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Full text of "Baltische Monatsschrift"

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Baltische 
—IEIEII 


—— 


Balt 2011.3 u 


hy 












IN COMMEMORATION OF TU 
HIS ROYAL HIGHN 
PRINCE HENRY OF PRUSSIA 
MARCH SIXTH.1902 
ON BEHALF OF HIS MAJESTY 
THE GERMAN EMPEROR | 


— 






























Diglizod by Goßgle 


Baltifche 


Monatsſchrift. 


Herausgegeben 
von 


Friedrich Bienemann. 


Siebenuudvierzigſter Jahrgang. 


LIX. Band. 





Niga 1903. 
Verlag der Valtiſchen Monatsihrift. 
Nitolaiftraße Nr. 27. 


Harvard College Library 


APR 231909 
Hohenzollern Collection 


Gift of A. C. Conlidge 





Juhaltsverzeichnis. 























































































































Band LIX. 
Seite 
Bas lieft unfre Jugend und mas folf jie — Bon Ober: 

Ichrer Karl Arnold. . Er 1 
Laiter und Leidenſchaft in J.M. Fr Senn Diatung- Von Karl 

v. Freymann. . . — 
Bas du mic gelehrt. Gidt von ©. 0. ©. 40 
Neerologium balticum 1901. = 4 
Am Ufer des Lebens. Gedicht von . v. — 55 
Otto Beter v. Stadelberg. Bon O. M. v. Startelberg . 56 
Sieben Vorträge über Germanifierung der Letten. Eine 

Reminiszenp vom 3. 1819 . a Re 
Japans Ethik. Bon R. v. Engelhardt 72 
Literarifhe Schmweitern. Bon E. v. Cchrend. . . 6 
Der Salon des Sigafgen Runftvereins. Gin Nüdtlid non 

Woldemar Frh. dv. Mengden 101 
Am Kamin. Gedicht von Eduard Fehre . . . 121 
Sin Sangesfeben. Gedicht von Helene v. Eugelharbt- Wab. 123 
Im welger Weife tönnten bie riefengroßen Gemeinden Lin, 

lands geteilt werben? Lon P. ff. Medptlich-Gudmannsbad: 125 
Inmitten. Gedich von Ednard fyehre . 140 
Im Higaer Gnmnafium und auf ber Dorpater einer 

1859/02. Grimerungen von Th. Bezolb 141 
Sine Untersebung mit 8 X. Bobjedonoszen Im. 1885 . 154 
Die Grundlagen der Hebbelfgen Iragddie. Von N. Ztaven 

J FREE | 
Idealismus und Realismus in dem geiftigen Strömungen 

der Gegenwart. Von Dberlehrer Elemend vom Genfe . . 169 
Die Ninimals und Rarimal»Beftiimmungen über ben bäuer- 

lien Orundbefig in Civfand. Bon Wlegander Tobien, 181 
Aus Tiefen zu Tiefen. Gedigt von Ebuard fFehre. ne 
Die Urfagen des Berfa/ls der Reformation in Bolen. Ron 

Dr. ft, db. Auxuatowoti — — 212 
Bein Lied. Geict von R. d. Frebmai See Ba 
Aux Gefcicte des Sehnämelens in Yinland, Son D. bon 

Bruiningt . 3 222 
Über Wolynstio „Der moderne Ibeallomus und Nublanb“ 

Von Kt. d. Freymann . E 2226 
Wolynstis „Buch vom groben Zorn” Won #, d. Mrepmann . 230 
Über Urfprung und — des Dromas. Bon N. Staven: 

Hagen. RERTTENLERFETTTTÄR , 








Ihm nad! Gedicht von K. Stavenhagen . . . x... 
Schiller im Spiegel der deiten. Geltipiel. _ Yon Erich von 





























Screen . . . — en 
Die Aunft als Evangelium bei Sailer. Gin Glen som 

Dberlehrer ennd. theol. E Mröger. . . . 284 
Rice wie bie Wellen des Meeres. Yon Marl d. Frenmann. _ 303 
Stilter und Pivland. Yon Beruhard A. Hollander . . . zu; 
Schillers Seelenadel. Bon g. Cirgenfohn . . - — 
wei Schilter- Biographien (dar Berger und Duo Yamad). Yon 

8. Staveuhagen und E. v. Schrend . . . . er?) 


Sieben Tage unter dem Nugelregen der Japaner. Grinnerung 

an die Vorpoftengefechte bei Stungiötichöng. (7. —14. Juni 1904.) 
Gedichte von Eduard Fehre. . ! . . . se A ai 
Aus einem alten Tagebug. — — — Trãulein Ulrike 

von trxyt a. d. Hauſe Palla nn 
Um die Noländifhe Volteihufe. Won f. von frenmann. . 
Zum Memoire ber Adelsmaricälle vom November v.J. . . 414 
Vemerkungen zu %. Tobiens Auffag über die Minimal, und 

Marimalbeftimmungen über den bäuerligen Grund» 

bejih in Sivland. Yon Charles v. Stadelberg.Abin . . 417 
Soziale Berhältniffe in Finnland. Eindrüde und Beiradzungen. 






















































Bon Th. Begolb . . .  . ı e 
Weitere Gedanfen zur Wfarrteilung im Sivland. Bon 

S. Niethoff, Yaiter zu — ee 
Das lerrifche Bolfölied. © oo. no... 482 
Eine Bittfhrift von Mo. 1009. © 0 2 2 2 200.0... 501 
Vücjerangeigen: 

v. Egloffitein, Kaiſer Wilhelm I. und Leopold von Orlid. — 

G. Janfen, Rordweſioeutſche Studien. — B. Heyfe, Moral 

Unmöglihleiten. — Charl, Niefe, Die Klabwnterittaie . . . 96 

9. Prug, Vismords Pildung. Bon K. Girgenfohn . . . 178 

Schillers Sämtlige Werte. Von ES ...... 026 
Neuerfgienene Büder. 2 onen 


238. 












Im Spiegel der Peci were R 
Eine lutze Antwort auf den I. aid dom Guian,_ Ion = 608 
Wacwert: Unfh ur sus sure BU 


5 f * 


Beilage: Valtiſche Chronit vom 1. Sept. bis zum 23. Nov. 1004. 











Bas Tieit unfre Jugend, und mas ſoll fie Iejen?* 
Von 
Oberlehter Karl Arnold. 
— 
Motto: „Ein Duch hat ſchon oft 
auf eine ganze Lebenszeit einen 


Renfchen gebildet oder verdorben.“ 
Herder. 






ir feben in einer ſtürmiſch bewegten Zeit. Es iſt nicht 
nur die wilde Kriegsfurie, die fern im Oſten ihr 
furdtbar blutiges Theater aufgeichlagen hat, in das 
auch wir mit unfern teuerjten Empfindungen je länger je mehr 
Hineingezogen werden; es gibt daneben jo mandje Hochbedeutjame, 
unfer gejamtes heimatliches Kulturleben betreffende Frage, bie die 
Gemüter eines jeden Mannes, einer jeden Fran, die ſich nicht mit 
Gewalt der Welt um ſich verihliegen, bewegen muß. Auf dem 
Gebiet der Neligion, auf dem Gebiet der Kunſt, auf dem Gebiet 
der Politit haben fid) Gegenfäge gebildet, find die Meinungen auf 
einander geplagt, ringen Altes und Neues mit einander; Partei 
wird alles, Farbe muß jeder befennen, wenn anders er es ernſt 
mit feinen Pflichten gegen fh, feine Familie, fein Land nimmt. 
Da fann es nicht ohne Riſſe, zum Teil tiefe Riſſe, in unirer 
Gejellihaft abgehen. Die einen verteidigen mit zähem Trotz 
jeden Jußbreit alter Anſchauungen und wollen ber neuen Zeit 
nirgends Kongeffionen machen, und andere wieberum geben nur zu 
Teiht die oft bewährten Güter unjrer Vorfahren auf, um fie gegen 
neue, wahrlich nicht immer befiere Münze einzutauſchen. Nun, 
meine Damen und Herren, id bin gewiß nicht für Stillftand, 
denn Stillſtand bedeutet Nüdjchritt. Wir follen mit der Zeit 
vorwärtsftreben. Wir wollen friſche Luft auch in unferm ftillen 
Winkel, nur fo fann mande Wolfe, die in der Vergangenheit 


*) Vortrag, gehalten im Gewerbeverein zu Mitau, im November 1904. 
Battifcpe Monatafepeift 1905, Heft 1. ı 


2 Das fol unfre Jugend Iefen? 


unſern Blick trübte, veriheucht werben. Aber in gewiſſen Fragen 
müijen wir fonjervativ bleiben, Fonfervativ im beiten Sinne des 
Wortes, und gewiffe Anfchaumgen unfrer Altvorderen, gewiſſe 
Ideale alter Zeit in Religion und Kunſt, Sitte und Eigenart 
dürfen wir uns nicht rauben lajjen, wenn wir bleiben wollen, 
wozu die Geſchichte uns hier ins Land gejegt hat. 

Diefen Anihauungen, biefen Idealen müſſen aber nicht nur 
wir Alten treu bleiben, ſondern wir müſſen fie aud) in unſre 
Kinder Hineinpflangen; das ift unfre heilige Pflicht, denn fie find 
die Träger der Zukunft. Was hilft es, wenn wir noch) fo feit, 
nod fo freu im wildflutenden Strome der Gegenwart unſre 
teuerften Güter zu wahren fuchen, wenn die, denen wir dieſes 
Erbe umjrer Väter einft überantworten, leichten Sinnes fie wieber 
fahren laffen? Und da frage ich nun Sie, meine Damen und 
Herren, die Sie Väter oder Mütter, Lehrer oder Erzieherinnen 
find, ob Sie nie die Empfindung gehabt haben, daß die heran- 
wochſende Jugend, die Ihrer Hut anvertraut ift, in jenen 
unfre Eigenart wichtigen Fragen nicht mehr ganz fo denkt, wie 
wir; daß in beängftigender Weiſe ein neuer Geiſt fid) dieſer 
Jugend bemädhtigt, der nicht mehr der Geift ift, der uns, unfre 
Väter und Grofväter ftarf fein ließ? Haben Cie ſich nod) nie die 
Frage vorgelegt: Werden unfre Rinder, wenn auch fie einft Kinder 
zu erziehen haben, diefe in dem Geiſte groß werden lafien, in dem 
wir jelbft unter ben Augen unfrer Eltern herangewachſen find? 
Ich glaube, daß jeder, der ſich ernftlich ſolche Fragen vorlegte, 
antworten muß: Unjre Jugend ift fchnell, erihredend ſchnell anders 
geworben, als wir es find. Und, mancher hat vielleicht in ber 
Stille feines Herzens ſchon fampfesmüde mit dem alten Ntting- 
Haufen gefprochen: 

Unter der Erbe ſchon liegt meine Zeit; 
Wohl dem, der mit der neuen micht mehr braucht zu Icben ! 

Aber jo bürfen wir nicht fprechen, das wäre ein Vers 
brechen an uns, an unfern Kindern, an unſrer Heimat. Im 
Gegenteil, wir müſſen uns ernftlih fragen: Tragen wir nicht 
wenigfiens zum Teil felbjt Schuld an diefem neuen Geiſt der 
Jugend? Wie lönnen wir ihm Halt gebieten? Wie können wir 
bazu beitragen, daß auch unfte Kinder die ftarfen Wurzeln ihrer 
Kraft dort ſuchen und finden, wo wir fie gefunden? 

Es kann natürlich nicht meine heutige Aufgabe jein, bie 
aufgeworfene Frage in ihrem ganzen Umfange zu beantworten, es 
würde bas vor allem zu einer gewillenhaften Prüfung führen, 











Das fol unfee Jugend Iefen? 3 


inwieweit mir etwa jelbjt andere geworden und würde zugleich 
eine NAufrollung unſeres gejamten Erziehungswejens bedeuten !. 
Nur zwei Nebenfragen möchte ich beſprechen, die aufs engite mit 
dem eben berührten Thema zujammenhängen, und beren Ersörie 
rung fid) fein Eiternpaar, das es mit feinen Pflichten ernſt nimmt, 
entziehen kann, id) meine die Fragen: „Was Liejt unfre 
Jugend, und was joll fie leſen?“ 

Wer in jeiner eigenen Jugend nachgräbt, der weiß, welde 
Fülle von Freude einem das Lefen gebracht. Mit Heihhunger 
verfhlang man da all’ die herrlichen Bücher, die Eltern und Ver— 
manbte einem auf ben Weihnachts- oder Geburtstagstiih gelegt 
Hatten, und es öffnete fih eine Welt vor einem, fo groß, jo neu, 
fo wunderbar. Was Wahrheit war, was Dichtung, wir konnten 
es damals noch nicht unterfcheiden, aber unſre Phantafie wurde 
mädhtig angeregt, das willen wir noch heute, und mancher ber 
Bände wurde 4, 5 mal ober noch häufiger immer mit gleichem 
Imterefje, mit gleicher Spannung durchgeleſen. Und wenn wir 
unsre Kinder anfehn, fie maden’s nicht anders, und cs muß 
ſchon ein bejonders ftumpffinniges Weſen fein, das nicht 
gerne lieſt. 

Alfo es fteht feft, daß wir in der Lektüre ein leicht zu ver: 
wertendes Mittel befigen, um den Gefichtsfreis bes Sindes zu 
erweitern, benn Faulheit, Trägheit, jene böfen Feinde der Bildung, 
werden uns wenigjtens bei jüngeren Kindern nur felten flören. 
Aber diefes Mittel ift ein zweiſchneidiges Schwert, und wenn 
Montaigne Recht Hat, da er die Bücher für das beſte Rüſtzeug 
erlärt, das er auf feinem Lebensiwege gefunden habe, jo it es 
beachtensmwert, daß ein Rouſſeau behauptet, er fei vor allem durch 
ungeregelte Lektüre ein Spielball jäher Neigungen, ein Sklave 
einer zuchtlojen und unberedhenbaren Phantafie, ein unglüdlicyer, 
mit ſich ſelbſt zerfallener Menjh geworden. Es gilt eben die 
Lejeluft unfrer Kinder richtig zu leiten, daß nicht das, was für 
das Kind zum Segen werden fann, ihm zum Verderben aus— 
ſchlage. Tun wir Eltern das? Tun wir das gewiſſenhaft auch 
nur bei unfern jüngeren Kindern, von denen hier zunächſt 
einmal bie Rede fein joll? 

Nach meinen Erfahrungen herrſcht in diejer Hinfiht vielfach) 
ein geradezu ſträflicher Leichtſinn. Es iſt merfwürbig: während 

1) Dberlehrer 2. Goerg Hat unlängft in einem in der „Balt, Monaisſchr- 
(1904, Zebruarheft) abgebrudten Artitel mandhen ſehr beferzigenswerten Fingers 


deig in diefer Richtung gegeben. 
ır 


4 Das foll unfre Jugend Iefen? 


wir in Bezug auf den Umgang unfrer Kinder meift die größte 
Sorgfalt walten laffen, tun wir bei dem Umgang mit Büchern 
nicht ein gleides. Und dann wundern wir uns plöglid, wenn 
unfer Sohn ober unfre Tochter allerhand phantaftiiche, häßliche 
und verkehrte Einfälle befommt. Gerade in bem empfänglichften 
Lebensalter, wo Gutes wie Schlechtes am leichteften Aufnahme 
findet, überlafjen wir unfre Kinder in ihren geiftigen Eindrüden 
den unheilvolliten Zufälligkeiten. Wie viele Eltern, — id frage 
jeden auf fein Gewiſſen hin, — unterziehen jedes Bud, che es 
den Kindern in bie Hand gegeben wird, einer forgfältigen Prüfung? 
Ich rede hier nicht von ſolchen El deren mangelhafte Bildung 
die gerügte Unterlaffungsfünde erklärtih macht. Ich ſpreche von 
den Eltern, die fih aus bloßer Bequemlichkeit um die Privat 
lettüre ihrer Rinder garnicht oder viel zu wenig fümmern, und 
fie oft leſen faffen, was diefen in die Hände fällt. „Gut, daß 
der Junge fieit, da macht er wenigitens Feine dummen Streidye”, 
denft mancher Vater. „Wie jhön, daß die Tochter ein Buch vor 
fich Hat“, meint manche Mutter unb freut fich, daf fie nicht durch 
die ewigen Fragen ber Tochter beläftigt wird, was fie num 
wieder tun folle. Darauf wird mir nun mander oder manche 
erwidern: „Ich bin garnicht fo fahrläffig. Ich fehe mir ftets die 
Bücher an, die meine Kinder leſen wollen, und nur, wenn fie auf 
dem Titel ausdrüdlid als Jugendlektüre bezeichnet find, laſſe ich 
fie ipnen.“ Nun aber bitte ich diejenigen, welche jo Handeln, ſich 
dod) einmal ber Mühe zu unterziehen, und einige jener zahlloſen 
bunten Heftden burchjulefen, die unter bem Titel „Zugend- 
bibliothek“, „Voltserzählungen“ und ähnlichen Aushängeſchildern 
zu tauſenden den Büchermarkt überſchwemmen und für wenige 
Kop. feilftehen. Was fteht da drin? Im beiten Falle ein Sammel: 
furium von Unwahrſcheinlichteiten und Unmöglichfeiten, die ledig 
lich den Zweck Haben, die Stoffgier der Leſer zu befriedigen, 
meijtens aber eine Häufung von Schilderungen, in benen Mord» 
jenen und heißhungrige Beſtien, biutrünflige Menſchen und 
unnatürliche Todesarten, ffalpierte Indianer und von Hunden zer: 
fleifchte Neger die Hauptſache bilden, alles nur berechnet, um in 
der empfänglic—hen Jugend ein wollüftiges Graufen zu erregen. 
Und dann wundern fi bie lieben Eltern über die zunehmende 
Rohheit ihrer Kinder. 

Aber Hier Handelt es ſich meiſt um zufällig den Kindern in 
die Hände fallende Lektüre, ſei cs, daß fie diefelbe von guten oder 
ſchlechten Kameraden entlicehen, oder, was aud) nicht felten ber 





Was ſoll unſre Jugend leſen? 5 


Fall ift, für ihr Taſchengeld gefauft haben. Wie machen es denn 
aber bie Eltern, wenn fie ihren einen die Bücher ſelbſt aus— 
ſuchen? Da geht man zum Buchhändler und fragt etwa: „Ich 
möchte für meinen I1jährigen Sohn ober meine 12jährige Tochter 
ein paſſendes Gefchichtenbud faufen; welches können Sie mir 
empfehlen?” Im günftigiten Falle wird der Buchhändler ſolche 
Sachen vorlegen, von deren Tauglichkeit er perfönlid überzeugt 
it, vor allem gangbare Ware. Wer fteht einem aber dafür, daß 
da nicht ein Buch mitunterläuft, das aud nicht den geringiten 
inneren Wert hat? Ober der Käufer läßt ſich durch die Aus: 
ftattung der Bücher blenden, durd die buntbemalten Farbendedet 
und die ſchönen Farbendrudbilder, oder endlich — der billige 
Preis iſt ausichlaggebend. Und fo leichtfertig findet man fid) mit 
der geifligen Speile für feine Rinder ab, während man theovetiic, 
natürlich dem allbefannten Grumdfag zuſtimmt, dab für bie Kinder 
nur das Bejte gut genug ill. 

Ja, aber was ift denn nun diefes Veſte? Damit kommen 
wir auf die vielumftrittene Frage der ſpezifiſchen Kugende 
ſchrift. Um fie tobt gerade Heute in Deutſchland ein heftiger 
Kampf, und noch auf dem legten Aunflerziehungstage in Weimar 
find bei Erörterung diefer Frage die Geiſter mit bejonderer 
Schärfe aufeinandergeplaßt!. Während nämlich die einen die 
ſpezifiſche Jugendſchrift überhaupt ausgemerzt fehen und den 
Kindern nur Bücher in die Hand geben wollen, an denen aud) 
Erwachſene ein poetiihes Genügen finden, verfangen bie andern 
durdaus eine Veibehaltung der Jugendicrift als folcher, die ihrer 
Meinung nach nicht ausſchließlich äſthetiſchen Rückſichten Rechnung 
zu tragen habe, jondern zugleich aud) neben der zu bietenden 
Unterhaltung eine erzieheriſche Tendenz verfolgen fünne, ſei es 
eine belehrende oder moralifierende. 

Der enge Nahmen meines Vortrages erlaubt es mir leider 
micht auf diefen intereffanten Streit der Meinungen genauer 
einzugehen, und id kann daher nur auf das bahnbrechende 
Buch von Wolgaft, Das Elend unfrer Jugend: 
literatur, binweifen, deſſen Lektüre id) allen Eltern und 
Erziehern aufs wärmfte empfehlen möchte”, Wolgait, der Haupt: 


1) Man vergleiche bierüber die „Ergebnifie und Anregungen“ des zweiten 
Kunfterziehungstages in Wein wig 1908. 

9) 9. Wolgaft, Das Elend unjter Jugendliteratur, Hamburg, 2. Aufl. 
1899. Vergleiche gu obiger Arage ferner die „Jugendfgriften: 
Warte“, Urgan der vereinigten deutichen Prüfungsausigüffe für Jugend 






6 Das foll unfre Jugend Tefen? 


vertreter jener radikalen Feinde jeber ſpezifiſchen Jugendſchrift, 
ſchießt meiner Anfiht nad zwar vielfach über das Ziel hinaus, 
aber es gebührt ihm und jeinen Mitkämpfern das unjtreitige Ver: 
dienit, uns die Augen darüber geöffnet zu haben, daß vieles, 
unendlich vieles, was feit Jahrzehnten zum eiſernen Bejtande 
unjver Jugendbibliothefen gehört hat, wertlos oder gar ſchädlich 
if. Es iſt ein entſchiedenes Verdienjt jener Männer, manden 
beliebten Zugendjchriftiteller, wie 3. B. Franz Hoffmann und 
Guſtav Nierig, in das rechte Licht gerüct zu haben, indem fie die 
Trivialität, Flüchtigkeit, ja Rohheit in den Erzählungen derjelben 
nachweiſen. Ich glaube, wer das betreffende Kapitel in dem 
Wolgaſiſchen Bude, das eine Fülle von Auszügen aus diejen 
Schriftitellern enthält, durdjgelefen hat, jdenft feinen Sindern 
feinen Hoffmann oder Nierig mehr. Cs ift ferner fraglos richtig, 
wenn von jener Seite energiſch Front gemacht wird gegen bie 
Überflut von Indianergeſchichten, Seeromanen und Erzählungen 
aus den Kolonien, und zwar nicht bloß gegen jene von mir ſchon 
gefennzeichneten 25Pfennig-Heftchen, ſondern auch gegen die in 
vornehmem Gewande, denn aud) fie bringen oft nichts als eine 
Fülle von Unwahrſcheinlichteiten oder Unmöglicjkeiten und find 
daher wohl geeignet, den Blick der jugendlichen Lefer für Wahr: 
heit und Wirkfichfeit zu trüben. Es muß ferner durdaus aner: 
fannt werden, daß Bücher, „die den jugendlichen Geijt mit fröi 
melnden Rebensarten und jchmeichleriicher Gefühlsjeligfeit ins 
Ienfeits entführen und von ben Erbenpflichten entfernen“, eine 
ungejunde Speife für Kinder find. Wenn wir alle ſolche Aus: 
fellungen der Männer wie Wolgft u. a. anerfennen, fo brauden 
wir damit noch nicht jo weit zu gehn, wie manche von ihnen, 
und die Jugendſchrift als jolhe zu verdammen. Den unwider⸗ 
n Reiz, den alles abenteuerliche auf den Knaben in einem 
ge m Alter ausübt, können wir ruhig durch Vearbeitung bes 
unfterbliden Robinſon und die allbefannten, auch literarischen 
Wert beanipruchenden Leberjtrumpferzählungen befriedigen, und jo 
prächtige Jugendichriftitelerinnen, wie Johanna Spyri und Ottilie 
Wildermuth, um nur diefe zu nennen, werden wir unjern Kindern 
nicht rauben laſſen. Wohl aber jollen wir aus dem Kampf um 


























ſchri amburg), in der die Gegner der ſpezifiſchen Jugendſchrift zu Worie 
fommen, jowie die „Volfs: und Kugendihriften-Hundidau 
(Stutigart), in der diejenigen, die auf dem Gebiet der Jugendigprift neben den 
ätgerifgen Forderungen auch; die Pädagogif zur Geltung bringen wollen, ihre 
Anfigpten verfechten. 





Was foll unfre Jugend fefen? 7 


die Jugendſchrift lernen, daß wir weit jorgfältiger, als das auch 
von gemwiljenhaften Eltern zu geidehen pflegt, ein jedes Buch, das 
wir unfern Kindern in die Hand geben wollen, auf feinen Wert 
ober Unwert Hin prüfen, indem wir cs, wenn irgend möglich, 
jelbjt vorher durchleſen und uns weder auf den vielleicht befannten 
Namen des Verfalers, noch auf buchhändleriiche Reklame dabei 
verlaffen. Cs ijt mit vollem Recht darauf hingewieſen worden, 
daß das beite Jugendbuch dasjenige ift, das auch Eindlid) gefinnte 
Erwachſene anfprit. Wenn wir dieſen Grundfag mahgebend 
jein laſſen und dabei zugleich die Individualität des einzelnen 
Kindes berüdjichtigen (denn alles ſchickt ſich nicht für jeden), fo 
werden verjtändige Eltern und Erzieher in den allermeiften Fällen 
aud) das Richtige treffen. Haben wir aber dazu nicht die Zeit, 
oder trauen wir uns nicht fo viel eigene Urteilsfraft zu, um das 
Nichtige herauszufinden, num fo gibt es Natgeber, denen man im 
allgemeinen vertrauensvoll wird folgen fünnen. Ich möchte da 
vor allem ein Bud) nennen, das in feiner Hausbibliothef fehlen 
dürfte, und das jeder Vater und jede Mutter, jeder Lehrer und 
jede Lehrerin nicht einmal, jondern immer und immer wieder 
leſen follten, das Bud von Matthins: Wie erziehen wir 
unfern Sohn Benjamin!? Das Kapitel: Was joll Ben: 
jamin fejen? fielll jo beherzigenswerte allgemeine Gefihtspuntte 
auf, woraufhin ein jedes Jugendbuch geprüft werden mühte, und 
gibt zugleich eine große Ausfefe van empfohlenen Schriftitellern 
und Büchern und zwar nicht bloß Unterhaltungsfeftüre, ſondern 
auch belehrende Schriften aus Länder, Völker: und Naturkunde, 
daß Eltern da reichlich und gut beraten find. Ferner verweiſe ich 
auf das von den vereinigten dentihen Prüfungs: 
ausfchüfjen herausgegebene Verzeichnis von „Empjehlens: 
werten Jugendihriften“ Cs werden hier 400 Bücher 
angeführt, belehrende und unterhaltende, jedes mit einer kurzen 
Inhaltsangabe verſehen und mit einem Hinweis darauf, für welde 
Altersjtufe es fid) eignen dürfte. Das Verzeichnis lich ino 
fern mit Vorficht zu gebrauchen, als es allzu einjeitig äſthetiſchen 
Rückſichten Rechnung trägt, jo dab Vücher zur Empfehlung 
gelangen, die aus pädagogii—hen Gründen lieber einer ipäteren 
Lebensjtufe zu bieten wären. Berückſichtigt man aber dieſen 














%) Dr. Adolf Matthias, Wie erziehen wir unſern Cohn 
Benjamin? Ein Vuch für deutide Väter und Mütter, 5. verbejj. u. dern. 
Aufl. Münden, 1904. 

3) Seipsig, 1904; Preis 60 Piennig. 


8 Was ſoll unire Jugend leſen? 


Umftand, fo kann es vortrefjliche Dienfte bei der Auswahl der 
Jugendliteratur leiften. 

Doch id möchte das Kapitel über die Frage: „Was follen 
unſre jüngeren Kinder leſen?“ nicht ſchließen, ohne noch eindring: 
lic) gewarnt zu haben vor der Viellejerei. Laſſen wir ba 
einmal Matthias das Wort. Diejer ſchreibt: „„Nicht viel leſen, 
jondern gut Ding viel und oft leien, macht fromm und Aug 
dazu“, hat Luther einmal gefagt. Das follten wir in unirer Zeit 
mehr als je beherzigen. Bor fchledten Büchern braucht man nicht 
fo ſehr zu warnen, wie vor zu vielen Büchern. Wer zu viel liejt, 
fann nicht verdauen und geiftig verarbeiten, was er lieſt. Eine 
Unmajje von Vorftellungen, die oft in gar feinem Zujammenhang 
jtehen, verführt zur Oberfläglichfeit. Der Reiz leichter Leftüre 
ſchwächt den ernten Arbeitsfinn, den Schule und Leben für ihre 
Plichten fordern. Auch das Gebächtnis leidet unter ber Viel: 
fejerei, weil die Plenge der Voritellungen nicht eigene Gedanken 
und erarbeitete Kombinationen, jondern fremde, raſch vorüber: 
gehende Zufammenftellungen find, zu deren Wiederholung und 
Übung dem Lefer Zeit und Geduld fehlt. Kurz, wo Lefelujt zur 
Leſewut wird, wo das Behagen, ſich immerfort auf mühelofe 
Weife ein Vergnügen zu verjchaffen, zu groß mird, da erjeugt ein 
ſolcher Lefemüffiggang Träume ohne Tatkraft, da gibt's Wider 
willen gegen jede ernſte Beſchäftigung, vorlautes und frühreifes 
Urteilen, ja Blaſiertheit gegen einfache, ktindliche Genüſſe.“ Wahr- 
lich, das ſind goldne Worte, die aufs wärmſte beherzigt werden 
follten. 

Ich habe bisher nur von ber Leftüre für das jüngere 
Kindesalter geſprochen; wie ftcht es aber nun mit der Leftüre der 
reiferen Jugend? Hier wird die Frage ungleich fomplir 
zierter, die Antwort ungleich ſchwerer. Hier verlaflen uns mei 
die ſonſt trefflichen Führer und es ift in der Tat nicht leicht, für 
denjenigen Teil unſrer Kinder pafienden Leſeſtoff zu finden, für 
den die jog. Sugendichriften einen Neiz mehr haben und dem für 
die Yeftüre der Erwachſenen die Neife fehlt. Hier gehen auch die 
Anfichten der Eltern und Erzieher in Bezug auf das, was ſich 
für die Jugend eignet, bejonders weit auseinander. Und doch 
verlangt gerade auf dieier Altersitufe die Seftüre eine befonbers 
tige Prüfung. Iſt es doch der Frühling des Lebens, in 
e Sant ausgeftreut wird, wo ber Boden am empfünglichjiten 

Gutes und Schlehtes, für Yeiljames und Unheilvolles; 
Bilbet ſich doch in diejen Jahren der Entwidiung der reife Dann, 















Bas ſoll unſre Jugend leien? 9 


die reife Fran und zwar zum großen Teil an dem Gelefenen, 
durch das Gelefene. 

Bevor id auf diefen Teil meines Themas eingehe, ein 
Wort über den Begriff „reifere Jugend”. Natürlich ift e6 
unmöglich, ihn zeitlid) genau zu umgrengen; als den Anfangs: 
punft fönnte man ja unge das 14. Jahr anſetzen. Weder 
das Alter des Kindes allein, noch aud die Schulklaſſe als ſolche 
fönnen mahgebend fein, jondern vor allem bie Reife. Diefe wird 
bei dem einem Kinde langfamer, bei dem andern ſchneller fort: 
ichreiten, je nad) der Begabung, den äußeren Lebensverhäftniiien, 
dem Umgange. Cs ift ja befannt, daß ein Kind, das viel unter 
Krankheit oder trüben äußeren Lebensjchidjalen zu tragen hut, 
ſchneller reift als ein ſolches, dem ähnliche Kümmerniſſe eripart 
bleiben. Ebenjo werden Kinder, die jtets, und zwar nicht immer 
ı eignem Vorteil, in der Geſellſchaft Erwachiener weilen, früher 
die Kinderſchuhe abjtreifen, als ſolche, die unter gleihaltrigen 
Genoſſen groß werden. Auf zpeierlei fei dabei hingewieſen. 
Erftens ift zu warnen vor einem „Zufrüh”. Ein „Zuſpät“ iſt 
lange nicht jo ichlimm, wie ein „Zufrüh”. „Lernt jemand eine 
wertvolle Jugendfchrift erit im Sünglingsafter fennen, fo iſt das 
feine Schande und fein Schade” (Matthias), liejt ein andrer einen 
gehaltvolfen auch für die Jugend geeigneten Roman erſt als 
reiferer Dann, jo it das Unglüd wahrlich nicht jo groß, wie 
wenn er etwa bereits mit 12 ober 13 Jahren alle Schillerſchen 
und Goetheihen Dramen „verarbeitet” hat. Zweitens werden 
fich die Übergänge von der Kinderfiufe zur reiferen Jugend und 
von biefer zu der Zeit, ba jede Leftüre freigegeben wird, natürlich) 
nicht plögfic, ſondern atlmählid) zu vollziehen haben. Plan wird, 
um ein draſtiſches Veilpiel zu wählen, einem Kinde, das eben 
noch den „Lederſtrumpf“ mit Genuß gelefen, nicht gleich eine 
Novelle von Conr. Ferd. Meyer in die Hände geben, jondern 
etwa mit Hauff's „Lichtenftein” oder ähnlichen ſchlichten Erzäh— 
kungen beginnen. Es üt das ja eigentlich ſelbſtverſtändlich, joll 
aber der Volljtändigfeit halber hier auch ausgeſprochen werben. 

Ferner will ich vorausfhieten, daß id) im Folgenden, wenn 
id) von der Jugend vede, ſowohl die männliche als aud die weib— 
liche meine. Die im weiteren geidiiderten Zuftände beziehen ſich 
ja freitich Hauptjächlih auf uniee heranwadjienden Fünglinge. 
An Madchen, die meiit jorgiamer gehütet werden, treten Ver: 
ſuchungen und Gefahren, dab ihnen ungeeignete Vücher in die 
Hände fallen, wohl jeltener heran, obgleich das Diilieu in manchen 











10 Bas foll unfre Jugend Iefen? 


unfrer heutigen Schulen gewiß feine genügende Gewähr bietet, 
daß nicht auch bei unjrer weiblihen Jugend gelegentlich Konter- 
bande mitunterläuft. Anderjeits jtehe ich auf dem vielleicht jehr 
altväterifchen und unmodernen Standpunft, daß wir bei der Aus— 
wahl der Lektüre für unſre Töchter noch ungleich vorſichtiger fein 
müffen, als bei der für unfre Söhne. Gerade weil die weibliche 
Natur fo weit empfänglicher iſt als die männliche, wird gutes 
wie ſchlechtes bereitwilliger aufgenommen und fat tiefere Wurzel. 
Manches, was der Züngling im Geſchiebe des Lebens doch noch 
abjtößt, bfeibt bei der Jungfrau haften und ranbt ihr etwas von 
dem Echmelz weiblicher Eigenart. 

Und wie ſieht es nun mit der Lektüre unfrer veiferen 
Jugend? Hier it zunäcft auf eine tiefbetrübende Ericheinung 
unjver Tage hinzuweifen, nämlich auf die zunehmende Intereſſe- 
lofigfeit eines großen Teiles unfrer Jugend aller und jeder Lei: 
türe gegenüber. Es ift feltfam, gerade dasjenige, mas im Kindes- 
alter den allergrößten Reiz ausgeübt hat, verliert dieſen vielfach, 
fobald der Suabe, das Mädchen die Kinderſchuhe ausgezogen 
haben. Eine geradezu erihredende Blafiertheit der Literatur 
gegenüber greift Plat, während fade Gefelligkeit, eitle Pugfucht 
üppig ins Rraut [chießen. Mir find Fälle befannt, wo 16- und 
17jährige Fünglinge nicht zu bewegen waren, aud nur einmal 
einen erniten Roman in die Hand zu nehmen, oder wo gute 
Bücher, die freundliche Verwandte geſchenkt, verfaulten und vers 
moderten, um fhließlih ungefefen zum NAntiquar zu wandern. 
Das war früher anders. Der Trieb zum Lefen, ſchon um nicht 
„ungebildet“ zu ericheinen, war vor 20, 30 Jahren ungleich 
größer. Damals galt es als eine Schande, gewiſſe Bücher nicht 
gelejen zu Haben. Man frage doch einmal Heute bei feinen 
16- und 17jährigen Söhnen und Töchtern nad), ob fie fid) auch 
ſchämen, wenn fie nicht einmal alle Schillerſchen Dramen gelefen 
haben, von irgend melden guten Romanen ganz zu ſchweigen. 

Dod) jo jteht es ja nicht bei allen. Viele leſen, lejen jogar 
reichlich aber was lejen fie? Eoweit ic in bie einihlägigen Ver- 
hältnifie habe hineinbliden fonnen, fcheint es mir, daß aud auf 
diefem Gebiete von vielen Eltern unendlich viel gefündigt wird, 
von manchen vielleicht aus Überzeugung, von vielen aus Unkennt— 
nis und Unbildung, von jehr vielen aber wiederum aus Bequem— 
lichfeit, weil fie ſich nicht die Zeit nehmen wollen, fid) um die 
Leklüre der Kinder zu befümmern, denn Zeit foftet das, wie wir 
jehen werden. , 





Was foll unſte Jugend leſen? u 


Bliden wir doch einmal in die Büder hinein, die ein 
Jüngling von 15--17 Jahren heute lieft. Da finden wir neben 
dem Alter angemejjener Lektüre Bücher von Hauptmann, Suder⸗ 
mann, bien, Heines „Florentiniſche Nächte”, Tolftojs „Auf: 
eritehung“, „Kreuzerſonate“, „Macht der Finſternis“, Zolas „Tot: 
ichläger”, „Paris“, Mauries „Trilby“ und befonders häufig 
Maupaffants Novellen, von elenden Kriminalromanen oder Büchern 
wie „Die Berliner Nange”, „Der feine Cohn“ und ähnlicher 
Schundware gar nicht zu reden. Ob diefe Bücher fteto mit Ein- 
willigung der Eltern gelefen worden find, weiß ich nicht; aus ber 
Tatſache, daß ſolche Lektüre dem Lehrer offen eingejtanden wird, 
iheint mir jebenfalls hervorzugehen, da die Sünglinge nicht 
das Gefühl haben, von ben Eltern direft verbotene Früchte 
genoſſen zu haben. Derartiges verihweigt man aud dem Lehrer. 

Und mie jtcht es mit den im Hauſe gelefenen und gehaltenen 
Zeitungen und Zeitjhriften? Wenn eritere zu früh der 
heranwachienden Jugend in die Hände gegeben werden, fo ſchaden 
fie mehr, als daß fie nügen, denn erfahrungsgemäß fucht man in 
einem gewilfen Alter in der Zeitung nicht das wirklich Belehrende, 
fondern das Pifante aus Stadt und Land, aus Polizeiberichten, 
Gerichtsverhandlungen und der chronique scandaleuse. Was 
aber die Zeitfchriften anfangt, jo würde ich ohne vorangegangene 
Prüfung meinem 15jährigen Rinde aud) das bejte unfrer Familien: 
blätter nicht in die Hand geben. Was fagt man aber dazu, wenn 
Zeitjchriften wie die „Jugend“ aber „Die Inftigen Blätter“ offen 
auf den Vüchertiſchen liegen, wo in unbewachten Augenbliden 
ſelbſt 9: und 10jährige Kinder ihre Neugier an den doch wahrlid) 
nicht für diefe Jugend geeigneten Bildern und Wien befriedigen 
fönnen. 

Sodann das Kapitel Leihbibliothef. Iſt es nicht 
geradezu fündhaft, wenn Eltern ihre Kinder ſich aus Leihbiblio— 
thefen Bücher nad) eigener Auswahl nehmen laſſen. Und das 
fommt vor. Oder follten ſolche Eltern wirklich nicht willen, daß 
bei derartiger Freiheit in der Wahl der Leftüre entweder Schund 
gelejen wird ober vieles, was für ein reiferes Alter geeigneter 
wäre, oder endlich auf Empfehlung jogenannter guter Freunde 
Bücher, für die nit der innere Wert ausichlaggebend ift, jondern 
gewiſſe pifante Situationen und Echilderungen. 

Und nun endlih das Theater. Viele Eltern jcheinen der 
Anſicht zu fein, da; der Vefuch eines ernſien Schaufpiels unter 
feinen Umjtänden der Jugend ſchädlich jein fann. Vor unbefannten 


12 Was ſoll unfee Jugend leſen? 


Operellen, vor der franzöſiſchen Poſſe machen fie noch allenfalls 
halt, aber in das ernſte Drama ſchicken ſie ihre Kinder, auch wenn 
fie feine Ahnung vom Inhalte des Stuckes Haben. Und da haben 
wir denn in Dramen wie Mar Dreyers „Winterſchlaf“, d’Annun- 
zios „Die tote Stadt”, Jbiens „Wenn die Toten erwachen“ und 
jüngſt nod) in Hugo Marks’ „Lethe” und Brandes’ „Ein Beſuch“ 
unfre heranwachſende Jugend mehr oder minder reichlich vertreten 
gefehen, mit und ohne Eltern. Ja, wie die Zeiten ſich doc) ſchnell 
geändert haben. Noch vor 10 Jahren wurde ich einmal bei 
Gelegenheit eines Gaftipiels der „Nigenfer“ eritaunt gefragt, ob 
ich wirflid) meine Frau in Sudermanns „Heimat” mitnehmen 
würbe, und jegt führen Mütter ihre unerwachienen Töchter in 
Hartlebens „Rojenmontag“ und Halbes „Jugend“. 

Ich Habe bisher nur von ſolchen Tatiachen geredet, die ſich 
unter den Augen der Eltern vollziehen. Ungleich jchlimmer ſieht 
es natürlich mit den Büchern aus, die Kinder heimlich hinter dem 
Rüden der Erzieher leſen. Wie viel bier Fahrläffigfeit und 
Una chtſamkeit derjenigen Schuld trägt, denen die Obhut über das 
ge Wohl der Kinder obliegt, das wird in den einzelnen 
Fällen natürlich ſehr verjcgieden fein. Aber daß viele Eltern 
iträflich leichtſinnig in diefer Hinſicht verfahren und fid) vielleicht 
nie die Mühe nehmen, den Büchervorrat ihrer Kinder einer Durch: 
ſicht zu unterziehen, dafür feinen mir allein die Proben elendejter 
Schumd- oder gar Scmugfiteratur zu ſprechen, die man wenigitens 
in den Snabenfchulen gelegentiih als heimliche Klafienleftüre 
Schülern abnehmen muf. Wie oft begegnet man ba beipiels- 
weife dem „Seinen Witblatt“, diefem ſcheußlichen Schmicı 
blätthen, das verfenft werben jollte, wo die Waſſer am tiefiten 
find; das, für wenige Kopefen in den Buchläden käuflich, in Bild 
und Wort für die niebrigiien Sinne beredjnet ift und bie jugend- 
tie Phantafie geradezu vergiftet. Was durch folche und ähnliche 
Leilüre an Schuß und Unrat in das Kind Hineingetragen wird, 
was hier an Geift und Leib verderbenbringenden Keimen in das 
blühende Leben hineingepflanzt wird, das ijt ſpäter meilt nicht 
mehr herausgureißen, das Übel nicht mehr gut zu machen. Wir 
find heute jo leicht geneigt, die zunchmende Sittenfofigfeit unirer 
männlichen Jugend dem Einfluß schlechter, verdorbener Elemente 
in der Schule zuzufcreiben. Gewiß können die unendlich, viel 
Unheil anrichten und tum es reichlich und redlich. Aber die böſe 
Saat, die da ausgeftrent wird und der wir unſre Rinder nicht 
ganz entziehen Fönnen, würde nit jo üppig ins Kraut ſchieben, 















Das fol unfre Jugend leſen? 18 


wenn nicht durch unpafjende oder gar fchlüpfrige Lektüre der 
Boden nur zu gut vorbereitet wäre. 

Dancer von Ihnen, hochgeehrte Anweſende, wird vielleicht 
jagen, das Bild, das ich entworfen, ſei einfeitig und zu schwarz; 
unvernünftige Eltern habe es gelegentlich immer gegeben, und im 
allgemeinen feien die Verhältnitte damals, als wir jung waren, 
nicht beifer und nicht chlechter geweien als heute. Darauf habe 
ich folgendes zu erwidern: Natürlich habe ich die Schattenfeilen 
der angeregten ragen beleuchtet und will gerne zugeben, daß es 
viele Eltern gibt, die forgiam die Lektüre ihrer Kinder bewachen. 
Daß aber die Verhältnitie diefelben geblieben wie früher, ftelle ich 
ich entidjieden in Abrede. Sie find nicht diejelben geblieben, fie 
find fehlimmer geworden. Auch ich bin einmal jung geweſen und 
habe mic), wie das Schulleben das mit fid) bringt, in mandherlei 
Gefellihaft, in guter und fchlechter bewegt, und doch ift mir 
damals nicht fo viel Leſeſtoff, der nach meiner jegigen Anfiht ber 
Jugend ſchadlich ift, zu Gericht gefommen, wie ich ihn heute in 
den Pänden von jungen Leuten gefunden, wo ich doch als Lehrer 
nur gelegentlich einen Einblick in die einfchlägigen Verhältniſſe 
gewinnen fann. Und das it auch garnicht anders möglid), ift 
doch das Angebot folder Bücerware infolge der herrſchenden 
Eiteratmrrichtung ungleic) größer geworben, und die Anfhauungen 
über das, was der Jugend frommt oder nicht, Haben fd) zugleich 
merflid) geändert. Und damit fomme ich auf den zweiten Teil 
meiner Frage: Was foLl unfre reifere Jugend Iefen? 

Erwarten Sie nicht etwa, einen Kanon geeigneter Bücher 
aufgezählt zu hören, viel wichtiger erfcheint es mir, das wir uns 
einigen in bezug auf die allgemeinen Gefihtspunfte, unter denen 
jedes Bud) geprüft werden ſollte, che es der Jugend in die Hand 
gegeben wird. Meiner Anficht nad muß ein folches Buch fein: 
1) Fünftlerifh wertvoll, 2) fittlid rein, 3 frei 
don jeder Alterprobtes niederreißenden Tendenz. 
Damit fallen natürlich nicht nur alle unfauberen und faden Rol- 
portageromane, die in Maſſen ben Büchermarkt überfchwenmen, 
und die vernünftige Eltern ja ohnehin ihren Kindern nicht in bie 
Hand drüden werden, fort, jondern fo ziemlid) alles, was der ſog 
„Moderne“ angehört. 

Es iſt noch im vorigen Semefter in diefem Saale von ver: 
ſchiedenen Nebnern in jehr verichiedener Weife über Wert und 
Unwert des heutigen Naturalismus geurteilt worden, und ber 
Streit der Meinungen hierüber wird noch lange hin und her toben. 


14 Das fol unfre Jugend Iefen? 


Gibt es doch noch heute Leute, die bei jebem mobernen Dichters 
namen ein gelindes Graufen empfinden und jeden Subdermann, 
Hauptmann und Halbe womöglich ungelefen zu den Toten werfen; 
und auf der andern Seite jtehen folde, die in jenen Männern 
das Morgenot einer neuen glänzenden Zeit erbliden, bas einen 
Schiller, wenn nicht gar einen Goethe längſt in den verdienten 
Schallen gerüdt. Das Richtige wird, wie fo oft, wohl in ber 
Mitte liegen. Wir Haben, meiner Anfiht nah, dem modernen 
Naturalismus fehr viel zu danken. Er hat ben in Unnatur und 
Verwällerung verfallenen Nusläufern ber Romantik, fowie dem 
literariſchen Inbuftrialismus, der uns, wie Bertels jagt, „mit den 
Träbern fütterte, die die Säue ber Parifer Voulevards übrig 
liegen“, ein Ende gemacht; er hat den Blick für die MWirklichfeit 
wieber gefhärft; er hat dem fait verloren gegangenen Zufammen: 
hang zwiſchen Dichtung und Wahrheit, zwiſchen Runft und Natur 
wieder hergeftellt und damit das zertrümmerte Fundament wieder 
aufgerichtet, auf dem cine jede gejunde literariiche Richtung aufs 
gebaut fein muß. Wir brauden aber bei folder Anerkennung 
der unftreitigen Verdienſte der „Modernen“ nicht blind gegen ihre 
Fehler zu jein. Wie alle ftürmifchen Übergangsperioden ift auch 
fie vielſach über das Ziel hinausgeſchoſſen. Sie Hat vor allem, 
ich möchte heute nur das eine hervorheben, als Kampfesrichtung, 
als Anlageliteratur in einfeitiger Verblendung immer nur die 
Schattenfeiten des Lebens aufgeſucht und bargeitellt, als ob ces 
nichts Gutes, als ob es fein Licht mehr in der Melt gäbe, und 
damit iſt fie ein mächtiger Förderer des unfer Zeitalter beherrſchen- 
den Peſſimismus geworden. Darum aber, vor allem darum 
müfen wir fie jo lange als möglich von unjrer Jugend fern 
halten. Der reife Mann, die erfahrene Frau kann durd) viele 
Bücher moderner Richtung vieles lernen. Cs werben hier Fragen 
zur Diskuffion geftellt, Probleme erörtert, denen wir uns, bie wir 
im Strome ber Zeit ſchwimmen müſſen, nicht entziehen können, 
und mander ift durch folh ein Buch zur Selbitprüfung und 
Selbfterfenntnis gebradt worden. Wir werden uns aber dadurch 
noch nicht den Glauben an das Edle in der Menſchheit, unfern 
alten deutichen Jbealismus rauben laſſen. Wie wirkt aber ein 
folches Buch auf die noch ungereifte Jugend? Da wird vor ihnen 
der Schleier gehoben von jo mand) geheimnisvollem Dunkel, in 
das das Leben fie noch nicht Hat hineinbliden fallen, und daß 
gerade das Häßliche eine befondere Anziehungskraft auf ben 
Menſchen, vornehmlich die empfängliche Jugend ausübt, ift ja 


Das folk unſte Jugend Iefen? 15 


befannt. Mit mollüftigem Behagen wird beionders alles bie 
Geſchlechtsliebe betreffende verſchlungen, das entweder in brutaler, 
häßlicher Nadtheit oder, was noch ſchlimmer, halbverhüllt kaum 
einer modernen Dichtung fehlt; und mas ehrliche Naturaliften 
geichrieben, um den Finger auf ſchwärende Wunden der Gefell- 
ſchaft zu legen, das wirft auf unveife Leſer mit prickelnden Reizen, 
lodend, verführend. Wir tun unjern Naturaliften, die es ehrlich, 
mit ihrer Runft meinen, gewiß Unrecht, wenn wir ihre Werke 
unmoraliſch nennen. Unmoraliih in dem Einne, daß fie das 
Unfittliche billigen oder gar verherrlihen wollen, find fie natürlich 
nicht. Verſteht das aber die innerlich noch nicht gefeitigte Jugend? 
Müften fich ihre fittlichen Begriffe nicht in gefährlicher Weife ver- 
wirren, wenn fie ein Leben dargeitellt ficht, in dem der Moral 
faft nie zum Siege verholfen wird. Was fängt fie z. B. mit 
dem noch im vorigen Jahre auf unfrer Bühne gegebenen Ibſen—⸗ 
fhen Drama „Wenn die Toten erwachen“ au, das wenn man es 
des ſymboliſchen Gehalts entkleidet, die moraliiden Grundſätze 
geradezu auf den Kopf jtellt? 

Freilich, Aug, überklug kommt ſich dann wohl ein ſolches 
Bürſchchen, eine ſolche höhere Tochter vor, aber mit der Harm- 
lofigfeit der Jugend iſt es dahin. Die Genuffähigfeit für wirklich 
Schönes, Reines ift vielfad) verloren. Vlaſiert wird über Ewiges, 
Wahres abgeurteilt, und man kann ſich dann micht wundern, 
wenn man Nusiprüde hört, mie fie einer meiner Kollegen 
unlängit aus dem Munde eines Sefundaners vernahm: „Goelhe, 
ja den läht man fid noch vielleicht gefallen, aber wer wird heute 
noch Schiller leſen!“ 

Und damit hängt aufs engite ein Zweites zuſammen. Man 
hat mit Hecht die „Moderne“ eine Anflageliteratur genannt. In 
der Natur einer folhen aber liegt es, daß fie tendenzios iſt. Das 
hat ja die Naturaliften getrieben, einfeitig die dunklen Tiefen 
menſchlicher Gebrechen, gejellichaftliher Schäden aufzuſuchen, hin— 
zuweiſen auf Zuftände, Verhältnifie, die nach Beſſerung, nach 
Heilung ſchreien. Aber fajt feiner derſelben hat auf die in einer 
ſolchen Dichtung unausgeſprochen liegende Frage: „Wie foll das 
befjer werden? eine Antwort gegeben. Daher das fähmende 
Gefühl, mit dem wir fo oft von einem derartigen Roman ſcheiden 
ober das Theater verlajien. Kann es aber richtig fein, unfrer 
Jugend ſolche Bücher in die Hand zu geben? Kann es eine 
Pädagogik geben, die es verantworten will, in das ungefeftigte 
Gemüt unreifer Jünglinge und Jungfrauen Dineinzutragen alle 


18 Bas fol unfre Jugend Iefen? 


die Heute auf uns einftürmenden, ber Löfung harrenden Fragen, 
alle die ungeflärten modernen Ideen, die zum Teil rütteln an 
altbewährten Grundfägen in Religion, Staatenleben und gejell: 
ſchaftlicher Ordnung? 

Id würde über dieſe Frage nicht jo viel Worte verlieren, 
wenn ich nicht wüßte, daß es viele gibt, die in der modernen 
Literatur nicht nur feine Gefahr für unfre reifere Jugend ſehen, 
jondern fie geradezu empfehlen. Mir liegt zufällig ein Jeitungs- 
ausichnitt vor, in dem die Beantwortung der ſchon vor etlichen 
Jahren im Nig. Gewerbeverein aufgeworfenen Frage: „Melden 
Einfluß hat die moderne Richtung der Schriftiteller auf bie Geſell- 
schaft, ſpeziell auf die Jugend?” abgedrudt ift!, Der Beant: 
worter iſt der Anſicht, daß wir „unfre bedeutenden modernen 
Schriftfteller bei der Qugenderziehung nicht entbehren fnnen” und 
führt als ſolche Schriftiteller namentlich an: Zola, Tolftoj, Ibſen, 
Björnfon, Garbory, Strindberg, Hauptmann, Sudermann. Unter 
anderm jagt er wörtlid) folgendes: „Es jteht mit der geiftigen 
Nahrung wie mit ber leiblihen. Nur fein Rapentiih und ja 
nicht zu wenig, denn gejunde Kinder Haben guten Appetit. Und 
mas die geiftige Nahrung betrifft, fo haben fie, wenn fic geſund 
und normal entwickeit find, glüdlicerweiie eine Schubvorrichtung 
in ihrer Seele: die Naivität und den Enthufiaomus. Infolge 
deſſen nehmen fie die unpaflende, ſtörende Nahrung meiſt nicht 
auf, fondern mit Vorliebe das Gute — ja das Beſte und 
Schonſte.“ Über den „Katzentiſch“ jpäter ein Wort. Hier nur 
joviel als Erwiderung: Ad) id) glaube an die Naivität und 
den Enthufiasmus unſrer Jugend, jo lange ihr Geſchmack durch 
ihrem Alter nicht zufommende Speiſe noch nicht verdorben iſt. 
Wenn fie aber erſt mit der jdarf gemwürzten Koſt der Zola, Ibien, 
Hauptmann u. a. gefüttert worden find, dann ſchmeckt ihnen eben 
eine alles Pifarite meidende, einfache und doch jo gefunde Nahrung 
nicht mehr, dann iſt es mit ihrer Naivität dahin und ihr Enthus 
fiasmus für das Neine und Schöne hat jenem Mangel an idealem 
Einn, jener atttlugen Bfafiertheit, jener unfindlihen Pietätlofig- 
feit Bla gemad)t, über die bie Pädagogen unjrer Tage jo viel: 
fady mit Hecht flagen. Dan leſe doch nur heute mit Schülern 
der oberften Klafien die Dramen unjrer großen Dichterheroen und 
achte dabei auf die offen oder veufteckt zutage tretende fiumpfe 
Unempfänglichteit, das überlegene, ja jpöttiiche Lächeln vieler 


1) Dana · gig. 1809, Nr. 295. 





Das fol unfee Jugend Iefen? 17 


folder Jünglinge, die in ber Moderne bereits zu Haufe find und 
womöglid Hauptmann und Subermann vor Schiller und Goethe 
gelefen haben. Und wie jollte das aud) anders fein. Muß nicht 
in ber Jugend, die vom Leben noch jo gut wie garnichts weiß, 
dur eine literariiche Richtung, mag fie und ihr Streben von 
noch fo edlen Dlotiven getrieben werden, bie immer und immer 
nur das Jammerlied der Menſchheit fingt, ein Zweifel rege 
werben, an allem was ihr fonjt gelehrt wird: daß unjre Welt: 
ordnung gut ift, daß es einen Sieg der Wahrheit auch ſchon auf 
Erben gibt, baß wir den Glauben an uns felbit und das Gute 
im Dienfchen nicht aufgeben dürfen u. a. Solde Ideen aber 
find die rechte Speiſe für unſre Jugend, nur fo gewappnet wird 
fie einmal all den zerjegenden und zerfreffenden Elementen, die 
über furz oder lang fich an fie heranſchleichen werden, heilfamen 
Widerftand entgegenfegen fönnen und nicht Gefahr laufen, jesem 
alles nivellierenden, an Thron und Heimat, Altar und Ehe 
rüttelnden, internationalen Zeitgeifte anheim zu fallen. Mit einem 
Worte — unsre Jugend braudt Jdealismus, nicht 
modernen Beifimismus! 

Ich Höre hier den Einwand: „Auch wenn wir die Schädlich- 
feit der Moderne für unſre Jugend erfannt haben, können wir 
diefe doch nicht mit einer chineſiſchen Mauer umgeben. Unfre 
Töchter noch allenfalls, unire Söhne nun ſchon garnicht. Der 
Trieb, gerade derartige Erzeugniſſe der Literatur zu lejen, iſt fo 
groß, daß fie, aud) wenn wir ihre Lektüre überwachen, das Ver: 
botene eben heimlich leſen und vielleidht dann um jo begieriger, 
weil verbotene Früchte bekanntlich befonders füh ſchmecken. Und 
fie leſen dann noch weit Schlimmeres, als was ernite Naturaliften 
geſchrieben haben.“ ie haben ganz recht, meine Damen und 
Herren, wir fönnen eine ſolche chineſiſche Mauer nicht aufrichten, 
ebenfo wenig wie wir ihnen die Augen verbinden fönnen, daß fie 
ſich alle die füjternen Titelbilder und noch Tüfterneren Anfichtsr 
poitfarten, die vielfach öffentlid; ausliegen, anjehen. Könnten wir 
unfre Jungen dann doch in feinen Frifeurlaben f—iden, wo jenes 
„Kleine Wigblatt“, von dem ich vorhin jhon ſprach, ausliegen 
bari, jo daß jeder 10jährige Bube ſich daran ergägen fann. Wohl 
aber können und jollen wir einerfeits derartiges, jo weit cs in 
unfern Kräften fteht, von unfrer Jugend fernzuhalten juchen, 
andernteils für ein gefundes, heilfames Gegengewicht in genü- 
gendem Maße forgen. Wo das Verhältnis zwiſchen Vater und 
Sohn, zwiihen Mutter und Tochter ein richtiges ift, da „aus 

Baltifge Monatsfchift 1005, Heft 1. 


18 Das fol unfee Jugend leſen? 


bie ernfte Mahnung der Eltern an ihr Rind, nichts ohme vorher 
ergangene Erlaubnis zu leſen, genügen. Und hilft ſolche Ermah— 
nung nit, jo muß das zweite Mittel allein wirken, die von ben 
Eltern ausgewählte, für den Jüngling und die Jungfrau geeignete 
Leklüre. Und ſolche geſunde Koft wird nicht nur eine Schugwehr 
fein gegen das Lefen unpaffender Skribenten, fie wird aud) heilend, 
träftigend wirken, wie die friiche Luft in Wald und Feld, im 
Garten und auf dem Spielplag neben der bumpfen Stidatmofphäre 
in Stube und Schule, auf Markt und Strahe. 

Waren meine Ausführungen bis jept im weſentlichen nega- 
tiver Art, jo muß id) nun aud) wenigitens in gedrängtefler Kürze 
Pofitives bieten. Ich itellte vorhin die Forderung auf, daß bie 
Zugenblektüre Fünftlerifc wertvoll, fittlich rein, frei von Tendenz 
fein müffe. Nun, ich Sollte doch meinen, daß man mod lange 
night zu einem „Ragentiich” greifen muß, und unfre heranwadhiende 
Jugend etwa mit Buftav Nierig, Franz Hoffmann ober Thekla 
Gumpert abzujpeifen braucht, wie der Veantworter jener im Rig. 
Gewerbeverein aufgeworfenen Frage mit völlig ungerechtfertigtem 
Spott meint. Unfre deutjche Literatur iſt To reih an Erzeug- 
niffen, die jenen Forderungen entiprechen, daf unfre Kinder wahr- 
lich nicht zu darben brauchen. Da ftehen in erfter Linie unfre 
Alaffifer, deren Wert als beftes Bildungsmittel für die reifere 
Jugend ja wohl niemand wird beitreiten wollen. Befigen doch 
gerabe fie das, mas unfrer Jugend ihrer Natur nad) eigen ift, 
und was wir ihr nicht vauben laffen dürfen, jenen Idealismus, 
der an das Gute im Menfchen, an den Sieg des Edleu glaubt. 
Nächſt den Klaſſikern dürfte vor allem ber Hiftorifhe Roman 
eine geeignete Leftüre bilden. Das lebhafle Intereffe, das bie 
Jugend meift der Geſchichte enigegenbringt, ſchafft für bie Auf- 
nahme folder Dichtungen den fruchtbarften Boden, befonders wenn 
das Leſen derfelben Hand in Hand mit ber Durchnahme bes 
betreffenden geſchichllichen Stoffes im der Schule geht. Natürlich 
darf es ſich bloß um Romane handeln, die einerjeits hiftoriich 
treue Wilder fiefeen, anderfeits nicht in den Fehler einer aufbring- 
lichen Gelehrſamkeit verfallen. Da könnte wohl als eriter Roman 
Hauffs „Lichtenftein“ den Kindern in die Hand gegeben werden, 
fodann Freytags „Ahnen“, Scyefjels „Ekkehard“ und die beſten 
Nomane von Willibald Alexis. Auch Walter Scott wird trog 
feiner Breite auch heute nod) von ber Jugend gern und mit 
Nupen gelejen. ber wir Fönnen dieſe Jugend nicht blof mit 
Haffifhen Dramen und hiſtoriſchen Romanen abipeifen, fie wil 


Mas fol unfre Jugend Iefen? 19 


auch in der Zeit und mit der Zeit leben, und auch an 
ſolchen für fie paſſenden Schriften fehlt cs nicht. Da wäre bei— 
jpielsweife zu nennen Freytags „Soll und haben“, Storms, 
Nichts Novellen, Nofeggers Erzählungen, einzelne Nomane von 
der Ebner-Eichenbach, wie 3. B. das prächtige „Semeindetind”, 
ausgewählte Sachen von Conr. Ferd. Meyer und Gottfr. Keller, 
endlih Lilienerons Kriegonovellen. Und dab auch die neueſte 
Zeit immer wieder dazwilchen Nomane zutage fördert, bie wir 
unfrer reiferen Jugend nicht vorenthalten follten, das beweiſen 
z. B. Dichtungen, wie Frenſſens „Die drei Getrenen“, Heers 
„Joggeli“ oder der erit Fürzlich erfchienene Noman von H: A. Krüger 
„Gollfried Kämpfer”. So wird der Kreis fid) immer mehr und 
mehr weiten, bis man die Zeit für gefommen erachtet, fein Kind 
altmählich vorzubereiten auf die freiheit, die dem Ermadjienen 
die Wahl der Lektüre ſelbſt überläßt. Im diefe Zeit der reifiten 
Jugend würden Paul Heyjes Novellen, die beiten Spielhagenſchen 
Romane, Clara Viebigs „Die Wacht am Rhein“, Sudermanns 
„Frau Sorge” und vieles, vieles andre gehören, vor allem die 
Romane von Pantenius, von dem auch unire Jugend lernen fann, 
warme Heimatsliebe mit offnem Sinn für die Wahrheit zu 
paaren. In dankeuswerter Weile iſt in neueſter Zeit mehrfach 
der Verſuch gemacht worden, das Beſte, was die ältere und 
neuere erzählende Literatur hervorgebracht, in billigen Xolfs- 
bibliotgefen zu vereinigen. Cine ber treiflichiten find jebenfalls 
iesbadener Vollsbücher“, die neben den ſchon genannten 
ftſiellern Erzählungen von Stifter, Hans Hoffmann, Adolf 
Stern, Jenſen, Wilbrandt, Hermine Villinger und vielen andern 
bringen, Dichtungen, die ſich wohl ſämtlich auch für die reifere 
Jugend eignen bürjten. 

Was ich hier an Namen genannt, find natürlich nur Bei— 
fpiele und Fönnen aud) nicht im entferntejten Aniprud) auf Volt: 
ftändigfeit machen. Leider fehlt, foweit mir bekannt ift, noch 
immer ein einigermaßen genügendes Verzeichnis von belletriſt 
Werfen für das reifere und reiffte Jugendalter !. Hier kann ich 
eine Warnung nicht unterdrüden. Man darf in feiner Vorficht 

















1) Tas oben ſchon ermähnte von ben vereininten beusichen. Lrlfungsans, 
ſchuſſen _Gerausgegebene „Verzeichnis empfehlenswerter Jugenbigriften“, ‚da 
viele Gefefrende Wicher gefcichtfichen, fuftuegeicyichtlich 
Impalıs, die jid für die teifere Jugend eignen, aufı 
Ahter paffende Werle aus der Ichönen Literatur leider mr in met befehränfier 


Zahl an. 











⸗0 Das fol unſte Jugend leſen? 


natürlich auch nicht zu weit gehn; befonders find es mande 
Mütter, die ihre Töchter womöglid bis zur Konfirmation nur mit 
den „Töchteralbum“, mit „Backfiſchchens Leiden und Freuden“ 
und ähnlichen Erzeugniſſen füttern möchten. Das iſt ein ſchweres 
Unrecht. Auch unfre heranreifenden Mädchen wollen und follen 
durch Zeftüre in das Leben eingeführt werden, und ein gefunder 
Realismus ift ihnen heilfamer als die verlogene Welt vieler 
Jugendfchriftftellerinnen. Auch das Thema „Liebe“, vor bem 
mande Mutter eine fait krankhafte Angſt hat, darf wahrlich nicht 
ſchrecken, jofern fie in reiner Form auftritt, wenn wir nicht ein 
sippes und unnatürliches Geſchiecht großziehen wollen. 

Vor allem vergeife man nicht, der Jugend auch Humo- 
viftifches zu bieten. Die Lebensfreude it dem Sonnenlichte 
zu vergleihen, in dem jedes organifhe Wejen am beiten gebeiht. 
Diefes Sonnenlicht, dieſe Lebensfreude wollen wir unfern Kindern 
aber in recht reichlichem Maße zufommen lajfen, fie ftärkt fie zum 
Lebenslampf, der ihmen allen einmal bevorfteht. Und wie bereit: 
willig wird von der Jugend das Heitere aufgenommen. Wie 
ichnell ift ein Kind imftande, Schmerzwolles zu vergeifen, wenn 
ihm eine luſtige Gedichte erzählt wird. Wie jtrahlen die Augen 
von Schülern und Schülerinnen aud) älterer Altersjtufen, wenn 
ihnen der Lehrer am Schluß der Stunde einmal etwas Heiteres 
zum beften gibt, was bie Lachmusleln ordentlid) in Bewegung jegt. 
Freilich, ſowen wie Heinrich Dart möchte ic) nicht gehn, der auf 
dem legten Runfterziehungstage Wilhelm Buſch als „Jugendkunft: 
erziehen" große Erfolge prophezeihle. Aber es gibt in unfrer 
Literatur doch ernftere Humoriften. Groß ift die Zahl ja nicht, aber 
noch haben wir einen Raabe, deſſen „Horacker“ z. B. fo recht 
ein Buch auch für die veifere Jugend it; nod haben wir einen 
Heinrich Seidel, vor allem aber unfern unfterblihien Frik Reuter. 
Es hat mich immer aufrichtig betrübt, wenn id) bei Nundfragen 
in den oberjten Klaſſen von Anaben- und Mädchenſchulen feititellen 
mußte, wie viele deutſche Jünglinge und Jungfrauen von dieſem 
Föftlihen Dichter nichts gelefen haben. Oder jollte auch ſchon in 
einer älteren Generation das Intereſſe für dieſen prächtigen 
Erzähler von der Menſchen Freud und Leid im Schwinden begriffen 
fein? Das wäre jedenfalls tief bedauerlich, denn id) wüßte wirklich 
nicht viele Dichter, die jo wundervoll zu predigen verftänden, wie 
reich das Leben an Schönem, Preijenswertem ift, wenn man nur 
im Haften und Jagen des Alltags den offenen Blick dafür behält. 
Es ſcheint, daß bie geringe Schwierigkeit des plattdeutſchen Dialells 


Was fol unfre Jugend leſen? a 


mandjen abhält, ih an Friß Neuter zu machen. Nun, ich kann 
jebem die Verficherung geben, daß er nad) den eriten 20-30 Seiten 
in der mit reichlichen Morterflärungen verfehenen Voltsausgabe 
feinen Reuter lieft wie jeden andern Schriftiteller und für die 
Kleine Mühe des Sichhineinarbeitens taufendfah belohnt werden 
wird! Daß die Jugend auch diefe geringe Arbeit ſcheut, ift eber 
verftändlich, hier muß eben eintreten, wovon zum Schluß nod) 
zu reden üt, das Zufammenlejen mit Erwadjenen. 
Es gab eine Zeit und fie liegt nicht gar zu weit zurück, 
wo es in zahlreihen Familien eine Feitftunde war, wenn der 
Vater Abends beim trauten Schein der Lampe die Seinen um 
ſich verfammelte und ihnen ein gutes Buch vortrug, oder die 
Mutter an Sonntagnadhmittagen mit ihren Kindern ein klaſſiſches 
Drama mit verteilten Nollen las. Ob das heute noch vorkommt? 
Dan wird mir dagegen erwidern: Ja, die Verhäliniſſe find in 
den legten 30 Jahren weſentlich andere geworde: Unter dem 
Drud einer immer loftender werdenden Verufsarbeit, eines immer 
heftiger werdenden Kanıpfes ums Dajein hat aud das Familien- 
leben feiden müfen. Und wenn man einmal ein Mußejtündchen 
bat, fo nimmt man die Zeitung ober leichte Unterhaltungsleltüre 
vor, oder auch ein modernes Buch, nicht aber immer nur cin 
foldhes, wie es der Jugend zukommt. Ich verfiche dieje Einwände 
vollauf, aber für unfre Kinder müſſen wir Zeit übrig haben, fo 
lange wir noch Zeit zu regelmäßigen Kartenpartien und Kaffee: 
feänzhen finden. Die Zeiten find andere geworben. Ja, freitid) 
find fie andere geworden, aber nicht bloß für uns, fondern auch 
für unfre Kinder. Matthias jagt”: „Die beiten Schüler pflegen 
Hauspilangen, feine Schulpflanzen zu fein.“ Sit das ſchon in 
Deutſchland der Fall, jo gilt das in noch ungleich höherem Maße 
bei uns. Denn es iſt fein Geheimnis, daß ein großer Teil der 
Aufgaben, bie wir früher ruhig der Schule überlajien tonnten, 
heute der Familie zufällt. Und bierzu gehört vielfad) auch die 
Pflege der Haffischen Dichtung. Dieſe überläßt man freilid) heute 
nur zu gerne den Leſeabenden der Schüler und den Leſekränzchen 
der Schülerinnen. Nun, ich will gegen dieſelben nichts fagen, 












2) lEs darf Hier aud) darauf hingemieſen werden, daß eine fehr grobe 
Menge plattdeuticher Wörter ih) in unfrem baltifcen Deutic) Iebenvig erhalten 
Haben, aljo uns ohnehin ganz geläufig find. Mihin muh gerade us das Ber: 
Htänduig der Sprace Neuters vielfad) teichter fallen, als etwa einen Süd» oder 
Mirteldeutichen. D- Ned] 

2) Praftiiche Pidagogit, 








. Aufl. Münden, 1903, S. 20. 


E73 Was joll unfee Jugend leſen⸗ 


wenngleich das Leſen auf ſolchen Abenden oft nur ein ſchönes 
Anshängeſchild für allerhand Geſelligkeit it. Nur eines erſcheint 
mir dringend wünſchenswert, daß nämlic die Jugend mit jolden 
Lefeibungen nicht zu früh anfange und daß bei der Wahl des 
zu fejenden Erwachſene zu Nate gezogen würden, damit nicht, wie 
ich das beilpielsweile erlebt habe, dreizchnjährige Zungen ihren 
Leſeabend mit der „Braut von Diejfina” eröffneten, die fie natür- 
lich nicht FR und fünfzehnjährige Jünglinge fid) bereits 
an den „Fauſt“ machen, den fic wohl noch weniger verftanden 
haben werben. Erſetzen fönnen derartige Veranftaltungen aber 
das Zuſammenleſen mir Erwachſenen in feiner Weiſe. Schon 
daß dieje durch beileres Leſen (und Übung macht aud) hier den 
Dieifter) vorbildlich werden, wirft belebend; fodann wird mand) 
erffärendes Wort das Verftändnis des Gelejenen fördern, ja ich 
möchte jagen, die einfache Tatſache, daß aud die Eliern teil: 
nehmen, gibt dem Gangen erft den redhten Schwung, eine höhere 
Weihe. Und wenn dann etwas von der jchönen Begeifterung, 
deren die Jugend noch fähig iſt, auch auf die Alten übergeht, 
ſchaden wird's ihnen wahrlid) nicht, heute wo die Mafliter in 
ifren Pradhteinbänden oft jahrzehntelang in ben Bücherſchränten 
unbenugt zu jtehen pflegen. Übrigens brauden ja garnicht nur 
die Klaſſiker geleſen zu werden, haben wir doch geichen, wie 
mandes Buch, das Vater und Mutter ſelbſt nicht fennen werden, 
ein prächtig Buch aud) für die Kinder ift. Und dann ein Weiteres. 
Ich Habe ſchon vorhin darauf hingewiejen, wie die Znterefi 











jelofig: 
feit wfrer reiferen Jugend einer jeden Lektüre gegenüber in 
beängitigendem Wachien begriffen üft. Nun, jollte es ein wirt: 
fameres Mittel dagegen geben, als wenn gerade die Eltern den 
anfangs vielleiht leiſe Widerſtrebenden allmählich in den Vann- 
freis des wahrhaft Schönen ziehen. Es wird heute vielfad) über 
eine frühe Entfremdung zwiſchen Eltern und Kindern, bejonders 
den Sinaben geklagt. Wer it daran ſchuld? Die Kinder, die in 
ihren Freiſtunden ſich ſelbſt überlaſſen bleiben und ihre eignen 
Wege gehen dürfen, oder bie Eltern, die ihre Kinder zwar mit 

en uͤnd Trinken, mit Kleidern und Schuhwerk, mit Schufgeid 
and Geld für Konzert, Theater oder Zirkus veicjlid) verjorgen, 
aber Zeit für fie wicht haben? Nun, ich follte meinen, gerade 
ſolch gemeinſame Beicäftigung mit der Kunſt, das gemeinfame 
Schöpfen aus dem Born des Schönen mu; Eltern ud Kinder 
einander nahebringen, Die gemeinfame Yeltüre kann Veranlaſſung 
zu mand enufler Ausſprache werden, fan dadurch mand aufe 


















Was foll unfre Jugend leſen? 2 


tauchenden Schatten verſcheuchen, kann jtärkend, fördernd, klärend, 
belebend die Bande der Familie fejter ſchmieden, und das, was 
anfangs eine Lajt ſchien, wird denen zum Segen, die auf Erden 
unjer Teuerſtes find. 

Ich stehe am Schluß meiner Nusführungen. Vollkommen 
bewußt bin id mir, daß das, was id) vorgebradht, nur jehr 
Unvolljtändiges war, daß id) das Thema, das ich mir geſtellt, bei 
meitem nicht erichöpft Habe und in einer Stunde wohl aud iaum 
erichöpfen konnte. Ih habe auch oft Musgeiprochenes, viel felbit- 
verjtändlih Erſcheinendes nur wiederhoft, id) werde bei einem 
ober dem andern gewiß Widerſpruch gewedt haben, und ich werde 
vielleicht mandem mandjes gefagt Haben, was ihm nicht angenehm 
zu hören war. Ich bittte mir um der Sache willen biefes nicht 
zu verargen. Eins aber Hoffe ich erreicht zu haben, nämlich eine 
Frage zur Diskuſſion geftellt zu haben, die gerade bei unfrer 
heutigen Jugenderziehung von der allerernftejten Bedeutung ill. 
Und wenn dieſe Disfuffion auch nicht in öffentlicher Verſammlung 
vor ſich geht, im Meinen und Hleiniten reife, das wünjchte id, 
wird vielleicht weiter darüber geredet, wird mandes neue Material 
hinzugetragen, wird mande Lüde, die ich gelaſſen, ausgefüllt, 
manche Anficht geflärt werden. Um fold eine Ausſprache zu 
erleichtern, faflen Sie mid) das, was ic) gelagt, in folgende 4 Cäbe 
zulammenfaffen: 

1) Der häuslichen Lektüre der Jugend iſt eine größere 
Sorgfalt zuzuwenden, als dies im allgemeinen bei uns gejcieht. 

2) Wir folfen unfre Kinder nichts leſen ober, wenn es ſich 
um eine Theateraufführung handelt, fehen laifen, was wir 
kennen, oder was uns nicht von vertranenswürdiger Seite als ji 
die Jugend geeignet empfohlen 

3) Für bie jüngeren Finder jtehen Vinfterfataloge zur Ver: 
fügung, für die reifere Jugend fann als Grundfag gelten, daß 
wir ihr nur bieten follen, was a. fünftleriich wertvoll, b. ſittlich 
tein, €. frei von jeder Aterprobtes niederreißienden Tendenz iit. 

4) Die gemeinjame Lektüre der Erwachſenen und der Kinder 
ift dringend zu empfehlen. 

Deine verehrten Damen und Herren! Ju wenigen Vlonaten 
wird, fo weit bie deuiſche Zunge reicht, ein ernfter Gedenktag 
begangen werben, der Tag, an dem vor 100 Jahren unjer großer 
Schiller mn zu früh jein Auge für immer geſchloſſen bat. Auch 
unter uns vüflet man fid bereits, diefen Tag würdig zu begehen 
und damit den Beweis zu liefern, dab der große Tote trop all 











2 Bas fol unſre Jugend leſen? 


des modernen Sturmes und Dranges auch unter uns noch lebendig 
it. Da wird mand) ſchöne Nede gehalten, da wird manch geifte 
voller Toaſt geiprohen werben, da wird etwas wie Schwung in 
die Profa unjres Lebens hineinfommen, wir alle werden wenigitens 
auf Tage unter dem Zeichen des großen Dichters ftehen. Aber 
wird das alles fein? Wird man fid) begnügen mit einer ſchuldigen 
DVerbeugung vor dem gewaltigen Genie, wird das Ganze nur 
einem Raufhe gleichen, der, flüchtig erzeugt, ebenfo flühtig ent: 
weidyt? Hoffen wir, daß dem nicht fo jein wird. Wahrlid, es 
täte not, daß aus ſolchen Tagen der Begeijterung etwas für unfer 
Alltagsleben übrig bliebe, daß Schiller wieder wird, was er bei 
den meijten aufgehört hat zu fein, einer unfrer Führer, Bildner, 
Erzieher. Aber nicht bloß für uns, ſondern vor allem auch jür 
unfre Jugend. Einen beiferen Jugenderzieher können wir uns 
doch wahrlich nicht denfen, als den Dann, von dem jein großer 
Freund gejagt hat: 

Denn hinter ihm, im weſenloſen Scheine 

2ag, was ung alle böndigt, das Gemeine. 

Möchten uns die Scilfertage, die vor uns liegen, das 
wieder einmal jo recht Mlar machen; möchten wir als getreue 
Haushalter des uns anvertrauten wertvollten Gutes, und das 
find unsre Kinder, an bieien arbeiten und fie mit 
Pilfe unfrer herrlichen Literatur erziehen zu Bemunderern, 
Bflegern, Nahahmern alles Wahren, Guten, 
Schönen 


Rafler und Leidenſchaft in J. R. R. Lenz’ Dichtung. 


Von 
Kari von Freymann. 





9, 
“a. meiner Wiege ftand das fchredliche Gericht Gottes!. 
Wie maſſiv und laſiend fällt diejes Wort in die Wag- 
(0 ſchale der Gedanfen, einem ſchweren Blode gleich. Die 
Schale ſinkt zu Boden, der Zeiger der Wage weiſt ins Unmeßbare, 
denn in biejen Worten it eine Weltanfchauung enthalten; ein 
großartig herber Peſſimismus, wie ihn Hebbels Werke atmen. 
Aus diefer Anfhauung heraus iſt menſchliches Leiden und Elend 
fein Zufall, und obgleid) unfer Tun das Werk göltlicher Fügung 
it, bleiben wir dennoch verantwortlich. Unſre Verfhuldung iſt 
unausbleiblid, aber die innere Notwendigfeit unſres Handelns 
vermag den Ernft bes Urteils, dem wir alle entgegen gehen, nicht 
zu lindern. Wir werden geboren, wir blühen und gedeihen zum 
Gericht. 
Id) erinnere mich eines alten indiſchen Spruches, daß beur, 
ber da lebt, Kummer und Corgen wachſen ohne fein Zutun, 
naturgemäß und ftetig, wie das Gras auf der Wieſe. — Notwendig 


iſt das Leben: 
Kur der bleibende Himmel fennt, 
Was er den ſchwachen Sierblichen gönnt, 
UL ihr Glac erftohlen in Qualen; 
Hinter Wollen jitternde Strahlen; 
Was ihr Derz fid) geiteht und derhehlt, 
Aules hat er ihnen zugegäßft; 
Unerbittlich®. — 


1) „Belenntnifie einer armen Seele. 





Haudſchriftlich in P. T. Falds 





genyarhiv. gl. Fald, Der Digger g. RR. Lenz in Yivland (Hinterihur 78), 
&.5. — Eine Paralelitelle dazu im einem Briefe Lenz’ an Herder vom 23. Auquit 
1775. (Mbgedr. bei Gruppe, Meinpold Lenz. Leben und Werke. Bein. U1.): 





Dir jelbit ein Gyempel der Gerichte „Hottes 
* „Zroft.” Gedichte von I. M. #. Lanz. Krög. von Weinhold (Bein. 
1891). ©. 18. 





26 after und Leidenſchaft in Sony’ Dichtung. 


Unerbittlich iſt der Ratſchluß Gottes, unerbittlih iſt das 
Gericht Gottes; was bleibt uns armen Dienfchen übrig? Tas 
Leben bfeibt uns übrig. Tum und Leiden, Hoffen und Verzagen 
bleiben uns übrig, und wenn das Leben ein Trauerfpiel ift, ift es 
deshalb minder wert gelebt zu werden? 

Es ift von Lenz geiagt worden, daß er mit viel Geſchick 
luſtige Tragöbien ober ſchaurige Komödien zu dichten wußte, aber 
er bichtete das Traueripiel des Lebens. Er konnte mit gutem 
Recht feinen Stüden ein derſöhnliches Ende aufzwingen, denn der 
endgültig tragiſche Schluß jedes Lebens verjtand ſich bei ihm von 
jelbft. Nicht im Tode beruht ja die Tragif ber Menſchen, jondern 
darin, daß wir mitten im Leben gebrochen werden, und bie 
Trümmer unſres Wollens gleihgültig zu Grabe ichleppen. An 
diefer Tragif aber fehlt es feiner der Lenzihen Figuren. Es it 
ein ernjtes Leben, weldes Lenz uns ſchildert, ein Leben, in dem 
ſich jede Verſchuldung rächt. 

Die breitejte Grundlage des Lebens iſt der geſchlechtliche 
Trieb, deſſen mannigfaftige Geftaltungen wir unter dem rät 
haften Worte Liebe zuſammenſaſſen. Von ben zahlloſen in ei 
ander hinübergreifenden Formen der Liebe konnen wir dod) zwei 
Formen klar von einander ſcheiden. Wo der gejeplofe Trieb, das 
Körperliche und eine gewiſſe Unbeſtimmtheit des Objekts vorwalten, 
wird die Liebe zum Lafter, wo das reine Wejen der Liebe, das 
geiftige Moment am chärfften hervortrit, wird die Liebe zur 
Leidenſchaft. Lajter und Leidenschaft find die beiden Brennpunfte 
der Liebe, das Zajter der intenfiojte körperliche Genuß, die Leiden: 
Schaft die höchſie Steigerung des geiftigen. Den unentwirrbaren 
Knoten aber, in weldem gemeiniglib Sinnlichkeit und Geiſt, 
Triebe und Etreben verknüpft werden, durchſhlug Lenz, und 
während er die Liebe befang, geftalieten fh unter feinen Händen 
Saiter und Leidenſchaft in Ichaf geidiedenen Zügen. Während er 
die Zeidenjchaft in den Simmel emporhob, jtieß er das Laſter hinab 
zur Hölle. Er riß dem Lafter den gligernden Dedinantel von den 
Schultern, an dem alle Zeit jo viele mit großem Fleiß gearbeitet 
haben, und zeigte «6 nackt und häßlich; er befreite die Leidenſchaft 
von dem Zuſatz des Gemeinen. Das Xafter it ſchwächlich und 
ziellos, die Leidenſchaft gibt uns ein einiges Ziel, dem alle Kräfte 
zugewandt find. Gleich Bleigewichten zicht uns das Laiter hinab 





Laſter und Leideuſchaft in Lenz’ Dichtung. 2 


in einen planlojen Vergnügungsfumpf, die leidenſchaftliche Liebe 
gibt unjerm Geifte Flügel, wenn nur der Gegenjtand diejer Liebe 
ſich hoch und rein genug über dem Wünfchenden emporhebt, Cine 
Anſchauung, die uns die trefjlichite Deutung gibt, daß unglüdliche 
Liebe den Menichen veredle. 

Wir follen das Laſter verachten, wir jollen ımfer Fühlen 
und Leben vertiefen, um Raum umd Kraft zu gewinnen zur Leiden 
ichaft. In einem aber bleiben ſich Lajter und Leidenſchaft völlig 
gleich), beide bedingen das Unglüd. — An unfrer Wiege fteht das 
fchredttiche Gericht Bottes. Es wäre uns freilich) wohler zu Mute, 
wenn wir berufen wären mit dem Schickſal zu vedten, wenn wir 
abwehrend die Hand ausſtrecken Fönnten und rufen: Nühre ung 
nicht an, gehe vorüber, denn bu biſt unverbient! Aber wir Fönnen 
es nicht! Denn auch demjenigen, der Stumpfheit und Laſter ver- 
achtend, mühlelig zum Lichte jtrebt, ja vornehmlich dem, der in 
ranhem Sturmlauf zur Höhe emporzufleigen meint, kommt ein 
Augenblid, in dem er begreift, warum aud) er gerichtet wird. 
Es tommt die Stunde des Lebens, in der wir jprechens- 

Von nun an di 
Yon nun an finiter der Tag, 
Dis Hinmels Tore verihlofien! 
Wer iſt, der wicder eröffnen, 
Bir wieder entfhfiehen fie mag“ 





Some in Trauer, 











Hier ausgeiperret, verloren, 
ist ber Verworfne und weint, 
Und feunt im Hummel, auf Erden 
Schäffiger nichts als ſich jelber, 
Und ift im Himmel, auf Erden 
Sein mmerföhnlihiter Feind. .. 
Die Büſſe Voltaires trägt auf der Haren Stirn, in den 
tiefliegenden, jehenden Augen den Stempel eines nimmermüben 
Geiftes, um die feingeichnittenen Lippen aber fpielt ein jonderbares 
Lächeln — ein vergnügtes Lächeln. Ein weiter Abftand ift zwiſchen 
dieſem Geſicht und den zergrübelt müden Zügen eines Gerhard 
Hauptmann, ein weiter Abitand gleichfalls zwiſchen jener Büſte 
und dem begeiftert flammenden Prophetenfopf Schillers. Der Kopf 
Voltaires iſt von einer harmlos jelbjtzufriedenen Yebensheiterteit 
durchſchienen, und wenn. dieje geiftreichen Lippen ſich offnen jollten 
nr: werlorene Augenblid." Lenz’ Gedichte. 




















28 Zafter und Leidenſchaft in Lang” Dichtung. 


und bie geheimjten Gedanfen des fubtilen Kopfes verrieten, fo 
ſprächen fie vielleicht mit leiſem Spotten: Ein Scäferfpiel ift das 
Leben! 

Erſt in der Revolution, die recht eigentlich mit dem Leben 
Ernſt machte, verfhwindet der vergnügte Zug in den Geſichtern 
der führenden Geiſter. Und dieje Vergnügtheit hatte ihre Kehr— 
jeite. Die Aufflärung machte in aller Stilfe eine zierliche Reverenz 
vor dem fhöngeiftigen Lajter, und das Spiel mit Liebe und Sinn: 
lichteit war Mode unter den Leuten von Verftand. In Deutfch- 
fand zum minbeften war es nicht ſchwer, in den flingenden Verſen 
Wielands, Hinter den wehenden Schleiern feiner beenden Grazien, 
den Altar zu erfennen, um den fie tanzten. An der Lebensans 
ſchauung, welche diefe Verfe geboren, galt es die Kräfte zu mefjen, 
ſollie der Tritt des Dichters wieder, wie einit, den Boden erfchütz 
tern und jein Wort die Gemüter bewegen. Es ift ein beſchwer— 
liches Geſchäft, die Menſchen aus dem trägen Schlummer behag- 
licher Sinnlicleit emporzurätteln und den Ladenden über bie 
Vlinderwertigfeit jeines Lachens aufzuklären; doch war dieje Auf: 
gabe eben groß genug, um Lenz’ ganze Seele zu ſaſſen, „denn 
Heffeln vorweg zu hauen war von Jugend auf jein hödjites Ver: 
gnügen gemeien“!. Er war bereit ben Kampf mit ber laizio 
harmlofen Weltanfhauung aufzunehmen, und ſollte diefer Kampf 
Fo ausfichtslos fein, wie weiland die Rieſenkämpfe des Edlen 
Don Quidotte. Yon Fälterer Überlegung aber als jener, erfannte 
ev das Mißliche eines Kampfes gegen abjirafte Anfchauungen und 
BWindmühlenflügel und wählte ji) einen Gegner von Fleiſch und 
Blut. Sein ſatiriſch-literariſcher Angriff richtete ſich vor allem 
und zuerſt gegen Wieland. In den Briefen an Lavater jchreibt 
Lenz über die Wolken?: „Es iſt Gegengift, Lavater! Das mir 
lang auf dem Kerzen gelegen und wo id mr auf Gelegenheit 
gepaßt, es anzubringen. . ." 

„Geradezu läßt das Publikum jeiner Cinnesart, feinem 
Geſchmack nit gern widerjpreden, man muß einen Vorwand, 
eine Zeidenfhaft brauden, jonft nimmt es nimmer Anteil. Und 
meine Kunſt, meine Religion, mein Herz und meine Freude, alles 





9) Dorersgloff, J. M. R. Lenz u. jeine Schriften (Baden 57). Briefe 
an Savater, Nr. d, ©. 188. 
2) Gbenda. Nr. 5, ©. 186. 


Safter und Leibenfhaft in Sen’ Dichtung. £) 


forbert mich jegt dazu auf — jept ansgelaffen, auf emig ausge 
laſſen! Wer erfegt mir den Schaden? Wer erfegt ihn euch?... 
Es muß einmal ein Ende haben oder wir arbeilen alle vergeblich 
und bie Toren rufen laut: es iſt fein Gott!" . 

„Ihr wollt die Wolfen Wieland zuididen? Liebe Freunde, 
wo ift euer Verftand, wo it eure Freundichaft für mid? Was 
hab ich mit Wieland zu Schaffen? Kennt ihe bie füßlächelnde 
Schlange mit all ihren Rrümmungen noch nicht? Und Wieland, 
der euch allen im Herzen Hohn fpricht, bie Achſeln über euch zuckt 
und lächelt — mit dem wollt ihr Vertraulichkeiten machen, ſobald 
es wider ihn geht. Liebe, fiebe Freunde, überlaft mid) wenigftens 
mir allein. Unfre Feindſchaft ift jo ewig alt als bie Feindſchaft 
bes Wafjers und Feuers, des Todes und bes Lebens, des Himmels 
und ber Hölle... Wieland, der Menſch, wird einjt mein Freund 
werden, aber Wieland, der Schriftiteller, d. h. der Philoſoph, der 
Soerates — nie!” ! — Lenzs Angriff und Forderung treten uns 
far entgegen in der Gegenüberitellung nachſtehender Zeilen aus 
„Dienalt und Dopfus“ ? und ihres Wiberfpielo, der Poeliſchen 
Malerei”. 

Menalt: Nur Möpscen feid ihr doch ein wenig gu verſieci. 
Wopfus: Das it das Heiligtum der Aunſt. Kur das ermedt 
Pegierden in den Vaud), die meine Leſer brauchen, 
Soll all mein Wit für fie, wie Kiccfafz nicht verraugen. 
Da, da ſteci das Geheimnis. Nur geminft — 
Wie kutelrs ihren Stolz, Einbildungsteaft, Inftintt, 
Sich Sachen, die mein Vinſel nie fann mablen, 
Selbit zu erichaffen, mir dann zu bezahlen. 
20 ha Ga ha. 
Poeliſche Malerei ?. 
Ach. ihr jungen Rofen, du beblügmtes Gras, 
Die fein Blick behauchte, jeid ihr nun jo blaß! 
Weffen Aug’ und Herz nicht vein, 
Kam der euer Maler fein? 

Lenz haßte das Lajter, noch mehr aber die Veſchönigung des 
Laſters, jene Schilderungsweife, die unfre Triebe als harmlos 
teigvolles Vergnügen, als Folgen der Unmoral, als wohlgelungene 
Überraidungen iu bem jtillen Einerlei des Lebens daritellen will. 

1) Ebenda. Nr. 7, ©. 189. 


>) „Menalt und Mopfus. Eine Elloge.“ (Sranff. u. Lpz. 177.) 8.10. 
3) Dorer.ägloff. ©. Iat. 


30 Lofter und Leldenſchaft in Lenz‘ Dichtung. 


Er forberte als Grundbebingung bes Schaffens bie Neinheit des 
Wollens und die Yerfhmähung des Lajsiven. Der poetiche Wert 
des Laſciven iſt gering, fein Schaden aber unberechenbar. Unfer 
Wünfhen und Handeln wird zum größten Teil bedingt durch ben 
Standpunkt, welchen wir bem Laſier gegenüber einnehmen. Kein 
Standpunkt aber wirft anjtedender, als die Verwechslung von 
Lafter und Nomantif, benn dieſer Standpunkt ift banal. Die 
Meinung, daß die heiteren Liebesſünden der Schmuck des Lebens 
find, findet ftets Verehrer; flets — und die Toren rufen laut: 
Es ift fein Gott! 

Unter dem verichnörfelten Zierrat einer genußbejlifenen 
Lebensanfhaunng verſchwimmen Tugend und Lafter zu Halbheit, 
erfticht jedes ganze Wollen, verliert fich das Leben ino Puppenhafte. 
An feinfühligen Teetiſch wird dus Leben zum fchalen Roman, 
bar der Schalten und Schmerzen. 

Ach. ſo machten's nit unfee Vorfahren, 
Die ſchwer zu kaheln umd ülüdlier waren. - 


rieblen ewig· piren ihwer, 
Hatten das $ 
Weiter: 
Bei end) wird die Yicbe fo geiſtlich betrieben, 
into bit wird lonfus bei eurem Licben, 
Ihr pfeift fteis feiner und höher hing, 
und pfeift fie am Ende zum 
Der fahte Wohlſtand darüber heit, 
Wien Scorniteinfeger mit Muh bededt, 

jorgfom abzuſchaben, 

Und überläffet das Feuer den Sinaben . . 

Das Feier den Anaben; die weilen Leute aber flattern den 
Schmetterlingen glei) von Blume zu Blume, fie nippen und 
genießen. Die Verdeutlichung dieſes ſchöngeiſtigen Cpiluräismus 
zeigt die Figur Rothes im Waldbruder?: 

„Höre mich, Herz, ich gelte ein wenig bei den Srauenzimmern, 
und das bloß, weil id) leichtſinnig mit ihnen bin. Sobald id) in 
die Hohen Empfindungen komme, iſt's aus mit uns, jie verftehen 
mich nicht mehr, fo wenig als ich fie, unſre Liebesgeſchichtgen 
n 








und leer! 
























DE sc von Lenz. Hreg. von Sayfer. (üfrich 1 
„Mat Höder. 
3) Ebenda. 
*) „Der Naldbruder.“ I, 5.0. 7. Brief. Gedr. bei Froißheim, 
geng und Goethe (Stutig. Y1) im nhang. 









Laſter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung. 31 


haben ein Ende. Siehſt du, fo bin ich in einer beftänbigen 
Unruhe, bie ſich endlich in Ruhe und Wolluſt auflöft und dann 
mit einer reizenden Untreue wechſelt. So wälze ich mid) von 
Vergnügen auf Vergnügen, und ba fommen mir beine Briefe 
eben recht, unfern eingejchrumpften Gejellihaften Stoff zum Lachen 
zu geben. Es ſticht alles jo ſchrecklich mit unfrer Art zu lieben ab. 
. .. Mau nötigt mic) überall hin und ich bin überall willtommen, 
meil ich mid) überall hinzupaſſen und ans allem Vorteil zu ziehen 
weiß. Das legte muß aber durdaus fein, ſonſt geht das erite 
nidt. . . - 

„Ich war heute in einem Heinen Familienlonzert, das nun 
vollfommen clend war und in dem du dich fehr übel würdeſt 
befunden haben. ... Und weißt du womit ich mid) entſchädigte? 
Die Tochter war ein freundlid, rofenwangigtes Mädcheu, das mid, 
für jede Schmeichelei, für jede Herzlich-jalfche Lobeserhebung mit 
einem fenrigen Blid begahlte, mir auch oft dafür die Hand und 
wohl gar gegen ihr Herz brüdte, das hieß doch wahrlich gut 
getauft. So gut würde dir's aud) werden, wenn du mir 
folgtejt; wäre doch befjer, unter blühenden und glühenden Mädchen 
in Scherz und Freude und Liebkoſungen ſich herummälzen, als 
unter deinen glafirten Bäumen auf der gefrorenen Erde.” 

Eine artige Eatire einer artigen Denkweiſe; aber das Leben 
iſt nicht artig! 

„Lauffer: In der ganzen heutigen vernünftigen Welt wird 
fein Teufel mehr ſtatuiert. 

Wenzesfaus: Darum wird auch die ganze heutige vernünftige 
Welt zum Teufel fahren. Tut nicht Böſes, tut recht, und dann 
fo braucht ihr die Teufel nicht zu ſcheuen !. ..“ 

Wer aber Böfes tut, der foll die Teufel fürdten. Mit 
jitternder Hand ſchrieb Lenz die beiden glühenden Dramen des 
Leſterd: den Hofmeifter und die Soldaten, Dramen eines Lafters, 
welches nicht von Papier und Pappe, jondern von Fleiſch und 
Blut, eines Lafters, das ſich rächt. In Nomanen und in den 
Köpfen der fleinen Leute mögen Lajter und Größe, Yaller, Ent- 
ihlofjenheit und Mul nah beieinander wohnen; hier heißt es 
gemãß dem Augfpruche Nehaars: „Wer Rurage hat, der it zu 











Va 9. 





) „Der Hof zue. Leuz' Geſammelie 


Yesg. von Tied. Bd. I. 


3 Safter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung. 


allen Laſtern fähig.” In ber wirklichen Melt aber iſt das Lafter- 
nicht groß, ſondern niedrig, nicht ſchön, fondern häßlich, nicht flart, 
ſondern fraftlos. „Wenn der Kopf leer iſt, und faul babei, und: 
niemals iſt angeftrengt worden“ !, wenn der Baud) fatt ift und 
ber Herzſchlag träge, ift dem Lajter dev Boden bereitet. In jolden: 
Sphären jpielen die Romane des Lafters, die nur in ihren Folgen 
erichütternd wirfen. Held und Sphäre des Hofmeiſters werben 
verftänblich in den wenigen Zeilen (1. Akt, 3. Szene): 

„Die Majorin: Sie willen, daß man heutzutage auf nichts 
in der Welt fo ſehr ficht, als ob ein Meuſch ſich zu führen wiſſe: 

Zauffer (dev Hofmeiter). Ich hoff’, Euer Gnaden werben 
mit mir zufrieden fein. Wenigflens hab id in Leipzig feinen 
Ball ausgelaffen, und wohl über die fünfzehn Tanzmeiſter in 
meinem Leben gehabt.” 

Auf diejer Grundlage entwicelt ſich die Schuld mit erſchre- 
ckender Selbſtverſtändlichkeit. Der neue Hauslehrer, ber non allen 
Seiten geflohen und gequält iſt, erwedt das Milleid der jungen 
Tochter. Er verführt fie, faſt ohne es jelbft zu merfen, während 
ihr Herz noch voll iſt von der Liebe zu ihrem Vetter. Wie Elend 
und Schuld gereift find, flieht der Lehrer, die Tochter verläht 
allein bas Elternhaus, und ihre Spur geht verloren. Aber die 
Erinnerung an den Kummer Ihres Vaters nimmt fie mit ſich; 
noch matt und erfchöpft von den überitandenen Schmerzen, macht 
fie fi auf, um feine Verzeihung zu erflchen. (V. Akt, 4. und 
5. Spene): 

Gufthen (liegend, an einem Teich mit Geſträuch umgeben). Soll 
ich denn hier fterben? — Mein Vater! mein Vater! gib mir die 
Schuld nicht, daß du nicht Nachricht von mir bekömmſt. Ich hab 
meine legten Kräfte angewandt — fie find erſchöpft. Sein Bild, 
o fein Bild ftcht mir immer vor den Augen! Er ift tot, ja tot, 
— und vor Gram um mid. — Sein Geift it mir dieje Nacht 
erfchienen, mir Nachricht davon zu geben, mid zur Redenihaft 
dafür zu fordern. —- Ic) komme, ja ic) komme. 

Giafft ſich auf und wirft ſich in ben Teich.) 
Major (von weitem. Geheimer Rat und Graf Wermuth begleiten ihm) 


Hey! Hoh! da ging's in den Teich. Ein Weibsbild war's, und 


3) Ebenda. IV. At, 3. Szene. 


Laſter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung. 38 


wenngleich nicht meine Tochter, doch aud) ein unglücklich Weibsbild. 
— Nach, Berg! Das iſt der Weg zu Guſichen oder zur Hölle! 
(Springt iht nad.) 
Geb. Rat (fommt. Gott im Himmel! was jollen wir 
anfangen? 
Graf Wermut. Ich fann nidt ſchwimmen. 
Geh. Nat. uf die andre Seite! — Mid deucht, er 


haſchte das Mädchen. . . . Dort — dort Hinten im Gebüſch. — 
Sehen Sie nicht? Nun treibt er den Teich mit ihr hinunter. — 
Nah! 


(Eine andre Seite des Teiches. Hinter der Szene Gefchrei:) 
„Hülfe! 's ift meine Tochter! derment und all das Weiter! 
Graf! reicht mir doch die Stange: daß Euch die ſchwere Not.” 
(Major Berg trägt Guſtchen aufß Theater. Geheimer Hat und Graf folgen.) 

Major. Da! (ebt fid nieder. Gcheimer Kat und Graf ſuchen fie 
zu ermuntern). Verfluchtes Kind! habe id) das an dir erziehen 
müſſen! (äuiet nieder bei ihr.) Guſtel! was fehlt dir? Halt Waſſer 
eingefchluet? Bift noch mein Guftel? — Gottlofe Ranaille! Kättft 
du mir nur ein Wort vorher davon gejagt; id; hätte dem Laufe 
jungen einen Adelsbrief gefauft, da hättet ihr können zufammen 
triechen. — Gott behüt! fo helft ihr doch; fie ift ja ohmmächtig 
(Zpringt auf, ringt die Hände, Umhergehend. Wenn id) nur wüßt', wo 
der malcbeite Chirurgus vom Dorf anzutreffen wäre? — Iſt fie 
noch nicht wach? 

Guſich en (mit ſchwachet Stimme). Mein Vater! 

Major. Was verlangit du? 

Guſtchen. Verzeihung. 

Major (geht auf fie zw. Na, verzeih dir's ber Teufel, un 
geratenes Kind. — Nein, (fmiet wieder bei ihr) fall nur micht hin 
mein Buftel — mein Guftel! Ich verzeih dir; iſt alles vergeben 
und vergefien. Gott weiß es: ich verzeih dir. —- Verzeih bu mir 
nur: Ja, aber nun iſt nichts mehr zu ändern. ch habe dem 
Yundsfott eine Kugel durch den Kopf geknallt. 

Geh. Nat. Ich denke, wir tragen jie fort. 

Major. Laßt fichen! Was geht fie Euch an? Iſt fi 
doch Eure Toter nicht. Vefünmert Cuch um Euer Fleiid und. 
Bein daheim. «Er nimmt fie auf die Arme.) Das Mädchen — id 


jollte wohl wieder nad) dem Teiche mit dir — Lidwentt fie van den 
Baltifge Monatsferift 1008, Heft 1. 





34 Loſter und Leibenfcheft im Lenz’ Dichtung. 


Teich zu) aber wir mollen nicht cher ſchwimmen, als bis mir’s 
Schwimmen gelernt haben, mein’ ich. «Drüdt fie an fein Her.) — 
O du mein einzig teuerfter Schag! Daß id) dich wieder in meinen 
Armen tragen kann, gottlofe Kanaille!“ (Trägt fie for.) — — 

Wir jehen: „mer eines Mannes Kind verlüberlicht, ber hat 
ihn an feinem Leben angetaftet!.” 

Die Grenze ber Lüberlichleit aber Tann nicht fcharf genug 
gedacht werden, es genügt ber Wunſch. 

„Prinz. Rechenſchaft, Redenihaft, blutige Rechenſchaft. 
Nehmt euren Degen. . . . 

Graf. Was habe ich getan? ... 

Prinz. Euch der Glorie ber Schönheit unheilig genähert, 
die Drachen und Ungeheuer in ehrerbietiger Entfernung würde 
gehalten haben. Ihr feid mehr als ein Raubtier®. . . .* 

Die Gefahr des Laſters liegt nicht allein in den äußeren 
Wirkungen, jede unmoralifhe Handlung beeinflußt zugleich unfer 
Denfen. „Wie der.erfte Schritt zum Lafter, jo mit Roſen beftreut 
er auch fein mag, immer andre nad) fi zieht, fo ging es auch 
hier. Berbins hohe Begriffe von ber Heiligfeit, aufgefparten 
Gfüdfeligfeit, von dem Himmel bes Eheſtandes verſchwanden. 
Die Augen fingen ihm wie unfern Eltern aufzugehen: er warb 
vernünftig®. . ..“ 

Unter uns gejagt, wir find alle Kenner. Wenn wir in 
offenen Stunden einander ins Auge fehen, wiſſen wir nur zu gut, 
wie die Entzauberung der Welt vor fi geht. Wie der geichehene 
Genuß unfre Wertihägung vergröbert, wie das unterdrüdte 
Wünfchen, einen bitteren Nachgeſchmack hinterläßt, ein Gefühl der 
fauren Trauben, welches das grobe Begehren mit ber Glorie bes 
Unerreichten verffärt. Jeder Schritt ein Schritt talabwärts: 
immer fleiner ber Mafftab, immer grauer die grünenben Bäume, 
immer niebriger der Zlug ber Gebanfen, immer enger und felbfte 
verftänblicher das Xeben, bis wir vernünftig find und ohne Illu— 
fionen; bis der ewige Funke in unfren Aigen erlofchen ift und 
unjer Laden breit und behaglid ſchallt, wie das Laden ber 
Philiſter am Biertiſch. „Dies Gelädter über edlere und feinere 

1) „Der neue enge.” II. Ati, 4. Szene. (Gef. Werle. Vd. 1) 


2) Ebenda. 3. Spene. 
%) „Zerbin od. die neuere Philofophie.” Geſ. Werle. Vd. III, ©. 150. 


Safter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung. 35 


DVergnügungen ift ber höchfte moralifche Werberb, und wenn id; fo 
fagen darf, die höchfte Verzweiflung. Laht euch dadurd nicht irre 
machen, glaubt nicht, daß bie Leute vergnügt find, wenn fie ihr 
Zwergfell zum Laden eridüttern, fie fühlen den Abftand eures 
Glüdes von dem ihrigen zu gut!. ...“ 

Niemals aber werden wir uns über den Pöbel erheben, 
wenn nicht die Ziele uns von ber Maſſe ſcheiden. Das Leben ift 
fein Wettlauf, in weldem bie größere Schnellfraft ber Beine ben 
Ausihlag gibt, es ift ein Suchen unb Taften auf vielverſchlun⸗ 
genen Wegen, unb die Richtung des Wollens, bie Ziele ſcheiden 
bie Leute. Wer nicht ftillichweigend den Sag unterfchreibt, tut 
nicht Böfes, tut recht; wer nicht von vornherein darauf. verzichtet, 
feinen Lebensdurft in den trüben Fluten des finnlihen Genufjes 
äu löfchen, der trete feitab zur Mafe. Ihm gilt der Wahlipruch 
der Denge?: „Et, trinkt und ſchlaft, euer Lohn iſt ſicher!“ 
Und ewig wird ihm zur Antwort eine Stimme aus reineren 
Regionen ſchallen: „Euer Lohn ift Hein!” Die Stimme bes 
Schickſals ift es, die aus ben Wolfen tönt, die Stimme bes 
Richters, der ihn richtet nad) feinem Werte. 

Im Frühling des Lebens gleiht die Seele des Menſchen 
der aufgeworfenen Erbe, unaufpaltfam fteigen bie gägrenden Rräfte 
aus der Tiefe empor, und wie das Feld der Saat, harrt bie 
Seele der Befruchtung. In diefer Zeit der Gärung entfteht ber 
Entſchluß, unjer Leben ganz zu geitalten, die hödjitdenfbare For— 
derung an das Leben zu ftellen, nur nach dem einen vollen Lohn 
des Lebens die Hand zu erheben; erhebt die Seele unter einer 
heißen Lebensinbrunft, unter dem ftarfen Wollen, „das Leben nicht 
zu laſſen, es bejelige uns denn?” Wir fühlen das Geheimnis 
alles Seienden, wir fehen unfer Leben vom Dunkel bes Todes 
rätfelhaft beſchattet, wir begreifen, daB ein unerflärlides Etwas 
inmitten bes Ailtagsgetriebes dem Leben Einn und Gehalt ver: 
leiht. Wir begreifen in gleicher Weife, dab in uns ein Dieer von 
Leben verſchloſſen liegt, wir wollen ben Damm zerrreißen und bie 
braujenden Wogen, bie in jungfräuliher Gewalt aus dem Herzen 





1) „Die aleinen · Ebenda. Bd. III, &. 238. 
%) „Pandaemonium gormanicum.“ Hrög. v. &. Schmidt. (rin. 90.) 
38. 
%) „Mills geihlices Lied." Gef. Werte. Vd. IM, &. 27. 

8 


Seite 


36 Laſter und Leldenſchaft in Lenz’ Dichtung. 


emporquelien, über unfrem Haupte zufammenfchlagen laſſen. Mir 
fpüren es!. 

Lieben, haffen, fürchten, jiltern, 

Hoffen — zagen bis ins Marl, 

Kann das Leben zwar verbitern, 

Aber ohne ſie wär's Duarl. . . . 

Scheuen Auges bliden wir um uns, es geht uns wie Zerbin: 
„Er ftand wie ein Saul unter den Propheten, fobalb er in eine 
Geſellſchaft von Damen trat. Er ſah lauter überirdiſche Weſen 
außer ſeiner Sphäre in ihnen, für Die er, weil er fein einziges 
ihrer Worte und Handlungen begriff noch einſah, eine jo tiefe 
innerlihe Ehrfurcht fühlte, daß er bei jeder Antwort, die er ihnen 
geben mußte, lieber auf fein Angefiht gefallen wäre und ange— 
betet hätte *.” 

Der Boben ift bereitet, die wache Seele harrt der Befruch— 
tung, die Befruchtung unfrer Seele aber find Liebe umd Leiden— 
Schaft. Das Bewußtſein unfer Schidfal aus der Yand einer Frau 
zu empfangen, vertieft das Verhältnis von Dann und Weib. 
Nicht ein Schmud des Lebens iſt die leidenſchaftliche Liebe, ſondern 
fein Inhalt. Die Jdealifierung it die notwendige Folge biejes 
Glaubens. Zugleich wird die Hoffnung, in reiner Leidenſchaft die 
Erfüllung des Lebens zu finden, die Liebe vorfichtig und prüfend 
geftalten, denn eine Täufhung im Yiebesipiele macht das Leben 
zur Niete, 

„Der Ge weiß fih aus einer ſolchen Verſchiebung jehr 
geſchwind herauszufinden, an dem edlen Manne aber frißt fie mie 
ein Wurm an der inneren Harmonie jeiner Aräfte?.” 

Die Angft, daß ſich die Göttin des Herzens zur banalen 
Sterblichen und das Gold der Liebe zu Stroh und Nice wandeln 
fönnte, zwingt den erniten Menfchen den Trieb zu unterdrüden, 
aber täglid) und ſtündlich wird er ſuchen in fiebernder Ungedulb, 
je weiter der Zeiger des Lebens vorrüdt; und doch langſam und 
vorfichtig, quallvoll vorfigtig, denn er fucht nicht Licht und Wärme, 
er fucht die Flamme. Geine Kräfte find gebunden, und einem 
Nachtwandler gleich geht er durchs Leben, bis ber Funke von 
Menſch zu Menſch herüberfpringt: 

2) „An das Herz." Lenz‘ ge s.ım. 


2) „Berbin." Ma D. 
9) Ghenda. ©. 154. 


Laſter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung. 3 


Und feine hörte meine Bitte, 

Verftand mein Sehnen, meine Bein, 

Bir fiebensmert, mir mas du biſt zu fein. — 
Jept Hab ich dich — und foll dich lafien — 
€ möge mic) die Hölle faffen !! 

Diefe Liebe entjpricht dem Ernſt des Suchens, fie iſt uns 
wanbelbar und unverlierbar: 

Und will mein Herz für andern Reiz entbrennen, 
Und meine Liebe Freundfhaft nennen, 

So ftürm die Leidenſchaft wie heut die Saro iht ab 
Und jtoß mid, einen Schrit voraus ins Grabe 

Die Leidenichaft verzehrt, fie ähmelt in michts ber fanjt- 
gleitenden Liebe fühler Naturen. Die tropiid üppigen Gewächſe, 
die fie in phantaftischer Fülle hervorbringt, find anders als Blumen 
und Früchte, die in den wohlgepflegten Gärten des Bejiges wachien 
— glühender, duftender, jinmfofer. Die Leidenfchaft zerreißt bie 
Feſſeln der Gewohnheit, die Bande der Vernunft, die ftarken 
Majchen bes täglichen Lebens, als wären es Epinngemwebe, und 
die Worte der Leidenſchaft flingen mie Töne einer fremden Welt. 
So flingen die Worte Strephon’s, der fern von der Heimat feiner 
Liebe nachjagt. 

Strephon: „Vetter, das jlille Land der Toten ift mir fo 
fürchterlich und öde nicht, als mein Vaterland. Sogar im Traum, 
wenn Wallıngen des Blutes mir vecht angjthafte Bilder vors 
Geſicht bringen wollen, jo deucht mich's, ich fehe mein Vaterland?.” 
Wer liebt, Hat nicht Heerd noch Heimat, nicht Sippe noch Freunds 
ſchaft. Aber die Leidenſchaft, die ihm die Außenwelt vernichtet, 
erfegt ihm die Freuden der menſchlichen Gefellichaft, und was 
mehr iſt, auch die Schmerzen. Sie wert ihm in der eigenen 
Bruft eine neue Welt, reicher und intenjiver, vielgejtaltener in 
allen Empfindungen, als das reale Leben. Sein Gott ift die 
Geliebte, jeine Kirche die Wildnis! 

Verzeih den Kranz, den eines Wilden Hand 
Um dein geheiligt Bildnis wand; 

Hier, wo er unbefaunt der Welt, 

In dunklen Wäldern, die ihm ihüten, 








1) An W. Lenz’ Device, S. 190. 
2) Übenda. ©. 107, 
3) „Die Zreunde machen den Pfilofopher. Cine Yomövie.” (1778.) &. 24, 


38 Laſter und Leidenfhaft in Lenz‘ Dichtung. 


Im Tempel der Natur es heimlich aufgeftelt. 
Und wenn er davor nieberfält, 

Die Götter felbt auf ihren Flammenfigen 

Für eiferfüghtig hält}, 

Die Kraft der. Leidenſchaft entipricht der Tiefe der Empfin- 
dung und der Höhe bes geliebten Gegenjtandes. In reiner, voll- 
blütiger Leidenſchaft wird der Gegenftand zum unerreichbaren 
Ideal, die Leidenichaft zum nie gelöjchten Durft. Vor der Größe 
des Gewollten. veritummt das Begehren. Nicht der Befig ber 
Geliebten, fondern das Bewußtſein der Liebe, ber bloße Gedanke 
ift Reichtum und Schickſal des Liebenden. Auf dieſer Grundlage 
erhebt ſich die dramatiihe Phantafie „Der Engländer“, ein Stüd, 
das grablinig und trogig in ben Simmel hineinragt, wie ber 
Turm zu Babel. Cs iſt eine Monographie ber Leidenſchaft, bie 
mit Liebesrajerei beginnt und ſich fortlaufend fteigert, ber erbitterte 
verzweifelte Kampf einer großen Leidenidaft gegen die winzige 
ſchleichende Vernunft, gegen die erbärmliche Lebensweisheit, gegen 
Spott und adjfelzudende Teilnahme der Verfländigen. Wie Feuer 
und Waſſer aufeinander treffen, fämpfen in diefem Stüde Leiben- 
ſchaft und Altag. Der Engländer Robert ift ein Najender, der 
feine Naferei verteidigt. Die feinen Vergnügungen follen jeinen 
Geiſt zerftreuen, in Wolluft und Behagen foll feine Leidenſchaft 
erftiden : 

Lord Hamilton: „Wenn nur ein Mittel wäre, ihm den 
Geſchmack an Wolluſt und Behaglichkeit beizubringen; er hat fie 
noch nie gefojtet; und wenn das fo fortftürmt in feiner Seele, 
tann er fie auch nie foften lernen?.“ 

Aber auch diejes äußerſte Mittel, welches Roberts Vater 
anwendet, um feinen Sohn zur Vernunft zu bringen, zerbricht an 
der fpontanen Kraft der Liebe. Mährend bie ſchöne Buhlerin 
Fognina Nobert das Bilb der Geliebten vom Halje löfen will, 
entreißt er ihr die Schere und durchfticht fich die Gurgel. 

Robert: „Iſt's benn fo weit! (Breitet die Arme aus.) Ich fomme, 
ich fomme! — Furgtbarites aller Welen, an deſſen Dafein ich jo 
lange zweifelte, daß id) zu meinem Trojt leugnete, ich fühle did). 


3) „An Henriette.” 2. Yenz’ Gedichte. S. 204. 
3) „Der Engländer. Eine dramatifche Pantafie.“ (1777. III. At, 
1. Sıene. 


Laſter und Leidenjhaft in Lenz' Dichtung. 39 


Du, der du meine Seele hierher gefegt! du, der fie wieder in feine 
graufame Gewalt nimmt. Nur nicht verbiete, daß id) ihrer nicht 
mehr denfen darf. Eine lange, furdtbare Ewigkeit ohne fie. 
Sieh, wenn ich gefündigt Habe, ich will gern Strafe und Marter 
dulden, Höllenqualen dulden, wie du fie mir auflegen magſt; mir 
laß das Andenken an fie, fie mir verfüßen!.* 

Auch unmittelbar an ber Schwelle des Todes weigert er ſich 
bas Gedenken feiner Liebe preiszugeben. Der Beichtvater beugt 
ſich über ihn?: 

Beichtvater: „Unter Bedingungen! — Bedenken Sie, was Sie 
verlangen — Bedingungen mit Ihrem Schöpfer? (Robert hält ihm 
die Hand, er reicht ihm das Ohr noch einmal hin.) Daß er Ihnen erlaube, 
Armiden nicht zu vergeijen? — O lieber Lord Robert! in den 
legten Augenbliden! — Bebenten Sie, daß der Himmel Güter hat, 
die Ihnen noch unbefannt jind; Güter, die die irdiſchen jo weit 
übertreffen, als die Sonne das Licht der Kerzen übertrifft. Wollen 
Sie denen entjagen, um einen Gegenitand, den Sie nicht mehr 
befigen fönnen, zu Ihrer Marter auf ewig im Gedächtnis zu 
behalten. 

Robert (hebt das Bild in die Höhe und drüdt es ans Geſicht, mit 
äußerfter Anftrengung Halb rögelnd): Armidal Armida! — Behaltet 
euren Himmel für euch.“ (Er ftirbt.) 

Die Flamme der Leidenjhaft reinigt unfer Weſen von den 
Schlacken des Alltags, Schnörtel und Beiwerk ſchmelzen in ihrem 
Tiegel, und der Menſch wird ganz. Ja, eine Flamme ift die 
Leidenſchaft! Eine zitternde Flamme, aus Wille und Sehnen 
geboren, und auf ihren brennenden Flügeln trägt fie die Seele 
des Dienfchen empor zu den Gejtirnen. 

Je höher der Flug, defto tiefer der Sturz, die Götter dulden 
feine Genoſſen?. Die Leidenihaft, die uns über Zeit und Naum 
hinwegfegt, die uns in ſiolzer Selbjtherrliteit an die Seite der 
Sötter ftellt, iſt zugleich unſer Verderben. Das ſchwache Gefäß 
vermag die Glut nicht zu ertragen. Darum lachen die Götter 
der Toren, der ſich ihresgleichen dünft, nur weil er ganz iſt und 
feine Furt mehr kennt. Sie fpotten und vernichten. 

1) Ebenda. V. At, 1. Siene. 


®) Ebenda. 
3) Bgl. „Tantalıs.” Lenz' Gedichte. S. 21-13. 


s0 Laſter und Leidenfhaft in Lenz’ Dichtung. 


Es iſt aber befjer eine Furze Zeit fi) einen Gott zu bünfen, 
als fein lebelang den Kopf zur Erde zu hängen. An unfrer 
Wiege fteht das Ichredlihe Gericht Gottes. — Mögen wir biefem 
Gericht verfallen, nicht weil wir zu Mein gedacht, ſondern weil wir 
zu groß gewollt. Das entjpridt der Würde des Dienfchen. 

Wenn es von Lenz fo häufig heißt, daß er ſich nicht zu 
zãhmen wußte, jo jollten wir des Spruches gedenfen: Im Kriege 
ſchießt man mit Abſicht auf Leute. 

Gr wollte ſich nicht zäymen. Er vergötterte bie ſchrankenloſe 
Leidenihaft. Und tatjählih war ihm das Leben Leidenichait, 
und die Leidenfhaft fein Leben. Zugleich mit der Liebe zu 
Henriette Waldner verſank aud) jein Dichten in Nacht: 

Wenn die ſchöne Flamm' erlöſchet, 
Die das al" gezanbert hat, 
Bleiben Rauch und Brände ftchen 
Don der koniglichen Stadt!. 

Rauch und Brände! Aber noch glimmen unter der Ajche 
die Kohlen; und wen es falt und froftig zu Mute ift in unfrer 
ſchlaffen Zeit, der möge herantreten und ſich wärmen. Sein Blut 
wird ſchneller wallen und jein Haupt ſich jtolzer heben, wie einjt 
Lenz wird er verächtlich herabbliden auf dieje graufig Ipiehbürger- 
lie Welt, er wird... . 

Indeſſen, dem iſt nicht jo! Ich leje im Leffing: „Peterfens 
Stimmen find gar bald verachtet und vergejjen worden. Denn 
Peterjen war ein Schwärmer !* 

So iſt eo. 


1) Long’ Gedichte. ©. 120. 





Bas du mid gelehrt. 


— — 


Lese iſt Bertandenfein, 

Kraft und Stolz in Demut, 

Ih ein füh Vorhandenfein 

Bon Uneuh, Ruh und Wehmut — 


Fit ein wortlos fühlend Sein, 
Suchen und ſtets Finden, 

Fit ein Herzichlag tief zu zwei'n, 
It das Gleichempfinden — 

Jit ein leidenſchaftlich Glück, 
Nein und keufch Crglüh, 
I ein Vorwärts, ein 
Fit ein töftlich Mühen — 


Iſt ein Jauchzen jel'ger Luft, 

Fit ein froh Entjagen, 

Kächelnd Dulden, ftil, bewunt, 

Sofinung freudig Tragen — 

Fit ein Stab in bittrer Not, 

Iumergrün auf Erden, 

Fit ein Wachfen bis zum Tod, 

Fit ein Neiferwerden — 

Iit ein Heil'ger Hoffnungsreit 

Tränenleicht im Herzen, 

It ein Glaube jeljenfeit 

Über Grab und Schmerzen. 
©. ©. 











IR 


Necrologium balticum 
1904.* 


— — ⸗ 


Asthe⸗, Edmund Aug. Beſuchte das Rig . Poldtechnitum, Frat. Balt. War 
Tiretior der Stahlwerle in Dftrowiece, in den Iepten Jahren Jugenieurs 
Ehemiter in Hige. +8. (21.) Mai in Mentone 

Alunan, Hein, * eurfalgenau in 2., 4/60 Gymn. zu Mitan, ftub. 
Der. u. Raturroif. SM/6L in Dorpat (7017), dann in Petersburg u. Nostau. 

it 73 Buchhändler in Mit Hat ſich als Verleger vieler fett. Buͤcher, 

. and) als Überfeger um die leitiſche Literatur verdient gemacht. F 14. Dez. 
in Bitan. 

Anders, Friedrich. Dr. med., *69 in 2., ſtud. feit 88 an der andesuniverfität 
(13,685), jeir 95 pratt. Xrzt in Niga. f daielbit 23. Nov. 

v. Andrene, Nitolai, *23 in Poltawa, ſtud. Dec. 43/9 (4456). Seit 54 
Veiger von Müblenpof in 8. + 6. gebr. in D. 

Armitstead, John Willem, chem. Groffaufmann u. Juduitzieller. *20. Non 
in Nige, übernagm mit feinem Bruder James 48 die Firma Witeli u. 
begründete Ende ber 5ökr Jafte mit demielben eine eigene Sägemühle und 
Parquetfabrit; Mitgründer u. Direktor der X..C. Nig. Bapierfabriten u. der 
Dünaburg-Wirebster Eifenbapn. Seit 84 Bejlyer des Gutes Hindfeln in K. 
425. Juli in Dubbeln, 

Auning, Otto, stud. jur. Liv., #23, Sept. 81, } 27. Sept. in D. 

Angeneeh, Andreas, Dr. med., fet einigen Jafren Sanbarzt in Appriten und 
Umgegend in K, 28 I. a, } 238. Mai. 

v. Bad, Eduard. 733. 18. Jan. in Riga. 

Bachmann, Woldemar, Oberfehrer, *38 zu Cremon · Paſt. Albanusſche Private 
fgule in Engelardshof, Birfenzub; ftud. Pyil. u. Theol. 56/60 (6582. Lir.). 
xehrer der deutichen Sprache und feit 81 Inipehiorgehülfe an der Reirifehule 
in Petersburg. 7 20. Sehr. 

Baelge, Arıhur, Dr. med., *51 in Reval; Neo. Oymn., ſtad, 70/5 (8703. 
Eston.), dann in Wien. "Seit 70 pralt. Arzt in Neval. "+ 26. Mpril in Riga, 

Bahder, Joh. Friede., Stadiiefretär zu Goldingen. + 16. Juli in Riga. 

Bahfad, Grit, Goldſchmiedemeiſter in Riga. F 20. Aug. 


































*) Die im Netrologium angeführten Daten find in möglichit abgefürpter 
Geitaft wiedergegeben, fomeit fie im Album acad. zugänglich find. Die in 
Klammern ftehende Zahl üt die beir. Nummer des Alb, acad. Das * bedeutet: 
geboren. zivland, &.= Ejtland, 8. Kurland. D.= die Univerftäis 
tadt. er Sterbcort iit nur bei denen angegeben, Die nicht an ihrem Ichten 
MWohnorte ftarben. Das Jahrhundert ift bei den Zahresgaflen nicht angegeben. 





Necrologium balticum 1804. 43 


Baltzer, Friedrich, chem. Telegrapfendef. 55 I. + 22. Febr. in Rige. 

Baumann, Rorl, betannter Tettifcher Romponift, * 20. April 35 in Heinzichehof 
bei Wilfengof (2); Lemfalfe Rreisihule, Barodiallehrerieminar in Walt; 
56 Hauslehrer; feit 58 Schrer in Petersburg (Reform. Kirgenfcule, Smolna: 
Inftitut). Lebte nad) feiner Benjionierung in Lemſal. Er ift der Romponiit 
des Iett. Rationalliedes „Deews ſwehti Latıviju“ u. and. ſehr populärer Lieder. 
728. Do. in Lemial. 

Baumdad, Nitolai, Dr. med. StR., * 31 in R., ſtud. 52/57 (5867). Marine 
arzt, zulegt in Aronftabt. } 4. Mai in Mitau. 

Beßrmann, Theodor, *36 in Hipa, ftud. 01/8 (7392), Cand. chem. Seit 68 
techn. Direhtor der Zementfabril in Poberon bei Riga, der erften Rublande. 
e — Jahire icher Bereine, Begründer des Nig. Yadtklubs. 
+17. 

Berg, Hugo, ee. med., +65 zu Nerft in K.; Birtenruh und Gymn. zu D.; 
ftun. " 2 (12,955. Cur.). Sanbarıl in &., ftub. dann im Yuslande; feit 
75 prakt. Yrpt in Wige. + 13. April. 

BeAborn, Wilhelm Ferdinand, Bughändler. *8. (20.) Dft. 23 in Hamburg, 
erlernte ben Buchhandel bei Hofmann u. Campe in feiner Vaterftadt; 47 
Gehilfe, dann 50 Aſſoſſis von Karow in D.; übernahm 57 die Reyherſche 
Buczhandlung in Dita, die er endlich nad) Lbjähriger Lätigleit feinem Nach: 
folger I. Waffermann übergab. + 6 Febr. in Mitau. 

van Beuningen, Ritolai, Fähnrich im 9. fibir. Kofatenrcgiment, fiel 20. Aug. 
in der Schlagst bei Ciaojang während des Nüdzuges des Generals Orlom 
bei Jantai. 

Bittendinder, Karl Johann, Arrendator des Rronsgutes Gegen in K. f 17. Juli. 

tee, Alegander, *0 zu ojel in 2.; Privatanitalt in Birtenrub; ftud. Med. 

3/80 (10,352. Liv.); 83/4 Borftafademie zu Iharand; 84,90 Oberförfter. 
Bewirtidafieie feibem das viterlihe Erbgut Namelshof bei Wenden. 
+ daielbft 8. Cept. 

Bruhn Karl, Dr. med., *12 in Mitau; Gymm. zu Mitau, ſtud. 31/5 (2009. 

. 37/92 rzt in Ditau, 40/74 aud Brunnenarzt in Balbohn. 1860 
Een tglied der Kurl. Gef. f. Lit. u. Kunſt. + 7. Di. in Mitau. 

v. Bodisco, ——, Nittmeifter des DL. Tſchernigow. Drag.-Reg. + am Typhus 
in der Mandihurei. 

Boeuke, Ernſt. weil. Bevoflmächtigter der gefl. Kreutſchen Güter im Gouvern. 
Kowno. + 12. Aug. in Liba. 

Boetiher, Bernfard, Dr. med, *70 in D, Cohn des Prof. Arthur %.; 
Kollmannjdjes Gymn., ftud. 88/94 (13,777. Cur.). Sieh jid nad, weiteren 
55 in Wagdeburg, deidzig u. Wien als Argt in der Wateritabt nieder. 

ab fi mit ber von Wach ‚Zoege_ geleiteten Kolonne der Kalferin Maria 
af den Rriegsfauplat, von wo er überaus Ichenbig gefrichene Kriegebriefe 
— — + am 











an die „Düna-3ig.” jandte, die dann auch in Bud 
Typus in Jmanpo in der Mandfchurei. 

v. Boelticer, Igeodor Phil, feit 50 Befiper von Spirgen in A. 74 J. u. 
+ 14. Juli in Spirgen. 

». Bod, Wilßelm, Dr. MER, *24 zu Bornhuſen in 2. ſtud. Med. 48/8 
(4531), Dr. med. rzt im Etantöbienit in verichied. Stellungen, 57/80 in 
Warfau. Nahm 80 feinen Mfaied und lich fih in D. nicbe, mar. hier 
räjes der jtädtifchen gegen. Feueraiieturang.dei. und Y1/S Stadthaupt. 
420. April, 





v. Braunfhwelg, Morig, Dr. med., *10. Zebr. 70 zu Riga; Stadtgym.; 
ftud. 911/931 in D., dann an der milit..med. Mad. in Petersburg. YHahın 
99 teil an der Belärmpfung der Tpphusepidemie im „Gomv. Wiatta. Kurze 


4 Neerologium balticam 1904. 


Zeit Drdinator eines Dragonerregiments, fobann Marincarzt, zuerft in Kran 

dt, dann in Wladimoftot. ‚fiel auf dem Kreuzer „Rurit” 1. Aug. in der 
Seejtpladjt bei fan. 

Brieger, Heine. Adolf, Ült. der Rig. St. Johannisgifde, Begründer der Seifen: 
und Parfümeriefabrit. Stabtperorbueter; 3. Iang Vermaltungsglied und 

Gef. gegen). Verfigerung gegen Feuer; Glied der 

m des Rig. Oppotbefenvereins. 8 718. Mai. 

v. d. Brinden, Mar Bn., *59 in S. itud. Jur. 78/8: (0,08), Cand. 
83/6 Selr. des furl, Oberhofgericht. Befiyer von Neumaden in A., bis 93 
Kurator des Stifisgus Brind-Pedwahlen. + 19. Dei in Mitau. 

v. Budderg, Leonhard Bn., Majoratsherr auf Garfen-Grüggaln-Baltenjee in R. 
#20. Jan. 61, #23. Juli zu Garben. 

Earor, Anton Agel, Kaufmann, *49 in Dänemark, fam in den TVer J. 
nach Nige, feit 82 bei der Zirma Hehmfing u. Grimm, deren Mitteilhaber 
feit 96. Direktor der Huff.sbalt. Dampficiftairt-Gef. u. ber Nig. Schnells 
damıpfer-Gej., bie auf jeine Jnitiatioe begründet wurden. Cr war audı der 
weitblidende Schöpfer einer der größten Unternehmungen des ig. Handels, 
des Erports fibiriiher Butter im Tranjitverfehr Aurgan · London. + 18. Juni 
im Riga. 

Eonradi, Moris, Paltor emer., *21 zu Sallgaln in 8. Gymn. zu Mita, 
ftub. 41/5 (4177). Yausfehrer in Petersburg. 47 Bajtor-Adj. in Ambote 
Sept. 48 Garde-Dio.rfrediger und ®. an der Jclusfiesie in Weersh., 3002 
1eit. Preb. an der Anmenkirce in Mita. * dajelbft 27. Mai. 

v. Cude, Yitoloi, Morineleumant. *76. Adjutant des Grobfürten Kirill. 
5 anf dem Panzer „Betropawiomst” 31. März vor Port Yrifur. 

Packer, Nitolai, ebem. Lehrer an der Nig. ftäotifchen Johannisihufe. 63 g. 
425. Mai in Slige. 

Datzt, Chriftian Jod., *39 im Neval, jchwed. Abitammung; Rev. Gpmn.; wurde 

mann. Gründer und 30%. Yeiter der Navigationsihule zu Yaynaic, 
feit_ 98 Tireftor der Navig:Schule in Libau, die unter ihm bedeutenden 
Wufiswung wahm. Berf. eines Schrbuche für RavigsSchulen, des eriten 
im ruf. Neid. 727. Muguit im Cibau. 

Danziger, Alexander, Befiger einer 00 von ihm 
der er zulegt über 200 Mebeiter beidrftigte. 57 3. F 25. Sept. in Berlin. 

v. Dedn, A.W., Kapitän im 2. Dageitanicen Regiment. + 14. Oft. in Charbin. 

©. Deutfd, Woldemar, *37, jtub. Med. mir Unterbredungen 8/09 (920). 
Braft. Aızt in Moslau. F daielbit 20. Nov. 

v. Dilimann, Woldemar, Dr. med., #43 in %, ftub. 91/6 (7313). Praft, 
Arzt in Peteröburg,  dafelbit 20. Juli. 

Pobdert, Julius, MSt in 2., ftub. Jı 11), Cand. Sett. 

des en.cuth. Gen.Konfiteriums, auch des Peiriefirchenrats in Petersburg. 

+ 31. Mal in Dubbeln. 

Daunten, Paul Graf, *33, jtud. Kam. 52/5 Belleidere, verichiedene 

plomatifche Poften. Gutsbefiger in Livland, , Zoegenhof, Taubenhof 
deit OL) und feit H4 Moajeratshere auf Schloh Karkis. F 20. Muguft in 
Zoegenhof 

Engelmann, Guflan Adolf, ehem. Buchhändler. 65 J. f20. Cft. in Riga. 

Fabrdah, Joh. Georg, *1. Oft. u. St. 26 im Heidelberg; feit 49 in Nige, 
06 Doctmanı, jeit 03 Ültejter Greder Gilde; Generalagent des Auffifeen 
ogd in ige. | 28. Jan. in Ni 

Fat, Yo. Eduard. Dr. med. BWEW, *12 in Nwal; Rev. Gymn., ſud 
aaal n.; war der ültefte noch lebende Philifler der Cit.). Arzt 

im Innern des Neis; DSB citl. Mediyinalinipehtor- in 

Keval, wo er feitdem als Privatmann Iebte. + &. März. 

























































begräudsten Dampffärberei, in 






































Necrologium balticum 1904. » 





Fed, Karl, *53 in E.; Nevaler Gymn., ftub. Meb. 74,9 (9540). Wurde 
Gefchäftsführer der eitl, Couv.-Nepierung, jeit 85 einige Jahre elle. Redaticur 
der „Ejtt. Goun.«Zig.” Lcbte dann als Privanmann, Iiterarifch tätig, in Reval. 
$ dajelbft 21. Non. 

v. Ferfen, Hermann Bn., Oberit. 713. F im Auguſt in Shitomi 

Diedfer, Alfred, Abteilungschef des furfänd. Kameraihofs. 88 I. F 4 Dez. 
in Bitau. 

v. Firds, Olga Baroncfie, *46, in weiten reifen Aurfands, namentlich in 
Mita befamn duch ihr auerordenttich«s und Gingebendes Mieen auf dem 
Sebiet der Mohfiätigleit, + 14. Dez. in Mitan. 

v. Firds, Emil Vn. feil 51 Exbhere auf Strasden in Kur. F 1. April 'n 

Sirasden. 

welin, Karl, *36 in Sedemannshoi (%.); Privatgpmn. in Birfenu 

Bil. u. Thcol. 57/09 mit mehrjät. Unterbrechung (0707. Liv.); Vanstel 

in Uhla, 09/75 Lehrer an den Kreisichulen in Wenden und 

Areisiculinfpektor und 70/92 Leiter einer Privattöchterichule in J 

jeitdem als Vorſteher einer Anabenpenfion und Lehrer in Mi 

in Walt. 

Srederaing. Alerandet. 
96/92 Befiger der & 
bei Berlin. + dafelbit 

Dremmert, Sugo, Dr. nied., geb. ca. 32 in E, Red. Öym., ſtud. in Mostan, 
wo cr eimer längft nicht mehr beitehenden deutfchen Stubentenforporation 
angehörte. Dann praft. Arzı in Petersburg. F dafelbft 4. Juni. 

Fregmann, Ostar, yraft. Arzt, © #0, ftud. fit SS (18T). +2. Non. in di 

Freymuff, Ewald, Altern. Gr. Gilt 5. Apr. 10 in Hapfal, wurde Kaufmann 
in D., wo cr Anfang der 70er 3. cin eigenes Manufafturgeicäft begründete; 
über 30 I. Sliermann Or. Gilde, Stadiverordneier; viele Jahre Tirclior der 
„Dorpater Bau“, Hocwcrdient duzd) jene unermädiche Arbeit anf fommue 
mafem Gebiet. + 8. Sept. 

Fromm, Johann Hein, *14. Aug. 12 in Thula in E. Areigſcuule in Reoct. 
32 Houstehrer, 33/86 Schrer der Nrong.@lcmentarichule in Niga, Murte 

mach Ummandlung der Anitalt in eine rufilcde Warochialigule mit 90 Ai. 

Benfion entlafen. In ungewögnligen Mahe philanthropiüch tätig, folanze 

feine Kräfte nur vordiehten. Ehrenmitglicd_ der lit.praft, Bürgerverb., de 

Vereins gegen den Venel und des Diafoniffenvereins. + 8. April. 

Frand, Georg Bn. ; 22. Sept. in Riga 

Haeldgens, Narl, #62 zu Stomerjee in $. Virkenruhn jtud. 82/R (11,470. 
Liv.) Cand. Sandirt in %., feit HB Obervermalter von Aojel und 
Treppenof. ; 14. April bei Treppenhof. Berunglüdte durch einen Sturz 
mit dem Wagen. 

». Gernet, Nilslai, #4. Dez. in Aval. 

Gaite, Andecas, ſtud. Maid. SO ff. (11,048), Cand. itarbeiter der „Norblivt, 
39” 433. +4. Jam. in D. 

». Hersborf, Jerdinand, } 8. März in Petersburg. 

Hrgenfoßn, Wilelm, Dr. med. WSH., °19 in D. . 
Liv.). Warinearzt in verich. Stellungen, fell 72 Medizinaldief der Schwarze 
meerplotte in Nifolajem. Rahm SI den Abfhicd und Ichie jeitbeu in Neval. 
+10. April. 

Hoch, Hugo, SR. prakt. Arzt, *30 in Rige 

0. Fr. Big). Arzt in Mosfau, 

31. Huguil 














El 



















PHarmazeut, ftud. 82/4 (7457), 
a. Cehte feitbem in Gr. Lichterfelde 






















































tig. Goup. Gymn. find. 50/64 
dein in Pererdburg. F Dufelbit 








4 Necrologlum haltieum 1904: 


v. Gohr, Oster Milh., GehR. 69 I. +3. Auguit in Reval. 

Gräßner, Ferdinand, Dr. med., *54 in Meifenftein; Nev. Domfcule, ftub. 
74/81 (0576. Eston.), dann im Ausland. rpt in Mostau, Peteräburg 
(85/91), Jalto, Cannes. + 23. Juli in Odeffa. 

Groß, Aug. Wilhelm Fr., 73-03 Beamter der Rigafen Steuerverwaltung. 
Kol. 73 3. FB. Dog. in Rige, 

Gueride, Hermann, Dr. phil., ehem. Lehrer an der Staditöchterſchule zu Riga. 
+ dafelbit 24. Fehr. 

v. Gutan, Mar, Chemiker, * in Leal. ftud. in Deuiſchland. war in veric. 
Sabrifen Südruplands tätig, dann Direktor der Shutomfehen Bafelinfabrif 
in Petersburg; feit 98 and Direftorfand. der Topograpfie-ftiengel. „Herold“. 
+22. Yuguft in cal. 

v. Haßn-Berfemünde, Eduard Br., MSIR., *47, Gymn. zu Mita, ftub. ur. 
in Mostau; Afeffor des Orodinfeien Nreisgericts, dann 30 Jahre lang 
Beivensricter deB Shaulenlien Sacfes. Cirenfriebensrichter De® Milnu 
Bausteichen Areifes. Seit di Pireftionsrot des furlänbifchen Arcditoereins. 
+ 15. Roo. in Mitau. 

v. Hahn, Genft Leonh. Aler. 59 I. +2. Juli in Ren-Loewel auf Defel. 

v. Sahn, Gugen, Bn., Oberftleutn. der Artillerie 0.2. } 30. Non. in Riga. 

v. Hahn, Rudolf, Alzifebeamter, Alt. Gehilfe des Bepirköinfpefiors in Riga. 
54 3. +28. Ron. in Riga. 

v. Handtwig, Rob. Magnus. *27. März 30. + 20. Jan. in Reval, 

v. Sarten, Eduard, Gen.-Mojor. } 29. April, beerd. in Reval. 

SKartmann, Wilhelm Ludırig, *24 in D., ftub. Phil. u. Theof. 44/8 (4659), 
Dorp. Vogteigeriitsardivar BIS 86. Lchte verabigicbet in D. + 25. Mär). 

Safenbnfä, Baker, *34 In C:; Pharm, fu. 57/9 (9760). Penifor in 
Reval. +23. DA. in Dxel. 

Safenjäger, Nobert, Yaflr erier., #84 zu Rofenhof in 2.; Rig. Gouo.-Cymn.; 
‚Hauslefrer; ftud. 55/8 (6304. Fr. Rig.); feit 60 Infpeftor, 86/70 Direttor 
des Wiebemannfchen Gymnafiums in Petersburg, Geitbem dajelbft Paftor, 
75 biß Sept. 1900 an der Katharinenfirde. lich auch) als Emer. gemein. 
wi tätig, fo noch zufegt alß Sefe. des enang. Feldlazareits. Leitele aud) 
die elehing der Kinder des 1002 } Prinzen Hibert von Sadhfen-Yltenburg. 














v. Are Ludwig. *43 in BreftsLitomst, ftub. 65/7 Mineral. u. Pol. Det. 
(7979 [Liv.)); feit 78 Direktor der balt. Bahn-Gefelcaft, Hoff. + P. De. 
in Petersburg. 

Seariß, Gmanusl, #43 in &, Bann. fi, OB/T2, TAT (8000). Prooior 
Seit 81 Apotheker in Salismünde. + dafelbit 2. Zuli. 

v. Heyking, Paul Frhr, Kapitän im 11. Offibir. Schügenregiment. 38 3. 
Fiel in Bort Artur. 

v. Segfing, Alfech Dn., GehR., +18 in R.; Schulpforta; ftud. in Berlin 
und 33/8 in Petersburg Jur. Ging 37 als Cuperfargo eines Schiffes der 
Tufl.samerif. Kompagnie an die Nordweitfüfte Nord-Ameritas; 39 Glich ber 
Kommilfion zur Überführung der Kronsgüter ins Domänenreffort in Mita; 

Regierung für die ruff. Xbteilung; 44 ftellvertr. 
iot. Gouo.Profureur; 58/85 Lige-Counerncur in N. Sebte jeitdem in Riga. 
+ 15. Hop. 

Stefhdanfen, Zconhard, Dr. med., +58 in E., ſtud. 70/84 (0989). Seit ca. 
86 Arzt in Mefenberg. F 7. Febr. 

Shen, Salomon, feit 52 Rabbiner in Golbingen, auch als Gelehrter tätig. 

3 +4 Mai in Goldingen. 















Necrologium baltieum 1904. 4 


Soebtbaum, Konftantin, Profeffor Dr., *49 in Et ftub. Geſch. 08/0 (8305), 
dann bis 71 in Göttingen. 71/88 Bearb. des” Hanfifdien Urfundenbud, 
75/80 Privatbogent in Göttingen, 80 Stadiarhivar in Köln, fpäter Prof. 
in Giehen. Hervorragender Kenner der hanfeatifchen Gefchichte und viel fach 
verbient auch um bie baftifche Gefchichtsforijung. f 20. April (3. Mai). 

Hoffmann, Hugo, Bropft, *48 bei A. St.-Marien in C.; Ren. Cymn.; ftub. 
Zheol. 63/8 (7723. Eston.). Ceit 70 alter zu St. Jatobi in E, feit di 
Propft in Mierland. + 15. Yan, wurde ermordet. 

v. Soft, Hermann, Prof. Dr., *41 in Fellin, Scmibtfche Anftalt, ſtud. bef. 
Seich. 80/3 (7277. Liv.), dann im Ausland. 67/72 Journalift in Rewm-ort. 
72 Prof. in Straßburg, feit 74 in Freiburg i. ©. SD forrelp. Miglied 
der preuß. Mad. der Mifenfeh. Befannt burd fine Stubien über amerit. 
Geicichte. + 20. (7.) Yan 

v. Hoff, Ialentin, Dr.med., *39 in Sellin; Schmidiſche Anftalt; ftub. 57/63 
6651. Liv.), dann in Wien und Berlin. Seit 63 praft. Art in Kige, 
Speyialift für Nervenkeiltunde. Leiter der 84 von ihm begründeten Nerven» 
Beifanftalt, der erften im ruff. Reich. Überaus rege beteifigt an gemeinnüßiger 
Tommunaler Arbeit; Lange Jahre Glied des engeren Arcijes der liter.,prati. 
Dürgerverbindung, 'endlid) deren Ehrenmitglied; Glied der jtädt. Saniräis 
Tommiflion und des Direftoriu der Ferienfolonien. War auch an den 
Arbeiten für die Gründung der Kol. Zentralitrenanftalt beiciligt. Literariich 
tätig. + 24. Juni (7. Juli) zu Scis in Tirol. 

- Höpher, Heinrich Eduard, Alt. Or. Gilde, in Mitau; Petersb. Kommerz: 
fhule; begründete 62 in Riga die Firma $. Döpter u. Ko.; war 30 9. lang 
Vorfteger der Johannisticche, 25 I. Tirettor des ig. Cab, u. Wafferwerts, 
12 3. Direltor ber Disfontobant. F 24. Sept. in Niga. 

v. Hufen, Auguft, chem. (Tepter) Würgermeifter von Neval, *7 oo. 28 in 
Reval; Domfcule; tub. Zur. in Petersburg; dvofat dajelbft, zog in den 
60er 3. nad) Neval, 69 Ratsherr, 78 Stadtrat, dann Bürgermeifter; ficdelte 
85 nach Oray über. + dafelbit d. Juli a. St. £ 

v. Igeffiroem, Julie, Gräfin, geb. v. Baumgarten, feit 70 btiffin bes abligen 
Fräuleinftifts in Felin. *6. Oft. 27, } 3. Dez. zu Ballin, 

v. ung - Stiling, Clife, #9. Auguit 29 in Nige, Tochter des Gonw.:Pofts 
weiters Sriedr. v. JSt. und Entelin des befannten Schrifitelers Hcineic, 
Jung-Stiling. Pilbete in Dresden ihr Zeichentalent aus, unterrichtele dann 
lange an ver. Sig, Mäddenfäulen und begründete 73 cine eigene Helene 
fihule, daneben unermüblich im Jungfrauenverein wirtend, wo fie feit de dem 
Vorftande der Gewerbefejule präfidierte. + 10. Juli in Peterstapelle. 

dürgenfoßn, Bruno, *58 zu Roblhaufen in 2. Dorp. Gynn., ftud. Hool. u. 
Med. 77/83 (10,204. Liv). Ging 84 nad Amerita; beiuchte die Urztichule 
in Chicago. Seit 87 Arzt in Pirtsville, feit 90 in Manama (Wisconjin). 
Mitglied derſch. wiſſenſch. Vereine. + 19. (6.) Dez. 

Anebfdramdt, Karl Aug. Walter. 22 9. #22. März in Cholm. 

Kan, Heinrich, chem. Ültermann des furländ. Mülleremts. +28. März in 
Gr..Edau. 

Kutterfeld, Heinrich, Dr. med. 85 J. + 15. Oft. in Tudum 

Kerkovins, Ludwig Wilh., dim. Nig. Ctodthaupt, *21. Febr. 31 im Riga. 
TI Kaufmann 1. Gitbe. "74 Natäherr, beleidete als folder eine große Zahl 
von Intern. 78/00 Stadihanpttollege, feit 19. Juni 90-02 Stadihaupt. 
+5. Juli in Riga. 

v. Kepferfing, Heinrich Oraf, Erbhert auf Groeſen in st. FR. Apr. in Groeſen 

Alemm, Starl, 1. April 21 in Real; in Deutichland erzogen. Vegründete 


55 mit feinem Bruder Otto in Kiga eine Anftalt für Turnen und Heil: 












































48 Necrologium balticum 1904. 


gomnaftif, die erfte in ihrer Ar, die er (bis 70 mit dem Bruder) bis 99 
leitete. Mitbegründer der Freiwill Feuerwehr und des erſten Konſumpereins. 
+10. Mär. 

v. Anoreing, Ljubim (orib.), Marineleutnant, *77 zu Ubdema in Eftl. 96 
Midihipman, O1 Seutnan:, feit 09 Arlillericoffizier auf dem Panzer „Retro 
pamlowst", auf dem cr Icon feit 99 in See war und an den Aämpfen in 
China Anteil genommen hatte (gold. Säbel für Zapferfeit). F auf dem 
„Peropawlonst” 31. März vor Port Arthur. 

Aroepſch, Albert, °20. An in Miutenwalde. jeit 61 Inhaber der alt« 
renommierten Neitauration und Konditori „X. Nrocpich vorm. Gaviszel“ in 
Riga. + 19. Jan. 

KArufe, Wilhelm cannot, Lehrer der Nig. Jalobi-Kirchenſchule. 24 J. alt. 
+1. Nov. in vnüenhof. 

v. Kügefgen, Paul, Aedaticur der „Cl. Petersb. Zip.” >43 in Wefenberg, 
Sofm des Molers Konftantin o. 8.; Aevaler Pomicule, Perriichule in Peters 
Bing, Dorpater Oynm.; ud. Throl. n. Nur. 64/70, Cand. (7605. Eston.). 
Nournalift; 70 an der „Ned. zig", TA/TH Ned. der „Nord. refie”, feit TE 
Fed. und feit 78 aud) Herausgeber Der „St. Peters. Zi,” 75. Dt. in 
Petersburg. 

Küßn, Cotar, * 



























Niga; find. Theol. 53,65 mit mehrjähr. Unterbrehu 

(6386. Li  Kehrer und Paltor Er im Junern des Reidjs; 73,77 
N sichulinpeftor Wolma 7/81 Gymu.:Ychrer im Riga und Pleskan. 
Seitdem Privat. in Niga. S 

Aühnert, Heinric), Cberföriter. F 17. Jan. in Reval. 

Surrikoff, Andreas, = 48 bei Kellin, Hub. Tfeof. 0/74 (5015). 75/PL Paltor 
zu Turgel in &. Ledte leiden als Privatmann in D. Er wur einer da 
sriten bewußt national gefinnten Ejten und gehörte zu den Begründern des 
Rereing tudierender Eften. Machte ji wm Die eftn. Literatur durch cine 
Überjegung von Gocties „Hermann und Dorotfea” verdient. 3 13. Quli in D. 

Auppitz, Johannes, Landwirt. Veſiher von NeuNüggen ing. *II. Dez. 39 
FT. April in Neu Rüngen. 

Aursk, Leonhard, Kapitän des ruffifchbaltiihen Bergungsvereins in gieral. 
#18. April in Port Arthur. 

Ausmanoff, Theodor. ehem. Dory. Stadiwerordneter. 749.  11.an. in D. 

Saafand, Johannes, *34 in S. ud. Med. 50/02 (0495). Alzifebenmier. 
; (bereit a. D.) 5. Auguit in Giodno 

Laimiug, Nifolai, Dberft, *47 in 2. im Walkfcjen Areife, Teit. Rationalität 
Gpmn. zu Neval. Wurde Cffigier, nahm icil am der Erpedition gegen die 
Gorzen im Tergebiet, und die Mhaltefinzen, 19 Tberit, O2 Kommandeur 
des 11. Oftjibir. Schüggenregiments. Fiel IS. April im der Schlacht am Jalu. 

Aandeſen, Robert, Pator, * 63 in Zorma in 2., Oymn. zu Dorpat, jtud. 84/0 
(12,839). Hitfspred. in Hauge, dann in Zellin; feit 91 Paltor in Turgel. 
+3. Mai. 

Langer, obert Derm. Fl, 35 in 2. Warm, ſiud. 00/1 ( 
Apothefer in Mg. FL. Dez. in ige. 

Lankenfeldt, Friedrich, ° 01 in Kabillen (8), Oymn. zu Goldingen, ftud. Med, 
u. Chem. 820 Car). Schte eine Zeitlang in Yigat 1%), nahm P4 
an einer Waulfijgfängersrp.diion von Yanmmerfeit aus, ID au der des Grafen 
Seyferling im Vehringsmeer teil. Lchte eirdem in den oftafiat. Hafenftädten. 
eitere eine Tranfiederei auf Caalin, war zuleit Jnhaber ciner Drogerie in 
Dalny. F dajelbit im danugr 


















































weist 














Sißtenfein, Karl Gottl. ud... *27 in #., Myarmazcut, find. 52/73 (5812). 
56/86 Apotpefer in & #15. April in Goldingen. 





Necrologium balticum 1904. 40 


Kleven, Conſtance Fürftin, *30. Oft. 37, Leiterin der von ihr gegründeten 
Vorbereitungsfgule des ig. Jungfrauenvereins. f 3. Jan. in Riga. 

». Sifgewilfh, Matthias, vereid. Rechtsanwalt. 51 J. + 3. Rov. in Riga. 

v. Koewenthaf, Friebr., Journalift; 85 fl. Redakteur der „Land u. forftwirtfch. 
3ig."; feit ca. 95 im Yuslanb, Herausgeber ber „Deutfäen Warte“ in Berlin, 
Mitarb. der „Preuß. Jahrb.” uf. } 8. Febr. (26. Jan.) in Rigpa- 

Eoffreng, Frau Olga, geb. Aſcharin, Direltrice in Reval, + 25. Mai. 

Lohrens, David Sud... Ültejter der St. CanutisGilde in Reval. } 28. Aug. 

Korb, Friedrich, Kaufmann, Üftefter Gr. Gilde, ftammte aus Deutfchland, kam 
ca. 80 ins Sand und übernagm in Riga die von feinem Yruber begründete 
Firma C. Sorch u. Ro., bie er balb bucd) feinen Unternehmungsgeift zu großer 
Blüte bradite. + auf einer Reife in Mosfan 15. DI. 

v. Füdingdanfen- Wolf, Eugen Bn., Oberft. Mar Zögling des Pagentorps; 
begann feine milit. Laufbahn im 2.,G.Reg. zu Pferde, war dann Tange 
Jahre Poligeioffigier in Petersburg. Kommandeur der Warjchauer Gendar« 
meriebivifion. f 20. Oft. in warſchan 

v. Tuhan, Joh., HofR., Telegraphenbeamter. } 28. Jan. in Riga. 

Magemty, John Graf, Dr. med, Geil, "31 in Cummingetof be Hign; 
Krümmerfche Anftalt und Pirkencuh; ftub. 49/55 (640. Liv.). Ceit 58 
Augenarzt in Peteröburg, 61/78 Orbinator, feildem bis 100N Direhtor des 
Augenhofpitals. Seit 74 Mel. Leibofulit. 05/95 Selr. den „Bereins Pelertb. 
Ärzte.“ Mitbegründer der „Blejfigfgen" Blindenanftalt 79. Seit 82 Mit, 
glied des Medizinaleats. Siebelte 1900 frankheitsgalber nach Laupich bei 
Sein über. + 16. (2.) Muguft in Salyungen 1. 26. 

Marägraf, Micael, Gutsbefiger in C, Wredenhagen (feit 71) und Pajat (feit 
92). +26. März zu Pajat. 

Wariens, Guftov, WS, *37 in Riga; ſtud. Jur. 57/61 (6641), Cand. 
61/83 im Quftigdienft in Riga und Petersburg. 83/01 Glied der Sinilabt. 
des Begirfögeriht8 und feittem Not. publ. in Wilna; war aud 17 Jahre 
Präfes des dortigen ev. Rirhenrats. + 12. Juni. 

Maurad, Friedrich, praft. Arzt, *50 im Dberpahlen, Schmibtfche Anftalt in 
Felin, fub. 76/65 u. 80708 (10,081. Liv). Sandarzt in Gambg. + Blei 

. Oft. 

.. Mapdet, Afed Bn. + 5. Ian. in Real. 

Meder, Eduard, HofR., *20. Ron. 30, } 4. April in Real. 

v. Mengden, Karl Bn., *27 in 2., ftud. Ram. 46/51 (4087). Gulßoermalter- 
dann OutSbefiger (Rüffel). f 1. März zu Rüffel in 2. 

v. Merdfin, Karl Eugen, Aademiter, Geh. Dr botan., *21 in 2, ftub 
Bot. 40/4 (4030), dann in Paris u. Jena; 47—65 Dozent am Forftinftitut 
64-77 Prof. der Botanit an der mebchirurg. Aademie in Petersburg 
+ dafelbft 26. Nov. 

Miram, Friebe. Hermann. f 29. Juli in Petersburg. 

WMüpfentfaf, Alerander, *55 in 2., ftub. Det. 76/79 (9054). Seil 79 Arren« 
dator von Laisholm in 2. und Obervermalter der Mannteuffelfcjen Güter. 
+ 5. Dai in D. 

Mälverledt, Wühelm Orgelbauer. 70 J. +2. Auguft in D. 

Neander, Groin, Dr. phil. 30 3. #3. Jan. in Riga. 

AiRitin, Aegonder, Oberförfter. } 29. Dft. in Wenden. 

v. Nolhen, Hermann Bn. + 5. April in Riga 

». Aofen, Georg Bn. + 12. Sept. in Niga. 

Xorkin, Konftantin, Dr. med, Kirchfpielsargt in Lais. 309. +28. Ron. 
in Laispoim. 

FM Baltifgej@Ronatafcheift 1908, Heft 1. 4 























50 Necrologium balticum 1904. 


Nowigkt, Simon, Stedt. Elementarſchullebrer, *52 in Iakobftabt; beſ. 69/72 
da8 erite Dorpatiche Sehrerieminar. Lehrer in Jatobflabt, feit 74 Lehrer an 
verfch. Elementarfcpufen in Riga. Hat fid um das Mufeum des ig. Iett. 
Vereins verdient gemacht, deffen Jmipeftor er feit 91 war, ebenfo 96 bei der 
—** ber leim chen eifmograph. Außftellung. F 28. Auguft in Bad 

aueim. 

v. Helſen, Julius Frhr, Arrendator auf Schloß Pürfeln in 2. + 14. (27.) 
Dig. in Aönigsberg. 

Olſtino, Karl Eduard *52 in 2., Pharm., ſtud. 76/7 (9877). Seit 78 Prov. 
Aue „grieer der Lörenapothefe in Riga. + 28. Jan. in Wehramalb 
(Bat - 


Offen, Jatob Eberh., *2. Juli 35 in Libau. Erzogen im bortigen Waifen, 
Haufe; wurde Kaufmann, 60 felbftändig, 67 Ältefter Gr. Gilde. Stabtoer: 
orbneler. Geit 03 Stadtwrafer in Libau. } 20. Mai. 

Oppermann, Georg Hugo, *31 in Aiga. Schule in Pernau; Apotheler; ſtud. 
56/8 (65 ronilor Gis 76). und rrendator der Bienerifcen, fodann 
Befiper ber chem. Haetgefchen Apothele in Reval. f 13. Auguft. 

Orgies von Autenderg, Konrad Bn., + 31. März in Mitau. 

SRourke, Eugen Graf, Generalmajor a. D., f 27. Day. in D. 

Panker, ittor Hugo, +42 in Reval, ftud. Jur. 62/8 (7547. Eston.). 60/77 
Gefchäftsführer der eftl. Gouo.«Regierung, 77/89 Sehr. ber Kriminalabt. de 
Neo. Rats, dann bis Ende 02 Sefr. der Handelsbeputation, feit 91 au 
Gehilfe des Not. publ. Glödner in Reval. Rorrefp. ber „DünasStg.” und 
Mitarbeiter ber „Rev. Big." F 11. April. 

Pauder, Karl Georg, proft. Atzt in Simferopol. 33 3. + bafelhft 29. Sept. 

Yaudler, Theodor, 47 3. } 18. Jan. in Petersburg, beerd. in St. Simonis 
in Eitland. 

Feterfon, Nlercj, Stobslapitän, *3. Mai 67 im Couo. Tambom, flanmte aus 
ige. " Gpmn. zu Rige und Reval, Abitur. 87. Wurde Offirier, verbrachte 
dann 7 Jahre ais Topopraph in Riga, wurde 03 ins Mpdorgice Regiment 
galt und fit 30. Gepl. 04 in einer ber Gilaäten milden Zanlat und 

ben. 


Veierſon, Karl, chem. Parochiallehrer in Rodenpois. 57 9. +2.OH. in Kige. 

Dezotd, Karl Auguft, *26 in MWelenberg; Gymn. in Dorpat; fhub. Ram. un 
Toeol. 46/52 (4930. Eston.). 58/95 Baftor zu Meriama in €., 00/5 auf 
Propft der Sandwiet. + 6. Dei. in Seal. 

7’raff, Julius, dim. Revaler Ratsherr, *30. Juni 27 in Reval; GafInbädiche 
Schule; wurde d4 Kaufmann, übernahm 7 die väter!. Brauerei in Real. 
67/80 Ratsherr, Oberfämmerer, bis 88 Airdienvorficher, aud) Kircfpielßrichter 
au St. Jürgens. Übergab 88 das Gelhäft den Söhnen, blieb aber in verſch 
Tommumafen Smtern tätig. F 20. Auguft. 

Pfeiffer, Julius, Urchitelt, *47 in DWarkhau; Gymn. dafelbit, Rig. Polptehn., 
Baufcule des Minift. des Innern. Seit Juli 77 jüngerer Ingenieur, feit 
Febr. 90 jüngerer Architelt ber Tiol. Gouo-Hegierung. Sein iegter Bau war 
daS neue Poltgebäude in Riga. F 9. April. 

v. Pfeifiger-Firond, Rudolf Bn., Majoratöherr auf Frand-Schfau u. Dgley, 
Erbhere auf Donnerhof in X. 7 11. Dez. in Mitan. 

v. Pistoßfhors, Alerander, *51; ftud. Zur. 72/4 (0200). Sandwirt, Erbherr 
auf Kolpen und Cytafch (jeit 87), Beiiker von Jbfel (feit 88) in Linland. 
+ 31. Juli in Rolgen. 

Fodrt, Eduard, Paftor, *42 in Pullowa; Rig. Gow..Cymn., ftub. Theol 
62/8 (7570. Fr. Rig.). Seit 73 Paflor zu Nodenpois in 2. 70/80 geiftl, 
Schulzeoident, feit 8 Tiot. Schulrat. Tätig aud auf bem Gebiet ber Teil. 
Zoftstiteratur. + 10. Sept. 

















Necrologium balticum' 1904. 5 


Voorten, Ernſt Lubmig, + 15. Mär in Mosfau. 

Praetorius, Karl Gabriel, +30 in Riga; Rig Gouo..Cymn., ftub. 52/3 (5880. 
Fr. Rig.), Cand. 61/89 Sefr. des furl. Oberhofgerichts; feit 50 Glied der 
Direktion der Mitauer Stabtiparfaffe; beeidete daneben aud) manderlei 
Efrenämter. + 22. Juni. 

Furin-Smwißguf, Johann, Oberlehrer am II. Wilnaſchen Gymnafium, } 4. Oft. 
in Pintenhof bei Riga. 

Raabe, Arnold, Mag. pharm., *52 in 2., ſtud. 74/6 (643). Apotheler in 
Petersburg. + 8. Oft. 

Wachleln, Karl, Beihenhrer an ber Zeubftummenantlt in Ferner (Sol), 

m de feine 018 Dietor Deb Hepßato-Berins erhienten Targelien 
—X Rarl Roedlein 23 3. + 28. Oft. in dennern 

». Hamm, Gent, *5. De. 37, Erbhere von m Saitat in Eſtland. + dafelbft 
11. Auguft. 

v. Haufenfeld, Georg Eug, *60; Rig. Stadigymn., ftub. Jur. 81/5 (11,208). 

Seit 95 Nitbefiger von Kingmundshof in %. Melt. Affefjor im Iivländ. 

Konfiftorium. + 20. Juli zu Ringmundshof. 

d. Zeae, Karl Fehr., *60 in Weiß / Plonian (Goub, Korıno), 74/81 Gymn. 

zu Mitau, ftud. 81/5 Zur, Chem., Det. (11,338. Cur.). Seit 86 Befiher 

ven Staigoig (Ooim. Aammo). +28. Dit, wurde non einem finer Anchte 
ermordet, 

©. Wieh$of, Amold, Dr. med, *30. Abtil 79 in Zelin, ftub. 2 9. an ber 
Zandedunioerfität (rat. Rig.). Beendete fein Studium in Bingen . 
Aifitent am Rigafchen Staditranfenfaufe. ? 20. Rop. 

Aiygont, Eduard, Aademiter, Zeichenlehrer an der Aigafcgen Stadircalfchule. 
+ 15. Non. 

». der Mopp, Friebe. Zchr., Erbfere auf Radwilan. f 2. Jan. in Riga. 

». Moschus, Karl, Generalleutn. 0. D., *32 in Schrunden in A. War Brigade» 
Tommanbeur im Roufofus und Tebte zulept als Privalmann in Frauenburg 
(Rurl). + 25. Nov. in Riga. 

v. Roſen, Woldemar Baron. *15. Febr. 69, } 7. Febr. in Kunst, 

Hofenderg, Woldemar, Gefhäftsführer der Revaler Filiale der Atiengefelfich. 
Gerhard u. Hey. + 9. Oft. in Heval 

Müdiger, Theodor Graf, dim GardesKittin., Befiper von Schloß Ah in E. und 
Wajoratshere auf Lublin-Dojlidy (Gouw. Grodno). 81 I. a. + 17. Sept. 
in Dojlidg. 

Salfnann, Karl, Dr. phil., ehem. Oberlehrer an der Revaler Domfchule, *20. 
&. Jan.) 37 in Heffen-Roffel, ftub. Theol. u. Philol. in Berlin, Marburg, 
Göttingen. 60/86 Oberlefrer der Religion und Deutfden Sprache an der 
Domfchule. Sodann Keligionslehrer in Kafjel und feit O1 Stadipfarrer in 
Kirchhain bei Kaffel. Begründer des „Deutichen Mohltätigteitsvereing“ in 
Reval, Bielfad, literarifch tätig; forrefp. Mitglied der Eftl. Yiterar. Gefelfic. 
+ 3. (12) Juni. 

SGadert, Johann Abert, SIR., *4. Juli 32 zu Witau; Mit. Gymn. Wurde 
Scheer, 870 an der Gabritföue in Sintendef (&, 60/9 Clemenlarlehrer in 
Grobin, 70/8 am Gym. zu Gofbing dere Ser, Bm Infpettor an 
der ig. Kreisfepufe; feit Aufpebung. biefer Nnftalt Oberlehrer ber deuticien 
Spradie an der Peler-Nealihule in Riga. + 11. Juli. 

Säerehy, Karl, Rüfe unb Drgenift zu Beauenburg, bci feit 14 im Die. 
78 3. + bafelbit 20. Sep 

sqert, Auguft, —— *28 in Riga, feit 61 in Libau; ſeit M2 
Ältermonn RI. Gilde. } 14. * 














” Veerolotiam balticam 1904. 


v. Schiling, Gneomar Bn., *14. Aug. 74 in Jürgensberg (@.), ſeit 02 Beamter 
der ruff.cchinef. Bat in Schanghai. + bafelbit am Zpphus 27. Auguft. 
Sämachling, Wolf, *43 in 2., ftud. ur. 63/72 mit 2jähe. Unterbredun ing 
(7729). Bankbeamter in Riga und Wilna (Priv. Handelsbant), feit 

Direltor der Börfenbant in Libau. + 18. Febr. 
Smith, gu, En med., WSLR., *32 zu Dideln-Paft., ftud. 51/5 (5697. 
Rig.). arzt, auptfächlich im Anufafus, feit DB praft. Arzt in 
— 3 Yan. 

Schmidt, Karl Georg Guibo, Prof. emer., *17 in Petersburg; Petrifchule, 
Dorp. Gpmn., ftud. bei. Chem. in den 9. 37/45 (8694. Liv.), dann im 
Ausland. Direktor des dem. Laboratoriums an ber Ingen.-Aab., Chemiter 
bei ben nftalten ber Raiferin Marie. Lebte penfioniert in Marburg. 
+ 12. Sept. n. Si. 

v. Shnadendurg, Robert, Ingenieur, SIR. + 18. Nov. in Wilna. 

Schönfeld, Dav. Wilhelm, ehem. Mufiticher, *26 in Chemnig, feit 45 über 
30 3. 2. Viofinift im Rigaer Theaterordjeiter. 7 29. Jan. in Riga. 

v. Shöpping, Zur. Bm. Reifte, nadidem cr chen bie Alezander-Militärfhufe 
in Mostau abfoloiert hatte, im Auguft d. J. auf den Kriegsfgauplag, wo cr 
ins 22. Oftfibir. Scüßentegiment eintrat, und fiel in den Kämpfen vor 
Mufden am 2. Dit. 

v. Schultz, Konitantin, Kapitän 2. Ranges (* 64, Gyınn. zu Reval), wurde bei 
der Ernennung Abmiral Matarorg zum Kommandeur bes Oftafiat. Gejchmabers 
dieſem als Minenoffizier des Stabes unterftellt. F auf dem Panzer „Betro- 
pawlonst” 31. März vor Port Arthur. 

Schufgen, Woldemar, Dr. mod., *67, ſtud. feit 88 (13,780); Chirurg am 
Nitolai-Komitee-Gofpital in Petersburg. + dafelbit 2. De. 

Schutow, Ignatius Az, Kaufmann, Direftor der 3. Gef. gegenfeit. Arebits, 
Herausgeber des „Riisti; Wieftnit“, bi vor furzem aud, Stadtverordneter 
und als folder einer der Führer der rufi. Mähfergeuppe. 70 3. } 2. OR. 
in Riga. 

Säwark, Gruft, *56 in 2., ftud. Jur. 75/8 (9641). Archivar am livl. Hofe 
gericht; verwaltete 85/6 das väterl. Out Vollershof; 86 wieder Hofgerihts- 
beamer. Seit 89 Gelr. des Riga-Wolmarigen adl. Bormunbfcoftsamts, 
aud, Gehilfe des Sefr. des lol. Konjiftoriums. + 23. März. 

Shwark, Wilhelm, Oberpaftor emer., *25 in Mitau; Mit. Gymn. ftub. 45/50 
(4787. Cur.). 55/92 Oberpaftor an St. Jopannis in Dorpat. Lebte feitbern 
dort als Emer. + 17. Jan. 

Semel, Georg. Os J. +24. Jan. in Schloh Mojahn. 

Siewert, Wegander, — 42 in Gr. Een; fhub. 64/8 Dipl. u. Jur. (7890. Cur.). 
Cand. jur. 82-02 Schr. der Steucroerw. in Mita. + 21. Dez. in Mitau. 

Simon, Eduard, dim. Mel. ruff. Rammermufifer, *13. De. 22 in Leinyig; 

45/56 erjter Violinift am Yigafchen, feit 56 an den Mel. Theatern in Beters« 

burg, zulegt 2. Dirigent u. Songerimeiier am dortigen beutichen Hofiheater. 

Benfioniert zog er 87 als Privaimann nad) Dorpat. + 5 Oft. 

Sivers, Aug. Gregor, *26 zu Morne in Lipl. arümmetſche Anftalt in 

Berto; ftub. 46/50 Bhnfit u. Del. (4973. Liv), dann im Ausland. Sands 

wirt, Geit 59 Befiger von Kerjell in Liot., 62/89 Mitglied der Liol. Del, 

Sogietät, 90 Ehrenmitglieb. Begründer des Merrofcien landivirtfch. Berein 

Schte 88/93 in Graz. fiber in Kiga, wo er auch Präfes der Bauernrentens 

bank war. 4 20. Nov. in Riga. 

Sponholy, Ent: prakt. Arzt, *32 in Edwahlen (R.), Privatgymn, in Selena, 
ftub. 51/6, 59 (5665. Cur.), Sandarzt in R., feit 80 Arzt in Römershof. 
+ dafebft 31. Des. 

















Necrologium balticum 1904. 58 


». Stacelderg (a. d. Haufe Röal), Kurt Bn., Marineleutnant, fiel auf dem 
Rreuger „Riurit“ in der Seeichlagpt bei Ulfan 1. Huguit. 

». Stadederg, Karl Bn., Cröherr auf Lilienbach bei Rarva. f 18. Rov. in 
Lilienbach. 

Stamm, Heine. Theodor, stud. rer. ing. am Rig. Polgtenitum (Rubon.). 
Fiel’ 27. Ok. im Biftolenduel. 

Stenbod, Hermann Graf, Generallcutn., Kommandeur des Örenadierforps. 
56.3. 38. Mai in Petersburg. 

Stieinsky, Sriebric, Mag. jur., *28 in Dorpat; Gymm. dafelbit; ftud. 45/9 
(4729. Fr. Rig.). 51 Hofger.-Mdo. in Dorpat, feit 54 Protonotar u. 65/89 
Sehr. des Fol. HofgerichtS, welde Stellung von bejonderer Bedeutung war 
bei der Einführung deS zum erjten Mal fobifigierten proviny. Privatrechts. 
gebte feitbem als Privatmann in Riga. } 5. April. 

Stifmard, or, Mag. jur., #39 in Dorpat; Zrivaiſchule in Werro, ftud. 
57/60 (6634. Eston.).” 61 Poligeioffefior, 78/94 Staotfelretär in Dorpat. 
+21. Jan. 

Stoll, Karl Friedrich. Paftor emer., *03 zu Jürgensburg-Paftorat; Rig. Goun.« 
Gymn., ftub. 24/27 (1913. Fr. Rir.). 27/78 Baitor zu Sifjegal’Atenmoga. 
gebte feitdem emer. in ige. + 19. April. 

». Strand, Mar, Dr. med., *56 in 2., ſiud. 76/81 (9910). Seit 82 prakt, 
Arzt in Moslau; Dogent an der Most. Univerjität; feit 03 Direltor des 
wang. Hofpitals. F 26. Fehr. 

Strunße, Hermann, StR., *42, ſtud. Gef. 62,6 (7597), Cand. Lehrer amı 
Way’igen und 10. Oymn. im Petersburg. + 26. Juni in Bentental bei 
Wolmar. 

Strupp, Ronitantin Souis, Grofindufteieller in Sibau, Gründer der Rafginen, 
fabrif „Wefuv“, Langjähe. Stadtverordneter und Glied des Sibauer Börfen- 
fomitees, zulegt auch Präfes des Yandelsamte. 46 3. } 9. Sept. in Riga. 

v. Talderg, Carlos, SR. 78. J. + 19. Mai in Riga, 

Tarasıtemicz, Eduard, Dr. med., *41 zu Riga; Rig. Ooun.-Ögmn.; jtud. 
65/02 (7907). Aifittengargt an der Univerf.-Abt. des Stadihofpitels; Marine: 
art, feit 88 in Kronitadt. } 12. Sept. in Petersburg. Murbe, obgleich 
Ratgolit, auf feinen Wunfd; aus der St. Petrificche auf einem Luth. Kirdhhofe 
beerdigt. 

Tempek, Karl Friebr., dim. Gymmnaſiallehrer. + 9. Ron. in Libau. 

WHoms, Henry, ehem. brafilian. Konful. + 20. Mai in Riga. 

v. Jobien, Mag, *57 in Dorpat, ftud. Jur. 70/84. Cand. (10671). 84/5 
Stadts, dann Sandger.Sekr. in Sellin. Seit 89 Seftetär der Grundbuchabt. 
des Bernau » Fellinfhen Friedensrichterplenums in Felin. F 16. Dit. zu 
Emhof bei Sellin. 

». Trentovins, Georg, *18 in Kurl., lange Jahre als Sandirt, Beamter, 
Gymn.sLehrer im Jnnern des Reiches tätig; lebte ichlichlid peufioniert in 
Benja. In der legten Zeit reilte er fait jährlich in die Heimat, um hier 
den Seidenbau zu fördern (Gafenpoth, Goldingen, Arensburg, Gemauert: 
Poniemon); war Efrenmitglied der Most. Seidenbaugeielichaft u. Präftdent 
der Balt. Seidenraupenzugjt:&ej. + 0. Juli in Gemauert-Poniemon. 

Treumann, Ferdinand; Art, *67; ftud. Med, feit 88 (13,549). Fiel im der 
Scylacht bei Linojang (11./20. Huguft). 

Hexküt von Güfdensand, Fedor Bu. + 31. Jan. in Ejtland. 

ARstin, Karl. Begründer und Redalteur des „Lutwertis“ (jeit 1882) und it: 
Gegeänder fait Jamtliher nifden Wereine In &iban. + 18. Jar. in Yiban. 
































54 Neerologium balticum 1904. 


v. Bingern-Sterußerg, Eduard Fehr, Dr. phil., *36 in Saifile in Eftland. 
Rev. Domfchule, ftud. Theol. u. Geich. 55/7 (6368. Eston.), dann im Aus, 
Tand. Wurde Politifer und Journalift. Seit 83 in Berlin, ftändiger Wit, 
arbeiter der „Areugpeitung“, dapwilchen audı der „Ronfervaliven Rorrefp.” u. 
der „Ronfernativen Monatöfche." 84/7 beutichfonfervat. ReichStagsabgeorbneter 
(Wahltreiß Bielefeld). Bert. der O2 erfcienenen „Erinnerungen eines alten 
Eitländers“, von denen er nachher nod; eine Fortjegung „Jrejahte” in ber 
„Bonatsiche. für Stabt u. Sand“ veröffentlichte. f 25. Nov. in Berlin. 

Bogel, Johann Martin, Üft. der St. Joannis-ilde in Riga. + 8. M 

Bol, Wilhelm, Brof. DDr., *18. (6) Nov. 35 in Nürnberg. Stud. Theot. 
53/9 in Erlangen, 61 balelbit Privatbogent. 62 Dozent, 03 ao. und 04/98 
rd. Bro. für Temlfge Spracien u. alteftan. Cesgele in Dorpet, Im Juni 
93 im Amte nicht wieder beftätigt, wurde er zum außeretatmäßigen ord. Brof. 
nad) Greifswald und 1900 zum ord. Prof. nach Hojtod berufen. Cr war 
mit feiner zweiten Heimat auf innigfte vermadjfen; feit 97 aud) Ehrenppilifter 
der Sivonia. + 16. (29.) Mai in Roftor. 

Borkampff-Sane, Arthur, Dr. med. *64 in 2, ftud. 84/9. f 10. Auguſt 
in Voromitfe 

v. Waßt, Ostar, *64 in Aſſit in Eitt., Gymn. Fellin; itub. Nat.Det. 84/8 
(12,283). Beamter im Finangminifterium. f 14. März in Petersburg. 

v. Wapf-Pajus, Ritolai, *33 zu Pajus in 2.; Schmibtice Anftalt in Fellin, 
itud. Kam. 52/6 (5835. Liv.). Sandvirt, Befiger des väterl. Gutes Pajus. 
Vetleidete mehrere Sandesämter, 62/8 Rirchfpielßrichter, 82/7 Sreißbeputierter. 
4.8. Nov. {m Bajus. 

v. Wallendurg, Paul, SIR., *24. Juni 44; wurde 63 Telegraphift; 87 Chef 
der Volt» u. Telege.-Stat. in Penfa, 8) in Ufa, 96 in Jurjem (Dorpat), feit 
1900 in Real. + 20. Mai in Reval. 

Wafter, Julius, Mag. pharm, 22. Oft. 71 in AT. Jungferufof bei Riga; 
Rig, Stadtgymn., 87 potgeferleheling, ftub. 03/4; feit 9% Chemiter bei der 
zuff. pharmazeut. Gefelich. in Petersburg. } 1. Oft. in Oger. 

Warrikoff. Dar Rene, *59 in 2.; Gymn. zu Dorpat, ſtud . Med. 80/5 (10,812). 
Seit 36 Mitarbeiter, dann Rebafteur der „Lodger Big.“ + 19. Mär. 

Weltmann, Martin, Inhaber ber ehem. Kraufeſchen NApothete in Riga: 38 J. 
+7. OH. 

Benrhan, Johann Julius, Kommandeur des Libauer Leuchtichiffes. + 28. Nov. 

Berndie, Alerander, Kaufmann und Stadtverordneter in Fellin. } 7. Mai 
in Riga. 

BWlegandt, Emanuel Magnus, HofR., + 4. April in Riga. 

Winffer, Ostar, jeit 54 Obervermalter auf Schloß Karkus in 2. + 12. Juni. 
Wittmann, Karl, StR, *44 zu Berfohn in 2. Rig. Oymn., ftub. Med. 06/70 
(8127. (Liv). Sehrer der deutfcien Sprade in Petersburg. + 8. Febr. 
Wofdemar, Johann Ulcih, Kaufmann, ehem. Ratsherr und langjähr. Direktor 

Tolfege der Gemeinbebanf in Mitau. 75 I. } 25. Nov. 

v. Woffiefdt, Albert, *53 in Karlsbad bei Niga; Pirfenrub; jtub. Zur. 74/82 
9493. Liv.). 83 Affefjor des 7. Wenden,Waltchen Kirchipielsgerichts, 86 

ter in Gilfen, jeit 90 Rendant der Kol. Rüterfhaftsrentei in 

. Febr. 

v. Woffreldt, Albert, dim. Candeicter, f 30 in Wenden; ig. Gynn., ftud. 
Tipt. u. Zur. 50/4 (5511. Liv); 54/08 Ufj. u. Sele.’des Sandger., 08/89 
Landeichter in Wenden. Seitdem Gefcäftsführer der Wenden-Waltjcien adel. 
Vormundfejaftsbehörbe. + 1. Muguit in Wenden. 

v. Wrangel, Eduard Bu, *8. Mai 64 zu Raich in E. Revaler Domſchule. 
Beamter an der Palt. Bahr. F 0. Mär in Reval. 










































v. Bath Adolf, Erbherr auf Schloß Schwegen (feit N), *57; Gymnaſ. 


Neerologium balticum 1904. 55 





iebaben; Birlenrub; ftud. Jur. und Rat.Deton. 79/83 (10,594. Lir.). 
+ 25. März (7. April) in Bien. 
». Zimmermann, Karl, Oberft a D. 87 3. } 9. Nov. in Tudum- 


v. Zwingmaun, Bitter, *46, Oymn. zu Riga, ftud. Jur. 63/7, Cand. ( 





* 
68/78 Affefior des Slig. Sandvogteigerichs, 78/89 Hatsperr (Vige-Synpifus, 


Obermettderr). 


Berdient um bie heimifche Rectsforichung durch die Yerans- 


gabe mehrerer Bände Vräjudifate des Rats. Seit 89 Chef der Grundbuch: 


abteil. des Ri 


! 


ja-Wolmarfchen Sriedensrichterplenums. Dozent für Yandels- 


test am Rigacen Polgtechnitum. + 17. Rop. in Riga. 





Am Ufer des Lebens. 


— — 


Yın Ufer des Lebens, wandelnder Träume voll, 
Steh ich verjunten in Lauſchen, 

dernher Hör ich, fernher und Icbenstoll 

Die Wellen raufehen. . . 

Dem Liebenden gleich, ftill will ich niederfnien, 
Die Hände erheben: 

WR du mic) ewig fchlafenden Anges fliehn? 
Öffne die Augen mein Leben! 

Du ſollſt mich anfehn, Antwort und Rede ſtehn, 
Dich ganz mir fagen! 

Sieh mich an, wie einft du mich angefehn 

In träumenden Tagen! . - 


80. Freymann. 


EHRT? 


AS 


Kulkurgeſchichkliche Kisʒellen. 
— — 
Otto Peter von Stackelberg. 





bix merkwürdige Epifode hat dieſer Stadelberg in feinem 
Leben zu verzeihnen. Gadebuſch jagt von ihm, er fei „ein 
munberlic toller Menſch gemejen, von dem man ein Bud, 
fchreiben fönnte. In Schweden habe er feltfame Händel ange: 
geben und ben damaligen franzöſiſchen Botſchafter auf das ärgite 
beleibigt 4.” 

Dtto Peter war ein Sohn Karl Adam von Stadelbergs, 
des ſchwediſchen Generallieutnants, ber im nordiſchen Kriege an 
den Schlachten von Kaferig, Rauge und Grreitfer teilnahm, des 
Verteibigers von Dünaburg, Stade und Straljund, 1714 ſchwedi⸗ 
fher Freiherr, aus beflen britter Ehe mit Ulrite Eleonore von 
Albedyll 2, 

Früh Kriegsdienfte nehmend, war Otto Peter 1735 Bolon- 
tair bei ber failerlichen Armee gemefen, 1738 Adjutant bes äfter- 
reichiſchen Felbmarihalls Prinzen Karl von Lothringen, dann in 
ſchwediſchen Dienften 1741 NRittmeifter in General Niglens Negi- 
ment und Abjutant des Grafen Löwenhaupt ®. 

Über jene „Händel“ mit bem —A—— Botſchafter gibt 
uns das „Ardiv Woronzow“ einigen Aufichluß *. 

Im Dezember 1743 hielt fi Stadelberg in Königsberg 
auf. Er muß damals etwa 30 Jahre alt gewejen fein, eine hohe, 
mannliche Erfcheinung. Hier traf nun Etadelberg im Wirtshaufe 
zur „Stadt Riga” mit brei aus Rußland nach Frankreich reifen: 
den Franzoſen zufammen. Beim gemeinfamen Abendeſſen entjpann 
ſich ein politiſches Geſpräch. Stadelberg äußerte feine Unzufrieden- 
heit mit den augenblidliden Zuftänden in Schweden, die auf die 
Dauer unhaltbar feien. nfnüpfend an bie Meinung feines ver 





2) Sic. Son; Gebehufc, Genbfärif. —— 
2) Aedhiv der Familie v. Stadelberg. Br. I! 2. 3) Familien» 
rd. — 4) Archio des Süriten Woronpom ea, x Blue on. 
Brevern, Zur Geich. d. Fam. v. Brevern. ®d. IT, ©. 77, Anm. d. 





aulturgeſchichttiche Miszellen, 5 


ftorbenen Proteftors, bes Grafen Löwenhaupt, und an vermeints 
liche Ungeredtigfeiten, die feinem Schwager, dem General Guftav 
Neinhold von Bubdenbrod auf Schujenpahlen wiberfahren feien, 
fam Stadelberg auf Rußland und die auch dort herrſchende 
Ungufriebenheit mit ber Regierung zu fpreden. Rußland, — 
meinte Stadelberg, rühme fih, Schweden einen Thronerben, 
Adolph Friedrich von Holftein-Gottorp, gegeben zu haben, doch fei 
diefes nur gejchehen, um ber Wahl des unliebfamen däniſchen 
Aronpringen vorzubeugen; der einjig gewünfchte fei der Prinz von 
Zweibrüden-Birkenfeld, — der augenblidlihe Thronerbe merde nie- 
mals regieren. Er, Stadelberg, fenne die maßgebende Meinung 
in Schweden jehr gut; die 10,000 Diann ruffiiher Truppen unter 
dem Feldmarſchall Keith würden ihre Heimat nicht wiederfehn, es 
wäre ein Leichtes, fie unihäblid) zu maden, ohne daß Schweden 
aud nur einen Mann verlöre; er jei überzeugt, daß noch vor 
Ablauf eines Jahres ein neuer Krieg gegen Rußland ausbredhen 
werde. In ſchwediſchen Negierungstreiien fei genugfanı befannt, 
wie groß die Unzufriedenheit in Rußland ſei und daß in furger 
Zeit dort eine neue Revolution in Auofiht fände. Stackelberg 
fei oft in früheren Jahren gegen Rußland gebraucht worden, mes: 
halb jeine, in Livland befegenen Güter, die ihm 2000 Rth. ein- 
trugen, konfisziert jeien.! Die ſchwediſche Regierung habe ihm 
jedoch für feine ihr geleiſteten Dienjte eine Penfion von 1500 Rih. 
ausgefegt. Nun fei er gewillt, anderweitig Kriegsdienft zu ſuchen, 
er wifje jedoch noch nicht, wo. 

Solde und ähnlihe Reden veranlaßten bie Frandzoſen, 
Stadelberg näher auszuforihen. Eine Aufforderung zum andern 
Tage zum Kaffee, wies Stadelberg jedod) ab, da er mittlerweile 
durch den Diener der Franzoſen erfahren, baß einer derſelben, der 
im Gejpräd ftets die Partei der Kailerin genommen, noch ruſſi— 
ſcher Offizier fei, — man möge ihn entſchuldigen, er fei unmohl. 
Obgleich die Franzoſen feinetwegen noch zwei Tage in Königsberg 
blieben, befamen Sie Stadelberg nicht mehr zu ſehen. 

Die Franzoſen waren: ber Chevalier de Reignac, beurlaubter 
Kapitän des Ismailowihen Leibgarde-Negiments und feine Reife: 
gefährten der alte Abbe Lefeore, ben der franzöſiſche Geſandte 
Diarquis de la Chetardie vor 5 Jahren als Beichtvater mit nad) 
Rußland genommen, und der Kaufmann Torin. Der Chevalier 
de Reignac ſah ſich veranlaßt, in Berlin ben Inhalt feines 
Geſprächs mit Stadelberg dem rufiiichen Geiandten Grafen Peter 
Tſchernyſchew zu berichten, da ihm die Sicherheit der Yarin 


%) Die Albedyllſchen Grbgüter feiner Mutter, Woidome und Alt-Carrol 
in Lipland, hatte Otto Weter D. St. am 23. Febr. 1734 für 31,000 Aıl, bem 
Dronungsrichter Mori Baron Botje verfauft. (Stept I, ©. 341.) In Eitland 
fol Stadelberg Ottenfüll und Wapaft befefien haben. 


58 aulturgeſchichiliche Miszellen. 


gefährdet erſchiene, auf Tſchernyſchews Wunſch dieſen Bericht 
ſchriftlich einzureichen und von ſeinen Gefährten, dem Abbé 
Xefeore und M. Torin mit unterſchreiben zu laſſen; dann reiſten 
die Franzoſen nad) Paris weiter. Am 10. Dez. 1743. meldet 
Graf Tſchernyſchew bie Angelegenheit in Petersburg!. 

Nun beginnt das unvorfihtige Geipräd in Königsberg für 
Dtto Peter von Stadelberg gefährlid) zu werden. Am 20. Januar 
1744 befahl die Kailerin, der Gejandte ſolle bie preußiſche 
Negierung um Arreſt und Auslieferung Stadelbergs erfuden, was 
der Minifter Podewils dem König unterlegt. Friedrich, dem 
gerade um gutes Einvernehmen mit Rußland zu tun war, erließ 
ſogleich einen Befehl an den fommandierenden General in Königs: 
berg, und Stadelberg, der Schwede, und nit ruſſiſcher 
Untertan war, wurde inhaftiert, nachdem er vergeblich feinem 
Hausmwirt eine bedeutende Summe geboten, um ihm zur Flucht zu 
verhelfen. Seine Effelten und alle feine Papiere wurden vers 
fiegelt und mit iym an der Grenze ausgeliefert ?, 

Die drei Franzofen find unterdeſſen in Paris angelangt und 
werben fofort in die Baftille abgeführt. Ludwig XV., fo wie 
er durch den ruſſiſchen Geſandten Fürften Kantemir von dem 
Stadelbergihen Geplauder in Königsberg erfahren, wollte auch 
feinerfeits ſich Nußland angenehm erweifen. Die Raijerin befahl 
jedoch ihrem Gejanbten, dem König von Frankreich für feine 
Liebenswürdigfeit zu danken, mit ber Bitte, die brei Gefangenen 
in Freiheit zu fegen?. Am 15. Jebruar wurden biefe nod) von 
Amelot, dem franzöfiihen Dlinijter des Neußeren, und feinem 
Setretär M. Flouſet vereidigt und einem jcriftlihen Verhör 
unterzogen. Sie fagten aus, was fie in Berlin bereits Tſcheruyſchew 
berichtet, woraufhin fie freigegeben und ihnen ihre Dokumente 
zurüderjtattet wurden *. 

Otto Peter von Stadelberg wurde durch Dermittlung bes 
preußiihen Gefandten Baron Mardefeld, ber ſich feinerfeits direkt 
brieflic) an ben General de L'Hopital in Königsberg wandte, an 
Die ruſſiſche Grenze geleitet, wo er von einem fpeziell ihm ent⸗ 
gegengeſchickten Kommando ber Rigaer Garnijon empfangen wird. 

Nun nimmt Stadelbergs Sade einen diplomatiſchen Cha— 
rafter an, denn dies alles geihah auf Anraten des franzöfiihen 
Sefandten Marquis de la Chetardie?. Diefem gewandten Welt: 
mann, ber damals die Kaiferin ganz beeinflußte und mit Leftocq® 

I) Ar. Wor. VI, ©. 50-53. — 2) Ebenda, ©. 24. — ?) Ehenda, 
&.07. — 4) Ehetardie hatte in jeinem Schreiben an Amelot 22, Märy/2. April 
betont, bie betreffenden Nusjagen hätten fich unter einander fomohl, als aud) 
zit Denen Stadelbrgs an ben sulfichen Öejandten in Sein u deden. — 
%) Chetareie an Amelot 17.28. Jan. 1744. Ach, Wor. I, S, 481. 505. — 
©) Joh. Herm. Graf $., Günitling der Kailerin, geb. 1692 in Geile im Hannovers 


i 
fen Tata Wundargi Peter I., Ieitete die Palaitrevolution, dur welde am 
41 Ehfabeh anf den Tran gelangre. + 1707 in Perershurg, 








E 





Aulturgefcictlice Misgellen. ” 


gegen bie antifrangöfifche Partei intriguirte, war bie Stadelbergiche 
Angelegenheit eine willlommene Gelegenheit, bie Monardin gegen 
die Brüder Grafen Beſtuſhew mißtrauifc zu machen und ihr von 
Verichwörungen zu ſprechen — aber vergeblich, wie er am 24. Mai 
(4. Juni) 1744 dem Minifter Duteil mitteilt. Am 11. (22.) 
Febr. fcreibt Chetardie dem franzöfiichen Gejanbten am Berliner 
Hof, Bolary, dab Stacelberg nun jchen auf dem Wege nach 
Mostau fei und bald dort glüdlich eintreffen werde. 

Stadelberg wurde wirklih auf Befehl der Kaiferin am 
2. März dem bekannten Inquifitor in politiichen Sachen, General 
Andr. Im. Uſchakow, zur Unterfuhung in der geheimen Kanzlei 
übergeben 2, wo in folden Dingen die Tortur jtets in Anwendung 
ward. — La Chetardie berichtet weiter, bie zur Unterſuchung der 
Stadelbergichen Sache ernannte Kommiſſion werde dieſem nicht 
gerade wohlgeſinnt fein und wenn er, Chetardie, den Tod des 
Sünders auch nicht erftrebe, fo wäre es doch wünfchenswert, daß 
— handfeſt bleibe. Am 1. (12.) März 1744 iſt Stackel- 
berg in Moskau angelangt *. Chetardie verſtand es ſogar, ſich in 
bie Angelegenheiten der geheimen Kanzlei hineinzumiſchen, er will 
den Generalprofureur Fürſten Nikita Trubezloi dem General 
Uſchakow zur Seite itellen. Er bemüht fih, der Kaiſerin darzu— 
legen, daß bie gehäffigen Ausfagen Stadelbergs gegen Rukland 
nicht ber Ausbrud ber ſchwediſchen Nation, jondern bloß die 
Anſicht ber Föniglihen Partei feid. Der eitle und ſchlaue 
Gejandte verjäumte auch nicht die Gelegenheit, bie Gewogenheit 
und Freundihaft Ludwig XV. der Kaiferin zu unterbreiten %, 

Am 26. Mai (6. Juni) jendet der Dlarquis Lanmarie aus 
Stodholm an Chetardie die Kopien ber Ausfagen des Chevalier 
de Neignac und feiner Genoſſen; der Marquis bedauert, da 
Stadelbergs Arretierung fo fruchtlos geblieben, d. h. feine wirt: 
fame Handhabe gegen Beſiuſhew geworden jei?. 

So waren die Worte, bie Otto Peter v. Stadelberg — 
vielleiht in Weinlaune an der Wirtstafel zur „Stadt Riga” in 
Königsberg gejprochen, zu einer Affaire geworden, die die Kabinette 
Europas bejdäftigte und ihm felbjt übel mitſpielte. Seine Unter: 
ſuchung in Mosfau dauerte fort. Im Laufe berjelben muß aud) 
bie Katajtrophe ber Regentin Anna zur Sprahe gefommen jein. 








') Sorzefpoubenz ber frangöfilden Diplomatie. rd. War. 4, ©. 401 
bi8 591. — 2) Arch. Wor., ©. 4. —— ©) Die geheime Kanzlei für Unter 
fuchungen politifcher Verbrechen, von der Staiferin Anna 0. April 1731 einge: 
richtet, war unter Ufchafoms Leitung mit unbeichränften Befugniffen aud) den 
Heihlollegien gegenüber. Die geheime Kanylei wurde erft von Peter III. abge: 
Ibaftt. -— 4) Ardı. Bor. 1 Cpetarbic aus Nosau an Volary nad) Berlin. 
_ Chetardie un Amelot 15.26, März 1744. — 
, 538, 539, 511. — ?) Mrıh. Wor. I, Aegei Petromirfd) 
Grof Beftujbe-Rjumin, geb. 1892, f 1766; unter Elifabeth, Reidystangler, 





[2] aulturgeſchiciliche Wisgellen. 


Am 26. Juli befahl bie Raiferin, e8 möge der in Mitau anwefende 
Oberſt Wojeitow ben früheren Braunſchweigiſchen Geſandten in 
Petersburg, Kapierlingt, wenn er hinfäme, heimlich aufheben, ba 
feine Befragung von Wichtigfeit!. Am 15. Oftober murbe ber 
Raiferin berichtet, der preußiiche Gefandte Mardefeld habe erklärt, 
es feien durchaus alle bei Stadelberg gefundenen Papiere ſogleich 
ausgeliefert worden, während Uſchatow noch nad) einem Tagebuch 
Stadelbergs forfcht?. — Wie der Prozeß endet, bleibt unbefannt, 
jebenfalls erhielt Otto Peter feine Freiheit wieder und lebte ſpäter 
bei feinem Bruder, dem Landrat Adam Friedrich Freiherrn von 
Stadelberg zu Merhof. — Geheiratet hat er nit, war aber ein 
mal mit dem Hoffräulein Maria Nurora von Mengden, der nad: 
maligen Gemahlin bes berühmten Günftlings ber Kaiferin, Grafen 
Leſtocq, verlobt; vielleicht war Stadelberg mit ihr verwandt, da 
feine Großmutter, Elifabeth Eleonore von Albedyll, eine geborene 
Mengden war. Sein Schickſal, jagt Gadebujh, hat ihn nicht 
gebeſſert. Er ift ca. 1770 wohl in Mexhof getorben °; uns 
gewähren aber feine Erlebniſſe einen Blick in jene längit ver: 
gangene, durch Willfür und Intrigue beherrſchten Zeiten. 


D. M. v. Stadelberg-Kiwibepäh. 


FE 


%) Ar. Wor. VL, ©. 119. — 9) Ehenda, ©. 148. — 3) Yal. audı 
Archiv der Fam. v. Stadelberg II, 25. Was der Herausgeber Herr Gottlieb 
Diof Hanfen da über Otto Mer v. St. berichtet, Tann füglid, durdigefteichen 
werden, wie leider jo mandyes in feiner Ausgade des II. Bandes des Gtadelberg: 
fehen Arhivs. Cs märe wohl dringend im Jntereffe genealogifch + hiftorifcer 
Forichung zu wünfcen, daß Ver ©. ©. Hanfen jich nie mehr an famifien« 
gelchichtliche Arbeiten macht. Der III. Band des v. ©t.Mecius foll 
Seitung bes Yeren Gtabtardjivars Dito Greiffenfagen erideinen; «6 
diefer Stelle an die Lefer der Baltiicen Monatsicrift die Bitte gerichtet, dieles 
Unternegmen der Familie durch Materialiennachweiß gu fördern — jeder Hinmeis, 
jede Notig wird Danfend entgegengenommen dur; mid) oder dur; Herrn Dito 
Greiffenhagen-Reval, Stabtargjivar. 








Sieben Vorträge über Germanifierung der Yetten. 
Cine Reminiszeng vom J. 1819. 





Wenige Jahre nad der Aufhebung der Leibeigenſchaft in ben 

Ditfeeprovinzen fand in den Sitzungen ber Kurländiſchen Geſell- 
ſchaft für Literatur und Kunft in Mitau, anfnüpfend an eine 
ganze Reihe von Vorträgen, eine angeregte unb lebhafte Erörterung 
der Frage ftatt, ob bie Herbeiführung einer allmählichen Germani- 
fierung der Letten wünjdenswert fei, ober nicht. Die Vorträge, 
ihrer fieben an der Zahl, find leider weber in vollem Umfange 
zum Abbrud gelangt, noch auch haben fie ſich handſchriftlich erhalten. 
Wir befigen nur ziemlich furze Neferate davon, bie fi) in ben 
„Zahresverhandfungen” ber Gelellichaft finden!. Aber fchon Diele 
Auszüge find intereffant gemig, um auch hier einmal vollftänbig® 
wiedergegeben werben zu bürfen. 

Die Diskuffion begann am 5. Febr. 1819 mit einem Vor: 
trage des Sallgallnichen Paftors Adam Gonradi: „Märe bie 
Metamorphofe ber Leiten in Deutiche zu beflagen?”, in dem er 
klar und beftimmt, nicht aus politiihen, ſondern aus fulturellen 
Gründen, für eine allmählihe Ummandlung der Letten in Deutſche 
eintrat. Gegen ihm erhoben dann in ben folgenden Sigungen 
ſechs andre Redner ihre Stimmen, die famt und jonders aus 
vielen Gründen ſich ebenfo bezidiert für die Erhaltung bes lettiichen 
Volfstums ausipraden. 

Freilich in der Form, wie es hier gefchicht, iſt die Frage 
ber nationalen dauernden Forteriitenz des lettiichen Volks heuts 
zutage garnicht mehr bisfutabel, nur von den großen Geſichts- 
punkten univerfalgefchichtlicher Entwicklung aus fönnte darüber 
geredet werden, und mancher Satz ſowohl im erften wie in ben 
übrigen Vorträgen wird heute nicht mehr aufrechterhalten werden 
Können und_findet feine Erklärung in ben philoſophiſchen ober 
fonftigen wiffenihaftlihen Anſchauungen jener Zeit. So begegnet 
uns glei in P. Conradis Vortrag die Meinung, es wäre für 
den Leiten beffer, wenn ein dichter Nebel ihm die Geſchichte ver- 
berge, „um feinen Groll zu erzeugen gegen feine Überwältiger” 
u. a. Das find Hußerungen, aus benen uns die Luft ber „Auf: 


%) 3b. II (Mitau 1822) ©. 15 fi. 
3) Unfängft hat auch, Paitor D. Ang. Bielenftein in feiner Selbftbiograpfie 
„Ein glüdlidyes Leben" (Sign 1904) an dieſe Vorträge erinnert. 











62 Rulturgefilätfiche Ditpeflen. 


Härungszeit” entgegenweht, die nur aus ihr heraus möglich waren, 
unter dem Einfluß jener Philofophie bes 18. Jahrhunderts, bie 
ein fo geringes Hiftoriiches Verftändnis hatte, ber alles geſchichtliche 
Werden und geſchichtlich Gewordene nur etwas „Unmejentlices, 
Zufäliges, ja fogar Störendes” war, die in ihrer „Natur und 
Vernunftgemäßheit”, wie ein großer Forſcher unfrer Tage fagt, 
„bie Geſchichte überhaupt nicht mehr nötig hatte.” Und wenn 
uns auch heute noch einmal gelegentlich geichichtlihe Betrachtungen 
und Urteile entgegentreten, die von bemfelben Geiſte getragen 
werben, jo find fie nur möglid bei ſolchen Schwärmern, für bie 
die Wiſſenſchaft des 19. Jahrhunderts garnicht zu eriftieren ſcheint 
und feine geiftige Arbeit, zu deren größten unb bebeutfamften 
Errungenfdaften eben bie hiſtoriſche Denkweiſe gehört, das 
Verftändnis für bie geidichtlihe Entwiklung. 

Wenn ferner P. Watſon in jeinem Vortrage das Lettiſche 
aus einer Verfchmelzung des Gothiihen und Slaviſchen entitehen 
läßt, ſo ift das ſprachwiſſenſchaftlich eine ganz falſche Anſchauung 
und darnad) ift dann wohl auch fein Ausfprud) zu beurteilen, dad 
es am natürliditen wäre, wenn die Letten ſchließlich wieder zum 
Slaventum zurückehrten. Wir heutigen willen, daB auch jept 
nod, nad) einem Jahrhundert der Entwidlung, die weſentlichſten 
Fermente lettiſcher Kultur und Bildung dem geiltigen Boden 
beutfcher Kultur und Bildung entftammen. Und wenn berfelbe 
Rebner meint, die Neigung der Letten deutſch zu lernen jei „bloßer 
Hochmut“ zc., fo find wir natürlich nur erftaunt über ben Mangel 
an Zerftändnis für ſogiale Entwidlung, die in biefer Äußerung 
zutage tritt. 

Aber es foll nit unfre Aufgabe fein, auf alle Einzelheiten 
einzugehen. Es kommt uns hier darauf an, den Inhalt der Vor- 
träge felbft zur Mitteilung zu bringen. In ihrem Kern find fie 
ein interejlanter Beweis für eine Humanität, die jebes Volkstum 
achtet, für die ganz bewußt liberale und wohlwollende Gefinnung, 
bie meite Kreiſe der deutſchen Geſellſchaft dem lettiſchen Volte 
gegenüber hegten. 


* * 
* 


1. „Wäre die Metamorphofe ber Letten in 
Deutihe zu beflagen.“ Vortrag von Pafter Adam 
Gonrabi. 5. Februar 1819. 

Der Redner ftellt das Prognoftifon, daß ber durch Auf: 
hebung der Leibeigenihaft herbeigeführte Standpunft ber Leiten, 
mädjtig auf befjen Nationalität einwirkend, höchſt wahrſcheinlich 
den allmählichen Untergang ber Lettifchen Sprache zur Folge haben 
werbe. Denn: 


Auftungefeätliche Mispefen, os 


Die Sprache allein ſcheide den Letten vom Deutſchen; ſie 
hindere eine ſolche ſoziale Verſchmelzung, wie ſie Genoſſen einer 
Glaubensform und eines Vaterlandes gezieme. Die neue Ver— 
faſſung führe die Annäherung beider Nationen herbei; man müſſe 
daher nicht den Gang der Natur hemmen. Der Lette, gewohnt, 
das Deutſche als das Beſſere zu ſchäten, werde ſich gern fügen 
in das, was ihm das Beſſere deuchte; das Deutſche werde ſich 
finden und, das Lettiſche verdrängend, ſich mehren. Dem heutigen 
Letten könne der Hinblick auf ſeine Urväter nichts Erhebendes 
darbieien. Veſſer für ihn, wenn ein dichter Nebel ihm ihre 
Geſchichte, die wohl feine reiche Ausbeute liefern würde, verberge, 
um feinen Groll zu erzeugen gegen feine Überwältiger. Auch ber 
Lette würde in ben Rang der übrigen zivilifierten Völker Europas 
verfegt fein, wäre nicht die Eelbjtändigkeit diefer Nation verloren 
gegangen; biefe ſei auferwedt, mithin mühe auch bas legte 
Hindernis gehoben werden, um friſches Leben und rege Tatfraft 
auf ben Schauplag dieſes Voltes zu bringen. 

Was berechtigt uns aber, jo entgegnet der Verfaſſer ſich 
ſelbſt, eine Sprache untergehen zu laflen, die fo mühlam zu einer 
Stufe der Kultur gediehen it? — An der lettiichen Sprade fei 
ihrer Dürftigkeit wegen, da fie bisher unter bas Jod ber Willür 
gezwängt geweſen, nichts verloren. Sie beftehe aus fremdartigen, 
von Deutſchen hineingetragenen Beftandteilen; fie habe feinen 
nationalen Autor aus früherer Zeit aufzuweilen; nähme man alle 
Germanismen hinweg, wieviel echt Lettiſches bliebe übrig? Die 
lettiſche Literatur habe bis jept nur mit lettiihen Wörtern dem 
Deutihen, und zwar dem Gelehrten, etwas geboten. Bis jet 
habe noch fein im biefer Abficht gebichtetes Lied, als Volfslied, 
den gehofiten Eingang gefunden. Durch Hinwegräumung ber 
lettiſchen Sprache würde aud ber Nationalität der Letten fein 
Eindrang geſchehen, indem es mit ihr nicht viel auf ſich habe, 
weil fi) unter bem bisherigen Drud der Willkür und der Knecht⸗ 
Schaft fein Volkscharakter, fein Volksgeiſt habe bilden können. 
Auch Habe die neue Verfaſſung nicht den Leiten als ſolchen, 
fondern nur den Bauernitand im Auge. 

Gewonnen wäre durch Hinwegräumung ber lettifchen Sprache: 
1) Der ungehinderte innere Verkehr ber Vürger des Landes, zu 
denen nad) der neuen Verfafjung auch der Bauernftand werde 


ou aulturheſchicilice Miszelen. 


gegählt werben können. 2) Ein ſicheres Bildungsmittel für den⸗ 
jenigen Letten, ber, Heller fehend, ſich zur geiftigen Veredelung 
erheben wolle; ebenfo ſicher, wie es bie Erlernung ber lateinijgen 
Sprache für ben Deutſchen ift. 

Die deutſchen Oftjeeprovinzen dürften nicht aufhören, deutſche 
Provinzen zu fein; baher müßte, um dem etwaigen Rauſche 
undeutſcher Volkstümlichkeit vorzufommen, zur geiftigen Veredelung 
der deutſchen Sprache beigetragen unb ber Grundfag fanktioniert 
werben: Keine Leiten mehr! 


U. Vortrag von Karl Wilh. Cruſe, Oberlehrer am 
Gymnafium und Paftor an ber reformierten Kirche in Mitau, 
am 5. März: 

Bei der durch den Monarchen und die Grunbherren herbei— 
geführten Bauernverfaſſung jei es jegt Sache aller Deutihen, den 
nit mehr unfreien Unbeutichen zu ber Stufe ber Bildung zu 
führen, die ihm Bedürfnis fei. Die Sprache des Letten reiche 
nicht mehr aus für fein Bedürfnis als Freien — fie müſſe fort: 
gebildet werben. Was bisher darin gejchehen, fei deutſcher Geift 
gewefen, ber ber Eprade angebilbet worden. Das Bedürfnis, 
aus ber Sprache des Sklaven eine Sprache bes Freien zu bilben, 
liege in ber neuen Verfaſſung jelbft, da die oberite Verwaltung 
des Landes, wie des Bauernſtandes nächte Appellationsinftanz, 
deutſche Akten führe. Diefem Bebürfnis könne nur durch Schulen 
abgeholfen werden, in melden ber Lette zwar lettiſch gelehrt 
mürbe, aber auch zugleich Gelegenheit fände, Deutſch zu Ternen. 
Ob dadurch die Nationalität oder Volkstümlichkeit des Letten ſich 
anders geftalte, ober gar verloren gehe, und mit ihr aud bie 
lettiſche Sprache, dies fei nur Sade ber Vorſehung, nicht bes 
Menſchen, ber nur, die Zeichen der Zeit beachtend, mit Gerechtig- 
teit die Erziehung des Einzelnen übernehmen fol. 


I. Vortrag von Dr. Ernft v. Trautvetter, Ober: 
lehrer am Gymnafium zu Dlitau, am 5. März: 

Um das Verhältnis der lettiichen zur deutſchen Sprade im 
deutſchen Oftjeelande auszumitteln und zu begründen, ftellt ber 
Verfaſſer zwei Grunbjäge auf, die den ftreitenden Teilen einen 
natur: und vernunftgemäßen Pereinigungspunft bieten follen. 


Aufturgefictlice Kisgellen. 6 


1) Jedes Bolt muß bie Sprache behalten, die ihm von ber Natur, 
von Gott gegeben worden. 2) An einem und bemjelben Orte 
können nicht zwei Spradjen zugleich herrſchen. 

Um ben f&einbaren Wiberfprud; dieſer beiden Gäpe zu löfen, 
erflärt ſich ber Verfaffer näher über ben Ausdruck Ort. In dem 
beutfchen Oftfeelande müffe das Deutfche gelten feines Orts, und 
das Undeutſche (Lettifhe und Gftnifche) feineg Orts. Aus ber 
Benennung „beutjche” Oſtſeelande ergebe ſich ſchon, daß Bier bie 
deutfche Sprade bie herrfchende fein müffe, im natürlihen wie 
im ftaatsbürgerlihen Sinne, als Sprache ber Gebildeten in ber 
Stadt und auf dem Lande; bie lettifche, bie gebulbete, bie Bauern⸗ 
ſprache. Hierin fei aud) das fünftige Verhältnis beider Sprachen 
zu einander enthalten, indem man die Dinge nur ihrem natürs 
lichen Gange zu überlaffen braude. Um dem erften und zugleich 
oberſten Grundfag jein volles Licht zu geben, zeigt der Verf., 
daß ber echte Weltbürgerfinn mit der Liebe zum Artgemäfen im 
ſchönſten Einflange ftehen, ja daß bie deutſche Sprade nur in 
Bejhügung alles Stammartigen ihr eigenes Dafein verbürgt jehen 
Tonne. Alle pro et contra vorgebradhten einfeitigen Gründe 
verfängen daher nichts im Lichte dieſes oberften Grundfages. 
Weber die Bequemlichkeit, die die deutſche Sprache, als alleinige, 
herbeiführen folle, noch die Armut und Unbebeutendheit ber letti— 
ſchen, fönne einen redhtlichen Grund zur Vertilgung der legteren 
geben. So wie bei Unterfuhung einer Mordtat nicht gefragt 
werde, ob ber Ermorbete arm ober reich, gebilbet oder roh gewejen, 
jondern nur das Menſchenleben in Anſchlag gebracht werde, jo 
bier das Stammesleben. Eben dieſer Gefihtspunft gelte auch 
für die deutſche Sprade: bie Heiligfeit bes Volfsartigen allein 
entſcheide ſowohl auf der einen als ber andern Seite, nur ziehe 
dem Deutſchen Pflicht der Selbſterhallung und Gelbftverteidigung 
bie natur« unb vernunftgemähen Schranfen. 

Habe der erfte Orundjag feine notwendige Stelle gefunden, 
fo gehe aus bemjelben auch die richtige Anwendung bes zweiten 
Grunbfages hervor, und beiden Teilen mülje daran gelegen fein, 
— bem Undeutſchen, baß die für ihn zum Recht erhobene Duldung 
nicht verfümmert werde, — dem Deutichen, dab ihm als Schöpfer 
alles höheren Lebens auch Hierin jein ermworbenes Recht unbe 
ftritten bleibe. 

Baltifce Monatgeäeift 1006, Heft 1. 5 


os aulturge chichiliche Midzellen. 


Der Verf., dem, bei aller zu Recht beſtändigen Feſtſtellung 
feiner beiden Grundſäte, dennoch die Träne des jetzt nur noch 
Gebuldeten nicht entgeht, führt in jeiner Nutzanwendung einige 
Troftgründe für den Unbeutihen auf: den heilenden Balfam der 
Gewohnheit; das ähnliche Schidfal der deutſchen und wendiſchen 
Sprache im öftlichen Deutfchland, das hinſichtlich des herrſchenden 
Teils deutſch, hinſichtlich der Bauern wendiſch gewefen fei; den 
allmähfichen Übergang ber platten Mundart in bie hochdeutſche 
als Schriftiprade; die Erfahrung, daß ja auch bie deutfche nur 
vermittelft der ruſſiſchen Sprade in den allgemeinen Kreis bes 
Reiches wirkſam treten fönne; den ermunternben Umftand, daß 
wenn nun einer von ben bejonders ausgezeichneten Köpfen der 
Undeutſchen ſich zur Höheren Bildung Hinaufarbeiten wolle, er (bie 
Univerfität bes Landes habe einen eigenen Lektor der lettiſchen 
Sprade) am Ziele eine millenfchaftlihe Bildung feiner Mutter: 
ſprache finde. 

Für den beutfchen Oftfeeländer aber liege in dem Angeführten 
eine Aufforderung zur Heilighaltung fowohl ber allgemein menich- 
lichen als der volfsartigen Pflichten und Rechte, damit hier nichts 
von ben ſchönen Denkmalen deutſchen Lebens und beutfcher Geiſtes- 
tätigfeit untergehe, fondern damit die geiftige Verwandlung, durch 
welche bie beutiche Kirche, als der Vereinigungspunft aller beutichen 
Herzen, Selbftändigfeit und Artgemäfbeit erringt und ber Pro- 
teftantiomus zum Ziele gelangt, natur- und vernunftgemäßen 
Schritt halte. 


IV. Vortrag von Karl Friedr. Watjon, Paſtor zu 
Leften!, am 5. März: 

P. Watfon erklärt fi) beftimmt gegen bie Umbildung ber 
Letten zu Deutihen und das Aufgeben der lettiſchen Sprade. Er 
fei feft überzeugt, daß ein jebes Volt nur durch feine eigene anger 
borene, von der Gottheit ihm als MWächterin feiner Nationalität 
erteilte Sprache gebildet werden könne. Um über biefen Gegen- 
ftanb richtig zu urteilen, mühe man tiefer in ihn eindringen unb 


') Baftor Watfon Gatte den gröhten Anteil an der lettiſchen Überfegung 
der „Aurländifchen Bauerverordnung“ gehabt; er hatte auch einen Plan ausge: 
arbeitet „über die Art und Meife, wie auf die Aultivierung des (ettifdien Sand 
volfS eingewirft werben Fönne” (Jahresverhandt. ber furl. Gef. Bd. I) und war 
macjmals Herausgeber ber erften Tetifchen Zeitung, der „Latweefchu Anifeh“. 


Aulturgeſchichtliche Mishellen. 67 


ihn in etöymologifcher, hiſtoriſcher und religiöjer Hinſicht beleuchten. 
Die lettiihe Sprache jowie das Lettenvolk feien „aus ber Ver: 
ſchmelzung ber Gothen in bie Slaven“ entitanden; dies gehe 
deutlich aus der Sprache felbft hervor, deren Wurzelwörter zum 
größeren Teil jlavifh, zum Mleineren Teil gothijh wären. Cie 
vereinige auch wirklich ben ganzen Reichtum ber ſlaviſchen mit 
der Biegfamfeit und Kraft der beutihen Sprache. Man müſſe 
fie ftubieren und fi völlig aneignen, um einzufehen, daß fie 
keineswegs arm und roh, fonbern reich und geſchmeidig und in 
firchlicher Hinſicht bereits gebilbet, folglich in juriftifcher und poli- 
tiſcher ebenfo bildungsfähig fei. Sie befäße ganz eigentümliche 
Vorzüge, fo z. B. bezeichne fie durch eine beftimmte Form ben 
Unterjhied ber tranfitiven und intranfitiven Zeitwörter. Won 
Duldung derfelben Tonne garnicht die Rede fein, da fie bie eigent- 
liche Landesſprache wäre und da fih die Leiten in Rurland zu 
den übrigen Bewohnern wie 6 zu 1 verhielten. Die Geidichte 
lehre, daß Ausrottung von Sprachen durch menfchlide Anſtalten 
nicht bloß höchſt Ächwierig, fondern auch Höchft ungerecht und 
ſchãdlich ſei. Die Wenden in Meflenburg Hätten dadurch wahrlich 
nicht gewonnen, daß fie Deutiche geworden. In Preußen fei nad) 
Ausrottung und Verjagung ber lettifchen Urbewohner eine ganz 
neue Population durch Einwanderung entflanden, und ber größere 
Teil von Oſtpreußen fei ja nod) litauiich, mithin lettifch, weil bie 
Litauer das Hauptvolf der Letten ſeien. In Kurland ſpräche das 
Heine Häufhen Liven am Popen Dondangenſchen Strande feit 800 
Jahren feine angeltammte Sprache, und ein Blick auf das benad;: 
barte Litauen, wo man, feitbem Jagello König von Polen warb 
(alfo jeit mehr als 400 Jahren), die Landesſprache vernadhläffigte 
und durch das Polnifche zu verdrängen fuchte, zeige deutlich, was 
der Erfolg folder naturwidrigen Bejtrebungen fei. Dieſes had: 
herzige und tapfere Lettenvolt, die Litauer, Habe zwar noch feine 
Sprache, wiewohl nicht mehr echt, aber ganz und gar feine Liter 
tatur; ber Boben fei in Litauen fruchtbarer, die Frohne geringer, 
und bennod) fiehe der Litauer unferm Letten an wahrer geiltiger 
Bildung um ein Jahrhundert nad. — Überhaupt fei das Entjtehen 
und Verſchwinden der Völker und ihrer Epraden Gottes Sadıe. 
Er Habe die Lettenvölfer zwildhen die Slaven und Germanen 
geftellt, und ihre Sprache fei, wie fie felbit, das Verbinbungsmittel, 
5 


es Aulturgefäätfice Mispelen, 


ber Übergang. Wohnort, Volt und Sprache bewahrheiteten bies 
und ftänden im Einflange mit dieſer höheren Beftimmung. Es fei 
unmöglid die Zettenvölfer, die (menn man ihr Hauptvolt, bie 
Litauer, mitrechne) nod aus 4—5 Millionen Individuen beitänden, 
zu Deutfchen zu machen. Gutes fönne alfo durch eine ſolche 
Metamorphoje nicht geftiftet werden, wohl aber Echaben, indem 
diejenigen, welde ihre Talente und ihren Fleiß dem Studium 
und ber Nultivierung ber eigentlichen Landes: und Volfsfprade 
wibmeten, davon abgefchredt würden; inbem ferner ber allerdings 
ſehr ſichtbare Hang ber Zetten, die deutſche Sprache zu lernen, bie 
eigene aber fahren zu laſſen, zu ihrem Nachteil befördert und 
genährt würde. Diefe Neigung der Letien gehe übrigens aus 
nichts weniger als aus Vorliebe für deutſche Sprade und Kultur 
hervor, fonbern jei bei den Wohlhabenden bloßer Hochmut, bei 
allen andern bie Anſicht, daß fie mit Erlernung des Deutſchen zum 
Herrenftande übergehen würben. Schließlich erinnerte P. Watfon, 
daß die natürlichfte Metamorphoſe, wenn ja eine ftattfinden follte, 
diejenige wäre, daß bie Letlen gum Slavenftamm zurückkehrten. 


V. Ein Wort über das Germanifieren ber 
Letten. Vortrag von Georg Bened. v. Engelhardt, 
kurl. Oberhofgerichtsrat !, am 2. April: 

Der Redner ſpricht fich beftimmt gegen alles dasjenige aus, 
was dazu beitragen fönne, ber lettiichen Sprache Eindrang zu tun. 
Die Sprade der Eltern jei es, in welder ber Menſch denke und 
fein eigenes inbivibuelles Leben lebe; fie vorzüglich Tonftituiere eine 
Nation und fonbere fie von allen anbern Nationen. Über ben 
Vorzug ber Spraden laſſe ſich bloß bisputieren; jede werbe ſich 
zu verteidigen willen, denn dieſe Mannigfaltigkeit liege im Plan 
der Schöpfung, die immer eine Stufenfolge in ihrer Weltorbnung 
beobachte. Die perfönliche Freiheit jei nicht an die Sprache ge- 
bunden, fonft müſſe den Letten, Ejten, Polen und Litauern, ſobald 
fie frei geworben, ihre Eprade genommen werden. Auch zeige 
die Geſchichte, wie nachteilig es fei, einer Nation ihre Eigentüm- 
lichkeit nehmen zu wollen. Beim Germanifieren fei nichts gewonnen, 
denn was ein Bauer willen müſſe, das könne er in feiner Mutter: 


1) Gr war ber, Yauptredafteur der 1817 entworfenen „Rurlänbifchen 
Bauerverordnung“ geweſen 


aulturgeſchichtliche Wiszellen. . [2 


ſprache erlernen. Der Menſch müſſe erjt eriftieren, che ev ſich 
geiftig ausbilden fönne. Der Bauer fei von Natur an mecjanifche 
Arbeiten gewiefen, man müjle ihm daher nicht feinen Pflug und 
feine Senfe verleiden; das wichtigſte, was dem Leiten jet not tue, 
jei die Erklärung des ihm gegebenen Gefegbuches, nicht aber der 
Unterricht in ber deutſchen Sprache. 


VL Für die Erhaltung ber lettiſchen Sprade. 
Vortrag von Dr. Karl Elverfeld, Paſtor zu Tudum!, am 
2. April: 

Der Rebner geht von dem Gefichtspunft aus, daß, wer dem 
Zetten feine Art zu reden nehme, ihm aud) zugleich feine Art 
zu fein nehme, was aud) nicht ſchaden würde, injofern diefe Art 
zu fein, durch ihre Schlechtigfeit verwerflih wäre. Da nun aber 
niemand dem Letten etwas abjolut jchlechtes zum Vorwurf maden 
tönne, feine Vollstümlichfeit dagegen gut ſei und burd die 
erworbene Freiheit trefflih werden werde, fo bürfe und möge 
niemand einen geijtigen Mord gegen ihn intendieren! Dem Ein: 
wande, als wolle ber Lette jelbit fich jeine Sprache nehmen, 
begegnet ber Nedner, indem er dieſen unheiligen Drang nur den 
vom traurigen Zeitgeift befangenen, den nahe an den Städten 
wohnenden und daher verborbenen Letten zufchreibt, die echten 
Letten aber von biejer Lüſternheit freiipricht, deren Befriedigung 
ihnen jo jhwer, ja in einem Grade der Volltommenheit fait un— 
möglich werde. Auch fönne das Bedürfnis die Letten nicht bahin 
bringen, da alle Gefühle, alle Begriffe, die dem freien Landmann 
eigen und nötig jeien, wenn aud) nicht immer in abstracto, doch 
aber in concreto, nicht bloß lettifch ausgeiprochen werden fönnen, 
fondern auch von dem mit einem ſchönen, natürlichen Verftande 
begabten Letten wirklich jo gebraudt würden. Das beweiſe die 
nicht unbedeutende lettiſche Literatur, in dieſer vorzugsweiſe bie 
treffliche Bibelüberfegung, bie nicht einmal einen Nationalen zum 
Verfaſſer habe; das beweilen bie oft jo ſchönen, richtigen, cum 
grano salis geäußerten, oft garnicht deutich wieberzugebenden 
Bemerkungen des Letten. Die deutſche Sprache werde ihm gar 
feinen Erjag bieten, da er im ihr weder frei mod) richtig feine 

3) Er Jowohl wie aud) fein Vater, der Baftor in Apprifen war, Haben 


mehrere Settijde Schriften herausgegeben, der Legtere unter anbrem die Gedichte 
des blinden lettijcen Naturdichters Jndrit (Ditau 1806), 


7 aulturgeſchichtlihe Miszelfen. 


Gedanken auszuſprechen imjtande fein könne. So verjdieden die 
deutſche Bücherſprache von der Alltagsſprache im Munde bes unge 
bildeten Diannes, jo ganz aus feinem Leben, aus feiner Art zu 
zu denfen und zu ſprechen, fei die Schriftipradhe ber Letten. 

Darum bleibe der Lette, deſſen Sprahe ben jo mächtigen 
Unterſchied zwifchen geiftigem und leiblihem Freiſein (fmabbadiba 
un brihwiba) zu machen wiſſe, ein echter Zette und werde ja nicht 
zu einem Deutfchlein (mahzeteelis) verunftaltet. 


VI. Würdigung der Frage, ob die Metamor- 
phofe ber Seiten in Deutihe zu beflagen wäre. 
Vortrag von Dr. jur. Gerhard Chr. ©. v. den Brinden, 
Kreismarfhall, am 21. April: 

Der Redner tritt in direkte Oppofition gegen bie Ausfüh- 
rungen des erften Vortrages und ſucht im Cingange, auf zwei 
Dillionen Letten hinweiſend, das Intereſſe für die Erhaltung 
ihrer Sprache zu eregen, und geht nun, nad) Vorausihidung ber 
Hauptmomente jener Frage, in die widerlegende Entwidlung ber 
felben ein. 

Nicht die Verſchiedenheit der Sprache, jondern die Abſtufung 
und Verſchiedenheit der Bildung, Berufsbeflimmung, der Sitten, 
Gebräuche und Beihäftigungen wäre als Hindernis des fozialen 
Lebens und Wirkens zweier Nationen zu betrachten, wie ſolches 
die volfreichiten Städte dartäten. Die Letten, deren Beruf als 
Landbewohner der Aderbau fei, hätten und behielten ihre ſoziale 
Beſtimmung unter Letten und bedürften vielleicht gerade der 
Sprachverſchiedenheit und Subordination in Begriffen und Bedürf- 
nifen, um den hohen Zwed dieſes älteften göttlichen Inſtituts zu 
erfüllen. Die Metamorphoje der Sprade würde aud) eine der 
Sitten und Gebräuche erzeugen, dem Letten aber feine wahre 
Entichädigung bieten, jondern dem Charakter und ber Eigentüm- 
tichfeit diejes Volkes höchſt nachteilig fein. Die Verſchiedenheit der 
Sprade ftöre feineswegs in dem Genuß einer Ölaubensform, 
wie ſchon die Glaubensgenofjen der katholiſchen Kirche jene Ber 
hauptung widerlegten. Dagegen fühle fi eine Nation gemütlicher 
angezogen und angeproden für Neligionswahrheiten, wenn ihr 
diefe im ihrer angeborenen Sprache mitgeteilt würden. Ebenſo 
wenig käme aber auch das Mater: ober Mutterland babei in 


aulturgeſchichtliche Miszelien. 71 


Gefahr, indem bie Weltorbnung felbft uns hierin ein Vorbi. gebe. 
Die Nationalität bilde ſich nicht durch ber Übereinftimmung ber 
Sprade, fondern aus ber Übereinftimmung und Einheit der Regier 
rungsverfaſſung. Aber jelbit für die Sicherheit eines koloſſalen 
Staatsförpers ftänden mehrere diplomatiſch-politiſche Gründe der 
Spracjvereinigung entgegen: divide et impera! Den ültejten 
biftoriichen Beleg ftelle dafür der babyloniſche Turmbau auf. 

Die lettiſche Sprache ſelbſt, die eine verhältnismäßig bebeu- 
tende Literatur aufzuweilen habe, dürfte um jo weniger verurteilt 
werden, da die lettiſche Nation nichts verfchuldet, jondern vielmehr 
in ihrer Sprade, in moraliſcher wie in politiicher Hinſicht bisher 
alles geleitet habe, was von ihr zu erwarten gewejen wäre. Das 
Necht auf die Erhaltung der Sprade jei, mit dem Recht auf bas 
Leben, als das erfte angeborene Bürgerrecht anzufehen. Der Über: 
tritt einzelner Letlen in die deutfhe Klaſſe könne als Schluß 
a minori ad potiorem ebenjo wenig beweiien, als die Majorität 
ber Letten einen Beitimmungsgrund für die Deutſchen abgeben 
fönne, ihre Sprache anzunehmen. Denn Sprache und Intelligenz 
ber Landleute Fönne feine andre fein, als die, in der fie geboren 
und erzogen worden — für den Letten die Ngrikulturfpradhe. Die 
Aufhebung ber Leibeigenihaft habe ben Letten keineswegs das 
Ende ihrer Gedichte herbeigeführt, jondern mit ihr hebe eine neue, 
höchſt wichtige, erfreuliche Periode derjelden an. Daher auch der 
Rüchblick in ihre Vorwelt feine bittere Empfindung, fondern nur 
dankbare Gefühle und herzerhebende Vorfäge für ihren Nationals 
geift Hervorrufen könne. Die von dem Zeitgeift Hiezu aufgeforberten 
Letten beweifen ſich auch durch ihre und in ihrer Sprade wert, 
für die Aufklärung und Einfiht ihrer Pflichten und Rechte als 
Untertanen diejenige höhere Bildung und Weihe zu empfangen, 
welche fie dereinit fähig machen wird, fid) die Freiheit einer ver: 
falungsmäßigen Negierung mit Geiftesreife anzueignen. Der 
Redner jchließt mit dem liberalen Ausruf: Es lebe die Sprache 


und in ihr der Geift! 


Literarifche Rundichau. 


— 
Japans Ethik. 





De Kampf um die oſtaſiatiſche Vorherrſchaft lenkt Aller Augen 
auf ſich. Die voreiligen Stimmen, die den ruſſiſchen Waffen 
einen ſchnellen Sieg verhiefen, find veritummt. Sogar bie ruffiiche 
Preſſe hat im Laufe ber zehn Ariegsmonate einfehen gelernt, daß 
Rußland für bie unverantwortliche Unterihägung feines Gegners 
blutiges Lehrgeld zahlen mußte. Und in Curopa fragt man 
eriiaunt, worin eigentlid, dieje überraf—hende Kraft Japans liegt, 
wie es in furzer Zeit eine Stufe ber Entwidlung erreichen fonnte, 
die es befähigte mit einer Großmacht, wie Rußland, einen nicht 
ausfichtslofen Kampf zu führen? 

Es unterliegt wohl feinem Zweifel, daß unter jonit fait 
gleihen äußeren Bedingungen diejenige friegführende Partei als 
die ethiſch ftärfere anzuſehen ift, die ihre vitalften Intereſſen ver: 
teibigt, Die in gewiſſem Sinne um Leben und Eriftenz kämpft. 
Japan ift bei dieſem Kriege in wirtjchaftliher Hinſicht ſtärker 
intereffiert als Rußland, das durd bie Offupation der Mandſchurei 
und Befignahme Port Ärthurs Japans Einflußiphäre in China und 
Korea ſchwer bedrohte. Ob Rußland diefe Erweiterung feiner 
Machtſphaͤre dringend nötig hatte, mag bahingeftellt bleiben, jeben- 
falls handelt es fih von Seiten Rußlands nicht um eine Verteis 
digung jeiner Eriitenzbedingungen, wie bei Japan, deſſen Induſtrie 
wohl ihr vornehmftes Abfaggebiet in dem Rachbarreich erblidte. 
Mag aud) der rufiiche Politiker die Frage in umgekehrtem Sinn 
entiheiden, aus der Tatſache allein, daß der Krieg in Japan wie 
ein Nationalfrieg geführt wird, läßt ſich der Schluß ziehen, daß 
hier Faktoren mitwirken, die nidt nur die hohen Sphären ber 
Diplomatie berühren, ſondern dem Volke ſelbſt die Lebenswurzel 
bedrohten. 








Literariſche Rundſchau. 28 


Es ift befanntlid eine prefäre Sade, in ber Politif von 
Recht und Unrecht zu ſprechen: auf diefem Gebiet, das den Staats: 
egoismus, mag er nun als Eroberer ober Verteidiger feiner Rechte 
auftreten, recht eigentlich als vornehmftes Prinzip aufitellt, kaun 
von Moral in gewöhnlichen Sinne nidt die Rede fein, wenn man 
nit ben Bormurf alberner Sentimentalität oder gar eines lauen 
Patriotismus auf fi) laden will. 

Eine andre Frage foll uns hier beicäftigen, eine Frage, die 
faum in das politiihe Gebiet Hineingehört, aber doch zur Beur- 
teilung bes Volkes, mit dem Nußlands Armeen fid im blutigen 
Kampfe meſſen, von weſentlicher Bedeutung ilt. 

Welches find die ethiihen oder religiöfen Elemente, die ben 
Unterbau für Japans Nufjtieg bildeten, die Japan zu dem gemacht 
haben, was es heute ift: zu einem Rulturftaat, ber mit jeltener 
Einmütigteit und bewundernswerter Opferbereitſchaft ſich feine 
Unabhängigkeit jedem gegenüber zu verteidigen bereit ft, der fie 
anzutajten wagt, nicht zu einem Konglomerat heterogenſter Elemente, 
bie durch den Willen eines Einzelnen zu mwidermilligen Handlungen 
geführt werden, jondern zu einem organijch gegliederten Ganzen, 
dem nur das gleihe Streben feiner Hleinften Teile die nötige 
Energiemenge zuführen fonnte, um fie in eine eindeutige Tat 
umzujeßen. 

Wir wollen dieje Frage an ber Hand eines Werkes zu beant- 
mworten fuchen, das unter dem Titel „Unſer Vaterland Japan“ 
von Fapanern auf Initiative des Engländers Stead verfaßt wurde 
und ein großartiges Sammelwerf darjtellt, das uns über das ferne 
Inſelreich die intereilantejten Aufihlüffe geben fann. Der Japaner 
gilt in Europa für eitel und ruhmredig, feine Wahrheitoliebe wird 
bezweifelt, fo daß ein Buch, das offenbar in Europa für Japan 
Stimmung maden foll, dem Mißtrauen begegnen dürfte, daß es 
die japaniichen Verhältniffe in tendenziöfer Färbung fchildere. — 
Wenn nun fon ein fo allgemeines Urteil ober Vorurteil, wie 
das oben genannte, einer ganzen Nation gegenüber nie berechtigt 
ericheint, jo entbehrt in diejem Falle das Mißtrauen wohl jeder 
Grundlage: die Verfaſſer der verſchiedenen Abichnitte ı hören jener 
liberal⸗ fortſchrittlichen Partei an, der Japan jeinen heut'gen Zujtand 
verdanft, und wenn auch ihr warmer Patriotismus überall durch— 
tlingt, wenn aud der Wunjch, fulturell dem Weſteuropäer nicht 
nachzuſtehen, aus jeder Zeile blidt, jo liegt doch wiederum jo viel 
ſpezifiſch Nicht:Europätfhes in ihrer Auffaſſung der tiefiten Fragen, 
daß es nur ungerecht ericheinen würde, in diefem Werk nur eine 
politiſche und infofern unredliche Abſicht zu erfennen. Die ruhige 
und befonnene Kritif der eigenen Verhältniiie, die uns fait in jedem 
KRapitel entgegentritt, jcheint eher ben Glauben zu rechtfertigen, 
daß Hier das Wort doch Ausbrud des Gedantens ijt und daß die 


74 Literariſche Rundſchau. 


Wärme der Empfindung die Ausſagen deshalb nicht zu unglaub- 
würdigen ftempelt. — Einem zweiten Einwand möchte ich bier 
begegnen: wenn von Frauenerziejung, von Kunft oder von Moral 
die Rede ift, jo wäre es unbillig zu verlangen, daß der Verfaſſer 
ſich des eigenen Urteils in dem Sinne enthalten follte, daß er nur 
von den realen Erſcheinungen diefer Gebiete reden, nicht aber feine 
eigenen Wünfce äußern dürfte. Tut er das aber, fo hängen 
dieſe unmittelbar mit der Kulturftufe einer beftimmten Bildungs: 
tale zujammen, zu welder der Verfaſſer gehört. on dieſem 
Gefichtöpunft aus wirb er aud) bie Erjdeinungen werten, bie in 
einem niedrigeren Niveau entftchen, und leicht wird der Wunjd, 
hier pfychologiihe Diotive zu finden, den Verfailer dazu verleiten, 
aus den Dingen mehr berauszulefen, als fie in Wirtlicjfeit bieten. 
Diefe Gefahr liegt aber jedem derartigen Thema nahe, und wenn 
heute jemand eine chriftliche Ethik ſchreiben würde, fo wird es ſich 
nit darum handeln, zu ſchiidern, welche Vorbedingungen und 
Kompromifje fie fih im praftiihen Leben gefallen laſſen mußte, 
fondern was fie im Grunde will, was fie von uns fordert. — 
Wenn alio von japaniiher Ethik geſprochen wird, io handelt es 
fid) nicht um eine Darftellung des Japaners, wie er ift, fondern 
wie fein Moralgeieg ihm zu fein vorichreibt, — das bedeutfamfte 
Dioment allerdings, um die Lebensquellen eines Volkes fennen zu 
fernen. Wie wenig man im allgemeinen gewillt ift, den Diotiven 
Japans in diejem Kriege gerecht zu werden, wie man ſich dagegen 
fträubt, ben pighologiihen Gründen für die unzweifelhafte Tüch- 
tigfeit der japantihen Soldaten nachzugehen, beweilt das eine 
Wort, das heute in jedermanns Munde iit, das Wort, mit dem 
alles erflärt wird: der Fanatismus der japaniſchen Raſſe. 

Die Berechtigung diefes Vorwurfs — denn in dem Wort 
„Fanatismus“ liegt ein folder — zu motinieren, dürfte ſchwer 
fallen. Zum Fanatismus gehört in jedem alle Einfeitigfeit, Enge 
des Urteils und Unduldiamfeit dem Andersartigen gegenüber. 
Beides trifft für Japan nicht zu, es iſt heute vielleicht der tole- 
ranteſte Staat der Erde, und fein Fortſchritt hat uns gezeigt, daß 
ihm Enge des Urteils nicht vorgeworfen werden darf. Poſitiv 
ausgedrüdt, muß der Zanatismus, um als Nafleneigentümlidjteit 
bezeichnet zu werden, einen unbeugjamen, gemeinfamen Glauben 
an irgend etwas zur Grundlage haben, die Haile muß an gewillen 
Wertungen unumftößlich feithalten, aljo zum mindeften eine ein 
heitliche Religion oder ein für die Gefamtheit bindendes Moral- 
gejeg haben — aber beides fehlt ben Japanern. 

Von einem deutjchen Gelehrten hörte ih die Anfiht, Japan 
befige weber eine Neligion noch eine einheitlihe Moral, jeine 
Weltanihdauung oder die bes gebildeten Japaners fei im wejent- 
lichen eine äſthetiſche. 


Literariſche Rundſchau. 76 


Bas heißt im Gegenſatz zu einer ethiſchen — eine äſthetiſche 
Weltanfhauung? 

Wenn diefe Frage beantwortet werben foll, fo müſſen wir 
von ber heutigen modernen Auffaſſung abſehen, bie dazu neigt, 
die fchroffen Gegenfäge auszugleichen und beide Spiteme mit ein: 
ander zu verbinden. Die äjtheltiche Weltanf—hauung verpflichtet 
den Einzelnen, eine harmoniſche Nusgeitaltung feiner Perjönlichteit 
anzuftreben, etwa im Sinne Goethes, während die ethiihe von 
ihm ein Unterdrüden des Natürlihen, Fleiſchlichen zu gunften des 
Geiſtigen, Jdeellen verlangt. Dieſer prägnante Gegenfag tritt uns 
überall entgegen, wo Kunit und Moral id) berühren. Die Moral 
will aus einem Naturweien ein geiftiges jchaffen, das natürliche 
Material, in bibliihem inne das Fleiſch, ſoll ertötet werben, 
um den Geiſt lebendig zu machen. Die Kunit, richtig veritanden, 
ſchafft aus totem Material lebendige Weſen, Kunſtwerke, die nur 
dann lebensfähig find, wenn ber Schöpfer dem Material Rechnung 
getragen hat, jeine Natur nicht vergewaltigt hat, ſondern fie mit 
feiner Jdee zum Ganzen, zum Kunftwerf verihmolzen hut. Cine 
äfthetifche Weltanfchauung rechnet mit der Natur des Menſchen, 
fie will dieſe Eigenart nicht verbiegen, fie will fie zur weiteten, 
edelſten Entfaltung bringen, aus der Naturanlage des Menſchen 
ein Runjtwert — bie Perfönlicfeit fhaffen. 

So ſchafft die äjthetiihe Weltanihauung Indivibualitäten, 
während die ethiſche, wenn fie ſich jemals realifieren liche, gleich: 
förmige Typen hervorbringen müßte, die ſich ohne Unterichieb 
einem einzigen Gejeg fügen würben. 

Japan hat jeine uralte pantheiltiiche Naturreligion nicht ver⸗ 
geſſen und begegnet dem Naturweſen mit einer gewiſſen Ehrfurcht 
— nicht nur ber Kirihblüte, fondern auch dem Meniden. Er iſt 
Träger eines göttlichen Junfens, ein Teil der Offenbarung bes 
Göttlihen, das fid) in der ganzen Welt manifeitiert. Diefe Auf⸗ 
fafiung läßt den Japaner fein Leben als Geſchenk, jeinen Körper 
als Gefäß anjehen, für deifen Beitand und Inhalt er verantwortlich 
iſt; Kraft, Gefundheit und Ausdauer, nicht Aſkeſe oder Ertötung 
des Fleiſches, jucht er durch ftete Übung zu gewinnen. Er ift ſich 
deijen bewußt, daß dem Göttlichen die tieriiche Natur des Menſchen 
widerftrebt und in dieſem Sinne glaubt er an ein Böſes in ung, 
nicht an den Böjen außer uns. In diefem Dualismus fieht Prof. 
Inazo Nitobe, der Verfaſſer des Abfchnitts, der unjrer Darlegung 
zugrunde liegt, feinen Widerſpruch. Nitobe it Chriſt und_fagt: 
„Aus der pauliniichen Lehre, in der als Gefet bejteht bie Sünde 
zu offenbaren, geht hervor, daf je zwingender und je bindender 
das Geſetz ift, deſto augenjdeinlicer die Ende“, mit andern 
Worten, die Sünde it die logiſche Konfequenz des göttlichen Geſetzes 
in uns und nur durch biefen Gegenjag ijt uns eine Entwidlung 








76 LEiterariſche Rundſchau. 


zum Höheren, Beſſeren gewährleiſtet. Beſtände dieſe gegenſeitige 
Bedingtheit nicht, fo wäre das Böſe als ein von außen hinzu 
gefommenes zu betrachten, von dem wir durd) eine erlöfende Kraft 
befreit werben fönnten ober welches wir aus eigener Kraft völlig 
überwinden müßten. Beide Mögligjfeiten find unvereinbar mit 
einer ftufenweijen Entwidlung, benn mit der Befreiung vom Böfen 
wäre das Ziel erreicht und ein Gutjein gäbe es nicht mehr für 
den Menſchen, ber nicht mehr die Möglichkeit Hat böfe zu fein. 
Wenn Nitobe hier nicht unter dem Einfluß moderner weſteuropäiſcher 
Denkweiſe ſteht und wirklich die japaniſche Auffaſſung der Doppel- 
natur bes Menfchen mit. dieſem usiprudh vertritt, jo bürfen wir 
um fo mehr darüber eritaunt fein, als dieſe einzige Grundlage 
für die Möglichkeit einer teten Entwidlung zum Guten nicht auf 
dem Wege des Chriftentums, fondern felbitändig auf Grund ber 
japaniſchen Weltanſchauung gefunden wurde. 

Wenn der Japaner jein Leben und jeine Fähigfeiten als 
ihm verliehenes Geſchenk betrachtet, To ift foniequenter Weiſe die 
Darkbarkeit denen gegenüber für ihn Pflicht, die ihm das Leben 
geihenft haben. Den Eltern und Voreltern in erjter Linie fühlt 
er ſich verpflichtet, und nächft ihnen dem Vaterlande, das ihm die 
Möglichkeit gab, feine Fähigkeiten in Taten umzufegen. In biefen 
Diomenten, der Verehrung ber Natur und dem Ahnenkult, bie 
beide dem Ehintoismus entjtammen, iſt noch heute bie Grundlage 
der japanijchen Moral oder der Buſhido zu ſuchen. Dieſes Wort 
bedeutet eigentlich „NRämpfender Nitter Art“ und ermeiterte ſich 
zum Begriff der Nitterlichfeit überhaupt, zu einer Art ungeichriebenen 
Ehrenkoder für den Samurai, den Ritter, von dem in erjter Linie 
Mannhaftigfeit, Vännlichfeit verlangt wurde. Da das Vuſhido 
nicht in gleichem Mafe für den Kaufmann oder Arbeiter galt, jo 
dürfen mir in ibm eine Art Rlaffenmoral erbliden, in der ein 
ariftofratifches Element zum Ausdrud gelangte, das die ſtufenweiſe 
Entwidlung der Moral bei allen Voltern begleitet hat. Ihr fehlt 
der höhere Uriprung im Sinne einer Offenbarung, fie erhebt nicht 
den Anſpruch abfolut zu fein, daher ift fie entwidlungsfähig. Und 
mie fehr fie das war, beweilt die Tatſache, bak das Buſhido 
Glemente der chriſtlichen Moral in ſich aufnahm, ohne feinen 
Charafter dabei einzubüßen. 

In feinfinniger Weile zeichnet Nitobe die Gegenfäge zwiſchen 
Buſhido und chriſtlicher Moral, und obgleich felbit Chriit, hängt er 
voller Pietät am Buſhido, und es Fojtet ihm fichtlid einen Ent- 
ſchluß, dem Chriftentum uneingeichränft den Vorrang einzuräumen. 
„Ih befenne, daß ich, ohne fähig zu fein es zu erklären, einen 
Unterfdied empfinde zwiſchen der Liebe, die Chriftus lehrt, und 
dem Mohlwollen, der Güte, die Buſhido nie aufhört zu verlangen. 
Liegt «6 in ihrem inneren Charafter? Liegt e6 in dem Grad 


Luerariſche Kundigau. Ki 


ihrer Stärke? Liegt es barin, daß der eine demokratiſch, ber andre 
ariſtokratiſch ift? Liegt es an der Art der Offenbarung? Iſt es, 
weil das eine ewig weiblich, das andre ewig männlich ift? Ober 
liegt es daran, daß es vom Himmel ftammend göttlich ift, und 
das andre von ber Erde irdiſch ift? Ich weiß nicht, wie ich bieje 
und andre Fragen beantworten fol, bie in jchneller Aufeinander- 
folge aufjteigen, während meine Feder über diefe Blätter gleitet, 
aber das glaube id, dag die Buſhido-Lehre, durds 
drungen von dem Licht, weldes jeden Menſchen 
bei feinem Eintritt in die Welt empfängt, eine 
berrlidere Offenbarung der Liebe vorausjah.“ 
Und in den Schlußworten entjcheidet fich Prof. Nitobe noch unzwei— 
deutiger für bas Chrijtentum: „Aber der Samurai ift nicht mehr 
und Bushido wird dahinſchwinden; und wie fein Etolz verſchwunden 
ift in dem leuchtenden Glanz einer aufgeflärten Bevölferung, fo 
wird die Lehre, die wir Buſhido nennen, aufgehen in einem 
größeren, höheren Moralgeſetz.“ Dieje finnvolle Gegenüberftelung 
läßt den Unterihieb der riftlihen und japaniſchen Moral deutlich 
hervortreten: bie lehtere iit eine durch und durd) national gefärbte 
und ariftofratiich begrenzte Vorfchrift für Gefinnung und Handeln 
des Japaners, während unſre chriſtliche Moral mit ihrem efoteriihen 
Element nur ein fernes Ziel daritellt, das unfrem Denfen und 
Tun bie Richtung geben joll und deshalb nie auf eine einzelne 
Klaſſe ober auf ein einzelnes Volk beſchränkt fein fann. Wenn 
wir bie einzelnen Forderungen prüfen, ſo dürfte die Berechtigung 
bes jo formulierten Gegenjiges nicht bezweifelt werben. 

Chriſtus forbert Liebe bein Nähten gegenüber, das Buſhido 
— Wohlwollen und Mitleid. Cine gleiche Liebe für Alle gibt es 
nicht und wird es nie geben: es iſt eine andre Art Liebe, die uns 
mit dem fulturell Gleichſiehenden verbindet, als die, welche wir 
dem niebriger Stehenden zollen, fie wird hier mehr den Charatter 
des Wohlwollens annehmen, während fie im erften Falle aud) ſchon 
das Gepräge bes Forderns tragen darf. Verſucht man das Gebot 
Chriſti ohne jebe Einſchränkung in die Tat umzufegen, fo iſt Die 
KRonfequenz eine Tolitojiche Lehre, die von dem klaffenden Wider: 
ſpruch zwiſchen dem chriſtlichen Gebot und unjern irbijchen Lebeno⸗ 
formen erfüllt, die legteren von Grund aus verurteilt. Mag er 
damit auch Recht haben, er ijt über die Kritik noch nicht hinaus— 
gefommen und feine „Auferftehung” bedeutet noch nicht ein Reform- 
programm, auf Grundlage deſſen das Chriftentum ohne Brud in 
einer neuen Gejellihaftsordnung aufgehen könnte. Pier rechnet 
der Japaner mit realen Verhältniffen, jeine Forderung entjpricht 
der Gliederung der Gejellihaft in ein Oben und ein Unten unb 
noch verfteht er ſich nicht zu der Idee ber Gleichheit Aller und zu 
ibeellen, unerfüllbaren Forderungen. Dem Buſhido fehlt jedes 








78 Literariſche Rundſchau. 


eſoteriſche Element, die praktiſche und zugleich ariſtokratiche Begren⸗ 
zung feiner Vioral verlangt vom Japaner nie Unmöglidhes, fondern 
gerade das, was im Rahmen feiner Stellung, feiner Familie und 
feines Vaterlandeg möglich und erwünicht ift: äußerfte Nufopferung 
feiner Perſönlichkeit im Dienjt der Pflicht, Anfpannung aller feiner 
Kräfte im Dienfte feines Monarchen — und das alles, um fi 
in fegter Linie feiner Vorfahren würdig zu ermeifen und feine 
Ehre, die zugleich die des Vaterlandes ift, rein und unbefledt zu 
erhalten. Man fieht, wie begrenzt das ganze Gebiet ifl, es be: 
fchränft ſich auf Japan, auf das Vateriand und bie Heimatgenoffen 
und mird zu einem Hebel von unvergleichlich ftarfer Wirkung. 
Ein Naumann wäre in Japan nicht denkbar: wenn feine ehrliche 
Neligiofität von ihm verlangte, fein ganzes eben mit dem Geift 
bes Chriftentums zu durchtränken und er als warmfühlender Patriot, 
als Heißblütiger olitifer beftänbig mit ber moralifchen Forberung 
besfelben in Konflikt geriet, weil dort fein Raum vorhanden war 
für Nationalitätenfrage, für politifche Intereffeniphären, für Flotten- 
vermehrung und ähnlides, fo müflen mir ihm Ned)t geben. Er 
309 ehrlicher als viele andre die Ronfenuenz und erflärte rundweg: 
Chriftentum und Politik, oder griftlihe Ethit und die Pflicht des 
Stantsbürgers haben wenig mit einander gemein, bie Rraris des 
Staats: und Parteilebens fordert andre Gefege, als bie der chriſt⸗ 
lichen Ethit. Jopan fennt dieſen Gegenfag garnicht: Patriotismus 
und alles, was dazu gehört, ift ethiich, ift moraliich, denn ber 
Japaner hat feinem Monarchen und feinem Waterlande zu bienen. 
Dan mag theoretifh aus bieien Verhältniflen die Konfequenz 
sichen, daß das Bufhido in feiner eng-nationalen Faffung jedem 
Fortschritt Hinderlich fein mußte und nur eine fonfervativ-pietätvolle 
Stellung zu Thron und Etaatsidee von dem mohlgefinnten Untertan 
verlangte; aber die feßten hreihig Zahre Haben uns darüber belehrt, 
daß es Männern, wie Marquis Ito und andern gelang, ben 
Begriff des wahren Patriotismus in dem Sinne zu vertiefen und 
zu erweitern, baß nicht ber Stillftand, ſondern ber Fortichritt nad) 
weſteuropãiſchem Muſter Japan allein die Zukunft fihern fonnte. 
Wie jede Abkehr vom eng-nationalen zum weiten fosmopolitiichen 
Standpunkt mit Gefahren verfnüpft ift, zugleid aber die einzige 
Gewähr für eine Entwidlung zu freiem Menjhentum bietet, jo 
mußte auch für Japan ber Schritt zur parlamentarifchen Verfaſſung 
nad weiteuropäiihem Muſter ein gemagter genannt werben. 
Wurde nicht durch die in das Staatsleben eingreifende Volks— 
verfretung ber Glaube an das unumichränfte, durch die Götter 
geheiligte Necht bes Herrſchers untergraben, wurde nicht in jedem 
eingelnen, ber zu politiicher Betätigung berufen wurde, das Be: 
wußtſein rege, nad) eigenem Urteil, nad) eigenem Interefle das 
Ruder des Staates zu Ienfen? Das tief eingemurgelte Pflicht 


Literariſche Rundſchau. 70 


bewußtſein des Japaners ſcheint ihn davor bewahrt zu haben, die 
Ehrfurcht vor der im Monarchen verkörperten Staatsidee ließ ihn 
Das eigene oder Parteiinterefie vergeffen und im Dienft für Raifer 
und Neid feine vornehmjte Aufgabe erbliden. Diefes Pflü 
bemwußtfein ift jogar ftark genug, um der Stügen von feiten einer 
Staatsfirche zu entbehren, die von jeher in Europa als Fundament 
jedes Thrones gegolten hat. Der Gehorfam gegen bie Obrigkeit, 
gegen das Staatsoberhaupt ift bei uns zu einem integrierenden 
Beftandteil der Staatsreligion geworden, und überall, wo fid) dieſer 
Aufammenhang zu lodern brodt, eriheint das Yerrfchertum von 
Gottes Gnaben gefährdet. 

Nach diefer Abſchweifung auf das politiſche Gebiet, die 
geboten erſchien, um zu zeigen, welche lebendigen Kräfte das Buſhido 
bier ins Leben gerufen hat und mie fehr es bazu beitrug und 
wohl noch beiträgt, den unbedenflichen Patriotismus als wahrhaft 
moralijhen Wert anzujehen, alfo jeden Zwieſpalt aus dem Wege 
räumt, fehren wir zu ben von Prof. Nitobe erwähnten Wider: 
fprüchen zwiſchen hrütlicher Ethit und Bushido zurüd. Wenn bie 
hriftliche Moral eine geoffenbarte, abjolute, in gewiſſem Sinne 
himmliſche it, fo muß das Vergehen gegen biefelbe einen völlig 
andern Charafter tragen, als ein Verſtoß gegen das Buihido. 
Der Chriſt begeht ein Unrecht Gott gegenüber, er jünbigt, und 
feine Macht der Erde fann ihn von dielem Wiafel befreien. Bier 
greift das Toama non der Erima, der Mechtfertigung dirett 
religiös wirffam ein, uw das rote Baud ziwichen dem Wollen 
und Handeln einerieits und dem Glauben zu nüpfen. An Stelle 
des Begriffs „Sünde“ tiitt die „Schande“ beim Japaner: er iſt 
feinen Ditmenicen, feinem Vatertande und vor allem fich jelbit 
Nechenfchaft fchuldig für das, mas er tut. Ihm liegt der Gedanke 
an eine Grlöfungsbebürftigfeit völlig fern, und fo fdeint aud) das 
Shriftentum, fomeit das aus dem Abfchnitt hervorgeht, feinen 
bogmatiichen Charakter in Japan verloren zu haben, es ift mehr 
Moralprinzip, ein vertieftes Buſhido geworben. 

Raftan unterfcheidet in einem geiftvollen Aufiag über das 
Weſen des Chriitentums zwei Typen von Religionen: ber eine 
geht von ber bee der Erlöjungsbebürftigkeit der Melt aus, der 
andre von ihrer Fähigfeit beifer zu werden, und betont baher die 
moraliſche Forderung. Ein Beiſpiel für die reine Form bes erften 
Typus ift ber Bubdhismus, für die zweite Die Lehre des Konfuztfe. 
Das Chriftentum jteht auf dem Kreuzungspunkt der beiden Ent« 
widlungslinien diefer Typen und will beiden gerecht werden. Je 
nad) den Strömungen innerhalb der Chrüten prävaliert bald die 
eine, bald die andre Idee, und mit Hecht macht Kaftan darauf 
aufmerfjam, daß das Chriftentum in der Auffaſſung Harnads 
feinen Charakter als Erlöfungsreligion ſtark eingebüßt habe, die 











s0 Luerariſche Rundlchan. 


ethiſche Forderung aber um ſo mehr in den Vordergrund gerückt 
ſei. Sobald Chriſtus Vorbild, nicht mehr Erlöfer ſei, höre das 
Chriſtentum auf, feinem Doppelcharafter gerecht zu werben. Man 
braucht nur an bie Phafen der Entwicdlung zu benten, bie bas 
Shriftentum in Aſkeſe, Weltflucht und ähnlichen Erſcheinungen 
durchgemacht hat, um auch die Gefahr, die in ber einfeitigen 
Betonung des Erlöfungscharafters liegt, nicht zu überjehen. Als 
ipezifiiches Element der Erlöjungsreligion muß ber Begriff „Sünde“ 
angefehen merben; fie ift das Attribut ber unerlöften Welt, im 
Gegenfap zur Gerechtigkeit der erlöften, d. h. bes Reiches Gottes. 
Bon Sünde fann baher nicht im Zufammenhang mit einer Moral⸗ 
iehre gefproden werben und bem Sapaner f—heint diefer Begriff 
fremb geblieben zu fein. 

Der Japaner hat von Indien den Bubbhismus übernommen, 
aber bie religiöfen Elemente find nicht vollftänbig fein Eigentum 
geworden, nur die „Methode der Betrachtung” hat der Bubbhismus 
ihn gelehrt; das metaphyfiiche Clement entipradh zu wenig feiner 
optimiftiichen Lebensbejahung, das Rontemplative lag feiner Natur 
fern. „Der wohltätige Einfluß dieſes Lichtes Afiens, das unjre 
Zivilifation erhellte, war bie Einführung der metaphyfiichen Elemente, 
die uns teilweife die Löfung des Geheimniſſes unfrer Natur lehrte, 
Gutes und Böſes, über Leben und Tod, Dinge, mit denen ber 
praftiiche Sinn unfrer Rrieger fid wenig beidäftigte, aber auf 
die jeder normale Menſch von Zeit zu Zeit, wenn er in beidaus 
licher Etimmung ift, feinen Blid wendet. Wir Lönnen jagen, daß 
biefe ariiche Religion unfern Sinn mehr zur Betrachtung anleitet, 
während Shintoismus troß feiner Anbetung der Natur uns mehr 
zum Denfen veranlaßt. Was wir aljo vornehmlich in moraliſcher 
Richtung gewonnen haben, iſt die Methode der Betrachtung, ein 

„modus operandi geiftiger Reife, und nicht fo jehr feine 
Vhilofophie oder jein Dogma.“ Dagegen mußte die 
von ejoterichen Elementen gänzlich freie Lehre des Kon-fustie dem 
auf das Praftiiche gerichteten Sinn des Japaners entipreden, und 
auf biefer Grundlage baute ſich die Bufhidolehre auf. Dennoch 
müfjen wir vermuten, daß die Morallehre des Ghritentums in 
Japan einen geeigneteren Voden finden dürfte, ale das Dogma 
von der Erlöfung, und bie kurzen, oben angeführten Vergleihe 
zwiſchen Buſhido und Chriftentum, die Nitobe angeftellt, recht- 
fertigen dieſe Vermutung. Das Buſhido wird fih cher dem 
modernen Chriftentum aflimilieren fönnen im Sinne einer allges 
meinen, nicht mehr auf eine Kafte beſchränkten Moral, und wird 
ſich vielleicht davor hüten, in den Fehler zu verfallen, abfolute 
Begriffe aufzuftelen, die jeder Entwidlung der Deoral Hinderlich 
werden fönnten. Cs ift ungemein Ichrreid, dab ein Volt, deſſen 
jüngfte Vergangenheit ſich in einer Periode rapiden inneren und 





Siterarifche Rundſchau. st 


äußeren Wachstums abipielte, auch in den tiefften Grundlagen 
feines Weſens, in feiner Weltanfhauung und in feiner Moral 
diefen aktiven Trieb zur Geltung gebracht hat. Seine Welt: 
anſchauung it Dank für fein eigenes Daſein, als Grundlage jeder 
Tätigfeit, iſt freudige Lebensbejahung, und feine Vloral fordert 
von ihm, ne Kräfte in den Dienit des Allgemeinwohls, des 
Staates zu ftellen: Beides hat die finnvolle Betätigung zum Ziel, 
nicht den eigenen Vorteil, wohl aber die eigene Ehre, den guten 
Namen und Kuf. 

In engem Zujammenhang mit bem ausgeiprodjen diesſei⸗ 
tigen Charakter der japaniſchen Moral jteht der Selbjimord. Das 
Haratiri ericheint als eine Art Selbithinridhtung eines Menſchen, 
der feinen Mitmenſchen etwas jchuldig geblieben iſt; er hat ſich 
durch irgend ein Vergehen entehrt und vollzieht nun felbft die 
Strafe an ſich, oder er will mit dem Tode feine Unschuld beweifen: 
„ich will euch meine Seele zeigen, auf daß ihr jelbjt urteilen 
get.” Nitobe jagt Sehr zu biefem für unjer Verſtändnis 
fo ſchwierigen Bunft japaniihen Chrgefühls: „Es iſt die Geſchichte, 
bie den blaſſen Tod verflärt; es iſt das Yeben, das der Verblidene 
überitanden hat und das dem Tode die Pein und Schmach nimmt. 
Wenn es nicht fo wäre, wer wollte den Schierlingsbeder mit 
Pitofophie zujammenreimen, oder dad Kreuz mit dem Evangelium? 
... Wir fönnen über Yeibaufidligen jagen, was Garlyle über 
teligiöfe Bettelei gelagt hat, dah 6 weder eine jchöne Beichäf- 
tigung war, noch eine chrenvolle, bis der Edelmut derer, die fie 
übten, fie zu einer ehrenvollen machte.” Die eigentümliche Art 
des Selbitmorbes beruht auf der Vorjtellung des Japaners, daB 
ber Sik der Seele in der Bara, der vorderen Humpffläde, zu 
ſuchen ſei. Dieſe Anfhanung hat eine gewiſſe Verwandtihaft mit 
der griechiihen Voritellung von dem Sig der Seele im Zwerchfell, 
und die Phyfiologie Hat uns gelehrt, daß die großen jympathijchen 
ervengeflechte, die in ber Tiefe des Leibes fihen, zu unfrem 
ganzen Gemütsleben in nächſter Beziehung ſtehen. Die Art des 
Selbftmorbes erfordert, da fie im höchſten Grade ſchmerzhaft iſt, 
Diut und fühle Überlegung und ift daher nicht fo leicht zu voll: 
stehen, wie jein Leben durch einen Piſtolenſchuß zu enden. Nitobe 
verteidigt den Selbftmord nicht, aber er erflärt, „daß der Tag ein 
trauriger für Japan werben wird, an dem feine Söhne die Yet 
ſchatzung der Ehre einbüßen follten (id) meine damit nicht Seppufu 
(oder Haratiri) felbit), die dieſes furchtbare Verfahren in ſich 
icjfießt.” 

„Ehre iſt das einzige Band, das den Japaner mit der fitt: 
lichen Welt verknüpft.“ Das Wort erfceint auf den erſten Blick 
dürftig, aber wenn die Ehre nicht nur ein nad) augen hin ſauber 
gehaltenes Gewand bedeutet, jondern ſich auch auf die Gejinnung 

vaini che Monatafchrift 1909, deſt 1. 6 














82 Siterarifche Runbfgau. 


erſtreckt, jo liegt barin viel beſchloſſen. Und bie Buſhidolehre 
verlangte vom Samurai, daß er fich über ſich ſelbſt Rechenſchaft 
zu geben habe. „Das Gewiſſen, bei uns verftändlic unter ber Ber 
zeichnung Rokoro (was Sinn, Geift und ebenfo gut Herz bedeutet), 
mar ber alleinige Maßſtab für Recht und Une Aber wir 
wiſſen, daß das Gewiſſen eine Macht des Bewußtieins ift, und da 
das ganze Wejen von Bufhido Tätigkeit bedeutet, 
fo ift uns . . . gelehrt worden, daß Gedanke und Tat ein 
und basfelbe iſt.“ „Es war bie Urjache, nicht der Ausgang, bie 
dem Verhalten Gerechtigkeit angebeihen lieg” — das find Worte, 
die dem tiefften Sinn jeder Moral gerecht werden, baf nicht die 
Handlung als folde ſMiechtweg, fondern mr in Bezug auf ihre 
Motive fittlid) oder unfittlih genannt werden fann. 

Durd welche Kluft ift diefe Auffaſſung von ber äußerlichen 
Gefegeserfüllung des wahren Semiten, des Juben, getrennt, der 
in einem flachen Phariiäertum feine Befriedigung fand. Dem 
Arier wird aber aud) die japanische Wioral dürftig und äußerlich 
eriheinen, weil er gewohnt ift den Mert der fittlihen Forderung 
an der hödjiten nur denkbaren Stufe des Moralgeſehes zu meilen. 
Diefe Stufe ift dem Japaner erreichbar, und weil fie erreichbar iſt, 
hat er nicht, wie wir, die Verfuhung zu Kompromiffen zwiſchen 
fültlicher Pflicht und Handlung. Dir erideint es unwahrſcheinlich, 
daß ein Volt, befien ethiiche Forderung fo ganz dem pratuſchen 
Bedürfnis, jo ganz dem fulturellen Wachstum Rechnung trägt, 
innerlich verlogen jein foll, ein Volk, deſſen Moral den Stempel 
der Ehrlichfeil an der Stirn trägt. Man braucht doch mur ar 
den dritlichen Engländer zu denfen, dem es jo ungemein leicht 
gelingt das, was ihin politiſch unzıwedmäßig erjcheint, als unchriſtlich 
und unmoralifd) zu ftempeln! uf weilen Seite liegt mehr Merz 
logenheit? Aber der Ruf des Japaners ift in Bezug auf Wahr: 
heitgtiebe fein guter, und mir fcheint der Grund dafür nicht fern 
zu liegen: Jedes Volk, das ſich in jahrhundertelanger Abgeſchloſſen- 
heit entwidelte, deſſen oberjter Grundjag der Aufbau und die 
Erhaltung des eigenen Staates war, wird bei der Berührung mit 
andern Yölern id eines gewiſſen Wiftrauens nicht erwehren 
Lönnen, das zugleich mit jenem Hochmut gepaart fein mag, ber im 
Andersartigen das Minderwertige erblidt. Erſt fpät lernte der 
Japaner fremde Kulturen mit lernbegierigen Augen anſehen, und 
das Gelernte forgfam für eigene Zmede ausgeflalten. Diele ganze 
Situation verlangte eine gewiffe Vorſicht und diefe Vorſicht Teint 
von bem Europäer mißbeutet zu werden. Sie eriheint ihm als 
Verſtecktheit, als Falſchheit, während ſie doch nur die moderne 
Form für die politiiche Liſt, für den eigenen Selbfterhaltungstrieb 
ift, den der hocjfultivierte Staat ebenfo nötig hat, wie der aufs 
ftrebende. Ein anderes Dioment liegt dagegen in der Nejerve, die 








Literariſche Rundſchau. 83 


der Japaner in Bezug auf jein Gefühlsleben überhaupt beobachtet. 
Man ſpricht von dem jtets lächelnden, luſtigen Völkchen, und biete 
Epitheta haben dem Japaner den Ruf der Oberflächlichteit einge: 
tragen. Nitobe weilt diejen Vorwurf als unberechtigt zurüd: es 
fei ein weſentlicher Zug der Buſhldolehre, daß fie völlige Selbft: 
beherrfhung verlange, einen Stoiziomus, der nit nur eine nad) 
außen zur Schau getragene Ruhe, fondern aud) ein inneres Bewäl: 
tigen ber Leidenfchaften verlangt. Diefe Forderung ift dem Japaner 
fo in Fleiſch und Blut übergegangen, daß er fich nicht dazu 
entichließen wird, dem fremden einen Blid in fein inneres zu 
geitatten, er wird mit dem Lächeln der Höflichfeit den eigenen 
Schmerz zu masfieren juchen. Das wird für Mangel an Wahr: 
heitöfiebe gehalten und doch liegt in diejer Verſchloſſenheit ein 
ftarfer männlicher Zug, den flüchtige Beobachter nur falſch gedentet 
haben. 

Aus allen dieſen Einzelheiten it erſichtlich, welche Schwierige 
feiten fi dem Europäer beim Studium des Japanertums entgegen- 
ftellen. Es wird ihm nur felten gelingen, in den Kern jeines 
Weiens einzubringen, und bie Veſchreibumg des Gejehenen und 
Gehörten wird häufig das wahre Bild fälihen und dem Weſen 
des Japaners nicht gerecht werden. CEbenfo energifch verwahrt fich 
Prof. Nitobe gegen das in Europa herrſchende Vorurteil, das die 
japanifche Fran dorzugoweiſe als Geiihatypus fennt. Schr über- 
zeugend jagt er: „Es gibt wohl faum eine irrigere Auffailung, 
als den Charakter der Samurai: srauen mit dem Typ der Geijha 
gu vergleichen; es war talfächlich der Gegenſah zwiichen beiden, 
der den Geilhas die Dafeinsberehtigung verſchaffte, denn die 
Samurai:Frau war ein gejegtes, ernftes, ja felbit jtrenges „haus: 
badenes Geſchöpf“ mit fehr wenig Geſchmack für Unterhaltung 
und nod) weniger für Vergnügungen, beiler bewandert in der 
Poeſie des Altertums 2.” Und es ericheint aud im höchſten 
Grade unwahrſcheinlich, daß die Frauen, in deren Yand doch vor 
allem die erite Erziehung der Kinder lag, ſo tüchtige Maͤnner 
ihrem Vaterlande erzogen haben follten, wenn fie nicht auch die 
nötige ethiſche Qualififation für diefe Aufgabe bejejjen haben ſollten. 
Allerdings Iheint das Verhältnis der Ehegatten zu einander nicht 
jene grundlegende Bedeutung gewonnen zu haben, wie in Europa, 
mo dieſes Verhältnis in ideellem Sinn den Wertmeiler für bie 
Höhe der erreichten Rulturitufe beitimmt. „Das Chriftentum“, 
fagt Nitobe, „lehrte, dab der Kernpunft wohlgeordneter Gejellichaft 
anf dem chelichen Zufammenleben der erjten Eltern beruhte und 
daß folgerichtig ein Mann Vater und Mutter verlaiien und feinem 
Weide anhangen joll; eine Lehre, die an und für ſich nicht leicht 
veritändlich und, wie jhon Paulus zugibt, jehr zweifelhaft in ihrer 
Anmendung ift und einem unreifen Jüngling geitattet, den Willen 

—* 








34 Literariſche Rundſchau. 


feiner Eltern mit Füßen zu treten, wenn er ſich in ein leichtfertiges 
Mädchen verliebt. Chriſtus hat ſelbſtverſtändlich diefe Auslegung 
nie befürwortet, aud enthalten die zehn Gebote nicht den Wortlaut 
Du follft dein Weib mehr lieben, als du deinen Vater und deine 
Mutter ehrft.'" Nad) der Buſhidolehre beftand „die kindliche Liebe 
als die erſie aller Tugenden“, und wieder berührt ſich hier dieſe 
Anſchauung mit ben Ideen des Ahnentults. Cs ift die Danlbar— 
feit für das Dafein, die das Kind feinen Eltern jchuldet und aud) 
bie Gattenliebe darf nicht in Konflikt mit der kindlichen Ehrfurcht 
geraten. Es it nur eine Konfequenz diefer Auffaſſung, die offenbar 
allen orientalijchen Volfsftämmen gemeinfom ift, daf bie Gattin 
erſt die ihr gebührende Stellung einnimmt, wenn fie Mutter 
geworden ift, wie denn auch Unfruchtbarkeit der Frau in Japan 
a!s anerfannter Scheidungsgrund gilt. Aber and auf Diefem 
Gebiet hat der weſteuropäiſche Einfluß Schon vieles geändert und 
6:5 der mmgemein farfen Mifimilationsfähigteit des Japaners wird 
& nicht lange dauern und die Emanzipation der Frau wird dort 
bereis jene mafvolle Grenze erreicht haben, welche die übers Ziel 
binausfcjiehenden Veitrebungen in Guropa erit nad längerem Hin- 
und Herſchwanken feftftellen werden. 

In Enropa Hat man die Nachahmungskunſt Japans oft ver 
jpottet, aber wenn diefe Kunſt oder Anlage mit Aritit_ und dem 
Vermögen, richtig auszuwählen, verbunden- it, fo muß man fie 
wohl als die Grundbedingung jeder Selbitersiehung unfehen. 
„Welche vorwärtsfcreitende Nation hätte fie nicht befeifen und 
benugt? Man braucht mr zu bedenfen, wie wenig griechiiche 
Kultur auf hellenifhen Boden entitand. Dir ſcheint, daß das 
originelfite, d. h. das wenigft nadhahmung e Wolf die Chinefen 
waren, und wir jeben, wohin ihre Originalität fie geführt hat. . . 
Wir fhaudern bei dem Gedantken an unfer Schidjal in dieſem 
Tannibalij—hen Zeitalter der Nationen, wären wir immer das gleiche 
Driginal geblieben.” (Nitobe.) 

Vor nicht langer Zeit blätterte ich in Burkhardts „Kultur— 
geichichte der Griechen“ und von Seite zu Seite fteigerte fi mein 
Intereſſe für die eigenartige Daritellung, ja die faft neue Beleuch- 
tung der griechiſchen Geſchichte, die durch 9. . Chamberlains 
„Grundlagen des 19. Jahrhunderts” auch in weiteren Kreiſen 
befannt geworben iſt er zugleich fiel mir eine überraichende 
Karallele auf: unwilltürlich viefen Burthardis Schilderungen des 
griechiſchen Lebens Erinnerungen an die Verhältniſſe in Japan 
wach. Diefe Frage follte wohl von berufener Seite eine ſorg- 
fältigere Bearbeitung erfahren, denn es gibt eine Reihe interefjanter 
Vergleichspunfte, 

Wenn wir vom Shintoismus ausgehen, fo finden wir in 
Griechen land ebenfo eine Naturreligion, eine Verehrung perfoni: 

























Literariſche Rundſchau. 85 


fizierter Naturgewalten, die fpäter — vielleicht ſchon zu 
Zeiten — einem weitverbreiteten Skeptizismus ber 
gegenüber weicht und in dem jofratijhen „Erfenne dich jelbji” und 
jeinem Daimonion bereits die Grundzüge der Bujhidolehre enthält. 
Die Kalokagathia, die vornehmite Tugend der Griechen, war ein 
ethiiches Scyönheitsgeieg, das jeinen Ausdruf in einer harmoniſchen 
Lebensführung fand. Männlichteit, Tapferkeit durjten nidt den 
Charakter der Zeidenichaft annehmen, fie mußten durch die Sophroſhne 
(das weile Mahalten) gedämpft werden. Die erjte Pflicht galt 
dem Staate, ber Bolis. Ihr Wohl jollte jein vornehimjtes Streben 
fein und der Züngfing wurde in erfter Linie zum Patvioten erjoren. 
Burkhardt betont es bejonders ſtark, wie wenig Die Idee der Polis 
dem einzelnen, der zu ihr gehörte, feine freibeit ließ, er wurde 
unfrei durd die Verpflichtungen, die ihm Staat und Gemeinde 
auferlegte, und das ichlimmite, was den Griechen- treffen Tonnte, 
war bie Verbannung, das hie; mit andern Worten n 
Tod, denn nur in der Vaterjtadt durfte er feinen veligi 
verrichten, dort jtand das Heiligtum der Hausgötter und mit dem 
Veriaffen jener wurde auch das Yand jerriifen, das ihn mit feinen 
Vorfahren verknüpfte. Das war derjelbe Patriotismus, derjelbe 
Ahnen und Hersenfult, den Japan noch heute befißt. 

Ebeniowenig wie der Japaner Fannte der Grieche den Begriff 
„Zünde” und fonnte ihn in unjrem Sinne nicht kennen, wohl 
aber war ihm „das Bewußtſein der Schande” ebenfo geläufig wie 
jenem. Schon die homeriſchen Helden weinten vor Scham, und 
die erihütternde Verzweiflung, die Mar in den Tod treibt, it mus 
allen von der Schulbank her befannt. Diefes ausgeprägte Eh 
gefühl läht ihm den Tod auffuchen, ja den Selbitmord, wenn fein 
Stame, fein Ruf beffesft war. Werkwürdige Heifpiele erzählt uns 
Burfyardt, wie ältere Menſchen ſich das Leben nehmen, weil fie 
fürchten, durch Alter und Gebrechlichkeit läſtig werden. Da 
jpielt ein, äjthetiiches Moment hinein, was vielleicht and dem 
japanijchen Harakiri nicht fehlt, wenn Schuldloſe, um ihre Unschuld 
zu beweilen, ſich den Tod geben. 

Die Parallele dürfte noch interefjante Vergleichspunkte aufs 
dedfen: jo das Hetärenweſen in Athen, das im Perikleiſchen Zeit 
alter einem ähnlichen Bedürfnis entſprach, wie das Geiſhatnm 
heute in Japan. Die geiellichaftlich enge Stellung der Chefr 
ſchuf eine Mitteltellung des Weibes, der der freiere geiſtige Ver— 
fehr mit Männern nicht allein geitattet, jondern zur Pflicht gemacht 
wurde. 

As itig und verichlagen galt der Grieche bei fremden 
Völfern,. bejonders bei jeinen diplomatiihen Miffionen, und Burke 
hardt bezweifelt feine Wahrheitsliebe auch dort, wo er vaterländiiche 
Geihjichte ihrieb. Die Tatfaden feien von Legendenbildung und 


























0 Siterarifche Rundſchau. 


Ruhmredigkeit durchwebt, fo daß es ſchwer fei, Tatſache und Dar- 
feltung zu fihten. Das erinnert an die enropäiichen Urteile über 
‚Japan. 


Zum Schluh möchte id) noch auf einen wejentlichen Unter: 
ſchied hinweijen, der ſich auf dem Gebiet der Kunft geltend macht. 
Die antife griechiſche Kunſt fah ihre tiefiten Ideen verkörpert in 
ruhenden Geſtalten, fie fand in dem harmoniſchen Gleichgewicht 
der Linien und Formen den fchöniten Ausdrud. Das Drnamentale 
gab auch der Darjtellung der Menſchen, nicht nur der Götter, 
jenen tiefen, ftillen Wohllaut, der uns noch heute vor ben großen 
Werten jener feltenen Zeit file jtehen läht. Erſt ſpäter, wohl 
beeinflnft durch die Nunitbewegung in den joniſchen Städten Klein: 
afiens, wandte fie fich einer vealiftiicheren Auffaſſung zu umd prägte 
anjtatt der Typen Charaftere. Wer vor einem Prariteles’ichen Kopf 
oder der Miloniſchen Venus fteht, wird vergeblid nad) irgend: 
welchen Anhaltspunkten für den Charakter der betreffenden Gejtalten 
Suchen — fie find Schönheitsideale. Ganz anders jiellte ſich der 
Japaner diejem Problem gegenüber: der Menſch, den er daritellt, 
das Tier, der Vogel, die Pflanze, jedes einzelne darafterifiert er 
ſcharfe er gibt ihnen Stellungen und Ausdrud, die nie vollfom- 
mener Nuhe entlehnt find, jondern immer ein vewehungsmoliv 
enthalten. Der Vogel, der auf dem Aſte figt, jtredt ben Hals, 
um nad) einem Jufekt auszuicauen oder er lift feinen Kopf tief 
im Federkleid einfinfen, um ſich zum Schlaf zu rüjten. Leben 
bedeutet dem Japaner Bewegung, Tätigkeit und er ficht die Natur 
als eine beitänbig bewegte, und er begreift den Sinn diejer Bewer 
gung, wenn ‚er in jeidenen Slickereien oder Elfenbeinſchnitzereien 
Nejthen an Äſichen und Blüte an Blüte fügt, nie einen Fehlſtrich, 
einen Mißgriff tut, Sondern überall das gejegmähige Walten 
innerer Naturgejege durdihaut und die Erideinung in ihrem 
Sinn, d. h. in ihrem Charakter verjtanden Hat. Als die eriten 
japanifhen Arbeiten nad) Europa famen, da hielt man die jonderbar 
verfüuzten Gejlaften, die eigenartige Zlugftelung ber Vögel für 
unnatürlid,, bis die Momentphotographie uns darüber belehrte, 
daß ber Japaner richtiger und ſchneller gejehen hatte, als der 
Envopder, der ſich die Antworten auf diefe fünftleriihen Tragen 
bisher „nur aus der Tiefe feines Gemütes konſiruiert“ hatte. 
Lad wie ichmell überholte der Japaner jeinen Hineſiſchen Lehr: 
meiiter in der Anwendung der Farbe: die bleichen Broncetöne des 
Herbjies To fein abftufen kaun nur ein Japaner; ſeine Netzhaut 
muß nicht allein auf Linien, jondern ebenjo auf farben feiner 
teayieren, als die unfrige. — Xntereifant wäre es zu erfahren, 
ob in der Mufit Japans auch bie Tonintervalle geringer find, uld 
bei uns und ber Japaner beim Anhören einer europäiiden Secunde 
vielleicht den Wohllaut einer Terze zu hören glaubt. 











Literariſche Rundſchau. 8 


Wie in der Buſhidolehre bie Moral den Geſetzen bes Lebens 
entnommen und jeinen Bedürfniſſen angepaßt war, jo eutſprach 
aud) die Kunſt dem eigentlichſten Lebenonerv bes Japaners, fie war 
Charalteriſtik finnvoller Bewegung, d. h. der geiegmäßigen Tätig: 
keit, die dad Bushido auch vom Menſchen verlangte. Das hödjte 
Ideal war dem Japaner bie Leiſtung⸗ die Arbeit, dem Griechen 
die götterähnlihe Ruhe, -— jenem das Tun, dieſem bas Sein. 
Nur der Gott jelbit, Buddha, figt finnend und bemegungslos auf 
jeinem Thron, ihm genügt das Sein — er fennt fein Tun — 
und jo hat Japan ihn dargeitellt 

So gehen icheinbar friedlich Moral und Kunft in Japan 
nebeneinander her, ohne in unfruchtbarer Zwietradht, wie bei uns 
in Europa, einander zu befehden, unb erft die Zufunft fan uns 
zeigen, ob diefe beiden Gegenjäge im legten Grunde eins find, 
wie ein jeltenes Geſchick uns die Vereinigung beider im Genie 
zeigt. Das Genie iſt individuell chöpferiich, im weiteiten Einne 
des Wortes Künitler, aber cs erfüllt das höchjte Geſetz der 
Moral, wenn auch „jenjeits von Gut und Böle“, indem es ſich 
jelbjt bejaht und dem Gefetze feines zur Welt erweiterten Achs 
gehorfam iſt. 

Der Weg dahin — wer weiß ob er gelehrt werden fann -- 
dahin, wo der Menſch das Necht bat, wieder Herr zu fein, jein 
jelbjteigener, führt durch Dienſt und Hingabe des eigenen Celbft. 
&s ſcheint richtiger, diefen Weg zu wählen, wenn aud manches 
„Selbit“ darüber zugrunde gebt, als den umgefehrten und mit 
dem „Herr jein“ anzufangen. -- Bor bald taufend Jahren fang 
ein japaniiher Dichter die Strophe: 

Vezwinge du zuerſt dein eignes Selbit, 
Tann deine Freunde, endlich deine Feinde. 
Das find deri Siege, und vereint fo Itart, 
Dafı fie des Sieger Namen OHlany verleihn. 
und vor hundert Jahren hörte Europa aus dem Munde feines 
größten Dichters die Worte: 
Doc, wenn ein Wann von allen Yebensproben 
Die fauerite beiteht, fi) felbit bey 


—* 
Tann fan man ihn mit Secuden Andern zeigen. 
Und jagen: Das iit er, das ift Tein eigen. 


Dr. R. v. Engelhardt. 





Ghubaromst, Nov. 1904. 


Literariſche Schweitern. 





Wir leben in einem Zeitalter, das der Kunſt wieber eine herr: 

ſchende Stellung eingeräumt hat. Nachdem mehrere Jah 
jehnte fang das Intereffe für die Naturwiffenichaft im Lori 
grumde geilanden hat, it mun die Kunit in ben Mittelpunft 
getreten. Cs ift, als ob fidh der Gebildete erholen wolle von all 
dem Zergliedern, Trennen und Klaffifizieren, das ein entwidelter 
Betrieb mit fich bringt. Er will in eins fallen, zujammenfchanen, 
intuitiv den Sinn bes Ganzen ergreifen, am Gieichnis, am Vilde, 
am Eymbol genug haben — kurz, fih ein wenig vom Denfen 
erquicken im Gefühl. 

Der lebhaft erwachte äfthetifche Trieb tritt mannigfad) in 
die Erſcheinung. Cs ift nicht zu verfennen, daß er mit einem 
andern, heute aufs Neue angeregten Triebe zufammentrifft, mit 
dem fozialen. Der Strom, zu den ſich dieſe beiden vereinigen, 
ift durch ein Echlagwort unfrer Zeit gefennieichnet: ARunft und 
Volk. Wo ſich ülthetiihe und foziale Intereffen jo vermählen, da 
liegt die Gefahr einer einjeitigen Üeberihägung und Ueberfpannurg 
des Aefthetüchen nicht vor. Anders liegt Die Sache, wo dus 
Aeſthetiſche ohne dieſen Zulammenhang mit den Intereſſen der 
Gejamtheit gepflegt wird. Hier teitt das art pour Part auf. 
Gewiß, man fann auch diejes Wort fo deuten, daß cs uns 
berechtigt erſcheint: die Kunſt um ihrer jelbjt willen! Aber es 
!äht fid) doch nicht leugnen, daß wir es hier mit einer ganzen 
nicht unbedeutenden Richtung unjrer Zeit zu tum haben, deren 
Tendenz wir am beiten bezeichnen mit dem Worte: Aefthetifierung 
des Lebens. Alfo nicht bloß: mehr Kunſt Ins Leben, mehr Leben 
in di jondern dns ganze Leben zum Kunſtwerk! Es werben 
jo ſchließlich alle Yebenswerte umgewandelt zu äfthetiichen. Der 
ätherische Gefichtspuntt ijt der einzige, von dem aus das Leben 
zu betrachten iſt. Es bringt das nicht nur eine Vernachläffigung 
der Winſenſchaft, jondern vor allem eine völlige Verachtung der 
al mit ſich. Daß der eigentliche Vater diefer Nichtung 
jegiche iſt, Fcheint mir kaum zweifelhaft. Die Schlagwörter 
er nicht geprägt vom Yeben als Nunftwerf, von der 
betiiierung uw. Aber feine Verachtung der herrſchenden 
enſchaft und der driftlihen Moral, fein Eintreten für bie 
Herreumoral, jür die „Blonde Beſtie“ und den Uebermenſchen 
bedeutet doch nichts anderes als die Inthronifierung des äſthetiſchen 








































giterarifche Rundſchau. 8 


Urteils. Der gewaltige Künftler Niegihe -— denn das ijt 
er doch vor allem geweſen — jtellt die Genialität, die Araft, 
die Herrichergewalt als das Höchite hin, mei fie ihm gefällt, 
weil fie jo wunderſchön iſt. Er reißt — falt fünnte «an 
jagen eine junge Generation mit fid, die ſchon angebeuteten 
Zeiteinflüſſe treten Hinzu, und es entiteht jene rein äſthetiſche 
Weltanſchauung, die Neithetifierung des Lebens. 

Es dürfte nicht ſchwer „fein, in ber Siteratur dieſe Geſamt⸗ 
ſtimmung nachzuweiſen und fie braucht nicht immer ausgeſprochen 
zu fein, fie fan aud als Duft über den Werten ausgebreitet 
fein, wie das z. B. bei den Dichtungen des feinfinnigen Hugo 
v. Hofmannsthal und der talentvollen Nicarda Huch der Fall it. 
In andern Füllen verdichtet fi die Stimmung zum Gedanken. 
Subermanns „Heimat“, vor allem aber Hauptmanns „Verfunfene 
Glocke“ bietet ein gutes Beiſpiel. 

Um feine Miſſion erfüllen zu können, muß Heinrich mit 
Geſetz und Sittlichfeit in Konflift geraten, jein Weib verlaſſen 
und Nautendelein freien. Was der Staatsbürger und Ehemann 
verliert, gewinnt der Künſtler. Heinrich hat freilich nicht bie 
Kraft, den bejchrittenen Weg bis zu Ende zu gehn, er geht unter, 
aber jterbend hört er Sonnenglodentlang. Es gibt eine Möglicy- 
feit, fein Leben ganz zum Kunſtwerk zu machen, unbeirrt um das 
Dazwifchenfahren einer hindernden Moral, ganz äſthetiſch, ga 
Künftler zu werden. 

Eins freilich iſt dazu nötig: die volle ungeſchwächte Ent— 
widlung des Gefühlslebens. Weg mit den Nlügeleien des Ver— 
Htandes, mit der Dreſſur des Willens in einer aufgezwungenen 
Moral! Heinrichs Gefühlsichen kann ſich nur frei entfalten an 
der Bruft der Natur. Daher die Vereinigung mit dem Natur: 
wejen Nautendelein. Diefer Punkt führt uns auf das zweite 
Sharafteriftitum der literariſchen Richtung, von der wir reden. 
Der reine Aeſthetiler muß das Gefühlsleben vor allem betonen 
(aisthesie = Empfindung). Schauen, farbenfrob, gefunde Sinn- 
tichfeit und Achnliches ind heute Schlagwörter. Won der bildenden 
Runit her wirft ein Genie wie Bocklin fräftig in diefer Nichtung. 
Und jo wird denn verſtändlicherweiſe die Natur befeelende, Geftalten 
ichaffende, Auge und Ohr, kurz die Sinue erfreuende Phanrafie 
verherrlicht. Gegenüber der Betonung des Verftandes und des 
Gewiſſens die freie herrliche Phantafie. Won bier iſt nur ein 
Scwitt zur Anertennung des Phantaſtiſchen, Abenteuerlicen, 
Geheimnisvollen, ja Wunderbaren und Zauberhaften. Märchen- 
dichtungen, wie die „Veriunfene Glocke“ und „Die drei Neihere 
federn“ weifen in dieſe Richtung. Und ebenjo die dunkle Lyrik 
des Eymbolismus und Impreffionismus. Dehmel, Bierbaum, 
Schautal, Schlaf, Holz und viele andere haben unter dieſem 








9 Siterarifeie Rundfehan. 


Zeichen geichrieben. Und man irrt wohl nicht, wenn man annimmt, 
dah die erfreuliche Betonung der Voltsmärden und Volkslieder, 
wie fie in andern lilerariichen reifen, 5. 3. denen des Kunſt- 
warts, ſo heiter erblüht it, auf einem ähnlichen Boden erwachſen 
it. Die Schäpung bes Gefühlslebens bringt aud) die Märchen- 
und. Wunderluft des Volkes mit fich. 

Wo aber die äftheliichen Werte A und O find, wo man 
ſich im Dämmerlicht des Symbolismus "bewegt, da ift es ſelbſi— 
verjtändlich, daß eine Dichtung, die im hellen Mittagslicht daliegt, 
die zugleid) von einem jtarfen fittlihen Pathos getragen ift, ein 
heftiges Unbehagen erregt. Es ift einfach naturwibrig, daß ein 
Dichter wie Shiffer auf die ganze literarifhe Gruppe, von der 
mir reden, wo nicht abitoßend, jo doch erfältend und ernüchternd 
wirft. Er ift ihr geiftiger Antipode. Im hellſten Sonnenſchein 
eben feine Geftalten da, fie behalten nichts Schwanfendes, nichts 
Dämmerhaftes, find in großen Linien gezeichnet und fo hell 
beleuchtet, daß die zarten, vermwöhnten Augen des modernjten 
Aefihetifers regelmäßig zu ſchmerzen anfangen, wenn fie fie 
betrachten. Sie vermiiien den „Duft“, die intereiiante Linie. 
Und dann das fittlide Pathos! Das iſt nun ſchon einfach uner- 
Laubt. Statt der fein nuancierten Stimmung, jtatt der interefe 
fanten, geheimnisvollen Fragezeichen große und fo umendlid) ein 
fache Wahrheiten! Mozu die Selbſtverſtändlichkeit? 

Wir wollen hier nicht darüber uwteilen. Die Abneigung 
gegen Schiller follte hier nur angeführt werden als Symptom 
einer Richtung, die das Aeſthetiſche zur Alleinherrichaft erheben, 
das Gefühlsieben vor allem entwideln, in geheimnisvoller, phans 
taftiiher Dämmerpracht fid ergehen will. 

Die Entwidlung des Gefühlslebens, das Bewußtinachen des 
Unbewußten, jene oft beſprochene Differenzierung und intime 
Sinancierung der Empfindungen hat eine wichtige Kouſequenz, bie 
Yetonung des Subjeftiven. Es ift befantt, welche Nolle in 
waſrer Zeit die „Individualität“ fpielt. Schr begreiflih. Der 
Intelleft muß nach objektiven, alfgemein güftigen Regeln operieren, 
der fittlih gerichtete Wille fügt ſich objektiven Normen und 
bandelt nad) ihnen. Das Gefühl läßt ſich nicht fommandieren. 
Cs iſt oder ilt nicht, umnbefümmert um die orderungen ber 
!rußenwelt. „Mir it fo“ — daran läht ſich durd die ganze 
objektive Welt mit ihren Gefegen und Forderungen nichts ändern. 
Es ift verftändlid, daß eine Kunſi, deren Ziel vor allem in der 
äußeriten Verfeinerung bes Gefühlslebens“ befteht, jubjetioiftiich 
wird. Stimmungspoelie. 

Diefe literariiche Richtung iſt nicht etwas ganz neues. Viel- 
mehr erinnert fie in vielen meientlihen Zügen an bie vorige 
Jahrhundertwende, 1900 an 1800. Auch der Ausdruck für die 








Literariſche Rundſchau oi 


gegenwärtige Richtung iſt im Hinblick auf die ältere Schweſler 
geprägt worden: Neuromantif. Denn es liegt in der Tat eine 
frappante, wenn aud) eigenartig ſchattierte Aehnlichkeit vor mit 
jener berühmten Romantik, die durch die Schlegel-Tied ins Leben 
trat. Die eigentümliche Yetonung und Entwirlung des Gefülls: 
lebens, bas Beilrehen, immer „aus dem Innerften zu reden“, das 
Betajten und Zerfajern der eigenen Gefühle — das Unbewußte 
foll ja bewußt werden — alles das find Dinge, die wir in der 
älteren Homantif ausgeprägt wiederfinden. Wie jehr die Nomanz 
tifer eine Poetifierung des ganzen Lebens angejtrebt haben, iſt 
befannt. Friedrich Schlegels „Lucinde“ ftellt uns den freilich 
mißgfüdten Verſuch einer folden Geitaltung des Lebens zum 
Runftwerf dar. Die Moral wird verachtet, während die Witjen: 
ſchaft für den Nomantiter eine ganz eigentümliche Ver— 
bindung mit der Kunſt eingeht. Heißt es doch: „Alle Aunit full 
Wiſſenſchaft und alle Wiitenihaft joll Kunſt werden.“ Endlich 
der Subjeftiviomus der Nomantifer. Cs ift viel über ihn geredet 
worden. Daher genüge hier die Erinnerung daran, daß nad 
Friedr. Schlegel „das oberite Geſetz der Poeſie iſt, daß die Mille 
für des Dichters fein Geſetz über ſich erlennt.“ 

So die Hauptzüge. Im einzelnen fanı man ſich mannige 
fady darüber orientieren. Nihardb M. Meyer gibt im erſten 
Kapitel jeiner „Deutichen Literatur des 19. Jahrhunderts“ mit 
ein paar Strichen einen hübſchen Beitrag zu der beiprochenen 
Parallele. Ricarda Huch blidt in ihrem wundervollen vomanz 
tiich-Fongenialen Bude „Blütezeit der Romantil“ (2. Aufl. 
1901) immer wieber auch auf unfre Zeit bin. Georg Tanß— 
iher hat dieſem Thema eine beiondere Studie gewidmet: 
„Friedrich Niegfhe und die Nenromantif” (1900). 
Freilich Tönnte man jagen, daß wir ſchon manche Schritte getan 
haben, diefe neue Nomantif zu überwinden. Symbolismus und 
Impreifionismus machen bereits weniger von ſich reden, ein 
Frenſſen erzielt die größten Erfolge, und der wandelt nicht in der 
Dämmerung, jondern im hellen Eonnenlicht. 

Gleichwohl iſt es vielleicht nicht überftäifie geweſen, daß ich 
anf dieſe Parallele eingegangen bin. Sie drängt ſich einem auf 
bei der Seftüre moderner Schriftfteller, auch ohne dal; man die 
betreffenden fiteraturgeichichtlichen Bücher und Studien fennt. Auch) 
iſt es mir nicht auf eine Verfolgung der Parallele in alle Einzei: 

“ heiten angefommen. Wer da mehr Belege haben will für unfre 
Zeit, dem jei Taubſchers Büchlein warm empfohlen ; wer ſich über 
die alte Nomantif orientieren will, jei beſonders auf Nicarda Huch 
verwiejen, die ihrem ſchon erwähnten Buche ein zweites über 
„Ausbreitung und Verfall der Nomantif“ (1904) 
hat folgen laſſen. 











9” Literariſche Rundſchau. 


Man könnte hier in der Tat auf wichtige und geradezu 
erfiaunliche Einzelheiten eingehn, bie die Aehnlichkeit zwiſchen neuer 
und alter Romantik dartın. Was ließe ſich nicht allein fagen 
über die weiblich-romantiihe Empfänglichteit und Anſchmiegungs- 
fähigkeit, wie ſie fid) ſowohl jetzt als vor hundert Jahren im der 
Stellung zur Volfspoefie und zu fremdländiſcher Runjipoefie gezeigt 
hat. Es würde uns an diefer Stelle doch zu weit führen. Denn 
die Aufgabe dieſer Zeilen ift nicht geweien, die Entwidlung der 
beiden Schweitern um 1800 und 1900 zu verfolgen, ſondern nur 
darauf hinzumeilen, wie fie der inneren Anlage dieſer Schweftern 
entſprechend jo ähnlich hat ausfallen müflen. Die verführeriih 
prädtige und doch jo gefährliche Erhöhung und  beftändige 
Beachtung des fubjeftiven Gefühlstebens bildet den gemeinfamen 
Ansgangspuntt. 

Sodann aber galt es, darauf hinzumweilen, wie lehrreich ſolch 
eine Wiederholung einer literariihen Richtung werden kann. Sie 
‚enft unfern Blick auf den notwendigen Kreislauf in der äftheti- 
ſchen Entwidlung der Menjchheit hin. Es treten dieſelben Urſachen 
auf und erzeugen diejelben Wirkungen. Man fann die Nomanıik 
at ihrem Sefühlsfeben, ihrem Subjektivismus, ihrer Phantaſtik, 
ihrer Anpafjungsfähigfeit und der Sucht zu verbinden, zu ver- 
idmelzen, wohl dem weiblihen Prinzip vergleichen. Von dem 
Feminiomus der neueſten Zeit iſt Häufig die Nede gewejen. Aber 
siegt nicht gerade in folder Chavakterifierung auch der Hinweis 
auf das berechtigte Moment in alter ſowie neuer Romantik? Muß 
aicht gerade die Lyrik aus dem Ewig-Weiblichen Nahrung gewin— 
Und zeigen uns nicht die Lieder Uhlands, Eichendorffs, 
Deines, vifes, wie fruchtbar ſolche romantiſche Anregung 
gewefen i Mir ſcheint, bei Erwägung diejes Umftandes, wird 
anfer Urteil über die romantiſche Nichtuug milder ausfallen 
müſſen, als wie es Otto Harnad z. B. in feinem Eſſai 
„Klaſſiker und Romantiker“ gefällt hat (Eſſais u. Studien 18 

Anderjeits freilich hätten die Uebertreibungen und die 
der alten Nomantiker unfrer Zeit vedhtzeitig ein warnender 
gel jein jolen. Intereſſant find in der Richtung die man- 
herlei Sharakterifierungen, Hinweiſe und ⸗Proben, die Tangicher 
zur neuen Romantik bringt. Das find die Bahnen des fchranfen: 
tojen Subjeftivismus, die Gefahren des Echwelgens im Rauſche 
des Gefühls, die Ertravaganzen des Echönheitsfultus. Tangider 
feot im Schlußwort mit Recht darauf noch bejonders den Finger, 
‚ch nimmt fih m. E. daneben jein Echlußurteil über die Verech 
tigung und die Verdienjte der Neuromantif ein wenig zu günitig 
und optimiflich aus. 

Endlich verdient die Stellung, die die Nomantif zu Schiller 
einnimmt, befondere Beachtung. Es ijt oben mit ein paar Striden 


























ouerariſche Rundſchau. os 


gezeichnet worden, wie ſich die Moderne zu Schiller geftellt hat, 
ja ihrem ganzen Weſen nach hat ſiellen müſſen. Iſt dieſe 
Etellungnahme'neu? Ganz und gar nicht. Unſer Publikum lebt 
vielfah des Glaubens, daß Schiller unbeftritten ein Jahrhundert 
lang geherriht habe, daß er aber der verfeinerten Piydyologie, 
ben gefteigerten Kunſtanſprüchen unjrer Zeit nicht mehr genüge. 
Wer auch nur ein wenig mäher zuficht, findet eine ganz andre 
Sadjlage. Es iſt geradezu amüſant, wie die abfälligen Urteile 
über Schiller, die um 1900 gefällt worden find, übereinftimmen 
mit den ablehnenden Etimmen um 1800. Höchſtens unterſcheidet 
ſich diefer neue Tadel von dem alten dadurd, daß er dody mit 
etwas mehr Reſpekt ausgeiproden wird. Es iſt alfo nicht 
modernſte Piychologie, der Edjiller nicht genügt, Tondern cs iſt 
eine beitimmte Richtung, die fid) an ihn flohen muf. Sein 
fittliher Ernſt, fein ideales Pathos, jein redneriſcher Schwung, die 
Mittaghelle jeiner Zeichnung, die Einfachheit feiner Problen.e 
feine Mar und ſchlicht geſchilderten Cheraltere fonuen den Roman 
tifer alten und neuen Schlages nicht befriedigen. Aber es ift 
doch eine jehr bemerfenswerte Tatſache, daß Schiller nicht etwa 
als Anfänger oder während des KXenienfampfes (1796), fondern 
auf der Höhe feineo Ruhmes, nach Vollendung feiner dramatischen 
Meiſterwerke, als er tatſächlich ſchon der erfte deutſche Dramatiter 
war, von der herrihenden literarifden Richtung 
grenzenlos veradtet wurde. Wlan bedenke, was bas 
beißt: «8 waren nicht Dutzendmenſchen, inferiore Peute, die ſich 
an Ifiland und Kotzebue erfrenten und Schiller ablehnten, jondern 
es waren führende Geifter, die eigentlich Schöngeiftigen Deutich: 
lands, Männer, die große literariiche Verdienfte halten. Wie die 
Geſchichle darüber geurteilt hat, it befannt. Trot des romanti- 
ſchen Verdifts wuchs fid Schiller aus zum Licblingsdicdter, ja 
zum eigentlichen Erzieher des deutſchen Volkes. Die Dichtungen 
der Nomantifer wurden vergeſſen. Und fo ſcheint auc das Woͤll⸗ 
lein der Neuromantit, das Schiller verdunfelte, im Borübergehen 
zu fein. Schillers Denkmal aber ift unverändert, und wenn 
wir's anbliden, meinen wir die Worte eines alten Dichtero zu 
hören: 
Nun ſtehet es da 

und fpottet der Jen und fpottet 

Ewig gewähnter Male 

Welche jchon jegt dem Auge, das ficht, Trümmer find. 


Damit jei der flüchtige Hinweis auf die Stellung der 
Romantik zu Schiller geſchlohen. Wen aber fpeziell dieje Frage 
intereffiert, der jei naddrüdlid verwiefen auf das unlängit 
eribienene Buch unſres Landsmannes, des Privatdozenten an der 
Techniſchen Hochſchule zu Darmjtadt Dr. Kart Alt: Schiller 

* 


9 oiterariſce Wundfgan. 


und die Brüder Schlegel. (Meimar, 9. Böhlaus Nadı: 
folger, 1904. ME. 2.50). Dieſe wiſſenſchaftlich gehaltene, aber , 
dabei gut leobare Schrift Tann über den Eutwidlungsgang der 
Schlegels, ihre wachſende Abneigung gegen Schiller und zugleich 
über die Grundgedanten der Nomantit gut orientieren *. 

* 


Die obigen Aufzeichnungen find ſo kurz gehalten, daß fie 
eine ausführlichere Begründung wicht bieten fonnten. Daher iſt 
es vielleicht nicht wertlos, wenn nun als Nachwort die Beſprechung 
des Homans erſcheint, der wohl beanſpruchen dürfte, der bebeu- 
tenbjte ber neuromantifchen Richiumg zu fein. Sch meine Nicarda 
Sud, Erinnerungen von Lubolf Ursleu dem 
Füngeren (3. Aufl. 1901). Ich habe diefe Beſprechung bereits 
vor einigen Jahren unter dem unmittelbaren Eindrud ber Lektüre 
des Romans geichrieben, zunäcit ohne die Abſicht der Veröffent- 
lichung. Meine Kenntnis der einidylägigen Literatur war damals 
noch lüdenhafter als heute. Dennoch glaube ich mit der ver 
ſuchten Parallele im wejentlihen das Nichtige getroffen zu haben. 
Deshalb mögen die Gedanken, die unter dem frifchen Eindruck der 
Zeftüre entitanden, hier eine Stätte finden, zugleidy eine Begrün— 
dung bietend für die obigen Grörterungen umd eine Aufforderung 
an den Lefer, zu forſchen, ob es ſich alfo verhielte. Ich würde 
heute vielleicht mandes anders anfalien, laſſe aber, weil ich im 
ganzen übereinjtimme, alles unverändert. 





*) Bereits nadjbem ich meinen Artifel völlig abgefchlofien, jält mir ein 
jüngit erichienene® Yırdh in die Hand, das id) dach menigitens erwähnen möchte, 
weil «6 fi mit dem von mir behandelten Tyema berührt: Osfar Emuld, 
Die Probleme der Nomanit als Örundfragen der Gegenwart. (Berfin 1904. 
MI. 450.) Das Bud) ericheint als 1. Wand eines Werkes: Romantik und 
Gegenwart. Cmald yält uniec Zeit für eine Zeit der Uufelbftändigfeit. 

„Abhängig find wir und abhängig find unfre Probleme: von denen der Nomantif.“ 

US Grunpproblem erfceint ihm der Indinidualismus. Diefes findet er in 
jedem einzelnen der niet Probleme wieder, die cr in feinem Bude behandelt und 
Die ihn cbenfo für die Nomantit wie für die Gegenwart haratteriftiic zu ein 
Ieinen: im Problem des Staats6, der Nunit, der Neligion und der Crotif, 
Iedes diefer Probleme behandelt er zufamumen mit einem Repräfentanten. Tas 
Stoatsproblen wird aupeilafen am Bei; Gens. das der Kunft am trabbe 
daS der Religion das der Erotit an Meiit. — Dieie Meihode üit 
‚Höchjt bevenflich. De ich find dieſe vier Männer garnicht charatteriftiiche 
Werireier ber Nomantit, ſondern haben mr Beplehungen zu ifr. Sodann aber 
it 08 irreführend, fie von einem jo einfeitigen Gejihtspunft aus zu_beiradten. 
Endlich aber bringt der Gedanfe, ragen der Vergangenheit als Fragen der 
Gegenwart zu behandeln, eine folde Unrube in die Arbeit, — man chaufelt 
immer von 1800 zu 1000, -- dafı die Yeftüre wenig, Beiziediguug bietet. Der 
erf. mag gute Abftcten haben, er weift auf fo manchen Sthaden der Moderne 
hin. Aber er leider felber art einem Gebreden uniter Tage: cr hat feine Zeit. 
Wieniel feuchtdarer wäre cine zuiammendängende und in die Tiefe geüende Zar 
ftelfung der Probleme der Nomantit gewejen. Die Hätte dann and einen beffer 
bearbeiteien Boden abgegeben für die Probleme der Öcgenwart. 




































Siterarifhe Rundſchau. 96 


Ricarda Huchs „Qubolf Ursleu“. 


Dies ift eine neue Romantik. Freilich feine Munder, keine 
Zauberer und Feen kommen darin vor, nicht in eine ferne Ver— 
gangenheit werden wir verjegt, und das geheimnisvolle Gebiet 
des Religiöſen ſcheint der Verfaſſerin ein fremdes zu fein. Nicht 
bie Requiſiten der Romantik wird man hier finden, aber ihre 
Stimmung, nidt romantiſche Manier, aber romantilden Duf“. 
Schönheitgetränft ift die Dichtung, allein mit dieſer romantiſchen 
Schönheit hängt ein anderes zuſammen. So flar die Seflalten 
angeichaut, jo beutlich fie gejeichnet find, fie behalten {chlieklich 
doch etwas Ausgebachtes, und fo lebendig die Ereigniſſe vor unjer 
Auge treten, bisweilen haftet ihnen etwas an, was uns nicht recht 
übergeugen will. So body im „Lubolf Ursleu“ Seine dichleriſche 
Schönheit, fo edel fein Stil, jo blendend feine Gleichniſſe, ſo groh- 
artig und jchlicht feine Kompoſition ift, es fehlt ihm ein Eiwas, 
das ich legte innere Wahrheit nennen möchte. Co bleibt hier 
doch zu vieles mach, was nicht frei gewachſen und geworben, 
iondern was gemacht iſt. Gewiß, Funjtvoll gemacht, fein und 
geihmadvoll, aber dod) gemacht. Daher das Abentenerfiche auch 
in der Pfychofogie, jenes Abentenerliche, das von ben eriten Liebes 
affären Lubolfs über die unwahrjcheinliche Epifode mit Flora bis 
zu ber Verhexung Gelindens durd) Gaspard und zu ihrem frei— 
willigen Sturz aus dem enter immer wieder auftaudt. 

Um folder Vorzüge und um folder Sprache willen, die bie 
Dichtung hat, entjtcht bie eigentümliche Stellung, die wir zu ihren 
Oeftalten einnehmen: dieſe Mugen, ſchönen, unglücklichen, teils 
ſchwachen, teils freuelhaften Dienichen haben cs aud) uns angetan. 
Wenn wir dns Buch ausgeleien, jehnen wir uns zurüd nad) den 
Geftalten, die unfre Teilnabıne gewonnen. Wan will noch mehr 
von ihnen hören, und das will was jagen. Aber die Liebe, die 
mir zu ihnen gefaßt, hat doch etwas von der Liebe für Märchen: 
geftalten und wir haben auch die entfeglidhften Ereigniſſe, die fie 
betroffen, leicht ertragen Fönnen, weil cin fein ſtiliſierender 
Schleier fie gemildert und uns gleichſam entrüdt hat. 

Daher das Wort von der nenen Romantik. Ich lege Lein 
Gewicht darauf, daß prachtvoll geſchilderte Träume auch in „Ludolf 
Ursleu“ eine Nolte jpielen und daß der Held ſchließlich katholiſch 
wird. Das find Einzelfeiten, die ans Homantifche anflingen, 
aber noch feine Romantik machen. Nicht an Einzelheiten denke 
man, fondern an das Ganze, an die Schniucht nad) Leben und 
und die Flucht ans dem Leben, an die ſtarke Stimmung und die 
unheimliche Schwüle, die auf allem laftet. Auch das bit 
als romantiſch anfpreden, daß bei jo viel und jo ſtarkem 
doch das eigentlich fehlt, was wir Gemüt nennen, 














86 Literariſche Rundſchau. 


„Ludolf Ursleu“ iſt intereſſant als das echte Kind feiner 
Eltern, wie es gegen Ende des 19. Jahrhunderts entſtehen konnte: 
die Moderne hat es gebort nachdem fie von dem Geiſt der 
Nomantif befruchtet war. Hieraus erflärt fih, was die Dichtung 
hat und was fie nicht hat. Alle die Formichönheit, der Stim: 
mungszauber, die Feinfühligteit und gleihlam der Duft einer 
wunderbar ſchimmernden tropiichen Pflanze. Aber auch der Mangel 
an einfältigem Vertrauen, an Frömmigfeit und innerer Gefund: 
heit. Man wird ſich nicht darüber wundern, dab Romantif und 
Moderne ein jo jhönes und jo fränkliches Kind erzeugt haben. 
Und deshalb wird das Kind aud) fterben müſſen. Lieben werden 
es viele, befonders die feinen und ariltofratiihen Seelen. Als 
Denkmal einer Epoche bleibt es intereffant und verdient mehr 
Teilnahme, als ihm entgegengebradht worden. Freilid, zu den 
großen und glüdlihen Kindern der Kunit, denen dauernde Jugend 
Qu dem Auge leuchtet, gehört es nicht, dazu it es nicht Itarf 
genug. Und deshalb iſt es doppelt notwendig, daß ihm eine 
innere Geſundheit entgegengebracht werde, bie nicht in Gefahr 
ſteht, ſelbſt anzufränteln. 


Hermann Sreiherr von Eglon gein, gaiſer Wilhelm I. und Leopold von 
Sri. Veln., Gebr. Pactel, 1904. 93 ©. mit 2 Bid. Preis M. 3. 

In den Rahmen einer kurzen Piographie Leopolds von Orlich gefaht, 
werben bier einige Vriefe (im ganzen 24) des Prinzen Wilheim von Preußen, 
friteren Naifers Wilhelm I, an diefen mitgeteilt. Leopold von Crlic, geboren 
3801, geitorben 1800 in London, erfreute fid} jeiner Zeit als wifienichaftlicher 
Sorte eines gewiſſen Rufes. Er gehörte zu jenen preufiigen Milirärs, 
wie aud, fein Jeitgenoffe Noon, durch Karl Ritter zum wmiffenfhaftlicen 
& — der Geographie angeregt wurden; die Nefultate einer Reife nach vriciſch⸗ 
Indien hat cr in einer wiedergolt auigefegten Reiſebeſchreibung und einem fyiter 
matiich darftellenden Werfe „Juvien und feine Regirrung” niedergelegt. Dem 
zen Wilhelm it er wohl ſchon früher nafegetreten; jeit dem Jahre 1848 
u feinem Tode ftand er it ihm in cimem regen Driehvedlel, in dem 
vofitiiche und perfönlice Verälnifie mit freundichaftlicher Offenheit beiprodjen 
wurden. Die Briefe Orlichs find nicht erhalten; mie aus den Antworten des 
gen zu erfehen, enthieften fie politifcie Stimmungsberidhte aus den von ihm 
bereiften Ländern, aber aud, Meinungsäuberungen und Natiläge, die innere 











€. v. Schrend. 














oiterariſche Runbfehen. 9 


Bolitit Preußens betreffend. Die in vollem Umfang mitgeteiften Briefe des 
Pringen bifden ben .mertvolfften Beftandieil deö Buches; denn fic gewähren 
mannigfacgen Einblid in die Zeit von der Rüdtehr des ringen aus England 
bis in die erften Jahre feiner Regentichaft und fchäkbares Material sur Beurleir 
dung feiner Perjönlichfeit und poliliſchen Tätigkeit. Das Urteil: über den alten 
Kaifer Wilhelm wird ja noch immer durch zwei einander enigegempirfende Ten, 
denzen beirrt, einerfeil® und vor allem baburh, bafı feine Regierung mit der 
ftantamännijchen Saufbahn vismarcts zufammenfällt und felbftoerftänblich niemals 
iſoliert won biefer betrachtet werden kann; c8 wird darum hergebradhtermeile an 
ihm von vornherein ein Maftab gelegt, der fait jeden Herricher Hein erfcheinen 
liche. Anderfeits wird aber aud eine geredite Würdigung feines Berbienites 
abgeftumpft durch den bygaminiſchen Rultus, der neuerbings mit feinem Namen 
getrieben wird un ber in fritiflofer Apoiheoſe ale Mitribute auf ihn bäuft, die 
hofiſche Rhetorit und Nunft zur Berherrlichung von Furſten erfunden. hat. 
MI 68 doch eine Verunglimpfung des feplicht ehrenwerten Mannes, ber noch) jo 
vielen Ichenbig vor Xugen fteht, wenn er und jeht immer micber.in fo bombaftifch 
aufgeblafener Geftalt vor Augen geitellt wir! Das beite Aorreftin folder much 
oben und unten ſchwantenden Beurteifung bildet bie Veröffentlichung unmittelbar 
u uns fpreqender Dofumente, wie es auch biefe Briefe an Leopo id von Orlich 
find. Hier tritt er uns wieder einmal entgegen mit den Eigenfchaften, die ihn 
fetg verchrungswärbig magyen, dem geiunden, freitich jo gar nicht genialen, aber 
aud) von feiner Dotirin verblendeten Sinn für bie Tatſachen und Forderungen 
des Lebens, der anfpruchslofen Hergengüle und mafellos vornehmen Gefinnung. 
Wem jene Zeiten fern gerüdt find, dem wird das Beine Vuch nic viel ſondertich 
Intereffantes bieten; mer ihnen eime treue Grinnerung bewahel bat, wind ſich 
auch an den Mleinen Fügen erfreuen, durch die ihr Wild hier bereichert wird. 


RG. 


Günther Ianfen, Nordweſideuiſche Sludien. Berlin, Gebr. Ractel, 1904. 
366 S. Preis M. 5. 


Unter dieſem Titel iſt eine Reihe von. hiftorifchen Auffägen vereinigt, 
deren Mittelpunft das Grohherzogtum Oldenburg bildet, die. aber bei ben 
wefelnden Schidfalen diefes Xandes und ben weilnerzweigten Beziehungen feiner 
Dimaftie einen recht ausgedefnten Umfreis umfafien. Sie führen nad, Tänemort 
und Rukfand Ginüber, mit denen Oldenburg zeitweilig vereinigt war, had 
Griedjenland, deffen erfte Königin eine oldenburgifche Pringeffin war. Zum Teil 
berufen fie auf- Forfchungen, zum Teil auf perfönlichen Erinnerungen des Wer 
faffers, mie 3. V. das unterhaltende Stüt Autobiographie: „Das Jahr 1648 
u$ der Shülerpeftive-" Janfen ift Stantsminifter feines Geimatlandes geweſen 
und durd Zamilientraditionen mit jeiner Geſchichte im legten Jahrhunderi genau 
vertraut, Sr tritt und alB ein feingebifdcter Mann von nicht gerade fehr ‚aus. 
geprägter, ober {pmpathifcher jcriftitelerifcher Jubioidualität engegen. Sein 
Wuc, bemeift wieber einmal, welche Mannigfaltigfeit des geiftigen Lebens Deutfch« 
land dem politifc) verhängnispolen Keinitantenleben verdantt. Auc; das abge - 
Iegene, “tille Oldenburg Üit teils vorübergehend, teils dauernd die Wohnftätte 
mandyes bedeutenden Dannes geworden; im 18. Jafefunberi lebte hier der jet 
von den Siterarhiftoritern micberentdertte Yelfrich Peter Sturz, einer ber geifte 
volljten Profaiften feiner Zeit, im 19. Jahrhundert Julius Mofen und Abolf 
Stahr. Roc, beräßintere Männer find gelegentlich in Beziefungen zu Ofbenburg 

’ 


dB Kiterarifhe Kundlchau. 


getreten, fo Graf Reinhard, der franzöfffde Diplomat und Freund Goethes 
Wien von Humboldi, Herder u. a. Ein umfangreides Negiiter ermöglicht 
igmelte und genaue Orientierung, ut aber des Guten eiıdas gu viel, meun- wir 
4. B. eine gange Neihe griedhifer Yaınen nufgejähft finben, bloß meil Athen 
einmal“ble Stadt genannt wird, in dr Pete uf. gie Men. 


Sauf Hepfe, Moraliihe Ummöglicteiten. 3: Aufl. Stuftgatt, I: &. Cotta 
ie 1908. 

Es gibt Leute, bie Paul Heyfe ſchon jept zu den Toten geworfen haben 
und über den noch in blühender" Kraft unter ung wirfenden Künjtler mit-einem 
deiepren Achſeigugen hürtwvegaugehen und Hinmeggufehen ich berechtigt” glauben. 
Damit geichieht dem Dichter jchwero® Unrerht. Wen auch der Dramatiter Henie 
vorausſichtlich einmal vergeſſen merden wird und dem Romanſchrijtſteller fein 
bervorcagender Pad gebührt, -- der Novelift veyfe it einer unfrer Weiten. 
Des bereit auch jeine lepte bereits 1M01 und 1903 entitandene Hovellenjamm: 
hung „Moralifche Unmöglicteiten”. Scharf arbeitet er, ıle Die Novelle «5 vers 
tangt, „itarfe Silhuetten Heraus, Orunrifje, die ih mit irgend eimer auffälligen 
Fingelheit dem Gedächtnis einprägen.“ freilich), Jeine Vorliebe für: ungemöhnlice 
Geftatten und Brobfeme benseift er auc) bier. Es ift, al8 ob e&'bem erfahrenen 
Menicenbeobadjter und „Menichenforider" (3. 244) geradeju Freude macht, 
feitene Ausnahmefälle zum Vorwurf zu wählen und feine Meiiterichaft darin zu 
seinen, dab er auch Diele glaubhaft macht. Und das gelingt ihn in vollem 

je, dem wer fich durch das Pefuchte mander Sitnation, das gelegentlich 
ende „tüdifche Spiel der Verhälttiffe” (&, 186) nicht veritimmen läht, 
der wird die Feinheit der Linienführung, die zwingende Kraft, mit der felbit 
ungewöhnliche Geitalien wahricheinlich gemacht werden, beroundern müffen. Dabei 
verleugnet der jhöngeitsdurftige Dichter feine natürliche Scheu vor allem Häf- 
tichen auch bier nicht, und auch auf diefen Band feiner Novellen pant das Wort 
Adolf Sterns: „Zuit alle feine Charaltere tragen eime unveräuherliche Selbit: 
atung in ihrem Wufen, die.nicht vor drrungen und Sämpfen, aber vor dem 
Gemeinen bemahrt.“ Ei 
1. 








Ebarlotte Niefe, Die Alabuulerſtrahe. Lpz., Grunow. 1904. 

Die feinfinnige Darjtellerin holſteiniſcher Zntimität, Charlotte Nieje; 
hat ſich Küngit einen jo rühmlihen Namen unter den deutichen Schriftftelferinnen. 
erworben, daß man ein jedes neue Bird) von ihr mit Freude in die Hand 
mim. Auch in ihrem lebten Roman „Die Alabunferitraße" wird man vieles 
finden, was an das Beite gemahnt, was wir diefer liebenswürdigen Dicherin 
in. Wie lebendig wird vor uns. die alte Alabunferjtraße in Hamburg 
nit ihren wintligen Giebelhänfern und ihren derben und doch jo warmberjigen 
Menſ⸗ geſchildert; wie ſcharf verſteht es die Verſaſſerin, die charatieriſtiſchen 
3 Werfonen zu exfafien, dab Diele vor ung Fleiſch uud Blur werden; 
wie beweiit jo wand) treffende Bemerkung. dah ſie tief ins Menſcheuherz zu 
blicken gelerut Gut; wie bligt dazwiſchen jener goldige, jait am Frig Reuter 
gemabende Humor hindurch, der ums daB eben zeigt. wie es lacht und meint. 
Und donn endlich die Ainberigenen!  Dieje prüdtigen, gelegentlich) eingeitreuten 
Genretilgen ſind jo wundesdar treu des Wirklicfein abgehaufcht und Dabei mit 








olterariſche Rundichau. ob 


fo catſam Griffel gezeichnet. das fie vlelleicn das kunſtlichtte find, mas und: 
das Buch bietet. Ja all diefen einen und Meinften Zügen ijt Charötie Rieſe 
Beifterin, ſir den Romam geofen Suls freifidy fehlt ihr die Kraft. Nict nur 
dab das Broblern, die allmählidje Entfremdung zweier. Ehegatten und das Side 
wiederfinden ber beiden, trop erfolgter Scheidung, nicht: Idjarf genug. heraus: 
gearbeitet und dis in die Hleinften Details glaubhaft dargeitellt üft, e& verfcheninbet 
fait water dem üppigen Rankenwert all- der Rleiumalere, wie ein Wil, das 
man neBen der reichen Grmamentil’ des Nahmens four modh-beimestt. Much iii 
au wigen, dais Die Werfaffsen doch allnwiel aus der Aumpeflümmer veritanbier 
Nomanti? hersorgeholt hat ımd' den Gott „Zufall“ arg Herummumoren ichi. 
Oder follte eine Niele ohne den abgenupten Romanapparat von unerwariet 
begfüdenden Erbſchafien. Hinter zerbrödenen Bildern zum Vorſchein kommenden 
Zeitamenten u. &. nicht ausfommen fönnen? — Trop diefer Musfiellungen 
wünfcgen wir. Deen-Püchlein vecht vieke Vefer. Sie werben fiber all dem Schönen. 
und Yergerfrifgpenden die gerügten Mängel vergefien unb den Gejamteinbrud 
empfangen, dais ihnen bier mehr. al diode Unterhaltungslettüre‘ geboten wird. 


Ru 


Neuerichienene Bilcher. 
Jerenias, Dr. A. Bahplonischos im Nauen Testament, Lpa. IHR 
8. 





8. 





Bayer, Weh. DDr. S %, Girhetum und ialtit. @. Vehtrag zur Ari. 
EHit. Bein. 08 

Braaicı, Superint. D. "öi, vegläen Strömungen ‚der, Begenmart 
(= Wus Patur- u. Geiftesmelt. Bd. 60) ty 148 ©. 

Maid, 6 Alken'umd Sekten der Okgemzart Unter Wüarbei derfäedener 
wong. Theologen ürög. Stutig. 576 &. M. 4. 

Baumgarten, Prof. D. O., Predigtprobleme. Sauptfragen der heutigen Goanı 
geliumsverfändigung. 155 S. Tübingen. MR. 1,80. 


d. Bismasd, des Fürften Otto, Politiſche Reden. Hift.trit. Gefamtausgabe 
beforgt von Horjt Kohl. %Wb. 13 (Heben u. — — u Bb.14 
(Hadyträge und Geſamiregiſter). Stuttg. 484 u. 232 ©. 8 u. 4,50. 

v. Bismard's, fürit Herbert, Yotiiler Reden. Se. von 3. Pepe. nit 
« Bifon. Stuttg, 426 ©. 














Ehrenborg, Grosse Vermögen, ihre Entstehung und Bedeutung. 
Bd.: Das Haus Parish in Hamburg. Jena. 150 S. mit 5 Abbild. 
1.3 


Gumplowirz, L., Geschichte der Staatstheorien. Innsbruck. 592 8. 

Deitacher U nirersititskolender, bogründet von Prof. Dr. Ascherson, 
nach des Verf. Tod mit auatlir iterstützung hrsg. von Dr. Th. 
und Dr.G.Ziegler. 1. Bi ichsdeutschen Universitäten, M. 1.60. 
2. Bd.: Die gurlündischen Universitäten, M. 1,20. Leipzig, K. G. Th. 
Scheffer. 


Wolynski, Der moderne Id lau, u Russland. E. Studie. Übers. von 
1. Melnik, Prankl. 125.8. M. 
Stein, Prof. Dr. &, Der fopiade — gem. 267 S. U 











100 iterarifie Rundſchau. 


Baumgarten, Prof. D. ©., Herders Lebenswert und bie relig. Frage der 
Gegenwart. Tübi 105 &. M. 1,80. 

Bontane’8, 2jeob., Öriefe an je Zamilie. 2 Be. 30 u. 
- Fontane, M. 2. E 

Harder, Chr., Homer Fin Wegweiser zur ersten Einführung in die Dias 
und Odyssee. Mit 96 Abbild. und 3 Karten. 282 S. Lpz. und Wien. 
M. 4,00. 

Sangmeffer, dig. Gortrab Ferd. Meyer. Sein Schen, feine Werte und fein 
Naclab. 530 S. m. Bilon. Bel, Wiegandt u. Oricen. M. 6,0. 

Lothar, Rud., Das deutsche Drama der Gegenwart. Mit 25 Bildn. und 
117 Testillustrat. Buchschmuck von Joh. Sattler. 343 S. München. 
=. 10. 

Schil ierbuch, Marbader. Zur 100. Wiederlehr von Schillers Todestag hrsg. 
vom fAmwäb. Scillerverein. 38) S. Stutig. I. 7,50. : 





©. Bein. 











Wahl, Adald., Vorgeihichte der franzöfifcen Revolution. Ein Verſuch. 1. Br. 
; 370 S. Tübingen. M. 7. 

Siriafei Dr. M., selig. drittes Gefchlecht. Großſtadi · Dolumente. 
Srag. von Hans Oftwald. . Veln. M1. 

v. Horsetzky, Feldzeu ‚riegsgeschichtl. Übersicht der 
wichtigsten Fehlzüge seit 1792. Mit Atlas von 38 Taf. 
6. neubearb. Aull. 715 S. “20. 
















Der Salon des Rigaſchen Sunftvereins. 


Ein Rüdblie 
von 
Wolbemar Freiheren v. Mengden. 


nn 


r Salon bes Rigaſchen Kunftvereins, der am 5. Dezember 

1898 feierlich eröffnet und am 21. Dezember 1904 fiill 

geichlofien wurbe, hat jein Dafein in einer Mietwohnung 
im Erdgejchoß des Engelmannjchen Haujes, Vafteiboulevard Nr. 9a, 
ſechs Jahre fang fill gefriftet und ift gewiß nur einem verhältniss 
mäßig geringen Teil ber 300,000 Bewohner Rigas befannt 
geworben. Daß er aber für ben gebildeten, bildungsfähigen und 
bildungsbebürftigen Teil eine nicht zu unterfhägende Rolle gefpielt 
hat, ja noch mehr, daß er ein Kulturfaltor geworden, das zu 
erweifen ſoll bie Aufgabe dieſes Nüdblids fein. Wehmütig, wie 
einen lieben Freund, haben viele, und nicht die Schlechteften, ben 
Salon aus ihrem Leben ausfKheiden fehen, — einem bewährten, 
lieben Freunde will aud) diefer Nachruf gerecht werden. 

Die Betrachtung der Lebensumjtände bes Rigaer Kunftfalons 
führt unfern Blick zurüd zu feiner Entftehung. 

Der am 22. Mai 1870 auf Initiative der Literäriſch-prak⸗ 
tüchen Yürgerverbindung ins Leben gerufene Kunftverein in Riga 
bezwedt laut feinem am 14. Januar 1870 eritmalig und am 
26. Januar 1872 mobifiziert beftätigten Statut: „die Förderung 
der Kunſt jowie bie Belebung und Verbreitung des Kunfifinnes 
in Riga“, und veranftaltet zur Erreichung feines Zwedes: 

a) eine permanente Ausftellung der bem Verein angehörigen 

Sammlungen, fowie neuefter Kunfterzeugnifie; 

Baltife Menatefcrift 1005, Heft 3. 1 


102 Der Salon des Rigaſchen Aunftvereins. 


b) temporäre Nusftellungen von Erzeugniſſen ber Künftler aller 

Nationen; 

©) periobifch wiederkehrende öffentliche Hauptausftellungen von 
dergl. Runftwerfen; 
d) Vorträge über Kunftgeihichte und Äfthetit. 

$ 5 befagt ferner: „Die Wirkfamfeit bes Vereins wird durch 
keinerlei Rüdfichtnahme auf Malerſchulen oder Nationen beſchränkt, 
und fol biefer Grundſatz, wenngleich den Werfen valerländiſcher 
Künftter Rußlands eine befondere Beachtung vorbehalten bleibt, 
namentlich bei der Auswahl der für die PVereinsfammlung zu 
erwerbenden Kunſtwerke maßgebend jein.” 

Wie fchwer es dem Kunftverein wurde, biefen Aufgaben zu 
genügen, erhellt aus ber Gefchichte der erften 25 Jahre feines 
Beitehens, über die im Jubiläumsjahr der damalige ſchriftführende 
Direktor Herr dim. Ratsherr Nikolai Röpenad in einer feffelnden 
und verbienftvollen Feftfchrift berichtet !. 

Die größte Schwierigkeit, die dem Kunftverein bei feinem 
Beftreben begegnete, den ihm vorgezeichneten Zielen entſprechend 
zu mirfen, fand die Direktion in der Lofalfrage. Der bem Verein 
zu Beginn bewilligte Raum im Nealgymnafium, woſelbſt die 
permanente Ausftellung untergebracht wurde, genügte nur für eine 
ganz furze Zeit. Schon die zu Beginn bes zweiten Gefhäftsjahres 
1871 veranftaltete große Gemäldenusftellung fand in ber Aula des 
Baltifchen Polytechnikums ftatt, die dank dem Entgegenfommen bes 
barin heimifchen Technifchen Vereins fowohl als namentlich des 
Verwaltungsrates des Polylechnikums dem Nunftverein dauernd 
ein Aſyl bot. Als fi) dann im J. 1878 erwies, daß ber ber 
ftäbtijchen Gemätdegallerie und den Sammlungen des Kunftvereins 
im Polytechnitum zur Verfügung geftellte Raum abfolut nicht mehr 
genügte, aud andre Unzuträglichkeiten immer dringender das 
Bebürfnis nad einem eigenen Lofal erwiefen, dabei aber die feit 
Jahrzehnten immer wieber angeregte Frage ber Erbauung eines 
eigenen ftädtifhen Kunftmufeums abermals vertagt wurde, wurde 
enblih am 1. Januar 1879 zur Unterbringung der gemeinfamen 
Sammlungen bas Lokal im Nerfoviusihen Haufe, Todlebens 

1) Beitrag zur Gefchichte des Aunftvereing in Riga, zur Feier de 


1895. dem Runftverein gewidmet von Nifolai Röpenad. Riga, W. 
77 Seiten. 





Der Salon des Rigaſchen Kunſtvereins. 108 


boulevard Nr. 4, gemietet. Mußte in jenem Zeitpunkt eine ſolche 
Löfung der Lokalfrage mit größter Genugtuung begrüßt werden, 
mit ben fteigenden Anfprüchen, namentlih aber mit ben ftetig 
wachſenden Sammlungen von Kunſtwerken, mußten aud) die damals 
hinreichenden Naumverhältniffe biefer Lolalität weit Hinter ben 
befcheibenften Anſprüchen jzurüdbleiben, bie billigerweife an bie 
Darbietungen des Runftvereins geftellt werben konnten und geftellt 
wurden. Die permanente Ausftellung verblieb während der ganzen 
Zeit von 1879 bis 1905 in biefem Lokal, wogegen ber Veran 
ftaltung periobifcher, ftärfer befuchter Ausftellungen ſowohl feitens 
ber Gallerieverwaltung, als namentlich des Hausbefigers ftets bie 
größten Schwierigkeiten entgegengefegt wurden. Von den größeren 
wurden die umfangreicheren in ber jebes Mal wieder in liebens- 
würbigfter Weife zur Dispofition geftellten Aula des Polytechnikums 
veranftaltet, jo die von ca. 10,000 Perſonen beſuchte Ausftellung 
des KRunftvereins No. 1871, bie im J. 1875 veranftaltete Nuss 
ftelung von Kunſtwerken im Privatbefig, — ebenjo fanden zwei 
Ausftellungen des Petersburger Vereins für Fünftleriihe Wander: 
ausflellungen Ao. 1873 und 1875 im Polytechnitum ftatt. In der 
Folgezeit hat ber Kunſtverein ſich faſt zwanzig Jahre lang mit den 
ganz unzureihenden Räumen bes Gallerielotals begnügt, in denen 
außer der permanenten etwa zwölf von ihm und eine von ber 
fäbtifchen Gallerieverwaltung (1888 ruſſiſche Rünftler) veranftaltete 
Ausftellungen ſtattfanden. 

Das frische Leben, das mit einer Reorganifation ber Direktion 
im J. 1893 in ben Runftverein einzog, mad)te fid) aud) in feinen 
Ausftellungsveranftaltungen geltend. In ben Jahren 1894 und 
1895 fanden vier, größtenteils ber Initiative des ſchriftführenden 
Direftors Dr. med. Baron Engelhardt entiprungene größere Aus: 
ftellungen ftatt, eine von „Peteröburger Rünftlern und Nauarellifien” 
und Herrn Paul v. Tranfehe in Riga zuſammengebrachte, zwei 
von Gurlitt aus Berlin bezogen und eine von ruſſiſchen, polniſchen, 
ſchwediſchen und baltiihen Künftlern zufammengeftellte. Die drei 
erften, von denen die legtgenannte als Jubiläumsausftellung das 
25. Jahr des Beſtehens des Kunftvereins feiern wollte, fanden 
abermals im Politechnikum ftatt. Aber bei allem Entgenentommen 
jeitens des Verwaltungsrats mußte ber Kunftverein ſich ftets mit 
den Weihnachts: ober Ofterferien begnügen, da eine Überlafung 


104 Der Salon des Rigafhen Kunſtoereins. 


der Aula während des Semefters der Verwaltung des Polytechni- 
kums allzu große Schwierigkeiten bereitet hätte. 

Unerträglih wurde die Situation, als im September 1896 
für die zweite von Gurlitt zujammengeftellte Kollektion fein Lokal 
ausfindig zu machen war. Trotz der peinlichen Lage bes Kunft- 
vereins verweigerte die Verwaltung ber fäbtijchen Gallerie ſtrikt, 
ihre Genehmigung, die Ausftellung im Gallerieſaal aufzuftellen, 
zu erteilen, bie Aula des Polytechnilums war nicht zu haben, und 
wäre nicht die Rompagnie der Schwarzhäupter, wenn aud wider 
willig, in letzter Stunde eingejprungen, der KRunftverein wäre in 
die befhämende Lage geraten, mit der ſchönen Kollektion „auf der 
Straße” zu bleiben. Da mußte Wandel geſchafft werden und 
wurbe geichafft. Einer verbienftvollen Anregung ber „Kunſtecke“1 
entjprungen, mehrfad in Heinen Verſammlungen erwogen und 
beiprodyan, trat der Plan der Anmietung eines eigenen Ausſtel⸗ 
fungslofals für ben Runftverein auf der Generalverfammlung am 
23. Ollober 1898 als Direltionsantrag an die Öffentlichkeit. 

Der Antrag, „eine Lofalität in Niga als „Salon“ zu per- 
manenten Ausftellungszweden zu mieten, und zur Ausführung 
diefes Kommiſſums einen erforderlichen Krebit bis zum Betrage 
von 2000 Rbl. pro Jahr der Direktion zur Verfügung zu ftellen“, 
von Baron Engelhardt und vom Staatsrat Johannes Edardi warm 
befürwortet, wurde von der Generalverjammlung mit großer 
Majorität angenommen. Diefer Beſchluß wurde raſch in die Tat 
umgefegt, und anı 6. Dezember 1898 der Salon mit einer großen 
baltischen Ausftellung dem Publikum geöffnet. Schon auf ber 
folgenden Generalverfammlung des Kunftvereins, am 8. November 
1899, fonnte die Direktion berichten: „Unfer Salon hat freilich 
noch nicht Zeit gefunden, uns finanziell rende zu machen, im 
Gegenteil, er ift uns ein rechtes Sorgenfind gewefen und wird es 
vorausfihtlih noch einige Zeit bleiben. Der Kaſſabericht wird 
Ihnen in Zahlen fagen, wieviel der Salon uns eingebracht und 
wieviel er uns gefoftet hat. Aber wenn aud) die legtere Summe 
die erftere bedeutend übertrifft, jo braucht das doch nicht allzu fehr 
uns zu befümmern. Die Tatſache, daß der Kunftverein der uner: 

1) Der Rigaſche Verein „Aunftede”, cine gefellige Vereinigung von Künft: 


lern und Kunſtfreünden, die ſchon ſeit michr als 10 Jahren in Higa befteht, hat 
am 11. Rai 1904 die miniſterielle Bejtätigung erlangt. 


Der Salon des Rigaſchen Kunftoereins. 105 


träglid) gewordenen Zwangslage in der Gemäldegallerie entwachſen, 
fih frei und auf eigenen Füßen hat entwideln und betätigen 
fönnen, dieſe Tatfache ift erfreulich genug. Und daß unjer Kunjt- 
feben, dank biejen fo günftig veränderten Verhältniffen, einen regen 
Aufſchwung genommen hat, daß es uns möglich geweſen ift, im 
Laufe eines Jahres fieben Ausftellungen zu veranftalten, das ver- 
danken wir in erfler Linie dem Kunftjalon. Seit dem Beftehen 
des Vereins hat die Diveftion nod) fein Dal über ein fo ereignie- 
reiches Jahr berichten fönnen. Dafür werden am Schluß meiner 
Rechnungsablage Zahlen ſprechen.“ 

Jawohl, Zahlen ſprechen. Auch hier können wir der Sta— 
tiſtik nicht entraten, und nichts iſt beſſer geeignet, uns ein deut⸗ 
liches Bild der Leiſtungen des Salons zu vermitteln, als ein 
rRückblick auf feine Darbietungen, feine Beſuchsfrequenz von Mit- 
gliedern und zahlendem Publifum, feine Einnahmen aus Eintritte- 
geldern und aus ber Perfaufsprovifion, die Beeinflufung bes 
Jahresbudgets durch die Saloneinnahmen und Ausgaben, bie 
Mitgliederfrequenz feit feiner Eröffnung uſw. 

Aber ehe wir, freundliches Wohlwollen für den Salon bei 
allen unſren Leſern vorausfegend, auf feine Darbietungen im ein: 
zelnen eingehen, wobei es im Wejen der Sache und in unſrer 
Abficht liegt, „gutes von von ihm zu reden umd alles zum beiten 
zu fehren“, ericheint es als ein Gebot der Unparteilichkeit, auch 
das anzuführen, was ſich gegen den Salon jagen läßt nnd was 
auch — wir fennen unfre Feinde — gefagt worden ift. 

Unfer Salon, nunmehr jeligen Andenkens, war alles andre 
eher, als ein Ausſtellungslolal. Seine für eine bejcheidenfte 
Familienwohnung allenfalls ausreichenden Näume mit vier Zimmern 
mit je 1, 2, 2 umd 1 Fenfter zur Straße und einem ganz finfteren, 
nur künſtlich zu erleuchtenden größeren Hinterzimmer konnten 
feinem gerechten Anſpruch genügen, ſowohl was die Licht, als 
was die Raumverhältniffe betraf. Nur wenige Wandjlächen ließen 
ein Anfhauen ohne ftörende Lichtreflerwirkung zu, der zum Anjehen 
eines größeren Bildes notwendige Abftand war bei der Kleinheit 
der Zimmer unmöglich, endlich waren die Wandflächen und nment- 
lich die Türöfjnungen für größere Bilder total unzureidend. Die 
trübe Witterung, die bei uns falt den ganzen Herbſt anhält, bot in 
der Hodjparterrewohnung oft nicht das nötige Licht, obgleich dieſe, 


106 Der Salon des Rigaſchen Aunſivereins. 


am Stadtkanal belegen, immer noch mehr Licht hatte, als es in 
den Straßen der inneren Stadt der Fall iſt, wo die gegenüber 
befindliche Hausmauer das Erdgeſchoß erheblich des Lichtes beraubt. 
Bei der in Niga üblichen Lebensweiſe, die die Städter für zwei, 
aud drei Monate, befjer Situierte oft für noch längere Zeit aus 
der Stadt entführt, fann nur eine verhältnismäßig kurze Zeit als 
Ausftellungsfaifon gelten, und um den Mietzins für das ganze 
Jahr einzubringen, müſſen fid) die Darbietungen mehr oder weniger 
drängen, was mehrfach als Mangel empfunden und gerügt worden 
iſt. Aber trog all diefen Mängeln war ber beſcheidene Salon bad) 
befier als garnichts. 

Bei den im Salon veranftalteten Ausftellungen wurde es 
als Grundjag beobachtet, einesteils einzelne Kollektionen geſchloſſen 
in vorherbejtimmten Terminen auszuftellen, andernteils einzelne 
Kunſtwerke, wenn dies aus irgend welden Gründen notwendig 
oder wünjdenswert erſchien, auch außerhalb der Gruppe zuzulaſſen. 
An geſchloſſenen Ausftellungen haben im Salon während der ſechs— 
jährigen Dauer feines Beſtehens 47 ftattgefunden !. 

Beraten wir fie nad) den Ausftellungsgegenftänden, jo 
Inden wir, daß neben ben jelbftverftändlich bei weitem vorherr- 
ſchenden ca. 35 reinen Gemälde-Ausftellungen, 4 Ausftellungen 
kunſtgewerblicher Arbeiten ftattgefunden haben, und ferner 1 Aus: 
ftellung von Erlibris und Plakaten, 1 Ausjtellung von graphiichen 
Kunſtwerken, darunter namentlih Erlibris, 1 NAusftellung von 
orientalifhen Teppichen, mehrere Darbietungen künſtleriſcher Photo: 
graphien (Präraphaeliten, Rembrandt, Amateurphotographie), 
1 Ausftellung von Gypstopien nad Skulpturen von Baron 
Clodt, 1 Austellung von deforativer Malerei, 1 Austellung ver 
ſchiedenartiger Neproduftionen von Werfen Andrea bel Gartos, 
1 Ausftellung ſüdamerikaniſcher Landſchaftsbilder, 1 Ausftellung 
von Neproduftionen nad) Handzeihnungen alter Meifter, 1 Aus: 
ftellung von Kopien und Reprodultionen von Meiſterwerken ber 
italienischen und ſpaniſchen Nenaiffance, endlih 1 Ausftellung 
fünftlerifcher Arbeiten früherer Schülerinnen von Frl. Elije von 





1) Drei diefer Darbietungen verdankt der Sunfiverein der Vermittlung 
des am 8. Dftober 1899 miniftericll beitätigten baltifcjen „Bereins zur Förderung 
der Aunitintereffen durch Wanderausftellungen“: die Beersburger und Baltifche 
Kolteftion, die Ausftelung der Münchener Luitpold » Öruppe und die zweite 
Bolländifche Ansitellung. 


Der Salon des Rigaſchen Kunſtoereins. 107 


Jung-Stüllng. Die Gemäldeausitellungen waren meijt Gruppen: 
tolleftionen, hier oder auswärts zufammengeftellt, teils, in 18 
Fällen, Sonderausitellungen eines oder zweier Künftler, in denen 
20 Künſtler ausftellten. 

Was die Herkunft ber Erponate betrifft, jo war es ſiets 
das Beftreben der Direktion des Kunftvereins, im Salon Dannig 
faltiges zu bieten. Betreffend bie Frage, ob der Nigafche Kunft- 
verein insbeſondere die Aufgabe hat, das Publitum auch mit 
Runftwerken nicht einheimiichen Uriprungs befannt zu maden, ift 
es von befonderem Antereife, an ber Hand bes oben zitierten 
Ropenackſchen Beitrages zur Geſchichte des Kunſtvereins ſich deilen 
zu erinnern, wie ber urjprünglide, im J. 1845 entjtandene Plan 
der Begründung eines Kunſtvereins in Niga einen jolden für 
Liv, Ejt: und Kurland ins Auge faſſen und „nur einheimiſche, 
in den Baltifhen Provinzen geborene oder lebende Künftler berüd- 
ſichtigen“ jollte. Die bis zur Vejtätigung des heutigen Kunſtvereins 
vorgenommenen Abänderungen: einesteils die Beſchränkung des 
Vereins für Livr, Eſt- und Kurland auf einen Rigaſchen Verein, 
andernteils die ftatutenmäßige Feilftellung, dab „keinerlei Rüdficht« 
nahme auf Malerichulen oder Nationalität des Künftlers” gelten 
jolle, waren alſo wohl überlegt und vorbedacht. Die Zeiten und 
Gefihtepunfte find hoffentlich längſt überwunden, die im I. 1845 
ber Direktion des in der Bildung befindlichen Kunſtvereins bie 
Hand führten, als fie auf eine Münchener Ausftellungsofferte zu 
antworten beliebte: „jelbjt wenn die Veftätigung der Gtatuten 
erfolgte, würde ſich die Wirkſamkeit des Vereins ftatutenmäßig nur 
auf Leitungen jolher Künftler ausdehnen, die in den Oſtſeepro⸗ 
vinzen geboren find oder in denfelben leben, mithin würde die 
Direktion des Kunftvereins als folde auf die Vorſchläge der 
Dündener Herren Maler wahrſcheinlich nicht eingehen. Gold 
rüdftändige Anfihten und Geſchmacksrichtungen find Hoffentlich) 
jegt, ein halbes Jahrhundert fpäter, nicht mehr anzutreffen. 

Es iſt natürlid, daß die Beſchaffung einheimiſcher Ausftel, 
lungen in allen Fällen bedeutend leichter fiel. Nicht allein der 
Fortfall der Transport und Verfiherungsfoften, oder doch deren 
geringere Höhe, vor allem die perjönlice Bekanntſchaft mit den 
einheimifchen Künſtlern und ihren Werfen, ſpricht für deren Bevor 
zugung, — insbejondere die Schwierigkeit, ohne Vertrauensperjonen 





108 Der Salon des Rigaſchen Aunftvereins. 


fchöne und wertvolle Erponate von auswärts zu erhalten, erſchweren 
die Beſchaffung ausländiſcher Kollektionen; fo hat auch die Direk 
tion bes Runftvereins nicht immer eine glüdlihe Hand gehabt. 
Wiederholt find auswärtige Kollektionen, die hohe Transportkoften 
erheiſchten, eingetroffen, die die Erwartungen bitter enttäufchten. 
Da galt es immer wieder zu verjuchen, alle privaten Beziehungen 
auszunußen, um ber vornehmiten Aufgabe eines Kunftvereins in 
der Lage bes Rigaſchen zu genügen: das Publitum über das auf 
dem Laufenden zu erhalten, was in ben Rulturländern, wo reges 
Runftleben pulfiert, die Geifter bewegt, die Kunftfreunde erfreut. 

Trobdem haben neben 10 einheimischen Gruppen-Ausftel: 
lungen auch 13 auswärtige ftattgefunden, davon 7 ausländifche. 
Die einheimiſchen waren: 

1. Große Baltiihe (136 Werfe von 15 Künitlern, vorherrs 
ſchend Wilhelm Purmit). II. (Wiemer, Rihard Müller, Alerandra 
v. Sivers, Elfe Rudolff, Otto Lindenberg.) III. (73 Werke von 
Johann Walter, Johann Lieberg, Julius Maderneef, Richard 
Sarring.) IV. (114 Werke von Eva Margarethe Schweinfurth, 
Martha und Anna Hellmann, Frida Neumann, Thella Stahl, 
Hildegard Haken.) V. (75 Werke von 60 teils Petersburger, teils 
Baltiihen Künſtiern), 4 kunſtgewerbliche Ausftellungen und eine 
Ausjtelung früherer Schülerinnen von Frl. Elife v. Jung. 

Die auswärtigen waren: 

I. Internationale Kollektion aus Petersburg (Maljawin, 
Cionglinsty, Alerander Bénois, Levitan, Nefterow, Purwit, 
Järnefelt, Ruſtſchitz, Repin, Lagarde, Aman Jean, Menard, Hans 
Hermann, Dill, Bartels). II. eine von Gurlitt bezogene Kollektion 
Eeibl, Hoffmann, Ury, Klinger, Kunz, Thoma, Wengel, Moras, 
Leiſtilow. Harburger, Langhammer, Brandenburg, Dettmann, 
Schweninsfi, Crane, Skarbina, Schoebel, Erter, Hartmann, 
Niethe, Sperl, Horodam, Feuerbach, Hermann, Thiem, Lilljefors, 
Keller, Reutlingen, Uhde, Baer, Bürgel, Hendrit, Vrancaceio, 
Hellen, Zimmermann, Rabes, Ankarkrona, Alvarez, Kaifer, Engel). 
III. eine Petersburger und Mostauer Kollektion (Sarring, Purwit, 
Levitan, Pajternad, Wasnezow, Winogradow, Iwanow, Maljutin, 
Marie Düder, Nepin, Serow, Perepletſchikow, Morig). IV. eine 
BVetersburger Kollektion (Ader, Balat, Werander Benvis, Alerander 
Benois Konsky, Albert Benois, Bras, Levitan, Serow, Lanceray, 


Der Salon des Rigaſchen Kunſtoereins. 109 


Stepanow, Somomw, Baron Roſen). V. eine finnländifche, von 
Profeſſor Tikkanen zujammengebrachte Kollektion (31 Werke von 
15 Rünftlern). VI. eine holländiſche Gruppe (71 Werte von 51 
Künftlern). VII. eine von Keller und Reiner bejorgte Kollektion 
(19 Werke von 13 Künftlern, darunter Leffer, Ury, Slevogt, 
Liebermann, Hendrich, Leiftifom, Mackenſen, Vogeler, Hofmann). 
VII. eine zweite finnländifhe Gruppe, zufammengeftellt mit Hilfe 
von Arel Gallen (56 Werfe von 13 Künftlern, darunter Blomſiedt, 
Albert Edelfelt, Arel Gallen, Eemil und Pekka Halonen, Järnefelt, 
Weiterholm). IX. eine von ber Mündyener Luitpoldgruppe herr 
geiandte Kollektion (95 Werte von 40 Künftfern). X. eine von 
Keller und Reiner bejorgte Kollektion (19 Werke von 17 Künftlern). 
XI. eine zweite holländiihe Kollettion (54 Werke verfchiedener 
Rinitler). 

Die Sonderausftellungen verteilen fih folgendermaßen: 
13 einheimifche: Siegfried Bielenftein 2 Mal, Wilhelın Purwit 
2 Mal, Bernhard Borderdt 2 Dial, Jan Nojenthal, Johann Walter, 
Eiede, Baranowoky, Gerhard Baron Rofen, Friedrid Mori, 
Martha Unverhau, Karl Kahl, Mar Wulfahrt, Eva Dargarethe 
Borderdt-Schweinfurtf, — und 7 auswärtige: Saſcha Schneider, 
Ludwig Schenermann, Ludwig v. Hofmann (nebft einigen Werfen 
von Walter Leiftitow), Arel Gallen, Ludwig Dettmann, Arnold 
Bocklin, Hans Thoma. 

Da die Ausftellungen nicht immer den Abfichten der veran- 
ſtaltenden Bereinsdireftion entſprachen, ift nur zu begreiflich. Der 
hier zur Verfügung ftehende Raum dürfte nicht genügen, um alle 
vergebfichen Verſuche, alle geſcheiterten Borverhandlungen und 
enttäufchten Hoffnungen zu erwähnen. An biefer Stelle fei aber 
nicht verſchwiegen, wie ſchwer dem Rigaſchen Kunſtverein die 
Beſchaffung ruffifcher Kunfterzeugniife gemacht wird. Wieder und 
wieder hat die Direktion ſich an die verſchiedenen Kunftvereinigungen 
in Petersburg und Moskau, an die Akademie ber Künjte, an rul- 
ſiſche Muſeen, an einzelne ihr perfönlid) befannte tunftfreundliche 
Würdenträger in ber Nefibenz gewandt. Die finanziellen Mih- 
erfolge, die erfahrungsmäßig jtets der Erſchließung eines neuen 
Bildermarkts vorausgehen, haben die ruſſiſchen Vereinsleitungen 
jo gründlich abgejchredt, daß ber Schaden in abjehbarer Zeit nicht 
wieder gut zu madjen iſt. Namentlich verhält fih die Leitung des 


110 Der Salon des Rigaſchen Aunftoereins. 


Nufiiihen Wanderausftellungsvereins, dem mir einige fehr ſchöne 
Ausitellungen in Riga zu verdanken gehabt haben, feit Jahren, 
und neuerdings auch der „Bund ruffiiher Künftler“ in Moskau, 
auf alle Einlabungen des Rigaſchen Kunftvereins ablehnend. Es 
fei daher hier feſtgeſtellt, daß der auffallende Dlangel an Dar: 
bietungen ber in ſchönſter Entwidlung begriffenen nationalruſſiſchen 
Kunft in den legten Jahren nicht dem Kunjtverein und nicht der 
biefigen deutſchen Gefellichaft aufs Schuldfonto zu jegen iſt. An 
redlichen, häufigen Verſuchen hat es nicht gefehlt. Auch find auf 
ben drei vorbenannten Petersburger und Moskauer Ausftellungen 
im Salon Bilder für im ganzen ca. 1100 Rbl. verfauft worben. 
Das mag für Petersburg wenig fein, für Niga ift es viel. 

Ziehen wir nod) die im Galleriejaal veranftalteten Aiwaſowsky- 
Ausitellungen, die dafelbit vom öſterreichiſchen Kunfthänbler Galvagni 
ausgejiellten itafienifhen und ſpaniſchen Gemälde, den Napoleon: 
Cyelus von Rex, die ſüdamerikaniſchen Landidaftsbilder von Augujto 
Ballerini in Betracht, jo läßt ſich eine noch kosmopolitiſchere Aus- 
wahl der Exponate faum denken. Vermißt werden darin nur bie 
nordiſchen Länder, namentlid) die hochſtehende jfandinavifde Kunſt, 
ein Dlangel, dem, nun da er erfannt it, hoffentlih in Zukunft 
abgeholfen werben wird. 

Gehen wir nun auf die Beſuchsfrequenz ein. Der Salon 
wurbe im Ganzen! von 12,000 Mitglievern des Kunſtvereins? 
und 34,000 zahlenden Perfonen, alſo im Ganzen von 46,000 
Perſonen bejucht. Die Eintrittsgelder ergaben brutto ca. 11,000 
Rubel. Die Tagesfrequenz beträgt ungefähr 8 Mitglieder und 22 
zahlende Beſucher, zulammen 30 Perfonen täglich, die Brutto: 
einnahme 7 Rbl. Viel weniger günftig ftellt ſich das ſcheinbar 
glängende ftatiftiiche Ergebnis aber bei der Unterſuchung der Frage 
nad) ber (Frequenz der einzelnen Nusftellungen, wobei e8 niemanden 
Wunder nehmen wird, daß aud) die beiten einheimifhen Ausitel- 
tungen, gegenüber ben ausländiſchen, recht ſchlecht abſchneiden. 
Das Beftreben, bei auswärtigen Kollektionen, deren Beihaffung 
ſtets Eoftipieliger ift, nur Erſtklaſſiges kommen zu laſſen, während 

1) Ich gebe ınd im Folgenden ſteis möglichft abgerundete Zahfen. 

infofern etwas zu veräudern, als nad) einer beitehenden 
Vereinbarung die Mitglieder des Wanderausitellungsvereius für die von diejem 


Rerein beichafften Wusitellungen dielelben Vorzüge genieben, wie Mitglieder des 
Runitoereind. 






Der Salon des Rigafchen Aunſtoereins. m 


bei einheimiihen Künitlern der Wunſch, den Künftler zu fördern, 
aud) bei geringerer Dualität feiner Produktion mitbefiimmend iſt, 
bietet faum eine genügende Erflärung für die Erfheinung, daß 
die auswärtigen Ausſtellungen jo fehr viel beſſer befucht wurden, 
als die einheimiſchen. Vielmehr beweiſt dieſe Tatſache überzeugend 
den in unſrem Publikum vorherrſchenden Wunſch, die Werte der 
in aud in Riga vielfach gehaltenen ausländiſchen Kunſtzeitſchriften 
oft genannten und allgemein befannten Künftler durch eigene 
Anfhauung fennen zu lernen. 

Am beiten befucht waren die Purwit-Ausftellungen, jowohl 
die von diefem großen baltiihen Künftler gelieferten Sonderaus- 
ftellungen, als aud) die Kollektionen, an benen er hervorragenden 
Anteil Hatte. Die Purwit - Ausftellung vom 3. Dezember 1900 
bis 8. Januar 1901 wurbe an 36 Tagen von 2217, aljo täglid) 
von durchſchnittlich 60 Perfonen befugt, die vom 16. Januar bie 
26. Februar 1904 an 42 Tagen von 3240, aljo täglich durch- 
ſchniulich von 81 Perfonen, die große Baltiiche Ausftellng vom 
6. Dezember 1898 bis 17. Januar 1899 an 43 Tagen von 2688 
Perjonen, alfo täglid) durchſchnittlich von 62 Perfonen; bei biejer 
legteren, der Salon: Eröffnungsausftelung, deren überwiegender 
Teil aus Purwit-Werfen bejtand, fiel aud) die Zugfraft bes neuen 
Salonunternehmens ins Gewicht. Auf die befonderen Gründe des 
hervorragend ftarten Beſuchs Purwitſcher Ausjtellungen fommen 
wir an andrer Stelle noch zurüd. 

Es folgen in der Beſuchsfrequenz, wobei wir nad) der Tages: 
frequenz ordnen, weil bie allgemeine Frequenzziffer durch ungün- 
ftigen Zeitpunft (Sommer) ober allzu kurze oder allzu lange Dauer 
der Ausjtellung beeinflußt fein Tann. 

Ludwig v. Hofmann . . . . im Ganzen 2077, täglich 73 Perf. 


Arnold Böclin (nur bisher unver: 
tauft gebliebene, unvollendete 


und Zugendwerke) m m 1855, 68% 
Saſcha Schneider (7 Kartons) ir Paz 1 2012, 29 5, 
Hans Thoma. . . » — 10 „6 „ 
Petersburger Snterntionate Aus: 

Rellung. - co em A A 
Ludwig Dettmaın . » > 2 un u VE, 45 


Axel Salen. oo 2 ven BI. 2 „ 


112 Der Salon des Rigaſchen Kunftvereins. 


Dann erft folgen: 
Bernd. Vorcherdt u. Frau B. Schweinfurth i. ©. 1114, tägl. 40 Berl. 


Münchener Luitpoldgruppe . . » „ 1208 „ 36 „ 
Holländer (I. beilere Sendung, April 1901) „ 1061 „36 „ 
Baron Nofen und Friedrih Morig . . „ 1068 „ 33 „ 


Petersburger und baltiſche Künftler . . „ 991 „33 „ 
Bernhard Borherbt und Jan Nofenthal. „ 1116 „ 32 „ 
Holländer (II. Sendung, März 1904) . „ 1082 „ 32 „ 
Keller und Neiner (II. Koll. Febr. 1902) „ 704 „29 m 
Finnländer (I. ſchlechtere Koll. an 1901) „821 „ 27 „ 
Martha Unverhau. . . » „ 6a u u 
Keller und Reiner (II. Koll. Nov. 1903) „ 690.26 „ 
Walter Sarring, Lieberg, Maderneel, 





Rofenthal . . . . „568.235 
Frau Schweinfurth, Hellmann a u. u. 

Stahl, Haken Neumann . . . » — — 
Siegfried Bielenſtein allein. .. Pe mr 
Finnländer (II. beſſere Koll.! Sommer 1902) „ 119 „2 u 
Müller, Wiemer, Fr. v. Siwers . . . „u 568 „ 22 „ 
Johann Walter . . . ren 99 21, 
Gurlitt:Nolletion . 2. » ar AO ER 
Petersburger und Moskauer Mater ee 3 „18 „ 
Ludwig Scheuermann, Dünden . . - m ar, 
Siegfried Vielenflein und Karl Winkler. , 68 . 1a. 
Karl Kahl . . - E „38 „17 „ 
Benois-Koll. aus Peterst. (Sommer 10) ir IR 
Mar Bulfahtt. 2 02. Pa :: Eure 
Siede und Baranwsy . ... „. 4sc 8% 


Suchen wir aus biejen gaben ei einen allgemeinen Überblid 
zu gewinnen, jo finden wir, daß das Publifum den auswärtigen 
Darbietungen mit einer allgemeinen Frequenz von 1172 Perſonen 
und einer Tagesfrequenz; von 40 Perfonen, gegenüber den eins 
heimiſchen mit 107-4 Perfonen und einer Tagesfrequen; von 31 
Perſonen, unzweifelhaft den Vorzug gibt, ebenfo ben Sonderaus: 
ftellungen mit 1126 Perjonen, täglich 41 Perfonen, gegenüber den 


1) Diefe Kotleftion, eine der bernorragenbiten Darbietungen des Salons, 
tum allmählich zur Yufftellung, und zu ungünitiger Zeit, daher ihre bebauerlic) 
und unerwartet ſowache Vejuchsfrequeng. 


Der Salon des Rigafchen Kunſtvereins. 118 


Gruppentolleftionen mit 1120 Perſonen, täglih 30 Perjonen. 
Der Durchſchnittsbeſuch der vier Funftgemwerblichen Ausftellungen 
betrug 855 Perfonen, täglich 31 Perfonen. 

Werfen wir zum Schluß diejer Betrachtung noch einen Blick 
auf die Schwankungen der Befuchsfrequenz; im Salon in ben 
6 Jahren feines Beſtehens: 

1899: 1468 Mitgl. 1895 Nichtmitgl. Summa: 6363 





1900: 1458, 3540 „ "4998 

1901: 1920. 4 4474 

2115 „ 529 „ „7354 

217 „ 84H, „ 11,010 

1679 u 5009 „ „678 

Täglich : 

1899: 7 Mitgl. 22 Nichtmitgl. Summa: 29 
1900: 7 „17, 24 
10:1 un Bon 36 
1902: 9 „ 1, „2% 
1208: 9 0, 070. 86 
1904: 7 TE — 


Zieht man die beſondere Zugkraft der den Rigenſern noch 
ganz neuen Einrichtung einer ſtändigen, häufig wechſelnden Gemälde: 
ausftellung im erſten Salonjahr in Betracht und würdigt man die 
Schwierigkeiten, die ſich im Kriegsjahr 1904 der Beſchaffung her 
vorragender Kunftwerfe aus dem Auslande entgegenftellten, die es 
auch bedingten, daß in dieſem legten Salonjahr nur eine aus: 
ländiſche Bilberfollektion, die minderwertige holländifche, zur Aus— 
ftellung gelangte, jo ergibt die Überſicht der allgemeinen Beſuchs- 
frequenz eine ftetige Steigerung. Findet diefe auch Hinfichtlich ber 
Mitglieder eine Erklärung in dem Anwachſen der abjoluten Mit: 
gliederzahl des Runftvereins — vor Eröffnung des Salons ca. 300, 
im legten Salonjahr ca. 500 —, fo beweilt die Zunahme der Zahl 
der zahlenden Beſucher um fo mehr die Verbreitung des Intereſſes 
an den Darbietungen des Salons. 

Wenden wir uns nun dem finanziellen Nejultat zu, das das 
Salonunternehimen dem Kunftverein gebracht hat. Das Vermögen 
bes Kunftvereins betrug bei Begründung des Salons 4591 Nbl. 
und betrug zum 1. Oltober 1904 — 1883 Nbl. Cs hat ſich jomit 
in dieſer Zeit freilid) um ca. 2700 Nbl. gemindert; cs haben aljo 


114 Der Salon bes Rigaſchen Aunſtoereins. 


die warnenden Stimmen, bie auf ber Generalverjammlung am 
23. Oftober 1898 aus der Anmietung bes Salonlokals erwachſende 
pefuniäre Verlufte befürdteten, Recht behalten. Aber gewiß hat 
auch die andre Auffaffung nicht minder Hecht behalten, bie die 
Aufgabe des Kunſtvereins nicht in ber Anfammlung und Ver: 
größerung feines Kapitalvermögens, jonbern in der Vermittlung 
fünftlerifcher Anregung, in der Darbietung von Kunftausftellungen, 
unbehindert durch äußere, die Selbitändigfeit des Vereins beengenbe 
Feſſeln erblicte. 

Die Salonmiete betrug 1100 Rbl. jährlich. 

Wir finden in den Jahrestaffaberichten folgende Poften, die 
fi, was zu beachten ift, nur auf ben Salon beziehen: 


Einnahmen: Ausgaben: Berluft: 

1898/1899 2148 R. 60 8. 3336 R. 40 8. 1187 R. 80 K. 
1899/1900 1170 „ 20 „ 2483 „ 97 „ 1313 „ 77, 
1900/1901 2197 „48 „3244 „23 „ 1046 „ 80, 
1901/1902 1735 „ 51 „ 22109 u, 98, 484 „47. 
1902/1903 2783 „ 68 „ 3970 „ 30 „ 1186 „ 32 „ 
1903/1904 2368 „ 24 „ 2860 „ 59 „402 „35. 

Während aber die Gefamtverluftfumme aus 
bem Salon für 6 Jahre. © 2 2 2 2020. 5911 N. 50 8. 
betragen follte, beträgt bie Rapitaleinbuße aljo weniger als bie 
Hälfte, ein Beweis bafür, daf bie Rafenvermaltung des Runit« 
vereins imftande geweſen ift, auf andrem Mege, d. h. durch ander- 
weitige wachſende Einnahmen, den Schaden zum Teil einzubringen. 

Eine abermalige Vergleihung der Zahlenergebniife bei 
Berechnung der Bruttocinnahmen aus den einzelnen Ansftellungen 
würde wieder recht intereſſante Rejultate ergeben. Wir wollen 
indeffen unfre Leſer nicht ermüden und begnügen uns hier mit 
einigen Durchſchnittszahlen: 17 baltiſche Ausftellungen ergaben 
eine Durchſchnittotageseinnahme von 6 Rbl. 17 auswärtige Aus— 
ftelfungen ergaben eine durchfchnittliche Tageseinnahme von 8 Ab. 
82 Kop. Korrigieren wir dieſe Statiflit, indem wir bei ben 
tiſchen Ausftellungen die zwei Purmwit-Ausftellungen, deren größere 
Beſucherzahl zum Teil auf andre, als auf fünftleriiche Intereſſen 
zurüdzuführen ift, und bei den auswärtigen Ausftellungen bie 
ganz mißglücte und wertloje Scheuermann:Ausftellung und die 





Der Salon des Rigefhen Aunſtvereins. 115 


den ganzen Sommer (1900) über, in ber saison morte ausge 
ftellte Benois:Rolleftion aus Petersburg fortlafien, fo ergibt ſich 
folgendes Refultat: 15 baltiſche Ausftelungen brachten eine Durch- 
ihnittstageseinnahme von 4 Rbl. 18 Kop., 15 auswärtige Aus: 
ftellungen braten eine Durchſchnittstageseinnahme von 9 Rbl. 
73 Rop., aljo faſt 2'/s mal fo viel. Kann angeſichts diefer Zahlen 
dem Kunftverein der Vorwurf gemacht werben, er vernadjläffige 
die einheimifhen Künftler gegenüber den auswärtigen ? 

Nach dem Beiſpiel ausländifher Kunftvereine erhebt auch 
der Rigaſche beim Verkauf von Kunftwerfen aus feinen Ausftel- 
lungen eine Provifion, und zwar in ber in Deutfchlanb meift 
üblichen Höhe von 10 pCt. Die Statifti diefer Vereinseinnahme 
unterliegt den größten Schwankungen, und ift nicht geeignet, 
beftimmte Schlußfolgerungen zuzulaſſen. Bei der Schägung, bie 
unfre einheimifchen Künftler bei uns genießen, einem ausge: 
ſprochenen baltiſchen Lofalpatriotismus einerfeits, — dem Umjtande 
anderfeits, daß die Preife ohnehin anipruchsvoller ausländischer 
Künftler durch die Verfaufsprovifion bes vermittelnden Kunit- 
hãndlers meilt noch erhöht werden, und dem meilt ganz unber 
gründeten Mißtrauen gegenüber ausländischen Ausftellungspreifen 
überhaupt, fällt die Verfaufsftatiftif für unfre einheimischen Künftler 
ungleich günftiger aus, als für die auswärtigen. 

Geben wir num einige wenige Zahlen zur Illuſtration ber 
Frage, ob die Ausfiellungen im Salon nur dem Kunſtverein zugute 
gefommen find, ober ob aud) bie ausitellenden Künftler ihren 
Vorteil dabei gefunden haben. Auf der zur Eröffnung des Kunſt— 
Salons veranftalteten Ausstellung baltiicher Künſtler, die dem Kunſt- 
verein eine Bruttoeinnahme von 805 Rbol. bradte, wurde für 
1547 Rol. verkauft, alſo faft für ben doppelten Betrag; davon 
entfielen auf Herrn Wilhelm Purwit, dem das Hauptverdienft am 
Erfolge der Ausftellung gebührt, 840 Rbl., alfo mehr als bie 
Gefamteinnahme des Runftvereins. Im Ganzen hat Purwit auf 
biefer und auf jeinen zwei Sonderausftellungen (feine Beteiligung 
an ber Internationalen, an ber Velersburger und Moskauer und 
an ber Petersburger und Baltifhen Ausftellung zählen hier nicht 
mit), die zujammen dem Nunftverein eine Bruttoeinnahme von 
2250 Rol. braten, für 2750 Rbl. verfauft. Won andern ein 
heimiſchen Malern verkauften ; 


116 Der Salon des Rigaſchen Aunſtoereins. 


Baron Gerhard Rofen: für 680 Rbl. (die gefamte Bruttoeinnahme 
aus ber von B. R. und Moritz im November 1902 veranftal- 
teten Ausftellung betrug 267 Rbl.). 

Karl Kahl: für 550 Rbl. (Bruttoeinnahme feiner Ausftellung: 
80 Rbl.) 

Bielenftein: für 510 Rbl. (Bruttoeinnahme feiner 2 Ausftellungen: 
250 Rbl.) 

Bernhard Borderdt: für 330 Rbl. (Bruttoeinnahme feiner mit 
Jan RofentHal und mit Frau B. Schweinfurth veranftalteten 
Ausftellungen: 495 Rbl.) 

Frau Borderdt-:Schweinfurth: für 225 Nbl. (Bruttoeinnahme ber 
von ihr mit Heren B. B. veranftalteten Ausftellung: 250 NbL.) 

Frl. Martha Unverhau: für 325 Rbl. (Bruttoeinnahme ihrer 
Ausftellung: 152 Rbl.) 

Johann Walter: für 290 Rbl. (Davon 118 Rbl. auf feiner 
Sonberausftellung, die dem Sunftverein 220 Nbl. brutto ein 
brachte.) 

Karl Windler: für 280 Rbl. 

Richard Sarring: für 83 Rbl. 


Um den den Ausftellern erwachfenden Vorteil zu würdigen, 
iſt ferner zu beachten, daß eine große Anzahl von Verkäufen ſich 
nicht auf der Austellung, fondern erjt jpäter realifiert, ein Vorzug, 
der in Niga ausjchlieflidh den einheimiſchen Künſtlern zugute 
fommt. Es ift nicht felten vorgefommen, daß Verkäufe unmittelbar 
nad Schluß der Ausftellung perfett wurden, — folde find hier 
natürlich nicht berüdfichtigt, — es iſt freilich auch oft vorge: 
kommen, baß die Künftler bereits verkaufte Bilder ausftellten, aljo 
nicht zum Verkauf, fondern zur Anſicht oder Reklame. 


Ehe wir weiter gehen, jeien hier nod) zum Vergleich bie 
von einigen Sonderausftellungen auswärtigen Urfprungs erzielten 
Verkäufe regiftriert. Es verfauften: 


Ludwig v. Hofmann für 1225 Rbl. bei einer Bruttoeinnahme von 
508 Rbl. 

Ludwig Dettmann für 400 Nbl. bei einer Brutloeinnahme von 
435 Rbl. 

Hans Thoma für 360 Nbl. bei einer Bruttoeinnahme von 435 Rbl. 

Yevitan für 250 Rol. 





Der Salon des Rigafchen Kunftvereins. u7 


Diefen Zahlen gegenüber hat e8 nicht viel auf fi, menn 
einzelnen weniger glüdlihen Ausftellern feine nennenswerten Verr 
lãufe gelangen, wie Diorig, Rofenthal, Siede, Baranowsty. 

Denfelben Zahlen gegenüber fann aber wohl auch die Auffaſſung 
nicht aufrecht erhalten werden, als hätte ber Rigaſche Kunftverein 
der felbftlofen Hilfe ber ausftellenden baltischen Maler jeine Fort- 
erifteng zu banfen. Im Gegenteil, es ift nur gerecht anzuerkennen, 
daß bie Künftler Rigas ebenfofehr dem NKunfiverein für bie Mög- 
lichkeit, unentgeltlich deſſen Ausftellungslofal zu benugen, zu Dank 
verpflichtet find, wie biefer ihnen für die Beteiligung an ben von 
ihm veranftalteten Ausftellungen. 

Es erübrigt am dieſer Stelle auf die vom Kunſtverein durch 
Beichaffung auswärtiger Kunftwerfe den Künftlern gebotene Ans 
regung, auf die ben ausflellenden Porträtmalern zugeführten Beftel- 
lungen feitens des Salonpublitums, auf die von ber Leitung bes 
KRunftfalons gegebene Anregung zu Atelierftunden ber Künſtler, 
die mande Veftelung veranlaßt, manden Bilderfauf eingeleitet 
haben, hinzumeifen; es fei auch z. B. an Folgendes erinnert: Nach 
einer befonders erfolgreichen: Ausftellung Purwitſcher Arbeiten im 
Salon berichtete die Schriftleitung bes Vereins darüber nach 
Berlin, und Purwit, welcher gerade damals über bie Miete 
eines Privatlofals in Berlin zu Ausftellungszweden verhanbelte, 
wurde durch eine Einladung der Kunſthandlung Keller und Reiner 
überrafht. Die von ihm daraufhin nad) Berlin gefandte Kollektion 
bahnte ihm dann den Weg zu ben bebeutenditen Kunftftädten und 
Ausftellungen Deutfchlands und Frankreichs, auf denen er feitdem 
zu ben befannteften Ausftellern gehört. Dies fei hier nicht als 
Verdienſt angeführt, jonbern nur erwähnt, um zu zeigen, baß bie 
Zeitung bes Kunjtvereins ftets bereit ift, ihre Pflicht zu erfüllen, 
den einheimiſchen Rünftlern jebe in ihrer Macht liegende Forderung 
zuteil werben zu laſſen. 

Hat der Salon infofern ben an ihn billigerweife zu ftellenden 
Erwartungen genügt, als er an feinem Teil dazu beigetragen hat, 
die Bekanntſchaft zwiſchen Dialer und Publitum anzubahnen und 
zu entwideln und Verfaufsgelegenheiten zu vermitteln, jo hat jeine 
Zeitung dieſe Verpflichtung noch weiter faſſen zu müffen geglaubt. 
Außer den geſchloſſenen Gemäldeausftellungen haben im Salon 


immer wieber aud andre Gegenftände Aufitellung und Beahtung 
Baltifde Monatafgrift 1006, Heft 2 


118 Der Salon des Rigaſchen Kunſtvereins. 


gefunden: plaftifche Werke, Keramilen, Kupferftihe, Photogravüren, 
die erfte künſtleriſch veranftaltete Austellung von Teppichen, 
2 Erlibris- Ausftellungen, die Lehrausftellung für die Jugend, 
mehrere Ausftellungen künſtleriſcher Photographien, endlich bie 
4 Tunfigewerblihen Ausftelungen, die bem aufmerfjamen Beob- 
achter einen beutlihen Aufſchwung des lokalen Kunſtgewerbes 
zeigten, der ſich auch in der fteigenden DVerkaufsftatiftit barftellt. 
Es murbe im Jahre 1899 (März) für 90 Rol. verfauft, 1902 
(Dezember) für 591 Rbl., 1903 (Dezember) für 659 Rbl., 1904 
(Dezember) für 500 Rbl. Hier fei auch an bie ſchönen im I. 1900 
ausgeftellten Goldplafettarbeiten franzöſiſcher und deutſcher Künſtler 
erinnert. 

Endlich ift es dem Salon als Verbienft anzurechnen, ba er 
oft jungen, aufftrebenden Dilettanten bie erſte Möglichleit bot, 
mern aud in äußerlich kenntlicher, beſcheidener Form, öffentlich 
auszufiellen; namentlich haben einige junge Maler letlifher Natio- 
nalität hieraus Nuten gezogen und hoffentlih eine moraliſche 
Stüge und Grmunterung zu fleißigem MWeiterarbeiten gefunden, 
To Johann Sehtilter, Alexander Strahls, Johann Selting. 

Wir kommen hiermit zu einer Frage, die in unjrem Lande und 
unfrer Stadt als eine brennende, aud hier nicht umgangen werden 
Tann, — zur nationalen. Daß hier in Riga nationale Gegenjäge 
beftehen, wird niemand leugnen, ja, ihre Aktualität ift zur Zeit 
bie allergröhte. Die Zeitung bes Aunftvereins, deſſen Gtatut ihr 
ausbrüdlic bie Bevorzugung irgend einer Malerihule oder Nation 
unterfagt, hat ſich hinſichtlich ihrer Ausftellungen ftets auf ben 
Standpunkt zu ftellen bemüht, daß die Kunſt internalional: ift. 
Auch ift fie ſich Hinfihtlic ihres Publikums ihrer Verpflichtung 
voll bewußt, als Vertreterin bes einzigen beſtehenden Kunftvereins 
und Inhaberin bes einzigen Ausitellungslofals allen vorhandenen, 
wahrhaft fünftleriihen Bebürfniffen entgenzulommen, und den 
Bewohnern Rigas, ohne Rüdficht auf ihre Nationalität, Fünftlerifche 
Anregung zu bieten. Wohl feiner Zufammenfegung megen — 
denn über 90 pCt. der Vereinsglieder find deutſcher Nationalität 
— gilt der Kunftverein aber ben andern mit Recht als deutſcher 
Verein. Mit melden Ralamitäten bie Direftion des Kunftvereins 
bei Beſchaffung wertvoller ruffifcher Kunſterzeugniſſe zu fämpfen 
hat, ift oben gezeigt worden. Wereinsglieber ruſſiſcher Nationalität 


Der Salon des Rigaſchen Kunftvereing. 119 


find kaum vorhanden, bie ruffiihen Kataloge müſſen zu jeber 
Ausftellung gebrudt werden, aber eigentih unnüger Weiſe, 
ba fie faft garnicht verlangt werben. — Etwas anders liegt 
bie Sache mit den Letten. Der Salon hat bei der häufigen 
Veranfialtung von Gemäldeausftellungen lettijcher Dialer meift 
viel Publikum lettifcher Nationalität angelodt. Jedoch bie Haltung 
dieſes Publifums im Salon, nody mehr aber bie Tatjache, daß 
die Beſucher und angeblichen Bewunderer 5. B. Purwitſcher Erponate 
geflifentlih dem Salon fern blieben, jobald ein Künſtler andrer 
Nationalität, und wäre es ein Bödlin oder Thoma, zu Worte 
fam, liefern den betrübenden Beweis, daß ihre Beſuche des Salons 
feineswegs ihrem Kunftintereffe, fondern nationalen Belleitäten 
und landsmännifder Eitelfeit entiprangen. 

Die Direltion des Kunftvereins, zu ber jahrelang Wilhelm 
Purwil gehörte, die eine große Anzahl Iettifcher Künftler wiederholt 
zu Ausftellungen eingeladen hat, ben Verein, deſſen lettiiche Mit- 
gliederzahl aber nicht 5 pCt. erreicht, fann der eventuelle Vorwurf 
der Vernachläſſigung lettiſcher Intereffen nicht treffen. Solange 
bie örtliche ruſſiſche und lettiſche Preſſe ihre Fulturfeindlihe und 
verftänbnislofe Behandlung diefer Frage nicht ändern, ift eine 
Änderung des 3. 3. beitehenden Zuftandes trog aller Berfuche 
feitens des Kunſtvereins freilich nicht zu erwarten. 

Wenn es ein oft zutreffendes Urteil if, von einem Manne 
zu jagen, er jei mehr wert, als die Summe feiner Leiftungen, fo 
fann das mit noch höherem Recht von einem Inſtitut gejagt 
werben, das ein lebendiger Faktor im Leben einer Gefellichaft 
geworben. Die Leiftungen laffen ſich eben nicht aufzählen. Bei 
ber feierlichen Eröffnung des Salons äußerte der hiezu geladene 
damalige liolänbifche Gouverneur Surowzew zum Schreiber biefer 
Zeilen, es jei nicht das erfte Dial, daß er eine Gemäldeausftellung 
fehe, fchon ein Mal in feinem Leben, in Tiflis, habe er das Vers 
gnügen gehabt, eine ſolche zu befichtigen. Da erfcheint bie Ans 
nahme wohl nicht allzu unmahrfcheinlih, das unter ben 46,000 
Beſuchern des Salons eine nicht geringe Anzahl nicht einmal in 
der glüdlichen Lage des Gouverneurs Surowzew gemejen iſt, 
fih ein zweites Dial im Leben in einer Gemäldeausftellung zu 
befinden. Und wenn aud nur eine Meine Anzahl von wirklichen 
Kunjifreunden, dank dem Salon, der Kunſt zugeführt worden iſt 


120 Der Salon des Rigeſchen Runftoereing. 


und in ihm Genuß und Belehrung gefunden hat, fo ift damit 
viel gewonnen. 

Die mittelbare Einwirkung bes Runftfalons auf das große 
Publitum läßt fih an manderlei Zeichen erweifen. Sehen wir 
von bem Aufichwung ab, ben das innere Vereinsleben gewonnen, 
von ber zunehmenden Mitgliederzahl, in welches Verdienſt der 
Salon fi zudem wohl mit ber Einrichtung der Vortragsabende 
zu teilen hat, von ber dank den Darbietungen des Salons ermög- 
lichten, nad) vielen vergeblichen Verfuchen in früherer Zeit im 
3. 1901 einftimmig befchloffenen Erhöhung bes Mitgliebsbeitrages 
von 3 auf 5 Rubel, von ber wiederholten Weiterſendung hiefiger 
Salonausftellungen nad Mitau, einmal auch nad Helfingfors, — 
banf feinen erfolgreiheren und häufigeren Veranftaltungen hat das 
allgemeine Intereſſe am Nigafhen Runftverein in Stadt und Land 
in breiteren Schichten Boden gefunden. Der vormals nur einem 
beſchränklen Kreife befannte Verein findet nun gebührende Erwäh— 
nung in unfrer Preſſe fomohl, als gelegentlich auch in ber aus: 
ländifhen, bem Derein ift ferner im J. 1903 die Gnabe einer 
Taiferlihen Schenkung durch Allerhöchften Befehl vom 19. Dezember 
1902 zuteil geworben. 

Dem erftarften Runftverftändnis und Kunftbebürfnis ift es 
mohl aud zu verbanfen, wenn die Rigafche Stabiverorbnetenver- 
fammlung im J. 1904 zwei für das Kulturleben ber Stadt über: 
aus wichtige Beihlüffe gefaßt hat: 

Die im I. 1871 aus dem Schoß bes Kunſtvereins erfimalig 
ergangene Anregung zur Begründung einer Zeichenfchule, bie in 
ber Folge immer wieber und wieder zur Sprache gebracht worden 
mar, ift endlich einer gedeihlichen Löfung zugeführt worden, indem 
die Stabi nunmehr die am 15. Januar 1873 von Frl. Elife von 
Yung-Stilling begründete, Durch ben Tod ihrer Gründerin verwaifte 
Zeichenſchule als ftäbtiiche Kunſtſchule übernahm. 

Wenige Wochen fpäter, am 22. November 1904, beſchloß 
bie Stabtverordnetenverfammlung mit ber ausbrüdlichen, in der 
Verſammlung ausgejprodenen und veröffentlichten Motivierung, 
daß der Kunftverein ein foldhes Vertrauen fich durch feine bisherige 
Tätigkeit verdient habe, ihm die Auaftellungsjäle im neuerbauten 
ftäbtifhen Mufeumsgebäude nebft einigen erforderlichen Vereins: 


Der Salon bes Rigaſchen Kunſtoereins. 121 


räumen zu überlaffen, und übertrug ihm bamit die Führung im 
Kunſileben der Stadt. 

So hat ber Salon als Vorläufer des Runftmufeums auch 
in höherem Sinne gewirtt und ben fünftigen, größeren Dar- 
bietungen bes Ausftellungslofals im Muſeum ben Boden bereitet. 
Der Meine beſcheidene Salon am Bafteiboulevard wird nad) wenigen 
Jahren vergeſſen fein, aber was er gewirkt, wird nicht verloren 
gehen. Man fann dank ihm in Riga nicht mehr ohne ein Aus—⸗ 
Nellungslofal leben. Und je höher unfre Kulturanfprüche werben, 
um fo reicher wird unfer Leben. 

Anmerkung des erfafecs. Cine tünftferiice Würdigung der Ausfiels 
Tungsobjefte habe ic) mie mit Abficht verfagt. Wem die bier gebotenen Angaben 
nicht genügen, der findet in den aufbewahrten Katalogen weitere Anpaltöpuntte. 


Eine Sammlung diefer Kataloge werde id) in der Wibliothel der Gefellfchaft für 
Geſchichte und Altertumstunde der Oitferprovingen niederlegen. 


A 


Am Kamin 


Bas du mir, Hramme, d06 altes eräpraı 
Wie du mid fefig mad, wie du mid quäff! 


Was id In Aſche gefunken nermelnt, 
Fahr du an — und es jußelt und weint! 


Sadenden Mundes, mit trüben Bria 
Grüßt meiner Jugend Beh und Gfük .. . 


Sangfam verfodert sqeit auf Shell — 
Beh” mit den Shatten, alle Zeit! 


Eduard Fehre. 








Gin Eangesleben. 


Bon 
Helene von Engelhardt - Fapn. 


I 


User eines aindes Ziege 

War auf Alderweihen Shwingen 
Einf ein Engel Hingelogen 
Unter dettem Harfenkfingen. 


Kinderaugen Seherangen! 
Bon dem Himmelsglan, umwoben, 
Hat das Kind die Bfide Aaunend 
Zu der Sißlgelaft erhoben. 


And am güfd’nen Saltenfpiele 

Bries entzüct fein Auge fangen, 
Jaudjend redt’s die Rleinen Armden, 
Maß der Harf? empor zu fangen! 


And mit ew’ger Sieb? im Antfik 
Beugte id gar hord und Finde 
Soues fel’ger Simmelsbote 

3u dem armen Erdeukinde; 


Breitet aber'm Afeinen Aöpfgen 
Segnend aus die Sifberfhwingen, 

Sandt, die Sippen ihm Berüßrend: 

„Was du febfl, das ſotta du fingent« 


*) Es find juſt. 35 Jahre her, fit Helene von Engelhardts 
Name zum erften Mal in der heimifchen Preffe erwähnt wurde, im fchruar 1870: 
ur vorher, zu Weihnachten, war ihr erftes Yücylein „Worgenrot” erfchienen. 
Baur’ ift übe Name alferwärts bei uns gefannt und man weiß ihre Lieder zu 
idägen. — Wenn wir gerade jept unfeen Sefern biefe neuen Werje umirer Tichterin 
bringen dürfen, fo ift uns das eine beiondere Freude. Cie find wie eine poetildhe 
Konfeliion, die der rüdjcpauende Wlid an diefem Sebensmeitenftein ihr auf die 
Lippen gedrängt. Die Red. 





Ein Sangeseben. 


u. 


Taufend Adendröten fauken, 
Taufend Worgenfonnen Loßten, — 
S6lafend In der jungen Seele 

Sag das Wort des Hlmmelsboten. 


Dog almäprih Mohn die Rebet 
Bor dem Hand des Morgenmwindes, 
And wie dämmerndes Erwaden 

Hegt fid’s In der Biruf des Alndes. 


Fremde, unverdaud'ne Kräfte 
FÜpft es nah Entſat lung ringe: 
Adnungsvoft Begeßrt’s nah Worten: — 
Was es feßte, wall” es fingen! 





Seine Träume wurden Sieder — 
Seine Wounen — feine Tränen — 

Seiner Klndfeit un und Shmergen — 
Seiner Jugend Gfüd und Sehnen — — 


Shönfeltstrunk’ue Shafeusfrende — — 
Wanderfaßrt in Wind und Sonne .. 
Sturm und Kampf und Hefdengröhe — — 
Sit und Glanz und Sieheswon: 


Was fein glüßend Herz Begeißert, 
Mupt’ im Liede wiederkfingen: 
Deun oB feiner Wiege raufßten 
Sarfenfhlag und Engelstäwingen! 








II. 


Siunend mit gefeihten Lochen 

Über Geröffihwelhe Bfätter 

Säritt ein greifer Sangesmeiher, 
Eitd umtodt von Sturm und Weller. 


Schritt dahin — auf wunden Frühen, 
Schritt dahin — auf Dunkeln Bergen... 
Sehnend HoB er feine ride, 

Sang ein Sied dem Licht entgegen. — — 


„Greifer Torte fo riefen Stimmen, 
„Träumf du noch mit weißen Haaren? 
WITR du Beut noch Lieder Augen, 

Sich, und wund, und (Amerjerfaßren?1s 


123 


124 


Ein Sangesleben. 


And es wandte Ai} der Alte, 
Dandie fäßelud Ad zur Menge, 
And empor, wie Jeimfih Jaudien, 
Stiegen feiner Harfe Klänge: 


„os des Sedens Befle Kräfte 
36 and Rämfend aufgerieen: 
Alte Kämpfe üderdanernd 

3M mir eine Kraft gedfieben! 
Sordert nicht, daf mir Im Ziufen 
Meiner Keder Born verfe 
Engefsharfen, Sifderfäwingen 
Haufaten üder meiner Wiege! 





mein Ange Tränen meinet, 

10’s froß zum Licht erfebe — — 
Bis die Sonne mid Befdelnet, 

WMup i6 fingen, was id fedel 
Wis ich felön auf Sifderfäwingen 
Einf entrüht der armen Erde, 
Anders feßen, anders fingen, 

Andre Sonnen grüfen werder · 











du welder Veiſe könnten die riefengrohen Gemei 
Lirlauds geteilt werden? 


Bon 
P. Franz Rechtlich: Gubmannsbad. 
u 


m Reformationsfefte 1901 wurde ein Flugblatt in der 

r deutſchen Gemeinde verteilt, welches in jeinem legten 
Abſchnitte von „unerträglihen Zuftänden“ handelte. 

Dort wurden 5000 Seelen als Norm für die Größe eines Kirch- 
ſpiels angejegt und an dieſer Norm bie beftehenden Firdlichen 
Verhältniffe gemeffen. In Anfehung legterer müſſe man — heißt 
es im Flugblatt — „das Angefiht vor Schmerz verhüllen, weil 
es bei uns noch viele Kirchſpiele mit 8, 10, 12, 15, ja jogar 20 
Taufend Seelen gibt, die von einem einzigen Paſtor bebient 
werben. Diefe Pfarren müßten unbedingt geteilt werben, unb 
zwar iſt jedes Jahr Verzögerung — Verſchlimmerung. Wenn ber 
Staat verlangt, daß ein Lehrer nicht mehr als 60 Kinder unter 
richte — eine fehr gerechte Forderung —, wie kann bie Kirche 
zulaſſen, daß ein Paſtor 300 Konfirmanden unterrichtet. Ich 
würde mein Kind aud) nicht eine einzige Stunde einer folden 
Lehre beiwohnen laſſen.“ Dieje Worte des Flugblattes beziehen 
ſich auf jämtlihe 5 Konfiftorialbezirfe Rußlands. Seitdem uns 
nun bie „Mitteilungen unjres Generalfuperintendenten über bas 
Kirchenweſen 1902” nebft dem Verzeichnis fämtlicher Gemeinden 
zugegangen find, ift ein jeber von uns in ber Lage, die kirchlichen 
Verhältniffe Livfands daraufhin zu unterfuchen. Das Refultat 
diefer Unterfuchung iſt aber ein erjhütternbes: Unter ben 145 
Gemeinden Livlands finden fih 57 Gemeinden, die über 8000 


126 Teilung der Sandgemeinden Livlands. 


ober volle 8000 Seelen enthalten, das find fait 40 pCt., die nach 
den Worten des Flugblattes unbedingt geteilt werden müßten 
Dann gibt es weitere 30 Gemeinden, deren Geelenzahl bereits 
über 5000 gejtiegen ift und bie fomit aud) bereits über bie Norm 
Hinausgegangen find. Wenn wir endlich die Normalgemeinden 
zählen, bie 5000 volle und unter 5000 Seelen enthalten, jo hat 
Livland deren bereits 58, das find genau 40 pCt. Cs find mithin 
nur ?/ ber Gemeinden Liolands normale, überjehbare Gemeinden, 
ebenfalls >/s find Niefengemeinden und "/s befinden fih auf ber 
Grenze beiber. Bei den auf der Grenze befindlichen ift natürlich 
die Frage disfutabel, ob fie alle unbedingt geteilt werden müßten 
oder nicht. Die Einen werden es nicht einjehen, daß Gemeinden 
von 8000 Seelen geteilt werden müßten, während die Andern 
bereit$ Gemeinden von 7000 und 6000 Seelen für teilungs- 
bedürftig erflären werben. Ich glaube aber, daß man mir ohne 
Widerſpruch zugeben wird, daß 10,000 Seelen für einen Paſtor 
zuviel find, als daß er an ihnen in ausreichender Weife Seelſorge 
treiben und Zucht üben könnte. Ic habe es jedes Mal wie eine 
Ironie empfunden, wenn in den Zeitungen vom „Seeljorger” ber 
Raugeſchen Gemeinde ober der Darienburger Gemeinde geſchrieben 
ftand. Sehen wir uns nur die Sprengel einzeln an. Da fteht 
ber Rigaſche Stadtiprengel vornan, da er die abnormſten Ver: 
hältnine aufweilt: die 14 Kirchengemeinden Rigas enthalten 
228,000 Lutheriihe Seelen, d. h. bie Durchſchnittsgröße ber 
Nigafchen Stadtgemeinden beträgt 16,000. Diejes Nefultat wird 
durch das unheimliche Anwachſen ber lettiihen Gemeinden hervor 
gerufen, unter denen St. Gertrud mit 52,000 und St. Johannis 
mit 42,000 Seelen obenanftehen. Da es fi) hier um eine Groß⸗ 
ftabt handelt, deren Verhältniſſe mir fremd find, fo enthalte ih 
mic) eines Urteils darüber, wie man diefem Niejennotftand wirfiam 
begegnen fönnte. Nur meine ich, daß es burdaus noch nicht 
genügt, daß an St. Gertrud 5 und an St. Johannis 3 Paſtoren 
angeftellt find, da in den fettiihen Gemeinden dieſer Kirchen 
13--14,000 Seelen auf einen Paſtor fommen. 

Wir wenden uns jegt zu den 9 Landiprengeln, als zu unfrem 
eigentlichen Thema. Unter dieſen ift ber Dörptſche Sprengel der 
ſchwärzeſte, denn hier beträgt die Durchſchnittsgröße der Gemeinden 
fait 9500, obſchon ſich darunter eine Univerjitätsgemeinde mit- 


Teilung der Sanbgemeinden Liolanbs. 127 


1000 Seelen befindet. Allerdings iſt hier die Hohe Zahl durch 
das ungefunde Wachſen zweier Stabtgemeinden hervorgerufen: 
St. Marien mit 20,000 Seelen und St. Petri mit 17,500 Seelen. 
Außerdem enthält der Dörpiſche Sprengel noch 3 Niefengemeinden: 
Torma-Lohufu mit 16,000, Kodbafer mit 10,600 und Marien: 
Magdalenen mit 10,400 Seelen, ſämtlich Pfarren mit Filialen, 
bei denen die Pfarrteilung leichter zu bewerfitelligen wäre. 

Danach ift der Fellinſche Sprengel ein fehr ſchwarzer Sprengel, 
da feine Durchſchnittsziffer faſt ebenſo hoch ift, wie im Dörptiden: 
9400 Seelen pro Gemeinde. Er enthält 6 Gemeinden, bie einer 
Teilung dringend bedürftig find: Fellin-Land ohne Köppo 15,300, 
Helmet 14,000, Pilliftfer 12,400, Groß-Iohannis 12,000, Ober: 
pahlen 12,000 und Tarwaſt über 9000 Seelen. 

Ferner ift der Werrofche Sprengel ein fehr ſchwarzer Sprengel, 
da bie Durchſchnittsziffer 9000 Seelen beträgt. Hier find 9 Ger 
meinden teilungsbedürftig: Nauge mit 20,100 Seelen, daraus 
müßten 4 Gemeinden gebildet werben; bann Pölme mit 16,100, 
daraus müßten 3 Gemeinden entitehen; ähnlich Wendau mit 
14,000 und Neuhaufen mit 13,000, dann Rappin 11,400, Anzen 
11,000, Ranapäh 10,100, Ramby 10,000 und Odenpäh mit 9200 
Seelen. 

Endlid) ift der Wallſche Sprengel ein fehr ſchwarzer Sprengel, 
denn die Durdichnittsgröße der Gemeinden beträgt 9000, und er 
enthält 7 Niefengemeinden, von benen eine in 5 Gemeinden zer: 
Idlagen werben müßte: Marien-Vlagbalenen ohne Seltinghof 
25,000, Schwaneburg 16,000, Smilten 11,500, Tirjen 10,500, 
Trifaten 9300, Palzmar 9100, Oppelaln 9100 Seelen. 

Im Wolmarſchen Sprengel finden fi) ſchon etwas normalere 
Gemeinden, ba fie im Durchſchnitt 7000 Seelen groß find, immers 
hin find auch hier 3 Niefengemeinden: Süd-Nujen 12,000, Salis— 
burg 11,800, Nord-Rujen 10,000 Seelen. 

Im Wendenſchen Sprengel beträgt bie durchſchnittliche Größe 
der Gemeinden 6300 Seelen, immerhin find aud hier 5 Niefen- 
gemeinden: Ronneburg 10,400, MWenden-Land 10,300, Neu-Pebalg 
9400, Seßwegen 9000, Lubahn 9000 Seelen. 

Im Nigajchen Landfprengel iſt die Durdjchnittsziffer ber 
Gemeinden 5600, und es findet fid) hier nur eine Niefengemeinde: 
Schlock mit 12,600 Seelen. 


128 Zeilung ber Sandgemeinden Livlands 


Im Pernaufhen Sprengel haben die Gemeinden im Durd- 
fchnitt 5400 Seelen, doch find in meinem Sprengel noch 3 ſchwarze 
Buntte erfennbar: Pernau⸗St. Elifabeth 17,000, Halliit 11,700 
und Saara 10,000 Seelen. Die Eliſabeth-Gemeinde jollte ſchon 
längft geteilt werben, allein man ijt dort erſt jomeit gefommen, 
daß dem Abjunkten die Landgemeinde als felbftändiges Arbeitsfeld 
zugeteilt ift. 

Der idealfte Sprengel Livlands ift der Defelfche, in welchem 
nur eine ©emeinde, Kiellond, mit 7600 Seelen als bas normale 
Maß von 5000 überjchreitend erjdeint. 

Nachdem wir fo einen Überbfid gewonnen haben, treten wir 
an bie hiſtoriſche Frage heran, wie es denn zu biefem unerquid- 
lichen Zuftande gefommen ift, daß die lutherifche Kirche Livlands 
ihren weiteren Wusbau hat zum Stillftand fommen laſſen, nachdem 
fie einmal gegründet war. Diefes erllärt fih vor allem aus 
ihrer Verfaſſung als Landeskirche. Die Fundierung ber Pfarren 
mit Sand und bie Sicherftellung der Pfarreinnahmen durch die 
obrigkeitlich beftätigten Regulative haben in älterer Zeit nad) Gottes 
Vorſehung der lioländiſchen Kirche eine feite Nechtsgrundlage ver: 
tiehen. Dank und Ehre gebührt allen den Gliedern ber livländiſchen 
Nitterfgaft, die in den Gründungsjahren einen bebeutenden Land- 
befig der Kirche geftiftet haben; ebenfo den Männern, bie alles 
Land als der Iutheriihen Kirche fteuerpflichtig erflärt und dadurch 
die lutheriſche Kirche zur Landeskirche gemacht haben. Ja, damals 
find große Opfer der Kirche dargebracht worden, während in ber 
Folgezeit dieſe Form ber Opfermilligfeit ganz aufhörte. 

Die eriten Schwierigkeiten erwuchſen bem Lanbesfirchentum 
im J. 1845; von Bedeutung war fobann auch die Beftimmung, 
daß orthodore Landinhaber zu feinerlei Abgaben für die lutheriſche 
Kirche herangezogen werden dürften. Vor allem aber wurde bie 
lutheriſche Kirche an ihrem weiteren Ausbau dadurch gehindert, 
daß Neubauten oder größere Umbauten lutheriiher Kirchen von 
der Zuftimmung bes orthodoren Biſchofs abhängig gemacht wurben. 
Ein weiteres Moment bildete die Inhibierung der ſtädtiſchen 
Kommunen, zum Unterhalt ber Iutheriihen Kirchen beizufteuern. 
Die Gouvernementsregierung wiederum hat durd den Modus und 
die Handhabung der Repartition bei Kirchſpielsbauten manchen 
formaliſtiſchen Hemmſchuh geihaffen. So haben manderlei gejeg: 


Teilung ber Landgemeinden Livlands. 129 


liche Beftimmungen die lutheriſche Kirche an der Entfaltung ihrer 
Kräfte gehindert. 

Abgefehen von äußeren Gründen haben nod viel ſchwerer⸗ 
wiegende innere Gründe biefe Unbeholfenheit der livländiſchen 
Kirche hervorgerufen. Da ift vor allem die Tatſache zu fonftar 
tieren, daß bie Lutheraner Livlands ſich deſſen nicht bewußt find, 
daß es ihre Chriftenpflicht fei, ihre Paftoren und bas ganze 
Kirchenweſen zu erhalten. Dan hört ganz allgemein die Rebensart: 
„ber Bauer will nicht zahlen.“ Ja, das ift leider bisher auf ber 
ganzen Linie der Fall gewefen und ber Dualismus der Höfe und 
der Bauerſchaft hat es mit ſich gebracht, daß die Bauerſchaft nad 
Möglichkeit neue Anforderungen von fi) auf die Höfe abzuwälzen 
gefucht hat, und umgefehrt. In einer eſtniſchen Zeitung habe ich 
freitich gelefen, daß das Volt deshalb berechtigt fei, mancherlei 
Anforderungen an jeine Paſtoren zu ftellen, weil es fie ja bezahlt. 
Aber mit diefer Bezahlung ift es fo traurig beftellt, baf die meiften 
Paftoren Hungers jterben würden, wenn fie nur auf bie freiwil 
ligen Zeitungen ber Yauergemeinden angewiefen wären. Es wäre 
wohl jehr erwünjdt, wenn die nationale Preſſe die Lofung aus: 
geben würde, daß ber Bauernftand in erfter Linie die Erhaltung 
feines Kirchenwefens auf ſich zu nehmen verpflichtet fei, denn das 
Verlangen nad größeren Rechten würde auf diefe Weile gewiß 
feine Befriedigung finden, wenn man zuerft die Pflichten erfüllt, 
aus benen jene Rechte fliehen. Wenn es alfo nad) der Lehre 
Jeſu und jeiner Apoftel unbeftreitbare Pflicht der Gemeinden ift, 
ihre Prebiger materiell zu erhalten, jo fragt es fih, warum ber 
baltiſche Bauer jo unluſtig ift, biefe Pflicht zu erfüllen. Bon 
alters her war aber ber foziale Unteridied zwiſchen dem Bauer 
und feinem Prediger ein Haffender. Während der leptere vielfach 
geſellſchaftlich mit dem Gutsherrn rangierte, jtand der Bauer in 
unterwürfiger Stellung entblößten Hauptes vor dem Kirchenherrn, 
wie fie den Paſtor, entſprechend der Bezeichnung Gutsherr, titu: 
lierten. Darum war der Paftor in ben Augen des Bauern ber 
reiche Dann, jo daß ber Bauer mehr auf die Unterftügung bes 
Paftors angewiejen zu fein glaubte, als umgekehrt, wie das nor: 
male Verhältnis geweien wäre. Diefes Verhältnis beftcht leider 
vielfach auch heute noch, wo ber Paſtor als Inhaber des Baftorats: 
gutes vielen Gemeindegliedern als Pachtherr gegenüberfteht. — 


180 Teilung der Sanbgemeinden Liolands. 


Das find Feine gefunden kirchlichen Verhältniffe: bie livländiſchen 
Paftoren haben ſich badurd) von der Nachfolge des armen Lebens 
Jeſu weit entfernt. Das ift zwar hiitoriich geworben, hat auch 
mandes Gute mit fid) gebracht und den Paſtorenſtand fozial 
gehoben, aber ein geiftlicher Segen ift es nicht, weder für die 
Paſtoren noch für ihre Gemeinden. Die Apoftel des Herrn erklärten 
dem Lahmen (Act. 3), ber ihre materielle Hilfe beanjpruchte: 
„Sold und Silber haben wir nicht.” Da war es natürlich eine 
felbftverftändfiche Pflicht der chriſtlichen Gemeinde, ihnen Speife, 
(Matih. 10, 10) und Lohn (Luc. 10, 7) darzureihen. Ja, in ber 
apoſtoliſchen Gemeinde hatten fie alle Dinge gemein. Es ift gut, 
wenn wir uns deſſen bewußt werben, wie weit wir vom apojlo: 
liſchen Vorbilde abgefommen find. Es ift ja einerfeits nicht ſchrift⸗ 
mibrig, wenn die Diener am Worte jo geftellt find, daß fie fich 
nicht in Händel der Nahrung zu flechten brauchen, allein anderjeits 
iſt es ein Verderb, wenn die Kirche und ihre Diener reich find. 
Es ift nicht gut, daß wir einige Landpfarren mit Jahreseinnahmen 
befigen, wovon bei mäßigen Anſprüchen wohl auch zwei Familien 
exiſtieren fönnten. Sole Pajtoren follten mit Freuden auf eine 
Pfarrteilung eingehen und ſich deſſen getröften, daß Gott ihren 
Ausfall mit geiftlichem Segen decken wird. Ja, es iſt ein ſchreiendes 
Mifverhältnis, wenn der Hirte leiblic alles vollauf hat und die 
‚Herde geiltlich darbt und verfümmert. Nur dann darf ber Hirte 
jein Einfommen mit gutem Gewifjen verzehren, wenn er feiner 
Gemeinde fein fann, was er foll, nämlich Hirte und Seelſorger. 
Wenn er fi aber jagen muß, daß fein geiftlicher Einfluß durch 
bie abnormen Größenverhältniije ganz unterbunden ift, fo dürfte 
er wegen ber jdiweren Verantivortung in einer folden Situation 
nicht verbleiben und die Pfarreinfünfte ruhig weiter beziehen. 
Was ift das für ein Knecht, der ſich für die Bearbeitung einer 
verabrebeten Ackerflãche feinen vollen Jahreslohn zuhlen läßt, dieſe 
Aderflähe aber nur zum Teil und ſchlecht bearbeitet. Ja, wir 
müffen Mittel und Wege fuchen, unfer Arbeitsfeld fo einzurichten, 
daß wir es aud bearbeiten fönnen. Ich bin überzeugt, daß bei 
gutem Willen mande Pfarrteilungen durch uns Paſtoren vorge 
nommen werben Fönnten. 

Wir müſſen aljo fonftatieren, daß es gerade die reichdotierten 
Pfarren find, die den Bauer unwillig machen, das Kirchenweſen 


Teilung ber Sandgemeinden Liolands. 181 


zu erhalten. Ferner aber liegt auf unfrer Seite bie Verfäumnis 
vor, daß wir vielfach die Bauern nicht zum Beiftenern für kirchliche 
Zwecke erzogen haben. Ja, das fann nicht geleugnet werben, daß 
für alle möglichen wohltätigen Zwecke KRolleften veranftaltet worden 
find, aber die Initiative zur Selbſihilfe ift ganz abhanden gefommen. 
Wenn irgend etwas gebaut oder neue Schulen gegründet ober 
neue Arbeitskräfte angeftellt werden jollten, jo fchrie die Gemeinde 
zuerſt nad) ber Unterftügungsfaffe und dann nad) der Landes- und 
Nitterfaffe. Unſre großen Gemeinden müſſen für ihre häusfichen 
geiftlihen Bebürfniffe voll und ganz auffommen, und dazu foll 
jedes fonfirmierte Gemeindeglied angehalten und erzogen werben, 
bie kirchlichen Laften zu tragen. Dieje Forderung Tann geftellt 
werden, benn ber Bauernſtand ift nicht mehr jo arm, wie etwa 
vor 40 Jahren, als er noch um feine Eriftenz fämpfte. Durch 
Gottes Gnade haben wir hier in Livland einen arbeitfamen und 
zum Teil recht wohlhabenden Bauernftand, der knechtiſche Sinn ift 
vielfach einem überfpannten Eelbjtbewußtfein gewichen, wie es ftets 
bei jungen Völkern in ihrer Sturm und Drangperiode zutage Iritt. 
Diefes erwachende Selbitbewußtfein follte von der lutherischen Kirche 
klug benugt werben, um die neuen Kräfte dem Evangelium bienft- 
bar zu machen. Hier ift für die ftrebjamen Gebildeten, die aus 
dem Bauernftande hervorgehen, ein Feld der Tätigkeit dargeboten, 
wie e8 nicht Schöner und begeifternder gedacht werben kann, nämlich die 
Neuorganifation der livländifchen Kirchen nah geſund evangeliſchen 
Grunbfägen. Zu biefer Arbeit möchte ich alle Stände Livlands 
aufgerufen fehen, Hoch und Niedrig, Reid) und Arm, Deutfcher, 
Eite und Lette, fie alle jollen bei diefer Arbeit in den Wettbewerb 
eintreten, und benen, bie die größere Selbjtverfeugnung und die 
größere Opfermwilligteit betätigen, foll der Siegespreis. zuteil werben, 
ja dieſe werben bie Krone der Gerechtigkeit erlangen, die der Herr, 
ber gerechte Richter, am Tage feiner Erjejeinung geben wird. 

Es find aber auch äußere Nötigungen vorhanden, die uns 
zur Pfarrteifung drängen, das ift die Schwierigkeit der Pfarr 
befegung in ben Niefengemeinden. Die Skandale, die bei biejer 
Gelegenheit vorgefommen find und die Lutherifche Kirche mit 
Schmach bededt haben, follten uns doch veranlafjen, die Urfachen 
derfelben zu erforichen. Bei ber Beſehung Eleiner und armer 
Pfarren find feine Skandale vorgefommen, und Fönnen feine vor 


132 Zeifung der Landgemeinden Sinlanbs. 


kommen. Cs handelte ſich jebes Mal um Riefengemeinben, und 
zwar um gutbotierte Riefengemeinben. Wie kommt es, daß bie 
Zahl der Bewerber um folde Pfarren eine fo große if? Wie 
fommt es, baß ſich viele bereit finden, das große und ſchwere 
Kreuz einer Niefengemeinde auf fich zu nehmen, wo man fih als 
gewifjenhafter Menſch zu Schanden arbeiten müßte? Ich fann es 
mir nur erflären durd den Wunſch, materiell fichergeftellt zu 
werden. Wir leben in einer Zeit, wo die Bauergemeinben Paftoren 
ihrer Nationalität bevorzugen und Die Kandidaten deutſchen Blutes 
nach Möglichfeit fern zu halten ſuchen. Dies ift ein Zeichen geftei- 
gerten nationalen Selbftbewußtfeins, und mir können folches 
begreifen, aber wir beflagen ben Schaden, den bie nationalen 
Inftinkte ber Kirche zufügen. Wer trägt nun Verlangen, in eine 
national geipaltene Gemeinde hineinzulommen, wo der Paſtor 
deutſchen Blutes beim Gros jeiner Gemeinde verſchloſſene Herzen 
vorfindet und wo der Paftor eſtniſchen oder lettiſchen Blutes gerade 
bei den einflußreichiten Leuten bes Kirchſpiels verſchloſſene Herzen 
vorfindet. Ich behaupte, wer das Herz auf bem rechten led hat, 
wird fi auf folde ungemütliche Pfarre überhaupt nicht berufen 
laſſen, fo daß ſolche Rirhipiele von ihrem Hohen Pferde herab- 
fteigen und ben Glauben aufgeben müßten, als ob es das größte 
Glüd wäre, dort Paſtor zu werben. 

Hier wende id) mid; befonders an meine jungen Vrüber, 
Vikare, Adjunkten und Kandidaten, und fordere fie auf, ſich für 
ſolidariſch zu erklären, daß fie ſich nicht auf valant werbenbe 
Riefengemeinden berufen laſſen, es jei denn, daß fie einmütig von 
beiden Parteien gewählt werden und daß ihr Arbeitsfeld derartig 
abgegrenzt würde, daß fie den geiftlihen Anforderungen genügen 
tönnen. Wenn wir die ſchweren Schäden unfrer Kirche empfinden, 
und bie Goftesgerichte, die über fie ergehen, zu Herzen nehmen, 
fo müſſen wir den Ruf nad) einer neuen Art von Kandidaten 
ertönen laijen, die da genügfam find und mit Meinen Pfarr 
einnahmen ſich begnügen, die da arm fein wollen, bamit bie 
Gemeinden geiftlih rei) würden, denn fie find leider furdibar 
arm an geiftliher Erkenntnis. Das zeigen uns heute noch Die 
vielen Miſchehen und der herrichende Materialismus, ber ſich durch 
diefe Fälle ſynptomatiſch Fund tut. Ja, hier rufe ih Euch auf 
zum Konfurrenztampf, Ihr deutſchen, eſtniſchen und lettiſchen 


Zeifung der Landgemeinden Siolanbs. 133 


Amtsbrüber: „Laßt uns Fonkurrieren in ber Anfpruchslofigleit bes 
Lebens, in ber Willigfeit, ſchwach dotierte Pfarren zu übernehmen, 
bann ift bie Schwierigkeit ber Pfarrteilungen zum größten Teil 
überwunden. Wie groß ift dafür bie innere Befriedigung, an 
einer Heinen Gemeinde arbeiten zu Fönnen, wo man einigermaßen 
das Gefühl hat, geiftliher Leiter und Berater feiner Gemeinde 
zu fein. Ja, ih fann nur Gottes Freundlichkeit gegen mich 
rühmen, baß er mir eine Heine und arme Gemeinde anvertraut 
hat, hat er mich doch überaus gefegnet auf meiner jogenannten 
Hungerpfarre. Darum rate ich meinen jungen Brüdern, bie. nod) 
feine Pfarre haben: Bittet ben Herrn, daß er euch gnäbig 
jet und euch eine Heine Gemeinde anvertrauen möchte, wo ihr 
wirklich als Geiftlihe arbeiten könnt und nicht als bloße Kultus: 
beamte ben ſchweren Kirchenwagen in ben alten Geleifen weiter: 
ſchiebt. 

Wir find uns über die Gründe Mar geworden, warum es 
in Livfand ſchwierig ift, Pfarren zu teilen; dennoch aber könnten 
Mittel und Wege gefunden werben, die uns einen weiteren Auss 
bau der livländifchen Kirchen ermöglichen. Dffiziell anerkannte 
Pfarrteilungen werben wir möglicherweife nicht zuftande bringen, 
darüber wollen wir uns von vornherein klar jein. Aber etwas 
ähnliches, was in Nordlivland, beifpielsweife bei Sellin und Köppo, 
oder in Süblivland, beifpielsweife bei Lemjal und Katharinen, 
geihehen ift, Tann in Hundert andern Fällen ebenfo geſchehen. 
Nur ſollen wir nicht wähnen, daß wir mit den bisherigen Hilfs- 
mitteln biefe große kirchliche Neform verwirklichen werden, benn 
nad) den bisherigen Anjchauungen wollte bie Einzelgemeinde ihre 
Neuorganifation immer nur auf Koften der Gefamtkirhe vornehmen 
und wagte ſich nicht früher an die Pfarrteilung heran, als bas 
nötige Fundationskapital vorhanden war. Wollten wir nad) diefer 
alten Methobe diefen Riefennotitand befeitigen, fo hätten wir allein 
für Livfand 10 Unterftügungsfaffen nötig. Ich berechne, daß 
gegenwärtig, abgefehen vom Rigaſchen Stadtiprengel, alfo in den 
neun Landfprengeln, auf einmal 50 neue Kicdjpiele gegründet 
werden müßten: im Werroſchen zwölf, im Waltidien elf, im 
Dörptjhen neun, im Fellinſchen fieben, im Wendenſchen fünf, im 
Pernauſchen vier, im Wolmarſchen drei, im Rigaſchen Landſprengel 
eins; in Deſel wäre feins nötig. Zur Fundation von 50 Land 

Baltifcie Wonatafgrift 1905, Heft 2. 


134 Teilung der Landgemeinden Livlands. 


firdfpielen wäre aber bei ben mäßigften Anfprüden ein Kapital 
von ca. 2 Mill. Rbl. erforderlich. Und innerhalb ber nächften 
20 Jahre müßten meitere 50 Neugründungen von Kirchſpielen 
ftattfinden, wenn wir auf normale Verhältniffe herausfommen 
wollen. Soll aber auf bem Wege folider NKapitalifierung das 
Kirchenwefen reorganifiert werben, jo werben wir im Schneden- 
fchritt vorwärts fommen, während der Notftand uns mit Riejen- 
fchritten über ben Kopf wachſen würde, Daraus ziehe ich nun bie 
Folgerung, daß ber bisherige Modus bei Pfarrteilungen radikal 
verlaffen werden muß, wenn wir aus bem Notftande heraus und 
nicht immer tiefer hineinfommen wollen. Die neuen Mittel aber, 
die uns zum Ziele führen fönnten, wären: ber Grundſatz ber 
Selbfthilfe und die freiwillige Selbſtbeſteuerung. Unter dem 
Grundfaß ber Selbfihilfe verftehe ich Dies, daß eine Niefengemeinbe, 
die eine Teilung unter Beihilfe der Geſamtlirche vornehmen möchte, 
energiſch angehalten werben foll, ſich felbft zu helfen. Ich habe 
Veranlaſſung gehabt, auf ber Generalverfanmlung bes Norbliv- 
ländifchen Bezirkskomitees darauf Hinzumeifen, daß die Unter 
ftügungsfaffen » Kolleften beim Volfe unbeliebt geworben find, 
meil das gefammelte Geld im Lande ſelbſt verwandt wird. Die 
Landgemeinden geben gern, wenn ihnen bie geiftliche Not ber 
Glaubensbrüber im fernen Rußland gefdildert wird, aber wenn 
fie erfahren, baf fie zum Unterhalt einer Nadbargemeinde zahlen 
follen, die vielleiht wohlhabender iſt, als fie ſelbſt, fo wollen fie 
von der Unterftügungsfaffe nichts mehr wilfen. Und was jpeziell 
Norblivland anlangt, jo hat es z. B. im Jahre 1900 2225 Rbl. 
mehr verausgabt, als es kollektiert hat. Das ift ein ungefunder 
Zuftand, denn unfre fompaften Iutherifhen Gemeinden follen doch 
die lutheriſche Diafpora im weiten Rußland unterftügen unb nicht 
noch dazu bie Überſchüſſe andrer Bezirkskomitees aufbrauchen. 
Wenn alfo die Unterſtützungskaſſe hier im Lande ihre Kolleften 
nicht ganz unmöglich machen will, fo foll fie wohlhabenden Gemeinden 
bie Unterftügung verweigern, „fie dadurch zwingen, ſich ſelbſt zu 
helfen. Den Gemeinden aber, die fie bisher unterftügt hat, ſollte 
fie nach jedem Triennium die Subvention verringern, je nad 
Berückſichtigung der fonfreten Verhältniffe. Die Leiter der Bezirks 
fomitees der Unterftügungsfaffe würden bei der Erziehung ber 
Gemeinden zur Selbfthilfe eine weſentliche Rolle jpielen, denn 


Zeilung der Sanbgemeinben Siofanbs. 185 


folange eine Gemeinde ganz gemütlich auf fremde Koften leben 
fann, wozu foll fie ſich ſelbſt anftrengen. Ja, wir werben es auch 
nicht vom betreffenden Amtsbruber erwarten Fönnen, daß er eine 
Verminderung jeiner Subvention felbft beantragt, denn wenn bie 
eigene Gemeinde folches erfährt, fo wird fie über ihren Paſtor 
erbittert fein, daß er neue Laften feiner Gemeinde auferlegen 
möchte. Ich fann in biefer Sache aus Erfahrung ſprechen, da id) 
nad) Möglichfeit mid) bemüht habe, meine Gudmannobachſche 
Gemeinde zur Selbfihilfe anzuleiten, damit fie für den Fall, daß 
bie Unterftügungstafle ihr einft die bisherige Subvention entzieht, 
durch die freiwillige Gelbftbeftenerung den Ausfall felbft zu beden 
imftande jei. Es find aber viele in meiner Gemeinde, bie es mir 
nicht glauben, daß die Unterftügungsfaile einmal aufhören könnte, 
uns zu fubventionieren. Diefe fönnen von ihrer ſchädlichen Mei— 
nung nur dadurch geheilt werden, daß ein Vertreter der Unter: 
ftügungsfaffe es ihnen duch eine Tat far macht, nämlich durch 
Verringerung der Subvention und durch die Anfündigung, daß 
wieder nad) einer Reihe von Jahren eine weitere Verringerung 
ftattfinden werde. Wenn auf folde Meife Summen freiwerben 
follten, dann wäre id) nicht dagegen, baß fie bei der Teilung ber 
Riefengemeinden mithelfen. Denn wenn aud der Grundfag feſt⸗ 
gehalten werden muß, daß bie Riejengemeinden mit ihren Rieſen— 
träften fid) jelbft helfen, jo wollen wir uns doch nicht verhehlen, 
daß folches nicht gleich zu Beginn ber Pfarrteilung gefchehen wird, 
da fie noch garnicht zur Selbftbetätigung erzogen find. Zu Beginn 
der Pfarrteilung alfo möge immerhin die Unterftügungsfaffe ange- 
rufen werden, damit Kirche und Paftorat fchneller aufgebaut 
werben. Nach den Gründungsjahren aber follten bie Leiter der 
Unterftügungstaffe durch Verfagen der Subvention die Gemeinden 
zur Selbftbetätigung zwingen. Das Hauptmittel aber zur Reor— 
ganifation unfres Kirchenweſens wäre die Erziehung der Bauer— 
gemeinden zur freiwilligen Selbftbeiteuerung. Letztere ift ja in 
ben Stäbten feine neue Sache mehr, und fie bewährt fih an 
manchen Orten ausgezeichnet. Will nun etiva jemand behaupten, 
daß eine ſolche Selbſtbeſteuerung höchitens bei Gebilbeten denkbar, 
bei Bauern aber eine Unmöglichkeit jei, fo muß ic) dem entſchieden 
widerſprechen. In Zintenhof und in Gudmannsbach ift fie ein 
geführt worden und berechtigt zu der Hoffnung, daß fie fi, ein: 


156 Zeitung ber Sanbgemeinben Siolanbs. 


bürgern werbe. Natürlih muß das Bedürfnis von ber Bauer 
gemeinde Mar erfannt werben, dann werden fie ſchon zahlen. 
Aber in einer Gemeinde, wo der Paftor eine große Pfrünbe hat, 
wäre es natürlid) ausſichtslos, bie freiwillige Selbftbefteuerung 
einzuführen. Erſt mit dem Moment, wo eine Gemeinde einer 
bisherigen Einnahmequelle plöglih beraubt wird, oder wo eine 
neue geiftliche Hilfskraft angeftellt werden foll, oder namentlich, 
mo ein Teil ber Gemeinde ſich als felbjtändiges Kirchſpiel kon— 
ftituiert, wird mit diefer Selbftbefteuerung einzufegen fein, wobei 
das Sprüchwort „Aller Anfang ift ſchwer“ fi) oft in unangenehmer 
Weife geltend machen wird. Nehmen wir beilpielsweife eine 
Normalgemeinde von 5000 Seelen, bie gegründet werden foll, 
und fuchen wir uns anfchaulich zu maden, wie diefe 5000 Seelen 
für ihre kirchlichen Bedürfniffe auffommen follen. Da erhebt ſich 
zuerfi die Frage, wie man den Hauptpoften der Yahreseinnahmen 
des Paftors zufammenbefonmmen fönnte. In der Gudmannsbach— 
ſchen Gemeinde find wir vom Grundfag ausgegangen, daß bie 
männliche konfirmierte Vevölferung das Kirchenwefen zu erhalten 
verpflichtet fei. Es ließe fid) aber auch dagegen nichts einwenden, 
wenn fämtliche mündige Gemeindeglieder, jei es männlichen, fei 
es mweiblihen Geſchlechts, zu einer jährlichen Kirchenſteuer heran— 
gezogen würden. Doch da die männlichen Seelen bie leiſtungs— 
fähigeren find, fo Läht fih auf dieſer Bafis leichter eine Berech⸗ 
nung aufftellen. Es fommen nämlid) nad) meiner Berechnung auf 
100 Gemeindeglieder 30 Tonfirmierte männliche Seelen, es macht 
bei einer Gemeinde von 5000 Seelen 1500 Steuerzahler aus. 
Wenn wir nun foweit kämen, daß jebes männliche fonfirmierte 
Gemeindeglied durchſchnittlich 1 Rbl. jährlich beiträgt, dann wäre 
das Problem gelöft. Ich fage durchſchnittlich, denn wenn bie 
Selbftbefteuerung wirklich eine freiwillige fein fol, fo werden wir 
es nie erreichen, daß jeder einzelne zahlt, ſondern nur ein Bruchteil 
berfelben wird feine Chriftenpflidt erfüllen und zahlen. Wenn 
wir uns die Verhältniſſe der ſchottiſchen Freikirche daraufhin an- 
fehen, fo werden wir jogar bort, bei den geradezu idealen Ders 
bältniffen, die Beobachtung machen, daß nur Y/s der Kommunikanten 
für die Erhaltung der Kirche Opfer bringt. Aber diefer Bruchteil 
tut es fo reichlich, daß nicht nur alle Bebürfniffe befriedigt, fondern 
aud die Miffion — äufßere wie innere — fraftvoll betrieben 


Teilung der Landgemeinden Livlands. 187 


werben fönnen. — In meiner Gemeinde, wo die freiwillige Selbft- 
befteuerung erft feit zwei Jahren befteht, find Gaben von 1 Rbl. 
und 50 Kop. die häufigften, es fommen aber auch Gaben von 
5 und 10 Rbl. und anberfeits Gaben von 10 und 15 Kop. vor. 
Wen es intereffiert, der möge erfahren, dab die Gudmannsbachſche 
Gemeinde in zwei Jahren 270 Rol. an freiwilliger Selbjtbefteuerung 
aufgebradt hat. Sie ift aber nur halb fo groß wie eine Normal⸗ 
gemeinde und hat zwei jchwere Jahre hinter fi. Vor allem aber 
hoffe ich, daß ji) das Geſetz fenffornartigen Wachstums in biejer 
Sache herausftellen wird, wenn anders die Sadje richtig angefaßt 
und gejund organifiert it. Denn man fann auch durd einen 
gewiſſen moralifden Zwang gleih von vornherein eine ziemlide 
Höhe ber Kirchenabgaben erzielen, dod) wird ſich in dem Falle 
fein jenffornartiges Wachstum herausjtellen. Wenn wir in biejer 
Sade von der Erfahrung andrer lernen wollen, fo jtellt uns die 
Miſſion Hier reichliches Material zur Verfügung. Syſtematiſch 
zufammengefaßt finden wir es im 5. Bande ber Warnedichen 
Miffionslehre, wo im 46. Rap. die finanzielle Selbjtunterhaltung 
der heidendrijtlihen Kirchen behandelt wird. Auch hier Fonftatiert 
Warned, ganz wie bei uns, daß das Hindernis zur Erreichung 
firhlicher Selbftändigfeit zuerft in einer Verihuldung der Diffon 
jelbft befteht, die es in den Anfängen verabfäumt hat, die einge— 
borenen Chriften an eine geordnete finanzielle Selbftleiftung zu 
gewöhnen. Die Frage ift eben brennend auf allen älteren Miſſions- 
gebieten, denn es ift nicht möglid, wenn Voltsfirchen entjtehen 
follen, daß fie nad) wie vor durd) die Liebesgaben der jendenden 
Cheiftenheit aufrecht erhalten werben. Darum erteilt der ergraute 
Miffionstenner Warned in Bezug auf die Erziehung zur kirchlichen 
Eelbftunterhaltung den Miifionaren drei Natjchläge, die mutatis 
mutandis auf uns ihre volle Anwendung finden: 1) verjucht fie, 
2) verfucht fie fofort von Anfang an, und 3) verfucht fie mit 
feftem Willen. 

Ich bin der Anficht, daß gerade an diefer Frage die Zukunft 
der Kirche Livlands hängt, denn wenn ber livländiiche Bauer es 
nit einfehen follte, daß er verpflichtet fei, das Kirchenweſen zu 
erhalten, und wenn wir es nicht zujtande bringen, normale geift 
liche Arbeitsgebiete zu ſchaffen, ſo wird die Erfaltung der Volks— 
moſſen ftetig zunehmen unb zu einem Abfall führen, der einjt den 


138 Zeifung der Landgemeinden Siolanbs. 


Hirten der Kirche die Augen öffnen wird, — aber dann wird es 
zu fpät fein. Über den Modus der Pfarrteilung ließen fid) noch 
mandjerlei Ratſchläge erteilen. Den Anfang mit ber Teilung 
einer Niefengemeinde lönnte man am beften bei einer Neubejegung 
der Pfarre maden. Wenn der Kirchenvorſtand noch nicht die 
Einſicht von der Notwendigkeit der Teilung befigen follte, jo müßten 
die vozierten Kandidaten ber Neihe nach die Annahme der Vakation 
von ber Zufage ber Teilung abhängig machen und jo auf dus 
Kirdhipiel einen Drud ausüben. Der vozierte Paſtor fönnte dann 
fofort beim Antritt einen ober zwei Adjunkten zu Hilfe nehmen, 
mit biefen feine Pfarreinnahmen teilen und mit ber Erziehung 
der Gemeinde zur Selbſtbeſteuerung fofort einfegen. Ich habe 
vor der (Generalverfammlung des Nordlivländihen Bezirke: 
fomitees über dieſe Sache folgende Thefe aufgeitellt: Bei der 
Belegung von Riejengemeinden follten diejenigen Bewerber bevor- 
zugt werden, bie zu einer Pfarrteilung bereit und mit geringeren 
Einnahmen zufrieden find. Gerade die legten Worte wurden von 
den Amtsbrüdern damals jtarf belacht. Jetzt, feit dem Erſcheinen 
des 5. Bandes ber Diiffionsiehre, bin ich in der Lage, obige Theſe 
durch ein Zitat aus Warned zu ftügen: „Soll die Selbjtunter- 
haltung durchgeſetzt werben, fo iſt ein joldyer Zehrftand unentbehrlich, 
der mit dem Verftänbnis für bie Notwendigfeit derfelben bie groß- 
herzige Genügjamfeit verbindet, mit einem Gehalt zufrieden zu 
fein, das im Verhältnis zur finanziellen Leiſtungskraft ber von 
ihm bedienten Kirchen fteht, eine Forderung, die zu dem allge: 
meinen finanzöfonomiihen Grundſatz der Proportionalität der ver- 
langten Leiftung zur vorhandenen Leiftungsfähigfeit erhoben werden 
muß.” Der livländifche Paftor muß aljo von feinem hohen Pferde 
herabjteigen, um ein volfstümlicher Dann zu werden, damit bie 
gejhilberten Normalgemeinden feinen Unterhalt beftreiten können 
und wollen. Wenn aljo der Paftor einer Niefengemeinde ſich mit 
der nötigen Anzahl von Adjunkten verſehen hat, fo joll er fie in 
der Peripherie feines Kirchipiels zu poftieren verſuchen. Bei Filialen 
und bei bereits vorhandenen Bethäufern ift das leicht zu bewert- 
ftelligen, da dann nur ein Quartier für den Adjunkten zu beichaffen 
wäre. Hat fih nun die um bie Filialkirche herumwohnende Bevöl— 
terung mit dem jungen Paſtor eingelebt und ihn womöglich lieb: 
gewonnen, fo verfuce ber Ortspaſtor feinen Adjuukten zeitweilig 


Zeitung der Landgemeinden Siolands. 130 


zurückzuziehen. Die Folge davon wird in der Negel ein um fo 
ftärferes Begehren dieſer Bevölferung nad) dem Adjunkten fein. 
Den Leuten wird man dann erklären, daß fie den Adjunkten nur 
dann jtändig für fi) haben können, wenn fie bie Verpflichtung 
übernehmen, ben Unterhalt besfelben wenigitens teilweiſe zu ber 
ftreiten. Ich proponiere diejes Verfahren nicht im Sinne eines 
Scheinmanövers, um etwa nur auf den Geldbeutel zu brüden, bin 
vielmehr der Anficht, da man denen, die hartnädig am Alten 
feithalten wollen, die reichlichere Wortverfündigung entziehen, ja 
event. Kirchipiele eingehen laſſen foll, wo die Leute nicht Vernunft 
annehmen. Denn warum fol etwa die Unterftügungs- oder Pfarr 
teilungsfaffe bleibend gewillen gleihgültigen Gemeinden das 
Kirchenweſen unterhalten, damit ein Freiidludertum großgezogen 
werde zum Schaden armer Gemeinden, die bie Unterftügung mit 
Recht beanipruchen fönnen. Indeſſen die Zurüdziehung einer 
paftoralen Wrbeitstraft von einem bereits befepten Poſten darf 
nicht kutzerhand geſchehen, ſolch ein folgenidhwerer Entihluß darf 
nur nad einer fangen Gebuldszeit und reiflichfter Erwägung gefaßt 
werben, denn auf dem meuzubejegenden Poften wird zuerit das 
Bedürfnis nach dem Worte Gottes wenig vorhanden fein. Wenn 
aber die Leute das Wort Gottes liebgewinnen, dann wird ihnen 
fein Opfer zu jchwer fein, um den Segen des reinen Evangeliums 
ſich zu erhalten. Mit Geduld alfo und mit einer freundlichen 
Behandlung des Volkes dürfte man wohl in den meilten Fällen 
zum Ziele fommen, da uns bie Verheißung gegegeben ift, daß 
Gottes Wort nicht leer zurücdtommen fol. Wo aber eine ganze 
Gemeinde fortgeiegt und hartnäckig Gottes Wort geringihägt und 
ſich fomit nicht des ewigen Lebens wert achtet, da ſoll ſchließlich 
der Prediger des Evangeliums den Staub von feinen Füßen jhütteln 
zu einem Zeugnis über fie. Hat nun ber Ortspaftor feinen Ad: 
junften von einem Punkte jeines Kirchipiels zurückgezogen, fo Toll 
er ihn anderswo zu pojtieren verfuchen, wo bie Leute danfbarer 
find und bie auf fie verwandten Koften durch erhöhte Selbjtbetäti- 
gung zurüderftatten. So werden bier und da neue Kirchſpiele 
entitehen und neue Herdfeuer geiftlichen Lebens die Glaubenswärme 
wieder anfachen. Dann wird die geiftliche Not ein Enbe haben, 
daß Kranke es nicht wagen, ihren mit Amtsgeſchäften überhäuften 
Baitor zu ſich rufen ıı laifen, und daß junge Lente wie eine Herde 


140 Teilung der Landgemeinden Livlands. 


Schafe, ja mandesmal wie eine Räuberbande konfirmiert werben, 
ohne daß eine eingehende individuelle Behandlung derfelben möglich) 
gewefen wäre. Sind dod) ſchon Stimmen laut geworden, die die 
Ronfirmandenlehre in den Riefengemeinden abichaffen mödjten, ba 
ber Satan unter einer fo großen Schar geicäftiger ift, feinen 
böfen Samen auszufäen, als ber Paftor guten Samen. Dieſe 
Zuſtände enthalten ben ftärkiten Anſporn, diefe monjtröjen Niefen- 
gemeinden zu teilen. Der Gegen normaler geiſtlicher Arbeitsfelder 
wird fid) dann in jeber Richtung geltend machen, wir werden nicht 
mehr über fehlendes Gemeindebewußtſein zu Magen brauchen, ber 
Paſtor wird den Mittelpunkt feiner Herde bilden und es wird 
jedes Glied feinem Einfluß erreichbar fein, ja ein Steigen ber 
Slaubenswärme im ganzen Lande wird die unausbleibliche 
Folge fein. 
Gudmansbach, Juli 1903. 


RR 


Inmitten. 





Dos in der Smmet, aber Häßer uoch, 

Biel Höfer Neigt des Wenfhenherzens Wonne. 

Tief if der Adgrund, ader tiefer noch, 

Biel tiefer Rlaft des Menfhenheriens Qual. 

Himmel und Abgrund! Yinter, üder dir 

Zieht Ad ein fämaler Bergpfad Pin: — das Leben. 
Eduard Fehre. 


Im Rigaer Gymnaſium 
amd anf der Dorpater Univerität 1939 —62. 


Von 
TH Pezold. 
u 


Fertenoetitite, durch ben Tob meines Vaters bebingt, führten 
mid) 1859 nad Riga, wo ic, der Obhut meines Oheims 
anvertraut, im Gymnaſium, dem einzigen, das damals dort vor- 
handen, - meine Schulbildung vollenden jollte. Die Stabt hatte 
zu jener Zeit noch durchaus ihr altes ſchlichtes Gepräge, die 
monumentalen Baulichfeiten von heute, wie das Theater, die Gilden: 
häufer, bie ftändige Dünabrüde fehlten, dagegen ftand die alte 
ſtädtiſche Autonomie noch in vollem Flor und gab es eine Gejell: 
ſchaft fcharf ausgeprägten örtlichen Charakters, deren männliche 
Jugend, von wenigen Polen, Litauern, Juden abgefehen, — in 
der Secunda des Gymnafiums, wo ic eintrat gab es fonderbarer: 
meije feinen. einzigen Rufen, — die Gymnaſiallklaſſen füllte, 
dem Schulganzen ein durchaus beutich-bürgerliches Gepräge auf⸗ 
drüdend. Der Kontraft Rigas mit Petersburg war felbftverftänd: 
licherweiſe bamals noch unendlich größer als heute und mußte hier 
das baftifhe Stillteben dem zur Zeit jo erregten Refibenztreiben 
gegenüber auch dem jungen und unreifen Antömmling in hohem 
Grade auffallen. Was die Schule betrifft, jo kann ich nicht jagen, 
daß das Nigaer Lehrerfollegium von damals, wenn man bie ein 
zelnen Perfönlichkeiten in Betracht zieht, befondere Vorzüge vor 
dem der Petersburger Petriſchule aufzuweilen gehabt hätte, — die 
Pädagogen beifpielsweije, denen ber deutſche und Geſchichtounterricht 
anvertraut mar, ftanden in Petersburg ungleich höher, in ber 
Mathematif und im Neligionsunterricht mochte fein weſentlicher 
Güteunterfchied zu verzeichnen fein, in den alten Spraden war 


12 29. Pebold, Erinnerungen. 


Niga allerdings in mancher Hinfiht überlegen. Bei alledem war 
wohl an legterem Orte ganz ungleid mehr fittliher Schulernſt 
vorhanden, und biefer refultierte, wie mich dünkt, in höherem 
Grade noch aus ber Beihaffenheit ber Schüler, als aus der der 
Lehrer. Die Jugend wird immer ein treues Abbild deſſen fein, 
was die Eltern find, wie das Werden die ftreng bedingte Folger 
ericheinung bes Gewordenſeins, und die Mehrheit der Petersburger 
Schuljugend war eben, wenn id) mid) fo ausbrüden darf, nicht 
ſowohl geworden, als gemacht. Die Sage kleidet die ſittlichen 
Mächte, die den Menſchen durchs Leben begleiten und feine Schritte 
lenfen, gern in die Geitalt von Feen und Schugengeln, in Wirt: 
lichkeit find es die feftgefügten Traditionen des Elternhaufes, die 
nicht ſowohl bewußtermaßen den Menſchen machen, als fein Werden 
behüten, und Niga hatte in dieſer Hinfiht jeine großen Vorzüge. 
Der deutſche Petersburger Handwerker, nachdem er die Heimat 
verlajjen und ſich zuvörderft weiblich in der fremden vuffiihen 
Welt Herumgetummelt, konnte ſich ſchwerlich nad) eigenem Geſetz 
entwideln, mit andern Worten, fonnte ſchwerlich werben, und 
mußte fi, wohl oder übel, von den taufenderlei Dingen machen 
laſſen, die zufälig am ihn herantraten. Und wenn er dann zu 
Geld gefommen und behufs fünftigen Univerfitätsftubiums fein 
Söhnchen in die Petriſchule ſchickte, ſo gab er ihm wohl nur in 
jeltenen Fällen die Fähigfeit des Werbens mit, und das Söhnchen 
war eben genötigt, fi) wohl oder übel damit zu begnügen, daB 
er weiter gemacht wurde, eine Mühmaltung, deren fih am Bor: 
mittag bie Scaufenfter des Newski-Proſpelts, am Nachmittag 
vielleiht irgend ein Balagan, am Abend das Ballet gern und 
mit einer gewiſſen Gewiilenhaftigfeit unterjogen. Jeder Menſch 
wird zum Teil, zum Teil wird er gemadt, mir aber will es 
iceinen, als hätte der alte Nigenfer, wenn er jung war, mehr 
Anwartſchaft für das Werden, ber Petersburger mehr für das 
Gemachtwerden beſeſſen, und baß in eriterem, jofern es, wie un: 
ftreitig in dem damaligen Riga, auf im ganzen gelunder Bafis 
erwuchs, eine beſſere Vorbedingung für das Gedeihen der Schule 
vorlag, wäre wohl faum zu bezweifeln. 

Den Poſten eines Oberlehrers der Geſchichte und Geographie 
am Nigaer Gpmnafium hatte damals ber ſchon fehr betagte R. 
inne, ein herzensguter Dlann, der aber, wie man mir jchon vor 
meinem Eintritt in die Schule erzählt, die Marotte hatte, immer 
wieder, mochte es nun pailen ober nicht, auf das Marburger 
Neligionsgeipräh zwiſchen Luther und Zwingli zurüdzulommen, 


25. Bepold, Erinnerungen. 188 


ein Umftand, der geradezu etwas krankhaftes an fich hatte und 
bei dem, wie id) glaube, Niga jelbjt entftanımenden K. auf gewiſſe 
einer älteren Zeit angehörige Konflikte zwiſchen den beiden vor 
herrſchenden Konfeffionen ber Stadt hätte hindeuten können, wenn 
biefer Deutung nicht bie Herrſchaft des, Fonfejfionellen Reibungen 
jo wenig zuneigenden Nationalismus in dem älteren Riga zu wider- 
ſprechen jchien. Die Schüler hatten ſich bei derartigen Wieder: 
holungen daran gemöhnt, der Sache eine praftiiche Seite abzu- 
gewinnen, man nahm in aller Ruhe jeine mathematiſche Aufgabe, 
feinen deutſchen Aufjag vor und der arme K., ber in feinem Eifer 
über Luther und Zwingli nidts davon merkte, dozierte in gutem 
Glauben, daß man ihn wirklich anhöre, ben vier nadten Wänden. 
K. wurde jehr bald nach) meinem Eintritt in die Schule penfioniert, 
ihm folgte als Lehrer der Geſchichte und Geographie ein junger 
Randidat ber Hijtorie T., feiner Herkunft nad) Ejtländer und daher 
kraft des damals ungemein regen Antagonismus der Provinzial 
geifter von den Schülern anfangs nicht ohne ein gewiſſes Miß— 
trauen und Übelwollen aufgenommen. Soweit ih T. kennen 
lernte, glaube ich nicht, daß ihm gerade eine hervorragende Lehr— 
befähigung zu eigen war, dennoch wirkte er durd den Kontraft 
mit feinem Vorgänger und durch das Intereſſe, das fein Gegen 
ftand bei der Mehrheit der Schüler naturgemäß wachrufen mußte. 
Van fing an mit geipannter Aufmerkjamteit feinem Vortrage zu 
folgen, und wer in überlieferter Weile es nicht laſſen Fonnte, 
während T's Unterrichtsſtunden ſich nad wie vor mit Präpara- 
tionen für den deutſchen oder Mathematiklehrer zu befallen, ber 
hatte es ganz fierlid mit der Majorität feiner Mitſchüler zu tun, 
denn das baltiihe Selfgovernment wurde in ſolchem Falle auch 
in ber Schule gewiſſenhaft erefutiert, da wo guter Ton und ſchul—⸗ 
gemäßes Verhalten durd die Situation ſelbſt geforbert ſchienen. 
Ein jtämmiger Paſtorenſohn vom Lande, K., jo etwa jiebzehn: oder 
achtzehnjährig, erhebt fih in aller Gemächlichkeit von feinem Platz 
und geht gelafjen, als ob es eben garnicht anders fein fünne, 
dur den ganzen Klafjenraum auf einen von der alten, üblen 
Gewohnheit auch jept nicht laffenden Mitſchuler zu, bemächtigt ſich, 
ohne irgend Widerftand zu finden, feiner nicht hingehörigen Hefte 
und Bücher und jtapelt fie, mit gleidyer Ruhe wieder zurücgelehrt, 
vor feinem eigenen Pult auf. Als er dem verblüfiten Blid T's 
begegnet und eine Motivierung unumgänglich, folgt diefe denn 
aud in K's phegmatiſch-gelaſſener Weile: „Entichuldigen Sie, 
Herr T., die Heine Störung, es ift das eine alte ſchlechte Gewohn— 


144 Tb. Pehold, Erinnerungen. 


heit, die wir felbft bald abftellen werden.” T. war ug genug, 
mit blogem Stillihweigen zu antworten, und dem reuigen Sünder 
wurden in der nmächitfolgenden Unterrichtspaufe gegen das aus: 
drückliche Verſprechen, daß er ſich fünftig in der Geſchichtsſtunde 
nicht hingehöriger Beichäftigung enthalten werde, feine Hefte und 
Bücher wieber zugeftellt. 

Wie K., jo zählte auch unfer Lateinlehrer W., von ben 
Schülern gemeiniglih „ber alte Spieß“ genannt, zu ben recht 
bejahrten Herren, was übrigens feinem gewiſſenhaften und gründ- 
lichen Unterricht kaum auzumerfen war. Cine Objervanz indeß, 
die wohl faum von W. jelbft herrühren mochte und bie mir jeine 
Unterrigtsftunden in hohem Grabe verleidet hat, möchte ich hier 
als auf notoriſchem Unverſtande beruhend hervorheben, die nämlich, 
daß bie zwei Abteilungen, in welde die Klaſſe zerfiel, injofern 
verfchiedene Berücfichtigung zu finden pflegten, als der aus den 
vorgerücteren Schülern zufammengefegten erften Seftion aus 
ſchließlich das Recht der eriimaligen mündlichen Überfegung bes 
iateiniſchen Autors zuftand, während die zweite ſich auf möglichſt 
getreue Wiedergabe des jo Vorüberfegten und von W. jelbjt Kor: 
rigierten zu beichränfen hatte. Ob eine derartige, dem mechaniſchen 
Wiederkauen in verhängnisvoler Weile Rechnung tragende An- 
ordnung ſich Damals auf das Rigaer Gouvernementsgymnafium 
beichräntte oder überhaupt in den Staatsgymnafien üblid) war, 
weiß ich nicht, auf jeden Fall mußte fie dem Kopfe eines erklärten 
Jugend: und Bildungsfeindes entiprungen fein, denn fie lähmte 
ganz offenbar bei den weniger Vorgerüdten den guten Willen und 
die Luft am alt-Haffiihen Unterricht. Die jo häufig bemäfelte 
Bebeutung des Latein als Bildungsmittel dürfte gerade darauf 
beruhen, daß feine ftiliftiihen Schwierigkeiten bei Wahl des abä- 
quaten Ausdruds in der Mutterſprache dem MWillen und ber 
Vhantafie eine ähnliche Triebkraft verleihen müſſen, wie etwa der 
mechaniſche Drud fie dem als Fontaine aufmwirbeinden Quell vers 
leiht. Auf diefen insbeſondere gerabe dein willens: und gedanfens 
ftarten Latein innehaftenden Segen mußte nun der Schüler während 
feiner ſich mindejtens auf ein Semeſter erftredenden Zugehörigkeit 
zur zweiten Abteilung verzichten, er gemwöhnte fid daran, aus- 
ichließlih mit dem Gedächtnis zu arbeiten, und hatte, wenn er in 
die erfte verfegt wurde, ein gut Teil jener Luſt fid) in fpontaner 
Weife quafi ſprachbildneriſch zu betätigen eingebüßt. 

Dem Individuellen bei weitem mehr Rechnung tragend war 
der Unterricht unjres NReligionslehrers, des waderen Baftor-Diafonus 


25. Pepold, Erinnerungen. 145 


J., einer ftattlihen Erſcheinung mit einem Gefihtstypus, ber dem 
des Doktor Martinus in feinen jpäteren Lebensjahren, als Frau 
Ratharinas Kühe und Keller von Kurfürft, Ritter und Bürgers— 
mann reichlich verfehen war, etwas ähnlich ſehen mochte. J's 
Lehrbuch war die damals approbierte Chriftlihe Religionslehre 
von Kurz, ein wenig ſcholaſtiſch und mit mandjerlei philoſophiſchem 
Aufpug, wie das ja dem Zeitgeihmad entfprah und deren nicht 
immer gleich einleuchtende Säge feitens der ja allzeit rationaliftiich 
angehauchten Schufjugend manden Widerſpruch wachriefen, welchen 
fi) ber gute J., der eigenen dialeltiſchen Überlegenheit wohl 
bewußt, auch recht gern gefallen lieg und in gepiemender Rede 
und Gegenrebe mit den reiferen Schülern fieghaft zu widerlegen 
verftand. 

Wohl die bedeutendite Perfönlichkeit im gefamten Lehrerfolleg 
des damaligen Nigaer Gymnaſiums war der Lehrer der ruffiichen 
Sprade und Literatur Sch., und doch glaube id), daß bei allem 
Glauben an die unifizierende Miſſion Rußlands und einer nicht 
unbeträchtlihen Lehrbefähigung diefer Pädagoge, was den Effekt 
feiner Mühwaltung anbetrifft, ganz weſentlich in Richtung der 
Steigerung bes baltischen Sonderbewußtfeins gewirft hat. Es 
machte fi eben die Parabel vom Mantel des Wanderers und 
vom Winde in feiner Art zu verfahren bejonders geltend. Sch. 
gab unftreitig vortrefflihen ruſſiſchen Unterricht, wenn er aber, 
wie beijpielsweije hier erwähnt fei, auf fein Gtedenpferb: bie 
Konfrontation des ruſſiſchen und deutſchen Sprihworts fam und 
anläßlich der Kritit diefer naiven Schöpfungen ber Volfsmoral 
unb bes Volfsverftandes die jclichte Folgerichtigkeit ruffiicher Denk: 
weile beutfchem Halb: und Unverjtand gegenüber hervorhob, fo war 
die Wirkung der von ihm ſelbſt angeitrebten gerade entgegengefegt. 
Sch., der noch dazu in Moskau, der Hochburg für das Streben 
nach genuin:organifcher Entwicklung Rußlands ftudiert hatte, hätte 
aus der damals ſchon zu nicht unbeträchtlichem Umfang anges 
wachſenen ruſſiſchen Literatur, die nad) Grimm’s und Savigny's 
Vorgang den Begriff des Organiihen auf das Voltsleben anzıız 
wenden gelernt, wiſſen müjlen, welche Rolle das anthropomorphis 
fierende Element von jeher und überall in Mythologie, Voltsgefang 
und Sprichwort geipielt; dennoch konnte er dem Kitzel nicht wider- 
ftehen, biefem Clement, fofern es im beutfchen Sprichwort fich 
geltend macht, mit ziemlidy billigem Spott zu begegnen und 5. B. 
der deutſchen Diorgenftunde, die ja befanntlidh Gold im Munde 
tragen fol, allen Ernftes den Prozeß zu maden. „Aber, erbarmen 


148 25. Pehold, Erinnerungen, 


Sie fi, feit wann hat benn die Morgenftunde einen Mund?” 
unb mas dergleichen Dinge mehr waren. 

Beruhte Weſen und Charakter der deutſchen Schuljugend 
Petersburgs, ſoweit ich fie aus der Petriſchule kennen gelernt 
hatte, auf ganz ungemein bisparaten Einflüffen, fo trat, mindeflens 
mas bie oberen Klaſſen betrifft, bei den Schülern des Nigaer 
Gymnoſiums eine gewiſſe Einheitlichfeit des Sinnesweile zutage, 
bie, dem bedeutendſten ſtädtiſchen Zentrum baltiſchen Lebens ent— 
ſprechend, als die ſpezifiſch bürgerlich baltiſche zu bezeichnen wäre. 
Im großen Ganzen glaube ich nicht zu viel zu ſagen mit der 
Behauptung, daß hier neben einer gewiſſen, dem Baltentum nun 
einmal tief eimvurzelnden Neigung zu derbem Lebensgenuß, doch 
ein gefunder fittlicher Geift vorwaltete, welden aufrecht zu erhalten 
ſich namentlich die Söhne des Nigaer Literatentums und Patriziats 
angelegen fein ließen, was augeſichts der zahlreichen Gelegenheiten 
zur Verführung, die gerade das damalige Niga bot, ſchwer genug 
ins Gewicht fiel. Der Geift kameradſchaftlicher Kontrolle, deſſen 
hinſichtlich der eigentlichen Schule bereits Erwähnung geſchehen, 
beichränfte fich eben nicht auf bieje leßtere, und war aud, was 
das Verhalten der Schüler außerhalb derfelben betrifft, nicht ohne 
fegensreihen Einfluß, den Eltern, Vormündern und der Schul- 
obrigfeit, die doch nicht überall ihr wachſames Auge haben fonnten, 
gar mande Sorge abnehmend. Diejen kameradſchaftlichen Geiſt 
zu fördern bezwedte u. a. aud) eine Verbindung unter den Schü: 
lern der oberen Klaſſen, bie freilich nach Schülerart ſich allzufehr 
in Nachãffung ſtudentiſchen Weſens gefiel, doch aber meines Glau— 
bens mehr Gutes als Schlimmes gezeitigt hat. Ein wohlwollender 
geiftlicher Herr, zu den Spigen ber damaligen Nigaer Paſtoren— 
Schaft zähfend, hatte uns, wohl ber eigenen Jugendjahre in jovialer 
Weiſe gedentend, aus freien Stüden eine recht ftattlihe Räum— 
lichkeit zu gebote geitellt, die im alten romantiſchen Riga unweit 
des Herderplapes am Domesgang gelegen, eine ganze Waffen: 
fammer ſtudentiſchen Nüftzeugs in ſich ſchloß, über was alles wir, 
ohne jede Einmiſchung in unfer Tun und Treiben, nad) freiem 
Ermeſſen verfügen fonnten. Sid hier in den Freiftunden, die 
nicht gerabe der häuslichen Arbeit gewidmet waren, nach Herzens: 
luſt auszutummeln, war ein Hochgenuß, freilich nur denjenigen 
Schülern zugänglich, bie von den eigentliden Stiftern in den 
harmlojen Bund aufgenommen waren. Es verfteht fid) wohl von 
ſelbſt und war durdaus der baltischen Art jener Tage entſprechend, 
daß das Politiiche bei unjern Gejprächen fo gut wie gar feine 


75. Pehold, Erinnerungen. u 


Rolle fpielte. Don ben großen Dingen, die ſich im Innern des 
Reichs vorbereiteten und von denen aud) bie beutihe Schuljugend 
Petersburgs nicht ganz unberührt geblieben war, mußten wir 
damals in Riga fo gut wie garnichts; es wurde wohl bisweilen 
mit Sympathie oder Antipathie, wie eben die Beſchaffenheit bes 
Elternhaufes derartiges bedingte, der Jtaliener und ihrer Einheit 
beftrebungen gebacht, doc waren das Ausnahmen und fand nächſt 
ben Burfchenidealen des uns allen ja nahe bevorftehenden Dorpat, 
das Literariſche an erfter Stelle, welches durch das eben damals 
aud von den Schülern feſtlich begangene Scillerfeft wie durch 
einen Leſeabend mit verteilten Nollen, an dem viele der jungen 
Genoſſen ſich beteiligten, ſich eines ziemlich eifrigen Kultus erfreute. 
Ans Ungeſunde grenzend, aber freilich tief in den damaligen bals 
tiſchen Verhältniffen begründet, war ber Feuereifer, mit dem alles, 
mas das Dorpater ſtudentiſche Rorporationsleben betraf, von biefer 
Nigaer Jugend als das A und O menſchlicher Glückſeligkeit ger 
priefen, ja angebetet wurde, lauter Dinge, deren Herrlichfeit ihre 
Antizipation in allmonatlid wiederfehrenden Sympofien fanden, 
welche in irgend einem ber Stadt benachbarten Etabliffenent von 
beionderen eftordnern arrangiert, uns in Tabaksdampf, Burſchen- 
lieb und Bierſeidel ſchon die unfägliche Geligkeit des fünftigen 
Dorpater Treibeng wie eine Fata Morgana vors Auge zauberten. 
Derartige Genüffe waren im Grunde ziemlich befdeibener Art, 
wie fie denn nie mehr als etwa einen Nubel pro Kopf zu ſiehen 
famen. Einer gefeftigteren Natur mögen fie nichts geſchadet haben, 
verhängnisvoll aber dürften fie für den allzu Impreffionabeln und 
den Graltierten allerdings geweien fein, wie mir denn ein Fall 
in trauriger Grinnerung geblieben ift, wo ein reichbegabter Jüng- 
ling, deſſen Verhalten im übrigen auf der Schule ſchon einen 
bedenklichen Defekt inneren Gleichgewichts verriet, als er nad) 
feiner Überfieblung nad) Dorpat feine Hoffnungen, in Bälde ben 
zot:blau:weißen Dedel tragen zu dürfen, enttäufcht fah, notoriſchem 
Irrfinn verfiel. 


* * 
* 


Der mohlmollend patriarchaliihe Charakter des damaligen 
Dorpater Univerfilätsregiments machte ſich ſchon vor der eigent- 
lihen Immatrikulation in den warmen Worten geltend, mit denen 
ber Synbifus Beife uns das Nefultat der Prüfung mitteilte und 
in denen der wohlwollenbe alte Kerr es nicht unterließ, einiges 
an gutem Troſt und Yufmunterung an bie Adreſſe derjenigen mit 


18 25. Peholb, Erinnerungen. 


einfließen zu lailen, denen das Mißgeſchick begegnet war, im Eramen 
einfach durchgefallen zu fein. Weniger jagte mir trog der achtung- 
gebietenden Erjcheinung des damaligen Neftors Bidder die eigent- 
liche Immatrikulation zu; es war furz vorher noch am Kneiptiſch 
der älteren Studenten allzuviel von ber bei biefem Anlaß her: 
fömmlichen Wendung: „Sie treten jet aus dem Leben der Schule 
in die Schule des Lebens“ die Rede geweien, als daß, da ber 
Vaſſus wirklich den Lippen des würbigen Mannes entfchlüpfte, 
ſich meiner nicht ein gewiſſes Unbehagen hätte bemächtigen follen. 

Über zum Denken fam Schreiber diejes in jenen erften Tagen 
nad) glücklich überftandenem Aufnahmeeramen faft garnicht, der 
geftalt dicht hatte die Fhantafie das Schlingpflanzengewirr ihrer 
Vorſiellungen aufidießen laſſen, welde das Geftern und Morgen 
verbargen, um einzig und allein das Heute ober befjer noch ben 
Augenblid in ftrahlendes Hofinungsgrün zu Heiden. Derartige 
Stimmungen find weber vernünftig noch fittlich, fie find einfach 
jugendli, und wohl dem, der fie bei Zeiten zu überwinden ver- 
fteht, ihr Gegengewicht aber follten fie, zumal für den, welden 
in der ungebundenen Stubentenzeit fein fittlihendes Heim, fein 
wirklich bildendes und refpefteinflößendes Philifterium an Stell 
und Ort fhügend zur Eeite iteht, in einem von vornherein jtreng 
geregelten und konſequent fortgeiegten Beſuch ber Hörjäle finden. 

In gewiffer Hinſicht wäre ich zum Theologen nicht ganz un: 
geſchickt gewefen, denn ethiihe und metaphyſiſch-theoſophiſche Pro— 
bleme begleiteten mic) auf Schritt und Tritt, aber die eigentliche 
Frömmigfeit, jo gut ich fie auch vom lieben Elternhaufe her kannte, 
mar nicht meine Sadje. Die jog. Allgemeine Weilgeſchichte hatte 
mid) auf der Schule am meiften angezogen, aber fie fam mir zu 
grengen- und gejeßlos vor, ein Urwald von Baumriefen und 
nieberem Gefträud, wovon lepterem vielleicht, trotz feines befchei- 
denen Wuchies, eine noch wichtigere Rolle in der Ofonomie bes 
Ganzen zufallen mochte, als jenen Riejen, in deren Wipfeln ber 
Sturmwind des Herrn ſauſte. Auch Schopenhauers häßliches 
Wort über das Geſchichtliche, welches man in den Parerga nach— 
lejen mag, imponierte dem Halben Knaben weit über Gebühr. 
Ein Zufall Hatte mir Roſcher's vielgerühmtes Buch in die Hände 
geipielt; hier ſchien der Menſch in feiner Eigenſchaft als politiſches 
Weſen doch quafi dem Geſetz unterworfen und obendrein noch 
den hiſtoriſchen, und Gedichte war ja immer mein Stedenpferd 
gewejen. Im Tert über dem Strich das Geſetz, und jei es auch 
zuvörderſt nur das wirticaftliche, in den Anmerkungen unter dem 


25. Vehold, Geinnerungen. 1 


Strich, mie ein organiſch dem Leiter verbundenes Feuilleton, bie 
hiſtoriſchen Belege, ober wenn ein Bild geftattet ift: dort ber archi⸗ 
teftonifch vollendete Aufbau, bier das rohe Geftein, aber farben« 
prächtig und in feiner Mannigfaltigfeit unſäglich anziehend. So 
ungefähr urteilte das Rnabenverftändnis. Zudem war die politiiche 
Dfonomie ja das A und O ber Zeit, man fonnte an ihrer Hanb 
mitreden, ja vielleicht gar bereinft mittun in Geftaltung der großen 
Dinge, von denen mid) während meines Petersburger Aufenthalts 
ein leiſes Ahnen überfommen. Wie oft hatte ich den Sag gelefen, 
die Jurisprubenz lehre lebiglid) das Wie, die politiihe Dfonomie 
erft das Warum, und der jugendliche Hochmut will num einmal 
nichts vom Techniſchen um feiner jelbft willen wiſſen, denn hinter 
diefem Techniſchen ſteckt doch immer noch etwas anderes, das 
wißfenswerter und gewichtiger ift, wie hinter bem Mafchinenbau bie 
Mechanik und hinter diefer wiederum Phufit und Mathematik. 
Kurzum, ich war in der Wahl meines Studiums allmählich ſchlüſſig 
geworden und ließ mid) als Studiofus der politiichen Ofonomie, 
wie es in der Matrikel hieß, oder der Kameralia, wie das Publikum 
die Sache zu nennen beliebte, inffribieren, ſpäterer Entſcheidung 
vorbehaltend, ob ich denn nicht doch zum Studium ber Geſchichte 
übergehen folle. Die Profeffur für ben einftweilen von mir 
gewählten Wiſſenszweig befand fi damals in den Händen von 
Theodor Graß, einer fehr achtbaren und fehr beadhtenswerten 
Perſoönlichkeit, die, wie mich bünft, Tange nicht nach Gebühr von 
unjrer heimifchen Preſſe gewürdigt worden ift und auf die deshalb 
geftattet fei, hier etivas ausführlicher einzugehen. 

Diefer außerordentliche Profeffor der Rameral:, Finanz: und 
Handelswiſſenſchaft, wie die etwas zopfige Bezeihnung im afade- 
mifchen Kalender lautete, hatte mit nichten eine im engeren Sinne 
atademifche Karriere hinter fi) und war erft in reiferem Lebens: 
alter zum akademiſchen Lehramt gelangt; ob er etwas nennens- 
wertes, ober überhaupt etwas gejchrieben, weiß id) nicht, und den 
noch glaube id, daß er das Zeug zu einem ganz vortrefflichen 
atademiſchen Lehrer in fi trug und unter günftigeren Verhält: 
niffen, namentlich bei größerer Anerkennung feitens der Studenten 
auch trog feiner vorgerüdten Jahre ein folder geworden wäre. 
Einer angefehenen Nigaer Familie entftammend und nicht ohne 
Glüdsgüter hatte ſich Graß nad Vollendung feiner Studien und 
langandauerndem Aufenthalt im europäifchen Weiten, zumal auch 
in England, praktiſchen Zebensaufgaben, wie namentlich der Bewirt: 
ſchaftung größerer Landgüter zugewendet, wobei Mißerfolge, die 

Baltife Monatsfchift 1905, Heft 2. 4 


150 25. Pegold, Erinnerungen. 


mohl zu großem Teil ihren Orunb in dem bei ihm ganz ungemein 
entwidelten philanthropiſchen Sinn und ber Hinneigung für ein 
ſchlägige Erperimente gehabt haben mochten, ihn ſchließlich veran- 
laßten, biefem Tätigleitögebiet Valet zu fagen und es mit dem 
eines afabemifchen Lehrers zu vertaufchen, deſſen wiſſenſchaftlicher 
Aufgabe Graß eine ſtark ausgefprocden filtliche beigefellte. Schon 
ber breitfrämpige Hut und der einfache Schnitt der Kleidung gaben 
ihm etwas vom Quäfer, welcher Eindrud durch ein gewiſſes Sid; 
befcheiden im Verkehr, das bisweilen an Befangenheit grenzen 
mochte, noch gefteigert wurde. Die Studenten erzählten fih, Grab 
habe einmal im Kolleg als bie eigentliche Aufgabe der politiihen 
Okonomie bie Verwirklihung des Neiches Gottes auf Erden 
bezeichnet, und es iſt wohl moͤglich, daß er etwas ähnliches gejagt 
hat, denn die Richtung, die er in jeiner Wiſſenſchaft vertrat, war 
etwa Die, welche heutzutage als die fatheder-fozialiftiiche ober beſſer 
noch als die chriſtlich-ſoziale bezeichnet wird, eine Richlung, die 
bamal® unter ber breiten Menge, zumal aber unter ber fo fehr 
vom Schlagwort beftimmten Jugend, um fo weniger Adepten finden 
tonnte, als die Politit des zweiten napoleoniihen Raiferreichs den 
der alten engliihen Schule entnommenen Grundſatz bes laigsez 
faire, laissez aller weit über Deutfchland und Rußland hin vers 
breitet hatte. Das damals ganz in Vergefienheit geratene, feit 
den achtziger Jahren des vorigen Säfulums wiederum mit fo 
großem Eifer gelefene und befolgte Buch von Friedrich Lift über 
das nationale Syflem in ber politiihen Ofonomie bildete recht 
eigentlich den Ausgangspunkt von Graß' politiich + öfonomifcher 
Anſchauungsweiſe, und er bemühte ſich, wie mir ſcheint meiflens 
vergebens, feine Schüler zum Studium gerade diefes Buches anzu 
leiten. Was Graß in zweiter Linie anjtrebte, war tunlicjite 
Gegenftänblichkeit, das Beſtreben feine Zuhörer quafi zum Sehen 
der wirtſchaftlichen Prozeſſe und Vermwaltungsafte zu bringen. 
Spftematif, wie fie nad) Adolph Wagners Vorgange heute noch jo 
fehr im Schwange ift, eine Methode, die ſicherlich aud die Fehler 
ihrer Tugenden hat, war nicht nad) Graf’ Geſchmack und entſprach 
durchaus nicht feiner Geiftesanlage, die dem Schematifieren und 
dem Runftwort in Art des faritativen Syſtems uſw. durchaus 
abhold war. Diefer Abneigung gegen das Spftematifieren und 
Schematifieren mochte es zum Teil zuzuſchreiben fein, dab es Graß 
nur felten fertig friegte, ben zu behandelnden Stoff felbft in einer 
recht ausfönmmlich zugemelfenen Zeit aud wirklich zu erlebigen. 
In der Finanzwiſſenſchaft gelangte man etwa nur bis zur Steuer: 


25. Pegolb, Grinmerungen. 151 


lehre influfive und befam vom Staatsfdhuldenwefen, das ‘ber 
überaus gemiljenhafte Graß aller Wahrfcheinlichfeit nad) befonberer 
Betrachtung vorbehalten Hatte, nichts zu hören, dafür aber waren 
die ungemein belaillierten Erxkurſe über bie verfchiedenften Ver⸗ 
maltungsmaterien, zu denen das Napitel von ben Staatsausgaben 
Anlaß gab, nicht nur in des Wortes üblicher Bedeutung ganz 
ungemein belehrend, fie zeigten einem bie Dinge auch in einer 
Weife, wie das jonft vom Katheber aus nicht eben zu geichehen 
pflegt; und wenn Graß u. a. über das Gefängnisweien, das er 
in vieler Herren Länder durch eigene Anjchauung genau fennen 
gelernt und beifen ganze Literatur er beherrichte, ſprach, jo mochte 
es dem Zuhörer wohl zu Mute fein, als werde er von einem ebel 
und human gefinnten Führer von Zelle zu Zelle geführt und über 
die piuchilche Beichaffenheit jedes einzelnen Werbrechers wie über 
die etwaigen Mittel zu feiner Beſſerung unterrichtet. Was der 
Wirfung jener jo außerordentlich gewiſſenhaften und einem warmen 
Herzen entquellenden Lehrtätigkeit von Graß ganz wefentlich hin 
bernd im Wege ftand, war ein in dem Grade wohl felten anzu: 
treffender Diangel an Nedegewandtheit, der zum Teil auf feine 
natürlihe Schüchternheit zurüdzuführen war, zum Teil aber auch 
aus einer übertriebenen Geiifienhaftigfeit refultierte, die allzu 
ängftlih darauf bedacht war, daß jedes Mort den Begriff auch 
vollftändig dede und zugleich dem Werfländuis der Zuhörer anger 
paßt jei. Man fonnte von diefem Profeſſor wie von feinem 
andern vorausfegen, daß er ſich gründlich, für feine Vorträge prä 
pariere, und dennoch verging felten einer ohne den peinlichen 
Moment, wo er inmitten einer langen Periode innehielt, um fie 
mit der ftereotypen Wendung: „Meine Herren, ich Habe den Faden 
verloren und muß von neuem anheben“, auch wirklich aufs neue 
zu beginnen. Es war bas wohl der wefentliche Grund, weshalb 
fein Kolleg von vielen gemieden und belacht wurde, die ungleich 
feichterer Belehrung, wenn fie nur fliekend und ohne Stoden dem 
Munde bes Profefiors entquoll, das höchſte Lob zu zollen nicht 
unterliegen. Anlählid des ſoeben berührten Defelts von Theodor 
Groß fei Hier einer Spene gedacht, die ein wenig an das vor- 
erwähnte Beijpiel fhülerhaften Selfgovernments im Rigaer Gym: 
nafium erinnert und bazu das Pifante hat, daß ber hier bie 
Lofalpolizei im öffentlichen Intereſſe Ausübende jenes rejoluten 
Gymnaſiaſten jüngerer Bruder war, ber fi, wie hier hinzugefügt 
fei, im fpäteren Xeben durd ein hervorragendes Buch über die 
bäuerlihen Verhältniffe Rußlands befannt gemacht hat, Auf ber 
ge 


182 Xp: Vepofb, Eritmerungen. 


etſten Bank von Graf’ Auditorium pflegte ein junger Pole ober 
Rufe Platz zu nehmen, wir mußten felbft nicht welcher Nationalität 
er eigentlich fei, benn er ſprach nur franzöſiſch, eine Sprache, bie, 
nebenbei bemerkt, in bem alten Dorpat nur von menigen ver= 
ftanben, geſchweige denn gefprochen wurde. Diefem jungen, elegant 
gelleideten Herrchen, von dem es hieß, daß er ein brillanter 
Poſtolenſchüũtze fei, fchienen nun bes guten alten Graß' Wieder: 
holungen von bereits Gefagtem fehr auf die Nerven zu gehen und 
er bediente fi, um feinem Unmillen darüber Ausdrud zu geben, 
eines nicht eben ſehr rüdjichtsvollen Mittels, welches barin beftand, 
dah er das Gummiband feiner für die Rollegenhefte beftimmten 
Mappe in gewifien Intervallen ſtramm an fich zog, um es dann 
wieder auf ben harten Dedel zurüdjchnellen zu laſſen, ein Zeit: 
vertreib, der, wie ſich leicht benfen läßt, unfer aller Mißbilligung 
und dann und wann einen verlegenen, firafenden Bli des guten 
Brofeffors zur Folge hatte. Aber die Nemefis follte zum Glück 
den Frevler fofort ereilen. Raum hatte Graß den Hörſaal ver 
laſſen, als auch ſchon ber Meine K. mit energiſchem Schritt auf 
ben übermütigen Geden zuging und ihm in berber deutfcher Rebe 
laut und allen verncehmbar das Flegelhafte feiner Handlungsweiſe 
vorhielt. Eine Forderung auf Piftolen war natürlich die Folge, 
ob fie wirklich zum Duell geführt, erinnere ich mic nicht mehr, 
auf jeden Fall war ber Übeltäter ſeildem aus Graß' Auditorium 
jpurlos verſchwunden und zugleich ein warnendes Beifpiel ftatuiert 
für alle, die, mit ben Dorpater Bräuchen unbefannt, ſich fünftig 
ähnliches hätten herausnehmen fönnen. 

Es muß für den guten Graf eine überaus betrübende Wahr: 
nehmung gemwefen fein, troß rebfichiten Bemühens feine irgend 
nennenswerte Zahl von Schülern um ſich verfammeln zu können, 
denn — und das war ber eigentliche Kern und Stern biejes hoch- 
achtbaren Mannes — er glaubte wirflih an feine Sache, eine 
Sache, die leider Gottes jo oft lediglich Gedanlenequilibriſtil oder 
Mittel in der Hand des Parteiftrebertums if. Graf war durch 
und durch Balte, die große Politit zog ihn wenig an und mag 
für feine weſentlich innerlihe Natur und zu Gewiſſensſtrupeln 
neigende Neflerion etwas beängftigenbes gehabt Haben. Defto feiter 
baftete er am Kreiſe derjenigen gemeinnügigen Aufgaben, bie bas 
Selfgovernment in Provinz, Landſchaft, Gemeinde zu erfüllen 
vermag und nicht mur techniſch wohl ausgerüftete, ſondern vor 
allem auch human gefinnte Selbftverwaltungsmänner für bie lofalen 
Aufgaben in Stadt und Land heranzubilden, mochte ihm für die 





79. Pehold, Erinnerungen. 153 


baltischen Lande als eine um fo gewichtigere Miffion erjcheinen, 
als es hier die mannigfaltigen Antagonismen zu überwinden galt, 
bie der damals noch im großen Ganzen ziemlich latente Raſſen— 
gegenjag bedingte. Es lag im Weien ber Sache, daß einem ber 
artigen Streben perjönlie Fühlungsnahme zwischen Lehrer und 
Schüler in erfter Linie als wünſchenswert erjdeinen mußte, und 
Graß unterließ nicht, eine ſolche nach Kräften anzubahnen. In 
feinen kameraliſtiſchen Praktitum, wo es fid) vorzugsweile um 
volfswirtfchaftlihe Fragen der baltifchen Heimat handelte, fand er 
Gelegenheit, am gemütlichen Teeliſch feinen Studenten aud) innerlich 
näher zu treten, und mandjen von ihnen hat er nicht felten auf 
feiner ſtudentiſchen Burg jelbit aufgeiuht. Cs war viel Lebens: 
ernjt, viel Liebe und Treue in diefem Dann, der doch nur felten 
Anerfennung fand und an dem ein großer Teil derjenigen, denen 
er mit jo großem Wohlwollen begegnete, doch mit einem menn: 
gleich gutmütigen Lächeln zur Tagesordnung überzugehen pflegte. 
So weit ic) ermeſſen fann, waren es nur jehr wenige und unter 
ihnen vor allem der obenerwähnte K., die Graß im ipäteren Leben 
die ſchuldige Dankbarkeit bewahrt haben. 

Es gab eine Zeit, wo man dem alten Dorpat nachſagte, 
eine vortrefflihe kameraliſtiſche Schule gemacht zu haben, und neben 
Philologen und Medizinern waren es vorzugsweile Rameralifien, 
die, von ruffifchen Univerfitäten dahin gefhidt, dort ihre Ausbils 
bung vollendeten. Theodor Grab aber fann als der legte eigent: 
liche Kameralift Dorpats gelten, denn dieſe Richtung mit ihrer 
ins einzelnſte gehenden Betrachtung der konkreten Ericheinungswelt 
war body ſehr verjchieden von der Behandlungsweiſe fpäterer 
Dorpater Dfonomiften. Ein weſentliches Bindeglied, das Grab 
mit manden unter den legteren verband und ihn von den älteren 
Rameraliften unterjchied, war Das lebendige Verjtändnis für den 
geſchichtlichen Entwidlungsgang der Dinge, ein Verftändnie, das 
ihn, bei aller jonftigen Verſchiedenheit, Roſcher und feiner Schule 
in gewillem Sinne näherte. 


Gine Unterredung mit 8. P. Bobjedenoszem im 3. 1985. 





3" Jahre 1885 Hatte ein baltijher Edelmann eine Unterrebung 
mit 8. P. Pobjedonoszem, dem Profureur des Heil. Synods, 
über eine frage ber Gemiflensfreiheit. Den Ausgangspunft 
bildete die Lage der SKonvertiten, doch wurden im Laufe des 
Geſpräches aud) allerlei andre Materien berührt. Die Unter 
tebung wurde unmittelbar danach ſchriftlich in ruſſiſcher Sprache 
firiert und ift dann natürlich auch andren an ber Frage interej: 
fierten Kreiſen in Abichriften zugänglid geworden. Wir teilen 
fie nachftehend in einer wortgetrenen Überjegung mit. 
* * 
* 

3. Ich habe die Ehre mid) Ew. hohen Erzellenz vorzuftellen 
und Sie zu bitten, Ihre Aufmerffamfeit geneigteft auf unfer 
bebrängtes Gebiet zu richten. Durd die Aufhebung des Aller: 
höchften Befehls vom 19. März 1865 ift eine jchwierige Lage 
geihaffen, vornehmlich für unfre Bevölterung, die in den legten 
20 Jahren fih gewöhnt hat an den Befiß der Gewifjensfreiheit, 
die feit altersher auf der Juſel Oeſel wie in allen Baltiſchen 
Gouvernements bejtand. Wir find bereits einmal in einer ähn- 
lichen bedrängten Lage geweſen, haben die Sittenlofigfeit gefehen, 
die wilden Ehen, den Unglauben, die eine unausbleibliche Folge 
nechtung ber Gewiſſen find. Alles das haben wir in ben 
ger Jahren unfres Jahrhunderts durchlebt, bis dem zulept 
durch ben Allerhöchiten Befehl vom 19. März 1865 ein Ende 
gemadjt wurde, und darum wende ich mid an Ew. hohe Ercellenz 
mit der ergebenflen Bitte, uns Ihre einflußreihe Mitwirtung zu 
gewähren zur Befeitigung des Gewiſſenszwanges, der durch die 
Aufhebung bes Alerhöchiten Befehls vom 19. März 1965 wieder 
eingeführt it. 








Eine Untersedung mit R. P. Pobjebonosgem. 155 


P. Im dieſer Hinfiht fann ich Ihnen feinerlei Hoffnungen 
machen, weil durch die Aufhebung des Alterhöchiten Befehls vom 
19. März 1865 nur das allgemeine Neichsgefeg wiederhergeftellt 
it, das für ganz Rußland die Einforderung von Reverſalen bei 
Schließung gemifchter Chen feitiegt, und weil beshalb für die 
Valtiſchen Gouvernements feine Ausnahme gemacht werden fann. 
Endlich ijt dieſes Geſetz ein kirchliches, das auf dem Beſchluß eines 
oefumeniichen Konzils beruht, jo daß die weltliche Gewalt es auf⸗ 
zuheben ober abzuändern fein Recht hat. 

3. Aber ſchwerlich Hat doch das oefumeniide Konzil eine 
Beitimmung über Neverfale bei Schliefung gemifchter Chen 
getroffen ? 

P. Nun, nit über Neverfale, aber es hat die Chen mit 
Andersgläubigen verboten, wie ja aud) bie fatholifdje Kirche ſoiche 
Ehen night zuläßt. 

3. Dann verbieten Sie doch die Schließung gemifchter Chen, 
wenn ihre Zulafiung, fei es aud) mit Reverſalen, eine tatſächliche 
Verlegung der Beftimmungen des vefumenijhen Konzils bedeutet. 

P. Nun, das kann man doch im unfrer Zeit nicht mehr 
tun, aber mögen doch die Lutheraner feine Nechtgläubigen mehr 
heiraten. Überhaupt liegt gar fein Grund vor, ſich fo aufzuregen- 
die Bewegung zur Orthodorie ijt eine temporäre Bewegung, fie 
wird von jelbft wieder nachlaſſen. Die Leute aus dem einfachen 
Volk gehen ja nicht deshalb von einem Glauben zum andern über, 
weil jie bie Dogmen ber einen ober ber andern Lehre höher 
ſchätzen. Es ift eine fulturelle Erſcheinung, bier wirfen pſychiſche 
Einflüſſe mit, der Reiz im der proteftantiihen Kirche Hymnen zu 
fingen u. dal. _ 

3. Da ic) feine religiöſen Fragen berühren möchte, jo will 
id) nicht darüber rechten, was etwa vorzuziehen wäre, Hymnen zu 
fingen, wie Sie fid) auszubrüden geruhten, oder — aber id) erlaube 
mir noch einmal auf die bejtehende Tatſache hinzuweiſen, daß die 
dur Orthoborie Übergetretenen ihrem Wunſche Ausdruck gegeben 
haben und noch geben, wieder zur evangelijchen Kirche zurliczu- 
tehren, und daß die Unmöglichkeit ihren Wunfch zu befriedigen 
jenen traurigen Zuftand ber bebrängten Gewiſſen und bes zer— 
rütteten Familienlebens erzeugt, der in jeder Hinficht verderblich 
it. Zudem iſt das Recht der Gewifjensfreiheit ein altes Net 
des Yaltiihen Gebiets, 6 beitand fihen vor feiner Vereinigung 
mit Rußland, und wenn id auch weiß, daß man uns jeden Hin 








156 Eine Unterrebung mit X. P. Pobjebonoszem. 


weis auf die Konditionen, unter denen die Einverleibung Oeſels 
ftattfand, zum Vorwurf macht, fo ift es doch unzweifelhaft, daß 
mir nicht irgendwie vom ungefähr ruſſiſche Untertanen geworben 
find, fondern daß dieſes auf Grund bes Nyftädter Friedesvertrages 
gefchehen ift, und daher berufe ich mic auf jene durch eidliches 
Verfpreden Naifer Peters d. Gr. befräftigten Beftimmungen, bie 
ſchon vor 160 Jahren dem Baltiſchen Gebiet das Recht der 
Gewiijensfreiheit gewährleiiteten, ein Recht, das fie auch während 
der verjloffenen Regierung genoffen haben. Wenn in einem wohl: 
geordneten Staate die Gefege durch geheime Befehle nicht aufge: 
hoben werden können, jo liegt nunmehr, wo dieſer Befehl bejeitigt 
ift, feinerlei Hindernis vor, jenes alte Necht der Gewiflensfreiheit 
wieberherzuftellen, jonft erjcheint die letzte Aufhebung als eine 
ebenfo verderbllche Maßregel, wie das einſt die Aufhebung des 
Edilts von Nantes war. 

P. Was war nicht alles vor 160 Jahren! In den fetten 
35 Jahren ift vieles Unzuträgliche gefhehen; man fann das nicht 
alles erhalten, fondern muß es im Gegenteil befeitigen. Der 
Allerhöchſte Befehl vom 19. März 1865 war eine Kränfung für 
ganz Rußland. Sie müſſen fi daran erinnern, daß Sie unauf 
löslich zu Rußland gehören, und daß in Rußland die orthodore 
Kirche die herrſchende iſt. Der Adel und die Pajtoren verteidigen 
den lutheriichen Glauben mit Fanatismus, treiben aus politiichen 
Gründen Propaganda und verfolgen janatiih ben orihoboren 
Glauben. Ich erinnere mid), daß, als id) vor einigen Jahren in 
Hapſal war, der dortige Paſtor, ein Idiot, ein totaler Idiot, vom 
orthodoren Glauben als einem Hundeglauben jprad). 

3. Es ſcheint mir nicht glaublih, daß irgend ein Luther 
raner, geſchweige denn ein Paltor, fi) derartig über einen 
chriſtlichen Glauben Hat äußern fönnen, weil das dem ganzen 
Geiſte des Protejtantismus wiberfpricht, ber ſich durch laubens- 
duldung auszeichnet. Aber jelbjt wenn auch irgend ein Paflor, 
wie Sie jelbjt fagen, ein totaler Jdiot, ſich einen folhen Ausfall 
erlaubt haben jollte, ſo kann man doch aus der Handlung eines 
Einzelnen nicht die Schlußfolgerung ziehen, dab Fanatismus und 
Verfolgung der Orthoboren in den Valtiſchen Gouvernements für 
den Adel darakterijtiich find. Ich kann Ihnen verfidern, daß in 
den legten 20 Jahren auf der Injel Dejel in kirchlicher Hinſicht 
volljtändige Ruhe geherricht hat. Beim Abſchluß ber Arrende— 
Tontrafte auf den ber Nitterichaft gehörigen Gütern ift es 3. B. 
niemand in den Sinn gefommen, banad) zu fragen, welden 


Eine Unterredung mit R. P. Pobjebonoszem. 157 


Glaubens die Pächter jeien. Würde der Adel mit Fanatismus 
und aus politifhen Gründen das Luthertum verteidigen, fo würbe 
er fiherlich einen Unterſchied zwiſchen orthodoren und lutherischen 
Pächlern machen. Indeſſen fann id) Ihnen verfichern, daß id) 
pofitiv nicht weiß, wie viele von den bäuerlichen Arrendatoren 
zum einen ober zum anbern Vefenntnis gehören; unb aud) auf 
den Privatgütern verhält man fi) ebenjo. Auch von meinem 
eigenen Gute weiß ich nicht, wie viele von ben 48 Pächtern 
Lutheraner und wie viele Orthodore find. 

P. Sie ſprechen von ſich und ich glaube Ihnen vollfommen; 
aber nicht alle verhalten fid) jo. Mir find auch aus Defel Fülle 
von Verfolgung zur Orthodorie übergetretener Perſonen befannt. 

3. Ich bin nicht beifer als andre, und wenn id) in meinem 
Namen jprad), fo geihah das deshalb, weil ich der Verwaltung 
der ritterſchaftlichen Güter nahe jtehe und mir alfo, wenn die 
Nitterichaft einen Unterſchied zwiſchen den bäuerlichen Pächtern 
nad ihrem Glaubensbefenntnis machte, ſolches befannt fein müßte. 
Was aber die Fälle von Verfolgung Rechtgläubiger anlangt, fo 
lann ich Ihnen kühnlich verfichern, daß das eine abſcheuliche Vers 
lãumdung it. Zeigen Cie mir einen Fall. Ich wiederhole Ew. 
Ere,, es iſt eine Verläumdung, wenn man Ihnen von joldyen 
Füllen berichtet. Ich weiß, daß Klagen vorgekommen find, aber 
diefe Klagen find ebenfo unbegründet wie z. B. die Klage des 
orthodoren Priejters, der 3 Werft von mir wohnt, daß angeblich 
der Paſtor des Kirdipiels, in dem mein Gut liegt, zwei zur ortho- 
doren Kirche gehörige Perfonen getraut habe. Der Bräutigam 
wie die Braut hatten dem Paſtor fchriftliche Zeugnifie von zwei 
verſchiedenen Paftoren vorgeitellt, daß fie Kutheraner feien, und 
deshalb hat er fie auch getraut; folglich iſt diefer Paſtor ganz 
im Recht. Ich begreife aber, daß gerade dieſer Fall dem ortho— 
doren Priejter äußerft unangenehm war, weil der Bräutigam vor 
feinem Übertritt zum Luthertum Lehrer an der orthodoren Schule 
war. Wenn wir uns jo fanatiid) mit der Propaganda beichäf- 
tigten, jo müßte diefer Lehrer belohnt werden. Indeſſen weiß ich 
pofitiv nit, wo dieſer zum Luthertum übergetretene Lehrer 
geblieben iſt. 

P. Nun ja, auch zur Orthodorie treten Lutheraner aus 
innerer Überzeugung, aber verlangen, daß dort eine Gmonatliche 
Friſt zur Vorbereitung eingeführt werde, das ift unnüg. Ich habe 
auch Tiefendaufen und Schulg — Sie haben doch dort bei ſich 
fo einen Superintendenten, nicht? — davon geiproden. Würde 


188 Eine Unterrebung mit R. P. Bobjebonoszem. 


man uns beide jept über die Dogmen eraminieren, weiß Gott, 
welche Nummer man uns ftellen müßte. Cs genügt, baf fie ihren 
Wunsch zum Übertritt tundgeben, nun, fo hindert fie nicht. Wenn 
jemand von der Orthodorie zum Luthertum übergeht, jo verfolgen 
wir ihn ja aud) nicht. Wen verfolgen wir denn? Niemand ver- 
folgen wir dafür, daß er übertritt. 

3. Aber Sie verfolgen bie Paſtoren, die jolde zum Abend: 
mahl annehmen ober ihre Kinder taufen. 

P. Ya, die Pajtoren muß man verfolgen, weil fie damit 
eine gefegmwibrige Handlung begegen. 

3. Wie fönnen fie denn von der Orthodorie zum Luthertum 
übertreten, wenn Sie dafür den Paftor verfolgen, wenn Sie ihnen 
die Vröglichleit nehmen zum Abendmahl zu gehen. Darin liegt ja 
das ganze Elend. 

P. Ja, das weiß ih num nicht, wie fie da übertreten follen. 
Mögen fie in die Iutherifche Kirche gehen, wenn ihnen das gefällt; 
aber ihnen den Übertritt geitatten, das fönnen wir nicht. Da hat 
der General Nichter mir zwei Bittfchriften aus dem Wendenſchen 
Kreiſe übergeben wegen Erlaubnis zur lutheriſchen Kirche zurüd- 
zufehren. Gott weiß, wer die dort gejchrieben hat; foriht man 
nad), fo erweilt es fi, daß die Vittjteller von einer Eingabe 
ihrer Bitte nichts willen. Aber einerlei, felbjt wenn es wirkliche 
Bitten wären, fo iſt es durdaus unmöglich, ihnen ben Übertritt 
vor ganz Rußland zu gejtatten. Erbarmen Sie fid, was wäre 
das für ein Veilpiel, da würdet ihr alle übertreten wollen. Wenn 
Sie aber dort Unglauben befürchten, jo haben Sie ja aud) Sekten, 
die Baptiſten ulm. Das beweift, daß die lutheriihe Kirche bie 
religiöſen Bebürfnifie nicht befriedigt. 

3. Auf Dejel gibt es Gott fei Danf weder VBaptiften noch 
andre Selten; baß aber die Geftenbildung ein Beweis für die 
Nicytbefriedigung ber religiöfen Bedürfniffe fei, läßt ſich doch nicht 
fo unbedingt behaupten; auch in ber orthodoren Kirche gibt es 
ja den Raslol und verjchiebene Selten, wie die Sfopzen, bie 
Springer uſw. 

P. Für mid iſt es volllommen verftändlich, weshalb der 
Abel den lutheriſchen Glauben jo hartnädig verteidigt, er bilbet 
für Sie ein Kulturelement, Sie wünſchen die Bevölferung als ein 
Ganzes, ungerteilt zu erhalten. In Ihnen iſt viel Gutes, das 
muß man anerfennen; Sie figen alle auf Ihrer Scholle und Sie 
verteidigen Ihre Rechte und Sitten, das verdient alle Achtung. 
Aber immerhin bilden Sie einen Zeil Rußlands und deshalb 


Eine Unterrebung mit K. P. Pobjedonozem. 159 


mũſſen bei Ihnen dieſelben Einrichtungen jein wie im übrigen 
Rußland. Die Baltiihen Provinzen bilden ja eine vollftändige 
Anomalie, wie fie in Europa nirgends eriftiert. Gehen Sie, was 
Frankreih, was Preußen mit den einverleibten Teilen gemacht 
haben, fie haben alle Sondergefege vernichtet und alle Provinzen 
unter dem ganzen Stante gemeinfamen Gejegen vereinigt. Bei 
Ihnen aber gelten unendlidy verfchiedene Sekten, jede Stadt hat 
ihr bejonberes Gefeg. Der Staat darf ſolch ein Amalgam von 
Gejegen nicht dulden, es ift notwendig das zu befeitigen. Ein 
Sejeg muß für ganz Rußland gelten und für alle jeine Gebiete. 

3. Preußen hat den Staat in der Tat dur allgemeine 
ſtaatliche Gefege geeinigt, aber das hat ja ſchon längſt Geltung 
auch bezüglich des Baltiſchen Gebiets. Die Geſetze von ſiaatlicher 
Bedeutung, wie über die Steuern, die Wehrpflicht, die Gouver- 
nementsregierungen uſw., find in den Baltiihen Provinzen dier 
felben, wie in ben übrigen Gouvernements. Nur die Gejege, die 
eine rein lofale Bedeutung Haben und die Gelbitverwaltung 
betreffen, unterideiden fi ein wenig, gemäß der geſchichllichen 
Entwidlung der einzelnen Orte, jowohl von einander wie von 
denen der inneren Couvernements. Und ſolche Unterichiede finden 
ſich auch in Preußen, auf das Sie fid berufen. Die Kreis: und 
Provinzialinftitutionen in Oftpreußen find ganz andere als die in 
Hannover, und von beiden unterſcheiden ſich wiederum die in der 
Rheinprovinz und in Heſſen-Naſſau. Indem wir Die in lofalen 
Verhältniffen und in ber geſchichtlichen Entwidlung begründeten 
Befonderheiten der Gejege, die nur eine lofale Bedeutung ohne 
ieden Schaden für ben Staat befigen, zu erhalten wünſchen, 
erfennen wir vollfommen an die Untrennbarfeit vom Reiche. Und 
diefe Verbindung wurde audy ganz richtig geftärkt, als unter Raijer 
Nikolai Pawlowitid die beiten Kräfte der Baltiſchen Provinzen 
in den Staatsdienft gezogen wurden. Wenn dieje Perfonen dann 
in die Heimat zurüdfehrten, fo hielten fie die Verbindung mit den 
Staatsinftitutionen aufrecht, fie vereinigten uns mit dem Staat, 
indem jie beilen gedachten, daß fie mit ihrem Blut und ihrer 
Arbeit im Dienfte des Herrſchers und des Staates gejtanden 
hatten. Sept eriftiert fold) eine vereinigende Verbindung nicht — 
fie iſt geſchwunden. Das hat I. Samarin bewirkt, indem er einen 
durch nichts gerechtfertigten Yutagonismus hervorrief. 

2. Je nun, Samarin, — wenn nidt er, dann hätte eben 
ein andrer die Frage angeregt, weil fie auf einmal eine zeitgemäße 
geworben war. Cie willen felbft, dab die Nationalitätsfrage in 


100 ine Unterrebung mit R. P. Pobjebonosjem. 


ganz Europa plöglich ein andres Ausjehen erhielt, fo hat fie ſich 
aud im Baltifhen Gebiet zugefpigt. Cie ſprechen von der Politik 
des Kaiſers Nikolai Pawlowitſch — fie ift heute nicht anwendbar. 
Nehmen Sie z. B. die Bauernfrage, fie hat ja alles im Staate 
verändert; bei Ihnen jedoch, ba figt fie allein noch mit bem feus 
dalen Recht und man tut mit den Bauern, mas man will. Über 
haupt herrſchen bei Ihnen vollitändig der Adel und die Paſtoren. 

3. Der Übel herrſcht nicht, aber er Hat tatſächlich ben 
vorwiegenden Einfluß in allen Fragen der Selbitverwaltung bes 
Gebiets, und mir fcheint in einem fonjervativen Staate joll es 
aud) fo fein. Nehmen Sie dem Adel diefen vorwiegenden Einfluß, 
wem werden Sie ihn denn einräumen? Bürger in weiterem 
Sinne gibt es da nicht, mit Ausnahme ber „Bürger“ in den 
Städten Riga und Reval, teils auch in Mitau und Dorpat. 
Wollen Sie denen den vorwiegenden Einfluß geben? 

P. Ad was „Bürger“, ber vorwiegende Einfluß foll beim 
Adel bleiben, jedoch nicht bie Herrſchaft. Bei Ihnen herrſcht der 
Adel, das iſt die Herrihaft eines Standes über alle andren. 
Gewählte Richter, Abminiftration, Polizei, alles ift in den Händen 
des Abels, und fo erhält eine ftänbifche Einmütigfeit die Herrichaft 
der jtändiichen Intereſſen überall aufrecht, und dies eben muß 
unbedingt vernichtet werden. Alles das muß in bie Hände ber 
Regierung übergehen. 

3. Wenn Sie es für notwendig halten, ben vorwiegenden 
Einfluß bes Adels aufrecht zu erhalten, fo wird es unumgänglich 
fein, ihm bie erfte Stimme bei allen Wahlen zu fihern; bie An— 
wendung bes MWahlprinzips bei allen Inftitutionen ift aber mit 
ihnen allen fo verwachſen, daß man es jchwerlid wird aufgeben 
Tonnen. Die Vernichtung alles Bejtehenden wird ber allgemeinen 
Verfolgung entipredhen, die man jept über die Eingeborenen des 
Baltifchen Gebiets ergehen läßt. 

P. Wo ift die Verfolgung, ich bitte Cie? Da hat ber 
eine dies, ber andre das getan — id) würde fie entlailen, aber 
fie bleiben im Dienft, niemand verfolgt fie. Um jedoch zu der 
Frage zurüdzufehren, von der wir ausgingen, fo wiederhole ich, 
daß es nicht möglich ift, das Gefeg von dem Reverſal vor ber 
Trauung aufzuheben, das wäre eine Beleidigung für ganz Ruß— 
land. Es jollte dod) leicht erſcheinen den Kalender abzuändern, 
den alten Stil durch den neuen zu erfegen, aber willen Cie, das 
fönnte eine allgemeine Revolution hervorrufen. So kann aud) die 
Verlegung diejes Geſehes ebenjolhe Folgen haben. Es beruft 


ine Unterrebung mit 8. P. Pobjebonatzem. 181 


auf der Beftimmung eines oekumeniſchen Konzils und muß feine 
volle Geltung haben, da aud) überhaupt alle Gelege für alle 
Gebiete Rußlands die gleichen fein müſſen. 

3. Alfo, Ercellenz, Sie einverleiben bie Dafe Merw, ver 
fprechen ihr Wahrung der Befenntnisfreiheit und bringen fie dann 
zut Orthoborie mit Hilfe des Strafgeſetzbuchs. 

P. Wie fönnen Sie fih mit der Oaſe Merw vergleichen? 

3. Ganz im Einklang mit der von Ihnen geäußerten Ans 
fit von ber Gleichheit ber Gejee für alle Gebiete Rußlands; 
das Normalreglement ber politiihen Entwicdlung, das Normal» 
reglement für das Gewiſſen und bie Neligion iſt das gleiche für 
die Daje Merw wie für das Baltiſche Gebiet. 

P. Sie haben feinen Grund, haben feinen Grund, fi 
mit ber Dafe Merw zu vergleichen. 

3. Cw. hohe Ercellenz, ich habe mir nicht mit der Hoffnung 
gefhmeichelt, daß ich die herrichenden Vorurteile werde zerftreuen 
fönnen; ich habe meine Pflicht erfüllt, indem ich Sie in Anſpruch 
genommen habe. Wir haben auch das jchon erlebt, daß man uns 
fagte: Man hätte rechtzeitig damit einfommen follen. Und des— 
halb habe ich es für meine Pflicht gehalten, Sie von den unver 
meiblichen Ralamitäten in Kenntnis zu ſetzen; für die Folgen aber 
fonnen wir feine Verantwortlichfeit auf uns nehmen. 


3 


Fiterarijche Rundfchau. 
— 
Die Grundlagen der Hebbelſchen Tragödie. 





D- iſt Tragit? Cine vielumſtrittene Frage, anders beantwortet 
zu verſchiedenen Zeiten und von verichiedenen Individuen, 
anders auch häufig von derſelben Perſönlichleit in ihren verſchie- 
denen Entwidlungsftabien und in ihrer künſtleriſchen Theorie und 
Fraris. So verfchieden aber aud die Antworten ausfallen mögen, 
in dem einen, wonach gefragt wird, jcheinen alle einig zu fein. 
Die Frage nach der Tragik ift eine Frage nach der Weltanfchauung. 
Eben deshalb fällt ihre Beantwortung fo veridieden aus, anders 
bei ben Griechen, anders bei Shafeipeare, bei Goethe, bei Schiller; 
benn die Meltanfhauung ändert ſich mit den Zeiten und Mer: 
hältniffen, ja jedes einzelne Individuum hat im Grunde genommen 
feine eigene und ganz befondere, die fih faum mit der irgend 
eines andern in allen Punkten deckt. Gilt es aljo feitzuftellen, 
welche Auffaffung ein Dichter vom Tragiſchen hat, jo gilt cs, feine 
Weltanfchauung feitzuftellen — feine Weltanfhauung in einem 
weſentlichen Punkt, nämlid in dem, in weldem Verhältnis das 
Individuum zum Univerfum, der Einzehwille zum Weltwillen fteht, 
wie weit der Einzelwille frei oder im MWeltwillen gebunden iſt; 
denn darum handelt es ſich am legten Ende in jeder echten Tra— 
gödie. Sold eine Feititellung ift in feinem Falle leicht, und fie 
wird um fo jchwerer, je reicher und vielgeftaltiger die Dichternatur 
ift, Die in Frage fommt. Erſchwert wird fie auch in dem Falle, 
wo wir die Weltanjchauung des Dichters nur im Bilde, d. h. im 
Spiegel feiner Dichtung, nicht aus theoretiihen Ausführungen 
fennen lernen fönnen. &iegen leblere vor, fo gelingt e$ ficherer, 
felbjt wenn Theorie und Praxis fid nicht immer deden. So find 
wir über die Weltauſchauung Schillero und feine Auffafjung des 
Tragiſchen vollfommen orientiert. Anders liegt es ſchon bei Goethe, 
der eine viel fompliziertere Natur ift und feine theoretifchen Anz 
ſchauungen mehr gelegentlich, nicht ſyſtematiſch zufammengefaßt gibt. 


Siterarifige Rundfefeu. 188 


Noch ſchwieriger geftaltet ſich die Unterfuchung bei Shakeſpeare, 
da er uns feinen Buchſtaben Theorie, an dichteriſchen Erzeugnifien 
aber eine ſolche Mannigfaltigkeit hinterlafien hat, daß aus biejer 
Vielheit und Vielgeftaltigfeit mit Sicherheit die Einheit zu gewinnen 
faum möglich ericheint. Daher gehen denn aud die Anfichten 
über die Weltanſchauung Shafefpeares weit auseinander. Die 
einen fehen in ihm den Dichter proteitantifcher Willensfreiheit 
»ar Zoynr. die andern — fo z. B. Mar Marterfieig in feinem jüngſt 
erichienenen großen Werk „Das deutſche Theater im 19. Jahr⸗ 
hundert” — halten ihn für den größten und jirengften Verkünder 
menſchlicher Willensunfreiheit. Ebenſo weit abweichende Meinungen 
find hinſichtlich der griechiſchen Tragifer zu fonftatieren. 

Ein Dichter, der neuerdings wieder zu befonderen Ehren 
fommt, iſt Friedrich Hebbel. Seine Dramen gewinnen auf ber 
deutſchen Bühne immer mehr an Boden, und die gelehrte Kritik 
hat fi daran gemacht, ihn zu ergründen. Sein Geiltesverwandter 
und Nachfolger, Ibſen, hat ihm bie Bahn gebrochen. Kin Fremder 
mußte fommen, um ben Deutichen über einen ber ihrigen bie 
Augen allmählich zu öfinen. Der Prophet gilt nichts im eigenen 
Valerlande, namentlich wenn dieſes Vaterland ein deutſches üt. 

Von Hebbel gilt wie von feinem andern deutſchen Dichter 
das Wort: Wer zum Verftändnis feiner Dichtung fommen will, 
muß fi mit feiner Weltanfhauung vertraut wmaden. Denn 
eritens iſt feine Weltanihauung eine ſcharf ausgeprägte und eigens 
arlige, und zweitens ijt alle Hebbeljche Dichtung der bewußte und 
oft zum Schaden des Aunftwerfs gewallfame Verfuch, dieje feine 
Weltanfhauung zu verfinnbildlihen und dadurch zu veranjchaus 
lien. Dennod war Hebbel feineswegs in erfler Linie Philoſoph 
und erjt in zweiter Dichter. Im Gegenteil, der Dichter it e6, 
der in ihm den Philojophen, joweit er überhaupt dieſen Namen 
verdient, welt. Wohl ſucht er ſich ſyſtemaliſch mit Philofophie 
zu befchäftigen, aber es bleibt bei den Verfuchen und Anläufen, 
fie bringen jein Gehirn gar bald, wie er felbit erzählt, „in einen 
Zuftand, ber mit der Drehlrantheit der Schafe die bedauerlidjite 
Äehnlichkeit hat“, und er jchleudert feinen Hegel und Scelling 
zu Boden und tritt fie ergrimmt budjftäblid mit Füßen. Die 
wiffenfchaftliche Philofophie bleibt ihm ein verſchloſſenes Buch, „ein 
blinder Gaul“. Seine Weltanfhauung iſt Erlebnis, das Produtt 
feiner Beanlagung und Erfahrung, und fie kommt ihm plöglich 
und intuitiv zum Bewußtjein. Dann baut er fie aus, modelt an 
ihr umher und preßt mit ftarrer Konfequenz fi und die Welt in 
fie hinein, um dann mit berjelben flarren Konfequenz fein ganzes 
Dichten ihr dienſtbar zu maden, indem er immer neue Spiegel 
bitber von ihr zu entwerfen fucht. 

Und wie jieht nun diefe Hebbelſche Weltanihauung aus? 





164 Literariſche Rundſchau. 


Obgleich er ſich fein ganzes Leben lang abmüht, ihr dih⸗ 
teriſche Geftaltung zu geben, gewinnen mir ein ſicheres Bild von 
ihr nicht ſowohl aus feinen Dichtungen, fondern aus jeinen Vor— 
reden, Tagebüchern und Briefen, in benen er unablälfig beitrebt 
iſt, fie theoretiſch auseinanderzufegen. Freilich, auch hier muß 
man zu lefen verftehen, muß man Entwidlung, Wandel und vor 
übergehende Stimmung unterſcheiden. Immerhin aber gelingt es, 
zu feiten Nefultaten zu tommen. In der Dichtung felbft bleibt 
in dieſem Punkt das Können Hinter dem Wollen zurüd. Wir 
glauben dem Dichter nicht, jo eifrig er uns auch durd Dichtung 
und Kommentar zu überreden ſucht. Die Probe auf das Erempel 
ergibt uns ein andres Reſultat als ihm jelbit. 

Ein junger Philologe, Franz Zinfernagel, hat neuer- 
dings in einem Werk „Die Grundlagen der Hebbelſchen Tragödie”* 
mit Verftändnis und viel Sorgfalt den Verſuch gemacht, bie Welt 
anſchauung Hebbels in ihrem Entjtchen und ihrer Entwidlung bis 
zu ihrer Spipe feitzuftellen, um dann zu prüfen, wie weit es dem 
Dichter gelungen it, ihr überzeugenden Ausdruck in feiner drama— 
tiſchen Produktion zu geben. Das Wert Zinternagels gibt uns 
die Anregung zu folgenden Ausführungen. 

Schon früh empfindet Hebbel fein eigenes Leben und das 
der Menſchheit als eine große Diſſonanz, und dieſe von ihm überall 
wahrgenommene Diffonanz zeitigt in ihm die Idee des Dualismus. 
Der Dualismus ift ihm die legte, höchite, die Grundidee. Nun 
fehlt Hebbel gänzlich das Verantwortlichfeitsgefühl und damit das 
Vewußtſein der Sündhaftigleit. Und dieſes Manko in ſeiner 
Natur führt ihn bei feiner dualiſtiſchen Auffaſſung der Melt, im 
Gegenfag zu ber gleichfalls bdualiftifchen chriftlihen Anfhauung, 
notwendig und geraden Meges zum Peſſimismus. Kampf, enb— 
tofer Kampf iſt alles Leben. Und in welchem Verhältnis jteht in 
diefent Kampf der Einzelne zum Ganzen, das Individuum zum 
Univerfum? Aus dichteriſcher Intuition heraus empfängt Hebbel 
plöglic und entwirft er fein Weltanſchauungobild. Der MWeltprozeh 
entjteht badurd, daß ſich das Individuum, feines Uriprungs vers 
geilend, in unbegreiflicher Freiheit vom Univerfum losreißt und 
nun in unabläfligem, fruchtlofem Kampf gegen das Univerſum 
ſteht, bis es enblid von diejem wieder verfhlungen wird und 
zurückſinkt in das allumfaljende Element, aus dem es fam. Dieſer 
Prozeß ift ohne Anfang und ohne Ende, er ift, wie Hebbel fagt, 
„die Rontinuation des Schöpfungsaftes, eine ewig werbende, nie 
fertige Schöpfung, die den Abichluß der Welt, ihre Eritarrung 
und Verſtockung verhindert.” Der Weltwille bedarf diefes Pro: 
zeſſes, um fich zu verwirklichen und zum Bewußtſein zu Fommen, 


*) Berlin, Georg Heimer, 1904. 188 ©. 





Literariſche Rundſchau. 165 


und fucht doch unabläffig, mas er ſchuf, zu zerſtören. Anderſeits 
ftrebt das Geichaffene, das Individuum, rajtlos in das Al zurüd, 
und fucht ſich doch wiederum, getriben von feinem Individual 
egoismus, ber ihm als Erbteil des Univerfalegoismus wurde, als 
es ſich vom ALL losriß, in unabläſſigem Rampfe als Individuum 
zu behaupten. Es unterliegt aber ununterbroden in diefem Kampfe, 
da feine Freiheit unr eine fcheinbare ift, da es im Grunde genom⸗ 
men immer opponierend, immer doch nur ben MWeltwillen vollzieht, 
bis es feine Miffion erfüllt hat und ins Univerfum zurückehrt. 
Der Menſch alſo ift unfrei im meiteften Sinne, und das, was 
mir Gefdichte nennen, iſt ein Produkt von Naturgejepen. Es ift 
Mar, daß bei einer ſolchen Weltanfhauung fein Raum für Ideen 
wie Gott und Sittlicjfeit ift. Und doch operiert Hebbel fort: 
während mit ihnen, indem er einfach Univerfum, Notwendigkeit, 
Beltwillen, Gott, fittliche Idee identifiziert, und dann ohne Bedenten 
den öden Himmel feiner Naturnotwenbigfeitstehre mit allen Sternen 
einer theijtichen und ethiichen Weltbetrachtung ſchmückt. So gelingt 
es ihm aud) in fein Syitem eine Schuld hineinzubringen, die doch 
wieder eigentlich feine ift. Sie beruht in der Maflofigfeit, mit 
der fi) das Individunm gegen den Weltwillen durchzuſehen ſucht. 
Aber da der Egoisinus, ſich zu behapten, wie gejagt, ein Erbteil 
it, das das Individuum als Bedingung feines individuellen Seins 
aus dem Univerjum mitbefan, fo fann es dafür nichts, daß es 
ihn zur Geltung bringt, ja, je ſtärker es ihn betätigt, um jo deuts 
licher bekundet es feinen Urſprung, um jo vorzüglicher it es alſo 
im Grunde genommen. Und fo fommen wir ſchließlich dahin, daß 
wir ſagen: Je gottwibriger, um fo gottähnlicher. Das wäre 
Lucifer_in Hebbelicher Auffaſſung. Und in der Tat fagt Hebbel, 
daß „fd das Göttliche gegen Bott auffehnt, weil es feines: 
gleichen iſt.“ 

Aber befriedigt den Dichter diefe Art der MWeltbetrachtung? 
Keineswegs. An einer Stelle heißt es: „Ich frage: wozu bie 
Ueberhebung? wozu diefer Fluch der Kraft? Nur wenn fie dadurch 
geiteigert, wahrhaft veredelt würde, würde ich mich damit aus: 
gefögnt fühlen. Unb doc) fönnte man jelbit dann noch fragen: 
wozu ift biefe Orabation nötig? Warum dieſe auffteigende Linie, 
die jeden höheren Grad mit fo unfäglihen Schmerzen erfaufen 
muß?” Das Bedürfnis nach Erlöfung macht fich geltend, und 
die glaubt Hebbel ſchließlich in der Nefignation gefunden zu haben: 
„Wenn der Menſch fein individuelles Verhältnis zum Univerfum 
in jeiner Notwendigkeit begreift, fo hat er jeine Bildung vollendet 
und eigentlich aud ſchon aufgehört Individuum zu fein, denn der 
Begriff diefer Notwendigkeit, die Fähigkeit, ſich bis zu ihm durch- 
zuarbeiten, und die Kraft, ihn feilzuhalten, Löjcht allen unbered- 
tigten Egoismus aus und befreit den Geift vom Tode, indem er 

Baltifche Monatsfcheift 1905, Heft 2 5 


186 Sterarifge Rundſcau. 


biefen im weſentlichen antizipiert.“ Diefer Gedante gewinnt immer 
größere Macht über Hebbel und wird von ihm in fein Spitem 
gebracht, obgfeidh er da nicht hineingehört, nicht hineinpaßt. Hier 
ift die Inkongruenz in bem Hebbelſchen Weltanfchauungsbilbe. 
Wenn ber Menſch, aus der Naturnotmendigfeit entiprungen und 
felbft ein Stüd von ihr, naturnotwendig gegen den Weltwillen 
anfämpfen muß, wie foll er dahin gelangen, von dieſem Kampfe 
aus eigenem Antrieb abzulalien? Ja, wie fann er, wenn Oppo— 
fition gegen den MWeltwillen die Bedingung feines Dafeins als 
Individuum ift, wie fann er dann aud nur, folange er als Inbis 
vibuum noch eriftiert, den Gedanken fallen, vom Kampfe abzu: 
ftehen? Heißt das nicht, die MWillensunfreiheit in das Gegenteil 
umbiegen und damit das aufgeführte Gebäude mit eigener Hand 
wieder zerflören? 

Ich vermiſſe in den Ausführungen Zinfernagels ben beut- 
lihen Nachweis, daß der Kreis des Hebbelichen Weltanfhuungs- 
bildes nicht geichlofjen iſt. Er gemönne aber dieſe Gefchloffenheit, 
wenn Hebbel nicht über ber einen Gigenfchaft bes Inbividuums 
die andre vergäße. Das Individuum hat als Erbleil aus bem 
Univerfum nicht nur die Eigenfchaft erhalten, fid) behaupten zu 
wollen, fondern auch die andre, zum Univerfum zueüdzujtreben, 
und jeine Aufgabe ift es, in diefem Miderjtreit den Ausgleich zu 
finden, fo zu finden, daß der Univerfalegoismus in ihm den Indi— 
vibualegoismus überwindet. Hebbel fieht den Dualismus nur in 
dem Verhältnis des Individuums zum Univerfum, er ijt- aber 
ebenfo wirffam im Individuum ſelbſt, ja er hört dort in demſelben 
Augenblid auf, fobald er hier überwunden ift. Es iſt jenes Manfo 
in Hebbels Natur, das Fehlen des Schuldbemußtjeins, das ihn 
behindert, dies zu erkennen und dem andern Ich in bem Indie 
vibuum, das dem Umiverfum zujtrebt, in feinem Syſtem bie 
gebührende Geltung zu geben. Hier und da blitzt bei Hebbel dieſe 
Erfenntnis wohl auf, aber fie ift micht ſtart genug, um ihn von 
feinem Pelfimismus loszureißen, und anderfeits vermag er doc 
auch wieder nicht, fid) auf feiner ausfid)tslojen peſſimiſtiſchen Höhe 
zu haften. &o fommt das Fremde in fein Spilem, bie Verbin, 
dung von flarrer Naturnoimenbigfeit, die jeden freien Willen aus- 
ſchließt. und Selbfterlöfung, die auf freiem Willen beruht, und 
unter diefer Inkongruenz jeiner Weltanjhauung leidet auch feine 
dramatifche Produktion. 

Denn alle feine Dramen find, wie ſchan betont wurde, Ver: 
ſuche, feine Weltanfhauung zu verfinnbilblichen. Er will in feinen 
Dramen zeigen, wie das Leben die Schuld mit Notwenbigfeit aus 
ſich erzeugt, wie alfo die Schuld in Wirllichfeit feine Schuld ift, 
und wie der Menſch, frei jcheinend, doch unfrei iſt. Sein Freund 
Bamberg fchreibt an ihn, als er „Verodes und Mariamne” gelefen: 


Siterarifhe Rundſchau 187 


„Ih glaube, je länger Sie dichten werben, deſto mehr werben 
Sie bie Unfhuld in der Schuld baritellen.” Das ift durchaus 
zutreffend für Hebbels Art. Er geht meift genau den umgekehrten 
Weg wie die Grichen. Dieje verfegen ben Helden in eine Zwangs⸗ 
fituation. Er muß die ſchwere Tat voflführen, die ihn ins Vers 
berben reißt (Orejt, Debipus, Antigone), und weil er muß, 
erſcheint er ſchuldlos. Die Kunft des antiten Dichters aber bejteht 
nun darin, die Handlung jo zu führen, dab dem Zufchauer doch 
ur Gewißheit wird, der Held jtürzte legten Endes trog der Zwangs- 
tuation nicht durch diefe ins Verberben, ſondern durch ſich felbit, 
jeinen Charafter. Der antite Dichter ſucht alſo in ber Unſchuld 
die Schuld zu erweiſen. Hebbel dagegen geht in den meilten 
Fällen von dem „ſcheinbar ſchuldig“ aus und ſucht durch den 
Verlauf der Handlung ein „doch nicht ſchuldig“ darzutun. — 
Zinfernagel weiſt an mehreren feiner Dichtungen nad), wie ihm 
das feinesiwegs immer — ich möchte fagen, eigentlich nie — über 
zeugenb gelingt, mie der unbefangene Lefer das Gegenteil von 
dem heraushört, was Kebbel in Dichtung und beigegebenem Kom- 
mentar oft jchreiend zu beweilen fucht. So heißl es bei Zinfer- 
nagel u. a. über „Maria Magdalena“: „Ihn (Hebbel) trieb fein 
innerftes Bedürfnis, jede fittlihe Schuld in dem Fehltritt Klaras 
ausjumerzen. Er wollte nadjweifen, wie das Leben ohne inneren 
Anteil des Individuums die Schuld mit Notwendigkeit aus fich 
ſelbſt erzeuge, und glaubte feine Abſicht dadurch zu erweiſen, daß 
er einem tatfächlichen Fehltritt berechtigte fittliche Botive unterjchob. 
Wir aber mögen uns noch fo fehr quälen, dem Dichter auf dieſem 
Wege zu folgen, es wird uns jchwerlich gelingen. Wir werden nie 
aufhören, in Klara eine Schuldige zu ſehen, alle Verwirrung ber 
Motive wird uns über ihren Fehltritt nicht hinwegtäuſchen. Der: 
felbe Mangel an fittlichem Gefühl, der uns in der Konzeption ber 
„Öenoveva” überraichte, fällt auch Hier wieder unangenehm auf. 
Wie ihm dort Siegfried als der ſchuldigſte erſchien, ſo hier Meiſter 
Anton. Aber jeltfam genug: all dies Sonderbare offenbart uns 
nur der Kommentar, den uns ber Dichter gibt. Nichts in ber 
Dichtung ſelbſt verrät uns eine Spur von des Dichters Intentionen. 
Ein Bild göttlicher Gerechtigkeit entrollt fih uns. Wir fehen die 
einzelnen Gejtalten Schuld auf ſich laden und fie büßen. Nein 
Shidjal Tann trog aller Furchlbarfeit gerechter fein alo das, 
welches über dieſe Menfchen hereinbricht. Kein Dichter hat mit 
wuchtigerer Kraft in den Geftalten jeiner Aunft die Welt zurecht: 
gerüdt, als gerabe Hebbel in jeiner „Maria Magdalena“. 

In feiner Schlußbetrachtung jtellt Zinfernagel den Theoritifer 
Hebbel über den Dichter. Er meint, Hebbel habe — theoretiich 
— „eine Runftform geihaffen, die völlig in der Richtung unirer 
modernen, die Schranten des menſchlichen Willens refigniert aner: 


dr 


168 oiterariſche Rundſchau. 


Tennenden Weltanſchauung liegt“, und er habe — wieder theoretiſch 
— „ben Weg gemwiejen, auf dem das Drama unfrer mobernen 
Beit ſich einzig und allein entwideln Fann." 

Ich möchte im Gegenfap zu Zinfernagel glauben, Hebbels 
dramaliſche Theorie ift anfechtbar, weil fein Weltanjhauungsbilb 
nicht gefchloffen iſt. Der Dichter in Hebbel war joniel ftärfer als 
ber Theoretifer, daß er häufig inſtinktiv gegen die jo eifrig vers 
fochtene Theorie und Weltanidauung das Richtige traf. Hebbel 
fagt felbft, das Drama fei Daritellung des Lebensprozeſſes; ber 
Lebensprozeß aber ift ein ſehr fompligierter, für den Menſchen 
niemals Mar zu erjhauender. Niemals ijt geleugnet worden, daß 
der Mille des Menſchen Schranfen Hat, ebenfo wird nie geleugnet 
werben, daß der Menſch innerhalb gewilfer Grenzen frei ift und 
beshalb ber Verantwortlichfeit unterliegt. Die Grenzen zwiſchen 
„frei“ und „unfrei” auf feinen Gebieten können durd) willen: 
KR tliche Forſchung verſchoben werben, niemals aber wird bie 

ifenihaft die Frage von „frei“ und „unfrei” rejtlos lafien, 
denn das wäre gleihbebeutend mit der Löjung des Lebensrätiels. 
Diefe Löfung gibt fo oder jo allein der Glaube, wo aber ber 
Glaube anfängt, da Hört die Wiffenfhaft auf. Das Drama ift 
bie Darftellung des Lebensprozeſſes, nicht, wie ihn Die Wiſſenſchaft 
analgtifch zergliebert, fonbern wie und foweit ihn die Seele bes 
Künftlers jynthetijh in feiner Ganzheit erſchaut — erſchaut ganz 
ohne Wiſſenſchaft in der Lebenserfahrung und im Glauben. 
Lebenserfahrung lehrt beides, das „frei” und das „unfrei”, ber 
Glaube entfcheibet fi für das eine oder andre. Der wirkliche 
Dichter, der das ganze reiche Leben gibt und nicht nur ein mageres 
Erempel zu einer Theorie, wird in feiner Dichtung auch immer 
das „frei“ und „unfrei” zugleich darſtellen und feinen Glauben 
über den Zufammenhang von Freiheit und Unfreiheit nur wie 
durch einen Schleier durchſchimmern laſſen. 

K. Stavenhagen. 


A 





Idealismus und Realismus 
in den geiftigen Strömungen der Gegenwart. 





Unter den deutſchen Philojophen der Gegenwart nimmt 
Euden eine ganz befondere Stellung ein. Geht das Hauptſtreben 
der erfteren vor allem dahin, die in den pofitiven Willenfchaften 
bewährte erafte Diethode aud) auf die philofophiiche Forihung 
anzuwenden, mit ihrer Hülſe die einzelnen Erfenntnisgebiete 
genauer durchzubilden und einem ftreng wiſſenſchaftlichen Betriebe 
juuführen, fo betont Euden im Gegenfag dazu als vornehmfte 
und dringendfte Aufgabe einer hilofophie der Gegenwart, bie 
neue Grundlegung einer Weltanfhauung, in der Webergeugung, 
daß unfer Kulturleben nicht nur einzelne Probleme in Hülle und 
Fülle enthalte, fondern daß es aud, und ganz bejonders als 
Ganzes, einer energiihen Nevifion und einer gründlichen Erneue— 
rung bebdürfe. Die Voranftellung dieſes allgemeinen Problems 
findet fi in fait allen bisher veröffentlichten Arbeiten Eudens. 
Der Erweis und Ausbau eines neuen Lebensſyſtems, eines felb: 
ftändigen, weltumfpannenden Geifteslebens bleibt der flete Mittel- 
und Zielpunft feiner Forihung. In fraftvoller, energiſcher Weife 
bringt er die Notwendigfeit eines jolden immer wieder dem 
modernen Menſchen zum Bewuftjein und fordert ihn auf, den 
Kampf um jeine geijtige Gelbfterhaltung aufzunehmen und eine 
Entfcheidung für oder wider zu treffen. Nicht abitrafte Ideen 
und ausſchueßlich theoretiſche Geſichtspunkte dienen ihm dabei als 
Ausgangspunft und beilimmende Fuftoren, jondern auf das Ganze 
des Lebens felbjt und die in ihm hervortretenden geiftigen Ten: 
denzen ift vielmehr fein Hauptaugenmerk gerichtet. Hier klärend 
zu wirken, einen allumfailenden Zufammenhang aufzufinden und 
damit den Grund zu einer dharafteriftiichen Weltanſchauung zu 
legen, läßt ev ſich wie in feinen früheren Werfen (befonders: „Die 
Einheit des Geiiteslebens in Bewußtſein und Tat der Menſchheit“ 
und „Der Kampf um einen geiltigen Lebensinhalt“), jo ganz 
befonders in feiner neueften Veröffentlichung: „Geiſtige Strömungen 
der Gegenwart“ ! angelegen fein. 


1) Leipzig 1904, Weit u. Ro. 3. umgearbeitete Aufl. 898 S. Preis M 8 


170 Literariſche Rundſchau. 


Auch dieſes Buch wendet ſich wie feine früheren (außer den 
genannten find hier noch zu erwähnen: „Die Lebensanfdhauungen 
ber großen Denker“ und „Wahrheitsgehalt der Neligion”) an alle 
Gebildeten und verdient im beiten Sinne des Wortes zeitgemäß 
genannt zu werden. Im wahrhaft univerjaler, hiſtoriſch-kruiſche 
Weiſe werben mir Hier über die tiefiten Beſtrebungen ber Zeit 
und über bie fie bewegenden Fragen auf allen Gebieten orien- 
tiert. Alle Probleme, die in irgend einer Form unjer Leben 
beherriden, zieht er in den Kreis feiner tiefgründigen Unter 
ſuchung; überall tritt aus dem Streit widerjpredender Meinun: 
gen, aus dem Schwanfen zwiichen entgegengejegten Beftrebungen 
das eine Grundproblem zutage, ob das Leben und Streben bes 
Dienichen lediglich die Bewegung der Natur fortführt, oder ob in 
ibm eine nene Stufe der Wirklichkeit auffteigt. 

Von der eminent praftiichen Bedeutung dieſes Buches für 
jeden ernſt Strebenden iſt der Schreiber diejer Zeilen aufs tiejlte 
durdidrungen. „Tua res agitur“, heißt es auch hier. Hoffentlich 
gelingt 8, aud den Leſer davon zu überzeugen, ihn zu einer 
näheren Beihäftigung mit der Philofophie Eudens anzuregen, 
wenn wir im im folgenden verjuchen, ihm ben Gedanfengehalt 
eines jo bedeutenden Buches zu übermitteln, oder vielmehr nur 
einen Teil jeines Gedanfenreihtums, der fid in einem furzen 
Referate nicht erſchöpfen läßt: Euckens Ausführungen über Stel- 
ung und Bebeutung des Jbealismus und Nealismus in den 
geiftigen Strömungen der Gegenwart. 

Eine große Verworrenheit, eine ftarfe Unficherheit über tete 
und gemeinjame Ziele, agt Euden in der Einleitung, ift ein 
Merkmal unfrer Zeit. Dieje verworrene, unfichere Lage erſcheint 
zwar zunädft als Wirfung der geſchichtlichen Ueberlieferung, die 
uns mit grundverfciebenen, ja entgegengefepten Strömungen 
umfängt, Veſonders hat das 19. Jahrhundert die eingreifendjten 
Bandlungen durchgemacht, die bein aller äußeren Zurüddrängung 
uns innerlich nod) feithalten und nad) wiberjireitenden Richtungen 
ziehen. Aber die Schuld an dieſer Verworrenheit trägt deshalb 
nicht die Geſchichte, jondern unſre Unfelbjtändigfeit ihr gegenüber, 
unfer Mangel am Sonentration und geiliger Ueberlegenheit 
Dabei ift, bei aller Zerrilienheit und Ziwieipältigfeit das Bew: 
fein von der Unhaltbarfeit der älteren anthropijtiichen Denkweiſe, 
die den Menſchen als den Mittelpunlt des Als und die Wirklich 
feit als ein Reich menſchenähnlicher Größen anfah, in der mober- 
nen Menſchheit lebendig geworden und damit iſt zugleich ein 
glübendes Verlangen nad) einem weiteren, gehaltvolleren Sein, 
ein heißer Dinjt nad) einem Leben mit der Unendlichkeit und 
Wahrbeit des Als erwacht. In dieſer Lage eröffnen ſich zwei 
Moglichkeiten, die uns ein einziges Entweder — Ober vorhalten: 

















Literariſche Rundſchau. 171 


Führt die Bewegung gegen das Beharren beim Bloßmenſchlichen 
dazu, den Menſchen als ein bloßes Naturweſen zu begreifen und 
all jein Tun dem Rahmen der Natur einzufügen, und damit alles 
auszeihnend Menſchliche als einen verderblihen Wahr auszus 
treiben? Oder befagt jene Bewegung das Aufiteigen einer neuen 
geiftigen Welt, eine nene Stufe der Wirklichkeit, deren Aneignung 
und Ausbildung von innen her beim Menſchen erfolgen muß? 
Trog der Unerlählicpfeit ber Entiheidung für dieſes oder jenes, 
zeigt die Zeit infolge jener Schwäche des Einheitsjtrebens ein 
Schwanfen bald hierher, bald dorthin und einen Mangel energie 
iher Gegenwirfung gegen das Kleinmenfdjliche, ein Sinfen des 
Lebens ins Profane, Ordinäre, eine innere Verarmung inmitten 
überftrömenden Neihtums an der Peripherie des Lebens. So 
befinden wir uns in einer jdweren geijligen Krife, die Folge und 
Ausdrud einer weltgeſchichtlichen Lage it. An Verjuden, diejer 
chaotiſchen Lage eine einheitliche Gejtaltung des Lebens und der 
Wirklichfeit entgegenzufepen, fehlt es nicht. ber das Streben 
zur Einheit geitaltet ſich meiltens jo, daß die einzelnen Gebiete 
die Sache an fid) reißen und das Bild vom Sanzen lediglid nad) 
ihren bejonderen Erfahrungen entwerfen; ihr Gebiet wird ihnen 
zum beherrſchenden Mittelpunft der Wirklichkeit. So bildet ſich 
die Religion, die Kunſt, jo erzeugt die foziale Bewegung eine 
bejondere Weltanjdaı namentlid erweitern ſich die Natur 
wiffenfchaften oft zu einer umfailenden Philojophie. Die dadurch 
entjtehenden eigentümlihen Durchblicke fünnen jedod immer nur 
zeitweilig befriedigen, da ihr viel zu nappes Maß der Wahrheit 
der Dinge gegenüber nur zu bald erfannt wird. Dabei verkehren 
fich oft die Teilwahrheiten mit ihrer Weberipannung zur Gejamts 
wahrheit in Unmahrbeit Und jo zeigen uns jene ‘arlialbewegungen 
in ihrem Widerftreit mit einander, daß ſich von den einzelnen 
Punkten her nichts ausrichten läßt, daß es eine der Verwirrung 
überlegene Einheit zu fuchen gilt. Das läht fi) jedod nicht 
erhoffen ohne eine Erhebung über das Ganze der Zeitlage und 
ein Ergreifen neuer Anfünge. Es gilt daher eine Berufung von 
der bloßen Zeit an das Ewige, was die Zeit trägt, vom bloßen 
Menſchen an die überlegenen Gewalten, die den Menſchen über 
ſich felbit hinausheben, indem fie ihm ein geiſtiges Sein verleihen. 
Für dieſes Ziel der Vertiefung des Yebens und der Erneuerung 
der Kultur hat jeder nach dem Maße jeines Könnens zu wirken. 

Um feiner Aufgabe alljeitig gerecht zu werden, will der Verf. 
fo vorgehn, daß er die der Zeit charakleriſtiſchen Haupttendenzen, 
foweit dahinter Yebensbewegungen aus dem Ganzen jtehen, heraus: 
hebt, un uns zu einem Bilde der Jeu jeneit der Gegenfäge zu 
verhelfen. Dabei wird die Unterjuhung zeigen, daß ein und dag: 
felbe Hauptproblem durch alle Vianigfaltigfeit wirft und überall 




















ı2 Literarifche Rundſchau. 


um das Ganze gefänpft wird. Die einzelnen Strömungen und 
der in ihnen ermittelte Lebensprozeß follen hierbei ftets an der 
Frage geprüft werden, ob fie ein jelbjtändiges Geiftesleben über- 
haupt ermöglichen und was fie dafür leiften. Gerade hier bürfte 
zugleid) mit der Einficht in die Eigentümlicjleit der Zeit eine 
Befreiung von ben Irrwegen ber Zeit erreichbar fein. Um die 
geiltige Art der Gegenwart heller zu beleuchten und abzugrenzen, 
ſoll die geſchichtliche Betrachtung herangezogen werden. Dabei 
leitet die Hellere Beleuchtung deo Tatbeitandes an der Hand ber 
Geſchichte ſchon eine kritiſche und abjolute Behandlung ein. Nicht 
nur die Behandlung ber Gegenwart, fondern aud die Geſchichte 
als Ganzes verwandelt ſich bei Aufdeckung des in ihr wirkſamen 
Lebensprogeiies in ein Problem und unterliegt der Frage nad 
ihrer Wahrheit. Erſt dieſe Verwandlung der Geſchichte in bie 
Entfaltung eines zeitlojen Geins ermöglicht es, ihrem Ganzen 
irgend weichen Sinn abzugewinnen. So foll die Behauptung der 
Zeit an dem weltgeichichtliden Stande der geijtigen Evolution 
geprüft werben. Hat die Geſchichte mehr Tiefe und Geiſt 
erjchlofien, als jene, jo wird das Streben notwendig über fie 
Hinausgetrieben. Auf dieſe Weife it die Hiftorijche Kritik nicht 
bloß zurücjdauend, fondern auch) produktiv, und vermag die 
Weiterbewegung, die fie fordert, ſeibſt zu fördern. — Wohl ift 
fid) der Verfaifer der Gefahren und Schranten des von ihm ein- 
geichlagenen Verfahrens voll bewußt; insbejondere empfindet er 
aufs jtärffte die Unfertigfeit der hier dargebotenen Gedankenwelt, 
wie e8 ja nicht anders jein kann, wo wir mitten im Streben und 
Suchen jtehen und es nene Ausblide zu gewinnen gilt. Aber die 
Ueberzeugung, daß der reis der Möglichkeiten nod nicht erſchöpft 
ift, und wir nicht zu bloßem Epigonentum verdammt find, läßt 
ihn trog aller Unfertigfeit getroſt ans Werk gehn. 

Der Gegenjag zwiſchen Jbealismus und Nealismus liegt an 
der Frage, ob der Menſch mit feinem ganzen Leben und Streben 
ein bloßes Stüd ber natürlichen Welt, ober ob er biejer Welt 
innerlid überlegen it und ihr gegenüber ein neues Neich aufzu— 
bauen vermag. Je nachdem die Antwort fo oder jo ausfällt, ge- 
ftaltet fich das Leben vom Größten bis zum Stleinften, im Denfen 
wie im Handeln, grundverfdieden und fchließt alle Vermittlung 
aus. Erſt das 19. Jahrhundert hat bem Idealismus, der bis 
dabin faſt ausſchließlich das Kulturleben beherrichte, ein eigenes 
Lebensſyſtem des Nealismus entgegengeießt. Solches Unternehmen 
ihöpjt feine Hauptfraft aus der Tatjade, daß die unmittelbare 
Melt in ihrem netürlichen Dafein der Vienichheit unendlich mehr 
geworden iſt, daß fie einen viel reicheren Inhalt entwidelt hat, 
als je zuvor. Zur Steigerung der nächſten Wirklichkeit verbinden 
fi im 19. Jahr). die mannigfachften Bewegungen und Erfolge 


Literarifche Rundſchau. 173 


auf allen Gebieten des Lebens. Nun zuerft gelangt beionders die 
Macht der materiellen Zebensbedingungen zu deutlicher Anfchauung 
und voller Anertennung. In ſolchen Leitungen wächſt aud) ber 
Träger der Arbeit, die Menjchheit, und zwar die Menſchheit, wie 
fie leibt und lebt, nicht wie fie in der Verklärung burd eine 
Sedanfenwelt erſchien. Und da fie alle praftiihe und eihiſche 
Beteiligung des Menſchen an ſich zieht, jo iſt es fein Wunder, 
wenn fie zum Gegenjtand der Verehrung und des Glaubens wird. 
So ift e8 ein Verlangen nah Wahrheit, ein Durjten nad) echter 
Wirklichkeit, das hier alle Lebensbewegung trägt und treibt, wobei 
alle älteren ibealiftijchen Lebensgeftaltungen für immer zu verjinfen 
iheinen. 

Aber die ganze Wirklichkeit des Menſchen könnte das 
realiſtiſche Syſtem nur werden, wenn alle jelbjtändige Innerlichfeit 
mehr und mehr vernichtet, und der Menich gänzlich in ein Merk: 
jeug der Arbeit verwandelt wäre. Statt deſſen hat ber Fortgang 
der Arbeit deutlich genug gezeigt, daß der Menſch nicht in die 
bloße Arbeit aufgeht. Schon die Leidenihaften des Kampfes uns 
Dajein zeigen deutlich genug, daß hinter ber Arbeit empfindende 
und mollende Weſen voller Glücsdurjt jtehen. Außerdem ent: 
mwidelt die Arbeit immer nur einen Teil der menſchlichen Kräfte 
und zwar einen um jo fleineren, je mehr jie fi) differenziert. 
Solcher Verziht auf den ganzen Menſchen muß dem Realismus 
gleichgültig jein, denn ihm entipringt alles Leben ja erit aus ber 
Berührung mit der Umgebung; ber wirkliche Menſch aber empfindet 
ihn als einen ſchmerzlichen Verluft. Alſo ift in ihm mehr wirkſam, 
als ihm der Nealismus zuerfannt. 

Weiter richtet die Arbeit den Menſchen auf die Leiftung 
und damit alles Sinnen nad) außen. Das Streben nad) Wirkung 
und Anerkennung muß immer mehr den ganzen Menſchen abſor⸗ 
bieren und alles jelbitändige Seelenleben unterdrüden. Doch wir 
empfinden bie tatjäd)lide Zurüddrängung des Imnenlebens als 
peinliche Leere, die uns die Vefriedigung an der Arbeit raubt und 
alle ihre Erfolge jeelijch in die Ferne rüdt. Überbliden wir dabei 
das Dienjcenleben als Ganzes, fo entipricht jener fortichreitenden 
Verwandlung des Dajeins in Arbeit ein Zurüdtreten eines geiftigen 
Lebensinhaltes und einer gemeinfamen Geifteswelt. Damit aber 
geht ein Stüd Leben verloren, und zwar dasjenige, das aller 
übrigen Betätigung erſt den rechten Wert zu verleihen ſcheint, 
das umentbehrlih iſt zu einem Zelbjtwerte, einer Seele alles 
Lebens. Co erweit fi) nicht nur der einzelne Menſch, fonbern 
aud die Menichheit mehr, denn ihre Arbeit. 

Daß das alles nicht Erwägungen grüblerifcher Neilerion, 
jondern vielmehr Ertebniffe, Erfahrungen ber Menchheit find, 
zeigt fih in dem Auffommen und Umficgreifen einer tiefen Uns 


17 Literariſche Rundſchau. 


zufriedenheit, einer peſſimiſtiſchen Lebensſtimmung tro aller glän— 
genden Triumphe ber Arbeit. Der Fehler in der Nedinung des 
Realismus bejteht eben darin, daß er die Seele eliminieren wollte, 
dieſe fi) aber nicht eliminieren läßt, die Verneinung felbjt hat 
die Seele wieber ftarf hervorgetrieben. Daß aber das Verlangen 
nad) voller Wirklichteit des Lebens eine ſolche Macht im Nealismus 
erlangt hat, lag daran, daß die überfommenen ibealijtiihen Lebens 
formen eine folhe Wirklichteit vermiflen ließen und feinen ficheren 
Boden mehr im Geſamtweſen des Menſchen hatten. Es waren 
ſolcher vornehmlich zwei: eine religiöſe, die zu uns vom Chriſten⸗ 
tum, und eine künſileriſche, die vom Griechentum her wirkt. 

Die religiöe Lebensgeftaltung mit ihrer Erhebung von ber 
Zeit zur Ewigfeit, von allem Außenleben zu einer reinen Innerlichkeit, 
behauptet trog aller Verdunflung eine große Wirkung und bleibt 
jelbft bei Direfter Ablehnung die unentbehrliche Vorausiegung der 
modernen Kulturarbeit. Ihre unmittelbare Nähe und fichere 
Überzeugungstraft aber hat jie für den mobernen Menſchen ver- 
toren, jhon deshalb, weil zwiihen der überfommenen Geſtalt der 
Neligion und der mobernen Gedanfenwelt eine tiefe Kluft ent- 
ftanden üft; mehr aber noch deshalb, weil fie dem modernen Mens 
ſchen nicht mehr in berfelben Weile aus eigenen Erfahrungen herz 
vorgeht, wie dem Chriften der alten Zeit. Ihr entiprang die 
Wendung zur Religion aus ftärfiter Empfindung menſchlicher Ohn- 
macht und aus einer Erfahrung unüberwindlicher Schranfen und 
Widerjprühe. Der Neuzeit hingegen iſt ein jugendlides Kraft— 
gefühl, ein ſtarker Lebensirieb eigentümlich; ihr verwandelt fich 
die Welt in eine unermehlihe Aufgabe, in deren Bearbeitung der 
Wenſch felbjt wächſt. _Bielleiht mag aus der Kraftentfaltung 
fetbft jchließlicdh eine Erfahrung der Ohnmacht hervorgehen, aber 
einftweilen herrſcht das Vewußtſein der Stärke, und es fehlt zu: 
gleich ein eigener, unmittelbarer Antrieb zur Religion. Damit 
droht fie ihre zwingende Kraft und Wahrhaftigfeit zu verlieren. 

Noch ftärfer ift die Gefahr eines Unmahrwerdens beim fünftle: 
riſchen Jdealismus. Er fuchte die Welt nicht von einem überlegenen 
Standort her, jondern durch ein in ihr gelegenes Wirfen zu voll- 
enden. Die in der Berührung von Seele und Welt erfolgende 
GSeftaltung jhien mit ihrer Formgebung alles zu harmoniſchem 
Ebenmaß zu verbinden. In der Tat hat die künſtleriſche Lebens- 
form mit jolder Leiftung das menſchliche Daſein gehoben und 
ihre Unentbehrlichkeit zur geiftigen Durchbildung bes Lebens vollauf 
erwiejen. Aber bedarf es nicht einer bejonderen Naturbegabung, 
um hier den Echwerpuntt des Lebens finden zu fünnen? Muß 
ferner nicht ein Menſch, ein Volk, eine Zeit eine Tiefe der Seele 
befigen, um jie in jene GSejtaltung hineingulegen? Wer fie nicht 
bejigt, dem ſinkt jenes fünjtleriihe Leben leicht zu einer Tändelei, 





Literarifhe Rundſchau. 175 


einen unwahren Sceinleben. Wird endlich bie Kunft den Ans 
ſpruch behaupten fünnen, die ſchweren Verwicklungen und bie 
unheimlichen Abgründe des menſchlichen Dajeins von fih aus zu 
heben und im Licht und Freude zu verwandeln? Und wenn fie 
es nicht kann, jo wird leicht die Neigung entjtehen, das Dajein 
nad; Kräften ins Schöne zu malen, zu idealifieren. Das erwedt 
den Widerjprud des Wahrheitsiinnes, deſſen Dolmetid ber 
Realismus wird. Noch augenicheinliher ift fein Necht, gegen den 
landläufigen Idealismus, der das Allgemeine der Richtung feit- 
hält, ohne es irgend näher zu bejtimmen unb zu begründen. Er 
begeiftert ſich für alles „Höhere“ und preijt das „Gute“, „Wahre“, 
„Schöne“, ohne fid) über ihren Inhalt Rechenſchaft zu geben. 

So iſt es verjtändlid, daß die überfommenen ibealijtiichen 
Lebensformen dem neuerwachten Wahrheitsbrange nicht genügen. 
Ob freilich der Nealismus ihn ebenio glücklich befriedigt, wie er 
ihn euergiſch vertritt, das iſt eine andre Frage. Die Verfettung 
des Tuns mit der fichtbaren Umgebung, in der bem Realismus die 
Wirflichleit des Lebens bejteht, ergibt zwar Leijtungen, nicht 
aber damit Erlebniffe, uud um folde kann es ſich doch nur hau—⸗ 
dein, wo Wirklichkeit für den Menſchen entftehen ſoll. Zum Er: 
lebnis wird die Leiſtung erit, wenn fie auf eine Einheit zurück- 
bezogen und von einem Ganzen des Seelenlebens umjpannt wird. 
Ein foldes Ecelenleben aber fann der Realismus aus feinen 
Mitteln unmöglid) aufbringen und doch bedarf er deijelben für 
feine eigene Zebensgeftaltung aufs dringendfte ; denn erit unter der 
Vorausjegung eines Subjefts ber Erfahrung, das zu den Dingen 
in Beziehung tritt, läßt ſich dartun, daß die Weltumgebung für 
den Menſchen weit mehr bedeutet, als der Durdjchnittsidealismus 
zugeſtand. Dann aber wird tatjüchlid der Realismus von einer 
Gedanfenwelt des Idealismus umjpannt. Auch in anderer Be: 
ziehung zeigt ſich das; fo jehen wir z. B. bei Comte, dem größten 
Philoſophen des Nealismus, daß er die Schäden der Zeit durdaus 
im Sinne des dealismus empfindet und fie jo tief faßt, daß 
ohne eine Möglichfeit durchgäugiger Erneuerung alle Gegenwirkung 
verloren jdeint. Was er aber im Sinne des Realismus als 
Heilmittel bringt ift höchft dürftig; von zufammenfaflenden Formeln 
und Veränderungen in ber äußeren Organifation des Menfchen 
wird jene Ummälzung erwartet. Der Widerfpruch zwiſchen der 
Größe der Aufgabe und der Kleinheit der Mittel ijt dabei doch 
ju handgreiflid). 

Sollte nun eine derartige zwielpältige Welt die Bedürfniſſe 
des Geiſteslebens jamt dem Verlangen nad) Wahrheit voll 
befriedigen fönnen? Das läßt ſich nur erwarten von einem 
neuen Idealismus, der den Wahrbeitsgehalt des Nealismus be- 
jonders in zwei Punkten anerfennt. Einmal wird er im Gegeniug 





176 Luerariſche Rundſchau. 


zu den älteren Formen bes Idealiomus die nächſte Welt mit 
ihren Verwicklungen nicht von ſich fehieben, fondern mit voller 
Mannaftigfeit in den Kampf mit ber Unvernunft bes Dafeins 
eintreten. Denn daß der Lebensprozeß ſich nie von ber Welt 
zurüdziehen darf, das hat der Realismus mit Recht zur Aner- 
tennung gebracht. 

Diejes mutigere Eintreten in ben Weltfampf ift aber ohne 
eine durchgehende Kräftigung nad innen nicht möglid. Die 
vollere Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens, bie der Realismus 
mit Recht fordert, kann nicht von draußen zufallen, jondern ver 
langt vor allem eine Weiterbewegung im Innern. Die Geiftigfeit 
barf nicht einen bloßen Zuwachs, eine Bereicherung eines vor- 
handenen Seins bilden, fondern das Sein felbft muß in volles 
Leben verwandelt werden. Das aber fann nur geſchehen, wenn 
unter Abhebung von aller bejonderen Tätigkeit eine allumfaljende, 
in ſich ſelbſt ruhende Tätigfeit entfteht und eine eigene Wirt 
feit entwidelt. Ohne eine joldhe Vertiefung der Tätigkeit bis zum 
legten Grunde wird immer eine jlarfe Kluft zwilden einem 
dunfeln Sein und einer abgelöften Tätigfeit bleiben, die das 
Leben unwahr macht, indem fie das Eingehen des ganzen Wejens 
in das Wirfen verhindert. Zum Aufbau einer neuen Welt gegen: 
über der ſichtbaren fann alte geiftige Tätigkeit nie gelangen, wenn 
fie nicht mehr bedeutet, als eine Gigenichaft, ein Streben des 
bloßen Denfchen. Denn dann könnte fie ſich der Abhängigkeit 
und der Widerſprüche der menſchlichen Lage nie entwinden. 

Ohne eine dem bloßen Menden überlegene (Seifteswelt 
fehlt daher dem Idealismus aller Halt. Ein Mufbau einer Welt 
von innen ber ilt nicht möglich ohne eine Teilnahme an einer 
übermenfhlihen Ordnung der Dinge, einer neuen Stufe der 
Wirklichfeit. Damit erjt wird bie Forderung Platos erfüllt, daß 
die Größen und Güter der neuen Welt unabhängig von allem 
Mögen und Meinen ber Menſchen gelten, ba nicht fie ihre Wahre 
heit vom Menſchen erhalten, fondern daß ſich die Wahrheit feines 
Lebens nad der Teilnahme an ihnen bemißt. Mit der Preis: 
gebung biefer Überzeugung mußte jelbit das Streben nad) Wahrheit 
jufammenbrechen. 

J Auch der Begriff des Guten iſt undenkbar ohne eine 
Überlegenheit gegen alle menfchlihen Zuftände. Damit tritt zu 
gleich der Hauptgegenfag deutlicher hervor, der durch alles menic- 
lide Handeln geht und keinerlei Abſchwächung duldet. Entweder 
findet Die geiltige Entwidlung nur der menſchlichen Wohljahrt 
halber jtatt, oder das menſchliche Leben gewinnt nur einen vechten 
Sinn, wenn es der Verwirklichung einer in ſich jelbji gegründeten 
Geiſteswelt dient, entipredend der Überzeugung Kants: „Wenn 
die Gerechtigfeit untergeht, jo hat es feinen Wert mehr, daß 





Literariſche Rundſchau. 17 


Menſchen auf Erden leben“. Jene Denkweiſe richtet alles Streben 
nad) außen, macht es abhängig und unficher; bei dieſer allein 
fann innere Freiheit und Seitigfeit beitehen. Bei folder Gegen- 
wart einer neuen Welt im Menſchen bildet fih ein weiter Abftand 
zwiſchen feinem unmittelbaren Befinden und den geiftigen Möglich» 
feiten feines Weſens, den zu verhüllen nicht im mindeiten zur 
Aufgabe werden kann, wo das Geiſiesleben die Anerkennung jeiner 
Selbftändigfeit gegenüber dem bloßen Menden gefunden hat. 
Solange jenes allein auf den Menfchen geftellt jchien, lag bie 
Terfuhung nahe, biejen in möglichſt günitigem Lichte erjcheinen zu 
laſſen, ihn fünftlich zu heben. um die „Ideale“ zu reiten. 

Gegenüber einem folchen unmahren Idealismus hat der 
Realismus mit der unverblümten Hervorfehrung aller Schwäche des 
Menſchen und der Unvernunft der menſchlichen Lage volllommen recht. 
Nur dann gerät ex ins Unrecht, wenn er das zur Leugnung alles 
echten Geifteslebens wendet. So geſchieht es heute beſonders oft 
bei der Erklärung geſchichtlicher Vorgänge. Dan zeigt, wie wenig 
auch große Ummälzungen, felbft religiöje Schöpfungen, wie das 
Chriftentum und bie Reformation aus rein geiftigen Beweg⸗ 
gründen hervorgegangen, wie allezeit kleinmenſchliche Intereſſen, 
ſelbſtiſches Glücverlangen bei der Menſchheit ausichlaggebend 
waren. Dieje realiftiiche Seite der Bewegung ift durchaus anzu— 
erfennen, aber gerade dadurch ericheint die in jenen Schöpfungen 
wirkſame geiftige Macht nur noch größer. Die Menden wollten 
jene nit, und doch mußten fie ſchließlich ihnen Huldigen. Sie 
wollten ihren eigenen Vorteil, aber warum mußten fie fid immer 
den Schein geben, jenes Große feiner felbft wegen zu wollen? Je 
Heiner in bem allen der bloße Menſch fich zeint, deito größer er: 
ſcheint die Dadht bes Geiltes, die trop aller Widerilände der 
Geſchichte einen geiftigen Inhalt und ben einzelnen Epochen einen 
unterjcheibenden Charakter verleiht. 

So gewährt die Anerfennung eines jelbftändigen Geiftes- 
lebens dem Idealismus eine Vefeftigung gegen den Realismus. 
Es handelt fih bei ihm um ben Aufbau einer neuen, allein 
echten Wirklicleit; infofern muß er jubftantieller Idea 
lismus fein. Diefer Aufbau erfolgt zwar im Bereich) des menid- 
lichen Dafeins unter bejonderen Bedingungen und Erfahrungen, 
nur muß das Befondere der einzelnen Erfahrungen in ein Ganzes 
der Erfahrung eingetragen und von da aus berichligt werden. 
Anfofern muß der Idealismus univerfaler Art jein. So 
gewiß endlich das Geiltesieben als tieffter Kern unferes eigenen 
Wefens in unjerm Sein angelegt fein muß, zu vollem Befig ge— 
langt es erſt durch die Aufnahme in unjer Wollen. Dazu bedarf 
es einer unabläjfigen Tat. Infofern muß der Jdealismus einen 
ethiſchen Charakter tragen, 








178 Lutrariſche Rundſchau. 


Natürlich können ſolche Begriffe und Erörterungen nie ein 
lebendiges Sein erzeugen ober auch nur entwerfen. Nur durch 
neue Gntfaltungen, bie den Tatbeitand erhöhen, find Stodungen 
des Yebens, wie wir fie heute erfahren, zu überwinden. Crit bann 
wird, für den Menfchen ſchwerlich ohne ſchmerzliche Erfchütterungen, 
wieber ein lebendiger und fonfreter Idealismus erftehen, den mir 
heute nur fajtend fuchen. 

El. v. Hente. 


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Hans Stutz, Bismards Bildung, ihre Quellen und ihre Kuferungen, 
Berlin, 6. Reimer. 1904. M. 3. 

„Bismard3 Bildung” — ein vielverheißender und verlodender Titel, denn 
wenn ung auch Bismard vor allem als Mann der Zat, als virtuofer Beherriher 
tealer Mächte berwundernsiwert it, der Zauber der genialen Perfönlispfeit drängt 
und boch immer wieder die Frage nad, der Gcdanienwell auf, der dieſe Taten 
entfprungen find. 

Den Beitrag, den Prug in feinem Bude zur Löſung dieſer Frage gibt, 
begeichmet er jelbit als einen Verſuch: „ES iſt cin Berfuch und will und fan 
zur Zeit nicht mehr fein, als ein folder. Denn noch liegt für die Beantwortung 
der damit geitelften Frage das nötige Material nicht entfernt vollitändig vor, das 
aber, mas vorliegt, it in feinen einzelnen Bejtandteilen fehr ungleichmertig.” 
Diefe Gründe U zu wenig oder zu viel. Dah ein Hiftorifer, 

ich ci te Aufgabe geitellt hat, mit ungleichwertigem 
Material arbeiten muß, iſt nur ſelbſtverſtändlich; und ebenfo wird ja auch jeder 
Hitorifer, der ſich mit jüngft verfloffenen Zeiten beſchäftigt. mit der Wahrſchei 
Tichteit reden müffen, daß jein Material weiterhin noch vervolitändigt wird. 
Aber die Schwierigteiten, mit denen Prug es zu tum hat, fünnen doch weder 
in der Dürftigfeit nod) in dem geringen Wert der Quellen Liegen. Über welche 
geichiehtiche Perfönticpteit haben wir denn ein reicheres und cin wertvollere 
Queltenmaterinl, als das in Bismards Reden und Vriefen, in den Gedanten 
und Erinnerungen” und der Waffe von Berichten ihm Napeitehender enthaltene? 
Wenn mir auch auf viele und wichtige Ergänzungen hoffen dürfen, daran fan 
man do nicht zweifeln, da; an feinem Charafterbilde, wie es jet vor ung 
fteht, im weſentlichen ſich dadurch nichts verändern wird. Aber anderſeits kann 
gern zugeſtanden werden, daß die inneren Schwierigteiten einer ſolchen Aufgabe 
bedeitende find, die nicht bloj; die Sammlung eines umfafjenden, weit zerjtreuten 
Materials erforoert, ſondern vor allem aud) eine fongeniale Fähigkeit des Rach - 
empfindens, und wir fönmen es daher niemand verargen, wenn er ſich hier mit 
einem blofen Werfut begnügen will. Sehen wir alfo zu, was hier im Nahmen 
einer ſoichen Stiyge geboten wird, welches Jiel der Verfaffer fid geftett und 
wie weit er es erreicht dat. 

















Siterarifge Rundſchau. 17 


Das Wort „Bildung“ faht Prut in dem lanbläufigen Sinne als einen 
„tifernen Befland“ von Aenntniffen und Anfchauungen, der in den Lehriahren 
in Haus und Schule, auf der Univerfität und in der Verſuchszen der Berufßr 
tätigteit erworben wird und der dann in den Jahren ber Heife einen in der 
Hauptfach abgefchloffenen Veſih bildet. Die Bildung Bismards fol num in 
ihrem Umfang und ihrer Eigenart „durd) die Zufammenftellung ber von Pismard 
gebrauchten Zitate, Bilder und Anfpielungen” dyuralterifiert werden. Mir fehen 
alfo, dab der Vegriff der Bildung ſowohl als der Umkreis beffen, was der Zitel 
ihre Hußerungen“ nennt, von vornherein eiwas eng genommen ift. In ber 
Hauptjagye Tiefert uns Prug denn auch) cinen Zitatenjhng aus Pismard, nad 
Tuellen geordnet, zum Teil im Anfchluh an Büchmanns „Geflügelte Worte” 
und Hofimanns von Fallersicben „Unire volfstümlichen Licder." Mo ihn diele 
Gewährämänner im Stich laffen, tut er unfichere Tritte, und gelegentlich zitiert 
er auch fic ungenau, fo wenn er 3. 2. (S. 56) als Dichter des Liedes „Morgen, 
morgen, nur nicht heute“ Cheiftian Weite anftatt Cprütion Felir Weihe nennt, 
wie der Siteraturfundige weiß, zwei wohl zu unterfcpeibende Perfonen. Dänfiger 
find die Irrtümer, die Prug auf eigene dand begeht. Unter den Vergleichen, 
die Bismard dem Sagenfreife der Pcrafles entiehnt Habe, zählt er auch den 
Ausdrud „Profruftesbeit“ auf (S. 70 f.). Eine Anfpielung auf die „Haben 
vom Ayfihäufer" fühe Prug (S. 114 f) auf das „Ihlanbiche” Gedicht „von 
dem im Kyffhäuſer ſchlafenden Kaiſer Friedrich” zurüd; gemeint iſt natürlich 
das Rüderiche „Der alte Barbarofiu". Die Worte: „Gefährlich it es deshalb, 
den Schanfwirt zu reizen" bejeichne Pruy (S als die Parodie einer 
Stelle aus dem „Handichuh”! Cine gelegentliche Yuherung Vismards „Le roi 
samuse“ nennt Prub (S. 173) cine Anfpichung auf das befannte Serideſche 
Drama; ftatt „Scribe" Lics „Victor Qugo”! Wand) andere Zumeilungen von 
itaten find mindeitens zweifelhaft. Der Ausdrud „materin peccans“, der ais 
technifcher philoſophiſcher Ausdrud angeführt wird (S. 23), gehört heute doch 
wohl dem mediziniichen Sprachgebrand) an; „protium affectionis*, Das unter 
den „Wendungen, die feinem befonderen Wiffensgebiet eigentümlic, zugchören“, 
genannt wird (&. 86), hätte feine Stelle unter den technifchen juriftilchen Aus« 
drüden erhalten follen.. 

Die Zufammenftellungen der Zitate werden durch Betrachtungen des 
Autors über den Bildungsgang und Umfang und Miehtung der Bildung 
Vismords verbunden, Vetramtungen, die ſich im allgemeinen auf der Gedanken, 
höhe der Feuilletons bewegen, die Adolf Kohut und Genoffen zu 1Djährigen 
Geburts: und Todeöiagen ufio. unjern Zageblättern Kiefern. Durch zweierlei 
indeffen unterfcheiden fie fich von jenen Feuilleton, und nicht zu ihrem Lorteil. 

Dos it zunächit cine oft zutage treiende Philiftrofiät, die gelegentlich 
ger an den Ton von Viedermehers großer Literaturballade ftreift. So zitiert 
Prug (S. 100) einen Brief vom 6. Juni 1850, in dem Vismard von feinen 
Khalif Omarjdien Gelüften zur Zerftörung der Bücher außer dem chriftlichen 
„Koran“ ſprich und die Bucdruderkunft „des Antichriits angerlefenes Rüitzeug” 
nennt, und fügt ängitlid begütigend hinzu: „Wie jo mande ihm damals ent» 
fahrene Äußerung darf man auch diefe, zumal fie Halb ſcherzend gelan iſt, nicht 
zu ernft nehmen.” Wen glaubt Prut belehren zu müffen, da; man cine „halb 
icherzenb“ geiane Huberung „nicht ernft” nehmen mühe, und mer mödte ſich 
foldhe Arafılprüde, die Vismard „mit der ipm eigenen überftürzten Cfienherzig: 
feir" (Prug) ausaeiprochen, gern verwäfern Iafien! Ein andermal zeigt ſich 
Prug um Bismards fitlihe Aeputotion beforgt. Er fügt: „Don modernen 




































180 oiterariſche Rundſchau. 


franzofiſchen Dichtern ſcheint ihm Beranger beſonders zugeſagt zu haben“, Aufert 
aber jegleich guch die Vermutung oder hoffnung, daß er „an eingelnen feiner 
Lieder Anftoh” genommen habe (S. 172). Mas gehen uns denn bier, bei den 
Höchft harmloſen Berangerzitaten Bismards, feine „loderen Lieder" an? 

Das zweite Unterfceidungszeichen der Pruhſchen Proſa bildet der Stil. 
I bin weit davon entfernt, die Sprache der Jonrnaliftif mit ihrer oft Tieberlichen 
und oft affeftierten Nachahmung der bequemen Umgangsſprache als Mufter aufzur 
Helfen, aber immerhin hat fie den Vorzug, dafs fie für Auge und Ohr leicht vers 
ftänotich ift. Ein fo papiergeborner Stit dagegen, wie ihn Pruß fdhreibt, if 
lüclicherweife auch in der wiffenichaftlicgen Literatur jelten geworden. Süße von 
der Länge und dem verzwidten anatomifwhen Bau eines Ichthyoſaurus fommen 
bei ihm Häufig vor; das Auge vermag ja wohl vor und zurücgreifenb die 
Sapglieder zufammenzulefen, am Ohr würden fic unverftanden vorüberraufhen. 

Dur) ein tiefercs Eindringen in bie Sache zeichnet ſich das lehie Rapilel 
„Bismarts hiſtoriſche Anfhauungen” aus, in dem Brut fich auf dem Boden 
feines Spezialfaches bervegt. Nicht ganz überzeugend aber iſt bier das, mas 
über die Gfeichgültigfeit Vismards gegen die alte Gedichte gelagt it. Prut 
meint, daß Bismard der römiſchen Geſchichle nur „kiſtoriſche Anekdoten” ent» 
mommen habe; doch ſchon feine eigenen Anfünrungen ftimmen nicht ganz zu 
biefer Behauptung, vor allem aber in auffaltenderweife unerwähnt geblicben, dab 
Bismard mehrfach, ſich in Parlamentsreden auf Mommiens römifdhe Gefchichte 
berufen hat. Mommfen zitiert er als Aronzeugen gegen die Freihandelspnlitit 
feiner freifinnigen Parteigenoffen, jo am 8. Jan. IN85, wo er von der Schilnc« 
rung fprict, die cin Mommfen nach 2000 Jahren vom Niedergang der dem ſhen 
Sandwirtfchaft machen würde, und am 14. Febr. 1585, mo cr ich für die Bes 
Hauptung, daß die Latifundienbildung durch den Ruin der Landwiriſchaft, duch 
zu mohlfeite Preife begünftigt werde, auf Mommfen beruft. 


R. Girgenfohn 











die Minimal» und Marimal» Beitimmungen über den 
bänerlihen Grundbeit in Livland. 


Von 
Alegander Tobien 


—— 
nier allen Produktionsmitleln, die dem Menſchen zur 
Betätigung feiner Arbeitskraft verliehen find, iſt ber 

or Boden ber widhtigfte. Weil der Boden ein Probuftions- 
faktor monopoliftiiher Art, d. h. nur in beſchränktem Maße vers 
fügbar ift, geftaltet fi das Problem feiner Verteilung um fo 
ſchwieriger, je mehr bie Zahl derer wächſt, die auf die Nukanıven- 
dung dieſes wichtigften Probuftionsmittels angewieſen find, oder 
aber Anſpruch erheben. In Zeiten forticreitender Entwicklung 
eines Volles gewinnt das Agrarrecht, das die Bodenverteilung 
regelt, immer höhere Bedeutung, zumal die politiihe Verfaſſung 
ber Staaten im wejentlihen auf ihrer Agrarverfaſſung beruht. 
Je ſchärfer die Wecjielbeziehungen zutage treten, bie zwiſchen dem 
Agrarreht und allen übrigen, die Volkswohlfahrt bebingenden 
bürgerlichen Rechtsverhältnifien beftehen, um fo gefährlicher find 
Eingriffe der Gejeggebung in hiſtoriſch ausgebildete Befigver- 
hältnifje *. 

Seitdem die franzöſiſche Nationalverfammlung in der Nacht- 
figung vom 4. Auguft 1789 den Grundſatz des unbefchränften 
Grundeigentums proflamiert und die Napoleoniiche Gejeggebung 
dieſes Prinzip weit über die damaligen Grenzen Frankreichs zur 


2) Gin Zeil digſes Auffapes wurde vom Berfaffer der Kaiferlichen Livl. 
Gemeinnüpigen und Ofonomildien Sogielät in ihrer öffentlicen Siyung vom 
21. Januar (5. Febr.) 1905 vorgeiragen. 

®) Dr. 9. Seite, „Die Verteilung des Grundeigentums im Zufammen, 
Hang mit der Gefchicjte der Gefepgebung und den Volfgzujtänden.” Berlin 1858, 
Si» 





Baltifce Monatajchrift 1005, Heft 3. 1 


182 Minimum und Marimum beim Bauergrundbeſit. 


Geltung gebracht Hatte, ift die Frage: ob unb miemeit bie Der: 
äußerlichfeit und Teilbarfeit bes Grundeigentums zu beſchränken 
ober aber zu förbern feien, eine ber michtigiten jozialpolitiichen 
Probleme geblieben!, Am lebhafteften wurde hierüber um bie 
Mitte des 19. Jahrhunderts geitritten®, und als Ergebnis ber 
vielen Erörterungen fann nad Roſcher die Anficht als bie damals 
vorherrſchende betrachtet werben, daß eine Miſchung von großen, 
mittleren und Meinen Gütern, wobei bie mittleren überwiegen, 
das national und wirtfchaftlich Heilfamfte Verhältnis fei?. Dieſe 
Größenbegriffe find freilich Teineswegs feftfichende, benn zweifellos 
vermag bie geometrijche Flädhenausdehnung an ſich fein Ariterium 
für die Einteilung der Güter nad Größenklaſſen abzugeben. 

Im allgemeinen barf jebod; gefagt werden, daf als große 
Güter ſolche zu gelten haben, deren MWirtichafter fchon mit ber 
bloßen Direflion bes Betriebes vollauf beichäftigt ift, während als 
Güter mittlerer Größe diejenigen bezeichnet werben können, bei 
denen ber Befiger nicht ausſchließlich durch Die Leitung des Be 
triebes in Anfpruc) genonmen wird, fondern an ben auszuführen: 
ben Arbeiten fih unmittelbar ſelbſt beteiligt. Von Heinen Gütern 
dagegen ſpricht man gewöhnlic dann, wenn fie der Negel nad) 
ausfchließlih von dem Wirt felber und befien Angehörigen bear 
beitet werben und gerabe hinreichen, um dem Cigentümer einen 
ausfömmlihen Unterhalt zu ſichern. An biefe reiht fih ber Par— 
gellenbefig, auf denen landwirtſchaftliche Tagelöhner, Kleinhand- 
werfer zc. zu figen pflegen, deren Unterhalt durch den Ertrag bes 
Grundftüdes nicht fihergeftellt ift. 

Je nach Klima, Bodenbeſchaffenheit und Lage find natürlich 
die als große, mittlere und feine Güter geltenden Grundftüde 
ganz verfchiebenen Umfanges, und bie Mafregeln, die in einzelnen 
Staaten im Sinne einer zwedmäfigen Yobenverteilung getroffen 
murben, bifferieren baher erheblich in ihren Größenbeſtimmungen. 
Zwar find in den meiften Staaten Europas alle Teilbarfeits- 
befepränfungen befeitigt, feitbem die franzöfifche Nevolution das 
Prinzip ber Freiheit bes Grumbeigentums zur Herrſchaft bradjte, 
allein vereinzelt gibt es doch noch Vorſchriften aus älterer Zeit, 
bie gegen bie Dobilifierungsfreiheit gerichtet find. Zu biefen 

1) Bruno Hildebrand, „Die foziale Frage der Verteilung des Grund» 
Eigentums im klaſſiſchen —— Jahrbücher für Nationalöf. und Statiſtik. 
18. She, 1869. 1. . 

Roſcher, „Nationalöfonomif des 1derbauch.” 13. Aufl, bearbeitet 
von Heinrich Dade. Stuttgart 1903, Dr. Karl KON „Die Parı 


gelenwirtfchaften im Königreich Sadhfen." Tübingen 1903, ©. 
”) Rofher-Dade a. a. D. ©. 28. 





Winlimum und Maximum Beim Bauergrundbefit. 183 


gehören bie Beftimmungen, welche die Verkleinerung ber einzelnen 
Grundftücparzelen unter ein gewiſſes Maß verbieten, nicht etwa 
um eine Befiggerfplitterung zu verhüten, fondern um zu verhindern, 
daß die landwirtfchaftlid genugten Parzellen unter eine Nrealgröße 
finfen, bie eine rationelle Beftellung erichweren !. 

Sole Voririften über Barzellenminima haben ihren 
Wert dort, wo Streubefig vorherriht, d. h. wo nicht geſchloſ⸗— 
ſene Höfe die Negel bilden, fondern wo die ein Befiptum 
bildenden Grundſtücke zerftreut und im Gemenge mit Parzellen 
liegen, bie verſchiedenen Eigentümern gehören. 

Don weit größerem Intereffe für uns find diejenigen weſt⸗ 
europäifchen Vorjchriften, die darauf abzielen, durch Beſtimmung 
eines Befipminimums mittlere Güter, in der Hauptſache 
Bauergüter, vor einer unwirtſchaftlichen Zerftüdelung zu bewahren. 
Beſtimmungen biefer Art find am fhärfften in Baden ausge 
bildet, wo gegen 5000 Bauerhöfe des Schwarzwaldes im J. 1888 
ſchlechtweg als geſchloſſen erflärt worden find. Der Hof darf nur 
in jeinem ungeteilten Beflande von einem Inhaber auf den andern 
übergehen, und Abtrennungen von Parzellen find nur in befon- 
deren, vom Gefeg vorgefehenen Fällen geftattet ?, 

Im Königreih Sachſen, in Sadjen- Altenburg, Schaumburg. 
Lippe unb Lippe-Detmold, in Neuß ä. £., Echwarzburg-Sonbers- 
haufen und in Medlenburg finden ſich Verordnungen, bie das 
Zerftüceln von Landgütern unter ein gewiijes Minbeftmaß vers 
bieten *. 

Unter all biejen, die freie Teilbarfeit einfchränfenden Ber 
ſtimmungen ift für uns von bejonderem Intereſſe das für das 
Königreih Sachſen erlaſſene Gejeg vom 6. November 1843. 
Ebenſo wie bei uns bilden dort Nittergüter, d. h. mit befonberen 
Vorrechten ausgeftattete Landgüter, und geichlofiene Bauergüter 
das Fundament ber politiihen Verfaſſung. Trogdem in Sachſen 


?) Dr. 4. v. Miastowstn, „Das Erbredt und bie Grundeigenluma. 
verhiäftniffe im Deutfchen Heid.“ 1. Abt., Leipzig 1882, &. 115 (Band IX 
der Schriften des Vereins für Sogialpaliit). 

>) Abolf Bucenberger, „Agrorweien und Agrarpolitif”, 1. Band, 
Leipzig 1882, ©. 154; Miastowsli a. a. D. IL, ©. 186, 387; BYucen« 
berger, „Das Bermallungsredt der Landwirtichaft und die Mlege der Land 
wirtigaft fm Grobberjogtum Baden", S. 006 fi. 1887. Georg Roc, „Die 
gefeplich geichloffenen Yofgüter des badiichen Schwarzwaldes.“ 4. Band 1. Yeit 
der Voltömietich. Abhandlungen Badilcer Hochfculen. Tübingen 1900, 

>) Bucenberger a. a. D. ©. 155; Dr. Karl Namroth, „Die Bir 
fhräntungen der Parzellierungsfreibeit in Sacıjen, Sadfen-Altenburg und Mürt« 
—*** Jahrbücher für Rationalöfon. und Statilit, 3. Folge, 8. Bd., 1894, 
©. 72 


1 











184 Winimum und Magimum beim Bauergrunbbefig. 


Inbuftrie und Handel vorherrſchen und ber Aderbau nad) der Zahl 
ber Perfonen, denen er Beſchäftigung gewährt, weit in ben Hinter 
geund fritt !, fo it man doch befliien, den Bauerſiand vor Zer— 
brödelung zu bewahren und bie Rittergüler, „den Herd ber Kultur 
für das platte Land“ °, in ihrem Beſtande und in ihren Vor— 
rechten? zu fchügen. 

Wie in Livland, nahm aud in Sachſen zu Beginn der 40er 
Jahre des 19. Jahrhunderts eine Periode agrariicher Neformen 
ihren Anfang, die bort jedoch, im Gegenfag zu Livland, eine 
durchgreifende Negulierung ber Grumdfteuerverhältniffe zur unmits 
telbaren Folge hatte. Als die Reform ber Grundfteuer Sachſens 
vor 60 Jahren ins Auge gefaßt worben war, mußte ſich die 
ſächſiſche Regierung mit der Frage befchäftigen, ob die bisher in 
Geltung gewefenen Verbote zu weitgehender Teilung der Landgüter 
aufrecht zu erhalten feien oder nicht“. Der fähliihe Landtag 
entſchied ſich für die Aufrechterhaltung, jebod zeitgemäße Ausge- 
ftaltung der alten Teilungsverbote, nicht etwa weil vorhandene 
ſchlechte Zuftände zu bejeitigen waren, fonbern weil für die Zukunft 
einer gefunden Grumbbefigverteilung die Wege geebnet werben 
follten. Das in diefem Sinne ausgearbeitete, am 30. November 
1843 erlafjene Gefeg unlerſcheidet „Nittergüter” und „übrige 
Grundftüde”. Von einem Rittergut darf auf einmal oder nad) 
und nad nur foviel abgetrennt werben, daß */s des Steuerwertes, 
nad Ausichluß des Wertes der Gebäude, beim Stammgut ver— 
bleiben. Diefer Beſchränkung find auch die „übrigen Grundftüde” 
unterworfen, foweit fie als geſchloſſene gelten, benn neben ben 
geichlofienen gibt es fog. „walzende” Grunbftüde, die dem Geſetz 
vom I. 1843 nicht unterliegen. Für die Nittergüter find feinerfei 
Ausnahmen von dieſer Hegel zugelaſſen, während für bie „übrigen 
Grundſtücke“, d. h. den Kleingrundbefig, dann weitergehende Tei- 
lungen eingeräumt werden bürfen, wenn es gilt zum Zwecke bes 
Betriebes einer Handelsgärtnerei, zur Erbauung neuer Wohnungen, 
zur Anlage von Yabrifen fleinere Parzellen abzuzweigen. Über 
die Zuläffigfeit der Ausnahmen haben die Verwallungsbehörben 
zu entideiden. 

In Livland ift der land» und forftwirtihaftlih genupte 
Boden dem freien Verkehr in einem Maße entzogen, wie abgefehen 
von unfrer Nachbarprovinz Ejtland und der Inſel Defel in feinem 


Lande der Welt, 

9 28.35. — °) Mamroth a. a. O. ©. 76. 

3) Dr. ofmann, „Die Nittergüiter des Königsreichs Sachſen.“ 
Dresden-Blafewig 1901. — *) Wamroth a. a. D. ©. 74 ff. 








Minimum und arimum beim Bauergrundbefit. 185 


Der beliebigen Veräußerung des Hofslandes fteht die pro- 
vinzialrechtlich beſtimmte Minimalgröße der Nittergüter entgegen!, 
und wenn dieſe auch für unſre Verhältniſſe niebrig, d. h. auf nur 
900 Lofftellen — 335,14 Hektar Gefamtareal bemeſſen iit?, jo gibt 
es doch unter den 701 Nittergütern 53, die das zulälfige Mindeft- 
maß bereits erreicht und daher als geichloifene Güter zu gelten 
haben. Rechtlich gebunden, d. h. unverfäuflic, find ferner bie 
Hofs- und Quotenländereien der Nitterjchaftsgüter, ber Fideifom: 
miffe und aller Paitoratsländereien ®, 

Vor einem Jahrzehnt durfte über die Quotenländereien ber: 
jenigen privaten Nittergüter, die nicht fideilommiſſariſch gebunden 
find, frei verfügt werden. Das proviſoriſche Duotengefeg vom 
18. Februar 1893 beichranft jedoch bie freie Verfügung aud) 
über dieſe Ländereien, indem es ben Verfauf von Stüden der 
Quote nur dann erlaubt, wenn die zu veräußernde Parzelle die 
Größe von 10 Talern nicht überlteigt und der Käufer weder 
Eigentümer nod) Pächter eines Banerlandgeiindes ijt*. 

Die ftrengen Schugmittel, die das große Gebiet des Bauer- 
landes bem freien Verkehr entrüden, verbieten dem Gutsherrn 
das Bauerland anders zu nutzen, als durch Verpachtung oder 





2) et. 602 des Provingialrechts III. Teil. 

2) In Gftland muß jedes Sittergut mindeftens 150 Deffätinen Hofes: 
Aderland nebit den entipregenden Wiefen und Weiden umjafien; auf der Jujel 
Sefel_ ift das Windeftmaß eines Nittergutes auf 120 Lofitellen Ader i 
Hofsfeldern feitgelegt, wozu noch 4 Dejeliche Hafen Bauerlandes gehören mi 
in Nurland dürfen Kittergüter nur foweit geteilt werden, daf in jedem alle 
das dem Yauptgut verbleibende Stammland für eine Wusjaat von mindejtens 
30 Tigetwert = 629g Pektoliter Hoggen hinreihe; Art. 601, 603 und 616 
des Provinzialrechts ILL. Teil. 

5) Die Bauerländereien der Nitterfgaftsgüter durften bis zum Erlab des 
Alerhöciten Befehls vom 3. März 1886, der den Verfauf vorläufig inbibierte, 
verfauft werden (gl. W. v. ieferipfy, „Die Yivl. Bauerverordnung”, I. Hälfte, 
Petersburg 19W, ©. 18, und E. v. Bodisco, „Die Eitl. Bauerverorduung", 
Neal 1904, S. 60, Anmert. Die Yauerländereien der Zibeifommißgüter 
dürfen verfauft werden, wenn die Alerhöchite Erlaubnis hierzu erlangt it (Art. 
887 des Provinzialrehts ILL. vgl. Vodisco a. a. D. ©. WW; ferner: 
Patent der Liol. Gouvernementsreg. Ar. 103 vom J. 1806 und Nr. 3 vom J 
1870 u. a.). Die Bauerländereien der Paftorate jind zur Zeit unverfäuflich 
(Gefeg für die evang.chutheriiche Kirche in Auhland, Sammlung der Neichsgelepe 
Band XI Zeil I, Ausg. v. 1896, rt. 715 und rt. 857 des Yrovinzialredts 
III. Zeit), doc Hat der fivl. Sandtag vom J. 1899 ihren Verkauf beichlofien, 
injofge weijen ein Entwurf von Negeln für den Werfauf diefer Ländereien am 
15. Sehr. 1900 dem livl. Gouverneur zur Exwirtung ftaatlicher Genehmigung 
Übergeben wurde; DIS hierzu ift die Erlaubnis zum Verkauf mod) nicht erteilt 
worden. (fie des Yiol. Kantratollg. Yr. 27/3.) 

% Kieferigty a..a. 0. ©. iv Ejtlaud und die Inſel Oeſel find 
ägnlice Bejtimmungen erfafien. die is Werfügungsredit über die Quote, dort 
„Secitel” genannt, wejentlich beicränten; vgl. Vodisco a. a. D. ©. 14. 





























186 Minimum und Maximum beim Bauergrundbefig. 


Verkauf, wobei das Vertragsobjeft nicht unter eine Mindeſtgröße 
geteilt werben darf (Minimumgefeg) und Pächter wie Käufer 
Glieder einer Landgemeinde fein müſſen“. Der bäuerliche 
Eigentümer hingegen ift weit weniger behindert, denn er darf fein 
Grundſtück jelbft bewirtihafien, natürlich auch verpachten und vers 
taufen, und ift beim Verkauf, nicht aber bei ber Verpachtung an 
das Teilungsverbot des Minimumgeſetzes gebunden *. 

An dieſen Einfhränfungen des freien Verfehrs findet bas 
geltende Geſetz noch fein Genüge, denn es jegt bem bäuerlichen 
Grundeigentum auch eine obere Grenze, indem es vorjchreibt , daß 
niemand innerhalb eines Gemeinbebezivfes mehr als einen Hafen 
Bauerlandes zu eigen haben dürfe. Alle diefe rechtlichen Qualifis 
tationen, Beichränfungen und Verbote entziehen fait */s bes Bejtandes 
der livländijchen Nittergüter und Paftorate dem freien Verfehr s. 

In Livland gibt es 701 Nittergüter, von denen 7 ber liv— 
livländiſchen Nitterichaft, 18 livländijhen Städten gehören und 
79 fibeifommilfariich gebunden find. Sonach haben wir 104 
techtlich gebundene Nittergüter, zu denen noch 100 Paſtoratswidmen 
zu zählen find, und 597 ungebunbene Rittergüter. Alle Ritter- 
güter und Paftorate umfaſſen 9,399,312 Lofitellen — 3,492,786 
Hektar Gefamtareal. Hiervon find, dank den vieljahen Rechts- 
befchränfungen, denen einerfeits die 25 Güter der Korporationen 
und die 79 Fibeifommißgüter, anderjeits bie 3 rechtlich geidhiedenen 
Bodenfategor Hofsland, Quote und Bauerland aller Ritter 
güter und Paitorate unterliegen : 








unverfäuflich: 1 

. zur Zeit od) unverfäuflich: 

. bedingt verfäuflich: 

. frei verfäuflich: 
Gal. die Beilage.) 


zwwr 











) Col, Bauerverorbnung vom 13, November 1800, $ 3 und 101. 
BU - NUUS —X 

4333 fiehe weiter unten. 

*) Wir behandeln Gier mur die rechtlichen Ver! 






Äfeihterdings nicht befhaffen. Diele Tatiache findet wohl darin ihre Erklärung, 
dab die Mgrarordmung auf den Tomänengütern nicht Durd die für die Ritter: 
gi {tenden Gefede, ſondern durch zahlreide Speyialverordnungen geregelt üt, 
Die einen häufigen Wechſet in der Kubungsweile der domanialen Yündereien 
zumege gebracht Haben. — Die tedht verworrenen Geſche und Verordnungen über 
die Agrarordnung auf den Tominengüteru findet man, feider in wenig übere 
fühtlicher Doritelung, bei Kielerigfg, „Die Sivländilche Veuerverordnung” x. 
3. NXRTIE fi. (Nahträge) und ©. 2 fi. 








Minimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 187 


Wenngleid) das Gefüge der rechtlichen Hemmniſſe, bie ben 
Bodenverfehr einengen, tief in das Wirticaftsieben Livlands 
eingreift und einen bureaufratiichen Sontrollapparat notwendig 
macht, deſſen Injtanzenzug kennen zu lernen allein ſchon ſchwierig 
genug iſt, wird wohl kaum jemand in Livfand für die Beſeitigung 
aller dieſer Schranten eintreten wollen. 

Das Mindeftmah der Nittergüter iſt notwendige Voraus— 
fegung der ſtaats- und privatrechtlihen Vorrechte, die den Ritter: 
gütern eigen find. Zu den Vorzügen ftaatsrechtlicher Natur gehört 
das Recht der Landſtandſchaft, d. h. die Lanbtagsfähigkeit, während 
das ausſchließliche Recht des Branntweinbrandes und der Bier: 
brauerei, fowie das Recht der Anlage von NKrügen und das 
Abhalten von Märkten auf dem Gebiete des Nittergutes! bie 
privatrechtlichen Vorredte ausmachen. Wiewohl ſonach die noch 
heute beftehenden Vorrechte der Nittergüter, namentlid im Vers 
gleich mit der Vergangenheit ?, nicht erhebliche find, ift die Minimal⸗ 
größe der Nittergüter dod, und zwar im Intereſſe der Land— 
Ntandjchaft, unbedingt aufrecht zu erhalten. 

Die ftrengen Schugmittel, die das große Gebiet des Bauer: 
landes jeit 50 Jahren umgeben und die Eigentumsredhte der 
Gutsherren fo fehr beihränfen, daß im Grunde nur nod von 
einem gutsherrlichen Obereigentum am Bauerlande die Rede fein 
kann, — diefe Schugmittel bilden jo fehr das Weſen unjrer Agrar— 
verfailung, daß ihre Aufhebung eine vadifale Anderung bedeuten 
würde. Freilich, der „rote Strich“, wie wir jagen, ber „Leihes 
zwang”, wie man in Deutſchland die Verpflichtung ber Gutsherren 
nannte, ben als Bauerland ausgejdiedenen Teil der Nittergüter 
lediglich bäuerlier Nugniegung yu _überweilen, dieſes eigenartige 
Rechtsverhältnis ift in Wefteuropa längſt befeitigt ? und bejteht 
im Often von uns, im Innern Rußlands, nicht in ber ausichließe 
lichen Strenge wie in Liv und Ejtland und auf der Infel Dejel‘. 


) Provingialrecht. Zeil IL, Art. 883, 
Grundeigentümers, mit Wusnahme des 
Brof. Dr. Karl Erdmann, „Syitem des Privatreıhts der Oitieeprovingen Sivs, 
Eſt. Kurland“, 2. Band, Riga 1801, ©. 28 fi; M. Stillmart, „Beitrag 
zur Lehre nom Jagbrerht“, Yalt. Monatsicriit 45. Band, 1809, 2. 135 fi. 

®) Wler. Tobien, Die Hgrargeiebgebung Yiolands im 19. Jubrhundert“, 
1. Band, Berlin 1809. ©. 

%) Fuchs, „Vauernbefreiung” im Wörterbud) der Boltswirtfcaft, hrsg. 
son Prof. Dr. v. Stiter, 1. 8., Jena 1808, 27 fi; Deinrid Brunner, 
„Der Leihegwang in der deutfcgen Mgrarpoliif”, Wede zur Gedächinisieier König 
driedrich Wilhelm III. Berlin 1887. 

‘) Der Urt. 165 des Ablöjungsgeiepes vom 19. Febr. 1801. lieh die 
— Möglictet yu. vah Bausen nat Tilgung de8 auf Ihrem Sandantel 


Die Jagd iſt ein Recht jedes 
mers von Banerlandftellen. Bgl. 














158 Minimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 


Und bennod) werden wir, bie wir für die Kontinuität der Ent 
wiclung einzuftehen gewohnt find, nicht geiwillt jein, den „roten 
Strich“, weil er einſchränkend wirft, zn verwiſchen. 

Ganz anders jedod) als mit. ben gejeplichen Beftimmungen 
über bie Unantaftbarfeit bes Bauerlandes würden wir mit bem 
Quotengefeß von 1893 verfahren, wenn uns bie Macht zuftünde; 
denn dieſes Geſetz, das unvermittelt in das Gefüge unfrer ſelbſt- 
geichaffenen Agrargejege hineingezmängt worden iſt, entbehrt der 
Berechtigung völlig!. Die Staatsregierung bejchäftigt ſich baher 
zur Zeit mit einer Umwandlung diejer fruchtlofen und zugleich 
ftörenden Beitimmungen, die wir am liebjten fpurlos verſchwinden 
fehen würden. 

Eine mittlere Stellung ift dem Minimumgeſetz zuzuweiſen, 
deffen geidjichtliche Berechtigung ebenjowenig wie feine Neform- 
bedürftigfeit bezweifelt werben fann. 

Vorschriften, die darauf abzielen, die Bauerhöfe vor einer 
zu weit gehenden Teifung zu fhügen, find mehr ald 200 Jahre 
alt. Schon die ſchwediſchen Agrargefege beitimmten, daß fein 
Gefinde weniger als 26 Hafen zähle? Da nun der Hafen in 
ſchwediſcher Zeit in 60 Taler geteilt wurde ?, war 1/s Hafen Te 
Talern gleich. Auch im berühmten Aicheraben « Nömershofichen 
Bauerrecht, das Karl Friedrich Baron Schoulg im I. 1764 zur 








ruhenden Betrages der Ablöfungstapitalfcpuld, die Ausfceidung der von ihnen 
erworbenen Sandparzelle aus dem verdande des emeindebefites erzwingen 
Tonnten; das ausgejcjiedene Landftüd durften auch Perfonen erwerben, Die der 
Bauerngemeinde nicht angehörten. Das Oje vom 14. Deyember 1803 verbietet 
zwar im allgemeinen den Perfauf von Zeilen des Vauerlandes an Perjonen, 
die nicht Ofieder der Bauergemeinde find, läht jedoch Die Ausnahme zu, dan 
mit Genehmigung des Minilters des Junern Stüde bes Bauerlandes zu gewerbs 
lichen Zweden jedermann verfauft werden dürfen, Dr. Johannes v. Neuhler, 
„yur Öelhichte und Kritit des bäuerlicen Gemeindebefiges in Nuhland“, 3. Teil, 
Petersburg 1897, ©. 207. Derielbe: „Die erften Schritte zur Sicherung des 
bäuerlichen Orundbefiges und insbefondere jur Organtfation des emeindebefißes.“ 
Yalt. Wocenfeift 1894, ©. 501 fi. Wladimir Or. Simfpowitid, „Die 
etögemeinfchaft in Ruhland.“ Jena 1808, ©. 386 ff. Derfelbe: „Tie 
Bauernbefreiung in Rubsland.” Handwörterbudz der Staatswiffenfchaften 2. Bo., 
dena I6ON, ©. 200 

% Ale. Tobien, „Memorial über die Quotenfrage*, Balt. Monatsicır. 
45. Bd., 1809, ©. 358 fi. 9. v. Brocder, „Zur Quotenfrage in Livland“, 
Riga 1808. 

2) Sönigl. Reviſions Inftruktion vom 7. Febr. 1687, $ 7 u. 8; Reviſions · 
memorial vom 30. Jan. 1688, $ 16 u. 18 in Guftau Johann v. Buddens 
brods „Sammlung der Seiete, welche das heutige Kol, Sandrecht enthalten“, 
Riga 1821, II. Zeil, ©. 1214, und fiehe aud) Aitaf v. Tranfehe-Rofened, 
„Sutsherr und Yauer in Sioland im 17. u. 18. Jahrh.“ Strahburg 1890, &.61. 

®) Yler. Tobien, „Lie Agrargejeggebung Lidlands im 19. Jahrhundert.” 


©. 60. 

















Minimum und Marimum beim Vauergrundbeſih. 189 


Hebung ber wirtſchaftlichen und rechtlichen Lage feinen Bauern 
verlieh, finden wir die Veftimmung, daß bei Teilung des Gefinbes 
im Erbgange unter die Nutznießer die Erbportion nicht weniger als 
Haken oder 7 Taler groß fein bürfe!. Die Vauerverorbnung 
vom 3. 1804 jegte die Minimalgröße eines Bauerlandgefindes 
auf 6 Taler feit*, während die mit ben alten Polizeiverboten 
brechende liberafe Yauernerorbnung vom I. 1819 (ediglic) vor: 
ihrieb, daß bei Teilung eines Grundftüdes unter Erben jedem 
wenigſtens 12 Lofitellen Ader zufallen müflen. Das in vielen 
Beziehungen zu ben beichränfenden Normen der Bauerverordnung 
vom J. 1804 zurüdfehrende Agrargefeg vom J. 1849 verbot 
jegliche Teilung unter das Mindeſtmaß von "/ı Hafen oder 6°, 
Taler, gleihviel ob es fih um Hofe: oder Bauerland, um Ber: 
pachtung ober eigentümliche Übertragung handele‘. Als zeitweilige 
Ausnahme von biejer Beſtimmung wurde die Vildung von fog. 
Xostreiberjtellen in der Minimalgröße von 5 Lofitellen aderbaren 
Landes zugelaiien®. 

In der heute nod) geltenden Bauerverordnung vom J. 1860 
finden wir die 1849 geihaffenen Vorſchriften mit eingen Abände— 
rungen wieder. Die Minimalgröße ift auf "/s Hafen oder 10 Tuler 
erhöht®, gilt jedoch nur für Bauer, nicht aber auch für Hofsland. 
Das Gefep begründet das Verbot weiterer Teilung damit, daß 
%s Hafen das Minimum für das felbjtändige Beſtehen einer auf 
Land figenden Familie bilde?, verfährt jedoch in diefer Hinficht 
nicht fonfequent, denn das Verbot, daß das Bauerland niemals, 
weber zum Zwed ber Verpachtung noch zu dem ber eigentümlichen 
Übertragung in Grundftüde, die Heiner als Y/s Hafen find, par- 
zelliert werden dürfe, richtet ſich nur gegen den Gutsheren ale 
Eigentümer bes Bauerlandes. Iſt aber nicht ein Gutsherr, fondern 
ein andrer Eigentümer des Bauerlandes, jo gilt das Minimum— 


4) „Afcgeradenfges und Nömershofides Bauerrecht. gegeben von Karl 
Zriedrih Schouls im I. 1764 nad, Chräjfi Geburt“, in deutisher Überfegung 
ahgedrudt in Reinhold Johann Ludwig Samfon v. Dimmelltierns „Hi 
rülcher Werfuc) über die Wuflicbung der Yeibeigenfchaft in den Ditieeprovingen in 
bejonderer Beziehung auf das Herzogtum Lioland.“ Beilage zur Wocenfchrift 
„as Jutand“, Jahrg, 1838, Spalte 169, Yuntt 5. 

®) Yauerverordnung vom 20. Febr. 1804, $ 58, Buntt 1. 

%) Yaierverordnung vom 20. Wär, 1819, $ 418. 

#) Eivl. Agrar: und Bauerverorduung vom d. Juli 1849, $$ 130 u. 255. 

5) $$ 140 ımd 616-618. 

%) Tiefe Erhöhung ift einer direlten Einwirkung des Generalgouverneurs 
Fürften Suworow zuzufgreiben; vgl. Wler. Tobien, „Veiträge zur Geichigte 
der liof, Ygrargeieggebung“, Balı. Wonatsfahr. Br. 20, Sabg. Ised, ©. MUT. 

) 1860 $ 1 











190 Winimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 


geleg nur für ben Fall des Verkaufs, nicht aber für ben ber 
Verpagtung!. Das Gefeg geilattet alio auf bereits durch 
Verkauf abgelöften Bauerhöfen bie Bildung von Pachtſtellen, bie 
weniger als ?/s Hafen groß find, wiewohl es ausbrüdlid; hervor 
hebt, daß Grundftüde diefer Art die Selbftändigfeit einer Land: 
wirtſchaft treibenden Familie nicht fihern®. Ausnahmen von ber 
Hauptregel läßt das Gefeg dann zu, wenn ein Bauerlandftüd zur 
Errichtung ftäbtifcher MWohnhäufer verkauft wird und wenn es ſich 
um bie Anfiedlung von Lostreibern handelt. Solden Leuten darf 
auch ber Gutsherr von dem Bauerlande Parzellen zumeifen, deren 
Umfang gefeglich nicht normiert ift?, die baher Heiner als !/s Hafen 
fein fönnen. Hervorgehoben mag nod) werden, daß zur Errichtung 
tommunaler Vaulichkeiten, wie Schulen, Grundftücde ohne Rüdficht 
auf das Minimum ausgefdhieben werden bürfen* und baß, ba das 
Teilungsverbot nur freiwillige Veräußerungen trifft, unfreimillige 
Veräußerungen, wie z. B. Erpropriationen von Bauerland, giltig 
find, aud) wenn das Objeft weniger als Haken wert ijt®. 

Diefe den freien Grundſtückverkeht weſentlich heimmenden Vor— 
ſchriſten wurden bald nachdem Die Bauerverordnung vom I. 1860 
in fraft getreten war, heftig angegriffen. Damals regte es ſich 
bei uns allenthalben auf wirtſchafllichem, wie auf geiftigem Gebiet. 
Die alte Frohne Hatte 1865 aufgehört zu eriftieren, die Freigebung 
des Rechts zum Erwerbe ber Nittergüter war auf die Tagesord:- 
nung gejept, die Landgemeindeordnung in Angriff genommen 
worden; Stabt und Land hatten allen Grund auf eine unferen 
Bebürfniffen entſprechende Juſtizreform hoffen zu bürfen. . Die 
geiftig lebhafte Strömung jener Zeit trat namentlih in der 
erweiterten Publizijtit zutage. Der 1859 begründeten „Baltifhen 
Monatsjchrift” waren 1863 das meifterhaft vom heute noch leben- 


3.0.1849 $ 258, BR. 0.1800 $ 228. Der maßgebende $ 223 
EU lautet: „Dem Eigentümer eines Bauergrunditüdes fteht Die 

Spofition über dagjelbe zu und fann er e& mad) belieben gang oder teils 
weiſe verkaufen oder verpachten, inſoſern nur der alienierte Zeil micht Heiner 
als das für ein Vauergrundftüt überfaupt vorgeicriebene Minimum von 
3/4 Haten it." Dito Müller, „Die fivländ. Agrürgeichgebung“, Niga 1802 
&. 56 u. 82 nimmt irrtümlich an, daß au dem bäuerlichen Cigentümer vers 
boten fei, jein Grunbftüd in Stüden, die Heiner als Ys Hafen find, zu verpadhten. 

2) 8.8. v. 1860 3 114. 

% 2.2. v. 1800 $ 114, Anmert, u. $$ 559 fi. 

4) Patent vom 4. Juni 1805 Ar. 118. 

5) Müller a. a. D. ©. 56. 

) Yubligiert ift die lvl. Vauerverordnung vom 13. November 1890 am 
10. Januar 18U1, aber in fraft trat fie erit am 24. Juni 1863, nachdem die 
deutfape, lettifihe und eſtniſche Überfeyung von der lidl. Gouvernementszegierung 
orröffentlicht worden war. (Patent 1863 Nr. 58). 




















Winimum und Marimum beim Vauergrundbeſit. 191 


den Profeſſor Karl Schirren geleitete „Dorpater Tageblatt” unb 
die von Profeſſor Auguft v. Bulmerineq begründete „Baltifche 
Wochenſchrift“ gefolgt !. 

Das in jenen Tagen vielumftrittene Thema des Perfonen 
bürgerlichen Standes zu gewährenden Befigrechtes an Nittergütern 
gab Veranlajlung zur Behandlung ber Frage, ob die durch das 
Warzellierungsverbot beſchränkte Nugungsmweife der Bauergüter noch 
zeitgemäß fei. Man war um fo geneigter fih Zweifeln über den 
Wert diefer Feilel hinzugeben, als zu Beginn der 60er Jahre eine 
bedenkliche Aus wanderungsluft das Landvolk erfaßt hattet, — 
As Erſter gi der heute noch unter uns lebende Hermann 
v Samjon mmelftiern das Dlinimumgefeg in der Bal— 
tifhen Monatoſchrift an ?, indem er nachzuweiſen ſuchte, daß die 
Freigebung des Grumbftüdverfehrs an fih nur Vorteile bringe 
und feinerlei Nachteile mit fih führe. Das Minimumgefeg wolle 
verhindern, daß den Eigentümern zu fleiner Grundftüde aus ihrem 
unzulängligen Befigtum Schaden erwachſe. Wiewohl im einzelnen 
Fall Mißgriffe gejchehen könnten, jei es doch im hödjiten Grade 
unwahrigeinlid, daß die bäuerliche Bevölferung ſich maſſenhaft 
auf die Parzellierung des Bodens verlegen würde, wenn dieſe 
nicht Vorteil brächte, ebenjo unwahriceinlid, wie daß die Gewerb⸗ 
treibenden eines Landes fi) anhaltend einer nicht lohnenden Fabri⸗ 
fation hingeben würden. Anderſeits begünjlige der völlig freie 
Vodenverfehr die Heranbildung eines fehhaften Tagelöhnerftandes, 
deſſen Exiſtenz für die Landwirticaft immer motwenbiger werbe. 
— Ähnlich äußerte ſich zur jelben Zeit der ſpäter als Proſeſſor 
des Baliiſchen Polytechnilums verſtorbene Jegör von Siveras 
Raudenhof. 

Nachdem Samſon und Sivers die Aufhebung des Minimum—- 
gefeges zur öffentlihen Disfuffion gebracht hatten, blieb Diele 
Trage mehrere Jahre hindurch ein oft behandeltes Thema. Mit 
dem Frühling 1868 jollten die legten Überbleibfel der Frohnpacht 
aufgören rechtlich zu bejtehen® und hierdurch wurde ein erhöhtes 

















1) Siehe Näheres in Julius Edardt, „Livländiiche Sräbtingsgedanten, 
und Aler. Tobien, „Nüdblid auf die Guer Jahre“, —33* ſoneis ſaift 
13. Band, 1866, 5. 200 ff. und 39. Band, 1802, ©. 121 

2) Ute des Iivl. Sandratstollegiung Ar. 4 
ds Kivländifden Landtags 







) 9. ». Samfon, „Ad deliberandum 
von, 1804”, Baltife Monatsjcrift 11. Band, 1805, S. 360 it., und Über Die 
Greibeit, * Vertehrs mit Orundllüden“ cbenda 12. Band, 1805, &. 38 f} 

) Jegör v. Sivers, „Die Teilung des bäuerlichen Orundbefiges. Cin 
Wort zum Nachdenfen.“ Higa 1865. 
5) Pate ninom 14. Dat 1805 Mr, 54. 





192 Minimum und Marimum beim Vauergrundbeſih. 


Bedürfnis nad) freien Knechten und Tagelöhnern wachgerufen. 
Diefes Bebürfnis glaubt man am beiten durch Anfiedlung von 
Arbeiterfamilien befriedigen zu fünnen, und verlangte, Die Gejep- 
gebung folle den Weg Hierzu durch Befeitigung des Minimuns 
geſetzes anbahnen. Im folhem Sinne ſprach fih die Livländiihe 
Gemeinnügige und Dfonomifche Sozietät in ihrer Sigung vom 
17. Januar 1868 einftimmig aus! und das Organ der Sopietät, 
die Baltiſche Wochenſchrift, trat in einer Neihe von Artikeln aus 
ber deber ihres damaligen Nebatteurs Hermann v. Samfon lebhaft 
für den Sozietätsbeſchluß ein ?. 

Um zum Ziele zu gelangen, bedurfte es aber vor allen 
Dingen der Mitwirfung des Landtages. Schon im J. 1865 hatte 
Jegoͤr v. Sivers-Raudenhof der Nitter- und Landidaft die Nufe 
hebung des Minimumgeſetzes vorgeichlagen? und vier Jahre ſpäter 
waren Hermann v. Samfon-Urbs und Peter v. Sivers : Nappin 
mit Anträgen gleichen Inhalts hervorgetreten*. Allein der Landtag 
fehnte alle diefe Vorſchläge mit der Motivierung ab, daß die im 
Gefeg vorgejehene Schranke der Parzellierung fih nur auf das 
Bauerland beziehe, die freier Teilbarkeit offen ftehenden Hofs— 
Ländereien aber hinreichen, um Landarbeiter in geuügender Zahl 
anzufiedeln, und praftiic-politiihe Erwägungen eine Abänderung 
der fürzlid) herausgegebenen Banerverordnung verböten®. Der 
unterdeß fich immer mehr geltend machende Arbeitermangel, den 
die Auswanderungsluit der Lanbbevölferung fteigerte, vermehrte 
jedoch anfehnlid die Gegner des Minimumgeſetzes, und als im 
3. 1872 Guido v. Samjon:Kawershof den völlig freien Boden— 
verfehr abermals im Landtage zur Sprache bradjte®, ging ber. 
Landtag auf den Antrag injofern ein, als er eine Kommillion aus 
3 Berfonen bildete, die alle aus ber Vejeitigung des Minimum: 
gefeges folgenden Konſequenzen, jowohl in Bezug auf die hypothe— 
fariiche Belaftung, wie aud auf bie Siderftellung der Neallajien 
und Grundfteuern ins Auge fallen follte. Die aus den Kreisbepus 
tierten Edward von la Trobe-Pajusby, Guido v. Samfon-Kawershof 





3) Balt. Wochenſchrift 1808 Ar. 14, Sp. 206; „Zur Tagelöhnerfrage“ 
ebenda Ar. 

2) „Über die Freiheit des Vobenverfehrs", Val. Wocenjcht. 1809 Ar. 1; 
„Dualififation des Bodens“, 1870 Ar. 33/34, Sp. 424; „Nochmals über das 
Bininum, 1572 0, 077, Sp. A; „Ommer maß über Minimun a, a. D. Sp. IH 

3) Alte des livl. Yandratstollegiumd, Band Lit. B, 258, Lot. I, © 

%).a..a. D. ©. 187 und 294. 

3) Yandtagsregeh vom 11. Sept. 1805 und vom 24. März 1869, a. a. O. 
©. 127 und ©. 302. 

%) Anteag vom 12. Mai 1872, Ate Sitt. B, 268, Vol. IL, S. 11 fi. 















Minimum und Magimum beim Bauergeundbefig. 198 


‚und Alfred Baron Engelhardt beitehende Kommiſſion jtattete einen 
eingehenden Bericht ab!, der bem Februar-Landiage bes Jahres 
‚1877 vorgelegt wurde. Die Rommijfion befürmortete die Auf 
hebung bes Minimumgefeges warm, da fie in ihr eine für das 
wirtſchaflliche und fittlidie Leben ber Landbevölferung fegensreiche 
Maßregel erblidte. Um jedoch foweit als möglich den Befürd- 
tungen über ungünftige Folgen völliger Barzellierungsfreigeit zu 
begegnen, beantragte fie eine bejchränfte Teilungsbefugnis in 
dem Sinne, daß entweder die von einem Bauerhof abgefeilte 
oder bie in der Hand des Veräußerers zurücbleibende Parzelle die 
Größe von mindeftens 10 Talern aufweifen müſſe?. Unüberwind- 
liche Schwierigfeiten rechtlicher ober kreditwirtſchaftlicher Natur, 
bie ber Neform etwa entgegenjtünben, erkannte bie Rommilfion 
nit an und ſchlug vor: die durch Befeitigung des Dlinimum- 
gefeges hinfällig werdenden Beſtimmungen der Bauerverordnung 
über Die Anfiedlung jog. „Lostreiber"? aufzuheben. S 

Die Rommijfionovorichläge riefen im Landtage eine jehr leb- 
hafte Meinungsvericiedenheit hervor, wobei Glieder der Kreis: 
beputiertenfammer für bie Nommiljionsvorichläge, Glieder der 
Landratsfammer gegen fie eintraten. Die Mehrzahl der Kreis 
deputierten hatte eine Anderung der Rommilfionsvorihläge in dem 
Sinne beantragt, daß auf je 10 Taler Kaudivert die Ablrennung 
nur einer Parzelle bis zum Maximum von 4 Lofitellen geftattet 
fei, wobei jedod das nachbleibende Stammgrundſtück mindejtens 
10 Taler groß bleiben müfje*. Hiergegen war wohl mit Hecht 
eingewandi worden, daß dieſe Beſchränkung eine mechaniſche fei, 
die weder nach wirtichaftlihen Gefegen zweckmäßig bemeffen, noch 
den örtlichen Bedürfniſſen angepaßt werben fönne und daher leicht 
dahin führen werde, die von der Aufhebung des Minimumgeſetzes 
erwarteten Vorteile zu vereiteln?. 

Gegen die Kommiffionsvorfcläge hatte fid) die Rammer ber 
Landräte einmütig erklärt, und zwar namentlich deshalb, weil 
die Erleichterung ber Parzellierung die Ableiftung der Firchlichen 
Reallajten in Frage jtelle und die Aufbringung der öffentlichen 
Grundlaften und Grundfteuern erſchwere. Für diefen Gefichts: 

9) Als Wanuſtript im Juli 1875 gebrudt, der genannten Alie S. 14a 
einverleibt. 

%) Kommiffionsbericht betreijend Aufgebung des Magimum und Pinimum 
der Größe bäuerlicher Orundjtüde. S. 8 und S. 20. 

3) $$ 551-546 ber Yauerverordnung von 1300. 

4) Landtagseejeh vom }. 1877, ©. 02. 

3) Sentunent des Kafjadeputierten 9. Baron Tiejenhaufensgnzcem und 
des Areisdeputierten 2. Baron MeycndorifsNamlau. 


19 Minimum und Marimum beim Bauergrundbeftß. 


punft mar namentlich bie Beſtimmung des Provinzialredhts! maß: 
gebend, daß bei Teilung eines reallaftpflichtiigen Grunbftüds bie 
Nealfaft dann auf allen Teilen haften zu bleiben habe, wenn ber 
Berechtigte nicht in die Teilung der auf dem Grundſtück ruhenden 
Laft willige. Eine folhe Einwilligung von feiten der Kirche zu 
erlangen hielt das Landratsfollegium für unwahrſcheinlich, weil die 
Teilung der pflichtigen Grumbjtüde die regelrechte Ableiftung der 
Neallajten gefährde, die folibarifche Verhaftung der Parzelleneigen- 
tümer für bie ganze Neallaft aber in vielen Fällen undurchführbar 
fei, da griechifch:orthodore Grundftüdbefiger von ihr ausgenommen 
werden müßten? 

Dem Vedenken der Landräte ſchloß fidh der Landtag an und 
lehnte die Anträge anf Mobifizierung des Minimumgejeges mit 96 
gegen 61 Stimmen mit der Begründung ab?, baf bie Ummand- 
fung ber kirchlichen Reallaſten noch nicht entſchieden ſei und mög- 
lichexweiſe dur) die Aufhebung des Pinimumgefeges präjubigiert 
merden Fönnte; daß ferner die Frage wegen Ableiftung ber auf 
dem Boben ruhenden öffentlichen Lafien feitens der Barzellenbefiger 
noch feine Löſung gefunden habe, daß anderjeits aber die umfang: 
reichen Hofslänbereien grofj genug feien, um zur Zeit bem Vebürfnis 
nad) Anfieblung von Landarbeitern zu genügen. 

Seitdem ift ein Menjdenalter dahingegangen und der Yandtag 
hat ſich nicht veranlaßt gejehen, auf die vor fait 40 Jahren auf 
geworfene Frage ber Freiheit des Bodenverfchrs zurücdzufommen. 
— Das nädjfte Jahrzehnt war eine Periode lanbwirtichaftlichen 
Gebeihens; der Bauerlandverfauf nahm, bank den förberlichen 
Maßnahmen ber Rreditfozielät, einen erfreulihen Aufihwung*; 
die Preife landwirtſchaftlicher Erzeugniffe ftanden relativ hoch, an 
Arbeitsträften mangelte es nicht, jo daß weder die Gutsbefiger 
noch die Großbauern ein Bedürfnis empfanden, Yandarbeiter durch 
außerordentliche Dlittel an ſich zu feileln. Überdies waren bie 
Bauerhöfe erſt fürzlich in erheblichem Maße durch Verkauf abgelöft 
morben, ober im Vegriff, in bänerliches Eigentum überzugehen, 
weshalb ber heute zutage tretende begünftigende Einfluß des bäuer- 
lichen Erbrechts auf die Nealteilung der Bauerhöfe ſich noch nicht 

3) Provinziaftecht TIL. Zeit, %trt. 1304. 

?) Aommilfionsbericht S. 13 und 14. 

3) Yandiagsrejeh ». 11. Febr. I877, Alte Litt. B, 258, Vol. II, S. 153. 


4) Baron Hermann Engelhardt, „Zur Geſe der Pol. adeligen 
Giterteeeifogieit“, Niga Ju, 
») 








Do Wtaele, v2 vonduitlnaft in Aucland“, Min 1899. &. 04: 
E. Baron CampenbaujensLoddiger, „Ein Müdblid auf die Getreidepreile”, 
Yalt. Wocenfarift 1904, Ar. 52. 


Trnimum und Markmum beim Bauergrunbbefit. 105 


in nennenswerter Weife geltend gemadjt hatte. Dieſe Verhältniſſe 
haben fih im legten Jahrzehnt weſentlich verändert und feinen 
zu einer Nevifion bes Minimumgefepes zu drängen. In jebem 
Fall wird eine formale Ergänzung der bezügligen Beſtimmung 
erfolgen müſſen, denn bie Grenze, bis zu der ein Bauerhof geteilt 
werden barf, ift befanntlih in einen Bruchteil des Mertbegrifies 
„Halen“ ausgebrüct und biefer veraltete Maßjtab für bie Be- 
Inftungsfähigfeit des Yobens mit fommunalen und ftaatlicen 
Auflagen! mird durch bie im Gange befindliche Neufhägung ber 
Liegenfchaften befeitigt werden müſſen?. 

Ebenjo wie das Königreich Sachſen vor 60 Jahren? ift aljo 
Livland gezwungen infolge einer Grunbdfteuerreform feine gejeg: 
lien Teilungsverbote wenigitens einer formalen Prüfung zu unter: 
diehen. Es fiegt jeboch der Gedanfe nahe, in biefem Anlaf zu 
erwägen, ob biejenigen Vorausfegungen, bie vor fait 50 Jahren 
zur Formulierung des heute geltenden Minimumgefepes führten, 
noch zutreffen und die Erhaltung dieſes Kindes der Frohnzeit und 
der Unjelbftändigfeit des Bauerſiandes noch weiter wünfdenswert 
erſcheinen laſſen, ober ob nicht vielmehr die rechtlichen und wirt: 
ſchafilichen Lebensbedingungen umfres Lundvolls und die Bebürf- 
niffe der auf Heranziehung von Yandarbeitern angewiefenen Guts— 
und Bauerwirticaften auch eine materielle Nevifion des Minimum— 
gefeges erheijchen. 

Zunäãchſt gilt es ein Bild von ber Gliederung unfres bäuers 
lien Grundbefiges zu gewinnen. 

Eine genaue Gruppierung aller 24,897 Bauerlandgefinde ift 
zufegt im J. 1892 burchgeführt worben, wobei ſich ergab, daß: 

1274 ober 5,12 °/o weniger als 10 Taler umfahtent, 


12,213 „ 490% 10-20 Taler groß waren, und 
11,800 „ 45,1% mehr als 20 Taler aufwiefen. 


24,887 ober 100,00 








1) Zobien, „Die Agrargefebgebung Livlands . ic. S. 69 ff. 

2) Derfelbe. „Die Rotmendigfeit einer Reform der liot. Grunbftenern 
und das Gefch vom 4. Juni 1901”, Yalt. Mochenfcht. 1902, Ar. 8. 

®) Siehe oben &. 181. 

4) Die verfchwindenb geringe Anzahl Bauerhöfe, die das geicpliche Minimum 
nicht erreiden, cntftammt der Zeit vor der Geltung des heute mahgebenden 
Gefeges. Die Bauerverordnung vom 13. November IH murbe_ vom Senat 
am 10. Jumi 1861 veröffentlicht, rat jedoch laut Patent vom 7. Juni 1863 
Pr. 53 erit am 24. Juni 1803 in rait. Alle bi8 dahin vorhandenen Bauerhöft, 
die das Minimum von 10 Zalern nicht einhielten, durften meiter beſtehen; 
$ 114 der 3,8. 1860. 


196 Minimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 


Faſſen wir die Gliederung unfres bäuerlichen Grundbeſitzes 
näher ins Auge, jo wäre von den allgemein giltigen Erfahrungs 
fägen auszugehen, baß als große Bauergüler ſolche zu gelten haben, 
deren Wirtfchafter ſchon mit ber bloßen Leitung bes Betriebes 
vollauf beſchãftigt ift, während als mittlere Bauergüter diejenigen 
bezeichnet werden Lönnen, bei denen ber Vefiger fi an den aus: 
zuführenden Arbeiten felbit beteiligt, als Heine Bauergüter dagegen 
diejenigen, Die in ber Negel ausichließlih von dem Wirt felber 
und deſſen Angehörigen bearbeitet werden und gerade Hinreichen, 
um durch ihren Ertrag dem Eigentümer einen auskömmlichen 
Unterhalt zu gewähren. 

68 liegt auf der Hand, daß die Heinen Bauergüter, alfo 
diejenigen Gefinde, die einer bäuerlichen Familie die Führung ihrer 
Eriftenz fihern, für das Landvoll die widtigften find und bie 
Grundlage einer gefunden Agrarorbnung bilden. 

Wie groß muß mun ein folder Bauerhof bei uns in Liv— 
land fein? 3 

Ein Gutachten!, das der cheimalige Präfident der Dlono— 
mifchen Cozietät, Landrat Eduard v. Oettingen-Jeniel, 
dem Gouverneur von Livland General Sinowjew auf deſſen Ville 
im Mai 1895 überreichte, führt den Nachweis, daß die Selbſtän— 
digfeit und das wirtidaftlide Gedeihen einer bäuerliden Familie, 
bejtehend aus dem Wirt, jeiner Frau und 4 Kindern verſchiedenen 
Alters, bei unferen flimatiihen und ökonomiſchen Verhältniſſen 
durch einen Hof gewährleiftet wird, der bie Kraft zweier Pferde 
in Anfprud) nimmt und daher etwa 40 Lofitellen Ader?, 24 Lof⸗ 
ſtellen Wiefe und 50 Xofitellen Weide, im ganzen 114 Lofitellen 
im Landwert von ca. 20—2+ Talern umfaflen muß ?. 

Jenem Gutachten zufolge, deſſen Veweisführung kaum be 
zweifelt werden dürfte, it ein halb jo großer Bauerhof, der aljo 
dem Landwert von 10 bis 12 Talern gleichläme, nur dann 
öfonomijch ausreichend, wenn ſich dem Wirt die Möglichkeit des 
Nebenverdienftes, etwa durch Fuhrenleiftung, darbietet. An ſich 
gewährleiftet aljo ein Gejinde im Landwert von 10 Taler die 
landwirtfhaftliche Selbftändigfeit ihrer Nupnicher nicht, 
und die Schöpfer unſres Minimumgefeges, die den Zweck vers 
folgten, die bäuerlihe Familie durch Bodenbefig allein fiher zu 
jtellen, taten von dieſem Gejichtspunft aus wohl daran, die Größe 











2) Eine livländijche Lofitelle = 
#) Tag Öutachten des Yandras uszuge abger 
drudi in 9. d. Brocder, „Zur Duotenfeage in Kivland", S. 63 ff. 


3) Ate des andratstollegiums &it. B, Nr. 14, Bol. XIL, Fol. 14-149. 





—— * 
v. Dettingen 





Dinimum und Marlmum beim Bauergrunbbefig- 197 


von 10 Talern ala das Mindeſtmaß eines bäuerlichen Grundftüds 
zu firieren. Die naturgemäße Folge diefer Beftimmung ift nämlich 
die, daß Vauerhöfe, die weniger als 20 Taler umfaſſen, nicht 
geteilt werben dürfen, weil font ber eine Teil Meiner werben 
würde, als 10 Taler, was eben geſetzlich unftatthaft ift. Da nun 
von allen Bauerlandgefinden 13,487 fleiner als 20 Taler find 
(fiehe oben), müſſen alle dieſe als geſchloſſene Bauerhöfe gelten, 
deren Zerftüdelung verboten if, es fei denn, daß bie von ihnen 
abgetrennten Parzellen mit andern Vauerhöfen vereinigt werben. 
Von diefen 13,487 Geſinden erreichen, wie wir fahen, 1274 das 
Minimum von 10 Talern nicht, während 12,213 einen Landwert 
von 10-20 Talern haben. In Wirklichkeit wird ber Neinertrag 
diefer 12,213 Gefinde ein erheblich höherer fein, als er nad) dem 
regiftrierten veralteten Talerwert erſcheint, und wir werben in ber 
Annahme nicht fehl geben, daf dieje Höfe, welche die faft genaue 
Hälfte aller Bauerlandgefinde ausmachen, die wichtige Kategorie 
ber feinen Bauergüter bilden, bei denen das Gedeihen ihrer 
Wirtigaft durd den Bodenerirag allein fihergeftellt ift. Die 
andre Hälfte aller unjrer Bauerlandgefinde, nämlich 11,400, gehört 
der Klaſſe ber mittleren und großen Bauergüter an, und zwar 
dürfen 8342 Gefinde, die 20—30 Taler groß find, den mittleren 
und 3058, bie mehr als 30 Taler landwirtſchaftlich genuhlen 
Landes umfaffen, den großen Bauergütern beigegählt werben. 

Als Ideal der Eigentumsverteilung wird jener Zuſtand 
bezeichnet, wo Befiggrößen der verſchiedenſten Abitufungen vertreten 
find, und zwar fo, daß die landwirtſchaftlichen Anweſen, die eine 
ausfömmliche wirtfchaftliche Zebensweife und demenlſprechend eine 
fefte fogiale Stellung ſichern, vorherrfhen!, jedoch Eleinfte Land⸗ 
ftellen reicjlid; vorhanden find, damit die Landarbeiter, deren bie 
größeren Betriebe neben dem Hausgefinde unbedingt bedürfen, 
nicht landlos feien. 

Eine Eigentumsverteilung dagegen, die nur felbjtändige 
Grunbeigentümer aufweilt, kleinſte Landſtellen jebod) vermifien 
läßt, entfpriht, nad) dem Urteil Gadjverftändiger, felbft den 
Interefien ber größeren Befiper Feineswegs, ſondern überträgt bie 
fozialen Gegenfäpe, bie das ftädtifche Leben fo häufig vergiften, 
auch auf das flache Land. Es ijt in Weſteuropa immer mehr 
der Grfahrungsfag zur Anerkennung gelangt, daß es unbedingt 
notwendig fei, ben auf Arbeit in fremden Dienften angemwiefenen 

1) Bol. hierüber Bucjenberger, „Agrarwefen und Agrarpolitif”, S. 420; 
Beh. v. d. Goly, „Agrarmelen und Hgrarpolitit“, 3, Aufl. Jena 1904. S. 154 ff. 

Baltige Monatäfceift 1905, Seft 3. 2 





198 Minimum und Darimum beim Bauergrunbbefig. 


ärmeren Elementen auf bem Lande die Möglichfeit des Grund⸗ 
befigerwerbes zu gemähren, um ben Zanbarbeitern in arbeitslofer 
Zeit einen Nüdhalt zu bieten, in guten Jahren in ihnen bie 
Hoffnung auf weiteres Vorwärtsfommen zu befeben und bamit ein 
wahrhaft fonfervatives Selbftgefühl in den Nreifen bes ländlichen 
Proletariats wachzurufen!. 

Auch in Livland Hat ſich bieje Notwendigkeit in ben legten 
Dezennien immer mehr geltend gemacht. Der Zug der Landbevöl: 
ferung zur Stabt, unter dem Weſteuropa jo ſchwer leidet, hat 
aud bei uns einen, namentlid in den Jahren 1898 und 1899 
lebhaft empfundenen Mangel an Landarbeitern hervorgerufen, der 
ebenfo bort wie hier vielfach öffentlich behandelt worden ift?, 

Wenn nun aud in Livland neuerdings bie Landflucht ber 
Arbeiter nicht mehr fo ſtark wie früher zutage tritt, weil bie 
Induftriefrifis, in ber wir uns befinden, die Städte weniger 
angiehend ericheinen läßt, wie vor 5 Jahren, fo fann doch der 
Arbeitermangel in ber Landwiriſchaft bei erneutem Nufblühen 
ftäbtifchen Gewerbebelriebes ſich wieber fühlbar machen. 

Es würde ben Rahmen meines Themas überfchreiten, mollte 
ich bier bie vielbehandelte Zanbarbeiterfrage, ihrer Bebeutung 
entfprechend, eingehend erörtern. Unbeftritten ift, baß ber Fortzug 
ber Sandarbeiter nad) ben Städten, wie in Wefteuropa® fo auch 
bei un, zeitweilig einen epidemifchen Charakter angenommen hatte 
und wiebergewinnen fann. Wird auch dieſe Bewegung oft durch 
reale Motive geleitet, fo liegt ihr doch gewiß vielfach der Geift 
der Unruhe und Unbefriedigung zugrunde, ber ebenfo wie in anbre 
Volkslaſſen aud unter die Landarbeiter gefahren if. Um mit 
den Worten eines ber auf dieſem Gebiet erfahrenften Dtänner 
Deutfchlands, des Freiherrn v. d. Golf zu reden, ift biefe ſogiale 
Epibemie in der Gefchichte der Völker nichts neues. „Wie fie 
gefommen ift, jo pflegt fie aud allmählich zu verſchwinden; um fo 
raſcher, je ſchneller und gründlicher den tatfächlihen Mißſtänden, 
bie bei ihrer Eniftehung mitgewirft haben, Abhilfe geihafft wird.” 

Zu den Maßregein, die geeignet erfcheinen, die Lanbarbeiter 
ihrem Beruf zu erhalten, ift an erjter Stelle die Schaffung ber 
Möglichleit des Erwerbes einer Heinen Zanditelle zum Eigentum 
zu rechnen. Gehört die Mehrzahl der Landarbeiter zu ben Grund» 
befigern, dann ftehen ihre Interefien denen ber Großbauern und 





1) Goly a. a. D. ©. 155. 
2) Balt. Wochenſchr. 1898, Ep. 517 u. 537; 1809, Sp. 240 u. 370. 
2) Golg u.a. 0. ©. 150. — ) Golg.a. a. D. ©. 156. 








Ninimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 199 


Großgrunbbefiger viel näher, als ben Intereſſen aller übrigen 
Erwerbs: und Berufoklaſſen, und fie find alsdann weit unzugäng- 
liher den trügeriſchen Lodungen ftäbtiihen Wohllebens und den 
gefährlichen Verheißungen fozialpolitiicher Propaganbiften!. 

Dan wird nun vielleicht der Meinung fein, daß menigftens 
die rechtlidhe Möglichleit des Erwerbes Heiner Landſtellen in 
Livland genügend gefichert fei, weil bas fälſchlich immer noch 
ſchobfrei genannte Hofsland und bie Quote zur freien Verfügung 
flünden, da auf diefe beiden Bobenfategorien, im Gegenjag zum 
Bauerlande, das Minimumgejeg feine Anwendung findet. In ber 
Tat find auf denjenigen Nittergütern, deren Umfang die provin- 
zialrechtlich vorgefehene Mindeſigröße von 90 Lofſtellen überfchreitet, 
— und das it bei weitaus ben meiften Rittergütern der Fall, — 
Hofslänbereien wohl genügenb vorhanden, um Landarbeiter dauernd 
anzuftellen, und aud) bie Quote, wiewohl vielfad; an Grohbauern 
verfauft ober verpachtet, bildet ebenfalls einen namhaften Land- 
fonds, ber zur Anfiebfung von Landarbeitern dort verwandt werben 
fann, wo foldes wirtſchaftlich begründet ift. Allein dieſe Tatſachen 
find feineswegs fo beruhigend, baf die Frage überflüifig wäre, 
ob nicht auch bas Bauerland durd) Einfchränfung oder Befeitigung 
bes DMinimumgejeges ber dauernden Anfiedlung von Lanbarbeitern 
mehr und vor allem befier, als bisher, dienſibar gemacht werden 
müfle? 

Vor allem fei daran erinnert, daß nicht nur der Ritterguts⸗ 
befiger, fondern aud) ber Großbauer Landarbeiter für feinen häufig 
recht umfangreichen Betrieb in erheblicher Zahl braucht. Diefe 
bäuerlichen Zanbarbeiter aber auf dem Hofslande oder auf der 
Quote anzufiedeln iſt vielfah um fo weniger angezeigt, als bie 
topographiich entfernte Lage der Bauerhöfe vom Hofstompler ben 
wirtſchaftlichen Nugen einer folden Anfiedlung auf Hofsland für 
die Großbauern illuforiih machen würde. Bisher iſt man meift 
befliſſen gewejen das Problem der Beſchaffung genügender Arbeits: 
träfte für die Landwirtſchaft lediglich vom Standpunkt der Ritter: 
gutsbefiger aus zu behandeln. Dit Unredt jedoch, denn ber 
Bedarf der 25,000 auf Bauerland errichteten Wirtſchaften an 
Landarbeitern ift gewiß in Summa nicht Meiner, fonbern wohl 
größer als der Bedarf unfrer 900 Nittergüter, Domänengüter und 
Paftorate zufammengenommen. 

Von diefem allgemeinen Standpunkt aus fann aber die 
Landarbeiterfrage nicht durch ben Hinweis auf das verfügbare 

2) Golg a. a. O. ©. 108. 


2 


200 Winimum und Marimum beim Bonergrundbeflg. 


Hofsland, wie es früher oft geſchehen, Furzerhand erledigt werben. 
Es muß vielmehr mit befonderer Schärfe bas Problem ins Auge 
gefaßt werben, wie die dem Großbauern notwendige Anechtsbevöls 
kerung zu Eonfolioieren wäre, 

Rechtlich fieht der Anfieblung von Landarbeitern auf dem 
Bauerlande als Pächter nichts im Wege, da das Gele bie 
Verpachtung von Parzellen bes Banerlandes, die weniger als 10 
Taler groß find, zwar bem Rittergutsbefiger, nicht aber dem 
bäuerlichen Eigentümer verbietet, Wer nun ber Anficht if, daß 
in ber rechtlichen Möglichleit, Pächter auf Bauerland werben zu 
können, ben Sandarbeitern alles das geboten ift, was vernünftiger: 
meife von ber Gejeggebung zu ihren Gunften verlangt werben 
darf, der wirb an unfrem Minimumgefeg Genüge finden, bas 
zwar nicht das Parzelleneigentum, wohl aber die Parzellenpadıt 
auf Bauerland zuläßt. Allein es muß body bie Frage geprüft 
werben, ob nicht ber Parzelleneigentümer auf Bauerland eine 
größere Sicherheit für die Stabilität unfrer Landarbeiterverhältnifie 
bietet, als der Parzellenpächter. 

Die Anfihten darüber, ob bie in Well: und Oft: Europa 
gleihermaßen brennende Arbeiterfrage zweckmäßig durd Verkauf 
von Grundftüden oder durd bloße Verpachtung an Arbeiter zu 
Löfen fei, find noch ſehr geteilt. 

Roſcher Hält die Zwergpächter, d. h. die Pächter Heiner 
Landparzellen, für weit ſchlimmer als Zwergeigentümer, weil ſie 
viel heimatloſer, viel eher durch einen Unfall ins Elend geſtürzt 
werben, als jene?, Auch bie bekannten Agrarpolitiker Buchen- 
berger und v. d. Goltz geben dem Grundeigentum unbebingt 
den Vorzug? vor der Pacht. Andre vertreten dagegen bie Mei- 
nung, daß ber Eigentumsbefig in Gegenden, wo es an Neben: 
verbienft fehlt, den Arbeiter zu fehr an die Scholle binde und, 
ftatt ihn felbftändig zu machen, nur mehr in eine Abhängigkeit 
von dem Arbeitgeber bringe, die beiden Teilen gleid) läftig werden 
Tönne!, Daher fei die zwedmäßigfte Löſung ber Arbeiterfrage in 
der Arbeiterpacht zu fuchen®, weil fie dem Arbeiter die freiere 


1) Bauerverordnung von 1860 $ 223. 

2) Rofcer, „Nationalötonomit des Aderbaucs", ©. 669. 

%) Bucenberger a. a. D. ©. 568; Gola. a. D. ©. 157. 

4) Dr. Dito Maabe, „Die vollswirtfcaftliche Bedeutung der Pacht“, 
Berlin 1891, ©. 76 und 91. 

3) Georg Stieger, „Bur Landarbeiterfrage”, Jena 1808, &. 24 fi.; 
Prof. Dr. Otto Gerlad, „Die andarbeiterfrage in den öftfichen Provinzen 
Trrufens*, in der geitfift’fhr Sopiahuffenfuf 3. Jahrg. Heft 7. 1900, 
©. 54. 


Ninimum und Rarimum beim Bauergrundbefig. 201 


Bewegung fichere und ein nicht gebundener Arbeiter dem miber- 
willigen und deshalb unzufriedenen vorzuziehen feit. 

Wie verfcieden nun auch die zahlreichen deutſchen Agrar 
politifer, Die ſich über die Lanbarbeiterfrage und deren Löſung 
vernehmen ließen, das wichtige Problem der Sehhaftmachung ber 
Arbeiter beurteilen mögen, in 3 Punkten find fie faſt alle einig: 

1. Innerhalb des Guts — ober, wie wir jagen würden, 
Hofbezirts, — ift die Verleihung von Grundeigentum nicht zweck- 
mäßig, weil ſich das Rleineigentum nur im engften Zuiammenhang 
mit bem bäuerlichen Grundeigentum und ber Bauergemeinde als 
tebensfähig erwieſen hat?. Daher ift auf dem Yofsfompler die 
Pacht dem Grundeigentum im Intereſſe beider Teile vorzuziehen. 

2. Innerhalb bes Gebiets ber Landgemeinden foll ber Kern 
aus felbftändigen kleineren ober größeren Vauerhöfen beitehen, an 
den ſich Arbeiteritellen unlehnen, die im Eigentum der Nugnieher 
befinblich find. f 

3. Eine zmwedmäßigere Anderung der Hinderlichen Geſetze 
hat innerhalb der Bauergemeinde einer Stufenfolge von Grund⸗ 
eigentümern den Weg zu ebnen, die es ermöglicht, daf der Knecht 
um Häusler, der Hiusler zum Nleinbauern und diefer zum Boll: 
bauern aufzufteigen imftande fei. Und diefen Kategorien der Land- 
bevöfferung muß die Möglichkeit gewährt werden, ihre Stellen 
zum vollen Eigentum erwerben zu fünnen ?, 

Ausdrüdlic fei jebocd betont, daß die in Deutichland auf 
dem Gebiet der Agrarpolitit zutage getretenen Beſtrebungen nicht 
darauf abziefen, daß ein jeder Landbewohner fein eigenes Heim 
auch wirflich habe, fondern darauf, daB jedem bie rechtliche Mög. 
lichfeit geboten werde, fid) Grundeigentum zu erwerben t. 

Denn wenn aud) heute vielfady die Behauptung aufgeftellt 
wird, daß der den Lanbarbeitern eigentümliche Hunger nad) 
Grundeigentum vollfommen gejtilt werben müſſe, jo iſt, abgejehen 
von der Unmöglichkeit alle Yandarbeiter zu Grundeigentümern zu 
machen, nicht zu verftehen, weshalb gerade nur der Landarbeiter 


) Brofefior Dr. Rar Sering, „Die_iunere Kolonifation im öjtlihen 
Deutfcjland“, Yeipzig 180%, Band LVT der Schriften des Bereins für Sozial 


politit, ©. 146 und 148. 
2) Sering a. a. D. ©. 137 u. 14; Goly, Agrarweſen. S. 107. 
*) Bucenberger ©. &.43.' Goly. „Die Yandarbeiterirage im 
norböftlicen Deuticland utunft der Londbeoölterung", Göt- 
148. Dr. Wrid Dinge, „Die 
Weslenburg", Noftod 1894, &. 95 ff. 
Sol, „Die ländlide Arbeiterilaſſe und 
der preußiiche Staat“, Jena 1893, ©. 215. 
















202 Minimum und Marinmum beim Bauergrunbbefit- 


und nicht aud) jeber andre Menſch Anſpruch auf dieſe angebliche 
Grunbbebingung des Lebensglüces erheben bürfe?. 

In Wefteuropa ſucht der Staat die Anfiedlung der Land- 
arbeiter zu fördern; man ift jedoch weit entfernt davon, zu wünſchen, 
dab irgend ein Zwang ausgeübt werde, und alle ſtaatlichen Ver— 
ſuche, die aud nur dem Scheine nad) darauf Hinausliefen, in die 
Grundbefigordnung Momente des Zwanges hineinzubringen, würden 
zweifellos fcheitern?. Nur das Zufammenwirfen ber Arbeitgeber 
mit den flaatlihhen Organen wird ins Auge gefaßt, jedes einfeitige 
Vorgehen aber als unheilvoll unbebingt verworfen ®. 

Ähnlich wie in Weſteuropa, namentlid) in Deutichland, drängt 
auch in Livland die Entwidlung der Landarbeiterfrage dazu, die 
rechtlichen Hinderniffe, die dem Erwerbe von Grundeigentum ent: 
gegenftehen, zu befeitigen ober einzufchränfen. Nehmen wir bie 
Erfahrung Deutſchlands zur Richtſchnur, fo müßte bei uns die 
Anfiedlung von Pächtern auf dem Hofslande und die Anfähig- 
machung von Eleinen Grundeigentümern auf dem Bauerlande 
gefördert werden. Da der Verpachtung des Hofslandes feinerlei 
Hinderniffe rechtlicher Natur entgegenjtehen, bliebe nur zu erwägen, 
ob das den Erwerb von Grundeigentum am Bauerlande einſchrän— 
fende Minimumgejeg aufzuheben oder abzuändern wäre? Wollte 
man das Minimumgefeg gänzlich befeitigen und den Grundftüc: 
verfehr völlig freigeben, wie es in Kurland ber Fall ift, fo würde 
die Gefahr, da unfre Bauerlandgefinde zu Zwerggütern herab: 
fänfen, um fo mehr entftehen, als das bäuerliche Erbrecht eine 
Gleijteilung des Wertes der Grumdftücde unter bie Miterben 
geftattet. Aber jelbft wenn das ſehr mangelhafte Bauererbrecht 
Livlands reformiert würde, worauf fpäter zurückzukommen fein 
wird, bürfte die Vefeitigung des feit 200 Jahren eingebürgerten 
Minimumgeſetzes nicht rätlich erſcheinen. Die „Mobilifierungs- 
freiheit” ift, wie Buchenberger richtig jagt, „wie alle Freiheiten 
eine zweifchneidige Waffe und fann von der Bevölkerung nur dann 
ohne Nachteil ertragen werden, wenn der allgemeine Zuftand der 
Bildung auf dem flachen Lande jene Tugenden der wirtichaftlihen 
Vorſicht, der Bedachtnahme auf die Zukunft, der Vorjorge auch 
für die fommenden Generationen zur Neife bringt, welde lehren, 
von der Freiheit einen maßvollen Gebraud) zu maden‘.“ Ob 
unfer Landvolk ſchon die Tugenden der wirtidaftlihen Vorſicht 

3) Stieger, „Zur Sandarbeiterfrage" S. 22. 

2) Sering aa. 0. ©. 14. 


2 Sol, „Die Linblige Urbeitetiafie” x. ©. 200. 
9 Suche nberger an. D. S. HN. 








Winimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 203 


erworben habe, dürfte doch füglich zu bezweifeln fein, und bie 
beionnenen Elemente im Bauerftiande würden die radikale Fort: 
ſchaffung des Dinimumgefeges ſicherlich nicht gutheißen. Cs kann 
ſich ſonach meines Erachtens nur um eine zeitgemäße Reform 
biefer gefeglichen Beftimmung handeln, wobei an die fommifjariichen 
Vorihläge anyufnüpfen wäre, die bem Landtage vom 9. 1877 
eingereicht wurden. Jene Vorfchläge befürworteten eine beſchränkte 
Teilungsbefugnis in dem Sinne, daß entweder bie von einem 
Bauerhof abgeteilte, oder die in der Hand des Veräußerers zurüc- 
bleibende Parzelle bie Größe von mindeftens 10 Tulern aufweien 
mühe. Der Landtag trug damals Bedenfen, auf diefen Vorſchiag 
einzugehen, weil die Erleichterung der Parzellierung das Aufbringen 
der öffentlihen Grundlaften und Grundfteuern erſchweren würde 
— und es blieb beim Alten. Heute jedoch dürften dieje Einwände 
nicht mehr ins Gewicht fallen, da die in Angriff genommene 
Grundfteuerreform, die ja den äußeren Anlaß zur Revifion des 
Minimumgefepes gibt, aud) dazu nötigt, die bisher übliche Erfül- 
lung der Realfajtenpflicht neu zu regeln. 

Dem Vorſchlage vom Jahre 1877 möchte ich mich grund- 
fäglih anjdließen, der darauf hinausläuft, das Minimumgeſetz 
nicht zu befeitigen, aber doch im Jutereſſe eines erleichterten 
GSrundflücverfehrs umuformen, und zwar bergeflalt, daß ein un: 
antajtbares Stammgrundftüd, groß genug, um an fid) die Eriftenz 
einer Bauerfanilie zu gewährleiften, lets erhalten bleibe, ba die 
Größe diefes Stammgrundjtücds überjteigende Plus aber beliebig 
geteilt werben dürfe. 

BZunädjt wäre zu bejtimmen, wie groß das Stammgrundftüd 
fein muß. Die Rommiffionsvorfchläge vom J. 1877 bemaßen den 
Landwert des Stammgrunditüds, in Anlehnung an ben Wortlaut 
des geltenden Gejeges, auf 10 Taler. Id) glaube jedoch, gejtüg: 
auf das mitgeteilte Gutachten des Yandrats v. Dettingen: Serie 
befürworten zu jollen, daß nicht 10, fondern 20 Tuler die Örenje 
zu bilden hätten, vor der die Teilungsbefugnis Halt zu machen 
habe. Die Folge einer ſolchen Beſtimmung wäre heute die, daB 
etwa die Hälfte aller unfrer Bauerlandgeſinde als geichlofiene, 
d. h. als folhe zu gelten hätten, von denen feine Paryelle abge: 
zweigt werden dürfte. Vorausfichtlic wird jedoch die Zahl der- 
jenigen Bauerhöfe, die lediglich die Größe des Stammgrundſtücks 
erreichen, alio als geſchloſſene behandelt werden müßten, nad 
Beendigung der Grunditeuerreforn geringer werben, da der Lande 
wert der Bauerhöfe zweifellos gejtiegen ift, mithin die mittleren 





204 Minimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 


und großen Bauerhöfe, die Parzellen abzugeben vermögen, anſehnlich 
zugenommen haben, während die Zahl derjenigen Bauerhöfe, bie 
in die Kategorie der geſchloſſenen neu einzureihen wären, kaum 
ſehr groß jein bürfte. 

Ich empfehle alfo: nad) wie vor einen Typus Meiner Bauer- 
güter durch ein Teilungsverbot vor Atomifierung zu jhügen, dieſen 
Typus aber fo zu geitalten, daß er zweifellos im landwirtſchaft⸗ 
lien Betriebe allein die Grundlage feiner Lebensfähigfeit finde. 
Das Größenmaß wird daher, nad) unfren heutigen Wortbegriffen, 
faum unter 20 Taler zu firieren jein, in Zukunft jedod in Steur- 
rubeln ausgedrüdt werden müſſen, da der Begriff Taler dem 
Ausiterben überantwortet ift. Nad den bisherigen Ergebnifien 
der im Gange befindlichen Bodenbonitierung wird vorausſichtlich 
1 Taler — 6 Stenerrubeln fein. Der Landwert des Stamm: 
grundſtücks wäre mithin für die Zufunft auf etwa 120 Steuer: 
rubel zu bemeffen, d. ). auf eine Wertgröße, die ficerlic die 
landwirtſchaftliche Lebensfähigfeit garantiert, da die in Angriff 
genommene Schägung der Liegenfchaften vorfihtig zu Werke geht 
umd den Neinertrag der Grundftüde eher zu niedrig als zu hoch 
bemißt. 

Iſt in dieſer Weile für die Erhaltung des fleinen bäuer- 
lichen Grundbeſitzes gejorgt, fo darf meines Erachtens unbedenklich 
die freie Pargellierung des außerhalb ber Grenze des Stamm- 
grundftücds verfügbaren Bodens zugeftanden werden. In diejer 
Beziehung dem freien Verkehr Echranfen auferlegen zu wollen, 
halte ich nicht für empfehlenswert. Etwa vorzujchreiben, da von 
jedem Stammgrundſtück nur jo und fo viele Parzellen abgezweigt 
werden dürfen, käme einer öden Schematifierung glei), die ſich 
das öfonomifche Leben ſchlechterdings nicht gefallen läßt. Die 
Beſtimmung über Zahl und Größe der Parzellen aber etwa in 
jedem eingelnen Fall von abminiftrativer Einfiht abhängig zu 
machen, wäre gänzlid) verfehlt, weit eine folhe Maßnahme bedeuten 
würde, daß die Verwaltung beſſer wiſſe, als der Landwirt felbjt, 
wie zwechmäßig im einzelnen mit feinem Grundftüd zu verfahren 
jel!. Das durd) den Ausbau unjres Eifenbahuneges und unſrer 
Chauſſeen im Fluß befindliche Verfehrsweien ruft hier und dort 
eine Nachfrage nad) Heinen Parzellen hervor, die von der Adminie 
ftration ſchwerlich vorausgefehen, überwacht und geregelt werden 
fann. Daher ift meines Erachtens der ungehinderten Parzellierungs- 
freiheit in ben vorgejchlagenen Grenzen unbedingt der Norzug 


1) Bucenberaer a. a. ©. ©. 40. 


Vinimum und Marimum beim Bauergrunbbefig- 205 


vor einer abminiftrativen Negelung des Parzellenabverfaufs einzu 
räumen. 

So empfehlenswert num auch diefe Maßnahmen im Interefie 
eines erleichterten Grunbftüdverfehrs find, jo wäre mit dem Schug 
ber Stammgrundſtücke durch ein polizeilides Teilungsverbot noch 
nicht das erreicht, was zur Sicherſtellung unfres Bauerſtandes 
notwendig ift. Mehr als durch merfantile Spekulation wird ber 
Berteilungsprogeß, dem der Grund und Boden nad unb nach 
anheimfällt, burd) das Erbrecht gefördert, und es ift baher das 
Zufammenhalten der Befigeinheiten im Erbgang erftrebenswert. 
Teilungsverbote allein fihern diefen Zufammenhalt nit, es muß 
als Korrelat ein Inteſtaterbrecht gefchaffen werben, das die unge: 
teilte Vererbung der Bauergüter an einen Erben herbeizuführen 
traghtet. Eine hefebliche Maßnahme dieſer Art it für Livland 
um fo wünfchenswerter, als unfre Bauerverordnung zwar ben 
männlichen Erben ein Vorzugsreht am Naturalbefig ber Immo- 
bilien gewährt, leider aber nur eine Gleichteilung bes Wertes ber 
Grundſtücke zwiſchen Brüdern und Schweſtern kennt!. Beſieht 
nun eine bäuerliche Familie aus vielen Köpfen, fo wird der Hof 
durd) Exbforberungen über feinen Ertragewert veridulbet, oder 
die Erben teilen fi in ihn ideell, weil das Dlinimumgefeg die 
Nealteitung verbietet. Da num aber ber Bauer das Rechtsinftitut 
des Eigentums zu ibeellen Teilen oder das Miteigentum meiſt 
nicht verjteht, werden in Wirklichfeit die ibeellen Anteile in reale 
umgewandelt und damit Zuftände geihaffen, die durch das Mini— 
mumgejeg verhütet werden ſollten?. Zwar jteht das Minimums 
geſetz der Ausicheidung der einzelnen Teile aus der Hypotheken⸗ 
einheit entgegen und nur das ideale Eigentum der Parzelle darf 
forroboriert werden, alfein die Nealteilung wird tatjächlie dad) 
vollzogen, und es entjtehen wirtſchaftlich getvennte Teiljtüde ver- 
fchiedener Befiger, bie mur zwangsweile hnpothefariich vereinigt 
bleiben. Die Sadjlage führt, abgefehen von wirtfchaftlichen Unzu— 
träglichfeiten, zu rechtlichen Wirrniffen mancherlei Art, namentlich 
auf dem freditwirticaftlichen und dem ſteuerrechtlichen Gebiet, 
weit der für die Zahlung der Hypothekenzinſen und Grundfteuern 
haftende Eigentümer fi, dank der mitunter großen Zahl von 
Miteigentümern, Häufig nicht feilftellen läßt. 








1) Yauerverordnung von 1880, $ 1000. 

*) Nobert Schöfer, „Aus dem Gebiet des baltiſchen Brivatrets und 
des Bivilprogefies“, Walt. Wonatsichr. 30. Band, 1802, &. Bd. Derjelbe: 
„Über dae loländifche Bauerprivatredit“, ebenda 54. Band, 1902, ©. 1 ff. 





206 Binimum und Marimum beim Bauergrunbbefig. 


Um bie Hieraus hervorgehenben Mißſtände zu heben, müßte 
das bäuerliche Erbrecht ſelbſt zweckmäßig abgeändert werden, wobei 
vielleicht die in Ejtland geltenden Bejtimmungen vorbilblid jein 
tünnten. Dort find die männlichen Erben weit begünftigter als 
in Livland, weil fie zwei Teile aus dem Nachlaß an unbemeg- 
lichem Vermögen erhalben, die weiblichen Erben dagegen nur 
einen Zeil, und zwar in Gelb, nicht aber in natura!, 

Eine ſyſtematiſche materielle Abänderung des bäuerlichen Erb: 
vechts wird aber jetzt kaum durchführbar und wohl aud nicht 
empfehlenswert fein, da unfer bäuerliches Privatrecht überhaupt jo viele 
Dlängel aufweift, daß es von Grund aus reformbebürftig erſcheint?. 

Und menn an bie Nevifion bes bäuerlichen Privatrechts 
gegangen werben joll, dann läge es nahe, bie ganze livländiſche 
Bauerverordnung zu revidieren, denn aud) ihre agrarrechtlichen 
Beltimmungen, bie in ber Hauptſache ben Schug des Bauerland- 
pächters begweden, find von der Entwidlung unjrer Agrarverhält- 
niſſe längſt überholt und genügen heute, wo fait 90 pCt. des 
Bauerlandes verkauft find, nicht mehr. So ſehr aber aud Die in 
vielen Stüden veraltete, von neueren Bejtimmungen durchlöcherte 
Bauerverorbnung einer grünblihen Durchficht und Ergänzung 
bedürftig ift, fo darf doch faum gehofft werben, baß ein neues 
Gejeg bald an die Stelle treten werde. Unterdeß aber machen 
ſich die üblen Wirkungen des bäuerlichen Erbredts immehr mehr 
geltend, und es ift tief zu bedauern, daß die Bemühungen des 
kivländifhen Landtages um die Einführung eines bäuerlichen 
Anerbenredts in Lioland bisher rejultatlos geblieben find. 
Bereits im J. 1893 beantragte Nlerander v. Stryf-Palla 
in einer eingehenden, ber Nitterfhaftsrepräfentation übergebenen 
Dentihrift?, bem Vorbilde Deutſchlands zu folgen und das dort 
zur Anwendung gelangte fog. bäuerliche Anerbenrecht* auch bei 
uns zur Geltung zu bringen. Dieſes Sonderrecht bezwedt bie 
ungeteilte Vererbung ber Bauergüter an einen Erben, ben Ans 
erben, durch ein entiprechend gejtaltetes Intejtat:Erbredt, d. h. 
dur ein Erbrecht, das dann einzutreten hat, wenn ber Eigen 
tümer eines bäuerliden Grundſtücks ohne Hinterlafjung eines 

1) G. v. Bodisco, „Die eftlänbifche Bauerverorbnung vom 5. Juli 1856 
und die die Baueroerordnung abänderuden und ergänzenden Gefepe und Berords 
nungen“, Reval 1904, S. 202, Art. 1163; ogl. Wrel v. Gernet, „Gelhichte 
und Syitem des bäuerlien Agtatrechts in Eitland”, Neval 1901, ©. 178. 

%) Shöler aa. D. 

®) Alte des 

+) %gl. 
wirtfchaft, 089, 











il. Sandratstollegiums Ario 421, Sit. B, Bol. I, Fol. 60 ff. 
ering, „Ländliches Erbrecht” im Wörterbud) der Voits⸗ 
om liter, I. Band, ©. 658 ff. 








Winimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 207 


giltigen Teitaments ftirbt. Das Anerbenrecht will das Bauergut 
in ber Familie ungeteilt erhalten, weil es aus wirtſchaftlichen 
und politiihen Gründen wünſchenswert it, daß ein innerlich 
gefunder, leiftungsfähiger und nicht hochverſchuldeter Bauerftand 
bejtehe und gebeihe. Auf das Weſen des Anerbenrechts hier näher 
einzugehen gebricht es uns an Zeit. Es fei nur hervorgehoben, 
daß der von einer ritterſchaftlichen Kommiſſion ausgearbeitete Ent- 
wurf eines gefeplichen bäuerlihen Anerbenrechts für Livland, dem 
Gouverneur im Dezember 1895 behufs Erwirkung ſiaatlicher 
Beftätigung überfandt, bisher aber leider von ben ftaatlichen 
Drganen noch immer nid)t erledigt worden ift. 

Wird das Minimumgeſetz in dem von mir befürworteten 
Sinne reformiert und ber Entwurf bes Anerbenrechts beftätigt, 
fo gewinnen wir fräftig wirfende Schupmittel, die das Stamm: 
grunbjtüd, den Meinbäuerlihen Vefipitand, das Rückgrat einer 
gejunden Agrarordnung vor unheilvoller Zerjplitterung ſchühen. 
Auf der andern Seite gewährt die unbefchräntte Teilbarkeit des 
außerhalb der Stanmgrunbftüde frei verfügbaren Wobens bie 
Möglichkeit, daß die aus verſchiedenen Berufstlafien zufammen- 
gejeßte, unbeſitzliche Landbevölferung leichter als bisher in den 
Eigentumsbefig eines Meinen Grundftüds gelangen fann. Hier 
durch wird die Entitehung einer, für die Geftaltung gefunder 
ſozialer Verhältniffe wichtigen, Stufenleiter von dem kleineren 
Srundbefiger bis zum Großbauer gefördert, die Zahl der in ihrer 
wirtſchaftlichen Eriſtenz Geſchühten, mit ihrer Lage Zufriedenen 
erhöht, dadurch die Menge ber zu propagandiſtiſchen Bewegungen 
Geneigten vermindert! und endlich die Zunahme ber Benölferung 
des fiachen Landes belebt und ber verhängnisvolle Zug jur Stadt 
unterbunden. 

Es erübrigt noch furz die Frage zu erörtern, ob auch unjre 
Beſtimmung über die Marimalgröße des Buuerlanbbefiges 
einer materiellen Anderung bebarf. Die Zeitfegung einer oberen 
Grenze für das bäuerlige Grundeigentum in ber Geflalt „eines 
Hafens“ iſt weit jünger als das Plinimumgefeg, denn wir finden 
das Verbot, daß das bäuerliche Grundeigentum eines Einzelnen 
innerhalb einer Gemeinde die Größe von einem Hafen überſchreite, 
zum erften Dal in der Agrarordnung vom Jahre 1849%. Diefe 
Beitimmung wurde damals im Zufammenhang mit der Regelung 
des Yauerlandverfaufs getroffen, weil der Landtag befürdtete, daß 


3 Golf, „ — und Agrarpotitit· ©. 114 ff. 
88 258 u. 257 der Siol, Agrer · und Vnueroeroronunn v. 9. Juli 1849, 


208 Winimum und Marimum beim Bauergrunbbefig. 


ſtädtiſche Kapitaliften fih auf den Erwerb von Bauerland legen 
und ben Bauerfiand, ben die Agrarverordnung mit allen Mitteln 
zu erhalten ſich beftrebte, depoſſedieren fönnte!" Diefe Befürd: 
tungen haben fi bisher als grundlos erwiefen und werden wohl 
auch fobald feinen Nährboden finden, denn ſtädtiſche Kapitaliften 
werden aus fozialen Gründen dem Erwerb von Rittergütern ben 
Vorzug vor dem Ankauf von Bauerhöfen geben, und bis die 
Induſtrie darauf ausgeht, dermaßen auf dem flachen Lande Fuß 
zu fallen, daß bie Anhäufung von Bauerland in gewerblichen 
Händen zu beforgen wäre, dürften viele Jahrzehnte vergehen. Über: 
dies jteht der Aufſaugung des feinen Grundeigentums durch das 
große, die in Grofbritannien, in Medlenburg und in Dftpreußen 
zur Zatifudienbildung geführt hat, bei ung der „rote Strich“ ent 
gegen, der das Bauerland zu einem bäuerlichen Geſamtfideilommiß 
geltaltet hat und die Verſchmelzung von Bauerland mit Hofsland 
verbietet. Bauerland aber etwa allein aufzufaufen und daraus 
ein Rittergut zu bilden, auch das verhüten die Gejege, denn zum 
Vegriff eines Nittergutes gehört in erfter Linie ein Dlinimal- 
bejtand von Hofsländereien®. Somit wäre allo bie Marimal- 
beftimmung über das bäuerliche Grundeigentum eigentlich entbehrlid, 
allein für ihre Vejeitigung ſprechen anderſeijs feine zwingenden 
Gründe, und ein Antrag, ber die Aufhebung dieſer immerhin 
mehr als ein halbes Jahrhundert beftehenden Schranfe in Bor 
ſchlag brächte, würde ben Verdacht erregen, als ſollte die Schutz⸗ 
wand, mit ber unfer Bauerland umgeben ift, in kapitaliſtiſchem 
Intereſſe burdlöchert werben. So erideint denn lebiglid die 
formale Revifion des Marimumgejeges in Anlaß der Grundfteuer- 
reform rätlich, und es wäre an die Gtelle der objolet werbenden 
Größenbeftimmung „ein Hafen” ein entiprechendes Wertmaß, in 
Steuerrubeln ausgedrüct, zu jegen. Da, wie wir jahen, ein Taler 
wahrſcheinlich 6 Steuerrubeln gleich fein wird, fo hätte man das 
Dlarimum jtatt auf 1 Hafen oder 80 Taler, etwa auf 480 oder 
500 Steuerrubel zu firieren. 

Ich bin am Schluß. 

Wird, meinem Vorfchlage entiprediend, das Minimumgeſetz 
materiell geändert, fo haben wir ber Freiheit im Bodenverkehr, 
‘die von vielen als der fiaatsöfonomiih und privatwirtichaftlich 


90 sen, „Ad deliberandum des Livl. Landtags von 1864” 
0.0.8.8 Dr. Hermann Levy, „Entftehung und Hüdgeng des 
— Großbecebes In England, Werıln 1001: Wiastomsrt, "Das 
Grbragy, und die Grundeigentumserteilung“ sc, I. Band, &. 9 fi. und 34. 

3) Urt. 600 des Provinzialeedjts LIE. Teil. 








Winimum und Marimum beim Bauergrundbeftg. 209 


beite Zuftand gepriefen wird, nur ein ſehr geringes Opfer gebracht. 
Mit Neid werden die Anhänger des entfellelten Grundbefipes 
auch ferner auf das uns benachbarte Rurland bliden, : mo nach 
erfolgter Ablöfung des Bauerlandes durch Verlauf, der Grundftüde 
verfehr ſich ungebunden entwideln kann. Kurland kennt nur eine 
gejegliche Dlinimalgröße der Nittergüter!, aber weber ein obliga- 
loriſches Minimum, noch ein Dlarimum für Yauergüter, vor allem 
aber nicht einen „roten Strich“, der über den Zeitpunkt der voll- 
zogenen Ablöfung des Bauerlandes hinaus wirkſam bleibt. Iſt 
das Bauerland einmal abgelöft, jo darf es vom Gutoherrn zurück⸗ 
erworben und mit dem Hofslande beliebig verſchmolzen werben. 
— Ganz anders in Livland. Hier ift der Bauer im Grundſtück- 
verkehr weit unbehinderter als der Gutsherr, denn er darf wohl 
vom Gutsherrn Hofsland erwerben und in jeder Beziehung frei 
nugen, aber umgefehrt darf der Gutsherr von dem ihm gehörigen 
Bauerland auch felbft dann nicht beliebigen Gebrauch machen, 
wenn es bereits den Ablöfungsprozei durchgemacht hat und aus 
dritter oder vierter Hand zurüderworben wird. 

Wollten wir jedoh den Verſuch wagen, die kurländiſche 
Freifeit im Bobenvetlehr auf Yivland zu übertuagen, fo würde es 
einen Sturm der Entrüflung unter jenen irregeleiteten Agrar— 
politifern ber Tagespreije und der Flugſchriften geben, die ihre 
Angriffe merkwürdigerweife mit Vorliebe gegen Livland richten, 
wiewohl hier den Bauern ein Agraridhug gewährt wird, wie, . mit 
Ausnahme Eitlands und Defels, nirgendiwo. Angriffe dieſer Art 
werden wir jedoch um fo eher, nad) wie vor, mit Öleihmut 
ertragen, als in neueſter Zeit ruſſiſche Gelehrte, bie fid ber 
fritifch-vergleichenden Methode bedienen, nicht aber befliſſen find, 
einfeitig die Mängel unfrer Agrarverfaifung herauszufinden, zu 
dem Ergebnis gelangt find, da; das Gedeihen des livländiſchen 
Bauerſtandes offenſichllich und in erfter Reihe den Agrargefegen 
zu danken if. Eine ſolche objektiv wahre Anſicht finden wir in 
einem fürglic erfchienenen umfangreihen Drudwerf vertreten, das 
alle jene Unterfuhungen fritiih beleuchtet, die auf Eaiferlichen 
Befehl im ganzen Reich 1902 veranftaltet wurden, um die Gründe 
des Notjtandes der ruſſiſchen Landwirtſchaft Harzulegen ?. 

?) Vrovingialrecht Teil TIL, rt. 016. Die noch heute in Aurland gel, 
tenbe Bauerverordnung vom J. 1817 verbietet im Art. 123 nur: Bauerhöfe bei 
Erbteilungen unter cin beitimmtes Windeitmaß zu parzellieren, umterfagt aber 
nice beficige Teilungen in andrer Deranlafjung. . 

2) (I. Nomen»): „Pycexan mrermrennia n wpeersanerno. Kpurn- 


geexifl anaıaı TIYAOR» WÜETIN Komimerußk 0 MYIRAAXI CEALCKO-ROBAH- 
ergennoß mposmuaennoern“, Mocksa 104, 5. 64 ff. 


210 Minimum und Marimum beim Bauergrundbeftg. 


Wie fi aber auch immer die Beurteiler unjrer Agrarver⸗ 
faſſung vernehmen lafjen mögen, wir find deſſen gewiß, daß die 
Livländifche Ritters und Landſchaft, die Schöpferin unfres Agrar: 
rechts, unbeirrt burch Zob oder Tadel und ungeadhtet der Schwier 
rigfeiten, bie ihr eine eiferjüchtige Bureaufratie in den Meg legt, 
die fivländifche Agrarverfaſſung, bie, mie jedes menfchliche Wert, 
ihre Schwächen hat, weiter ausbauen wird, ſtets eingebent bes 
Wahlſpruchs unſres bebeutendften Agrarpolitifers, Hamilfars von 


Fölferfahm : 
„Nicht die Rechte, welhe jemand ausübt, fondern 
Pflichten, bie er ſich auferlegt, geben ihm den Mert.“ 


Beilage. 


bie 


on dem Geſamtareal (9,309,312 Zofitellen = 3,492,788 Heltar) der 


fittergüter und der Paftorate in Cioland find: 
1. unverfäuflid: 
1. die Hofsländereien: 


Lofft. Geſamtareal Heltar 


a. der 45 allodialen Privat » Nittergüter, deren 
Umfang daS provinzinleeihtlich vorgelchriebene 
Windeftmaß von 900 Sofftellen nicht erreicht = 20,080 
b. der Zeit der Hofsländereien von 54) ailodialen 
Prival-Kittergüteen, der durch das Dindejtmah 


u 


11,032 


von 900 Lofit. begrenzt wird (00 £ft- mal 540) = 494,100 = 183,608. 


2. die dofs · und Cuotenländereien: 
der der Hol. Mitterfchoft gehörigen 7 Güter 
der den lipl. Städten gehärigen IB Güter 
ber. 100 Paftorate 

Schulen x. . 
der 70 Zideifommihgüter . 





erer» 


U. zur Zeit nod unverläuflig: 
Die Bisher noch nicht verfauften Dauerländereien 
der 7 Ritterfhaftsgüter —* 
die Vauerländerelen der Yaftorate, Schulen ı 





Eu 


3.218 







28,936 


v 


» 


» 


Winkmum und Magimum beim Bauergrunbbefig. au 


II. bedingt verfäuflic 
. die bisher noch unverfauften Quotenlänbereien 
der 597 allobialen Privat-Rittergäter . . . 4226.220 = 158,012 
da8 gefamte abgeläjte, oder noch nicht ahgeläfte 
Bauerland ber 676 privaten Rittergüter (bie 79 
Fibeifommißgüter eingefchloffen) und der 18 
Stadigüter . . . = 3,581,881 = 1,330,945 
Die vor dem Jahre 1886 verfauften Bauer: 
länbereien der der Nitterfejaft gehörigen 7 Güter 





Loſſt. Geſamtartal Heltar 





IV. unbedingt vertäuflich 

. da8 unverfaufte Hofland ber allebialen 549 

Privot-Hittergüter, das das Mindetmah ber Ritter, 

güter (900 Lojft.) überfteigt, und zwar: 3,048,541 

&offt. minus 494,100 off... 0... . = 3154,41 = 1,172,190 

(Siehe oben 1b.) 

die verfauften Hofslänbereien aller 701 Nitter« 

ger .. 

ie eanfen Duotenländereien aller 7OI Witte 
güter 





195,81 = 71,50 








Ans Tiefen zu Tiefen. 





Nut das, was aus den Tiefen ward geboren, 
Zu Tiefen fleigi es wieder. Was der Aünflfer 
Aus fAmerzerrifnen, Fihtverhfärten Stunden 
Seſchafen aus dem Argrund feines Welens: 
Aur das wird dir ein Bfeidend Eigentum. 
In liefgefeime Shmwingung fehl es feis 
Die Seele dir, und traumhaft jllferl’s nadz 
Anmiderheßfih zwingt’s did mehr und mehr 
In feinen Bann, — Bis du zufehl es (pürf, 
Dapı es ein Stüh geworden von dir feld. 
Eduard Fehre. 





die Urfahen des Berfals der Reformation in Rolen*, 


Bon 
Dr. A. v. Aurnatoweti. 


— — 


he Behandlung kirchengeſchichtlicher Stoffe hat meiſt Prekäres 
an ſich. Die Stellungnahme des Kirchenhiſtorikers zur 
Ronfeffion, ober chriſilichen Religion überhaupt, feine 
nationale, oft durch eine gewiſſe fonfeifionelle Rirchlichfeit in die 
Erſcheinung tretende Eigenart dürfte mehr oder minder bie Odjel- 
tivität der Darftellung beeinfluffen. Während die Geſchichts- 
wiſſenſchaft, geftügt auf Soziale, lebendige Hilfsmittel, heute in 
hohem Anſehen fteht, wird ber „Kirchengeſchichte“, die als wichtiger 
Zweig bes gejamten „Geſchichtswiſſens“ einen erhöhten Platz ein- 
nehmen follte, noch immer nicht das gebührende Intereſſe geichentt. 
Doppelt undanfbar wird die Aufgabe des Kirchenhiſtorikers 
fein, wenn er bie Geſchichte einer Fonfeffionellen Partei ſchildert, 
die einft im Staatoleben feines Volkes eine Nolle gejpielt, die 
gleihfam als Angelpunkt der Frage des Seins oder Nidtfeins 
des nationalen Stantsgebanfens angefehen werben darf, — die 
Heute auf den Ausiterbeetat gefeht, bahinvegetiert, ein Stein bes 
Anftoßes und des Argerniſſes für die noch immer Vielen, über 
deren geiſtigen Horizont es geht, Nationales von Konfelfionellem 
zu unterfd;eiden, — dann fteigt der vom Egoismus diktierte Gedanke 
in ihm auf, ob es nicht beffer wäre quieta non movere. 
Diefer, jeglicher freien Forſchung und aller Wahrheit tots 
feinde Grundfag Hat, ich ſage leider, tiefe Wurzeln gefchlagen in 
der polnifch » evangelifpen Geſeliſchaft, die mur ganz vereinzelt 


*) Vorgelegt einer cvangelifchreformierten Paftorenfonferenz zu Riga am 
25. Auguit 1904, 


Verfall ber Reformation in Polen. 213 


Männer hervorbrachte, die mit Liebe und mit Ofjeftivität fih mit 
der Vergangenheit ihrer fonfelfionellen Kirche beſchäftigten, — 
fonft waren es Ausländer und Angehörige fremder Kirchengemein- 
ſchaften, die das bradjliegende Feld polniſch-evangeliſcher Rirchen- 
geſchichte nach ihrer Eigenart und nad ihrem fpeziellen Bebürfnis 
bearbeiteten und verarbeiteten. — Erſt in jüngfter Zeit erwachte 
innerhalb der polnifch = evangelifhen Kirche das Bebürfnis, bie 
Geſchichte ihrer Vergangenheit kennen zu lernen, und id; glaube 
das Erwachen biefes Bedürfniſſes als ſchönes und verheißungs- 
volles Zeichen eines Erwachens von einer hundertjährigen Lethargie 
begrüßen zu bürfen, denn fobald die Frage „Was waren und 
bedeuteten wir einſt?“ laut wird, darf man auch erwarten, daß 
diefelbe Geſellſchaft felbfibewußt ſich wird zu jagen willen, was 
fie jegt ift und einſt zu bedeuten haben wird inmitten ihres 
Landes. 







In feinem Lande Europas, vielleicht mit Ausnahme Spaniens, 
wo die Inquifition das ihre gelan, ift die Reformation bes 16. 
Jahrhunderts fo fpurlos und völlig zugrunde gegangen, wie in 
den Ländern, welde einft die „Nepublit Polen“ ausmachten. 
Hochſtens 10 bis 15, durch katholiſche Miſchehen in ihrer evan- 
gelifhen Eriftenz gefährdete polniſche Adelsfamilien und 12—15 
Taufend litauiſche Bauern find alles, was von ber einſt jo mächtige 
Wellen fchlagenden Reformation in Polen übrig geblieben. Das 
Übrige, was ſich heute „polnifd:evangeliih” nennt, find polonifierte 
auslänbifhe Clemente, vor allem deutſcher Provenienz, bie ſich 
nach der befannten deutſchen Eigenart der neuen Heimat jchnell 
affimilierten und in der zweiten Generation ſchon national polniſch 
fühlten. 

Fragen wir uns jeßt, wie fam es, daß die reformatorifche 
Idee, die im 16. Jahrhundert dreiviertel des polniſchen Gefamt- 
adels umfaßte (reformiert) und in den Stäbten zu hoher Blüte 
gelangte (lutheriſch), die befruchtend auf Schrift und Drud wirkte 
und die erfte Glanzperiode der polniſchen Literaturgefhichte inau- 
gurierte, wie fam es, fragen wir, daß diefe Bewegung fo völlig 
dahinfchwand? Könnten wir nicht vielleicht fchon in der Entftehung 
Keime des Verfalls finden? Diefe Frage führt uns zu der nad) 
der Art der Ausbreitung der Neformation in Polen. 

Baltife Monatafchrift 1906, Heft 3. 3 


a4 Verfall der Reformation in Polen. 


Polen, „das zu allen (scil. religiöfen) Neuheiten geneigtefte 
Sand”, wie ein alter Chronift ſich ausdrüdte, war von jeher ein 
Tummelplatz ſchwärmgeiſteriſcher und feftirerifher Gemeinichaften. 
Fratricellen und Flagellanten fanden neben Waldenfern unb den 
überall ausgeitoßenen Juden gaftlihe Aufnahme. Das Polen der 
Piaſten und Jagellonen war tolerant, „die hochentwickelte ftändifche 
Freiheit fand auf religiöfem und kirchlichem Gebiet fo ihr 
Gegenbild.” 

Als in Böhmen das Verlangen nad) einer nationalen und 
Volfsfiche die große Bewegung bes Huffitismus zeitigte, griff 
diefe auch nad) Polen herüber, und obgleich die nationalen 
Gegenfäge bier nicht vorhanden waren, gewann doch der Huſſi- 
tismus viele Anhänger. 1435 taten ſich einige Dagnaten, Abraham 
Zbasfi, Spytef von Melsztyn und Johannes Strasz zu einer 
politifdereligiöfen Konföderation zufammen, bie ver- 
ſchiedene Mißftände ber königlichen und vor allem hierarchiſchen 
Gewalt befeitigen wollte. Der König Wladislaus Jagiello ſoll 
felbft einen Hang zur Lehre des Hus gehabt haben, was wir 
jebod wollen dahingejteflt fein laſſen. Das Bedürfnis einer ſtaat— 
lichen und kirchlichen Reform wurde aud in Polen, wenn auch 
nicht in dem Maße wie im Weſien, empfunden. Der liber baro 
Johannes Oſtrorog jtellte dem Reichslage von 1459 eine Neform- 
fehrift vor, in ber er unter andrem für bie völlige Unabhängigkeit 
der Föniglihen von der päpftlicen Gewalt eintrat, ja leplerer 
fogar jegliches Recht, ſich in flnatlicye Angelegenheiten zu miſchen, 
abiprad. Und wie Oftrorog fo empfanden fait alle mahgebenden 
Elemente Polens. Die Unabhängigkeit des Staates von der Kirche 
und die Bildung einer nationalen Kirche waren bie leitenden 
Ideen des feinem Ende entgegengehenden 15. Jahrhunderts. 

Die Reformation des 16. Jahrhunderts fand in Polen einen 
vorbereiteten Boden. Ihr wandten ſich vor allem die Magnaten 
und ber großgrundbefigliche Adel Kleinpolens und Litauens zu. 
Es war hier die Lehre der ſchweizeriſchen Neformatoren, die ſtark 
und fchnell um fi griff, während in Grofpolen und Preußen 
vorwiegend die Iutheriiche Lehre Wurzel faßte. 

Die Motive, die wir bei der Ausbreitung der Neformation 
in Polen zu ſuchen haben, find leider nicht immer religiöje 
gewejen; religife Momente jpielen in ber erften Generation, bie 





Verfall der Reformation in Polen. 215 


ſich ber neuen Lehre zugewandt, beinahe eine untergeorbnete Rolle, 
obgleich damit nicht gefagt fein will, daß viele fih ans wirklicher, 
tiefer Überzeugung ber evangeliſchen Kirche zugewandt Hatten. 
Modefade wird es vor allem geweſen fein, die ber Refor— 
mation den Eintritt in Polen erfeichterte. 

Der rege geiftige Nustaufd) zwifchen Boten und dem Weiten, 
die zahlreich auf ausländiſchen Univerfitäten Studierenden brachten 
& mit fi, daß die Neformation in Polen „modern“ wurde, ein 
Umftand, der beweift, daß gerade die Kreife, die die Mode mits 
machen können, Grofgrunbbefiger und Stabtpatrizier, ſich berjelben 
zuwandten. In Mafovien, wo der Großgrundbefig fehlte und nur 
ber Feine, ungebildele Landadel zahlreid, ausgebreitet Icbte, blieb 
der Katholizismus in voller Kraft. 

Dogmaliſche Streitfragen bejdäftigten im 16. Jahrhundert 
die Gemüter, und wie im 3. Jahrh. n. Chr. auf den Märkten 
Griechenlands die Lehre vom Logos auch von verhältnismähig 
einfachen Leuten ventiliert wurde, fo dachte jegt auch dev polnische 
Landedelmann über Mbiquität nnd Perfonenlehre nad, fih in 
einichlägigen Büchern feiner Zeit Aufihluß Holend. Das lag jo 
in ber Zeit. 

Die reformatorifche Idee konnte nad) alledem in Polen nicht 
allzu tiefe Wurzeln gefchlagen haben, was aud) beweift, daß die 
polnifchen Magnaten von dem Grundfag: eujus regio ejus religio 
nur Außerft vereinzelt Gebrauch machten. 

Die evangelifhe Kirche Polens war im Werben begriffen, 
und nod) hatte fie nicht Zeit gehabt in ber neuen Heimat warm 
zu werben, als ein gefährlicher Feind in ihrem eigenen Lager 
eritand, der Socinianismus, ober wie er in Polen genannt wurde 
— ber Arianismus. 

Bedeutende Soeinianer, wie Stancarus, Blandrata, Pelrus 
Gonefius machten (vor allem) der reformierten Kirche großen 
Abbruch. In Wilna, diefem Zentrum der polnifch-reformierten 
Kirche, trat ber Prediger ber Gemeinde Czechowicz nebſt mehreren 
vornehmen Gemeindegliedern zum Socinianismus über. Viele 
reformierte Kirchen, wie in Viala, Brzesc Litewsfi, Morby, Zast 
u. v. a. wurden in focinianifde umgewandelt, viele Magnaten: 
familien hatten id) der Lehre des Socinus zugewandt. Anſtatt fich 
innerlich zu feitigen und der römiſchen Kirde Trop zu bieten, 

3* 


216 Verfall der Reformation in Polen. 


befchäftigten ſich evangeliſche Synoden mit Angelegenheiten ber 
Arianer, polemifierten gegen fie, zeriplitterten auch ihre Kräfte in 
gegenfeitiger Bekämpfung. Freilich hatte das im 16. Jahrh. noch 
nicht fo traurige Folgen: das Magnatengeſchlecht der Radziwills, 
vor allem der Wilnajche Wojewode Nikolaus Radzimill, genannt 
der Schwarze, hielt feine mächtige Hand über der reformierten 
Kirche, alle Über: und Eingriffe des Katholizismus erfolgreich 
abwehrenb. 

Dem durch mehrere fi befehdende Denominationen ger 
ſchwächten Proteftantismus in Polen entitand bald ein neuer Feind 
in dem nad) Polen eingeführten Jefuitenorden, ber 1570 feine 
erfte Schule in Wilna gründete und durch feine befannte Propa- 
ganda bald das Erziehungswefen, zuerft das öffentlige, in jeine 
Hand befam. 

„Geleitet von ber Erfenutnis, wie wichtig für die römiſche 
Kirche ein fiheres Herrſchaflsgebiet zwiſchen dem  proteflantifchen 
Deutfchland und dem ſchismatiſchen Nußland fei”, einheitlih und 
vorzüglich organifiert, fand diefer, nur zum Kampf gegen ben 
Proteftantismus ins Leben gerufene Orden, leßteren zerfplittert 
und uneinig vor, ein Umftand, ber ihm jein Wirken wefentlich 
erleidhterte. Wenn alfo die Tätigfeit der Jefuiten in erfter Reihe 
daran ſchuld war, daß die Reformation in Verfall geriet, fo muß 
anderſeits der polnijche Proteftantismus reumülig an die eigene 
Bruft ſchlagen und befennen: die eigene Schwäche und Zerfplit- 
terung habe den Jeſuiten die Arbeit erleichtert. 

Als ber letzte Jagellone auf polniſchem Thron, Sigismund 
Auguft, 1572 jeine Augen ſchloß, war die proteflantifhe Partei 
«oder wie fie in Polen genannt wurde „bie Diffidenten“) noch fo 
mächtig, baf fie beim mum folgenden Wahltönig Heinrich Valois 
eine Beſtätigung aller ihrer religiöfen Freiheiten und Privilegien 
durchſetzen konnte. Nah dem mur wenige Monate regierenden 
Valois, wurde der Fürft von Siebenbürgen Stefan Batory, für 
ben Thron Polens gewählt, ein Mann, dem die Nepublit ihre 
legte Glanzperiode verdankte, der glücklich in feinen Kriegen, auch 
für die Volfsbildung Sorge trug, ſich hier leider vollftändig ber 
Jeſuiten bedienend. Er gründete Jefuitenfollegien in Niga, Pologt, 
Grodno u. v. a., freilich nicht ohne auf Wiberjtand bei ben 
Diffidenten zu ftoßen. 










Verfall der Reformation in Polen. ar 


Intolerant darf man Batory nicht nennen; einen Blandrata 
neben anderen Dijfidenten bei fi habend, hielt er dem ihm zu 
religiöfer Intoleranz anipornenden Zefuiten das Mort entgegen, 
„nicht über die Gewiſſen, fondern über fein Volk wolle er herrichen“. 
Seine Vorliebe für die Jefuiten läßt fih daraus erflären, daß 
diefer Orden ihm durch feine ausgezeichnete Organilation und 
Ordnung Achtung einflößte und er durch ihn auch feinem Volke 
ben Geift der Ordnung und der Geſehesachtung einzuflößen ger 
dachte. Die Brüder von der societas Jesu verftanden es auch 
ausgezeichnet, durch ſchöne Vorträge, die fie vor dem König hielten, 
wie 3. B. „de potestete et dignitate regia*, in ihm den JIrr— 
tum, als feien fie die Träger des monarchiſtiſchen Gedanken und 
Zertörer der Anarchie, aufrecht zu erhalten. Gejtügt durd bie 
Huld des Königs, waren die Jeſuiten imilande, mit den ger 
lehrtejten Männern ihres Jahrhunderts ihre Kollegien zu befegen, 
ich nenne nur Namen wie Starga, Brand, Fabricius, den Portugifen 
Vega u. v. a., die den Kampf mit den Diffidenten aufnahmen, 
die nicht mehr über ſolche bedeutende Prediger wie zur Jagellonen- 
zeit verfügten. — Der mühlam zujtandegelommene „Consensus 
Sendomiriensis 1570*, ber gleichſam eine Union ber Evangelijhen 
in Polen war, worin fie ſich gegenfeitig Schuh und Unterftügung 
fiherten, aljo politiich und religiös, bejtand nur dem Namen nad). 
Der geijtige Urheber des „Consensus* Johannes a Lajco war 
ſchon längft tot, ohne die Vereinigung erlebt zu haben ; ihm folgte 
bald, 1565 der mächtigſte Protektor der evangelijchen Sache, der 
wilnajche Wojewode Nikolaus Nadzimill, der Schwarze. Trog der 
Ermahnungen, bie ber Varer auf feinem Sterbebette an feine 
Söhne gerichtet, treu ihrem Glauben zu bleiben, traten dieſelben 
in die katholiſche Kirche zurüd, und wenn der Vater viel Mühe 
und Koften verwandt, die erſte polniſche Bibel überjegen und 
drucken zu laſſen, jo ſcheute der Sohn feine nod) größeren, fie zu 
verbrennen umd zu vernichten. Komplete Gremplare der „Breiter 
Bibel” find heute eine bibliographiſche Seltenheit. 

Wenn während ber Negierung Vatorys auch hin und wieder 
Verfolgungen ber Diffibenten vorfamen, fo wurden fie jedesmat 
mehr oder minder vom Könige geahndet und 1581 den 26. Cept. 
erließ der König aus jeinem Feldlager bei Pſkow ein Edikt, 
welches jegliche Verfolgung der Tiffidenten aufs jtrengjte unter- 


218 Verfall der Neformation in Polen. 


fagte. — Es war dies das letzte Toleranzebift eines polniichen 
Königs. 

Trotz heftigem Wiederftande der proteftantijden Parteiger 
noffen, an deren Spige Zborowski jtand, wurde im Auguſt 1587 
ber „Jeſuitenkönig“, wie er ſich mit Vorliebe nennen lieh, Sigis: 
mund III. Waja zum König von Polen gewählt. — Die Regie— 
rung dieſes Königs kann als eflatantes Beiſpiel dafür dienen, 
wie weit herunter die Jeſuitenherrſchaft ein blühendes Land bringen 
fan. Polen, eine freie Adelsrepublit, nahm jegt in ſich papiftiich- 
jefuitifche, und dadurch abfolutiftijche Elemente auf, trat aljo in 
einen Gegenfag zu feiner eigenen Idee, und wurde jo ein Widers 
ſpruch in ſich jelbft; und das rächte ſich, rächte ſich fo furchtbar, 
daß das ganze poluiſche Staatsweſen mit Naturnotwendigkeit 
zugrunde gehen mußte, denn die Weltgeſchichte duldet feine 
Stantengebilde, die in ſich ein Widerſpruch, ihrer Beflimmung 
nicht entiprechen. 

AS Sigismund III. während des berühmten Aufruhrs des 
Zebrzydowsti 1605, der ein Protejt gegen das herrſchende politifche 
und veligiöfe Syſſem war, den Proteftanten die Hand zu Ver- 
föhnung reichen wollte, — er hat es damals nicht aus Neigung 
für die Proteftanten, vielmehr von ihnen in die Enge getrieben 
getan, — da hielt ihm fein Beichtvater, der Jejuit P. Skarga 
das Wort entgegen: er jolle es nicht tun, wenn auch das Bater- 
land darob zugrunde ginge, das himmlische Vaterland würde ihnen 
doch erhalten bleiben. — Cigismund II. fhlug damals den 
Aufſtand nieder; aud das irdiſche Vaterland war geretiet, — 
doch nur ſcheinbar: wir ftehen am Anfang des Endes der 
Geſchichte Polens und inmitten des Niederganges der reforma- 
toriſchen Idee. 

Hierauf begannen religiöſe Verfolgungen. Wir können an 
dieſer Stelle auf die Eingelfeiten nicht weiter eingehen. Die Ver: 
folgungen find immer gleichartige geweien und unterideiden ſich 
auch wenig von den in anderen ändern; wir fonftatieren bier 
nur: große und häufige Verfolgungen fanden ftatt, die in Polen 
deshalb um fo ſchwerer getragen wurden, als anderswo, weil hier 
der polniiche biffientiiche Edelmann von dem ihn ganz gleichſtehen— 
ben fatholifhen Standesgenoſſen Verfolgungen erlitt, und dies in 
einem Lande, das Üch ſtolz Nepnbhif 











Verfall der Reformation in Polen. 219 


Die Zahl der Evangelifchen ſchmolz gewaltig zufammen, 
wieberum ein Beweis, daß die Reformation nur (oje Wurzeln in 
Polen gefaßt und die Volfsjeele unberührt gelaffen hat. Inner: 
lich ſchwache fielen ab, die Einen verlodte Hohe Karriere, bie von 
jegt ab Diffidenten verfchloffen blieb, Andere wurden infolge von 
Miſchehen dem väterlichen Velenntnis untreu. Jejuitentoll 
jefuitiiche und focinianiihe Hauslehrer trugen das Ahrige bei, 
Reihen der Evangelischen ſtark zu lichten. Voller Sorge be 
ſchãftigte fid eine Synode zu Wilna 1611 mit der Frage: woher 
nehmen wir Prediger? Die ſchwere, ja gefahrvolle Lage des 
Proteſtantismus in Polen ſchreckte die jungen Kandidaten von dem 
damals mit Selbftaufopferung verbundenen Predigerberufe zurüd. 
Diefer Mangel brachie es aud mit ſich, daß jeder erite Beſie, der 
ſich zu dieſem „dornenvollen Amte“ meldete, aufgenommen wurde, 
oft ungebildete, untaugliche Menſchen, die vom evangeliſchen Be: 
fenntnis feine blafje Ahnung hatten, — zum großen Nachteile der 
proteftantifchen Kirche. 

Eine bis jegt entichieden zu wenig gewürdigte Talſache, die 
aber für den Niedergang der Neformation in Polen von aller— 
größter Bedeutung war, finden wir in der Verlegung der 
Negierung und der Nejidenz von Krakau (Stleins 
polen) nad Warſchau (Majovien). 

Der Jefuitenfönig fühlte fh wohler unter feinem maſoviſchen, 
rein katholiſchen Landadel, als in dem von diſſidentiſchen Groß 
grundbefigern bewohnten Kleinpolen. Maſovien wurde jegt Stüge 
und Zentrum der Regierung Sigismund IIT., wodurch die Diili: 
denten geſchwächt wurden. 

1622 jtarb ismund III, bis zufegt mit der Bekehrung 
der Diſſidenten beſchäfligt, taub für ihre Klagen und Velchwerden. 
Obgfeid) fid) vieles unter jeiner Negierung in Lande gelodert hatte, 
obgleid) er die Anwartidaft auf die Throne mächtiger Nachbar: 
reihe (Schweden und Rußland), dank jeinem religiöfen Fanatismus, 
verfcherzt hatte, — er ging ruhig zu Grabe, es war ihm gelungen 
die Reformation aufzuhalten, ja noch mehr, mindejtens die Hälfte 
des bijjidentiichen Adels der römifchen Kirche wiederzugewinnen. 

Nicht einen Fontinwierlichen Bericht über den Verfall der Re— 
formation in Polen will ich hier geben; ich ſchreite darum zur 
nähjten Urſache ihres Fulls. 












220 Verfall ber Reformation in Polen. 


Sigismund III. folgte fein Sohn Wladiflaus IV., unter 
deſſen Regierung bie Lage der Evangeliihen bie gleiche blieb. 
(„Colloquium Charitativum Thoruniense 1644*.) 


1648 folgte dieſem fein Bruder, ber Kardinal Johann Nafimir. 
Unter deſſen Regierung müſſen wir ein neues Moment des Ber 
falls der polnischen Neformation hervorheben. 1655 brach der 
polniſch⸗ſchwediſche Krieg aus; ein Teil der Titauifch-polnifchen 
Magnaten, darunter ber reformierte Janusz Radziwill, ſchloß ſich 
den Schweden an, hauptſächlich aus dem Grunde, um Schub vor 
der vordringenben moffowitiihen Macht zu fuchen, denn von der durch 
triegeriſche Mißerfolge geihwächten Nepublit war nichts mehr zu 
erwarten. Zu den auf ſchwediſche Seite Übergetretenen gehörten 
feineswegs bloß Protejtanten, ſondern aud) Katholiken, auch Hatten 
bie Evangeliſchen ſich abjolut feiner bejonderen Proteftion der 
Schweden zu erfreuen, die gleichermaßen fatholiihe wie evan- 
geliiche Befigungen zerftörten. Der Krieg endete für Polen glüd- 
lich; weniger glücklich jedoch für die polnischen Proteftanten, die 
als Urheber des Krieges angefehen, den Sündenbod ftellen mußten. 
Der Friede zu Oliva 1660 brachte ihnen nichts. Die „pax dissi- 
dentium* war in Vergeljenheit geraten. 1668 wurde ein Edikt 
erlaffen, worin der Übertritt zur ebangeliſchen Kirche verboten, ja 
mit ber Verbannung bejtraft wurde. 


Dan beihuldigt oft die polniſchen Proteftanten, mit aus: 
lãndiſchen Mächten landesverräteriihe Beziehungen gehabt zu 
haben. Doch iſt dies ungeredt. Im Zeitalter der Gegenrefor- 
mation, wo politifche und religiöje Motive eng verbunden, über 
den nationalen ftanden, wo Philipp IL. feine Armada ausfandte, 
und die englifhen Katholiken deshalb noch keineswegs als Landes: 
verräler bezeichnet wurden, — in diefem Zeitalter muß auch der 
polniſche Proteftantismus mit demjelben Maße, wie die im Weiten, 
in der Minorität ſich befindenden religiöjen Parteien — feien es 
Katholiken oder Proteſtanten — gemeflen werden. Won ihren 
offiziellen Negierungen im Stich gelaflen, waren die polniſchen 
Evangelijchen auf fremden Veiſtand angewiefen. Vielen Nutzen 
hatten fie von auswärtigen Interventionen nie gehabt. „Der 
übermähtige Zwang der politiicen Verhältniſſe Hinderte jebes 
mirfiame Eingreifen“. (Molf). 





Verfall der Reformation in Polen. ꝛei 


Soviel über die Haupturſachen des Verfalls der Reformation 
in Polen. Die fählifiche Zeit bringt feine neuen Momente, ber 
Niedergang dauert fort, unaufhaltfam verringerten ſich die Ge— 
meinden und die einft jo mächtige Neformation mußte es erleben, 
daß in manchen Gemeinden „der Pater am Grabe des legten 
feiner Gemeindeglieder fand“. Was von der gemeinen Refor- 
mation in Polen übrig geblieben, wirb in althergebradhter Art und 
Weiſe von der Wilnaſchen Synode, der Nepräfentantin dieſes 
großen Erbes der Reformation, verwaltet. Ob fie diejen Reit, 
der die Feuerprobe der Verfolgungenüberitanden, zu erhalten willen 
wird, muß die Zukunft beweilen. 

Zum Schluß falle ic) das Gejagte in drei furze Theſen: 

1. Die reformatorijche Idee hatte in Polen nur oberflächliche 
Verbreitung gefunden, die Vollsſeele blieb unberührt. 

2. Die Zerfplitterung der polniſchen evangeliſchen Kirche in ſich 
befehdende Denominationen, jhwächte die Einheit derjelben und 
erleichterte dem Jefuitismus den Sieg. 

3. Unglüdliche politifche Ronftellationen verfepten ber Neformation 
in Polen den legten Echlag. 








N 


Nein Lied, 


Ur ich grüßefnd meines Weges ging, 
Stand ein Fenfler ofen an dem bege, 
KHörr iG eine weiße Mädhenflimme, 
Die mein Lied Hinausfang in den Abend. 
Seife faufhend Nand ih MIT am Fenfer, 
War es do, als wär Ih fängfi geflorden 
And as zöge meines Sedens Seele 
Qt der Stimme, die mein Lied Alnausfang. 
Ko. Freymann. 





Fiterarifche Rundichau. 


gs 
Zur Geidjichte des Lehnswejens in Livland. 





[8 erites Heft des achtzehnten Bandes der von ber Geſellſchaft 

für Gedichte und Altertumskunde der Oftjeeprovinzen heraus: 
gegebenen „Dlitteilungen aus der livländiichen Gedichte” erichien 
zu Ende bes Jahres 1903 der erjte Teil einer groß angelegten 
rechtsgeichichtlihen Arbeit, bie „Qur Gejdidte des Lehns- 
wefens in Zivland“ betitelt ift und Aftaf d. Tranjeher 
Roſeneck zum Verfaſſer hat. 

Wenn wir es als befremdlich bezeichnen, daß die baltifche 
Preſſe von einer fo bedeutenden wijlenfchaftlidjen Leiftung bisher 
feine Notiz genommen hat, fo wird vorausfigtlid, eingewandt 
werben, baß_ die Veſprechung fadhoiifenfchaftlicher Nrbeiten Füglich 
den Fachzeitjchriften überlaſſen bleiben muß. Dielen Einwand 
fönnen wir jedoch mu jofern gelten laſſen, als dabei die eigent- 
ficpe wiflenfhaftliche Kritik in Frage kommt und dem bergeftalt 
eingeichränften Zugeftändnis folgt der Selbftvorwurf auf dem Fuße, 
daß wir unfre einzige Fachzeitſchrift, die Dorpater „Zeitſchrifi für 
Nechtswilienihaft” und deven Fortjegung, die „Dorpater juriftiihen 
iudien", dem befannten großen „Grab der Willenfhaft“ haben 
verfallen laſſen. Unter ſolchen Umftänden ift es wohl erſt recht 
Sache ber Preſſe, ihre Lefer auf die Früchte baltiſcher Wiſſenſchaft 
aufmerfiam zu machen. Solder Früchte gibt es ja nur noch 
wenige, unb daß uns folde überhaupt noch bejchert werden, ijt 
doch wahrhaft herzerfreulich. 

Die vorliegende Arbeit führt uns freilich weit ab von alle- 
dem, was heute die Geiſter bewegt und vielfach) verwirrt. Das 
aber iſt ficherlich fein Schade, vielmehr dürfte es ſich in Zeiten 
der Unraft und politischer Erregung vorzüglich empfehlen, dem 
Gemüt yeitweilig in wienfhaftlicer Einkehr einen Nuhepunft zu 
bieten. Weltflucht bedeutet das noch fange nicht! Seltjanerweile 
jedod will „ber Parteien Gunjt und Haß“ Ipegiell den Gegenjtand, 





Literariſche Rundicau. 223 


der uns hier beſchäftigen foll, nicht unbedingt als einen folden 
Nuhepunft anerfennen. Denn wo volltommene Unwiſſenheit oder 
das noch gefährlichere Halbwiſſen ihrer inftinftiven Abneigung 
gegen alle mittelalterlihen Gebilde Ausbrud geben wollen, da 
lautet das Wort, das für die fehlenden Begriffe zur rechten Zeit 
ſich einftellt, wohl unfehlbar „feudal”. Ebenfo muß das arme 
Wort herhalten, wo irgend ein Prog dem egenjtande feines 
ſtumpfſinnigen Behagens gern den Auſtrich der Vornehmheit geben 
möchte. Auch hier berühren ſich die Gegenfäge. 

Die uns nunmehr gebotene Unterfuhung der geſchichtlichen 
Entwidlung des Lehnsweſens in Livland iſt jo breit und tief an: 
gelegt, daß fie in dem vorliegenden Hefte nicht wohl zum Abjchluß 
gebracht werden konnte, fie erjchöpft aber dad, indem fie bie 
Geſchichte des „Mannlehens“ oder Nitterlehens bis zum Untergang 
der politiſchen Setbftändigfeit des Landes erledigt, den wichtigiten 
Teil, ja im Grunde alles, was man, wenn von Lehnrecht die Rede 
iſt, geineiniglich ins Auge zu faſſen pflegt. Bon dem in Ausſicht 
geitellten zweiten Teil, der ſich mit dem Lehen zu minderem Necht, 
ohne Mannſchaft, beichäftigen joll, dürfen wir uns die Aufhellung 
eines bisher sönig vernachläffigten Gebiets unſrer Nechtsgejchichte 
verſprechen. Das gilt aud) vom dritten, abſchließenden Teile, der 
aus der Gejchichte des Lehnsweſens die polniüche, fchwebifhe und 
ruſſiſche Periode behandeln wird, und zwar, wie es in der Natur 
der Sache liegt, hauptſächlich in öffentlich-rechtliher Beziehung. 
Meiſt, begnügt man ſich mit einer oberflädlichen Kenntnis des 
ibeinbar epüodenhaften Wiederauffebens der Lehnrechtöfrage zur 
geit der berücjtigten SHüterreduftion Karls XI., aud) weiß man 
ſich allenfalls des Ukaſes oder Manifejts vom 3. Mai 1783, als 
des Abſchluſſes diefer mehrhundertjährigen Geſchichte, zu erinnern. 
Ein Ufas mußte es natürlich fein, denn ein folder bezeichnete 
nunmehr im Rechtsleben Anfang oder Ende aller Dinge. 

An dem jept vollendeten Teile fei zunächſt bie in logiſcher 
Zolgerichtigteit gegliederte Dispofition, auf die bei ber Darftellung 
von Nechtsverhältnifien natürlich befonders Gewicht zu legen it, 
rühmend hervorgehoben. Diefer Vorzug wi durd) Seitenüber: 
ichriften noch mehr zur Geltung gelangt fein. Cie halten dem 
Leſer das jpezielle VBeweisthema, auf das man fid) bei vielfacher 
Gliederung des Stoffes andernfalls erft befinnen muß, erwünjchter- 
maßen bejtändig vor Augen. 

Von überfommenen YLehrmeinungen hat ji) der Verfaſſer 
vollfommen frei zu halten gewußt und demgemäß jeine Arbeit 
durchweg auf eigene Quellenforihungen gegründet. Die Polemit 
gegen frühere Anſchaumgen war unter ſolchen Umftänden in vielen 
Eingelfragen unvermeidlich, aber dem Leer wird durch gewiffen: 
haftes Anführen der Quellen, deren Wortlaut in wichtigen Zülen 




















E22 Literariſche Rundſchau. 


eingeſchaltet iſt, regelmäßig die Möglichkeit geboten, ſelbſt zu prüfen. 
Die meiften Schriſtſteller pflegen der Polemik ein fanftes Hinweg- 
gleiten über wiſſenſchaftliche Gegenjäge vorzuziehen und ſich mit 
der Begründung ber eigenen Anjchauung zu begnügen, nicht felten 
jedoh zum Schaden der Sade, indem der Leſer fich gelegentlich 
garnicht jo recht beifen bewußt wird, hier oder dort an einem 
wiilenfchaftlijen Scheidewege angelangt zu fein. Dem wird durd) 
Segenüberjtellung von Theje und Antitheje am wirkfamften vor- 
gebeugt; daraus folgt die Notwendigkeit der Polemikl von ſelbſt. 

Nächſt dem forgfältigen Quellenſtudium und der ausgiebigen 
Benutzung der neueren rechtsgeſchichtlichen Literatur Deutſchlauds, 
erjheint als Vorzug ber Arbeit der überall beobachtete enge 
Zuiammenbang der politiſchen und vor allem ſozialpolitiſchen 
Geſchichte des Landes mit den zu behandelnden Gebieten der 
Neditsgejchichte. Gleich die im Abjchnitt „Allgemeines“ gebotene 
Überfiht, für die der auswärtige Leſer bejonders dankbar fein 
wird, ftellt die Arbeit unter dieſen Gefichtspunft. Wie gauz anders 
entwidelt fi nicht gegenwärtig die Eniſtehung der jogenannten 
Jungingenjhen Gnade von 1397, jenes für die weitere Ausge- 
ftaltung des Lehmechis jo bedeutungsvollen Privilegs, feitdem fie, 
wie gehörig, aus den politiichen Vorgängen ihrer bewegten Zeit 
abgeleitet worden it. 

Dasselbe gilt von dem befannten Silveſterſchen Gnadenrecht 
von 1457 und vollends von den fegten, unter dem Drud der für 
die Machtftellung der geiftlichen Landesherren verhängnisvollen 
konjeifionellen Wandlungen, den Prälaten von ihren Lafallen 
abgerungenen Zugeftändnifjen. 

Vorzüglich diefe Abjchnitte wird auch der Nichtfahmann mit 
Vergnügen und Vorteil lefen. Unter den Nechtsinjtituten, die 
durch v. Tranfehe eine weſentliche Klärung erfahren haben, fei 
das Gejamthandrecht befonders hervorgehoben. Es beanſprucht in 
der Geſchichte des Lehnrechts injofern erhöhtes Antereffe, als in 
der gegen die Gefamthandfamilien innerhalb der Ritterſchaft des 
[3 ſifts Niga 1523 in Lemſal zuſtande gefommenen Einigung 
u. a. ein „Proteſt gegen die Bedrohung durd die, einen pluto- 
fratiihen Charakter annehmenden Gejamthandfanilien, alfo gegen 
die Anhäfionsfraft des Kapitals und gegen die Gefahr einer 
materiellen und fogialen Differenzierung der Nitterfhaft” erblidt 
werben fann. Während fonft regelmähig die Vajallenichaft durch 
gemeinfames Inlereſſe ihrem Lehns- und Lanbesherrn gegenüber 
ſolidariſch verbunden erjcheint, erbliden wir hier eine bedeutende 
Gruppe der Ritterſchaft in doppelter Frontſtellung. Durd ein 
andres Nechtsinftitut, die Weiterverlehnung oder Afterleihe, war, 
wie man von vornherein meinen jollte, die Gefahr einer „Differen- 
gierung“ erft recht nahe gelegt. Die Alajfe der ftervajallen war 








Siteranifche Rundſchau. 2 


wenig befannt und beachtet. Sie ift eigentlich erſt durch v. Tranfches 
Studie „Die Afterlehen in Livland“ (im „Jahrbuch für Genealogie, 
Heraldik und Sphragiftit” 1896 und 1899) in unfre Rechtsgeſchichte 
eingeführt worden. Obgleih nun das Nedlsverhältnis zwiſchen 
Vaſall und Aftervajall in jeder Hinfiht dem zwiſchen dem oberen 
Lehnsheren und Vajall analog war, hat gleichwohl, wie v. Tranfehe 
fonftatiert, ein Sozialer Niederfchlag fo wenig ftattgefunden, daß 
uns nicht wenige Glieder der angejeheniten und mädtigiten Adels: 
geichledhter unter den Aftervafallen begegnen. Mer die Gefchichte 
der jtändifchen Entwiclung der baltiihen Ritterſchaften bis in die 
neuere Zeit hinein forgfältig verfolgt, der wird ſich kaum dem 
Eindrud verſchließen können, daß die glückliche Vermeidung einer 
Differenzierung innerhalb der forporativen Verbände in uraltem 
Rechtsboden wurzelt, an den ja wohl auch unfer Landtägliches 
„Virilſtimmrecht“ erinnert. Keinen geringen Anteil am einheits 
lichen Charakter des fivländifhen Lehnredts und der damit 
jufammenhängenden feiten Fügung der vajalliichen Verbände wird 
man der Abwehr des Eindringens dienſtrechtlicher Normen  beizu- 
mefjen haben. Im Gegenfag zu der von E. Schilling in feiner 
befannten Studie „Die Ichn: und erbrehtliden Satzungen bes 
Waldemar » Erihiden Rechts“ vertretenen Anſchauung hat von 
Tranjehe, wie uns ſcheint, überzeugend nachgewieſen, daß eine 
Verquidung lehn: und dienſtrechllicher Normen Hier feineswegs 
ftattgefunden hat, daß vielmehr das altlivländiſche Lehnrecht durch: 
aus auf ſächſiſchem Lehnrecht beruht, wobei in deifen Ausgeitaltung 
ſchon früh die Neigung zu landrechilichen Normen hervortrilt. 

Entfprechend dem Xrbeitsplane mußte fid v. Traniche im 
mwejentlichen auf die eigentliche Ichnrechtliche Entwiclung beichränfen. 
Und doch ift durch die vorliegende Studie unſre Kenntnis auch 
darüber hinaus in mehrfacher Beziehung erweitert worden, u. u. 
in beirefj der Behördenverfaffung und des Initanzenzuges. Den 
Sandtag in der Eigenfdjaft einer hödjften Infiang binnen Landes 
lernen wir jegt erit als einen Ausſchuß von 21 Nichtern Fennen. 
Damit läßt ſich fhon etwas anfangen, zumal da wir erfahıen, 
daß dieſe Oberinſtanz in landtagslofer Zeit mindejtens alle drei 
Jahre zufammentreten jollte. Den älteren Nedytöhiftorilern war 
auch das unbekannt. 

Möge es v. Tranfche gelingen, feine ſchöne Arbeit jo durch— 
zuführen, wie fie geplant if. Wer bie livländiiche rechtsgeſchicht- 
liche Literatur Fennt, wird gern anerfennen, daß in ihr das uns 
jebl gebotene Bud) als die weitaus bedeutendite willenjhaftliche 
Leiſtung an erjter Stelle ſteht. 

9. v. Bruiningt. 





Über Wolynskis „Der moderne Idealismus 
und Rußland. 


orte — Morte — Worte — ein Meer von Worten! Und hin 

und wieder wie lanzende Kähne auf wogenden Wellen — hier 
ein Gedanfe — dort ein Gedanke! Aber immer wilder entbrennt 
das Meer — die Kühne ſchlagen um — uud der eier, der dem 
fchwanfen Gedanfenfahn vertraute, greift ind Leere. Dennoch 
wird das Bud) Wolpnof’s* Aufichen erregen, denn bie eins 
verſchwommene, indefjen feineswegs feichte Myftik wird der Moderne 
jufagen. Cs lohnt daher der Mühe, den Gedanfengang Wolynsfis 
darzulegen. Es iſt nicht leicht, denn was Molynsfi gibt, iſt 
Dffenbarungsphilofophie, angewandt auf bildende und bidhtende 
Kunft, modernen Ndealismus und Aufland. Hören wir: Körper 
und Scele des Menden bilden in unteilbarer Vereinigung bie 
menschliche Perfönlichkeit. Im Zwieſpalt mit diefen beiden Ele: 
menten trägt der Menjc ein drittes in ſich — den Geiſt. Diefer 
Geiſt entjpricht dem ſolraliſchen Dämon, feine Huferungen (z3. B. 
das Gewiſſen) find dem perjönlic-egoiftiihen Element entgegen— 
gelept. Die Perfönlichleit ift ubjettiv, der Geift objettiv. Dem 
Unterfchied zwiſchen Cele und Geifl entipricht in der Nantihen 
Mhitojophie der Unterjchied zwifiien Vernunft und Yerftand (sich. 
ud) Körper und Crele ftehen im Gegenfaß zu einander. Beide 
aber find begerricht vom egoiftifchen Willen. Sn feiner förper- 
lichen Ausdrucsform ftrebt der Wille nad Vefrievigung feiner 
unerfättlihen Gelüfte, er iſt grob und gewaltfam, in feiner 
feeliichen Ansdrucsform unterdrüdt der Wille den Körper, er ver« 
achtet die Nealität, iſt aber nicht weniger egoiſtiſch. Der Wille 
in Seele und Körper hängt am „Ich“, aud die Seele mit allen 
ihren Feinheiten gehört der finnlichen Welt an. Der Geift indeſſen 
entſtammt der maß: und grenzenlojen Welt und vermittelt uns 
ihr Verfländnis, ex ft unperfönlich, univerfell und ideal, wie Die 
Welt, aus der er kommt. Die Berührung des Menſchen mit ber 
überfinnlichen Welt durch den Geift wirft auf jeine körperlich- 
feeliiche Individualität, indem es fein Denfen umgeftaltet. Aus 
dem empirifchen wird ein ideales Denfen, den realen Bildern der 
Gegenftände ftellt der Menſch die ivenlen Urbilder gegenüber. 














+) A. 8. Wolynsti, Der moderne Idealigmus und Rußland. Frantf. 
a. M. Lit. Anit. 1905. 





Literariſche Rundſchau. 87 


Das Verftändnis der Melt vollzieht fih nun in zwei Phafen. 
In ber erften Phaje fieht der Menſch den Zwiejpalt ber realen 
Bilder und des Urbildes, biefer Zwiepalt erfheint iragiſch und it 
die Wurzel des Pejlimismus. In der zweiten Phaſe fieht der 
Menſch die Bewegung des Bildes zum Urbilde, der Zwieſpalt 
ſchwindet und in der Ertaje des Geiſtes ficht er die Bewegung 
als vollzogen, das Bild zum Urbilde geworben. Sold eine 
efftatifche Durchgeiftigung des Denfchen zeigen 5. B. bie Märtyrer, 
nicht allein die chriſtlichen, jondern auch die der Wiſſenſchaft. In 
den idealen Urbildern alles real Erijtierenden bdenfen, bedeutet — 
idealiftifch denfen, fein eigenes ideales Urbild verwirklichen, und 
zur Qerwirflidung der idealen Urbilder des Lebens überhaupt 
beitragen, bebeutet — idealiſtiſch fein. 

Die ganze menschliche Tätigkeit kann in eine theoretifche und 
praftifche eingeteilt werden, — fünftlerifches Schaffen und folide 
Arbeit, wiilenfchaftliches, philofophiiches und religiöfes Denten. 
Wiſſenſchaftliches Denken iſi bie Erforſchung der körperlichſeeliſchen 
Welt, philoſophiſches Denken iſt das Denfen des menſchlichen Verz 
ſtandes über den Geiſt und die Welt durch metaphyſiſche Ideen 
des Geiftes, das einheitliche Denfen über Menſch und Welt ift 
das religiöfe Denken, weldes von dem unmittelbaren Empfinden 
der Gottheit ausgeht. Durch das Prisma der Gottheit betrachtet, 
zeigen ſich die Ericheinungen bes Lebens in konkreter Deutlichfeit 
auf mpftilchgrenzenlofem Hinlergrunde, die finnliche und überjini 
liche Welt, welde das profane Denten f—heidet, eriheinen im 
religiöfen Denfen verſchmolzen. Diefe Kraft gewinnt das myſtiſch- 
religiöfe Denken Hauptjählic durch den Begriff Golgathas, durch 
„bie Idee ber freiwilligen Areuzigung des perfönliden „Id“ im 
Namen des Geijtes, der Beraufhung an der Gottheit, der Meta— 
phpfit, der himmliihen Wahrheit, die in die nüchterne Welt der 
Lebensbeziehungen durch das Blut Golgathas hinabfteigt." Doch 
unterliegt das myſtiſche Denten der Kontrolle der Vernunft. 
Diejes nun, das myſtiſche, veligiöfe Denken, das Erfaſſen ber 
Welt aus der Empfindung der Gottheit heraus it das Ziel und 
wird das Nejultat der modernen ibealiftiihen Woge jein. Obwohl 
nun Rußland hinter den bejtändigen wiſſenſchafllich philoſophiſchen 
Errungenschaften Europas bedeutend zurüdgeblieben üt, „ut es 
unmöglich nicht zu fehen und zu fühlen, daß gerade in der ibea- 
liſtiſchen Bewegung Rußland eine wichtige Nolle fpielen wird. 
Bei der Abwvelenheit, alter fultureller Aufihichtungen fann_ der 
ruſſiſche Menſch in vieler Hinſicht in einer günftigeren Lage fein“ 
(sie), In der Kunſt treten die großen Rontrafte der empiriihen 
und ber myſtiſchen Welt nod) greller als im Leben jelbft hervor. 
Die Kunft an und für fih unterftreicht diefen Zwieipalt, bie 
höchfte, geiftige Kunft aber verjöhnt ihm, jie fdhreitet von dem 

















228 Llterariſche Rundſchau. 


Empiriſchen zum Realen fort, „von ben realen, körperlich-ſeeliſchen 
Vildern der umgebenden Melt zu den flammenden Urbilbern ber 
Wirflichfeit in ihren neuen, friſchen, edlen Verförperungen.“ 

Die Darftellung der Dinge in ihren Urbildern durch die bildende 
Aunſt bezeichnet Wolynsfi als Ikonographie, welche das Weſen 
der Dinge  darftelt. Dielen Anforderungen entfpredjien die 
Kunſt der italienischen Nenailfance und die öſtlich-byzantiniſche 
Honographie „mit der herrlichen Variante des grichijch- bpzantinijchen 
Schaffens auf dem Gebiete der ruſſiſchen Heiligenmalerei”. Beide 
haben den Höhepunkt ihrer Entwidlung erreiht. In ber metas 
phnfiichen Darftellung der Welt erfcheint indeffen die byzantiniiche 
Ilonograppie vollendeter und tiefer. Doch ift aud fie in ihren 
Formen befcränft. Die neue Kunft, die neue moderne Ikono— 
graphie wird die ganze Welt vergöttlichen, — eine Syntheſe der 
realijliichen Malerei und der Fonographie im engen Sinne des 
Wortes. Diele Eyntheie in das Etreben der modernen Malerei 
mit all ihrem Impreffionismus und ihrer Defadenz. Sie leidet 
noch unter dem Subjeftivismus, fie fteht in der eriten Phaſe, 
dem Zwieſpalt zwiſchen Bild und Urbild, aber — all dies it 
heilig - ilt die Ronvulfion des entftehenden fünftleriichen Idealismus. 
Wenn die idealiſtiſche Malerei zur Ilonographie hinneigt, „ſo 
muß und ſoll die lünſtleriſche Literatur zu einem geiwiffen neuen, 
göttlichen Worte werden, in dem alle Wahrheiten, die irdiſchen 
und die himliſchen, alle Wiederſprüche der menschlichen Geſchichte, 
alle ihre tragiichen Zwiefpätte mit ihren ihriſchen Köfungen gegeben 
find“. Das Velreben der Literatur zum göttlichen Worte zu 
werben fällt befonders beim Etubium der modernen Literatur auf. 
„Sie juht den neuen Menden unter dem Weſen des neuen 
Geiſtes“. Ihre Krankheitserſcheinungen rühren daher, daß fie den 
Individualismus, die Herrichaft des ſeeliſch-körperlichen noch nicht 
überwunden hat, auch fie it noch in ber erjten Phaſe, aber fie 
wird den Individualismus abftreifen. In ihrer Selbſtanalyſe ber 
gegnet die Defadenz dem Empfinden der Goltheit, daher die Um— 
fehr zum Idealismus. Es folgen Beifpiele, zuerſt Niepiche : 
„Wirklich, was ift die ganze Philoſophie Nigiches anders, als ein 
flammender Traum vom Uebermenfden, vom neuen Menſchen“. 
Er ſucht ihn indeh fehlerhaft in der Richtung eines Ultraindivi— 
dualismus. „Aber diefes Suchen felbit, diefer kraukhafte Etel 
aegen das Alte, Abgelebte, gegen den alten Körper und die alte 
Seele, die Hrundpfeiler einer jeden Ned)tgläubigleit im Xeben, 
macht ihn zum echten Philoſophen der neuen Geldichte. 

Auc, die duſſiſche Yiteratur ift mit dem Suchen der neuen 
Vlenjden, der nenen Schönheit beihäftigt. Yon den folgenden, 
zum Teil recht feinfinnigen, Beipredungen will id) nur einen 
Sa herausheben: „Unwillfürtic; jagt man fich, das Tolftej ein 











Sitererifge Rundſchau. 22 


ruſſiſcher Luther fei, vielleicht nod ein größerer und tieferer, ale 
der deutfche Luther 20.” Wolynski ſchließt mit der Ausficht auf 
ein neues freies Gottesreich, in weldem es feine Beleidigten und 
Beleidiger mehr geben wird. „Es weht ein neuer, neuer Geilt, 
und auch Rußland, ein febendiger Teil des lebendigen Europas, 
eilt . . mit verheißendem Blick voran’. — 

Genug! Uebergenug von diefem umgefehrten Niepiche! 
Genug von einer Philofophie, bie im freienden Wirbel un: 
gezähfter Spfteme geboren, nur allzufehr den Cinbrud eines 
Findelfindes hervorruft! Die Auflöfung des Dualismus durch 
einen Trealismus it mir allerdings neu, übrigens wäre es 
mit dem Willen ein Quartualismus. Welh eine Unter 
Ichägung bes alten Dualismus, der ein Dualismus nicht 
etwa der Wolynskliſchen Seele und bes Körpers, fonbern bes 
Geiſtes und des Körpers ift! Und bie Seele jelbft, wenn fie 
nicht dem grenzenlofen Reiche, nicht dem Geifte entitammt ilt, 
woher ift fie und welche Bedeutung hat fie? Iſt fie nicht mehr 
als der Begriff des Egoismus, der Geilt aber des Altruiomus? 
Fit diefe Philoſophie, welche die Rernfragen umgeht, nicht mehr 
als eine Paraphrafe des Wortes: Und Gott ſchuf den Menfchen 
ſich zum Bilde? ft die förperlich-feeliihe Individualität ſinnlich 
und vergänglich ? It aud) die Seele Körper? Wie, wenn fie 
nicht Geift, fondern Körper ift, wenn fie ber finnlichen Welt ans 
gehört, wie kann der Geift auf fie wirten? Wenn aber in uns 
der Geift das ewige Element üt, die Seele aber finnlid und ver 
gängli, ift die Seele in diefem Falle nicht nur Attribut des 
Körpers und ber Geift die eigentliche Seele? Alles diefes und 
taufendmal mehr werden wir willen, wenn die neue Erbe und 
der neue Menſch entitanden find. Dann werben wir aud willen, 
moher wir fommen und wohin wir gehen, was Molynsfi zu er: 
örtern nicht für nötig befunden hat. — Und die Künjtler werden 
fie uns ſchaffen, dieſe neue Welt! Sie werden jo lange bie 
Welt burd) das Prisma der Gottheit betrachten, bis die Melt 
ganz und gar vergöttlicht ijt! Jawohl — das werben fie tun, 
die heiligen Künjtler der Moderne! — Wenn mir die Gottheit 
die Wahrheit böte in der einen Hand und in ber anderen das 
ewige Suden der Wahrheit, ich würde das Suden wählen, To 
etwa fagt Leffing. Das ift Wolpnstis Gejhmad nicht! 

Der Gefährte der Unflarheit ift die blinde Ueberhebung, bie 
Ueberſchãtzung des menſchlichen Geiftes im allgemeinen, des Volks: 
geiftes im befonderen. Blinde Ueberhebung und maßloſe Ueber— 
freibung! Jeder Größenunterfcjieb verihwimmt vor bielen_pro- 
phetichen Augen! Aus welchem Grunde follte Tolftoj ein ruſſiſcher 
Luther fein? Wei Wolynjti nicht was Luther getan hat? — 
Er hat das Mittelalter aus den Augein gehoben! 

Beltifcie Monatsferift 1005, Heft 3. 4 


20 Lutrariſche Rundſchau. 


Aber mir iſt, als wäre ich dieſer Art des Philiſophierens 
und dieſem Idealismus ſchon einmal begegnet; eine ſtockende, aber 
unendlich beharrliche Stimme klingt mir in den Ohren. Ich 
erinnere mich bes Worfalles, es war in Dorpat im NReftaurant 
Kudramzew. Ein junger ſchmächtiger Mann, im grauen Stubenten- 
tod hielt einen älteren beleibten Herren am Rnopflod und redete 
heftig auf ihn ein: „Das Princip“, fagte er, „verftehen fie, das 
Prinzip — das Prinzip ift das Grundlegende — verftehen fie — 
das Grundlegende !" 

„Warum vegen fie fi auf Aafi Porfiritih”, fagte der 
ide Herr „wir wollen lieber einen Schnaps trinken !" 

„Das Princip”, wiederholte ber Stubent „das Princip ift 
das Grundlegende — verftchen fie, das Grundlegende !” 

Sollten wir dieſe Jdenliften nicht fennen und ihre neue 
Erbe, diefe Jbealiften, die in einem Aemzuge von WVienſchenrechten 
und rembflämmigen reben? — Ich bredie ab — den Neit bes 
Artikels ftreicht den Fremdſprachigen fowiejo ber Zenfor. 


Karl v. Freymann. 





Wolynski's „Buch vom großen Zorn“. 


„Die Haarfarbe ſcheint bei Doſtojewsli bem Grade ber 
Intenfität bes perjönlichen menfchlichen Elements zu entſprechen, 
und fozufagen dem Grade feiner Offenheit für regenerierende, 
gnabenvolle Einwirfungen des Himmels. . ." Ich las anfangs 
in aller Nuhe über diefen Cap hinweg. Rach einigen Plinuten 
verfpürte ich ein Unbehagen, ich jtand auf und ging ein wenig 
bin und her, dann fegte ich mich wieder und verfüchle zu lefen, 
aber die Buchſtaben blickten mich fo jonderbar ſchwarz und gleiche 
förmig an und fie fhienen mir feinen Sinn zu geben. Ih fah 
auf und überlegte. Sollte wirklich Doftojewsti — — — — 
Der Stachel des Satzes ſaß mir im Fleiſche. Doch verjuchte ich 
wider den Stachel zu löfen. Ach was, dachte ich in ralionaliſti- 
ſchem Leichtfinn, aus welchem Grunde follte wohl diefes der Fall 
fein? Nad einer halben Stunde begriff ich, daß id) den Sag 
von ber Haarfarbe nicht ungeftraft gelefen hatte. Er ſaß tief im 
Fleiſch und bohrte, ex bohrte fl aber fhmerzhaft. Die Frage, 
ob bei Dojtojewsti die Haarfarbe dem Grade der Intenfität des 


oiterariſche Rundſchau. 21 


perſonlich⸗ menſchlichen Elements entipräde, begann für mich bren- 
nend zu werben. Die Lölung der frage aber ermies fich fo 
Ähwierig, daß ich mit Cap, Stachel und ungelöfter Frage zu Bett 
ging. Dir träumte, mein Haar wäre ſchwarz und ein boshafter 
ſchwarzer Teufel jtieße mich mit einer langen, langen Dfengabel 
in den jdmärzeften Pfuhl der Hölle. Haarfarbe, Haarfarbe, Haar: 
farbe! rief er hoͤhniſch und beugte ſich ſchabenfroh über ben Rand 
des Höllenpfuhls. Diefer Traum fiimmte mid) dod bedenklich. 
Ic äußerte meine Zweifel einem guten Freunde, den ich zufällig 
auf der Straße traf. „Blöbfinn”, fagte er kurz und betrachtete 
mid) mißtrauijch von der Seite. Abwarten, dachte ih. Und ich 
hatte recht. Als ic) ihm nach einigen Tagen abermals begegnete, 
am er haftig auf mid) zu. „Weißl du“, fagte er, „ich habe mir 
deine Bemerkung von vorhin überlegt; es ift doch jehr wohl möglich, 
daß bei Doftojewsti die Haarfarbe” — „Siehft du“, entgegnete 
ich triumphierend. - Es war wie mit Marf Twains Licde vom 
grünen und voten Schein; feit ich den Sak weiter gegeben, war 
mir die Bedeutung der daarfarbe gleichgültig geworden. Aber 
Wolynsfis Sag wandert nun wohl auf meine Reichnung. 

Wer fid) über diefen Sag näher orientieren will, findet ihn 
in Wolynsfis „Buch vom großen Zorn“*. Diejes Wert enthält 
die kritiſche Unlerſuchung dreier Doftojewstiiher Romane (Teufel, 
Idiot, Schuld und Sühne) und gibt an der Hand diefer Nomane 
eine Kritif der Aunft Doftojewstis. Ein weiterer Band über das 
Neich der Karamaſows wird demnächſt gleichfalls in beuticher Über 
fegung eriheinen. (Literatifche Anftalt, Franfurt a. M.) Die 
Geſchichte des Satzes habe ich nicht zum Scherz erzählt. 

Die Fritiiche Analyje Wolpnftis ift reich an ähnlic, qualvollen 
Säpen und Behauptungen, fie ift iharf, aber von der Art der 
Schärfe, die leicht ſcharlig wird. Wolynsfi faßt die Darftellungs- 
weile Doftojewsfis als fnmboliidhmyftifche.  Doftojewsti zeichnet 
„nicht mit einfach fünftlerifchen, fondern mit fünftleriich ſymboliſchen 
Zügen.” Um Doftojewsti zu verftehen, bedürfen wir eines Er— 
forichens jeiner Gedanken, „jozufagen vermittels des Fleiſches 
feiner Helden, weil diefer Künftler ſelbſt, bei der erſtaunlichen 
Höhe jeiner Aufſchwünge, in die Abgründe des Lebens durd) bie 
beweglihen Linien und Formen des Fleiſches in ihren launen- 
haften Verknüpfungen und ihrem myſiiſch-ſinnlichen Spiel ſchaut. 
Eine ſolche ift die ſymboliſche, man fann wohl fagen, apofalyptiiche 
Schreibart Doftojewstis. . . .” Wolynsfi will ben Begriff des 
Symboliihen nicht in der Bedeutung der Erhebung des Veſon— 
deren zum Allgemein menſchlichen verltanden willen, fonbern als 
eine Art fonventioneller Zeichen, die einen gewiſſen Gedanfen des 

*) 4. 2. Wolynsti, Das Bud vom großen Zorn. Frantſ. a. M. 
giter, Anftalt. 1905. 

r 


232 Alterariſche Runbfgau. 


Künftlers ſymboliſieren. Die Schreibart Doftojewsfis ift — „nicht 
die echt fünftleriihe Schreibart, die die Ideen in bildlichen und 
plaftiihen Formen wiedergibt, in natürlichen, nicht angefpannten, 
die von dem Künftler nicht förmlich erfunden find und geradezu 
das Leben felbft abbilden, fondern eine wiſſenſchaftlich-phifophiſche 
Chiffre, die man erraten, in die Sprache der gewöhnlichen Vor: 
ftellungen und Begriffe mit Hülfe der logiſchen Analyfe überfepen 
muß.” — Von diefem Gedanken ausgehend, dechiffriert Wolynsti 
Zug um Zug die Doflojewstiihe Darjtellung. Cr verfällt dabei, 
wie leicht ertlärlich, im einzelnen der Ueberfreibung. Cr faht 
Einzelheiten als ſymboliſch, die nicht ſymboliſch find. Er ſucht 
der Darftellung eine ſymboliſch⸗myſtiſche Deutung zu geben, auch 
dort, wo fie nicht myftißchzjgmbolifche Offenbarung, nicht Zeichens 
ſprache, fondern naturgemäße Pſychologie iſt. Ein Beiſpiel für 
viele: wenn Stawrogin, aus tiefen Gedanfen erwachend, be 
harrlih und neugierig nad einem in der Ede bes Zimmers ihn 
verblüffenden Gegenftande hinſchaut, fo bezeichnet Wolynsfi diefe 
gebanfenvolle Zerjtreutheit als erjtandeshypnofe, und benupt 
diefen Vorgang als Beleg dafür, daß Stawrogin ein Verfiandes- 
hypnotiler fei, ein Menſch, der ausichlieglid unter dem Einfluß 
des abftraft formellen Denkens ſteht und feiner Beeinflufjung 
durch Gefühl und Geift zugänglich ift. Es iſt aber fein Beleg, 
denn dergleichen fann jedem pajjieren. Die Definition ber Dofto: 
jewskiſchen Daritellungsweile, wie fie Wolynsfi gibt, ift zwar 
geiſtreich und treffend, indeilen nicht fo erfhöpfend und in allem 
zutreffend, daß ſich auf ihrer Grundlage eine in allen Einzelheiten 
fehlerloje Unterſuchung aufbauen liche. Allerdings ift Doftojewsfis 
Kunst ſymboliſch. Von der Idee ausgehend ſchafft Doſtojewski 
die Welten feiner Nomane, und die Figuren dieſer Romane find 
vor allem Jdeenträger. Doch iſt die geitaltende Kraft Doftojewstis 
jo groß, fo fehr felbit feine Verftandestätigfeit überragend, daB 
die Jdeenträger unter feiner Hand zu lebendigen Menfehen werden, 
bie von Fleiid) und DVlut find, und feine Chiffern. Ihre ſym⸗ 
boliſche Bedeutung erhalten fie erjt durch ihr Zufammenmirken, 
dadurch, daß fie ſich allefamt nad) den Geſetzen einer Welt bewegen, 
deren Geſehe ber Idee entiprechen, die dieje Welt aus dem Nichts 
hervorbradhte. Cs ift daher fehlerhaft, fie einzeln genommen al 
Shiffern zu betrachten, in ihrer Welt find es Menden. Die 
Auftafung Wolynsfis wäre demnach) zu eng. — Diefelbe Enge 
erzeugt einen weiteren Fehler: Die einzelnen Perfonen, jogar die 
einzelnen Nusiprüche der Berfonen überjatten in Wolynskis Aufz 
fallung das Gefamtbild. Er ficht Erleuchtungen, Offenbarungen 
mpjtifchfymbolifcher Natur in Einzelausfprüchen, die nicht fo und 
nicht einmal jo beabfichligt erſcheinen, und er wirft durch dieje 
Uebertreibung geheimnisvoller als der Tert, den er Fommentiert. 





Literariſche Rundſchau. 233 


Cr ſucht die Vorftellung zu erweden, als berge fi hinter den 
geheimnisfchwwangeren Gedanken Doftojewstis, außer dem Geheim- 
nisvollen, das wir ahnen, nod) ein weit tieferes, weit unergründ: 
ficheres Geheimnis, welches wir auch nicht ahnen. Aber biefer 
Supperlativ des Geheimniffes gehört Wolynsfi allein, und er zer- 
rinnt ihm unter den Händen. Wie vorauszujchen, denn in ber 
Kunjt Doftojewstis birgt ſich das ewige Geheimnis des Lebens, 
unb biefes in eines, feiner Steigerung fähig und gerade geheim: 
nisvoll genug. 

In der fritifchen Analyfe des Doftojewstijhen Dichtens bis 
zu feinen geheimften Triebfedern fortichreitend, gelangt Wolynski 
dazu, als den innerjten Kern biefer Dichtungsweile den Gegeniag 
zwifchen Gut und Böje, zwilhen Himmel und Hölle zu bezeihnen. 
Und das ift in der Tat fehr richtig. Doftojewsti ift Dualift. Er 
ift fo ſehr Dualift, daß er feinen Anjtand nimmt den Gegenjag 
zwiſchen Gut und Böſe, den er in der Brujt des Menſchen vors 
findet, zum Ausgangspunkt feines gefamten Denfens zu machen. 
Ju genialer Logif ergänzt er diefen Gegenjag durch Himmel und 
Hölle, denn der MWiderjtreit zwiſchen Gut und Böſe ergibt nur 
dann einen flaren Sinn, wenn ihm ein wirklicher realer Himmel 
und eine tatſächliche Hölle entſprechen. Doftojewsfi glaubte an 
Himmel und Yölle in Sinne der heiligen Schrift, und biefer 
Slaube gibt feiner Tragit die furdtbare Wucht, die Hölle feiner 
Schriften, die nicht von diefer Welt ift, it das padende Geheimnis 
Doftojewsfiiher Kunit. Wolyusfi dagegen glaubt nicht an Himmel 
und Hölle, zum mindeften nicht an die Hölle, Sondern an dem 
Gegenfag des geifligen und perfänlichen jeelifchen Glementes im 
Menden, was etwas weſentlich anderes ift. Der auf der Bafıs 
einer realen Hölle und eines realen Himmels geihaffene Gegenjag 
Doſtojewskis erjcheint ihm daher verzerrt, die Auffaſſung felbit — 
dogmatifch, ftarr, in byyantiniichen Vorurteilen befangen. Er 
teilt die Auffaſſung Doftojewstis nicht, er will und fann fie nicht 
teifen, aud nicht einen Augenblid lang, auf dem Boden der Rritif. 
Wolyusfi fieht daher die Geftalten Doſtojewolis nur von einer 
Seite und fie eriheinen ihm unproportioniert. Die Doftojewstiiche 
Dichtung endigt ihm gegen die Negeln aller Kunſt in Disharmonie 
und entbehrt der künſtleriſchen Einheit. Dies iſt aber nicht der 
Fall, jobald wir den Widerſpruch gegen die Anfhamung, aus der 
diefe Kunft entitanden ift, aufgeben. Das Umgefehrte ift ſodann 
der Fall. Wenn die Welt aus Himmel und Hölle bejteht und 
dem Zwiſchenreich der Erde, fo iſt der Gegenjap zwifden Gut 
und Böje real und unlösbar, und die irdiſche Harmonie würde 
die Harmonie des Ganzen zerſtören. Wolynsfi aber ift trotz feines 
Hbealismus, trog Symbolismus und Myitif ein Optimiit und 
Hationaliit und ein ernithafter Hölenglaube erſcheim ihm abjurd 














234 Literariſche Rundſchau. 


und findiid. Da er an Doſlojewskis Verſtand und Genie nicht 
zweifelt, jo bleibt ihm mur ein Ausweg: die Auffaſſung Dofto: 
Jewskis zu Doftojewsfis größerer Ehre zu forrigieren. Und ob— 
gleich von dielem Gefichtspunfte betrachtet die Beftalten Doftojewsfis 
zwar übernienfchlich groß, aber proportioniert eri—heinen, obgleich 
aus dieſer Auffafiung her der Geift bes Grenzenloſen in die Merfe 
Doftojewstis gedrungen ift, vollzieht Wolynsfi die Korrektur, mit 
jachter Hand, doch er vollzieht fie. Im einem alle ift die Koreftur 
ſehr fihtbar. Doftojewsfi jagt über Stawrogins Erziehung: 
„Stephan Trofimowitſch verftand es, in dem Herzen jeines Freundes 
(Stawrogins) die tiefiten Eaiten zu berühren und ihm bie erſle 
noch unbeftimmte Empfindung einer ewigen heiligen Sehnſucht 
hervorzurufen” . Hierzu bemerkt Wolynefi: „Das ift es eben, 
daß diefe „ewige, heilige Sehnſucht· Stawrogin fremd iſt — 
Stimme des Geiſtes, die Stimme des Himmels im Menſchen ſelbſt“. 
— Molynsti fann die ewige Sehnſucht in einem durchweg Gott: 
loſen nicht zulafien, Doftojewsfi der an Himmel und Hölle glaubt, 
fann den Gottverlaffenen, trog diefer ewigen Sehnjucht, vom 
Böfen übermannt zu Grunde gehen laſſen. So trägt zum großen 
Gegenſatz des Guten und Böjen der Kommentator noch jeinen 
eigenen, geringeren Gegeniag in ben Tert. 

Id bin den Beleg für Wolynsfis optimiſtiſch gefärbten 
Nationalismus ſchuldig: Nach Wolynskis Anſicht kann fein Menſch, 
in dem noch das Sireben nach dem ewigen lebendig iſt, durch 
Selbſtmord endigen und große Menſchen bejahen ſtets das Leben. 
— Wir denken dabei an Kleiſts ſtillfeierliches Grab in ungeweihter 
Erde. — Mit dem Maßſtabe, den ein durch myſtiſche Be 
emporgehobener, im Grunde aber vrationaliftiicher Optimismus 
erzeugt, kann Doftojewsfi nicht gemeſſen werben, denn er iſt tiefer. 

Ich möchte nicht den Eindrud hervorrufen, als dächte id) 
gering von Wolynslis Nönnen. Doflojewsti ift der Slönig eines 
weiten Neidjes; was zwiſchen Simmel und Erde ift, und ein wenig 
mehr gehört feinem Schaffen. In diefem Reiche weiten der 
Sonnenjchein und das Graufen nahe bei einander, in Schlucht 
und Abgrund waltet ein beflemmendes Duntel fo wollen wir 
an der Hand Wolynstis in dieies Dunkel hinabjteigen. Keine 
Sonne trägt unfer Führer in feiner Nechten, fondern eine ſchwäͤhlende 
Fackel; bisweilen wenn der Wind den Rauch zur Seite treibt, 
jehen wir Far, bisweilen Ichlagen uns Naud und Qualm feiner 
myſtiſchen Philoſophie ins Geſicht und wir erfennen nichts mehr. 
— Aber es in eine Fadel, die er trägt, und fein Gtearinlicht. 


Karl v. Freymann. 














Über Uriprung und Eutwicklung des Dramas, 





„Im Material und in der Art ber Nachahmung untericheiden 
fie fich, das Ziel aber iſt beiden gemeinjam.“ 

Dbiges Wort jtammt von Plutarch, und befanntlich hat 
Leſſing den Vorderfag als Motto für feinen Laofoon gewählt. 
Er läßt den Nachſatz fort, weil es ſich bei jeinen berühmten 
Unterfuhungen im Xaofoon in der Tat zunädft nur um ben 
Unterjdied zwiſchen den beiden Kunſtreihen, der räumlichen (Plaſtit, 
Malerei, Architeftonit) und zeitlichen (Tanz, Poeſie, Muſik) nad) 
Material und Art der Nachahmung handelt. Aus diejen Unter: 
ſchied des Malerials und der Art der Nachahmung ſucht Leifing 
die unterigheidenden Vierlkmale und die verihiebenen Aufgaben 
der beiden Runfigruppen nachzuweilen. Dabei atgeptiert er ohne 
weiteres die Meinung der Alten, daß alle Kunft Nachabnung üt, 
ohne fid) auf eine Unterfuchung barüber einzulailen, mas unter 
folder Nachahmung eigentlich zu verjtehen ſei. Diefe Unterlaffung 
führt ihn zu einem Endrejultat, das wir heute als ein zu äußer- 
liches doch nicht mehr ganz gelten affen wollen. Er jagt: bie 
eine Kunitreihe ahme Körper, die andre Handlungen nad). 

Käme es auf bie bloß äußerlihe Nachahmung, auf bie 
möglichft deutliche äußere Aehnlichteit an, jo mühte die Photor 
graphie das vollendetfie unter allen malerijhen Kunſtwerken fein. 
Und dody ziehen wir die wirklich künſtleriſche Darftellung aus 
freier Hand der Photographie vor. Unzweifelhaft iſt, daß das 
Dioment ber rein äußerlichen Aehnlichkeit auf der primitivften 
Kunſiſtufe feine geringe Rolle fpielt. Schon die Erkenntnis „Dies 
ift das“ löſt Hier älthetiihe Freude aus. Aber bald macht ſich 
ein Anderes geltend. Man beobachtet ebenjo bei den Kunjtübungen 
von Naturvölfern wie von Rindern, daß Nachahmungen abweihenditer 
Art den wohlgelungenjten nicht felten vorgezogen werben. Es iſt 
oft nur ein Zug an bem fonjt ganz unähnlichen Gebilde, der an das 
Original erinnert, biefer Zug iſt aber ein beſonders harafterijtiicher. 
Es ift der, an bem die Seele des Beſchauers den Gegenjtand 
erfaßte, der ihr gewiſſermaßen jein eigentlidjites Wejen offenbarte 
und den fie in der Nachahmung feitzuhalten jucht, um die Erins 
nerung an das Weſen des Gegenitandes bei fih und andern zu 
weden. Die älthetiiche Freude beruht alfo aud hier auf der 
Aehnlichteit, aber nicht mehr auf der äußeren, körperlichen, ſondern 
der inneren, jeeliihen. Und je weiter und höher fid die Kunſt 








236 Literariſche Rundſchau. 


entwidelt, um fo mehr ſpielt dieſes Moment des charakteriſtiſch 
Seelifhen eine Rolle. Ale Kunft ift daher im Iegten Grunde 
nit Nahahmung von Körpern und Handlungen, ſondern von 
Seelenleben durch Körper und Handlungen. Damit wird ber 
zweite Teil des oben zitierten griechiſchen Wortes, den Leffing 
fortließ, atzeptabel: „Das Ziel aber ift beiden (Runftgruppen, ber 
räumlichen und zeitlihen) gemeinjam”, benn das Ziel bedeutet: 
Darftellung von ſeeliſchem Leben. 

Jedes Kunſtwerk hat nad) dieſer Auffaſſung von dem Weſen 
ber Kunſt ein boppeltes Element, ein objektives und ein fubjeltives. 
Der Künftler fucht das MWefen feines Gegenftandes zu ergründen 
und barzuftellen, er ſchöpft aus ihm heraus, und ſoweit ift er 
objektiv; anderſeits aber trägt er doch auch wieder fein Weſen, 
feine Auffaſſung in den Gegenftand hinein, und ftellt dann dieſes 
fein Weſen in dem Kunftwerk bar; ſoweit ift er fubjeftiv. Cs iſt 
Seele des Gegenftandes und Seele "des Künftlers, Die uns jedesmal 
im Nunftwer geboten wird. Ebenſo tritt aud ber Laie mit 
objektiv:fubjektivem Crfenntnisvermögen dem Kunftwerk gegenüber, 
und je mehr fid) diejes mit dem des Stünftlers bet, um jo mehr 
Verftändnis findet das Kunſtwerk. Der Künftler hat aber meilt 
viel ſchärfere feelifche Augen als der Laie, und fo mwirb das 
Runftwert auch in feinem rein objektiven Element häufig vom 
Laien nit erfannt und verworfen, bis nad Jahr und Tag — 
es hat zumeilen ſchon Jahrhunderte gedauert — ein Sehender 
Tommmt, ber dann auch den Blinden bie Augen auflut. „Das 
Wort faſſet nicht jedermann, fondern nur bie, denen es gegeben 
iſt.“ Das Wort kann aud) ein Kunſtwerk fein. 

Der Reiz der Außenwelt wirkt als ein Seeliſches auf die 
Seele des Menfchen, und das Kunſtwert ift das Echo, in dem fie 
biefen Reiz auslöft und zurüdgibt. Das Ziel aller Kunſt it 
dasjelbe, und auch der Ausgangspunkt aller Kunſt ift derjelbe. Aber 
auch die Darftelungsmittel feinen — jo verjdieden fie im Lauf 
einer ſchier endloſen Entwidlung geworden — urſprünglich bier 
felben gewejen zu fein. Die Gebärbeniprade, Pantomime, it, 
wie Wilhelm Wundt in feiner „Völkerpfychologie“ dartut, nicht 
nur als bie Urform der Sprache das ältefte Darfiellungs- und 
Verjtändigungsmittel und deshalb die Grundlage aller Kultur, 
jondern aud die gemeinfame Mutter aller Künjte. In ihr 
ihlummern wie im Keim alle fünftlerifchen Anfänge, und aus ihr 
löjen fid) allmählich bie einzelnen Künjte 106 und wandeln ihre 
gefonderten Bahnen. Das merkwürdige aber iſt, daß fie auf 
ihrem Höhepunkt ſich wieder nähern und zur Einheit, aus der fie 
hervorgingen, zulammenzufchließen fcheinen, jo in der griechiſchen 
Tragödie, wo zur Erzielung der Gelamnıtwirfung bie poetifchen, 
mufitalifchen, ordeftijden, bildneriichen, malerijhen und ardjitef- 


Literariſche Rundſchau. 237 


tontihen Elemente harmoniſch zufammenflingen, fo als Ideal er- 
ftrebt, wenn aud nicht volllommen erreicht, in dem „Wortton- 
drama” von Richard Wagner. 

Dramatiichen Charakter aljo haben bie Anfänge aller Kunſt 
und auf eine dramatiiche Spige läuft wieder alle Entwidelung 
der Kunſt heraus. Die Anläffe aber, bie die Pantomime als 
Verftändigungs: und Kunftmittel erſt verftändlih machten, waren 
fogialer Art. Das, was alle gemeinfam und gleihartig in Luſt 
und Schmerzen empfinden, fam durch die Pantomime zum Aus: 
drud und wurde veritanden, weil es eben gemeinjam und gleid): 
artig empfunden wurbe. Und fo zeigt die dramatiſche Kunft ſchon 
in ihren erften Anfängen ein joziales Gefiht. Sie beruht ſchon 
bier auf dem Gemeingefühl, fie wird durch basfelbe, und fie 
wãchſt mit ihm aus Meinem Keim zu einem gewaltigen Baum, fie 
ändert fi mit ihm, und fie jhrumpft zufammen und wird nur 
fünftlih) über Waſſer gehalten, mo dieſes Sozialempfinden un: 
deutlich wird. 

Das dramatiſche Agens aber, das die theatraliſche Schau: 
ftellung erjt zum bramatiichen Spiel, zum Drama macht, erſcheint 
erſt in dem Nugenblid, wo in diefem alle beherrſchenden Gemein: 
gefühl eine Spaltung der Art eintritt, daß fid einzelne Perfonen, 
Gruppen oder ganze Stände gegen das bisher Giltige aus Leiden: 
ichaft, oder um einer meuen, höheren, aus einer tieferen Ethik 
herausgeborenen @erechtigfeit willen auflehnen. Jetzt wird bie 
Szene zum Tribunal, in bem das pro und contra erörtert und 
das Verdikt von den zuſchauenden Volkogenoſſen gefällt wird. 
Das Publitum aljo it der Richter, es wirkt als folder mit, daß 
die Beranftaltung ihren Zwed erreiche. Cs bejeitigt durch jeinen 
Wahrſpruch den Zwieipalt. Man hat immer wieder gelagt, Kunſt 
habe mit der Moral nichts zu tun, und bas trifft ſicher zu, ſoweit 
es ſich dabei um die philiftröfe Alltagsmoral handelt. Aber wie 
das Geimeingefühl im Weſentlichen auf der Uebereinftimmung in 
ethifchen Fragen beruht, fo iſt gerade bie Erörterung ethiſcher 
Fragen im höchſten Sinne das Lebenselement der bramatiichen 
Volkskunſt. Dieje dramatiiche Volkokunſt lebt und flirbt mit dem 
Intereſſe der Menge für folde Fragen. ie hängt an ber ſittlichen 
‘Brobuftionstraft des Volfes und wird durd) fie erit Weltanfchauungs: 
und damit Cwigfeitsfunit. Freilich gehören auf bie Bühne ber 
Voltstunit nur foldhe fittliche Fragen, die die ganze Maſſe ber 
wegen; ſonſt Hört der Kontakt zwiichen Bühne und Publikum auf. 
Ferner erhellt, daß trob des fid geltend machenden Neuen bas 
Gemeingefühl jo ftart_ fein muß, daß in Mezug auf die Ent: 
icheidung über bie erörterten Fragen bei_der großen Mehrheit 
fein Zweifel auffommen kann; im andern Fall würde der Spruch 
fein Voltsipruch jein. 





238 Literariſche Rundſchau. 


Selten und immer nur vorübergehend werden in der Ent⸗ 
wicklung ber Völker dieſe Bedingungen, die für eine Volkabühne 
im wahren Sinn des Wortes notwendig find, eintreten. Die ſich 
miberftreitenben fittlihen Tendenzen, bie ber Xebensobem bes 
nationalen Dramas find, folange das Volt national d. h. aus 
dem Gemeingefühl heraus enticheibet, führen nur zu bald eine 
dauernde Spaltung und Zerklüftung herbei, die Sfepfis und 
Gteihgültigfeit für fittliche PWrobleme zeitigen, und bamit ift bem 
nationalen Drama ber Tobesftoß gegeben. 

An Stelle der Voltefunft tritt Gefellihaftstunft oder gar 
die Kunft literariicher Cliquen und faufmännijchen Spekulanten 
tums, die dem Volk fremd und gleihgiltig it. Das Drama, das 
auf jeiner Höhe als Volkskunſt Ewigfeitsprobleme behandelte und 
Weltanichauungstunft war, wird der Tummelplag für Kurioſitäten, 
Tagesfragen, klingende Phrajen oder ber Diener bes Einnentigels. 

So läuft die Geſchichte der dramatifchen Kunſt der Geſchichte 
der Völfer parallel, und wer fie darftellen will, nach Urjache und 
Wirkung darſtellen will, der muß ſie aus dem Gang der ganzen 
weitverzweigten ſozial⸗ethiſchen Entwickelung darzuſtellen ſuchen. 

In dieſem Sinne hat Mar Marterſieig eine Geſchichte bes 
beutjchen Theaters im 19. Jahrhunderts geſchrieben“. Es ijt das 
ein hervorragendes Yud, ein monumentales Wert, in dem ein 
geradezu ungeheurer Stoff in bewundrungswürdiger Weile ges 
jammelt, gelichtet, gruppiert und mit Meifterfchaft darftellend ver 
arbeitet worben ült. 

Dit einer gewiſſen Wehmut gedenft man beim lejen biejes 
Buches daran, daß der Verfaller, eine fünftleriiche Rapizität allers 
erjien Nanges, einmal ber Leiter unjerer baltiihen Bühne war 
und bier — dem Anjturm einer furziihtigen Kotterie, deren Ber 
ftrebungen mit Kunft nichts gemein hatte, weichen mußte. Viel— 
leicht wird eine Geicichte des rigiichen Ctabtihenters dereinit 
fonjtatieren, daß mit biejem Moment der Verfall des rigiiden 
Theaterweſens begann. 





K. Stavenhagen. 


*) Mar Marteriteig, Dos beutihe Theater im 19. Jahrhundert. 
Eine tulturgeiichtlice Daritelung. Leipzig, Breitfopf u. Härtel, 1904. 135 ©. 
Preis N. 1. 





Bom Tage. 


Briefe vom Embach. 


l. Februar 1905. 


De Arbeiterbewegung. die in Niga weitere Dimenſionen annahın 
und nod) immer nicht ganz zur Ruhe fommen will, hat ſich 
bei ums in Norblivland auf ziemlich enge Grenzen bejchränft. 
Weber die Maffe der Streifenden, noch Umfang und From der 
Erzeſſe haben die im einigen Kreijen gehegten ſchweren Befürch- 
tungen gerechtfertigt. Die Teilnehmer am Ausftand oder an der 
ohne Arbeitseintellung verſuchten Überrumpelung der Arbeitgeber 
zweds Erzwingung günfliger Arbeits: und Lohnbedigungen find 
zu trennen von jener durch auswärtige Emiffäre haranguierten 
Menge in der Mehrzahl halbwüchfiger Nowdies, welde die dra- 
matiſche Ausgeftaltung der Situation durch Skandalmachen, Feniter: 
und Laterneneinwerfen 2c. ſich angelegen fein ließen. Polizei und 
Koſaken waren zum Schug der öffentlichen Ordnung auf dem Plug. 
Zu Zufammenftößen ift es nicht gekommen. Selbit diejenigen 
Elemente unter den Arbeitern, denen es nicht um Jufzenierung 
von Kravallen zu tun war, die vielmehr Lediglich ihre Unzufriedens 
heit zum Ausdrud zu bringen juchten, jpielten mehr oder weniger 
die Nolle von Marionetten in einem Stüd, das fie nichts anging 
und deifen Fäden von fremden Händen regiert wurden. Die Vers 
quidung mit fozialiftiihen und anardiftiidhen Tendenzen ſpricht 
für die Mache außerhalb des Landes und außerhalb ber Kreiſe 
der arbeitenden ejtnifhen Vevölferung. Zwar würde ber Umjtand, 
da die Eaat nicht einheimiſcher Provenienz, fondern Import ift, 
an der Tatjadhe, daß fie nun einmal mitten unter uns ift, nichts 
ändern. Aber, foviel man fehen kann, hat fie feinen Boden 
gefunden und ift garnicht aufgegangen. Cs beitehl ein Untenfihieb 
zroiichen dem gelegentlichen Operieren mit halbverjtandenen jozias 





Bom Tage. 






iftiihen Schlagwörtern und dem bewußten Betätigen einer ſozia— 
liſtiſchen Gefinnung. Erſteres hat gelegentlich des Streits hier 
und da fid) geltend gemacht; letzteres iſt entfchieben als ganz ver: 
ſchwindende Ausnahme unter unſrer Arbeiterbevölferung zu ber 
traten. Immerhin hat ber Gebanfe ber Solidarität zwiſchen 
den Arbeitern Livlands und denjenigen im inneren Rußland bei 
biefem Anlaß Triumphe gefeiert, die in mehrfacher Nüdficht jehr 
nachdenlich ftimmen müflen. Dan vergegenwärtige fih den Zur 
ftand, der eintreten würde, wenn zur Zeit ber bringendften Iand- 
wirtfhaftligen Arbeiten die Lanbarbeiter einen allgemeinen 
Ausftand organifierten. Die Folgen wären garnicht zu ermeilen. 
In Sübweitrußland, in Polen ꝛc. wird mit dieſer Möglichkeit für 
das laufende Jahr gerechnet. Daß die Bervegung dann die 
Grenzen ber Oftfeeprovingen überjpringen würde, ift fehr wahr 
ſcheinlich. 

Doch dies iſt Zukunftsmuſik, wenn auch keine anmutige. 
Mitten in die augenblickliche Situation führt ung die Betrachtung 
ber Vorgänge an ber hiefigen Univerfität. Schon längft geben ja 
nicht· baltiſche Studenten den „akademiſchen“ Ton an, ber bie 
Mufit macht. Ob er baburd) gewonnen, jteht bahin. Tatſache it, 
daß bie eingeborenen Elemente, bie auf ein Viertel ber geſamten 
Studentenſchaft reduziert find, in jeder Hinſicht gänzlich in den 
Hintergrund gebrängt worben find, einen Staat im afabemifhen 
Staat formiert haben und, wie die Verhältniffe nun einmal liegen, 
froh fein müffen, wenn jie ungeſchoren bleiben und in ihrer ſchon 
ftart verfümmerten Freiheit nicht noch mehr beſchränkt merben. 
Diefe Neferve gegenüber den eingemwanderten Kommilitonen iſt 
ihnen jüngſt von ruffiiher Seite tadelnd vorgehalten worden. 
Allein, abgefehen von der Erwägung, daß die Verſchiedenheit ber 
beiden Gruppen denn doch zu groß ift, um eine intime Annäherung 
dentbar zu machen, — wäre eine ſolche überhaupt wünjdenswert? 
Die Maſſe drüdt, und es ift nicht anzunehmen, daß bie ruhigen, 
loyalen Anfhauungen der baltiiden Studenten jänftigend auf den 
wilden Fanatismus der Übrigen einwirken könnten. Es läge im 
Gegenteil die Gefahr vor, daß bie zerfegenden Anfichten der ruf- 
ſiſchen Intelleftuellen auch unfre Jugend ergriffen. Mit einer 
Anglieberung in dieſer Nihtung dürfte aud) der begeiftertfte Unis 
formift faum fpmpathifieren. Was unjre Studenten im übrigen 
von ihren Kommilitonen lernen follten, ijt nicht abzufehen. Viel⸗ 
leicht bie Fähigkeit, für eine Idee bis zur Siebehige ſich zu bes 
geiftern. ..... Das wäre ſchon etwas. Cine fleine Anwärmung 


Bom Tage. zu 


der in ben Nonventsquartieren herrſchenden Temperatur fühler 
Blafiertheit und Langweiligfeit fönnte nit vom Übel fein. 

Ein eigentümliches Bild bot die große, von den nichtlorpor 
rellen Studenten berufene Derfammfung, die zur Frage ber 
eventuellen Schlieung der Rollegia Stellung nahm. In der alten 
Univerfitätsaula, wo einjt ein erlefenes Publifum den mufifalifhen 
Dffenbarungen goltbegnabeter Rünftler lauichte ; mo eine Atmoiphäre 
der Würde und Wohlanftändigfeit herrfchte, die jebe ftilwibrige 
Störung als Profanierung empfinden ließ; mo gefeierte Univerfitäte- 
lehrer in gefälliger Form die Refultate ihrer Forſchungen einem 
weiteren Kreife von Gebildeten vermittelten und die Achtung vor 
dem Redner bie leifefte Veilallsäußerung verbot — in benielben 
Räumen brängte ſich jegt eine turbulente, aufs äußerſte erregte 
Menge junger Leute, ſchwirrten in leidenſchaftlicher Rede, bie vor 
dem ftärkjten Ausdrud nicht zurüdichrat, die Dialelte von ganz 
Rußland durcheinander. Der äußere Verlauf der Verſammlung 
ift in allgemeinen Umriffen aus den Zeitungen befannt. Das 
Typiſche und Intereſſante an diefer Veriammlung, ober, wie Die 
ruſſiſche Bezeichnung lautet, „Sochodka“ war die Glut der Ber 
geifterung, die völlige Hingabe an die Idee der ſchrankenloſeſten 
politiihen und perſönlichen Freiheit. Dan hatte die Empfindung, 
diefe jungen Männer würden imftande fein, für ihre Überzeugung 
gegebenenfalls ihr Leben zu laſſen. Mit alademiſchen Zragen 
freilich hatten die heftigen Neden nichts zu tun, die ben hohen 
Saal durchbrauſten. Nur äußerlich und loſe blieb der Zujammen- 
bang mit bem einzigen Punkt der Tagesordnung, der eventuellen 
Schließung ber Rollegia gewahrt. In diejen Nahmen ließ ſich 
eben alles preffen. Mit rein afademifchen Angelegenheiten hatte 
eigentlich auch die Frage ſelbſt nichts zu ſchaffen: die allgemeinen 
öffentlichen Verhältnifie hatten den Auschlag zu geben, und fie 
waren es, die den Gegenftand der Erörterungen bildeten. Eine 
politifche Verfammlung unter afademifcher Aegide. Es ift befannt, 
daß die Studenten zu dem gleichen Nefultat gelangten, wie einige 
Tage vorher ihre Lehrer in der Sihung des Univerfitätstonfeils: 
daß es ihnen nämlich angeſichts der Aufregung, Die das ganze 
öffentliche Leben beherrihe, nicht möglich fein würde, ſich mit den 
Wiſſenſchaften zu befallen. 

Auf der Studentenverfammlung war eine Schrift ber im 
Chargirtenfonvent vertretenen ſtudentiſchen Verbindungen verleſen 
worden, bie aljo damit aus ihrer jog. Reſerve heraustraten. Der 
Tezt ift ja auch in die Preife gelangt und dadurd für die Die: 


42 Bom Tage. 


kuſſion freigegeben worden. Tas Schriftftid nimmt notgebrungen 
Stellung zu Verhältnifien, denen feine Abjender innerlich völlig 
fern ftchn. Die afademifche Freiheit, die fie meinen und bie in 
vergangenen Zeiten hin und wieder bei ung zu finden gewefen, 
ift eine andre als diejenige, welche die heutigen Wortführer des 
hiefigen Stubententums auf ihre Fahne geichrieben haben. Mit 
ſolchen Beftrebungen hat das bultiihe Studententum nichts zu 
Ichaffen und will es nichts zu ſchaffen haben. Es liegt in der 
Natur der Sache, daf die Schrift einerjeits nicht alles ausſprechen 
fonnte, was zu bemerfen geweſen wäre, und daß anderjeits das 
Wenige, was fie enthielt, dem Mißverſtändnis ausgeſetzt war. 
Das ift denn auch nicht ausgeblieben. Es iſt behauptet worden, 
bie forporellen Studenten hätten ſich bereit erklärt, bie Kollegia 
zu befuchen, wenn fie die Sicherheit hätten, daß fie gegen even» 
tuelle Angriffe ihrer ftreifenden Rommilitonen geichügt werden 
würden — im praftifchen Fall etwa durch Militär. Das ift ihnen 
natürlid) garnicht eingefallen. Sie Haben im Gegenteil erflärt, 
daß fie bereit fein würden, die Vorlefungen zu befuchen, wenn 
dies ohne Zuſammenſtöhe nad) irgend einer Richtung hin möglich) 
fein würde. Bon einem Schup durch Koſaken oder etwas Ähnlichem 
üt nigends bie Rebe. Eine derartige unfollegiale Stellungnahme 
und Erklärung ift dem Chargiertenfonvent ſelbſiverſtändlich garnicht 
in den Einn gelommen. Cs ift vielleicht nicht nur Böswilligkeit, 
die diefen Paſſus in dem betr. Schriftftüct jo falid interpretiert 
hat. Die Fafjung desfelben ift in der Tat recht unglüdlih. Die 
bei uns beliebte Manier, diejenigen Ausdrüde ängſtlich zu um: 
gehen, welde die Sadye mitleidslos auf den Kopf treffen würden, 
Hat bei der Nedaftion der Stundgebung mitgefpielt und ihrer 
Klarheit und Verftändlichfeit geſchadet. Der fraglide Say ift fo 
aflgemein und andentend gehalten, da — wie naturgemäß fofort 
geihehen — Alles und Xedes heransgelefen werden Fonnte. 
Die Zeiten, da eine geheimnisvolle Vieldentigfeit der Alten als 
der politifchen Weisheit letzter Schluß bewundert wurde, follten 
auch bei uns dod) endlich einmal überwunden jein. 

Was die in der Kundgebung aufgeftellte Behauptung an: 
langt, daß cs lediglich) die Wiſſenſchaft fei, die den Studenten am 
Herzen liege, fo richtet fie ſich jelbjt. Wenn dem wirklid jo wäre, 
dann hätten die jtudentijchen Verbindungen nicht den leiſeſten 
Schimmer von Griftenzberehligung. Denn mit der Wiſſenſchaft 
haben dieje weniger als nichts gemein. Cs find vielmehr Ver: 
einigungen, deren Mitglieder der Pflege der Gefelligfeit und 


* 


Bom Tage. 43 


Ramerabfchaftlichfeit, der Hütung bes guten Tones, ber Iegafen 
Erledigung von Chrenhändeln und der Betätigung vermanbter 
Interefien leben. Dies find die Formen, in denen fiudentifcher 
Geift, ohne in das politiihe Fahrıwaffer, der Domäne ber ruffiihen 
Stubenten, geraten zu müſſen, aud) außerhalb der Fachſtudien zur 
Geltung gelangt. 

Vielleicht wäre es am beiten gewejen, die ganze Kundgebung 
zu unterlajen, zumal feine zwingende Notwendigfeit zu ihr hin- 
drängte. Einen entfceidenden Einfluß auf die Entwidlung ber 
Dinge kann dieje Erflärung einer verſchwindenden Minderheit 
unter feinen Umftänden haben. Die einzige Folge find Mikvers 
fändnifje gewejen. Zwar werden wir unter ihnen nicht zuſammen⸗ 
brechen, denn das Herumtappen in einem Nebelmeer von Dik- 
verftändniffen hüben und brüben ift uns allgemad) zur zweiten 
Natur geworden. Immerhin ift ein unfreundliches Echo unerfreur 
lich für den, ber es gut gemeint hat. 

Im Zufammenhang mit der in Rebe jtchenden Angelegenheit 
iſt cuffifcherfeits darauf hingewieſen worden, daß dank ber Erlaub- 
nis des Farbentragens die Forporellen Studenten geneigt feien, 
mit ber Regierung durch Did und Dünn zu gehen, und ſchon aus 
diefem Grunde ein Sympathiſieren mit freiheitlichen, oppofitionellen 
Beſtrebungen perhorresgieren müßten. In Wirflichleit beſteht 
zwiſchen dem einen und bem andern ſchlechterdings fein Zus 
fammenhang. Die Erlaubnis des öffentlihen Farbentragens ift 
den Korporationen entzogen worben, ohne baf fie irgend eine 
Veranlaſſung zu diefer Mafregelung gegeben hätten. Sie ift ihnen 
wiedergegeben worben, ohne daß fie ſich irgend welcher Verbienjte 
in diefer Nichlung bewußt gewejen mären. Die Entziehung ihrer 
Rechte beruht auf einem Millfür:, ihre Neftitnierung auf einem 
Gnadenaft. Weder in dem einen, noch im andern Fall haben 
unfere Studenten das Geringfte dazu getan. Ihre prinzipielle 
Stellung fonnte hierdurch feineswegs erfdüttert werden, und dieſe 
verbietet eben eine öffentliche Beteiligung an der Erörterung 
politiiher Tagesfragen. Daß bie MWicderheritellung des Farbens 
tragens in ben betreffenden Kreiſen lebhafte Freude erregte, wird 
jeber verftehen, der als Jüngling eine farbige Müpe getragen. 

In dieſer Stimmung nüchtern zu erwägen, ob in Anbetracht all’ 
beffen, was hinter und vor uns liegt, der Feitjubel eine innere 
Berechtigung habe, kann einem aftiven Studenten nur derjenige 
zumuten, ber felbjt nie jung gewefen. Wohl aber dürfen wir die 
Verordnung hinnehmen, wie fie gemeint war — als einen freund: 


4 Som Tage. 


lihen Schein in bunter Zeit. Durch hämifche Nandbemerfungen 
brauchen wir uns unfere freude hierüber nicht verfümmern zu 
lajlen. h 
Es ift viel von Studenten und jtubentifhen Angelegenheiten 
Die Rede gewefen. Warum auch nidt? Sind fie bod ein Teil 
von uns. Und befier ift es wahrhaftig, diefe Dinge offen zu ber 
ſprechen, als jie ber Sphäre des Klatſches zu überlaifen. Nein 
ftubentifche Angelegenheiten gehören gewiß nicht vor das Forum 
der Offentlichleit. Sie follen dort erledigt werben, wo fie hinge- 
hören. Hier handelte es ſich aber um eine nur jcheinbar afader 


mifche Frage. 
F. 


>” 





Im nad! 


— 


Bermit — zerbrochen — in den Blütenjahren, 
Zur Maienzeit dem Siechtum preisgegeben — 
Was tar für ihm, für ihn das Leben? 

Ein Wint hinab zu finftern Todesſcharen. 
. 


Er aber ringt fich auf in mächt'gem Willen, 
Durchmiht die Weiten bis zur fernften Berne 
Und holt herab fich alle Sterne; 

Ihr Licht muß feines Herzens Sehnſucht ftillen. 


* 


Ein Riefe wächtt er, und es finft bie Schwere, 
Das Siechtum weicht — ihm wintet ew'ger Friede; 
Sein Leben wird zum Siegesliede, 

Und was er fang, ift tieffte Menſcheitslehre. 
* 


Mir nacht ruft er, verflärt von Morgenftrahlen, 
Mir nach, mein deutſches Volt, willft du gefunden! 
Ich Habe deinen Grund gefunden ? 
Und Teite dich an deinen Idealen. 

A. Stavenhagen. 








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Stiller im Spiegel der Zeiten. 


Fefſpiel 


zu Schillers hundertjährigem Tobestage 9. Mai (26. April) 1905. 


Son 
Erich von Schrend. 





(Gelangt am Rigaer Stadttheater zur Aufführung.) 





Perfonen. 
1. 
Gregorio, Gymnaſiolproſeſſot a. D. 
Anjelmo, Maler. 
Die Zeit. 
1:8 
Goethe. 





deintich Meyer, Profeffor an der Beicjenafademie in Weimar. 
Ehriftiane Lulpius. 





III. 

darry. 

Eid, | Duarlaner, 

Aroed, 

Andere Quarianer als Darfteller der Rütliſzene (Melchthaf, Baumgarten, Wintelried, 
Meier von Sarnen, am Pühel, Sewa, von der Zlüc, Stauffadser, Reding, 
auf der Mauer, im Hofe, Konrad Hunn, Ulrich der Schmied, Weiter, 
Walter Fürft, Röffehmann, der Sigrft, Auoni, Werni, Ruodi u. a.). 

Einige Setundaner. N 


W. 


Veinric), Bürgermeifter einer gröheren Stabt. 
Der Genius der VPoeſie, 

ie 
Di ragen. 


Die Religion, 


einzig. 
Gregorio, 
Anfehmo. 
Die Zeit, 
Männer, Frauen und Kinder. 


Die Zeit der dandlung iſt der 9. Mai (26. April) 1905. 


Bermertet find außer Digtungen Schillers: 

Goethe, Epilog zu Schillers „Glode“, 

Goethe, Fragment aus der „Ahilleis”. 

Goethes Gefpräde mit Edermann. 

9. Voß jun, Grinnerungen an Goethe und Schiller. 

Mörike, Kantate zue Enthullung des Schilerdenimals („Dem heitern 
Himmel . . ."). 

G. 3. Meyer, Schillers Beitattung („Ein ärmlich biiter brennend . . "). 


Die verwerlelen, größtenteilß mörtlich angeführien Dichterworie find fo 
dabtreidh und fo eng mit dem Teri verbunden, da von nführungspeichen ſteis 
Abftand genommen it. 





Erſte Szene. 








Die Bühne iſt ge Gin vorderer ſchmaler Raum ift dem Publilum gegen» 

über offen. Er üit wie eine altertümlice Wirts ſtude hergerichtet. Ganz rechts 

ein Ti mit Stühlen. Eine Kanne Wein mit Gläfern fteht darauf. Den 

Hintergrund bildet ein Vorhang. Es treten auf Gregorio, ein etwa fiehjige 

jäbriger Gymnafialprofejjor emeritus, und Anfelmo, ein Nünitler, etwa 

47 Jahre alt. Sie jegen fidh am dem Tiſſch und fcenten fih Bein ein, find in 
lebhaften Gefpräch begriffen. 

Gregorio. Daß ich das erleben jollte, ich hätte es nimmer 
geglaubt. Er war der erflärte Liebling, nicht eines Standes, 
nicht einer Gruppe, einer Klaſſe, — ber Liebling des Volles. Was 
wir alle empfanden, ftärfer oder ſchwächer, bewußt oder unbewußt, 
er hatte es auszufprechen verfianden, und unfer tieftes Sehnen 
war nicht ſuumm mehr. Das Volk hatte feinen Spreder. Unfre 
verborgenjten Schäge hatte er aus dem Schachte gehoben. Wir 
meinten für immer. Aber es find nicht mehr viele, die noch jo 
empfinden. 

Anjelmo. Cs it eine andere Zeit. 

Gregorio. Das iſt's, was mid) fränft. Wer von uns 
hätte gedacht, daß Schiller ein Mann einiger Jahrzehnte jein follte. 
Er Hatte große Worte gerufen wie in die Ewigkeit hinein, man 
hat faum angefangen, fie in Leben und Tut umzufegen, und man 
it jein fchon müde. Man glaubt über ihn hinaus zu fein. Das 
iſt die neueſte Errungenjchaft. O wie anders war es, als wir feinen 
hundertiten Geburtstag feierten! Wie anders 1859 als 1905! 

Anfelmo. An Feiern fehlt es aud) heute nicht. Raum 
eine Anitalt, faum ein Verein will zurüdbleiben. Es find Unter- 
nehmungen ins Werk gelegt, fo zablreih und glänzend wie nad) 
nie. Und die Flut der Feitfchriften ift eine Sturmlut. 

Gregorio. Und doc iſt's was anderes als 1859. Du 
taunſt dich deſſen nicht erinnern, du warjt damals ein unmün— 
biges Rind. Ich febte meine frifcheiten, meine beiten Jahre. Cs 
war damals nicht eine Sache des Anſtandes, Echilkerfeite zu ver: 
anjtalten, es fam aus ber tiefiten Seele. Es wurden nicht her— 
gebrachte Schlagworte wiederholt, an die nur die Hälfte glaubt, 
fondern der Mund ging über, wes das Herz voll war. Nicht 





20 Scjilier im Spiegel der Zelten. 


fremde Worte wurden nachgeſprochen, es gab jeber fein Cigenftes. 
Und alles ftrömte zufammen in einen Grundakkord: die Nation 
feiert ihren Dichter. Das iſt's heute nicht. 

Anfelmo. Was ihr Schillerenthuſiaſten aud haben wollt! 
Freilich, es find andre Gedanfen, andre Ideale, andre Stimmungen 
aufgefommen amd Haben viele ergriffen, Aber ein gut Teil hat 
ja noch bie alte Begeifterung. 

Gregorio. Das ifl’s, was ich fage: ein Teil. Cs brödelt 
ab. Immer mehr und mehr, was kann ſchließlich nachbleiben? 
Unjre Jugend iſt angefränfelt, fie hat feinen Schwung, fein Feuer. 
Sie ftredt fi nad; einer neuen Kunft, und es iſt eine Scheinfunit. 
Was fünnen mir von der Zufunft Hoffen? 

Anſelmo. So follteit du nicht reden, Und du würdejt 
es nicht, wenn bu mod; mit der Jugend lebteft. Du hajt dich zu 
früh zurücgezogen, hättejt noch Schulmeiiter bleiben follen. Ich 
feh’s in meinem Fach, in ben bildenden Künften: da gibts Kampf 
um eine neue Schönheit und neue Kunft. Wir wachen über die 
Alten hinaus. Und dad — ein Dürer, ein Rembrandt, folde 
Meiſter jterben nicht. 

Gregorio. Du gehit mit vollen Segeln, id) bin nicht 
zuverfihtlich geftimmt. Mir will's oft ſcheinen als wirften unjre 
größten Dichter nicht redt mehr. Die Jugend will andre Nahrung. 
Und jo friften wir Schillers Dafein kümmerlich in den Schulen, 
aber was tun unfre Jungen und Mädchen felber, ihn fennen zu 
fernen? Was geihieht aus eigenem Antrieb? Was ift Edhiller 
unfern Gebildeten? Cine Neihe von Bänden, im Bücherſchrauk 
aufgeftellt. XHübich eingebunden, aber verftaubt. 

Anfelmo. Und wenn es fo wäre, wie du ſchilderſt, wir 
dürften nicht Magen. Hat nicht jede Zeit ihre eigenen Gedanken, 
muß fie alſo nicht ihre eigenen Worte finden, ihren eigenen Sprecher 
haben? Wenn Schiller nicht mehr recht wirkt, num jo iſt er eben 
nicht mehr für unfre Zeit. Er hat eine große Miſſion erfüllt, 
und wir banfen’s ihm alle. Er erfüllt jie noch weiter, aber in, 
fleineren Kreiſen als früher. Es gibt zunehmende Lichter und 
abnehmende. Das it aud der Größeren Schickſal. Das iſt die 
natürliche Entwicklung. 

Gregorio (eſtig. Nein, das ift fie nicht. Mas ift natür— 
tiger, als daß-das Grohe bleibt? Und was it unnatürlicer, als 
daß man fid) vom Großen abfehrt und dem Kleinen zumenbet? 

Anjelmo. Vergiß nit, Daß aud das Bedeutende ver-, 
braucht werden fann. 








Stiller {m Spiegel ber Zelten. 21 


©regorio (immer heftiger werbenb). Das ijt eben der Grunb- 
irrtum. Nicht Schiller ift verbraudt, aber wir find verbraudt. 
Ein frühzeitig alterndes Geſchlecht kann feinen jugendlichen Idea: 
lismus nicht mehr aufnehmen. 

Anfelmo (it aufgeitanden, hat beiden Wein eingeſchenkt. Er klopft 
Gregorio auf die Schulter und lächelt). Ich fühle mid jo alt nicht, 
und ein-„Tell”, ein „Wallenftein“ packen mich noch heute. Vielen 
geht's anders, und die wmeiften brauden eine andre Sprude. 
Dan foll feine Zeit nicht ſchelten, man foll auf fie achten und 
fie fennen lernen. Etr fegt ſich wieder.) 

Gregorio. Ich glaube fie wohl zu kennen. Ich habe bie 
Zeichen der Zeit verfolgt, und fie find trübe. Ic hoffe wenig. 

Wauſe.) 

Anjelmo. So lebſt du wohl ſtark in der Vergangenheit? 

Gregorio (iebhait). Das tue ih. Und welder Tag wäre 
dazu mehr angetan, als ber heutige. Ich bin ganz in Weimar 
und ganz in der alten Zeit. Heute vor hundert Jahren. Ich jehe 
mid in Weimars engen Gaſſen, id) trete in Schillers Haus, die 
teuren Züge noch einmal zu fehen, ehe der Tod fie entitellt. Die 
beſcheidenen Dachſtübchen! Ta das Sopha, wo Schiller und 
Goethe häufig zujaminengefeiien, ins Geſpräch verfunfen. Nun 
öffne ih die Tür zum Schreibzimmer, fachte, ſachte, denn das 
ranfenbeit it ja da hineingetragen aus ber Schlaflammer. Da 
liegt er, noch atmend, noch fühlend für die Seinen, ein legter 
Abſchied. Auch das Schöne muß fterben! O wie habe ich heute 
dieje Augenblide mit dem geliebten Dichter durchlebt! 

Anjelmo. Solche Tage verbinden uns feſter mit unjern 
großen Toten. 

Gregorio. Das erlebe ich heute. Es iſt ein dunkles 
Band, das ſolch ein Todestag fnüpft, aber ein feſtes. Mir iſt's, 
als wäre id bei Schillers Begräbnis. Eine falle Mainacht. 
Mitternacht iſt vorüber, da tönt die Totenglode, und der Meine 
Zug naht. Der ſchmuckloſe Sarg, von den paar freunden ge: 
tragen. Nochtigallen fingen ben Abichiebsjang, und ber duftende 
Flieder endet feine legten Grüße. Kalt und unfreundlich legt ſich 
den Trauernden der nächtliche Wind um Die Glieder. Das war 
Schillers Beftattung. 

Anjelmo. Fand feine firdliche Feier ftatt? 

Gregorio. Dod, aber erſt am Tage nad) dem Begräbnis. 
Es war eine große Verſammlung, und der Generaljuperintendent 








32 Schiller im Spiegel der Zeiten. 


ſprach. Aber die Tränen der größeren Kinder Schillers und das 
heitere Lächeln feiner Kleiniten, der faum Einjährigen, rührten bie 
Anwefenden mehr als bie Worte des Predigers. Dir. it es fait, 
als ob ich dabei gemejen. 

Anfelmo. Gic fo lebhaft in die Vergangenheit verjegen 
zu fönnen, bas ift aud ein Glüd. 

Gregorio. Aber fein volles. Ich wollte, ich könnte bie 
großen Augenblide einer fernen Zeit nicht nur benfen, nicht nur 
empfinden, ſondern fchauen, ſchauen. Wir helfen nad mit unfrer 
Phantaſie, aber wir find nicht wirklich drin. Und mancher unter 
und gehörte doch mehr in eine entſchwundene Zeit hinein. Was 
gäbe ich drum, fönnte ich nur einmal in Goethes Stube treten 
und ihn jehen und reden hören. Er jpräde über Schiller, wie alle 
in Weimar vor hundert Jahren. Aber er war doc der Einzige, 
der ihm ganz zu würdigen verftand. Weniges fpricht fo für bie 
Größe Schillers, als der Eindrud feines Todes auf den gewaltigen 
Freund. Goethe unter dieſem Cindrud, er war wie ein Himmel 
nad) Sonnenuntergang. Diefen Himmel mödte id nur einmal 
hauen. 

Anjelmo. Es ift uns verfagt. 

Gregori So unerbittlich, wie den Schleier der Zufunft 
zu lüften. Wir fönnen nur ahnen, und id) ahne nichts Gutes. 
Bir können uns nur zurüdfehnen, — und id) bin nicht befriedigt. 
Der Augenblic aber entſchwindet, wir fühlen ihn faum, wir fennen 
ihn nicht. 





Dreifach ift ber Schritt der Zeit: 

Zögernd kommt die Zufunft Hergezogen, 

P feitjchnell‘ift bas Jept entflogen, 

Ewig ftill fteht die Vergangenheit. 

Keine Ungeduld beflügelt 

Ihren Schritt, wenn fie verweilt, 

Reine Furcht, fein Zweifeln zügelt 

Ihren Lauf, wenn fie enteilt. 

Keine Reu, fein Zauberfegen 

Kann die Stehende bewegen. 

Keine Neu, kein Zauberfegen 

Kann die Stehende bewegen. 
Es tritt ein kurzes Siillſcwweigen ein. Beide greifen gedanfenvoll nach ihren 
Gläfern. Es ift Dunkel geworden. Ploblich ericheint die Zeit, eine Frauen 
geftalt in weitem ‘ wallendem Gewande. Sie ift mit einer Sandubr gelhmüdt 

und Hat in der Wechten einen goldenen Stab.) 


Sgiller im Spiegel der Zeiten. 258 


Die Zeit. Und doch, wenn ſich in diefer Hand ber Stab, 


Hochſt Föniglich regiert, beginnt zu regen, 
Quiflt neues Leben aus ber Zeiten Grab, 
Ja aud) die Stehende muß ſich bemegen. 
Und mas mit Windesflügeln von uns geht, 
Der Augenblid, das Jetzt, es muß verweilen. 
Was fi nur zögernd naht, im Nahen fteht, 
Die ſcheue Zukunft, mir muß fie fi) eilen. 
Vernehmt, ih bin die Zeit, und meinem Wink 
Erfdeint was war und wird, entichleiert jedes Ding. 

Und dieſes Sjepters Schnelle Wundermacht, 
Ihr ſollt fie heut mit frohen Augen merken, 
Die Fülle der Geftalten joll heut ſacht 
Des Zweiflers ſchwachen Glauben freudig ftärten. 
Was groß und mächtig war, von neuem treibt 
In jugendlicher Kraft es friihe Sproſſen, 
Vorbei! ein dummes Wort; was lebt, das bleibt, 
Und was da ftirbt, hat Leben nie genofien. 
Iſt auch ein ewig Fluten um uns her, 
Die Großen jtehn wie Felfen in dem Meer. 

(Zu Gregorio.) Du Ihauteft trüb in die Vergangenheit, 
Die ſich dem Sehnſuchtoblick nicht will entrollen, 
Glaubſt nicht an beine, nicht an fünft’ge Zeit, 
Vermißt ein kräftig Fühlen, feftes Wollen. 
Du fennft mid) nun, darum fo folge mir, 
Zu hellen Bildern will ich dich geleiten, 
Was war und ift und wird, das zeig ich bir: 
Den großen Mann im Spiegel ber drei Zeiten. 
Und bift du recht geftimmt, did) lehrt der Geift, 
Was wirtungsfräftig, was lebendig heißt. 

Drum auf nad) Weimar! Es find hundert Jahr, 
Daß dort ein Großer ans ber Welt gegangen, 
Was er den Freunden, was dem Freund er war, 
Ihr dachtet dran mit jehnendem Verlangen. 
Ihn Schaut ihr nicht, er geht zu früh hinab 
Ins dunkle Reich, wo Schalte wohnt bei Schatten, 
Doch was er üt, ſinkt wicht mit ihm ins Grab, 
Sein Geift wirft, wie er lebte, ohn’ Ermatten. 
Ein großer Zeuge deſſen bleibt nicht aus: 
Auf, folget mir in unfres Goethe Haus! 

(Sie bewegt ihren Stab und berſchwindet.) 


254 Schiller im Spiegel ber Zeiten. 


Zweite Szene. 





Der Vorhang geht auf. Man fieht Goethe in feinem Arbeitszimmer in einem 

Sehnftuhl fügen. Das Zimmer hat rechts ein Feniter. Diefem gegenüber an 

der Wand ein Bild Schiller. Das Zimmer it einfach, nur mit einigen Antiten 
geihmüdt. Goethe beficht Aupferſtiche. 

Goethe (achdenklich). Das ift heute ber achte Tag, daß fein 
Übel fo ſchlimm geworden. Wie heiter begegnete er mir noch am 
erften Mai auf dem Wege zum Theater. Aber ba brad) aud) bie 
Krankheit fo plöglih und gemalttätig herein, wie e8 niemand 
erwartet hatte. (Paufe) Und id) bin aud) ans Zimmer gefeſſelt. 
Es find böje Tage. Dazu quält mich der Gedanke, daß man fi 
ſcheut, mir die volle Wahrheit über Chillen zu jagen. Heute ſähe 
ich gern einen freund, bem ich voll vertraute, und mit dem ich 
mid) ganz ausjpredyeu lönnte. (oeihe greift wieder nad) den Kupfern 
und beginnt fie zu befehen. Nach kurzer Zeit legt er fie beifeite.) Es fehlt 
mir heute das ruhige Gemüt, diefe Schönheiten aufzunehmen. 
Es Hopft.) Herein ! 

(Frofefior Heinrih Meyer tritt auf.) 

Meyer. Guten Abend, Herr Geheimer Nat. 

. Goethe. Der liebe Freund Dieyer! «Steht auf, drüdt Meyer 
ſeht herzlich beide Hände.) Guten Abend, mein lieber Profefjor. Cs 
ift eine Freude, Sie zu ſehen. (Plöplig ſehr ernft.) Bringen Sie 
Nachtichten von unferm Freunde? Lebt Schiller? 

Meyer. Noch lebt er. 

Soethe. Wir müſſen auf alles gefaßt fein. Erzählen Sie 

mehr. (Sie jegen fh.) 
"Weyer. ESdiller Hat geftern viel phantafiert. Gegen Abend 
wacht er von feinen Fieberphantafien auf, er fühlt ein lebhaftes 
Bebürfnis, bie Sonne zu jehen, man öffnet den Vorhang und 
gewährt ihm den Anbfid der untergehenden Sonne. Da tritt 
feine Schwägerin herzu und fragt, wie es gehe. Er antwortet 
freundlih: „Immer beſſer, immer heiterer.“ 

Goethe. Es it wie ein Lihlblid aus glücklicher Zeit. 
Wie hat er die Nacht zugebracht? 

Meyer. Er hat viel phantafiert, namentlih über den 
Demetrius. Und dann hörte man ihn ausrufen: „Du von-oben 
herab, bewahre mich vor langen Leiden!” Gegen Morgen hat er 
die Befinnung verloren und unzuſammenhängend geſprachen, 
meiftens Latein. Als die Schillern feinen Kopf in eine bequemere 
Lage bringen will, da erfennt er fie, lädelt fie an und küßt fie. 


Sqhiller Im Spiegel ber Zeiten, 236 


Soethe. Das ift immer nod ber alte Schiller. Sein 
Körper mag bahinfranfen, jein Geiſt nicht. 

Meyer. Meil jeine Liebe fo ftark iſt, it das Scheiden jo 
ihwer. Vor ein paar Tagen ließ er ſich jein jüngites Kind 
bringen. Er wandte fi mit dem Kopfe um, nad dem Kinde zu, 
faßte es an der Hand und fah ihm mit unausfprechlicrer Wehmut 
ins Geficht. Die Scillern erzählte, e8 wäre gewejen, als ob er 
das Kind habe jegnen wollen. Dann fing er an bitterlich zu 
weinen und ſteckte den Kopf ins Kiſſen und winfte, daß man das 
Kind wegbringen möchte. Da mag er gefühlt haben, daß er 
eigentlich noch nicht aufhören mühte, diefem Kinde Vater zu jein. 

Goethe. Es iſt Hart, jehr hart. Leiden iſt die Beſtim— 
mung aller. Wo aber eine Natur befonders zart organifiert iſt, 
damit fie feltener Empfindungen fühig jei und die Etimme der 
Dimmliſchen vernehme, da ift fie im Konflitt mit der Welt und 
den Elementen nur allzuleicht verlegt, wo nicht zerftört. Das ift 
Schillers Schickſal. Ich kenne ihn nicht anders als leidend. 

Meyer. Erinnern Sie fid, Herr Geheimer Rat, des Her 
ſuches, den wir Schillern im Dftober 1791 in Jena machten? 

Goethe. Unfer Freund war damals überaus elend. Ich 
glaubte, er lebte feine vier Wochen mehr. 

Meyer. Sein Geficht glich dem Bilde des Gefreuzigten. 
Es prägte fih mir tief ein, denn ich jah es damals zum erften Dial. 
Wer hätte zu jener Zeit hoffen dürfen, daß ihm die Jahre feines 
bedeutendſten Schaffens noch bevorftänden! Und doch war es fo. 

Goethe. a, auch Schillers Natur hat eine gewiſſe Zäheit. 
Aber es iſt hier noch etwas anderes im Spiele. Schiller hätte 
bei jeiner Kränklichkeit nimmer jo viel heruorbringen fönnen, wenn 
er nicht ganz und gar von einer Idee beherricht wäre, es ijt die 
Idee der Freiheit des Geiites. Cie gab ihm aud) die Kraft, den 
ſchwächlichen Körper zu beherrſchen und fid) zu erneuten, immer 
großartigeren Leiftungen anzufpannen. Ic fürdhte aur, es wird 
die Idee der Freiheit ihn ſchließlich getötet haben. 

Meyer. Wie ijt das zu veritehen? 

Goethe. Es ift diefe Idee, die ihn. zu übermenjclichen 
Anftrengungen getrieben hat. Der Körper follte ihm nichts anhaben 
können. So zwang er fih auch an jolden Tagen und Wochen 
zu arbeiten, in denen er nicht wohl war; jein Tulent follte ihm 
zu jeder Stunde gehorchen und zu Gebote jtchen. Es ift das ein 
Yauptunterjchied feiner Arbeitsweile von der meinigen. Ich dichtele 
nur, wenn mir danad) zu Mute war, er tut ſich Gewalt an. 


258 Sthiller im Spiegel der Zeiten. 


Deyer. Liegt in feiner Natur nicht überhaupt etwas 
GSewaltfames? 

Goethe. Durdaus. Wie überhaupt bei den Menſchen, 
die nad) einer vorgefaßten Idee Handeln. Daher ift aud ein 
forgfältiges Motivieren bis ins Einzelne ber Dichtung nicht feine 
Sade. Er greift in einen großen Gegenitand fühn hinein, er 
fieht auf das Ganze, auf die Gefamtwirfung, und da geht er denn 
freilich fiher vorwärts, von der Idee getrieben. Schillers eigent- 
liche Produftivität liegt im Idealen, und es läßt fic jagen, daß 
er fo menig in ber deutfhen als einer andern Literatur feines 
gleien hat. 

Meyer. Ja, und die große Wirkung feiner Werke hängt 
zuſammen mit feinem großartigen Charafter. 

Soethe. Ohne Zweifel. Schiller erideint eben immer, 
ob er handelt oder bichtet, im abfoluten Beſitz feiner erhabenen 
Natur; er ift fo groß am Teetiſch, wie er es im Staatsrat geweſen 
fein würde. Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht 
den Flug feiner Gebanfen herab; was in ihm von großen An- 
fihten lebt, geht immer frei heraus ohne Nüdjicht und ohne Be— 
denfen. Das ift ein rechter Menſch, und fo follte man aud) fein. 
(Während dieſer Worte find die Strahlen der untergehenden Sonne auf das 
Bild Schillers gefallen und haben es vergoldet. Der Sonnenſchein dauert an.) 
Was Habe ich doch dieſem Freunde alles zu banfen! Denn fo 
verſchieden unfre beiderfeitigen Naturen auch find, fo gehen unjre 
Richtungen doch auf eins; weldes denn unfer Verhältnis jo innig 
gemadjt hat, daß im Grunde feiner ohne den andern leben Tann. 
Das ift jegt mehr als ein Jahrzehnt, daß wir all unfre dichteriſchen 
Pläne und -Gedanfen austaufchen. Ich fühlte mid von neuem 
jung und friſch werben, als er mein Freund wurbe, und er erlebte 
etwas Ähnliches. Was die poetifhe Kultur der Deutſchen dadurch 
gewonnen, das läßt ſich noch nicht abjhägen. Aber, will's Gott, 
jo gibt's eine Ernte, deren Früchte nie ausgehn. Daher hat aud 
der alte Streit feinen Zwed, wer größer jei, Schiller ober ich: 
die Leute follten ſich freuen, daß überhaupt ein paar Kerle da 
find, worüber fie ftreiten fönnen. 

Meyer. D, es will einem das Herz abbrüden, dag ein jo 
{herrliches Band jo früh zerihnitten werben foll. 

Goethe. Das Schichſal ift umerbittlih und ber Menid 
wenig. (Mad) einem Heinen Stidfgweigen.) Aber das Band wird nicht 
jeriöjnitten, es fann gar nicht zerichnitten werden. 

(Ehrikiane erfgeint an der Tür.) 


Schiller im Spiegel der Zeiten. 257 


ChHriftiame (ohne Goethe anzufehen). Darf ich Herrn Hofrat 
Meyern auf einen Augenblick herausbitten. 

Mener (mit einer Berbeugung gegen Goethe). Ich Lehre zurück 

ab.) 
(Goethe allein. Er bleibt einen Augenblick figen. Dann ſteht er auf und geht 
ein poarmal auf und ab. Vor Schillers Bild bleibt er fichen. Im jelben 
Augenblidt verfchwindel der Sonnenitrahl plöplich. Das Zimmer wird dämmerig.) 

Goethe (aedankenvoll). „Untergehend fogar iſt's immer bie: 
felbige Sonne.” Das ift ein großes Wort der Alten, wie gemahnt 
mich's an Scillern. Mir ift heute fo eigen zu Mute. Ich habe 
nicht leicht einen Tag gedrüdter verbracht, als gerade biejen. 
Aber es liegt doch ein ftarker Troft im Gebanfen an ben menſch⸗ 
lichen Geift, der fortleuchten muß wie die Sonne. Wenn ich das 
erwãge, wie anbers erfcheint mir der Tob. Cr läßt mid) in völs 
liger Ruhe, denn id; habe die feite Überzeugung, daß unfer Geift 
ein Wejen ift ganz unzerjtörbarer Natur, es it ein Fortwirkenbes 
von Ewigkeit zu Ewigkeit, es ift ber Sonne ähnlid, die bloß 
unfern irbifchen Augen unterzugehen fdeint, die aber eigentlich 
nie untergeht, fondern unaufhörlich fortleuchtet. 

Goethe hat fich wieber in jeinen Lehnſtuhi gelegt. Chrigtiane tritt ein. Sie ift 

verwirrt und hat ein uncubiges, verjtörtes Mejen, meidet es, Goethe anzufchen. 

Sie mach ſich an einem Schrant zu fhaffen. Goeihe ficht fortwährend nad, 
ihr hin. Im Zimmer ift es ingwiſchen duntei geworden.) 

Goethe. Es ift finfter, wir müffen Licht haben. 
¶Chriſtiane geht zu einem Nebentifdh und zündet eine Lampe an. Sie ftcht mit 
dem Nüden zw Goeihe Darauf jtellt ſie die brennende Inmpe auf den Zifch, 

ohne Goethe anzufehen.) 

Goethe. Sie meidet meinen Blid, es will mir nicht recht 
gefallen. (Kaufe) Wo dod) der Meyer jein mag? Er wollte zu 
mir zurüdfehren, und nun ijt Chriftiane allein hier. Er ift forte 
gegangen, ohne ein Lebewohl zu fagen. Ich merke es, Schiller 
muß ſehr frank fein. (Paufe) Es hat mic, lange nichts fo erregt, 
wie biefes Verfhwinden Meyers. 

(83 tritt wieder eine Paufe ein, während melder Goethe die Chriſtiane ſcharf 
anficht. Darauf redet er fie mit Entichiedenfeit an.) 
Nicht wahr, Schiller ift Heute fehr krank? 
(Spriftiane wirft fich auf einen Stufl, ſtüht das Gefict in die Hände und 
ſchlucht laut auf.) 

Goethe (ie. Er ift tot? 

Ehriftiane. Sie haben es jelber ausgeſprochen. 

Goethe Llangiam). Er ift tot. 

(Ex wendet ſich ab, bededt ſich die Augen mit den Händen und weint. Bald 
Hat er fich gefaßt und fpricht wieder ruhig und feit.) 


258 Sghiller im Spiegel der Zeiten. 


Als mid im legten Winter bie Krankheit jo heftig gepadt hatte, 
da dachte ich mic) jelber zu verlieren, und num verliere ich einen 
Freund und in bemfelben die Hälfte meines Dafeins. Cr hinter 
läßt ein großes Vermächtnis. (Baufe) Wann Hat er ausgelebt? 
Chriſtiane. Schon vor einigen Stunden, es war um 
fünf Uhr. Nun ift es ſchon befannt in der Stadt. Id war anf 
der Strafe, da war's ben Leuten anzujehen, daß was geſchehen ift 
in Weimar. Ich habe ſelbſt geringe Leute weinen fehen, den Frifeur 
und Varbier und den Logenfchlieger im Theater. 
Goethe. Es werben viele weinen. Ja, 
Wehmut ergreift mid, und die Seele biutet, 
Daß Irdiſches nicht feiter fteht, das Schickſal 
Der Menſchheit, dns entſetzliche, jo nahe 
An meinem eignen Haupt vorüberzieht. 
Es find Schillers Worte, ich hatte nicht geglaubt, dab ich fie auf 
ihn würde anwenden müfjen. Aber Gott fügt es, wie er es für 
gut findet, und uns armen Sterblichen bleibt weiter nichts, als zu 
tragen und uns emporzuhalten, fo gut und jo fange es gehen will. 
(Baufe- Goethe ergreift einen Band Schillerſcher Gedichte, der auf dem Tiſch 
Tiegt, blättert darin und Heft für fic.) 
Da lefe ich wieder jeine Nänie. Es hat dod niemand eine fo 
ergreifende Klage über den Tob des Schönen geſprochen, wie 
Schiller ſelber. „Auch das Schöne muß fterben” — — 
(Die Nührung überwältigt ihn, jo daß er abbricht und Chriſtiane das Buch gibt. 
Diefe lieſt mit feiter Stimme.) 
Chriftiane. Auch das Schöne muß fterben! Das Dienfchen 
und Götter bezwinget, 
Nicht die eherne Bruft rührt eo des ſihgiſchen Zeus. 
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrſcher, 
Und an der Schwelle nod), ftreng, rief er zurüd fein Gefchenf. 
Nicht ftillt Aphrodite dem fchönen Knaben die Wunde, 
Die in den zierlichen Leib graufam der Eber gerigt. 
Nicht errettet den göttlichen Held die unfterbliche Mutter, 
Wenn ev, am ſtläiſchen Tor fallend, fein Scidjal erfüllt. 
Aber fie fteigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus, 
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn. 
Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, 
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene ftirbt. 
Auch ein Klaglied zu fein im Mund der Geliebten, ift herrlich, 
Denn das Gemeine geht Hanglos zum Orkus hinab. 


Scilfer im Spiegel der Zelten. 259 


Goethe. Ja, fo weit nur ber Tag und die Nacht reiht, 
fiehe verbreitet 
Sich dein herrlicher Ruhm, und alle Völker verehren 
Deine treffende Wahl des furzen rühmlichen Lebens. 
Köfttiches haft du ermählt. Wer jung bie Erbe verlafjen, 
Wandelt auch ewig jung im Reiche Perjephoneias, 
Ewig erſcheint er jung den Künftigen, ewig erfehnet. 
Stirbt mein Vater bereinft, ber graue, reilige Neftor, 
Wer beflagt ihn alsdann? und jelbit von dem Auge des Sohnes 
Wälzet die Träne ſich faum, die gelinde. Xöllig vollendet 
Liegt der ruhende Greis, ber Sterblichen herrliches Mufter. 
Aber der Jüngling fallend erregt unendliche Sehnſucht 
Allen Künfligen auf, und jedem jlirbt er aufs neue, 
Der die rühmlihe Tat mit rühmlihen Taten gekrönt wünfcht. . 
(88 entiteht eine Paufe. Goethe reicht Cheiftiane die Hand, fie beugt ſich teif- 
nehmend zu ihm, er ftreichelt ihr Haar und fagt:) Geh, mein gutes Kind, 
forge fürs Hauswejen. Ich will ein Etündchen allein fein. 
(Shriftiane ab. Gocthe verfinft in Nachdenfen. Man hört aus der Ferne cin 
dumpfes Glodengeläute. Goethe fährt zuerit auf, finnt noch einen Augenblid 
und fpridht dann das Folgende langfam, wie gerade Dichtend, mit feinen Paufen. 
Das Läuten verfaltt allmählich, während er iprict.) 
Da hör’ ich ſchreckhaft mitternädht'ges Läuten, 
Das dumpf und ſchwer die Trauertöne jchwellt. 
Iſt's möglih? Soll es unfern Freund bedeuten, 
An den fid) jeder Wunſch geflammert Hält? 
Den Lebenswürb’gen joll der Tod erbeuten? 
Ad! wie verwirrt jold ein Verluſt die Welt! 
Ad! mas zerflört ein folder Rih den Seinen! 
Nun weint die Melt, und follten wir nicht weinen ? 
Denn er war unfer! Mag das jtolze Mort 
Den lauten Schmerz gewaltig übertönen ! 
Er mochte ſich bei uns im fihern Port 
Nad wilden Sturm zum Dauernden gewöhnen. 
Indeſſen ſchritt jein Geift gewaltig fort 
Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen, 
Und Hinter ihm in weienlojem Scheine 
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine. 
Es glühte feine Wange rot und röler 
Von jener Jugend, die uns nie entfliegt, 
Von jenem Mut, der, früher oder ipäter, 
Ten Wiverfiand der jtumpfen Welt befiegt, 


260 Schiller im Spiegel der Zeiten. 


Von jenem Glauben, ber ſich ftels erhöhter 
Bald fühn hervordrängt, bald gebuldig ſchmiegt, 
Damit das Gute wirke, wachſe, fromme, 
Damit der Tag dem Edlen endlich komme, 
Auch manche Geiiter, die mit ihm gerungen, 
Sein groß. Verdienft unwillig anerkannt, 
Sie fühlen fih von jeiner Kraft durchdrungen, 
In feinem Kreife willig fejigebannt : 
Zum Höchſten hat er fi) emporgeſchwungen, 
Mit allem, was wir fhägen, eng verwandt. 
&o feiert ihn! Denn, was dem Dann das Leben 
Nur halb erteilt, foll ganz die Nachwelt geben. 
Vorhang.) 
(Sobald der Vorhang gefalten, ertönt Glodengeläute, eiwa wie bei einem Begräbnis 
aus einer Dorflirche. Die vordere Yühne bleibt noch dunfel. Sobald das Geläut 
verftummt, wird es heller, und es ericheint die Zeit.) 
Die Zeit. Ein ärmlich büfter brennend Fadelpaar, das Sturm 
Und Regen jeden Augenblick zu löſchen droht. 
Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannenfarg 
Mit keinem Kranz, dem färgiten nicht, und fein Geleit, 
Als brähte eilig einen Frevel man zu Grab. 
Die Träger hafteten. Ein Unbefannter nur, 
Ton eines weiten Diantels Fühnem Schwung ummeht, 
Schritt diefer Vahre nad). Der Menfchheit Genius war's. 
(Baufe.) 
Und es verging die Zeit. Der Trauer Stunden, 
Wie ſtark fie ſchmerzten, wurden überwunden. 
Der gute Genius aber, der geichritten 
An Schillers Sarge, blieb in eurer Mitten, 
Er führt euch ftets aufs neue zu dem Meiſter, 
Veredelt und erhebt in ihm die Geilter. 
Starb Schiller gleich, jo ward gegeben 
Im deutihen Haufe ihm ein neues Leben: 
Der Tell, die Jungfrau und ber Wallenftein, 
Als Hausgenofien zichen fie da ein. 
Die Brunhild und Kriempild in alten Zeiten, 
Sieht man Britanniens Königinnen ftreiten. 
Don Carlos, der Marquis, ber Brüder Braut, 
Geſtalten find es, jedem fo vertraut. 
ALL feine Lieder leben ftets aufs neue 
Bon Freiheit, Frömmigkeit und Freundestreue, 





Schiller im Spiegel der Zeiten. 261 


Bon mut’gem Nitterfampf, von jartem Lieben, 
Balladen find’s, die ewig jung geblieben. 
Und mit der Glode ahnungsvollem Läuten 
Durchs ganze Leben mag er eud) begleiten. 
Ja, feines Geiſtes Kraft läßt Herzen flammen 
Und fhmiedet wie zur Kette fie zulammen, 
Und zu des Himmels ewig heller Wahrheit 
Erhebt er fie mit feines Geijtes Rlacheit, 
Läßt fie das Schöne, Wahre, Gute jehen, 
Und auch die Jugend Tann ihn ſchon verftehen. 
Und es bewährt ſich fo durch hundert Jahr, 
Wie cht die Perle jeiner Dichtung war. 

Drum wendet nun von der Vergangenheit, 
Die id) euch wies, den Blick auf eure Zeit. 
Führt ich eud) ein in Weimars Hohe Welt, 
So ſeid zu unjern Kleinen nun geftellt. 
Hab des Vergangnen Tor ih eud) entriegelt, 
Seht, wie er ſich in Knabenherzen ipiegelt, 
In heitern Knaben aus ber Gegenwart, 
Die forglos blicken auf des Lebens Fahrt. 

Und wer die jungen Herzen höher ſchwellt, 
Zum Spielen anzieht und im Spiel gefällt, 
Wer Mut und Liebe nährt, wer Sehnfucht wedt, 
Daß fühn der Knabe ih nad) Taten ſtreckt, 
Wer jtill verborgen Lebensfräft'ge Saat 
Zum Wachstum in die jungen Herzen tat, 
Wer jtets aufs neu dem Guten Zünger wirbt, 
Der tat ein Werk, das nie und nimmer ſtirbt. 
(Die Zeit tut einen Schwung mit ihrem Stabe und verſchwindet.) 


Dritte Szene. 





Einen Angenblic ift alles ſtil. Darauf Uncube, es ertönt aus dem Hintergrunde 

folgender Gejang: 

Drum friſch, Kameraden, den Nappen gezäumt, 

Die Bruft im Gefechte gelüftet! 

Die Jugend braufet, das Leben ſchäumt, 

Friſch auf, eh’ der Geift noch verbüftet! 

Und feget ihr nicht das Leben ein, 

Nie wird euch das Leben gewonnen fein. 

Battifce Monatsiheift 1905, Heft & 2 


202 Stiller im Spiegel der Zeiten. 


(Der Refrain mirb vom Chor erft lauf, dann Teifer, enblich aus ber Ferne 


gelungen. Sobald die Zöne verhaltt find, geht der Vorhang auf. 
ftürmen drei Quartaner hinein: Harry, Erid, Arved.) 

Harry. So, die Terlianer find glüdlic fort. 
Erid. Und wir Quarianer haben das Wort. 
Arved. Was für ein Liedchen jangen fie vor? 
Erich. Weißt du nidt, 's war ber Soldatenchor 

Aus bem Lager bes Wallenftein, 

Übten fid) das zu morgen ein. 
Arved. Möchte bei uns nur alles gut gehn 

Und wir morgen das Nütli veritehn. 

Daß wir's uns jelber ausgewählt, 

Mir dabei doch am beiten gefällt. 
Harry. Und wenn die Jungens ſich morgen blamieren, 

Heißt es, ben Ordnern ſie ſchlecht parieren. 
Erich. Ja, wir ſind dann an allem ſchuld! 
Harry. Und wir übten mit vieler Geduld, 

Da doch an Schillers Todestag 

Niemand gerne zurüditehn mag. 

Wollien es aud nicht ſchlechler machen, 

Als die Quintaner ihre Sachen. 
Eric. Denkt doc, was die fih ausgedacht: 

Führen die Glocke auf mit Diacht, 

Selber fah ic}, wie fie die proben. 
Harry. Nun, das ſcheim mir doch jehr zu loben. 
Erid. Hielt mir beinah den Bauch vor Laden. 
Arved. Glaub nicht, daß ſie's jo übel machen 
Erid. Solde Knirpſe, drei Käſe hoch, 

Preiſen der Liebe Glück und Jod, 

Hoffen, daß ewig grünen bliebe 

Ihnen die Zeit der erſten Liebe. 

(Eric und Harry lachen laut auf, Aroev bleibt ernit.) 


Arved. Ad, um fih an Schiller zu freun, 
Braucht man nod) gar nicht groß; zu Tein. 
Harry. Wahr it's, als Onfel die Räuber gelefen, 

Bin id) auch mal dabei gewejen, 
Hab jo hinten im Dunfeln geſeſſen 
Und die Welt um mich rings vergeffen. 
Und als id) Franzens Traum vernommen, 
Da hab id) Gänfehaut befommen. 
Erig. Wil’s foum glauben, ift das fo ſchaurig? 


Lebhaft 


Schiller im Spiegel der Zeiten. 283 


Arved. Weißt du, bie „Jungfrau“ machle mid) traurig, 

Hab im Theater fie mal gefehen, 

Konnte alles famos verftehen. 

Und was jo feltfam, id) bild’ mir's nicht ein, 

Daß es fo ſchön war, traurig zu fein. 

Denn dba war mir das Herz fo voll, 

Wußt' nicht, wo ich mid) laſſen foll, 

Tät alle Menſchen nod einmal fo lieben, 

Weiß nicht, was mic) dazu getrieben. 

Erich, wir hatten doch oft geitritten, 

Hatt es noch ungern jüngft gelitten, 

Daß du mir Schillers Gedichte genommen, 

Die id) damals zu Weihnacht befommen. 

Aber nun Hat mich's nicht mehr gefränft. 

Erich. Und dann Haft du fie mir ja geichentt. 
Arved. Ja, nun war mir's am liebften jo. 

’s fam nur deshalb, ich war fo froh, 

Hätte did) damals umarmen önnen. 

Erid. Ad, Hans Wunderlich bift du zu nennen. 
Harry. Doc) was ſchwatzt ihr, verliert die geit, 

Die Sekundaner find gar nicht weit, 

Um halb acht fie ſchon aufmarfchieren 

Und bie Braut von Meffina probieren. 

Seht, daß die Zeit nicht nuplos vergeht 

Und uns morgen das Rütli mißrät. 

Auft nach Hinten:) Iſt nun beifammen die ganze Schar? 
Stimme von hinten. Nein, eo fehlen noch immer ein paar. 
Harry. Weiß nicht wer da fo tröbelig. 
Erich (gu Harry). Find'ſt du nicht, Arved iſt wunderlich. 
Arved. Was ſoll ih machen, es rührte mich. 

Nur wenn ich Schiller geſehn und gelejen, 

Ir mir fo jeltfam zu Mut geweien. 
Eric. Feiner Dichter, das it ja wahr, 

Solche gibt's alle paar hundert Jahr. 

Gab man neulich den Wallenftein, 

Wollt’ für mein Leben gern da hinein, 

Hätte mein Taſchengeld gern gelafjen, 

Aber den Eltern wollt’ es nicht paſſen. 

Immer noch es mid) Fränfen tut. 

Harry. Schad't nichts, der Tell iſt ebenjo gut. 


Und nun fpielen wir jelber den Tell. 
Pr 


204 Stiller im Spiegel der Zeiten. 


Stimme von hinten. Nun fehlt niemand. 

Harry. Heran denn ſchnell! 
Jungens, fangt an mit dem Probieren! 
Und wir — wollen fie lontrollieren. 


(Ex zieht ſich mit den beiden andern Jungen hinter eine Auliffe zurüd. Die 

Pühne Bleibt einen Augenblid Icer. Darauf beginnt daS Spiel. Die Spieler 

find einfach toftümiert. Sie fürn aus Schillers „Wilgelm Tell” die 
2. Szene bes 2. Altes auf.) 


Methißat, Banmgarien, Winkefried, Meier von Sarnen, Burkhart 
am Bühel, Arnofd von Sewa, Afaus’von der Ffüe und noch vier andre 
Fandfente, alle bemafinet. 


Melchthat (noch Hinter der Szene). 

Der Bergweg öffnet fich, nur frifh mir nad. 

Den FeIS erfenn' ich und das Kreuplein brauf; 

Wir find am Ziel, hier ift das Nünli. (Treten auf mit Windlichtern.) 
Winkefried. Yard! 
Sema. Ganz Icer. 
Meier. 'S ift noch fein Sandmann da. ir find 

Die Erften auf dem Pla, wir Unterwaloner. 
Melhtfal. Wie weit ift's in der Nacht? 
Baumgarlen, Der Feuerwächter 

‚Vom Sclisberg hat eben zwei gerufen. (Man hört in der Ferne läuten.) 
Meier. Still! Sord! 
Am Büßel. Das Meitenglödiein in der Waldlapelle 

Aingt heil herüber aus dem Schopberland. 
Bon der Flüc. Die Luft ift rein und trägt den Schall jo weit. 
Methtdal. Gehn einige und zünden Neisholz an, 

Dah e5 Ioh brenne, wenn die Männer fonımen. (Zwei Sandleute gehen.) 
Sewa. '3 ift eine fchöne Mondennacht. Der Sce 

iegt ruhig da, als wie ein ebner Spiegel. 
Arm Bäßel. Sie haben eine leichte Fahrt. 
Windefried (zeigt nad) bem Sec). Sa, fept! 

Seht doribin! Scht ihr nichts? 
Meier. Was denn? — Ja, wahrlich! 

Ein Regenbogen mitten in der Nacht! 
Werhlfat. Cs Üt das Licht des Mondes, das ihn bildet. 
Fon der Stue. Das ift cin jellfom wunderbares Zeichen ! 

€8 Icben viele, die das nicht geichn. 
Sewa. Cr ift doppelt; febt, cin bläfferer ficht drüber. 
Baumgarten. Cin Haden fährt jochen drunter weg. 
Meldet. Dos ift der Stauffacer mit feinen Aal, 

Der Biedermann läht fi nicht lang erwarten. 

(Geht mit Baungarsen nach dem Ufer.) 

Meier, Die Urner find es, die am Längften fäumen. 
Am Büßel. Sie müflen weit umgehen durchs Oebirg, 

Dapı fie deS Yandvogts Kundfcaft hintergehen. 

(Unterbeffen Haben die zwei Landleute in der Mitte des Plnges cin Feuer 
angezündet.) 

elchthal (am Ufer). Wer iſt da? Gebt das Wort! 
Siaufſa cher (von unten). Freunde des Landes. 








Schiller im Spiegel ber Zelten. 205 


eben nach der Tiefe, den gommenden entgegen. us dem Kahn fteigen 
lan fader, Iief Meding, Sans auf der Mauer, Jörg Im Hofe, 
Konrad Hunn, Alrih der Schmied, Jo von Weller und nad) drei andıe 
Landleute, gleichfalls bewaffnet. 
Me (rufen). Willtommen! 
(Indem die übrigen in ber Tiefe verweilen und ſich begrüßen, kommt Meldithaf 
mit Stauffacher vorwärts. 
Welätaf. D Herr Stauffader!_ Id hab’ ihn 
Geſehn, der mich nicht wiederfehen fonnte! 
Die Hand hab’ ich gelegt auf feine Augen, 
Und glühend Rachgefühl dab’ ich gelogen 
Aus der erlofchnen Sonne feines Vlids. 
Stauffader. Sprech nicht von Rade. Nicht Geſchehnes rächen, 
Gedrohtem Übel wollen wir begeguen. 
— Segt fagt, was |br im Unterwaldner Land 
Geſchafft und für gemeine Sad" geworben, 
Wie die Landleute denten, wie ur jelbit 
Den Ctriden des Verrats entgangen jei. 
Melhthal. Durch der Surcı jurchtbares Gebirg, 
Auf weit verbreitet üben Eijesfelder 
Bo mur der heifte Cämmergeier frädht, 
Gelange’ ich zu der Wpentrift, wo fid, 


















end mit der Oetker Mil, 
Die in den Runfen, [häumend miederquillt, 

Au den einfamen Senmhütten fehrt' id) ein, 

Wein eigner Wirt und Gait, bis dab ih am 

Zu Wohnungen gejellig lebender Menſchen. 

— Erjcollen war in diefen Tälern ſchon 

Der Ruf des neuen GreuelS, der gefchehn, 

Und fromme Ehrfurcht ſchaffte mir mein Unglüd 
Vor jeder Pforte, wo id wandernd Hopite. 
Entrüftet fand ich diefe groden Seelen 

Ob dern gewaltfom neuen Negiment; 

Denn jo mie ihre Aipen fort und fort 

Diefelben Kräuter nähren, ihre Brunnen 
Sleichförmig fliehen, Wolten jeibit und Winde 
Den gleichen Strid unwandelbar befolgen, 

&o hat die alte Sitte bier vom Ahn 

Zum Enfel unverändert fort bejtanden. 

Picht tragen fie verwegne Neucrung 

Im altgewohnten gleichen Gang des, Lebens. 

— Die harten Hände reichten jie mir dar, 

Bon den Wänden langten fir die vojt'gen Schwerter, 
Und aus den Mugen udiges 

Gefühl des Wuts, als ic) die Nam 
Die im Gebiry dem Sandmann heilig find, 
Den eurigen und Walter Fürits. — Was euch 
Recht würde dünfen, ſchwuren fie zu tun, 
Eud) ihwuren fie dis in den Tod zu folgen. 
- iger unterm heil’gen Scyiem 
Des Gaftredts von Gehöfte zu Gehöfte. — 
Und als id fam ins heimatliche Tal, 

Wo mir die Velten viel verbreitet wohnen — 
WS ıdy den Water fand, beraubt und blind, 








nannte, 












206 Schiller im Spiegel der Zeilen. 


Auf fremder Stroß, von der Barmherzigkeit 
Mildtät'ger Menjchen lebend — 

Stauffader. Herr im Himmel! 

Melqidat. Da weint" ich nicht! Nicht in ohnmädt'gen Tränen 

Goß id) die Kraft des heilen Schmerzes aus, 

In tiefer Beuft, wie einen teuren Schab, 

Verichloß ich ihn und dachte mur auf Zaten. 

Ic) roch durch alle Krümmen des Gebirge, 

Kein Tal war jo veritedt, id jpäht' es ans; 

Bis am der Glaſcher eisbededten ‚u 

Erwartet‘ ich und fand bewohnte Hütten, 

Ad überall, wohin mein Fuß mich trug, 

Zand ic) den gleichen Hal; der Tyrannei; 

Denn dis an diefe feyie Grenze jelbit 

Belebter Schöpfung, wo der jlarre Boden 

Aufhört zu geben, raubt der Wögte Geiz — 

Die Herzen alle dieles biedern Wolts 

Errege' ich mit dem Stachel meiner Worir, 

Und unfer find fie all mit Herz und Mund. 
Stauffader. Großes habt ihr in Furzer Fri 
Melhtßat. 34) tat noch mehr. Die beiden 

Hofberg und Sarnen, die der Sandmann fürdhter; 

Tenm Hinter ihren elfenwälten chiemt 

Der Feind fic leicht und jhädiget das Sand. 

Dit eignen Xugen woll' ich e$ erfunden; 

Iap war zu Sarnen und bejah die Burg. 
Stauffader. hr wagtet euch 6iß in des Tigers Höhle? 
Mekhtäat. Ju) war verkleidet dort in Pilgersiradt, 

34} ja den Yandvogt an der Tafel jdmelgen — 

Urwilt, ob id mein Herz bezwingen Tann; 

34 jab den Feind, und ich erihlug ihn nicht, 

Stauffader. ZFührwahr, das Glüd war eurer Nühnheit Hold. 
(Unterdefjen find die andern Landleute vorwärts gekommen und nähern fich 
den beiden.) 

Doch jego fagt mir, wer die Freunde find 

nd die gerechten Dänner, die euc) jolgten? 

Macht mid) befannt mit ihnen, dal) wir uns 

Autraufidy nahen und die Herzen Öffnen. 

Der tennte euch nicht, Yerr, in den drei Yanden? 
30) bin der Meier von Sarnen; dies hier it 

Mein Scweiterfohn, der Struth von Wintelried. 
Stauffager. Ihr nennt mir feinen unbefannten Namen. 

Ein Winfelried war's, der den Drachen flug 

Im Sumpf bei Weiler und fein Leben lich 

 dielem Straub. 

Windotried. Das war mein Ahn, Herr Werner. 
Methithal (zeigt auf zwei Sandleuter. 

Die wohnen hinterm Wald, find Mofterleute 

Vorm Engelsberg. —- Xhr werdet fie drum nicht 

Verachten, weil fie eigue Leute find 

Und nicht, wie wit, frei fiyen auf dem Erbe — 

Sie lieben’s Sand, find fonit auch wohl berufen. 

Staugacher (zu den beiden). Gebt mir Die Yand. CS preije ſich, wer feinem 

Mit jeinem Yeibe pflihtig ift auf Erden; 

Doch Neblicteit gedeiht in jedem Stande 






























Meli 












Schiller im Spiegel der Zeiten. 267 


Honrad Hunn. Das iſt Herr Reding. unſer Altlandammann. 
eier. Ja tem” ibm wohl, er it mein Wiberpart, 
Der vun ein altes Exbftüd mit mie redtet, 
— Herr Reding, wir jind Feinde vor Gericht; 
Hier ind wir einig. (Schüttelt ihm die Hand.) 
Stauffaher. Das ijt brav geſprochen 
Winkefried. Hört ihr? Sie fommen. Hört das Horn von Uri! 
Glechts und lints ficht man bewaffnele Männer mit Windlichtern die Felſen 
herabſteigen). 
Auf der Mauer. Sept! Steigt nicht felbit der fromme Diener Gottes, 
Der würdige Pfarrer mit herab? Mic fceut er 
Dis Weges Mi und das Graun der Nacht, 
Ein treuer Hirte für das Volt zu forgen. 
Baumgarlen. Der Sigrüt folgt ihm und Herr Walter Fürft; 
Doch nicht den Tell erbli' ich in der Menge, 









Barter Fürt, Aöfelmann, der Borrer, Pelermann, der Sigrift, Auoni, 
der Hirt, Wernl, der Zügen, Mmodl, der Filher und noch fünf andere 
Landieute . Mile zufammen, dreimmddreihig an ver Zahl, treten vorwärts und 
itellen jich um das Auer. 
after Fürf. So müfjen wir auf unferm eignen Erb’ 
Und väterlicjen Boden uns verjtohlen 
Bufammenfcpleichen, wie die Mörder tun, 
Und bei der Nacht, die ihren jchwargen Mantel 
Nur dem Xerbreen und der jonnenjdheuen 
Werfcwörung leihet, unfer gutes Recht 
Uns holen, das doch Tauter it und Har, 
Gleichwie der glanzvoll_ofine Schoß des Tages. 
Werätäat. Lahrs gut fein. Was die dunkle Nacht geiponnen, 
Soll frei uud fröhlich an das Ligt der Sonnen. 
Höpefwmann. Hört, was mir Gott in& Herz gibt, Eidgenofien! 
Wir jtehen hier ftatt einer Sandsgemeinde 
Und tönnen gelten für ein ganes Lolt, 
So faft uns tagen nad) ben alten Yräuden 
Des Lands, wie wie's in rubgen Zeiten pflegen; 
Was ungefeylid) ift in der Berjammlung, 
Entjcnuldige die Not der Zeit, Dod Colt 
Sit überall, wo man das Heiht verwaltet, 
Und unter feinem Himmel ftehen wir. 
Stauffader. Wohl, lajıt uns tagen nad) der alten Sitte; 
Iſ es gleich Nacht, jo leuchtet unſer Recht. 
Wielötbat. Jit gleid) die Zahl nicht voll, Das Herz it bier 
Des ganzen VoltS, die Weiten jind Jugegen. 
Konrad Hunn. Sind audı die alten Buͤcher nicht jur Hand, 
Sie jind in unse Herzen eingefehricbe 
Nöpefmann. Wohlan, jo jei der King 









Auf der Mauer. Der Landesamman 
Und feine Waibel ftehen ihm zur 
Sigrit. Cs jind der Völler dreie. Welhem nun 
Gehüßers, das Haupt zu geben der Gemeinde? 
Meier. Ulm diefe Chr’ mag Schuys mit Uri 
i zurüd. 
Wettgaf. Wir jtehn zurüd; wir fund die Zlehenden, 
Die Qilie deiſchen von den mädy'gen Freunden. 









208 Schiller im Spiegel ber Zeiten. 


Staugaqher. So nehme Uri denn das Schwert; jein Banner 
‚Sieht bei den Nömerzügen ung voran. 
Bafier Für. Des Schwerte Ehre werde Schwwnhz zuteil 
‚Denn feines Stammes rühmen wir ung alle. 
Aöpefmann. Den deln Meitftceit lat mich freundlich jchlichten: 
Schwys joll im Nat, Uri im ‚Felde führen. 
Wafter Fürfl (reicht dem Stauffacer die Schwerter). So nehmt ! 
Stauffaner. Nicht mir, dem Alter jei die Ehre, 
Im SHofe. Die meijten Jahre zählt Ufeicd, der Schmied. 
Auf der Mauer. Der Mann ift wager, doch nicht freien Standes; 
Kein cigner Mann fann Richter jein in Schwup. 
Stauffader.. Sıcht nicht Herr Neding hier, der Atlandemmann? 
Was fucen wir noch einen Würdigern? 
Waffer Für. Cr jei der Ammann und des Tages Haupt ! 
Wer dazu jtimmt, exebe feine Hände. 
(Alle Heben die rechte Hand auf.) 
Beding (tritt in die Mitte). Ich fanın die Hand nicht auf die Vücher Legen, 
So ichwör' ich droben bei den ew'gen Sternen, 
Dahı ich mich nimmer will vom "echt entfernen. 

(Man richtet Die pwei Schwerter vor ihm auf, der Ring bildet fich um ihn ber, 
Sauoyy hält die Mite, reits jtellt fic Uri und links Unterwalden. Gr fteht 
auf jein Scylahtichwert geitägt.) 

Was iſt's. daS die drei Vlter des Gebirgo 

Hier an des Sces unwirtlichem Geftabe 

Zufammenfügrte in der Gciiterfiunde? 

Was foll der Inhalt fein des neuen Bunde, 

Den wir hier unterm Sternenhimmel, ftiften? 
Stauffaher tritt in den Ning). Wir fiften feinen neuen Bund; es it 

Ein uraft Bündnis nur von Läter Zeit, 

Das wir erneuern! Miffet, Eidgenojfen! 

Ob uns der Ser, ob un die Berge Icheiden, 

Und jedes Bolt fich für fich jelbit regiert, 

So find wir eines Stammes doch und Bluts, 

Und eine Heimat ijt%, auß der wir jopen. 
Winßefried. So it es wahr, wies in den Liedern lautet, 

Daß wir von fern her in, das Land gewallt? 

D, teill3 ung mit, was kuch davon befannt, 

Doh fid) der neue Yund am alten ftärke. 
Stauffaßer. Hört, was bie alten Hirten id, erzählen. 

— 68 war ein grodes Bolt, hinten im Lande 

Nach, Mitternacht, das litt von jchwerer Zeurung. 

In diefer Not bejchlof Die Sandsgemeinde, 

Dei je der zehnte Würger noch dem LoB 

Der Wter Sand verlafie. — Das geichah! 

Ann zogen aus, wehflagend, Männer und Weiber, 

Ein großer Heerzug, nad) der Mittagsionne, 

akit dem Schwert jic) {chlagend durch das deutiche Land, 

wis an das Hochland diejer Waldgebirge, 

Und cher nicht ermübete der Zug, 

Bis dab fie famen in das wilde Tal, 

Wo jest die Huotta zwichen Wiefen rinnt. — 

Nicht Menfcenfpuren waren hier zu fehen, 

Nur eine Hütte ftand am Ufer einjam, 

Ta fah ein Man und wartete der Fähre — 

Toy heftig wogete der See und war 

Nicht fahrbar; da beiahen fie das Land 





























Schiller im Spiegel der Zeiten. 


Sich näher und gewahrten ſchöne Fülle 
©es Holzes und entdedten gute Brunnen 

im lieben Vaterland 

Da befchloffen fie zu bleiben, 
Erbaueten den alten Zleden Schwnp, 

Und hatten manden jauren Tag, den Wald, 
Mit weit verichlunguen Wurzeln auszuroden. — 
Drauf, ats der Boden nicht mehr Ömügen tat 
Der Zahl des Bolfs, da zogen fie hinüber 

Jun (waren Berg, ja, 6i8 ans Weihland Gin, 
Wo, Hinter em’gem Cifeswall verborgen, 

Ein anderes Bolt in andern Zungen jpricht. 
Zen Fleden Stanz erbauten fie am Nernwald, 
Den yleden Altorf in dem Tat der Reub — 
Dody blieben fie des Urfprungs jtets gedent; 
Aus all den fremden Stämmen, die jeitdem 

Ju Mitte ihres Sands fidh angejieelt, 

Finden die Schwyger Männer fidh deraus, 

68 gibt das Herz, das Blur fich zu criennen. 











(Heicht lints und dechis die Hand Ein.) 
Auf der Mauer. a, wir find eines Derens, eines Wluts! 





Ale (fic die Hände 





Teijend). 


Wir find ein Volt, und einig wol'n wir handeln. 
Stauffader. Die andern Wölfer ragen fremdes Joch, 


wönelmaun. mi 


Werälhat. Was drüber it, üit Merkmal eines 
Stauffager. 


Sie haben fic dem Sieger unterworfen. 

&8 tcben jelbit in unfern Sandesmarten 

Der Safjen viel, die fremde Pflichten tragen, 
Und ihre Anedtichaft erbt auf ihre Kinder. 
Doc; wir, der alten Schweizer edhter Stamm, 
Wir haben jteis die Freibeit und bewahrt. 
unter gürften bogen wir das Knie, 
Freiwilig wählten wir den Schirm der Raifer, 








So fteht's bemerkt im Kater Sriedrichs Brief. 


Stauffaher. Denn berrenlos ift auch der Freie nicht. 


Ein Oberhaupt muß jein, ein höciter Achter, 
Wo man das Hecht mag Icöpfen in dem Sireit. 
Drum haben unjre Väter für den Boden, 

Den fie der alten Wildnis abgewonnen, 

Die Ehe’ gegönnt dem Kaifer, der den Herrn 
Sich nennt der deutſchen und der welſchen Erde, 
Und, wie die andern Freien feines Neichs, 

Sin ipm zu edelm Waffendient gelobt; 

Tenn diefes ift, der Freien eing’ge Pflicht, 

Das Neid zu [cirmen, das fie Jelbit beichiemt. 














folgten, wenn der Heribann erging, 
Dein Neichspanier und [chlugen feine Schlagen. 
Nach Weiichland zogen fie gewappneı mit, 

Die Römerkron’ ihm auf das Yaupt zu jeben. 
Daheim vegierten jie id) fröhlid) felbit 

Rad) altem Brauch und eigenem Gejey; 

Der höchfte Blutbann war allein des Kailers. 
Und day ward beitellt ein großer Graf, 

Der haue feinen Siy nicht in dem Yande. 

Wenn Hlurfhuld tom, jo rief man ihm herein, 





wählten wir des Neides Schuß und Schirm; 


echts. 


209 


270 Sgiller im Spiegel der Zeiten. 


Und unter offnem Himmel, ſchliht und Kar, 
Sprach) er das Het und one Furdt der Meniden. 
Wo find hier Spuren, dab wir Anechte find? 
Sit einer, der e8 anders weiß, der red 
3m Hofe. Mein, jo verhält fih alles, wie ihr fprecht, 
Gewaltgerrjchaft ward nie bei und geduldet. 
Stauffader. Dem Kaifer jelbit verlagten wir Gehoriam, 
Da er das Redit zu Gunit der Waffen bog- 
Denn al8 die Seute von dem Gotteshaus 
Einfiebeln und die Ap in Anfprud nahmen, 
Die wir beweidet feit der Väter Zeit, 
Der bt berfürgog einen alten Brief, 
Der {gm die herrenloje Wüfte fdentte — 
Denn unfer Dajein hatte man verhehlt 
Da fprachen wir: „Exihlichen it der Brief! 
Kein Kaifer farın, was unfer ift, verichenfen 
Und wird ung Steht verjagt vom eich, wir 
In unfern Bergen aud) des Heichs entbehren. 
— ©o ipraden umfre Väter! Sollen wir 
Des neuen Jodes Schändlichfeit erbulben, 
Grleiden von dem fremden Knecht, was uns 
In feiner Macht fein Kaifer durfte bieten? 
— Wir haben dielen Boden uns erichaffen 
Durdy unfrer Hände Fleih, den alten Wald, 
Der jonft der Yären wilde Wohnung war, 
Zu einem Sig für Menfchen umgewandelt; 
Die Brut des Drachen haben wir getöt 
Der aus den Sümpfen giftgeichwollen ftieg; 
Die Nebeldede haben wir gerrifien, 
Tie ewig grau um diefe Wilonis Ging, 
Den harten Fels geiprengt, über den Abgrund 
Dem Wandersmann den fidern Steg geleitet; 
Unier üt durd) taufenbjäßrigen Befig 
Der Boden — und der fremde Herrenfnedht 
Soll tommen dürfen und ung Ketten jchmieden 
Und Schmad) antun auf unjrer eignen Exde? 
Hit feine Hilfe gegen folchen Drang? 
(Eine große Bewegung unter ben Sandfeuten.) 
Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht. 
Wenn der Gedrüdte nirgends Net fann finden, 
Wenn unerträglich wird die Laft — greift er 
Dinauf getroften Mutes in den Himmel 
Und holt herunter feine ew’gen Hedhte, 
Die droben hangen unveräußerlich 
Und ungerbredjlich, wie die Sterne jelbit — 
Der alte Uritand der Natur fehrt wieder, 
Wo Denfd) dem Menfchen gegenüberfteht — 
Zum legten Mittel, wenn fein andre mehr 
Verfangen will, it ipm das Schwert gegeben — 
Der Güter Höchftes Dürfen wir verteid'gen 
Gegen Gewalt. — Bir jtehn für unjer Land, 
Wir ftchn für unfre Weiber, unfee Rinder! 
Ale (am ühre Schwerter [clagend). Wir ftehn für unfee Weiber, unſre Rinder! 
Höffelmann (wit in den King). 
Eh ihe zum Schwerte greift, bedenft es wohl! 
Ihr könnt es friedlich mit dem Kaiſer ſchlichten. 











men 

















Schiller im Spiegel der Zeiten. a 


Es koftet euch ein Wort, und die Tytannen, 
Die euch jet jhwer bedrängen, ſchmeichein euch. 
-- Exgreift, was man euch oft geboten hat, 
Trennt ud) von Heich, erfennet witreids Hohei 
Auf der Mauer. as jagt der Marrer? Wir zu Citreich ſchwören! 
Am Büßel. Hört ihn nicht an! 
Winfefried. Das rät uns ein Verräter, 
Ein Feind des Landes! 
Weding. Ruhig, Eibgenoffen! 
Sera. Wir Öftreidh huldigen, nad) older Schmac! 
Bon der Slüe. Wir und abtrogen laſſen durch Gewalt, 
Dos wir der Güte weigerten! 
Meier. Dann wären 
Wir Sflaven und verdienten es zu je 
Auf der Mauer. Der fei geitohen aus d 
Wer von Ergebung fpridt au „iterreich! 
— Sandammann, ic, beitche drauf, dies fei 
Das erite Sandegejeh, das wir bier geben. 2 
Werätdal. So jeis. Wei von Ergebung fpricht an Üftreich, 
Sol rechtlos fein und aller Ehren bar, 
Kein Landmann nehm’ ihn auf an feinem feuer. 
Alte (heben die vechte Hand auf). Air wollen es, das jei Geſetz! 
Weding (nad) einer Paufe). &s it's. 
Aörfelmann. Jet jeid ihr_frei, ihr ſeid's durch dies Geſeh 
Nicht durch Gewalt foll Üjterreich ertragen, 
Bas 8 durd, freundlich Werben nich erhielt — 
Ion von Weller. Zur Tagesordnung weiter! 
Neding. Cidgenofien ! 
Sind alle janften Mittel auch verfucht? 
wWielfeicht weiß 8 der König nicht; «8 it 
Wohl gar fein Wille nicht, was wir erdulben. 
Auch diefes Lehte follten wir verjuden, 
Exit unire lage bringen vor jein Ohr, 
Eh" wie zum Schwerte greifen. Schredlic immer, 
Au) in gerechter Sache, ift Gewalt. 
Gott hilft nur dann, wenn Menſchen nicht mehr helfen. 
Stauffader (gu Konrad Hunn). Run it's an euch, Vericht zu geben. Hebet! 
Konrad Hunn. ch war zu Rpeinfeld an bes Raifers Pfalz, 
Wider der Vögte harten Drud zu flagen, 
Den Brief gu holen unfrer alten Sreibeit, 
Den jeder neue König ſonſt beitätigt. 
Die Voten vieler Städte fand ic, dort, 
Vom famwäb'fcen Lande und vom auf des Rheins, 
Tie all’ erhielten ihre Pergamente 
Und fehrten freubig wieder in ihe Sand, 
Bid, euren Boten, wid man an die Näte, 
Und die entlichen mid mit loerem Zroft: 
„Der Kaifer babe diesmal feine 
„Er würde jonft einmal wohl an uns denfen.“ 
— Umd als ich traurig durd) die Säle ging 
Der Königsburg, da jah ich Derzog danſen 
Ju einem Geler weinend ftehn, um ihm 
Die edeln derrn von Wart und Tegerfeld. 
Die riefen mir und ante: „Delft euch felbit! 
„Öerechtigfeit erwartet nicht vom König. 
„Beraubt ex nicht des eignen Bruders Rind, 








Recht der Schweizer, 


























a2 Schiller im Spiegel der Reiten. 


„And binterhäft ihm fein gerechtes Exbe? 
„Der Yerzog jleht ihn um jein Mütterlicks, 
»Er habe feine Jahre voll, e8 wäre 
un Zeit, aud) Sand und Leute zu regieren. 
»Wos ward ihm zum Beicheid? Ein Kränglein jegt" ihm 
„Der Kaifer auf: daS fei die Bier der Jugend.“ 
Auf der Mamer, ir haha aehöc. Mei und Gerchtigteit 
Erwartet nicht vom Raifer! Helft euch) jelbit! 
Heding. Nichts anders bleibt und übrig. Rum gebt Hat, 
Wie wir e& Mug zum fropen Ende lei 
after Hürft (tritt in den ing). Abtreiben wollen wir verfahten Zwang; 
Die alten Rechte, wie wir fie ererbt 
Von unfern Vätern, wollen wir bemahren, 
Nicht ungezügelt nach dem Neuen greifen. 
Dem Kaijer bleibe, mas des Kaijers 
Wer einen Yeren hat, dien” ihm pflichtgemäß. 
Meier. Ich trage Gut von Diterreich zu Lehen. 
after Fürt, he fahrer fort, Oftreih die Bfticht zu leiften. 
doſt von Weiler, iteure an die Herrn von Rappersweil. 
Walter Für. Ihr fahret fort, zu zinfen und zu ftenern. 
Möpfelmann. Der großen Frau zu Zürid, bin id) vereidet 
Walter Fürft. hr gebt dem Kloiter, mas des Kofters ült. 
Stauffader. Ich trage feine Zehen, als des Neid. 
Walter Für. Was jein muß, das geſchehe, doch nicht drüber. 
Die Vögte wollen wir mit ihren Knedhten 
Werjage und die feiten Cahläfer brete 
Dod), wenn e& jein mag, ohne Blut. 
Der Kaifer, datz wir notgedrungen nur 
Der Ehrfurdit fromme Pflichten abgeworfen. 
Und fieht er uns in unjern Schranfen bleiben, 
Vielfeicyt befiegt er itaatöllug feinen Zorn! 
Denn billge Surdht ermedet jid) ein Bolt, 
Das mit dem GScmerte in der Bauft fih mäbigt. 
Weding. Doch lafjet Hören, wie vollenden wi 
ES fat der Feind die Waffen in der Hand, 
Und nicht fürmahr in Frieden wird er weichen. 
Stauffader. Cr wird's, wenn er in Maffen ung erblidt; 
Wir überrafchen ihn, eh" er ich rültet. 
Meier. In bald geiprochen, aber [dhwer getan. 
Uns ragen in dem Land zwei jeite Schlöffer, 
Die geben Schirm dem Feind und werben furchtbar, 
Wenn uns ber Rönig in das Sand folt" fallen. 
Hoßberg und Sarnen muß, bepwungen fein, 
Eh’ man ein Schwert erhebt in den drei Sanden. 
Stauffaßer. Säumt man jo lang, jo wird der Feind gewarnt; 
Bu viele find’s, die das Geheimnis teilen, 
Meier. In den Waldftätten find’ ſich fein Verräter. 
Höfekmann. Der Eifer auch, der gute, fann verraten. 
Walter Für. Sciebt man es auf, jo wird der Twing vollendet 
In Mltorf, und der Vogt befejtigt fi. 
Meier. Ahr denft an eud. 
Sigrihl. Und ibe feid ungeredit. 
Meier (auffahrend). Wir ungerecht! Das darj uns Uri bieten! 
Heding. Bei eurem Cide, Hub! 
Meier. a, wenn fihh Scuoyy 
Verftept mit Uri, müffen wir wohl ſchweigen. 




















ehe 








Stiler im Spiegel ber Zeiten. 273 


Reding. Jh muß euch weiſen vor der, Sandegemeinde, 
Dafı ihe mit beft'gem Sinm den Frieden ftört! 
Siehn wir nicht alle für diefelbe Sache? 

Winkefrled. Wenn wir's vericicben big zum Zeit des Deren, 
Dann bringt’s die Sitte mit, dab alle Saffen 
Dem Vogt Gefyente bringen auf das Schloß. 
&o fönnen jehen 

i ig in der, Burg verfammeln, 

Die führen heimlich, fpig'ge Eiſen mit, 
Die man gefhwind fann an die Stäbe fteden, 
Denn niemand fommt mit Waffen in die Burg. 
Zunädjt im Wald Hält dann der grofie Haufe, 
ind, wenn die andern glüdlich fich des Tore 
Ermächiget, fo wird ein Horn geblafen, 
Und jene breien aus dem Hinterhalt. 

So wird das Schloß mit leichter Arbeit unfer. 
Merhtfaf. Den Robberg übernehm' ich zu eriteigen, 
Denn eine Dien' des Schloffes ift mir Hold, 

Und leicht betör' ich zum nächtlichen 

Behud) die fhmwante Leiter mir zu reichen; 

Bin ich droben erft, sich" ig die Freunde nach. 
Reding. Jit's aller Wille, daß verichoben werde? 


(Die Mehrheit erhebt die Hand.) 


Stanffader (zäpt die Stimmen). Es ift ein Mehr von zwanzig gegen zwolf! 
Walter Fürfl, Wenn am beitimmten Tag die Burgen fallen, 
So geben wir von einem Berg jum andern 
Das zeichen mit dem Naud! Der Yanditurm wird 
Aufgeboten, fcmell, im Hauptort jedes Sande 
Denn dann die Wögte fegn der Maffe 
Glaubt mir, fie werden ich des Streits begeben 
Und gern ergreifen friedliches Gelcit, 
Aus unfern Yandesmarfen zu entweichen. 
Stauffaher. Nur mit dem Gehler fürdt' id) jhmeren Stand, 
Surgibar ift er mit Reifigen umgeben; 
Nicht ofme Blut räumt er das geld, ja, jelbit 
Verteicben bleibt er furchtbar mod, dem Land. 
Schwer if's und fait gefährlic zu honen. 
Baumgarten. Wo's halsgefährfich it, da ftellt mich bin! 
Dem Tell verdank id mein gerettet Yeben. 
Gern fehlag' igs in die Schanze für das Land, 
Mein Chr" Gab ic, beicjügt, mein Herz befricbigt. 
Heding. Die Zeit bringt Kat. Erwartet’s in Geduld, 
Man muß dem Augenblid auch was vertrauen. 
—— Doch jeht, indes mir nächtlic hier noch tancn, 
Stelt auf den höcften Bergen fon der Morgen 
u glüg'nde Hochwacht aus. — Kommt, faht uns ſcheiden, 
18 de8 Tages Leuchten überrafeht. 
Ballen art. Sorge nicht, die Nacht weicht langſam nı3 den Tälern. 


(Aue haben unwillfürlich die Hüte abgenommen und betrachten mit flilfer 
Sammlung die Morgenröte.) 
Aöfelmann. Bei dieſem Licht, das uns zuerſt begrübt, 
Von allen Völfeen, die tief unter uns 
Scapwer atı nd wohnen in dem Cualm der Städte, 
Lahl uns den Eid des neuen Bundes ſchwören. 


















































ar Schiler im Spiegel der Zeiten. 


— Nir wollen fein ein einzig Volt von Brüdern, 
In feiner Rot ung trennen und Gefahr. 
(Ade fpredjen e& nach mit erhobenen drei Fingern.) 

— Bir wollen frei fein, wie die Väter waren, 

Eher den Tod! al8 in der Ancchtfcjaft Icben. (Wie oben.) 

Wir wolen trauen auf den hächften Gott 

Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menſchen. 

(Wie oben. Die Candleute umarmen einander.) 

Stauffader. Jet gee jeder feines Weges fill 

Au feiner Freundfcaft und Genofjame. 

Der Hiet it, wintre rubig feine Herde 

Und werb’ im Stillen Freunde für den Bund. 

— Was no bis dahin muß erduldet werden, 

Erdulber'8! Laht die Rechnung der Tyrannen 

Anmwachfen, bi8 ein Tag die nlgemeine 

Und die befondre Schuld auf einmal zahlt. 

Begähme jeder die geredite Mut 

Und {pare für das Gange feine Rache; 

Denn Raub begeht am allgemeinen Gut, 

Der felbit ſich hilft in feiner einnen Sache. 


(Während die Spieler in der gröhlen Orbnung abziehen, ftürzen die drei Qnartaner 
und mit ihnen ſchon Sehundaner hinein. Alle klalſchen und rufen Taut: Bravo.) 
Erich (zu Arved). Brav war's, gefiel's dir ebenfo? 
Arved. Herrlich, herrlich! Ich bin fo froh! 
( Mäbrend Arved den Erich umarınt, immer neue Schundaner auf bie Bühne 


ftrömen, und das Orcheiler mit einem prachtvollen Schwunge einieht, fällt der 
Vorgang.) 





Die Zeit (mitt auf). 
Aus junger Anaben frohbewegtem Munde 
Vernahmt ihr ſchwerer Dinge leichtes Spiel, 
Und heiter zeigten fie zu guter Etunde 
Eud) eines jtarfen Volkes ernſtes Ziel. 
Doch aud) von unſrer Jugend gab es Runde, 
Und was darin von Herzen kam, gefiel, 
Daß an das Schöne ihren feiten Glauben 
Des Zweifels jpige Hämmer nicht zerflauben. 
Die Jugend hat den Glauben, doch es laden 
Sie taufend Stimmen lodend in die Welt, 
Cie gaufeln blauen Dunſt und bringen Schaden, 
Wo ihr Veirug dem Herzen, adı, gefällt. 
Drum gilt’ im Meer des Schönen nen zu baden, 
Damit die Seele ſich geſund erhält, 
Und aud) den Mann die Dichtung noch beglüdte, 
Die einft den Knaben aus der Welt eultrückte. 
Was wird die Zukunft bringen? Bange Frage, 
Die in mand) frommes Here traurig Mingt. 


Stiller im Spiegel ber Zeiten. 275 


Statt froher Hoffnung ift es herbe Klage, 
Die aus bes Zweiflers Munde zu uns bringt. 
Drum diefer Stab aus eurer Zeit euch trage 
Hin zu ber Zukunft Pforte, die ba fpringt, 
Sobald mein mädtig Zauberwort ergangen: 
Da mögt ihr Offenbarung felbft empfangen. 
(Die Zeit bewegt ihren Stab und verſchwindet.) 


Vierte Szene. 





Der Vorhang gebt auf. Dan ficht ein gefhmadvoll cingerichtetes Zimmer. 
An den Münden Gemälde. Rechis cin enfter, das verhängt ift. Lints cin 
Zifh mit Büchern und Schreibntenfilien. Daneben ein hoher Lehnftuhl. Auf 
dem Zifch brennen zroci beruntergebrannte Kerzen. Auf dem Lehnituhl fipt der 
Bürgermeifter Heinriß. Er hat auffallende Hpnlichfeit von Grigorio, it aber 
viel jünger und Ihöner. Er it cinfadh, aber mit Geſchmag gefleidet. 
Es iſt Nacht. 

Heinrich. Wie habe ich mich auf dieſen Tag gefreut, und 
nun er anbricht, bangt mir. Was hat es für Arbeit und Sorge 
gegeben, bis dieſer Augenblid erreicht ift und wir unfer Volksyaus 
eröffnen. Es hat lange gedauert, da die Saat gereift il. Tas 
mar body ſchon am Anfang unſres Jahrhunderts, daß die been 
auffamen von Kunſt und Volk. Van ift Schritt vor Schritt 
vorwärts gegangen, und der Weg war weit. Nun neigt ſich das 
zwanzigfte Jahrhundert bem Ende zu, und der bejcheidene Anfang 
hat einen herrlihen Fortgang genommen. Wie haben fid die 
Stätten gemehrt, da die Künfte ein Heim gefunden aud fürs 
Voll. Nun find es nit mehr einzelne Diufeen und Theater in 
den großen Ctäbten, es ſprießt und wädjt allenthalben. Ja, 
Kampf und Arbeit hat's freilich gegeben, bis auch wir fo weit 
gelommen. Aber es ift gelungen, die Willigfeit der Menge ift 
nit erlahmt, das Haus ftcht errichtet, und jede edle Kunſt foll 
bort Pflege finden. Schon höre ich die Oratorien, die dort vor 
Tauſenden von Arbeitern gegeben werden, ich ſehe die Volksſchau— 
fpiele, id) wandle in der Halle großer Meilter. 

Und auch ich Hab nicht gefeiert. Ich bin rüftig Dabei geweſen, 
manch ſchlafloſe Nacıt hat's mic; gefojtet. Aber es ift dod mas 
dabei herausgefommen, und das Vertrauen des Volfes iſt mir ein 
ſchöner Lohn. Ich darf es mir geftehen: nicht mein Amt, meine 
Stellung, ſondern diefes Vertrauen hat mid) zum Nebner des feſt— 
lichen Tages bejtimmt. Stolz darf id es fagen. 


273 Stiller im Spiegel der Zeiten. 


Und dennoch bangt dir? Dennoch bangt mir. 
Wohl jteht das Haus gezimmert und gefügt, 
Doch ad) — es wanft der Grund, auf dem wir bauten. 

Ein anbres ift’s, der Kunſt ein Haus zu bauen, ein anbres, 
ſtill und ſietig der Kunſt zu dienen, der großen und echten. Wird 
die Menge das fönnen? Und wenn nicht, was nüßt all unire 
Mühe? Ich bin, weiß Gott, mein Tage fein Kopfhänger geweien, 
aber das Geſpenſt unfrer Zeit Hat auch mich geichredt. Mir iſt's 
manchmal, als fähe ich's leibhaft mit biefen meinen Augen: eine 
gleißende Frauengeſtalt mit ſtolzem Gang, üppigen Lippen und 
verführerifgen Augen. Aber mit freder Stirne und läjternder 
Zunge. Sie trägt eine Zadel, die erregt einen Brand von der 
Erde bis in ben Himmel, und jterben joll daran alle göttliche und 
menſchliche Autorität, mur das Ich foll bleiben und der Genuß 
Und will man das Heer diefes Weibes zählen, jo iſt's Legion. 
D, es gibt Stunden, da will’s mich dünfen, daß die guten, fricd- 
lichen Mächte entflohn find auf immer und der alte Gott gejtorben. 
Wird auf ſolchem Boden nicht aud die Kunſt erftiden müſſen? 
Fortichritt, Foriſchritt, wie weit Haft du uns gebraht! Was gäbe 
id) um die fefte Zuverficht, dah du uns die alten Ideale der 
heiligen Ordnung. der hohen Kunft, der ewigen Neligion nicht 
rauben fannjt! Un ein Zeichen, daß fie nod) walten in unjrer 
Mitte. O daß ich fie heraufbeſchwören könnte und fie nimmer 
von uns wichen ! 

Ja, wer das erlöfende Wort fände für unfre Zeit, wer bie 
Macht hätte, fortzureißen und zu erheben! Cs müßte gewaltig 
geredet werben zu dieſem Geſchlecht, fie würden’s vernehmen. 
An einem Felttag wie morgen, ad), da drückt's mid, dab fein 
Größerer fprehen fann als ih. Wie wird mein armer Mund 
ein Wort der Kraft finden, Funken fprühend, die in Taufenden 
zur Flamme werben. 

(Gr fpringt auf und geht zum Vordergrunde.) 
(Sehr lebhafi) D wär uns ein Prophetenmund verliehn, 
Daß feine Zunge, dröhnend Erg geworden, 
Das Volt zur großen Wahrheit machtvoll rief! 
Wir brauchen Wahrheit. 

Jeyt gib uns einen Menfhen, gute Vorſicht — 

Du haft uns viel gegeben. Schenke uns 

Den ſelt'nen Dann mit reinem, offuem Herzen, 

Wit Hellem Geiſt und unbefangnen Augen, 

Der uns fie finden helfen kann — id) ſchütte 


Schiller im Spiegel der Zeiten. a7 


Die Loſe auf; laß unter Taufenden 
Den Einzigen mid) finden! 
(Er hält inne. Darauf in ganz verändertem Tone.) 
Doch fill, mein Herz, die Großen find entflohn. (Gr fept fi.) 
Beſcheide dich und horche auf ben Wint, 
Den bir ein guter Geift, das Volk zu weilen, 
Zur rechten Stunde häufig hat gegeben. — — 
Doch nun genug der einfam ftillen Zwieſprach, 
Der müde Leib verlangt ein Stündden Ruhe! 
(Gr fepläft ein. Aus dem Hintergrunde ertönt eine fanfte, einfchmeichelnbe Muſik. 
Hierauf erſcheint der Genius der Zoefle, im Arm eine Leier.) 
Genius. Mid Hält fein Band, mich feſſelt feine Schranke, 
Frei ſchwing ich mich burd alle Räume fort. 
Dein unermeßlid, Neid) iſt der Gedanke, 
Und mein geflügelt Werkzeug ift das Wort. 
Was fi bewegt im Himmel und auf Erden, 
Was die Natur tief im Verborgnen fchafft, 
Muß mir entchleiert und entfiegelt werben, 
Denn nichts beichränft die freie Dichterfraft; 
Doch Schön’res find’ ich nichts, wie fang ich wähle, 
Als in der fhönen Form — die ſchöne Seele, 
(Der Genius trilt zum Schlafenden und berüßet feine Lippen. Mährend defien 
fpriht er:) 
Du ftehft in des größeren Herren Pflicht, 
Du gehorchſt der gebietenden Stunde. 
Wie in den Lüften der Sturmwind fauit, 
Man weiß nicht, von wannen er fommt und brauft, 
Die der Quell aus verborgenen Tiefen, 
So bes Sängers Lied aus bem Innern fallt 
Und wedet ber dunkeln Gefühle Gewalt, 
Die im Herzen wunderbar jchliefen. 
(Er geht ab. Aus dem Hintergrunde ertönt ein Gefang:) 
Beſchwichtigend naht euch, ihr guten Gewalten 
Und ftärket bem Guten die Zuverfidt; 
Ob mächtige Kräfte die Feinde entfalten, 
Ihr bleibt, ihr ſeid da, ihr entſchwindet ihm nicht! 
(Eine Zrauengeftolt mit einem Palmenzmeige tritt auf, die friedliche Ordnung 
darftellend.) 
Die Ordnung. Sieh mic) hier, die Segenreiche, 
Sieh die Ordnung, die das Gleiche 
Frei und leicht und freudig bindet, 
Baltiftje Monatafceift 1908, Heft 4 3 


278 Schüler im Spiegel der Zeiten. 


Die der Städte Bau gegründet, 
Die herein von den Gefilden 
Nief den ungefell’gen Wilden, 
Eintrat in ber Menſchen Hütten, 
Sie gewöhnt zu janften Sitten, 
Und bas teuerfte der Bande 
Wob, den Trieb zum Vaterlande. 
Meinen Pfad begleitet Segen, 
Taufend fleiß'ge Hände regen, 
‚Helfen fid) in munterm Bund, 
Und in feurigem Bewegen 
Verden alle Kräfte fund. 
Meifter rührt ſich und Gefelle 
In der Freiheit hei’gem Schub; 
Jeder freut ſich feiner Stelle, 
Bietet dem Verächler Trug. 
Arbeit ift des Bürgers Zierde, 
Segen ift der Mühe Preis: 
Ehrt den König feine Würde, 
Ehret uns der Hände Fieih. 


(Sie neigt ihren Palmenzweig gegen den Schlafenden und get in ben Hinter 
grund. Pieranf tritt eine Frauengeftalt auf, die Aumft darftellend. Sie hat 
ein buntes und fihönes Gewand. In ber Hand eine Statuelte.) 


Die Kunſt. Wie fhön, o Menſch, mit deinen Palmenzweige 


Steht du an des Jahrhunderts Neige 
In edler ftolzer Männlichkeit, 
Mit aufgefchloßnem Sinn, mit Geiftesfülle 
Voll milden Ernfts, in tatenreiher Stille, 
Der reiffte Sohn der Zeit. 

Beraufcht von dem errungnen Sieg, 
Verlerne nicht, die Hand zu preifen, 
Die an bes Lebens ödem Strand 
Den weinenden verlaßnen Waiſen, 
Des wilden Zufalls Beute, fand, 
Die frühe ſchon ber künft'gen Geiſterwürde 
Dein junges Herz im Stillen zugefehrt 
Und die befledende Begierde 
Von deinem zarten Yufen abgewehrt, 
Die Gütige, die deine Jugend 
Im hohen Pflichten ſpielend unterwies 
Und das Geheimnis der erhabnen Tugend 
In leichten Nätfeln dic) erraten lieh. 


Schiller im Spiegel ber Reiten. 279 


Im Fleiß Tann dic die Biene meiftern, 
In der Gejdidlichkeit ein Wurm bein Lehrer jein, 
Dein Wiffen teileſt du mit vorgezognen Geiltern, 
Die Kunft, o Menſch, haſt bu allein. 
Nur durch das Morgentor des Schönen 
Drangſt bu in ber Erfenntnis Sand. 
An Höhern Glanz fi zu gewöhnen, 
Übt ſich am Reize der Verftand. 
Was bei dem Saitenflang ber Muſen 
Mit fühem Beben did) durchdrang 
Erzog die Kraft in deinem Bufen, 
Die fich dereinft zum Weltgeift ſchwang. 
Was erfl, nachdem Jahrtauſende verfloilen, 
Die alternde Vernunft erfand, 
Lag im Symbol des Schönen und des Großen 
Voraus geoffenbart dem kindiſchen Verſtand. 
(Sie geht in den Hintergrund. Eine Frauengeſtalt tritt auf, die Ketigion 
darftellend. Sie ift äuberft ſchlicht gelleidet, nur mit einem Stern gelhmüdt, 
den fie auf dem Haupte trägt.) 
Die Religion. Drei Worte nenn’ ih euch, inhaltſchwer, 
Sie gehen von Munde zu Munde; 
Doc) ftammen fie nicht von außen ber, 
Das Herz nur gibt davon Kunde. 
Dem Menfchen ift aller Wert geraubt, 
Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt. 
Der Menſch ift frei geihaffen, iſt frei, 
Und würd’ er in Ketten geboren, 
Laßt euch nicht irren des Pöbels Geichrei, 
Nicht den Mißbrauch rajender Toren! 
Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, 
Vor dem freien Menſchen erzittert nicht! 
Und die Tugend, fie ift Fein leerer Schall, 
Der Menſch fann fie üben im Leben, 
Und ſollt' er auch ftraucheln überall, 
Er fann nad) der göttlichen ftreben, 
Und was fein Veritand der Verfländigen fieht, 
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt. 
Und ein Gott ift, ein Heiliger Wille lebt, 
Wie aud) der menſchliche wanke; 
Hoc über ber Zeit und dem Raume webt 


Lebendig der höchſte Gebante, 
3* 


280 Schiller im Spiegel der Zeiten. 


Und ob alles in ewigem Wechſel kreiſt, 
Es beharret im Wechſel ein ruhiger Geijt. 
Die drei Worte bewahret euch, inhaltichwer, 
Sie pflanzet von Munde zu Munde, 
Und fiammen fie gleich nicht von außen ber, 
Euer Innres gibt bavon Kunde. 
Dem Menſchen ift nimmer fein Wert geraubt, 
Solang er noch an bie drei Worte glaubt. 
(Sie reicht ben beiden andern Geftalten bie Hände, und fie gehen, wie grühenb, 
einmal um Heineich herum und dann ab, während aus dem Hintergrunde fol 
gender Belang crlönt:) 
So halte den Glauben an gute Gewalten, 
Es wachſe dem Guten bie Zuverfiht; 
Ob mächtige Krafie die Feinde entfalten, 
Wir bleiben, wir find, wir entſchwinden bir nicht ! 
Heinrich (erwacht). Wie herrlich hat der Sorgenlöfer Schlaf 
Die fummervolle Seele leis beſchwichtigt 
Und von ber Stirn bes Unmuts jchwere Falten 
Dit fanften Händen freundlich, mir geglättet. 
Ein Genins hat die Lippen mir berührt, 
Der Glaube ift ins Herz zurüdgefehrt, 
Daß uns die guten Mächte nicht verlafen, 
Die Friede dringend uns zum Höchſten leiten. 
Ich bin bereit zu jedem großen Werke, 
Das Aug’ ift heil, der Mund ift aufgetan, 
Das Ohr vernahm die Bolfchaft, die zu bringen. 
Löſch aus das Licht der Nacht, der Tay ift da. 
(Gr loſcht die Lichter aus, geht zum Fenfter, ſchlagt den Vorhang zurück und 
öffnet das jenfter. Ein Strom von Licht flutet herein.) 
Sei mir gegrüßt, du glängend Taggejtirn, 
Das Licht und Luft zu neuen Taten gibt, 
Wie jubelnd ſchlägt mein Herze dir entgegen! 
Ein Strom von Glück quillt friſch mir durch die Adern, 
Und wo ich eben ned) im Dunkein zagte, 
Da ftellt fih mir fo duft- und lichtumfloſſen 
Nun eine Welt von Wundern vor das Auge. 
Mi Freuden blid ich auf das Volkshaus drüben 
Und ahne drin, gleichwie in blauer Ferne, 
Erfüllung meiner Hoffnungen und Wünſche. 
(Er lehnt ſich aus dem Fenfter.) 
Doch ſeh ich richtig, wo nod) jüngit die Säule 
Der Büfte aus des Volkes Hand erharrte, 


Stiller im Spiegel der Zeiten. ad 


Da ift der Plaß beſebt. 
(Er fieht genauer Hin und fährt Iebhaft fort.) 
Ich täuſch mich nicht. 
Sie find es, unſres Schillers traute Züge, 
Das Volt Hat ihn zum Helden felbit erwählt, 
In ihm ehrt es die alten großen Güter. 
(Mon hört aus der Ferne Stimmengemirr.) 
Und wogenartig hör ih’s näher braufen, 
Da nahn fie felbft in buntem Feſtgedränge, 
Dit Krängen und mit Zweigen ausgerüftet. 
Wie heiter jung und alt zujammenftrömen, 
Die frohe Stunde würdig zu begehn. 
Schon find fie da, fie haben mic, erblidt, 
Sie jhwenten ſchon die Mügen, wehn die Tücher, 
Sie mahnen mic, die Feier zu eröffnen, 
Schon drängen fie fih um den teuren Dichter. 
Und Feitesflänge höre id von fern. 
(Er lehnt ſich aus dem Fenfter und Iran laut zur Menge. Diefe veritummmt 
völlig. 
Mitbürger, Freunde, Dank euch, taufend Dank! 
Mie macht mic eure Freube doppelt froh, 
Wie bin id) ſtark und glücklich, euch verbunden, 
Wie treibt’s mic), an des treuen Volles Spige, 
Den großen Zielen jugenblid) entgegen ! 
(Er tritt vom Fenſter zurü, in die Mitte der Bühne. Bas Folgende fpricht er 
freudig bewegt, anfangs finnend, zum Schluß ebhaft.) 
Die Zeichen der Zeit bedenfe, 
Wem Kummer das Herze plagt, 
Gen Diorgen die Blicke er lenke, 
Woher es noch immer getagt. 
Und ſchopfe neues Vertrauen 
Zu mul'gem Vorwärtsgehn, 
Wer nur verfteht zu ſdauen, 
Der wird aud) Wunder fehn. 
Und wo ihm Alter geſchwanet, 
Da fprießen die Knoſpen aufs neu, 
Wo Wanfelmut er geahnet, 
Ta ſchlagen die Herzen treu. 
So ward ber Zweifel bejchworen, 
Er war nicht wohlgetan, 
Was echte Kunſt geboren, 
Zieht ewig die Herzen an. 


2u2 Schiller im Spiegel der Zeiten. 


Drum auf zum feitlichen Kreife, 
Wo man Großes und Schönes genieht, 
Da jei denn in feitlicher Weiſe 
Der Große noch einmal begrüßt! 

(Während er raſch abgeht, fällt der Vorhang. Aus dem Hintergrunde ertönt 
Mufit, die feierlich anfgwilt. Darauf hört man folgenden Gejang:) 
Es reden und träumen die Menſchen viel 

Bon beijern fünftigen Tagen; 

Nach einem glüdlihen, goldenen Ziel 

Eieht man fie rennen und jagen. 

Die Welt wird alt und wird wieder jung, 

Doch der Menſch hofft immer Verbeſſerung. 
Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein, 

Sie umflattert den fröhlichen Knaben, 

Den Jüngling lodet ihr Zauberſchein, 

Sie wird mit dem Greis nicht begraben; 

Denn bejchließt er im Grabe den müden Lauf, 
Nod am Grabe pflanzt er — die Hoffnung auf. 
Es iſt fein leerer, ſchmeichelnder Wahn, 

Erzeugt im Gehirne des Toren. 

Im Herzen fündet es laut fih an: 
Zu was Beilerm find wir geboren; 
Und was die innere Stimme fpricht, 
Das täujcht die hoffende Seele nicht. 


Fünfte Szene. 





Der Vorhang geht auf. Man ſieht von Lorbeerbäumen umgeben Schillers Büfte. 
Wänner, Frauen und Kinder ftehen in dichter Schar herum. Die Männer 
Halten Sorbeerzweige, die Frauen und Stinder Blumen. Kart an der vaſte jteht 
Helnrih, einen Sorbeerfrang in der Yand. 
Heinricd; (zur Bülte gewandt). 
Dem heitern Himmel enger Kunſt entjtiegen, 
Die Jüngerſchar begrüßejl du, 
Und aller Augen, alle Herzen fliegen, 
O Herrlicher, div zu! 
Frauen (fingen). Des Lenzes friihen Segen, 
DO Meifter bringen wir, 
Vetränte Kränge legen 
Wir fromm zu Füßen bir. 
Männer (fingen). Der in die deutfche Leier 
Mit Engeljtimmen fang, 


Stiller im Spiegel der Zeiten. 288 


Ein überirdiich Feuer 
In alle Seelen ſchwang; 
Der aus ber Muſe Blicken 
Selige Wahrheit Ins, 
In ew’gen Weltgeihiden 
Das eigne Weh vergaß; 
Frauen (fingen). Ad, der an Herz und Eitte 
Ein Sohn der Heimat war, 
Stelt fich in unfrer Mitte 
Ein Hoher Fremdling dar. 
Der Geſang bricht plöpfich ab.) 
Heinrid. Doch jtille! Horch! — Zu feierlichen Lauſchen 
Verftummt mit eins der Feiigelang: — — 
Wir hörten deines Adlerfittichs Raͤuſchen 
Und beines Bogens jiarten Klang! 
(Einen Yugenblic ift alles ſtil. Darauf nähert ſich deinrich der Büfte Schillers 
und jpricht: 
Selig, welchen die Götter, die gnädigen, vor ber Geburt ſchon 
Liebten, welden als Kind Venus im Arme gewiegt, 
Welchem Phöbus die Augen, die Lippen Hermes gelöfet, 
Und das Siegel der Macht Zeus auf die Stirne gebrüdt! 
(Wei den lehten Worten befrängt Heinrich die Vüſte. Im felben Augenblic— 
werfen alle ihre Zweige und Blumen vor die Vüfte Lautes Hufen erfhaltt.) 
Alle. Heil! Heil! Schillers Andenfen! Heil! Heil! 
(&regorto und Anfefimo find aufgeitanden; Gregorio, ſichtlich gerührt, Hat Anfelmo 
die Hand gebrüdt, fie haben ſich der Büite genähert. Wenn ale ſich berupigt 
Haben, ruft Öregorio laut :) 
Gregorio. Er lebt fort, ungeritört — 
Anfelmo. Unvergefjen! 

(Wäbrend der Iepten Worte ift die Zeit, aus dem Hintergrunde tommenb, durch 
die Menge geſchrinen. Sie ſiellt ſich ganz vorn hin, neben die Büſte gegenüber 
Yeinric, und fprigt die Syptnworte, zum Publifum gerichtet:) 

Die Zeit. &o bleibt er uns, der vor fo vielen Jahren — 
Schon hundert find’s! — von uns ſich weggekehrt! 
Wir haben alle fegenreih erfahren, 
Die Welt verdankt’ ihm, was er jie gelehrt; 
Schon lüngit verbreitet ſich's in ganze Scharen, 
Das Eigenfte, was ihm allein gehört. 
Er glängt uns vor, wie ein Komet entſchwindend, 
Unendlich Licht mit feinem Licht verbindend. 
(Wärend der Vorhang füllt, feyt das Orcheſter prachtvoll ein.) 












— —, 


die Kun als Guangelium bei Sthiller. 


Ein Efiay 
von 
Dberfehrer cand. theol. E. Kröger. 





— 
Motto: Ernſt ift das Leben, 
heiter inn die Runit. 
5 hoher ſittlicher Ernſt und reinſte Freude einander nicht 
ausichließen, zeigt uns ein Blick auf die Religion. Hier 
tritt uns, wie ein Regenbogen auf dunkeln Wolfen, dus 
Evangelium als eine beglücende Macht entgegen, als die „frohe 
Boiſchaft· von bem Andruch eines neuen Tages nach langer Nadıt. 
Wie aber einem Paulus und Luther, fo iſt es allen großen 
Befreiern — auch Schiller — heiliger Ernft damit gewefen, ben 
Menſchen zum wahren Glück zu verhelfen. Da nun Glüd ohne 
Freiheit nicht recht denkbar ift, fo ſieht bei Paulus, Luther, Schiller 
auch die Idee der Freiheit im Mittelpunkte ihrer Lebensanſchauung, 
und wie bei Luther von der „Freiheit eines Chriſten— 
menſchen“, fo barf bei Schiller, wie wir fehen werden, von der 
Freiheit eines Mufenjüngers geredet werben. Denn 
es wäre eine äußerſt einfeitige Veurteilung, wollten wir ben 
Begriff der Freiheit bei Schiller vorzugsweife politifch faflen, wozu 
uns der Don Carlos mit ber Gejtalt eines Marquis Poſa ober 
Wilhelm Tell ein Recht zu geben ſchiene. Wie Luther ijt Schiller 
vielmehr tief davon durchdrungen, daß Glück und Freiheit etwas 
rein Innerlicyes bedeuten: 
Es iſt nicht draußen, dort ſucht es der Zor, 
Es ift in dir, du bringft e$ ewig hervor. 
„Der Glüdfeligfeitstrieb ift ber Trieb der Triebe“, jagt 
Feuerbah, und Schopenhauer meint offenbar dasſelbe, wenn er 





Die Kunſt als Evangelium bei Schiller. 285 


von dem „Willen zum Leben” ſpricht. Diefem Triebe nad) Glück 
und Leben entſprechend fehen wir den Menſchen wie jedes andre 
Lebeweſen die Freude dem Schmerz, die Luft ber Unluſt, bie 
Freiheit der Gebundenheit, die Heiterkeit dem Ernſt, kurz — das 
Glück dem Unglüd vorziehen. Was ift nun aber Glück? Offenbar 
in erſter Linie Freigeit, Unabhängigfeit von Zwang und Bebürfnis 
finnlicher und geiftiger Art, aljo Wunjclofigkeit, ein Zuftand, in 
bem wir weber förperlid) noch geiltig zu etwas genötigt werben 
und doch auf beide Arten tätig find, um uns als volle, ganze 
Menſchen zu fühlen. 

Diefem Glüdstrieb fommt das wirkliche Menſchenleben nur 

unvollfonmen entgegen. 
Des Lebens ungemiſchte Freude 
Ward feinem Jrdifchen zu teil. 

Dazu ift es mit feinen ſchwierigen Aufgaben und unberedienbaren 
Wechſelſällen zu ernft. Den Einzelzweden des Dafeins entſprechen 
auch nur Eingelfräfte im Menſchen, die, einfeitig angeipannt, andre 
Kräfte ungenugt, brad) liegen und verfümmern laſſen. Dieſe 
Einfeitigfeit wird vom Menden als Drud und Einengung 
empfunden, die ihn düſter jtimmt und fein rechtes Olücksgefühl 
auffommen läßt. 

Machtig, felbit wenn eure Sehnen rubten, 

Neiht das Leben euch in feine Fluten, 

Euqh die Zeit in ihren Wirbeltang. 
Dazu fommt die Abhängigkeit des Menſchen von Schidjal und 
Natur; auch die luft zwifhen Neigung und Pflicht ſcheint oft 
unüberbrüdbar : 

Kein Erſchaffner hat das Ziel erflogen; 

Über diefen grauenvolen Schlund 

Trägt fein Rachen, keiner Brüde Bogen, 

Und fein Anfer findet Grund. 

Es iſt aber oft nicht etwa ein Mangel an Erkenntnis, was 
den Menſchen hindert, feine ſittliche Veltimmung zu erreigen, — 
denn „es iſt div geſagt, Menſch, was gut iſt“, — fondern vor 
allem eine Verfehrung des Willens, wodurd die Kraft zum Guten 
gelähmt und ber Weg zum wahren Glück verfperrt ſcheint. Der 
Menich fühlt ſich ohnmächtig, als ein Sklave und Nnecht feiner 
Triebe, wie joll er frei werden? Iſt der Zwiejpalt ein fo tiefer, 
dann reicht Die bloße Kenntnis des Geſetzes nicht mehr aus; unfre 


26 Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 


Gefinnung wird bamit nod) nicht umgewandelt. Dazu bedarf es 
einer Erneuerung unfres Wejens, ber Kern unhrer Perfönlichkeit, 
Herz und Gemüt, muß für das Gute gewonnen werben. Dem 
bloß gebietenben ftarren Geſetz als foldem wohnt aber feine 
gewinnende, erwärmenbe Kraft inne. Unſer Herz bleibt verſchloſſen 
und falt. Perſönliches Leben ann ſich auch nur an perfönlichem 
Leben entzünden, und das gejchieht durch das Evangelium. Damit 
betreten wir ben Boben ber Religion. 

Somohl bei Paulus wie bei Luther bedeutet das Evangelium 
mehr, als der unmittelbare Wortfinn „frohe Botſchaft“ zu beſagen 
ſcheint: es ift micht bloß die Verfündigung eines neuen Lebens, 
jondern dieſes neue Leben ſelbſt, das Hereinbrechen einer andern 
Welt mit Beweiſen des Geiltes und der Kraft, die den Menſchen 
zu ſich emporhebt, beglücdt und dadurch frei macht. Dieſe Freiheit 
des Evangeliums erideint aber als Aufhebung bes Gefeges durch 
Verwandlung feines Inhalts in Geiſt und Leben, d. d. in per 
föntiche Araft, wie fie in Chriftus ſich offenbart. 

Das Gefep vermag das mwiderjtrebende Menſchenherz von ſich 
aus nicht zu gewinnen. Won Dojes bis Kant hat bie Ner- 
fünbigung des Gefepes mit feinem ſiarren „du ſollſe!“ mohl Un- 
ruhe, aber feinen Scelenfrieden gebracht. 

Bwiſchen Sinnengläd und Seelenfrieden 

Vleibt dem Wenſchen nur die bange Wahl, 
heißt es zu allen Zeiten für den unter dem Gejeg Stehenben. 
Er empfindet dieſes als eine jtrenge Feſſel, wo nicht als eine 
richtende Macıt. Denn das Gejep forbert ja nicht bloß Leiftungen 
und Werke, fondern Gefinnungen, wie fie dem gewöhnlichen 
Menſchen durdaus fern liegen. Auch berghoch aufeinanbergehäufte 
Leiftungen machen noch feinen guten Menſchen. „Und wenn ic 
alle meine Habe den Armen gäbe — und hätte der Liebe nicht, 
fo wäre id nichts“. So durdhaut ein Luther, wie einjt vor 
ihm ein Paulus, den ımlösbaren Knoten der Gejepesreligion, 
indem er den Sag umfehrt und jagt: der Menſch braude feine 
Werte, um felig zu werben, er müſſe vielmehr erjt jelig fein, 
damit die Werle aus ihm Hervorgingen, wie gute Früd)te aus 
einem guten Yaum. 

Was hindert den Menſchen mum mehr oder weniger zu 
allen Zeiten, dem von Vernunft und Gewiſſen vieleicht jelbft 


Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 387 


gebilligten Gejege Folge zu feiften? Wohl der dem Menichen mit 
jedem Lebewefen gemeinjame „Wille zum Leben“ und ber damit 
verbundene Durit nad) Glück, den wir oben mit Feuerbach den 
Trieb der Triebe nannten. Wäre die Sinuenwelt die einzige, jo 
bliebe dem Denfchen faum etwas übrig, als dieſer alle jeine 
Affekte zur Verfügung zu ftellen und mit Fauft zu rufen: 

Aus diefer Erde quillen meine Freuden 

Und diefe Sonne ſcheinet meinen Leiden! 

Um nun bie Allgewalt der natürlichen Lebenstriebe mit den 
ausjchließlic, auf die Sinnenwelt gerichteten Affekten zu brechen, 
beißt es noch jtärfere und nachhaltiger wirfende Affefte ins Feld 
zu führen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Dieſes geichieht burd das 
Evangelium, durch die Eröfinung einer anderen Welt, durch das 
Aufjleigen einer neuen Mirklichleit perjönlicen Lebens aus unge: 
ahnien Lebenstiefen. Die Sinnenwelt mit den dazugehörigen 
Affeften verichwindet feineswegs vor jener, aber fie tritt in deren 
Dienſt und liefert bloß Farben und Vilder zu Stimmungen, vie 
auf die neue Welt bezogen, ſich ihrerfeits zu Oefinnungen erweitern 
und vertiefen. Dieſe Haben ihr eigentliches Heim in jenen Seelen: 
tiefen, die wir als den Eiß der innigiten, allem ſinnlichen Jutereſſe 
entHobenen Affekte: Glaube, Liebe, Hoffnung, mit dem Ausdrucd 
Gemüt bezeichnen. Dieſes bedeutet den Kern des perfönlichen 
Lebens und den einzigen Durchbruchspunkt für jene neu auf 
Hteigende Welt, die das Evangelium verfündigt: „Made dich auf, 
werde Licht! Denn bein Licht fommt und die Herrlichkeit des 
Herrn geht auf über dir!" Dieſes Licht, von den tiefjten Geiſtern 
der Vorzeit bereits geahnt und aus der Ferne geſchaut, offenbart 
ſich erſt in voller Klarheit in der Eriheinung Chriſti, die unter 
der Anechtichaft des Gejeges finfter und kalt gebliebenen Herzen 
erleuchtend und erwärmend, wie die Sonne die fie umfreifenden, 
an ſich lichtlofen Himmeloförper. Und bei Paulus heißt es im 
2. Korintherbrief: „Der Gott, welder ſprach: Aus der Finfternis 
ſoll leuchten das Licht! iſt es, der e6 in unjern Herzen tagen lieh 
zum strahlenden Aufgang der Erfenntnis von der Herrlichkeit 
Gottes im Antlige Chriſti.“ „Wir alle aber, die wir uns von 
der Herrlichteit des Herrn bejpiegeln laſſen, werden in dasſelbige 
Bild verwandelt von einer Marheit zur andern, als von bem 
Herrn bes Geiftes aus.” „Der Herr ijt der Geilt, und wo Geiſt 


288 Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 


des Herrn iſt, da ift Freiheit!" Es iſt, als wenn der Apoftel 
erit dem Bilde Chrifti in Wahrheit bie Wirkung zugefteht, welche 
die Hellenen von bem berühmten Zeusbild des Phidias zu Olympia 
ausfagten:: es vereinige in feinem Ausdruc bie höchfte Macht mit 
der hödjften Güte, und niemand fönne mehr unglüdlid werben, 
ber biefes Bild geihaut. Im edit helleniſcher Meile faßt hier 
Paulus das Schauen als ein Beipiegeltwerden, ein myſtiſches Eins- 
werben des Schauenden mit dem Geſchauten. 

Damit hat der unftillbare Trieb des Menjchen nad) Glück 
und Leben einen überſchwänglichen Inhalt gewonnen, in einer 
allem finnliden Sein enthobenen Welt des Gemüts, in einem 
Neid) Gottes, einem Wandel im Geift. Die Unruhe der an die 
Sinnenwelt gebannten animalifchen Affefte ift aufgehoben in den 
Frieden, höher als alle Vernunft; das felbftiihe Olicsverlangen 
iſt verſchlungen von jener Seligteit, bie ben Sieg in allen Kämpfen 
behalten muß. Erweiſt ſich jo das Evangelium als eine beglüdende, 
ja befeligende Macht, jo iſt der tote Buchftabe zu Tebendigem 
Geift geworben. Der im Gejep bloß verfündete Wille, das 
„Wort“, ift Fleiſch, d. h. perſönliches Leben geworben in CHriftus, 
dem „Erſtgeborenen unter vielen Brüdern.“ In feinem Herzen 
iſt das Geſetz zuerft aufgehoben, und zwar in doppeltem Sinne, 
d. h. einerfeits als toter Buchſtabe vernichtet, anderfeits feinem 
Inhalte nad) erhalten und bewahrt als Iebenipendende Macht. 
Söttlicher und menschlicher Wille find in Chriftus eins geworben, 
wie jeine Jünger eins werben follen mit ihm durch Glaube, Liebe, 
Hoffnung, indem fie fein Bild in ihr Herz aufnehmen oder, wie 
Paulus fagt, ih von jeinem Bilde bejpiegeln laffen, um in das- 
felbe Bild verwandelt zu werden von einer Klarheit zur andern. 
Dadurd werden fie ans Knechten Freie: das Gefeg wird ver- 
ſchlungen vom Evangelium. Deun das Evangelium ift ja nichts 
anders als das in der Perfon Chriſti erfüllte, d. h. Geift und 
Leben gewordene Gefeg der Freiheit. Der freie Wille aber giebt 
ſich ſelbſt das Geſetz. 

Um nun jene im Evangelium ſich erſchließende neue Melt 
dem Menſchen jeeliich nahe zu bringen, fein ganzes MWejen davon 
gu erfüllen, bedarf es intuitiver Änſchauumgen, wefenerhöhender 
Stimmungen; die ja mehr als alle bloßen Begriffe auch gelinnungs 
verebeind zu wirken vermögen. Dieje Stimmungen jdafft jene 


Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 2 


Religion und Kunſt gemeinjame Geelenfraft, die wir Phantafie 
nennen. In ben Propheten und Palmen, in den Neben Chriſti 
wie bei Baulus wallet eine machtvolle, weltumfpannende Phantafie, 
melde in den ſtimmungsvollſten Bildern jene unfichtbare Welt 
wie in einem Spiegel erſchauen läßt. Das fein Auge gefchaut, 
das ewige Licht, im farbigen Abglanz zu veranfchauliden, haben 
zu allen Zeiten Dialer und Dichter — was fein Ohr gehört, Ton: 
fünftler zu erahnen gewetteifert. 

Sind wir nun aber berechtigt, von einem „Evangelium“ 
auch dort zu reden, wo es fid, wie in dem meiten Reiche ber 
Kunft, keineswegs nur um die phantafievolle Gejtaltung rein 
religiöfer Ideen und Stimmungen handelt? Vielleicht doch. 

Der Kunft die ihr gebührende Stellung als einer felbitänbigen 
Lebensmacht für die Folgezeit erobert zu haben — in Kunſtwerk 
und Aunitlchre — iſt in erfter Linie das Verdienſt unferer Klaſſiker, 
insbefondere Schillers, fo dah feine eignen Worte für ihn felbft 
mie für Goethe gelten: „Die Gipfel der Menſchheit werden 
glänzen, wenn noch feuchte Nacht in den Tälern liegt.” 

Danad) hat die Kunſt nicht die Aufgabe, „die Menſchen zu 
befjern und zu befehren“ ; auch läßt fie uns nicht „erkennen, was 
die Welt im Inneriten zufammenhält.” Ihr Zweck liegt vielmehr 
in ihr felber: die Menſchen zu beglüden und badurd) frei zu machen. 

Wenn Goethe jagt: Alles, was unjern Geift befreit, ohne 
uns die Herrſchaft über uns felbit zu geben, fei vom Übel — fo 
kann man ebenjo gut jagen: Alles, was unfern Geiſt befreit, ohne 
uns bie Herrihaft über uns felbft zu rauben, iſt ein hohes Gut, ein 
Glüd, ein Evangelium. Sollte ſich die Kunſt auch wie die Religion 
als eine beglüdende und befreiende Macht erweijen durch Eröffnung 
einer andern Welt, fo wäre der Ausdrud „Evangelium wohl 
nicht zu hoch gegriffen, obwohl cs in der Kunſt nicht wie in ber 
Religion unmittelbar auf eine Veredlung der Gefinnung, eine 
Länterung des Willens, fondern bloß auf Beglückung abgejehen it. 
So nennt Sdiller jelbft das Schöne und die Kunſt einen Gegen: 
ftand, „der mit dem beiten Teil unfrer Glüdjeligfeit in einer uns 
mittelbaren und mit dem moralischen Adel der menjchlichen Natur 
in feiner jehr entfernten Verbindung itcht." Das foll 
beißen: Trachtet vor allem nad) der wahren Schönheit, jo wird 
euch auch anderes von ſelbſt zufallen ! 


20 Die Aunſt als Evangelium bei Schiller. 


Die Kunft ein Evangelium zu nennen, berechtigt uns folgen- 
der Ausſpruch Goethes: „Die wahre Diihtung (Kunſt!) fündet fih 
dadurch an, daß fie als ein wellliches Evangelium burch innere 
Heiterkeit, durch äuferes Behagen und von ben irdiſchen Laften zu 
befreien weiß, die auf uns ruhen; daf fie uns in höhere Regionen 
erhebt und die Irrgänge des Lebens zurücläht”. Freude und 
Freipeit find hier für Goethe die echten Gaben der Dichtung, wor 
für wir ohne weiteres aud) „Runft” jegen dürfen. Damit ftimmen 
folgende Worte Schillers fachlich im Weſentlichen überein, obwohl 
er das Wort „Evangelium“ nicht direlt nennt: „Alle Kunſt ift 
ber Freude gewidmet, und es giebt feine höhere und feine ernli- 
Haftere Aufgabe, als die Menſchen zu beglüden. Die rechte Kunſt 
iſt nur diefe, welche den höchſten Genuß verſchafft. Der höchſte 
Genuß aber ift die Freiheit des Gemüts (der Seele!) in dem 
lebendigen Spiel aller feiner Kräfte.” Alſo fein Zweifel: bie 
Kunft ift ſowohl für Goethe als auch für Schiller eine beglücende 
und befreiende Macht, ein Evangelium, und dieſes damit ein 
Grumdbegriff der ganzen Äſthetit Schillers. Und zwar jteht aud) 
bier die Idee ber Freiheit im Mittelpunkt des Ganzen, wie bei 
Paulus und Luther. Der wahren Kunſt ift es „Ernſt damit, ben 
Menjcen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Frei: 
heit zu verfegen, jondern ihn wirklich und in der Tat frei zu 
machen.“ Ob in ähnlider ober aber in ganz anderer Weile, wie 
die Neligion, foll die weitere Unterfudung ergeben. 

Auch Schiller fragt fich: wodurd) wird unjere Freiheit inner: 
halb ber gegebenen Wirklichkeit auf Schritt und Tritt bedroht? 
Wodurch anders, als daß unſere Wünſche und Neigungen ent- 
weder auf etwas für uns Unerreichbares gerichtet find, oder aber 
mit unfern Pflichten in Widerftreit geraten Daher flagen wir 
mit Fauft: „Entbehren jollit du, ſoüſt entbehren!” Es find bie 
zwei Seelen in unjerer Bruft, „die eine will fi von der andern 
trennen!” Wie ift dieſer Zwieſpalt zu befeitigen? Im inne 
Schillers zunädjit dadurch, dah in der Seele des Menſchen „eine 
Kraft erwedt, geübt und ausgebildet” wird, die ihn befähigt bie 
„sinnliche Welt, die ſonſt nur als ein roher Stoff auf uns iaſiet, 
als eine blinde Macht auf uno drüdt, in eine objeftive Ferne zu 
rüden, in ein freies Werk unferes Geiftes zu verwandeln“. Ins 
dem fo die ganze ſinnliche Eriheinungswelt mit ihrer mafliven 


Die Aunft als Goangeltum bei Schiller. 201 


Greifbarfeit in bloßen Schein, in ein bloßes Bild verwandelt 
wird, foll zugleich damit allem ftofflichen Begehren der Boden ent- 
zogen werben. Diefes geſchieht tatſächlich allemal dort, mo bie 
künſtleriſche Phantafie tätig iſt, fei es nun in ber wirklichen ober 
in einer bloß vorgefiellten Welt. Denn die Phantaſie befigt die 
Fähigkeit das Sinnliche, Körperliche zu befeelen, und wieberum 
das Eeelijche, Geiftige zu verfinnliden und zu verförpern. Damit 
teiht fie dem Toten Leben, dem Unbewegten Bewegung, dem Ger 
bunbenen, Gedrüdten Freiheit. „Freiheit in ber Erfgeinung“ ift 
denn auch für Schiller das Kennzeichen aller Schönheit und Kunſt. 
Danach iſt das Kunſtwerk lebende Geftalt oder gejtaltetes Leben, 
mobei von der ftofflichen Exiſtenz irgend welcher Art volljtändig 
abgefehen wird. Schon Kant definiert als ſchön alles dus, was 
durch feine bloße Form gefält, d. h. als reiner Schein auf 
uns wirft. 

Wenn wir uns z. B. an einem Flammenbilde weiden, fo 
kommt bie Frage nad dem Etoffe, der da brennt, für ben 
feſſelnden Eindrud bes Schaufpiels als ſolchen garnicht in betracht. 
Wie etwa beim Sonnenuntergang oder einem Norblicht handelt es 
fih um etwas in feinem Cinne bes Wortes Greifbares. Ebenjo 
ift jedes Kunftwert etwa einem Negenbogen, einer Yata Morgana 
ober einer Vifion, einem Traumbild vergleichbar. 

Einige Beifpieie mögen noch die Eigenart der Fünftlerifchen 
Phantafie veranſchaulichen, deren Wefen das deutſche Wort Ein- 
bilbungstraft am befien dartut. Denn jede Kunſt mutet ung zu, 
uns etwas einzubilben, d. h. fo zu machen, als ob. ....... 
In ber Arditeftur bilden wir und ein, die Säulen hielten 
freiwillig das Dad), die Pfeiler ftrebten mwirflid empor u. a. 
In der PBlaftit ſchauen wir den Marmor an, als ob er lebte; in 
der Malerei die Fläche, als wäre fie peripeftiviih. In der Dich— 
tung bilden wir uns oft ein, bie Scheidewand zwilhen Natur 
und Geijt fei nicht mehr vorhanden, ſodaß wir jene gleichſam 
in Mitleidenicaft ziehen mit unferen menfchlichen Affeften. Im 
Drama ſehen wir die einzelnen Rünfte zu reicher Geſamtwirkung 
vereinigt. Die Kuliſſen erfdeinen uns als maſſive Bauten, mögen 
fie aud) noch fo jehr zittern. Herrn fo und jo jtellen wir ung 
ats Wallenftein, Frl. jo und fo als Maria Stuart vor uw. 
Die dargeftellten Erlebniife empfinden wir mit wie wirkliche, ob: 


22 Die Kunft als Evangelium bei Schilern 


wohl alles nur „geipielt” und im Bilde erfdeint. In der Mufit 
tritt dasfelbe ein, nur daß wir ftatt zu ſchauen zu hören glauben. 
Die einzelnen Töne als folde hört der Unmufifalifche ebenfo wie 
ber Mufifaliice. Aber nur diefer verbindet das Einzelne zu einem 
Ganzen umd leiht den Tönen eine Seele, daf fie zu jauchzen und 
zu Hagen Sheinen, was fie an ſich doc) nicht tun. 

Indem die künſtleriſche Einbiloungstraft uns befähigt, eimas 
als reine Form d. h. ohne Nüdjicht auf feine Erijtenz auf uns 
wirfen zu laffen, erregt fie in uns, nad) dem Worte Kants, ein 
unintereffiertes Wohlgefallen. Natürlich foll uns das Kunſigebilde 
„intereifieren“, aber wir follen dabei nicht „intereffiert“ fein. 
Diefes find wir immer dort, wo wir irgend etwas um feiner 
Eriftenz willen wünfchen oder begehren. Die künſtleriſche Phantafie 
aber entrüdt uns, wie Schiller jagt, in jene „heitern Regionen, 
mo die reinen Formen wohnen“, wo alle Affefte zwar im reger 
Tätigkeit fein fönnen, jedoch ohne etwas wirklich zu wünſchen 
ober zu begehren, weder etwas Sinnlihes noch etwas Siltliches. 
In der Kunjt verhalten wir uns nur ſchauend, 

Mic man die Sterne ficht, wie man den Mond ſich befchaut, 
Sich an ihnen erfreut und innen im ruhigen Vuſen 
Nicht der entferntefte Wunſch ſie zu befigen ſich zent. Goelhe). 

Ein deutlicher Beweis, wie fehr das Künſtleriſche bloß im ber 
Form Liegt, iſt die ſchrankenloſe Bewunderung der poeliſchen 
Scjönheiten der Bibel aud) von ſolchen, für bie der Inhalt mit 
feinem ganzen religiöfen Pintergrunde kaum vorhanden. Ich 
erinnere nur an Heinrich Heine. 

In wiefern erweift ſich num aber die Kunft als ein Evan- 
gelium in einer ber Neligion aud nur ähnlichen MWeife? Mir 
fönnen antworten: durch Aufhebung des Gefeges, d. h. durch 
Freiheit, wobei wir allerdings im Auge behallen müſſen, daß dieſe 
in ganz anderer Weife zuftande fommt, als in der Neligion. 
Hier war der Juhalt des Geſetzes durch die Kraft des Evangeliums 
zum Gegenftand einer „freien Neigung” geworben, die aus nicht 
Willigen Willige madt; damit war das Gele felbjt ala toter 
Yuchftabe aufgehoben. So fagt aud) Schiller: „Hält man ſich 
an den eigentlichen Charakter des Chriftentums, fo liegt er in 
nichts anderem als in der Aufhebung des Geſetzes, des Kantſchen 
Imperativs (du ſollſt), an deifen Stelle das Chriftentum eine 


Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 293 


freie Neigung gelegt haben will." In der Runft ift bas 
Geſetz auch aufgehoben, nur in anderer Weile, und zwar 
dadurd, daß alle wirklichen Objekte, ſowohl finnlicher als geiftiger 
Art, als Stoff in Fortfall geraten. Denn wo es feine Welt mehr 
gibt, auf bie wir ſchädigend oder förbernd eimvirfen können, ift 
auch nicht mehr von Übertretung die Rede; wo aber feine Über: 
fretung möglid), ba ift aud) fein Gefeh. Diefes ift alfo mit bem 
Stoff zugleich aufgehoben. 

Aufgelöft in zarter Wedhfelliche, 

Im der Anmut freiem Bund vereint, 

Rufen hier die ausgeföhnten Triebe 

Und verfchwunden ift der Feind. 

Nicht im Xeben, wohl aber in der Kunſt find wir daher be 
rechtigl von einem „Jenſeits von Gut und Böſe“ zu reden, fofern 
beides nicht inhaltlich, ſiofflich, fondern mur als Form, d. h. als 
Schein in Frage fommt. 

Im Reiche des Schönen verhalten wir uns alfo weder bes 
gehrend noch wollend, fondern nur ſchauend und ſchaffend. Lepteres, 
jofern wir vermittelt unfrer Phantafie die vom Künftler ins Leben 
gerufene formwollendete Gejtaktenwelt unfrerjeits nachſchaffen. Denn 
wir empfangen dabei fo, wie wir felbit hervorgebradjt hätten, 
während der Künftler fo Hervorbringt, wie unfer Sinn zu empfangen 
trachtet (Schiller). Diefes Nachſchaffen geſchieht dadurch, daß 
wir mit dem Künſtler den Stoff überall nur ſoweit gelten laſſen, 
als er bereits reine Form geworden, d. h. als ſchönen Schein, 
unabhängig von ſeiner mehr oder weniger ſinnlich ober geiftig 
greifbaren Eriftenz. Damit derſchwindel der Stoff allerdings nicht 
tatſächlich, aber er ſcheint in feiner Erdenſchwere aufgehoben 
und iſt dadurd) in einer Welt, wo der Schein alles bedeutet, 
auch tatjählih aufgehoben. Diefe Aufhebung des Stoffes durd) 
die Form veranſchaulicht Schillers anmutiges Gedicht „der Tanz”, 
mo es u. a. heißt: 

Sch ic, flüchtige Schatten, befreit von der Schwere des Leibes ? 

Schlingen im Mondlict dort Elfen den luftigen Reihn? 

Schönheit war ja nad) Schiller „Freiheit in ber Erſcheinung“. 
Indem nun bie Einbildungskraft dem an ſich Maſſiven, Schweren, 
Gebundenen Freiheit und Leichtigkeit leiht und damit den Stoff 
nicht nur formt, fondern zu einen lebenden Gebilde verwanbelt, 

Baltifhe Monatsrrift 1005, Heft & 4 


2 Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 


ift jener durch die „ſiegende Form” ſcheinbar vertilgt, d. h. jeber 
Selbftändigfeit beraubt. 

Aber dringt bis in der Schöneit Sphäre, 

Und im Staube bleibt die Schwere 

Mit dem Stoff, den ſie beherrſcht, zurüd. 

Nicht ber Moffe qualvoll abgerungen, 

Schlant und Teicht, mie aus dem Nichts entfprungen, 

Steht das Bild vor dem entzüdten Blic 

Aue Zweifel, alle Kämpfe ſchweigen 

In des Sieges hoher Sicherheit; 

Ausgeitoßen hat es jeden Zeugen 

Menichticher Bebürftigkeit. 

Indem die Phantafie das Körperliche befeelt oder das 
Seelifche verkörpert, verfegt fie Sinne und Geiit zugleih in Wirk: 
ſamkeit und erzeugt dadurch jene harmonifhe Stimmung, die wir 
als Freiheit empfinden. 

Beim Genuß des Schönen verhalten wir uns zwar ſchaffend, 
doch zugleich auch betrachtend: beibes fällt Hier zulammen. Denn 
indem mir nachjichaffen, ſchauen wir und freuen uns am Spiel 
unfrer Einbildungskraft, jo daß alle Stimmungen und Affefte, welche 
wir felbft unfern Geftalten geliehen, auf uns wieder zurücwirfen 
und babei jenes an fi) fo zwedloje und dod) jo wohltnende Ab⸗ 
und Aufwallen der Gefühle, jenes Gleichgewicht der Stimmung 
erzeugen, die jebem Spiel eigentümlich it. Wir weiden uns 
mit ganzer Seele an einem Reich der Schatten und Träume, das 
mir unter Leitung bes ſchaffenden Künftlers felbft hervorgezaubert 
haben. Denn 

Der allein befigt die Mufen, 
Der fie trägt im warmen Bulen; 
Dem Vandalen find fie Stein. 

Damit geniefen wir in vollen Zügen jene Freiheit, von der 
Schiller jagt, fie wohne nur im Neiche der Träume. 

Wenn Schiller die in der Kunſt herrſchende freie Stimmung 
eine fpielende nennt, fo muß man ſich vergegenwärligen, mas bas 
Spiel im gewöhnlichen Leben bedeutet. Allen Spielen, die dieſen 
Namen verbienen, ijt mit dem Kunſtgenuß ein unintereſſiertes 
Wohlgefallen an zwedlofer Rraftentfaltung gemeinfam, und wie 
das Kunſtwerk jo bejteht auch jedes Spiel bloß für die Phantafie, 
für die Einbildungstraft. Die meiften Spiele bedeuten Echein- 
fämpfe: man bildet ſich nämlich abfichtlich ein, es ſei wirllich etwas 


Die Aunft als Evangelium bei Schiller. 205 
daran gelegen, daß ber eine Teil den andern befiegt — etwa ben 
Ball weiter wirft, mit feinem Pferde fchneller rennt als der andere 
ufm. — um dann alle Kräfte auf dieſes bloß eingebilbete Ziel 
hin in Bewegung zu jegen. Den äußern Scheinkämpfen entipredhen 
bie innern ber Affefte und Gefühle, bie wir im Kunſtgenuß frei 
ſpielen laſſen, wobei oft bie Luftgefühle erfl durch Unluflgefühle 
hindurch die Oberhand gewinnen, d. h. ſich burchfämpfen müſſen. Den 
Scheinfämpfen im Tanz, im Drama und in ber Muſik entſpricht 
auf feiten des Zuſchauers ober Hörers bie ganze Stufenleiter ber 
Affelle, mit benen er jene Rampfbewegungen mitempfinben begleitet. 

Wenn die Kunft nad) Schiller die Aufgabe hat, der Menfch- 
heit ihren möglicjit volljiändigen Ausdruck zu verleihen, jo bedeutet 
das zugleich, da wir im Runftgenuß dazu berechtigt find, alles 
das nachzuerleben, was ein Fauft in titaniſchem Übermenſchentum 
im wirklichen Leben erftrebt, wenn er ausruft: 

Was der ganzen Menſchheit zugeteilt üft, 

WÜL ich mit meinem innern Selbſt genichen! 

Mit meinem Geift das Höchſte und Tieffte greifen, 
or Wohl und Weh auf meinen Vuſen häufen, 
Und jo mein Selbit zu ihrem Selbit erweitern. — 


Seit Ariftoteles fpricht man bekanntlich von einer Reinigung 
der Affefte im Drama. Es fheint aber, daf in jeber Kunſt übers 
Haupt von einer Neinigung ber Stimmungen und Gefühle gerebet 
werden fann, indem das Schöne „den Strom ber jtodenden 
Empfindung flutend nacht” (Geibel). 

Lieben, Hafjen, Fürchten, Zittern, 

Hoffen, Zagen bis ins Mart — 

Kann das Leben zwar verbittern, 

Aber ohne fie wär's Dunrf! 
ruft ber Dichter Lenz in der Sturm: und Drangperiode aus. Im 
wirklichen Leben jollen wir allerdings Haushalten mit allen Gefühlen 
und Leidenſchaften, weil fie uns leicht unfrei machen. In der 
KRunft hingegen können wir allen menſchlichen Etimmungen und 
Affekten freien Lauf laſſen, unbeichadet unjrer Freiheit, weil dieſe 
dann ja fein wirkliches Begehren, Wollen, Fürdten ꝛc. in ſich 
fchliegen, fondern als „Scheingefühle” bloß zum Spiel in Bewegung 
gelegt und damit auf eine Scheinwelt bezogen werden, bie wir 


felbft hervorbringen halfen. 
r 


296 Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 


Aber der, von Alippen eingefchloffen, 
Wild und ſchaumend fich ergoffen, 
Sanft und eben rinnt des Lebens Fluß 
Durch der Schönheit file Schattenlande. 

Wo die reinen Formen wohnen, da ift auch bie ganze 

Stimmung eine reine, weil völlig freie. 
Aber in den beiten Regionen, 
Wo bie reinen Formen wohnen, 
Rauſcht des Jammmers früher Sturm nicht mehr. . . . 
Lieblich, wie der Iris Farbenfener 
Auf der Donnerwolke duft'gem Tau 
Schimmert durch der Wehmut büfteen Schleier 
Hier der Ruhe heitres Blau. 

Durch die reine Form bes Kunſtwerks iſt die Seele ſelbſt 
reine Form geworben und hat teilgenomen an jenem Ideenreiche 
Platos, welches Schiller in feinem ſchon mehrfad angeführten 
Gedichte „das Ideal und das Leben” (früher „das Neich der 
Schatten”, „das Reich der Formen“ betitelt) poetiſch im Auge Hat, 
wenn er fagt: 

Aber frei von jeder Zeitgemalt, 

Die Geſpielin feliger Naturen, 

Wandelt oben in des Lichtes Fluren 

Gotilich unter Göttern die Geſtali. (d. h. die reine Form) 
Jugendlich von allen Erdenmalen 

Frei, in der Vollendung Strahlen 

Sahwebet hier der Menfchheit Götterbild, 

— — Wie fie ftand im himmlischen Gefild, 

Ehe noch zum traur'gen Sarlophage (dem Körper) 

Die Unfterblicpfeit herunterſtieg. 

Diefe reine Form foll der Menſch auch im wirklichen Leben 
zu wahren juden: 

Wollt ihr jhon auf Erden Göttern gleiden, 
Frei fein in des Todes Neichen, 

Brechet nicht von feines Gariens Frucht! 

An dem Scheine mag der Did ſich meiden. . . 





Doch betont Schiller: es erfordere noch einen ungleich höheren Grab 
der ſchönen Rultur, in dem Lebendigen (Wirklichen) felbit nur 
den ſchönen Scjein zu empfinden. 

Die bisher verfuchte Charakteriftit follte dartun, daß bei 
aller formalen Übereinftimmung, wie fie ſich in den Begriffen: 
Freude, Freiheit (Aufhebung des Gejeges!), Eröffnung einer andern 





Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 97 


Welt fundgibt, das religiöſe Evangelium eines Luther und das 
fünjtleriihe Schillers zwei ganz verſchiedene Welten bedeutet, bie 
ſich nicht einfach ineinander ſchieben oder für einander fegen laſſen. 
Schon desmegen nicht, weil die Welt der Religion eine im Glauben 
erfahbare wejenhafte Wirklichkeit (objektives Leben), die Kunjt da 
gegen nur eine von ber Phantaſie geihaffene Scheinwelt (jubjet- 
tives Leben) offenbart. Und wenn aud) die Neligion eine hadh- 
gradige Beteiligung der Phantafie nicht entbehren kanu, jo verhält 
ſich diefe, die doch in der Kunſt unumſchränkt herricht, hier mehr 
dienend. Die religiöfe Phantaſie ſchaffi ihre Bilder in eriter Linie 
zur Verdeutlichung und Veranihautichung überſinnlicher Wahız 
beiten, wobei der Gefidhtspunft der Schönheit zuüdtritt. 


In der Kunft iſt die Freude, die Beglückung mehr eine Ver 
ftinmtheit des ſittlich indifferenten Gefühls, ein blofes Gleichge⸗ 
wicht der Stimmung, ein „heiteres Vehagen“. In der Neligion 
dagegen vertieft ſich die Innerlichleit des Gefühls zur Jnnigfeit 
des Gemüts — Glaube, Liebe, Hoffnung! — die Stimmung 
zur Geſiunung, die bloße Betrachtung zum energiichen Wollen, 
das heitere Behagen zum Geelenfrieden, „höher als alle Vernuft“. 
Der Befreiung von der Alltagsprofa entipricht hier die Errettung 
des Selbit, ber Perfönlicleit, durch die Erlöfung von dem Übel, 
von Sünde, Schuld und Tod. Der Vegriff des unmittelbaren 
zeitlichen Glücks wandelt und vertieft jich zu dem des ewigen Heils, 
der Wonne und Seligfeit. 








Wenn Schiller jagt: „Ernit iſt das Leben, heiter iſt bie 
Kunſt“, jo steigert fich jener Ernſt in der Neligion um fo mehr, 
als es ſich dabei um ein wirkliches, nicht bloß geipieltes Leben mit 
Verücfichtigung aller wirklichen Leiden, Schmerzen und Kämpfe 
des Dafeins handelt. Denn obwohl das religiöje Evangelium als 
eine beglücende, ja befeligende Wucht empfunden wird, jo ijt die 
damit gewonnene Freiheit dod nur eine ſittliche, ohne Rückſicht 
auf ſinnliches Behagen, zumal in der Neligion auch Gejtalt und 
Schöne nur ſinnbildliche Bedeutung haben. Ich jagte „nur 
ſittliche“ mit Anſchluß an Schiller, wenn er ſchreibt: „Mit dem 
Angenehmen, mit dein Guten, mit den Vollfommenen (Nefigiöien) 
iſt es dem Menden nur ernſt; aber mit der Schönheit ſpielt 
er.“ Und weiter: „Der Wenſch ſoll mit der Schönheit nur 


298 Die Aunſt als Evangelium bei Schiller. 


ipielen, und er foll nur mit ber Schönheit ſpielen.“ Alſo 
nicht mit dem Sittlid.Religiöfen. 

Wir würden aber fehlgehen, wollten wir in den bisher 
ſtizzierten helleniſchen Stimmungen, für melde bie „reine Form“ 
das Enticheidenbe, den ganzen Schiller wiederfinden. Das Hellenen« 
tum Schillers wird vielmehr in deutlicher Weile von andersartigen, 
mehr ober weniger romantifchen Stimmungen durchkreuzt, bie wir 
mit Heinrich Heine „nazareniſche“ nennen fönnen, wohurd das 
„Evangelium“ des großen Kunſtapoſtels etwas Schwebendes erhält. 

In feiner Schrift über Börne äußert Heine, daß ſich bie 
Menſchen aller Zeitalter nad) ber Grundrichtung ihres Weſens in 
zwei Oruppen ſcheiden ließen: in fogenannte Nazarener und Hellenen. 
Zu den eriten rechnet Heine alle diejenigen, welchen eine mehr 
oder weniger weltflüchtige, finnenfeinbliche, tiefernite, „vergeiftigungs- 
füchtige" Betrachtungsweiſe eigen; zu ben Hellenen dagegen alle 
weltfreudigen, lebensheitern, „entfaltungöſtolzen“ Naturen. Damit 
treten die Bezeichnungen Nazarener und Hellenen weit über ben 
Rahmen hinaus, wie er geſchichtlich betrachtet die ſemitiſchchriſtliche 
Geiftesart einerfeits, das Griechentum andrerfeits umfaßt. Es 
handelt ſich vielmehr um immer wieberfchrende Geiftestypen gegen: 
fäglicher Art. So jehen wir auf helleniidem Boden einen Plato 
mit feiner grundfäglicen Nbwendung von ber ihm umgebenden 
Wirklichkeit und feinem Aufſchwung zu einer unſichtbaren Ideen— 
welt — nazareniiche Stimmungen nicht verleugnen. Dagegen ver: 
förpert Ariftoteles mit feinem ganz auf das Diesjeits gerichteten 
Foridjergeift das ipezifüich „Hellenijche” Naturell. 

Der mehr oder weniger weltflüchtige Ernft der nazareniihen 
Stimmung findet fi naturgemäß am meiften ausgeprägt bei den 
ın Gemittern, vor allen bei den führenden Geiſſern ber 

ion: fo bei den altteflamentlihen Propheten und Pfalmiiten, 
jo im chriſtlichen Zeitalter bei einem Paulus, Auguftin, Luther. 

Dagegen erſcheint die finnenfreubige, auf eine harmoniſche 
Geftaltung der gegebenen Welt gerichtete helleniſche Grundflimmung 
als die eigentlich künſileriſche. 

Dem Nazarener eriheint eine Welt des Geiftes, womöglich 
— wie bei Blato und allen Vertretern des Idealismus — ein 
Ideenreich als die mahre Heimat der Seele, der Leib dagegen mit 





Die Aunſt als Evangelium bei Schiller. 208 


jeiner Bannung an die Sinnenwelt ein Kerfer aus weldem jene 
Erföjung erjehnt. 

Diefe Zwiejpältigkeit it nun dem Hellenen von Haus aus 
fremd; ihn kennzeichnet vielmehr jene reine Einfalt, die ohne einen 
Bruch mit der gegebenen Natur, deren Kräften bie richtige Bahn 
weift, ſodaß es nicht mehr heißt Weltverneinung, jondern Welt: 
verflärung. Ach erinnere an Homer, Sophotles, Raphael, Diozart, 
Goethe. Bufammenfaffend können wir fagen: wo der Nazavener 
nad) Ideengehalt, ftrebt der Hellene nad) Form. 

Wenn ſich auch eine große Anzahl von Geftalten anführen 
täßt, in welchen ber eine oder andre diefer beiden Typen fid) mehr 
oder weniger rein ausprägt, wie etwa im Auguſtin oder Luther 
der Nazarener, in Mozart und Goethe der Hellene, jo dürfen wir 
doch nicht außer Acht laffen, daß es z. B. auf rein fünjtleriihem 
Gebiete Typen giebt, bei welchen trog alledem eine nazarenijche 
Grundſtimmuug mächtig durchbricht, wie etwa bei Äſchylus, Dante, 
Michel Angelo, Beethoven, Schiller — Heinerer Geiſter wie 
Kiopitod nicht zu gedenfen. Bei allen dieſen ift eine finnenfeind- 
liche Stellungnahme naturgemäß ausgeſchloſſen, ba fie ſonſt übers 
haupt feine Rünjtler wären; doch iit ihmen allen ein mächtiges 
ſittliches Pathos gemeinfam, das fi hier und da zur veligiöfer 
Höhe fteigert. Die Sinnenwelt mit ihrem ganzen Reichtum an 
Leben und Gejtaltungen fommt dabei weniger um ihrer ſelbſtwillen 
in betracht, als um deſſentwillen, was fie für bie Welt bes Geiftes 
bedeutet als Verförperung von Ideen. Die damit gegebene 
Stellung zur Natur ift e8 befanntlid, was den „naiven“, d. b. 
mitten in der Natur jtehenden Dichter und Künftler vom „jentir 
mentalen“, d. h. von Ideen auegehenden unterfcheidet, wie etwa 
Goethe von Schiller felbit, den Hellenen vom Nazarener. Schillers 
fo vielfach ausgejprodjene elegiſche Sehnſucht nad) einem ver— 
torenen Paradieſe, einer goldenen Zeit, feine für ein Neid) des 
Ideals unmittelbar werbende flammende Begeifterung — das alles 
atmet eine durchaus religiös gefärbte Stimmung, welde ben Dichter 
ſelbſt als einen Priefter und Propheten, ihn im ebeljten Sinne als 
einen Prediger am Gvangelium der Mahrheit und Schönheit er= 
ſcheinen läßt. Danach wäre Schiller ein Hellene mit nazareniſchen 
Stimmungen, wie etwa Klopſtock ein Nazarener mit hellenifchen. 
Es find zwei Seelen in Schillers Dichterbruſt, die ſich nicht jo 


300 Die Aunft als Evangelium bei Schiller. 


ohne weiteres ineinanderjchieben lafjen. Die eine Hält ſich — 
echt künſtleriſch — „an die Welt mit Mammernden Organen“ und 
findet in der fittlid gleichgiltigen, rein äjthetiihen Stimmung der 
ewig heitern olympifchen Götterwelt das Ideal des Glüds ver- 
förpert. Die andere Seele hebt ſich gewaltfam „zu den Gefilden 
Hoher Ahnen“, zu ben tiefernften fütlic-religiöfen Stimmungen der 
großen Nazarener, für welde das berühmte Wort eines der größten 
von ihnen gilt: „Unſer Herz ift unruhig, bis es Ruhe findet in 
„Dir“. Dies findet ſich vieleicht am deutlichſten ausgeprägt in 
Schillers vollendetftem und tieffinnigitem Gedicht „Das Ideal und 
das Leben“, wo das Jdeal bald als die reine Form der Antike, 
bald — wenn auch künſtleriſch vermittelt — als ein Reich ſittlich 
religiöjer Ideen erſcheint. Damit eröffnet uns ber Dichter einen 
Ausblid in zwei Welten: in eine äſthetiſch- unperſönliche und eine 
ſitilich perſonale, die fid) beide wohl nebeneinanderftellen, aber 
ſchwerlich organic; verbinden laſſen, bie Ideenwelt Platos einer- 
jeils, die Kants andrerſeits. Die erfte eutjpricht der küuſtleriſchen 
Grundanſchauung der Griechen, die zweite ber fittlic-religiöfen bes 
hriftentums. Im der einen tut ſich vor uns die ganze Schein: 
welt bes Olymps auf mit ihrer heitren Schöne, in der andern 
glauben wir wie aus bämmernder Ferne den Mann zu ſchauen, 
der auf dem Berge jaß und das Volk lehrte. Es ill der Gegen: 
fa einer verjunfenen, nur noch poeliſch lebendigen und einer neu: 
auffteigenden wejenhaften Welt. Denn in der Zertrümmerung der 
bloß äfthetifchen Jdeenwelt Platos und dem Aufbau einer neuen 
ittlid-perfonalen liegt ja gerade die weltgeſchichtliche Größe Kanıs 
des Philoſophen, beiien begeifterter Jünger Schiller war. 

Jener zwiefache Ausblick fenngeichnet am eheften die Doppel- 
natur Schillers und bedingt feine Vlittelitellung zwiſchen äſthetiſcher 
uad jittliher Freiheit, zwiſchen künſtleriſchem und religiöjem „Evan- 
gelium”. Er ift eben im einer Perſon Künftler und Prophet, 
Hellene und Nozarener, dazu einer der größten Denker, fo daß 
eines dem andern oft den Rang jtreitig macht. Daher der nicht 
felten unruhige Wechſel zwiſchen dem Rhetoriſchen des prophetiſchen 
„Sängers“ und dem Echtpoetiſchen des helleniſchen Künſtlers, den 
Schiller bekanntlich am glänzendſten in Goethe verkörpert ſah. 
So hören wir oft bei Schiller den erhabenen Ernſt des Lebens in 
das heitere Spiel der Dichtung hineinflingen: 





Die Kunſt als Evangelium bei Schiller. 301 


Wie wenn auf einmal in bie Kreiſe 
Der Freude mit Gigantenfcheitt, 
Geheimnisvoll, nach Geiſterweiſe 

Ein ungebeures Schiedfal titt; 

Da beugt ſich jede Erdengröhe 

Dem Fremdling aus der andern Welt, 
Des Jubels nichtiges Getöfe 
Lerftummt, und jede Laroe fällt. 

Sein Schaffen wird zugleich beherrſcht von dem Ernſt des 
Gewiſſens wie von bem Spiel der Phantafie: 

Wie mit dem Stab des Götterboten 
Veherrſcht er das bewegte Ders; 

Er taucht es in das Neid, der Toten, 

Er hebt es ſiaunend himmelwäris 

Und wiegt es zwiſchen Ernit und Spiele 
Auf ſchwanker Leiter der Gefühle. 

Wie der Ideenwelt Kants, fo fehlt aud) der Schillers ber 
bewußte refigiöie Hintergrund; aber wie von jenem grofien Geilt, 
fo gilt aud) von dieſem: nicht er hat die Ideen, fondern die 
Ideen (d.h. die objektiven unſichtbaren Lebensmächte) Haben iyn. 
Beide ſchöpften fie, ohne co zu willen, lebendiges Wailer aus 
dem Strom religiöfen Lebens, den einft Luther wieder flutend 
gemacht, und der, wenn auch in beicheidenen Grenzen, aud) das 
18. Jahrhundert, wie alle Zeiten, durchrauſchte. Wie fehr aber 
den „bewußten” Schiller die Neligion zur Kunſt geworben, 
zeigt feine Beurteilung des Chriftentums, bas in feiner „reinen 
Form“ Darjiellung ſchöner Sittlidjfeit oder die Menſchwerdung 
des Heiligen, und in dieſem Sinne die einzige „äſthetiſche 
Religion" jei. Wir dürfen aber nicht vergeilen, daß für 
Schiller jelbjt die reine Form eine Scheinwelt bedeutet, bie den 
Grundbegriff der hriftlihen Neligion aufheben würde, wenn der 
Hellene, der Künftler Schiller der ganze wäre. Denn eine „äſthe⸗ 
tiſche Religion“, entipräche etwa der kalokagathia dem „Schön: 
guten“ der Griechen, eine Anſchauungsweiſe, die mit der Welt 
Platos jteht und fällt. Das Chriſtentum fragt aber befanntlich 
nicht nad) Geftalt und Schöne und dürfte in feinem Weſen wohl 
vom greifen Goethe tiefer erfaßt worden fein als „die Ehrfurcht 
vor dem, was unter ums ij.“ 

Der Künjtler Schiller verſchwindet naturgemäß hinter feinem 
Werte, aber jeine große Perſönlichkeit verlieren wir nicht aus den 





302 Die Kunft als Coangelium bei Schiller. 


Augen, wenn er als prophetiiher Sänger und Seher eine höhere 
Welt des Geiftes nicht nur begeifternd verfündet, jonbern fie in 
dem Gefinnungsabel feines eignen Weſens felbit offenbart, jo daß 
ein Goethe von ihm fagen mußte: „Das war ein rechter Menſch, 
fo follte man a uch fein! Ihm war eben biefe Chriſtustendenz 
eingeboren: er berührte nichts Gemeines ohme es zu veredeln.“ 
Somit haben wir neben dem mehr ober weniger künſtleriſchen 
Evangelium jeiner Werte zugleid eine Art fittlich:religiöfen, ber 
glüdenden und befreienden Evangeliums in feiner erhabenen 
Verfönlichfeit. „Er war ein Baum, gepflanzet an ben Mailer: 
bãchen, der feine Frucht bringet zu feiner Zeit, und feine Blätter 
welten nicht.” Trog ber hundert Jahre jeit feinem frühen 
Dinſcheiden 

ſchwebt er uns vor, wie ein Komet entſchwindend, 

Unendlich Sicht mit feinem Licht verbindend. 

Und je mehr wir die farbenreihe Bilderwelt Schillers gegen 
jenes „ewige Licht“ halten, deſto durchſichtiger wirb fie, und 
durch „der Dichtung Schleier” leudtet uns die Welt ber Ideen 
entgegen, „wie durd des Nordlichts beweglide Strahlen 
ewige Sterne ſchimmern.“ 


Ar 





Niht wie die Wellen des Meeres. 


Von 
Karl v. Freymann. 





Des, Menſchen Taten find Gedanten, wißt, 
Sind nicht wie Meeres blinbbewegte Wellen. 
(Waltenfteins Tod, 2. Aufzug, 3. Auftritt.) 


icht wie die Wellen des Meeres wäre unjer Leben? Wer 

dieſe Worte prüft, muf; glauben oder verwerfen. Ih 

prüfe mein Leben und id verwerfe. — Wenn meine 
Gedanken die Grenzen des Konfreten überfchreiten, jo beginnen fie 
zu wirbeln. Es iſt fein Denken mehr, jondern ein toller Schnee: 
flodentang. Es erſcheint mir nicht, als ob meine Gedanken Beſtand 
hätten. Mit jedem neuen Tage verichiebt fid der Ansgangspunft 
meines Denfens, mein Heute fteht meinem Gejtern fremd gegenüber. 
Meine Gedanfen find Einfälle, die feine Summe ergeben. Eie 
gleichen ben Rlängen der Holsharfe, Wind, Wetter und Zufall find 
die Muſikanten, fie ſpielen ohne Tert und Noten. Wahrlich, meine 
Gebanfen find wie die Mellen des Meeres, blind und bewegt 
vom Winde. 

Ein loſe gefnüpftes Gewebe ſchweben meine Taten in ber 
Luft. Sie bilden eine Kette von Augenblidshanblungen, Glas- 
perlen am bünnen Faden meines Ich gereit, fünnen fie fo und 
aud) anders fein. Wenn der Tod den Faden durchſchneidet, rollt 
das Spielzeug auseinander. Daß ic) überhaupt handle, entbehrt 
des (rundes, aber obgleich id weiß, daß meinen Taten nicht ein 
Groſchen abjoluten Wertes zukommt, bin id) dennod) beitrebt fie 
durch eine zweckloſe Geichäftigfeit zu vermehren. Aber foviel ihrer 
auch jein mögen, auch fie ergeben feine Summe. Sie gleichen 
den Wellen des Meeres. 


304 Nicht wie die Wellen des Meeres. 


Tas Facit meiner Überlegung ift die Lebensweisheit eines 
moquanten Lächelns. Die Sinnloſigkeii meines Lebens ift zu einem 
vielverjprechenden und nichtsfagenden Lächeln gefroren. Zu meiner 
Genugtuung lebe ich inmitten einer Geſellſchaft, wo taufend Köpfe 
das gfeihe Erempel mit eben derfelben Löfung angeitellt haben, 
und das Lächeln, welches ich jelbft Lädhle, grüßt mich von den 
Geſichtern meiner Bekannten. — Welch ein entfeplides Unglüd 
wäre es, als Enthufiaft unter diefen Leuten geboren zu jein — 
ber einzige Narr unter fo vielen Geſcheiten! Ein Idealiſt und 
Schwärmer würde in unjrem Lande mehr Aufjehen erregen, als 
ein Menſch, der barhaupt über die Straße geht. Ich aber fühle 
mich wohl in unjver Mugen Augurengejellichaft. 

Die Beten unter uns leben jenem müden Lächeln. Sie 
haften ſich nicht für ewig. Cie beginmen ihre Tage mit einem 
nachläffigen Achfelzuden, und wenn fie ein Symbol ihres Lebens 
in dem Bilde eines Gottes aufitellen würden, fo wäre es ein 
Geficht, dem die Augen fehlen. Unter den Einfluß dieſes leeren 
Geſichts Haben- wir es verfernt an das zu glauben, was wir tun, 
ober zu glauben, daß wir etwas anderes wären, als etwa ein 
ſchwimmender Kork auf der blind bewegten Fläche des Meeres. 


Der Lebensweg jedes Deutichen führt an ber Geftalt Schillers 
vorüber und viele fchlagen bei biefer Begegnung die Augen zur 
Erde. Wenn ih heute an ihm vorübergehe, jo will ich ihm ins 
Geſicht ſehen. 

Zwiſchen zwei Welten ſtand Schiller und ſeine Werke fallen 
in unſer Leben ein Schatten der Welt, die jenſeits des Todes 
liegt. Sein Dichten iſt der Schatten einer Welt, die ich täglich 
und ſtundlich verleugne. 

Es wäre kindiſch, wollte id) mich vor dem Schatten eines 
toten Dichters fürdten. Seine Poefie ift nicht mehr als ein 
wenig Druckerſchwärze und id bin wirklich. Wirklich bin id, von 
Fleich und Bein geihaffen, geboren, getauft und erzogen, und wenn 
id) begraben werde, fo werden die Schollen handgreiflider Erbe 
über meinen Sarg poltern. Kommt hervor aus eurem papierenen 
Grabe ihr Veftalten des Scheines — id) werde euren Anblid 
wohl ertragen! 

Und vor meinen Augen ziehen die Schiffe der Grieden 


Nicht wie die Wellen des Meeres. 305 


heimmärts von Troja. Über den Rand der Schale fließt ber 
perlende Wein, während ber Sieger dem Befiegten zutrinkt. Goldig 
gelb bligen feine Tropfen auf dem dunklen Laube. Ruhevoll ift 
das Schickſal der ſonnigen Hellasföhne und Freude und Leid einen 
ſich in ewiger Schöngeit. — Dit dem Grauen feiner Taten ringt 
Franz Moor, unvernidtbar wie das Grauen empfindet er feine 
Taten, in zähneknirſchender Augſt fühlt er fid) als Träger bes 
Ewig-Böfen und er betet: ich habe mid) nie mit Kleinigfeiten ab» 
gegeben. — Den fengenden Blid zur Erde geheftet fteht Don 
Garlos vor mir, — zögernb und prüfend, ben Schritt des Lebens 
aus den freifenden Sternen lejend, wandelt Wallenjtein die Bahn 
des Todes, finfter ift die Stirn des Dlannes, der mit dem unab- 
änderlihen Scidfal zu Nate geſeſſen. .. 

Die Geftalten drängen ſich zu mir in enblofer Neihe und 
wollen nicht weichen — und jede von ihnen ein Zeuge aus jenem 
Zeben und feine unter ihnen, die nicht erfüllt wäre vom Hauche 
der Ewigkeit. Lauter Menſchen, die nicht jterben fünnen, un 
fterblich aus dem Nichts erſchaffen! Jeder einzelne von feinem 
Schöpfer begabt mit einer unjterbli—hen Seele. In das grunbloje 
Leben hineingeftellt, den Grund des Lebens in ſich tragend. 

Iſt mein Leben ein Poſſenſpiel, jo fann ich mit diefen Leuten 
zuſammen nicht fpielen! Cie verderben mir meine Nolle! Ich 
fann nicht lächeln in einem Spiele, das für die Cwigfeit geipielt 
wird. Ic) will abtreten fönnen, wenn ber Vorgang fällt, und es 
ſoll fein, als wäre nichts geweſen. Aber ich ſehe es wohl, dieje 
Helden werden nicht abtreten — Die Breiter der Bühne zittern 
unter ihrem Tritte. 

Das Spiel wird Eruſt — id will nicht hinüber in die 
Emwigfeit mil dem faden Lächeln des Poſſenhelden! Wenn das 
Leben Ernſt it, will ich aufhören zu lächeln! Ich will nicht 
daftehen unter den Unfterbliden ohne Seele! — Lieber will ic) 
glauben! Ich will die nichtige Altagserfahrung verleugnen und 
an die Welt Edjillers glauben, die ewig fittlide Welt Schillers 
und feiner Menſchen, die nicht vom Zufall regiert werden, ſondern 
vom Golte, der in ihnen wohnt. Nichts andres aber iſt diefer 
Gott, als die Kraft der Vegeifterung, und nichts andres ift uns 
die Seele Schillers, als eine lodernde Flamme dieſes ewigen 
Feuers. 


806 Nicht wie die Wellen des Mieres. 


Oh! das ein Funfe nur auch in uns erglimmen mürbe, 
denn wir fiehen dahin an unfrem irodenen Rechnen! Unire 
Arbeit iſt Häßlih und unfre Freuden find ein abgejchmadies 
Luftigtun. Und jeder Tropfen Schillerſchen Blutes und jeber 
Hauch feines Geiftes iſt uns ein Urteil der Vernichtung. 

Längſt find wir es falt durds Leben zu gehn ohne Ziel 
und ohne Sache. Uns dürfte danach, an eine Sache zu glauben 
und im Drange ber Begeifterung zu ſchaffen, uns verlangt danach, 
daß ber Geiſt Schillers wieder mächtig werde in den Enfeln 
feiner Zeit. Auf daß auch mir es begreifen, daß wir fein Spiel: 
ball der Lebenswellen find, fondern wagende Menſchen! 





Shiller und Lin 


Vortrag” 





von 
Bernhard A. Hollander. 


it dem gefamten deutſchen Volfe weit über die Grenzen 
des Deutfchen Reiches hinaus rüften fih aud bie 
Deutfchen unfres battifchen Heimatlandes das Andenfen 
Schillers am Hundertjährigen Gedenftage feines Todes zu ehren. 
Freilich drücken gerade augenblicklich mandherlei ſchwere Sorgen bie 
Gemüter nieder und halten uns davon jurüd, uns ganz zu vers 
fenfen in die Gedanfenwelt unſres großen Dichters, aber wenigitens 
den kurzen Stunden, bie der Grinnerung an ihn geweiht jein 
follen, mag gleihjam als Motto vorangeitellt fein bie Mahnung: 
Werft die Angit des Irdiſchen von euch! 
liehet aus dem engen, bumpfen Leben 
In des Ideales Reich! 

Mehr als irgend wo anders tut es hier bei uns not, daß 
mir uns aus ber Wirrſal der Zeit erheben zu ber geiſtigen Höhe 
der großen Männer unjres Volkes. Dort atmen wir, entrüdt ber 
ſchwulen Luft, in der wir unfer Alltagsleben zu führen genötigt 
find, wie in reiner Bergluft erleichtert auf. Dort gewinnen wir 
den rechten Ausblid auf die legten Ziele und Zwede aller unfrer 
Arbeit und Mühe, und mehr als jemals tritt an uns die Forde— 
rung heran, Die geiftigen Waffen zum Rampfe für die Erhaltung 
unfres Vollstums zu holen von jenen Männern, zu denen wir als 





*) Der Vortrag erſcheint hier in eiwas ermeitertem Umfange. Es iſt mir 
ein dringendes Bedürfnis, an diejer Stelle meinem lieben ‚Freunde, dem Stadt« 
Bibtiongefar Nik. Bujch einen warmen Tanf auszufpreden für die entgegens 
fomınende Lichenswürdigleit, mit der cr mir die Schäße der ihm unteritelften 
Vibliorgefen zugänglich gemacht Hat. 








308 Schiller und Sioland. 


zu den Führern und Bahnbrechern echten deutſchen Volkslebens 
bemwundernd emporichanen. Wir dürfen Die uns drohende Gefahr 
einer geiftigen Iſolierung nicht unterihägen, daher haben für uns 
die Gedenktage unfrer deutſchen Geiftesheroen eine erhöhte Bedeu 
tung, und unjre Schillertage müffen das aud) für uns geltende 
Wort: „Er war unſer“ erweitern zu dem Gelübde: Er foll es 
immer bleiben! Ja, Sciller war und ift unfer. Wie er 
uns Älteren ein Begleiter geweien iſt auf allen unfren Lebens 
wegen von unfrer Jugend Tagen an, jo laijen feine unvergäng- 
lichen Dichtungen auch unfrer Kinder Herzen höher ſchlagen. Daher 
iſt es wohl erklärtich, daß ſchon oft die Frage aufgeworfen worden 
ift, ob nicht auch bei des Dichters Lebzeiten Beziehungen zu unfrem 
Heimatlande ober deren Söhnen vorhanden gewefen feien, denn 
wir hoffen, daß er uns durch jolche menſchlich näher gerüdt werde. 
An Beantwortungen diefer Frage fehlt es nicht gänzlich, aber 
bisher hat noch niemand den Verſuch gemacht, das recht zerftrente 
Diaterial zufammenzufaffen. Gerade au diefem Orte und in unſrer 
hiſtoriſchen Geſellſchaft, die fi die Erforihung der baltiichen 
Vergangenheit zum Ziel ihrer Arbeit geitellt hat, mußte aber an 
einem Schiller-Gedenktage an die Löfung diefer Aufgabe heran- 
getreten werben. 

Schillers Wiege hat in einem Teil Deutſchlands geftanden, 
mit dem Livland weniger Berührung gehabt Hal, als mit den 
norddeuiſchen Ländern, daher hat er während feiner ganzen Jugend- 
zeit faum irgend welche Beziehungen zu Perfonen baitiſcher Her 
funft gehabt. In die hohe Karlsihule find wohl Söhne baltiſcher 
Ehelleute eingetrelen, aber fie waren alle jünger als Schiller !, 
und nur einer, Johann v. Bendendorff, der fpäter ruffiicher General 
geworden ift, war ein halbes Jahr mit ihm zugleich Rarlsfchüler, 
hat aber laum mit dem fünf Jahre älteren, am Ende feines 
Studiums tehenden Kameraden in Verbindung geflanden. Ver— 


1) 2, aloe werden folgende Ballen genannt: Cuftan Nenbots 

v. Merlai (21. Sept. 1781 6i6 19. gebruar 1782), Johann vo. Bendendorfi 

(19. Juli 1780 bis 19. Dez. 1781), Eberhard und Georg Wilhelm v. Gobr 

(4, Sem, 1702 bis 14. Sep. 17), o- Auneing (28. April 1703), Na 

Otto und Karl v. Lipdart (12. Juli 1792), Georg 

pri Johann Junmanuel Sreibere 0. Ingern»Sternberg 

bis 19. Febr. I Vgl. weiteres bei Th. Schön, Anger 

hörige adeliger Gefchlechter aus Kur-, Yin: und Eitland in Württemberg. Jahrbuc) 
für Genealogie, Heraldıl und Sphragiitit 1903. Mitan 1905. 
















Esiller und Livland. 308 


folgen wir aber bie Einflüffe, Die fih auf die Entwidlung bes 
jugendlichen Dichters während dieſer Epoche geltend machten, dann 
begegnen wir bem Namen eines Mannes, der aud für unfre 
Heimat eine Bedeutung gewonnen hat. Es war Friebrid 
Marimilian Klinger, ber Didter von „Sturm und Drang”, 
der nach manchen Wandlungen in feinem Schidjal und in feiner 
Lebensführung von Kaiſer Alexander 1. zum Kurator ber neuen 
Univerfität Dorpat ernannt worben war und als folder faſt 
1Y/e Jahrzehnte (1803-—-17) gewirkt hat. Freilich nennt Wilhelm 
Peterfen, der Jugendfreund Schillers!, unter den Lieblingsfchrifte 
fiellern, die auf feinen Ausdrud, jeine Sprache und Darjtellungsart 
eingewirft haben jollen, den Namen Klingers nicht, aber fein Ein: 
ſluß ift unverkennbar und wird von Schiller ſelbſt beftätigt. Im 
3.1803 ſchreibt er an Wilhelm v. Wolzogen: „Sage dem General 
Ringer, wie jehr ic ihn ſchäze. Er gehört zu denen, welde vor 
25 Jahren zuerft und mit Kraft auf meinen Geift gewirkt Haben. 
Dieſe Eindrüde der Jugend find unauslöfglih?.” Klinger wird 
gewiß über diejen Gruß des von ihm hochgeſchätten Dichters auf- 
richtige Freude empfunden haben. Zwei Jahre Ipäter vernahm er 
mit tiefer Rührung die Nachricht vom frühzeitigen Tode Schillers ?. 

Zwei Jahre nad Abfolvierung ber Karloſchule entzog ſich 
der Negimentsmebilus und Dichter „der Näuber“ dem unerträglich 
gewordenen Druck, der auf ihn ausgeübt wurde, durch die Flucht. 
Es folgte eine jchwere Zeit voller Enttäufchungen, erfüllt vom 
Ningen nad) eigner Vervolltommnung und Aulämpfen gegen äußere 
Not, aber aud) wiederum vericönt durch Beweiſe eher, opfer- 
williger Freundſchaft. Eine edle Frau, Henriette von Wolzogen, 
hatte dem Heimatloſen eine Zufluchtsftätte im frieblihen Bauerbach 
geboten und ihm bie Diöglichfeit ruhiger Arbeit gewährt. Freunde, 
die er ſich allein durch jeine Dichtungen gewonnen, hatten ihm 
Freundfchaftsgaben gefandt und ihm fpäter in felbftlofer Weiſe 
die Wege nad) Leipgig und Dresden gebahnt. Nicht unerwähnt 
dürfen gerade in dieſen Tagen bie tiefempfundenen Worte bleiben, 
die Schiller damals (1784) an Frau von Wolzogen richtete. Er 
ihrieb ihr*: „So ein Geichen? von ganz unbelannten Händen — 

3) Zul. Sartmann, Scilers Jugendfreunde. „1004. &; 190. — 

3. Jonas, Schillers Briefe, VIL ©. — 3 9. ». Bradel im 


— 1805, &p. Dt. Zat 1, ©, 100. 
Baltifhe Monatslchrift 1906, Heft 4. 5 











310 Schiller und 2ioland. 


dur nichts, als die bloße reinfte Achtung hervorgebraht — aus 
feinem andern Grund, als mir für einige vergnügte Stunden, 
die man bei Leſung meiner Produkte genoß, erkenntlich zu fein — 
ein jolches Geſchenk ijt mir größere Belohnung, als der laute Zu 
fammenruf der Welt, die einzige fühe Entihädigung für taufend 
trübe Dlinuten. -- Und wenn ich das num weiter verfolge, und 
mir denfe, daß in ber Welt vielleicht mehr ſolche Zirkel find, bie 
mid) unbefannt lieben, und fid) freuen, mich zu fennen, daß viel: 
feiht in 100 und mehr Jahren — wenn aud) mein Staub ſchon 
lange verweht it, man mein Andenfen ſegnet und mir nad) 
im Grabe Tränen und Bewunderung zollt — bann, meine 
Teuerſte, freue ich mich meines Dichterberufes und verföhne mich 
mit Gott und meinem oft harten Verhängnis.” Es ift uns ein 
ſchöner Gebanfe, dab es aud in unferm Heimatlande an ſolchen 
„Zirkeln“ nicht gefehlt hat — jeit dem J. 1765 haben bie 
Schiller hen Dramen ihm trene Anhänger in Niga ermorben — 
und daß fein Andenfen auch heute noch bei uns gefegnet wird. 
Zu den bitterfien und ſchwerſiten Prüfungen, die Schiller in 
biefen Jahren durdhzumadyen hatte, rechnete er die Unmöglichfeit 
feinen pefuniären Verpflichtungen Frau von Molzogen gegenüber 
nachzufommen. Die befle Zeit feines Lebens fei ihm dadurch ver- 
bittert, mandje Stunde zu einer Darterjtunde geworden. Als er 
ben Don Carlos vollendet hatte, jollte das von den Theatern zu 
erwartende Gelb zur Tilgung der ichwer auf ihm laſienden Schuld 
benupt werben, daher die befonders eifrigen Bemühungen, jein 
neues Werk an verfchiedene Theater zu verfaufen!. Das brachte 
ihn aud in Verbindung mit Eigfried Gotthilf Rod: 
Edarbdt?, ber damals mit Meyrer an ber Spite des Nigafchen 
Theaters ftand und es zu einem wahren Kunftinftitute emporge— 
hoben hatte. In Dresden halte er im Frühjahr 1787 perfönlic) 
den Kauf mit Schiller abgeſchloſſen und follte für 100 Neichstaler 
das Manujfript erhalten. Schiller hatte, wie er fdreibt?, eine 
zweifache Edition fürs Theater entworfen, eine in Iamben, bie 
andere in Proja. Diefe nicht für den Drud beftimmte Bearbei- 
tung ertlärt Echiller für das Befte, was er „in Nüdfiht Heatra- 
liſcher Wirfung (ohne Hilfe von Speftafel und Operndeforation) 





1) Dal. z. B. Briefe I. ©. 368 f., 334, 350. — 2) Vol. über ihn die 
„Düuftsierte Beilage" der Rig. Nundihau 1905 Ar. 1. — 3) Briefe 1, 334. 


Schiller und Linland. su 


hervorgebracht habe.“ — Es ift dieſe Äußerung um jo intereffanter 
für uns, als das von Koch erworbene Danuffript des Don Karlos 
in Proſa noch heute anf unferer Stabtbibliothet als ein teures 
Vermächtnis unferes Dichterfürften aufbewahrt wird. Beſonders 
wertvoll iſt es aber, weil Schiller bas Perfonenverzeichnis und 
einige Rorrefluren mit eigner Hand eingelragen hat. Am Schluß 
diefer Bearbeitung bezeugt Narlos die Unſchuld der Königin und 
gibt ſich felbft den Tod. 

Leider müſſen wir aus feinen Briefen! erfehen, daß ber fo 
gelbbebürftige Dichter ungefähr ein Jahr auf das Honorar hat 
warten mühen. In dem einzigen uns erhaltenen Edjreiben, das 
Schiller in der Don Aarlos-Angelegenheit am 1. Juni 1787 an 
Koch ſelbſt richtete, finden wir übrigens eine Heine, halb im Scherz 
gehaltene Anfpielung auf eine Licbesaffaire, die damals vorüber: 
gehend Scjiller in Aniprud genommen hatte?. Ihn hatte damals 
die junge Gräfin Henriette von Arnim bdurd) ihre Majfiiche 
Schönheit gefeflelt, aber unerfreuliche Familienverhältniffe und 
wohl auch das Verhalten ber jungen Dame felbſt veranlaßten Schiller 
die Beziehungen abzubredien. Es war etwa ein Monat jpäter, 
daß er Rod) ſchrieb · „Als wir uns hier von einander trennten, 
ift mir von einem Mädchen, das Sie gefehen haben, ber Kopf fo 
warm geworben, daß ich Ihre Adreffe in Berlin darüber vergeffen 
habe. Wir find ja allzumal arme Eünber, und Sie werden ja 
mohl aud an die Zeit zurüddenfen, wo Eie von einem paar 
Augen aus dem Konzept gebracht wurden. Alſo verzeihen Eie 
mir.” Nach dem Ton des Vriefes zu urteilen, muß dem Dichter 
die Trennung nicht ſehr ſchwer gefallen fein. Es dauerte aud) 
nicht allzu fange, dah ihm vom Schidfal die Fran zugeführt wurde, 
die ihm fein Leben lang eine treue Gefährtin fein follte. Doch 
um das Glück eines eignen Hausftandes zu gewinnen, bedurfte er 
einer geſicherten Stellung, wie fie ihm ein öffentliches Amt dar⸗ 
bieten fonnte: Schiller wurde Profefjor der Philojophie in Jena, 
ſollte aber Geſchichte vortragen. 


) Briefe I, &. 300; VII, 
wird auger Nod) auch Bondini als 





3 f. Im dem Segifter zu den Briefen 
ufpielbirefior in Kiga bepeichnet. Cinen 
fofcpen hat es m. M. nicht gegeben. Die Namen Yondini und Koch aus Riga 
fieen. wohl in einem Beicle neben einander al jolhe, Die den Don Karlos 
erworben haben, aber nur Ieyterer war aus ga. 
#) Briefe I, ©. 344. DO. Harnad, Schiller, 2. Auft, 1905, S. 154 f. 
* 





312 Schiller und Piofand. 


Wenn bie Arbeit am Don Karlos wohl die Veranlaffung 
mar, daß Schiller ſich in die Gejchichte bes niederländiſchen Frei 
Heitöfrieges verjenfte und als Hefultat feiner Studien uns fein 
glänzendſtes Geſchichtswerk darbot, fo famen aber aud) dieje Studien 
wieder feiner dichteriſchen Produktion zu gut. „Die Leidenjdaften 
des öffentlichen Lebens, die Kämpfe um ber Menſchheit große 
Gegenftänbe, um Herrihaft und um freiheit, jene mächtigen 
Schickſalswandlungen, die über Bölferleid und Völfergröße ent: 
fcheiben, boten feinem dramatiſchen Genius den natürlichen Boben !." 
Es hat viel Verlodendes an fih, den Spuren bes Hiſtorikers 
Schiller zu folgen und zu beobachten, wie er mit feinem Ber- 
ſtändnis und weitem Blick die Vorgänge von weltgeſchichtlicher Ber 
deutung ins rechte Licht zu rüden wußte. Wir baltijchen Hiftorifer 
fönnen aud) viel von ihm lernen, indem wir immer mehr dahin 
ftreben, auch unjre Provinzialgefdichte von einem großen univerfal- 
geihichtlihen Gefichtspunfte aus zu bepandeln. Heute müſſen wir 
uns aber eine Vertiefung in ſolche Gedanfengänge verfagen, ber 
Hiftorifer muß vor dem Profeſſor Schiller in Jena zurüdtreten. 

Jena — weld) ein eigentümlicher Zauber ummeht doch biejen 
Namen! Welch ein buntes Bild entfaltet ji vor unfern Augen, 
gebenfen wir des Jena, in dem nun Schiller feine Wirkſamleit 
beginnen follle! Cs war eine Stätte hervorragender wiſſenſchaft- 
licher Arbeit, regen geijtigen Sirebens, aber aud ein Tummels 
plag froͤhlichen burfdjifojen Treibens und echter, oft überjdäumen: 
der Jugendluft. Wir verfichen wohl die Mahnung jenes würdigen 
Paſtors: „Dein Eohn, id würde dody nad) Jena gehn." Wir 
Balten? fühlen uns aber vielleicht ganz bejonders zu Jena hinger 
sogen, benn noch find bei uns die Traditionen nicht erlofchen an 
jene Zeit, in der beim Mangel einer eigenen Hochſchule neben 
Königsberg namentlid die Saale-Stadt unfern Vätern ihre Tore 
gaftlich öffnete. Noch erinnert man ſich deffen, dab manche ftudens 
tifchen Gebräude fid) gerade von Jena her zu unjerm Embad- 
Athen verpflanzten. „Eingerechnet bie Rurländer” — erzählt ein 
alter Jenenfer aus Livland vom J. 1797° — „waren wir unjer 

N) Treitjchke, Deutfche Gejichte im 19. Jahıh. 1879, ©. 201. — 
2) Im Jabre 1899 Hielt Mit. Bufch einen Vortrag „über die Beziehungen ber 
Balten zur Univerfität Jena in den beiden Icpten Jahrzehnten de$ vorigen Jahrs 
yundert5”, in deffen Manuffript cr mir freundlichit Cinficht geftattet Yat. — 


) Jenaer Studentenleben 1797-98 in „Erzählungen meines Örofvaterd“ von 
Qui. Edardt). 1883. 


Stiller und Livland. 813 


80-90, und id kann verfihern, daß wir feine üble Rolle jpielten. 
Im Trinken taten es uns die Pommern zuvor, im übrigen aber 
hatten wir feine Meifter." Von anderer Seite wird ben jungen 
Livländern uachgerühmt, daß fie ſich vor den übrigen Mufenföhnen 
durch Feinheit und Adel des Venehmens auszeichneten!. Mehrs 
fach haben fie führende Nollen in der Burſchenwelt gefpielt, aber 
aud) in der wiſſenſchaftlichen Arbeit, die fie ſpäter im Dienfte des 
Heimatlandes vermerteten, ſich betätigt. An Anregung dazu fehlte 
es nicht, denn in den Aubitorien der Univerfität lehrten damals 
nicht wenige hervorragende Gelehrte. Zu ihnen gehörten auch zwei 
angefehene Balten, der Mediziner Juftus Chriftian v. Loder 
und der Chemiter Alexauder Nikolaus v. Scherer. 
Scherer war damals nod) recht jung; erit im J. 1794 
eröfjnete er als 23jähriger Dr. der Philofophie feine alademiſche 
Laufbahn”. Ceine Vorlejungen, die er in Jena hur furze Zeit 
hielt, aber ſpäter als Bergrat in Weimar fortjepte, follen recht 
befucht gewefen fein, doch fcheint er feines Eharatters wegen bei 
Schiller wenig Gnade gefunden zu Haben, Am 31. Juli 1798 
ſchreibt dieſer an Goethe: „Dei Scherern, den id) geitern ſprach, 
ift mir eine Bemerkung wieber eingefallen, die Sie mir voriges 
Jahr über ihn machten. Es iſt eine ganz gemütloje Natur, und 
fo glatt, daß man fie nirgends faſſen kann. Bei jolhen Naturellen 
iſt es recht fühlber, daß das Gemüt eigentlich die Menfchheit in 
dem Menſchen macht, denn man fi), ſolchen Leuten gegenüber, nur 
an Sachen erinnern, und das menſchliche in einem: jelbft ganz und 
gar nirgends hintun [fan]. Scheiling ift doch fein folder Dienich, 
dent ich.” Wie weit Schiller bei diefer Charafterifierung Recht 
hatte, entzieht fid meinem Urteil; ich möchte nur bemerfen, daß 
Scherer in Dorpat und namentlich in Petersburg als Mademifer 
eine recht verdienftwolle Tätigfeit entfaltet hat. Ein Biograph 
fagt von ihm, daß er viel gearbeitet und gekämpft habe und daß 
er fid durch feine natürliche Heftigfeit und unbiegjame Etreitfucht 
1) Biltor Hehn. Karl Peterfen. Valt. Monatsiche. Bd. IT. 1880. — 
2) Scherer ift ITTI in Petersburg geboren, befuchte die Rigaſche Domfchule und 
ftudierte in Jena zuerit Theologie, dan Raturwifienfcaften. Nachdem er in 
Jena und Halle afademiich tätig geweien, wurde cr 1804 Yrofefior der Chemie 
an der meubegründeten Univerjität Dorpat, von wo cr bald wach Petersburg 
berufen wurde. Sr üit er als ordentlicher Wademifr am 16. Oftober 1824 


geitorben. Bgl. Nede-Rapiersty IV, &. 53 und Ally. deutſche Biograppie %b. 31. 
— 3) Briefe V, ©. 413. 








314 Schiller und Livland. 


viel Feinde gemacht habe. Hatte Scherer es hiernad) jedenfalls 
nicht verſtanden, ſich das Wohlwollen jeines berühmten Kollegen 
zu erwerben, jo jdeinen mir auch die Beziehungen Schillers zu 
Loder eigentlich nicht das Gepräge einer befonderen Herzlichleit zu 
tragen. Freilich bin id) bei der Beurteilung derjelben zumeiit an- 
gewieſen auf flüchtige Briefnotigen, eine direlte Korreſpondenz ſcheint 
nicht ſtattgefunden zu haben. Dan gewinnt aber doch den Eindruck, 
daß zwiſchen ben beiden Profeiforenfamilien wenigftens ein durchaus 
freundſchaftlicher kollegialer Verkehr jtattgefunden habe. So jchreibt 
Schiller wiederholt von feinen Beſuchen im Loderſchen Haufe und 
bei jedem Anlaſſe werben freundliche Grüße überfandt. Wer war 
aber Loder? Wie wenige Nigenfer wird es geben, denen diejer 
Name mehr ift als blojer Rauch und Schall? Und doch gab es 
eine Zeit, wo man bei uns ſtolz war auf diefen Sohn unferer 
Vaterſtadt. 

Loder iſt 1753 in Riga geboren. Sein Vater war der an— 
geiehene hochgelehrte Rektor des Lyceums und Diafonus an ber 
Iafobi-Rirche, Johannes Loder. An dem vom Dater geleiteten 
Juftitute erhielt Loder feine erſte treffliche Schulbildung. Darauf 
itudierte er in Göttingen und wurde Profefjor der Anatomie und 
Chirurgie in Jena. Hier hat er 25 Jahre lang (1778—1808) 
gewirkt und wurde ein berühmter Diann. Mit andern Profeſſoren 
verlieh oder im I. 1803 Jena und ſiedelte nad) Halle über. 
ALS diefes aber von den rangofen befeßt wurde, ging er nad) 
Königsberg. wo er Leibarzt der föniglihen Familie wurde. Im 
I. 1809 fehrte er nad) Rußland heim und hat noch viele Jahre bins 
durch in Moskau in ſegensreicher Weile gelehrt und gewirkt. 
Ausgezeichnet von der Negierung und hochgeehrt von Ruſſen und 
Deutfchen, ift Loder als Greis von über 80 Jahren gejtorben!. 
Garlieb Mertel, der ihn 1797 in Jena beſuchte, ſchildert Loder 
als einen Mann, der mit dem vieljeitigiten Wiſſen und tiefem 
Studium feiner Wiſſenſchaft noch eine fait jugendliche Lchhaftigfeit 
im Spreden und Handeln verband. „Dabei war fein Benehmen 
das eines in feiner Gejellichaft geihliffenen Weltmannes und edel: 
finnig, jeine Unterhaltung geiftvoll —- und ſein Haus das glän- 
gendjte in Sena.” Hier jammelten fid die berühmten Gelehrten, 





3) Sl Dee Yiogralie I; 10. — 3) „Darfekungen und Charet. 
teriftiten" ILS. 90. Simene S. 34. 


Schiller und Livland. 315 


die „den Hohen Ruf dieſes Stäbichens veranlaßten“ und unter 
denen Loder nach Merkels Urteil der geiftreichlte, gebildetite und 
liebenswürdigite war. Im diefem gaftlichen Hauje, in dem aud. 
gerade Livländer ftets freunbliche Aufnahme fanden, werben ſicher 
manche unferer Landsleute mit Schiller in Berührung gekommen 
fein, wie auch, beiläufig bemerkt, Garlieb Merkel hier zuerjt mit 
Soelhe zufammengetroffen ift — eine Begegnung, die allerdings 
für die fpäteren Beziehungen dieſer beiden Männer verhängnisvoll 
geworden iſt. — Mir befigen in unferer Stadtbibliothek ein wohl 
nur wenig befanntes Büchlein, das ein verdienter vigafcher Schule 
mann, Heinrid Karl Laurenty!, dem von ihm hodwer- 
ehrten Loder zu deſſen 50jährigem Doftorjubiläum im Jahre 1828 
gewibmet hut. Obgleich drei Jahrzehnte feitdem vergangen waren, 
daß er unter Loders Proreftorat immatrifuliert worden war, 
ſchildert er doch mit noch jugendlicher Vegeifterung, wie er „Augens 
und Ohrenzeuge geweien jei des großen, ſiels wachienden Ruhms, 
der allgemeinen Liebe, des ungemeiienen Beifalls, wodurch jein 
Verdienſt in jeder Sphäre feiner vielfachen, rafilofen igleit 
als Arztes, Naturforſchers, alademiſchen Lehrers, Schriftſiellers, 
Vorſiehers der Univerſität belohnt wurde.” Er hat oft in feinem 
Hörſaal neben Jünglingen auch Männer von jehr bedeutenden 
Namen gejehen, und es iſt befannt, daß auch Goethe damals oft 
ſchon am frühen Morgen durch den Schnee in die Vorlefungen 
wonderte?. In dem Büchlein Laurenty’s hat mid) aber ein Ab— 
fehnitt befonders gefefielt; er ift der Erinnerung an bie erfte 
Piccolomini: Aufführung in Weimar am 30. Ian. 1799 geweiht. 
Ich kann es mir nicht verfagen, ihn hier wieberzugehen : 

„An jenem feſilichen Abend, als die erite Daritellung von 
Schillers Piccolomini (damals noch ungedrudt alle Gemüter auf 
Die glorreiche erjte Ericheinung hoch jpannend) in Weimar gegeben 
wurde, umfaßte der nicht jehr beträchtliche Umfang des Theaters 
in leicht überjehbarem, ent erleuchtetem Haume fait ohne Ausnahme 











abi in gu 
Nachdem er 


a und Göttingen und fam IS1U als — nach Yitauen. 
1 in Rurland Yehrer geweſen war, hat er von 1820-38 am 
Rig. Gymnaſium als wiſſenſchaftlicher Lehrer und Dberichrer der Geſchichte und 
fateinijcgen Spracie gewirkt. Wede-tapieräfy TIL, ©. 23. efidte des Gow. 
Gymnajiums. 1888. — *) (dasdı), Eräplungen meines Grobuauis. &. 18. 











316 Stiller und Lioland. 


alles, was damals in einer felten reichen nnd glüdlichen Zeit 
Beimar, Jena, Gotha, die ganze Umgegend diejer Gtädte — 
Großes, Ausgezeichnete, Geift: und Kunſtreiches, Gelehrtes und 
Treffliches an Lebenden beſaßen. Nicht Auguftus, nicht Efte 
und nicht ber ſiolze Ludwig fahen je fo glängenden Hof 
um fi) verfammelt, als Karl Auguſt, ber wahrhaft beutiche, 
feines Namens werte Mufaget, an diefem Abend. Dieſes reiche, 
febensvolle Bild muß ficher in dem Gemüt jedes unbemerkt 
Schauenden, die Bedeutung ber einzelnen Gejtalten und des 
Ganzen zu fallen nur einigermaßen Fähigen in der Gegenwart 
ein erhebendes, unvergleichliches Gefühl erregt und eine freudige, 
unverloſchliche Erinnerung hinlerlaſſen Haben. Dod) wen auch, wie 
mid) da, das wiederholte ernfte überſchauen, die freudige Betrach- 
tung jener bewunberungswerten Reihe vor dem Aufzug des Vor 
Hangs und in ben Zwifhenaften angelegentlich beichäftigt hat, der 
mühte dennody ein Virtuos in der Memonik fein und viel mehr 
leijten fönnen, als Eimonides, der Erfinder jener Kunſt felbft .. ., 
wenn er nad) fait 30 Jahren aus dem Gedächtnis ein Verzeihnis 
jener Berühmten liefern wollte, ohne im Zuviel oder Zuwenig 
beträchtlich zu fündigen. Doc) will ich derſuchen, einen Entwurf, 
einen Schatienrih des Gemäldes zu geben, feft überzeugt, dab wohl 
in meiner Umgebung, unter den Lejern dieſer Blätter mehr als 
einer fein werde, ber jenen Abend dort mit mir feierte und fo 
meine füdenhafte Darftellung zu ergängen, zu verbefjern vermag. 

Was aber an jenem hellgejtirnten Himmel, am Logen: 
firmament, Sterne der erften, zweiten und dritten Größe waren, 
mag Jeder nad) Maß und Art feiner aſtronomiſchen Kenntnis ſelbſi 
beurteilen. Dort, wo, wie am wahren Sternenhimmel, alles 
Leuchtende, große und Heine Lichter, bunte Reihe machte, friedlich, 
und aufprudjolos, alle von eimer Zentralfonne der Freude und 
Feſtlichteit höhern Glanz empfangend, dachte Niemand an folde 
Nangordnung. Daß nun die eigentlihen Sonnen, die gefeierten 
Häupter und Glieder des Weimarſchen Fürftenhaufes, hier ohne 
Ausnahme alle erihienen — Eine’, alles mild befebende, er 
leuchtende, erfreuende, war damals nod) nicht an jenem Horizont 





1) Wohl die Großfürftin Maria, die 184 als neue Erbpringeffin in 
Weimar ihren Einzug hielt und der zu Ehren Sıhilfer „die Quldigung der 
Künite” als Zeit 





Schiller und Livland. 317 


aufgegangen, zwei find glorreich untergegangen — daß jede derfelben 
von einem befondern Nimbus leuchtender Trabanten umringt war, barf 
nicht erft bemerkt werden. Im Focus ber Mittelloge fand neben dem 
Stuhl der regierenden Herzogin, der Netterin ihres Landes, Schiller, 
der König und Wirt bes Feſtes, häufig und freundlid) von der eblen 
Fürftin begrüßt, viel mit ihr im Gefpräch, fait verlegen fcheinend, 
immer und überall, wenn und wohin er auffah, fo vielen Bliden zu 
begegnen, hödjit jelten fo fihtbar Vielen. In ber Nähe des großen 
Herzogs, von ihm ausgezeichnet, als Leibarzt, Liebling und Ne: 
präfentant ber Univerfität, der Gelehrten, Loder, in der Blüte 
und auf ber Höhe bes Lebens. Herder und Wieland, wie 
unähnlid) einander, gepaart durch Freundſchaft und gleihe Gunft 
der Herzogin-Mutter Amalia, der Weimar den Anfang jeines 
poetiichen Olanges durch jene verdankt, in ihrer Umgebung. Unter 
den fürftlihen Eternen meine id aud) Dalberg, damals Coad- 
jutor von Mainz, und den genialen und guten Ernit Auguſt, 
Erbherzog von Gotha, den vorlepten Fürft feines Etammes 
und Landes, geichen zu haben. Beide gehörten gewiß bahin als 
geiftweiche Schriftfteller und gelichte Fürften. Jean Paul Fr. 
Richter, ftill verborgen, doch von Vielen freudig begrüßt und 
aufgeſucht, ſchien eine ſellene Erjdeinung hier zu fein, wie ber 
ſchon alternde Ariftippus — Th ümmel, der fübliche. Vom deutſchen 
Parnafjos waren nad hier anwejend: AM. Schlegel, 8. 
Tied, Gries, die Dufen A. Jmhoff Fr. u. Wolzogen, 
Soph. Mereau-Vermehren und Falk, weniger als 
Dichter, als, was dod) gewiß eben fo viel wert ijt, als vortrefflicher 
Maijenvater berühmt. Und Goethe? Der war nidt am 
Himmel zu finden, fondern auf Erden — d. h. im Parterre, didht 
an den Parfet:subselliis der Studenten — alfo ganz gefondert 
von dem Glanz des Hofes, auf feinem Lehnftuhl, feinen Eohn auf 
dem Schoß haltend, ſichtbar heiter den hohen Triumph feines 
Freundes mitfeiernd, und nur zumeilen, wenn die Schaufpieler es ihm 
nicht recht machten, fein Vihfallen halblaut äußernd. Da auch 
war er ein großer und erfreulicher Ruhepunkt ber gebfendeten, er⸗ 
müdeten Blide, und nicht übel jagte Einer damals, Goethe oben 
ſuchend und unten findend: „Weil er doch nirgend unter feines 
Gleichen figen kann, fo gift es ihm gleich, wo er figt, wenn aud) 
unter Greti und Pleti.“ Unter welchem Ehrentitel — denn jo 


318 Sqiller und Lioland. 


hießen ja die Trabanten bes poetiſchen Königs David — ber 
Wigling wahrjdeinlih uns Studenten verftand. — Nod waren, 
Schillers Jet mitzufeiern, von Jena gefommen jeine ſchwäbiſchen 
Landsleute: der ehrwürdige Gries bach, zugleich fein Hauswirt, 
der geiftreihe Paulus, ber geniale Schelling, und wohl 
feiner fehlte der Jenaer Choragen und Meiſter, ben fehr gelehrten, 
doch jtets in feinem Haufe verſchloſſenen, um die poetiſche Melt 
wenig fi fümmernden Gruner ausgenommen. Es war ein 
Feſt, zu ſehen und zu hören, wie bie Commilitonen im Partet ſich 
umſchauend, einer dem andern die Anmwefenheit jeiner Idole und 
liebfien Lehrer bemerfbar madjend, begeiftert leije zuriefen: ieh 
da! mein Hufeland! Dein Start! Unfer Loder! Da 
mein Feuerbach! Dort Fichte! Und mie viele freuten ſich, 
die Oberpriefter aus Hellas und Latium, Shüß, Jacobs, 
Boettider, Eichſtädt da vereint zu jehen. Unter den 
Rommilitonen jelbft war mandyer ſchon damals geijlig ausgezeichnet, 
wie der Tag und Nacht über Entdeckungen brütende, jdon bes 
rühmte Phyfiler Nitter, wie Koſtner, Froriep, Winkel: 
mann, Brentano, Trorler, Schelver, Ait, Krauſe, 
Panſner. Doch wer vermag, wie gefagt, nad) 30 Jahren eines 
ſolchen Pantheons und Pandämonions — im guten Einn, benn 
böje Geiſter Habe id nicht bemerft — Katalog volljtändig zu 
liefern. Wer fönnte die deos minorum gentium aus allen 
Tempeln und Fafultäten alle merfen und aufzählen, die doch auch 
alle ihre Anbeter hatten. Mer fönnte aud) mandyen trefflichen 
Diann, des Mitzählens wert, nicht vergeffen, von jo viel Glanz 
geblendet. Freute ſich doch mander, ben Schöpfer feines ger 
liebten Ninaldini aud) da zu fehen; nos poma natamus! 

Auf der Bühne jelbit eridienen in den Hauptrollen, derfelben 
würdig, Graff, Shall, Vohs, Dem. Jagemann. Die 
Studien und Proben hatte Goethe geleitet. 

Und wie mag dem gefeierten Schiller zu Mute geweien 
fein an jenem Abend, bei den oft wiederkehrenden, gewaltig 
raufhenden Stürmen des Beifalls, des Entzüdens, vor jolden 
Beugen, von ihnen ausgehend, von ihnen erneuert, geleitet! [Es 
folgt ein längeres Gedicht.) 

Gewih verließ an jenem Abend jeber Jüngling den geweißten 
Tempel der Kunſt, — jdied von dem Feite des Hochgenuſſes jeder 





Schiller und Livland. 319 


freubetrunfen, begeiftert und fühlend, er fei gewachſen plöblich, 
um viel, an Mut und Kraft, entſchloſſen, num auch zu verfuchen, 
was jein Flug zu erreichen, feine Edjultern zu tragen vermöchlen, 
um einjt vielleicht in ſolcher Reihe eine würdige Stelle einzunehmen, 
vielleicht joldhen Triumph zu feiern!” 

Der Abend endete übrigens, wie ber begeijterte Laurenty 
weiter berichtet, mit einem feinen Etrife der Jenaer Wagenlenter, 
die des langeu Wartens müde ſich weigerten beim friichgefallenen 
Schnee die Heimfart anzutreten. „Durd) biefen Rutichertrog wäre 
denn beinahe eine umjäglide und heilloje Unordnung in den ge 
lehrten Studien des folgenden Tages entitanden, denn fait alle 
Kutheder wären ohne Lehrer und die Hörjäle leer von Zuhörern 
geblieben.” Loder aber ſehle die Fahrt dad) durd und gebot 
feinem Wagentenfer, „das zu fein und zu tun, was er jelbjt, freir 
lich in andern und höhern Negionen, war und tat, nämlid) der 
der erjte zu fein und die Bahn zu brechen.“ Ihm folgte daun 
die ganze fröhliche Karawane. 

Ich muß geftehen, mir hat diefe Schilderung viel Freude 
bereitet und id) kann es mir nicht anders vorjtellen, als daß der 
Verfafler als Lehrer gewiß auch oft der aufhordenden Jugend im 
Nig. Gymnaſium aus dem reihen Schay feiner Grinnerungen von 
jenen Tagen erzählt haben wird, die er in Weimar und Jena hatte 
erleben dürfen. Welde reiche Anregung mußte aber damit dem 
heranwachſenden Geſchlecht in Niga geboten werden! 

Die Verehrung, die Laurenty für Schiller hegte, wurde von 
der ganzen Studentenſchaft geteilt. Das „Bivat“, das man ihm 
am Tage feiner Antrittsvorlefung gebracht hatte, leitete in beiter 
Weiſe die jtets freundlichen Beziehungen zu den Jenenfer Burſchen 
ein. As Schiller zum erjten Dal nad Jena kam, erklärte er!: 
„Daß die Studenten hier was gelten, zeigt einem der erſte An: 
blid, und wenn man fogar die Augen zumadte, könnte man 
unterjceiden, daß man unter Stubenten geht, denn fie wandeln 
mit Schritten eines Niebefiegten.* Wie j—hon aus diefer Äußerung 
hervorgeht, hat Schiller ben burjchifofen Übermut ber Jenaer Studenten 
damals — und fo hat er es auch jpäterhin getan — mit einem gewiſſen 
überlegenen Humor betradjtet, und wenn er aud) den allgemeinen 





2) Briefe T, ©. 401. 


320 Schiller und Lioland. 


Stubentenangelegenheiten fein beſonderes Intereſſe widmete, To 
mußte er doch die Herzen der Jugend für fid) zu gewinnen. Hatte 
Schiller ſchon durch feine Werke die Begeifterung der Jugend 
erwedt, jo vermochte er fie auch gerade im gefelligen Verkehr durch 
hinreißende Liebenswürdigfeit zu gewinnen. Noch aus feinen legten 
Lebensjahren ſchildert Heinrich Voß der Jüngere eine Feitlichfeit, an 
ber er teilgenommen, und ſchreibt von Sciller!: „Du glaubft nicht 
und fannft es aud gar nicht begreifen, wie liebenswürdig der 
Mann war, wie ein Jüngling von zwanzig Jahren, fo ausgelaſſen 
fröglid, fo unbefangen in feiner Freude, fo offen, teilnehmend. 
Der Champagner fepte ihn gerade in die Stimmung, in der er 
das Lied an die Freude muß gemacht haben. Ein ſolches Wohl: 
wollen und inniges Freundidaftsgefühl, eine ſolche Treuherzigleit 
fannjt Du Dir gar nicht vorjtellen. — — — Ich wollte, daß ich 
Dir eine gewiſſe Miene von Schiller beichreiben fünnte, die ihm 
in herzlichen Augenblicken eigentümlid it und den Abend gar 
nicht verliej. in eignes Gemiſch von Schalthaftigkeit, Wohlwollen 
und das mit unendlicer Anmut verbunden. Vod) wer bejdreibt 
fo etwas!” Wenn Voß einmal erklärte: als Dichter liebe er ben 
Mann, aber als Menſch jei ihm Schiller noch unendlich lieber, — 
fo fand das Wort bei allen denen, bie ben Dichter in feinem Fumilien- 
freife näher getreten waren, einen Widerhall. Dieſes Glück ijt 
aud zwei jungen Lioländern: Guſtav VBehaghel von Ablersfcon 
und Karl Graf zuteil geworben. 

Guſtav Behaghel von Adlerstron war feineswegs 
eine befonbers hervorragende Perfönlicjfeit, und fein Name ift, wie 
Dberlehrer 9. Diederichs, der alle ihn betreffenden Nachrichten 
ſorgfältig gelammelt hat, wohl richtig hervorhebt?, nur deshalb 
der Vergeffenheit entriffen worden, weil „ein günjtiges Geſchick 
ihn zeitweilig mit einem Unjterblien in Verührung gebracht Hatte.“ 
Adlersfron, ber 1767 auf dem liol. Gute Friedrichehof geboren 
it, war im ruſſiſchen Militärdienfte bereits zum Kapitän der Garde 
avanciert, als er 1788 auf einer Neife in Deutſchland deu Ent- 
ſchluß ſaßte, feine bisherige Laufbahn aufzugeben und fi mit 
wiſſenſchaftlichen Studien zu beichäftigen. Während er 1Y/2 Jahre 





13°, Soctbe und Schiller in Briefen von Heinrich Voß dem jüngeren“, 
drag. von Dr. Yuns Gerhard Gri. Leipzig. Necam. — *) „Ein Yioländer 
aus Scillers Sreundeskreife.” Riga 1901. 


Schiller und Lioland. 321 


in Jena, mo er den Namen Le Bon annahm, lebte, war er nicht 
nur ein eifriger Zuhörer Schillers, fondern wurde aud) ein treuer 
Freund des Haufes, der während einer ſchweren Erfranfung bes 
Dichters ſich jo eifrig am der Pflege beteiligte, daß die ganze 
Familie ihn liebgewann. Als er fpäter nad) Stuttgart überficdelte, 
hat er dort auch mit den Eltern Schillers in freundſchaftlichem Ver⸗ 
tehr geftanden. Ablerskron jah in Schiller fein Mufter und feinen 
Meifter, er nennt ihn den Wohltäter feiner Seele und kann nicht 
Worte genug finden, um Schiller und feiner Gattin zu banfen, 
daß fie ihn ihrer Freundfhaft gewürdigt hätten, aber aud für 
Karoline, die Schwägerin Schillers, hatte er eine ſchwärmeriſche 
Neigung gefaßt. Als er auf feinem jpäteren Lebenswege, ben 
wir Hier nicht weiter verfolgen können, von mandem Mißgeſchick 
betroffen wurde, da fand jeine treue Anhänglichfeit Vergeltung. 
Schiller und die Seinen bemühten fi eifrig darum, ihm eine 
Stellung zu verfhaffen. So hat er ihn z. B. aud) jeiner Freundin 
Charlotte Kalb als Hofmeiſter für ihren Sohn empfohlen (1793). 
Aus der Anftellung wurde nichts, aber Charlotte Kalb hatte doch 
lebhaftes Intereife für den jungen Kivländer gewonnen unb er: 
fundigte ſich noch 1—2 Jahre jpäter nad ihm. Da Adlersfron 
ſich in Deuiſchland nicht halten Fonnte, fehrte er zu Fuß in die 
Heimat zurüd. Hier föhnte er fid) mit feiner Familie, mit der 
er fi überworfen hatte, aus und Irat in den Landesdienjt. Sein 
weiteres Leben iſt in Wohlſtand und Behagen verlaufen und erſt 
im hoben Alter von 75 Jahren it er im 3. 1842 in Friebridss 
hof geitorben. Leider haben wir gar feine Nachrichten darüber, 
ob er auch von ber Heimat aus bie alten Beziehungen zum 
Schillerſchen Haufe unterhalten habe. 

Adlerokron wurde geiftig bei weitem überragt von Karl 
Gotthard Graf, ber 1786—90 in Jena Theologie jtudierte, 
aber viel mehr Hinneigung zu fünftlerijhen Beſchäftigungen hatte, 
als zu feiner Wiffenfehaft, der er fid nur außerem Drude folgend 
gewidmet Hatte. Dan hatte die auf die freie Entfaltung ber 
Perſonlichteit gerichtete Geijtesbewegung ber Sturm: und Drang: 
periode in Pivland noch nicht erfaßt. „Daß es ein von Gtand 
und Beruf unabhängiges, rein fünftterii—hen Veitrebungen aus 
ſchliehßlich fi) widmendes Dafein geben könne und dürfe, blieb den 
Männern in Amt und Würden, dem Adel und den Patriziern 


677 Schlller und Livland. 


ber Stäbte hier fange unbegreiflich!." Auch in das Leben bes 
zum Künſtler geborenen, aber zu einem paftoralen Beruf gedrängten 
Graß war badurd) ein Zwiefpalt Hineingetragen, bi er ben mann- 
haften Entſchluß fahte, die bereits angetreiene Pfarre aufzugeben 
und feinem inneren Berufe zu folgen. Vielleicht hängt es doch 
mit biefem feinem Entwidelungsgange zuſammen, daß er in feinem 
Charakter und in feinem Wirken etwas unftät geweſen fein foll 
und daß er dazu neigle, feine Kräfte in zu verſchiedene Richtungen 
zu zerſplitiern. 

Es iſt unmöglid, Einzelheiten aus dem Leben dieſes 
intereffanten Mannes, den Grotthuh „als einen der vornehmiten 
Vertreter ber klaſſiſchen Literaturepoche in den balliſchen Provinzen” 
bezeichnet, Hier anzuführen®, aber daf er deſſen wohl wert wäre, 
geht ſchon aus Schillers Urteil über ihn hervor. Am 10. April 
1791 fchrieb Diefer an Körner’: „In eben diefem Sommer werde 
ich Dir noch einen andern jungen Dann ſchicken, der did als 
Künftler intereffieren wird. Es iſt ein Livländer, Namens Graf, 
der ſich einige Jahre in Jena aufhielt, um da Theologie zu 
flubieren. Darin hat er es nun nicht weit gebracht, aber deſio 
weiter im Zeichnen und Landſchaftomalen, wozu er ganz außer: 
ordentlich viel Genie befigt. Goethe hat ihn Fennen lernen* und 
er verficherte mir, daß er die Anlage zu einem vortvefflichen 
Maler in ihm finde. Im vorigen Sommer machte er eine Erkurfion 
in die Schweiz, von wo er ganz begeiftert zurüdfam. Cr wid 
Dir einige Schweizerlandfchaften zeigen, die er aus der Erinnerung 
binwarf, vol Kraft und Leben, obgleich nichts weniger als ausger 
führt. Dabei Hat er große Talente zur Poeſie, wovon Du im 
nächften Stück der Thalia eine Probe leſen wirft. Er ift ein 
herzlich attachirtes Wefen, wo es ihm wohl it, fein Auferliches 
verrät in jebem Betracht das Genie." 

Nicht ohne Intereiie ift es, dah Schiller in diefem Briefe 
von ber ſich im Wort und Bild äufernden Begeiſterung ſpricht, 
bie Graß für die Echweiz hegte. Der erite Band ber „Neuen 

1) (Diederichs), Briefe von Karl Grab, dem Maler und Dichter. Kiga 130h. 
— 2 Xgl. über ihm Allg. deutiche Biographie Bd. IX. Siners, Deutihe 
Dichter in Rußland. Verlin Neumann, Baltjde Maler und Vild- 
Hauer des 19. Jahrhunderis. Higa 1902. Fr. Vienemann jun., Aus Tagcı 
büdhern und Briefen des Malers Karl Graf. Vain Mon. 


®) Briefe IT, S. 142. — 9) Vgl. die Schilderung des Veſuches. den Grab bei 
Goeihe made, bei Vienemanı a. a. D. &. 288. 

















Säller und Sioland. 923 


Thalia” (1792) brachte zwei Gebichte „eines jungen Malers”, in 

Karl Graß erfennen: „Der Rheinfall” und „Erinnerung 
weis”. In dem leßleren preift ber Dichter voller 
Enthufiasmus die Schönheit und Freiheit „des Landes ber Telle 
und ber Winkelriede“. Sollte Schiller, als er viele Jahre fpäter 
von neuem auf die Schweiz und ihren Nationalhelden hingelenft 
wurde, fih nicht auch erinnert haben ber jugenblich begeifterten 
Schilderungen feines Freundes Graß? 

Grab hatte bereits 1786 Schiller in Dresben fennen gelernt 
und mar fpäter um feinetwillen länger, als er beabfidhligt hatte, 
in Jena geblieben. Er wurbe mohl bald, ebenfo wie Ablersfion, 
ein echter Hausfreund ber Schillerjchen Familie nnd hat an Leid 
und Freude berfelben Anteil genommen. Auch er hat, wie bie 
andern Freunde, bei der Pflege des leidenden Schillers, „der wie 
ein Sofrates auf feinem Aranfenbette mit mir auf Wiederſehen 
anftieß und mich bis ins Innerite dadurch bewegte,“ manche ernfte, 
aber aud) erhebende Stunde durchlebt, die ihm unvergeßlich blieb, 
und auch er hat es freudig bezeugt, daß Schiller in nachhaltigiter 
Weile fein ganzes Leben beeinflußt Habe. Man braucht nur die 
Briefe zu leien, die Graß zum Teil noch nad) jahrelanger Trennung 
an ben Dichter und beien Gattin richtele, um zu begreifen, welch 
ein mächtiger Zauber von dieſer Perfönlichfeit ausgegangen fein 
mu. — Bald nachdem er Abſchied genommen Halte, um in die 
Heimat zurüdzufehren, fchrieb er (3. Juni 1791): „Ich fühle 
e8 mit gerührtem Herzen, wie viel id) Ihnen zu danken habe, und 
wie von Ihnen erwärmt und ermuntert meine Seelenkräfte höher 
ſich zu heben jirebten. Daher fann ich jagen, daß Ihr Verluft 
mir unerſehlich iſt, weil nie ein Menſch bas über mich vermochte 
und das in mir wirfte, mit diefem hohen Gefühl für jede Ver- 
eblung mich bejeelte, wie Cie, teuerfter Hofrat. Daher werde ih 
aber auch nie die Stunden vergeſſen, in melden id, wenn auch 
furdtfam, Ihnen nahte, und die Wehmut, die mic) ergriff, als 
ih zum legten Mal auf dem Stuhl gelehnt Sie fumm betrachtete, 
wird noch oft mein Auge feuchten.” Und als er in Libland 
ſchwere Gewiſſenskämpfe durchzumachen hatte, da wandte er fi 
(1795) wieder an jeinen Freund und bat ibn’: „Wenn es Ihnen 











1) „Charlotte von Schiller und ihre Freunde”, LIL Yo, 1865, 
— Na D. ©. 10. 


324 Stiller und Livland. 


nicht zu viel Zeit raubt, fo antworten Sie mir nur etwas, das 
auf mein zufünfliges Leben Beziehung hat. Cs wird ein Feuer 
funfe meiner Seele ſein.“ Voller Begeifterung erflärt er ihm: 
„Sie vermögen unendlid) viel über mid) und meine Liebe für 
Sie ift eine Art Schwärmerei. .. Ich werde und fann Sie nie 
vergefjen. In ber Geſchichte meines Geiftes und Herzens und 
meiner ganzen Humanität komme id) immer auf Sie zurüd.” — 
Diefe Worte waren feine leeren Phraſen; fie famen aus einem 
übervollen Herzen, und die warme Empfindung, die fie hatte laut 
werben Iaffen, blieb unaustifgbar. Noch 9 Jahre fpäter ſchrieb 
Graf (1805) an Charlotte Schiller!: „Es iſt doch für mic) gewiß 
und ausgemadht, daß feines Menſchen Worte und Gebanfen jo 
fühlbar meine Seele — leider fann ich nicht fagen meinen Geift 
— aufgeregt hätten, wie die feinigen [Cdjillers]. Hätte ein 
lebendigerer Funfe in mir aufgeregt werben lönnen, jo hälte es in 
feiner Nähe geſchehen müſſen. — — — Aus biefer Liebe und 
unbegrenzten Achtung für Schiller fann ich's mir aud) erklären, 
warum ich nie Bedenken getragen hätte, mit allen meinen Blöhen 
vor iller zu erſcheinen. Selbſt mein Todesurteil hätte mich 
aus feinem Munde nicht erſchreckt,“ Und wie herzbewegend ift bie 
Rlage, in die Graß ausbricht, als er die Nachricht vom Tode 
Schillers erhalten hatte?: „Ich bin ftumm und meine Bruſt iſt 
wie der lauflofe Stein. Die Welt ift mir verödet und jo gleich: 
gültig, daß ich mitten unter der Unruhe der Menſchen beinahe 
furcht· und gebanfenlos umherwandle. .. Sie willen, wie ich 
ihn liebte, und jelbjt meine Klage um ihn wird Ihnen tröſilich 
fein. Rann man etwas anderes fun als Elagen, daß aud) das 
Vortrefflichfte hienieden nicht dauern fann? Aber fanft und 
melodifch ſei die Klage um ihn, deſſen Seele fo ganz Harmonie 
war. Entweihung feines Andenfens bünft mid) jede zu laute 
Äußerung des Schmerzes über fein Worübergehen.” Eine wehe 
mütige Freude bereitele es Graßz, daß er furz vorher einen Brief 
Schillers erhalten hatte, der mit den Worten ſchloß: „Ich ums 
arme Sie mit der herzlichſten Liebe und jehe einem Worte bes 
Andenkens mit Sehnſucht entgegen.” Ihm erſchien es fo, als 
kämen diefe Worte aus einer andern Welt herab. Diefer Brief 








a. a. O. S. 18. — 2) 4. 4. O. Sr 


Schiller und Lioland. 325 


Schillers vom 2. April 18051 bemeift, mit welcher Treue und 
welchem teilnehmenben Herzen er bie Schickjale feiner Freunde ver- 
folgte. Da er meines Wiffens bei uns nod wenig befannt iſt, 
möge er hier im Wortlaut folgen: 


„Wie jehr fürdte ich, mein werter, teurer Freund, daß mein 
langes Stillſchweigen auf Ihre lieben Briefe, die von einem fo 
werten Andenfen begleitet waren, Ihnen eine feltfame Meinung 
von mir mödjle beigebracht haben. Aber da ich Ihr Paket mit 
der Zeichnung erhielt, war ich gefährlich krank und meine Frau 
lag eben in Wehen, fo daß ich für alles andere unfähig war. 
Und fo war es leider auch den größten Teil bes Winters, unter 
deſſen Strengigfeit meine ſchwache Natur bald erlegen wäre. Yeht 
mit eintrelendem Frühjahr fömmt bie Heiterfeit und ber Lebensmut 
zurüd, und fo wie die Erbe ber Sonne, öffnet ſich auch die Seele 
der Freunbfhaft wieder. 

Ich fange alfo damit an, Ihnen aufs herzlichite für Ihr 
Andenfen an mid, für Ihr fortdauerndes Vertrauen zu mir zu 
danken. Wahrlich, Ihr Andenfen ift immer frifh und febenbig 
unter uns, und innig rührt es uns, daß auch Sie unſrer benfen. 
In diefer Zeit hat fich freilich viel bei uns verändert, mein Haus 
it lebendig geworben, und Sie würden ſich wundern, wenn Sie 
meine Söhne fähen, davon der älteite jeht bald zwölf Jahr alt ift. 

Viel Freude habe ich in diefen 12 Jahren erlebt, wiewohl 
aud) viel durd) Krankheit gelitten, aber der Geift ift doch immer 
frilch geblieben. 

Ihre Zeichnung hat uns einen fehr angenehmen Beweis 
Ihrer Fortihritte in der Kunſt gegeben, und gewiß würde es nur 
von Ihrem beharrliben Willen und von ber Entfdiedenheit Ihres 
Sntfchluffes abhängen (dev jept noch zwifchen Poefie und Dialerei 
hin und her zu ſchwanken fcheint), es in ber Kunſt zur Mleifter- 
{haft zu bringen. Cine fCöne Phantafie belebt Ihr Wert, es hat 
Geift und Anmut, und vielleicht mangelt es ihm weniger an den 
höheren Eigenjchaften, welche die Natur allein gibt und der Fleiß 
nie erwirbt, als an gewillen mechaniſchen, die fih durch anhaltende 
Übung erwerben Laffen. Ic faun von Ihrem Gedichte ohngefähr 
das mänliche in Mbficht auf bie poelilchen Forderungen jagen, 
Seele und Gefühl atmet darin, wie es in allem ber Jall jein 
wird, was Sie maden. Aber der Sprache fehlt es an Beltimmt« 
heit, Sicherheit und Korrektheit und dem Ganzen noch die legte 
Sand. Ihr Aufenthalt in Ztalien, der Ihren malerischen Fort: 
ichritten günftig ift, wird Ihren poetiſchen Arbeiten nachteilig fein, 


!) Briefe VIL, S. 222. Pienemann gibt an (S. 307), daß er verloren 
gegangen ei. Es war damals diefer Yand der Briefe gm noch nicht befannt. 


Baltifhe Momatafcrift 1005, Heft & 6 


326 Stiller und Sioland. 


meil Cie in bdiefer Entfernung mit unfrer Dichterfprahe nicht 
wohl gleihen Schritt Halten fönnen, die in beftändiger Geftaltung 
und Umftaltung begriffen it. Ich würde alfo, wenn ich mid) in 
Ihre Seele vertepte, raten, Ihre Partie zu ergreifen, unb entweber, 
wenn Sie in alien bleiben, ganz und ausicdhliegend der Land: 
ſchaftsmalerei fich hinzugeben, oder wenn zu der Poefie die Nei- 
gung ftärfer ift, Italien zu verlaflen und in Deutichland beutiche 
Poeſie zu treiben. Zwiſchen beiden aber, glaube id, müffen 
Eie eine Wahl treffen, weil fonohl die Malerei als bie Poeſie 
ihren Mann ganz fordert, und bier feine Teilung möglich ift. 
Faſſen Sie bald Ihren Entſchluß, und unwiderruflich, denn das 
Leben hat einen furgen Lenz und bie Kunft iſt unendlich. 

Laſſen Sie mid willen, ob ich Ihren „Fels von Felfenftein“ 
etwa zum Drud in den Gottaifdien Kalender geben darf, an bem 
auch id arbeite. Ich denke, baf; man gern ein annehmliches 
Honorar dafür bezahlen wird, 

Mie gern, mein lieber Freund, verfegte ich mich zu Ihnen 
unter Ihren ſchönen Himmel, in Ihre herrliche Natur und an Ihr 
eigenes liebendes Her), wenn ber Körper fo leicht den Wünſchen 
folgen fönnte. Aber ein unermeßlicher Raum liegt zwiſchen uns 
und ic fann mit meiner Geſundheit feine ſolche Probe machen. 

Id) umarme Sie mit der herzlicien Liebe und fehe einem 
Worte des Andenfens von Ihnen mit Sehnſucht entgegen. 

Ewig der Ihrige 
Schiller. 


Außer Behaghel von Adlerskron und Karl Graß wird nur 
noch gelegentlich von lehterem ein Noltbeck als Beſucher des 
Schillerſchen Hauſes genannt!. Es muß das Nikolaus Bern 
hard von Nottbed, ber in jenen Jahren in Jena Medizin 
ftubierte und fpäter als Arzt in Nußland gelebt hat?, gewefen 
fein. Auch Garlieb Merkel, der 1796 nad) Jena gefommen 
war, hat damals als Überbringer eines Briefes von Karl Graß, 
Schiller aufgeſucht und dann fpäter noch einmal dieſen Beſuch 
wiederholt. Er ſelbſt hat über dieſe einzige perſönliche Berührung, 
die er mit dem großen Dichter gehabt Hat, im 9. 1812 in ben 
„Skizzen“ und im 9. 1840 in ben „Darftellungen und Charak- 
teriftifen” Vd. II. Bericht eritattet. Das erſte Mal fand Merkel 
Schiller frank, erjhöpft und mißlaunig, beim zweiten Bejud vers 
brachte er mit ihm eine halbe Stunde im lebhaften Gefpräd in 
feinem Garten. Diefe einfache Tatfahe gibt Merkel in den 

) Bienemann a. a. ©. ©. 300. — 2) Nede-Napiersty, III, S. 320. 


Schiller und Liofand. 37 


„Skizzen“ Weranlaffung zu einer, wenn aud nicht einwandfreien, 
fo doch fehr anerfennenden Charafterifierung des Dichters, während 
er 28 Jahre jpäter die Gelegenheit nicht vorübergehen laſſen kann, 
ohne recht gehäffige Bemerkungen gegen Schiller und Goethe ein 
zuflechten. Auch hier bemahrheitet fid, was ſchon im 9. 1887 
ein Kritifer ausſprach!, daß die früheren Niederfchriften Merkels 
unbefangener find, während bie fpäteren immer ftärfer alle Schatten» 
feiten feines Wefens fundtun. Erſt im zweiten Bericht fieht ſich 
Merkel gemüßigt, die körperliche Erſchöpfung Schillers in Zu: 
fammenhang zu bringen mit feiner unregelmäßigen Lebensart, mit 
nãchtlichem Rartenipielen, Begeifterung durd Wein ıc. Trotzdem 
verwahrt er fi) gegen ben Vorwurf, er habe eine feinbfelige Ge 
finnung gegen Schiller gehegt, unb erklärt, daß er ben Dichter 
bewundert habe, daß aber der Menih ihm gleichgültig gemefen 
fei. Wie anbers dachten doch alle diejenigen, bie unter bem Zauber 
bann der Perfönlicfeit Schillers geitanden Haben! Wie mwurbe 
doch gerade der Menſch Schiller von jo Vielen und mit Recht 
geliebt! — Ueber Merkels Stellung zu den Geiftesheroen feiner 
Zeit ift bereits fo häufig geſchrieben worden, daß ich mir wohl 
erlauben darf, über dieſes unerquidliche Thema an dem heutigen 
Gedenftage Hinmweggugehen, zumal die Zeit e8 nicht erlaubt, basfelbe 
auch nur einigermaßen erfhöpfend und in einer beiben Teilen ger 
recht werdenden Meife zu behandeln. Wie irreführend das Urteil 
über Schiller in dem Merlel'ſchen Kreife war, bafür nur einen Beleg. 

In demfelben Jahr (1804), in dem Schiller jchreiben fonnte®, 
daß „felbjt Merlel, der immer mit mir im Streite lag, ben Tell 
mit vollen Baden angefündigt habe?“, bulbete biefer — es war 
menige ‘Donate vorher — in der von ihm herausgegebenen Zeit 
ſchrift „der Freimüthige ober Ernft und Scherz” eine —dt ge 
zeichnete Anzeige ber Schillerſchen Gedichte, in welder ber Dichter 
in möglicjft falſcher Weiſe beurteilt und als Einer, ber den Höhe 
punft feines Nuhmes längft überfchritten habe, bezeichnet wurbe*. 
1) Higafehe Zeitung 1897, Mr. 93. — 2) Briefe VIL ©. 170. — 
®) Zol. die in der Zat „von Enthufiasmus erfüllte“ Rritit im „Sreimütigen“ 
1804, Rr. 135. — 4) 1804 I: — Februar, Rr.20, 21, 24. In der Nr. 66 
efen wir folgende Bemerkung: „Man dat von vielen [häfbaren Seiten her dem 
Redakteur verbindliche Sacyen über die Beurteilung Schillers und ein paar andere 
mit „—.” umercnte Muffe gefag, weil man Ihn für den Befafer ber 
felben So angenehm ihm auch) eine folde Bermedjstung üt, fo glaubt er 
dos) feinem Freunde die Ertlärung jquldig zu fein, daß man fi ist. Herr 

o* 









338 Schiller und Sinland. 


„Auch Schiller verliert” — jo heißt es bafelbft — „menn man 
ihn- mit ſich ſelber, — das Jept mit dem Einft vergleicht. Schon 
im 9. 1795 fing die Blüte feines Geiftes an zu melfen, mit 
jebem neuen fanfen einzelne Blätter, und nun! — Es liegt am 
Zage, daß Schiller ſich von dem Augenblid an, wo er feinen 
Ruhm völlig gegründet fah, zu vernadjläffigen anfing, feſt ver- 
trauenb: man werbe nunmehr felbft feine Fehler preifen, wie benn 
auch wirklich von einigen Zeitfchriften lächerlicher Weife geſchehen 
iſt.“ Wer Schiller nur einigermaßen fennen gelernt hat, wird 
eine folhe Beurteilung bes rafılos vorwärts jirebenden unb bis 
äufept an fid) arbeitenden Dichters nur als ein Ruriofum betrachten. 
Was foll man aber dazu jagen, wenn Frau Karoline Herder das 
mals gerade an Merkel ſchriebi: „Wie hat fid ber Freimüithige 
unter Ihrer Hand gehoben! Das Urteil über Schiller ift wahr, 
das fagen auch fogar feine Anhänger: Wer ift dieſer Dann voll 
Geift und Verſtand?“ 

Auch mit zwei in unſerm Heimatlande oft genannten Frauen 
ift Schiller, wenn auch nur in flüchtige Berührung gefommen. 
Im 3. 1802 machte er „in der Komödie“ die Velanntichaft der 
anmutigen Herzogin Dorothea von Kurland, nachdem. er 
fait ein Jahrzehnt früher mit ihr bereits Grüffe ausgetaufcht 
hatte?, Er bezeichnet fie als ein jehr „angenehmes und reigendes 
Geſchöpf.“ Weniger ſympathiſch ſcheint ihm bie Schwefter ber 
Herzogin, Elife v. d. Nede, gewelen zu fein, die er übrigens 
perſonlich kaum gefannt haben wird, obgleid fie im J. 1788 
allerbings 2 Tage in Weimar war. Sie war damals mit ihrem 
bisherigen Freunde Yavater in Folge ihrer Schrift über Caglioftro 
ganz auseinandergefommen und hatte mit ihm einen heftigen 
Briefwechfel gehabt. Schiller urteilt über benfelben in recht 
ſcharfen Worten?. Ein Jahrzehnt fpäter unterzieht er fich offenbar 
nicht mit großer Vegeiterung ber Arbeit, ein „voluminöfes Schau 
ſpiel“, das ihm Elife v. d. Rede „mit der Plenipotenz zu ftreichen 


—dt. iſt din junger Mann von ausgezeidäneten Talenten, ber in Sachſen Icht.” 
— Tiefer 2. Jahrgang des „greimütigen" (1804) foll in Deutfchland nur fchmer 
anfauzeiben a: So erflärt 3. B. Roberjtein (Grundriß der eich. ber beutfchen 
©. 2508, - 2 z a ihn fich nicht verihaften 

Ant, Aut Baltifche Aufturftubien 
®) Briefe IL, ©. 148, 
289. 












B ©. 3 
153. Bol. Nadel, Elife o. d- iede. 1oo2. 1 


Sqiller und Lioland. 329 


und zu zerftören“ zugejandt hatte, für die Horen umzuarbeiten. 
„Daß jo moralijhe Perfonen“ — jcreibt er Goethe! — „ſich 
ung Kegern auf Onade und Ungnade übergeben, bejonders nad) dem 
fo lauten Xenien-Unfug, iſt immer eine gewiſſe Satisfaftion.“ — 
Nod eine andere Werfönliceit, die zu Kurland in Beziehung 
treten follte, hat Schiller in jenen Jahren kennen gelernt. Es 
war der von der Herzogin als Profeſſo der Geihichte in Mitau 
angeftellte Friedrid Schulg, der in Aurland aud eine 
politiſche Nolle geipielt hat. Er wird von Aug. Seraphim als 
ein geiftreiher, aber uniteter und lüderlicher Mann bezeichnet. 
Schillers Urteil ftimmt mit dem Eeraphims ganz überein. Er 
nennt ihn einen Menden von Kopf, jatiriihem Beobachtungsgeiſt 
und vieler Laune, einen amüjanten Geſellſchafter und gewanbten 
Vielſchreiber. „Schultz weis“ — To ſchreibt er einmal, „sehr 
unterhaltende PBartifularitäten von dem Aufruhr in Paris zu ere 
zählen, gebe der Himmel, daß alles wahr ift, was er fagt! Ich 
fürchte, er übt ſich jept im Worlügen jo lange, bis er die Sachen 
jelbft glaubt und dann läßt er fie drucken?.“ — Über einen 
weiteren jungen Gelehrten, den Profeijor Karl Morgenftern, 
der 1802 in unſer Land berufen wurde, um an ber neubegründeten 
Univerfität Dorpat eine erfolgreiche Tätigfeit zu beginnen, liegt 
ein allerdings nur ſehr gelegentliche Urteil Schillers vor. Er 
nennt ihn eine feinem fpez. Kollegen „Woltmann ähnlihe Natur, 
auch jo fofett und elegant in feinen Begriffen, und ber die philo: 
ſophiſch kritiſche Kurrentmünze ganz gut inne hat.” 

Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ift, alle nennenswerten 
Berjönlichfeiten aus umferer Heimat ausfindig zu machen, die 
zu unferm Digterfürfien in Veziehung geitauden haben. Doch 
mir fag and nicht an abfoluter Vollitändigfeit; es war mir nur 
eine Freude gerade heute hinzuweiien darauf, dab auch Balten der 
Perſon und dem Herzen Schillers nahe geftanden haben und 
daß mande Söhne unjeres Landes, heimgefehrt aus der Ferne, 
aud) hier die Liebe für Schiller, die ſchon durch feine Werke wach- 
gerufen war, nod) weiter gepflegt und verbreitet Haben. 












% Briefe V, ©. 209, 318. — %) Briefe LS. 431; II, 352; III, 01, 
115 uiw. Wgl. über Schaly ein gümtigees Urteil bei Nede-Napiaatn IV, 
S. 141, und Dannenberg, Zur Ode und Ctariinf des Öpmmaiiums zu 
Mitau. 1875. 





330 Schiller und Lioland. 


Im 3. 1785, alfo 3 Jahre nad) der erften Aufführung der 
„Räuber“ in Mannheim, haben die Nigenfer zum erften Dial ein 
Schillerſches Schaufpiel, „Rabale und Liebe“, kennen gelernt. Die 
Zuftände im damaligen Riga find bei Gelegenheit des Herber- 
Gedenktages (1903), deſſen eier noch unvergefien iſt, mehrfach 
geichildert worden, fo daß ich hier nur darauf hinweiſen will, daß 
in unferer Vaterjtadt der richtige Nährboben, auf dem das Intereſſe 
für die großen Dichter des deutſchen Mutterlandes ſich entwideln 
und emporwachſen konnte, durchaus vorhanden war. „Die Teil- 
nahme an ben geiftigen Bewegungen Deutfchlands war in ben 
leitenden Rreifen von Stadt und Land erwacht.“ Die Gefellichafts- 
freife, in denen Herder feinem eigenen Zeugnis gemäß bie glück- 
lichjten Stunden feines Lebens verbracht hatte, beitanden nod. 
Allerdings war in ben 1/e Jahrzehnten feit feiner Abreife (1769) 
mandjer Wechſel in ben PBerfonenverhältniffen vorgefommen, aber 
gerade am Ende des Jahrhunderts traten nicht wenige geiltig 
hervorragende Männer in den Dienſt unferes Gemeinwejens. In 
einer wahrideinlih nad Berlin gerichteten Nig. Theater-Korres 
ſpondenz v. 3. 1788 heißt eo freilich: „Hier weiß man im ganzen 
genommen von der Güte des Flachſes und des Getreides mit 
weit fihererm Geſchmack zu urteilen, als von ber Güte ber Stüde 
und bes Spiels, und ift in der Literatur des Danfes und ber 
Maſten weit bewanberter, als in ber Literatur bes Theaters. 
Gtüdlihe Menihen!!“ Gin foldes Urteil war aber ſicher ein⸗ 
feitig und verbifien und fann jedenfalls nur für einen Teil des 
Nig. Publifums zutreffend gemefen fein. Die Geſchichte des Rig. 
Theaters belehrt uns eines Beſſeren. 

Im 3. 1782 war das nene Theater im Haufe der Muffe 
an ber Rönigfiraße, das man dem Geheimrat Baron Vietinghof 
zu verdanken hatte, mit ber Aufführung von Emilia Galotti 
eröffnet worbden*. „Eine Direktion, bloß aus Liebe zur Kunſt, 
uneigennügig, aus eigenen Mitteln die ſchwerſten Opfer bringend, 
ein Yublifum, enthufiaftiich für das neue Inftitut intereffiert, ein 
Schaujpielerperfonal, aus Individuen beftehend, welche don bie 
Zierden der bedeutenditen Bühnen Deutſchlands ausgemacht hatten 

3) Ein eingelnes Blatt in der Bibl. der Gef. j. Geſch. u. Altertumstunde. 


— 4) riedrig Biedert, Geichite des Theaters zu Wiga 1700-1827 im 
Almanach für Freunde der Scaulpielfunit auf d. 3. 1829. Yiga 1828. 


Schiller und Lioland. 331 


— mas fonnte ba noch fehlen?” Und als Baron Vietinghof, der 
zwei Jahre lang das Theater jelbjt geleitet hatte, bie Direktion 
den Scaufpielern Meyrer und Koch-Eckardt übergab, fam man 
ihnen von allen Seiten mit Unterjlügung entgegen. „Unter glüd: 
licheren Auſpizien“ fo jagt der Gefdichtsfhreiber des Theaters — 
„bat hier nie wieder eine Direktion ihr Werk begonnen. Schiller, 
Goethe, Iffland traten in diefer Zeit als dramatiſche Schriftfteller 
und Mozart als Komponift auf. Mit weld einer Dienge von 
dramatiſchen und muſikaliſchen Meiſterwerken wurde jegt die deutſche 
Bühne beichenft ! Nein Wunder, daß die fon erwachte Neigung 
zur Schaufpieltunit beim Publikum endlich in enthuſiaſtiſche Liebe 
ausbrach.“ Schiller gegenüber iſt dieſe Liebe nie erfaltet. Zum 
Beleg dafür fei es mir geitattet, hier einige freilich etwas trodene 
Daten in betreff der Aufführungen Schifleriher Dramen an unfrem 
Theater anzugeben?. Wenn einzelne Schaufpiele erſt ſpät ober 
längere Zeit hindurch nicht auf die Bühne gefommen find, fo ver: 
mute id dabei äußere Hinderniſſe, die im Cinzelnen allerdings 
ſchwer nachzuweiſen find. 


„Kabale und Liebe" wurde 1785 zweimal aufgeführt 
und dann mit ziemlich vegelmäßigen Unterbredhungen im Ganzen 
106 Mal bis zum 9. 1902. " 

„Die Räuber“ wurden am 28. und 29. Dezember 1786 
zuerſt aufgeführt. Won 17941808 fehlten fie auf dem Repertoir, 
find aber doc) am meiften von allen Schillerſchen Stüden, 116 Dal 
aufgeführt worden. 

„Die Verſchwörung bes Fiesko“ it im J. 1787 
(2. Februar) 5 Mal, im Ganzen bis 1900 — 30 Mal zur Dar- 
stellung gebracht worden. 

„Don Karlos“ wurde zuerjt am 9. November 1787 und 
dann am 10. November „auf lautes Begehren“ nodmals gegeben. 
Nach mehreren Wiederholungen in den Jahren 1787—88 blieb er 
auffallenderweife von der Bühne fern bis zum Todesjahre des 
Dichters (1805), in dem er viermal aufgeführt wurde, um dann 
erjt nad) längerer Unterbredung vom I. 1832 an regelmäßiges 
Nepertoirftüct zu werben. Er ijt bis 1905 im Ganzen 75 Mal 
gegeben worden. An die Grwerbung des Danuffripts zum „Don 








1) Rach den Aufzeichnungen im Zfeater-Arhiv. 


332 Schiller und Lioland. 


Karlos“, von ber ich früher berichtet habe, erinnert die Mitteilung 
an das Publitum a. d. I. 1787: „Da mir biejes Meiſterſtück 
nicht anders al mit Aufwendung beträchtlicher Koften haben 
erhalten fönnen, jo wird das hachgeehrte Publitum ben erhöhten 
Preis bei jedesmaliger Aufführung zu erlegen ſich gütigit gefallen 
laſſen.“ 

„Maria Stuart“ iſt am 30. April 1803 zuerſt aufger 
führt und dann im felben Jahr 8 Mal — jo oft wie fein andres 
Drama — wieberholt worden. Es iſt bis 1904 im Ganzen 108 
Mal gegeben. 

„Wallenfteins Lager“ kam zuerft am 13. April 1811 
auf die Bühne und wurde in dieſem Jahr und 1812 — 5 Mal 
gegeben, dann aber fange Zeit hindurd) nur in einzelnen Jahren 
(1824, 1833, 1842), bis es von 1852 an regelmäßig vorfommt. 
Im Ganzen ift es bis 1903 50 Dal gegeben worden. 

„Die Biccolomini“ find am 31. Oftober 1813 zuerit, 
dann aber nad) einmaliger Wiederholung bis 1868 garnicht mehr, 
bis 1903 im Ganzen 19 Mal aufgeführt worben. 

„Wallenfteins Tod“ iſt vom 14. November 1813 an 
bis 1903 49 Dial gegeben worben. 

„Die Braut von Mejfina“ ift vom 9. Dezember 1813 
an mit ziemlich regelmäßigen Unterbredungen — nur von 1818 
bis 1827 und von 1829—40 find längere Lüden — im Ganzen 
40 Dal aufgeführt worden (bis 1904). 

„Die Jungfrau von Orleans“ iſt vom 27. Mai 1814 
an bis 1905 77 Mal gegeben worben. 

„Turandot“ wurde zum erſſen Mal 1820, dann erſt 
1869 wieder aufgeführt und ift bie 1893 im Ganzen 18 Wal, 
ſeitdem aber nicht mehr gegeben worden. 

„Wilhelm Tell“ iſt zuerſt unter dem Titel „Tells 
Geſchoß und Geßlers Tod“ am 27. November 1821 auf bie 
Bühne gefommen und ift mit einer Unterbrechuug in den Jahren 
1827—59 im Ganzen 58 Mal aufgeführt worden. 

„Das Lied von ber Glode*, dramatiſch-mimiſch ein- 
gerichtet von Goethe, wurde am 12. Dezember 1822 aufgeführt 
und bis 1896 — 22 Mal wiederholt. 





Schiller und Livland. 333 


„Demetrins“ wurde am 25. und 28. Dezember 1823 
und am 1. Februar 1824 gegeben und wird erjt jegt wieber von 
neuem zur Aufführung vorbereitet. 

Von allen ben zahlreichen Kotzebueſchen und Ifflandſchen 
Stücken, die zur Zeit Schillers nod die Bühne in Deutichland 
und auch bei uns beherrihten, habe ich in bem neueren Repertoir 
unfrer Bühne nur zwei entdecken können: „Menſchenhaß und 
Neue“, welches zulegt 1873, und die Ifflandſchen „Jäger“, welche 
1885 gegeben worden find. 

So wie die Aufführung eines neuen Schillerſchen Stüdes 
ein Ereignis war, fo riß man ſich geradezu um die neu anger 
tommenen Gremplare eines jeden jeiner Werke. Das Manuffript 
des „Don Rarlos“ ging. wie Merlel erzählt, raſch, faum von 
einer Hand zugeſchlagen, in eine andere; er habe es nur auf eine 
Nacht, die größtenteils dabei durchwacht wurde, erhalten. Und 
ein Dorpater Muſenſohn jchreibt im J. 1804°: „Mit Deinem 
Schillerſchen Tell kommſt Du zu jpät. Geitern befam ihn ein 
Student von Hartmann aus Riga zugeididt, aber er war auch 
feines Lebens nicht froh, alles bejtürmte ihn, alles wollte den Teil 
leihen, doch id) und meine Stubenfameraden waren die Sieger, 
wir befamen ihn vom Beſitzer geliehen. Gejtern Abend alſo, 
nachdem die Kollegia geichlofien waren, verjammelte ſich eine 
Menge von Stubenten bei uns und einer (a6 den Tell vor; er 
hat uns viel Vergnügen gemacht.“ 

Das Geiprädh über Schiller und feine Bedeutung geitaltete 
ſich oft im ben geiftig angeregten Kreiſen Nigas zu förmlicen 
Debatten. So mußte Merkel? einmal in dem fog. „Propheten 
Hub“, einer Geſellſchaft junger Literaten, bie fid) beim Schaufpieler 
Grohmann zu verſammeln pflegte, mit diejem darüber disputieren, 
wer größer fei: Voltaire oder Schiller. Merkel trat für fein „ver: 
ehrtes Diufterbild* Voltaire ein und ging natürlich feiner Mei— 
nung nad als Sieger aus dem Nedefampf hervor. Don einer 
andern Debatte erzählt uns (1792) der damalige Hofmeiiter, nad): 
herige Profeſſor Kranfe?. Er traf beim Konreftor Brotze zum 
erjten Mal mit feinem fpäteren Fremde Karl Graß zufammen. 





2) Weite, Tarftdiungen und, Churaferititen I 1830. ©, 140. — 
9) Auufrierte Beige der ig. Bnjg. 1001, & 8. — u.a. D. & 110 fie 
— 5 Yatr, Man, N. 9. 52. ©. 83. 


334 Sqhiller und Lioland. 


Auch hier berührte das Geſpräch gleich das literariſche Gebiet. 
„Schiller war“ — ſo berichtet Krauſe — „ſein Ideal, Herder und 
Goethe paſſierten jo nebenbei. Dies reizte mic), der ich auf beide 
in manden Sachen mehr hielt, und wir gerieten in heftigen Streit. 
Der alte Broge hatte fein Gaudium an der Hepe.” — Ich denke, 
daß biefe paar Beifpiele uns dod ein Bild davon geben, mit 
welchem regen Intereſſe man fid bier die aus Deutichland dar- 
gebotenen geiftigen Schätze anzueignen ſuchte. An und für fid) 
von feiner großen Bedeutung, charakterifieren ſolche Meine Züge 
vielleicht doc) die damalige Situation in Riga’. 

Und als die Nachricht vom Tode Schillers die Beſten unjres 
Volles tief erfchütterte, da wurde au in unfrem Lande ber Ver— 
huft tief empfunden, und man bemühte fi, das Anbenten des zu 
früh Dahingefchiedenen zu ehren. Im Oftober 1805 erließ ber 
Shriftiteller Rudolf Zacharias Beder in Gotha einen 
Aufruf?, in dem er ben Vorſchlag machte, aus ben Beiträgen der 
deutfhen Schaubühnen für die Nachkommen Schillers ein Landgut 
zu kaufen, das feinen Namen tragen und aud zur Pilege ber 
Erinnerung an ihn bienen follte. Der Nigaer Theaterdireltor 
I. Meprer machte fid) fofort an die Realifierung diefes Planes 
und fündigte zum Beten biefes Zwedes bie Aufführung des Don 
Karlos in einem warm geſchriebenen Zirkular an?. Nachdem er 
darauf hingewiefen, baß „ber deutſche Dichter, auf welchen feine 
Nation vor allem ftolz jein durfte, der jeben Deutjchen, der für 


?) Dan war in Livland auch fehr bafd darauf bedacht, die Shilerfcen 
Ditstungen burd Übertagungen unfren Iettilden Sandesgenoffen zugängtic zu 
machen. So wurde bereits 1804 daS „Lied an die Zreube“, 1826 die „Blode”, 
„Der Zauder“, „Das Müden aus der Fremde” ins Leitifche überfegt uf. 
Deute find die meiften Schilferjgen Dramen und gahfreiche Balladen und Gedichte 
in Tettifchen Überfegungen vorhanden. 

In tenifper Sprade aufgeführt wurden zum erften Mal „Die Räuber“ 
1885 in Mitau. Dos Migafche Yenifche Theater Hat dann bisher nod, folgende 
Dramen in Spene geleht: 


„Rabale und Liebe . . . zum erften Mul 1989. 
Die Rluber . 0... nn 180. 
A Die Jungfrau von Orleans" un IND. 
„Dario Stuart” . nm 1BBT. 
„Don Carlos". . 0... „1000. 


Über die eftnifchen Überfepungen Schillerſcher Dichtungen find uns im Augenblic 
die nötigen Daten nicht Jur Yan. 

g) 2at, ent Bü, Seiler Intimes aut, feinem Sehen x. 1908. 

2 ®) Dasfelbe üt in der Sammlung von Iheaterzettein in der Bibl. 

der er ji Geſch u. Altertumstunde enthalten. 





Stiller und Livland. 385 


das Große, Wahre und Schöne Gefühl hat, jo unzählig oft er 
wärmte*, jegt nur noch in feinen Werfen und in dem Dank ber 
Welt und Nachwelt lebe, jagt er weiter: „Ich würde an einem 
Publikum, wie das rigiihe, ein Verbrechen begehen, wenn ich 
diefem edelmütigen Publikum die Veranlaſſung rauben wollte, 
nicht nur feine Hochjhägung Schillers öffentlich zu bezeugen, ſondern 
auch einer Unternehmung beizutreten, welde bie ſchöne Kunſt, 
welche bie Menſchheit ehret.” Die Aufführung fand gegen 
beliebiges Entree ſtatt, das ganze Unternehmen aber fceiterte in 
Deutſchland an manderlei Yindernifien. Unfere Bühne ließ es 
ſich auch fpäterhin angelegen fein, das Andenken an ben großen 
Toten durch befondere Aufführungen am Tobestage zu ehren. © 
wurde im 3. 1811 bie vom Grafen Chr. E. Bengel! verfaßte 
„Schillers-Feier, feinen Manen durd) feinen Geift,” bie vorher nur 
ein Mal in Negensburg am 1. Febr. 1806 aufgeführt war, zur 
Darftellung gebracht. Vorher bereitete ein Werehrer des Dichters 
durch ein „Programm“* auf den Inhalt des Werkes, das nur in 
Abſchriften furfierte, vor. Unſerm Geſchmack würde dasjelbe wahre 
ſcheinlich kaum mehr zufagen, der Verfafler des Programms aber 
nennt es ein, „genialiſch ausgeführtes Kunſtwerk.“ „Es iſt das 
Ganze” — jo fagt er — „ein aus dem innigſten Vertrautjein 
und aus der nädjften Geiſtes Verwandtſchaft mit bem großen Dichter 
hervorgegangenes Gento in dramatiſcher Form, ein biographiſches, 
poetifches Muſſiv-Gemãlde vom Leben und Wirken unjeres Dichters 
aus dem unerſchöpflich veichen Nachlaſſe Schillers und namentlich 
aus jeinen vermiſchten Gedichten und aus feinen dramatiſchen 
Werken.“ Der Gebanfe, die Aufführung jährlich zu wiederholen, 
wurde nicht realifiert. 

Wenig befannt iſt es, daß unjer Heimatland 
fig rühmen fann, das ältejte Denkmal zu befigen, 
das Schiller zu Ehren errichtet worden it. Wohl 
wurde gleich nad) dem Tode des Dichters im feiner Geburtoſtadt 
Marbach der Gedanfe erörtert, ihm ein Denkmal zu jegen, aber 
erft 1830 iſt auf der Schillerhöhe in Volkſiädt die Danneder’iche 
Büſie aufgeftellt und 1839 zum erjten Mal in einer Stadt, in 









1) Bengel, geb. 1767, war damals Winifter in Baden, 
3) @gl. dasielbe in der Vibliotget der Geielic. für Ceſchichte und Aliet- 
tumstunde. 


336 Schiller und Livland. 


Stuttgart, ein Schillerdenkmal enthüllt worden!. In unſerm 
Lande iſt bereits 1813 von Frau Wilhelmine v. Helwig, 
geb. v. Helwig auf der Inſel Pucht (Schloß Werder) dem 
Andenken Schillers eine 1,28 Met. hohe Gedenkjäule geweiht 
worden?. Die Säule trägt die Infchrift: 
DEM ANDENKEN FRIEDRICH VON SCHILLER 
TEUTSCHLANDS ERHABENEN DICHTER UND 
LIEBLING DER MUSEN GEWIDMET 1813. 
Auf der andern Seite ftehen die Worte: 


Die Dichtkunst reicht dir ihre Gütterrechte, 
Schwingt sich mit dir den ewgen Sternen zu, 
Mit. einer Glorie hat sie dich umgeben, 

Du schufst fürs Herz, du wirst unsterblich leben. 





Bon jener Zeit an ift die Verehrung für Schiller nicht ers 
loſchen wenn aud) die Flamme ber Vegeiflerung, ähnlich wie in 
Deutſchland, mitunter nur langſam fortbrannte, dann aber wieder 
Hell emporloderte. Oro war ber Enthufiasmus auch bei uns in 
dem berühmten Schillerjahre 1859. Die politiſchen Verhältuiſſe 
geltalteten bie Erinnerungsfeier an den Dichter zu einem „National: 
fefte, wie Deutichland noch feines erlebt Hatte” Wir nahmen 
regen Anteil an ben Schickſalen des Mutterlandes, aber bie Ver: 
hältnifje unjeres eigenen Landes, bie jih damals befonders freund- 
lich zu geftalten jdienen, trugen wohl befonders dazu bei, daß bie 
Feſtlichteiien mit frifhem Mut und fröhliden Herzen gefeiert 
werben fonnten. — Wenn bie Sciillerfeier, zu der wir uns jept 
rüften, wohl einen ernjteren Charakter tragen wird, fo liegt das 
nicht nur in der Verſchiedenheit ber Veranlaffung: Geburt und 
Tod des Dichters, begründet, fondern aud) in den fo weſentlich 
anbersartigen Zeitumftänden damals und jept. Trogbem aber 
nen wir hoffen, dah bie Frucht der Gebenffeier eine gefegnete 
fein werde. Theobald Ziegler hat einmal gejagt!: „Das 
Schillerfeſt war ein Bekenntnis des deutſchen Volfes zum Jdealis- 
mus und damit zu allem Beſten und Höchſten, was in ihm febte 
und zu Luft und Licht emporbrängte. Dieſer Schillerſche Idealismus 





J Bal. über Stiller Dentmale 8. Wenige, Den Manen Seller, 1906. 
Grnit Müller a. a. ©. ©. 238 fi. — 2) Nach einer Kebensmwürdigen Mitteitung 
des Yan 8. 0. Yoemis ef Mlnar, ver augenblidlich für die eitauricrung 
des Dentmals Sorge trägt. — 9) Ziegler, Die geiltigen und fozialen Strör 
mungen des 19, Jahrhunderts. 1889. &. 971. 








% 


Stiller und Sioland. 837 


mar aber in feinem tiefiten Kern als fittliher durd; und dur 
gefund, war männlich ſtark; die Herkunft vom kategoriſchen 
Imperativ Kants hatte ihm geflählt, „bas Gebiet ber Männer- 
fämpfe im öffentlichen Leben” war diefem Dichter des Wallenjtein 
und des Wilhelm Tell nicht verichloffen, und fo lag im Befenntnis 
des Volles zu ihm ber Appell an ben Willen des beutfchen Volles, 
etwas wie ein männliher Entihluß und mie der Anfang zu 
feäftiger Tat.” 

Heute tritt an und bie Frage heran, ob auch mir bereit 
find, ein folches Befenntnis zum männlich ftarfen Jdenlismus eines 
Schiller abzulegen, wie es unfere Väter vor einem halben Jahr: 
hundert getan haben. Können wir es, dann brauchen wir an 
unferer Zufunft nicht zu verzagen, bann wird fein raftlojes Streben 
aud uns und der Zufunft unferes Landes zu gute fommen, dann 
‚gilt auch uns das Wort: 


Seine durchgewachten Nächte 
Haben unfern Tag erhellt. 





fiterarifche Rundfchau. 
Ey 
Schillers Seelenabel. 





Sorsen, bie den 100. Tobestag Schillers mit einer Feier ftiller, 
andächtiger Erinnerung begehen wollen, fei ein Bud) empfohlen, 
das zwar nicht ausdrüdlih auf den bevorftehenden Gedenktag 
Bezug nimmt, aber doch wohl nicht zufällig kurz vor ihm erichienen 
it: Frip Ionas, Schillers Seelenadel. Cs hat fih eine 
ähnliche Aufgabe geftellt, wie die im gleichen Berlage erfchienenen 
Goethebreviere Wilhelm Bode's, nämlich ein Bild der Perfön- 
tichfeit Schillers aus jeinen eigenen Äußerungen und benen ihm 
Nabeftehender zuiammenzufügen, das an fommentierendem Veiwert 
nur foviel enthält, als zur Cinheitlihfeit und Anſchaulichleit des 
Bildes erforderlich ift. Im der Darfiellung des inneren Lebens 
bat Jonas feine Hauptaufgabe geichen, wie dieſes im perfönlichen 
Verfehr, im Kreiſe der Familie und ber Freunde ſich offenbarle; 
auch die Werte Schillers betradtet er vor allem als Quelle zur 
Kenntnis des Menſchen, der hinter ihnen ſteht. Die Eigenart 
Schillers faßt Jonas Hödjit treffend in zwei Worte zuſammen: 
Willenskraft und Freiheitsdrang. „Alle andern Dinge 
müffen; des Menſchen ift dus Wefen, welches will.“ „Diefes Mort 
aus Schillers Abhandlung über das Erhabene trifft in den Mittele 
punft feines eigenen Denfens und Handelns.” Wie es im Leben 
und Schaffen Schillers, wie es in feinen Hauptdichtungen fich 
bewährt, hat Jonas im einleitenden Kapitel in Kürze fliggiert. 
Die folgenden ausführligeren Kapitel gehen vom äußeren 
Leben aus, um immer tiefer ins Innere zu dringen und dann 
wieder mit einem Ausblid auf die Werfe zu enden, in benen 
Schiller aus der Tiefe ſeines Gemütslebens an die Außenwelt 
trit Die „äußere Erfcheinung und der Eindrud der Perfönliche 
teit” iſt der nächſte Gegenftand feiner Schilderungen. Daß auch 





*) Berlin, Mittler und Sohn. 1904. 


Siterarifche Rundſchau 339 


bie äußere Erſcheinung in einem bem Seelenabel Schillers gewid- 
meten ¶ Buche eingehende Erwähnung findet, ift mohlberedtigt. 
Die Übermacht der idealen Perfönlichfeit in Schiller hat fi doch 
auch barin gezeigt, wie alles Unfchöne und Unbeholfene, das bie 
Natur ihm in die Wiege gelegt, durch die Energie des geiftigen 
Lebens, wenn auch nicht überwunden, doch durchleuchtet und verflärt 
wurde. So fonnte er aud) äußerlich denen, bie ihm nahe ftanben, 
als Idealgeſtalt erjcheinen, in deren Gefihtsbildung und Körpers 
haltung fie ein Spiegelbild feines Seelenlebens erkannten. Während 
feine Eriheinung auf Fremde wohl gar einen abftoßenden Eindrud 
machte, war es für den Bildhauer Danneder eine Quelle fünft- 
leriſcher Freuden, als er die Koloſſalbüſte Schillers ſchuf. Auch 
im geſeliſchaftlichen Verlehr erſcheint Schiller Fernſiehenden in 
einem ganz andern Lichle, als den Vertrauten. Die Gabe, ſich 
leicht und anmutig mitzuteilen, war ihm verfagt, und fchon feine 
Rränflichfeit zwang ihn, feinen Umgang auf einen fleinen Kreis 
zu beichränfen. Wer ihn nur oberflählid) fannte, Fonnte wohl 
den Eindrud einer falten Natur gewinnen, wie Jcan Paul, ber 
ihn „den felfigten Schiller“ nennt und von ihm jagt, er ſei voll 
Ebeifteine, voll ſcharfer, ſchneidender Kräfte — aber ohne Liebe. 
Seine Freunde aber fühlten ſich gerade durch die Wärme feines 
Herzens unmiderftehlih an ihn gefeilelt. „Du marmer Mann“, 
redet ihn Danneder in einem Yriefe an, und Heinrich Voh fagte 
von ihm: „Das ift bie fortdauernde Stimmung feines Gefühle: 
Liebe und Hingebung für jedes mitfühlende Herz.” Cinjtimmig 
find die Urteile über die reiche geiftige Anregung, die Schiller 
in Geſprächen zu geben wußte, die durchdringende geiftige Schärfe, 
ben Flug der Gedanfen, den nichts herabzieht, die Fähigkeit, alles 
in bie Spradje der Ideale zu erheben. Goethe fühlte fi durch 
die Geltalt Chrifti an den dahingeſchiedenen sreund erinnert: 
Jedes Auftreten von Chrütus, jede feiner Äußerungen gehen 
dahin, das Höhere anfchaulid zu machen. Immer von dem 
Gemeinen fteigt er hinauf, hebt es hinauf. — — Ich will nicht 
zu fagen unterlaffen, was mir gerade einfällt. Schiller mar aber 
diefe Chriftustendenz eingeboren, er berührte nichts Gemeines, ohne 
es zu veredeln.“ 

Das nãchſte Kapitel behandelt die äußeren Lebensumftände 
Schillers. Cs trägt die Überfhrift „Not und Sorge”. Von feinen 
Zünglingsjahren an war Schiller in peinlihe Geldforgen verwidelt, 
und niemals, aud) nicht in ben Tagen feines Kudmes hat er fid) 
in materiell unabhängiger Lage befunden; in weitgehendem Piafe 
bat er bie Unterftügung hochherziger Freunde annehmen müllen. 
Aber nie hat er ſich dadurch heräbziehen laſſen, ftets, bei aller 
Dankbarkeit, feine Freiheit und feine Würde bewahrt. In der 
Zeit, wo Edjiller den Höhepunkt jeines Glüdes erreicht glauben 


310 Literariſche Rundſchau. 


durfte, als eine feſte Stellung es ihm ermöglicht Hatte, ben 
Zebensbund mit Charlotte von Zangefeld zu fchlichen, da traf ihn 
jene tüdijche Krankheit, die ihn dann in den legten vierzehn Jahren 
nicht mehr verlajien hat. Sein größtes Werk hat der Geiſt in 
faft beftändigem qualvollem Kampfe dem Körper abringen müilen. 
Wie in Not und Sorge ſich Schillers Willengftärte und Freiheils- 
drang ftählten, fein Seelenadel ſich zu milder Hoheit länterte, fo 
find fie aud) mit Recht als Züge in fein Charafterbild eingetragen 
worben. 

Tiefer in das Innenleben führen uns bie folgenden Seiten, 
die der „Freundſchaft“ und der „Liebe“ gewidmet find. Es hat 
wohl faum ein andrer jo viel in der Freundſchaft empfangen und 
fo viel zu geben gewußt, wie Edjiller. An ihr hat fich fein Ge: 
mütsfeben am reichiten entfaltet. Drei Freunde fanden ihm 
bejonbers nahe: Körner, Wilhelm v. Humboldt und Goethe. Wie 
in jedem dieſer Freundſchafioverhäll— der Austauſch von Ger 
fühlen und Gedanken fi) eigenartig geitaltete und wie jedes ihm 
in feiner Eigenart wertvoll war, hat Jonas in feinfinniger Charal- 
teriftit ausgeführt. Auch die Yiebe war Schiller im weſentlichen 
eine Art idealer Freundſchaft. Das naive Liebesgefühl oder 
wenigitens der naive Ausdrud biejes Gefühle war ihm fremd. 
Aber das Ideal der Liebe, das ihm von jeher vorſchweble, war 
das höchjte und reinfie. Cr eriehnte eine Seelengemeinfhaft, die 
bie verbundenen Scelen zu immer höherer ervollfommnung 
emporfürte. Und dieſer Wunfch ift ihn in vollftem Make erfüllt 
worben. In Charlotte von Langefeld erhielt er eine Lebensge- 
fäbrtin, zu der er jagen durfte: „Unerihöpflich it in ihren Öe- 
falten die Liebe, und die unſrige glüht in dein ewigen, ſchönen 
Feuer einer ſich immer mehr veredelnden Seele.“ Mie würdig 
Charlotte feiner war, das zeigen nicht bloh die Aeußerungen 
Schillers und feiner Freunde über fie, dus zeigen vor allem die 
Worte, in denen fie nad Schillers Tode fein Bild niederlegte, 
wie es vor ihrer Erinnerung jtand. Sie erſcheint hier mit jenem 
hellſehenden Scharfblik der Liebe begabt, von dem Kingsley einmal 
ihön gefagt hat, daß er den geliebten Menihen ſchon auf Erden 
To fehe, wie er einjt in der Cwigfeit vor dem Auge Goltes ſiehen 
erde. 




















„Auffafſung der Natur” und „Religiöfe Anſchauungen“ 
bilden das Thema der folgenden Kapitel. Die Naturpocfie jpielt 
bei Schiller eine untergeordnete Rolle. Jonas erklärt das zu⸗ 
treffend aus feiner dichteriſchen Eigenart, hat aber doch wohl nicht 
ganz Recht, wenn er dieie Gigenart mit der der des fentimenta- 
liſchen Dichters nad Schillers Definition ſchlechthin identifiziert. 
Die Naturpochie, wie etwa in Goethes Lied „An den Mond“, iſt 
ja gerade ein Produft der jentimentafiiden Aultur; dem naiven 


Literariſche Rundſchau. 841 


Dichter, Homer z. B., ber ſelbſt Natur iſt, iſt fie fremb. In 
feinen Naturfchilderungen iſt nur ſinnliche Anſchaulichkeit, feine 
Stimmung, feine Bejeelung. „Empfindſamkeit für die Natur“ 
dagegen nennt Schiller ſelbſi unter den Charakterzügen des Senti- 
mentalifchen. Aber allerdings iſt das richtig, dab die mächlig 
ergreifende Schönheit der Naturpoefie Goethes auf der Verſchmel⸗ 
zung des Naiven mit dem Sentimentaliſchen beruht, darauf, ba 
in ihr ein naiver Dichtergeift einen fentimentalifchen Stoff geitaltet. 
Bei Schiller dagegen, dem tel der handelnde Vienſch der eigent- 
liche Gegenftand der Dichtung war, tritt gerade in der Auffaffung 
und Darjtelluug der Natur das Naive gänzlich hinter dem Sentir 
mentalijhen, die Anihauung hinter der Neflerion zurüd. Hier 
ericheint ihm alles Vergänglide nur als ein Gleichnis und die 
Ausbeutung dieſes Gleichniſſes als Aufgabe der Dichtung. Da 
aber, wo es gilt, einer bedeutenden Handlung auch einen bebeu- 
tenden Schaupla zu geben, wie im Wilhelm Tell, bewährt Schiller 
auch der Natır gegenüber die naive Geftaltungsgabe, in der er 
felbjt das eigentliche Neunzeihen bichteriicher Genialität fah. — 
Das Rapitel „Neligiöfe Anſchauungen“ zeigt uns einerfeils Die 
tiefreligiöfe Grundlage Schillers und anderjeits feinen Gegenſatz 
gegen die beftehende Religion und Kirche. Ueber feine religiöfen 
Anschauungen hat fih Schiller in feiner Gedanfentyrif und jeü 
pbilofophiichen Schriften jo beftimmt ausgeiproden, dak Jonas 
bier nur die Aufgabe hatte, Velanntes überfichtlich zulammenzur 
ftellen. Much hier find es die am Eingang genannten Grundzüge 
in Schillers Seelenleben, die vor allem hervortreten: Willensftärte 
und Freiheitsdrang, der unbedingte Glaube an die Willensfreiheit, 
„an die Freiheit des Menden, aus ſich jelbft heraus der Voll: 
fommenpeit zujtreben zu fönnen“, eine Ueberzeugung, deren lebendige 
Vertörperung Schiller jelbft war. 

Die legten Kapitel find dem Schaffen Schillers gewibmet. 
Zunägjit wird bie „Arbeitsweile” geicildert, die verzehrende Energie, 
die ihn zu fortwährender Tätigkeit, zu immer erneuter Umgejtal- 
tung bes Geichaffenen trieb. Die Werke, die, von der Perjon 
des Echöpfers gewiſſermaßen losgelöſt, jet ein eigenes geifliges 
Dafein führen, betradhtet Jonas nur nad) einer Ceite hin, in 
dem Schlußlapitel „Sprade und Stil”, wohl mit etwas zuviel 
philolog ſtiliſtiſchem Detail. Aber mag uns das eine oder andre 
in diefem Buche vielleicht entbehrlich (deinen und anderes vielleicht 
wieder fragmentariſch, jein Hauptziel hat Jonas jedenfalls erreicht; 
er hat ein gutes Volfsbud) geſchaffen, das, ohne Verflahung und 
ohne Ueberichwänglidhteit, in die Tiefe dringen und doch Mar und 
verjtändlich, das Bild des Dichters vor uns erneuert, der, bei all 
feinem Ruhm, doch in vielen ien dem Epigonen merkwürdig 
und unverdient fremd geworden ft. Möge es in unfrer Zeit, in 

Baltifije Monatsfcheift 1906, Heft & 7 








= 









32 Siterarifhe Rundſchau. 


ber jo oft prinzipien- und zieffofe Rritiffucht ſich mit bem Namen 
ber Freiheit dedt, zur Erwedung des Gefühls beitragen, bas 
Schiller, feines Verhaͤltniſſes zu Goethe gedenfend, in den Worten 
ausfprad, „dab es dem Vortrefflichen gegenüber feine freiheit 
gibt, als die Liebe.” 

8. Girgenjohn. 





Zwei Schiller - Biographien. 





Mer bat geſagt: Goethe dichtete, was er lebte; man fönnte fügen: 

Schiller lebte, was er bichtete. Neih und glücklich find die 
Verhältnifie, in die Goelhe hineingeboren wird, und in denen er 
lebt, überaus glüclic) und reich ift auch feine Veanlagung. Wohl 
fehlen aud) jeinem Leben die Schmerzen nicht, aber es find bad) 
meift Schmerzen, die er ſich als ivrender Meuſch ſelbſt geſchaffen 
bat. Wie anders das alles bei Edjiller! Cngbegrengt, innerlic 
und äußerlich, iſt das Feld, auf bem er fid) in jeiner Kinderzeit 
bewegt, armelig und eingezwängt find feine Jünglingsjahre, ein 
einziges Schmerzenslager iit fein Dannesalter. Aud) in jeiner 
geiftigen Beanlagung erſcheint er weit weniger derſchwenderiſch 
von ber Natırr ausgeftattet, als fein großer Nivale und Freund. 
Und nun das Cchauipiel! Goethe wählt wie ein Lebenbiger 
Organismus, wie ein Baum, ber in frudibares Erdreich gefeht 
wurde umd immer verzweigtere, mannigfaltigere Sprofien treibt, 
er wächſt an und aus ſich jelbit, faſt unbewuht; Schiller entwidelt 
ſich wie ein bewußt entworfenes und auf dem Plan hingeftelltes 
Runftwert. Bei dem einen treibt die Naturanlage, bei dem andern 
ſchafft die Macht des Willens. So wird der eine Lyrifer und 
Epifer, ber andere Dramalifer, und fo lebt und fingt der eine in 
ber Freiheit, in die er gejlellt wurde, Natur, während der andere 
aus dem Zwange heraus fi die Freiheit eıft eroberl und dann 
fie lebt und fie verherrlicht. 

Wer ift gröher? Goethe hat bereits auf dieſe Frage bie 
allein moͤgliche Antwort gegeben. Aber wer ift der Dann unfrer 
Zeit? Da hat man immer wieber auf Goethe gewielen, Schiller 
fdjien abgetan. Ich glaube, Goethe ift ihr ‘Wrophet gemejen, 
Schiller wird ihr Arzt fein. Er muß es werden, wenn anders 
das deutſche Volt auch in Zufunft gedeihen fol. Cs muß — 
zunächſt auf fünftlerifchem Gebiet — wieder Edillers Glaube all: 
gemein werden: „Alles, was der Dichter uns geben fann, ift 





Luerariſche Rundſchan. 343 


feine Individualität, Dieie muß es aljo wert fein, vor 
Welt und Nahwelt ausgeitellt zu werben.” Leben 
muß der Deutihe wie Schiller wieder Poeſie, große Poeſie 
dann wird er fie auch wieder dichten fönnen, und lebt er fie erſt 
wieder, jo wird er groß fein, auch ohne fie zu dichten. So wird 
Schiller nicht nur auf literarifchem Gebiet, jondern ganz allgemein 
der Wegweiſer jeines Volles. Zurüd zu Scilier! Wohl iſt er 
der Dichter der Jugend, aber nicht jo wie man wähnte, weil er 
dem Mann — dem heutigen Dann — nichts mehr zu bieten hätte, 
fondern in dem inne, daß für die Jugend der Beſte, das Aller: 
böchite num gerade genug üt. In diefem Sinne fprudelt_ au 
heute noch für das reifere Alter aus Schillers Werten eine Quelle 
lebendigen Waſſers. Das Haben die Veiten und Größten unfrer 
Zeit_bewiefen, Fürſt Bismard erbaute ſich in jeinen fegten Jahren 
an Schiller, der adıtzigjährige Weite, ber Gröhten einer, Ichöpfte 
aus den Werfen des Vierzigiährigen Weisheit. Won allen Werten 
Stiller aber ijt das größte —- fein Leben, iſt eim marine az det, 
ein Werf für die Ewigfeit. Überaus reizvoll iſt es, Goethes Leben 
nachzugehen, auch (ehrreidh wird es fein in den Einzelheiten. Wer 
vermöchte aber diefer wunderbar fompfigierten, gewihlermapen natur: 
notwendigen Ganzheit als Banzheit nadhzuleben? Schillers Leben, 
geworden aus der Macht des Willens, ift und bleibt uns ein 
ewiges Lorbild. 

Daß Schiller in dieſem feinem größten Werk, feinem Leben, 
wieber aftuell wird, beweilen die zahlreichen Neunuflagen ältererer 
Sähillerbiographien und in jüngjter Zeit erfdhienene, zum Teil noch 
nicht einmal vollendete neue Darftellungen feines Lebens. Unter 
den neueren möchte ich als ein Buch eriten Nanges den „Schiller“ 
von Karl Berger* hervorheben. Das Wert ift berechnet auf zwei 
Mtarfe Bände. Bisher ift um der erſte erfchienen, der mit der 
Berufung Schillers nad) Jena, alio jeiner erften Dichterperiode 
abfchlieht. Feine Krint, und jchöne Daritellung gehen hier Hand 
in Hand. Das Werk Hat in gleichem Dafe Glanz und Fülle, 
Wie faum in einem andern find hier Leben und Dichten in licht: 
volle Beziehung gebracht. Durdichtig lar erfcheint Die Belprechung 
der Dichtungen, zumal der Dramen. Wunderbar nahe aber tritt 
uns die Perjon, der große einzigartige Menſch Schiller. 

Es ſei geſtattet zum Schluß einige Worte aus der ſchönen 
Einleitung des Vergerſchen Buches herzuſeßen. Berger weiſt auf 
die Madıt Hin, die Schillers. — auf Goethe ausübte. 
Es war „wie ein neuer Fruͤhli— fagt Goethe felbit. Dazu 
ichreibt Berger: „Diefe verjüngende Lenzeofraft dann heute nad 
jeder aus geiftigem Verkehr mit Zuhiller für fich gewinnen, aus 


Karl Berg ilfer, fein geben und feine Werte. Band J. 
Wüngen, 6.9. Yet, 105. 00 & Anis U. 6. 
































34 Literarifche Rundſchau. 


beifen Leben und aus deſſen Werfen. Diefe Kraft heißt: er: 
trauen in das deal, Glaube an die geiftigen Mächte in uns, die 
uns zu Herren der Verhältniffe und der Natur, auch der eigenen 
machen, die uns das ruhige, fihere Gefühl innerer Überlegenheit 
in allen Lebenslagen geben können; die Zuverſicht ferner, daß die 
Stärke der menſchlichen Seele einer unermehlihen Steigerung 
fühig, daß eine Menjchwerdung nad) dem göttlichen Urbild unfer 
feptes Ziel und möglich jei. Wer möchte nicht gerade der heutigen 
Seneration ſolche Energien, foldpe Erhöhung der Sebensgiele wünjchen, 
jem Gejchlehte, das einerjeits vielfach nod) in materialiſtiſcher 
Befangenheit überall nur Zwang und Notwendigkeit zu jehen und 
an ſitnicher Freiheit und ſittlicher Verantwortlichfeit zu verzweifeln 
allzu geneigt ift, während andererieils gerade heute die Ahnung 
eines neuen, das fommen will, bie Zeit in allen Tiefen erregt.” 


K. Stavenhagen. 














„Vom Edimmer der Vegeifterung verklärt, ſieht Schillers 
Geftalt vor uns. Die Dankbarkeit feines Volles Hat ihn zur 
Idealgeſtalt erhoben, wie es zuerft jein großer Freund im „Epilog 
zur Glode” gelan hatte. Er glänzt uns vor wie ein Nomet ente 
ichwindend, Unendlich Licht mit feinem Licht verbindend. In 
diefem Lichtmeer verihwinmen die individuellen djarakterifliicen 
Züge, und wenn fie aus den hiftoriihen Quellen, die uns vor- 
liegen, wiederernenert und feſtumriſſen emportauchen, fo erideinen 
fie wohl _fremdartig und überraſchend.“ — Mit diefen Worten 
begiunt Otto Harnad jeine Schillerbiographie*, deren 1. Auflage, 
1898 erfdjienen, bereits in 5000 Eremplaren Verbreitung gefunden 
hat. Nun liegt uns das ſchöne Buch in neuem Gewande, vers 
befjert und mit reicherem Bildſchmucke verjehen in 2. Auflage vor. 
Aber diefelben Worte leiten dao Werl ein, befonders charalieriſche 
Worte. Denn diefe Worte zeigen uns, wie es dem Biographen 
gerade anf jenes „Dubividuelle” angefommen ift, das fo leicht im 
allgemeinen Gange verjdnindet, der jid) um Schillers Namen 
gelegt bat. Schillers Jventisnus, Schillero Pathos, Schillers fitt: 
licher Ernft, das find die Vorftellungen, bie jedermann geläufig 
find, und die ſich wie ein Schleier über feine Geftalt gebreitet 
haben. Der Schleier it alöngend, aber er läht die verhüllten 
Formen nicht deutlich und greifbar genug bervorireten. Es üt 
on mandem jo gegangen, dab die gefülligen aber uninterefjanten 
Falten dieſes Schleiers ihnen die Teilnahme genommen haben für 
die herrlichen und marfigen Züge, die darunter find. 


*) Otto Harnad, Sciller. Mit 10 Bitdn. und einer Seroigrif. 
2. verbefi. Aufl. vrin., Ernſt Hofmann u. Ko. As S. Och, 





Literarifche Rundſchau. 345 


Otto Harnad zieht den Schleier weg, er zeigt ein individuelles 
Bild. Wenn jo mander überrajcht und befremdet ift, fo ift das 
großer Gewinn. Frage und Verwunderung find ja bekanntlich 
Anfang der Weisheit. Und daß man in viel höherem Maße, als 
etwa vor 10 Jahren, nad) Schiller fragt und über ihn zu faunen 
wieder anfängt, läht ſich nicht leugnen. NYarnads Biographie aber 
ift für ſolche der bejte Führer. Ich muß mit großem Dant 
bezeugen, daß jeiner Zeit die 1. Aufl. biejes Werkes mir den 
individuellen Menſchen Schiller jdenfte, den Mann des hohen 
Selvitgefühls, dabei mit den realen Verhältnifien prattiſch rechnend 
und fie beherrſchend, den ausgeipradhen männlidien Charatter, dem 
das Verfländnis für die Frauenfeele erit fpät aufgeht, ben heiteren 
Sefellihafter — furz den Denfchen mit all feinen Vejonderheiten, 
der nicht durch allgemeine Schlagworte zu bezeichnen ift, fondern 
unter Goethes Wort fällt: 

Wer tiefer ſieht, geiteht ſich frei: 
&s üft was Anongmes dabei.“ 

Es ſoll natürlich bier nicht geleugnet werden, daß aud 
andere Xiograpbien Diejes indivibuelle Bild vermitteln fönnen, 
aber diefe tut’6 ficher, und das fei ihr zum Nuhme gejagt. 

Und aud) zu Schillers Werten wird fie ein engeres Vers 
hältnis bei den Leſern anbahnen. Dtto Harnack iſt gewiß ein 
Krititer, der etwas Nongeniales mit bem Dichter hat, mie wir 
das ja von einem gutem Nritifer ſtels verlangen müſſen. Tas 
ſchliehn aber eine jtrenge, jo manches verwerfende Aritif nicht aus. 
Und daß Harnad eine ſolche nicht ſcheut, zeigt fein beinahe hartes 
Urteil über die „Jungfrau von Orleans“ nd „Fiesto“. Es it 
aber unferer Zeit mit folder Kritit hundertmal mehr gedient als 
mit einfeitiger Verhimmelung. Gewiß, in die Schule gehört die 
Reitit gar nicht oder doc) nur in alferbeicheibenftem Mabe. Weh 
uns, wenn wir und eine altfluge, überweile und kritiſche Jugend 
heran erziehen. Ganz anders aber fteht es mit den Erwachlenen : 
fie werden gerade durch die Rritif hindurch mit erneutem Intereſſe 
an Eshiller herangehn. Und da ein jo ausgeiprochener Schiller: 
freund wie Harnad die Kritit nicht ſcheut, wird vielen Lejern dus 
Zutrauen zu ihm ſtaͤrlen: es jteht aljo doch nicht jo, daß Schiller 
nur gelobt und in den Himmel erhoben werden darf! 

Die neu eridjienene 2. Aufl. hat manchen Zujap erfahren, 
namentlich bei Veſprechung der äjthetiihen Schriften Exjillers. 
Sie ijt im gangen fall um 2 Drudbogen jtärfer als die erite. 
Die Bereicherung, die das Wert an Bildniſſen Schillers aus allen 
Lebensaltern gefunden hat, iit jeht erfreulich. Dögleich die Bio: 
graphie auf den gründlichjten Etudien beruht und auch den Lejer 
zu fieferem Exfaflen Echillers anleitet, muß fie doch fnapp genannt 
werden. Für eine ausführliche Analyſe der Dichtungen ij fein 





346 Literariſche Rundſchau. 


Naum vorhanden, desgleichen verſagt ſich der Verfaſſer bie Mit- 
teilung mancher Schilleraneldote. Aber an der Hervorhebung kleiner 
harafteriftiiher Züge fehlt es trogdem durdaus nicht. Und im 
ganzen tut uns gerade eine ſolche knappere Edjillerbiographie not. 

Das 6.—8. Tauſend der Harnack'ſchen Edhillerbiographie 
sieht mit biefer 2. Auflage in die Welt. Wie viele von diejer 
ftattlihen Anzahl werden in’s baltiihe Land fommen? Wir be: 
gehen in dieſen Tagen bie feierlihen Gedenkfeſte. Sie bringen 
weihevolle Stunden, bergen vielleicht fhöne Erinnerungen. Aber 
nicht mehr? Könnten fie nicht Anreger werben, daß auf bie 
geräufdvollen Scillertage folgte ein Edjilferfommer mit ruhiger 
Vertiefung? Folgten Schillerjahre, in denen ung der Große ohne 
Schleier wieder nahe träte? Ich glaube wir haben manches nad- 


zuholen. 
E. v. Schrend. 


sqitters Sämtlide Werke. Sätular- Ausgabe in ſechtzehn Bänden. 
Stuttgart und Verlin. J. ©. Cotta Nacht. -— 4. Band. Don Carlos. 
Hrög. von Nic. Weibenfels. — 6. Band. Dlaria Stuart. Jungfrau von 
Orleans. Hrsg. von Julius Peterjen. — 9. 10. Vd. Überjehungen 1. 2. 
Hrög. von Albert Köfter. — 14. 15. Band. Hütorije Schriften 2 3. 
Hrsg. von Kid. Felter. 

Zu feinen hiſtoriſchen Dramen hat Schiffer meilt ſeht mannigfaltige 
Quellen bemupt, jo dab die Kommentatoren genug damit zu hun haben, diefe 
Anlehnung im Ganyen und im Einzelnen nad) wie 
und warum Schiller auch wohl von der Tradition abweicht. 
tungen und Aumerlungen zu den drei vorfiegenden Stüden geben ausfüh 
Bericht über des Dichters Verhältnis zu feinen hiſtoriſchen Grundlagen und die 
Verwertung derjelben. Auher diefem Einblid in die Vorſtudien und die Werfitatt 
des Dichters gewähren aber die Einleitungen auch fritifce Winfe, wonach der 
dramatiche Wert der Stüde zu beurteilen ift. Bom Don Carlos uud ber 
Jungfrau von Orleans (wie noch viel mehr von den drei Proſadramen Schillers) 
gilt daS durch lange Erfahrung bejtätigte Urteil der Borrede zu Band 6 
(S. XNVIID: „Gerade in dem Mangel an pfychologifcher Motivierung liegt 
nicht die Schwäche, fondern die Macht des Motivs, und Schillers Dichtung 
bewährt ſich in dieſem Punfte als ein auf die Bühne berechuetes Gtüd. Auch 
die Hingabe an die poctifche Geitalt, an den fortreihenden Schwung der Gedanken 
und der Sprache läht die Yedenten nicht auffommen.“ In der Tat trägt die 









Literariſche Rundſchau. 347 


Darftellung auf der Bühne über alle Zmeifel Hinmeg, melde man gegen die 
Bahrfheinlichleit fo mander Wendungen in Schillers Dramen hegen fann. 

Auch der politiſche und patriotiſche Gehait und die entfprechende Wirkung 
der Stüde ift gebüßrend gewürdigt, wie z. B. die Jungfrau von Orleans mit 
„leifer Zronie” den Erfolg gehabt hat, „bah die politifche Wirlung des Stüdes 
ſchuhlich gegen Zranfreic) zur Geltung kam' / und zwar nit nur 1813, 
fondern auch noc) 1870. ferner aus Don Carlos* ſpricht der ganze Schiller: 
„der Teibenfcaftlic, empfindende Menfch, der freiblidende Hiftorifer, der Philoſoph, 
der die Glücfeligteit des Menfchengefchledhts ermog.” Gier ſtehl ja Schiller auf 
feinem tosmopolitiicen Höhepunkt. Maria Stwart aber, noch vor dem 
Don Carlos zu Bauerbach ins Auge gefabt, it 18 Jahre fpäter „die planvollfte 
dramatifche Dichtung Schillers geworden.” 

Stillers Überfegungen find befanntlich meilt dramatiider Art, 
innerhalb dieſes Rahmens freilich von fehr verfciedenem Weſen und Gehalt. 
Zunäft Macbeth und Turandot, freie Umdichtungen, da Stiller ſich 
weber in die gigantifche, aber dramatifche Anappheit Shafcipeares, noch in bie 
geiftreiche, aber wilffürficie Scltfamfeit Goyzis zu fügen vermahte. — Da bot 
fit, alfo dem Herausgeber Gelegenfeit, eingehend alte die Uingeftaltungen nadıyu« 
weifen, durch welche der Dichter fih von den Originalen entfernt hat. Tas 
wichtigite it zufammenhängend in den Ginleitungen dargelegt, während einzelne 
Füge in den Anmerkungen analgfiert werden. Ale Abänderungen Teyen Zeugnis 
ab von Schillers Bühnenkenntnis und stechmif; hat cr doch dem einheimijden 
Toeater zugfräftige Bühnenftüde geliefert und damit wenigitens dem angenblic» 
icjen Mangel an guten deutfchen Dramen abyeholjen, wenn audı fpätere Gene, 
tationen den Macbeth wenigiteng licher in einer geireueren uͤberſchung ſchäben 
mögen. Zuramdot dagegen hat nachweislich durch Schillers Pearbeitung 
bedeutend gewonnen; auch flammen aus bifem Stüde Schillers Llaffiche 
Rätfel, deren fhöner Form wir es verdanfen, dafı dieſes geiftreiche Spiel ſich 
fait als eigenartige Dichtung bei uns eingebürgert dat. 

Aus Zeiten, wo der Dichter „in Leiden bangte, Fümmerlich genas“, 
itammen die beiden Luftfpiele, weiche er Picard nabildere: Der Paralit 
und Der Reife als Onkel, leichte Ware, weiche allenfalls einen heitern 














*) Eine eroünichte Veiqabe der Anmerkungen zum Don Carlos bildet 
der Yauerbader Entwurf der, Ipaniicen Familientragödie und die urjprünglice 
Faffung der eriten Syene zwifchen dem Prinzen und Domingo aus der Aheinithen 
Thalia vom März 1785. Überhaupt bot dieſes Drama den reichiten Änlaß zu 
intereffanten Bemerkungen, 3. 8. (Einleitung S XNNVI) zu dem Qinweis auf 
„d0S. porireffliche Necblatt” Hathan, Iphigenic, Don Carlos: „durd) alle drei 
ffneitet das Yumanitätsideal”; diefe drei Dramen bezeichnen zugleich „den Übers 
gang von der Prola zum fünffübinen Jambus; der fr das Drama unfrer 
Haffıfegen Siteralurperiode jaratteriiiche Vers gelangte vumit zur Serrichaft." 
Endlic) ft «8 cine glüdfiche Beobachtung, dab im dritten At des Nathan jomohl 
wie des Don Carlos „eine große Zoeenfjene in den Mittelpuntt des Stüdes 
gerhct“ Ät; ohne zweifel Yar Leifings Borhilo auf Schiller gewirkt. Und 
{S..XXXIX) „ein Meifterwert dramatither Poctic, die unwiperitchlich in ihren 
Yanın yiept“, ii die Syene des Prinzen mit der Eboli, „eine Ipannende Tragodie 
für fidh.” 




















348 Literariſche Rundſchau. 


Abend ſchaffen mochten. ES war chen nur Kranfenbefchäftigung. welche fonit 
verlorene Tage und Wochen zu bemupen muhten. Einem ähnlichen Intermezzo, 
einer „Schmerzenseit“, entiprang die Überfegung von Nacines Phaedra, 
Schillers Schwanengefang, den cr nut furze Zeit überlebte. „Er übte hier mehr 
Zurüdhaltung und fam dem Ideal einer Überfegung näher." Aber felbit durch 
die glänzendſle Bearbeitung war die franzöſiſche Tragödie bei den Deutichen nicht 
wieder zu beleben." Auf bieje lehte Überfegung folgt in Vand 10 die ber Zeit 
mach erfte, bie Mmarbeitung von Guripives‘ Iphigenie in Aulis; ihr 
Verhältnis zum Original iſt in der Einleitung erörtert, während bie Anmer« 
tungen „andh eine Heihe von Nealerläuterungen, die wohl bei jhwindenber Hafr 
fifiger Vildung dem heutigen Leſer erwünfcht fein werden", entalten. An diefes 
„auf ein empfinbfames weibliches Publikum” beredhnete Unternehmen fchloh jich 
im jelben Herbit 1788 die Hälfte der Phönizierinnen des Curipides 
der Tepte dramatifche Verſuch vor dem Walfenftein und der vollen Reihe eigener 
Entwürfe. 

Während der Nefonnaleijenz nach ber fchmeren Aranfheit 1791 übertrug 
Swillet bie beiden Wer von Virgils Wencis (2 und 4) in adtyeilige 
Strophen, deren millfürlice Varialionen an Wiclandg Handhabung der Stanze 
erinnern. Cine intereffante Zugabe bilder eine Jugendarbeit Schillers in Hera 
metern, die Übertragung des Sturmes auf dem Tytrhener Meer. (Nirg. Ken. T, 
2. 34-106.) 

Der erfte Band Hiftoriihe Schriften üt noch nicht erichienen; 
os fehlt alſo noch die Einleitung dazu. In ven beiden vorliegenden Bänden 
find emihulien Der Abfall der Niederlamde (nebil den befannten 
feineren Epifoden) und Der dreißigjährige Krieg. Die Anmerfungen 
Dazu nehmen einestcits Bezug auf Schillers Verhältnis zu feinen Quelten, teils 
anf Abmeihungen der gegenwärtigen Faffung nom früheren Lerie; auch fehlt es 
nicht an Nachträgen ans der urſprünglichen Form, welde der lettien Hedaftion 
fehlen. So gewinnen wir einen Einblid in Schillers Verfahren als Hiltoriker, 
wozu freilich eine zufammergängende Ergänzung durch die Ginleitung vorande 
gefegt werben muß *. 

















R S. 


*) Veim Abichlui vorftebender Pefpreihung Ingen uns noch wicht fäntliche 
16 Bände der Sälularausgabe vor, die im Hai n. St. voljtändig vorliegen jolle. 


Sieben Tage unter dem Siugelregen der Japaner. 





Erinnerung an die Vorpoftengefechte bei Siungiotſchong 
(7.14. Juni 1904 a. St.) 


Ton EM. 


an jemand von den verwöhnten Mefteuropäern über 
die Mandſchurei etwas lieit, jo ſchüttelt er fid größten: 
teils vor Entjegen und gedenft mit Bedauern jener, 
die gezwungen find, dort ihr ganzes Leben zugubringen: 
er weiß; dabei aber nicht, wie wenig fein ganzes Vedauern hier 
am Plage iſt. Es mag dort vor dem Bau der Oſtchineſiſchen 
Bahn wohl nicht ſchön gewejen fein, doch Heute ift die Dandfcurei 
ein Xand mit allem Komfort Weitenropas und reich an Natur: 
ichönheiten, die von Europa nicht übertrofjen werden. Darum ift 
es auch nicht wunderfih, wenn man von Menſchen hört, die nur 
auf 3 Jahre dorthin gegangen find, aber dann doch nicht mehr 
zurüdfchren wollen. 

Unfer Standort Siungjötihöng, am gleichnamigen Flüßchen 
gelegen, 4 Werft von der Ljaotong-Bucht und umgeben von 
Hohen malerifchen Vergen, wurbe nicht umfonft die Mand- 
ihuriie Niviera genannt, wo gar aud das Noulette mit 
feinem nervenfigelnden Nollen nicht fehlen durfte; es wurde bei 
unferm Eskadronsſchef, Rittmeifter W., häufig genug gehandhabt. 
Und wie friedlich, lebten wir dort, ſelbſt nad) dem Ausbruch des 
Krieges. Dit den umwohnenden Chinefen und den Einwohnern 
der Stabt lebten wir fogar recht freundidaftlih, und der Tifans 
guan (Gouverneur), jowie der chineſiſche Estadronschef jahen ſaſt 
täglich mittags oder abends bei uns. ud) der Chunchuſen wegen 
brauchten wir uns nicht zu fürdten, da die Chineſen uns jedesmal 
vor ihrem Erſcheinen warnten, che fie nod) einen Plan ausführen 

Baltifde Monatefceift 1906, Heft 5. 1 


350 Unter dem Augelregen der Japaner. 


fonnten, der dann immer vereitelt murbe. Überhaupt waren wir 
feit davon überzeugt, daß die Japaner nicht bis zu uns vordringen 
werben, fo daß wir, das heißt ein Ramerad und id, unfere Zimmer 
plünderten, um alle Wände der großen Veranda unfrer Wohnung 
mit Teppichen zu behängen, eine Hängematte dort anbrad)ten, einen 
großen Divan aufjtellen liefen, um dort der Hihe wegen zu 
nãchtigen. Auch was den wirtſchaftlichen Teil unſres Lebens betraf, 
richteten wir uns ganz häuslich ein. Wir fanften ſechs friſch 
milchende Kũhe, und mein Burfde, ein deutſcher Rolonift, ber ben 
Hangvollen Namen „Iheobor” führt, fpielte den Farmer, meltte 
die Kühe, ftellte die Milch zum Sauerwerben auf, bie allen vor 
trefilih mundete. So gingen einige Moden hin. Mir hörten 
nur von Durdreifenden, baß die Japaner bei Tafnfhan gelandet 
feien, um nad) Norden vorzudringen. Dann Fam bie Nachricht, 
daß wir ben Süden räumen, was mit großem Ärger unb mit 
Trauer aufgenommen wurde. Fajt gleichzeitig mit dieſer Botichaft, 
traf Seutnant Jelkin unb Unteroffiier von Aramer, ein 
Nigenfer, von ben Primorichen Dragonern ein, welde in einem 
fleinen cinefiichen Boote (da der Süden ſchon abgejchnitten war), 
nad) Port: Arthur gelangt waren und von bort chiffrierte Depeichen 
an General: Abjutant Auropatfin von General Stöffel 
zurückbrachten. Die von ihnen überbrachten Nachrichten waren für 
uns ſehr wenig erfrenliher Natur. Seit biefen Tagen war unier 
Esfabronschef von einem unheimlichen Dienjteifer befallen. 300 
Chineſen mußlen antreten, um nad) meiner Anweiſung eine hohe 
Schanze nebft Graben um bie Rafernen herum aufzumerfen, wobei 
mir mein breimonatlices Kommando bei ben Baranowitſcher 
Sappeuren jehr zu fatten fam. Außerdem murben mir täglich 
und vor allem nächilich allarmiert, vorderhanb nur zur Probe. 
Unfre Leute erreichten die Fertigkeit, in 10 Minuten nad dem 
erften Signal marjchfertig auf gefattellem, mit Gepäd beladenem 
Pferde anzuiprengen. 

So vergingen nod) einige Wochen, bis eines Abends unfer 
gemütliches Abendbrot durd das Erfcheinen eines chineſiſchen 
Geiftlichen niit glattrajiertem Kopfe und einem Neifebündel in der 
Hand geftört wurde. Wir wollten ſchon unfren Ordonanzen den 
Befehl geben, ihn wieder an bie friſche Kuft zu erpebieren, und 
ihnen einen Rüffel erteilen, weil fie die vorderen Türen geſchloſſen 
hatten, als diefer vermeintliche Bonze uns in gebilbeter ruſſiſcher 
Rede anfprad), fich feines Roftiims wegen entfguldigte, um einen 
Schnaps nebft Imbiß bat und fid; als Fürt Gantimurom, 


Unter dem Augefregen ber Japaner. a5 


Reſerveleutnant ber Schügen aus Port-Arthur, vorftellte. Unſre 
Freude und unfer Gelächter waren natürlich groß. Weniger Freude 
mag mwohl der Kamerad beim Paſſieren der feinblichen Vorpoſten 
empfunden haben; doc ber Umſtand, daß er ber Sohn eines 
Burjatenfüriten ift, daher nad) jeinem Grterieur den Ghineien 
gleicht, daß er auch das Chineſiſche fließend ſpricht, war ihm jehr 
zuſtatten gefommen. 

In derjelben Nacht Fam aud die Nachricht, daß unſre 
Koſalen bei Wafangkou zwei Esfadronen ber feinen Gelben voll: 
ſtändig aufgerieben hätten. Das war die Sübel-Attade ber 
fibirifchen Kofafen am 17. Mai, mobei zum erjten Mal während 
dieſes Krieges bie Pifen in Arbeit genommen wurden, die ſich 
als außerordentlich taugliche Waflen erwiejen. Trotzdem ober 
vielmehr eben deshalb, ſprachen bie Japaner ihre Meinung über 
bie Waffe dahin aus, dal; fie vollfommen infommentmähig wäre, 
denn es fam in biefem Gefecht vor, daß ber Major, ber die 
2 Eskddronen führte, unjren Leuten in gutem Ruſſiſch zurief: 
„Süd, ihr abgeriffenen Yundeföhne, wohin wollt ihr mit euren 
verfluchten Stöden!" Der Major wurde von unjren braven 
Jungen, welche mit dem Hufe „Nimm dic) in acht, Euer Wohl- 
geboren" anfprenglen, aus Anerfennung für fein gutes Ruͤſſiſh, 
auf zwei diejer Stöde geipieft und aus dem Eattel gehoben; bie 
eine Pife war durch das Auge gedrungen, die andere durch ben 
Bauch. Es war derfelbe Offizier, der vor 2 Jahren von Japan 
mac; Blagoweichtjhense zu den Schügen fommanbiert war. Doch 
mit dem Ausdrud „abgerifien“ hatte der Mann mehr oder weniger 
Recht. Dan mu es den Japanern lajfen, die fleinen Kerls find 
immer wie aus dem Ci gepellt, jo da unfre Leute oft einen 
recht merflichen Gegenſatz zu ihnen bildeten. 

Während weiter im Süden der Krieg im vollen Gange war, 
To begann es jept auch bei ung lebhafter zu werden. Cs trafen 
2 Esfadronen Primorſcher Dragoner ein, welde die Dörfer am 
Strande, 4 Werft von uns, beſetzlen. Auch ein Marineleutnant 
K. N. wurde hergeichidt, der von einem verfallenen Turm aus auf 
vorbei fahrende Schiffe Signole zu richten hatte. Auch erhielten 
mir Nachricht, dab 15 Werft von uns fi eine fouragierende 
japanifche Patrouille, 18—20 Mann jtark, gezeigt hatte. Ich 
wurde mit 10 Koſaken ausgejandt, um diejes Gerücht zu Ton: 
troflieren. Auf der 2often Werſt fübsweitlih fand ich einige Arben 
(dinefijche große zweirädrige Karren) mit Stroh beladen und einige 
verdächtig ausfehende Chinejen, die id) durch 2 meiner Leute nad) 

1 


852 Unter dem Augelregen der Japaner. 


Haufe eskortieren ließ. Auf mein Befragen antmorteten bie 
Chinefen, daß „Ipen” wohl geitern bagemejen jeien, aber mieber 
fortgeritten wären. Da ich nur Befehl hatte, 20 Werft zu reiten, 
fo mußte ich wieber umfchren. Später erwies es fi, daß bie 
Chinefen im legten großen Dorfe Ortafon die Japaner unter 
Führung eines „feinen Kapitäng”, b. h. eines Unteroffizier, ver: 
fiedt hatten. Wieder floffen die Tage ruhig und friedlich dahin. 
Wir wurden zur MiltärsFeldpoften verwendet, daß heißt wir ver- 
banden durch Poften unſrer Sotnja das Korps bei Wafangfon 
mit ben Norden. Von Süben famen immer beunruhigendere Nach: 
richten, während von Norden her Privatbriefe und Glückwunſch- 
telegramme unfre Poflenfetten pajlierten. 

Mitten unter diefen unfren friebliden Befhäftigungen platzte 
eine japaniſche Bombe am 26. Mai recht früh am Morgen in der 
Nähe unfrer Kaſerne und mahnte uns deutlih an den Arieg. 
Sofort fattelte die Solnja und wir ritten im Trab zum Strande, 
aus welcher Richtung dieſer ungebetene Gaft gekommen war. Am 
Meere verftedten wir unfre abgeſeſſenen Leute und die Pferde 
hinter den Hügeln und wir Offiziere kletierlen den Hügel hinauf. 
Leider maren wir in weißen Kilteln und müſſen baher den 
japanifchen Dlarineoffizieren der 4 Areuzer, die 4 Werft vor ber 
Bucht lagen, ein gutes Ziel geboten haben; denn fofort ging eine 
Granate über unfre Köpfe. Wir lichen ums nicht weiter ftören 
und fo hoffen die Herren noch 3 Granaten ab aus den elfzölligen 
Kanonen, die nur das geringe Reſultat hatten, mich an der Hand 
zu ftreifen, jedoch ohne dal bie Hand aud) nur einen Tag nicht ger 
brauchsfähig geweſen wäre, und ein Pferd im Werte von fechzig 
Not. zu töten. Uns belehrie aber dieſes kleine Intermezzo, daß 
ein dunkler Chafifittel im Ariege zwedentfprechender ift als ein 
weißer. Rührend war c6, wie nad) der zweiten Granate ein alter 
Rofat auf mich zutrat und mid zur Fenertaufe beglückwünſchte, 
babei mußte ich einen tiefen Schlud aus feiner Felbflaihe fun, nach 
altem Koſalenbrauch. 

Unfre Station wurde damals 2 Tage lang bombarbdiert, 
doch fügten bie Granaten nur den armen Manbicu (Chinefen) 
Schaden zu; benn die Abſicht war wohl den Bahnhof und bie Kaſerne 
zu treffen, doch fielen alle Granaten in ein Chinefendorf, bas bicht 
beim Bahnhof lag, jo daß wir der Meinung waren, daß in den 
Quabraten der Japaner (nad melden fie ſchoſſen) ein Meiner 
Fehler geweſen fein muß. Trotz des ſehr ftarfen Schießens er⸗ 
reichten fie nicht ihren Zwed. Sie hemmlen auf feine Minute 


Unter dem Rugelregen ber Japaner. 853 


den Zuzug der Truppen und Artillerie nach Wafangfon, was ja 
augenideinfid ihre Hauptaufgabe und ihr Veftreben war. Die 
Züge famen ebenfo regelmäßig wie ſonſt an, nur langfamer, damit 
feine hohe Dampfwolfe den Meg bezeichnen und dem Feinde ein 
gutes gewünfchtes Ziel bieten fünne. Cbenfo wie fonjt fchlenderten 
wir zur Station, um frische Nachrichten aus der fernen Heimat 
durch Briefe oder alte Zeitungen zu erhalten. Von lepteren ber 
famen wir leider ſehr wenige zu Gefiht und mußten froh fein, 
wenn ein durcreiiender Kamerad oder Korreipondent uns ein 
uraltes Eremplar, das ihm ſchon zu anderen Zwecken gedient, wie 
3. ®. um eine gebratene Ente darin einpumideln uſw., aus Liebens: 
würdigfeit überließ. 

So vergingen wieder einige Tage, wo bie einzige Abwechs- 
lung die durdfahrenden und durchmarſchierenden Truppen waren, 
als am 2. Juni morgens mid) mein Gsfadronschef nad) Süden 
abfommandierte, die Feldpoitznfette zu fontrollieren. Ich ritt am 
frühen Morgen aus und wunderte mid) ſchon unterwegs über die 
vielen Depejden, die mir entgegenfamen, aud hörte id) bald 
ftarfen Ranonendonner. Ich beidyleunigte daher joviel als möglich 
meine Nevifion und fam gegen Abend in Wangtfialing an, wo 
ich Hörte, daß bei Wufangfou eine größere Schlacht im Gange fei. 
Das meldete id) jofort nad) Ciungjötihöng und befam die Vor 
ſchrift bis auf weiteres in Wangtiialing zu bleiben. Am nädjten 
Tag gegen Mittag hatte ih alles in Wangtfialing erledigt und 
machte mid) mit meinem Trompeter auf, um mir die Schladpt aus 
nädjter Nähe anzujehen. Wir famen gerade auf den linfen 
Flügel an, als den Japanern das Pulver ausgegangen war und 
General Gerugroß das Kommando zum Bajonettaugriff gab und 
man ſchon nach der Muſit rief um vorzugehen. Da fprengte eine 
Drbonanz auf ichweißbededttem Pferde an General Gerngroß heran, 
ber felbjt am Halſe blutete, ſich aber nicht verbinden lieh, über: 
reichte einen Befehl des Generals Baron Stadelberg und fofort 
bliefen alle Trompeter und Eignaliften das Eignal „Zurüd“. Co 
mußten wir mit jehr ſchwerem Herzen zurüd nad Wangtfialing. 
Gern tat es niemand, aud waren die Verlujte auf dem Nüd- 
marſche größer. Herborheben möchte ic) hier noch das heldenhafte 
Aufleren und Verbinden der Verwundeten unter dem ſtärkſten 
Kugelregen durch Frau dert Woronow, der Gemahlin des 
Kommandeurs der Primorichen Dragoner. 

As ic) wieder auf der Station Wangtfialing anlangte, war 
fie zu einem großen fliegenden geldlazaret umgewandelt. Cs waren 


354 Unter dem Nugelregen ber Japaner. 


ſchon viele Verwundete vorhanden und einige Operationen hatte 
befonders Prof. v. Zöge-Manteuffel vorgenommen, und immer 
neue Neihen von unverbundenen Soldaten und Offizieren trafen 
ein. Sehr gut und eraft arbeitete auch die Kolonne vom Stall: 
meifter Sr. Mojeftät Rodſianko, der nur baltijche Ärzte hatte. 
Es wurde fieberhaft verbunden. Die ganze vorige Nacht hatten 
bie Schweftern und Ürzte nicht geichlafen, jondern Die immer neu 
anfommenden Scharen von Verwundeten abgefertigt. Leider ver- 
Ipätete der Sanitätszug, und viele mußten in einfahen Waggons 
und Plattformen (die di mit Stroh belegt waren) weggebracht 
werden, damit für die Nachtommenden Play geihajft würde. Es 
war ein Bild, das man nicht fo leicht vergißt, diejer Verbandplag 
auf dem Bahnhof mit den Bergen im Hintergrunde, auf beven 
vorderſien ſchon tiefe Gräber für die gefallenen Kameraden gegraben 
waren. Erhebend war es anzujehen, mit welcher Aufopferung 
unfre Kameraden gepflegt, doch auch mit weld) ſioiſcher Ruhe die 
größten Schmerzen ohne Klagen und Stöhnen ertragen murben. 
Gegen Abend traf endlich der mit Ungeduld erjehnte Canitätozug 
ein und mit ihm unjer fommandierender General ber Grenzwache, 
Generalleutnant Tichitfehagew, welder mir fofort befahl, die Feld: 
pojtenfette einzuziehen und mit den Kojafen nad) Siungjötihöng 
abzureiten. Auf dem Wege dorthin überholte id) den Profeſſor 
v. Böge-Mantenffel und den Prinzen YVourbon. Beide Herren 
wußten noch nicht, wo fie ihr Haupt niederlegen follten. Darauf: 
hin forderte ich fie zu mir auf und verſprach ihnen fie nad) dieſem 
beißen Tage mit ſaurer Milch zu erfriichen, auch ein faltes Bad 
fonnte id den Herren in Ausficht ftellen, da meine Douche nad) 
funktionierte und eine Badewanne vorhanden war. Was für eine 
Wohltat Baden und reine Wäſche it, dus kann nur der verfiehen, 
den bie Umftände ein Mal gezwungen haben, wochenlang in Nleidern 
zu fchlafen. Leider fonnten ſich die Herven der Nube nicht lange 
bingeben, da jie ſchon am nächſten Tage fort mußten und ich in 
derielben Nacht einen Nefognosgierungsritt auf der rechten Flante 
am Wieere vorjunehmen hatte. Ich fonjtatierte bald, baß bie 
Japaner langfam MWangtfinling beſehten und unfre Pollen am 
Deere bedrängten. Denn id) traf ſhon bald den Unteroffizier 
Poljafow von der 43. Zolnja wit feinen Kommando, mworunter 
and) ſchon Vermundete waren, der in der Nahe von Wangifialing 
geitanden. 

Ich ritt daher retour, um über alles Gefehene und Ge 
hörte (mas man mebenbei geſagt ſehr auseinanderhalten muß, 


Unter dem Augelregen ber Japaner. 355 


da die Chinefen uns oft nicht ſehr geneigt find) Meldung abzu- 
ftatten. Ich fand unjer liebes, ruhiges Ciungjötihöng in ein 
tiefiges Felblager umgewanbelt, fo dah es ſchwer war den Weg 
hindurchzufinden. Auch fand id) ſchon den Befehl vor, daß alle 
Truppen bie Station räumen jollten, bis auf 3 Sotnjen von 
unfrer Abteilung, bie nun unter dem jtirfjten Druck der Japaner das 
Recht haben follten, die Station zu verlaifen. Wir zogen alfo 3 Sotnjen 
ftart, unter Kommando des DOberjtleutnants Tſchewjakinoki, auf 
Vorpoften. Unterwegs trafen wir die andern, ſchon nah Norden 
Truppenteile. Wir fölen auf der 5. Wert jühlih von 
öng 3 Cofadronen der Primotſchen Dragoner ab, die 
ung glüdjelig den Wlag überliehen, da fie ſchon ganz nervös von 
den jlaflofen Nähten und den ewigen Neibereien und Geplänfeln 
mit den Japanern waren. 

Vor uns, im Nücen und in der Flanke des Yeindes, war 
nur noch ein jtarfes Aufklärungspifett unter Oberleutnant Baron 
Prittwig von den 4. Kofaten. Von ihnen liefen alle zwei Stunden 
immer beunruhigendere Nachrichten ein. Auch in der Front wurden 
wir immer mehr gedrängt, und um dem Feinde nicht unjre Lage 
zu verraten, konnte natürlich von Abkochen nicht die Rede fein 
und wir mußten uns daher mit etwas Brot ober Zwiebad und 
falten Konjerven begnügen. 

So rüdte der Abend des 7. Juni heran. Schweigend und 
abgejpannt lagen wir neben unfren gejattelten Pferden, als wir 
es auf der vorderen Poſtenkette krachen hörten. Unjer ‚zwei, meine 
Wenigfeit und Leutnant Poltorapfy wurden fommanbiert, mit je 
10 Dann die Vorpoſtenlelte an den gefährdeiiten Stellen zu ver: 
ftärfen. Wir famen nod) zur rechten Zeit, denn wir fahen gerade, 
wie eine Gofadron Japaner unfer Zentrum durchbreden wollte 
und hörten dabei auch gleichzeitig auf der dechten Flanfe ſchiehen 
Wir fahen jelbitverjtändlid im Augenblid ab und ein paar Salven 
waren nicht ohne Eifeft. Das gute Schießen fiel uns leicht, da 
die Diltangen vor unſrer Linie abgemeſſen waren und wir fomit 
die Entfernung ganz genau abſchäben fonnten. Daher liefen die 
Feinde es beim Verſuch bleiben und drangen nicht ernftlic vor. 
Doch leider wiederholten fie dieſes Manöver die ganze Nadıt, To 
daß von Schlaf unter diejen Umftänden nicht bie Nede jein fonnte. 
Kaum graue der Morgen, als wir ſchon den Befehl des Generals 
Samſonow erhielten, in dem er uns ftrift befahl, bis zur Station 
Siungjötjöng zurüczugehen. Um Leutnant Baron Prittwig 
ſollten wir uns nicht fünmern. Langjum, immer wieder beſchoſſen 




















356 Unter dem Augelregen der Japaner. 


von den anrüdenden Japanern, gingen wir über den Fluß, dicht 
vor Siungjötihöng. Hier berief Oberflleutnant Tichewjafinsli die 
drei Eotadronschefs und alle Offiziere zu ſich und teilte ihnen mit, 
daß 1 Oberoffizier mit 30 Mann hierbleiben müffe, um den Nüd- 
zug der 3 Sotnjen zu deden, jo wie unfre 3 Göfadronen den 
Nüczug des ganzen Korps des Generals Baron Stadelberg bis 
jegt gedeckt hatten. Cr wandte ſich an uns Oberoffiiere und 
fragte, wer wohl gewillt jei zu bleiben. Natürlich wollten es alle. 
Daher lojten wir und zu meinem Glück traf mid dag Los. Ich 
fuchte mir 30 alte Koſaken aus und blieb frohbewegt zurüd, war 
es doch die erjte größere und ernſtere Aufgabe, die mir während 
des Krieges zuficl. Das erjte war, daß id) meinen Wachtmeijier 
Petrow mit 4 Diann auf das andre Ufer fandte als vorgeſchobenen 
Bolten, der von einem fleinen Hügel aus die gange Gegend über: 
jehen ſollte. Selbſt richtete ich mich häuslih ein, d. h. ich ließ 
die Dauer der einen Fanſe nad) Süden einjchlagen, jtellte die 
Pferde mit 5 Mann Hinter die Fanjen und lag num mit den 
andern 20 Dann rauchend Hinter der halbzerſtörten Mauer, die 
ih nun als Wall benugen wollte. 

Bir tonnten ruhigen Blutes dem Feinde entgegenfehen, da 
die Diftanzen vor unfrem improvifierten Wall wiederum ganz genau 
abgemefjen waren und unfre rechte Flante durd Leutnant Baron 
Prittwitz geibhügt war. Wir brauchten aud nicht lange zu warten, 
als der Wachtmeijter Petrom mit feinen Leuten heranjprengte 
und mir meldete, daß ihm auf dem Fuße eine ruſſiſche Aufklärungs- 
patrouille der Koſaken (femntli an ihren PBifen) und hinter dieſen 
ein Negiment (d. h. 3 Eofabronen, da die Japaner nid)t wie bei 
uns ſechs haben) Japaner folge. Ich itellte jeden meiner Leute 
an feinen Play und wartete mit jtarftlopfendem Herzen der Dinge, 
die da kommen jollten. Alsbald ſprengte die Patrouille in guter 
Drdnung heran, mit einem ſchlanken Offizier an der Epige; dus 
war, wie ic) fogleich exfannte, Oberleutnant Yaron Prittwig von 
den Gmdeulanen; er vief uns zu, daß die Japaner ihm auf den 
Ferſen jeien. Kaum war er hinter dem Gijenbahndamm vers 
idwunden, als aud) ſchon die Vorhm der Feinde anjprengte. Ich 
ließ fie ungefchoren, da id) gerne mehr auf einmal mit ein paar 
Salven niederjireden wollte. Bald famen aud) die 3 Esladronen 
in mufterhafter Ordnung, wie auf der ‘Barade, im jcharfen Trab 
angeritten. Da fie doch niemand mehr in Siungjöticöng anzu- 
treffen hofften, jo ritten fie wicht in Schlachtordnung. Ich ließ 
fie auf 1400 Schritt heranfommen, gab daun die erjie Salve. 





Unter dem Kugelregen der Japaner. 357 


6 Pferde mit Neitern gingen fopfüber. Darauf fepten fie ſich in 
Galopp und ic) brachte nur noch zwei Salven an. Dann hatten 
fie die |chügende Stadtmauer erreicht und es dauerte nicht lange, 
bis wir auch ihre Schüſſe in die rechte Flanfe befamen. Ich 
tommandierle num „an die Pferde”, wir jagen auf und ritten mit 
Sejang ab, was der Feind uns jehr verübelte, da er uns durch 
Ehinefen jagen ließ, es wäre unfein angefichts des Feindes, der 
drängt von ihm, zu fingen. Uns nahm jofort der jchüßende Eifen- 
bahndamm auf, dennoch hatte id) zwei Verwundete und 3 ange: 
ſchoſſene Pferde. Im ſchlankem Trabe holte id) die Unjrigen ein, 
die auf der 5. Werft abgejeffen waren mb ſich aus dem Dorje 
Tee holen ließen. Ich hatte mich kaum gemeldet, als wir ſchon 
aus dem nächſtliegenden Dorfe beſchoſſen wurden. Der Oberj- 
feutnant kommandierte jofort die eine Esfadron in die Feuerlinie 
und ein paar gutgezielte Salven genügten, den Feinden zu zeigen, 
daß fie es nicht mehr mit einer Batrouille zu tun haben. Nebenbei 
bemerkt, fieben die Japaner nicht unſre Salven, da fie nur das 
wilde Schnellfeuer fennen. — Unterdeſſen war es ſchon Mittag 
geworden und wir ließen uns in diejem Dorfe häuslich nieber, 
d. h. in genau abgemejjenen Entfernungen wurde zwiſchen zwei 
Pflöden ein Sirick ausgezogen und jeber der 4 Züge der Esfadron 
band die gefattelten Pferde, immer Kopf gegen Kopf, an. Die 
Leute zündeten Lleine, zum Feinde Hin abgeblendete Feuer an und 
tochten in ihren Heinen Feldkeſſeln ihr frugales Vlittagsbrot. 
Während des Mittagefiens wurde auf japaniſchem Pferde, 
deffen Sattel ganz blutig war, ein Chineje eingebracht, der jedoch 
fließend rujfiich fprad. Nachdem er feinen Strohhut mit daran- 
bhängendem Zopfe abgenommen, erfannten wir in ihm den Trom— 
peter Woltow von der 6. Esfadron des Primorſchen Dragoner- 
regiments. Er war als Spion vor zwei Tagen abgeſchickt und 
das Pferd eines von meinen Leuten erſchoſſenen Japauers rettete 
ihn, da er ſonſt gefangen und wohl nad) dem Feldgejeg gehängt 
worden wäre. Cr jtärkte fi bei unjrer Esfadron und ritt dann 
jeelenvergnügt zu den Eeinen. Unterdefen hatte mein Burſche 
einen Daulbeerbaum im chineſiſchen Garten ausfindig gemacht, 
war hinaufgeflettert und warf uns die wohlſchmedenden Beeren 
herunter. Während wir die Beeren auflajen, fielen wieder Schüſſe 
und «6 mußten zwei Züge abfommandiert werden, um bie Japaner 
aus dem mächiten Dorfe zu vertreiben. Unfer Csfabronschef 
meinte, eine befjere Mujif zum Deſſert könne man ſich garnicht 
wünfgen. Leider war an dieſem Nachmittag an Erholung für 


358 Unter dem Augelregen ber Japaner. 


mid) nicht zu benfen, denn durch Wolkow Hatten wir erfahren, daß 
die Japaner viele Arben in der Stadt Eiungjöticöng gemietet 
hatten und an das Meer ſchickten. Ich mußte daher wieder aufs 
fipen und auf die rechte Flanke reiten, um von ber Bergſpitze zu 
beobadjten, was fie mit ben Arben am Meere wollten. Kaum 
war ich auf einen hohen Berg hinaufgeflettert, als eine Granate 
über unfre Köpfe ging und 60 Schritt hinter uns liegen blieb. 
Zum Glück frepierte fie nicht, und da wir feine Artilleriſten zum 
Entladen hatten, befahl ich eine Grube zu graben und lich durch 
vier Mann die Granate vorfihtig aufheben und hineinlegen. Von 
diefem Berge aus fah ich auch, woher bie Granate gelommen war. 
Es lagen wieder einige Kreuzer in der Bucht und 8 große Trans: 
poriſchiſſe entluden Proviant auf die Arben aus der Stadt. 

Bis zur anbredhenden Dunfelheit mußte ich auf meinem 
Poften bleiben und fehrte dann hundemüde ins Biwak zurüd. 
Das Proviantladen war natürlid dem General Samjouow gemeldet 
worden und er befahl mit Dlorgengrauen zwei Esfadronen in Zava 
(jedermann vom andern 3 Schritt entfernt, die Hinterreihe von 
der Vorberreihe 6 Schritt, in ausgezogener Front) vorzureiten, 
um zu erfahren, wie ftarf die Belegung von Siungjötihöng fei, 
d. b. wir jollten den Feind zwingen, fid zu entwideln und feine 
Streitfräte fonjtatieren. Um Y/4 Uhr morgens waren wir marſch- 
bereit und ſchwärmten aus. Schon nad) den erjten Schritten jahen 
wir feindliche Neiterpatrouillen, die in wilder Flucht in der Nic 
tung nad Siungjötfhöng bdavoneilten. Wir ritten in guter 
Ordnung im Schritt weiter. Bald wurden wir von mörderiſchem 
Kleingewehr⸗ und Maſchinengewehrſeuer empfangen. Ich ließ fofort 
meine zwei Züge abfigen und eröjjnete in einem Wäldden ein 
Salvenfener auf herausreitende vier Esfadronen Japaner, die dus 
Feuer annahmen, abjigend auch ihrerjeits uns beſchoſſen und ji 
dabei langfam auf die Stadt zurüdzogen. Dadurd) waren die vier 
vor uns liegenden Dörfer frei geworden, da auch von deu Bergen 
die 10 Dajdinengewehre nad) der Stadt zu abgefahren waren. 
Ich ſchicke davon Meldung und befam den Vefehl mit 5 Koſaten 
die rechte Flanfe zu vefognoszieren. Nach 2 Werjt gelangte ich 
in eine tiefe Schludt; von dort aus jah id, daß die eine der 
Gofadronen der Heinen Gelben abgeſeſſen war und die Pferde 
unter ſchwacher Bedeckung ftanden, während die übrige Mannſchaft 
wohl zu Fuß einen Umgehungsverjud) unfrer rechten Fiante durd) 
die Berge machte. 

Deine Anficht beftätigte fih, da ich aufihauend im Weiten 





Unter dem Augelregen der Japaner. 350 


auf den Berghöhen die marſchierenden Leute jah. Schnell verjtedte 
ich meine paar Leute in der Schlucht und fprengte jelbft in rafender 
Eile zu meiner Eskadron zurüd, um Verftärtung herbeizuholen 
und die abgejeifene Eskadron des Feindes zu vernichten. Ich 
befam noch 25 Mann, die ſich freiwillig gemeldet hatten und ritt 
in beſchleunigtem Tempo retour. In der Schlucht empfingen mich 
die Leute mit der beruhigenden Nachricht, daß die fleinen Japaner 
nod) da feien, doch fah ich durch das Fernglas, daß das Dorf 
parallel mit uns von einer feindlichen Eskadron beſetzt worden 
war, mas naturgemäß nicht zur Erleichterung unfrer Lage beitrug. 
Dennod) ließ ich raſch entichloffen meine Leute abfigen und ſchlich 
mit ihnen die Schlucht hinauf, durd) ein Gebüſch gededt, bis auf 
500 Schritt von den Tee trinfenden Japanern mit der Eskadron 
veiterlofer Pferde. Mir gaben 8 Salven ab und richtelen natur: 
gemäß mit unfren 23 Slinten ein Majienblutbad befonders unter 
den Pferden an, doch auch ca. 25 Japaner blieben tot oder ſtark 
fädiert auf dem Plage. Leider kounte ich niemand aufnehmen, 
da die feindlide Esfabron, auf die id) ſchon vorher mein Nugens 
merf gerichtet hatte, heranjprengte. Ich ließ 20 Mann auffigen 
und mit den übrigen 10 gab id) zwei Salven auf die anveitende 
Estadron. Dann ritten wir, durch) di hlucht gedeckt, in ſchlankem 
Trabe davon, nicht Galopp, denn «6 ijt jonderbar, daß der Mienſch 
bei jchneller Gangart nicht mehr Herr feiner Nerven ift und aus 
dem Galopp ſofort in Karriere verfällt. Der Oberjtleutnant T. 
Hatte diefem Vanöver aus dem Fernglafe zugefehen und begrüßte 
mid) mit (autem Hurra. Ebenſolche Dvation wurde uns von feiten 
der Sotnja zuteil. Auch die Chinejen begrüßten mich mit freund- 
lichem Lächeln, da id) fie durch meine acht Salven für einige Tage 
mit. frifchem Pferdeſieiſch veriehen hatte. 

Unterdeifen war eo auch ſchon Spätnahmittag geworden und 
Pferde und Leute ermattet von den Strapazen der legten Tage. 
Daher befahl der Dberitleutnant unire Gefadron in die nahe 
Neferve zur Erholung auf einen Tag, um den Pferden zugweiſe 
die Sättel abzunehmen und dadurd) die Möglichteil zu geben, die 
Nüden fi ein wenig erholen und aud die Mannidaft etwas 
ſchlaſen zu laſſen. Sofort braden wir auf und ritten auf die 
Bofitionen von Pitfivo, wo wir in der Nähe im Dorfe Samfi 
den General Samjonow mit feinem Stabe, den Primorſchen Dras 
gonern und den 4. Kojafen vorfanden. Den ganzen Abend war 
&8 uns vergönnt, uns zu erholen, welde Zeit wir jofort benußten, 
uns reine Wäſche anzuziehen und von Kopf bis Fuß zu waſchen. 





300 Unter bem Nugelregen ber Japaner. 


Doc) mußten wir um 2 Uhr nachts wieder in die Sättel, um den 
Vorpojtenesfadronen zu Hilfe zu eilen. Der Feind hatte fid die 
dumfle Nacht zum Überfall ausgejucht. Der Mond ging. in jenen 
Nächten um 12 Uhr unter und erft gegen 4 Uhr dämmerte ber 
Morgen. Wir famen noch zur rechten Zeit, um eine ſchneidige 
Säbelattade der Japaner abznvehren. Wieder entfprach dieſe 
Attade nicht den neueſten Lehrbüchern der Taktit, da dort gejagt 
it, dab es heute nicht mehr vorfommt, daß Kavallerie ineinander 
hineinreitet, jondern der eine ober der andre muß vorher durch 
den Anprall wenden. Wir ritten ganz ordentlid) ineinander hinein 
und hatten viele Verwundungen, bejonders der Hund, denn da 
unfer Säbelgriff ohne Korb, jo itt die Jauft ungefhügt, und der 
Feind, der jede leinigfeit zu feinen Gunften ausnutzt, nahm auch 
bier naturgemäß bie Gelegenheit wahr, jo viele wie möglich ohne 
Mühe fampfunfähig zu machen durch Abjchlagen ber Finger. Noch 
eine jegr Ichlane Art dem Gegner viel Echaden zuzufügen, ohne 
dabei felbit in große Gefahr zu geraten, lernte id) Jierbei fennen. 
Die Japaner warfen ſich nämlich mit Vorliebe wie tot von den 
Pferden, und ſchlugen, am Boden liegend, die Fellelgelenfe der 
tuffiichen Pferde mit dem Säbel durd. Sie fönnen es mit 
Sicherheit tun, da ja ein Pferd befanntlid nur im höchſien Note 
fall auf einen liegenden Menfcen tritt. Gegen Diorgen fehrien 
wir mit einigen Verwundeten zurüd und legten uns ſchlafen. — 
Am Morgen, den 10. Juni, wurde ich zum General Samſonow 
befohlen, um mündlich den Bericht über den Hinterhalt vom Tage 
zuvor abzujtatten. Der General fragte mid) ſcherzend, ob es mir 
als Kavallerijt nicht ſchmerzlich geweſen wäre, fo viele Pferde 
nieberzufnallen? Ich mußte ihm alles genan erklären, und vor 
allen, warum es mir unmöglich war, einige ber Pferbe abzufangen. 
Bei ihm traf ich aud) meinen früheren Bekannten, den einen 
Drdonnangoffizier des Generals, Nittmeifter Prinz Bourbon. Bei 
dem verbrachte id) den Reſt des Tages und er revanchierte ſich 
großartig für das Abendbrot mit fanrer Milch in Siungjötihöng, 
denn er hatte die verſchiedenſten Ronjerven mit. Auch lernte ich 
bei diejer Gelegenheit den Negimentsfameraden des Prinzen kennen, 
den Stabsrittmeifter Tretjafow von den Grodnoſchen Gardehufaren. 
So verlebte id) den Tug in Üppigfeit, denn fo gut zu eſſen hutte 
in ſchon lange nicht befommen. Abends, wie id) einen Meinen 
Spaziergang durch das Dorf machte, traf ich den Nigenjer von 
Gramer, Unteroffizier im Primorſchen Dragonerregiment, der mir 
freubeftrahlend erzählte, dab ev für das Depejhenbringen nad) 


Unter dem Rugefregen ber Japaner. 801 


Port Arthur und zurüd mit Leutnant Jellin das Soldatenkreuz 
4. Klaſſe des heil. Georg erhalten. Leider war das Kreuz bisher 
mod) nicht eingetroffen, was ihm großen Nummer bereitete. Doch 
tröftete ich ihn, da er ja im Tagesbefehl gejtanden, alfo feiner 
Sade ſchon fiher war. Auch lief mir am felben Abend ein 
zweiter Rigenfer in den Weg, Freimiliger Strenge aus bemjelben 
Regiment, mit feiner unvermeidlichen Harmonifa unter dem Arm, 
mit der er uns ſchon öfter die Zeit verfürzt hatte. Aud er 
erzählte mir mit Stolz, dab er einen jelbftändigen Aufklärungsritt 
gemacht, der gut abgelaufen war. Xeider fonnten wir den Abend 
nicht zufammen verbringen, da die Dragoner weiler ab in einem 
Waldchen ſtanden und die Freiwilligen abends bei ihren Esfabronen 
fein mußten. So verſloß diejer Tag ohne Störung. 

Des Morgens ganz früh mußten wir wieder auf die Vor— 
poften. Dir fiel das Los zu, auf der linfen Flanke einen vorge: 
ſchobenen Bolten einzunehmen. In der Nähe (1500-2000 Schritt) 
von uns war eine Tränfe des Feindes. Ich hatte nur 12 Dann 
bei mir und ſollte nur Obacht geben auf die Japaner. Daher 
Tieß id) fie die Pferde ruhig tränfen und verhielt mid) mit meinen 
Leuten ganz fill. Dod leider verriet uns gegen Mittag bus 
Wiehern eines unfrer jungen Pferde, und eine Cofadron ritt an, 
um uns aus unfrem Verjted zu vertreiben. Die Infanterie über- 
ſchulleie uns unterdeffen mit Kugeln (es iſt ja befannt, daß japa- 
niſche Kavallerie ſich nie von ihrer Infanterie auf weiter wie 
4 Werft entfernt), doch ohne Schaden anzurichten, da wir durch 
Gebüfd) gedeft waren und fie die Entfernung nicht genau ab- 
ſchahen konnten. Daher ſchlugen die Kugeln jämtlic) vor uns ein, 
zum größten Gaudium meiner Leute. Wir zogen uns dann auf 
unfre Vorpojtenlinie zurüc und nahmen in der Nähe einer Kumirnja 
(chineſiſches Bethaus) Aufitellung, an ber eine Vergitraße vorbei- 
führte. Id Hatte mid) eben etwas zum Ausruhen hingeitredi, 
als mir der Poſten einen Zug Chinejen meldete. Dur das 
Fernglas erfannte ich eine Schar chineſiſcher Mädchen und drauen 
mit Rindern auf dem Rücken und an der Brujt, welche ji uns 
näherten. Ich lich fie bis an uns heran, hielt fie dann an und 
fragte, was und wohin fie wollen. Es waren alles weibliche Wejen 
zwiſchen 12 und 30 Jahren. Sie jagten, daß ſie vor den Jupanern 
in die Dörfer flüchteten, die noch von den Ruſſen befegt feien, da 
fie fonft von den Japaneın aufgegriffen ud für 15 Nbl. pro 
Kopf (ausgezahlt an die Angehörigen) in den Train geſiecki worden 
wären. ie baten mid), fie paſſicren zu laſſen und ich ſchickte fie 











2 Unter dem augelregen ber Japaner. 


daher unter Vededung ins nächſte große Dorf, mo fie von Vers 
mandten ober Freunden mit großer Freude empfangen wurden. 
Bald darauf mußte ic) zur Verftärfung des Nebenpoſtens 
vor, der von einer halben Eskabron Japaner attadiert wurde. 
Dabei ſchoß ich mit dem Nevolver einen Japaner vom Pferde, 
der ſich zu weit vorgewagt, oder befier gefagt deſſen Pferd durch 
gegangen war und ihn zu nah an uns herangebracht hatte. Nach: 
dem die halbe Esfabron gewendet und ihre Toten und Verwundeten 
in der Eile aufgelejen, außer dem von mir Erfegten, ba er zu 
nah an unſrer enerlinie lag, gingen wir heran und ſahen zu 
unfrenm großen Erſtaunen, daß es garnicht ein Dann, jondern ein 
Knabe von ungefähr 12 Jahren war. Wir beerdigten ihn mit 
allen militäriihen Chrenbezeugungen und machten uns dann an 
das Verbinden unfrer Verwundeten, beren es dieſes Dial, Gott 
fei Danf, nur zwei leichte gab. In der Nacht injpisierte unjer 
Oberſtleutnant unſre Poitenfette und forderte mid) auf, nachdem 
er bei mir etwas laumarmen Tee getrunfen, ihn zu begleiten. 
Es dämmerte ſchon, als wir, nur von unſren Reilknechten und 
einem Trompeter begleitet, aufs freie Feld, das zwiſchen uns und 
dem Feinde fag, heransfamen. Wir wollten gerade in das Dorf 
Safon hineinreiten, das unſter Meinung nad) von einem Auge 
der Primorſchen Dragoner unter Yeulnant D. befegt fein mußte, 
als uns ein Kugelregen empfing, und ich hatte jegt Gelegenheit 
die Raltblütigleit unjres Oberjtleutnants zu bewundern, ber im 
Schritt umfehrte, und dem Feinde immer die Seite zeigend, 
damit wir feine Schülfe in den Nüden befämen (eine Verwundung, 
bie nicht jehr hochgeidjäpt wird), ruhig ins mächite Dorf abritt, 
welches jegt von dem aus Ealou vertriebenen Zuge des Leutnants 
D. befegt war. Sonderbarer Weife hatten die feinen Gelben 
feinem von ung Schaden zugefügt. Im Dorfe, wo wir beim 
Kameraden D. einen fleinen Imbiß einnahmen, beſtehend aus 
Radieochen, grünen Zwiebeln und Zwicbad, hie; mid) der Oberfl- 
feutnant 15 Mann auswählen und unfre linke Flanfe hinunter: 
reiten, und dann in füdöftlicer Nichtung weiter, bis id auf den 
großen Weg von Siungjöthöng wach der Feitung Cijang käme, 
um zu fonjlatieren, ob viele feindliche Truppen und weiche Waffen- 
gatlungen am meilten dorthin ziehen. Ich machte mich ſofort auf 
und fam am Nachmittag in die Nähe diejes großen Weges; es 
dauerte fo lange, da es beſchwerlich wur, dur die Berge dorthin 
zu gelangen, troß der Ausdauer der Fleinen mandſchuriſchen 
Pferden, die in der Ebene VO— 100 Werft täglich one Überan: 





Unter dem Augelregen ber Japaner. 383 


ftrengung maden fönnen, was ihnen fein Vollblutpferd nachmacht. 
Auch durften wir feine eigentlichen Wege benugen, fonbern nur 
auf Fußpfaben vorbringen, um weniger ber Gefahr ausgelegt zu 
fein, von Spionen ober Patrouillen entdedt zu werben. Ich vers 
ftedte nun Mannfchaft und Pferde in einer durch Gebüfch gebedten 
Rumirnja auf einer Bergipige und fonnte nun mit Muße durch 
das Fernglas bie vorbeiziehenden Japaner zählen, ohne von ihnen 
in meinem Verfied bemerft zu werden. Ich fah gerade, wie zwei 
feindliche Rompagnien das Dorf mir gegenüber befegten, um bort 
wahrſcheinlich abzutochen und zu nächtigen, als ein Polten mic) 
darauf aufmerfiam machte, daß von unſrer Seite eine Csfadron 
nahe. Ich befam einen großen Schred, da ich dachte, daf es eine 
feindliche fei, doch fofort beichrten mich die Pilen, dab es unire 
Leute waren. Ich ſchickte iofort einen Dann entgegen, um dem 
Esfabronschef zu melden, daß er nicht weiter Fönne, da er ſoſort 
von zwei Kompagnien beſchoſſen würde. Der Chef muß biefe 
Warnung nicht richtig verflanden haben, denn er rilt ruhig weiter. 
Einige Minuten darauf wurde cr von einem mörberiichen Klein: 
gewehrfener empfangen und mußte wenden. Um jeinen Nüdzug 
zu deden, beſchoß ich von meinem Verjted aus die Rompagnien 
und erreichte e8, dah fie unſte Numienja zu beſchiehen aufingen, 
doch ohne Schaven, da fie uns micht jahen und wir von den 
Steinmanern gut gededt waren. Die abreitende Esladton hatte 
unterdeilen den nädjiten hohen Berg erreicht und beichoh nun 
erfolgreich Das Dorf mit den zwei japaniichen Rompagnien. Diejen 
Moment benupte ih, um unbemerkt mit meinen Leuten zu ver— 
ſchwinden und jchloß mich jofort der Eskadron an. Da jtellte ſich 
denn heraus, daß meine Warnung nicht veritanden worden und 
ber Kommandeur den Befehl vom General Samſonom hatte, 
gerade das Dorf, welches ſchon von zwei Kompagnien bejept mar, 
einzunehmen und von dort aus gleich mir die Weobachtung des 
großen Weges zu übernehmen, da ja im Quartier des Generals 
nicht befannt fein konnte, wo id mit meinen 15 Mann jtede. 
Zu unfrer großen Freude hatte diefe Eskadron mur ein Pferd ver: 
loren, und der Rofat hatte fogar den Sattel mit (Sepäd gerettet. 
Gleich darauf erreichte mid) der Vefehl des Oberftleutuants, zur 
Eotnja zurüdjufehren, da vom Quartier des Senerals eine Colnja 
kommandiert worden, meine Aufgabe auszuführen. Der Zufall 
hatte es gewollt, dad; ich mit ihr zufammengetroffen. Spät in der 
Nacht traf ih im Biwak ein. Wir hatten den ganzen Tag nichts 
in den Magen befommen und befamen auch jegt nicht einmal Tee, 


34 Unter dem Nugelrsgen ber Japaner. 


da die Japaner fo nahe herangerückt waren, da; man fein noch fo 
Meines Feuer aumachen fonnte. Wir jhnallten alfo bie Band 
tiemen enger, zündeten uns ein Pfeifen cineſiſchen Tabads an, 
der uns an die Kinderzeit gemahnte, wo man noch Nofenblätter 
tauchte, gaben den Pferden etwas Gerſte und Stroh und legten 
uns zum Echlummer nieber. 


Es dämmerte erjt, als ich von meinem Esfadronschef geweckt 
wurde mit ber Nachricht, daß cin Unteroffizier Popow von der 
Kompagnie aus der Gefangenjchaft retourniert ſei. Er mar 
bei Wafangfou gefangen worden, war einige Tage von den 
Japaner ſchlecht gefüttert im Biwak gewejen, bis er vor einen 
Japaniichen General geführt wurde, der ihn über einzelnes aus- 
fragte, und da er feine befriedigende Antwort erhielt, feiner Uns 
gebung einige japaniſche Worte fügte, und jelbft mit der Suite 
fortging. Sofort führte man den armen RPopow in eine andıe 
Barafe, die eine Schwiede war, band ihm die Hände feit und jtach 
ihm glühende Nadeln in die Gelenke, um ihn zu Wusjagen zu 
bewegen. Doc da er ſtumm blieb (er fonnte auch wirklich nicht 
unfre Artillerie-Bofitionen bezeichnen), fo wurde er mit den laibierten 
Händen wieder abgeführt. Doch bezengte auch er, daß, folange 
ausländijche Vlilitäragenten zugegen find, die Japaner ſeht menjch- 
lich mit ihren Gefangenen umgehen. Doc) beitwitt er auf dus 
bejtimmteite, dah es verfleidete Chunchuſen gewefen feien, ſondern 
es feien reguläre japanifde Truppen gewejen. Dasjelbe beftätigte 
ja auch nachher der von den Japanern mißhandelte Rofafenleutnant 
Tokmarow, über den ich Ausführlidres in der Nr. 399 deo „Berl. 
Tagebl.” brachte. Glüclicherweife entfam Popow feinen Beinigern, 
wurde von den Chineſen verjtekt und mit Yebensmitteln verjehen 
und gelangte zu uns, von ıo er ins nächite Feldlazaret abgefertigt 
wurde, da jeine Hände ſchredlich ausfahen. 








Während wir noch über dieſe Graufamfeiten ſprachen und 
den MWunjc äußerten, lieber tot als verwundet und gefangen in 
die Hände unfreo Gegners zu fallen, fam der Befehl, da 3 von 
uns mit je 20 Dann vorreiten jollten, je einer redjis, Linfo und 
geradeaus. Hinler uns jollten 3 njen in Yava folgen, um 
den Feind wiederum zu zwingen, jeine Kräfte zu entwideln, da 
wir Verdacht hatten, da er Veritärfung erhalten habe. Daher 
bradjen wir drei auf, meine Wenigfeit auf der linfen Zlante, 
Leutnant P. vor dem Zentrum den Eiſenbahndamm entlang und 
Yeutnant T. auf der rechten Flanfe am Meere entlang. 





Unter dem Rugeleegen ber Japaner. 365 


Bald ftieß ic auch in den Bergen auf eine größere Ab» 
teilung Japaner, die ich auf eine ganze Esfabron tarierte. Doch 
irrt man fid öfter, da fie über das freie Feld oder eine Schlucht, 
felbft wenn fie ſich unbeobachtet wähnen, immer in Heinen Trupps 
von 3-5 Mann hinüberjprengen. Diefe feindliche Abteilung 
retirierte, fo mie fie meiner anfichtig wurbe. Ich meldete dieſes 
Zufammentrefien und nahm die Verfolgung auf. Nachdem ich 
ihnen bereits ſtundenlang gefolgt war, ſah ich von einem hohen 
Berge aus, daß bie vermeintliche Esfadron nur eine ftärkere Aufs 
Märungspatrouille von 30-35 Mann war. Meldele alſo biefen 
Irrtum, und jah auch bald zu meiner Nechten eine Patrouille 
meines Rameraden von ben Primorfchen Dragonern, bes Leutnants 
Nilſchitz (ein ferbifcher Wlanenoffizier, der in Rußland Dienfte ger 
nommen und ſchon das Georgenfreuz erhalten), welcher auch bieje 
30 Mann verfolgte. 

Bir Hatten uns die ganze Zeit nicht gejehen, da Berge uns 
trennten, doch müllen die Feinde den Kameraden eher erblicdt 
haben, weil fie fo ſchnell vor mir zurüdwichen. So kamen wir 
bis an den hohen Zelstegel mit einem Denkmal, welcher von ben 
Chineſen die „Iteinerne Jungfrau“ genannt wird, woran ſich eine 
hinefische Legende fnüpft, Die auf ein Haar der Sage von ber 
Heldenmutter Niobe gleicht. Da fing es mir an aufzufallen, daß 
bie japaniſchen Dragoner ihr Tempo verlangjamten und ich machte 
meinen Kameraden darauf aufmerkſam. Der ſchlug nun einen 
Umgehungsverfuch vor, ritt nad) Weiten ab und ich ritt in alter 
Richtung vorwärts, bis mir einige 800 Schritt vor mir ein Ger 
büfch auffiel, das früher, joviel ich mid) erinnern fonnte, nicht 
dort geftanden. Kaum waren bie roten Holen ber japanifchen 
Ravalleriften hinter diefem Gebüjch verſchwunden, als es dort von 
grauen Beinkleidern ber japaniſchen Infanterie zu wimmeln 
begann. Wir wurden von drei Seiten auf einmal beſchoſſen. Ich 
fieß fofort meine Leute abfigen, die Pferde hinter ein einſam⸗ 
ftebendes Haus verfteden, die Leute ſich Hinlegen und ein paar 
Salven als Antwort geben, um vor Allem zu verhindern, daß fie 
zur Attade auf mein Häuflein Dienfchen vorgingen. Beim Abfigen 
merfte id), daß ber eine meiner jungen Soldaten am Schenfel 
ſtart verwundet war und befahl ihm, nicht abzufigen jondern bei 
den Pferden zu bleiben. Dod hörte er nicht, fondern kroch in, 
bie Feuerlinie (da er nicht mehr gehen fonnte) und meinte, er 
müffe ſich doch erſt revandjieren. Leider fonnten wir nur 3 Salven 
anbringen, von denen bejonders eine brillant jaß, da fie gerade 

Baltilde Monaterhrift 1905, deſt 5. 2 





388 Unter dem Rugelsegen ber Japaner. 


einichlug, als ber Feind zum Bajonettangriff vorgehen wollte, und 
ben fchügenden Wall, der fich Hinter dem verdächtigen Gebüfch ber 
fand, verlafien Hatte. Wir ſaßen fchnell auf, warfen bie Ver— 
wundeten auf ihre Pferde und ritten nach Meften ab, auf ein 
Dorf zu, wo ich ben Leutnant Nilſchitz zu treffen hoffte. Diefe 
Seite war auch außerdem bie einzige, wohin ich mich wenben 
Tonnte, da mir der Rückzug durch eine abgefefiene halbe Esladron 
abgefchnitten war. Kaum mar ich im Dorf, als mir feitwärts 
durch bie Heinen Gäßchen eine Menge Rothoſen bemerften, bie 
verzweifelte Anftrengungen machten, zu uns zu gelangen. Unſre 
Lage wurde mehr wie fritiih. Jetzt waren wir nur noch durch 
einen Häuferfompler getrennt, ala mir mein Zugunteroffigier Gurin, 
ein in ben verfchiebenften Abentenern ergrauter Koſal, zurief, daß 
wohl feine Rettung und das Befte wäre, in einem ber Höfe ab- 
zufigen und fein Zeben fo teuer wie möglich zu verfaufen. Go 
fprengten wir in ben nächſten Hof, um biefe Abficht auszuführen, 
als fchnell nach einander zwei Salven, die ja nur ruffiiche fein 
Tonnten, bei ben SJapanern einfchlugen. Die Verwirrung bes 
Feinbes benugend, ritt ich, eine Hinterthür bes Gehöfts benupend, 
bie ins freie Feld führte, in ber Richtung der Salven davon. 
Natürlich ſchoſſen mir bie feinen Gelben nad), doch maren wir 
gerettet und Gott ſei Dank ohne Tote und mit nur 5 Ver— 
munbeten unb einigen bleffierten Pferden. Wir ritten über ben 
Eifenbahndamm und trafen bort meine Kameraden PB. und 
Niffhig, die mir burd ihre gulgezielten Salven aus ber 
Klemme geholfen. 

Auf unfrem rechten Flügel war aud ſchon ein hübſches 
Handgemenge im Gange, bas leider für uns mit einem Rüchuge 
enbete, da der Feind in großer Übermacht war. Wir onftatierten 
12 Batallione, 12 Eskadronen und ca. 4 Batterien, außerdem bie 
au den Batallionen gehörenden Mafchinengewehre. Diefe große 
Übermacht beruhigte einigermaßen unſren eben erſt eingetroffenen 
Regimentsfommanbeur Oberſt von Winning, der ungern mit 
feinen 3 Esladronen (halbes Kegiment) zurückging. Bon ihm 
befam ic) Vorihrift auf den Feind zu achten und dort zu bleiben, 
mo ich war. Da Leutnant Nikihig denfelben Befehl erhielt, fo 
ließen wir uns in einem Wäldchen nicder. So gingen einige 
Stunden hin und wir wurden nur von Zeit zu Zeit von einigen 
Rugeln der Zapanern begrüßt, bie wahricheinlich zeigen follten, daß 
die Feinde unfer Verſteck erraten. Auf einmal merften wir große 
Bewegung in dem Dorfe vor uns und 2 Gefabronen ritlen in 


Unter dem Rugelregen ber Japaner. 387 


Schlahtorbnung heraus, wahrfcheinfih um uns zu vertreiben und 
zu fehen, was hinter unſtem Rüden vorging. Wir liefen unjre 
Leute zufamentreten und beſchoſſen den Feind, unfren 2 Trompeten 
befahlen wir unaufhörlich umherzureiten und balb Hier, balb ba 
Signale zum Sammeln zu blafen, bamit der Feind getäufcht würde 
und benten follte, daß eine größere Macht das Wäldchen bejeht 
Halte. Der Feind lieh ſich aud) wirklich durch biefes Scheinmanöver 
täuſchen und zog ſich mit Verluften zurüd, wir aber hatten Ruhe 
bis zum Abend, wurden dann abgelöſt und kehrten jeder zu feinem 
Regiment zurüd. 

As id) mic, beim Regimentstommandenr meldete, fagte er 
mir viel Schmeichelhaftes über meinen gelungenen Hinterhalt vom 
9. Juni, und teilte mir mit, daß General-Adjutant Ruropatlin es 
Sr. Majeftät gemeldet. Außerdem überreichte er mir etwa 15 Briefe 
aus der Heimat (wir befamen auf Vorpoften felten Briefe, doch 
mern Schon, dann gleich in größerer Anzahl) und ein Päckchen von 
meiner Mutter mit einigen Hemden und Chofolade. So endete 
ber Tag, ber fo ſchlimm zu werben drohte, prachtvoll! Auch die 
andren hatten Briefe aus der Heimat erhalten und daher verlief 
das Abendbrot, wozu Kamerad Tretjafow die meiften jeiner Kon- 
ferven geopfert, ſehr luſtig, trop mangelhaften Veiteds, da mur 
3 Gabeln und ebenfoviel Meſſer aus dem eleganten Neceijair T.'s 
und einige finnifche Meier und Holzlöfel vorhanden waren. Cs 
wurde viel geſcherzt und gelacht, aud gab PB. mein heutiges 
Abenteuer zum beiten, in ftart humoriftii‘er Färbung, worauf 
id mein Glas falten Tee erhob und meinte, ich fönne mich jeht 
mit Recht als Dlitglieb der „unjterblihen“ Sotnja betradhten. 
Unfre Sotnja war nãmlich fhon in größeren Schlachten im chineſiſchen 
Kriege aktiv geweſen umb hatte immer wenig Verlufte zu ver: 
zeichnen. Unfer Kommandeur erwiderte lachend, daß es wohl bie 
faufende Nummer unfrer Esladron fei, die uns Glück bringe — 
wir führen nämlih die ominöfe „Nr. 13“, das muß alfo doch 
wohl nicht jo durchaus eine Unglüdszahl fein. 

Der Abend wurde erjt recht urgemütlich, denn Tretjakow 
griff noch tiefer in feine Satteltaſche und holte eine Flaſche guten 
alten Cognac hervor. Nun konnten wir uns nod ein feines Glas 
fteifen Grog brauen. Während unfres Beilammenfeins wurde ber 
Nittmeifter Tretjalow zu General Samſonow gerufen, und über: 
brachte bald darauf unfrem Regiments-Rommanbenr Oberft von 
Winning den Befehl des KRorpstommandeurs, Generals Baron 
Stadelberg, daß er mit feinem halben Reiter-Regiment auf Siung: 

* 


368 Unter dem Rugelrsgen der Japaner. 


jötihöng vorrüden folle, als Vortrab ber beiden Negimenter bes 
Generals Samfonom, um biefen Ort, wenn möglich, wieber einzu 
nehmen, unb zwar follten wir ſchon um 1/23 Uhr losreiten. General 
Samfonow mollte um 3 Uhr mit den andren aufbreden. Oberft 
v. Winning wurde vom Stabsrittmeifter T. noch perſönlich gebeten, 
ihm die eine Vorhutpatrowille zu geben, der Oberft war bamit 
einverfianben, zum Unglüd T.’s, ber, feiner Kurzfichtigleit halber, 
bei diejer Affaire aud) blieb, zerhadt von den Japanern. Mir 
gab er wieber die Aufflärungspatronille bes linken Flügels, und 
legte mir ans Ger, auf einen etwaigen Umgehungsverfudh des 
Feindes zu achten; Oberleutnant P. ritt im Zentrum (weil wir 
beibe doch ſchon zufammen gearbeitet hatten und das Terrain gut 
fannten) und ber Stabsriltmeiſter T. auf der rechten Flanke. 

Da wir drei ſchon um 2 Uhr aufbrechen follten, legten wir 
uns fofort nieder, um dod noch ein paar Stunden Ruhe, oder 
wenn möglich, Schlaf zu genießen. In der Dämmerung medte 
mid) punft Y/2 Uhr der Unteroffiier und ich ließ meine Leute 
vom vorigen Tage antreten, erflärte ihnen umjre Yufgabe und 
ritt frohgemut los. Als der Morgen eben graute, famen wir an 
ber „Iteinerne Jungfrau” an, trafen dort einen Chinejen und 
fragten, ob „Ipen“ in ber Nähe jeien. Er bejahte und zeigte auf 
das nächte Dorf. Kaum waren wir dort hineingeriften, als meine 
erften Vorreiter Schüfe abgaben und ich einige Japaner mit 
Hühnern unter dem Arm flüchten ſah. Es waren ihrer 15 Diann, 
3 davon blieben auf dem Plage, der vierte, ſchwerverwundet, 
murde fofort von zwei feiner Kameraden aufgehoben, einem dritten 
über die Schulter geworfen mit fo gewandtem und ſchnellem Griff, 
daß es unbedingt vorher eingeübt gewejen fein muß, und flüchteten 
in bie Berge. Wir konnten uns aber nicht länger mit ihnen bes 
Ichäftigen, da wir in ber rechten Flanke beſchoſſen wurden, von 
einer abgeſeſſenen Aufflärungspatrouille der Japaner. Wir mußten 
nun aud) abfigen und hinter Gräbern verjtedt verfuhen den Feind 
(d. h. bie Patrouille der Japaner) zu vertreiben. Das dauerte 
einige Stunden, da fie in der Übermadt waren und gerne an 
mir vorüber wollten, um zu fehen, was die Unirigen hinter mir 
treiben. Zu gleicher Zeit hörte ich auch in ber Gegend bes Eifen- 
bahndammes ftarfes Schiehen, und ſchloß daraus, daß dort Kamerad 
P auch ſchon mit dem Feinde in Fühlung gefommen fe. Da 
fi das Schießen immer mehr näherte, fo zog es mein Gegner 
vor, ſich zurüdzupiehen. Ich verfolgte ihn, fam dabei über einen 
hohen Bergrüden und ſah durch das Fernglas zu meinem Er— 


Unter dem Rugelregen ber Japaner. 3 


ſtaunen, daß die Schlucht ca. 2 Werft von meinem Standpunfte 
von Infanterie und Artilferie wimmelte, welche nad) norb-öftlicher 
Richtung marſchierten. Es mar fofort klar, daß es ſich hier nur 
um einen Umgehungsverfuch Handeln fonnte, und ich wollte eine 
Eſiafette an ben Negimentsommandeur fhiden, als id) unter mir 
einen japaniihen NKavallerieoffizier dahiniprengen jah, nur von 
2 Soldaten begleitet, welder augenſcheinlich eine Botſchaft nach 
der Stadt Siungjötichöng zu bringen hatte. Sofort ſchnitten meine 
Leute ifm den Weg ab unb umringten ihn. Der Offiier, der 
ſich in der Nähe als Secondeleutnant von etwa 19 Jahren erwies, 
fuchtelte wild mit dem Säbel um ji, als ich heranritt, meinen 
Leuten bedeutete von ihm abyuftehen und ihm japaniſch, Damané“ 
zurief, d. h. „ergeben Eie ſich“. Dod er antwortete jo etwas 
wie „je ne veux pas“ und gleih darauf kreuzten ſich unfre 
Sübel. Doch focht er fehr jonderbar, er fuchtelte immer nur mit 
der Klinge und verfuchte zu ſtechen. Ich traf ihm quer durch das 
Geſicht und befahl dem Kojaten Maslow fein Pferd am Zügel zu 
nehmen, um ihn zum Werbandplag zu bringen. Doch da er ſich 
verwundet auch noch zur Wehr ſehen wollte, jo mußte er nieder⸗ 
gemacht werden. In demfelben Augenblid befamen wir von links 
und von vorne einen Hagel von Nugeln. Mein Pferd brach jofort 
zufammen und ich felbft befam einen Knieſchuß, aud) ber linke 
Arm verfagte (audy Folge eines Schußes.) Gleich darauf hörten 
mir aud) den Schladtruf: „Banſai“ und „Tarraba“ und über 
mich ging eine Eskadron hinüber. Dennod gelang es meinen 
braven Jungens mich herauszuhauen und auf ein freies Pferd zu 
werfen. Wir ritten nun hinter den Berg und jaßen ſchnell ab 
(d. h. meine Leute, ich ſelbſt konnte nicht) und beichoflen mit 
Schnellfeuer den herannahenden Feind, der jegt wohl meinte, duß 
er es mit herbeigeeilter Infanterie zu tun habe und ſich langiam, 
feine Verwundeten wmitnehmend, zurüdzog. Wir Hatten 4 Ver: 
wundete außer mir. Ich ſchickte fie zum Verbandplag, ſelbſt wollte 
id) dem General Samſonow über den Umgehungsverjudh Meldung 
eritatten. Dabei mußte id) ein freies Feld pailieren und wurde 
fofort von den Japaner beſchoſſen. Die Müpe murde mir vom 
KRopfe gerifien und ich fühlte einen Schlag auf den Wiagen und 
war nun überzeugt, baß ih einen Vaudyichuß weg habe. Nadpher 
aber erwies es ſich, daß der Säbelgriff die Kugel aufgehalten. 
Mein Knie brannte und ſchmerzte ſtark, aud) floh das Blut reichlich. 
Da hörte ih hinter mir (von den Vleinen war id) noch 11/e--2 
Werft entfernt) Pferdegetrappel, drehe mid um und jehe einen 








0 Unter dem Rugelregen ber Japaner. 


japaniiden Leutnant mit 2 Mann mid) verfolgen. An dem 
ſchwankenden Sig im Sattel muß er wohl erkannt haben, daß ih 
idhwerverwundet bin und wollte mid, wohl gefangen nehmen. Im 
erſten Augenblid war ich zu apatiih, um etwas zu benfen und 
ritt ruhig im Meinen Trab weiter, bis mid einige japanijde 
Schimpfworte aufrüttelten. Ich hörte, wie ber Verfolger mich, mit 
den bianfen Säbel fuchtelnd, anſchtie: „Kakoe koi inu“ (ieh? 
fill, Hund!) Diefe fein ausgewählte Anrede vertrieb mir fofort 
jedes Gefüfte auf eine nähere Befanntfhaft mit ihm. Ich Hielt 
nun das Pferden an und wartete mit bem gejpannten Revolver 
in der Hand, bis ber ſchon freubig erregte Herr (ber glaubte, ich 
habe angehalten, um mich zu ergeben) auf ungefähr 50 Schritt 
heranfommen, dann ſchoß ich zwei Mal furz nacheinander unb ber 
junge Dann fiel rüclings vom Pferde, id fah nur noch, wie feine 
beiden Wegleiter abiprangen, wandte mein Pferd und ritt, ſo ſchnell 
das Tierchen laufen konnte, davon. Doch nod) eine Kugel, viel: 
leicht eine von den abgejeilenen Begleitern des japaniſchen Leutnants, 
erreichte mein Pferd, Diejes jtolperte, und ich viel fopfüber aus 
dem Eattel, wurde aber gleich darauf von einer Koſakenpatrouille 
aufgelefen und befam ein frisches Pferd, auf dem ich ben General 
Samfonow auffuchte und mid bei ihm als verwundet abmeldete, 
nachdem ich ihm den Umgehungsverfuch der japaniihen Infanterie 
und Artillerie gemeldet. Leider Hinderte mi ein Ohnmachtsanfall, 
in Folge jtarfen Blutverluſtes und langen Neitens nad der Ver: 
wundung, die Antwort Sr. Grellenz zu hören. Ws ic zu mir 
tam, hatte id) das niederfchlagende Bewußtſein, jept für einige 
Monate fampfunfähig zu fein, und nur die Hoffnung, bald wieder 
hergeitellt aufs neue in bie Reihen meiner Kameraden eintreten 
zu können, gab mir neuen Lebensmut. 


AR 


Bedigte 


von 


Eduard Fehre. 








Bon einem Sommer, 


Das war ein alter Herrenfig ! 

Einſt Hatten Seivenichleppen 

Sin jimmerndes Parkett geitreift — 
Nun brödelten bie Treppen; 

Das Dedenbild, gefallen war's 

Der firengen Zeit zur Beute — — 

Des Sommers, ben id) dort verlebt. 
Woht dent’ ich fein mod) heute. 


Der Gartenpart! In farb'gem Tan 
Sprangen der Sonne Lichter, 

Im Strauchwert Halb verborgen, quolf 
Die Himbeer dicht und dichter. 

Der Linde Blüten Iodten an 

Der Bienen frope Schwärme, 

Und alles was da lebte, ſwien 
Getaugt in Sicht und Wärme. . . 


Bu Ende ging ein fhwüler Tag, 

Die Sonne war im Sinten; 

Der Garten wollte nod vor Racht 

Die lehien Strahlen trinten. 

Da haben Hänge ſeltſam fremd 

Der Bruit fih mir entrungen;, 

Da hab’ ich — jelber fahı” id’s laum — 
Bein eriteß Sieb gefungen. 


Gedichte. 


Der Garten. 


Du Garten hinterm Haufe, 
Der meine Kindheit fah, 
Die fiegft du traumperfunfen 
Im Sonnenicimmer da! 
Dir dedte oft den Himmel 
Ein graues Einerli — 
Doch über dir, mein Garten, 
Leuchtet ein ewiger Mai! 


Gang leiſe narrt die Bforte — 
Seh’ ich und hör" ich vet? 

Ihr Bäume, Lauben, Berle, 

Ihr lebel und ihr fpredt! 

Bon goldnem Laden Halt es, 

Bon frohen Liedern klingt’, 

Bon Zauberblumen dufters. 

Bon Wärgen raunt und fing’®. . . 


Schweiterlein. 


Sqhweſterlein, Schweiterlein! 
Wie gingft du fräß zur Ruh’! 
Wars doc) blauer Frühlingstag: 
Sonne über den Wegen lag; 
Seren fangen — aber du 
Scloffeit IL die Augen zu. 


Scweiterlein, Schweiterlein! 

Was ift mit dir geihehn? 

Brüder und Schweitern famen zuhauf — 
Aber dic, wedi niemand auf. 

Sollen fie wieber nad) Haufe gehn, 
Lerche nicht hören, Sonne nicht fehn? 


Einem Frühvolleudeten. 


Die Luft durdfcmirtt' ein Pfeil 
Du janteft hin gu frühen Schlaf 
Sie brad) dir an, die lange Radıt, 
Noch eh’ die Ernte eingebracht. 





er traf; 


Bedigte 378 


Den Ader, der dir anvertraut, 
Wie Haft du reulich ihn bebaut! 

Dir fahen reiche Frucht erbiahn 

Aus deiner Hände beidem Mühn. . - 

’s üt eine Zeit, bie Manner braucht! 

Du haſt für ſolche Zeit getaugt. 

Ein Freier, feiner Clique Stlan — — 

Die Luft durdicwiret ein Pfeil: er traf. . - 





Blüte und Frucht. 


Die bald vermeht der Frühlingstraum! 
Vereinſamt ſchweigt der Garten. 

Kur wenige Frühe trägt der Baum — 
Hundert der Blüten eritarrten. © . . 


Spätlanb, 


Des Sommers Glut, du falbes Laub, 
Hat lange über Dir geglommen — 
Run ſiniſt du, eines Hauces Raub: 
Dein Spätherbft it herangefommen. 
Doc stil! Im Maienfonnenblid 
Wird fid) Die neue Anofpe weiten — 
Ergieb dich drum in dein Gefchid, 
Das Feld der Zufunft zu bereiten! 


Nur jelten... 


Weiß nichts von Luft, weiß nichts von Leide 
Beit inter mir liegen fie beide, beide. 
Die Bogen kamen lüngft zur Ruß”, 
Und Gifesrinde dect fie zu. - - 
Rur felten — — fpät nad Mitternacht, 
Wenn ich mein Tagewert vollbragt 
Und müb und matt 
Gefunten auf die Sagerftatt: 


Gedigte. 


Tritt vor mich Hin eine hohe Beftalt, 
Von langem jchwarzem Schleier ummaltt, 
Wit Flügeln gewoben aus Duft und Glanz, 
Im Haar den Immorlellentrang — 
Und fireidt mir über bie Stiene Find, 
Als wär’ ic) ein armes, franfes Kind, 

Und raunet Leife 

Diefe Weile: 


‚Haft du denn ganz und gar vergeffen, 
Dahı du mein beſtes Teil bejefien? 
Nur fromme Sage 
Sind jene Tage, 
Da du des Menfohtums quälende Fragen 
Wit heiligen Ernit in der Seele getragen; 
Da du dem Hersichlag nadıgefpürt, 
Der ſich in allem Leben rührt; 
Da dir bei Morgen» und Abendſchein 
Des Meeres Welle, der ftille Hain 
Ihr Urgefeimnis zugerauſcht; 
Da du mit Sternen Grüße getauſcht 
Und — weißt du noch? — zu Wonn’ und Dual 
Yeib traf auch did) der Liebe Strahl. 
Da Haft du gejauchtt, da haft du gebebt — — 
Da haft du gelebt!” 


Und ſchaut mid) an mit trautem Blid: 
„Rennit du mich noch? Ich bin’s, das Glüd!“ 


Und fehnend fahr’ ich dann empor: 
Gin Yapnenicheei trifft rauf mein Ohr; 
Durchs Fenfter briit ein matteß Rot — — 
Gerz, lebſt Du noch? Herz, biſt bu tot? 





Das alte und dad neue Haus, 


Im Worgendämmerfcjein 
Mid) ſprechen hör’ ich laut: 
„Das alte Haus fält ein, 
Ein neues wirb gebaut.“ 
Das war im Fibelbuc, 
Mein eiſtes Lefeftüd — 
Wie dünft’ ich da mic, klug 
In jungen Bauens Blüd! 


Gedigte. 35 


„Das alte Haus fült ein — 
Ein neues wird gebaut!" 

In Sturm und Welterfgein 
Ref ich die Loſung laut. 

Ic warf, was morf& und welt, 
Mit rauher Yand Hinaus. 

Aus ftärterem Gebält 

Erftand ein neues Haus. . - 


Des Lebens Haus wird alt, 

Schon zittert leil' der Grund; 

Auch ihm — wer weih, wie bald? — 
Kommt eine fepte Stund’. 

Ein Abenddammerſchein.. 
Dann aber ruf’ ichs laut 
»Da8 alte Haus fiel ein — 
Ein neues jteht erbaut!" 








Aus einem alten Tagebuch. 





Aufgeihnungen des Fräulein Wirike von Stryt a. d. Haufe Palla *. 
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%o. 1748. Den 1. Januari. 


Das alte Jahr ift hin, ein neues tritt herein, 

Ad) laf mid, Hödhfter Gott, auch neu und beffer fein 
In diefem neuen Jahr. Zub mic die Sünde fliehen, 
Lob mid) in Deinem Lob nur jugen mein Vergnügen. 
Nichts Gutes wohnt in mir, das iſt Dir Herr bemußt, 
Ach ändre doch daS Herz, reiß jelbjt aus meiner Bruft, 
Was Dir zumider it. Ad lab mid Dir nur leben 
Und gänglic) fterben mir, la meine Seele jtreben 

Rad) Deiner Gnad und Huld. Erfalt id) dieſes nur, 
So wunſch ich weiter nichts, ich Hab alsdann bie Aur 
Bu meinem emgen Wohl. Nun Gott, Du tannit e8 geben. 
So wohne denn in mir und faf; mic, in Dir Ichen. 
Ic bitte ferner auch, erbarmungsdoller Gott, 

Nimm biefeß ganze Haus, Allmächtiger Zebaoth, 

In Deinen itarten Schug; ah uns fein Unfal rühren, 
Und was uns jept betrübt, daraus wollſt Du uns führen. 
Erhalt uns allejommt in Deiner Gnad und Huld. 

Ach ſteh uns fräftig bei, ach ſchent uns doch Geduld, 
So uns viel Ruhen ſchafft in allem Sreuz und Plegen. 
Herr, wenn Du mas auflegit, jo belf auch ſelber tragen. 
Sieb, doß wir uns mit Ernſt um unfer Heil bemühn 
Und uns von Deinem Geijt zum Guten laſſen zieh. 
Zah Deine reine Lehr noch ferner bei uns blühn 

Und alle Heuchelei von unfrer Grenze flichn. 

Beſchutz das ganze Land, erhalt den edien Frieden, 

Ein jeder fei vergnügt mit dem, was ihm beidjieben. 


*) Das Manuftript diefes in kulturgeſchichtlicher Hinſicht nicht unintereje 
fanten Tageduhes befindet fih auf dem Gute Pala in Yivland. 


Aus einem alten Tagebuch 377 


Freytag den 1. Januar. Die liebe Mama hat biefe 
Nacht ſchlaflos zugebracht und befindet ſich auch recht übel. Wir 
fangen alfo das neue Jahr fehr betrübt an. Gott helfe uns 
weiter. Bruber Berend feine Reife nach Narva iſt, weil bie liebe 
Mama ſich ſo ſchlecht befindet, nachgeblieben. Sander ift hingegen 
heute nach Narva expediret worden. 

Montag den 4. Heute hat uns der Herr Paſtor Ucke 
das Heil. Abendmahl gereicht. Der Allerhöchſie gebe, daB wir es 
würbiglid möchten empfangen haben, daß es zu unferer Seelen 
Heil gedeihen möchte. 

Mittwod den 6. als Heil. II Ränge. Recht früh 
machten wir uns auf und fuhren nad) Sarenhof, in dem bafigen 
Krug erhielten wir die Nachricht, dab die Herrſchaft jänmtl. nach 
Kudding verreifen würde, die Taufe des Jüngitgeborenen Söhnchens 
des Herrn Rillmeiſters Eſſen beizuwohnen. Wir hielten aljo alle 
drei Confilium und beſchloſſen endlich, daß Bruder. Berend vorbei 
nad Dorpat fortfegen, wir aber einfehren follten, was auch geſchahe. 
Wir fanden Ihnen alferfeits ganz reileferlig. . . Indeſſen hatten 
wir doc das Vergnügen, Ihnen eine Stunde und was darüber 
zu Iprechen, auch unterichiedl. koſtbare Zeuge und Estoffen zu ſehen, 
die der Here Ordnungsrichter d. Boch aus Dorpat gebracht, aus 
welchen feine Tochter, die verlobte Braut des Herrn von Platers, 
ſich zwei Kleidung wählen follte. Ihr Mahl war auch ganz gut, 
denn zum Brautlleid hatte Sie ſich auserlefen ein franz. Estoffe, 
weißer Grund mit allerhand farbigte Ranfen, und zur Adrienne 
roth Greset, weldjes vermuihlich mit Silber bejegt wird ꝛc. Die 
verwittibte Fran v. Cronmann trafen wir auch allda an, welde 
uns veriprad, mit uns zu fommen. Wie Sie alle nad Kuddin, 
las ich den Ueberbleibfel von unferer Geſellſchaft die Predigt vor, 
worauf wir aßen, Thee drunfen und fodanı zu Hauſe fuhren, 
allwo wir en compagnie der Fr. v. Cronmann vor einer Elunde 
glüdlich angekommen find. 

Donnerstag d. 7. Der Kerr Paltor Ude gab an 
Mama von einer Diedipin, die der Tormaſche Paſtor Eijen labo— 
riret. eil. Tropfen, dieſes wollte Schweſter Ann-Lieschen heute 
Morgen Mama eingeben, indem Sie aber in dem Löffel tröpfelt, 
ſchlug das Feuer von dem babeiftchenden Lichte in dem Glafe und 
zerbrach es in hundert Stüde. Co iſt doch ſonderbar, daß bie 


378 Aus einem alten Tagebud). 


1. Mama fein Mebizin genießen fann, indem allerhand Fatalitäten 
ihr daran hindern. 

Frentag d. 8. Bruder Verend kam aus Dorpat nad) 
hauſe. Er hat fi) graulich Laden zum Kleid ausgenommen, desgl. 
ponforoth Griset zur Wefte, mit gülbner Spige bejegt. Der 
Schneider hat auch angefangen heute darauf zu arbeiten. 

Sonnabend d. 9. Die Frau Orbnungs-Richterin Reh— 
Binder ift zu Haufe gefommen mit einer großen Suite von Gäſten, 
Ihre Mutter die Sanbräthin und beren Töchter, Schwieger-Gohn 
und ꝛc., welche ſich heute hier gemeldet, daß fie morgen her 
fommen wollen. 

Sonntag d. 10. Gegen den Gottesbienft famen unfere 
Säfte hier an. Näml. bie Fr. Landrätin Eſſen mit Ihre brei 
Töchter, die Fr. Ordnungs-Richter Nehbinbern, die Fr. Aſſeſſorin 
Wrangeln und die Frl. Efien, besgl. Ihr Sohn ber Lieut. Eſſen 
und Schwieger-Sohn der Aſſeſſor Wrangel. Sie blieben hier bis 
Abend, das Frauen-Zimmer fuhr früher weg, die Cavalier fpeiften 
aber noch den Abend hier. 

Montag d. 11. Gegen Abend famen die beiden Brüber 
Guſtav und Otto unvermuthlich hier an und verurſachten dahero 
befto größere Freude. 

Donners:tag d. 14. Heute find wir befchäftigt, uns zur 
der morgendigen Reife zum Jahrmarkt zu prepariren. 

Freytag d. 15. Hente um 8 Uhr ging unfere Reife nach 
Dorpat vor fih. Die I. Mama blieb mit Schwefter Beatchen zu 
Haufe. Im der Iggaferſchen Poftirung fpeiften wir und hielten 
uns eil. Stunden dar auf. Um 4 Uhr trafen wir hier in Dorpat 
ein, bie erfte Vifite, fo wir befommen, iſt von einer fehr fieben 
Freundinn, nämlich die Majorin Sievers, gleich darauf fam auch 
ber Herr Major Sievers und ber Hufarenmajor zu uns. Ihnen 
folgten ber Lieut. Mündhaufen, der Vereuter Weberg und ber 
Aſſeſſor Paikul von Türbfal, welde, ba fie Thee getrunfen, zum 
L’ombre:Spiel ſich jegten; fie fpeilten ben Abend bei uns und 
ſchieden um 12 Uhr. 

Sonnabend b. 16. Sobald wir uns angefleibet hatten, 
gingen wir nad dem Marft und handelten in Alopfens und 
Fürftenau Bude. Nachmittag waren wir wieder mit Cronmanns, 
die Gavalier gingen barauf nad dem Markt. ... Um 7 Uhr 


Aus einem alten Tagebuch. 879 


aber wurden mir von dem Herrn Major Sievers und feiner 
Frauen, die bei uns waren, in fein Quartier gebracht, ohnerachtet 
wir uns ſchon abgekleibet hatten. Wir zogen uns alfo in Eil 
wieber an und gingen dahin. Die Major Maltig und den Bereuter 
Meberg fanden wir dort vor. Der Schatten-Spieler, ber auch 
ſchon gejtern bei uns ayirt hatte, wurde hingebracht. Wir fpeiften 
darauf zu Abend. Wie groß war unfere Bewunderung, da mir 
mährend dem Eſſen eine Mufifanten:Bande eintreten fahen, melde 
auf Antrieb des Majoren Sievers von Herrn Weberg dahin ber 
ftellt waren? Gedachter Herr Weberg wurde darauf zu Herrn 
Lieut. Mündhaufen gejandt, ihm und feine Gemahlin zum Tanz 
zu invitiren. Wie biefer bie vier Frl. von Albediel da gewahr 
mird, nöthigt er fie auch und fie erſchienen alle. Darauf ging 
ber Ball an, welcher bis 2 Uhr in der Nacht währte. Wir waren 
recht vergnügt und gingen auch recht vergnügt auseinander. 


Donnerstag d. 21. Heule reißlen wir aus. .... 
Eronmann und feine frau famen auch aus der Stadt eine halbe 
Stunde nach uns im Kruge an, da trafen wir den Aſſeſſor Gülden- 
fchmibt mit feinem Sohne. Wir ſpeiſten jufammen, trunfen Thee 
und fuhren jodann unfere Straße, bis wir nun endlich hier in 
Valla angelangt und herzlich vergnügt find, die Jahrmarfts-Zeit 
hinterlegt zu haben. 





Sonntag d. 24. .. . Meilen der Major Sievers mit 
feiner Gemahlin ganz aus Livland aus und nad) Finnland teilt, 
auch fobalb nicht zurücfommen möchten, fo nahmen wir von ihnen 
beweglicen Abfchied und wünjchten auf ihrer weiten Neife viel 
taufend fältiges Glüd. 

Sonntag d. 31. Heute it ein betrübler Tag vor uns 
geiwejen, indem bie Abreife von Bruder Guſtav noch im Andenten, 
und vor's andere reifete auch Ottchen weg, welcher von uns gleich 
mie auch wir von Ihm, recht ſchmerzl. Abſchied nahm. Der Aller: 
Böchfte nehme fie beide in feinen allmächtigen Schun und gebe uns 
nimmer andere als gute Nachricht von Ihnen. 

Donners:Tag d. 4. Febr. Vormittag fam die Nitter- 
ſchaftohauptmãnnin Stafelberg in Begleitung der Frau Drdnungs: 
richterin von Nehbindern angefahren, wir empfungen Ihnen und 
gaben Ihnen alle Merkmale, wie angenchin uns Ihre Visite wäre. 


380 Aus einem alten Tagebud. 


Sie jpeilten hier, trunfen auch Koffée und Thee und fuhren 
fobann meg. ... 

Sonntag d. 7. Heute marſchirte das Narviſche Regiment 
aus fein bisheriges Quartier nah Riga. 

Mittwod d. 10. Februar. Weil die Frau v. Plater 
von Faldenau ſowohl als ihre Mutter Schweiter Anlischen haben 
bitten laſſen nach Falfenau zu fommen, fo hat bie liebe Diama 
erlaubt dahin zu fahren, wohin ich ihr begleiten werde. Morgen 
haben wir &. ©. entſchloſſen die Reiſe anzutreten. 

Donners-Tag d. 11. Um 9 Uhr fuhren wir von bier 
ob, mir funben einen weiteren Weg, als wir uns vermutheten. 
Kajafer, Elliſtfer, Saadjerw und das Ehlſche Pajtorat mußten wir 
paffiren und um 4 Uhr langten wir in Faldenau an. Wir fanden 
ſchon allerfeits beim Theetiſch, die Wirthin, die Frau v. Platern 
empfung uns, die Frau Landräthin Yudbergin und ihre unver: 
heirathete Tochter, desgleihen ihre Schweſter die Fräul. Pinter 
fanden wir da, melde fid) über unſere Anfunft herzl. freuten. 
Der Herr von Plater fam ſodann aud und grüßle uns. Die 
Fräul. erzählten nun fodann von ihrem Vergnügen, fo fie auf der 
Sarenhofihen Hochzeit genoffen. Die darauf folgende Nacht habe 
id) ganz fchlaflos zugebradyt, denn es waren bar eine gar große 
Menge Ratzen und Mänfe, die fo dreijte waren, daß fie auch auf 
dem Bette krochen, welches verurjachte, daß ich aus Furdt vor fie 
meine Augen nicht zuthat. 

Freitag d. 12. Der Lieut. Krüdner von Werber war 
geftern Abend nad Faldenau gefommen, er wollte nad) Mittag 
reifen und faß aud ſchon im Schlitten, als des Herrn v. Plater 
von Koenhof fein Bedienter hinfam und feine Herren und jungen 
Frauen anmeldete, desgl. deren Eltern, den Ordnungsrichter Bock 
und die Frl. Wilhelmine Bod, wie aud) den Herrn Landrath de 
la Barre und feine Töchter und Schwiegerjohn, den Major von 
Ungern; hierauf rejolvirte Krüdner zurüdzubleiben. Um 5 Uhr 
tam diefe Euite an, es wurde mit einem Dal alles lebhaft, da 
hörte man nichts als fingen, laden und jchergen, womit man for 
lange continwirete, bis ein jeder ſich zur Nuhe legte. Es wurde 
in der Stube ein jogenanntes Vraßbeite aufgemacht, worauf fid) 
die Frl. und aud) die Frau Landr. Budbergin und ihre Tochter, 
unjere Wirthin legten. Der Wirth fam und flörte uns in unferer 


Aus einem alten Tagchuch. 81 


Ruhe, indem er mit einer großen Peitiche par raillerie uns 
droßte, auch von feiner Schwiegerin die Dede abriß. Endlich ging 
er weg und wir fchliefen ein. 

Sonnabend d. 13. Den Morgen, wie wir faum erwacht 
waren, fam jchon ber Major Ungern ein und machte uns allerhand 
Polen. Wir befamen feine Zeit uns anzufleiden, und «8 ging 
alles in der größten Eile. Um 8 Uhr reifte der Landr. la Barre 
mit feiner Familie weg und wir folgten ihnen fogleih, nahmen 
aber einen ganz anderen Weg, als fie, indem fie nach bem rigifchen 
und wir nad) Haufe reiften. . . - 

Freytag d. 19. Heute wurde wegen einen Diebitahl von 
Branntwein eine große Inquifition gehalten und die Schuldigen 
mit Ruthe beitraft. . . - 

Sonntag b. 21. Früh Morgens befamen wir einen Zu: 
fpruch von Herrn Reenhorn, der uns die Beſſerung feiner Frau 
Schweſter verfiherte. Auch kam die Kommiſſairin Prens von 
Nennal her. 

Mittwoch d. 24. Schweſter Annlieshen und ich fuhren 
nach Sarenhof, es waren da vor uns ber Herr Kandr. Gtafelberg 
mit feiner Gemahlin, besgl. der Herr Nittmeifter Liphard mit 
feiner Gemahlin, legterer fpielte Karten mit den Orbnungsrichter 
Bock und deſſen Schwiegerjohn Plater, die übrigen faßen beim 
Cofféetiſch, an welden, wie wir jie ſämmtlich gegrüßt hatten, wir 
uns auch fegten. . . . 

Donners-Tag d. 25. Wir jpielten den Vormittag 
Karten, den Nachmittag bejuchten wir die junge Platern in ihrem 
Schlafzimmer. Den Abend jpielten wir L'hombre. 

Freytag d. 4. Diefen Abend befand ich mid bejonders 
ſchwermüthig, welches id) auch Schweiter Ann-Lieschen entdeckte, 
die Nacht ſchlief ich aber doch gut. 

Donners-Tag d. 10. Den heutigen Tag bin id) recht 
wohl und zufrieden geiwefen, wir waren bie Sarenhofihen hierher 
vermuthen, fie blieben aber aus. 

Mittwod b. 16. Morgen werden wir mit ber lieben 
Mama nad) Dorpat reifen... . . 

Donners:Tag d. 17. Wir braden um 10 Uhr von 
hier aus nad Dorpat und famen um 5 Uhr nad) der Stadt. 


Unfer Quartier war bei dem Scujler Poſſes. .. Auf bem 
Baltifche Monataigeift 1008, Heft 5. u 


382 Aus einem alten Tagebuch. 


Markte entitand ein graufamer Tumult von den Grenadiers des 
Waroniſchen Regiments. Unterſchiedliche Perfonen, als die Raths- 
verwanbterin Peufer, ber Cammerir Planert, ber Handſchuhmacher 
Friedrich wurden entfeglich von ihnen zugerichtet, inbem man fie 
als todt nad) hauje getragen, andere aber, als der Aſſeſſor Nennen» 
fampf, der Imfpector Rehan mußten gleichfalls derbe Schläge 
bavontragen. Um 8 Uhr legte ſich biejer Aufitand durch Vermite 
telung bes Second-Majoren dieſes Regiments. Das Graufamfte 
bei biefer Sache war, daß die Soldaten ohne Strafe blieben, ja 
nod von ihren Driften mit 7 Faß Bier und 1 Faß Brandtwein 
tecompenfiret wurden. 

Freytag b. 18. Bruder Berend beſuchte den Majoren 
Naundorf und fuhr mit ihm nad) Tedhelfer zu den Grafen Romans 
Hoff, der vormals von ihm ein Freund geweſen und ſich aud) jetzo 
nicht anbers bezeuget. . . . 

Sonnabend db. 19. Der Doctor Paulfohn mar zur 
Mahlzeit gebeten und er verſprach Midicamenten zu verorbnen. . . 
Der Major Naunborf befuchte uns und verhörte unterſchiedlich die 
über die Woroniſchen Soldaten ihre Exceſſe flagten, gab ihnen auch 
endlich Salisfaclion durch dem, daß er zwei von ben Urhebern 
nachdrückl. abftrafen lieh. Nach der Mahlzeit beſuchte uns. der 
Paſtor Plajchnid und unterhielte uns mit feine fo geiftreihe als 
erbaul. Discurfen zwei Stunden, währender Zeit fam bie Frau 
Ordnungsrichterin Rehbinder unvermuthl. nach Dorpat und jtieg 
bei uns ab, fie war jego jo wie allemal uns recht angenehm und 
mir waren recht vergnügt. 

Sonntag d. 20. Um 9 Uhr gingen wir nad) der Kirchen. 
2... Die S. T. Nehbindern war ſchon den Morgen früh von uns 
gereifet. ... 

Dienstag d. 22. Wir jollten ausreifen, aber das Wetter 
war nicht darnach, alfo muften wir mod dieſen Tag einbleiben. 
Nach der Mahfzeit gingen wir nad) die Kirche, denn ber teutfche 
Küfter wie Vater unferer Wirthin wurde begraben. . . . 

Mittwod d. 23. ... Um 10 Uhr fuhren wir mit die 
Frau von Nehbinder aus ber Stadt, unterwegens befuchten wir 
die Glashütte zu Warrol, welche gewiß fünftli genug it. Wir 
ſchieden aus der Frau von Nehbinder Gefellfchaft und trafen um 
5 Uhr gut und wohl zu Haufe. Allhier erfuhren wir das Unglüd, 





Aus einem alten Tagchuch. Er 


fo bier in unferer Abweſenheit pajfiret, daß ſich nämlich ein Bauer 
Edro Peter erhangen und zwar in der Hofes-Heu-Scheune. Gott 
erbarme fid feiner Seele. 

Donners-Tag d. 24. Heute Habe ich angefangen zu 
mebiciner, Gott wolle feinen Segen zu biejem Gebrauch geben. 
Der Herr Paftor fam um 9 Uhr den Morgen hierher, wegen der 
unglüdlichen Leiche ih) mit uns zu beſprechen; es wurde rejoloiret 
einen Expreſſen nad) Dorpat zu ſenden und die Sade den Nichter 
zu übergeben. 

Mittewoch d. 6. April. Vom Landgericht fam Order 
megen ben unglüdl. Selbft: Mörder, aus ber Heufchenne heraus 
und in den Wald begraben zu fallen, welches auch fofort ins Wert 
geftellet wurbe. 

Dienstag d. 19. Meine Mebizin, fo der 9. Paſtor Ufe 
verorbnet und zurecht gemacht, erhielt id) heute, welches ich um 
12 Tage zu brauden anfangen muß. Die liebe Mama  befiel 
diefen Abend jehr ſchwer Fran. 

Mittewod d. 20. Die ganze Nacht ift bie liebe Mama 
ſehr ſchwach geweſen und heute Morgen noch unveränbert, daher 
wir um 5 Uhr nach dem H. Paſtor geſchickt haben, der ihr das 
Heil. Abendmahl reichen ſoll. Um 8 Uhr kam der Prieſter, er 
fand aber die licbe Mama leider wegen Leibes-:Schwachheit in 
ſolchen Umftänden, daß er ihr die Heil. Communion nicht reichen 
konnte. Der Herr Ordnungsrichter Nehbinder mit feiner Gemahlin 
famen her. . . Gegen Abend fuhr der H. Paitor weg mit Ver: 
ſprechen, morgen frühe wieder hier zu fein. Die gute Freunde 
aber von Kockora und Alagkiwwi blieben hier und wachten die 
Nacht. 

Donnerstag d. 21. Heute früh kam ber Herr Paftor. 
Der I. Gott gab Gnade, daß die liebe Mama, welche noch immer 
frank auf einer Art ift, das Heil. Abendmahl bei völligem Ver 
ftand und Andacht empfing. Gott laß es ihrer Seelen zum Heil 
und Wohl gereihen. Der S. T. Ordnungsrichter fuhr mit feiner 
Frau weg, Nachmittag fuhr auch der Priefter nad) Haufe. Tiefen 
Abend wurde die liebe Mama jo ſchwach, daß wir alle Augen: 
Blid ihren Tob befürdteten. 

Freytag d. 22. Die Nacht ift die liebe Mama fehr 
ſchwach gewefen und den Morgen früh gleichfalls, jedennoch refol- 

8 


33 Aus einem alten Tagebuch. 


vireten wir uns nad; Doctor Paulfohn zu fenden. Aber ad, wie 
famen uns doch ſolche Meinungen in Einne, ba wir fie dod) ſchon 
leider mit bem Tode ringen fahen. Um 8 Uhr fand ſich endlich 
der vor uns jo unglüdl., vor ber von uns fo gelieblen Patientin 
aber felige Moment ein, daß der I. Gott die Seele unjrer lieben 
Mutter zu fi nahm und ihr von allen Schmerzen befreite und 
zweifelsohne fein herrl. Erbe theilhaftig machte, uns Nachgebliebenen 
aber in einen Wehmuthsvollen Zuftand nachliek. Gott richte uns 
auf und fei unfer Troft und Beiftand in unjerem ganzen Leben. 
Wir fandten ſogleich nad) Rodora und aud nach dem Priefter, fie 
famen unb fegten ihre Gonbolen; mit vieler Aufrichligkeit ab. 
Die Frau Orbnungsrichterin Nehbinder nahm darauf mit ber Frau 
Fähnrichen Gronmann die Beſorgung der Eeligen Veritorbenen, 
ihren Körper als auch font Anftalten zu madyen, auf ſich. Nach— 
mittag fam der H. Reenhorn her, der Paltor fuhr wieder weg. 

Sonnabend d. 23. Unſere lieben Nachbarn find noch 
bier. Die Frau von Cronmann fuhr gegen Abend nad Haufe, 
ihr 9. Sohn fam aber mit feiner Gemahlin wieder her. 

Sonntag, b. 24. Cronmann und feine Fran fuhren weg, 
ihre Mutter aber fam wieder her, die Briefe zum Begräbniß 
wurden gefehrieben. Die Beerbigung foll am 2. Mai fein, an 
die Brüder nad) Reval fchrieb von unfere betrübte Umftände, doch 
melbete noch (nicht?) von ihren Tod. 

Montag d. 25. Der Orbnungsricter Nehbinder fuhr mit 
feiner Gemahlin nach Haufe. 

Dienstag d. 26. Der Herr Ordnungsrichter Nehbinder 
fam Vormittag mit feiner Gemahlin wieder ber, dagegen fuhr 
gegen Abend bie Frau dähnrichen Tronmann nad) Haufe. Der 
9. Paſtor Ufe war hier and) anf etlihe Stunden, der Sarg fam 
aus Dorpat und die liebe Leiche wurde von die gute Freunde 
eingejargt. 

Mittewohen d. 27. Heute Morgen reifete der Ord— 
nungsridter nad) Haufe, feine Gemahlin aber blicb bei uns. 
Nachmillag wurden jtarfe Präparatorien zum Begräbnif; angefangen 
zu machen. Ein Lieut. vom Perm. Dragoner: Regiment, Waller: 
mann Namens, fam her. H. Reenhorn, welcher hier viel Mühe 
gehabt und fid wie ein rechter Freund, glei) wie aud) bie andern 
Nachbarn, fich bezeiget, fuhr gegen Abend weg, mit Verfprechen 


Aus einem alten Tagebuch 385 


bald wiederzulommen, ber Lient. fuhr aud) heute Abend meg. 
Nach dem Abendeffen fuhr die Frau Ordnungsrichterin nad) Haufe 
und bie Tochter, die Frl. Charlotta fam wieder her. 

Donners-Tag d. 28. Die Frau Drdnungsr. kam Vor— 
mittag wieder her und ihre Tochter fuhr nach Haufe, ben Abend 
fpät fam der H. Orbnungsrichter Rehbinder mit feinem Schwager 
Lieut. Eifen zu uns, und wie wir ben Abend jpeifeten, traf die 
Frau Fähnrihen Eronmannin bier ein. 

Freptag d. 29. Vormittag ritt der H. Orbnungerihter 
nad) Haufe. Yon Teyfiz befamen wir auf unfere betrübte Noti« 
fication eine aufrichtige Condulence, gleicherweiſe aud auf unfere 
Invitation eine Veriprehung, daß der 9. Ordnungsrichter Bock 
mit jeinem Sohn und Schwiegerfohn Plater, ſich zum Begräbniß 
einfinden wollen. Nachmittag fuhr die Frau Ordnungsr. Rehbinderin 
mit ihrem Bruder Eſſen nad) Haufe. 

Sonnabend d. 30. Nachmittag fam bie Frau Orbnungs: 
richterin Nehbinder mit ihrem Bruder Eſſen wieder her, fie fuhr 
aber wieder am Abend nad) dem Tiſche wieber nad) Haufe. Herr 
Reenhorn fam den Abend wieber her. 

Sonntag d. 1. Mai. Nach dem Efjen fam die Frau 
Lieut. Reiher zu uns, fuhr aber den Abend wieder weg, mit 
Verfprechen morgen wieberzufommen. H. Neenhorn fuhr auch 
nad) hauſe. 

Montag d. 2. Mai. Morgen ijt ber betrübte Tag, an 
welchen das Leihen-Begängniß geſchehen ſoll. Heute aber ver— 
muthen wir die Gäſte hierher. Den Morgen gang früh Fam 
die Ordnungsr. Rehbinderin zu uns, Nachmittag kam ber Herr 
Ordnungor. Rehbinder, welcher zum Priſtav erbeten wurde, ſodann 
tamen die Lieut. Reiher und dann der 9. Aſſeſſor Cronmann mit 
feiner Gemahlin hierher, wie auch der junge Baron Roſen aus 
Gaiter, 9. Reenhorn folgte dieſen und dann der Gapitain Bubben- 
brod mit jeiner Gemahlin. Um 7 Uhr fam endlid die große 
Suite, nämlid) der 9. Ordnungsr. von Bock mit feinem: Sohn 
und Schwiegerjohn, wie aud des lepteren Bruder Plater von 
Falkenau und der Rittmeiſter Effen, um ',38 Uhr famen die Herren 
von Stohge nebſt den Lieut. Neiher, jie condulirten uns jämmt: 
lid) zu uuſerem großen Verluſt. Gronmann mar jehr frant und 
mußte fih zu Bette legen. 


388 Aus einem alten Tagebuch. 


Dienstag d. 3. Cronmann befinbet fid recht frank, Daher 
mußte er nad) Haufe reifen. Um 16 Uhr fam der Lanbrath 
Stadelberg von Glliftfer her. Ueber ber Mahlzeit, welche früher 
angerichtet war, famen die beiben Offizier vom Permſchen Dragoner- 
Regiment, ber Gapitain Neiher und ber Lieut. Wajlermann. Um 
1 Uhr waren fie alle fertig nad) der Kirche zu fahren. Die Leiche, 
welche in ber jeligen Diama eigenen ehemaligen Schlafsimmer lag, 
wurde von benen dazu erbetenen Trägern herausgetragen, welche 
8 an ber Zahl waren. Nämlich der junge Bock unb ber junge 
Nojen, jodann der Lieutenant Wafjermann und ber Lieutenant Reiher, 
dann der Herr Neenhorn und der junge Kerr v. Sfohge, bann 
der Lieutenant Carl v. Plater, dann der ältejte Herr v. Stohge ; 
voraus (. . . vor ihnen) ging ber 9. Priſtav von Mehbinder, 
hinter ber. Leiche gingen Bruder Berend mit Orbnungsr. Bock, 
Landrarath Stadelberg mit Nittmeifter Eſſen, Capitain Neiher, 
Leutnant Eſſen mit Plater von Falltenau. . . Diefe formirten ben 
ganzen Zug und wurden mit viel hundert Thränen von uns bes 
gleitet bis an ber Thüre. Die Leiche wurde auf dem Trauer 
wagen gelegt und ſodann fuhren fie fort. Gott laſſe Diele liebe 
Leiche, welde, da jie noch von der edlen Seele bemwohnet wurde, 
vor ums jo große Sorgfalt gneheget, in ihrem Grabe in Nube 
liegen, bis fie dermaleinjt wieder auferteht und das ihr bereitete 
Meich ererbet. Der Leichen Tert iſt befindl. im Evang. Math., 
6 Cap.: Selig find die da hungert und bürftet nad) der Geredhtig- 
feit, denn fie jollen gefättigt werden. Weldes von bem H. Paſtor 
Ute vortreffl. ausgeführt worden. Um 6 Uhr waren fie alle zu: 
rüd, da fie den Coffee und Confeeturen zu ſich nahmen. Um 
8 Uhr gingen fie eſſen, die Offizier fuhren den Abend wm 
11 Uhr weg. 

Mittewoden d. 4. Heute ift ein Jeder beſchäftigt weg- 
zufahren, zum Effen blieben feine mehr als die Nachbarn und 
Reiher und feine Frau, die beiden Sfoghen und Lient. Eſſen. . . 

Donners:Tag d. 5. Der H. Lieut. Neiher fuhr nad 
Hauſe . . . nun find wir wieder allein und im Stande unjern 
betrübten Gebanfen nachzuhängen. 

Eounnabend d. 7. Früh um 6 Uhr fam unjer Wetter 
der Fähnrid Wilhelm von Stryk unvermuthlid, hierher. Weilen 
Bruder Berend feine Wirthſchaft auf Alt-Allatztiwwi beſuchen und 


a 





Aus einem alten Tagebuch. 387 


einrichten will, fo hat er ſich entichloffen heute dahinzureiien, ung 
mitzunehmen und ſich einige Zeit dort aufzuhalten. Unjer Wetter 
reiſet mit, um 10 Uhr fuhren von Palla ab, welches wir Gottes 
allmädtigen Schutes empfahlen. Auf Kockora fehrten wir ein, 
allıwo wir aud) zu Mittag ipeileten. Schweiter Ann Lieshen 
hatte ehr große Kopfſchmerzen. Nadmittag fuhren wir von da 
weg und famen nad einer Stunde hier in Alt-Allagfivwi an, wo 
wir von ben hiejigen Werwalter Sander empfangen wurben. 
Es ift hier noch alles in Unordnung, es wird aber bald. ordentlich, 
fein, das Gebäude ift ziemlich geräumig, die Gegend aber fo ſchön 
als es fein fan, das Häuschen liegt auf einen Berg, den Peipuſi 
ann man jehen, drei Bäche aber liegen unter die Fenſtern, Fleine 
und große Berge und Hügeln fieht man hier die Diengde, wo, 
runter der alte Schloj-Verg ber größte. Man findet hier die 
Rudera von einer alten Feſtung. Neu: Allapfiwwi liegt ungefähr 
300 Schritt auf einem großen Berge von uns, welches unfere 
Gegend einen jchönen Anjehen giebt. Wir ergögen uns mit 
Spagier- Gehen. Bruder Bernd ging mit dem Vetter nad) Neu: 
Allagfivwi, nachdem wir uns bei der Gronmannihen Familie 
melben laffen und diefe hierauf uns insgejammt. zur Abendtafel 
invitiren lajle, weil Schweiter Ann Lieschen frank it, fo blieben 
wir Schwejtern zurüd, zu malen es aud) nöthig thut eo hier etwas 
nad der Ordnung einzurichten. ® 
Sonntag d. 8. Schweſier Ann Lieschen it Gottlob beijer 
Sobald wir uns angefleidet halten, giugen wir nad) Neu llag: 
tiwwi. Wir mußten einen Fleinen Ummeg nehmen, auf der Kirche 
und der hiefigen Mühle zu, welches 1 Ruſche Werſt ausmacht, 
weilen wir gerade über ben Weg nicht gehen konnten. Die Frau 
Reiher empfing uns auf dem halben Wege, wie auch die junge 
Frau von Cronmann und deren Gemahl. Wir gingen folgendes 
weiter und im Haufe, wo uns die MWirthin, die verwittibte Frau 
Fähnriin Eronmann, empfing. Nach dem Gottesdieuſt kam der 
Herr Paſtor Ufe aus der Kirche dahin, das Dittagsmahl mit ung 
einzunehmen, nad Tiſche aber fuhr er nad Hauſe. Wir fpeijten 
noch ben Abend allda und famen ſodann in unjere Appanage. 
Montag d, 9. Die Allahkiwwiſchen werden heute hier 
paſſiren. Vor dem Mittagseſſen tamen jie hierher, ſpeiſten hier 
und blieben aud) den Abend-Eſſen hier und gingen ſodann nad) Haufe. 





388 Aus einem alten Tagebuch 


Dienstag d. 10. Es ift graufam ftürmiic Wetter, dem 
ohngeachtet fuhr Schweſter Beatchen nah Palla, um bie dafige 
Wirthſchaft zu überfehen. Unfer Vetter ritt von uns weg nad) 
feinem Haufe im Pernaufgen. Schweſter Beatchen kam ben Abend 
wieder zurüd. 

Mittwod d. 11. Wir find nah Neu-Allapfimmi zum 
Mittags-Eſſen genöthigt worden, wohin wir aud) um 11 Uhr 
gingen, um 2 Uhr famen wir wieber zurüd. . . 

Donners-Tag d. 12. Nahmittag gingen wir nad) 
Neu⸗Allatzliwwi, wir funden die Frau Fähnrichen meinend bei 
einem geiftlichen Bud) figen, wir blieben bei ihr. Es gewitterte 
ftarf. . . Die Frau von Cronmann und ihr 9. Bruder ſpeiſten 
bier... . hernach fpielten wir Brett. . . 

Sonnabend b. 14. Heute früh ſchickte die Frau von 
Eronmann ihren Wagen nah mir, wie id nad Neu-Allapfimmwi 
hin fam, fo fuhr fie mit mir nad) einen Hoflager, jo ihr gehört, 
Ninnat Namens. Diefes Beigut reiht an den Peipujl. Cs iſt 
nicht weiter bebaut als mit einer Niege, Viehſtall und Klöte, auch 
ein Krug, die ruſſiſche Bauern aber Haben ihre Hüttchens als eine 
Schlabodde an den Strand gebaut, es find da aud) hiefige Bauern, 
die Ruſſen haben aud) ihre Kirche all da. Wir waren da vier 
Stunden, die Frau von Gronmann ließ fiſchen, es wurde aber 
nichts gefangen. ... Morgen werden wir nad) Palla alle reifen, 
es gefällt uns zwar hier auch regt gut, die bafige Wirthſchaft 
aber will auch Nachſicht Haben. 

Sonntagd. 15. ... Auf Kockora trunfen wir alle zu: 
fammen Thee und beurlaubten uns jodann aus der Geſellſchaft. 
Wir fanden, dem Höchſten fei Dank, Palla im vorigen Stande, 
worinnen ber liebe Gott es erhalten wolle. 

Mittewoch d. 18. Meil Schweiter Ann Lieschen ſich ſchon 
eine ganze Zeit her übel befindet, fo reifte Schweiter Beatchen 
Nudmittag nach Koddafer mit dem 9. Paſtor wegen ihrer Krant: 
heit zu ſprechen. Sie kam bald zurüd und bradjte einige Pulvern, 
wovon jie eines gleidy einnahm. 

Donuners-Tag d. 19, als am heil. Himmelfuhrtstage. 
An Bruder Adam ging heute ein Brief mit der Poſt weg, worin 
ihm das Abjterben der lieben jeligen Mama fund gethan wurde. 





Aus einem alten Tagebuch. 389 


Freytag d. 20. Heute Abend fam ber Schufter Poſſes 
aus Dorpat hierher. 

Montag d. 23. Heute Morgen fuhren wir, Echwefter 
Ann Lieschen, Bruder Berend und ich nad Allatzliwwi, zuvor 
aber ſchafften wir den Schuſter Poſſes nach der Stadt. Wir 
ſpeiſten zu Dlittag auf Kodora, gleid) darauf fuhren wir nad 
Alt⸗Allatzliwwi, allwo wir uns um die Umftände der bafigen 
Wirthſchaft ertundigten. . . 

Dienstagd. 24. Mittewoch d. 25. Nachmittag mo 
wir uns nichts weniger als eine vornehme Viſite vermuthen waren, 
ſchickte die Frau Landr. Stadelberg ihren Bebienten her und ließ 
fih melden, nad) einer halben Stunde fam fie auch jelber her. 
Wir ließen die Fran Ordnungsr. Nehbindern auch nöthigen, fie 
tam aud), fuhr aber den Abend jpät wieder nad) haufe, mit Ver: 
ſprechen morgen wieber zu fonımen. 

Donners:-Tag d. 20. ... Nach der Mahlzeit fuhr bie 
Frau Landräthin Stadelberg von uns weg, deren Erempil bie 
©. T. Nehbindern folgte. 

Sonnabend d. 28. Ten Abend waren wir ausfpaziert 
längs dem Felde, da wir zurüctehrten friegten wir einen ganz 
unvermutheten Befuch von H. Zeumern vom Genſel, welder her: 
gefommen bie Heil. Pfingitferien hier zu paſſiren. 

Sonntag d. 29, als am Iften heil. Pingittage. Wir 
fuhren ſämmtlich, 9. Zeumern mit eingejchloffen, in die Kirche und 
nachdem wir bei dem Paſtorath bei der Frau Paſtorin ausge 
ftiegen, auch all da die andern Eingefahrten diejes Kirchſpiels ab: 
gewartet, gingen wir in die Kirche und höreten die jehr erbauliche 
Predigt des 9. Paſtor Ule mit andächtiger Aufmerkſamkeit an. 
Daranf wollten wir Jeder nad) Haufe fahren, wir wurden aber 
von dem H. Paltor und Fran Pajtorin allefammt zur Tafel da 
behalten. Danad) zog ein Jeder feine Straße, 

Sonnabend d. 4 Juny. Wir haben heute gebabet. 

Sonntag d. 5. Der Kadı Jahn wurde geitern vom Hofe 
demittiret und auf Land geieget. . . Klein-Johann wurde nad 
Sarenhof gejandt, weil wir vernahmen, daß der Ordnunger. Bock 
gefommen und den Landmeſſer mit fi hätte, der bie Grenze 
zwilhen Sarenhof, Kudding und Palla reguliren jollte, hiervon 
fol Johann uns die Gewißheit holen. 





3 Aus einem alten Tagebuch 


Montag d. 6. Johann kam zurüd mit der Nachricht, 
baß bie Grenziheidung vor ſich gehen Toll, zu dem Ende Bruber 
Berend ſich nad) dem Serofchen Kruge begeben foll, mo die Andern 
auch Diorgen fein werben. Nachmittag kam bie Frau Orbnunger. 

Dienstagd. 7. ... Nachmittag kam Johann zurüd 
und bejtellete Fiihe nadı dem Kruge, dann folgte Peter, welder 
Beitzeug, Gofide und Thee und beren Geräthihaft von hier 
dahin brachte. 

Mittewoch d. 8. Heute früh bradte Johann Bier und 
Brod nad) Tuhha, allwo die H. Landmeijers heute ſpeiſen werben, 
bie Frau Orbnungsr. Rehbindern ſchickte her und ließ bitten man 
mödjte die hiefige Bade-Stube higen, fie wollte mit ihre Kinder 
fi) beffen bedienen. Die Frau Ordnungsr. wird nicht heute her- 
tommen, weil fie von Koddafer Nachricht erhalten, daß die Frau 
Baftorin frank geworben und fie dahin muß. on Koddafer fam 
jego ein Kerl mit der Nachricht, daß der liebe Gott die Frau 
Paftorin Heute Morgen mit einem jungen Eohn entbunden. 

Donners-Tagd. 9. ... Nadmittag fuhren Echweiter 
Ann Lieshen und ich nach Roddafer zu die Fran Paftorin zur 
Gratulation, wir legten biejes bei beiderjeits Eltern ab. Die 
Frau Fähnrichen Cronmann fam auch dahin und gleich darnach 
aud) die Frau Ordnungsr. Rehbindern. Wir fuhren den Abend 
nad Haufe. Der 9. Nittmeilter Eſſen kam mit dem Landmeſſer 
und Bruder Berend hier zu ſpeiſen und zu nächtigen. 


Me 


Um die ivläudiihe Voltsjgule*. 


Bon 
K. von Freymann. 








r ſittliche Einfluß gemeinſchaftlichen Bäumepflanzens und 
populär-moralifcher Nebelbilder auf die heranwachſende 
Jugend ift im jüngſter Zeit vielfad) beftritten worben. 
Selbft diejenigen fahmännifchen Kreife, denen noch unlängit Bäume: 
pflanzen und Nebelbilber als das A und D aller Pädagogik 
erſchienen, ſind von ber Unfehlbarkeit dieſer Mittel nicht mehr 
überzeugt. Die Schülerfireits der legten Monate maren ber 
Bankrott diefer Pädagogit und bes offiziellen Schulgebanfens, die 
Unbitbung des ruſſiſchen Bauern bofumentierte von jeher bie Ohn- 
macht des bureaufvatiichen Voltsbildungsmweiens. Heute pfeifen 
bas öffentliche Geheimnis unferer Staatsſchule die Spagen vom 
Dache, und jeder empfindet die Ironie bes Schidjals, weldes 
diefer Schule des Scheines das Symbol der Nebelbilder in die 
Hand gegeben Hat. In ihrem ganzen Weſen einem außerhalb des 
Unterrichts liegenden Zwede dienend, war fie als Bildungsanitalt 
in der Tat nicht mehr als ein Blendwert. Der jtaatlihe Unifor: 
mierungsgebanfe, welcher die treibende Kraft diefer Schule war, 
ftefte ihr im Innern des Reiches das Ziel der MWohlgefinntheit, 
an den Grenzmarfen das Ziel der Verjhmelzung aller Sonder- 
formen mit den formen des Neichsinnern. Im Innern bes 
Reiches im gewiſſen Sinne Fonfefjionell und national, war fie an 
den Grenzmarfen konfeſſionslos und antinational. Während fie 
im Innern des Neiches nie über eine allzu große Lebenskraft ver: 


=) Diefem Auflag liegen die „Uta des lioländiſchen Sandratstolegiumg 
betreffend: Bauerihulen” (1894-1901) zugrunde, 


892 Um bie fioländifde Volkaſchule. 


fügte, verdoppelte fi) ihre Araft an den Grenzmarken, wo fie 
zugleich mit dem Staatsgedanfen der panſlaviſtiſchen Herrſchafts- 
idee diente. Der burenufratiihe Charalter war ihr im Innern 
des Reiches und an den Grenzmarken in gleicher Weile eigen- 
tümlid. Der Natur der Dinge entiprechend zeigten die niederjten 
Schulformen die ausgeprägteiten Tendenzen, ber beengehalt ber 
Staatsſchule mußte im Efementarunterriht am jdärfiten hervor 
treten. Mit dem: Prinzip des bureaufratiichen, konfeſſionsloſen 
und antinationalen Elementarunterrichts war es ber livläudiſchen 
Landvolkoſchule bejtimmt zu fümpfen und in biefem Kampfe zu 
unterliegen. 

Auf dem Boden der Selbjtverwaltung in jahrzehntefanger 
gemeinfamer Arbeit der gejamten Bevölkerung erwachſen, war die 
livlandiſche Landvolkoſchule ein jeitgefügter lebendiger Organismus, 
der mit dem Leben und Wejen des ganzen libländiſchen Selbit- 
verwaltungsförpers aufs engite verfnüpft war. Unter ben Gliedern 
biefes Körpers aber war es vornehmlich die Landeskirche, ber ſich 
die Bauernſchule in natürlich hiſtoriſcher Entwicklung angeſchloſſen 
Hatte. In lüdenfofer Fortentwiglung war hier der urjprünglice 
Zujammenhang zwiſchen Kirche und Schule gewahrt worden. In 
Verwaltung und Leitung befand fid die Schule in natürlicher 
Abhängigkeit von der lutheriſchen Kirche. Das Kirchſpiel und die 
Kirchengemeinde, die natürlidie Einheit des Landlebens, war auch 
die wichtigfte Einheit des Volkoſchulweſens. Die Schuleinheit des 
Rircjipiels umfaßte die niederen Gemeindeichulen und die ihnen 
übergeordnete Parohialfcule. Im ganzen {waren es in den 80er 
Jahren fajt 1100 Landvolksfchulen mit 1400 Lehrern und Lehrerinnen, 
jo daß auf eine Schule im Durchſchnitt 45 Schüler entfielen. Der 
Unterhalt der Gemeindeſchulen war Pflicht der betreffenden Bauer⸗ 
gemeinden, der Unterhalt der Parochialſchule lag als Reallaſt auf 
dem Grund und Boben des Kircjipiels. Das örtliche Verwaltungss 
organ war die Kirdjpielsichulverwaltung, bie unter dem Vorfig des 
vom Kirchſpiel defignierten Kirchenvorſtehers, aus dem Ortspaſtor, 
dem Parochialſchullehrer und einem von ſämtlichen Kirchenvormündern 
und Schulälteſten erwählten Kirchſpielsſchulälteſten gebildet wurde. 
In diefem unfompligierten Körper waren alle Elemente des Kirch- 
fpiellebens, joweit dieſes mit dem Leben der lutheriihen Kirchen— 
gemeinde identiſch war, enthalten, und waten das geijtliche und 


Um die Tioländifde Vollsſchule. 808 


weltliche Element, die wirtichaftlihen und die Schulinterefien im 
engeren Sinne, das beutjche und nationale Element zu gleichen Teilen 
vertreten. Der den Bauern im täglichen Leben gewohnte - und 
vertraute Begriff des Rirchipiels ermöglichte der bäuerlichen Bevöl- 
ferung eine bewußte Teilnahme an der Verwaltung. Der Kirch— 
jpielsfchulverwaltung entiprady in Zufammenfegung und Weſen in 
in der höheren Einheit des Kreifes die Kreislandichulbehörbe, in 
legter Inſtanz für das ganze Land die Oberlandfculbehörde *. 
Indem jtels ein Teil der niederen Verwaltungsglieder in dem 
höheren Verwaltungsförper Aufnahme fand, konnte mit der Wahrung 
des direlten Zujammenhanges der Höheren und niederen Jujtanzen 
das Zirkular- und Vorfgriftsweien zu gunjten ber perſönlichen 
Wirkſamleit zurüdtreten. Der Schwerpunkt fiel in die dem Schul 
leben am nächjften ftehende Kirchſpieloſchulverwaltung, und biefe 
Verlegung des Echwerpunftes in bie Heinjte Yerwaltungseinheit 
gab der Volksfchule die denkbar breitefte Bafis. Wie der Bau 
der Schulverwaltung in lepter Hinſicht auf das Leben ‚der örtlichen 
; Bauergemeinde gegründet war, fo ruhte der Unterricht felbit auf 
bem weiten Fundament des bäuerlichen Haufes. Die unterite 
Stufe der Vollserziehung bildete der von Schullehrer und Paftor 
überwachte häusliche Unterricht, dem ſich die Gemeindeſchuie un 
mittelbar anſchloß. Cine weitere Fortbildung bot die Parochial- 
ſchule für diejenigen Rinder, welde die Parochialſchule nicht ber 
fuchten: der in jedem Jahre regelmäßig wicderfehrende Repetitions⸗ 
unterricht an den Gemeindeſchulen. Der Beſuch der Gemeindeidhule 
und ber häusliche Unterricht waren obligatoriih). Das Ziel des 
Unterrichts war bie Vorbereitung zum Gemeindeleben und zur 
Konfirmation, zur Wirffamfeit in ber geiltigen und praftijcen 
Lebensiphäre des Bauern; den Weg aus diefer Yebensiphäre hinaus 
in die ritterfcpaftlihien Yehrerjeminare und die jtäbtilche Rreisichule 
bot die Parochialſchule. 

In den Formen des Volkoſchulweſens iſt bis heute fein 
Wedjel eingetreten — ber Geift, der die Formen beſeelte, ilt 
getötet worden. Das djarakteriftifche Dierfmal der livländiichen 





*) Die Kreisandfaulbchörde beitand: aus dem Cberfischenvorjtcher, zwei 
weltlichen von der Hiuericaft, und zwei geitlichen vom Provingialfonfiitorum 
ernannten Revidenten, auch zwei Kiccipielsiculälteiten. Die Cberlandichulbehöue 
beitand aus: deu d Oberlirdienvorjtchsen, dem Oencrultuperintendenien und eincın 
von der Hitteriajt ernannten Schulrat. 









891 Um die liolandiſche Vollsſchule. 


Voltsihule war die Dreiheit von Haus, Schule und Kirche, 
untrennbar verbunden durch bie unzähligen Lebensfäden einer 
gemeinfamen Arbeit und eines gemeinfamen Denkens. Dieſelbe 
Sprache und biejelben Gebete, die im Haufe der Bauern geſprochen 
wurden, ſprach und lehrte die Schule, fie war daher national und 
fonfeifionell. Die beiden Eigenjhaften bedingten einander. Denn 
die Aultur der Ejten und Letten mar von proteftantifchem Geiſte. 
Aus diefem Grunde war die lutheriſche Geiſtlichkeit der berufene 
Leiter ber Vollsſchule, und aus diefem Grunde wäre eine konfeſ- 
fionslofe Schule nichts andres gewejen, als eine Schule ohne 
Lebensanfhauung. Ein ruſſiſcher Publigift hat unlängit erfannt, 
daß der hohe Stand der livländiiden Landvoltsbildung fein Ver— 
dienft ber deutſchen Kulturarbeit, jondern allein der lutheriſchen 
Kirche gewejen wäre — nehmt es, wie ihr wollt! Es iſt feinem 
von uns eingefallen, feine Kultur vom Glauben zu trennen. 
Durch den Allerhöchſten Befehl vom 28. November 1885 
murben bie livländiihen Landvolfsichulen dem Miniſterium der 
Xolfsaufklärung unterftellt. Der Vefehl war dem Kurator des 
Dörptichen Lehrbezirls Kapuſtin perjönlih mitgeteilt worden und 
war ohne ein feftes Programm als ein allgemein vorbereitender 
Schritt erfolgt. In der Faſſung, in welcher ihn der Gouverneur 
Sinowjew dem Landratstollegium übermittelte, war als Ziel des 
Erlaſſes die Vereinheitlihung der Aufſicht über die Lehranftalten 
und bie einheitliche Leitung des Unterrichtsweſens bezeichnet. Eine 
höchſt unbeftimmte Erläuterung, die nicht mehr als die Abſicht 
einer Änderung bejagte, und auch dieſes nicht, wenn die beab- 
fihtigte Anderung als durch den Neilortwechfel vollzogen aufge: 
faht wurde. Der Miniftersgehilfe Fürſt Wolkowoky ſprach von 
einem bloßen Reſſortwechſel, von anderer Zcite hieß es, daß 
der Aurator Rapuftin beauftragt wäre, feine Vorſchläge zur 
Regelung der neugeidaffenen Beziehungen zu unterbreiten. Der 
Rurator felbjt fprad) dem Landrat v. Dettingen gegenüber von einem 
Neorganifationsprojeft, das er in den nächſten 14 Tagen abzu— 
fehließen gedenfe, er offenbarte in diejer Unterredung einen großen 
Ideenreichtum, indeſſen nur eine geringe Kenntnis der beitehenden 
Vollsſchulverhältniſſe. Die Ausarbeitung des Neformprojeftes 
unterblieb einftweilen. Dem Kurator war zwar die Tendenz der 
Reform, nicht aber ihr Weſen ar. In der Überzeugung, daß 





Um bie Tolänbiide Voltsſchule. 305 


das Staatsprinzip die unmittelbare Verfügung der Staatsgemalt 
über bie Schule in allen Zweigen und zu jedem Zwecke erforbere, 
hatte er den Wunſch, einen biefem Prinzip entipredhenden Zuftand 
in Livland herbeizuführen, ohne den Weg recht zu überbliden 
und ohne recht zu willen, an welchem Punkte des gefchloffenen 
Selbftverwaltungsförpers er ben Hebel anjegen follte. Er begriff 
nad fürzer Orientierung, daß er einem fomplizierten Organismus 
gegenenüberjtand, deſſen Funktionen ihm fremd waren. Die in 
engem Anfchluß an das Leben erlangte Formenfülle wiberjegte 
fih der papierenen Kanzleiherrſchaft. Bei der Ablöfung bes 
Selbftverwaltungsprinzips durch das bureaukratiſche Prinzip mußte 
es überaus flörend empfunden werben, daß der Gedanke einer 
Vereinfachung ber Lebensformen zur größeren Bequemlichfeit des 
feitenben Beamtenperfonals den Schöpfern dieſes Organismus fern- 
gelegen halte. Der Kurator beklagte ſich über die Menge ber 
Kirdjipielsihulverwaltungen, er fönne fie unmöglich durch feine 
AInfpeftoren beauffichtigen laſſen und wünfde ihre Zahl zu vers 
ringern. Indeſſen ber Hinweis des Landmarjdalls, dab gerade 
in den örtlichen Schulverwaltungsförpern die Seele einer gebeih- 
fihen Entwidlung des Volkoſchulweſens zu fuchen ſei, ließ ihn 
von biefem Wunſche Abjtand nehmen. Der Oberlandiculbehörbe 
überjandte der Rurator den Entwurf eines Neformprojelts, das, 
abgejehen von dem radikalen Bruch mit allem Bejtehenden, in den 
einzelnen Beftimmungen rein zufälligen Charaters war. Schwerlich 
maß jelbft der Kurator diefem Entwurf einen praftiihen Wert zu. 
Um ſo ausgeſprochener betonte er im Prinzip Die unbedingte 
Miachtbefugnis der ſtaatlichen Organe und das Aufhören jeder 
Sonberjtellung der livländiſchen Volksſchule, als Konſequenzen des 
Allerhöchſien Willens. Er bejtritt den fonfefjionellen Charakter der 
Volksihulen mit ber Begründung, daß fie nicht Kirchenſchulen 
wären. Nach der Art ihres Unterhalts und ihrer Verwaltung 
firierte er ihren Charakter als ben Landſchaftoſchulen bes Keiche- 
innern entſprechend, und erflärte fie durd den Reſſortwechſel allen 
Gefegen und Vorſchriften unterworfen, die für das Neichsinnere 
erlaſſen waren. Durch perfönlices Eingreifen in die Wirfungs- 
Iphäre der Oberlandſchulbehörde bemühte er ſich dieſer Auffaſſung 
Geltung zu verſchaffen. Er genehmigte kraft ſeiner Mactvollfoms 
menheit die Unwandlung der Neu-Schwaneburgſchen Siltas Semeinbes 


896 Um die liolandiſche Volksſchule. 


ſchule in eine zweiklaſſige Miniſterſchule mit ruſſiſcher Unterrichts- 
ſprache in ber 2. Klaſſe, obgleich dieſer Alt bie Aufhebung der nad) 
den geltenden efegen zu Recht beitehenden Gemeindeſchule involvierte. 
Auf Grund des für das Reichsinnere erlaſſenen Zirfulars vom 10. Nov. 
1879 wurde ber Oberlandidulbehörde eine Anfrage über die polis 
tifche und moralifche Zuverläjfigleit der Lehramtsfandidaten zur 
Pflicht gemacht. Das ber Oberlandſchulbehörde zuitehende Eras 
minationsreht aber murbe auf cin moralijches Prüfungsrecht 
beſchränlt. Es fiel fomit der Oberlandichulbehörde die wenig 
danfbare Rolle einer doppelten Buchführung zu. 

Die Neformpläne des Kurators gewannen feſtere Geftalt, 
nachdem er ben Gedanken einer Neufchöpfung aufgegeben und ſich 
für den weniger koſiſpieligen Weg einer feinen Zweren ente 
Iprechenden Umwandlung des Selbjtverwaltungsförpers entidieden 
hatte. Dem Avelsfonvent vom April 1886 lag ein Schreiben des 
Kurators vor, welches einen vorläufigen Entwurf ber zur Erfüllung 
des Allerhöhften Willens notwendigen Maßnahmen enthielt. Das 
Projeft war nach den Worten des Nurators mit möglichiter 
Schonung ber beftehenden Schulverwaltung entworfen. Es ftatuierte 
die Mitgliedſchaft des Volfojehuldireftors in der Oberlandſchul- 
behörde, der Volksichulinjpeftoren in den KRreislandfchulbehörben, 
außerbem follte in diejen Behörden die Negierung durd) ein zweites, 
vom Gouverneur ernanntes Glied vertreten fein. Falls die Negie: 
rungsvertreler eine vom Diajoritätsbei—hluß der Behörden abweichende 
Meinung vertraten, entſchied bezüglih der Kreislandſchulbehörden 
der Kurator, bezüglich der Oberlandjdjulbehörde der Dlinifter der 
Vollsaufflärung, cbenjo follten Rlagen gegen ſämtliche Behörden, 
auch die Rirchipielofhulverwaltungen, direft durch ben Kurator oder 
den Dlinifter entſchieden werden — ein Inſtanzenweg, der die Kreis: 
landſchulbehörden und die Oberlandfgulbehörbe außer Kraft ſetzte. 
Die Machtbefugniſſe der Selbjtverwaltungsorgane wurden gemäß ben 
praftifchen Konſequenzen des Projekts auch dem Kurator und feinen 
Snipeftoren übertragen, wobei durch den erwähnten Inflanzenweg 
in jebem einzelnen alle den Negierungsorganen das Übergewicht 
gewahrt war. Die fonfeijionelle Frage war als belanglos offen 
gelaffen, die Spradenfrage war nicht berührt. JIudeſſen die Auf 
hebung des obligatoriichen Unterhatts für die Parochialſchulen, 
welche ihre Eriftenz in ‚Frage ſiellte und die örtlichen Mittel zu 


Um bie linländifge Voltsſchule. 37 


Neugründungen frei machte, ſowie das Recht ber Ummandlung der 
Gemeinde: in Miniſterſchulen auf Wunſch der Gemeinden oder einer 
am Unterhalt der Schule beteiligten Perſon, verrieten, wie biefe 
Frage entihieden werden jollte. Die Oberlandſchulbehörde kritie 
fierte das Projeft dahin, daß es wohl beftimmt fein fönne, die Art 
an die Wurzel des livländiihen Volksfhulmwefens zu legen. Den⸗ 
nod riet die Oberlandfchulbehörde um ber Sache willen auch unter 
ben ſchwierigſten Umftänden auf Zeitung und Unterhalt der Volks- 
ſchule nicht zu verzichten, folange nur ber innerlich fonfeffionelle 
Charakter, die Mutterſprache und die Möglichkeit einer ehrenamt⸗ 
lien Wirkſamkeit gewährleiftet wären. Yon ber Erhaltung bers 
felben Grundprinzipien hatte die Paftorenfonferenz in Dorpat bie 
Diitarbeit der Paftoren an der Volkoſchule abhängig gemacht. 

Die Ritterſchaft konnte in dem Schreiben des Rurators bie 
Garantie einer gedeihlichen Entwiclung des Volksſchulweſens nicht 
erbliden. So beichlo der Adelsfonvent in der Erwägung, daß 
Die Vorſchläge des Kurators bie radikale Umgejtaltung des Volfs- 
ſchulweſens bedingten, da der konfeffionelle Charakter der Volks: 
ſchule nicht verbleibe und der Schwerpunft der Verwaltung in die 
Negierungsorgane verlegt werde, in ber Erwägung ferner, daß es 
den Anfchein gewinnen könne, als ob die Ritterichaft felbft bie 
Hand biete, das Volk feiner Sprade und jeines Glaubens zu 
berauben, dem Aurator zu erwiebern, daß fie auf feine Intentionen 
nicht eingehen könne. Sie vertrete nad) wie vor die Auffaſſung, 
daß die Volkoſchule in ihrer jegigen Organijation dem Wohl und 
Segen bes Landes gedient, und vermöge es nicht einzujehen, wie 
durch einen Reſſortwechſel die bejtehenden Gejege, Verorbnungen 
und Inftitutionen unzwedmäßig und veränderungsbedürftig geworben 
feien. Sie hoffe daher, daß der Kurator, dem die ſittliche und 
intelleftuelle Entwidlung des Volles am Herzen liege, feinen Ein 
fluß zur Erhaltung des Vejtehenden geltend machen werbe. Cine 
organische Veränderung ber Volfsihule müßte die fernere Mit: 
arbeit ber Ritterſchaft für alle Zukunft in Frage jtellen. 

Die Ablehnung ber Ritterſchaft blieb nicht ohne Wirkung auf 
ben Kurator. Er fragte, ob das Schreiben das Ultimatum der Ritter: 
ſchaft enthalte. Gr erklärte fih zu neuen Vorſchlägen bereit unb 
verſprach bis auf weiteres feine Schritte in legislativer Hinſicht zu 
tun. Im September desfelben Jahres ſchien der Kurator feinem 

Baltifhe Monatafärift 190, Heft 5. 


398 Um die Koländiide Volksſchule. 





Neformprojeft endgültig entfagt zu Haben. Er meinte, er molle 
fi) Zeit nehmen und hoffe in ein bis zwei Jahren fid ein ein- 
gehendes Urteil über die Lolfsihulen zu bilden. Inzwiſchen 
handele e8 fi darum, mit den beftchenden Organen einen vers 
föhnlihen modus vivendi zu finden. In der Tat hatte ſich durch 
die fortgefegten Eingriffe des Kurators in bie Machiiphäre ber 
Oberlandſchulbehörde eine Neihe von Konflifien ergeben, bie eine 
Terjtändigung wünfchenswert eriheinen ließ. Überdies hatten bie 
Inſpeltoren Meves und Orlow bie Herbitmonate zu einer Inſpeltions⸗ 
reife benußt, bie ben herrſchenden Gegenfag in die breiteften Schichten 
getragen hatte. Mährend der Schnlinfpeftionen, die meift mit Um 
gehung ber örtlichen Schulbehörden und ohne deren Willen ftattfanden, 
Hatten fich die Infpeftoren Änderungen zu guniten einer Verftärfung 
des rulfiihen Sprachunterrichts erlaubt. Ihre Änderungen wurden 
allerdings gleich nach ihrer Entfernung durch die örllichen Schul- 
autoritäten wieder zurechtgejtellt, nicht jo leicht aber lieh ſich der 
verfegende Cindrud ihres unerwarteten Erſcheinens verwiſchen. 
Vielfach beihmwerten fih die Schulverwaltungen über das Bor: 
gehen ber Inſpektoren, ein Paſtor ſandte der Oberlandſchulbehörde 
fchriftlich feine Weigerung, die Inſpektoren als Kollegen zu afjepz 
tieren. 

Die fremde Gewalt, die fih zwiſchen die Schule und ihre 
Xerwaltung gedrängt hatte, hatte eine allgemeine Ungewihheit und 
Unſicherheit der Stellung ber Voltsfchulautoritäten im Lande hervor 
gerufen. In Sachen der Eillagemeindeichule hatte die Oberland: 
ſchulbehorde gegen die Befigergreifung des Immobils zwecks Eröff- 
nung ber Miniſterſchule remonſtriert, und es ift vielleicht bezeich⸗ 
nend für die Stimmung des Kurators, daß cs ihn Wunder nahm, 
wie man um einer Schule willen jo viel Lärm machen könne. 
Die Oberlandjhulbehörde und der Kurator verfehrten faſt aus— 
ſchließlich auf dem Beſchwerdewege durch den Minifter der 
Vollsaufllirung oder auf adminiftrativem Wege durch den Gou— 
vernetir, da bie Oberlandſchulbehörde nach ihrer Aufſaſſung der 
beftehenben Rechtsverhältniſſe ſich nicht in der Lage fah, ben 
Weifungen des Aurators Folge zu leiften. Der dringende Wunſch 
des Aurators, fi) mit der Oberlandfchulbehörde in Relation zu 
fegen, war daher zeitgemäß. Es ſchien, als ob eine Einigung zu- 
Nande fommen würde. Am 28. September fonferierten der Land- 


Um die livlandijche Voltsſchule 3 


marſchall, der Präfes ber Oberlandfchulbehörde und der Kurator 
über die fchwebenden Fragen. Im Zufammenhang mit der Silta- 
gemeindeſchule fam die Frage der Miniſterſchulen überhaupt zur 
Beſprechung. Der Landmarjhall und ber Präjes der Oberland» 
ſchulbehörde Hatten gegen die Gründung von Miniſterſchulen im 
allgemeinen nichts einzuwenden, nur dürfe fie nicht auf Roten ber 
bereits geſetzlich beſtehenden Schulen geſchehen. Der Kurator blieb 
bei der Meinung, daß die neue Schule die alte erjegen jolle. 
Zum Schluß einigten ſich der Präſes ber Oberlandidulbehörbe 
und ber Kurator, da eine allgemeine Negelung ber Beziehungen zur 
Zeit nicht möglich fei dahin, in jebem einzelnen Falle Vereinbarungen 
zu treffen. Am Tage darauf wurde der Siltaſche Gemeindelehrer 
ohne vorhergehende Ankündigung und ebenfo ohne Willen der Ober- 
landſchulbehörde gewaltfam mit jeiner Familie und feinem Mobiliar 
egmittiert, am 1. Oftober durd) den Inſpektor Speſchkow feierlich 
bie Miniſterſchule in jenem Lokal eröffnet. — Es lag nicht in der 
Abſicht des Kurators oder nicht in feiner Macht, den vereinbarten 
modus vivendi aufrecht zu erhalten. So dauerte ber Kriegs 
zuftand fort. Gin Zuftand der Verfügungen und Erfaffe, während, 
wie die Oberlandſchulbehörde in vielfachen Schreiben betonte, „Die 
auf Grundlage der bejtehenden Gefegbeitimmungen herrſchende 
Ordnung nod) feiner legisfativen Aufhebung oder Heform unter: 
gogen worden." Die Kreierung (durch Reichsralsgutachten vom 
12. Jan. 1887) eines Volkoſchuldireltors und vier neuer Inipek- 
toren, denen bie Landſchulen „aller Benennungen” unterjtellt wurden, 
ſchuf in dieſem Zuftand feine Änderung. 

Die Einführung der ruffiihen Unterrichtoſprache auf dem 
Wege einer ſchritiweiſen Verdrängung der alten Volkfchule durch 
die Minifterihule, konnte nur fehr langfam vor ſich gehen. So 
war der Rurator genötigt ben Umweg abzufürgen. Cr fnüpfte in 
dieſer Angelegenheit an die bereits pendente Lehrerfeminarsfrage 
an. Am 27. Januar 1885 hatte er der Nitterfchaft Die Heors 
ganifatiou der Ritterſchaftlichen Seminare auf der Grundlage des 
Kurolſchen Lehrerfeminars vorgeſchlagen, die Ritterſchaft hatte in 
deſſen nad) dieſem Statute fein Verlangen getragen. Im Juli 
1886 erſuchte ber Kurator die Oberlandſchulbehörde den ruſſiſchen 
Sprachunterricht in den Lehrerjeminaren foweit zu verflärfen, daß 
die Abjolventen der Anftalt fähig würden, den Unterricht u den 


400 Um bie liolandiſche Voltsſchule. 


Vollsſchulen ruffiih zu erteilen. Im November ftellte er biejelbe 
Forderung als Bedingung eines Weiterbeftchens ber Seminare. 
Auf den Hinweis der Oberlandſchulbehörde, daß folange ber Unter- 
richt in ben Volksſchulen im eſtniſchen und lettiſchen erteilt werbe, 
ben Lehrern eine jolde Kenntnis nicht von Nöten fein könne, 
antwortete der Kurator, daß der Gemeindefhule allerdings die 
Mutterfprahe belaffen werben müſſe, ber Unterricht in ben 
Parochialſchulen aber in der ruffiihen Sprade zu erteilen jein 
werde. Obgleich anzunehmen war, daß ber Kurator einen fo 
eindeutigen und folgenſchweren Ausſpruch nicht gänzlich auf jeine 
Hand getan hatte, bewog die Wichtigleit der Sache den Landmar« 
ſchall, dem Staatsfefretär Deljanow bie ſchädliche Wirkung dieſes 
Scrittes und feine überflüffige Härte darzulegen. Diefe und alle 
übrigen feit langem ſchwebenden Fragen, fanden ihre überrajchende 
Löfung in den temporär ergänzenden Regeln vom 17. Mai 1887. 

Die temporären Negeln verrieten eine nahe Verwandſchaft 
mit den Maßnahmen vom April 1886. Durch die Negeln waren 
die den Maßnahmen innewohnenden Möglichleiten verwirklicht, die 
in ihnen enthaltenen Unklarheiten zu bewußtem Dualismus gefteigert, 
die von dem Kurator geübte Praris des willkürlichen Eingriffes 
legalifirt. Der Tualismus und das Fehlen jeder feften Kompetenz: 
beftimmung entſprechen dem Zweck des Gejehes, bie unumfchränfte 
Machtvollkommenheit der Negierungsorgane mit ber Ausnugung der 
örtlichen materiellen und geiftigen Kräfte zu vereinigen. Cine 
Charafteriftit des Gefeges geben im welentlichen Die nachſtehenden 
Beſtimmungen. Behufs einer gemeinfamen Verwaltung ber Voltsr 
ſchulen durch die Negierungs: und Selbftverwaltungsorgane traten 
in die Oberlandichulbehörde der Direktor der Vollsſchulen, in die 
Kreisihulbehörden die Volfsichulinipektoren als fländige Glieder ein, 
ebenfo in jede diefer Bchörden ein zweites vom Kurator ernanntes 
Glied des Unterrichtsreilorts. Der Einfprud eines Regierungs— 
repräfentanten inhibierte die Mojoritätsbeidüffe und überwics fie ber 
übergeordneien Inſtanz. Klagen gegen die Behörden gelangten an 
den DMinifter ber Vollsauftlärung. Den Imipeftoren fiand bie 
vorläufige Anftellung und Abſetzung der Lchrer zu, welde ben 
Zufpeftoren diveft umterftellt und zu unweigerlicher Grfüllung der 
infpeftorialen Anordnungen verpflichtet waren. Die Inſpekloren 
waren ferner berechtigt von ſich aus Verbeiferungen und Un 


Um bie livlandiſche Vollsſchule. 401 


derungen im den Schulen vorzunehmen. Die den Eelbjiver- 
mwaltungsbehörben zugeitandenen Beſtätigungsrechte waren praktiſch 
ohne Bedeutung, da die vorläufigen Verfügungen durch feine Zeit: 
grenze beichränft waren. Die Umwandlung von Parochial- und 
Gemeindeſchulen in Minifterfhulen erfolgte auf Wunſch ber Ger 
meinde oder einer am Unterhalt der Schule beteiligten Perſon. 
Der Unterhalt der neuen Schule erfolgte in derjelben Weiſe, wie 
der Unterhalt der Schule, an deren Gtelle fie trat, erfolgt war. 
In den zwei unteren Klaſſen der Gemeindeſchulen murde ber 
Unterricht je „nad Bedürfnis“ in lettiſcher, eſtniſcher oder ruſſiſcher 
Spradye erteilt, für bie dritte Klaſſe der Gemeindeſchulen und die 
Parochialſchulen war die ruſſiſche Unterrichtsſprache obligatoriſch. 
Die ftändifchen Organe waren verpflichtet, die Tätigkeit des Voils⸗ 
ibutdireftors und jeiner Jufpeftoren in jeder Weiſe zu fördern. 
Die Nitter- und Landſchaft, die im Juni 1887 verfammelt 
war, mußte zu ihrem tiefem Bedauern der Überzeugung Raum 
geben, daß die neuerlaifenen Regeln alle und jede Hoffnung auf 
eine fernere fruchtbringende Teilnahme der Ritter: und Landicaft 
an der Verwaltung des Volisihulwefens ausſchloſſen. Cie erkannte 
in bem neuen Gejege cin das Volksſchulweſen in feinen Grund» 
feiten erichütterndes Prinzip, weldes die feitherigen Leiter des 
livländiſchen Volfsihulwejens ſich anzueignen füglich nicht ver- 
mödten. Die Lahmlegung ber elbjtverwaltungsorgane, die 
Trennung der Schule von Haus und Kirche und die Verbannung 
der Volfsfpragen aus der Schule, mußten jedes Intereſſe ber 
NRitter- und Landſchaft an der foldergeftalt entnationalifierten Schule 
vernichten. Der Landtag verfügte die Schließung der ritterichaft: 
lien Lehrerfeminare in Walt und Dorpat und beauftragte den 
Landmarſchall: dem Minifier der Volksaufllärung zu deflarieren, daß- 
die Ritterſchaft auf ihr durch die betreffenden Paragraphen des 
Provinzialrechis gemährleiftetes Necht, am der Errichtung, Erz 
haltung und Verwaltung ber Yandvolfsiculen Teil zu nehmen zu 
verzichten ſich genötigt jehe, und folglid deu Minifter erjuche ers 
wirken zu wollen, daß in Ergänzung der emanierten Regeln die 
fattiſch lahm gelegten Organe der Yandjdulverwaltung förmlich 
aufgehoben würden. Am 20. Juli überreichte der Landmarſchall 
dem Minijter der Volfsaufflärung die Dentſchriſt der Nitterichaft. 
Die Dentigrift betont die ſchwere Nränfung, die durd) bie Ein: 





102 Um die livlandiſche Vollsſchule. 


führung ber ruſſiſchen Unterrichtsiprache in die Schule eines Volfes, 
das fich als ſolches fühle, der bäuerlichen Bevölkerung zugefügt 
werde, und fhloß mit der Bitte um Liberierung ber Nitter- und 
Landichaft von ber Verwaltung. Der DMinifter ber das furze 
Vegleitchreiben ſogleich durchleſen Hatte, fagte, er begreife bie 
Ritterſchaft und diefen Schritt nicht. Die Angelegenheit dien 
ihm Sorge zu bereiten, und nad) längerem Befinnen fragte er: 
„Was joll ich feiner Majeftät vorſchlagen?“ Der Landmarfdjall 
erflärte dem Miniſter, wie bie Nitterfchaft ſich wohl bewußt jei, 
daß diefer Schritt mit vielen übrigen in fyftematiihem Zufammen- 
hange jtände, indefien — wenn ©. Majeftät Kenntnis erhalte von 
der Tragweite des gegen die Nitterichaft eingehaltenen Verfahrens, 
ſo hoffe jie von Seiner Gnade Nemedur zu erhalten. Der Dlinijter 
verfprad) daraufhin die Denkfchrift vorzulegen. 

In jeder Beziehung übertrafen die temporären Negeln bie 
Erwartungen ihrer Schöpfer. Soweit ſich diejes aus dem Rund» 
idreiben des Auratord vom 6. November erjehen läßt, war er 
über das neue Geſetz der Meinung geweien, „daß feine Anwendung 
feine Schwierigfeiten bereiten fann, wenn man die Sade wie fie 
wirklich ift anfieht, ſich nicht vermeintliche Hinderniſſe ſchafft und 
nit künſtlich Schwierigkeiten hervorruft. Es iſt nur nötig, ſich 
dem Gefeg und denjenigen Interelen von hervorragender Wichtige 
feit gegenüber, bie es berührt, mit Achtung zu verhalten, es ijt 
nur nötig, alles der Schule Fremde zu befeitigen und das eine 
Ziel im Auge zu haben: die ſittliche und geiflige Entwiclung 
ber Kinder, welche die Eltern mit Vertrauen in die Schule ſenden.“ 

In jeinen Wirkungen unabhängig von ber Anficht des 
Kurators, hatte das neue Gefept eine Stodung des Volfjdjullebens 
zur Folge gehabt. Die Oberlandſchulbehörde hatte den Beginn des 
Unterrichts in den Parochialſchulen bis zum äußerten jtatthaften 
Termin hinausgeſchoben, da fie feine Möglichkeit jah dem Gefepe ge: 
mäß den Unterricht in einer Sprache erteilen zu laſſen, die weder Lehrer 
uoch Schüler verftanden, im übrigen hatte fie ſich darauf beſchränkt 
jeden Konflitt mit den Negierungsorganen zu vermeiden. Die 
örtlichen Edyulautoritäten ſchlugen vielfad) den Ausweg der Schul« 
ihliegung ein, 32 Parochiaiſchulen waren aus ben veridiedeniten 
Motiven, zumeiſt aber in Beſorgnis um das Eigentum ber 
Kirche an den Schulen, und im Hinblid auf die Forderung 


Um die lidlandiſche Vollsſchule. 408 


der ruſſiſchen Unterrichtsſprache geſchloſſen worden. Auch bie 
Kinder, welche die Eltern mit Vertrauen in die Schule ſenden, 
begannen weniger vollzählig zu erſcheinen. Durch wiederholte Er— 
laſſe, deren erregter Ton unter andrem eine Jujurienklage der Ritter— 
ſchaft bedingte, ſuchten ber Gouverneur und Kurator die Schulverwid- 
lungen zu regeln. Die durch das neue Geſetz geſchaffene Frage 
des Eigentumsrechtes an den Parochialſchulen bemühte ſich der 
Gouverneur dadurdy zu präjudizieren, daß er den Ordnungsrichtern 
vorſchrieb, den Parochiallehrern Reverſale des Inhalts abzunehmen, 
daß fie im Amt eines Kirchſpielsſchullehrers ftehend, die Gebäude 
und Ländereien der Schule namens der Schulverwaltung, nit aber 
namens der Kirche oder einer Privatperſon befähe Im 
Weigerungsfalle follten ihnen Gebäude und Ländereien abgenommen 
und einem Gliede der Schulverwaltung überwiefen werden. Diejer 
Verjuh die ſchwierige Nechtsfrage gewiſſermaſſen durch den 
Schiedoſpruch der Parochiallehrer zu loſen, ſcheiterte an der faſt 
einmütigen Weigerung der Parochiallehrer den Nevers zu unter- 
geigmen und der Rirdfpielsjculuerwaltungen bas ihrer Anficht 
mad) der Kirche gehörige Land zu übernehnien. 

In vieler Hinſicht war der Gouverneur eine zwar neue, .aber 
weſentliche Erſcheinung des Schullebens geworden. Er ſehle auf 
abminijtrativem Wege Lehrer ein und verhinderte auf demfelben 
Bege ihre Abfegung. Die Druderci, in der die Oberlandſchul- 
behörde den Landtagsichluß in Sachen des Volkoſchulweſens hatte 
druden laſſen, wurde geſchloſſen, die übrigen Drudereien erhielten 
Weiſung für die Oberlandſchulbehörde nicht ohne Zenjur zu drucken. 
Ebenſo waren der Volfsihuldirektor und die Inipeftoren in- fieb 
hafter Tätigkeit; fie jepten Lehrer ein und Lehrer ab, ohne di 
durch den ruhigen Gang des Schulweiens weſentlich zu fördern. 

Eine Folge ihres Gifers war das Auftreten von Lehrern mit 
Gage ohne Amt, und mit Amt ohne Gage. Dem einzigen 
Verſuch, der gemacht wurde, die ruſſiſche Unterrichtsiprade prafz 
tiſch durchzuführen, bereitete die gänzliche Verjtändnislofigfeit der 
Schüler ein jepnelles Ende. Die Negierung jah ſich genötigt zu 
paftieren, der Gouverneur verzichtete auf jein Neverjalverfahren 
und trat wieder in den Hintergrund, der Kurator erklärte, daß 
feine Reform mit einem Schlage durchgeführt werden könue; durch 
einen minifteriellen Erlaßz wurde die Einführung der rujfihen 








404 Um die livlãndiſche Volksſchule. 


Sprache in jedem einzelnen Falle dem Ermeſſen des Kurators an: 
Heimgeftellt und die endgültige Durdführung des Prinzips auf 
drei Jahre Hinausgefchoben. Zugleich wurde die Eröffnung fümt- 
licher Parochialſchulen anbefohlen. Danach) ſehzte ſich der gewaltige 
Mechanismus des Volkoſchulweſens langjam wieder in Bewegung 
nad dem Gefeg ber Beharrlichteit, nach welchem er ſich während 
der ganzen Zeit in aller Ruhe in den Orten bewegt hatte, wo bie 
Inſpektoren nicht hinfamen, und ihre Schriftjtüde als unverſtänd⸗ 
lich bei Seite gelegt wurden. 

Hunbertfünfzig Inſpektoren wären, — nad) ben Worten des 
Kurators, — nicht im ftande die Arbeit der Volfsfhulverwaltung 
ohne die ſtändiſchen Organe zu leiften. Gegenüber den Lebensan ⸗ 
forderungen des Schulorganismus ‚hatten ſich die geringen bureaus 
tratiſchen Kräfte als unzureichend erwielen. Nachdem die tem⸗ 
porären Negeln jede Machtbefugnis der Eelbiiverwaltung vers 
nichtet hatten, fah fi) die Bureaufratie außer ftande das Erbe 
anzutreten. Es galt daher durch einen Konpromiß den jtörrigen 
Selbftverwaltungsförper gefügig zu machen, und der Nurator ber 
mühte fi abermals und aus vollfter Überzeugung um eine Ver: 
Töhnung. Die Liberierung der Nitterfchaft von der Mitverwaltung 
des Schulwejens, meinte er, würde einen unmögliden, das Schul- 
weſen ſchädigenden Zuſtand ſchaffen. Schon das verflofiene Jahr, 
während deſſen die Ritterſchaft der Volkoſchulverwaltung fernges 
ſtanden, müſſe als ein verlorenes Jahr betradytet werden und das 
Schulweſen ſei bedeutend unter das frühere Niveau herabgejunfen. 
Er lehnte jede Verantwortung für das Zujtandefommen der tem- 
porären Regeln ab, und verſprach, da das Geſetz jo bald nicht ab- 
geändert werben könne, eine Handhabung bes Geſetzes, die in der 
Prarxis alle Bedenklichteiten befeitigen würde. In Petersburg jelbjt 
berrichte in den maßgebenden Kreifen des Miniſteriums der Wolfe: 
aujflärung eine gewiſſe Ratlofigfeit, die Antwort auf das Geſuch 
der Ritterſchaft wurde hinausgeſchoben. Der Landmarſchall drang 
auf eine Abänderung der temporären Negeln und die Aus 
arbeitung eines befinitiven Gefegeo mit Berüdjihtigung ber ritter- 
ihaftlihen Vorſchläge. Indeſſen jo allgemein vie Unvolllommen- 
heit der temporären Regeln zugegeben wurde, ebenjo allgemein 
war der Wille den getanen pritt nicht zurüczutun. Offiziell 
fand diefer Wille dahin jeinen Ausbrud, da man die Wirkung 


Um die liolänbiide Vollsſchule. 405 





ber temporären Negeln genau zu beurteilen im fanbe fein müſſe, 
ehe ein befinitive® Gefep entworfen werde. Won biefer Wirkung, 
wie fie ſich nach dem Ablauf der erften ftürmifchen Zeit zu äußern 
begonnen hatte, konnte fi) der außerordentliche Landtag vom 
Dftober 1888 an der Hand des Berichts ber Oberlandſchulbehörde 
überzeugen. Laut biejem Bericht bedingte das Geſetz bie abfolute 
Gefeplofigteit und beichränfte die Madjtbefugnis der Selbjiver- 
weltungsbehörben auf genau das Maß, welches der Kurator und 
feine Untergebenen ihnen zugejtehen mollten. Zu irgend einer 
pofitiven Arbeit waren fowohl die jtändiihen Behörden, wie die 
Negierungsorgane, allerdings aus verſchiedenen Gründen, unfähig. 
Es bejtand nicht mehr als der Schein ber alten Ordnung, der ge 
ſchont wurde, um unter der alten Flagge mit neuer Ware zu 
jegeln; die Organe der Gelbfiverwaltung dienten nur dazu durch 
ihren guten Ruf bie neue, Eonfejlionsloje Sprachſchule und deren 
Verwaltung zu deden und das Xandvolt über die vollzogene 
Umwälzung zu täuſchen. — „Die livländiſche Landvolkoſchule, 
welche die Ritterſchaft und Geiſtlichteit als kirchliche Anſtalt bes 
gründet und geleitet haben, ſie exiſtirt nicht mehr.” — 

Angefichts diefer traurigen Erfüllung feiner Vorausjicht un 
in der Erwägung, daß das Geſuch der Nitter- und Landfchaft um 
Liberierung von ber Verwaltung nod) immer unbeantwortet war, 
beauftragte der Landtag den Landmarſchall dahin zu wirten, bak 
die temporären Hegeln durch ein definitives Gefeg erjegt würden, 
welches eine gedeihliche Mitarbeit der Ritterſchaft und ber Geijt« 
lichteit ermögliche. Die Antwort, die auf dieſes Geſuch erfolgte, 
beließ der Nitterfchaft die Lajt einer fremden Zweden dienenden 
Voltoſchule und die Hoffnung auf eine beijere Zukunft. Cs wurde 
ihr mitgeteilt, daß ihre Teilnahme an ber Voltsihulverwaltung 
auch Fünjtighin nicht anders als auf Grundlage der durch das 
Beleg vom 17. Mai fejtgefegten Negeln erhalten werden könne, 
daß fie aber, wenn fie rechtzeitig ihren Wunjch einer meiteren 
Teilnahme äußern follte, jeiner Zeit mit den Nitterfhaften der 
Gouvernements Ejt- und Kurland zur Teilnahme an der Aus— 
arbeitung eines definitiven Gejeges aufgefordert werben würde. 
Durch diejen Beſcheid und die Ablehnung ſämtlicher Eigentums: und 
Rechisllagen in Sachen den Volleſchulweſens war der Negierung der 
materielle Beſiaud der neuen Volkoſchule ſoweit geſichert, daß die 


406 Um die livlãndiſche Vollsſchule. 


Negierungsorgane ſich ausichlieglih der Fruchtbarmachung dieſer 
Schule für ihre Zwecke widmen fonnten. Die Wirkſamkeit und Das 
Intereije der Injpeftoren richteten fi vornehmlich auf die Hebung 
der ruſſiſchen Sprachtenntnis und die Einbürgerung der Vorſchrifts- 
mäßigen Gejinnung in der Volksſchule. Nicht immer wurden ba: 
bei aud die nächitliegenden übrigen Intereſſen der Schule berüd: 
ſichtigt. Ein treffendes Beiipiel hierfür bieten die Sommerfurje, 
deren Beſuch zweds Grlernung der ruſſiſchen Sprache den Lehrern 
zur Pflicht gemacht wurde, und die, in die Erntezeit fallend, das 
Brot der Lehrer in gleicher Weiſe wie den Nepetitions- und Haus- 
unterricht ſchmälerten. Dieſer konnte, als dem Programm ber 
neuen Schule gänzlid) fernitehend, die Sympathie der Kegierungs- 
organe nicht beanfprucen. Die Veurteilung des pädagogiiden 
KRönnens der Lehrer aus denjelben Gefichtspunften hatte die.Ab- 
jegung der alten Lehrer, und das Auftreten junger, vielfach unge: 
ſchulter Kräfte zur Folge, tropdem begann dauf den maſſenhaften 
Verabichiedungen der Lehrermangel chroniſch zu werden. Der Eins 
Muß der jtändiihen Schulautoritäten wurde zu Gunjten eines 
direften Verfehrs der Inſpeltoren mit den Schullehrern zurückge- 
drängt ; der Neligionsunterriht auf die Rolle eines Nebenfadres 
berabgedrüdt und gelegentlich, trogdem jeine Leitung offiziell der 
lutheriſchen Geijtlichfeit verblieben war, von den Jnipektoren in 
etwas befremdlicer Weile infpigiert. Wo nad die Beziehungen 
der althergebrachten Tradition fortwirften, war ein Einfluß des 
Predigers auf den Lehrer und den Religionsunterricht vorhanden, 
dod war er rein perjönliher Natur. Das Wahlreht der Ger 
meinden wurde von einigen Inſpeltoren berüdjichtigt, von andren 
je nad) Belieben auch unberüdjichtigt gelaflen. Die Kreislandidul: 
behörden und die Oberlandiulbehörde erfuhren mur gelegentlich 
von den Plänen und Handlungen der Negierungsorgane, da die 
Iujpeftoren, jeitdem,ihre Schriftitücte translatiert und gelefen wurden, 
und nachdem sie fih über ihr Wirfungsgebiet im großen unb 
ganzen orientiert hatten, mit ihren Schreiben zurüdhaltender ge⸗ 
worden waren. In manchen Fällen mußte die Löſung des Bandes 
zwiicen Scpulverwaltung und Schule von den Jnipeltoren jelbit 
als itörend empfunden werden. Ein Juipeftor beklagte ji) bei 
der Kıeislundihulbehörde, dab zahlreiche Lehrer ohne jegliche Legiz 
timation unterriteten. Die Behörde beauftragte die Schulver- 





Um die liolandiſche Vollsſchule. 407 


waltungen, berartige ungefegliche Zujtände nicht zu bulben, doch 
erklärten ſich diefe außer jtande ſolchen Unfug zu befeitigen, ba 
fie nicht einmal erfuhren, wer als Lehrer berechtigt fei, noch auch 
die Mittel bejühen, folche zu bejeitigen. Es läßt ſich bezweifeln 
ob bei der großen Zahl der den Inſpektoren unterftellten Schulen, 
dieje felbjt eine genaue Kenntnis ber von ihnen angeftellten Lehrer 
befajen. Im jeben Falle waren die Inſpektoren gänzlid außer 
ftande eine die Grenzen des Unterrichts überjteigende Kontrolle 
über bie Schulen zu führen, welche in den langen Inipeftionspaufen, 
nachdem ben örtlichen Schulautoritäten die Macht genommen, und 
nur der Schein geblieben, tatſächlich ohne jede Auffiht waren. 
Die Schulverjäumniffe nahmen erſchreckende Demenfionen an und 
machten ben obligatorifchen Schulgwang zur Phrafe, ebenfo be: 
gannen die Gemeinden, der altgewohnten Kontrolle entrüdt, die 
Subfijtenzmittel der Schule zu ſchmälern, mit jteigender Tendenz 
je mehr das Intereſſe der Gemeinden an ber Edjule erfaltete, 
und feine Autorität, auch nicht der Inſpektor, war im jtanse 
ſolches zu hindern. 

Auf den Allerhöchſien Entiheid vom Februar 1889, betref⸗ 
fend das Geſuch der Rilterſchaft um Abänderung ber temporären 
Regeln, hatte ber Landtag vom März 1890 beſchloſſen, zunädjit 
feine Schritte zu unternehmen, da die Nitterichaft die Unmöglide 
feit, unter ber Herrfchaft der temporären Negeln an der Verwal: 
tung in erſprießlicher Weife teilzunehmen, bereits fonitatiert und 
deklariert habe. Doch wurden die Oberfirdenvorjteher beauftragt, 
den Entwurf eines definitiven Gejepes für die Verwaltung des 
Voltsihulwejens als Vorlage für den nächſten Adelskonvent aus- 
zuarbeiten. Der Entwurf, welder dem Adelstonvent vom Januar 
1891 vorlag, ſuchte die Anſprüche der Regierung mit der Möglich: 
teit einer ehrenamtlichen Wirtjamfeit zu vereinigen. Die unmit- 
telbare Leitung und Kontrolle der Schulen follte den Schulverwals 
tungen wieder übertragen werden, da die birefte Aufſicht der 
Schulen durd) die Injpeftoren ſich bei ihrer geringen Zahl als 
undurdführbar erwiejen hätte. Den Jnjpeftoren jollte dagegen ein 
weitgehendes Aufſichtsrecht über die Wirtfamfeit der Selbtver: 
mwaltungsorgane zugeſtauden werden. Dem Keligionsunterricht 
follte die gebührende Stellung eingeräumt, die Mutterſprache bes 
Sandvolfes in allen Parochial- und Gemeindeihulen als Unter 


408 Um bie livlandiſche Vollsſchule. 


richtoſprache verbleiben, bei der Erlernung ber Reichsſprache nach 
Maßgabe der vorhandenen Kräfte. Das Wahlrecht der Gemeinde 
follte betont, der obligatoriiche Unterricht durch zweckentſprechende 
Maßnahmen wieder realifiert werden. — Der Landmarſchall wurde 
beauftragt, eine Einigung mit ben Nachbarprovinzen auf Grund 
des Entwurfs anzuftreben und gemeinfam mit ihnen, oder allein 
mit den Organen ber Staatsregierung, in Verhandlung zu treien. 
Nachdem der Landmarſchall fi mit den Vertretern der Nitter- 
ſchaften von Et: und Kurland in Einvernehmen gefegt hatte, über: 
gab er die auf Grundlage des Entwurfs ausgearbeitete Dentichrift 
dem Kurator Lawrowstij zur Begutachtung. Der Kurator wollte 
die Angelegenheit bis nach der Semitwoeinführung, die damals 
mie heute in ber Luft jchwebte, verſchieben. Der Landtag vom 
Februar 1893, dem ein fo gemächliches Verfahren nicht wünfchens: 
wert erſcheinen fonnte, beauftragte ben Landmarſchall, eine baldige 
Prüfung der ritterjhaftlihen Vorſchläge zwecks eines definitiven 
Volksſchulgeſetzes zu veranlafien, mit ber Begründung, daß bie 
Ritterſchaft die Verantwortung für den vapiden Verfall der Volks: 
ſchule nicht länger tragen könne. Am 11. November übergab der 
Landmarjhall das Diemoire in diefer Angelegenheit dem Minifter 
der Volfsaufllärung und nahm mit dem Departementschef Anitſchlow 
darüber Rũckſprache. Doch waren die Auslaſſungen beider über 
den Gegenftand fo wenig ſachlicher Art, daß ſich aus ihnen über 
ihre Stellung zum NReformprojeft nichts entnehmen ließ. Auch 
der Kurator hatte mittlerweile ein Neformprojelt ausgearbeitet und 
es dem Minifterium ber Volfsaufflärung zugleich mit bem ihm 
feinerzeit übergebenen Projekt der Ritterſchaft überfandt. 

Im Herbft 1895 trat darauf im Dlinifterium der Vollsauf- 
Märung unter dem Vorſih des Petersburger Kurators Rapuflin 
eine Kommiſſion zujammen, der das Projelt Lawrowskijs zur 
Beprüfung übergeben wurde. Am 19, Dezember wurde das von 
der Kommiſſion überarbeitete Projekt im Auftrage des Minifters 
des Innern dem refidierenden Landrat zur Begutachtung überfandt. 
Diejes Projelt war in allen Punkten eine Verfhärfung der tem: 
porären Negelm Indem es ben konfeſſionellen und nationalen 
Sharalter der Schule bis auf den legten Schein zeritörte, und 
nicht einmal dem Neligionsunterricht unzweibentig bie Mutterſprache 
beließ, drüdte es zugleid die ſtändiſchen Kräfte auf das Niveau 


Um bie liolandiſche Vollsſchule. 409 


eines bloßen Handlangerdienjtes hinab, und nahm gleichwohl bie 
materiellen Dittel derfelben in verſchärflem Maße in. Anſpruch. 
Es wurde daher der Landmarſchall vom Landtage des Februars 
1896 beauftragt, mit allen Mitteln für das Yusarbeiten eines 
neuen Projefts unter der Hinzuziehung ritlerſchaftlicher Delegierter 
zu wirken, indem der fonfeffionelle Charakter, ber Unterricht in 
ber Mutterſprache, wenigftens in den Gemeindeichulen, und ein 
mafigebender Einfluß der Nitterfhaft, ber Landgemeinden und ber 
Geiftlichfeit auf die Verwaltung der Voltsihulen gewährleiſtet 
würbe. 

Wie ſchwerwiegende Gründe es waren, welde bie Sorge 
der Ritterſchaft um die Sache der Volkoſchule nicht ermatten lieh, 
möge bie gleichzeitige Bittjhrift der Eculälteften von Fellin-Land 
veranſchaulichen. In ihr heißt es: „Dit Herzihmerzen müflen wir 
zuſehen, wie die Volksihulen, welche mit jo großen Opfern feitens 
des Volles unterhalten werden, mit jedem Jahre fi verfchlechtern. 
Obgleich die Schulkinder mit bitteren Tränen ihre Bücher benegen, 
fo fönnen fie doch feinen Nutzen aus benfelben ziehen, weil bie 
Sprache der Schulbücher ihnen fremd ift und der Lehrer fie in 
einer unverjtändlichen Sprache unterrichtet. In feinem Lehrgegen- 
ftande fönnen die Kinder ſolche Fortichritte machen wie früher. 
An Stelle der früheren regelmäßigen Auffiht von feiten der 
Schulverwaltung der örtlihen Autoritäten der früheren Organir 
jation, erſcheint jegt nad) Jahren der Schulinipeltor zur oberfläch- 
lichen Nevifion der Volloſchulen und verlangt mit der größten 
Strenge mehr und mehr ruffüch. Raum hundert Tage im Jahre, 
abzüglich der Kirchen: nnd Kronsfeiertage, beſuchen unſre Rinder 
die Schule; die 11jährigen Kinder müſſen drei Winter die Schule 
beſuchen. Solchen Rindern iſt dringend nötig die Mutterſprache 
beizubringen, bevor der Lehrer einen ſyſtematiſchen Unterricht ans 
fangen kann, aber jegt fordert der Volfoichulinipeftor, man darf 
bie Kinder mur in ruſſiſcher Sprache Ichren! Nach dem Echluß 
des Unterrichts fehren fie in bie Familien zurüct, wo ruſſiſch 
weder verjlanden nod) geiproden wird, und vergeilen die wenigen 
auswendig gelernten ruſſiſchen Vokabeln und Phraſen und ver» 
ftehen weder ruſſiſch noch die Mutterſprache, noch jonft was. 
Unfer Volt läßt ſehr gerne die Ninder fremde Sprachen 
lehren, befonders aber die ruſſiſche Sprache, fie iſt in Zukunft ben 





210 Um die liolandiſche Vollsſchule. 


Kindern notwendig, aber mit ſolcher Strenge und auf Koſten 
andrer Lehrgegenſtände und der allgemeinen Bildung, wie es 
gegenwärtig in unfren. Schulen projekliert wird, das iſt unſren 
Eltern und unſrem Volke unauoſprechlich ſchwer und traurig, und 
das Volk drüdt feine Unzufriedenheit gegen die Schulen auf ver: 
ſchiedene Weile aus: z. B. — Die Ninder werben unregelmäßig 
zur Schule gejchiet, die Beiträge zur Erhaltung der Schulen 
zahlt man ungern und äußerit unregelmäßig, die Gagen der Schul 
lehrer werben unaufhörlich herabgefegt, die Schulen werben ge: 
ſchloſſen, die Liebe verſchwindet und die Schule wird in Zwangs- 
maßregeln umgewandelt, und all das Kefultat in nächſter Zukunft 
ift: Mangel an guten Schullehrern und Kafterhaftigteit der jungen 
Generation. ...“ (Zitiert nad dem Translat, 18. Feb. 1896). 

Das Schreiben ſchließt mit der Bitte um Einführung ber 
Mutierſprache und einer evangeliſch-lutheriſchen Schulobrigteit. — 
Am 17. Mai 1896 wurde das ritterſchaftliche Memorial mit der 
ausführlichen Kritik des Gejegentwurfes, und mit gleichzeitiger 
Mitteilung des Landtagsihluffes, dem Gouverneur zur Vorftellung 
an den Minifter des Innern zugeſandt. Mittlerweile war bereits 
das Reformprojelt in den Atten des Miniſteriums der Vollsauf- 
Märung verjunfen, das Memorial der Nitterichaft aber verblieb, 
ſoweit es ſich Fonftatieren lich, bei den Aften des Gouverneurs. 

Die Qualität des Lehrermaterials war jeit dem November 
1885 ftelig gejunfen, endlich wurde durch einen minifteriellen Er: 
laß vom April 1897, welder die Altersgrenze der Lehrer von 
21 auf 17 Jahre Herabjegte und ihren Vefähigungsnadhweis allein 
auf die Kenntnis der ruſſiſchen Sprache beſchränkte, der nad) und 
nad) eingetretene Tiefitand offiziell fanktionirt. Diefer Erlaß ber 
wog die Nitterichaft unverzüglich alle zu Gebote ftehenden Mittel 
in Anwendung zu bringen, um an Allerhöchſter Stelle für die Dar- 
ſiellung der in Vetreff der Volloſchule geichaffenen Zuftände Gehör 
zu finden. Im Auftrage des Adelsfonvents vom Mai 1897 über 
reichte darauf ber Landmarſchall Sr. Diajeftät die Suplik der Ritter 
und Landſchaft, welde bie Vitte einer Eriegung ber temporären 
Negeln burd) ein definitives Gefeg, mit ben leitenden Grundſäten bes 
fonfefiionellen Charakters, der Mullerſprache und der Ermöglichung 
einer mugbringenden Tetlnahme der Selbjtverwaltungsorgane, aus- 
drüchte, jowie, daß die gegenwärtigen geltenden temporären diegeln 






Um die liolandiſche Vollsſchule. al 


von 1887, welche bie religiöszfittliche Erziehung des Volles nicht 
ficherfteflten, die livländiſche Ritterſchaft der Mögligfeit, an ber 
Verwaltung teilzunehmen, beraubten. Der Landmarſchall fand am 
1. November bes Jahres Gelegenpeit, Sr. Majejtät in gejonberter 
Audienz bie Bitte der Nitterfchaft auszufprechen. Am 10. Dezember 
1897 wurbe bem Landmarſchali durch den Dirigierenden der Kanzlei 
Sr. Majeftät der Allerhöchſte Entſcheid übermittelt, — das Geſuch 
der Nitterfchaft ohne Folge zu Laien. 

Nachdern dergeftaft ber Rillerſchaft dort, woher fie fo lange 
Zeit die Hülfe erhofft hatte, feine Hülfe geworden, beſchloß ber 
Landtag vom März 1898 ſchweren Herzens abermals um bie 
Liberierung von ber Verwaltung nachzuſuchen, und die Oberfirhen- 
vorjteher und Kirchenvorſteher, denen ein tätiges Intereſſe an ber 
Volkoſchule nicht mehr zugemutet werben fonnte, aufzuforbern, ſich 
im Verein mit der Geiftlicdjfeit um die Förderung bes Haus und 
Konfirmationsunterrichts in jeder Weije zu bemühen. 

In einer zweiftündigen Unterredung fegte ber Landmarfchall 
dem unlängit ins Amt getretenen Minifter der Volksauftlärung 
bie Lage der libländiſchen Volkoſchule und den Wunſch der Ritter⸗ 
haft, von der Verwaltung diejer Volkoſchule befreit zu werden, 
auseinander. Mit dem Hinweis auf Armenien und Polen begrün- 
dete der Minifter die Unmöglichfeit, von den feither vom Staate 
vertrefenen Grundjägen abzumeichen, meinte aber gleihwohl, daß 
die Liberierung der Nitterihaft von der Teilnahme an der Volle: 
ſchulverwaltung ſchwerlich Tonzediert werden könne. Auch im 
Oktober und November des Jahres gelang es dem Landmarſchall 
nicht, eine definitive Antwort zu erlangen. Der Gejegentwurf von 
1895 war wieder aus den Alten erjtanden und auf jeiner Grund« 
fage beabfichtigte der Minifter ein neues definilives Gefeheoprojelt 
ausarbeiten zu laſſen. Cr wollte Sr. Majeftit die Frage zur 
Entfcheiung vorlegen, ob es nicht zwectmahig wäre, bei der Ab- 
faſſung des Projekts ritterichaftliche Delegierte hinzuzugichen. Das 
Geſuch um eine formelle Befreiung der Hitterfihaft von der Teils 
nahme der Voltsihulverwaltung wurde der Landmarichall gebeten 
bis zur Fertigitellung des Gejeges zu veridieben. Im Juni 1900 
war die Geſetzlommiſſion in Tätigkeit. Cine fonfidientielle Ber 
ratung, mit den Vertretern der baltischen Ritterſchaflen war in 
Ausfidt genommen, auch war der Kurator Schwarz beauftragt, 








412 Um bie liolandiſche Boltsigule. 


das Projeft zit ben Vertretern der Ritterſchaften zu beipreihen. 
Die Meinung des Kurators ging dahin, daß es unter ben bejter 
henden Verhältnilien am zwedmäßigiten wäre, wenn bie ritter- 
ſchaftlichen Organe aus der Verwaltung ausfdieden. 

Der neue Gefegentwurf trug in gleicher Weife wie die tem- 
porären Regeln und das Gejegesprojeft von 1895 den bereaufra- 
tiſchen, konfeſſionsloſen und antinationalen Stempel, und unterichied 
fi) von feinen Vorgängern lediglich durch den ſchärſeren Ausdruck 
diefer Tendenzen. Auch biejes Projeft blieb indeſſen in ben Alten, 
und die 1893 erweiterten und Lobifizierten temporären Regeln 
herrſchten nach wie vor. 

Während all dieier Zeit waren Volfsihuldireftoren und Ins 
fpeftoren, deren Zahl langiam geftiegen war, in der Pilege der 
Landvolfsfhule nicht ermattet, wie wir Diejes aus nachſtehendem 
Zirfular vom 1. März 1901 entnehmen fönnen, in dem eo heißt: 
Punkt 6. Die Schulmufeen müſſen jedes Jahr vervollftändigt und 
die Reichsſprache beingemäß gründlicer gelernt werben. Beſonders 
muß die veraltete Überjegungsweije ganz abgeſchafft und nur die 
natürliche Lehrweife benugt werden, dabei muß darauf Gewicht 
gelegt werben, daß das Kind ſich vom eriten Betreten des Schul 
zimmers an an das lebendige Ruſſiſch gewöhnt. Für die Sauberleit 
der Schulzimmer muß beſonders Eorge getragen werden. Der 
Lehrer muß den Infpektor rechtzeitig davon in Kenntnis jegen, 
wenn er feine Stelle wechſeln will. Berichte über feine Befoldung 
muß der Lehrer jedes Jahr dem Gemeindebevollmächtigten ſchrifllich 
einreichen und dabei für die Erhöhung feiner Gage felbit Sorge 
tragen. Dazu darf er aber feine gefegwibrigen Mittel anwenden, 
fondern muß fid) nad) den örtlichen wirtſchafilichen Verhältniffen 
einrichten. (Düna⸗gig. vom 1. März 1901*.) 

Gleich der livländiihen Landvolfsihule liegt heute auch ber 
Gebdanfe einer allmächtigen Bureaukratie, dem fie im Kampfe 
unterlegen it, in den legten Zügen — bie freie Entfaltung des 
Lebens ift auf der Tagesordnung. Am 22. April 1905 ift dem 
Präfidenten des Miniſierkomilees Staatsjefretär Witte die Dents 
ſchrift der Livl. Nitterihaft, betreffend die Vollsſchule, überfandt 

*) Gingelne leuiſche und eſtniſche Blätter, ſowie die „Rihit. Wedomofti” 
Gaben ſich in leyter zeit um die Verbreitung einer Renntiis des jepigen Wolls: 


ichufwelens verdient demacht. c$ ft Daher ein näheres Eingehen auf dieſe Frage 
faum vonnölen, 


Um die Koländifeie Voltaſchule. us 


worden. Die Denkichrift ſchließt mit den Worten: „Noch einmal 
macht bie lioländiſche Nitterihaft im vollbewußten Intereffe bes 
Reiches wie auch der gefeglich ihrer Fürforge anvertrauten engeren 
Heimat, unter Vorjtellung des herrſchenden Notfiandes in ber 
Volkserziehung, fih mit der Bitte an die Staatsregierung um 
Wiederaufrichtung ber Lebensbedingungen der evangelifch-Iutherifchen 
Landvolfsihule: Gewährung der Schule als kirchliche Einrichtung, 
Gebrauch ber Multeriprade ald Unterrictömittel und fommunafe 
Verwaltung des Volksſchulweſens in gemeinfamer Mitarbeit ber 
Ritterichaft, Geiftlifeit und Verlrelung bes Bauerftandes.” 


3 


Wattife Monatäftzift 1908, Heft b. 5 


Zum Memoire der Ndelömarfhäle vom Rovenber v. J. 


We bekannt, hatte die Verſammlung der Gouvernements-Adels- 
marſchãlle, die vom 15.—20. November v. I. in Moskau 
tagte, auch über bie innere Tage des Reiches beraten und bie 
Majorität die Ausarbeitung eines Memoires beſchloſſen, wobei fie 
ſich im Allgemeinen von benfelben Motiven leiten lieh, bie auch 
Fürft Trubetzkoj in feinem befannten Briefe an ben Minifter des 
Innern vom 2. Deyember ausgeſprochen hat. Dieſes Memoire, 
zu bem nad) und nach 22 Adelsmarſchälle ihre Unterfchrift gaben, 
murbe dem Minifter des Innern überreicht und gleichzeitig auch 
den übrigen noch fehlenden Adelsmarſchällen zur event. Mitunter 
zeichnung überfandt. Dei der Bebeutung folder politischen Aftionen 
wird es von bejonberem Jnterefje jein, das Antwortichreiben fennen 
zu lernen, das der livländijhe Landmarſchall am 7. Dezember 1904 
an ben St. Petersburger Adelsmarſchall, den Grafen Gudowitſch 
gerichtet hat und das er dann am 15. Dezember auch dem Diinifter 
bes Innern mitteilte. Das Schreiben lautet: 


Hochgeehrter Graf! 

Ihr am 2. Dezember in meine Hände gelangtes Schreiben 
nebſt Beilage enthält fo wichlige und ernfte Angelegenheiten, daß 
ich bereits mittels Telegramm vom 3. Dezember mir Zeit erbitten 
mußte, und erft jept imitande bin, Ihnen meine Meinung mitzus 
teilen, welde, wenngleih nicht auf einem Nuftrage ober einer 
Inftruftion der Liv. Ritterſchaft beruhend, dennoch den Intens 
tionen derfelben entſprechen dürfte. 

Die Wirfungen des übermäßig angeipannten bureaufratiichen 
Spftems haben fid) in Livland, — gleihwie in den übrigen Teilen 
des Reiches, — in unheilvoller Weije geltend gemacht, bie feit 
altersher geſchulten Kräfte der Selbſiverwaltung lahmgelegt, fowie 


Zum Memoire der Adelsmarſchalle. 415 


die heranwachſenden jüngeren Elemente zurücgeftoßen, und endlich) 
das gegenfeitige Vertrauen zwiſchen ber Regierung und ben Regierten 
erfchüttert. Die dem bureaufratiihen Syitem innemohnende Sucht 
der Neglementierung und der Uniformität hat insbefondere ſchwer 
auf Liviand gelajtet und zerflörend gewirkt, weil gute und fegens» 
reihe Elemente, bie jeit früheren Zeiten eriftierien, erſtickt 
worben finb. 

Diefe traurige Lage ber Negierung befannt zu geben halte 
ich für eine Pflicht jedes Gouvernements:Adelsmarjchalls, und in 
dieſer Pflicht fühle ich mich vollftändig einig mit meinen Kollegen, 
die aus verfchiedenen Teilen des Reiches ihre Stimmen zu erheben 
für gut befunden haben, um in dieſer ernten Zeit ber tiefgehenden 
Bewegung feinen Zweifel darüber auflommen zu laſſen, dab der 
Abel bes Neiches nicht beifeite zu treten gelonnen iſt, ſondern 
es für feine heilige Pflicht erachtet, als Erfter darauf hinzuweiſen, 
was dem Wohle des Volkes dienen fann. 

Diefe hohe Aufgabe des Adels befteht hauptfächlih in ber 
Erziehung aller Bevölferungsichichten zur Selbjtverwaltung, begin» 
nend mit der gewiffenhaften und treuen Arbeit im Gut und im 
Dorfe und aufiteigend bis zur Verwaltung aller provinziellen 
Bebürfniffe, und bis zur Wahrung deffen, mas das Wohl ber 
Provinz erheiſcht. Das ift ein großes Gebiet, das vollftändig zu 
beherrichen jehr große Anforderungen an die uneigennügige und 
geſchulle Arbeitsfraft aller Beteiligten flellt. -— Hierin liegt der 
Kernpunkt jeder weiteren Entwicdlung. 

Die provinzielle Selbjtverwaltung muß vollftändig angepaßt 
fein den Bebürfniffen des Landes, und fie mn über ein aus: 
reichendes Material perfönlicher Kräfte zur Ausübung der öffent 
lichen Verpflichtungen verfügen, bamit eine feite und gefunde 
Unterlage für bie Gejamtorganifation des Reiches geſchaffen werbe. 

Um diefen Anforderungen zu genügen, gehört fi der Erlaß 
von Gefegen, welde die provinzielle Selbftverwaltung in ihrer 
Wirkſamteit unterftügen, ihr freien Spielraum gewähren, damit fie 
innerhalb der ihr vom Gejeg gewährten Grenzen felbjtändig ihre 
Funttionen erfüllen könne, und vor allem, damit fie geichügt fei 
vor einer Vevormundung und vor willfürlihen Eingriffen feitens 
der Regierungsorgane. 

Unter Veobachtung dieſer allgemeinen Grunbfäge Tann allein 
eine gefunde Verwaltung ſich entwideln, und ich fühle mich darin 
einig mit Ihnen und Ihren Kollegen. Als Hindernis dürfte dabei 
nicht angefehen werden, daß veridiedene Teile bes Reiches eine 
gefonderte Entwidlung genommen haben, bie, — unbeſchadet ber 
Reichseinheit, — aud) eine bejondere Form der Selbjtverwaltung 
erheifchen. Noch mehr, dieje Eigenarten müljen zur lebendigen 
Geftaltung des Reichsganzen beitragen, weil die Uniformität der 

* 


46 Zum Wemoire ber Adelsmarſchalle 


Tod jedes jelbftändigen Kulturfortfhritts iſt. Ganz befonders 
muß betont werben, dah der Ausbau ber provinziellen Selbſtver- 
maltung, ber Schuß berfelben vor unberedhligten abminiftraliven 
Eingriffen und die Ausftattung ber Selbjtverwaltungsorgane mit 
den nötigen Machtvolllommenheiten zur felbjtändigen Erfüllung 
ihrer Obliegenheiten, unerläßlid erideint, um gelunde Zuftände 
zu Schaffen. 

Denn in Vorftehendem das politifch-abminiftrative Gebiet 
umgrenzt ift, das einer bringenden Neform bebarf, fo gibt es noch 
allgemeine Rechte, deren Verwillichung mit ber Sehnfucht bes 
Voltes zufammenfällt, — das ift die freiheit des religiöfen Ger 
mifjens, ein Poltulat, welches außerhalb aller politiihen Erwä— 
gungen liegen müßte unb längft als reif anzujehen ill, — ber 
Schutz ber Perfon durch Gefepe, welche die Beamten in private 
rechtlicher und frimineller Hinficht durch richterlihen Sprud für 
ihre amtlichen Handlungen haftbar machen, und endlich bie Frei» 
heit der Lehr: und Lernſprache, welche, unbeichadet der Anforde 
rungen, die bie Reichsſprache ftellt, den Eltern geftattet, ihre 
Kinder in der Mutterſprache zu erziehen. 

Hier wäre die Grenze defien, was von der Staatsregierung 
erbeten werden könnte; was jenfeit® liegt, berührt bie Pflichten 
der oberiten Staatsgewalt: ber eigentliche und hauptlächlichite 
Dirfungstreis des Adels, der fi bewußt ift feiner Aufgaben und 
feiner Kraft, die provinzielle Selbitverwaltung, als Trägerin eines 
meiteren Staatsausbaues, ſegensreich zu führen, und von biejer 
Erfenntnis geleitet ſich ſelbſt die Grenze jeiner Wünſche ſetzt, — 
und bort das allgemeine, autoritäre Neidhöprinzip, von bem auf 
Grund der Traditionen und auf Grund ber großen Verantwortung, 
melde ihr bes Reiches Wohl auferlegt, erwartet werben muß, daß 
es bie Jnitiative zu richtiger Zeit ergreifen wird. 

ſch bitte Sie die Ditunterzeichner der von Ihnen dem 
Herrn Minifter des Innern übergebenen Denkſchrift, ſowie auch 
bie Teilnehmer ber allgemeinen Moskauer Abelsverfammlung von 
diefer meiner Darlegung in Kenntnis zu fegen, und beehre mic) 
binzuzufügen, daß bei meiner bevorfiehenden Anmelenheit in der 
Nefidenz ic) bem Herrn Dinifter des Innern von dieſem Schreiben 
Mitteilung machen werbe. 





Genehmigen Sie uſw. 
(Folgt bie Unterfchrift.) 


Bemerkungen zu U. Zobien’s Aufſaß über die Minimal- 
und Marimalbeilimmungen des bäuerlihen Grundbeiges 
in Livland. 





3" Märgheft diefer Monatsichrift hat Alerander . Tobien die 
Minimal- und Darimalbejimmungen über den bäuerlichen 
Grundbeſitz in Livland in jeilelnder und anregender Form einer 
Kritit unterzogen, in wieweit fie bei ber bevorftehenden Grund: 
fteuerreform in Livland reformbebürftig jeien. Der Verfafler wendet 
fid haupiſichuch gegen bie Beftimmungen der fivländijchen Bauer- 
verordnung von 1860 OPEL. 114 u. 223), welche bie Teilung eines 
Bauerlandgrundftüdes in Parzellen, die den Tarwert von Ys Hafen 
= 10 Tulern nicht erreichen, verbieten. Hiergegen ſchiägt er vor, 
das zu firierende Minimum eines Bauerlandgrundſtückes nur auf 
das Stammgrundftüc zu beihränfrn, den Überſchuß aber zur 
beliebigen Parzellierung freisugeben. Da es fid hier um eine 
wichtige Frage der agraren Entwilung unires Bauernftandes 
Handelt, jo jei es mir geitattet, zumal ich unter einer großen 
Bauerſchaft lebe, zu dieſer Frage, vom Gejichtspunfte der vealen 
Verhältnifie aus, Stellung nehmen zu bürfen. 

Tobien hat in jeiner Abhandlung hauptſächlich bie Frage 
der Anfiedlung von Yandarbeitern auf dem Banerfande ins Auge 
gefaßt, und id) fann dieſem Gedanten umfomehr beiftimmen, als 
die jüngfte Vergangenheit wohl gezeigt hat, daß den Ausführungen 
Tobiens über ein ſich bildendes landiſches Proletariat die erniteite 
Aufmerffamfeit zuteil merden muß, zumal gerade die in den 
Bauerwirtſchaften übliche Hnltung von jog. Sammerlingen (Saifons 
arbeitern, die gewöhnlid nur für das Sommerhalbjahr engagiert, 
im Winterhalbjahr auf den fid gerade bietenden Lerbienit anger 
wiejen find) leicht zu ſolchen Mißſtänden führen kann, bejonders 
wenn im Winter keinerlei Arbeitsgelegenheit vorhanden ift. Jedoch 








418 Bemerkungen zu A. Zobiens Auflag. 


aud in einer andren Beziehung unferes bäuerlichen Lebens find 
die bisherigen Bejtimmungen über das Minimum hinderlih. Wie 
befannt hat ſich die hauptiächlihe Ablöfung des Bauerlandes in 
Livland während einer Zeit landwirtſchaftlichen Gebeihens dieſer 
Provinz abgeipielt, wodurch nicht nur dieſe Ablöfung ſich vers 
hältnismäßig ſchnell vollzog, ſondern auch in weiterer Folge, ber 
fördert durch die Gunft der Zeiten, eine Generation wohlhabender 
Grundeigentümer entftand. In ben jüngiten Zeiten aber, wo ſchon 
eine neue Seneration ala Erben diefer erſten Käufergeneration an 
die Stelle getreten it, macht fi eine immer jtärfer werbende 
Verſchuldung der Bauerlandgrundjtüde geltend, veranlaßt durch 
Erbteilungen und verihärft mod durch eine Reihe von ſehr uns 
günftigen Erntejahren. 

Um fid den hieraus entjtehenden Kalamitäten möglichjt zu 
entziehen, glauben folde verfchuldete Sleingrunbbefiger vielfach 
beffer zu fahren, wenn fie die Mirticaft in eigener Regie auf: 
Löjen, ihr jämtliches landwirtſchaftliches Inventar verfaufen und 
igre Grundftüde auf Geld- oder Halbfornpadt vergeben, wobei 
wohl der Gebanfe maßgebend ift durch den nicht unbebeutenden 
Erlös für das verfaufte Inventar vielleicht die läſtigſten Schulden 
abſtoßen zu fönnen. In den meilten Fällen behält num ein folder 
Kleingrunbbefiger foviel Land zurüd, als er mit einem Pferde be: 
arbeiten kann. Der in Pacht vergebene Teil des Grundjtüdes 
wird nun nicht auf lüngere Zeit verpachtet, wogegen burdaus 
nichts einzuwenden wäre, fondern meiftenteils auf nur ein Jahr, 
wodurch biejer Teil bes Grundſtückes ein Objeft des Meijbotes 
je nad) den betreffenden Ernte: und Preisfonjunfturen wird und 
dur den hierdurch verurfachten bejtändigen Wechſel der Pächter 
bald vollftändig beterioriert ift, da ſchon im mohlverftandenen eigenen 
Intereffe und gezwungen durch das Umfichere feiner Zukunft der 
jeweilige Pächter bejtrebt ift den größtmöglichen Nuten mit dem 
geringiten Aufwande aus der fremden Scholle zu ziehen. Kommen 
nun ſchlechte Zeiten und finden fid entweder feine Pächter für 
das ausgejogene Sand mehr, ober zu jo unvorteilhaften Ber 
dingungen für ben Veliger des Grundſtückes, daß biejer feinen 
Verpflichtungen nicht mehr nachkommen fann, fo wird er fein 
ererbtes Grundſtück mohl aufgeben müflen. Käufer für ein foldes 
Grundjtid fann aber nur ein fapitalfräftiger Mann fein, nicht 
nur weil ber Raufpreis bes Grunditücdes und bes erforderlichen 
Inventars einen Aufivand von Taufenden von Nubeln beanſprucht, 
jondern weil in einem folhen Falle der Verluſt einer mehrjährigen 


Bemerkungen zu X. Tobiens Aufſat. 419 


Rente und der Aufwand für Nemeliorationen zu tragen iſt, To 
daß ber Kreis der Käufer ein fehr begrenzter ift. Meiſtenteils 
find diefe Käufer wohlhabende Grundeigentümer aus der eigenen 
Gemeinde, da dieſe vielfad) die Hauptgläubiger find. So ent 
widelt fih ganz allmählig ein Prozeß der Auſſaugung, weldem, 
wenn ihm aud) Grenzen dur die Beflimmungen über das 
Marimum in der Vauerverordnung gezogen find, dad) Bedenken 
Sozialer Natur entgegenitehen müßten, umfomehr als. unfere Agrar- 
gelepgebung nicht dahin intendierte, daß eine zahlreiche Klaſſe 
ſolcher Großbauern entjtände, fondern daß ein Bauernjtand geſchaffen 
würbe, der im wahren inne bes Wortes ein Landbauer ift und 
der durch feiner Hände Arbeit ſich und feiner Familie eine geficherte 
Eriftenz ſchafft. 

Betrachten wir den oben angegebenen Fall, daß der Inhaber 
eines bäuerlichen Grundftüds nur einen Teil jeines Landes zur 
Eigenbewirtihaftung ſich vorbehält, fo joll dieſer Teil des Grund» 
ſtückes dem Befiger und feiner Familie den Lebensunterhalt ge: 
währen, während der andre Teil dazu dienen ſoll. für Zins- und 
andre Gelbverpflichtungen aufzukommen. Griteres wird, wenn der 
vorbehaltene Acer nicht zu Mein ift und da es gewöhnlich ber 
befte Boden iſt, wohl fait immer ber Full jein, ob aber lepteres 
nad) den oben dargelegten Puchtverhältnillen den Grunbbefiger, 
aud für alle Zukunft, bezüglid feiner Verpflichtungen ſicherſtellt, 
iſt mehr als zweifelhaft. Jit es daher num nicht einleuchtend, 
daß es in foldem Falle, fowohl für den bäuerlichen Grundbeſiher, 
als aud) für die in praxi bereits alienierten Teile des Grund: 
ftüdes beſſer wäre, wenn dieje aud) faktiſch abgelöft werben könnten. 
Nicht nur würde hierdurch ber betrefiende Grundbefiger bares 
Kapital fid) beſchaffen fönnen, um feine Verpflichtungen abzuftoßen, 
ſondern er würde auch bei Verkauf kleinerer Parzellen einen viel 
höheren Preis für fein Land erzielen können, als bei Verkauf bes 
Geſamtgrundſtückes, umjomehr als ber Kreis der Intereilenten ſich 
naturgemäß vergrößern würde. Daß eine immer mehr jteigende 
Nachfrage nad Kapitalanlagen in Grund und Boden bei der 
landloſen Vevölferung vorhanden iſt, beweilt fchon der Umjtand, 
daß die Bildung fleiner Siedlungen, ſog. Flecken oder Hackelwerke, 
auf dem flachen Lande immer mehr zunimmt, eine Erſcheinung, 
die für unire Landwirtſchaft dasjelbe bedenkliche Moment hat, wie 
ber Abzug der landiſchen Vevölferung in die Städte, da auch die 
Bewohner diejer Siedlungen, welche vielfach in der Nähe der Eiſen— 
bahnitationen liegen, ſich bald der Landwirtſchaft zu entfremden 


1 Bemerkungen zu A. Tobiens Auffat- 


pflegen. Hierbei muß auch des Umftandes Ermähnung geichehen, 
daf derartige Gieblungen aud auf das Bauerland überzugreifen 
beginnen, welcher Umftand, da nad) ben bereits zitierten Bes 
ftimmungen unfrer Bauerverordnung über das Minimum ſolche 
höchſtens eine Lofitelle (0,90 Hektar) große Parzellen nur auf 
Zeitpacht vergeben werben können, für die Erbauer von Häuſern 
auf ſolchen Parzellen in Zukunft zu den gefährlichiten Ronfequenzen 
bei Befigwechfel im Dauptgrundftüd führen fann. 

So reformbebürftig jomit, nach den oben dargelegten Fällen 
aus dem praltiiden Leben, die Beitimmungen unſrer Bauerver: 
ordnung hinfichtlich des Minimums bäuerlichen Befiges fein mögen, 
und fo jehr ich daher mit Tobien in dieſer Beziehung überein« 
ftimme, fann ich jedoch nicht umhin, mid; gegen den Vorſchlag 
Tobien’s, das Minimum des bäuerlichen Grunbbefiges, entgegen 
den Beitimmungen ber livländifhen Bauerverordnung, auf das 
doppelte Maß, d. h. auf 20 Taler Landwert feitzulegen, aus: 
zuſprechen. 

Tobien ſtützt ſich hierbei auf ein Gutachten, das ber ehe 
malige Bräfibent der Dfonomifden Sozietät, Landrat Eduard v. 
Dettingen zu Ienjel, auf Bitte des verjtorbenen Gouverneurs von 
Livland General Sinomjew im I. 1895 verfaßt hat und das ben 
Nachweis führt, daß bie Selbftändigfeit und das wirtſchaftliche 
Gedeihen einer bäuerlichen Familie von jede Köpfen durch ein 
Grundftüd von im Ganzen ca. 114 Lofitellen Areal mittleren 
Bodens im Landwerte von ca. 20 Talern am beiten gewährleiſtet 
wird. Gegen das hier gewonnene Nefultat kann um jo weniger 
etwas eingewanbt werben, als es übereinitimmt mit dem, wenigitens 
für Norblivfand, tupiihen Bauerlandgrundftüd, das fogar in Folge 
der fait durchgängig niedrigeren Taration an Landareal größer üt. 
Jedoch muß hierbei im Auge behalten werben, daß zur Zeit, in 
der biefes Gutachten verfaßt wurde, die öfonomiiden und ſozialen 
Grundlagen ber Landwirtichajt in einem großen Teile Livlande 
andre waren, als fie es heute find. Damals hatte ber ftarke in« 
induftrielle Aufſchwung Rigas ſich nod nicht bis weit hinein in 
das flache Land durch den bald darauf eintretenden Abſtrom von 
Arbeitskräften bemerkbar gemadıt ; noch waren bie Eijenbahnlinien 
von Walk nad Bernau, Fellin, Neval, Marienburg, Stodmanna 
hof nicht erbaut worden und daher Arbeitskräfte für die Land— 
wirtſchaft reichlich und billig vorhanden. 

Infolge der durq die Eifenbahnen erleichterten Freizügigkeit 
iſt häufig mander bäuerliche Grundeigentümersfohn nicht mehr 


Bemerkungen zu U. Tobiens Aufab. aa 


gewillt in alter patriarchaliicher Weile bem Vater koſtenlos bei der 
Bewirtihaftung des Grundftüdes Arbeitsdienite zu leiten, zumal 
wenn er nicht der zukünftige Erbe it und Stellungen mit höherem 
Gehalte und leichterer Arbeit in ben Gtäbten ober auf den Eijen- 
bahnen zu finden find. Zur Bewirtihaftung eines bäuerlichen 
Grundftüdes von 20 Talern Landwert find incl. Tierhaltung 
mindeftens vier Perjonen erforderlich. Stehen dem Befiger eines 
ſolchen Grunbftintes feine arbeitsfähigen Familienglieder zur Ver 
fügung und iſt etwa jeine Frau durch Meine Kinder an einer 
Arbeitsbetätigung verhindert, fo mũſſen drei bezahlte Kohnarbeiter 
ober Arbeiterinnen gehalten werben. Zieht man hierbei in Be— 
tracht, daß ber Lohn der von den Bauern fait ausnahmslos ge: 
haltenen unverheirateten Arbeiter (wenigitens in hiefiger Gegenb) 
um fait hundert Prozent geſtiegen ift, jo liegt es auf der Hand, 
daß der für eine ſolche Wirtſchaft errechnete berfanh faum aus ⸗ 
reichen dürfte, dieſe Ausgaben zu decken. Dieſes wird auch viel- 
jach als Grund angegeben, daß ſich ber früher beſchriebene Modus 
ber Verpachtung immer mehr ausbreitet und zwar gerade auf 
größeren bäuerfihen Grunditüden, die naturgemäß bei der Eigen- 
bewirtichaftung gagierter Arbeitskräfte nicht entbehren dürften. 
Indem ich mic) nun wieder ber frage des Feitjegung des 
Minimums bäuerlihen Grundbejiges zumwende, jo muß zunächſt 
nad der von Tobien gegebenen Tabelle über die Größe ber 
bäuerlichen Grundjtüde konſtatiert werden, daß es doch in Livland 
1274 Grunbjtüde unter dem Landwerte von zehn Talern gibt, 
eine Zahl, welche, trogbem dieſe Grundſtücke nur 5,12 pGt. der 
Geſamtſumme ausmaden, durch ihre relative Größe dafür ſpricht, 
daß ſolche Grundſtücke ihre Lebensfähigfeit erwiefen haben. Daß 
die im Landwerte größeren Grundftüde überwiegen, liegt meiner 
Anſicht nad nicht nur in ihrer eine günjtigere öfonomifche Grund« 
lage gemwährenden Größe, fondern weit eher in ihrer Hiftoriichen 
Eutwidlung begründet. Während der Frohne war jeder Nupnieher 
eines bäuerlidhen Grundſtücks bejtrebt, eine möglichſt große Anzahl 
von Arbeitern auf jeinem Grunditüde nod) den Gehorch für das 
Nittergut zu leiten hatte; mithin hatte ber Frohnbauer gegenüber 
den heutigen grundbefiglihen Bauern das doppelte an Arbeitern 
und Arbeitstieren zu unterhalten, und diejer Umſtand ſchloß es 
fait aus, daß fich Wirtfchaftseinheiten bilden fonnten, die nicht 
mindeftens einer größeren Familie die Eriftenz ermöglichten. Die 
Tatſache, daB es unter den heutigen Verhältniffen durchaus mög: 
lich ift, auf Grundſtücken unter 10 Talern cine geſicherte Eriftenz 


122 Bemerkungen zu A. Tobiens Aufſah 


zu führen habe id) auf meinem Gute f. 3. ſ. beftändig unter den 
Augen. on bem Hofeslande bes Gutes Abia find in den ſechtiger 
Jahren des vorigen Jahrhunderts 26 KHofeslandparzellen durch 
Verkauf in bäuerlice Hände übergegangen, von denen bie einjten 
einen Landwert von fünf Talern haben, bei einem Areal von 
ca. 50 Loſſtellen. Trogdem nun diefe auf minderwertigem Boden 
(verbrauchten Bufchländereien) feinerzeit fundiert worden find und 
ihren Befigern feinerlei Nebenverdienjte durch bie Nähe größerer 
Waldfomplere 2c. gewähren founten, find fie fait ausnahmslos 
ſchuldenfreier Beſih (menigitens dem Hauptgute gegenüber) der 
weiten Generation. 

Nach dem oben bargelegten glaube ich wohl die Berechtigung 
zu haben, mich jtrift gegen die Vorjchläge Tobien's ausipreden zu 
dürfen, das bisherige Minimum des bäuerlichen Grundbejiges, 
noch weiter zu erhöhen, indem ich hierbei mir erlaube die Dieinung 
zu vertreten, daß es angebrachte und dem bänerlichen Verftändnis 
angepaßter fei, bei ber bevorftehenden Grundſteuerreform das 
Minimum des bäuerlichen Grundbefiges nicht nach dem Tarwerte 
feitzuiegen, ſondern, nad Analogie der Beilimmungen unjres 
Provinzialrechts für die Dlinimalgröße der Nittergüter, im Areal 
zu beſchränken. Als jolches würde id) 60 Lofitellen vorzuſchlagen 
mir erlauben, wobei ber Acker mindejtens ein drittel, = 20 Lofr 
ftellen, umſaſſen müßte. 

Hierbei fann ich nicht umhin aud) das proviſoriſche Quoten 
geleg von 1893 in meine Betrachtungen hineinzuziehen, da meine 
Darlegungen vielleicht geeignet fein fönnten, die praktiſche Der- 
wertbarfeit besielben für unjre agraren Verhältniſſe zu unter 
ftügen. Wenn Tobien in feinem Aufiage eine möglichite Vers 
miſchung verfdiebeufter Grundbefigtupen als Ideal der Eigentums: 
verteilung bezeichnet, fo ftimmen mit ihm hierin auch Die ber 
deutendften Autoritäten Wefteuropas auf agrarem Gebiete überein. 
Auch ic) glaube das Gedeihen der von mir oben angeführten 
Heinen verfauften Hofeslandparzellen gerade dem Umſtande zu: 
ſchreiben zu müllen, daß fie mitten unter den größeren Bauerland- 
grundftücen verteilt liegen, wobei id) nur himweije auf die dadurch 
gegebene Diöglichfeit des Sichergänzens zwiſchen Kleinbauer und 
Großbauer, einerjeits durch Arbeitshilfe, anderfeits durch verbeflerte 
Adergeräte. Das Gefeg von 1893 bezwedt aber gerade das 
Gegenteil, indem es dieſe Nleinbetriebe möglichſt auf eine Land— 
fategorie, bie Quote, beichränfen will. Welche Folgen aber eine 
von ähnlichen Geſichtspunkten geleitete Landverteilung für die 


Vemerkungen zu A. Tobiens Auffap- 428 


bãuerliche Vevölferung in den inneren Gouvernements gehabt hat, 
braucht Hier nicht weiter erörtert zu werben. ebenfalls muß 
fonitatiert werben, daß dieſes Gejeg bisher hier feine praftiiche 
Erfolge erzielt hat, was um jo weniger wunder nehmen kann, 
als frühere Verſuche nad) dieſen Gefichtepunften einen Teil der 
Domänenländereien zu verteilen, als jog. Seelenländer, in jeder 
Beziehung unbefriedigende Refultate ergeben haben. 

Gfeichzeitig möchte id) noch hervorheben, daß das Gejeg von 
1893 in einer Beziehung leider hemmend in unfre agrare Ent 
widlung eingegriffen hat. Aus ber von Tobien am Schlufie 
feines Aufſahes gegebenen Tabelle erfieht man, daß in Livland 
außer 208,703 Xofftellen Quotenland noch 198,621 Lofitellen 
Hofesland meiftenteil® in bäuerlichen Befig übergegangen find. 
Eine Addition ergiebt, daß fomit die Summe diejer beiben Poften 
faft gfeich ift dem unverfauften Quotenlande. Nachdem nun durch 
das Gejeg von 1898 ber Verlauf ber Quotenlänbereien ben bes 
fannten Beichränfungen unterworfen worden, wird dieſes mohl 
aud) auf das Hofesland bezüglich feiner Verfäuflihfeit zurüdger 
wirft haben und ſomit einen fich vollziehenden Ausgleich zu 
Sunjten des Kleingrundbefiges, zum mindeflen in ber Zeit jeiner 
Geltung, verhindert haben. 

Charles v. Stadelberg. 
Abia, April 1905. 


3 


Von Tage. 


Briefe vom Embad. 


is Mai 1905. 
Win in unfrer Stadt ber Streif ſih giemlich zahın gebübrbete 

und, von einigen unvermeiblien Ausjcjreitungen abgefehen, 
in den gehörigen Grenzen blieb, haben ſich auf dem ſlachen Lande 
Zuftände entwicelt, auf die der Name „Streit” von Nechtswegen 
nicht mehr angewendet werden follte. Es ijt unglaublich, welch 
eine Verwirrung der Begriffe bei einem Teil der Landbevölferung 
Viab gegriffen bat. Cin abfoluter Mangel an Rechisgefühl läßt 
dieje Leute nicht nur jchwer oder garnicht zu erfüllende Forderungen 
aufftellen — er verleitet fie aud) zu Drohungen und Gemalttätige 
teiten, ja ſelbſt zu direft verbrecheriichen Handlungen. Eine all- 
gemeine Unficherheit herricht im Lande, die ſich hier und da in 
gerabezu anarchiltiihe Formen kleidet. Unwillkürlich bräugt ſich 
die Frage auf, ob hier überhaupt noch eine Obrigkeit waltet, bie 
für Ordnung und Schug eintritt, ober ob jenen zügellofen Ele 
menten das Feld überlaſſen werden fol. 

Selten iſt der Urfprung einer Bewegung fo klar nadzu: 
weifen gemejen. Selten hat e& ſich ereignet, daß fie To gejahr- 
drohenbe Dimenfionen annehmen fonnte, ohne aus den gegebenen 
nationalen oder jozialen Tiefen emporgewachlen zu fein. Die Tat: 
fahe muß feitgeitellt werden, daß den Vorgängen, die jih in 
unfven Provingen und fpegiell in unfrer Gegend abipielen, diele 
nationale oder foziale Bafis durdaus fehlt. Es handelt fich einer- 
feits um eine fünftlid) hervorgerufene Erregung, für welde Agir 
tatoren, die mit unſren provinziellen Verhältniifen meiſt nichts zu 
tun haben, bie Verantwortung tragen ; anderfeits lediglich um Die 
Wirtung des Echos, das von ben Ereigniſſen im Innern Ruß: 
lands zu uns herübergetragen wird. Nicht in den Zuſtänden bei 
uns zu Lande ijt alfo die Schuld und die Erklärung für das zu 
ſuchen, was wir in der legten Zeit durdlebt haben. Auch nicht 








Bom Tage. 425 


der kleinſte organifche Zufammenhang beiteht zwiſchen ben allge: 
meinen baltischen Xgrarverhältniiien und dem Auffladern einer 
gegen alle Orbnung fi auflehnenden Empörung. Cs ift vielmehr 
alles Mache, alles auf Zwecke zugeichnitten, denen unfre Bauern 
vollftändig fremd gegenüber ftehen und deren Kenntnis fie bedeutend 
ernüchtern würde — jdon weil die erſtrebten Ziele mit ihrer 
Wohlfahrt und der eventuellen Beijerung ihrer Lage garnichts 
gemein haben. Die Formen, in denen der fog. „Streit“ ſich bisher 
bewegt hat, find meift derart, daß es durdaus verfehlt ift, in 
feinen Vertretern eine gleihberechtigte Partei zu erbliden, mit der 
man unter Umjtänden paftieren fann. Es liegt im Intereſſe des 
eſiniſchen Voltes felbit, daß jene Unruheſtifter von ihm abgejondert, 
daß bie einen mit den andern nicht zujammengeworfen werden. 
Die Bauernſchaft als jolde ift mit den Anjtiftern der Tumulte 
durdaus nicht zu identifizieren. Zwar gehören die Schuldigen ihr 
an, doc) darf die Yauernchaft als Gejamtheit nicht verantwortlich 
gemacht werden. Eine ſoiche reinlihe Scheidung entipridt den 
Tatfahen und muß den ruhigen Elementen unter der Landbe ⸗ 
völferung ſympathiſch jein. Damit fallen aber aud) alle fentimens 
talen, pieudopolitiichen Erwägungen, die nur zu ſchwächlichen und 
halben Dlahregeln führen fönnen. Da die etwa vorhandenen 
nationalen und jozialen Gegenjäge nicht den Ausgangspunft bilden, 
werden fie auch von der Art, wie die Unruhen beurteilt und bes 
handelt werben, tatſächlich nicht berührt. Nichts iſt fulicher als 
die Annahme, daß derjenige, der für die enorgiſche Bekämpfung 
des grafjierenden Unweſens eintritt, an der Verihärfung jener 
Gegenfäge arbeite. Wenn dem jo wäre, dann dürfte fonjequenters 
weile fein eſtniſcher Dieb eingeiperrt, fein ejtniicher Verbrecher 
abgeurteilt werden. Dann jtände die ganze Verweltungsmajchine 
il. Schon jept herrſcht in den von den Agitatoren beſchwahten 
reifen des Landvolts vielfach die Anficht, die Regierung billige 
ihre ungefegliches Vorgehen, ja fie ſtehe auf die Seite der Un 
ruheftifter. Wenn man ſieht, weld ein geringes Maß von 
Schneidigfeit die Erefutivorgane bei der Bekämpfung ber Unruhen 
aufwenden, dann kann das Entjtehen und das hartnädige Fort: 
leben folder Anfhauungen feineswegs wunder nehmen. 

Die Angegriffenen ſelbſt find in einer höchit prefären Kage. Der 
einzelne Gutsherr ober Verwalter ift eben nicht imftande, nach— 
drũcklich und mit Erfolg die Zumutungen einer zu Allem fähigen 
Menge abzulehnen. Cs ift daher dringend notwendig, daB in 
irgend einer Form eine Einigung herbeigeführt wird, die einerfeits 
gegenfeitigen Schuß verbürgt, anderfeits ein Maximum für die 
etwaigen Zugeftändniffe feitiegt, über das ſchlechterdings nicht 
Hinausgegangen werben darf. Cine einheitliche Negelung für bie 
ganze Provinz erſcheint nicht realifierbar, weil die agraren Ver 





226 Som Lage 


hältniffe in den einzelnen Teilen bes Landes zu weit von einander 
abmeichen. Durchaus möglich aber und bei einigem guten Willen 
ganz entſchieden durchzuſehen wäre eine Vereinbarung ber Einges 
feflenen eines jeden Kreiſes für fih. ‚Sie haben bie gleichen 
KRontrafte mit den Landarbeitern; ihre Beziehungen zu den Leuten 
ruhen im wefentlihen auf der gleichen Bafis — furz, es märe 
nicht zu ſchwierig, auf diefer gemeinsamen Grunblage ein energiiches 
Vorgehen in Szene zu ſeten. Tie Schwäche bes Einzelnen — 
fie fei entichulbbar oder nicht — wirft mit dem Schwergewicht 
eines Präzebenzfalls auf die ganze umliegende Gegend und zieht 
Ronfequenzen nad) fi, bie bei verjländiger, ſyſtemoliſcher und ein: 
helliger Marjchroute vermieben werben fönnten. Wie bie Ber- 
hältnijie im Augenblick bei uns liegen und angefidts der nächſten 
Bufunft, müßte ſich die Durchführbarfeit einer fo abfolut notwens 
digen Maßregel von felbit veritehen. Was ber einzelne etwa 
opfert, verſchwindet vor dem gemaltigen Vorteil, den die Allge- 
meinheit bavon hätte und ber dem Einzelnen doch wieder zugute 
fäme. Hier wäre eine Gelegenheit, einen Beweis von Stärke zu 
geben, der über die traurige Veranlafjung hinaus nad) Außen und 
Innen Frucht tragen dürfte. 

Die erfle Vorausjegung beim Anfajlen ber ganzen Frage 
ift die Mare Einfiht in den Urjprung und das Weſen ber Be 
megung. Sobald vorfichtige Polilik getrieben, hier nicht verlegt, 
dort nicht angejtoßen werden joll, — dann ift jedes weitere Mort 
überflüifig. Von einer Zuipigung innerer Gegenfäpe darf bort 
feine Rede fein, wo cs fich einfah um Aufrechterhaltung ber 
öffentlihen Ordnung und um den Schug von Xeben und Eigen- 
tum handelt. Die Leute, gegen die man ſich wendet, fönnen 
natürlich nicht als die Vertreter ihres Volkes gelten, und werden 
nicht als folche bekämpft. Cs iſt die Geieplofigfeit, bie Willkür, 
das gemeingefährlihe Verbrechen, das befämpft werden muB. . . 

* ” 
* 


In der legten Zeit hat der „Poſtimees“ bie politifchen 
Münfche feiner Partei veröffentlicht. Cie bilden ein buntes Ge- 
mijch radifafer und nationaler Färbung. Im einzelnen ſoll hier 
nicht auf fie eingegangen, ebenfowenig ber Verſuch unternommen 
werden, ben berechtigten Kern aus der üppig wuchernden Um— 
hüllung herauszuſchälen. Nur die interefjante Tatſache fei kon— 
itatiert, daß dies Programm der eſtniſchen radifalen Partei aud) 
infofern lebhaft an das der entipredhenden Iettifdhen Gruppe ere 
innert, als die Eriſteng eines beutihen Elements im Lande voll 
ſtändig ignoriert wird. Cs ift einfad) nicht ba. Das ift natür- 
lich fer bequem, aber fortgeichafft wird dies Element dadurch denn 
doc) nicht. In der Tat: eine Löſung von verblüffender Einfachheit! 


Bom Tage. [24 


Nur ſchade, daß hiftorifch gewordene Zuftände durch eine Feber- 
ftrich nicht vernichtet werben fönnen. Die eftnijche Intelligenz, die 
das baltifche Deutichtum zum Tode verurteilt, wird nach wie vor 
mit biejem zu rechnen haben. Möglich, daß fie einmal in bie 
Lage fommt, ihre Haltung gerade in biefer Frage als politiihen 
Fehler zu bedauern. Vielleicht wäre es Hüger vom „Poſtimees“ 
gewefen, die Veröffentlichung dieſer „Wünſche“ zu unterlafien. 
Wie es ſcheint, hat er ihre Publizierung für feine journaliftifche 
Pflicht gehalten. — — — 

Die Unfihten über die Pflichten der Preſſe gegen bie 
Offentlichleit find eben verſchieden. Ich bin ber Meinung, daß 
unfre deulſche Zeitungen ihrerfeits nicht übel daran täten, ihr 
Arbeitsfeld weniger ängitlic zu befchränfen. Gegenftände, die 
in weiten reifen lebhaft beiprodyen werben, erwerben dadurch ben 
Anſpruch aud von ben Zeitungen beadjtet und durch fie ber öffent- 
lichen Dioluſſion zugeführt zu werben. Zumal wo es fih um 
öffentliche Dinge handelt. Ich Habe diesinal etwas beftimmtes im 
Auge. Seit einiger Zeit wird allgemein behauptet, und zwar von 
Perſonen, denen eine gewiſſe Orientiertheit zugetraut werden barf, 
daß der Plan beitehe, auf den biefigen Domanlagen, in ber Nähe 
der Muine und des fleinen Erfriihungshänschene — mit andern 
Worten: im ſchönſten und befuchteiten Teil der Anlagen — den 
Neubau einer Mlinit aufzuführen. Die Zeitungen haben bisher 
darüber geichwiegen. Und dach it hier zweifellos die Veranlaſſung 
zu einer öffentlichen Beiprechung gegeben. Nicht nur jeder Yürger 
unfrer Stadt, nicht nur jeder, der als atademiſcher Bürger die 
ſchönſten Jahre feines Lebens in ihren Mauern verbracht hat, — 
ich möchte jagen: jeder Sohn unſrer Provinzen, der je zu 
der allen Domruine geftanden und in ben jchalligen Gängen ger 
manbelt, deren prädhjtiger Schmud fie ift, muß es als eine Dlins 
derung jeines moraliſchen Vefiptums empfinden, wenn er hört, daß 
biefe während eines Jahrhunderts jorglam gepflegten Anlagen aufs 
pielätlojelte eingeengt, ja geradezu zerflört werden follen. Was 
lich vom ganzen fog. „Dom“ nah? Dan er 
widert: ein kliniſches Gebäude dient der Wiſſenſchafi, feine Aufr 
führung liegt im wijenfchaftlichen Intereſſe, es ift daher billig, 
bdiefem wiſſenſchaftlichen Intereſſe andre etwa entgegenjtehende 
Interefien unterzworbnen. So ill die Sache nun feineswegs 
anzufehen. 

Eine init dient gewiß der Wiſſenſchaft. Daß fie aber 
gerade dort erbaut werden joll, wo ſie andre, durchaus gleichber 
rechtigte Jutereſſen aufs Ichwerite fhädigt, daran kann der Wifjens 
ſchaft garnichts gelegen fein. Der einzige Geſichtspunkt, der dafür 
angeführt werben fann, it ein rein finanzieller: die Koften für 
den Yaugrund fallen fort, da er ſchon jept der Univerfität gehört. 














28 Bom Tage 


Dadurch wird die Situation mit einem Schlage geklärt. Dieſes 
Erfparniffes wegen foll uns die nächſte Umgebung der Ruine felbit 
verbaut, der beliebtefte und — menigitens innerhalb ber Stabi — 
fo gut wie einzige Spazierweg verfümmert werden. Wahrlich ein 
Zeichen, mit welcher Nüdfichtslofigfeit und mit welchem winzigen 
Aufwand von Verftändnis für die Jmponderabilien unfrer Heimat 
bei uns vorgegangen wird. Sollte das Projeft zur Tat werben, 
bann wäre es das glängenbite Bravourtüd jener am grünen Tiſch 
dominierenden Yureaukratie, der in der lepten Zeit fo viele frennb- 
liche Worte gewidmet worden find. Schon mandyes ift ja bei uns 
vorgefommen, was einen mit gelindem Graufen erfüllen fonute. 
Ich erinnere nur an die Krönung ber Domruine mit dem — 
freilich gotiſch filifierten! — hölzernen Aufbau im Dienfte ber 
Waſſerleitun Die Sache ſieht ſchauderhafi aus und das herz 
menbet ſich m angeſichts dieſer Verunſtaltung des ehrwürdigen 
Doms im Leibe um. Und doch läßt ſich der Mißbrauch und bie 
äfthetijhe Mikhandlung des alten Mauerwerks vom praftifchen 
Standpunkt aus gewillermaßen rechtfertigen. Es wurden nicht 
nur bedeutende Geldmittel eripart, jonbern bie wichtige Einrichtung 
hätte wahrſcheinlich unterbleiben müffen, wenn man auf dies Aus: 
funftsmittel verzichtet hätte. Davon ift jegt nicht die Rede. Die 
Klinik wird auf jedem Fall gebaut, ber finanzielle Aufwand mag 
geringer oder bedeutender fein. Und fie fann natürlich auf jedem 
beliebigen Plag in der Etabt gebaut werden, während in jenem 
Fall die Brauchbarkeit des Baues von jeiner Lage und vor allem 
von feiner Höhe abhing — Erwartungen, die bei dem projeftierten 
kliniſchen Gebäude nicht ins Gewicht fallen. Es wäre eine ftarfe 
Leiftung bureaufratiicher — fagen wir: MWeltfremdheit, wenn der 
Plan in ber beabfihhtigten Weile realifiert würde. Vielleicht wird 
der Zeitpunkt Hierfür durd die auf dem ganzen Reich laflenden, 
ſchweren Zuftände hinausgeichoben, in denen größere Ausgaben für 
andre als Ariegsjwede fi) von felbjt verbieten. CErmogen aber 
wird das Projeft in ben betreffenden Kreifen icon feit einiger 
Zeit. Es ſchwebt drohend über uns, und Alle, denen bie Ers 
haltung des „Doms“ am Herzen liegt, fönnen nicht nachdrücklich 
genug ihre Stimmen erheben, um, wenn irgend möglid, die Vers 
wirklihung diefes verderblichen Anſchlags auf feine Integrität zu 
verhindern. u 














Im Spiegel der Preffe. 
April / Mai. 





12. April. 


ie „Peterburgsfija Webomofti” erflären die Gleichgültigkeit der 
& ruffiichen Geſellſchaft gegegenüber den vielfahen Reformprojeften 
der leitenden Organe für ein Zeugnis ber politifchen Neife dieſer 
Gefelichaft. _Dielem Ausipruche liegt wohl der Gebante zugrunde, 
daß bie ruffiihe Gefellihaft, die augenblidlihe Handhabung refor- 
matorifcher Ideen für Spiegelfechterei haltend, ein erneutes Er— 
eignis, welches das jegige reformatorifche Spiel wieder in Ernſt 
vermanbele, abwarten will, um auch ihrerfeits den geziemenden 
Ernft aufzuwenden. Tas Dißtrauen, weldes bie ruſſiſche Gefell- 
Ächaft der Regierung entgegenbringt, überträgt fid) auf jede refors 
matorifche Technik, die, ohne mit dem alten zu brechen, bauen will. 
Diefe Technik ift durch den Gebrauch der Regierung zu der ruffiichen 
Gefellihaft unbelannten Zweden biskrebitiert. Die Diokreditierung 
ber fogenannten ſchrittweiſen natürlichen Fortentwiclung ift bis dur 
Perhorreszlerung jeder Art von Orbnungspartei gebiehen, und im 
Gegenfag zu den Ausführungen der G. T.Artikel des „Nig. 
Tagebl.” iſt es unter biefen Umftänden feine Empfehlung, zu 
den ftaatserhaltenden Elementen zu gehören. Auf weite Sympathie 
bat allein das uneingefchräntt liberale Schlagwort zu rechnen. 
In der uns feindlih gelinnten ruſſiſchen Preſſe, die auch im 
Wechſel ber Strömung an bem Gedanken des Panflavismus 
feftgehalten hat, verbindet fih daher Liberalismus und Deutfchen: 
Haß in ebenjo zwangloſer Weife, wie fih ben Ausführungen 
des G. T-Artifels gemäß Sozialismus und Nationalismus in 
der eftnifchelettifchen Preffe verbunden hatten. In den „Birfdheiwyja 
Wedomoſti“ ift eine Feuilletonreihe erſchienen, welche das Land 
ber reaftionären Baronenherrichaft jhildert. Die „Now. Wremja” 
bemerkt anläßlih der hiefigen Bauerunruhen, daß bie deutſche 
Preſſe, nicht ohne Grund, dieſer Frage ungemefjene Spalten 
weihe. Die baltifhen Deutſchen fegten alle Hebel in Bewe⸗ 
gung, um die Negierungsgewalt zur Schwädung ihrer oeſahr· 

Baltifhe Monataſaniſt 1906, Helt 5 





430 Bom Tage. 


lichften Gegner, ber Eften und Letten, benugen zu fönnen. 
Vorübergehende Erfolge laffen fie die Einnahme der alten Pofitionen 
erwarten. Der politiiche Schachzug wäre indeſſen nicht weitfichlig 
genug angelegt, bei aller Mühe werde es ihnen diesmal nicht 
gelingen, die Neform der örtlichen Selbſtverwaltung zu bintertreiben 
ober in eine Scheinreform zu verwandeln. Werde doch gerade bie 
Einberufung der Volfsvertretung mit den übrigen Segnungen auch 
den Tod bes beutihen Separatismus bringen. Der „Riſhskij 
Weſtnik“ ift von dieſer Anſchauungsweiſe beeinflußt, fein Vorlämpfer⸗ 
tum für bie Intereffen eines ruffiichen Beamtenpublifume ift biejer 
Tendenz nicht hinderlih. Cr ftellt die Deutihen als reaflionär 
und undulbfam, als Polizei, Partei: und Gewalimenſchen bar, er 
erhebt den Vorwurf der Untätigfeit gegen die livländif—hen Selbit: 
verwaltungsorgane unb den der Hariherzigfeit gegen die deuiſche 
Preſſe. Den Grund der Bauerunruhen jieht ev im ber mwirt- 
ſchafilichen Zage, ben Grund der mihlichen wirtichaftlichen Lage 
in ber Zanblofigfeit der Bauern und der Lieblofigfeit der Deutfchen. 
Den Vorwurf der Hartherzigfeit und des Polizeifyftems erhebt in 
verftärktem Maße die eftnifche Preſſe. Auch fie ficht den Grund 
der Unruhen in der wirlſchaftlichen Lage. Sie verurteilt bie ftatt- 
gehabten Verbrechen, ebenjo aber die Haltung der deutfchen Prefie, 
welche nichts als auf Polizei und Gewalt gejtügte Ruhe fennt 
und fennen will. Noch ausgeprägter ift die Betonung des wirt: 
ſchaftlichen Grundes in der leiliſchen Preffe, die in jedem einzelnen 
Falle darauf hinweift, daß Unruhen nur unter der fchlechtgeftellten 
bäuerlichen Bevölkerung ftattgefunden haben, die Zurüdführung der 
Volfserregung auf die Wirffamfeit beirunfener Arugsbrüder zu: 
rückweiſt, und die Verquidung ber Unruhen mit ber nationalen 
Frage in ber deutjchen Preſſe höcjft unfiatthaft findet. Die ruffifche 
Preſſe und die Petition der lettiſchen Intelligenz geben dem Adel 
und ber Landjcaftsverwaltung an den bölen Verhältniſſen die 
größte Schuld, umd find nicht gewillt, ihnen eine auf das Wohl 
des gefamten Landes geridhtele Tätigkeit in Xergangenbeit, 
Gegenwart oder Zukunft zuzugeſtehen Die Landesvertretung wird 
von ihnen nicht als ſolche anerfannt. Landesvertretung, Deutſch- 
tum und deutfche Preſſe find ihnen identiich, und nicht eben der 
befte und zur Herrſchaft berufene Teil der Einwohner Livlands. 


” 


Das Intereffe der ruſſiſchen Reſidenzpreſſe an baltiihen 
Fragen und Verhältniffen, welches einige Zeit ganz erloſchen war, 
ift neuerdings wieder erwacht und zwar veranlaht durch bie Bauer- 
unruhen im Zufammenhang mit den Gerüchten über bie bevors 
ftehende liberale Verfafiungsreform des livländifhen Landtages. 


Bom Tage. 4i 


Darin ift die ganze ruffiihe Preſſe einig, daß hierzulande 
Reformen bejonders notwendig find, einige ber größeren Blätter 
haben es fogar für notwendig gehalten, ihre Berichterftatter hiers 
ber zu fenben, um über bie biefigen Verhältniffe aufgeklärt zu 
werben, bamit ber Boden für rufſiſche Reformen und Verbefferungs- 
vorfchläge gewonnen werbe. 

Einer ber ruffiichen Berichteritatter, ein gewiſſer derr Alf, 
ber feine mangelhaften Renntniffe geididt unter leichtem Wig zu 
verbergen judjt, fommt in allen jeinen Ausführungen zu den 
widerſprechendſten Nefultaten, die einzige Löſung aus allem Wider⸗ 
ſprüchen bes baltifchen Lebens eriheint ihm die — Semſtwo. 
Seine Gemwährsleute find neben dem livländiſchen Gouverneur, 
den er gerade in großer Beforgnis über die Angriffe, welche feine 
Bauerfomifjare erfahren Haben, vorfindet, junge Kelten, bie eimas 
ruffiid) rabebredjen. Ueber ben Wohlitand hierzulande gerät er, 
Herr Alf, in große Verwunderung; er meint, ein ruffiiher Guts- 
befiger werde gern mit einem Bauernwirt hier taufchen. Die 
Sadfenntnis auch des einfahen Mannes fept ihn in nicht geringes 
Erftaunen. Laut klagt er über die Fülle verſchiedener Lebens— 
formen, bie von dem rujfiihen Gleichhelisideal allerdings weit ent- 
fernt ift, und die alle feine Bemühungen, fih zu orientieren, zu 
Schanden macht. 

Im „Rühstij Weſtnik“ wird das Projeft der Landtagsreform 
beiprodyen; er fann ſich mit der Heranziehung ber Rleingrunbefiger 
zum Landiage nicht befreunben, da bei 780 Rittergütern und 219 
Gemeinden der Schwerpunkt had) wie vor beim Großgrundbefig 
bleiben würde. Der „Balt. Weitn.” meint, bem wäre leicht abzu- 
helfen, man braudjt nur die Stimmen ber Einzelgemeinden bei 
ihrer Verfhmelzung zu fonfervieren. Die Lettiihe Preſſe ift mit 
dem „Riſhok. Weftnif“ einig, daß es vor allem auf eine Betei- 
tigung der nichtbefigenden Intelligenz ankommt. Hierher gehört 
auch der f.-1.Artifel in der „St. Pet. Ztg.“: „Landtag ober 
Verfammlung von rundbefigern?”, der in verfürzter daſſung 
ohne Kommentar aud in dem „Balt. Wehjtnefis” erſchien. 

Der „Balt. Wehſtneſis“ bringt in dem Artifel: „Die 
baltifche Selbftverwaltungsreform” angeblid das im Schoße ber 
ritterfchaftlichen Kommiſſion diskutierte Reformprojeft: Danad) wäre 
die -Selbftverwaltungseinheit 3—5 zufammengezogene Kirchſpiele, 
mit einem Konvent an der Spitze, in welchem alle Großgrunbber 
figer und alle Gemeinden vertreten find; dieſer Konvent beſchickt ben 
Landtag, die Hälfte der Landtagsvertreter müſſen Großgrundbefiger 
fein. Der Vorfig im Landtage bleibt dem Großgrundbefig (bem 
Landmaſchall) erhalten, ausführendes Organ bleibt das Lanbrats- 
tollegium im alten Beftande, neue Landräte werden abwechſelnd 
aus dem Großgrundbefig und dem Rleingrundbefig gewählt. Zum 

or 


2 Som Tage. 


Schluß heißt es wörtlich: „Ter Gedanke ift uns ſympatihſch, daß 
die Reform auf einer Grundlage ausgeführt werben joll, die fich 
ſchon in unjerm Lande vorfindet. Dennoh muß man fi) der oben 
vorgeſchlagenen Heorganifation ber Selbjiverwaltung ſiark wider- 
fegen, weil erjtens dem Kuechtsausſchuß gar feine Stelle ange 
miefen, mie es ebenfo in unfrer jepigen Gemeinbevermaltung ber 
Fall ift, zweitens die Rompetenz des Landtages und des Lanbdrats- 
follegiums nicht klar gefaßt ift; der größere Teil der baltiihen Ein- 
woßner Tann fih) mit derartigen Heformen niemals begnügen. Zum 
Schluß fei noch zu erwähnen, daß das Heformprojeft, an dem eben 
gearbeitet wird, jo wichtig für unfer Land iſt, daß es darum nicht 
irgendwo im Geheimen verhandelt werden darf, vor einer Heinen 
Bahl von Nepräjentanten. Falls die Vergrößerung der ritter- 
Ähaftlichen Kommiffion aus gemiifen Gründen nicht möglich ift, fo 
wäre es jebenfalls ſehr erwünicht ihre Gedanfen und Erwägungen 
zur Veiprechung zu publizieren. Es müßte doch endlich die Zeit 
vorüber fein, mo man von einer Kommiſſion alle Weisheit erhofft. 

Zum Schluß fei die in den rujfiiden radifalen Ylättern ver- 
öffentlichte Petition von 200 Zeiten erwähnt. Sie enthält folgende 
8 Punkte: 1) Die Lage der lettiſchen Preſſe betr. 2) Ver: 
fammlungsfreiheit. 3) Schulfrage. +) Lettiſche Sprache. 5) Auf: 
hebung des Landtages. 6) Aufhebung der bäuerlichen Aufſichts- 
behörbe. 7) Geſchworene und gewählte Friedensrichter. 8) dabrik— 
arbeiterfrage. 

Der Riſhsl. Weſtnik“, welcher zuerit der Petition einen 
längeren Artikel wibmet, ift bejonders mit Pt. 5 einverftanden. 
Die übrigen Forderungen find ihm aber für's erſte zu ertrem 
rabifal und aud national. 





* 
19. April. 


Der Allerhöchfte Erlaß vom 18. Februar des Jahres erfüllte 
die ruſſiſche Geſellſchaft mit der Erwartung einer unmittelbar ber 
vorjtehenden Zeit der Freiheit und des Glüdes, — ein in gewiſſem 
Sinne goldenes Zeitalter and ihr greifbar deutlich vor Augen. 
Die Monate, die ſeildem verfloiien find, haben die Erwartung nicht 
gebämpft, jondern gejteigert. Die Ungebuld des Wartens ift durch 
die Furcht vor dem Fehlſchlagen der bereits in Fleiſch und Blut 
ber Geſellſchaft übergegangenen Heffnung erhöht worden. „Die 
Gefahr bes Zögerns — periculum in mora”, ſchreibt ber „Weftnit 
Jewropy“, „wird mit jedem Tage Harer empfunden, immer zweifel⸗ 
lojer wird 6, daß die Ruhe dem Lande weder durd die Tätige 
feit materieller Rräfte, doch durch die Anwendung der gewohnten 
bureaufratiidhen Mittel gegeben werden Fann, weder durch halbe 


Vom Tage. 488 


Schritte, die niemand befriedigen, noch durch Verſprechungen, bie 
allzufange unerfüllt bleiben.“ — Halbe Schritte alſo werben 
niemand befriedigen. Das Rab der hofinungsvollen Glücksmaſchine 
ift am toten Punkt angelangt, die Gefahr, daß dieſes Nad ftille 
ftehe und zurüdfalle, erfüllt die ruſſiſche Gefellihaft mit nervöfer 
Haft; diefe Gefahr beherricht die Köpfe und beftimmt die Richtung 
und das Maß des ruffiihen Liberalismus. Unter ihrem Einflufie 
ftehen auch die Parteibildungen. Die Preſſe rechnet mit dieſer 
Stimmung als mit einer Tatfade. Nach den Ausführungen 
Schipows in ber „Rusj“ vom 15. April wünichen fo manche Vertreter 
eines endgültigen Bruches der ruſſiſchen Staatsftruftur, Dielen 
Bruch weniger in der Hofinung, einer Sicherſtellung der Volker 
interejjen in nächſter Zukunft, als weil ein folder Bruch bie 
Wiederkehr der alten Zeiten unmöglich machen würde — die befannte 
Triebfeder ber vaditalen Nevolutionspartei in Frankreich oder vielmehr 
der Stachel, mit ber fie den ſaumſeligen Liberalismus eilig vor 
ſich hertrieb. Das Schredbild der Vergangenheit verfehlt auch 
auf den ruffiichen Liberalismus jeine Wirfung nicht. Jede konſer— 
vative Stimme läuft Gefahr mit dem Wunſche einer rüdläufigen 
Nadbewegung identifiziert zu werden. Allerdings erheben fid) auch 
in der ruffüihen Gefellihaft fonjervative Stimmen, doch ift es zu 
beachten, daß es bereits eine Grenze des Konſervativiomus gibt, 
deren MWeberfchreitung den einmütigen NAbiceu ber gefamten 
ruſſiſchen Geſellſchaft hervorruft -— dieſe Grenze aber iſt fehr hoch 
gezogen. Hält es doch fogar der „Riſhskij Weſinik“ für angebracht, 
mit diefer Anichauung zu rechnen. Auch er jpricht voll Abſcheu 
von den Reaklionären, melde die Nückehr zu ben Zeiten des 
„Domojtroi“ oder zum mindeiten ben jeudalen Zeiten ber Leibeigen 
ſchaft fordern. Hierher gehören nach der Parenthefe des „Riſhokij 
Weitnit“ die „Mostowffija Wedomoſti“ und die Mehrzahl der 
biefigen deutſchen Blätter. — Auch dieſes bleibe in Parentheie, 
— Eine Antwort der „Rusj“ an Umarow leugnet einen Geſinnungs · 
unterſchied zwiſchen Nadifalismns und Liberalismus in der ruſſiſchen 
Gefellihaft. Zwiſchen den Radikalen und Gemäßigten eri 
fein wefentlicher Unterichieb der Ueberzeugung, jondern allein eine 
Verichiebenheit des Wärmegrades bei gleichen Ziele. Die Anhänger 
der Novemberminderzahl wären, wie es weiter heißt, schwerlich 
zahlreicher geworden, es wäre beachtenswert, daß die Novemberz 
refolution der Landidaftövertreter in Petersburg allen Landſchafts- 
verhandlungen nit als Maximum, fondern als Minimum zus 
grunde gelegt worden fei. Der Jonrnaliftentag in Petersburg hat 

nad) dem „Weitnit Jewropy bas allgemeine, geheime Stimmrecht 
für die einzige zuläffige Verhanblungsgrundfage erklärt. Diefes iſt 
Die Vorbedingung jeder Verftändigung, gemiilermaßen die vor- 
läufige Legitimationsfarte jeber liberalen Tentweile. 





134 Bom Tage. 


Der Fürft Trubegfoj und bie Landfchaftsvertreter haben fid) zur 
Beurteilung ſtaatlicher Fragen für infompetent erflärt. Ihnen 
antwortet Oolowin in ber „Rusj” vom 14. April: Mit weldhem 
Rechte haben ſich diefe und jene Landſchaftsvertreter während des 
Novemmbers in Petersburg verfammelt und wollen ſich jet im 
April in Moskau verjammeln? Sind diefe Fragen nicht müſſig? 
It es jegt die Zeit, ih mit folden Fragen zu befafien? Cs 
wäre die Pflicht jedes Bürgers nicht zu ſchweigen, jondern laut 
feine Meinung über die Maßnahmen zur Abwehr der dem Staate 
drohenden Gefahr zu äußern, da er bieje Gefahr nah und klar 
vor fid) fieht. Die Novemberverfammlung in Petersburg habe ſich 
nicht felbit den Namen einer Allanbjcaftsverfammlung beigelegt, 
jondern ihn fraft ihrer Refolutionen, die ganz Rußlands Schmerzen 
Worte verliehen, erhalten. — In kurzem: er meint das Recht 
der Nufer im Streite. 


Unter biefen Umftänden ift es von Interefie, das Partei- 
programm Schipows fennen zu lernen, bas fi etwa an ber 
Grenze des gebulbeten Konfervatiomus befindet. Schipom ift 
fonjervativ. Jedes Volt und jeder Staat haben nad feiner 
Ueberzeugung ihre eigene Geſchichte und ihre eigenen Ent 
widlungsgeiege. Daher fei es fehlerhaft Inftitutionen, bie dem 
einen Volke billig find, ſchlechthin auf ein anderes zu übertragen, 
und zu hoffen, daß fie ihm recht fein werben. — Diefen Fehler 
begingen die Konſtitutionaliſten Rußlands. Cine Konftitution würde 
Ruͤßland weber das gehoffte Glück nod die Sicherrung ber anger 
borenen Menſchenrechie bringen. Kein Bruch mit dem Prinzip 
der Selbjtherrichaft, welcher der Idee des ruſſiſchen Staates wider: 
fpreden würde! Das Neue joll dem hiſtoriſchen Leben bes ruſſiſchen 
Volles entnommen werden, feine Revolution, fondern eine Refor- 
mation fein. Die ruſſiſche Geſchichte gewähre in der Tat eine der 
Konftitution gleichwertige Einrihtung --- den freien Zutritt zum 
Zaren! Zu diefem Behufe wäre der jehige Neiherat durch ge» 
wählte Volfsvertreter zu erjegen. Die Kompetenzen desjelben finb 
den Worlamentsfompetenzen der Tonflitutionellen Staaten entfprechend. 
Auch, der Wahlmodus müßte den gefchichtlihen Zufammenhang mit 
dem vuffiichen Leben wahren und die Wahl der Vertreter müßte 
ſich an die bereits vorhandenen Landſchaftsinſtututionen anſchließen. 
Die Semjtwo ift aber reformbebürftig. Der Schwerpunft ber 
lotalen Selbftverwaltung wird darum in die allſtändiſche Gelbfte 
verwaltungseinheit verlegt. In zwanglojer Stufenfolge von der 
Kreis zur Ooupernementsfemftmo ift die Brüde zum Reichsrat 
geſchlagen. Dabei wird nad und nad) durd den Wahlmodus 
das zur Grundlage genommene territoriale Prinzip eliminiert unb 
ichließlih zur Stärkung des fonfervativen Prinzips dem boben- 


Bom Tage. 435 


jtändigen Bauern die Mitgliedfchaft auch im Neidysrat durch ent- 
festenbe Diäten ermöglicht. 

Die Verkündigung der Olaubensfreigeit wird von allen 
Zeitungen als ein At hochherziger Menſchenliebe gefeiert — 
dinfichtlich der Hochherzigfeit it die Wreife einig. Im übrigen 
mißt der freifinn dem Manifeit nicht allzuviel“ Bedeutung 
zu. Die „Nuffija Wedomofti” urteilen: „Wenn  wielleicht 
irgend jemand überzeugt gewejen iit, daß die projeftierten Dlahr 
nahmen Nußland von dem Wege der Rechtloſigkeit und der Wille 
für auf den Weg bes Rechtes und der Freiheit führen würden, 
fo wird mad) wie vor dieje Illuſion durch die Tatſachen des fort: 
ſchreitenden realen Lebens zunichte gemacht. So verhält es ſich 
wenigitens mit der heute jo laut verfünbeten Glaubensfreiheit.” 
Im Anfhluß hieran werden einige dem Manifeft wideripredhende 
Üebergrifie einzelner Lofalgewalten angeführt. Der Refrain diejer 
böfen Lieder aber iſt — feine DManifelle, fonbern Garantien! — 
feine Gnadenerlaffe, jondern die lacht! — Im Gegenfag zu all’ 
diefem befindet ſich der Landhauptmann des dritten Bezirks des 
Koraliſchen Kreiſes im Gouvernement Drel. Diejer hat in feinem 
Zirtular in bündiger Weile die Uriahen ber Zeitgährung aufge: 
dedt: Alle Unruhen fommen vom Teufeld’ 











Unfre nationale Preſſe jegelt teilweiſe ungeachtet ber legten 
Vorkommniſſe munter im radifalen Fahrwaſſer weiter. Wenn auch, 
die „Nig. Awiie” es für gut befand, bei der Deoavouierung der 
Tettiidjen Petition dieſen „adifalismus der fettijchen Sutelligenz“ 
zu leugnen, jo iſt unter Naditalismus, mit den Mugen dieſes Blattes 
gefehen, nur die ertreme Form diefer Geiſtesrichtung zu verjtehen. 

Die Petition der 200 Letten hat num die Runde durch alle 
Blätter gemadht. Bei den deutichen Blättern muß man zwiſchen den 
Artifeln unteriheiben, die vor und nad) der Desavonierung durch 
die „Nig. Awiſe“ geichrieben find. Anfangs legte die deutſche Preiie 
der Petition eine zu große Bedeutung bei; fo ſchrieb die „St. ‘Bet. 
Zig“: „An den baltijchen Deutſchen wird es daher liegen, ben 
eventuellen ſchlimmen Folgen dieſer Petition vorzubeugen, und, 
indem fie die gegen fie jelbjt erhobenen ungerechten Anjchuldigungen 
zurüdweiien, auch jene unzweifelhaften Rechte ihrer Heimatgenoffen 
zu vertreten, die von den 200 genannt werden, aber durch die 
Nachbarkhaft der andern Forderungen välig lompromiiert werben 
müſſen.“ — Nachdem aber bie „Rig. Awiſe“ die Autorſchaft der 
lettiſchen Intelligenz beſtritlen, machte ſich ein Umſchwung in der 
Beurteilung geltend ; i ilte j i 








rungen jehr ſympathiſch, nur die Schilderung der Agrarverhältniiie 
und der Tätigkeit des Landtages fand fie wiſſentlich falſch darz 


130 Bom Tage. 


geitellt. Die radikalen lettiſchen Blätter (Deenas Lapa und Ball. 
Weftn.) nahmen gleich Notiz von biefer Beſprechung, mit ber 
„Rig. Awiſe“ geriet die Rundſchau in einen Wortitreit, es handelte 
ih dabei um die Behauptung der „Rig. Awiſe“, das lettiſche 
Volt fei nicht radikal und revolutionär. Die Rundſchau glaubte 
dies fo verjtehen zu müllen, daß es unter ben Letten gar feine 
Naditalen gebe. Am DOfterfonntag erſchien dann ber G. T.-Artitel 
im „Nig. Tageblatt”. Hier wurbe bie geringe Yebeutung - der 
Petition nachgewieſen, der lettiſch-ruſſiſche Radikalismus gehörig 
beleuchtet und auch der Abwehr einzelner Angriffe zuerjt einige 
Zeilen gewidmet. 

Der in der lettiſchen Petition Hervorgetretene Radikalismus 
hat auch in einigen eſtniſchen Blättern ſich bdofumentiert. So 
jchreibt in der „Teataja“ ein Herr Tamm aus Rußland: „Er freue 
fi) über den Revaler Sieg nicht als fanatifcher Nationalpolitifer, 
fondern weil eſtniſch und fortichrittlich gefinnt bei uns zu ande 
ein und dasſelbe bedeute.” Und ber „Postimees“ kommt zu dem 
Schluß, daß die Deutiden nicht liberal feien, wenn auch das 
Gegenteil die „Rev. Ztg.“ verſichere und behaupte, denn der Grund⸗ 
ton des baltischen Programms fei ein auf geichichtlicher Grundlage 
ftehender, das Reich aufrecht erhaltender Liberalismus. Die ruffiihe 
Semftwo tue mehr für bie Volksbildung, als der eſiländiſche 
Landtag. Ihr Deutſchen, ruft er, feid erzlonfervativ. Ihr wider: 
ftrebt allen Neuerungen, bie auf Hebung ber Lage ber breiteren 
Volfsihichten abzielen und habt nur eure engen Privatinterefien 
im Auge. 

Die deutiche Kulturarbeit bei ben Letten wird in der „Deenas 
Lapa“ in einem längeren Artifel einer gründlichen Unterfuhung 
gewürdigt. Hier handelt es ſich wohl in eriter Linie um eine 
Yuseinanderfegung mit der deutſchen Preſſe, um dieſer gründlich 
die Luft zu nehmen, mit der Vergangenheit zu prahlen. Dieje 
Abficht zufammen mit dem radikalen Doftrinarismus des Verfaſſers 
geben ein ganz entftelltes Bild unfrer Vergangenheit. Zum Schluß 
meint der Verfaſſer, daß es jegt nicht an der Reit jei zu prahlen 
und miteinander zu rechten, jondern ben Forderungen der Zeit 
nachzukommen. Derjelbe Ton erklingt aud in dem Artifel des 
„Olewit“: „Was fie eritreben.“ Im Anichluß an eine baltiihe 
Korreipondenz im „Berliner Xofalanzeiger” meint er, das ber Libe- 
ralismus der Deutichen nicht von weitem her jei, daß fie nod) im 
Grunde nad) ben Ausführungen der „Düna-Ztg.“ auf die Stellung 
des Lehrmeiſters prätenbieren. 

„Was in der Vergangenheit zwijhen den hiefigen Völkern 
und den Teutfchen vorgefallen iſt, beswegen darf weiter fein Groll 
gebegt werben, fo dafi mir der Vergangenheit wegen Freunde jein 
fönnten, wenn nur bie Gegenwart gegenfeitige Liebe und Achtung 


Bom Tage. 437 


zuläßt. Wir mülen in unfrem gegenfeitigen Verhältnis baran 
denten, daß es weder uns noch den Deutjchen möglich war, unjre 
Vorgänger zu wählen, fo daß ein feindliches Wefen der Vorfahren 
wegen Verjtodtheit wäre. Weber ber Chriſtenglaube noch der Mare 
Bluͤck bes gebilbeten Menſchen geitatte eine Feindfchaft auf dieſer 
Grundlage. Wenn aus dem früheren Feinde ein mahrhafter 
Freund geworden ift, ob durch die Zeit oder den Einfluß befonderer 
äußerer Ereigniiie, jo darf man fein Gerz nicht verſchließen.“ 

Allerdings mahnt auch er zur Vorjicht. Vielleicht wirb jegt 
Komödie geipielt? Vielleicht wollen die. Deutſchen nur Flickwerk 
bei der bevorftehenden Landtagsreform? Um aber die Bebürfnifie 
des Volkes zu befriedigen, wäre ein Gebäube erforderlich, das auf 
ganz neuer Grundlage jteht. 

Die in legter Zeit vielfach angegriffenen Bauerlommifjare, 
ſoweit fie im Auftrage des Gouverneurs handelten, merben im 
„Risk Weſtnik“ warm verteidigt. Die lettiſche Preſſe bringt 
ſowohl die Angriffe als auch bie ruſſiſche Verteidigung, aber ohne 
Kommentar. 

Schließlich wäre noch der geiſtliche Feldzug gegen die Bauer: 
unruhen in Rurland zu erwähnen. Den warmen Bielenfteinfchen 
Aufruf: „Lettiſches Volk erwache“ bringen die lettiichen Blätter, 
nur bie „Tehwija“ wagt es babei ſchüchiern den verehrten Herrn 
Bajtor aufmerffam zu machen, daß nicht das ganze lettiihe Volt 
an ben Unruhen. |duld fei, jondern der Sozialismus, ber dasfelbe 
vergifte. dierher gehört aud) das Sendſchreiben des furländif—en 
Generalfuperintendenten Pand, das allerdings zum größten Teil 
nur aus Bibeljtellen beiteht. 


* * 


26. April. 

Die Reformeinfälle Schipows, — die Zentrallandicaftsver: 
faffung und der volfstümliche Reichsrat, finden feinen Beifall, den 
Meiſten ift zu wenig, Wenigen zu viel des Guten: Der „Now. 
Wrem.“ mipfällt das. Projeft aus einem höchſt eigentümlichen 
Grunde — fie möchte den Reichsrat nicht miſſen. Wenn, urteilt 
die „Now. Wrem.“, die Volksvertreter ben Reichsrat erjegen, jo 
iſt der Neichsrat weg, und wenn der Neichsrat weg ift, wer wird 
nachher die Obliegenheiten des Reichsrats erfüllen, das Reich bes 
raten und die Reſormprojekle leſen? Beſſer iſt es, die Volksber⸗ 
tretung berät das Neid und der Reichsrat die Volksvertretung. 
Wenigen, wie gefagt, bringt das Schipowſche Programm zuviel 
des Guten. Die „Most. Web.“ halten Schipow gleid) den übrigen 
Konititutionaliften für einen Nevolutionär, mit der die 
monarchiſch gefinnte Partei der „Moot. Wed.“ feine Gemeinihaft 








488. Bom Tage. 


Haben fann. Ihrerſeits jtellen fie das monarchiſtiſche Programm 
auf, deſſen einzelne Punkte nicht weſentlich und eben ſchlechthin 
monarchiſch und ein negativer Wunfchzettel find. Im Zus 
fammenhang mit ihren Beftrebungen aber erwähnen fie einer 
Partei der Adelsmarjhälle, deren Programm fie bereit find zu 
unterfhreiben, und mit denen jie allein in ber Motivierung des 
Programme nicht übereinftimmen. Diefe Motivierung, die den feiten 
Willen einer Aenderung bes alten Negimes verrät, hebt die Partei 
der Adelsmarſchälle aus dem bureautratiſch monarchiſchen Rahmen 
der „Most. Wed.“ heraus. Und diefer fonfervativen Partei, die 
ſich mehr durch ihre Gefinnung als durch ihr Programm von den 
Anhängern der „Most. Wed.” unterfceibet, gehört augenscheinlich 
der offene Brief eines rufjichen Edelmannes an. Der Schreiber des 
Briefes teilt mit: Im November vorigen Jahres fand in Moskau 
eine Verfammlung einiger Adelsmarichälle jtatt, in der die Petition 
des Grafen Trubepfoj von vier Adelomarfdällen unterzeichnet 
wurde, eine zweite Reſolution, die von 13 Adelsmarſchällen unter 
zeichnet wurde, zu unterzeichnen erlaubte ihm fein Eid nicht. Da 
mals drang er auf die Einberufung einer außerordentlichen Adels: 
verjammlung, welche indeilen die Adelsmaricjälle für überflüſſig 
bielten. Das Gejeg verjtattet ben ruſſiſchen Ebelleuten ein Zus 
fammentreten nur auf den Ruf der Adelsmarfdhälle, die Einber 
rufung der Adelsverjammlungen erwartet er von ben Adels: 
marſchällen, die ſchwerlich berechtigt find ohne Einwilligung der 
Edelleute Nefolutionen zu fallen und zu veröffentlichen. Er ſchreibt: 
In Rußland wohnen taujende von Edelleuten auf ihren Gütern, 
die ſchlecht von dem unterrichtet find, was bei uns vorgeht. Jeder: 
mann fagt feine Meinung, nicht der Adel. Der hiltoriich natürliche 
und der erite Stand Nußlands verharrt bie jept fatenlos. So 
frage id) meinen Abelsmarfgall: wird diefer Zuitand nad) 
lange dauern? Und id frage weiter mit bem Rechte des Chdel- 
mannes: Können bie Adelsmarfcälle druden und veröffentlichen 
ohne die Einwilligung und die Sanftion des Adels? Ich frage 
weiter: Hat der Adel feine Marſchälle bevollmächtigt, von eins 
ander abweichende Nefolutionen zu verfündigen? Was Hat fie 
davon abgehalten, wenn fie übereingefommen waren ſich privatim 
zu verfanmeln, die Adelsverfammlungen ganz Aublands einzu 
berufen? Ich warte mit den übrigen des lang erwarteten Tuges, 
der uns die Möglicleit gibt, zugleich und im Uebereinjimmung 
mit allen Adelsverfammlungen, als die legten in ber Weihe, die 
Meinung des eriten Etandes, der Ebdelleute zum Ausdruck zu 
bringen! — Der Ton diejes Briefe erinnert ein wenig an die 
Gejtalten Turgenjews. — — 

Nackt und bloß, wie der Menſch zur Welt kommt, ift ihm 
doch cin hohes Gut angeboren — das allgemeine, geheime, gleiche 


Dom Tage. 488 


unb birefte Wahlrecht. Das mag in mander Beziehung unbequem 
fein, aber es iſt fittli. Dieſer Meinung find die „Birſh. Wed.“ 
und der ruſſiſche Echriftitellerbund, deſſen Rejolutionen in der 
„Rusj“ veröffentlicht find. Der Schriftftelerbund beſchloß, das 
allgemeine Wahlrecht ohne Untericieb der Nationalität, des 
Glaubens, der Bildung und des Geſchiechtes, Freiheit jeder Kultur⸗ 
entwicklung und Antonomie aller frembftämmigen Völfer, die Bil- 
bung eines Agrarfonds zum Auffauf des privaten Grundeigentums 
und feines allmählichen Nebergangs in ben Befi ber Nation, und 
in die Nugnießung ausjclielic der Lanbarbeiter, die politijce und 
wirtſchaftliche Befreiung des Proletariats und die Vergeſellſchaft- 
lichung aller Produktionsmittel. — Stets find Voltsbeglüder freis 
gebig mit den Menſchenrechten gewejen, aber biejes ijt vielleicht 
mehr — plaudite amici! 





Die in der „Et. Pbg. tg.“ veröffentlichte Artifelferie unter 
dem Titel: „Die baltijche Preſſe und wir vom Lande“ enthält, 
neben einer zutveffenden und fahgemäßen Schilderung der revolu- 
tionären Bewegung auf dem Lande an der Hand der eftnifchen Preſſe, 
Hauptfächlid, here Angriffe gegen die deutiche Preil. Cie 
habe die Bewegung nicht richtig erfannt, weil fie nur vom 
nationalen Standpunfte aus urteile und überhaupt feine Fühlung 
und fein Verftändnis für das Land befige. Diefer Angriff üt 
wohl daran Schuld, daß der Artifel wenig Beachtung von den 
deuiſchen Blättern erfahren. Die „Nev. Zig.“ und die „Dünas 
tg.“ allein haben die undanfbare Aufgabe der Verteidigung übers 
nommen. Die „Rev. Ztg.“ damit, daß fie dem Verfajler einen 
Irrtum, die Prefie jei eine Großmacht, nachzuweiſen beftrebt iſt. 
Die „Düna-Ztg." holt zweds Verteidigung die glänzende Vers 
gangenheit der deutſchen Preſſe hervor. Beide Blätter weilen den 
Gedanten, fie hätten wenig Fühlung mit den ritterſchaftlichen 
Selbjtverwaltungsbehörden, weit von fi. Die beite Würdigung 
brachte die „Nordlivl. Ztg.“ — Die „Nihst. Wed.” begrüßen ben 
Artitel als ein Novum in der deutichen Preſſe, er ift ihnen eine 
Gewähr für das Erwachen neuer Etrömungen in ber deutſchen 
Geſellſchaft, dafür, daß in den leitenden Kreiſen die nationale Frage 
in den Hintergrund getreten, da fie für die Beurteilung ber neuen 
jogiaten Probleme und Neformideen nicht ausreicht. 

Die in dem „Poſtimees“ veröffentlichten Wünfche der Eſten 
an das Miniſterkomilee find nicht beideidener, als die ihrer rabi- 
falen lettiihen Brüder, nur die gehäjligen Angriffe gegen den 
baltiſchen Adel fehlen; fürs erfte it der Wunſchzeltel noch nicht 
abgeichidt, da mod) die nötigen Unterichriften fehlen. Hierher ger 
hört wohl der Aufiag des „Poſtimees“: „Warnung vor Irre—⸗ 
führungen und Irreführern“, eine Animierung zu Petitionen. 











40 Bom Tage. 


Die Wünſche der Ejten haben beim „Riſhsk. Weſin.“ einen 
Entrüftungsfturm hervorgerufen. Er identifiziert dieſelben mit 
denen ber dentich-lutheriichen Kreiſe, die fi ja aud immer allen 
heilfamen Reformen widerfegten. Die Verfaſſer der Wünſche 
wollen den Einfluß der Abminiftration in der Geftalt des Gouver⸗ 
neurs, der Bauerfommiljare, der Voltsichulinfpeftoren befeitigen. 
Mir wollen dabei bio. bewerten, fügt er hinzu, daf diefer Antrag 
zu einer Zeit geftellt iſt, wo gerade das ganze Dftieegebiet banf _ 
der aufopfernden Tätigfeit gerade dieſer Organe, die ihre amtliche 
Stellung dabei aufs Spiel jegten, vor ſchweren Eridütterungen 
bewahrt ift. Solche Petitionen, find wirklich imftande die Auf- 
merfjamleit ber Negierung von ben wirklichen Bedürfniſſen der 
Bevölterung abzulenten.  Someit ber „Rifhst. Weftn.“. — Bu der 
jog. Petition der fettifhen Smtelligenz ift jegt eine Petition des 
KRavershofichen Lanbwirtichaftlihen Wereins getreten, veröffentlicht 
in der „Beterb. Awiſes“, fie wiederholt dasjelbe radiale Programm 
und. rüdt ‚nur die agraren. Parteiforderungen mehr in den 
Vordergrund. 

Zu den VBauernunruhen in Livland jdhreiben die „Ruſſt. 
Webom.“: „Ungeachtet der materiellen Folgen dieſer Streits, iſt 
ihre fittliche Bebeutung für die Arbeiterklafle dieſes Gebiets ent- 
iceidend. Diefer Streit führt unabwendlic) zur Bildung ſiarter, 
richtig organifierter Verbände der Landarbeiter. Diefe werden 
offen oder geheim fein, je nad) dem allgemeinen Lauf ber Dinge 
in Nußland. In jedem Fall find die Arbeiterverbände des Oftjee- 
gebiets auch jegt ein Machtfakior, mit dem die Regierung ernitlich 
rechnen muß. Das Selbftbewußtjein der Angehörigen der arbeiten: 
den Klaſſe iſt erwacht und hat fich zu laut und offen ausgefproden, 
um es jept noch mit Nepreijalien und verſchwommenen Ver: 
ſprechungen erftiden zu können. Der Arbeiteritand des Gebiets 
verlangt offen und fühn biefelben Neformen, welche das denkende 
und freiheitsliebende Rußland eritrebt. Man ann bieje mächtige 
Bewegung nicht ignorieren, die Augen fließen und ihr Entftehen 
einem Häuflein böswilliger Agitatoren zujchreiben: das wäre ein 
unverzeihlicher Fehler, eine unerlaubte politiiche Taktlofigfeit, die 
nur zu neuen Schwierigfeiten und Verwicklungen bes öffentlichen 
Lebens bieies Gebiets führen würde. Die Aıbeiter jelbft find 
offen in die Arena des öffentlichen felbitändigen Lebens getveien, 
feine Gewalt wird fie zum Meichen bringen. Die Arbeiterbes 
wegung wird im Gebiet unabwendlich wachen und ſich ausbreiten, 
unabhängig davon, wie fi) Die übrigen politifchen Parteien zu ihr 
verhalten werden. Wenn diefe Bewegung in der Gegenwart öfters 
ausartet, einen rein fonipirativen Charakter trägt und fich im 
Kampf mit den Hinderniffen auf Schritt und Tritt erihöpft, fo 
find die ‚Arbeiter hieran am, wenigften Schuld, weil fie ja am 





Bom Lage. [Mi 


meijten an einem frieblichen Verlauf bes öffentlichen Lebens ins 
tereffiert find.” 

Mir erſcheint diefer Artifel in mehr als einer Richtung ber 
beutfam, bie Furcht vor politifchen Taktlofigfeiten und der Wunſch 
bier ..eine organifierte Yandarbeiterichaft zu fehen, wie fie meines 
Willens noch nirgends geglüdt ift, da die Organijation der Land- 
arbeiter wenigitens bis jeht wie cs ſcheint aus inneren Gründen, 
die in der Art diefer Arbeit und dem Lanbleben liegen, jdeitert, 
beden bie nahen Beziehungen des Verfailers zu ber hieſigen Ber 
wegung auf und werfen ein gutes Schlaglicht auf den Zufammens 
hang ber ruffiichen Arbeiterbewegung zu den analogen Vorgängen 
in ben Dftjeeprovinzen. 

Die Gründe, die zu den Bauernunruhen bier geführt haben, 
werben in allen Blättern eifrigit biofutiert. Die rujliiche und bie 
letliſch eſiniſche Preſſe ſucht die Urſachen in den ungenütgenden 
Anechisverhäitniſſen, den niedrigen Löhnen ꝛc., die deutiche Preſſe 
bloß in der ſozialdemokratiſchen Agitalion unter den Landleuten. 
Es gibt auch vermittelnde Anfihten, wie ein Brief aus Groß« 
geundbefigerzRreifen, den der „Walgus“ veröffentlicht, beweiit, ber 
beide Urjadyen zugibt. 

Der „PBoltimees” bläſt jchon im zwei Artikeln zum Nüdzuge. 
In dem eriten „an die Yandarbeiter”, fagt er, daß im Lergleich 
zu früher in der Lage bes Lanbarbeiterjtandes in jeder Beziehung 
ein großer Fortichritt zum Beſſeren zu fonftatieren jei. Man rede 
oft in legter Zeit von ungünftigen Wohnungsverhältnifien der 
Sanbarbeiterfepnft; dieſe Frage fpiele auf dem Lande nicht bie 
wichtige Nolle wie in der Stadt. Die Gefindesinhaber durchleben 
eben eine ſchwere Notlage, man fönne darum nicht mehr für bie 
Arbeiter tun, als hier und da beſſere Koft, befjere Behandlung, 
hier und da mehr Sonntagsruhe und noch etwa Dies und jenes, 
das wäre aber aud) fajt alles, was man fofort tun fünnte. Sicher 
iſt, daß unfre Gefindesinhaber zur Zeit unvermögend find, höhere 
Löhne zu zahlen, Der Artitel ſchließt: „Wenn die Yandarbeiter 
zur Beſſerung ihrer Yage etwas zu unternehmen gedenken, jo mögen 
fie nüchtern abwägen, was und auf welche Weije ſolches zu tun ſei.“ 

Sbenfo in einem zweiten Artitel: „Nur ein wenig davon, 
was wir zu fagen hätten.” Hier jagt das genannte Watt, dafı die 
Uebertreibung der Unruhen durd die deutſchen Blätter politiihen 
Zwecken dienen joll. Das joll man bedenfen und ſich davor hüten, 
durch Unruhen und Gewalttaten ben deutſchen Politifern und 
Zeitungen die Möglichfeit zu geben, dank ihres Konfervativiomus 
Die Freundfhaft der Regierung zu gewinnen. Cs fei zu befürchten, 
daf es den Dentfchen gelänge, die Negierung zu einem Schuß 
bündnis mit ihrer fonjervativen Nüdjcrittlichfeit zu bewegen. 
Dann kämen ſchwere Tage für unfere Heimat. Der Artifel 


42 Vom Tage 


ichließt mit ben Morten: „Auch der geringfte Arbeiter, ber legte 
Knecht müßte bedenken, daß er nicht allein in der Welt, ſondern 
Glied des Ganzen ift, daß jein wirklicher Vorteil mit dem Vorteil 
des Volfes und Landes eng zuſammenhängt und daß er dem Uns 
glüc nicht entrinnt, in das feine Handlungsweife das Ganze ger 
ftürzt hat.” 

Schließlich meint noch ein Rorrefpondent der Pariſet „Temps“, 
wie die „Birſh. Web.“ zitieren, dah die Urſache ber Bauerunruhen 
in Rußland bie mangelhafte Volkoſchule jei. Das Volkoſchulweſen 
konne ſich nicht entwickein, weil die Aominiftration jede landſchaft⸗ 
fihe und private Initiative verhindere. Wie joll dieſes un— 
wiſſende und ungebildete Volt, fragt er, fremdes Eigentum achten, 
wie foll es nicht den Legenden von höheren Befehlen, melde 
die agraren Verbrechen billigen tollen, glauben — dieſen Legenden, 
welde die Agitatoren mit bekannter Abficht unter ihnen verbreiten. 

Wenn wir an der Hand der letzten Enquete der Knechts— 
löhnung von 1599 — 1900 das Bild ber Unruhen in Livlanb ber 
trachten, fo können wir feiiftellen, daß die Gebiete des niedrigeren 
Lohnftandes, die Strandgegenden und der Pernan-Fellinfche Kreis 
des eſtuiſchen Xivlande, nicht die der Unruhen find, fondern 
gerade die Umgebung der Städte, wo das Niveau ber Löhne am 
bödften war, vorzugsweife von den Unruhen heimgefucht wurben ; 
das dürfte wohl für fremde Einflüfe, die hierher am leichteften 
dringen fonnten, ſprechen. 

Von wirtſchaftlichen Frogen wird meben ber Ranbarbeiter: 
frage auch bie der rationelljten Grundbeſitzverteilung in den 
lettifchen Blättern behandelt. In einem Aufſatz des „Balt. 
Wein.” unter dem Titel: „Wieviel_ Land braucht der Land: 
mann?” fommt der Verfailer zu dem Schluß, daß der Landmann 
30 Cofftellen braucht, ein mehr oder weniger ift vom Uebel. Diefe 
allerdings überrafchend einfache Löſung der beften Grundbefigver- 
teilung wird nicht ohne Widerſpruch hingenommen; die „Deen. 
Lapa“ bringen in einem Auflag über den landwirtſchaftlichen 
Groß: und Kleinbetrieb, der eine gute Vekanntichaft des Verfafiers 
mit ber einfhlägigen Literatur verrät, den Nadweis ber Veredhti- 
gung des Großbetriebes, zeigen auf welchen Gebieten der land- 
mirtfchaftlichen Kultur die eine Form der andren überlegen, ob- 
gleich bei uns zu Lande auf vielen großen Gütern die Viehzucht, 
die Domäne des Kleinbetriebes, höher fteht, ala bei den Ge 
findeswirten. 

Die eftnijhe Preife wiederholt nocd) den Auf ber Ruſſen 
nad) Landverteiiung an die Landlofen; zu dieſem Zweck wird die 
Ausdehnung der Tätigfeit der Yaneragrarbant auf die Oftfee: 
provingen befürwortet, ob das Rrebitfgiiem wirflid billiger und 
vorteilhafter ift, würde dann bei der Konkurrenz zutage treten. 


Som Tage. 443 


8. Mai. 

Wenn jede Idee eine Macht ift, mit ber Geſchichte und 
Zeben zu rechnen gezwungen find, weld eine Macht repräfentiert 
ein Jorenfpftem, das in möglichfter Vollzähligfeit alle Ideen ver: 
einigt ? Augenſcheinlich die Summe aller Kräfte, die ben einzelnen 
Feen innewohnen. 

Diefe Erwägung ift man verſucht den Refolutionen bes 
Petersburger Schriftitellerfongreffes zugrunde zu 
legen, der e8 für gut befunden hat, jämtliche zeitgemäßen Ideale auf 
feine Fahne zu jchreiben. Die Ideen Die im Laufe bes verflol« 
jenen Jahrhunderts in den Köpfen der Nitter vom Geifte geboren 
murben, die trag jahrzehntelanger erbitterter Nämpfe nirgends voll 
verwirklicht wurden, fondern überall im Kompromiffe eritidten — 
fie alle find unter bem Banner des Petersburger Schriftftellerbundes 
zum imponierenden Ideenkompler vereinigt. In ganz Nußland 
werben heute Programme entworfen und Plattformen gezimmert, 
wie ber techniſche Ausdruc für dieſe Tätigkeit lautet. Unter ihnen 
ift die Plattform bes Zournaliftentages zweifellos die breitefte: 
Im paradiſiſchen Staude der Unſchuld jtchen auf ihr die Gedanken 
nationaliftiiher uud fozialiftiicher Nichtung nebeneinander und tun 
ſich nichts. Eine Friedfertigfeit, die um fo paradifiicher ift, als 
nur bie fräftigiten Cremplare der Gattung einer Aufnahme in 
das Spftem gewürdigt find und die Auswahl nad) dem Grunbfag 
erfolgt zu fein fcheint, daß es weniger darauf anfommt, worin die 
Gedanten radikal jind, als daß fie radikal find. Diefer Grundſatz 
ift bei näherer Betrachtung weniger befremdlih, als es den 
Anſchein hat. 

Der Wunfch, alle radikalen Waller auf eine Mühle zu feiten, 
erklärt ihn zur Genüge. Denn in der Tat find die rabifalen 
Elemente der verihiedenften Richtung durch das gemeinſame 
Jutereffe an einem Brud) mit den beitehenden Verhältnifien ver: 
bunden und für den Augenblid veripricht eine Vereinigung ber 
Schlagworte fait denjelben Dienjt zu leiften, wie eine reale Vers 
bindung der lebendigen Ideen und Jutereſſengruppen — die 
Schlagworte haben dabei den Vorzug der größeren Verträglichkeit 
und Sanblicjfeit. Und mit den Worten Tolitojs zu reden: „Dan 
muß vereinigen, es üt Zeit zu vereinigen“, jvll nicht der Vruch 
mit dem Beſtehenden auf ungewiſſe Zeiten verſchoben werden. — 
Die öffentliche Meinung ift träge geworden und bedarf an manchen 
Orten der Nachhilfe. In Tiraspol, einer ruheliebenden Stadt, 
muß nad) dem Bericht der „Now. Wrem.“ die ganze öffentliche 
Meinung von einigen wenigen Korreipondenten bejorgt werben, 
die Einwohner bringen es höchſtens zu einem gelinden Staunen 
über den rapiden Rulturfortfchritt. In der Nedaktion der „Most. 
Wed.“ ift ein monarchiſches Bureau errichtet worden, wo bie 


444 Bom Tage 


Gtieder biefer Partei nad) Pofllarten gezählt werben. Cine Poft- 
farte mit Namen, Stand und Adrefje — und ber flaatserhaltende 
Art ift vollzogen. Irgend welche Parteiverjammlungen find als 
ungeſetzlich nicht in Ausficht genommen. 

In den Spalten ber „Most. Web.” äußert „ein ſchlichter 
Ruſſe“ feinen Unmwillen über die Freiheitsbeftrebungen ber Intels 
ligenz, ein Mitarbeiter bäuerlichen Standes weiſt darauf hin, daß 
dem Bauer ſchon aus wirtſchaftlichem Grunde eine unumſchränkte 
felbfiherrliche Gewalt unentbehrlich fei, da feine Eriftenz ohne zeits 
meilige Gnadenerlaſſe nicht denkbar wäre. Er verweilt baher ber 
Intelligenz ihr müffiges Gerede über Volfsrepräfentation und 
Ronftitutionalismus. Auch in der nationalprogreiiiven Partei 
Schipows ift nach dem „Dir Boſhij“ der Maſſe des Volkes ein 
gefährlicher Gegner erftanden, fie ift eine Partei des Großgrund: 
befiges, Die ihre wirtichaftliden Intereffen niemals verleugnen und 
mit ber Freiheit nie Ernft machen wird. In romantijcher Ums 
hüllung birgt ihr Programm die Formel Afafows und Aatkoms: 
dem Zaren bie Kraft der Herrſchaft — dem Volle die Kraft 
der Meinung! 

Wohin fih ber Blick des Schriftitellerfongreffes wandte, 
überall ſah er die einft geſchloſſene Phalang ber Freiheit in zügel- 
fojer Differenzierung begriffen. Cs galt daher diejenigen, denen 
die Freiheit und allein die Freiheit am Herzen lag, unter einem 
Banner zu fcharen, alle aber, die neben der Freiheit noch andern 
fonfreteren Göttern dienten, dem Bund ber Freiheitstämpfer fern« 
zuhalten. Der „Bostimees“ konnte den Nachweis eines ausſchließ- 
lichen Freiheitsbienftes unter allen Umftänden nicht erbringen, fein 
Freiheitsdrang verfagte bei der „ubijeb” und ber freien Liebe, 
— beide eridienen ihm nicht liebenswert. In feiner Weife aber 
konnten die deutſchen Vlätter dem Kongreß als Bundesgenoſſen 
eriheinen. Ihr Freiheitsideal war das des Bundes nicht. „Ihr 
Fortichritt”, Heißt es in der „Rusj“ vom 23. April, „mündet in 
dem Gedanfen, daß cs ſchön wäre, in bie baltiſche Heimat heil 
und ganz die Nultur des beutichen Vaterlandes zu überteagen. 
Das ilt ein enger Fortichrittsbe: as iſt der Fortjcritt 
des baltifchen ‘Feubalismus, für den bie ruſſiſche Gelellihaft feine 
Sympathien fühlen kann. Die rujfiiche Preſſe hat weder Grund 
nod Anlaß, die Vertreter einer fo engherzigen und unzureichenden 
Auffaſſung auf ihren Tag zu laden. Geduld, Maß und Diplomatie 
find die Ratſchläge der deutjchen Preſſe, die in der Tat nicht mit 
der tiefen Weberzeugung der ruſſiſchen Geſellſchaft übereinftimmen, 
daß nur durch jehnelle, umfaſſende einſchneidende und enticjloffene 
Reform des geſainten Staatsbaues Rußland gerettet werden fönne. 
Auch die Semſtworeform wird dieſer Preſſe als radifal und 
utopiſtiſch erſcheinen. Noch hundert Jahre Geduld, Maßhalten 

















Bom Tage. . 445 


und Verhandeln der Letten und Eſten mit dem baltiſchen Feuda— 
liomus — ift dieſes Programm fortihrittlih oder ift es — 
reaftionär !” 

Auch die Programmlofigkeit wurde in beimjelben Artitel der 
beutfchen Gefellihaft zum Vorwurf gemacht, und es ift in ber Tat 
in einer Zeit, wo jedermann fein Programm hat, nicht opportun, 
ohne Programm einherzugehen. Ein WMißverfländnis hat uns 
mittlerweile zu einer Art Programm verholfen. Die „Nordlivl. 
Zig.“ veröffentlichte eine Denkichrift der eftländiihen Ritterſchaft 
von 1870, gerade zur Zeit, wo das Programm: und Petitionsver- 
fallen an der Tagesordnung war, ihre Veröffentlihung murbe 
baher von vielen für das lang erwartete Programm ber Deutfchen 
genommen. Die „Riſh. Web.“ haben an biejes Programm, das 
gewilfermaßen geipornt und geitiefelt aus den Aften eritanden war, 
Betrachtungen über die Unfruchtbarkeit des baltiſch-politiſchen Ge— 
danfens gefnüpft. Und der Tat, fie hätten ja jo Unrecht nicht, 
wenn das, was im jener Denfihrift von 1870 gejagt war, Die 
politifhen Gebanfen der daltiſchen Deuiſchen von 1905 erichöpfte. 
Indeſſen — diefe Veröffentlihung war fein Gedanke, fondern ein 
Einfall. 


Nod immer ftehen wir im Zeichen der Petitionen. Das 
Organ ber fogialbemofratiichen Partei, die „Pelerb. Awiſe“, Hat 
brei veröffentlicht: bie Petition ber letliſchen Intelligenz, die 
Petition bes Kavershofihen Landwirtſchaftlichen Vereins und der 
Odenſee⸗Fehtelnſchen Gemeinde. Der „Poſtimees“ fammelt noch 
immer die Wünſche ber Eften und wird nicht müde, immer von 
neuem zu fleiigem Pelitionenfchreiben anzuregen. Leider jteht 
die jelbftändige Erfindungsgabe in feinem Verhältnis zu ber Zahl 
der Nefolutionen. 

Die Akten der Petition ber lettiſchen Intelligenz ſcheinen 
noch immer nicht geſchloſſen, bie Angriffe auf ben baltiihen Adel 
Haben zu zwei Entgegnungen in der „Seterb. Big.” geführt, bie 
erfte, W. R. N. gezeichnet, ftammt aus Kurland, die zweite aus 
Livland, dieſe Hat wieder eine Erwiberung in einem B. H. H. ge 
zeichneten rtifel deſſelben Blattes gefunden. — Serr B. H. H. 
glaubt ber letuſchen Petition Feine geringe Bedeutung beilegen zu 
dürfen, weil fie, in den ruffiihen Blättern aller PBarteirihtungen 
verbreitet, die öffentliche Meinung der ruffiichen Geſellſchaft bes 
einfluffen wird. Dann kommt er auf den Wert dieſer Meinung 
für uns zu ſprechen und auf die Wege, die wir einfchlagen müſſen, 
um fie zu gewinnen. Ich bin weit entfernt diefen Teil feiner 
Ausführungen zu beanftanden, nur glaube id, daß die Mege, bie 
er uns meilt, nicht neu find, und wie weit fie gangbar, jteht dahin. 


Baltifche Momatafchrift 1006, Heft b. 7 


[777 Bom Lage 


Unfre beutfche Preſſe ſchenkt Herrn B. H. H.s Ausfühe 
rungen uneingeichränftes Lob, und klagt babei, baß fie von ber 
ruſſiſchen Preſſe totgeſchwiegen wird. Diefe Klage will ich blog 
regiftrieren. Die Petition ber Letten haben nur der „Siyn 
Dtjeticheftwa” und die „Birſh. Wedom.“ gebradt; dieſe beiden 
Blätter Tann man wohl laum als die Vertreter aller Parteir 
richtungen auffaflen. Ich würde Herrn B. H. H. vorfchlagen, den 
Artikel: „Die ausgeſchloſſenen Valten“ in der „Rusj” vom 28, 
April aufmerffam zu lefen; nad) biefem werben unfre Blätter 
mohl gelejen, aber um die Eympathien zu gewinnen, wäre es nölig 
fi ein recht radikales Programm anzulegen, an fertigen Schematen 
iſt eben fein Mangel, fonjt heißt es unerbittlih: „Die baltifchen 
Deutſchen ſehen ben Wald vor lauter Bäumen nit. Ihnen ift 
nicht zu helfen! — Cs wäre zwedlos geweſen Leute mit ſolchem 
Horizont auf ben Petersburger Kongreß und in ben allgemeinen 
ruffiichen Verband zu faden. Gering mag die Courteifie fein, es 
fommanbdiert eben der falle gejunde Verftand.” — — — 

Die ruffifche Agrarfrage ift in den legten Tagen wieber afut 
geworden. Die Goremyfinſche Konfereng fol diefe und bie mit 
ihr zufammenhängenbe Frage ber Vergrößerung des bäuerlichen 
Befiges Löfen. # 

Bei der Frage nad) ber beften Grundbefigverteilung gehen 
zuffiihe Ngrarpolitifer von ber Vorausfegung aus, baB jeder 
Arbeiter, der feine Arbeitstraft im Landbau zu betätigen wänfcht, 
ein Stüd Land zur freien Verfügung erhalten fol. 

Diefe Idee liegt der ruſſiſchen Gemeindeverfaſſung zu Grunde, 
die, wie befannt, bei der fteigenden Bevöllerungszahl nolwenbig 
dazu geführt hat, daß die Landteile der Bauern ſchließlich unmirt- 
ſchaftlich Hein geworden find. Um diefem Agrarübel zu fieuern, 
wird in ber „Now. Wrem.“ "vorgeichlagen, zum Hofigftem über« 
zunehen, wie es fich von felbit in dem Weichſelgebiet und ben ans 
grenzenden litauiſchen Gouvernements bildet. Die notwendige 
Folge wäre aber Aufhebung des Gemeindebefiges und Anerkennung 
des bäuerlichen Privateigentums an Grund und Boden. Dann 
müßte fi) der ruffifche Agrarpolitifer von der oben gemannten 
Borausfegung Iosfagen und fi mit einer landloſen Bevöllerung 
ausföhnen, die neben der lanbbeiigenden als ihr notmendiges 
Rorrelat befteht. 

Im Anfchluß hieran dürfte es von Intereſſe jein, das agrare 
Programm der Eonjlitutionellen Partei, das am 28. und 29. April 
in Mostan beraten wurde, fennen zu lernen. Es fordert eine 
große Agrarreform, verzichtet im Nugenblid auf die Nationalifierung 
des Grundes und Bodens, weil es praktiſch undurchführbar fein 
bürfte. Den Landmangel der Bauern will es befeitigen, unb ba 
bie bisherigen Mittel, Rolonijation und Baueragrarbanf, nicht ver» 


Som Tage. “u 


ſchlagen, burd) Anfauf bes nötigen Bodens durch den Staat und 
Zuteilung zu den Sandteilen der Bauern. Der Ankauf der Private 
güter bürfte auf feine großen Schwierigkeiten ſtoßen, da ja bie 
meiften tief verjchuldet find. Um dieſe Maßregeln durchzuführen 
mären Landverteilungsfommiffionen zu bilden, aud) müßten bie 
bäuerlichen Pachtverhältnifte geſetzlich geregelt werben. 

Bei den „Most. Webom.“ hat diejes Progranım wenig Beir 
fall gefunden; fie Schreiben: „Wahrhaftig, die Gedanfenarmut 
unfrer gegenwärtigen ruffiichen Intelligenz iſt groß. Dabei wie 
unlogifd : einmal wollen fie bas Land den Grunbbefigern nehmen, 
dann wieder die Landanteile der Bauern zum Gegenſtand bes 
freien Verkehrs madren — damit dieſe wieder in bie Hände der 
Auffäufer geraten.” — — — 

Die baltiihe Selbjiverwaltungsreform wirb in ber lettifchen 
Preſſe auch weiterhin einer eingehenden Unterjuhung gewürdigt. 
Das rufjiihe ceterum censeo in Bezug auf die Semjtwo findet 
immer weniger Anklang. Die „Nig. Awiſe“ jchlagen vor, deu 
Mittelweg zwicen ben Forderungen der Nadifalen und ber Konfer⸗ 
vativen zu wählen, den nenen Landtag auf dem Prinzip des 
Grundbefiges zu bafieren. Die „Balt. Weſtn.“ ſchwankt zwiſchen 
der verbeijerten Semjtwo und dem verbejjerten Landtag. Von der 
Semjtwo, wie fie fid) der ruſſiſche Fortfchritt denkt, willen wir 
zu wenig, um darüber zu urteilen, für den Ausbau des Landtages 
ſpricht das Injtitut des Kirchjpielsfonvents, das leicht zu einer ger 
funden Selbjtverwaltungseinheit entwickelt werden kann, welche 
wir gerade bei der Semſtwo vermiſſen. Es fommt aber nad) der 
Meinung des Blattes darauf an, mie weit in der neuen Landes 
vertretung die Intereifen der Pächter und Arbeiter ſich vertreten 
finden. Die „Peterb. Mvije” lehnt natürlich das ganze Reform 
projeft ab, der „ariſtokratiſche Duft“, der an ihm klebt, ift ihr 
zu Itarl. 

PB. 


3 





Soziale Verhältnife in Finnland. 





Eindrüde und Betrahtungen 
von 


Th. Pethold. 
nn en 


er in ber guten Jahreszeit, jo etwa im Sommer uder 

Früherbft, nad) Helſingfors kommt, ber far . fich, 

wenn er in einem Hinterhaufe Wohnung gen ımmen 
und aus feinem Fenſter hinausblickt, bisweilen eines Anblicks 
erfreuen, wie er fi außerhalb Finnlands im Zentrum einer 
großen Stadt wohl faum irgendwo bieten bürfte. Soeben hat 
man bas jommerheiße Straßenpflafter, hat man bas Geflingel des 
eleftrifchen Tram und Gedränge des flanierenden oder geſchäftig 
bin und her eifenden Publitums Hinter fich gelaffen, um es ſich 
in fühler und jtiller Häuslichleit bequem zu maden, und benft 
vielleiht, wenn man ans geöffnete Feniter tritt, den Genuß frifcher 
Luft mit dem Anblid eines fimpeln großftäbtiihen Hinterhofes 
erfaufen zu müſſen, — aber wie groß und erfreulich ift ba bie 
Überraſchung. Denn was man vor fid) hat, ijt der ungebrodhene 
Granit, die Steinwildnis des finniſchen VBobens, wie fie ſich urs 
wüchſiger und kraftſtrotzender auch tief im Lande drinnen nicht 
zeigen könnte; gewaltige Blöde, auf deren Riſſen und Spalten 
bie blaue Olodenblume im Winde ſchaukelt, wie auf Goldgrund 
auf einem Teppich grellgelber Blütenfterne gebettet, eine milde 
Flora, anmutiger und lieblicher, als die in Finnland fo jehr 
gepflegte Gartenkunſt fie zu Schaffen vermöchte, und wenn ein 
warmer Luftzug fie ftreift, voll würzigen Aromas. Vor biefem 


Geftein mit feinem wilden Blumenzauber hat die ſtädtiſche Yauwul 


Baltife Monatafchift 1905, deſt 6. 1 


459 Soziale Berhältniffe in Finnland. 


wohl ober übel Halt machen müflen; man hat hier ganz ungemein 
viel, ganz ungemein grokartig und modern gebaut, und doch, mo 
ber Erfolg bie Koſten eben nicht deckle, wohlweislich innegehalten 
und fi beichieben, folange ber Preis von Grund und Boden 
nicht diejenige Höhe erreicht, die Spreng- und Wegſchaffungsloſten 
ermöglichte. 

Sich in Symbolen zu ergehen und bei ihnen zu verweilen, 
ift nicht nad) jedermanns Geihmad, und mande bürften faum 
mit meinem Vergleiche zufrieden fein, aber fo oft ih Helfingfors 
auffuche, erfcheinen mir jene allmählid) immer mehr von der Bild- 
fläche verfhwindenben Hinterhöfe finnifches Granits als eine Art 
Sinnbild und Gleichnis für den alt überlieferten Gejellihaftsfiatus 
des Landes, ber, wenigen nur redt wahrnehmbar und vor der 
fieghaften Mobernität im fteten Weichen begriffen, body die Grund» 
Tage alles wirklich Gefunden abgegeben hat, was bieje leptere in 
ihrer Entwidlung zu leiften vermochte. Dem Durchſchnittsſchlag 
der Beſucher will Finnland und vor allem Helfingfors als eine 
Art Prototyp der Mobdernität ericheinen. Die Touriſtenwelt pflegt 
den hiefigen Hotels alles nur erdenkliche Lob zu ſpenden, es jei 
alles da fo ungemein modern, bequem unb fomfortabel; ber 
commis voyageur preiſt die gelhmadvollen und Iururiöfen Eta: 
lagen an ben Schaufenftern; der fremde Jugenieur ift höchlich 
erbaut über die Präzifion des finnländijchen Eifenbahnbetriebes 
und die ben beiten wefteuropäifchen Muftern in nichts nachſtehende 
Ausnugung der Elefirizität; ber Arditeft hat feine helle Freude 
an ber in unglaublich rafhem Tempo forlichreitenden Bautätigfeit; 
der Sopialpofitifer enblich lobt den Finnlänber höchlich bafür, baf 
er ber rau reichlicher als anderswo Mittel und Wege an bie 
Hand gegeben, um ſich eine ſelbſtändige Eriftenz zu fchaffen, und 
Tourift, Arditelt, Ingenieur, Sozialpolitifer und wie fie fonft noch 
alle heißen mögen, die modernen Menſchen, bie hierher nach Helfinge 
fors fommen, vergeſſen in Hundert Fällen gegen einen, daß ſich 
hinter jener vor aller Welt ſich entfaltenden Wirklichkeit der 
„Moberne” eine andre Wirklichfeit verbirgt, bie, hier und da zwar 
verwillert und zerbrödelnb, wie jener Öranit des Hinterhofes, doch 
den Nährboden abgegeben hat und zu gutem Teil noch heute ab— 
gibt für die dur den Flugſamen aus dem Weiten dem Boden 
Finnlands einverleible Modernität. Wer fönnte fie alle nennen, 


Sopiale Berhältniffe in Finnland. 4 


die Mächte des Beharrens und ber Zrabition, die noch auf biefem 
Boben murzeln: Volksbrauch, Volksgeſang und Bolkspoefie, die alte 
ftändifche Ordnung mit ihren Landtagen, die lutheriſche Kirche mit 
igrer eigenartigen Verfaſſung, ben Bauerftand mit feinem zähen 
Konfervativismus. 

Was hier als Mobdernität und überlieferte Mächte einander 
gegenübergeftellt wurbe, es üft, zwar nicht in allen Stüden, aber 
doch im mejentlichen ber die Weltgefchichte immer und überall 
bewegenbe Gegenfag bes bemofratifchen und ariftofratiihen Prinzips. 
Dan weiß aber, daß jede gefunde Entwicklung auf Ausgleich und 
Rompromiß beruht, nad) des alten Goethe, dem mandje ben Sinn 
für das Weltgefcichtliche abſprechen wollen, allbefanntem Worte: 
„Älteftes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefaßt das Neue.” 
Unb fo werben fi benn mohl auch Modernes und Überliefertes 
zu Erſprießlichem einen fönnen, wenn und fofern beide willens 
und imftande find, fid) gegenfeitig zu durchdringen, jedes Beite 
willfährig eines aus des andern Hand entgegenzunehmen. Nach 
leidiger Menſchenart jpielen hier Leidenfchaft und Egoismus be: 
kanntlich die Holle ber Spielverderber, wem aber die ſchöpferiſche 
Kraft des Lebens nicht gänzlich unbekannt ift, dem dürfte auch das 
Vertrauen auf bie Zeit und ihre ausgleihende Wirkſamkeit nicht 
abgehen. Der wenigftens jcheinbar unüberbrüdbaren Gegenjäge 
gibt es in Finnland freilich vieleicht mehr als ſonſtwo; es ſei 
geftattet, fpäter ihrer zu gebenfen und ben Lefer zuvörderſt auf 
ein Gebiet finnländiihen Lebens hinzuweiſen, wo Mobernität und 
Tradition fi willig die Hand reichen. 

Ameritanifchen Urfprungs unb durchaus unter dem Zeichen 
der Mobernität ins Leben gerufen ift bie in Finnland von Jahr 
zu Jahr mehr Raum gewinnende fog. Samjfola oder Gefamtichule, 
eine Schule, in der Knaben und Mädchen von den unterften Schulz 
tlaſſen an bis zur Univerfität ober dem Betreten bes praktiſchen 
Lebens den Unterricht gemeinschaftlich und gemäß im weſentlichen 
gleihen pãdagogiſchen Grundfägen genießen. Auf diefem Schulgebiet 
mun zeigt fi) in Finnland eine überaus erfreuliche Durhbringung 
des Neuen durch das Alte, und anderswo, wie z. B. in Frankreich, 
mo bie Vergärtelung des heranwachſenden Geſchlechts befanntlich 
eine typiſche Erſcheinung des Familienlebens abgibt, würbe eine 
derartige Schule gewiß nicht die gleiche Frucht tragen. Strenge 


452 Soziale Verhältniſſe in Finnland. 


Zucht im Haufe, zumal den Kindern gegenüber, war, als die erfie 
Samifola das Licht des Tages dort erblidte, im alten Finnland 
eine typiſche Erſcheinung und fie bildet recht eigentlich die uner- 
läßliche Vorausfegung eines berartigen Schultypus, welcher zugleich 
ein etwas von den fittlichen Gepflogenheiten bes ftrengeren und 
in feiner Zebensführung und Weltanſchauung nüchterneren Familien» 
Iebens älteren Datums nur durch andere Mittel zu bewerffielligen 
imftande ift. Nach faft einfiimmigern Zeugnis, welches das Urteil 
bes irgend Lebenserfahrenen ſicherlich erhärten wird, bewahrt jene 
Samftola, bei aller Unbefangenheit im Verkehr der beiden Ger 
fchledter mit einander, die Jugend am beflen vor vorzeiliger 
iebelei und vor ben im mobernen Leben nun einmal überall 
zutage tretenden erotiſchen Einflüflen, einer Grotit und Liebelei, 
deren Pflege, gewiß ohne es ſelbſt zu wollen, unfre höheren und 
mittleren Geſellſchaftoſchichten durch Kinderbälle und Dekollet& leider 
To oft Vorſchub leiſten. Man täufche fid) darüber nicht, bie vor- 
zeitige Entwidlung bes Geſchlechtotriebes pflegt recht eigentlich, bie 
Klippe zu fein, an der fo oft gerade die phantafiebegabten Veran: 
Tagungen, die dichteriſch und gemütlich reich ausgeftattete Perſön— 
licpfeit in einer Zeit fcheitert, wo Wille und Urteil noch fo gut 
wie garnicht vorhanden find und daher von eigentliche Zurech⸗ 
nungsfähigleit nicht wohl die Nede jein kann. Für den Anaben 
egiftiert der verführerifche Reiz des Weibes an fi faum, was auf 
ihn verführerifch wirft, pflegt der befondere Aufpug des Weibes 
zu fein, und das Wort „dem Keinen ijt alles rein“, welches 
befanntlih fo gern gebraudt wird, um eine Diskujfion über dieſe 
unliebfamen Dinge furzweg abzuſchneiden, fann im Grunde nur 
fo ange ftihhalten, als die indisfrete Frage: „Aber wo ift denn 
der Neine?” verpönt bleibt. In der Samſtkola aber tritt das 
junge Mädchen ohne allen phantafieerregenden Apparat in ſchlichter 
Häuslichfeit dem Knaben und Jüngling entgegen, und zwar in 
einem Betäligungsrevier, das in erſter Stelle der Arbeit und ihrem 
Ernft gewibmet ift. Alles phantafieerhigende Grübeln liegt fern 
ab, die Gewohnheit läht den Anaben überhaupt mit andern Blicken 
auf das Mädchen fehen, als ſonſt wohl in dem ſchon etwas herans 
gereiften ter gang und gäbe, und find einmal die fritiichen 
Lebensjahre überjtanden, ift das Urteil gereift, der Wille geſtärkt, 
nun, ich denfe, daß Männlein und Fräulein auf dem einmal 


Soziale Berätniffe in Finnland. 453 


betretenen, zwar nüchterneren, aber würdigeren und beiiere Anwart⸗ 
ſchaft auf Erdenglüd gebenden Pfade eine gute Strecke weiter 
tommen werben. 

Gegen die Berechtigung bes jungen Mädchens, neben ber 
männlichen Jugend Univerfitätsftudien obzuliegen, find, von allem 
andern abgejehen, auch vom moralifhen Standpunkt aus Bebenfen 
erhoben worden, die jedoch, was Finnland betrifft, um fo leichter 
ins Gewicht fallen dürften, als lange ſchon bevor die Samitola 
ſich hier zu einem allverbreiteten Schultypus geftaltet hatte, ber 
finnländiſche Student in einer jo harmlos unbefangenen Weiſe mit 
den Töchtern bes Landes zu verfehren pflegte, wie fie anberswo 
mohl zu ben Seltenheiten gehören mag. Dem Finnländer, ins— 
beionbere aber dem Finnländer ſchwediſcher Herkunft, haftele von 
alteröher ein jtarf entwidelter Sinn für Familienleben und Häus ⸗ 
tigkeit inne, ein Einn, dem es weſentlich zu verdanfen ift, daB 
man ſich jo außerordentlid) wohl und behaglid im Skandinaviſchen 
Norden und in Finnland felbjt an Orten fühlte, die, wie das 
Wirtshaus, Hotel oder gar der Bahnhof, font nicht eben Stätten 
bejonderer Gemütlichleit zu fein pflegen. Es ift hier überall bie 
orbnende Hand ber Frau zu jpüren, und aud) das Studentenleben 
in Helfingfors und auf den ſchwediſchen Univerfitäten ift ſtets weit 
davon entfernt geweien, weiblicher Beeinfluiiung aus dem Wege 
zu gehen. Zumal die Doktor- und Viagifterpromotionen hatten ſich 
hier zu wahrhaften Familienfeiten geitaltet, an denen alle weib— 
lichen Angehörigen des Promovenden, jamt der ihnen naheſtehenden 
Damenwelt Anteil nahmen, ein Brand), der Heutzutage leiber jehr 
im Schwinden begriffen zu fein ſcheint. Man fuhr mit blumen- 
geſchmückten Karoffen zufammen durd die Stadt, beim üblichen 
Feiteflen wurde bunte Neihe gemacht und es war eine weibliche 
Hand, bie dem jungen Gelehrten den Doltorhut oder Lorbeerkranz 
darreihte. Man fieht, daß es chen feine allzu breite Kluft zu 
überwinden galt, als mit der Zuerkennung bes akabenifchen 
Vürgerrehts das junge Mädchen im Helſingforſer Auditorium 
neben dem jungen Dane Plag nahm. 

Die Samſtola und der gemeinſchaftliche Beſuch der Vor— 
leſungen konnten nicht ermangeln, der wechſelſeitigen Beeinflufiung 
beider Geſchlechter ihre gang bejondere dharafteriftifche Richtung 
aufjuprägen Nomute man dem Heljingforier Studenten auch 


1 Soziale Verhältniffe in Finnland. 


früher nicht eigentlich nadjfagen, daß er mehr als etwa der Deutiche 
den altüblichen Kneipgewohnheiten nachging, jo jpielten doch der 
heiße Grog und falte Punſch hier früher eine ganz unbeträchtliche 
Rolle, und dürfte das Abftinenzlertum, das heute unter ben finne 
lãndiſchen Studenten jo ſehr verbreitet iſt, auch zu großem Teil 
auf die gleich zu berührende Beteiligung ber afabemif—hen Jugend 
am Gemeinfeben bes Landes zurüczuführen fein, ein gut Teil 
davon, zumal aber die erjte Anregung bazu, iſt ficherlih auf 
Rechnung weiblicher, Einflüſſe zu ſchreiben. Und wie die Aftiva 
Mäßigkeit und georbnetere Lebensgejtaltung bei ber männlichen 
Jugend auf Weibliches zurüddeuten, fo verdankt die weibliche ihre 
oft bewunderungswürbige Nüjtigfeit in förperlihen Übungen unb 
die damit zujammenhängende Friſche und Gefundheit den männ- 
lichen Einflüffen, die ihr auf der Samjlola und Univerfität zugute 
gekommen. Dan gehe nur in ben Helfingforfer Kaiſanemi-Park 
und jehe fi) den zum großen Teil von jungen Mädchen geübten 
Nuberiport an, wie er auf einem jtillen Meeresarm, ber biejen 
Park im Norden begrenzt, von jtatten geht. Den bunten Filzhut 
feemännifd) verwogen auf jonnverbrannter Stirn, führen bie jungen 
Wilingerinnen, je ſechs und fechs auf einem Boot, ihre wirklich 
nicht leichten Nuberjtangen mit einer Kraft und Präzifion, wie fie 
der beftgeihulten Marinemannjhaft Ehre machen würde, während 
ein fünfzehnjähriger Backfiſch, gelaflen und nicht ohne eine gewiſſe 
Wichtigkeit im blühenden Kindergeſicht, den verantwortliden Poften 
am Steuerruder einnimmt. Nicht ohne Grund hat Finnlands 
hervorragendfter Maler, Edelfeld, in Genre und Landidaft, wie 
mid) bünft, bedeutender als in der Hiſtorie, ſich als Sujet mit 
Vorliebe die jungen Mädden Finnlands beim Rudern auserforen, 
zumal auf jtillem Landſee und in der Tagesitunde, wo das herein. 
brechende Zwielicht den Gegenfag von zielbewußter Tatkraſt und 
träumeriihem Dämmerfdein jo ſchön hervortreten läßt. 

Was dem jtubierten Balten, wenn er nad) Finnland kommt, 
in hohem Grade auffallen muß, ift die hier allenthalben zutage 
tretende Unbefangenheit, ja Vertraulichkeit, die man im Verhalten 
der unteren BVolfsklaffen zur ſtudierenden Jugend wahrzunehmen 
in der Lage it. Die Mehrheit der Yeliingforier Studenten 
refrutiert fi) eben aus jehr beſcheidenen geſellſchaftlichen Kreifen 
und zu diefem Umjtande kommt noch cin anbrer, bei weitem mehr 


Soziale Verhältnifje in Finnland. 455 


ins Gewicht fallender hinzu. Das, was wir Deutiche wohl das 
Sinnige, der unintereffierten Rontemplation und Neflerion Zuge: 
mandte zu nennen pflegen und was mährenb unjrer klaſſiſchen 
Literaturperiode als eine Eigengeit bevorzugter Geiſter galt, pflegt 
dem mobernen Finnländer in der Negel ebenfo fern zu liegen, 
wie jene Art geiftigen Ariftofratismus, der, unbefümmert um das 
momentane Zwedliche, jein „Ich“ auch infofern vor feindlichen 
und widerwärtigen Berührungen auszuhüten jtrebt, als dieſe ihn 
in Rontaft mit dem Gemeinen, das Wort hier feineswegs in 
feiner übeljten Bedeutung gebraucht, zu bringen drohen. Der 
moderne Finnländer ift durch und durch Praftifer und als folder 
ſchon in der Jugend dem örtlichen Zwedleben zugewendet, mug 
diefes auch hier und da äjthetifch veranlagte Naturen zurüdichreden. 
Im Durchſchnitt genommen pflegt er feine Studienzeit länger aus— 
zudehnen, als das anderswo der Braud), aber man würde ſich 
fehr irren mit der Annahme, daß er num aud wirklich dieſe 
Studienzeit, vom fameradjdaftlihen Treiben abgelehen, ganz dem 
Hörfaal oder der häuslichen Arbeit widmete. Der hiefige Student 
unterbricht fie wohl auf Monate, ja auf Jahre, um auf jeine 
Weiſe und foweit feine Kräfte reihen, zu Nup und Frommen des 
Volkes oder Staates zu wirfen, denn überall, zumal in dem uns 
fultivierten Norden Finnlands, findet ſich Arbeitsgelegenheit und 
überall fann man ja fein Scherflein beitragen, um jenes Wohl 
wirtlich ober vermeintlich zu fördern, und es ijt bei weiten nicht 
immer der flingende Lohn des leidigen Geldes, es iſt in eriler 
Linie der Patriotiemus und aud wohl der Hang, ſich möglicjft 
früh an praktiſchen Aufgaben meilen zu fünnen, was bie Veran 
laſſung zu ſolchen Erfurfionen abgibt. Der Philologe oder der 
Nalurwiſſenſchaft Befliſſene unterbricht jeine Univerfitätsjtudien, 
um zeitweilig da oder dort als Hilfslehrer an irgend einer Mittel: 
ichufe zu wirfen; der Namerafijt wird auf jeinen Wunjd hin einer 
Gefängnisverwaltung oder einem Zollanıt attadiert; der Zurift 
— man ſchlage einmal das Yeljingjorjer Hufvudſiadoblad vom 
14. Dai e. auf — ließ ſich früher wohl — man höre und ſtaune 
— in die Zahl der einfachen Konjtabler aufnehmen, um vom 
Weſen der Polizei und ihren ehwaigen Mißſtänden fi) eine recht 
deutliche Vorftellung zu maden, ein Umftand, ber das oben 
Geſagte wohl begreiflicher machen dürfte, als es manchem Leſer 








456 Soziale Berhäftniffe in Finnland. 


zuerſt erfcheinen mag. Dan fieht, an Etelle jenes Hauslehrertums, 
das der zeitweilig aus dem alten Dorpat ſcheidende baltiſche 
Student jo gern zu ergreifen pflegte, gibt es hier eine zahlloje 
Menge wenn aud nur beſcheiden remunerierter Voften, bie noch 
vor allendlicher Beendigung feiner Studien ben Helfingforjer Stu 
benten in alle nur irgend erdenklichen Lebensverhältniiie und bis- 
meilen in die entlegenjten Winkel des Landes führen. 

Eine andre, gleichfalls dem praftiihen Leben und feinen 
Aufgaben zugewandte Tätigkeit, die er mit Vorliebe auffucht, ob- 
gleich er Hier nicht immer auf Nemuneration rechnen fann, it 
die in den zahllofen Vereinen, die ber Volfsbildung ober andern 
philanthropiichen Zmweden dienen; da werden Vorträge an ſog. 
Vollsuniverfitäten gehalten, Kaffen im Inlereſſe aller nur irgend 
benfbaren Aufgaben verwaltet, Reden im Sinne der Enthaltjantfeit 
von geiltigen Getränfen an bie Volksmenge gerichtet ober wird 
das Feftordneramt bei Volksfeiten und Beluftigungen übernommen. 
Bisweilen geht man wohl auch jeine eigenen Wege, ohne daß ein 
Verein mit feinen Mitteln hinter einem ſtände. So durchquert 
der Helfingforfer Stubent wohl Finnland von Süd nad Nord, 
von Oſt nah Wet, um Flora und Fauna zu erforſchen, Sprich: 
wörter und Lieder zu fammeln, oft aud bringt er einen ganzen 
Scap örtlicher Volkstrachten mit heim, die er in den verjchiedeniten 
Teilen des Landes aufgejpürt und käuflich eritanden hat, wie denn 
ein jpeziell zum Behufe finnländiiher Koftümkunde in Helfingfors 
errichtetes und noch heute. fi immer mehr bereiherndes Muſeum 
feinen Beftand an bäuerlihen Trachten wefentlich derartiger ſtuden - 
tiſcher Mühwaltung verbantt. Es mag bei ſolchen Streifzügen 
nicht ohne finnomanifche Propaganda abgehen, die dem Helfing- 
forfer Studiojus um fo leichter fallen muß, als er jid) gemeiniglich 
ganz als Kind des Volkes und nicht als junger Herr zu fühlen 
und zu geben pflegt, ein Umſtand, der natürlicerweife. jeine Popu— 
larität ganz ungemein jteigert. 

Nichtung und Fülle jenes großen Stromes, den man als bie 
jogiale Entwicklung eines Landes bezeichnen kann, werden befannt- 
lich durch unzählige Quellen und unzählige Widerjtände beitimmt, 
und ich glaube die Bedeutung ber Frauenemanzipation finniſchen 
Schlages nicht eben zu überſchähen, wenn id) in ihr eine jener 
Quellen ſehe, aus denen eine darafteriftiiche Eigentümlicjfeit des 


Sogiale Berfäftniffe in Finnland. 457 


geiellichaftlichen Lebens in Finnland fließt, das ungemein humane 
Verhalten nämlich ber befigenden und politiſch maßgebenden Kreije 
dem eigentlichen Wolfe gegenüber. Es foll hier ja keineswegs 
überjehen werden, daß die nationalen Gegenſätze, der Antagonismus 
von Schweden: und Finnentum, bei dem zufehends zunehmenden 
Erftarfen des lepteren, die doch nod) immer Wohlhabenheit und 
Intelligenz in hervorragendem Mahe vertretenden ſchwediſchen 
Bevölferungsbeitandteile, insbefondere der größeren Stüble, zu 
ſozialen Kongejfionen drängt, und dod dürfte jeder Kenner ber 
hiefigen Frauenivelt und ihrer Veltrebungen zugeben müſſen, daß 
jene Frauenwelt, ganz unabhängig von dem eben erwähnten Drud, 
ſoweit ihre Stellung und Mittel es geitatten, das ihrige an fozialer 
Beihilfe zu tun feineswegs unterläßt. Daß die nächſten Jahrzehnte 
die Mühmwaltung, die unter den Namen der Sozialreform von 
Staat und Gefellihaft Wefteuropas in Angriff genommen. ift, 
energiſcher noch als bis jetzt geichehen, fortjegen werben und daß 
eine zwingende Notwendigfeit hiefür vorliegt, darüber werden wohl 
nur verhältnismäßig wenige unter ben Gebildeten ſich einer Täu— 
ſchung hingeben fönnen, und als einer ber wichtigiten Bundes» 
genojien für alle einſchlägigen Beitrebungen will mir die Frau 
der Zufunft erjcheinen, deren Einjag bei dem großen Wert, außer 
der Güte und Barmherzigkeit, vor allem noch jener Sinn für das 
Einzelne und ‚Individuelle fein dürfte, welcher der mehr in Bauſch 
und Bogen und im gewilfen Sinne dod immer fcablonenhaft 
arbeitenden Männerwelt nicht in gleichem Maße innezuwohnen 
pflegt. Ein unerlahliches Erfordernis, um ſich an biefer großen 
Aufgabe zu beteiligen, bleibt hier freilich für das Weib die Kenntnis 
des Lebens, wie es ſich im größeren Stil zu entfalten pflegt, und 
jene Bildung, die allein hier die Direltive zu geben vermag. 
Ungemein darakteriftijh für Finnland if, daß hier ein 
Frauentypus, dem man .in Wejteuropa und Nußland nod) recht 
häufig begegnen fann, offenbar im Ausſterben begriffen iſt, ber 
Typus der Dame nämlid, deren gejamtes Wünſchen und Tun 
darauf herausläuft, ein Idol für die Männerwelt abzugeben. 
Das flärkere Vorwalten der Mittelllafjen, die allgemeine Gepflogen- 
heit einen Beruf zu ergreifen, ‚vor allem das rings umher vajtlos 
arbeitende Zwedleben drängen eben jenen Tnpus der Dame zurüd. 
Statt feiner jehen wir hier, immer mehr und mehr bie werktätige 


458 Soyiale Verhältnifle in Finnland. 


Frau, die Frau, welche durch eigene Erfahrung ober durch bie 
Erfahrung ihrer Nädjftftehenden und Freunbinnen Kenntnis ge: 
nommen hat von dem Pflichtleben bejdeideneren und größeren 
Stils, und der allgemeine Bildungsbrang bringt es mit fid, daß 
dabei Vernunft, und oft jehr viel Vernunft und richtiges Ver- 
ftänbnis mit im Spiele ift. Wer fi von biefer Tatſache über- 
zeugen will, dem rate id) die auf alle Gefellihaftstreije ſich 
eritvedende und eine unglaubliche Fülle von Aufgaben in ſich 
fallende Tätigfeit bes hiefigen Martha-Vereins zu jtubieren, was 
leicht durch Lektüre der jährliden Rechenſchaftsberichte dieſes 
Vereins geſchehen kann. Schon ber bloße tägliche Augenſchein 
beiehrt uns über das humane Verhalten ber hieſigen Hausfrau 
ober Zadeninhaberin ihren Untergebenen gegenüber, und wer von 
ihnen etwa durch Veranlagung und Erziefung weniger humanen 
Zweckleben zugeneigt fein bürfte, auf bie übt auf die Dauer Beiſpiel 
und Ürteit ber gefamten Umgebung eine Art moralifhen Zwanges 
aus, der fie ſich der allgemeinen Eitte und Gepflogenheit fügen läßt. 
Die häufig, um nur ein Geringes heranzuziehen, ift es mir hier 
begegnet, daß ich auf meine beim Vermiſſen eines befannten 
Geſichts unter ben aufwartenden Mägden und Verkäuferinnen 
erfolgte. Frage von ber Hausfrau oder Inhaberin des betreffenden 
Ladens die Antwort befam: „DO, die habe ich für einige Woden 
aufs Land geihiet, damit fie ſich dort erhole, denn fie fränfelte 
leider ſchon fange.“ 

Was ſoeben in betreff kleinerer und individuellerer Der 
hältniſſe herangezogen, es gilt in gleichem Maße für die Arbeiters 
verhältnifie größeren Stils, deren Ordnung dem Staat, ber 
Kommune oder individualifierter Zweckgemeinſchaft obliegt. Der 
Ladenſchluß, für die verſchiedenen Geſchäfte auf verſchiedene Tages- 
itunden fallend, erfolgt hier durchſchnittlich zu einer bedeutend 
frügeren Zeit als anderswo; die Vorbereitungen für eine Alters- 
und Invalidenverjiherung bilden joeben den Gegenſtand febhafter 
Diskuffion in einem: zu dieſem Behuf miebergejepten Komitee, und 
es dürfte für den ferner Stehenden nicht ohne Intereffe fein, die 
Art und Weije kennen zu lernen, in ber derartige Angelegenheiten 
hier gemeiniglih behandelt werden. Bor wenigen Tagen wurde 
bier feitens zweier Vereine, dem der Handelsgehülfen und der 
Geichäftsbedieniteten, eine Petition an die örtliche Handelsgilde 


Soziale Verhaͤltniſſe in Finnland. 459 


gerichtet, in ber die beiden Vereine, unter Hervorhebung bes ihnen 
wohl befannten Gemeingefühls und Wohlmollens ihrer Prinzipale 
und auf das VBebürfnis der Gehilfen hinmweilend, abends an ben 
zahlreichen Fortbilbungsvorträgen finniiher und ſchwediſcher Zunge 
teilnehmen zu fönnen, um einen auf alle Gefcäftszweige dieſer 
Art auszudehnenden Ladenſchluß für fieben Uhr nachmittags buten. 
Nach längerer Debatte ging die Gilde bedingungsweile auf das 
Anſuchen ein, ber Ladenihluß für fieben Uhr nachmittags wurde 
einitweilen für ein Jahr, mit Ausſchluß ber Weihnachtszeit, ben 
Gehilfen zuerfannt und zugleih ein aus ben hervorragenbiten 
örtlichen Gejdäftsmännern zujammengefegtes Komitee niebergeiegt, 
das ſich anheiſchig machte, durch moralijche Einwirkung auf die 
eventuell renitenten Kollegen in Nichtung ihres freiwilligen An: 
ſchluſſes zu wirfen, mas, da bie Mitglieder des Komitees eben 
die angejehenjten faufmännifchen Firmen ſchwediſcher und finnifcher 
Zunge an Stelle und Ort vertraten, an einem jpäteren allgemeinen 
Infraftjegen jenes Veſchluſſes nicht weiter zweifeln läßt. 

Auch der perfönliche Verkehr zwiſchen Herrſchaft und Dienftz 
boten, Arbeitgebern und Arbeitern, wie überhaupt der oberen 
Geſellſchaſtoſchicht, ſobald diefe in Berührung mit ber unteren 
fommt, nähert ſich in Finnland einer Vertraulichkeit, wie man fie 
bei uns in ben Baltijhen Provinzen nur jehr jelten antreffen 
dürfte, und man fann mohl mit Nedht hinzufügen, daß in der 
Regel der kleine Mann hier durdans nichts von jener Dreijtigfeit 
und jenem zubringlichen Wejen babei an ben Tag zu legen pflegt, 
wie es leider jo oft bei bem entiprechenden Verfahren bei uns zu 
bemerfen ift. Hier und da begrüßen ſich wohl ein Stubent und 
ein einfacher Arbeiter mit freundlichem Händedrud auf der Straße, 
es find eben Verwandte, ober fie haben in irgenb einem Verein, 
der ja jedermann bier zugänglid, vorher Betanntihaft gemacht. 
As ich vor einigen Jahren aus einer Art jugendlicher Bewun⸗ 
derung für die derbe Plaſtik Bürgerſcher Dichtung des Dichters 
ehemaliges Heim in dem Göttingen benachbarten Altengleien auf- 
ſuchte, hatte ich Gelegenheit in einem Kreije jugendlicher Neferen- 
dare und Ausfultanten, lauter ehemaliger Göttinger, Aufnahme zu 
finden, bie eben im Begriff waren, ſich über die Autorſchaft der. 
Unterſchrift von Klinferfuß’, des berühmten Aſtronomen, Bildnis : 
„Es irrt der Menſch fo lang er ſtrebt“ zu jtweiten, wobei cinige- 





480 Soziale Berhältnifie in Finnland. 


ber übrigens fehr freundlichen und in ihrer Jurisprudenz gewiß 
wohl beſchlagenen Herren auf Uhland, andere auf Heine rieten. 
Ein junger Mann, deſſen Obliegenheiten in dem übrigens urgemüt: 
lichen Wirtshaus fi nur wenig über die eines gewöhnlichen 
Kellners erheben mochten, fchlängelte fich dabei in äußerfter Ber 
fangenheit rund um einen überaus firamm und felbjtbewußt brein- 
ſchauenden Jünger des höheren preußiihen Staatsdienftes, ber bei 
der Disfuffion durdaus auf feinem Heine beharrte und dem ihn 
umfreifenben Trabanten hin und wieder einen freundlich verlegenen 
Blick zuwarf. Als bie Herren nad dem üblichen Frühfchoppen 
ſich wieder aufs Amt begeben hatten, teilte mir ber foeben nod 
Hart Vebrüdte nicht ohne Stolz mit, der Herr Neferendar, neben 
dem ich joeben geſeſſen, jei fein leiblicher Bruder, dem gewiß, 
bank feiner glänzenden Fähigkeiten, eine gute Karriere bevorjtehe, 
und, fügte er mit beionderer Lebhaftigfeit Hinzu, „es mird ganz 
gewiß Heine geweien jein, das fünnen Sie mir don glauben.“ 
Diefe alte Geſchichte iſt mir in Finnland mehr als einmal in den 
Sinn gefommen. 

Die friedliche Rückeroberung Finnlands durch das auch ful- 
turell immer mehr Raum gewinnende genuine Finnentum muß 
wohl uns Balten als ein. Prozeß erjdeinen, ber uns nicht eben 
anheimeln fann, und dieſe Nüceroberung liegt fo ar zutage, daß 
jedes Sichhinwegtäufhen über fie zu ben Illuſionen zu zählen ijt. 
Längit Schon ift nichts mehr von jener früheren: Gepflogenheit des 
Finnen, wenn.er es zu Vermögen und Bildung gebracht, für einen 
Schweden gelten zu wollen, jpürbar, und wer die faihionabeln 
Stadtteile von Helfingfors verläßt, um fi in den ganz umver- 
hältnismäßig umfangreicheren Nevieren ber Stadt, die der Fremde 
nur jelten. betritt, umzufehen, hört fait ausſchließlich und allein 
ſinniſch ſprechen, und fann, wenn man fid, in ſchwediſcher Sprache 
verfländigen will, in zehn Fällen gegen einen, fiher jein, nicht 
verjtanden. zu werden. Mie eine Art trogiger Gerausfo.derung 
gegen. bas früher allgewaltige Schwebentum ragt ſchon jeit ein 
paar Jahren das finnijche Theater dem älteren Kunſtmuſeum 
Finnlands gerade gegenüber, ein wirklich gigantiiher Bau, ein 
wenig ans Eyflopenhafte erinnernd und in feiner robujlen Ge 
ſGioſſenheit wohl auf ein Jahrtaufend derechnet. Sollte der Tempel 
der mimifhen Kunft nad) Richard Wagner wirklich das Zentrum 


Soziale Berhäftniffe in Finnland. 41 


fein, in dem alle Künſte, harmoniſch vereinigt, durch ihre Gejamt- 
mirfung jenes zarov «' aradov ber Griechenkultur einem zu jungem 
Selbftbewußtfein fommenden Volke einzuflößen hätten, nun, fo 
würde ber Sinne ſicherlich mit den Unfummen, bie er für feinen 
Theaterbau ausgegeben, ſich feiner Verjchwendung ſchuldig gemacht 
haben; ob aber und inwieweit die Perle ber genuin finnifchen 
KRunft der Großartigkeit ihres Gehäufes entiprehen bürfte, ja, 
darüber wagt Schreiber biefes ſich fein Urteil beizumefien. Ein 
Gutes mindeftens fann dem langjährigen und noch fange nicht zu 
Ende geführten Antagonismus zwiſchen Schweden: und Finnentum 
in Finnland mit vollem Recht nachgeſagt werden, und das ift, daß 
dieſer Antagonismus dem Lande eine ganz ungemein rührige 
ſoziale Geſchichte geſchenkt hat, die die von Haus aus vielleicht 
etwas trägen Volfsgeifter gewaltiam aufrüttelte und, wie mir 
fcheinen will, die gegenwärtige Kultur Finnlands im Bunde mit 
ber Wiederbelebung der Landtagstätigfeit in den fechziger und dem 
ungewöhnlichen materiellen Aufſchwunge in den fiebziger Jahren 
des vorigen Jahrhunderts recht eigentlich) zuwege gebracht hat. 
Dem Wetteifer auf dem Gebiete ſozialer Tätigfeit, welder ganz 
wejentli als eine Folgeerſcheinung jenes Antagonismus zu ber 
trachten ift, entipricht nun namentlich das Daß der Anteilnahme 
aller Geſellſchaftsklaſſen am Wohl und Wehe der Gefamtheit, 
welche Anteilnahme, je nad) dem politifch:nationalen Standpunkt 
bes Einzelnen, ja allerdings oft von einer Art Fanatismus diltiert, 
in bie Jrre gehen kann, im Großen Ganzen genommen jebod das 
bürgerliche Bewußtfein in hohem Grade geitärft und gereift hat. 
Es fei hier nur auf ein der jüngften Vergangenheit angehöriges 
Beiſpiel hingewiefen, weldes zwar bei uns ſehr verſchiedene Ber 
urteilung finden wird und das ic), ohne irgendwie Partei ergreifen 
zu wollen, lediglich als charakteriſtiſch für die Art anführen möchte, 
in der jet, da die Wogen bes Parteifampfes in Finnland wieder 
höher zu gehen beginnen, dieſer Rampf geführt wird. Ganz vor 
furzem, ich glaube es war noch im Mai, hatte fich in dem fleinen 
finniſchen Städtchen Rajana, wo ſich ein Volloſchullehrerſeminar 
mit finniſcher Unterrichtsfpradhe befindet, das Folgende zugeiragen. 
Die fogenannte fonjtututionelle Partei der Spelomanen und 
Jung: Finnomanen hielt in dem Orte ein Meeting ab, an dem 
der örtlide Seminardireftor, ohne eine Einladung erhalten zu 


462 Soziale Verhältnifie in Finnland. 


haben, teilzunehmen fi) gemüſſigt fühlte, obgleich er zur fonjerz 
vativen Partei der Alt-Finnomannen oder jomelarianer, wie fie 
nad ihrem Prehorgan jet hier genannt werben, gehörig. faum 
auf einen befonders wohlwollenden Empfang feitens der Verſam— 
melten rechnen konnte. Was vorauszufehen war, gefchah, denn 
der übrigens vielleicht jehr tüchtige Pädagoge wurde ausgeziſcht, 
wichtiger aber war, daß er bei ber Gelegenheit ſechs von jeinen 
Seminariften in ber verpönten Verfammlung antraf und ihnen 
allen das consilium abeundi erteilte, was zur Folge hatte, doß 
ſaͤmtliche Seminariften ihren Austritt aus dem Inftitut erflärten. 
Bei uns zu Lande würde man von einer Ähnlichen Sache wohl nicht 
viel Aufhebens machen, anders hier, wo der freiwillige Austritt 
jener Seminariften und das Verhalten bes Direflors in ber 
liberal⸗ſvekomaniſchen und jung-finnomaniichen Prefje und Gejell- 
ſchaft einen Sturm ber Entritung ober ber Bewunderung wach- 
tief, der an bie berufenen Böltinger Sieben und den König Georg 
Auguft von Hannover erinnern kann. Cine ganze Woche lang 
murde ber Fall in den beiden Helfingforfer Zeitungen eingehenditer 
Behandlung unterzogen, ein von hunderten Volfsfhullehrer beiuchtes 
Meeling in Helfingfors legte feierlich) Proteit ein gegen das Ver— 
fahren des Direktors, eine ähnliche Proteſtäußerung kam von Hangö 
und bie Seftion der fogenannten Ojfterbottninger unter ber hiefigen 
Studentenſchaft beglückwünſchte Durch ein Telegramm bie Semina- 
riften für ihr ſtandhaft patrioliiches Verhalten. 

Eine der in Petersburg zur Stunde jo häufig tagenden Ver 
fammlungen, in denen der rufiiiche Hadifalismus jeinem Glaubens 
befenntnis und feinen Defideraten Ausdrud gibt, hat ſich jüngfihin 
in der Richtung ausgeſprochen, man folle ruſſiſcherſeils den Finn: 
ländern die Öejtaltung ihrer eigenen Dinge durchaus anheimgeben, 
vorausgejegt, daß die fünftige Nepräfentation des Landes auf dem 
allgemeinen, biveften und geheimen Wahlrecht beruhen würde. 
Dan fieht, jenem Radikalismus iſt die heutige ſtändiſche Ver— 
faſſung Finnlands ebenfo wenig fympatpifh, wie es ihm früher 
das ariftofratijche Selfgovernment der Baltiſchen Provinzen war. 
So fehr hier nun auch früher die alte jrändiihe Orbnung in ihrer 
tulturfördernden Bedeutung, wenn aud nur anbeutungsweije, ge: 
würdigt wurde, daß ihr nod) eine fange Dauer bejdieden fei, 
dürfte doch mehr als fraglich erſcheinen. Dem gewaltig ſich 








Soyiale Berhältniffe in Finnland. 463 


reckenden und jtredenden Körper bes Sozialen will, mie mic 
bünft, das ſtramm zugefchnittene Gewand bes überfommenen 
heimifchen Staates mit feinem Stänbetum, das ber Dlobernität 
fo fehr widerſpricht, nicht mehr ganz entipredien. Zieht man bie 
Familienvertretung bes zwar ſehr Teiltungsfähigen, aber zufolge 
feines nur ſehr mäßigen Landbefiges namentlich örtlich wenig 
bedeutenden Adels, das nad) ber Kommunalfteuerpfficht bemeſſene 
Pluralitätsfiimmrecht der ftäbtifhen Bürgerfchaft und den Wahl: 
modus, wie er bei Priefter und Bauer vorhanden ift, zieht man 
das alles in Betracht, jo wird deutlich, daß im Grunde nur ein 
fehr Meiner Teil ber Bevölferung an ber Bildung des Gefamt: 
willens, wie er auf bem Landtage, wenn aud unter ftänbifchen 
Formen, zum Ausdruck kommen fol, partizipieren kann. Stellt 
man biefer Tatjahe ben ftarfen Pulsichlag öffentlichen Lebens, 
bie Interejfen, Auſprüche und Beftrebungen, mit einem Wort bass 
jenige gegenüber, was wir hier bei Ermangelung einer andern 
Bezeihnung ſchon mit dem etwas ſchulmäßig lautenden Terminus 
„sozialer Faltor“ bezeichnen müfjen, fo dürfte es ziemlich deutlich 
fein, daß bie alte ſtändiſche Vertretung über kurz oder lang hier 
einem auf andrer Bafis errichteten Vertrelungsmodus Plag machen 
mird. Was in betreff des lepteren, man möge ihm durch einen 
Zenfus und indirefte Wahlen einen noch jo fehr fonfervativen 
Intereſſen Rechnung tragenden Charakter geben, zu ſchwerwiegenden 
Bebenfen Veranlaffung geben muß, wäre wohl die Frage, in wie⸗ 
meit durch einen berarfigen Schritt bie fpaltenden Gegenfäge 
zwiſchen Finnen: und Schwebentum ausgeglichen, gefteigert oder gar 
im Sinne der Alleinherrfcaft jenes erfteren entichieden würden, 
denn bei bem alten ſtändiſchen Vertretungsförper war, folange der 
Wahlmodus der Städte intaft blieb, wenigitens Parität zwiſchen 
beiden Stämmen gefihert, indem bem finnomanijchen Bauer- und 
Prediger, oder wie man hier fagt, Priefteritande der ſwekomaniſche 
Abel und das fwelomanifche Bürgertum die Wage hielten. So 
mandje Bejorgnis fid) bei derartigen Fragen geltend machen mag, 
einen Troft fann man dem ſchwediſchen Element in Finnland 
geben: das finniſche nämlich, fo jehr es auch bisweilen das 
örtliche Schwedentum prinzipiell zu negieren liebt, ift, fofern es 
zu Bildung und Wohlitand gefommen, durch eine fange Geichichte 
fo durch und durch in Lebensgewohnheiten, Glunbe, Staats und 


464 Soziale Verhältnifie in Finnland. 


Rehtsanihanung von ſchwediſchen Fermenten durchdtungen und 
gelättigt, daß wenn einmal bie völlige foziale Gleichheit beiber 
Elemente, aus denen das Volk Finnlands ſich zufammenjegt, ber- 
maßen zur Gewohnheit geworden iſt, daß biefe fi) als altera 
natura ausweilt, das Defiderat des friedlichen Neben und In— 
einander wohl zur Wirklichfeit werden dürfte. 








Beitere Gedanken zur Binerteilung in Livland. 


Don 
9. Riekhoff, Paitor zu Torgel. 


m Febrnar-Heft diefer Monatsihrift ijt ein Vortrag von Paftor 

RechtlichGudmannsbach über die Pfarrteilungsfrage erſchienen. 
Ein jeder Leſer wird ſchon vorher den berührten Notjtand unfrer 
Zanbesfirhe gefannt haben, liegen doch die Tatfahen jedem 
Landeskinde täglich vor Augen. Cs ift eine förmliche Reife von 
einem Paftorat zum andern. Auf das livländijhe Durchſchnitts- 
firchipiel entfallen nicht weniger ald rund 350 Duabrat:Kilometer, 
ein Slächenraum, an den mander deutſche Kleinſtaat nicht herans 
reiht. Derjelbe Flähenraum umfaßt in Preußen jtatt einer ca. 
10, in Sachſen 20 Parochien uſw. Freilih haben Skandinavien 
und Finnlond noch manche ausgedehnte Parochien, aber in dieſen 
Ländern iſt entweber die Vevölferung noch ſehr dünn gefät, ober 
es arbeiten bei größerer Seelenzahl mehrere Geiftlihe, manchmal 
45, an einer Gemeinde. Bei uns trifft Beides zur 
fammen: ber riefenhafte Umfang mit der riefen» 
haften Seelenzahl. Die Livländiihe Kirche hat in biefer 
Beziehung einen Weltrekord erreiht. Nur bie von aller Welt 
abgejdjiebenen und aus biefem Grunde nicht zum Vergleich geeig 
neten Wolgakolonien können ſich mit Livland meſſen, ebenfo ein 
Zeil der wirklihen Diafpora in Rußland — durhaus nicht die 
ganze, — wiederum fein Vergleihspunft. Neben die ganze übrige 
evangeliſche und auch die katholiſche Kirche geftellt, Hat die livlän— 
diſche demnach die wenigiten geiſtlichen Kräfte. Je mehr nad 
Oſten, um fo ſchlimmer wird es bamit, denn die Führung haben 
der Werroſche, Dorpater, Fellinihe und Wallſche Kreis. Nur bie 
Inſeln bieten ein erfreulicheres Bild, Unſre Schweiterprovingen, 
Eitland und namentlid) Kurland, find ſchon etwas beifer verforgt, 

Baltifge Monatafteilt 1005, deſt 6. 2 


408 Bur Porreifung in Livland. 


dennoch bleibt die kirchliche Rieſengemeinde als erſchreckendes 
Charakleriſtilum ber ganzen baltiſchen Erbe beſtehen. 

Wenn alſo der Ruf zur Abhilfe aus Livland zuerſt ertönt 
ift, war das ben Verhältnifen entiprechend, boch ift es eine fo 
große Angelegenheit und Aufgabe, daß fie durchaus alljeitiger 
Befprehung bedarf, wenn fie werben folle. Deshalb möchte ich 
in biefem einige ergänzende Bemerkungen zu Paſtor Rechtlichs 
Ausführungen bringen, mit dem ich mid) in allem Weſentlichen 
natürlich eins weiß. Was ich vorbringen will, iſt in der Haupt» 
fache basfelbe, worüber ich mid) auch fchon auf Synoden auszu- 
ſprechen Gelegenheit gehabt habe. Die weiteren Bemerkungen 
follen ſich beziehen I. noch auf den Notftand felbft, II. auf jeine 
geſchichtlichen Urſachen, III. auf feine Abhilfe. 


IL Beitere Bemerkungen zum Notſtand ber 
Riefengemeinden. 

Hier möchte ih verfuchen Marzulegen, baf der Notſtand 
noch um ein Stüd größer ift, als bisher gezeigt 
mworben. Ich darf zugleich fagen, daß es auch in dem nun 
folgenden Punkte zu einer völligen Werftändigung zwiſchen Paftor 
Nehtlih und mir gekommen ift. Weshalb nun ift der Notftand 
noch ein Stüd größer, als gezeigt worden? Weil es nicht angeht 
5000 Seelen ſchlankweg noch für eine Normalgemeinde zu erklären. 
Diefe Zahl bezeichnet gewiß nur bie äußerte Norm, während das 
wirklich Normale erſt in der Lage von 3000 beginnt, noch weiter 
Binunter liegt dann das Ideale. Auf das Ideal fann man, ob: 
wohl mit Wehmut, verzichten, aber vor der Forderung des Nor: 
malen gibt es fein Nusmweichen. Bricht fi alfo in Livland all- 
maͤhlich die Überzeugung Bahn, daß bie Fünftaufendgemeinde feine 
Heine Gemeinde, fondern vielmehr die eben gewordene Niefen- 
gemeinde ift, wird es ebenfalls Far werden, daß ſchon eine ſolche 
fo bald als nur irgend möglich geteilt werben muß. Dann jedoch 
mädjit ber Prozentſatz der teilungsbedürftigen Pfarren Livlands 
noch um ein beträchtlides; der Notjtand ijt, wie gejagt, noch 
größer, als bisher gezeigt worden. 

Wie aber nun, wenn die hier aufgeitellte Norm bisfutabel 
wäre? Wenn andre, wie Paſtor Rechtlich andeutet, der Meinung 
find, daß aud 7000-8000 Seelen nod von einem Paſtor feel: 
forgerifch bebient werben fönnen, andre 5000 für feine übermäßige 
Aufgabe halten — womit will Schreiber diefes das von ihm 
genannte Maß als das einzig richtige erweiſen? Gibt es über 


Bur Pferrteifung in Siolanb. 187 


haupt ein einheitlich geltendes Maß? — Num, ein bis auf bie 
Seele genau beftimmbares felbitverftänblidy nicht, aber doch eine 
ungefähre Richtſchnur, wie bei allen Dingen. Wo ift aber jetzt 
der ftringente Beweis, baß gerade zwiſchen 3000 und 5000 ſich 
das Übergangsftadium von Normalem zum Unnormalen befindet, 
ober mit andern Worten, daß von 3000 Seelen an aufwärts bie 
feelforgerijhe Arbeit auf Schwierigkeiten zu ſtoßen beginnt? — 
A priori einen ſolchen Beweis auszurechnen ift gewiß ſchwierig 
und dazu undanfbar, da derartige Voranſchläge nur wenig Glauben 
finden. Aber die Erfahrung muß mohl gelten, — eine jahres, 
jahrzehnte:, ja jahrhundertlange Erfahrung? Und nun erſcheint 
als Erfahrung ber ganzen evangeliſchen Kirche eben bie oben 
angeführte Norm. Deshalb muß fie richtig fein. In Deutſchland, 
um mit unfrem geiftigen Wutterlande anzufangen, fteht die durch- 
ſchnittliche Seelenzahl — für ganz Deutichland gerechnet — eher 
unter 2000 Seelen pro Pfarrer, als darüber. Ein unbedeutender 
Reſt von Parochien in Dftpreußen, bie an unfre Verhältnifje ger 
mahnen, ift Veratungsgegenftand ber legten preußiichen General: 
ſynode geweſen. Dlan hat mit herzbeweglichen Worten bie fofortige 
Verkleinerung derfelben verlangt. Faſt die Hälfte davon waren 
Gemeinden von nur 5000 Seelen, nad} unjrer Redeweiſe geiprochen. 
Alfo fieht man dort bei 5000 bie marimale Grenze 
des Mögliden bereits überſchritten. Wenn ferner 
in ben großen Induftriegentren urplöglic ebenfalls Niejengemeinden 
entjlanden find, jteht man auch bort nicht der Tatſache indifferent 
gegenüber. Ohne das Ziel der Pfarrvermehrung aus den Augen 
zu laffen, hilft man ſich nur einjtweilen mit bem Inſtitut ber 
inneren Miſſion. Dieſes die deutſche Auffaſſung unfrer brennenden 
Frage. Auf anglofähfifhem oben (England, Schottland, 
Nordamerika, Auftralien) finden wir durchgängig noch Fleinere 
Gemeinden, als auf deutſchem, jedoch aud in den ſkandi— 
naviſchen Ländern (Schweden, Norwegen, Finnland) kommen 
weniger als 3000 Seelen auf einen Geiftlihen. Der Biſchof 
von Finnland Guftav Johannjon hat die Güte gehabt, mic über 
dortige Verhältniffe zu orientieren. Unter andrem heißt es in. dem 
betreffenden Schreiben wörtlih: „Bei uns iſt man der 
Meinung, daß ein Pfarrer niht die GSeeelforge 
bejorgen fann, wenn die Parodie mehr als 3000 
Einwohner hat!” 

So ift es denn eine Erfahrung aller, daß bie Normal- 
gemeinde ſich zwiiden 2000—3000 Seelen befindet. Haben wir 


Pr 


468 Bur Pfarrtelung in Siofand, 


es aber mit einer Zebenserfahrung aller zu tun, bürfen mir bie 
ſelbe unbebenflih aud a priori annehmen? Wird es fernerhin 
durch Gottes Gnade zu bedeutender Vermehrung ber geiſtlichen 
Kräfte und damit zu ausgebehnterer Seeljorgemöglichleit für den 
Paſtor bei uns fommen, wirb nicht weniger unfre eigene Erfahrung 
immer enticiebener der allgemeinen recht geben? An Anzeichen 
für die wachſende Erkenntnis fehlt es ſchon jept nicht. Diele 
gewichtige Berjönlichfeiten unter unfren Lanbpajtoren verlangen 
feit längerem Heranziehung von Laienhelfern für die paftorale 
Arbeit, gewiß doch nur, weil fie merken, daß die eigene Kraft 
nicht genügt. Es find darunter auch ſolche Geiſiliche, melde 
Gemeinden von 5000 Seelen vorſtehen. Dies ift nun doch bie 
Einficht, daß ſchon ein ſolches Kirchſpiel mehr nötig hat, als einen 
einzigen Paſtor. Cs fcheint nur ber beſchriebene Weg fein gang 
barer, was ſchon daraus erſichtlich, daß die betreffenden Männer 
fo wenig Schule machen. Die an fich jo löbliche Abficht hat aber 
ein „Aber“! Wird in einer größeren Stadt ſolch ein Helferbienit 
organifiert, finden ſich nicht nur leichter paſſende Helfer, jondern 
unter ber Anzahl der Paſtoren immer auch folde, die durch fpeziell 
organifatoriiche Begabung geeignet find, die Seele ber ganzen Ein- 
richtung zu werben. Unter der unmittelbaren Führung dieſer 
vermögen dann auch die übrigen Brauchbares hervorzubringen. 
Wie anders verhält es fi) auf bem Lande? Die Zjoliertheil des 
einzelnen Predigers, die bei uns ftets außergewöhnlidy groß bleiben 
wird, bringt es mit ſich, daß jeder für ſich ausgejprodhener Orga 
nifator jein müßte, wenn ber Helferdienſt gedeihen joll. Weil 
aber eine ganze Kirde von Paſtoren dieje befondere Gabe nie 
befigen wird, gehört es meines Erachtens einfach zu den phyſiſchen 
Unmöglijfeiten, daß ein für unfre Niefengemeinden genügender 
Diofonat über ganz Livland Verbreitung finden follte. Deiner 
Meinung nad) iſt dies der einfache Grund, weshalb jene Männer 
nicht Schule machen, obwohl es ihnen gewiß nicht an Anjehen 
und Anerkennung fehlt. Es hat auch, wie wir fahen, feine andre 
evangelifhe Landestirhe bei entjtchenden Niejengemeinden den 
Diafonat, ſondern immer nur bie Pfarrteilung ins Auge gefaht. 
Natürlich fol damit nicht behauptet werden, daß ein jeder Helfer 
dienſt verpönt wäre. Auch in der Normalgemeinde wird der Paſtor 
immer Helfer haben müſſen. Er wird aber dort die Hauptarbeit 
perjönlih ausführen, jo dak für die Helfer nur Ergängungsarbeit 
in Frage fommt. Beides iſt forreft. Ganz anders in der Rieſen⸗ 
gemeinde, hier müßte wegen Nichtlönnens auf Seiten des Predigers 


Zur Pfarrteilung in Livland. 469 


die Hauptarbeit den Helfern verbleiben, der Paſtor hätte gleichlam 
nur ein biſchöfliches Aufiihtsamt. Allein, da lag ja ber. Fehler! 
Ein jeder trene Chrift mag bei genügender Vorbildung ein guter 
Seelenhirte werden, zum höheren Auffichtsbeamten jeboc gehört 
eigentümliche Veranlagung. 

Hiemit darf wohl das Kapitel über den Notitand geſchloſſen 
werben. Derfelbe iſt alſo, mit dem Maßſtabe aller übrigen Kirchen 
gemeilen, nod) etwas größer, als nad) den bisherigen Schilderungen, 
ber Dialonat aber bietet fein paſſendes Remedium. Wir brauchen 
für jeden Full die nötige Zahl von Paſtoren und Kirchen. Es ift 
gut fo, wenn wir uns jofort anfangs die ganze Notlage vergegen 
wärtigen. Nur wer die ganze Gefahr überblidt, rüjtet ſich voll. 
Endlich) geht e8 aus rein organifatorifhen Gründen nicht an, das 
Land zuerft in Kirdjipiele von 5000 Seelen zu teilen, "um dann 
jpäter einmal vielleicht auf 3000 überzugehen. Die kirchlichen 
Mittelpunfte mũſſen doch bei dem einen Plan ganz anders gewählt 
werden, als beim andern. Wie will man fie denn fpäter ver- 
jegen, da wir doch wohl feine fliegenden Kirchen und Pajlorate zu 
bauen gedenfen? 


U. Beitere Bemerkungen zu ben geſchichtlichen 
Urfaden des Notjtandes. 

Beſondere Wirkungen haben auch befondere Urſachen. Die 
außerordentlich betrübende Erfdjeinung, daß das livländiſche evan- 
geliſche Volt nach vierhunbertjähriger Entwiclung kirchlich nod jo 
überaus ungenügend verjorgt ift, muß aud eine außerordentlich, 
traurige Geſchichte Hinter jih haben. Nun, von den drei baltiſchen 
Provinzen hat Livland als Lieblingsfpielball der Völker die ſchwerſte 
Vergangenheit. Es wird aber in dieſem Zufammenhange erfordert, 
im befonderen darzulegen, welde Schädigung das kirchliche Leben 
durch die allgemeine Lage erlitt. Paſtor Rechtlich Hat den geſchicht⸗ 
lichen Teil nur kurz berührt, deshalb möchte ich eine etwas eins 
gehendere Beleuchtung verſuchen. 

Kaum war die Neformationsfirde notdürftig organifiert, 
entlud ſich auf diejelbe ſchon der wilde, ſinnloſe Polenfturm. 
Gottes Gnade verkürzte, wie immer, auch dieſe Zeit äußeriler 
Bedrängnis, dennod) lagen icon unzählige Kirchen in Aſche und 
Staub. &s folgte num die jhediiche Zeit, wahrlid) wie heller 
Sonnenſchein nah dem Gewitter! Selbft feit und warm im 
lutheriſchen Glauben jtehend, hatte die ſchwediſche Negierung ein 


170 Zur Pfarrteifung in Sioland. 


Herz für unfre Wunden. Sie begann fofort mit bem Wieber- 
aufbau der zerfiörten Kirchen und Neuinftallierung ber Geiſtlichen. 
Sie machte fi aber aud an den Weiterausbau der Kirche. Sie 
ſchuf die Regulative und Grundgefege einerjeits, anberfeits jedoch 
aud) neue Kirchen und Pfarren. Nach Buſch find in ſchwediſcher 
Zeit nicht weniger als 20 Kirchen gebaut, wo früher feine waren, 
und 19 Pfarrteilungen ins Wert gefeßt. Das war bamals fein 
geringer Progentfag. Danach unterliegt es wohl feinem Zweifel, 
daß fie es ſich angelegen fein ließ, unfre Verhältnifie nach der 
eigenen, ber Norm Schwedens, zu gejtalten. Aber die gegebene 
Zeit war zu kurz, um das gefegnete Werk zu vollenden, es blieb 
ein begonnene. So ift denn der Grund, daß unfre kirchliche 
Entwidlung zum Stillftande kam, rein hiſtoriſch betradtet 
eben die Kürze der Ehmwedenregierung. Da in der 
nachſchwediſchen Zeit, obwohl fie ſchon doppelt jo lang geworden, 
nur 7 neue Kirchen (gegen 20) gebaut und 14 Pfarrteilungen 
(gegen 19) bewirkt find (alfo nur 3'/, refp. 7 verhältnismäßig), 
ift biefer Beweis wohl erbracht. Doc) ift noch manches an inneren 
Gründen zu nennen. Die nachſchwediſche Zeit des 18. Jahrhunderts 
fülten allgemeine Armut infolge ber vielen ſchweren Rriegsläufte, 
Xeibeigenihaft und ſchließlich auch der Nationalismus, — drei 
Verbündete, gegen die es menſchlich geredet fein Nuflommen gab. 
Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts freilich verzogen ſich die 
Wolfen rajd eine nad) ber andern. Ein neuer wirtſchaftlicher 
Aufſchwung machte ſich bald bemerkbar, das Jod der Leibeigen⸗ 
ſchaft fiel, von ber Kanzel verſchwand die übe DVernunftpredigt 
allmählich, das einzige und allein debenjpendenbe Evangelium fam 
von neuem zu Ehren. Dennod) jehen wir auch dann noch nicht, 
daß das filtierende Pfarevermehrungswerf mieder in Angriff 
genommen wäre. Was waren die Gründe? 

Ein andauernd anormaler Zuftand pflegt ſchließlich Apathie 
gegen denjelben hervorzurufen. Auch bei verbeijerten Verhältnifen 
dauert 8 dann meijt immer eine Zeit, ehe fih der Menſch aus 
der Apathie weden läßt. Dieje allgemeine Urſache wird gewiß 
auch mitgewirkt haben. Allein es zeigen fid) noch bejondere Ur— 
ſachen. Auf Seiten des Volfes find es die von Paſtor Rechtlich 
geltend gemachten Gründe. Gar zu wenig perſönliches Verhältnis 
zum entfernten, unerreichbaren Prediger, der, wie es ſich bei 
Riejengemeinden von felbjt ergibt, in die Ericheinung bes einzelnen 
nur dann tritt, wenn er ihn wegen ſchwererer oder ſchwerſter 
Delikte vor ſich zitiert, ein oberjter Direktor der Kirchenpolizei. 


Zur Pfarrteilung in Siofand. az 


Dazu ift er in den Augen bes Voltes ſchwer reich, endlich mehr 
ober weniger aud) ein Frember, der wenigitens im 18. Jahrhundert 
taum jeine Sprade verfteht. Es wurden ja damals die Prediger 
noch meijt bireft aus dem Auslande berufen. So viel Gründe, 
fo viel Grade der Erfältung gegen den Paitor im Vollsherzen. 
Wahrlich, es it fein Wunder, wenn vom Bolfe feine Jnitiative 
zur Baftorenvermehrung ausging, fein Wunder, wenn ein Bolt, 
das nichts beileres geichen, den Fehler zu jehr in den Perfonen, 
ftatt in den Inftitutionen juchte, ja noch heute teilweiſe in biejem 
Irrtum befangen ift. 

Allein, weshalb fehlte die Initiative zunächſt aud) auf Seiten 
ber führenden Kreiſe? Meder auf dem Lundtage, nod unter den 
Näcjftintereifierten, den Paftoren, ertönt ein energifcher Wedruf. 
Zt es, zu Anfang wenigftens, die oben erwähnte eingetretene 
Apathie? Iſt es für die Gutsbefiger aud ber Umjtand, daß fie 
die Prediger, die meift rege in ihren Häuſern verkehren, perſönlich 
nit vermiſſen? Sind es von außen tommende Hemmniffe, die 
die Schaffensfreudigfeit lähmen? Sind es andre Pflichten und 
Aufgaben, die von der Bfarrteilung abziehen? it es unfre Volts- 
ſchule, die zu gründen war und tatjädlid in anbauernder Arbeit 
geſchaffen wurde? Da in der Tut die livländifhe Volks— 
fſchule das Lieblingsfind des 19. Jahrhunderts genannt werden 
darf, ift es wohl möglich, daß ihretwegen zum ‚großen Teil der 
Weiterbau an der Kirche länger aufgeihoben wurde, als es gut 
war. ebenfalls ijt die Tatſache bezeichnend, daß nad) genügender 
Ausgeftaltung der Schule in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts 
die Pfarrvermehrungsidee doch ſchließlich wieder mehr hervortritt. 
63 wird der Pfarrvermehrungsfond gegründet. Mehrere Pfarr: 
teilungen entwideln fih. Alfo es jdeint, daß, wenn 
aud nad langem Warten, unjre Kraft doch end— 
lid für das große Werk frei geworden iſt. Nad 
einem Anfangsftabium der eriten zaghaften Schritte im legten 
Abſchnitt des verfloffenen Jahrhunderts wird die volle Arbeit ſich 
nun gewiß entfalten fönnen. Das erſte Menihenalter des neuen 
Jahrhunderts wird auf kirchlichem Gebiet der Pfarrteilung in erjter 
Linie gehören dürfen. Noch viele andre Webingungen jcheinen 
erfüllt, mod) viele andre Keime bereits zu jprießen. Im Folgenden 
wird davon mehr die Rede fein. An diejer Etelle will id) nur 
mod) auf das jüngjte große firdhliche Ereignis, die uns gewährte 
©laubenofreiheit hinweilen. „Laſſet uns wirken, folange es Tag iſt!“ 
Die näcjte Aufgabe aller aber, die für unire teure Kirche und 





472 Zur Pfarrteilung in Lioland. 


unfern Herrn Jeſus Chriftus wirken wollen, ift, über Mittel und 
Wege zur normalen Organifation ber livländiſchen Kirche nachzu— 
denfen. Es ift bie rechte Stunde! Je mehr guter Nat gelucht 
wird, um fo beffer. Daher bitte ih meine nun folgenden Bemer- 
tungen zur Abhilfe fachlicher Prüfung unterziehen zu wollen. 


II. Weitere Bemertungen zur Abhilfe. 

Paſtor Rechtlich fordert zur Abhilfe zweierlei: auf der einen 
Seite größere Genügiamfeit der Paitoren, auf ber andern freie 
willige Selbftbejteuerung der Gemeinden! Zunädjt ift der erftere 
Wunſch nicht unberedtigt. Die verhältnismäßige Weite 
unfrer Verhältniiie hat eine relative Großartigfeit unſres allge 
meinen Lebenszujchnitts erzeugt. Der Ruf zu größerer Einfachheit 
ift daher wohl für alle gebildeten Stände mehr oder weniger 
berechtigt. Nicht zum imindeften hat er Geltung für die Land- 
paftoren. Die Einzigartigfeit unfrer Pfarrwidme, verbunden mit 
der ftarfen perſönlichen Beteiligung des Geiftlihen an ihrer Ver: 
maltung, maden ihn nicht nur in ben Augen des Landvolkes 
zum großen und reichen ‘Manne. Auch bei ganz objektiver Beur⸗ 
teilung behält er diefen Anſtrich und in vielen Fällen nicht ohne 
folide Unterlage, denn wir haben faktiih eine Reihe über bas 
Mia des Notwendigen ertledlih hinausgreifender Pfrünben. 
Vorjtellungen von livländiſchen Landpfarrern mit Miniftergehältern 
von 10—12,000 Rubeln entjtannmen ja natürlich der Phantafie, 
aber es gibt dod ein paar Pfarren, die an 5000 Rbl. Netto 
Einnahmen tragen, und eine Anzahl ſolcher, die fi um 4000 
bewegen, jedenfalls zum Schaden der Gemeinden, wo es ſich um 
große Kirchſpiele handelt. Freilich muß ebenfo nachdrücklich gejagt 
werben, daß die Mehrzahl der Paftorate gegenwärtig nicht mehr, 
als zur beſcheidenen Lebensunterhaltung gerabe nötig ift, abwirft. 
Von 108 Landpfarren, über die mir bie Angaben zu gebote jtehen 
— und das find fait alle —, tragen 60 weniger als 2500 Rol. 
Netto ein. Diele Paftoren kämpfen fogar, fobald die Frage der 
Kindererziehung an fie herantritt, mit der Eriftenz. Das Schlimme 
aber it, daß aud) in ſolchen Fällen der Schein des großen Pfründen- 
inhabers vielfad) bleibt. Auch in ſchwachen Pfarren gibt es häufig 
größere Ländereien, aud) auf joldjen muß der Paſtor feinem aus— 
gebehnten Bistum zuliebe oft 3—4 Pferde halten, wie ſoll da 
das Volk ihn von jeinem beifer fituierten Nachbarn unterſcheiden? 

Meines Erachtens wäre num ein Doppeltes anzujtreben, um 
die Geftalt des livländiſchen Paſtors von dem Unpafjenden zu 


Zur Parrteilung in Sioland. 473 


befreien. Zunächft müßte allerdings bie gar zu große Ungleichheit 
ber Einnahmen allmählich befeitigt werden zu gunflen eines Ein— 
heitsfages, der dem gegenwärtigen Durchſchnitt nahe kommt. Über 
die Art, wie das geichehen könnte, laſſe ich mid) an biefer Stelle 
nicht weiter aus, Sobann mühte barauf hingewirkt werben, daß 
unfer Baftor mit ber Verwaltung der Pfarrwidme 
nichts mehr zu fhaffen hätte. Außer einem Landftüd 
im Umfange eines kleineren Gefindes, welches durch einen Knecht, 
der zugleich Kutſcher ift, bewirtichaftet werden fann, follte er nichts 
in Händen haben. Alles übrige Land müßte vom Kirchſpiel jelbjt 
verwaltet wenden, womit id aber nicht Tagen will, daß der Kon 
vent in feiner jegigen Geitalt die pailende Gemeindevertretung 
wäre. Diefe beiden Ziele müßten jtetig bis zur Erreichung ver 
folgt werden. Soviel fünnte getan werden, um der (Forderung 
größerer Einfachheit entgegen zu fonımen. 

Was ift es num aber mit ‚der Forderung der Selbfibes 
hewerung? Wir jehen jegt beutlic, dah wir zur Pfarrteitung 
weit mehr bedürfen, als größere Genügſamkeit der Waftoren. 
Welche Kräfte könnten da nun wirkſam gemacht werden? Iſt die 
freiwillige Selbitbefteuerung der Gemeinden eine folde Kraft — 
und zwar die ausihlaggebende? Cs gibt bereits viele Kicchen- 
törper, die mit dieſem Mittel der Erhaltung allein ausfommen! 
England, Schottland und Nordamerika jtehen hier an der Epipe, 
jedoch auch unfre lutheriſchen Diafporagemeinden in Rußland haben 
nit wenig durch diefes Prinzip geleiftet. Selbſt livländiſche 
Städte haben von ber Not gedrängt die Selbftbeftenerung einge: 
führt, und mit gutem Erfolge. Soviel ijt jedenfalls daraus zu 
erjehen, da dieje Art der Kirdenerhaltung aud auf lutheriſchem 
Boden möglid) ift. Nein prinzipiell betradıtet iſt die freiwillige 
Selbjtbeiteuerung ber Gemeindeglieder natürlih der beite Erhals 
tungsmodus. Sie jihert der Kirche die Unabhängigkeit und jtimmt 
alfein zum Geifte des Neuen Tejiaments. Sonach müßte fie eines 
der Entwidlungsziele aller kirchlichen Gemeinfchaften bilden. 
Grundjäglid einen Zwangsbejteuerungsmodus vorziehen iſt aljo 
ohne Frage vom Übel. Wenn es bei uns Anhänger desielben 
gibt, mögen fie noch bedenfen, was fie von der Regierung an 
Stelle unfrer bisherigen Negulative verlangen müßten, um bie 
unaufidiebbare Pfarrteilung ins Leben zu rufen. Bei Verwendung 
des Zuſchuſſes aus den Pfarrländereien hätte, je nad) der Größe 
und Güte berfelben, eine Gemeinde von 3000 Seelen immer noch 
ein jährlicheo Budget von 2000—-3000 Rol. zu bewältigen, um 


4 Zur Parrteifung in Siolanb. 


die Kirche und ihre Diener nebft ben Gebäuden zu erhalten. — 
Glaubt man nun eine ftaatlide Zwangsbejteuerung zum Beiten 
unſrer Kirche in dieſer Höhe erportieren zu fönnen? Dir aller: 
dings ſcheint biefe Möglichfeit fait ausgeſchloſſen. Deshalb geſelle 
id) mid nicht nur aus prinzipiellen Gründen, fondern auch wegen 
praftifher Bedenken, zu denen nod) manche andere, als das 
genannte fommen, den Rufern nad) der Selbftbefteuerung zu. 
Gegen bie GSelbftbejteuerung wird nun in erſter Linie 
angeführt werden, daß eben unfer Landvolk ganz und gar nicht 
daran gewöhnt ift, etwas freiwillig für die Kivche zu tun. Paſtor 
Rechtlich und id, wir jelbjt haben ja dieje Tatſache erwähnt. 
Dan wird fagen: in ben deutſchen Gemeinden unſrer Städte hat 
die Gewohnheit, für kirchliche Amtshandlungen größere Afzidenzien 
auszuwerfen, Die Gemeindeglieder zu weitergehender Selbftbeiteuerung 
gut vorbereitet. Deshalb ging es damit vorwärts, als die Not: 
wendigfeit herantrat. Auf dem Lande dagegen iſt eitel ungepflügtes 
Land in diefer Beziehung, was joll da wachſen? Wir leugnen 
nun, wie erjichtlid, teineswegs, daß unfer Landvolk hierin noch 
ungepflügtem Lande gleicht. Es wird darum gewiß mehr oder 
weniger Zeit und Geduld erforberlid fein, um bie Grasbede 
mürbe zu maden. Das joll uns aber nicht von der Arbeit ab 
halten, wenn wir anders nur nit überhaupt an unfrem Volke 
verzweifeln müjlen. Hiezu ift aber ganz entidieden feine Veran 
lafjung! Gewiß haben aud) die Ejten und Ketten ihre großen 
und kleinen Fehler, allein wer wollte behaupten, daß fie feine 
entwidlungsfähige Race wären? Gerade die Gegenwart überzeugt 
uns vom Gegenteil. Wird ber gährende Moſt aud) mandesmal 
unbequem, fo zeugt er doch von werbendem Wein. Iſt aber ber 
Betätigungstrieb auf allen Gebieten erwacht, darf mit Sicherheit 
angenommen werben, daß ebenfalls ber Trieb zur kirchlichen Aktie 
vität ſchon lebendig geworden ift. Die rege Beihäftigung der 
nationalen Preſſe mit den einichlägigen Fragen bejtätigt dieſe 
Annahme ohne weiteres. Es müſſen nur die Hinderniſſe hinweg: 
geräumt werden, dann wird der Trieb hervorbrechen und es wäre 
dod) jammerſchade, wenn wir gerade die Zeit des jungen Triebes 
für die kirchliche Selbjterhaltung ungenügt vorübergehen ließen. 
Das Haupthindernis, das vor allem abgeidafft 
werden muß, ift die Niejengemeinde ſelbſt. Sie üt 
gegenwärtig der Hauptfaftor zur Erftidung des aktiven Gemeinde 
lebens. Sie läßt fein Gemeindebewußtjein, fein perfönlices Ver— 
hältnis zum Paſtor auffommen — die Grundbedingungen der 


Zur Pfarrteilung in Livland. 476 


Selbfterhaltungswilligfeit. Die Teilung hat dieſe letztere zur 
Vorausfegung, aber fie fördert dieſe ebenfo fehr. Ferner wird 
eine den Verhältnifien und der Aufgabe entiprediende Gemeinde: 
organifation nad) erprobten Mujtern als andre Stüge ber Selbit- 
bejtimmung zu ſuchen fein. Selbitverfiändlid) werben wir in 
mandem wohl aud ein Übergangsftabium durchzumachen haben. 
Wo zum Beilpiel die Wirte durdy die alten Negulative ſiark 
belajtet find, wird man, folange dieſe noch gelten, mehr oder 
weniger nur bie Gemeindeglieder zur Selbitbeiteuerung heran: 
ziehen, welche nicht Wirte find. Es wird alfo Altes und Neues 
zunãchſt noch nebeneinander bejtehen. Das ſchadet nichts! Uner— 
läßlich iſt nur, daß allen erwachſenen und felbjtändigen 
Gemeindegliedern ihre Pflicht, an der kirchlichen Unterhaltung 
teilzunehmen, nahe gebracht wird. Freilich werben dann ebenfalls 
aud) die Rechte allmählid) ſich etwas verſchieben. 

Wenn id) fomit der Selbtbejtenerung entſchieden das Wort 
geredet habe und von ihr Vedeutendes erwarte, fann ich dennoch, 
nicht an dieſem Punkte ſchon ftchen bleiben. Ich glaube, daß 
bieje beiden Mittel — relative Genügſamkeit der Paſtoren und 
Selbjtbefteuerung — die Anſprüche zunädit doch nidt 
voll befriedigen werden. Für ein Deal, wie in Schott: 
fand, wo fattiih die Selbjtbefteuerung alles macht und zwar in 
fait (ururiöjer Weiſe, wird eine Landesfirche, die zum erften Dial 
in dieſer Hinſicht ſich movieren will, nod nicht reif fein. Um fo 
weniger dürfen wir folde janguiniide Hoffnungen hegen, als bei 
uns nicht nur Erhaltung des Beſtehenden, fondern durch die all 
meine Teilungsnotwendigfeit geradezu Gründungsarbeit in Frage 
fommt. Unjre Yufgabe iſt nit nur ungewohnt, fondern 
auch ungewöhnlid! 

Deshalb bin ich ber Überzeugung, daß vorerjt für eine jede 
alte wie neu zu gründende Pfarre ein gewifjes Firum der 
Einnahmen unerläßlic jein wird. Das Fehlende nur wird 
von der Selbfibejteuerung erwartet werden dürfen. Wenn id nun 
danach Umſchau halte, woher dieje für uns unumgänglich ſcheinende 
Ergänzung hernehmen, glaube id) zu jehen, daß Gott aud) dafür 
gejorgt hat. Wie es Gottes Zeitung ift, dah die Fühigfeit der 
Gemeinde zur Selbittätigfeit ſich undemerft vorbereitet hat, erblide 
ich auch darin Gottes Fürjorge, da er uns ein bedeutendes 
Kirdenvermögen für diefe Tage erhalten hat. Das ift aber 
nun wiederum unjre mit andern Ländern verglichene unverhältniss 
mäßig große Pfarrwidme. Hat dieſe und die Art ihrer Verwal: 





476 Zur Pfarrteifung in Siolanb. 


tung im Verlauf der Geſchichte auch einigen Schaden gebracht, 
erſcheint fie jegt bod) wiederum als rettende Yand, denn id; meine 
mit Nechtlich, daß wenn auch nicht anders, fo doch bei Neubefegung 
zu großer Pfarren, bie Einfünfte aus den Ländereien als ein 
grunblegendes Firum unter foviel Paftoren, als notwendig find, 
verteilt werben fünnten. Das Kirchſpiel beruft in dem Falle eben 
gleich mehrere Paſtoren. Es fagt einem jeden Prebiger den auf 
ihn entfallenden Anteil des Pfarrwidmenertrages als feites Gehalt 
zu, ebenſo die Intraden eines bei jedem Paftorate befindlichen 
tleineren Grundftüdes plus Wohnung. Gleichzeitig organifiert bas 
Kirchſpiel aus eigener Initiative die Selbftbejteuerung und verweiſt 
die anzuitellenden Geiftlihen für ihre weiteren Bebürfniffe auf 
diefe. Iſt jo der Untergalt der verfdiebenen Pajtoren einigermaßen 
gefiert, fönnen fie fofort ihre Tätigkeit beginnen. Mögen auch 
nicht alle von ihnen gleich zu Anfang ein eigenes Paitorat und 
Kirche befigen, eine etwas hergerichtete Mietwohnung oder ein 
Schul⸗ oder Bethaus tun es für die erfte Zeit ebenfalls. Es sieht 
eben ferner ganz feit, daß eine Gemeinde normaler Größe, wenn 
fie fid) erft daran gewöhnt hat, einen eigenen Paſtor zu haben 
und zu erhalten, nicht früher ruhen wird, als bis auch die eigene 
Kirche nebſt Paitorat entitanden ift. Wo der Paftor feiten Fuß 
gefaßt hat, kommt das Übrige wohl fpäteftens in einem Menſchen- 
alter von jelbft, während das Umgefehrte durdaus nicht Regel üt. 
Mo eine Filialfirhe erbaut ijt, verlangt die Gemeinde deshalb 
noch lange nicht Paftorat und eigenen Prediger, quod exempla 
docent! Wie viele Filialen gibt es nicht bei uns feit Jahrhun— 
derten, die nicht die geringften Anftrengungen in biefer Richtung 
gemacht haben. Iſt man erſt geordneter pajtoraler Pflege ent- 
wöhnt, geht es auch fo: bloß Filiale, blog Stieftind zu fein. 
Man iſt dann ſchon zu abgeftumpft, um biefes recht zu empfinden. 
Darum glaube id, daß bei fommenden Pfarrteilungen gerade die 
alten Filialen trog ber vorhandenen Gebäude mehr Schwierigkeiten 
bieten werben, als völlige Neugründungen. Ganz ohne Beweiſe 
Scheint dieſe Meinung auch nicht mehr bazujtehen. Deshalb ift 
fiher, daß es die Sache vom verkehrten Ende anfallen hieße, wenn 
man aud in Zukunft bei Einrichtung neuer Pfarren in erſter 
Linie nad Kirche und Paftorat rufen würde, in ber Dleinung, 
vor Sicherſtellung diefer garnicht an die Teilung gehen zu dürfen. 
Auf diefem Wege würde die Sache überhaupt meift ad calendas 
graecas vertagt werben, weil ſich gleich im Beginn der Unter: 
nehmer die Verzagtheit bemädjtigen würde. Biel mehr Mut wird 


Zur Pfarrteilung in Lioland. 477 


man beweiſen, wenn die ſchier unerreichbar erfcheinenden Pflichten 
als unaufichiebbare gelten. Man beginnt dann in guter Zuverficht 
mit dem Leichteren zuerſt, und fiehe, burd Gottes Gnabe wird 
Später auch das Unmögliche möglich! Die ſchottiſche Freikirche iſt 
durchweg ſo gegründet worden, daß zuerſt nur die Paſtoren da 
waren. Später erſt erwuchſen dem jept fruchtbar gemochten Boden 
bie Paſtorate und Kirchen und dieſes Wahstum war ein wunderbar 
fröhliches. 

Wir müfen nun von dieſem notwendigen Seitenjprung 
wieder auf den Weg zurüdtommen. Cs war von ber Verteilung 
ber Widmeneinkünfte als Fira für die einzelnen Prediger die Rede. 
Diejes erſchien als erfie Grundlage der Pfarrteilung unvermeidlich. 
Deshalb muß dieſes Fundament auch ftarf genug jein, d. h. ich 
meine ein jebes Firum dürfte nicht weniger als 1000— 1200 Rbl. 
betragen, außer Wohnung und dem felbftbewirticafteten Gejinde. 
Es müßte aljo, wenn die Teilung vor ſich gehen joll, die Widme 
wenigſtens fo viele Taujende aufzubringen imftande jein, als dus 
Kirchſpiel Beiftlihe braucht. Diejes Ziel muß irgendwie erreicht 
werben. 

Am Ziele, oder ganz nahe dabei, befinden fich bereits 22 
teilungsbedürftige Gemeinden unfres Landes ohne Dejel, das ilt, 
da nur die Kiefengemeinden mitzählen, fajt der vierte Teil. Eine 
weitere Neihe von Pfarren hat annähernd das Erforderliche, doch 
viele find auch nod) weit, manche jehr weit dahinten. Wie fönnten 
womöglich alle auf die Norm gebracht werden? Es gibt, jo viel 
ich fehe, zwei Wege, die dahin führen, und jeder muß betreten 
werden. Der eine heit „zeitgemäße Vlelioration der 
Pfarrländereien!“ Für dieſen Gedanfen ift auch Pajlor 
Warres:Wendau im verfloffenen Jahr auf der Provinzialſynode 
eingetreten. Das Zeichen „Melioration“ iſt über dem ganzen 
Lande aufgegangen. Man wird es deshalb grunbjäglich nicht 
befremdlich finden, wenn die Korderung auch für Paſtorale aus: 
geſprochen wird, um jo weniger, als a priori anzunehmen, daß 
bier in dieſer Beziehung noch weniger geſchehen ift, als auf Gütern. 
Ein kurzer Hinweis wird für legteres den Beweis liefern. 

Wenn in einem jo Meinen Yande, wie Livland, die Menge 
des Neinertrages von der Xofjtelle des Gejamtarcals zwiſchen 
50 Kop. und 5 Nbl. ſchwankt, obwohl die Pacht pro Lofitelle Feld 
nur geringe Abweichungen aufweift, iſt co unmöglid, das nur auf 
günftigere oder ungünſtigere landwirtfchaftlide Lage zu ſchieben; 
es muß hier auch die bejfere oder ſchlechtere Ausnuzung des Landes 


478 Zur Pforrteilung in Lioland. 


eine bedeutende Rolle jpielen. Die nähere Beichäftigung mit der 
Art der Landverteilung und «behandlung auf unfren verſchiedenen 
Paſtoraten bejlätigt bieje Annahme. 

Unfer liegendes Kapital ift alio durch rationelle Behanpl: 
des Bodens vergrößerungsfähig. In welchem Maße dieſes zu 
Läßt ſich natürlich nicht für jeden Drt genau vorher beftimmen, 
nur im allgemeinen fcheint gewiß, daß durd die Melio— 
ration viele neue Pfarren als teilungsfähige 
zu ben bisherigen hinzufommen würden. Es muß 
daher zunächſt dafür geforgt werden, daß die einzelnen Wibmen 
von pajjenden Kommilfionen auf ihre Dieliorationsfähigfeit genau 
unterſucht werden, die zweite Frage wird dann die Art der Melios 
rierung bilden. 

Allein, gejegt nun aud den Fall, daß alle livländiſchen 
Paftorate wefentlich zu verbeifern wären, was gewiß nicht zutreffen 
wird, wäre ein Verſuch zur Pfarrteilung immer noch nicht allent- 
halben möglich. Cs find eben unfre Bfarrländer dod gar 
zu ungleihmäßig. Es gibt nidt nur große, ſondern auch 
ganz Heine Widmen. Die größeite befipt an Hofesland, das ju 
für die Melioration in erfter Linie in Betracht kommt, gegen 
3000 liol. Zofitellen. Daneben aber ftehen ſolche, die ſich in den 
eujten Hunbertern bewegen, einige find aud) ganz ohne Hofsland. 
Ebenſolche Verichiedenheiten zeigt das Bauerland. Die geringen 
Widmen finden fi nun häufig gerade in den großen und größten 
Kirchſpielen. Es liegt auf der Hand, daß hier feine Melioration 
etwas für die Pfarrteilung austragen wird. Hier hilft nur ein 
einziges Mittel, und weil es das einzige iſt, kann es nicht unge 
mannt bleiben. Es it die Vergrößerung der unger 
nügenden Widmen. 

Man möge über diefen Ausſpruch nicht erichreden. Damals 
in der erjlen Gründungszeit haben ſich hochherzige Perſonen zu 
vielfach wirklich bedeutenden Landjtiftungen bereit finden laſſen. 
Die Gründungsarbeit ift dann aber durch die Ungunft der Vers 
hältniffe unterbrochen worden. Jept joll und fann fie fortgeführt 
und beendet werden. Dazu gehört dann doc) auch die Fortführung 
und Beendigung damals unvollendet gebliebene Landichenfungen, 
damit fid) der Landbefig der Kirchſpiele doch wenigitens annähernd 
ausgleide. Die gar zu große Ungleichheit desjelben ift eben ein 
bedeutendes Übel und Hindernis. Aber. wird man hierauf viel- 
leicht evwi, „Was bedeutete Land damals und was iſt es jetzt?“ 
Gewiß. Iſt aber der Wert des Landes jept nicht ein viel höherer, 





ig 











Hur Porrtelfung in Siofand. 479 


hat das Land eben aud für bie Kirche einen entſprechend höheren 
Wert. in Meineres Landſtück bietet ihr jegt basfelbe, mic ein 
um fo größeres damals. Hielt man damals in mander Parodie 
eine Stiftung von Taufenden Lofftellen für nötig, werben wir 
jegt mit Hunderten ausfommen. — Und nod ein weiterer Um- 
ftand, der heutige Schenkungen weſentlich erleichtert! Damals im 
Anfange der Gründung wollten ſich die Stifter das Patronatsrecht 
refervieren. Deshalb mußten fie die ganze Stiftung auf bie 
eigene Schulter nehmen. Neue Patronate erftrebt jegt wohl nie- 
mand, es ijt deshalb nicht mehr erſte Vorausfegung, daß bie 
Kirchenländereien in den Grenzen eines einzigen Gutes belegen 
find. Einem jedem Gute des Kirchipiels wäre es heute unber 
nommen, ihre noch ungenügende Widme ergänzen zu helfen. 

Der im legten Abſchnitt ausgeſprochene Gedanke kommt 
gewiß unvermittelt, bennod wird man, das darüber Geſagte 
zufammenhaltend, wohl einiehen, daß er fein phantajtiicher ift. 
Sit er aber im Plane des Ganzen gleich notwendig, wie zeitgemäß 
zugelpigt, wird er nicht in Dunſt vergehen. Gott wird auch 
biefem Geſtalt und Wirklicfeit geben, da er für feine Kirche 
gewiß neue Liebe und Opferfinn wirken wird. 

Damit hätte ich nun in der Hauptſache auch alles gefagt, 
worin meiner Überzeugung nad) die Möglichfeiten unjrer Pfarr: 
teilung ſchlummern — in dem allmähliden Breden 
mit dem Pfründenjgitem, in der freimwilligen 
Selbfibeitenerung ber Gemeinden, in ber Melio— 
ration ber Pfarrländereien und in ber Vergrör 
Berung ber ungenügenden Widmen. 

Zum Schluß noch einige Worte über unſre hierher gehörigen 
NRaffen. Es find das „die Unterſtühungskaſſe für die evang.-luther 
riſchen Gemeinden Rußlands“ und der „Bfarrvermehrungsfond”, der 
zwar aud) von den Bezirksfomitees der erfteren verwaltet wird, aber 
von ihr doch völlig gefondert ift. Zunächft möchte ich bemeifen, 
daß die Unterftügungsfafie ſelbſt für unire Pfarrteilung nur wenig 
in Betracht fommt. Infolge der Beitimmung, daß die Hälfte 
ihrer Einnahmen dem Zentralfomitee in St. Petersburg zuiteht, 
iſt es eo ipso ſchon feine Landeskaſſe. Bei unfern Landgemeinden 
iſt fie auch durchaus nicht als ſolche, jondern nur als Untere 
flügungsfaiie für arme fettiiche und eftnijche Gemeinder der Dia: 
fvora populär. Darum dürfen die nad Petersburg gelangten 
Gelder garnicht anders als für die Diajpora Verwendung finden. 
Wir dürfen fie eigentlich unter feinen Umſtänden für unfre eigenen 


40 Bur Poreteifung in Riofand. 


Bedürfniſſe zurüctverlangen, wie das vielfach geſchehen ift, mit der 
uns rechtlich gehörenden Hälfte ift aber jo wenig anzufangen, daß 
es bei einer jo großen Frage, wie ber livländiſchen Pfarrteilung, 
nicht mitfpricht. Für diefen Zweck braudjen wir eine Kaſſe, bie 
eigens bafür vorhanden ift; bas ift num allein ber Pfarr— 
teilungsfond, nur diefer wird daher eine Rolle fpielen. Cs 
fragt fi nur, melde ihm zugeteilt werden fol. Sch meine feines: 
falls biefe, ein Niefenfapital zu gründen, aus deſſen Zinfen dann 
bie ganze livländiſche Kirche zu erhalten wäre. Das wäre ein 
ganz verfehltes Unterfangen; ich Nüge wieder Paſtor Rechtlichs 
Gedanken. Hälte ein grokes Kapital unfrer Kirche Rettung und 
Ruheliſſen werben joflen, wäre ber Anfang mit bem Sammeln 
mindeftens vor einem Jahrhundert zu machen gewejen. Sept, wo 
das Feuer ſchon ans allen Offnungen hervorſchiägt, ift es zu fpät 
für Feuerlöſchmittel zu folleftieren. Das Haus iſt längſt nieber- 
gebrannt, ehe bie Kollefte reicht. Kapitalien wachſen allerdings 
Schließlich ins Rieſenhafte, aber es ift ein jehr fpäter Termin, wo 
dieſes Tempo einjegt. Auch ijt das Interejle für Nolleften, die 
erit Kindern und Sindesfindern zugute fommen follen, ohnehin 
viel zu gering, um etwas Großes hervorzubringen. Die Rettung 
brächte dann eben nur die Zeit, die endlos lange Zeit, die auch 
einen Kopefen zuguterlegt zu Millionen macht. Da jedoch eine 
folche Rettung für uns feine wäre, ſpreche id) mich unbedenllich 
gegen alle Verſuche aus, die die Kapitaliſierung der Pfarrteilungss 
faile fo zur Daupthoffnung bei unfrer Aufgabe madjen wollen. 
Die Hauptpfeifer der Pfarrteilung bleiben bie Hiftorifd) gegebenen: 
Melioration ber Widmen, Vergrößerung der ungenügenden Widmen, 
Selbitbeiteuerung! Die Kaſſe hal nur ergänzende Arbeit. Cie 
muß zunädjt für die Fälle eintreten, wo der eine ober ber andre 
dieſer Faktoren trop aller Mühe durch irgend welche Umftände nicht 
zur Wirkung gelangen faun und doch Teilung unerläßlid) üt. 
Es wäre zweitens jchön, wenn fie aud bei Paſtorats- und Kirchen- 
bauten eine Beihilfe zu bieten vermöchte. Es wäre jomit alters 
dings wünjhenswert, wenn ih Beltand um das Zehnfache erhöht 
würde, denn das gegenwärtige Kapital von 100,000 Nbl., oder 
etwas darüber, bedeutet für ein ganzes Land und die geſchiidetien 
Aufgaben doch gar zu wenig. Ich erkläre mich deshalb wohl ein- 
verjtanden, wenn als Cinleitungsuftiva für die ganze Pfarrteis 
hungsarbeit eine allgemeine Sammlung mit einem derartigen Ziele 
vorgenommen würde. Es wäre das freilich aud ſchon ein hoch— 
geitedies, allein ſcheut man ſich vor diefem, wie mag man dann 





Zur Pfarrteilung in Siofand. 481 


an bie Aufbringung des Hundertfachen denken, mas für bie 
gefamte Pfarrteilung, wenn man von ben oben vorgeichlagenen 
Dingen abfieht, wohl aufginge. Das mag ſich ein jeber nad 
rechnen. 

Und nun fomme bes Herrn Kraft über unfre Meinungen 
und Gebanfen, über unfre Entfhlüffe und Taten, dann wird ſich 
alles Mären und alles machen. Vor feiner Stärke iſt auch das 
Große und Unerhörte ein Rleines, ja nur eine feine Kraft bes 
Allmäctigen genügt für das Allerhöchſte. Unjre livländiichen 
Kirchen haben in letztes Zeit Unglaubliches, ja faft Einzigartiges 
erlitten. Sollte diejes vorzeitige Anticriftentum an Heiliger Stätte 
nicht ein neuer Stachel für uns werben, dafür Sorge zu tragen, 
daß unfre Völker die ewigen Güter ber Kirche in bem Maße 
genießen Fönnten, wie die übrige evangelifhe Welt? 


— 


Baltifche Monatafchift 1908, Helt 6. 3 


a3 lettiſche Boltslied*, 


— 


jie lettiſchen Vollslieder find größtenteils ein Erbe aus 
5 grauer Vergangenheit. Von Mund zu Mund, von 
Geſchlecht zu Geichleht übertragen, haben fie fi bis 
zum heutigen Tage erhalten. An gelehrten Männern, die dem 
Gebäghtnis ſchriftlich Hätten zuhülfe fommen fönnen, mangelte es 
unfrem Wolfe, und erft in fpäteren, neueren Zeiten begannen 
Männer andrer Nationalität ſich für das Volfslied fremder Völfer 
zu intereffieren. Man hat daher allen Grund anzunehmen, daß 
viele Voltsgefänge, namentlich zu der Zeit, ba der Übergang vom 
Heibentum zum Chriftentum ftattfand, verloren gegangen find. 
Danach ift unfer ererbter Lieberfchag ein fo großer, wie ihn nur 
jelten ein anbres Volk hat. 

Die erften als ſprachliche Beiſpiele gebrudten Volfslieberchen 
finden fi) in der lettifhen Grammatif des alten Stender 
(Braunjhweig 1761). Ein lebhaftes und erfolgreiches Sammeln 
der lettiihen Volkslieder beginnt mit dem 19. Jahrhundert. Da 
find ehrenvoll zu erwähnen Guftan v. Bergmann, Paitor zu 
Rufen, der zwei Sammlungen „Lett. Sinn: und Stegreifs Gedichte“ 
(1807 und 1808) erfcheinen ließ, und Sr. Daniel Wahr, Paſtor 
zu Palzmar, der im Jahre 1807 eine Sammlung Palzmarſcher 
Lieber herausgab. Erft 36 Jahre jpäter (Mitau 1843) erfchien nach 
obigen Meinen und nur in wenigen Erempfaren herausgegebenen 

*) Nachftehende Abhandlung bildet. eine teils mehr ober meniger freie 
und verfürzte Miedergabe, teils wörtliche Überfegung der Einleitung, die 
Chr. Baron zu der von ihm und 9. Wiffendorff herausgegebenen, 
urtmehe in zwei Bänden fertig vorliegenden monumentalen Sammfung Ictifcher 
Volfslieder, „Latwju dainos“ (Mita 1804 f.) geldrieben at. Rad dem Urteil 


von Rafter Dr. X. Bielenftein in feiner Selbftbiographie (3. 339) it «8 das 
Befte, a8 über das Tettifhe Volfstieh gefcpricben worden ift. Die Ned. 


Das lettifche Vollslied. 483 


Sammlungen das hochbebeutjame Werk des Paitors Büttner 
zu Rabillen unter dem Titel: „Latweeſchu lauſchu bjeefmas un 
finges.” Es enthält 2854, in allen Gauen Leitlands gejummelte 
Lieder, und Paftor Büttner ftellt fih als ein verftänbnisvoller 
Kenner, Beurteiler und Ordner dar. Auch in ſprachlicher Hinficht 
Tann man ſich auf feine Terte vollftändig verlajien. Das alles 
bat er freilich nicht allein erreicht; fein Hauptmitarbeiter war 
Ulmann, Paſtor zu Gremon, der jpätere Profefior und Neftor 
in Dorpat. Schon feit bem Jahre 1830 fammelte lepterer Volfs- 
lieber, regte auch andre dazu an und übermittelte das Gefammelte 
ben Händen Büttners, ber übrigens nur die Hälfte davon in fein 
Bud) aufnahm. Die andre blieb als Manuffript liegen. Büttner 
hatte vor allen Dingen das deutſche Publifum im Auge und 
berücfjichtigte daher viele Lieder nicht, die für bie Letten felbit 
und die Sprachforſcher von Bedeutung gewejen wären. — Nach 
diefer bedeutfamen Arbeit Büttners trat ein längerer Stilljtand ein. 
Nur Paſtor Bielenſtein, der chrenvoll befannte Erforicher der 
fettiihen Sprade und Ethnographie, hörte nit auf im ftillen 
lettiſche Lieder zu ſammeln. 

Endlich fam die Zeit, da die Letten ſelbſt Hand ans nationale 
Werk zu legen begannen. Die erfle Anregung dazu gab ber un- 
vergeßlihe Chr. Waldemar in ben bamaligen „Peterburgas 
Awiſes“ und als erfte Sammler betätigten ſich, wenngleih in 
beichränften Grenzen, Neumann, der eine Sammlung Suͤhrsſcher 
Lieder druden ließ, ımd Spobgis, ber in Wilna eine Samm: 
fung aus der Stockmannshofſchen Gegend herausgab. Neue Anz 
tegung brachte die große eihnographiſche Ausftellung in Moskau 
im 3. 1867. Mit Feuereifer machte fid) an die Arbeit Brih w— 
Temneefs (Treuland), der als Mitglied der kaiſerlichen natur 
wiſſenſchaftlichen, anthropologiſchen und ethnographiſchen Geſellſchaft 
Lettland bereiſte, manche Landbewohner auch zum Sammeln an— 
ſpornte, und als Frucht ſeiner Bemühungen wurde ein ſchönes 
Buch, welches 1118 Volkolieder enthielt, von obiger Gefellfchaft 
herausgegeben. (Es erichien in ruſſiſchen Lettern, mit ruſſiſcher 
Überfepung und mit ruffiichen Erklärungen. — Im 9. 1874 
faßte die Lettiſch-literariſche Geſellſchaft den Beſchluß, 
zum Gedächtnis ihres 5ojährigen Beſtehens cine neue Sammlung 
herauszugeben, in die die von Paftor Vielenftein wie auch von 


484 Das letilſche Vollslied. 


Büttner geſammelten Lieder Aufnahme finden ſollten. Sie war 
auf vier Hefle mit 9—10,000 Liedern berechnet; es erſchienen 
jebod leider nur zwei (1874 und 1875) mit 4793 Liedern. Alle 
obigen Sammlungen aber drangen, da es an billigen Ausgaben 
fehlte, wenig ins lettifche Publitum und bie jüngere Generation 
entfrembete fi) mehr und mehr den fchönen Volfsliebern. Seichle 
Überfegungen aus fremden Literaturen ober nad) fremdem Mufter 
verfertigte Gedichte verdarben mehr und mehr deren Geihmad. 
In Berüdfihtigung deſſen regte im Jahre 1878 wiederum 
Waldemar in Moskau und mit ihm Brihwſemneeks eine Neu: 
befebung bes lettiſchen Vollsliedes an. Sie brachten Gelbopfer 
dar zur Herausgabe eines Buches, weldes die ſchönſten, für das 
größere Publitum pailendfien Lieder enthalten follte. Wenn es 
zur Ausführung dieſes Vorhabens aud nicht fam, fo war doch 
das Interefje dafür von neuem angefadht worden und biefes erwies 
fih in dem Sammeleifer, der jih in allen Schichten ber Bevöl— 
ferung bemerfbar machte. Bon allen Seiten jtrömten Liederfamm: 
lungen ben Herren Baron und Brihwſemneeks zu, das Material 
wuchs riefengroß an unb mit ber Abſchrift und vorbereitenden 
Arbeiten verging manches Jahr. Als fi) beim Rigaſchen lettiſchen 
Verein eine wiſſenſchaftliche Kommiſſion und beim Neuen lettiſchen 
Verein eine Abteilung für Literatur gebildet hatten, nahmen fih 
biefe der Sache an und allmählich und ganz naturgemäß wurben 
fie die Zentralftellen für die Sammlung, Bearbeitung und Heraus: 
gabe des Materials. Hauptfächlid, aber hatten fie nod) zu fammeln, 
und als einziges Werk, welches das Publitum erfreute, erſchien in 
jener Zeit der ſchöne Liederkranz, gewunden vom jtrebfamen Wolfe 
genofien Aronu Matiſs, welchen er zum dritten Sängerfeit dem 
lettiſchen Volle darbrachte („Diuhfu tautas dfeefmas”, Riga 1888). 
Mit Weglaffung mander, wenn auch intereſſanter Einzel 
beiten, ſei endlich des wichtigen Umftandes gedacht, der die Heraus: 
gabe des gewaltigen geſammelten Materials ermöglichte. Im 
Januar 1892 überrafchte mich (Baron) nämlich ein freundliches 
Schreiben des Herrn Wiſſendorff in Petersburg, der mir feine 
Beihilfe bei ber Herausgabe anbot und damit bie finanziellen 
Schwierigkeiten bejeitigte. Zugleich überlichen die wiſſenſchaftliche 
Kommiffion und die Literaturableilung mir ihre reihen Samms 
lungen. Nachdem Herr Wiſſendorff noch) die feinigen, gejammelt 


Das lettifhe Vollslich. 485 


von den von ihm ausgejandten Reiſenden Ludis und Robert Behrfin, 
mir übermadt hatte, ftanden mir zur Verfügung über 150,000 
Lieder, unter denen ſich freilich viele Barianten und Wiederholungen 
befinden, die jedoch, gejammelt in ben veridhiebenjten Gegenden, 
bes ſprachlichen Intereſſes nicht entbehren. Ausgeſchieden wurden 
bei der Herausgabe nur Lieder anjtögigen Inhalts, wie fie zuweilen 
bei Hochzeitsfeiern und zu Johannis gejungen wurden, Lieder, die 
nicht den Stempel der Echlheit tragen und endlid) die weit ver- 
breiteten ſenlimentalen deutichen Lieder und Romanzen in ſchlechter 
lettiſcher Überjegung, wie fie unſre Sanbichönen von ben deutſchen 
Jungfern in den Höfen, dazu angereist durch bie bejonderen, 
neuen Dielodien, ins Volk gebracht Haben. 


* * 
* 


Aus dem oben Gefagten geht hervor, daß wir ſchon im 
Beſitz mehrerer Liederſammlungen find. Eine jede geht von einem 
bejtimmten Gefihtspunft aus, hat ein befonderes Ziel; eine jede 
bat daher aud) ihre befondere Ordnung und Einteilung. Das 
bezieht ſich freilid noch nicht auf die von Stender, Bergmann und 
Wahr gejammelten Lieber, denn erflerer nahm, wie ſchon früher 
bemerft worden, nur einzelne in feine Grammatif als ſprachliche 
Veiſpiele auf, leptere verfügten nod) über ein zu Meines Material, 
um an irgend eine Einteilung gehen zu fönnen. Sie nahmen in 
ihre Sammlungen Xieber auf, wo und wann fie fie fanden, ohne 
irgend einen Plan dabei zu verfolgen. 

Büttner, im Befig eines recht großen Liederſchahes, iſt 
ber erjle, der nad) einem bejtimmten Plan arbeitete. Sein Haupt: 
augenmerf war, das deutſche Publifum mit dem bis bahin wenig 
befannten lettiſchen Volfslicde, deijen Geijt, Cigentümlicjfeiten und 
Schönheiten vertraut zu machen; als zweites Ziel ſchwebte ihm 
vor, den Sprachforicern einen reinen lettiihen Sprachquell zu 
eröffnen; als drittes endlich, den Leiten jelbft den nad) feiner 
Meinung einzigen geiftigen Schab, der durd die Ungunft der 
Zeiten verloren zu gehen drohte, zu erhalten. Schon zu feiner 
‚Zeit fei an vielen Orten das Volfslied faſt ganz verftummt. Die 
Erreichung auch diejes noch nicht jehr weit geitedten Zieles war 
feine leichte. Einerſeits fand jo mundes Lied, das für den 


186 Das leiiſche Vollslied. 


Sprachforſcher von Bedeutung geweſen wäre, keine Aufnahme, weil 
es nicht dem Geſchmack der deutſchen Leſer entſprochen hätte, 
anderſeits trat auch wieder das Entgegengeſetzte ein, d. h. den 
Sprachforſchern zuliebe wurden Lieder aufgenommen, die die Leſer 
langweilten oder zurückſchreckten. Da Büttner ſein Hauptziel, das 
Intereſſe der Deutſchen für das lettiſche Volkslied zu erwecken, 
nicht aus dem Auge ließ, ſo ordnete er die Lieder nicht nach 
dem Inhalt, ſondern brachte Die ſchönſten in bunter Reihe. 
Eine Ordnung wurde nur eingehalten je nad) der Gegend, aus 
der fie ftammten, und wenn aus einer eine veihere Sammlung 
eingefandt worden war, wurden die Lieder auch nad) dem Inhalt, 
Tauf:, Hochzeits:, Begräbnislieder 2c., zufammengeftellt. Jedenfalls 
hat Büttner feinen Zweck erreicht. Er hat es verflanden die 
ſchönſten Lieder auszuwählen und feine Sammlung macht noch 
immer den allerbeiten Eindrud. Zu bedauern iſt, dab ein großer 
Teil jeines Manuffripts, weil jeinen Abfichten nicht entipredhend, 
nicht gedrudt worden und daher wohl verloren gegangen ift. 

Nach Büttner ift der erſte Vearbeiter und Ordner der let: 
tiſchen Volfslieder Sprogis, der ein umfangreiches, ſtreng abge: 
grenztes Rlaffififationsiyftem in 5 großen Abteilungen mit Kleineren 
Unterabteilungen zufammengeftellt hat. Aber es ift leichter ein 
Orbnungsinftem mit genauen Unterabteilungen hinzuftellen, als die 
eigenfinnigen Lieder in fie einzufügen. So finden fid) in den drei 
eriten Abteilungen Lieder, die in ganz andere hineingehören, und 
forſchen wir nad den Gründen, warum fie nicht mit dem Klaſſi— 
fifationsfyftem übereinftimmen, warum Begriffe wie Eiche und 
Linde, Habicht und Nebhuhn, die in dem Liede erwähnt werden, 
dennoch deffen Überjhriften nicht jein dürfen, fo find fie nicht 
fchwer zu finden. Sie bilden eben nicht den eigentlichen Juhalt 
des Xiedes, fondern dienen bloß zur dichterifhen Vergleichung, als 
poetijches Bild. Das eigentliche Objekt, das befungen wird, ift 
der Menfch in irgend einer Lebenslage. Lieder, die ganz eigentlich 
die Natur zum Objekt haben, find fehr gering an Zahl, und aud 
diefe mußten andern Abteilungen, 5. B. den Kinder: und Wiegen: 
liedern, den Fabel: und Hirtengedichten eingefügt werben. 

Um Mißverſtändniſſen vorzubeugen, müſſen an diefem Orte 
jedoch noch einige Worte gejagt werben. Tatſache it, daß in den 
lettiſhen Voltaliedern bie Natur und ihr Leben, die verihiedenen 


Tas lettiiche Voltslied. 47 


Naturereigniife fo verftändnisvoll und darafteriftiich geſchildert 
werben, daß bie Lieber aud) gerade in diefer Hinfiht würdig 
eriheinen, als Hilfsmittel zur Erforſchung des Volfsgeiftes zu 
dienen. Aber das iſt eine bejondere Aufgabe. Wer die Anſchau— 
ungen ber Zeiten über die Natur ergründen will, welde Eigen 
ichaften fie dieſem ober jenem Tier, diejem ober jenem Baum 
zugeſchrieben, wie fie deren Natur und Wefen mit der menſchlichen 
Natur und dem menjhlihen Sinn in Zufammenhang und Bezug 
gebracht haben, welchen Eindrud die Natur auf fie gemacht hat, 
der muß zu dieſem Ziwed fid) das nötige Material ganz befonders 
zufammenfuden. Finden wird er es reichlich, wenn aud als 
Nebenſache erwähnt in einem Liede, welches ganz eigentlich ein 
Tauf⸗, Hochzeits-, Beerdigungs: uſw. Lied it. Und vergeblich, 
wird dieſe Arbeit für den Forſcher auch nicht fein, benn fie wird 
ihn ſehr fördern in dem rechten Verftändnis ber Lieder, in ber 
Würdigung des Zujammenhanges, den fie mit dem Bolfsleben 
gehabt haben. Ähnliches läßt ſich von den mythologiſchen Liedern 
fügen. Auch jie find durchaus nicht jo felbftändig und von dem 
Leben der Leute unabhängig, daß fie fid) leicht von andern Liedern 
ablöſen und in eine befondere Abteilung bringen ließen. Außer 
einigen einigermaßen felbftändigen Liedern, die auf Sonne, Mond, 
Götterföhne, Sonnentöchter Bezug haben, gehören in biejelbe 
Kategorie, die mythologiſchen, auch verichiedene Feier- und Feitlieder, 
Lieder, die an Ehrentagen wie bei der Arbeit gelungen wurden. 
Desgleihen finden ſich viele Luime- (Diahra) Lieder zerftreut in 
allen andern Abteilungen, in welche fie aud) naturgemäß mehr 
hineingehören. Der Ordner einer Liederfammlung fann daher 
den Erforfhern der Dipthologie, Ethnologie und Sprache ihre 
Arbeit nur durd) bejondere am Ende des Buches angebrad)te 
Hegifter, nicht aber durch ein ſtreng eingehaltenes Rlaffifitations: 
ſyſtem erleichtern. 

Diejelben Mängel, und zwar in mod) größerem Maße wie 
in dem Buche des Orbners Sprohgis, finden fid in der von der 
wiſſenſchaftlichen Kommiſſion herausgegebenen Samm— 
lung. Brihwſemneet (Treuland) wandte ſich mit ſeiner 
Liederſammlung an das ruſſiſche Publikum im allgemeinen und 
an die ruſſiſchen Ethuographen im beſonderen. Er verfolgte wohl 
zweierlei Ziele. Einerſeits, indem er gleich Büttner die ſchönſten 


488 Das lettijche Vollslied. 


Volkslieder in ſeine Sammlung aufnahm, wollte er Leute fremder 
Nationalität mit der Schönheit und Bejonderheit der lettiiden 
Muſe bekannt maden, anderfeits wollte er der Ethnographie dienen. 
In beiderlei Hinficht hat Brihmſemneek feine Abſicht wohl erreicht 
und wir bedauern nicht den Mangel eines fünftlihen Klaffifitas 
tionsfyitems, das diefer nur hinderlich Hätte fein können. 

Nod) weniger ift von einem Klaſſifikationsſyſtem in ber 
Sammlung des Aronu Matifs die Nede. Es beiteht nur in 
Überichriften kleiner Liedergruppen, bie größtenteils in bunter Reihe 
einander folgen. Mit um jo größerer Liebe ijt die Sammlung 
für das letliſche Wolf felbit bearbeitet, dem er die allerihönften 
Lieder bdarzureihen weiß. Wenn auf irgend etwas, jo ſagt er 
ſelbſt, fann das lettiſche Volk auf feine Volfslieder jtolz fein, die 
fo ſchön, fo tief, jo bilder: und fehrreidy find, daß die andern 
Nationen fie faum erreichen. 

So viel von den Sammlungen, bie gebrudt worben find vor 
dem Erfcheinen unfres Buches. Cine jede von ihnen, geleitet von 
einer beftiimmten Abficht, hatte eine ihr angemellene Ordnung und 
wählte aus der Fülle der Lieder bie für fie paffenditen aus. Sie 
alle betrachten gewiijermaßen das Leben des Volkes einfeitig, idea: 
lifieren das Leben. Das Volk jelbft aber hat fein geiftiges und 
geitliches Leben in feinen unzähligen Liedern weit vollftändiger, 
freier, unverhüllter dargeitellt und eine vollftändige Samm- 
lung muß feinem Beiſpiel folgen. Nichts darf als unnüg und 
unwürdig angejehen werden, was das Voll, als zum ganzen 
Leben gehörig, uns in jeinen Liedern aufbewahrt und vor Augen 
geftellt hat. Daher wünfden wir eine Sammlung, die fo voll- 
ftändig wie nur irgend möglich ift, nicht tauſend und ein paar 
tauſend, fondern 20 taulend und mehr Lieder mit allen ihren 
verſchiedenen Varianten aufzuweiſen hat. je 

Unfer Vorgänger in diejer Hinficht it der Verein let- 
tifber Freunde, der im 9. 1874 alle feine, oder richtiger 
gejagt, Paſtor A. Bielenfteins gefammelte Lieder, ca. 10,000 an 
ber Zahl, herauszugeben begann. Das Ordnen nad) Gruppen 
übernahm Paſtor K. Ulmann. Die Sammlung erfhien nur 
zur Hälfte. Ein Yauptvorzug bejteht darin, daß der Ordner einfach 
dem menihlihen Leben ſich anzuihließen ſucht, indem er deſſen 
charakteriſtiſchſten Seiten, hervorragendſten Geſchehniſſe aufzufuchen 


Das Lettifche Boltslieb. 489 


ſtrebt. Das Volkslied bezieht ſich eben auf irgend ein Moment 
im menſchlichen Lebenslauf oder im ſozialen Leben. Ein Fehler 
dagegen iſt, daß Ulmann, indem er bie Lieder in bejondere Abtei— 
lungen bradjte, zu wenig deren Gehalt und Bedeutung abwog, zu 
wenig darauf Rückſicht nahm, zu welder Zeit, an weldem Ort, 
unter welden Verhältnifien fie gejungen worden find. 

Indem wir auf die Fehler und bie Vorzüge obiger Samm-— 
fung und deren Ordnung hier nit näher eingehen, wollen mir 
nur noch in Kürze fagen, welche Hauptgrunbfagen bie unfrige hat, 
damit fie gleich einem großen Gebäude fih auf ihnen frei und 
ftattlich erheben könne. Diefes Fundament kann nur fein das 
Leben des Volkes in materieller und geiftiger Hinfiht. Das lehrt 
das feine Lieber jingende Volk jelbil. Ein jebes Liedchen fteht in 
einem realen, feſten Zujammenhange mit dieſem Volksleben; es iſt 
zu fingen zu feiner Zeit, an feinem Ort, in einem beftimmten 
Lebensfalle. Das auf diefen Grundlagen zu erbauende Gebäude 
muß daher nad) einem lan, der dem Volfsleben gebührend auge: 
paßt ift, eingeteilt werden, damit es einem warmen Mohnhaufe, 
nicht einem Diufeumszimmer gleiche. Die Hauptabſchnitte und 
Hauptabteilungen werben folgende fein: 

I. Der menſchliche Lebenslauf, das Familien: und Ver— 
wanbtihaftsieben. 1) Die Kindertage. Geburt, Taufe, Erziefung 
und Lehre. 2) Das heranwadjiende Kind. Eltern und Kinder, 
Bruder und Schweiter. 3) Das Jünglingsalter, die Zeit der Liebe. 
4) Verlobung und Hochzeil. 5) Das Leben unter andern Völfern. 
6) Das eheliche Leben. 7) Tod und Beerdigung. 

1. Das Zufammenfeben der Leute im meiteren Sinne des 
Wortes und ber fogiale Standpunft. 

II. Arbeiten und Beſchäftigungen. 1) Allgemeine Häusliche 
Arbeiten. 2) Arbeiten, die fih nad) den Jahreszeiten richten. 

IV. Feſte und Feiertage, zu feierude Lebensmomente. Mytho— 
logiſche Lieder. 

V. Allgemeine Lieder ohne beitimmte Hingehörigfeit. 

Das wird die Yauptordnung fein, eine jede Abteilung wird 
aber in viele Meine Unterabteifungen zerfalen, dazu nötigt die 
Dlannigfaltigfeit und Fülle des Materials. 


* * 
* 


490 Das lettiſche Voltälied. 


In die Abteilung „über Lieder und Geſang“ find Diejenigen 
Volkslieder aufgenommen, in denen bas Volf felbjt direkt oder 
indireft bezeugt, daß Lieb und Gejang eines feiner höchſten geiftigen 
Güter, fein Shugengel an allen Orten und in allen Dingen 
fei, der es vom Mutterihoß an in allen Lebenslagen, bei der 
Arbeit, in Freude und Leid, in guten und böfen Tagen geleitet; 
der Schugengel, der es fräfligt in der Tugend, ftraft, fobald es 
von ihr abgewichen ift; der den Xafterhaften beſſert, fi des 
Schwachen erbarmt und ihn freunblid auf ben rechten Weg zurüds 
bringt — furzum fein Begleiter ift bis zu ber Stunde, da man 
ihn ins fühle Grab. fenft. Wollen wir das Volfstied recht ver 
ſtehen und mit Herzensfreude und Erhebung fein genießen, To 
müffen wir uns auf jenen Standpunkt des Voltes jtellen, in feine 
Gefühle und Anſchauungen, fein Herz und feinen Geijt vertiefen. 
Es iſt demnach die Aufgabe dieſer Abteilung, den Leſer auf alle 
nachfolgenden vorzubereiten. Wir wählten dieſen Weg, weil wir 
den Lefern nicht unfre fubjeltiven Gedanken und Anſchauungen 
aufdrängen wollten. Der Mund des Xolfes ſelbſt möge ein 
gerechtes, ungetrübtes Zeugnis von den Zeiten, da Lied und 
Gefang noch im Wolf feine ungeihmälerte Kraft dartat, ablegen. 
Diefes Zeugnis gewinnt nod an Bedeutung, wenn wir in fpäteren 
Zeiten bie Lieder gewiſſermaßen vernachläſſigt, ja veradhtet jehen. 
Das Volt felbft, als ob es fich ihrer jhämte, begann auf fie wie 
auf etwas Törichtes zu bliden und jtellte ihmen geiftliche, auf 
Gott bezüglige Lieber gegenüber. Das war der natürliche Einfluß 
bes «hriftlihen Glaubens, der alles, was an die heidniſche Ver- 
gangenheit erinnerte, befämpfen mußte. Die Zeiten Haben, Bott 
fei Danf, zu gunften des chriſtlichen Glaubens entidieden, aber 
aud der ethiſche Gehalt der Volfslieder hat mit ber Zeit alle 
Vorurteile überwunden und von neuem fönnen wir ungejtört 
deren Schönheiten genießen, Freude und Erhebung aus ihnen 
ſchöpfen. 

Aber noch ein anderer Grund trug zur Schmälerung der 
Bedeutung bes Wolfsliedes bei. Die äußeren Orundlagen bes: 
jelben, das Volfsleben und der Kulturftandpuntt änderten ſich 
allmählich mit der Zeit. Der Fortfchritt in der Entwidlung und 
Bildung in materieller und geifliger Hinſicht ſtimmte nicht mehr 
mit den früheren einfacheren und engeren Aulturformen überein. 


Das leitiſche Vollslied. 401 


Die neuere Kultur jtieß allmählich die alte beiſeite, ftellte ſich an 
beren Stelle, was jelbitverjtändlih nicht zu beklagen ift. Aber 
in der erften Zeit des Kampfes pflegt man nur die ſchwache Seite 
des Gegners in Betracht zu ziehen und erſt, wenn bie Leibenichaft 
im Abnehmen ift, beginnt man deſſen gute, lobenswerte Eigen- 
ſchaften zu würdigen. Solch ein Los wurde aud) den Volksliebern 
zuteil. Ein großer Teil von ihnen erwies ſich als veraltet, aber 
indem man den guten Kern aus ihnen herausſchälte, jtellten ſich 
die beften ibealen Veftrebungen des Dienfchen, bie ebelften und 
tiefften Gefühle, die niemals veralten, vor Augen. Co nehmen 
beilpielsweife unfre Jungfrauen wohl niemals mehr eine Mahl: 
mühe in die Hand, dieſe ſchwere Arbeit wird jegt von Wind:, 
Waſſer⸗ und Dampfmühlen bewerfitelligt. Deſſenungeachtet ver- 
lieren unſre Mahllieder, die jo ſchön den Wert der Arbeit preifen, 
die Faulheit tadeln, die Ausdauer und die Heiterkeit des Geifics 
auch bei ſchweren Verrichtungen empfehlen, in dieſer ihrer eigent- 
lichen Bedeutung nicht ihre Kraft, fondern behalten fie für alle 
Zeiten und in allen, auch den entwidelijten Verhältniſſen. Und 
ſolch einen unvergänglichen Kern finden wir in allen unfern Bor 
bildern, und er ift gehüllt in einfache, aber herzliche und bedeu- 
tungsvolle Worte, die das Herz tief berühren. Das iſt bie Eigen: 
tümlichfeit des echten Volksliedes. 

Dieje lobenswerten Eigenjhaften unjres Bolfsliedes haben 
ſchon längſt die Aufmerfiamfeit hodhgebildeter Männer fremder 
Nationalität auf fie gelenkt. Ich gebenfe bloß Herders, Berg: 
manns, Ulmanns, Katterfelds und ganz bejonders Büttners, dieſes 
fo feinen Kenners unfrer Volkslieder. Endlid haben ſich unire 
eigenen gebildeten Volksgenoſſen für fie erwärmt und fo famen 
fie wieder zu den ihnen gebührenben Ehren, was uns nur zum 
Segen gereihen kann. — Büttner, der bejonders die Schönheit 
unfrer Volkslieder hervorhebt und fie mit funkelnden Tauperlen 
vergleicht, jagt wohl auch einmal (Latw. Awiſ. 1890): „Mande 
von diefen Tautropfen bleiben ohne Glanz und Echönheit, man 
mag fie anſehen von welder Seite man wolle. Manche Gleichniſſe 
Find ſchief, ohne irgend einen poetiichen Wert. Wo ein jeder, dem 
es einfiel, ein Lied dichtete, fann man nicht erwarten, daß es jedem 
gleihermaßen gelingen werbe, nicht jeder befigt dichteriſches Fein: 
gefühl.“ Dazu wäre nur zu fagen. daß in dieſem Nusipruc dag 


492 Das Iettifche Volkslied. 


Wort „Volkslied“ nicht richtig gebraudt it. Zum Vollsliede 
fann nur ein ſolches werden, welches durch eine lange Volfszenfur 
gegangen und endlich vom Volke als fein allgemeines Eigentum, 
ganz abgejehen von feinem Verfailer, anerfannt worden ift. Wenn 
das Lied feinen gefunden Kern hatte, fo verfiel es ber Vergeſſen⸗ 
heit. Der Olanz des Tautropfens, fein Schimmer in verjchiedenen 
Farben, hängt von dem Standpunft ab, welden ber Beſchauer 
einnimmt. Wie bas Volfsleben jelbit, jo find aud) die Volkslieder, 
welche diefes wieberfpiegeln, jehr vieljeitig. Es genügt nicht fie 
nur nad) ihrer Schönheit zu beurteilen. Das recht verfiandene 
Volfsleben, deſſen Schickſal, Herz und Geift geben ihnen das rechte, 
volle Licht, und der fie beurteilt, nimmt nur dann einen richtigen 
Standpunft ein, wenn er fi bie Volfsgefühle in ben Augenblicken, 
bei den Ereigniſſen und Verhäftniffen zu eigen macht, da das Volf 
feine Lieder jang; wenn er teilnimmt im Geifte an denjenigen, bie 
bie Lieder fangen und hörten. — Sold) ein Stanbpuntt ijt größten- 
teils Leuten fremder Nationalität ein fremder, ungewohnter; jo 
mauches Lied, das jeinerzeit Sängern und Hörern bie Augen 
feuchtete oder ihr Yerz in Freude ſchlagen ließ, betrachten fie fühl, 
ja verächtlich. Auch wir felbjt im Wandel der Zeiten find gewiſſer⸗ 
maßen remdlinge im eigenen Haufe geworden, auch wir müſſen, 
um zur Gemütlichkeit zu gelangen, uns erft in ihm einleben. Die 
oberflächlich betrachteten Lieder reden aud) zu uns eine fremde 
Sprade; je ernftliher wir aber uns in fie vertiefen, mit ihnen 
befreunden, deſto mehr ziehen fie uns an und feſſeln fie uns. 
Aneinandergereihte Lieber (Dſeesmu  wirkne 
Fafı alle unfre Volkslieder find kurz, bejtehen nur aus zwei län- 
geren Zeilen, die man auf bie Hälfte zu teilen und in vier furzen 
geilen zu fchreiben pflegt, weil foldes dem Auge wohlgefälliger 
ift und ein jo geſchriebenes Lied mehr dem heutigen gleicht. Jedoch 
möchten wir gern längere Lieder fehen, und freuen uns, wenn wir 
zuweilen auf jolde mit ſechs ober acht kurzen Zeilen jloßen. Doch 
auch diefe find nad) unfrem heutigen Geſchmack furz und ber 
Gefang muß zum Leidweien der Sänger und Hörer bald ver: 
ſtummen. Längere ſchöne Lieder erzählenden Inhalts gibt es nur 
äußerjt wenige. Auch das Volt empfand mit der Zeit dieji 
Diangel und mit der Veränderung der Lehensverhältniife ver- 
ſtummten allmählich) die alten furzen Lieder. Daher hat man ſich 









Das lettiſche Volkslied. 498 


nicht darüber zu wundern, daß durch Vermittlung der Hofesmädchen 
und Hofesjungfern viele längere, frembartige Liebeslieber ſich bei 
uns einjchlichen. Sowohl dem Inhalt wie ber Sprache nad jehr 
mangelhaft, hatten jie doch den Vorzug, daß man fie zu jeber 
Zeit und an jedem Ort fingen und ber Geſang lange Zeit fort- 
gejegt werden fonnte. Außerdem war bie Dielodie neu und nicht 
fo einfach wie die früheren Voltsfieder. Aus folhen Gründen 
nahmen unfre Dorf: und Gefindesichönen das Umfraut gern bei 
fih auf. — Die mehr gebildeten Letlen wie auch andre Letten 
freunde beadhteten anfangs das Volstieb wenig. Entweder über: 
fegten fie deutiche Lieder oder ſchmiedeten felbit einige feichte nad) 
fremdem Mufter und in ſchon befannter Melodie zufammen. Die 
murden denn auch in der Schule den lettiſchen Rindern gelehrt. 
Im Volle konnten fie nicht Wurzel fallen, zu ſehr gehörten fie 
einem fremden Gejhmad an, zu wenig waren fie poetiich anzichend. 
Nur vereinzelte, bejonders vom alten Stender im Vollogeſchmack 
gedichtete Lieder fanden beim Volke Beifall. 

Es fam endlich die Zeit, da bie gebilbeten etten den ver- 
nadjläffigten Volfstiedern ihre Yeachtung zu ſchenken anfingen und 
einige von ihnen ſich für fie enthufinsmierten. Aber gewöhnt an 
längere Runftlieder, erſchien ihnen deren Kürze unbegreiflih. Wie 
fam es, daß der bewundernswerte dichteriſche Geiſt, der fo un— 
endlich viele ſchöne und poefievolle Liederchen geſchaffen hatte, ſich 
nicht auch im längeren Liedern offenbart hat? Man nahın an, 
daß er es wohl vermochte und daß bie früheren längeren Lieder 
mit der Zeit zu ben jegigen kleinen zerbrödelt feien. Dan meinte, 
daß längere Lieber ſchwerer im Gedächtnis feilzuhalten und ſich 
fortpflanzend von Mund zu Mund in Mleinere Teile zeriplittert 
feien, von denen ber cine hier, der andre dort fid) im Volke 
erhalten habe. Das ſchien aud) aus dem Inhalt der Lieder her: 
vorzugehen. Ein und dasfelbe Thema war vielen Liedern gemeinfam, 
nur wurbe es bald von ber einen, bald von der andern Seite 
betrachtet und behandelt. Indem man nun dieſe Lieder zu einem 
Strauß zufammenwand, hoffte man zu einem großen Liede zu 
gelangen. Auch die Sängerinnen fdienen diefe Idee zu befüre 
worten, denn fingend fahten fie gern die Lieder zu einem Strauß 
zuſammen und mandesmal ganz geididt und ſachgemäß. Solche 
Liederfiränße hat die Schriftabteilung des Mitauſchen lettifchen 


44 Das lettiſche Vollslied. 


Vereins in ihrer erſten Sammlung 1890 herausgegeben. Nicht 
immer aber gelang fold ein Zuſammenreihen ber Lieder, und 
zuweilen, wenn nicht mit großem Gejchid vorgenommen, war das 
Refultat — ein heillofer Wirrwarr. Im großen ganzen fann 
man ihm baher nicht das Wort reden. Fragt man aber nad) der 
Xeranlafjung, mie bieje aus dem Munde der Vorjängerinnen 
ſtammenden und von ben Liederſammlern aufgeſchriebenen Lieder: 
fträuße entitanden find, fo iſt fie folgende: Eine rechte Sprecherin 
oder Vorfängerin muß Tauſende von Liedern im Kopf haben, und 
zwar fo georbnet, daß fie im jedem Falle nad) Erfordernis das 
für ihm paſſende Lied oder den für ihn paſſenden Liederitrauß zur 
Hand hat, wie es denn aud in einem Liede heißt: „nod) hat fie 
das eine nicht beendet und ſchon fiehn ihr 9 andre im Einn.” 
Während die älteren Mädden und die Frauen zu gegebener Zeit 
und am rechten Ort die Lieder jangen, wurden fie von den mit- 
fingenben jungen Mädchen gelernt; da das aber nicht genügte, fo" 
waren bejonbere Zeiten unb Arbeiten bejlimmt, bie zur Erlernung 
ber Lieber dienten, jo im Sommer beim Hüten des Viehs, im 
Winter beim Spinnen oder andern Handarbeiten. Der Inhalt 
der Lieder war ein überaus bunter, aber um dem Gedächtnis zu 
Hilfe zu fommen, wurden fie äuferlid), befonders durch ein wich 
tiges Wort im Liede, mit einander verbunden. Ram beifpielsweije 
im Liede das Wort „Eiche“ vor, jo folgten mehrere auf biefen 
Baum bezügliche Lieder. Beſonders „Kranz“, „Pferd“, „Braut“, 
„Gerede der Leute” zc. waren Morte, bie ein Band zu den nad: 
folgenden Liedern bildeten. Sie wurden auf biefe Weife in einem 
AKorbchen“ (wahzelite) aufgefpeidert, zu einem „Rnaul” aufge: 
wunden. Zu rechter Zeit aus biefem Gefäß zu ſchöpfen, dieſen 
Knaul abzuwideln, war eine befondere, ſchwierige Kunſt, die nur 
von den allerbejten Sängerinnen gelernt werben fonnte. Im Grunde 
jedoch, noch einmal jei's gejagt, behalten die fleinen Liederchen 
ihre Selbſtändigkeit, fie mögen noch jo ſehr mit andern zu einem 
größeren Ganzen verbunden fein. Ein jedes hat jeinen bejtimmten 
runden Kern, ber umhüllt ift von einer glatt anliegenden runden 
Form, und nur ein wahrhafter Dichter kann der Urheber eines 
folchen fein. Sie find aud nicht Splitter früherer größerer Lieder, 
ſondern felbjtändige, den früheren Yebensverhältnifien angepaßte, 
für fie gedichtete. Wir find auch nicht das einzige Volf, das joldye 


Dos lettiſche Vollslied. 406 


beſitzt, denn alle ſlaviſchen Völkerſchaften ſind ebedfalls reich an 
ſolchen kurzen Volksliedern. In grauer Vergangenheit, damals 
als fie noch mit den Nachbarvölkern zu fämpfen hatten, werben 
bie Letten wohl aud) im Befig längerer epiſcher Gelänge geweſen 
fein. Nicht Frauen, fondern Männer werben naturgemäß fie 
gefungen haben, benn in ihnen handelte es ſich nicht um tägliche 
und häusliche Dinge, jondern um längjt vergangene Zeiten, um 
bie Toten und Kämpfe berühmter Vorfahren. Dit dem Hierher- 
tommen der Deutjchen, mit der Unterjohung und Knechtung ber 
Letten hörte bie Pflege ber epiſchen Gefänge auf und Anklänge 
an fie haben fid vielleicht in unfren Sagen und Erzählungen 
erhalten. Auch einige epifche Hochzeits-, Kriegs: und mythologiſche 
Lieder haben ſich Iebensträftig erwiejen, denn wenigitens einige 
Bruchſtücke diefer leben nody im Gedächtnis des Volkes fort. 


* ’ 
* 


In neuerer Zeit ift der Gefang ber Volkslieder ſehr felten 
geworben, ja in einigen Gegenden ift er fait ganz verflummt. 
Anders war es in ber Vergangenheit, der große Liederſchatz legt 
Zeugnis davon ab, daß in grauer Vorzeit die Letten große Sänger 
und Würdiger des Gefanges waren. Noch unſre Väter und 
Großväter, richtiger gejagt Mütter und Großmütter, haben weit 
mehr gefungen, und bie meijten Lieder und Nachrichten über den 
Volfsgefang erhalten wir von uralten Leutch Im nachſtehenden 
mollen wir in Kürze von ben wichtigiten Gi en reden. 

Früher hatte jede Jahreszeit, jedes Felt, jeder Chrentag, die 
Arbeits: und Crholungszeit ihre befonderen Lieder, aber auch ihre 
befondere Gejangsmeije, bejonderen Melodien. Nach der Jahres» 
zeit wurde vornehmlich unterichieden : 

Die Jubellieder (Gamilefhann), Sobald die warme 
Früglingsfonne und die weichen Wejtwinde die weiße Schneedecke 
vom Angeficht des Mütterdens Erde genommen hatten, die Natur 
aus dem Winterichlaf erwacht war, die Lerchen jubeld ſich zum 
Himmel ſchwangen, erjchallten auch Jubellieder an allen Orten 
aus ber Menſchenbruſt. Dieje erſten Jubelnden waren Hirten, 
befonbers Schnihirten, denen fpäter ſich auch die Ninderhirten 
gefellten. Gejubelt wurde übrigens den ganzen Sommer hindurd- 





496 Das lettiſche Volkalic. 


Chorlieder mit Brummftimmen (Notafchana). Die 
Erbe hat ſich mit friihem Grün bededt, die Bäume haben ihre 
duftenden Blätter entfaltet. Nun ftrömen auch aus ben benach— 
barten Gefinden an ſchönen, lauen Frühlingsabenden die jungen 
Mädchen herbei und fammeln fich auf dem ſchon in alter Zeit bazu 
auserfehenen Hügel. Schon längft war die Sehnjucht in ihnen 
erwacht, wieder einmal in größerer Schar zufammenzufingen. Wohl 
wiſſen fie auch, daß ſolche Abendlieder weithin ſchallen und weithin 
die Leute ergöen. Und wahrlich, mit ihren ſchönen Liedern und 
mit ber gewandien, deutlichen Ausſprache ber Worte liefen fie 
weithin die Mare Frühlingsiuft erzittern, erjdütterten fie jo mandes 
Menſchenherz. Dancer Züngling lauſchte entzüdt dem Gefange 
und erfah fi aus dem Schwarm ber ſchönen Sängerinnen die 
Braut. Daß er wohl daran getan hat, bezeugt fo manches Liedchen, 
welches eine gute Sängerin auch als tüchtig in allen Arbeiten, 
als tugendfam im Wandel preiſt. Diefe Gefänge wurden geübt 
vom Beginn bes Frühlings bis zur Zeit, da fid) die Natur völlig 
entfaltet hatte. 

Wie wurden bieje Lieder gejungen? Man erwählte zwei 
ber beften Sängerinnen, die eine mit einer hohen, bie andre mit 
einer tiefen Stimme, welche imftande waren, bie Worte laut und 
deutlich beim Gefange auszufpredhen. Alle andern Sängerinnen 
ſprachen bie Worte nicht mit, fondern begleiteten fie nur mit 
Brummftimmen. Am meiften hing von der Sängerin mit der 
hohen Stimme ab, denn biefe mußte laut, ar, weithinſchallend 
fein. Außerdem war dieſe Sängerin hauptſächlich die Trägerin 
der Melodie und auf deutliche Ausipradhe der Worte hatte jie 
insbefondere acht zu geben. Traf das alles zu, dann war biefe 
Art des Gejanges eine der ſchönſten, denn fie erinnerte an mehrs 
ftimmigen Gelang. Leider wird er fajt garnicht mehr erefutiert. 

Die Lihgolieder (Lihgoſchana). Der Sommer mit 
feiner Blütenpracht ijt gefommen, Blumen allüberall, die Noggen- 
felder wogen gleich einem See. Das ift die Zeit der Lihgolieder, 
die fih bis zum Tage Peter Paul, da der Iepte Rudusfchrei 
gehört wird, hinzieht. Der Rrauttag, der Johannis-Abend und 
Johannis:Tag werden befonders durd) fie ausgezeichnet, an ihnen 
werden die Lihgolieder im engeren Einne des Wortes, die Johannis: 
lieder gefungen. Die Lipgogeiege werden jegt nicht mehr jo ſtreng 


Das lettiſche Volkslied. 497 


wie früher eingehalten, man hört Lihgolieder bald zu biefer, bald 
zu einer andern Zeit und in einigen Gegenden erichallen fie bis 
zum Eintritt fälterer Abende. 

Wie werben die Lihgolieder gelungen? Die Schar der 
Sängerinnen ermählt aus ihrer Mitte die Anftimmerin, die nicht 
allein eine fehr hohe, klare Stimme haben, fondern auch über 
einen großen Liederfchag verfügen muß. Dieſe beginnt jedes Lied 
und fingt allein den erſten Vers; dann fallen alle andern ein, 
indem fie nicht allein benjelben Vers fingen, jondern auch ben 
zweiten, den fie dann wiederholen. 3. B.: Die Anftimme fingt 
allein: Lihlinſch lija ſahlu deenu, lihgo, lihgo! Alle zufammen 
fingen: 

Lihtinſch lija fahlu deenu, lihgo, lihgo! 
Lihlinſch jahru wakara, Lihgo! 
Lihtinſch jahnu wakara, lihgo! 
Die Anſtimme fingt: Jahna behrni nomirkuſchi, lihgo, lihgo! 
Alle fingen: Jahna behrni nomirkuſchi, lihgo, lihgo! 
Jahna ſahles laſidami, lihgo! 
Jahna ſahles laſidami, lihgo! 
(Deutſch: Es regnete am Krautlage, lihgo! lihgo! Es regnete 
am Zohannitage, lihgo! lihge! Dinchnaht wurden bie Johannis: 
finder, lihgo! lihgo! Eiſammelnd Johanniskraut, lihgo!) 


Geſang bei den Feldarbeiten. Nach dem Peter— 
tage beginnt bie Zeit ber ſchweren Feldarbeiten, bie Heu, die 
Getreideerntezeit, die vieler andern anjtregenden Arbeiten. Jede 
Arbeit hatte ihre auf fie bezüglicen Lieder. Mit Gefang ging 
man zum Heuſchlage, zum Felde, fingend lehrte man zurüd. Auch 
die Erholungspaufen wurben durch Geſang verfüßt, ja, wenn die 
Arbeit es zuließ, wurde aud während diefer gelungen. So ver 
ging der ſchöne Frühling, fo ber Föftlihe, wenn auch arbeitsreiche 
Sommer, bis zur Beendigung aller Arbeiten im Herbit, kurzum, 
Gefänge verfdiedener Art begleiteten und idealifierten jegliche 
Arbeit. 

Lieder bei Abenbmahlzeiten. Es fommt der Gerbit, 
ber Winter mit feinen mancherlei häuslichen Arbeiten heran. Auch 
diefe werben durch befondere Geſänge verſchönt. Im einigen 
Gegenden, wo die Velten nicht in weit auseinanderliegenden 

Baltifäie Monatsfdeift 1005, Heft 6. 4 


408 Das Tettifhe Boltalied. 


Gefinden, ſondern in Dörfern wohnten, richteten die Mädchen 
fog. Abendmahlzeiten (malarajhana) aus. Sie verfammelten ſich 
am Sonnabend in einer Badſtube und jedes brachte etwas mit, 
das eine Fleilh, das andre Grüße, das dritte Mildy zc., je nach— 
dem was ein jebes von feiner Wirtin hatte erbitten fönnen. Aus 
foldem Material bereiteten fie bann die Abendmahlzeit, zu ber 
nicht felten die Wirtin und mande Jünglinge erſchienen. Nach 
bem Abendefjen wurbe bann gefungen und unter fröhlichen Scherzen 
mit den jungen Leuten verlief ber Abend aufs befte. 

Außer obengenannten Liedern, die mehr ober meniger an 
die Jahreszeit gebunden waren, gibt es noch eine Menge allger 
meinen Inhalts, bie zu jeber Zeit gefungen werben Fonnten, und 
wenn in befonderem Maße, wie aus Obigem hervorgeht, das 
weibliche Gefchlecht den Gefang pflegte, fo ftanb das männliche 
ihm doch durdaus nicht fern, fondern beteiligte ſich reichlich 
baran. Dan pflegte zu jagen, der Jüngling hat ſich feine Braut 
erjungen. In der Nacht beim Pferdehüten ließ er jein Lied weit— 
hin erfchaflen, fein Pferdchen (famelinu) wußte er ebenjo zu preiſen 
mie bas Mädchen fein Kränzchen (mainadfinu). Unter den Liedern, 
bie gerade ben jungen Leuten in den Mund gelegt waren, finden 
fid) viele, bie durch ihren ſchönen poetifchen Gehalt Hervorragen. 
Hervorgehoben feien die Lieder, welche gefungen wurden bei 

Felteffen und Gelagen, an denen in gleicher Weile 
fih Frauen und Mädchen, Männer und Jünglinge produzierten. 
Zuweilen fangen fie alle gemeinfam, lieber aber führten fie gleihfam 
einen Sängerfrieg auf, indem cine Partei gegen bie andre fang. 
So ftellten fih als Gegnerinnen einander gegenüber die Frauen 
und die Mädchen. Beſonders angezeigt waren ſolche Parteien, 
wenn bei Verfammlungen, Gemeinfchaftsarbeiten, feitlichen Gele 
genheiten, befonbers Hochzeiten, fid) Gäfte aus verschiedenen Dörfern, 
Gebieten, ja jogar aus einem andern Gouvernement eingefunden 
hatten. Da fiellte fich ein Haufe dem andern gegenüber und man 
begann einander zu befingen. Das geſchah ftreng nad} der Orb: 
nung. Erft wenn die eine Partei ihr Lieb beendet Hatte, fang 
bie andre antwortend das ihrige und fo immerfort abwechſelnd. 
Mangel an pafienden Liedern trat nicht ein, man mußte nur 
die rechten anzumenden willen. Darin waren aber die Hauptan- 
ftimmerinnen Meifterinnen, Lied gegen Lieb Happte, als wäre es 


Das leitiſche Vollslied. 499 


für biejen Fall ganz befonbers gebichtet. Welche Partei die beften 
Anjtimmerinnen hatte, die behielt die Oberhand, wurde Siegerin, 
unentſchieden blieb ber Kampf, wenn beide Parteien glei gute 
hatten. Defjenungeadhtet war biefer Wettftreit nicht die Hauptſache, 
von größerem Gewicht war der Reichtum an Liedern, die Schönheit 
ber Stimmen, das richtige Singen. — Leichteres Spiel hatten die 
Sängerinnen, wenn fie nicht alle Gäfte zugleich, jondern einen 
nad dem andern zu befingen Hatten, obgleich fie auch dann 
‚zuweilen bittere Antwortsfieder zu hören befamen. Mädchen 
ermählten zum Objeft ihrer mafitiöfen Lieber befonders gern bie 
Zungen, einerlei ob fie folde Strafe verdient Hatten oder nicht. 
Vielleicht auch nach dem Sprichwort: „Was fich liebt, nedt ſich.“ 

Tifhlieder der Männer. In einigen Gegenden 
beſtand folgende Sitte: Zwölf auserlefene Sänger fegten ſich um 
einen eichenen Tifh, auf den der Wirt einen großen, mit Bier 
gefüllten Spann jtellte, der die At:Kanne genannt wurde, weil 
er an einer Seite ein Aſtloch hatte, durd weldes man das Bier 
in Kleine Trinkgefäße fließen laſſen fonnte, Alle Gefäße waren 
auch aus Eichenholz. Ein jeder der zwölf Männer mußte nun ber 
Neihe nad) 12 Lieber fingen, die alle von ber Eiche hanbelten. 
Die anbern begleiteten den Gefaug. Nachdem er die 12 Lieder 
beendet hatte, leerte er jein Trinfgefäh und alle andern taten des= 
gleichen, auf fein Wohl trinfend. Darauf fang der zweite, der 
dritte ufw., bis zufegt auch der zwölfte feine 12 Lieder gelungen 
Hatte, die Eihe mithin 144 Mal bejungen worden war. Das 
Lied, weldes einer ſchon gejungen hatte, durfte ein andrer nicht 
mehr anjtimmen; wenn er es aber dennoch tat oder nicht imſtande 
war 12 Lieder von der Eiche zu fingen, jo mußte er mit Schmach 
den Ehrentijch verlaflen und ein andrer trat an feine Stelle, um 
in dem NRundgejang mit neuen 12 Eichenliedern barzutun, daß er 
folcher Ehre würbig fei. 

Unanftändige Lieder, Lieder ber Unehre, wurden nur auf 
Hochzeiten, feltener zu Johannis geduldet. Da fie eine uralte 
zjeremoniale Bedeutung hatten, verlegten fie das Keuſchheitsgefühl 
weniger. Sie wurden ftets nur von Männern und Frauen, nie: 
mals von jungen Mädchen gefungen. Andere Lieber, die uns 
jegt ordinär und anftößig eiſcheinen und don jungen Mädchen 
daher ungern gejungen werden, waren es in damaligen rohen 


500 Das Iettifche Voltslied. 


Zeiten durchaus nit. Manche von diefen find fogar ganz poetiſch 
und weiſen bem flüchtig auf fie Blickenden ein ganz harmlofes, 
unfdulbiges Geficht entgegen. 

Zum Schluß fei bemerkt, daß bie andre Tonkunft, die inftrus 
mentale, nur von Dlännern gepflegt wurbe. Schon Fleiner Hirten 
liebfter Zeitvertreib war Flöten und Hörner aus Ninde zu ver— 
fertigen, auf denen fie dann nad) Herzenslujt fid) übten. Das 
beliebtefte Saiteninftrument der Zeiten in früheren Zeiten war bie 
Zither, deren Klänge in den Volfsliedern hoch gepriefen werden. 





Dulkurgeſchichlliche Miszellen. 


— 
Eine Bittſchrift von Ao. 1699. 





Prod. Riga d. 17. Martii 1099. 


Erläuchteter, Hochwohlgebohrner Herr Graff, König. Raht, 
Feldmarfyall nnd General Gouverneur, 
Gnäbigiter Herr. 


Die unter ungehlic viel andern Ew. Erl. Hochgr. Excellence 
meitgepriefenen Heroiſchen Tugenden hervorleuchtende Liebe und 
experience in denen Mathematiſchen wiſſenſchaflen, durch welche 
ſich vormahls Griechenland und ſelbſt das Stoltze Rom bey der 
gantzen weldt formidabel gemachet und Numa Pompilius, 
Empedocles und Seipio über andre Helden ihrer Zeit, in admi- 
ration gefegel, encouragivet und verträftet mid) demüptigt fuß- 
fälligen Mechanicum auch, daß wie vormahls Archimedes am 
Marcello, Vitruvius an Vitellio ihre fonderbahre Mecoenates 
gehabt, ich ebenfalls bey Ei. Erl. Hodgr. Exeell. einen gnädigen 
Patronum und Schug Herren finden werde. Ich muß geilehen, 
daß meine gringe connoissence, der Lortreffligfeit obiger wellt 
berühmten Künftler bey weiten nicht das waſſer reichet, iedoch da 
id) durd) viele speculation und fait gänglihe ruin meiner ſelbſt 
eignen Haabfeeligfeit nah 20-Nähriger unterfuhung ein nicht 
gringes Kunſt-ſtück und Handgriff der Mathematique, das per- 
petuum mobile nehmlich, deſſen Nugen und Fruchtbarkeit die 
übrigen Theile derſelben, wo nicht gäntzlich Über trifft, ihnen 
dennoch gar nichts nachgiebet, erjonnen, und joldes fünfitig in 
völliger faubern perfection, jo wohl Ihrer Königl. Maytt. als 
aud) Ew. Ext. Hochgr. Excellence, vor augen ftellen will, als 


502 Aulturgeſchichtliche Miszellen. 


lebe ber gewiſſen Zuverfict, da Em. Erl. Hodjgr. Excellence 
reifffinnige experience felbft judieiren wird, wie dieſes Kunit- 
Stücks vortreffliher Nugen fi) nidt allein in der Civil und 
Militair Architeetur, fondern aud) in allen andern in vita Civili 
bey Nriegs: und Friedens Zeiten höchſtnöhtigen wiſſenſchaften 
extendire. Zu geſchweigen andere fo wohl in Mechanieis als 
Statieis Hydrotechnieis und uhrwerden höchſt nöhtige willen: 
ſchafien, die mir bisher die Mikgunft benachbahrter Höffe barzu- 
zeigen verhindert hat und id) mit der Zeit zu jonderbahrem Nutzen 
und contentement Ew. Erl. Hochgr. Excellence vorjtellen will. 
Dem nad jo falle Ew. Erl. Hochgr. Excellence id) in unter: 
thänigjter submission hiemit fußfällig an, fie geruhen mir unter 
dem Schutz Ihrer Königl. Maytt. und gnädiger Schirm haltung 
Ew. Erl. Hochgr. Excellence als dem Water diejes Baterlandes, 
nad) arth jenes Chananeischen weibleins die brohfamen, die von 
andrer reihen handwerfer und Künftler Tiſche fallen, durch meinen 
unermiedeten Fleiß und Handarbeit, auf hiefiger burg: Freyheit mit 
auf zu jamlen, gnädigjt zu verjtatten, in regard daB doch ohne 
dem die fonderbahren Künftler laut aller orten Schragen und 
gewohnheit von denen andern handwerds zünfften separiret und 
befreyet zu fein pflegen. Vor welche fonderbahre Gnade id) Lebens 
lang Gott den allmächtigen umb reiche Belohnung anzuflehen nicht 
ermieden werde, der id) in aller unterthänigfeit verharre 


Ew. Erl. Hodgr. Excellence 
demühtigit Fußfälliger Diener 
Johann Biermann. 


Bon Tage. 





Briefe vom Embad). 


u Juni 1905. 


De Chroniſt hat zwei hochbedeutſame Regierungsmaßnahmen zu 
I vergeichnen. Die Wirtuig der einen erftredt fih auf das 
ganze ruffiiche Reich, die der andern ift auf die baltischen Provinzen 
bejchränft. Bei beiden handelt es ich um die Erweiterung der 
den fog. Fremdſtämmigen zugemeilenen Rechte. Mährend das 
Toleranzedift die Lage ber fremden Konfejiionen nad neuen 
Geſichtspunkten regelt und ihr Verhältnis zur griechiſch-orthodoren 
Staatsfirhe einigermaßen verſchiebt, eröffnet der Beſchluß des 
Dtinifterfomitees, die deutſche Unterrichtsſprache in den Privat 
ſchulen der Oftjeeprovingen wieder zuzulaiien, der deutſchen Bevöl⸗ 
terung unſrer Heimat die Ausficht, ihren Kindern eine beutjche 
Erziehung gewähren zu fönnen. Zwei Tatfahen von — man 
follte meinen — epochemachender Wichtigkeit! Anffallenderweife 
aber hat die zunächſt anffladernde Stimmung lebhafter Freude 
und Genugtuung einem jtarfen Pejlimismus Plag gemacht, der, 
auf zahlreiche trübe Erfahrungen gejtügt, die Hoffnungen auf das 
denkbar tiefite Niveau hinabdrüdt. Der Beichluß, betreffend die 
Privalſchulen, bedarf nod) immer der taiſerlichen Betätigung; die 
Einzelheiten des Eriaſſes über die Olaubensfreiheit befinden ſich 
nod) im Stadium der Nusarbeitung und Kommentierung feitens 
der hierzu eingejepten Kommiſſion. Beide ſchweben aljo fürs erſte 
in ber Luft. Beide Fragen find nicht endgültig erledigt, vielmehr 
allen möglichen Echwanfungen und Wenderungen unterworfen. 
Die ruſſiſche Bureaukratie fümpft offenbar auf Yeben und Tod 
gegen den humaneren Geiſt des faiferlichen Erlaifes. Wie fie jich 
zu demfelben jtellt und in welcher Richtung ſie ihn zu interpretieren 
geneigt ilt, das hat ber Generalgouverneur von Waridau, Herr 
Marimowitih, mit vollendeter Offenheit und Harmlofigfeit der 
Welt verfündet. Seiner Anffaiiung nad ift der Erlaß dahin zu 
erklären: ihr dürft jegt übertreten, — aber guade euch Gott, 





0. Vom Tage. 


wenn ihr es tut! Es gibt ‚gewiß wenige unter feinen Kollegen, 
die nicht Bebenfen trügen, in den überwältigend ſtaatsmänniſchen 
Ton dieſes Aftenjtüdes einzuffimmen; aber ebenfo gen ſehr 
wenige, die nicht bereit wären, ihm grundſätzlich beizupflichten. — 
Aud) die Rommillion, die mit dem Ausbau der Gejepesbejtim: 
mungen betraut ift, wird es ſich fraglos angelegen fein laffen, für 
bie gute Sadye ber Unbuldjamfeit in Glaubensjadhen zu retten, 
was zu retten iſt. In den Augen des Fanatifers ift das Vater 
land in Gefahr, wenn die Polizei der heiligen Prärogative beraubt 
wird, dem Staatsbürger vorzuichreiben, was er zu glauben und 
was er nicht zu glauben hat. Daf die Beftrebungen folder Ele: 
mente ben faiferlichen Intentionen direft entgegenarbeiten, iſt eine 
Erkenntnis, über die jene felbft mit einem geiltigen Saltomortale 
hinwegſetzen. 

In anbetracht dieſer und vieler ähnlichen Erwägungen it 
die Stimmung gerade bei mus, wo die fonfeifionelle Frage ſchon 
feit längerer Zeit auf eine gerechte Yöfung unabweisbar hindrängt, 
nicht allzu gehoben. Auch die Privatichulfrage ift nicht dazu 
angetan, ungefeilte Freude zu erweden. Wir wollen davon ab: 
feben, daß bie ganze Sache ungewiß und die Allerhäcfte Entjcei- 
dung noch nicht gefallen it. An und für ſich iſt es gewiß ein 
Sewian, dab dad Recht der Eltern, beim Unterricht ihrer Kinder 
die Mutterſprache anzuwenden, prinzipiell anerkannt wird. Der 
praftiicen Durchführung dürfte fi) jedoch mandes Hindernis 
entgegenjtellen. So joll das Abiturienteneramen in ruſſiſcher 
Sprache und an einem jtantlihen Gymnaſium abfolviert werden. 
Hit es ſchon unter normalen Verhältnifien ein gemwagtes Experi: 
ment, in einem jo fritiihen Nugenblid fremde Lehrer, die ber 
Entwidlung des Schülers nicht gefolgt find, über deſſen Echidial 
entiheiden zu laſſen, jo wird die Schwierigkeit natürlich noch 
erhöht, wenn ber ganze während der Schulzeit aufgenommene Lehr: 
ftoff von Eraminanden in eine andre Sprache übertragen werden 
foll. Hoffentlich gelingt ber Verſuch trogbem zu beiderfeitiger 
Zufriedenheit. Die Befürchtung indeß liegt nabe, daß nicht alle, 
die gern von der Vergünftigung des deutſchen Unterrichts Gebrauch 
wachen würden, hierzu in der Lage fein werden. Denkbar wäre 
65, dab mit der Zeit eine andre Negelung ber Angelegenheit ver- 
fucht würde, etwa in der Form, daß die üler in deutſcher 
Sprache eraminiert, nebenbei aber einem Kolloquium zur Prüfung 
ihrer Nenntnifje im iuffiſchen unterzogen werden. Damit fönnten 
beide Teile — Regierung und Publifum — fid) zufrieden geben, 
und die ganze Frage gewönne ein fowohl praftiiheres als auch 
geredhteres Anfehen. 

Im Zufammenhang mit der Zulaſſung ber deutſchen Unter: 
richtoſprache in Privatanftalten iſt jofort die Frage der Berechtigung 

















Bom Tage. 505 


eſtniſch⸗ reſp. lettiihiprachiger Schulen in ber Preſſe zur Diskuſſion 
gelangt. Unjre Zeitungen haben dieſen Beitrebungen einmütig 
ihre Sympathie ausgeiproden. Die Zukunft muß lehren, ob ber 
Gedanke lebensfäyig und durchführbar ift. Natürlich mißfällt die 
in der Nejolution des Dlinifterfomitees enthaltene Konzejlion an 
das Deutfchtum in ben baltiſchen Provinzen denjenigen ruſſiſchen 
Bolitifern, benen Hegieren und Ruſſifizieren in den Grenzgebieten 
ibentifche Begriffe find. Die liberalen Blätter können nicht gut 
dagegen auftreten, wenn anders fie ihre prinzipielle Stellung nicht 
Lügen jtrafen wollen. Dagegen hat bie „Nowoje Wremja“ nicht 
gezögert, ihrem Mißfallen unzweibentigen Ausdrud zu geben. 
U. a. bringt fie in ihrer Nummer vom 29. Mai d. I. eine Kor- 
reipondenz aus Riga unter dem Titel: „Die erfte baltifhe Rontre: 
reform.” Die Enticheidung in der Schulfrage wird hier als Ins 
tonfequen; gegenüber bem bisherigen 2Ojährigen Worgehen der 
Negierung bezeichnet. Im Anſchluß daran erfährt die Stimmung 
in den baltiichen Provinzen, der freiere Hauch, der durch das 
baltiide Geiftesleben gehe, eine eigentümliche Würdigung. Die 
hiefigen Journalijten jeien ganz aus dem Häuschen geraten. Zei— 
tungen, die jid) ſonſt auf Nachdruck beſchränki hätten, brächten 
plöglich jpaltenlange, ſelbſtändige Artifel mit neuen politiihen 
Bedanfen. Das alles beweife, daß aud) diesmal wieder die nenen 
Ideen, gewiilermaßen die Befreiung der Geiſter, aus Often ger 
tommen fei: „ex oriente lux!* Das wirft geradezu komiſch. 
Alſo die „neuen“ Ideen in Sachen der Verfafiungsreform uſw. 
ftammen direkt aus Ojten? Sollten die Verhältniſſe nicht eher jo 
liegen, daß all diefe Ideen, die uns keineswegs unerwartet fommen, 
ſchon lange herangereift waren, und zwar auf heimiſchem Boden 
und in heimifcher Luft; daß aber durch das gewaltfame Nieber- 
haften jeder Bewegung, vor allem durch die Zenſur, bie erſt in 
allertegter Zeit in verjtändnisvollerer Weiſe gehandhabt wird, ihre 
öffentliche Erörterung — garnicht zu reden von ihrer Umfetzung 
in die PBraris — hintangehalten wurde? Ueber den Import von 
Ideen aus dem Dften fönnen wir freilich quittieren. Mit der 
Wohlfahrt unfres Landes haben fie aber ſchlechterdings nichts zu 
ichaffen. Es find die Ideen der Zügellofigfeit und Anardie, die 
durch eine gewiſſenloſe Agitation von Often in die Kreiſe unjrer 
Land- und Arbeiterbevölferung hineingetragen worden find und 
unfre Heimat in innere Wirren gejtürzt haben, die jie bis dahin 
nie gefannt hat. Eine jonjtige Befruchtung unfres Geijteslebens 
durch die öftlide Ideenwelt läht ſich nicht nachweiſen. 

Nach der weiteren Darſtellung des Rigaſchen Korreſpondenten 
der „Nomoje Wremja” verlangen „hie Deutichen eine deutjce 
Autonomie, die Yetten eine lettiihe, die Eſten eine eſtniſche; nur 
die Ruſſen verlangen nichts.“ in bewegliches Bild ruſſiſcher 


508 Vom Tage. 


Selbſtentäußerung und Beſcheidenheit: Die Ruſſen ftehen in den 
Oſtſeeprovinzen traurig und machtlos abfeits. Cie fehen, wie bie 
Andersgläubigen und Andersftämmigen ein Privileg um das andre 
erhalten, und es bleibt ihnen nichts übrig, als ber heiße Wunid, 
ihre eigene Neligion und ihr eigenes Vollstum vor ber drohenden 
Ueberflutung gerettet zu fehen! Neu iſt bie Entdedung, daß bie 
Deutſchen eine deutſche Autonomie verlangen. Alles, was bisher 
über die geplante Verfaffungsreform in bie Deffentlichfeit gedrungen 
iſt, zeigt Mörlich, daß der ganze Entwurf auf dem Fundament 
einer alle einheimiſchen Nationalitäten umfaſſenden Organifation 
ruht. Selbft bei den Verhandlungen der Provinzial: und Kreis: 
tage foll völlige Spradenfreiheit herrihen, d. h. jeder in jeiner 
Mutterſprache reden dürfen. Was will man eigentlich noch mehr? 

Mögen“, ', jo ungefähr ſchreibt der Gewährsmann der „Now. 
Wremja“ , „bie baftiichen Journaliften von einer Neorganifation 
auf deutſcher Baſis träumen; die Männer, die im praftiichen Leben 
ſtehen, denlen nicht daran.“ Wenn mit ber „beutihen Baſis“ 
das Iguorieren der eſiniſchen und lettiſchen Elemente gemeint ift, 
dann fann der Herr verfidert fein, daß auch die baltiſchen Jour- 
naliſten „nicht daran denfen.” Ein Blid in jede beliebige Zeitung 
hätte den KRorreiponbenten jehr bald hiervon überzeugt. Aber das 
wäre natürlich ein jehr unbequemes Eingeftändnis und paßt ihm 
ſozuſagen nicht in den Kram. Angeſichts eines ſolchen Vorgehens 
wird man unwillkürlich an das Wort eines baltiſchen Hiltorifers 
erinnert: „Seit einem Menſchenalter und länger bringen wir bie 
Hälfte unfrer Tage damit hin, nichts Hängenswertes zu begehen, 
die andre mit dem Nachweiſe, nichte Hängensmwertes begangen 
zu haben.” . . . 

As ein Symptom des unfre Geſellſchaft betreffenden Peili- 
mismus, von dem oben die Nede war, zugleich des mangelnden 
Vertrauens zur Zukunft und wohl auch zur eigenen Kraft iſt ein 
Beſchluß der legten Generalverfammlung des hiefigen Handwerker 
vereins anzufehen. Es handelte fih um den Erſatz des im vorigen 
Jahr niedergebranniten Sommertheaters, jpeziell um die Alternative: 
Holz oder Steinbau. Die Verfammlung bat ſich in ihrer Majos 
vität für einen Holzbau eutſchieden. Das iſt aufs lebhafteite zu 
bedauern. Sollte die deutſche Gefellichaft wirklich nicht imftande 
jein, die Mittel für ein dauerndes, würdiges Thentergebäude aufs 
zubringen ?_ Leider ſcheint das Verſtändnis für die Bedeutung 
eines im Dienfte der Kunſt jtehenden Inſtituts noch nicht alle 
Kreiſe durchdrungen zu haben. Die banauſiſche Auſchauung, daß 
ein Theater ein Vergnügungslofal fei, das feine ernftere Aufmert: 
ſamkeit verdiene und hinter „gediegeneren“ Gegenjtänden zurü 
zutreten habe, läßt ſich auch unter dem gebildeten Publitum nicht 
volljtändig ausrotten. Erſt die unzureihende finanzielle Unter— 

















Bom Tage. 507 


ftügung rückt die Gefahr nahe, dab das Theater auf dies Niveau 
hinabſinkt. Es follte eine Ehrenpflicht jein, für die Eriftenz eines 
wirklich guten deutſchen Theaters zu forgen. Die erfte Bedingung 
hiezu ift die Schaffung von Näumlichkeiten, an denen nicht der 
Fluch der Alltäglichfeit und Trivialität haftet. Es ilt ein Unter 
ſchied, ob edle Kunſigenüſſe in einer Umgebung geboten werben, 
die an und für fi) erhebend wirkt, oder ob diefe Umgebung eine 
Stimmung hervorruft, die den Darbietungen eines gewöhnlichen 
Vergnügungsetablifiements Fongenial ift. Das Theater in jeiner 
Eigenſchaft als Kultur- und Bildungsfaftor wird nicht genügend 
erfannt. Das liegt am Publikum ſelbſt. Daran ift garnicht zu 
zweifeln. Die Bemühungen der verichiedenen Theaterdireftionen, 
die jeit Jahren unjre Stadt befuchen, haben reblich das ihre getan, 
dies Vorurteil zu zeritrenen. Um fo deprimierender wirft ber ent 
fagungsvolle Beſchluß des Vereins, als unfre eſtniſchen Mitbürger 
im Begriff itehen, ſich ein anjpruchsvolles Theatergebäude zu er- 
richten mit dem ein mehr oder weniger ad hoc erbautes Sommer: 
theater in feiner Weife fonkurrieren fann. Die deutſche Geſellſchaft 
sollte ſich ſtark genug fühlen, um auch auf dieſem Gebiet ihre 
Opferfreudigkeit zu zeigen. Alle möglichen Bedenfen — in erſter 
Linie finanzielle — haben fie veranlagt, ſich einen Vorzug zu ver⸗ 
ſagen, auf den fie vollen Auſpruch hat und den fie ſich ſelbſt 
ſchuldig if. Bei vielen andern Gelegenheiten hat der Handwerfer« 
verein ein tiefes Verjtindnis für feine Aufgaben bemwiefen und 
durdaus auf der Höhe der Situation geftanden. Es wäre unges 
recht, zu behaupten, daß er nun plötzlich von jeiner Höhe hinab: 
geftürgt ſei. Xeugnen läßt ſich aber nicht, daß Beſorgniſſe den 
Sieg davongetragen haben, die nicht etwa ignoriert, wohl aber 
mit vereinten Kräften aus dem Wege geräumt werden mühten. 
Daß es unjrer Gefellihaft feineswegs an Opfermut fehlt, 
dafür liefert fie ja fortwährend glänzende Belege. Neben den vers 
jchiedenen Vereinen, die vorzugsweiſe gefelligen Zwecken dienen und 
die ganze Sfala vom ziwanglofen Beieinanderjein bis zum vor- 
nehmiten Kunjtgenuß umfpannen, bejteht in unfrer Stadt ein 
Imftitut, das, äußerlich auf dem kameradſchaftlichen Prinzip aufz 
gebaut, ein praftiihes Ziel verfolgt, das tief in unier Leben ein: 
ſchneidet. Ich meine bie Freiwillige Feuerwehr und ihre felbjt- 
verleugnende Tätigkeit im Dienjte des Gemeinwohls. Nod in den 
legten Tagen hat ein Mitglied dieſer ehrenwerten Geſellſchaft die 
treue Arbeit zum Beſten feiner Mitbürger mit dem Tode befiegelt. 
Interefjant iſt es, in Anbetracht der heutzutage in unfrer Heimat 
vorherrſchenden Verhãltniſſe, die imponierende Einigkeit zu beob⸗ 
achten, die im Kreiſe der Feuerwehr zuhauſe iſt. Hier gibt es 
feinen Klaſſenhaß und feinen Raſſenhaß. Dieſe Männer tun ohne 
überflüffige Redensarten ihre Pflicht, indem fie beilen eingedent 


508 Bom Tage. 


bfeiben, was fie eint, demjenigen aber, mas fie trennen könnte, 
die Tür verfhließen. So bieten fie ein jchönes Bild einmütiger, 
freudiger Wirkiamteit auf der gefunden Grundlage des Zujammen: 
ſchluſſes aller Bürger, denen es mit dem Wohl der Stadt Ernit 
it und die nicht gejonnen find, in diefen Tagen allgemeiner Ver: 
begung die Idee, in deren Dienſt fie ſich freiwillig geftellt haben, 
im Stid zu lajjen. — Dies ift ein Beweis, daß ein BZufammen- 
wirfen aller Bevölferungstreife zu einem gemeinnügigen Zwed in 
der Praris ſehr wohl bei uns durchführbar ift. Wir haben daher 
allen Grund, in dieſer Beziehung nicht ganz ohne Hoffnung in die 
Zufunft zu bliden. Wenn ert die Herrichaft der Phraje gebrochen 
und jeder an feine tägliche Arbeit zurücgefehrt ift, dann läßt ſich 
manches Nüpliche leiten — mit einander und für einander. — 
Unfre Freiwillige Feuerwehr ift ein Zeugnis für bie überwältigende 
Kraft des Gemeinintereiies und des Gedanfens der Solidarität 
aller Heimat: oder Stadtgenoffen gegenüber den Tendenzen egoiſti— 
ſcher Separierung der einzelnen, in unſrer baltiihen Heimat ein- 
geſeſſenen Nationalitäten. 

Zum Schluß möchte ich einen Fehler berichtigen, den mein 
voriger. Brief enthält. Auf dem „Dom“ foll nicht eine Klinik, 
fondern ein Gebände für Hörfäle, Laboratorien 2c. aufgeführt 
werden. An dem Gefihtspunt der Verumglimpfung der Dom 
anlagen und der Domruine ändert biefer Unterſchied natürlich nichts. 
Das Stadtamt wird die erforderlihen Schritte tun, um die Aus- 
führung des Planes womöglich zu verhindern. ud) die Tages 
preife hat ſich ſeitdem mit der Angelegenheit beſchäftigt *. 





Eine kurze Antwort auf den I. Brief vom Embach. 





Es fei mir hier gejtattet auf einiges, was bie Rorrefpondenz 
vom Embad, enthalten im Märzheft der „Walt. Monatsichrift“, 
anbetrifft, eingehen zu dürfen, namentlich in Bezug auf die Beur- 
teilung und die Aeußerungen über das afademijche Leben und die 
Geiſtesſirömungen in den Korporationen. Den in Dorpat jIudie- 
renden baltiihen Studenten wird ein Vorwurf der Unregjamfeit 
des geiftigen Lebens gemacht, welder als zu ſchroff Dingeftellt 


») 





npwüiden ift von fompelenier Seite Die Ertlarung abgegeben worden, 
dab einitweilen am die Errichtung vieles Gebäudes aus finanziellen Gründen 
migyt gedacht werden fönne. Die Ned. 


Bom Tage. 508 


werben muß. Im Anichluß an eine Schilberung der Begei-— 
iterungsfähigfeit bes nicht-baltiichen Studenten der Embachſtadt 
im allgemeinen wird der freundliche Wunſch ausgeſprochen, 
dab eine Beine Anwärmung der in ben Konventsquartieren herr⸗ 
ihenden Temperatur fühler Blafiertheit und Langweiligkeit nicht 
von Uebel jein würde. Wenn diefer Cap wirklich ein Bild des 
augenblidlichen geitigen Lebens gäbe, fo könnte man mit Recht 
die Frage aufwerfen, ob nicht die Bedeutung des engen Zufam- 
menjchluiies junger Denichen, bie, wie ausgebrüdt worben  ift, 
„der Pflege der Geielligkeit und Rameradidaft, der Hütung des 
guten Tones, der legalen Erledigung von Ehrenhänbeln und ber 
Betätigung verwandter Intereſſen leben“, dod) eigentlich eine fehr 
geringe jei. — Auf diejes fei erlaubt Folgendes zu bemerfen: 
Da ſich die forporelle Studentenihaft fait ausichlieklih aus bal- 
tiſchen Kreifen rekrutiert und in allem mit dem baftifchen Lande 
eng verwachlen ift, fo muß es als eine natürliche Erſcheinung 
angefehen werden, wenn die Strömungen der Geſeliſchaft und des 
Landes in ihr ſich mehr ober weniger wiederjpiegeln. Herrſchte 
im Lande eine flarfe Depreffion, jo mußte dies ſelbſtverſtändlich 
aufs eindrudsvollie auf junge Gemüter eine —J ausüben. 
So hat es denn aud) Zeiten gegeben, wo ähnliche Empfindungen 
auf die Entwidlung mancher einen nicht bedeutungslofen Drud 
ausübten. — Von einem eriflierenden Charafterzug der Blafiertheit 
aber fann überhaupt nicht die Rede fein. 

Wenn der Verfafler des Artikels gleichfalls die Frage gelöit 
zu haben fcheint, weshalb die baltiſche Studentenſchaft in das 
politifche Fahrwaſſer der ruffiihen Kommilitonen nicht hineinzur 
geraten brauche, jo iſt dieſe Art von Löfung zu einfad und darf 
wohl nicht als dem wirklichen Grunde entipredend angefehen 
werben; bie von feiten des Ch! CI veröffentlichte Rundgebung 
hat von den außerhalb des Ch! E! ftehenden, nicht kraß radilalen 
Elementen der Stubentenjchaft richtiges ‚Vertändnis gefunden. 
Wie Schreiber diefer Zeilen genau befannt, iſt das wichtige und 
bei dieſer Frage nie außer Acht zu laſſende Moment, daß ein 
aktives Eingreifen in die Löſung politiicher Probleme aus dem 
Grunde nicht Sade der baltiihen Studentenichaft fei, weil 
diefe Frage älteren, erfahrenen und das Vertrauen der Geſellſchaft 
geniefenden Männern überlaffen wirb, total richtig gewürdigt und 
anerkannt worden. Das Vertrauen auf die Tätigkeit älterer Per: 
fönlichfeiten ift der Grund, weshalb die Politik in das Studenten 
leben nicht aftiv eingreift, und nicht derjenige, daß Korpo— 
rationen ſich nur mit der Pflege von Geielligfeit und Hütung des 
guten Tones befaljen. 

Ferner habe nad) Anficht des Herrn Korreſpondenten das 
Schrifiſtück notgedrungen Stellung zu Verhältniſſen genommen, 


310 Bom Inge. 


denen jeine Abjender innerlich völlig fern ftehen. Nun ift es 
jedoch von feiten bes Ch! C! richtig zu betonen, daß er einen 
ganz beftimnten Teil der Stubentenjchaft vorftelle und deshalb in 
alfgemeinzftudentifchen Angelegenheiten fi) auch zu äußern habe. 
Wenn rulfiicherfeits barauf hingemielen worden, da banf der 
Erlaubnis des Farbentragens die korporellen Studenten geneigt 
feien, mit ber Negierung durd Did und Dünn zu gehen, jo iſt 
aud von derjelben Seite in für die allgemeine Studentenſchaft 
überaus maßgebenden Kreifen bald nad) Reitituierung des Farben: 
tragens die Meinung verbreitet worden, die baltiihe Stubenten- 
ſchaſt hätte ihren Standpunkt ber Politik ‚gegenüber verändert. 
Es muß alſo wohl die Kundgebung als berechtigt angejehen 
werben; fie wurde zubem wie von ber Univerfitätsobrigfeit jo auch 
von der jonjtigen Studentenihaft direkt erwartet. 

Weiterhin wird der Faſſung ein Varwurf der Unflarheit 
gemacht, fie als abſichtlich gewollt hingeftellt und dabei eine quafi 
abfichtlic gewollte Unprägifion als faliche politiihe Weisheit ver- 
urteilt. Den Vorwürfen gegenüber möge bemerkt jein, dahß an 
eine abfichtlich gewollte Unpraͤziſion und jelbige noch aufgefaßt als 
politiiche Weisheit garnicht gedadt worden und weder in der 
Faſſung noch jonſt irgendwie dem ähnliches herauszuleſen it. — 
Dann wird noch weiter gemeint, daß die Schrift durch das Betonen 
lediglich der Wiſſenſchaft ſich ſelbſt richte, da die ſtudentiſchen Ver— 
bindungen mit der Wiſſenſchaft weniger als nichts gemein hätten. 
Der Verfailer des Artikels vertritt eben die Anficht, daß Korpora- 
tionen bloß Geſelligleitsvereine jeien; es Tann aber auch bie andre 
Anſicht vertreten werden, daß die in Dorpat eriftierenden ftuben: 
tiſchen Verbindungen ohne das Fundament der Wiſſenſchaft über 
haupt nicht denkbar feien, es jei denn, man ftudiere in Dorpat 
einfach Rorporationsleben. Derartige Erjdeinungen find im Aus: 
lande bekannt: die jungen Menichen find 2-4 Semeſter Korps: 
brüber, verlafen dann das Korpsleben ganz und beſchäftigen ſich 
auf einer andern Univerfität nur mit dem Studium. Dorpat 
fennt derartiges nicht. — Der Ch! E! hätte auch dann nur bie 
Berechtigung, die Korporationen in Fragen, die nur auf das 
Gefelligfeitsleben derjelben Bezug haben, der Univerfitätsobrigfeit 
gegenüber zu vertreten. 

Der Grund, welhalb zu einer Erwiederung gefchritten worden, 
beiteht darin, dab Werfafler dieſer Zeilen dic Empfindung hatte, 
der Artifel vom Embach fönnte gleichjalle zu Mißverjtändnifen 
Anlaß geben, was ja in jedem Fall ſchade wäre, denn, mit den 
Worten des Herin Norreipondenten der Valtiichen Monatsichrift: 
immerhin ift ein wufreundliches Echo unerjreulid für den, der co 
gut gemeint hat. 

BEER 


Bom Lage. u 


Nachwort. 





Zu der kurzen Antwort auf meinen erſten Embachbrief möchte 
ich bemerken, daß ich dem baltiſchen Studententum nicht den Vor— 
wurf mangelnder geiſtiger Negamfeit habe machen wollen. Was 
den von mir behaupteten Zug von Blafiertheit anlangt, jo wäre 
der Ausdrud „Mübdigfeit“ vielleicht trefiender. Leber das Vors 
bandenfein diefes Zuges läht ſich gewiß ftreiten. In jebem Fall 
mürbe ich folhe Stimmungen, wie der Herr Einſender es aud) tut, 
aus der allgemeinen Ctimmung in Lande erflären. 

Aus welhem Grunde das baltifche Studententum ſich nicht 
mit Politif befaßt, habe ich nicht erörtert, vielmehr nur erwähnt, 
daß es ſich fo verhält. Am allerwenigiten madje ich ihm daraus 
einen Vorwurf. 

Ich bin ber Anficht, daß unjer geiftiges Leben und damit 
dasjenige des baltiihen Studententums mit den Beltrebungen ber 
ruffiichen Intelleftuellen, feien dies nun Studenten oder andre 
Glemente, nichts zu jhaffen habe. Daher das Unvereinbare zwiſchen 
üben und drüben und daher aud das ganz naturgemähe Mih: 
glüden der Aeußerung des Chargiertenfonvents zu Fragen, die 
angeblich einen akademischen, tatſächlich einen ruſſiſch-politiſchen 
Charakter an fih trugen. 

Was die ſiudentiſchen Verbindungen betrifft, fo bleibe ich 
dabei, dal; fie als ſolche mit der Wiffenfhaft nichts gemein haben. 
Daß das einzelne Mitglied wiſſenſchaftlich arbeiten kann und foll, 
iſt jelbjtverftändlich, ändert aber an jenem Faftum nichts. Um 
der Wiſſenſchaft willen ift wahrhaftig fein Menſch in eine Korpo— 
ration eingetreten. Cin um jo beijeres Zeichen ift es für den 
einzelnen wie für Die betreffende Rorporation, wenn tüchtige 
Männer aus ihr hervorgehn, die den Nachweis liefern, daB das 
Eine das Andre keineswegs ausſchließt. 

F. 


Im Spiegel der Preffe. 





18. Mai. 


„Dos gefchriebene Gefeg muß dem Leben vorausgehen, jeinen 
Weg beleuchten, nicht aber hinter’ ihm zurücbleiben. Im entgegen: 
gefeglen Falle wird es feinen Einfluß haben und feine Achtung 
genießen.“ (Birih. Wed.) Wenn es num ſchwer ift, das Geſetz zu 
einer fo unbilligen Hurtigkeit zu bewegen, fo ift es doch minder jchwer, 
dem Leben durch Rejolutionen und „Plattformen“ den Schmand 
vorwegzuihöpfen. — Zwei neue in jhärfiter Konkurrenz mit ben 
Wegen der Voriehung gearbeitete „Plattformen“ find fertig — die 
„Plattform“ des Bundes der weiblichen Gleichberechtigung und des 
allruffiihen Bundes ber Techniker und Ingenieure. Sogleih nach 
ber Fertigftellung der „Plattform“ find beide Vereinigungen in den 
„Bund der Bünde” "eingetreten, ber fic) die Vereinigung aller 
radifalen Strömungen zur Aufgabe gejtellt hat. Der Frauenbund 
hat die Organifation eines Bundes aller Arbeiterinnen in Nusficht 
genommen, beim Bunde der Tednifer und Ingenieure blieb bie 
Regelung ber männlichen Arbeiterverhältnite vorbehalten, das 
itantlich_politiihe Leben Nußlands regeln beide in freiem Wett 
eifer. Der Bund der weiblichen (leichberedhtigung fordert bie 
fofortige Einberufung einer fontituierenden Verjammlung auf 
Grundlage des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahl- 
rechts, ohne Unterſchied der Nationalität, des Glaubens und des 
Geſchlechts, die bürgerliche und politiiche Gleichberechtigung der 
Frauen auf allen Gebieten der öffentlichen und ftaatlihen Wirt: 
famfeit, die Teilnahme der Frauen an allen Mohltaten der fünfs 
tigen Agrarreformen und die gemeinfame Erziehung der Rinder 
beiberlei Geſchlechts in den Echranftalten jeden Grades. — Ter 
„Siewernyj Kraj“ ift ſehr für eine unverzüglide Anteilnahme der 
Frauen an ben politiihen Nechten, da fich bei längerem Zögern 
der Unterfchied des politichen Niveaus der Männer und Frauen 
ſchnell vergrößern würde; die „Ruoj“ dagegen rät dem Bunde ſich 
mit Geduld und viel Energie zu wappnen. Der Bund bir 
Ingenieure und Techniker tut es gleich dem Frauenbunde in 
ftaatlicher Beziehung nicht unter dem allgemeinen direkten Wahl- 
recht ohme Unterfchied des Glaubens, der Nationalität und des 


Bom Tage. 518 


Geſchlechts. Als Kampfmittel zur Durchführung feiner‘ Ideen 
wählte der Bund die Boyfottierung derjenigen Perſonen und Inſti— 
tutionen, bie ben Zielen des Bundes zumiderhandeln. Cinzelnen 
Ingenieuren, die von ihren Arbeitgebern entlaſſen worden waren, 
wurben in derfelben Sigung Unterjtügungen aus der Bundeskaſſe 
bemilligt. Um 6 Uhr abends wurde die Verfammlung aus von 
bem Bunde unabhängigen Gründen geichloffen, bie Veranlafjung 
hierzu war der Wunid des Gaftwirts, die von dem Bunde der 
Ingenieure und Techniker gebrauchten Stühle zu andern Zwecken 
zu benugen. Da in diefem Falle das Gebot des Galtwirts tatz 
ſächlich dem Leben vorauseilte, fo fand es allgemeine Achtung. 

Bei dem Verſuche, fi in den taufenbfältigen Schattierungen 
unfrer öffentlichen Meinung zurechtzufinden, fönnte ber oben- 
erwähnte Slaubensfag der „Virſh. Wed.“ als das innere Merkmal 
des gemäßigt radifalen Flügels dienen, ein gutes äußeres Merkmal 
wäre das Wahlrecht ohne Unterfchied des Geſchlechto, während 
das gewöhnliche allgemeine Geheime beſſer als Merkmal einer 
fortſchrittlich liberalen Gefinnung zu verwerten wäre, die Liberalen 
ohne das allgemeine Geheime fielen füglich unter den Begriff der 
KRonjervativen, die nicht einmal Eonjtitutionell, fondern nur beratend 
gefinnten Ronfervativen unter den Begriff der Reaktionäre, wo fie 
gezwungen wären ſich mit der abjolutiftiich-renftionären Partei der 
„Most. Wed.“ im furchtbaren Anäuel unauflösbarer Widerfprüche 
zu verwideln; aber dieſe legte Partei iſt fo reaftionär, daß fie 
eigentlich feine Partei mehr iſt, fondern eine freiadminiftralive 
Vereinigung zur Aufhebung ‚der Barteien und aller liberalen Ber: 
fügungen und Gefege. Ihre Wirfj ift nad) den Ausfüh— 
rungen Kanſchins notwendig, da Polizei, Armee, Geiftlichfeit und 
Beamten ihre Obliegenheiten zur Wahrung des abſolutiſtiſchen 
Prinzips nicht mehr zu erfüllen imftande find. Die Partei nennt 
fid) die monarchiſche, — Frankreich hat eine monarchiiche Partei 
und feinen Monarden, Rußland, das einen Monarchen und eine 
monarchiſche Partei Hat, ift nad der Anfidht der „Most. Med.” 
beiler daran, das Beſtehen einer monardiiden Partei zur Ver— 
hütung etwaiger monardjlofer Zeiten ift logiicher und zeitgemäßer, 
als eine monarchiſche Partei gewiſſermaßen nad Tiſche. Schon 
jegt ift der Zuftand Höchft unerquidlic. „Wie foll ih“, heiht es 
in einem Briefe der „Most. MWed.“, „in der Geſellſchaft meiner 
Belannten fagen, dab id) Monardift bin, daß id) ein Ruſſe bin 
und ein rechtgläubiger Chrift, wenn mid) ſogleich ein frecher Jude 
überjchreit, der die Konftitution fordert — was werbe ich für einen 
Monarchiſten abgeben in der Anarchie.” 

So haben fi) denn die treuen Untertanen unter dem 
ſtürmiſchen Gebahren der Intelligenz feufzend an das Rolf 
gewandt, als den altbewährten Hort des Reiches. „Im Laufe 

Baltifcie Monatsfchift 1906, Heft 6. 5 








514 Dom Lage. 


weniger Monate, meinen die „Most. Wed.“, ift die einft fo voffs- 
liebende und volkstümliche Intelligenz über dieſes Volk anbrer 
Anficht geworden, die Intelligenz läuft vor dem Wolfe davon und 
verſteckt ſich vor ihm, fie ſchreit über feine Dunkelheit, Unwiſſen⸗ 
heit, Wildheit und Barbarei, fie rettet das Volk nicht mehr von 
adminiftrativem Drud und polizeiliher Gewalttat, im Gegenteil, 
fie ruft nach ftrengen adminiftrativen Maßnahmen, fie will ſich 
felbit gegen das Volk bewaffnen und drängt bie Polizei zum 
fhärfften Vorgehen, um ungeftärt vom Wolfe die Revolution zu 
machen.“ Ihre Hoffnung ift nicht mehr das Volt, fondern das 
Ausland und die Engländer — befonders bie Engländer. Kauf- 
mannigaft und Bauer haben fi) als vorzügliches Material zur 
monardiftiihen Propaganda erwiefen, barum heißt es weiter: 
Gebt uns billige, der Konkurrenz gewachſene Zeitungen, öffnet bie 
Spalten ber Prefle den erdentitammten Kräften des Volkes und 
unfre gut ruffiiche Sache wird unerhörte Hefultate haben.” — 
Auch die freie abminiftrativ:monarchifche Partei ift zur Propaganda 
der Tat übergegangen. 

Die „Birfh. Wed.” behaupten, daß die monardjiftiihe Partei 
im Bunde mit den Dunfelmännern und Meſſerhelden ſtehe: Im 
Shitomir erklärten die Mefjerhelben (Hooligans), daß fie Studenten, 
Intelligen, und Juden totichlügen, da dieſe gegen Nirde und 
Staat und überhaupt — Eozialiften wären. — Die böfe Formel, 
bie Radikalismus und Judentum vereinigt, ift gefunden, und nicht 
allein von ben „Most. Med.“, auch liberale Blätter beginnen 
vom jüdiſchen Radilalismus zu reden. 

Im Ortchen Juſow aber, im Zefaterinfchen Gouvernement, 
murbe ein Keller voll Broflamationen gefunden; die Proflamationen 
brauchten nicht vernichtet zu werden. Die Polizei verjah fie mit 
dem ſchlichten Vermerf: „von den Juden“ und verteilte fie unter 
das Voll. So ift die Sache der Freiheit bucjtäblid) geftempelt 
worden. 


Unter dem Titel „Privilegien und Verfaſſungsreform“ bringt 
die „Düna-Ztg.” einen längeren Artifel, der zum cerflen Mal in 
Umriffen ein Bild eines Neformprojefts aus den Rreifen baltifcher 
Edelleute gibt. Der Verfaſſer (v. S.) unterſucht bie Privilegien 
der Nittergutsbefiger und fommt zu bem Schluß, daß eigentlich 
die noch bejtehenden Reſte berjelben von feiner materiellen Bedeu- 
tung find, und das wichtigſte Privileg, allein über die Verwendung 
ber Zandespräftanden zu beraten, durch die in Rede jtehende Neform 
befeitigt werben fol. 

Am eingehendften ift biefer Artifel in der „Teenas Lapa“ 
beiprochen worben; fie wendet ſich befonders gegen die Säge, bie 


Bom Tage. 515 


Tettifcheeftnifche Intelligenz fheine nach ihrem Verhalten. zu ben 
Unruhen ber legten Zeit noch nicht reif zu fein, an ber Bejpredung 
von Reformfragen teilzunehmen, und der Adelsfonvent jei allein 
Tompetent zu entfcheiden, was eine eigentliche Neform und was 
eine Pfeudoreform genannt werden fann. Die Ausführungen 
Herrn v. ©., daß feine materieflen Privilegien mehr beitehen, 
juchte fie im einzelnen zu entkräftigen. Daneben weit das Blatt 
auf die von Herrn v. S. übergangenen Privilegien hin, die dem 
Adel und dem Großgrundbefiß nach ruſſiſchem Neichsredht zuftehen, 
baf; auf privatrechtlichem Gebiet bei den Raufverträgen mit bem 
Kleingrundbeſitz ſich die Gutsbeſitzer wichtige Vorrechte gewahrt 
haben, und dann, daß die Höfe von den Gemeindelaſten eximiert 
ſeien, ſpeziell an den Ausgaben für Schule, Armen: und Invaliden— 
verſorgung nicht teilnehmen. 

Die „Rigas Awiſe“ lehnt von vornherein jede Diskuſſion 
über die Verfallungsreform ab, ihr ertrem nationaler Standpunkt 
ſchützt ſie vor jedem Kompromiß. will nicht das freiwillig 
gebotene Geringere, um nicht das Größere, das ſie von ber 
Regierung erwartet, in Frage zu ſtellen. Nur äußere Umſtände 
fönnen den Konvent zu Neformen gedrängt haben, daher fol man 
nicht diefe Neformen, die bloß ritterihaftlidhe Interejien im Auge 
haben, begünftigen, zum Schaden ber einzig heilfamen Reformen, 
die die Regierung verwirklichen kann, Neformen, die das Jntereſſe 
des Landes, d. h. des lettiſchen Volkes vertreten. 

Diefe Stellungnahme des gouvernementalen lettiſchen Blattes 
it der ruffiichen Preffe eine Gewähr dafür, daß eine Einigung 
zwiſchen den Letten und Ejten einerjeits und den Deutichen nicht 
moglich iſt. Die eſtniſch-⸗lettiſche Volfskraft, jchreibt die „Nom. 
Wremja“, entfaltet fih täglich und jtündlich, fcon haben bie 
Deutichen viele Pofitionen verloren, find aus vielen Stabtverwal- 
tungen verdrängt worden. Jetzt fangen die Deutſchen an Schutz 
bei der öffentlichen Meinung Rußlands zu fuchen, bald werben fie 
ſich von der alten Anjchauung losfagen, da ihre Pofitionen im 
Gebiet hauptjächlid durd) uns Nuten bedroht find. Dann wird 
der Moment eintreten, wo wir Ruſſen wieder als die Vertreter 
ber Gercchtigfeit eingreifen werden, aber nicht mehr zu gunſten 
der Eften und Letten, wie bisher, jondern zu gunften der Deutfchen. 
Es ijt eben unfre Aufgabe, in den Grenzmarfen im Kampfe der 
Nationalitäten die Schwächeren zu jtügen. — 

Durd) unjere Blätter ging vor furzem bie Notiz von dem 
Erſcheinen einer neuen eftnijchen ſozialiſtiſchen Zeitichrift „Der 
Fortfchritt” in der deutſchen Reſidenz. Die Mai-Nummer, die 
mir eben vorliegt, enthält das Programm berfelben. „Forticritt, 
Wahrheit und Tugend ftehen höher als alle Geſetze und Keligionen“, 
lautet die Parole der Zeitfhrift; fie bedeutet: „Unfre Zeitfchrift 


—* 





516 Bom Tage. 


nimmt zum Ziel ihrer Beitrebungen und zum Maßſtab ihres 
Wirkens den Fortichritt, die Mahrheit und bie Freiheit, welch 
feßtere in natuͤrlicher Weife ans der Entwidlung der Kultur 
gejhichte und aus der geiltigen Natur des Menſchengeſchlechts ſich 
ergeben. . . .” Weiterhin heißt es: „AU unfer politiihes und 
wiſſenſchaftliches Streben wird fi) gründen auf eine natürliche 
Moral oder Lehre vom Guten, mit deren Syitem wir unfre Leſer 
fernerhin von Grund aus befannt machen werben. Alle Pro: 
gramme, Pläne, Verbeiferungen und Neformen, die fih auf das 
Gemeinweſen und die Politit beziehen, müſſen auf moraliſchen 
Grunbfägen und Verbefferungen bafiren. Unfre Moral aber trägt 
feine veligiöfe Färbung, fondern fie iſt die Sprache der Naturgefege 
von der geiftigen Natur des Menſchen jelbit.” 

Es ift verfrüht, nad) diefer Einleitung das Blatt ein fozias 
Niftifches zu nennen, man warte die Naturgefege ab, die es von 
der geiftigen Natur des Menſchen abzuleiten gedentt. 





238. Mai. 


Die Ereignifje der legten Zeit haben bie Parteienbildung in 
Rußland beichleunigt. Die Gruppierung des rechten Flügels, durch 
die befannte Aktion des Fürften Trubepfoj eingeleitet, iſt zur Zeit 
nach ben „Bird. Webom.“ elma folgende: Gam retts fiehen 
Gringmut und der Stab der „Most. Weboı dann folgt ber 
„Grafhbanin“ mit dem Fürften Meſchtſcherskij, hieran ſchließt ſich 
die ruffiiche oder national-progreffive Partei des Grafen Scheremetjew, 
dann folgt Trubepfoj mit feinen Anhängern, den 22 Adelsmar- 
fchällen und ihrem Programmadıer Schipow — ihr Organ iſt die 
„NRowofti bnja“; weiter linfs jtehen Golowin und Golisgn mit 
ihrem Anhang und die fog. „ehrlichen Konfervaliven“, von denen 
man nur weiß, daß fie feine Gemeinschaft mit dem ganz rechten 
Flügel der Adelspartei haben wollen. — Zufammengehalten wird 
die ganze Adelspartei durch den gemeinjamen Wunſch, organiſche 
Reformen zu verwirfliden, dabei jtreng auf geſetzlichem Boden. 
Die „Birſh. Wed.“, die eigentlic wenig Grund haben, das Lob 
der delspartei zu verfünden, erkennen dieſen Neformeifer an; 
anläßlich der agraren Frage fagt fie: „Zur Ehre der Edelleute 
fei es gefagt — die Mehrzahl it für eine unaufjdiebbare Befrie- 
Bigung des bäuerlichen Kandhungers!” 

Ein Reformeifer, der jet ganz Rußland befeelt, genügt nicht, 
um bie Rechte von den übrigen Parteien des Reiches zu trennen, 
jondern ihre nationale Färbung. Beltimmend hiefür ift einmal 
die Tradition Moskaus als Zentrum der Mdelspartei, der 
ſchroffe Gegenjag zum liberalen burcaukratifchen Petersburg. Als 





Bom Tage. 517 


Beleg hiefür zitiere ich folgenden Paſſus aus dem Briefe bes 
befannten Edelmanns Pawlow an den Herausgeber der „Nowoje 
Wremja“: „Organiſche Umwandlungen — als Ausflus organifcher 
Forderungen des ruffiidhen Landes, um es zu heilen von allen 
freinden Prinzipien, die das 18. Jahrhundert und das regime 
imperial bureaucratique in unſer Leben getragen, die unſern 
zariſchen und volfstümlichen Weg verunitaltet, zum Ziel desfelben 
die Konftitution gefegt — find aber etwas anderes als Reformen 
im Geijte diejes regime imperial bureaucratique, von dem der 
Petersburger Liberalismus ebenſo jet wie früher träumt! — 
Dieſe liberalen ngeipinfte Petersburgs find ein untrüglides 
Symptom der geiftigen Erfranfung unfrer intelligenten Gefelljcuft 
und bilden den Hauptgrund ſchadenfroher Hoffnungen unfrer Japano- 
philen, wie derjenigen der ganzen Erde!” . . 

Das Petersburger Blatt, die „Birſh. Wedom. “, erfennen 
Mosfaus Vorherrigaft an: „Wirflid, Mosfau wird immer mehr 
zum Zentrum des ruiliichen politiſchen Gedankens. Hier iſt die 
politiſche Plattform für die Beziehungen der Ruſſen und Polen 
ausgearbeitet und feitgejegt worden. SHier haben fid) der Bund 
der Bünde, die wichtigiten Kongreſſe und Organifationen zuſammen⸗ 
getan. Hier iſt der Sig der ganzen rechten Oppofition, die Anz 
hänger Scharapows, Schipows und Scheremetjews, die alle auf 
Bott und ihre Kräfte vertrauend, das Allumfaffende zu erfaiien 
hoffen und vor allem die Aufgabe der ruſſiſchen Staatsordnung 
entgegen dem Erfahrungsiag der Weltgeichidhte auf dem Boden 
rufliiher Eigenart zu lölen gedenfen.” 

Zu den beiden Merkmalen, Reformeifer und nationaler Eigen: 
art, kommt als drittes der Gegenjap und Nampf mit den revo 
Intionäven Parteien des Meiches hinzu. So ſchreibt ber „Mir 
Boſhi „Alle politiſchen Gruppen der Rechten ſind eins in einem 
rührend ähnlichen Motiv: dem Kampf mit den Unruhen, revolu— 
tionären Strömungen x. Die Einen verlünden „Ihlagt fie auf 
den Kopf“, andre raten zu bewafinetem Widerjtande, andre wieder 
zu „geleplichen Mitteln“, einige begnügen ſich mit „unverjö 
licher Stimmung“. Weiter folgen als Mittel: Semofij 
politische Reformen ufw. In den Mitteln kann man natürlich auss 
einandergehn. .. Es ſcheint, als ob alle Schattierungen der Nechten 
bloß für die Unruhen da find und weil dieſe eriftieren. Darum iſt 
aud die Rechte in ihrer angenblicklichen Bildung als politische 
Kraft durchaus nicht ernit zu nehmen, jie erſcheint jogar lächerlich 
in der Rolle einer getreuen Oppofition zu den Unruhen. ... Die 
heutige Nechte iſt durch die Unruhen und für dieſe entilanden. 
Scjon aus diejem Grunde allein jollte fie danfbar jein und weniger 
färmen. Aber wir haben uns ſchon zuwiel mit ihr befaht, da ja 
nicht einmal die nächſte Zukunft ihr gehört.” 
























518 Vom Tage. 





Co hätte aljo der „Mir Boſhij“ die unbegueme Rechte 
mitfamt den Unruhen von der Liſte geſtrichen. — 


Die lettiſche, deutſche und rujfiiche Preiie hat von der in 
der „Voliiſchen Monatsicrift” veröffentlichten Antwort des lin: 
ländiihen Yandmarihalls an den Grafen Gudowitſch jofort Kenntnis 
genommen. Die leiuſche und deutiche Preiie begnügen ſich mit 
der Yıiedergabe des Briefes, die „Deenas apa“ hebt hervor, daß 
die livländiſche Nitterichaft nad) dieſem Briefe ſich nicht mit Fragen, 
die das ganze Neid betreffen, beichäftigt habe. Dieſe Tatſache 
bringt fie in Zufammenhang mit der offiziellen Vlitteilung, da 
die baltiihe Zelbjtverwaltungsreform auf Initiative der Nittericaft 
in Angriff genommen it. Die „Nihsk. Wed.“ und ihr getreues 
Echo der hanin“ in der „Nomwoje Wremja“ meinen, daß die 
fivländifche Nitterichaft in der Frage der Selbjtuerwaltungsreform 
bejonders geididt verfahren fei, aus dem Briefe des livl. Land- 
marichalls glauben fie entnehmen zu fönnen, „dab dunch weils 
Maßhalten in ihren Wiünfhen“ fie ihren alten Wunſch, die Jui— 
fiative der baltiihen Selbjtverwaltungsreform zu ergreifen, erreicht 
habe. Anfnüpfend bieran meinen fie, daß das ritterichaftliche 
Heformprojeft augenjdeinlic noch nicht feititche, da nad den 
deutichen Zeitungsnadricten (Tüna-dtg. und Nordlivl. Ztg.) eine 
progrejjive Partei mit der fonfervativen um die Verrichaft ringe; 
die „Rusj“ meint, daß die progreſſiven Stimmen jedenfalls nur 
‚gang vereinzelt jein fönnen. Die „Nihst. Wed.“ machen vor allem 
für ihren Gedanken Propaganda, daß die im öffentlichen Leben 
wirfenden Glieder des lettifdyeitniihen Voltes entweder zu den 
Beitrebungen des Neformprojefts hinzugezogen werden oder wenig: 
ſtens getrennt ein jelbjtändiges Projeft ausarbeiten mühlen, dann 
wäre die Negierung iflande, das ritterfcaftliche Projekt beiier 
beurteilen zu fönnen. — 

Das Programm des Herrn v. S. hat eine Ewiederung in 
der „Norbliot. Zig.“ gefunden, hier wird die Vertretung der Nicht 
beiglichen, darum Wahl der bäuerlichen Delegierten für die Bezirks: 
verbände durch die Gemeindeverfammlung und Heranziehung der 
Kändtichen Sutelligenz gefordert, die Vertretung des neuen Yandı 
tanes durd) die Nitteridaft wird verworfen. Die lettiihe und 
ruſſiſche Preſſe erklären ſich mit dieſem Projelt für einverfianden, 
auch in der „St. Pet. Ztg.“ iſt von einem Anhänger dieſes 
grojetts, einem Kern y, ein Artifel erfhienen; hier wird aller: 
dings das Haupfgewicht nur auf die Beteiligung der Jutelligenz 
zweds Lölung politiicher Fragen gelegt, in der Weiſe des F.-Lr 
KRorveipondenten diejes Blattes. 


























Vom Tage. 510 


Im „Rig. Tagebl.“ befämpft Herr ©. v. V. gleichzeitig 
Herrn v. S. und den Herrn ber „Norblivl. Ztg.” — es handele 
fi beim ganzen Neformprojett nicht um einen politiihen Körper, 
fondern bloß um eine Steuerverwaltung, was beiden Herren un: 
befannt fdeine. Von einem Dlitvertretenfein „aller Welt“ könne 
feine Nede fein, aud) auf der Vaſis einer Cinfommenfteuer jei 
das nicht möglid, da dieſer im provinziellen Haushalt niemals 
eine zentrale Stellung zutommen lonnte. 

Scliehlih hat in bie Tisfufiion der Landtagsrejorm ein 
Vertreter des geiftlichen Standes eingegriffen und für die Betei— 
tigung feiner Amtebrüder plaidiert. 

Den Vorwurf mangelnden Konfervatismus hat fi das 
Projeft des Herrn v. ©. in einer d gezeichneten Zuſchrift ber 
„Düna-Ztg.“ zugesogen. Ser wird vom Schirrenihen Standpunft 
aus der Grundbejig als einzige Vorausſebung politischer Beteiligung 
gefordert, im Gegeniag zur Präſtandenleiſtung. Auch iſt ber Ver: 
faijer geneigt Kleingrundbefig und Großgrundbeiig in der Landes- 
verwaltung jänberlid zu j—eiden, etwa nad) dem Vorichlage des 
Herin ©. v. B. Für gelonderte Fandtage und Bauerntage ift 
aud in der „Et. Vet. Zig.“ Herr ©. eingetreten, um Hader und 
Zwiefpalt, Verſchärfung nationaler Gegenji i 
gemeinjane Arbeit würde dann in den vereinigten ritterfchaftlichen 
und bäuerlichen Auoſchüſſen ſtattfinden, wo bei der bejchränften 
Anzahl den Gliedern Gelegenheit geboten würde, ſich gegenfeitig 
kennen und lieben zu lernen. 








Die vielverſprechende Judenfrage ift in enger Verbindung 
mit der Frage der Fremdjtämmigen dem panilaviftiid-jlawophilen 
Ideentreiſe in überrajcend einfader Weije entjtiegen, indem bie 
in Rußland mwohnenden Hebräer den Fremdſtämmigen zugezählt 
wurden. Nachdem laut der „Now. Wr.” der „Sſyn Stjetſcheſtwa“, 
laut dem „Siyn Otjetſcheſtwa“ die „Now. Wi den hebräijden 
Urfprung des ruſſiſchen Nadifalismus an feiner Abneigung gegen 
die hebräiii jedelungsgefege entdedt Hatte, bejtritt ein Artikel 
der „Now. Wem.” die Stimmberedhtigung der Hebräer, nicht als 
Menſchen, jondern als Ruſſen und redhtgläubige Chriften. Ja, die 
Neputation des allgemeinen geheimen Wahlvechts jelbit wurde 
durd die Behauptung, daß ſich bei den Wahlen in der Provinz 
doch hauptſächlich nur Juden einftellen würden, weſentlich geſchmälert. 
Aus der „Nowoje Wremja” fiel der Gedanke in die Hände der 
„Post. Wed.“, die ihn in einer glüdlidien Nombination mit der 
Autelligenz und den altbenährten japaniichen Diillionen der ftaats- 
erhaltenden Propaganda der Tut übermittelte. Xeptere verteilte 












520 Vom Tage. 


ihn in der populären Form bes Plakats für ein Geringes unter 
das Volt, wobei ihn der Polizeimeifter von Jufow erhaſchte und 
ihm zur_bequemeren Handhabung in epigrammatifcer Kürze in 
feinen Stempel ſchneiden ließ. 

Die parallel mit den Hebräern erörterte Frage der übrigen 
Fremdſtämmigen war indefjen noch nicht ftempelreif und bie An: 
ſchaffung eines Stempel mit der analogen Aufidrift „von den 
Fremdjtämmigen“ wurbe von der Kanzlei des Polizeimeijters in 
Jufow bis auf weiteres nicht für notwendig erachtet. Dagegen 
it and) diefer Gedanfe bereits in den „Most. Med.” angelangt. 
Die vadifalen Bünde und Parteien, mit denen bie Stempelung 
ber Judenfrage begonnen hatte, haben in allen Refolutionen und 
„Plattformen“ ein menjchliches Nühren, wie mit den Juden, fo auch 
mit den übrigen Fremdflämmigen gezeigt, dem Begriff der bürgers 
lichen Freiheit die Autonomie und freie nationale Entwicklung aller 
frembftämmigen Wölterihaften auf den hiftorifch geworbenen 
Grundlagen ihrer Kultur einverleibend. 

Leider dürften die Segnungen der radifalen Anſchauungs- 
weife bei der praftiihen Durchführung ihrer Grundjäge für die 
fremdftämmigen Völferjchaften ohne Bedeutung fein, da die Radi— 
falen zunächſt eine ausgibige Reform auch des fremdjtämmigen 
Volfslebens nad) dem Prinzip des MWahlrechts ohne Unterichied 
der Geſchlechter in Ausficht nehmen, wobei den Fremdjtämmigen 
nur fpärlidie Ueberreſte des hiſtoriſch Gewordenen zur weiteren 
Pflege ihrer nationalen Eigenart verbleiben dürften. Ohne Echo 
verhallend erklingt unter diefen Umitänden die Stimme Alexej 
Woroſchins in der „Nusj”: „Deine lieben ruffiichen Brüder, iahl 
ab, id) bitte euch, von eurer efenden und unverftändlihen Torheit 
der Ausrottung und Ecjuhriegelung ber Fremdftämmigen — nie 
mand werdet ihr ausrotten! Alles Starke, das eure Befürd- 
tungen wedt, findet fein Leben, dasjenige aber, was in dieſem 
Starfen euch ſelbſt zum Halt dienen fönnte, wird, den Dornen 
gleid) euch ins Fleiich dringend, euren Leib zerreißen, und auf 
biefem Dornenlager werdet ihr, glaubt mir, weit entfernt fein, 
Sieg oder audy nur Ruhe zu finden, von ber jtündliden Erwar— 
tung irgend eines plöglicen Greigniifes beunruhigt. Kein Verftand 
ift darin, jondern eitel Blindheit und Schaden. Die fremde Indie 
vidualität unterdrüdend geht ihr auf Meſſern einher, weit werdet 
ihr auf diefem Wege nicht gehn.“ 





Bom Tage. 21 


10. Juni. 


Die abjolutiftifihe Partei hat, Schritt vor Schritt den Ereig- 
niſſen bes politijhen Lebens folgend, den Weg von den grund: 
legenden Vorausjegungen ihres Beftehens bio zu den legten Kon— 
fequenzen diejer Grundfäpe zurüdgelegt. Sie wollte beharren und 
ift genötigt zu reorganifieren. Seit den Zeiten Karamſins und 
darüber hinaus, ſeit den erjten Negungen des rufjiihen Staats: 
gedanfens ruht Nußland auf ber unteilbaren Dreiheit — Volto« 
tümlichfeit, Nechtgläubigfeit und Selbſtherrſchaft. Dur dieſe 
Dreiheit und ſomit durd) das Wejen des Staates ſelbſt it alles 
Neformieren dem Staate verberblidh, denn jebe Eriheinuug bes 
ruſſiſchen Lebens ift aus einer diefer Wurzeln erwachſen, deren 
organiiche Verbindung alle Eingelreform vereitelt. „Daher find 
den Feinden Rußlands alle drei Prinzipien gleid) verhaft und 
die Neformbewegung richtet fi) gegen die Orundlagen des rujfüchen 
Reiches und auf die Aufhebung des ruſſiſchen Staates.” Mo 
immer die Feinde des alten Regimes den Spaten anfegen, bedrohen 
fie das Leben der Wurzeln Rußlands. Die Liberale Intelligenz 
führt Rußland der Vernichtung entgegen. „An die Etelle ber 
zariſchen Selbſtherrſchaft wird die Despotie der parlamentarijchen 
Mehrheit, d. H. der radifal-frembjtämmigen Intelligenz und der 
jüdijchen Geldherrſchaft treten, an bie Stelle der Rechtgläubigfeit 
— nichts! Denn alle Religionen werden gleichberechtigt ſein und 
feine führend! An bie Stelle bes ruffiichen Volfsgeiltes werben 
alle übrigen Volksſtämme treten, denen Nußland nicht gehört und 
bie dennody gemeinfam mit der murzelloien und finnlofen Intel 
ligenz Nußland Ienfen werden! Das duffiſche Volt aber wird, auf 
feine ethnographijchen Grenzen beichränft, an der Führung bes 
Zandes allein durd) jene Intelligenz beteiligt jein, folglid) von der 
Leitung und Verwaltung des Landes gänzlich ausgeichloffen und 
feiner politifhen Nechte verluftig fein... . Augenicheinlic wird 
durch dieſe Reform Rußland jeines ftaatlihen Gebantens und 
überhaupt jedes Sinnes beraubt und nichts mehr — als ein leerer 
Schall!" (Most. Wed.) 

Das find die Früchte der Intelligenz, die ein Frembförper 
im ruſſiſchen Staat ift, erwachſen und genährt auf dem Boden 
bes weltenropäijchen Imperialismus. Soll Nußland genejen, jo 
heißt es mit dem Übel der Intelligenz auch den Grund des Übels 
zu bejeitigen. „Entſchieden und feit müflen wir der Politif des 
Imperialismus entjagen und zur patriardaliihen Form ber Selbit: 
hertſchaft zurückkehren, die der Struktur des ruſſiſchen Lebens ent: 
ſprechend und natürlid) it.” (Most. Wed.) Der imperialiftiihe 
Staat gelangt, mit ber Beſchränkung bes jelbftherrliden Willens 
durch die Minifter beginnend, unrettbar zur Konjtitution, mit der. 


22 Vom Tage. 


die Auflöfung des Staates felbft beginnt. Rußland aber ift aller: 
dings beim Miniſterſyſtem, aber noch nicht bei der Konjtitution 
angelangt, daher iſt es noch Zeit mit dem Imperialismus zu 
brechen und den patriarchaliſch volfstümlichen Staat in feiner ur: 
ſprůnglichen Neinheit wieder herzuitellen. Co jteht denn „unter 
den Neformen, deren das heutige Rußland nad) der Meinung der 
monardiiden Partei bedarf, eine größere Feſtigung der unum- 
ihränft monarchiſch jelbfherrlihen Gewalt obenan.“ Cs täte vor 
allen Dingen not, den Staat im Staate das Juſlizreſſort aufzus 
heben und bie Teilung der Gewalten zu beieitigen. Aus der 
Aſche des Imperialismus wird vermittels folder und ähnlicher 
Neformen der Phönir des ruſſiſchen Staates neu erſtehen und ſich 
body über feine Feinde erheben! Wer aber bürgt für den Sieg 
der guten Sache, wer wird den Jmperislismus zermalmen und 
die Unmtriebe der Intelligenz zu Schanden madjen, wer ijt der 
Heros der Abjolutiften? Und wir erhalten zur Antwort — das 
ruſſiſche Volt! — 

Hunderttaufende von Köpfen find, wollen wir anders der 
radilalen Preſſe Glauben jdenfen, augenblidlih in Nußland mit 
der Verwirklichung der jozialiitiihen Ideale beidäftigt, mit der 
Nealifierung diefer Ideale nicht allein, fondern ebenjo mit ihrer 
Ergänzung und Erweiterung. Zum Ruhme Rußlands wird die 
Löſung der Aufgabe alle Erwartungen weit übertreffen, und wenn 
die Sozialdemokratie des Wejtens ein goldenes Zeitalter Hat ſchaffen 
wollen, jo wird jedenfalls das Zeitalter des ruſſiſchen Radikalismus 
um vieles goldener und, jozujagen, ein unerhört goldenes Zeitalter 
fein. Nur das weitgeftecte Ziel lohnt der Mühe, und der ruffiiche 
Radilalismus ift in der mühevollen Arbeit der Selbftorganijation 
begriffen. Nach dem Referat des „Mir Bolhij” beginnen ſich 
bereits feit einigen Monaten Perfonen der verſchiedenartigſten 
Berufe zu profeifionalen Genoſſenſchaften zuſammenzuſchließen. 
Proſeſſoren, Lehrer und Voltoſchullehrer, Advokaten, Ingenieure, 
Aerzte und Schriftſteller, Pharmazeuten, Veterinäre, Handwerker 
und Techmter die Frauen aller Berufe vereinigen fi} zu politiich- 
profefjionaten Verbänden. Einzelne dieſer Genojlenidhaften find 
mod) örtlid) beſchränlkt, viele find bereits zu allruſſiſchen Bünden 
geworden. Als Viufterprogramm diefer Bünde fann im politiid- 
hogialer Yinfiht das Programmı des allruffiüchen Bundes der Tech 
nifer und Ingenieure, das wir bereits erwähnt haben, dienen. 

Alle allruſſiſchen Genoſſenſchaften, ſchreibt Archeſchow in 
„Naſcha Shisnj“, find aus Ortoögruppen entjtanden und haben 
fid) vermittels alleulfifcher Delegiertenverfammlungen und dur 
die Tätigfeit provinzialer Zentralbureaus endgültig organifiert. 
Gemeiniam iſt ihnen allen — die Errichtung einer vorläufigen 
politijgen „Plattform“, als erſte und nädjitliegende Aufgabe, 





Bom Tage. 523 


und das Veitreben, die Neafifierung dieſer „Plattform“ mit den 
Wiitteln ihres pratifcen Berufes zu erreichen. Die Annahme der 
politiihen „Plattform“ mit allen in ihr enthaltenen Freiheiten legt 
jedem Gliede die moraliſche Xerpflichtung auf, nad) Moöglichteit 
die in der Einigungsformel enthaltenen Ideen in jeiner unmiltel- 
baren praftiichen Tätigkeit zu_verwirkliden. Landau im „Ziyn 
Otletſcheſtwa“ definiert die profeffionalen Bünde als „das Surrogat 
einer freien Geſellſchaft“, die tatfächlic die Freiheit ſchafft und 
die gewvaltige Arbeit einer gefellicaftlichen Wiedergeburt vollzieht. 
Nach den Auslaffungen des Profeſſors Viiljufow it der negativ: 
feittiche Teil der Bundesplattformen vollftändig gleihlautend, ihr 
volitiicher Schalt nicht weſentlich verfchieden, erjt bei den ſachlichen 
Einzelheiten beginnt die Meinungsverſchiedenheit. Es lönnen daher 
die Glieder der profeſſionalen Bünde nicht beanſpruchen, unmit- 
felbar die reorganifierte Gefellichaft zu vepräfentieren, uud nichts 
mehr als eine Vrücke zur Echaffung des fozialitiichen Staates 
bilden. Dementipredend bezeichnet Profeſſor Miljutow als die 
Aufgabe der Bünde — „die bis dahin untätigen Elemente zur 
Artivität zu bewegen.“ Während die Bünde ſelbſt nichts mehr als 
der Eauerteig find, der langjam in die paljive Maſſe hinabdringt, 
iſt die endgültige Verwirklichung des radifalen Programms einer 
andern und größeren Kraft vorbehalten. Wer aber, fragen wir, 
wird den Bau der morichen Gefellichaft zerfhmettern, der Cache 
der Gleichheit, der endgültigen Vereinigung der Männer und 
Frauen und der geredten Verteilung von Arbeit, Macht und 
Genuß zum Siege verhelfen? Und wir erhalten zur Antwort — 
das ruſſiſche Volk! 








In der Verteilung der deutjchen Geſellſchaft Hat ſich bei 
der ruſſiſchen Preffe ein Umſchwung vollzogen. Die alte An: 
ſchauung, der man überall begegnete, die baltiichen Deutichen feien 
allen Reformen abhold, die nicht die Rückkehr zur Wergangenbeit 
ermöglichen, findet immer weniger Boden. Vor allem fonftatieren 
die rufitihen Blätter eine neue Strömung, die ſich in ben deutſchen 
Tagesblättern äußert. So ſchreibt ein Rorrefpondent der „Now, 
Wremja“: „Es ift ſchwer zu jagen, was im Augenblid in den 
Spalten unferer Tagesblätter ſich entwidelt. Bis vor kurzem faſt 
ganz ohne eigene Artifel nur auf den Abdrud angewieien, find 
diefe Zeitungen plöglih voll von jelbjtändigen Leitartifehn und 
Auffägen über Neformen für das Titieegebiet. Hierher redinet | die 
rufiiiche Preſſe die Aufläge über die Yandlagsreform, bie Die: 
fujfion in der Batronatsjrage, endlich haup! lich die Schulfrage 
im Zufammenhang mit dem von der „DünazZtg.“ angeregten 









524 Vom Tage. 


Gedanken der Parität. Die Anihauung daß das Erlernen der 
tettiichen und eſtniſchen Sprache als notwendig von der beutichen 
Gejellfchaft erachtet wird, hatte die ruffiſche Preife jehr überraicht. 

Die Möglichfeit einer nationalen Einigung nod bis vor 
furzem von der gefammten ruffiichen Preife als unmöglid) hin- 
gejtellt, wird jetzi befonders von der „Nühst. Wedom.“ immer 
mehr in den Kreis ber Betrachtung gezogen. 

„Es ift Mar“, ſchreiben die „Riſhokija Wedom.“, „daß bie 
baltiihen Deutſchen ernithaft mit den veränderten Verhältniſſen 
im Gebiet und dem Machen der eftniich-lettiicen Kulturkraft zu 
vedhmen anfangen. , . . Vielleiht find diefe neuen Strömungen 
in der deutjchen Geſellſchaft unvermeidlih und jogar garnicht 
ungünftig für geregellere Beziehungen zwiſchen den Grenzmarken 
und dem Heide. . . . 

Das freiere Spiel der geſellſchaftlichen Kräfte nad Be: 
feitigung des abminijtrativen Drudes, weldes jegt den neuen 
ruſſiſchen Auſchauungen fonform der Gefellichaft zugeitanden werden 
muß, wird in Zukunft eine nationale Einigung nicht mehr ver: 
hindern fönnen. Da drängt fi den ruſſiſchen Blättern unwill: 
fürlid) der Gedanke auf, daß eine Verdrängung des ruſſiſchen 
Elements zu befürdten ill. Die „Niſhöt. Wedom.“ fallen in die 
bittere Klage ein, daß gerade bie ruſſiſche Bureaukratie in erſter 
Linie die ruſſiſche Geſellſchaft bier in den Grengnarken vernichtet 
babe, jo daß jetzt wo im ganzen Gebiet alles eine rege Tätigkeit 
entfaltet, die ruſfiſche Gejellihuft tatenlos verhartt. 

Die „Now. Wremja* jcreibt: „Obgleid die Zahl ber 
ruſſiſchen öffentlihen Organijationen im Oftieegebiet bedeutend 
gewachſen war, iſt dennoch ber geſellſchaftliche Geiſt vollitändig 
geihwunden. Die Formen find da, aber ihnen fehlt das Leben. 
Die ruſſiſche Gefellihaft eriftiert ſozuſagen nur auf dem Papier, 
nicht in Wirklichfeit. In dem Augenblid, wo fie ihre Stimme 
erheben müßte als Gegengewicht allen möglichen fremditämmigen 
Umtvieben, zeigt es ſich, daß dieſe Geſellſchaft garnicht eriftiert. 
Und wir haben nichts, was wir den realen ortseingefejlenen Gejell: 
ichaftsfräften entgegenjtellen fönnen, die in letzter Zeit unter dem 
Einfluß neuer Strömungen zum Leben erwadıt, die Reorgauiſation 
aller Beziehungen des Djtjeegebiets ihren Anfhauungen gemäß 
verlangen. 

Die Polemit zwiſchen der deutichen und lettiſchen Preſſe 
wegen der Banerunruhen auf dem Lande it in legter Zeit ver: 
ſtummt, nachdem die Unruhen immer mehr einen antifirdlichen 
Charakter angenommen haben. Die Kirhenjchließungen durd das 
Konfiftorium und ber Appell an die Gemeinden zur Celbithülfe 
gegen die Unruhejtörer hat in der „Rig. Awiſe“ und einigen 


Bom Tage. 525 


anberen fettijchen Blättern ein Echo gefunden. Die „Beterb. 
Awiſe“ bringt ebenfalls einen hierher gehörigen Artifel mit ber 
Veberfrift*: „Fort mit der Politit aus der Kirche.” Hier heikt 
es: „Wir find bereit, wir rufen jedem Letten zu: ort mit 
der Politit aus der Kirche! Rührt das Heiligtum nicht an, laßt 
zum geringjten einen Ort des Friedens übrig, wo die Müden fich 
ftärfen und erholen fönnen von den Stürmen des Lebens. Aber 
wir willen aud, daß dieſem Nuf nur dann wird Folge geleiftet 
werden, wenn Ihr deutſche Herren Euch fosfagt von der bisherigen 
Ordnung, die Kirche als politiiche Arena zu betrachten. Wollt 
Ihr das? — Wir zweifeln. Ihr wollt noch mit den alten 
Mitteln die Kirche und die Perfon des Predigers jhüpen. Ihr 
liebt Schelle und Strafen, Ihr jeht nur das Heil in Nagaifen, 
Schwertern und Flinten, wir dagegen glauben daß beſſer die Kirche 
und ber Prediger durd) die Licbe und das Vertrauen der Gemeinde 
geihügt wird. Wenn Ihr dasjelbe wollt, jo find wir auf dem: 
felben Wege, dann wird unfrer Arbeit das Gebeihen nicht fehlen, 
wollt ihr dagegen nicht, fo find unfre Wege geidieden, dann Fünnt 
Ihr_ über uns läftern joviel Ihr wollt, wir werden bei unfrer 
Auffaffung und unfrer Ucberzeugung bleiben.“ 

Das „Nig. Tagebl.” plädiert für Schliefung der Kirchen 
auch vor dem Ausbrud von Rirchenjtörungen, damit Gefundheit 
und Leben der Pajtoren nicht von der Laune roher Tumultanten 
abhängig bleiben und für fleine Soldatenpifetts, die mit jtrengiten 
Voll machten ausgeitattet den jonntäglichen Gottesdienjt zu bewachen 
haben. Die ruflische Preſſe hält diefe leptere Maßregel aus rein 
praftiihen Gründen für nicht durchführbar, bedauert, daß die 
deutfden leitenden Kreife nur für Gemaltmahregeln find. Cs 
wäre interefjant die Meinung der deutihen Preſſe darüber zu 
vernehmen, warum es die deutlichen Paſtoren nicht verjtanden haben, 
im Verlauf einiger Jahrhunderte die Liebe der Bevölkerung zu 
erwerben, fo daß ſie jept ihre Verteidigung übernehmen fönnte. 
Es ift beachtenswert, dab ſolche Unruhen in orthodoren Kirchen nicht 
vorgefonmen find. Soweit die ruſſiſche Preſſe. 

Der „Poflimees“ widmet einen längeren Artifel der mit 
der proflamierten Glaubensfreiheit verbundenen Uebertrittsfrage. 
Er meldet, daß die geijtlihen Oberen der cvangelifchen Kirche den 
Berchluß gefaht hätten: Der Uebertritt zum evangelifden Glauber 
fofl vermittel® Polizei geichehen. Wie man hört, Habe bir 
lutheriſche Kirchenobrigfeit um ſolch eine jondeiliche Ordnung und 
polizeiliche Vermittlung beim Glaubenswechfel in der Befürchtung 





#) Diejer Ariitel iſt vom Nedaktcur der „Baljs*, Paftor emer. Olaws 
aeichrieben; die Redattion der „Peterb. Awiſe“ fügt hinzu, daf der Artifel vom 
Sigafehen Zenfos einer Iwiigen zeig geitricen fi. Mald darauf crjchien 
dieſer Arrifel dennoch gleichzeitig im „Walt Wepitn.“ und im „Balis". 








528 Vom Tage. 


gebeten — man fönnte „Oben“ doch meinen, bie evangeliſche 
Kirche arbeite darauf los, Menſchen aus der Stantsfirhe wegzu— 
locken. Man hat fich jonit in Wahrheits- und Getitesfragen von 
ber Menſchenfurcht nicht jo augenſcheinlich leiten laſſen. 

Wenn das Salz der evangelifchen Kirche tatfählih dumm 
geworben ilt, Heißt es weiterhin, jo möge man mit firdli—en 
Dingen die Ordner des bürgerliden Yebens nicht beläftigen — fie 
haben ohnehin viel zu ſchaffen. — 

PB. 


Baltijge Chronik. 


September 1904 — September 1905. 


1. Sept. Die Ernennung des Fürften Sſwjätopolk-Mirſti zum 
Minifter des Innern wird von der gefamten ruſſiſchen Preſſe 
mit großer Sympathie beſprochen, bie ſich immer mehr 
fteigert, je häufiger ber Minifter in Anfprahen und bei 
Interviews feinen liberalen Anfhauungen Ausdrud giebt. 

Ende Auguft erklärt ber neue Minifter einem Dlit: 
arbeiter des „Echo de Paris”, er werbe fi) an das Mani— 
feft vom 26. Febr. 1903 (f. Balt. Chr. von dem Datum) 
halten, werbe fi) aber „bei feinen Handlungen von einem 
wahrhaft liberalen Geift durchdringen” laſſen; er erklärt fich 
für einen „entſchiedenen Anhänger ber Selbftverwaltung” 
und will den Semitwos möglichſt umfaflende Befugniſſe 
zumeifen, jomeit es fi um die Schule, die landwirtſchaft⸗ 
lichen Interefjen, das Straßen: und Eifenbahnmwefen u. a. m. 
handelt. Für ben Parlamentarismus indeifen fei Rußland 
„nicht reif“. Hinſichtlich der Toleranz gegen nichtorthodore 
Chriſten und Juden äußerte der Minifter: „Ich perhorres- 
ziere alle religiöfen Verfolgungen und befürmworte größts 
mögliche Gewiljensfreiheit, aber mit gewiſſen Vorbehalten.” 
Den Juden gegenüber will er ſich fehr wohlmollend zeigen 
und das Los der armen Juden verbefiern. 

Als der Fürft ſich nad) der am 10. Sept. vollzogenen 
Enthüllung des Denkmals für bie Naijerin Katharina II. 
am 11. von ben Beamten und den Vertretern ber Stände 
und Berufsgenofjenihaften in Wilna verabidiebete, hielt er 
Eindruck machende Aniprahen an die Prefvertreter und an 
bie Juden. In ber erfteren erfannte er ben „enormen“ 
Nugen einer den tatfählihen Bedürfniſſen der Bevölkerung 
dienenden Preffe an, und befonders ber Provinzialprefie; 
auf die Adreſſe der Juden erwiderte er u. a., er hoffe, 
langjam aber fiher einer glücklichen Löfung ber Jubenfrage 

I 


Baltiſche Chronit 1904/5. 


fih zu nähern, da er das Glüd haben werde, nahe dem 
Quell der Gerechtigkeit zu ſtehen. 

Nah der Denkmalsmweihe Hatte der Minifter eine 
Unterredung mit dem Vertreter ber amerikaniſchen „Afjociated 
Preß“, Howard Thomſon, in der er in Abrede ftellte, ſchon 
jegt ein feftes Programm zu haben, ebenfalls fein Der: 
trauen zur Semftwo auoſprach und Hinfihtlid ber Juden 
als jeinen ernftlihen Wunſch bezeichnete, ihnen die meit- 
gehendfte Wahl der Epiftenzmittel und Arbeit zu über: 
laſſen. Als Grundprinzipien feines Minifteriums nannte er, 
unter Bezugnahme auf das Manifeſt vom 26. Febr. 1903, 
Toleranz und Dezentralifation. 

Beim Empfang ber oberften Beamten des Minifteriums 
am 16. Sept. fagte Fürft Sfwjätopolf-Mirsfi u. a.: „Die 
abminiftrative Erfahrung hat mich zu der tiefen Überzeugung 
geführt, daß die Fruchtbarkeit der Negierungsarbeit auf 
einem wahrhaft mohlwollenden und einem wahrhaft ver- 
trauensvollen Verhältnis zu ben fommunalen und ftändis 
chen Inftitutionen und zur Bevölkerung überhaupt beruht. 
Nur unter diefen Arbeitsbebingungen läßt ſich gegenfeitiges 
Vertrauen erzielen, ohne das ein bauernder Erfolg im 
Staatswefen nicht erwartet werden Tann.” 

Gleich darauf äußerte er einem Korreiponbenten bes 
„Berl. Lokalanzeiger“ gegenüber über die Nationalitäten- 
frage: „Für mid) gibt es feine Nationalitäten und Anders 
gläubige in unfrem Vaterlande, für mid) find bas alles 
Ruſſen. Wie fehr fie alle gute Ruffen find, hat ber jegige 
Krieg gezeigt. Lutheraner, Juden, Diufelmänner, alle, alle 
ziehen hin, um ihr Leben einzufegen für die Ehre bes Vater— 
landes. Soll man da noch von Juden und Armeniern 
reden? Ihnen allen foll und muß Gerechtigkeit zu teil 
werben, find fie doch alle Ruffen. . .” Und über die Preß— 
verhältniffe fagte er u. a.: „Die Luft ift dort recht erftidend 
und bit. Die Prefle ift eine meiner größten Aufgaben. 
Hier tut Wandel wirklich not. Freilich darf man ſich die 
Löſung diefer Aufgabe nicht in unbefchränfter Preffreiheit 
denfen. Das ift nicht möglid. Doc vorwärts müfjen wir, 
bovon bin id) tief durchdrungen. ..“ 

Derartige wieberholte für die Offentlichkeit beftimmte 
Kumdgebungen riefen nicht nur in der Preſſe, fondern auch 
in ſtãdtiſchen und landfchaftlihen Selbjtvermaltungsorganen 
die lebhaftejten Gegenäußerungen hervor. Die Moskauer 
Stadtduma begrüßte den Minifier, der der Selbftvermaltung 
fein Vertrauen ausgeiprochen hatte, am 21. Sept. mit 
einem Telegramm, in dem cs hieß: „In der Verbindung 


Baltifche Chronit 1904/5. 3 


ber Negierungstätigfeit mit ber öffentlichen Meinung ſieht 
die Moskauer Kommunalverwaltung ben einzig richtigen 
Weg zum Wohle des Volkes ...“ und mit ähnlichen Kund— 
gebungen ber Zuftimmung wandte fid) eine große Neihe von 
Städten und Semſtwos an ihn. 

Den Worten des Minijters folgten bald Taten. Eine 
ber eriten war bie Aufhebung des Zirkulärs des Minifters 
Plehwe, das den weiteren Anſchluß von Landihaften an 
die allgemeine landihaftlihe Organilation zur Ausrüftung 
von Sanitätsfolonnen für den Krieg verboten hatte. 


1. Sept. Windau. Die Stabtverordnetenverfammlung wählt den 


Stadtverorbneten Paul Schult, dem der Gouverneur von 
Kurland bie Betätigung als Stadthaupt verfagt Hatte, zum 
Vorfigenden jämtlicher ſtädtiſchen Kommiſſionen (11 an der 
Zahl). Der Gouverneur bejtätigt auch diefe Wahl nicht. 


1. Sept. Nige. Ein von der Stadtverwaltung nad weſt⸗ 


europäifhem Muſter begründetes Bureau für Arbeitsnach- 
weis tritt ins Leben. Es iſt zunächſt für gelernte und 
ungelernte Arbeiter, Handwerker und Dienjtboten beider 
Geſchlechter beftimmt. 


1. Sept. Die Ejtländiihe Bauerverordnung vom 5. Juli 1856 


1. Sept. Für die adminiftrative und 


und bie bie Bauerverordnung abändernden Gejege und Ver 
orbnungen erfcheinen im Drud in einer von Eduard v. Bodisco 
bearbeiteten Ausgabe. 





richtliche Organifation 
der Kolonie auf den Kronsgütern Hirſchenhof und Helfreichs— 
hof im Wendenfchen Kreife Livlands wird ein am 31. Aug. 
Allerhöchit beftätigtes Reichsratsgutachten publiziert. Die 
Kolonie bildet einen Gemeindeberichtsbezirt. Der Vorjigende 
des Gemeindegerihts muß nicht nur ruſſiſch, jondern auch 
deutſch und lettiſch leſen und fchreiben können. In der 
Geſchäftsführung und für die Abfaſſung ſchriftlicher Akte 
iſt neben der ruſſiſchen Sprache die deutiche zuläffig, aller 
dings nur bis zum Erlaß befonderer Bejtimmungen. Bei 
ber Enticheidung von Streitigkeiten der Koloniften hat ſich das 
Gemeindegericht nicht nach der livländiihen Bauerverorbnung, 
fondern nad) dem Provinzialredht zu richten. Das Schul: 
wejen der Kolonie ſoll allmählich nad den für das Liv: 
ländijche Landſchulweſen geltenden Beitimmungen organifiert 





4 Baltifdie Chronit 1904/6. 


werben, doch fol in den eriten brei Jahren die Kaffe ber 
Kolonie nicht mit neuen Nusgaben für die Schule belajtet 
werben. Als Mutterſprache der Schüler wird das Deutiche 
anerfannt ; foweit ber Unterricht in ben übrigen Landſchulen 
lettiſch ober eſtniſch erteilt wirb, foll er hier deutſch erteilt 
werben. (Regierungsangeiger Nr. 201.) 

2. Sept. Jurjew (Dorpat), Die Stabtverordnetenverfammlung 
beichließt, eine 6. Stabt-Elementarjhule zu gründen und 
bemwilligt für fie 2000 Rbl. jährlich und 500 Rol. einmalig; 
die Schule foll dem Gedächtnis der Geburt bes Grokfürften- 
Thronfolgers gewidmet fein. — Der Stabtverordnete Tönis- 
jon beantragte, daß das Stadtamt in Zufunft einen 
genaueren Rechenſchaftsbericht vorftellen folle. Die Prüfung 
des Antrages ſoll einer Kommilfion überwieſen werben, für 
die Tönisfon vier eſtniſche Stadtverordnete proponierte, da 
die von anderer Seite in Vorſchlag gebrachten Herren, 
Tönisfon, NRofenthal, v. Bröder und Lieven einer Partei 
angehörten, die nad) Tradition, Bildung und Anfhauungs: 
weile fo weit von feinem Standpunkt und demjenigen 
anderer Stabtverorbneten entfernt ftände, daß er darauf 
beftehen müſſe, aud Herren einer andern Richtung in ber 
Kommiffion zu jehen. Tönisfons Randidaten werben abge: 
lehnt. 

Alfo aud) bei Kommiffionsberatungen, bei denen erfahrungsgemäh 
bisher fachliche Gründe aein den Ausfchlag gegeben haben, da hier dod 
eine gang andre Prüfung der Materie möglich ift, ais in großen Ber: 
fammlungen, glaubt Zönisfon nicht mit dem Gewicht der von ihm vorzu: 
bringenben Gründe allein durchdringen zu fönnen! Das ift für ihn 
begeichnend, aber für die Qualität feiner Gründe nicht ſeht fchmeichelhaft. 

3. Sept. Zum Kollegen des Minifters der Volfsaufklärung wird 
der Geheimrat Iwan Karlowitſch Renard ernannt, ber 
diefen Poſten zu Zeiten bereits interimiftiich verfehen hat. 

3. Eept. Zum Präfidenten des Rigaſchen Bezirksgerichts ift der 
bisherige Präfident des Kiſchinewſchen Bezirksgerihts Klopow 
ernannt worden. 

4. Sept. Die Banerfommifjare des Waltſchen Kreifes haben den Gemeindever« 
waltungen vorgefchrieben, die Beoölferung auf jede Weile zum Abonne: 


ment auf daS Bauerjournal des Fürften Meichtichersfi „Freundesworte” 
Dr rfträfija Rei) angetan. (ib. Hoi) 


Valtiſche Chronit 1904/5. 6 


4.—5. Sept. In Werro findet bie landwirtſchaftliche Ausſtellung 
der fünf in der Umgegend der Stadt beſtehenden eſtniſchen 
landwirtſchaftlichen Vereine ftatt. Sie iſt in dieſem Jahre 
ſchwãcher beſchickt als ſonſt, namentlich an Pferdes und Vieh: 
material. 2000 Beſucher. 

6. Sept. Neval. Zum Präfidenten bes eſtländiſchen landwirt⸗ 
ſchaftlichen Vereins wird an Stelle bes zurüdtretenden 
langjährigen verdienjtvollen Präfidenten Landrats v. Grüne 
wald⸗ Orriſaar Herr v. Samjon-Thula gewählt. 

6. Sept. Betreffend die Kompetenzen der Gouvernementsbehörden 
für bäuerliche Angelegenheiten jept ein am 6. Juni 1904 
Allerhöchſt beftätigtes Reichsratsgutachten in Abänderung des 
Art. 13 der am 17. April 1893 Allerhöchſt beftätigien 
Regeln für die Oounernementsbehörden für bäuerliche Ange: 
legenheiten in ben Dfteegouvernements feit: Die Ent- 
fcheibungen der Gouvernementsbehörden für bäuerliche Ange: 
legenheiten gelten als endgiltig in folgenden Sachen: 
1) Zuerfennung von Unterftügungen feitens der Gemeinden 
an unbemittelte Ocmeindeglieder und Gewährung von Ver- 
günftigungen bei ber Zahlung ber Gemeindeabgaben; 2) Aus- 
gabe und Nüderftattung von Verpflegungsdarlehen aus den 
Gemeindemagazinen; 3) Honorierung der Gemeindebeamten, 
die gemäß Wahl oder mietweife bienen, falls das Honorar 
durch ben Gemeindeausichuß feitgelegt wird; 4) Beitimmung 
der Zahl der Gemeinderichter durd den Gemeindeausſchuß 
ober den vereinigten Gemeindeausihuß, Honorierung des 
Vorfigenden und ber Beifiger des Gemeindegerihts, Aus: 
reichung von Fahrgeldern an ben Vorfigenden, Repartition 
der Ausgaben für den Unterhalt der Präfidenten und der 
Kanzleien der Oberbauergerichte auf die Gemeinbefteuer- 
jahler; 5) Ausreihung und Abnahme von Aufenthalts: 
ſcheinen; 6) Beahndungen, die gemäß $ 24 der Land- 
gemeinbeorbnung vom 19. ebruar 1866 vom Gemeinde 
ältejten auferlegt werden; 7) Veitreibung von Gemeinbes 
fteuern und Magazinrückſtänden; 8) Verlegungen der Wahl: 
ordnung; 9) Entlafjung von Gemeindegliedern und ihre 
Zufchreibung zu anderen Gemeinden; 10) Veahndungen, die 
von den Bauerfommifjaren gemäß $ 34 ber Landgemeindes 


# Beige Ciront 1045 


orinung Gemeindebermten zuferieıt werden und Beiticsurg 
ans Earjebung der Gemeindehesmtern vom Amt, Üerzade 
berielgen una der Güsher bes Bemeindezusiäutes zı die 





Amt — Iwie Beiummunger m mi rer Bublkırise 
im ber Gelegismmlung in Arıfı gerreten. ı Regierungsangeiger 
Br. 262. 

a. Sest. Kiga. Lie Ermennanz bes Brofurzurs des Bleskan⸗ 
ſchen Bezirksgeriäts Chrihiansmiig zum Profureur bes 









Rigaichen Berirtsgeriäts an Stele des an ben Peters 
burger Appeljof als Brofureursislege veriegten Heñe wird 
yubliziert. 


10, Sept. Heval. Uuj den am Ih. Sest. geiälsiienen Sep 
temberfigungen des Ritteriaftlihien Ausigufes in u. a. 
beiglofien worden, in Sachen ber unteritügungsbebürftigen 
Familien einberufener Reierviften für jeden Kreis drei Kom- 
miffionen zu bilden, bie unter bem Vorfig bes betreffenden 
Rreisbeputierten tagen Sollen. 

11. Sept. Auf ber Generalverjommlung bes Dephatavereins in 
Heval kommen nieberträhtige Angriffe des „Teataja” gegen 
die Taubftummenanftalt zu Fennern zur Sprache, die die 
in ber Anjtalt zur Anmenbung fommende förperliche Züchti- 
gung zum Ausgang nehmen. Der Präfident des Vereins, 
Baron Hoyningen-Quene zu Zelle, erklärt, der Verein fei in 
fo unmürbiger Weile von einer anonymen Zuſchrift im 
„Teataja“ angegriffen worden, daß für das Direktorium 
eine Bolemif ausgejcloiien war und nur der Weg ber 
Ariminalllage offen blieb. Der Präfident führt ferner aus, 
daß jene eſtniſche Korreſpondenz zunächſt die nationale Seite 
der Taubitummenanftalt in ben Vordergrund geitellt habe. 
Tatfählih ilt aber nichts an dem Wohltätigkeitsinſtitut 
national, al die national-eitniihen Rinder, die dort aus 
hilfsbebürftigen Weſen oft zu Ernährern ihrer Familie 
geworben find. Auf das Erziehungsmittel ber körperlichen 
Züchtigung kann die Anſtalt nicht verzichten, doch bleibt jede 
derartige Züchtigung ein Ereignis in ber Anjtalt, das allen 
befannt wird. Zeugnis für die Liebe und Geduld, die in 





Valtiſche Chronit 1904/8. 


der Anſtalt herrſchen, gibt bie herzliche Fröhlichteit ber 
Kinder und das ſichtlich gute Verhältnis zwiſchen Kindern 
und Direktor. 

Die Generalverfammlung votiert dem Direktor Hörſchel⸗ 
mann und feiner Gemahlin Danf für die Liebe und Gebulb, 
mit der fie ihres Amtes walten. (Rev. Beob.). 

11. Sept. Ein Allerhöchſter Befehl ernennt ben Rommandierenden des Wilnaſchen 
Wilitärbeziets Generalabjutanten Grieppenberg zum Befehlshaber einer zu 
bildenden 2. mandjgurifcen Armee. 

13. Sept. Der Herausgeber des eftnifchen Wochenblattes „Olewik“, 
Koppel, Hat die Erlaubnis erhalten, fein Blatt zweimal 
wöchentlich erſcheinen zu laffen. 

15. Sept. Walt. Der St. Petersburger Appellhof verurteilt 
die Walkſche Stadtverwaltung, dem ehemaligen Stadthaupt 
v. Dahl die ihm nad dem früheren, inzwiſchen von ber 
jetigen lettifch = eftniichen Stabtverorbnetenverfammlung aufs 
gehobenen Penfionsftatut zufommende Penfion von 400 Rbl. 
jährlich, geredjnet vom Tage feiner Amtsniederlegung mit 
ben Projeßloſten auszuzahlen. (Nordlivl. Ztg.). 

Als die jegige Stadtverwaltung ans Ruder fam, war 
fie vor allem bejtrebt, dem bisherigen langjährigen Stabt- 
Haupt v. Dahl bie Penfion, die er laut bem fläbtifchen 
Venfionsftatut zu erhalten hatte, zu entziehen. Zu biefem 
Zweck ſcheute die Stadtverwaltung nicht bavor zurüd, bas 
Venfionsftatut ganz aufzuheben, wobei ala Grund der Bor: 
wand diente, daß bie Stabt nicht im Stande fei, die im 
Penſionoſtatut feilgefegten Penfionen zu zahlen. Da diefer 
Aufhebung des Penfionsftatuts in betrefi des bisherigen 
Stadthaupts von der Stabtverwaltung rückwirkende Kraft 
beigelegt wurbe, mußte Herr v. Dahl den Klageweg beſchreiten, 
um zu feinem Recht zu gelangen (f. Balt. Chr. vom 26. Oft. 
und 29. Nov. 1902). 

15. Sept. Jurjew (Dorpat). Das hiefige Nronsgymnafium begeht 
fein 100jähriges Beſtehen. Am Abend des 14. findet in 
der St. Johannisfiche ein beuticher Feſtgottesdienſt ftatt, 
eine einbrudovolle Feier, an ber der größte Teil bes Lehrer- 
folegiums nit dem Direktor an der Spike, das Gros ber 
Schüler und die deutſchen Kreife der Stadt teilnahmen. 


10 


Valtiche Chronit 1904/6. 


Die Stadtverordnetenverſammlung ſchreitet ſodann zur 
Abſtimmung über die Lage des neuen Marktplates, über 
die man ſeit mehr als einem Jahr (vgl. Balt. Ehr. 1903, 
Mai 23.) nit hat einig werden Fönnen, da jeder Stabt- 
verorbnete ben Markt bei feinem Immobil haben möchte. 
Es wird über neun Pläge abgeflimmt und bie erforberliche 
Zweidrittelmajorität fällt jhließlih auf einen an ber Peri- 
pherie ber Stabt gelegenen ftädlifhen Plag, der erſt durch 
ben Antauf des Jerumſchen Grundſtücks vergrößert werden 
muß, aber Trogdem nicht ausreicht, um ben Diarfiverfehr 
aufzunehmen; es muß daher für ben Handel mit Holz und 
Heu ein zweiter Marktplatz beim ftädlifhen Krankenhaus 
eingerichtet werben. Die Verwirklichung dieſer Marktanlage 
mirb der Stabt auf 20,000 Abt. zu jtehen Tommen. 

Diefes Projekt ift von der Mehrzahl der Stadtverord⸗ 
neten bevorzugt worden, obwohl der Stadt im Zentrum ein 
geeigneter Pla unentgeltlich angeboten wurde, deflen Her- 
richtung der Stadt nicht mehr als 3000 Rol. gekoſtet hätte 
(Rig. Rundſchau Nr. 220 u. a.). Der Beihluß der Stabt- 
verorbnetenverfammlung ſchädigt die Gefhäfts: und Haus: 
befiger ber inneren Stadt, bie größten Steuerzahler, in 
unerhörter Weife, und bie gelamte Cinwohnericaft bes 
Zentrums ber Stabt erfucht den Gouverneur um Aufhebung 
des Beichluffes. Nach einer von dem Gliede der Gouver- 
nementsbehörbe für ftäbtijhe Angelegenheiten Tſchulkow 
vorgenommenen Lofalbefichtigung erfolgt am 10. Dezember 
eine Verfügung der Behörde, durch die ber Beſchluß ber 
Stabtverorbnetenverfammlung vom 17. Sept. aufgehoben 
und dem Stabihaupt vorgeſchrieben wird, die Marktplapfrage 
ber Stadtverorbnetenverfammlung in Verbindung mit ben 
zu dieſer Materie eingereihten Beſchwerden bes Kirchen: 
vorftehers Dahlberg, ber Walfjchen Einwohner G. Bohl, 
O. Raue, K. Stafomanow u. a. und der bes Aler. Bohl 
nochmals vorzulegen. Die Aufhebung des Beſchluſſes ber 
Stadtverorbneten ift erfolgt, weil zur Verlegung des Markt: 
plages nad) der von ihnen gewählten Stelle ber Anfauf von 
drei Grunbjtüden erforderlich ift, von bem in dem betr. Beſchluß 
überhaupt nicht die Rebe ift. (Walk. Anz. Nr. 2, Jan. 1905.) 


Saltiihe Chronit 1904/5. u 


Am 21. Januar 1905 ſtimmt die Stadtverordneten⸗ 
verfammlung wieder über bie vorgeſchlagenen Markipläge ab 
und wiederum erhält ber am 17. Sept. gewählte Ort bie 
meiften Stimmen (20 gegen 10). 

Der „Walt. Anz.” bemerkt zu dieſem Beſchluß: „Somit hat alfo 
lebieres Projeft die nötige Majorität erlangt, unbefümmert um die Bes 
ſchwerden und bie gerechten Münfde eines großen Teils der fläblifchen 
Einwohner. Diefe Wajorität iſt dadurch zuftande gefommen, da ber 
Zeil der Stadtverordneten, deren Immobilien in ber 
Näge bes Stabifrantenhaufes belegen find, ihre Stimmen, bewogen durch 
das Zugefländnis eines Holz, und Hrumorftes, wie auch einer Etrafe 
zur Pebdel, durch melde zu ihren Häufern die Zufuhr 
direkt geleitet wird, bem lebleren Projelt zumanbte.” 

Die Penfionsaffaire Dahl wie die Marktplatzwahl 
jeigen, jebe in ihrer Art, wie unfähig bie ejtniichelettiche 
Stadtverwaltung ift, mit ihren moraliſchen und Verjtandes- 
qualitäten die wahren Interefien ber Stadt zu erfennen und 
zu vertreten. — So wird fid) Walt mit ber Zeit zu einem 
livlãndiſchen Abdera auswachſen fünnen. Immerhin auch, 
ein Ruhm. 


18. Sept. Der „Teataja“ und nad; ihm ber „Riſhſkij Weſtnik“ 
beichäftigen fich feit einiger Zeit mit bem Werfuch, ihre Leſer 
glauben zu maden, man gehe in Livland darauf aus, bie 
Frohne wieder herzuſtellen. Die „Rigafhe Rundſchau“ 
(Mr. 210) führt mit Recht die Darftellung diefer Blätter 
auf Unkenntnis der Verhältniife und Gefepe und auf Ten- 
denzlügen zurüd. Speziel auf dem vom „Zeataja” ange 
führten Gute Woifel könne es fi) um die vom Geſetz 
unterfagte Frohne auf Bauerland nicht handeln, da dort das 
Bauerland bereits verkauft ift; es fei anzunehmen, daß die 
frohnenden Bauern die jogenannten Landknechte feien, deren 
ganzer Zwed betanntlich darin befteht, gegen Nupung einer 
Landparzelle auf dem Hofe Arbeit zu leiften. Die „Rigaſche 
Rundſchau“ führt daran anfnüpfend aus, daß es bei ben 
jegigen ſchwierigen Gelb- und Erwerbsverhältnifien oft im 
Intereſſe der Pächter ebenſowohl als der Verpächter liegen 
Tönnte, in gewiſſen Fällen die Geldpacht in Naturalfeiftungen 
zu verwandeln, um Nüdftände zu vermeiden. „Welches 

ur 


12 


Valtiſche Chronit 1904/8. 


Geſchtei“, fragt ſie, „würde aber wohl ber „Teataja“ 
erheben, wenn ſeine Perhorreszierung der „Frohne“ mit 
einer maſſenhaften Exkluſion der rückſtändigen Pachten 
beantwortet werden würde?! 


20. Sept. Die „Nordliol. Zig. (Mr. 211) referiert über eine Artifelferie des 


Tönisfonfcgen „Bostimees“ unter dem Titel: „Gibt es eine 
Berföhnung?, die zu dem Schluh Tommt, daf die eſtniſche Partei 
ſchwerlich mit den leitenden beutfchen Areifen mirflich zu einem Roms 
promiß gelangen fan, ſolange an der Spihe der beutfejen Areife folche 
Perfonen verbleiben, welche den natürlichen ‚ortfcheitt mit Gewalt aufzu- 
Halten ſuchen, damit nur die Macht und Gewalt in ihren Qänden der - 
blieben. 

Dazu bemerfie bie „Rorbl. Zig.", dai von den Eiten und Lelten 
in Wolt, nachdem fie ſich durch ein Bündnis den Sieg gefichert Hatten, 
nicht ein einziger Deutfcher in bie Stabivertretung gemäblt worden ſein 
mährend in der Univerfitätsitadt die deutfche Kandidatenlifte ſteis aud) 
Eiten, darunter Vollsmänner wie Örenzftein und Hermann enthalten habe. 

Eine fharfe Abſage an das „fogialdemofratifche” eftnifhe Blatt 
erläft darauf Arnold v. Tideböhl in der „Rordl. Big.” Nr. 212, indem 
x darauf hinweift, dab die Fonfervativen Wähler, wie eine Umfrage 
ergeben Habe, den bloben Gedanten an eine Wiederholung des Kompro» 
miffes vom 3. 1902 mit Entfchicenfeit perhorresjieren. 

Die mit aufeichtig verlönlichen Tendenzen von ben deutſchen 
Wählern bei den Iekten Wahlen betriebene Kompromihpolitif hat in der 
Tat nicht die gewünjchten Früchte gezeitigt. Die unfruchtbare, nörgelnde 
prinzipielle Oppofition des „Sortfhrittsmanns“ Tönisfon trägt die Schuld 
daran, ohne für das Mohl der Stadt cimas geichaffen zu Haben. 





22. Sept. Ein Zirfular des Gouverneurs von Lioland an die 


Kreischefs vom 26. Auguft e. sub Nr. 1120 wird in ber 
„Livl. Goud.-Ztg.” publigiert, laut welchem in Zukunft bie 
Anlage neuer Anfiedlungen auf Hofslänbereien der Ritter 
güter und der Wiederaufbau folder Anfieblungen nach ver- 
heerenden Bränden ufw. nur nad) Plänen geftattet it, bie 
von der Bauabteilung der Livländifhen Gouvernements- 
regierung beftätigt worden find. Gleichzeitig follen von den 
Gutsbefigern, auf deren Gütern Ynfiedlungen (leden, 
Hafelwerfe u. dergl.) beſtehen, Bebauungspläne einverlangt 
werben. Das Zirkular ftügt fih auf $ 231 des Bauuſtaws 
(Ausg. v. 1900), nach dem die Pläne von Anfieblungen ber 
präventiven Beftätigung durch den Gouverneur unterliegen. 


Baltiſche Chronit 1904/5. 18 


Durd) dieſe Verordnung wird auch eine gewiſſe Kontrolle 
über die Bebauung des an die Städte angrenzenden landiſchen 
Terrains hergeftellt, das faktiſch ſchon ſtädtiſch befiebelt iſt 
und auch die Vorteile ber Stadt genießt, ohne daß bie von 
dem Grunbeigentümer willkürlich angeordnete Bebauung den 
Sanitäts:, Feuerſicherheits- und Verkehrsanforderungen einer 
Stadt angepaßt wäre. In Jurjew (Dorpat) find die miß- 
lien Folgen folder Anfieblungen bereits mehrfach empfunden 
worden, namentlich die dem Stadtgebiet durch fie drohende 
Fenersgefahr. Natürlicd) wäre es angezeigter, die Baupoligei 
hier der Stadtverwaltung und nicht der ſchwer zu erreichenben 
Gouvernementsregierung in Niga zuzuweiſen. 

23. Sept. Libau. Das Libauſche Lazarett des Noten Kreuzes 
tritt die Reiſe nach dem Kriegsihauplag an. Als Oberarzt 
fungiert Dr. P. Relterborn, als Ärzte die DDr. Vogel, Fall 
und Janfowsli, als Inſpektor Ude. Das Perfonal befteht 
ferner aus 8 Schweitern und 15 Ganitären. 

24. Sept. Die „Livl. Gonv.-Ztg.” (Nr. 103) publigiert ein am 
6. Juni 1904 Allerhöchſt beftärigtes Neichsratsgutachten in 
Sachen der Entihädigung der Nittergutsbefiger Livlands für 
den Derluft des Handels mit den im 9. 1900 monopoli- 
fierten Getränfen. Die Kategorien ber entſchädigungsberech ⸗ 
tigten Krugsbefiger werden normiert und inſoweit erweitert, 
als eine Entfhädigung aud für diejenigen Arüge gezahlt 
werden foll, in denen der Getränfehandel in ber Zeit vom 
1. Juli 1898 bis zum 23. April 1900 aus von ben Kruge- 
befigern unabhängigen Gründen eingejtellt werben mußte. 
Bisher waren nur die Krüge in Rechnung gezogen, in denen 
bis zum 28. April 1900 der Handel mit Branntwein ꝛc. 
beftanden hatte. 

24.—26. Sept. Reval. II. eſtländiſcher Ürztetag, beſucht von 
47 Ürzten. Außer wiflenichaftlihen Fragen beſchäftigte den 
Ürztetag auch die Lage des landiſchen Sanitätswelens. 
Dr. Kupfer Kuda erjtattete einen Kommiſſionsbericht über 
die Neorganifation bes Sanitätsweſens auf dem Laube, 
Dr. v. Nottbed-Weißenftein behandelte die Impffrage. Zur 
Ausarbeitung und Prüfung von Volfsihriften über Fragen 
der Vollshngiene wurde eine Kommiſſion wiedergeiept, eine 


1 Baltifcje Chronit 1904/5. 


andre zur Bearbeitung ber Frage ber Gründung eines Vereins 
zur Belämpfung der Tuberfulofe. 

25. Sept. Ein Allerhöchſter Befehl wird publigiert, durch ben 
dem mit dem Kommando des Gendarmenkorps betrauten 
Kollegen des Minijters des Innern unter Oberleitung bes 
Minijters das geſamte Polizeiwefen unterfiellt wird. Zum 
Miniſterkollegen für das Polizeiweſen wird der jtellvertr. 
KRabinettshef Sr. Maj. Generalmajor Nydjewsti ernannt, 
welde Ernennung am 29. Sept. befanni gemacht wird. 

26. und 27. Sept. Neval. Ihre Mojejtäten der Kaiſer und bie 
Raiferin mit dem jungen Großfürjten:Thronfolger jtatten in 
Begleitung des Generaladmirals Großfürjten Alerei Aleran- 
drowitſch, der Miniſter des kaiſerlichen Hofes und der Marine 
u. a. Würdenträger dem vor Neval anfernden 2. Geſchwader 
ber Flotte des Stillen Ozeans einen Belud) ab. Am 26. 
um 10 Uhr morgens trifft der faijerlihe Zug auf dem 
Bahnhof ein, in deſſen Saal die Stände und Vertreter der 
Abminiftration und Kommunalverwaltung den Majejtäten 
ihre Vegrüßung darbringen. Der Nitterfhaftsyauptmann 
bemerkt in feiner Anſprache, daß der ejtländiiche Adel ſtolz 
darauf jei, daß die Söhne der Heimat aud) in diefem Kriege 
in ber Flotte und Armee berufen find, Kaijer und Vaterland 
zu dienen. Im Namen ber Stadt Neval überreicht das 
ftellv. StadtHaupt E. Hörſchelmann, im Namen der Bauer 
haft eine Abordnung von Älteſten mit wenigen Worten 
Salz und Brot. Ihre Majeſtäten begeben ſich ſogleich auf 
die Yacht „Standart“, von wo aus die zum Geſchwader 
gehörigen Schiffe befichtigt werden. Am Nachmittag des 27. 
bejuchen Ihre Majejtäten die orthodoxe Kathedrale und die 
Nitter: und Domlirde, wo Sie von Paſtor Winkler mit 
einem Segenswunfd) empfangen werden. Am Abend begaben 
ſich die Allerhöchften Herrichaften auf den Bahnhof, wo Sie 
ſich von den dort verfammelten Wertretern bes Landes, ber 
Stadt und der Negierung verabichiedeten und alsdann nad 
Pelersburg zurücklehrten. 

28. Sept. Jurjew (Dorpay). Das Friebensrichterplenum ver— 
handelt über eine für die Stadtverordnetenwahlen nicht 
unmelentlihe prinzipielle Froge. Der Art, 24 ber Städte 


Ballifhe Chronit 1904/6. 15 


orbnung bejtimmt u. a., daß denjenigen Perſonen, melde 
ftäbtifhe Immobilien im Eigentum ober febenslänglichen 
Befig innehaben, das Wahlrecht bei den Stadtverordneten- 
wahlen zuiteht. Die Grundbuchabteilung hatte nun in einem 
ſpeziellen Falle die Übertragung eines ſtädtiſchen Immobils 
zu febenslänglichem Befig an eine dritte Perfon verweigert, 
weil im oftfeeproninziellen Privatrecht eine berartige Über- 
tragung nicht vorgefehen fei. Die dagegen vom Rechtsanwalt 
Sſudakow vertretene Beſchwerde betonte, daß das hieſige 
Privatrecht die von Reichsgeſetz ſtatuierte Form der Beſitz⸗ 
übertragung keineswegs ausfchließe, doch ſprach ſich das 
Friedensrichterplenum im ſelben Sinne aus, wie die Grund: 
budabteilung. Gegen dieſen Beſcheid wird eine Rafjations- 
beſchwerde an den Dirigierenden Senat eingereicht. (Nordl. 
tg. vom 30. Sept.) 

Im der Saftifcgen Preſſe weiſen mehrere Juriften die Zuläffigfeit 
der in Frage ftehenden Übertragung zu lebenslänglichem Befig nad), 
u. 0. auch eine Autorität wie Prof. Dr. Engelmann in einer Zuichrift 
an die „Norbliol. Big.” 1 

Da es ſich in ensu um bie Übertragung des Befipes an einem 
Immobil auf die Gattin des Eigentümers handelt, fo fucht der „Poste 
mes“, der eine ausſchlaggebende Vermehrung der deuticen Wahlftimmen 
fürditet, dieſes Verfahren als ioyal zu dißfrebitieren. Mit vollem Hecht 
macht dagegen Profefor Engelmann in der erwähnten Zuſchrift geltend, 
das jeder Yausbefiper berechtigt jei, auf gefeplichem Wege ſich den größte 
möglien Einfluß auf die jtädtifen Wahlen gu ſichern 

23. Sept. Der Hofmeifter Stürmer, befannt durch feine Nevifion der Twerſchen 
Lundfepaftsvermaltung, wird als Direltor des Departements für allgemeine 
Angelegenheiten im Winifterium des Innern durch den Gouverneur von 
Chartow Batazgi erjept. 

29. Sept. Neval. Ein neuerbauter Flügel der hieſigen Filial- 
fire des Püchtigichen orthodoren Klofters wird durch ben 
Prieſter Joann Sfergiew aus Kronftabt geweiht. 

30. Sept. Auf Defel wird ein von den Landgemeinden begrün- 
detes und für ihre Rechnung zu unterhaltendes Leproforium 
eröffnet. — Der Gouverneur aus Lioland ſpricht in ber 
„Libl. Gouv. Ztg.“ (Nr. 116) dem Oeſelſchen Bauerkommiſſar 
Sander ſeinen Dank aus, da die Idee zu dem Leproſorium 
und die Förderung und Überwachung ihrer Ausführung ihm 
allein angehöre. 





Baltifcje Chronit 1904/5. 


für den afademifchen Beruf ausgebildet worden feien. Der 
Minifter ſchloß mit dem Wunſche, daß die jegigen Univer- 
fitätslehrer ihr Beites daran fegen mögen gemäß der früheren 
Höhe ihres Amtes zu walten! — Am Abend empfing ber 
Minifter im Konventsquartier ber Ejtonia die Chargierten 
ber ſtudentiſchen Korporationen unb eröffnete ihnen im Aller: 
böchften Auftrage, daß Se. Majeflät der Raifer ihnen Aler- 
guädigft geftattet habe, die Farben mieberum öffentlich zu 
tragen. (Diele Verordnung wird fpäter in Nr. 114 ber 
Libl. Gouv.tg.“ vom 25. Oft. publiziert.) 


Am 7. und 8. Oft. weilt der Diinifter in Riga, wo er im Poly: 


technikum die Vertreter des ſtudentiſchen Chargiertenfonvents 
durch eine bejondere Anſprache auszeichnet, er jpridt von 
dem guten fameradidhaftlihen Geift in den Korporationen 
und von ihrem günftigen Einfluß auf die wiſſenſchaftlichen 
Studien ihrer Glieder, und bemerkt, daß die Haltung der 
Rigaſchen Studentenverbindungen mit bejtimmend gemejen 
ift für die MWiedergewährung des Farbentragens an die Dor- 
pater Korporationen. Am 9. iſt der Dlinijter in Mitau und 
am 10. in Libau. 

Die deutſche Baltifhe Preffe nimmt, wie die gelamte gebildete 
Geſellſchaft der Provinzen, mit großer Freude die Nachricht auf von der 
den Studenten gewährten Beredtigung, die Farben wieder tragen zu 
dürfen. Auch ruffiice Blätter (. Virſhew. Webom.”) äußern ſich zuftims 
mend zu biefer Entfhliehung. — CB handelt ſich zwar mur um eine 
Kongeffion in etwas Äußerlichem, aber der Minifter hat doch auch den 
Geiſt der Korporationen gelobt, und deſſen Grundlage ift beutjch-protes 
ftantifch. 

Am 7. Oft. abends bricht im Konventshaufe der „Livonia” Feuer 
aus, das bald gelöfct wird. Der Feuerigaben ift zweifellos auf 
Branbftiftung zurüdzufüßren, doch bfeibt der Täter unermittelt. 


4. DM. Riga. In der Stabtverordnetenverfommlung gibt Stadt- 


rat Dr. Heerwagen auf eine Interpellation bie Auskunft, 
daß das Stadtamt noch nit zum Bau bes ſtädtiſchen 
Sanaroriums für die Opfer ber Krieger in Kemmern (ſiehe 
Balt. Chr. 1904 Febr. 9.) habe ſchreiten fünnen, da es noch 
feinen Plag in Kemmern für diejen Zwed habe erwerben 
föunen. Im Mai habe es die erforderlichen Schritte beim 
Domänenminifterium und der Kurortverwaltung getan, aber 


Baltifcje Chronit 1904/5. io 


noch feine Antwort erhalten, nad) mehr als 5 Monaten! — 
Die Stadtverorbnetenverfammlung beſchließt, dem Stadt: 
Rranfenhauje einen Kredit von 20,000 Rbl. zur Aufnahme 
und Verpflegung vom Kriegsſchauplatz evafuierter Militärs 
(50 Soldaten und 5 Offiziere) anzuweiſen. 

In Saden des Kemmernſchen Sanaloriums teilt das Siadthaupt 
der Stadtverorbnetenperfammlnng am 8. Nov. mit, bab der Domänens 
minifter den Berfauf des von der Stadt gewünfchten Grunbjtüds genehmigt 
habe. — Die Verzögerung diefer Angelegenheit ift der Semmernfchen 
Kurortverwaltung ugufchreiben, die dem patriotifcen Unternehmen der 
Stadt merhvürbigerweiie Hinderniffe bereiten zu müffen glaubt. Grit 
das Gutachten einer auf Erjuden des Domänenminifteriums vom Gou ⸗ 
verneur von Livland eingeſehten Spezialfommilfion bradite die Suche 
um Abſchluß 

5. Oft. Riga. In Gegenwart einer zahlreihen Verſammlung wird der Grund ⸗ 
ſtein zum jtattlicen Neubau des evangelifhen MarienDiafoniffenvereins 
gelegt. 

6. Oft. Neval. Die Stadtverordnetenverfammlung bewilligt auf 
ein Geſuch des Gouverneurs von Ejtland weitere 1000 Rbl. 
für die Heilung franfer und vermundeter Soldaten und 
erhöht den Krebit zur Verpflegung von Neferviftenfamilien 
von 2000 auf 4000 Rbl. — Die Verfammlung beſchließt 
ferner dem Edelmann ©. v. Peetz den zwiſchen der Karti- 
pforte und dem Neuen Markt belegenen ftäbtiihen Platz von 
740 Quadratfaden zur Erbauung eines deutſchen Theaters auf 
Grundzins zu vergeben und zwar im weſentlichen unter ben 
gleichen Bedingungen, unter welchen dem Verein „Eftonia“ 
am 2. Juni ein ſtädtiſcher Play für ein ejtniiches Theater 
überwiefen wurde (ſ. Balt. Chr. 1904 Juni 2). Herrn 
v. Peetz wird anheimgegeben, bis zur gerichtlichen Zus 
zeichnung des mit ihm abzuſchließenden Grundzins-Rontrafts 
diefen Kontraft anderen Perfonen oder einem Verein zu 
übertragen. Der Play füllt an die Stadt zurück, wenn er 
im Laufe von 6 Jahren nicht einem in gefeplicher Grund- 
lage beftehenden Verein zugezeichnet worden iſt. — Ein 
Gefud der I. Zufuhrbahn:Gejellichaft um grundzinsliche 
Konferierung eines Grundftüds wird abgelehnt, da fid) die 
bei Gründung der Felliner Bahn auf bie Geſellſchaft gefegten 
Hoffnungen nicht erfüllt Haben und die Tätigfeit der Ge: 
felichaft den Handel und die Induftrie in Stadt und Land 





Baltife Chromif 19045. 


miferablem Zuftande befindlichen Nebenmege zu behandeln 
hätte. — In der Frage des Honorars ber Gemeindebeamten 
beſchloß die Konferenz die Gouvernementsbehörde für bäuer- 
liche Angelegenheiten um bie Verboppelung ber jehr niedrigen 
Normen (Patent der livländ. Gouvernementsregierung vom 
2. Dez. 1868 Nr. 130) anzugehen. (Nach den Referaten 
bes „Rift. Weſin.“) 


9. Of. Windau. Die Privatfnabenfhule 1. Ordnung, bie die 


Stadtverwaltung interimifiid bis zu ber im Mugufl 1905 
zu erwartenden Eröffnung einer Kronsrealſchule ins Leben 
ruft, wird durch Anfprachen eines orthodoren Priefters und 
des Paſtors Aleinenberg geweiht und alsdann eröfinet. Das 
Lehrperfonal befteht aus lauter Nuffen, mit Ausnahme des 
Direktors TH. Nederle, bisher Lehrer der alten Sprachen 
in Grodno, und zwei Damen, die im Franzöfifhen unters 
richten. 


10, Oft. Der eſtniſche landwiriſchaftliche Verein in Jurjem (Dorpat) beſchließt 


auf Antrag feines Präjes Tönisfon, im Januar oder Februar nächſten 
Jahres einen Kongreß der eſtniſchen landwirtſchaftlichen Vereine zu verans 
italten. Die Beleiligung der eitländifchen Vereine wurde als ſeht 
ſche nsweri bezeichnet, aber darauf hingedcutet, von „gepnerifcher Seite 
werde man dann bemüht fein, dem Kongreh eine politiiche Färbung beir 
äulegen und feiner Genehmigung Schwicrigfeiten zu machen, die dann 
nicht vom Gouverneur, fondern vom Landwirtihaftsminiiter abhängt. 
Es murde daher dem Vorſtand anheimgegeben, den Kongreß je nach den 
ſich ergebenden Schwierigfeiten mit oder ohne Heranpichung Eſtiands 
einzuberufen. 





10. Oft. Cine Erderfhütterung. deren Zentrum in Norwegen liegt, wird um 


die Mittagszeit aud an vielen Punkten der Oftfecprovingen veripürt. 


12. Oft. Vom Konfeil der Jurjewſchen Univerfität wird dem 


Dr. med. Paldrod die einmal verfagte venia legendi als 
Privatdozent erteilt. (S. Balt. Chr. 1904 Jan. 20.) 


14. Oft. Libau. Die Stadtverordnetenverfammlung beſchließt auf 


Antrag des Stadtamts, als einzige von den baltischen, dem 
Miniſter des Innern Fürften Sſwjatopolk-Mirſkij tiefempfuns 
denen Dank in Anlaß des von Sr. Durchlaucht ausgeiprodenen 
Vertrauens zu den Kommunalinjtitutionen auszubrüden. 


14. Oft. Bernau. Eine auf dem Plap vor dem Gymnaſium 


neuerbaule griedjijch:orthodoge Kirche wird vom Erzbiſchof 
Agathangel eingeweiht. 


Balttfeje Chronit 1904/5. es 


15. Oft. In dem Marienburgſchen Brandſtifterprozeß verwirft 
der Dirigierende Senat die eingereichte Raffationsflage und 
beftätigt das vom Rigaſchen Vegirfsgericht und vom Peters 
burger Appellhof gefällte Urteil, dod wird die Strafzeit auf 
Grund des Gnadenmanifeftes vom 11. Auguft um ein Drittel 
verfürzt. (&. Balt. Chr. 1903 Oft. 2 und 1904 Mai 10.) 

15. Oft. Nad) dem „Perfonal ber Jurjewſchen Univerfität” beträgt 
die Zahl ber Studierenden 1909 (mit Ausnahme der Phar⸗ 
mazeuten) gegen 1849 im Vorjahre. Die Zahl der Stu- 
denten ber Theologie it von 145 auf 165 geftiegen, bie ber 
Studenten in ber hiſtoriſch-philologiſchen Fakultät von 181 
auf 188, in der phofifo:mathematiihen Fakultät von 294 
auf 351; die mebizinifhe Fakultät hat wieder eine Abnahme 
zu verzeichnen von 733 auf 726, aud die Zahl ber Juriften 
ift gefallen, von 490 auf 478. 

Aus dem Innern bes Neiches fiammen 1404 Stu 
dierende, gegen 1396 im Vorjahre. Die Zahl der aus den 
Dftfeeprovingen gebürtigen Stubenten ijt wieder, wie in ben 
legten Jahren, regelmäßig geftiegen, und zwar von 447 auf 
498. Aus Livland ftammen 326 (gegen 294), aus Eftland 
82 (gegen 73), aus Kurland 90 (gegen 80). 

Evangeliſcher Konfeſſion find 508 (gegen 461), griechiſch⸗ 
orthodorer 1170 (gegen 1157), römiſch-katholiſcher 64 (gegen 
72), Juden gibt es 137 (gegen 132). 

Die Zahl der Pharmazeuten beläuft fih auf 79 (gegen 
94); davon ſtammen aus den Oftfeeprovinzen 40 (gegen 52), 
aus dem Innern des Reichs 39 (gegen 42). Evangelifch- 
lutheriſcher Konfeifion find 36 (gegen 46), griediic:orthodorer 
8 (gegen 9), römiſch⸗katholiſcher 22 (gegen 24), moſaiſch find 
12 (gegen 15). 

Diefen Zahlen ſtellt die „Rordf. gig.“ die einſchlägigen giſfern 
aus dem Jahre 1800 entgegen, in welchem die Univerfität Dorpat mi 
1812 Studenten die hödhfte Frequenz erreichte. Damals ftammten aus 
Livland 648, aus Aurland 319 und aus Gftland 144 Studierende, 
zuſammen alfo 1411. Selbft mit Einfluß der Pharmazeuten ift die 
Zahl der jchigen baltifchen Studierenden mehr als doppelt jo gering als 
vor 14 Jahren. Die Zahl der Theologen betrug damals 284, jet 

18. Oft. Zum Neformationsfeit ftattet die Unterftügungsfaile ber 
evangelijch = lutheriſchen Kirche Rußlands den Jahresbericht 





51 






27. 


28. 


felgene j= Berir gebucht habe, beh fie 
ion giebt Mänce. Tas Zrugramerhir ergebnis 
Greriemrums. Le ber Beolarzise Dir Berreitigung Shenmens fhriftlih 
wiertligen wid, wir der Brageh vonaz. Mech beiklicht Das Gericht, 
Scheman azi freire 





Oft. Heval. Der erfie in Reval erbaute Dampfer, ein 


Leuchchi „Wultihur“ von 415 Toms Mafterverdrängung, 
läuft vom Stapel. 


. Ct. Riga. Nach Fertigitellung der Fump- und Faitungs- 


anlagen auf Bellenhof beginnt die Verforgung des BWafler- 
leitungsneges ber Stadt mit dem bort gewonnenen Grund- 
mwafler. Riga ift nun mit einem Mailer von vorzüglicer 
Qualität verforgt. Für die Anlage waren 3 Millionen Rbl. 
angeriejen morben, doch gelang es der Ztabtverwaltung 
429,000 Rbl. von dieſer Summe zu eriparen. 

Ct. Ball. Die Stadtverwaltung verfept bie Bäume einer 
alten, ber Stadt zur Zierde gereihenden Allee aus ber 
Plesfauerftraße nad dem neuzugründenden Stadtpark und 
entrüftet Durch diefen Vandalismus die Bewohner der Stadt. 
Die bee mit dem neuen Stadtpark wird auch als eine ver- 
fehlte bezeichnet, denn er liegt jo weit von der Stadt eni- 
fernt, daf er nie zu einer Erholungsftätte der Bevöllerung 
werden fönne. Außerdem verurſacht jeine Anlage der Stadt 
bedeutende Koſten; die Ausiheidung eines Aders aus dem 
Stadigute Ohſelshof bedeutet allein ſchon eine Einbuße von 
120 Abt. an Pachtgeldern (f. „Nordt. Big.“ v. 31. Oft.) 

DE. Riga. Das Perfonat des Rigaſchen Polytechniſchen 
Inftituts gibt die Zahl der Studierenden auf 1675 an. 
Von ihnen find 850 lutheriſcher Konfeſſion, 365 orthoborer 
und 230 vömifh-tatholifher; Juden gibt es 165. Der 
Lehrlörper befteht aus 21 Profeſſoren, 6 Abjunkt-Profeitoren, 
29 Dozenten und 15 Afiftenten, 


Baltifche Chronik 1904/5. 7 


29. Oft. Eine bemerkenswerte Aenderung in ber Praris des 
Juſtizminiſters befteht darin, daß die Unterfuchungsrichter 
wieber in ihren Stellungen „beftätigt“ werben. 

Einem  beftätigten Unterſuchungsrichter fommen alle Prävogative 
eines Richters zu: er darf nicht verfept werden, darf ohne feine Einwil- 
ligung nicht auf einen anderen Boften berufen werben und fann feine 
Stellung nur durch richterlichen Spruch verlieren. Er iſt daher bedeutend 
jelbjtändiger, namentlich der Profuratur gegenüber, als ein jog. ,ſtell- 
vertretender“; Die fepteren gehören daher zu den normalen Erjgeinungen 
in Rußland. Veſtätigte Unterfudungsrichter gab es nur im den erften 
Jahren nach der Ginführung der Juftigreform. Dann wurden fie auf 
den Ausfterbeetat geſehi umd zu Beginn des Jahres 1904 gab es in ganz 
Aubland ihrer nicht mehr als ca. 10, während bie Zahl der „jtelh 
tretenden“ ungefähr 1500 beizug. Mit dem Herbit d. J. hat das Ju 
minifterium wieder begonnen, Unterfucungsridhter zur Allerböditen 
Beitätigung vorzuifelfen, und nun gibt es jchon gegen 100 beitätigter. 
Ein weiteres Anwachſen der Zahl ift wahrſcheinlich. (Düna-Ztg. Nr. 240.) 

31. Okt. Goldingen. Die neuerbaute lettiſche Kirche wird durch 
den Generalfuperintenbenten von Kurland geweiht. Seit ca. 
350 Jahren benugten die beutiche und die fettiihe Gemeinde 
gemeinfam bie deutſche Stadtlirhe. Der Initiative des vers 
itorbenen deutſchen Paftors Raeder ijt die Sammlung eines 
Fonds von 35,000 bl. für den lettifhen Kirdenbau zu 
danfen, zu dem die furländiihe Nitterfchaft 10,000 Rbl. und 
das Kirhfpiel 7000 Rbl. hinzufügten, während bie Stabt 
den Grunbplag bergab. Der Bau wurde im J. 1899 nad 
den Plänen des Nigafhen Arditelten Dr. W. Neumann 
begonnen. 

31. Oft. In Warſchau wird bei der katholiſchen Allerheiligentirche auf bem 
Gribnyplat eine ſozialdemokratiſche Demonitration veranitaltet, zu deren 
Unterdrücung Militär aufgeboten wird. Bei einem Zujammenftoß gibt 
das Militär eine Salve ab, durch die 9 Demonftranten getötet, 20 ver« 
wundet werden. Schon in den vorhergehenden Wochen waren vereinzelte 
Temonitrationsverfude gemacht worden. 

1. Nov. Riga. Die „Nigas Awife* des Herim Meinberg weiſt (Nr. 247) 
nachdrũclich auf die bevoritefenden Stadtverordnetenwahlen 
hin. Sie Lonftatiert, daß in der og. Einmütigfeitsfrage unter den Letten 
jeit den lehten Wahlen eine bedeutende Veſſerung eingetreten ſei. Nicht 
in dem Sinne, als ob die Zwielracht der Leiten unter einander an und 
für ſich abgenommen hätte; in mancher Hinficht fei mod) gröber 
geworden ais jrüher. Aber dieſe Zwietradht berühre nicht die Frage der 


Stadtwahlen. Ale perſonlichen Interefien, alle jogialen Differenzen 
nr 









BValtifche Ehronit 1904/6. 


müßten zurüteeten, ſobald es bie erfolgreiche Durdjführung bes Kampfes 
gegen das Deutfchtum erfordert. Bei den Icptoerfloffenen Wahlen tonnten 
mod; die Seiten über „Rompromiffe“ im eigenen Rager ftreiten. Das fei 
jegt unnötig, die Eintracht unter den fettijchen Wählern fei jet genügend 
gefiert. 

Sehr berechtigt iſt im diefen Sägen die Konftatierung der zu - 
nehmenden Scheibung ber Geifter unter den Selten. Daß diele Scheidung 
vor ben Sigdiverordnetenwahlen jegt noch halt macht, erideint wohl 
glaublich, in Zukunft wird aber ber fozial vorgefehrittenere Teil ber Seiten 
zu der Erfenntnis fommen, dab eine Stadt wie Riga ſich gerechterweiſe 
nicht auf nationaliftiicer Vaſis verwalten Läht. 


2. Nov. Den „Pelerburgffija Wedomoiti” des Fürften Uchtomski wird aus dem 


Nordivejtgebiet über das alte Kapitel won den Hinderniffen gelchrieben, 
die „Andersgläubige” zu überwinden haben, wenn fie in der Heimat im 
Arons · oder Kommunalbehörden Stellung ſuchen, und dabei folgendes 
Veifpiel angeführt: Zu einer Kreisjtadt wurde Fürzlid das Amt eine 
StadtHaupts valant. Unter den Kandidaten befanden ſich eine Reihe von 
Gutsbefigern mit Univerfitätsbildung und Männer von Ehre; beftätigt 
ader wurde ein ganz obffurer, fait zu den Analphabeten gehürender 
Gemüfegärtner — nur weil er orthodor war. Kann ein ſolches Syſtem, 
io fragt das Blatt, ein Syftem, daS alle anftänbigen Leute ignoriert, 
ar weil fie Katholiten find, in einem Gebiet, das längit aufgehört Hat 
„zu meutern“, mehr als Ärgernis und Grbitterung bervomufen ? ! 
(Düna-dtg. Nr. 

Und erft in einem Gebiet, das nie angefangen hat zu meutern?! 





6. und 7. Nov. Werro. eier des 100-jährigen Beſtehens einer 


griechifch-orthoboren Kirche in Werro. Der Erzbiſchof Aga- 
thangel und zahlreiche Priefter Tommen zu bem Fefte nad) 
Werro. Auf einem Abendeffen, das der Ortsgeiftlice Sepp 
veranftaltete, verlas der Bauerfommijlar bes 2. Werroſchen 
Diftritts Milhardt Namens der VBauergemeinden feines 
Diftrifts eine Adreſſe an den Erzbiſchof, in ber die Bauern 
ohne Unterjcied der Konfeſſion, Orthodore und Lutheraner, 
ven Wunſch ausdrüden, ihrer Sympathie für das freudige 
Greignis im Werroſchen orthodoren Kirchipiel durd bie 
Stiftung eines Cvangeliums an bie Kirche Ausdruck zu 
geben. Der Wunic der Bauern erfreute den Erzbiſchof 
ſehr, er dankte dem Bauerkommiſſar und bat den Gemeinden 
feinen Segen zu übermitteln. 





7. Nov. Riga. Während des Gottesdienftes werden in der 


lutheriſchen Nohannis: und Panlskirche wiedernm ſozialdemo— 


Baltifche Chronit 1904/58. 3 


featifche Proffamationen ausgeworfen. Es gelingt der Polizei 
einige von ben Übeltätern in flagranti abzufaſſen. 

7. Nov. Ju Petersburg find über 100 Vertreter der Landſchaſtsverwaltung aus 
alten Gouvernements zur Veratung ber innerpofitiichen Sage zulanmen« 
gefommen. — Es verlautet, der Minifter des Innern werde auch einen 
von den Rommmalverwaltungen von Sſaratow, Moskau u. a. in Ans 
regung gebrachten Kongreß aller Stabthäupter geitatten, der für das 
tommende Jahr projeftiert wird. — Amm 5. November hatte der Minüter 
Siwjatopoll: Wirsti aud eine Abordnung der Zioniften empfangen und 
ihnen mitgeteilt, dab den Zioniften feine Hindernifje mehr in den Weg 
gelegt werben würden. 

8. Nov. Wenden. Bei dem Transport ber Nefruten auf der 
Eifenbahn nad) Riga kommt es auf den Stationen diesmal 
zu groben Ausichreitungen, Demolierung ber Buffets, Fenfter 
x, wie es auch anderwärts in dieſem Jahr beobadıtet 
werben fonnte. 


8. Nov. Riga. Die Stabtverordnetenverfammlung beſchließt, eine 
ſche Kunftichule zu errichten, die wie alle derartigen 
Inſtitute dem Minifterium des Kaiferlichen Hofes unterſtellt 
fein ſoll; der Statutenentwurf wird afzeptiert und der Ans 
fauf des Inventars der Zeichenfhule des 7 Frl. v. Jung 
für das Juflitut befhlofien. — Ferner beihlieht die Ver- 
jammlung bie Baupolizei als ein jelbftändiges Erefutivorgan 
aus dem Bauamt auszuiceiden und für die Leitung desjelben 
einen neuen Stadtratpoften, den achten, zu ſchaffen. 





8. Nov. An der Jurjewfchen Univerfität wird ber Aſſiſtent ber 
pſychiatriſchen Univerſitätsklinik Luiga zum Doftor dev Medizin 
promooirt. In der Einleitung zw jeiner Diijertation: „Die 
Fürforge für die Geiftesfranfen im baltiſchen Gebiet“, ver: 
tritt Luiga die Anficht, dab die Irrenfürſorge in den bal- 
tijchen Gouvernements nicht nur hinter derjenigen Weite 
europas, jondern aud hinter derjenigen Jnner-Rußlands 
weit zurüdgeblieben fei. „Die Schuld hieran trage die 
„höhere“ Geſellſchaft, der Adel, die Geiftlichkeit. Die Lage 
der Geiftestranfen der Bevölkerung“, ſchreibt Luiga, „war 
im 18. Jahrh.) nicht ſchlechlter als die der Gefunden, aus 
dem einfadhen Grunde, weil eine ſchlechtere Lage nicht 
denkbar it“ uſw. (Vgl. Balt. Monateſchr. 1904 Heft 6, 


ao Valuiſche Chronit 1004/5. 


vom Juni, wo dieſe Schrift bereits einer ſachkundigen, wohl⸗ 
verdienten Kritik unterzogen worden war.) 

Nachdem ſchon ein ruſſiſcher Profeſſor Jaropfi, als 
ordentlicher Opponent, dieſe Darſtellung als parteiiſch be— 
zeichnet hatte: die Verdienſte des Adels um das Volk ſeien 
größer, als der Doktorand zugebe; die Behauptung, in den 
inneren Gouvernements fei für die Bildung und die Kultur 
des Volfes jtets mehr gethan worden, als in den balliſchen, 
tönne ſchwerlich bewiejen werden, — nahm Prof. Dr. Dehio 
das Wort und erklärte, daß die in der Einleitung ausger 
ſprochenen Beſchuldigungen feinen wiſſenſchaftlichen Wert hätten, 
ſondern nur politiihen und fozialen Hader zwiſchen Nationen 
und Ständen wachrufen ober verihärfen fünnten. Cs ſei 
eine Schande, daß der Doktorand das alte Katheder, das 
feit 100 Jahren ausschliehlid zur Verteidigung ber Mahrs 
heit und wiſſenſchaftlicher Tatſachen bejtimmt war, zu einer 
Tätigfeit mißbraude, die nie und nimmer in den Aftusjaal 
der Univerfität gehöre. 

Der Poftimees:Nedakteur Tönisfon wandte ſich aus 
der Rorona wider alle atademiſche Gepflogenheit mit Anz 
griffen gegen Prof. Dehio, was ihm vom Dekan verwiefen 
wurde, und nötigte dann den Doftoranden zu der Erklärung, 
daß er bei feiner Darftellung bleibe. Den Ausführungen 
Prof. Dehios ſchloß fih Prof. Körber an. — So find denn 
die verleumderiſchen Irrtümer, die unter der Approbation 
der Jurjewſchen Univerfität in die Welt geididt werden, 
nicht ohne Proteft geblieben. 

10. Nov. Dorpat. Die Neihenberg:Diellinfche Heilanſtalt und 
Pflegerinnenſchule begeht ihr 1Ojühriges überaus ſegensreiches 
Veftehen. Die Anftalt hat 3--4000 Aranfe verpflegt und 
134 Pflegerinnen aufgenommen, von denen nur Y/ıo ben 
Kurſus nicht abjolviert hat. Möge dieſer Erfolg dazu beie 
tragen, aud in anderen baltifchen Städten den gebildeten 
Frauen das Gebiet der beruflichen Rranfenpflege zu eröffnen 
und dieſe ſelbſi dadurch auf ein angemefleneres Niveau 
zu heben. 

10. Nov. In Sachen der ſtaatlichen Mäßigkeitskuratorien ift vom 
Finanzminifterium die Erläuterung erfolgt, das dieſe Kura— 





Baltiſche Chronit 1904/56. 3 


torien nur zu folden Maßnahmen greifen bürfen, die un- 
mittelbar im gegebenen Moment zur Xerringerung ber 
Trunkſucht beitragen; Maßnahmen aber, die nur mit größerer 
ober geringerer Wahrſcheinlichkeit in der Zukunft eine folche 
Wirkung haben fönnen, gehören nicht in das Programm ber 
Kuratorien. (Kurl. Gouv.-Ztg.) 

10. Nov. Die Kurländiihe Gouvernementsregierung macht in 
der „Kurl. Goub.-Ztg.“ bekannt, daß den Wirten von Krons- 
gejinden durch das Gnadenmanifeſt vom 11. Auguft c. mur 
die bis zum 1. Januar 1904 angelaufenen Rüdftände ber 
Austaufszahlungen erlaffen worden find und zwar nur dann, 
wenn fie bis zum 30. Juli 1904 nod nicht bezahlt waren. 

Diefe Bekanntmachung iſt duburd) veranlagt worden, 
daß viele Wirte ſich unter Berufung auf das Manifeft 
weigern, die Ausfaufszahlungen für das 1. Halbjahr 1904 
zu leilten. Es will eben den Bauern nicht einleudhten, daß 
nur ben ſchlechten und fäumigen Zahlern dur das Dlanifeft 
Vorteile zugewandt werben. 

11. Nov. Der Verkehr auf der neuerbauten über Mitau führen 
ben Strede Tudum:Kreugburg ber Diosfau-Windau-Rybinsfer 
Bahn wird eröffnet und damit die bivefte Linie Moskau— 
Windau. 

12. Nov. Reval. Der neue eſtländiſche Generalſuperintendent 
D. Lemm trifft nad) erfolgter obrigkeitliher Beftätigung in 
Reval ein und übernimmt die Amtsgeſchäfte. Die feierliche 
Introduktion findet am 12. Dezember in der Nitter- und 
Domkirche jtatt. — Zu ber am 16. Nov. beginnenden Herbſt⸗ 
juribif des eftländiicen Ronfifloriums melden ſich nad) längerer 
Zeit wieder einmal zwei Kandidaten zum Ronfiflerialeramen. 

12. Nov. Eine betrübende Etſcheinung nennt das eftnifhe Blatt „Mudifed“ 
von ihrem fopialpofiifcen Standpuuft aus die Tatſache, dab ber 
Nationalitätenhader auch ſchon in den Schulen unirer 
Univerfitätsitadt ſich zu einer brennenden Frage entwidle: „Sogar die 
Zöglinge der unteren laſſen, obgleich ihnen der Begriff der Nationalität 
taum aufgegangen jein fan, berichten mit großem Eifer, wieviel Eſten, 
Hufen oder Deutfche fie in der Mafie Haben, wie ſtoig und feindlich fie 
füch gegenüberftehen, mit welchen Schimpfuamen ſie fich gegenfeitig ber 
denten ıc. Wenn «8 jo weiter get und die Meinen Nationaliften einmal 
groß werden, fo wird der Natiomalitätenftreit wohl alle übrigen Fragen 


82 


Valtiſche Chronit 1004/5, 


zu Grabe tragen. Anftatt dieſen Drang in vernünftiger Weile zu 
mähigen, [deinen einige Lehrer ſich aftio an der Sache zu beteiligen, 
woburd) bie Kinder mur noch mehr aufgereigt werben. Es ift nicht gut, 
wenn ſchon dos Kind auf der Schulbanf im Nächiten nicht einfach den 
Menſchen, fondern den Angehörigen eines andern Bollstums erbliden 
lernt. Wenn bei den Eiten noch vor kurzem die Berleugnung der eigenen 
Herkunft eine Alltagsſache war, während jet an Stelle deſſen das Prunten 
mit feiner Abſtammung tritt, jo beweift daß ein mangelhaftes 
Berftändnis für die Grenzen des nationalen Ber 
mwußtfeins. . .“ Im den Ländern mit mehrfach gemiſchter Bevöl- 
ferung iſt allzu lebhaftes Rationalitätsbemußtjein wie ein böfer Geiſt, 
der Feindſchaft jät und feinen Frieden walten läßt. Oft diskutiert und 
tampft man in Bagatellen, mährend der gemeinjame Feind der Sirei- 
tenden mittlerweile feine bejonderen Ziele ungeftört verfolgen kaun. 
(Rev. 319.) 

Aud) wer den Notionalitätsbegeifi höher ftelt, als das eſtniſche 
Blatt mit feinem internationalen Standpunkt, wird die Bereitigung 
feiner Ausführungen anerfennen müffen. 


15. Nov. Reval. Der ritterſchaftliche Ausſchuß hat die ber 


Nitterfchaft gehörenden Gebäude der früheren Poſtſtationen 
Nunafer in Harrien umd Söttküll in ber Wied als Ver— 
pflegungsftationen für bie Yufnahme vermundeter und franfer 
Krieger zur Verfügung gejtellt. 


18. Nov. Libau. Die Stadtverordnetenverfammlung beichließt auf 


Antrag bes Stabtverordneten Dreyersdorff beim Dirigierenden 
Senat Beſchwerde zu führen über die Verfügung der kur— 
lãndiſchen Gouvernementsbehörbe für ftäbtifche Angelegenheiten 
vom 7. Nov. c. sub Nr. 44, durch welde das Verfahren 
gegen das ehemalige Stadthaupt 9. Abolphi in Sachen der 
Eröffnung eines Kontos ber „Libau-Hafenpother-Eifenbahn” 
eingeftellt worden iſt. Cs handelt ſich in der Sache weient: 
ih darum, ob Adolphi dafür zu belangen fei, dab er als 
Stabthaupt dem -Eijenbahnunternehmen, deſſen Nupen für 
die Stadt von der Stadtverorbnetenverfammlung bereits an- 
erfannt worden war, vor ber offiziellen Betätigung einen 
Kredit auf die Stadikaſſe eröffnet hatte. Die Gouvernements- 
behörbe, ber das Material zur Prüfung überwiefen worden 
war (Balt. Chr. 1903 Febr. 20), hat das Verfahren eins 
geitellt, da, aud) wenn eine Rompetenzüberjchreitung Adolphis 
vorliegen follte, eine Verfolgung derjelben durch ein ins 
zwiſchen erichienenes Gnadenmanifeſt niedergeihlagen werde. 


Baltlfeje Chronit 19045. 3 


Die Gefhäftsleitung Abolphis in Sachen der Straßenbahn, 
bie gleichfalls zur Prüfung vorgejtellt worden war, hat die 
Souvernementsbehörbe in Ordnung befunden. 

In der Stadtverorbnetenverjammlung vertritt der St. V. 
Dreyersdorfi den Standpunft, das jeber, der für die Weber: 
gabe des Materials an die Gouvernementsbehörbe geitimimt 
habe, ſich nunmehr logiſcherweiſe für die Beſchwerde über jie 
entfcheiden müſſe. Der St.V. Hejmowski befämpft die 
Beichwerdeführung ſchon aus formellen Gründen: nad) 
Art. 85 der Städteverorbnung darf die Stabtverordneten- 
verfammlung nur über folde Entideibungen ber Gouver- 
nementsbehörbe beim Genat Beihwerde führen, durd die 
ein Beſchluß der Stadtverordnetenverjamimlung als ungejep- 
lich aufgehoben worden it. Im gegebenen Falle hat nun 
die Gouvernementsbehörde feinen Beſchluß ber Berfammlung 
aufgehoben, jondern im Gegentheil der von ber Verſammlung 
erfolgten Anregung zur Prüfung der Angelegenheit entiprodyen. 
Mehr als die Anregung ftehe der Stadtverorbnetenver- 
jammfung in diefer Sadye nicht zu, da bie Entſcheidung über 
die effektive Heranziehung der Stadthänpter zur gerichtlichen 
Verantwortung für Amtsvergehen laut Art. 148 ber Städte 
ordnung ausſchließlich der Gouvernementsbehörde zukommt. 

Der Antrag Dreyersdorff wurde mit 29 gegen 18 
Stimmen angenommen. 





19. Nov. Reval. Der Dirigierende Senat trifft die endgiltige 
Entſcheidung in der Nevaler Gottesfaftenfrage. Der Nevaler 
Nat hatte am 5. Dezember 1877 bejchloffen aus dem in 
feiner Verwaltung befindlichen „Gottesfaften“ die Güter 
Zohannishof und Kautel und ein Kapital von 48,300 Rbl. 
zum Velten der Nevaler ſtädtiſchen Kirchen, der St. Nilolai-, 
St. Olai-, St. Johannis, St. Michaelis und der Heiligen: 
geiſt Kirche anszujchreiben und dieſen Kirchen als Eigentum 
zu übergeben, indeſſen die Güter Nehhat, Fäht und Koitjärw 
als jtädtiiches Eigentum anzuerkennen, da ber „Gotteskaſten“ 
auch zu Schul: und Wohltätigfeitsgweden bejlimmt war. 
Diefer Beichluß wurde jedoch von ejtländiicen Gouverneur 
und vom Minifter des Innern aufgehoben, weil das ges 


Saltifäe Chronit 190475. 


famte Vermögen bes „Gotteslkaſtens“ ſtädtiſches Eigentum 
und nicht zu kirchlichen Zweden verwendbar wäre. 

Die genannten fünf Revaler Kirhen flagten gegen 
bie Stadt, die jo Eigentümerin des Gottesfajtens geworben 
war, auf Herausgabe bes ihnen zufommenden Teils am 
„Öottestoften“ beim eſtländiſchen Oberlandesgericht, bei dem 
aud die Nevaler katholiſche St. Petri-Pauli-Kirce uner⸗ 
warteterweile Aniprüde auf einen Teil des Gotteskaſtens 
geltend machte. Das Oberlandesgericht entichieb am 2. Nov. 
1889 dahin, daß die genannten Güter mit Ausnahme von 
Koitjärm und eines Teils von Fäht den Kirden zu über: 
ie Kapitalien des „Gotteskaſtens“ aber und das 
irw nebjt jenem Teile von Fäht der Stadt zu be 
laſſen feien und es außerbem legterer anheimzuitellen jei, 
von ben Kirchen aus ben Einnahmen der ihnen übergebenen 
Güter einen Erfag zu verlangen zu Ounſlen ber ſiädtiſchen 
Wohltätigfeitsunftalten, foweit deren Ausgaben nadhweisbar 
aus den Einnahmen der Güter bejtritten worden waren; 
zugleich wurden Die Anſprüche der fatholijchen St. Petri— 
Pauli-⸗Kirche abgewiejen. 

Gegen dieſe Entſcheidung appellierten an ben Senat: 
die Stadt Reval, die lutheriſchen Nevaler Kirchen, bie 
tatholiſche St. Petri⸗Pauli-Kirche und ber Profureur bes 
Nevaler Bezirksgerichts, der als Nachfolger bes früheren 
Gouvernementsprofureurs bie Zuerfennung bes gejammten 
„Gotteskaſten“: Vermögens an bie Stadt verlangte. 

Die am 19. Non. c. erfolgte Senatsenticeibung be- 
fteht nun in folgendem : 

Der Proteft des Prokureurs wird ofne Folgen gelaffen, 
und ebenfo iſt die Klage der fatholiihen St. Petri-Pauli- 
Kirche abgewieien worden. Im übrigen find die Güter 
Iohannishof, Kautel und ein Teil des Gutes Fäht (ent: 
ſprechend dem früheren Dorf Hirmen), ebenſo auch die 
Ropitalien und außerdem mod) breiundfiebzig jtädtiihe Grund: 
zinsbefiplichfeiten als „gemeinfames Eigentum” der Stabt 
Neval einerjeits und ber St. Nifolais, 
Vlichaelie:, St. Johannis: und der Heiligengeiſt-Kirche 
andererjeits anerkannt worden, die Güter Koitjärw, Nehhat 








Baltfde Chronit 1804/5, s 


und der übrige Teil bes Gutes Fäht aber als ausfchließliches 
Eigentum ber Stabt Neval. 

Die Entfceibung ber Frage im Senat ift alſo im 
Weſentlichen ebenfo ausgefallen wie bie bes Revaler Rats 
und dadurch die von der Abminijtration verfuchte Beraubung 
der Iutheriihen Revaler Kirchen verhindert worden. 

20. Nov. Die Ernennung des Direlt des Departements für 
direfte Steuern im Finanzminifterium wirll. Staatsrats 
Goutler zum Kollegen bes Minifters bes Innern mird 
publiziert. 

20. Nov. Dem „Baltijas Weftnefis” ift diefer Tage ein er 
meitertes Programm betätigt worden, das ihm wieber bie 
Diöglichkeit, Leitartifel und Feuilletons zu bringen, gewährt, 
bie ihm feit dem Dezember 1903 genommen war. (Balt. 
Chr. 1903 Dez. 27.) 

Das Blatt danft den Leſern, die ihm trohdem treu geblieben 
waren, und fhleift fofort die Alinge gegen die „Aigas Amife" : 

„Zugleich mit uns wurde auch einer andern Zeitung (. Deenas 
Lapa· ) die Feder aus der Hand genommen und die allein verblichene 
fonnte mit ſchiecht derhehlier Genugtuung verfündigen, ba fie nun bie 
einzige fei, die größere Rechte behalten habe und da fie bemgemäß um 
fo eifriger den Leiten den „rechten Weg“ weilen werde. Mit bemunderns: 
werter Ronjequeng blicben jedoch die Leiten taub ſolchen Hinweiſungen 
gegenüber." 

21. Rov. Die Petersburger vereidigten Rechtsanwälte improvifieren, da ihnen 
das Gerichtsgebaude zu dieſem Fed verweigert wird, im Stadthauſe eine 
Verſammlung anlählich des 40jährigen Beſtehens der Gerichtsinftitutionen 
Kaifer Aleronder II. und faffen eine ſeht weitgehende Relokution, die fich 
mit den gefamien inneren Verhäftniffen Rußlands bejchäftigt. 

22.Nov. Riga. Die Stabiverorbnetenverfammlung beftätigt einen 
Vertrag mit dem Aunftverein, durch den fie dem Runftverein 
gewiſſe Räume für Vereinsgwede und bie Ausitellungsfäte 
im newerbauten Runftmufeumsgebäude auf 10 Jahre über- 
läßt, während ber Verein ſich verpflichtet, feine Aunftichäge 
mit ben Sammlungen ber Stadt gemeinfam im Muſeum 
aufzuftellen und Ausftellungen und Vorträge zur Hebung 
bes Runftverjtänbniffes zu veranftalten. — Die Verfammlung 
befchließt, daß die Stadtverordnetenwahlen im nächſten Jahre 
vom 13.—-18. März vollzogen werden jollen. — Die Ver- 
ſammlung beſchlieht ferner eine Beſchwerde beim Senat 








Mut Peine mm € 
ı x Re I 







die Reolution 
Zeibzerde zu führen. 
Se Grunditeuerreform 
werben bieler Tage von bem „Kiisitij Weitnik“ in ebenio 





bak Die Initruftion für bie Lonbihägung von dem Landrats- 
follegium „im Geiſte ber Intereñen der großen Grundbejiger 
unb zum offenbaren Aachteil der feinen“ entworfen fei, 


unb verherrlidt ben Einfluß bes früheren Rameralhofspräi 
benten Waſſiljew auf bie Abänderung der Jnitruftion. Nach 
der abgeänberten Inſtruttion werde jegt die Schäpung voll- 
sogen, aber von Leuten ohne Spezialfenntniffe, und Vertreter 
ber Wanern würden gewöhnlich nicht hinzugezogen ober zur 
Holle ftummer Zuſchauer verurteilt; die Schägungsarbeiten 
trügen baher einen „Ipaßhaften“, „komiſchen“, „vaubeville- 
artigen“ Charakter.