)
Das deutjche Nationalcomite, welches ſich am 26. März mit einem Aufruf
an das polniihe Nationalcomite gewandt und von diefem und dem polniichen
Club in feiner Antwort vom 29. defjelben Monats etwas jchnöde zurecht ge—
wiejen worden, nahm hiervon Gelegenheit, in einem Proclama vom 2, April
gegen dies Benehmen zu proteftiren und hervorzuheben, daß die Berechtigung
der allmäligen Berbreitung des deutichen Elements in dem Lande aus der Ge-
ſchichte micht werde verwwiicht werden können. Es war von den Herren Seger,
Dr. Barth, 2. Fall, Kaah, Günter, E. Mamroth, Crouſaz, E. Brachvogel,
Vanſelow, Dr. Suttinger und Edler unterzeichnet, die ſich jpäter alle mehr oder
weniger der Frankfurter Partei anfchloffen.
In der umreinen Mitte aber, in der die polnische Partei fich herumtrieb,
nahm fie diefe Nothwehr für free Anmaßung und konnte es nicht begreifen,
daß die finfteren Schlangenwege ihrer Politik fie nur tiefer und tiefer in Irrſal
verftriden mußten, Der Racentampf war die unmittelbare Folge davon.
Die Antwort auf alle die Erlaffe und Placate beider Parteien Seitens der
Regierung war die Erklärung derjelben vom 3. April, wodurch Poſen in Bes
lagerungazuftand verjeßt wurde. Bei aller Schonung, die das darüber ſprechende
Document verhieß, ward doc) ſehr entichieden angedeutet, daß die Gewalt der
Waffen zur Herftellung der Ruhe angewendet werden würbe.
Das einleitende Vorwort des Proclama’3 aber wies auf die noch bevor-
ftehende Ankunft des mit der Reorganijation des Großherzogthums Pojen beauf-
tragten Commiſſarius hin.
Ich fuhr derweilen in meinen militäriichen Functionen fort, warb aber zu
allen Berathungen herangezogen, ohne daß man deswegen auf meinen Rath das
mindefte Gewicht legte, wahricheinlich, weil derfelbe immer nur auf entichiedene
Mafregeln binauslief. Gemerallieutenant v. Steinäder hielt fi) von demjelben
ganz entfernt und fam nur ab und zu, gewöhnlich um ſich über dies oder das
zu bejchweren, was er als Eingriff in feine Rechte ald Commandant oder ala
zu große Nachgiebigkeit betrachtete. Uebrigens hatte man vor Allem, was auf
Energie bindeutete, eine emtichiedene Abneigung. So 3. B. fürditete man, daß
mit Ankunft der Deputation und befonders des Erzbiſchofs von Poſen der Auf:
ftand losbrechen werde. Wenn dies glei, wie ſich hinterher herausftellte, eine
ganz faliche Vorausſetzung war, jo rieth ich doch, ſich aller Gomitemitglieder zu
verfichern und eventuell jelbft den Erzbiichof ſchon unterwegs feftzunehmen. Aber
der Oberpräfident ſowol ala der Polizeidirector befamen vor diefem Vorſchlag
einen ſolchen Schred, daf fie auf das Entichiedenfte dagegen proteftirten. Wenn
376 Deutihe Rundſchau.
ich ihnen num auch entgegenjehte, daß eben das feſte Zugreifen in ſolchen Kriſen
das Weſentlichſte, das allein Rechte jei, daß man vor dergleichen nicht zurück-
ſchrecken dürfe, jo kam doch mein Antrag gar nicht weiter in Betradht. Ueber—
haupt liefen alle diefe Beiprehungen auf Nichts hinaus, und meiftens traten
hinterher ganz andere Anordnungen in's Leben, als in den Verfammlungen be=
fprochen worden.
Eines Tages, & war kurz nad Ankunft Mieroslawski's in Polen, war
ih im Bureau der Fortification, das unmittelbar am Kanonenplaß liegt, be=
ichäftigt meine Toilette, die vom Bivouaf etwas gelitten, wieder zu ordnen, als
der Graf Severin Mielzynski und Mieroslawski zu mir ind Zimmer traten.
Ich bat die Herren nad den erften Eingangscomplimenten um Verzeihung, fie
ſchlecht empfangen zu müfjen, ihnen nur Schemel zum Siten anbieten zu können ;
„aber,“ jehte ich zu Mieroslawski mich wendend Hinzu, „das ift Ihre Schuld!“
„Dein Gott,“ entgegnete diejer, „ich komme, um mit Jhrer Regierung Hand in
Hand zu gehen.“ — „Wenn das der Fall ift,“ antwortete ih, „warum haben
Sie fih dann nit beim commandirenden General gemeldet und ſich dem
Dberpräfidenten vorgeftellt ?" — „Dieje Herren,” ſagte Mieroslawski, „find jo
gegen Alles, was Polen heißt, eingenommen, daß e3 ganz vergebene Mühe ift,
fi mit ihnen aud) nur einigermaßen zu verftändigen.“ — „Sit es Ihnen ge=
fällig,“ entgegnete ih, „jo werde ich gern den Vermittler machen, und ift es
Ihnen Ernſt, mit den Behörden Hand in Hand zu gehen, und find die Nachrichten,
die Ihr Nationalcomite in Umlauf gejegt, begründet, jo werden Sie in den
Behörden feinen Widerftand finden, denn fie find, Gott jei Dank, dem Könige
noch ganz ergeben.” — „Das glaube ich,” fiel jegt Graf Mielzynski mir ins
Wort; „nur jchade, daß fich Niemand mit diefen Leuten verftändigen kann. Sie
glauben nicht, wie ich diefe Behörden haſſe und verabſcheue, — ich bin in ftetem
Kampfe mit ihnen.” — „Das weiß ich, lieber Graf,“ entgegnete ich, „deshalb
ift man gegen Sie auch jehr auf der Hut, und es würde nur geringer Ueber—
fchreitungen Ihrerſeits bedürfen, um hr allerliebftes Schloß jofort in Be—
lagerungszuftand zu erklären. ch höre, es ift jo allerliebft, jo ſchön eingerichtet,
daß ich e3 gleich mit meinem Aufenthalt hier vertaufchen möchte.” — „Nun,
ich hoffe, Sie beſuchen mich vecht bald,” verjegte der Graf, und wir brachen das
Geſpräch über diejen Gegenftand ab. — „Sie find bei der Unterredung zugegen
geweſen,“ jagte ich zu Mieroslawski, „welche die Pofener Botſchaft mit Seiner
Majeftät gehabt?” — „a wol!“ — „Und was hat Ihnen der König gejagt?“ —
„Er Hat ich kurz umgedreht, ald er mich zu Gefichte befommen.“ (NM a fait
pirouette en me voyant.)
Die Unterredung ging jo noch eine Weile fort; die Herren waren unerjchöpf-
fh in Anklagen unferer Beamten, im Tadeln unjerer Maßregeln, — ich gab
mir alle Mühe, dieje zu vertheidigen und den Polen unjere Beſchwerden vor-
zuhalten. Die Ankunft meines Adjutanten machte der Unterhaltung ein Ende,
worauf fich denn die beiden Herren entfernten. Des andern Tages jedoch um
diejelbe Zeit kamen fie wieder. Mieroslawski fing jogleih von dem Kriege
gegen Rußland wieder an. „ch weiß nicht,“ entgegnete ich, „was der König
beichließen dürfte; jedenfalls wiürde ein Krieg mit Rußland, unter den Ber-
Die Märztage des Jahres 1848 in Pojen. 377
hältniſſen wie fie find, eine große Unklugheit fein. Rußland ift jeit Jahren an
der Grenze Preußens gelagert, feine Armee iſt beſſer organifirt ala je, e8 herrſcht
dort ein Wille, ein Sinn. Wir können heute nur auf unjere Linie vechnen, die
Landwehren find unſicher und werden durch die Männer der Bewegung täglich
mehr verführt und in dem Maße untauglicher für den Krieg. Ein Krieg gegen
Rußland verlangt eine vollkommen jchlagfertige, tüchtige und dabei zahlreiche
Armee. Es kommt nicht allein darauf an, fie zu ſchlagen, man muß fie ver-
nichten. Erinnern Sie fi eines Wortes Friedrichs des Großen, der ſich über
fie dahin äußerte, daß man die Ruffen nicht allein todtichlagen, jondern dann
auch noch umdrehen müßte.“ „Ich kenne die Ruffen wie irgend Jemand,“
entgegnete leidenschaftlich Dtieroslamwati. „Es wird nur darauf anlommen, ent:
Ichieden den Kampf gegen fie zu wollen. Haben wir fie 1831 nicht faſt überall
geichlagen? Sind wir nicht auf allen Schladhtfeldern faft Sieger geblieben ?" —
„sa wol,“ jagte ich, „Sie haben fich zulegt gar todt bis über die Grenzen
Polens hinaus gefiegt. Ich habe Ihr vortreffliches Werk über den polnischen
Feldzug von 1831 nicht allein gelejen, ſondern ftudirt; ich habe Soltozki’s und
Brzozowski's Schriften damit jorgfältig verglichen, — ich ſelbſt habe lange Zeit
gegen Rußland gefämpft, aber Alles dies genau gegen einander erivogen, gibt mir
die Ueberzeugung, daß man einen Kampf mit diefem gefährlichen Gegner nicht
leichtſinnig heraufbeſchwören muß.“
Nun fing Mieroslawski an, von den Kräften Rußlands zu ſprechen und
das zu wiederholen, was er in ſeinem Buche darüber geſagt. Ich meinerſeits
blieb bei meiner Anſicht ſtehen und verſtärkte meine Argumente dadurch, daß
ich mich über den Krieg von 1831 mit Brzozowski dahin ausſprach, daß man
die Ruſſen damals à l’improviste überraſcht habe und jene Zeiten mit den
heutigen nicht in Vergleich jeen dürfe. Wir ſprachen noch mancdherlei über
dieſe Verhältniffe und jchieden, ohne die Gegenwart berührt zu haben. —
Einige Tage darauf fam er mit Guſtav Potworowski wieder. Ich fand
ihn weniger gut gelaunt. Unſer Geſpräch betraf faft nur die Gegenwart. Er
äußerte fidh bitter über die Art und Weife, wie man die gemeinſchaftliche
Sade behandle, wie man mit einzelnen feiner Leute umginge ch jagte
ihm frei heraus, daß dies einerjeit3 die Schuld der Reigenführer der polnifchen
Sache, dann aber die der Clubs fei. Dieje hätten die Antipathie der Deutjchen
gegen die beabjichtigte Bewegung heraufbeſchworen, und wenn man nicht bald
Anftalt made, fi mit den Behörden zu verftändigen, jo twerde die Sadje un—
bedingt fein gutes Ende nehmen. In den deutſchen Bezirken rege fi) das
deutiche Element gewaltig, es trete jchon eine Art Slavenhaß hervor, überall
ipräche fi unverhohlen und laut Unwille gegen die polniſchen Comités aus,
und käme es zwiſchen ihnen und der Regierung nicht bald zu einem Abſchluß,
jo werde in letter Inſtanz die Gewalt der Waffen entſcheiden müfjen. So
könne die Sadje nicht bleiben, zwei befehlende Gewalten neben einander könnten
nicht beftehen. — Mieroslawski nahm dies etwas übel, nannte die Regierung
unzuverläffig und meinte, daß die Polen ſich nicht gegen, jondern für das Geſetz
empört hätten, und fügte endlich hinzu, daß das Schidjal Preußens nur von
Polen abhinge; vereinige fich dies mit Rußland, dann fei e8 um Preußen ge-
378 Deutſche Rundſchau.
ſchehen. Der Panſlavismus werde das Germanenthum von der Erde vertilgen.
— „Run,“ entgegnete ich ihm ruhig, „das wäre nicht der erſte Kampf des ro—
manijch-germanifchen Princip3 gegen da3 Slaventhum. Bis jet hat des Erfteren
Banner noch immer fiegreich geweht, und noch hat das Reich der Finſterniß
nicht begonnen, in dem die Materie den Geift beherrichen wird.“ Wir wurden
beide animirt und unfere ziemlich lebhafte Unterhaltung endete damit, daß ich
ihm fagte: „Glauben Sie mir, bringen Sie die Verhältnifje nicht in vollſtän—
digjtem Einklang mit der Regierung zu Stande, jo kann die Bewegung nur im
Blut erſtickt werden, und Ahnen ſelbſt blüht feine andere Zukunft als in Wi—
niary. Die Regierung ift noch jehr ftark; wir haben noch volllommen Kräfte
genug, um Herren der Greigniffe zu bleiben, und Sie mit allen Ihren höheren
militäriſchen Eigenſchaften, Ihrer Erfahrung und Intelligenz“ — ſetzte ich be—
ſänftigend hinzu — „werden die Entſcheidung um keine Stunde aufhalten!“ —
„Nur vorwärts!“ unterbrach mich Mieroslawski, „wenn Sie und vernichten
wollen. Am Ende iſt es beſſer, das Leben zu verlieren als darum zu betteln.“
— „Wann erwarten Sie General Williſen?“ unterbrach ihn hierauf Guſtav Pot—
worowski, und ala ich ihm jagte, daß die Militärbehörden von deſſen Miſſion
noch feine Silbe wüßten, meinte er, daß deſſen Ankunft die Wirren löjen würde,
Mieroslawski wiederholte feine Bejuche noch einige Male, und ich ſelbſt er—
mwiderte ihm einft diejelben Morgens um 6 Uhr. ch hatte dieje Zeit gewählt,
einerjeit3 um mich zu überzeugen, ob in jeinem Quartier wirklich Alles jo ruhig
fei, wie ex es verficherte, dann aber, um wegen Arretirung eines jungen Menjchen,
dem man zu Leibe wollte und für den er fich verwandt hatte, Rückſprache zu
nehmen. Die Bifite befam jo zugleich einen freundichaftlichen Charakter. ch
fand in der That Alles im Hauje jchlafend. Ein alter Hauswart, der mich
fannte, führte mid in eine Stube, in der ich wol eine halbe Stunde warten
mußte. Dann erjchien eine Art Adjutant, dann ein anderer Herr und endlich
Mieroslawski jelbft, dem man es anjah, daß er joeben erſt aufgeftanden war.
In der Stube, in der ich vollauf Zeit Hatte, mich umzubliden, jah es etwas
unordentlih aus. ch fand einige Säbel, die im Winkel ftanden, einige Pilen,
eine Menge Schriften revolutionären Inhalts, Reglements für die Infanterie
und Gavallerie, Vorſchriften für das Excerciren mit der Senje und eine Menge
Zeitungen. Die Kurnatowsti’iche Karte vom Großherzogthum hing aufgezogen
an der Wand und lag zugleich in mehreren Exemplaren auf dem Tiſche. Ich
fand in dem einen die Orte Pojen, Miloslam, Wreſchen, Schroda, Kions,
Pleſchen, Raſchkow u. U. unterftrichen. Sonft bemerkte ich durchaus nichts, was
auf die Unruhen und Wirren im Lande bindeutete.
Mieroslawski nahm meine Mitteilung, den jungen Arreftanten betreffend,
freundlich auf; aber ich glaubte dennoch zu bemerken, daß ihm mein Beſuch
nicht ganz angenehm ſei. Ob er befürchtete, hierdurch den ertravaganten Pit»
gliedern des Comité's verdächtig zu werden, oder ob er ihn als eine Art Re
cognoscirung betrachtete, ob es ihm endlich unangenehm war, in einer Zeit wie
diefe, wo Minuten gegen Wochen auftwiegen, im Bette überraſcht worden zu
fein, laſſe ich dahin gejtellt.
Zwei Tage darauf kam Mieroslawsfi mit dem Grafen Mielzynski wieder
Die Märztage des Jahres 1848 in Pofen. 379
zu mir. Er war außer fich über einige Gonflicte, die zwiſchen jungen, bewaff-
neten Polen und unjern Leuten ftattgefunden, eine Thatſache, die ſich leider nicht
leugnen ließ. Ih mußte die wirklich brutale Behandlung jener jungen Leute
duch nichts zu entichuldigen und konnte nur verfichern, fie wäre nicht durch
Leute meiner Brigade begangen. Bei dem Hin- und Heriprechen über diejen
Gegenftand ließ Mieroslawäti die Aeußerung fallen, daß dem nur ein Ende
gemacht werden könne, wenn man einen preußiichen Officier an die Spihe der
Organifation ftelle und wenn man mid hierzu ernenne. ch that, ala wenn
ich die Sache überhörte; aber ala er wieder darauf zurüdtam, jagte ich ihm,
daß fich Hierzu ſchwerlich ein preußiicher Officier verftehen werde. Die Sache
fei politifcher Natur und gänzlich verichoben. Als Militär müffe man nur ge
horchen und den Pflichten der Ehre genügen; unter einer Herrichaft aber, wie
die jetzige, wo ein unjchlüffiges, ſchwaches Regime Alles veriwirre, das polnijche
Comité die Provinz mit demokratiichen Geſetzen überſchwemme, two alle Welt
von der Bewegung hingeriffen, der preußiiche commandirende General und der
zu erwartende Organiſations-Commiſſarius wahricheinlid durcheinander befehlen
würden, da würde man jehr bald, entweder mit feiner Pflicht oder feiner Ehre, ban-
querott machen. „ch will Ahnen,“ fuhr ich fort, „mein Glaubensbelenntniß
darlegen; es ift aus dem Teftamente eines Mannes, den jeder Pole hochadhtet.
Als wir am Tage des Gefechts von Libertwolkwitz dem Fürften Poniatowski
unjere Glückwünſche zu feiner Marichalldernennung darbradten, äußerte Je—
mand im Laufe des Geſprächs und in Bezug auf die Tagesereigniffe: „Aber,
mein Fürſt, was wird aus und werden, wenn twir geichlagen, die Franzoſen
zum Rüdzuge gezwungen werben jollten?* Der Fürſt ſchwieg eine Weile; „die
Verhältniſſe find allerdings ſchwieriger Natur,“ fuhr er dann fort, „wir können
nah Oft und nad Weit zerftreut, das arme Polen ganz überſchwemmt werben,
aber wenn jeder Pole den Begriff des Biedermannes feithält und ihm gemäß
handelt, jo wird die Nationalehre nie untergehen und der Name „Pole“ immer
eine Ehrenbenennung bleiben.“ Diefem Vermächtniß bin ich treu geblieben, ihm
verdanfe ic; meine ehrenvolle Stellung; die fernere Befolgung deffelben veranlaht
mich, jede und alle Betheiligung am Oberbefehl über die polnischen Truppen
auf das Entichiedenfte abzulehnen.“ — Nach dieſer Zeit jah ich Mieroslawäti,
wenn ich nicht irre, nicht wieder bei mir. Nach des General Williien Ankunft
babe ih ihn nur wieder ala Gefangenen in dem ort Winiary geiehen.
Mieroslamwati mußte auf Jedermann den Eindruck eines wohl unterrich-
teten, gebildeten Mannes machen; aber was ihm ohne Zweifel abging, waren
Genie und Willensftärke. Im Geſpräch war er liebenswäürdig; aber er war un-
angenehm und heftig, wenn er ſich hinreiken ließ, was öfter vorlam. Poller
Pläne und Projecte, fehlte es ihm an Kraft, fie auszuführen. Er hatte Muth,
aber es gebrad ihm an Kühnheit; er beſaß ſchöne Kenntniſſe, aber er verftand
fie nicht anzuwenden. „Il ne sait ni organiser ni commander,“ ſagten jelbft
feine Freunde von ihm. Er ſprach mit großer Geläufigkeit über die verjchie-
denften Gegenftände, aber öfters ohne Tiefe des Urtheils und ohne Reife. Die
Befriedigung feines bedeutenden Ghrgeizes, welcher durch feine Eigenſchaften
nicht gerechtfertigt ward, erwartete er von der Revolution, weswegen er fi
380 Deutiche Rundſchau.
fopfüber in die Bewegung ftürzte. Und doch verlor er beim erften Widerftand,
beim erften Unglüd, das ihn traf, die Faſſung, ohne dabei zu fühlen, wie jchlecht
ihn fein Ehrgeiz berathen. Hier in Polen nahm er Zufälligkeiten für wirkliche
Urſachen und unternahm e8, eine Sache ohne innere Kraft, ohne Wurzeln und
ic möchte Hinzufügen ohne Nationalität herzuftellen. Er hatte bei alledem
nicht begriffen, daß die ungeftümen Menjchen ſich nur zu bald durch ihre Hef-
tigkeit abnußen. Auf die Maſſen hatte er bald einen Einfluß erlangt, der größer
als jeine Fähigkeiten war. Die Stunde der Entjcheidung fand ihn aud hier
zaghaft und ohne Muth, jo brav er auch jonft im Kampfe feinen Feinden gegen-
über gewejen. In jeinem Aeußern war Mieroslawski in feinen guten Tagen
das, was die alten Franzoſen einen „muscadin“* nennen, wie ihn auch die Ber-
liner fennen gelernt haben; — es war in ihm Heldenjinn und Stleinlichkeit,
männliches Wejen und Eindijche Eitelkeit, Eraltation und Verſchlagenheit. Seine
Eigenfucht täufchte ihn unaufhörlich. Nach feinem Falle fand ſich Niemand, der
fein Unglüd nad) feiner Kraft gemefjen, im Gefängniß von Winiary verlor er
fih unbeklagt und unbedauert in dem Haufen der jubalternen Geifter, die es
mit ihm unternommen, in dem Lande des Adels die jociale Republik aufrichten
zu wollen.
Mährend die Parteien in Pojen fi zum Kampfe rüfteten, ward auch das
Militär von Zweifeln und Unruhe bewegt. Lange Ichon durch die Unjchlüffigkeit,
welche die Behörden an den Tag legten, durch die Anmaßungen, welche das
Nationalcomite zur Schau trug, durch die öffentlichen Aufzüge, welche die Be—
mwegungspartei faft täglich veranftaltete, beunruhigt, beleidigt durch die Waffen-
übungen, die man die Polen unter fremden Zeichen öffentlich betreiben ſah —
ward die Garnifon plötzlich durch das Gerücht allarmirt, es ſei eine Königliche
Gabinet3ordre an den Oberpräfidenten eingegangen, wodurch Pojen jo qut
wie aufgegeben jei. Ich darf wol nicht erſt jagen, daß die Nachricht hiervon
eine tiefe Indignation hervorrief. Hätte fich diejelbe beftätigt, jo würde fie
ficherlich eine Kataftrophe herbeigeführt haben. Das Gerücht hierüber lief von
Mund zu Mund, und wäre es bis zu den Unterofficieren und Soldaten gekom—
men, jo hätte es ohne Zweifel eine Indisciplin herbeigeführt, während man bis
jet die Subordination ſtreng aufrecht erhalten. Ich hielt e8 daher für meine
Pflicht, mit dem commandirenden General zu jprechen und ihn auf die Folgen,
die ein Verheimlichen eines jo wichtigen Actes herbeiführen müffe, aufmerkſam
zu machen. Der Commandirende meinte, er wolle die Sache in Erwägung ziehen.
Des andern Tags, Nachmittags, es war am 27. oder 28., wurden die Offi-
ciere der Garnifon auf das Fort Winiary in eine der disponiblen Hallen des
Kehlgebäudes bejchieden. Alle twaren in höchſter Spannung. Die Nachrichten,
welche die Polen und bejonders die von Berlin zurückgekehrten Deutjchen über
die Art und Weile der vorzunehmenden Organifation verbreitet und die mit dem
jpäter vom Comité befannt gemachten Erlaß vom 31. März nur zu ſehr über-
einftimmten, hatten die Gemüther wunderbar ergriffen. Als der Commandirende
in unferer Mitte erſchien, empfing ihn eine Todtenjtille.
„Die Ereignifje, die bis jet ſtattgefunden,“ xedete ı 'ere an, „haben
Die Märztage des Jahres 1848 in Pofen. 381
uns ſchwer geprüft; aber fie haben auch dargethan, welcher Geift Sie belebt,
was der König von Ihnen zu erwarten hat. Es haben uns harte, unerwartete
Schläge getroffen, und es jcheint, als wenn das Maß derjelben noch nicht er-
Ihöpft wäre. Ich habe Ihnen einen Königlichen Erlaß mitzutheilen, der unfere
ganze Zukunft in Frage ftellt.“
Hier entfaltete der General die Königliche Gabinet3ordre vom 24. März
und las deren Anfang laut vor. Aber allmälig unterbrad ihn Schluchzen —
endlich verhinderte ihn ein Thränenjtrom, fortzufahren. Sein patriotifches, fein
ächt preußiiches Gefühl hatte ihn überwältigt. Er gab den Gabinet3erlaf
feinem Chef des Generalftabes, der die] Leſung vollendete. „Sie jehen, meine
Herren, wie weit es mit und gefommen ift; ich kann mich nur unglüdlich ſchätzen,
diefen Tag erlebt zu haben.” — Hiermit verließ der General den reis.
Der Erlaß lautete:
„Auf den Mir von Ihnen vorgetragenen Wunſch will ic gern eine
nationale Reorganijation des Großherzogthums Poſen, welche in möglichft
kurzer Friſt ftattfinden joll, anbahnen. Ich genehmige daher auch die Bildung
einer Commiſſion aus beiden Nationalitäten, die mit Meinem Oberpräfidenten
gemeinjchaftlich iiber dieſe Reorganifation zu berathen und nach dem Rejultate
diefer Berathung Mir die nöthigen Anträge zu ftellen haben wird. Die ge-
dachte Commiſſion kann aber nur wirkjam fein, wenn und jo lange die gejeßliche
Ordnung und alle Autorität der Behörden im Großherzogthum Pojen auf-
recht erhalten wird.
Berlin, den 24. März 1848. Friedrich Wilhelm.“
MWenngleih der Erlaß Deprimirendes genug enthielt, jo war er auf der
andern Seite doch nicht geeignet, alle Hoffnung niederzufchlagen. Aber die Ent-
muthigung war allgemein. Diele Officiere weinten. Doc allmälig machte fich
ein anderes Gefühl Plab. „Lieber doch wie die Ritter von Rhodos fterben,“
jagten Einige, „ala Winiary den Inſurgenten übergeben.“ „Das hieße ja ſchimpf—
licher wie 1806 enden,“ meinten Andere. Ich rief hierauf mit lauter Stimme:
„Die Herren DOfficiere meiner Brigade!” Aber nicht diefe allein, jondern faft
alle jammelten fi um mid).
„Meine Herren,“ redete ich fie an, „der Erlaß Sr. Majeftät ſcheint falſch
verftanden tuorden zu fein. Don einem Aufgeben Poſens ift darin nichts
gejagt; davon kann nicht die Rede fein, jo lange deſſen Obhut Männern wie
Sie anvertraut ift. Der Geift, der die Garnijon belebt, ift die befte Bürgſchaft
für Pojens Erhaltung, und ſeien Sie überzeugt, meine Herren, daß ih nie zu—
geben werde, daß die Ehre unferer Fahnen auch nur im mindeften alterirt
werde.” Gin beifälliges Murmeln durchlief hierauf die Reihen, die fich zugleich
öffneten, um dem commandirenden General, der wieder in unjerer Mitte erfchien,
Plaß zu machen.
„Meine Herren!“ rief der General laut, „Sie jcheinen mid mißverftanden
zu haben. Die Gabinet3ordre jagt nichts von einem Berlafjen oder Aufgeben
Polens. Es ift darin nur von einer Reorganifation im nationalen Sinne die
Rede. Bleiben Sie ja der eberzeugung, daß ich die Ehre unjerer Fahnen ſtets
aufrecht erhalten werde.“
382 Deutihe Rundſchau.
Die Dfficiere äußerten über diefe Erklärung ihre laute Freude, die fi in
einem Lebehoch auf den König Luft machte. Wie ich fpäter gehört, hatte der
Major von Olberg, Chef des Generalftabes, den Commandirenden zu diejer
Erklärung vermocht. Und fie war auch wirklich nöthig. Denn die Art und
Weite, tvie der Erlaß früher mitgetheilt, und dasjenige, twa8 bvorangegangen war,
hatten einen betrübenden Eindrud gemacht. In entjcheidenden Kriſen müffen
die Behörden vorzugsweiſe Energie beweiſen und entjchiedene Haltung bewahren.
Wehe ihnen, wenn fie diefe verlieren! Den unbedeutenden Charakteren hier fehlte
das providentielle Merkmal ihrer Stellung und Macht, ihrer Sicherheit, fich
mit DBertrauen der Perioden der vaterländijchen Geſchichte zu erinnern, in denen
fich der preußifche Genius in feiner ganzen Größe und Höhe bewährt Hatte.
Was jedoch jehr üble Folgen hätte haben können, waren die Zugeftändniffe,
welche da3 Minifterium damals zugleih gemacht, wenn biejelben befannter
geworden wären. Doc circulirten fie glüclicher Weile nur in einigen Kreiſen
und wurden dort zugleich al3 verfälicht bezeichnet. — Hier find fie nad) einer
handſchriftlichen Mittheilung :
.Das gegenwärtig in Poſen befindliche Comité joll ein Regierungscomite einfeken, dem bie
königlichen Gommiffarien für Militär: und Givilangelegenheiten, ber General v. Willijen
und ber Oberpräfibent dv. Beurmann beizuorbnen find.
Das Comité wird einen Polen zum Oberpräfidenten der Provinz ernennen.
Mikliebige Verwaltungsbeamte und Richter, ſowie dergleichen Diftrictdcommifjäre und
Zandräthe follen auf den Wunſch des Comité's entfernt werben, doch ift ihnen ein zwei—
jährige Gehalt als Entihädigung zu gewähren. Dad Comité wählt an beren Stelle
neue Beamte,
. Dad Militär foll polnisch organifirt werben, doch ift den Deutfchen und Juden ber Ein-
tritt in daflelbe ganz unbenommen.
. Die Feſtung behält vorläufig preußiiche Beſatzung, doch darf fie ohne Zuftimmung bes
Gomite’3 nicht verwandt werben.
. Die polnifche und beutjche Sprache follen gleichberechtigt fein und eine oder bie ‚andere
nach Bebürfnik gebraucht werden. Das polniſche Schulwejen wirb jofort organifirt und
für gemeinnüßige polniſche Anftalten ſoll gejorgt werden.
Ferner hatte man Nachrichten von der Unterredung der polnijchen Ab-
geordneten mit Sr. Majeftät. So verſchieden die einzelnen Stellen auch nüancirt
wurden, jo liefen doch alle darauf hinaus, daß Kraszewski fich jelbit und die Vortheile
der Polen übereilt habe. Ich kenne Kraszewski jeit einer langen Reihe von Jahren,
habe 'in intimen Verhältniffen mit ihm geftanden, ex jelbft ift ein zu gründlicher
Kenner der polnischen Berhältniffe, um aud nur entfernt daran glauben zu
können, daß durch eine Revolution, wie er fie jah, Polen herzuftellen jei. Wahr:
ſcheinlich war e8 ein Anflug patriotifcher Eitelkeit, der ihn bewog, fich gehen
zu laſſen. Daß man jpäter im Großherzogthum Pofen Niemanden fand, ber
fih dazu hergeben wollte, Oberpräfident zu werden, beweift am beften, wie
wenig Vertrauen man zur Sade hatte und wie wenig fi) die Herren jelbit
vertrauten. Ueber den Erzbiſchof ſprach man mit einiger Rüdhaltung. Er hatte
dem Könige gejagt, daß er feinen treueren Diener als ihn habe. Das hatte man
ihm übel genommen. Er hielt fich fpäter auch jehr zurüd.
Wenn bis jetzt die Parteien in der Stadt nebeneinander fortgegangen waren,
ohne fich entjchieden feindlich gegenüberzutreten, jo fing dies an, jet anders zu
—
5 50
Po Be
je >)
Die Märztage bes Jahres 1848 in Pofen, 383
werden. Alle Augenblide liefen Klagen ein, daß man polnifche Soldaten infultirt,
ihnen die Cocarden abgeriffen, die Sporen abgetreten, die Säbel zerbrochen habe.
Und meiftens war hierbei das Unrecht auf Seite unferer Leute, deren fich all-
mälig eine gewiſſe Bitterfeit bemächtigte, die von deutſchen Bewohnern an—
geftachelt ward. Die Polen ertrugen dies Alles mit einer großen NRefignation,
aber fie verfolgten dafür ihren Hauptzweck mit um jo entjchiedenerer Energie.
Es wurden Leute ausgehoben, Waffen bejorgt, Lebensmittel ausgejchrieben, —
der Aufftand ward durch da3 ganze Land organifirt, und da man diejen bereits
jeit 1846 vorbereitet, alle Einleitungen getroffen, die Rollen vertheilt und die
Eventualitäten erwogen hatte, jo war dies das Werk, ich möchte fajt jagen,
eines Augenblides. Das Land war wie mit einem Zauberjchlage von Kempen
bi3 Poln.-Erone und von Inowraclaw bi8 Schwerin mit Comités, Organifations-
Commiſſionen durchzogen, mit Reviforen diejer Anftalten überſchwemmt und mit
Stationen wie durchwebt, die die Befehle und Erlaſſe des Gentralcomites nad)
allen Seiten beförderten.
In der Stadt Pofen jelbft bildeten fich Truppen, die auf dem Plaße bei
den Bernhardinern erercirten, und man erzählt, daß der Commandirende einft der
Uebung einer Abtheilung zugejehen und geäußert habe, daß e3 für die furze Zeit
gut genug ginge. Aus der Landichaft erichollen die Commandorufe bis auf die
Straße. Das Dzialinski'ſche Palais und mehrere andere Gebäude waren vollftändige
DOrdonnanzhäufer, von dem Rathhauſe herab wehte die polniſche Fahne. Das
Kriegscomite war nebenher jehr eifrig, ohne jedoch bei den Landbewohnern in
Bezug auf feine Forderungen den gewünjchten Anklang zu finden. Hier und
dort hatten jogar bei polniſchen Einſaſſen offene Auflehnungen gegen bdafjelbe
ftatt. Die deutſchen Comités, die fi, nachdem Pojen, Rawicz, Frauftadt und
Bromberg das Beijpiel gegeben, hier und dort ebenfalls bildeten, wirkten dem
polnischen Treiben entjchteden entgegen, und die Landwehren, die vom 23. ab
begannen, fich auf Kriegsſtärke zu ſetzen, fingen allmälig an, jo viel Halt zu
gewähren, um die nächjten Umgegenden der Stab3quartiere gegen die ‘offenen
Auflehnungen des Adels ſchützen zu können. In der Stadt Pojen war man in
Bezug auf einen Ausbruch von Unruhen völlig ruhig. Am 25. März ſchon
waren drei Escadrons de3 2. Leib-Hufarenregiments3 in Eilmärjchen eingerüct,
und wenn ſich der Bejonnene auch jagen mußte, daß dieſe bei einem etwaigen
Bufammenftoß mit dem Volfe wenig mitzuwirken vermögen würden, jo hatte
der Einmarſch doch einen wunderbaren Eindrud auf Deutjche und Polen gemacht.
Die Deutfchen waren wie neu erfräftigt, die Polen aber fingen an, zu begreifen,
daß e3 mit der Ohnmacht des Staates denn doc nur eine erbauliche Redensart
jet, und daß die Regierung endlich) wol daran denken könnte, ihre Autorität mit
Gewalt der Waffen herzuſtellen. Als vollends am 2. April drei jchleftiche Land-
wehrbataillone in der vollen Kriegsſtärke einrüdten, Tießen jelbjt erhitzte
Patrioten die Hoffnung finten.
War nun hiermit auch noch nicht viel geſchaffen, jo deutete es doch darauf
bin, daß man deutſcher Seit3 angefangen, fi zu befinnen. Den Anmaßungen
ber Polen war ein Damm entgegengejeßt,: und man begann, von allen Seiten
384 Deutſche Rundſchau.
wieder Muth zu ſchöpfen. Der Meſſias aber, auf den Alle hofften, von dem
Alle ihr Heil erwarteten, war der General v. Williſen.
In einer Staatsrathsſitzung nämlich war beſchloſſen worden, dieſen zur
Pacification der Provinz nach Poſen zu ſchicken und ihm zugleich den Vorſitz
der Reorganiſationscommiſſion zu übertragen. Merkwürdig bleibt es, daß
man ſchon ſeit Mieroslawski's Ankunft auch von Williſen's Ankunft geſprochen.
Wenn nun ſchon die Inſtruction des letzteren erſt am 3. April erlaſſen ward,
jo hatte man doch ſchon am 1. von dem Tenor derſelben Kenntniß in Poſen.
Ebenfo waren die Erlafje des Nationalcomite3 vom 31. März und 1. April
in Berlin befannt, als man die Inftruction für General von Willijen entwarf.
Am 5. April Abends endlich traf General v. Willifen in Pojen ein. Bevor
ich mich über deffen Thätigkeit jelbft auslaffe, ein paar Worte zu feiner Cha=
rakteriftif, die uns vielleiht den Schlüffel zu feiner Handlungsweije gibt.
Der General von Willifen, der in feinem Weſen etwas Gehaltenes Hatte,
das ſich in den harten Linien feines Geſichts ausſprach, und durch dad Arifto-
fratiihe in feinem Benehmen die Popularität vericheuchte, die er durch Mäßi—
gung in feinen Anfichten hätte gewinnen fünnen, gehörte ganz unbedingt zu den
unterrichtetften DOfficieren der Armee. Er hatte aus dem Kriege einen guten
Ruf mitgebradt. Früh in Beziehungen zum Hofe gefommen, war er hierdurch
an unerfreulicher Menjchenkenntnig nur zu reich geworden, und vielleicht war
gerade diefer Umftand Schuld, daß er früh ſchon in eine falſche Fährte gericth.
Der alte Feldmarihall York Hatte ihn betvogen, jenen Sohn auf feinen Reifen
nad Italien und England zu begleiten und hier hatte er die Vorliebe für con—
ftitutionelles Wejen eingefogen, dem er laut und überall das Wort redete. Als
Chef des Generalftabes de3 V. Corps war er in Pojen viel mit Polen in Be-
rührung gelommen und hatte dort durch eine gewiſſe Ruffenantipathie ſich Sym-
pathien unter den Polen und zugleich auch Umgang erworben, den er in feiner
fpätern Stellung als Brigadecommandeur in Breslau fortiebte.
Seine Aufjäße in der „Stant3-Zeitung“ vom 3. März 1831 und im
„Militär-Wochenblatt” vom 19. März über die Operationen der Ruſſen, be-
ſonders aber fein Buch „über die Theorie des großen Krieges, angewandt auf
den ruſſiſch-polniſchen Feldzug von 1831,” das von polnischen Militär-Schrift-
ftellern vielfach als Autorität angezogen worden, hatten die Polen einerjeits
ohne Zweifel mit Bewunderung für feinen militärifchen Geift, andererjeit3 aber
mit einer gewiljen Zuneigung erfüllt. Die Deutſchen hatten hierauf wol nicht
geachtet ; jobald er aber zum Organijations- Commifjarius ernannt worden,
fnüpften fie hieran ſofort Verdächtigungen aller Art, die der edlen Seele des
General weit entfernt lagen und die jelbft Polen verachten würden, ihm zu
imputiren. Geängftigt durch jedes Gerücht, das als eine angebliche Begünftigung
der Polen auftauchte, von vertvorrenen Gefühlen irre geleitet, die die Frankfurter
Ereigniffe erregten, ward die Gährung unter den Deutſchen immer ftärker; bald
geriethen auch die Bejonnenern in die Hände prodocirender Agenten, und jo
brachte die kleine Politik feiner Gegner Willifen binnen Kurzem in die größte
Verlegenheit. Boshafte Jnfinuationen aller Art raubten ihm jchnell jeden
Gredit; er fand nirgends Mitwirkung zum Guten, und jo | !! er unter einer
u #
Die Märztage des Jahres 1848 in Pofen. 385
unverjöhnlichen Oppofition zu einer Sache, deren Umfang er nicht kannte, die
er jogar injofern verfannte, als er eine philanthropifche Vermittelung zur Be-
deutjamfeit eines polnischen Schiedsgerihts zu erheben gedachte, der gegenüber
jeder Widerftand, jede Oppofition verftummen werde. Wenn es ſchon diplomatiſch
ſchwierig geweſen wäre, Polen als ein altes Volk zu reconftruiren, jo war dies
vollends den Berhältniffen in der Provinz jelbft gegenüber unmöglich geworden,
und num endlich jenes Minifterium ohne Klarheit, Einfiht und Schwung, ohne
Muth und Kraft, dem er untergeordnet war! Man hat dem General infofern
entjchieden Unrecht gethan, ala man jeine Sympathien für die Polen mit Ent-
würfen feines eigenen Chrgeizes in Zujammenhang gebracht, wenn man ihn
beichuldigt, als habe er die Exrniedrigung Preußens unterzeichnen wollen.
Wie hart und unbedacht aber auch die Polen den General Willifen beur-
theilten, beweift bejonders Moraszewski in jeinem Büchlein. Dem guten Mann
twiderfährt hierbei noch das Kleine Malheur, daß er General Willifen II. mit
dem älteren General Willifen verwechſelt. Moraszewski jchreibt:
„Auf die Konvention von Jaroslawice jah die Menge und jehen heute die
Geichichtsichreiber, welche die Ereigniffe jener Zeit erklären, als auf ein Wert
Williſen's, welcher die Beruhigung des Großherzogthums durch eine Bildung
polnijchen Militärs bezwedte. Er traf jedoch nur ein, um den Polen das Ge-
twehr aus der Hand zu reißen und Vorbereitungen zu der jogenannten Demar-
cationslinie zu treffen. Einen andern Auftrag hatte er nicht umd dachte auch
nicht daran, einen andern auszuführen. Man muß hier bemerken, daß er gleich
am Tage nad) der Convention den Regierungsafleffor Bornemann, den ex bei
fih hatte, mit Vorſtellungen nad dem Lager von Miloslam jandte, daß die
Gadres fich auflöjen jollten; es wäre nicht nöthig, den Bürgern Koften zu ver-
urſachen, welche ſich durch die Beiträge ohnehin vermehrten; daß in zivei Wochen
die Organifation des Militärs im Großherzogthum beginnen und Seder eine
Aufforderung erhalten werde, fich einzuftellen; ferner daß er ſich in feinen ge—
druckten VBertheidigungen gegen die Deutſchen bejonder3 damit rühmte, durch
Worte die Polen entwaffnet zu haben, was auf dem Wege der Gewalt viel
deutjches Blut gekoftet haben würde. Er betrachtet in diefer Darlegung die
Polen als reißende Thiere, denen man die Zähne ausbrechen müfje, damit fie
nicht biffen. Endlich jprad er gleich nad) feiner Ankunft in Poſen von der
Armee, jpäter aber in feiner Anſprache ftimmte er dies auf eine andere Organi-
jation der Landwehr herunter, wie fie längjt beftanden. Im Ganzen genommen
war Willifen ohne Syftem, von hin- und herſchwankendem Charakter, er war zu
jener Zeit das Werkzeug eines unklaren, ſchwankenden Mtinifterrums. Alle jeine
Werke verrathen diejelbe Charaktereigenthümlichkeit; was er auf der einen Seite
kräftig beweift, widerlegt ex auf der andern noch Eräftiger.”
Williſen Hat injoferm gefehlt, als er ſchon beim Antritt feiner Miffion
Schritte that, die ihn verderben mußten. Statt die Polen fommen zu lafien,
lief er ihnen entgegen. Statt den einflußreichen Aufwieglern entſchieden ent-
gegenzutreten, jchonte er in ihnen die künftigen Stüßen einer neuen Herrichaft,
— er ließ ſich mit einem Worte von der Bewegung hinreißen, und indem er die
Deutſchen in ihren allerdings aus der Frankfurter Bewegung aufgefaßten Ideen
Deutſche Runbſchau. I, 12.
388 Deutſche Rundichau.
denzen in einzelne Kleine Sammlungen, und fich dieje volljtändig zu verichaffen,
ift, auch abgejehen von dem Preife, eine ſchwierige Aufgabe. Es ſoll das fein
Vorwurf gegen Veit und Lehfeldt fein, fie konnten nichts Anderes geben, als
was fie hatten, und wa3 fie gaben, war wahrlich reichhaltig genug; aber jollte
es num, nachdem da3 Meifte au Schiller's Nachlaß wirklich zum Vorſchein ge-
fommen ift, nicht möglich fein, den urſprünglichen Mangel zu ergänzen? Dies-
mal wird hoffentlich der Verkauf des Buchs nicht lange auf ſich warten laſſen;
wenn e8 dann unmöglich jein Jollte, die größern Brieffammlungen, die mit
Goethe und Humboldt, und Lottens Nachlaß darin aufzunehmen, ginge es dann
nicht wenigſtens an, die Heinen, aber zum Theil hochwichtigen Gorrefpondenzen,
die mit Schlegel, mit Herder, mit den Mitarbeitern der Horen u. ſ. w. an ber
betreffenden Stelle einzujchalten? Man hätte dann doch wenigjtens den Haupt-
ſtamm beifammen, während jetzt Vieles blos in Journalen fteht. Bis das aber
geichieht, ſollte wenigſtens dahin gearbeitet werden, das Orientiren möglich zu
machen. Die vorliegende Sammlung ift nach dem allein richtigen Princip ge-
ordnet, nach dem ftreng chronologiſchen, dagegen ift Lottens Nachlaß, der uns
über jo Vieles aufklärt und an fich jelbft jo höchſt anziehend ift, nach Abſendern
und Empfängern rubricirt, To daß ein lebendiges Bild daraus nicht hervorgeht.
Don diefem Buch wird doch auch einmal eine neue Auflage fommen; ich möchte
dringend empfehlen, fie chronologiſch einzurichten.
Der langjame Abjah der Körner'ſchen Briefe bringt mich noch auf einen
andern Gedanken.
Schiller ift ohne Zweifel von unſern Dichtern der populärfte, und doch ver-
rathen die Vorftellungen, die von ihm im Publicum umgehn, eine höchſt unvoll-
fommene Kenntniß deffelben. Diejer Icheinbare Widerjpruch hebt fich, wenn wir
den Grund feiner Popularität unterjuchen,
Von feinem unjerer Dichter wiſſen wir jo viel auswendig: Balladen, Elegien,
Sinngedihte, Monologe aus den Trauerfpielen und andere ſchöne Stellen, von
der gedankenvollen Sentenz bis zu den „ichönen Tagen von Aranjuez“ herunter;
das Alles haben wir ſchon auf der Schule gelernt und vergefjen e8 nie wieder.
Den Lehrern ift es erfreulich, ihren Knaben und Mädchen einen Claſſiker
vorzulegen, in welchem durch jernelle Motive fein Anftoß gegeben wird — was
in den ältern Stüden und Gedichten davon vorkommt, hat für die Jugend feine
Gefahr, da es fie nicht anſpricht. Für die Jugend jelbft, namentlich) in der
Periode des Uebergangs, ift die Sprache feines Dichters jo wohlgefällig, ala die
jeinige: ein prachtvoller Klang, großer Schwung der Rede, ein Schaf von Ge-
danken und Bildern, die ſich ſchnell einprägen und deren Verftändniß im Ganzen
feine Schwierigkeit macht; was in den Gedichten der „dritten Periode” etwa
dunfel bleibt, eignet ſich vortrefflich zur Interpretation in der Secunda und
Prima, und hat nebenbei den Nußen, den philologiſchen Wortſchatz zu bereichern.
So ift Schiller dem Jüngling, der zur Univerfität tritt, wie auch der
Jungfrau im entjprechenden Alter jcheinbar ein gefichertes Eigenthum. In
ſpätern Jahren wird er verhältnigmäßig wenig mehr gelefen; warum follte man
immer wieder von Neuem lejen, was man auswendig weiß? So bleibt von
dem Dichter das Bild in der Seele haften, welches man ſich ala Knabe gemacht.
Schiller in jeinen Briefen. 389
Es ift das kein jchlechtes Bild; der Knabeninſtinct trifft eben jo oft das Rich—
tige, als die Neflerion des Alters. Aber es iſt einjeitig und unvolljtändig, und
gerade ein Dichter, der mit jo unendlicher Anftrengung an feiner Bildung gear-
beitet hat, würde oft richtiger gewürdigt werden, wenn er einem reiferen umd
gebildeteren Alter friich und neu entgegenträte. Dieje Snabeneindrüde werden
verjtärft durch eine weit verbreitete Tendenzliteratur, die Schiller hauptſächlich
als Autorität für ihre eigenen Wünſche benußt. Zu Sciller’3 bekannteften
Gedichten gehören außer der „Glocke“ die „Drei Worte des Glaubens“: Freiheit,
Tugend und Gott; auf Gott wird in der Regel weniger Gewicht gelegt, dafür
nimmt man aus der Anrede Bertha's an Rudenz: „An's Vaterland, an's theure,
ſchließ' dich an!“ das Vaterland, und aus dem Gedicht „Die Jdeale“ die Ueber—
ſchrift. So ift denn Schiller der Dichter der Freiheit, der Tugend, des Vater:
lands und des deals, und nad) diefer Schablone wird nicht blos feine poetifche
Entwidlung, jondern fein ganzes Leben zurecht gelegt: wenn man über ihn redet,
hält es ſchwer, nicht in’3 Erbauliche zu fallen.
Nun ift die Erbauung ein volllommen berechtigte Gorrectiv des gedanfen-
lojen Alltagslebens, aber fie ift unfähig, ein jprechendes Bild zu geben; wenn
fie zu zeichnen verſucht, jo bringt fie es nur zu nichtsjagenden Modellgefichtern.
Schiller ift aber ein jehr bedeutender, ein jehr jprechender Charaftertopf, von
ganz auferordentlicher Realität und gar nicht geeignet zu Modekupfern aus dem
Handgelent.
Gerade in dieſer Beziehung ift der Briefwechiel mit Körner jo unſchätzbar,
ja id) möchte jagen, er fteht einzig da in umjerer Literatur. Zwanzig Jahre
unausgeſetzter Freundſchaft und angeftrengten Gedankenverkehrs, — man bedente,
was das jagen will! Schon die Ausführlichkeit der Schiller'ſchen Briefe ift
wichtig, die Hauptſache aber ift, daß fie im Gegenſatz gegen die meiften Correſpon⸗
denzen jener Zeit fich nicht an Iuftige Dinge halten, jondern einen jehr realen
Inhalt bieten. Schiller erzählt im Detail, was ihm widerfährt, den Eindrud,
welchen die verichiedenen bedeutenden Menichen auf ihn machen; er ift von einer
iharfen, Mugen, man möchte jagen jchlauen Beobachtung. Freilich täufcht er
fi) mitunter, da er den erften Eindrud zu ſchnell firirt, aber er ift von diefem
erſten Eindrud durchaus nicht abhängig, er weiß ihn ftetö zu ergänzen und zu
corrigiren. Er ift gegen Körner von einer Aufrichtigkeit, die in feinen übrigen
Gorreipondenzen, auch in der mit Goethe, nur in viel geringerem Grabe anzu=
treffen ift. Goethe gegenüber hat er feine beftimmten Rejerven, auch in der Zeit
ihrer engften Freundſchaft zieht er es doch vor, ſich ihm im Gejellichaftätleid
zu zeigen; Körner zeigt er ſich volllommen wie er ift, mit dem reinften Vertrauen,
immer richtig verftanden zu werden. Das einzige Mal, wo er zurüd hält, bei
Gelegenheit feiner Heirath, hatte er vollen Grund dazu.
Der Herausgeber der neuen Auflage bemerkt, er würde Schiller mehrfach
das Wort entzogen haben, wenn er mit der erſten Auflage betraut geweſen wäre.
Es ift doch gut, daß das nicht geichehen ift, denn der Hauptwerth diejer Briefe
liegt in ihrer unbedingten Aufrichtigkeit, und für Leſer, die ſich nicht an einzelne
Stellen Hemmen, jondern den großen Zug des Ganzen überjehen, ift bei Schiller
eine Ausgabe in usum Delphini nicht nöthig.
390 Deutſche Rundſchau.
Als Goethe's Taſſo erſchien, ſchrieb Huber an Körner, das Original dieſes
poetiſchen Gemäldes ſei ihm doppelt gegenwärtig, in Rouſſeau und in noch
Einem. Diefer „no Eine” ift Schiller. Die Bemerkung trifft, wenn man fie
nur auf Schiller’3 Jugend bezieht; fie paßt aber gar nicht auf fein Mannesalter.
Das Eigenthümliche in der krankhaften Richtung Rouffeau’s, wie fie Goethe im
„Taſſo“ vollkommen correct wiedergibt, Liegt darin, daß fie mit reiferer Bildung
nicht aufhörte, ſondern ſich fteigerte, und alle Erjcheinungen des ſogenannten
BVerfolgungswahnfinns zeigte. In Schiller’3 Jugend wird fie durch die äußere
Lage erklärt und bedingt, und hört volllommen auf, jobald dieje Lage bejeitigt
if. Man kann fi) kaum einen Menjchen vorftellen, der dem Weltganzen mit
größerer Heiterkeit gegenüberftände, ala Schiller in feinen reiferen Jahren. Auch
darum ift e8 wichtig, die verjchiedenen Perioden feines Lebens ſcharf zu ſondern.
Schiller jelbft bietet dazu den beften Anhalt durch die Eintheilung feiner
lyriſchen Gedichte nach drei Perioden. Daß er die erfte mit 1785 ſchließt, mit
der Abreife au Mannheim nad) Leipzig, ergibt ſich von jelbft; bemerkenswerther
ift, daß er die zweite bis 1795 ausdehnt, da man auf den erſten Blick annehmen
follte, die Neberfiedlung von Dresden nad) Weimar hätte Epoche gemadt. Auf
den erſten Blick jcheinen die „Götter Griechenlands” und die „Künftler” ſchärfer
gegen das „Lied an die Freude“ und die „Refignation“ abzuftechen, ala gegen
die „Ideale“, den „Spaziergang“ u. ſ. w. Aber Schiller hat im Großen und
Ganzen volllommen vet; die zweite Periode feiner Entwidlung begann in
der That mit feiner Abreife aus Mannheim und jchloß mit der Eroberung
Goethe’3, deffen Freundſchaft feinem Leben zuerft ‚den feften Halt und Mittel-
punft gab. |
In der erften Periode geht er gleihjam bewußtlos in leidenſchaftlichem
Schaffen auf der Bahn, die fein Talent ihm anwies; die Periode ſchließt mit
dem Zweifel an feinem Zalent. Nun folgen zehn Jahre eines raftlojen, ange—
ftrengten Suchens und Orientirens, eine Streben nad) innerem Glauben und
nad äußerer Anerkennung, bis endlich Goethe’3 Freundſchaft ihm Brief und
Siegel für feinen Werth wird. Er hatte im Zweifel an feinem poetifchen Genius
fih mit Philojophie und Geſchichte eingelaffen, in Goethe's Spiegel jah er nun,
daß er von Natur ein Dichter ſei.
Ich würde noch eine vierte Periode annehmen, die Schiller jelbft, mitten
im Uebergang, nicht bemerken konnte: die Zeit, two er auch gegen Goethe eine
jelbftftändige Stellung gewann, two er durch den Wallenftein, wenn auch nur in
einer beftimmten Gattung, ſich ihm ebenbürtig erachten konnte.
Die Folge diefer Perioden wird durch einen Grundtrieb im Leben Schiller'3
bedingt, der fi) mehr oder minder im Scidjal aller ftrebjamen Menſchen nach—
weijen läßt: es ift der Trieb, der in Hegel’3 „Philofophie der Gedichte“ unter
der Bezeihnung „Kampf um Anerkennung“ eine große Rolle fpielt, den man
neuerdings nad) Darivin roher den „Kampf um’3 Dafein“ nennt. Von unjern
hervorragenden Schriftjtellern zeigt er fi) am geringften bei Goethe, am ſtärkſten
bei Schiller; und wenn Schiller einmal in einem Augenblid des Grolls ſich
darüber beflagt, wie leicht Goethe „vom Geſchick getragen“ jei, jo hatte er zu
diefem bittern Vergleich allen Grund.
Schiller in feinen Briefen, 391
Freilich hatte er Eins gemeinfam mit Goethe: feine Perfönlichkeit war von
einem ungemeinen Zauber. Dafür haben wir vollgültige Zeugniffe auch aus
den früheren Perioden: wir haben Streiher, Wolzogen, Reinwald, Körner,
Huber, wir haben Humboldt, Hölderlin und Novalis. Die Leidenjchaftliche
Hingebung der drei Lebtern ift jehr bezeichnend, da fie dem Dichter in einer
Zeit begegnete, two er noch durchaus nicht fertig war, und da fie nicht ſehr
warm exwidert wurde. Schiller zog gewaltig an, auch wo er nicht daran dachte.
Der Kampf um Anerkennung tritt am ftärfften in der erften Periode hervor,
weil er da am einfachften ift; in der zweiten wird er mehr zurücd gehalten, er
ift aber eigentlich noch intenfiver: in der erften ift Schiller von der Macht jeines
Genius jo ſtark durchdrungen, wie kaum fonft ein Dichter in feinen Jahren, in
der zweiten ift er irre daran geiworden.
Goethe hatte in jeiner Jugend eine äußere Anerkennung nicht nöthig, weil
er in dem Kreiſe, dem er angehörte, kaum etwas vermißte. In Frankfurt ge
hört feine Familie zu den Honoratioren, oder, was in der bürgerlichen Stadt
daſſelbe jagen wollte, zur Ariftofratie,; al3 junger Mann von Stande tritt er
ohne erhebliche Anftrengung auch in Leipzig, Straßburg und Wehlar auf. Es
macht ihm zuweilen Spaß, ſich al3 armen Schluder zu verkleiden, weil das jo
außerordentlich; lächerlich ausſah. In Weimar intriguirt zwar das abdelige
Beamtenthum gegen ihn, aber er nimmt das nicht ſchwer, weil er feiner ganzen
geſellſchaftlichen Stellung nad) von oben auf dieje Fachleute herabjah. Er ift
ganz verwundert, al3 man dem wirklichen Geheimrath aud) noch ein Adelsdiplom
geben zu müſſen meint, er hatte feine Ahnung gehabt, daß ihm noch etwas fehle.
Bei Schiller war der Geldmangel in jeiner Jugend das wenigſte: er hatte
das ftarke Gefühl, daß er eigentlich berufen jei, zur Ariftofratie der Welt zu
gehören; und daß er in der That nicht dazu gehörte, machte fich ihm nur zu
fühlbar. Er hat für feine Familie fein Leben hindurch treue und rührende An-
bänglichkeit bewahrt, aber e8 konnte ihm nicht entgehen, daß ihre Formen nicht
die Formen der feinen Welt waren: es war in der feinen Welt nicht mehr Sitte,
daß der Bater den Sohn mit „er“ anrebete. Der Vater war Dienftmann eines
Despoten — es ift recht unhiſtoriſch, daß man neuerdings den „alten Herodes“
bat „retten“ wollen. Er jelbft, der folge Jüngling, war verpflichtet, alljährlich
vor diefem Despoten in Reimen niederzufnieen und jeinen unterthänigen Dant
für gnädige Fürſorge abzuftatten. Als er ſich endlich diefem Drud entzieht,
fommt ex in die zweideutige Gejellichaft der Schaufpieler und wird als Jhres-
gleichen behandelt. Seine Schwefter verlobt ſich wider feinen Willen mit feinem
bypochondriichen Freunde Reinwald, der nicht blos unbemittelt war, fondern
deſſen Schweiter ala Kammerjungfer in Weimar diente — Alles Nadelſtiche für
ein ſtolzes Gemüth. Dan würde e8 leicht begreifen, wenn Schiller in Folge
deſſen eine demagogifche Stellung gegen die herrjchende Ariftofratie eingenommen
hätte, ungefähr wie Voß und Bürger; man bat es auch zuweilen jo aufgefaßt,
und ben Dichter des Carl Moor, des Verrina, der Luife Millerin und bes
Marquis Poja für einen Demokraten angejehen. Schiller ift das aber nie ge-
weſen; er hat nie die Welt nad dem Syſtem der Freiheit verändern wollen,
er wollte nur für fi) den Plab gewinnen, wo er dem Gemeinen entzogen wäre.
392 Deutiche Rundichau.
Er ging, wie ex fich bei Gelegenheit der Jenenſer Profeffur ausdrückt, auf „eine
gewiſſe Rechtlichkeit und bürgerliche Verbindung“, auf eine geordnete und acceptirte
Stellung in der Gejellihaft aus; es ift rührend, wie ex jedes Zeichen der An
erfennung auf fich wirken läßt, wie er davon zehrt: die Aufnahme in die Kur—
pfälziihe Gejellichaft, der weimarifche Rathötitel, der Verkehr mit den adeligen
Familien Wolzogen, Kalb, Lengefeld, Arnim. Den ablehnenden Stolz des
Bürgerd dem Adel gegenüber Hatte er nicht; fein ſpäteres Adelsdiplom war
ihm nicht äußerlich aufgedrungen. Es zu wünfchen, Hatte er freilih Grund,
den er geradezu ausſpricht: jeine Schwägerin nahm eine der erften Stellen bei
Hofe ein, feine Frau hatte die Hoffähigkeit verloren; er glaubte fich ſchuldig, fie
ihr wieder zu ſchaffen.
Wie verträgt fi) das nun aber mit der allgemein angenommenen bemo-
fratijchen Tendenz jeiner erften Stüde?
Selten hat ein Dichter mit fo ficherem Inſtinct glei beim erften Griff
die Sphäre gefunden, die ihm zufam. Schiller war der geborene dramatijche
Dichter; aus feinem Stüd erkennt man es jo ficher, ald aus den Räubern, jo
niedrig die Stufe der Bildung ift, die e3 einnimmt. Die Räuber beginnen für
Deutjchland eine neue Gattung. Die beiden Stüde, die kurz vorher die deutſche
Bühne bewegt und die Verjuche der andern dramatiſchen Dichter beftimmt Hatten,
Emilia Galotti und Clavigo, hatten faſt gar nit auf Schiller eingewirkt,
höchſtens hatte er einige Motive daraus genommen. Das Charakteriftiiche der
beiden Stüde, namentlich der Emilia, ift in theatralifcher Rüdficht die Sorgfalt,
mit der die Folge aller einzelnen Scenen motivirt wird. Man erfährt bei
jedem Auftritt, wie es zugeht; e8 wird erklärt, warum die eine und die andere
Perjon gerade an den Ort fommt; im Glavigo wird fogar ertvogen, wie Clavigo
auf jeiner Flucht bei Mtariens Haus vorbei fommen fonnte. Gegen dieje Moti-
virung verhält ſich Schiller völlig gleichgültig, wo er die Perjonen gerade
braucht, da hat er fie; es fommt ihm nicht darauf an, eine verfleidete Räuber-
bande aus den böhmiſchen Wäldern nad) Franken marjchiren zu laſſen. Diefe
Nichtachtung der äußeren Wahrjcheinlichkeit ift nicht etwa eine Schwäche des
dramatifchen Dichters, fie ift nothiwendig zum kühneren Schwung de3 Dramas.
Das pofitiv Neue nun, auch der Sturm- und Drangzeit gegenüber, lag in
der gewaltigen Bewegung der Maffen und in dem langen Athem der theatrali-
ſchen Spannung. Gewöhnlich gelingt dem talentvollen Anfänger die Erpofition;,
diefe ift bei Schiller ganz ſchwach, dagegen find die beiden letzten Acte der
Räuber, theatralifch betrachtet, ein Meifterftiid.
Reife und Tiefe der Charakteriftit wird man von einem unerfahrenen jungen
Mann nicht erwarten; jehr bezeichnend aber für Schiller, den man den fubjec-
tiven Dichter zu nennen pflegt, ift, daß er jeine Helden nicht von Innen heraus
gearbeitet hat.
Faſt überall, wo man ſich über eine Eigenthümlichkeit Schiller’3 im Leben
oder in der Dichtung durch Vergleihung zu verftändigen ſucht, ſtößt man auf
Goethe. Sp aud) hier.
Goethe Hat, jo weit wir jeine Arbeit controlliven können, überall eine
äußerlich ihm gegebene Darftellung zu Grunde gelegt und fie zum Theil recht
Schiller in feinen Briefen. 393
reichlich benußt: jo im Götz die Selbftbiographie de3 Helden, im Clavigo das
Memorial de Beaumardais, im Werther die Relation Keſtner's über den Tod
Serufalem’3 u. ſ. w. Aber überall, wo e3 auf das Gharafterifiren und Mo—
- tiviren anlam, bat er feine eigenen Erfahrungen zu Rathe gezogen: ex hat eigene
Erlebniffe eingetwebt und jedem jeiner Helden etwas vom eigenen Fleiſch und
Blut gegeben. Nehmen wir die ganze Reihe feiner Helden zulammen, und wohl-
gemerkt auch immer die entgegengejeßten Pole, aljo Elavigo und Carlos, Werther
und Wilhelm Meifter, Wilhelm Meifter und den Oheim, Tafjo und Antonio,
und jo fort, jo haben wir wenigjtens eine ungefähre Vorftellung von der Natur
des Dichterd überhaupt. Zuweilen, 3. B. bei Gelegenheit des Tafjo, bemerkt
er, daß er vielleicht zu viel von jeinem Herzblut darin transfundirt habe. Dar-
aus ergibt fich eine gewiſſe Verwandtichaft unter den ſämmtlichen Goethe’jchen
Helden.
Wie machte e8 nun Schiller? — An einen äußerlich gegebenen Stoff hielt et
ſich gleichfalls. Für die Räuber ift neuerdings eine Kleine Erzählung ala Quelle
nachgewieſen; die Novellen, welche dem Fiesco und Don Carlos zu Grunde liegen,
bat er jelber angegeben. — Wie fteht e8 aber mit der Motivirung und den
Charakteren? Eine ftarke Yyamilienähnlichkeit tritt unter jeinen Helden aller-
dings hervor, und zwar merkiwürdigerweile eine Yamilienähnlichkeit mit den
Goethe'ſchen Helden. Man hat im Fiesco die Beziehung zur Julia getadelt, bie
in der That aus dem Rahmen der Handlung herauszutreten Scheint, und Schiller
ſelbſt hat fich nachträglich gewiffermaßen gerechtfertigt, indem Fiesco zum Schluß
erklärt, er habe die ganze Poſſe nur geipielt, um die Doria ficher zu machen.
Fiesco wird bei der Gelegenheit nicht blos ungalant, jondern geradezu ungenteel.
Aber manche ſehr bezeichnende Stellen widerſprechen dieſer nadhträglichen Recht—
fertigung, und wer den Gang der Handlung mit Aufmerkſamkeit verfolgt, muß
einſehen, daß die Doppelleidenſchaft zu Julia und zu Leonore urſprünglich ein
weſentliches Charaktermerkmal des Helden ſein ſollte. Rouſſeau, den Schiller
in ſeiner Jugend ſehr viel las, ſagt vom Plutarch, er habe darum ſo herrliche
Biographien geſchrieben, weil er keine halbgroßen Menſchen wählte, ſondern
große, tugendhafte und erhabene Verbrecher. „In der neuern Geſchichte,“ ſetzt
Rouſſeau hinzu, „gab es einen Mann, der ſeinen Pinſel verdient: Fiesco.“
Schiller ſelbſt ſchreibt in ſeiner mediciniſchen Probeſchrift, ein Jahr vor Ab—
ſchluß der Räuber: „Zerrüttungen im Körper können den ſchlimmſten Leiden—
ſchaften den Weg bahnen. Catilina war ein Wollüſtling, ehe er Mordbrenner
wurde, und Doria hatte ſich gewaltig geirrt, wenn er den wollüſtigen Fiesco
nicht fürchten zu dürfen glaubte.“
Gehen wir von dieſem Geſichtspunkt aus, ſo finden wir auch in den übrigen
Stücken ähnliche Anläufe. So in „Cabale und Liebe“ die Scene zwiſchen der
Lady und Ferdinand. Er bekennt ſeiner Luiſe ſpäter, er habe einen Augenblick
geſchwankt, und die Lady ſelbſt, die zuerſt als ganz laſterhaftes Weib geſchildert
wird, erhebt ſich bei der Umklehr, wenigſtens in den Augen des Dichters, zu
einer wahrhaft antiken Größe. In der erften Anlage des Don Carlos, wo
von Poja noch gar nicht, von Politif wenig die Rede war, fpielte die Eboli eine
viel bedeutendere Rolle, das leidenichaftliche Verhältniß zur Stiefmutter war
394 Deutſche Rundſchau.
ſtärker accentuirt, und die Briefe an Reinwald verrathen, wie innig Schiller
den leidenſchaftlichen Jüngling, den er beſang, in ſein Herz geſchloſſen hatte.
In den Räubern beſchämt Franz Moor ſeinen Vater wegen ſeiner früheren
Vorliebe für Carl: „Der feurige Geiſt, der in dem Buben lodert, jagtet Ihr
immer, der ihn für jeden Reiz von Größe und Schönheit ſo empfindlich macht,
dieſe Offenheit, die ſeine Seele aus dem Auge ſpiegelt, dieſe Weichheit des Ge—
fühls, die ihn bei jedem Leiden in weinende Sympathie dahin ſchmelzt ....
werden ihn bdereinft zu einem großen, großen Manne machen!” u. ſ. w. Es
ift grade, ala ob von einem Goethe’jchen Helden die Rede wäre, von Clavigo,
von Grugantino u. ſ. w.
In der Vorrede erklärt fih Schiller noch weiter darüber. „Ein Geift, den
da3 äußerfte Lafter nur reizt um der Größe willen, die ihm anhängt, um der
Kraft willen, die es erheiſcht, um der Gefahren willen, die e3 begleiten, ein
erfwürdiger wichtiger Menſch, ausgeftattet mit aller Kraft, nad) der Richtung,
die dieje befommt, nothwendig entweder ein Brutus oder ein Catilina zu werden.
Unglüdliche Conjuncturen entjcheiden für das zweite, und erſt am Ende einer
ungeheuern Berirrung gelangt er zu dem erften. Falſche Begriffe von Thätigkeit
und Einfluß, Fülle oder Kraft, die alle Geſetze überjprudelt, mußten fih an
bürgerlichen Berhältniffen zerſchlagen, und zu diefem enthufiaftiichen Träumen von
Größe und Wirkfamkeit durfte fi) nur eine Bitterfeit gegen die unidealijche
Welt gejellen, jo war der jeltjame Don Quichote fertig, den wir im Räuber
Moor verabjcheuen und lieben, beivundern und bedauern“.
Schiller rechtfertigt fich, daß er diefen Charakter auch von Seiten feiner
glänzenden Eigenſchaften gezeigt hat. „Auch dem Kafterhafteften ift gewifjer-
maßen der Stempel de3 göttlichen Ebenbilds aufgedrückt, und vielleiht hat der
große Böjewicht feinen jo weiten Weg zum Rechtſchaffnen als der Kleine, denn
die Moralität hält gleiden Gang mit den Kräften.... Wenn e3 mir darum
zu thun ift, ganze Menſchen Hinzuftellen, jo muß ich auch ihre Bolllommen-
heiten mitnehmen, die auch dem böjeften nie ganz fehlen. Auch ift ein Menſch,
der ganz Bosheit ift, jchlechterdings Fein Gegenftand der Kunft, und äußert
eine zurüdjtoßende Kraft, ftatt daß er die Aufmerkfamkeit der Lefer feſſeln jollte;
man würde umblättern, wenn er redet: eine edle Seele erträgt jo wenig an—
haltende moraliſche Difjonanzen, als das Ohr das Gekritzel eines Meſſers
auf Glas.“
Es ift merkwürdig, daß diefe Stelle grade in der Vorrede zu den Räubern
fteht, wo Schiller den ?yehler, den er rügt, in der Zeichnung des Franz in
einem höheren Grade begangen hatte, al3 je ein Dichter vor oder nah ihm.
Das Fehlerhafte liegt in noch etwas Anderem. Dean hat von Goethe bemerft,
daß er feine rechten Böjewichte zu zeichnen wiſſe: auch jeinem Carlos, feinem
Mephiftopheles, feiner Adelheid, feinem Alba hat er Züge feines eigenen Innern
geliehen, er hat den Gaufalnerus ihrer Gedanken und Empfindungen fich jelbft
und Andern verftändlich gemacht und damit bis zu einem gewiffen Grade ihre
Paradorie (das Böje ift für die Betrachtung immer parador) aufgehoben. Davon
ift bei Schiller nicht die MRede, weder m Franz no in Nurm, noch im Prä—
fidenten, nod in irgend einem Bü der ältere: te, Daraus ent:
Zn
Schiller in feinen Briefen. 395
fpringt dramatiih das Mißverhältniß, daß er fich die Operation ihres Geiftes
nur mit dem Verſtande zurechtmachen kann, daß er fie nicht nachfühlt, und jo
haben alle dieje Figuren etwas Inlebendiges.
Bei den eigentlichen Helden dagegen ift augenſcheinlich, daß Schiller ihren
Charakter im gewiſſen Sinn al3 feinen eigenen empfand. Er beichreibt fi
wiederholt in der Art, und noch in Weimar äußert er einmal über Reinhold,
diejer könne nie fein freund fein: er könne nur folche lieben, die Anlage zum
großen Verbrecher, zum großen Helden oder auch zu beiden Haben.
Nun ift e8 allerdings ein mißliches Geſchäft, auch bei Menjchen, die man
fehr genau kennt, den eigentlichen Kern des Weſens ergründen zu wollen. Bei
Schiller aber liegen die entjcheidenden Charakterzüge jo auf der Hand, daß ich die
Behauptung wage, er habe fich über fich jelbft getäufcht. Dom Räuberhauptmann
ganz zu jchiveigen, er hatte auch nicht die geringfte Anlage, ein „Libertiner“,
mit andern Worten ein Vagabund zu werden. Bei feinem unſerer Dichter
ſpricht ſich das Bedürfniß nad einer rangirten Eriftenz jo entichieden aus, ala
bei Schiller: er will von der Welt acceptirt fein, und geichieht e8 nicht beim
erften Wurf, jo verliert er nicht die Geduld, jondern verjucht ben zweiten.
Ich glaube nicht, daß er von ftarken Leidenichaften war. Don Käthchen
Baumann und Henriette von Arnim wiſſen wir wenig, dagegen können wir
da3 Berhältnig zu rau von Kalb aus dem, was wir ſonſt über diefe Dame
willen, mit vollkommener Sicherheit conftruiren, und Schiller’ 3 Ausſpruch in
einem Brief an fie aus dem Jahre 1799, da3 Verhältniß fei ein reines und
ſchönes gewejen, unbedingt befräftigen. Man hat die „Tyreigeifterei der Leiden-
ſchaft“ auf dies Verhältnig gedeutet: ficher ift es Schiller nie im Traum ein-
gefallen, den guten Kalb umbringen zu wollen, mit dem er vielmehr recht leidlich
ftand, wie aud) mit Beulwiß, dem Gatten feiner andern Freundin Caroline;
er machte wiederholt den Vermittler.
Bei vielen Dichtern jener Zeit, jo bei Goethe und Lejfing, finden wir eine
entjchiedene Heirathsſcheu; es ift ihnen läftig, ſich zu binden, fie wollen nicht
genirt fein. Schiller, jobald er Neigung fühlt, ift jofort mit einem Heiraths—
antrag bei der Hand: bei Lotte Wolzogen, bei Margarethe Schwan, ich glaube
auch bei Fräulein von Arnim; das einzige Mißverhältnig mit Körner geht
daraus hervor, daß er es für abjolut nothwendig erklärt, zu heirathen, und daß
Körner das nicht zugeben will. Eben dreißig Jahre alt, heirathet er: wir haben
allen Grund, feine Wahl für eine glüdlihe zu halten. Seitdem kommt aber
auch nicht mehr die leiſeſte Spur irgend einer Herzensirrung vor, wovon man
bei der unbedingten Publicität der Weimarer Zuftände gewiß gehört haben würde;
er lebt nur mit jeiner Lotte, die ihn, beiläufig gejagt, nicht übertrieben be-
ihäftigt, und die andern Damen müſſen fi mit dem bejcheidenen Plab be-
gnügen, der einer quten yreundin zulommt. Wenn überhaupt ein Inductions—
ſchluß geftattet ift, jo darf man wol behaupten, daß die Leidenſchaftlichkeit nad)
diefer Richtung hin bei Schiller nicht ſtark entwidelt war. Im 36. Jahre erklärte
er für das letzte und bleibendfte jeiner Ideale die Freundſchaft und die „Beichäf-
tigung, die nie ermattet”. Er war fein Fiesco.
Diefer Umftand ift für Schiller's Verftändnif darum von Wichtigkeit, weil
396 Deutſche Rundichau.
er die innern Widerfprüche feiner dramatiichen Helden erklärt. Ich glaube, es
war Kuno Fiſcher, der zuerst die Bemerkung machte, Schiller’3 Helden jeien
nicht das, wofür fie ſich halten: fie rühmen fich eines concentrirten Willens und
find im Grunde weiche Gefühlamenjchen.
Nun pflegt man aber zu jagen, da3 wirkliche Innere diefer Stüde ſei viel-
mehr die allgemeine Tendenz gegen die beftehenden jchlechten Einrichtungen Der
Geſellſchaft. Dies jcheint in der That in dem Inhalt der Stüde zu liegen,
wie auch in der Vignette: ein aufbäumender Löwe mit dem Motto: in tyrannos!
der Spruch de3 Hippofrates, daß man durch Eifen und Teuer heilen müffe, was
duch Medicin nicht geheilt würde, die Aufzählung des Räuber? Moor vor
feinen Mordthaten, an ſchändlichen Großen begangen; die Erzählung des Ko—
ſinsky, die republifanifchen Theorien im Fiesco, die in Cabale und Liebe ge—
ſchilderte Schandwirthichaft, der ſpaniſche Despotismus mit feinen Beichtvätern
und Henfern. Es ift auch fein Zweifel, daß Schiller dieſe Uebelftände lebhaft
empfand: die Kritik derjelben ift aber keineswegs da3 Motiv feines dramatiſchen
Schaffens. Er ift Dramatiker sang pur, er will große Wirkungen erzielen, dazu
jucht er ergreifende Begebenheiten, blendende Figuren und fittliche Motive, die
fih in ihrer Wirkſamkeit bereit3 erprobt haben. Die Anklagen gegen Präfidenten,
Schranzen und Hofmarſchälle, gegen Beichtväter, Yeluiten und Henker waren
jeit der Sturm- und Drangzeit, eigentlich) Tann man jagen jeit Emilia Galotti,
ein ftehendes und wirkſames Theater- Motiv. Es war auch nicht gerade die
wirkliche Einrichtung der Geſellſchaft, die Schiller anfocht. „Ueber die verfluchte
Ungleichheit in der Welt! das Geld verroftet in den Kiften ausgedörrter Pickel:
häringe, und Mangel muß Blei an die kühnſten Begierden des Jünglings legen...
Das Gejeh hat noch feinen großen Mann gebildet, aber die Freiheit ſpringt über
die Palliaden des Herkommens und brütet Colofje und Extremitäten auß....
Ich weiß nicht, Morik, ob Du den Milton gelefen haft? Jener, der es nicht
dulden konnte, daß einer über ihm war, und fi) anmaßte, den Allmäcdhtigen
vor feine Klinge zu fordern, war er nicht ein ausgezeichnetes Genie?... Wer
möchte nicht lieber im Badofen Belials braten mit Borgia und Gatilina, als
mit jedem Alltagsejel da droben zu Tiſche ſitzen?“ Dieje Stellen find jpäter
geftrichen, aber was übrig geblieben ift, geht genau nad derjelben Richtung.
Es ift durchaus feine Kritik der fittlichen Zuftände Deutichlands aus der Zeit
des fiebenjährigen Krieges, Fein Revolutionsplan mit reformatoriſchen Zwecken.
Im Fiesco ift zwar viel von republifanifcher Freiheit die Nede, aber die
Republifaner wie Galcagno und Sacco werden in ihren Motiven lächerlich ge—
macht, Verrina kehrt jchließlich zum Andreas zurück, und die eigentliche Tendenz
ift doch, zu zeigen, daß Fiesco troß feiner Wolluft furchtbar, troß feiner Hoch—
herzigkeit der gefährlichfte Despot iſt. „Mein Verhältniß mit der bürgerlichen
Melt,“ heißt e8 in der Vorrede, „machte mich mit dem Herzen bekannter als
mit dem Gabinet, und vielleicht ift eben diefe politiihe Schwäche zu einer
poetifchen Tugend geworden.“ Nachher meinte er, das Publicum würde einen
andern Ausgang vorziehen; er brach feiner ganzen Tendenz die Spite ab, ließ
Fiesco mit einer edlen Entjagung enden, Bertha wird nicht geſchändet, Leonore
bleibt am Leben, jelbft der Mohr entwijcht. Ich wiederhole: die Tyrannen, die
Schiller in feinen Briefen. 397
Republikaner, die Präfidenten und Hofräthe waren nicht der Zweck, der dem
Dichter die Feder in die Hand gab, ein Drama zu jchreiben, jondern fie waren
da3 erprobte Mittel, dramatiiche Wirkungen zu erzielen.
DVielleiht wird man jagen: wenn Schiller fi nicht im Näuber Moor,
Fiesco, im Ferdinand, Walther abgejhildert hat, jo entſchädigen dafiir jpätere
Figuren, etwa Marquis Poſa und Mar Piccolomini; damit haben wir den
vollfommenen Freiheitshelden ſowie den tugendhaften Idealiſten.
Ich will darauf fein großes Gewicht legen, daß Poſa erft nachträglich ein-
geihoben ift, daß der urjprüngliche Held und Liebling des Dichters Don Carlos
war; das hätte ſich im Laufe der Jahre ändern können. Es ſteckt allerdings etwas
von Schiller in Poja, aber gerade das verwirrt den dramatifchen Charakter, wie
er ihn ſich gedacht Hat.
Man erinnere fi an die berühmte Unterredung mit König Philipp. Im
Laufe des Geſprächs kommt der König auf den Verdacht, daß es Poſa mit den
Proteftanten, mit den Neuerern überhaupt halte. Dieſen Vorwurf lehnt Pofa
auf das entichiedenfte ab. Er habe mit diejen Leuten nichts zu jchaffen, „das
Jahrhundert ift meinem deal nicht reif, ich lebe ein Bürger derer, die da
fommen werden.“ Das war im Munde Poja’s, der eben den Aufftand in den
Niederlanden anſchürte, eine ausgemachte Lüge, und zwar eine Lüge unter
erſchwerenden Umftänden: einen Tyrannen, den man ftürgen will, über That-
ſachen zu betrügen, ift erlaubt, aber ihm, dem Vertrauenden, ein Gefühl zu heucheln,
das bringt in das Bild einen Zug, den der Dichter nicht gewollt hat. Auch in
der ausführlichen Selbftkritik ift ihm diefer Widerfpruch entgangen. Woher fommt
da3? — Der hier ſpricht, iſt nicht Poja, ſondern Schiller, der jpätere Dichter
der „Künftler“, der jpätere Briefichreiber über die äfthetijche Erziehung. Das waren
jeine wirklichen Grundjäße: er hielt jede gewaltjame Staat3veränderung für
verkehrt und fträflich, jo lange nicht eine vollftändige Läuterung des fittlichen
Charakters in der gefammten Nation vorher gegangen war. Aber eben dieje
Läuterung machte jpäter den gewaltjamen Umſturz unnöthig. Sciller’3 Ten—
den; war zuerft inftinctartig, dann mit vollem Bewußtjein, den Geſchmack der
Deutichen zu bilden und dadurch indirect die Sitten zu veredeln. Wie jehr er
ſich von Poſa unterfchied, das ſpricht am beiten die Selbftkritif aus, in welcher
das Phantaftiiche und Despotiihe in Poſa's Unternehmen geiftreih und über-
zeugend nachgewiefen wird.
Freilich gehört dieſe Selbftkritif einer Periode an, in welcher das urjprüng-
lihe naive dramatiihe Schaffen dur ein ſehr abweichendes Bildungsmotiv
umgewandelt war. Die Eultur feines Talents hatte jeinem allgemeinen Bildungs-
trieb weichen müſſen.
Die wirkliche Blüthe eines Theater? hat zur nothivendigen Vorausſetzung,
dab Dichter und Darfteller im lebendigen Verkehr bleiben. So war es bei den
Engländern in ihrer guten Zeit, jo bei den Spaniern umd Franzoſen. Unſere
Sturm- und Drangperiode mit ihrer entichiedenen Neigung auf's Dramatifiren
litt zum Theil darunter, daß die Dichter den weiten Umfang ihres Wollens
nicht an den pofitiven Bedingungen der Darftellung beſchränken wollten; es
'hien aljo ein günftiges Geichid, daß der Dichter, der von Natur die höchften
398 Deutiche Rundſchau.
Anlagen zum Drama mitbrachte, gleich zu Anfang mit dem wirklichen Theater
in Verbindung fam. Da3 Mannheimer Theater war nicht ſchlecht, und Iffland
nicht blos ein außerordentliche Talent, jondern ein denkender Künftler, der fich
die Vorausfeßungen feiner Kunft vollftändig klar gemacht hatte. Seine Stücke
— und einige der beften jchrieb er noch in der Zeit, da Schiller in Mannheim
war — bewegen fi in einer jehr mäßigen Sphäre, aber ihre Technik verdient
volle Anerkennung, und Schiller konnte um jo leichter von ihm lernen, da Iff-
land, wenn auch al3 Praktiker ihm überlegen, fi) dem Geift des gleichalterigen
Freundes willig unterordnete. Als Schiller Mannheim verließ, ging diejer äußere
Halt für ihn verloren.
Zum zweiten Mal trat die Gelegenheit an ihn heran, da nad) Vollendung
des Don Carlos Schröder, der fih im Anfang gegen feine Neuerungen heftig
gefträubt, ihn aufforderte, als Theaterdichter nad) Hamburg zu fommen. Schröder
war nicht blos als ausübender Künftler und Dirigent der Erfte, er hatte auch
einen hellen Blid für das Große, da3 über die Dimenfionen der Bühne, die
ihm zur Verfügung ftand, hinaus ging. Schiller lehnte ab, und wurde in Folge
deffen volle zehn Jahre lang der Uebung jeines höchſten Talents entfremdet. Er
fehrte erft wieder dazu zurüd, als Goethe ihn, wenn auch nur vorübergehend,
an der Leitung der Weimarer Bühne betheiligte: mit Iffland's Gaſtſpiel in
Weimar 1796 beginnen auch die ernfthaften Arbeiten am Wallenftein.
. Es ift ſchwer zu jagen, was gejchehen fein würde, wenn Schiller in beiden
Fällen anders entjchieden hätte. Sein dramatifches Talent würde ſich gewiß
ſchneller und vielleicht correcter entwicelt, er würde gewiß die Bühne mit einer
Reihe durchgreifender Stücke bejchenkt haben. Ganz konnte ihm Weimar Mann-
heim und Hamburg nicht erjeßen, denn dort hatte das Publicum einfach zu ge—
horchen, während Iffland und Schröder den Anforderungen des Publicums, jo
weit fie al3 berechtigt erjchienen, Rechnung trugen.
Was Schiller beftimmte, waren zum Theil Gründe perfönlicher Art, haupt-
fähhlich aber der Drang nad) univerſeller Bildung, dem er durch die einfeitige
Beihäftigung mit dem Theater nicht genügen zu können meinte. Leider haben
wir über das, wa3 er in Leipzig und Dresden für feine Bildung that, nur jehr
lückenhafte Nachrichten, während uns der Körner’iche Briefwechjel über das, was
in Weimar und Jena geſchah, auf das reichhaltigfte belehrt. |
Seinen Bildungsgang haben wir hauptjähli nach drei Richtungen zu
verfolgen: da3 Studium der Geichichte, die Antike und die Philojophie.
Schiller ging von der ganz richtigen Vorausfegung aus, daß er reife Werke
nur dann ſchaffen würde, wenn er jeinen Geift jelbft hatte reifen laffen. Nun
war e3 ihm aber nicht blos äußerlich verfagt, feine Studien ganz unbefangen
zu treiben, er mußte jofort juchen, fie zu verwerthen: e8 lag auch tief in feiner
Natur, mit jedem Lernen das Produciren zu verbinden. So entftanden die ver-
jchiedenen Arbeiten über Geſchichte, ſo fam die Profeffur in Jena zu Stande.
Daß ein Profeffor Vorlefungen über römiſche Gefchichte hält, während er den
Livius zum erften Mal in die Hand nimmt, würde heute als Monftrofität er-
ſcheinen, damals ftand man diejen Dingen naiver gegenüber. Schiller täujchte
fich nicht im mindeften über fi; man darf nur die verſchiedenen Briefftellen
Schiller in feinen Briefen. 399
an Körner zufammenftellen, jo kann man ſich jede Kritik eriparen. Wenn er
fi einmal über feinen Beruf ſanguiniſch ausſpricht, jo geichieht es nur, weil
er in fih den philojophifchen Kopf findet, der aus dem hiſtoriſchen Roh—
material etwas Neues machen könne; daß jemald die Nachwelt aus feinen
Schriften wirkliche Geſchichte werde lernen wollen, hat er fich niemals ein-
gebildet. _
Bei der Gelegenheit muß ich eine Anmerkung des Herausgeber3 der Kör—
ner'ſchen Briefe rügen. An dem Ort jedenfalls, wo fie fteht, ift fie unſchicklich.
Bon dem Leſer diefer Briefe ift nicht vorauszuſetzen, daß er auswendig weiß,
was der Dr. Schmidt im Jahre 1858 gejagt hat, er kann aljo in jener An-
merkung, deren Beziehung er nicht verfteht, nur den ungezogenen Ausbruch einer
alten Rancune finden. —
Für Sciller’3 jpätere dramatiſche Production waren feine hiſtoriſchen
Studien ungemein erſprießlich; nicht blos in Beziehung auf den beftimmten
Stoff, jondern weil fie ihm einen Einblid in Hiftorijches Leben überhaupt gaben
und ihn befähigten, hiſtoriſches Leben überhaupt darzuftellen. Auch waren fie
damals nicht ohne Wirkung, fie haben nicht wenig dazu beigetragen, die liberale
proteftantiiche Auffaffung des 16, und 17. Jahrhunderts im größern Publicum
zu verbreiten.
Diejenigen Aufſätze nun, die eine allgemein philoſophiſche Auffaffung der
Geſchichte ausſprechen, 3. B. die Vorrede zu Vertöt, ftehen unter dem Einfluß
eines Schriftjteller3, defjen Einwirkung auf Schiller man, jo viel ich weiß, noch
nicht genügend gewürdigt hat. Der Briefwechjel mit Körner zeigt, wie eifrig
er damals Herder’3 Heine Schriften ftudirte: in ihnen fand er die Auffaffung
des Mittelalterd, welche er in jenem Aufjag mit großer Beredtjamkeit vortrug
und welche er ſich aus eigener Einficht in die Quellen nicht erwerben konnte; in
ihnen (3. B. in der „Nemefi3“) fand er auch die Auffaffung der Antike, die er
in den „Göttern Griechenlands“ ausſprach, noch ehe er die franzöfiiche Ueber—
ſetzung des Euripides und den Voß'ſchen Homer gelejen hatte. Auch das Haupt»
motiv zu den „Künftlern“ ift eine Herder'ſche dee.
So viel ich überjehe, beginnt bei ihm die Wärme für die Alten erſt in
Weimar, two durch Herder und Goethe das Gefühl für Alterthum, wie es zuerft
Winkelmann verkündet, gleichjam in die allgemeine Atmojphäre des Denkens
und Empfindens aufgenommen war; er theilte dann feine neu gewonnene Be—
geifterung den Rudolftädter Freundinnen mit, und gewöhnte ſich daran, fie ala
Mapftab und deal auch für jein dramatiiches Schaffen zu betrachten. Der
Einfluß auf feine Praris, worauf e8 hauptjählih ankommt, hat jeine zwei
Seiten. Auf der einen war e8 gewiß ein Gewinn, daß er auch in der Diction
nach höheren und reineren ?yormen, nad) Sättigung ſeines Ausdrucks durch be-
deutende würdige Gedanken ftrebte; auf der andern Seite fam in feine nädjften
Gedichte durch dieſes Studium ein gewiſſes Prunken mit Gelehrjamkeit, eine
Hingabe an griehijche Formen und Symbole, welche die Kraft de3 eigentlich
Lyriſchen, des Individuellen, der Empfindung beeinträchtigte.
Am nachtheiligſten finde ich die Einwirkung auf fein dramatische Schaffen.
Er hielt eine Verjöhnung der griehiihen und germaniſchen Form im Drama
400 Deutiche Runbichau.
für das wahrhaft wünjchenswerthe Ziel, und hatte ſich nicht ar gemadt, da
die beiden Formen einander ausſchließen. Die Bewegung de3 allgemeinen
Geiftes in Deutſchland führte zur Shakejpeare’ichen Form, zum Charakterdrama;
indem er num die griehijche Form, das Schicjalsdrama (man geftatte der Kürze
wegen diejen Ausdrud, der nicht ganz dedt!), damit verbinden wollte, geihah
es, daß die beiden Motive nicht recht ftimmten. „Das ift das Loos des Schönen
auf der Erde!“ „Ich leide unschuldig, doch in Ehre bleiben die Orakel!" Das
fommt nicht blos al3 gelegentlicher Stoßſeufzer vor, es jcheint ſich als entſchei—
dendes Motiv der Tragödie darftellen zu twollen, während der andere Spruch:
„In deiner Bruft find deines Schickſals Sterne!” ſich häufig jehr glänzend ver-
gegenmwärtigt. Schiller hatte Kühnheit genug, in die Seele des tragiſchen Helden
die volle Berantwortlichkeit aufzunehmen, und dann verſuchte er doch Wieder,
„die größere Hälfte der Schuld den unglücdjeligen Geftirnen zuzumwälzen.“ Das
hatte noch eine weitere Folge. Seine eigentliche Kraft lag in der Bewältigung
des Hiſtoriſchen; hier war nun feine höchſte Aufgabe, das wahrhaft Typijche,
das Sittliche und Allgemeine im Hiftorifchen zu ergreifen und an's Licht zu
ftellen. Statt dejjen juchte er nad) dem Vorbild der Alten, denen ftatt des
Hiftoriichen das Mythiſche Gegenftand war, das Typiſche, Allgemeine und Sitt-
liche im Außerhiftoriichen, wie in der Thefla, in der Jungfrau von Orleans,
in der ganzen Braut von Meſſina. Das war nicht Mangel an Vermögen,
jondern falſches Kunftprincip. Kein dramatijcher Dichter hat jo glänzend und
jo wahrhaftig das Typiſche und Sittlihe im Hiftorifchen gezeigt als Schiller
in den erponixenden Scenen des Wilhelm Tell, der um diefer Scenen willen
auch fortleben wird, troß des mangelhaften dramatiichen Aufbaues.
Diejer Einfluß der Antike auf fein Schaffen wurde verftärft durch jeine
philojophiichen Ueberzeugungen. Diejer Theil feiner Bildungsgeſchichte ift wol
der interefjantefte, weil er darin am ernfthafteften und gründlichften vorging,
ja mit einer gewiljen Leidenſchaft. Um hier den Gang jeiner Bildungsrichtung
aufzufaffen, muß man zwei Gedanfenketten verfolgen, die fi in einander ver-
flechten, aber nicht zujammenfallen.
Betrachtet man nämlih nur jeine philoſophiſchen Studien, jo tritt ein
Augenblid ein, wo feine Gefinnung ſich völlig umwandelt: ex ift in den „Briefen
des Julius an Rafael” Spinozift, oder wie man das ſonſt nennen will, und
wird dann Kantianer. Er fühlt jich zuletzt jo tactjeft, daß er Goethe, dem
Spinoziften, als Vertreter der Kantiſchen Schule gegenüber treten Tann, und fo
für den Aufbau der gejammten deutjchen Literatur eine höchſt merkwürdige
Bedeutung getvinnt.
Seit der „Kritil der reinen Vernunft“ lagerten fi nicht blos unter den
Philojophen von Profeſſion, jondern unter allen, die dachten und dichteten, zwei
große Gruppen gegen einander. Die einen, an ihrer Spite Herder und Goethe,
verfochten die Einheit des Göttlichen und Natürlihen, des Dinges an fi und
der Erſcheinung; die andern, in ihren zivei freilich von einander jehr abweichenden
Hauptvertretern Kant und Jakobi, fanden zwijchen beiden eine Mluft. Indem
nun Schiller jo weit auf Goethe einwirkte, dem gegenjählichen Syftem, wie es
fi in der „Kritik der Urtheilskraft“ zur vollften Höhe entwidelt hatte, wenigftens
Schiller in jeinen Briefen. 401
die Berechtigung zuzugeftehen, die er dem Jakobi'ſchen Dualismus ſtets verjagt
hatte, trat ein Zuſammenwirken der beiden Richtungen ein, aus welchem die
päteren Syſteme de3 transcendentalen Ydealismus zu begreifen find. Dan
vergeſſe nicht, daß fich diefe Syſteme zuerft in Jena entwidelten, nicht zwar
unter der directen Mitwirkung Goethe’3, aber doc) jo, daß jeder der neuen Er-
finder auf jein Urtheil lauſchte und feinen Beifall zu gewinnen ftrebte.
Der Zeitpunkt des Umjchlagd bei Schiller ift genau zu conftatiren. Er
wird zuerjt veranlaßt dur den Brief von Rafael an Julius, in dem fi
Körner auf die Höhe des gejättigten Kantianismus ftellt. Merkwürdigerweiſe
war e8 in Leipzig und Dresden im Verkehr mit diefem Kantianer nicht zum
Durchbruch gefommen. Dann folgt Reinhold’3 Einwirkung; das eigentliche
Studium beginnt erft nach der großen Krankheit und wird am eifrigften fort-
gejeßt in der jchwäbiichen Reife; wie gewöhnlich fo, dat Schiller ſich ſofort
productiv verhält. „Anmuth und Würde“ wird gejchrieben, von Kant troß der
feeriichen Anfichten jehr bewundert; e3 folgen die Briefe an den Herzog von
Auguftendurg. Hier nun find die Briefe an Körner von der größten Wichtig—
feit, weil fie weit mehr al3 die ftilifirten Eſſays zeigen, wie gründlich fich
Schiller da3 Syſtem Klar zu legen juchte und wie weit e8 ihm gelang.
Dies ift die eine Kette in Schiller’3 Entwiclung: die Briefe des Julius,
Anmuth und Würde, die äfthetifche Erziehung, Man muß aber eine andere
Kette daneben halten, in der fi, ganz abaejehen von allen philoſophiſchen
Syitemen, eine größere Einheit de3 Empfindens nachweijen läßt.
Schiller, gegen Körner aufrichtig wie immer, befennt dem freunde, fein
Julius habe fi) darum zuerft mit dem Univerjum eingelaffen, weil ihm zufällig
ſolche Schriften zuerft in die Hände gefallen waren; er befennt ferner, daß nicht
jelten da3 erſte Motiv feiner Gedichte der Klang war, daß nad) diefem Klang
- Sdeen ſich mehr oder weniger vertvorren fügten, die fi dann allmälig läuterten
oder auch durch andere veifere erjeßt wurden, während der Klang blieb. Damit
harakterifirt ex jein Verfahren von einer gewiffen Seite richtig; ex thut ſich
aber injofern Unrecht, als e8 durchaus nicht gedanfenlojfe Klänge waren, die
ihn zum Schaffen erregten.
Halten wir eins jeiner früheften Gedichte aus der Anthologie: „Freund!
genügjam ift der Weſenlenker!“ neben das aus der dritten Periode: „Ewig Kar
und jpiegelrein und eben,“ welches er damals für fein bedeutendftes hielt —
zwijchen beiden liegen 14 Jahre —, jo werden wir in vielen Punkten eine große
Nebereinftimmung gewahr. Auch die Sprache erhebt ſich in dem erften Gedicht,
freilich durch manche Rohheiten beeinträchtigt, oft zu einer wunderbaren Schön-
heit. Das Weltall wird ala belebt angenommen, belebt durch das Princip der
Liebe; durch fie ift die Welt erichaffen, durch fie ift fie erhalten. „Freundlos
war ber große Weſenmeiſter, fühlte Mangel, darım ſchuf er Geifter, jel’ge
Spiegel feiner Seligkeit. Fand das höchſte Wejen jchon fein Gleiches, aus dem
Kelch des ganzen Wejenreiches ſchäumt ihm die Unendlichkeit.“
An dem zweiten Gedicht wird num freilich von dem Leben nicht jo günftig
geurtheilt: man hört von der „Angft des Jrdiichen“, von dem „engen, dumpfen
Leben“, und man twird aufgefordert, in das Neich des deals zu fliehen, oder,
Deutliche Rundſchau. 1, 12. 26
402 Deutſche Rundſchau.
wie es in der erſten Ausgabe hieß, in's „Reich der Schatten“; manche Leſer
meinten, es wäre das Jenſeits gemeint. Das war aber nicht Schiller's Abſicht,
er wollte nur die Flucht aus dem Drang der Intereſſen in die intereſſeloſe
Betrachtung empfehlen. Darin hatte ja ſchon Spinoza das Ziel der Weisheit
gefunden, nur daß Schiller als Künftler die Betrachtung mehr in der Kunft
ſuchte, Spinoza in der Philofophie.
Ein ähnlicher Dualismus jpricht fich bereits in dem erft genannten Gedicht
aus: „Höher ftet3 und höher... wallen wir einmüth’gen NRingeltanzes, bis fich
dort im Meer des ew'gen Glanzes fterbend untertauden Maaß und Zeit.“
Das ift alfo wieder ein Jenſeits, und zwar ein beſſeres. Sucht man nad) dem
Sinn der dunklen Worte, jo kann es nicht3 anderes jein, al3 die von den Ver—
ftandesformen Raum und Zeit befreite intellectuelle Anſchauung, deren Mög—
lichkeit innerhalb der intelligibeln Welt Kant in der „Kritik der Urtheilstraft“
anerkannte, und deren Wirklichkeit Schiller in der Kunſt fand.
Stellen wir nun die philojophiichen Gedichte zufammen, in denen Schiller
jeine Weltanfhauung ausſprach: das „Lied an die Freude” (ein anderer Aus—
druck für daſſelbe, das er früher „Liebe“ nannte), „die Entjagung“, die im
Dualismus ftehen bleibt, die „Götter Griechenlands“ (poetijches Bild der Zeit,
in welcher nach Annahme de3 Dichters wirklich die Freude die Welt regierte),
„die Künſtler“ (doppelte Bedeutung der Kunſt als erfte Führerin in’3 Reich der
Humanität und als letztes Ziel, welches der geiftig arbeitenden Menſchheit vor-
ſchwebt), endlich das „deal und das Leben“, jo haben wir eine fortlaufende
Reihe, die duch den Kantianismus in feiner Weiſe unterbrochen wird und an
welche fich die vorher genannten projaiichen Schriften al3 weitere Erläuterung
anfügen. Der Kantianer gefteht da3 Recht der Würde ein, aber der Künftler
fügt al3 Gorrectiv die Anmuth hinzu und gibt damit dem Kantifchen Princip
eine andere Farbe.
Diefe Umwandlung erftredfte jich nicht blos auf Schillers philoſophiſche
Seen, jondern auch auf feine Hiftorifchen Anfichten. Auf die Conftruction der
Literaturgefhichte Hat Schiller jehr bedeutend eingetwirkt, jeine been find jogar
in Lehrbücher übergegangen, und nod heute wird es jchwer, fi von ihnen
loszumaden: ich meine die Abhandlung über das Naive und Sentimentale,
wonach die antife Dichtfunft naiv, die moderne Dichtkunft jentimental jein joll.
Es muß in diefer Conftruction befremden, daß als die Hauptgattungen der
jentimentalen Poeſie Elegie, Satire und Idyll bezeichnet werden; darnach wären
aljo Ovid, Juvenal und Theofrit jentimentale Dichter. Das ift im gewiſſen
Sinne freilich wahr; aber eben darin zeigt fi), daß die Eintheilung nicht ftimmt:
antik und naiv fällt keineswegs zuſammen.
63 ift jehr lehrreih, den Weg zu verfolgen, der Schiller zu diefem Irr—
thum führte. Von der erften Zeit an, wo er nad Weimar fam, war Goethe
fein Jdeal: auch da er ihn noch hafte, betwunderte er ihn mit Leidenſchaft. Er
fühlte zugleich, daß er ihn in feinem Felde nie erreichen werde, und doch fühlte
er in feinem Innern eine Kraft, die fi) gar wohl mit Goethe meſſen könne.
Um nun ein Gebiet zu geiwinnen, auf dem er den Wettftreit wagen könne, juchte
er die Berechtigung des Sentimentalen für die moderne Poefie nachzuweiſen.
Schiller in feinen Briefen. 405
verfolgen, wie Schiller dazu Fam, bald das Eine, bald das Andere einzuſchieben,
wie ihm ein Act zu lang wurde und er ihn in zwei zerlegte, wie dann dieſe
wieder zu kurz waren und er dann, um fie zu füllen, wieder neue Scenen ein-
ſchob u. ſ. w.
Ein mächtiges Werk individuell zu würdigen, muß man ſich zuerſt die
allgemeinen Dogmen aus dem Sinn ſchlagen. Dogmen ſind Reſultate früherer
Erfahrungen, jedes große Dichterwerk iſt eine neue Erfahrung und führt zu
einem neuen Dogma, das bis auf Weiteres gilt.
Was iſt die Aufgabe des Wallenſtein? —
Eine große, merkwürdige und räthſelhafte hiſtoriſche Begebenheit ſoll uns vor
Augen geführt werden; wir ſollen ihre Vorausſetzungen begreifen, die Menſchen,
die darin bandelnd oder leidend auftreten, jollen uns ſichtbar und bis zu einem
gewiſſen Grade begreiflich werden.
Hier famen nun dem dramatiihen Dichter die Studien über den dreißig—
jährigen Krieg jehr zu ftatten; er verfügte über das geſammte Detail, und konnte
mit Sicherheit überall die entiprechenden Züge wählen. Das Heer, weldes
nad Schiller’3 ganz richtigen Ausſpruch da3 Verbrechen des Helden erklärt,
tritt uns lebhaft vor Augen, die andern fittlihen Mächte, die in Betracht
fommen, finden theils in den Reden der Betheiligten, theil3 auch unmittelbar
ihren Plab.
Durch Ranke's neueſte Forihungen wird die alte Vorftellung Wallenftein’s
im Großen und Ganzen betätigt, vielleiht fommt der Held etwas beſſer fort.
Sein Plan war wirklid, Deutichland den Frieden zu verichaffen, die Schweden,
Spanier und Franzoſen zu vertreiben, die verfchiedenen Religionen zu toleriren;
er hoffte das auf diplomatiſchem Wege durch den Drud feiner mächtigen Armee
und durch Verbindung mit den gemäßigten deutichen Proteftanten zu erreichen.
In fofern war fein Unternehmen löblih, und daß er für fich eine hervor-
ragende Stelle, die eines Reichsfürften oder vielleicht eines Reichskanzlers, er=
jtrebte, war ein nicht unberedhtigter Ehrgeiz.
Nun ift e8 aber immer ein Wageftüd, und in gewifjen Verhältniffen durch—
aus nicht zu dulden, dab ein General auf eigene Hand Politik treibt. Das
Verhältnig zum Landesheren ift ein fittliches, der General hat nur die Mittel
der Gewalt, und was für einer Gewalt! Eine zügelloje Soldatesfa, von allen
Banden der Religion und Volksgemeinſchaft gelöft! Um fie zu benußen, muß
er ihren Intereſſen dienftbar werden, und bringt dadurch dad Gemeinwohl in
ſchwere Gefahr.
Und dann liegt ein Rechnungsfehler nahe. Wallenftein führte feine Armee
nicht in napoleonijcher Weile von Sieg zu Sieg und hielt fie jo im Rauſch;
jeine Kriegführung war nüchtern, die Soldaten und namentlid die Oberften
waren nur durch das Intereſſe an ihn gebunden, und dem ließ fi aud von
anderen Seiten beilommen.
Alle dieſe Momente, die bei den fittlihen wie bei den phyſiſchen Ent-
ſcheidungen in's Gewicht fallen, treten in Schiller's Drama vollftändig und
harakteriftiich hervor. Der Vorwurf, man jähe im Wallenftein niemals die
wirkliche Kraft, ift nur halb begründet: man fieht fie in den Refleren, und
406 Deutſche Runbichau,
da3 reicht aus, um Antereffe für ihn zu erregen. Man fieht die Greuel, mit
welchen dieje vertwilderte Armee Deutſchland bedroht, aber man interejfirt fich
auch für fie, für ihr frifches, dreiftes, übermüthiges Wejen. Man ftimmt voll-
kommen mit Queftenberg überein: „In fein friedländiich Lager fomme, wer von
dem Kriege Schlimmes denten will!“
Die Stimmung des Zuſchauers ift genau jo getheilt, wie es für die dra—
matiſche Wirkung nothiwendig ift: er fieht die Nothivendigkeit ein, dieje furcht-
bare Bande aufzulöfen — denn im Grunde ift nicht Wallenftein der Held,
fondern da3 Wallenftein’fche Lager —, auf der andern Seite empfindet er ein
gewiſſes Afthetifches Mitleid, wie ungefähr beim Untergang Richard's II. Wie
nun die verjchiedenen Hebel angejegt werden, fittlide und unfittliche, erſt um
den Schritt zu erziwingen, den Wallenftein vermeiden möchte, das Bündniß mit
den Schweden, die er gerade aus Deutſchland vertreiben will; die Hebel ferner,
das Unternehmen jcheitern zu machen: das ift mit einer Meifterichaft gegen-
wärtig gemacht, von der wir in Deutjchland fonft fein Beifpiel haben. Die
Verhandlung mit Wrangel ift jchon von Tief mit Recht gerühmt: die Beſchä—
mung Wallenftein’3 einer wirklich fittlihen Macht gegenüber ift feine Scham
aus abftract moraliſchem Motiv, jondern ganz realiſtiſch; und jo geht es fort
bi3 zum Abfall der Truppen, dem Höhepunkt des Stücks. Damit ift die Sache
entichieden, das Folgende ift zu breit angelegt.
Daß Wallenftein unſchlüſſig erſcheint und durch feine Unfchlüffigkeit fein
Derderben beichleunigt, hebt die Theilnahme für ihn nicht unbedingt auf, denn
feine Action ding nicht von feinem Willen allein ab, jondern auch von dem
Willen derer, mit denen er verhandelte: ihr Mißtrauen ift der finnliche Beleg
für das Unfittliche des ganzen Unternehmens. Das aftrologifhe Motiv ferner
— bei einem kühnen Abenteurer überhaupt in der Natur, und diesmal im all«
gemeinen Glauben der Zeit begründet — gibt dem Verhängniß etwas Greif-
bares: es ift grade wie der Wald von Dunfinan bei Macbeth, e8 wiegt den
Helden in Sicherheit und lähmt wieder im entjcheidenden Augenblid feine Hand.
So ift die ganze Haltung des Stückes eine realiftiihe, und Schiller hat,
wie wir aus feinen Briefen jehen, ein volllommen klares Bewußtſein darüber.
Nun aber, ala das Stüd beinahe fertig ift, glaubt er, daß noch etwas fehlt:
er drängt gewaltjam jeine bisherige poetiſche Stimmung zurüd, um einer neuen,
entgegengejegten Raum zu geben. Daraus wird zunächſt eine Epifode, die Epi—
fode gewinnt endlich die Herrſchaft über das Stüd und treibt e8 aus den Fugen.
Was fehlte eigentlih? — Die gewöhnliche Routine ſagte: zu einem claj-
fiihen Drama gehört eine Liebesgeihichte. Nun hätte Schiller durch Cäfar
und Gorioları, die er damals eifrig ftudirte, eines Beſſeren überführt werden
fönnen, aber — kurz, er dachte, er könne der Liebesepijode eine tiefere Bedeutung
abgewinnen.
Schiller als Kantianer glaubte an den kategorifchen Imperativ, wenn er
auch die Würde durch Anmuth mildern wollte Daß in dem VBorgange, den er
ſchilderte, die verjchiedenen fittlichen Motive nach der Reihe zum Vorſchein
famen, genügte ihm nicht: er wollte eine Stimme vom Himmel, die ſchließlich
dad Donnerwort Schuldig! ausſprach. Alle übrigen Perfonen waren in ihren
Schiller in feinen Briefen. 407
eigenen Intereſſen befangen, konnten aljo dies kategoriſche Urtheil nicht aus—
ſprechen, es mußte ein ganz unjchuldiges Wejen fein. Der Küraffier - Oberft
Piccolomini ſchwankt zwifchen der Liebe zu feinem Vater und der Liebe zu
MWallenftein’3 Tochter, zwiſchen der Pflicht gegen den Kaiſer und der Pflicht
gegen den Feldherrn; er verlangt die Entjcheidung von einer Stimme vom
Himmel: durch eine Eingebung erkennt er dieje in der eigenen Tochter des Ge-
neral3, und dieſe fällt denn auch das fategorifche Urtheil: der Vater ift im
Unrecht, der Oberft gehört zu feinem Kaiſer. Damit ift die Tragödie in die
Sphäre des Ideals gerüdt.
Wunderlicher ift noch nie mit dem fategorijchen Imperativ gefpielt worden.
Er lautet: Handele jo, daß du wollen kannſt, die Maxime deines Handelns
folle allgemeines Naturgefeg werden. Das ift in gewöhnlichen Verhältniſſen
leicht zu entjcheiden: das Kind, durch die in fein Gewiljen aufgenommene fitt-
liche Ueberlieferung belehrt, findet ich bald zurecht; in verwidelten ift es aber
ſchwer, da die Marime des hiftorifchen Handelns aus verichiedenen Momenten
zuſammengeſetzt ift, über die fich nicht das Gefühl, jondern die Vernunft orien-
tirt. Das allein rechtfertigt e8, wenn man die Grundjähe der gemeinen bürger-
lichen Moral nicht ohne Weiteres auf die Geichichte überträgt. Ob das, was
MWallenftein zu thun im Begriff war, Verrath zu nennen oder nicht, darüber
hat ein junges Fräulein, das eben aus der Penfion fommt, durchaus nicht mit-
zureden, und wenn ein junger Oberft fi) vor der Verantwortlichkeit jcheut, jo
darf fie ihm diefe Verantwortlichkeit nicht abnehmen.
Das Schlimmfte aber ift, daß dieſe Epijode auf den Charakter des Helden
zurückwirkt. Er ift jonft der harte, eigenmwillige, ehrgeizige Menſch, der Kalt
berechnet, jogar mitunter zu gemeinen Mitteln greift: er hat Buttler betrogen,
er weiß um Illo's Betrug, er jcheint auch zu überjehen, was jeine Schwejter
mit Mar und Thekla im Schilde führt; damit nun aber die Stimme vom
Himmel erfhütternd auf ihn wirke, verwandelt fi) auf einmal feine Natur:
er fühlt fich als der treuherzige, biedere, ſchlichte Mann, er liebt nicht nur Mar,
ſondern ſchwärmt auch für ihn; wird gegen Thella nicht nur ein gütiger, ſon—
dern ein zärtlicher und verftändniginniger Vater. Sein Untergang wird lange
ausgeiponnen, um den Zuhörer ganz weich zu machen, durchaus gegen den Sinn
der echten Tragödie; jelbjt das aftrologiihe Motiv gewinnt eine ganz neue
Bedeutung, es fieht aus, wie verihämter dichteriicher Pantheismus.
Mir ift dabei nur eins ſchwer verftändlid. Schiller hat über diefe Dinge
mit Goethe jehr ausführlich verhandelt: er war für guten Rath, namentlid)
wenn er von Goethe fam, jehr zugänglih: warum hat ihn Goethe nicht ge—
warnt? Oder wurde er jelber getäufcht? — In einem verwandten Falle, früher,
bei Gelegenheit des Egmont, hatte Schiller ihn zurecht gewieſen, er bat die
Himmelfahrt Clärchens als unrealiftiich getadelt; aber Goethe Hatte doch die
Entihuldigung, dat dieſes Traumgebild Glärhens aus Egmont's Seele auf-
flieg, während Thella eine wirkliche Perſon jein joll.
Schiller ift überall groß, wo er ein maffives hiftorifches Leben in Scene
ſetzt. Das Fragment vom Demetrius, der erfte Act des Tell jchließt fich eben-
bürtig dem Wallenftein an. Aber nur wenn er realiftiich verfuhr; und e3 war
408 Deutſche Rundſchau.
nicht blos die antike, ſondern die alte angeſtammte Neigung, was ihn zuweilen
verführte, an die Geſchichte eine beſſernde Hand legen zu wollen: er nahm ſeine
Motive nicht aus der Sache ſelbſt, ſondern er ſuchte ſie nach dem Maß ihrer
Wirkſamkeit zuſammen.
Man hat an der Maria Stuart getadelt, daß die rechte Spannung fehle:
im Grunde ftehe das Todesurtheil von vornherein feft, und gar zwijchen dem
vorletten und lebten Act jeien alle Möglichkeiten der Rettung befeitigt. Ich
finde den Vorwurf nicht begründet: wenn Schiller überhaupt den Stoff wählte,
fo war doc wol jeder Lejer jo weit in der Geſchichte beiwandert, daß er mußte,
Maria Stuart war wirklich Hingerichtet worden; alfo eine Spannung der Neu—
gier war ausgeſchloſſen.
Die Aufgabe ift, zu zeigen, wie die verjchiedenen intereffanten Perſonen,
die und vorgeftellt werden, in der Kataftrophe, die man allerdings von Anfang
an mit Beltimmtheit fommen fieht, fich benehmen. Da das Schiller fo, daß
die Gaufalverbindung deutlich hervor tritt, lebendig und geiftreich ausgeführt
hat, jo hat er feine Aufgabe vollkommen gelöft; der Fehler Liegt nur darin,
daß er die Hiftoriichen Typen nicht mit genügender Deutlichkeit hervortreten
läßt: fie find alle vorhanden, fie werden aber verdunfelt durch die zufälligen,
perjönlichen Motive.
Das Tragifche in Maria’3 Schickſal liegt darin, daß fie al3 Opfer zweier
furchtbar mit einander ringender Weltmächte fiel. E3 war die Blüthezeit in
dem erbarmungslofen Kampf zwiichen Proteftantismus und Katholicismus,
Dies entjcheidende Motiv tritt zu wenig hervor. Der jämmerlicje Lei-
cefter macht fi) zu breit, Elifabeth zeigt faſt nur die perjönliche Eiferfucht,
und wenn fie von der abgöttijchen Liebe ihres Volkes redet, jo möchte man
nad Schiller's Darftellung meinen, es jei nur Comödie; und bei Burleigh
überſchreit der bösartige Intrigant bei weiten den warmen Patrioten. Mor—
timer könnte ein vortrefflicher Typus fein, und auch über das pofitive Ver-
hältniß der Heldin zu der großen Frage, welche die Welt beiwegte, hätte man
in’3 Klare fommen können, wenn die Bedeutung der Communionsſcene für den
Charakter und die Religiofität Mariens ebenjo deutlich herausgeftellt wäre,
al3 durch die Scene mit dem Großinquifitor der Charakter und die Religiofität
Philipp's.
Dieſer Fehler gegen die Geſchichte wirkt auch äſthetiſch. Freilich erregt
Maria Mitleid, aber da ſie nur als Opfer bösartiger Feinde zu fallen ſcheint,
iſt dieſes Mitleid zu weich: „das iſt das Loos des Schönen auf der Erde!“ Das
tragische Mitleid wird nicht vermindert, jondern erhöht, wenn Schuld im Spiel
ift, betwußte oder unbewußte. Maria’ Charakter, geſellſchaftliche Stellung,
Vorgeſchichte, Telhft ihre Schönheit und glänzenden Eigenjchaften twaren dazu
angethan, England in’s Elend zu ftürzen; ihren Tod zu wünjchen, war für den
Engländer natürlich; wie diefer Wunſch bei an fich nicht ſchlechten Naturen
allmälig zum Juftizmord führen konnte, und wie mit der That dann doch jofort
das Gewiſſen eintrat, das hätte ein höchſt intereflantes hiſtoriſch-pſychologiſches
Problem geboten.
Schiller ftand mit feiner Gefinnung gewiß auf demjelben Standpunft; er
Schiller in feinen Briefen. 409
hat es ja im Don Carlos und in der niederländiichen Rebellion deutlich) genug
ausgeſprochen; aber — und das ift, worauf es mir ankommt — dieſe Gefinmung
war ihm nicht das Beftimmende beim dramatiihen Schaffen; er wollte
Mitleid erregen, im Don Garlos für die Opfer des Katholicismus, in Maria
für den geopferten Katholicismus. Er fahte die Begebenheiten rein menschlich,
d. h. unhiſtoriſch auf. Diefe eigenthümliche Stellung zu den Stoffen tritt
noch deutlicher bei der Jungfrau von Orleans heraus. Das Stüd ift, thea—
tralifch betradhtet, neben den Räubern vielleiht das glänzendfte, was Schiller
geihaffen: eine Hauptrolle, wie fie prächtiger nicht gedadht werden kann; die
Bewegung feurig, unausgeſetzt überrafchend, voll athemlojer Spannung. Was
aber ift der eigentlihe Sinn der Tragödie?
Der Stoff an fich ift ergiebig genug. Der leidenſchaftliche Patriotismus
der Franzoſen verdichtet fich in der Seele einer einfamen Hirtin in dem Glauben
an einen göttlichen Ruf; diefer Glaube thut Wunder, da der latente Patriotis-
mus nur eines Funkens bedurfte, um in Flammen aufzugeben; nachdem aber
das Ziel des Wunders erreicht, fängt man an, über die Kraft, die es bewirkt,
Zweifel zu hegen, die Wunderthäterin wird ala Here verbrannt.
Diejen Stoff hat Schiller in zwei Punkten weientlich verändert. Ginmal
glaubt Johanna nicht nur, Wunder zu thun, ſondern thut wirklich Wunder, fie
offenbart dem König feine geheimften Gebete, fie zerreißt centnerſchwere Stetten,
fie weiß aus der Entferming, dab Lord Salisbury gefallen if. Sonderbarer
Weiſe nahm Schiller diefe Motive aus Shakefpeare, dem es gerade darauf an—
fam, die Feindin feines Landes al3 Here darzuftellen und ihre Verbrennung zu
rechtfertigen.
Sodann hat die Umkehr einen merkwürdigen Grund. Johanna fühlt ſich
ſchuldig, weil fie ihr Gelübde der Keuſchheit, wern auch nur durch ein Gefühl,
verleht hat. Sie hat Lionel verfhont, während fie jonft alle Engländer tödtete —
die wirkliche Johanna hat feine Menſchen umgebradht. Im Gefühl diefer Schuld
ichweigt fie, den furchtbaren Anklagen ihres Vaters gegenüber, welche durch den
Donner de3 Himmels unterftügt werden — der Himmel ſpricht wirklich, denn
ein zufällig ausbrechendes Gewitter in diefem Zulammenhang wäre doch ein zu
ungerechtfertigter Theaterſtreich.
Es ſoll alſo durch das, was vor unfern Augen vorgeht, in uns der Glaube
erweckt werden, die Mutter Gottes thue ein Wunder, um Garl VII. in Rheims
frönen zu laffen, und fie halte es für eine Sünde, daß die Jungfrau aus Mit-
leid, dem fi Neigung beimiſcht, einen Engländer verſchont.
Die Frage kann ganz unberührt bleiben, ob in einer Zeit, die an feine
Wunder glaubt, Wunder auf dem Theater zuläffig find? Auf dem Theater
aller Nationen find Wunder ftet3 Aeuferungen derjenigen göttlichen Kraft, an
welche der Dichter oder das Publicum glaubt. Galderon bringt viel tollere
Wunder zu Wege als Schiller, aber fein Publicum war jo bigott katholiſch,
da es fie ganz in der Ordnung fand,
Wie ftellte ſich nun das deutiche Theater, noch bevor Galderon eingeführt
wurde (dem Dichter der Jungfrau war er noch unbelannt) anders: es gebrauchte
das Wunder ala Hunftmittel, auf der Bühne große Wirkungen hervorzurufen,
410 Deutſche Rundſchau.
ohne daß es von dem Glauben der Zuhörer, ſittlich oder phyſiſch, getragen
wurde. Aehnlich die Orakel in der Braut von Meſſina und Aehnliches.
Hätte Schiller in den Stoffen, die ſich ihm als dramatiſch wirkſam boten,
vaterländiſche oder ſonſt in dem ſittlichen Gefühl der Zeit gegründete Motive
angetroffen, ſo hätte er ſie gewiß vorgezogen; er traf ſie aber nicht, wenigſtens
nur in einzelnen Fällen. Dies charakteriſirt nicht nur ihn, ſondern die ganze
Tendenz feiner Zeit, die Romantifer wie die Glaffifer, die in der Poefie ein
„Mädchen aus der Fremde jahen“. Um die Zeit zu verftehen, muß man ſich
das ftet3 vor Augen halten.
Ich jollte wol mit einem Schwung jhließen, thue e8 aber abſichtlich nicht.
Daß Schiller ein großer dramatiſcher Dichter war, braucht Keinem gejagt zu
werden; aber tworin lag feine Größe? Nicht in der Gefinnung, in dem deal,
in dem Patriotismus; nicht in der piychologiichen Vertiefung, ſondern in
der Macht, große, gewaltig wirkende Scenen harmoniſch aufzubauen. Will man
ihn „idealiſiren“, d. h. ihm Eigenjchaften andichten, die er nicht hatte, jo thut
man ihm jelber am meiften Unrecht. Er ift groß genug, um gejehen zu werden,
wie er ift; und wer feinen Brieftvechjel mit Körner vorausjegungslos jtudirt,
wird am bejten erfennen, wie er empfand, wie er dachte, wie er arbeitete: ein
Charakterkopf mit ausdrudsvollen Zügen, der wahrhaftig nicht nad) dem Mode—
geſchmack überfärbt zu werden braudt.
Julian Shmidt.
Pie Derbredherwelt von Wien.
— — vu
Mit Benützung von Acten der K. K. Polizeidirection in Wien
von
Mar Huybensz.
Die Schilderung der Verbrecherwelt einer Großſtadt erfordert die Berück—
fihtigung mannigfadher Factoren, welche theils ala ein Product allgemeiner
Bedingungen und Verhältniſſe ericheinen, theils aus fpecifiichen Eigenthümlich—
feiten und jocialen Gebrechen hervorgehen. Die geographiiche Lage, Berührung
von Nationalitäten, Handels- und Gewerbethätigfeit, Kaftengeift, Capitals—
anfammlung und Mafjenarmuth, allgemeine Lebensgewohnheiten und beſonders
der durchichnittliche Bildungsgrad der unteren Glaffen nehmen Einfluß auf die
Zahl und Art der Verbrechen, wie auf die Eriftenz und die Bedeutung jener
lichticheuen Verbindungen, deren Mitglieder gewerbemäßig verbredheriiche Hand-
lungen betreiben. Eine gewifjenhafte Schilderung der Verbrechermwelt ift endlich
nit möglih ohne Berüdfichtigung des ftatiftiihen Momentes und jener
Operationen, welche da3 Inſtitut der Eriminalpolizei zum Schube der bedrohten
Gejellihaft in Anwendung bringen muß.
Trotz der erjchütternden politiichen Schläge, welche Defterreih erlitt und
welche den Sturz de centraliftiichen Regierungsiyftems und die Zweitheilung
des Reiches zur Folge hatte, ift die Entwicklung der Hauptjtadt Wien nicht ge-
hemmt worden; im Gegentheil, der Zuwachs an Bevölkerung, der Werth des
liegenden Eigenthums und die Bauthätigfeit erlitten rapide Steigerungen. Die
Bevölkerung Wien’s hat in den Jahren 1846 bis 1857 im Durchſchnitte jähr-
lih um 1.7 und von diefem Zeitpunfte bis 1869 um 3.1 Procent zugenommen.
Bon 1869 bis 1872 jchritt die Vollsvermehrung um 1 Procent vor. Eine noch
rapidere Zunahme weijen jene bedeutenden Gemeinden auf, welche ſich außerhalb
des Linienwalles der Vorftädte entwidelten und mit dem Gollectivnamen „Vor—
orte Wien's“ bezeichnet werden. Hier betrug der Bevölkerungszuwachs in dem
Zeitraume von 1846 bis 1857 28 bis 6.5 Procent, von 1869 bis 1872 2,5
Procent. Eine Meberficht diefer Steigerungen bietet die folgende Zufammenftellung:
Jahr 1846 1857 1869 1872
Bevölkerung der Stadt Wien 408,000 . 476,200 . 607,500 . 619,000
u „ Bororte. . 88,000 . 114,000 . 203,000 . 308,000
496,000 590,200 810,500 927,000
412 Deutiche Rundſchau.
Die Stadt Wien zerfällt in neun Gemeindebezirke, welche unter ſich ſowol
in Bezug auf den wirthichaftlihen Charakter, al3 den Grad des Wohlftandes
ſehr verjchieden find. Die innere Stadt wird von den reichen und vornehmen
Glafjen bewohnt, fie zählt beijpielaweife 4713 Haus- und Rentenbefiter, 2826
jelbftändige Handeldunternehmer, 432 Rechtsanwälte und Notare, hingegen gar
feine Arbeiterbevölferung, ausgenommen die Diener für perjönliche Leiftungen,
deren Zahl auf 17,500 berechnet wird. Die mittleren und die arbeitenden
Glafjen vertheilen fih auf die aht Vorftadtbezirfe, von denen einzelne,
wie Margarethen, Mariahilf und Neubau, eine Arbeiterbevölferung von 30,000
bi3 40,000 Köpfen aufweifen. Nah Branden geordnet zählt Wien 20,000
Kunftgewerbe-, 45,000 Metall- und Steingewerbe-, 50,000 Weberei:, 24,000
Ledergewerbe-Hilfsarbeiter. In den VBororten endlich bilden die arbeitenden
Glafjen den überwiegenden Theil der Bevölkerung, und es verdient bemerkt zu
werden, daß die Mehrzahl diefer Arbeiter, die in der Stadt Beichäftigung finden,
in den Vororten, wo fie ihre Wohnftätten befiten, conjeribirt erjcheinen.
Der Sicherheitsdienft und das Polizeiweſen in Wien mußten in Folge des
wiederholt wechjelnden Regierungs- und Adminiftrationsiyftemes, der rapiden
Steigerung der Bevölkerungszahl und der ungeahnt raſchen Entwidelung der
Vorort-Gemeinden mannigfahen Veränderungen unterworfen werden. In der
vormärzlichen Zeit bewahrte der Polizeiapparat noch die primitiven Formen,
welche er zu Anfang diejes Jahrhunderts erhalten hatte Das nicht genug zu
brandmarfende Sedlnitzky'ſche Regime hatte die Polizei zu einem Inſtitute poli-
tiſcher Aushorcherei gemacht ; eine Griminalpolizei beftand gar nicht, einen Sicher-
heit3dienft zu organijiren fand man an maRßgebender Stelle unnöthig. Die
Polizeibeamten waren materiell jehr Tchlecht geftellt, der Büreaudienſt beſchränkte
fih auf büreaufratifche Vieljchreiberei und leeres Formenweſen. Die Organe
der Polizei waren die jogenannten „Vertrauten“, meift ausgediente Unterofficiere,
in den Aemtern als Kanzleidiener verwendet, ſonſt in Gafthäufern und bei Volks—
beluftigungen mißtrauifche Horcher, von der Bevölkerung mehr verjpottet, ala
gefürchtet. Unter jolchen Umftänden war e3 mit der Sicherheit des Eigentums
und der Perjon nicht gut beftellt. Die weitläufigen Glacisgründe, welche da—
mal3 die innere Stadt von den Vorftädten trennten, waren zur Nachtzeit von
Banden gefährlicher Stroldhe, den jogenannten „Koppelbuben“, occupirt und der
Meg zu ſpäter Stunde daher ftet3 gefährlid. Diebftähle und Räubereien auf den
vier Straßenzügen nad) Oberöfterreih, Böhmen, Ungarn und der Triefter Reichs-
ftraße gehörten zu den täglichen Vorkommniſſen. Das Revolutionsjahr brachte keine
Beſſerung diefer traurigen Sicherheitszuftände, im Gegentheil: nad) der Ein
nahme Wien’3 duch den Fürſten Windiſchgrätz begann eine Periode, welche an
anarchiſche Zeiten mahnte. Die Unficherheit innerhalb und außerhalb der Stabt
war jo groß, dab häufig Militär aufgeboten werden mußte.
Die nad) der Befiegung Ungarns neugekräftigte Regierung beſchäftigte fich
energiſch, das Syſtem politiicher Centralijation und ftrammen Militarismus
durchzuführen. Für die Aufrehthaltung der Ordnung und Sicherheit in der
unter dem Drude des Belagerungszuftandes jeufzenden Hauptftadt wurden groß-
artige Maßregeln getroffen. Der Sicherheitsdienft der Hauptſtadt wurde dem
Die Verbrecherwelt von Wien. 413
Chef der Gendarmerie unterftellt, und ein ftreng militäriſch organifirtes, aus
Mannſchaften der Armee gebildetes „Militär-Polizeiwachcorps“ gebildet. Der
gejammte executive Polizeidienft wurde diefem, von DOfficieren befehligten Corps
übertragen, und charakteriftiich für die damaligen Zuftände ift, daß der K. K.
Hofrath und Polizeidirector es nicht wagen durfte, einem Lieutenant diejes
Militär-Polizeiwachcorps einen Auftrag zu ertheilen, daß der Chef des Corps
direct über den Polizeidirector hinweg mit dem Minifter oder dem General ber
Gendarmerie correfpondirte. Häufig ereignete e8 fi, daß der Commandant
dieſer Militärpolizei die wichtigsten Befehle vom Mtinifter oder perfönlich von
dem allmädhtigen Generaladjutanten de3 Kaiſers erhielt, während man es über-
flüſſig fand, den Polizeidirector auch nur zu verftändigen. „Militäriſche Or-
ganifation“ war die Loſung der leitenden Kreife, und felbftverftändlich wurde
daher auch die Schaffung einer Griminalpolizei als ganz überflüjfig betrachtet;
da3 verhöhnte Inſtitut der „Vertrauten“ wurde beibehalten; es war die Blüthe-
zeit des Horcherweſens. Die wahnfinnige That, welche der ungarische Schneider-
gejelle Libenyi am 18. Februar 1852 auf der Bafteimauer gegen das Leben des
Monarchen unternahm, wirkte wie ein Donnerſchlag. Man erzählt, daß der
damalige Polizeidirector, der tödtlich gehaßte Hofrath Weiß v. Starkenfels, ala
er die Nachricht vom Attentate erhielt, vor Schreden von jeinem Stuhle gefallen
fei; der Sturz hatte eine ſymboliſche Bedeutung, der Polizeidirector erhielt die
beftigften Vorwürfe und wurde abgejegt. In Regierungskreifen herrichte die —
übrigens unbegründete — Angſt, man hätte es mit einem organifirten Mörber-
bunde zu thun, und man dachte an eine gründliche Reform der Polizei. Das
Minifterium ließ umfangreiche Elaborate, Reformvorichläge enthaltend, anfertigen
und jendete einige Beamte nad) Paris, um die dortigen Polizeitünfte zu ftudiren.
Weiter al3 zu diefem Anlaufe fam e3 jedoch nicht. —
63 kam die Zeit des Goncordates, der Marienandachten und der officiellen
Frömmigkeit. Die Polizei, ohnedies mit Gejchäften aller Art überhäuft, follte
nun auch die Heilighaltung de3 Sonntags überwachen. An den Feittagen der
katholiſchen Kirche konnte man Polizeibeamte durch die Straßen eilen jehen, um
Acht zu haben, daß ja fein Gewölbe geöffnet jei, vor der Mittagsftunde fein
Drehorgelmann ſich blicken lieh, in den Werkſtätten nicht gearbeitet wurde u. j. w.
(3 war dies jene düftere Zeit, während der von allen Angeftellten de3 Staates
eine oftenfible, zur Schau getragene Frömmigkeit geradezu gefordert wurde, ja
in einem Minifterium ein föürmlicher Beichtzwang für die Angeftellten beftand.
Das Syſtem der ftaatlichen Bevormundung und ftrammften Gentralifation
nahm, wie befannt, kein rühmliches Ende; der Zuſammenbruch wurde jelbft in
der Beamtenwelt mit Frohlocken aufgenommen. Die Schäden und Mißgriffe
traten bald grell genug zu Tage, und jpeciell in Wien erwies ſich die Organi-
jation der Polizei als ganz unzureichend. Die Klagen über die Unficherheit
mehrten ſich in bedenklichem Grade; große Einbruchsdiebftähle, nächtliche Anfälle
auf Perjonen, Banknotenfälihungen, das Treiben organifirter Diebsbanden
waren zu verzeichnen. Das Militär-Poligeiwachcorps vermochte die Sicherheit
de3 Gigenthums und der Perfon nicht herzuftellen; ja jogar der gewöhnliche
Grecutivdienft lieh die billigften Forderungen unbefriedigt. Als einer der haupt-
414 Deutiche Rundſchau.
fächlichften Gründe diefer bedauerlichen Thatjachen erjchien die Marime der Re-
gierung, Rekruten aus den Provinzen, bejonders den ſlaviſchen Kronländern, in
diejes Corps zu ſtecken. Diefe Mannichaften, welche häufig nicht der deutſchen
Sprache mächtig waren, Teinerlei Localkenntniß bejaßen, von den Fintern des
Gaunerweſens feine Ahnung Hatten, jollten die Sicherheit der Hauptftadt ver-
bürgen! Die Folgen diefer Mißgriffe, welche einem ungerechtfertigten Argwohne
gegen die Wiener Bevölkerung entjprangen, ließen nicht auf fi warten. Die
dem Eigenthum gefährlichen Individuen hatten damal3 goldene Zeiten, und e3
fonnte nicht befremden, daß fich in diefer Periode jene Gaunerbanden bildeten,
welche jpäter der neu organifirten Polizei außerordentliche Schwierigkeiten be-
reiteten und deren Ausrottung erſt in die allerjüngfte Zeit fällt. Wir gelangen
nun zur Schilderung de3, Treiben der Verbrecherwelt in dieſer Periode.
An dem Jahrzehnte von 1860 bis 1870 wurden in Wien ebenſo zahlreiche
al3 bedeutende Waarendiebjtähle verübt. Leinwand, Wirk, Woll- und Seiden-
waaren verſchwanden in nennenswerthen Quantitäten, und die Entwendungen
geihahen ſowol mittel3 Einbruchs in Magazine und Gewölbe, als durch Ge-
legenheitsdiebftahl von Wagen, welche die Kiſten und Ballen der Stadt zu—
führten. Die Nachforſchungen ergaben ein unbefriedigendes Refultat; es wurde
einerjeit3 fejtgejtellt, daß die geftohlenen Waaren nit in Wien blieben, aber
e3 fehlte jeder Anhaltspunkt, wohin diejelben gebracht wurden. Die Polizei
hegte lange Zeit hindurch den Verdacht, daß dieje Güter nad) Ungarn verfrachtet
würden, wo in Folge der Vertreibung der Beamten und Zollauffihtsorgane,
wie der politiichen Wirren, eine Polizei gar nicht beftand. Auch dieſe Hoffnung
erwies fi als trügeriih; denn e3 gelang nicht, die geheimen Abſatzwege der
geftohlenen Waaren zu entdeden. Ein größerer Pretiojendiebftahl führte zur
Verhaftung eines längft berüchtigten Einbredherd, und aus dem Munde bdiejes
Individuums erhielt die Behörde die erften Andeutungen über den Weg, welchen
gejtohlene Waaren aus Wien nahmen. Langwierige Ueberwachungen führten
endlich zur Entdedung der Eriftenz einer weitverzweigten und im großartigen
Style organifirten Verbindung, welde fih von Wien über Nordungarn und
Galizien bis Warſchau und Moskau erftredte. Trotzdem nunmehr diefe geheim:
nißvollen Fäden in Händen der Sicherheitsbehörde lagen, bedurfte es längerer
Zeit, um eine namhaftere Zahl der zu diefer Bande gehörigen Verbrecher aus—
zuforſchen und der Gerechtigkeit zu überliefern. Die Entdedung dieſer weit ver-
zweigten Genoſſenſchaft von Einbrechern, Diebshehlern und Vermittlern Hatte
nicht unmittelbar das gehoffte Rejultat; die Folge bewies, wie jchlau und er-
finderifch die unentdecten Meitglieder zu Werke gingen, um ihr gewinnreiches
Geſchäft fortzufegen, und wirklich gelang es erft Jahre ſpäter, durch die Aus-
führung der weiterhin zu beiprechenden großen Polizeireformen, das Nebel an der
Wurzel zu fallen. Die widtigfte und wohlthätigfte Folge diefer Entdeckung
war, den maßgebenden Regierungskreifen die Nothwendigkeit einer bejonderen,
ausschließlich für Wien beftimmten Griminalpolizei zu beweiſen; ſpät genug
indeß, denn das rapide Anwachſen der Bevölkerung, der Zuzug neuer Elemente
aus den Provinzen, die erhöhte Handel3- und Gewerbethätigfeit und der fteigende
Luxus waren nicht ohne Einfluß auf die Bildung einer Verbrecherwelt geweſen,
Die Verbrecherwelt von Wien. 415
welche fich in genau zu präcifirende formen jchied und als jolde hier num
zunächit betrachtet werden joll.
Die erfte und wichtigſte Gruppe ift die der Einbrecher. Die Mitglieder,
welche ſich überwiegend aus entlaffenen Sträflingen recrutiren, waren, bevor fie
zum erften Male mit dem Geſetze in Gollifion geriethen, zum größten Theile
Profeifioniften, und zwar, nad) der Art des Gewerbes, vorzugsweiſe Schloſſer,
Tiſchler, Bäder und Mafchinenarbeiter. Die Erfahrung lehrt, daß häufig In—
dividuen, welche wegen leichter Eigenthumsverlegungen in Haft gehalten, dort
durch den Umgang mit gewohnheitsmäßigen Einbrechern zu profelfionellen Ver—
brechern derjelben Art werden. Die Mitglieder erfreuen ſich der genaueften
gegenjeitigen Bekanntſchaft und nennen fich bei gewillen Spitznamen, welche
meift auf eine charakteriftiiche Eigenthümlichkeit der äußeren Erjcheinung des
Individuums, oder auf deifen Herkunft Bezug haben, 3. B. der „Schärglete“,
der „Juden-Pepi“. Die verbrecheriichen Unternehmungen vereinigen gewöhnlich
zwei bis drei Individuen, größere Gruppen treten faft nie zufammen. Die
Localverhältniffe und Gewohnheiten der Bewohner von Quartieren oder Läden,
in welchen ein Einbruch ftattfinden joll, werden jorgfältig ftudirt; der Jüngſte
oder Unerfahrenfte übernimmt, während der Ausführung, die Rolle des „Auf:
pafjers“ und trägt nie Einbruchäwerkzeuge bei fih. Häufig erfcheint er mit
einer ſchweren Laft auf dem Rüden, oder fteht, während er den Späherdienft
bejorgt, Teuchend bei jeinem Ballen. Ein nicht ungewöhnlicher Kunftgriff ift,
dat der „Aufpaſſer“ das Dienftmädchen in ein Geſpräch vertwidelt, oder zum
Hausthore lot, während die Genofjen in die Wohnung dringen. Die gewöhn-
lien Inftrumente, welche die Einbrecher bei fich tragen, um Thüren und
Schränke zu öffnen, find Dietrich, Teile und Stemmeifen; doch find wiederholt
Einbrecher feitgenommen worden, welche ein fürmliches Arjenal führten und in
die Lage geſetzt waren, jeden ſich ihnen darbietenden Widerftand zu befiegen. Bei
einem im Jahre 1869 verhafteten Individuum fand man 32 verjchiedene In—
ftrumente, welde der Verbrecher fich ſelbſt zubereitet hatte, und von denen
mehrere einen jo hohen Grad von Kumftfertigkeit verriethen, daß diejelben die
Zierden einer Mufterfammlung von Werkzeugen hätten bilden können. Die
Wiener Verbrecher find ohne Ausnahme, jobald fie Geld in der Taſche haben,
leichtfinnige Verſchwender; ift eine Operation gelungen, jo wird die Beute an
einen der vielen Diebshehler verkauft und der Erlös getheilt. Es gilt ala
Negel, daß fich die Theilnehmer hierauf zerftreuen und Jeder für fi) das un-
recht ertvorbene Geld auf möglichft raſche Weife vergeudet. Die Zufammentunfts-
orte der Verbrecher bieten denjelben überreichliche Gelegenheit, fi) des Inhaltes
ihrer Börſe jchnell zu entledigen. Ein geglüdter Raubzug madt den Einbrecher
nicht nur verſchwenderiſch, jondern auch freigebig. Er tractirt die Genoffen und
das leichtfinnige Volt, welches ſich ſchnell um Denjenigen drängt, der den Befit
einiger überflüffiger Gulden verräth. Von dem jplendiden Diebe heit es dann
im Kreiſe feiner Umgebung, er hat es „miedergehen laſſen“, oder er hat „Krenn
gemacht“ — Bezeichnungen, die in der Verbrecherwelt jo viel bedeuten, ala das
Gelingen eines größeren Diebftahles. Die Schenken oder Spelunfen, in denen
fi) die Verbrecherivelt verfammelt, find nicht nur Orte, die ſich der befonderen
416 Deutſche Rundſchau.
Fürſorge der Sicherheitsbehörde erfreuen, ſondern die auch häufig von Perſonen
aufgeſucht werden, welche aus Neugierde die Verbrecherwelt beobachten wollen.
Dieſen Beſuchern verdankt man die romanhaften Schilderungen, welche gewöhn—
lich ſehr weit von der Wahrheit entfernt ſind. In Wien iſt übrigens der Be—
ſuch der Verbrecherſpelunken ſtets gefährlich und namentlich Fremden durchaus
abzurathen; die Stammgäſte dieſer Locale dulden keine Zuſchauer, und die Wirthe
haben gute Gründe, keine Ausſchreitungen zu wünſchen.
Es find gegenwärtig drei Locale in Wien, in denen allabendlich zahlreiche
Vertreter der Verbrecherwelt zu finden find. Das erfte und berüchtigfte derjelben
ift der „Mirakelkeller”, im Herzen der Stadt, ferner die Spelunfe: „die
Blecherne“ am Salzgries, endlich die „Alhambra“ in der Leopoldftadt. In dem
legtgenannten Locale kommen weniger die gefährlichen Verbrecher, ala Leichtes
Gefindel aller Art zufammen.
Der Ruf des „Mirakelkellers“ bat fih, in jüngfter Zeit, einigermaßen ge—
befjext; und es ift zu begreifen, daß die Polizei nicht im Centrum der Stadt,
in einer ihrer Hauptverkehrsadern einen ftändigen VBerfammlungsort gefährlichen
Gelichterd dulden konnte. Doc war es immer noch fein bejonders vertrauen-
erweckender Eindrud, welchen da3 Local auf Schreiber diejer Zeilen machte, ala
er dor etwas mehr als zwei Jahren, kurz vor Beginn der MWeltausftellung,
aus dienftlihen Gründen einen Beſuch im „Mirakelkeller“ abjtatten mußte.
Selbjtverftändlich war ich nicht allein, jondern in Begleitung don zwei hand—
feften Polizeiagenten, deren bewährte Umſicht und Entichloffenheit für alle
Fälle Bürgihaft bot. E3 war nahe an Mitternaht, als wir die fchmale
Treppe hinabkletterten und in das hell erleuchtete Local traten, in welchem
beiläufig jechzig Perfonen verfammelt waren. Da meine Begleiter der Mehr—
zahl der Anweſenden bekannt jein mochten, jo erregte unjer Erjcheinen ein
leicht zu begreifendes Aufiehen, welches ſich zunächſt durch ein von Tiſch zu
Tisch Iaufendes Geflüfter fund gab. Der Lärm, welcher vor umjerem Eintritte
geherricht hatte, war verftummt, ein leifes Summen an deſſen Stelle getreten;
es war eine unheimliche Stille, doppelt unheimlich, wenn man den Blid über
die Tiichreihen ftreifen ließ und alle die Augen jah, welche fragend oder drohend
nad) uns gerichtet waren. Wir ließen uns an einem Zijche nieder, und ich
hatte volle Muße, die unheimliche Gejellihaft zu muftern, in deren Mitte ich
mich befand. Wenige robufte Geftalten ausgenommen, waren die Antvejenden
phyſiſch herabgekommene Individuen, die auf den Gefichtern die Spuren eines
lafterhaften und unftäten Lebens trugen. Alle mochten dem Alter nach zwijchen
dem 24. umd 40. Lebensjahre ftehen. Die Mehrzahl der Gäfte hatte die Röcke
abgelegt und ſaß in Hemdärmeln und wenig äfthetifchen Stellungen vor den
Tiſchen; ein junger Burſche, von beſonders frechem Ausjehen, trug ein roth-
jeidenes Zuavenhemd, da3 er wahrjcheinlich bei irgend einer Gelegenheit erfapert
haben mochte. Die Herren jchienen es ſich jehr wohl fein zu laffen, tranfen
aus hohen ungeichliffenen Gläfern Bier und rauchten Virginia» Gigarren oder
balblange Pfeifen. Meine Begleiter hatten ſchnell die Gejellichaft durchmuſtert,
und da eine Perſon, die fie ihrer Aufmerkſamkeit zu würdigen die triftigiten
Gründe hatten, nicht anweſend war, jo lag für uns feine Veranlaffung vor,
Die Verbrecheriwelt von Wien. 417
länger in der häßlichen Spelunfe zu verweilen. Wir entfernten una und hatten
faum die zur Straße führende Stiege betreten, als Hinter und ein heillojer
Lärm, Schreien, Pfeifen und Zujammenjchlagen von Gläfern, eriholl. Wir
quittirten dieſe unerwartete Katzenmuſik und gingen unjered Weges. So harm-
los wie diesmal verlaufen indefjen nicht immer die Beſuche, weldhe Sicherheit3-
organe den Diebsjpelunfen abzuftatten haben; häufig genug haben ſich dabei
ernfte Gefechte entwickelt.
Eine jehr zahlreihe und nächſt den Einbrechern die gefährlichfte Kategorie
der Verbrecherwelt bilden die Tafchendiebe. Einige Jahre hindurch waren
diejelben zu einer wahren Plage der Gejellihaft geworden, jo daß es außer-
ordentlicher Maßregeln bedurfte, um diefe Gilde einzufchränfen, welche zu Ende
der Hechziger Jahre gegen taufend Mitglieder zählen mochte. Die belebteften
Paſſagen der Stadt, die Pferdebahn-Waggons, die Foyers der Theater, die Vor-
zimmer der MWechjelftuben, die Nuctionslocale, jelbft die Gerichtsjäle bildeten
die Tummelpläße der Tajchendiebe. Leider muß bemerkt werden, daß unter
diefer Verbrecherſpecies ſich manche Perjonen befinden, die eine beſſere Erziehung
genofjen haben und durch ſchlechte Geſellſchaft auf die abſchüſſige Bahn des
Lafterd geführt worden find. Diefer traurigen Thatſache muß das nicht minder
bedauerliche Factum zur Seite geftellt werden: mehr ala jechzig Procent der
notoriſchen Taſchendiebe ftehen in einem jehr jugendlichen Lebensalter. Die
Taſchendiebe recrutiren ſich aus den verjchiedenften Ständen; die Gewerbe ftellen
ein ftattliches Kontingent von entlaufenen Lehrjungen, und dies nicht ohne
Schuld der Meifter, welche häufig die Burjchen durch empörende Frohnarbeit
zur Verzweiflung treiben. ine bejondere Verbindung bilden die Tajchendiebe
nicht; aber die „Ritter vom Griff“ willen dennoch in Gruppen zu „arbeiten“
und ſich gegenfeitig wohl zu unterftühen. Die Ausrüftung der Tafchendiebe
beſchränkt fi auf ein einziges Inftrument, eine Heine ftählerne Zange, welche
jo Hein ift, daß fie in der geichloffenen Hand bequem verborgen werden kann.
Aber mit diefem Kleinen Anftrumente willen die Diebe Außerordentliches zu
leiften, fie verftehen es, mit einem Fingerdrude auch die ftärkften Uhrketten ab-
zufneipen — die Wiener jagen „zwiden“ — und mit gleicher Fertigkeit Brief:
taſchen, Tabatieren ꝛc. zu e8camotiren. Einem ruſſiſchen Gutsbeſitzer wurde
in dem Foyer der Oper, während er das Treppenhaus bewunderte, Buſennadel,
Uhr, Brieftaſche und ein Opernglas binnen wenigen Secunden geſtohlen, ohne
daß er die geringſte Berührung gefühlt hätte. Die Polizei verſchaffte dem
Fremden in den nächſten achtzehn Stunden die ſämmtlichen geſtohlenen Effecten
wieder, aber der Mann wollte nicht zugeben, daß Menſchenhände ihn geplündert
hätten, ſondern glaubte an Zauberei. Der verwegenſte Taſchendieb wurde im
neunten Bezirke verhaftet; man fand in ſeiner Wohnung ein ganzes Lager von
entwendeten Gegenſtänden, darunter Verſatzſcheine über 136 Uhren, welche dieſer
König der Tajchendiebe innerhalb zweier Monate geftohlen zu haben geftand.
Nah) dem amtlichen „Wiener Polizei-Anzeiger” wurden, in den Jahren 1869
und 1870, in jedem Jahre über 2000 goldene und filberne Taſchenuhren ent-
wendet. Unwillkürlich drängt ſich die Frage auf, wohin dieje Taſchenuhren
gelangen. Die polizeilichen Erfahrungen berichten darüber, daß ein geringer
Deutfdhe Rundſchau. T, 12. 27
418 Deutiche Rundſchau.
Theil von Uhren in die Winkelverfagämter wandert, der größte Theil aber den
Dieböhehlern in die Hände gejpielt wird. Dieſe brechen die Gold- und Silber-
bejtandtheile ab und jchmelzen die Metalle ein; die Uhrwerke gehen ſäuberlich
verpadt durch die Hände verjchiedener dunkler Ehrenmänner in dad Ausland
und kommen, häufig mit neuen Gehäufen verjehen, Jahr und Tag jpäter wieder
nad Wien zurüd. Es iſt aljo der Fall gar nit unmöglid, daß Jemand
feine geftohlene Uhr ein zmweitesmal al3 neu fauft. Geftohlene Tajchentücher,
Handſchuhe, Brieftaſchen und Cigarrenſpitzen werden gleihfall von den Diebs-
hehlern gekauft und nad) Galizien oder Ungarn verjendet.
Der Wiener Tajchendieb „arbeitet“, wie der englijche Langfinger, jehr vor-
fihtig; nur in Momenten dringender Noth wird er rüdfichtslos, und die Zahl
ber auf friiher That ertappten Taſchendiebe ift daher verhältnigmähig Klein.
Die Polizei weiß durch die genaue Ueberwachung der Abjakorte für geftohlenes
Gut fih am jchnellften des Diebes zu bemächtign. Manchmal unternehmen
die Diebe Compagniegeihäfte, doc diefe Verbindungen, welche leicht jehr ge-
fährlicy werden könnten, halten nicht an, da gegenjeitiges Mißtrauen und Un—
einigfeit bei der Theilung der Beute regelmäßig eintritt und häufig jogar
Denunciationen zur Folge hat. Eine Gruppe von Tafchendieben, deren Bekäm—
pfung geraume Zeit erforderte, hatte die Bahnen zu dem Schauplake ihrer
wenig erwünjchten Thätigfeit erforen. Die Gleihmäßigkeit, mit welcher jolcher
Diebftähle verdäcdhtige Perfonen verſchwanden, und aufgefangene Gommunicationen
derjelben an wichtigen Stationen ließen die Behörde auf eine vollftändige
Organifation jchliegen. Die Deft. Kaiſer-Ferdinands-Nordbahn war in den
Jahren 1868—1871 bejonder3 von diefer Verbrechergejellichaft heimgeſucht. Im
Einvernehmen mit der Direction dieſer Eijenbahn entjendete die Wiener Polizei-
Direction fünf beſonders gewandte Agenten, deren Aufgabe es war, unter Ver-
Heidungen die Streden zu befahren, abwechjelnd in Waggons verjchiedener
Klaffen einzufteigen und die Paflagiere zu muftern. Nach kaum zwei Monaten
faßen die meiften Mitglieder des Berbrecherconfortiums Hinter Schloß und
Riegel; mancher Dieb, der, im Coupe erfter Glaffe, neben einem reichen Kauf:
herrn aus Brody oder Lemberg zu ſitzen vermeinte und defjen goldene Uhr zu
escamotiren verjuchte, fühlte in demjelben Momente zu feiner nicht geringen
Ueberrafchung die Schliegfette am Handgelente.
Zu den bejonderd charakteriftiichen Typen der Wiener Verbrecherwelt ge-
hören die jogenannten „Kratzer“. Bankerottirte Kaufleute, Häufig Schmuggler,
reifen nad Wien, erklären ſich bei achtbaren Firmen als die Vertreter leiftungs-
fähiger Häufer in der Bukowina, in den Donaufürftenthümern oder Odeſſa und
verfuchen Waaren aufzunehmen. Manchmal erlegen dieje Schwindler eine Fleine
Baarzahlung, um ihr Opfer gründlicher zu täufchen. Die beftellten Waaren
werden zu einem Spediteur gejendet, two aber ſchon ein Genofje des „Kratzers“
harrt und die Ballen unter falſcher Adrefje jofort mweiterjchaffen läßt. Der an—
gebliche Agent wird nicht mehr fichtbar, und wenn der Beſchädigte nicht alsbald
den Betrug gewahr wird und die Polizei zu Hilfe ruft, ift jeine Waare
rettungslo3 verloren. Obwol der Wiener Kaufmannſchaft, in den letzten zehn
Jahren, Waaren im Gefammtwerthe von vielen taufend Gulden entlodt wurden,
Die Berbrecherivelt von Wien. 419
finden ſich noch immer einige Unvorfichtige, die derartigen Betrügern in bie
Falle gehen.
Auf der niederften Stufe der Verbrecherwelt ftehen die „Koſacken“, meift
abgeftrafte und berüchtigte Individuen, die es fich zur Aufgabe machen, Fremde,
beſonders zugereifte Landleute, in Spelunfen zu loden und dort durch betrüge-
riſches Hazardipiel auszuplündern. Größeres ntereffe nehmen die Agenten der
vornehmen Spielhöllen in Anſpruch. E3 ift begreiflih, daß in einer
Stadt wie Wien, in der viele begüterte Reiſende zufammentreffen, und die, wie
jede Großftadt, einen Ueberfluß an catilinarifchen Eriftenzen befißt, die Unter—
nehmer geheimer Spielbanken ihre Rehnung finden. Da die öfterreichiiche
Geſetzgebung Hazardipiele aller Art ftreng verpönt, jo find derartige Inter:
nehmer genöthigt, ihre Banken bei verichloffenen Thüren aufzulegen und koſt—
fpielige Vorkehrungen zu treffen, um fich gegen unerwartete Beſuche von
Sicherheitäbeamten zu wahren. Die Spielbanken find nur in den Winter:
monaten in Thätigleit, während der Sommerfaifon halten fich die Unternehmer
in ungarischen Badeorten auf, wo fie gute Gejhäfte machen. In den leten
Jahren hat die Polizei diefen Herren jcharf auf die Finger gefehen, und es
wurden fünf große Spielhöllen aufgehoben. Die Unternehmer hatten es nicht
an Anftrengungen fehlen laffen, um der Sicherheitsbehörde die Entdedung
ſchwierig zu machen. Die Spielhöllen waren in großen Wohnungen der
eleganteften Stadttheile aufgejchlagen, eine Reihe von lururids eingerichteten
Salons, freie Buffet mit einer ſchönen und galanten Dame harten der Gäfte.
Machen an doppelten und geichloffenen Thüren jorgten dafür, daß nur Perfonen,
welche im Befite des Außerft geheim gehaltenen Lojungswortes waren, das
Local betraten. Man fpielte theils Macao theils Roulette, die Bank betrug
häufig 20,000 Gulden, der Spielumjat eines Abends bis 30,000 Gulden.
Hazardipieler von Profejfion, herabgefommene Adelige, die entarteten Söhne
einiger reihen und ftadtbelfannten Familien, Schaufpieler und angelodte Fremde
bildeten die Gejellihaft. Die Polizei wußte ſich durch verkleidete Agenten
Kenntniß von diefem Zreiben zu verichaffen und überraſchte durch Ueberfall
die Spieler, welche ſich vor den Gerichten zu verantworten hatten. Bei einer
derartigen Ueberrumplung wurde ein Spieltijch entdedt, der mit einer mecha—
niſchen Vorrichtung ausgerüftet war, die es ermöglichte, die auf der Tifchplatte
liegenden Gegenstände, wie die Roulette, die Geldeinjäße, die Räteaur des Croupiers
(Seldrehen), jofort verſchwinden zu laſſen. Diejes Kleine, einem parifer Mufter
nachgeahmte Kunſtſtück, Hatte jedoch nicht die veriprochene Wirkung, fondern
nur das unvorhergejehene Mißgeſchick zur Folge, daß einem Spieler jämmerlic)
die Hand eingeflemmt wurde. Da da3 Stammpublicum diefer Spielhöllen
verhältnigmäßig Hein ift, jo bejolden die Unternehmer bejondere Agenten, die es
fih zur Aufgabe machen, wohlhabende Fremde anzuloden. Die energifchen
Mahregeln der Polizei haben das Handwerk diefer Herren jehr erſchwert und
die Gefahr für harmloſe Reifende auf den geringft möglichen Grad beichränft.
In einem Reiche, welches jeit länger als einem Jahrhunderte Papiergeld
ftatt Elingender Münze als öffentliche Werthzeichen benützt, konnte die gewerb—
mäßige Fälſchung von Banknoten und Staatänoten nicht verhindert
27*
420 Deutiche Rundſchau.
werden. Das öfterreihiiche Strafgejeg enthält für Verbrechen diefer Art jehr
ftrenge Beitimmungen; aber diefelben find umſomehr nöthig, als ein großer
Theil der ländlichen Bevölkerung des Reiches fih auf einer jo geringen Bil-
dungäftufe befindet, daß jelbft der Vertrieb von nicht bejonders geſchickt an—
gefertigten Falfificaten leicht erjcheint. Die Bigilirung auf falſche Banknoten
und Staat3noten wird daher ununterbrochen betrieben; eine Aufmerkjamfeit, die
ganz gerechtfertigt ift, da feine Woche vergeht, in welcher nicht, bei einer der
ftaatlichen Zahlftellen, Notenfalfificate älteren oder jüngeren Datums auftauchen.
Al eine erwähnenswerthe Erjcheinung verdient verzeichnet zu werden, daß die
Banknotenfälihung zur Zeit politiicher Wirren immer am ſchwunghafteſten be-
trieben wurde, ferner mit welch’ großem Antheile Ungarn an der Zahl ber
Fälſchungen participirt. Die bedeutendfte Fälſchung öfterreihiicher Banknoten
wurde in Ungarn, kurze Zeit nad) der Niederwerfung der Revolution, entdedt.
Die Falfificate waren mit nennenswerthen techniſchen Hilfsmitteln erzeugt und
nur für beſonders genaue Kenner von den echten ftaatlihen MWerthzeichen zu
unterfcheiden. Die Gejfammtziffer diefer in Umlauf gebrachten Yalfificate ift nie
genau ermittelt worden; jedenfall® muß diejelbe aber höchft bedeutend gewejen
fein. Die Regierung ließ es in der Folge nicht an großen Anftrengungen
fehlen, um durch kunftvolle Herftellung der Geldzeichen die Nachahmung zu
erſchweren. Died hat fi) auch als das wirkjamjte Mittel gegen Fälſchungen
im größeren Mafftabe erwiejen. In der neueren Zeit find Fälſcherbanden
entdeckt und unſchädlich gemacht worden, welche in der Schweiz und in Stalien
die Prefien beſaßen und von dort die Falfificate einſchmuggelten. Einzelne Fälle
von Banknotenfälihung find auch in den jüngften Jahren zu Tage getreten,
doch ohne jeden empfindlicheren Nachtheil fir die Gejfammtheit. Die erhöhte
Vorſicht des Publicums und die unausgeſetzte Wachſamkeit der Sicherheits-
behörden erichweren den Vertrieb. — Endlich ift noch ein nicht jelten geübter
verbrecheriicher Gebrauh mit entwertheten Gredit- oder Anlage-
papieren zu erwähnen. Die wiederholten öfonomijchen Krijen der lebten
Sabre haben den Sturz einer bedeutenden Anzahl von Banken und Actien-
Geſellſchaften für Jnduftrieunternehmungen zur Folge gehabt. Die meift jehr
hübſch ausgeſtatteten Actienjcheine mit Talons und Couponsbögen befißen nur
noch den Werth des bedrudten Papiers, d. i. jo viel wie Nichts, werden aber
trotzdem vielfah geſucht. Induſtrieritter und Schwindler bringen derartige
Actienmaculatur an fi, um damit bei unerfahrenen Perfonen Betrügereien zu
verüben. Kleine Leute, die den Greigniffen des Geldmarktes fern ftehen, werden,
durch die pompös ausgeftatteten Actienſcheine beftochen, von derartigen Betrügern
verleitet, Darlehne auf diefe „Werthpapiere” zu geben. Der Schwindler läßt
fi natürlich nicht mehr jehen, der Getäufchte erfährt zu fpät die vollitändige
Merthlofigkeit des genommenen Pfandobjectes. Solche Manipulationen werden
übrigens in den Provinzen viel häufiger geübt, als in Wien. Ein Kunſtſtück,
das in allen Großftädten zur Anwendung kommt, befteht endlich darin, daß
Perfonen, die einen betrügeriichen Bankerott anfagen wollten, ihr „Haben“ mit
werthlojen Actien belaften. Zu bedauern ift, daß diefe Art von Betrug gelingt.
Der Umſchwung, welcher nach den gewwaltigen Ereignifien des Jahres 1866
Die Verbrecherwelt von Wien. 421
in der inneren Politik und in ber Verwaltung Defterreich3 eintrat, jollte von
großen Confequenzen für das Sicherheitsweien in Wien fein. Cine eingreifende
und, wie die Tolge lehrte, ſehr nützliche Maßregel war die Auflöfung des
Militär-Polizgeiwachcorp und die Gründung der Wiener Siherheitswade,
eines Anftitutes, das heute al3 muftergiltig bezeichnet zu werden verdient. Bei
dem Organiſationsentwurfe der neuen Wache ging die Regierung im Einverftänd-
niffe mit der Commune Wien, welche einen bedeutenden Erhaltungsbeitrag zu
leiften hat, von folgenden Gefichtspunften aus: die zum Grecutivdienft be=
ftimmte Wache ift der Polizeibehörde jubordinirt, der Chargencadre ift mög—
lichſt Hein formirt, die Mannjchaft darf nur aus Andividuen beftehen, welche
genügende Localkenntniß beſitzen, Abſchaffung des Dienftwanges und aller ent-
ehrenden Strafen, materielle Sicherftellung des Mannes, endlich das Syftem der
Gratificationen für befondere Dienftleiftungen aller Art. Die Folge hat bewieſen,
wie zweckentſprechend diefe Organifationsgrundjäße waren. Es wird, fir unjern
Zweck, nicht nöthig fein, in die Details über Bewaffnung, Ausrüftung und
Dienftbeftimmungen der, einen Perjonalftand von 2800 Köpfen zählenden, Sicher-
heit3wache näher einzugehen. Indeſſen erlaubt der Zeitraum von ſechs Jahren,
welcher jeit der Errichtung der Sicherheitswache verftrichen ift, ſchon ein Urtheil
über die Leiftungen diejes Anftitutes, und dafjelbe kann nur günftig ausfallen.
Doch immer noch fehlte, al3 da3 mit ausfchweifenden Hoffnungen begrüßte
Bürgerminifterium duch die Mattherzigkeit feiner Mitglieder raſch zu Falle ge-
kommen, eine wirkliche Griminalpoligei. Der Minifter des Innern Dr. Giskra
hat aber in den allerlegten Tagen feiner Herrichaft eine dankenswerthe That
vollbradht, ala er den Brünner Polizeidirector Minifterialratd von Le Mon»
nier dem Monarchen zum Chef der Wiener Sicherheitäbehörde vorfchlug. In
eingeweihten Kreiſen erzählte man damals, der Kaijer habe, al3 er das bezügliche
Decret unterzeichnete, gegen den jcheidenden Minifter geäußert: „Ach hoffe, daß
die Erwartungen, welche fi) an diefe Ernennung knüpfen, in Erfüllung gehen!“
Dies ift in der That auch erfolgt, denn Ritter von Le Monnier, wiewol er
leider zu früh, Schon drei Jahre nach erfolgtem Dienfteintritt, verftarb, hat in
biefer kurzen Zeit doch der Wiener Polizei ihre heutige Geftalt gegeben.
Der erſte Schlag des neuen Chef3 ging gegen das alte, aus der Thugut’fchen
Zeit der Yacobinerriecherei ftammende, mehr bejpöttelte, ala ernſthaft genom-
mene Inſtitut der „Vertrauten“.
Etwas früher war eine andere, ihrer Entftehung nach derjelben Periode
angehörige und ihrem Weſen nad) auf der VBerquidung der Criminal- und der
politiichen Polizei beruhende Einrichtung gefallen, welche, wiewol an fich ziemlich
harmlos, doch zu mancherlei Mebertreibungen Anlaß gegeben hat. Der Mtinifter
Thugut, der Bater des vormärzlichen öſterreichiſchen Polizeiweſens, hatte nämlich
damit begonnen, dem Kaiſer jeden Morgen einen Bericht der Polizei über die
Vorfälle der Refidenz in den letzten vierundzwanzig Stunden zu überreichen.
Kaifer Franz I. liebte, wie ſchon der Hiftorifer Springer in feinem befannten
Werle bemerkt, diefe Rapporte auferordentlih, diejelben bildeten feine erſte
Lectüre vor dem Tagewerke. Diefe Rapporte enthielten indeß weniger Meldun-
gen ernfter Natur, ala zum größten Theile albernen Stadtklatſch, häufig eine
422 Deutiche Rundſchau.
Wiederholung der albernften Späße. Nach dem Tode de3 Kaiſers gingen bie
Rapporte regelmäßig an die Staat3conferenz, rejpeftive deren Haupt, den all-
mächtigen Erzherzog Ludwig. Die Abfafjung diefer noch Heute in den Archiven
mit der größten Heimlichkeit betwahrten Rapporte war der Polizeibehörde jo
jehr zur Gewohnheit geworden, daß im Jahre 1848, ala der Hof fi nach
Innsbruck geflüchtet hatte, noch jolche Berichte dorthin abgejendet wurden. Weit
dem NRegierungsantritte de3 gegenwärtigen Kaifer wurden dieje Berichte ein-
geftellt. Der Kaijer, von Natur ernſt und Ion im jugendlichen Alter allen
Ohrenbläjereien feind, widmete den geheimen Polizeiberichten feine Aufmerk-
famteit; überdies war der entjchiedene Militarismus zur Herrſchaft gefommen,
die militärische Umgebung des Monarchen blickte mit Geringihäßung auf die,
allerdings auch höchſt unnützen, Schreibereien ängftlicher Bolizei-Hofräthe herab.
Aus der vormärzlichen Zeit blieb der Polizei nur das jogenannte „ſchwarze
Gabinet”, eine Einrihtung, die aber mit den gleichbenannten Inſtitutionen
anderer Staaten feine Aehnlichkeit beſaß. Das „ſchwarze Cabinet“ beftand aus
einem einzigen höheren, beſonders vertrauenswürdigen Polizeibeamten, der all-
wöchentlich die Lifte jener Perjonen erhielt, welche bei dem Oberhofmeifteramte
um eine Audienz bei dem Monarchen eingefommen waren. Weber dieje Per-
ſonen vollzog die Polizei vertrauliche Erhebungen, da3 Vorleben, das politifche
Verhalten und die Lebensverhältnifje betreffend. Dieje Einrichtung war zunächſt
gegen den von jeher in Defterreich blühenden Hofbettel gerichtet und auch ent-
ſchieden nothwendig, da es nie an Leuten mangelte, welche den großen Wohl-
thätigkeitsfinn der kaiſerlichen Yamilie in unverſchämter Weife auszubeuten
verfuchten. Wie bis in die Gegenwart diejer Hofbettel blühte, mag die That-
jache beweilen, daß im Nacjlaffe der im Mai 1872 verftorbenen Erzherzogin
Sophie 22,000 umerledigte Bettelbriefe gefunden wurden. Zu Ende der fünf-
ziger Jahre wurde das „ſchwarze Gabinet“ aufgehoben und deſſen bisherige
Geſchäfte dem Präfidialbureau der k. k. Polizeidirection Wien zugetheilt. Das
centralifirende Minifterium der Goncordatszeit regelte die Verſendung der
PVolizeiberichte nach ftrengen Dienftesbeftimmungen. Weber die polizeilichen
Vorkommniſſe der Refidenz mußte zweimal des Tages, von zwölf zu zwölf
Stunden, ein jhriftliher Bericht dem Polizeiminifter übergeben werden. Als
ipäter ein befonderes Polizeiminifterium verſchwand, gingen diefe Berichte an
den Minifter des Innern. Die Abtheilung für Preßangelegenheiten der Wiener
Polizeidivection erjtattete jede Nacht über die ihr vorliegenden Genfureremplare
der Journale des kommenden Morgen einen jpeciellen Beriht. Diejer ging
nod in der Naht an das Minifterium und wurde dem großen Preßrapport
einverleibt, welcher zu früher Morgenftunde im Cabinete des Kaiſers aufliegen
mußte. Der große Preßbericht enthielt das Bemerkenswertheſte der gefammten
in» und ausländifchen Preffe und füllte oft ſechzehn engbejchriebene Folioſeiten.
Der Dienft in den Prefabtheilungen des Miniſteriums und der Polizeidirection
war ebenjo anftrengend als verantwortlich, und die Beamten, welche denjelben
verjahen, durften ala wahre Märtyrer betrachtet werden. Bei der großen Menge
von Geſchäften, die der Erledigung von Seite des Monarchen harrten, blieb
diefer Monjtrebericht meift ungelefen, und im Jahre 1860 befahl der Kaifer
Die Berbrecherivelt von Wien. 423
ſelbſt die Einftellung deſſelben. Ein directer Verkehr zwiſchen der Polizeidirection
und der Gabinetöfanzlei des Kaiſers befteht feitdem nicht mehr; innerhalb des
letzten Jahrzehntes hat es fich bei außerordentlichen Anläffen nur einige Male
ereignet, daß der Polizeidirector, zur mündlichen Berichterftattung aufgefordert,
vor dem Monarchen erſchien. —
Nicht lange nach der definitiven Befeitigung dieſes letzten Ueberreſtes aus
dem alten Polizeimejen wurde auch, wie bereit3 oben bemerkt, da3 Inſtitut der
„Bertrauten” aufgelöft und jofort an die Bildung eines Detectivcorp3
nad) englifchem Muſter geichritten. Es koſtete dem Polizeidirector manchen
harten Strauß mit dem Minifterium, ehe die für eine Criminalpolizei erforber-
lichen, allerdings nicht unbedeutenden Auslagen betwilligt und in das Budget
eingeftellt wurden. Nach Monate währenden Unterhandlungen waren aud) dieje
Schwierigkeiten überwunden; das Wort jollte endlich zur That werden. Der
Status des Detectivcorp8 wurde auf 150 Köpfe normirt, demjelben ein Ober-
infpector und fünf Inſpectoren vorgeftellt.e Zu Mitgliedern wurden nur be
ſonders gut empfohlene, verläßliche und ortsfundige Perfonen erwählt. Die
Bejoldung ift, im Vergleiche mit Staatsangeftellten gleichen Ranges anderer
Dienftestategorien, eine gute und wird durch die Einführung de3 Syftemes der
Gratificationen noch erhöht. Die Gratificationen werden jowol für beſonders
erfolgreiche Leiftungen, ala für gefährliche und anftrengende Inſpectionen be=
willig. Dem Detectiv ift eine Jahreseinnahme von 625 — 900 fl., dem In—
fpector von 850—1200 fl. gefichert. Der letztere Functionär genießt jomit un—
gefähr diejelbe Einnahme wie der Sergeant de3 Londoner Detectivcorps, deffen
wöchentliher Gehalt zwei Pfund Sterling beträgt. An die Spite des nftitutes
wurde ein bejonderd erfahrener und kenntnißreicher Polizeicommiffär, Herr
Stehling, mit dem Titel eines Oberinſpectors geftellt. In den Wintermonaten
1872 ging die Conftituirung des neuen Inſtitutes vor fi, und am 1. März
deſſelben Jahres begann bafjelbe feine Wirkjamkeit. Nach engliihen Mufter
find die Mitglieder in Brigaden eingetheilt, und zwar beftehen ſolche für Eigen-
thumsverlegungen, Fremdenweſen, Nachforſchungen, Beobahtung der Winkel-
verfahämter, Ueberwahung aus den Strafhäufern zurückgekehrter profeffioneller
Verbredher u. j. w. Mit der Errichtung de3 Detectivcorps wurden andere Re—
formen verbunden. Die Polizeicommiffariate der Hauptftadt erhielten eine
Dienfteseintheilung, nach welcher fie alle vorfommenden Fälle criminaliftiicher
Natur dem Gentralficherheitsbureau übergeben mußten, in welchem die tüchtigften
und erfahrenften Beamten vereinigt wurden. Den Bezirlscommiffariaten blieb
nur bei Griminalfällen die erſte Thatbeftandsaufnahme überlaffen. Zur Her-
ftellung der beabfichtigten ftrammen Gentralifation trug die Errichtung eines
bejonderd Wien und die Vororte umfpannenden Polizeitelegraphen bei. Die
ſämmtlichen Wachtſtuben der Sicherheitswadhe, die Commiffariate, die Bahnhöfe
und die Fyeuerwehrcentrale ftehen mit dem Gentralficherheitsbureau in directer
telegraphiicher Verbindung, jo daß jeder Befehl oder jedes Avifo binnen wenigen
Minuten den jämmtlichen Sicherheitäbehörden der Hauptftadt bekannt gegeben
werden kann. Die Verfolgung von Verbrediern und die Vigilirung auf ver-
dächtige Jndividuen find dadurch außerordentlich erleichtert. Es ift nicht an-
424 | Deutſche Rundſchau.
genehm, aber nothwendig, zu betonen, daß dieſe heilſamen Reformen anfänglich
auf den paſſiven Widerſtand eines nicht kleinen Theiles der Beamtenſchaft
ſtießen, mannigfache Angriffe auf dieſe „Neuerungen“ erfolgten und die trefflichen
Abſichten des Chefs der Polizeibehörde vielfach gehemmt wurden. Der Grund
dieſer auffallenden Erſcheinung lag in der Beſchränkung der Wirkſamkeit der
einzelnen Polizeicommiſſariate, die ſich die Amtshandlungen in Criminalfällen,
und dadurch die Gelegenheit, ſich auszuzeichnen, entzogen ſahen. Die Intereſſen
des Einzelnen mußten jedoch vor dem Vortheil des Ganzen ſchweigen.
Nach der Bildung des Detectivcorps und des Gentralficherheitsburreans
folgten zwei andere Neuerungen, deren Nothwendigkeit gleichfalls ſchon längſt
erkannt worden war. Erſtens die Anlage des Verbrecheralbums der Polizei—
direction, d. i. einer Sammlung der Photographien aller der in Wien und den
niederöſterreichiſchen Strafhäuſern befindlichen Perſonen, welche wegen Eigen—
thumsverletzungen jeder Art, Raub und Fälſchung öffentlicher Creditpapiere mit
dem Strafgeſetze in Colliſion gerathen waren. Die Verbrecher wurden durch
einen beſonders beſtellten Photographen aufgenommen, die Bilder, welche eine
Höhe von 16, eine Breite von 10 Centimeter beſitzen, derart bezeichnet, daß die
Rückſeite des Cartons den Namen, eine kurze Biographie und Claſſification des
Verbrechers enthält. Dieſe Photographien werden dann alphabetiſch ſortirt, in
beſonderen Schränken, deren Einrichtung das Nachſuchen erleichtert, verwahrt.
Nach einem halben Jahre zählte das Verbrecheralbum bereits 2500 Blätter, und
bis heute ift die Zahl der Photographien auf iiber 4000 geftiegen. Eine zweite
wichtige Maßregel bildete die verjchärfte Ueberwachung entlajjener Sträf—
linge. Die Erfahrung hatte gelehrt, welch’ ein bedeutender Procentja von
ben verübten igenthumsverlegungen ſolchen Individuen zur Laft Fällt, die
Thon wegen gleicher Vergehungen eine Freiheitsſtrafe abgebüßt Hatten. Eine
genaue Gontrolle der im Stadtgebiete wohnhaften entlaffenen Sträflinge wurde
angebahnt, indem die Meldungsvorſchriften für dieſe Individuen verjchärft wur—
den und das Stadtgebiet eine Eintheilung erhielt, der zu Folge auch die Be—
zirlscommiffariate zum permanenten Ueberwachungsdienſt herangezogen find. —
Die mwohlthätigen Folgen diefer Reformen traten unvermuthet raſch zu Tage
und exleichterten auch die ſchwierige Aufgabe, welche der Wiener Polizei wäh-
rend des Ausftellungsjahres von 1873 zufiel. Es verdient hervorgehoben zu
werden, daß troß des bedeutenden Trremdenzufluffes im Sommer 1873 die Zahl
der Eigenthumsverlegungen um circa 40 Procent geringer war ala während des
Sommer 1871. Nah dem Verfaſſer zu Gebote ftehenden Acten der k. k.
Polizeidirection*) wurden durch das Detectivcorps in der Zeit vom 1. März
1872 bis 31. December 1873 Verhaftungen von 4958 Perſonen, welche ſchwerer
Verbrechen überwieſen wurden, vorgenommen. Bon dieſen Verhaftungen ge-
ſchahen 22 wegen Raubes, 3 wegen Mordes, 24 wegen ſchwerer Eörperlicher
Verlehung, 3 wegen Entführung, 1426 wegen größerer Diebftähle, 596 wegen
Veruntreuung, 772 wegen Betruges, 270 wegen Einbruch u. |. w.
*) Der Derfaffer erlaubt fich, dem Herrn Polizeipräfidenten Marr feinen Dank für bie
geftattete Einficht in die Acten der Wiener K. K. Polizeidirection auszuſprechen.
Die Verbrecherwelt von Wien. 425
Welchen coloffalen Umfang die Geichäftsthätigkeit der Wiener Sicherheits-
behörbe innerhalb der letzten Jahre erreiht hat, möge aus den nachitehenden
Ziffern, welche die Zahl der Gejchäftsftüde bedeuten, hervorgehen. Nach den
amtlichen Ausweiſen betrugen:
Die I. Semefter ber Jahre 1871 1872 1873
Geftiondnummern der Commiffariate . . 157,105 182,983 207,348
Unterfuggungen auf — —F us en n
freiem Buße. . ergehen . . . 272
Uebertretungen . 6,323 8,080 9,601
Unterfugjungen ) Verbreden . . 1,918 2,339 1,816
egen Verbaftete Dergehen . . . 278 224 142
geg “| Nebertretungen . 5,152 7,310 8,186
Triedensrichterliche Functionen . . . . 23,749 22,011 25,201
Thatbeftands-Erhebungen . . » » . . 6,740 8,683 22,220
Leumunda-Zeugnifle - » » 2» 2 2... 17379 15,586 17,450
PVolizei-:Straffälle. -. . 2» 2 2 2.2... 15,720 19,439 26,491
Meldungen des Domicß . -. - » . . 612,000 720,000 1,870,000
Die vorftehende gedrängte Darlegung der Entwidlung des Wiener Polizei-
weſens in den letzten Jahren läßt erkennen, daß die jo erfolgreich begonnenen
Reformen noch nicht ihren Abſchluß gefunden haben. Die Summe der Leiftungen
ift nicht gering anzuſchlagen und beweift, daß auch auf diefem Gebiete die
Würdigung der Bedürfniffe einer haftig vorwärts drängenden und eine neue
gejellihaftlihe Organiſation vorbereitenden Zeit ebenjo im Intereſſe der Be—
völlerungen twie der Staatögewalten liegt. Die große finanzielle, commercielle
und gewerbliche Krije, welche vor zwei Jahren über Defterreich zog, und deren
Nachwehen noch lange nicht vertvunden find, Hat düftere Schatten auf das
jociale Leben der Hauptftadt Wien fallen laffen, und e8 fehlte nicht an Er-
ſcheinungen, welche begründeten, in welcher Richtung noch weitere Reformen des
Sicherheitsweſens dringend geboten find. Es ift nicht zu bezweifeln, daß bie
maßgebenden Kreiſe ſowol die Erkenntniß, als die Energie befiten, dieje Re-
formen vorzubereiten und durchzuführen.
Ueber altgermanifdes Heidenthum
in der chriſtlichen Teufels-Sage.
Don
Profejjor Dr. Felir Dahn in Königsberg.
I
Mir haben anderwärt3*) an zahlreichen Beijpielen die Fortdauer von An—
ſchauungen und Gebräuchen des altgermanijchen Heidenthums in dem bdeutjchen
Volksleben der Gegenwart nachgewiejen.
An jene Darftellung jchließt fih die Unterfuhung, ob und in welchem
Maße, in welcher Weile auch in die hriftlicde Sage vom Teufel ſolche alt-
germanijche Ueberlieferungen herübergenommen wurden.
Wir finden bei Betrachtung de3 modernen Volkslebens in Süddeutſchland
und dem katholiſchen Deutſchland überhaupt, daß keineswegs nur das weltliche
Treiben von Bauer und Hirt, Jäger und Sennin von Reminiscenzen aus
Walhall erfüllt, daß auch in die kirchlichen Gebräuche manches Stüd Heiden-
thum übergeglitten ift.
Unſchwer beantwortet ſich daher die Fyrage, wie es möglich, ja nothwendig
war, dat auch das Bild des hriftlichen Teufels mit zahlreihen Zügen des alt-
germaniſchen Götterglaubens gezeichnet wurde.
Als das Chriſtenthum von den arianifchen und katholiſchen Prieftern den
Völkern der gothijchen Gruppe, dann den Langobarden und Burgunden, den
Franken und Thüringen, den Alamannen und Bajuwaren, zulegt den Sachſen,
riefen und Nordgermanen verkündet wurde, waren die Belehrer weit davon
entfernt, die Eriftenz und Macht der von ihnen befämpften Heidengötter zu
leugnen: fie glaubten vielmehr, daß diejelben beftünden und vielfach in das
Leben der Natur und der Menfchen eingriffen: nur eben nicht ala Götter, ala
wohlthätige und hilfreiche Weſen, jondern ala Dämonen, als den Menſchen
ſchädliche Gewalten: fei e8, daß fie Leib und Leben und Vermögen mit äußeren
Gefahren bedrohten, jei e8, daß fie die Seele mit Luft und Genuß verführten
und um den Preis kurzen irdiſchen Glüdes mit jündhafter Freude den ewigen
Qualen der Hölle überantworteten.
*) Im neuen Reich 1873.
Ueber altgermanifches Heibenthum in der chriftlichen Teufels-Sage. 427
Das Chriſtenthum hatte die Vorftellung eines perjonificirten böfen Princips
aus den Traditionen des jpäteren Judentums überfommen; urfprünglid war
dem ftarren und phantafielojen Monotheismus Ifſraels ein joldyes Bild fremd
geweſen, ebenfo wie die Vorjtellung der Fyortdauer der Seele nad) dem Tode;
in den früheren Büchern des alten Bundes begegnet feine Spur einer folchen
Geftalt, die Schlange im Paradiefe und der Verſucher (Berleumder, Läfterer:
dıapokos) im Buche Hiob find noch keineswegs Lucifer, der König des Höllen-
reiches, der mit feinen Engeln von Gott abgefallen, „wie ein Stern vom Himmel
ftürzt,“ in den Abgrund geichleudert ift, von two er den Kampf gegen die All-
madt, Allwiffenheit und Allgüte Gottes mit bewußter Bosheit fortführt.
Erſt in der jogenannten „babylonijchen Gefangenſchaft“, im Exil, lernten die
Juden den perfiichen Dualismus von Ahurömazdäo und Ahrömainjus (Ormuzd
und Ahriman), dem guten umd böjen Princip, kennen, und von dieſer Auffaffung
der Zend = Religion aus erhält nun auch der Satan, arabiſch Schaitan, eine
ganz andere Bedeutung; eine reihe Dämonologie wird ausgebildet; Beelzebub,
anfangs nur der Name eine Göhenbildes der Heiden, wird zu der „Teufel
DOberftem“. (Luther)
Das neue Teftament fand aljo diefe Vorftellungen vor: es ift nicht an-
zunehmen, daß der Begründer der chriftlichen Ideen ganz frei von bdenfelben
gewejen wäre, wenn auc die Mirakelſucht und das mythiſche Bedürfniß feiner
nächſten, ganz auf dem jüdiichen Volksglauben fußenden Umgebung ſchon frühe
den weitaus größten Theil der Teufelsaustreibungen, Bejeßgnen = Heilungen zc.
producirte und die Verſuchung in der Wüfte, einen innerlichen Seelenfampf, ver-
gröberte und veräußerlichte: der wüſte vifionäre Myfticismus ber Apokalypie
fteht wol von den Lehren Chrifti weit ab. —
Als nun die chriftlicden Ideen auch von den Einflüffen der helleniſtiſchen
Philojophen, beſonders Aegyptens (Alerandria’8) und Sleinafiend, von den
Schwärmereien neupythagoräiicher und neuplatoniicher Syfteme, von Traditionen
altorientalijcher Religionen ergriffen wurden, reproducirten mächtige Secten
auch den alten zendiichen Dualismus von Ormuzd und Ahriman in neuen
Wendungen: jo vor Allem die manidhäijche Ketzerei.
Aber erſt jehr jpät, erſt bei Eujebius, der im Jahre 340 ſtirbt, begegnet
die Anknüpfung Lucifers umd feines höllifchen Reiches ala eines Gegenbildes zu
dem bimmlijchen mit feinen Engeln, Thronen und Fürſtenthümern der Tiefe,
an die jchöne Stelle des Jeſaias 44, 12: „wie bift du doch vom Himmel ge-
fallen, du Schöner Morgenftern”. —
Schon von Anfang, lange ehe hriftliche Sendboten mit Germanen in Be-
rührung traten, hatten die Chriften, Priefter und Laien, die Götter und
Göttinnen Griechenlands, Roms und Aegyptens in diefem Sinne für Dämonen
erklärt, fie gehabt und gefürchtet; Jupiter, Apollo, Diana, Venus, Iſis wurden
twol auch gelegentlich) wieder einmal mit Opfern verjöhnt, wenn man ihre Rache
für den Abfall zu dem allzu unfichtbaren Gott empfunden zu haben glaubte
und des Menjchen Sohn immer noch zögerte, in den Wolfen wiederzufehren
und das Reich diefer übermüthigen Heiden zu zerftören, welche fortfuhren, Pro-
binzen zu erobern, Triumphe zu feiern, fi) Häupter und Becher mit Rofen zu
498 Deutiche Rundſchau.
befrängen und die jüdiſchen Sectirer zu verachten, welche man gottloje jchalt,
da fie eines National-Gottes entbehrten.
As nun den chriftlichen Bekehrern neben den früher ſchon befannten
Göttern der Hellenen und Römer, Xegypter und Selten die germanijchen
Stämme mit ihren neuen Göttern entgegentraten, lag durchaus fein Grund vor,
die Bewohner Walhalla irgend anders al3 die de3 Olympo3 zu behandeln: zum
Theil nahmen die Chriftenpriefter, wie ja ſchon die claffiichen Schriftfteller, wie
Cäſar und Tacitus, die Identität der griechiſch-römiſchen Götter mit den ger-
manijchen an; der Zuftgott Mercur galt ihnen für den Luftgott Wodan, Ifis
oder Diana für Freya; die hölliihen Dämonen hatten nur bei veridhiedenen
Heidenvölfern verjchiedene Namen angenommen; an ihrer Eriftenz und relativen
Macht, zu verſuchen und zu ſchaden, zweifelten fie durchaus nicht: die zahlloſen
Warnungen und Bußdrohungen der Goncilien beweiſen es vom 5. bis in’3
17. und 18. Jahrhundert — die Zeit der legten Herenprocefje. — Und mie
nun zum Theil in unmwillfürlicher Selbfttäufhung, zum Theil in Elug ſchonender
Anpaffung die heidniſchen Götter und Göttinnen veriwerthet werden, um Gott,
Chriftus, den heiligen Geift, die Madonna, die Engel, die Apoftel und Die
Heiligen mit allerlei entlehnten Zügen zu bereihern und der gewohnten Vor—
ftellung näher zu bringen, jo werden denn auch zahlreiche Züge aus der ger-
maniſchen Mythologie auf den Teufel als der Teufel Oberften oder auf ein-
zelne Specialteufel, Unterteufel übertragen; denn wie man in den Heiligen die
Tugenden und die wohlthätigen Wunderkräfte ſpecialiſirte, wie man bejondere
Heilige der Keujfchheit und der Demuth, bejondere Helfer gegen Brandſchaden
und Biehjterben, vorzügliche Sahverftändige gegen Kopfſchmerz oder Glieder-
reißen aufftellte, jo ftatuirte man auch bejondere Teufel des Bechers und des
Würfels, des Geizes und der Verſchwendung: kurz gejagt, wie ſich unjere Götter
der Heiligiprejung, der Ganonifirung, erfreuen durften, mußten fie fich vielfach
eine Verteufelung, eine Dämonifirung, gefallen laſſen.
Obige kurze Bemühung des jüdijchchriftlichen Teufel war zur Orientirung
unerläßlich, im Uebrigen geht er mich nichts an; es ift mir wohl bewußt, daß
er einer andern Facultät angehört, — ic) meine natürlich nur ala Gegenftand! —
der ich ihn neidlos überlaſſe. E
Betrachten wir num jene Elemente des germanifchen Götterglaubens und
Göttercults, welche in das Bild des chriſtlichen Teufels übergegangen find, fo
bietet ſich von ſelbſt eine auffteigende Linie dar: von den dumpfen Naturgewalten,
den Rieſen, welche als Feinde der Walhallagötter erſcheinen, durch die zahl-
reichen Mittelweſen hindurch bis empor zu den höchften der Ajen.
Belanntlih durchzieht die gefammte germanifche Mythologie der Kampf
der Aſen mit den Riejen, weldde den Walhalla-Himmel zu ftürmen, die Götter
zu ftürzen, die göttlidde und natürlide Ordnung der Welt zu zerftören trachten,
denn Aſen, anses, aesir, bedeutet nichts anders ala Balken, als Tragbalten des
Himmels, de3 Kosmos der Natur und de3 Geiftes.
Es lag nun den hriftlicden Prieftern jehr nahe, in den Rieſen teuflifche
Gewalten im Ringen mit Gott dem 9 erblicken, \ind denn zabl-
zediby \ >
Ueber altgermanifches Heibenthum in ber chriftlichen Teufels-Sage. 4239
reiche Einzelzüge, ja ganze Gruppen von Vorftellungen und umfangreiche Ge—
ichichten der Riefenfage in die Teufel3-Mythen herübergenommen worden.
Im Berlaufe jenes, die Jahrhunderte erfüllenden Kampfes gelingt e8 den Göt-
tern wiederholt, einzelne gefährliche riefiiche Ungeheuer zu bewältigen und in Stetten
zu Schlagen. (Die Frage, warum fie diejelben nicht tödten, beanttwortet fich einfach
aus dem Bedürfniß der mythologiſchen Gefammt-Defonomie: fie dürfen nicht Schon
in der Gefangenſchaft getödtet werden, weil fie bei der Götterdämmerung auf-
treten und erſt hier zugleich mit den ſie beftreitenden Aſen fallen jollen.)
So die Midgardichlange (dad die betwohnbare Erde feindlich umgürtende
MWeltmeer), den Fenris-Wolf (den perjonificirten Rechtsbruch: ein Schwert
jperrt dem Gebändigten die beiden Kiefern auseinander, ganz ebenſo wie noch
die im vierzehnten Jahrhundert entjtandenen Bilder zum Sachjenfpiegel den
„echter“ [d. h. den friedlos geſetzten Rechtsbrecher) als einen wolfshäuptigen
Mann mit einem Schwert im Rachen darftellen), den böjen Loki, den Liftigen
Berderber (dad Feuer in feiner jchädlichen Wirkung) und andere Ungethüme
riefiichen Wejend. Aber am Ende der Dinge, wann die Götterdämmerung naht,
reißen fich die Gefeflelten los und jchalten dann Unheil ftiftend mit Lift und
Gewalt über die Erde hin unter den Menſchen, und Einzelnen gelingt es auch
früher ſchon, auf kurze Zeit ſich loszumachen und verderblich zu wüthen —
wenigftens bejteht immer die Furcht davor, und wo Ungeheures in Natur oder
Menſchengeſchick fich begibt, two Waflergewalten, Feuersgluth, Feljenfturz, Erd—
beben oder Seuche, wo furchtbare Bruderkriege, Mordthaten, twahnfinnige
Frevel ganze Gejchlechter und Völker heimfuchen und ergreifen, da führt ſolches
Unheil das bange Gemüth auf jene rieſiſchen Dämonen zurücd, welche auf Zeit
die wohlthätigen Feſſeln der Götter geiprengt haben.
Diejer ganze Kreis von Vorftellungen nun ift auf den chriftlichen Teufel
übertragen worden umd zwar theils abftract auf den Teufel im Allgemeinen und
das große Welt- Drama — davon jpäter —, theils concret und Local auf be-
ftimmte Gefahren, welche einzelne Gegenden und Orte bedrohen und zu Zeiten
von hier gefeffelten und fich losreißenden Teufeln und teufliichen Ungethümen über
diejelben herbeigeführt werden, — davon wollen wir hier einige Beijpiele geben.
Da ift der Teufel los! Da ging der Teufel los (was nicht etwa urjprüng-
lich heißt: „da fing er an,“ jondern ganz buchſtäblich und finnlich: „er machte
ſich los“ — wie der gefangene Fiſch von dem Hamen „Los geht“) jagen wir ganz
allgemein, wenn plößlich Verwirrung, Lärm, Streit, Unrecht in bisher fried-
lichen Beziehungen der Menfchen anhebt: es ift der gefeflelte Dämon, der feine
Bande geiprengt hat und num frei jchaltend Unheil anftiftet.
Antereffanter, weil concreter und lebendiger, ift die Zocaliftrung derfelben An-
ſchauung. An vielen Orten Deutſchlands und auch anderer Gebiete germanischen .
Einfluſſes lebt der Glaube im Volk, daß in dem nahen See, Teich, Fluß, auf der
Höhe oder in der Tiefe des überhangenden Berges, in dem Sumpf oder der
Heide der Nachbarſchaft ein Rieſenfiſch oder ein Riefentwurm oder ein anderes
Untbier oder einfach der Teufel von Chriftus oder von einem Heiligen oder
frommen Helben gebändigt und gebunden verfenkt liege, und daß die Stadt, das
Dorf, das Thal verloren, d. h. durch Ueberſchwemmung, Bergſturz, Erdfeuer,
430 Deutſche Rundſchau.
Seuche dem Untergang geweiht ſei, wenn es dem gefeſſelten Unhold dereinſt ge—
lingen werde, ſich zu befreien.
Manchmal findet ſich dabei die Wendung, daß die Losreißung und das
Verderben ftattfinden, wenn Gottlofigfeit, Unglaube, Verſchwendung unter den
Bewohnern den Gipfel erreicht habe — eine merfwiürdig getreue Erhaltung der
dee der Götterdämmerung, welche mit der höchften Entfittlijung, mit der Zer—
reißung der religiöfen und moraliſchen Bande zugleich die riefiihen Dämonen
ihrer Bande ledig werden und die frevelverfallene Menjchheit untergehen läßt.
In diefer Faſſung begegnet die Sage 3. B. in der Umgebung von München und
den bayerischen Bergen: wenn in jener Hauptftabt Unglaube und Sündhaftigfeit
auf3 Höchſte angewachſen, dann wird fich ein ungeheurer Waller (Fiſch), der
im Grunde de3 Walchenjee vom heiligen Petrus mit einem Hamen angefettet
liegt, losreißen, unter feinem ungefügen Schweifichlagen wird der See aus—
treten, den Kefjelberg durchbrechen, fich mit den Fluthen des Kocheljees vereinen,
und die verbündeten Wafler werden dann die ſchutzlos vor ihnen liegende Refidenz-
ftadt mit all’ ihrer Pracht und Sünde raufchend unter ſich begraben.
Aber auch andere Riefenfagen noch haben Beiträge geliefert zu der Teufels-
Mythe: jo die Bau- und Sprung-Sagen, überhaupt jene Erzählungen, welche die
Rieſen an Weisheit, Kraft, mancherlei Geihiclichkeit mit den Göttern wett—
eifern, oder um einen beftimmten Preis wetten und dann regelmäßig verlieren lafjen.
Mit wechlelnden Wendungen wiederholt fi) in zahlreichen Städten Europa's
die Mythe, daß irgend ein wunderbares, Menjchenfräfte und Menſchenwitz ſchein—
bar überragendes Bautverf, eine Kirche oder eine Brüde 3.B., vom Teufel her-
geftellt worden, in ftaunenswerth kurzer Zeit, oder, jehr häufig, indem er ſich
von dem Baumeifter, der an der Löſung feiner Aufgabe verzweifelt, für den
Tall der rechtzeitigen Vollendung die eigne arme Seele oder die des erften
Menſchen, welcher die Kirche, die Brücke betritt, verjprechen läßt; durch eine
glückliche Lift wird dann der Teufel geprellt, indem 3. DB. bei der als Termin
verabredeten Hahnenkraht der Sterbliche (oder fein findiges Weib) vor der Zeit
jelbft die Stimme des Hahn nachmacht und dadurch alle Hähne zu vorzeitigen
Krähen bringt, jo daß der Teufel den jcheinbar verjpäteten, faft ganz vollendeten
Bau zornig verläßt oder ihn wieder zu zertrümmern trachtet durch einen da—
wider geichleuderten Felsblod, der aber, abgelenkt durch das bereit3 auf dem
Thurme angebrachte Kreuz, unſchädlich daneben niederfällt und nun etwa, wie
eine umfertige Stelle im Dachbau, als Wahrzeichen der Teufelsgeſchichte noch
heute den Bejuchern gezeigt wird.
In diefem gefammten, jehr ausgedehnten Kreis von Vorftellungen ift nun
der Teufel an die Stelle ber Rieſen getreten, zu Grunde liegt der eddiſche
Mythus von Swadilfari, nad) welchem ein Riefe um den Preis, dat ihm Freya
zur Braut gegeben werde, binnen beftimmter rift eine undurchdringliche Mauer
um MWalhall zu bauen unternimmt und nur durch Loki's Lift an der Vollendung
gehindert wird. —
In vielen Gebirgsgegenden, Flußengen, Felspäſſen zeigt man den Ein-
drud des Fußes oder Hufs des Teufels, der „Teufelsklaue“, welche ex bei einem
MWett- und Wagejprung oder bei Verfolgung einer keuſchen Jungfrau oder
Ueber altgermanifches Heibenthum in der chriftlichen Teufels-Sage. 431
auf der Flucht vor einem Heiligen oder Erzengel hinterlaffen Hat — auch Hier
ift der Teufel der Hriftliche Nachfolger der Riefen im Kampfe mit Thor oder
auf der Flucht vor ihm oder in Verfolgung einer lichten Göttin Walhallas. —
Wenn in mandem Schwank des Mittelalter der Teufel ſich ala der
dumme, geprellte, von den Heiligen oder auch von Eugen Menſchen überliftete
Feind erweift (3. B. ftatt der Seele des Menſchen erhält er die Seele eines
Pudels, oder der „Schüler von Salamanca“ verweift ihn auf feinen Schatten
als feinen Nachmann, den er erivürgen möge), jo ift auch hierin der tölpelhafte
ſchwerfällige Riefe der Edda, welcher Loki's Lift oder Odhin's überlegener Weis-
heit erliegt, da3 unverfennbare Vorbild geweſen. —
Wie die ungeſchlachten Feinde der Götter, die Riejen, haben auch die win-
zigen und zierlien Mittelwejen, die Zwerge und die Elben, ſich der Ver—
gröberung und Verhäßlichung, der Herunterzerrung in die Kategorie der Teufel
nicht eriwehren mögen. Gar mander Hausgeift und Hauskobold, manch Wichtel-
männden und „Untersberger Mandl“, an dem nur etwa die Enten oder Ziegen-
Füße die geifterhafte Natur verriethen, hat ſich das hübſche rothe Hauskäppchen
durch die häßlichen Teufelshörner erſetzen laſſen müſſen.
Von den Elben — wir haben und angewöhnt, nad) der engliſchen Laut—
verichiebung „Elfen“ zu jagen, weil Shakeſpeare's Sommernadtstraum uns die
liebenswitrdigen Wejen zuerft wieder nahe gebradjt hat; es ift dies aber ebenjo
verkehrt, wie wenn wir von Weif und Kalf ftatt von Weib und Kalb ſprechen
wollten; das gute deutſche Wort: die „Elben“, ſoll umvergefjen bleiben — ift
befannt, daß fie in neckiſchem Muthwillen und, wenn man fie, die Leidht-
erzürnten, reizt, wol auch um zu ftrafen, Menſchen und Thieren auf den
Nacken zu fpringen und fie zu reiten lieben; (auch die Krankheiten, zumal Fieber
und Hautausſchläge, dachte man fich durch Elbengeichoffe plöglich angeflogen,
angeheftet;) auch hierin ift ihnen der Teufel nachgefolgt, und wenn wir jagen:
„reitet dich der Teufel? plagt dich der Teufel, daß du dies oder jenes thuſt?“
fo Liegt diefem Ausdrud die Vorftellung zu Grunde, daß der Satan wie ehemals
die Elben dem von ihm „Bejeffenen” — ganz buchſtäblich — auf dem Naden
ſitzt und den völlig Beherrichten, Willenlofen, wie der Reiter da3 Roß nad) jeinem
Gutdünken in alle Wege der Gefahr und Tollheit lenkt.
Bon den oberen Göttern und Göttinnen endlich ift zu jagen, daß jede diejer
Himmlifchen mit Namen oder Geftalt, Waffe oder Geräth, Begleitethier oder
anderem äußerlichen Attribut, meift aber auch mit inneren Charakterzügen den
mittelalterlihen Teufel germanifcher und romaniſcher Völker ausgeftattet hat;
ſogar der Vertreter des denkbar jchroffiten Gegenjates zu dem König der Finfter-
niß, der lichte Frühlings» umd Sonnengott Baldur jelbft, hat ſich ala mittel»
und oberbeuticher „Phol” die Dämonifirung gefallen laſſen müſſen; aus der
übergroßen Fülle des zu Gebote ftehenden Materiald jollen hier nur einzelne
bejonderd merkwürdige oder minder befannte Beläge herausgegriffen twerden. —
Wenige meiner Leer in Nord- und Mitteldeutichland haben wol ihrer
Lebtage von dem „Bilmes- (oder Bilwis-) Schneider” gehört: das ift ein böjer
Nachbar, der nad dem fremden reichen Kornfeld Gelüften trägt; er beſchwört
ben Teufel, welcher ihm in Geftalt eines goldborftigen Ebers ericheint, und auf
432 Deutſche Rundſchau.
dem Rücken dieſes dämoniſchen Thieres umreitet in gewiſſen heiligen Nächten der
Zauberer die Aecker, nach deren Garben er begehrt; die auf denſelben ſtehenden
Aehren wachſen und reifen fortan in ſeiner Scheune, während ſie auf dem Feld
abſterben und faulen.
An dem Thiere, das ihn trägt, erkennen wir die urſprüngliche Natur des
hier erſcheinenden Teufels; es ift Frö, der alte Gott der Fruchtbarkeit, des Feld—
ſegens, der weiland auf ſolchem ihm geheiligten goldborftigen Eber ſchützend und
Gedeihen Tpendend durch die Saaten ritt; ihn, den alten Gott der Ernte, riefen
die deutſchen Bauern gern noch heimlich an, wenn Mißwachs und Dürre die
Abgunft oder Ohnmacht des neuen Himmelsheren und feiner Heiligen zu be—
kunden jchienen.
Das männliche Geſchlecht de3 Teufeld verhinderte, daß unmittelbar auf ihn
ſelbſt Züge der Walhallagöttinnen übertragen werden; aber bekanntlich erfreut
fich der Teufel einer Großmutter, die noch viel Schlimmer ift ala ex jelbft, und
einer zahlreihen Schaar von VBerehrerinnen oder Heren; und diejer fein weiblicher
Hofftaat hat fih in die Garderobe und Ausrüftung der Göttinnen getheilt;
Idunens goldne Aepfel, aber mit verderblicher, nicht mehr mit verjüngender,
fegnender Wirkung, hat die Teufelin im Märchen von Schneewittchen erbeutet;
Freya's goldnes Halögejchmeide, „das der Anmuth unfterblichen Zauber leiht,“
vergibt die zur Unholdin herabgejunfene rau Holle an eitle Weiber, Un—
widerftehlichkeit jündigen Reize um den Preis ihrer Seelen gewährend, und das
heilige Katzengeſpann, auf welchem die Göttin durch die Himmel fuhr, ift in die
Hexenküche gewandert.
Am reichlichſten aber haben begreiflicherweije die beiden oberften Götter der
Germanen, haben Donar und Wodan Eigenihaften und Attribute zur Geftaltung
des Teufels abgeben müſſen; fie waren einerjeit3 aus dem Leben und den Vor—
ftellungen des deutjchen Bauer, Kriegers, Jägerd am ſchwierigſten zu entfernen,
und andrerjeit3 mußten fie den Prieftern ald der Dämonen Oberfte gelten.
Dem Gott des Blitzes war die rothe Farbe heilig; darum erſcheinen heute
noch auf unfrer Bühne Mephifto und Samiel in rother Tracht, darum gelten
rothe Thiere, Pflanzen, Beeren, ja auch rothhaarige Menſchen heute noch dem
Volt als dämoniſch („rother Bart hat Teufels Art, rothes Haar — Teufels-
gefahr”). Das dem Gott der Eultur geweihte Thier war die Ziege, weil fie
gleihjam die äußerften VBorpoften menſchlicher Siedelungen auf den unwirthbaren
Telögebirgen ausftellt; es ift aber bekannt, daß der Teufel nicht nur gern auf
einem Bode reitet, daß er jelbjt Bodshörner, Bodsbart, Bocksſchweif, Bocks—
klauen trägt, ja daß er ganz und gar in Geftalt eines ſchwarzen Bockes zu er«
icheinen liebt, jo daß die Heren auf dem Blodsberg und manche Secten von
Ketzern, welche man des Teufelscultus bezichtigte, auf der Folter darüber befragt
wurden und oft geftändig ausjagten, daß fie den „ſchwarzen Bod“ geküßt oder
angebetet. Die Waffe des Donnergottes ift der Hammer; der Teufel aber heißt
euphemiftiich „Meifter Hämmerlein”.
Thor's Hammer hat die Eigenſchaft, daß er nad) jedem Wurf von jelbft
in die Hand des Entjenders zurüdfliegt (dev Blibftrahl, der, eben in die Erde
gefahren, jchon wieder aus den Wolken herniederzudt) — einen folden Hammer
Ueber altgermanijches Heidenthum in der chriftlichen Teufels-Sage. 433
aber lieh der Teufel jeinem Sohne Wilhelm von der Normandie behufs der
Eroberung von England, und alle jchlichte Tapferkeit König Harald’3 und jeiner
Sadjen mußte erliegen vor den dämoniſchen Waffen (d. h. der befferen Aus»
rüftung und Tactik) der Normannen.
Donar führt ferner einen Stärfegürtel, der durch fefteres Anziehen feine
Kraft vermehrt, und zwei Stahlhandihuhe, um den glühenden Blitz anfafjen
und jchleudern zu können; ſolchen Stärkegürtel führt aber im Mittelalter der
Teufel und umgürtet damit jeine Lieblinge für den Kampf mit hriftlichen Helden
oder im Gottesurtheil des gerichtlichen Zweikampfs, wie er ihnen für das
Tragen de3 glühenden Eiſens im Ordal unfihtbar die Stahlhandichuhe leiht.
Endlich aber ift in zahlreichen Ausrufen des Schredens, des Zorns, des Er—
ſtaunens der Name „Donner“ oder „Wetter“, „Strahl“ euphemiftifch für den
Namen des Teufeld noch heute im Gebrauch. —
Die Erbſtücke aber aus dem Nachlaß unjeres oberften Gottes, Wodan’s,
welche der Teufel geholt hat, find jo mannigfaltig, daß wir uns hier nur auf
ein Inventar der wichtigſten einlafjen können, ohne Vollſtändigkeit irgend
anzuftreben. Schon in der äußeren Erjcheinung gleicht der Teufel, namentlich
wie er in dem Acten der Herenprocefje geihildert wird, dem Götterfünig zum
Verwechſeln. Er trägt des Gottes Schlapphut tief in die Stirne gedrückt, den
langen blauſchwarzen reichjaltigen Mantel um die Schultern geichlagen, und
„Junker Wöden“ ift einäugig — da3 andre Auge ruht ala Pfand, von Wodan
eingejeßt, in Mimir’3 Brunnen.
Die dem Gott des Schlachtfeld3 geheiligten Thiere find der Leichenwolf
und der Wal-Rabe — oft mußt ich’3 gedenken, wenn ich ungeheure Schwärme
diejes Gevögels dunfeln Wolken gleich hoch in den Lüften über unferem Heer
in Frankreich folgen ſah, als wir von Barleduc nordwärts gen Sedan jchivent-
ten —; befanntlidy aber find Wolf und Nabe die häufigften Begleiter, Boten
oder auch ncarnationen des Satans; ein „Helltwolf“ geiftert auf der Dorf-
ftraße um Mitternadht, und ein krächzender Rabe fitt auf der Schulter des
Albertus Magnus oder des Erfinders des Schießpulvers, Berthold Schwarz,
oder der Buchdruckerkunſt, Johann Fuft, oder des bibelüberjegenden Luther's; e3
ift Hugin, Odhin's Gedanke, der auf feiner Schulter ſitzend ihm Weisheit in’3
Ohr raunt. —
Der Teufel ift auch, wie männiglich befannt, der Anführer des wilden
Heeres, der wilden Jagd, und alle jeine Waidgejellen find der Hölle verfallen;
der wilde Jäger aber ift fein anderer als Wodan, der König der Lüfte, der zur
Zeit der Winterfonnentvende die Holzweiblein jagt, d. 5. der Sturm, der in jenen
Nächten die Bäume im Walde nit; man entgeht dem wilden Jäger, wenn
man ein Feldkreuz umflammert; an dem Zeichen des Chriſtenthums bricht fich
des Heidengottes und des Teufels Gewalt.
Als Beherriher der Lüfte vermag Odhin feine Lieblinge raſch durch den
Himmel hinzutragen, fie zu entrüden und zu verjeßen, wenn an einem Orte
Gefahr ihnen droht oder an einem andern ihr plößliches Erſcheinen geboten ift;
auf feinem duntelfarbigen Woltenmantel — er ift ſpäter zu Dr. Fauſt's Zauber-
mantel geworden — (oder Wolkenſchiff) trägt er fie ſturmgeſchwind — auch
Deutſche Rundſchau. I, 12.
434 Deutiche Runbichau.
darin ift ihm der Teufel nachgefolgt; al3 des Ritters mit dem Löwen Weib (nad)
andrer Verfion Heinrich des Löwen), ihren im gelobten Lande Freuzfahrenden
Gatten für todt haltend, mit dem böſen Nachbar Hochzeit halten will, führt
der Teufel denjelben ſammt jeinem Löwen in einer Stunde durch die Luft von
Damascus nach Braunſchweig, und als in dem Sängerfrieg auf der Wartburg
Heinrich von Ofterdingen zu erliegen fürchtet, führt auf fein Anrufen der Teufel
in Einer Naht den Meifter Klingjor aus Ungarland zu jeiner Unterftüßung
herbei. — Manchmal find die Mebergänge, welche von dem weisheit- und hoheit-
vollen Götterfönig zu der meskinen Figur des Teufel Führen, jehr verſchlungen
und überraſchend uno doch für ein geübtes Auge jedem Zweifel entrüdt. So
in folgendem ſeltſamen Zujammenhang.
Odhin ift bekanntlich der Erfinder der Runen und aller an fie gefnüpften
Weisheit. Der Runenzeichen bediente man fi aber auch, um die Loosftäbe
und Holztwürfel zu bezeichnen, mit denen man die Zukunft erforjchte oder zwei—
felhafte ragen der Gegenwart entjchied; ja auch zum Spiel benußte man
mit Runen verjehene Würfel. So wurde Odhin auch zum Erfinder und Be-
herrſcher des Würfelſpiels, welchem die Germanen mit Leidenſchaft oblagen.
Da nun aber unter den von der Kirche verfolgten Laftern auch die Spiel-
fünden ganz regelmäßig in die Bußbücher, Beichtjpiegel und dergleichen auf-
genommen wurden, bildete der Aberglaube einen bejonderen Spielteufel aus,
welcher die Würfel erfunden und mit Geheimzeichen gerigt Hatte; baher
heißt der Teufel auch Meifter Würflein, oder Junker Schänzlein (Schänzl
— MWürfel), und ein Rabe ift e3, welcher den Zechern, die die Würfel vergefjen
haben, ſolche aus der Luft zuwirft, — Odhin’3 Rabe, welcher hier feinen Gott ver-
tritt. — Endlich aber ift der ganze umfang= und gehaltreiche Sagentreis, welcher
fih um den Gedanken des Zeufel-Pactes, des Bündniffes mit dem ‚Teufel
windet und die großartigfte Vertiefung und Vergeiftigung im Goethe'ſchen Fauſt
gefunden hat, ebenfalls auf Odhin und zwar in überrafchendem Zufammenhang
zurüdzuführen.
Der Teufel Teiht auf Grund des mit Blut gejchriebenen Vertrages feinem
Bundesbruder ein zauberhafte Geräth (den Wünſchelhut, den Zaubermantel,
ein alle Krankheiten heilendes Kraut, ein immer fieghaftes Schwert, immer
treffende Freikugeln) oder, ohne ſolche Verfinnlihung, übermenjchliches Wiſſen
oder Reihthum und Genuß auf Lebenszeit, oder er verfauft ihm das Geheimniß
einer bejonderen Erfindung: des Schießpulvers, des Buchdrucks; der Preis ift
immer der gleihe: bei dem Tode de3 Bundesbruders verfällt deffen Seele dem
Teufel und muß diefem dienen in dem Höllenreih. Diefe ganze Vorftellungs-
reihe begegnet nun ſchon bei dem Ddhin der Edda: ala Anführer der Götter
und ihrer Verbündeten, der Einherjar, in dem großen Kampfe gegen die Riejen,
hat Odhin ein Intereſſe daran, daß gerade durch Geift, Kraft und Muth hervor-
ragende Männer nicht den „Strohtod“ fterben, fondern den „Bluttod“, d. h. im
Kampfe fallen, denn nur die Seelen folder Männer gehen in Walhall ein und
verftärken das Heer der Einherjar.
Deshalb jhlieht der Götterfönig mit ſolchen Männern, feinen Lieblingen,
Verträge ab, in welchen er ihnen etwa in der Form der Verleihung eines Sieges-
Ueber altgermanifches Heidenthum in ber chriftlichen Teufeld-Sage. 435
ſpeeres oder Siegesichwertes für's Leben oder für eine Reihe von Jahren Sieg
in jedem Kampf und damit aljo Ruhm, Macht und Herrlichkeit zufichert, wo—
gegen ex ſich nur vorbehält, daß er zuleßt die Seele des Helden durch den Blut-
tod fire jein Reich und Heer gewinnt; in der lebten Schlacht tritt dann dem
Bundesbruder der Gott jelbft in halb verhüllter Geftalt entgegen, zerichlägt ihm
den Siegesſpeer in der Fauft und ftöht ihm das Schwert in das Herz, ganz
wie zulegt dem Freiſchützen der wilde Jäger jelbft entgegentritt, die nie fehlende
Kugel, die diefer auf ihn abſchoß, ihm lachend in's Antlig wirft und ihn mitten
durch's Herz ſchießt. —
Wie aber im Heidenthum alle das Menſchenmaß überichreitenden Wunder-
werke, Erfindungen, Bauten auf Odbin, den Meifter der Runenweisheit, zurüd-
geführt wurden, jo läßt es fi unfer Volk auch heute noch nicht nehmen, daß
ſolche Erfindungen, welche ihm als ein Unerhörtes ericheinen und von erftaunens-
werthen Erfolgen begleitet find, von dem Nachfolger Odhin’s, dem Teufel, um
den herföümmlichen ‘Preis erworben find; jo die Eifenbahn, bei weldyer immer
ein Paſſagier weniger ausftieg, als eingeftiegen waren, weil den Lehten unterwegs
ber Teufel geholt hat; jo dad Zündnadelgewehr, welches — wie man im Jahre
1866 allgemein in Defterreihh und Bayern von dem Landvolk hören konnte —
der Teufel dem Graf Bismard gegeben hatte — vermuthlih auch nur gegen
die übliche Gegenleiftung, was una aber nichts angeht. —
Haben wir jo eine ganze Reihe riefiiher und göttlicher Einzelweſen des
Heidenthums als in dem dhriftlichen Teufel gleihjam aufgegangen und auf-
bewahrt nadhgetwiejen, jo wiederholt ſich aud) in der Geſammtanſchauung, welche
das Mittelalter beherrichte, in der ganzen Deconomie des Weltlaufs der Grund»
gedanke der eddiſchen Mythologie.
Das uns leider nur in Bruchftüden erhaltene althochdeutſche Gedicht
Mufpilli zeigt dies am deutlichften, und zahlreiche jpätere Legenden wiederholen
die gleiche Vorſtellung. Wie nämlich nach der Lehre der Edda am Ende ber
Dinge Gottlofigkeit und Sünde aller Art ihren Höhepunkt erreichen, alle von
ben Göttern gefeflelten Ungeheuer ſich losreißen und jchließlih in ungeheurem
Kampf alle riefiichen und himmliſchen Streiter ſich gegenfeitig erlegen und das
ganze Univerfum in Flammen aufgeht, aus deren reinigenden Lohen dann eine
neue, paradieſiſche, fündenloje Schöpfung auftaucht, jo glaubte das Mittelalter,
daß dem jüngften Tage das Reich des Antichrift auf Erden vorbergehen, daß
der Prophet Elias vergeblich zu deffen Bekämpfung vom Himmel herabfteigen,
vielmehr den im Zweilampf empfangenen Wunden erliegen werde — wobei ganz
genau Züge der eddiichen Kämpfe Odhin's und Thor's wider den Fenriswolf
und bie Midgardhichlange wiederholt werden —, bis endlidy Chriftus der Herr
jelbft, nachdem die himmlischen Heerfchaaren vor den Teufeln fat erlegen find,
durch Vernichtung des Antichrift die ungeheure Schladht beendigt, wobei eben»
falls Erde, Meer, Hölle und alle Geftirne in Flammen aufgehen, jo dat Gott
Bater einen neuen Himmel bauen muß, in welchem dann die hriftlidhen Götter,
die Göttin Maria, die zahllojen Halbgötter und Untergötter, d. b. die Apoftel,
Erzengel und Engel, die Heiligen und die Seelen der erlöften Menichen, den
28%
436 Deutſche Rundichau.
Einherjar vergleichbar, das in's Chriftliche übertragene Walhalla-Leben in Ewig-
feit fortführen. —
II.
Es drängt ſich aber doc) vor dem Abſchluß diejer Unterfuhung die Frage
auf: warum Hat fi) das Mittelalter die Mühe gegeben, feinen Teufel aus
diefer großen Zahl von heidnifchen Einzelwejen aufzubauen? Weshalb bat es
nicht einfach den germaniſchen Teufel herübergenommen ?
Die Anttvort lautet: weil es einen germanijchen Teufel nicht gab. Der
Lichteultus, aus welchen ſich al3 dem allgemeinen Götterglauben der Völker der
ariihen Race allmälig bei der Wanderung nah Nordweiten die Mythologie
unferer Ahnen entwidelt hat, kannte feinen Repräjentanten des Böjen als
Selbſtzwecks; tweder die Riejen noch Loki nehmen die Stellung des böjen Prin—
cip3 ein; jene find der nothiwendige — „unbefangene“ würde Hegel jagen —
Naturgegenfa der Ajen und Loki trägt die Doppelnatur eines bald ſchädlichen,
bald wohlthätigen, immer aber tüdijchen Elements, des Feuers, an ſich.
Damit ftimmt überein, daß nad) germaniſcher Auffaffung der Strafort der
Verdammten nicht heiß und brennend, jondern kalt, finfter und naß ift; Jumpfige
Ströme, welche Leichen, Schwerter, Schlangen durch die Nacht wälzen.
Hel aber ift neutral: der hehlende, bergende Raum der Unterwelt; erſt das
Chriſtenthum hat uns die Hölle hei gemacht. —
Auffallend ift — ich werde nicht jo ungalant fein, es Icharffinnig zu
finden —, daß ſich unjere Vorfahren das Böfe, Verlockende, Verderbliche meift
in weiblichem Geſchlecht gedacht haben.
Schon Wulfila überfegt das männliche oder neutrale daiuwr, dauucvıor
jeines griechiſchen Tertes merkwürdigerweije mit dem Femininum: unhultho,
„Die Unholdin“, und althochdeutſche Gloſſen gefallen ſich ohne allen zwingen-
den Grund ihrer Terte in berjelben gereizten Auffaffung des Ewigweiblichen,
welche ic}, wie gejagt, auf das Schmerzlichfte beflage, aber doc um der Wahr:
haftigfeit willen nicht verſchweigen darf.
Bekanntlich ift des Teufel3 Schwiegermutter das einzige Welen, vor welchem
fich der böfe Feind fürchtet, und two er ſich jelber nicht hinwagt, da ſchickt er
ein böjes altes Weib Hin. —
Unfere moderne Weltanfhauung ift, in einem höheren Sinn, zu dem alt-
ariſchen Lichteultus zurückgekehrt; fie kennt feinen perjönlichen Teufel, nur ſchäd—
liche Naturkräfte, welche mit gleicher Nothwendigkeit wirken, wie die wohl—
thätigen; im Gebiete des Geifteslebens aber kennt fie nur den Gegenjab des
Bernunftgemäßen und des Vernunftwidrigen, des Unlogifchen, des Unfittlichen,
bes Häßlichen; in dem Kampf gegen diefe Mächte der Finfternig wollen wir
ausharren und uns die Verheißung aneignen: „die Pforten der Hölle jollen
und nicht überwältigen!” —
Mohammedanifhe Fürſten der Neuzeit
und die europäiſche Civilifation.
Don
Profeſſor Dr. H. Pambery in Peith.
—— —
l.
Unter den großen Umwandlungen, welche die geiftige Betvegung der Neu—
zeit im gegenjeitigen Verhältniffe zwijchen dem Orient und Occident hervor—
gerufen hat, ift nichts jo jehr in einer geradezu ganz umgekehrten Richtung her=
vorgetreten, al3 der alte Sat: „Ex Oriente lux.* Die Gelehrten und Schön-
geifter de3 Morgenlandes mögen ſich noch jo jehr dagegen fträuben: heute heißt
es: „Ex Oceidente lux,“ und da diejes Licht, diefe Sonne des Weſtens, welche
über den Orient nun aufgeht, zuerſt die allerhödhjften und dann die hohen
Spiten bejcheinen muß, um in den unterften Schichten Licht und Wärme ver-
breiten zu können, jo wird man es wol billigen, wenn wir uns nach diejen
Gipfelpuntten der moslimiſchen Gejellihaft umfehen und die mohammedanijchen
Majeftäten in jenem Lichte, richtiger gejagt, in jenem Scheine vorftellen wollen,
welchen fie von dem noch allerdings Schwachen Strahlentrany einer aufgehenden
Sonne erhalten haben.
Wenn ich nun jagen werde, dab dieje leibhaften „Gottesſchatten auf
der Erde“, wie die Monarchen des Islams fich zu nennen pflegen, bejchienen
und doch nicht erleuchtet, beftrahlt und doch nicht erhellt worden find, jo habe
ih mit Hinblick auf die noch lebhafte Erinnerung an die Europareifen des
türliſchen Kaiſers und des perfiichen Königs wol leine große Neuigkeit gejagt.
Dieſes ift jedenfall eine traurige Wahrnehmung; denn der Morgenländer ift
noch gewohnt, das Sprichwort: „Das Volt befolgt den Glauben feiner Fürften“
durchaus buchftäblich zu nehmen. Der Fürſt, in den meiften Fällen göttliche und
weltliche Autorität, ift die Leuchte des frommen Lebenswandels, die Richtſchnur
im weltlichen Umgange, da3 Mtodebild in Bezug auf die Kleidung und der
Tonangeber in Geſchmacksſachen. Die Rolle, welche den mohammedanijchen
Fürſten der Neuzeit ala Givilifatoren ihrer Völker zugefallen, ift daher feine
geringe; fie wird auch für die nächfte Zukunft, ja noch lange von hoher Wichtig-
feit bleiben, und ift es nicht um jo mehr betrübend, zu finden, daß im Spiegel
unferer bisherigen Erfahrungen kein einziger Fürft der modernen Islamwelt als
438 Deutſche Rundichau.
würdiges Mufter feiner Unterthanen fi) darftellt? Abgejehen davon, daß bie
im höchften irdiſchen Glücke Geborenen eine zu außergewöhnlichen civilijatorifchen
Milfionen nöthige Befähigung nur jelten mitbringen, eine jolde wol noch
feltener entfalten können, wird der Beobachter der IUmgeftaltungsperiode des uns
nahe gelegenen Oſtens jofort bemerken müſſen, daß e3 den hervorragenden mos—
limiſchen Botentaten der Neuzeit vielleicht nicht jo jehr an Naturanlagen, als
an fejtem Willen, würdigem Ernfte und aufrichtiger Begeifterung gebrad).
Im moslimiſchen Afien gibt e3 zwei Staaten von politiicher Bedeutung.
Beide find Kolofje mit hohlem Körper, beide altersſchwache, zahn- und mähnen-
loje Löwen; aber demungeachtet find beide noch immer die Repräjentanten ber
zwei Hauptfractionen der moslimiſchen Gejellihaft oder Welt, wie man es
nehmen will. Das ottomanijhe Türkenthum, der Erbe jener Länder,
welche der zuletzt ganz zitternden Hand des Chalifates durch turaniſche Horden
entriffen wurden, ftellt den, oder richtiger gejagt fteht dem, wejtlichen Islam vor,
während das iranijche Element, troß der ethnijchen und religiöfen Verſchieden—
heit, von jeher der Hauptfactor im jocialen Leben des öftlihen Islam war
und e3 noch heute ift. Wir haben demzufolge nur von Sultanen und Schahen zu
ſprechen, wenn wir die Spiben jener beiden Fractionen berühren wollen. Zur Zeit,
al3 der Geift des Abendlandes, getragen theil3 von dem weithin rollenden Donner
der Kriegsgeſchütze, theils aber auch von dem mit dem Delziweig gefrönten Boten der
Wiſſenſchaft und des Handels, im nahen Weften und im fernen Often der alten
Welt häufiger und mit größerem Selbftbewußtjein auftrat: da herrſchten eben
in den benannten Theilen der Islamwelt zwei ſolche Männer, deren Indivi—
dualität und Charakter, nationale und religiöfe Auffaffung von einander ſich
bedeutend unterjchied, von denen ein jeder eben dafjelbe entbehrte, was bei dem
andern in Fülle war, daher fie al3 Einzelne nur Mittelmäßigkeiten blieben,
während, mit einander verihmolzen, aus ihnen eine Macht von wahrhaft welt»
geichichtlicher Bedeutung hätte erwachlen fünnen. Der eine war der Kadſchare
Feth-Ali Schah, der andere der Dsmanide Sultan Mahmud II. Schon
aus ihrer perjönlihen Erjcheinung trat ein frappanter Gegenjag zum Vorſchein.
Teth- Ali Schah war von Ihmächtiger, hagerer Geftalt, mit langen Armen,
langen Gefichtszügen und dem längften Barte im ganzen iraniſchen Reiche, auf
ben er auch außerordentlich ſtolz war, und da es jeiner Eitelkeit bejonders
jchmeichelte, wenn der Juwelenſchmuck des Gürtel durch die Endipiten des
Bartes glikerte, jo mußte jeder wohlerzogene Jranier von ftärkerem Haarwuchſe,
um der Majeftät nicht ähnlich zu jein, den Gürtel etwas tiefer tragen. Sul—
tan Mahmud dagegen war von unterjeßtem Wuchje, eine breite, knochige Figur,
mit breiten, platten Gefichtszügen und mit ſchwarzen, bisweilen wild vollenden
Augen. Sein heute auf dem Throne figender Sohn fieht ihm ungefähr ähnlich, wie
der Prinz Napoleon jeinem großen Obeim. Bon ethnographijchen Standpuntte kann
daher der Schah ala wahres Prototyp der iraniſchen Race, der Sultan als echter
Türke von Schrot und Korn angejehen werden. Dod) auch in diefer Annahme
liegt eine Täufchung, denn die Kadſcharen find Türken, ja jogar Turkomanen von
Urfprung, und in den Adern der Osmaniden rollt eine Miihung zahlreicher
Elemente, von Griechen, Slaven, Abchafen, Addigis Lesghiern, Georgiern u. ſ. w.,
Mohammedanifche Fürften der Neuzeit und die europäiſche Givilifation, 439
folglich Alles, nur nicht Turanier. Auch in den hervorragenden Zügen ihrer
Charaktere waren die beiden Herrſcher grundverichieden von einander. Feth-Ali
Schah war eitel bis zum Uebermaß, und joll z. B. unter Anderm verlangt
haben, daß jelbft bei den Ruftemen, die in Perfien als grotesfe Malerei über
Bädern und Fleiſcherbuden prangen, fein Antlib abgebildet werde. Was er auf
feine Rubine und Diamanten hielt, davon haben uns die Generäle Gardanne
und Malcolm und die Diplomaten Jaubert und Oufeley nicht genug erzählen
können; aber der Schah war nicht nur auf feine Perfon, feinen Bart und feine
Schätze, jondern auch auf fein Bolt nicht wenig eingebildet. Der iraniſche
Nationalftolz, nad dem Sturz der Sefiden tief in den Staub gedrüdt, fing
unter ihm wieder an, ſich emporzurichten, und als einft ein Lobredner auf
Grund hiftorifher Forſchungen nachweiſen wollte, daß „Naupliun“ (Na—
poleon I., den die Perjer jehr betvundern) in irgend einer Seitenverwandtichaft
zu den alten Helden Irans ftehe, joll der Schah ausgerufen haben: „Das ift
nicht möglih, Naupliun ift ein tüchtiger Mann, aber der Ehre des ranier-
thums kann er nicht theilhaftig werden, denn es fehlt ihn der — Bart.”
Mit diefem Hang nah Prunk und Schmud vereinigte der Schah aud) ein
bedeutendes Maß von Schwärmerei, von Liebe zur Poefie, zur Muſik und von
Zärtlichkeit für das jchöne Geſchlecht, von welch' letzterem er mehrere Hunderte
feine „Sigah“ und „Nikiah“ (d. h. proviforiich und permanent getraute
Frauen) nannte, wie er denn auch in Folge feiner zahlreichen Nachkommenſchaft
ſich den Ehrentitel „Adam IL” erwarb. Daß ein ſolcher Fürft feinen Wider:
fpruch duldete, ift begreiflih. Selbft ala Poet erften Ranges wollte er gelten,
und als einft der kunſtbefliſſene Hofdichter an einem Gazel des Schah allzu=
ftrenge Kritik übte, da gerieth Feth-Ali in Zorn und rief: „Hinaus mit ihm
in den Stall, an die Eſelskrippe; bindet ihn an, Stroh und Gerfte gebt ihm
zu freffen.” Der Laureatus wandelte in der That zu den Langohrigen. Nach
einiger Zeit wurde er wieder in Gnaden eingeſetzt, doch als der Schah nım
abermals die neuejten Ergüffe feiner Mufe vorlad, da jprang der gute Poet
plöglich von feinem Site auf und lief von dannen. — „Wohin eilt er?“
forichte der König. „In den Stall, Majeftät, bevor Du mic) jelber dahin
ſchickſt!“ war die Antwort. Alles in Allem genommen, war Feth-Ali Schah
ein harmlofer, gutmüthiger Mann, ein Kind mit langem Barte, und ala folches
wanktelmüthig, unihlüffig und jorglos, denn er hatte ſich nicht mit Unrecht ein-
gebildet, dab die eiferne Hand feines tyranniichen Onkels und Begründers der
Kadicharen » Dynaftie, der den Neffen Zeit feines Lebens verhätſchelt, auch nad)
dem Tode noch eine ſchützende Macht für ihn jet.
Sultan Mahmud, der im Gegentheil ſchon früh den Kelch der Leiden leeren
mußte, deſſen Lenzjahre hinter dem Gitter des Haremgefängniffes nur von far-
gen Hoffnungsftrahlen bejchienen wurden, brachte eine ftarfe Zugabe von Schwer-
muth und Düfterfeit mit auf den Thron. Principiell böswillig könnte man
den Vater der lebten zwei türkifchen Kaifer nicht nennen; doch vor den Augen
dieſes Mannes jchwebten jelbft auf dem Purpurfite alle möglichen Schred-
geipenfter. Drohende Würgeengel in der Geftalt herzlofer Eunuchen, da3 frene-
che Mordgeichrei zügellofer Janitiharenhorden und das unaufhörliche Gemurr
440 Deutiche Rundichau.
unzufriedener Ulemas find in der That nichts weniger als beruhigend für die
Nerven. Daher feine jo häufigen choleriſchen Anfälle, ja man könnte jagen
Wuthparorismen und deren tragifche Folgen, von denen fein treuer Diener, kein
alter Günftling, ja nicht einmal fein eigenes Kind geſchützt war; denn während
eine3 derartigen Ausbruchs hatte er feinen Sohn und Thronfolger Abdul-Mted-
ſchid in den Gartenteich geworfen, aus welchem ex nur durch die aufopfernde
Hand des Deutichen Veſter, des damaligen Hofgärtners, gerettet wurde. Selten
erftrahlte das ſchwarze Auge des Großheren in Fröhlichkeit; dann gab es frei-
lich auch recht derbe Exceſſe. Sein Hofnarr hat und einen ganzen Band jener
drolligen Späße und gewagten Scherze hinterlaffen, die für die derbe Natırr,
aber nicht Bosheit de3 Sultans Zeugniß ablegen. So fiel e8 einmal dem Sul:
tan ein, daß der Chef des Haufes, deſſen Gaftfreundichaft ich jahrelang genoß,
ein hoher Wirrdenträger, deſſen guter Styl und feine Bildung eben jo berühmt
waren, al3 jeine Furcht vor Waffen, die große Ramazan- Kanone im Parke zu
Topchane, welche den Rechtgläubigen der Siebenhügelftadt den Schluß des
Faſtens verkündet, abfeuern jolle. Der arme R...., erihöpft durch das lange
Faſten, zitterte wie Espenlaub, als man ihm die brennende Lunte in die Hand
gab, und al3 das Dröhnen des Geſchützes ihn in Ohnmacht zu Boden warf,
da lachte der Padiichah jo Herzlich, daß er lange nachher fich die Thränen aus
den Augen wiſchen mußte. War das Wejen Sultan Mahmud’3 wol derber und
ungejchliffener, als das feines iranischen Fürſtenbruders, jo kann ihm anderer-
jeit3 das Lob einer größern Energie und zähern Willenskraft nicht vorenthalten
werden. Während jeiner ganzen Regierungszeit jagten die ſchwärzeſten Unglüds-
wolfen über den Horizont des ottomanijchen Kaiſerreiches, eine Kataftrophe
folgte jchnell auf die andere, und der Autofrat, defjen Minifter feine Nathgeber,
fondern nur zitternde Diener waren, war Manns genug, um auszuharren ımd
allen Widermwärtigfeiten kühn die Stirn zu bieten. Auch fein Gerechtigkeits—
finn, natürlich jo weit diefer orientaliihen Despoten eigen fein kann, war ein
viel fefterer. Zu jeiner Zeit waren die Fürſten des Orients noch nicht jo Weit
europäifirt, um der alten Sitte der ncognitofahrten nicht zu huldigen, und
von den zahlreichen jeiner diesbezüglichen Abenteuer jei nur folgendes er—
wähnt. In Stambul herrichte ein außergewöhnlich ftrenger Winter und zu-
gleih Mangel an Kohlen. Die alten Weiber, diefe Volkstribunen der moham-
medaniichen Gejellichaft, durchzogen, von Froſt geichüttelt, die Straße und
ftießen bittere Klagen gegen die Tyrannei der Kohlenhändler aus, die das über:
aus theure Brennmaterial noch dazu auf faljcher Wage verkauften, Der be:
rühmtefte unter den letztern war einer im Stadtviertel von Vlanga, und vor
deifen Thür erichienen eines Morgens zivei ärmlich gefleidete, auf Stäben fid)
ftügende, alte Weiber, um einige Okkas Kohlen zu kaufen. „Didanym Kömürd-
ſchi (Lieber Kohlenhändler)! Ich bitte Dich, lege den rechten Stein auf die
Mage,” jagte eine der Matronen, „Allah wird Did dafür ſchon jenjeitö be:
lohnen.” — Der Krämer murrte leife in den Bart, erhob fi) don der Seite
des wohlgenährten Mangals (Kohlenbeden), und als ex zurücklehrend den Weis
bern das Geld abnahm und die Bündel einhändigte, bemerkte die ältere der
leteren:
Mohammedaniiche Fürſten der Neuzeit und bie europätiche Givilifation. 441
„Kömürdihil Du jcheinft Dich geirrt zu haben, das Bündel dünkt mir
zu leicht.“
Der Kohlenhändler machte eine ſpöttiſche Bemerkung und ſetzte fich wieder.
„Kömürrdſchi! das Bündel ift zu leicht, ſage ich Dir,“ bemerkte nochmals
die Matrone.
Der Mann jchwieg.
„Kömürrrdihi! das Bündel ift zu leicht, jage ih Dir zum lebten Male.“
„Knurre nicht jo viel, Du alte Kate,“ jagte der Kohlenhändler unwillig.
„Kömürrrrrerdichi!” rief num das Weib vor Wuth mit den Zähnen Enir-
ihend. In einem Nu fiel aber auch der ſchmutzige Schleier von dem Angeficht,
und Sultan Mahmud jammt Begleiter ftanden dem Kohlenhändler gegen-
über! Was nun folgte, ift bald erzählt. Zuerft wurde das Kohlenbündel ges
wogen, und al3 e3 wirklich zu leicht befunden, an dem Eiſenhaken der faljchen
Wage der Verkäufer ſofort erhängt.
Nicht minder verſchieden war aber auch die Erziehung, welche genannten
Fürſten in ihrer Jugend zu Theil geworden; denn der Zeitgeijt in beiden Län-
dern, wenngleich bier jowol als dort in einer gewaltigen Gährung begriffen,
hatte dennoch weſentlich verjchiedene Rejultate zur Folge gehabt. ran erlebte
die Epoche einer neuen Dynaftiengründung. Die Kadſcharen feierten ihren Sieg
auf den Trümmern der Sefiden-, Afſcharen- und Zendenmacht, und wenn aud)
das gebildete iranijche Element von diejer Freier fich fern hielt (denn das Türfen-
thum war Schiiten und Perjern von jeher verhaßt), jo erftrahlte dennoch die
nächſte Umgebung des wilden Kadſcharenhäuptlings vom Glanze einer jedenfalls
überſchätzten Zufunftsgröße. Der Brennpunkt diejes Glanzes war jelbftverftänd-
lich der junge Yeth- Ali Mirza, der von feinem Oheim jchon früh beftimmte
Nachfolger, und als ſolcher erhielt er auch die ftandes- und zeitgemäße Erziehung.
Auf ritterlihe Uebungen, auf Gewandtheit im Schießen und Reiten warb die
größte Sorgfalt verwendet. Die Geiftesbildung ſchritt nur langjam vorwärts.
Don der außeriranifhen Welt hatte er nur dunfle und verworrene Begriffe;
fein Wunder daher, wenn in der erften Zeit nad jeiner Thronbefteigung die
Spiben feiner Dſchikka (Diamantenreiter) vom Winde des Eigendünkels jehr
hoc) getragen wurden. Feth-Ali Schah dünkte fi anfangs ein Alerander an
Größe, ein Napoleon; mit Männern wie Timur und Nadir wollte er gar
nicht verglichen jein. Aus diefen Träumereien wurde er natürlich durch ruſ—
ſiſche Bajonnette unter Leitung Paskiewitſch's gar bald und nur allzu unjanft
gewedt. Der Verluft einer kaukaſiſchen Provinz, welche die jchönften rund»
wangigen Mädchen und den feurigen Kachitwein geliefert, hätte ſelbſt den
größten Schwärmer zur Befinnung bringen müſſen. Doc da3 Naturell des
Verſerkönigs war nicht darnach angethan. Für die Ihmählichen Niederlagen
feiner Armee fand er Revanche in den für eine jeltene Auszeichnung angejehenen
Milfionen Englands und Frankreichs. Kamen doch Männer von hohem Range
aus Hunderte von Meilen weit entfernten Ländern an jeinen Hof, die feiner
Juwelenpracht, feinem Barte und feinem Waffenſchmucke das größte Lob jpen-
beten und unter feinen Höflingen Geld umberftreuten. Die iraniſch-moslimiſche
Givilifation, die fich jelbft Heute noch weigert, der abendländijchen Eultur den
442 Deutſche Rundſchau.
Vorrang einzuräumen, war damals ſelbſt zur Anſtellung von Vergleichen nicht
zu bewegen. Der Europäer galt für Das, was uns etwa der Chineſe gegen
Ende des vergangenen Jahrhunderts gegolten, d. h. er wurde angegafft, vielleicht
auch bewundert, aber nicht verſtanden, daher auch nicht gewürdigt. Wenn da—
her Feth-Ali Schah auf Anrathen der Generäle Gardanne und Malcolm ſeiner
Armee einen europäiſchen Zuſchnitt zu verleihen gedachte, und bald engliſche,
bald franzöſiſche „Instructeurs militairs“ in Sold nahm, jo darf dies noch
lange nicht ala ein Einlenten in die Bahn der weſtlichen Welt betrachtet wer—
den. Es war vielmehr das Gegentheil; denn man hoffte, in den Beſitz eines
materiellen Bortheiles zu gelangen, um einen ſolchen dann al3 Waffe und Stütze
der altafiatiiden Weltanſchauung gebrauchen zu können. Von der Tragweite
einer focialen Umgeftaltung und eines mächtigen Geiftestampfes, den die aſiatiſch—
mo3limijche Welt durchmachen muß, falls fie fich modernifiren will, hat man in
Perfien jelbft heute exft einen Ichtvachen, hatte man damals aber noch gar feinen
Begriff. Auf Abbas Mirza, den ziemlich talentvollen Sohn des Schah, hatten
engliſche Dfficiere einen anregenden Einfluß ausgeübt; und wäre er nicht zu
früh geftorben, wer weiß, wie die Geſchicke Irans unter ſeiner Leitung ſich ge=
ftaltet hätten. Doch der Vater, jeine Umgebung, ja ganz Perfien blieben durch
und durch aſiatiſch, und nichts ift ergöglicher, ala die Bemerkungen des eitlen
Schah zu den Schilderungen, welche einige Gefandte ihm von den europäiſchen
Anftitutionen gaben. Der Conftitutionalismus war in feinen Augen das größt-
erdenkliche Räthjel der Welt. Als ihm Malcolm das Verhältniß des engliſchen
Parlament zur Krone in kurzen Umrifjen dargelegt hatte, ſoll der Perſerkönig
bemerkt haben: „Alſo Gejege und Verordnungen erlaffen die Gewählten des Vol—
fe3, die der König ſodann zu beftätigen hat, folglich muß er ihnen gehorden.
Auch der Yahresgehalt des Herrſcherhauſes wird nad) Luft und Willen des Volkes
feftgefeßt, aljo er erhält einen Lohn, und nicht Andere werden von ihm bezahlt.
Jetzt Frage ih Dich, lieber Melkum (Malcolm), wa3 für ein Vergnügen ift ein
ſolches Königthum? Fürwahr, ich würde nicht mit Deinem Herrn taufchen.”
Zur Annahme abendländiicher Gebräuche und Kleidung wagte man während
feiner Regierung faum den Anfang zu machen, und jogar der fränkiſche Ge-
jandte, den die Legende bei der Märtyrerjcene Hufein’s in der Wüfte von Ser:
bela weinen läßt, um zu beweifen, daß die Schandthat ezid’3 jelbjt einen
Chriſten gerührt hat, dieſer Frengi trat in den damaligen Paſſionsſpielen noch
immer im alten Goftüme der Portugiefen und Holländer auf. Doch wie wäre
dies ander? möglich gewejen? Wo war damals noch der Schienenftrang, diejes
mächtige Zauberband der neuen Welt, wo der jchrille Ton des Dampfers, dejien
mahnender Ruf erſt Jahrzehnte fpäter an der Hüfte des perfiichen Golfes und
in den Urwäldern Gilans und Mazendrans zu widerhallen begann?
Mit den Yugenderfahrungen Sultan Mahmud’3 hatte es natürlih jchon
ein ganz anderes Bewandtniß. Seine literarifche Erziehung war twol nicht viel
beſſer, vielleicht jogar geringer, al3 die Feth-Ali Schah's, da die höhere Gejell-
ihaft Irans von jeher in orientalifcher Bildung den Osmanen bedeutend über-
legen war. Die Zeit war vorüber, da osmanijche Prinzen nicht nur mit dem
Schwerte, jondern aud mit der Feder alänıen wollten. Tie in Haremskreiſen
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Mohammebdanifche Fürften der Neuzeit und die europäifche Givilifation. 443
der Verweichlichung und dem Blödfinne entgegengeführten Herrſcherſöhne der
neuern Generation hatten feine Ahnung davon, daß ein Selim L, diejer aller-
wildefte Krieger auf dem Wahlplate von Thſchaldirim, begeifternde Gedichte,
wie jene mit dem Anfangsverfe:
„Chuni Husein mitalebem ja Ali!“
(Hufein’3 Blut will ih rächen, o Alt!)
geichrieben Hatte, und jo wie viele feiner Vorgänger, jo hatte au Sultan
Mahmud nur dur einen zumeift von launijchen Weibern und ungebildeten
Eunuchen begünftigten Chodiha den landesüblichen Unterriht im Arabijchen
und Perfiichen, in Logik und Rhetorik, in Koraneregefi3 und jonftigen moham-
medaniichen Wiſſenſchaften in der oberflächlichſten Weije erhalten. Das heute
am Bosporus jo jehr begünftigte Studium der franzöfiichen Sprache wäre in
den erſten Decennien diejes Jahrhundert? noch geradezu für eine Sünde be-
trachtet worden. Alſo baar einer guten orientaliichen Bildung — denn nur in
den jpätern Jahren joll er ſich die mit Recht bewunderte ftyliftiiche Fertigkeit
angeeignet haben — hatte der Sultan doch viel mehr Kenntniffe und Er—
fahrungen Hinfichtlich der Vorgänge im MWeften, als fein perfiicher Zeitgenoffe.
Die türkiſche Hauptjtadt, ja jämmtliche Provinzen des ottomanijchen Kaijer-
reiches, waren jchon im vergangenen Jahrhunderte von Europäern zahlreich be=
ſucht. Wir kannten bereit3 einigermaßen den nahen Oſten; der nahe Dften
aber kannte au) und. Durch Touriften, Kaufleute, Miffionäre und Abenteurer
drang in die höhere und niedere, ja in alle Schichten der Bevölkerung das bunt
geſchmückte Märchen von den mannigfachen Wundern des Abendlandes, und tie
hätte unter ſolchen Umſtänden das allerdings minder leicht zugängliche Serail
dagegen verichlofjen bleiben können? Der Zutritt war bier freilih nur
wenigen, durch Zufall Begünftigten geftattet. In den erften Regierungsjahren
Mahmud's II. treffen wir einige Armenier, die Europa beſucht und kennen ge—
lernt hatten, im vollen Vertrauen des Sultans an. Später var e8 ein Fran—
zoſe, Dr..... ‚ der mehrere Jahre hindurch faſt täglich im Palafte von Tſchira—
gan oder Beglerbeg erſchien, an deſſen Erzählungen der Sultan ein bejonderes
Vergnügen fand, und der natürlich in feiner, d. h. galliſcher Weife von den
Zuftänden des ertvachenden Europa’3 jprad. Wieder jpäter waren es diplo—
matiſche Notabilitäten, theil3 jeine eigenen, von europäiſchen Gejandtichaften
heimfehrenden Minifter, theils einige in Pera refidirende Repräfentanten des
MWeftens, die von dem Leben und Treiben Europa's Bericht erftatteten. Von
Rifaat Paſcha, Beim Efendi und Mehemmed Ali Paſcha, den erften türkiſchen
Geſandten in Paris und Wien, wurden zwei ftattlide Bände von Rapporten
an den Sultan abgeliefert, voll der Eleinften Details über AInftitutionen, Sitten
und Gebräuche der betreffenden Länder, mitunter auch von kritiichen Anmerkungen
begleitet, die, wie ſich leicht denken läßt, mehr zu Gunften der moslimijchen
Gejellichaft auäfielen. Wir müflen hier aud) Erwähnung thun der zahlreichen,
beredten und mächtig überzeugenden Boten unjerer erwachenden Jnduftrie und
unferer Wiſſenſchaft, die an's Goldene Horn gelangten, um zu beweijen, daß
Sultan Mahmud von Europa ſchon bedeutend mehr wußte, als fein öftlicher
Nahbar, und daß man daher hätte vermuthen jollen, die türkiſche Geſellſchaft
444 Deutiche Rundſchau.
würde ſich, von den oftwärt3 drängenden Wogen der europäijchen Weltbetvegung
aus dem Schlafe gewaltfam aufgerüttelt, wol eher haben ermannen fönnen, ala
die übrigen Moslimen im tieferen Ajien.
Und dennod war dies nicht der Fall, und hätte auch nicht der Fall jein
fönnen! Um beim Sultan zu beginnen, jo lag e8 auf der Hand, daß die ganze
reformatoriſche Bewegung jeiner langjährigen Regierungszeit eher dem dringen-
den Gebote einer unerbittlihen Nothivendigkeit, als der gründlichen Neberzeugung
von der Superiorität und Nüblichkeit der weltlichen Civilifation entiprungen
war. Sultan Mahmud war ein Hitkopf, dem e3 aber an ruhigen Momenten
und an Harer Einficht nicht mangelte. Er jah, wie dem großen Reiche feiner
Ahnen ein Stück nad) dem andern abgebrochen wurde; aber er jah aud), daß
der Kitt, welcher die einzelnen Theile des Staatsgebäudes ehedem zujammen-
hielt, jeine Kraft verloren, dat die Speere, welche ihm einft als Stüte gedient,
ſchon zufammenbradhen, und fo mußte er, wohl oder übel, zu anderen Mitteln
feine Zuflucht nehmen. Guropa, hieß e3, verdanfe feine Größe nur dem Auf—
ſchwunge auf dem Gebiete der Wiſſenſchaften und der Künfte, nur der freien
Entfaltung jeiner bürgerlichen Inftitutionen, mit einem Worte: der geregelten
Arbeit eine gefunden ftaatlihen und gejellihaftlihen Organismus. Nun müßte
man freilich der unverzeihlichiten Jlufion fich hingeben, um glauben zu wollen,
daß ein in den Principien der aſiatiſchen Despotie erwachſener Prinz die er-
wähnten Mittel der europäilchen Givilifation in einem anderen oder höheren
Lichte gejehen haben jollte, al3 etwa dem eines mwunderthätigen Elixirs. Als
folches führte er fie ein, und weil er ſich deren Einführung feft vorgenommen
hatte, jo mußten vor der Härte feiner Willenskraft alle entgegenftehenden Hinder-
nifje, der Hochmuth der Janitſcharen, religiöfe Scrupel und Borurtheile aller
Art, weichen. Wenn daher unjere europäifchen Kritiker, bei nicht genügender
Berückſichtigung der großen Differenz zwiichen der Ideenwelt des Oftens und
des Weſtens, fich die Mühe geben, in der Perfon Mahmud's II. einen Reformator
im Style Friedrich's IL, Joſef's IL. und Peter’3 I. zu exbliden, fo irren fie
jehr. Aus Mahmud I. hat nur die Noth einen Reformator gemacht, der,
wenn allerdings auch ungern, zu gehorchen er flug genug war. Und wie der
Fürft, jo auch jein Voll. Man muß die Schilderungen des gejellichaftlichen
Leben? aus der erſten Hälfte der Regierungszeit Sultan Mahmud’3 kennen,
man muß die zahlreichen, mitunter recht wißigen Spottgedichte gelejen haben,
mit welchen die Einführung des einen oder andern europäiſchen Kleidungsſtückes
befrittelt wurde, — nicht zu erwähnen, daß unter den Kritikern Günftlinge der
Dezire Nagib, Pertew und Chosrew Paſcha, folglich der eigenen Bollftreder
der großherrlichen Befehle, fich befanden, — dann erft wird man den großen
Zwang, den mit dem Sultan die ganze türkiſche Geſellſchaft ſich anthat, vollauf
würdigen können. Uesküdarly Rifaat Ejendi, ein dem Opium verfallener Schön-
geift jener Epoche, der in jeinen alten Tagen vom Chef des Haufes, in welchem
ich lebte, eine Penſion erhielt und dajelbft auch gern gejehen ward, hatte in
feinen hellen Stunden, die leider ſehr jelten waren, mir, hierauf bezüglich, die
ergöglichften Geſchichten erzählt. Die meiften diefer Anekdoten drehen ih um
den MWidertoillen, von welchem die Annahme gewiſſer Kleidungsftücde begleitet
Mohammedaniiche Fürſten der Neuzeit und die europäifche Eivilifation. 445
war. Das europätiche Beinkleid, jpöttiich „die Gabel” genannt, war als der
gerade Gegenja der kittelartigen, faltenreihen Pluderhofen die Zieljcheibe des
bäufigften Spottes. Diejem zunächſt fonnte man fih nur mit größter Mühe
daran gewöhnen, den bis zum Snöchel reichenden Kaftan und Dſchübbe gegen
den europäiſchen Waffenrod zu vertaufchen. Mit diefem langen, talarartigen
Kleide mußten viele Züge aus dem Sittengemälde der Türken und eine ganze
Phrafeologie aus der türkiſchen Sprache verſchwinden. Das anftandsvolle Nieder-
boden der Orientalen bedingt in erfter Reihe viel Bauch und Falten, um den
Unterkörper und die Beine, dieje partes odiosae im Auge des Morgenländers,
zu verhüllen, was mit dem Rockſchoße doc nicht wohl zu bewerfitelligen ift.
So ift eine devote Begrüßung nur dann erſt regelveht, wenn der Saum bes
Kleides, auf Dem Fuße anliegend, gefüßt wird, was bei dem nur bis zum
Knie reichenden Schoße wiederum nicht möglich ift. Ferner hieß ehedem ge—
mächlich einherſchreiten „etek sürtschmek* (dem Saum fchleppen), ſich
eilen und fputen „etek siwamak“ (den Saum aufſchürzen) u. j. w., Redens—
arten, die heute nur noch bildlich angewendet werden können, d. h. ihren ur—
iprünglichen Sinn ganz verloren haben. Aehnliche Anomalien entftanden durch
Veränderung der Kopfbekleidung, und wir dürfen uns daher nicht wundern, daß
Sultan Mahmud jelbjt in ein homeriiches Gelächter ausbrach, als er ſich zum
erften Mal in der europäiſchen Uniform im Spiegel erblidte, was natürlich
fi) immer erneuerte, ja jogar heftiger wurde, jo oft einer jeiner wohlbeleibten
MWürdenträger im proſaiſchen Anzuge des Weſtens fi ihm das erſte Mal
präjentirte.
Uns Europäern ift es faſt unbegreiflih, wie eine ganze Geſellſchaft auf
ſolch' triviale Dinge jo großes Gewicht legen kann; aber wir vergefjen unjere
eigenen, unter gewiſſen Umftänden noch prägnanter hervortretenden Schwächen ;
trivial find diefe Dinge nur dem Scheine nad. Eine Gejellichaft, deren In—
jtitutionen, Sitten und Gebräude nad den Gejegen der Natur als Producte
einer eigenthümlichen Beichaffenheit de3 Bodens und des Klima's erwachſen
find, kann nicht jo leicht diefen ihren alten, lieb gewordenen Gewohnheiten ent—
jagen, um dafür andere, noch obendrein unter fremdem Himmel und auf frems
dem Boden entjtandene, anzunehmen. Wir find ungerecht, wenn wir verlangen,
das alte, jchwerfällig gewordene Afien möge mit jugendlicher Behendigkeit aus
einer Ideenwelt in die andere hinüberipringen. „Non datur saltus in natura,‘
aber noch weniger in der Gultur! Der Zwang, den der Sultan und fein Volt
beim erften Schritte zur Annäherung an Europa fi) angethan, eriftirt jelbft
noch heute; doc daß er in gar vielen Stüden abgenommen hat, und daf die
Sceidewand des orientaliihen Separatismus, obwol leider noch immer vor»
handen, doch im Sinken begriffen ift: das darzuthun werden wir nunmehr ver-
fuchen. a
Wenn die erften drei Decennien diejes Jahrhunderts al3 der erfte Abſchnitt
in dem Umgeftaltungsprocefje de3 nahen moslimifchen Oſtens bezeichnet werben
fönnen, jo verdienen die auf denjelben folgenden weiteren dreißig oder vierzig
Jahre um jo mehr den Namen einer zweiten Periode im Uebergangsſtadium.
446 Deutſche Rundſchau.
Im Alterthum, ja in der Vergangenheit überhaupt, würde auch das ſchwächſte
Symptom der Umgeſtaltung kaum in einer zehnfach größeren Zeitdauer zum
Vorſchein gekommen ſein; aber unſere Tage ſind die des Dampfes und der
Elektricität, deren Kräften auch die alte Mutter Aſien nicht länger Widerſtand
zu leiften vermag. Umſonſt widerhallt aus dem mohammedaniſchen Oſten der
Sat: „Eilen iſt des Teufels Werk, Weilen iſt Gottes Werk,“ — der moderne
Weſten antwortet mit ſeinem Wahlſpruche: „Time is money!“
Die Repräfentanten diefer neuen Epodhe find: Mehemmed Shah und
Naſr-ed-din Schah in Perfien, Sultan Abdul Medihid und Sultan
Abdul Aziz in der Türkei. Der förperlih und geiftig kranke Mehemmed
Shah war allerdings ganz unſchuldig an jenen zeitweiligen Anläufen, die Iran
gegen die Bahn der modernen Givilifation hin gethan Hatte. Aus ihm jpradh
nur der Geift feines abenteuerlihen Vezirs und ehemaligen Lehrer? Hadſchi
Mirza Agafi, und feine kurze Regierungszeit kennzeichnet nur jener Umftand,
daß Perfien aus der erften unfanften Berührung Rußland die Einficht gewann,
iraniſcher Redeprunk und Dichterglanz ſammt allen Monumenten nationaler
Eigenart und Größe jeien Europa gegenüber doch nur höchſt unwirkſame Parade-
ſtücke. Es war das erfte Nippen vom Kelche der Bitterfeit, doch der Anfang
war gemadt. Der Schah jelbft, jahrelang ſchon am Rande des Grabes, hatte
fih mit Vorliebe theoſophiſchen Speculationen zugewendet. Während er, ver-
ſchiedene Religionen prüfend, zulegt zur Ueberzeugung gelangte: einem König
von ran gezieme nur der alte iranijche Nationalcultus des Zerthufcht (Zoroafter),
daher die Gebr3 fi auch feiner bejondern Protection erfreuten, ließ fein
Dezir Riefenfanonen und Wafferleitungsröhren gießen, von denen der perfiiche
Mit mit Net behauptete: „das Feuer der erftern jei dem Feinde ebenjotvenig
ſchädlich, als das Waſſer der Iehtern dem Freunde nützlich“. Unter der Regie-
rung Mehemmed Schah’3 gewann der Import europäiicher Fabrikate in Jran
eine immer größere Ausdehnung; man legte zuerſt Kleider an, die halb nad
perfiihem, halb nad) europäiſchem Mufter gemacht waren; einige Mirza's ver-
legten fi auf's Franzöfifchiprechen, und da man zu jener Zeit in der perſiſchen
Refidenz alle möglichen Saiten der „haute politique“ anzujchlagen gelernt, jo
hatten die oberften Spitzen der perfifchen Geſellſchaft Schon damals einen ſchwachen
Anftrih jener neuen Modebildung erhalten, die man dort zu Lande nad)
einer Verdrehung des franzöfiichen Wortes Givilifation „Selvafun“ nannte.
An diefem Allem aber, wir wiederholen e3, hatte Mehemmed Schah nicht die
geringfte Schuld. Es war der leife Hauch einer fremden Geiftesregung, der —
von Süden her durch einen häufigern Verkehr mit Angloindien, vom Nordweften
ber durch den Umgang mit Ruffen und Europäern — zu wehen begonnen Hatte;
dod) da der Same, ben er mitgebracht, auf einen fremden, gar nicht vorbereiteten
Boden gefallen, jo ift e8 nicht zu wundern, wenn er, troß der Gulturfähigteit
des allerdings genialen Perjervoltes, jelbft bis im die Neuzeit noch fo wenig
Früchte getragen.
Najr-ed-din Schah, der im Jünglingsalter feinem Vater auf dem
Throne gefolgt war, ift zu Allem, nur nicht zum NReformator, geboren; ja ſelbſt
die graufamfte Nothwendigkeit könnte ihn kaum zu einem ſolchen machen. Diejer
Mohammedaniiche Fürften der Neuzeit und bie europäifche Eivilifation, 447
jüngfte aſiatiſche Löwe der hohen europäifchen Geſellſchaft lebt noch zu jehr in der
allgemeinen Erinnerung, als daß e3 nothivendig wäre, ihn an dieſer Stelle zu
portraitiren. Dat man am Perjerkönig in Deutjchland jo wenig Gefallen fand,
daran ift nicht der Schah, ſondern Deutſchland ſchuld. Deutichland Hat die
größten Orientaliften der Welt. Was Europa von den Religionen, Sprachen
und Literaturen des alten Ajiens weiß, das verdankt es in erjter Reihe deutichen
Fleiße und deutſcher Wiſſenſchaft. Und doch ift andererjeit3 nicht zu leugnen,
daß die praftiiche Vertrautheit mit den Spraden und Sitten, mit dem Leben
und Treiben der modernen Moslimen in feinem Verhältniffe zu jener mit Recht
bewunderten theoretijchen Gelehrſamkeit fteht. So wie der perfiihe Dolmetſch
für den berliner Aufenthalt des Schah, aus St. Petersburg verjchrieben werden
mußte, ebenjo weiſt der umfangreiche Katalog deutſcher Drientalia nur eine
äußerft geringe Anzahl folder Werke auf, in welchen der Lebende Oft mit feiner
fo höchſt intereffanten Umgeftaltungsperiode die gebührende Beachtung findet.
Kein Wunder daher, wenn das größere Publicum und mit ihm auch die Your»
naliftit durch jene luft, welche Najr-ed-din Schah ala Menſchen und Fürſten
von dem Europäer und dem europäiichen Monarchen trennt, ſich enttäufcht jah.
Und doch gehört der heutige Perjerkönig zu den janfteften und gewifjermaßen
auch gebildetften und wohlwollendften Fürften des moslimijchen Afiens! Die
Acte tyranniſcher Willfür, von welchen jeine Regierung nicht freigejprochen
werden fann, find zumeift das Werk jeiner in Herzens- und Geiftesbildung ihm
weit nachftehenden Diener und Verwandten, zu deren blindem Werkzeug bie
dynaftifch- politiichen VBerhältniffe des Landes, noch mehr aber feine eigene
Charakterſchwäche ihn gemacht haben. Ich kenne auch feinen Monarchen im
heutigen moslimifchen Often, dem feine Umgebung jo gründlich verhaßt und
beifen Miktrauen zu den nächſten Verwandten jo gerechtfertigt wäre, wie dies
bei Naſr-ed-din Schah der Fall ift. Hieraus läßt fi auch feine faſt an
Mifanthropie grenzende Zurücdgezogenheit erklären, denn der Schah verbringt
gute zwei Drittel des Jahres auf einfamen Jagdausflügen, und nur mit Wider-
willen folgt er dem Rufe dringender Staatsangelegenheiten in die Hauptftadt.
Nur ein, allerdings gefährlicher Charakterzug bezeichnet die ganze bisherige Lauf:
bahn diejes Fürſten. Es ift die große Wankelmüthigkeit, an welcher auch die
verjchiedenen zeitweiligen Anläufe, die Bahn der europätichen Givilijation zu
beichreiten, allemal geicheitert find. Schon als Thronfolger Hatte ein häufiger
Verkehr mit Europäern in Täbris, wo er Statthalter war, ihn mit den Vor—
zügen ber europäijchen Givilifation befannt gemacht, und da jelbft jeine Thron
befteigung nur durch europäijche Geldmittel zu Stande kam, jo ift e8 erklärlich,
daß er ſchon früh zu Givilifationserperimenten neigte. Die Triebfeder des
erften Verfuhs war Meltum Chan, der jetige perfiiche Gefandte in London,
damals jelbft noch ein junger Mann, aber von eminenten Geiftesgaben, der,
eben von einem längeren Aufenthalte aus dem Weften heimgefehrt, durch wunder-
liche Berichte aus dem „Fyrengiland“ da3 Gemüth des jugendlichen Fürſten zu
gewinnen verftand. Doc die Jugend bleibt fich überall gleih. Ob im Morgen-
oder im Abendlande, fie zieht überall das Außerordentliche dem zunächſt Ge-
botenen vor, und jo fam es, dab der Anfang in den Neuerungen nicht mit
448 Deutiche Rundſchau.
Verbeflerungen in der Adminiftration, in Hebung des Aderbaues, des Handels
und ber Induſtrie, jondern mit der Gründung einer — Freimaurer-Loge
gemacht wurde! Der Schah, gar leicht zur Annahme des Schurzes beivogen,
hatte anfangs eine Findijche Freude daran, wenn er mit „Bruder Maurer“
angeſprochen wurde, er, der fonft der „Wendepunkt de3 MWeltall3”, der „König
aller Könige“ hieß, in deſſen Gegenwart der unterthänige Höfling die Augen
nieberjenft oder mit den Händen bededt, um vom Strahlenglanze der Majeftät
nicht geblendet zu werden! Natürlich konnte diejes Alles nur von kurzer Dauer
fein; die Priefterclaffe jorgte. ſchon dafür. Naſr-ed-din Schah erſchrak, warf
die Schürze weg, und jchleuderte mit ihr Freimaurerthum, Bruderſchaft, Re—
formen, europäiiche Givilifation jammt Melkum Chan weit in die Ferne hinaus.
Auf diefen erften, mißglückten Anlauf folgte nach) einigen Jahren der zweite zur
Modernifirung Perfiend, und ziwar in einer ganz bejonnenen Weije, da Rath
und That von Emiri Kebir, dem in der That „großen Vezir“, ausging, und
der Schah blos feine Einwilligung zu geben hatte; doch kaum befand fich die
große Staat3mafchine im Geleiſe eines Fortſchrittes, al3 der willenloje, ſchwache
Nafr-ed-din, von den Intriguen der Gegenpartei gereizt, den oberften Leiter vom
Magen ftieß und dem Tode überlieferte. Nun trat wieder ein mehrjähriger
Stillftand ein. Der von tiefer Reue gequälte junge Schah wich noch mehr
feiner Umgebung und mit ihr den Staatsgefchäften aus, bi3 er endlich in der
allerjüngften Bergangenheit von der Wucht der Lethargie fich wieder erhob,
und zwar mit Hülfe de3 klugen und europäijch gebildeten Mirza Hufein
Chan und des nad) einer fünfzehnjährigen Verbannung wieder begnadigten
Melkum Chan.
Welche Erfolge von dem allerneueften Erperimente zu erwarten find, wird
der Lejer nad) dem Borhergefagten ſich vorftellen fünnen. Dort, wo der Fürſt,
der leitende Geift jeines Volkes, als Kind zur Regierung gelangt, al3 Kind
ganze Decennien auf dem Throne verweilt, und wahrſcheinlich aud) ala Kind
den lebten Weg zu feinen Vätern nad Kum oder Kerbela antreten wird, dort
kann von ernten, anhaltenden und gedeihlichen Reformen ſchwerlich die Rede
fein. Für Iran ift diefer Zuftand um jo mehr bedauerlich, al3 das Volk auf-
geweckt, energiſch und culturfähig ift, und man feinem Fürften einen gewiſſen
Grad von Wohlwollen, Berftändigkeit und Bildung nicht abſprechen kann.
Naſr-ed-din Schah ift in der Geihichte und Literatur feines Landes ziemlich
bewandert, ja e3 ift befannt, daß von allen Zobeserhebungen er für diejenigen
am empfänglichften ift, welche feinen Gedichten, die er Morgens vor dem Früh—
ſtücke den Höflingen vorzulejen pflegt, gezollt werden. Jedenfalls hat er noch
vor jeiner Reife von den politifchen und jocialen Verhältniffen Europa’3 mehr
gewußt, ala mancher europäifche Fürſt von den Ländern Aſiens weiß, und
Geographie ift bekanntermaßen noch heute jein Lieblingsftudium. Einige Bes
merfungen, die er in Wien in einer Converjation über die Bor- und Nachtheile
der aſiatiſchen und perfiichen Eultur fallen ließ, würben mehr ala Einen frappirt
haben. Doch was nützt Geift und Verſtändniß ohne Willenskraft und Cha—
rakterfeftigkeit, in einem Lande, wo die Heilung Jahrtauſend alter Gebrechen
Mohammedaniiche Fürſten der Neuzeit und bie europäiſche Eivilifation, 449
jelbft einem Manne von eifernem Willen, nie erjchlaffender Thatkraft und
zähefter Ausdauer jo unendlich viel zu jchaffen geben würde?
Rollen wir nun da3 Bild etwas weiter gegen Weften auf, jo wird ein in
mancher Hinfiht noch mehr betrübender Anblid unjerem Auge fich darbieten.
Ein Staat, wie der türkijche, der ſchon längft auf morjchen, wurmftichigen
Pfeilern ruhte, eine Geſellſchaft, wie die osmaniſche, jollte im Sturmlaufe
zwed- und finnlojer Reformen der Regeneration entgegengeführt werden, und
noch dazu unter der Regierung eines Sultan Abdul Medihid, eines Fürſten,
deſſen Tugenden für die Türkei viel verhängnißvoller waren, als alle die Lafter
feiner Vorgänger! Wo märe auch Abdul Medſchid mit feinem jchüchternen,
zaghaften und weichen Charakter dem Rieſenwerke eines Reformators gewachſen
in unjerem Jahrhunderte, in einem Lande, das in Folge der unmittelbaren Nähe
von Europa den Brandungen des wildbewegten abendländiichen Geifteslebens
am meijten ausgejeßt war? ch will zugeben: diejer ältefte Sohn Mahmud's II.
war einer der janfteften, ruhigſten und fügjamften Menſchen der Welt. Hatte
er doch jelbft ald Autofrat und Großherr einen gewifjen Grad von Furcht vor
Allen, die mit irgend einem wenngleich noch jo unterthänig vorgebrachten Rathe
fi ihm näherten. Eine Zeit lang waren Reihid, Fuad und Aali dem Namen
nad) jeine Vezire, in der That aber feine Bormunde; ja jogar der alte Strat-
ford Ganning, der noh am Hofe Mahmud’3 II. accreditirt war, wurde von
Abdul Medihid als „Baba“ angeredet und demgemäß in größter Achtung ge=
halten. Für die Verfeinerung der Sitten ſchon in Folge jeines zarten Naturells
noch ala Thronfolger eingenommen, hatte Abdul Medihid nad feiner Thron-
beteigung, ja bis zu feinem Tode e3 nie unterlaffen, gegen Alles, was an kaba
türklük = (cohes Türkenthum) erinnerte, einen ungeheuchelten Abjcheu zu
manifeftiren, und je mehr einer der mit ihm in Berührung fommenden Wür—
denträger den Poftulaten des „A la franca“ entſprach, defto beliebter wurde er
in feinen Augen. Unter ſolchen Umftänden wird e8 wol Niemand überrajchen,
ben Sultan jelbjt ala Mufterbild der neuen Mode, als Haupt-Dandy, dargeftellt
zu jehen. Ob auf dem Ritt zur Mofchee oder bei einem Beſuche im Bazar,
ob bei feierlihen Audienzen oder militäriſchen Nevuen, überall erſchien er
ä quatre epingles und überall wollte er ala der Faſhionablſte gelten. In den
bei den erften Parijer Schneidern angefertigten Kleidern machte die hagere,
ſchwache und müde ausfehende Geftalt des Sultans nie die angeftrebte ſtramme,
militärifche Figur, denn troß Waffenrock und Strippenbeinkleid erinnerte jein
bis zur Schläfrigkeit janfter Blick und äußerft gelafjenes Aufheben der Arme an
Nichts weniger, al an einen Großtürfen oder Sultan. Der Nachfolger jener
Fürſten, die einft halb Afien und Europa in Schreden jegten und die St. Paulskirche
in Rom in einen Pferdeftall umzuwandeln drobten, legte ein beſonderes Gewicht
darauf, die Gigarrentafhe dem ihm bei einer großen Feſtlichkeit 1857 gegen—
überftehenden Gejandten einer europäiihen Großmacht nad) den Regeln der
vollften Etiquette präjentiren zu können. Jede Bewegung des Körpers, nament-
lid) der Hand, an welcher die jchneeweißen Tricothandſchuhe faſt nie fehlten,
war jorgfältig einftudirt, der Sultan wollte in Allem umd überall das Prototyp
eines feingebildeten, eleganten europätichen Ariftofraten darftellen, und jo jehr
Seutie Rundſchau. I, 12. 29
450 Deutiche Rundſchau.
gefiel ihm der Begriff des frangöfifchen Wortes bon goüt, daß er dafjelbe in
Ermangelung einer pafjenden Verdolmetſchung jelbft in der türkiſchen Conver-
fation gebrauchte.
Doch der Schein trügt, beſonders im Orient, in ber eigentlichen
Heimath des Scheine und der BVerftellung, und man wird demzufolge nicht
leicht auf einen größern Gontraft ftoßen, al3 jener war, in welchem das euro-
päiſche Aeußere des Sultans mit feinem Innern ſich befand. Abdul Medſchid
hatte eine nur höchft oberflädhliche, orientaliihe Bildung genofjen, nicht etiwa
aus Widerwillen, jondern aus BVerhätichelung, denn die Mutter und der große
Troß don Tanten wollten e3 nie zugeben, daß der kränkliche Jüngling zum
Lernen angehalten werde. Nach feiner Thronbefteigung gab ex fich wol Mühe,
das Verſäumte nachzuholen, do gelang ihm dies eben jo wenig, al3 all’ die
Anftrengungen, die er zum Erlernen der franzöfiihen Sprache gemacht hatte,
zu befriedigenden Rejultaten führten. Der Sultan vermochte wol einige nur
kurze Sätze zufammenzubringen, allein jelbft hier begegnete ihm häufig das
Unglül, daß er an franzöſiſche Hauptwörter türkiſche Suffire oder umgekehrt
anhängte. „Nasl trouvez-vous ces femmelar?“ (mie finden Sie diefe Frauen?)
jagte er zur Gemahlin des Großfürften Conftantin, als derjelben einige Perlen
aus jeinem Harem vorgeftellt twurden. Die ſchöne Prinzeffin von Altenburg
war natürlich nicht die einzige und nicht die erfte, welche in dieſem internatio-
nalen Kauderwelſch fich zurecht finden mußte, und als der Sultan merkte, daß
jeine mühjam erworbenen Spradfenntniffe Alles, nur fein Verftändniß zur
Folge hatten, jo überließ er in jpätern Jahren ſich gänzlich der Hülfe feines
Dragomansd. Nach dem Maße jeiner Vertrautheit mit der herrfchenden Sprache
des Weſtens ift auch feine Bekanntichaft mit den Künften und Wiflenjchaften
Europa's zu beurtheilen. Was hätte man auch vom Sultan in diefer Hinficht
verlangen fünnen, wenn jeine Minifter, feine begabteften Würdenträger jelbft
nad) mehrjährigem Aufenthalte im Abendlande von unjerer Givilifation nur
beledt an die Ufer des Bosporus heimgefehrt waren? Diejes verfängliche
Flittergold der europäijchen Bildung hat Abdul Medſchid allerdings am meiften
und am beften zur Schau getragen; twobei es freilich nicht fehlen konnte, daß
er mitunter in die größte Verlegenheit und bisweilen auch in eine poffixliche
Stellung gerieth. So durfte ein Gefandter nur irgend eines in Pera an—
gelangten, berühmten europäiſchen Tonkünſtlers Erwähnung thun — natürlich
um den Schubbefohlenen einen Medichidie-Orden oder ein werthvolles Gejchent
zu fichern —, als der Großherr auch jofort feinen Wunſch ausdrüdte, denfelben
in einem Privatconcerte zu hören. Der Virtuos fam, und da mich der Zufall
ein Mal ganz in die Nähe einer ſolchen Scene verjegte, jo ruft die Erinnerung
mir noch heute einen erjchredenden Moment diefer Art zurüd. Der Sultan,
ber dem Künſtler huldreich zuwinkt, nimmt mit einer erwartungsvollen Miene
Pla. Beim Vorſpiel kann der türkifche Kaifer, der keinen einzigen Ton unferer
Muſik zu verftehen vermag, die erfünftelte Aufmerkſamkeit noch bewahren, doch
im weiteren Verlaufe de3 Goncertjtücdes muß ihm diefes wol rein unmöglich
geworden jein, und twer jchildert die Werlegenheit des Künftlers, als diejer ſich
Mohammedaniiche Fürſten der Neuzeit und bie europäifche Givilifation. 451
einem — ſchlafenden Zuhörer gegenüber producirt, oder die des Sultans, ber
nur duch die Schritte des fich entfernenden Europäer gewedt wird?
Der Sanftmuth und Willfährigkeit des Sultan, richtiger gejagt: dieſer
äußerften Nondhalance und: dem Mangel an Verſtändniß für eigentliche Refor-
men, ift e8 in erfter Reihe zuzufchreiben, daß in dem ftaatlichen und gejellichaft-
lichen Leben des ottomaniſchen Kaiferreiches viele Neuerungen Eingang fanden,
die, im volllommenen Widerfpruche mit allen Verhältniffen des Landes ftehend,
unmöglid eine Zukunft haben konnten. Hätte Abdul Medſchid nur den zehnten
Theil der Charakterfeftigkeit feines Waters beieffen, jo würde das mannigfaltige
Glüd, welches jeine Regierung fennzeichnet, gewiß viel mehr zum Wohle der
Türkei beigetragen haben, ala wirklich der Fall if. So lange er auf dem
Throne jaß, war die Türkei von Unfällen, glei der Schladht von Nizib, dem
Seegefechte von Navarin, den Verträgen von Adrianopel und Hünkiar-Skeleſi,
verihont geblieben, ja man jah vielmehr, wie die Bajonnette des chriftlichen
Meftens dem ſſchwankenden Halbmond als Stübe dienten. Es galt für eine
Ehre, dem „kranken Manne“ beigeftanden zu haben, und die ottomanifche Gejandt-
ſchaft in Paris hatte jahrelang zu kämpfen gegen den Andrang franzöfifcher
Dfficiere, die nad) der Auszeichnung des „Medſchidſchi-Ordens“ (wie der Gallier
die Medſchidie nannte) ſchmachteten, trogdem man im Lauf eines einzigen Jahres
mehrere hundert Ellen des rothen Atlasbandes jnebft zwei Gentnern Silber in
Decorationen vertheilt haben ſoll. Ya, unter Abdul Medihid hat die Türkei
der ungetheilten Sympathie ganz Europa's fich erfreut, überall wurde von dem
erfreulichen Fortſchritte geſprochen, man pries die Aifimilationsfähigkeit ber
Osmanli's, man überihäßte ihre Tugenden, man beihönigte ihre Fehler, und,
mit Ausnahme des ruſſiſchen Reiches, hat jedes Land feinen Urquhart gehabt.
At e8 daher nicht fraglid, was aus der Türkei, von ſolchen Umftänden be-
günftigt, unter der Regierung eines andern, in der That fbegabten Fürſten ge-
worden wäre, bejonder3 mit einem anderen Nachfolger, al3 Abdul Aziz?
Die Annahme, dat aftatiihe Fürſten nur willenlofe Puppen in den Hän-
den ihrer Minifter jeien, hat in unferem jegigen Jahrhundert feine Berechtigung
mehr. Selbft Abdul Medſchid joll ein Mal, ala Hafib Paſcha, ein fonft jehr
willfähriger Finanzminifter, mit der Auszahlung einer größeren Summe & conto
des Serails zögerte, im Zorne ausgerufen haben: „Bin ich denn nicht der Nach—
fomme Osman’s, des Begründers diejes Reiches; ift denn das Staatövermögen
nit mein Eigentum?“ — Die moslimiichen Fürſten der Neuzeit werben
nicht mehr, wie ihre Vorgänger, durch den mahnenden Ruf einflußreicher, vom
Scheine der Heiligkeit umftrahlter Molla’s, durch Gewaltthaten übermüthiger
Prätorianer eingefhräntt. Nichts auch ift irriger, als der Glaube, daß der
balbgöttlicde Charakter, den die Herrſcher des Islams angenommen, — denn
der Islam felbft hat ihnen diejen nie gewährt — der Hemmſchuh jeder freien
Bewegung und da3 Hauptübel in den bisherigen Reformverjucdhen wäre. Der-
artige Folgerungen der europäiſchen Kritik beruhen zumeift auf der Anihauung
unferer eigenen diesbezüglichen Verhältniſſe; im Wirklichkeit gibt es in den
höchſten Kreiſen der moslimijchen Gejellihaft Afiens und der Türkei, die
Herriherfamilien Aftens mit eingerechnet, mehr Freidenler, als in den ents
29°
452 Deutſche Rundſchau.
ſprechenden Schichten der weſtlichen Welt. Der muſelmaniſche Oſten hat keine
„von Gottes Gnaden“ entſtandene Kaſte und bedarf daher auch keiner dem
Gebiete des poſitiven Glaubens entnommenen Stützen für gewiſſe Prärogative.
Es gehört nicht hierher, zu beweiſen, um wie viele Jahrhunderte der Islam
ſeinen David Strauß früher gehabt, als das Chriſtenthum; doch da wir von
Thatſachen und von der Gegenwart ſprechen, ſo darf nicht unerwähnt bleiben,
daß die hervorragenden mohammedaniſchen Fürſten der Neuzeit alles Andren,
nur nicht der Bigoterie und des Religionsfanatismus geziehen werden
können. Die Kadſcharen auf dem Throne Irans waren der Reihe nach
theils Zweifler, theils ausgeſprochene Atheiſten, während es von Sultan Mah—
mud I. zur Genüge bekannt iſt, daß er für den Islam nur dann eine beſondere
Wärme befundefe, wenn diefer in der Controverje dem Chriftenthume gegenüber
geftellt ward. Tür Abdul Medſchid war die Lehre des arabifchen Propheten
jehr wenig bindend, wofür die jpäter von Staatöwegen beglichenen Zahlungen
koranwidriger Genüfje das befte Zeugniß abgeben; und als man ihm einmal
bemerkte, daß die Koſten des mit ungewöhnlicher Pracht geſchmückten Taijer-
lichen Hoftheaterd zur Erbauung zweier Moſcheen hinreichend geivejen wären,
fol er mit gewohnter Ruhe geantwortet haben: „Mojcheen gibt es genug, aber
wir haben nur ein Theater!“
Nicht der Islam, jondern jene Denkweije, welche gemäß Elimatifchen und
ethnijchen Bedingungen ebenjojehr, aber in Folge einer analogen hiftorischen Ent»
widelung den übrigen Völkern und Religionen Afiens mehr oder weniger eigen
ift, muß al3 Hauptgrund der überall und allenthalben hervortretenden Unfähig-
feit der mohammedanijchen Fürſten der Neuzeit bezeichnet werden. Wer das
Ne von Intriguen und kleinlicher Rivalität, von welchem die Prinzen ſchon
in der Wiege umftrict find, Kennen gelernt, wer e8 mit angejehen hat, welch’
einfeitige, vernachläffigte, den Herrjchenden Ideen fich keinesfalls anpafjende Er-
ziehung den Thronfolgern zu Theil wird; und ſchließlich, wer die Lebensweiſe,
die Hofetiquette und die Umgebung der morgenländiichen Herrjcher eines prüfenden
Blickes gewürdigt, den wird es nicht Wunder nehmen, daß aus der Reihe der
gefrönten Häupter des islamijchen Afiens bis jet noch feine wirklich bedeutende
Perjönlichkeit hervortreten konnte. So lange aber die zukünftigen Herrſcher der
mo3limijchen Länder von den Banden einer verfommenen Weltanfhauung in
der freien Bewegung gehemmt, ala Geifteskrüppel auf dem Throne Platz nehmen,
fo lange ift an eine gejunde und zwedmäßige Umgeftaltung der Dinge in dem
uns nahe liegenden Theile Afiens auch gar nicht zu denken. Dem türkijchen
Sprüchworte: „Balik baschdan kokar,* entjpricht ganz wörtlich unſer „a capite
foetet piseis“; und um Türken, Perjer und Mittelafiaten zu bilden, müſſen
erft Sultane, Schahe und Chane erzogen werden. Bei uns in Europa mag der
Sat wol jeine Richtigkeit haben, daß die Aufklärung ihren Weg von unten
nad) oben nimmt; in Afien ift dies aber nicht der Fall, denn hier muß die
Sonne der Aufflärung erſt die Gipfel bejcheinen, um in den Thälern Licht und
Märme verbreiten zu können.
Sephäflos.
Vernehm' ich aus Sicilien die Berichte,
Wie dort der Netna treibt fein altes Weſen,
Steht fie dor mir, die ſeltſame Gejchichte,
Die einft in einer Chronik ich gelejen.
Naht war’? — doch nimmer allzu fern dem Morgen.
Das Land, das von Lo Stazzo biß La Gava
Zum Aetna auffteigt, lag in Nacht geborgen.
Gehöfte, rings umzäunt mit ind’schen Feigen,
Auch Tags vom Hintergrund zerftörter Lava
Kaum unterfcheidbar, lagen da in Schweigen.
Da unterbradhen Schritte diefe Stille,
In der nichts lebt, ala der Gicaden Schwirren.
Ein Wandersmann, dem Angftichweißperlen tropfen
Bon Bart und Stirne, wankt mit todedirren,
Gebrochnen Bliden durch die wilde Dcdr
Und fucht ein Haus, an defien Thür zu klopfen.
Er hat’s gefunden — will um Hilfe rufen —
Und fintt bewußtlos nieder auf die Stufen.
So matt die Schritte und der Ruf — fie wedten
Den Gampagnolen und er ſpäht hinaus;
Da er nichts fieht, ala einen hingeftredten,
Reglofen Körper, Öffnet er das Haus.
Allmälig wieder im Beſitz der Glieder
MWankt nun der nächt'ge Wandrer in die Stube,
Zappt längs der Mauer hin und ſetzt fich nieder.
Nun erft, da ihn gelabt des Winzer Bube,
Hebt er den Kopf: „Seid taufendmal geiegnet!”
Und ala nun Alle ihn umftehn im Sreife,
Erzählt er, was ihm Schredliches begegnet.
„Ein Roklamm bin ich, fpricht er, auf der Reife
Nah Taormina fchon feit dreizehn Tagen.
Dem Commandeur dort bring’ ich meine Fohlen —
Wo fie geblieben, weiß ich nicht zu fagen.
Im Hohlweg war's, von hier nicht taufend Schritte,
Wo mid; drei nächt’ge Wandrer überholen,
Fremdartig von Geftalt, Gewand und Eitte,
Es waren Schmiede, nervige Geftalten,
An Wuchs boch über Menfchengröße ragend,
Ihr Handwerlszeug mühlelig aufwärts tragend,
Die Bärte bis zum Gürtel niederwallten.
454 Deutſche Rundichau.
Zum Erſten wandt' ich mich nicht ohne Grauen:
Wohin des Wegs?
„gum Aetna.“
Und was dort?
„Den Meifter dort ein neue Haus zu bauen.“
An Eiß und Schnee?
„Für und nur Kleinigkeit!
Do gute Naht. Der Meifter ift nicht weit.“
Ih ſann den Worten nach, die ich vernommen,
Gar jeltfam war mir diejes Volks Gebahren,
Da hört’ ich ſchnaubend etwas näher fommen,
Als käm' ein Wagen rafjelnd angefahren.
Allein der Vierte war’d. Der Meifter war es,
Am Schurzfell kenntlich, ruffig von Gefichte,
Mit Augen glühend gleich dem Effenlichte,
Wild und zerzauft die Wellen feines Haares.
Er hieß mich ftehn und hob die Schwarze Rechte:
„Erſchrick nicht, Kleiner, thu’ dir nichts zu Leibe,
Bangt dir jo jehr vor meinem ruff’gen Kleide?
Du kamſt des Weges. Sahſt du meine Knechte? —“
„Sie find voraus!“ jagt’ ich, da ſtürmt' er hinkend,
Doc mächtig vorwärts wie in größter Eile;
Noch einmal wandt' er feinen ungeheuern
MWildftrupp’gen Kopf nach mir, faſt ſcherzhaft winkend,
Und ih, ein Mann, der manches Buch gelejen,
Erfannt’ ihn glei: der Schmied der Donnerfeile,
Bulcan, der Heidengott ift e8 gewejen!
Er bat im Aetna jeine Schmiebeftätte,
Gleich wird er wieder feine Eſſe feuern —
Flieht! Sehe Jeder zu, wie er fich rette!“
Kaum war mit dem Bericht der Mann zu Ende,
Da flammt's den Berg hinab in fernſte Weiten
Mit grellem Schein. Es ift nicht Frührothsdämmern,
Tief unterirdiſch dröhnt’3 von Riefenhämmern,
Und ringsum berjten jchon des Hauſes Wände.
Erihrodne Menfchen fliehn nach allen Seiten
Und flüchten aus den Käufern ihre Habe,
Denn dem, der zögert, wird das Haus zum Grabe.
In FFeuerftrömen geht's vom Aetna nieber.
Den Roßkamm aber, der die ſchreckdurchgraute
Ericheinung meldete, jah Niemand wieder —
Denn Keiner überlebt’8, der Götter jchaute.
Alfred Meißner.
Literarifhe Rundfdan.
1. Neue Studien von Karl Roſenkranz. Erſter Band: Studien zur
Eulturgefhichte. Zweiter Band: Studienzurfiteraturgeihicte.
Leipzig, Erich Kofchny. 1875. ,
Unter den Philoſophen der Gegenwart vertritt Roſenkranz, wol wie fein Anderer,
jene ſtolze und jchöne Ueberlieferung, welche für die Philofophie eine allumfaffende
Stellung im Mittelpunft menfchlichen Wiffens in Anspruch nimmt. Das „Homo
sum humani nihil a me alienum esse puto“ war von je, praftiich wie theoretiich,
die Devife dieſes Neftord der Hegelianer, und mit welcher wahrhaft erftaunlichen
Bruchtbarfeit und Unermüblichleit er ihr in einem bald halbhundertjährigen Wirken
gerecht wurde, dafür geben auch die beiden vorliegenden Bände wieder rühmliches
Zeugniß. Sie umfaffen eine lange Reihe von Auffähen, Neden, Abhandlungen aller
Art, die von 1837 bis 1872, mitten in einer unermüdlichen Lehrtbhätigleit, unter
weit angelegten wifjenjchaftlichen Arbeiten und unter lebendiger Theilnahme auch an
der politifchen und jocialen Bewegung des Zeitalter entitanden find. Der erite
Band, „Gulturgeihichtliches“, umfaßt in bunter Mannigfaltigkeit die verichieden-
en Berührungspunfte des Verfaſſers mit den Beſtrebungen der Zeitgenofien.
Roſenkranz belehrt hier, in der ihm eigenen feinen und liebenäwürbigen Weile, die
alademifche Jugend über die Nachtheile der renommiftischen Duell-Epielereien; das
größere Publicum orientirt er (1837), wol um mißverftändlichen Auffafjungen des Zur
ſammenhanges ber Hegelianer mit gewiffen radicalen Strömungen zu wehren, über
„die Emancipation des Frleifches“. In den Jahren 1843 und 1844 fagt er demielben
über dad Weſen der politifchen Partei, über Republit und Gonftitutionalismus feine
Meinung. Nach der Kataftrophe von 1848—50 fucht er zunächſt Beruhigung in
Natur- und KHunftbetrachtung, ſpricht über Unger's „Urwelt“ (1852), über das Natur-
gefühl bei den Alten (1852), über Venedig, Über Eintheilung der Malerei nach den
Gegenjtänden (1853), über die weltgeichichtliche Behandlung der Kunft (1856), über
die künftlerifchen Darftellungen Chriſti (1862). Der naturwiſſenſchaftlichen Invafion
in das Gebiet der Philofophie begegnet er in dem Auffahe über „Piychologie als
Naturwiſſenſchaft“ (1850, fteht Freilich ſeltſamer Weile im andern Bande), fowie
in der Rebe über Helmholtz' Beweis für den endlichen Stillftand des Weltalld. Daran
teihen fich dann ſpäter Darftellungen von weiter Peripective: über den religiöjen
Weltproceh der Gegenwart (1858), über Japan (1860), über die Gefchichte der
Menfchheit (1862), über die neueften geographiichen Entdedungen (1865), über Ghina
und Hinterindien (1866). Gin theilnehmendes Wort für das belagerte Paris im
Winter 1870 und eine Betrachtung über die Einförmigleitstendenzen unferer Givili-
lation (1872) machen den Schluß. Daß die Jubiläumsrede über Herder (1844),
ebenjo wie die über Peſtalozzi (1846) und Dinter (1848) in diefem Bande und nicht
unter den literargefchichtlichen Auffähen fteht, hat wol feinen guten Grund. Rofen-
456 Deutſche Rundſchau.
kranz faßt auch Herder zunächſt von der Seite ſeiner anregenden, im großartigſten
Sinne des Wortes „pädagogiſchen“ Wirkſamkeit, und er führt dieſen, für das Ver—
ſtändniß Herder's unſerer Anſicht nach maßgebenden Gedanken mit einer bewunderungs-
würdigen Feinheit und Wärme aus. Referent Hatte im Jahre 1844 die Freude,
dieſe Rebe als Iebendiges Wort zu vernehmen: er wird den mächtigen, wahrhaft
befruchtenden Eindruck jener Stunde ftet3 in danfbarer Erinnerung behalten. Die
literariſchen Aufſätze des zweiten Bandes befchäftigen fich theils von den verſchiedenſten
Gefichtäpunften aus mit Kant, theils begleiten fie den geiftigefittlichen Weltprocek
der Gegenwart mit einer überall auf alljeitige Würdigung und Berftändigung an—
gelegten, nie einjeitig und Lieblo8 abjprechenden Kritik. Neben den philofophiichen
Abhandlungen haben dabei auch Gelegenheitsauffäge über einzelne Schriftjteller Auf-
nahme gefunden: jo die Abhandlungen über Rahel, Bettina, Charlotte von Stieglit
(1837), über die „Ritter vom Geift“ (1852), über den berüchtigten Roman „Eritis
sicut Deus“ von Fräulein Marie Schwab, über Cholevius’ Gefchichte der deutichen
Dichtlunft in ihren Beziehungen zur Antike (1856), über Narciß (1857), Robinet
(1861), Rameau's Neffen (1864), Diderot (1868). Die philofophiiche Weltanfchauung
des Ber. ijt bekanntlich die eines zu heiterer Refignation geftimmten Optimismus,
der in der Welt der Ericheinungen überall die gejeßmäßige und nothwendige Ent—
widelung eines unferm Geifte verwandten Urgedanfens erkennt und fich durch die
Stichwörter der Materialiften nicht imponiren läßt. Seine Darftellungsweije vereinigt
weitefte Umfchau, Klarheit und Maß zu wohlthuender Wirkung; man fühlt den
Geelenhauch des ächten, nicht nur in jchwerer Arbeit und Mühen, fondern auch in
ſchwerem, heldenmüthig getragenem Schickſal (Rojenkranz ift feit Jahren des Augen-
lichtes faft gänzlich beraubt) bewährten Weijen, und eine liebenswürbige Wärme,
deren Zauber fich wol feiner der Schüler des verehrten Meifters je entzogen hat,
wird von feiner Perjönlichkeit auch dem gefchriebenen Worte mitgetheilt.
—— — —
2. Gedichte von Giuſeppe Giuſti, deutſch von Paul Heyſe. Mit
einem Anhange: Vittorio Alfieri als Satiriker. — Vincenzo Monti. —
Berlin, A. Hofmann & Comp. 1875. (Veröffentlichung des Allgemeinen
Vereins für deutfche Literatur.)
Mit aufrichtiger Freude haben wir wiederholt in bdiefen Blättern jene Be—
ftrebungen begrüßt, welche neuerdings den feit einem halben Jahrhundert zwifchen
Deutjchland und Jtalien beinahe abgebrochenen Gedankenaustaufch wieder in Fluß
zu bringen verjuchen. Wir verfprechen ihnen nicht gerade fchnelle, glänzende Erfolge,
weder hüben noch drüben; denn tief ift die Mluft zwifchen dem germanifch-proteftantifchen
und dem romanijch-fatholifchen Bewußtfein, und es fehlt viel, daß der gegenwärtige
gemeinjfame Gegenſatz gegen die Ufurpationen der Curie fie auch nur annähernd aus-
gefüllt hätte. Gleichwol find aber die Wege zur Verftändigung nicht verichlofien.
Der Italiener ift leidenfchaftlich, rhetorischen Wirkungen zugänglich, zum Generalifiren
und Schematifiren geneigt, wie alle Romanen; aber er ift nicht frivol, er ift weniger
eitel, als ſtolz, und feine Hervorragende wiflenfchaftliche und Fünftleriiche Begabung
läßt ihn, jobald fein Intereffe einmal geweckt ift, wunderbar fchnell die Ergebniſſe
ber langjamen, ftetigen Arbeit nachholen. So fcheint e& uns denn keinesweges aus-
gemacht, daß die Zeit für immer vorüber ift, im welcher Deutfchland von jemjeits
der Berge die ganze Fülle der geiftigen Anregung empfing; und bis e8 einmal wieder
dahin kommt, darf auch fchon jetzt jeder Deutiche, der die zwifchen heute und den
Tagen Manzoni’3 Eaffende Lüde in dem deutjcheitalienifchen Geiftesverfehr zu füllen
bemüht ift, fich der vorbereitenden Theilnahme an einem hochwichtigen Gulturwerte
getröften. So denn auch Paul Heyfe, indem er an die unendlich fchwierige Aufgabe
berantrat, uns einen Giufti in deutjchem Gewande zu geben: und wenn wirklich, wie
leicht möglich, der Erfolg der Arbeit fi) vor der Hand auf engere Kreiſe beichränkt,
fo wird das den trefflichen Ueberirker nicht veritimmen fönnen. Weiß er doch am
Literariſche Rundſchau. 457
beſten, welche Fernen den italieniſchen Satiriker, den politiſchen Dichter einer nationalen
antideutſchen Bewegung und einer unreifen, verworrenen Uebergangszeit von der
gegenwärtigen Höhe unſeres nationalen Kraftbewußtſeins trennen! Giuſeppe Giuſti,
Entel des gleichnamigen toskaniſchen Reform-Miniſters, wurde am 13. Mai 1809
in Monfummano bei Florenz geboren, und hatte, nach ſehr oberflächlichen claffischen
Studien, aber mit trefflicher häuslicher Erziehung, die Univerfität Piſa bezogen, ala
die Julirevolution in Italien wie in Deutichland die Nera des kämpfenden, nationalen
Liberalismus eröffnete; diefe Bewegung hat er denn bis zu feinem Tode (3. März 1850)
mit feiner politiſchen Dichtung begleitet, angefpornt, vielfältig beeinflußt. Obne
andern Ehrgeiz als den des Künſtlers, der fich felbft nie genügt, und des Denters,
ber unter allen Umftänden eiferfüchtig feine Unabhängigkeit wahrt, begnügte Giufti fich
mit dem freien, tiefeinjchneidenden Einfluffe feines Dichterwortes und mit der Freund⸗
Ichaft und Achtung der beiten Männer feines Volles. Der Menge, den Tagesapofteln
der Öffentlichen Meinung, bat er nie geichmeichelt. Seine Satire brandmarkt alle
Gebrechen der Zeit, die des Volls wie die feiner ausländiſchen Unterdrüder, und wo
möglich jagt er feinen Landsleuten, den fchmarogenden Genußmenichen, den ehrlojen
EStrebern, dem verfommenen, bettelftolzen Adel noch fchärfer die Meinung, ala den
verhaßten Defterreichern ſelbſt. Die Satiren „Die Verlobung“ und „Gingillino“
techtjertigen in diefer Beziehung das Wort Heyſe's, der feinen Dichter unbedenklich
neben Dante und Nriftophanes ftellt. Wie es von einer wahrhaft vornehmen Natur
zu erwarten ift, hatte übrigens Giufti nicht nur den Muth des fchonungslofen Angriffs,
fondern auch den größeren und fchwereren ber Mäßigung inmitten einer reißenden,
aufgeregten Zeitftrömung und verlodender Popularitätserfolge. Die Declamationen
ber Republikaner konnten ihn nicht verführen; feine patriotiiche Abneigung gegen bie
Tedeschi hielt ihn nicht ab, die Reformen Leopold's im Jahre 1847 willlommen zu
heißen und dankbar anzuerkennen; und als er in den Jahren 1848 und 1849 einem
Rufe feiner Landsleute in die tosfanische Volfävertretung gefolgt war, fanden ihn
die Angriffe der Radicalen ebenjo feft, wie früher die Reaction.
„ern ſei's, daß ich im Tageslampf „Nie fol der Shimpf, mit Schmähungen
Das goldne Jammerleben „Den Einzlen zu verſehren,
„Den Aermften noch verbitterte, „Rie fol Ichamlofer Liebedienft
„Die in der Höhe beben; „Die Feder mir entehren,
„ern ſei's, daß ich die Leiche „Die Feder, beren Rügen
„Geftürzter Hoffahrt fchänbete „Ein freier Muth, ein flammenber,
„Mit Ichnödem Memmenftreiche.” „Beihwingt zu freiern Flügen.“
„D, wenn vom blinden Ungeftüm
„Des erften Borna beieflen,
„Jemals zu offner Läfterung
„Die Reime fich vergefien,
„Dann hilf, o keuſche Liebe
„Zur Kunft, daß mein zerrifienes
„Gedicht im Wind zerftiebe.*
Diefe Strophen, in welchen er fich im Jahre 1848 der Theilnahme am jourma-
liſtiſchen Parteitreiben verfagte, kennzeichnen ganz feine folge, vornehme, ächt Fünft-
lerifche Art. Gr ift ftets im erfter Linie der unabhängige, ächte Gentleman und ber
über dem keufchen Geheimniß der Form ſorgſam Wache haltende Künftler; und wenn
das Eingeftändniß der dritten Strophe, das Belenntnik zu dem „quem Apollo negat
facit indignatio versum®, auch keineswegs gegenftanbalos ift, wenn feine Satire
wirklich je zuweilen das fchöne Maß verleht und zum birecten, Leidenfchaftlichen
Angriffe wird, To bat fie fich doch nie zum Werkzeuge irgend eines unlauteren per»
fönlichen oder Parteigwedes bergegeben. Diefem Umftande ift e8 denn auch wol zum
Theil zuzufchreiben, daß Giufti’s Fruchtbarleit nur eine mäßige war, feine jämmt-
lichen Satiren nicht mehr ala ein Bändchen füllen. Ob dieſes Bändchen, oder vielmehr
458 Deutihe Rundſchau.
die Auswahl aus demfelben, welche una Heyfe hier bietet, den Dichter in Deutſchland
annähernd jo befannt machen wird, wie etwa Manzoni? Selbſt Angefichts der wahrhaft
virtuofen Leiftung des Ueberſetzers möchten wir das bezweifeln. Die von Giufti ge-
geißelten Nichtanupigkeiten liegen uns doch zu fern, tragen zu fehr den Stempel
einer bejtimmten Zeit und eines beftimmten Landes, ald daß der Ausländer ihnen
ein rein menjchliches Intereffe entgegen bringen könnte. Sie illuftriren eine über-
wundene gejchichtliche Entwidelungsphafe, und jomit wird ihre Wirkung über die
wirklich von Hiftoriichem Intereſſe bewegten Lejerkreife wol nicht hinausgehen. Aber
auch in diefer Begrenzung ift Paul Heyſe's treffliche Arbeit (nur die Einleitung
wünfjchten wir Elarer und beffer geordnet) eine hochverdienftliche Bereicherung unjeres
beutjchen Bildungsapparates. Möge fie an ihrem Theile dazu beitragen, neue Fäden
be Verſtändniſſes und der Theilnahme zwiſchen zwei Völkern zu Inüpfen, die durch
ihre wejentlichjten und dauerndften Interefjen auf einträchtiges Zufammengehen an—
gewiejen find. — Gar zu gerne hätten wir diefer Anzeige ein empfehlendes Wort über
die gleichzeitig von dem „Allgemeinen Berein Tür deutjche Literatur“ veröffentlichte
ArbeitBodenftedt’3 hinzugefügt, welche Shakeſpeare'sFrauencharaktere“
behandelt. Aber der Dichter des „Mirza Schaffy“ Hat fich feine Aufgabe diesmal
wirklich zu leicht gemadt. Majjenhafte Auszüge aus Shafejpeare mit ganz ober-
flächlichem verbindendem Tert find feine Leiftung, wie man fie an jolcher Stelle, von
ſolchem Manne, über jolch einen Gegenjtand zu erwarten berechtigt war. Das Thema
ift vielleicht da3 dankbarjte auf dem ganzen weiten Gebiete literarhiftorifcher Aefthetit ;
wer e8 aber, nach Heine, in die Hand nimmt, der darf das ſchwerwiegende Noblesse
oblige nicht vergefjen, welches mahnend und warnend daneben fteht, und zwar im
vorliegenden alle mit dreifachem Gewicht.
3. Dramatiihe Sprihwörter von Garmontel und Theodore Leclerg, über-
jet von Wolf Grafen Baudijfin. Zwei Bände. Leipzig, S. Hirzel. 1875.
Das „Sprichwort“ gehört bekanntlich mit dem Fabliau, der Chanfon und den
„Memoiren“ zu den eigenthümlichen Literariichen Formen, durch welche der jpecifiich
franzöfifche Geift, der esprit gaulois, die Weltliteratur bereichert hat. Gelbitver-
ftändlich ift der Inftinkt der Gejelligkeit ihre gemeinfame Wurzel, die leichte, bequeme,
gefällige Form der ihnen gemeinfame Reiz, Eigenliebe, Genuß» und Spottjucht, durch
das Bedürfniß der Anerkennung gezähmt, ihre gemeinfame Seele. Die „Memoiren“
brapiren Gefchichte und Leben als elegantes Tyeitkleid um die Geftalt des Erzählers;
die Chanjon läßt rhythmiſch und melodijch ausklingen, was etwa von frifcher, ur—
Iprünglicher Lebensluſt und Wärme in der feinen, ſcharfen Atmofphäre der franzöfiichen
Gejellichaft fich behaupten mag, und im modernen „Sprichwort“ wie im mittelalter-
lichen Fabliau, fpiegelt fich das tägliche Thun und Treiben diefer Gejellichaft; nur
freilich mit dem großen Unterfchiede, daß das Fabliau, ſchon in Folge der freiern,
erzählenden Form, nicht im Geringften erclufiv war, weder in Perjonen noch in
Bezug auf Sachen, während das Sprichwort fich ſtrict innerhalb der ſcharfen Grenzen der
focialen Eonvenienz zu bewegen hat. Dieje Heinen Scenen und Scenengruppen überlaffen
dem eigentlichen Luftjpiel die Abbildung komiſcher Charaktere und Situationen in
ducchgeführter Handlung, der Tragödie die Darftellung der Leidenfchaft, dem Roman
die poetifche Ausführung des nationalen Stimmungs- und Phantafielebend. Bon dem
nahe verwandten Vaudeville wird das Sprichwort äußerlich durch den Mangel der
Gouplet?, innerlich durch den Verzicht auf irgend welchen Abichluß der Hand»
lung geichieden. Seine Typen entnimmt es faſt ausnahmslos der „Geſellſchaft“ im
engern Sinne, dem auf Vergnügen, Unterhaltung, vor Allem auf Befriedigung der
Eigenliebe gerichteten Verkehr der höhern Stände; feine Kraft, fein Reiz ruht aus
ſchließlich in der Gonverfation, in den fFechterfünften des beißenden, jchneidigen,
funkelnden, gaufelnden Worts, wie diefe eben nur in Frankreich verftanden und geübt
werden. Das Eprichwort, welches den Titel hergibt, hängt mit der Handlung ſehr
Biterariiche Rundſchau. 459
Iofe zufammen, wird oft nur, wohl oder übel, der lehten Scene angepaßt, die dann
mit ihm jchließt. Solcher Stüde eine hübſche Auswahl gibt num Hier Graf Wolf
Baudiffin in einer Weberjegung, welche fich neben feiner berühmten Molisre-lleber-
tragung getroft jehen laſſen kann. Er beginnt mit einer Probe aus den „Sprich-
wörtern”“ der Frau don Maintenon (die nicht nach Mehr Lüftern macht) und läßt
dann eilf Sprihwörter von Garmontel (1717—1806) und fünfzehn von Leclerg
(1777—1851) folgen. Jedenfalls find Garmontel und Leclerg die Hauptvertreter
der Gattung, wenngleich neben ihnen außer Madame Durand und Noederer auch
Mouflier-Moifiy (+ 1777), 3. Patrat (F 1801) und Du Goudray genannt werden lün-
nen, und Muffet hat außer „Il faut qu’une porte soit ouverte ou fermée“ auch noch
das „Sprichwort“ „On ne saurait penser à tout‘ gefchrieben. Das herfömmliche Lob
der harmlofen Jovialität und Natürlichkeit, welches den Sprichwörtern Garmontel’3
auch Hier wieder geipendet wird, möchten wir doch nur jehr vorfichtig unterfchreiben.
Unter den bier mitgetheilten Weberjehungen dürften es unſers Grachtens nur drei
(„Der bürgerliche Kombdiant“, „Wie ein großer Herr Berfe macht“, „Der Schwätzer“)
verdienen. Sie find in der That allerliebite, harmloſe, anmuthige Genrebilder, aus
dem vollen Leben genommen. Sonft wird entweder die Infipidität zu getreu nach-
geahmt („Daß Porträt”, „Die Gefchichte”, „Die Perrüde“), oder der Scherz artet in
die Burleöfe aus, für die es weder mehr eine Grenze des Möglichen noch bes
Heithetifchen gibt. Was foll man 3. B. in „der rothen Roſe“ zu jenem Maler
fagen, der nur rothe Farbe befigt und nur Roſen zu malen gelernt bat, und darum
feinem Nachbarn, dem Weinwirth, ftatt des beftellten goldnen Löwen eine rothe Roſe
auf das Schild malt? Oder gar zu dem‘ Antiquar, der fich für Lieferung einer
von ihm verkauften „Medaille des Otho“ eine Friſt erbitten muß, da er das Kleinod
in der Angſt — verichludt Hat? Wären wir, wie Graf Baubdiffin in der Vorrede
meint, wirklich in der Lage, für unſere gejelligen Unterhaltungen ſolche Späße von
den Franzoſen des achtzehnten Jahrhunderts entlehnen zu follen oder zu müflen ?
Oder vielleicht die jchöne Geichichte von dem Hungrigen Dfficier, der, um die
Hammelteule für fich allein zu behalten, feinem Zifchlameraden von einem Hundebiß
erzählt und dabei jezuweilen krampfhaft um fich jchnappt? Weit ausgeführter, feiner,
fchärfer, bedeutender in jeder Beziehung zeichnet Leclerg in feinen „Sprichwörtern“
die Meinen und auch manche großen Mifören der „Gefellichaft“ feiner Zeit. Sein
Dialog ift durchweg meifterhaft, die Situationen find pifant und natürlich, die
Handlung lebhaft, die Charaktere jein, fcharf und anmuthig umriffen, wenn nicht
ausgeführt. Die „Predigt im Salon” und „Der Vormittag eines Prälaten“ find
fogar culturbiftorifche Zeitbilder erften Ranges, wie für die heutigen franzöfiichen
Zuftände geichrieben. Und dennoch, bei alledem würden wir es geradezu für ein
nationales Unglüd halten, wenn unfer guter, gebildeter Mittelftand jemals, nad)
dem Rath des Herrn Ueberſetzers, mit Unterhaltungen im Sinne der meiften diefer
Stüde feine gefelligen Abende füllte. Denn wie glatt umd elegant es da hergeht,
wie zierlich in dieſen Wortgefechten geftoßen und parirt wird: es zieht durch das
ganze bunte, flimmernde Weſen dennoch ein erfältender Hauch, bei dem deutichen
Gemüthern Hoffentlich nie wohl werden wird. Diefe franzöfiiche Gefellichait kennt
nicht jene frischen, übermütbigen oder begeifterungsfähigen Naturfinder, die uns z. B.
in den beſſern Romanen der G. Sand und in den beſſern Chanfons von Beranger fo
entzüden; fie ift dafür freilich auch frei von allem Anftößigen und Unfchidlichen.
Da ift von der berüchtigten neufranzöfiichen Ehebruchspoefie Nichts zu ſpüren, da
bleiben ungebeuerliche Berirrungen der Phantafie fo fern wie offenbare fFrivolitäten.
Die Damen find alle sages, die Männer wahre Mufter des Anftandes. Aber dafür
beherricht ein eifiges Gele der conventionellen Form und der ſtarren, kaltherzigen
Selbſtſucht das ganze Getriebe. Die Liebe gehorcht ausnahmslos Gelb» und
Familienrückſichten; unter dem guten, leichten Umgangston ſchaut überall die nadte
Selbftfucht hervor, und das einzige wirflich bewegende, individuell-Iebendige Moment
liegt in dem Geifte höhnender, wenn auch oft genug wihiger, Mediſance und fcharfer
460 Deutjche Rundſchau.
Gatire, der ben ganzen Verkehr, die ganze Unterhaltung beherrſcht. Man ſchüttelt
fih, man athmet auf, wenn man biefe Geden, Charlatane, diefe naiven und oft
genug auch reflectirten Anbeter des eigenen Ich einmal Hinter fich hat. Wer dies
Urtheil ſtark finden follte, der lefe etwa „Die Reife”, oder „Die Empfangsfeierlichkeit”,
„Das Schwurgericht“, „Der Brief“, „Die fehlgeſchlagene Heirath“ ꝛc. Freilich finden
fich auch wirklich harmlos Heitere Scherze, wie „Der Grillenfänger“, „Der Kammer-
diener”, „Die Boreingenommenen”, „Madame Sorbet”, in denen fällt dann aber der
Witz ſofort in’ Wade. Daß das Wunderblümchen ächten, gutmüthig-ſchalkhaften
Humors auf diefem Boden nicht wächjt, wird bei aller Anerkennung der guten Form und
des junfelnden Esprit gejagt werden dürfen, und damit ift unfer Standpunkt zur
Sache gegeben, wenn es um Benubung diefer fremden Lederbifien Tür deutiche Ge—
ſellſchaftsabende fich Handelt. Gott bewahre una vor diefer Gewohnheit der Lieblojen
PVerfifflage, vor diefem wohlgefälligen Spiegeln des eigenen Geijte® in fremden
Schwächen! Natürlich ſoll durch diefe Bemerkungen der Dank für die treffliche
Leiftung des Ueberſetzers nicht verkürzt werden. Wenige Härten und Wunberlichkeiten
abgerechnet (3. B. „ich war mir’ erwarten”) bewegt fich das Gejpräch überall mit
vollendeter Anmuth und Leichtigkeit, und in der Färbung des Ausdrucks ift jehr fein
und gejchiet jene richtige Mitte getroffen, in der man den Klang des Originals noch
durchhört, ohne daß der Ton hart und fremdartig wird,
4. Unſichtbare Mächte — Hiftorifcher Noman aus der Gegenwart von
A. Mels. 9 Bände. Leipzig, €. 3. Günther. 1875.
Mir werden, bei einer anderen Gelegenheit, ein ernſtes Wort zu jagen haben
über jenen frevelhaften Sykophantismus der politifchen und der religiöfen Parteien,
der die erzählende Mufe zur Zwilchenträgerin der Verdächtigung, des Klatſches, der
tendenziöfen Schmähung mißbraucht. Aber jchon Heute wollen wir eines zweiten
wilden Schößlings gedenken, der, wenn auch nicht jo gehäffig und moraliſch verwerflich,
doch unjerem öffentlichen politiichen und äfthetifchen Bewußtſein faum weniger gefähr-
ich ift. Wir Haben e8 Hier mit jener formlofen, ungeheuerlichen Zwittergattung
zu thun, die fich nachgerade immer anmaßender, durch leichte Erfolge ermuthigt,
zwifchen die wifjenfchaftlich-gefchichtliche und die poetifche Darjtellung des Weltlaufes
eindrängt und politifches Denken und guten Gejchmad mit einander in den Köpfen
der gläubigen und aufregungsdurftigen Leſer gefährdet. Der alte Gtreit über die
Berechtigung des Hiftoriichen Romans an fich foll Hier natürlich nicht erneuert
werden. Er ift durch poetiiche Großthaten erſten Ranges über bie Competenz
jeder Theorie hinaus entfchieden, und e8 würde vergeblich jein, die Nachahmer Walter
Scott's durch Hinweiß auf die Schiffätrimmer einzufchüchtern, welche den Strand
ihres gefährlichen Fahrwaſſers bededen. Aber jene großen Mufter der Gattung haben
auch die feiten Grenzen bezeichnet, die man auf diefem Gebiete nicht ungeftraft über-
fchreitet. Mag der Romandichter fich auf feine Gefahr Hin des gewaltigen hiſtoriſchen
Hintergrumdes, der weiten geichichtlichen Perfpective bedienen. Wenn er ihre Ver—
hältnifje treu und richtig erfaßt, ihre Färbung zu treffen weiß, wenn feine gefchicht-
lichen Helden in reinen, fejten, monumentalen Umrifjen fi) aus dem Hintergrunde
des Gemälbes abheben, die frei erfundenen Geftalten des Vordergrundes wahr und
lebendig das rein Menfchliche mit dem Zeitcharakter vermitteln, jo wird die über-
wundene Schwierigkeit den Preis des Werkes erhöhen, und dankbar wird der Lejer
es anerkennen, wenn der poetische Genuß ihm gleichzeitig wiſſenſchaftliche Anregung
gewährt. Schlimm aber ftände es um die äfthetifche wie um bie politiſch-hiſtoriſche
Erziehung unferer großen Lejerkreife, wenn dieſes Zugeftändniß je zu einem Freipaſſe
führte für den Parteiflatjch in novelliftifcher Form, für die Verquidung Hiftorifcher und
nationaler Sympathien und Antipathien mit der grobfinnlichen Freude am Scandal,
für die poetifche Habilitirung politifcher Kannegießerei fchlechtefter Sorte. Es iſt
keine Kunſt, die Neugierde des Philiſters zu ſpannen, wenn der Dichter ihn in die
Literarifche Rundſchau. 461
Gabinete der zeitgenöffiichen Yürften und leitenden Staatsmänner, in die geheimen
Berathungen der Minifter und Feldherren einführt, wenn er ihm enthüllt, was
Napoleon und Eugenie unter vier Augen verhandelten, ihn belaufchen läßt, wie der
Seiuitengeneral mit Heren Veuillot das Programm ber ultramontanen Tactik entwirft,
ihn zum Mitwifjer aller geheimften Geheimniffe macht, die das Walten des MWelt-
geiftes in den zeitgemöffifchen Ereigniffen umgeben: nicht zu gedenken des pilanten
Apparates der Berfchwörungen, der geheimen Gefellichaften, der Diplomaten- und
Polizeiintriguen, der verwegenen Gewaltthaten und frevelhafiten Ränfe, wobei dann
jede Speculation auf die Reize des Sinnentikeld, der Graufamlfeit, des dämonijchen
Schauderd dor dem Gräßlichen erlaubt und zur Hand if. Die Scheu vor ber
Wahrheit, der letzte Neft des hiſtoriſch-politiſchen Gewiflend geht dabei mur zu
leicht verloren. Die Parteiphraje, die Legende, die bloße Gonjectur nimmt bie
Geftalt von Thatſachen an, dichteriiches und geichichtliches Intereſſe gehen in
dem unäfthetiichen Chaos verloren, aber die Luft am gedankenlojen Mitiprechen
und an finnlicher Aufregung finden nur zu fehr ihre Rechnung. Und jo ift denn
dieje Literatur, wo nur einiges Darftellungstalent fich ihrer zweideutigen Vorrechte
bemächtigt, des Erfolges bei der Menge ficher genug. Man denfe an Retcliffe und
Samarow! Beiden ift der Berfafier des Hier vorliegenden Zeitromans in Bezug
auf Erfindungsfraft und Darftellungstalent obne Zweifel überlegen. Mels, als
bonapartiftiicher Parteigänger fchon im Jahre 1870 genannt, ftellt ſich bier die Auf-
gabe, feinen treuberzigen deutichen Leſern in dem dritten Napoleon den verfannten
Idealiſten, den größten und beiten Mann feiner Zeit zu zeigen. Der Kaifer erftidte
zwei Republifen im Blute, um — die Demokratie zu organifiren; er überlieferte
die franzöfifche Jugend den Jefuiten, um — die Ultramontanen aus ihren Verfteden
hervor zu loden und fie dann um fo ficherer zu vernichten. Seine Heldengröße
und Selbftverleugnung wurde nur durch jeine Herzensgüte übertroffen, und fein
endliches Echidjal war — das des Schönen auf der Erde. Gin gutes Zeichen ber
Zeit ift e8, daß ein fo kluger Geichichtserzähler, wie Here Mels, es boch für nöthig
hält, vor dem bdeutichen Rationalgedanfen zu falutiren. Er muthet uns allerdings
zu, in einem DVertrauten Napoleon’s, der äußerlich den rabiaten Republikaner fpielt,
ben eigentlichen Ehrenhelden feines Romans zu ſchätzen; aber al& der Sailer jeine
Schachzüge gegen Deutichland eröffnet, trennt er fi) von diefem feinem deutſchen
Dertrauten, dem Doctor Oberdorf, denn er kennt und achtet deſſen unbeftechlichen
Patriotismus. Das Gewürz des Romans, zufammengefeht aus heimlichen Anichlägen,
Ueberfällen, Berkleidungen, Mord, Nothzucht, Somnambuliemus, Polizei-, Prieiter-
und Gourtifanen-Myftil, läßt Nichts zu wünjchen übrig, ald — etwas Achtung vor
dem gejunden Menfchenverftand der Leſer. Originell ift der Gedanke, einen Delin-
quenten dadurch zu retten, daß man ihm während ber Procedur des Hängens
unbemerkt die Kehle durchichneidet. Um die Erfindung hätte vielleicht Dumas pere
Herrn Mels beneidet. Friedrich Kreyffig.
Kant und Darwin.
Kant und Darwin. Gin Beitrag zur Gefchichte der Entwidelungslehre von
Fri Schulte. Jena, Hermann Dufft. 1875.
Die Erklärung der Entftehung der Organismen aus mechanifchen Gründen erfchien
Kant, ald er feine unfterbliche Theorie des Himmels bearbeitete, 1755, unthunlich.
Aber Schon wenige Jahre fpäter, wo er im Programm zur phyſiſchen Geographie den
erft in unferer Zeit zum allgemeineren Bewußtfein gelangten Unterfchied der an ber
Oberfläche bleibenden Naturbeichreibung von der in den Zufammenhang dringenden
Naturgeſchichte auseinanderjept, Äpricht er Anfichten aus, die heute, ſchärier gefaßt
und mit reichlichen Erfahrungen geftüßt, eine neue Periode der organiichen Natur-
forſchung eingeleitet haben. Er weift auf die fünftliche Zuchtwahl, auf die Einflüffe
462 Deutſche Rundſchau.
des Klimas u. A. bin, um die Ableitung neuer Formen aus Stammformen zu er—
Hären. Sogar Darwin’ natural selection fann man in folgendem Satze Kant’s
finden: „Selbjt int Baue eines Thieres ift zu vermuthen, daß eine einzige Anlage
eine fruchtbare Tauglichkeit zu vielen vortheilhaften Folgen haben werde.“
Zwar hält er es für „ungereimt“, die erfte Erzeugung einer Pflanze oder eines
Thierd als eine mechanische Nebenfolge aus allgemeinen Naturgefegen zu betrachten ;
allein, ift eine folche Erſchaffung geichehen, dann wirken die mechanifchen Geſetze,
und durch fie ift der Organismus zu ergründen, während durch Anwendung des Prin-
ciped des Zwedes und der Zweckmäßigkeit wir nur überhaupt Ordnung und lieber»
fiht gewinnen follen.
In verichiedenen Stellen feiner Schriften und zu verjchiedenen Seiten kommt
der große Denker auf die Möglichkeit zurüd, die Verwandtichaft ſämmtlicher Organis—
men als eine Blutsverwandtichaft im Sinne unjerer Abftammungslehre aufzufaflen,
been, die aber jo ungeheuer jeien, daß die Vernunft vor ihnen zurüdbebe. Und fo
fann ich nicht umhin, dem zunehmenden Enthufiaamus, in Kant die heutige Ent—
widelungslehre vorgebildet und, wie der Herausgeber unſeres Buches jagt, in feinem
Kopfe nach Geburt ringend zu finden, einen Kleinen Dämpfer aufzufegen, wie ich
ſchon Goethe’3 Gedanken über Umbildung und Berwandlung auf ihren richtigeren,
beſchränkteren Inhalt zurüdzuführen verjucht habe.
Wenn Kant theoretifch der Epigenefe, d. 5. der Lehre von der Entwidelung des
Zufammengefegten und Höheren aus dem Einfachen, den Borzug einräumt, jo ftellt
er fich praftifch, wo es fich 3. B. um die Erklärung der Menjchenracen handelt, auf
die Seite der Auswidler oder Evolutioniften. Er läßt die Racen entitehen nicht
durch reine Neubildung, fondern durch Entfaltung zwedmäßiger, dem Urſtamme ein-
gepflanzter eriter Anlagen. Und was die Urftämme, nämlich die Arten, deren
„phyſiſcher erfter Urjprung der menschlichen Vernunft unergründlich bleibt”, anbetrifft,
fo fteht Kant auf dem Boden Linneifcher Anſchauung, daß zu einer Art gehört, was
fih fruchtbar mit einander fortpflangt und in jolcher fruchtbaren Reihe von einander
abjtammen ſolle. Allerdings tritt er einmal aus diefem unkritiichen Dogma heraus
in der großartigen Stelle in der Kritit der Urtheilsfraft, wo er davon jpricht, daß
aus der rohen Materie nach merhanifchen Gefegen die ganze Technit der Natur ab—
zuftammen fcheine, die uns in organifirten Weſen jo unbegreiflich fei, daß wir uns
dazu ein anderes (dad Zwed-) Princip zu denken genöthigt glaubten. Aber auch
bier lenkt Kant jelbjt wieder ein, indem man doc aladann, jagt er, jener allgemeinen
Mutter eine auf alle Geichöpfe zweckmäßig geftellte Organifation beilegen müſſe und
damit den wahren Erflärungsgrund nur weiter aufgefchoben habe.
Herr Dr. Fri Schulte in Jena Hat fich das Verdienſt erworben, durch die
forgfältige und volle Zufammenftellung aller in Kant's Werken zerjtreuten Aeußerun—
gen über die Möglichkeit des Verſtändniſſes der organifchen Natur die Lejer in den
Stand gejeßt zu haben, fich ſelbſt über die Bedeutung des großen Königsberger
Meilen in diefem Punkte ein Urtheil zu bilden. Wir erwarten, daß Viele das Buch
in die Hand nehmen, um mit hohem Genuß das Ganze der Kant'ſchen Natur—
anjchauung in der wunderbar treffenden Sprache an fich vorüberziehen zu laſſen.
Straßburg i. €. Dscar Schmidt.
—î — —
Profeſſor Wuttke's „Deutſche Zeitſchriften“ und das Ausland.
Die deutſchen Zeitſchriften und die Entſtehung der öffentlichen
Meinung. Ein Beitrag zur Geſchichte des Zeitungsweſens von Heinrich
Wuttke. Dritte fortgeführte Auflage. Leipzig, Krüger, 1875.
Es ift immer ein mißliches Zeichen, wenn ein Buch, welches in der Heimath
feines Verfaſſers nicht anerfannt oder gar abgelehnt worden ift, feinen Anfpruch auf
Notorietät und feinen Antheil an Lob fich aus dem Auslande holen muß — mißlich
Literarifche Rundſchau. 463
für das Buch, mißlicher noch für den Verfaffer. Der Eindrud, welchen Wuttke's
Schrift auf und gemacht, ift ſchwer zu fchildern. Nicht fo ſehr die Thatfachen find
es, die uns dieſes Gefühl von Unbehagen erregt haben, als vielmehr der Gebrauch, den
Prof. Wuttle davon gemacht. Wir wußten, vor Prof. Wuttke, daß in der deutichen
Preffe gefündigt worden ift; aber wir fürchten, daß Prof. Wuttle nicht der Mann
fei, fie zu reformiren, noch daß er fein Buch überhaupt in diefer Abficht gefchrieben
babe. Wir fürchten, daß politifche Animofität und perfönliche Gereiztheit ihm ben
Tert dictirt. Die von ihm angeführten Thatſachen mögen wahr oder fie mögen
falſch, fie mögen, je nach feinem Bedürfniß, unterjchäßt oder übertrieben worden fein:
darauf fommt es in erſter Linie nicht an. Aber wir jagen, nur eine im höchſten
Sinne fittlihe Haltung kann es rechtfertigen, daß fo viel Schlamm aufgewühlt
werde; nur in jehr ernfter Abficht darf man, in Gegenwart der ganzen Welt, feinem
Bolte ſolche geheime Schäden aufdeden — es muß in ber Geele Desjenigen, ber
diefed unternimmt, etwas von dem heiligen feuer, und in feiner Stimme etwas von
dem göttlichen Zorne des Jeſaias und Demofthenes fein. Alle diefe Vorausſetzungen
fehlen aber bei Prof. Wuttke, fein Ton und feine Haltung verrathen viel mehr das
Gegentheil derjelben. Er darf fich daher nicht wundern, wenn „die Öffentliche Mei-
nung“ in Deutfchland feine Arbeit entfprechend aufgenommen; wenn man, unbeichadet
der Anficht, die man von feinen früheren wiſſenſchaftlichen Werken hegt, dieſes fein jüngftes
zuerft mit Stillichweigen, dann — als diefes durch Beifall aus jehr verbächtigen
Duartieren unterbrochen ward — mit unverhohlener Mikbilligung zurüdgerwielen hat.
Er darf fih auch nicht auf ein Complott der deutichen Preffe gegen fein Buch be
rufen; mag fie noch jo ſündhaft und fchuldbeladen fein: diefe eine Tugend befitt fie,
den ächten Patriotismus von dem unächten unterfcheiden zu können. Allein das ift,
in den Augen des Prof. Wuttfe, vielleicht ihr ſchlimmſter Fehler.
Wir leugnen nicht, daß Prof. Wuttle’s Buch manche bittere Wahrheit enthält;
namentlich der erfte, vor 1866 geichriebene, Theil deffelben ift ſehr beherzigenswerth
in Allem, was er über die Lage der Schriftiteller und den Zuftand der Kritik in
Deutichland jagt, wiewol fich ſeitdem in beiden Beziehungen Vieles gebeflert haben
mag. Allein nicht das, was gut, fondern das, was uns dverwerflich ericheint in feiner
Schrift, Hat ihm die lauten Acclamationen der uns feindlich gefinnten Preffe des
Auslandes eingetragen. Weder die milerablen Honorare, welche, nad) des Verfaſſers
Angabe, gewifje Blätter zahlen, noch die Reclame, welche, derjelben Quelle gemäß,
andere betreiben, würden die Feder des Herzogs von Aumale oder des Herm B. Cher-
buliez — wer von beiden nun auch den Wrtifel der „Revue des deux mondes“
(1. Mai 1875, p. 201—211), geichrieben haben mag — in Bewegung gefeht haben.
Nur derjenige Theil feines Werkes, welcher, nach 1870 geſchrieben, ſich gegen das
deutjche Reich und die beftehende Ordnung der Dinge richtet, Tieferte dem einen
oder dem andern der beiden genannten Herren das Material, welches fie für ihre
befonderen Zwede brauchbar erachteten. Ginen zweiten, noch mehr compromittirenben
Bundesgenofien fand Prof. Wuttke in der zu Brüffel erfcheinenden „Revue generale“
(Juni 1875, p. 6389— 663), dem Organ der belgijchen Ultramontanen. Aus diefer
Wirkung allein hätte Prof. Wuttle fich erflären mögen, warım das deutiche Publi-
cum und die deutſche Prefle fein Werk unannehmbar fanden.
Zwar meint der Profeffor, daß eine Echrift, wie die feine, wenn fie in Paris
erihienen, „dort verfchlungen worden wäre und maſſenhafte Ausbreitung gefunden
hätte”; eine Meinung, welche die „Revue des deux mondes“ nicht ohne feine Ironie
zu ber ihrigen macht. Man würde fein Buch verfchlungen haben. „Assurément,
mais du möme coup on aurait devoré l’auteur.“ Nun, nachdem wenige Wochen
feit Ausgabe der zweiten Auflage die dritte gefolgt ift, wird der Verfaffer fich auch
bei uns über Mangel an Erfolg nicht mehr beflagen dürfen, wenn es auch freilich,
nach unferer Schäßung, mehr ein Erfolg der Mißachtung ift, als irgend etwas An-
bered. Dennoch bezweifeln wir, troß der angeführten Autorität, dab eine Schrift,
wie bie vorliegende, welche dem Auslande Etoff zu boshaften Bemerkungen und An»
464 Deutiche Rundſchau.
laß zur Schadenfreude gegeben, in Paris, in Frankreich mit befonderem Enthufiagmus
aufgenommen ober dem Berfaffer jehr zur Ehre gerechnet worden wäre. Der
Franzoſe hat viel zu viel Nationalgefühl dafür; ja, wir gehen weiter und behaupten,
fein Nationalgefühl würde ihn abgehalten Haben, ein jolche® Buch, jo wie es ift,
überhaupt zu jchreiben. Nicht Muth gehörte dazu, wie Prof. Wuttke uns glauben
machen möchte, jondern Abmwejenheit jedes Begriffes von nationalem Anftand, Wohl
durfte der Verfafjer jenes Artikels in der franzöfifchen Revue jagen: „Sedan war ein
Sieg, welchen deutjche Tugend über unfere Lafter davongetragen.“ Denn er jagt es
mit befümmertem Herzen; er jagt e8 mit einem gewiffen Stolze der Wehmuth, in—
dem er zugleich, in der Kammer ober in der Preffe, thätig ift, den Glauben ber
Nation an die Zukunft und an die Rache lebendig zu erhalten, und indem er an
der Vervollkommnung des hierfür präbeftinirten Werkzeuges, ber Armee, nach beſten
Kräften mitarbeitet.
Mir befennen noch einmal, daß auch wir nicht blind für unfre „Lafter” find;
daß wir und nicht zum Anwalt des vielverfchrieenen Preßbüreau’3 machen, noch bie
Glienten des Reptilienfonds in unjern Schuß nehmen wollen. Sie mögen jelbjt jehen,
was fie zu ihrer Vertheidigung jagen können. Allein wir beftreiten Heren Prof.
Wuttke das Recht, ala Ankläger aufzutreten. Wir geftehen diejes Recht nur der un—
antaftbaren Lauterkeit der Abficht zu, nur der volllommmen Freiheit von perfönlichen
Motiven; und das ift in der That mehr, ald wir mit dem bejten Willen von Herrn
Prof. Wuttke jagen könnten. Wir wollen die Wahrheit weder verjchwiegen, noch ver—
tujcht, aber wenn wir fie haben follen, jo wollen wir fie ganz und rein haben, nicht
halb, nicht von perfünlichem Aerger und politiicher Mißgunſt gefärbt.
Schon in dem, an ich ziemlich hHarmlofen, Abjchnitte, der aus der Zeit unmittel-
bar vor 1866 batirt, finden fich einige Beweife für die zweifelhaite Dualität des
Artikels, den Herr Prof. Wuttke die „Wahrheit“ nennt. Wir willen nicht, was
Herr Prof. Wuttle mit feinem Leipziger Gollegen, Herrn Prof. Zarnde, gehabt
haben mag; aber es jcheint, als ob Zarnde’3 „Literarifches Gentralblatt”, welches
jeit 25 Jahren in verdienten Anjehen bei der Gelehrtenwelt jteht, fi ein und
dad andere Mal ungünftig über Prof. Wuttke's wiſſenſchaftliche Leitungen aus—
geiprochen habe. Weswegen des Herrn Prof. Wuttke's ganzer Ingrimm fich
zuerſt gegen „den Leipziger Profeffor” (Zarnde) richtet, der „ald Gelehrter viel zu
unbedeutend ift, um den Büchermarkt zu überfchauen”, aladann gegen das „Gentral-
blatt” jelber, deſſen „Bezahlung der Mitarbeiter dermaßen dürftig, daß diefe Niemand
veranlafien fann, für daſſelbe zu fchreiben“; und zulegt gegen Denjenigen, welcher
die ungünftige Recenfion gejchrieben, und von welchem Prof. Wuttle jpricht, ale „von
einem jungen, wifjenfchaftlich ziemlich unbedeutenden außerordentlichen Profeſſor ber
Leipziger Univerfität, Namens Ebers“ — womit fein Anderer gemeint jein joll, als
der berühmte Entdeder und Herausgeber des nad ihm genannten Papyrus, der DVer-
fafjer der „ägyptiſchen Königstochter“!
Mir geftehen, dab in einem Buche von reformatorifcher Tendenz eine ſolche
Vermiſchung rein perfönlicher und — fügen wir Hinzu — höchſt kleinlicher Händel
mit den großen Dingen und Zielen, die e8 angeblich verfolgt, nicht befonders geeignet
ift, unfer Vertrauen in die Aufrichtigkeit des Autors zu weden. Nicht beffer übrigens
ergeht es einigen andern Männern, die wir gewohnt find, zu den Bierden der deutſchen
Wiſſenſchaft zu rechnen, und deren einziger Fehler zu ſein ſcheint, daß ſie ſich zu
einer anderen Politil bekennen, ala zu ber des Prof. Wuttke. Mommjen’s römifche
Geichichte wird „in ihrer Auffaffung grundverfehrt und nicht einmal in ihren Einzel»
heiten genau” genannt; die „Schriften von Häuffer, Sybel, Droyfen und ihren Nach»
tretern“ erheben fich wenig „über das Mittelmäßige“ !
Hier nämlich ift der Punkt, wo Prof. Wuttke's zweites Motiv einſetzt, welches
uns für einen ethiſchen Reformator nicht weniger bedenklich dünkt, als jenes erſte
der verlegten Eitelkeit: nämlich politiſche Gehäſſigkeit. Die Profefforen Mommien,
Häuffer, Sybel, Droyjen und ihre Nachtreter” find ihm verhaßt, weil fie durch
Literarifche Rundſchau. 465
Wort und Schrift, auf dem Katheder und der Tribüne viel dazu beigetragen
haben, das deutjche Nationalgefühl zu weden und zu leiten, bi e&, nach mannig-
fachen Fehlichlägen, geklärt genug war, um in einer ftaatlichen Drganifation feinen
jetzigen ehrfucchtgebietenden Ausdrud zu gewinnen. Was uns Allen, wie jehr wir
auch in den Einzelheiten von einander abweichen mögen, in feiner impofanten Ge»
fammtericheinung die Erfüllung unferer heißeften und jehnlichiten Wünfche bedeutet,
das ift Heren Prof. Wuttke ein Gegenftand des Abſcheues — „ein Militärftaat, in
dem der Schulmeijter von einem Hungergehalte leben mußte, wurde über die anderen
deutichen Staaten geſetzt“. Faſt jcheint es, wenn man diefe ewigen Klagen über
ſchlechte Honorare und jchlechte Befoldungen anhören muß, ala ob Herr Prof. Wuttfe
dennoch mehr von dem leidigen Mammon bielte, als mit der puritaniſchen Gefinnung
verträglich, mit welcher er fich das Nichteramt über die deutjche Preſſe aumaßt! Als
ob es, nach feiner Meinung, gar feinen anderen Grund gebe, der Nemanden „ver
anlafjen kann, zu jchreiben”, ala „die Bezahlung“ ; ala ob es mit feinen Begriffen
von Schriftftellerei ganz unvereinbar fei, dab man für die Sache jchreibe, nicht nur
für dad Geld! Doc fern fei von uns jede NRecrimination, wenngleih ein Mann
vielleicht nichts Befleres verdient hätte, welcher zu glauben vorgibt, daß des ganzen
neuen deutjchen Neiches Herrlichkeit auf nichts Anderem berube, ald auf Fälfchung
ber öffentlichen Meinung und Beftehung der Preffe!
Die clericale belgifche „Revue generale“ gibt fich die Miene, ihm zu glauben.
Indem fie wünſcht, daß der Verfaffer feine Studien auch über die neuefte Phaſe des
„Culturkampfes“ ausdehne (was übrigens in der eben erjchienenen dritten Auflage
des Wuttle’schen Werkes bis zu einem gewiſſen Grade jchon geichehen ift), fährt fie
fort: „Man würde darin eine Erklärung jenes eigenthümlichen Phänomens finden,
welches fich in Deutichland gezeigt hat, wo man eine Nation, welche ſeit zwei Jahr-
hunderten in religiöfem Frieden gelebt, plößlih und auf Geheiß eines mäd-
tigen Staatsmannes den Weg des Kampfes beichreiten, allen Handlungen
der legalen (!) Vergewaltigung (?) gegen eine impofante Minorität Beifall rufen und
feine Zuftimmung einer Verfolgung geben ſah, die, mitten im 19. Jahrhundert, i
mancher Hinficht an diejenige der erften Jahrhunderte der Kirche erinnert.“
Wenn wir Herrn Prof. Wuttle umd der „Revue generale“ glauben wollen, fo
wäre die Bewegung nur durch die corrumpirte Preffe hervorgerufen; ja, des Fürſten
Bismard ganze Macht und Bedeutung hätte fein amderes Fundament, ala bie
Gorruption, und jene wird zufammenbrechen, fobald diefe nur einmal gründlich be—
feitigt. Wir müfjen zur Ehre der großen Parifer Revue jagen, daß fie für die Wirk-
lichfeit der Dinge einen viel zu tiefen und klaren Blid hat, um ihrem Leipziger Ges
währemann fo weit zu folgen. „Nein,“ ruft fie aus, gerechter ala unfer deutſcher
Profeſſor, „das, was nicht künftlich gemacht ift, das ift die immenfe Popularität,
deren Derjenige unter ihnen (dem Deutichen) genießt, welcher ehedem der unpopulärfte
Mann war... Bor ihm befaß Deutichland, ohne Zweifel, den Frieden, den Wohl-
ftand, die Annehmlichkeiten eines wohlgeführten Haushaltes, den wiffenfchaftlichen und
literariichen Ruhm; eine Sache fehlte ihm, der politische Stolz. Der Mann, welcher
ihm das Vergnügen verichafft hat, fich zu bewundern, und die freude, Furcht ein-
zuflößen, fann es führen, wohin er will.“ So fpricht ein Fremder, ein Feind Deutich-
lands! Und er fchließt, indem er auf Paul Louis Courrier's Aeußerung aus dem
Jahre 1823: „Werden wir Gapuciner fein? werden wir es nicht fein? Das ift
heute die frage!“ mit den Worten erwidert: „Nein, diefe Frage ift feine mehr, wir
werden feine Gapuciner fein; es handelt fich dabei ebenjo jehr um unfere Ehre, wie
um unfere Sicherheit!”
Was kann, nach diefen Worten der „Revue des deux mondes“, auf die er ſich
anf er fo vieler Genugthuung bezieht, Herr Prof. Wuttle für fich noch geltend
machen
Wir erinnern uns, au® einer anderen Zeit und aus einem anderen Lande, eine#
Angriffes, der fich gleich demjenigen des Prof. Wuttle gegen die — der
Deutſche Rundſchau. 1, 12.
466 Deutiche Rundſchau.
Öffentlichen Meinung in Parlament und Preffe richtete: der berühmten Junius-Briefe.
An diefem Beifpiele hätte Herr Prof. Wuttke Iernen mögen, wie dergleichen gemacht
fein muß, wenn e8 wahrhaft wirken, wenn es zünden joll! So fern lag dem Schreiber
der Junius-Briefe die perjönliche Eitelkeit, daß er fich niemals genannt, daß Nie
mandem, nicht einmal feinem Druder, feine Perfon bekannt, ja, daß der Streit über
die Identität derfelben noch bis auf den heutigen Tag nicht endgültig beigelegt
werden konnte, wiewol die meiften englifchen Hiftorifer fich, aber auch erit lange nad)
feinem Tode, dafür entichieden haben, daß Sir Philipp Francis der große Unbelannte
gewejen. In feiner Widmung „an die englijche Nation“ jagt er: „Diefes iſt nicht
die Sprache der Eitelkeit. Wenn ich ein eitler Mann bin, fo liegt meine Befrie-
digung innerhalb eines engen Kreiſes. Ich bin der einzige Vertraute meines Geheim-
niffes, und es joll mit mir untergehen.“ Er hat fein Wort gehalten; und wenn —
wie Macaulay und Stanhope annehmen — Sir Francis der DVerfaffer gewejen, fo
hat nicht einmal feine Wittwe beftimmt darum gewußt, ſondern e8 nur vermuthet.
Aber ebenfo fern, als dieſes Motiv, lag ihm das andere der politifchen Rancune.
Mit Schneidigem Wort hat .er für die Freiheit der Preffe, „das Palladium aller
bürgerlichen, politifchen und religiöfen Rechte“, gefämpft, und fo wenig Rüdficht auf
die Perfon genommen, daß er des Königs jelber nicht geichont. Doch feine Tyeinde,
auch die er am bitterften angegriffen, haben niemals an der Integrität feiner Ge-
finnung, an der Ehrlichkeit feiner Abficht gezweifelt; fie haben, wie Macaulay jagt,
niemals in Abrede geftellt, daß er einen furchtlofen und männlichen Geift bejeflen ;
und jelbjt ein Schriitjteller derjenigen Partei, der Tories, die er zu feiner Zeit durch
feine Enthüllungen faft vernichtete, der Earl of Stanhope (Kord Mahon), jagt von
ihm: „Es find mannigiache Anzeichen vorhanden, daß ein wirklicher Eifer für dag,
was er für die Wohlfahrt und die Ehre feines Landes hielt, oft in feinen Gedanken
gegenwärtig war.“
Eingeichräntt, wie diefes Lob fein mag, jo zweifeln wir boch fehr, daß fich ein
nationalgefinnter deutjcher Schriftfteller finden würde, der nur fo viel von Prof.
Wuttle's Buch jagen möchte!
Ans Italien.
Florenz, im Sommer 1875.
Deutichland und Italien haben fich gegenfeitig biöher immer von oben herunter
angejehen, aber, wie mir fcheint, niemals gerade ins Geſicht. Wir waren ftet® den
Deutihen gegenüber, was fie für uns geweien, Eroberer oder Groberte. Was
früher durch Gewalt erreicht wurde, wird jeht durch Höflichkeit zu erlangen geſucht;
aber immer noch wird mit Borliebe geftritten, da, wo ein gemeinfames Streben nad
einem idealen Ziele jo viel befjer am Plate wäre. Die Erften jein wollen, heißt
eigentlih nur die Herren fein wollen, und in einem SBeitalter, deſſen eifrigſtes Be—
mühen dahin geht, die Entiernungen und die Verfchiedenheiten auszugleichen, ift auch
die Herrichaft der einen Nation über die andere nicht zu dulden. Die Herrichaft
über fich felbit ift es, die man haben muß, und bis nicht jede Nation dieſelbe er-
reicht Hat, wird die bürgerliche Humanität in ber Minderheit fein, und die Geſchichte
wird das Privileg diefer Heinen Minderheit bleiben. Die bürgerlichen Genofjen-
Ichaften müffen alfo durch eine Vereinigung von freien Bölfern ftets wachſen; aber
auch dad wird nicht geichehen, fo lange ein Theil der Menichheit es als ein Vor—
recht feiner Race und feiner Nation betrachten wird, über den anderen zu herrſchen;
fo lange die Nachbarvölter miktrauifch auf einander bliden werden, mehr darauf be
dacht, fih gegenfeitig zu fchaden als zu nützen; fo lange die angeblich jchriftliche
Brüderlichkeit, die fort und fort gepredigt wird, nicht zur unumftoßlichen Thatſache
geworden, die alle Prediger und Apojtel überflüffig macht. Ich ſage hier nichts
Neues, ich bin jogar überzeugt, nur das zu jagen, was Alle denten. Es genügt aber
nicht, an etwas Gutes zu denken, man muß es mit einer gewiffen Wärme aus
Iprehen und verfuchen, es auszuführen. Obwol wir num, deutiche und italieniſche
Bürger, ſämmtlich innig davon überzeugt find, daß Haß, Neid und Mibtrauen
zwiſchen Bölfern ein beflagenswerthes Ting fei, tragen wir doch alle gar wenig
dazu bei, entgegengejehte Gefühle rege zu halten und bei der eriten Gelegenheit greifen
wir zu den Waffen. Zwar find nicht alle Waffen Krupp’iche Kanonen und Zündnadel⸗
gewehre. Aber die Feder kann noch mehr Unheil anrichten, als dieje Waffen, die
wol den Mann tödten, aber die Idee fortbeitehen laflen, während die Feder das
Leben zwar jchont, aber die herrlichiten idealen Gebäude zertiümmern kann. Ic
möchte, daß jeder Schriftiteller, ehe er die Feder in die Hand nimmt, fein Wlaubens-
befenntniß ablegte; und der erite Artikel diefes Glaubensfages follte lauten: „Jedes
bon mir gefchriebene Wort, welches zur Vermehrung des Hafles in der Welt bei»
tragen könnte, ift eine Sünde, und einer ſolchen Sünde will ich mich nicht jchuldig
machen.“ Damit jei nicht gefagt, dab man die Wahrheit unterdrüden ſoll, ich
möchte nur, daß fie durch die Yiebe und nicht durch den Hab offenbart werde. Und
ih bin überzeugt, daB jede Wahrheit, die aus der Wärme der Empfindung ent-
ſpringt, wohlthätig wirken würde. Nachden ich nun in aller Kürze mein eigenes
Belenntniß abgelegt habe, das Ginigen vielleicht naiv vorlommen mag, welches ich
u0*
468 | Deutiche Rundſchau.
jedoch auszusprechen für nothwendig erachtete, wird man begreifen, daß derſelbe
italienische Schriftiteller, der für feine franzöfifchen Brüder eine lebhafte Sympathie
fühlt und fich ihnen durch Bande der Dankbarkeit und Verehrung für geiftig ver—
bunden hält, jich dennoch den Deutichen jo nahe fühlt, daß er fich einen Mit-
bürger des großen Baterlandes Goethe’3 nennt, dieſes Vorläufer der univerfalen
Sprache und umniverjalen Literatur, an der wir Alle arbeiten müflen. Denn bie
Sprache und die Literatur bejtehen nicht nur aus den materiellen Lauten, die je
nach dem Lande wechjeln; die Einheit der geiftigen Töne muß man zu erhalten
fuchen. Dieje innere Muſik der Sprache und des Lebens follen wir Alle fühlen;
durch fie müſſen wir zu einander reden, uns einander nähern und vereinigen. Als
Bürger diefer großen geiltigen Heimat werden wir daher durch jedes Mittel alle
Diejenigen belehren müſſen, die durch einen Mikton die Harmonie unſeres Concertes
ftören wollten. Ginjtweilen hoffe ich, daß es mir in diefem erjten längeren Geſpräch,
welches ich die Ehre habe, mit den Lejern der Deutſchen Rundichau zu führen,
gelingen wird, zu beweifen, wie ſehr Deutichland und Jtalien durch ihre Bemühungen
fich gegenjeitig genüßt haben.
63 war für die alten Römer eine weit härtere und jchwierigere Aufgabe, nach
Deutichland Hinaufzufteigen, als für die alten Germanen nad Stalien berunter-
zutommen. Das war natürlich, nicht nur weil man leichter herab- als hinaufjteigt,
fondern auch weil der Deutjche, der nach Italien kommt, einen Himmel findet, der
ihn anlächelt, während der Italiener, an das jtrahlende Licht feiner Heimath gewöhnt,
ungern fich von demſelben entfernt und jchwer dem rauberen Klima des Auslandes
zu troßen vermag. Ohne indefjen die vielen Urjachen aufzählen zu wollen, die das
römifche Neich gefchwächt und für jeden Eroberer leicht befiegbar gemacht haben,
glaube ich, daß es zu jeder Zeit Deutichland Leichter werden würde, Italien zu er-
obern, als umgekehrt, aus dem einfachen Grunde, weil der. Deutjche mit weniger
Schwierigkeit in Italien reift, ala der Italiener in Deutjchland.
Ich ſage das keineswegs, um irgend einem Deutichen mit gefundem Dtenfchen-
verjtand zuzumuthen, an eine künftige Eroberung Italiens auch nur zu denken, fon»
dern einfach, um die Haupturfache zu bezeichnen, weswegen der Deutiche den Italiener
beifer kennt, al3 der Italiener den Deutichen. Dazu fommt noch für uns die größere
Schwierigkeit der deutichen Sprache, während die Deutſchen die italienische viel Leichter
erlernen. Da die Deutjchen gründlich Latein ftudiren und gleichzeitig auch Fran—
zöfiich regelmäßig lernen, können fie mit Hilfe diefer beiden Sprachen Bieles in der
italienischen errathen, ohne ſich ihr gerade zu widmen. Wir treiben zwar auch ge-
nügend Latein und bringen es nicht jelten jo weit, dafjelbe mit einer gewiſſen Eleganz
zu fchreiben, und Franzöſiſch lernen wir, faſt ohne es zu merken; allein feine der
beiden Sprachen leiftet uns die geringite Hilfe, um uns das Verſtändniß des Deut-
chen zu erleichtern. Dies ift ein bedeutendes Hinderniß, und obwpl das erneute
Stalien durch den vermehrten Unterricht der deutjchen Sprache in den: Schulen das—
jelbe zu überjteigen trachtet, jo wird es ihm troßdem nicht gelingen, es gänzlich hin—
wegzuräumen, wenn es nicht zu einem Radicalmittel greift und das Beifpiel Ruß—
lands nachahmt, wo in jeder bürgerlichen Familie den Kindern von vornherein durch
fremde Hauslehrer und Erzieherinnen das Franzöſiſche und das Deutjche gleichzeitig
mit ihrer eigenen Sprache beigebracht wird. Indeſſen ijt e8 zweifelhaft, ob dies Er—
ziehungsſyſtem, welches für Rußland paßt, auf Italien wohlthätig wirken würde.
Rußland beabfichtigt, fich zu eivilifiren, indem es fich die Gultur des Weſtens aneignet ;
und jelbft, wenn es einen Theil feiner nationalen Bejonderheit opfert, ift der Gewinn
noch groß. Aber die Sache liegt anders für ein altes Gulturland, wie Italien; bier
wird der Nuben gering fein im Vergleich mit dem Berluft. Jedes Volt muß fich
feine natürliche Phyfiognomie und feine nationalen Sitten bewahren. Wenn, um
und zu lieben, wir uns auch gleichen müßten, würde die Welt monoton und langweilig
werden. Um die Deutfchen zu lieben, brauchen wir nicht Deutjche zu werden, fo
wenig die Deutjchen den Jtalienern nachzuäffen brauchen, um diefe zu lieben, Die
Aus Italien. 469
Hauptjache ift, daß unfere Gefühle übereinftimmen, und Aufgabe der Schriftfteller in
Deutichland und in Italien ift es, diefelben in Uebereinftimmung zu bringen. Was
die Sprache betrifft, jo werden alle Diejenigen fie lernen, die das Bedürfniß dazu
fühlen, fei e8 zum Studium, ſei e& zum Reifen, in Geichäften, oder zum Vergnügen.
Ich will mich jedoch auf diefem minder wichtigen Punkt nicht länger aufhalten.
Was liegt an der Sprache, die wir reden, wenn wir uns nicht erſt mit dem Herzen
veritehen? Kain und Abel redeten wahricheinlich diefelbe Sprache, und dennoch haften
fie fih. Die Savoyarden und die Piemontefen redeten eine verfchiedene Sprache
und dennoch, jo lange fie beide dem Hauſe Savoyen unterthan waren, ftinmten
fie volllommen überein; im Benetianifchen wurde vor dem Jahre 1859 das Deutiche
mebr gelernt, ald in irgend einer anderen italienifchen Provinz, und doch trug das
Nichts dazu bei, die Sympathie der Venetianer für die öfterreichiichen Herrſcher zu
vergrößern. Die gemeinfame Sprache ıft freilich eine mächtige Förderung ber Zu—
neigung, fie fann aber auch zur Förderung des Hafles werden. Diefen vor Allem
muß man unmöglich machen, und dann wird es jedem Volk leicht fein, mit einem
anderen zu harmoniren, welche Zunge fie untereinander auch reden mögen. Es gibt
eine ftumme Spracdhe, die Thaten im Gefolge hat, und die berebter ift, als alle
—— und dieſe ſtumme, ideale Sprache iſt es, die ich zwiſchen Bolt und Bolt
verlange.
Mit Ausnahme der Spanier, von denen Italien leider nur ein eitles, läftiges
Geremoniell angenommen bat, das heute noch unferer Rede und unferen Gebräuchen
binderlich ift, gab es kein fremdes Volt, das nach Jtalien gelommen wäre, ohne frucht«
bare und wohlthätige Spuren feines Aufenthalts zurüdgelafien zu haben. Wenn
auch Factifch Italien von Fremdlingen bejegt war, jo änderte es doch niemals in
erheblicher Weife den eigenen Organismus. Givilifirte und barbarifche Völker jchritten
über feinen Boden bin, die Etruäfer, die Phönizier, die Gelten, die Griechen, bie
Hunnen, die Bandalen, die Gothen, die Yongobarden, die Franken, die Araber, bie
Normannen, die Sachſen, die Schwaben, die Defterreicher, die Franzoſen, fie alle
waren da, verichmolzen fich aber mit den Jtalienern. Daher birgt Italien feine
Golonien derjenigen fremden Völker in fich, die es einft erobert; die wenigen und
ärmlichen albanefifchen, dalmatinifchen, deutichen und griechifchen Golonien, die fich
bier und da zeritreut finden, wurden nicht durch Eroberer gegründet, fondern eher
durch Frlüchtlinge. Wer hierher am, um zu erobern, endete damit, erobert zu werden;
der Italiener nahm den Fremden fo vollitändig in fich auf, daß, obwol Italien
jtets eine Beute fremder Invafionen geweſen ift, einer unferer Schriftjteller, der es
unternahm, die Geichichte der Fremdherrſchaften in Italien zu erzählen,
Ichließlih damit endete, unſere ganze unglüdliche Geichichte wiederzugeben. Die
Natur des Italieners jedoch ift jo zähe, daß das uriprüngliche Element bei ihm troß
der vielen Wandlungen fi niemals gany zeritören läßt. Und wenngleich viele
Staliener und viele Fremde geneigt find, die vergangene Zeit als eine beflere und
ruhmreichere zu beklagen und die alten Italiener als volllommenere Menjchen zu
betrachten, jo kann ich in diefe Klagen nicht einftimmen. Der alte Organismus war
ermüdet und zum Theil erfchöpft; ohne neue äußere Berührungen wären wir viel-
leicht ganz zu Grumde gegangen, wie jo viele orientalifche Voller nach einer Glany
beriode der Bildung zu Grunde gegangen find, weil fie ifolirt gelebt, feine neue
Krait, Leine neuen Xebenselemente in fi aufgenommen haben, feine Blutvermiſchung
ftattgefunden bat; der Italiener hingegen, indem er das Beite des Fremden während
der ganzen Reihenfolge feiner Geichichte in fich einfog, vermehrte dadurch feine Yebens-
kraft und feine Macht. Als indeflen der jchwermüthige Genius des Tacitus, im
MVorgefühl des nahen Falles des römischen Reichs, die Römer auf das Beifpiel des
ftarten Deutichlands wies, beabfichtigte er nicht nur, das Reich auf die bevorftehende
Gefahr aufmerfiam zu machen, jondern ihm auch vorzuftellen, wie viel Wohlthaten
Atalien wieder genießen würde, wenn es vermocdht hätte, in feiner bürgerlichen
Berlaffung einen Bortheil aus der Betrachtung jener einfachen, ftrengen, religiöien
470 Deutſche Rundſchau.
Sitten zu ziehen, denen dieſe angeblichen Barbaren huldigten. Gewiß iſt Tacitus
von manchem ſeiner römiſchen Zeitgenoſſen für einen ſchlechten Bürger gehalten wor—
den, da er Deutſchland nicht nur ſtudirte, ſondern auch bewunderte, und von jedem
ſeiner Mitbürger das Gleiche verlangte; er hoffte wol, aus der Bewunderung bald
den Wettſtreit entſtehen zu ſehen, der die alten lateiniſchen Tugenden wieder erwecken
würde, welche den Vergleich mit den germaniſchen ohne Zweifel beſtanden hätten.
Aehnlich erging e8 vor dem unbheilvollen deutjch-franzöfifchen Krieg in Frankreich den
wenigen Franzojen, die Deutjchland jtudirt hatten und wohl wußten, wie groß und
mächtig e3 jei, und wie gefährlich eine Herausforderung fich erweifen würde. Die
öffentliche Meinung wandte fich erzümt von ihnen als von fchlechten Bürgern ab,
während e& ficher nüßlicher gewejen wäre, auf fie zu hören und Deutfchland zu einem
friedlichen Wettlampfe anzueifern. Für die Alten waren die Worte vis und virtus
von gleichem Werth; wir Neueren jcheinen das Bewußtjein diefer Jdentität verloren
zu haben. Den Franzoſen wurde es ebenjo verhängnißvoll, die deutſche Macht nicht
genügend erkannt, wie den Römern, auf die prophetifchen Warnungen des Tacitus
nicht gehört zu haben. Als nun die Germanen, ihre Bortheile merfend, kühn Italien
als ein Eroberungsland betraten, famen fie ſtets als ein neues Volk, bald unter dem
Namen der Gothen, bald unter dem der Longobarden. Das erſte Gefühl der Italiener
bei ihrer Ankunft mußte das der großen Ueberrafchung gewejen fein; ala fie aber
merkten, daß die Barbaren die genügende Macht hatten, ihre Eroberung feftzuhalten,
befanden fie fich in der Lage, mit jenen da® Wunder der Graecia capta zu erw
neuern, des befiegten Griechenlands, das ſeinerſeits feinen rohen und ftolzen römischen
Sieger gefangen und bezwungen hatte. Die befiegten Römer fiegten nun über die
fiegenden Germanen. Gie verzichteten auf die Herrſchaft, führten aber gleichzeitig
ihre eigenen Gefeße ein, zwangen die Kleine Zahl der Eroberer, die Dialekte der
eroberten Yänder zu reden, und als die Bezwinger ein eigenes Geſetz machen wollten,
nöthigten fie fie nicht blos, fich dazu der Lateinischen Sprache zu bedienen, fondern
um befjer verftanden zu werden, fahen fich die neuen Geſetzgeber jogar gezwungen,
einige Ausdrüde der volfsthümlichen Dialekte anzunehmen, wie der würdige Profeffor
Pott in Halle jo richtig bewiejen Hat. Kurz, alle fremden Elemente, die mit der
Eroberung der Gothen und Longobarden nah Stalien kamen, verfchmolzen jo
jehr mit dem Italieniſchen, wurden vielmehr von diefem fo vollftändig aufgefogen,
daß das italienifche Element wieder herborzuragen begann und gewiß den Sieg davon
getragen hätte, wenn nicht neue Einfälle vorgefommen wären. Wenn man aber
den Italiener des zehnten Jahrhunderts mit dem des fünften vergleicht, wird man
einen großen Unterjchied zwiichen beiden bemerken. Es läßt ſich zwar nicht behaup-
ten, daß der damalige Italiener ſchon den neuen originalen Charakter hatte, der ihm
mehr nach dem Jahre Tauſend eigen; aber man fühlt vecht gut, daß in den
Italiener des zehnten Jahrhunderts ein neuer Geift gedrungen ift, der ihm bald eine
neue nationale Form bedeuten wird. Die Germanen, die nach Italien gekommen
waren, brachen jede Beziehung zur alten Heimath ab, jobald Italien ihr bleibender
Aufenthalt geworden, fie wandelten fich dort zu Italienern um; dieſe ſelbſt aber,
in deren Mitte und durch deren Vermittelung die Wandlung vor fich ging, verän-
derten fich natürlicherteife ebenfalld, Ein gewiſſer Geift der Unabhängigkeit bemäch-
tigte fich ihrer auf's Neue, nachdem er unter der Herrſchaft des römischen Reichs
fi) faſt gänzlich verloren. Um ganz genau zu fein, war e8 übrigens im alten Rom
nicht jo jehr ein Gefühl der Unabhängigkeit, als der Würde, welches vorherrichte;
dad „„Romanus sum“ jollte nicht ſowol heißen: ich vertheidige die Nechte meines
Daterlandes, welches Rom ift, als: mein Vaterland ijt groß und ich bin Bürger
dieſes Vaterlandes. Die Germanen müfjen wol in das italienische Unabhängigfeits-
gefühl etwas Fndividuelleres und Humaneres gebracht haben; außerdem haben fie
durch ihre Heirathen und ihre Sitten unjere Nace gekräftigt, und wenn die Jtaliener
des Nordens etwas regjamer find, ala die des Südens, fo jchreibe ich dies nicht nur
dem Unterjchied des Klima's zu, jondern wol auch der größeren Zahl germanifcher
Aus Italien. 471
Glemente, die in Oberitalien zurüdgeblieben find. Aus Oberitalien daher mußten
im Mittelalter wie in unferem eigenen Jahrhundert die erften Zeichen der Unab—
hängigkeit fommen, und zwar eigenthümlicher Weile gerade gegen diefelben Deutichen,
die von jenen alten Germanen abjtammen, die nicht ala Eroberer nach Italien ge»
fommen waren. So bewahrheitete fich in Oberitalien zuerft daffelbe hiſtoriſche Phä-
nomen, das fich nachmals in Nord» und Südamerifa wiederholte, wo die englifchen
und fpanifchen Goloniften, die fich dort niedergelaffen, fich erft gegen ihr Mutterland
erzürnten, um fich fchließlich gang von demfelben loszureißen. Freilich lag in Italien
die Sache etwas anders, da die Majorität nach wie vor die lateinische Race war
und ift; die germanifchen Elemente aber, die in diefe unſere lateinifche Welt ge—
drungen waren, trugen, abgejehen von dem Willen des Einzelnen, viel eher dazu
bei, den jelbitändigen Geift der Italiener zu heben, als ihn niederzudrüden, jo daß
diefe beim Gricheinen der neuen fremden Eroberer fich ſofort rührten und zu den
Waffen griffen, um fich zu vertbeidigen.
So ſehen wir in unſerer Gefchichte, zwifchen dem neunten und zehnten Jahr-
hundert, die Geftalten eined Berengar, eines Gredcenz, eines Arbuin und Lanzone
ericheinen, und im zwölften Jahrhundert endlich den Krieg ausbrechen zwiichen dem
alliirten lombardiſchen Gemeinweien und dem ſchwäbiſchen Kaiſer, bis diefer umd feine
Nachfolger einfahen, daß, um fich in Italien ficher zu fühlen, fie Italiener werben
und die wieder erftehende italienische Gultur fördern müßten. Die Schwaben handelten
alfo im zwölften und dreizehnten Jahrhundert ähnlich, wie ihrer Zeit die Oſtgothen;
fie waren wie dieje gleichzeitig die Sieger und die Befiegten. Die Longobarden, im
höchſten Grade unwiflend, fchienen die Italiener in ihre Barbarei einjchläfern zu
wollen, aber diefe zweihundertjährige Lethargie war für Jtalien vielleicht mehr wohl»
thätig ala nachtheilig. Italien wurde roher und einfältiger, aber in diefer Rohheit
und Einfalt erwarb es fich neues Blut und neue Kraft für den Tag des Wieder-
erwachens; es eriebte den Gipfel des Elends und der Unterbrüdung, allein indem
es litt, fühlte es, wie die Kraft feiner Muskeln zunahm. Der Yongobarde hatte den
Römer überrumpelt, der in Trägheit und Schwelgerei dahinlebte; den Unthätigen zu
bezwingen, ift ein Leichtes. Gr beraubte ihn, jchlug ihn und zwang ihn, zu dienen.
Bald aber begann der Diener, den Herrn zu leiten, der Cine verband fich mit dem
Anderen, und es entitand daraus Gin Mann, der nicht mehr ganz Lateiner war und
noch weniger ganz Deuticher; der neue Italiener war aus der glüdlichen Zur
fammenwirfung, der langjamen, mühevollen, geheimen Arbeit des Mittelalters, aus
der natürlichen Miſchung der Eingeborenen und der Gingewanderten hervorgegangen.
Unter den fremden Elementen, die in unfer Leben drangen, ift das wichtigfte
unftreitig das germanifche; es wirkte am ftärfften und am wohlthätigften auf uns
ein. In der That, in jenen Theilen, die von den Deutichen weniger berührt wur-
den, wie die neapolitanifchen Provinzen, Sicilien und Sardinien, ift der Italiener
zwar lebhaft und begabt, aber nicht fo thatkräftig, wie in den anderen italieniichen
Provinzen, in denen unfer Yeben mit mehr Deutichthum verfeht worden ift. Diele
glüdliche Kreuzung des Blutes, die fich auf italienifchem Boden zwilchen den beiden
Stämmen vollzog, mußte ein über Erwarten wichtiger Factor unferer modernen Givili«
fation werden.
Aber auch in Deutichland felbft datirt die moderne Givilifation von der Zeit an,
in welcher es aus feinem beichränften Nationalfreis heraus begann fich in das claffiiche
Alterthum Rom’s und Griechenlands, in die Renaiffance Italiens und in das acht
zehnte Nahrhundert Frankreichs zu vertiefen. So muß jedes Land eigenes Xeben,
eigene Sitte, eigene Sprache haben, aber nicht unempfänglich fein gegen das, was
e8 umgibt, um micht ftille zu ftehen inmitten einer Welt, die ftets weiter fchreitet.
Ich weiß wahrlich nicht, was aus talien geworben wäre, wenn es, ftalt feine Kräfte
durch die Berührung mit feinen Groberern aufzufriichen, fortgefahren hätte, ilolirt zu
leben und nur vom eigenen Marl zu zehren. Wie gelagt, ich weiß es nicht, und
Keiner kann es wiffen; zu befürdhten ift aber, dab es heutzutage als ein müdes Bolt
472 Deutjche Rundichau.
ericheinen würde, erichöpft durch das eigene Hiftorifche Leben, Es ift wol wahr, daß
Italien in feiner Einheit. doch tet? ein mannigfaltiges und darum ein jehr reiches
Land geweſen ift. Es läßt fich daher vermuthen, daß, wie einjt Mittelitalien von
Nom aus eine etruskifche, und Süditalien eine griechifche Eultur erhielt, auch Nord—
italien es erreicht hätte, aus eigener Kraft eine neue italienische Cultur zu fchaffen,
bie vielleicht den celtifchen Einfluß aufgewiejen hätte. Und während dann ein Theil
Italiens geherrfcht und neuen Glanz um fich verbreitet hätte, würden die übrigen
Theile des Landes geruht und dadurch neuen Gulturftoff vorbereitet haben. Der
Boden Saturn’ wird vielleicht niemals fich ganz erichöpfen können. Darum fahen
wir nach der mittelalterlichen Ruhe über die etrußfifche Cultur eine neue toßcanifche
fih erheben, die an Schönheit nur der alten hellenifchen verglichen werden kann.
Ein Theil des Zaubers, den diefe neue Cultur der Renaiffance auf und ausübt, Liegt
bauptfächlich in der harmonischen Verbindung der antifen Formen und des modernen
Gedanken. Jene wurden durch Studium und den natürlichen guten Geſchmack, wel-
cher in der Toscana herrichte, nur noch reizender; und diefer wurde vorbereitet und
genährt durch das Zufammentreffen der lateinifchen und der germanijchen Race im
Mittelalter.
Es fteht mir nicht an, darauf Hinzumweifen, twie viel Dentichland von Italien
angenommen und gelernt bat; ich beichränfe mich, hervorzuheben, wie unter all’ den
Berührungen, die Italien je mit den Fremden gehabt, diejenige mit den Deutjchen
die wirkſamſte gewefen if. Denn fie modificirte gründlich den italienischen Charakter
und ließ ihm dennoch feine urjprüngliche und mächtige Originalität. Ich zweifle
beinahe, ob aus den rein italienifchen Elementen, ohne die Grundlagen des durch
germanijchen Geift beherrichten Mittelalters, das uritalienifche Gedicht eines Dante
hätte entjtehen können. Ich möchte das weder durch die tiefe und ernſte Schwer-
muth, die es durchweht, begründen, noch durch die Leidenjchaft, die e8 bewegt, auch
wenn der Profeffor Mommſen in einer etwas übertriebenen und erclufiven Kritik meint,
daß die Italiener einer ſolchen nicht fähig ſeien. Mit diefer jchwermüthigen Em—
pfindung waren im Altertum jchon die Verſe des Lucrez, des Birgil, des Gatull
erfüllt; und ihre Empfindung war feineswegs Rhetorik, wie Profeffor Mommſen be-
haupten möchte. Die Leidenfchaft, die das Dante’sche Gedicht athmet, könnte ebenfo
gut deutſch als italienifch fein, denn fie ift Human. Das ift ja dad Worrecht der
großen Dichter, eminent Human zu fühlen, um über ihre Zeit,. über ihre Heimath
hinaus Weltbürger zu fein. Der Aufbau des Dante’schen Gedichtes jedoch, das My—
ftiiche, Gläubige, Strebende darin, find ein Prädicat jener merkwürdigen neuen Gul-
tur, welche, durch die Verfchmelzung der nordilchen und füdlichen Glemente hervor:
gebracht, zuerſt auf lateinischen Boden Fuß Takte, um don dort aus ſpäter auf den
germanifchen zurücdzumwirten. So wurde denn die italienische Renaiffance, an der die
Germanen geheimnißvoll und unbewußt mitgewirkt hatten, mit Recht ala ein eriter
Vorbote der germanifchen religiöjen Reformation betrachtet, einer religiöjen Refor-
mation, die jedoch auch einen politifchen Inhalt in fich ſchloß; die Verkündung des
freien Gedankens mußte ja nothiwendiger Weile zur Beftätigung der Menichenrechte
führen, die in der großen franzöfifchen Revolution zum Austrag fam. Wenn Deutich-
land, welches uns aljo zu neuem Leben wieder erweckt, ſelbſt fich daraus bereicherte,
fo wußte es, nachdem es dazu beigetragen hatte, die philoiophiiche Bewegung der
frangöfifchen Encyelopädie zu ermöglichen, auch von den Franzoſen des achtzehnten
Jahrhunderts Nuten zu ziehen und von diefen wie von den Jtalienern der Renail-
jance die Liebe zur jchönen Form und zu den Elaren Gontouren zu entlehnen. Wenn
nun — was Deutichland und Italien betrifft — Treundichaitliche Annäherung und
Verbindung das Ziel fein joll, jo ift gegenfeitiges Sichkennen- und Berftchen = Lernen
das Mittel, es zu erreichen. Sich näher kennen ijt Häufig fich lieben; die Antipathie
entjteht nur zu oft auß der Unwiſſenheit. Laffet einen Italiener, der fein Wort
Deutſch verjteht, in Deutjchland reifen, fo iſt darauf zu wetten, daß fait alle Ein-
drücde, die er dort empfängt, ihm widerwärtig fein werden. Derſelbe Italiener, in
— nr —— — — — — — —
Aus Italien. 473
der deutſchen Sprache wohl unterrichtet und im Stande, auf feinen Reifen in Deutich-
land mit den Deutjchen zu reden, in ihre fyamilien zu fommen und an ihrem Xeben
Theil zu nehmen, wird fich freuen, unter der Außenfeite des Deutichen den Menſchen
zu finden, den er begreift, und der ihm nicht felten Liebe einflößen wird, nachdem er
fih von ihm verftanden fieht. Ebenfo wird es dem Deutfchen in Italien ergehen —
je nachdem er die Sprache mehr oder weniger inne hat. Um jedoch in dem Geift
der Sprache zu dringen, muß man bie Literatur, die Kunſt, die Gefittung des be=
treffenden Volkes kennen lernen. Auch die Eigenliebe fpielt ihre Rolle in Bezug auf
die Kenntniffe, die man befigt, und die Eyınpathie, die man bezeigt. Wer fich gar
nicht oder nur mangelhaft ausdrüden kann, ift bald auf fich angewiefen; fein Wune
der alfo, wenn Alles, was an ihm vorübergeht, ihm gleichgültig oder antipathifch er-
Icheint. Wer aber frei über die Sprachen gebieten kann, beutet diefelben mit Genug-
thuung aus und hält befriedigende Zwieſprache mit der Welt um fich her. Es ge
reicht mir daher zur lebhaften Freude, daß jeit einigen Jahren dad Studium der
deutichen Sprache in Italien mit großer Vorliebe betrieben wird. Indeſſen, jo lieb
mir die Thatſache ift, jo wenig kann ich es billigen, daß in den italienischen Schu—
len ohne Weiteres deutiche Schulbücher eingeführt werden. Ich weiß wol, daß fie
befler find, ala diejenigen, die biöher bei uns gebraucht wurben ; aber e& däucht mir,
daß, wenn es auch richtig ift, die guten Schulbücher des Auslandes zu kennen, es
dennoch nachtheilig ift, fie den Schulen zu octroyiren, aus Gründen, die jeder Päda-
goge leicht einjehen wird. Die Methode, die für einen deutichen Kopf paflend ift,
braucht e8 darum noch nicht für einen italienischen Kopf zu fein; und wenn es uns
auch nüht, fie zu fennen und zu bewundern, fo geziemt es uns doch nicht, fie zu
copiren, und noch weniger, fie und anzueignen. Unfere ganze Naturanlage fträubt
fih dagegen, nicht aus Yeichtiertigkeit, wie man glauben könnte, fondern einzig aus
dem Umſtande, daß die deutſche Geduld das allmälige Vorgehen verträgt, während
die italienische Ungeduld unbedingter ein haftiges Fortſchreiten erheiſcht. Diefe Ver—
Ichiedenheit der Anlagen erfordert natürlich eine Verſchiedenheit der Erziehungsmer
thode. Deutichland und Italien haben fich gegenfeitig viel zu bieten und viel von
einander zu empfangen. Aber ein Austaufch muß natürlich und fpontan fein; was
fih gewaltiam und äußerlich anhängt, hat feine Dauer, denn es vermag nicht, in
einen lebendigen Organismus zu dringen. Vorläufig ift es nothwendig, daß wir
uns ſehen, fennen und mit einander verfehren. Indem wir uns ſympathiſch begeg-
nen, werden wir, uns jelbft unbewußt, unfere guten Eigenfchaften austaufchen; denn
Jedermann bat es ſchon wahrgenommen, daß wir zum Guten geneigt find, fobald
wir uns angezogen, zum Bölen, fobald wir uns abgeftoßen fühlen. Das Häßliche
fordert das Häßliche heraus; Darwin, der den Ausdrud der Thiere ftudirt hat,
könnte uns die Beilpiele und die Urfachen diefes Natur» Phänomens darlegen. Und
fo möchte ich, daß der letzte Eindrud, der dem deutſchen Yejer aus diefen beicheidenen,
aber tiefgefühlten Seiten entgegen lächelt, derjenige der Sympathie ſei. Ich werde
mir dann jchmeicheln, die Entfernung, die uns trennte, jei es auch nur um einen
Schritt, verringert zu haben!
Angelo de Gubernatis.
Politische Rundfchan.
Berlin, den 15. Auguft.
Für die politifch-parlamentarifchen Parteien des VBaterlandes ift der unerwartete
Hintritt des Abgeordneten Hoverbed ein jchwerer Schlag; Tür die Parteien, nicht blos
für feine, die deutjche Fortſchrittspartei. Er ſelbſt war in hervorragender Weife mit
thätig geweſen, als fich die oppofitionellen Anfänge „Junglitthauens” zur nationalen
Parteides deutfchen Fortichritts ausweiteten, und feine Berfönlichkeit vor Allem Hatte
es verjtanden, die weiter nach links gravitirenden Elemente unter feinen Gefinnungs-
genoſſen vor dem völligen Anſchluß an die rein negativen Tendenzen des politischen
Nadicaliamus zu bewahren. In der Debatte ein jtet3 jchlagfertiger Kämpe, blieb
Hoverbedf bei allen Irrgängen der parlamentarifchen Strategie ein Mann des unbeug—
ſamen Rechtsgefühls, und wenn deſſen ftarre Conſequenz ihn zuweilen verhinderte,
jenen Anforderungen gerecht zu werden, welche das politiiche Parallelogramm der
Kräfte an den Parlamentarier ftellt, der mit benannten Zahlen zu rechnen berufen
ward, To Hat doch zu feiner Zeit ſelbſt der entichiedenfte Gegner die Lauterkeit feiner
Gefinnung, oder die Reinheit feiner Vaterlandsliebe anzuzweifeln verfuht. In uns
ſerem verhältnigmäßig jo jungen parlamentarifchen Leben find folche Charaktere, als
Leuchtthürme, an deren ruhig jtrahlendem Schein fich ſchwächere Gemüther aufzurichten
vermögen, von unjchäßbarem Werth, und darum ſchafft fein Tod, der ihn in herr—
lichſter Manneskraft weiterem Wirken entriß, eine fo fchwer zu verwindende Lüde.
Hoverbedf gehört nicht zu Denen, deren Verluft durch ein engeres Aneinanderichliegen
der Glieder minder fühlbar gemacht werden fann, und wenn die Gejchichte einjt die
Ahnen nennen wird, welche deutjches Verfaffungsleben werkthätig einbürgern halfen,
fo muß fie auch jeined Namens rühmend gedenken.
Unter ſolch friſchem Eindrud ift man faum in der Stimmung, des erften Er-
gebnifjes fich ungetrübt, zu freuen, welches die gefeßgeberiiche Gonfequenz der preußi—
Then Regierung dem Glerus gegenüber zu verzeichnen hat. Man beugte fich dem
Gele über die Vermögensverwaltung der Kirchengemeinden, Fürſtbiſchof Heinrich
gab von jeinem Öfterreichiichen Aiyl Johannisberg aus das erjte Signal zur Unter-
werfung, und die bifchöflichen Gollegen folgten — secundum ordinem. Das Epi-
ffopat Hatte begriffen, was das neue, von einem unleugbar demokratiſchen Geifte
durd wehte Gejeg ihm anzuthun im Stande fei. Verlor er in Vermögensſachen
die Gewalt über den gemeinen Mann, jo half er felbit feine Macht mituntergraben.
So wirkſam fi nun auch der Schuß in’s Schwarze erwies, jo wenig hatte
man ein Necht, zu mwähnen, daß mit dem Aufgeben des principiellen Widerſtreits
die Halsjtarrigfeit des Epiffopats überhaupt gebrochen jei. Wenn man an einzelnen
Regierungsftellen fi) mit Bezug auf diefe Vorgänge einer etwas ſanguiniſchen Aufs
fafjung zuzuneigen und den praftifchen Werth der bifchöflichen Nachgiebigfeit höher
anzufchlagen jchien, als eine fühlere Erwägung geftattet haben möchte, jo lag dem
zweifelsohne viel mehr tactijches Bedürfniß, als wahre Verkennung der Sachlage zu
Grunde. Man glaubte die Stellung des Gegners leichter zu erichüttern, indem man
fi das Anjehen gab, ihn auf der ganzen Linie ala im Rückzug befindlich zu glauben.
In Wahrheit konnte jchlechterdings eine weiter gehende Unterwerfung unter die Staats—
Politische Rundſchau. 475
geſetze kaum feftgeftellt werden. Selbſt das Sperrgeſetz, auf das man fo große Hoff-
nungen gebaut, erwies fich nicht als das Univerjalmittel, für das man es angepriefen.
Hier und da, dies konnte nicht in Abrede geftellt werden, raffte ſich das eine oder
das andere Mitglied des Guratclerus zu einer ftaatätreuen Erklärung auf, um fich
den Bezug der ftaatlichen Geldzufchüfe und Pfründen auch fernerhin zu fichern. Aber
im Großen und Ganzen miktraute man in diefem Theil der niederen Geiftlichkeit,
fei e8 der Machtfülle, fei e8 der Ausdauer des Staates, in welchem jene noch nicht
gelernt hat, den Schirmherrn ihrer Rechte gegenüber den Biſchöfen zu erbliden.
Iſt erft nach diefer Richtung ein ergebnifreicher Schritt gethan, wird man auch
auf die glüdliche Beendigung des großen Kirchentampfes mit mehr Berechtigung bie
Gläfer leeren dürfen — denn Alles ift ja nachgerade Vorwand zum Poculiren ge
worden — als heute, da man die Folgen ber bifchöflichen Anerkennung des Kirchen-
vermoögens-Geſetzes in patriotifcher Aufwallung übertreibt. Glüdlicherweile fcheint auch
auf der anderen Seite die nltramontane Propaganda ihren Zenith überfchritten zu
haben. Der Ausfall der bayriihen Wahlen, im fosmopolitifchen, clericalen
Lager fo ungeheuerlich im Voraus verwerthet, zeigt zur Genüge, daß hier ein Still-
ftand eingetreten. Allerdings ift man im Yande der Wittelsbacher von einem glän-
zenden Siege der liberalen und reichätreuen Gefinnung noch ziemlich fern. Allein es
ift Schon immer viel damit gewonnen, daß der ultramontanen Springfluth, welche
bei Gelegenheit der Wahlen zum deutichen Reichstage in diefem Lande jo große Ver-
beerungen antichtete, für's Erſte wenigftens Ginhalt gethan werden konnte. Ein
Theil des Verdienftes kam augenicheinlich dem Schugdamm zu, welchen das bayriſche
Minifterium durch feine neue Wahltreis-Eintheilung hatte aufrichten helfen. Der
Ueberihwemmung der Städte durch die ultramontanen Landkreisbezirle war damit
zum Theil vorgebeugt.
Die moralifche Niederlage der bayriichen Ultramontanen und Particulariften —
denn eine thatfächliche Schlappe haben fie ja nicht zu verzeichnen gehabt — liegt eben
in dem großartigen Mißverhältniß ihrer Anftrengungen und Hoffnungen zu dem
factifch erreichten Wahlergebniß. Obwol fich alle Gegner der neuen Reichseinheit
um ihr Panier geichaart, waren fie doch außer Stande, jene großartige Kundgebung
des jpecififch bayriich- „patriotifchen“ Geiftes zu organifiren, die fie vorher jo laut
verkündet. Echade nur, daß es noch immer Vorgänge im beutichen Reiche gibt,
welche ihnen die Verfekerung des Gedanfens an Kaiſer und Reich fo über Gebühr
erleichtern, wie da® Verfahren gegen die „rankiurter Zeitung“, welches, obwol
gegen die gefammte Publiciftit gerichtet, um fo gehäffiger ericheint, je directer es
gerade ein anerkanntes Oppofitionsorgan trifft. Wir fürchten, daß man mit
diefer Anwendung der drafoniichen Beitimmungen des dbeutichen Preßgeſetzes über den
Zeugenzwang der Redacteure, wie fie eben in iranffiurt am Main ftaitgeiunden, das
Gegentheil don dem erreichen wird, was man beabfichtigt; wenn nicht etwa bie
Stantäanwaltichaft, indem fie auf den Antrag Dritter das Verfahren gegen das
Frankfurter Blatt einleitete, um den Berfafler einer Gorrefponden, aus — Gera
zu ermitteln, fich die Aufgabe geftellt, den betreffenden Zeugnikzwang- Paragraphen
fo recht augenfällig ad absurdum zu führen. Denn kein Menſch mit jenen gefunden
fünf Sinnen konnte darauf rechnen, daß anftändige Männer, denen ein Geheimniß
anvertraut war, daffelbe Angefichts einer kürzeren oder längeren Zwangshaft verratben
würden, ganz abgelehen davon, daß ein Cppofitioneblatt fih um feinen Preis die
gute Gelegenheit entgehen laflen durfte, auf fo wohlieile Art ſich die Krone des
Mariyriums zu erwerben. Länger als ſechs Monate konnte ja die Zwangshaft des
NRedacteurs nicht dauern, und was dann, wenn die Hedacteure, wie vorauszufehen,
ſtandhaft blieben ?
63 war nur die „‚boutade‘ eines bumoriftiih anfgelegten Publiciften, welche
die Herten von der Feder auf einen Act der ESelbithilie — frei nah Echulye
Deligih — verwies und fie ermahnte, jo lange in der Parlamenteberichterftattung
die Reden des Herrn X und die Motivenberichte des Herm Y todtzufchweigen, bis
476 Deutſche Rundichau.
der Reichstag Muße gefunden, die prefäre Lage der Preffe zu berüdfichtigen. Indeſſen
fann die Langmuth der öffentlichen Organe zuweilen auch jehr weit gehen und auch
das diesjährige Stuttgarter Schützenfeſt hat bei mehr als einem Redner Grund
genug gehabt, fich zu der theilnehmenden Rüdficht der Publiciſtik Glück zu wünjchen.
Nicht als ob der Gedanke diejer nationalen Vereinigungen zu berwerfen oder jet, nach
errungener jtaatlicher Einheit, unter das alte Eiſen zu fteden wäre. Nichts fei ferner
von und. Die ideale Zufammengehörigfeit aller nationalen Stämme durch die
periodifche Wiederkehr folcher Feſte öffentlich documentirt zu ſehen, ift gewiß ein
angemefjenes Beftreben. Aber folche Feſte jollten deshalb nicht aus dem Rahmen
herauötreten, der ihnen der Natur der Sache nach angewiejen if. Dejterreichijche
und jchweizeriihe Schüben mögen zu dem nationalen Feitplate geladen werden;
Niemand wird daran etwas audzufegen haben. Aber man Hüte fich, die fremden
Gäſte zu Schmerzenskindern der Mutter Germania zu degradiren, und man jei doppelt
vorjichtig in der Aufnahme derartiger Hundgebungen, wenn fie von einer Seite fommen,
deren deutjch-freundliche Gefinnung nicht als vollwichtig geprüft gelten daf. Wir
begnügen uns mit diefer Andeutung, ohne den Namen eine gewiſſen Wiener
Schützenmeiſters nennen zu wollen, der überdies noch in Jedermanns Erinnerung lebt.
Neben den fogenannten „patriotiichen” Defterreichern deutjcher Zunge find es
namentlich die öſterreichiſchen Slaven, welche feine Gelegenheit vorübergehen
lafjen, die Saat des Argwohns gegen das deutiche Reich auszuftreuen, und in eriter
Reihe find diefen nationalen Elementen des Kaiſerſtaats die Bildungsfactoren ein
Dorn im Auge, welche die Schulen und Univerfitäten aus dem „Reich“ zu beziehen
pflegen. Ginge es nach ihnen, jo würde man jederzeit den größten einheimijchen
Mittelmäßigkeiten vor den vom Ausland zu berufenden Autoritäten unbedingt den
Vorzug geben. Unter dem Schlagwort der „Schul-Verpreußung“ ift e8 denn auch
diefer Partei gelungen, die deutſchen Profefjoren in den maßgebenden Regionen
ziemlich in Mißeredit zu bringen, und ſelbſt das Minifterium Aueräperg, obwol
feinem Wejen nad) antijlavifch und im dfterreichiichen Sinne verjaffungstreusdeutich,
bat fich der Rüdwirkung nicht zu entziehen vermocht. Der fogenannte Prager
Profejjoren-Eonflict, welcher dieſe Hochſchule ſeiner bewährteſten, allerdings
deutſchländiſchen, Lehrkräfte zu berauben drohte, iſt in ſeinem tiefſten Grunde lediglich
auf das Mißtrauen zurückzuführen, mit dem man in Wien alle jene Mitglieder des
Lehrkörpers zu betrachten anfängt, welche nicht jpeciell öfterreichifchen Urſprungs
find. Die Wahrheit zu jagen, ijt allerdings dieſes Mißtrauen nicht in allen Fällen
gleich unberechtigt gewejen. Man hat verjchiedene Male beobachten fünnen, daß fremde
Profefforen in ihren Vorlefungen, wie im jonftigen Verhalten, die Nüdfichten aus dem
Auge jeßten, welche das Adoptiv» DVBaterland zu verlangen berechtigt war. Das
Gabinet Auersperg, eben weil es jeiner Nationalität nach (öfterreichiich-)deutichen Ur-
ſprungs ift, Hatte fich doppelt zu hüten, um feinen nach einer Blöße jpähenden
Havifchen und föderaliſtiſchen Gegnern nicht Gelegenheit zu bieten, e& der Förderung
unpatriotifcher Sinnesweile und Lehrmeinungen an höchiter Stelle zu zeihen. Daher jene
übereilte Parteinahme des überhaupt mit wenig wiſſenſchaftlichem Sinne außgeitatteten
Minifterpräfidenten Fürften Auersperg für den bureaufratijchen Prager Statthalterei-
Rath gegen die von diefem beleidigten Profeſſoren. Der Gabinetächet glaubte mit
jeinem jo jcharf pointirten Auftreten inſtinctiv eine Pflicht der Selbfterhaltung zu voll
ziehen, jo daß der Unterrichtsminifter jchließlich alle Mühe hatte, die Sache, nicht ohne
den allerdings zu beflagenden Verluſt des vorzüglichen Anatomen Prof. Henke, der einen
Ruf nad Tübingen angenommen, in's Geleife zu bringen, was gerade bei der in frage
ftehenden Prager Univerfität um jo nothwendiger jein mochte, weil die Gefahr nahe
lag, dieſe Hochichule geradezu in czechifche Hände zu jpielen, wenn man den deutfchen
wiſſenſchaftlichen Geift, der fie bisher in allen Kämpfen jo jtarf gemacht, dort gar
auf die Proſcriptionsliſte ſetzte.
Das Slaventhum in Defterreich hatte übrigens gerade in Iehter Zeit Gelegen-
beit, fih lärmvoll in den Bordergrund zu ftellen. Der Aufftand in der
Politiiche Rundſchau. 477
Herzegowina bot dafür die erwünjchte Veranlaſſung. Es waren chriftliche,
Havifche Stammesgenoffen, welche fich gegen das türfifche Joch erhoben Hatten, umd
fie galt e8 zu ſtühzen. Diefen fjlavifchen Regionen lagen offenkundige Annerions-
bejtrebungen, betreffend die chriftlichen „Hinterländer“ Dalmatiens, d. i. Bosniens
und der Herzegowina, eingeftandenermaßen jehr nahe. Diefe Tendenzen auch der
Regierung in Wien annehmbar zu machen, war das unverrüdbar im Auge behaltene
Ziel der Agitatoren, deren Verbindungen, wie man fich nicht verhehlen darf, in hohe
Kreiſe hinauf reichen, freilich ohne in den jeßt eben regierenden Regionen officielle Ver:
treter zu beſihen. Von den drei Hauptelementen, aus denen der ungarifch-öfterreichiiche
Staat bejteht, find gegenwärtig jenfeits der Yeitha die ungarifche, dieſſeits der Leitha
die Öfterreichifche Nationalität ftühende Factoren der Monarchie. Beide ftehen in mehr
oder minder offenem Kampf gegen das dritte, das jlavifche Element , welches zur
Zeit das Heft nicht in Händen hat. Dennoch kann dafjelbe vom Monarchen nicht
unberüdfichtigt bleiben. Indeß — von allen europäifch»diplomatifchen Bedenten
ganz abgeſehen, welche eine Arrondirungspolitit Oeſterreich- Ungarns auf Koften der
Türlei zur Zeit wenig thunlich erjcheinen laſſen — würde eine weitere Erwerbung
flavifchen Gebietes, möchte es mun zur cid= oder zur transleithanijchen Reichshälfte
geichlagen werden, jedenfalls das flaviiche Schwergewicht im Reiche vermehren, und
ſchon aus diefem Grunde Hat dieſe AUnnerionsidee weder unter Magyaren noch unter
Deutichen befondere Freunde gefunden. Dies hält natürlich den jlaviichen Theil der
Bevölkerung nicht ab, auf feine Weile den Aufftändifchen im Kampfe gegen den
Halbmond lebhaftefte Sympathien zu beweilen, und bis zu einem gewiffen Grabe ift
es ihm denn auch gelungen, die öfterreichifche Politit, wie fie Graf Andrafiy
vertritt, der Piorte gegenüber in ein ſchiefes Licht zu ftellen.
Daß die chriftliche Bevöllerung der Herzegowina fich in einer ſehr gedrüdten
Lage befindet, erjcheint ebenfowenig fraglich, als daß die Pforte, mit unbegreiflichem
Thlegma und wol auch in traditionellem Fatalismus, ſich die thatfräftige Unter
drüdung des Aufftandes nicht gerade angelegen fein ließ. Echon beginnt die Be—
wegung aus dem Rahmen eines bloßen Guerillabandentrieges herauszuwachſen und
die angrenzenden Yandestheile, fei es das türkifche Albanien, ſei es Montenegro,
Serbien oder jelbit das füdliche Dalmatien, ſpüren in immer beitigeren Er—
fchütterungen die Rüdjchläge der Empörung. Fürſt Nikita von Montenegro,
welcher noch im lehten Frühjahr während der Podgoriga-Affaire den Mächten ob
feiner maßvollen Zurüdhaltung volle Beweife feiner fyriedensliebe gegeben, ſah fich
bereitö außer Stande, den Zuzug feiner Getreuen zu den nfurgenten zu verhindern.
Sein Patriotismus wird von den flavifchen Agitatoren verbächtigt, und je geringer die
Griolge find, welche die türkiichen Truppen gegen die Aufftändifchen davontragen,
deito unwwiderftehlicher wird die Yuft der Söhne diefer ſchwarzen Berge, ſich ebenfalls
am „heiligen Kampf” zu betheiligen, ein Kampf, bei welchem man nicht weiß, wo
das nationale oder religiöfe Moment, oder gar die gemeine Raub- und Raufluft als
leitendes Motiv mitzufprechen beginnt. Faſt Scheint e# unmöglich, daß Montenegro
als ftaatliches Gemeinweien dem Aufftand noch lange fern bleibe. Hier fpielt auch
die ſtille NRivalität zwiſchen Fürſt Nikita und Milan von Serbien eine Rolle,
Je mehr fich diefer in confervativen, der Schlachtenaction abgeneigten Bahnen bewegt,
deſto eifervoller fieht fich Nikita aufgefordert, ihm in der Popularität bei dem dhrift-
lichen Bevölferungen der Ballanhalbinfel den Vorſprung abzugewinnen.
Fürſt Milan von Serbien hat durch feine plögliche Reife nach Wien, der
er freilich durch die gleichzeitige Betreibung einer Herzensangelegenbeit den politischen
Parfüm zu benehmen bemüht war, die diplomatiiche Welt aus ihrer Sommerrube
aufgefchredt. Er lam nad Wien mit dem ausgeiprcchenen Vorſatz, Hier Fühlung
zu nehmen mit der herrichenden Strömung. Gr wollte fich jelbft überzeugen, ob die
flavifche Richtung wirklich fo maßgebend geworden, ald man ihm vorzuipiegelm nicht
müde geweien. In dieſer Beziehung hatte er nur Enttäufchungen zu erleben, Selbft
der Hinweis auf feine prefäre Stellung der Omladina und den ſerbiſchen Wahlen
478 Deutſche Rundſchau.
gegenüber war nicht geeignet, ihm jene freie Hand zu verſchaffen, jene Rückendeckung
zu ſichern, deren er nicht entrathen zu können meinte, wenn er ſich in das ihm an—
geſonnene großſerbiſche Abenteuer ſtürzen ſollte. Die Dejterreich fich jelbft die
ftrengfte Neutralität auferlegte, jo machte e8 deren Aufrechthaltung auch dem ferbifchen
Fürſten zur loyaljten Pfliht. Wol mochte man ihm dafür gewiffe materielle Bor-
theile in Ausſicht ftellen: einen Handelsvertrag in Form einer Bollconvention, wie
man ihn Rumänien troß türkifcher Protefte gewährt Hatte, die Sicherung des An—
Ichluffes der jerbiichen Bahnlinien an das türfifche Schienenneß, vielleicht jelbjt die
Befürwortung der Räumung der noch von der Pforte bejegt gehaltenen Bergfefte
Klein Zwornig, — aber jedenfalls jollte er fih von jedem Schritt fern halten,
der einer factiſchen Theilnahme am Aufjtande gegen die Türkei gleichen könne. Der
Rath war augenscheinlich Leichter zu geben, als zu befolgen; um jo mehr, als
man ſich ſerbiſcherſeits darüber klar werden mußte, daß man von Wien aus keine
Förderung der eigenen Vergrößerungspläne zu gewärtigen habe. In der That kann auch
die großſerbiſche Idee dem öſterreichiſch-ungariſchen Staate nicht ſympathiſch ſein. Eben
ſowenig aber auch — im Fall eines Gelingens der Empörung in der Herzegowina —
die Bildung eines mehr oder minder ſelbſtändigen ſüdſlaviſchen Reiches, mag es ſich
nun in das Gewand einer Conföderation hüllen, oder ſich einem der beiden halb—
ſouveränen Fürſten, Nikita oder Milan, unterordnen. Die Attractionskraft eines ſolchen
Staatengebildes auf die flaviſchen Elemente in der Völkerfamilie der Monarchie wäre
für Dejterreich-Ungarn geradezu eine Gefahr. Graf Andrafiy fieht fich alfo durch
die Thatlofigkeit der Türkei gleichlam gezwungen, auch die Eventualität in’® Auge
zu faſſen, in welcher er fich vor das Dilemma gejtellt fieht, entweder die Formation
einer jelbjtändigen jüdjlavischen Staatengruppe geichehen zu laſſen, welche für
Dejterreich- Ungarns jlavifchen Befit nicht unbedenklich erjcheint, oder die Einverleibung
biefer noch uncultivirten Bölferrudimente anzubahnen, deren Eintritt in den Reiche»
verband gleichfalls fchwere Bedenken erweden müßte. Ob unter diefen Umjtänden
nicht einer dritten Idee der Vorzug gebühre, welche für diefen Fall der neu zu
bildenden Staatengruppe ein ähnliches Verhältniß zu Wien zumweift, wie e8 jetzt
Serbien, Montenegro und Rumänien Konjtantinopel gegenüber einnehmen, muß die
Zukunft Iehren. Genug, daß diefer Gedanke aufgetaucht ift und ernjter diploma=
tifcher Erwägung unterzogen ward.
Diefe hHochpolitifchen Vorgänge, welche Defterreich, ſei e8 durch vermehrte Truppen
aufjtellung, ſei es durch die den flüchtigen Herzegowinern gewährte Geldunterjtüßung,
bereitö pecuniäre Opfer auferlegten, haben der Discuffion faum Abbruch getan, welche
ſich betreffs der Erneuerung des ablaujenden Zoll: und Handel3bündnijjes
zwiſchen Cißleithanien und Ungarn entjponnen hat. Treten doch die finanziellen
Probleme für beide Neichshälften immer gebieteriicher in's Vordertreffen. Die
Finanz und Steuerfraft nimmt beitändig ab, denn das Land leidet noch immer an
den Folgen der großen Gapitald- und Börjenkrifis des Weltausftellungsjahree. Das
gegen werden die Anforderungen des Militärfiscus immer größer, und die Aniprüche
des gemeinfamen Kriegaminifters für die Neorganifation der Artillerie ericheinen ſelbſt
den befonnenften Patrioten jo unabweisbar, daß wohl oder übel Mittel gefunden
werden müffen, die benöthigten Millionen aufzubringen.
Der kriegeriiche Hintergrund im Orient fommt da dem Sriegäminifter ebenfo zu
Hilfe, wie er dem ruſſiſchen Goudernement in feinen Bejtrebungen, zur
Godification des Kriegsrechtes zu gelangen, abträglich erjcheint. Die neueſte Note
des St. Peteröburger Cabinets läßt diefem Lieblingsplane Czar Alerander’s II. ſchon
bedeutende Modificationen zu Theil werden. Bon einer fürmlichen internationalen
Uebereinfunft, die man noch vor Jahresfrift im Auge hatte, wird bereits Abjtand ge—
nommen, um die Bedenken der Eleineren und Mitteljtaaten, die fich einer Zwangs—
lage gegenüber wähnten, zu beichwichtigen.
Bei der engliſchen Regieru ng eg jedoch dies ruffiiche Entgegentommen
ohne den gewünjchten Erfolg. Das GCabinet Derby hatte bereits zu ſchroff Poſto
&
wu ee — —
Politiſche Rundſchau. 479
gefaßt, als daß ihm Angeſichts feiner bindenden Erklärungen im Parlament ein
Einlenten noch möglich gewejen wäre. Jet überhaupt, nachdem es in der Plimjoll-
Affaire, wegen der unmotivirten Yurüdlegung der Handelsichiffiahrtsbill, der
eigenen Autorität einen jo jchweren Stoß verſetzt, wäre ein Nachgeben vielleicht gleich-
bedeutend mit politiichem Selbjtmord der Tories. Der parlamentarifche Sturm, welcher
in Folge des Plimſoll'ſchen Auftretens jo unerwartet hereinbrach, fchien überhaupt
anzudeuten, daß die Glanzperiode der Regierung Disraëli's vorüber ſei. Glüdlicher-
weile für das Tory-Miniſterium befibt fein Leitender Minifter jene Schmiegfamteit
und jenen Tact, der in jchwierigen Lagen zuweilen als Surrogat größerer ſtaats—
männifcher Begabung zu dienen vermag. Mittels diefer Eigenfchaften gelang es auch,
theilweife den Eindrud zu paralyfiren, welchen der moralifche Sieg Plimſoll's —
moralifch in jeder Deutung des Wortes — hatte hervorbringen müſſen, und die un-
geftüme Einfeitigkeit des jeemännischen Agitators fam den Charaftereigenthümlichkeiten
des Premier vortrefflich zu ftatten.
Auch in anderer Beziehung noch konnte Dieradli von Glüd jagen. Die jo demon-
ftrativ in Scene geſetzte D’Connell- Feier verlief beinahe im Sande, wenigjtens
was die internationale Tragweite anbetrifft, welche man dieſem Feſte hatte auiprägen
wollen. Rein ultramontane Hundgebungen und Home-Rule-Zwecke ftanden ſich wie
Wafler und Del unvermiſcht gegenüber. Der Verſuch des abfolutiftiichen Papftthums
von heute, den irischen Demokraten für fich zu reclamiren, war eben nur möglich,
weil der große Agitator nicht mehr unter den Lebenden wandelt. Auch die deutichen
biichöflichen FFeudalherren fanden deshalb eine Fülle von Ausflüchten, um fich der
Theilnahme an einer Feier zu entziehen, die ihnen vom fatholifchen Standpunkte aus
beinahe zur Kampfespflicht gemacht worden war. Aber die Einladung an fich fonnte
in England kaum mißverjtanden werden, und der Optimismus, den man faft alljeitig
angeficht8 der wachjenden jejuitiich-ultramontanen Bewegung noch zur Schau tigt,
ericheint nach diefen Vorgängen weniger gerechtfertigt, denn je zuvor.
Wie denn überhaupt der Baticanigmus in Wejteuropa fi nur zu Forts
fchritten Glüd zu wünjchen hat. Das Joch, welches ihm gelang über den gefammten
höheren Unterricht Frankreichs aufzufteden, bezeichnet vielleicht den Höhepunkt
feiner Triumphe. Echon haben die Klerikalen Frankreichs aufgchört, einer beftimmten
politiichen Parteijchattirung anzugehören. Sie find nicht mehr legitimiftifch, nicht
orleaniftifch, noch endlich kaiferlih. Ihr Banner weit nur noch nah Rom, und jo
wurden fie, gleichzeitig mit und unter Buffet, die feftefte Stüße des Septennats, unter
dem fie fich wohler fühlen, als unter irgend einer wirklich gefefteten Regierung, welche
das traditionelle Bedürfniß empfände, den Rechten des Staates auch der Kirche gegen-
über nichts zu vergeben. Sonſt berricht in Frankreichs politifchen Zuftänden er
freuliche Ruhe. Gambetta wird verfuchen, fich in den parlamentarifchen Ferien von
jener Niederlage zu erholen, die ihm Buffet in der Nationalverfammlung mit jo viel
Verve beigebracht. Die Seffion der Generalväthe beginnt, und die politiichen Kund—
gebungen werden diesmal aus den Berathungen diejer Körperſchaft ſchwerlich ganz
verbannt bleiben, weil e& der Regierung jelbit darauf ankommt, die Strömung diejer
conjervativeren Berfammlungen zu Gunſten ihres Projectes für die allgemeinen
Wahlen nach Arrondifiements, nicht nach dem republifanifchen Liftenfcrutinium,
die fünftigen Deputirten zu ernennen — möglichft vielfach zu verwerthen. Inzwiſchen
fängt man aud in Frankreich an, deilen Handel und Wandel feit dem Kriege fc
blühenden Auffchwung genommen, die Nüdichläge jener Kriſis zu fühlen, welche auf
zwei jo wichtigen Grportländern für franzöfifche Induſtrie, auf Oeſterreich und Deutich-
land, laften. Vielleicht, daß dieſe Seite der Solidarität aller Völker, weil fie für
die materiellen FEntereſſen fühlbar ift, dem wachlenden franzöfiichen Friedensbedürfniſſe
größeren Vorfd ab geleitet, ald man bisher ahnen mochte,
Aus den Jereinigten Staaten von Amerita lommen zum erften Wale
feit langen {uhren erfreulichere Nachrichten über die wirthichaitlihen Ausfichten,
Aus allen Iheilen des Yandes meldet man übereinjtimmend das Herannahen beſſerer
ee Le nn VV ⏑———
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I»
480 Deutſche Rundſchau.
Zeiten. Das Vertrauen ſcheint zurückzukehren, wozu nicht am wenigſten die außer—
gewöhnlich große Getreideausfuhr nach Europa beiträgt. Hoffentlich wird dieſer
Aufſchwung, deſſen Rüdwirktung auf Europa unausbleiblich ift, nicht durch die ſprich—
wörtliche Gejchäftsftille, welche erfahrungsmäßig jede Präfidentenwahl begleitet, wieder
gejtört werden. Die letztere tritt immer mehr in den Vordergrund. Allem Anfcheine
nach wird es fich abermals nur um die beiden alten Parteien handeln, die fich jeit
Jahren gegenüberjtehen, um die republifanifche und die demofratifche. Von der ſo—
genannten Oppofitionspartei hört man nicht? mehr. Die Elemente, aus denen fie
fich zuſammenſetzte, ftanden fich in den wichtigiten Fragen zu fchroff gegenüber. Zu
diefen Fragen gehört in erfter Reihe die Goldfrage. Die große Mafje des Deutjch-
thums und viele Liberale Amerikaner, welche thatjächlid mit der republifanijchen
Partei gebrochen haben, würden dazu gezwungen werden, abermals zu ihr zurid-
zufehren, falls die demofratifche Partei fortfährt, wie fie e8 in Ohio und anderen
Staaten gethan, fich zu Gunften der „Papierverwäflerung“, d. 5. zur Vermehrung des
Papiergeldes und jomit zur Hinausfchiebung der Wiederaufnahme der Goldwährung
auszusprechen. Faſt hat es den Anfchein, ala ob dieß der Fall fein würde, und dann
dürfte die dritte Gandidatur Grant’3 durchaus nicht zu den Unwahrfcheinlichkeiten ge=
hören. Ein Gegner von Bedeutung innerhalb der republikaniſchen Partei könnte
ihm nur in dem jebigen Gejandten der Ver. Staaten in Paris, Herrn Wafhburne,
entjtehen, der auch bei den diegmal den Ausſchlag gebenden deutjchen Stimmgebern
in gutem Andenken fteht, wegen des Schubeß, welchen er den Deutichen in Paris im
Jahre 1870 angedeihen ließ. — Tweed, der berüchtigte Millionenräuber New-NYork's,
welcher urfprünglich zu 12 Jahr Zuchthaus verurtheilt wurde, befindet fich, nach
faum 18 Monaten, jchon wieder auf freiem Fuße. Advocatenkniffen ift e8 gelungen,
das wahre Urtheil umzuftoßen. In einem gegen ihn angejtrengten Procefle auf
Herausgabe der aus der Stadtkafje geftohlenen Millionen bat joeben das betreffende
Gericht dem Staatdanwalte die Herbeilchaffung gewiſſer Originaldocumente ala un—
erläßlich zu einer Berurtheilung aufgegeben, diejelben Documente, von denen es feſt—
fteht, daß Tweed fie am Abend vor feiner Verhaftung vernichtet hat. Der größte
Gauner feiner Zeit wird aljo feinen Raub in Frieden und in freiheit verzehren
fünnen. — Der Tod des durch die Ermordung Lincoln’® zum „Zufallapräfidenten“
gewordenen Andrew Johnjon zwingt zu einer Parallele zwijchen der Conflicts—
zeit, auß der er, als ſehr gejchlagener, Sieger hervorging und der heutigen politifchen
Bewegung. In einem Jahrzehnt, mehr noch als heute, wird es Elar fein, daß nicht
jowol das, was Johnſon in Bezug auf die Reconftruction des Südens erjtrebte,
Miderftand fand, ald die Art, wie er, mit Verlegung der Verfafjung, feine Anfichten .
durchjeßen wollte. Aus den unterften Schichten des Volkes und der Unbildung hatte |
er fich zum erjten Bürger der Der. Staaten emporgefhwungen; aber feine große |
natürliche Befähigung reichte nicht aus, ihn über die Fährlichkeiten feiner hohen
Stellung Hinwegzugeleiten, und, in einem politifchen Sinne, war er bereit? lange
vor feinem Hinjcheiden bejeitigt.
Für die Nebaction verantwortlih: Elwin Paetel in Berlin.
Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Pierer'ſchen Hofbuchbruderei in Altenburg. \
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