Die Insel
Otto Julius
Bierbaum
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' tma®a®a® DIE INSEL t&t&t&az
Herausgegeben von Otto Julius Bierbaum / Alfred
Walter Heymel / Rudolf Alexander Schröder.
Zweiter Jahrgang / Zweites Quartal / Januar
bis März 1901 / Gedruckt in der
Offizin W. Drugulin in Leipzig/Er-
schienen im Verlage der Insel
bei Schuster & Loeflfler
Berlin S. W. 46.
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INHALTS - VERZEICHNIS
Dramatische Werke.
Renard, Jules, Fuchs. Uebersetzt von Hugo von Hofmannsthal .... 287
Wedekind, Frank, Prolog zum Erdgeist. Tragödie in vier Akten . . .351
Novellen, Erzählungen, Skizzen.
Behmer, Marcus, Märchen. Mit einer Zeichnung des Verfassers .... 349
Ho us man, Laurence, Blinde Liebe. Eine Geschichte aus den höchsten Kreisen.
Sehr frei nach dem Englischen, übersetzt von Richard Dehmel. Mit zwei
Zeichnungen von Laurence Housman 149
Scheerbart, Paul, Liwüna und Kaidöh. Ein Seelenroman 33
Schröder, Rudolf Alexander, Das wunderbare Gemälde. Eine chinesische
Geschichte in deutsche Reime gebracht und Herrn Otto Julius Bierbaum
freundlichst zugeeignet. Mit einer Zeichnung von Laurence Housman 1 94
Schur, Ernst, Die geschlossenen Augen auf den Grabhügeln der Fürsten . 21
Gedichte.
Dauthendey, Maximilian, Aus dem Buche: Herzlied 13
Dehmel, Richard, Zwei Menschen. Roman in Romanzen .... 129,247
Bierbaum, Otto Julius, Eine sentimentale Reise in Versen 274
Brandenburg, Martin, Ueber den von allen Schosshündchens zu beklagenden
Abschied eines artigen Joisie 176
Liliencron, Detlev, Freiherr von, Auf dem Schmeerhörner Aussendeich. Der
neunzehnte Poggfred-Cantus 3
Schröder, Rudolf Alexander, Sinnspruch 101
Zwei Elegien: I. Fontainebleau. II. Michelangelo 105
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Aufsätze. Abhandlungen. Verschiedenes.
Blei, Franz, Vier Grotesken. I. Das Beispiel des Gilles de Rais . . . .187
Die ungewöhnliche Orchidee. Aus dem Englischen des H. G. Wells 26s
Strindberg, August, Einige Geheimnisse der Blumen. Ein Versuch in Pflanzen-
psychologie. Aus dem schwedischen Manuskript von Emil Schering .114
Anmerkungen 141,2391 3<5i
Beigegebene Bilder.
Behmer, Markus, Portrat des Kaisers von China 102
Zeichnung 347
Callot, Zwei Kupferstiche nach Zeichnungen aus E. Th. A. Hoffmanns Prinzess
Brambilla 459
Housman, Laurcnce, Zwei Zeichnungen 151
Zeichnung lotf
Masanobu, Okumura, Zwei japanische Holzschnitte 15
Jossot, Zwei Zeichnungen 182
Vallotton, Felix, Zwei Zeichnungen 28
Zwei Zeichnungen a8 1
Zwei altdeutsche Holzschnitte unbekannter Herkunft aus der k. k. Hof-
bibliothek in Wien 1 24
Zwei Holzschnitte unbekannter Herkunft a. d.k.k. Hof bibliothekin Wien 234
Zwei japanische Holzschnitte 355
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DIE INSEL/ MONATSSCHRIFT MIT BUCH-
SCHMUCK UND ILLUSTRATIONEN/ HERAUS-
GEGEBEN VON O. J. BIERBAUM, A. W. HEYMEL
UND R. A. SCHROEDER
IL Jahrgang. 2. Quartal, No. 4. Januar 1 90 1 .
INHALTS-VERZEICHNIS
Auf dem Schmeerhörner Aussendeich. Der neunzehnte Poggfred - Cantus
von Detlev Freiherrn von Liliencron 3
Zwei japanische Holzschnitte nach Okumura Masanobu .... 15
Die geschlossenen Augen auf den Grabhügeln der Fürsten. Von Ernst
Schur .• 21
Aus dem Buche: Herzlied. Von Maximilian Dauthendey. ... 23
Zwei Zeichnungen von Felix Vallotton 28
Liwüna und Kaid6h. Ein Seclenroman von Paul Schecrbart . . 33
Sinnspruch von Rudolf Alexander Schröder 1 o 1
Porträt des Kaisers von China von Markus Bchmcr 10z
Zwei Elegicen von Rudolf Alexander Schröder 105
I. Fontainebleau. II. Michelangelo.
Einige Geheimnisse der Blumen. Ein Versuch in Pflanzenpsychologie
von August Strindberg. Aus dem schwedischen Manuskript von Emil
Schering 114.
Zwei altdeutsche Holzschnitte unbekannter Herkunft aus der k. k. Hof-
bibliothek in Wien , 2+
Zwei Menschen. Roman in Romanzen von Richard Dehmel. Viertes
Stück . 120
Anmerkungen 141
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DIE INSEL. Nr. 4.
JANUAR. 1901.
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AUF DEM SCHMEERHOERNER AUSSENDEICH.
VON DETLEV FREIHERRN VON LILIENCRON.
S kam der Herbst, des Sommers Gluten bleichen,
Blatt fällt auf Blatt, vom Spiel im Winde müd,
Und sinkt, Addio! zu den andern Leichen.
Viel tiefer als des Frühlings sanfter Süd,
Als seine Lämmer, Veilchen, Nachtigallen,
Dringt mir der Herbst zu Sinnen und Gemüt.
Die Walder stehn wie lauter Todeshallen,
Drin Sterbelieder rauschen und verklingen :
Zu Ende gehts mit deinem Erdenwallen.
Ah was, mein Herz, sei taub dem trüben Singen!
Der Sommer ging, du bleibst, und fliegst aufs neue
Im nächsten Frühjahr mit den Schmetterlingen.
Noch bist du jung, noch fühlst du keine Reue,
Wie sie in düstern Klosterzellen leidet,
Noch trotzt in dir die alte Lebenstreue.
Noch bist du viel vom Plärrertross beneidet,
Weil Gram und Elend dich nicht niederzwangen,
Dein Tanzfuss dich von ihrem Plumpschuh scheidet.
Hailoh, ich will heut keine Grillen fangen.
Bertouch! Den Wagen vor! Ich will zum Deich!
Ans Meer treibt mich ein ungestüm Verlangen !
Mir winkt mein ewig neues Wasserreich!
Schnell ziehn mich meine Orlow-Trabcr fort,
Es klopft ihr Huf im Gleichklang auf den Klinkern,
Die Mähnen schüttern Beifall meinem Sport.
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Ein leiser Zuruf, und in immer flinkem,
Graziösem Sätzen laufen meine Stuten;
Geschirr, Laternen, Lack und Räder blinkem.
Von Koog zu Koog und endlich sind wir 5)buten<t
Im letzten angekommen, vo der Deich
Wie Fcstungsbollwcrk widersteht den Fluten.
?)De Butendiek,» der See- der Aussendeich,
Der Hort der fetten Marsch, der goldnen Aehrc,
Legt zwischen Land und Meer ein Zwischenreich.
Er ragt am Horizont in Luft und Leere,
Wie eine lange Mauer scharf gerissen,
Und doch im Schleier einer Wiindermäre.
Und immer näher eil ich den Coulissen
Des seltsamen Theaters Terramare,
Wo Land und Meer zugleich die Flaggen hissen.
Was ist denn das? Ich komme nicht ins Klare:
Ein Riesenedelweis an seiner Lehne?
Nein, Gänse sinds, die liebe Tafclwarc.
Der erste Regenpfeifer auf der Scene!
Ttitvögel fliegen scheu und klagend auf;
Schon riecht das Wasser her! Sieh, wilde Schwäne!
Ich hemme meiner Pferde heissen Lauf,
Der "Wagen hallt, ich springe aus dem Sitz.
Die ?)Kronc(c winkt. Ich stehe obenauf.
Holl Ebb ! Nur ferne, fem ein Wellenblitz,
Holl Ebb, so weit wie meine Augen reichen ;
Im Vorland Schafe und der Schäferspitz.
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Und Schlick und Schlamm. Die Krabbenfischer streichen
Mit ihren Netzen langsam durch die Prilc,
Ihr Schiffchen giebt der See ein mürrisch Zeichen.
Die Möven necken sich in zänkischem Spiele,
Die Buhnen strecken sich wie Finger vor,
Der Ebbe Sinken ist am letzten Ziele.
Der ewige Weststurm knattert mir ums Ohr;
Musik des Windes! Odins Gruss und Kraft!
Neptun, Tritonen singen mit im Chor.
Die Schwalbe flitzt vom Land her meisterhaft;
Als wollt sie mir die grauen Haare stutzen,
So nah macht sie mit mir Gevatterschaft.
Doch hui, der Wind wird gleich die freche putzen,
Pfeilschnell wirft er sie wieder hintern Deich,
Bis sie von neuem anfangt aufzutrutzen.
vBischuernfc regnets. Sonnenschein zugleich.
Und überm Ocean ein Regenbogen,
Erst voller Farben, bleicher dann und bleich.
Und unter ihm, weit, weit, die grauen Wogen,
Im Gischt, im Kampf die wilden weissen Kämme,
Und alles ist von Glanz und Gold umzogen.
Ein rotes Segel tanzt in dieser Schwemme,
Ein grosses weisses Segel tanzt dazu,
Grell fällt ein Streifen aus der Wolkenklemme.
Helldunkel, dunkelhell und ohne Ruh,
So tanzen dort die zwei im feuchten Saal,
Das eine Boot blitzt wie ein Silberschuh.
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Aus schwarzen Ballen noch ein schräger Strahl,
Dann feiern Sturm und Regenguss ein Fest,
Die Fische halten ihre Königswahl.
Die Sonne hat ein venig Hausarrest,
Da endlich sprengt sie wieder den Verschluss:
Genug! Vom Tag gehört jetzt mir der Rest!
Dem Abend schenkt sie ihren Scheidekuss,
Der Wind entschläft, ein Lüftchen kraust die Wogen ;
Im Süden spannt sich, nun Ade Vcrdruss,
Just mitten übern Deich der Regenbogen.
Weit, weit in einer einzigen graden Flucht,
Liegt jetzt vor mir nach Norden und nach Süden
Der Aussendeich, nirgends die kleinste Bucht.
Und wenn mich auch die Engel vor sich lüden
Und mir bewiesen : 9>Sieh, der Deich läuft schief,(C
Er streckt sich kerzengrad von Nord nach Süden!
Doch unten, unterm Regenbogen tief,
Ganz fern im Süden : quirlt dort eine Masse ?
Lebendig wirds, wo eben alles schlief.
Was krabbelt da? Bald eine schwarze? blasse?
Verschwommne? klare Richtung? Seltsamkeit?
Was nähert sich auf meiner schmalen Gasse ?
Nun schrumpft es ein, dann wird es wieder breit.
Sinds Menschen? Tiere? Wie sichs vorwärts schiebt!
Was springt denn vor ? Fast wie zum Flug bereit !
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Nun quetscht sichs eng zum Ball. Dann wie zersiebt.
Ich werd nicht klug aus dieser Quallengruppe.
Wie alles wieder auseinander stiebt!
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Da springt ein Panther aus der Nebelsuppe.
Was? Endlich wird es meinen Sinnen klar:
Natürlich eine Tier- und Tänzertruppe.
Zwei Männer. Ihnen folgt ein Lowe gar
Und, hungerdürr wie durch die Winteröde,
Ein Wolf noch. Oder Wölfin ? Sonderbar,
Mein alter Jägerblick verlässt mich schnöde.
Wer sind die Männer bloss? Der eine hinkt,
Der andere geht hochauf. Mein Blick wird blöde:
Das ist . . . ja . . . nein ... ob mir das Tollhaus winkt?
Was ? Hier im Dunst auf meinem Aussendeich,
Wo silbern, fern im Watt der Seehund blinkt :
Wie? Hier in meinem ewigen Regenreich,
Wo nie ein Oelbaum in der Sonne brannte,
Wo feucht die Birken tropfen, nebelweich,
Im Lande der Barbaren find ich — Dante?
Und neben ihm? Das ist doch nicht Virgil,
Der da herhumpelt an der Wasserkante?
Die Feder tsräubt sich meinem Gänsekiel:
Ich sehe Byron! — Arme Oberlehrer,
Euch schaudert wohl bei diesem Gaukelspiel,
Des klaren, zierlichen Virgils Verehrer!
Kann ich dafür ? Er ist mir ennuyant,
Er ist mir komisch wie ein Pudelscherer.
Oh, jetzt erkenn ich all den bunten Tant:
9)Das muntre Pardeltier,(c des Löwen 9) Wutha,
Der magern Wölfin gierigen Wünschebrand.
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Und vor mir steht der Zug : Das all mein Blut
Zum Herzen stösst in wirbelnder Erregung,
Und ganz entstörzen will mir Mark und Mut.
Und mir entstürtzt auch jede Ueberlegung.
Nur, wie sichs ziemt vor so erlauchten Geistern,
Verneig ich mich mit ruhiger Bewegung.
Und warte, bis mich einer von den Meistern
Anredet, und inzwischen steh ich starr,
Kann aber meine Neugier kaum bemebtern.
Und fühle mich ein wenig hier als Narr,
Und warte weiter, wer den Speech beginnt,
Und komm mir vor, als war ich ein Scholar.
Und Dante fragt mich finster: ^Menschenkind,
Wer bist du?«. Ich: 5)Du hast noch nie gelogen:
So geb ich Antwort dir aus dir geschwind:
Und wer durchs Leben ruhmlos hingezogen,
Der lässt nur so viel Spur in dieser Welt,
Wie in den Lüften Rauch, Schaum in den Wogen.cc
Und Dante lächelt: flWcnns sich so verhallt,
Da will ich deinen Weg nicht weiter stören,
Langweilig ist mir solch ein fader Held.«
wHalt, bitt ich, lass mich eins noch von dir hören:
Du warst mit deinem Urteil oft zu strenge,
Das muss mich immer wieder sehr empören.«,
Und Dante sprach: wAls ich noch durch die Enge
Der vollen Lebensgassen friedlos schritt,
Fiel mir am meisten auf im Volksgcdränge:
Neid, Hass und Geiz, der Streber, der Bandit,
Bestechlichkeit, die Lüge und das Laster;
Ich sah, dass Gold allein den Sieg erstritt.
Jetzt, durch den Himmelsfensteralabaster
Seh ich den Menschen tiefer auf den Grund
Und denke milder, wie ein müder Raster.«,
Hehr, hoheitsvoll, mit wcichverschlossnem Mund,
So stand vor mir der edle Ghibelline,
Verherrlicht von des Lorbeers schmalem Rund.
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Und vorwärts will der Vater der Terzine
Mit seinem Anhang weiter sich bewegen,
Ein Kaiser ohne Pomp und Paladine.
Doch flehend streck ich meine Hand entgegen:
«Bleibt noch ein wenig, eine Frage nur
Möcht ich dem grossen Lord zu Füssen legen:
Wo blieb dein Herz, wo find ich seine Spur?
Beim letzten Kampf vor Missolunghis Thoren,
Beim letzten Ausfall auf der Schwerterflur,
Da fiels in Türkenhand und ging verloren.
Wo liegt die Kapsel, wo ist ihr Versteck?
Verrätst dus mir, Balsam wärs meinen Ohren.«.
«Mein Herz glitt aus der Kapsel auf dem Fleck,
Wos dem Hellcncnhäuflein ward entrungen,
Und Berberhengste stampftens in den Dreck.
Ein schielender Tartar kam angesprungen,
Und hob das Kästchen, das von Silber ist,
Und brüllend hat ers als Trophäe geschwungen.
Dem fing es weg ein Kerl ans Carpovist,
Und diesem, ohne Namen wars und Zeichen,
Entriss es rasend ein Serail-Gardist.
Nach einer Stunde waren sie schon Leichen.
Dann sah die Nacht, in greller Mondeshelle,
Mit Dolch und Dulbend einen Neger schleichen.
Dem waren all die Toten eine Quelle,
Die Ringe sprudelt, Geld und andern Klang,
Und auch die Kapsel wechselt ihre Stelle.
Statt dass ihn schmückt am nächsten Tag der Strang,
Verkauft der Mohr dem Pascha seine Beute,
Der schleunigst seiner Fatme schickt den Fang.
Die sich in Suez bald des Schmuckstücks freute;
Dort war vernarrt sie in Count Whiskydcep,
Und ists vielleicht, ich weiss es nicht, noch heute.
Und schenkte diesem braven Hcrzcnslieb
Manch Souvenir, auch jenen kleinen Schrein,
Der nun dem edeln Whiskydeep verblieb.
Doch ach, wer wirds dem Guten nicht verzeihn,
Er trugs, als einst ihm fehlten fünfzehn Pfund,
Zu einem Wuchrer gegen Zins und Schein.
Es einzulösen sah er keinen Grund.
So hats nun Jbrahim in seinen Klauen
Und hält geduldig Haus mit seinem Pfund.
Bis ein Gelehrter kommt und will beschauen,
Was in dem Laden Seltnes ist am Platz.
Dem nähert sich der Jud mit Gottvertrauen:
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Seht, Herr, in Herzform hier, ein hoher Schatz:
Darin lag König Chufus menschlich Herz,
Bei seiner Mumie lags im Bänderlatz.
Und der Gelehrte bebt vor Scham und Schmerz,
Und kaufts, his name is Mister Rapplepool,
Und führt es nach Old-England heimatvärts.
Er rubricierts, und steigt auf einen Stuhl
Und stellt es hoch ins Schränkchen Nummer Sieben,
Zum Stiefelknecht von Tong, dem Gross-Mogul.
Da ist das Kästchen nun bis heut geblieben,
Und ruht im Dunkeln, Darktown heisst das Städtchen,
Und: 3>König Chufus Herz«, steht drauf geschrieben.
Drollig: In Darktown hatt ich einst ein Mädchen,
Oft ritt ich Nachts zu ihr durch Korn und Ginster,
Und küsstc gern und küsste viel mein Käthchen.
Darktown bei London City und Westminster.
Wie hat mein England mir das einst verdacht
Und schneidet mich noch immer keusch und finster.tt
So sprach Mylord, und hat dabei gelacht.
Und vor mir stand er leuchtend wie noch nie
Und schön wie Satan in der Sündennacht.
Und eine Tuba herrschte: Das Genie!
Und Lorbeerblätter schneiten um sein Haupt,
Da hör ich eine sanfte Melodie:
Bei König David härt ich mich geglaubt,
So klingen zärtlich Flöten her und Harren:
Beim alten David, als sein Stamm entlaubt.
Ein Schrecken yhlug mich: Bin ich unter Larven?
Und dennoch Klänge einer andern Welt,
Die seeligen Brand in meine Seele warfen.
Denn hier: auf meinem kahlen Heimatfeld
Steht Beatrice aus der wHimmclsroseft
Und hat den ganzen Abend weit erhellt. .
wNicht Reif noch Schnee«; kann der Apotheose
Enthüllten Glanz an Reinheit überstrahlen,
Wie mir erschien die lieblichste Mimose.
Die Feder sinkt, es ist nicht auszumalen,
^Errang ein Künstler je sein letztes Zicl?(c
So bitt ich euch, erlasst mir diese Qualen.
Denn einen Pinsel braucht ich, einen Stil
Der einem höhern Stern entrissen wäre,
Wollt ich euch schildern dieses Märchenspiel.
Nur dass ich eines stümperhaft erkläre,
Und ich Versuchs mit innerlichem Beben,
So schwankt im Wind die hochgeschossne Aehrc:
Die Schleierschwingen Beatricens leben,
Vom letzten Flug noch angestrengt, und zittern
Wie überm Gartenteich Libellen schweben.
Und wie Libellenflügel silbern flittern,
Wenn Rast sie halten auf der Wasserrose
Und ihre Schatten kraus im See zerknittern.
Und Dante lehnte die mirakulose,
Die junge, reine Magd an seine Brust,
Die zu ihm trat aus Gottes ewigem Schoosse.
War sie dereinst auch meine Jugendlust?
Dies süsse Antlitz hab ich ja gekannt,
In jenem Drange, der uns kaum bewusst,
Der spät zurück uns bringt ins Kindcrland
Und uns auf unscrm schweren Lebenswege
Erinnerungshold in frühste Kreise bannt,
Und den wir hätscheln wie die Blumenpflege,
Die uns erfreut im rauhen Tagesreigen,
Oasenquell im WÜstensandgefegc.
Der ersten Liebe scheues, blödes Schweigen,
Der ersten Liebe knospenhafte Blüte,
Wie sie unschuldig lacht aus Lilienzweigen.
Bis die Natur sie rücksichtslos versprühte;
Dann ists vorbei, das Rätsel ist gelöst,
Kein Engel wacht mehr, dass er sie behüte.
Doch was uns aus dem Paradiese stösst,
Wir wissens nicht, nur grausam wird uns klar,
Dass wir entheiligt wandern und entblösst.
Der 'Sphärenglanz erlosch. Das Dichterpaar
Bereitet sich zum Weitergehen vor,
Umringt wie früher von der Bestienschaar.
Noch stand der Abend vor dem schwarzen Thor,
Den letzten Dämmer grenzten graue Ringe,
Und aus den Wassern zogs empor und gohr.
Die Flut schwoll langsam. Eine Mövenschwinge,
Kaum noch erkennbar, zögert durch die Luft
Und rüttelt wild, als säss sie in der Schlinge.
Der Zug verliert sich schon im dichten Duft,
Noch seh ich Danten im Gespräch mit Byron,
Dann nimmt sie wieder auf die Geistergruft,
Wo sie sich ernst und würdevoll verschleiern;
Doch glüht lebendig ihre Ruhmespracht,
Und Kränze schmücken dankbar ihre Leiern.
Genug! Der trübe Tag hat ausgewacht,
Sanft decken Rabenflügcl Näh und Ferne
Und sargen mich in uferlose Nacht.
■
Hoch oben aber funkeln frech die Sterne.
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ZWEI HOLZSCHNITTE NACH OKUMURA MASANOBU.
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DIE GESCHLOSSENEN AUGEN AUF DEN GRAß-
HUEGELNDERFUERSTEN/ VON ERNST SCHUR.
S ist die Hauptstrassc der kleinen Stadt am Walde um
die Zeit des sinkenden Abends — ein buntes Leben
herrscht — ein allgemeines Ausruhen beginnt in den
Häusern » offen liegt das Innere vor dem Blick
des Vorübergehenden — wer mit dem Strome zieht
— wer müssig umherschlendert, findet sich in diese
allgemeine Erholung, die alle Glieder löst, allmählig mit süsser Gewalt
hineingerissen.
Ein Ausschnitt öffnet sich plötzlich vor den Augen — unsichere Umrisse
bewegen sich — die jungen Mädchen und Frauen siehst du ihre Abend-
toilette machen — sich waschen — sie lassen sich ihre Stoffe in lässigen
Falten um den Körper legen — eine Schöne hockt vor dem grossen
Spiegel und lässt sich ihr Haar kunstgerecht aufstecken, wir hören die
Menge vorübergehen sich bewegen und schwatzen noch sind nur
wenige Laternen angezündet.
Im Nebenhause sitzt ein Alter und verzehrt gelassen und zufrieden sein
bescheidenes Abendessen die kleinen knarrenden Häuser gucken
wie lauschige Plätzchen, wie etwas Ersehntes wie etwas Unruh stillendes,
wie ewig bewahrte Winkel, wie heitere Ergötzlichkeiten aus dem Laube.
Was bergen wohl, du verzerrter Träumer, diese geheimnistiefen Einsam-
keiten für dich?
Zwei silberne Mandarinenenten erheben sich plötzlich aus dem nahen
Flusse sie schweben schwer über der Menge. — Ihr helles Gefieder
hat noch die Kraft zu strahlen — sie ziehen in gleichmässigem Schwünge
darüber hin. Ihr Gekreisch tönt lange noch wenn sie auch schon ent-
schwunden — dringlich — einbohrend als begehrten sie etwas
immer Versagtes immer blutig Ersehntes.
Wie ein langer Strich ist ihr Schrei.
Verschiedentlich ruft man Vorübergehende an — — aus dem Innern der
Häuser schallt es man begrüsst sie wünscht sich alles Gedeih-
liche dann geht man veiter. —
Immer erhebt sich der dunkle Strahl deiner Wünsche. —
Ein müder Wanderer sitzt an verlassener Hecke und stopft seine Pfeife.
Noch immer tönt das wilde Gekreisch der suchenden Vögel.
Ein Mann hat dicken heissen Brei vor sich stehen in einem breiten Napf —
vor seinen gekreuzten Beinen — er schöpft mit einem runden LöfFel dar-
aus — schwenkt ihn ein paar mal in der Luft — streckt seinen Arm hoch
über seinen Kopf, fast kerzengerade; dann lässt er es von oben in schwerem
Strahl hinabrinnen; mit unglaublich wichtiger Miene giebt er sich seiner
Beschäftigung hin immer wieder fliegt der Arm in die Höhe —
er ist ganz vertieft in seine Aufgabe.
Die Mandelverkäufer hocken am Wege und preisen ihre Ware — oft
erscheint ihnen etwas andres wichtiger als ihr Geschäft — der Wirbel
der Belustigung bemächtigt sich ihrer — er kreist nun gleichmässig
— findet wohl bald Ruhe.
Wasserträger schleppen ihre Krüge und balancieren sie geschickt, ohne
jemand eine nasse Ermahnung zu teil werden zu lassen, durch das gleich-
massige, ruhige Gcwoge der Menge hindurch.
Eine Zeitlang leuchten und strahlen alle Lichter, ein helles Meer, ein Reich-
tum füllender Strahlen schwimmt über der Menge, die sich sachte verliert
Die Blumen stehen hoch am Wege — mit langen Stengeln nicken sie
am Wege, die vielfarbigen Blumen; und der Wind hebt sanft an; sanft
begütigen will der erwachende Tröster, alle Qualen leichter machen.
Ein Gaukler springt auf einem Bein — er schwingt die Hände durch die
Luft — seine Mienen sind bewegt — lachend verzerrt — lustig blinken
seine Augen wenn er das Bein seitwärts hebt und im Kniec beugt —
krümmen sich die Zehen energisch nach unten als wollten sie etwas
packen. —
In seinen Bewegungen ist alles Kraft und tummelnde Lust.
Schwarzes Dunkel liegt nun dort — hinten im Walde — gutes tiefes
friedliches Dunkel ein warmer breiter Strich.
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Jedes Haus hat nun ein einsames Licht; doch keine Helle will sich dadurch
verbreiten — wer nun noch geht, schlürft träge dahin mit verlassenem
Schritt.
Alles ist in gleiche Farbe getaucht, die darüber liegt alles scheint
in eine eigene Stille versunken. —
Nur oben vom Tempel her flutet ein strahlender Streifen — sechs Laternen
hängen in gleicher Reihe, ein Wort tönt nur noch wie eine verschollene
Weise, nun senkt sich ein leises Flüstern nieder, der weiche grosse Abend
beginnt seinen stillen Gang in den Strassen und den Häusern. —
Es ist wie eine Umarmung — wie ein seliges Finden — wie ein Versinken.
— Bald verlöscht auch das letzte Licht
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AUS DEM BUCHE: HERZLIED/
VON MAXIMILIAN DAUTHENDEY.
DIE Glocken läuten in den Stühlen, wenn sich der Mittag stolz erfüllt,
So läutet jubelnd mir das Blut, wenn ich Dich küsse und die Sehn-
sucht stirbt.
Ich war wie die erfrornen Bäume armselig und blind vor der Sonne,
Doch als unsere Blicke sich kreuzten, rauchte mein Herz.
Wie ein Stahl steckt mir Dein Blick in der Brust,
Ziehst Du ihn aus, muss ich verbluten und sterben.
Du blühst wie die Julirosen, mehr Rosen als Blätter am roten Strauch.
Ich kniee bei Dir, Dein Gärtner im Beet, die Sonne verbrennt ihn,
Doch pflegt er Dich mit den verbrannten Händen.
Bin nur auf die Erde gekommen, weil Du auf Erden bist, schöne Frau,
Bin nur auf der Erde geblieben, weil Du die Erde so schön machst.
Deine Augen sind mir Flügel, sie tragen mich tief und tiefer in Dein Herz.
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Wer goss Wein in Dein Haar, dass es duftet und scheint?
Dein Gang ist lautlos und leuchtend wie der Gang der Sternbilder;
Die Warme Deiner Augen geht Dir voran. Hörst Du, das Feuer nennt
Dich Herrin und Königin.
Warm von der Sonne gerundet ist Dein Leib und vom Sommer genährt
wie die Aehre.
Wohl hab ich ein Bett geziert für Deinen Leib, aber wo find ich ein Bett
reich genug für Dein Herz?
Die Blumen bestaunen Dich und sterben für Dich und machen Andern
Platz, die Dich sehen wollen.
Meine Zunge wird heiss und beredt für Dich wie der eiserne Hammer
der Glocke.
Dein Leib ist reich gewirkt wie ein Feld voll Honig und königlicher
Blumen
Und kommt weich und heimlich wie der Mond in mein Bett.
Von Dir lachen noch meine Träume und bewachen Dich.
Und wie die Hähne kämpfen mit erhitztem Sporn,
So tödt' ich den, der Dich im Traum begehrt
Mein Stuhl steht im Himmel, wenn ich an Dich denke.
Sitze bei mir und lege Deinen Schmuck in mein Herz,
Du sollst in meinen Augen Dich beschauen wie schön Du bist
Dein Lächeln hat Hände und beschenkt mich reich.
Ich gehe vor Dir wie ein selig Gestorbener,
Mein Herz steht still und feiert
Ein Feuer, das auf den Scheitern sich wiegt,
Liegt Dein Auge auf mir, meine Füsse sind Stahl, ich bin Dein Schatten,
Ich folge Dir ohne Ermatten und ohne Wahl.
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Die Zeit blieb stehn seit jener Stunde,
Kein Zeiger rückte, keine Sekunde geschah, die Zeit blieb stehen, seit ich
Dich sah.
Mein Blut entfloh mir, da ging ich in Nacht,
Ging sacht meinem Blut nach,
Schwer fand ich mich wieder;
Und seltsam des Mannes Geschick,
Ein Blick von Dir knickt ihm die Glieder.
Es fliesst dunkel ein Laut, Dein Blut und mein Blut,
Ich lausche und fühle schwer, umher ist Alles gross und gut.
Du bist vornehm wie die grauen Nachtigallen, die sich im Dunkel gefallen,
Verborgen wie die Veilchen die blauen, die im Grase knieen und nach
Innen schauen.
Aber ein breiter Strahl stahl sich aus Deiner Brust,
Drinnen lebe ich ganz goldener Staub und Lust.
Von einem Thron purpurn und alt
Regiert sie mich, Deine junge Gestalt.
Die holde Gebärde und Augen hold
Fassen meine grobe Erde in Gold.
Du hast Dein Herz aus Feuer gebaut und tief»
Glühend schlief ich dort, wo noch Keiner schlief.
Zierliche Dinger sind Deine Hände, doch ihre Gaben wiegen schwer,
Mein Leben und mein Tod liegen bei Dir.
Die Welt war ein Theater alt und gut,
Sonn und Sterne hingen als Lampen dort;
Nun ist mir die Welt ein vergessener Ort,
Die Sonne wurde mein Tropfen Blut, die Sterne meiner Wonne Thräncn.
*5
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Einst zerschlug mich die Einsamkeit wie dumm Holz Scheit um Scheit,
Unter Deiner Hand wurden die 'Wunden ein Traum,
Im gesunden Baum singen mit jungem Flaum Deine Vögel.
Dein Herz hat das Wort »Wehft sterben gemacht,
Du hast warme Achren auf die Felder gestellt,
Du wirst süsse Trauben bescheeren
Und endlich den Schnee, der den Winter erhellt.
Das Jahr wächst freundlich aus Deinem Schooss,
Ich sehe staunend zu wie reich Du bist,
Und wie Dein Reichtum nie ruht.
Habe kaum noch Raum für alle Freude,
Und doch zeigt mein Blut Unruh und ein bös Gesicht,
Neigt sich nur die Falte Deines Kleides einem Anderen zu*
Morgen und Abend sind bunte Wände,
Frische Freuden reichen sich stündlich die Hände,
Keine Freude ist so reich als das weiche Bett unserer Liebe.
Wir gehen am Meer im tiefen Sand,
Die Schritte schwer und Hand in Hand.
Das Meer geht ungeheuer mit,
Wir werden kleiner mit jedem Schritt.
Wir werden endlich winzig klein
Und treten in eine Muschel ein.
Hier wollen wir tief wie Perlen ruhn,
Und werden stets schöner wie Perlen thun.
Ich schlug vom Weltenbaum ein Brett,
Und zimmerte Dir und mir ein Bett.
Die Betten wuchsen glühend zusammen,
Und drinnen wiegen sich lauter Flammen.
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Nicht Eisen nicht Zeit kann die Betten je trennen,
Sie verden hell durch die Ewigkeit brennen.
Im Grund Deiner Augen steht meine Welt auf dem Kopf.
Dort lächle ich meinen Feinden zu und küsse dem Tod die Finger.
Klopfe an mit dem warmen Hammer in Deiner Brust,
Es ist ein Schatz in meinem Meer, täglich ging ich hinter Dir her,
Sammelte Deine Worte und Deine Gebärde, zog Gold darum
Und versteckte sie unter roter Erde in einem roten Meer.
Sanft legte Dich die Liebe auf mein Bett
In deinem schönsten Kleid aus Scham und Blosse,
Und draussen kam die Nacht auf atemlosem Schnee,
Und auch Gottvater kam in atemloser Grösse.
Mit vollem Auge hat der Gott geweint, gelacht,
Du hast Dein Herz und Deinen Leib
Zur Kxone dieser Nacht gemacht.
Zwd Zeichnungen
von
Felix Vallotton.
*9
(WM
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I
LIWÜNA UND KAIDÖH/
EIN SEELENROjMAN VON PAUL SCHEERBART.
S schneit Jasminblüten.
Und ich schwebe in dem Jasminblütenschnce ganz
langsam, als hätte ich Zeit — viele tausend Jahre
nur so hinzuschweben in duftenden Blüten. Be-
täubend ist der Duft und es ertönt unter mir lautes
Gelächter — das wird immer stärker — so stark wie
wildes Donnern.
Der lachende Donner wird aber bald schwächer und verhallt in der Tiefe.
Und ich höre nichts mehr von dem grossen Lachen.
Es verschwinden auch die Jasrninblüten — die letzten fallen schnell hinunter.
Der Vollmond scheint mir ins Angesicht. Ich schwebe zwischen weissen,
flockigen Wolken, die eben so vom Vollmonde beschienen sind wie mein
Angesicht, höher und höher.
Es geht immerzu hinauf, und es geht so leicht ; ich brauche nur die Fuss-
zchen ru biegen.
Der Mond wird kleiner und geht zur Seite als kleiner Stern.
Und dann sehe ich nur noch Sterne — über mir — unter mir — und
überall.
Schwarz ist der Himmel, und die Sterne sind alle zu sehen — auch
die kleineren.
Ich schwebe leicht durch die unzähligen schimmernden Sterne durch —
weiter hinauf in die dunkleren Räume, in denen nicht mehr so viele
Sterne leben.
Es ist da so kühl.
Und mir ist so, als schwebe was neben mir.
Es sind leichte, feine Gewänder — weisse — zarte.
Und ich frage leise:
•»Wer ist bei mir?«,
Und ich höre eine ferne Stimme sagen :
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"»Dein Weib ist bei dir — die Frau, nach der du dich gesehnt hast, so
lange, lange Zeit.«.
Und ich antworte still :
9) Ich erinnere mich gar nicht mehr, dass ich mich mal nach einem Weibe
oder nach einer Frau gesehnt habe. Das hab ich wahrhaftig beinah ver-
gsesen. (c
Im weiten, dunklen Himmel werden jetzt Farben wach.
Mit verwehten olivgrünen Wolkenschleiern beginnt es. Hinter den
Schleiern entstehen dunkelgrüne Flecke, die rund werden und bald kleiner
und bald grösser erscheinen. Und flockiges, rosa leuchtendes Gewölk
sinkt von oben dazwischen und hängt bald wie zerzauste Watte da —
so still wie alte Träume.
Aus allen Wolken fallen Bänder, die sich ringeln und immer dünner
werden — so dünn wie Haare. Blond sind die Haare, sie verlieren all-
mählich das Krause und hängen sich in schlaffen Strähnen über die dunkel-
grünen runden Scheiben, die starren Augen gleichen. Die olivgrünen
Wolkenschleicr schwanken, als wärens Schaukeln. Das rosa leuchtende
Gewölk hängt dazwischen ganz ruhig.* Die blonden Haare zittern vor
den grünen Augen.
Neben mir sagt nun eine mir sehr bekannte Stimme:
wWeisst du immer noch nicht, wer bei dir ist? Blick mich doch ein-
mal an!(c
Ich drehe den Kopf und sehe eine Frau neben mir; sie hat grosse, meer-
grüne Augen. Ich weiss, wer es ist. Aber ich fühle keine Erregung;
es wird nur noch stiller in mir.
Wir schweben oben durch das rosa leuchtende Gewölk zusammen em-
por — immer höher. Sie bleibt bei mir.
Und die Farben verschwinden unter uns.
•»Ich bin nicht so, wie du denkst! «, sagt sie da plötzlich.
Ich bewege heftig meine Fusszehen und fliege hinauf wie ein Pfeil ;
die Sterne sausen neben mir runter, als wenn sie fielen. Ich bin sehr
ungcduldig.
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Doch meine Begleiterin bleibt an meiner Seite. Ich fühls; es geht
langsamer.
Aus dem nachtschwarzen Himmel tauchen abermals farbige Wolken heraus,
diesmal sinds purpurrote und goldene Wolken; sie ziehen sich in langen
Streifen rund um den Raum, sodass ich die Empfindung habe, in einem
schwarz-roten-golden gestreiften Bienenkorbe emporzuschweben.
Ich drehe meinen Kopf meiner Begleiterin zu und sehe, dass sie anders
aussieht. Ihr Gesicht ist mir allerdings wiederum sehr bekannt; heisse,
braune Augen und rote Backen glühen mir wild entgegen.
Ich bewege wieder meine Zehen und schiesse oben aus dem Bienenkorbe
raus.
Doch meine Begleiterin schwebt an mir vorbei, und ich erschrecke.
Sie ist jetzt so furchtbar gross und üppig wie eine Riesendame auf Jahr-
märkten.
Sic schwebt dicht vor mir, und ich höre, wie sie leise sagt:
*» So küss mich doch!«,
Ihr Gesicht kann ich nicht sehen, ich sehe nur ihren breiten, weissen
Nacken und zwei lange, braune Zöpfe, die auf einem gelben Seidenkleide
hin- und herpendeln.
Ihr Kopf ist mit meinem Kopf in der gleichen Höhe, und ich komm
ihrem Rücken ganz nahe und greife mit der Linken in ihren vollen
Arm. Doch die Hand geht gleich durch ihren ganzen Leib, und die
Riesendame lacht wie ein Kobold.
Und sie sagt lachend:
»Ich bin doch nicht aus Fleisch und Blut. Was fällt dir denn ein? Ich
bin doch Liwüna. Und du bist doch Kaidoh. Weisst du das noch nicht?«,
Ich muss lächeln und erwidre traurig :
« Also Kaidoh bin ich? Na ja, ich ahnte ja stets, dass ich was andres sei.<c
9) Natürlich !<t ruft sie, »sonst könntest du doch nicht so fein fliegen.
Wir sind beide aus sehr feinem Stoff; Luft ist plump wie Blei dagegen.
Pass auf, was deine lustige Liwüna machen kann. <t
Dabei dreht sie sich um, zieht aus der Rocktasche ihres gelbseidenen
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Kleides zwei grosse Gewichte hervor, die viele Centner schwer zu sein
scheinen, und hantelt mit den Centnergewichten, dass ihr die blauen Adern
auf der Stirn und an den Schläfen anschwellen.
Ich frage sie, was das soll.
Da . thun sich die Centnergewichte auf, und es fallen lauter Botokuden-
regimenter mit Schornsteinfegern untermischt aus den Gewichten heraus.
Die Kerls sehen so klein und drollig aus, dass ich herzlich lachen muss.
•» Gefall ich dir jetzt endlich ?(c ,
Also fragt sie nun sehr rauh.
Und ich muss noch mehr lachen, bewege aber gleichzeitig wieder meine
Zehen, um höher zu kommen.
Die Riesendame verschwindet unten, und ich denke mir, dass sie nicht so
schnell fliegen kann — da sie ja so dick ist. Doch ich irre mich, denn
ich fühle sehr bald, trotzdem ich mit rasender Hast höher steige, ihre
Nähe wie zuvor.
fi Du entfliehst mir doch nicht !ft flüstert sie hinter mir — mit einer ganz
anderen Stimme.
Ich drehe mich rasch um und blicke in ein kleines, feines, sanftes Ge-
sicht mit grauen Augen, die so ernst und milde glänzen — wie ein
guter Geist.
Und sie flüstert:
9) Ich will so sein, wie du es willst. Ist dir das noch immer nicht genug ?(c
Es liegt so viel Sehnsucht in diesen Worten , ich werde weich und sage
sanft:
9) So schaff mir neue Welten — ganz neue, die ich mir noch niemals aus-
gedacht habe und auch gar nicht ausdenken kann.«,
Und ich höre die Liwüna erwidern :
wLiwüna thut alles. «,
Und dann verlässt sie mich.
In der Ferne höre ich sie rufen :
»Kaiddh! Kaid6h!(c
Es wird alles dunkel und zuletzt ganz schwarz vor meinen Augen.
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Das Schwarze bleibt lange.
Allmählich wirds aber drüben an einer Stelle heller , und ich sehe einen
Stern — der sieht aus wie ein riesiger Diamant mit tausend feinge-
schliffenen Ecken und Kanten.
Und der Sterndiamant dreht sich um sich selbst.
Und seine Farben brennen.
Mächtige, prächtige Lichtkegel in allen möglichen Farben drehen sich
zuckend und zitternd durch die schwarze Nacht.
Und die Farben brennen sich mir ins Auge, dass ich geblendet werde.
Diamantenbrand !
Ein buntes, ecken- und kantenreiches Farbenfeuer mit glitzernden Flächen,
die sich immerfort durcheinander schieben.
Und die spitzen Funken sind so grell.
Ich muss die Augen zumachen.
Ich halts nicht aus.
Ich fühle, dass Liwuna mich fortzieht — ich bewege krampfhaft die Zehen.
«»Du kannst das nicht aushalten, (c sagt sie mitleidig.
Und ich werde sehr unruhig ; Angstgefühle klemmen mir die Brust zusammen.
«»Ich kann das nicht aushalten, (C spreche ich tonlos nach.
\7ir schweben weiter. Ich kneife die Augen fest zu ; sie thun mir weh.
Und dann bitte ich die Liwuna, mir andre Welten zu zeigen, die ich
wenigstens ansehen kann.
Sie redet mit sanfter Stimme lange Zeit auf mich ein, und ich wage es
danach, wieder die Augen zu öffnen.
Ich schwebe in einem zerklüfteten, schwarzen Gebirge. Die steilen Fels-
wände sind so hoch, dass ich oben Stein und Himmel nicht mehr unter-
scheiden kann. Der Himmel wird immer dunkler. Und unter uns ist
alles sehr tief, und in der Tiefe ziehen sich graue Nebelstreifcn wie
Schlangen hin.
»Langsam!«* ruft mir meine Begleiterin zu.
»Ich weiss, (C fährt sie fort, »dass du etwas suchst, aber ich weiss auch,
dass du noch nicht weisse, wie das aussieht, was du suchst. «.
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wJmc versetzte ich rauh, wich weiss nicht, was ich suche. Dass ich aber
etwas suche, das weiss ich. Ich suche? (6
Es umweht mich kühlende Luft. Liwuna sehe ich nicht, ich fühle nur
ihre Nähe — und das thut sehr wohl.
Da entdecke ich in der schwarzen Felsenwand einen Spalt, der hell ist.
Ich nähere mich dem Spalt und blicke in ein grünes Wunderreich.
Lauter grüne Pilze ! Sehr grosse Riesenpilze mit wunderlichen Pilzdächern
— gezackten und gespreizten! Und auch viele kleinere Pilze in allen
denkbaren Grüns. Viel giftiges und viel glänzendes Grün — helles und
dunkles — totes Grün und ein Grün, das so voll echter Lebensgier ist.
Diese grüne Welt kann ich ruhig anschauen. Das Auge wird beruhigt
durch das viele Grün.
Kleine, weisse Elephanten mit hellgrünen Libellenflügeln fliegen emsig
von Pilz zu Pilz. Und es strömt überall ein scharfes Licht aus dieser
grünen Pilzenwelt. Die weissen, fliegenden Elephanten krümmen drollig
ihre Rüssel, als wenn sie lachen möchten. Sie lachen aber nicht — ich.
kanns wenigstens nicht hören. Vielleicht lachen sie innerlich — wie die
falschen Narren.
Ich wende mich ab und schwebe weiter durch eine grosse, schwarze
Schlucht.
Die schwarzen Felsen sind nur ganz matt erleuchtet. Das Licht kommt
aus der Tiefe, in der sich die grünen Nebel zusammenballen wie Fäuste.
Oben sind keine Sterne. Der Himmel ist so schwarz wie die Felsen.
Ich möchte hinaus aus der schwarzen Schlucht. Liwüna will aber nicht.
Sie hat jetzt ein so gelbes, glattes, hartes Antlitz, als wärs aus Elfenbein.
Und sie zeigt mit der Rechten auf ein rundes Loch in der Felsenwand.
Ich sehe durch und — wieder was andres.
Da drinnen ist alles bunt und glitzernd. Eine Glanzwelt! Blumen sinds
nicht, Blätter auch nicht. Es sieht aus, als seien da Milliarden Schmetter-
lingsflügel durcheinander geschüttelt. Es sind aber keine Flügel, denn
alles scheint sehr dick zu sein. Die blauen und roten Töne sind so ver-
schiedenartig wie die violetten und gelben. Und sie sind gleisscnd hell
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wie durchsichtiges Email, das ich so liebe. Und die Muster sind zier-
lich verschnörkelt mit krummen Hörnern und gekräuselten Bandern.
Goldene Riesenkäfer kriechen über die Emailwälder. Die Käfer kriechen
bloss nicht.
Suchst du immer noch?(C
Also fragt neben mir die Liwüna.
Und ich weiss nicht, ob ich noch suche.
Mir ist wie in einem wirren Traume. Ich habe so viel vergessen, und
ich möchte doch so viel behalten.
Liwüna ruft drohend:
»Kaidoh! Kaid6h!(4
Ich schrecke zusammen und taste mit den Händen um mich, doch ich
fühle nichts. Auch der schwarze Stein lässt sich nicht anfühlen; die
Hände gehen ohne Empfindung durch. Ich kehre der Glanzwelt den
Rücken, bewege wieder die Zehen und schiesse in die Höhe — immer
höher — aber aus der schwarzen Felsenschlucht komme ich nicht raus.
Plötzlich giebts einen Krach, und auf allen Seiten fallt was runter, und
ich habe das Gefühl, dass alle schwarzen Felsen in die Tiefe fallen.
Und ich blicke in eine Spiegelwelt.
Lauter Spiegelwändc ! Grade und krumme Spiegel — in verschiedenen
Winkeln stehen sie zu einander. Oben sind auch Spiegel kantenreich
durcheinander gestellt — unten nicht.
Ich sehe Liwüna in den Spiegeln viele tausendmal. Sie hat noch ihr
Elfcnbeingesicht — grüne Augen funkeln darin. Sie starrt mich an allen
Ecken und Enden wie eine richtige Medusa an.
Neben der Liwüna erblicke ich ein anderes Wesen.
?) Das ist Kaidoh ! (c sagt sie neben mir.
Kaidöh sieht ernst aus und hat eingefallene Augen, die grau sind, ver-
grämt und ruhelos umherschweifen wie die Augen der Diebe.
Kaidoh nickt der Liwüna zu und spricht zu ihr in all den tausend Spiegeln.
Was spricht Kaidoh?
Seine Stimme tönt hell und splitternd — es ist aber nur eine einzige Stimme.
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Er sagt langsam und hört sich dabei :
?)Das Glück ist stets in dem Andern. Deswegen müssen wir der Andre
werden. Wir müssen nach dem Andern suchen. Wenn wir suchen, ohne
zu wissen, was wir wollen, so suchen wir immer ein Andres — das ist
das Unbekannte — das Fremde — das ist es, was wir herbeisehnen. Und
wir sehnen uns nach der grossen Ueberfiihrung. Für gewöhnlich ver-
stehen wir uns nicht. Es ist jedoch kein einfaches Hinübergehen — wir
müssen hinübergeführt werden — ins Andre hinübergeführt werden —
von dem Geist, der uns immer begleitet. Das Eigene müssen wir ver-
gessen — aus uns herauskommen — nur dadurch kommen wir in uns
hinein. Eine sehr drollige Geschichte — aber auch eine sehr ernste —
so schauerlich ernst wie der Unsinn, der uns als Wahrheit erscheint. In
den Spiegelwelten sehen wir die Wahrheit im Unsinn und auch den Un-
sinn in der Wahrheit. Alles ist verzerrt und verschoben — Fratzenreich!
Aber so ist immer die Welt, wenn sie sich uns von sehr vielen Seiten
zeigt. Wir müssen sie im ganzen fühlen — fühlen im ganzen. (C
Liwüna führt den Kaidöh fort, streichelt seinen Kopf, der ihm weh thut
— so furchtbar weh. Kaidoh weint — weint.
Liwüna weint mit — in allen Spiegeln.
Und sie führt ihren Kaidoh weiter durch die schwarze Schlucht, die
wieder da ist — durch die schwarze Felsenschlucht, in der keine Sterne
leben — in der nur ein graues Dämmerlicht hcraufdringt aus der Tiefe
— aus den Nebeln, die da leuchten.
Und die Liwüna führt ihren Kaidoh hinunter in das stille Nebelreich, in
dem die grossen Schläfer träumend schlafen.
Das Reich der Schläfer ist sehr, sehr gross. Sie liegen unten unter den
Nebeln mitten in der freien Luft — umhüllt von feinen, perlgrauen
Schleiern. Die Nebel bilden den Himmel der Schläfer. Sie liegen neben- und
untereinander — aber berühren thun sie sich nicht. Die Luft ist ihr Bettzeug.
Die feinen, perlgrauen Schleier hängen schlaff wie die Zweige der Trauer-
birken, einige Schleier zittern und bewegen sich, als würden die Körper
von tiefen Seufzern durchzogen.
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Es schlafen da Riesen und Zwerge und Wesen mit seltsamen Gliedern,
Tiere mit tausend Köpfen und Kinder mit einem Kopf, der grösser ist,
als ihr Leib. Alle schlafen und träumen — einzelne schnarchen ein bis-
chen — doch nicht zu laut. Zuweilen bewegt sich ein Fuss oder ein
Arm. Lange Haare hängen an manchem Haupt — und die Haare be-
wegen sich — ganz w enig im Takte, wie die langen Perpendikel alter
Uhren. Es ist so still im Reiche der Schläfer.
Und die Liwuna erzählt ihrem Kaidöh von den Träumen der Schläfer,
und sie führt ihn dorthin, wo Kinder und Knaben träumen. Und die
Beiden legen sich über den Träumenden genau so in die Luft wie die
Kinder und Knaben.
Und leise flüstert die Liwüna:
?>Alle, die hier im Nebclreiche liegen, hatten soviel geträumt — ihr
ganzes Leben hindurch. Im Traume schwebten sie durch viele Sonnen,
Monde und Sterne. Dann aber kam eine Nacht, in der sie nicht mehr
von all den Glanzwelten träumten. Ihre Freude am Traumleben war
zerstört — von einer unsichtbaren Hand. Und die Nacht wurde finster.
Sie lagen da in banger Pein, und ihnen wurde so schwer. Sie fürchteten
sich auf einmal vor einer schweren Stunde; ihnen war so, als käme das
grosse Schweigen heran. Und sie hatten Angst vor dem grossen Schweigen
— Angst vor dem grossen Sterben. Und dann dachten sie an die ersten
Jahre ihres Lebens — an Eltern, Freunde und Frauen — an Kinder und
Greise — an alte Möbel und alte Stuben, die gar nicht mehr da waren,
oder zerfielen, wie altes Gemäuer am Meeresstrande, wenn die grossen
Wogen unaufhörlich gcgenschlagen. Und die Gedanken an das Vergäng-
liche machten so schwer, die schweren Hände wollten noch was greifen
— aber sie wussten nicht, was. In der Finsternis nur bleiche Angst und
Herzenskrampf, (c
Und dem Kaidoh wird zu Mute, als träume er noch einmal einen langen
Ki/idhcitstraum ; in dem Traume entwickelt sich alles sehr schnell, der
Träumende wird älter und anders, und empfindet zugleich, dass er das
Itcr- und Anderswerden nur träumt.
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Und die Liwüna fährt leise fort:
9)Und da packte die Traurigen, als die schweren Stunden allnächtlich
wiederkehrten, ein neues Empfinden an. Sie näherten sich langsam dem
grossen Geiste , der Uberall ist — auch in ihrer Brust. In seiner Nähe
fanden sie ihre alte Traumruhe wieder, und sie vergassen ihre Angst und
gaben sich in der geheimnisvollen Stille der Finsternis ganz dem Grossen
hin, der keinen Namen hat — der das Ewige ist — der bleibt, wenn
auch alles vergeht. Ging es dir nicht ähnlich, mein lieber Kaidoh? (t
Ein paar Kinder öffnen unten ihre kleinen Fäuste und irren mit den
kleinen Fingern durch die Luft.
Kaidoh träumt noch und empfindet das Verwirrende und Erschöpfende
des Traumes; er möchte aufwachen, kann aber nicht — es liegt sich
auch so gut und weich.
Es ist so still im Reiche der Schläfer. Kaidoh lächelt und nickt, er wundert
sich, dass Liwüna so viel weiss, und während er von schwankenden Korn-
feldern träumt, sagt er nachdenklich:
9) Ja! Die Sehnsucht nach der zerstörten Vergangenheit ist die schwerste
Sehnsucht; sie gebiert die bittersten Stunden der Wehmut. Und alles
andre, was Liwuna sprach, stimmte gut zusammen — wusste sie noch
von mehr?»
Seine ganze Vergangenheit zog vor ihm vorüber.
wich weiss noch, (c versetzte Liwüna schnell, % von deinem lautlosen Gebet, (c
9) Sei still!«, sprach Kaidoh, %lass uns weiter schweben. Wir wissen nicht,
ob wir die Schläfer stören — sie wollen doch weiter träumen, «.
Und die Beiden erhoben sich, indem sie mit den Armen um sich griffen,
reckten ihre Glieder und verl lessen das Nebelreich — schwebten empor
und weiter durch die schwarze Schlucht, in der die Dämmerung so schwer
an den Steinen hing, wie die schweren Stunden, in denen alles zu Ende
zu gehen scheint.
Kaidoh klagte über die Schwere.
Da wandte sich Liwüna zur Rechten und schwebte durch ein gewaltiges
Felsenthor.
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Kaidöh folgte.
Und blaues Licht umfloss die Beiden.
Das blaue Licht leuchtete wie Geisteraugen. Aber es umfloss nicht bloss
Liwuna und Kaidoh — es hing sich auch an viele schwebende Köpfe,
die wie blaue Schneeflocken aus der Lichthöhe herunterrieselten. Die
schwebenden Köpfe waren auf der Schadelplatte sehr stark behaart, und
alle hatten Vollbarte, die den ganzen Hals verdeckten. Und das blaue
Licht hing an den Köpfen, als ob es sie herunterzöge.
Liwuna sagte, das wären lauter Denker — grosse Denker — weises Volk!
Und in den Haupthaaren der Denker fing es plötzlich zu brennen an;
buttergelbe Flammen schlugen aus den Hirnschalen heraus, und durch die
brennenden Haare entstand ein grosser Feuerregen — buttergelb war der.
Liwuna schwebte mitten in den Feuerregen hinein; die gelben Funken
rieselten knisternd um die perlgrauen Gewänder, die so dünn erschienen
wie feinste Schlciergcbilde.
Kaidoh erschrak; er glaubte, die Liwuna müsstc gleich Feuer fangen und
brennen wie die Hirnschalen der Denker.
Und besorgt flog der Erschrockene zu Hilfe.
Doch seine Freundin wandte sich lächelnd um und meinte lustig :
ttSo ganz gleichgültig scheine ich dir also nicht mehr zu sein. Das freut
mich. Aber Angst brauchst du meinetwegen nicht auszustehen. Mir
schadet das Feuer der Denker ebenso wenig wie dir. Warum wunderst
du dich nicht, dass wir gar nicht Feuer fangen können ?(C
Kaid6h gab keine Antwort, und sie flogen rasch durch die brennenden
durch in ein grosses Blumenreich.
Berauschender Duft steigt da den Beiden in die Nase. Der Himmel ist
hell und weiss wie Kreide. Doch unten blühen Riescnblumen — so hoch
wie Berge — Blütenkelche so tief wie Thäler — Staubfäden wie schwan-
kende Leuchttürme. An einer langen Mauer hängen Weintrauben, die so
gross sind wie dicke Bündel aufgeblasener Luftballons.
Ringsum ein Urwald aus Riesenblumen!
Glockenblumen, die grossen Tcmpelhallen ähneln! Rosenstengel, die
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nicht von tausend Gorillas zu umspannen waren! Lilienkelche — so tief
wie Kellergewölbe in alten Burgen.
Lauter farbenstrotzende Blumenwälder unter dem weissen Kreidehimmel!
Sehr viele dicke Blumen haben Blütenblätter — die sind gemustert —
wie zusammengeknotetc Salamander und Schlangen. Manche Blüten be-
stehen aus riesenhaften Schmetterlingsflügeln — faltenreich geknillt, ver-
bogen und verschoben sind die. Und alles ist schrecklich bunt und so
sammetartig. Der Blütenstaub liegt an vielen Stellen so dick, dass er
farbigen Schneemassen gleicht.
Eine Riesen-Gärtnerei!
Die schweben langsam über den grossen Blumen dahin und blicken im-
merzu staunend in die Tiefe.
Und erst nach geraumer Zeit brach Kaidöh das Schweigen.
9) Früher, (C bemerkte er, o)kam mir die Welt fast immer drollig vor; ich
musste über alles lachen. Und jetzt empfinde ich nicht den geringsten
Lachreiz, obwohl diese Riescnblumen einen ernsten Eindruck kaum er-
zeugen. Wie kommt es, dass ich so wenig lache? Kannst du mir das
erklären?»
Liwuna lächelte und sah recht zufrieden aus. Sic hatte jetzt hellbraune
Augen und strohgelbe Haare. Sie erwiderte:
•»Die Welt wäre sehr eintönig, wenn sie fortwährend drollig wirken
wollte. Sei doch froh, dass sie dir mal anders kommt. Das Trübe ist
so selten unerträglich, und es ist dabei so notwendig an der Pforte der
Klarheit. Diese würde uns ohne jenes gar nicht als Klares zum Bewusst-
sein kommen. Und du weisst doch: nur das Klare lacht hell! Ich freue
mich übrigens, dass du dich schon mit mir unterhalten magst Aber das
Lachen, von dem du vorhin sprachst, lernt man zumeist nur dann, wenn
man lange Zeit von vielen verbissenen Möpsen umgeben ist — und das
wird dann gar kein helles Lachen. Den Möpsen hab ich dich nun ent-
fuhrt — die siehst du nie mehr wieder — daher lachst du nicht mehr
so — wie du's gewöhnt warst. Du hast es ja gar nicht nötig, über die
Verbissenheit zu lachen; die liegt ja hinter dir.fc
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Liwüna lachte nach dieser Rede so laut und hell, dass aus allen Blüten-
kelchen ein tausendfaches Echo herausschallte. Das Echo war so fein und
vielstimmig, dass die Beiden lange voll Entzücken dem Wohllaute lauschten.
Und der stumpfe, weisse Kreidehimmel ward klarer.
Es tauchten unten aus der riesigen Blumenwelt alte Tempclruinen empor;
sie gaben dem Gespräch eine andre Richtung.
«Sieh mal,«, sagte Kaidoh, «hier entwickelt sich in mir wieder der
Schmerz um die zerstörte Vergangenheit. Ich vermag es nicht, diesem
Schmerze zu entfliehen. Es ist keine trübe Wehmut, die nur im ein-
gebildeten Unmut weh thut — es ist echter, richtiger Schmerzke
7) Der wird dir wohl ganz dienlich sein.ee
Also lautete Liwunas Antwort.
Und Kaidoh hatte das Gefühl, als tasteten alle Weltwesen wie die Blinden
in der Welt umher — alles schien ihm unsichere Tasterei zu sein.
Die Ruinen konnte er gar nicht überschauen — so gross waren sie. Sie
waren auch stellenweise so überwuchert von Dorngestrüpp. Und er em-
pfand es sehr schmerzlich, dass die Liwüna so schnell vor ihm weiterflog
und sich gar nicht nach ihm umdrehte. Er hätte so gerne die Ruinen
länger angesehen, um einen Ueberblick Zugewinnen. Es ging aber nicht;
die Liwuna flog zu schnell.
Bald zogen auch weisse Wolken unter seinen Füssen vorüber und ver-
hüllten die ganze Blumenwelt und alle Ruinen.
Als sich die weissen Wolken wieder auflösten, lagen mächtige schwarze
Felsen unter ihnen. Und als sie nach oben blickten, waren auch oben
schwarze Felsen.
Die beiden schwebten durch eine grosse schwarze Felsenhöhle, in der es
immer dunkler wurde.
»Ein Blick in den Sternenraum,«, rief Kaid6h, »ist doch das Grösstc in
dieser Welt. Warum, Liwuna, zeigst du mir keine Sternenwclten? Sind
die alle zu gross für mich?«
Es wurde ganz dunkel. Und Liwuna war nicht mehr zu sehen. Sic rief
aus weiter Ferne:
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«»Kaidoh! Kaidoh !<c
Das klang so voll Jubel, dass er gleich hinstürmte ; er bewegte dabei so
heftig die Fusszehen, dass sie ihm weh thaten.
Als er wieder die Nähe seiner Freundin fühlte, hörte er sie leise rufen:
•»Duck dich, Kaidoh! Hier ist der Ausgang! Komm! Komm'.Ä
Er folgte und sah plötzlich rauschende Lichtfülle und — unzählige funkelnde
Sterne.
glühten in grausiger Tiefe unzählige
rote Sterne — die bewegten sich alle hin und her.
Und Kaidöh sah hinauf — und da drehten sich Sterne um sich selbst —
die schimmerten so wie Perlen.
Und Kaid6h sah gradaus und rechts und links — und da wanden sich
unzählige bunte Sterne durch den Raum — die hatten eckige kantige
schlauchartige und linsenförmige Gestalt.
Und Kaidöh sah hinter sich und erblickte eine riesige schwarze Felswand —
die ging nach oben, nach unten und nach allen Seiten der Fläche steil
und grad als glatte Platte ins Unendliche.
Liwuna schwebte nicht weitab von Kaidoh. Beide Hessen sich seitwärts
wehen von einem sanften Himmelswinde.
»Jetzt kommt ein Stern ganz nahe vorbei !<c rief die Liwuna.
Und es schwebte durch die Luft ein Stern heran, der wie ein plumpes
Ungeheuer aussah — wie ein höckriger Schlauch. Eine ungeheure, un-
rcgelmässig nach allen Seiten aufgequollene Weltenmasse — mit kurzen
bunten Rüsseln — bunten Raupen ähnlich ! Wie Fühlhörner bewegten
sich die Rüssel. Und dicke spitze Stachel bedeckten den ganzen Leib des
Sterns. Einen Kopf hatte das Vieh nicht; wo man vorn den Kopf ver-
muten konnte, kam weisser Dampf aus vielen Löchern hervor. Aus ein-
zelnen Rüsseln wirbelten ebenfalls weisse Dampfwolken nach allen Seiten.
Der Dampf kam stossweissc und ging schnell auseinander.
Während das Ungeheuer vorüber flog, bewegten sich seine vielen Fühl-
hörner, die besonders auf den Höckern sassen, sehr heftig, als wenn sie
die Nähe von feindlichen Wesen witterten.
4 <f
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Die plumpe Schlauchmasse, die sich in der Form immerfort veränderte
und zuweilen einem zerknillten Koptkissen ähnelte, drehte sich plötzlich
um sich selbst und rollte sausend schnell davon, wobei sich viel weisser
Dampf entwickelte, der wieder rasch auseinander ging.
Und Kaidoh wollte wieder seine Zehen bewegen — es gelang aber nicht.
Er bückte hinunter — und — oh! — seine Füsse waren so tief, dass
er sie kaum noch zu erkennen vermochte.
Kaidoh war grösser geworden — und seine Füsse und seine Zehen
ebenfalls.
Er musste laut auflachen.
Doch Liwuna rief heftig aus:
-»Kaidoh! Das finde ich nicht hübsch, dass du über deine Grösse lachst!
Du hast doch immer grösser werden wollen ! Und jetzt, da du 's bist,
ist es dir wieder nicht recht ? Ich glaube, du bist sehr undankbar und
sehr launenhaft, (c
» Ich lache doch,« erwiderte Kaidoh, »nur über die Grösse meiner Fuss-
zehen, die ich jetzt gar nicht regieren kann.«
»Die brauchst du auch nicht zu regierende versetzte die Liwüna, »lass
dich nur von den Wandwinden treiben. «
» Was sind Wandwinde ?« fragte Kaidoh, »ich verstehe nicht, was du
unter Wandwinden verstehst, «
»Thu doch nicht so,«, gab da die Liwuna spitz zurück, »als ob du Alles
verstehen möchtest. Ich kenne dich! Sei still! Es kommen neue Sterne. (c
Und die kamen auch näher — es waren lauter Glassterne.
Kaid6h brummte: »Sic wird dreist!«
Die Glassternc brummten ebenfalls — nur anders. Es waren nämlich
viele hohle Sterne dabei mit Löchern, aus denen seltsame dumpfe Töne
in die Weltlüfte drangen.
In den hohlen Sternen leuchtete ein grünes Licht, sodass sich die ver-
schnörkelten Formen der Glasgebilde haarscharf vom schwarzen Welt-
hintergrunde abhoben.
Manche Sterne ähnelten aufgeblasenen Fröschen, denen die Beine ver-
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loren gingen — und andere Sterne starren Tintenfischen. Dazwischen
drehten sich helle regelrechte Kreisringe, in denen viele helle Farben
schimmerten. Auch schwebten in der Nähe Würfel und Oktaeder, deren
Flächen glitzerten, als wären sie mit Phosphor bestrichen.
Liwüna sagte leise:
9) Glaube nicht, dass das Alles Glas ist. Es sieht nur so aus.«.
Und Kaidoh sah Millionen kleiner Tiere auf den Glassternen hin- und
herkrabbeln.
Einzelne der Sterne funkelten so stark, dass dem Kaidoh all die Farben-
spiele durcheinander gingen. Er konnte oft nicht folgen.
Drollig wirkten grosse Ketten, deren Glieder aus vielen vielkantigcn
blauen Säulen bestanden.
Jedoch Kaidoh bemerkte bald, dass seine Augen immer starker wurden.
Er fühlte, dass er nicht blos grösser, sondern auch anders wurde. Leider
wusste er nicht, ob er Grund habe, sich über das Anderswerden zu freuen.
Liwüna schwebte weitab wie ein grosser grüner Schleierstern.
Und nun tauchten smaragdgrüne Balkensterne aus dem Dunkel heraus —
die waren ganz mit grünen Wäldern bedeckt, die wie dunkles Moos auf
den Balken sassen und wie Smaragde leuchteten. Kaidoh konnte er-
kennen, dass das grüne Licht unzähligen kleinen Häusern sein Dasein
verdankte; die Häuser — die reinen Glühwürmer — lagen in den
Wäldern so friedlich eingebettet — wie junge Katzen in Waschkörben —
wenn es dunkelt und das Katzenauge funkelt.
Die grössten Balkensterne setzten sich aus sehr vielen Balken zusammen;
die kleineren Balken waren fast alle in rechten Winkeln an die grösseren
geleimt. Und die vielen rechten Winkel trugen so viel Berechnetes in sich, dass
man glauben mochte, sehr fein ersonnene Weltwerkzeuge vor sich zu haben.
Kaidöh dachte in dieser Richtung und meinte dann zu sich selber sprechend :
9) Wozu ich mir über diese Sterne den Kopf zerbreche! Man kann sich
noch so sehr verändern — Etwas bleibt doch immer in uns: jene Genuss
hemmende Denkerei l Aber sie wird wohl nötig sein — sonst würde
man wohl öfters vor purer Seligkeit platzen.«,
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Doch die Gedanken waren bald verscheucht. Raketensterne sausten vor-
über — fix wie Kometen — zischend und rauschend.
Wie unheimliche Feuerspinnen kamen sie angerannt — in ihren Beinen
züngelten zuckende Glutquallen. Bunte Augen sassen den Raketensternen
auf den Zehen. Einige Sterne 'ähnelten glimmenden Knochengerüsten —
und andre wilden Aalen.
Sodann prasselten Feuergarben aus den Sternlcibern heraus; blaue und
grüne Feuertropfen flogen hinunter und hinauf. Lange gewundene Feuer-
säulen — Riesenfinger — bogen sich hinüber zu den blauen und grünen
Feuertropfen und durchstiessen die, sodass sie wie Ringe auf die roten
Feuersäulenfinger hinaufglitten.
Kaidoh fuhr oft erschrocken in die Höhe, da ihm das feurige Spinnen-
gebein recht nahe trat.
Eine ungeheure wie Quecksilber zitternde Feuerschlange schloss den
raschelnden Zug.
Der letzten Schlange sassen auch ein paar grüne und blaue Feuerringe
auf dem Leibe. Dieser Leib — rotglühendes Eisen — wand sich und
zuckte, als lag er in heissen irrsinnigen Fieberkrämpfen.
9) Wenn man die Welt,«, flüsterte Kaid6h, 9) nicht mehr wiedererkennt —
dann ist wirklich Alles anders. Und ich erkenne diese Welt nicht wieder,
denn ich habe sie noch nie gesehen. Ich erkenne mich nun auch selber
nicht mehr.ee
9) Du wolltest doch,«, fiel da lebhaft die Liwüna ein, »unter allen Um-
ständen das Andere. Ich fühlte sogar, dass du das wolltest. Jetzt
hast du das Neue und das Andere — und jetzt ist es wiederum nicht
recht. Ich werde deine Wünsche bald unbeachtet lassen, denn du willst
offenbar noch Etwas, von dem man sich nicht einmal im Traume eine
Vorstellung machen kann. Was du sagst und empfindest, ist gar nicht
wichtig für dich. Deine Gelüste sind dir selber ein Rätsel. Kaid6h fühlt
nur, dass er gar nichts fühlen kann.«.
9 Das mag stimmen!«, brummte der grosse Kaid6h.
Aber zum Wciteireden kams nicht. Unter ihnen schwebten schon wieder
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neue Weltgebilde — die Schalensterne in allen möglichen Muschelformen
mit krummen Schnäbeln.
In den Tiefen der vielen Schalen blitzte es wie von Brillantensplittern,
und bei dem Blitzen bemerkte Kaidoh unter den krausen Rändern der
Sterne ein tolles Weltgewtirm, das grossen wackelnden Schornsteinen
nicht unähnlich schien.
Und die Trompeten- und Trichtersterne gesellten sich mit den Schnecken-
sternen auch zu den Weltschalen.
Das ward ein mächtiges Blasen und Brummen, Getute und Geschnarre
und Gepfeife.
Wie Brummkreisel drehten sich die Trichter. Die Schnecken drehten sich
ganz langsam — es waren nur die Gehäuse.
Und lange Glockenketten schaukelten und wackelten wie fliegende Guir-
landen mitten durch, dass die andern Schalen ausbiegen mussten.
Das dumpfe Gebrumm der Glocken klang so alt, als stäken lauter längst
verfallene Welten in den Glocken.
Hörst du,«, sprach Liwüna, »mit den Glockentönen steigt wieder eine
alte Zeit in dir herauf. Ja, das Neue macht es nicht. Ich will dich ver-
stehen. Dazu bin ich ja da.ee
»Aber das Alte,«, rief Kaidoh, » ist wieder so furchtbar schmerzhaft. Es
lähmt die ganze Lebenskraft.«
9) Es soll,(c gab da leise seine Freundin zurück, »die Freuden dämpfen.
Das Alte ist beim Weltgenuss so nötig wie das Gedankenspiel. Ist dir
Beider Daseinsrecht nicht klar? Wenn dir die Erinnerungsschmerzen
über den Kopf wachsen, dann musst du allerdings sterben. Das ist schon
richtig. Doch mit jedem Tode sterben auch die Erinnerungen. Und ist
das nicht auch gut? Wenn Etwas ganz stirbt — stirbt immer viel Schmerz
zu gleicher Zeit mit. Ja — jedes Sterben ist eigentlich nur ein Sterben
von Schmerzen.«
Kaidoh klatschte in die Hände und lachte, als verstände er auf einmal
die ganze Welt von oben bis unten.
Und aus den Trichtern, Glocken, Schnecken, Muscheln und Trompeten
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scholl wieder ein tausendfaches Echo, das ein Weltlachen war, empor in
den endlosen Raum. Das Echo hing blos nicht ordentlich zusammen —
als wärs ein Echo von Liwunas Worten.
Die Wandwinde bliesen gegen die beiden leichten Riesengeister an, dass
sie weiterflogen.
Liwunas Grösse entsprach der des Kaidoh, sodass dieser seine Begleiterin
lange anschaute ; eine so grosse Dame hatte er noch nie gesehen. Sie
hatte langes pechschwarzes Haar mit einem Rubindiadem, ihr Gesicht
war weiss wie Marmor, und aus den schwarzen Augen strömte ein grosser
Glanz, der auch die nackten weissen Arme ganz hell machte. Oefters
flackerten die grossen Augen, als rasten grosse Sonnen drinn.
Die Schatten der beiden Riesengeister gleiten auf der spiegelnden Wand
wie zwei fliegende Pfeile dahin.
Und rasselnd steigen aus der Höhe abermals Sterne herunter — durch-
sichtige Mühlenräder sinds! Sic drehen sich und lassen alle die eine
Seite sehen; die Scheibe ist erst eiförmig — dann rund — und zum
Schluss wie am Anfange.
Und aus den Radreifen schlagen keilförmige Scheinwerfer raus — blaue,
gelbe und orangefarbige — die drehen sich durch den ganzen Himmels-
raum, als wärens Speichen von Riesenrädern — farbige Speichen. Und
die Speichen drehen sich so schnell, dass Kaidoh dem flirrenden Farben-
wirbcl nicht mit den Augen folgen kann.
Er dreht sich um — und erblickt in der grossen schwarzen Felsenwand,
die überall glatt wie ein Spiegel ist — das Spiegelbild der Rädersterne.
Im schwarzen Spiegel sind die blauen gelben und orangefarbigen Streifen
gedämpft. Kaidoh kann nun Alles von dem bewegten Farbenbilde in sich
aufnehmen — die Helligkeit nimmt allmählich immer mehr ab.
Und dann wirds wieder stiller in der Spiegelwand — andre Sterne er-
scheinen — Blattlappengebilde, die an vielen Stellen phosphorcscieren —
was ganz unheimlich in der schwarzen Spiegelwand wirkt.
Liwüna und Kaiddh sprechen über die verschiedenen Arten der Schwärmerei
in kurzen abgebrochenen Sätzen.
Und nun folgen noch mächtige Wassersterne, deren Wogen nach allen
Seiten hoch in die Höhe gespritzt sind — man könnte sie für Zinngebilde
halten. Die Wassersterne sind aber nicht alle so wie Zinn — sehr viele
sind rot wie Blut — zwei ganz grosse sind wie Gold.
Die beiden Riesengeister sprechen gegen die Felsenwand, ohne sich um-
zudrehen, vom Müdewerden. Dazu haben sie aber keine Zeit, denn jetzt
wirds ganz bunt im Fclsenspiegel — als schwebten Millionen Laternen
durchs grosse All.
Kaid6h wird neugierig und wendet endlich den Kopf,
w Die Rauschlust kommt immer wieder I(c schreit er wild — denn er
sieht jetzt nicht blos die bunten Laternen — er sieht alle Sterne, die bis-
her vorbeizogen, noch einmal — auf ein Mal.
Kaid6h ist abermals noch viel viel grösser geworden — er blickt jetzt in
einen gewaltigen Stcrnwirbel und erkennt Alles.
Die Trichtersterne und die Wassersterne — die Raketensterne und alle
die andern wirbeln da im Räume herum, als führe ein Sturm durch
Sonnenstäubchen.
Jetzt kann sich Kaidoh nicht mehr halten, er bewegt seine Zehen und
will hinein in das glänzende schauerliche Sternenmeer.
Und er kann seine Zehen wieder regieren.
Und er stürzt sich in den Sternwirbel — und schreit — und schreit!!
Seine Brust dehnt sich weit aus, und ihm ist, als gingen all die vielen
Millionen Sterne in seinen Leib.
Und er lacht wie ein Gott — und schreit — und schreit.
Liw&na kann ihm kaum folgen.
Und dem Kaid6h ist so, als setzten alle Sterne noch mehr Grösse an ihn
ab — immer mehr — immer mehr!
Jetzt endlich fühlt er Welten in sich — Welten!
Und er bewegt die Zehen — und schiesst durch den Wirbel — und kreischt
auf — in verrückter Seligkeit — und — und — weiss nichts mehr von sich.
Liwuna folgt ihm mit gesenktem Haupt und führt ihn hinaus aus dem
Sternwirbel in eine kühlere WeJtgcgend.
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Und langsam wird alles anders.
Und mir ist so, als wenn ich langsam erwache — aus wirren wüsten
Träumen, und ich frage leise:
» War ich Kaid6h?(c
Liwuna — das ungeheure Riesenweib neben mir — lächelte und nickte —
und sprach sanft:
»Du bist immer noch Kaidöh!«
Und ich bebte, als hätte sie mir was Furchtbares gesagt.
Wir schwebten wieder im stillen Räume — aber die Sterne waren nicht
rund — sie waren alle feine kleine Striche — nur wenige dickere
Striche — nur wenige dickere Striche sah ich.
Kuhle Lüfte wehten um meine Stirn — und ich wurde wieder ruhiger.
Die feinen kleinen Striche — waren wie Blut — und der ganze Himmel
schwarz — wie die Felsenrand — die weit hinter mir liegt.
Ich suche was mit der linken Hand.
Liwuna lächelt und sagt: »Du suchst wieder was!«
»Ich suche!« sage ich.
»Ich will noch mehr — noch Grösseres 1« fahre ich fort.
Und Liwuna bittet ihren Kaidöh, weiter zu fliegen.
Er fliegt weiter.
Und wieder neue, wieder andre Wunderwelten thun sich vor ihm auf;
die sind aber etwas kleiner — denn Kaidöh ist im Sterncnwirbel noch
mehr gewachsen — ins Ungeheuerliche hineingewachsen.
Dem Kaidöh ist so, als wäre er in ein grosses Schneegestöber geraten.
Es sind aber nicht Schneeflocken, die ihn jetzt umschweben — es sind
grosse Sternwolken aus Schnee- und Eisgestirnen.
Kaidöh bemerkt, dass faltige dunkelviolette Sammetkleider seinen riesigen
Körper umflattern. Liwunas Gewänder sind wie Goldschaum und flattern
ebenfalls.
Die Schneesternlüfte sind so kühl und beruhigend — und Kaidöh be-
darf der kühlen Ruhe — ihm ist noch immer so, als tobten grosse Stern-
scharen durch seine Adern — und durch alle seine Knochen.
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Wie kleine weisse Federn schweben die Sterne dem unermesslichen Kaidoh
um Kopf und Brust.
5) Das sind,«, sagt Liwüna, -»sehr leichte Welten, denn sie sind alle sehr alt.
Die Sterne fliegen zuweilen wie ein grosser Vogelschwarm in die Höhe,
und dann kommt es dem Kaidoh so vor, als flögen ihm rasende Eis-
klumpen an der Nase und an den Ohren vorüber. Seine Augen sind
aber so scharf, dass er die verschiedenen Formen der Schneesterne, wenn
sie weiter weg sind, wohl unterscheiden kann; er sieht auch viele Tiere
auf den Sternen. In den Schneesternen glänzt viel blankes Eis, und die
Eissterne sind an den Krystallspitzen meist mit Schnee umzogen, als
wären sie verschimmelt.
Die Sterne haben viele turmartige Auswüchse und Zacken und Zinnen
und alle nur denkbaren Formen, die aber gewöhnlich regelmässig sind
wie die Krystalle.
Alle Schneesterne und auch die Eissterne verstehen es ausgezeichnet, dem
grossen Kaidoh auszubiegen, sodass er garnicht mit den Sternen in Be-
rührung kommt. Der Schnee verbreitet ein mattes schweres Dämmerlicht.
Kaid6h hat immerfort das Gefühl, etwas vergessen zu haben — und
dieses Gefühl macht ihn immer erregter, sodass er ganz heftig wird.
Liwüna lacht dazu und fragt spöttisch:
•» Was suchst du denn?«.
9) Ich weiss es eben nicht!«, giebt Kaidoh zur Antwort.
Da fliegt die grosse Liwüna an ihren Kaidoh ganz nahe heran und flüstert
mit leuchtenden Augen :
Ich weiss, was du suchst — du suchst das Weib, das dein Weib sein kann. «
Kaidoh zittert, ballt die Faust und schlägt der Liwüna ins Gesicht.
Doch der Schlag geht natürlich wieder durch, ohne zu schaden. Und
die Liwüna lacht, dass es durch die ganze Frostwclt schallt.
Danach spricht sie milde:
«Die Wut gegen Andre beruht immer auf einer Wut gegen uns selbst.
Du bist wütend, weil du nicht weisst, was du willst. Du weisst eben
nicht, was du suchst. Warum fragst du mich also nicht? Warum musst
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du gleich deine Wut an mir auslassen? Witte doch gegen dich selbst !(c
Ich schäme mich, denn die Worte trafen. Ich sage weich:
7) Verleih mir! Führe mich weiter durch das Labyrinth deiner Weisheit.
Ich folge geduldig und werde mich schon noch zurechtfinden. (6
fi Das wirst du!(c sagt Liwüna.
Und wir verlassen die Sternwelten, in denen so viel Schnee ist, schweben
in einen finsteren Raum und bleiben Seite an Seite.
Kaidoh hat eine merkwürdige Empfindung, als ob die Liwüna ohne jede
Unterbrechung auf ihn einspräche, ihm die Rätsel aller Welten erklärte —
doch in einer Sprache, die ihm vollkommen fremd ist.
Er horcht eifrig in die Finsternis hinein und möchte verstehen, was er
da in seltsamen Lauten hört — doch ihm wird Alles immer unklarer;
nur das Unklare wird ihm klar. Und das schmerzt so, dass er aufstöhnt.
Er möchte so gerne lachen über das Alles — vermag aber nicht zu lachen.
Nur Liwüna scheint neben ihm zu lachen — das nützt ihm leider Nichts.
Die Finsternis ist so schwarz, dass Nichts zu sehen ist — kein Stern —
Nichts.
Liwüna sagt leise:
9) Du willst grössere Welten sehen — suchst du die? Willst du selbst
grösser werden?«
Kaidoh wacht auf — wie aus einem hässlichen Traume und ruft «Ja!
Ja!(c Doch er hat nicht das Gefühl, dass Liwüna das Richtige getroffen
habe — er fühlt nur, dass er in der Finsternis noch grösser wird — und
sieht in der Ferne ein schwaches Licht — das rasch heller und heller wird.
Neuen Sternwelten kommen sie auch in der Finsternis näher.
Da wird Kaidoh grässlich heftig und so begehrlich — so gierig.
Ganz andre Sternwelten leben in dem neuen Licht — die sind die grössten
— das Licht in der Ferne wird heller — da kommt aus der Finsternis
ein Ricsenleib hervor — und dieser Ricsenleib besteht aus vielen Millio-
nen bunter Sterne.
Der Riese hat Augen über den ganzen Leib und einen Kopf, der aus
dunkelgrünen lodernden Flammenwelten besteht — Arme und Beine sind
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unzählig und wie flüssiges zitterndes Gold — auf dem Perlen
herumschwimmen; diese Perlen rollen auf den goldenen Gliedern in
ewiger Unruhe.
Kaidöh hemmt seinen Flug und starrt den Sternriesen an — das ist das
grösste 'Weltwesen, das er jemals sah. Kaidöhs Augen rollen so wild wie
die Perlen — wie die blauen und roten Augen auf dem Rumpf des ge-
waltigen Sternriesen.
«Wir wollen, (c spricht Liwüna, 7) über den Sternriesen hinüberfliegen.
Der Weg ist weit. Folge mir ! (c
Und Liwuna fliegt rauschend voran.
Kaid6h kriegt einen Schreck, als sähe er plötzlich in ein Jenseits.
Iiwunas Rücken gleicht ungeheuren Gebirgsmassen, die mit Schnee und
Eis bedeckt sind; Millionen von Schneesternen schleppt sie auf ihrem
Rücken mit ; die goldenen Gewänder sind kaum zu sehen ; die schwarzen
Haarmassen ihres Hauptes flattern oben, und sie wendet oben ihren Kopf
zurück, und Kaidöh erschrickt nochmals — das riesige Gesicht ist braun,
und hellblaue Augen strahlen wie zwei Riesensonnen unter Augenbrauen,
die endlosen Wäldern gleichen.
Kaidöh will seine Fusszehen bewegen — das geht aber nicht — er
schwebt ohne jegliche Körperbewegung der Liwuna nach.
Und nach einer langen Zeit, in ders immerwährend höher geht, blickt
er hinab und sieht unter sich das grüne Flammcnhaupt des Sternricscn —
unzählige grüne Schlangensonnen winden sich da durch einander, und
grüne Flammen schlagen heraus und brennen.
Kaidöh hebt den Blick und bebt — Welten öffnen sich vor seinem Blick —
Welten — wie sie nie ein Sterblicher geschaut hat.
Liwuna schwebt neben Kaidöh. Und die Augen der Beiden schweifen
trunken nach allen Seiten.
Zwölf grosse Sternriesen ragen da im weiten grossen Halbkreise hoch
auf in den weiten grossen Raum. Auf einer Bank, die auch einen Halb-
kreis bildet, sitzen die Sternriesen und bewegen sich nicht.
Und die Bank besteht aus unzähligen Brillantsternen — deren gleissende
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Farbenfeuer durch glitzernden Funkenregen durchspriihen und durch-
flackern — deren gleisscnde Farbenfeuer in langen Flammenkegcln tief
aufglühen wie bunte Sammetblütcn — deren glcissende Farbenfeuer mit
heissem Strahlenglanz brennen.
Kaid6h wundert sich, dass sein Auge nicht erblindet; sein Auge ist
wiederum anders geworden.
Und es sind so viele Brillantsonnen ; die Rücklehne der Bank ist so hoch,
dass sie oben fast endlos erscheint — eine im Halbkreise gebogene
Riesenwand aus lauter Sonnen, die ungeheure sich langsam drehende
Diamanten sind.
Und der Halbkreis ist so gross, dass die Wand nach allen Richtungen so
weit entfernt erscheint. Ein Weltenrand!
Hoch oben bilden die blauen, roten und grünen und die andersfarbigen
FarbcnkcgeUin bewegliches Dach; die bunten Kegel schieben und drängen
sich durch- und über- und untereinander. Und die funkelnden Diamanten
flimmern immerzu, denn die Sterne stehen nicht still. Das flackert. Das
glüht. Das brennt.
Und auf der grossen Bank sitzen die Sternriesen — und die bewegen sich
nicht
yDass sie sich nicht bewegen,«, sagt die Liwuna, '»kommt uns bloss so
vor. Sie brauchen zu jeder Bewegung viele Tausend Sternjahre, und daher
glauben wir, sie seien ohne Bewegung — wie totes Volk. Das ist natür-
lich ein grosser Irrtum ! Wir dürfen nicht vergessen, dass alle Glieder der
Sternricsen aus unzählbaren Sternen bestehen — lauter Sonnen sind —
lauter grosse Sonnen mit vielen Millionen Monden. Die Sterne haben
alle möglichen und denkbaren Formen — die können wir aber nicht mehr
unterscheiden — die Entfernungen sind in dieser Gegend aüch für grosse
Riesen so entsetzlich gross.«
Liwuna sagt noch mehr, Kaid6h starrt mit offenem Munde die zwölf
Riesen an. Er kann die grossen Gestalten gar nicht überschauen; wo ihnen
der Kopf sitzt, weiss er nicht. Der Hauptteil des Rumpfes ist gross und
breit und als solcher wohl zu erkennen. Aber jeder Rumpf sieht anders
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als der nächste aus; die meisten scheinen aus goldenen und silbernen
Wolken zusammengesetzt zu sein. Es gehen aber überall so viele blaue
und grüne Adern durch, und es sind Uberall so viele perlbunte und stechende
Augen, dass Kaidoh nicht weiss, wie er die einzelnen Teile der Riesen-
körper nennen soll. Die Gliedmassen ähneln wilden Korallengewächsen,
und Flammenästc stehen dazwischen — und grüne Pyramiden sitzen oben
auf steilen Schultcrbergen — neben schwarzen Hörnern und glühenden
Haaren und Kugelgewächsen und Würfelketten mit bunten Bändern und
langen goldenen Schlangenarmen.
Die Zwölf sind furchtbare Ungeheuer, in denen Milliarden tollster Sonnen
brennen. Und diese wilden Weltgestalten sitzen da zum Scheine so still,
als wären sie versteinert.
Kaidoh starrt die Sternriesen an mit gierigen Augen ; er möchte die zwölf
Grossen festhalten und nicht mehr vergessen ; er ärgert sich, dass er nicht
unzählige Augen hat wie die zwölf Grossen.
•»Ob sie auch Kleider habende fragt er leise.
Doch Liwüna hört nicht, sie bittet ihn, sich einmal umzudrehen.
Kaidoh thut es und schaut in einen dunklen Raum, in dem unzählige
eckige Sterne funkeln, die stellenweise ganz dicht zusammen stehen —
aus Sternwolken.
»Die Sternwolkcn,«. bemerkt die Liwüna, wind auch Sternriesen —
die kommen langsam näher.cc
Kaidoh zieht den Kopf ein, als furchte er sich vor den grossen Weltgestalten.
Er kommt sich so klein vor wie ein Wurm, obgleich er weiss, dass er
viele Tausend Schncesterne auf seinem Rücken trägt wie die Liwüna.
Er wendet sich wieder zur Diamantenbank und sucht die karrninroten
Streifen an den Ricscnkörpcrn zu zählen und findet sehr viele, sie sitzen
immer neben helllila eiförmigen Flecken. Er glaubt, das seien besondere
Sinne und lässt das Zählen. Seine Gedanken verwirren sich, und er bittet
die Liwuna, ihn weiter zu führen.
»Führe mich weiter,«, sagt er, »durch das grosse Labyrinth deiner Weis-
heit — ich finde mich da nicht zurechne
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Liwüna bedeutet ihm, dass sie gradeaus unter der Bank durchmüssten,
oben hinüber ginge es nicht.
Und Zähne klappernd schwebt Kaidoh dahin.
Und nach langer Zeit nähern sie sich den unteren Gliedmassen der Riesen
und sausen dann an ihnen vorbei unter die Bank.
Kaidoh fliegt mit gekrümmtem Rücken — wagt kaum um sich zu blicken.
Unter den grellsten Brillantsternen, die dicht unter der Bank wie gläserne
Maschinen rasseln und rumoren, sieht Kaidoh nach unten und entdeckt
in der Tiefe grosse halbkugclförmigc Hügel. Die Halbkugcln haben
Farbenringe am unteren Rande, um die Mitte sitzen Sterne in Zickzack-
linien drauf; als wären Perlen draufgestickt — so wirkt es.
Kaidoh will wissen, was das ist.
Liwuna sagt:
-»Das sind die Schlafmützen der grossen Riesen. Die Schlafmützen fliegen
bei jeder Ratssitzung unter die Diamantenbank. Es sind sehr viele Schlaf-
mützen — nicht etwa zwölf.»
-»Ist das,(C fragt Kaidoh, »auch wirklich wahr?«,
»Jawohl,« erwidert seine Führerin, »glaubst du etwa die Riesen hätten
den Schlaf nicht auch mal nötig? du weisst wohl garnicht, wie wichtig
der Schlaf ist.ee
Kaidoh wagt nicht weiter zu sprechen.
Und nach langer Zeit kommen sie auf der Rückseite der Bank wieder ins
Freie — in eine wunderbare duftende frische Luft.
Die beiden sind in einem drolligen "Walde.
Sic fliegen durch ein buntes Gewirr von gewaltigen Acstcn. Und jeder
Ast besteht wieder aus unzähligen Sternen, die sämtlich Linsenform zu
haben scheinen. In der Tiefe ballen sich grosse Nebelhaufen zusammen,
die lilafarbig leuchten. Kaidoh weiss nicht, ob die Nebel ebenfalls aus
Sternen bestehen. Und beim Nachdenken wird ihm so anders zu Mute
— er muss lachen — und er fragt lachend:
»Du, sind das wirklich Bäume? (C
Liwüna giebt ihm zur Antwort:
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7) Ja, ja — das werden wohl Bäume sein. Du kannst die Bäume auch für
Riesen halten und die Riesen für Bäume. Mit deinem Wortschatz wirst
du hier nicht viel ausrichten. Verstehen kannst du diese grossen Welt-
gestalten doch nicht — und wenn du noch viel mehr guten Willen —
und wenn du noch tausendmal mehr Worte hättest. Gieb dir keine un-
nütze Mühe — mit Worten begreift man die Welt doch nicht. Wir
wollen uns nichts vorflunkern. Sieh dir lieber die Formen der einzelnen
Sterne an, aus denen sich diese sogenannten Aeste zusammensetzen. Die
silbernen Aeste sind ganz mit Muschel- und Schneckensternen gefüllt. &
Und Kaid6h sieht sich alles genau an, und dabei schweben sie nach und
nach aus dem Astgewirre raus und in eine tiefere Gegend hinein. Da
schiessen sie durch flockige Nebelmasscn hinunter und erblicken plötzlich •
unter sich einen Sternriesen, der lang ausgestreckt daliegt und zu schlafen
scheint.
Der Riese schläft auch wirklich, er besteht aus lauter Kugelsonnen, die
fortwährend ihre Farbe verändern. Ein flirrendes Farbengewirr 1 Es kann
ganz schwach machen. Es huscht oft noch ein Schattenspiel durch das
Opalgeflitter.
Wie ein grosses Segelschiff, das strandete, liegt der grosse Riese da. Was
Segeln ahnt, schwankt immer auf und nieder. Liwüna macht darauf auf-
merksam, dass die Segel aus lauter Blattwelten bestehen, und dann flüstert
sie geheimnisvoll:
•»Lieber Kaidoh, dies ist ein ganz junger Riese, der noch sehr klein ist;
er wird grade gewiegt. Die Wiege sehen wir nicht, denn sie ist viel zu
gross. Aber siehst du da drüben den grossen roten Ball herniederschweben?
Siehst du, dass da viele Millionen roter Sonnen drinnsind? Siehst du das?«.
Kaidoh bejaht die Frage, und Liwüna fährt fort:
» Das ist ein Blutstropfen von der Mutter des Riesen — die Mutter muss
sich geschnitten haben — dort drüben die grossen Stcrnwolken gehören
zum Leibe der Mutter. Doch stelle dir das Mütterliche ja nicht so ein-
fach vor — ich will mich bloss kurz fassen. Na — diese Gesellschaft
ist dir doch gross genug — nicht wahr, mein kleiner Kaidoh?«,
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Kaidoh bejaht auch diese Frage, schüttelt seinen violetten Sammtmantel,
dass viele tausend Schneesterne rausfallen, und versucht, seine Zehen zu
bewegen. Es gelingt ihm — und pfeilschnell gehts weiter — aber es geht
ihm immer noch nicht schnell genug. Das Riesenland ist zu umfangreich.
Nun sieht er unter sich ein langes, langes, goldenes Rohr — es besteht
natürlich auch aus echten Sternen — aus lauter glitzernden, kantigen
Sternen. Und er will wissen, was das ist.
«Das ist,<c versetzt die Liwüna hastig, »die grosse Sturmmaschine. Wenn
wir rasch an die Spitze des Rohrs gel angen, so können wir von der Sturro-
wolkc gefasst werden — dann würden wir sehr schnell weiter kommen
— was dir wohl sehr angenehm sein dürfte. (C
Kaidoh nennt das Rohr eine Sternkanone. Sie schauen vorn an der Spitze
in das Rohr hinein.
Indessen da giebts gleich einen donnernden Knall, und in einer brennen-
den Wolke sausen sie dahin, dass dem Kaidöh Hören und Sehen vergeht.
Als ihm die Besinnung wiederkehrt, sieht er um sich alle Lüfte voll
Wolken, und die Wolken jagen sich wie die Windhunde — es blitzt und
donnert ohne Pausen — der Sturm heult und pfeift und knurrt und
kreischt auf — Liwunas goldene Gewänder flattern und rauschen und
knallen und knirschen. Und dazu kracht es in einem zu, als gingen in
jedem Augenblick viele tausend Welten platzend entzwei.
■»Das sind,(c erklärte die Liwuna, vdie anderen Schüsse der Sturm-
maschine. Durch diese Maschine wird die Luft der ganzen Gegend ver-
bessert. Die Maschine gehört zu den berühmtesten Erfindungen des Stern-
riesenreichs. (C
Und sie fliegen in Wirbelwinden — in Windhosen — selig dahin —
wobei sie oft riesig rasch um sich selber gedreht werden.
Dem Kaidöh stockt beinahe der Atem. Der Weltendurchflieger weiss
gar nicht mehr, wo er ist. Unter sich sieht er eine grosse, dunkelgrüne
Fläche, die er für eine Wiese hält. Es ist aber, wie Liwüna erklärt, keine
Wiese — sondern ein grosses, herrliches Meer, in dem ungezählte Billionen
von Smaragdsternen das Wasser bilden.
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Und aus dem sogenannten Meere ragen braune und türkisblaue Korallen-
gebirge heraus. Das sind aber, wie Liwuna wieder erklärt, keine Ge-
birge — sondern Sternriesen, die wahrscheinlich baden.
Das Donnern hört sich wie die Brandung des Smaragdmeeres an, und die
Blitze zucken wie Phosphorwolkcn — so schnell folgen sich die einzel-
nen Blitze.
Das Schiessen der Sturmmaschine will auch kein Ende nehmen.
Aber die Lüfte werden doch allmählich ruhiger; es geht ja so rasend
schnell vorwärts.
Die Beiden steigen höher und höher wie Luftballons im Orkane, so dass
das grüne Meer unten nach einer guten "Weile nur noch wie ein zarter
Schieier schimmert.
Und dann erblicken sie eine weite Pforte aus blauen Saphiren. Sie sehen
vor sich nur die blaue Pforte, als ginge sie von einem Ende der Welt
zum andern — sie bildet einen grossen Bogen ; die Saphire sind ebenfalls
Sternwelten.
Und sie fliegen durch die Pforte durch und in ein grosses Säulenreich hinein.
Die Säulen sind so umfangreich, dass die Beiden lange fliegen müssen,
um an einer Säule vorbeizukommen. Die Säulen sind alle aus einem
festen Stück gearbeitet und sind nicht wieder bewegliche Sterne.
Aber die Sterne fehlen auch hier nicht ganz; an vielen Stellen befinden
sich die Sterne auf der Rinde der Säulen — sitzen da so drauf wie Pilze
auf altem Holz — wie Schimmel.
Die Säulen sind gelb und leuchten , obgleich sie nicht glänzen und auch
nicht durchsichtig sind.
»Wir sind,«, sagt Liwüna leise, -»in den Vorhallen 'der Riesentempel. «.
•»Haben die Riesen, (c fragt Kaidöh, »auch Tempel? Wozu haben sie die
Tempel?«
Liwüna antwortet nicht, sie schweben schweigend neben dem blitzenden
Sternschimmel weiter — langsam von einer gelben Säule zur andern.
Es herrscht ein ziemlich dumpfes Dämmerlicht im grossen Säulenreich;
das Säulenlicht ist nicht sehr stark.
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Leise sagt die grosse Liwüna:
»Du solltest grössere Welten sehen. Waren dir nun die Welten, die ich
dir zeigte, gross genug ?<c
Und Kaidoh erwidert feierlich: »Das waren sie.«,
»Aber,«, fährt Liwüna fort, »deine Antwort klingt so, als wenn du mit
einem neuen Aber weiter sprechen wolltest. Hast du das, was du suchtest,
immer noch nicht gefunden ?«,
Kaidöh schweigt lange, und Liwüna unterbricht das Schweigen mit diesen
Worten :
»Lieber Kaidoh, du bist still, und dein Stillsein ist so beredt. Das Grosse
allein macht es auch noch nicht — das willst du sagen. Ich verstehe dich,
und ich freue mich, dass du immer noch suchst, (c
Kaidoh versteht ihre Freude nicht und fragt müde: »Was soll ich denn
thun?tt
Da sagt sie:
»Du musst dir einen Schmerz bereiten: steige noch einmal hinab in die
Abgründe deiner Vergangenheit. Denk an einen Kugelstern, der sich
immer drehte und dir gar nicht gefallen wollte, da er nur einen einzigen
Mond als Begleiter neben sich hatte. Du warst auf dem Stern anfangs
ein Kind und noch nicht so gross wie jetzt — lange nicht so gross. Er-
innerst du dich da vielleicht an einen roten Dornbusch, der vor einem
alten Fenster blühte? Die roten Blüten dufteten dir oft wie Marzipan.
Weisst du das noch?«,
Kaidoh denkt nach und schüttelt den Kopf; zwar thut ers nicht, doch ist
ihm so, als thäte ers.
Liwüna fährt fort:
»Du hast so vieles vergessen. Man möchte beinahe glauben: Leben sei
Vergessen. Aber ich weiss, du erinnerst dich trotzdem an den roten Dorn-
busch; hinter dem Fenster, in das er hineinblühte, stand eine alte Kom-
mode aus Eichenholz mit zwei grossen, schwarzen Knöpfen zum Aufziehen
der mittleren Schublade — weisst du noch? Perlmutter sass an den
Knöpfen. Und neben der Kommode knietest du öfters. (c
<*3
Die Sanftredende hält inne, und Kaid6h stösst rauh hervor:
« Jetzt soll ich mich in diesen riesigen Säulenhallen an alte Kommoden
mit grossen, schwarzen Knöpfen erinnern ! Nun ja! Ich erinnere mich
ganz deutlich!«.
V Warum bist du so grimmig?« versetzt die Liwüna, «neben der Kom-
mode warst du doch nie so grimmig. Du fühltest dich dort einem
Heilande nahe, und es wurde zu Zeiten alles in dir still. Den Heiland
hast du bald vergessen. Aber an die stillen Stunden vor dem roten Dorn-
busch hast du noch oft gedacht. Und du hast dich oft nach ähnlichen
stillen Stunden gesehnt. Und die hast du nicht gefunden. Kaidoh! Hort
doch! Weisst du nun, was du suchst ?(c
Kaid6h horcht hinein in die Tempelstille und hört das Echo seines Atems.
Und dann hört er sich leise sagen:
?) Stille Stunden such ich! Aber ich habe doch keinen Heiland mehr.«,
Hastig erwidert die Liwüna:
«Du musst eben einen neuen Heiland haben. Du wolltest immer grössere
Welten sehen, und auch die grössten waren dir am Ende nicht gross ge-
nug. Dein neuer Heiland muss also grösser sein als alles Denkbare, nicht
war? Und wer kann grösser als alles sein?ft
«Nur der Geist, (c antwortet Kaid6h, «der alles umschliesst — der alles
selber ist — der Allgeist, (c
Ein leises Summen wie von Bienen geht an Kaidöhs Ohren vorüber, die
gelben Tempelsäulen leuchten, und er fährt leise fort :
«Sind das aber stille Stunden, wenn ich die Nähe des Allgeistes fühle —
wenn ich mich in ihm ftihle ?(c
Liwüna sagt nichts, er aber sagt laut:
«Nein! Das sind gewaltige Stunden. Ich glaube auch nicht, dass ich
die stillen Stunden suche — ich suche die gewaltigen Stunden — in
denen ich mich im Allgebt fühle — und den Allgeist in mir.Ä
Liwüna sagt wiederum nichts.
Und er fühlt plötzlich heisses Blut in seinen Adern, und ihm ist so, als
ginge eine neue Kraft durch seine Sehnen, und er sieht schärfer gradaus,
<S 4
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und er glaubt, dass jetzt ein andrer in ihm auflebe — der neue Heiland
— der gewaltige Allgeist.
»Eine gewaltige Stunde !(c
Also schreit er laut auf.
Und er will die Arme heben und Fäuste aus seinen Händen machen.
Und er kann nicht die Arme heben, und er kann nicht Fäuste aus seinen
Händen machen.
» Deine Gliedmassen, (c flüstert die Liwüna, »sind ja viel zu gross ge-
worden. Du bemerktest wohl noch nicht, dass du vor der blauen Pforte
noch ein gutes Stück gewachsen bist. Du brauchst jetzt sehr, sehr lange
Zeit zu jeder Bewegung.«,
Er murmelt:
»Das also nennt man Grösse!«,
Er sieht scharf gradaus durch zwei gelbe Säulen durch in die Finsternis.
Und in der Finsternis bewegt sich was. Und aus dem Bewegten schlagen
hellblaue Flammen heraus. Und die Flammen bilden flackernde Buch-
staben. Und Kaidoh kann die Flammenschrift lesen, obgleich ihm die
Schrift ganz unbekannt ist. Und er liest :
»Bilde dir nicht zu viel ein ! Der Geist des Alls, der mehr als alles Grosse
ist, flüstert auch in dir. Aber er flüstert nur sehr wenig. Und das Wenige
kannst du nicht einmal verstehen. Wer gleich den ganzen Allgeist in
sich zu fühlen glaubt, stellt sich das Gewaltige allzu einfach vor; man
könnte lächeln und lachen. Du kannst nur langsam fühlen, dass ein All-
geist da ist — mehr kannst du nicht. Sei still ! (C
Und die Schrift erlischt.
Und die Liwuna schwebt neben Kaidoh vorbei und aufwärts.
Und er sieht gewaltige Goldgebirge, in deren Thälern nur noch wenige
Schneesterne schimmern — wie weisse Farbenreste.
Die Goldgebirge sind Liwünas Gewänder.
Kaid6h steigt auch höher — und sieht in Liwunas Antlitz — wie in eine
grosse, bunte Landschaft — und in der funkeln zwei Augen ihn an —
wie lichtbraune Sonnen aus Topasen. Und Liwunas gewaltiger Mund
5
öffnet sich. Und sie sagt, während es über die weiten Gefilde ihres Ge-
sichtes zuckt :
9) Du bist doch gar nicht ein bischen neugierig. Wcisst du, wer ich bin?
Du hast noch nie danach gefragt. Hast du mich nicht verstanden? Ich
bin doch deine Sehnsucht. Ich bin deine Körper gewordene Sehnsucht
— so viel wie ihr Spiegelbild, (c
» Daher, «. giebt Kaidoh zurück, 9) bist du wohl so fabelhaft gross. Jetzt
merke ich erst, wie mächtig mein Verlangen ist — wie rasend gross meine
Gier wurde — meine Gier — nach dem Gewaltigsten, (c
Und er denkt, dass er über Liwüna lächeln könnte, doch er kanns nicht
— die Gesichtsmuskeln gehorchen ihm ebenfalls nicht mehr — er ist ja
so masslos gross geworden.
Er sagt sich, dass wahrhaft grosse Riesen das Lachen gar nicht nötig haben.
Und wenn man sich so was gesagt sein lässt, so ärgert man sich nicht
mehr. Das hätte doch gar keinen Zweck.
Liwüna schwebt wieder an Kaidohs Seite und macht ihm Enthüllungen;
sie bietet ihm ein Spiegelbild von seiner Sehnsucht dar.
Er glaubt, er verstehe das alles, und hat eine Empfindung, als könnte er
Liwüna durch und durch durchschauen. Dabei lernt ersieh endlich selber
kennen — bildet sich das wenigstens ein — glaubt, dass er nur das Ge-
waltige gesucht habe und klammert sich an dieses Wort, als wärs sein
neuer Heiland.
Was doch so'n Wort macht !
■»Ich suche die gewaltige Stunde!«,
Mit diesen Worten schwebt Kaidoh gradezu weiter und müht sich ab,
allmählich die Finger zu krümmen — was schrecklich langsam von
statten geht.
Die Säulen sehen jetzt wolkig aus wie undurchsichtiger Bernstein, und
blassrote Korallenketten, deren Glieder sehr unregelmässig sind, winden
sich schraubenartig um die Bernstein-Säulen.
9) Liwuna, (c ruft Kaidoh, »du weisst, was ich will. Warum erfüllst du
nicht meinen Wunsch?«
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Die riesige Liwuna sagt müde :
»Diese Quälerei um des Gewaltigen willen! Als wenns nicht überall
genug der Winder gäbe ! Als ob nur die schärfste Paprikatunke geniess-
bar wäre! Es giebt doch noch sanftere Tunken 1 O Kaidoh — deine nie
gestillte Lustgier hat dich so überreizt, dass jetzt nur noch das Schärfste
bei dir zieht, ft
Kaidoh wird furchtbar heftig — es hilft ihm aber nichts — alle seine
Muskeln gehorchen ihm nicht.
Sie fährt sanft fort:
» Sollten dir vielleicht die stillen Stunden der grenzenlosen Gedanken-
losigkeit helfen können? Ja doch! Auf einen Punkt starren und sich
durch nichts ablenken lassen — macht auch schon mal selig. Weise die
Geschichte nicht so leichthin von der Hand. Die unbeirrte Beschaulich-
keit, die alles Denken nur als Stimmungshebcl und Stimmungshobel auf-
kommen lässt, hat schon manchen Masslosen erlöst. Sehr heldenhaft sieht
die Sache freilich nicht aus — aber sie erfüllt doch ihren Zweck. (C
Kaidoh wird noch wütender.
»So hat mich noch keiner verhöhnt!» brüllt er auf.
Sie aber sagt freundlich:
»Glaube mir nur: Kinder der Einsamkeit sind alle deine "Wünsche. O
Kaidoh — warum willst du bloss noch das Gewaltige ?(C
Kaidöhs Zorn verraucht. Der Riese sieht seine Liwuna neben sich schweben
und weiss nicht, was er von ihren Worten halten soll.
»Scherze nicht !(C spricht er feierlich, »Du weisst, dass ich nicht anders
kann. Wenn du meine Sehnsucht bist, musst du mir eine gewaltige
Stunde schaffen können. Ich verstehe nicht, warum der Weg zum Ge-
waltigen so schrecklich weit ist.ee
Sie schweben still zusammen weiter — immer zwischen den undurch-
sichtigen Bernsteinsäulen — die unzählig sind, wie die Tropfen eines
Meeres.
Und Liwuna sagt zögernd:
»In den Stunden des Lebens, die wir gewaltig nennen könnten, glauben
<*7
wir oftmals, nahe daran zu sein, alle Rätsel der Welt mit einem Blick zu
durchschauen. Es geht wohl was Grosses mit uns vor. Eine geheimnis-
volle Macht scheint uns mit fernen Sternen zu verbinden — und uns
auch hinter alle Sterne zu führen — und wir nehmen gern an, dass wir
mehr sind, als sonst. Viele fasten und beten und kasteien sich, um zu
solchen gewaltigen Stunden zu gelangen. Und die bleiben vielen dennoch
fremd. Man muss sich eben führen lassen wie Kaidoh und warten können.
Wäre der Weg zum Gewaltigen so bequem, so hätten wir gar kein Recht
von einem ,Gewaltigen c zu reden — denn es würde bald was Alltagliches
sein — und das Alltägliche ist nicht mehr gewaltig. Man muss sich
also ruhig führen lassen von seiner Liwuna — eine Liwuna kann doch
jeder haben — nicht wahr, mein lieber Kaidoh?«,
Kaid6h empfindet so was wie Eifersucht, ihm kommt aber diese Em-
pfindung gleich sehr lächerlich vor. — er würde lachen — wenn er das
noch könnte — er bemerkt in seiner Aufregung gar nicht, dass Liwuna
nur von ihrer lieben Schwester sprach.
Der stürmische Kaidoh will bloss noch mehr wissen — mehr von der
gewaltigen Stunde, in der nach seiner Meinung der gewaltige Geist, der
alles umschliesst, im Innern des Empfänglichen für ein paar Augenblicke
auflebt und das ganze Dasein verändert.
Die Liwuna sagt still :
fi Du sollst mehr wissen. Dazu habe ich dich hierher geführt. Es giebt
hier im Tempel noch so manche Flammenschrift. Blick nur scharf grad-
aus — auf einen Punkt — dann wirst du schon was sehen.«,
Und Kaidoh thut unwillig, wie ihm geheissen wurde, und er sieht plötz-
lich eine Wand von rot glühendem Eisen.
Und in dem rot glühenden Eisen entsteht eine Schrift aus flimmernden
Opalen. Kaid6h kanns lesen und liest:
9) Es umrauscht dich ein wildes Meer, und tausend Stimmen schreien dir
die Ohren voll, und du verstehst nicht, was sie sagen. Sie sagen, dass
alles, was lebt, nur eines will: es soll nur wieder eine andere Seite des
Daseins aufleuchten. Und das Dasein ist ein Brillant mit unzähligen
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Ecken und Kanten. Und alles, was lebt, steckt in den bunten Strahlen,
die hinausleuchten in die tiefe Finsternis, in der alles, was lebt, aufflam-
men und vergehen soll. Es ist alles nur ein bunter Schein.«
Und Kaidoh sagt scharf:
•»Es ist alles nur ein bunter Schein, (c
Und die Schrift erlischt, und die glühende Eisenwand fällt in die Tiefe.
Und dicht vor Kaidohs Gesicht entstehen hampelnde Gliederpuppen aus
hellgrünem Chrysolith — die bilden auch Buchstaben in der Luft —
und bald steht da vor der Finsternis in hellgrüner Schrift :
w Wir möchten auch so gerne das Ganze umfassen, es ist nur so schwer.
"Wir denken daher in allem Ernste daran, uns mit einzelnen Teilen der
Welt zu begnügen. Wir wissen allerdings, dass uns die Teile eines un-
endlichen Ganzen als solche ebenso unbegreiflich sind — wie dieses selbst.
Indessen — du lieber Himmel I Halten wir, was wir gerade haben —
obs nun Teile sind oder nicht. Man hat so doch immer noch etwas —
wenigstens scheinbar! Es lebe die Kirsche !(C
Und mit Geknatter zergeht das grüne Puppenvolk.
Kaidoh bedauert, dass er nicht mehr lachen kann — was doch so
lustig war.
Und er blickt seiner Liwüna ins grosse Antlitz, und siehe! — ihr springen
plötzlich die Zähne aus dem Munde heraus und bilden auf den roten
Lippen eine weisse Glanzschrift — die da sagt:
•»Du kannst aber den Grossen, der keinen Namen hat und viel grösser
als alle Unendlichkeit ist, dennoch — fühlen. Es zuckt dir noch einmal
eine Erkenntnis durch den ganzen Leib. Du wirst dann plötzlich nicht
mehr hören und nicht mehr sehen wollen — denn du wirst zufrieden
sein, als wenn du alles wüsstest. Und du wirst doch niemals sagen können,
was du weisst und was du erkannt hast. Und es wird doch mehr als ein
Traum sein. Und du wirst zufrieden bleiben — solange du dein Leben
lebst. (C
Und Liwuna verschluckt ihre Zähne.
Kaidoh sagt hastig:
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^)So sollte es möglich sein? Unser Leben könnte schliesslich nur aus ge-
waltigen Stunden bestehen? "Wenn das möglich ist, so soll es wirklich
sein — ich willsltt
wWas schreist du so'.tt bemerkt kalt die Liwüna, deren Zähne wieder an
der richtigen Stelle sind, '»glaubst du vielleicht, dass es sehr geistreich
wäre, wenn in unserem Leben eine Stunde der andern ähneln würde —
wie ein Ei dem andern? Immer wieder neu und anders müssen alle Stun-
den sein — auch die gewaltigen Stunden.«
9 Dann, (c versetzt Kaidöh barsch, 9muss auch eine Stunde gewaltiger als
die andere sein, und es muss eine gewaltigste geben. Und welche Stunde
könnte nun die gewaltigste sein? Doch nur die, in der das Einzelwesen
mit dem Allwesen ganz und gar verbunden wird. Und die Stunde nennt
man die Todesstunde, (c
Liwuna fragt sanft: •» Suchtest du den Tod?(c
Kaidoh hört nicht mehr — sein ganzes Wesen leuchtet auf in einem Ge-
danken — er denkt sich mit dem Geiste, der Alles ist und keinen
Namen braucht, für ewig vereint.
Und alles, was den Kaid6h umgiebt, verliert jede Bedeutung für ihn —
auch Liwuna verliert ihre Bedeutung für ihn.
Und sie fliegen in einen grossen Saal, in dem so viele duftende Rauch-
wolken sanft emporwirbeln, dass die Beiden von den Wanden nichts
gewahr werden.
Sie sind in dem kleinen Saal des Schweigens, in dem jeder durch die
duftenden Rauchwolken am Sprechen verhindert wird.
. Sie fliegen lange Zeit, und Kaid6h versucht wiederum eine Faust zu
machen.
Und nach langer Mühe gelingt es ihm, eine Faust zu machen — mit der
rechten Hand — mit der linken gehts noch nicht.
Kaidoh freut sich und fühlt sich dem Herzen des Alls ganz nahe und
möchte sprechen.
Er kann aber nicht sprechen — und fährt schweigend durch die Rauch-
wolken dahin wie ein Gewaltiger.
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Und Liwuna findet einen Ausweg aus dem Saale des Schweigens.
Und sie schweben bald in freier Luft unter einer weiten Kuppel, die ganz
aus Glas besteht.
Kaidoh schreit:
9) Föhre mich in den Tod. Ich will das Gewaligste. Ich will die Ver-
einigung mit dem Geiste, der alles ist.«
?)Was weisst du;<c versetzt die Liwuna, «von den gewaltigen Stunden
des Lebens und des Sterbens !<c
Und Kaidoh sieht seitwärts im dunkelvioletten Kuppelglase eine zitternde
Schneeschrift — diese Worte:
•5) Wir wissen über Geburt und Tod so viel wie gar nichts und reden doch
davon. Das ist die Macht des Unbekannten, die uns zum Reden reizt.
Wer aber über Dinge redet, die er nicht kennt, wird leicht zum Schwätzer.
O, hütet euch vor dem salbadrigen Geschwätz — wenns auch manchmal
stürmisch klingt ! Ihr könnt so leicht da drinnen kleben bleiben — wie
die Fliege im Flicgenleim.(c
Kaidoh will die Augenbrauen zusammenziehen und ein böses Gesicht
machen; er hat ja noch nicht geschwatzt.
Während er ärgerlich sich abwendet und weiter möchte, schweben
schaukelnde, bunte Laternen aus der Kuppelhöhe hernieder und bilden
ein paar Beruhigungssätze.
Kaidoh buchstabiert und liest:
■» Du brauchst keine Furcht vor dem Tode zu haben. Wer sich eins weiss
mit dem Geiste des Alls, kann die Todesstunde nicht mehr fürchten, denn
was sie auch bringen mag — sie bringt immer nur das, was der Geist,
der alles ist, will. Das, was der Namenlose will, kann nicht unsre Sache sein.
Wer sich, obschon er gar nichts weiss, mit dem Allgeist eins weiss, wird
allzeit ganz ruhig sein — einverstanden mit allem, was geschieht. Todes-
furcht kann nur der haben, der zu viel Freude an seiner Selbstherrlich -
keit hatte. (C Kaidoh schreit wütend:
»Ich habe doch keine Furcht vor dem Tode! Ich habe doch Sehnsucht
nach dem Tode ! (t
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Schauerlich hallen diese Wutworte durch die grossen bunten Glasge-
wölbe. Die bunten Laternen brechen klirrend entzwei und sinken in
die Tiefe, die grau ist wie ein Wolkenbett.
Hastig spricht Kaid6h zur Liwüna, deren Gesicht sehr rot wurde:
»Warum höre ich kern klares Wort über die Todesstunde? Warum nicht ?«,
r» Gelieber, (t entgegnet die Rote schnippisch, » was du bloss zu verlangen
beliebst! Man hätte viel zu thun, wenn man alle denkbaren Möglich-
keiten, die beim Tode und nach dem Tode eintreten könnten, erörtern
wollte. Und man würde doch nie zum Stande kommen. Eine Formel,
mit der man alles lösen kann, findet man nicht — in der gewaltigen
Welt. (4
Dem Kaidoh wird so traurig zu Mute. Er glaubt, dass man ihn absicht-
lich missverstcht. Er möchte vor lauter Unruhe beinahe weinen — kanns
aber nicht. Er ist ja viel zu gross zum Weinen. So schnell sind seine
Thräncndrüsen nicht in Bewegung zu versetzen. Es ist nur ein Wunder,
dass er immer noch sprechen kann.
9) Du hörst nicht mehr auf mich ! (C sagt er bitter.
5) Du hörst auch nicht mehr auf mich!«, sagt auch sie bitter.
Und während sie weiterziehen, sehen sie sich die mächtigen Bogen der
reichgegliederten Glaskuppel an von der sie natürlich nur ein kleines
Stück sehen können, das keinen Begriff vom Ganzen erzeugt.
Und schillernde Paradiesvögel setzen sich auf eine hohe türkisblaue
Scheibe, und auch diese bunten kleinen Vögel, von denen Tausende da sind,
bilden eine Schrift — in verschiedenen Absätzen.
Der oberste Absatz lautet:
»Mit dem Prophetentum ist die Sache immer man mau. Jeder Prophcte
wird so leicht zum Hallunken. Weil aber auch diese von den ge-
waltigsten Dingen sprechen, so soll man ja nicht glauben, dass alles Ge-
waltige bloss qualmender Mumpitz ist. Alles Ernste will auch sein Wider-
spiel in seinem Gegensatze haben. Und die Hallunken sind doch so —
spassig.tt
Die Paradiesvögel zwitschern mächtig.
7*
t
I
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Der unterste Absatz lautet:
»Da das, was in der einen Gegend lebt, gleichzeitig immer noch wo
anders lebt, müssen wir annehmen, dass alles Leben niemals im Einzelnen
erstickt werden kann — es wird immer noch wo anders sein.cc
Kaidöh wendet sich wieder ärgerlich ab, da er nichts davon versteht
doch die Liwüna spricht schnell:
»Kaidöh, in der Mitte steht doch noch ein sehr wichtiger Absatz, a
Da steht nämlich:
»Die Sternriesen haben noch keinen ihrer Brüder sterben sehen und
glauben nicht mehr, dass sie sterben könnten. Sie halten daher den Tod
nur für eine Wescnsverwandlung, die bei sehr unentwickelten Lebewesen
eine Berechtigung hat.tt
Kaidöh staunt darüber und wird verwirrt.
»Sagtest du nicht, (C fragt er, »dass wir im Todcstempel der Stern-
riesen seien? (C
»Das kann ich,ft erwidert sie, »nicht gesagt haben, denn bei den Stern-
riesen spielt der Tod gar keine Rolle. Die grossen Sternriesen verändern
sich, ohne dabei gleich zu sterben. Die Inschriften, die du kennen gelernt
hast, sind nicht für die Sternriesen. Wir befinden uns hier immer noch
in den äussersten Vorhallen. Du würdest viele Sternjahre brauchen, wenn
du dir von der Tempcleinrichtung, die sich in ungeheuren Tiefen be-
findet, ein ungefähres Bild machen wolltest. Das Sinnbildliche würde dir
zudem ganz unf assbar bleiben.
»Dann komm raus!(C sagt Kaidöh.
Das geht aber nicht so geschwinde.
Die Liwüna fliegt mit ihrem Kaidöh durch ein Perlkettenfenster in einen
andern Saal. Und in dem ist die Kuppel so himmelhoch, dass Kaidöh
müde wird bei dem Gedanken, da oben durch zu müssen.
Es ist still und geheimnisvoll ringsum.
In dem Saale sind nur ein paar Lichter sichtbar — das sind grosse Sterne,
die an fernen Säulen leuchten. Die Säulen sind als solche gar nicht wahr-
zunehmen, da ihr Umfang viel zu gross ist.
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■»Wir müssen immerzu emporsteigen !& sagt leise die Liwuna.
Und sie steigen immerzu empor.
Ihnen ist so, als schwebten sie zwischen grossen dunklen Blasen in die
Höhe. Die Blasen haben weichgebogene Lappenform; goldbraune und
dunkelviolette Wellen schwimmen auf der Blasenhaut hin und her — wie
auf Scifcnblasenhaut.
Es ist ziemlich dunkel ringsum.
An der einen Seite wirds aber immer heller, die Blasen verschwinden,
und ein kirschrotes Licht leuchtet den Beiden ins Auge. Vor dem kirsch-
roten Lichte, das in einem Nebensaale zu leuchten scheint, sehen sie eine
lange Reihe von schwarzen Säulen, die wie Knochengerippe wirken und
doch wieder Buchstaben sind.
Da steht geschrieben in schwarzer Riesenschrift auf kirschrotem Licht-
grunde:
9) Glaube nicht, dass es immer gut ist, wenn du oft zur Besinnung kommst.
Viele verlieren dadurch ihre ganze Kraft und ihr ganzes Lebensglück,
selbst das Todesglück kann dabei in die Brüche gehen.»
Kaidöh sagt kalt:
W Diese Worte gehen mich gar nichts an.ft
Das Licht verschwindet, und die Schrift ist nicht mehr zu sehen.
Die Beiden steigen höher, und abermals wird ein Nebensaal hell — der
strahlt in citroncngelbem Licht. Und schwarze Säulenlettern sagen
davor:
vUnsres Lebens Anfang und Ende ist uns verschleiert, dass wir glauben
können, es gäbe Beides nicht. Unser Leben soll wohl ein Sinnbild der
Unendlichkeit und Ewigkeit sein. Wir können unser Leben auch ein
unaufhörliches Sterben nennen — wir werden immerzu was anderes.
Wir sollen uns eben immer inniger ins Ganze einschmiegen. Und wenn
wir das thun, wird unser Leben aus lauter gewaltigen Stunden bestehen.«,
Da geht ein Zittern durch Kaidohs ganzen Körper, und er spricht leise
wie zu sich selbst :
•»Ich aber will den Abschluss — ganz eins will ich sein mit dem Geiste,
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der alles ist. Und so muss ich den Tod wollen — den Tod, der keine
weitere Veränderung hinter sich zulässt.«
Mit einem krachenden Donnerschlag spritzt das citronengclbe Licht nach
allen Seiten und verfliegt.
Es wird ganz finster, und dabei geht ein wimmernder Luftzug durch die
Gewölbe. Der Luftzug dreht den Kaidoh um sich selbst und reisst ihn
rasend rasch empor — immer höher — immer höher — dass ihm der
Atem stockt — dass er denkt, die letzte Stunde seines Lebens sei ge-
kommen — dass er aufjauchzt — und nun des grossen Augenblicks
harrt — und die Augen weit aufreisst — um sehen zu können — mit
einem Blick — das ganze All.
Und ein lilienweisses Licht springt auf und leuchtet auf allen Seiten.
Und vor dem lilicnwcissen Licht steht in schwarzer Säulenschrift viele
Male auf allen Seiten die grosse Frage :
wWas ist die Unendlichkeit?«
Und darunter steht :
3> Kaum ein Finger des Unnennbaren.«
Und Liwuna schwebt mit ihrem Kaidoh durch einen goldenen Stern-
zackenkranz, der eine runde Oeffnung der grossen Tempelkuppel um-
säumt, ins Freie hinaus — in einen braunen Nachthimmel, der mit
weissen, schmalen, ovalen Sternen Übersäet ist.
Draussen ist es kühl.
Und Kaidoh fühlt, dass ein starker Arm seinen ganzen Körper wagerecht
legt, sodass er nicht mehr die weissen Sterne sieht — sondern nur noch
die Kuppeln.
Die Liwuna neben ihm liegt auch wagerecht in der Luft mit dem Gesicht
nach unten wie er.
Und so schweben sie empor rückwärts — also dass sie immer mehr von
den Kuppeln und Dächern der Sternriesentempel sehen.
Die Beiden schwebten, während ihre Gewänder rauschten und knatterten,
neben Türmen und Säulenhallen immer höher so schnell, als wenn die
Beiden von Riesenmäulern, die oben Luft einsogen, hinaufgezogen würden.
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Und dann liegt das ganze Tempelreich in aller seiner Herrlichkeit unter
ihnen.
Kaidoh ist ganz berauscht von diesem gewaltigen Anblick.
In der Mitte thront ein Kuppeldach, das einer goldenen Riesenperle gleicht ;
das Gold windet sich in Schlangenlinien hin und her — gekörntes Gold,
blankes Gold und getriebenes Gold.
»Das sind natürlich lauter bewegliche Sternriesen !«, erklärt die Liwüna.
Die Goldkuppel ist von hellblauen und dunkelblauen Zackenringen um-
rändert. Die Ränder sind aber breit.
Ein Kranz von kleineren spitzen Silbertürmen umzäunt die Zackenringe.
Um diesen Mittelpunkt sind nun hellgrüne und dunkelgrüne Riesenwürfel
herumgestreut — die liegen wie Steinfelder da — bilden aber gleichfalls
einen regelrechten Ring — einen so breiten allerdings, dass es schwer
fallt, ihn als solchen zu überschauen.
Und um die grünen spitzen- und kantengrossen Würfel hat sich ein breiter
grüner Wolkenring gelagert. Der Wolkenring ist im Innern sehr un-
rcgclmässig und zeigt viele tiefe Thäler, in denen das Wolkengrün beinahe
schwarz erscheint.
Und ganz breite funkelnde Glastürme ragen auf allen Seiten hinter den
grauen Wolken in den Nachthimmel hinauf.
Und die Glastürme sind ganz hell, als wären sie sämtlich innerlich er-
leuchtet; an den vielen rechteckigen Kanten der Türme funkeln die
Regenbogenfarben wie an Brillanten. Kaidoh kann nicht über die Türme
hinüberschauen; sie steigen alle rechteckig als breite Massen auf, die sich
oben nicht verjüngen; sie tragen auf ihrer ganz stumpfen Spitze auf ganz
flachem Dach unzählige kleinere Türme, die wie Schornsteine aussehen
und noch stärker funkeln, als die breiten rechteckigen Türme, die das
Grundgemäuer bilden.
Kaidoh schwebt noch schneller aufwärts — immer höher und höher.
Der Mittelpunkt — das sieht er nun ganz deutlich — leuchtet in seinem
eigenen Licht. Die goldene Mittelkuppel leuchtet wie heftige Sonnen.
Milder leuchten die blauen Zackenringe und ganz milde die grünen
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Würfel ; die silbernen Türme zwischen beiden glimmen nur so wie Phos-
phor im Dunkeln. Die grauen Wolken erhalten ihre Helligkeit von den
grünen Würfeln und den Glastürmen.
Die ungeheuren Lichtmassen erscheinen in ihrer Wirkung so klein, da
die Entfernungen so furchtbar gross sind.
Und Kaidoh gelangt allmählich in so ferne Höhen, dass er auch über die
Glastürme hinwegsehen kann.
Und hinter den Glastürmen sieht er nun einen runden Reifen von gcwal-
tigen Pyramiden — ein Diadem von gelben Topasen und lilafarbigen
Amethysten, die sich abwechselnd folgen. Das Pyramidendiadem liegt
weit hinter den Glastürmen.
Und der Pyramidenring wird wieder von Perlenfeldern umrahmt. Es
sind aber schwarze sehr höckrige Perlen, zwischen denen vereinzelt wie
Thräncntropfen kugelrunde rosafarbige Perlen schimmern.
Und Kaidoh schwebt noch höher und empfindet das Ganze als grossen
Tortenstern.
Hinter den schwarzen und roten Perlen recken sich aber noch in der
Runde in regelmässigen Abständen sieben weisse Zungen vor, deren lange
lange Spitzen hoch aufragen — wie die Spitzen der Schnabelschuhc.
Die spitzen Zungen sind weiss wie weisser Sammet und übersäet von viel-
kantigen dunkelrot glühenden Granaten; das Weisse herrscht aber wie
Schnee leuchtend vor — so viele Granaten sinds nicht.
Neben den Zungen ist tiefschwarze Nacht ohne Stern.
Ein siebenzackiger Tortenstern liegt unter Liwüna und Kaid6h.
Von den Glastürmen sind nur die Kappen der balkcnförmigen kleineren
Türme zu sehen — die sprühen aber ihr buntes Licht in Scheinwerfern
durch das Wolkenreich, sodass das auch zuweilen ganz bunt wird —
bunter als alles Andre.
Der Wolkenring wechselt jetzt immerzu die Farbe — öfters ist er schwarc
und weiss gestreift.
Auf den Spitzen der sieben weissen Schnabelzacken sitzen wie feine hohe
Federsträusse blutrote Kometenschweife.
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Durch die hochaufragenden weissen Schnabelzungen mit den weit hinaus
ins Weltall steigenden Blutkometen erhält das ganze Tempeldächerreich
von oben gesehen die Form einer seltsamen Himmelsblüte.
»Du hast wohl schon ,(c sagt Liwüna, »ganz und gar vergessen, dass du
das Gewaltigste suchtest — nicht so, Kaidoh ? Du wolltest dich mal mit
dem Unnennbaren, der alles ist, vereinen. Das liegt nun hinter dir, nicht
wahr? Du musst nicht so masslos in deiner Gier sein. Verbinde dich
doch mit dieser Himmelsblüte !(c
Kaiddh sieht die Tempeldächer noch lange an, lässt das Gold und das
Silber, das Blau und Grün, die Würfel, Perlen, Pyramiden, Kometen,
Granaten und die Wolken mit den bunten Glaslichtern so recht fest in
seinen Augen wirken und erwidert dann langsam:
»Diese Himmelsblüte ist ein grosses Glanzwunder — aber sie umschliesst
nicht alles. Sie zeigt die Mannigfaltigkeit der Welt in sehr stark verein-
fachter Form mit vereinfachtem Farbenspiel; durch Regelmässigkeit ist
alles vereinfacht.^
»Die Welt ist,ft spricht da hart die grosse Liwüna, »so entsetzlich gross-
artig, dass sie selbst von Sternriesen nur in einem vereinfachten Sinnbilde
zu erfassen ist. Bedenke nur, was schon alles aus der blossen Vermischung
von Farben und Formen entsteht.tt
»Ich empfinde,<c fährt nun Kaidoh fort, »diese Tempeldacher als Bestand-
teile von Häusern. Und alles Hausartige hat für mich etwas Schnecken-
artiges. Dass selbst Sternriesen noch des Hauses bedürfen, verkleinert sie
in meinen Augen um ein ganz Beträchtliches. Ich liebe es — ganz frei
im All zu sein — ohne beengende Kräfte, die uns doch bloss die Aussicht
ins All — ins Ganze — versperrt. Ich will nun mal im Ganzen auf-
gehen — und nicht in neuen Kapseln. Und daher fürchte ich, dass ich
selbst dann, wenn ich mich mit dieser Himmelsblüte unlöslich für ewig
verbunden hätte, genau dieselbe Sehnsucht haben könnte — wie bisher^
Nach diesen Worten ist es still im weiten All.
Dann aber hört Kaidoh ein donnerndes Lachen neben sich.
Und er fragt verwundert :
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«Kann Liwüna lachen ?ä
Doch das Lachen tönt so laut, dass seine Worte von dem Lachen ver-
schluckt werden.
Und während des fortwährenden Lachens neben sich wird die Himmels-
blüte kleiner und kleiner — ziemlich rasch.
Kaidoh steigt noch schneller empor.
Ihm ist dabei so, als drückten tausend Bleiwelten auf seinen breiten
Rücken.
Und bald ist die Himmelsblüte nur noch ein bunter funkelnder Licht-
punkt, der sich allerdings sehr scharf von den andern weissen Sternen,
die schmale ovale Form haben, unterscheidet.
Das Gelächter verhallt nach allen Seiten — geht unter in fernen Echos
— die so bellen — wie Hunde bellen.
«Ist das deine Sehnsucht, die da so bellt ?(c
Also fragt neben Kaid6h eine spitze Stimme, er sieht aber seine Liwüna
nicht neben sich und fragt traurig:
»Ist Liwüna fort?«
Und er hört die spitze Stimme sagen:
»Die Liwüna ist doch deine Sehnsucht^.
Gleichzeitig merkt er einen Druck oben auf dem Kopf — und er fliegt
mit dem Kopfe vorn gradaus wie eine Lanze.
So blitzschnell gehts, dass ihm viele Kopfhaare ausgerissen werden.
Die schmalen ovalen Sterne, die so weiss sind wie weisse Greisenhaare,
fliegen klingend rechts und links an dem grossen Kaidoh vorbei — wie
Schneeflocken im Sturm.
Und er kommt in ein andres Reich, in dem ganz andre Wcltgebildc leben.
Die Luft ist da heiss und flimmert — als flatterten überall kleine weisse
Flügel.
Die Helligkeit der ganzen Gegend nimmt immerfort ab und zu — ab
und zu — als flackerten grosse Lichter kurz vorm Erlöschen noch einmal
mit aller Wildheit rauf und runter — rauf und runter.
Es lebten in der heissen Luft lauter geflügelte Drachen mit weiss glühcn-
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den Lichtleibern. Die Drachen schwebten nur so schnell dahin — wie
weisse Glanzlichter auf Wasserwellen. Die weissen Flügel zitterten und
die weissen Lichtleiber ebenfalls — und zwar so heftig, als befanden
sich die Lichtdrachen in zuckenden Lichtkrämpfen.
Ohn Unterlass ging ein zitterndes Wetterleuchten durch die heisse Luft.
Zuweilen sahs aus, als bestünden die Tiere nur aus weissen Nordlichtern;
weissglühende Strahlcnsplitter flogen wie Pfeile hin und her.
Zuweilen spannten sich zackige Regenbogen aus Gelb und Olivgrün durch
die ganze Himmelsgegend; die vergingen immer wieder so schnell —
wie sie vorkamen.
Und alle diese fabelhaften Gestalten, deren Formen sich fortwährend ver-
änderten, hatten nichts Körperhaftes, denn sie gingen alle blitzschnell
durch einander durch, ohne sich zu schaden — als wären die weissen
Lichtgestalten nur Schattengeister.
Und Kaid6h sauste — immer mit dem Kopfe voran — durch diese
zuckende Glanzwelt durch und kam in eine Feuerwelt hinein.
Da loderten tausend rote, blaue und grüne Flammen knisternd, knackend
und knallend nach rechts und nach links. Und die bunten Funken stoben
empor und wirbelten mit rasenden Feuerstürmen in Kaidöhs Gesicht, dass
der zusammenschrak.
Ein blauer Funkenpolyp tanzte wie ein Hampelmann dem grossen Kaidoh
voran, als wenn er ihm den Weg durch das Flammenreich weisen wollte.
Der blaue Funkenpolyp sprach in knirschenden Lauten, während ihm
immer mehr blaue, Funken sprühende Glieder aus Brust und Hinterkopf
herauswuchsen:
I
?)Fürchte dich nicht, mein tapfrer Kaidoh? Ich bin deine tapfre Liwüna
und führe dich ! Ich bin ja immer dein Führer gewesen. Gefällt es dir
hier? Ist dir diese Feuerwelt masslos genug? Du bist ja immer die ver-
körperte Masslosigkeit gewesen — demzufolge musst du dich doch hier
wie zu Hause fühlen.«,
Und der Funkenpolyp platzte knisternd auseinander und ging auf in der
Flammenwelt.
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Doch die Flammen wurden plötzlich alle blau.
Und Liwüna rief:
^Siehst du nicht, dass ich jetzt grösser geworden bin? Ich bin jetzt eine
blaue Feuerwolke.Ä
Und die Feucrwolke ballte sich zusammen und erhielt die Form eines
Igels; die blauen Stachel waren Stichflammen.
Die Flammenstachel leuchteten wie brennender Schwefel.
Der Igel sagte:
vjetzt bin ich aufgegangen in dieser Feuerwelt. Das ist so gut wie ein
Tod und eine Auferstehung. Das ist ein Beitrag zur Geschichte vom
seligen Ende. Es kommt immer noch was nach. Man vereint sich nicht
so ohne weiteres mit dem grossen Ganzen; man vereint sich immer bloss
mit dem Grösseren und wird dann was Andres. So bin ich jetzt ein
blauer Feuerigel geworden. So kann sich deine Sehnsucht verwandeln,
die mal vor langer, langer Zeit einem Weibe nicht ganz unähnlich sah.
Und deine Sehnsucht wird sich noch recht oft verwandeln. Und jedes
weitere Ende wird auch gleich wieder ein seliger Anfang sein. Es ist
eben alles endlos in der endlosen Welt — auch die Anzahl der Verwand-
lungsgeschichten, in denen sich das ganze Leben offenbart. Wie also
sollte es eine endgültige Vereinigung mit dem All geben? Es giebt eben
unendlich viele Vereinigungen mit immer grösseren Stücken vom All.
Die Stücke werden aber nicht einmal die Unendlichkeit ausfüllen — in
der giebts schon kein Ende. Entschuldige, dass ich beim Reden auch
kein Ende finden konnte.»
Mit diesen Worten sank der blaue Feuerigel, während seine blauen
Flammenstachel glitzerten wie lachende Email-Gesichter, in die Tiefe.
Und Kaidöh flog, als wäre durch den Fall ein luftleeres Weltloch ge-
schaffen, so schnell mit dem Kopfe gradaus und im Bogen hinunter, dass
ihm Hören und Sehen verging und er zu sterben vermeinte.
Er aber war bloss in eine märchenhafte Gaswelt geraten und kam gar
bald wieder zu sich.
Er hatte jedoch die Empfindung, in der Gaswelt auf dem Kopfe zu stehen
6
oder mit dem Kopfe vorn runterzufallen ; begreiflicher Weise fühlte er
sich dadurch sehr beunruhigt.
Er versuchte, die Arme, die immer noch steif an seinen beiden Körper-
seiten hafteten, abzuschieben; seine beiden Fauste waren noch immer fest
zusammengeballt.
Das Abschieben der Arme schien allmählich zu gelingen.
Unzählige bunt schillernde Blasen flogen um Kaiddhs Kopf, und die Form
der Blasen veränderte sich unablässig; bald waren sie schlauchartig, bald
kantig, bald becherförmig und bald wie Fliederblüten.
Kaidoh konnte den ewigen Verwandlungen nicht mehr folgen.
Die Gasmassen gingen immer durch einander durch, ohne dass ihre Art
dabei beeinrlusst wurde.
Kaidöh sagte: »Das sind wohl gar keine Gasmassen.«.
Oft schössen alle diese Welten in einen helleren Mittelpunkt und bildeten
da ein funkelndes Kaleidoskop, das dann plötzlich wieder mit dumpfem
GepufF auscinanderflog.
Und unzählige Kometen, die aus festeren LuftstofFen zu bestehen schienen,
schwirrten ausserdem noch überall durch.
Die Kometenschweife waren häufig so lang, dass sie die ganze Gegend
als Glanzstriche durchquerten.
Ein paar sehr heftige Kometen drehten sich so rasch um sich selbst, dass
sie währenddem grossen Lichtscheiten glichen und für Augenblicke alle
Aussicht versperrten.
Und Kaidoh flog kopfüber durch alle diese Welten durch und glaubte,
in einen endlosen Abgrund gestürzt zu sein; es gab gar kein Halten.
Da dringt ein Flüstern an sein Ohr, und er hört wieder die Liwuna
sagen:
»Jetzt bin ich eine geflügelte Eidechse und durchsichtig wie reines
Wasser.«,
Und er sieht die Eidechse vor sich — durchsichtig ist sie wie Wasser —
ihre Flügel aber sind so fein und zart, dass sie nur so wie Schatten hin-
und hcrpendeln — wie ganz hellgraue Schatten.
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Und die Liwüna sagt leise, während sie mit einem ihrer kühlen Molch-
finger Kaidohs Ohr berührt:
«Sieh da drüben das grosse Heer von himbeerroten Gasbällen — die
sind drollig! Die werden dir was erzählen. Höre nur zu. Du wirst sie
verstehen ! (C
Und Kaidöh hört, wie sie ganz deutlich im Chore sagen, während kleinere
himbeerrote Bälle aus ihren Vulkanen herausspringen:
»Wir lassen immerfort neue Wcltbälle entstehen. Aber untergehen thun
die nicht. Sic verwandeln sich wohl — das bringt sie aber nicht um.
Der Tod ist uns gänzlich unbekannt. Wir müssen uns sehr wundern,
dass die Artveränderung in anderen Weltwinkeln durch das sogenannte
Sterben vor sich geht. Wir kennen so was gar nicht. Und daher haben
wir auch nicht die geringste Sehnsucht nach einer Auflösung. Die Ver-
änderung unsres Wesens geht ja immerzu vor sich — sogar ohne unser
Zuthun. Das Erzeugen neuer Weltgestalten ist uns schrecklich geläufig
— aber das Vernichten und Vernichtetwerden wird uns wohl für alle
Zukunft ein Rätsel bleiben. Es schadet das nicht. Es giebt ja so viele
Rätsel. (iL
»Da hörst du es 1(6 ruft die Eidechse vor Kaidöhs Augen.
Die himbeerroten Gasbälle, aus denen fortdauernd kleinere Gasbälle vor-
springen, rollen puffend und piepsend an Kaidoh vorüber; und eine
Kometenjagd schiesst ihnen nach. Die Kometen ähneln schaumartigen
Silberkronen und sausen bald so schnell dahin, dass Kaidoh schliesslich
den ganzen Himmel nur mit dickeren und dünneren Silberstreifen durch-
zogen sieht.
Liwünas Eidechsenleib reckt sich und schrumpft zusammen — ihre Flügel
sind bei dem scharfen Silberlicht unsichtbar geworden.
Die Kometen sind jedoch nach kurzer Frist verschwunden, und Kaidoh
stürzt weiter kopfüber in einen riesigen Trichter, dessen Wanderungen
aus ungezählten krallenartigen Gaspolypen bestehen — das sind unheim-
liche krötenbunte Sternweltcn mit sehr vielen Radaugen, deren Speichen
wie Phosphorqucllen gleissen.
»3
Kaid6h stürzt immer mit dem Kopfe voran nach unten und sieht, dass
lange, zappelnde Polypenarme ihn umhalsen, und fühlt sich um sich selbst
gedreht, grässlich rasch, und glaubt wieder, seine Todesstunde sei ge-
kommen.
Und er will noch sehen, und er will noch hören.
Er sieht aber nur, dass alle diese Gasvelten mit den krötenbunten, zap-
pelnden Krallen auf ihn eindringen, dass er glaubt, ersticken zu müssen.
Und er hört in seinen Ohren eine fremde Stimme — die tönt wie lauter
kleine Sil berglock cn:
v Leben heist: vorhersterben. Sterben heisst: vorherlcben.«
7)Was vorherleben ? (t fragt Kaid6h.
D Das nächste !«. tönt es wider.
Kaidoh denkt, ein Ungeheuer naht.
Er sieht was auf seiner Nase — ein dickes, schwarzes Tier ist es — mit
zwei langen durchsichtigen Hörnern.
Das Tier sagt:
9) Ich bin Liwuna! Und ich werde dich wieder in die richtige Lage
bringen. Ich kann mich auch in kleinere Weltstücke verwandeln. Ich
kann alles. Erkennst du nun, wie vielgestaltig deine Sehnsucht ist?
Deine Sehnsucht ist wirklich nicht in einem fort sehr gross. Bilde dir
das nicht ein. Ich werde nun zur Dampfwolke werden. Pass aufltt
Und Kaid6h sieht und fühlt plötzlich lauter heissen, weissen Dampf um
sich. Er bemerkt, dass seine Fäuste schon weitab von seinen Körper-
sciten sind.
Und er nimmt wahr, dass seine Beine mit grosser Schnelligkeit durch
die Welt fliegen, während sein Kopf stille steht.
Und der grosse Kaidöh hat die Empfindung, seinen Kopf wieder oben
zu haben.
Und da sieht er ganz vergnügt in die DampfVolken, die auf und ab-
wirbein — und Liwuna sind — was ihm unbegreiflich zu sein scheint.
W Sollte meine Sehnsucht ebenfalls unbegreiflich sein?(t
Also fragt er sich selbst.
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Und er hört aus den Wolken ein tausendstimmiges Ja!' erschallen.
9) Das klingt ja so,& ruft er nun erstaunt, »als wenn Liwüna aus un-
zähligen Wesen bestände. Ist meine Liwüna in der Mehrzahl da?tt
Und wiederum tönt ihm das tausendstimmige Ja!« um die Ohren.
•»Was ist verständlich in dieser Welt?«,
Also fragte flüsternd Kaidöh — der Riese. Und es wurde so kalt in dem
weissen, heissen Dampf, und er sagte zusammenschauernd:
»Nur Narren denken über alles nach.«.
Er wollte nicht mehr nachdenken.
Die Dampfwolken verzogen sich langsam, und ein gelbes, grelles Licht
drang körperhaft wie Wasser von allen Seiten rieselnd auf ihn ein.
Und er fühlte wieder wohlthuendc Wärme. Weiche Tropfen betupften
seine Haut, sodass er wieder staunte — denn er hatte lange nicht so deut-
lich seine Haut empfunden.
5) Du bist mitten in einer grossen Gassonne. (C
So rief ihm zischend wieder mal eine Stimme zu, die er einmal gehört
hatte.
Und er sah einen Schlangenkopf vor sich — der sprach kalt und lachend:
V Liwüna ist zur Knotens chlangc geworden, (c
Und er fühlte, wie ihr hellgrüner, ungeheurer Schlangenleib mit den
vielen Knoten sich um alle seine Glieder wand und nur die Arme und
den Kopf freiliess.
In Liwünas hellgrünem Schlangengesicht war die Schlangenhaut so fein,
dass Kaidoh die schwarzen Adern deutlich unter der Haut sehen konnte;
er sah in den Adern das schwarze Blut dahinströmen wie wilde Wasser-
fälle; er unterschied sogar weisse Schaummassen in den schwarzen Fluten.
Die Schlange sagte ruhig:
DDu hast gehört und hast gesehen, dass ich in sehr vielen Gestalten dir
erscheinen kann. Ich kann dir in unendlich vielen Gestalten erscheinen.
Wenn deine Liwüna das schon kann, denkst du da, dass grosse Sterne
das nicht auch können? O ja — sie können das. Jedes Stück Welt er-
scheint anderen Sinnen anders. Da das Erscheinen aber ein Sein ist, so
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ist jedes Stück Welt auch immer wieder etwas andres, in jedem Augen-
blick — zu gleicher Zeit das Eine und auch alles Andre — alles, was
es scheinen oder sein kann — ist es auch immer. Und was vom Stück
gilt, wird wohl vom Ganzen erst recht gelten. Auch der Allgeist ist nur
in unendlich grosser Mehrzahl zu denken. Und mit einem so unbegreif-
lich grossen Geiste willst du dich vereinen? Weisst du, wie dein mass-
loser Wunsch zu behandeln ist? Ich dächte, Du könntest dir die Frage
selber beantworten.ee
Kaidöh sah, dass Liwünas Schlangengesicht immer wilder blickte, ihre
zwei grossen Augen wurden ganz weiss und traten weit vor. Die
schwarzen Adern schwollen heftig an. Und der Riese Kaidöh hatte ein
Gefühl , als würde ihm der ganze Rumpf durch den Schlangenleib vom
Kopf getrennt — er fühlte seinen Rumpf nicht mehr — und glaubte,
nur noch Kopf zu sein und weiter nichts.
Und ihm gingen die Gedanken ganz und gar durcheinander, und es be-
fiel ihn plötzlich eine zuckende Angst — Angst vor dem Wahnsinn.
Und er rief laut:
»Liwüna! Liwüna! Ich will nicht mehr das Ganze. Es ist zu gross.
Es ist zu viel. Ich will nur einen Teil — nur ein Stück von der Welt.
Ich will nicht mehr das Gewaltigste. «.
»Was willst du also?«, fragte die Liwüna rauh.
»Ich will,«, erwiderte der Kaidöh scheu, »eine vereinfachte Welt. Und
mit der will ich zusammen eins werden.«.
Und Kaidöh fühlte wieder seinen Rumpf unter sich aber seine Fäuste
schienen ihm noch weiter entfernt zu sein — seine Arme standen steif
im rechten Winkel zum Körper.
»Eine einfache, gewaltige Stunde!«
Also schrie Kaidöh in grässlichcr Angst.
Und die Kartenschlange verschwand.
Alles wurde dunkel.
»Ich will sterben,« flüsterte der grosse Riese, »denn das Leben ist zu
schwer zu ertragen. Der rasende Wirrwarr ist zu gross. Man verliert
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zu oft den Kopf, und alles wird sinnlos. Und ich sehne mich doch nur
nach der gewaltigen Stunde — und die finde ich doch nur — wenn
ich sterbe.ee
Seine letzten beiden Worte klangen dumpf hallend durch die Finsternis,
und ferne Echos riefen höhnisch zurück:
9) Ich sterbe! Ich sterbe !&
Und er fliegt lange dahin, ohne jeden Gedanken — in der Finsternis.
Dann aber ftlhlt er, dass er nur mit Mühe weiter kann. Er muss stehen
bleiben.
Er versucht, die Fäuste aufzumachen und die Finger auszuspreizen, als
wenn er Halt suchen möchte — da er ja keinen Boden unter den Füssen
fiihlt.
Und er kann die Fäuste aufmachen; es geht so ganz allmählich.
Und ihm ist so, als hänge er in der Finsternis.
Und er weiss nicht, wo er ist.
1) Ich wusste,(C sagt er, •» allerdings niemals, wo ich war. Das weiss ja
keiner. Daran muss man sich gewöhnen, (c
Winde pfeifen um seine Ohren.
Und bald braust ein Sturm heulend durch die finstre Welt.
Es dröhnt in der Ferne, als würden gewaltige Schlachten geschlagen, und
es knattert, als platzten grosse Granitsterne entzwei. Und dazu pfeift es
gellend in keifenden, hohen Tönen. Und es knallt und faucht und stöhnt
und rasselt. Und es knistert, als flögen brennende Funken durchs All.
Und dann bricht was Grosses zusammen, dass Milliarden Scheiben durch-
einander splittern.
Und bei alledem ist es stockfinster.
Und dem Kaidöh wird das Sturmgetöse unerträglich, er ruft weich:
^Liwuna! Das ist zu viel. Mach den Sturm einfacher! Mach ihn zur
Musik mit Melodien, denen ich folgen kann.tt
Und der Sturm wird zur Musik mit langen, weichen Tönen.
Unzählige Geigen erklingen und wiegen sich und schaukeln sich und
schwirren, und die Töne dehnen sich aus und schwellen an und jubeln
»7
auf und klagen und summen und ziehen wieder hinaus in die Feme in
langen Zügen — in die Unendlichkeit hinein.
Und Kaidoh wird von so vielen Empfindungen bestürmt, dass er sie nicht
auseinanderhalten kann, und unter dem Wirrwarr der Empfindungen eben-
so leidet wie unter dem rasenden Sturmgepolter.
Der grosse Riese glaubt, die Musik wolle die Unendlichkeit auflösen, er
aber kann alles Unendliche nicht mehr ertragen. Er flüstert wieder wie
zu sich selbst: "»Auch das ist zu schwer für mich'.Ä
Und dann sagt er, wie die Geigenwinde immer weiter anschwellen und
ihn immer weiter fortzuziehen suchen: ^Liwuna, gieb Worte dazu!«,
In der dunklen Ferne sieht er einen langen, dünnen Stab — gebildet aus
lauter blutroten Rubinen — auf- und niedersteigen — auf- und nieder-
steigen — wie ein Taktstock.
■»Das ist ein Sccpter'.tt hört er die Liwüna neben sich sagen.
Er wundert sich nicht, dass sie das neben ihm sagt, während doch das
Scepter so weit weg ist. Er will nur noch Worte hören.
Und er hört Worte.
Viele Männerstimmen singen.
Das Erste versteht er nicht — es ist ein vielstimmiger Gesang — und
sehr gedämpft ist er.
Wie sie aber lauter singen, versteht er — diese Verse:
Wir mussten neulich so furchtbar lachen :
Ein Alter sprach so voll Herzeleid;
Er wollte die herrlichsten Verse machen
Zum Lobe der tiefen Unendlichkeit.
• *
Ihm aber gelang nicht das kleinste Gedicht,
Und dazu schnitt er noch ein Gesicht,
Als wenn die Unendlichkeit böse war.
Ach Alter, wo kamst du eigentlich her?
Mach dir doch nicht das Leben so schwer.
Was machst du bloss für Sachen?
Man muss ja so furchtbar lachen.
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Die Geigen summen weiter, doch die Töne schliefen sich nicht mehr zu
Melodien zusammen.
Liwuna sagt:
»Du hörst nur Kopfnaturen in der Finsternis, (c
Kaidoh denkt an die schlafenden Sternriesen und findet es seltsam, dass
er selbst so lange ohne Schlaf durch die Welt schwebte. Er vergleicht
das Sterben mit dem Einschlafen, wird aber durch ein Trompeten-
geschmetter aufgestört. Helle Hörnerklänge jubeln dazwischen. Die
Geigen sind nicht mehr zu hören.
Mit einem Male wirds still, und tiefe Männerstimmen sprechen im Chor:
Diese ganze Welt ist nur sein Alltagsmantel,
Und wir alle sind nur schlechter Zwirn.
Tausend Echos hallen die Worte auf allen Seiten wider. Und es erklingen
helle Glocken in einer lustigen Klimpermelodie. Dem Kaidoh kommt
das Geklingc so bekannt vor. Tiefe Frauenstimmen singen dazu:
Du kannst die ganze Welt verstehen,
Wenn du vermagst, sie schweigend anzusehen.
Doch rufst du dabei mal: Ich habs!
So kriegst du einen derben Weltcnklaps.
Kaidoh will lächeln, denn er sieht ja nichts.
Er bleibt finster.
Die Glocken verstummen.
Eine tiefe Bassstimme, die so knarrt, spricht vertraulich in Kaidöhs
nächster Nähe:
Umfangreich sind die Weltengräber,
Aber wen verblüfft das noch?
Jeder schneidige Alldurchstreber
Findet unten doch ein Loch
In dem grossen Grabestrichter.
Es bleibt nach diesen Worten ein fernes Brummen, wie von Bienen-
schwärmen in der Finsternis, und Kaidoh denkt wieder an den Schlaf
und möchte träumen. Und er träumt von weiten Wunderländern, die
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er noch nie gesehen hat, und ihm ist plötzlich so, als offenbare sich ihm
plötzlich das ganze Allwcscn, und es durchrauscht ihn; es wird ihm alles
so klar — traumklar.
Da weckt den Träumer ein zwitscherndes Flötengedudel, und lachende
Kinderstimmen singen zu den Flötentönen :
Gross ist das Weltensein!
Alles gehört hinein.
Gestern noch kam ein Kind,
Schrie wie ein wilder Wind,
Pries den ganzen Weltenlauf,
Blies sich dabei drollig auf,
That, als läge jede Note
Fem scciert auf seiner Pfote,
Und sprach von einem Wunderland,
Das allen Wesen unbekannt,
Als wärs fürwahr sein Vaterland.
Wir sagten: So — so — so!
Du bist recht zauberfroh!
Und das Jenseits war seine Mütze,
Das Bekannte nannte er Pfütze.
Kindchen, lass das Schreien bleiben,
Sonst wird dich ein Floh vertreiben.
-
Und die Flöten dudeln — und entfernen sich nach allen Richtungen.
Es steckte eine Marschmclodie in den Versen.
W Köpfe können doch nicht marschieren ! (C sagt Kaidöh.
Er wagt es nicht, noch einmal zu träumen.
Tiefe Frauenstimmen sprechen im Chore :
Dunkel bleibt uns immer was.
Doch es giebt ein Träumen
Ueber allen Räumen.
Nachdem die Echos auch diese Worte lange nachgehallt haben, ist da?
Bienengebrumm abermals zu hören.
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Es wird etwas heller.
Dumpfe Pauken dröhnen in der Ferne, und Trommeln rasseln wie Ketten,
und zu dem Getöse singen viele Stimmen schreiend durcheinander:
Jede tolle Narrenpein
Wird ja wohl notwendig sein.
Diese Verse werden siebenmal wiederholt, und die Stimmen — es sind
lauter Knabenstimmen — schreien jedesmal lauter, sodass der Gesang
schliesslich zum Gekreisch wird, das schliesslich in Gewimmer umkippt
und dann plötzlich weg ist.
Und nun wirds allmählich hell.
Und Mondlicht umfliesst den grossen Kaidoh.
Es wird so still, dass Kaidoh sein Herz klopfen hört.
Mit weit ausgebreiteten Armen dreht sich der Riese langsam um sich selbst.
Und er sieht in der Runde in sieben tiefe Schluchten, in denen Nebel-
schatten geisterhaft auf und nieder gleiten. Im Mondenschein glänzen
die Nebel wie bewegte Schlciergebilde — wie geisterhafte Rauchge-
wänder.
Hier ist alles so ruhig wie auf einem Friedhof.
Zwischen den Schluchten liegen grosse Bergnasen im hellen Mondenschein
— Gletscher, die aus unzähligen Sternen bestehen.
»Ich ftirchtc vielleicht doch nur das Stille \(C flüstert Kaidoh, und seine
Augen irren über die Mondscheinpracht, und er geht auf in dieser Glanz-
welt, in der die Geheimnisse des ganzen Alls zu schlummern scheinen.
Er vergisst sein ganzes Leben.
Und nach einer Weile spricht er fragend:
»Die gewaltigen Stunden des Lebens — sollten sie immer stille Stunden
sein?(c
Die Bergnasen sind ihm so nahe.
Und nun sieht er die Gletscher in zitterndem Zauberschein — so glanzreich.
fi Irrsinnige Schönheit !(c flöstert er zaghaft.
Und er wagt nicht zu atmen. Er dreht sich langsam, ohne es zu wollen
Und seine Augen verlieren sich in den glänzenden Gletschern, die hoch
9*
aufragen — und seine Augen verlieren sich in den Schluchten, die tief
hineingehen in Nebelrcichc.
Und aus den Nebeln der sieben Schluchten kommen nun sieben grosse
"Walfische — sie schwimmen in den Nebeln, als wären sie im Wasser.
Schwarz und weiss schachbrettartig karriert ist das Fell der "Walfische.
Wie sie mit den grossen dicken Köpfen aus den Schluchten heraus sind,
heben sie die Schwänze hinten hoch auf, sodass ihre Leiber krummen
Schwertern nicht so unähnlich sehen.
Und nun sprechen die Walfische im Chore, während sich Kaidoh noch
immer langsam mit ausgebreiteten Armen um sich selber dreht :
Ja, nun wollen wir singen das lange Lied,
Das so still wie ein Schwan durch das Weltmeer zieht,
Unser Lied von der sternraumentrannten Zeit
Mit der weithinflammenden Ewigkeit.
Das klang so dunkel und schwer, als hätten die grossen Tiere grosses
Leid zu tragen.
Nach einer längeren Pause, in der sich Kaidöh nicht mehr dreht, flüstern
die Tiere — geheimnisvoll wie Mondscheinnebel:
Morgen, Heute, Gestern
Sind drei liebe Schwestern,
Aber nicht die Ewigkeit.
Wir aber wollten zum Herzen des Lichts
Und da die Ewigkeit umfassen.
Urplötzlich aber begriffen wir nichts
Und mussten alles Denken lassen.
Der Riese horcht und schaut die Tiere lange an, deren weisse Haut-
quadrate heftig leuchten im Mondenlicht, während die schwarzen dunkler
sind als alles andere.
Sodann spricht ein Walfisch allein — seine Stimme dröhnt so wie tausend
rauhe Bässe:
Als langes wüstes Träumen
Erschien uns alles Leben.
9-
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Stumpf wie altes Weltgcwürm
Schwammen wir nun ohne Worte
Durch den langen Himmelsraum,
Kamen so an eine Pforte,
Deren weite Schallgewölbe
Auf Säulen ruhten, die aus Glas bestanden
Und blitzten, dass wirs überall empfanden.
Als wir nun sehr bald bemerkten,
Dass die Schläge sich verstärkten,
Riss uns die Geduld — wir schimpften;
Unsre dicken 'Walfischfelle brannten.
Nach diesen sehr kräftig gesprochenen Versen räusperten sich die Wale,
wackelten bedächtig mit den hinten hoch aufragenden Schwanzflossen
hin und her und sprachen — abermals im Chore:
Und mit vielen Donnerworten,
♦ Die wir itzo singen werden,
Brüllten uns die Säulen an.
Dröhnend sprach hiernach der Walfisch mit der rauhen Bassstimme:
Es sangen die Säulen!
Und im mächtigsten Posaunentone sangen die Walfische, was die Säulen
gesungen hatten:
Also scheuert Ihr nicht ab
Eure Weltnatur.
Diese Pforte sei für euch
Starres Sinnbild nur
Und ein Jenscitsgruss.
Denn hier geht es zu den Weltgesichtern,
Die auch hinter allen Räumen lachen,
Und auch hinter allen Farbenlichtern
Leben aus den Schnsuchtsträumcn machen.
Zwar zu der Jenseitsherrlichkeit
Kommt ganz allein die Weltenzeit.
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Die geht so leicht durch diese Pforte
Und weilt an manchem Wunderorte;
Sie hängt beinah an jeder Wcltallsfaltc,
Nicht nur an der, die sich mit Sternen schaukelt ;
Sie ging nach vielen Seiten,
Ohne zu verschwinden,
Und pflegte fortzuschreiten,
Ohne wegzugehen.
Die in Räumen sich befinden,
Werden niemals das verstehen.
Es schwebt die leichte Unbekannte
Nicht über dem ganzen Allgewande,
Doch hat sie viel davon gesehen.
Wollt ihr das Ganze sehen, seht ihr nichts.
Wollt ihr das Ganze hören, hört ihr nichts.
Ihr schwimmt im räumlichen Faltenschoss
Und wisst von Formen und Farben bloss.
Und die andren Höhen, Weiten und Tiefen,
Die im Allgewande wachten und schliefen
Und weder Höhen, noch Weiten, noch Tiefen sind —
Für euch sind sie nicht da.
Ihr wisst nicht, was geschah.
Was wisst ihr von dem Ganzen?
Mit dem könnt ihr nicht tanzen.
Doch hier vor unsrer Säulenpforte
Entwickelt sich ein Ahnungsspiel
Von andrer Sinne Sehnsuchtsziel.
Atmet doch in jedem Augenblick
Noch manches andre Weltgeschick,
Das weder Lichter noch Schatten kennt
Und nicht vom Einen zum Andern rennt.
Und jede selige Stunde
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Wird von dem Ahnungsspiel durchglänzt,
Dass eure Sehnsuchtsallkunde
Sich licht- und schattenlos ergänzt.
Ja, nur Zeit und Ewigkeit
Stehn mit einem Bein in andren Sphären,
Des Gewürmes Wenigkeit
Soll in Sehnsucht sich verzehren
Und ein Ahnungsspiel gebären.
Diese Pforte sei für euch
Starres Sinnbild nur
Und ein Jenseitsgruss
Von der Allnatur
Mit den Faltengebilden
Aus den Rauschglanzgefilden.
Nach diesem langen Gesänge rufen die Wale sämtlich, als war ihnen
ein Stein vom Herzen gefallen:
Schluss!
Es steckte viel Trutzigkcit in diesem kleinen Wort.
Und die sieben Wale im karrierten Fell kommen mit ihren dicken Köpfen
dem Kaid6h in Brusthöhe ziemlich nahe, sodass die Köpfe einen Kranz
um seinen Oberkörper bilden. Während sich nun Kaidöh mit ausge-
breiteten Armen um sich selber dreht, streichen seine Hände, ohne dass
ers will, Ober die Köpfe der Wale.
Und die Wale sinken nach dieser Berührung langsam in die Tiefe, in
der ein blutrotes Rubinmeer funkelt. Die blutroten Rubinen sind natürlich
lauter grosse Sterne.
Kaiddh kann nicht den Kopf bewegen und sieht so nichts von dem
Meere. Er hört nur unten die Wale noch einmal singen.
Der Gesang klingt so lächelnd.
Die Wale singen:
Nun schwimmen wir wieder ohne Begehren,
Wir ahnen der Welten Sehnsuchtsziel —
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Und vollen uns gar nichts veiter erklären,
Wir bleiben beim grossen Ahnungsspiel.
Und thun vir auch manchen Skorpionen leid,
Wir sind doch die Weisen — im Narrenkleid.
Es hallt lange in den Schluchten nach.
Die Wale tauchen im Rubinmeere unter, und klatschend schlagen die
Rubinvogen über den schwarz und weiss karrierten Leibern zusammen.
Ein Brausen steigt empor und weckt in den Schluchten dumpfes Donner-
getüse.
Kaidöh reisst weit seine beiden Augen auf, dass sie leuchten wie Phos-
phorsonnen und aussehen, als sähen sie Unsägliches.
Der Mondschein zergeht. Oben im Himmel erscheinen viele Sterne.
Und ganz hinten über den sieben Schluchten erscheinen sieben ungeheure
Sternriesen mit Raketenarmen und unzähligen Köpfen, die goldene Hörner
haben, und bunte Brillantenaugen. Die Leiber der Riesen sind goldene
und silberne Astknorren, um die sich Opalschlangen winden. Und alles
funkelt und glitzert. Die blauen und roten und grünen Sternfarben
brennen gewaltig in die Nacht hinauf.
Die Bergnasen und die Schluchten sind dunkelbraun und nicht sehr hell.
Kaidoh sagt leise: 9) Nun will ich das Letzte!«.
Da spricht der Sternriesc, der zuerst erschien:
Ja! Wir Grossen preisen nie das Letzte,
Denn das Letzte giebt es nicht.
Wen das Unbegreifliche verletzte,
War noch nie ein Rauschgedicht.
Kaid6h versucht, seine Arme zu heben, und will damit sagen, dass er
auch das Unbegreifliche empfangen wolle mit weit offenen Armen.
»Es muss aber doch einen Abschluss geben!«, ruft er heftig beim Ann-
heben aus.
Und der zweite Sternriesc erwidert ihm:
Das Unaufhörliche durchlacht' auch diesen Raum,
Und nur ein Farbenspiel ist jeder Todestraum.
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Kaidoh bemerkt, dass die Sternriesen ganz einfach sprechen — trotz ihrer
vielgestaltigen Körper. Und er fühlt, dass ihm die einfache Sprache der
Sternriesen so wohl thut — er wollte ja das Einfache.
Nun wird ihm die ganze Welt immer einfacher.
Und er will nur noch das, was doch geschieht.
In seiner Nähe weilt wieder seine Liwüna. Wohl sieht er sie nicht, je-
doch er ftihlt sie wie einen kühlen Luftzug, und sie spricht feierlich:
V Jetzt kann ich dich verlassen. «,
Und sie thut, wie sie sagte.
In der Ferne hört er sie noch einmal in schweren Tönen rufen:
9)Kaid6h! KaidöhUc
Er will sie noch einmal sehen und ruft:
DLiwuna!«
Indessen — nur Echos antworten in der Ferne.
Wie die Echos nur noch ganz schwach aus der weiten Ferne Ober die
Berge herübertönen, spricht Kaidoh still zu sich selbst :
5) Ist Liwuna ein Echo geworden? Ein Allccho? Ein Schnsuchtsallecho?»
Und er denkt über die Sehnsucht nach und möchte wissen, ob ihre Macht
so weit reicht wie Zeit und Ewigkeit.
Und der dritte Sternriese giebt ihm Antwort — in leichten Worten —
diesen:
Nur wo immer viele Dinge
Gründlich sich verändern sollen,
Fühlt die Sehnsucht sich zu Hause.
Ist der Wandel der Erscheinung
Gründlich eingeleitet worden,
Macht die Sehnsucht, dass sie fortkommt.
Kaidoh hebt seine Arme höher und versucht, die Finger noch immer
weiter auszuspreizen — ihm ist, als würden sie immer länger.
Und er fühlt sich so frei.
Er spricht nach ein paar stillen Augenblicken hart und deutlich:
•» Der Schatten ist fort. Nun ist alles einfach. Ich bin allein. «.
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Und der weite Sternriesc flüstert, dass es zischt:
Doch glaube nicht,
Dass dies das Letzte sei.
Dem Letzten folgt
Noch immer mancherlei.
Aus den Schluchten dringen Töne an sein Ohr, die er nicht versteht —
sie sprechen von Tod und Einsamkeit — von rasendem Rausch und fest-
lichem Zusammenbruch. Und die Töne stören den grossen Kaidoh; er
empfindet, dass er bereits in seiner gewaltigen Stunde lebt — und er
empfindet gleichzeitig schmerzlich, dass dem Gewaltigen noch etwas
fehlt — dass es noch nicht voll ist — dass ers noch nicht vollendet
nennen kann.
Er hebt die Arme höher und höher.
Es wird heller auf den Bergnasen und in den Schluchten, die den grossen
Kaid6h wie Radspeichen anmuten.
Und der fünfte Sternriesc brüllt heftig:
Es giebt auch keine vollendeten Sachen;
Die Kugeln drehen sich zu viel,
Die Weisen müssen zu viel lachen.
Ein Ahnungsspiel entwickelt sich vor Kaid6hs Augen ; er bildet sich ein,
Geister zu bemerken und diese Geister mit Sinnen wahrzunehmen, die er
bislang nicht gekannt und nicht besessen hat. Und er hat die Ueber-
zeugung, tiefer ins All blicken zu können, und es durchzuckt ihn: er er-
kennt in der Tiefe des Alls einen grossen Riesen, der ganz allein da sitzt
und sich nicht rührt. Und er hält diesen einsamen Riesen für die grosse
Ruhe, die da kommen soll in dem Reich, das weder Licht noch Schatten
kennt. Und er bildet sich trotz allem wiederum ein, das Ganze verstanden
zu haben.
?) Er ist allein und ruhig!«, sagt Kaidoh.
Aber der sechste Sternriese brüllt wie ein Donnerwetter:
Auch in jenem Jenseits,
Das wir hinter Licht und Schatten wissen,
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Ist die grosse Welt kein Ruhekissen;
Das Unaufhörliche kann nie vollendet sein.
Durch Schlaf und Tod gehts nur zu neuer Lebenspein
— Aber auch zu neuer Lebenslust —
Kaidöh hebt die Arme ganz hoch, dass sich seine Hände hoch überm
Kopfe beinahe berühren.
Er wartet auf einen Augenblick, der gewaltiger ist als alle andern.
Die Sternriesen verblassen allmählich.
Die Bergnasen kommen noch näher.
Der siebente Sternriese spricht — mit abgewendeter Stimme:
Wo du auch hinüberziehst,
Niemals kommst du an das letzte Ziel;
Preise jede Welt und auch die Sterne.
Alles, was du hier so siehst,
Ist ja nur ein feines Lichterspiel,
Eine grosse Wunderweltlaterne.
Und Kaidoh fühlt, während die Bergnasen immer näher und näher
kommen — auf seinen Fingerspitzen und auf seiner Kopfhaut einen
scharfen Druck.
Und er fühlt Boden unter seinen Füssen.
Rauschende Lichtfülle bricht hernieder und macht die Bergnasen und die
Schluchten ganz hell — so hell, wie's tausend Sonnen kaum vermögen.
Kaidoh ist nicht geblendet : er sieht seine Welt in einem neuen Licht.
Die Bergnasen sind keine Gletscher mehr, es sind bunte Fliesenterrassen
mit bunten Wasserfällen und bunten Springbrunnen, mit Blumenhecken
und spiegelnden Teichen, mit Turmkanten, Galerien, Säulenhallen und
blanken Treppen.
Ein glänzendes Fliesenreich!
Da sind keine Häuser, die Kaidoh nicht mag, da sie an schwerfällige
Schnecken und Schildkröten erinnern.
Und doch bildet das Ganze ein grosses Bauwerk mit sieben Terrassennasen
und mit sieben Terrassenschluchten.
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Und Kaid6h jauchtzt.
Diese 'Veit ist einfach.
Mit dieser einfachen, glänzenden Terrassenveit kann er sich verbinden —
mit all den bunten Fliesen, die so einfach sind, kann er Eines werden.
Und er wirft den Kopf ins Genick — das geht langsam nur — doch es
geht.
Die Stcrnricsen sind unsichtbar.
Der Himmel ist dunkelblau und so voll leuchtender Strahlenglut — wie
ein ewiges Rauschdach.
Und Kaidöh sieht oben aus seinen Fingerspitzen weisse Flammen heraus-
flackern.
Und er fühlt, dass seine Hände brennen.
Und er jauchzt.
Er fiihlt seine Hände nicht mehr — er fiJhlt Fliesenterrassen.
Und seine Arme brennen.
Und es brennt seine Stirn — und er sieht nicht mehr mit seinen alten,
grossen Augen.
Unter seinen Füssen fühlt der brennende Kaid6h Eiseskältc — das Rubin-
meer ist gefroren.
Weisse Flammen lodern um Kaidohs ganzen Leib.
Aber nun beginnt ein neues Sehen und ein neues Fühlen für den grossen,
lodernden Kaid6h — er sieht mit Fliesenaugen in die hohe Welt — und
er fühlt mit den sieben Terrassennasen.
Während sein Riesenleib in hell blitzenden weissen Lichtflammen ver-
brennt, verbindet er sich mit den sieben Terrassennasen und mit den
sieben Terrassenschluchten.
Und er schaut anders in die hohe Welt — als ein buntes, einfaches
Fliesenrad.
Und die Eiseskälte unter seinen Füssen zerfliesst — er geht ganz auf in
dieser vereinfachten Welt.
Die Bergnasen mit den Schluchten erwachen zu einem neuen Leben —
und ihnen ist so, als hätten sie lange geträumt.
IOO
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Und das ganze Rad dreht sich und funkelt — und schwankt nun mit
den sieben Stcmriesen zusammen hin und her — hin und her — hin
und her.
Das ganze Rad dreht sich und funkelt.
Die Sternriesen drehen sich langsam mit und funkeln auch.
Und das Rad schwankt mit den sieben Sternricscn zusammen hin und her
und schwebt dann so weit hinüber in die Nacht hinein, dass die ganze
Üchtrauschende Weltblüte bald so klein erscheint — — .
SINNSPRUCH.
Weise, die euch Weises sagen,
Dürft ihr, Freunde, nicht befragen,
Wie das recht gemeinet sei.
Seht, die Weisesten auf Erden,
Wenn sie's Euch erklären werden,
Ist es nichts als Narretei.
R. A. SCKROEDER.
IOI
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Porträt
des Kaisers von China
von
Markus Behmcr.
ZWEI ELEGIEN VON RUDOLF ALEXANDER
SCHROEDER.
I. Fontainebleau.
Nicht von der Macht, nicht von Grösse reden wir, der Mund
Müsse verstummen, der verwegenen Atems
Ruhm noch zu künden vermeint, und das Erhabenste
Mit blechernen Tönen geredeten Worts aussprechen will,
Oder mit groben Zeichen die Einfalt des Herrlichsten
Deuten möchte, und vergeblicher Mühe sich
An Alles wagt; denn Ehrfurcht ist dem Geschlecht
Fern, da Grösse auch nicht mehr
Geistig sich zeigen will, und die bändigende
Gewalt nicht mehr ihren Sitz offenbar hat vor dem Volk,
Und das Schöne nur noch von der Vergangenheit
Abgeblassten Zimmern uns anlächelt.
— Nicht das wollen wir verkünden, wie du mächtig warst,
Und wie alles verstummte um dich, ausser dem Ton
Des Gehorsams — wir sahen ein Trauriges,
O Gewaltiger, ein Betrübtes sahen wir,
Als dein Tag plötzlich verdunkelt wegsank,
Und die Sonne fortging und der goldene Kranz
Mit Rost anlief, und die eherne, sie,
Die unsägliche Göttin, wegschrcitend zu andern Feldern hin,
Das Glück, sich wandte. — Eisernen Schritts
Wandelt es; und wir wissen nicht, wo
Die Füsse stehn, und wen die Hände ergreifen;
Ob zu Thronstühlcn auf oder in Lustgärten
Oder in Häuser der Macht sie einen setzen,
Oder zusammengedrückt unsere Freuden alle
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Wegnehmen und töten, wie ein Mann wol
Achtlos ein Lebendiges zerdrückt oder wegnimmt;
Und wo in die Wolken hinein der Blick des Ernsthaften
Gerichtet steht, wissen wir nicht; wie sollten wir
Die Wege kennen, die unsre Gebietenden
Wandeln?
Wenn aber plötzlich
Das Sicherste sich aufthut und das Gegründete
Wankt, und Erz wie Glas
Aufbricht, sind wir erschrocken; und der Waltenden
Sorge um uns scheint uns gering und der bitteren
Fahrnisse bedrohlicher Kampf so nah,
Dass wir gebundenen Schrittes kaum das Nächste noch
Ersinnen mögen, oder thun; in Fernen hin,
In Fernen aber, wo sonst die einzige
Lust unsrer Seelen blühte, die am Entferntesten
Und Unfasslichen immer sich ergötzt,
Denken wir dann nicht mehr; und unser Herz
Wagt kaum die angeerbten Güter
Oder die Hand des nächsten Freundes als eigen sich
Zu nennen ; denn, der alles besass, erscheint
Arm nun; und das Besondere ist
Von seinem Stuhl gewichen — das Ausgezeichnete
Weicht immer, ach, immer vor Abend in die Vergessenheit.
Zu Klagen also sollten wir
Herabgestimmten Tons einzig noch
Die Lippe regen, Schauenden gleich, die des täglichen
Lichts Versinken unter die helle Flur
Ansahen, und nun weinen, weil überall
Der Glanz weggegangen ist und die liebliche
Farbe des Tags und das Gold der Fröhlichkeit?
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loo-
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Klagen sollten wir, dass nun die Oede
Und nächtliche Betrübnis den ganzen Himmel her
Kam mit einem Male, die Dunkelheit,
Unrühmlich und ohne Leben?
Ach, selbst von Felsbergen her, die langhälsigsten,
Die schlanksten Späher zum Westen hingewandt
Rufen in die Thäler weinenden Lauts:
Die Sonne ist
Nun auch hier weggegangen und ihre letzten selbst,
Die Grüsse, immer matter zuletzt sind sie
Auch weggeschieden und wir haben nun nichts,
Wonach wir schauen sollten, die glänzenden
Augen, von ihrem Strahl glänzend,
Sollen nun nur noch weinen und unser Mund
Nach so unerträglicher Botschaft
Verstumme zum Schluchzen und unsre Seele sei
Unerfreulich und einsam wie der Scharten und die Nacht.
Vor Zeiten aber der Dunkelheit
Blühte ein Lächeln auf, ein Lächeln, unsterblicher
Als alle Thränen und Seufzer. Du lächeltest,
Als der Sieg bei dir war, und die Besuchenden
Stolz waren und mächtig, und Huldigung
Wie ein Wind dir die Stirn
Anblies, und in Fernen hin,
Ferne Tage mit deutendem Flügelschlag
Dein Adler dir voranflog, und in den Fängen ihm
Beute und Kraft war, und Unsterblichen gleich
Du mit Menschen spieltest, wie mit Leblosem
Der Meister spielt.
Was hier die Kühnheit gethan,
Steht ewig.
<
Und das Gedächtnis an deine Freude
Ist wie ein Mond in der Nacht unsrer Einsamkeit.
So sei Verehrung da und schweige die Trauer,
Weil deiner Tage Glanz auch über das Grab her leuchtet
Und über Bergen des Unvollendeten
Deine Grösse wie ein Himmel steht.
TL Michelangelo.
Vor Tagen wohl kam Jugend und der lebendige
Liebreiz zur Erde nieder, als die aufblühende
Noch voll Kraft war, ungestört, die erhabene,
Nicht geschändet durch die unzähligen
Füsse Missachtender, als ewig noch
Die Lust der werdenden Tage anzudauern schien,
Und Alter nicht und Sorge des Todes und
Enttäuschung den Blick der Bewohnenden
Deiner Felder und Städte, o Mutter, so getrübt
Und ihre Wünsche so hart gemacht und die frühe Gier
So zerreissend, dass sie nach allem auf
Langten, ungebärdiger Hand und hungriger
Zähne, die Wissenden um Elend und die Schmach
Kranker Tage und Armut und Verlassenheit.
Vor Tagen auch wohl stiegen des goldnen Ruhms
Kinder von heimatlichen Höhn
Der Sonne nieder und ihre strahlenden
Glieder lebten unschuldiger Lust; und heute noch
Ist eine Sage bei unsern fernesten,
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Dämmerhaften Halbtagcn geblieben von
Schönheit der Erstgeborenen und dem Glanz
Göttlicher Augen, die von Vergangenheit
Unbeschattet auch in die Zukunft hin
Wie in Felder der Lust und Licht ohne Abend
Sahen, und deren unbefleckter Mund
Worte verkünden durfte, die uns jetzt wol
Geheimnisvoll dünken — ihnen aber
Waren sie ohne Verhüllung schön, wie die Blumen und das Licht.
Alles auch, o Alles ist
Schön gewesen einst, der Verwegenste
Nicht, möchte auch nur den Schatten
Heraufbeschwören von dem, was einst Glanz war,
Lebendiger Glanz; o Schönheit, die wir alle
Mehr als die andern Dinge lieben, Schönheit war
Da überall lebendig; und unser Schönstes,
In verborgenen Traumen vielleicht selten nur
Aufsteigend oder wandelnd — Gestalten und Namen — das Schönste auch,
Alles, was wir ersinnen möchten, Phantasien,
Sind nicht gleich dem Abdruck einer Sohle,
Die achtlos über den purpurnen
Boden der ersten Tage, den warmen noch,
Von aufgebrochener Liebe feucht, den purpurnen
Boden hinwegschreiten mochte; — Ein Nachhall nicht
Von dem Wohlklang der schönen Tage ist
Alles, was Herrliches unser Ohr
Sich erzählen möchte.
Zerrissene Saiten
Tönen noch mehr Erinnerung
An wcggcklungene Harmonie, als unser Herz
Von Wundern und lebendiger Freude träumen mag,
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Die einst leibhaftig einhergingen, über denselben wol
Denselben Grund, der uns Herberge ist — aber wie?
Nicht denselben; denn alles ist
Ohne Sinn jetzt verstellt und wie eines Greisen
Ausgetrocknetes Gesicht unschön und verwest; — es vollen nur
Die Adern noch nicht stocken; und das masslose
Leben geht immer noch hindurch;
Und wir leben noch;
Aber die Tage, jugendlich, die lebendigen
Sind nicht mehr.
Warum nur so,
Warum blieb das Alles
Uns nicht; und unser Verlangen
Hat kein Ziel, und niemals wird
Das lebendig, was immer doch
Alle zittern macht, wenn ein Hauch nur,
Ein Wind kommt von Kraft und ein jugendliches
Atmen sich regt im Kreise der Sinnenden?
Keiner ist
So von Arbeit und angeerbter
Mühsal voll, dass er nicht einmal
Auch nach Sonne sich
Gesehnt hätte, wenn der Abend kam.
Warum
Ist uns das Goldene alles fern, und wir sind
Gefangenen oder Sklaven gleich, die unlöslichem
Zwang widerwillig gehorchen — sie sehen wol
Fern über ihrem Angesicht die Lust
Der Geniessenden stchn und den Glanz der Freude; doch sind
Bei ihnen Not und Kargheit; und das Seufzen
Ist ihren Tagen so vermischt, wie Wasser
IIO
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Dem Boden. — "Warum
Alles dies sei, o Freunde, das ist ernst;
Und wir wollen nicht dem unleidlichen Schwärm,
Der gräulichen Gefieders durch die Luft
Vergeblich streicht, den nutzlosen Klagen
Noch andre hinzufügen.
Wir kehren uns
Zu uns selber und suchen in der Halbzeit
Noch so viel Licht, als man Abends finden mag,
Und schweigen — es sind vielleicht
Andre Tage noch bereit, wo Sehnsucht
Nicht mehr so ohne Sinn ist.
Wir Klugen
Sind nun so zufrieden
Und wissen hier und da
Noch etwas Lustbarkeit. —
Dann aber
Ergreift uns Schauder; und die reissenden
Schmerzen wachen auf; und alles
Blutet auf, wie Wunden
Aufbrechen, alter Zeit; wir sind ergriffen,
Wenn einer aufsteht, und die unbändige
Gewalt ergreift ihn und reisst ihn aufwärts,
Dass er alles wieder nehmen will, was einstmals
Besitz und Herrschaft war den Bewohnenden
Der Erde ; alles sollte ihm
Frisch aufgehn; und von der Vergangenheit
Immer festgeschlossenen Pforten möchte er
Die Riegel abthun und verwegensten
Arms das Schönste
Aus den Prachträumen alter Lust
Hcrauflangcnd sich
Und alle wieder erfreuen.
O, sehen wir
Dies, so sind wir
Den Weinenden wieder gleich, die luerst
Sahen, wie sie verwaist seien,
Und wie von allen
Gästen verlassen der Vorzeit, göttlichen,
Einsam und traurig sei. Wir
Sind den Weinenden gleich, wir weinen,
Weil alles umsonst war, umsonst,
Was wir thaten und suchten ; es kam
Nie ein Gott zu uns.
Nicht also, nicht so! — Noch leuchtet der Tag des Herrlichen,
Und noch immer häuft er kühn
Auf Felsblöckc Felsen und Bcrglasten
Auf den getürmten Grund und reisst
Viele mit sich empor;
Des weiten Lands
Ausblick öffnet sich; und in die Fernen hin
Geht der Blick des Sehenden — doch sieht er
Immer den Trost noch weit und die Botschaft kommender
Lichttage, und unverdrossenen
Schwungs hebt er wieder die Hand und möchte selbst
Die Wohnung stürmen der Gebietenden.
Da
Geht auch seine Kraft nicht hin; und der alles that,
Um etwas Freude zu haben, Wonnen besserer Art
Als die nachgetäuschten, unsere, wankt doch zuletzt
in
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Und wird lahm; denn auch von den höchsten her,
Den Gipfeln erscheint sie niemals,
Die Schönheit. Die ist wohl
Weit gegangen, als sie vor Zeiten
Uns verliess und lässt sich nicht
Erreichen. Da sind
Unkräftig Gebet und Zorn. Liebe
Sehnt sich umsonst.
Es sind Einige
Von Sehnsucht wie rasend, und, was sie thun,
Ist gross — o, was sie wollten, war
Ein Traum von Grösse; und — das sehen wir —
'Wir sind zu kleinen Werken verdammt; und die Sonne ist nicht mehr
Feurig und lächelnd, wie sie über Seligen einst,
Den Söhnen der Kraft — Väter möchten wir
Unwürdige sie kaum nennen — den Herrlichsten,
Aufging und niederging; und des Jubels war kein Ziel.
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EINIGE GEHEIMNISSE DER BLUMEN/
EIN VERSUCH IN PFLANZEN-PSYCHOLOGIE VON
AUGUST STRINDBERG/ AUS DEM SCHWEDISCHEN
MANUSCRIPT VON EMIL SCHERING.
WEI Frühlingc, zwei Sommer, zwei Herbste bin ich in
dem botanischen Garten von Lund gewandert; vom
ersten Versuch des Schneeglöckchens mit seiner eigenen
Lebenswärme die Kältemischuug der Schneewehe zu
bekämpfen, bis zu dem der Zeitlose mit ihren an blau-
gefrorene Hände erinnernden Blüten die Barfröste des
Herbstes zu schmelzen. Dieser Garten hat mich mehr als andere gelehrt,
weil beinahe jede Ordnung hier fehlt ; wenigstens scheint die Abwesenheit
von System und Klassificierung diesem eingehegten Lustgarten den Charakter
eines Stückes Natur bewahrt zu haben, wo die Pflanzen auch etwas von
ihrer Persönlichkeit, ihren Launen, Neigungen und Liebhabereien haben
behalten dürfen. Diedic auf Steingrund gedeihen, haben zusammen wohnen
dürfen ohne Rücksicht auf Klasse, Ordnung, Familie. Die die das Wasser
lieben, dürfen sich beim Bache oder Teiche treffen ; die welche die Sonne
verehren, bekommen freies Land, und die Freunde des Dunkels haben
Schatten erhalten. Es giebt nicht bloss Freiheit sondern auch Schönheit,
und was mehr ist Barmherzigkeit in diesem Paradies, wo die stummen,
geduldigen, leidenden Freunde stehen müssen, still, in Regen und Wind,
in Hitze und Kalte, ihr Schicksal auszuharren, ihre Geburt, ihr Wachstum
und ihren Tod ! — hier jedoch auf eine für jeden am wenigsten unange-
nehme Art.
Niemals habe ich im lebenden Bilde Jussiens bekannten Satz bestätigt gesehen:
dass die Pflanzen sich nicht in einer Kette entwickelt haben, sondern dass
das Ganze ein Netz ist. Und bisher sind ja auch alle Systeme gestrandet,
von Linne's bis Le Candollc's ; Linnc's zuerst von allen. Nimm zum Bei-
spiel Blüten einer Gurkenpflanze ; man findet fünf Staubfäden und bringt
das Kraut unter Pentandria. Aber bei näherer Betrachtung sind von vier
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Staubfaden zwei und zwei zusammengewachsen — das ist diadelphisch —
unglücklicherweise ist der fünfte Staubfaden frei, und damit ist die Pflanze
unmöglich in ein System zu bringen — würde unmöglich sein wenn sie
nicht männliche und weibliche Blüten getrennt hätte, aber auf dem selben
Stande, weshalb die Gurke zu Monoecia gezählt wird. Ebenso : Valeriana
officinalis, welche zu Triandria gehört, hat ein Geschwister Valeriana
dioica, das monoecisch oder zweihäusig ist.
Das Ganze geht auf ein Ungefähr, eine Pflanze ist überall ein wenig zu-
hause, und ist durchaus nicht so klassenbewusst wie die Systematici glauben.
Dasselbe ist der Fall in den so genannten natürlichen Systemen, die auf
wesentliche«, Charaktere gegründet sind, obgleich niemand den Begriff
unwesentlich definieren kann. So führt die Botanik der schwedischen
Staatslehranstalten das Kraut Alpenviole (Cyclamen Europaeum) unter
Dikotyledonen und der Familie Primulaccae an. Nun ist jedoch mit
Cyclamen der eigentümliche Fall, dass es ohne Herzblatt keimt, und dass
die zuerst entwickelte Wurzelscheibe direckt ein Krautblatt schiesst. Diese
Wurzclscheibe scheint also als das Prothallium der Kryptogamcn zu
fungieren, und das Kraut könnte eine Symbiose von einem Kryptogam
und einem Phanerogam heissen, so ungereimt es auch lauten mag.
Eine grosse scheinbare Unordnung scheint zu herrschen, aber ein unendlicher
Zusammenhang, und da wir aus Gleichheiten schliessen, nicht aus Un-
gleichheiten, so will ich auf eine Sammlung Gleichheiten aufmerksam
machen, die die Spuren eines unterbrochenen Zusammenhanges in der
universellen Unordnung zeigen.
Es giebt eine kleine liebenswürdige Erscheinung in der Pflanzenwelt die
Pyrola genannt wird. Die hat ihren Namen von der Aehnlichkeit der
Krautblätter mit den Blättern des Birnbaums erhalten. Wie wesentlich
auch Krautblätter für den Bestand und das Erkennen einer Pflanze sind,
so müssen wir sie doch für unwesentlich und äusserlich in der Systematik
halten. Lasst uns denn zu einem inneren Kennzeichen gehen, etwas das
nicht physisch ist sondern wirklich unphysisch wie der Geruch, welcher
ja das Allerinncrste oder die chemische Zusammensetzung angiebt. Pyrola
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uniflora riecht wirklich wie die feinste Kanelbirne. Bedeutet das etwas ? . . .
Die fiir die es nichts bedeutet, weise ich das Ziel zurück zum Physikalplan
und betrachte die Blütenteile beider Pflanzen. Sowohl Pyrola wie Pyrus
(communis) haben ihre Blütenteile auf der Zahl 5 aufgebaut. Die Kelche
sind fünfteilig, die Kronen fünfteilig, die Pistillen haben fünf Male, die
Ovarien fünf Räume. Die Staubfäden bei Pyrola sind 5x1, bei Pyrus
5x4, also fünfzählig. Das sind doch wesentliche Gleichheiten, oder
nicht?
Nun fügt es sich daneben so dass Pyrus in unseren Tagen unter die Familie
Rosaceae oder Roscnglciche gehört. Der alte Prac-Linneaner Tournefort
muss ein Auge gehabt haben für die Aehnlichkeit der Pyrola mit der Rose
(und folglich mit der Birne,) denn er bringt die Pyrola zu denselben
Rosaceen !
Dass die Frucht der Pyrola eine Birne simuliert, und dass die ganze
Haltung der Pyrola (besonders der Retundifolia!) pyramidenförmig ist wie
die des Birnbaums, ist etwas, das nur für das Künstlerauge Wert besitzt.
Es war ja Gleichheiten zu suchen von zwei entfernten Sphären, einem
kleinen Waldkraut (Kraut, obgleich es einen Baumstamm und ewig-
grünes Laub hat!) und einem grossen Obstbaum. Und als Verwerfung
der Methode pflegt man gegen mich anzuführen, dass es •» Gleichheiten
überall giebt, wenn man nur suchte Aber das ist just meine Meinung auch,
und ich weiss nicht, wie man uneinig sein kann, wo man einig ist.
Ich will jetzt zwei Vorstellungen einander nähern, die doch entfernter
sind, nur zum Versuch. Wer mit dem Auge des Künstlers eine lange,
grüne Schlauchgurke betrachtet, die auf schlechter, kalter Erde gewachsen
ist, hat wohl bemerkt, wie die Frucht einer gewissen Kaktuspflanze gleicht.
Die Gurke ist grün wie der fragliche Kaktus, gerillt wie der Kaktus und
kriegt Warzen mit Haaren darauf wie der Kaktus. Kann eine
Frucht einem ganzen Gewächs gleichen? Ja, sie kann wohl, da sie es
faktisch thut! Aber der Zusammenhang? — Wenn der Zoologe alle
Glieder zwischen der Schildkröte und dem Schwimmvogel aufweist, will
ich mich für verpflichtet ansehen, alle Ucbergängc zwischen einer Gurke
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und einem Kaktus anzugeben. Wahrend ich auf den Zoologen warte,
will ich mich mit einigen Andeutungen eines existierenden Zusammen-
hanges ergötzen. Nach Fries* System gehören Kukurbitaccen und Kakteen
sowohl zur 7. Klasse Fauciflorae wie stehen unmittelbar nebeneinander,
sodass die Gurkenpflanzen die Familiennummer 54 und die Kaktuspflanzen
55 haben. Damit haben wir die beiden ein tüchtiges Stück genähert.
Weiter: der Kaktus gehört zu Icosandria nach Linne, und (merkt S. Alm-
quist in seinem Lehrbuch an) bei den Gurken pflanzen ist der Blumen-
boden schalenförmig ausgebreitet, wie bei der Klasse Icosandria (wohin
der Kaktus gehört). Füge ich hinzu, dass die Gurke nunmehr für eine
Beerenfrucht angesehen wird, und dass die junge Kaktusfrucht, auch eine
Beere, einem jungen Kürbis gleicht, so wird der Abstand wieder ein Stück
vermindert. Aber das schlimmste Stück bleibt noch übrig, die Gurke war
ja eine Frucht, und das Kaktusfleisch ist keine Frucht, auch kein Blatt,
sondern die Bekleidung des Stammes, denn der Stamm in einem Kaktus
ist oft holzartig mit Jahresringen. Von einem Goethe, der glaubte, dass
Blüte und Frucht nur Metamorphosen von Blatt wären und Blatt meta-
morphosierter Stamm, würde also der Uebergang von Stamm (des Kaktus)
zu Frucht (der Gurke) nicht für ungereimt angesehen. Für den der Zeit
hat, alle Glieder in der morphologischen Kettenrechnung aufzustellen, die
hier erforderlich sind, bitte ich daran erinnern zu dürfen, dass die
Euphorbien (die mexikanischen) mit ihren kaktus- und gurkenähnlichen
Stämmen, und die Sedumarten mit ihren kaktusgleichen Stämmen und
gurkcngleichen Blättern (vgl. Sedum aere) mit in die Analogiekette
(oder das -netz) eingehen müssen. Und damit genug! für diesesmal.
Wenn man von der echten Kastanie spricht, verbittet man sich gewöhnlich
jede Verwechslung mit der Rosskastanie, die ein ganz anderer Baum sei,
die einer ganz anderen Klasse und einer ganz anderen Familie angehöret.
Dass die Früchte, die doch der Endzweck des Baumes sind, einander
komplett gleichen, das ist nichts Wesentliches für den Botaniker. Was
die Natur vereinigt hat, scheidet der Botaniker, und bei flüchtigem Bc-
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trachten scheint wirklich die echte Kastanie mit ihren zweihäusigen un-
bedeutenden Blutenkätzchen und ihren ganzen ungefingerten Blättern eine
ganz andere zu sein als die Rosskastanie mit ihren leuchtenden Blüten-
spitzen und siebenfingrigen Blättern.
Viele Jahre ist mein Gedanke abgeschreckt worden diese Verwandte ein-
ander zu nähern, bis ich eines Tages als Maler die Natur makroskopisch
zu betrachten begann. Nun wohl, ich hatte bei Promenaden am Genfer-
und Vierwaldstättcr See die eigentümliche Art der echten Kastanie be-
merkt, am unteren Teil des Stammes in Zweige auszuschlagen und bei
einem gewissen Alter, gleichsam müde, diese Zweige zum Ruhen auf den
Boden zu legen. Dieser rein persönliche Charakterzug setzte mich in Stand
im Winter die echte Kastanie zu erkennen, wo ihr das Laub fehlte.
Die Jahre gingen; ich befand mich in Paris, wo ich den Luxembourggarten
für meine Morgenpromenade reserviert hatte. Drei Sommer ging ich da,
und konnte meine Bäume ziemlich auswendig. Eines Abends im Bar-
winter entdeckte ich hinten im Englischen Garten einen entlaubten alten
Baum der mit den Ellbogen auf dem Boden lag und in dem ich eine echte
Kastanie erkannte; und ich erstaunte, dass ich einen solchen Baum nicht
in meinem Garten bemerkt hatte. Als ich mich dem Baume näherte, sah
ich zu seinen Füssen welke Blätter der Rosskastanie, und auf einem Zweige
sass noch eine Frucht als materieller Beweis. Dieser rein individuelle
Zug öffnete meine Augen für eine existierende Verwandtschaft zwischen
den beiden Bäumen. Es war wie wenn im Leben ein Mensch durch eine
Gebärde seine Verwandtschaft mit einem anderen verrät. })Dic Ellbogen
auf dem Boden«., diese Gebärde gab mir den Wink und ich behielt sie
im Gedächtnis.
Die Jahre gingen und das Alter näherte sich. Das Auge begann seine
Schärfe für Details zu verlieren, aber sah statt dessen Zusammenhänge. Ich
ging eines Sommers in Lundegärd ; sah aus einem Gebüsch den Endspross
einer jungen echten Kastanie eine siebenfingrige Hand hervorstrecken,
genau mit derselben Geste wie die Rosskastanie deren Blätter sie simulierte.
Bei näherer Betrachtung fand ich, dass am Ende des Zweiges die Blätter
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zusammengerückt waren und eine Rosette bildeten, nicht ungleich den
Blättern der Rosskastanie. Dass die Blätter der Rosette diesmal sieben
waren, muss wohl für eben Zufall gehalten werden, wenn er auch be-
sonders glücklich für mich war.
Als ich gleich darauf, in demselben unvergesslichen Lund, am Bahnhof
die Rosskastanie traf, die Pavia genannt wird (glaube ich), und fand dass
bei der Art die Blattzipfel die umgekehrte Ei-Keilform von Aesculus
verlassen und die lancettglciche, gesägte von Castanea angenommen
hatten, da ward ich von der Verwandtschaft der beiden Bäume überzeugt,
trotzdem der eine sieben (6 und 8) Staubfäden hat und zu Hcptandria
gerechnet wird, der andere bis zu zwanzig Staubfäden hat und zu Mo-
noccia gehört.
Kehre ich zurück zum Botanischen Garten von Lund ! Gleich links hinter
den Pforten steht ein Gehölz echter Kastanien» die sich zu Riesenbüschen
entwickelt hatten. Das lancettgleiche, gesägte, schöne Laub bildete lange
meine Freude, und ich konstatierte mit Vergnügen, dass die Büsche die-
selben Gebärden mit den Zweigen machten wie mein alter Baum im
Luxembourggarten. Aber dann wurde es Herbst und sieh: meine Kastanien
trugen Eicheln! Was war das? Die Namcnplatte die ich früher nicht
bemerkt hatte, klärte mich über den Betrug auf. Die Pflanze hiess näm-
lich Quercus Castaneafoüa, das ist Eiche mit kastaniengleichen Blättern.
Dass eine Eiche ihre Verwandtschaft mit der Kastanie durch die Form
der Blätter zeigte, das war ja zu erwarten, aber dass der Habitus der
Kastanie, ihre Art zu sein, das was mit einem Worte nicht ausgesprochen
oder definiert werden kann, wiederkam, das deutet auf die Gegenwart
von etwas Persönlichem — das ist das Wort ! — das mit dem verglichen
werden könnte, was man bei dem Menschen Charakterzug nennt.
Diese Charakterzüge verraten immer, wo sie sich offenbaren, den inneren
latenten Zusammenhang, wie entfernt er auch sein mag. So simuliert
die moderne Blattpflanze Philodendrum die Alge Laminaria ; das Krypto-
gam Marsilia gleicht einem vierblättrigen Oxalis, sogar dessen Früchten,
wie beide an die Schnecke Cyprea erinnern. Ophioelossum sucht mit
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Erfolg einem Arum oder einer Calla zu gleichen. Myrrhis odorata schlägt
ihre ersten Blüten wie ein Farn aus. Die Laub- (Nadel-) punktierung
der Lärche weckt die Vorstellung von einer Salisburia oder einem Adi-
anthum. Der Wallnussbaum schlägt wie eine Erbsenpflanze, ocacia, aus;
die •)) Kicherbeere (C des Wachholders ist eine morphologische Veränderung,
die der Blüte von Thuja oder dem zweiten 0) Blatt (c von Lycopodium
gleicht. Die Buche schlägt aus wie die Linde. Die Dolde von Valeriana
gleicht der des Holunders und beide Pflanzen haben starke Aehnlichkeit.
Euphorbia peplus imitiert Chrysosplenium. Wenn die Blätter der Erbsen-
pflanze platzen, simulieren sie Erbsenblüten, später auch die Erbsenscheide.
Die Umbellata Eryngium maritimum imitiert eine Distel, worauf jeder
Anfänger hineingefallen ist.
Besonders bei den Alpenpflanzen und Meeralgen kann man diese Doppel-
gängerei spüren. So hat Campanula Thyreoidea sich in den ganzen Ha-
bitus von Verbascum montanum gekleidet, dass man versucht wäre diese
beiden für gegenseitige Kreuzungen zu nehmen. Ranunculus Pyrenaeus
hat das Blatt von Plantago alpina. Polygala Chamabuxus gleicht Buxus.
Daphne Cneorum hat das Blatt einer Euphorbie. Limaria alpina besitzt
die Blüte von Cypripedium calccolus. Geranium Acontifolium zeigt die
Blätter von Aconitum. U. s. w.
Von den Meeralgen gleicht der Blascntang einem Kaktus, aber partiell
auch einer Cycas. Delcsscria sanguinea besitzt das Blatt der echten
Kastanie. Polysiphonia Byssoides und Dasya coccinea simulieren Heide.
Griffithsia kann für ein Gras passieren, Halopithys giebt sich den Anschein
ein Kiefernbusch zu sein, der sich bei einer Ucbcrschwemmung vereinfacht
und angepasst hat ; Chylocladia ovalis spielt Euphorbia, Corallina offici-
nalis ist nacktes Fichtenreisig gleichwie Gelidium, Lomentaria artientiata
hat sich in eine Mistel verkleidet ; Delesscria sumosa lässt die Verwandt-
schaft mit der Eiche durchscheinen; u. s. w. in Unendlichkeit.
Was enthält dies mit den Meeralgen? Sind sie bloss Skizzen, die die
Mutter Meer für das kommende Geschlecht einer höheren Organi-
sation entworfen hat? Oder sind sie bloss Schatten, Schemen von
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höheren Pflanzenformen denen es bei einer universellen Ertränkung ge-
glückt ist im Meere das Leben zu behalten, indem sie sich vereinfachten?
Ich will jetzt einen Schritt zurückgehen und Anknüpfung suchen an die
eigentümlichen Manöver der echten Kastanie die Blätter der Rosskastanie
zu simulieren, durch einen Kunstgriff der an die Fingerfertigkeit des Zau-
berers erinnert. Es geschah im vorigen Winter dass ich einen gepressten
Zweig der Schuppenbirke zu sehen bekam und dass ich ihn für ein Tri-
folium nahm. Er hatte nämlich am Endspross die Blätter zu drei und
drei gruppiert, so dass sie einem Klee glichen. Ich schlug Trifolium in
einer illustrierten Botanik auf und fand Trifolium campestre verwirrend
gleich der Schuppenbirke, auch in Hinsicht auf die Blütenstellung, die
bei genannter Kleeart dem Kätzchen (oder Zapfen) der Birke gleicht.
Woher nun diese Geneigtheit der Schuppenbirke zu der 3-Zahl, wo die
Pflanze vier Staubfäden und ein Ovarium mit zwei Räumen hat? Ein
Blick auf das weibliche Kätzchen der gewöhnlichen Birke offenbart einen
Teil des Geheimnisses; das Kätzchen hat nämlich Schuppen die dreiteilig
sind, dreifingrig wie das Blatt von Trifolium. Dies würde ja ein rein
morphologisches Phänomen sein, aber es war ja etwas Unerklärtes (Oc-
cultes!) das wir suchten.
Bei einer Wanderung in der Natur einige Zeit später, als ich den Winter-
habitus der Bäume observierte, merkte ich dass eine junge Birke im End-
spross ihre noch steifen Kätzchen in Gruppen von drei und drei vorschob,
ganz wie die Schuppenbirke, welche kein dreifingeriges Blatt hat, durch
einen einfachen Hokuspokus so thut als hätte sie es!
Was enthält dies? — Weiss nicht! ist es ein bewusstes Schelmenstück
der Natur oder nur der Ausdruck einer immanenten Energie mit unbe-
wusster aber klarer Absicht?
Schliesscn wir mit ein paar Fragezeichen??
Genug, alles fliesst in einander über, und in der Natur giebt es keine
reinen Gegensätze. Der Mensch hat Nadelbaum von Laubbaum unter-
schieden, und der Botaniker hat die Pflanzen in Angiospermen und
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Gymnospermen eingeteilt. Dadurch ist zum Beispiel die Birke in Gegen-
satz zur Fichte gekommen, obgleich sie einander so nahe stehen und viel-
leicht darum gegenseitig Gesellschaft suchen wie die Kiefer die Erle
sucht*.
Wenn man ■» oberflächlich«, eine junge entlaubte Birke betrachtet, sieht
man, dass sie die Pyramidenform sucht wie die Fichte, dass ihre Zweige
die Geneigtheit haben, einen Kranz zu bilden wie die Fichte. Wenn die
Fichte alt wird, hängen ihre Zweige herunter, wie die Aeste der alten
(Hänge-)Birke. Rcisst man von der weissen Rinde einer Birke etwas
ab, so zeigt sich eine schwarze Borke, die der dunklen der Fichte nicht
ungleich ist. Die Birke führt in gewissen Gefässen Zucker und die Fichte
führt Harz, aber im Frühling ist das junge Birkenlaub harzig, und die
Bienen, die von den Fichten Harz holen (wenigstens in Oesterreich),
transmutieren wohl das Harz zu Zucker. 4 * 4 Wcnnn man die weisse Rinde
verbrennt, bekommt man den schwarzen Kienruss, welcher schwarz wie
der Theer der verbrannten Fichtenwurzel ist.
Alles dies wird von den Botanikern unwesentliche Gleichheiten genannt:
lasst uns denn einige wesentliche anschauen. Beide Bäume haben die
Blüten in Kätzchen, welche schliesslich Zapfen werden, und beider Staub-
fädenzahl ist vier oder das Vielfache (die Fichte acht.) Beide haben
männliche und weibliche Kätzchen getrennt, aber auf demselben Stande.
Dies ist kolossal wesentlich! Aber dann bleibt noch übrig, dass die
Birke zu den Angiospermen gerechnet wird, obgleich sie ein Gymnospcrm
wie die Fichte ist, eine von den vielen Widersprüchen des Lebens, die
die wissenschaftliche Botanik noch nicht gelöst hat.
Der letzte Einwand: ein Laubbaum kann doch nicht einem Nadelbaum
* Die Erle in Wintertracht hat den ausgebreiteten Habitus der Kiefer,
und weitere Aehnlichkeiten können ausgeführt werden als ein geeignetes
Uebungsproblem. Der Verf.
** Die Fichte führt im Cambialgewebe ein Glukosid (Zuckerart), genannt
Koniferin ; dieses wird weiterhin ein Terpentin und dann ein Harz.
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gleichen? — Doch? Denn die Ornäsbirke hat bereits ihre Blätter so tief
gesägt, dass sie auf der Grenze zur Nadel stehen.
Wenn wir jetzt mit einer Proportion aus Euclid schliessen würden, die
so lautet: die mit einem und demselben gleich sind, sind untereinander
gleich;, so könnten wir beweisen, dass die Fichte in gewissen Hinsichten
einem Klee gleich ist. Denn die Fichte ist in gewissen Hinsichten,
wesentlichen und unwesentlichen, einer Birke gleich; und eine
Birke ist einem Klee gleich, also ist die Fichte in gewissen
Hinsichten einem Klee gleich. So unendlich ist der Zu-
sammenhang in der scheinbaren grossen Unordnung.
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Zwei altdeutsche Holzschnitte unbekannter Herkunft aus der k. u. k.
Hofbibliothek zu Wien.
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ZWEI MENSCHEN
Roman in Romanzen von Richard Dehmel.
(Fortsetzung.)
Blinder Schreck.
Es schwebt ein Klingen übers Eis,
wie ferne Frühlingsstimmen leis.
Blafs starrt der See; auf blitzenden Eisen
fassen sich, fliehn sich zwei Menschen und kreisen.
Jetzt kommt der Mann in scharfem Bogen
vor das Weib herumgeflogen
und fafst sie fester und bäumt im Sprung:
Halt! — Gelt, Frau Fürstin, das wär ohne Schwung:
vom Schlittschuhlaufen zum Strümpfcstopfen,
vom Radfahren zum Steineklopfen,
das wär doch gar zu harte Bahn ?
Ja, du: ich lief durch manchen Wahn,
als mich das Jugendblut noch trieb,
mit offner Hand an jedes Herz zu stürzen,
bis mir am eignen Herd nichts übrig blieb
als wenig Fleisch mit viel Gewürzen.
Zwar: mir ist Mancher zugethan,
so in der Welt, der wohl was opfern würde,
beehrt'ich ihn mit dieser Bürde;
aber Er läfst sich rückwärts kreisen.
Blafs starrt der See. Sic folgt. Die Eisen
blitzen schriller übers Eis.
Sicher folgt und fragt sie leis:
Und wemTs für dich nun keine Bürde wäre,
Steine für deine arme Herrin zu klopfen?
Und wenn's für mich nun eine Würde wäre,
Strümpfe für meinen reichen Herrn zu stopfen?
Und wenn ich wähnte: das ist kein Wahn,
so ganz bin ich dir zugethan —
und bin dir auch ganz aufgethan —
Sie schreit wild: Lukas! — ein Knall, ein Sprung,
hoch hat der Mann sie an sich gerissen,
es donnert unter ihren Füfsen,
es klafft — er bäumt mit ihr im Schwung:
es ist nur ein ganz schmaler Spalt —
zwei Menschen lachen, dafs es schallt.
Nach langem Frost.
Nun scheinen selbst die Blumengewinde
der indischen Kissen voll Frühlingssehnen;
am Fenster schmilzt die letzte blinde
Eisblume unter hellen Thränen.
Ein Mann sieht die barocken Ranken
mehr und mehr durchsichtig schimmern,
gleifscnd Gold in Silber flimmern,
er sitzt in drückenden Gedanken.
Er senkt noch tiefer Stirn und Ohr,
er hat ein Weib am Herzen liegen,
mit Augen, die zur Sonne fliegen,
sie flüstert, glüht an ihm empor:
Und heb mich wieder so herrlich hoch,
und trag mich fort, o trag mich fort!
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Und wären die Berge noch so hoch,
ich will dir Folgen an jeden Ort,
ich will dir Alles, Alles hingeben !
Verkauf mein letztes bifschen Schmuck,
nimm mir mein Eigenstes, nimm mir's Leben,
nur fort, nur fort aus diesem Druck I
Und wenn wir's bis zum Bettelstab bringen,
und wenn wir verlumpen, herrgott, und verdrecken,
dann wird's wohl überall noch gelingen,
eine Schachtel Zündhölzchen zu erschwingen
und den nächsten Wald in Brand zu stecken,
und selig will ich mit Dir zusammen
wie eine Hindufrau stehn und flammen !
Sie lächelt seltsam; er sieht es nicht.
Sie hebt das Haupt — sie sieht ein Gesicht
heifs von bebenden Narben zerrissen,
das starrt auf die gleifsenden Fenster und Kissen
mit dem Ausdruck eines Steins,
der zerspringen will, und spricht
mühsam: Und dein Kind? — Und — meins? —
Da sinkt ihr Haupt in seinen Schoofs;
zwei Menschen weinen fassungslos.
Die grofse Liebe.
Der Himmel scheint blutunterlaufen.
Fem graut die Grofsstadt her; zwei Menschen sehn
die Türme hoch in dunkler Rotglut stehn,
die Stadt raucht wie ein Scheiterhaufen.
Ein Weib lehnt an der Fensterborte,
düster, wie aus Erz gebaut.
Der Glanz macht ihre braune Haut
glühender als eine Braut.
So hört sie eines Mannes Worte:
Dein Herr Gemahl ? Nein : der ist nicht im Wege.
Er hat ja Augen, und kann noch welche pachten.
Und träPer mich in seinem Gehege,
ich würde ihn mir sehr höflich betrachten:
Hoheit, Sie dürfen mich verachten,
Sie dürfen, wenn Sie's wagen, mich töten —
ich würde vielleicht sogar vor ihm erröten,
das ist ein Vorgang der Natur,
mein Körper ist arg tierisch nur :
mein Geist ist über meinen Nöten I
Ja, Lea : begreifst du, was das heifst :
ich will getrieben sein vom Geist ! ?
Erst wenn der Geist von jedem Zweck genesen
und nicht» mehr wissen will als seine Triebe,
dann offenbart sich ihm das weise Wesen
verliebter Thorheit: die grofse Liebe.
Du bist noch nicht so zwecklos mein :
du willst noch mich, ich soll noch dich befrein :
dies blinde Kind aus fremden Lenden,
es scheint uns immer zuzuschauen,
ob wir nicht sein Vertrauen schänden —
und siehst du: Das, jawohl, das macht mir Grauen!
Er bebt; er zerrt an seinem Bart.
Das braune Weib wird bleich, wird rot.
Dann sagt sie leise, mühsam, hart :
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Das Kind, vor dem dir graut, ist tot
Zwei Menschen schweigen wie erstarrt.
Ins Freie.
Der Mond bescheint ein steinernes Portal,
durch kahle Zweige eine feuchte Schwelle,
die Zweige leuchten wie aus Stahl,
zwei Menschen stehn in einer Grabkapelle.
Der Mond legt Schatten auf ein totes Kind,
nur seine beiden offnen Augen glänzen ;
sie glänzen wie die Blumen aus den Kränzen,
bleich und blind.
Sie glänzen bleicher als der Vollmondschein,
ein Weib höhnt in die Nacht hinein:
Ich hatt ein Kind, und nicht von Dir,
ich steh in Freiheit neben dir,
ich bin erlöst, wenn Du, wenn Du es bist 1
Ich bin die Fürstin Isabella Lea,
die auf dem Weg der Liebe gen Himmel ist —
ich, Mutter Isis, Mutter Gäa,
die willig ihre eignen Kinder firifst,
der irdischen Gerechtigkeit entrückt —
ist nun mein Gott, mein Lucifer, beglückt??
Sie wankt j sie hat die Augen zugedrückt.
Ein Mann legt ihr die Hand auf Stirn und Haare.
Er spricht — sein Blick verschlingt die dunkle Bahre
Das Kind, das du getötet hast,
war meiner Seele nicht die Last
auf unsrer Wallfahrt zu der Freiheit,
die Einheit scharrt aus aller Zwciheit.
Aber du hast mich tief verwandelt;
du hast für mich aus einem Geist gehandelt,
der nichts mehr will als klar am Ziele ruhn —
komm ! — Und — : ich weifs jetzt, du kannst schweigen.
Ich habe manches in der Welt zu thun,
Lea; und Das — nun ja, das wird sich zeigen.
Im übrigen, Madam: es wohnen
noch Krüppel genug auf Fürstenthronen!
Er küfst ihr Stirn und Augen, wie zur Weihe;
zwei Menschen wenden sich ins Freie.
Scharfe Luft.
Hellblauer Himmel mit weifsen Streifen
läfst alle Saatfelder grüner prangen,
und den Bäumen am Wege mufs wohl ein Bangen
vor den mächtigen Rofsschweifen
des Windes durch die Knospen wehen:
sie zittern. Aber zwei Menschen gehen
ruhig einen Wiesenrain hinan,
einem Weibe erwidert ein Mann:
Mein Töchterchen? — Hm — sonderbar:
sie sagte — sie meinte wohl dein Auge und Haar:
du siehst ganz schwarz aus, ganz schwarz und heifs,
aber inwendig seist du wohl weifs.
Nun stehst du wieder, wie zur Erstarrung geneigt;
Lea! sieh um dicht sieh, wie Alles sich ändert:
wie jeder Baum sein Wachstum klarer zeigt,
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wic's lichtbegehrlich aus Spitze an Spitze spritzt,
wie er das Eine, das alle zackt und rändert,
mit eigner Perlschrift greifbar ins Leere ritzt :
dann preist dir jedes Hainichen im Feld
den Geist der körperlichen Welt,
dann sagt dir jeder Lebenshauch :
wie du dich giebst, so bist du auch!
Er stutzt — sie lächelt ins Blaue hinein,
sie steigt still über den Wiesenrain,
sie bricht sich einen Knospenzweig ab,
sie hebt ihn wie einen Zauberstab :
Wenn ich nun aber nach jenen Wolken weise,
die unter der Sonne den Abendhimmel streifen,
und nun im Geist nach Morgenländern reise,
dann mögen sie noch so eigen anders schweifen,
die ganze Landschaft versichert mir:
wie du mich nimmst, so bin ich dir!
Sie stutzt — er weist still über die Wiesen:
die sehn noch aus wie abgeweidet,
die Wolken werfen Schatten wie Riesen.
Zwei Menschen merken, was sie scheidet.
Erhörungen.
Die Lerchen jubeln, dafs die Sonne scheint;
bis in den Wald herüber klingt es leise.
Hell vor sich hin erwiedert eine Meise:
ich fühl's, ich fühl's, wie lieb, wie lieb sie's meint.
Die Finken sind verstummt: ein Rappe schnaubt
und schüttelt sein Geschirr. Zwei Menschen streichen
dem edlen Tier die dampfend heißen Weichen.
Nun reckt das Weib ihr dunkles Haupt:
Ab du Vorhin so kerzengrad anhieltest,
fiel mir ein Traum ein, den ich gestern träumte.
Es war, als ob du fern die Laute spieltest;
ich stand am Meer, in dem die Nacht noch schäumte.
Da kam, auftauchend mit dem Morgenrot,
gerudert von zwölf tiefgebückten Herren,
die Kronen trugen, ein gewaltiges Boot;
ich sah die Herren wie an Ketten zerren.
Am Steuer aber, über ihnen, frei,
stand Einer, der war nackt, und glänzte, und —
sie stockt; der Rappe, zitternd, stampft den Grund,
sie zittert mit — sie hören auf zu streichen,
der Mann nimmt ihr das Wort vom Mund:
Und Er, der Glänzende, gab dir ein Zeichen
und kam mit seinem Lautenspiel herbei.
Und Du, du mufstest ihm die Hände reichen
und folgtest ihm und seiner Melodei.
Und wenn du staunst, wieso ich alldas weifs,
dann staune auch, wieso dies Tier mitbebte,
als meine Seele so in deiner lebte,
wie seine Haut in unsrer Hand so heifs.
Und staune, Seele, was dich so beschwingt,
dafs du die Meise zwitschern hörst: ich bin's!
und was dich lerchengleich zu jubeln zwingt!
und wie's dich wieder wie als Kind durchdringt,
das Glück folgsamen Eigensinns!
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Die Lerchen jubeln, dafs die Sonne scheint ;
zwei Menschen ahnen, was sie eint.
Endlich.
Fern in jungen Birken spielt der "Wind,
scheint das scheue Frührot anzuschüren;
von der zarten Glut umglänzt beginnt
eine Mühle sich zu rühren,
rosig schauert das grüne Feld.
Wo der altersgraue Park sich lichtet,
unweit einer Grabkapelle,
grüfst ein Weib ins Freie, Helle,
blitzt ein Stahlrad auf, blitzt und hält,
schwenkt ein Mann die Rechte, heifs hochgerichtet :
Frühling! — endlich! — wie drängt das, mitzuthun!
Mir war, als müfst ich über dies frische Meer
mit meinen blauen Segel tu chschuhn
wie die Schwalben hin und her!
Und dann so stillstehn : fliegende Blicke werfen !
wie alle Sinne sich an einander schärfen!
man wird bis in die volle Brust
seiner Gotteskraft bewufst,
und selbst aus Grabesfinsternissen
lacht es: All Heil, Welt! dies neue Gewissen.
Weithin grüfst sein Bück ins Freie, Helle,
und — nun will er auch das Weib begrüfsen,
da — sie blickt auf die Kapelle:
Ich weifs nur Eins, und geb's auch Dir zu wissen :
mir lacht dein Weltall gar zu bunt :
mir ist mein Herz, hier dies mein Hera, zerrissen,
und war so gern, o Gott wie gern, gesund!
Und quälte das Deinen Gott auch nur zum Teilchen
wie Mich, du küfstest dir die Lippen wund
und heiltest, heiltest mich! ja schau nur! und —
ach, Lukas, sieh: das erste Veilchen!
Sie steht auf Einmal ganz beglückt,
dafs er, entzückt, sich bückt, es pflückt,
es ihr an Herz und Lippen drückt
und wie ein Junge lacht dazu — .
zwei Menschen lassen Gott in Ruh.
Ins Licht.
Durch oflEhe Fenster, lautlos, glänzt die Nacht ;
es regt sich nur das Licht der tausend Sterne,
und Frühlingshauch und dunkelblaue Ferne,
und manchmal eine Fledermaus auf Jagd,
und Atemzüge, unterdrückt und schwer,
voller Spannung, mehr und mehr.
Jetzt rauscht ein Seidenglanz und bricht den Bann,
ein Weib drängt sich an einen Mann:
Lukas! was liegst du wie vom Alb gedrückt,
als ob du nichts von meinem Dasein fühltest !
Meinst du, mich hat die Zukunft nicht bedrückt,
wenn du mich Tag für Tag für Tag hinhieltest? 1
Und jetzt, wo dieser Druck mich fast erstickt —
Du ! — Lukas?! — Wenn du — wenn du mit mir spieltest —
Sie schüttelt ihn, ihr Augenglanz wird hart;
er starrt hinein, wie vorher in die Ferne.
Und wieder regt sich nur das Licht der Sterne,
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die Jagd der Fledermäuse, und sie starrt,
sie starrt wie er, will drohen, da wirkt sein Bann,
sie zuckt, sie nickt, sie lacht ihn traumhaft an,
und traumhaft geht sein Wort ihr zu Gemüt:
Fürstin, ich will nichts halb. Ich will dich sehn,
in ganzer Schönheit, ganzer Häfslichkeit.
Ich will vor dir, du sollst vor mir bestehn,
vom Alb der scheuen Ahnungen befreit,
ich will die nackteste Befreiung.
Wenn dann die Male deiner Mutterwehn
dich nicht dem Gott in meiner Brust verleiden
oder dem Tier in unsern Eingeweiden,
will ich nach so viel Sehnsucht und Kasteiung
nicht wie ein Nachttier mich mit dir vergehn:
ich will mit dir ins Licht der Menschlichkeit —
sei bereit 1
Er küfst sie wach, er drangt sie sanft zurück,
sie sitzt und sinnt, wie über Raum und Zeit,
zwei Menschen beten für ihr Glück.
Still.
Und lichter als der lichte Tag im Zimmer
und immer lichter schauert ein Geflimmer
von Kerzen über helle Blumen hin.
Still schwimmt um silbcrblau gestickte Kissen
der Duft des weifsen Flieders, der Narzissen,
und durch die Bläue, durch die Blumen hin
zittert die Luft, als ob sich Herzen rühren :
zwei Menschen stehn — noch tönen still die Thürcn
mit Augen, die den Himmel nahe spüren,
entblöfst bis zu den Hüften da,
ein Mann mahnt: du! — ein Weib haucht: ja.
Still sinkt ihr Arm von ihren braunen Brüsten,
die Lichter schauern immer schimmernder;
sein Blick erbebt, als ob sie lodern müfsten,
die Blumen atmen immer flimmernder.
Die Sterne an den silberblauen Wanden
erstrahlen wie in keiner Nacht so blank,
still nestelt sie am Goldband ihrer Lenden,
sein Körper spannt sich unter innern Bränden
wie eines Tänzers straff und schlank.
Still schaut sie auf, er mufs die Augen schliefsen,
still rauscht ein Flor zu Boden, er will sehn —
er sieht nur, wie zwei Augen Licht ergiefsen,
zwei dunkle Augen, die ihm zugestehn
— still —
was er will:
er will sie ganz mit seinem Blick erkennen,
er sieht sie ganz nach seinem Blick entbrennen,
er will nichts mehr als stehn und stehn
und still in ihre Seele sehn,
er steht und mufs die Hände heben,
ab blende ihn das ewige Leben,
und dunkel rauscht der Weltraum — da
mahnt sie ihn: du — da haucht er: ja —
und alles rauscht tief innerlich,
zwei nackte Menschen einen sich«
Ende des ersten Teils.
Fortsetzung im übernächsten Heft.
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ANMERKUNGEN.
• ZU DEN FESTEN DES LEBENS UND DER KUNST.
\RAN brauchen wir wohl nicht mehr ungläubig zu
zweifeln, dass wir in einiger Zeit ein Theater haben
werden, das aus unseren Wünschen und Hoffnungen
für die Kunst sich formte nach unserm Willen und
Bedürfnis. Wie sonst, so muss sich doch auch hier
diese Aenderung vollziehen, dass Kunst sich uns nicht
mehr als das gemeine Leben vorstelle, sondern als das ganz Andere, das
vom Leben nichts weiter braucht als die tausendfachen Möglichkeiten,
es individuell zu ändern, zur entzückenden Groteske oder zum weisesten
Tiefsinn zu übertreiben, lieber nichts in den Künsten ist — das öde
Litteratengewäsch der Heimatkunst ausgenommen — in den letzten zwei
Jahren so viel gesprochen und geschrieben worden, als über das Theater,
und wie gar schlecht es sei. Nun beginnt aus dem bloss kritisch-klagen-
den Verhalten ein deutlicher Wille zum Andersmachen sich abzuheben.
Hermann Bahr hat sich viel um das Theater bemüht ; aber er ist wie die
schl echtgezogenen Jagdhunde, die wohl nicht die Witterung für das
Wild verloren haben, aber jedem Wild nachhetzen und jedes apportieren
— so läuft er sich oft den Atem aus, und die Beute ist doch — wenn
sonst auch reich — für das neue Theater gering. Bierbaum hat hier mit
seinen Spielen mehr gethan, was deutlicher wird, wenn man die dazu-
komponierte Musik beiseite lässt, die als die — besonders in ihrer neueren
Gestaltung — eindringlichere Form die andere um ihre Wirkung bringt.
In der Gugeline und in der Vernarrten Prinzess sind die Worte nur die
leisen ^ohnedies schon musikalischen^ Begleiter der Gebärden — und
die Offenbarung menschlicher Körperschönheit in Tanz und Schreiten und
Ruhe, in verhüllter stärkrer Nacktheit und im Reichtum der Gewänder,
— diese Bewegung des Körpers, wie sie von psychischen Vorgängen
erregt wird dünkt mir auf dem Theater das allein Wichtige zu sein, auf
dem Theater wenigstens, das wir gerne möchten. Nun hat Peter Behrens,
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der vom Malen herkommend durch die Künste schreitet und alle als die
Eine stark und gross empfindet und denkt, dem neuen Theater einen Plan
gezeichnet. Man soll da nicht die Garderoberäume suchen, ja nicht einmal
das , was man sonst die Bühne nannte, deutlich sehen vollen — wäre das
Behrens selbst gelungen, hätte er sich nicht aufgehalten, darüber zu schreiben,
er hätte dann gleich gebaut und gespielt. Aber mit dem Wenigen, das er
sagt, hat er viel getroffen und festgelegt, denn sein Weniges ist nicht das
Geringe, sondern das, worauf es ankommt. Und was in Zweifeln oft
hin- und hergesprochen wurde : die Möglichkeit — die ist nun so ausgereift,
dass zum neuen Theater nur mehr das Nebensächliche fehlt. Ich habe
auch oft gehört, es fehle das, was man da spielen soll. Und auch Ant-
worten, die auf die dramatischen Künste von Aeschylos bis Hofrmanns-
thal und Maeterlinck hinwiesen. Die raschen Helfer mit den Stücken
dachten dabei wohl meist an dieses Gräuel einer 9) Musterbühne (C —
ach, die Deutschen sind so erzieherisch und gelehrig ! — und die Pfad-
sucher des neuen Theaters wurden darüber unwillig, weil sie schon den
Moder der Historie witterten und den Staub der archäologischen Aus-
grabungen. Ich meine nun, es ginge auch ohne die Historie, dass man
z. B. die Lysistrata spielen kann, und ein Theater, das dies nicht vermag,
wäre eben das neue Theater noch nicht. Man muss diese Komödie ja
nicht echt griechisch spielen — das ist sie auch doch nur für die Gym-
; man kennt die Zeichnungen von Beardslcy zur Lysistrata und
so könnte man sie spielen, stilisiert auf ihr groteskes Element, das ein
ganz ausser- oder überzeitliches ist. Ich bin der Meinung, dass auch
unsere jungen Dichter, die so gerne redselig werden, weil das heutige
Theater nur Gelegenheit zum reden giebt, darin ganz von selber massiger
werden dürften, wenn sie ein Theater sehen, dass die sinnliche Schönheit
der Körperbewegung vor jene andere der Worte setzt. So werden wir
mit dem neuen Theater schon auch die Dichter haben; denn wenn das
eine uns zu scharren so nötig ist, dass wir es schaffen müssen, dann lebt
ja diese schöne notwendige Lust zu dem Neuen auch in den Dichtern
mit der gleichen schöpferischen Stärke. Doch wir wollen leiser darüber
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sprechen, mit halber Stimme, wie im Zimmer einer Wöchnerin, die ein
Kind gebären will. Und wir wollen die Augenfarbe .des Kindes bestim-
men, wenn es zur Welt ist. Haben wir es nicht entsetzlich mit der
» neuen Kunst (c erlebt, dass die Snobs beider Geschlechter nun hinter ihr
und vor ihr herlaufen und dem armen Ding ganz bang machen mit ihrem
Geschrei? Ist nicht das Schönste an der neuen Kunst die schöne Tafel
unsrer neuen Wunsche? Auf den andern Tafeln, auf die wir unsre Kunst
schreiben wollen, sind doch nur ein paar Kritzelstrichc und gar nicht tief
eingeschrieben. Darum sollen wir ruhiger darüber sprechen, unser starkes,
schönes Wünschen hüten und uns nicht sinnlos und arm machen, indem
wir unsern eigenen Most austrinken, dass dann nichts für Wein bleibt.
Lieber Peter Behrens, die Tubenbläser in glühenden Gewändern sind ja
herrlich , aber müssen wir denn den Kunstjubel unseres Herzens gleich
für Posaunennoten setzen? Machen wir ein Theater, spielen wir so schön
wir es uns träumen, aber: machen wir ein Theater! Beweisen wir es
nicht zuerst. Kein Stil hat sich damit in die Welt begeben, dass er sich
zuerst als nötig bewies. Er kam so, dass es keiner merkte, wie er kam,
und einige ihn erst dann erkannten, wenn er schon wieder weg war. Aber
das ist schliesslich Historie, und die will uns für die angenehme Ungewiss-
heit des Werdens eine fröhliche Gewissheit geben. Vielleicht ist es mit
dem Stil in unserer Zeit des weiteren Wissens und Erkennens der Dinge
anders, und bei den Deutschen ganz besonders so, weil sie durch ihren
Kulturmangel auf ein eklektisches Beurteilen und Benützen gewiesen sind
und so eher aus dem Kopfe schaffen, wo andere glücklichere Völker £wie
die lateinischen^ es aus ihrem und ihrer Väter Erleben heraus thun , aus
der Tradition ihres Blutes. Die deutsche Kultur! Behrens hat sie mit
Sehnsucht vergeblich gesucht, doch brauchte er sie, und da schuf er sie: aus
seiner Sehnsucht. Denn es ist sein Schmerz wie unsrer aller, dass wir wie
Fremdheiten zu unserm Stamme sind, wenn wir von dem Simpelsten, das
uns mit ihm verbindet und von der gemeinsamen Sprache absehen. Wir
haben keine Traditionen, wir haben nur Persönlichkeiten, die mit sich
beginnen und mit sich schliessen, und die wir mit unserem etwas thörichten
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Pcrsönlichkcitskultus noch mehr isolieren. Und was zwischen dem
Einzelnen und dem Stamme verbinden sollte , das trennt nur : die Litte-
raturgeschichte, die allgemeinen und speziellen Aesthetiken und eine ver-
kommene Kritik, die in billigem Witz ihr tägliches Dasein traurig be-
hauptet. Und weil wir deutsche Künstler Fremdheiten unserm kulturlosen
Stamme sind, haben wir den Europäer erfunden. Peter Behrens will aber
deutsch sein, im grössten eigenwilligen Sinne, er macht den deutschen ein
herrliches Kompliment und überreicht ihnen die deutsche Kultur, geboren
aus der neuen Kunst. Ich weiss nicht , was die Deutschen mit diesem
königlichen Geschenk anfangen werden, ich glaube nicht einmal, dass sie
damit etwas anfangen können, abgesehen von den schon erwähnten Snobs,
die nun wohl bald sich auch als im Besitz der deutschen Kultur erscheinen
werden. Sonst kulturstarke Völker schicken sich an, den Boden ihrer
nationalen Traditionen zu verlassen. Selbst bei den Franzosen kann man
davon Symptome wahrnehmen. National wird ein politisches Schlag-
wort, und die es gebrauchen, sehen sich eigleich, ob sie es französisch, eng-
lisch oder deutsch aussprechen. Nicht als ob die Völker nicht ihre spe-
zifische Eigenschaften beibehielten. Fragt sich nur, ob diese immer Fak-
toren einer neuen Kultur sind. Und das spezifisch Deutsche hat sich in
hervorragender Weise als kulturfeindlich erwiesen: der Gelehrte und der
Persönlichkeitskultus. Es ist nun wie ein letzter Versuch, der mit diesem
Volke gemacht werden soll, für welchen Versuch Behrens die Kunst vor-
schlägt, die Kunst als die grosse Synthese allen Könnens, wovon ein Sym-
bol das Theater sein soll. Daran ist nicht mehr zu zweifeln, dass wir ein
Theater für uns und unsre Wünsche haben werden, auch daran nicht,
dass manche davon eine schöne Wirkung haben werden, die ihnen die
Illusion einer Kultur verschafft. Aber eine deutsche Kultur wird es nicht
geben auf dem Kunstwege, das Hessen sich die Deutschen nicht einmal
von Goethe gefallen. F r a n z B 1 e i .
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Der Engelwirt, eine Schwabengeschichte von Emil Strauss.
ES ist nicht übermässig schwer, einen Charakter zu malen, und nicht
übermässig schwer, eine Handlung zu erfinden. An solchen, die des
ersteren fähig sind, war unsere poetische Litteratur zu keinen Zeiten
arm und in der gegenwärtigen dürfte es am wenigsten daran mangeln:
man geht hier mit grosser Sicherheit dem Vagen, Unbestimmten und
auch dem Grellen, Uebertricbenen aus dem Wege und schafft Gestalten,
die durchaus in einen gewissen individuellen Raum und eine bestimmte
Epoche gehören, deren materielle Lage, Glaubensumstände und Bildimgs-
stand uns mit hinlänglicher Deutlichkeit an die Hand gegeben werden:
ja es entzieht sich sogar das Drama nicht einer äussersten provinziellen
Bestimmtheit bis in die Färbung und das Vocabular seines Dialoges.
In der Novelle ist es schon nur den besseren Produkten gegeben, auch
durch eine Handlung etwas zu wollen: sich dem reinen Abspinnen des
Zuständlichen zu entziehen, ohne in die gesuchte und kleinliche Poin-
tierung einerseits, in die anekdotische Begebenheit andererseits zu ver-
fallen. Welche letztere nur in den Händen eines besonderen Talentes
mit den Charakteren zu einer wahren Einheit verschmelzen kann.
In der Novelle aber, die wir hier anzeigen wollen, ist das weitaus Höhere
erreicht: Charakter und Handlung sind nicht unter äusserer Gewalt in
Eins geschmolzen, sondern sie stehen im tiersinnigsten und harmonischesten
Zusammenhang. Es widerfährt einem Menschen, was ihm widerfahren
musste, weil er handelte, wie er handeln musste. Indem er sein Glück
zu fassen meint, bekommt sein Schicksal ihn zu packen, und während
wir atemlos dem Verlauf eines Abenteuers zuzusehen meinen, entfaltet
sich uns ein menschliches Wesen. Die schöne Novelle hat ihre Wurzeln
in provinzieller Beengtheit; das wunderbare Schauspiel, wie sich Welt-
wesen und Menschenwesen berühren und namenlose Gewalten für einen
Moment dazukommen, dem beengten Einzelnen ins Auge zu sehen, bildet
ihre Blütenkrone. Hier ist ein Buch, das genug Kunstwerk ist, um sich
eines sehr starken Gehaltes an Stimmung und souveräner Sicherheit als
eines untergeordneten Schmuckes zu bedienen. Hofmanns thal.
10
'45
DIE INSEL. II. JAHRGANG. 2. QUARTAL Nr. 4. JANUAR 190 1.
FUER DEN INHALT VERANTWORTLICH: A. W. HEYMEL,
MUENCHEN.
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DIE INSEL. Nr. 5.
FEBRUAR. 1901.
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BEZUGS-BEDINGUNGEN
i
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3 Mark, das Abonnement vierteljährlich 9 Mark, halbjährlich
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die bis auf weiteres noch zu dem ursprünglichen Preise
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werkes tritt wie bisher eine Ermässigung des Gesamtpreises
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Die Redaktion der Insel befindet sich in München
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Unverlangt eingeschickte Beiträge werden nicht zurück-
geschickt. Redaktionelle Gegenäusserungen erfolgen nur
im Falle der Annahme.
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j Die Insel
Urmuijjrgeben von
Otto Julius Bierbaum * Alfred WaJter
Heymei und Rudolf Alexander Schroeder
Zweiter Jahrgang. Fünfte* Heft. Febtuai 1901
Treis 2 Mark
Erschienen im Insel -Verlage
bei Schuster Sc Loefr'ler in Berlin und Leipzig
DIE INSEL/ MONATSSCHRIFT MIT BUCH-
SCHMUCK UND ILLUSTRATIONEN/ HERAUS-
GEGEBEN VON O. J. BIERBAUM, A. W HEYMEL
UND R. A. SCHROEDER
IL Jahrgang. 2. Quartal, No. 5. Februar 190 1
INHALTS-VERZEICHNIS
Blinde Liebe. Eine Geschichte aus den höchsten Kreisen. Sehr frei nach
dem Englischen des Laurencc Housman von Richard DehmeL Mit zva
Zeichnungen von Laurencc Housman , 14P
lieber den von allen Schosshündchens zu beklagenden Abschied ci
artigen Joisie von Martin Brandenburg t/4
Vier Schlussstrophen aus einem ähnlichen Gedicht iSo
Zwei Zeichnungen von Jossot 181
Vier Grotesken. Von Franz Blei
I. Das Beispiel des Gilles de Rais.
Das wunderbare Gemälde. Eine chinesische Geschichte in deutsche
gebracht und Herrn Otto Julius Bierbaum freundlichst zugeeignet
Rudolf Alexander Schröder. Mit einer Zeichnung von Laurence H<
Zwei Holzschnitte unbekannter Herkunft aus der k. u. k. Hofbibliot
zu Wien I]
Anmerkungen
BLINDE LIEBE/ EINE GESCHICHTE AUS DEN
HOECHSTEN KREISEN/ SEHR FREI NACH DEM
ENGLISCHEN DES LAURENCE HOUSMAN VON
RICHARD DEHMEL/ MIT ZWEI ZEICHNUNGEN
VON LAURENCE HOUSMAN.
1 1
149
BLINDE LIEBE.
IE soll ich diese rührende Geschichte blos erzählen,
daß meine zarte Leserin sich nicht die Augen ausweint
über die Leiden, von denen ich berichten muß! Es
dürfte inderthat das Beste sein, ich sage gleich im vor-
aus, daß Alles ein wonniges Ende nimmt.
Ich habe also zu berichten von den Aengsten, mit
denen ein König und seine Königin sehr viele Jahre lang durch eine böse
Fee geplagt wurden, und das aus keinem besseren Grunde, als weil der
König seiner hehren Frau Gemahlin unentwegt ergeben war. Ammi-
saunza, so hieß der edle König, verehrte seine Frau Gemahlin so unendlich,
daß er die Schönheit anderer Frauen nur wie durch einen dicken Schleier
sah. Nie, seit sie auf dem Throne saß, hatte er sich einfallen lassen, einmal
ein Paar verbotene Augen ein wenig näher zu betrachten, geschweige von
verbotener Lippen Süßigkeit zu kosten. So liebten sie sich tadellos jahraus
jahrein und waren sehr zufrieden mit dem Leben, nur Eines machte ihnen
manchmal Kummer: ihre Liebe wurde immer reifer, aber sie wollte durch-
aus kein Früchtlcin tragen. Vergebens wurde die Staatswiege in jeder Syl-
vesternacht frisch vergoldet.
Da, eines Tages um die Pfingstzeit, erschien besagte Fee bei Hofe. Sie
wurde, wie sie das gewohnt war, mit großen Ehren aufgenommen. Sic
konnte nämlich mächtig zaubern, und ihre Schönheit war noch mächtiger;
wenn sie ihr wildes schwarzes Lockenhaar schüttelte, dann konnte Keiner
sie betrachten ohne Gefahr für Leib und Seele. Nur Ammisaunza blieb un-
gerührt. Und grade dadurch vielleicht geschah das kaum Glaubliche:
die Fee verliebte sich in Seine Majestät. Das wäre nun noch nicht
das Schlimmste gewesen; aber die böse Fee war nicht zufrieden
mit dieser einfachen Sachlage. Sie liebte den König so anspruchsvoll,
daß sie beschloß, nicht eher weiter zu reisen, als bis sie ihn erobert
hätte.
Sie that also Alles, um den erwähnten dicken Schleier des hohen Herr-
schers ein wenig zu lüften. Wohl zwanzigmal des Tages kreuzte sie seinen
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Weg, die Stirn in Demut vor ihm neigend, um seines Herzens königlichste
Regung zu entfachen; aber Seine Majestät bemerkte es nicht. Sie kleidete
sich immer strahlender und liefs kein Schmuckstück unversucht, das seinen
Blick an sie fesseln konnte ; aber Seine Majestät bemerkte es noch immer
nicht. Bis sie sich endlich soweit vergais, ihm ihre Liebe offen zu be-
kennen, und obendrein noch Erhörung verlangte. Der edle König war
natürlich äufserst indigniert. Er sagte ernst und würdevoll: Schämt Euer
Herrlichkeit sich nicht, so zwischen zwei ehrsame Leute zu treten, deren
jahrelange Tugend respektiert zu werden verdient?! — und damit ließ er
sie stehen. Die Fee war sprachlos und verließ den Hof. Sie schien so spurlos
verschwunden, wie sie gekommen war.
Aber noch in derselbigen Nacht, als Ammisaunza sich eben zum Schlummer
zurechtgelegt hatte, fühlte er Lippen auf seinem Gesicht, die er für die der
Frau Königin hielt, und rückte das nötige Stück beiseite, um ihrer freund-
lichen Annäherung die gebührende Ehre zu erweisen. Nur wunderte Eines
ihn im Stillen: Warum küfst sie mir nicht den Zipfel meines rechten Ohres?
fragte er sich; denn dies war das gewohnte Verständigungszeichen seit
der Vollziehung ihrer Hochzeit. Darum zog er ein wenig das Haupt ein
und sprach: bist Du 's, mein liebes Eheweib? Und als er darauf keine
Antwort erhielt, sondern nur neue und wärmere Küsse, da fafste er den
weisen Gedanken: Jetzt werde ich sie meinerseits küssen, aber gleichfalls
nicht auf den Zipfel des Ohres ; wenn sie mir dann nicht ihr Mißfallen
kundgiebt, dann weifs ich ganz genau, dafs sich ein Fremdes eingeschlichen
hat. Also küfste er sie behutsam inmitten ihrer linken Wange.
Und wirklich: sie nahm keinen Anstofs daran. Sie wurde nur noch zärt-
licher. Da setzte König Ammisaunza sich im Bette hoch und machte Licht
an. Er wünschte endlich zu wissen, in welcher Gesellschaft er sich be-
finde. Aber zu allerhöchstscincm Erstaunen fand er sich ganz allein auf
seinem Lager. Der König überlegte. Er wollte völlig sicher gehen. Also
nahm er den Leuchter vom Nachttisch und begab sich in das Schlaf-
gemach der Königin. Ihre Majestät schlief tief und friedlich, mit jenen
ergreifenden Atemzügen, die von der Ruhe des Gewissens zeugen. Warlich,
15*
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mir war eine Anfechtung nahe, ein böser Traum hat mich versucht — dachte
der edle König und zog sich wieder leise zurück. Aber sobald er das Licht
gelöscht und sich von neuem zurechtgelegt hatte, fülüte er abermals neben
sich Eine, die mit den Lippen ihm schönthun wollte.
Doch weiter wollte es Ammisaunza diesmal bei Leibe nicht kommen lassen.
Entrüstet hielt er sich, den Schlummer Ihrer Majestät der Königin bedenkend,
die Nachtmütze vor den gefährdeten Mund und sagte mit gedämpfter,
von sittlichem Ernst bewegter Stimme: Wer du auch seist, Versucherin,
hebe dich von mir, du ruchloses Weibsbild! — Auf einmal ertönte neben ihm,
ganz sanft, die Stimme der bösen Fee. Er indefs that, als kenne er sie nicht,
und sagte noch entrüsteter: Will Sie wollüstige Person wol schweigen!
schämt Sie sich nicht, mich bis in meine ehrwürdigsten Appartements zu
verfolgen?! — Die Fee jedoch schien sich durchaus nicht zu schämen, son-
dern erwiderte unverhohlen, sodafs den König ein Grauen beschlich:
Verstelle dich nicht, o Ammisaunza! Liebe hat Scham, aber schämt sich
nicht. Dein gutes Weib soll Nichts von mir merken; ich kann für sterb-
liche Augen unsichtbar sein. Komm, habe Mitleid mit meiner Leidenschaft!
zeige dich gnädig und spiele mit mir!
Da setzte Seine Majestät getrost die Nachtmütze wieder auf und sagte mit
gewohnter Fassung: Man wolle sich nicht in mir irren, bitte! Wenn Euer
Herrlichkeit die Laune stachelt, Sich einer Dirne gleich aufzuführen, so
will ich als erfahrener Herrscher kein Wort mehr gegen dieselbe sagen.
Nur mufs ich dringend darum bitten, nicht grade Mir durch Dero Ver-
rücktheit meine dem Volkswohl höchst nötige Nachtruhe zu rauben,
widrigenfalls ich unverzüglich dieselbe selbst unterbrechen müfste, um
meine rechtmäfsige Ehegattin geziemend davon in Kenntnis zu setzen!
— Denn selbstverständlich hatte der edle König nicht das geringste
Mitleid mit der bösen Fee.
Und nun entpuppte sich diese in ihrer vollen Boshaftigkeit. Ah, Ammi-
saunza, du Tugendhafter — rief sie und lachte lautlos dazu — weil du so
schamlos zu mir geredet hast, will ich mit Meiner Art Scham dich strafen !
Wisse: die Königin, die dort schnarcht, wird einer Tochter das Leben
157
j
schenken, die soll unsichtbar sein ganz und gar; kein Härchen von ihr soll
zu sehen sein — bis zu der Stunde, o Ammisaunza, wo Dero Verrücktheit
sie stacheln wird, sich einer Dirne gleich aufzuführen ! — Und damit ver-
schwand sie, noch immer lachend.
Der König versuchte mehr als einmal, sich nochmals zum Schlummer
zurechtzulegen; aber die furchtbare Drohung der Fee liefs seinem er-
schütterten Blut keine Ruhe. Noch che der Morgen zu grauen begann,
erhob er sich gramvoll von seinem Lager, machte aufs neue das Nacht-
licht an, bekleidete sich mit einem Schlafrock und lenkte wiederum
seine Schritte in das Gemach der Königin. Sie schlief noch immer tief
und friedlich. Leise lüpfte er mit der Linken den oberen Zipfel ihres
Deckbetts und musterte besorgt den Taillenumfang Ihrer Majestät; aber
er konnte nichts Außergewöhnliches wahrnehmen. In diesem nachdenk-
lichen Augenblick erwachte die hehre Herrscherin. Der seltsame Zeit-
punkt des königlichen Besuches, verbunden mir dem verstörten
druck, den das erleuchtete Antlitz zeigte, bew irkte dafs sie ihn
fragte: was ist dir, Ammisaunza, mein Teurer ? — Der König
nächst den Leuchter aus seiner Rechten auf einen Stuhl ; dann zog
Schlafrock fester zusammen, setzte sich auf die Randung des
bettes und seufzte tief. Er schien durchaus keine Worte zu finden.
Erst als die Königin ihn beschwor, sich ihrer landesmütterlichen
zu entsinnen, liefs er sich mit geziemenden Pausen den unheilvollen
Sachverhalt abringen. Nur Eines war und blieb ihm unmöglich vor
ihren sittenreinen Ohren auszusprechen, das war die Bedingung der bösen
Fee, unter der die zukünftige Prinzessin eines Tages sichtbar zu werden
drohte. Die Königin mochte noch so sehr bitten und das Bettlaken mit
Thränen benetzen, Ammisaunza blieb fest und sprach feierlich : O Köni-
gin, hier ist heiliges Land! verlange nicht das Unerhörte zu hören! bete
vielmehr mit mir zum Himmel, dafs dieser Tag nie eintreten möge! — Da
löschte Ihre Majestät das Licht und barg sich schweigend an seine
Nur noch gedrückte Stofsseufzer bezeugten , dafs eine starke Gc
erschütterung unter dem königlichen Betthimmel vor sich ging.
«8 il^^L
vi
ES war etwa neun Monate spater, als unter dem nämlichen Betthimmel drei
Wirkliche Geheime Ober-Medizinalräte um Ihre Majestät versammelt
standen. Die Königin weinte bitterlich bei dem Gedanken an das Wesen,
das wie ein Geist aus ihrem Schoofs geboren werden sollte. Da ertönte
plötzlich ein zarter Schrei, ohne dafs etwas zu sehen war, und nunmehr
wufsten die Anwesenden, dafs sich der Bannspruch der bösen Fee, dem
man in wissenschaftlichen Kreisen bisher sehr zweifelnd begegnet war,
wirklich soeben erfüllt hatte.
Bei Gott ist leider kein Ding unmöglich! bemerkte der älteste Ober-
geheimrat, während der König allerhöchsteigenhändig nach einer Gegend
hintastete, wo er das unsichtbare kleine Leben vermuten durfte. Als-
dann versetzten die beiden andern Geheimräte es nach der neuesten Bade-
methode in einen daseinswlirdigen Zustand, konstatierten dafs hoch-
dasselbe belustigt strampelte, und übergaben es Ihrer Majestät der Frau
Königin. Diese schlofs es an ihre Brust, bedeckte es mit zärtlichen Küssen,
befühlte es vom Kopf bis zu den Zehen, und wenn sie auch noch immer
weinte, wegen der ungestillten Sehnsucht ihrer Augen, erklärte sie doch
mit mütterlichem Stolze, dafs noch kein Kind zur Welt gekommen sei, das
von den Härchen über der Stirn bis zu den Polsterchen unter den kleinen
Sohlen liebreizender hätte gewachsen sein können.
Bald darauf wurde zur Taufe geschritten. Niemals, seit Gründung der
christlichen Kirche, hatte man eine so spannende Feierlichkeit erlebt.
Denn natürlich sah auch der Hofprediger, so sehr er die Augen auch hob
und senkte, Nichts von dem Kindlein, das er gen Himmel hielt, und Alle
zitterten bei dem Gedanken, wie leicht er es fallen lassen könnte, und daß
es beim Suchen wahrscheinlich zertreten werden würde. Der ganze Hof-
staat atmete erleichtert auf, als das Prinzesslein endlich wieder am Busen
der hohen Frau Mutter ruhte. Der Name, den es erhalten hatte, war
Iii, d. h. Geheimchen auf deutsch.
Ich müßte dicke Bände voll schreiben und meine zarte Leserin noch
banger zu erregen befürchten, wenn ich getreulich berichten wollte, mit
wieviel Aengsten der Ueberwachung, des steten Verlierens und Wieder-
findens, die Wickelkindmonate ausgefüllt waren. Und gar erst von
dem Augenblick an, wo Prinzess Iii erst laufen konnte, nahm sie ihr Leben
in ihre höchst eigenen Händchen, und that wonach ihr das Köpfchen
stand. Bald war sie hierhin, bald dorthin verschwunden; denn wenn es
nicht grade in ihrem crlauchtigstcn Willen lag, sich irgendwie mündlich
bemerklich zu machen, war sie für menschliche Augen unauffindbarer
als eine Stecknadel im Heuwagen. Wenn etwas durch ihre Berührung
erst warm geworden war, wurde es unsichtbar wie sie selbst; Kleid,
Schuhe, Schmuck, Alles an ihr verschwand, sobald sic's ein Weilchen ge-
tragen hatte. Und als sie allmählich dahinterkam, wie grofse Freiheit sie
dadurch besafs, machte sie noch mehr Gebrauch davon, indem sie nach
Herzenslust alles belauschte, was man auf Erden belauschen kann.
Trotzdem, oder vielleicht auch deswegen, wurde sie artig auf ihre Art:
ein bi/schen neckisch, ein bifschen verschwiegen, aber gnädig zu jeder-
mann — und nur zuweilen ein bifschen traurig, weil keiner recht mit
ihr spielen konnte. Dann merkten manchmal die Leute bei Hofe, wie
sie vor einem der grofsen Kristallspiegel stehen blieb und leise mit sich
selbst flüsterte; doch liefs sie sich niemals darüber aus, ob sie sich selber
sähe, ob nicht.
Da sie nun immer artiger wurde — auf ihre eigene Art wiegesagt —
ersann sie endlich auch ein Mittel, sich Andern geräuschlos bemerkbar
zu machen. Sie nahm sich vor, stets eine grofse Wachskerze mit sich
zu tragen, und immer, wenn sie entdeckt sein wollte, sie anzuzünden.
Natürlich, sobald sie die Hand um die Kerze legte, verschwand diese;
aber die Flamme, weil sie den Docht nicht berührte, brannte Allen
sichtbar. Also, wenn frei in der Luft ein Licht auftauchte, dann wtustc
Jeder: da kommt Prinzess Iii.
An ihrem elften Geburtstagsmorgen trat das Prinzesschen vor Ihre Maje-
stät die Frau Mutter hin und fragte nach einigem Zögern: Liebe Mutter!
würde es dich wohl sehr beglücken, wenn du einmal ein Schnipselchen
von der sehen könntest, die seit zehn Jahren für dich unsichtbar ist? —
Ach, mein arm Herzeblatt! jammerte die schwergeprüfte Königin; wie
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sprichst du doch so unverständig! du bist ja verzaubert von einer bösen
Fee! — Ich komme mir garnicht so arm vor, Mutter! erlaubte sich
allerhöchstderen Tüchterlein einzuwenden; und gar so böse hat es die
Fee vielleicht garnicht gemeint mit mir! — Ihre Majestät überlegte schon,
ob man nicht trotz des Geburtstagsmorgens den kleinen Unverstand etwas
zurechtweisen müsse ; aber da schnipste es zweimal leise unter dem blassen
Licht in der Luft, und etwas fiel schimmernd in der Frau Königin Schoofs.
Und weil es sich losgelöst hatte von der Prinzessin, und als es nicht mehr
warm von ihr war, wurde es sichtbar wie andere Dinge; und die Frau
Königin sah auf einmal ein ganzes Bündelchen tiefschwarzer Locken.
Die hatte Klein-Ui sich abgeschnitten, damit ihre Mutter, der sie sehr
gut war, doch wenigstens eine Ahnung bekäme, was für ein schönes
Mädchen sie sei.
Aber seit diesem Geburtstagsmorgen wurde sie immer zurückhaltender.
Nur wenn man sie einfach um ihre Meinung befragte, gab sie mit
freundlicher Offenheit so eigentümliche Antworten, dafs sie dem hohen
Elternpaare zuweilen fast zu verständig erschienen. Wo lernst du nur
alle diese Dinge? konnte der König Ammisaunza sich eines Tages nicht
enthalten, die nunmehr siebzehnjährige Tochter mit väterlicher Würde
zur Rede zu stellen; du hast doch niemals Verlangen nach Büchern ge-
zeigt! — Ich blase mein Licht aus, erwiderte die Jungfrau; dann kriege
ich Dinge zu sehen, die man aus Büchern nicht kennen lernt. Ich weiß
allerlei, wovon du nichts ahnst. Wenn ich erst älter geworden bin, will
ich dir manches ins Ohr sagen, wodurch du noch gnädiger wirst regieren
lernen ! — Der edle König geruhte zu lächeln. Aber ihm war tiefernst
zu Mute.
Seine Majestät vermochte sich leider nicht länger zu verhehlen, dafs die
Prinzessin dem Alter immer näher kam, vielleicht sogar bereits darinnen
stand, in dem die tückische Drohung der bösen Fee sie jeden Tag heim-
suchen konnte, und dafs es Gottes Vorsehung versuchen hiefse, wenn man
sie weiter so frei herumgehen lassen wollte, ohne die Garantieen, die man
bei einem sichtbaren Menschen sich in Bezug auf sittlichen Lebenswandel
zu schaffen vermag. Also beschlofs das hohe Paar, sich ohne Aufschub
nach einem geeigneten Freier umzuthun, und liefe alsbald an alle Hofe
der Christenheit, soweit sie als ebenbürtig erachtet werden durften, die
zweckentsprechenden Einladungen ergehen. Es kamen auch viele edle
Prinzen, die trotz der Kunde von dem so eigenen Wesen der Königs-
tochter die sichtlichste Geneigtheit zeigten, ihrer vermutlichen Schönheit
zu huldigen und sie gcmäfs den Wünschen des allergnädigsten Eltem-
paares in fernere leibliche Obhut zu nehmen; sogar ein Kronprinz war
darunter. Aber das schweigsame Licht in der Luft schien Allen solche
Scheu einzuflöfsen, dafs selbst die Prinzen der Nebenlinien sich nicht
bewogen zu fühlen vermochten, von einer Prinzessin Besitz zu ergreifen,
deren Thun nur von Gottes Auge vollkommen kontroliert werden
konnte.
Zwar wenn sie zuweilen auf eine Frage ihr leises bestimmtes Urteil gab,
war Jeder bezaubert vom Reiz ihrer Stimme, und selbst der Kronprinz
mufste erleben, dafs ihm die Konversation danach stockte. Dies Stocken
indessen war stets so gründlich, dass Keiner, den es betroffen hatte, sich
einer dermafsen bezaubernden Antwort nochmals vor Zeugen aussetzen
wollte; weswegen sich nach und nach alle entschlossen, der dringenden
Staatsgeschäfte halber bei nächster Gelegenheit Abschied zu nehmen.
Dann schien sich jedesmal in der Luft, sobald die Thür sich hinter den
edlen Prinzen schlofs, ein fast lautloses Kichern zu regen, sodafs in dem
König Ammisaunza der unumstößliche Verdacht aufstieg, die böse Fee
sei unsichtbar immer zugegen und weide sich an der Vereitelung seiner
vortrefflichsten sittlichen Schutzmaßnahmen. Schliefslich begann der er-
fahrene Herrscher es fast schon ernstlich zu bereuen, dafs er dem An-
liegen der rachsüchtigen Schönheit damals so undiplomatisch begegnet
war; aber in seiner bewährten Weisheit mufste er sich zugleich gestehen,
dafs diese Reue, wie ernst sie auch wäre, um seine besten Mannesjahre
zu spät eintrete, und immer gramdurchfurchter verneigte er sich vor den
sich höflichst empfehlenden Freiern.
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ZUR selben Zeit diente im königlichen Palais ein armer Junker, ein Frei-
herr v. R i 1 y , bei der Leibgarde Seiner Majestät als Leutenant. Es mufs
gesagt werden, dafs dieser junge Mann, mit dem ich meine zarte Leserin
aus Gründen der historischen Wahrheit zu meinem Bedauern nicht ver-
schonen darf, über höchst glückliche Anlagen verfügte, Leibes wie der
Seele. Leider aber machte er nicht denjenigen ernsten Gebrauch von
ihnen, der sich für einen gewöhnlichen und nicht einmal wohlsituiertcn
Freiherrn grundsätzlich geziemt haben würde. Statt seine Begabung
höheren Ortes gefällig und würdevoll geltend zu machen, gefiel er sich
darin, eine durch nichts gerechtfertigte sorglose Vergnügtheit zur Schau
zu tragen und seine Tugenden geflissentlich zu bemänteln. Wenn ihn
sein Wagemut einmal antrieb, irgend ein Heldenstück zu verrichten, so
gab er sicher nachträglich vor, eine Wette sei der Anlafs gewesen; und
wenn er jemandem eine Gurthat erwies, dann hüllte er sie in einen Spaß.
Natürlich war das nicht der Weg, um sich den Beifall seiner Vorgesetzten
zu erwerben, und allgemein prophezeite man ihm eine entsprechend
schlechte Carriere.
Trotzdem — bei aller schuldigen Ehrerbietung darf ich aus den er-
wähnten Gründen zu meinem Bedauern auch dies nicht verschweigen
— nahm Prinzess Iii seltsamerweise ein stetig wachsendes Interesse
an diesem absonderlichen Gebahren; und bald verging kein Tag, an dem
sie nicht mehrere Stunden lang in der Umgebung des Junkers weilte,
wohlverstanden nachdem sie zuvor das Licht ihrer Kerze ausgelöscht
hatte, und fraglos nur um zu ergründen, warum dieser Jüngling so
hartnäckig sein Bestes vor den Leuten verbarg. Selbst angenommen
aber, dafs sie noch andere törichte Dinge hätte an ihm erforschen wollen,
so darf nicht übersehen werden, dafs die erlauchtigste Prinzessin durch
die Verzauberung der bösen Fee immerhin einigermafsen berechtigt war,
gewisse wesentliche Punkte der menschlichen Beschaffenheit mit anderen
Blicken zu betrachten, als es bei sittsamen Jungfrauen ihres Alters im
allgemeinen üblich sein dürfte.
Denn da sie niemals Grund gehabt hatte, sich wegen ihres eigenen Körpers
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und der ihm anhaftenden Gliedmaßen vor irgend einem Menschen zu
schämen, so konnte sie sich naturgemäfs auch die Betrachtung fremder
Glicdmafsen nicht als ein sündiges Ergetzen anrechnen. Also ging sie
denn Tag für Tag von den ihr leider zu wenig natürlichen Hoflcuten
weg, über den Schlofshof, bis zu dem abgelegenen Gartenhäuschen, in
dem der Freiherr einquartiert war; dort nahm sie heimlich irgendwo
Platz und beobachtete ihn und freute sich an ihm.
Gleichwie man vom Abendwind angenehm erregt wird, ohne ihn doch
zu sehen, weil er den Duft von Blüten mit sich bringt, so ward nun bald
auch Junker Rily durch Prinzess Iiis Kommen bewegt Er hatte solchen
Spürsinn dafür, dafs sie schon nach der ersten Woche ihm nicht mehr,
wie sonst jedem Menschen, selbst ihrer erhabenen Frau Mutter, unbemerkt
nahetreten konnte. Sie mochte noch so leise kommen, und noch so be-
hutsam ohne Licht: er merkte sofort, dafs sie da sei. Und wenn er auch,
seiner Gewohnheit nach, von seinen Gefühlen nichts zeigen wollte, so
sah sie doch jedesmal deutlicher, wie ihm die Lust, ihr noch näher zu
kommen, jählings das Blut ins Gesicht trieb.
Bei ihrer gnädigen Gesinnung konnte sie gegen diesen Zustand nicht lange
unempfindlich bleiben, und als sie das nächste Mal zu ihm kam, bedeckte
sie plötzlich sein Gesicht mit ihren Händen und flüsterte: Du lieber,
stiller, stolzer Mensch du! was sagst du denn nie ein Wort zu mir?'. — Und
als Herr v. Rily verwirrt zurückgab : was soll ich denn sagen, du Unfafs-
bares! — da lachte sie leise und neckte ihn: Oh, nur die Wahrheit, du
Ungeschickter! du schämst dich wohl gar einzugestehen, wie gerne du
mich anfassen möchtest! — Und dabei klopfte ihr unsichtbares Herz so
dicht an dem seinen und so stürmisch, als wollte es hinein zu ihm.
Dem armen Junker fiel selbstverständlich ein, wie hoch sie über ihm
stand in der Weit, und welcher Abgrund sie von ihm trennte, wenn
anders er nicht die heiligsten Güter der guten Gesellschaft gefährden
wollte, und deshalb — was freilich bei seiner Gemütsart nicht eben über-
raschen kann — hielt er sie doppelt fest an sich gedrückt und brach in
die ebenso unsinnigen wie etikettewidrigen Worte aus: Ach Iii, ichmöcht'
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dich ewig so halten! — Unerklärlicher Weise fand die Prinzessin Gefallen
an seiner Exaltation, sodafs sie aufs neue zu lachen geruhte und ihm zu
wiederholten Malen seine flaumbärtigen Lippen küfste. O Rily, be-
liebte sie zu jauchzen, du kannst mich nicht sehen und willst mich
doch haben?! — Du kannst mein Herz ja auch nicht sehen, erwiderte
der verwegene Junker, und kennst es doch und willst es haben!
Da küfste sie ihn noch zärtlicher, und löste ihr Haar auf und sagte innig:
Komm, lerne auch mein Gesicht so kennen ! — Sie nahm seine Hände und
legte sie sanft auf ihre noch niemals gesehenen Augen. Junker Rily er-
schauerte über und über, als er die langen feinen Wimpern in seinen
Handflächen zucken fühlte. O sag mir, wie fühlst du mich? fragte sie
bebend ; bis jetzt hat noch kein menschlicher Mund von meiner Schönheit
zu mir gesprochen! — Der Junker bewegte tastend die Hände, wie ein
Blinder der liest, und murmelte trunken:
Deine Augen thun wohl wie der Schatten im Sommer. Deine Lippen
sind warm wie die Rosen im Juli. Um deine Wangen ringeln sich deine
Haare, als möchten sie meine Finger umranken, und deine Augenbrauen
berühren sich. Ich lege den Finger in dein Ohr und fühle dein Blut bis
unter mein Herz. Ich habe dein Gesicht schon gekannt, als ich noch
kindlich durchs Haidekraut lief und hinter den Birken die Waldfee suchte.
Ich schließe die Augen und sehe dich.
Ich müfste abermals dicke Bände voll schreiben, wollte ich cinigermafsen
ausführlich berichten, wie die Prinzessin sich unter dem Bannfluch der
bösen Fee nun immer mehr durch die Narreteien des pflichtvergessenen
Leutnants umgarnen liefs. Oft kam sie sogar des Abends zu ihm, und
nahm keinen Anstand sich an sein Bett zu setzen; und wenn er einmal,
vom Dienst ermüdet, zufällig bereits im Schlafe lag, weckte sie ihn mit
ihrer lieblichen Stimme. Dann war Herr v. Rily skrupellos genug, ihr
obendrein noch vorzuschwärmen, es kreisten Sonne, Mond und Sterne
um sein Lager. Und wenn er vor dem Palais die Nachtwache hatte,
wartete er bei den Kletterrosen, die unter den Fenstern von Prinzess Iii
die ganze Mauerwand bedeckten, bis sie mit ihrem Licht oben winkte;
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dann schwang er sich an dem Spalier zu ihr hoch und brachte ihr stets
die roteste Rose mit, und hing dann oben am Fenstersims, von ihren
Armen und Lippen gehalten.
Weil sie indessen nicht lediglich Küsse tauschten, sondern auch viel mit
einander flüsterten, konnte es endlich gottlob nicht ausbleiben, dafs eine
alte scharfohrige Frau sie horte, die von dem edlen König Ammisaunza
zur Ueberwachung seiner so unglückselig verzauberten Tochter angestellt
war. Dies alte Weib also liefs sich am nächsten Morgen zu Seiner
Majestät ins Sprechzimmer führen, und meldete dorten unter vier Augen,
dafs sich zuweilen nach Mitternacht im Schlafzimmer des erlauchtigsten
Fräuleins die Stimme eines Mannes vernehmen lasse, und ein Geräusch
wie von Vögeln, das aus dem Rosenspalier am Fenster zu kommen
scheine.
Als König Ammisaunza das hörte, erfaßte ihn ein solcher Sehrecken,
dafs er all seine sittliche Würde auf einige Zeit beiseite setzte und sich
die folgenden Nächte hindurch hinter eine geheime Tapetenthür stellte,
um allerhöchsteigenohrig zu prüfen, von welcher Art die erwähnten Ge-
räusche seien und wie man dagegen einschreiten könne. Und wirklich,
in der dritten Nacht mufste der edle König mitanhören, dafs seine Tochter
sich hastig vom Bette erhob und lebe das Fenster öffnete, und dafs sich
Jemand das Rosenspalier zunutze machte, und wie dann sogleich ein Ge-
räusch begann, das nur von Küssen herrühren konnte. Und dieses Ge-
räusch war so anhaltend, dafs sich dem König die Haare sträubten, vor
Furcht was noch weiter erfolgen könnte. Also beschlofs er, unverzüglich
seinem Vaterzorn freien Lauf zu lassen, stiefs die Tapetenthür auf und
schrie: du schamlose Bübin, was treibst du da! — Aber im nämlichen
Augenblick bekam er so einen Stoß vor die Brust — oder genauer aus-
gedrückt, vor die erlauchtigste Magengegend — dafs seine geheiligte
Person, vollkommen dem Gleichgewicht entsagend, sich eilends auf den
Fufsboden setzte und eine Weile dort sprachlos verharrte.
Denn Herr v. Rily, wohl in der Meinung, irgend ein niedriger Horcher
wolle die Ehre seiner Prinzessin antasten, hatte sich nicht erst Zeit ge-
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nommcn, das Antlitz Seiner Majestät gewissenhaft zu recognoscieren ;
sondern leichtfertig wie er war, hatte er den besagten Stols mit solcher
blinden Gewalt geführt, daß er fast selber vom Fenster stürzte und nur
durch einen geschickten Sprung mit heilen Gliedern zur Erde kam. Da
aber Seine Majestät den Frevler sehr wohl erkannt hatte, so nützte seine
Geschicklichkeit ihm nichts, und tagsdarauf erfuhr man durch die haupt-
städtischen Zeitungen, dafs der von jeher übel berüchtigte Freiherr v. Rily,
Leutnant der königlichen Garde, gefänglich eingezogen sei und wegen
hochverräterischen Vergehens demnächst vor das Kriegsgericht kommen
werde. Bei den Antecedentien des Leutnants konnte dies niemanden
Wunder nehmen oder zu Nachforschungen bewegen, und dadurch wurde
zum Glück verhütet, daß Näheres über den peinlichen Vorfall in die
sozialdemokratische Presse gelangte.
Nichtsdestoweniger fühlte der edle König sich keineswegs im Herzen
erleichtert. Zwar hatte er nach dem verwegenen Angriff auf sein er-
habenes Gleichgewicht mit tiefer Befriedigung konstatiert, daß seine
Tochter noch unsichtbar war; aber die Angst, sie könnte da eines Morgens
stehen, leibhaftig mit all ihren Körperteilen und mit der entblätterten Blume
des sittlichen Adels, verließ ihn keinen Augenblick mehr. Sie ist bereits
auf dem besten Wege! sagte er sich in Einem fort; und wenn die Wände
auch Ohren haben, so haben dieselben doch keine Augen, wenigstens
nicht im Hinblick auf sie. Was soll ich ehrsamer König nur thun,
um nicht in meinem eignen Palais mein Fleisch und Blut entwürdigt
zu sehen! — Da, mitten in diese schwere Bedrängnis, Hei wie ein Stern
aus dem Füllhorn der himmlischen Gnade die Botschaft von einem neuen
Freier, den man bis dahin noch garnicht in Rechnung gezogen hatte.
Es war ein regierender Herzog aus sehr altem Hause, und es verlautete
mit Bestimmtheit, Seine Hoheit sei ganz captiviert von der Vorstellung,
einmal den seltenen Reiz zu kosten, den eine unsichtbare Schönheit
seines Erachtens garantiere.
Der edle König Arnmisaunza begoß diese Nachricht mit Freudenthränen.
Nicht nur, dafs der Herzog bereits in jenen reiferen Jahren stand, die eine
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tugendhafte Ehe von vornherein wahrscheinlich machen, sondern man
rühmte auch allgemein den reichen Erfahrungsschatz Seiner Hoheit, ganz
iu geschweigen der vielen andern Regententugenden, die sich zum Wohle
der unerfahrenen Königstochter in seinem Busen vereinigt fanden. Und
da sein Herzogtum überdies nicht allzu beträchtlichen Umfanges war,
stand auch in diplomatischer Hinsicht nach keiner Seite hin zu befürchten,
dafs durch die Personalunion das Einvernehmen der Grofsmächte über
das europäische Gleichgewicht im Erbschaftsfalle gestört werden könnte.
Demnach, als in der That von Seiten des Herzogs die Anfrage eintraf, ob
er des hohen Genusses teilhaftig zu werden hoffen dürfe, dereinst von
Seiner Majestät als Dero Eidam umarmt zu werden, iiefs Ammisaunza
ihm huldvollste Grüfse entbieten und fügte ein allerhöchsteigenes Hand-
schreiben mit der entsprechenden Einladung bei. Zur innigen Freude
des edlen Königs und Ihrer Majestät der Frau Königin stieg Seine Hoheit
dann auch in Bälde mit grofsem Gefolge bei Hofe ab, u. a. mit seinem
vertrautesten Leibarzt und einem eigens für seine Nerven konstruierten
Elektrisierapparat.
TROTZ all dieser Sorge um ihre Wohlfahrt verharrte inzwischen die
Prinzessin bei ihrem bedenklichen Lebenswandel. Sic ging noch öfter
als sonst ohne Licht aus und brachte dem staatsgef ahrlichen Junker die ver-
botensten Dinge ins Gefängnis: Feilen, Strickleitern, Geld und Rasierzeug,
sogar einen Dolch und einen Revolver, damit er sich mit Gewalt oder
List der gerechten Strafe entziehen könne. Anstatt aber die Gelegenheit
wahrzunehmen, vielleicht noch irgendwo aufser Landes ein nützliches
Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden, war Herr v. Rily so
anmafsend, seinen Richtern durchaus seine Unschuld beweisen zu wollen,
und lehnte jeden Fluchtversuch ab. Natürlich geriet er dadurch erst recht
in eine hilfsbedürftige Lage. Denn nachdem er vergebens acht Tage lang
auf seine Vernehmung gewartet hatte, wurde er in geheimer Sitzung, vie
es die Rücksicht auf das Staatswohl und auf die Disziplin, erheischte, un-
gehört zum Tode verurteilt und bis zur Vollstreckung dieses Urteils in
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eine so engvergitterte Zelle gebracht, dafs selbst für den schlankesten
Gardeleutnant keine Möglichkeit des Entkommens war.
Seltsamerweise schien Prinzess Iii nicht im geringsten durch alldas be-
kümmert. Zwar meinte ihre hehre Frau Mutter, welche zuweilen unver-
sehens das Boudoir ihrer Tochter betrat, einmal ein leises Geräusch zu
vernehmen, als fielen Thräncn auf eine Tischplatte; aber da unmittelbar
darauf ihr unsichtbares Lachen ertönte, mufste es wohl ein Irrtum gewesen
sein. Jedenfalls schien ihr die Werbung des Herzogs ein wahres Vergnügen
zu bereiten; denn als Seine Hoheit sich vor ihr verbeugte, beleuchtete
sie sein würdiges Haupt sehr eingehend mit ihrer Kerze, und sagte, sie
fühle sich wirklich geschmeichelt. Tiefgerührt drückte das hohe Eltern-
paar, ihr im Geheimen Alles verzeihend, dem künftigen Eidam beide
Hände und that in Eile die nötigen Schritte zur feierlichen Begehung der
Hochzeit.
Indessen drang dem gefeierten Gaste allmählich doch ein Geflüster zu
Ohren, die seltsame Braut sei im Grunde durchaus nicht so willfährig,
dafs man bei der Unmöglichkeit, sie ohne ihr Licht überhaupt zu ent-
decken, sich ihrer in Ruhe werde erfreuen können. So kam es, dafs bei
dem nächsten Familienabend Seine Hoheit ein merkliches Rheuma zeigte
und im Verlaufe der Unterhaltung auch jene dringlichen Staatsgeschäfte
berührte, die einen gewissenhaften Regenten zuweilen plötzlich nachhause
rufen. Der edle König Ammisaunza liefs vor Bestürzung beinahe die
Thcetasse fallen, zumal er wiederum neben sich das fast lautlose Kichern
zu hören glaubte, das ihm die stete Gegenwart der bösen Fee immer mehr
verbürgte.
In seiner Verzweiflung entschlofs er sich, den Herzog nach Tisch beiseite
zu nehmen und ihm Mitteilung von dem zu machen, was er bisher noch
vor Jedermann, selbst Ihrer Majestät der Frau Landesmutter, die vielen
Jahre hindurch verheimlicht hatte: unter welcher zweideutigen Bedingung
die Fee ihm Aussicht gelassen habe, dafs seine Tochter einst sichtbar
werden könne. Seine Hoheit, aufs äußerste interessiert, liefs sich zunächst
den ganzen Hergang nebst der Bedingung noch Einmal erzählen. Dann,
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während ein tief mitfühlendes Lächeln seine erfahrenen Lippen umspielte,
sagte er mit vibrierender Stimme: Euer Licbden volle nicht länger besorgt
sein! man möge doch diese mechante Fee in ihrer eigenen Schlinge fangen!
Wenn Dero Weisheit bewirken wollte, dafs Dero Tochter mir in der
Nacht, bevor wir die heiligen Ringe wechseln, willig ihr keusches Schlaf-
gemach öffnet, so glaube ich garantieren zu dürfen, dafs sich die frag-
liche Bedingung in allen Ehren erfüllen wird. Es ist sans phrase Christen-
pflicht, die liebe, schändlich verfolgte Unschuld zum Hochzeitstage sicht-
bar zu machen.
Dem schwergeprüften edlen König fiel eine Zentnerlast vom Herzen. Er
drückte den würdigen Schwiegersohn einmal ums andre an seine Brust,
und sie vereinbarten definitiv, dafs die Vcrmählungsfeierlichkeiten schon
in der folgenden Woche stattfinden sollten. Aber sein väterliches Gemüt
geriet nun erst auf den Gipfel des Kummers. Kaum hatte er sich zur
Ruhe gelegt, als ihn das furchtbare Bangen befiel, seine Tochter möchte
ihm doch noch zuvorkommen und anderweit den Schritt begehen, der
sie zum heiligen Stande der Ehe dann dauernd untauglich machen würde.
Denn wenn sie jetzt plötzlich sichtbar würde, konnte dem Herzog nicht
zweifelhaft bleiben, was vorher dazu geschehen sein mufste, und selbst-
verständlich war dann die Aussicht, sie standesgemäß zu verheiraten,
für alle Ewigkeit dahin.
Den ganzen nächsten Tag über, und wieder bis in die Nacht hinein, be-
fand sich König Ammisaunza in diesem beklagenswerten Zustand. Endlich,
auf seinem schlaflosen Lager, als er sich schon den Wachsstock anzünden
wollte, um Ihre Majestät die Frau Königin gleichfalls in Alles einzu-
weihen, kam ihm wie eine Erleuchtung von Oben die wahrhaft erlösende
Idee, dem Herzog das Zimmer der Prinzessin bereits am folgenden Tage
zu öffnen, natürlich erst gegen Mitternacht, und zu derselben Stunde das
Urteil an dem gefährlichen Leutnant vollstrecken zu lassen. Mit dem Ent-
schlüsse, am andern Morgen die Hinrichtungsordre zu publizieren, ließ er
den Wachsstock unangezündet und gab sich selig dem Schlummer hin;
seit Jahren hatte der edle König keinen so ruhigen Schlaf genossen.
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Der Abend des Folgenden Tages kam; Primess Iii schien fröhlicher denn
je. Nur als man am Familientisch das neueste Regierungsblatt mit sämt-
lichen allerhöchsten Erlassen in schweigender Ehrfurcht herumgehen
ließ, zitterte einen Augenblick ein wenig das blasse Licht in der Luft;
dann aber lachte sie fast übermütig. Nachdem man sich vom Thee er-
hoben und allerseits huldvollst empfohlen hatte, begleitete der König
seine Tochter mit immer hoheitsvolleren Schritten bis an die Thür
ihres Schlafgemaches und sprach dort in ergreifendem, von tiefer Rührung
verschleiertem Tone:
Mein liebes Kind! Ich glaube dir nicht erst beweisen zu brauchen, dafs ich
von jeher dein Bestes im Auge hatte. Thue also, was ich dir sage, damit es
dir wohlgehe und du lange lebest auf Erden. Siehe, ich werde mit eigener
Hand dein Zimmer von außen abschließen, und wer heute Nacht dich be-
suchen sollte, der muß meinen eigenen Siegelring tragen, widrigenfalls er
ein Staatsverbrecher und gottvergessener Schandbube ist. Trägt aber derselbe
meinen Siegelring, so habe ich selber denselben an seinen Finger gesteckt,
und dann willfahre diesem in Allem, was er auch immer von dir verlangt,
so voll und ganz, als wenn ich selber dasselbe verlangte. Dann wird
Gottes Gnade sichtbarlich werden und die Verzauberung von dir nehmen,
die dich seit Kindesbeinen umstrickte; und keine böse schamlose Fee
wird dir die Freude mehr rauben dürfen, daß Jedermann dich betrachten
kann. Und höre, was ich dir hiermit verspreche, bei meinem gesalbten
Haupte schwöre ich dir 's: wenn du nach soviel gramvollen Jahren nun
deinen alten Eltern den Trost bereitest, daß unsre Augen dich morgen
früh in holder Scham erröten sehen, dann sollst du dir von mir wünschen
dürfen, was immer dein Frauenherz begehrt — ich will es dir geben, bei
Meiner Ehre, und war's die Hälfte von meinem Königreich! —
Und damit ließ er die Unsichtbare, sein gramdurchfurchtes Antlitz senkend,
in ihr jungfräuliches Zimmer treten und zog den Schlüssel hinter ihr ab.
Dann ging er sinnend zu der alten Aufwartefrau, die so vertrauenswürdig
zu lauschen verstand, und sagte ihr leutselig ins Ohr: Wenn die Prinzessin
sich ausgezogen hat, so nehmen Sie schleunigst ihre Kleider, auch Schuhe
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und Strümpfe, mit aus dem Zimmer, damit sie nicht etwa zu fliehen ver-
sucht. Und ebenso schleunigst schließen Sie dann — hier haben Sie den
Schlüssel — das Zimmer von aufsen hinter sich zu und bringen mir den-
selben zurück! — Und in der That, als Prinzess Iii .das Licht ihrer Kerze
ausgelöscht hatte, nahm ihr die brave alte Frau sämtliche Kleider vom
Bettstuhl weg, sodafs sie nur ihr Hemd anbehielt, und schloß dann doppel:
von aufsen ab. Und etwa eine Stunde später, als in dem Palais Alles
dunkel war, begab sich König Ammisaunza zu den Gemächern des Her-
zogs hinüber.
Einen Augenblick stutzte er vor der Thür, weil er ein schauriges Schnurren
vernahm. Doch bald erkannte der lauschende Herrscher, daß Seine
Hoheit sich elektrisierte, und hochbefriedigt wartete er, bis der gewissen-
hafte Eidam sein Nervensystem geordnet hatte. Hierauf umarmte er ihn
schweigend, drückte ihm erst seinen Siegelring und dann den Schlüssel
in die Hand, und mit verständnisinnigem Blick ihm eine gute Nacht
wünschend, verschwand er eiligst
INZWISCHEN war aber die Prinzessin, sobald sich die Schritte der braven
Alten im Korridor verloren hatten, leise von ihrem Bett aufgestanden
und hatte jenes Fenster geöffnet, an dem sie so oft von ihrem Junker zur
selben Stunde geküfst worden war. Da stand sie nun einsam im bloßen
Hemde und atmete zaudernd den Rosenduft der stillen warmen Sommer-
nacht. Es war, als ob sie eine Stärkung daraus schöpfte; und wie von
Zauberkraft getrieben, schwang sie sich über das Fensterbrett und kletterte
das Spalier hinab, bis ihre nackten Füße unten das frische grüne Gras
berührten.
Sie huschte über den dunklen Schloßhof, bis zu den tiefer gelegenen
Höfen, wo die Gebäude des Marstalls begannen. Der Ziehbrunnen ragte
in die Luft wie ein verstümmelter Wegweiser. In den gefüllten beiden
Eimern, die auf dem Rande stehen geblieben waren, schwankte das
schwarze Wasser und Mondlicht. Als sie noch einmal danach zurücksah,
fuhr plötzlich eine graue Hand über den Spiegel des einen Eimers, und
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ein entsetzlich bleicher Kopf sperrte den Mund auf nach den Tropfen,
die glitzernd um seine Kinnbacken sprinten. Ihr war, als hätte sie den
Tod vom Wasser des Lebens schlürfen sehen.
Am westlichen Vorsprung des Fesrungsturmes mufste sie einige Stufen
hinunter. Da brannte im Schatten des Mauerwinkels das trübe Licht
einer Handlaterne, und zwei Soldaten mit Hacke und Spaten machten
daneben eine Grube. Prinzess Iii blieb stehen und starrte hinein. Die
Erde, die ausgeschaufelt wurde, rollte auf ihre nackten Füße. Die Grube
war schon groß genug, daß grade ein Mann darin liegen konnte. Es
wird bald Mitternacht schlagen ! sagte der eine der Grabenden. Sie faßte
schaudernd ihr Hemd zusammen und eilte weiter. Sie kam an die
Gefangniswache. Sic huschte zwischen den beiden Posten, deren geschul-
terte Gewehre im Gaslicht des Thorbogens funkelten, unhörbar durch;
und endlich stand sie vor der Zelle, in der Junker Rily sein Schicksal er-
wartete.
Sie drückte sich an die Wand des Ganges, und bat sich selber um Geduld.
Sie wußte, bald mußte der Wärter kommen und ihm die Henkersmahl-
zeit bringen; sie zitterte. Als sie ihr Ohr an das Thürschloß legte, hörte
sie drinnen ruhige Atemzüge. Und Prinzess Iii freute sich, daß dieser
unbotmäfsige Mensch in dieser Stunde noch schlafen konnte. Da kam
der Wärter und brachte das grausige Mahl. Er öffnete leise die schwere
Thür, um den Gefangenen nicht zu wecken, und setzte das Geschirr auf
den Tisch. Und dabei seufzte er unwillkürlich, daß ein so kräftiger
junger Mann sich so strafwürdig vergangen hatte.
Während er noch so stand und mitleidig war, saß Prinzess Iii schon auf
dem Stuhl neben dem Bette des Herrn v. Rily und sah in sein schlafendes
Gesicht. Und kaum war der Wärter zur Zelle hinaus und hatte wieder
abgeschlossen, als sie die Lippen des Schlafenden ihren Namen flüstern
hörte. Da bückte sie sich und legte ihr Haupt neben das seine auf das
Kissen, und küßte ihn, wie man Blumen küßt. Und da legte sich sein
Gesicht an das ihre, gleichwie ein Blütenblatt an das andre, und eine
wachwerdende Stimme sprach: Bist dus denn wirklich, Iii, Meine?
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Ich bin' s, Ri! gab sie bebend zurück, und obgleich nun Jener völlig
erwachte, entblödete er sich nicht zu bemerken: ich wußte, dafs du
kommen würdest. Auf einmal fuhr er heftig zusammen, denn heiße
Thränen fielen auf seinen Mund, und auf dem Kissen wurde ein Blut-
fleck sichtbar. Bist du verwundet, Li? stammelte er. Wer hat es gethan?
fragte er wild. Sie aber umschlang ihn mit beiden Armen, und er spürte
ihr Lachen, als sie erwiederte: Die Rosen, die du heraufstiegst zu mir, die
thaten's, als ich hinabstieg zu dir! — Da umschlang auch der Junker die
Prinzessin, und er fühlte, wie dünn bekleidet sie war. In diesem Augen-
blick schlug es Mitternacht draufsen, und Waffengeklirr kam die Treppen
herauf, und dröhnende Schritte näherten sich. Und Prinzess Iii sagte sich,
dafs die Minute gekommen sei, wo sie von ihrer Verzauberung den
gnadenreichsten Gebrauch machen könne.
Und ehe ihr Junker noch recht wufste, was sie bezweckte und wie ihm
geschah, war sie zu ihm ins Bette geschlüpft und hatte sich ganz auf ihn
hingelegt. Vom Mund bis zu Füfsen bedeckte sie ihn, und indem sie
noch ihre dichten Locken bis über sein Haar ausbreitete, flüsterte sie,
fest an ihn gepreßt: Rühre dich nicht, damit dein Körper ganz warm von
mir wird und unsichtbar! Und da knarrte auch schon der Schlüssel im
Schloß, und die Wachmannschaften stießen die Thür auf — und sahen
nichts als ein leeres Bett und eine verlassene Zelle. Sie suchten noch
unter dem ßcttgestcll nach, dann stürmten sie schreiend und fluchend
hinaus, der Gefangene sei zum Teufel gegangen, und verteilten sich eiligst
nach allen Seiten, um ihn womöglich noch einzuholen. Herr v. Rily,
dem an der Brust seiner Herrin zum Sieden heiß geworden war, begann
am ganzen Leibe zu zittern, und während es draußen stille wurde, klopfte
sein Herz so laut wie ein Specht. Laß mich los, mein Himmlisches! bat
er flehend; laß uns fliehen, sie haben die Thür aufgelassen.
Nein — hielt sie ihm flüsternd und lachend den Mund zu — bleib nur
•im Nest, du wilder Vogel! Wenn du jetzt mit mir ausfliegen wolltest,
dann würden sie dich sehen und greifen. Morgen früh wird die Thür
auch noch offen sein, dann aber wird niemand mehr vermuten, daß du
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noch hier in der Nähe bist, und ich kann dich verkleiden und mit dir
fliehen. Und als nun der Junker noch heftiger zitterte, küTste sie ihn
und sagte beklommen: Du bist auch garnicht ruhig genug. Zur Flucht
mufs man ruhig, ganz ausgeruht sein. Komm, lege dich still in meine
Arme und laß uns erst zusammen schlafen. Da legte er sich in ihre
Arme, und plötzlich seufzte er tief: ach Iii — und daraufseufzte sie tief:
ach Rily — und also schliefen sie zusammen.
Am andern Morgen in der Frühe, als König Ammisaunza vernahm, wie
oft der Herzog das Bett der Prinzessin vergebens nach ihr abgesucht hatte,
und als er Überdies noch erfuhr, dafs Herr v. Rily verschwunden sei,
kam er in großer Hast nach der Zelle, ohne Begleitung und schlimmster
Ahnungen voll. Und warlich, da lag der Junker und schlief, als ob er
im siebenten Himmel wäre; und neben ihm Eine, so hold wie ein
Mädchen und doch wie eine junge Frau. Die sah halb aus wie
die Königin, d. h. wie sie ehmals gewesen war, und halb wie die böse
schwarzlockige Fee; daher der König nicht zweifeln konnte, dafs er sein
eigenes Kind vor sich habe. Und als er noch voller Bestürzung stand
und sich die Sachlage überlegte, wachten die Beiden gleichzeitig auf und
sahen einander entzückt in die Augen. Und siehe, auf einmal hob die
Prinzessin die Hand zu dem schändlichen Junker hin und zupfte ihn am
Zipfel des Ohres. Da ergrimmte der König Ammisaunza und schlug sich
stöhnend die Vaterbrust; und da bemerkte ihn seine Tochter.
Einen Augenblick lag sie wie gelähmt, dann warf sie sich wieder
über den Junker, in der Meinung, ihn unsichtbar zu machen. Als aber
der starre Blick des Königs nach wie vor an ihr haften blieb, ging
ihr ein Licht auf und sie rief: O Vater, siehst du mich wirklich leib-
haftig?! — Ja, Dirne, ich sehe dich! mehr als zuviel! schrie Seine Maje-
stät aufser sich; Dich mitsamt deinem zuchtlosen Buhlen! — Die Prinzessin
errötete über und über, und der Freiherr wollte vor Wut aufspringen.
Abcr^sie hielt ihn zu fest umschlungen, und indem sie sich mit dem an-
dern Arm die Bettdecke bis ans Kinn hochstreifte, sagte sie lächelnd:
lieber Vater Dann holte sie Atem und fuhr fort: Da du mich also
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wirklich siehst, so wünsche ich mir als Hochzeitsgabe hier diesen meinen
lieben Herrn Rily! Mit ihm will ich gern an den Altar treten — noch
heute, wenn es dein Wille ist — und werde mich reicher dadurch fühlen
als durch dein ganzes Königreich 1
Da erinnerte sich der edle König, dafs er sein Wort verpfändet hatte,
und er erkannte in seiner Weisheit, dafs unter den obwaltenden Um-
ständen fraglos die sittliche Pflicht vorliege, dasselbe voll und ganz zu
halten; und deshalb hört meine Geschichte jetzt auf. Hätte der König
Ammisaunza von vornherein so ruchlos gehandelt, wie leider die meisten
Ehemänner, und der bösen Fee gleich ihren Willen gethan, so wäre ich
nicht genötigt gewesen, von soviel Sorge und Leid zu berichten. Dann
aber wäre Prinzess Iii wohl überhaupt nicht zur Welt gekommen, und
meine zarte Leserin nicht zu dem versprochenen wonnigen Ende.
Wer also bis hierher gelesen hat, dem muß es wohl ernstlich gefallen
haben, wie unentwegt der edle König den Pfad der Tugend wandelte.
Und wem es nicht gefallen hat, der möge sich ruhig darüber entrüsten.
UEBER DEN VON ALLEN SCHOSSHUEND-
CHENS ZU BEKLAGENDEN ABSCHIED EINES
ARTIGEN JOISIE/ VON BRANDENBURG.
KOMMT, ihr artigen Charmanten,
Mit den spielenden Piaissanten,
Und beklaget eure Noht:
Seyd betrübet, ihr Brunellen,
Nebst Amours und Forabcllcn!
Euer Joisie ist todt.
Lasset tausend Hündchens preisen,
Und wie etwas rares weisen,
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Die ein Frauen-Zimmer liebt;
Dennoch wird die Frage fallen,
Ob es unter diesen allen
Zweene seines gleichen giebt.
Erstlich war ihm keine Schande,
Dass er von dem Vater-Lande
Nicht ein Bologneser hiess;
Weil das Glück, ihm liebzukosen,
Bey den edlen Vernau-Rosen,
Ihn die Welt erblicken licss.
Die Geburts-und Lebens-Stunde
Fiel, mit allerbestem Grunde,
In die schöne Frühlings-Zcit ;
Denn sie muste prophezeyen
Von dem künftigen Gedeyen
Seiner lust gen Artigkeit.
Was die Eltern anbelanget,
Hat er mit dem Ruhm gepranget,
Dass man von ihm sagen kann,
Wie er seine Vater kannte,
Welchen ehemals Servante,
Als die Mutter, lieb gewann.
Beyde wird man besser kennen,
Und vollkommen artig nennen,
Wenn man sich vor Augen stellt,
Wie der Wahrheit ähnlich scheine,
Dass ein Apfel insgemeine,
Nicht zu weit vom Stamme fällt.
Weisslich waren seine Glieder,
Aber dennoch hin und wieder
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Etwas bräunlich untermischt.
Seine Munterkeit im Scherze,
Hat in Wahrheit manches Herze
Zum Vergnügen angefrischt.
So viel ungemeine Gaben
Wollten einen Titel haben,
Der sich reimte mit der That;
Dieses ist der schöne Name,
Da ihn eine kluge Dame
Joisie genennet hat.
Unter dreyen, die gebohren,
Ward dies Hündchen auserkoren,
Und des Glückes Favorit,
Da im Gegentheil die andern
Mussten nach dem Dorfe wandern,
Wo man ihren Vater sieht.
Alle Tugenden zu loben,
Wird notWcndig aufgeschoben,
Denn es fehlet an der Zeit;
Doch nur etwas zu berühren,
Und die grössten anzuführen,
Heisset Pflicht und Schuldigkeit.
Kann die Dankbarkeit auf Erden
Sonsten kaum gefunden werden ;
War sie doch sein grösster Ruhm.
Muss die Treue sich verkriechen;
Hatte sie doch Joisiechen,
Gleichsam als ein Eigenthum.
Denn man sähe dieses Hündchen
Nimmermehr ein viertel Stündchen
Ausser dem gewohnten Schoss,
Da es konnte sicher liegen,
Und beständig mit Vergnügen
Lebens Unterhalt genoss.
Niemand wird dawider streiten,
Dass es auch zu allen Zeiten
Die Zufriedenheit geliebt,
Und sich freundlich angestellet,
Da hingegen mancher bellet,
Wenn man ihm zu wenig giebt.
Seine Künste zu erzählen,
Mögtcn wohl die Worte fehlen,
Wenn er etwas mehr geleb't;
Aber die gethane Reisen
Muss ein jeder billig preisen,
Der nach Ruhm und Ehre streb 't.
Hamburgs Welt-berühmten Gassen
Hat er neulich sehen lassen,
Dass er schön und artig sey ;
Diesem Zeugniss aus der Ferne
Leget auch von Herzen gerne
Lüneburg sein Votum bey.
Aber muss wohl auf der Erden
Etwas angetroffen werden,
Welches lange dauern kann?
Joisicchen hats erfahren;
Denn nach zweyen viertel Jahren
Nahte sein Termin heran.
Eben warens dreymal sieben,
Die wir im Oktober schrieben,
Als er unvcrmuthlich starb,
Und sich in dem schönsten Garten,
Die Verwesung zu erwarten,
Eine kühle Gruft erwarb.
Kommet also, ihr Charmanten,
Mit den spielenden Plaissantcn,
Und beklaget eure Noht;
Seyd betrübet, ihr Brunellen,
Nebst Amours und Florabellen !
Euer Joisic ist todt.
VIER SCHLUSSSTROPHEN AUS EINEM AEHN-
LICHEN GED1HCT.
Man raubt mir ohne Schuld mein Leben,
Rief Kaiser Titus, als er starb;
Und Ratzeburg wird Zeugniss geben,
Dass Amourettchen so verdarb.
Ein Nascher bleibt oft ungerochen,
Wie gern er was verbot 'nes frisst;
Da nur ein Beinchen, nur ein Knochen,
Das ihm den zarten Hals durchstochen,
Der Tod von Amourettchen ist.
Doch stirb nur, holdes Amourettchen,
Stirb, weil es so dein Schicksal heisst.
Genug, dass dich dein Sterbe-Bettchen
Nicht gänzlich von der Erde rcisst.
Sind deine Glieder schon verdorben,
180
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So blühet dein Gedächtnis* doch.
Denn wer der Damen Gunst erworben,
Ist, wenn er stirbt, nur halb gestorben ;
In ihrem Herzen leb't er noch.
Ein Widder trug einst güld'ne Wolle.
Die gab man für was rares aus;
Man schrieb ihn in der Sternen Rolle;
Man hieng sie in ein Götzen-Haus.
O schriebe doch die kiüg'ste Feder
Dicss Hündchen auch den Sternen ein,
So wie sein ausgestopftes Leder,
Auch sonder Blut und ohn Geäder,
Uns soll ein ewigs Denkmahl seyn.
Wol uns, die Wünsche sind gerahten ;
Der ganze Pindus rcg't sich schon;
Man singt von Amourcttchens Thaten
So gar auf Rostocks Helicon.
Mir aber, dem das Glück zuwider,
Mir, der ich mühsam reimen kann,
Mir schlag' t die Furcht den Griffel nieder.
Denn hier sind so viel Schwancn-Licdcr,
Wer hört der Gasen Schnattern an?
ZWEI ZEICHNUNGEN VON JOSSOT.
■
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VIER GROTESKEN/ VON FRANZ BLEI.
L DAS BEISPIEL DES GILLES DE RAIS.
KXeTiTr,« Tt).eios.
'ApioTOTeATjc, *E*ixt).
d>ovepYOT7); xtXttoc.
F. B. Opera omnia T. IX. P. 871.
I.
ILLES war der erstgeborene Sohn des Guy-Mont-
morency-Laval aus der Marie de Craon, die eine
Schwester des grossen Du Gucsclin und eine Enkelin
der Jeanne la Folie war. Gilles' Vater wurde von
Jeanne la Sage, dem Familienhauptc der Rais £die
sich später Rctz nannten} adoptiert, wodurch er
selber ein Rais und Erbe ihres grossen Besitzes wurde. Gilles kam auf
dem festen Schlosse Machccoul in der Bretagne 1404 zur Welt. 1415
stirbt sein Vater, und da sich die Mutter bald wieder verheiratet, über-
nimmt der Grossvater Jean de Craon die Erziehung, das heisst, er giebt
dem dreizehnjährigen Gilles vor allem eine Frau, die aber bald stirbt,
wie auch die zweite, die eine Roh an war. Mit der dritten, Catherine de
Thouars macht er 14ZO Hochzeit. Mit 1 7 Jahren zieht Gilles zum ersten-
mal an der Seite seines Grossvaters in den Krieg; es ging gegen die
Pcnthievrcs für Jean V., den diese in Ketten hielten. Mit z 5 Jahren wird
er bei der Krönung Charles VII. in Rheims Marschall von Frankreich
und darf ein Lilicnband im Wappen tragen. Er kämpft vor Orleans und
Paris mit grosser Tapferkeit — er liebte die Einzelkämpfc — an der
Seite der Jeanne Darc, deren Ritter zu Dienst er ist, einer der ersten Barone
Frankreichs. Michelet £Histoire de la France, T. V., p. zo8 ff.} beschreibt
ihn als von »bon entendment, belle personne et bonnc facon, lettre de
plus, et appreciant fort bien cc qui parlaicnt avec elegancc la langue
latin«. Dem Gilles de Rais gehörten von Jeanne la Sage die festen
Plätze und Schlösser: Machccoul, Saint-Etienne-de-Mer-Morte, Pornic,
Princay, Vue, 11c de Bouin und andere. Vom Stammhause seines Vaters
.87
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bcsass er die Herrschaften von Blaison, Chemillc, Fontaine-Milon und
Grattecuissc im Anjon; dann Ambrieres, Saint- Aubin de Toste-Lovuin
in der Provinz Maine; und andere in der Bretagne. Von den Craons:
das Kastell La Suzc in Nantes, die Schlösser Briollay, Champtocc, In-
grandes, Seneche, Laval-Botereau, Benate, Bourgneuf-cn-Rais-Voultc und
andere; von seiner Frau: Tiffanges, Pouzangcs, Chabanais, Confolens,
Chateau-morant, Savenay, Lombcrt, Crcz-sur-Maine *et plusieurs autres
terres fort bclles et leurs depcndcncics*. Gilles ist 29 Jahre alt und noch
lange war nicht aller Lorbeer von den Bäumen geschnitten, denn ein
Krieg fand nur im Beginn eines andern sein Ende. Aber der Marschall
legt sein Schwert hin und geht auf seine Schlösser, für sich selber ein
Herr. Die Chronisten jener Zeit, Monstrclet, Charticr, und Argentre aus
der nächsten, erzählen Erstaunliches von seiner Lebensweise, die man mit
Worten beschreiben möchte, die wie rcichgestickte seidene Gel änder sind,
die von selber stehen, in Sätzen berichten wie : Sardanapal gab seinen tausend
Edlen ein Fest. — Gilles hatte seine eignen Soldaten, seine Priester mit
einem von ihm ernannten Bischof, jenem Francesco Prelati, den er sich
von Italien holte, um einen zu haben, mit dem er lateinisch sprechen
konnte. Wenn Gilles mit seinem Hofstaat nach Nantes oder nach
Angers oder nach Orleans kam, ritten ihm seine Herolde voraus, die
nach Posaunenstösscn ankündeten, dass -»wir der vornehme und mächtige
Baron Gilles de Rais, Marschall von Frankreich, Herr von £cs
folgen die Namen der Herrschaften} beschlossen haben, die Stadt mit
unserem Besuche zu begnaden*. Und die Menge jauchzte, denn es gab
Geldstücke und Theaterspiel und viel zu gaffen und zu staunen, Feste
eine Woche lang. Theater und Musik waren in dieser Zeit seines Lebens
des Gilles liebste Unternehmen. Er Hess auf offenem Markte spielen, wo
mit grossem Aufwand eine kunstvolle Bühne errichtet wurde, oft zwei
Stockwerke hoch. Da ihm die Stücke seiner Zeit zu einfach waren und
ohne Gelegenheit für Entfaltung grossen Glanzes, schrieb er selber an-
dere, wie die Siege d'Orleans in zo 000 Versen, die fünfhundert Menschen
auf der Bühne brauchte und darin er selber in der Rolle des Gilles de
188
i
na
Rais eine Haupt hgur spielte. Den Versen seiner Stücke gab er weit ge-
ringere Aufmerksamkeit als den Kostümen seiner Schauspieler, die er
echt liebte wie die heiligen Gefässe, die er zur Benutzung in dem Theater
aus seiner Kapelle entnahm. Und nicht öfter als einmal durften die
Komödienspielcr diese kostbaren Kleider tragen — für eine zweite Auf-
führung Hess er neue machen, denn seine Lust an neuen Einfällen des
Luxus war so gross wie die andere, sein Vermögen zu verschwenden.
Ein Schloss ums andere verkaufte er, die letzten rettete ihm der König
selber durch ein Arret, das ihm verbot, auch diese zu veräussern. So war
es nach wenig Jahren mit der Pracht vorbei ; die Herolde verkündeten
nicht mehr sein Kommen, und die Menge balgte sich nicht mehr um die zu-
geworfenen Geldstücke. Gilles blieb auf Tiffanges und lernte von Francesco
Gold zu raachen. Oder er schrieb alte Handschriften ab für seine Bib-
liothek, wie das Ovid Metamorphosen, für die er einen Einband fertigte
aus weissem Saffian mit silbernen Ecken und einem silbernen Kreuz auf
dem Rücken. Oder er mordete.
2.
ES muss hier ein Paragraph eingeschaltet werden, der eine Meinung
über die Liebe enthält und wie dieses Wort thöricht und abscheulich
in unserer Zeit gebraucht wird, in der es vornehmlich die Brunst der
Paare meint, versteckt in sentimentaler Beschämung. In der guten Zeit
fühlten die Vornehmen : Alles ist uns zu thun erlaubt — denn sie thaten
dieses Alles in der ruhigen Sicherheit ihrer heitern Kraft, die keine Ver-
wirrung kannte. Und dem geprügelten, in seinen Instinkten verwirrten
Volke Hessen die Herren — in Güte und um ihm aus dieser Not zu
helfen — von ihren Dienern eine Moral machen, worin neben dem andern
auch von der Liebe gehandelt wird, von der Liebe zum andern Geschlechte,
von der Unkeuschheit und der Vcrirning. Die Schönheit wurde }ua 5«
rag iropmag geschleift, d. i. durch die moralischen Gefühle. — VicUcicht
ist das in den Ursachen und im historischen Geschehen anders und ganz
anders; aber dies ist ohne Bedeutung, wie die thörichte Begierde des Er-
189
klärenwollens mit den Dingen fertig zu werden sucht, warum das so ist
oder gar so sein muss. Ich möchte keine Bedeutung darauf legen, wie das so
wurde. Genug dass es ist. Die Demokratie hat uns mit ihrer moralischen
Betrachtung der Liebe ja zu vielen Sensibilitäten verholfen, ohne deren
Last der Schmerzen wir nicht mehr leben zu können meinen; viele sagen,
wir verdanken ihr gar die Seele, dieses Vermögen, ein Ding nach seinen
Gefühlswerten zu schätzen, diesen trostreichen Dämmerort schwacher
Leidenschaften und Muskel. Ich habe genug Leute umsomehr von der
Seele ihrer Geliebten sprechen hören, je hässlichcr des Mädchens Körper
war, und welche diese Häuslichkeit nicht hinderte, sich zu einer scham-
losen Umarmung erregen zu lassen. Zu diesem Schlüsse wollte ich nur
kommen — und man wird den Bezug auf den Helden finden — , dass
die Liebe, die Liebe, nichts mit dem Geschlechtc zu thun hat, dass man
die Schönheit liebt. Nun lassen wir das. Ich will von Gilles fortfahren.
3-
ODER ermordete. — Das war nicht die Furcht vor Krieg, die das Volk
der Bretagne im Frühjahr 143 z so erregte; denn in langen Jahren war
es mit diesen Schrecken vertraut geworden. Es war auch nicht die Angst
vor der Pest und dem grossen Sterben. Und es war der Schrecken so
gross, weil man ihn nicht messen konnte, weil davor aller Trost und
Sinn versagte. Man wusstc nicht was es sei. Und erst glaubte man es
überhaupt nicht, so furchtbar war es. Manche sprachen von einem
Vampyr, der aber solche Gestalt angenommen, dass er nicht mehr auf
das letzte Gebet des Opfers warten konnte. Hier war es heute und dort,
weit weg davon, morgen. Tage, Wochen, Monate vergingen, dass man
nichts von ihm merkte, bis es plötzlich wieder von Haus zu Haus, von
Dorf zu Dorf ging; es war da! es war wieder da! denn wieder weinte
eine Mutter über ihr verschwundenes Kind. Von sechs zu achtzehn
Jahren waren die alt, die verschwanden als hätte sie die Erde verschlungen.
Als es zum erstenmal, zum andernmal geschah, dachte man, la petitc
Marion oder le gars Jean hätte ein Unfall betroffen, seien in einen der
190
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tiefen Ströme gefallen und ertrunken. Dann erst kam dieser grosse
Schrecken, von dem die Chronisten berichten, als man sah, dass kein
Haus der ganzen Gegend sicher war, dass kein Zufall den Schlag führte,
dass er jeden treffen konnte. Man glaubte, der Teufel sei in Gestalt
eines schrecklichen unsichtbaren Tieres auf die Erde gekommen, die
Sündigen an ihren unschuldigen Kindern zu strafen. Dies dauerte Jahre
lang. Acht Jahre dauerte es und hunderte von Kindern waren ver-
schwunden und keines wiedergekommen zu erzählen. Da nahmen es
Leute, die auf den Landstrassen leben, immer öfter wahr, dass immer,
wenn es geschah, sich in der Gegend einer von Gilles de Rais Leuten
aufgehalten hatte, Eustache Blanchet sah man, oder Henriet Griart oder
Jean Rossignol oder Gilles de Sille oder Hugues de Bremont oder Etienne
Corillaut oder Robin Romulat oder diese Maffraye. Das waren Aben-
teurer, Dichter toller Verse, Priester aus Gilles' geistlichem Hofstaat, vom
Galgen entkommene Soldaten. Nur den Gilles selber sah man nie; der
blieb auf TifFanges oder Machecoul, wohin man die Kinder brachte. Sic
wurden mit Speise und Spiel ergötzt, köstlich gekleidet, bis die Zeit -für
sie gekommen war, dass Gilles sie tötete; mit dem Dolche that er es
und langsam, sass bei dem Knaben und genoss das Sterben. Die schön-
sten Leichen küsste er und konnte sich von ihnen nicht trennen.
4-
IM Juli 1440 erliess der Bischof von Nantes eine Infamerklärung gegen
Gilles; im September des Jahres erschienen die Bewaffneten des Bischofs
in Machecoul, wo Gilles gerade war, um ihn zu fangen. Entgegen aller
Erwartung ergab er sich lächelnd; denn es wäre ihm leicht gewesen,
auf dem festen Kastell mit seinen guten Leuten Widerstand zu leisten.
Er wurde nach Nantes auf den Tour neuve gebracht, in dem zwei
Jahrhunderte später ein anderer Rctz, der Kardinal, gefangen sass, und
den auch die schöne Herzogin von Bcrry in diesem Jahrhundert traurig
kannte. Das geistliche Gericht zuerst machte dem Gilles den Prozess
wegen Tcufelsverehrung, schwarzer Kunst, vielfachem Mord und Un-
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natur. Die Akten darüber sind auf der Pariser Bibliothek für jeden zu
lesen. Gilles erschien vor dem Gericht in Weiss, Gold und Scharlach,
an der Brust unter seinem tiefschwarzen Barte hing eine heilige Reliquie.
Die lange Reihe der Zeugen, die Mütter und Väter, die ihn des Mordes
ihrer Kinder beschuldigten, beachtete er gar nicht, die Richter höhnte
er. Viermal aufgefordert, den Eid seiner Unschuld zu leisten, weist er
dies viermal zurück. Er beteuert, immer ein guter Katholik gewesen zu
sein und es auch jetzt zu sein. Es ist zu bemerken, dass er im Morde
nichts sieht, das Gott beleidigen könne, wohl aber im Meineid. Er er-
klärt den Richtern, dass er sich lieber hängen lasse, als vor ihnen etwas
auszusagen oder gar sich zu verteidigen; er verlangt ein weltliches Ge-
richt, kein geistliches, denn er habe nichts gegen Gott gethan. Die In-
quisitoren schleudern den einzigen Blitz, den sie zur Verfügung haben,
auf Gilles: die Exkommunikation. Dies verändert Gilles Haltung
völlig. Die ewige Verdammnis schreckt ihn, der ohne die kleinste Furcht
vor aller irdischen Strafe war. Am Tage, der seinem Ausschluss aus der
Kirche folgt, anerkennt er das Gericht, gesteht die Morde und bittet,
man möge die Exkommunikation widerrufen, was auch geschieht. Die
Richter waren aber mit einem allgemeinen Geständnis nicht zufrieden;
gute Leute aus dem XV. Jahrhundert, waren sie Freunde starker Auf-
regungen, wovon ihnen — dem Volke! — dieses Quälen des feinen
Menschen nicht die geringste war. Gilles aber wollte nicht mehr sagen
als dass er gemordet habe. Die Richter hiessen die Knechte nach den
Folterwerkzeugen gehen. Gilles wird blass und sagt, was man von ihm
verlangt, nicht aus Angst vor den Schmerzen der Daumenschrauben, aber
aus Ekel vor der Gemeinheit dieser Dinge. Auf die Frage des Richters,
wieso und durch wen er auf die Absicht seiner Verbrechen kam, beginnt er
sein Geständnis ^das sie ihm Stück für Stück herausreissen^ mit den Worten:
Mein eigner Gedanke trieb mich das zu thun. Es war mein eigner Ge-
danke, den ich nichts sonst zuzuschreiben habe als meinem eignen Ver-
langen nach Kenntnis des Bösen. Aus allen seinen Antworten klingt
immer heraus: Quält mich doch nicht, ihr Tölpel, macht euer Ende.
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Auf die immer wiederholte Frage der Richter, warum er dies that, ant-
wortet Gilles: weil ich das Böse kennen lernen wollte. Es ist kein
anderer Grund. Je vous ay dit de plus grans choses que n'est cest cy, et
assez pour fair mourir dix mille hommes. Als er von Francesco Prelati
Abschied nahm, sagte er ihm: Gott mit dir, Franciscus, wir werden uns
in dieser Welt nicht mehr sehen. Ich bitte Gott um Geduld und Hoff-
nung für dich und mich und dass wir uns wiedersehen in der grossen
Freude des Paradieses. Dann sprach er noch dreimal zu den Müttern
und Vätern. Sein Stolz war weg, als man ihm seine Geheimnisse ent-
rissen und sie jedermann gezeigt hatte.
Den Franciscus verbrannte die Inquisition, den Gilles de Rais das Hoch-
gericht am i6. Oktober 1440.
DAS WUNDERBARE GEMAELDE/ EINE CHINE-
SISCHE GESCHICHTE IN DEUTSCHE REIME
GEBRACHT UND HERRN OTTO JULIUS BIER-
BAUM FREUNDLICHST ZUGEEIGNET VON
RUDOLF ALEXANDER SCHROEDER/ MIT EINER
ZEICHNUNG VON LAURENCE HOUSMAN.
WIDMUNG.
JL Dass der, der sonst nur Tiefsinn raunt,
Ein neues Wunderkind, das schon mit jungen Jahren
Die Weisheit lehrte grauen Haaren,
Und sich in graulichen Gesängen
Beklagte wild, mit Trauerklängen,
Dass der auf einmal jetit in Meister Wielands Stil
Treibt wunderlich ein Versespiel?
Ich hoffe nur, Sie sind nicht gar chokiert,
Dass ich es Ihnen dediziert,
Zu dem von fern
Ich stets emporgeblickt, als untrer Dichtkunst Stern?
Es mag ja sein, die Zeit ist schlecht,
Und wie wirs treiben, ists nicht recht.
Ob wir modern, obseön und unverständlich,
ICHT wahr, mein lieber Freund, Sie sind erstaunt,
194
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Ob wir in alten Gleisen
Uns brav und fromm erweisen,
Am Ende ist der Reinfall unabwendlich.
Doch, venn die Zeit auch alt und ausgelaugt
Den Dichtern nichts mehr taugt,
Und alles Neue ebensolcher Mist
Als alles Abgestandne ist,
Was hindert uns, in reinem Zonen
Nach Gusto und Gelegenheit zu wohnen?
Wir flüchten uns aus Tages Lärm und Streiten
Ins Paradies vergangner Zeiten
Und will der Tag uns hin und her zerspalten,
Dort lässt sichs nach Belieben schalten.
Und wir, wir können uns mit einigem Behagen
Zu flüchtigem Tröste sagen:
Wer weiss, hart' ich in jener Zeit gelebt,
Ich hätte das erreicht, wonach ich stets gestrebt:
Ein Quentchen wohlerworbenen Ruhm
Und Reinlichkeit in meinem Heiligtum.
Und doch, vielleicht ist dieses auch Betrug,
Und selbst für leichten Scherz sind wir nicht schwer genug;
Sind sie denn gar zu schlecht, die bunten Reimereien,
Muss Papa Wieland mir und müssen Sie verzeihen.
»95
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DAS WUNDERBARE GEMAELDE.
Er, den kein andrer Pinsel könnt" erreichen?
Er hiess — nun, wie?
WI-O-WAR-ML —
Ich schreib es nur, damit ihrs gleich vergesst,
Ihr, die ihr jeden Autor fresst,
Weiss er genau nicht zu erhellen,
Wo, Wann und Wie, und kann zum mindsten nicht
Die ganzen Klassiker zitieren
Und seiner Bücher Rand mit vielen Noten zieren ;
Denn Sicherheit — auch im Gedicht —
Kann euch allein zufrieden stellen.
Man sagt, dass dem Wi-o-war-mi
Der Himmel alle Gaben lieh,
Die nur ein Maler kann verlangen,
Der sich mit der Natur zu kämpfen unterfangen.
So wundervoll war seiner Farben Schmelz,
Und der Contour so rein und zart gezogen,
Dass man geschworen hätte, dieser Pelz
Und jene Vögel, die dort flogen
Durch die bewegte Luft in buntem Zug,
Sic seien echt und nicht nur Kunst-Betrug.
Als er nun alt war, schuf, um seinen Ruhm zu krönen,
Der Liebling der sinesischen Camönen
Ein Meisterwerk von unerhörtem Reiz,
Ein Muster alles Schönen. Ihr verzeihts,
I.
*4
•97
Wenn ichs ausführlicher beschreibe,
Denn wie der Strom vom Sprudel eines Quells
Kommt von der Tugend dieses Aquarells
Die ganze Sache her, die euch zum Zeitvertreibe
Ich jetzt erzählen will. — Das Bild war hoch und gross
Und stellte dar ein kaiserliches Schloss
In Mitten eines schönen Parks gelegen.
Nun hättet ihr die Bäume sehen sollen,
Die Rosenbüsche auch, die blütevollen,
Die kleinen Teiche bei den Kieselwegen,
Das Mauerwerk, das zierliche Gegitter,
Die schöngemalte Luit, das goldige Geflitter,
Womit die Sonne scheinbar alles malte,
Was hier auf Reispapier gefirnisst strahlte.
Im Hintergrund des Parks lag der Palast,
Von Porzellan gebaut nach der Chinesen Mode,
Und gleich dabei in blütenweissem Glast
Die allerliebste zierlichste Pagode —
Man hörte fast die Glocken klingen,
Die silberlicht
Und dicht an dicht
An den gemalten Giebeln hingen,
Und kurz und gut: Es fehlte nichts
. An der Vollkommenheit des farbigen Gedichts.
Die Vögel all, die bunten Papageien,
Die Pfaun von aussen schön, doch hässlich, wenn sie schreien,
Die kleinen Affen hinter goldenen Stäben,
Sie alle waren da und schienen auch zu leben.
Nun fragt der Leser mich gewiss:
»War denn kein Mensch in diesem Paradies?«
Und ich erwidere: Nein,
Der Garten lag allein;
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Und keine Menschensecl' war irgend zu ersp'ähn,
Nicht mal der Abdruck eines Schuhs zu sehn.
»Warum?* Das müsst ihr wol Herrn Wi-o-war-mi fragen,
Ich kann es euch gewiss nicht sagen.
Herr Wi-o-war-mi hart' an seines Werkstatt Wand
Das Bild zum trocknen aurgespannt,
Als seine Majestät, der Kaiser Ting,
Einstmals sein Atelier besuchen ging.
Es war schon dazumal im goldnen Reich der Mitte
Für Potentaten gute Sitte,
Dass sie mit offizieller Gunst
Begönnerten die Kunst. —
Da sah die Majestät das Bild, das an der Wand
Recht gross und breit vor ihren Augen stand,
Und ward erst heftig innerlich
Ergriffen, aber dann geriet sie ausser sich
Und sprach: Oh Wi-o-war-mi, grosser Mann,
Sag mir, ob ich dies Bild bekommen kann?
Du brauchst's natürlich nicht zu schenken,
Ich werd' dich anderweitig reich bedenken,
Und so und so —
Genug, ich wäre froh,
Dies hocherhabene Werk, das MICH selbst ganz entzückt,
In meine Kaiserburg zu sehn entrückt.
Der alte Maler lächelte ein wenig,
Verbeugte dann sich unterthänig
Und sprach: Erhabne Majestät,
Ich glaube nicht, dass das so geht,
Vielmehr, ich weiss genau, ich muss es selbst behalten,
Denn so ein Werk wie dies
Gemalte Paradies
Gelang selbst kaum den vielgerühmten Alten.
Der Kaiser — wie Monarchen nicht
Gewohnt sind, dass man ihnen widerspricht,
Drang weiter noch auf Wi-o-war-mi ein
Und wurde auf die Dauer fast verdrießlich,
Und bat so lange, bis der Maler schliesslich
Den Vorschlag machte — doch hier halt ich ein.
Denn recht bedacht — wie könnt' es möglich sein,
Wer glaubts? Erreg ich nicht Verdruss,
Wenn ich die fabelhafteste Geschichte
Mit dreister Stirn als Wirklichkeit berichte? —
Doch sei es wie es sei, die Sache ist passiert,
Durch Quellen aller Art aecreditiert,
So dass mir jeder glauben muss. —
Drum fahr ich fort: Er lud den Kaiser ein,
— Erstaunt! — in den gemalten Garten einzutreten,
Er selbst ging ihm voran, der Kaiser hinterdrein —
Und der gemalte Park war nun nicht mehr allein.
Die Über Weiher voll von bunten Fischen führten,
Bis sie im Parkgehölz die kühle Luft verspürten; —
Und aus den Büschen scholl
Und schwoll
Zu Chören an das Lied der Nachtigallen,
Der Murmelbäche sanftes Fallen
Vermischte sich dem angenehmen Schall
n.
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Und spielte zärtlich mit dem Widerhall.
Auch lagen kleine Pavillons versteckt,
Von Rasengrün und Myrten überdeckt,
Und eine Wasserkunst von sieben Oreaden
Ergoss sich in melodischen Cascaden.
Es scholl verborgen oft ein Glockenspiel,
Auch hingen im Gesträuch voll Harmonie
Die Aeolsharfen; und wenn der Wind
Ganz lind
Darüber fuhr, so tönten sie.
Und manch ein Tempel stand bemalt und reich geschnitzt,
Mit Drachenköpfen seltsam und verschmitzt
Im Duft der bunten Blumenauen,
Und Fichtenhaine waren da zu schauen
Und Rasenbänke und geheime Grotten;
Und manch ein Echo schien des Gasts zu spotten,
Wenn der in angenehmer Ruh
Aufseufzte, seufzten sie ihm zu. —
Kurz überall war die Natur
Verschönt nach Regeln der Architektur.
Oh, welche Lust genoss der Kaiser Ting,
Als ihn dies Paradies umfing.
Er sah da Hirsche durch das Dickichts rennen
Und konnte in dem fernen Wald erkennen
Noch vieles Wild verschiedener Sorten
Und wilde Vögel aller Orten.
Und Wi-o-war-mi licss ihm nichts entgehn,
Was irgend wie und irgend wo zu sehn.
Zuletzt sprach Wi-o-war-mi so:
Erhabener Fürst, dein Knecht ist äusserst froh,
Dass du zu seinem Garten bist gekommen,
Doch, siehe auf, die Sonne ist verglommen,
Und Dämmerung
Mit leichtem Schwung
Hat von den Tiefen schon Besitz genommen.
Bald führt der Mond die Sternenschar heraus,
Dann wird es Nacht. Drum gehen vir ins Haus.
Und sieh, auf weiter Rasenhache lag
Der Pallast, den wir schon beschrieben;
Und glänzte zauberisch im späten Tag;
Man hörte auch Musik von drüben,
Auch roch vom Saal
Man schon das Mahl,
Den Duft der eingemachten Tangs,
Die Haifischflossen frischen Fangs,
Den Hundebraten und die Riesenschnecken
Und was noch alles ein Chinesenmagen
Mit Wohlbehagen
Sich lässt als Leckerbissen schmecken.
Wir hören es mit Grauen,
Doch sie — sie lieben es und können es verdauen.
Auch sah man hinter Fensterstäben
Ein Glieder-Beben.
Das ist, so sprach Wi-o-war-mi,
Die holde Tänzerin — die kleine Li-u-ki.
Sie gleicht dem Rosenblatt,
Das ein geneigter Wind dir zugeblasen hat.
Und die dort, die den Vorhang lüftet,
Ist Ki-u-tscho, die wie die Lilien düftet.
Sic ist wie eine Lilie auf der Flut,
Auf der ein Colibri zu Mittag ruht.
Und dort, die dritte Schöne
Ist Ka-lei-tschau, das heisst die Tanz-Sirene.
Wenn die die Füssc hebt
202
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Und schwebt
Im Tanz
Voll Glanz
Ist sie ein Lotos, der in Kaiserhänden bebt,
Ist eine Perle sie im Haar der Göttin Fich,
Und alle diese drei erwarten dich.
Mit ihnen noch dreitausend andere Frauen,
Auch alle schön zu schauen,
Doch so wie diese drei ohn alle Gleichen
Nicht angesehn,
Die sind so schön,
Dass selbst die holden Geister ihnen weichen.
Als dies der Kaiser hörte, roch und sah,
Sprach er zu Wi-o-war-mi : Ja,
Ich dächte lieber Freund, wir gingen nun
In das gemalte Schloss, um uns dort auszuruhn.
Gesagt, gethan. Herr Wi-o-war-mi schritt
Auch dieses Mal voran; der Kaiser der ging mit.
Die Thüre that sich auf. Als sie sich wieder schloss,
War Wi-o-war-mi drin im Haus und sein Genoss.
ND nun verging die Zeit, die noch nie stille stand, .
V-/ Und man vergass schon fast den Kaiser der verschwand,
Der Kaiser Ting, der einst, man weiss nicht wie,
Verschwunden war zugleich mit Herrn Wi-o-war-mi.
Jedoch das Bild, von dem wir erst geschrieben,
III.
War wie am ersten Tage schön geblieben.
Ein Maler hatte jetzt es in Besitz
Von nicht sehr viel Talent doch gutem Mutterwitz.
Der malte so für Kunz und Michel
Im Genre Nathan Sichel;
Und das gefiel dem Mob
Und brachte ihm viel Geld und allgemeines Lob.
Es Hess sein guter Ruf und seine Tantiemen
Viel Kunstbeflissene ihn zum Meister nehmen,
Und sah er einen, der nicht allzu tüchtig,
So that er auch wohl was für ihn:
Denn, dachte er, es ist ganz richtig,
Sich gute Helfer aufzuziehn.
Jedoch hat einer mehr Talent als ich,
So ist das nichts für mich.
So hart' er einen denn in seiner Schüler Schar,
Der wirklich etwas überm Durchschnitt war,
Und dessen redliches Bestreben
Der wahren Kunst gewissenhaft ergeben.
»Der wahren Kunst?» Je nun, der wahren Kunst;
D. h. er wollte nicht nur blossen Dunst
Den Leuten vor die Augen malen,
Sie sollten auch für was Vernünftiges zahlen,
Er ging mehr auf den Kern der Sache,
Und er verachtete die blosse Mache. —
So hab ich denn mich expliziert
Und meinen Ausdruck richtig kommentiert —
Es möchten einige Tröpfe zwar
Noch jetzt behaupten, ich sei immer noch nicht klar —
Und ich erzähle fort: Es war der junge Mann
Gar sehr verachtet von Mi-a-no-wann,
Dem biedern Meister, den ich just erwähnte
Und der gemeinern Idealen fröhnte.
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Der zwackte ihn
Und plackte ihn,
Und sagte oft: Nun seht nur diesen Tropf!
Er stellt die ganze Kunst noch auf den Kopf.
Er will nicht so wie ich den Pinsel führen
Und nicht genau nach Vorschrift kolorieren,
Er malt den Himmel gelb und malt die Wiesen blau
Und er verschmäht mein schönes Braun und Grau.
Wie abgeschmackt, wie manieriert,
Und wie abstrus pointilliert!
Der junge Künstler aber lachte
Und dachte
Für sich: Lass nur den Alten schmähn.
Und ging
Des Abends oft für sich allein
Hinein
In jene Kammer, wo das Prachtgemälde hing,
Von dem ich euch erzählt, das Wi-o-war-mi malte,
Und das noch unversehrt in alter Schönheit strahlte.
Wenns auch der Lümmel, der es jetzt
Besass, nicht sorglich hielt, war es doch unverletzt.
Kein Mausezahn zerriss das köstliche Papier,
Kein Fliegenschmutz war noch zu schaun allhier.
Der alles sonst benagt, der Zahn der Zeit, er Hess
Von keinem Biss entweiht des Meisters Paradies.
Das nun betrachtete sich oft der junge Mann
Und sass davor, betrachtete und sann
Und dachte nur: Oh könntest du erreichen,
Dem Meister dieses Pinsels einst zu gleichen,
Nein, auch von Ferne nur
Die kleinste Spur
Von dem Genie des hohen Manns erwerben,
Du werdest gerne dann im Blütenalter sterben,
Und war' nur einmal dir ein solches Bild geglückt,
Aus dem Vollendung wie ein Himmel blickt.
So liebte er ein Ding, das andere verachtet,
Wie jeder, der nach mehr als bloss Gemeinem trachtet.
Er wischte liebevoll an jedem Tag
Das bischen Staub hinweg, das etwa drüber lag,
Und zeichnete mit redlichem Bemühen
Die einzelnen Partien;
Denn, dachte er, bist du mal nicht mehr hier,
So hast du wenigstens doch die Copic bei dir.
So sass er andachtsvoll auch eines Tags davor
Und sich! Wie seltsam kam ihm alles vor!
Er meinte fast den Duft der Blumen zu empfinden,
Das Wehn von sanften Winden
Kam wunderbar,
Und hell und klar
Hört er der Zweige Rauschen
Und konnte dem Gesang der kleinen Vögel lauschen.
Er sah die Wellen in den Teichen
Zum Ufer gehn, vom Ufer weichen,
Und aufstehn und versinken
Und durch die Fluren blinken.
Wie schimmerte die Sonne überall
Und Perlen und Kristall
Der Kaiserburg! Er hörte — fast erschrocken
Ob seiner Phantasien — den Ton der Silbcrglocken ;
Und wie sein Herz nun vor Entzückung schwoll,
So rief er sehnsuchtsvoll:
Oh, Wi-o-war-mi, der dies Bild erschuf,
Ich weihte mich dem edelsten Beruf,
Den du, oh Meister, zur Vollendung brachtest,
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Nun taste ich im Dunklen immerdar,
Wenn ich mich mühe, aber hell und klar
Scheint mir Vollendung hier aus deinem Werk entgegen;
Oh, zeige mir, dass du mich nicht verachtest,
Erscheine, Meister, mir, der du in deinem Werke
Noch lebst und wirkst in alter Stärke,
Erscheine mir, und gieb mir deinen Segen!
Und sieh — oh Wunder — aus dem porzellanenen Haus
Trat eine würdige Gestalt heraus
Und schritt durch die gemalte Gartenflur,
Trat aus dem Rahmen vor den Jüngling hin;
Und Wi-o-war-mi sprach mit mildem Sinn:
Ich sehe, Freund, du bist auf rechter Spur.
Du weisst den wahren Geist der Kunst zu ehren,
Drum, oh mein Sohn, erfüllt ich dein Begehren;
Und nicht nur dies. Ich werde wiederkommen
Und dir zu Nutz und Frommen,
Von dem, was ich zu meiner Zeit gekonnt
Soviel beibringen, als sich lohnt.
Und so geschahs. Bei jedem Abendschein
Schloss sich der Schüler in die Kammer ein.
Und dann, wie draussen nun die Sonne wich,
Erglänzte der gemalte Park aus sich;
Und wie bei Tag war alles licht und bunt.
■» Woher das kam?« — Das ward mir selbst nicht kund.
Doch stehts in der chinesischen Geschichte,
Die ich getreulich euch berichte.
Und also wars. Es glänzte wunderlich
Das Bild wie Phosphor oder faules Holz aus sich.
Doch war sein Glanz ganz zauberisch zu sehn,
Wie Sonnenschein, nur fast noch mal so schön,
Als wenn der Sonne und des Mondes Scheinen,
Sich trollten hier vereinen,
Ein Schimmern war es holder Dämmernis,
Zwar ziemlich deutlich noch, doch etwas ungewiss.
Und Wi-o-war-mi führte dann herum
In seinem Heiligtum
Den andachtsvollen Jüngling, der entzückt
Sich glaubte in die Götterwelt entrückt.
Und alles sah er, was wir schon beschrieben,
Und was noch unerwähnt geblieben.
Nur von den holden Frauen sah er keine Spur,
Denn die dreitausend waren für den Kaiser nur.
Doch hielt der Meister sonst ihn hoch in Ehren
Und gab ihm weise Lehren,
Wie grosse Meister nicht mit jedem,
Nein nur mit dem Adepten traulich reden, —
Und durch die Korrektur,
Die unser junger Mann von dem Gespenst erfuhr,
Wuchs seine Kunst, bis er in Tag und Jahr
Zu hoher Meisterschaft gediehen war.
Der grosse Haufe, wie er immer ist,
Der alle Welt nach seiner Elle misst,
Belachte zwar noch eine Frist
Den jungen Mann
Und auch der thörichte Mi-a-no-wann.
Doch schliesslich — liegt sie auch oft weit —
Hat jedes Ding doch seine Zeit;
Und Tugend, noch so sehr versteckt,
Wird eines Tags entdeckt.
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IV.
ES gab schon damals viele Kunstskribenten,
Die sich von fremden Kapitales Renten
Mit Wbhlgefühl ernährten
Und hoch die Kunst, sich selbst am höchsten ehrten.
Die schnüffelten
Und büffelten
An Bilderschwarten,
In Schmökern aller Arten,
Und dünkten sich Gott weiss wie gross
Und prahlten überlaut, bis dass der dumme Tross
Ihr blechernes Geschrei für Weisheitsmünze nahm,
Und jeder dieser Herrn zu Amt und Würden kam.
Und was man weit und breit
In alter Zeit
Gemalt, gemeisselt und gebaut,
Mit Lupen wurde es beschaut,
Verstümmelt und gesammelt
Und in Museen eingerammelt.
Und über wahre Kunst und ihre hohen Ziele
Schrieb man gar viele
Dickleibige Bücher voll, dem Publikum
Ge Helen sie, wie alles, was recht dumm.
Und welch Geschrei, wenn einer mal erkrittelt
Und ausgemittelt,
Das dies und das, nicht wie man sonst gedacht,
Von dem und dem gemacht,
Und jene Nagelspitz an jenem Konterfei
Beweise, dass es nicht von Tintoretto sei.
Und wie bekämpften sich die edlen Herrn
Voll Wut und Neid! Um jeden Ordensstern
1
Gab es Krawall — man riss
Das Haar
Sich gegenseitig kritisch aus und biss
Mit Worten jeden tot, der andrer Meinung war.
Nur vor dem Publikum da zeigte exemplarisch
Man sich als Kaste solidarisch
Und folgte der Maxim aus unsern Tagen:
Getrennt marschieren, um vereint zu schlagen.
Wenn diese Edelen nun so
Nach allem ihre Kritdcrzähne bleckten,
So waren sie doch äusserst froh,
Wenn sie einmal ein neu Talent entdeckten.
Und das geschah so jedes halbe Jahr,
Dann wurde dessen Ruhm gesungen,
Bis alle Welt davon durchdrungen
Und — bis es wieder aus der Mode war.
Doch liehen nicht umsonst die Herren ihre Kräfte
Für einen solchen neuen Ruhm.
Sie machten selbst dabei die glänzendsten Geschäfte
Und die Entree ins Heiligtum,
Was ftir den künftgen Meister meist
Ein wenig teuer — die Patrone Hessen
Sich was man so aus »Freundschaft* heisst,
Zu besserem Geniessen
Und Angedenken
Bald dieses kleine Bild, bald jene Zeichnung schenken.
Und wenn durch ihr Triumphgetose
Ihr Mann ein »Wert« geworden war,
Benutzten sie die Hausse,
Verkauften gegen baar
An eine Galerie, was ihnen dediciert:
Ein sicheres Geschäft, bei dem
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Man sehr bequem
Und ohne alle Spesen profitiert.
Natürlich hicss es, der Verkauf an die Museen
Sei nur zu Nutz des Publikums geschehen,
Und so ersparten sie mit mancherlei Verbrämung
Sich selbst ihrer Geldgier die Beschämung.
Herr Mi-Mau war von dieser würdigen Zunft
Am meisten noch versehen mit Vernunft.
Ihm wars schon einige Mal gcklcckt,
Dass er was wirklich Wichtiges «entdeckt«.
So war er denn die Würde seines Standes
Und Zierde seines Vaterlandes
Und Stern und Ehrenrose
Gelehrter Diagnose.
Der nun fand unsern jungen Mann
Im Atelier des Herrn Mi-a-no-wann.
Er sah bedächtig alles an,
Was der besagte junge Mann
Auf manchem Studienblatte
Gemalt, aquarelliert und abgezeichnet hatte ;
Bei manchem Blatte trat er auf die Seite
Und hielt die Hände vors Gesicht
Und rückte es ins Licht
Und hielt es in die Weite
Und sagte einige Mal : Hm, hm, — sehr gut, ja, ja,
Zuweilen sanft begeistert: ah!
Und sprach zum Schluss
Mit äusserst würdigem Ton:
Mein Sohn,
Ein solch Talent wie Sie ist wirklich ein Genuss.
Der junge Mann errötete beglückt
Und Herr Mi-mau fuhr fort: Ja, ja ich bin entzückt,
Das ist ja wirklich ganz charmant.
Und wie, mein Freund, Sie sind noch unbekannt?
Das soll nun fürder anders werden! —
Er Hess sich gleich — weshalb? Ach so, zum Angedenken, —
Ein halbes Dutzend Bildchens schenken
Und schrieb dann voll Begeisterung
Und Schwung
In jedem Abend-, Mittags-, Morgen-Blatt,
In jedem Magazin, Revuen für Land und Stadt,
In Monatsheften und Vereinsorganen,
Ins Leibblatt der Bureaukratie,
Quartalsschrift für Philosophie,
Centralblatt der Sozialdemokratie,
Salonblatt der Hof-Aristokratie,
Beamtenblatt für Post und Eisenbahnen,
Ins Wochenblatt fürs Militär,
Den Landwirtschaftler, den Veterinär,
Ins Kirchenblatt und in das Vaterland,
Ins Viertcljahrsblatt für den Brauverband,
Den Boten für die Obstkultur,
Verbandsblatt wider Unnatur,
Den Anarchisten und die Lesehalle,
Die Jugend, Hilfe, Kunst für Alle,
Dass unser junger Mann ein himmlisches Genie,
So wie noch nie
Zu künstlerischem Unterfangen
Eins aus den Händen der Natur hervorgegangen.
Was fand sein schriftlicher Applaus
An unserm jungen Künstler alles aus!
Die abgrundtiefe Mystik,
Erhabene Symbolistik,
Den tiefen Rausch geheimer Poesie,
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Das übermenschliche Genie,
Den hehren Adlerflug der Phantasie,
Die urgewaltige Titanie
Und Symphonie
Von Linien und Tönen,
Und wie in schönen
Erhabenen Rhythmen hier ein Lied der Menschheitslust
Gesungen werde tief und unbewusst,
Und wie das Unter-Ich das Ueber-Ich bekriege,
Und doch das Ueber-Ich das Unter-Ich besiege,
Und wie das stolze »Ja« hier siegreich triumphiere
Und wie in süssem Duft
Hier Fleisch und Luft
Sich inniglich und künstlerisch vermählten
Und ihren Werdegang den Schauenden erzahlten.
Und kurz und gut: Ihr seht,
Herr Mi-Mau ist ein Mann, der sein Geschäft versteht.
Und binnen vierzehn Tagen war
Es jedem Zopf in China klar,
Dass unser Freund die höchste Blüte
Im Kunstgebiete,
Und dass der junge Gott aus Mi-a-no-wanns Lehre
Der langgesuchte Pinselheiland wäre.
Doch dabei blieb es nicht. Er ward, wie sichs gebührt,
Als neuer Stern in die Gesellschaft eingeführt.
Und Madame Melinet,
Die dazumalig grösstc Mäcenasc
Lud mit Emphase
Ihn ein zum Thee
Und zum Diner.
Sie machte ein gewaltig grosses Haus;
15 Ii?
Und die belle monde ging bei ihr ein und aus:
Ja, selbst Schlumbumbius
Des grossen Musikus
Noch grössre Witwe licss auf ihrer Assemblecn
Sich öfters sehen.
So kam es denn, dass unser junger Mann
Und seine Kunst
Durch Madame Melinets besondere Gunst
£Sic war Herrn Mi-Mau heimlich zugethan^
Noch mehr an Boden und Kredit gewann.
Wer kennt nicht, ach, aus seiner Jugendzeit
Die Thees und Jours, die schauderhaften,
Wo Jung und Alt mit wässrigtem Behagen
Sich wechselsweis beschnackten und begafften,
Und wo beim Dampf gefüllter Nektarschalen
Man säuselte von Kunst und Idealen?
Weit besser sind die groben Fressereien,
Wo Wein und gutes Essen
Die Langeweile macht vergessen,
Und man bei Sekt und Austernsauce
Gemütlich wird und burschikos,
Und Dumme ihre Dummheit sich verzeihen.
Das schlimmste aber leidet man,
Wenn man als ein Genie verschrieen,
Dann drangen sie sich alle an —
Als wären deine Geistesgaben
Ein Leckerbissen nur für ihren Gaurn gediehen,
Sie wollen alle etwas haben.
Die lieben Weiberchen sind meist
In ihrer Lüsternheit besonders dreist.
Nun, unser junger Mann, er machte alles mit
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Und zwar mit möglichst heitren Mienen,
Wenn er auch manchmal drunter litt,
Und manches ihm absurd erschienen.
Er schrieb den lieben jungen Damen
Auf ihre Fächer seinen Namen;
Den Angejahrten sagte er,
Sie hätten Recht, die Kunst sei wirklich schwer,
Und das Fatale
Sei stets das Ringen mit dem Ideale.
Der Mütter Antlitz macht er strahlen,
Fand ihre Töchter er zum «malen«,
Und bei den Vätern zeigt' er sich erfahren
Im Punkt der Weine und Cigarren.
Und schliesslich, wie sich alles gab,
Fiel manch* ein Vorteil für ihn ab.
Zum Beispiel ein Porträt bei Herrn von Tschu,
Bei seiner Frau ein Rendez-vous;
Er ward sogar — oh Krone dieser Welt! —
Den Majestäten vorgestellt,
Und kurz: Man sang sein Lob in jedem Ton
Er war der Löwe der Saison.
V.
TROTZDEM jedoch blieb unser junger Mann
Noch in der Lehre bei Mi-a-no-wann.
Denn nicht wie hier zu Land, wo jeder — kaum gereift
Gleich nach den Kränzen seiner Meister greift,
Und dem, der ihn das ABC gelehrt,
Noch eh ers wirklich kennt, den Rücken kehrt,
War es bei den Chinesen Sitte.
Im Reich der Mitte
Bleibt Schüler jeder, bis die festgesetzte Frist
Mit Tag und Jahr verlaufen ist.
Und sei der Lehrer auch talentlos wie ein Vieh,
Der Schüler aber ein Genie,
Es hilft ihm nichts, wenn er nicht abgesessen,
So wie ein jeder andrer seine Zeit
Galt es in China als vermessen,
Und als ein Zeichen höchster Eitelkeit,
Wenns einer mal probierte
Und sich ein Jahr zu früh als Meister etablierte.
Nun, diese Sitte ist recht schön,
Doch geht es ihr wie allen guten Dingen,
Die stets was Schlechtes mit sich bringen;
Und so ists auch für uns nicht angenehm zu sehn,
Wie unser Jüngling mit Bescheidenheit
Als Schüler tragen muss des Lehrers Neid.
Denn Missgunst frass an Herrn Mi-a-no-wann.
Oh — rief er öfters aus —
Dass meinen Schüler doch der Daus!
Ich bin durch ihn bald ein geschlagener Mann.
Schon jetzt verdunkelt dieses Knaben
Gestohlener Ruhm die Sonne meiner Gaben;
Und ist er erst aus meiner Werkstatt frei,
Ist es mit meinem Handel auch vorbei ! —
Weil ihn nun solch ein Schreckgespenst erregte
Und Gram und Furcht ihn wechselsweis bewegte,
Dass er sein altes Wesen nicht mehr trieb
Und Tag und Nacht kein Stündchen ruhig blieb,
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Und nicht mehr schlief, und wenn er wirklich schlief,
Ihn Träume quälten, sorgenschwer und schaurig,
Ward seine Miene bleich und traurig
Und seines Kopfes Haltung schief.
So sehr bekümmert war Mi-a-no-wann,
Der sonst ein Bonvivant und Lebemann;
Und sein Gemüt, das sonst verhältnismässig rein,
Ward jetzt vor Neid und Wut gemein.
Er wusste schliesslich nichts mehr anzustellen,
Und legte, wie in allen Fällen,
Wenn er um Rat und Trost verlegen war,
Die Sache seiner Gattin dar,
Die, 'ne geborne Rappelschnuss,
In grader Linie von Confucius
Entsprossen war, dem grossen Weisen
Und deshalb selbst als äusserst klug zu preisen.
Ihr Aeussres zeugte freilich nicht
Von ganz besondrer Gunst der Musen,
Denn knochenscharf war ihr Gesicht
Und etwas mangelhaft ihr Busen;
Doch ward als Politur für diese äussre Rauheit
Gar manche Tugend ihr, am meisten die der Schlauheit.
Von dieser machte sie denn auch
In unserm Fall Gebrauch.
Oh Weiberlist, was ist vor dir verschlossen!
Du hörst das Gras der Wiese sprossen,
Du riechst Verrat, der noch so fern geübt,
Indes du selbst verbirgst, was dir beliebt.
Die listige Frau Rappelschnuss
Bedachte hin und her, und kam zu diesem Schluss:
Der junge Esel,- den die ganze Welt
Auf einmal für den ersten Meister hält,
Und der vor kurzem noch ein Spott der andern war,
Kam — soviel scheint mir klar —
Nicht durch sich selbst und nicht durch Mi-Maus Schreiberei
Zu seinem Ruf; es scheint mir fast, als sei
Ein venig Zauberei
Hierbei
Im Spiel; mit rechten Dingen
Könnt sowas deinem Schüler nicht gelingen.
So roch Frau Rappelschnuss, die niemals fehlgeraten,
Auch dieses Mal den Braten;
Nur sollte sie mit ihren Geistesgaben
Hier ihrem Gatten eine Grube graben.
Doch dies nachher.
Sie riet nun ihrem Mann —
— Doch, warum blickt der Leser mich so an?
Und warum regt Erstaunen sein Gemüt?
Wol, weil die Dame gleich auf Zaubereien riet?
Nun, das ist nicht so schlimm. Die höhere Magic
Ist im Chinesenland
Ganz allgemein bekannt,
Und Jung und Alt benutzen sie.
Die Luft ist dort von Geistern so bewohnt,
Dass der Verkehr mit ihnen lohnt,
Und Occultismus
Und Spiritismus
Sind, wie bei uns das Kartenspiel, beliebt
Und werden mit Erfolg geübt. —
Europa freilich ist von Geistern etwas leer,
Drum fallt uns auch das Zaubern schwer.
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Mi-a-no-wann, auf seiner Gattin Rat,
Beschlich nun früh und spat
Den guten Jüngling, der an garnichts dachte,
Und keinen Hehl aus seinem Wandel machte.
So kam der Lehrer allzu schleunig nur
Ihm auf die Spur
Und merkte, dass voll Heiterkeit
An jedem Tag zur selben Zeit
Er nach der abgelegenen Kammer ging,
Wo unter anderm auch der schöne Garten hing,
Und dass er dort geraume Zeit verblieb
Und ein Gespräch mit irgend jemand trieb —
£Man könnt es durch die Thüre nicht verstehn
Und in der Dämmerung durchs Schlüsselloch nichts sehn.}
Doch wusste man,
Dass unser junger Mann
Schon oft mit höchstem Lobe pries
Des Wi-o-war-mi Paradies
Und dass ers als ein Bild von höchstem Werte
Und über jedes Mass verehrte.
Auch sah Mi-a-no-wann, wie voller Glück
Sein Antlitz strahlte, wenn zurück
Aus jener Kammer er gekommen,
Von wo man das Gespräch vernommen.
Dies alles machte ihn bedenklich,
Die Sache schien ihm doch verfänglich;
Bis er auf seiner Gattin Wort
Sich eines Tags verbarg an jenem Ort.
Denn diese sagte so: Wenn etwa dort ein Geist
Den Schüler unterweist,
Kann dirs vielleicht durch Geld und Schmeichelei gelingen,
Auf deine Seite ihn zu bringen,
Sodass er sich von jenem Knaben wendet,
Und dir den Segen seiner Weisheit spendet.
Und jedenfalls, scis so, seis so,
Die Sache hapert irgendwo;
Du darfst nicht ruhn, bis du nicht eruiert,
Was dort Verborgenes passiert.
So hat Mi-a-no-wann, mit Lumpen zugedeckt
In einem Winkel sich versteckt
Und wartete — ein wenig doch beklommen —
Bis unser junger Freund, sein Schüler, sollte kommen.
Er hatte sich vorher noch alles angesehn,
Doch könnt er nichts Absonderlichs erspähn;
Auch schien das grosse Bild im Abendschein
Ihm nicht besonders schön zu sein,
Wie alles Schöne stets ein Rätsel ihm verblieb,
Weil seine Kunst er nicht als wahrer Künstler trieb.
VI.
NICHT lange wartete Mi-a-no-wann,
Da hörte er den jungen Mann
Schon auf dem Korridore gehn,
Und sah ihn gleich darauf auch in der Kammer stchn,
Und sah, wie er mit brünstiger Gebärde
Sich vor dem Garten warf zur Erde,
Und hörte, wie er tief
Aufseufzend rief:
Oh Meister, heut auch trieb mich mein Verlangen,
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Dass wieder ich zu deinem Bild gegangen»
Erweise heute denn mir wieder deine Gunst,
Und alles, was du nun schon seit geraumer Zeit
Vom Mahle deiner hehren Kunst
Mir mitzuteilen gütigst warst bereit,
Oh gieb mirs heute auch, oh speise
Die Seele mir nach Götter Weise!
Erscheine wieder mir; denn ich gehöre
Mit allen Sinnen dir nur an,
Und wie dus jeden Tag gethan,
So segne mich auch jetzt durch deine Lehre.
Mi-a-no-wann war ganz perplex
Und dachte still: was will der Fex,
Wie kann man eine Landschaft haranguieren?
Das muss mich amüsieren.
Doch, siehe da, wie man euch schon erzählte
Am Anfang des Gedichts,
Phosphorescierte plötzlich das Gemälde
Im Schimmer zauberhaften Lichts.
Die Kammer schien sich seltsam aufzuhellen,
Lebendig wurden die gemalten Wellen,
Lebendig wurden Rosenbusch und Baum;
Und Herr Mi-a-no-wann befand sich wie im Traum.
Zwar selbst in diesem Glorienschein
Sah er den ganzen Reiz des Bildes noch nicht ein,
Wie jeder, der allein auf seinen Nutzen geht,
Von wahrer Schönheit nichts versteht;
Doch staunte er — soweit das ein Chinese kann —
Und sah das Ding mit offnem Munde an.
Um so gerührter ist der Dichter,
Da wieder sich das schöne Bild
In seiner ganzen Pracht enthüllt,
Und ungern leistete Verzicht er,
Es wieder alles sauber nachzumalen,
Was sich entdeckte in den Zauberstrahlen.
Die andern Dinge Hessen ihn nur kalt,
Er machte, dass er bald
Zu Ende kam mit dem, das ihn gar oft gequält,
Wenn alles ganz genau der Reihe nach erzählt
Und dargethan sein wollte, selbst der Ruhm
Von Mi-a-no-wanns bessrer Hälfte lag
Ihm nicht so sehr im Sinn als der gemalte Hag
Und Wi-o-war-rais Heiligtum.
Und just um diese Zeit, wo er am Ofen sitzt,
Und durch die zugefrornen Fenster
Kaum sehen kann, wie rings die ganze Welt
In Reif und Frost erschauernd blitzt,
Und Bäume stchn wie magere Gespenster,
Und sterngeformter Schnee vom grauen Himmel fällt,
Wie phantasierte er nicht gern
Bei einer Tasse China-Thee,
Es schmelze plötzlich all der Schnee,
Und alles Grün sei da und Blumen nah und fern,
Und Sonne, wie sie hell im schönen Garten schien,
Der alle Künste buhlender Armiden
Weit übertraf, selbst Tiburs Himmelsfrieden
Und Tcmpes zartes Myrtengrün?
Doch hab ich von dem Bild euch schon soviel gesagt,
Dass sicher euch schon längst die Langeweile plagt.
Nur eins noch möchte ich erzählen:
Aus der ätherisch klaren Luft
Quoll mit dem süssen Lied der leichtbeschwingten Kehlen
Ein Himmelsduft
Und parfümierte mit der reinsten Narde
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Die dumpfigte Mansarde-
Und selbst Mi-a-no-wann in seiner Lauerecke
Empfand, als ob er was sehr Angenehmes schmecke.
Dann aber tönte aus des Parks Bereichen
Melodisch hell ein Glockenzeichen.
Auf that sich des Palastes Thür,
Und Wi-o-war-mi trat herfür
Und ging bis an des Bildes Rand,
Ergriff den Schüler bei der Hand,
Um sich mit ihm auf manchem Pfad
Und am Gestad
Des kleinen Sees zu promenieren,
Und in gedämpftem Ton mit ihm zu konversieren,
Bis endlich in der süssen Frische
Der Rosenbüsche
Sich ihr Gespräch Mi-a-no-wannens Ohren,
Sie selbst sich seinem Blick verloren.
Gleich kroch Mi-a-no-wann, der Thor
Neugierig aus dem Winkel vor
Und lief zum Bild und hob das Bein
Und wollte in den Park hinein.
Doch fohlt er plötzlich sich gehemmt,
Sein Streben eingedämmt,
Und wenn er auch gesehn, wie Busch und Baum sich regten,
Und Luft und Wasser spielend sich bewegten,
So blieb doch jetzt, wie er auch das Papier befühlt,
Das Bild ein Bild.
So Hess er schliesslich nach und sagte voll Verdruss:
Erwarten wir den Schluss.
Und da aufs neue er der beiden Wort vernahm,
Das langsam näher kam,
Verbarg er wieder sich, um zu erspähn,
Was weiter sollte vor sich gehn.
Kaum war er an den Ort gekommen,
Den er schon vorhin eingenommen,
Als es sich wieder in den Büschen regte,
Und unser Paar sich aus dem Bild hervorbewegte.
Oh, wie Mi-a-no-wann nun wieder lauschte
Auf jedes Wort, das Wi-o-war-mis Mund entrauschte.
Der sprach zum Schüler: Sohn, dir einzig und allein
Werd ich den Segen meiner Lehre weihn.
Denn wahrlich, diese Welt ist schlecht,
Kein Einziger weiss mehr was gut und recht,
Verwirrung herrscht und Unverstand
Und unsre Kunst geriet aus Rand und Band.
Ein Heer von Pinseln meint, sie könnten, weil sies sind,
Die Welt mit ihren Pinseleien
Nach Billigkeit erfreuen;
Und die lässt sichs gefallen, Weil sie blind.
Wo Dummheit herrscht und Aberwitz,
Zieht sich der Weise gern zurück auf seinen Sitz.
Nur du mein Sohn — so schloss er mit Emphase —
Bist in der Wüstenei die blühende Oase.
Beschämt und froh schlich unser Freund hinaus
Und Wi-o-war-mi ging in sein gemaltes Haus.
Der Glanz entwich vom Bild, wie wenn die Sonne sinkt,
Und Dunkelheit aus allen Tiefen dringt,
Nur auf den Höhen lag noch kurz ein letzter Strahl,
Auch der verlosch, dann ward es dunkel überall.
Und dunkel ward es auch in Mi-a-no-wanns Brust.
Erloschen war die Sonne seiner Lust
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Und Groll und 'Wut, und was noch sonst im Finstern brüte,
Kroch zu ihm her und kroch ihm ins Gemüte.
Oh Neid, aus dunklem Schoss der Lüsternheit gezeugt,
Und von Verrat und Wut, den Ammen, grossgesäugt,
Medusa du, vorm eignen Anblick grausend
Und drum in Finsternis und im Verborgnen hausend,
Und doch wie alles giftige Gezücht
Auf Opfer stets und Beute so erpicht,
Blutsauger du, der in verworfener Gier
Das Blut des Nächsten heimlich saugt,
Du Ungetüm, das wie ein reissend Tier
In fremden Leib die blutigen Krallen taucht,
Gespenst, das Wandrer auf des Lebens Bahn
Boshaft erschreckt, du missgeborener Wahn,
Der kleine Seelen bitter und vergällt
Zu taumelhaftem Hochmut schwellt,
Wo, wenn ein Edler sank, ein Hohes fiel,
Warst du, verruchter Neid, nicht mit im Spiel!
Von Abel an, wie manch ein Weiser und ein Held
Ward nicht durch deine List gefällt!
Und wo Verrat die Städt und Staaten stürzt,
Bist dus, der der verräterischen Brust
Den Trank der übel tollen Lust
Mit seinen schärfsten Giften würzt.
Die Könige kannst du auf ihrem Thron nicht leiden,
Und möchtest Gott sogar um seinen Himmel neiden.
Das Hohe willst du tief, Gegründetes vernichtet
Und musst doch dulden, dass man dich bedichtet. —
— So ist der Dichter, was die ganze Welt
Zersplittert und zusammenhält,
Das Meer, das Land, den Sonn- und Mondenschein,
Er fangt sie all im Netz von seinen Versen ein.
VII.
OCH lang im dunkeln Zimmer sass
Mi-a-no-wann und frass
Den Brei, den ihm sein Ingrimm kochte,
Und den er garnicht schlucken mochte,
Und der geschluckt in Kopf und Kragen
Ihm regte manches Unbehagen,
So dass er unter vielem Stöhnen
Auf Racheplänen
Mit finstrer Miene brütete
Und wütete.
Doch venn der Leser etwa denken sollte,
Dass Herr Mi-a-no-wann
Auf Mord und Totschlag sann,
So irrt er sich, denn wenn der gute Mann
Auch noch so grollte
Und schmollte,
So war er doch verhältnismässig schüchtern
Und von Verstände ziemlich nüchtern.
Er dachte nur daran, wie es wol anzustellen,
Dem Jüngling seine Freude zu vergällen.
Und als er, weil ihm selbst kein Einfall kam,
Zur Gattin seine Zuflucht nahm,
Sprach die : Wir müssen es auf jeden Fall
Vermeiden,
Das Bild etwa entzwei zu schneiden. —
Wer weiss, ob nicht mit fürchterlichem Prall
Der Geist
Dir dann zu Kopfe steigt, und dich zu Boden schmeisst,
Und dir das Leben raubt, wie es schon manchem Christen
Mit Geistern ist passiert. Hier gilts, ihn Überlisten.
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Drum höre, was ich ausgedacht:
In stiller Nacht,
Wenn alles schläft, auch er in seinem Haus,
Dann steigst du aus dem Bett heraus,
Gehst in die Kammer, malst bei einer Lampe Schein
Vor Thür und Fenster ihm ne Wand von Ziegelstein.
Dann kann er sich nicht mehr uns lästig machen
Und vir, vir können uns ins Faustchen lachen.
So lautete Frau Rappelschnussens Plan.
Es sah so einfach sich und ungefährlich an,
Doch wie gar manches, das uns harmlos deucht,
Aus seinem Schoss ein schweres Unglück zeugt,
So wars auch hier. Die Dame Rappelschnuss
Hilft unserm Schwank zu einem trüben Schluss.
Mi-a-no-wann, wie sie es ihm gesagt,
Schlich sich denn wirklich in der nächsten Nacht
Mit einer Tube rot und einer Tube weiss
Und einer Tube Medium
Und Pinsel und Palett ins Sanktuarium
Und malte dort mit Fleiss
Und hübsch genau in aller Seelenruh
Die Thüren und die Fenster zu,
Ohn nur ein einziges zu verpassen
Und auszulassen.
Als er gemalt nun Stein um Stein
Mit ihren Fugen weiss und rein,
Und nichts sich im Palaste rührte,
Und er vom Bild her kernen Ton verspürte,
Ging er voll Heiterkeit ins Bett, allwo er tief
Bis in den hellen Morgen schlief.
Doch als nun wiederum am nächsten Abend
Die Dämmerung mit Tau und Rosen kam,
Die heisse Flur mit kühler Ruhe labend,
Und alles sanft in ihre Arme nahm,
Und ihre Flügel schon die Nacht herüberstreckte,
War ers, der wieder sich im Kämmerlein versteckte.
Denn wo war nicht die Schadenfreude
Verbunden mit dem Neide?
So wollte er — und kicherte — erharren,
Des armen Schülers Ankunft, den zum Narren
Er jetzt nach seiner Meinung haben konnte,
Und den er, wenn nun auf sein Rufen
Der Geist nicht mehr erschien auf des Palastes Stufen,
Und die gemalte Flur sich nicht mehr hell besonnte,
Durch seine Gegenwart und Wissenschaft erschrecken
Und ihn bei Gross und Klein mit seinem Lehrer necken
Und so blamieren wollte,
Dass ihn kein Mensch mehr respektieren sollte. —
— Er rieb sich schon im voraus seine Hände
Und ahnte nicht das dicke Ende,
Das öfters kommt, wenn Frevlern Frevelthaten
Nach ihrer falschen Meinung gut geraten.
Der Jüngling kam nun bald; und wirklich klang kein Ton
Vom Bilde her, nachdem er den Sermon
Auf seinen Knieen, wie jedes Mal gesprochen,
Auch ward kein Licht gesehn, kein Duft gerochen,
Die Kammer blieb im Dunkeln ruhiglich;
Und Mi-a-no-wann war vor Wonne ausser sich.
Der Jüngling wars vor Schmerz und Staunen £was geschchn
Könnt er ja in der Dunkelheit nicht sehn>.
Doch plötzlich hörte man aus des Palastes Hallen
Gewaltige Hammerschläge schallen.
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Mi-a-no-wann ! Wie fiel bei dem Getose
Das Herz dir in die Hose!
Und als die Schläge immer öfter prallten
Und fürchterlich wie ferner Donner hallten,
Und wie auf einmal aus 'nem Ritz
Der Ziegelmauer brach ein Strahlenblitz,
Da hielts ihn nicht und mit gesträubtem Zopf
Kroch aus der Ecke vor der arme Tropf.
Und siehe da, wie vor dem Blick der Schlangen
Ein Kolibri hält still, gefangen,
Und vor des Feindes ungeheurer List
Jedwede Hoffnung oder Flucht vergisst,
So wars mit ihm, ihn zog ein innrer Drang,
Geheimnisvoller Zauberzwang
Zu unserm Jüngling hin, der bei der Sache
Vor Schrecken fast die Sprache
Verlor, und Hess an dessen Seite ihn
Vor dem Gemälde nieder knien,
Und zwang ihn dort sich zitternd zu verhalten,
Bis völlig ward die Ziegelwand zerspalten,
Und bis der wundervolle Schimmer
Sich wieder zeigte in Gehölz und Zimmer.
Und als die Mauer nun den wiederholten Schlägen
Des Hammers ganz erlegen,
Bewegten voller "Wörde aus dem Thor
Der Maler und der Kaiser sich hervor,
Der Kaiser Ting, der vor viclhundcrt Jahren
Auch in das Schlösschen zog, wie ihr es schon erfahren.
Und Wi-o-war-mi trat an des Gemäldes Rand
Und hielt 'nen Ziegel in der Hand
Und warf — hab hier auf alle Fälle
Dein Riechsalz, liebe Leserin, zur Stelle —
Und warf mit solcher Wucht dem armen Tropf
Den schweren Backstein an den Kopf,
Dass — wenn er von Natur auch ziemlich hart —
Sein Schädel durch und durch gespalten ward.
Oh Rappclschnuss, vergeht dir nun dein Lachen?
Du selber musstest dich zur Witwe machen.
vni.
SO traf Mi-a-no-wann ein grauses Strafgericht,
Und es erlosch sein Lebenslicht. —
Der alte Maler stand noch immer zornentglommen,
Und unser Jüngling schwieg beklommen;
Da trat die Majestät mit hohem Anstand vor
Und sprach zur Leiche: Siehst du, grober Thor,
Wenn Aberwitz und Dummheit neidgeschwellt
Zum Sturz des Edlen sich vereinen,
So bleibt dasselbe zwar zunächst ganz ungerührt,
Wie auch der Mond vom Mopse angebellt
Nicht unterbricht sein stetes Scheinen,
Und ruhig seine Herde weiter führt,
Doch wenn Verrat- und Gift-geschwollen
Die Hand ans Heiligtum ihr legt,
Erregt ihr selbst des Himmels Grollen,
Dass er im Blitz euch niederschlägt.
So ists auch hier geschehn, du dachtest
Schon, dass du uns zu nichte machtest,
Und prahltest
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Schon vor dir selbst, dass du den Ausgang uns vermaltest.
Jedoch dein Plan war schlecht. Bliebs uns doch unbenommen,
Durch eine Hinterthür heraus zu kommen.
Wir thaten dieses nicht; dem Fürsten und dem Weisen
Ziemts überall höchst ehrenvoll zu reisen.
So brach man denn für uns ganz ohne Müh und Pein
Die noch nicht trockne Mauer ein.
Und nun liegst du getroffen vor dem Tempel
Der Kunst als warnendes Exempel.
Nachdem er dies gesprochen, ging
Der Kaiser Ting
Mit Würde wieder in das Schloss,
Wo noch mit all dem Mauerschmutz
Und der Beseitigung des Schutts
Beschäftigt war der Dienertross. —
Der Leser fragt mich nun gewiss:
Wie kommts, dass hier am Ende der Geschichte
Die Majestät noch einmal tritt zu Lichte,
Nachdem die ganze Zeit sie ungesehen blieb,
Und — weiss Gott was — im Zaubergarten trieb?
Könnt Wi-o-war-mi nicht, wenns überhaupt von Nöten,
Die obligate Rede reden?
Oh Leser, diese lange Apostrophe
Beweist, du seist kein Philosophe.
Vernehme denn den Grund und werde weiser:
Die Regel gilt noch heut: Der Unterthan
Ist still und leistet, was er kann,
Die Reden aber hält der Kaiser.
• *
231
NUN will sich die Geschichte schliefen ;
Doch wills, ich sehs an ihren Mienen —
Die holden Leserinnen
Und ihre Neugier bass verdriessen,
Dass ich nicht alles ausgeführt,
Was fernerhin passiert,
Was nach dem Tode von Mi-a-no-wann
Mit unserm jungen Mann
Und mit den Tänzerinnen zart
Und mit dem Kaiser und mit Wi-o-var-mi ward.
So hört denn kurz: Der junge Mann verschwand
Mit Wi-o-war-mi und der Majestät
Im Bild, das ruhig nun und glatt wie eine Wand
Für alle Zeit verblieb, bis endlich spät,
Als einst ein Aufstand war im Reich der Mitte,
Ein wilder Haufen ohne Zucht und Sitte
Auch in der Galerie, in der das Bild jetzt stand,
'Nen angenehmen Ort fiir seine Tobsucht fand.
Und vor der Wut antiker Boxerscharen
Könnt niemand unser Bild bewahren.
Doch wunderbar, wie eine Lanzenspitze
Das Bild ein wenig nur durchbohrt,
Geschahen allsofort
Die unerhörtesten und schaudervollsten Blitze;
Ein Donnern scholl, die Schar liess ab von ihrem Raube
Und machte schnell sich aus dem Staube.
Doch aus dem Bild entwickelte sich sich zart
Ein Silberrauch besondrer Art.
Den ganzen Park mit Bäumen, Schloss und Teichen
Sah man in diesem Rauch entweichen;
Und auf der Wolke unterm Rand
Sah Wi-o-war-mi man, der heiter lächelnd stand,
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Und unscrn Jüngling und den Kaiser Ting,
Die Tanzerinnen alle zart und lieblich;
Und all der bunte Dunst zog durch ein Fenster flink
Man sah ihn bald darauf am Horizonte trüblich
Als rosenfarbnes Abendvölkchen stehn;
Dann ward von aller Pracht nichts mehr gesehn.
Zuweilen nur, wenn Wandrer lange Zeit
In Wüstenstaub und Hitze sich gemüht,
Geschieht es, dass am Horizonte weit
Seltsam ein Wundergarten blüht;
Man glaubt sich in des Paradieses Nähe
Und eilt herbei, doch wie man näher eilt,
Hat sich das Trugbild in der Höhe
Schon wieder wolkcnhaft zerteilt.
Fata Morgana nennt man dieses Phänomen
Und fabelt wohl, es sei der Aufenthalt der Feen,
Ihr aber, die ihr mir gelauscht, ihr wisse,
Dass es des Wi-o-war-mi Garten ist.
Zum Schluss nun wünscht der Dichter euch
Ein langes Leben, freudenreich,
Und dass vor Neid und falscher Freunde List
Euch Gott bewahre jeder Frist,
Und dass ihr, wenn euch Sehnsucht rein entzündet,
Den Weg wie unser Jüngling findet.
Denn: Wenigen ist ein Paradies die Kunst;
Den meisten ist sie blauer Dunst.
Nun liebe Hörer, regt zum Beifall eure Hände,
Denn wir sind wirklich jetzt am
ENDE.
Zwei Holzschnitte unbekannter Herkunft aus der k. u. k. Hofbiblio-
thek zu Wien.
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^37
>o 3l e
ANMERKUNGEN.
IE beiden Trauer-Gedichte über den Tod zweier
Schosshündchen sind aus einer alten Sammlung nieder-
sächsischer Dichtungen von 1725, und sind von
dem seiner Zeit sehr berühmten Martin Brandenburg
verfasst. Man wird es wohl verstehen, weshalb wir
diese beiden Gedichte, die in ihrer Mischung von frei-
williger und unfreiwilliger Droleric ausserordentlich reizvoll sind, in das
Februar-Heft, das auch in diesem Jahre einen genehm übermütig heiteren
Charakter zeigt, aufgenommen haben. Wir werden im Lauf dieses Jahres
noch verschiedene Beiträge aus dem erwähnten Sammelwerk bringen.
Der vollständige Titel des zweiten Gedichtes, von dem wir nur die
Schlussverse abdruckten, heisst:
Vier Schluss-Strophen aus
Das Ruhm-würdige
Amourettchen,
entworfen von Fhilaret.
oder der beklagte Tod eines Schoss-
Hündchens.
Brandenburg.
Einer der Verse dieses unglaublich langen Gedichtes rief wegen einer
Anspielung auf die Gefallsucht und die Toilettenkünste der damaligen
Hamburger Damen eine poetische Controvcrse zwischen einer »Ermine«
und »Philaret* hervor, die hier mitzuteilen, wir uns wegen des fehlenden
Raumes leider versagen müssen.
'IT 7IR würden Über die alten Holzschnitte, die wir in dieser Nummer
V V bringen, kein Wort verlieren, wenn wir nicht — durch manche
Erfahrung gewitzigt — vor der Urteilslosigkeit und dem bösen Willen
unsrer Kritiker und Tagesblätter eine gewisse Scheu hätten. Wir er-
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klären nun, um allen möglichen Angriffen von vorne herein zu Be-
gegnen, dass wir durchaus nicht irgend welche Sensationen durch das
Stoffliche des zweiten Holzschnitts erregen, noch uns in irgend einer
Weise das Ansehen genialer Rüpelhaftigkeit geben wollen. Der ver-
ständige Kunstfreund wird uns dankbar sein, wenn wir in dem einzigen
deutschen Blatte, das sich ohne Rücksicht auf irgend welche anderweitige
Bedenklichkeiten einer reinen Kunstpflege widmet, hier und da auch solche
Dokumente alter oder neuerer Kunst veröffentlichen, die heutigen Tages
in einer auf grössere Verbreitung und umfassendere Wirkung berechneten
Publikation schlechterdings nicht am Platze wären.
@>
IN der Revue blanche vom i 5. Deiember schreibt Ernest Lajeunesse sehr
schöne Zeilen über Oscar Wilde's traurige letzte Zeit in Paris. «Ein
aufgeschwemmtes Phantom, eine enorme Karikatur, wie er sich so über
einen manhattan oder ein grand whisky soda beugte und für schnell vor-
gestellte Neugierige, für Freunde, für irgendwen, immer wieder seine
Improvisationen improvisierte oder seine etwas müden Paradoxe wieder-
holte. Eigentlich holte er nur für sich selber alle diese Geschichten
wieder hervor. Er wollte sich einschläfern und aufwecken zugleich, sich
überzeugen, dass er noch denke, dass er noch wisse. Und er wusste alles.
Die Kommentatoren des Dante und ihre Kommentare, die Quellen des
Rossetti, die Kleinigkeiten und die grossen Dinge, über alles das redete er
eifrig wie ein Jüngling, worauf er lächelte mit seinem Leidenslächeln
oder sich einem Lachen hingab, einem Lachen für nichts, das seinen
Bauch schüttelte, seine Schweins-Kinnbacken und das Gold seiner arm-
seligen Zähne. Langsam, Wort für Wort, in seinem Fieber einer stammeln-
den Arbeit, erfand er leichte Parabeln ; die Geschichte von dem Herrn, der,
nachdem er ein falsches Geldstück erhalten, mit dem illusorischen König
zu streiten beginnt, dessen Bild er gesehen . . . Aber es fehlte ihm, um
es aufzuschreiben, der goldne Tisch des Seneca — und sein eigner . . .
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Er war auf dem Land gewesen und in Italien, er wollte nach Spanien und
an die mittelländische Küste zurück: aber es gab nichts als Paris, das fast
verschlossene Paris, das ihm nicht mehr bot als Spelunken, wo zu trinken,
ein taubes Paris, ein ausgehungertes, hastiges Paris mitCongestionen dort und
Bleichsucht da, eine Stadt ohne Ewigkeit und ohne Mythe. Jeder Tag brachte
ihm Leiden: ohne Hof, ohne Freund fiel er in schlimmste Neurasthenie.
Die Not peinigte ihn: die Pension von zehn Francs für den Tag, die er von
seiner Familie bekam, erhielt keinen Zuwachs von den Verlegern: er
sollte arbeiten, Sachen, zu denen er sich vertragsmäßig verpflichtet hatte
— und es ist ihm nicht möglich, vor drei Uhr Nachmittag aufzustehen.
Aber er quält sich nicht mit Bitterkeit, er braucht sich auf: eines Tages
legt er sich zu Bett mit der Vorgabe, in einem Restaurant durch Muscheln
vergiftet worden zu sein: nur schwer vermag er wieder aufzustehen, mit
einem Vorgedanken an den Tod, den er sterben wird. Da erzählt er alle
seine Geschichten auf einmal : es ist das bittere und blendende Bouquet eines
übermenschlichen Feuerwerks. Die ihn am Ende seines Lebens sahen, wie
er da die Strähnen von Gold und gewebten Steinen abhaspelte, diese phan-
tastischen Subtilitäten hörten, aus denen er seine Dramen und künftigen
Gedichte schneiden und malen wollte, die da sahen, wie er das alles nach-
lässig und stolz wie nichts hielt und ihn seine letzten Worte husten und
lachen hörten, werden die Erinnerung an ein trauriges und hohes Schau-
spiel von einem kaltblütigen Verdammten bewahren, der nicht ganz zu
Grunde gehen will*. Wir werden im Laufe dieses Jahrganges verschiedene
Arbeiten Wilde's veröffentlichen, die bisher in deutscher Sprache noch
nicht erschienen sind. Blei.
m.
Michael Krämer. Drama in vier Akten von Gerhart Hauptmann.
^Berlin bei S. Fischer.}
W AEHREND der Fuhrmann Hentschcl ein in seiner Art vollkommenes
Meisterwerk ist, das man nur mit einem Gefühle herzlicher
Bekümmerung über sich ergehen lassen kann £cs sei denn, man betrachte
241
es lediglich auf seine technischen Qualitäten hin}, so ist Michael Kramer
eine unvollkommene, mit klar ersichtlichen Fehlern reichlich behaftete
Dichtung, nach deren Genuss man das schöne Gefühl wahrhaftiger Bereiche-
rung und Erhebung hat £es sei denn, man lasse sich durch die Mangel-
haftigkeit einzelner Teile übermässig beirren}. Wir dürfen hier zum ersten
Male Gerhart Hauptmann als den Schöpfer einer reinen, grossen, in einem
gewissen Sinne monumentalen Gestalt begrüssen, und wir thun dies mit
um so lebhafterer Freude, als wir von der Empfindung erfüllt sind, dass der
Dichter mit diesem Werke, mit dieser Gestalt bewusst seinen ersten Schritt
in d a s Gebiet grosser Kunst gethan hat, auf dem wir bei seiner künstlerischen
Kraft *und Bedeutung Vollendetes von ihm erwarten dürfen. Es ist nicht
das erste Mal, dass er sich bestrebt, aus der Enge der realistischen Genre-
kunst heraus in freiere Weiten, tiefere Gründe, höhere Sphären zu kommen,
aber während dieses verehrungswürdige Streben ihn bisher vom Wesen
seiner Begabung abführte und in ferne Gebiete lenkte, zu deren Beherr-
schung seine Mittel unzureichend sind, hat er sich diesmal nicht vom
Mutterboden seiner Kraft entfernt und rein mit seinen Mitteln etwas
wirklich Grosses geschaffen, indem er das Wesen eines bedeutenden
Menschen ganz umfasste und künstlerisch in so starken Zügen schön hin-
stellte, dass wir endlich wieder einmal das Hochgefühl haben, zu sehen,
wie die kostbaren Kräfte hoher Kunst sich an einem grossen Stück Leben
siegreich messen. Die Gestalt des alten Kramer ist nicht das Werk
brillanter Kleinkunst, sondern die Schöpfung eines Dichters. Sie ist nicht
bloss beobachtet oder aus beobachteten Zügen konstruiert, sondern sie ist
wirklich im Geiste empfangen und geboren aus den Tiefen schöpferischer
Kraft. Darum interessiert sie nicht bloss als tadellose Figur, sondern sie
strahlt alle die Kraft und Wärme einer starken Seele aus, die dazu nötig
sein musste, ein solches Gebilde aus sich zu erzeugen. Man kann das
kaum im Einzelnen nachweben, aber wer nur überhaupt Sinn für das
hat, was wir einzig Kunst nennen sollten: für das, was dem Genius ge-
schenkt, der blossen Geschicklichkeit nie zu eigen wird, für das Ent-
standene, nicht Gemachte, für das Wunderbare, das nicht bloss Spiegel
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der Wirklichkeit, sondern eine eigene Wirklichkeit ist, — der wird davor
nicht nur das Gefühl künstlerischer Genugtuung, sondern ein Gefühl
von Andacht und Beglückung haben. Es widerstrebt mir, angesichts dieser
Gestalt, der ersten grossen Leistung Hauptmanns, von den Mängeln des
Stückes zu reden, das in der Mehrzahl seiner Partien jener belanglosen
Genrekunst angehört, die selbst in ihrer Vollendung kümmerlich wirkt.
Man empfindet fast etwas wie Freude darüber, dass diese Partien vom
Dichter nicht mit der sonst an ihm bekannten Liebe für den Kleinkram
behandelt sind. Man möchte glauben, dass zuerst der wundervolle vierte
Akt entstanden und das übrige mit einer Art Depoüt hinzugefügt sei.
Das wäre im Sinne des früheren Kleinmeisters Hauptmann ein schweres
Vergehen gegen die Regeln des guten und sauberen Handwerks, aber der
Schöpfer der Gestalt des alten Kramer darf sich dafür schon Absolution
gewähren, wenngleich das Publikum gegen ihn entschieden hat.
O. J. B.
DIE INSEL, n. JAHRGANG, z. QUARTAL Nr. 5. FEBRUAR 190 t.
FUER DEN INHALT VERANTWORTLICH : A. W. HEYMEL,
MUENCHEN.
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BEZUGS-BEDINGUNGEN
Abonnement vierteljährlich 6 Mark, halbjährlich 1 2 Mark,
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papier für jedes Quartal
Einzelpreis der Monatsnummer: 2 Mark.
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Auf starkes Inselpapier (Wasserzeichen Schilf) werden
50 Stück gedruckt. Von dieser Ausgabe kostet das Heft
3 Mark, das Abonnement vierteljährlich 9 Mark, halbjährlich
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Vom ersten Jahrgang werden einzelne Hefte nicht mehr
abgegeben, doch sind noch kompletteExemplare vorhanden,
die bis auf weiteres noch zu dem ursprünglichen Preise
£ jeder Quartalsband 1 2 Mark, alle vier zusammen 36 Mark}
abgegeben werden. Bei gleichzeitiger Erwerbung des
ganzen (gebundenen} ersten Jahrganges der Monatsschrift
und des (nur im ersten Jahrgange erschienenen} Mappen-
werkes tritt wie bisher eine Ermässigung des Gesamtpreises
auf 7 5 Mark (statt 90 Mark} für beide Publikationen ein.
Für sich allein kostet das Mappenwerk nach wie vor 50 Mark
4& ^2 6& 6& 4® ^^^^ ^
Die Redaktion der Insel befindet sich in München
Leopoldstrasse 4.
Unverlangt eingeschickte Beiträge werden nicht zurück-
geschickt. Redaktionelle Gegenäusserungen erfolgen nur
im Falle der Annahme.
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f
Ä^"" ^^^^ ^'^ESgSp^
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Die Insel
Herausgegeben von
Otto Julius Bierbaum * Alfred WaJccr
Heymel und Rudolf Alexander Schroeder
Zweiter Jahrgang. Sechstes Herr. März 1901
Preis 2 Mark
Erschienen im Insel -Vehlage
bei Schuster & Locffler in Berlin und Leipüg
....«nit i I ■ f 1 U, . .1 m, . f
DIE INSEL/ MONATSSCHRIFT MIT BUCH-
SCHMUCK UND ILLUSTRATIONEN/ HERAUS-
GEGEBEN VON O. J. BIERBAUM, A. W. HEYME
UND R. A. SCHROEDER
IL Jahrgang. 2. Quartal, No. 6. März 1901.
INHALTS -VERZEICHNIS
Zwei Menschen. Roman in Romanzen von Richard Dehmel. Fünftes
Stück 14*
Zwei Kupferstiche nach Zeichnungen von Callot aus E. Th. A.Hofouims
Prinzess Brambilla
Die ungewöhnliche Orchidee. Aus dem Englischen de« H. G. Welk von
Franz Blei :6j
•
Eine sentimentale Reise in Versen von Otto Julius Bierbaum . . 174
Zwei Zeichnungen von Felix Vallotton xti
Fuchs von Jules Renard. Uebersetzt von Hugo von Hofmannsthal i\]
Märchen von Marcus Behmer mit einer Zeichnung des Verfassers . J4jf
Prolog zum Erdgeist. Tragödie in vier Akten von Frank Wedekind 3?«
Zwei japanische Holzschnitte >5f
Anmerkungen 3* 1
JAN 28 1937 )
1 r. :< iU-
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DIE INSEL. Nr. 6.
MAERZ. 1901.
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ZWEI MENSCHEN
Roman in Romanzen von Richard DehmcL
Zweiter Umkreis: Die Seligkeit
Eingang.
Halt ein, halt ein — weit über jenen Gleisen,
wo man noch Höhen sieht und Tiefen}
nun sollst du erst das wahre Leben umkreisen
und sollst der Allmacht Deine Macht verbriefen.
Sieh: zwei Adler steuern, vom Sturm getrieben,
über allem Erdentrott!
Du aber bist noch Mensch geblieben:
du atmest und entatmest Gott.
Willst du nicht das Ewige selbst erreichen?
oh, dann lafs auch Gott zurück!
denn es gilt, o Mensch, dein Glück
mit dem Weltglück zu vergleichen.
Es lebe die That.
Zwei Menschen reiten durch maihellen Hain,
galopp, galopp, von Schatten zu Sonnenschein,
alle Blätter sind grüne Flammen.
Wenn der Himmel erscheint, wenn die Pferde aufschnauben,
sehn sich die Beiden mit jauchzenden Augen
immer wieder beisammen
und werfen den Kopf wie die Tiere.
Immer wieder streckt durch die goldnen Strahlen
auf dem schmalen
Moosweg zwischen den hohen Stämmen
dann ein dunkler Schemen
halb Chimäre halb Drache
hopp alle Viere,
da müssen sie lachen
und werfen dem Untier Kufshände zu.
Und das Weib kann den Jubel nicht länger dämmen,
laut scheucht ihr Ruf die Mittagsruh :
Echo! Echo! stimm ein, stimm ein —
es wollt eine Seele sich befrein,
da band das Glück ihr die Hände!
O Meiner, hilf mir die Arme breiten,
halt mich gefangen, du, ohne Ende,
ach könnt ich ewig so weiter reiten!
Und der Mann, plötzlich die Sporen gebend,
in die Brusttasche greifend, im Sattel sich hebend,
jagt vor ihr her fort :
komm, ich nehm dich beim Wort !
Und wenn ich die Freiheit drüber verliere:
hier — es lebe die That — und das nöt'ge klein Geld!
*
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voila, madamc: Banknoten! — gelt:
die sind doch mehr wert als Archivpapiere?!
Er schwenkt die blauen Lappen in der Sonne,
er lacht, dafs ein fast schreckhaft Echo gellt;
sie hat kaum zugehört vor Frühlingswonne,
aufbäumend gleifst ihr Rappen in der Sonne,
zwei Menschen reiten in die Welt.
Ein Rückblick.
Und sie machen Halt und lugen aus :
da liegt, von Epheu eingehüllt,
im Kiefernhochwald still ein kleines Haus,
die graue Lichtung ist erfüllt
vom kühlen Duft des Morgentaus.
Der Mann blickt lange auf die beiden Linden
am moosbedeckten Zaun des alten Herdes,
dann greift er in die Mähne seines Pferdes
und nimmt ein Haar und übcrgicbt's den Winden:
Sieh, Meine, so werf ich hinter mich,
was uns noch scheidet durch Erinnerungen.
Dort halten Zwei in treuen Armen sich,
die träumen jetzt vielleicht von ihrem Jungen,
wie er sein Kind küfst, väterlich.
Sie haben Alles in mir grofsgehegt,
wodurch sich Menschenseelen glücklich schätzen j
doch wüfsten sie, welch Glück mich jetzt bewegt,
und welches Leid es Andern auferlegt,
sie würden sich vor ihrem Sohn entsetzen.
Er blickt kalt weg, er lächelt befangen ;
das Weib hebt sacht vom Sattelknauf die Hand.
Sie hat das Haar im Flattern aufgefangen,
sie hält's wie tum Zerreifsen gespannt.
Nun reicht sie's ihm zurück mit fröstelnden Wangen:
Nein, Lux: so leicht verwirft man nicht.
Was hilft dein Lächeln — ich seh dein wahres Gesicht ;
uns scheidet Alles, was uns nicht gesellt.
Du willst mir helfen, mich in mein Schicksal schicken ;
wohlan 1 so zeige mir mit immer wärmeren Blicken
versöhnt die Zwietracht dieser Weltl
Da fliegt ein Glanz rings übers Haidekraut,
die Sonne kommt durchs Holz, ein Hund giebt Laut,
ein Ruf hallt jenseit des Geheges ;
das Haar entweht, hell starrt das Hirschgeweih
vom grauen First der Försterei,
) zwei Menschen reiten eilends ihres Weges.
Weiter.
Und auf einer Landstrafse begegnet ihnen
eine Heerde Schafe, vom Abendrot beschienen,
und sie müssen durch den Staub.
Der lahme Hirt hebt besorgt seinen Stecken,
dafs die Pferde wie rasend vor der Mifsgestalt erschrecken,
aus den Zügeln gehn, hussa, quer durch den Haufen.
Hinter ihnen her lärmt's blökend und blaffend, .
eine Weile — dann stoppt der tolle Ritt,
sie zwingen die Gäule zum spanischen Schritt,
und das Weib sagt lächelnd, die Schleppe raffend:
Als ich gestern den Brief — du weifst — abschickte,
da wurde mir auf einmal klar,
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wie dienlich der goldne Käfig mir war,
in dessen Luft ich beinah erstickte.
Wie hat diese Luft mir doch erst eingegeben,
was es bedeutet, sich ganz ausleben,
ganz in ein andres Leben hin!
Wie kann ich jetzt in jedem Baum aufgehen:
das Wachstum jeder Blüte läfst mich sehen,
was du mir bist, was ich dir bin!
Wie glänzt mir selbst der Krüppel dort im Staube,
er ist so eins mit seinen Hunden
wie Gott mit seiner Welt! ich glaube,
das hätt ich früher nicht empfunden.
Früher — nickt der Mann, und klemmt die Kandare herunter,
denn sein Blauschimmel halst nach ihrem Rappen,
als wollten sie wieder durch die Lappen:
Aber weifst du : steig lieber nicht weiter hinunter
in diese Welt der einfachen Seelen —
sonst möchte dir Eins an ihrem Gottglück fehlen:
sie gehn nicht auf darin, sie gehn drin unter —
unwissend I — Gottseidank : nicht Einen Tag
wärst du im Stande, zwischen diesen Viehern
dich auszuleben — oder sag:
möchtest du Tiere zu Erziehern ?
Zwei Menschen lachen ; zwei Pferde wiehern.
Am Quell.
Und es führt ein Wildsteg durch Farrenkraut bergan,
über Moos und Felsen schlüpft hüpfend das Licht
und blitzt im Dickicht, fern ruft ein Kuckuk.
Und es sprudelt ein Wasser durch tiefen, tiefen Tann,
da sitzt ein nacktes Weib, das Kränze flicht,
Kränze um einen glitzernden Mann,
der singsangt:
Vor der Nixe vom Rhein kniet der Kobold vom Rhin
und bringt schön bang seine Brautschätze dar:
blaue Blumen, die nur im Freien blühn,
Männertreu, Pferdefufs, Jungfer im Grün,
und zur Hochzeit ein stumm Musik antenpaar:
Unke, die munkelt nur,
Glühwurm karfunkelt nur,
Ellcwellinc, husch, tanze danach !
ein Herr Eidechs hatte einmal zwei Frauen,
denen er sehr am Herzen lag:
eine, der gab er sein tiefstes Vertrauen,
darauf lief er der andern nach —
Ellewelline, tanz Serpentine,
schwarz ist die Nacht, und bunt ist der Tag !
Und der Kuckuk ruft, und der Bergquell sprudelt,
und das dunkle Weib bekränzt ihr schwarz Haar,
und sie summt — und das Licht in der Welle strudelt
kühl und warm, wirr und klar:
Ellewelline tanzt Serpentine,
o ja, Herr Eidechs, sonderbar;
sie schwamm eines Nachts um den Nixenstein,
da könnt sie den ganzen Tag Kobolde frein,
jeden Tag ein paar,
macht fast tausend im Jahr —
aber ans Ufer kam einfach ein Mann,
der hatte blaue Schuh, blaue Himmelschuh an —
Amen!
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Und der Kuckuk ruft, als fänd'cr kein Ende;
da falten die zwei Menschen die Hände.
Heimat.
Und es liegt ein Strom im Thal, und Nebel steigen,
der Strom glänzt gläsern und scheint stillzustehn ;
aus grüner Dämmrung dehnen und verzweigen
die Wälder sich zu hundert blauen Höhn.
Ein dunkles Schlofs wiegt zwischen seinen Giebeln
den grofsen goldnen Mond, zwei Fenster glühn,
und drunter winden sich an Rebenhügeln
die Lichter kleiner Städte hin.
Dort — sagt das Weib und weist mit der Gerte
von ihrem Pferd ins Zwielicht hinab —
dort ging ich eines Nachts von Grab zu Grab
und weinte bis zur Herzenshärte.
In die Strudel im Strom, ins Gewirr der Bäume,
zu den Sternen, die über die Berge starrten,
verstiefs ich meine Himmelsträume
und verliefs meine Toten, vcrschlofs meinen Garten.
Keine Seele fragte mehr nach meiner,
kein Geist der Väter trat her zu mir;
nur die reiche Erbin wollte manch Einer.
So ging ich ins Leben. So kam ich zu Dir.
Lange schweigt der Mann; die Pferde scharren,
ein Stein rollt zu Thal, ein Echo weckend,
und das Weib beginnt in den Mond zu starren.
Da sagt er leise, den Arm ausstreckend :
Komm — es wollt eine Seele sich befrein,
da band ihr die Sehnsucht die Hände ;
151
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was beschwörst du Schatten am grünen Rhein,
sieh dort in die Lichter mit mir hinein,
in die Heimat ohne Ende!
Sieh, ist nicht der Himmel herabgesunken,
dein dunkles Thal wie von innen erhellt!
Sternbildern gleich steht Funken neben Funken,
vom Geist der Väter jedes zusammengestellt !
und mild belebt das irdische Gräberfeld
der tote Mond, vom Licht der Sonne trunken!
Zwei Menschen atmen auf, in ihrer "Welt.
Der Geist der Erde.
Und wieder dämpft ein dumpfes Wiehern und Schnauben,
das durch den Schatten stiller Büsche rauscht,
im hohen Holz das Gurren der wilden Tauben,
und das Weib lauscht.
Der schlafende Mann in ihrem Schoofs
hat schwer gestöhnt; soll sie ihn rütteln?
Da öffnet er die Augen, bodenlos,
er sieht die Blumen blühn im schwülen Moos,
und jäh, als wollt'er einen Wurm abschütteln,
macht er sich los:
Das war, weifs Gott, ein Teufelstraum! —
Ich safs mit dir in einem alten Park.
Zuweilen ritten Leute hin am Saum;
und plötzlich kam ein Reiter, jung und stark,
der fing uns an im Zirkel zu umtraben,
in immer gleichem, ziellos gleichem Kreise,
und doch so eifrig wie auf einer Reise,
*54
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als raöcht er Ruhe, endlich Ruhe haben.
Er schien uns beide garnicht zu beachten,
und langsam übermannte mich ein Schauer :
er wurde immer älter, immer grauer,
ich mufst ihn immer sinnender betrachten,
mit immer tiefer angestrengten Blicken,
dann sah ich Rofs und Reiter gräfslich nicken,
mit Augen, die mich immer irrer machten,
ich wollte schrein vor sinnloser Beschwerde —
und als mich deine Hände zu mir brachten,
fühlt'ich mit Grauen: das war der Geist der Erde.
Er küßt ihr dankbar die Rechte ; sie nickt und lauscht.
Er sieht die Blumen blühen im stillen Moos.
Er hört den Wald antworten, es gurrt und rauscht.
Er fühlt zwei Augen schweigen, die sinnen blos;
ich weifs einen Himmel — bodenlos —
und er schliefst die Arme um einen Schoofs,
da rauscht es wieder: zwei Pferde stecken
die Köpfe durchs Dickicht. Zwei Menschen erschrecken.
Durch Schmutz.
Und endlich kommt eine Hütte in Sicht;
es regnet, dafs sich an den Wegen
die Halme in den Schlamm der Berge legen,
er spritzt den Reitern ins Gesicht.
Sie müssen immer mehr die Köpfe neigen :
Kirschbaum bei Kirschbaum, immer tiefer,
spritzt Blütenfluten von den Zweigen,
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sie kleben fest wie Ungeziefer,
das Weib spricht:
Mir ist, als ritten vir tum Jüngsten Gericht:
der liebe Gott weint seine dicksten Thräncn.
Ich triefe wie die Pferdemähnen;
und paradiesisch riecht mein Rappe nicht!
Sie wischt sich heftig den Brei von Hals und Hut,
der Mann will langst ein Lächeln verbeifsen,
aber endlich zwingt's ihn, er mufs den Mund aufreifsen
und lacht in hellem Uebermut:
Ei ei, Frau Fürstin! Gott ist gut!
er merkt, Ihr wollt in den Himmel kommen,
drum kommt uns der Himmel höchstselbst entgegengeschwommen,
oh Meine, sei keine Martersäule!
Ailons, was starrst du! mein Schimmel hat Eile:
komm, im nächsten Pfarrdorf verkaufen wir die Gäule,
das wird unsrer Pilgerkasse frommen!
Dann rollst du zu Rade vor mir her,
wie Frau Fortuna erlaucht im Traum der Ahnen ;
kein Schmutz, kein Stallgeruch befleckt uns mehr,
kein Kohlcnrauch von Eisenbahnen.
Dann reisen wir nur noch bei Sonnenschein
und lassen unsre Herzen brennen,
und dann will ich nie mehr, ich schwör's, dich Frau Fürstin nennen
und doch — dein ergebenster Diener sein.
Sie machen vor der Hütte Halt,
er wischt den Schmutz von seinen und ihren
Händen, sie wehrt mit sanfter Gewalt;
zwei Menschen steigen von den Tieren.
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Himmelsluft.
Und im Glanz, im bebenden blauen Glast
um zwei strahlende Stahlmaschinen
wiegt der Bergwind Blumen und Bienen,
traumhaft halten zwei Menschen Rast.
Traumhaft haucht ein Birkenstrauch
Duft und Dunkel um sie her,
im Laube spielt die Luft, bald sanft, bald sehr,
die Gräser zittern zwischen ihnen,
ein Mann summt:
Nun lafs die goldnen Schatten
durch deine Locken gleiten,
ich will dir eine Krone
aus lauter Licht bereiten;
wiege mich, wiege mich, du sollst mir Alles sein,
wie ein klein Kindchen bedarf ich dein.
Siehst du den freien Himmel dort
aus den Klüften steigen?
ich seh eine Freifrau thronen,
ihrem Freiherrn tief leibeigen.
Wecke mich, wecke mich, ich will dir Alles sein;
ich kann dir Gott aufwiegen, bedarfst du mein.
Traumhaft blickt das Weib den Weg zurück:
um zwei strahlende Stahlmaschincn
wiegt der Bergwind Blumen und Bienen,
jede taumelt auf gut Glück —
eine Stimme zittert hin zu ihnen:
Siehst du an deiner Krone auch,
Kind, die schroffen Zinken >
ich sah den freien Himmel, Herr,
in den Klüften versinken.
Hebe mich, halte mich! ich war so tief allein;
laß uns zusammen Alles sein !
Traumhaft haucht der Birkenstrauch
taumelnde Schatten um sie her,
im Laube wogt das Licht, unendlich sehr,
Himmelsluft hüllt zwei Menschen ein.
Fortsetzung im nächsten Heft.
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Zwei Kupferstiche nach Zeichnungen von Callot aus E. Th. A. Hoifmanns
Prinzcss Brambilla.
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DIE UNGEWOEHNLICHE ORCHIDEE/ AUS DEM
ENGLISCHEN DES H. G.WELLS VON FRANZ BLEI
RCHIDEEN kaufen ist wie auf der Börse spielen:
eine Spekulation. Sie haben da vor sich nichts weiter
als dieses braune, eingeschrumpfte Stück Zellgewebe
— für den Rest muss Ihr Urteil sorgen oder das des
Verkäufers oder Ihr Glück, wie Sie belieben.
Möglich, dass die Pflanze im Sterben oder schon tot
ist, möglich, dass Sie für Ihr Geld etwas ganz Preiswertes erworben haben,
möglich sogar — und der Fall war schon öfter da — dass sich unter
den Augen des glücklichen Käufers langsam eine neue Varietät entfaltet,
ein unbekannter Schatz, ein merkwürdiger Schwung des Labeilums oder
eine subtile Farbennüance oder eine unerwartete Mimicry. Auf einem
delikaten grünen Stengel erblühen Stolz, Schönheit und Profit und viel-
leicht sogar Unsterblichkeit. Denn es kann passieren, dass dieses neue
Naturwunder einen Namen braucht, und welcher, ich bitte Sie! käme
ihm besser zu als der des Erfinders?
Es war vielleicht die Hoffnung auf einen solchen glücklichen Fund, die
Winter- Wcddcrburn zu einem so eifrigen Klienten der Orchideen-Auk-
tionen machte — diese Hoffnung und dann wohl auch noch, dass er
nicht das Geringste auf der Welt zu thun wusste. Er war ein scheuer,
zurückgezogener und ganz und gar unnützlicher Mensch, der gerade so
viel Einkommen hatte, dass er damit auch dem letzten seiner Bedürfnisse
genügen konnte und der nicht nervöse Energie genug besass, irgend eine
regelmässige Arbeit zu suchen. Er hätte auch Marken oder Münzen
sammeln können, oder den Horaz übersetzen oder Bücher binden. Nun
— er sammelte Orchideen und hatte dafür ein kleines ambitiöses Warm-
haus. Ich habe die Idee, sagte er einmal beim Kaffee, ich habe die
Idee, dass mir heute was passieren wird. — O, sagen Sic das nicht! rief
seine Haushälterin, die auch eine entfernte Cousine war. »Etwas
passieren das hatte nämlich für sie nur den einen Sinn irgend einer
bedeutenden Katastrophe. — Sie missverstehen mich. Ich meine nichts
Unangenehmes — aber was, das weiss ich allerdings auch nicht. Heute,
fuhr er nach einer Pause fort, wird Peters eine Sendung Pflanzen von
den Andamancn verkaufen. Ich will hingehen, schauen, was das ist
Möglich, dass ich zufällig etwas Gutes kaufe. Und er hielt seine Tasse
für ein zwcitcsmal Kaffee hin.
— Ist das die Sammlung dieses armen Burschen, von dem sie mir gestern
erzählt haben? frag seine Cousine, während sie einschenkte.
— Ja, sagte er und sah tief nachdenklich auf ein Stück Kuchen.
— Ich erlebe niemals etwas, fing er gleich wieder an, laut denkend.
Und ich weiss nicht warum. Andere Leute erleben eine Menge. Da ist
z. B. Harry. Erst letzte Woche findet er am Montag ein Six pence-Stück,
am Mittwoch bekommen seine Hühner die Drehkrankheit, am Freitag
kommt sein Cousin aus Australien heim und am Samstag bricht
er sich den Knöchel. Was für ein Strudel von Aufregungen. Und ich . . . ;
— An Ihrer Stelle möchte ich doch nicht so viele haben. Es könnte
nicht gut für Sie sein.
— Ich glaub schon, es ist mühsam. Aber doch — Sie sehen, mir passiert
niemals nichts. Als Bub fiel ich nirgends herunter oder sonst was; als
junger Mann hatte ich keine tollen Passionen, ich habe mich nie
verheiratet. Und ich möchte doch so gern den Effekt kennen lernen,
wenn einem einmal etwas passiert, etwas wirklich besonderes.
Der Orchideensammlcr war, als er starb, blos 3 <S — zwanzig Jahr jünger
als ich. Und er war zweimal verheiratet und einmal geschieden; er hatte
viermal die Malaria und brach sich einmal den Schenkel. Einmal tötete
er einen Malaien und ein anderes Mal wurde er von einem vergifteten
Pfeil verwundet. Und schliesslich wurde er von den Dschungelblutegeln
aufgefressen. Das muss ja gewiss alles sehr unangenehm und mühvoll
gewesen sein, aber doch auch interessant, nicht? Ausgenommen vielleicht
die Blutegel.
— Ich bin sicher, es war nicht gut für ihn, sagte die Dame mit Ueber-
zeugung.
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— Vielleicht nicht. Dann besah Wedderburn seine Uhr. Dreiundzwan-
zig Minuten nach Acht. Ich denke, ich nehme den 3 / 4 1 1 Uhr Zug, so
habe ich genug Zeit. Ich ziehe mein Alpaca-Jakett an, es hält ganz
warm, und den grauen Filzhut und die braunen Schuhe. Ich denke,
dass —
Er warf einen Blick durchs Fenster auf den reinen Himmel und den
sonnenklaren Garten und dann unsicher auf seine Cousine.
— Ich meine, Sie würden ganz gut einen Regenschirm mitnehmen
können, wenn Sie nach London gehen, sagte die Cousine mit einer
Stimme, die keine Antwort duldete. Das Wetter kann umschlagen auf
dem Heimweg.
Als er zurückkam, war er in einem Zustand milder Aufregung. Er hatte
etwas erstanden. Es war selten, dass er sich rasch zu einem Kauf entschloss,
aber diesmal war es so.
— Das sind Vandas, sagte er, das ein Dendrobium und das einige
PaJaconophis.
Wahrend er seine Suppe ass, besah er voll Liebe seine Einkäufe. Auf
dem blanken Tischtuch lagen sie vor ihm ausgebreitet, und er erzählte
seiner Cousine ihre Geschichte, ganz sein Mittagessen vergessend. Das
war seine Gewohnheit, am Abend seine Londoner Erlebnisse nochmals
zu erleben, für der Cousine und seine eigene Unterhaltung.
— Ich wusst es doch, dass ich heute etwas erlebe: ich habe das gekauft.
Einige von diesen Blumen, wissen Sie, einige davon sind ganz bemerkens-
wert. Ich bin sicher. Ich weiss nicht warum, aber ich bin so sicher, als
hätte mir Einer gesagt, dass einige von diesen Knollen bemerkenswert
herauskommen werden.
— Das da — und er zeigte auf ein runzeliges Rhizom — ist noch nicht
klassifiziert. Es kann eine Palaeonophis sein, aber auch nicht. Es kann
eine neue Speeles, ja vielleicht sogar ein neues Genus sein. Und es war
das letzte Stück, das der arme Brallen gesammelt hat.
— Ich kanns gar nicht ansehen, sagte die Haushälterin, es schaut so
hässlich aus.
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— Mir scheint es überhaupt nicht auszuschauen.
— Sehen Sie nur diese Dinger, die da überall herausragen.
— Morgen will ich es in einen Topf setzen.
— Es sieht aus wie eine Spinne, die sich tot stellt. Weddcrburn lächelte
und studierte vornübergeneigt die Wurzel. Es ist ja allerdings nicht
ganz schön. Aber man darf diese Dinge niemals nach ihrem vertrock-
neten Zustand beurteilen. Das kann eine wundervolle Orchidee geben.
Was das morgen für Arbeit geben wird! Heute Nacht will ich nach-
denken, was zu thun ist, und morgen geh ich ans Werk.
Uebrigens, fuhr er fort, man fand den armen Brallen, tot oder sterbend,
in einem Sumpf unter Mangrovebäumen liegen, mit gerade einer solchen
Orchidee zerquetscht unter seinem Rücken. Er war einige Tage vorher
nicht ganz wohl gewesen, eine Art Fieber, und hier muss er ohnmächtig
geworden sein. Diese Mangrovesümpfe sind sehr ungesund. Und das
Blut hatten bis auf den letzten Tropfen die Blutegel ausgesaugt. Möglich,
dass er für diese Pflanze sein Leben liess.
— Ich hab sie darum nicht lieber.
— Männer müssen arbeiten, selbst wenn die Frauen weinen, sagte
Wedderburn mit tiefem Ernst. Lächerlich, zu sterben ohne allen Cora-
fort in einem Pest-Sumpf; und Fieber haben und nichts anderes zu essen
als Chloridvn und Chinin, und niemanden um sich als die schrecklichen
Eingeborenen. Die Andamanen-Insulaner sollen wirklich scheusslich sein
und können unmöglich gute Kranken-Pflegerinnen abgeben, da ihnen
doch die nötige Schulung fehlt. Und alles das, damit Leute in England
Orchideen haben!
Angenehm war es sicher nicht; aber es giebt Menschen, die an so etwas
Vergnügen zu haben scheinen. Sei das, wie es sei, die Eingebornen
seiner Expedition waren soweit civilisicrt, dass sie auf seine Sammlungen
so lange acht hatten, bis sein Genosse, ein Ornithologe, aus dem Innern
wieder zurückkam. Aber die Spezies der Orchis konnten sie nicht an-
geben und Hessen es dabei. Und alles das macht die Sache noch inter-
essanter.
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— Das macht sie widerlich. Wie furchtbar, wenn da noch etwas von
der Malaria dranhinge ! Und dann — Über diesem hässlichen Ding lag
ein Leichnam! Mein Gott, ich hab daran noch gar nicht gedacht! Und
darum erkläre ich, ich kann keinen Bissen vom Nachtmahl mehr essen.
— Wenn Sie es wünschen, trag ich es vom Tisch fort und leg es aufs
Fensterbrett. Ich kann es da gerade so gut sehen.
Die nächsten Tage war er in der That ausserordentlich geschäftig in
seinem kleinen dampfenden Warmhaus, wirtschaftete mit Kohle, Kork,
Moos und allen den mysteriösen Behelfen herum, wie sie Orchideen-
züchter gebrauchen. Er fand, er erlebe eine wunderbar ereignisreiche
Zeit. Zu seinen Freunden sprach er von nichts sonst als von seinen neuen
Orchideen und von seiner Erwartung irgend etwas Ungewöhnlichen.
Einige von den Vandas und das Dendrobium gingen unter seiner Sorg-
falt zu Grunde, aber gleichzeitig begann die fremde Orchis Zeichen des
Lebens zu geben. Er war entzückt und holte die Haushälterin vom Obst-
einsieden weg, damit sie es sofort sehe.
— Das ist ein Keim, erklärte er, und bald werden da kleine Blätter sein,
Diese kleinen Dinger, die hier herauskommen, sind Luftwurzeln.
— Sic schauen aus wie kleine weisse Finger, die sich aus dem Braunen
herausgraben. Ich mag das nicht.
— Und warum nicht?
— Ich weiss nicht. Wie Finger schaut das aus, die Sie fassen wollen.
Ich kann nichts für mein Gefühl.
— Ich möchte es nicht für sicher behaupten, aber ich glaube nicht, das
andere Orchideen solche Luftwurzeln haben. Vielleicht bilde ich mir
das übrigens nur ein. Sehen Sie, wie sie an den Enden abgeplattet sind.
— Ich mag sie nicht, wiederholte die Haushälterin, und sie wandte sich
schauernd ab. Es ist dumm von mir, ich weiss, aber es thut mir so leid,
dass Sie das Ding so gern mögen. Aber ich muss immer an den Cadaver
denken.
— Aber es muss ja gar nicht diese Pflanze gewesen sein. Das war ja nur
so eine blose Idee von mir.
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Die Haushälterin zuckte die Schultern.
— Trotzdem, ich mag es nicht.
Wedderburn war ein bischen gekrankt, dass sie die Pflanze nicht liebe.
Aber das hielt ihn nicht ab, ihr von den Orchideen im allgemein und
dieser Orchidee im besonderen zu erzählen, so oft er Lust dazu hatte.
— Das ist so merkwürdig mit den Orchideen, fing er einmal an, so
merkwürdig mit diesen vielen möglichen Uebcrraschungen. Sie wissen,
dass Darwin ihre Fortpflanzung studiert und gezeigt hat, dass die ganze
Struktur der Pflanze den Zweck hat, den Schmetterlingen zu erlauben,
den Pollen von Pflanze zu Pflanze zu tragen. Ich glaube nun, dass es be-
kannte Arten giebt, deren Blüte sich nicht zu dieser Art der Fortpflanzung
eignet. Einige der Cypripedien zum Beispiel. Man kennt keine Insekten,
die sie befruchten könnten und in einigen von ihnen hat man noch nie-
mals Samen gefunden.
— Aber woher kommen die jungen Pflanzen?
Von Wiirzelausläufcrn und Knollen und solchen andern Wucherungen.
Das ist leicht erklärt. Das Rätsel ist: wozu sind die Blumen da?
«»Höchstwahrscheinlich, fügte er hinzu, ist meine Orchidee in dieser Hin-
sicht ganz ungewöhnlich. Ich habe schon gedacht, Untersuchungen an-
zustellen, wie das Darwin machte. Bis jetzt habe ich noch keine Zeit
dazu gefunden oder etwas kam dazwischen . . . Jetzt entfalten sich die
Blätter. Ich möchte gern, dass Sie das sehen.«
Aber sie erklärte, es sei ihr zu heiss im Warmhaus und dass sie davon
Kopfweh bekäme. Uebrigens hatte sie die Pflanze einmal gesehen, und
die Luftwurzeln, deren manche nun wohl länger als ein Fuss waren,
hatten sie unglücklicherweise an Tentakeln erinnert, die nach etwas
greifen. Und sie träumte davon, wie sie mit unglaublicher Schnelligkeit
hinter ihr her waren. Und so hatte sie zu ihrer völligen Beruhigung
beschlossen, die Pflanze niemals wieder zu sehen, und Wedderburn musste
die Blätter allein bewundern. Sic hatten die gewöhnliche breite Form,
doch waren sie tief glänzend grün, mit dunkelroten Flecken und Tupfen
gegen die Basis hin. Er hatte nie solche Blätter gesehen. Die Pflanze
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stand auf einer niederen Bank, nahe dem Thermometer und bei dem ein-
fachen Apparat, aus dessen Hahn Tropfen für Tropfen heisses Wasser fiel,
damit es die Luft in Dampf verwandle. Und Wedderburn verbrachte
mit einer gewissen Regelmässigkeit seine Vormittage vor der ungewöhn-
lichen Pflanze, in Gedanken auf die kommende Blüte.
Und endlich traf das grosse Ereignis ein. Schon an der Thüre seines
Treibhauses wusste er, dass die Knospen gesprungen waren, obwohl er
seine Wunderblume hinter dem grossen Palaeonophis Lowii nicht sehen
konnte. Aber in der Luft war ein neuer Geruch, ein intensives süsses
reiches Parfüm, das alle andern Düfte dieses überfüllten kleinen Glas-
hauses aufschluckte. Er stürzte auf die Blume zu. Und die grünen
hängenden Stiele trugen drei grosse Blüten, die diesen süssen überwäl-
tigenden Duft ausatmeten. Wcdderburn stand in ekstatischer Bewun-
derung davor.
Die Blütenblätter waren weiss mit orangegoldncn Streifen, das schwere
Labellum war in komplizierter Weise zusammengerollt und ein wunder-
barer bläulicher Purpur mischte sich hier mit dem Gold. Wcdderburn
erkannte sofort eine ganz neue Art. Und dieser Duft, dieser unerträg-
liche Duft! Und wie heiss es da war. Die Blüten verschwammen vor
seinen Augen.
Er wollte die Temperatur ablesen und machte einen Schritt zum Ther-
mometer. Plötzlich sah er alles schwankend. Die Ziegelsteine auf dem
Boden tanzten auf und nieder, die weissen Blüten, die grünen Blätter,
das ganze Glashaus schien seitwärts zu schweben und dann in die Höhe.
Um halb fünf machte die Cousine nach unabänderlicher Gewohnheit
den Thec. Aber Wedderburn kam nicht.
— Der betet noch vor seiner schrecklichen Pflanze. Und sie wartete
zehn Minuten. Seine Uhr muss stehen geblieben sein. Ich will ihn
rufen.
Und sie ging direkt zum Glashaus, öffnete die Thür und rief seinen
Namen. Keine Antwort. Sic fühlte die schwere Luft und das intensive
*7«
Parfüm. Dann sali sie etwas auf dem Boden liegen, bei den Dampfröhren.
Eine Minute lang stand sie bewegungslos.
Da lag er auf dem Rücken zu Füssen der ungewöhnlichen Orchidee.
Die tentakelartigen Luftarme schaukelten nicht mehr frei in der Luft,
sie waren zusammengeballt wie ein Gewirr grauer Seile und ihre seh-
nigen gestreckten Enden lagen fest auf seinem Kinn, seinem Nacken und
seinen Händen.
Sie verstand nicht. Da sah sie unter einem dieser Tentakel, der sich auf
die Wange geheftet hatte, einen ganz dünnen Faden Blut.
Mit einem Schrei rannte sie zu Wedderburn und versuchte ihn von diesen
Saugern, diesen wahrhaftigen Blutegeln wegzuziehen. Sie brach zwei
Tentakel ab: deren Saft floss in roten Tröpfchen.
Der betäubende Geruch der Blüten machte ihr den Kopf schwer. Sie riss
an den festhaltenden Tentakeln. Wie sie sich an das Fleisch klammern,
wie sie nicht loslassen! Und der Körper und das weisse Leuchten glitten
über sie. Sic fühlte eine Ohnmacht kommen und sie verstand, dass das
nicht sein dürfe. Da liess sie alles und stiess eine nahe Thür auf. Die
frische Luft gab ihr einen guten Gedanken: sie packte schnell einen
Blumentopf und warf ihn am andern Ende des Warmhauses durch die
Glasscheiben. Dann ging sie wieder hinein und packte mit neuer Kraft
den bewegungslosen Wedderburn und trug ihn an die frische Luft. Die
ungewöhnliche Orchidee schleifte hintennach, denn sie Hess ihr Opfer
nicht los. Sie liess nicht los. Draussen versuchte sie eine Saugwurzel
nach der anderen losszumachen, und es gelang. Wedderburn war von der
schrecklichen Pflanze befreit.
Er war bleich und blutete aus einem Dutzend kreisrunder Flächen.
Der Diener kam den Garten herauf, der Ursache der zerbrochenen Glas-
scheiben nachzusehen. Da sah er plötzlich die Haushälterin vor sich auf-
tauchen, wie sie sich mit blutigen Händen um einen leblosen Körper
bemühte. Im ersten Moment dachte er an ganz unmögliche Sachen.
— Wasser, rief sie, und ihre Stimme machte ihn wieder vernünftig. Als
er hastig mit einem Krug Wasser zurückkam, fand er sie laut weinend,
»72
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Wedderburns Kopf im Schoss und vom Gesicht das Blut abwischen.
— Was ist los? frug Wedderburn, machte ein bischen die Augen auf
und schloss sie gleich wieder.
— Geh zu Annie, sie soll herkommen, und dann lauf zu Dr. Haddon,
sagte die Haushälterin zu dem Diener und als der zögerte: Ich erzähle
dir alles, wenn du zurückkommst.
Da machte Wedderburn wieder die Augen auf und als sie ihn erstaunt
über seine Situation sah, erklärte sie ihm: Sie wurden im Warmhaus
ohnmächtig.
— Und die Orchidee?
— Ist ganz gut versorgt.
Wedderburn hatte viel Blut verloren, aber sonst weiter keine Verletzung
erlitten. Man gab ihm Cognak mit Fleischextrakt und brachte ihn zu
Bett. Die Haushälterin erzählte dem Dr. Haddon fragmentarisch ihre
Geschichte. «Kommen Sic ins Warmhaus und sehen Sie selbst«., sagte sie.
Die kalte Aussenluft blies durch die offene Thür herein und das dicke
Parfüm war fast ganz verflüchtet. Die meisten der Luftwurzeln lagen
zerstreut auf den Steinen des Bodens, wo viele dunkle Flecken glänzten.
Der Stiel der Pflanze war beim Fall gebrochen und die Blüten begannen
welk und an den Rändern braun zu werden. Der Arzt bückte sich: er
sah, wie eine der Wurzeln sich leicht bewegte, und er zögerte.
Am andern Morgen lag die ungewöhnliche Orchidee noch immer da,
aber schon schwarz und in Verwesung. In Intervallen warf der Wind
die Thür des Warmhauses auf und zu und die ganze Orchideensammlung
Wcdderburns war vernichtet und verdorben. Aber Wedderburn selber
war obenauf und über die Massen gesprächig. Er konnte sein unge-
wöhnliches Erlebnis nicht genug oft erzählen.
EINE SENTIMENTALE REISE/ IN VERSEN VON
OTTO JULIUS BIERBAUM.
L
OH ja: die Liebe und ein treues Herz,
Und alles, was wir Seele nennen, ist viel wert.
Doch davon wollen wir nicht reden, Kind,
Und wollen keine Fesseln hin und her
Von Herz zu Herzen binden, und das Wort:
»Auf immer» spanne seine Fäden nicht
Von dir zu mir. Uns sei der Tag genug,
Die stille Stunde, die uns glücklich macht.
Dann wird, wenn einst auch das vergangen ist,
Uns keine Lüge die Erinnerung
Schwarz überschatten, und wir dürfen klar
Nach rückwärts schauen ohne Bitternis.
Nicht traurig sein! Noch lange ist nicht Herbst,
Und auch der Winter hat sein stilles Glück.
Eisblumen schliessen von der Welt uns ab,
Und herzensinnen rauscht und klingt ein Wald
Von tausend Vögeln laut: Erinnerung.
Paris, i 5. u. \6. Oktober 1 900.
II.
LASS! Liege so, die Arme unterm Kopf,
Dass sich im Atmen deine schöne Brust
Noch runder hebe, mir entgegen, — so :
Ich muss die Hand darauf thun. Das ist Glück.
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Sei still und schlicsse auch die Augen, — oh:
Kein Wort, kein Blick, nur dieses stumme Spiel
Des Atems, der den schönen Leib bewegt.
Und als ein stummer Beter, der nicht Worte macht,
Knie ich in Andacht dir zur Seite hin
Und bett auf deine Brust mein Haupt. Es ist
Kein schönrer Fleck, zu träumen, auf der Welt.
Paris, im singhalesischcn Thecgarten, i 5. Oktober 1900.
III.
DU sagst, du liebst mich. Oh, ich danke dir!
Zwar kenn ich dieses Wort als Lüge nur,
Doch klingt es süss, wie liebliche Musik,
Und gerne glaubt man, was so lieblich klingt.
Ich will es glauben, und ich bitte dich:
Nimm diesen Glauben als Entgegnung an.
Mir selber will das Wort wich liebe dich«
Nicht mehr vom Herzen auf die Lippen gehn.
Dem Boden, der von mitleidlosem Fuss
Zerstampft ward, dem der Bosheit dürre Hand
Salz in die Furchen streute, wollen Rosen nicht
Entblühen, — blasse Nesseln bringt er nur.
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So sieht mein Garten aus, — ein Nesselbeet.
Willst du ihn lieben? Wunder sind geschehn!
Die Liebe ist die beste Gärtnerin.
Paris, 1 6. Oktober 1900.
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IV.
DES Zweifels müde und von Misstraun matt
Sehn' ich mich tief nach Glauben, wie der Mann,
Der schwer den ganzen Tag die Arme rührte, sich
Nach Ruhe sehnt.
Doch soll es wol nicht sein.
Drum hab ich nur den Augenblick des Glücks,
Nicht seine Dauer und Beruhigung,
Und alles Holden Grund ist mir vergällt.
So will ich an der Oberfläche nur
Vom Quell des Schönen schöpfen. Griff ich tiefer, ach,
Es käme wieder Schlamm mir in das Glas.
Paris, 1 8. Oktober i ooo.
V.
ICH fuhr ins fremde, weite Land ; es war
Ein Fliehn vor mir, vor dir, vor Allem, was
Mich täglich quält und treibt und friedlos macht.
Ich wollte frei sein und Zuschauer sein,
Die Hände auf dem Rücken fremd das Fremde sehn.
Und sieh, ich sehe nur zurück und, ach!
In mich hinein und quäle mich noch mehr
Und bin unruhiger, als je ich war.
Die bunte Welt umrauscht den Sinnenden,
Der immer nur den Ncbelzügcn folgt,
Die innen unaufhörlich hin und her,
Trübsclgc Schatten, ziehn, wie im Gebirg
Die grauen Wolken wandern. Wehe mir!
In meinem Auge ist nicht mehr das Bild
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Der reichen Welt Dem Maulwurf ward ich gleich,
Der nur die engen Gänge sieht, die er durchwühlt.
Paris, 2 2. Oktober 1900.
VI.
WAS wär ich, hält' ich nicht die hohe Kunst
Des schön gesetzten Wortes und die Kraft
Mit einem Strom von Strophen mir den Schmerz
Und alles Dumpfe aus der Brust zu schwemmen.
Wieviel versäumt' ich! Wieviel Früchte Hess
Ich auf der Lebenstafel unberührt!
Wieviel versah ich! Wieviel Böses sann
Mein Herz, und wieviel sündigte die Hand!
Doch einen schönen Reim zu ründen war
Ich nie zu träge, und ich frevelte
Nie bösen Sinnes gegen dich, o Gut
Der Güter, das mir in der Wiege lag,
Als ich der Mutter Wort zum ersten Mal
Vernahm: Oh deutsche Sprache, allerherrüchste !
Kein Kind wird einst von mir im Leben stehn,
Wenn ich ins Nichts zurückgegangen bin
Und all mein Leben, all mein Schmerz und Lust
Vorüber und verschwunden wie die Wolke ist,
Die eben noch, durchglüht von Sonnengold,
Wie eine ganze Welt voll Licht und Saft
Am hohen Himmel stand. — Dann wird vielleicht
Ein kleiner Vers von mir lebendig noch
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In eines deutschen Mädchens Herzen blUhn,
Und meine Worte werden voll und warm
Von ihren Lippen wehen, wie der Duft,
Der aus dem Innersten der Rose kommt.
Zwischen Macon und Pontarevant la Chapelle, i8. Oktober 1900.
VII.
HIER ritten einst die tapfern Troubadours
Mit Schwert und Laute ihrer Liebe nach ;
Hier glühte einst das Glück der grossen Kunst,
Die wie die Sonne der Provence schien:
Ein goldnes Siegeszeichen, ein Juwel,
Der schönsten Tage schönster Schmuck. Es sprang
Das Lied gleich einem schönen Pagen froh
Den Frauen in den Schoss. Doch manchmal wars
Wie Mistralwind und fegte durch das Land
Und trieb die Wolken und zertrümmerte,
Was alt und morsch war. Sieg und Segen trug
Des Verses Flügel, der schön glänzende,
Durch diese Lüfte voller Blumenduft,
Und Liebe lächelte dem Liede zu.
In diesen Liedern war kein müder Ton,
Und auch die Traurigkeit war stolz und stark,
Denn adelig war noch die Kunst des Lieds,
Und wer zu schönen Frauen sich vermass
Die Stimme zu erheben und das Herz,
Der wusste, was sich ziemt. So wusst' er auch,
Dass nicht für Alles Worte ziemlich sind
Und Schweigen eine edle Kunst der Herzen ist,
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Die eher brechen, als schamlos den Gram
Der Schwäche zeigen. — Ach, wir reden viel
Von neuen Tönen und von neuer Kunst,
Und unsre Herzen sind so jämmerlich,
Dass uns die Knechte jener Troubadours
Verachten würden, sähen sie, wie wir
Schamlos cntblössen, was so ekel ist:
Das Trübe, Dumpfe, Schwache, all die Qual
Des machtlos Ungebändigten, den Satz
Der Seele voller Krampf und Missbegier.
Wir wollen fürder nicht so üppig sein
In grossen Worten und Versprechungen
Von neuen Weisen einer neuen Kunst.
Wir wollen wieder schweigen lernen und die Zucht,
Die Adelsmeisterin, angehn, dass sie
Wachsam und strenge bei uns sei, wenn wir
Uns unterfangen, klangvoll Wort an Wort
Zum Vers zu fügen. Ehrfurcht halte uns
Im schönen Masse, und die edle Scham,
Des Künstlers Tugend, walte über uns 1
In der Provence, November 1900.
VIII.
NUN ist viel tot in mir. Ich weiss nun, jene Qual,
Die mich ins Fremde trieb und immer rückwärts doch
Den Blick der Sehnsucht wandte, war nichts mehr
Als einer Krankheit letzter Ueberfall.
Sieh, auf dem Schnee hier steht ein Sarg, — hinein
Die leere Puppe jenes faulen Grams!
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Lemuren kommt, und schaufelt mir ein Grab
Für diese böse Puppe, — Schnee, Schnee, Schnee
Darauf und schwere Blöcke Eis! Macht schnell!
Tief, tief das Grab, in Eis und Schnee tief, tief!
Ich will nicht wissen, wo der Popanz liegt I
Ah, dass ich frei bin! Wintersonne, sieh,
Hier steh ich fröhlich zwischen Eis und Schnee
Und niemals wusst ich mehr, was Frühling ist.
Ich war ins Grau, ins Neblige verrannt,
Ich hing am Gram wie in der Spinne Netz
Die arme Fliege, und schon fuhr auf mich
Die grosse Spinne los, die alles frisst;
Da sprach was über meinem Leben wacht:
Noch nicht, noch nicht! Und wie ein Märchen wars:
Ich stand verwandelt und erlöst und frei
Im allerschönsten Schlosse von Kristall.
Oh schöner Winter, kalt und sonnenklar,
Dein Frost hat mich gesund gemacht und hart.
Mir ist, als ruhte jetzt in meiner Hand
Ein wohlgehämmert Schwert. Und ich bin stark,
Mir alle Wege frei damit zu haun.
In Niederungen geh ich nun nicht mehr.
Nymphenburg, Januar 1901.
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ZWEI ZEICHNUNGEN VON FELIX VALLOTON.
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FUCHS VON JULES RENARD /
UEBERSETZT VON HUGO VON HOFMANNSTHAL.
Personen.
Herr Lcpic. Fuchs, 1 5 Jahre. Frau Lcpic. Annette.
Die Scene ereignet sich nachmittags in einem Dorfe.
Bühnenbeschreibung.
EIN nett gehaltener Hof, den Fuchs rein hält. Zur Rechten aufgeschich-
tete Scheite, die Fuchs aufgeschichtet hat. Ein dicker Strunk, wo Fuchs
die Gewohnheit hat zu sitzen. Ein Schiebkarren und ein Spaten. Hinter
dem Lager Brennholz, gegen den Hintergrund des Hofes, eine Scheune,
sowie das Hühnerhaus, das Kaninchenhaus und das Hundehaus. In dieser
Scheune verbringt Fuchs die beste von seiner Ferienzeit, wenn schlechtes
Wetter ist. Ein Baum inmitten des Hofes; eine kreisförmige Bank um
den Fuss des Baumes. Links das Haus der Lcpic, ein altes Haus mit
dem Ansehen eines Gefängnisses. Stufen zum Erdgeschoss. Die Mauern
fast ebenso dick als hoch. In der ersten Coulisse die Stiege. Sechs Stufen
und ein eisernes Geländer. Eine mit Nägeln beschlagene, schwere Thüre.
Ein Hammer zum Klopfen. Das Beinkleid eines Jägers, mit Kot bedeckt,
hängt an der Mauer an einem Nagel. In der zweiten Coulisse ein Fenster,
vergittert und mit einem Laden : von hier pflegt Frau Lepic ein Auge auf
Fuchs zu haben. Der Brunnen in einer Mauernische. Im Hintergrund
links eine Thür in der Mauer. Durch diese Thüre geht man frei aus und
ein. Keine Glocke. Im Hintergrund rechts eine Wageneinfahrt, mit
einem Gitterthor geschlossen, dahinter die Strasse und die Landschaft in
einer hellen Septcmbcrbelcuchtung: Nussbaum, Wiesen.
ERSTE SCENE / FUCHS, HERR LEPIC.
Fuchs, blossköpfig und ärmlich gekleidet. Er trägt die Sachen ab, die
sein Bruder Felix schon vor ihm abgetragen hat. Eine schwarze Blouse,
Ledergürtel mit der gelben Messingschnalle der Collegicns, eine gar zu
kurze Zwilchhose, färbige Socken. An seinem engen, weichen Hemd-
287
kragen keine Kravatte. Die Haare weich wie Stroh und von der Farbe
des Strohs, wenn es im Freien auf der Strohtristc überwintert hat.
Herr Lepic, Joppe aus grobem Sammt, weisses steifes Hemd wie ein
Städter, ein Gilet; ebenfalls keine Kravatte, eine goldene Uhrkette. Ein
grosser Strohhut, Ledcrgalloschcn mit Holzsohlen über den Jagdsticfeln.
Beim Aufgehen des Vorhanges giebt Fuchs rückwärts seinen Kaninchen
zu fressen. Er kommt mit einem Spaten nach vorne, den Boden umstechen.
Er arbeitet gel angweilt bei seinem Schiebkarren. Herr Lepic öffnet die
Haust hürc und erscheint auf der ersten Stufe der Treppe, eine Zeitung
in der Hand. Wie Fuchs die Hausthüre gehen hört, hat er Furcht. Er
hat immer Furcht.
Herr Lepic:
An wem ist die Reihe, auf die Jagd mitzukommen:
Fuchs:
An mir.
Herr Lepic:
Bist Du sicher?
Fuchs:
Ja, Papa, Du hast Felix das letzte Mal mitgehabt und jetzt ist
er mit der Mutter fort, die zum Herrn Pfarrer gegangen ist.
Er hat sein Fischzeug mitgenommen: er wird den ganzen
Abend bei der Mühle fischen.
Herr Lepic:
Und Du, was thust Du da?
Fuchs:
Ich jäte den Hof.
Herr Lepic:
Gleich nach dem Essen? Das ist schlecht für die Verdauung.
Fuchs:
Die Mutter sagt, es ist ausgezeichnet dafür.
Wirft seinen Spaten weg:
Gehen wir?
288
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Herr Lepic:
Aber nicht so schnell. , Die Sonne sticht noch zu sehr. Ich
gehe noch meine Zeitung lesen und mich ausruhen.
Fuchs, dem das leid thut:
Wie Du willst.
Nimmt wieder den Spaten :
Es ist doch sicher, dass wir gehen werden?
Herr Lepic:
Ausser wenn es regnet.
Fuchs, sieht an den Himmel:
Deswegen fürchte ich mich nicht. Du wirst aber gewiss nicht
ohne mich fortgehen?
Herr Lepic:
Du brauchst nur hier zu bleiben. Ich werde Dich holen.
Fuchs:
Ich bin ganz fertig. Ich muss nur meine Stiefel und meine
Mütze nehmen Wenn Du aber durch den Garten fort-
gehst? . . .
Herr Lepic:
Du wirst hören, wenn ich dem Hund pfeife.
Fuchs:
Wirst Du mir auch pfeifen?
Herr Lepic:
Verlass' Dich darauf.
Fuchs:
Danke, Papa, Ich werde die Jagdtasche tragen.
Herr Lepic:
Ja, ich leihe sie Dir. Ich habe genug an meinem Gewehr.
Fuchs:
Ich werde einen Stock nehmen und auf die Hecke schlagen,
dass die Hasen herausgehen. Auf baldiges Wiedenehen, Papa.
Indessen jäte ich diese Ecke da.
Herr Lcpic:
Das unterhält Dich?
Fuchs:
Es ist mir nicht zuwider. In der Sonne ist es anstrengend, aber
im Schatten geht es von selber. Uebrigens hat es die Mutter
mir befohlen.
Herr Lepic, sieht seinen ersten Spatenstichen zu und geht ins Haus.
ZWEITE SCENE/ FUCHS ALLEIN.
Fuchs:
Vorsichtshalber will ich doch den Hund einsperren, der dort
schläft.
Er schliesst am Hundehaus die Thüre:
Auf die Art kann Herr Lepic mich nicht vergessen, denn er
kann nicht ohne den Hund auf die Jagd gehen und der Hund
kann nicht ohne mich auf die Jagd gehen.
Ein Geräusch am Schloss der Hofthüre. Fuchs glaubt, dass es
Frau Lepic ist und macht sich an seine Arbeit.
DRITTE SCENE / FUCHS, ANNETTE.
Annette, ein Bauernmädchen, stösst die Thüre auf und kommt in den
Hof. Sie betrachtet Fuchs, der den Rücken kehrt und eifrig gräbt. Sie
geht durch den Hof, steigt die Haustreppe empor und klopft an die Thüre.
Fuchs, erstaunt, dass Frau Lcpic vorbeigehe, ohne ihm etwas Unangenehmes
zu sagen, sieht sich verstohlen um und richtet sich auf:
Fuchs:
Ah, es ist nicht Frau Lepic. — Was wünschen Sie . . . Fräulein:
Annette, ohne konventionelles Gepräge; sie ist gekleidet wie eine
Bäuerin, die ihr Bestes angezogen hat, um sich einer neuen Herrschaft
vorzustellen. Weisse Haube, schwarzer Spenser, grauer Rock ; einen Korb
auf dem Arm:
Frau Lepic.
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Fuchs:
Ausgegangen.
Annette:
Wird sie bald wiederkommen?
Fuchs:
Ich hoffe, ja. Was wünschen Sie?
Annette:
Ich bin das neue Dienstmädchen, das Frau Lcpic vorigen
Donnerstag in Lonnes aufgenommen hat.
Fuchs, wichtig, indem er seinen Spaten fallen lasst:
Ich weiss. Sie hat es mir gesagt. Ich habe Sie schon jeden
Tag erwartet. Frau Lepic ist beim Herrn Pfarrer. Jetzt brauchen
Sic nicht ins Haus zu gehen. Es ist Niemand drinnen als Herr
Lepic, der seine Siesta hält und nicht gerne hat, wenn man ihn
stört. Uebrigens hat das Dienstmädchen nichts mit ihm zu
thun. Setzen wir uns auf die Stiege.
Annette:
Ich bin nicht müde.
Fuchs:
Sic kommen von weit her?
Annette:
Von Lormes. Da bin ich zu Hause.
Fuchs:
Und ihren Koffer?
Annette:
Auf dem Bahnhof habe ich ihn gelassen.
Fuchs:
Ist er schwer?
Annette:
Gerade meine Sachen sind drinnen.
Fuchs:
Ich werde dem Boten sagen, dass er ihn morgen früh auf seinem
Eselwagcn mitbringt. Haben Sie Ihr Rccepisse?
291
Annette:
Da ist es.
Fuchs:
Verlieren Sies nur nicht. Wie heissen Sie?
Annette-
Annette Perreau.
Fuchs:
Annette Perreau. Ich verde Sie Annette nennen. Es ist leichter
auszusprechen. — Ich bin der Fuchs.
Annette:
Wie?
Fuchs:
Fuchs. — Sie wissen doch.
Annette:
Nein.
Fuchs:
Der jüngere von den Söhnen Lepic, der, den man Fuchs nennt.
Frau Lepic hat Ihnen nichts von mir gesagt?
Annette:
Aber garnichts. —
Fuchs:
Das wundert mich. — Sic freuen sich, bei der Familie Lepic
in Dienst zu kommen ?
Annette:
Ich weiss nicht. Das hängt davon ab.
Fuchs:
Natürlich. Das Haus ist ganz gut.
Annette:
Man hat viel zu arbeiten?
Fuchs:
Nein. Zehn Monate im Jahr sind Herr und Frau Lepic alleinc.
291
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Ein bisschen ärger ist es, wenn wir in den Ferien da sind, mein
Bruder und ich. Aber es ist immer zum Aushalten.
Annette:
Oh! ich bin stark.
Fuchs:
Sic sehen ganz kräftig aus. . . . Uebrigens helfe ich Ihnen.
Annette ist verwundert:
Ich meine . . .
Verlegen, nähert sich ihr:
Hören Sie zu, Annette. Wenn ich auf Ferien bin, kann ich
doch nicht immerfort spielen wie ein Narr; da zerstreut es
mich dann, Ihnen zu helfen. . . . Verstehen Sie?
Annette, macht erstaunte Augen:
Nein. Sie helfen mir? Bei was denn, Herr Lepic?
Fuchs:
Nennen Sie mich Fuchs. So heisse ich.
Annette:
Herr Fuchs!
Fuchs:
Nicht Herr . . . Wenn Frau Lepic Sie hören würde, würde
sie sich schief lachen. Nennen Sie mich Fuchs, ganz einfach,
wie ich Sie Annette nenne.
Annette:
Fuchs, das ist kein christlicher Name. Sie werden doch einen
Taufnamen haben.
Fuchs:
Er wird seit meiner Taufe nicht verwendet . . . Man hat ihn
vergessen.
Annette:
Wo haben Sie diesen Zunamen her?
20
Fuchs:
Frau Lepic hat ihn mir gegeben wegen der Farbe meiner
Haare.
Annette:
Sie sind blond.
Fuchs:
Feuerblond. Frau Lepic sieht sie rot, sie hat gute Augen.
Nennen Sie mich Fuchs.
Annette:
Ich getraue mir's nicht.
Fuchs:
Ich erlaube es Ihnen doch. ,
Annette stammelt etwas.
Fuchs:
Ich befehle es Ihnen. — Gewöhnen Sie sich das gleich an,
denn von morgen Früh an — heute Abend gehe ich mit
Herrn Lepic auf die Jagd — teilen wir uns in die Arbeit.
Annette:
Was reden Sie da?
Fuchs, kalt:
Sie sind lustig.
Annette:
Entschuldigen Sie.
Fuchs:
Aber es macht nichts! .... Wir müssen uns verständigen,
damit Eines das Andere nicht geniert. Wir stehen Beide um
punkt halb sechs auf.
Annette:
Sie auch?
Fuchs:
Ja. Ich schlafe in einem Zug, aber ich kann in der Früh nicht
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lange im Bett bleiben. Ich werde Sie aufwecken. Unsere
beiden Zimmer sind nebeneinander, neben dem Heuboden.
Sobald ich auf bin, gebe ich mich mit den Tieren ab. — Ich
habe eine Leidenschaft für die Tiere. Ich bringe dem Hund
seine Suppe, ich werfe den Hühnern Korn vor und den
Kaninchen ihr Grünzeug. — Sic machen indessen Feuer und
richten das Frühstück für die Familie Lcpic. Frau Lepic ....
Annette:
Ihre Mutter?
Fuchs:
Ja, ja ... . nimmt Kaffee mit Milch. Herr Lepic . . .
Annette:
Ihr Vater?
Fuchs:
Ja, ja. — Reden Sie mir nicht dazwischen, Annette. — Herr
Lepic nimmt schwarzen Kaffee und mein Bruder Felix Choco-
lade.
Annette:
Und Sie?
Fuchs:
Sie, Annette, wird man in den ersten Tagen verhätscheln.
Wahrscheinlich werden Sic Kaffee mit Milch bekommen wie
Frau Lcpic. Später wird sie dazu sehn.
Annette:
Und Sie?
Fuchs:
Oh! ich nehme, was ich . . . was ich will, im Speiseschrank,
einen Rest Suppe, ich esse ein Stück Brot oder etwas Anderes,
oder nichts. Ich habe garnicht viel Hunger gleich nach dem
Aufstehen.
Annette:
Sie trinken nicht gerne Chocolade wie Ihr Bruder, der Herr
Felix?
*95
Fuchs:
Nein, wegen der Haut — Den ganzen Vormittag arbeite ich
dann an meinen Ferienaufgaben. — Sie, Annette, Sic dürfen
nicht die Hände in den Schoss legen; Sie machen sich über
die Stiefel; die Jagdsticfcl von Herrn Lcpic müssen ordentlich
eingefettet werden.
Annette:
Gut.
Fuchs:
Die Damenstiefel dürfen Sie nicht zu sehr wichsen ; das ver-
brennt sie.
Annette:
Gut, gut.
Fuchs:
Sic machen die Betten, räumen die Zimmer auf und das Haus.
Ah! den Eimer ziehe ich Ihnen aus dem Brunnen; das ist eine
Uebung für mich ; sehen Sic, so ... .
Er läuft zum Brunnen, zieht mühsam einen Eimer herauf und stellt ihn
schweratmend hin:
Das kräftigt mich. — Können Sie ein bisschen kochen?
Annette:
So einfache Sachen schon.
Fuchs:
Das genügt auch. Zu mehr kommen Sie auch nicht. Frau
Lepic ist eine sehr gute Köchin, und wenn sie bei Appetit ist,
leckt man sich die Finger ab. — Sobald es Mittag läutet,
gehe ich in den Keller.
Annette:
Ah, das vertraut man Ihnen an?
Fuchs:
Ja, Annette, mir; und dann, die Stiege ist gefahrlich. — Das
bringt mir etwas ein: ich darf die alten Fässer zu meinem
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Vorteil verkaufen ; das Geld lege ich in der Lade von Frau
Lepic an. — Fürchten Sie sich nicht, Annette, weil ich den
Kellerschlüssel habe, deswegen sollen Sie nicht um Ihren Wein
kommen.
Annette:
Oh, einen Tropfen bei jeder Mahlzeit.
Fuchs:
Ich nie. . . . Der Wein steigt mir zu Kopf; ich trinke nur von
unserm Wasser, das ist das beste im ganzen Dorf. — Natürlich
bedienen Sie bei Tisch. Teller wechselt man so wenig als
möglich.
Annette:
Umso besser!
Fuchs:
Nicht Ihnen zulieb, wegen der Teller. — Nach dem Essen
Geschirr waschen. Manchmal helfe ich ein bissei mit.
Anne tte:
Beim Geschirr waschen?
Fuchs:
Beim Einräumen, Annette, wenn das schöne Service heraussen
war.
Annette:
Ist öfter Gesellschaft?
Fuchs:
Selten. Herr Lepic, der die Leute nicht gerne hat, macht den
Gästen von Frau Lepic ein Gesicht, und sie kommen kein
zweites Mal. — Am Abend, zum Beispiel, Annette, habe ich
nichts zu thun.
Annette:
Nichts?
*97
F it c h s :
Fast nichts. Ich verbringe meine Zeit, wie ich will, und rauche
eine Cigarrette dazwischen.
Annette:
Oh! oh!
Fuchs:
Ja, Herr Lepic bietet mir manchmal welche an, und es unter-
halt ihn, weil mir ein bisschen schlecht danach wird. — Ich
thue das und jenes, thuc so im Garten herum, ich sehe die
Blumen nach, ich grabe einen Korb Erdäpfel aus und nehme
Schoten ab, die ich in meinen leeren Augenblicken auslöse.
Annette:
Was noch?
Fuchs:
Ach Gott, ich quäle mich nicht ab. Wie Sie gekommen sind,
war ich daran, den Hof zu jäten, ganz gemütlich. Gänse mit
ihren Schnäbeln thäten es schneller als ich.
Annette:
Und das ist alles?
Fuchs:
Das ist Alles. Manchmal mache ich vielleicht noch ein paar
Kommissionen für Frau Lepic, beim Kaufmann, bei der Päch-
terin oder in der Stadt beim Apotheker . . . und die übrige
Zeit bin ich frei.
Annette:
Und Ihr Bruder Felix, was thut denn der den ganzen Tag?
Fuchs:
Er ist nicht auf Ferien gekommen, um zu arbeiten. Dann hat
er nicht meine Gesundheit. Er ist zart . . .
Annette:
Er pflegt sich.
Fuchs:
Das ist seine Sache. — Während ich mich nachmittags aus-
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ruhe, müssen Sic, Annette. ... ah ! das ist etwas Unangenehmes
für Sie . . . meistens an den Fluss hinunter.
Annette:
Soviel Wäsche machen die schmutzig!
Fuchs:
Nein, aber die Jagdbeinkleidcr von Herrn Lepic: wenn es
regnet, bringt er den Kot kiloweise nach Hause. Im Grunde
glaube ich, er watet eigens darinnen, um Frau Lepic zu ärgern.
Annette, neugierig:
Sie thun sich was zu Flciss?
Fuchs, fährt fort:
.... Aber da nicht Frau Lepic an den Fluss hinunter muss,
sondern Sic, so ärgert er nur Sie damit. Umso schlimmer für
Sie, meine gute Annette, ich kann nichts dafür: Sie sind das
Dienstmädchen.
Annette:
Sind sie streng?
Fuchs:
Hören Sie zu, Annette, sonst würden Sie sich immer unrecht
benehmen: Herr Lepic sieht streng aus und Frau Lepic . . .
Psst!
Er hört ein Geräusch, stürzt sich auf seinen Spaten; eine Frau geht auf
der Strasse vorbei; sie ruft herein:
Guten Abend, Fuchs!
Er atmet auf:
Die Distel da hat mich so genirt. . . .
Er wirft seinen Spaten wieder weg, setzt sich in den Schubkarren, stellt
einen Korb mit Erbsen auf seine Kniec und fängt an aufzuhülsen; An-
nette nimmt auch eine Handvoll davon:
Ach, lassen Sie, gemessen Sie doch das bisschen freie Zeit, was
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Ihnen noch bleibt. Ja, Annette, auf den ersten Augenschein
macht Herr Lepic schon einen Eindruck, aber man sieht ihn
beinahe nicht. Er ist immer fort, in Paris wegen eines end-
losen Prozesses, oder auf der Jagd wegen unseres Speiskastens.
Zuhause ist er ein Mensch, der den Kopf voll hat und nichts
redet. Er lacht nur so in seinen Bart, und das wie selten!
Annette:
Er ist ein Original.
Fuchs:
Sie werden ihn nicht ändern.
Annette:
Er hat Sie gern?
Fuchs:
Ich glaube. Auf seine Art, so im Stillen.
Annette:
Hat er denn gar kein Mundwerk?
Fuchs:
O ja, Annette, auf der Jagd ein famoses für seinen Hund. Für
die Familie nicht.
Annette:
Disputiert er sich nicht mit Frau Lepic?
Fuchs:
Nein. Aber Frau Lepic redet und disputiert mit sich selber,
und jemehr Herr Lepic schweigt, umsomehr redet sie mit der
ganzen Welt, mit Herrn Lepic, der nicht antwortet, mit meinem
Bruder Felix, der antwortet, wenn er will, mit mir, der ant-
wortet, wenn sie will, und mit dem Hund, der bewegt nur
seinen Schweif als Antwort.
Annette:
Sic ist im Kopf nicht in Ordnung?
Fuchs:
Wie meinen Sie? — Geben Sie Acht, Annette, sie ist nicht
taub.
300
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4
Annette:
Sic ist boshaft?
Fuchs:
Für Sie, fiir das Dienstmädchen ist sie nicht schlecht, so mittel-
gut. Manchmal nennt sie Sie »lieb Kind«, manchmal »dumme
Gans«, — für Herrn Lepic ist sie, als wenn sie nicht auf der
Welt wäre; für meinen Bruder Felix ist sie eine Mutter. Sie
betet ihn an.
Annette:
Und für Sic?
Fuchs, den Blick im Leeren:
— ist sie auch eine Mutter.
Annette:
Sie betet Sie an?
Fuchs:
Wir haben nicht die gleiche Natur, Felix und ich.
Annette:
Sic kann sie nicht ausstehen, was?
Fuchs:
Das weiss kein Mensch, Annette. Die Einen sagen, dass sie
mich nicht ausstehen kann, die Andern, dass sie mich sehr
gerne hat, aber dass sie sich nicht in die Karten sehen lässt.
Annette:
Sie müssen doch das besser wissen als irgend Einer.
Fuchs, sieht auf und stellt den Korb mit den Erbsen neben die Mauer:
Wenn sie sich nicht in die Karten schauen lassen will, so ver-
steht sie's wirklich, sich nicht in die Karten schauen zu lassen.
Annette:
Armer junger Mann!
Fuchs:
Ich muss Ihnen noch etwas sagen, Annette. Vergessen Sie nicht,
wenn die Nacht einbricht . . .
30!
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Annette:
Sie sehen doch nicht böse aus?
Fuchs:
So, finden Sie ? . . . Offenbar darf man sich darauf nicht ver-
lassen.
Annette:
Nein?
Fuchs:
Offenbar.
Annette:
Sie haben kleine Fehler?
Fuchs:
Kleine und grosse. Ich habe sie alle.
Er zählt an den Fingern.
Ich bin ein Lügner, ein Heuchler, ich bin unreinlich und dazu
bin ich faul und eigensinnig.
Annette:
Alles das auf einmal ?
Fuchs:
Und das ist noch nicht Alles. Ich habe ein hartes Herz und
ich schnarche Dann noch etwas .... Ah ! ich trotze,
und das ist vielleicht der ärgste von meinen Fehlern. Sie sagen,
dass ich trotz der Schläge mir das nicht abgewöhnen werde.
Annette:
Sie schlägt Sie?
Fuchs:
Oh, ein paar Ohrfeigen!
Annette:
Sie hat eine flinke Hand?
Fuchs:
Und wie !
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Annette:
Sie giebt Ihnen wirkliche Ohrfeigen?
Fuchs, leicht:
Es thut nicht weh, meine Haut ist hart. Es ist mehr der Vor-
gang, der mich demütigt, weil ich doch ein grosser Bub bin.
Ich werde fünfzehn .
Annette:
Ich kann mir nicht denken, dass Sie ein schlechter Kerl sein
iollen.
Fuchs:
Warten Sie nur, es wird schon kommen.
Annette:
Ich glaube nicht.
Fuchs:
Frau Lepic wird Sie schon dahin bringen.
Annette:
Wenn ich will.
Fuchs:
So oder so, Annette. Sie wird Sie umkehren wie einen Hand-
schuh, und ich rate Ihnen, sträuben Sie sich nicht.
Annette:
Wurde sie mich auffressen?
Fuchs:
Sie würde sich nicht genieren.
Annette:
Na, na!
Fuchs:
Ich meine, sie würde Sie zur Thüre hinauswerfen.
Annette:
Wie wär's, wenn ich gleich ginge?
Fuchs, unruhig:
Warten Sie ein paar Tage ab. Neue Besen kehren gut. Rechnen
303
Sic auf einen angenehmen Monat bei Frau Lepic, und solange,
bis sie anfangt, es auf Sie scharf zu haben, bleiben Sie hier,
Annette, es wird Ihnen nicht schlechter als anderswo gehen,
und .... ich mag gerade so gerne Sic als eine Andere.
Annette:
Gefalle ich Ihnen?
Fuchs:
Sie missfallen mir nicht, und ich bin überzeugt, dass, wenn
Jeder von uns dazu hilft, das Ganze von selbst gefcen wird.
Annette:
Ich wünsche es.
Fuchs:
Aber reden Sie immer Frau Lepic nach dem Mund, seien Sie
immer mit ihr gegen mich.
Annette:
Das wäre hübsch!
Fuchs:
Wenigstens machen Sie so, in unserem Interesse; nichts wird
uns verhindern, wenn wir all eine sind, wieder gute Kameraden
zu sein.
Annette:
Oh, das verspreche ich Ihnen.
Fuchs:
Sie sehen, was ich für ein hartes Herz habe, Annette; der
ersten Besten vertraue ich mich an.
Annette:
Das ist wahr; stolz sind Sie nicht.
Fuchs:
Um Eins bitte ich Sie, mir nicht »Du* zu sagen. Das andere
Dienstmädchen hat mir »Du* gesagt, unter dem Vorwand,
dass sie alt war, und das war mir zuwider. Nennen Sie mich
■»Fuchs* wie alle Leute.
304
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Annette, rücksichtsvoll:
Nein, nein.
Fuchs:
.... Nicht mir »Du* sagen.
Annette:
Ich bin doch keine unverschämte Person. Ich schwöre Ihnen,
dass —
Fuchs:
Gut, Annette, gut. — Ich habe gesagt, dass ich Ihnen noch
etwas sagen muss. Herr Lepic und ich, wir gehen jetzt gleich
auf die Jagd. Da man da spät nach Hause kommt, so schlucke
ich schnell meine Suppe hinunter und lege mich ins Bett, müde
wie ein Jagdhund. Vergessen Sie also heute Abend nicht, die
Tiere einzusperren; übrigens müssen Sie sie immer einsperren.
Annette:
Ein Schritt mehr oder weniger.
Fuchs :
No ! no ! Annette, die ersten Male, die Sie in der Nacht durch
diesen Hof gehen werden, ohne Laterne, und der Regen Ihnen
in den Rücken schlägt und der Wind in die Röcke fährt . . .
Annette:
Da muss ich ja Glück haben, dass ich drauskomme.
Fuchs:
Gestern Abend waren Sie nicht da, da habe ich sie einsperren
müssen, und ich versichere Ihnen, das ist aufregend.
Annette:
Sind Sie furchtsam?
Fuchs:
Oh nein, pardon, furchtsam bin ich nicht. Frau Lepic wird
Ihnen schon selbst sagen, ich bin Alles, was sie will, aber ich
habe Courage. Schaun Sie diese Scheune an. Da hinein
flüchte ich mich, wenn ein Gewitter ist, und sehen Sie, Annette,
•
30?
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die ärgsten Donnerschläge stören mich dann nicht, wenn ich
da drinnen eine Partie »Maikäfer fliegt* spielte!
Annette:
Was?
Fuchs:
Alles, was Flügel hat, fliegt.
Annette:
Ganz allein?
Fuchs:
Es ist ebenso lustig, als ob Mehrere da sind. Wenn ich ein
Pfand gegeben habe, so küsse ich mir die Hand oder ich gebe
der Mauer einen Kuss. — Sie sehen also, ob ich Furcht habe!
Aber Jeder thut, was ihm zugehört ; Ihnen gehört es zu, nach
der Instruktion von Frau Lepic abends die Tiere einzusperren,
und Sie werden sie einsperren.
Annette:
Wir werden uns doch nicht gleich streiten ; ich werde es schon
thun; ich fürchte mich nicht.
Fuchs:
Ich auch nicht, Annette. Ich habe Furcht vor nichts und vor
Niemand, absolut vor Niemand! Aber es handelt sich darum,
zu wissen, wer von uns Zweien die Tiere einsperrt, und der
Wille von Frau Lepic, ihr ganz bestimmter Wille . . .
Frau Lepic, auftauchend:
Fuchs, Du wirst sie jeden Abend einsperren.
VIERTE SCENE / DIE VORIGEN, FRAU LEPIC.
Frau Lepic, flache Scheitel, braunes Prinzesskleid, eine Broche am Kragen,
einen Sonnenschirm in der Hand. — Im Augenblick, wo Fuchs sagte:
»Ich habe Furcht vor nichts und vor Niemand*, hatte sie die Thüre auf-
gemacht und horcht, überrascht, steif, dürr, stumm, die Antwort auf der
Zunge.
306
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Fuchs:
Ja, Mama.
Er greift nach seinem Spaten und kehrt ihr den Rücken zu. Er kriecht
in sich zusammen; es ist, als ob er ein Loch in die Erde grübe, um sich
darin zu verkriechen.
Annette, neugierig und eingeschüchtert; sie grüsst Frau Lepic:
Guten Tag, gnädige Frau.
Frau Lepic:
Guten Tag, Annette. Sind Sie schon lange hier?
Annette:
Nein, gnädige Frau; eine Viertelstunde.
Frau Lepic, zu Fuchs.
Und Du kannst mich nicht holen?
Fuchs:
Ich wollte gerade, Mama.
Frau Lepic:
Das bezweifle ich.
Fuchs:
Nicht wahr, Annette?
Annette:
Ja, gnädige Frau.
Frau Lepic:
Du hättest sie wenigstens einlassen können. Lernt man Dich
keine Manieren in Deinem Institut?
A n n e t te :
Ich bin ja ganz gut gestanden und ich habe mit Ihrem Herrn
Sohn gesprochen . . .
Frau Lepic, misstrauisch:
Ah, Sie haben mit meinem Herrn Sohn Fuchs gesprochen . . .
er ist ein grosser Sprecher.
Fuchs:
Mama, ich habe ihr das Nötige gesagt.
307
Frau Lcpic:
Ucbcr Deine Familie?
Zu Annette.
Er wird Ihnen schöne Sachen gesagt haben.
Annette:
Er, gnadige Frau? Er ist doch ein so guter junger Herr!
Frau Lepic:
Oh! oh! Annette, er hat etwas ausgerichtet in der kunen
Zeit . . .
Zu Fuchs.
Gieb Deine Hände aus den Taschen; ich werde sie Dir noch
zunähen.
Fuchs zieht seine Hände aus der Tasche.
Sehen Sie sich diese Borsten an. Er würde einen Topf Pomade
jeden Tag verbrauchen, wenn man ihm welche geben würde.
Fuchs streicht seine Haare herunter.
Und Deine Kravatte?
Fuchs, greift sich an den Hals:
Du hast gesagt, ich brauche auf dem Lande keine Kravatte,
Frau Lcpic:
Ja, aber Du hast wieder Deine Bluse schmutzig gemacht.
Wäre nur eine einzige Handvoll Kot auf der Erde, so wäre
sie für Dich.
Fuchs, schielend, bemerkt, dass seine Schulter schmutzig von Erde ist:
Es ist der Spaten.
Frau Lepic, überwältigt von Mattigkeit:
Jetzt bearbeitest Du Deine Bluse mit dem Spaten?
Annette, stellt ihren Korb auf die Bank:
Ich werde ihn ein wenig abbürsten, gnädige Frau.
Frau Lepic:
Aber an Ihnen hat er ja eine Eroberung gemacht, Annette \ . . .
308
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Sic haben Glück, vor Herrn Fuchs Gnade gefunden zu haben.
Das ist nicht Jedem beschieden. — Lassen wir ihn, er wird
sich selbst bürsten; er braucht keine Domestique.
Zuvorkommend.
Sie werden müde sein, mein Kind ; gehen Sie ins Haus hinein
und ruhen Sie sich in Ihrem Zimmer ein bisschen aus.
Sie öffnet die Thüre und spricht von der obersten Stufe.
Fuchs, hole ihr eine Flasche Wein aus dem Keller.
Fuchs:
Ja, Mama.
Frau Lepic:
Und laufe in die Meierei um einen Topf Sahne.
Fuchs:
Ja, Mama.
Frau Lepic:
Rühre Dich ! Dann . . .
Zu Annette.
Ihr Koffer ist auf der Bahn?
Annette:
Ja, gnädige Frau.
Frau Lepic:
Fuchs wird ihn auf seinem Schubkarren holen.
Fuchs:
Ah! ah!
Frau Lepic:
Es verdriesst Dich?
Fu ch s.-
Ich werde mich beeilen.
Frau Lepic:
Es brennt vielleicht?
Fuch s:
Nein, Mama, — aber ich soll auf die Jagd gehen, jetzt gleich,
mit Papa.
21 309
Frau Lcpic:
Nun, so wirst Du nicht auf die Jagd gehen, jetzt gleich, mit
«Papa«.
Fuchs:
Es ist, weil der Papa . . .
Frau Lepic:
Ich habe Dich aufmerksam gemacht, dass es lächerlich ist, in
Deinem Alter »der Papa* zu sagen.
Fuchs:
Es ist, weil Vater mich gefragt hat, ob ich gehen will, und
ich es versprochen habe.
Frau Lepic:
Du wirst Dein Versprechen zurücknehmen. Wo ist Dein
Vater?
Fuchs:
Er macht sein Schläfchen.
Frau Lepic steigt hinab und geht auf Fuchs zu, der zurücktritt und
seinen Ellbogen erhebt:
Wozu diese Bewegung? Annette wird sich einbilden, dass ich
Dir Angst mache. — Ich wünsche nicht, dass Du auf die
Jagd gehst.
Fuchs:
Gut, Mama. — "Was soll ich meinem Vater sagen?
Frau Lepic:
Du wirst ihm sagen, dass Du Dich anders besonnen hast. Es
ist überflüssig, sich den Kopf zu zerbrechen. Verstehst Du
mich? Möchtest Du vielleicht antworten, wenn ich zu Dir
spreche?
Fuchs:
Ja, Mutter. Ja, Mama.
Frau Lepic, im gleichen Ton:
Ja, Mama. — Du willst trotzen ?
310
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Fuchs:
Ich will nicht trotzen.
Frau Lepic:
Ja, Du willst trotzen. 'Warum? Dir war doch daran nichts
gelegen, an diesem Jagdausflug?
Fuchs, stumm revoltierend:
Mir war nichts daran gelegen?
Frau Lepic:
Oh! Du eiserner Schädel!
Sie steigt die Stufen hinauf:
Ja, ja, Annette ! den führt man nicht, wie man will — den da!
Annette:
Er sieht doch ganz sanftmütig aus.
Frau Lepic:
Der, dem geht nichts nah. Er hat ein steinernes Herz, er hat
niemanden lieb. Nicht wahr, Fuchs?
Fuchs:
Doch, Mama.
Frau Lepic, die weiss, was sie sagt:
Nein, Mama. — Ah, wenn ich meinen Felix nicht hätte!
Sie tritt mit Annette ins Haus und schliesst die Thüre, behält aber die
Klinke in der Hand.
Fuchs:
Hin, meine Jagd ! Das nächste Mal bin ich klüger !
Frau Lepic, öffnet wieder die Thüre:
Hast Du jetzt genug zwischen den Zähnen gemurmelt?
Sic hört Herrn Lepic und schliesst die Thüre. Fuchs fängt wieder an
zu jäten. Herr Lepic erscheint am Gitter, das Gewehr umgehängt, die
Jagdtasche in der Hand.
3"
FUENFTE SCENE / FUCHS, HERR LEPIC, dann AN-
NETTE.
Herr Lepic:
Allons, bist Du fertig?
Fuchs:
Weiss t Du, Papa, ich habe mich anders besonnen, ich gehe
nicht auf die Jagd.
Herr Lepic:
Was steigt Dir in den Kopf?
Fuchs:
Es macht mir kein Vergnügen mehr.
Herr Lepic:
Was Du für ein sonderbarer Mensch bist! . . . Nach Deinem
Belieben, mein Kind.
Er hängt seine Jagdtasche um.
Fuchs:
Du kannst mich ja entbehren?
Herr Lepic:
Besser Dich als das Wild.
Annette, kommt auf Fuchs zu und hat den Sahnetopf in der Hand:
Frau Lepic schickt mich, Ihnen zu sagen, dass Sic schnell zur
Meierei sollen um die Sahne.
Fuchs, wirft seinen Spaten weg:
Ich gehe.
Zu Herrn Lepic, der sich entfernt.
Auf Wiedersehen, Papa, viel Glück zur Jagd.
Annette:
Das ist Herr Lepic?
Fuchs:
Ja.
Annette:
Er sieht brummig aus.
3«
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Fuchs:
Er kann nicht leiden, wenn ich ihm Glück zur Jagd wünsche:
das bringt ja gerade Pech.
Annette:
Haben Sie ihm gesagt, dass Frau Lepic Ihnen verboten hat,
mit ihm zu gehen?
Fuchs:
Aber nein, Annette. Haben Sic vielleicht Frau Lepic nicht
verstanden? Ich habe ihm einfach gesagt, dass ich mich anders
besonnen habe.
Annette:
Er muss Sie recht launisch finden.
Fuchs:
Er gewöhnt sich daran.
Annette:
Wie Frau Lepic zu Ihnen gesprochen hat!
Fuchs:
Ihrer Ankunft zu Ehren war sie ganz anständig.
Annette:
Ja! mir war nicht wohl zumut.
Fuchs:
Sie werden sich daran gewöhnen.
Annette:
Ich an Ihrer Stelle hätte Herrn Lepic die Wahrheit gesagt.
Fuchs, nimmt den Krug aus Anncttens Hand:
Was wünsche ich mir, Annette? Den Püffen auszuweichen.
Nun, was immer ich thue, bekomme ich von Herrn Lepic
nie welche, er ist nicht einmal gesprächig genug, um mich
auszuzanken, während beim geringsten Vorwand Frau Lepic . . .
313
Er erhebt die Hand, lässt dabei den Krug fallen und sieht dabei nach
dem Fenster.
Annette, indem sie die Scherben aufnimmt:
Haben Sie keine Furcht, ich habe ihn zerbrochen. — An
Ihrer Stelle hatte ich die Wahrheit gesagt.
Fuchs:
Ich setze den Fall, Annette, dass ich Frau Lepic verklatsche
und dass Herr Lepic meine Partei nimmt, glauben Sie, dass,
wenn Herr Lepic Frau Lepic meinetwegen hernimmt, Frau
Lepic ihrerseits nicht in einer Ecke mich hernimmt?
Annette:
Sie haben einen Vater . . . und eine Mutter!
Fuchs, leichthin:
Jeder Mensch kann doch nicht ein Waisenkind sein.
Herr Lepic, erscheint wieder am Gitterthor:
Wo zum Teufel ist denn der Hund? Seit einer Stunde rufe
ich ihn.
Fuchs:
In der Hütte, Papa,
Er geht hin, den Hund auslassen.
Herr Lepic:
Du hattest ihn eingesperrt?
Fuchs, wie unwillkürlich:
Ja, — aus Vorsicht — für Dich.
Herr Lepic:
Nur für mich? Das ist sonderbar. Fuchs, nimm Dich in Acht.
Du hast einen merkwürdigen Charakter. Ich weiss es und
ich vermeide, Dich zu verletzen. Was ich mich aber zuzu-
lassen weigere, ist, dass Du Dich über mich lustig machst.
Fuchs:
Oh! Papa, das fehlte gerade noch.
3'4
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Herr Lepic:
Zum Teufel! wenn Du Dich nicht lustig machst, erkläre Derne
sonderbare Art und warum Du dieselbe Sache willst und
plötzlich wieder nicht willst.
Annette, nähert sich Fuchs:
Erklären Sic's ihm.
Zu Lepic.
Guten Tag, gnädiger Herr.
Fuchs, zu Herrn Lepic, der erstaunt ist:
Das neue Dienstmädchen, Papa; sie kam eben an, sie kennt
sich noch nicht aus.
Annette:
Erklären Sie ihm, dass nicht Sie es sind, der nicht mehr will.
Fuchs:
Annette, wollen Sie sich gefälligst um das bekümmern, was
Sie angeht.
Herr Lepic:
Du bist es nicht? Was heisst das? Antworte. Wirst Du end-
lich antworten, Herrgott?
Fuchs scharrt mit dem Fuss den Boden.
SECHSTE SCENE / DIE VORIGEN, FRAU LEPIC.
Frau Lepic, öffnet das Fenster, von dem sie zugesehen hat, ohne ver-
stehen zu können, und sagt mit sanfter Stimme:
Annette, haben Sie meinem Sohne Fuchs gesagt, dass er nach
der Meierei gehen soll?
Annette:
Ja, gnädige Frau.
Frau Lepic:
Du hast doch Zeit, Fuchs, da Du ja keine Lust mehr hast, auf
die Jagd zu gehen.
3»5
Fuchs, wie befreit:
Ja, Mama.
Annette, empört, leise zu Herrn Lepic:
Sie hat es ihm verboten.
Frau Lepic:
Geh, mein Alter, so hast Du einen Spaziergang.
Herr Lepic:
Keinen Schritt.
Frau Lepic:
Beeile Dich, das wird lieb von Dir sein.
Fuchs will weg.
Herr Lepic:
Ich habe Dir gesagt, Du sollst Dich nicht rühren.
Fuchs, zwischen zwei Feuern, bleibt stehen.
Frau Lepic:
Nun, mein kleiner Fuchs?
HerrLepic, ohne Frau Lepic anzusehen :
Ich wünsche, dass man ihn in Ruhe lasse.
Fuchs setzt sich vor Aufregung nieder.
Frau Lepic, betreten:
Wenn Sie vielleicht hereinkämen, Annette, statt den beiden
Herren vor der Nase herumzustehen?
Sie schliefst ihr Fenster halb.
Annette:
Ja, gnädige Frau.
Sie nähert sich Fuchs.
Da sehen sie 1 . . .
Fuchs:
Sic haben was Schönes angerichtet.
Annette:
Ich löge nie, ich.
31$
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Fuchs:
Das ist ein Unrecht. Da werden Sie's hier nicht lange machen.
Annette:
Oh, ich finde wo anders einen Platz. Ich bin ein tüchtiges
Mädchen.
Fuchs:
Das ist mir alles eins.
Annette:
Sind Sie mir böse? . . .
Frau Lepic, öffnet das Fenster ungeduldig wieder:
Annette !
Herr Lepic, nimmt seine Jagdtasche ab und giebt sie Annette, sowie
das Gewehr:
Tragen Sie hinein 1
Annette geht ins Haus.
SIEBENTE SCENE/ FUCHS, HERR LEPIC.
Herr Lepic:
Und jetzt willst Du mir antworten?
Fuchs:
Diese Person hätte den Mund halten sollen, aber sie sagt die
Wahrheit, die Mutter hat mir verboten, heute abend auf die
Jagd zu gehen.
Herr Lepic:
Warum?
Fuchs:
Ah, frag' sie.
Herr Lepic:
Sie giebt Dir einen Grund an.
uchs:
Sic hat mir nicht Rechenschaft zu geben.
317
Herr Lepic:
Sie braucht Dich?
Fuchs:
Sie braucht mich immer.
Herr Lepic:
Du hast ihr etwas gethan?
Fuchs:
Das würde ich wissen. Wenn ich meiner Mutter etwas thuc,
so sagt sic's mir und ich muss gleich zahlen. Aber diese Woche
war ich »sehr brav*.
Herr Lepic:
Deine Mutter sollte Dir verbieten, auf die Jagd mitzukommen r
Fuchs:
Sie verbietet mir, was sie kann.
Herr Lepic:
Mit mir?
Fuchs:
Gerade.
Herr Lepic:
Ohne irgend einen Grund? . . . Was kann ihr das thun?
Fuchs:
Es ärgert sie, weil es mir Vergnügen macht.
Herr Lepic:
Das redest Du Dir ein.
Fuchs:
Schon traust Du mir nicht . . .
Herr Lepic, geht einmal auf und ab, tritt auf Fuchs zu und streicht
ihm mit der Hand durch die Haare:
Richte doch Deine Haare, sie hängen Dir in die Augen. . . .
Was hast Du auf dem Herzen?
Fuchs, schweigt beklommen:
Rede.
318
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Fuchs, richtet sich auf; entschlossen:
Papa, ich will aus diesem Haus fort.
Herr Lepic:
Was sagst Du?
Fuchs:
Ich möchte aus diesem Haus fort.
Herr Lepic:
Weil?
Fuchs:
Weil ich meine Mutter nicht mehr lieb habe.
Herr Lepic, spöttisch:
Du hast Deine Mutter nicht mehr lieb, Fuchs? Ah! das ist
ärgerlich. Und seit wann?
Fuchs:
Seit ich sie von Grund aus kenne.
Herr Lepic:
Das ist ein Ereignis, Fuchs. Das ist ernst, ein Sohn, der seine
Mutter nicht mehr lieb hat.
Fuchs:
Ich bitte Dich, lieber Papa, mir das beste Mittel anzugeben,
um mich von ihr zu trennen.
Herr Lepic:
Ich weiss nicht. Du überraschst mich. Dich von Deiner Mutter
trennen! Du siehst sie nur in den Ferien, zwei Monate im Jahr.
Fuchs:
Das ist um zwei Monate zu viel. — Höre, Papa, es giebt
mehrere Mittel: erstens könnte ich ja das ganze Jahr im In-
stitut bleiben.
Herr Lepic:
Da würdest Du Dich zu Tod langweilen.
3*9
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Fuchs:
Ich würde büffeln, würde für die nächste Klasse vorlernen.
Erlaube mir, meine Ferien im Institut zuzubringen.
Herr Lepic:
Man würde Dich jahraus jahrein nicht zu sehen bekommen";
Fuchs:
Du würdest mich dort sehen.
Herr Lepic:
Vergnügungsreisen sind kostspielig.
Fuchs:
Du kannst Deine Geschäftsreisen mit einem kleinen Umweg
machen . . .
Herr Lepic:
Du würdest machen, dass man Über uns redet, denn die Ver-
günstigung, die Du verlangst, ist für arme Schüler vorbehalten.
Fuchs:
Du sagst oft, dass Du nicht reich bist.
Herr Lepic:
So steht es nicht mit mir. Man würde glauben, dass ich Dich
im Stich lasse.
Fuchs:
Also, lassen wir meine Studien. Nimm mich aus der Schule
fort unter dem Vorwand, dass ich keine Fortschritte mache,
und ich wähle mir einen Beruf.
Herr Lepic:
Welchen würdest Du wählen?
Fuchs:
Es giebt genug im Handel, in der Industrie, im Ackerbau.
Herr Lepic:
Soll ich Dich vielleicht als Lehrling zu einem Tischler geben?
Fuchs:
Gerne.
310
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Herr Lepic:
Oder zu einem Schuster?
Fuchs:
Ich will gerne, angenommen, dass ich mir mein Brot verdienen
kann.
Herr Lepic:
O, Du würdest mir doch erlauben, Dich noch zu unterstützen?
Fuchs:
Gewiss; ein Jahr oder zwei, wenn es notwentig wäre.
Herr Lepic:
Du träumst, Fuchs. Sollte ich mir grosse Opfer auferlegt haben,
damit Du schliesslich Sohlen aufnagelst oder Bretter abhobelst?
Fuchs, entmutigt:
Ah, Papa, Du spielst nur mit mir.
Herr Lepic:
Wirklich, Du verdienst es. Was denkst Du eigentlich? Dein
Bruder auf der Universität, Du vielleicht Flickschuster!
Fuchs:
Papa, mein Bruder ist glücklich in seiner Familie!
Herr Lepic, setzt sich auf die Bank:
Und Du, Du bist es nicht? Wegen einiger kleinen Auftritte?
wegen Kinderein ?
Fuchs, zu sich selber:
Es giebt Kinder, die so unglücklich sind, dass sie sich töten.
Herr Lepic:
Das ist recht selten.
Fuchs:
Es kommt vor.
Herr Lcp ic, immer spöttisch:
Du willst Dich töten?
Fuchs:
Von Zeit zu Zeit.
321
Herr Lcpic:
Du hast es versucht?
Fuchs:
Zwei Mal.
Herr Lepic:
Wenn es das erste Mal fehl geht, geht es immer fehl.
Fuchs:
Ich gestehe zu, das erste Mal war ich nicht ganz entschlossen.
Ich wollte nur sehen, wie einem dabei ist. Ich habe einen Eimer
aus dem Brunnen gezogen und meinen Kopf hineingesteckt.
Die Nase hielt ich zu und den Mund auch und wartete aufs
Ersticken, da, mit einem einzigen Stoss, wirft Frau Lcpic —
meine Mutter! — den Eimer hin und machte mir Luft.
Er lacht. Herr Lepic lacht in seinen Bart:
Ich war nicht ertränkt; ich war nur Übergossen von Kopf bis
zu den Füssen. Meine Mutter hat gemeint, ich wüsste gar-
nicht, was ich alles erfinden sollte, um unser Wasser zu be-
schmutzen und meine Familie zu vergiften.
Herr Lepic:
Bei was für einem Anlass hast Du Dich ertränkt?
Fuchs:
Ich erinnere mich nicht, was ich meiner Mutter gethan hatte,
diesen Tag. Mein erster Selbstmord ist nur Kinderei : ich war
zu klein. Der zweite war ernsthaft.
Herr Lcpic:
Oh! oh! dieses Gesicht! Fuchs:
Fuchs:
Ich wollte mich erhängen.
Herr Lepic:
Geh, Du hattest nicht mehr Lust, Dich zu erhängen, als Dich
ins "Wasser zu werfen.
3«
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Fuchs:
Ich war auf den Heuboden gestiegen, ich hatte einen Strick
um den grossen Balken geschlungen, weisst Du?
Herr Lepic:
Den in der Mitte.
Fuchs:
Ich hatte eine Schlinge gemacht und den Hals drinnen, die ge-
schlossenen Füsse auf dem Rande des Heubodens, die Arme
gekreuzt, so ... .
Herr Lepic:
Fuchs:
Ich sah das Licht durch die Spalten zwischen den Ziegeln.
Herr Lepic, erregt:
Beeile Dich doch.
Fuchs :
Ich wollte ins Leere springen, da rief man mich.
Herr Lepic, erleichtert:
Und Du bist heruntergestiegen?
Fuchs:
J-.
Herr Lepic:
Da hat Dir Deine Mutter zum zweiten Male das Leben ge-
rettet.
Fuchs:
Wenn meine Mutter mich gerufen hätte, so wäre ich weit fort.
Ich bin wieder heruntergestiegen, weil Du, Papa, mich geruren
hast.
Herr Lepic:
Ist das wahr?
Fuchs, sieht seitwärts nach dem Heuboden:
Soll ich wieder hin? Der Strick ist noch dort.
?*3
Google
Herr Lepic thut ein paar Schritte auf die Scheune zu und hält inner
Geh, ich lüge nur die Mutter an.
Herr Lepic, tritt nicht in die Scheune, kehrt um und nimmt Fuchs bei
der Hand:
So ist sie zu Dir?
Fuchs:
Lass mich fortgehen.
Herr Lepic:
Warum hast Du Dich nie beklagt?
Fuchs:
Sie untersagt mir vor Allem, mich zu beklagen. Adieu, Papa.
Herr Lepic:
Aber Du gehst nicht. Ich verde Dich verhindern, einen solchen
Streich auszuführen. Ich behalte Dich bei mir und ich schwöre
Dir, dass man Dich von nun an nicht quälen wird.
Fuchs:
Was willst Du, dass ich hier thun soll, da ich doch meine
Mutter nicht lieb habe?
Herr Lepic, der Satz entschlüpft ihm:
Und ich, glaubst Du denn, dass ich sie lieb habe?
Er geht erregt auf und ab.
Fuchs, geht ihm nach:
Was hast Du gesagt, Papa?
Herr Lepic, stark:
Ich habe gesagt: glaubst Du denn, dass ich sie lieb habe?
Fuchs, strahlend:
Oh, Papa, ich glaubte, Dich schlecht verstanden zu haben.
Herr Lepic:
Das freut Dich?
Fuchs:
Papa, jetzt sind wir Zwei. — Psstl sie beobachtet uns vom
Fenster.
3H
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Herr Lcpic:
Geh und schliesse die Laden.
Fuchs:
Oh, ich würde in den Boden sinken, wenn sie mich ansieht.
Herr Lepic:
Du furchtest Dich?
Fuchs:
Oh ja, mach' nur Du's selbst.
Herr Lcpic geht hin, die Laden schliessen. Er schlicsst sie, den Rücken
gegen das Fenster gekehrt.
Du hast einen Mut, ihr bei helllichtcm Tag die Laden vor
der Nase zuzuschlagen l . . . Was wird jetzt geschehen?
Herr Lepic:
Aber gar nichts, Dummling!
Fuchs:
Wenn sie sie wieder aufmacht l
Herr Lepic:
Werde ich sie wieder zumachen. Solche Todesangst hast Du
vor ihr ?
Fuchs:
Du kannst es nicht begreifen, Du bist ein Mann, Du. Ich
habe solche Angst vor ihr ... . dass, wenn ich Schlucken
habe, sie sich nur zu zeigen braucht, und es ist vorbei.
Herr Lepic:
Das ist nervös.
Fuchs:
Ich werde krank davon.
Herr Lepic:
Dein Bruder Felix, der hat keine Angst vor ihr?
Fu chs:
Felix! der ist zum bewundem. Ich sollte ihn nicht ausstehen
können, weil sie ihn verhätschelt, und ich habe ihn gerne,
11
315
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weil er es mit ihr aufnimmt. Wenn sie zufällig ihm droht,
so packt er einen Besenstiel und sie geht ihm nicht in die
Nähe. Das ist ein Kerl ! Sie versucht auch lieber, ihn mit
den Gefühlen herumzukriegen: sie sagt, er hat eine zu em-
pfindliche Natur, bei der sie nichts ausrichten könnte mit
Schlägen und dass die besser für die meinige passen.
Herr Lepic:
Thue Deinem Bruder nach . . . wehre Dich.
Fuchs:
Ah, wenn ich mich getraute! Ich würde mich nicht trauen,
auch wenn ich mündig wäre, und doch bin ich stärker, als
man glaubt. Ich nehme es mit einem Ochsen auf, sozusagen.
Aber ich sehe mich mit einem Besenstiel gegen meine Mutter
bewaffnet. Sie würde glauben, dass ich ihn ihr bringe, aus
meinen Händen würde er in die ihrigen stürzen und vor dem
Dreinschlagen würde sie mir noch «danke« sagen.
Herr Lepic:
Lauf ihr davon.
Fuchs:
Ich habe keine Füsse mehr; sie lähmt mich; und dann müsste
man ja immer wieder zurückkommen. Es ist lächerlich, nicht
wahr, Papa? in einem solchen Grade Furcht vor seiner Mutter
zu haben! — Hast Du nicht auch ein wenig Furcht vor ihr?
Herr Lepic:
Ich?
Fuchs:
Du siehst ihr nie ins Gesicht.
Herr Lepic:
Aus anderen Gründen.
Fuchs:
Aus welchen Gründen, Papa? ... — Oh! — ...
3 i6
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Herr Lepic:
Was giebt's wieder?
Fuchs:
Papa, sie horcht hinter der Thürc.
Wirklich hat Frau Lepic die Thüre aufgelehnt, ertappt, öffnet sie ganz,
steigt die Stufen herab und kommt langsam, sich da und dort verzögernd,
Späne von Brennholz aufhebend.
ACHTE SCENE / DIE VORIGEN, FRAU LEPIC.
Frau Lepic, zu Fuchs:
Wenn Du ein wenig aus dem Weg gingst, Fuchs heb'
den Fuss auf, bitte!
Herr Lepic, beobachtet Frau Lepic und verliert plötzlich die Geduld.
Ohne Frau Lepic anzusehen.
Was geschieht da?
Fuchs:
Oh, oh! . . .
Er flüchtet in die Scheune.
Frau Lepic, mit scheinheiliger Unterwürfigkeit;
Ich habe nicht das Recht, einige Späne aufzuklauben?
Herr Lepic:
Fort!
Frau Lepic, Beginn einer Nervenkrise, Sacktuch an den Lippen. —
Der Lärm lockt Annette auf die Stiege:
So spricht man zu mir vor einer Fremden und vor meinen
Kindern, die mir Respekt schuldig sind! Mein Gott, was
habe ich dem Himmel gethan, um behandelt zu werden, wie
die Letzte der Letzten!
Herr Lepic, ruhig zu Annette:
Ich bereite Sie darauf vor, Annette, dass die gnädige Frau
3*7
einen Anfall haben wird; aber es ist nur Komödie; sie ringt die
Hände, aber geben sie Acht, sie würde höchstens Sic kratzen;
sie zerbeisst ihr Sacktuch, aber sie schluckt es nicht; sie macht
Miene, sich in den Brunnen zu stürzen; er ist vergittert. Sie
thut, als liefe sie in wahnsinniger Verwirrung hin und her,
und sie geht gradewegs zum Pfarrer.
Frau Lepic, erstickt:
Nie, nie werde ich wieder meinen Fuss in dieses Haus setzen!
Sic geht auf die Strasse.
Herr Lepic:
Auf heute Abend!
Annette:
Ich will der gnädigen Frau nachgehen; sie ist in einem Zu-
stand — !
Herr Lepic:
Komödie !
Annette ab.
NEUNTE SCENE / FUCHS, HERR LEPIC.
Herr Lepic, sucht Fuchs mit den Augen:
Wo bist Du?
Sieht ihn in der Scheune.
Hasenfuss l
Fuchs:
Sic ist fort?
Herr Lepic:
Du kannst herauskriechen.
Fuchs, sieht rückwärts hinaus, ob sie fort ist, und kommt nach vorne:
"Wie sie läuft! Mir war schlecht. — Fort, fort hast Du gesagt!
Herr Lepic:
Ich habe es nur einmal zu sagen gebraucht.
318
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Fuchs:
Nein, Du bist furchtbar!
Herr Lcpic:
Findest Du?
Fuchs:
Röhr' meine Hände an.
Herr Lcpic:
Du zitterst!
Fuchs:
Ich werde ihr das zahlen müssen.
Herr Lepic:
Du siehst doch, dass ich imstande sein werde, Dich zu schützen.
Fuchs:
Ja, Papa, wenn Du da bist. — Aber was hat sie Dir anthun
können, dass Du imstande bist, so mit ihr zu verfahren?
Denn Du bist gerecht, Papa: wenn Du sie nicht mehr lieb
hast, so ist es, weil sie Dir etwas Schreckliches gethan hat?
Du hast Sorgen, ich spür's, vertrau' sie mir an, Papa.
Herr Lepic:
Ich habe meinen Prozess.
Fuchs:
Ah! ich gestehe, das interessiert mich nicht sehr.
Herr Lepic:
Ah, weisst Du, dass Du einmal ruiniert sein kannst?
Fuchs:
Sag' mir lieber von Deinen Sorgen — mit ihr. — Bin ich
zu jung? — Nicht so jung, wie Du glaubst. — Ein Weis-
heitszahn wächst mir schon.
Herr Lepic:
Und ich habe grade einen verloren, so dass sich nichts ver-
ändert hat, Fuchs, und die Zahl der Zähne in der Familie
bleibt dieselbe.
329
Fuchs:
Ich versichere Dir, Papa, für mein Alter denke ich viel nach.
Ich lese im Institut viel verbotene Bücher, die die Externen
uns leihen, Romane.
Herr Lepic:
Dummheiten!
Fuchs:
Oh, es ist lehrreich. Soll ich Dir eine Frage stellen? So in die
Luft natürlich. "Wenn Du mich zu neugierig findest, giebst
Du mir keine Antwort. Soll ich r
Herr Lepic:
Stell' eine Frage.
Fuchs:
Hat meine Mutter begangen
Herr Lepic, setzt sich auf die Bank:
Ein Verbrechen?
Fuchs:
Nein.
Herr Lepic:
Eine Sünde?
Fuchs:
Oh, das ist es schon.
Herr Lepic:
Das geht den Herrn Pfarrer an.
Fuchs:
Und Dich auch, denn es wäre vor Allem ein Vergehen, ver
stehst Du nicht? — Hilf mir doch, Papa, ein Vergehen . . .
Herr Lepic:
Ich verstehe Dich nicht.
Fuchs, plötzlich:
Ein grosses Vergehen gegen die Sittlichkeit, die Pflicht
die Ehre.
Herr Lepic:
Was hast Du da ausspekuliert, Fuchs?
Fuchs:
Ich irre mich?
Herr Lepic:
Du hast Einfälle.
Fuchs:
Ich nehme meine Einfälle nicht so wichtig.
Herr Lepic:
Tröste Dich, Deine Mutter ist eine ehrenwerte Frau.
Fuchs:
Ah! umso besser für die Familie!
Herr Lepic:
Und ich auch, Fuchs, ich bin ein anständiger Mensch.
Fuchs:
Oh, Papa, was Dich betrifft, so habe ich nie den geringsten
Zweifel gehabt.
Herr Lepic:
Danke . . .
Fuchs:
Und es wäre auch nicht dasselbe.
Herr Lepic:
Du bist recht vorgeschritten . . .
Fuchs:
Was ich zusammenlese! . . . Nach dem, was ich gelesen habe,
ist es immer das, was einen Haushalt zerstört.
Herr Lepic:
Bei uns haben wir »das* nicht.
Fuchs, einen Finger an der Stirne:
Ich suche etwas Anderes.
Herr Lepic:
Suche, denn die Anständigkeit, von der Du redest, genügt
nicht, um eine glückliche Ehe zu geben.
331
Fuchs:
Was braucht man noch? Das, was man «Liebe« nennt;
Herr Lepic:
Erlaube mir, Dir zu sagen, dass Du Dich hier eines Wortes
bedienst, dessen Sinn Dir verborgen ist.
Fuchs:
Freilich, aber ich suche . . .
Herr Lepic:
Gieb's auf, geh, Du verwirrst Dich. Was man in einer Ehe
braucht, Fuchs, was man vor Allem braucht, das ist Verständnis,
Verträglichkeit . . .
Fuchs:
Übereinstimmung der Charaktere.
Herr Lepic:,
Wenn Du willst Nun ist der Charakter von Frau Lepic das
Gegenteil des meinigen.
Fuchs:
Wirklich, Ihr seid einander garnicht ähnlich.
Herr Lepic:
Ah nein ! Ich, ich hasse die Geschwätzigkeit, die Unordnung,
die Verlogenheit, — und die Pfarrer.
Fuchs:
Und da geht's schlecht zusammen? — Herrgott, ich hab' mir's
gedacht, ich habe Dinge bemerkt . . . Und es ist lange her,
dass ... Ihr einander nicht sympathisch seid?
Herr Lepic:
Vierzehn oder fünfzehn Jahre.
Fuchs:
Mein Alter.
Herr Lepic:
Ja wirklich, wie Du geboren windest, da war es aus zwischen
mir und Deiner Mutter.
332
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Fuchs:
Meine Geburt hätte Euch annähern können.
Herr Lepic:
Nein. Du kamst zu spät, mitten in unsre letzten Streitigkeiten.
— Wir wünschten Dich nicht. — Du verlangst die Wahrheit
von mir, ich gestehe sie Dir ein: sie kann Dir helfen, Deine
Mutter zu begreifen.
Fuchs:
Es handelt sich nicht um mich ... Ich wollte sagen, dass bei
Gelegenheit, unter dem geringsten Vorwand Mann und Frau
sich aussöhnen.
Herr Lepic:
Einmal, zweimal, zehnmal, nicht immer und ewig . . .
Fuchs:
Aber ein letztes Mal . . .?
Herr Lepic:
Oh! ich rühre mich nicht mehr!
Fuchs, einen Fuss auf der Bank:
Wie kam es, dass Du, Papa, ein Beobachter, Dich mit Mama
verheiratet hast?
Herr Lepic:
Hab' ich's gewusst? Man braucht Jahre, um eine Frau, seine
Frau zu kennen, und wenn man sie kennt, gicbt's kein Mittel
mehr.
Fuchs:
Und die Scheidung, wozu giebt's die?
Herr Lepic:
Unmöglich. Ucbrigens ... ja, angeekelt von dieser stupiden
Existenz habe ich Vorschläge gemacht. Sie hat sie zurück-
gewiesen.
Fuchs:
Sie bleibt sich gleich!
333
Herr Lcpic:
Es war ihr Recht. Ich habe ihr Übrigens nur dasselbe vorzu-
werfen wie auch Du, dass sie unerträglich ist. Das genügt
vielleicht für Dich, um sie zu verlassen. Es genügt nicht, um
mich in Freiheit zu setzen.
Fuchs, setzt sich neben Herrn Lcpic:
Alles in Allem, Papa, bist Du unglücklich?
Herr Lcpic:
Ich glaub's !
Fuchs:
Fast ebenso unglücklich wie ich?
Herr Lepic:
Wenn das Dich trösten kann.
Fuchs:
Es tröstet mich bis zu einem gewissen Punkt. Hauptsächlich
empört es mich. Ich, gut! ich bin nur ihr Kind, aber Du, der
Vater, Du, der Herr, das ist ein Unsinn, das bringt mich auf!
Er steht auf, hebt die Faust gegen das Fenster:
Ah! Schlechte, Schlechte! Du würdest verdienen . . .
Herr Lepic:
Fuchs!
Fuchs:
Oh, sie ist ja fort.
Herr Lepic:
Diese Geberde!
Fuchs:
Ich bin ausser mir, Deinetwegen . . . Diese Frau!
Herr Lepic:
Sic ist Deine Mutter.
Fuchs:
Oh! daran denke ich jetzt nicht. Ja, gewiss ist sie es. Und
was dann? Entweder sie hat mich lieb oder sie hat mich nicht
334
Digitized by'G
lieb. Und da sie mich nicht lieb hat, was macht es mir aus,
dass sie meine Mutter ist ? Was macht es aus, dass sie den
Namen hat, wenn sie nicht die Gefühle hat? Eine Mutter,
das ist eine gute Mama, ein Vater, das ist ein guter Papa.
Sonst ist es nichts.
HcrrLepic, verlern, steht auf:
Du hast ganz Recht.
Fuchs:
Siehst Du, Dich zum Beispiel, Dich habe ich nicht darum
lieb, weil Du mein Vater bist. Wir wissen doch, dass es keine
Zauberei ist, Jemandes Vater zu sein. Ich habe Dich lieb, weil
Du . . .
-
Herr Lepic:
Nun? Du findest es nicht.
Fuchs:
. . . weil . . . wir hier miteinander plaudern, heute Abend,
alle Beide, weil Du mir zuhörst und weil Du mir lieb ant-
wortest, statt mich mit Deiner väterlichen Gewalt zu betäuben.
Herr Lepic:
Was mir die auch einträgt!
Fuchs:
Und die Familie, Papa? ein Schwindel! ... was für eine
komische Erfindung!
Herr Lepic:
Sie ist nicht von mir.
Fuchs:
Weisst Du, wie ich sie definire, die Familie ? Eine erzwungene
Vereinigung . . . unter ein und demselben Dach ... von
einigen Personen, die sich nicht ausstehen können.
Herr Lepic:
Es ist vielleicht nicht für alle Familien so.
335
Digitized by Google
Fuchs:
Und Du hast es schlecht getroffen.
Herr Lepic:
Du auch.
Fuchs:
Unsrc Familie, das müssten die sein, nach freier Wahl, die,
die wir lieb haben und die uns lieb haben.
Herr Lepic:
Das Schwere ist, sie zu finden . . . Trachte später einmal,
dieses Glück zu haben. Sei der Freund Deiner Kinder. Ich
gestehe, dass ich es nicht verstanden habe, der Deine zu sein.
Fuchs:
Ich bin Dir nicht böse, Papa.
Herr Lepic:
Du dürftest es sein.
Fuchs:
Wir haben einander so venig gekannt.
Herr Lepic, wie um sich zu entschuldigen:
Es ist vahr, ich habe Dich fast nie gesehen. Zuerst hat Dich
Deine Mutter gleich zu einer Kostfrau gegeben.
Fuchs:
Da hat sie mich wohl eine hübsche Zeit gelassen.
Herr Lepic:
Wie Du zurück warst, hat man Dich für ein paar Jahre Deinem
Paten geliehen, weil er keine Kinder hatte,
Fuchs:
Ich weiss, — er umarmte mich in einem fort; er hat einen
stechenden Bart.
Herr Lepic:
Er war vernarrt in Dich.
Fuchs:
Ein Pate ist doch kein Papa.
33«
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Herr Lepic:
Ahl siehst Du! .... Dann bist Du ins Institut gekommen,
wo Du Dein Leben verbringst, — wie alle Kinder, — aus-
genommen die zwei Ferienmonate, die Du zuhause bist. Siehst
Du.
Fuchs:
Du hast mich nie so viel gesehen wie heute? . . .
Herr Lepic:
Es ist meine Schuld, freilich; auch die der Umstände, auch
ein wenig die Deine, Du hieltest Dich abseits, verschlossen,
scheu. Man spricht sich aus . . . —
Fuchs:
Man muss es imstande sein.
Herr Lepic:
Auch auf der Jagd redest Du nichts.
Fuchs:
Du auch nicht. Du gehst voraus, ich bin hinten, weit, um
Dir den Schuss nicht zu stören, und Du gehst, Du gehst . . .
Herr Lepic:
Ja, ich habe an nichts Freude als an der Jagd.
Fuchs:
Und wenn Du glaubst, es ist leicht, sich mit Dir auszusprechen !
Beim ersten Wort ziehst Du die Augenbrauen zusammen. —
Oh! diese Augen! — und Du wirst spöttisch.
Herr Lepic:
Was willst Du ! Ich hatte keine Ahnung von Deinen guten
Regungen. Den verfluchten Prozess im Kopf, auf der Flucht
vor diesem Heim da — Dich habe ich nicht bemerkt ....
Ich habe Dich verkannt. Wir werden's einbringen. — Eine
Cigarcttc?
337
Fuchs, nimmt die Cigarrcttc:
Später verde ich sie rauchen. — Gewinn' ich bei näherer
Bekanntschaft?
Herr Lepic:
Sehr. — Zum Teufel, dass Du klug warst, wusste ich schon . . .
aber, Herrgott, Du bist nicht dumm.
Fuchs:
Wenn meine Mutter mich lieb gehabt hätte, wäre vielleicht
etwas aus mir geworden.
Herr Lepic:
Im Gegenteil. Aus den Muttersöhnchen wird nichts.
Fuchs:
So! . . . Und Du hieltest mich für klug, aber egoistisch,
hässlich innen wie aussen.
Herr Lepic:
Vor allem Andern bist Du nicht hässlich.
Fuchs:
Sie hört nicht auf, es mir zu wiederholen . . .
Herr Lepic:
Sie übertreibt.
Fuchs:
Mein Zeichenlehrer sagt, dass ich schön bin.
Herr Lepic:
Er übertreibt auch.
Fuchs:
Freilich. Er stellt sich auf den malerischen Standpunkt. Es
freut mich, dass Du mich nicht zu hässlich findest.
Herr Lepic:
Und wenn Du auch noch hässlicher wärst .... Wenn ein
Mann die Gesundheit hat !
Fuchs:
Oh l es geht mir ganz gut .... Und moralisch, Papa, glaubst
Du, dass ich ein Lügner bin, herzlos, trotzig, faul?
3J8
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Herr Lcpic: v
Warte, warte . . . Dass Du lagst, nicht dass ich wüsstc.
Fuchs:
Oh doch, manchmal, um ihr zu gehorchen.
Herr Lepic:
Dann zahlt es nicht.
Fuchs:
Und glaubst Du, dass ich ein hartes, trockenes Herz habe?
Herr Lepic:
Das heisst nichts. Ich habe auch ein trockenes Herz. Man
wirft uns vor, ein trockenes Herz zu haben, weil wir nicht
weinerlich sind . . . Höchstens ein ganz kleiner Trotzkopf
könntest Du sein.
Fuchs:
Nein, Papa, verzeih', ich trotze nie.
Herr Lepic:
Was machst Du denn immer in Deinen Ecken?
Fuchs:
Ich bin wütend, nicht, weil es mir Vergnügen macht, sondern
weil ich mir nicht helfen kann. Ich bin wütend Über eine
ungerechte Mutter.
Herr Lepic:
Und ich, der ich mir einbilde, Du wärst mehr auf ihrer Seite 1
Fuchs:
Das ist das Höchste!
Herr Lepic:
Es ist natürlich. Wenn Deine Mutter Dich fragte, und das
war sie imstande: »Wen hast Du lieber, den Papa oder die
Mama?«, antwortetest Du
Fuchs:
»Ich habe Euch Beide gleich lieb. *
339
Herr Lepic:
Deine Mutter gab nicht nach. «Fuchs, Du hast doch eine
Vorliebe für den Einen oder den Andern«, und schliesslich
sagtest Du: »Ja, ich habe eine kleine Vorliebe . . . .*
Fuchs:
Für Mama.
Herr Lepic:
Für Mama, nie für Papa. Du brachtest mich in Wut mit
Deiner kleinen Vorliebe. Du hattest gut nicht wissen,
Du sagst . . .
Fuchs:
Oh! ich wusste es ganz gut . . . Ich sagte, was sie mich
sagen machte: es war im Vorhinein verabredet zwischen ihr
und mir.
Herr Lepic:
Das sieht ihr gleich !
Fuchs:
Und jetzt will sie, dass ich sagen soll: der Vater, statt: der
Papa. Aber sei nur ruhig l
Herr Lepic, gerührt:
Mein guter Kleiner! . . . Wie hätte ich wissen sollen, dass
Du voll guter Eigenschaften bist, vernünftig, zärtlich, lieb,
dass Du so bist, wie Du bist, mein lieber kleiner Franz.
Fuchs, entzückt:
Franz! Du, Du nennst mich bei meinem wirklichen Namen.
Herr Lepic:
Es muss Dir weh gethan haben, dass ich Dir immer den andern
gab?
Fuchs:
Oh! von Dir that es nicht weh. Der Ton macht Alles.
Verschämt:
Du hast mich lieb?
340
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Herr Lcpic:
Wie ein Kind ... das man findet.
Er drückt Fuchs an sich, leicht, ohne ihn zu umarmen:
Fuchs, macht sich ein wenig los:
Wenn sie uns sehen würde!
Herr Lepic:
Ach! ich habe kein Glück gehabt. Ich habe mich über Deinen
Charakter getäuscht, wie ich mich über den Deiner Mutter
getäuscht hatte.
Fuchs:
Ja, aber umgekehrt.
Herr Lepic:
So gleicht sich's aus.
Fuchs:
Oh nein, Papa ... Ich bedaure Dich von Herzen. Ich habe
die Zukunft, mir eine neue Familie zu schaffen, mein Dasein
von Neuem anzufangen, und Du, Du wirst das Deine beenden,
Dein ganzes Alter wirst Du hier verbringen, neben einer
Person, die sich nur darin gefällt, die Andern unglücklich zu
machen.
Herr Lcpic, ohne Bedauern:
Und sie ist auch nicht glücklich.
Fuchs:
Wie, sie ist nicht glücklich?
Herr Lepic:
Nun, so leicht geht das nicht.
Fuchs:
Sic ist nicht vergnügt, wenn sie mir ein Kopfstück geben kann:
Herr Lcpic:
Ja, ja. — Aber sie hat eben an Dir nichts als dieses eine Ver-
gnügen.
Fuchs:
Freilich, das ist Alles, was ich ihr bieten kann. Was will sie
noch mehr?
Herr Lcpic, ernst:
Deine Zuneigung.
Fuchs:
Meine Zuneigung! . . . Die Deine, da will ich nichts sagen . . .
Herr Lepic:
Oh! die meine! . . . Daraufhat sie verzichtet . . . : nur mehr
die Deine.
Fuchs:
Meine Mutter vermisst meine Zuneigung! Jetzt verstehe ich
nichts mehr vom Leben . . .
Herr Lcpic:
Es wundert Dich, dass man darunter leidet, wenn man nicht
imstande ist, sich lieben zu mac'ien?
Fuchs:
Und Du glaubst, dass sie darunter leidet?
Herr Lepic:
Ich bin es sicher.
Fuchs:
Dass sie unglücklich ist?
Herr Lcpic:
Sie ist es.
Fuchs:
Unglücklich, — wie Du?
Herr Lepic:
Im Grunde, Eines ist des Andern wert
Fuchs:
Wie ich?
Herr Lepic:
Oh! so anmassend ist Niemand.
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Fuchs:
Papa, Du vervirrst mich ganz. Das ist ein Gedanke, der mir
nie in den Kopf gekommen ist.
Er setzt sich und verbirgt den Kopf in die Hände.
Herr Lepic, mühsam:
Da sitzen wir und jammern. Man müsste sie hören. Vielleicht
findet sie auch, dass sic's schlecht getroffen hat. Wer weiss,
mit einem Andern . . . . ? Da ich in ihr nicht fand, was ich
wollte, war ich nachtragend, erbarmungslos, und meine Härten
gegen sie hat sie Dir heimgezahlt. Gegen Dich hat sie alles
Unrecht, aber gegen mich, hat sic's da auch ? Es giebt Augen-
blicke, wo ich mich frage ... — Und wenn ich mich auch
bis morgen fragen wollte — wozu? Es ist zu spät, es ist vor-
bei und dann genug davon .... Gehen wir für eine Stunde
auf die Jagd, es wird uns wohlthun.
Er hebt Fuchs den Kopf auf.
Warum weinst Du?
Fuchs, das Gesicht von Thräncn überströmt:
Ueber Deinen Gedanken, dass die Mutter unglücklich ist,
weil ich sie nicht lieb habe.
Herr Lepic, bitter:
Wenn Dich das so niederschlägt, so brauchst Du sie ja nur
lieb zu haben.
Fuchs s sich aufrichtend:
Ich!
ZEHNTE SCENE / DIE VORIGEN, ANNETTE.
Annette, kommt gelaufen.
Herr Lepic:
Schon!
343
Annette:
Gnädiger Herr, darf die gnädige Frau nach Hause kommen?
Fuchs, lischt sich schnell die Augen.
Herr Lcpic, wiederum ganz Herr Lepic:
Sic fragt mich um Erlaubnis?
Annette:
Nein, gnädiger Herr. Ich bin vorausgegangen, um zu sehen,
ob der gnädige Herr noch zornig ist.
Herr Lepic:
Ich bin nie zornig. Sie kann nach Hause kommen, wann sie
will.
Annette:
Sie ist in der Kirche gewesen.
Herr Lcpic:
Beim Pfarrer.
Annette:
Nein, in der Kirche. Sic hat ein ganzes Weihbecken voll
Thränen vergossen, sie hat einen grossen Kummer. — Oh!
ja, gnädiger Herr . . . Da ist sie ! . . .
Herr Lcpic kehrt der Eingangsthür den Rücken; Frau Lcpic erscheint,
niedergeschlagen, mit gesenkten Augen.
Fuchs:
Mama! . . . Mama!
Frau Lepic bleibt stehen und sieht Fuchs an; sie scheint ihm zu sagen:
sprich. Fuchs verliert sogleich den Schwung, murmelt: es geht nicht
Frau Lepic geht vorüber und tritt ins Haus. Annette geht auf die Strasse.
ELFTE SCENE/ FUCHS, HERR LEPIC.
Herr Lepic:
Was wolltest Du von ihr?
Fuchs:
Ah! nichts! nichts!
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Herr Lcpic:
Sie macht Dir noch immer Angst?
Fuchs:
Ja. — Weniger! — Hast Du ihre Augen angesehen?
Herr Lepic:
Was war an denen Neues?
Fuchs:
Sie warfen keine Blitze wie gewöhnlich. Sic waren traurig,
traurig! Du lässt Dich nicht mehr fangen, Du?
Schweigen des Herrn Lepic.
Armer Papa! . . . Arme Mama! — Nur Felix. Der fischt da
drüben bei der Mühle . . . ihm ist das Alles ganz gleich. Dass
der mein Bruder ist! Ob ihm um mich leid sein wird?
Herr Lepic:
Du willst immer noch fort?
Fuchs:
Du rätst mir es nicht?
Herr Lepic:
Nach alledem, was wir gesagt haben.
Fuchs:
Oh! Papa, so schön haben wir geplaudert!
Herr Lepic:
Es ist sechzehn Jahre her, dass ich nicht so viel gesprochen
habe, und ich kann Dir nicht versprechen, dass ich alle Tage
Lust haben werde, so anzufangen.
Fuchs:
Papa, ich nehme es zurück. — Aber, wenn ich bleibe, wie
soll ich mich da zu meiner Mutter stellen?
Herr Lcpic:
Ganz einfach, so wie ich.
Fuchs:
Wie ein Mann.
345
Herr Lcpic:
Du bist einer.
Fuchs:
Wenn sie mich fragt, wer mir befohlen hat, mich so zu ihr
zu stellen, so verde ich sagen, dass Du es bist.
Herr Lepic:
Sag 1 das.
Fuchs:
Unter dieser Bedingung wird es vielleicht gehen.
Herr Lepic:
Du zögerst?
Fuchs:
Ich denke nach; es ist der Mühe wert.
Herr Lepic:
Du brauchst lange.
Fuchs:
Es wäre Dir öde allein, nicht wahr? Du könntest nicht mehr
leben ohne mich?
Herr Lepic hütet sich zu antworten,
Also gut, mein alter Papa, so ist es entschieden, ich verlasse
Dich nicht, ich bleibe.
Vorhang.
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MAERCHEN/ VON MARCUS BEHMER.
S war einmal ein schöner und guter junger Königs-
sohn.
Er lebte ferne von seiner Heimat, und sein Vater
schickte ihm jeden Monat Geld, sehr viel Geld !
Aber der gute junge Königssohn reichte niemals mit
dem Geldc, das er von seinem lieben Vater bekam,
denn er war ein Königssohn.
Wenn so der 20. im Monat herankam, dann hatte der arme Königssohn
nur noch sehr wenig; und am 21. hatte er nichts mehr; und am 22.
garnichts.
Und das war sehr unangenehm für ihn, denn er war ein Königssohn.
Dann machte er die Thüre von seinem Schloss zu, steckte den Schlüssel
in seine Tasche und ging in den Wald.
Hier suchte er Beeren, aber er fand nicht einmal soviel, dass er sich den
Magen hätte verderben können und wurde keineswegs satt.
Wenn aber der Monat um war, und er wieder Geld bekam, dann lebte
er aufs neue herrlich und in Freuden — bis er wieder nichts mehr
hatte. —
Als er einmal an einem schönen, heissen Sommertage so recht hungrig
unter einer grossen Eiche im Walde lag, kam aus den Büschen eine arme,
alte Frau gerade auf ihn zu und bettelte ihn um ein paar Heller an.
Da sagte er ihr, dass er leider selber nichts hätte, und nun erzählte sie,
wie arm sie sei und dass sie jeden Tag in den Wald gehe, um Beeren für
sich und ihre sieben Kinder zu pflücken; aber wenn der Monat zu Ende
gehe, so seien immer alle Beeren weg, und da müsse sie mit ihren sieben
Kindern hungern.
Als der junge Königssohn das hörte, musste er heimlich lachen, obgleich
er eigentlich selber recht hungrig war ; und bat sie, sie möchte ihn doch
am ersten Tage des nächsten Monats auf seinem Schloss am Walde besuchen.
— Am ersten hatte er ein wundervolles Mahl bereiten lassen, und als
349
die arme Frau kam, wurde sie in einen prächtigen Saal geführt; da waren
die Wände von grünem Damast, und Tisch und Stühle von lauter Gold,
und die Fenster von Gold und gelbem Kristall: So prächtig war das
Alles, dass die gute Frau fast Furcht bekam, und sich nicht gerade be-
haglich Hililte.
Wie sie so in Staunen versunken stand, gingen mit einem Male die Flügcl-
thüren weit auf, und der schöne junge Königssohn trat herein und schöttclte
ihr so freundlich die Hände, und fragte sie auch, wie es ihm gehe. Und
da wurde sie doch ganz froh und vertraulich. Und als nun gar die Speisen
kamen und die feinen, alten Weine, da konnte sie dem schönen Königs-
sohn nicht genug sagen, wie gut er sei, und wie schön sein Schloss.
Aber wie immer noch mehr Gerichte kamen und Weine, viel süsser noch
als Honig, da wurde sie still und immer stiller und dann
rollte eine Thräne Uber ihr gutes Runzelgesicht.
Und als sie nun der junge Königssohn mit heiter-mitleidiger Miene fragte,
was ihr denn fehle, brach sie in ein langes Schluchzen aus und sagte ihm,
er sei ja so gut und so freundlich, und es habe ihr so schön geschmeckt,
aber sie sei nur traurig, weil sie morgen doch wieder Beeren zu essen
habe mit ihren sieben Kindern, und dass sie nicht auch mit von den schönen
Sachen essen könnten, und hätten doch solchen Hunger! Da sah der
junge Königssohn, dass eine arme Frau an seinem Tische sass, und nahm
seinen Purpurmantel um die Schultern, und hielt ihn mit beiden Händen
fest zu ; dann sagte er ihr in verlegenem Ton, dass sie sich mitnehmen
dürfe, was sie wolle.
Sie habe schon ihren Korb mitgebracht, sagte sie freudestrahlend, und
war so glücklich, dass sie seine Hände küssen wollte.
Er aber wandte ihr den Rücken, ging würdig hinaus, und machte die
Thür hinter sich hastig zu — denn er war ein Königssohn.
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PROLOG ZUM ERDGEIST/ TRAGOEDIE IN
VIER AKTEN VON FRANK WEDEKIND/
GESPROCHEN GELEGENTLICH DER ZEHNTEN AUFFUEHRUNG DES
„ERDGEIST" DURCH DAS IBSEN-THEATER (DIR.: DR. CARL HEINE)
IM KRYSTALLPALAST IN LEIPZIG. a 4 - JUNI 1898.
Der Autor tritt, nachdem der aufgezogene Vorhang einen Zelteingang
hat sichtbar werden lassen, im Kostüm eines Tierbändigers, zinnoberroter
Frack, weisse Kravatte, lange schwarze Locken, weisse Beinkleider und
Stulpstiefel, in der Linken eine Hetzpeitsche, in der Rechten einen ge-
ladenen Revolver unter Zimbelklängen und Paukenschlägen aus dem Zelt:
HEREINSPAZIERT in die Menagerie,
Ihr stolzen Herrn, ihr lebenslustgcn Frauen,
Mit heisser Wollust und mit kaltem Grauen
Die unbeseeite Kreatur zu schauen,
Gebändigt durch das menschliche Genie.
Hereinspaziert, die Vorstellung beginnt!
Auf zwei Personen kommt umsonst ein Kind.
Hier kämpfen Mensch und Tier im engen Gitter,
Wo dieser höhnend seine Peitsche schwingt
Und jenes, mit Gebrüll wie Ungewitter,
Dem Menschen mörderisch an die Kehle springt;
Wo bald der Kluge, bald der Starke siegt,
Bald Mensch, bald Tier geduckt am Estrich liegt;
Das Tier bäumt sich, der Mensch auf allen Vieren —
Ein eisig kalter Herrscherblick!
Die Bestie beugt entartet das Genick
Und lässt sich fromm die Ferse drauf postieren.
Schlecht sind die Zeiten! — All die Herrn und Damen, .
Die einst vor meinem Käfig sich geschart,
Beehren Possen, Ibsen, Opern, Dramen
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Mit ihrer hochgeschätzten Gegenwart.
An Futter fehlt es meinen Pensionären,
So dass sie gegenseitig sich verzehren.
Wie gut hat's am Theater ein Acteur!
Des Fleischs auf seinen Rippen ist er sicher,
Sei auch der Hunger ein ganz fürchterlicher
Und des Direktors Magen noch so leer.
Doch will man Grosses in der Kunst erreichen,
Darf man Verdienst nicht mit dem Lohn vergleichen.
Was seht ihr in den Lust- und Trauerspielen?! —
Haustiere, die so wohlgesittet fühlen,
An blasser Pflanzenkost ihr Mütchen kühlen
Und schwelgen in behaglichem Geplärr,
Wie diese Andern, unten im Parterre:
Der eine Held kann keinen Schnaps vertragen,
Der andre zweifelt ob er richtig liebt,
Den dritten hört ihr an der Welt verzagen,
Fünf Akte lang hört ihr ihn sich beklagen,
Und Niemand, der den Gnadenstoss ihm giebt. —
Das wahre Tier, das schöne, wilde Tier,
Das, meine Damen, sehn Sie nur bei mir!
Sie sehen den Tiger, der gewohnheitsmässig,
Was in den Sprung ihm läuft, hinunterschlingt;
Den Bären, der, von Anbeginn gefrässig,
Beim späten Nachtmahl tot zu Boden sinkt;
Sie sehn den kleinen amüsanten Affen
Aus Langeweile seine Kraft verpaffen;
Er hat Talent, doch fehlt ihm jede Grösse,
Drum koketiert er frech mit seiner Blosse ;
Sie sehn in meinem Zelte, meiner Scel',
Sogar gleich hinterm Vorhang ein Kamcel! —
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Und sanft schmiegt das Getier sich mir zu Füssen,
Wenn —
Er schicsst ins Publikum :
— donnernd mein Revolver knallt.
Es bebt die Kreatur, ich bleibe kalt.
Der Mensch bleibt kalt! — Sic ehrfurchtsvoll zu grüsscn.
Hereinspaziert! — Sie traun sich nicht herein? —
Wolan, Sie mögen selber Richter sein !
Sie sehn auch das Gewürm aus allen Zonen:
Chamäleonc, Schlangen, Krokodile,
Drachen und Molche, die in Klüften wohnen —
Gewiss, ich weiss, Sie lächeln in der Stille
Und glauben mir nicht eine Silbe mehr —
in das Zelt rufend:
He, August! Bring mir unsre Schlange her!
Der schmerbäuchige Theatermeister trägt Fräulein Taliansky, die Darstel-
lerin der Lulu, in ihrem Pierrotkostüm aus dem Zelt und setzt sie vor dem
Tierbändiger nieder.
Sic ward geschaffen, Unheil anzustiften,
Zu locken, zu verführen, zu vergiften —
Zu morden, ohne dass es Einer spürt.
Lulu am Kinn krauend :
Mein holdes Tier, thu doch nicht so geziert!
Zum Publikum:
Es ist jetzt nichts besondres dran zu sehen,
Doch warten Sie, was später wird geschehen :
Mit starkem Druck umringelt sie den Tiger,
Er heult und stöhnt — Wer bleibt am Ende Sieger?
Hopp, August! Manch! Trag sie an ihren Platz,
Die süsse Unschuld — meinen grössten Schatz!
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Und nun bleibt noch das beste zu erwähnen:
Mein Schädel zwischen eines Raubtiers Zähnen.
Hereinspaziert! Das Schauspiel ist nicht neu,
Doch seine Freude hat man stets dabei.
Ich wag es, ihm den Rachen aufzureissen,
Und dieses Raubtier wagt nicht zuzubeissen,
So schön es ist, so wild und buntgefleckt,
Vor meinem Schädel hat das Tier Respekt!
Getrost leg ich mein Haupt ihm in den Rachen,
Ein Witz — und meine beiden Schläfen krachen,
Dabei verzieht 1 ich auf des Auges Blitz;
Mein Leben setz ich gegen einen Witz,
Die Peitsche werf ich fort und diese Waffen
Und geb mich harmlos, wie mich Gott geschaffen. —
Wisst ihr den Namen, den dies Raubtier fährt?
Verehrtes Publikum Hereinspaziert!!
Der Tierbändiger tritt unter Zimbel- und Paukenklängen in das Zelt zurück.
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ZWEI JAPANISCHE HOLZSCHNITTE.
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ANMERKUNGEN.
(Reinigt Herkules beflissen)
Lcibl-Böcklin.
DIE gebildete Nachwelt wird an Leibi schon das hervorheben, dass
verschwindend wenig von ihm in die Littcratur des Landes und
der Zeit übergegangen ist. Es giebt kein einziges Gedicht nach Leibi,
nicht mal ein Stimmungsbild in poetischer Prosa. Die Muse der Tinten-
ästhetik ist eine spröde Dame. Leibi war zu wenig litterarisch. In den
letzten Jahrzehnten hat man wahrgenommen, dass er ein ganz eigenartiger
Kopf war. Und dann, was der alte Böcklin von ihm erzählte ; die blöd-
sinnige Kraft. Er soll einmal einen Balkon mit einem halbdutzcnd
Menschen eigenhändig heruntergerissen haben.
Thatsächlich konnte er auch malen, ja man kann von ihm sagen, dass er
im neunzehnten Jahrhundert der beste deutsche Maler gewesen ist, und
wenn Süddeutschland preussisch wäre, hätte er es vermutlich wie Menzel
zu etwas Besserem gebracht.
Er war nichts weniger als Preusse, aber entschieden norddeutsch, und das
war das Ungeschickte an ihm. Man sah hinter der defr egger haften AI Iure
seiner Bilder trotz alledem eine ganz und gar ungemütliche Note, die nur
zu weit von Defregger entfernt war. Er hätte in Hamburg wohnen
müssen, statt in Bayern auf dem Lande, wo es keine Kunsthallen giebt.
Vermutlich hätte er auch in Posemuckel leben können, ohne populär zu
werden. Er kam von der Hochschule, die Franzosen waren seine Lehrer,
und er darf es sich mit Stolz anrechnen, er ist der einzige Deutsche, der
dabei deutsch geblieben ist. Es wurde ihm dadurch erleichtert, dass da-
mals die Strömung in Frankreich, wie einst mehrere Jahrhunderte früher
auch einmal, sich in denkbar grösster Annäherung an Deutschland befand.
Der französische Realismus Millet-Courbet hat auf den ersten Blick etwas
verblüffend Germanisches, wenn man vom Mittel absieht, und selbst das
Mittel bei Miliet als Maler ist in seiner Unbeholfenheit eher deutsch als
französisch. Jedenfalls war es nichts weniger als das Französische, was
Leibi an Courbet reizte, er schöpfte aus ihm nur moralische Anregung,
Courage, holte sich selbst dabei heraus und festigte sich mit jeder neuen
Bewegung. Nicht so frech, nicht so selbstherrlich wie Courbet, aber
mindestens ebenso sicher. Tief in ihm, so tief, dass nichts ihm nahen
konnte, steckte das Erbe Holbeins.
-Eine andere Leibigeschichte Böcklins ist die, als er Courbet und Leibi in
der Kneipe in München beisammen fand. Sie sassen sich gegenüber,
starrten sich an, redeten kein Wort und tranken nachdenklich und ent-
schieden. Nur zuweilen gab Leibi das einzige Wort, das er in franzö-
sischer Sprache beherrschte, begeistert von sich: La Nature!
Courbet nickte dann ernsthaft, worauf beide wieder tranken. Ihr Durst
grenzte an das Fabelhafte.
Das Pikante an der tiefen Geschichte ist, dass sie von Böcklin erzählt
wurde. Ein ganz klein wenig Spott war wohl dabei. Vermutlich wusste
auch Leibi von Böcklin einige Geschichten, an denen ein ganz klein
wenig Spott war.
Prachtvolle Menschen, die sich in solcher Lage wie diese beiden mit nur
ein wenig Spott behclfen. Ist die Zeit stark oder schwach, in der auf
derselben Scholle zwei Extreme von dieser Güte zu leben vermögen? Ist
es Schlaffheit, dass ihr Wille sich so nachdrücklich widerspricht. Oder
ist das alles nur der Reichtum einer tieferen Einheit?
Jedenfalls ist die Fülle beunruhigend; man vermisst das deutliche Zeichen
ihres Ursprungs. Wenn diese beiden grossen Leute wirklich deutsch sind,
was ist dann das Deutsche? Welcher Art ist die Kultur, die so ver-
schiedene Gesichter hervorbringt? — Ist es überhaupt noch Kultur?
Die Ueberlebenden haben den Eindruck, als hätte unser liebes Vaterland
ästhetisch die Rolle gespielt, wie politisch in dem dreissigjährigen Krieg.
Fremde Elemente haben sich bei uns bekämpft mit wechselvollen Ge-
schicken, Italiener und Vlamen, die uralten Kontraste, Franzosen und Eng-
länder und Belgier. Das Deutschtum hat dabei vielleicht gewonnen.
Aber die deutsche Kultur? Wer Manet liebt, rindet leicht den Weg zu
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Puvis, so entfernt auch die beiden von einander liegen; hier sprechen
sich verschiedene Temperamente aus, nicht verschiedene Kulturen. Aber
Manet und Böcklin gleichzeitig zu lieben, dazu gehört das weite Herz
des Berliner Bildungsphilisters; es macht auf mich immer den Eindruck
kranker Gefräßigkeit. Zu Böcklin wird immer der echte deutsche Dichter
entbrennen, ehrlich und blödsinnig. Der findet in nachdenklichen Stunden
Manet »technisch*, was schon einen bedenklichen Grad von Verachtung
bei ihm ausdrückt, — von Leibi gar nicht zu reden.
Es wird noch lange eine echte und grosse Trauer in deutschen Landen
sein in den Herzen dieser warmherzigen Dichter, von denen so mancher
die Woche über hinter dem Hauptbuch sitzt. Wenige, blutwenige werden
an Leibi zurückdenken. In London, Paris, in Amerika und Berlin wird
der glückliche Grosshändlcr, der einen von den paar Leibis besitzt, noch-
mal 50% draufschlagen — Raritäten, Raritäten! das ist das Melancho-
lische. Wozu hat Leibi gelebt? für das Halbdutzend kühler feiner Kerle
und für die sogenannte Unsterblichkeit. Böcklin ist besser dran. Aus
den Ochsen, die mit gespitzten Hörnern seine schillernde Leinwand be-
drohten, sind wollüstig wedelnde Lämmer geworden. Ich muss immer
an seine Susanne im Bade denken; wie die triefende Hand des einen der
alten Herren, der dem fetten Badematz, ohne ihn zu berühren, über den
Rücken streicht — so erscheint mir ein nicht geringer Teil der bekehrten
Böcklinverehrung: hingcschmolzen.
Nun, das wird vergehen, wie der Schnee schmilzt. Wie lange er Schule
behält, das ist die Frage. Man muss den Mut haben, von ihr dasselbe zu
wünschen. Denn es ist bedenklich, dass man in einer Zeit, die so emi-
nent tüchtig ist, wie in Leibi, so fabelhaft modern im Geschmack, wie in
den neueren Franzosen, so sehr Grazie und Distinktion, wie in Whistler,
sich so plumper Malmittel bedient, wie Böcklin. — In der Berliner
Nationalgalerie sind die zwei deutschen Seelen in denkbar krassesten Kon-
trasten an den Wänden befestigt. Freilich ist der Leibi, «die beiden
Bäuerinnen«, eins der besten und Böcklins »Trauer am Grabe« mit der roten
Draperie eines der schlechtesten, ja dieses Rot ist himmelschreiend scheusslich
und steht allein. Aber es giebt in Berlin bessere, in München noch mehr —
es giebt Böcklins, die bleiben werden, so lange eine Scholle Erde deutsch
genannt wird — in keinem steckt so viel Malerei wie in den Strumpfen
der Dachaucrinnen. Man ist nicht so Idiot, nicht bei Böcklin die mass-
los grossartige Natur zu sehen, die riesige Seele. Hätte er das nicht gehabt,
wäre seine Phantasie nicht so fauststark gewesen, so würde ihn nichts vor
der Zukunft retten. Er sprach sich aus und hatte was zu sagen.
Aber wir Deutschen haben alle so klotzig viel Seele und Phantasie —
woran es fehlt, sind solche Strümpfe. . .
Vieles in unserer Litteratur wird dadurch erklärt, vieles Geschmacklose
in unserem Dehmcl, manche Inkonsequenz in Bierbaum, manches Ein-
seitige in den entgegengesetzten Temperamenten, zumal in den Jüngsten.
Gerade an deren Opposition merkt man es. Der Nachwuchs hielt sich
so sehr zwischen zwei Extremen, dass er vor lauter principieller Ab-
neigung gegen jedes Extrem zu etwas ganz anderen greift, in der Poesie
wie der bildenden Kunst zum Archaismus. Die Angst vor der Brunst
dieses Deutschtums treibt sie zum Klassizismus. Dieser Anstand ist ver-
ehrungswürdig. Wenn er nur nicht auch wieder nur Reaktion bleibt!
— Wohl, auch das ist Bewegung, es kommt bei allem etwas heraus.
Schccrbart würde dazu eine brilliante Parallele in komplicierten Gestirns-
zuckungen finden. Bei allem Hin und Her geht die Kultur doch vor-
wärts. Nur — welche Umwege!
Böcklin ist der deutschen Kultur eine bedenkliche Klippe. Käme es
bei seiner Schätzung lediglich auf seinen ästhetischen Nutzen an, so würde
er kaum zählen. Denn vermutlich hätte die romantische Seele des Deutschen
auch ohne ihn den Naturalismus besiegt. Dass es mit seiner Hilfe so
schnell ging, ist ein zweifelhaftes Prestige. Es hätte nicht geschadet,
wenn man sich erst ein wenig bei den bewussten Strümpfen aufgehalten
hätte, bevor man lernte dekorative Malerei zu phantasieren und schliess-
lich in diesem Geiste anfing, Tapeten, Verglasungen und Möbel zu machen.
— Das bisschen Gute, was die angewandte Moderne bisher in Deutsch-
land fertig gebracht hat, ist von Böcklin unberührt.
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Ucbrigcns wir können uns trösten; die Franzosen haben bis heute von
ihren Leuten noch nichts besseres gehabt. Was die französischen Künstler
der Dekoration von den Impressionisten gehabt haben, trägt die Katze
auf dem Schwanz weg. Grasset und Konsorten hätten sich auch an
Böcklin vollsaugen können. Bei ihnen ist des Rätsels Wunder wesentlich
deprimierender als bei uns, die wir nichts besseres vor Augen haben. Gäbe
es in Frankreich nicht eine Kultur jenseits von Kunst und Litteratur,
stünde es um die Franzosen der Zukunft schlimm.
Aber die giebt es eben. Meier- Gracfe.
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DIE INSEL. II. JAHRGANG, z. QUARTAL Nr. 6. MAERZ 1901.
FUER DEN INHALT VERANTWORTLICH: A. W. HEYMEL,
MUENCHEN.
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papier für jedes Quartal
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Auf starkes Inselpapier ^Wasserzeichen Schiff} werden
50 Stück gedruckt Von dieser Ausgabe kostet das Heft
3 Mark, das Abonnement vierteljährlich 9 Mark, halbjährlich
18 Mark, jährlich 36 Mark.
Vom ersten Jahrgang werden einzelne Hefte nicht mehr •
abgegeben, doch sind noch kompletteExemplare vorhanden,
die bis auf weiteres noch zu dem ursprünglichen Preise
t jeder Quartalsband 1 2 Mark, alle vier zusammen 36 Mark}
abgegeben werden. Bei gleichzeitiger Erwerbung des
ganzen ^gebundenen} ersten Jahrganges der Monatsschrift
und des £nur im ersten Jahrgange erschienenen} Mappen-
werkes tritt wie bisher eine Ermässigung des Gesamtpreises
auf 7 5 Mark £statt 90 Mark} für beide Publikationen ein.
Für sich allein kostet das Mappenwerk nach wie vor 50 Mark.
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Die Redaktion der Insel befindet sich in München
Leopoldstrasse 4.
Unverlangt eingeschickte Beiträge werden nicht zurück-
geschickt. Redaktionelle Gegenäusserungen erfolgen nur
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