Baltische
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——
Balt 2011.3 u
hy
IN COMMEMORATION OF TU
HIS ROYAL HIGHN
PRINCE HENRY OF PRUSSIA
MARCH SIXTH.1902
ON BEHALF OF HIS MAJESTY
THE GERMAN EMPEROR |
—
Diglizod by Goßgle
Baltifche
Monatsſchrift.
Herausgegeben
von
Friedrich Bienemann.
Siebenuudvierzigſter Jahrgang.
LIX. Band.
Niga 1903.
Verlag der Valtiſchen Monatsihrift.
Nitolaiftraße Nr. 27.
Harvard College Library
APR 231909
Hohenzollern Collection
Gift of A. C. Conlidge
Juhaltsverzeichnis.
Band LIX.
Seite
Bas lieft unfre Jugend und mas folf jie — Bon Ober:
Ichrer Karl Arnold. . Er 1
Laiter und Leidenſchaft in J.M. Fr Senn Diatung- Von Karl
v. Freymann. . . —
Bas du mic gelehrt. Gidt von ©. 0. ©. 40
Neerologium balticum 1901. = 4
Am Ufer des Lebens. Gedicht von . v. — 55
Otto Beter v. Stadelberg. Bon O. M. v. Startelberg . 56
Sieben Vorträge über Germanifierung der Letten. Eine
Reminiszenp vom 3. 1819 . a Re
Japans Ethik. Bon R. v. Engelhardt 72
Literarifhe Schmweitern. Bon E. v. Cchrend. . . 6
Der Salon des Sigafgen Runftvereins. Gin Nüdtlid non
Woldemar Frh. dv. Mengden 101
Am Kamin. Gedicht von Eduard Fehre . . . 121
Sin Sangesfeben. Gedicht von Helene v. Eugelharbt- Wab. 123
Im welger Weife tönnten bie riefengroßen Gemeinden Lin,
lands geteilt werben? Lon P. ff. Medptlich-Gudmannsbad: 125
Inmitten. Gedich von Ednard fyehre . 140
Im Higaer Gnmnafium und auf ber Dorpater einer
1859/02. Grimerungen von Th. Bezolb 141
Sine Untersebung mit 8 X. Bobjedonoszen Im. 1885 . 154
Die Grundlagen der Hebbelfgen Iragddie. Von N. Ztaven
J FREE |
Idealismus und Realismus in dem geiftigen Strömungen
der Gegenwart. Von Dberlehrer Elemend vom Genfe . . 169
Die Ninimals und Rarimal»Beftiimmungen über ben bäuer-
lien Orundbefig in Civfand. Bon Wlegander Tobien, 181
Aus Tiefen zu Tiefen. Gedigt von Ebuard fFehre. ne
Die Urfagen des Berfa/ls der Reformation in Bolen. Ron
Dr. ft, db. Auxuatowoti — — 212
Bein Lied. Geict von R. d. Frebmai See Ba
Aux Gefcicte des Sehnämelens in Yinland, Son D. bon
Bruiningt . 3 222
Über Wolynstio „Der moderne Ibeallomus und Nublanb“
Von Kt. d. Freymann . E 2226
Wolynstis „Buch vom groben Zorn” Won #, d. Mrepmann . 230
Über Urfprung und — des Dromas. Bon N. Staven:
Hagen. RERTTENLERFETTTTÄR ,
Ihm nad! Gedicht von K. Stavenhagen . . . x...
Schiller im Spiegel der deiten. Geltipiel. _ Yon Erich von
Screen . . . — en
Die Aunft als Evangelium bei Sailer. Gin Glen som
Dberlehrer ennd. theol. E Mröger. . . . 284
Rice wie bie Wellen des Meeres. Yon Marl d. Frenmann. _ 303
Stilter und Pivland. Yon Beruhard A. Hollander . . . zu;
Schillers Seelenadel. Bon g. Cirgenfohn . . - —
wei Schilter- Biographien (dar Berger und Duo Yamad). Yon
8. Staveuhagen und E. v. Schrend . . . . er?)
Sieben Tage unter dem Nugelregen der Japaner. Grinnerung
an die Vorpoftengefechte bei Stungiötichöng. (7. —14. Juni 1904.)
Gedichte von Eduard Fehre. . ! . . . se A ai
Aus einem alten Tagebug. — — — Trãulein Ulrike
von trxyt a. d. Hauſe Palla nn
Um die Noländifhe Volteihufe. Won f. von frenmann. .
Zum Memoire ber Adelsmaricälle vom November v.J. . . 414
Vemerkungen zu %. Tobiens Auffag über die Minimal, und
Marimalbeftimmungen über den bäuerligen Grund»
bejih in Sivland. Yon Charles v. Stadelberg.Abin . . 417
Soziale Berhältniffe in Finnland. Eindrüde und Beiradzungen.
Bon Th. Begolb . . . . ı e
Weitere Gedanfen zur Wfarrteilung im Sivland. Bon
S. Niethoff, Yaiter zu — ee
Das lerrifche Bolfölied. © oo. no... 482
Eine Bittfhrift von Mo. 1009. © 0 2 2 2 200.0... 501
Vücjerangeigen:
v. Egloffitein, Kaiſer Wilhelm I. und Leopold von Orlid. —
G. Janfen, Rordweſioeutſche Studien. — B. Heyfe, Moral
Unmöglihleiten. — Charl, Niefe, Die Klabwnterittaie . . . 96
9. Prug, Vismords Pildung. Bon K. Girgenfohn . . . 178
Schillers Sämtlige Werte. Von ES ...... 026
Neuerfgienene Büder. 2 onen
238.
Im Spiegel der Peci were R
Eine lutze Antwort auf den I. aid dom Guian,_ Ion = 608
Wacwert: Unfh ur sus sure BU
5 f *
Beilage: Valtiſche Chronit vom 1. Sept. bis zum 23. Nov. 1004.
Bas Tieit unfre Jugend, und mas ſoll fie Iejen?*
Von
Oberlehter Karl Arnold.
—
Motto: „Ein Duch hat ſchon oft
auf eine ganze Lebenszeit einen
Renfchen gebildet oder verdorben.“
Herder.
ir feben in einer ſtürmiſch bewegten Zeit. Es iſt nicht
nur die wilde Kriegsfurie, die fern im Oſten ihr
furdtbar blutiges Theater aufgeichlagen hat, in das
auch wir mit unfern teuerjten Empfindungen je länger je mehr
Hineingezogen werden; es gibt daneben jo mandje Hochbedeutjame,
unfer gejamtes heimatliches Kulturleben betreffende Frage, bie die
Gemüter eines jeden Mannes, einer jeden Fran, die ſich nicht mit
Gewalt der Welt um ſich verihliegen, bewegen muß. Auf dem
Gebiet der Neligion, auf dem Gebiet der Kunſt, auf dem Gebiet
der Politit haben fid) Gegenfäge gebildet, find die Meinungen auf
einander geplagt, ringen Altes und Neues mit einander; Partei
wird alles, Farbe muß jeder befennen, wenn anders er es ernſt
mit feinen Pflichten gegen fh, feine Familie, fein Land nimmt.
Da fann es nicht ohne Riſſe, zum Teil tiefe Riſſe, in unirer
Gejellihaft abgehen. Die einen verteidigen mit zähem Trotz
jeden Jußbreit alter Anſchauungen und wollen ber neuen Zeit
nirgends Kongeffionen machen, und andere wieberum geben nur zu
Teiht die oft bewährten Güter unjrer Vorfahren auf, um fie gegen
neue, wahrlich nicht immer befiere Münze einzutauſchen. Nun,
meine Damen und Herren, id bin gewiß nicht für Stillftand,
denn Stillſtand bedeutet Nüdjchritt. Wir follen mit der Zeit
vorwärtsftreben. Wir wollen friſche Luft auch in unferm ftillen
Winkel, nur fo fann mande Wolfe, die in der Vergangenheit
*) Vortrag, gehalten im Gewerbeverein zu Mitau, im November 1904.
Battifcpe Monatafepeift 1905, Heft 1. ı
2 Das fol unfre Jugend Iefen?
unſern Blick trübte, veriheucht werben. Aber in gewiſſen Fragen
müijen wir fonjervativ bleiben, Fonfervativ im beiten Sinne des
Wortes, und gewiffe Anfchaumgen unfrer Altvorderen, gewiſſe
Ideale alter Zeit in Religion und Kunſt, Sitte und Eigenart
dürfen wir uns nicht rauben lajjen, wenn wir bleiben wollen,
wozu die Geſchichte uns hier ins Land gejegt hat.
Diefen Anihauungen, biefen Idealen müſſen aber nicht nur
wir Alten treu bleiben, ſondern wir müſſen fie aud) in unſre
Kinder Hineinpflangen; das ift unfre heilige Pflicht, denn fie find
die Träger der Zukunft. Was hilft es, wenn wir noch) fo feit,
nod fo freu im wildflutenden Strome der Gegenwart unſre
teuerften Güter zu wahren fuchen, wenn die, denen wir dieſes
Erbe umjrer Väter einft überantworten, leichten Sinnes fie wieber
fahren laffen? Und da frage ich nun Sie, meine Damen und
Herren, die Sie Väter oder Mütter, Lehrer oder Erzieherinnen
find, ob Sie nie die Empfindung gehabt haben, daß die heran-
wochſende Jugend, die Ihrer Hut anvertraut ift, in jenen
unfre Eigenart wichtigen Fragen nicht mehr ganz fo denkt, wie
wir; daß in beängftigender Weiſe ein neuer Geiſt fid) dieſer
Jugend bemädhtigt, der nicht mehr der Geift ift, der uns, unfre
Väter und Grofväter ftarf fein ließ? Haben Cie ſich nod) nie die
Frage vorgelegt: Werden unfre Rinder, wenn auch fie einft Kinder
zu erziehen haben, diefe in dem Geiſte groß werden lafien, in dem
wir jelbft unter ben Augen unfrer Eltern herangewachſen find?
Ich glaube, daß jeder, der ſich ernftlich ſolche Fragen vorlegte,
antworten muß: Unjre Jugend ift fchnell, erihredend ſchnell anders
geworben, als wir es find. Und, mancher hat vielleicht in ber
Stille feines Herzens ſchon fampfesmüde mit dem alten Ntting-
Haufen gefprochen:
Unter der Erbe ſchon liegt meine Zeit;
Wohl dem, der mit der neuen micht mehr braucht zu Icben !
Aber jo bürfen wir nicht fprechen, das wäre ein Vers
brechen an uns, an unfern Kindern, an unſrer Heimat. Im
Gegenteil, wir müſſen uns ernftlih fragen: Tragen wir nicht
wenigfiens zum Teil felbjt Schuld an diefem neuen Geiſt der
Jugend? Wie lönnen wir ihm Halt gebieten? Wie können wir
bazu beitragen, daß auch unfte Kinder die ftarfen Wurzeln ihrer
Kraft dort ſuchen und finden, wo wir fie gefunden?
Es kann natürlich nicht meine heutige Aufgabe jein, bie
aufgeworfene Frage in ihrem ganzen Umfange zu beantworten, es
würde bas vor allem zu einer gewillenhaften Prüfung führen,
Das fol unfee Jugend Iefen? 3
inwieweit mir etwa jelbjt andere geworden und würde zugleich
eine NAufrollung unſeres gejamten Erziehungswejens bedeuten !.
Nur zwei Nebenfragen möchte ich beſprechen, die aufs engite mit
dem eben berührten Thema zujammenhängen, und beren Ersörie
rung fid) fein Eiternpaar, das es mit feinen Pflichten ernſt nimmt,
entziehen kann, id) meine die Fragen: „Was Liejt unfre
Jugend, und was joll fie leſen?“
Wer in jeiner eigenen Jugend nachgräbt, der weiß, welde
Fülle von Freude einem das Lefen gebracht. Mit Heihhunger
verfhlang man da all’ die herrlichen Bücher, die Eltern und Ver—
manbte einem auf ben Weihnachts- oder Geburtstagstiih gelegt
Hatten, und es öffnete fih eine Welt vor einem, fo groß, jo neu,
fo wunderbar. Was Wahrheit war, was Dichtung, wir konnten
es damals noch nicht unterfcheiden, aber unſre Phantafie wurde
mädhtig angeregt, das willen wir noch heute, und mancher ber
Bände wurde 4, 5 mal ober noch häufiger immer mit gleichem
Imterefje, mit gleicher Spannung durchgeleſen. Und wenn wir
unsre Kinder anfehn, fie maden’s nicht anders, und cs muß
ſchon ein bejonders ftumpffinniges Weſen fein, das nicht
gerne lieſt.
Alfo es fteht feft, daß wir in der Lektüre ein leicht zu ver:
wertendes Mittel befigen, um den Gefichtsfreis bes Sindes zu
erweitern, benn Faulheit, Trägheit, jene böfen Feinde der Bildung,
werden uns wenigjtens bei jüngeren Kindern nur felten flören.
Aber diefes Mittel ift ein zweiſchneidiges Schwert, und wenn
Montaigne Recht Hat, da er die Bücher für das beſte Rüſtzeug
erlärt, das er auf feinem Lebensiwege gefunden habe, jo it es
beachtensmwert, daß ein Rouſſeau behauptet, er fei vor allem durch
ungeregelte Lektüre ein Spielball jäher Neigungen, ein Sklave
einer zuchtlojen und unberedhenbaren Phantafie, ein unglüdlicyer,
mit ſich ſelbſt zerfallener Menjh geworden. Es gilt eben die
Lejeluft unfrer Kinder richtig zu leiten, daß nicht das, was für
das Kind zum Segen werden fann, ihm zum Verderben aus—
ſchlage. Tun wir Eltern das? Tun wir das gewiſſenhaft auch
nur bei unfern jüngeren Kindern, von denen hier zunächſt
einmal bie Rede fein joll?
Nach meinen Erfahrungen herrſcht in diejer Hinfiht vielfach)
ein geradezu ſträflicher Leichtſinn. Es iſt merfwürbig: während
1) Dberlehrer 2. Goerg Hat unlängft in einem in der „Balt, Monaisſchr-
(1904, Zebruarheft) abgebrudten Artitel mandhen ſehr beferzigenswerten Fingers
deig in diefer Richtung gegeben.
ır
4 Das foll unfre Jugend Iefen?
wir in Bezug auf den Umgang unfrer Kinder meift die größte
Sorgfalt walten laffen, tun wir bei dem Umgang mit Büchern
nicht ein gleides. Und dann wundern wir uns plöglid, wenn
unfer Sohn ober unfre Tochter allerhand phantaftiiche, häßliche
und verkehrte Einfälle befommt. Gerade in bem empfänglichften
Lebensalter, wo Gutes wie Schlechtes am leichteften Aufnahme
findet, überlafjen wir unfre Kinder in ihren geiftigen Eindrüden
den unheilvolliten Zufälligkeiten. Wie viele Eltern, — id frage
jeden auf fein Gewiſſen hin, — unterziehen jedes Bud, che es
den Kindern in bie Hand gegeben wird, einer forgfältigen Prüfung?
Ich rede hier nicht von ſolchen El deren mangelhafte Bildung
die gerügte Unterlaffungsfünde erklärtih macht. Ich ſpreche von
den Eltern, die fih aus bloßer Bequemlichkeit um die Privat
lettüre ihrer Rinder garnicht oder viel zu wenig fümmern, und
fie oft leſen faffen, was diefen in die Hände fällt. „Gut, daß
der Junge fieit, da macht er wenigitens Feine dummen Streidye”,
denft mancher Vater. „Wie jhön, daß die Tochter ein Buch vor
fich Hat“, meint manche Mutter unb freut fich, daf fie nicht durch
die ewigen Fragen ber Tochter beläftigt wird, was fie num
wieder tun folle. Darauf wird mir nun mander oder manche
erwidern: „Ich bin garnicht fo fahrläffig. Ich fehe mir ftets die
Bücher an, die meine Kinder leſen wollen, und nur, wenn fie auf
dem Titel ausdrüdlid als Jugendlektüre bezeichnet find, laſſe ich
fie ipnen.“ Nun aber bitte ich diejenigen, welche jo Handeln, ſich
dod) einmal ber Mühe zu unterziehen, und einige jener zahlloſen
bunten Heftden burchjulefen, die unter bem Titel „Zugend-
bibliothek“, „Voltserzählungen“ und ähnlichen Aushängeſchildern
zu tauſenden den Büchermarkt überſchwemmen und für wenige
Kop. feilftehen. Was fteht da drin? Im beiten Falle ein Sammel:
furium von Unwahrſcheinlichteiten und Unmöglichfeiten, die ledig
lich den Zweck Haben, die Stoffgier der Leſer zu befriedigen,
meijtens aber eine Häufung von Schilderungen, in benen Mord»
jenen und heißhungrige Beſtien, biutrünflige Menſchen und
unnatürliche Todesarten, ffalpierte Indianer und von Hunden zer:
fleifchte Neger die Hauptſache bilden, alles nur berechnet, um in
der empfänglic—hen Jugend ein wollüftiges Graufen zu erregen.
Und dann wundern fi bie lieben Eltern über die zunehmende
Rohheit ihrer Kinder.
Aber Hier Handelt es ſich meiſt um zufällig den Kindern in
die Hände fallende Lektüre, ſei cs, daß fie diefelbe von guten oder
ſchlechten Kameraden entlicehen, oder, was aud) nicht felten ber
Was ſoll unſre Jugend leſen? 5
Fall ift, für ihr Taſchengeld gefauft haben. Wie machen es denn
aber bie Eltern, wenn fie ihren einen die Bücher ſelbſt aus—
ſuchen? Da geht man zum Buchhändler und fragt etwa: „Ich
möchte für meinen I1jährigen Sohn ober meine 12jährige Tochter
ein paſſendes Gefchichtenbud faufen; welches können Sie mir
empfehlen?” Im günftigiten Falle wird der Buchhändler ſolche
Sachen vorlegen, von deren Tauglichkeit er perfönlid überzeugt
it, vor allem gangbare Ware. Wer fteht einem aber dafür, daß
da nicht ein Buch mitunterläuft, das aud nicht den geringiten
inneren Wert hat? Ober der Käufer läßt ſich durch die Aus:
ftattung der Bücher blenden, durd die buntbemalten Farbendedet
und die ſchönen Farbendrudbilder, oder endlich — der billige
Preis iſt ausichlaggebend. Und fo leichtfertig findet man fid) mit
der geifligen Speile für feine Rinder ab, während man theovetiic,
natürlich dem allbefannten Grumdfag zuſtimmt, dab für bie Kinder
nur das Bejte gut genug ill.
Ja, aber was ift denn nun diefes Veſte? Damit kommen
wir auf die vielumftrittene Frage der ſpezifiſchen Kugende
ſchrift. Um fie tobt gerade Heute in Deutſchland ein heftiger
Kampf, und noch auf dem legten Aunflerziehungstage in Weimar
find bei Erörterung diefer Frage die Geiſter mit bejonderer
Schärfe aufeinandergeplaßt!. Während nämlich die einen die
ſpezifiſche Jugendſchrift überhaupt ausgemerzt fehen und den
Kindern nur Bücher in die Hand geben wollen, an denen aud)
Erwachſene ein poetiihes Genügen finden, verfangen bie andern
durdaus eine Veibehaltung der Jugendicrift als folcher, die ihrer
Meinung nach nicht ausſchließlich äſthetiſchen Rückſichten Rechnung
zu tragen habe, jondern zugleich aud) neben der zu bietenden
Unterhaltung eine erzieheriſche Tendenz verfolgen fünne, ſei es
eine belehrende oder moralifierende.
Der enge Nahmen meines Vortrages erlaubt es mir leider
micht auf diefen intereffanten Streit der Meinungen genauer
einzugehen, und id kann daher nur auf das bahnbrechende
Buch von Wolgaft, Das Elend unfrer Jugend:
literatur, binweifen, deſſen Lektüre id) allen Eltern und
Erziehern aufs wärmfte empfehlen möchte”, Wolgait, der Haupt:
1) Man vergleiche bierüber die „Ergebnifie und Anregungen“ des zweiten
Kunfterziehungstages in Wein wig 1908.
9) 9. Wolgaft, Das Elend unjter Jugendliteratur, Hamburg, 2. Aufl.
1899. Vergleiche gu obiger Arage ferner die „Jugendfgriften:
Warte“, Urgan der vereinigten deutichen Prüfungsausigüffe für Jugend
6 Das foll unfre Jugend Tefen?
vertreter jener radikalen Feinde jeber ſpezifiſchen Jugendſchrift,
ſchießt meiner Anfiht nad zwar vielfach über das Ziel hinaus,
aber es gebührt ihm und jeinen Mitkämpfern das unjtreitige Ver:
dienit, uns die Augen darüber geöffnet zu haben, daß vieles,
unendlich vieles, was feit Jahrzehnten zum eiſernen Bejtande
unjver Jugendbibliothefen gehört hat, wertlos oder gar ſchädlich
if. Es iſt ein entſchiedenes Verdienjt jener Männer, manden
beliebten Zugendjchriftiteller, wie 3. B. Franz Hoffmann und
Guſtav Nierig, in das rechte Licht gerüct zu haben, indem fie die
Trivialität, Flüchtigkeit, ja Rohheit in den Erzählungen derjelben
nachweiſen. Ich glaube, wer das betreffende Kapitel in dem
Wolgaſiſchen Bude, das eine Fülle von Auszügen aus diejen
Schriftitellern enthält, durdjgelefen hat, jdenft feinen Sindern
feinen Hoffmann oder Nierig mehr. Cs ift ferner fraglos richtig,
wenn von jener Seite energiſch Front gemacht wird gegen bie
Überflut von Indianergeſchichten, Seeromanen und Erzählungen
aus den Kolonien, und zwar nicht bloß gegen jene von mir ſchon
gefennzeichneten 25Pfennig-Heftchen, ſondern auch gegen die in
vornehmem Gewande, denn aud) fie bringen oft nichts als eine
Fülle von Unwahrſcheinlichteiten oder Unmöglicjkeiten und find
daher wohl geeignet, den Blick der jugendlichen Lefer für Wahr:
heit und Wirkfichfeit zu trüben. Es muß ferner durdaus aner:
fannt werden, daß Bücher, „die den jugendlichen Geijt mit fröi
melnden Rebensarten und jchmeichleriicher Gefühlsjeligfeit ins
Ienfeits entführen und von ben Erbenpflichten entfernen“, eine
ungejunde Speife für Kinder find. Wenn wir alle ſolche Aus:
fellungen der Männer wie Wolgft u. a. anerfennen, fo brauden
wir damit noch nicht jo weit zu gehn, wie manche von ihnen,
und die Jugendſchrift als jolhe zu verdammen. Den unwider⸗
n Reiz, den alles abenteuerliche auf den Knaben in einem
ge m Alter ausübt, können wir ruhig durch Vearbeitung bes
unfterbliden Robinſon und die allbefannten, auch literarischen
Wert beanipruchenden Leberjtrumpferzählungen befriedigen, und jo
prächtige Jugendichriftitelerinnen, wie Johanna Spyri und Ottilie
Wildermuth, um nur diefe zu nennen, werden wir unjern Kindern
nicht rauben laſſen. Wohl aber jollen wir aus dem Kampf um
ſchri amburg), in der die Gegner der ſpezifiſchen Jugendſchrift zu Worie
fommen, jowie die „Volfs: und Kugendihriften-Hundidau
(Stutigart), in der diejenigen, die auf dem Gebiet der Jugendigprift neben den
ätgerifgen Forderungen auch; die Pädagogif zur Geltung bringen wollen, ihre
Anfigpten verfechten.
Was foll unfre Jugend fefen? 7
die Jugendſchrift lernen, daß wir weit jorgfältiger, als das auch
von gemwiljenhaften Eltern zu geidehen pflegt, ein jedes Buch, das
wir unfern Kindern in die Hand geben wollen, auf feinen Wert
ober Unwert Hin prüfen, indem wir cs, wenn irgend möglich,
jelbjt vorher durchleſen und uns weder auf den vielleicht befannten
Namen des Verfalers, noch auf buchhändleriiche Reklame dabei
verlaffen. Cs ijt mit vollem Recht darauf hingewieſen worden,
daß das beite Jugendbuch dasjenige ift, das auch Eindlid) gefinnte
Erwachſene anfprit. Wenn wir dieſen Grundfag mahgebend
jein laſſen und dabei zugleich die Individualität des einzelnen
Kindes berüdjichtigen (denn alles ſchickt ſich nicht für jeden), fo
werden verjtändige Eltern und Erzieher in den allermeiften Fällen
aud) das Richtige treffen. Haben wir aber dazu nicht die Zeit,
oder trauen wir uns nicht fo viel eigene Urteilsfraft zu, um das
Nichtige herauszufinden, num fo gibt es Natgeber, denen man im
allgemeinen vertrauensvoll wird folgen fünnen. Ich möchte da
vor allem ein Bud) nennen, das in feiner Hausbibliothef fehlen
dürfte, und das jeder Vater und jede Mutter, jeder Lehrer und
jede Lehrerin nicht einmal, jondern immer und immer wieder
leſen follten, das Bud von Matthins: Wie erziehen wir
unfern Sohn Benjamin!? Das Kapitel: Was joll Ben:
jamin fejen? fielll jo beherzigenswerte allgemeine Gefihtspuntte
auf, woraufhin ein jedes Jugendbuch geprüft werden mühte, und
gibt zugleich eine große Ausfefe van empfohlenen Schriftitellern
und Büchern und zwar nicht bloß Unterhaltungsfeftüre, ſondern
auch belehrende Schriften aus Länder, Völker: und Naturkunde,
daß Eltern da reichlich und gut beraten find. Ferner verweiſe ich
auf das von den vereinigten dentihen Prüfungs:
ausfchüfjen herausgegebene Verzeichnis von „Empjehlens:
werten Jugendihriften“ Cs werden hier 400 Bücher
angeführt, belehrende und unterhaltende, jedes mit einer kurzen
Inhaltsangabe verſehen und mit einem Hinweis darauf, für welde
Altersjtufe es fid) eignen dürfte. Das Verzeichnis lich ino
fern mit Vorficht zu gebrauchen, als es allzu einjeitig äſthetiſchen
Rückſichten Rechnung trägt, jo dab Vücher zur Empfehlung
gelangen, die aus pädagogii—hen Gründen lieber einer ipäteren
Lebensjtufe zu bieten wären. Berückſichtigt man aber dieſen
%) Dr. Adolf Matthias, Wie erziehen wir unſern Cohn
Benjamin? Ein Vuch für deutide Väter und Mütter, 5. verbejj. u. dern.
Aufl. Münden, 1904.
3) Seipsig, 1904; Preis 60 Piennig.
8 Was ſoll unire Jugend leſen?
Umftand, fo kann es vortrefjliche Dienfte bei der Auswahl der
Jugendliteratur leiften.
Doch id möchte das Kapitel über die Frage: „Was follen
unſre jüngeren Kinder leſen?“ nicht ſchließen, ohne noch eindring:
lic) gewarnt zu haben vor der Viellejerei. Laſſen wir ba
einmal Matthias das Wort. Diejer ſchreibt: „„Nicht viel leſen,
jondern gut Ding viel und oft leien, macht fromm und Aug
dazu“, hat Luther einmal gefagt. Das follten wir in unirer Zeit
mehr als je beherzigen. Bor fchledten Büchern braucht man nicht
fo ſehr zu warnen, wie vor zu vielen Büchern. Wer zu viel liejt,
fann nicht verdauen und geiftig verarbeiten, was er lieſt. Eine
Unmajje von Vorftellungen, die oft in gar feinem Zujammenhang
jtehen, verführt zur Oberfläglichfeit. Der Reiz leichter Leftüre
ſchwächt den ernten Arbeitsfinn, den Schule und Leben für ihre
Plichten fordern. Auch das Gebächtnis leidet unter ber Viel:
fejerei, weil die Plenge der Voritellungen nicht eigene Gedanken
und erarbeitete Kombinationen, jondern fremde, raſch vorüber:
gehende Zufammenftellungen find, zu deren Wiederholung und
Übung dem Lefer Zeit und Geduld fehlt. Kurz, wo Lefelujt zur
Leſewut wird, wo das Behagen, ſich immerfort auf mühelofe
Weife ein Vergnügen zu verjchaffen, zu groß mird, da erjeugt ein
ſolcher Lefemüffiggang Träume ohne Tatkraft, da gibt's Wider
willen gegen jede ernſte Beſchäftigung, vorlautes und frühreifes
Urteilen, ja Blaſiertheit gegen einfache, ktindliche Genüſſe.“ Wahr-
lich, das ſind goldne Worte, die aufs wärmſte beherzigt werden
follten.
Ich habe bisher nur von ber Leftüre für das jüngere
Kindesalter geſprochen; wie ftcht es aber nun mit der Leftüre der
reiferen Jugend? Hier wird die Frage ungleich fomplir
zierter, die Antwort ungleich ſchwerer. Hier verlaflen uns mei
die ſonſt trefflichen Führer und es ift in der Tat nicht leicht, für
denjenigen Teil unſrer Kinder pafienden Leſeſtoff zu finden, für
den die jog. Sugendichriften einen Neiz mehr haben und dem für
die Yeftüre der Erwachſenen die Neife fehlt. Hier gehen auch die
Anfichten der Eltern und Erzieher in Bezug auf das, was ſich
für die Jugend eignet, bejonders weit auseinander. Und doch
verlangt gerade auf dieier Altersitufe die Seftüre eine befonbers
tige Prüfung. Iſt es doch der Frühling des Lebens, in
e Sant ausgeftreut wird, wo ber Boden am empfünglichjiten
Gutes und Schlehtes, für Yeiljames und Unheilvolles;
Bilbet ſich doch in diejen Jahren der Entwidiung der reife Dann,
Bas ſoll unſre Jugend leien? 9
die reife Fran und zwar zum großen Teil an dem Gelefenen,
durch das Gelefene.
Bevor id auf diefen Teil meines Themas eingehe, ein
Wort über den Begriff „reifere Jugend”. Natürlich ift e6
unmöglich, ihn zeitlid) genau zu umgrengen; als den Anfangs:
punft fönnte man ja unge das 14. Jahr anſetzen. Weder
das Alter des Kindes allein, noch aud die Schulklaſſe als ſolche
fönnen mahgebend fein, jondern vor allem bie Reife. Diefe wird
bei dem einem Kinde langfamer, bei dem andern ſchneller fort:
ichreiten, je nad) der Begabung, den äußeren Lebensverhäftniiien,
dem Umgange. Cs ift ja befannt, daß ein Kind, das viel unter
Krankheit oder trüben äußeren Lebensjchidjalen zu tragen hut,
ſchneller reift als ein ſolches, dem ähnliche Kümmerniſſe eripart
bleiben. Ebenjo werden Kinder, die jtets, und zwar nicht immer
ı eignem Vorteil, in der Geſellſchaft Erwachiener weilen, früher
die Kinderſchuhe abjtreifen, als ſolche, die unter gleihaltrigen
Genoſſen groß werden. Auf zpeierlei fei dabei hingewieſen.
Erftens ift zu warnen vor einem „Zufrüh”. Ein „Zuſpät“ iſt
lange nicht jo ichlimm, wie ein „Zufrüh”. „Lernt jemand eine
wertvolle Jugendfchrift erit im Sünglingsafter fennen, fo iſt das
feine Schande und fein Schade” (Matthias), liejt ein andrer einen
gehaltvolfen auch für die Jugend geeigneten Roman erſt als
reiferer Dann, jo it das Unglüd wahrlich nicht jo groß, wie
wenn er etwa bereits mit 12 ober 13 Jahren alle Schillerſchen
und Goetheihen Dramen „verarbeitet” hat. Zweitens werden
fich die Übergänge von der Kinderfiufe zur reiferen Jugend und
von biefer zu der Zeit, ba jede Leftüre freigegeben wird, natürlich)
nicht plögfic, ſondern atlmählid) zu vollziehen haben. Plan wird,
um ein draſtiſches Veilpiel zu wählen, einem Kinde, das eben
noch den „Lederſtrumpf“ mit Genuß gelefen, nicht gleich eine
Novelle von Conr. Ferd. Meyer in die Hände geben, jondern
etwa mit Hauff's „Lichtenftein” oder ähnlichen ſchlichten Erzäh—
kungen beginnen. Es üt das ja eigentlich ſelbſtverſtändlich, joll
aber der Volljtändigfeit halber hier auch ausgeſprochen werben.
Ferner will ich vorausfhieten, daß id) im Folgenden, wenn
id) von der Jugend vede, ſowohl die männliche als aud die weib—
liche meine. Die im weiteren geidiiderten Zuftände beziehen ſich
ja freitich Hauptjächlih auf uniee heranwadjienden Fünglinge.
An Madchen, die meiit jorgiamer gehütet werden, treten Ver:
ſuchungen und Gefahren, dab ihnen ungeeignete Vücher in die
Hände fallen, wohl jeltener heran, obgleich das Diilieu in manchen
10 Bas foll unfre Jugend Iefen?
unfrer heutigen Schulen gewiß feine genügende Gewähr bietet,
daß nicht auch bei unjrer weiblihen Jugend gelegentlich Konter-
bande mitunterläuft. Anderjeits jtehe ich auf dem vielleicht jehr
altväterifchen und unmodernen Standpunft, daß wir bei der Aus—
wahl der Lektüre für unſre Töchter noch ungleich vorſichtiger fein
müffen, als bei der für unfre Söhne. Gerade weil die weibliche
Natur fo weit empfänglicher iſt als die männliche, wird gutes
wie ſchlechtes bereitwilliger aufgenommen und fat tiefere Wurzel.
Manches, was der Züngling im Geſchiebe des Lebens doch noch
abjtößt, bfeibt bei der Jungfrau haften und ranbt ihr etwas von
dem Echmelz weiblicher Eigenart.
Und wie ſieht es nun mit der Lektüre unfrer veiferen
Jugend? Hier it zunäcft auf eine tiefbetrübende Ericheinung
unjver Tage hinzuweifen, nämlich auf die zunehmende Intereſſe-
lofigfeit eines großen Teiles unfrer Jugend aller und jeder Lei:
türe gegenüber. Es ift feltfam, gerade dasjenige, mas im Kindes-
alter den allergrößten Reiz ausgeübt hat, verliert dieſen vielfach,
fobald der Suabe, das Mädchen die Kinderſchuhe ausgezogen
haben. Eine geradezu erihredende Blafiertheit der Literatur
gegenüber greift Plat, während fade Gefelligkeit, eitle Pugfucht
üppig ins Rraut [chießen. Mir find Fälle befannt, wo 16- und
17jährige Fünglinge nicht zu bewegen waren, aud nur einmal
einen erniten Roman in die Hand zu nehmen, oder wo gute
Bücher, die freundliche Verwandte geſchenkt, verfaulten und vers
moderten, um fhließlih ungefefen zum NAntiquar zu wandern.
Das war früher anders. Der Trieb zum Lefen, ſchon um nicht
„ungebildet“ zu ericheinen, war vor 20, 30 Jahren ungleich
größer. Damals galt es als eine Schande, gewiſſe Bücher nicht
gelejen zu Haben. Man frage doch einmal Heute bei feinen
16- und 17jährigen Söhnen und Töchtern nad), ob fie fid) auch
ſchämen, wenn fie nicht einmal alle Schillerſchen Dramen gelefen
haben, von irgend melden guten Romanen ganz zu ſchweigen.
Dod) jo jteht es ja nicht bei allen. Viele leſen, lejen jogar
reichlich aber was lejen fie? Eoweit ic in bie einihlägigen Ver-
hältnifie habe hineinbliden fonnen, fcheint es mir, daß aud auf
diefem Gebiete von vielen Eltern unendlich viel gefündigt wird,
von manchen vielleicht aus Überzeugung, von vielen aus Unkennt—
nis und Unbildung, von jehr vielen aber wiederum aus Bequem—
lichfeit, weil fie ſich nicht die Zeit nehmen wollen, fid) um die
Leklüre der Kinder zu befümmern, denn Zeit foftet das, wie wir
jehen werden. ,
Was foll unſte Jugend leſen? u
Bliden wir doch einmal in die Büder hinein, die ein
Jüngling von 15--17 Jahren heute lieft. Da finden wir neben
dem Alter angemejjener Lektüre Bücher von Hauptmann, Suder⸗
mann, bien, Heines „Florentiniſche Nächte”, Tolftojs „Auf:
eritehung“, „Kreuzerſonate“, „Macht der Finſternis“, Zolas „Tot:
ichläger”, „Paris“, Mauries „Trilby“ und befonders häufig
Maupaffants Novellen, von elenden Kriminalromanen oder Büchern
wie „Die Berliner Nange”, „Der feine Cohn“ und ähnlicher
Schundware gar nicht zu reden. Ob diefe Bücher fteto mit Ein-
willigung der Eltern gelefen worden find, weiß ich nicht; aus ber
Tatſache, daß ſolche Lektüre dem Lehrer offen eingejtanden wird,
iheint mir jebenfalls hervorzugehen, da die Sünglinge nicht
das Gefühl haben, von ben Eltern direft verbotene Früchte
genoſſen zu haben. Derartiges verihweigt man aud dem Lehrer.
Und mie jtcht es mit den im Hauſe gelefenen und gehaltenen
Zeitungen und Zeitjhriften? Wenn eritere zu früh der
heranwachienden Jugend in die Hände gegeben werden, fo ſchaden
fie mehr, als daß fie nügen, denn erfahrungsgemäß fucht man in
einem gewilfen Alter in der Zeitung nicht das wirklich Belehrende,
fondern das Pifante aus Stadt und Land, aus Polizeiberichten,
Gerichtsverhandlungen und der chronique scandaleuse. Was
aber die Zeitfchriften anfangt, jo würde ich ohne vorangegangene
Prüfung meinem 15jährigen Rinde aud) das bejte unfrer Familien:
blätter nicht in die Hand geben. Was fagt man aber dazu, wenn
Zeitjchriften wie die „Jugend“ aber „Die Inftigen Blätter“ offen
auf den Vüchertiſchen liegen, wo in unbewachten Augenbliden
ſelbſt 9: und 10jährige Kinder ihre Neugier an den doch wahrlid)
nicht für diefe Jugend geeigneten Bildern und Wien befriedigen
fönnen.
Sodann das Kapitel Leihbibliothef. Iſt es nicht
geradezu fündhaft, wenn Eltern ihre Kinder ſich aus Leihbiblio—
thefen Bücher nad) eigener Auswahl nehmen laſſen. Und das
fommt vor. Oder follten ſolche Eltern wirklich nicht willen, daß
bei derartiger Freiheit in der Wahl der Leftüre entweder Schund
gelejen wird ober vieles, was für ein reiferes Alter geeigneter
wäre, oder endlich auf Empfehlung jogenannter guter Freunde
Bücher, für die nit der innere Wert ausichlaggebend ift, jondern
gewiſſe pifante Situationen und Echilderungen.
Und nun endlih das Theater. Viele Eltern jcheinen der
Anſicht zu fein, da; der Vefuch eines ernſien Schaufpiels unter
feinen Umjtänden der Jugend ſchädlich jein fann. Vor unbefannten
12 Was ſoll unfee Jugend leſen?
Operellen, vor der franzöſiſchen Poſſe machen fie noch allenfalls
halt, aber in das ernſte Drama ſchicken ſie ihre Kinder, auch wenn
fie feine Ahnung vom Inhalte des Stuckes Haben. Und da haben
wir denn in Dramen wie Mar Dreyers „Winterſchlaf“, d’Annun-
zios „Die tote Stadt”, Jbiens „Wenn die Toten erwachen“ und
jüngſt nod) in Hugo Marks’ „Lethe” und Brandes’ „Ein Beſuch“
unfre heranwachſende Jugend mehr oder minder reichlich vertreten
gefehen, mit und ohne Eltern. Ja, wie die Zeiten ſich doc) ſchnell
geändert haben. Noch vor 10 Jahren wurde ich einmal bei
Gelegenheit eines Gaftipiels der „Nigenfer“ eritaunt gefragt, ob
ich wirflid) meine Frau in Sudermanns „Heimat” mitnehmen
würbe, und jegt führen Mütter ihre unerwachienen Töchter in
Hartlebens „Rojenmontag“ und Halbes „Jugend“.
Ich Habe bisher nur von ſolchen Tatiachen geredet, die ſich
unter den Augen der Eltern vollziehen. Ungleich jchlimmer ſieht
es natürlich mit den Büchern aus, die Kinder heimlich hinter dem
Rüden der Erzieher leſen. Wie viel bier Fahrläffigfeit und
Una chtſamkeit derjenigen Schuld trägt, denen die Obhut über das
ge Wohl der Kinder obliegt, das wird in den einzelnen
Fällen natürlich ſehr verjcgieden fein. Aber daß viele Eltern
iträflich leichtſinnig in diefer Hinſicht verfahren und fid) vielleicht
nie die Mühe nehmen, den Büchervorrat ihrer Kinder einer Durch:
ſicht zu unterziehen, dafür feinen mir allein die Proben elendejter
Schumd- oder gar Scmugfiteratur zu ſprechen, die man wenigitens
in den Snabenfchulen gelegentiih als heimliche Klafienleftüre
Schülern abnehmen muf. Wie oft begegnet man ba beipiels-
weife dem „Seinen Witblatt“, diefem ſcheußlichen Schmicı
blätthen, das verfenft werben jollte, wo die Waſſer am tiefiten
find; das, für wenige Kopefen in den Buchläden käuflich, in Bild
und Wort für die niebrigiien Sinne beredjnet ift und bie jugend-
tie Phantafie geradezu vergiftet. Was durch folche und ähnliche
Leilüre an Schuß und Unrat in das Kind Hineingetragen wird,
was hier an Geift und Leib verderbenbringenden Keimen in das
blühende Leben hineingepflanzt wird, das ijt ſpäter meilt nicht
mehr herausgureißen, das Übel nicht mehr gut zu machen. Wir
find heute jo leicht geneigt, die zunchmende Sittenfofigfeit unirer
männlichen Jugend dem Einfluß schlechter, verdorbener Elemente
in der Schule zuzufcreiben. Gewiß können die unendlich, viel
Unheil anrichten und tum es reichlich und redlich. Aber die böſe
Saat, die da ausgeftrent wird und der wir unſre Rinder nicht
ganz entziehen Fönnen, würde nit jo üppig ins Kraut ſchieben,
Das fol unfre Jugend leſen? 18
wenn nicht durch unpafjende oder gar fchlüpfrige Lektüre der
Boden nur zu gut vorbereitet wäre.
Dancer von Ihnen, hochgeehrte Anweſende, wird vielleicht
jagen, das Bild, das ich entworfen, ſei einfeitig und zu schwarz;
unvernünftige Eltern habe es gelegentlich immer gegeben, und im
allgemeinen feien die Verhältnitte damals, als wir jung waren,
nicht beifer und nicht chlechter geweien als heute. Darauf habe
ich folgendes zu erwidern: Natürlich habe ich die Schattenfeilen
der angeregten ragen beleuchtet und will gerne zugeben, daß es
viele Eltern gibt, die forgiam die Lektüre ihrer Kinder bewachen.
Daß aber die Verhältnitie diefelben geblieben wie früher, ftelle ich
ich entidjieden in Abrede. Sie find nicht diejelben geblieben, fie
find fehlimmer geworden. Auch ich bin einmal jung geweſen und
habe mic), wie das Schulleben das mit fid) bringt, in mandherlei
Gefellihaft, in guter und fchlechter bewegt, und doch ift mir
damals nicht fo viel Leſeſtoff, der nach meiner jegigen Anfiht ber
Jugend ſchadlich ift, zu Gericht gefommen, wie ich ihn heute in
den Pänden von jungen Leuten gefunden, wo ich doch als Lehrer
nur gelegentlich einen Einblick in die einfchlägigen Verhältniſſe
gewinnen fann. Und das it auch garnicht anders möglid), ift
doch das Angebot folder Bücerware infolge der herrſchenden
Eiteratmrrichtung ungleic) größer geworben, und die Anfhauungen
über das, was der Jugend frommt oder nicht, Haben fd) zugleich
merflid) geändert. Und damit fomme ich auf den zweiten Teil
meiner Frage: Was foLl unfre reifere Jugend Iefen?
Erwarten Sie nicht etwa, einen Kanon geeigneter Bücher
aufgezählt zu hören, viel wichtiger erfcheint es mir, das wir uns
einigen in bezug auf die allgemeinen Gefihtspunfte, unter denen
jedes Bud) geprüft werden ſollte, che es der Jugend in die Hand
gegeben wird. Meiner Anficht nad muß ein folches Buch fein:
1) Fünftlerifh wertvoll, 2) fittlid rein, 3 frei
don jeder Alterprobtes niederreißenden Tendenz.
Damit fallen natürlich nicht nur alle unfauberen und faden Rol-
portageromane, die in Maſſen ben Büchermarkt überfchwenmen,
und die vernünftige Eltern ja ohnehin ihren Kindern nicht in bie
Hand drüden werden, fort, jondern fo ziemlid) alles, was der ſog
„Moderne“ angehört.
Es iſt noch im vorigen Semefter in diefem Saale von ver:
ſchiedenen Nebnern in jehr verichiedener Weife über Wert und
Unwert des heutigen Naturalismus geurteilt worden, und ber
Streit der Meinungen hierüber wird noch lange hin und her toben.
14 Das fol unfre Jugend Iefen?
Gibt es doch noch heute Leute, die bei jebem mobernen Dichters
namen ein gelindes Graufen empfinden und jeden Subdermann,
Hauptmann und Halbe womöglich ungelefen zu den Toten werfen;
und auf der andern Seite jtehen folde, die in jenen Männern
das Morgenot einer neuen glänzenden Zeit erbliden, bas einen
Schiller, wenn nicht gar einen Goethe längſt in den verdienten
Schallen gerüdt. Das Richtige wird, wie fo oft, wohl in ber
Mitte liegen. Wir Haben, meiner Anfiht nah, dem modernen
Naturalismus fehr viel zu danken. Er hat ben in Unnatur und
Verwällerung verfallenen Nusläufern ber Romantik, fowie dem
literariſchen Inbuftrialismus, der uns, wie Bertels jagt, „mit den
Träbern fütterte, die die Säue ber Parifer Voulevards übrig
liegen“, ein Ende gemacht; er hat den Blick für die MWirklichfeit
wieber gefhärft; er hat dem fait verloren gegangenen Zufammen:
hang zwiſchen Dichtung und Wahrheit, zwiſchen Runft und Natur
wieder hergeftellt und damit das zertrümmerte Fundament wieder
aufgerichtet, auf dem cine jede gejunde literariiche Richtung aufs
gebaut fein muß. Wir brauden aber bei folder Anerkennung
der unftreitigen Verdienſte der „Modernen“ nicht blind gegen ihre
Fehler zu jein. Wie alle ftürmifchen Übergangsperioden ift auch
fie vielſach über das Ziel hinausgeſchoſſen. Sie Hat vor allem,
ich möchte heute nur das eine hervorheben, als Kampfesrichtung,
als Anlageliteratur in einfeitiger Verblendung immer nur die
Schattenfeiten des Lebens aufgeſucht und bargeitellt, als ob ces
nichts Gutes, als ob es fein Licht mehr in der Melt gäbe, und
damit iſt fie ein mächtiger Förderer des unfer Zeitalter beherrſchen-
den Peſſimismus geworden. Darum aber, vor allem darum
müfen wir fie jo lange als möglich von unjrer Jugend fern
halten. Der reife Mann, die erfahrene Frau kann durd) viele
Bücher moderner Richtung vieles lernen. Cs werben hier Fragen
zur Diskuffion geftellt, Probleme erörtert, denen wir uns, bie wir
im Strome ber Zeit ſchwimmen müſſen, nicht entziehen können,
und mander ift durch folh ein Buch zur Selbitprüfung und
Selbfterfenntnis gebradt worden. Wir werden uns aber dadurch
noch nicht den Glauben an das Edle in der Menſchheit, unfern
alten deutichen Jbealismus rauben laſſen. Wie wirkt aber ein
folches Buch auf die noch ungereifte Jugend? Da wird vor ihnen
der Schleier gehoben von jo mand) geheimnisvollem Dunkel, in
das das Leben fie noch nicht Hat hineinbliden fallen, und daß
gerade das Häßliche eine befondere Anziehungskraft auf ben
Menſchen, vornehmlich die empfängliche Jugend ausübt, ift ja
Das folk unſte Jugend Iefen? 15
befannt. Mit mollüftigem Behagen wird beionders alles bie
Geſchlechtsliebe betreffende verſchlungen, das entweder in brutaler,
häßlicher Nadtheit oder, was noch ſchlimmer, halbverhüllt kaum
einer modernen Dichtung fehlt; und mas ehrliche Naturaliften
geichrieben, um den Finger auf ſchwärende Wunden der Gefell-
ſchaft zu legen, das wirft auf unveife Leſer mit prickelnden Reizen,
lodend, verführend. Wir tun unjern Naturaliften, die es ehrlich,
mit ihrer Runft meinen, gewiß Unrecht, wenn wir ihre Werke
unmoraliſch nennen. Unmoraliih in dem Einne, daß fie das
Unfittliche billigen oder gar verherrlihen wollen, find fie natürlich
nicht. Verſteht das aber die innerlich noch nicht gefeitigte Jugend?
Müften fich ihre fittlichen Begriffe nicht in gefährlicher Weife ver-
wirren, wenn fie ein Leben dargeitellt ficht, in dem der Moral
faft nie zum Siege verholfen wird. Was fängt fie z. B. mit
dem noch im vorigen Jahre auf unfrer Bühne gegebenen Ibſen—⸗
fhen Drama „Wenn die Toten erwachen“ au, das wenn man es
des ſymboliſchen Gehalts entkleidet, die moraliiden Grundſätze
geradezu auf den Kopf jtellt?
Freilich, Aug, überklug kommt ſich dann wohl ein ſolches
Bürſchchen, eine ſolche höhere Tochter vor, aber mit der Harm-
lofigfeit der Jugend iſt es dahin. Die Genuffähigfeit für wirklich
Schönes, Reines ift vielfad) verloren. Vlaſiert wird über Ewiges,
Wahres abgeurteilt, und man kann ſich dann micht wundern,
wenn man Nusiprüde hört, mie fie einer meiner Kollegen
unlängit aus dem Munde eines Sefundaners vernahm: „Goelhe,
ja den läht man fid noch vielleicht gefallen, aber wer wird heute
noch Schiller leſen!“
Und damit hängt aufs engite ein Zweites zuſammen. Man
hat mit Hecht die „Moderne“ eine Anflageliteratur genannt. In
der Natur einer folhen aber liegt es, daß fie tendenzios iſt. Das
hat ja die Naturaliften getrieben, einfeitig die dunklen Tiefen
menſchlicher Gebrechen, gejellichaftliher Schäden aufzuſuchen, hin—
zuweiſen auf Zuftände, Verhältnifie, die nach Beſſerung, nach
Heilung ſchreien. Aber fajt feiner derſelben hat auf die in einer
ſolchen Dichtung unausgeſprochen liegende Frage: „Wie foll das
befjer werden? eine Antwort gegeben. Daher das fähmende
Gefühl, mit dem wir fo oft von einem derartigen Roman ſcheiden
ober das Theater verlajien. Kann es aber richtig fein, unfrer
Jugend ſolche Bücher in die Hand zu geben? Kann es eine
Pädagogik geben, die es verantworten will, in das ungefeftigte
Gemüt unreifer Jünglinge und Jungfrauen Dineinzutragen alle
18 Bas fol unfre Jugend Iefen?
die Heute auf uns einftürmenden, ber Löfung harrenden Fragen,
alle die ungeflärten modernen Ideen, die zum Teil rütteln an
altbewährten Grundfägen in Religion, Staatenleben und gejell:
ſchaftlicher Ordnung?
Id würde über dieſe Frage nicht jo viel Worte verlieren,
wenn ich nicht wüßte, daß es viele gibt, die in der modernen
Literatur nicht nur feine Gefahr für unfre reifere Jugend ſehen,
jondern fie geradezu empfehlen. Mir liegt zufällig ein Jeitungs-
ausichnitt vor, in dem die Beantwortung der ſchon vor etlichen
Jahren im Nig. Gewerbeverein aufgeworfenen Frage: „Melden
Einfluß hat die moderne Richtung der Schriftiteller auf bie Geſell-
schaft, ſpeziell auf die Jugend?” abgedrudt ift!, Der Beant:
worter iſt der Anſicht, daß wir „unfre bedeutenden modernen
Schriftfteller bei der Qugenderziehung nicht entbehren fnnen” und
führt als ſolche Schriftiteller namentlich an: Zola, Tolftoj, Ibſen,
Björnfon, Garbory, Strindberg, Hauptmann, Sudermann. Unter
anderm jagt er wörtlid) folgendes: „Es jteht mit der geiftigen
Nahrung wie mit ber leiblihen. Nur fein Rapentiih und ja
nicht zu wenig, denn gejunde Kinder Haben guten Appetit. Und
mas die geiftige Nahrung betrifft, fo haben fie, wenn fic geſund
und normal entwickeit find, glüdlicerweiie eine Schubvorrichtung
in ihrer Seele: die Naivität und den Enthufiaomus. Infolge
deſſen nehmen fie die unpaflende, ſtörende Nahrung meiſt nicht
auf, fondern mit Vorliebe das Gute — ja das Beſte und
Schonſte.“ Über den „Katzentiſch“ jpäter ein Wort. Hier nur
joviel als Erwiderung: Ad) id) glaube an die Naivität und
den Enthufiasmus unſrer Jugend, jo lange ihr Geſchmack durch
ihrem Alter nicht zufommende Speiſe noch nicht verdorben iſt.
Wenn fie aber erſt mit der jdarf gemwürzten Koſt der Zola, Ibien,
Hauptmann u. a. gefüttert worden find, dann ſchmeckt ihnen eben
eine alles Pifarite meidende, einfache und doch jo gefunde Nahrung
nicht mehr, dann iſt es mit ihrer Naivität dahin und ihr Enthus
fiasmus für das Neine und Schöne hat jenem Mangel an idealem
Einn, jener atttlugen Bfafiertheit, jener unfindlihen Pietätlofig-
feit Bla gemad)t, über die bie Pädagogen unjrer Tage jo viel:
fady mit Hecht flagen. Dan leſe doch nur heute mit Schülern
der oberften Klafien die Dramen unjrer großen Dichterheroen und
achte dabei auf die offen oder veufteckt zutage tretende fiumpfe
Unempfänglichteit, das überlegene, ja jpöttiiche Lächeln vieler
1) Dana · gig. 1809, Nr. 295.
Das fol unfee Jugend Iefen? 17
folder Jünglinge, die in ber Moderne bereits zu Haufe find und
womöglid Hauptmann und Subermann vor Schiller und Goethe
gelefen haben. Und wie jollte das aud) anders fein. Muß nicht
in ber Jugend, die vom Leben noch jo gut wie garnichts weiß,
dur eine literariiche Richtung, mag fie und ihr Streben von
noch fo edlen Dlotiven getrieben werden, bie immer und immer
nur das Jammerlied der Menſchheit fingt, ein Zweifel rege
werben, an allem was ihr fonjt gelehrt wird: daß unjre Welt:
ordnung gut ift, daß es einen Sieg der Wahrheit auch ſchon auf
Erben gibt, baß wir den Glauben an uns felbit und das Gute
im Dienfchen nicht aufgeben dürfen u. a. Solde Ideen aber
find die rechte Speiſe für unſre Jugend, nur fo gewappnet wird
fie einmal all den zerjegenden und zerfreffenden Elementen, die
über furz oder lang fich an fie heranſchleichen werden, heilfamen
Widerftand entgegenfegen fönnen und nicht Gefahr laufen, jesem
alles nivellierenden, an Thron und Heimat, Altar und Ehe
rüttelnden, internationalen Zeitgeifte anheim zu fallen. Mit einem
Worte — unsre Jugend braudt Jdealismus, nicht
modernen Beifimismus!
Ich Höre hier den Einwand: „Auch wenn wir die Schädlich-
feit der Moderne für unſre Jugend erfannt haben, können wir
diefe doch nicht mit einer chineſiſchen Mauer umgeben. Unfre
Töchter noch allenfalls, unire Söhne nun ſchon garnicht. Der
Trieb, gerade derartige Erzeugniſſe der Literatur zu lejen, iſt fo
groß, daß fie, aud) wenn wir ihre Lektüre überwachen, das Ver:
botene eben heimlich leſen und vielleidht dann um jo begieriger,
weil verbotene Früchte bekanntlich befonders füh ſchmecken. Und
fie leſen dann noch weit Schlimmeres, als was ernite Naturaliften
geſchrieben haben.“ ie haben ganz recht, meine Damen und
Herren, wir fönnen eine ſolche chineſiſche Mauer nicht aufrichten,
ebenfo wenig wie wir ihnen die Augen verbinden fönnen, daß fie
ſich alle die füjternen Titelbilder und noch Tüfterneren Anfichtsr
poitfarten, die vielfach öffentlid; ausliegen, anjehen. Könnten wir
unfre Jungen dann doch in feinen Frifeurlaben f—iden, wo jenes
„Kleine Wigblatt“, von dem ich vorhin jhon ſprach, ausliegen
bari, jo daß jeder 10jährige Bube ſich daran ergägen fann. Wohl
aber können und jollen wir einerfeits derartiges, jo weit cs in
unfern Kräften fteht, von unfrer Jugend fernzuhalten juchen,
andernteils für ein gefundes, heilfames Gegengewicht in genü-
gendem Maße forgen. Wo das Verhältnis zwiſchen Vater und
Sohn, zwiihen Mutter und Tochter ein richtiges ift, da „aus
Baltifge Monatsfchift 1005, Heft 1.
18 Das fol unfee Jugend leſen?
bie ernfte Mahnung der Eltern an ihr Rind, nichts ohme vorher
ergangene Erlaubnis zu leſen, genügen. Und hilft ſolche Ermah—
nung nit, jo muß das zweite Mittel allein wirken, die von ben
Eltern ausgewählte, für den Jüngling und die Jungfrau geeignete
Leklüre. Und ſolche geſunde Koft wird nicht nur eine Schugwehr
fein gegen das Lefen unpaffender Skribenten, fie wird aud) heilend,
träftigend wirken, wie die friiche Luft in Wald und Feld, im
Garten und auf dem Spielplag neben der bumpfen Stidatmofphäre
in Stube und Schule, auf Markt und Strahe.
Waren meine Ausführungen bis jept im weſentlichen nega-
tiver Art, jo muß id) nun aud) wenigitens in gedrängtefler Kürze
Pofitives bieten. Ich itellte vorhin die Forderung auf, daß bie
Zugenblektüre Fünftlerifc wertvoll, fittlich rein, frei von Tendenz
fein müffe. Nun, ich Sollte doch meinen, daß man mod lange
night zu einem „Ragentiich” greifen muß, und unfre heranwadhiende
Jugend etwa mit Buftav Nierig, Franz Hoffmann ober Thekla
Gumpert abzujpeifen braucht, wie der Veantworter jener im Rig.
Gewerbeverein aufgeworfenen Frage mit völlig ungerechtfertigtem
Spott meint. Unfre deutjche Literatur iſt To reih an Erzeug-
niffen, die jenen Forderungen entiprechen, daf unfre Kinder wahr-
lich nicht zu darben brauchen. Da ftehen in erfter Linie unfre
Alaffifer, deren Wert als beftes Bildungsmittel für die reifere
Jugend ja wohl niemand wird beitreiten wollen. Befigen doch
gerabe fie das, mas unfrer Jugend ihrer Natur nad) eigen ift,
und was wir ihr nicht vauben laffen dürfen, jenen Idealismus,
der an das Gute im Menfchen, an den Sieg des Edleu glaubt.
Nächſt den Klaſſikern dürfte vor allem ber Hiftorifhe Roman
eine geeignete Leftüre bilden. Das lebhafle Intereffe, das bie
Jugend meift der Geſchichte enigegenbringt, ſchafft für bie Auf-
nahme folder Dichtungen den fruchtbarften Boden, befonders wenn
das Leſen derfelben Hand in Hand mit ber Durchnahme bes
betreffenden geſchichllichen Stoffes im der Schule geht. Natürlich
darf es ſich bloß um Romane handeln, die einerjeits hiftoriich
treue Wilder fiefeen, anderfeits nicht in den Fehler einer aufbring-
lichen Gelehrſamkeit verfallen. Da könnte wohl als eriter Roman
Hauffs „Lichtenftein“ den Kindern in die Hand gegeben werden,
fodann Freytags „Ahnen“, Scyefjels „Ekkehard“ und die beſten
Nomane von Willibald Alexis. Auch Walter Scott wird trog
feiner Breite auch heute nod) von ber Jugend gern und mit
Nupen gelejen. ber wir Fönnen dieſe Jugend nicht blof mit
Haffifhen Dramen und hiſtoriſchen Romanen abipeifen, fie wil
Mas fol unfre Jugend Iefen? 19
auch in der Zeit und mit der Zeit leben, und auch an
ſolchen für fie paſſenden Schriften fehlt cs nicht. Da wäre bei—
jpielsweife zu nennen Freytags „Soll und haben“, Storms,
Nichts Novellen, Nofeggers Erzählungen, einzelne Nomane von
der Ebner-Eichenbach, wie 3. B. das prächtige „Semeindetind”,
ausgewählte Sachen von Conr. Ferd. Meyer und Gottfr. Keller,
endlih Lilienerons Kriegonovellen. Und dab auch die neueſte
Zeit immer wieder dazwilchen Nomane zutage fördert, bie wir
unfrer reiferen Jugend nicht vorenthalten follten, das beweiſen
z. B. Dichtungen, wie Frenſſens „Die drei Getrenen“, Heers
„Joggeli“ oder der erit Fürzlich erfchienene Noman von H: A. Krüger
„Gollfried Kämpfer”. So wird der Kreis fid) immer mehr und
mehr weiten, bis man die Zeit für gefommen erachtet, fein Kind
altmählich vorzubereiten auf die freiheit, die dem Ermadjienen
die Wahl der Lektüre ſelbſt überläßt. Im diefe Zeit der reifiten
Jugend würden Paul Heyjes Novellen, die beiten Spielhagenſchen
Romane, Clara Viebigs „Die Wacht am Rhein“, Sudermanns
„Frau Sorge” und vieles, vieles andre gehören, vor allem die
Romane von Pantenius, von dem auch unire Jugend lernen fann,
warme Heimatsliebe mit offnem Sinn für die Wahrheit zu
paaren. In dankeuswerter Weile iſt in neueſter Zeit mehrfach
der Verſuch gemacht worden, das Beſte, was die ältere und
neuere erzählende Literatur hervorgebracht, in billigen Xolfs-
bibliotgefen zu vereinigen. Cine ber treiflichiten find jebenfalls
iesbadener Vollsbücher“, die neben den ſchon genannten
ftſiellern Erzählungen von Stifter, Hans Hoffmann, Adolf
Stern, Jenſen, Wilbrandt, Hermine Villinger und vielen andern
bringen, Dichtungen, die ſich wohl ſämtlich auch für die reifere
Jugend eignen bürjten.
Was ich hier an Namen genannt, find natürlich nur Bei—
fpiele und Fönnen aud) nicht im entferntejten Aniprud) auf Volt:
ftändigfeit machen. Leider fehlt, foweit mir bekannt ift, noch
immer ein einigermaßen genügendes Verzeichnis von belletriſt
Werfen für das reifere und reiffte Jugendalter !. Hier kann ich
eine Warnung nicht unterdrüden. Man darf in feiner Vorficht
1) Tas oben ſchon ermähnte von ben vereininten beusichen. Lrlfungsans,
ſchuſſen _Gerausgegebene „Verzeichnis empfehlenswerter Jugenbigriften“, ‚da
viele Gefefrende Wicher gefcichtfichen, fuftuegeicyichtlich
Impalıs, die jid für die teifere Jugend eignen, aufı
Ahter paffende Werle aus der Ichönen Literatur leider mr in met befehränfier
Zahl an.
⸗0 Das fol unſte Jugend leſen?
natürlich auch nicht zu weit gehn; befonders find es mande
Mütter, die ihre Töchter womöglid bis zur Konfirmation nur mit
den „Töchteralbum“, mit „Backfiſchchens Leiden und Freuden“
und ähnlichen Erzeugniſſen füttern möchten. Das iſt ein ſchweres
Unrecht. Auch unfre heranreifenden Mädchen wollen und follen
durch Zeftüre in das Leben eingeführt werden, und ein gefunder
Realismus ift ihnen heilfamer als die verlogene Welt vieler
Jugendfchriftftellerinnen. Auch das Thema „Liebe“, vor bem
mande Mutter eine fait krankhafte Angſt hat, darf wahrlich nicht
ſchrecken, jofern fie in reiner Form auftritt, wenn wir nicht ein
sippes und unnatürliches Geſchiecht großziehen wollen.
Vor allem vergeife man nicht, der Jugend auch Humo-
viftifches zu bieten. Die Lebensfreude it dem Sonnenlichte
zu vergleihen, in dem jedes organifhe Wejen am beiten gebeiht.
Diefes Sonnenlicht, dieſe Lebensfreude wollen wir unfern Kindern
aber in recht reichlichem Maße zufommen lajfen, fie ftärkt fie zum
Lebenslampf, der ihmen allen einmal bevorfteht. Und wie bereit:
willig wird von der Jugend das Heitere aufgenommen. Wie
ichnell ift ein Kind imftande, Schmerzwolles zu vergeifen, wenn
ihm eine luſtige Gedichte erzählt wird. Wie jtrahlen die Augen
von Schülern und Schülerinnen aud) älterer Altersjtufen, wenn
ihnen der Lehrer am Schluß der Stunde einmal etwas Heiteres
zum beften gibt, was bie Lachmusleln ordentlid) in Bewegung jegt.
Freilich, ſowen wie Heinrich Dart möchte ic) nicht gehn, der auf
dem legten Runfterziehungstage Wilhelm Buſch als „Jugendkunft:
erziehen" große Erfolge prophezeihle. Aber es gibt in unfrer
Literatur doch ernftere Humoriften. Groß ift die Zahl ja nicht, aber
noch haben wir einen Raabe, deſſen „Horacker“ z. B. fo recht
ein Buch auch für die veifere Jugend it; nod haben wir einen
Heinrich Seidel, vor allem aber unfern unfterblihien Frik Reuter.
Es hat mich immer aufrichtig betrübt, wenn id) bei Nundfragen
in den oberjten Klaſſen von Anaben- und Mädchenſchulen feititellen
mußte, wie viele deutſche Jünglinge und Jungfrauen von dieſem
Föftlihen Dichter nichts gelefen haben. Oder jollte auch ſchon in
einer älteren Generation das Intereſſe für dieſen prächtigen
Erzähler von der Menſchen Freud und Leid im Schwinden begriffen
fein? Das wäre jedenfalls tief bedauerlich, denn id) wüßte wirklich
nicht viele Dichter, die jo wundervoll zu predigen verftänden, wie
reich das Leben an Schönem, Preijenswertem ift, wenn man nur
im Haften und Jagen des Alltags den offenen Blick dafür behält.
Es ſcheint, daß bie geringe Schwierigkeit des plattdeutſchen Dialells
Was fol unfre Jugend leſen? a
mandjen abhält, ih an Friß Neuter zu machen. Nun, ich kann
jebem die Verficherung geben, daß er nad) den eriten 20-30 Seiten
in der mit reichlichen Morterflärungen verfehenen Voltsausgabe
feinen Reuter lieft wie jeden andern Schriftiteller und für die
Kleine Mühe des Sichhineinarbeitens taufendfah belohnt werden
wird! Daß die Jugend auch diefe geringe Arbeit ſcheut, ift eber
verftändlich, hier muß eben eintreten, wovon zum Schluß nod)
zu reden üt, das Zufammenlejen mit Erwadjenen.
Es gab eine Zeit und fie liegt nicht gar zu weit zurück,
wo es in zahlreihen Familien eine Feitftunde war, wenn der
Vater Abends beim trauten Schein der Lampe die Seinen um
ſich verfammelte und ihnen ein gutes Buch vortrug, oder die
Mutter an Sonntagnadhmittagen mit ihren Kindern ein klaſſiſches
Drama mit verteilten Nollen las. Ob das heute noch vorkommt?
Dan wird mir dagegen erwidern: Ja, die Verhäliniſſe find in
den legten 30 Jahren weſentlich andere geworde: Unter dem
Drud einer immer loftender werdenden Verufsarbeit, eines immer
heftiger werdenden Kanıpfes ums Dajein hat aud das Familien-
leben feiden müfen. Und wenn man einmal ein Mußejtündchen
bat, fo nimmt man die Zeitung ober leichte Unterhaltungsleltüre
vor, oder auch ein modernes Buch, nicht aber immer nur cin
foldhes, wie es der Jugend zukommt. Ich verfiche dieje Einwände
vollauf, aber für unfre Kinder müſſen wir Zeit übrig haben, fo
lange wir noch Zeit zu regelmäßigen Kartenpartien und Kaffee:
feänzhen finden. Die Zeiten find andere geworben. Ja, freitid)
find fie andere geworden, aber nicht bloß für uns, fondern auch
für unfre Kinder. Matthias jagt”: „Die beiten Schüler pflegen
Hauspilangen, feine Schulpflanzen zu fein.“ Sit das ſchon in
Deutſchland der Fall, jo gilt das in noch ungleich höherem Maße
bei uns. Denn es iſt fein Geheimnis, daß ein großer Teil der
Aufgaben, bie wir früher ruhig der Schule überlajien tonnten,
heute der Familie zufällt. Und bierzu gehört vielfad) auch die
Pflege der Haffischen Dichtung. Dieſe überläßt man freilid) heute
nur zu gerne den Leſeabenden der Schüler und den Leſekränzchen
der Schülerinnen. Nun, ich will gegen dieſelben nichts fagen,
2) lEs darf Hier aud) darauf hingemieſen werden, daß eine fehr grobe
Menge plattdeuticher Wörter ih) in unfrem baltifcen Deutic) Iebenvig erhalten
Haben, aljo uns ohnehin ganz geläufig find. Mihin muh gerade us das Ber:
Htänduig der Sprace Neuters vielfad) teichter fallen, als etwa einen Süd» oder
Mirteldeutichen. D- Ned]
2) Praftiiche Pidagogit,
. Aufl. Münden, 1903, S. 20.
E73 Was joll unfee Jugend leſen⸗
wenngleich das Leſen auf ſolchen Abenden oft nur ein ſchönes
Anshängeſchild für allerhand Geſelligkeit it. Nur eines erſcheint
mir dringend wünſchenswert, daß nämlic die Jugend mit jolden
Lefeibungen nicht zu früh anfange und daß bei der Wahl des
zu fejenden Erwachſene zu Nate gezogen würden, damit nicht, wie
ich das beilpielsweile erlebt habe, dreizchnjährige Zungen ihren
Leſeabend mit der „Braut von Diejfina” eröffneten, die fie natür-
lich nicht FR und fünfzehnjährige Jünglinge fid) bereits
an den „Fauſt“ machen, den fic wohl noch weniger verftanden
haben werben. Erſetzen fönnen derartige Veranftaltungen aber
das Zuſammenleſen mir Erwachſenen in feiner Weiſe. Schon
daß dieje durch beileres Leſen (und Übung macht aud) hier den
Dieifter) vorbildlich werden, wirft belebend; fodann wird mand)
erffärendes Wort das Verftändnis des Gelejenen fördern, ja ich
möchte jagen, die einfache Tatſache, daß aud die Eliern teil:
nehmen, gibt dem Gangen erft den redhten Schwung, eine höhere
Weihe. Und wenn dann etwas von der jchönen Begeifterung,
deren die Jugend noch fähig iſt, auch auf die Alten übergeht,
ſchaden wird's ihnen wahrlid) nicht, heute wo die Mafliter in
ifren Pradhteinbänden oft jahrzehntelang in ben Bücherſchränten
unbenugt zu jtehen pflegen. Übrigens brauden ja garnicht nur
die Klaſſiker geleſen zu werden, haben wir doch geichen, wie
mandes Buch, das Vater und Mutter ſelbſt nicht fennen werden,
ein prächtig Buch aud) für die Kinder ift. Und dann ein Weiteres.
Ich Habe ſchon vorhin darauf hingewiejen, wie die Znterefi
jelofig:
feit wfrer reiferen Jugend einer jeden Lektüre gegenüber in
beängitigendem Wachien begriffen üft. Nun, jollte es ein wirt:
fameres Mittel dagegen geben, als wenn gerade die Eltern den
anfangs vielleiht leiſe Widerſtrebenden allmählich in den Vann-
freis des wahrhaft Schönen ziehen. Es wird heute vielfad) über
eine frühe Entfremdung zwiſchen Eltern und Kindern, bejonders
den Sinaben geklagt. Wer it daran ſchuld? Die Kinder, die in
ihren Freiſtunden ſich ſelbſt überlaſſen bleiben und ihre eignen
Wege gehen dürfen, oder bie Eltern, die ihre Kinder zwar mit
en uͤnd Trinken, mit Kleidern und Schuhwerk, mit Schufgeid
and Geld für Konzert, Theater oder Zirkus veicjlid) verjorgen,
aber Zeit für fie wicht haben? Nun, ich follte meinen, gerade
ſolch gemeinſame Beicäftigung mit der Kunſt, das gemeinfame
Schöpfen aus dem Born des Schönen mu; Eltern ud Kinder
einander nahebringen, Die gemeinfame Yeltüre kann Veranlaſſung
zu mand enufler Ausſprache werden, fan dadurch mand aufe
Was foll unfre Jugend leſen? 2
tauchenden Schatten verſcheuchen, kann jtärkend, fördernd, klärend,
belebend die Bande der Familie fejter ſchmieden, und das, was
anfangs eine Lajt ſchien, wird denen zum Segen, die auf Erden
unjer Teuerſtes find.
Ich stehe am Schluß meiner Nusführungen. Vollkommen
bewußt bin id mir, daß das, was id) vorgebradht, nur jehr
Unvolljtändiges war, daß id) das Thema, das ich mir geſtellt, bei
meitem nicht erichöpft Habe und in einer Stunde wohl aud iaum
erichöpfen konnte. Ih habe auch oft Musgeiprochenes, viel felbit-
verjtändlih Erſcheinendes nur wiederhoft, id) werde bei einem
ober dem andern gewiß Widerſpruch gewedt haben, und ich werde
vielleicht mandem mandjes gefagt Haben, was ihm nicht angenehm
zu hören war. Ich bittte mir um der Sache willen biefes nicht
zu verargen. Eins aber Hoffe ich erreicht zu haben, nämlich eine
Frage zur Diskuſſion geftellt zu haben, die gerade bei unfrer
heutigen Jugenderziehung von der allerernftejten Bedeutung ill.
Und wenn dieſe Disfuffion auch nicht in öffentlicher Verſammlung
vor ſich geht, im Meinen und Hleiniten reife, das wünjchte id,
wird vielleicht weiter darüber geredet, wird mandes neue Material
hinzugetragen, wird mande Lüde, die ich gelaſſen, ausgefüllt,
manche Anficht geflärt werden. Um fold eine Ausſprache zu
erleichtern, faflen Sie mid) das, was ic) gelagt, in folgende 4 Cäbe
zulammenfaffen:
1) Der häuslichen Lektüre der Jugend iſt eine größere
Sorgfalt zuzuwenden, als dies im allgemeinen bei uns gejcieht.
2) Wir folfen unfre Kinder nichts leſen ober, wenn es ſich
um eine Theateraufführung handelt, fehen laifen, was wir
kennen, oder was uns nicht von vertranenswürdiger Seite als ji
die Jugend geeignet empfohlen
3) Für bie jüngeren Finder jtehen Vinfterfataloge zur Ver:
fügung, für die reifere Jugend fann als Grundfag gelten, daß
wir ihr nur bieten follen, was a. fünftleriich wertvoll, b. ſittlich
tein, €. frei von jeder Aterprobtes niederreißienden Tendenz iit.
4) Die gemeinjame Lektüre der Erwachſenen und der Kinder
ift dringend zu empfehlen.
Deine verehrten Damen und Herren! Ju wenigen Vlonaten
wird, fo weit bie deuiſche Zunge reicht, ein ernfter Gedenktag
begangen werben, der Tag, an dem vor 100 Jahren unjer großer
Schiller mn zu früh jein Auge für immer geſchloſſen bat. Auch
unter uns vüflet man fid bereits, diefen Tag würdig zu begehen
und damit den Beweis zu liefern, dab der große Tote trop all
2 Bas fol unſre Jugend leſen?
des modernen Sturmes und Dranges auch unter uns noch lebendig
it. Da wird mand) ſchöne Nede gehalten, da wird manch geifte
voller Toaſt geiprohen werben, da wird etwas wie Schwung in
die Profa unjres Lebens hineinfommen, wir alle werden wenigitens
auf Tage unter dem Zeichen des großen Dichters ftehen. Aber
wird das alles fein? Wird man fid) begnügen mit einer ſchuldigen
DVerbeugung vor dem gewaltigen Genie, wird das Ganze nur
einem Raufhe gleichen, der, flüchtig erzeugt, ebenfo flühtig ent:
weidyt? Hoffen wir, daß dem nicht fo jein wird. Wahrlid, es
täte not, daß aus ſolchen Tagen der Begeijterung etwas für unfer
Alltagsleben übrig bliebe, daß Schiller wieder wird, was er bei
den meijten aufgehört hat zu fein, einer unfrer Führer, Bildner,
Erzieher. Aber nicht bloß für uns, ſondern vor allem auch jür
unfre Jugend. Einen beiferen Jugenderzieher können wir uns
doch wahrlich nicht denfen, als den Dann, von dem jein großer
Freund gejagt hat:
Denn hinter ihm, im weſenloſen Scheine
2ag, was ung alle böndigt, das Gemeine.
Möchten uns die Scilfertage, die vor uns liegen, das
wieder einmal jo recht Mlar machen; möchten wir als getreue
Haushalter des uns anvertrauten wertvollten Gutes, und das
find unsre Kinder, an bieien arbeiten und fie mit
Pilfe unfrer herrlichen Literatur erziehen zu Bemunderern,
Bflegern, Nahahmern alles Wahren, Guten,
Schönen
Rafler und Leidenſchaft in J. R. R. Lenz’ Dichtung.
Von
Kari von Freymann.
9,
“a. meiner Wiege ftand das fchredliche Gericht Gottes!.
Wie maſſiv und laſiend fällt diejes Wort in die Wag-
(0 ſchale der Gedanfen, einem ſchweren Blode gleich. Die
Schale ſinkt zu Boden, der Zeiger der Wage weiſt ins Unmeßbare,
denn in biejen Worten it eine Weltanfchauung enthalten; ein
großartig herber Peſſimismus, wie ihn Hebbels Werke atmen.
Aus diefer Anfhauung heraus iſt menſchliches Leiden und Elend
fein Zufall, und obgleid) unfer Tun das Werk göltlicher Fügung
it, bleiben wir dennoch verantwortlich. Unſre Verfhuldung iſt
unausbleiblid, aber die innere Notwendigfeit unſres Handelns
vermag den Ernft bes Urteils, dem wir alle entgegen gehen, nicht
zu lindern. Wir werden geboren, wir blühen und gedeihen zum
Gericht.
Id) erinnere mich eines alten indiſchen Spruches, daß beur,
ber da lebt, Kummer und Corgen wachſen ohne fein Zutun,
naturgemäß und ftetig, wie das Gras auf der Wieſe. — Notwendig
iſt das Leben:
Kur der bleibende Himmel fennt,
Was er den ſchwachen Sierblichen gönnt,
UL ihr Glac erftohlen in Qualen;
Hinter Wollen jitternde Strahlen;
Was ihr Derz fid) geiteht und derhehlt,
Aules hat er ihnen zugegäßft;
Unerbittlich®. —
1) „Belenntnifie einer armen Seele.
Haudſchriftlich in P. T. Falds
genyarhiv. gl. Fald, Der Digger g. RR. Lenz in Yivland (Hinterihur 78),
&.5. — Eine Paralelitelle dazu im einem Briefe Lenz’ an Herder vom 23. Auquit
1775. (Mbgedr. bei Gruppe, Meinpold Lenz. Leben und Werke. Bein. U1.):
Dir jelbit ein Gyempel der Gerichte „Hottes
* „Zroft.” Gedichte von I. M. #. Lanz. Krög. von Weinhold (Bein.
1891). ©. 18.
26 after und Leidenſchaft in Sony’ Dichtung.
Unerbittlich iſt der Ratſchluß Gottes, unerbittlih iſt das
Gericht Gottes; was bleibt uns armen Dienfchen übrig? Tas
Leben bfeibt uns übrig. Tum und Leiden, Hoffen und Verzagen
bleiben uns übrig, und wenn das Leben ein Trauerfpiel ift, ift es
deshalb minder wert gelebt zu werden?
Es ift von Lenz geiagt worden, daß er mit viel Geſchick
luſtige Tragöbien ober ſchaurige Komödien zu dichten wußte, aber
er bichtete das Traueripiel des Lebens. Er konnte mit gutem
Recht feinen Stüden ein derſöhnliches Ende aufzwingen, denn der
endgültig tragiſche Schluß jedes Lebens verjtand ſich bei ihm von
jelbft. Nicht im Tode beruht ja die Tragif ber Menſchen, jondern
darin, daß wir mitten im Leben gebrochen werden, und bie
Trümmer unſres Wollens gleihgültig zu Grabe ichleppen. An
diefer Tragif aber fehlt es feiner der Lenzihen Figuren. Es it
ein ernjtes Leben, weldes Lenz uns ſchildert, ein Leben, in dem
ſich jede Verſchuldung rächt.
Die breitejte Grundlage des Lebens iſt der geſchlechtliche
Trieb, deſſen mannigfaftige Geftaltungen wir unter dem rät
haften Worte Liebe zuſammenſaſſen. Von ben zahlloſen in ei
ander hinübergreifenden Formen der Liebe konnen wir dod) zwei
Formen klar von einander ſcheiden. Wo der gejeplofe Trieb, das
Körperliche und eine gewiſſe Unbeſtimmtheit des Objekts vorwalten,
wird die Liebe zum Lafter, wo das reine Wejen der Liebe, das
geiftige Moment am chärfften hervortrit, wird die Liebe zur
Leidenſchaft. Lajter und Leidenschaft find die beiden Brennpunfte
der Liebe, das Zajter der intenfiojte körperliche Genuß, die Leiden:
Schaft die höchſie Steigerung des geiftigen. Den unentwirrbaren
Knoten aber, in weldem gemeiniglib Sinnlichkeit und Geiſt,
Triebe und Etreben verknüpft werden, durchſhlug Lenz, und
während er die Liebe befang, geftalieten fh unter feinen Händen
Saiter und Leidenſchaft in Ichaf geidiedenen Zügen. Während er
die Zeidenjchaft in den Simmel emporhob, jtieß er das Laſter hinab
zur Hölle. Er riß dem Lafter den gligernden Dedinantel von den
Schultern, an dem alle Zeit jo viele mit großem Fleiß gearbeitet
haben, und zeigte «6 nackt und häßlich; er befreite die Leidenſchaft
von dem Zuſatz des Gemeinen. Das Xafter it ſchwächlich und
ziellos, die Leidenſchaft gibt uns ein einiges Ziel, dem alle Kräfte
zugewandt find. Gleich Bleigewichten zicht uns das Laiter hinab
Laſter und Leideuſchaft in Lenz’ Dichtung. 2
in einen planlojen Vergnügungsfumpf, die leidenſchaftliche Liebe
gibt unjerm Geifte Flügel, wenn nur der Gegenjtand diejer Liebe
ſich hoch und rein genug über dem Wünfchenden emporhebt, Cine
Anſchauung, die uns die trefjlichite Deutung gibt, daß unglüdliche
Liebe den Menichen veredle.
Wir follen das Laſter verachten, wir jollen ımfer Fühlen
und Leben vertiefen, um Raum umd Kraft zu gewinnen zur Leiden
ichaft. In einem aber bleiben ſich Lajter und Leidenſchaft völlig
gleich), beide bedingen das Unglüd. — An unfrer Wiege fteht das
fchredttiche Gericht Bottes. Es wäre uns freilich) wohler zu Mute,
wenn wir berufen wären mit dem Schickſal zu vedten, wenn wir
abwehrend die Hand ausſtrecken Fönnten und rufen: Nühre ung
nicht an, gehe vorüber, denn bu biſt unverbient! Aber wir Fönnen
es nicht! Denn auch demjenigen, der Stumpfheit und Laſter ver-
achtend, mühlelig zum Lichte jtrebt, ja vornehmlich dem, der in
ranhem Sturmlauf zur Höhe emporzufleigen meint, kommt ein
Augenblid, in dem er begreift, warum aud) er gerichtet wird.
Es tommt die Stunde des Lebens, in der wir jprechens-
Von nun an di
Yon nun an finiter der Tag,
Dis Hinmels Tore verihlofien!
Wer iſt, der wicder eröffnen,
Bir wieder entfhfiehen fie mag“
Some in Trauer,
Hier ausgeiperret, verloren,
ist ber Verworfne und weint,
Und feunt im Hummel, auf Erden
Schäffiger nichts als ſich jelber,
Und ift im Himmel, auf Erden
Sein mmerföhnlihiter Feind. ..
Die Büſſe Voltaires trägt auf der Haren Stirn, in den
tiefliegenden, jehenden Augen den Stempel eines nimmermüben
Geiftes, um die feingeichnittenen Lippen aber fpielt ein jonderbares
Lächeln — ein vergnügtes Lächeln. Ein weiter Abftand ift zwiſchen
dieſem Geſicht und den zergrübelt müden Zügen eines Gerhard
Hauptmann, ein weiter Abitand gleichfalls zwiſchen jener Büſte
und dem begeiftert flammenden Prophetenfopf Schillers. Der Kopf
Voltaires iſt von einer harmlos jelbjtzufriedenen Yebensheiterteit
durchſchienen, und wenn. dieje geiftreichen Lippen ſich offnen jollten
nr: werlorene Augenblid." Lenz’ Gedichte.
28 Zafter und Leidenſchaft in Lang” Dichtung.
und bie geheimjten Gedanfen des fubtilen Kopfes verrieten, fo
ſprächen fie vielleicht mit leiſem Spotten: Ein Scäferfpiel ift das
Leben!
Erſt in der Revolution, die recht eigentlich mit dem Leben
Ernſt machte, verfhwindet der vergnügte Zug in den Geſichtern
der führenden Geiſter. Und dieje Vergnügtheit hatte ihre Kehr—
jeite. Die Aufflärung machte in aller Stilfe eine zierliche Reverenz
vor dem fhöngeiftigen Lajter, und das Spiel mit Liebe und Sinn:
lichteit war Mode unter den Leuten von Verftand. In Deutfch-
fand zum minbeften war es nicht ſchwer, in den flingenden Verſen
Wielands, Hinter den wehenden Schleiern feiner beenden Grazien,
den Altar zu erfennen, um den fie tanzten. An der Lebensans
ſchauung, welche diefe Verfe geboren, galt es die Kräfte zu mefjen,
ſollie der Tritt des Dichters wieder, wie einit, den Boden erfchütz
tern und jein Wort die Gemüter bewegen. Es ift ein beſchwer—
liches Geſchäft, die Menſchen aus dem trägen Schlummer behag-
licher Sinnlicleit emporzurätteln und den Ladenden über bie
Vlinderwertigfeit jeines Lachens aufzuklären; doch war dieje Auf:
gabe eben groß genug, um Lenz’ ganze Seele zu ſaſſen, „denn
Heffeln vorweg zu hauen war von Jugend auf jein hödjites Ver:
gnügen gemeien“!. Er war bereit ben Kampf mit ber laizio
harmlofen Weltanfhauung aufzunehmen, und ſollte diefer Kampf
Fo ausfichtslos fein, wie weiland die Rieſenkämpfe des Edlen
Don Quidotte. Yon Fälterer Überlegung aber als jener, erfannte
ev das Mißliche eines Kampfes gegen abjirafte Anfchauungen und
BWindmühlenflügel und wählte ji) einen Gegner von Fleiſch und
Blut. Sein ſatiriſch-literariſcher Angriff richtete ſich vor allem
und zuerſt gegen Wieland. In den Briefen an Lavater jchreibt
Lenz über die Wolken?: „Es iſt Gegengift, Lavater! Das mir
lang auf dem Kerzen gelegen und wo id mr auf Gelegenheit
gepaßt, es anzubringen. . ."
„Geradezu läßt das Publikum jeiner Cinnesart, feinem
Geſchmack nit gern widerjpreden, man muß einen Vorwand,
eine Zeidenfhaft brauden, jonft nimmt es nimmer Anteil. Und
meine Kunſt, meine Religion, mein Herz und meine Freude, alles
9) Dorersgloff, J. M. R. Lenz u. jeine Schriften (Baden 57). Briefe
an Savater, Nr. d, ©. 188.
2) Gbenda. Nr. 5, ©. 186.
Safter und Leibenfhaft in Sen’ Dichtung. £)
forbert mich jegt dazu auf — jept ansgelaffen, auf emig ausge
laſſen! Wer erfegt mir den Schaden? Wer erfegt ihn euch?...
Es muß einmal ein Ende haben oder wir arbeilen alle vergeblich
und bie Toren rufen laut: es iſt fein Gott!" .
„Ihr wollt die Wolfen Wieland zuididen? Liebe Freunde,
wo ift euer Verftand, wo it eure Freundichaft für mid? Was
hab ich mit Wieland zu Schaffen? Kennt ihe bie füßlächelnde
Schlange mit all ihren Rrümmungen noch nicht? Und Wieland,
der euch allen im Herzen Hohn fpricht, bie Achſeln über euch zuckt
und lächelt — mit dem wollt ihr Vertraulichkeiten machen, ſobald
es wider ihn geht. Liebe, fiebe Freunde, überlaft mid) wenigftens
mir allein. Unfre Feindſchaft ift jo ewig alt als bie Feindſchaft
bes Wafjers und Feuers, des Todes und bes Lebens, des Himmels
und ber Hölle... Wieland, der Menſch, wird einjt mein Freund
werden, aber Wieland, der Schriftiteller, d. h. der Philoſoph, der
Soerates — nie!” ! — Lenzs Angriff und Forderung treten uns
far entgegen in der Gegenüberitellung nachſtehender Zeilen aus
„Dienalt und Dopfus“ ? und ihres Wiberfpielo, der Poeliſchen
Malerei”.
Menalt: Nur Möpscen feid ihr doch ein wenig gu verſieci.
Wopfus: Das it das Heiligtum der Aunſt. Kur das ermedt
Pegierden in den Vaud), die meine Leſer brauchen,
Soll all mein Wit für fie, wie Kiccfafz nicht verraugen.
Da, da ſteci das Geheimnis. Nur geminft —
Wie kutelrs ihren Stolz, Einbildungsteaft, Inftintt,
Sich Sachen, die mein Vinſel nie fann mablen,
Selbit zu erichaffen, mir dann zu bezahlen.
20 ha Ga ha.
Poeliſche Malerei ?.
Ach. ihr jungen Rofen, du beblügmtes Gras,
Die fein Blick behauchte, jeid ihr nun jo blaß!
Weffen Aug’ und Herz nicht vein,
Kam der euer Maler fein?
Lenz haßte das Lajter, noch mehr aber die Veſchönigung des
Laſters, jene Schilderungsweife, die unfre Triebe als harmlos
teigvolles Vergnügen, als Folgen der Unmoral, als wohlgelungene
Überraidungen iu bem jtillen Einerlei des Lebens daritellen will.
1) Ebenda. Nr. 7, ©. 189.
>) „Menalt und Mopfus. Eine Elloge.“ (Sranff. u. Lpz. 177.) 8.10.
3) Dorer.ägloff. ©. Iat.
30 Lofter und Leldenſchaft in Lenz‘ Dichtung.
Er forberte als Grundbebingung bes Schaffens bie Neinheit des
Wollens und die Yerfhmähung des Lajsiven. Der poetiche Wert
des Laſciven iſt gering, fein Schaden aber unberechenbar. Unfer
Wünfhen und Handeln wird zum größten Teil bedingt durch ben
Standpunkt, welchen wir bem Laſier gegenüber einnehmen. Kein
Standpunkt aber wirft anjtedender, als die Verwechslung von
Lafter und Nomantif, benn dieſer Standpunkt ift banal. Die
Meinung, daß die heiteren Liebesſünden der Schmuck des Lebens
find, findet ftets Verehrer; flets — und die Toren rufen laut:
Es ift fein Gott!
Unter dem verichnörfelten Zierrat einer genußbejlifenen
Lebensanfhaunng verſchwimmen Tugend und Lafter zu Halbheit,
erfticht jedes ganze Wollen, verliert fich das Leben ino Puppenhafte.
An feinfühligen Teetiſch wird dus Leben zum fchalen Roman,
bar der Schalten und Schmerzen.
Ach. ſo machten's nit unfee Vorfahren,
Die ſchwer zu kaheln umd ülüdlier waren. -
rieblen ewig· piren ihwer,
Hatten das $
Weiter:
Bei end) wird die Yicbe fo geiſtlich betrieben,
into bit wird lonfus bei eurem Licben,
Ihr pfeift fteis feiner und höher hing,
und pfeift fie am Ende zum
Der fahte Wohlſtand darüber heit,
Wien Scorniteinfeger mit Muh bededt,
jorgfom abzuſchaben,
Und überläffet das Feuer den Sinaben . .
Das Feier den Anaben; die weilen Leute aber flattern den
Schmetterlingen glei) von Blume zu Blume, fie nippen und
genießen. Die Verdeutlichung dieſes ſchöngeiſtigen Cpiluräismus
zeigt die Figur Rothes im Waldbruder?:
„Höre mich, Herz, ich gelte ein wenig bei den Srauenzimmern,
und das bloß, weil id) leichtſinnig mit ihnen bin. Sobald id) in
die Hohen Empfindungen komme, iſt's aus mit uns, jie verftehen
mich nicht mehr, fo wenig als ich fie, unſre Liebesgeſchichtgen
n
und leer!
DE sc von Lenz. Hreg. von Sayfer. (üfrich 1
„Mat Höder.
3) Ebenda.
*) „Der Naldbruder.“ I, 5.0. 7. Brief. Gedr. bei Froißheim,
geng und Goethe (Stutig. Y1) im nhang.
Laſter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung. 31
haben ein Ende. Siehſt du, fo bin ich in einer beftänbigen
Unruhe, bie ſich endlich in Ruhe und Wolluſt auflöft und dann
mit einer reizenden Untreue wechſelt. So wälze ich mid) von
Vergnügen auf Vergnügen, und ba fommen mir beine Briefe
eben recht, unfern eingejchrumpften Gejellihaften Stoff zum Lachen
zu geben. Es ſticht alles jo ſchrecklich mit unfrer Art zu lieben ab.
. .. Mau nötigt mic) überall hin und ich bin überall willtommen,
meil ich mid) überall hinzupaſſen und ans allem Vorteil zu ziehen
weiß. Das legte muß aber durdaus fein, ſonſt geht das erite
nidt. . . -
„Ich war heute in einem Heinen Familienlonzert, das nun
vollfommen clend war und in dem du dich fehr übel würdeſt
befunden haben. ... Und weißt du womit ich mid) entſchädigte?
Die Tochter war ein freundlid, rofenwangigtes Mädcheu, das mid,
für jede Schmeichelei, für jede Herzlich-jalfche Lobeserhebung mit
einem fenrigen Blid begahlte, mir auch oft dafür die Hand und
wohl gar gegen ihr Herz brüdte, das hieß doch wahrlich gut
getauft. So gut würde dir's aud) werden, wenn du mir
folgtejt; wäre doch befjer, unter blühenden und glühenden Mädchen
in Scherz und Freude und Liebkoſungen ſich herummälzen, als
unter deinen glafirten Bäumen auf der gefrorenen Erde.”
Eine artige Eatire einer artigen Denkweiſe; aber das Leben
iſt nicht artig!
„Lauffer: In der ganzen heutigen vernünftigen Welt wird
fein Teufel mehr ſtatuiert.
Wenzesfaus: Darum wird auch die ganze heutige vernünftige
Welt zum Teufel fahren. Tut nicht Böſes, tut recht, und dann
fo braucht ihr die Teufel nicht zu ſcheuen !. ..“
Wer aber Böfes tut, der foll die Teufel fürdten. Mit
jitternder Hand ſchrieb Lenz die beiden glühenden Dramen des
Leſterd: den Hofmeifter und die Soldaten, Dramen eines Lafters,
welches nicht von Papier und Pappe, jondern von Fleiſch und
Blut, eines Lafters, das ſich rächt. In Nomanen und in den
Köpfen der fleinen Leute mögen Lajter und Größe, Yaller, Ent-
ihlofjenheit und Mul nah beieinander wohnen; hier heißt es
gemãß dem Augfpruche Nehaars: „Wer Rurage hat, der it zu
Va 9.
) „Der Hof zue. Leuz' Geſammelie
Yesg. von Tied. Bd. I.
3 Safter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung.
allen Laſtern fähig.” In ber wirklichen Melt aber iſt das Lafter-
nicht groß, ſondern niedrig, nicht ſchön, fondern häßlich, nicht flart,
ſondern fraftlos. „Wenn der Kopf leer iſt, und faul babei, und:
niemals iſt angeftrengt worden“ !, wenn der Baud) fatt ift und
ber Herzſchlag träge, ift dem Lajter dev Boden bereitet. In jolden:
Sphären jpielen die Romane des Lafters, die nur in ihren Folgen
erichütternd wirfen. Held und Sphäre des Hofmeiſters werben
verftänblich in den wenigen Zeilen (1. Akt, 3. Szene):
„Die Majorin: Sie willen, daß man heutzutage auf nichts
in der Welt fo ſehr ficht, als ob ein Meuſch ſich zu führen wiſſe:
Zauffer (dev Hofmeiter). Ich hoff’, Euer Gnaden werben
mit mir zufrieden fein. Wenigflens hab id in Leipzig feinen
Ball ausgelaffen, und wohl über die fünfzehn Tanzmeiſter in
meinem Leben gehabt.”
Auf diejer Grundlage entwicelt ſich die Schuld mit erſchre-
ckender Selbſtverſtändlichkeit. Der neue Hauslehrer, ber non allen
Seiten geflohen und gequält iſt, erwedt das Milleid der jungen
Tochter. Er verführt fie, faſt ohne es jelbft zu merfen, während
ihr Herz noch voll iſt von der Liebe zu ihrem Vetter. Wie Elend
und Schuld gereift find, flieht der Lehrer, die Tochter verläht
allein bas Elternhaus, und ihre Spur geht verloren. Aber die
Erinnerung an den Kummer Ihres Vaters nimmt fie mit ſich;
noch matt und erfchöpft von den überitandenen Schmerzen, macht
fie fi auf, um feine Verzeihung zu erflchen. (V. Akt, 4. und
5. Spene):
Gufthen (liegend, an einem Teich mit Geſträuch umgeben). Soll
ich denn hier fterben? — Mein Vater! mein Vater! gib mir die
Schuld nicht, daß du nicht Nachricht von mir bekömmſt. Ich hab
meine legten Kräfte angewandt — fie find erſchöpft. Sein Bild,
o fein Bild ftcht mir immer vor den Augen! Er ift tot, ja tot,
— und vor Gram um mid. — Sein Geift it mir dieje Nacht
erfchienen, mir Nachricht davon zu geben, mid zur Redenihaft
dafür zu fordern. —- Ic) komme, ja ic) komme.
Giafft ſich auf und wirft ſich in ben Teich.)
Major (von weitem. Geheimer Rat und Graf Wermuth begleiten ihm)
Hey! Hoh! da ging's in den Teich. Ein Weibsbild war's, und
3) Ebenda. IV. At, 3. Szene.
Laſter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung. 38
wenngleich nicht meine Tochter, doch aud) ein unglücklich Weibsbild.
— Nach, Berg! Das iſt der Weg zu Guſichen oder zur Hölle!
(Springt iht nad.)
Geb. Rat (fommt. Gott im Himmel! was jollen wir
anfangen?
Graf Wermut. Ich fann nidt ſchwimmen.
Geh. Nat. uf die andre Seite! — Mid deucht, er
haſchte das Mädchen. . . . Dort — dort Hinten im Gebüſch. —
Sehen Sie nicht? Nun treibt er den Teich mit ihr hinunter. —
Nah!
(Eine andre Seite des Teiches. Hinter der Szene Gefchrei:)
„Hülfe! 's ift meine Tochter! derment und all das Weiter!
Graf! reicht mir doch die Stange: daß Euch die ſchwere Not.”
(Major Berg trägt Guſtchen aufß Theater. Geheimer Hat und Graf folgen.)
Major. Da! (ebt fid nieder. Gcheimer Kat und Graf ſuchen fie
zu ermuntern). Verfluchtes Kind! habe id) das an dir erziehen
müſſen! (äuiet nieder bei ihr.) Guſtel! was fehlt dir? Halt Waſſer
eingefchluet? Bift noch mein Guftel? — Gottlofe Ranaille! Kättft
du mir nur ein Wort vorher davon gejagt; id; hätte dem Laufe
jungen einen Adelsbrief gefauft, da hättet ihr können zufammen
triechen. — Gott behüt! fo helft ihr doch; fie ift ja ohmmächtig
(Zpringt auf, ringt die Hände, Umhergehend. Wenn id) nur wüßt', wo
der malcbeite Chirurgus vom Dorf anzutreffen wäre? — Iſt fie
noch nicht wach?
Guſich en (mit ſchwachet Stimme). Mein Vater!
Major. Was verlangit du?
Guſtchen. Verzeihung.
Major (geht auf fie zw. Na, verzeih dir's ber Teufel, un
geratenes Kind. — Nein, (fmiet wieder bei ihr) fall nur micht hin
mein Buftel — mein Guftel! Ich verzeih dir; iſt alles vergeben
und vergefien. Gott weiß es: ich verzeih dir. —- Verzeih bu mir
nur: Ja, aber nun iſt nichts mehr zu ändern. ch habe dem
Yundsfott eine Kugel durch den Kopf geknallt.
Geh. Nat. Ich denke, wir tragen jie fort.
Major. Laßt fichen! Was geht fie Euch an? Iſt fi
doch Eure Toter nicht. Vefünmert Cuch um Euer Fleiid und.
Bein daheim. «Er nimmt fie auf die Arme.) Das Mädchen — id
jollte wohl wieder nad) dem Teiche mit dir — Lidwentt fie van den
Baltifge Monatsferift 1008, Heft 1.
34 Loſter und Leibenfcheft im Lenz’ Dichtung.
Teich zu) aber wir mollen nicht cher ſchwimmen, als bis mir’s
Schwimmen gelernt haben, mein’ ich. «Drüdt fie an fein Her.) —
O du mein einzig teuerfter Schag! Daß id) dich wieder in meinen
Armen tragen kann, gottlofe Kanaille!“ (Trägt fie for.) — —
Wir jehen: „mer eines Mannes Kind verlüberlicht, ber hat
ihn an feinem Leben angetaftet!.”
Die Grenze ber Lüberlichleit aber Tann nicht fcharf genug
gedacht werden, es genügt ber Wunſch.
„Prinz. Rechenſchaft, Redenihaft, blutige Rechenſchaft.
Nehmt euren Degen. . . .
Graf. Was habe ich getan? ...
Prinz. Euch der Glorie ber Schönheit unheilig genähert,
die Drachen und Ungeheuer in ehrerbietiger Entfernung würde
gehalten haben. Ihr feid mehr als ein Raubtier®. . . .*
Die Gefahr des Laſters liegt nicht allein in den äußeren
Wirkungen, jede unmoralifhe Handlung beeinflußt zugleich unfer
Denfen. „Wie der.erfte Schritt zum Lafter, jo mit Roſen beftreut
er auch fein mag, immer andre nad) fi zieht, fo ging es auch
hier. Berbins hohe Begriffe von ber Heiligfeit, aufgefparten
Gfüdfeligfeit, von dem Himmel bes Eheſtandes verſchwanden.
Die Augen fingen ihm wie unfern Eltern aufzugehen: er warb
vernünftig®. . ..“
Unter uns gejagt, wir find alle Kenner. Wenn wir in
offenen Stunden einander ins Auge fehen, wiſſen wir nur zu gut,
wie die Entzauberung der Welt vor fi geht. Wie der geichehene
Genuß unfre Wertihägung vergröbert, wie das unterdrüdte
Wünfchen, einen bitteren Nachgeſchmack hinterläßt, ein Gefühl der
fauren Trauben, welches das grobe Begehren mit ber Glorie bes
Unerreichten verffärt. Jeder Schritt ein Schritt talabwärts:
immer fleiner ber Mafftab, immer grauer die grünenben Bäume,
immer niebriger der Zlug ber Gebanfen, immer enger und felbfte
verftänblicher das Xeben, bis wir vernünftig find und ohne Illu—
fionen; bis der ewige Funke in unfren Aigen erlofchen ift und
unjer Laden breit und behaglid ſchallt, wie das Laden ber
Philiſter am Biertiſch. „Dies Gelädter über edlere und feinere
1) „Der neue enge.” II. Ati, 4. Szene. (Gef. Werle. Vd. 1)
2) Ebenda. 3. Spene.
%) „Zerbin od. die neuere Philofophie.” Geſ. Werle. Vd. III, ©. 150.
Safter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung. 35
DVergnügungen ift ber höchfte moralifche Werberb, und wenn id; fo
fagen darf, die höchfte Verzweiflung. Laht euch dadurd nicht irre
machen, glaubt nicht, daß bie Leute vergnügt find, wenn fie ihr
Zwergfell zum Laden eridüttern, fie fühlen den Abftand eures
Glüdes von dem ihrigen zu gut!. ...“
Niemals aber werden wir uns über den Pöbel erheben,
wenn nicht die Ziele uns von ber Maſſe ſcheiden. Das Leben ift
fein Wettlauf, in weldem bie größere Schnellfraft ber Beine ben
Ausihlag gibt, es ift ein Suchen unb Taften auf vielverſchlun⸗
genen Wegen, unb die Richtung des Wollens, bie Ziele ſcheiden
bie Leute. Wer nicht ftillichweigend den Sag unterfchreibt, tut
nicht Böfes, tut recht; wer nicht von vornherein darauf. verzichtet,
feinen Lebensdurft in den trüben Fluten des finnlihen Genufjes
äu löfchen, der trete feitab zur Mafe. Ihm gilt der Wahlipruch
der Denge?: „Et, trinkt und ſchlaft, euer Lohn iſt ſicher!“
Und ewig wird ihm zur Antwort eine Stimme aus reineren
Regionen ſchallen: „Euer Lohn ift Hein!” Die Stimme bes
Schickſals ift es, die aus ben Wolfen tönt, die Stimme bes
Richters, der ihn richtet nad) feinem Werte.
Im Frühling des Lebens gleiht die Seele des Menſchen
der aufgeworfenen Erbe, unaufpaltfam fteigen bie gägrenden Rräfte
aus der Tiefe empor, und wie das Feld der Saat, harrt bie
Seele der Befruchtung. In diefer Zeit der Gärung entfteht ber
Entſchluß, unjer Leben ganz zu geitalten, die hödjitdenfbare For—
derung an das Leben zu ftellen, nur nach dem einen vollen Lohn
des Lebens die Hand zu erheben; erhebt die Seele unter einer
heißen Lebensinbrunft, unter dem ftarfen Wollen, „das Leben nicht
zu laſſen, es bejelige uns denn?” Wir fühlen das Geheimnis
alles Seienden, wir fehen unfer Leben vom Dunkel bes Todes
rätfelhaft beſchattet, wir begreifen, daB ein unerflärlides Etwas
inmitten bes Ailtagsgetriebes dem Leben Einn und Gehalt ver:
leiht. Wir begreifen in gleicher Weife, dab in uns ein Dieer von
Leben verſchloſſen liegt, wir wollen ben Damm zerrreißen und bie
braujenden Wogen, bie in jungfräuliher Gewalt aus dem Herzen
1) „Die aleinen · Ebenda. Bd. III, &. 238.
%) „Pandaemonium gormanicum.“ Hrög. v. &. Schmidt. (rin. 90.)
38.
%) „Mills geihlices Lied." Gef. Werte. Vd. IM, &. 27.
8
Seite
36 Laſter und Leldenſchaft in Lenz’ Dichtung.
emporquelien, über unfrem Haupte zufammenfchlagen laſſen. Mir
fpüren es!.
Lieben, haffen, fürchten, jiltern,
Hoffen — zagen bis ins Marl,
Kann das Leben zwar verbitern,
Aber ohne ſie wär's Duarl. . . .
Scheuen Auges bliden wir um uns, es geht uns wie Zerbin:
„Er ftand wie ein Saul unter den Propheten, fobalb er in eine
Geſellſchaft von Damen trat. Er ſah lauter überirdiſche Weſen
außer ſeiner Sphäre in ihnen, für Die er, weil er fein einziges
ihrer Worte und Handlungen begriff noch einſah, eine jo tiefe
innerlihe Ehrfurcht fühlte, daß er bei jeder Antwort, die er ihnen
geben mußte, lieber auf fein Angefiht gefallen wäre und ange—
betet hätte *.”
Der Boben ift bereitet, die wache Seele harrt der Befruch—
tung, die Befruchtung unfrer Seele aber find Liebe umd Leiden—
Schaft. Das Bewußtſein unfer Schidfal aus der Yand einer Frau
zu empfangen, vertieft das Verhältnis von Dann und Weib.
Nicht ein Schmud des Lebens iſt die leidenſchaftliche Liebe, ſondern
fein Inhalt. Die Jdealifierung it die notwendige Folge biejes
Glaubens. Zugleich wird die Hoffnung, in reiner Leidenſchaft die
Erfüllung des Lebens zu finden, die Liebe vorfichtig und prüfend
geftalten, denn eine Täufhung im Yiebesipiele macht das Leben
zur Niete,
„Der Ge weiß fih aus einer ſolchen Verſchiebung jehr
geſchwind herauszufinden, an dem edlen Manne aber frißt fie mie
ein Wurm an der inneren Harmonie jeiner Aräfte?.”
Die Angft, daß ſich die Göttin des Herzens zur banalen
Sterblichen und das Gold der Liebe zu Stroh und Nice wandeln
fönnte, zwingt den erniten Menfchen den Trieb zu unterdrüden,
aber täglid) und ſtündlich wird er ſuchen in fiebernder Ungedulb,
je weiter der Zeiger des Lebens vorrüdt; und doch langſam und
vorfichtig, quallvoll vorfigtig, denn er fucht nicht Licht und Wärme,
er fucht die Flamme. Geine Kräfte find gebunden, und einem
Nachtwandler gleich geht er durchs Leben, bis ber Funke von
Menſch zu Menſch herüberfpringt:
2) „An das Herz." Lenz‘ ge s.ım.
2) „Berbin." Ma D.
9) Ghenda. ©. 154.
Laſter und Leidenſchaft in Lenz’ Dichtung. 3
Und feine hörte meine Bitte,
Verftand mein Sehnen, meine Bein,
Bir fiebensmert, mir mas du biſt zu fein. —
Jept Hab ich dich — und foll dich lafien —
€ möge mic) die Hölle faffen !!
Diefe Liebe entjpricht dem Ernſt des Suchens, fie iſt uns
wanbelbar und unverlierbar:
Und will mein Herz für andern Reiz entbrennen,
Und meine Liebe Freundfhaft nennen,
So ftürm die Leidenſchaft wie heut die Saro iht ab
Und jtoß mid, einen Schrit voraus ins Grabe
Die Leidenichaft verzehrt, fie ähmelt in michts ber fanjt-
gleitenden Liebe fühler Naturen. Die tropiid üppigen Gewächſe,
die fie in phantaftischer Fülle hervorbringt, find anders als Blumen
und Früchte, die in den wohlgepflegten Gärten des Bejiges wachien
— glühender, duftender, jinmfofer. Die Leidenfchaft zerreißt bie
Feſſeln der Gewohnheit, die Bande der Vernunft, die ftarken
Majchen bes täglichen Lebens, als wären es Epinngemwebe, und
die Worte der Leidenſchaft flingen mie Töne einer fremden Welt.
So flingen die Worte Strephon’s, der fern von der Heimat feiner
Liebe nachjagt.
Strephon: „Vetter, das jlille Land der Toten ift mir fo
fürchterlich und öde nicht, als mein Vaterland. Sogar im Traum,
wenn Wallıngen des Blutes mir vecht angjthafte Bilder vors
Geſicht bringen wollen, jo deucht mich's, ich fehe mein Vaterland?.”
Wer liebt, Hat nicht Heerd noch Heimat, nicht Sippe noch Freunds
ſchaft. Aber die Leidenſchaft, die ihm die Außenwelt vernichtet,
erfegt ihm die Freuden der menſchlichen Gefellichaft, und was
mehr iſt, auch die Schmerzen. Sie wert ihm in der eigenen
Bruft eine neue Welt, reicher und intenjiver, vielgejtaltener in
allen Empfindungen, als das reale Leben. Sein Gott ift die
Geliebte, jeine Kirche die Wildnis!
Verzeih den Kranz, den eines Wilden Hand
Um dein geheiligt Bildnis wand;
Hier, wo er unbefaunt der Welt,
In dunklen Wäldern, die ihm ihüten,
1) An W. Lenz’ Device, S. 190.
2) Übenda. ©. 107,
3) „Die Zreunde machen den Pfilofopher. Cine Yomövie.” (1778.) &. 24,
38 Laſter und Leidenfhaft in Lenz‘ Dichtung.
Im Tempel der Natur es heimlich aufgeftelt.
Und wenn er davor nieberfält,
Die Götter felbt auf ihren Flammenfigen
Für eiferfüghtig hält},
Die Kraft der. Leidenſchaft entipricht der Tiefe der Empfin-
dung und der Höhe bes geliebten Gegenjtandes. In reiner, voll-
blütiger Leidenſchaft wird der Gegenftand zum unerreichbaren
Ideal, die Leidenichaft zum nie gelöjchten Durft. Vor der Größe
des Gewollten. veritummt das Begehren. Nicht der Befig ber
Geliebten, fondern das Bewußtſein der Liebe, ber bloße Gedanke
ift Reichtum und Schickſal des Liebenden. Auf dieſer Grundlage
erhebt ſich die dramatiihe Phantafie „Der Engländer“, ein Stüd,
das grablinig und trogig in ben Simmel hineinragt, wie ber
Turm zu Babel. Cs iſt eine Monographie ber Leidenſchaft, bie
mit Liebesrajerei beginnt und ſich fortlaufend fteigert, ber erbitterte
verzweifelte Kampf einer großen Leidenidaft gegen die winzige
ſchleichende Vernunft, gegen die erbärmliche Lebensweisheit, gegen
Spott und adjfelzudende Teilnahme der Verfländigen. Wie Feuer
und Waſſer aufeinander treffen, fämpfen in diefem Stüde Leiben-
ſchaft und Altag. Der Engländer Robert ift ein Najender, der
feine Naferei verteidigt. Die feinen Vergnügungen follen jeinen
Geiſt zerftreuen, in Wolluft und Behagen foll feine Leidenſchaft
erftiden :
Lord Hamilton: „Wenn nur ein Mittel wäre, ihm den
Geſchmack an Wolluſt und Behaglichkeit beizubringen; er hat fie
noch nie gefojtet; und wenn das fo fortftürmt in feiner Seele,
tann er fie auch nie foften lernen?.“
Aber auch diejes äußerſte Mittel, welches Roberts Vater
anwendet, um feinen Sohn zur Vernunft zu bringen, zerbricht an
der fpontanen Kraft der Liebe. Mährend bie ſchöne Buhlerin
Fognina Nobert das Bilb der Geliebten vom Halje löfen will,
entreißt er ihr die Schere und durchfticht fich die Gurgel.
Robert: „Iſt's benn fo weit! (Breitet die Arme aus.) Ich fomme,
ich fomme! — Furgtbarites aller Welen, an deſſen Dafein ich jo
lange zweifelte, daß id) zu meinem Trojt leugnete, ich fühle did).
3) „An Henriette.” 2. Yenz’ Gedichte. S. 204.
3) „Der Engländer. Eine dramatifche Pantafie.“ (1777. III. At,
1. Sıene.
Laſter und Leidenjhaft in Lenz' Dichtung. 39
Du, der du meine Seele hierher gefegt! du, der fie wieder in feine
graufame Gewalt nimmt. Nur nicht verbiete, daß id) ihrer nicht
mehr denfen darf. Eine lange, furdtbare Ewigkeit ohne fie.
Sieh, wenn ich gefündigt Habe, ich will gern Strafe und Marter
dulden, Höllenqualen dulden, wie du fie mir auflegen magſt; mir
laß das Andenken an fie, fie mir verfüßen!.*
Auch unmittelbar an ber Schwelle des Todes weigert er ſich
bas Gedenken feiner Liebe preiszugeben. Der Beichtvater beugt
ſich über ihn?:
Beichtvater: „Unter Bedingungen! — Bedenken Sie, was Sie
verlangen — Bedingungen mit Ihrem Schöpfer? (Robert hält ihm
die Hand, er reicht ihm das Ohr noch einmal hin.) Daß er Ihnen erlaube,
Armiden nicht zu vergeijen? — O lieber Lord Robert! in den
legten Augenbliden! — Bebenten Sie, daß der Himmel Güter hat,
die Ihnen noch unbefannt jind; Güter, die die irdiſchen jo weit
übertreffen, als die Sonne das Licht der Kerzen übertrifft. Wollen
Sie denen entjagen, um einen Gegenitand, den Sie nicht mehr
befigen fönnen, zu Ihrer Marter auf ewig im Gedächtnis zu
behalten.
Robert (hebt das Bild in die Höhe und drüdt es ans Geſicht, mit
äußerfter Anftrengung Halb rögelnd): Armidal Armida! — Behaltet
euren Himmel für euch.“ (Er ftirbt.)
Die Flamme der Leidenjhaft reinigt unfer Weſen von den
Schlacken des Alltags, Schnörtel und Beiwerk ſchmelzen in ihrem
Tiegel, und der Menſch wird ganz. Ja, eine Flamme ift die
Leidenſchaft! Eine zitternde Flamme, aus Wille und Sehnen
geboren, und auf ihren brennenden Flügeln trägt fie die Seele
des Dienfchen empor zu den Gejtirnen.
Je höher der Flug, defto tiefer der Sturz, die Götter dulden
feine Genoſſen?. Die Leidenihaft, die uns über Zeit und Naum
hinwegfegt, die uns in ſiolzer Selbjtherrliteit an die Seite der
Sötter ftellt, iſt zugleich unſer Verderben. Das ſchwache Gefäß
vermag die Glut nicht zu ertragen. Darum lachen die Götter
der Toren, der ſich ihresgleichen dünft, nur weil er ganz iſt und
feine Furt mehr kennt. Sie fpotten und vernichten.
1) Ebenda. V. At, 1. Siene.
®) Ebenda.
3) Bgl. „Tantalıs.” Lenz' Gedichte. S. 21-13.
s0 Laſter und Leidenfhaft in Lenz’ Dichtung.
Es iſt aber befjer eine Furze Zeit fi) einen Gott zu bünfen,
als fein lebelang den Kopf zur Erde zu hängen. An unfrer
Wiege fteht das Ichredlihe Gericht Gottes. — Mögen wir biefem
Gericht verfallen, nicht weil wir zu Mein gedacht, ſondern weil wir
zu groß gewollt. Das entjpridt der Würde des Dienfchen.
Wenn es von Lenz fo häufig heißt, daß er ſich nicht zu
zãhmen wußte, jo jollten wir des Spruches gedenfen: Im Kriege
ſchießt man mit Abſicht auf Leute.
Gr wollte ſich nicht zäymen. Er vergötterte bie ſchrankenloſe
Leidenihaft. Und tatjählih war ihm das Leben Leidenichait,
und die Leidenfhaft fein Leben. Zugleich mit der Liebe zu
Henriette Waldner verſank aud) jein Dichten in Nacht:
Wenn die ſchöne Flamm' erlöſchet,
Die das al" gezanbert hat,
Bleiben Rauch und Brände ftchen
Don der koniglichen Stadt!.
Rauch und Brände! Aber noch glimmen unter der Ajche
die Kohlen; und wen es falt und froftig zu Mute ift in unfrer
ſchlaffen Zeit, der möge herantreten und ſich wärmen. Sein Blut
wird ſchneller wallen und jein Haupt ſich jtolzer heben, wie einjt
Lenz wird er verächtlich herabbliden auf dieje graufig Ipiehbürger-
lie Welt, er wird... .
Indeſſen, dem iſt nicht jo! Ich leje im Leffing: „Peterfens
Stimmen find gar bald verachtet und vergejjen worden. Denn
Peterjen war ein Schwärmer !*
So iſt eo.
1) Long’ Gedichte. ©. 120.
Bas du mid gelehrt.
— —
Lese iſt Bertandenfein,
Kraft und Stolz in Demut,
Ih ein füh Vorhandenfein
Bon Uneuh, Ruh und Wehmut —
Fit ein wortlos fühlend Sein,
Suchen und ſtets Finden,
Fit ein Herzichlag tief zu zwei'n,
It das Gleichempfinden —
Jit ein leidenſchaftlich Glück,
Nein und keufch Crglüh,
I ein Vorwärts, ein
Fit ein töftlich Mühen —
Iſt ein Jauchzen jel'ger Luft,
Fit ein froh Entjagen,
Kächelnd Dulden, ftil, bewunt,
Sofinung freudig Tragen —
Fit ein Stab in bittrer Not,
Iumergrün auf Erden,
Fit ein Wachfen bis zum Tod,
Fit ein Neiferwerden —
Iit ein Heil'ger Hoffnungsreit
Tränenleicht im Herzen,
It ein Glaube jeljenfeit
Über Grab und Schmerzen.
©. ©.
IR
Necrologium balticum
1904.*
— — ⸗
Asthe⸗, Edmund Aug. Beſuchte das Rig . Poldtechnitum, Frat. Balt. War
Tiretior der Stahlwerle in Dftrowiece, in den Iepten Jahren Jugenieurs
Ehemiter in Hige. +8. (21.) Mai in Mentone
Alunan, Hein, * eurfalgenau in 2., 4/60 Gymn. zu Mitan, ftub.
Der. u. Raturroif. SM/6L in Dorpat (7017), dann in Petersburg u. Nostau.
it 73 Buchhändler in Mit Hat ſich als Verleger vieler fett. Buͤcher,
. and) als Überfeger um die leitiſche Literatur verdient gemacht. F 14. Dez.
in Bitan.
Anders, Friedrich. Dr. med., *69 in 2., ſtud. feit 88 an der andesuniverfität
(13,685), jeir 95 pratt. Xrzt in Niga. f daielbit 23. Nov.
v. Andrene, Nitolai, *23 in Poltawa, ſtud. Dec. 43/9 (4456). Seit 54
Veiger von Müblenpof in 8. + 6. gebr. in D.
Armitstead, John Willem, chem. Groffaufmann u. Juduitzieller. *20. Non
in Nige, übernagm mit feinem Bruder James 48 die Firma Witeli u.
begründete Ende ber 5ökr Jafte mit demielben eine eigene Sägemühle und
Parquetfabrit; Mitgründer u. Direktor der X..C. Nig. Bapierfabriten u. der
Dünaburg-Wirebster Eifenbapn. Seit 84 Bejlyer des Gutes Hindfeln in K.
425. Juli in Dubbeln,
Auning, Otto, stud. jur. Liv., #23, Sept. 81, } 27. Sept. in D.
Angeneeh, Andreas, Dr. med., fet einigen Jafren Sanbarzt in Appriten und
Umgegend in K, 28 I. a, } 238. Mai.
v. Bad, Eduard. 733. 18. Jan. in Riga.
Bachmann, Woldemar, Oberfehrer, *38 zu Cremon · Paſt. Albanusſche Private
fgule in Engelardshof, Birfenzub; ftud. Pyil. u. Theol. 56/60 (6582. Lir.).
xehrer der deutichen Sprache und feit 81 Inipehiorgehülfe an der Reirifehule
in Petersburg. 7 20. Sehr.
Baelge, Arıhur, Dr. med., *51 in Reval; Neo. Oymn., ſtad, 70/5 (8703.
Eston.), dann in Wien. "Seit 70 pralt. Arzt in Neval. "+ 26. Mpril in Riga,
Bahder, Joh. Friede., Stadiiefretär zu Goldingen. + 16. Juli in Riga.
Bahfad, Grit, Goldſchmiedemeiſter in Riga. F 20. Aug.
*) Die im Netrologium angeführten Daten find in möglichit abgefürpter
Geitaft wiedergegeben, fomeit fie im Album acad. zugänglich find. Die in
Klammern ftehende Zahl üt die beir. Nummer des Alb, acad. Das * bedeutet:
geboren. zivland, &.= Ejtland, 8. Kurland. D.= die Univerftäis
tadt. er Sterbcort iit nur bei denen angegeben, Die nicht an ihrem Ichten
MWohnorte ftarben. Das Jahrhundert ift bei den Zahresgaflen nicht angegeben.
Necrologium balticum 1804. 43
Baltzer, Friedrich, chem. Telegrapfendef. 55 I. + 22. Febr. in Rige.
Baumann, Rorl, betannter Tettifcher Romponift, * 20. April 35 in Heinzichehof
bei Wilfengof (2); Lemfalfe Rreisihule, Barodiallehrerieminar in Walt;
56 Hauslehrer; feit 58 Schrer in Petersburg (Reform. Kirgenfcule, Smolna:
Inftitut). Lebte nad) feiner Benjionierung in Lemſal. Er ift der Romponiit
des Iett. Rationalliedes „Deews ſwehti Latıviju“ u. and. ſehr populärer Lieder.
728. Do. in Lemial.
Baumdad, Nitolai, Dr. med. StR., * 31 in R., ſtud. 52/57 (5867). Marine
arzt, zulegt in Aronftabt. } 4. Mai in Mitau.
Beßrmann, Theodor, *36 in Hipa, ftud. 01/8 (7392), Cand. chem. Seit 68
techn. Direhtor der Zementfabril in Poberon bei Riga, der erften Rublande.
e — Jahire icher Bereine, Begründer des Nig. Yadtklubs.
+17.
Berg, Hugo, ee. med., +65 zu Nerft in K.; Birtenruh und Gymn. zu D.;
ftun. " 2 (12,955. Cur.). Sanbarıl in &., ftub. dann im Yuslande; feit
75 prakt. Yrpt in Wige. + 13. April.
BeAborn, Wilhelm Ferdinand, Bughändler. *8. (20.) Dft. 23 in Hamburg,
erlernte ben Buchhandel bei Hofmann u. Campe in feiner Vaterftadt; 47
Gehilfe, dann 50 Aſſoſſis von Karow in D.; übernahm 57 die Reyherſche
Buczhandlung in Dita, die er endlich nad) Lbjähriger Lätigleit feinem Nach:
folger I. Waffermann übergab. + 6 Febr. in Mitau.
van Beuningen, Ritolai, Fähnrich im 9. fibir. Kofatenrcgiment, fiel 20. Aug.
in der Schlagst bei Ciaojang während des Nüdzuges des Generals Orlom
bei Jantai.
Bittendinder, Karl Johann, Arrendator des Rronsgutes Gegen in K. f 17. Juli.
tee, Alegander, *0 zu ojel in 2.; Privatanitalt in Birtenrub; ftud. Med.
3/80 (10,352. Liv.); 83/4 Borftafademie zu Iharand; 84,90 Oberförfter.
Bewirtidafieie feibem das viterlihe Erbgut Namelshof bei Wenden.
+ daielbft 8. Cept.
Bruhn Karl, Dr. med., *12 in Mitau; Gymm. zu Mitau, ſtud. 31/5 (2009.
. 37/92 rzt in Ditau, 40/74 aud Brunnenarzt in Balbohn. 1860
Een tglied der Kurl. Gef. f. Lit. u. Kunſt. + 7. Di. in Mitau.
v. Bodisco, ——, Nittmeifter des DL. Tſchernigow. Drag.-Reg. + am Typhus
in der Mandihurei.
Boeuke, Ernſt. weil. Bevoflmächtigter der gefl. Kreutſchen Güter im Gouvern.
Kowno. + 12. Aug. in Liba.
Boetiher, Bernfard, Dr. med, *70 in D, Cohn des Prof. Arthur %.;
Kollmannjdjes Gymn., ftud. 88/94 (13,777. Cur.). Sieh jid nad, weiteren
55 in Wagdeburg, deidzig u. Wien als Argt in der Wateritabt nieder.
ab fi mit ber von Wach ‚Zoege_ geleiteten Kolonne der Kalferin Maria
af den Rriegsfauplat, von wo er überaus Ichenbig gefrichene Kriegebriefe
— — + am
an die „Düna-3ig.” jandte, die dann auch in Bud
Typus in Jmanpo in der Mandfchurei.
v. Boelticer, Igeodor Phil, feit 50 Befiper von Spirgen in A. 74 J. u.
+ 14. Juli in Spirgen.
». Bod, Wilßelm, Dr. MER, *24 zu Bornhuſen in 2. ſtud. Med. 48/8
(4531), Dr. med. rzt im Etantöbienit in verichied. Stellungen, 57/80 in
Warfau. Nahm 80 feinen Mfaied und lich fih in D. nicbe, mar. hier
räjes der jtädtifchen gegen. Feueraiieturang.dei. und Y1/S Stadthaupt.
420. April,
v. Braunfhwelg, Morig, Dr. med., *10. Zebr. 70 zu Riga; Stadtgym.;
ftud. 911/931 in D., dann an der milit..med. Mad. in Petersburg. YHahın
99 teil an der Belärmpfung der Tpphusepidemie im „Gomv. Wiatta. Kurze
4 Neerologium balticam 1904.
Zeit Drdinator eines Dragonerregiments, fobann Marincarzt, zuerft in Kran
dt, dann in Wladimoftot. ‚fiel auf dem Kreuzer „Rurit” 1. Aug. in der
Seejtpladjt bei fan.
Brieger, Heine. Adolf, Ült. der Rig. St. Johannisgifde, Begründer der Seifen:
und Parfümeriefabrit. Stabtperorbueter; 3. Iang Vermaltungsglied und
Gef. gegen). Verfigerung gegen Feuer; Glied der
m des Rig. Oppotbefenvereins. 8 718. Mai.
v. d. Brinden, Mar Bn., *59 in S. itud. Jur. 78/8: (0,08), Cand.
83/6 Selr. des furl, Oberhofgericht. Befiyer von Neumaden in A., bis 93
Kurator des Stifisgus Brind-Pedwahlen. + 19. Dei in Mitau.
v. Budderg, Leonhard Bn., Majoratsherr auf Garfen-Grüggaln-Baltenjee in R.
#20. Jan. 61, #23. Juli zu Garben.
Earor, Anton Agel, Kaufmann, *49 in Dänemark, fam in den TVer J.
nach Nige, feit 82 bei der Zirma Hehmfing u. Grimm, deren Mitteilhaber
feit 96. Direktor der Huff.sbalt. Dampficiftairt-Gef. u. ber Nig. Schnells
damıpfer-Gej., bie auf jeine Jnitiatioe begründet wurden. Cr war audı der
weitblidende Schöpfer einer der größten Unternehmungen des ig. Handels,
des Erports fibiriiher Butter im Tranjitverfehr Aurgan · London. + 18. Juni
im Riga.
Eonradi, Moris, Paltor emer., *21 zu Sallgaln in 8. Gymn. zu Mita,
ftub. 41/5 (4177). Yausfehrer in Petersburg. 47 Bajtor-Adj. in Ambote
Sept. 48 Garde-Dio.rfrediger und ®. an der Jclusfiesie in Weersh., 3002
1eit. Preb. an der Anmenkirce in Mita. * dajelbft 27. Mai.
v. Cude, Yitoloi, Morineleumant. *76. Adjutant des Grobfürten Kirill.
5 anf dem Panzer „Betropawiomst” 31. März vor Port Yrifur.
Packer, Nitolai, ebem. Lehrer an der Nig. ftäotifchen Johannisihufe. 63 g.
425. Mai in Slige.
Datzt, Chriftian Jod., *39 im Neval, jchwed. Abitammung; Rev. Gpmn.; wurde
mann. Gründer und 30%. Yeiter der Navigationsihule zu Yaynaic,
feit_ 98 Tireftor der Navig:Schule in Libau, die unter ihm bedeutenden
Wufiswung wahm. Berf. eines Schrbuche für RavigsSchulen, des eriten
im ruf. Neid. 727. Muguit im Cibau.
Danziger, Alexander, Befiger einer 00 von ihm
der er zulegt über 200 Mebeiter beidrftigte. 57 3. F 25. Sept. in Berlin.
v. Dedn, A.W., Kapitän im 2. Dageitanicen Regiment. + 14. Oft. in Charbin.
©. Deutfd, Woldemar, *37, jtub. Med. mir Unterbredungen 8/09 (920).
Braft. Aızt in Moslau. F daielbit 20. Nov.
v. Dilimann, Woldemar, Dr. med., #43 in %, ftub. 91/6 (7313). Praft,
Arzt in Peteröburg, dafelbit 20. Juli.
Pobdert, Julius, MSt in 2., ftub. Jı 11), Cand. Sett.
des en.cuth. Gen.Konfiteriums, auch des Peiriefirchenrats in Petersburg.
+ 31. Mal in Dubbeln.
Daunten, Paul Graf, *33, jtud. Kam. 52/5 Belleidere, verichiedene
plomatifche Poften. Gutsbefiger in Livland, , Zoegenhof, Taubenhof
deit OL) und feit H4 Moajeratshere auf Schloh Karkis. F 20. Muguft in
Zoegenhof
Engelmann, Guflan Adolf, ehem. Buchhändler. 65 J. f20. Cft. in Riga.
Fabrdah, Joh. Georg, *1. Oft. u. St. 26 im Heidelberg; feit 49 in Nige,
06 Doctmanı, jeit 03 Ültejter Greder Gilde; Generalagent des Auffifeen
ogd in ige. | 28. Jan. in Ni
Fat, Yo. Eduard. Dr. med. BWEW, *12 in Nwal; Rev. Gymn., ſud
aaal n.; war der ültefte noch lebende Philifler der Cit.). Arzt
im Innern des Neis; DSB citl. Mediyinalinipehtor- in
Keval, wo er feitdem als Privatmann Iebte. + &. März.
begräudsten Dampffärberei, in
Necrologium balticum 1904. »
Fed, Karl, *53 in E.; Nevaler Gymn., ftub. Meb. 74,9 (9540). Wurde
Gefchäftsführer der eitl, Couv.-Nepierung, jeit 85 einige Jahre elle. Redaticur
der „Ejtt. Goun.«Zig.” Lcbte dann als Privanmann, Iiterarifch tätig, in Reval.
$ dajelbft 21. Non.
v. Ferfen, Hermann Bn., Oberit. 713. F im Auguſt in Shitomi
Diedfer, Alfred, Abteilungschef des furfänd. Kameraihofs. 88 I. F 4 Dez.
in Bitau.
v. Firds, Olga Baroncfie, *46, in weiten reifen Aurfands, namentlich in
Mita befamn duch ihr auerordenttich«s und Gingebendes Mieen auf dem
Sebiet der Mohfiätigleit, + 14. Dez. in Mitan.
v. Firds, Emil Vn. feil 51 Exbhere auf Strasden in Kur. F 1. April 'n
Sirasden.
welin, Karl, *36 in Sedemannshoi (%.); Privatgpmn. in Birfenu
Bil. u. Thcol. 57/09 mit mehrjät. Unterbrechung (0707. Liv.); Vanstel
in Uhla, 09/75 Lehrer an den Kreisichulen in Wenden und
Areisiculinfpektor und 70/92 Leiter einer Privattöchterichule in J
jeitdem als Vorſteher einer Anabenpenfion und Lehrer in Mi
in Walt.
Srederaing. Alerandet.
96/92 Befiger der &
bei Berlin. + dafelbit
Dremmert, Sugo, Dr. nied., geb. ca. 32 in E, Red. Öym., ſtud. in Mostan,
wo cr eimer längft nicht mehr beitehenden deutfchen Stubentenforporation
angehörte. Dann praft. Arzı in Petersburg. F dafelbft 4. Juni.
Fregmann, Ostar, yraft. Arzt, © #0, ftud. fit SS (18T). +2. Non. in di
Freymuff, Ewald, Altern. Gr. Gilt 5. Apr. 10 in Hapfal, wurde Kaufmann
in D., wo cr Anfang der 70er 3. cin eigenes Manufafturgeicäft begründete;
über 30 I. Sliermann Or. Gilde, Stadiverordneier; viele Jahre Tirclior der
„Dorpater Bau“, Hocwcrdient duzd) jene unermädiche Arbeit anf fommue
mafem Gebiet. + 8. Sept.
Fromm, Johann Hein, *14. Aug. 12 in Thula in E. Areigſcuule in Reoct.
32 Houstehrer, 33/86 Schrer der Nrong.@lcmentarichule in Niga, Murte
mach Ummandlung der Anitalt in eine rufilcde Warochialigule mit 90 Ai.
Benfion entlafen. In ungewögnligen Mahe philanthropiüch tätig, folanze
feine Kräfte nur vordiehten. Ehrenmitglicd_ der lit.praft, Bürgerverb., de
Vereins gegen den Venel und des Diafoniffenvereins. + 8. April.
Frand, Georg Bn. ; 22. Sept. in Riga
Haeldgens, Narl, #62 zu Stomerjee in $. Virkenruhn jtud. 82/R (11,470.
Liv.) Cand. Sandirt in %., feit HB Obervermalter von Aojel und
Treppenof. ; 14. April bei Treppenhof. Berunglüdte durch einen Sturz
mit dem Wagen.
». Gernet, Nilslai, #4. Dez. in Aval.
Gaite, Andecas, ſtud. Maid. SO ff. (11,048), Cand. itarbeiter der „Norblivt,
39” 433. +4. Jam. in D.
». Hersborf, Jerdinand, } 8. März in Petersburg.
Hrgenfoßn, Wilelm, Dr. med. WSH., °19 in D. .
Liv.). Warinearzt in verich. Stellungen, fell 72 Medizinaldief der Schwarze
meerplotte in Nifolajem. Rahm SI den Abfhicd und Ichie jeitbeu in Neval.
+10. April.
Hoch, Hugo, SR. prakt. Arzt, *30 in Rige
0. Fr. Big). Arzt in Mosfau,
31. Huguil
El
PHarmazeut, ftud. 82/4 (7457),
a. Cehte feitbem in Gr. Lichterfelde
tig. Goup. Gymn. find. 50/64
dein in Pererdburg. F Dufelbit
4 Necrologlum haltieum 1904:
v. Gohr, Oster Milh., GehR. 69 I. +3. Auguit in Reval.
Gräßner, Ferdinand, Dr. med., *54 in Meifenftein; Nev. Domfcule, ftub.
74/81 (0576. Eston.), dann im Ausland. rpt in Mostau, Peteräburg
(85/91), Jalto, Cannes. + 23. Juli in Odeffa.
Groß, Aug. Wilhelm Fr., 73-03 Beamter der Rigafen Steuerverwaltung.
Kol. 73 3. FB. Dog. in Rige,
Gueride, Hermann, Dr. phil., ehem. Lehrer an der Staditöchterſchule zu Riga.
+ dafelbit 24. Fehr.
v. Gutan, Mar, Chemiker, * in Leal. ftud. in Deuiſchland. war in veric.
Sabrifen Südruplands tätig, dann Direktor der Shutomfehen Bafelinfabrif
in Petersburg; feit 98 and Direftorfand. der Topograpfie-ftiengel. „Herold“.
+22. Yuguft in cal.
v. Haßn-Berfemünde, Eduard Br., MSIR., *47, Gymn. zu Mita, ftub. ur.
in Mostau; Afeffor des Orodinfeien Nreisgericts, dann 30 Jahre lang
Beivensricter deB Shaulenlien Sacfes. Cirenfriebensrichter De® Milnu
Bausteichen Areifes. Seit di Pireftionsrot des furlänbifchen Arcditoereins.
+ 15. Roo. in Mitau.
v. Hahn, Genft Leonh. Aler. 59 I. +2. Juli in Ren-Loewel auf Defel.
v. Sahn, Gugen, Bn., Oberftleutn. der Artillerie 0.2. } 30. Non. in Riga.
v. Hahn, Rudolf, Alzifebeamter, Alt. Gehilfe des Bepirköinfpefiors in Riga.
54 3. +28. Ron. in Riga.
v. Handtwig, Rob. Magnus. *27. März 30. + 20. Jan. in Reval,
v. Sarten, Eduard, Gen.-Mojor. } 29. April, beerd. in Reval.
SKartmann, Wilhelm Ludırig, *24 in D., ftub. Phil. u. Theof. 44/8 (4659),
Dorp. Vogteigeriitsardivar BIS 86. Lchte verabigicbet in D. + 25. Mär).
Safenbnfä, Baker, *34 In C:; Pharm, fu. 57/9 (9760). Penifor in
Reval. +23. DA. in Dxel.
Safenjäger, Nobert, Yaflr erier., #84 zu Rofenhof in 2.; Rig. Gouo.-Cymn.;
‚Hauslefrer; ftud. 55/8 (6304. Fr. Rig.); feit 60 Infpeftor, 86/70 Direttor
des Wiebemannfchen Gymnafiums in Petersburg, Geitbem dajelbft Paftor,
75 biß Sept. 1900 an der Katharinenfirde. lich auch) als Emer. gemein.
wi tätig, fo noch zufegt alß Sefe. des enang. Feldlazareits. Leitele aud)
die elehing der Kinder des 1002 } Prinzen Hibert von Sadhfen-Yltenburg.
v. Are Ludwig. *43 in BreftsLitomst, ftub. 65/7 Mineral. u. Pol. Det.
(7979 [Liv.)); feit 78 Direktor der balt. Bahn-Gefelcaft, Hoff. + P. De.
in Petersburg.
Seariß, Gmanusl, #43 in &, Bann. fi, OB/T2, TAT (8000). Prooior
Seit 81 Apotheker in Salismünde. + dafelbit 2. Zuli.
v. Heyking, Paul Frhr, Kapitän im 11. Offibir. Schügenregiment. 38 3.
Fiel in Bort Artur.
v. Segfing, Alfech Dn., GehR., +18 in R.; Schulpforta; ftud. in Berlin
und 33/8 in Petersburg Jur. Ging 37 als Cuperfargo eines Schiffes der
Tufl.samerif. Kompagnie an die Nordweitfüfte Nord-Ameritas; 39 Glich ber
Kommilfion zur Überführung der Kronsgüter ins Domänenreffort in Mita;
Regierung für die ruff. Xbteilung; 44 ftellvertr.
iot. Gouo.Profureur; 58/85 Lige-Counerncur in N. Sebte jeitdem in Riga.
+ 15. Hop.
Stefhdanfen, Zconhard, Dr. med., +58 in E., ſtud. 70/84 (0989). Seit ca.
86 Arzt in Mefenberg. F 7. Febr.
Shen, Salomon, feit 52 Rabbiner in Golbingen, auch als Gelehrter tätig.
3 +4 Mai in Goldingen.
Necrologium baltieum 1904. 4
Soebtbaum, Konftantin, Profeffor Dr., *49 in Et ftub. Geſch. 08/0 (8305),
dann bis 71 in Göttingen. 71/88 Bearb. des” Hanfifdien Urfundenbud,
75/80 Privatbogent in Göttingen, 80 Stadiarhivar in Köln, fpäter Prof.
in Giehen. Hervorragender Kenner der hanfeatifchen Gefchichte und viel fach
verbient auch um bie baftifche Gefchichtsforijung. f 20. April (3. Mai).
Hoffmann, Hugo, Bropft, *48 bei A. St.-Marien in C.; Ren. Cymn.; ftub.
Zheol. 63/8 (7723. Eston.). Ceit 70 alter zu St. Jatobi in E, feit di
Propft in Mierland. + 15. Yan, wurde ermordet.
v. Soft, Hermann, Prof. Dr., *41 in Fellin, Scmibtfche Anftalt, ſtud. bef.
Seich. 80/3 (7277. Liv.), dann im Ausland. 67/72 Journalift in Rewm-ort.
72 Prof. in Straßburg, feit 74 in Freiburg i. ©. SD forrelp. Miglied
der preuß. Mad. der Mifenfeh. Befannt burd fine Stubien über amerit.
Geicichte. + 20. (7.) Yan
v. Hoff, Ialentin, Dr.med., *39 in Sellin; Schmidiſche Anftalt; ftub. 57/63
6651. Liv.), dann in Wien und Berlin. Seit 63 praft. Art in Kige,
Speyialift für Nervenkeiltunde. Leiter der 84 von ihm begründeten Nerven»
Beifanftalt, der erften im ruff. Reich. Überaus rege beteifigt an gemeinnüßiger
Tommunaler Arbeit; Lange Jahre Glied des engeren Arcijes der liter.,prati.
Dürgerverbindung, 'endlid) deren Ehrenmitglied; Glied der jtädt. Saniräis
Tommiflion und des Direftoriu der Ferienfolonien. War auch an den
Arbeiten für die Gründung der Kol. Zentralitrenanftalt beiciligt. Literariich
tätig. + 24. Juni (7. Juli) zu Scis in Tirol.
- Höpher, Heinrich Eduard, Alt. Or. Gilde, in Mitau; Petersb. Kommerz:
fhule; begründete 62 in Riga die Firma $. Döpter u. Ko.; war 30 9. lang
Vorfteger der Johannisticche, 25 I. Tirettor des ig. Cab, u. Wafferwerts,
12 3. Direltor ber Disfontobant. F 24. Sept. in Niga.
v. Hufen, Auguft, chem. (Tepter) Würgermeifter von Neval, *7 oo. 28 in
Reval; Domfcule; tub. Zur. in Petersburg; dvofat dajelbft, zog in den
60er 3. nad) Neval, 69 Ratsherr, 78 Stadtrat, dann Bürgermeifter; ficdelte
85 nach Oray über. + dafelbit d. Juli a. St. £
v. Igeffiroem, Julie, Gräfin, geb. v. Baumgarten, feit 70 btiffin bes abligen
Fräuleinftifts in Felin. *6. Oft. 27, } 3. Dez. zu Ballin,
v. ung - Stiling, Clife, #9. Auguit 29 in Nige, Tochter des Gonw.:Pofts
weiters Sriedr. v. JSt. und Entelin des befannten Schrifitelers Hcineic,
Jung-Stiling. Pilbete in Dresden ihr Zeichentalent aus, unterrichtele dann
lange an ver. Sig, Mäddenfäulen und begründete 73 cine eigene Helene
fihule, daneben unermüblich im Jungfrauenverein wirtend, wo fie feit de dem
Vorftande der Gewerbefejule präfidierte. + 10. Juli in Peterstapelle.
dürgenfoßn, Bruno, *58 zu Roblhaufen in 2. Dorp. Gynn., ftud. Hool. u.
Med. 77/83 (10,204. Liv). Ging 84 nad Amerita; beiuchte die Urztichule
in Chicago. Seit 87 Arzt in Pirtsville, feit 90 in Manama (Wisconjin).
Mitglied derſch. wiſſenſch. Vereine. + 19. (6.) Dez.
Anebfdramdt, Karl Aug. Walter. 22 9. #22. März in Cholm.
Kan, Heinrich, chem. Ültermann des furländ. Mülleremts. +28. März in
Gr..Edau.
Kutterfeld, Heinrich, Dr. med. 85 J. + 15. Oft. in Tudum
Kerkovins, Ludwig Wilh., dim. Nig. Ctodthaupt, *21. Febr. 31 im Riga.
TI Kaufmann 1. Gitbe. "74 Natäherr, beleidete als folder eine große Zahl
von Intern. 78/00 Stadihanpttollege, feit 19. Juni 90-02 Stadihaupt.
+5. Juli in Riga.
v. Kepferfing, Heinrich Oraf, Erbhert auf Groeſen in st. FR. Apr. in Groeſen
Alemm, Starl, 1. April 21 in Real; in Deutichland erzogen. Vegründete
55 mit feinem Bruder Otto in Kiga eine Anftalt für Turnen und Heil:
48 Necrologium balticum 1904.
gomnaftif, die erfte in ihrer Ar, die er (bis 70 mit dem Bruder) bis 99
leitete. Mitbegründer der Freiwill Feuerwehr und des erſten Konſumpereins.
+10. Mär.
v. Anoreing, Ljubim (orib.), Marineleutnant, *77 zu Ubdema in Eftl. 96
Midihipman, O1 Seutnan:, feit 09 Arlillericoffizier auf dem Panzer „Retro
pamlowst", auf dem cr Icon feit 99 in See war und an den Aämpfen in
China Anteil genommen hatte (gold. Säbel für Zapferfeit). F auf dem
„Peropawlonst” 31. März vor Port Arthur.
Aroepſch, Albert, °20. An in Miutenwalde. jeit 61 Inhaber der alt«
renommierten Neitauration und Konditori „X. Nrocpich vorm. Gaviszel“ in
Riga. + 19. Jan.
KArufe, Wilhelm cannot, Lehrer der Nig. Jalobi-Kirchenſchule. 24 J. alt.
+1. Nov. in vnüenhof.
v. Kügefgen, Paul, Aedaticur der „Cl. Petersb. Zip.” >43 in Wefenberg,
Sofm des Molers Konftantin o. 8.; Aevaler Pomicule, Perriichule in Peters
Bing, Dorpater Oynm.; ud. Throl. n. Nur. 64/70, Cand. (7605. Eston.).
Nournalift; 70 an der „Ned. zig", TA/TH Ned. der „Nord. refie”, feit TE
Fed. und feit 78 aud) Herausgeber Der „St. Peters. Zi,” 75. Dt. in
Petersburg.
Küßn, Cotar, *
Niga; find. Theol. 53,65 mit mehrjähr. Unterbrehu
(6386. Li Kehrer und Paltor Er im Junern des Reidjs; 73,77
N sichulinpeftor Wolma 7/81 Gymu.:Ychrer im Riga und Pleskan.
Seitdem Privat. in Niga. S
Aühnert, Heinric), Cberföriter. F 17. Jan. in Reval.
Surrikoff, Andreas, = 48 bei Kellin, Hub. Tfeof. 0/74 (5015). 75/PL Paltor
zu Turgel in &. Ledte leiden als Privatmann in D. Er wur einer da
sriten bewußt national gefinnten Ejten und gehörte zu den Begründern des
Rereing tudierender Eften. Machte ji wm Die eftn. Literatur durch cine
Überjegung von Gocties „Hermann und Dorotfea” verdient. 3 13. Quli in D.
Auppitz, Johannes, Landwirt. Veſiher von NeuNüggen ing. *II. Dez. 39
FT. April in Neu Rüngen.
Aursk, Leonhard, Kapitän des ruffifchbaltiihen Bergungsvereins in gieral.
#18. April in Port Arthur.
Ausmanoff, Theodor. ehem. Dory. Stadiwerordneter. 749. 11.an. in D.
Saafand, Johannes, *34 in S. ud. Med. 50/02 (0495). Alzifebenmier.
; (bereit a. D.) 5. Auguit in Giodno
Laimiug, Nifolai, Dberft, *47 in 2. im Walkfcjen Areife, Teit. Rationalität
Gpmn. zu Neval. Wurde Cffigier, nahm icil am der Erpedition gegen die
Gorzen im Tergebiet, und die Mhaltefinzen, 19 Tberit, O2 Kommandeur
des 11. Oftjibir. Schüggenregiments. Fiel IS. April im der Schlacht am Jalu.
Aandeſen, Robert, Pator, * 63 in Zorma in 2., Oymn. zu Dorpat, jtud. 84/0
(12,839). Hitfspred. in Hauge, dann in Zellin; feit 91 Paltor in Turgel.
+3. Mai.
Langer, obert Derm. Fl, 35 in 2. Warm, ſiud. 00/1 (
Apothefer in Mg. FL. Dez. in ige.
Lankenfeldt, Friedrich, ° 01 in Kabillen (8), Oymn. zu Goldingen, ftud. Med,
u. Chem. 820 Car). Schte eine Zeitlang in Yigat 1%), nahm P4
an einer Waulfijgfängersrp.diion von Yanmmerfeit aus, ID au der des Grafen
Seyferling im Vehringsmeer teil. Lchte eirdem in den oftafiat. Hafenftädten.
eitere eine Tranfiederei auf Caalin, war zuleit Jnhaber ciner Drogerie in
Dalny. F dajelbit im danugr
weist
Sißtenfein, Karl Gottl. ud... *27 in #., Myarmazcut, find. 52/73 (5812).
56/86 Apotpefer in & #15. April in Goldingen.
Necrologium balticum 1904. 40
Kleven, Conſtance Fürftin, *30. Oft. 37, Leiterin der von ihr gegründeten
Vorbereitungsfgule des ig. Jungfrauenvereins. f 3. Jan. in Riga.
». Sifgewilfh, Matthias, vereid. Rechtsanwalt. 51 J. + 3. Rov. in Riga.
v. Koewenthaf, Friebr., Journalift; 85 fl. Redakteur der „Land u. forftwirtfch.
3ig."; feit ca. 95 im Yuslanb, Herausgeber ber „Deutfäen Warte“ in Berlin,
Mitarb. der „Preuß. Jahrb.” uf. } 8. Febr. (26. Jan.) in Rigpa-
Eoffreng, Frau Olga, geb. Aſcharin, Direltrice in Reval, + 25. Mai.
Lohrens, David Sud... Ültejter der St. CanutisGilde in Reval. } 28. Aug.
Korb, Friedrich, Kaufmann, Üftefter Gr. Gilde, ftammte aus Deutfchland, kam
ca. 80 ins Sand und übernagm in Riga die von feinem Yruber begründete
Firma C. Sorch u. Ro., bie er balb bucd) feinen Unternehmungsgeift zu großer
Blüte bradite. + auf einer Reife in Mosfan 15. DI.
v. Füdingdanfen- Wolf, Eugen Bn., Oberft. Mar Zögling des Pagentorps;
begann feine milit. Laufbahn im 2.,G.Reg. zu Pferde, war dann Tange
Jahre Poligeioffigier in Petersburg. Kommandeur der Warjchauer Gendar«
meriebivifion. f 20. Oft. in warſchan
v. Tuhan, Joh., HofR., Telegraphenbeamter. } 28. Jan. in Riga.
Magemty, John Graf, Dr. med, Geil, "31 in Cummingetof be Hign;
Krümmerfche Anftalt und Pirkencuh; ftub. 49/55 (640. Liv.). Ceit 58
Augenarzt in Peteröburg, 61/78 Orbinator, feildem bis 100N Direhtor des
Augenhofpitals. Seit 74 Mel. Leibofulit. 05/95 Selr. den „Bereins Pelertb.
Ärzte.“ Mitbegründer der „Blejfigfgen" Blindenanftalt 79. Seit 82 Mit,
glied des Medizinaleats. Siebelte 1900 frankheitsgalber nach Laupich bei
Sein über. + 16. (2.) Muguft in Salyungen 1. 26.
Marägraf, Micael, Gutsbefiger in C, Wredenhagen (feit 71) und Pajat (feit
92). +26. März zu Pajat.
Wariens, Guftov, WS, *37 in Riga; ſtud. Jur. 57/61 (6641), Cand.
61/83 im Quftigdienft in Riga und Petersburg. 83/01 Glied der Sinilabt.
des Begirfögeriht8 und feittem Not. publ. in Wilna; war aud 17 Jahre
Präfes des dortigen ev. Rirhenrats. + 12. Juni.
Maurad, Friedrich, praft. Arzt, *50 im Dberpahlen, Schmibtfche Anftalt in
Felin, fub. 76/65 u. 80708 (10,081. Liv). Sandarzt in Gambg. + Blei
. Oft.
.. Mapdet, Afed Bn. + 5. Ian. in Real.
Meder, Eduard, HofR., *20. Ron. 30, } 4. April in Real.
v. Mengden, Karl Bn., *27 in 2., ftud. Ram. 46/51 (4087). Gulßoermalter-
dann OutSbefiger (Rüffel). f 1. März zu Rüffel in 2.
v. Merdfin, Karl Eugen, Aademiter, Geh. Dr botan., *21 in 2, ftub
Bot. 40/4 (4030), dann in Paris u. Jena; 47—65 Dozent am Forftinftitut
64-77 Prof. der Botanit an der mebchirurg. Aademie in Petersburg
+ dafelbft 26. Nov.
Miram, Friebe. Hermann. f 29. Juli in Petersburg.
WMüpfentfaf, Alerander, *55 in 2., ftub. Det. 76/79 (9054). Seil 79 Arren«
dator von Laisholm in 2. und Obervermalter der Mannteuffelfcjen Güter.
+ 5. Dai in D.
Mälverledt, Wühelm Orgelbauer. 70 J. +2. Auguft in D.
Neander, Groin, Dr. phil. 30 3. #3. Jan. in Riga.
AiRitin, Aegonder, Oberförfter. } 29. Dft. in Wenden.
v. Nolhen, Hermann Bn. + 5. April in Riga
». Aofen, Georg Bn. + 12. Sept. in Niga.
Xorkin, Konftantin, Dr. med, Kirchfpielsargt in Lais. 309. +28. Ron.
in Laispoim.
FM Baltifgej@Ronatafcheift 1908, Heft 1. 4
50 Necrologium balticum 1904.
Nowigkt, Simon, Stedt. Elementarſchullebrer, *52 in Iakobftabt; beſ. 69/72
da8 erite Dorpatiche Sehrerieminar. Lehrer in Jatobflabt, feit 74 Lehrer an
verfch. Elementarfcpufen in Riga. Hat fid um das Mufeum des ig. Iett.
Vereins verdient gemacht, deffen Jmipeftor er feit 91 war, ebenfo 96 bei der
—** ber leim chen eifmograph. Außftellung. F 28. Auguft in Bad
aueim.
v. Helſen, Julius Frhr, Arrendator auf Schloß Pürfeln in 2. + 14. (27.)
Dig. in Aönigsberg.
Olſtino, Karl Eduard *52 in 2., Pharm., ſtud. 76/7 (9877). Seit 78 Prov.
Aue „grieer der Lörenapothefe in Riga. + 28. Jan. in Wehramalb
(Bat -
Offen, Jatob Eberh., *2. Juli 35 in Libau. Erzogen im bortigen Waifen,
Haufe; wurde Kaufmann, 60 felbftändig, 67 Ältefter Gr. Gilde. Stabtoer:
orbneler. Geit 03 Stadtwrafer in Libau. } 20. Mai.
Oppermann, Georg Hugo, *31 in Aiga. Schule in Pernau; Apotheler; ſtud.
56/8 (65 ronilor Gis 76). und rrendator der Bienerifcen, fodann
Befiper ber chem. Haetgefchen Apothele in Reval. f 13. Auguft.
Orgies von Autenderg, Konrad Bn., + 31. März in Mitau.
SRourke, Eugen Graf, Generalmajor a. D., f 27. Day. in D.
Panker, ittor Hugo, +42 in Reval, ftud. Jur. 62/8 (7547. Eston.). 60/77
Gefchäftsführer der eftl. Gouo.«Regierung, 77/89 Sehr. ber Kriminalabt. de
Neo. Rats, dann bis Ende 02 Sefr. der Handelsbeputation, feit 91 au
Gehilfe des Not. publ. Glödner in Reval. Rorrefp. ber „DünasStg.” und
Mitarbeiter ber „Rev. Big." F 11. April.
Pauder, Karl Georg, proft. Atzt in Simferopol. 33 3. + bafelhft 29. Sept.
Yaudler, Theodor, 47 3. } 18. Jan. in Petersburg, beerd. in St. Simonis
in Eitland.
Feterfon, Nlercj, Stobslapitän, *3. Mai 67 im Couo. Tambom, flanmte aus
ige. " Gpmn. zu Rige und Reval, Abitur. 87. Wurde Offirier, verbrachte
dann 7 Jahre ais Topopraph in Riga, wurde 03 ins Mpdorgice Regiment
galt und fit 30. Gepl. 04 in einer ber Gilaäten milden Zanlat und
ben.
Veierſon, Karl, chem. Parochiallehrer in Rodenpois. 57 9. +2.OH. in Kige.
Dezotd, Karl Auguft, *26 in MWelenberg; Gymn. in Dorpat; fhub. Ram. un
Toeol. 46/52 (4930. Eston.). 58/95 Baftor zu Meriama in €., 00/5 auf
Propft der Sandwiet. + 6. Dei. in Seal.
7’raff, Julius, dim. Revaler Ratsherr, *30. Juni 27 in Reval; GafInbädiche
Schule; wurde d4 Kaufmann, übernahm 7 die väter!. Brauerei in Real.
67/80 Ratsherr, Oberfämmerer, bis 88 Airdienvorficher, aud) Kircfpielßrichter
au St. Jürgens. Übergab 88 das Gelhäft den Söhnen, blieb aber in verſch
Tommumafen Smtern tätig. F 20. Auguft.
Pfeiffer, Julius, Urchitelt, *47 in DWarkhau; Gymn. dafelbit, Rig. Polptehn.,
Baufcule des Minift. des Innern. Seit Juli 77 jüngerer Ingenieur, feit
Febr. 90 jüngerer Architelt ber Tiol. Gouo-Hegierung. Sein iegter Bau war
daS neue Poltgebäude in Riga. F 9. April.
v. Pfeifiger-Firond, Rudolf Bn., Majoratöherr auf Frand-Schfau u. Dgley,
Erbhere auf Donnerhof in X. 7 11. Dez. in Mitan.
v. Pistoßfhors, Alerander, *51; ftud. Zur. 72/4 (0200). Sandwirt, Erbherr
auf Kolpen und Cytafch (jeit 87), Beiiker von Jbfel (feit 88) in Linland.
+ 31. Juli in Rolgen.
Fodrt, Eduard, Paftor, *42 in Pullowa; Rig. Gow..Cymn., ftub. Theol
62/8 (7570. Fr. Rig.). Seit 73 Paflor zu Nodenpois in 2. 70/80 geiftl,
Schulzeoident, feit 8 Tiot. Schulrat. Tätig aud auf bem Gebiet ber Teil.
Zoftstiteratur. + 10. Sept.
Necrologium balticum' 1904. 5
Voorten, Ernſt Lubmig, + 15. Mär in Mosfau.
Praetorius, Karl Gabriel, +30 in Riga; Rig Gouo..Cymn., ftub. 52/3 (5880.
Fr. Rig.), Cand. 61/89 Sefr. des furl. Oberhofgerichts; feit 50 Glied der
Direktion der Mitauer Stabtiparfaffe; beeidete daneben aud) manderlei
Efrenämter. + 22. Juni.
Furin-Smwißguf, Johann, Oberlehrer am II. Wilnaſchen Gymnafium, } 4. Oft.
in Pintenhof bei Riga.
Raabe, Arnold, Mag. pharm., *52 in 2., ſtud. 74/6 (643). Apotheler in
Petersburg. + 8. Oft.
Wachleln, Karl, Beihenhrer an ber Zeubftummenantlt in Ferner (Sol),
m de feine 018 Dietor Deb Hepßato-Berins erhienten Targelien
—X Rarl Roedlein 23 3. + 28. Oft. in dennern
». Hamm, Gent, *5. De. 37, Erbhere von m Saitat in Eſtland. + dafelbft
11. Auguft.
v. Haufenfeld, Georg Eug, *60; Rig. Stadigymn., ftub. Jur. 81/5 (11,208).
Seit 95 Nitbefiger von Kingmundshof in %. Melt. Affefjor im Iivländ.
Konfiftorium. + 20. Juli zu Ringmundshof.
d. Zeae, Karl Fehr., *60 in Weiß / Plonian (Goub, Korıno), 74/81 Gymn.
zu Mitau, ftud. 81/5 Zur, Chem., Det. (11,338. Cur.). Seit 86 Befiher
ven Staigoig (Ooim. Aammo). +28. Dit, wurde non einem finer Anchte
ermordet,
©. Wieh$of, Amold, Dr. med, *30. Abtil 79 in Zelin, ftub. 2 9. an ber
Zandedunioerfität (rat. Rig.). Beendete fein Studium in Bingen .
Aifitent am Rigafchen Staditranfenfaufe. ? 20. Rop.
Aiygont, Eduard, Aademiter, Zeichenlehrer an der Aigafcgen Stadircalfchule.
+ 15. Non.
». der Mopp, Friebe. Zchr., Erbfere auf Radwilan. f 2. Jan. in Riga.
». Moschus, Karl, Generalleutn. 0. D., *32 in Schrunden in A. War Brigade»
Tommanbeur im Roufofus und Tebte zulept als Privalmann in Frauenburg
(Rurl). + 25. Nov. in Riga.
v. Roſen, Woldemar Baron. *15. Febr. 69, } 7. Febr. in Kunst,
Hofenderg, Woldemar, Gefhäftsführer der Revaler Filiale der Atiengefelfich.
Gerhard u. Hey. + 9. Oft. in Heval
Müdiger, Theodor Graf, dim GardesKittin., Befiper von Schloß Ah in E. und
Wajoratshere auf Lublin-Dojlidy (Gouw. Grodno). 81 I. a. + 17. Sept.
in Dojlidg.
Salfnann, Karl, Dr. phil., ehem. Oberlehrer an der Revaler Domfchule, *20.
&. Jan.) 37 in Heffen-Roffel, ftub. Theol. u. Philol. in Berlin, Marburg,
Göttingen. 60/86 Oberlefrer der Religion und Deutfden Sprache an der
Domfchule. Sodann Keligionslehrer in Kafjel und feit O1 Stadipfarrer in
Kirchhain bei Kaffel. Begründer des „Deutichen Mohltätigteitsvereing“ in
Reval, Bielfad, literarifch tätig; forrefp. Mitglied der Eftl. Yiterar. Gefelfic.
+ 3. (12) Juni.
SGadert, Johann Abert, SIR., *4. Juli 32 zu Witau; Mit. Gymn. Wurde
Scheer, 870 an der Gabritföue in Sintendef (&, 60/9 Clemenlarlehrer in
Grobin, 70/8 am Gym. zu Gofbing dere Ser, Bm Infpettor an
der ig. Kreisfepufe; feit Aufpebung. biefer Nnftalt Oberlehrer ber deuticien
Spradie an der Peler-Nealihule in Riga. + 11. Juli.
Säerehy, Karl, Rüfe unb Drgenift zu Beauenburg, bci feit 14 im Die.
78 3. + bafelbit 20. Sep
sqert, Auguft, —— *28 in Riga, feit 61 in Libau; ſeit M2
Ältermonn RI. Gilde. } 14. *
” Veerolotiam balticam 1904.
v. Schiling, Gneomar Bn., *14. Aug. 74 in Jürgensberg (@.), ſeit 02 Beamter
der ruff.cchinef. Bat in Schanghai. + bafelbit am Zpphus 27. Auguft.
Sämachling, Wolf, *43 in 2., ftud. ur. 63/72 mit 2jähe. Unterbredun ing
(7729). Bankbeamter in Riga und Wilna (Priv. Handelsbant), feit
Direltor der Börfenbant in Libau. + 18. Febr.
Smith, gu, En med., WSLR., *32 zu Dideln-Paft., ftud. 51/5 (5697.
Rig.). arzt, auptfächlich im Anufafus, feit DB praft. Arzt in
— 3 Yan.
Schmidt, Karl Georg Guibo, Prof. emer., *17 in Petersburg; Petrifchule,
Dorp. Gpmn., ftud. bei. Chem. in den 9. 37/45 (8694. Liv.), dann im
Ausland. Direktor des dem. Laboratoriums an ber Ingen.-Aab., Chemiter
bei ben nftalten ber Raiferin Marie. Lebte penfioniert in Marburg.
+ 12. Sept. n. Si.
v. Shnadendurg, Robert, Ingenieur, SIR. + 18. Nov. in Wilna.
Schönfeld, Dav. Wilhelm, ehem. Mufiticher, *26 in Chemnig, feit 45 über
30 3. 2. Viofinift im Rigaer Theaterordjeiter. 7 29. Jan. in Riga.
v. Shöpping, Zur. Bm. Reifte, nadidem cr chen bie Alezander-Militärfhufe
in Mostau abfoloiert hatte, im Auguft d. J. auf den Kriegsfgauplag, wo cr
ins 22. Oftfibir. Scüßentegiment eintrat, und fiel in den Kämpfen vor
Mufden am 2. Dit.
v. Schultz, Konitantin, Kapitän 2. Ranges (* 64, Gyınn. zu Reval), wurde bei
der Ernennung Abmiral Matarorg zum Kommandeur bes Oftafiat. Gejchmabers
dieſem als Minenoffizier des Stabes unterftellt. F auf dem Panzer „Betro-
pawlonst” 31. März vor Port Arthur.
Schufgen, Woldemar, Dr. mod., *67, ſtud. feit 88 (13,780); Chirurg am
Nitolai-Komitee-Gofpital in Petersburg. + dafelbit 2. De.
Schutow, Ignatius Az, Kaufmann, Direftor der 3. Gef. gegenfeit. Arebits,
Herausgeber des „Riisti; Wieftnit“, bi vor furzem aud, Stadtverordneter
und als folder einer der Führer der rufi. Mähfergeuppe. 70 3. } 2. OR.
in Riga.
Säwark, Gruft, *56 in 2., ftud. Jur. 75/8 (9641). Archivar am livl. Hofe
gericht; verwaltete 85/6 das väterl. Out Vollershof; 86 wieder Hofgerihts-
beamer. Seit 89 Gelr. des Riga-Wolmarigen adl. Bormunbfcoftsamts,
aud, Gehilfe des Sefr. des lol. Konjiftoriums. + 23. März.
Shwark, Wilhelm, Oberpaftor emer., *25 in Mitau; Mit. Gymn. ftub. 45/50
(4787. Cur.). 55/92 Oberpaftor an St. Jopannis in Dorpat. Lebte feitbern
dort als Emer. + 17. Jan.
Semel, Georg. Os J. +24. Jan. in Schloh Mojahn.
Siewert, Wegander, — 42 in Gr. Een; fhub. 64/8 Dipl. u. Jur. (7890. Cur.).
Cand. jur. 82-02 Schr. der Steucroerw. in Mita. + 21. Dez. in Mitau.
Simon, Eduard, dim. Mel. ruff. Rammermufifer, *13. De. 22 in Leinyig;
45/56 erjter Violinift am Yigafchen, feit 56 an den Mel. Theatern in Beters«
burg, zulegt 2. Dirigent u. Songerimeiier am dortigen beutichen Hofiheater.
Benfioniert zog er 87 als Privaimann nad) Dorpat. + 5 Oft.
Sivers, Aug. Gregor, *26 zu Morne in Lipl. arümmetſche Anftalt in
Berto; ftub. 46/50 Bhnfit u. Del. (4973. Liv), dann im Ausland. Sands
wirt, Geit 59 Befiger von Kerjell in Liot., 62/89 Mitglied der Liol. Del,
Sogietät, 90 Ehrenmitglieb. Begründer des Merrofcien landivirtfch. Berein
Schte 88/93 in Graz. fiber in Kiga, wo er auch Präfes der Bauernrentens
bank war. 4 20. Nov. in Riga.
Sponholy, Ent: prakt. Arzt, *32 in Edwahlen (R.), Privatgymn, in Selena,
ftub. 51/6, 59 (5665. Cur.), Sandarzt in R., feit 80 Arzt in Römershof.
+ dafebft 31. Des.
Necrologium balticum 1904. 58
». Stacelderg (a. d. Haufe Röal), Kurt Bn., Marineleutnant, fiel auf dem
Rreuger „Riurit“ in der Seeichlagpt bei Ulfan 1. Huguit.
». Stadederg, Karl Bn., Cröherr auf Lilienbach bei Rarva. f 18. Rov. in
Lilienbach.
Stamm, Heine. Theodor, stud. rer. ing. am Rig. Polgtenitum (Rubon.).
Fiel’ 27. Ok. im Biftolenduel.
Stenbod, Hermann Graf, Generallcutn., Kommandeur des Örenadierforps.
56.3. 38. Mai in Petersburg.
Stieinsky, Sriebric, Mag. jur., *28 in Dorpat; Gymm. dafelbit; ftud. 45/9
(4729. Fr. Rig.). 51 Hofger.-Mdo. in Dorpat, feit 54 Protonotar u. 65/89
Sehr. des Fol. HofgerichtS, welde Stellung von bejonderer Bedeutung war
bei der Einführung deS zum erjten Mal fobifigierten proviny. Privatrechts.
gebte feitbem als Privatmann in Riga. } 5. April.
Stifmard, or, Mag. jur., #39 in Dorpat; Zrivaiſchule in Werro, ftud.
57/60 (6634. Eston.).” 61 Poligeioffefior, 78/94 Staotfelretär in Dorpat.
+21. Jan.
Stoll, Karl Friedrich. Paftor emer., *03 zu Jürgensburg-Paftorat; Rig. Goun.«
Gymn., ftub. 24/27 (1913. Fr. Rir.). 27/78 Baitor zu Sifjegal’Atenmoga.
gebte feitdem emer. in ige. + 19. April.
». Strand, Mar, Dr. med., *56 in 2., ſiud. 76/81 (9910). Seit 82 prakt,
Arzt in Moslau; Dogent an der Most. Univerjität; feit 03 Direltor des
wang. Hofpitals. F 26. Fehr.
Strunße, Hermann, StR., *42, ſtud. Gef. 62,6 (7597), Cand. Lehrer amı
Way’igen und 10. Oymn. im Petersburg. + 26. Juni in Bentental bei
Wolmar.
Strupp, Ronitantin Souis, Grofindufteieller in Sibau, Gründer der Rafginen,
fabrif „Wefuv“, Langjähe. Stadtverordneter und Glied des Sibauer Börfen-
fomitees, zulegt auch Präfes des Yandelsamte. 46 3. } 9. Sept. in Riga.
v. Talderg, Carlos, SR. 78. J. + 19. Mai in Riga,
Tarasıtemicz, Eduard, Dr. med., *41 zu Riga; Rig. Ooun.-Ögmn.; jtud.
65/02 (7907). Aifittengargt an der Univerf.-Abt. des Stadihofpitels; Marine:
art, feit 88 in Kronitadt. } 12. Sept. in Petersburg. Murbe, obgleich
Ratgolit, auf feinen Wunfd; aus der St. Petrificche auf einem Luth. Kirdhhofe
beerdigt.
Tempek, Karl Friebr., dim. Gymmnaſiallehrer. + 9. Ron. in Libau.
WHoms, Henry, ehem. brafilian. Konful. + 20. Mai in Riga.
v. Jobien, Mag, *57 in Dorpat, ftud. Jur. 70/84. Cand. (10671). 84/5
Stadts, dann Sandger.Sekr. in Sellin. Seit 89 Seftetär der Grundbuchabt.
des Bernau » Fellinfhen Friedensrichterplenums in Felin. F 16. Dit. zu
Emhof bei Sellin.
». Trentovins, Georg, *18 in Kurl., lange Jahre als Sandirt, Beamter,
Gymn.sLehrer im Jnnern des Reiches tätig; lebte ichlichlid peufioniert in
Benja. In der legten Zeit reilte er fait jährlich in die Heimat, um hier
den Seidenbau zu fördern (Gafenpoth, Goldingen, Arensburg, Gemauert:
Poniemon); war Efrenmitglied der Most. Seidenbaugeielichaft u. Präftdent
der Balt. Seidenraupenzugjt:&ej. + 0. Juli in Gemauert-Poniemon.
Treumann, Ferdinand; Art, *67; ftud. Med, feit 88 (13,549). Fiel im der
Scylacht bei Linojang (11./20. Huguft).
Hexküt von Güfdensand, Fedor Bu. + 31. Jan. in Ejtland.
ARstin, Karl. Begründer und Redalteur des „Lutwertis“ (jeit 1882) und it:
Gegeänder fait Jamtliher nifden Wereine In &iban. + 18. Jar. in Yiban.
54 Neerologium balticum 1904.
v. Bingern-Sterußerg, Eduard Fehr, Dr. phil., *36 in Saifile in Eftland.
Rev. Domfchule, ftud. Theol. u. Geich. 55/7 (6368. Eston.), dann im Aus,
Tand. Wurde Politifer und Journalift. Seit 83 in Berlin, ftändiger Wit,
arbeiter der „Areugpeitung“, dapwilchen audı der „Ronfervaliven Rorrefp.” u.
der „Ronfernativen Monatöfche." 84/7 beutichfonfervat. ReichStagsabgeorbneter
(Wahltreiß Bielefeld). Bert. der O2 erfcienenen „Erinnerungen eines alten
Eitländers“, von denen er nachher nod; eine Fortjegung „Jrejahte” in ber
„Bonatsiche. für Stabt u. Sand“ veröffentlichte. f 25. Nov. in Berlin.
Bogel, Johann Martin, Üft. der St. Joannis-ilde in Riga. + 8. M
Bol, Wilhelm, Brof. DDr., *18. (6) Nov. 35 in Nürnberg. Stud. Theot.
53/9 in Erlangen, 61 balelbit Privatbogent. 62 Dozent, 03 ao. und 04/98
rd. Bro. für Temlfge Spracien u. alteftan. Cesgele in Dorpet, Im Juni
93 im Amte nicht wieder beftätigt, wurde er zum außeretatmäßigen ord. Brof.
nad) Greifswald und 1900 zum ord. Prof. nach Hojtod berufen. Cr war
mit feiner zweiten Heimat auf innigfte vermadjfen; feit 97 aud) Ehrenppilifter
der Sivonia. + 16. (29.) Mai in Roftor.
Borkampff-Sane, Arthur, Dr. med. *64 in 2, ftud. 84/9. f 10. Auguſt
in Voromitfe
v. Waßt, Ostar, *64 in Aſſit in Eitt., Gymn. Fellin; itub. Nat.Det. 84/8
(12,283). Beamter im Finangminifterium. f 14. März in Petersburg.
v. Wapf-Pajus, Ritolai, *33 zu Pajus in 2.; Schmibtice Anftalt in Fellin,
itud. Kam. 52/6 (5835. Liv.). Sandvirt, Befiger des väterl. Gutes Pajus.
Vetleidete mehrere Sandesämter, 62/8 Rirchfpielßrichter, 82/7 Sreißbeputierter.
4.8. Nov. {m Bajus.
v. Wallendurg, Paul, SIR., *24. Juni 44; wurde 63 Telegraphift; 87 Chef
der Volt» u. Telege.-Stat. in Penfa, 8) in Ufa, 96 in Jurjem (Dorpat), feit
1900 in Real. + 20. Mai in Reval.
Wafter, Julius, Mag. pharm, 22. Oft. 71 in AT. Jungferufof bei Riga;
Rig, Stadtgymn., 87 potgeferleheling, ftub. 03/4; feit 9% Chemiter bei der
zuff. pharmazeut. Gefelich. in Petersburg. } 1. Oft. in Oger.
Warrikoff. Dar Rene, *59 in 2.; Gymn. zu Dorpat, ſtud . Med. 80/5 (10,812).
Seit 36 Mitarbeiter, dann Rebafteur der „Lodger Big.“ + 19. Mär.
Weltmann, Martin, Inhaber ber ehem. Kraufeſchen NApothete in Riga: 38 J.
+7. OH.
Benrhan, Johann Julius, Kommandeur des Libauer Leuchtichiffes. + 28. Nov.
Berndie, Alerander, Kaufmann und Stadtverordneter in Fellin. } 7. Mai
in Riga.
BWlegandt, Emanuel Magnus, HofR., + 4. April in Riga.
Winffer, Ostar, jeit 54 Obervermalter auf Schloß Karkus in 2. + 12. Juni.
Wittmann, Karl, StR, *44 zu Berfohn in 2. Rig. Oymn., ftub. Med. 06/70
(8127. (Liv). Sehrer der deutfcien Sprade in Petersburg. + 8. Febr.
Wofdemar, Johann Ulcih, Kaufmann, ehem. Ratsherr und langjähr. Direktor
Tolfege der Gemeinbebanf in Mitau. 75 I. } 25. Nov.
v. Woffiefdt, Albert, *53 in Karlsbad bei Niga; Pirfenrub; jtub. Zur. 74/82
9493. Liv.). 83 Affefjor des 7. Wenden,Waltchen Kirchipielsgerichts, 86
ter in Gilfen, jeit 90 Rendant der Kol. Rüterfhaftsrentei in
. Febr.
v. Woffreldt, Albert, dim. Candeicter, f 30 in Wenden; ig. Gynn., ftud.
Tipt. u. Zur. 50/4 (5511. Liv); 54/08 Ufj. u. Sele.’des Sandger., 08/89
Landeichter in Wenden. Seitdem Gefcäftsführer der Wenden-Waltjcien adel.
Vormundfejaftsbehörbe. + 1. Muguit in Wenden.
v. Wrangel, Eduard Bu, *8. Mai 64 zu Raich in E. Revaler Domſchule.
Beamter an der Palt. Bahr. F 0. Mär in Reval.
v. Bath Adolf, Erbherr auf Schloß Schwegen (feit N), *57; Gymnaſ.
Neerologium balticum 1904. 55
iebaben; Birlenrub; ftud. Jur. und Rat.Deton. 79/83 (10,594. Lir.).
+ 25. März (7. April) in Bien.
». Zimmermann, Karl, Oberft a D. 87 3. } 9. Nov. in Tudum-
v. Zwingmaun, Bitter, *46, Oymn. zu Riga, ftud. Jur. 63/7, Cand. (
*
68/78 Affefior des Slig. Sandvogteigerichs, 78/89 Hatsperr (Vige-Synpifus,
Obermettderr).
Berdient um bie heimifche Rectsforichung durch die Yerans-
gabe mehrerer Bände Vräjudifate des Rats. Seit 89 Chef der Grundbuch:
abteil. des Ri
!
ja-Wolmarfchen Sriedensrichterplenums. Dozent für Yandels-
test am Rigacen Polgtechnitum. + 17. Rop. in Riga.
Am Ufer des Lebens.
— —
Yın Ufer des Lebens, wandelnder Träume voll,
Steh ich verjunten in Lauſchen,
dernher Hör ich, fernher und Icbenstoll
Die Wellen raufehen. . .
Dem Liebenden gleich, ftill will ich niederfnien,
Die Hände erheben:
WR du mic) ewig fchlafenden Anges fliehn?
Öffne die Augen mein Leben!
Du ſollſt mich anfehn, Antwort und Rede ſtehn,
Dich ganz mir fagen!
Sieh mich an, wie einft du mich angefehn
In träumenden Tagen! . -
80. Freymann.
EHRT?
AS
Kulkurgeſchichkliche Kisʒellen.
— —
Otto Peter von Stackelberg.
bix merkwürdige Epifode hat dieſer Stadelberg in feinem
Leben zu verzeihnen. Gadebuſch jagt von ihm, er fei „ein
munberlic toller Menſch gemejen, von dem man ein Bud,
fchreiben fönnte. In Schweden habe er feltfame Händel ange:
geben und ben damaligen franzöſiſchen Botſchafter auf das ärgite
beleibigt 4.”
Dtto Peter war ein Sohn Karl Adam von Stadelbergs,
des ſchwediſchen Generallieutnants, ber im nordiſchen Kriege an
den Schlachten von Kaferig, Rauge und Grreitfer teilnahm, des
Verteibigers von Dünaburg, Stade und Straljund, 1714 ſchwedi⸗
fher Freiherr, aus beflen britter Ehe mit Ulrite Eleonore von
Albedyll 2,
Früh Kriegsdienfte nehmend, war Otto Peter 1735 Bolon-
tair bei ber failerlichen Armee gemefen, 1738 Adjutant bes äfter-
reichiſchen Felbmarihalls Prinzen Karl von Lothringen, dann in
ſchwediſchen Dienften 1741 NRittmeifter in General Niglens Negi-
ment und Abjutant des Grafen Löwenhaupt ®.
Über jene „Händel“ mit bem —A—— Botſchafter gibt
uns das „Ardiv Woronzow“ einigen Aufichluß *.
Im Dezember 1743 hielt fi Stadelberg in Königsberg
auf. Er muß damals etwa 30 Jahre alt gewejen fein, eine hohe,
mannliche Erfcheinung. Hier traf nun Etadelberg im Wirtshaufe
zur „Stadt Riga” mit brei aus Rußland nach Frankreich reifen:
den Franzoſen zufammen. Beim gemeinfamen Abendeſſen entjpann
ſich ein politiſches Geſpräch. Stadelberg äußerte feine Unzufrieden-
heit mit den augenblidliden Zuftänden in Schweden, die auf die
Dauer unhaltbar feien. nfnüpfend an bie Meinung feines ver
2) Sic. Son; Gebehufc, Genbfärif. ——
2) Aedhiv der Familie v. Stadelberg. Br. I! 2. 3) Familien»
rd. — 4) Archio des Süriten Woronpom ea, x Blue on.
Brevern, Zur Geich. d. Fam. v. Brevern. ®d. IT, ©. 77, Anm. d.
aulturgeſchichttiche Miszellen, 5
ftorbenen Proteftors, bes Grafen Löwenhaupt, und an vermeints
liche Ungeredtigfeiten, die feinem Schwager, dem General Guftav
Neinhold von Bubdenbrod auf Schujenpahlen wiberfahren feien,
fam Stadelberg auf Rußland und die auch dort herrſchende
Ungufriebenheit mit ber Regierung zu fpreden. Rußland, —
meinte Stadelberg, rühme fih, Schweden einen Thronerben,
Adolph Friedrich von Holftein-Gottorp, gegeben zu haben, doch fei
diefes nur gejchehen, um ber Wahl des unliebfamen däniſchen
Aronpringen vorzubeugen; der einjig gewünfchte fei der Prinz von
Zweibrüden-Birkenfeld, — der augenblidlihe Thronerbe merde nie-
mals regieren. Er, Stadelberg, fenne die maßgebende Meinung
in Schweden jehr gut; die 10,000 Diann ruffiiher Truppen unter
dem Feldmarſchall Keith würden ihre Heimat nicht wiederfehn, es
wäre ein Leichtes, fie unihäblid) zu maden, ohne daß Schweden
aud nur einen Mann verlöre; er jei überzeugt, daß noch vor
Ablauf eines Jahres ein neuer Krieg gegen Rußland ausbredhen
werde. In ſchwediſchen Negierungstreiien fei genugfanı befannt,
wie groß die Unzufriedenheit in Rußland ſei und daß in furger
Zeit dort eine neue Revolution in Auofiht fände. Stackelberg
fei oft in früheren Jahren gegen Rußland gebraucht worden, mes:
halb jeine, in Livland befegenen Güter, die ihm 2000 Rth. ein-
trugen, konfisziert jeien.! Die ſchwediſche Regierung habe ihm
jedoch für feine ihr geleiſteten Dienjte eine Penfion von 1500 Rih.
ausgefegt. Nun fei er gewillt, anderweitig Kriegsdienft zu ſuchen,
er wifje jedoch noch nicht, wo.
Solde und ähnlihe Reden veranlaßten bie Frandzoſen,
Stadelberg näher auszuforihen. Eine Aufforderung zum andern
Tage zum Kaffee, wies Stadelberg jedod) ab, da er mittlerweile
durch den Diener der Franzoſen erfahren, baß einer derſelben, der
im Gejpräd ftets die Partei der Kailerin genommen, noch ruſſi—
ſcher Offizier fei, — man möge ihn entſchuldigen, er fei unmohl.
Obgleich die Franzoſen feinetwegen noch zwei Tage in Königsberg
blieben, befamen Sie Stadelberg nicht mehr zu ſehen.
Die Franzoſen waren: ber Chevalier de Reignac, beurlaubter
Kapitän des Ismailowihen Leibgarde-Negiments und feine Reife:
gefährten der alte Abbe Lefeore, ben der franzöſiſche Geſandte
Diarquis de la Chetardie vor 5 Jahren als Beichtvater mit nad)
Rußland genommen, und der Kaufmann Torin. Der Chevalier
de Reignac ſah ſich veranlaßt, in Berlin ben Inhalt feines
Geſprächs mit Stadelberg dem rufiiichen Geiandten Grafen Peter
Tſchernyſchew zu berichten, da ihm die Sicherheit der Yarin
%) Die Albedyllſchen Grbgüter feiner Mutter, Woidome und Alt-Carrol
in Lipland, hatte Otto Weter D. St. am 23. Febr. 1734 für 31,000 Aıl, bem
Dronungsrichter Mori Baron Botje verfauft. (Stept I, ©. 341.) In Eitland
fol Stadelberg Ottenfüll und Wapaft befefien haben.
58 aulturgeſchichiliche Miszellen.
gefährdet erſchiene, auf Tſchernyſchews Wunſch dieſen Bericht
ſchriftlich einzureichen und von ſeinen Gefährten, dem Abbé
Xefeore und M. Torin mit unterſchreiben zu laſſen; dann reiſten
die Franzoſen nad) Paris weiter. Am 10. Dez. 1743. meldet
Graf Tſchernyſchew bie Angelegenheit in Petersburg!.
Nun beginnt das unvorfihtige Geipräd in Königsberg für
Dtto Peter von Stadelberg gefährlid) zu werden. Am 20. Januar
1744 befahl die Kailerin, der Gejandte ſolle bie preußiſche
Negierung um Arreſt und Auslieferung Stadelbergs erfuden, was
der Minifter Podewils dem König unterlegt. Friedrich, dem
gerade um gutes Einvernehmen mit Rußland zu tun war, erließ
ſogleich einen Befehl an den fommandierenden General in Königs:
berg, und Stadelberg, der Schwede, und nit ruſſiſcher
Untertan war, wurde inhaftiert, nachdem er vergeblich feinem
Hausmwirt eine bedeutende Summe geboten, um ihm zur Flucht zu
verhelfen. Seine Effelten und alle feine Papiere wurden vers
fiegelt und mit iym an der Grenze ausgeliefert ?,
Die drei Franzofen find unterdeſſen in Paris angelangt und
werben fofort in die Baftille abgeführt. Ludwig XV., fo wie
er durch den ruſſiſchen Geſandten Fürften Kantemir von dem
Stadelbergihen Geplauder in Königsberg erfahren, wollte auch
feinerfeits ſich Nußland angenehm erweifen. Die Raijerin befahl
jedoch ihrem Gejanbten, dem König von Frankreich für feine
Liebenswürdigfeit zu danken, mit ber Bitte, die brei Gefangenen
in Freiheit zu fegen?. Am 15. Jebruar wurden biefe nod) von
Amelot, dem franzöfiihen Dlinijter des Neußeren, und feinem
Setretär M. Flouſet vereidigt und einem jcriftlihen Verhör
unterzogen. Sie fagten aus, was fie in Berlin bereits Tſcheruyſchew
berichtet, woraufhin fie freigegeben und ihnen ihre Dokumente
zurüderjtattet wurden *.
Otto Peter von Stadelberg wurde durch Dermittlung bes
preußiihen Gefandten Baron Mardefeld, ber ſich feinerfeits direkt
brieflic) an ben General de L'Hopital in Königsberg wandte, an
Die ruſſiſche Grenze geleitet, wo er von einem fpeziell ihm ent⸗
gegengeſchickten Kommando ber Rigaer Garnijon empfangen wird.
Nun nimmt Stadelbergs Sade einen diplomatiſchen Cha—
rafter an, denn dies alles geihah auf Anraten des franzöfiihen
Sefandten Marquis de la Chetardie?. Diefem gewandten Welt:
mann, ber damals die Kaiferin ganz beeinflußte und mit Leftocq®
I) Ar. Wor. VI, ©. 50-53. — 2) Ebenda, ©. 24. — ?) Ehenda,
&.07. — 4) Ehetardie hatte in jeinem Schreiben an Amelot 22, Märy/2. April
betont, bie betreffenden Nusjagen hätten fich unter einander fomohl, als aud)
zit Denen Stadelbrgs an ben sulfichen Öejandten in Sein u deden. —
%) Chetareie an Amelot 17.28. Jan. 1744. Ach, Wor. I, S, 481. 505. —
©) Joh. Herm. Graf $., Günitling der Kailerin, geb. 1692 in Geile im Hannovers
i
fen Tata Wundargi Peter I., Ieitete die Palaitrevolution, dur welde am
41 Ehfabeh anf den Tran gelangre. + 1707 in Perershurg,
E
Aulturgefcictlice Misgellen. ”
gegen bie antifrangöfifche Partei intriguirte, war bie Stadelbergiche
Angelegenheit eine willlommene Gelegenheit, bie Monardin gegen
die Brüder Grafen Beſtuſhew mißtrauifc zu machen und ihr von
Verichwörungen zu ſprechen — aber vergeblich, wie er am 24. Mai
(4. Juni) 1744 dem Minifter Duteil mitteilt. Am 11. (22.)
Febr. fcreibt Chetardie dem franzöfiichen Gejanbten am Berliner
Hof, Bolary, dab Stacelberg nun jchen auf dem Wege nach
Mostau fei und bald dort glüdlich eintreffen werde.
Stadelberg wurde wirklih auf Befehl der Kaiferin am
2. März dem bekannten Inquifitor in politiichen Sachen, General
Andr. Im. Uſchakow, zur Unterfuhung in der geheimen Kanzlei
übergeben 2, wo in folden Dingen die Tortur jtets in Anwendung
ward. — La Chetardie berichtet weiter, bie zur Unterſuchung der
Stadelbergichen Sache ernannte Kommiſſion werde dieſem nicht
gerade wohlgeſinnt fein und wenn er, Chetardie, den Tod des
Sünders auch nicht erftrebe, fo wäre es doch wünfchenswert, daß
— handfeſt bleibe. Am 1. (12.) März 1744 iſt Stackel-
berg in Moskau angelangt *. Chetardie verſtand es ſogar, ſich in
bie Angelegenheiten der geheimen Kanzlei hineinzumiſchen, er will
den Generalprofureur Fürſten Nikita Trubezloi dem General
Uſchakow zur Seite itellen. Er bemüht fih, der Kaiſerin darzu—
legen, daß bie gehäffigen Ausfagen Stadelbergs gegen Rukland
nicht ber Ausbrud ber ſchwediſchen Nation, jondern bloß die
Anſicht ber Föniglihen Partei feid. Der eitle und ſchlaue
Gejandte verjäumte auch nicht die Gelegenheit, bie Gewogenheit
und Freundihaft Ludwig XV. der Kaiferin zu unterbreiten %,
Am 26. Mai (6. Juni) jendet der Dlarquis Lanmarie aus
Stodholm an Chetardie die Kopien ber Ausfagen des Chevalier
de Neignac und feiner Genoſſen; der Marquis bedauert, da
Stadelbergs Arretierung fo fruchtlos geblieben, d. h. feine wirt:
fame Handhabe gegen Beſiuſhew geworden jei?.
So waren die Worte, bie Otto Peter v. Stadelberg —
vielleiht in Weinlaune an der Wirtstafel zur „Stadt Riga” in
Königsberg gejprochen, zu einer Affaire geworden, die die Kabinette
Europas bejdäftigte und ihm felbjt übel mitſpielte. Seine Unter:
ſuchung in Mosfau dauerte fort. Im Laufe berjelben muß aud)
bie Katajtrophe ber Regentin Anna zur Sprahe gefommen jein.
') Sorzefpoubenz ber frangöfilden Diplomatie. rd. War. 4, ©. 401
bi8 591. — 2) Arch. Wor., ©. 4. —— ©) Die geheime Kanzlei für Unter
fuchungen politifcher Verbrechen, von der Staiferin Anna 0. April 1731 einge:
richtet, war unter Ufchafoms Leitung mit unbeichränften Befugniffen aud) den
Heihlollegien gegenüber. Die geheime Kanylei wurde erft von Peter III. abge:
Ibaftt. -— 4) Ardı. Bor. 1 Cpetarbic aus Nosau an Volary nad) Berlin.
_ Chetardie un Amelot 15.26, März 1744. —
, 538, 539, 511. — ?) Mrıh. Wor. I, Aegei Petromirfd)
Grof Beftujbe-Rjumin, geb. 1892, f 1766; unter Elifabeth, Reidystangler,
[2] aulturgeſchiciliche Wisgellen.
Am 26. Juli befahl bie Raiferin, e8 möge der in Mitau anwefende
Oberſt Wojeitow ben früheren Braunſchweigiſchen Geſandten in
Petersburg, Kapierlingt, wenn er hinfäme, heimlich aufheben, ba
feine Befragung von Wichtigfeit!. Am 15. Oftober murbe ber
Raiferin berichtet, der preußiiche Gefandte Mardefeld habe erklärt,
es feien durchaus alle bei Stadelberg gefundenen Papiere ſogleich
ausgeliefert worden, während Uſchatow noch nad) einem Tagebuch
Stadelbergs forfcht?. — Wie der Prozeß endet, bleibt unbefannt,
jebenfalls erhielt Otto Peter feine Freiheit wieder und lebte ſpäter
bei feinem Bruder, dem Landrat Adam Friedrich Freiherrn von
Stadelberg zu Merhof. — Geheiratet hat er nit, war aber ein
mal mit dem Hoffräulein Maria Nurora von Mengden, der nad:
maligen Gemahlin bes berühmten Günftlings ber Kaiferin, Grafen
Leſtocq, verlobt; vielleicht war Stadelberg mit ihr verwandt, da
feine Großmutter, Elifabeth Eleonore von Albedyll, eine geborene
Mengden war. Sein Schickſal, jagt Gadebujh, hat ihn nicht
gebeſſert. Er ift ca. 1770 wohl in Mexhof getorben °; uns
gewähren aber feine Erlebniſſe einen Blick in jene längit ver:
gangene, durch Willfür und Intrigue beherrſchten Zeiten.
D. M. v. Stadelberg-Kiwibepäh.
FE
%) Ar. Wor. VL, ©. 119. — 9) Ehenda, ©. 148. — 3) Yal. audı
Archiv der Fam. v. Stadelberg II, 25. Was der Herausgeber Herr Gottlieb
Diof Hanfen da über Otto Mer v. St. berichtet, Tann füglid, durdigefteichen
werden, wie leider jo mandyes in feiner Ausgade des II. Bandes des Gtadelberg:
fehen Arhivs. Cs märe wohl dringend im Jntereffe genealogifch + hiftorifcer
Forichung zu wünfcen, daß Ver ©. ©. Hanfen jich nie mehr an famifien«
gelchichtliche Arbeiten macht. Der III. Band des v. ©t.Mecius foll
Seitung bes Yeren Gtabtardjivars Dito Greiffenfagen erideinen; «6
diefer Stelle an die Lefer der Baltiicen Monatsicrift die Bitte gerichtet, dieles
Unternegmen der Familie durch Materialiennachweiß gu fördern — jeder Hinmeis,
jede Notig wird Danfend entgegengenommen dur; mid) oder dur; Herrn Dito
Greiffenhagen-Reval, Stabtargjivar.
Sieben Vorträge über Germanifierung der Yetten.
Cine Reminiszeng vom J. 1819.
Wenige Jahre nad der Aufhebung der Leibeigenſchaft in ben
Ditfeeprovinzen fand in den Sitzungen ber Kurländiſchen Geſell-
ſchaft für Literatur und Kunft in Mitau, anfnüpfend an eine
ganze Reihe von Vorträgen, eine angeregte unb lebhafte Erörterung
der Frage ftatt, ob bie Herbeiführung einer allmählichen Germani-
fierung der Letten wünjdenswert fei, ober nicht. Die Vorträge,
ihrer fieben an der Zahl, find leider weber in vollem Umfange
zum Abbrud gelangt, noch auch haben fie ſich handſchriftlich erhalten.
Wir befigen nur ziemlich furze Neferate davon, bie fi) in ben
„Zahresverhandfungen” ber Gelellichaft finden!. Aber fchon Diele
Auszüge find intereffant gemig, um auch hier einmal vollftänbig®
wiedergegeben werben zu bürfen.
Die Diskuffion begann am 5. Febr. 1819 mit einem Vor:
trage des Sallgallnichen Paftors Adam Gonradi: „Märe bie
Metamorphofe ber Leiten in Deutiche zu beflagen?”, in dem er
klar und beftimmt, nicht aus politiihen, ſondern aus fulturellen
Gründen, für eine allmählihe Ummandlung der Letten in Deutſche
eintrat. Gegen ihm erhoben dann in ben folgenden Sigungen
ſechs andre Redner ihre Stimmen, die famt und jonders aus
vielen Gründen ſich ebenfo bezidiert für die Erhaltung bes lettiichen
Volfstums ausipraden.
Freilich in der Form, wie es hier gefchicht, iſt die Frage
ber nationalen dauernden Forteriitenz des lettiichen Volks heuts
zutage garnicht mehr bisfutabel, nur von den großen Geſichts-
punkten univerfalgefchichtlicher Entwicklung aus fönnte darüber
geredet werden, und mancher Satz ſowohl im erften wie in ben
übrigen Vorträgen wird heute nicht mehr aufrechterhalten werden
Können und_findet feine Erklärung in ben philoſophiſchen ober
fonftigen wiffenihaftlihen Anſchauungen jener Zeit. So begegnet
uns glei in P. Conradis Vortrag die Meinung, es wäre für
den Leiten beffer, wenn ein dichter Nebel ihm die Geſchichte ver-
berge, „um feinen Groll zu erzeugen gegen feine Überwältiger”
u. a. Das find Hußerungen, aus benen uns die Luft ber „Auf:
%) 3b. II (Mitau 1822) ©. 15 fi.
3) Unfängft hat auch, Paitor D. Ang. Bielenftein in feiner Selbftbiograpfie
„Ein glüdlidyes Leben" (Sign 1904) an dieſe Vorträge erinnert.
62 Rulturgefilätfiche Ditpeflen.
Härungszeit” entgegenweht, die nur aus ihr heraus möglich waren,
unter dem Einfluß jener Philofophie bes 18. Jahrhunderts, bie
ein fo geringes Hiftoriiches Verftändnis hatte, ber alles geſchichtliche
Werden und geſchichtlich Gewordene nur etwas „Unmejentlices,
Zufäliges, ja fogar Störendes” war, die in ihrer „Natur und
Vernunftgemäßheit”, wie ein großer Forſcher unfrer Tage fagt,
„bie Geſchichte überhaupt nicht mehr nötig hatte.” Und wenn
uns auch heute noch einmal gelegentlich geichichtlihe Betrachtungen
und Urteile entgegentreten, die von bemfelben Geiſte getragen
werben, jo find fie nur möglid bei ſolchen Schwärmern, für bie
die Wiſſenſchaft des 19. Jahrhunderts garnicht zu eriftieren ſcheint
und feine geiftige Arbeit, zu deren größten unb bebeutfamften
Errungenfdaften eben bie hiſtoriſche Denkweiſe gehört, das
Verftändnis für bie geidichtlihe Entwiklung.
Wenn ferner P. Watſon in jeinem Vortrage das Lettiſche
aus einer Verfchmelzung des Gothiihen und Slaviſchen entitehen
läßt, ſo ift das ſprachwiſſenſchaftlich eine ganz falſche Anſchauung
und darnad) ift dann wohl auch fein Ausfprud) zu beurteilen, dad
es am natürliditen wäre, wenn die Letten ſchließlich wieder zum
Slaventum zurückehrten. Wir heutigen willen, daB auch jept
nod, nad) einem Jahrhundert der Entwidlung, die weſentlichſten
Fermente lettiſcher Kultur und Bildung dem geiltigen Boden
beutfcher Kultur und Bildung entftammen. Und wenn berfelbe
Rebner meint, die Neigung der Letten deutſch zu lernen jei „bloßer
Hochmut“ zc., fo find wir natürlich nur erftaunt über ben Mangel
an Zerftändnis für ſogiale Entwidlung, die in biefer Äußerung
zutage tritt.
Aber es foll nit unfre Aufgabe fein, auf alle Einzelheiten
einzugehen. Es kommt uns hier darauf an, den Inhalt der Vor-
träge felbft zur Mitteilung zu bringen. In ihrem Kern find fie
ein interejlanter Beweis für eine Humanität, die jebes Volkstum
achtet, für die ganz bewußt liberale und wohlwollende Gefinnung,
bie meite Kreiſe der deutſchen Geſellſchaft dem lettiſchen Volte
gegenüber hegten.
* *
*
1. „Wäre die Metamorphofe ber Letten in
Deutihe zu beflagen.“ Vortrag von Pafter Adam
Gonrabi. 5. Februar 1819.
Der Redner ftellt das Prognoftifon, daß ber durch Auf:
hebung der Leibeigenihaft herbeigeführte Standpunft ber Leiten,
mädjtig auf befjen Nationalität einwirkend, höchſt wahrſcheinlich
den allmählichen Untergang ber Lettifchen Sprache zur Folge haben
werbe. Denn:
Auftungefeätliche Mispefen, os
Die Sprache allein ſcheide den Letten vom Deutſchen; ſie
hindere eine ſolche ſoziale Verſchmelzung, wie ſie Genoſſen einer
Glaubensform und eines Vaterlandes gezieme. Die neue Ver—
faſſung führe die Annäherung beider Nationen herbei; man müſſe
daher nicht den Gang der Natur hemmen. Der Lette, gewohnt,
das Deutſche als das Beſſere zu ſchäten, werde ſich gern fügen
in das, was ihm das Beſſere deuchte; das Deutſche werde ſich
finden und, das Lettiſche verdrängend, ſich mehren. Dem heutigen
Letten könne der Hinblick auf ſeine Urväter nichts Erhebendes
darbieien. Veſſer für ihn, wenn ein dichter Nebel ihm ihre
Geſchichte, die wohl feine reiche Ausbeute liefern würde, verberge,
um feinen Groll zu erzeugen gegen feine Überwältiger. Auch ber
Lette würde in ben Rang der übrigen zivilifierten Völker Europas
verfegt fein, wäre nicht die Eelbjtändigkeit diefer Nation verloren
gegangen; biefe ſei auferwedt, mithin mühe auch bas legte
Hindernis gehoben werden, um friſches Leben und rege Tatfraft
auf ben Schauplag dieſes Voltes zu bringen.
Was berechtigt uns aber, jo entgegnet der Verfaſſer ſich
ſelbſt, eine Sprache untergehen zu laflen, die fo mühlam zu einer
Stufe der Kultur gediehen it? — An der lettiichen Sprade fei
ihrer Dürftigkeit wegen, da fie bisher unter bas Jod ber Willür
gezwängt geweſen, nichts verloren. Sie beftehe aus fremdartigen,
von Deutſchen hineingetragenen Beftandteilen; fie habe feinen
nationalen Autor aus früherer Zeit aufzuweilen; nähme man alle
Germanismen hinweg, wieviel echt Lettiſches bliebe übrig? Die
lettiſche Literatur habe bis jept nur mit lettiihen Wörtern dem
Deutihen, und zwar dem Gelehrten, etwas geboten. Bis jet
habe noch fein im biefer Abficht gebichtetes Lied, als Volfslied,
den gehofiten Eingang gefunden. Durch Hinwegräumung ber
lettiſchen Sprache würde aud ber Nationalität der Letten fein
Eindrang geſchehen, indem es mit ihr nicht viel auf ſich habe,
weil fi) unter bem bisherigen Drud der Willkür und der Knecht⸗
Schaft fein Volkscharakter, fein Volksgeiſt habe bilden können.
Auch Habe die neue Verfaſſung nicht den Leiten als ſolchen,
fondern nur den Bauernitand im Auge.
Gewonnen wäre durch Hinwegräumung ber lettifchen Sprache:
1) Der ungehinderte innere Verkehr ber Vürger des Landes, zu
denen nad) der neuen Verfafjung auch der Bauernftand werde
ou aulturheſchicilice Miszelen.
gegählt werben können. 2) Ein ſicheres Bildungsmittel für den⸗
jenigen Letten, ber, Heller fehend, ſich zur geiftigen Veredelung
erheben wolle; ebenfo ſicher, wie es bie Erlernung ber lateinijgen
Sprache für ben Deutſchen ift.
Die deutſchen Oftjeeprovinzen dürften nicht aufhören, deutſche
Provinzen zu fein; baher müßte, um dem etwaigen Rauſche
undeutſcher Volkstümlichkeit vorzufommen, zur geiftigen Veredelung
der deutſchen Sprache beigetragen unb ber Grundfag fanktioniert
werben: Keine Leiten mehr!
U. Vortrag von Karl Wilh. Cruſe, Oberlehrer am
Gymnafium und Paftor an ber reformierten Kirche in Mitau,
am 5. März:
Bei der durch den Monarchen und die Grunbherren herbei—
geführten Bauernverfaſſung jei es jegt Sache aller Deutihen, den
nit mehr unfreien Unbeutichen zu ber Stufe ber Bildung zu
führen, die ihm Bedürfnis fei. Die Sprache des Letten reiche
nicht mehr aus für fein Bedürfnis als Freien — fie müſſe fort:
gebildet werben. Was bisher darin gejchehen, fei deutſcher Geift
gewefen, ber ber Eprade angebilbet worden. Das Bedürfnis,
aus ber Sprache des Sklaven eine Sprache bes Freien zu bilben,
liege in ber neuen Verfaſſung jelbft, da die oberite Verwaltung
des Landes, wie des Bauernſtandes nächte Appellationsinftanz,
deutſche Akten führe. Diefem Bebürfnis könne nur durch Schulen
abgeholfen werden, in melden ber Lette zwar lettiſch gelehrt
mürbe, aber auch zugleich Gelegenheit fände, Deutſch zu Ternen.
Ob dadurch die Nationalität oder Volkstümlichkeit des Letten ſich
anders geftalte, ober gar verloren gehe, und mit ihr aud bie
lettiſche Sprache, dies fei nur Sade ber Vorſehung, nicht bes
Menſchen, ber nur, die Zeichen der Zeit beachtend, mit Gerechtig-
teit die Erziehung des Einzelnen übernehmen fol.
I. Vortrag von Dr. Ernft v. Trautvetter, Ober:
lehrer am Gymnafium zu Dlitau, am 5. März:
Um das Verhältnis der lettiichen zur deutſchen Sprade im
deutſchen Oftjeelande auszumitteln und zu begründen, ftellt ber
Verfaſſer zwei Grunbjäge auf, die den ftreitenden Teilen einen
natur: und vernunftgemäßen Pereinigungspunft bieten follen.
Aufturgefictlice Kisgellen. 6
1) Jedes Bolt muß bie Sprache behalten, die ihm von ber Natur,
von Gott gegeben worden. 2) An einem und bemjelben Orte
können nicht zwei Spradjen zugleich herrſchen.
Um ben f&einbaren Wiberfprud; dieſer beiden Gäpe zu löfen,
erflärt ſich ber Verfaffer näher über ben Ausdruck Ort. In dem
beutfchen Oftfeelande müffe das Deutfche gelten feines Orts, und
das Undeutſche (Lettifhe und Gftnifche) feineg Orts. Aus ber
Benennung „beutjche” Oſtſeelande ergebe ſich ſchon, daß Bier bie
deutfche Sprade bie herrfchende fein müffe, im natürlihen wie
im ftaatsbürgerlihen Sinne, als Sprache ber Gebildeten in ber
Stadt und auf dem Lande; bie lettifche, bie gebulbete, bie Bauern⸗
ſprache. Hierin fei aud) das fünftige Verhältnis beider Sprachen
zu einander enthalten, indem man die Dinge nur ihrem natürs
lichen Gange zu überlaffen braude. Um dem erften und zugleich
oberſten Grundfag jein volles Licht zu geben, zeigt der Verf.,
daß ber echte Weltbürgerfinn mit der Liebe zum Artgemäfen im
ſchönſten Einflange ftehen, ja daß bie deutſche Sprade nur in
Bejhügung alles Stammartigen ihr eigenes Dafein verbürgt jehen
Tonne. Alle pro et contra vorgebradhten einfeitigen Gründe
verfängen daher nichts im Lichte dieſes oberften Grundfages.
Weber die Bequemlichkeit, die die deutſche Sprache, als alleinige,
herbeiführen folle, noch die Armut und Unbebeutendheit ber letti—
ſchen, fönne einen redhtlichen Grund zur Vertilgung der legteren
geben. So wie bei Unterfuhung einer Mordtat nicht gefragt
werde, ob ber Ermorbete arm ober reich, gebilbet oder roh gewejen,
jondern nur das Menſchenleben in Anſchlag gebracht werde, jo
bier das Stammesleben. Eben dieſer Gefihtspunft gelte auch
für die deutſche Sprade: bie Heiligfeit bes Volfsartigen allein
entſcheide ſowohl auf der einen als ber andern Seite, nur ziehe
dem Deutſchen Pflicht der Selbſterhallung und Gelbftverteidigung
bie natur« unb vernunftgemähen Schranfen.
Habe der erfte Orundjag feine notwendige Stelle gefunden,
fo gehe aus bemjelben auch die richtige Anwendung bes zweiten
Grunbfages hervor, und beiden Teilen mülje daran gelegen fein,
— bem Undeutſchen, baß die für ihn zum Recht erhobene Duldung
nicht verfümmert werde, — dem Deutichen, dab ihm als Schöpfer
alles höheren Lebens auch Hierin jein ermworbenes Recht unbe
ftritten bleibe.
Baltifce Monatgeäeift 1006, Heft 1. 5
os aulturge chichiliche Midzellen.
Der Verf., dem, bei aller zu Recht beſtändigen Feſtſtellung
feiner beiden Grundſäte, dennoch die Träne des jetzt nur noch
Gebuldeten nicht entgeht, führt in jeiner Nutzanwendung einige
Troftgründe für den Unbeutihen auf: den heilenden Balfam der
Gewohnheit; das ähnliche Schidfal der deutſchen und wendiſchen
Sprache im öftlichen Deutfchland, das hinſichtlich des herrſchenden
Teils deutſch, hinſichtlich der Bauern wendiſch gewefen fei; den
allmähfichen Übergang ber platten Mundart in bie hochdeutſche
als Schriftiprade; die Erfahrung, daß ja auch bie deutfche nur
vermittelft der ruſſiſchen Sprade in den allgemeinen Kreis bes
Reiches wirkſam treten fönne; den ermunternben Umftand, daß
wenn nun einer von ben bejonders ausgezeichneten Köpfen der
Undeutſchen ſich zur Höheren Bildung Hinaufarbeiten wolle, er (bie
Univerfität bes Landes habe einen eigenen Lektor der lettiſchen
Sprade) am Ziele eine millenfchaftlihe Bildung feiner Mutter:
ſprache finde.
Für den beutfchen Oftfeeländer aber liege in dem Angeführten
eine Aufforderung zur Heilighaltung fowohl ber allgemein menich-
lichen als der volfsartigen Pflichten und Rechte, damit hier nichts
von ben ſchönen Denkmalen deutſchen Lebens und beutfcher Geiſtes-
tätigfeit untergehe, fondern damit die geiftige Verwandlung, durch
welche bie beutiche Kirche, als der Vereinigungspunft aller beutichen
Herzen, Selbftändigfeit und Artgemäfbeit erringt und ber Pro-
teftantiomus zum Ziele gelangt, natur- und vernunftgemäßen
Schritt halte.
IV. Vortrag von Karl Friedr. Watjon, Paſtor zu
Leften!, am 5. März:
P. Watfon erklärt fi) beftimmt gegen bie Umbildung ber
Letten zu Deutihen und das Aufgeben der lettiſchen Sprade. Er
fei feft überzeugt, daß ein jebes Volt nur durch feine eigene anger
borene, von der Gottheit ihm als MWächterin feiner Nationalität
erteilte Sprache gebildet werden könne. Um über biefen Gegen-
ftanb richtig zu urteilen, mühe man tiefer in ihn eindringen unb
') Baftor Watfon Gatte den gröhten Anteil an der lettiſchen Überfegung
der „Aurländifchen Bauerverordnung“ gehabt; er hatte auch einen Plan ausge:
arbeitet „über die Art und Meife, wie auf die Aultivierung des (ettifdien Sand
volfS eingewirft werben Fönne” (Jahresverhandt. ber furl. Gef. Bd. I) und war
macjmals Herausgeber ber erften Tetifchen Zeitung, der „Latweefchu Anifeh“.
Aulturgeſchichtliche Mishellen. 67
ihn in etöymologifcher, hiſtoriſcher und religiöjer Hinſicht beleuchten.
Die lettiihe Sprache jowie das Lettenvolk feien „aus ber Ver:
ſchmelzung ber Gothen in bie Slaven“ entitanden; dies gehe
deutlich aus der Sprache felbft hervor, deren Wurzelwörter zum
größeren Teil jlavifh, zum Mleineren Teil gothijh wären. Cie
vereinige auch wirklich ben ganzen Reichtum ber ſlaviſchen mit
der Biegfamfeit und Kraft der beutihen Sprache. Man müſſe
fie ftubieren und fi völlig aneignen, um einzufehen, daß fie
keineswegs arm und roh, fonbern reich und geſchmeidig und in
firchlicher Hinſicht bereits gebilbet, folglich in juriftifcher und poli-
tiſcher ebenfo bildungsfähig fei. Sie befäße ganz eigentümliche
Vorzüge, fo z. B. bezeichne fie durch eine beftimmte Form ben
Unterjhied ber tranfitiven und intranfitiven Zeitwörter. Won
Duldung derfelben Tonne garnicht die Rede fein, da fie bie eigent-
liche Landesſprache wäre und da fih die Leiten in Rurland zu
den übrigen Bewohnern wie 6 zu 1 verhielten. Die Geidichte
lehre, daß Ausrottung von Sprachen durch menfchlide Anſtalten
nicht bloß höchſt Ächwierig, fondern auch Höchft ungerecht und
ſchãdlich ſei. Die Wenden in Meflenburg Hätten dadurch wahrlich
nicht gewonnen, daß fie Deutiche geworden. In Preußen fei nad)
Ausrottung und Verjagung ber lettifchen Urbewohner eine ganz
neue Population durch Einwanderung entflanden, und ber größere
Teil von Oſtpreußen fei ja nod) litauiich, mithin lettifch, weil bie
Litauer das Hauptvolf der Letten ſeien. In Kurland ſpräche das
Heine Häufhen Liven am Popen Dondangenſchen Strande feit 800
Jahren feine angeltammte Sprache, und ein Blick auf das benad;:
barte Litauen, wo man, feitbem Jagello König von Polen warb
(alfo jeit mehr als 400 Jahren), die Landesſprache vernadhläffigte
und durch das Polnifche zu verdrängen fuchte, zeige deutlich, was
der Erfolg folder naturwidrigen Bejtrebungen fei. Dieſes had:
herzige und tapfere Lettenvolt, die Litauer, Habe zwar noch feine
Sprache, wiewohl nicht mehr echt, aber ganz und gar feine Liter
tatur; ber Boben fei in Litauen fruchtbarer, die Frohne geringer,
und bennod) fiehe der Litauer unferm Letten an wahrer geiltiger
Bildung um ein Jahrhundert nad. — Überhaupt fei das Entjtehen
und Verſchwinden der Völker und ihrer Epraden Gottes Sadıe.
Er Habe die Lettenvölfer zwildhen die Slaven und Germanen
geftellt, und ihre Sprache fei, wie fie felbit, das Verbinbungsmittel,
5
es Aulturgefäätfice Mispelen,
ber Übergang. Wohnort, Volt und Sprache bewahrheiteten bies
und ftänden im Einflange mit dieſer höheren Beftimmung. Es fei
unmöglid die Zettenvölfer, die (menn man ihr Hauptvolt, bie
Litauer, mitrechne) nod aus 4—5 Millionen Individuen beitänden,
zu Deutfchen zu machen. Gutes fönne alfo durch eine ſolche
Metamorphoje nicht geftiftet werden, wohl aber Echaben, indem
diejenigen, welde ihre Talente und ihren Fleiß dem Studium
und ber Nultivierung ber eigentlichen Landes: und Volfsfprade
wibmeten, davon abgefchredt würden; inbem ferner ber allerdings
ſehr ſichtbare Hang ber Zetten, die deutſche Sprache zu lernen, bie
eigene aber fahren zu laſſen, zu ihrem Nachteil befördert und
genährt würde. Diefe Neigung der Letien gehe übrigens aus
nichts weniger als aus Vorliebe für deutſche Sprade und Kultur
hervor, fonbern jei bei den Wohlhabenden bloßer Hochmut, bei
allen andern bie Anſicht, daß fie mit Erlernung des Deutſchen zum
Herrenftande übergehen würben. Schließlich erinnerte P. Watfon,
daß die natürlichfte Metamorphoſe, wenn ja eine ftattfinden follte,
diejenige wäre, daß bie Letlen gum Slavenftamm zurückkehrten.
V. Ein Wort über das Germanifieren ber
Letten. Vortrag von Georg Bened. v. Engelhardt,
kurl. Oberhofgerichtsrat !, am 2. April:
Der Redner ſpricht fich beftimmt gegen alles dasjenige aus,
was dazu beitragen fönne, ber lettiichen Sprache Eindrang zu tun.
Die Sprade der Eltern jei es, in welder ber Menſch denke und
fein eigenes inbivibuelles Leben lebe; fie vorzüglich Tonftituiere eine
Nation und fonbere fie von allen anbern Nationen. Über ben
Vorzug ber Spraden laſſe ſich bloß bisputieren; jede werbe ſich
zu verteidigen willen, denn dieſe Mannigfaltigkeit liege im Plan
der Schöpfung, die immer eine Stufenfolge in ihrer Weltorbnung
beobachte. Die perfönliche Freiheit jei nicht an die Sprache ge-
bunden, fonft müſſe den Letten, Ejten, Polen und Litauern, ſobald
fie frei geworben, ihre Eprade genommen werden. Auch zeige
die Geſchichte, wie nachteilig es fei, einer Nation ihre Eigentüm-
lichkeit nehmen zu wollen. Beim Germanifieren fei nichts gewonnen,
denn was ein Bauer willen müſſe, das könne er in feiner Mutter:
1) Gr war ber, Yauptredafteur der 1817 entworfenen „Rurlänbifchen
Bauerverordnung“ geweſen
aulturgeſchichtliche Wiszellen. . [2
ſprache erlernen. Der Menſch müſſe erjt eriftieren, che ev ſich
geiftig ausbilden fönne. Der Bauer fei von Natur an mecjanifche
Arbeiten gewiefen, man müjle ihm daher nicht feinen Pflug und
feine Senfe verleiden; das wichtigſte, was dem Leiten jet not tue,
jei die Erklärung des ihm gegebenen Gefegbuches, nicht aber der
Unterricht in ber deutſchen Sprache.
VL Für die Erhaltung ber lettiſchen Sprade.
Vortrag von Dr. Karl Elverfeld, Paſtor zu Tudum!, am
2. April:
Der Rebner geht von dem Gefichtspunft aus, daß, wer dem
Zetten feine Art zu reden nehme, ihm aud) zugleich feine Art
zu fein nehme, was aud) nicht ſchaden würde, injofern diefe Art
zu fein, durch ihre Schlechtigfeit verwerflih wäre. Da nun aber
niemand dem Letten etwas abjolut jchlechtes zum Vorwurf maden
tönne, feine Vollstümlichfeit dagegen gut ſei und burd die
erworbene Freiheit trefflih werden werde, fo bürfe und möge
niemand einen geijtigen Mord gegen ihn intendieren! Dem Ein:
wande, als wolle ber Lette jelbit fich jeine Sprache nehmen,
begegnet ber Nedner, indem er dieſen unheiligen Drang nur den
vom traurigen Zeitgeift befangenen, den nahe an den Städten
wohnenden und daher verborbenen Letten zufchreibt, die echten
Letten aber von biejer Lüſternheit freiipricht, deren Befriedigung
ihnen jo jhwer, ja in einem Grade der Volltommenheit fait un—
möglich werde. Auch fönne das Bedürfnis die Letten nicht bahin
bringen, da alle Gefühle, alle Begriffe, die dem freien Landmann
eigen und nötig jeien, wenn aud) nicht immer in abstracto, doch
aber in concreto, nicht bloß lettifch ausgeiprochen werden fönnen,
fondern auch von dem mit einem ſchönen, natürlichen Verftande
begabten Letten wirklich jo gebraudt würden. Das beweiſe die
nicht unbedeutende lettiſche Literatur, in dieſer vorzugsweiſe bie
treffliche Bibelüberfegung, bie nicht einmal einen Nationalen zum
Verfaſſer habe; das beweilen bie oft jo ſchönen, richtigen, cum
grano salis geäußerten, oft garnicht deutich wieberzugebenden
Bemerkungen des Letten. Die deutſche Sprache werde ihm gar
feinen Erjag bieten, da er im ihr weder frei mod) richtig feine
3) Er Jowohl wie aud) fein Vater, der Baftor in Apprifen war, Haben
mehrere Settijde Schriften herausgegeben, der Legtere unter anbrem die Gedichte
des blinden lettijcen Naturdichters Jndrit (Ditau 1806),
7 aulturgeſchichtlihe Miszelfen.
Gedanken auszuſprechen imjtande fein könne. So verjdieden die
deutſche Bücherſprache von der Alltagsſprache im Munde bes unge
bildeten Diannes, jo ganz aus feinem Leben, aus feiner Art zu
zu denfen und zu ſprechen, fei die Schriftipradhe ber Letten.
Darum bleibe der Lette, deſſen Sprahe ben jo mächtigen
Unterſchied zwifchen geiftigem und leiblihem Freiſein (fmabbadiba
un brihwiba) zu machen wiſſe, ein echter Zette und werde ja nicht
zu einem Deutfchlein (mahzeteelis) verunftaltet.
VI. Würdigung der Frage, ob die Metamor-
phofe ber Seiten in Deutihe zu beflagen wäre.
Vortrag von Dr. jur. Gerhard Chr. ©. v. den Brinden,
Kreismarfhall, am 21. April:
Der Redner tritt in direkte Oppofition gegen bie Ausfüh-
rungen des erften Vortrages und ſucht im Cingange, auf zwei
Dillionen Letten hinweiſend, das Intereſſe für die Erhaltung
ihrer Sprache zu eregen, und geht nun, nad) Vorausihidung ber
Hauptmomente jener Frage, in die widerlegende Entwidlung ber
felben ein.
Nicht die Verſchiedenheit der Sprache, jondern die Abſtufung
und Verſchiedenheit der Bildung, Berufsbeflimmung, der Sitten,
Gebräuche und Beihäftigungen wäre als Hindernis des fozialen
Lebens und Wirkens zweier Nationen zu betrachten, wie ſolches
die volfreichiten Städte dartäten. Die Letten, deren Beruf als
Landbewohner der Aderbau fei, hätten und behielten ihre ſoziale
Beſtimmung unter Letten und bedürften vielleicht gerade der
Sprachverſchiedenheit und Subordination in Begriffen und Bedürf-
nifen, um den hohen Zwed dieſes älteften göttlichen Inſtituts zu
erfüllen. Die Metamorphoje der Sprade würde aud) eine der
Sitten und Gebräuche erzeugen, dem Letten aber feine wahre
Entichädigung bieten, jondern dem Charakter und ber Eigentüm-
tichfeit diejes Volkes höchſt nachteilig fein. Die Verſchiedenheit der
Sprade ftöre feineswegs in dem Genuß einer Ölaubensform,
wie ſchon die Glaubensgenofjen der katholiſchen Kirche jene Ber
hauptung widerlegten. Dagegen fühle fi eine Nation gemütlicher
angezogen und angeproden für Neligionswahrheiten, wenn ihr
diefe im ihrer angeborenen Sprache mitgeteilt würden. Ebenſo
wenig käme aber auch das Mater: ober Mutterland babei in
aulturgeſchichtliche Miszelien. 71
Gefahr, indem bie Weltorbnung felbft uns hierin ein Vorbi. gebe.
Die Nationalität bilde ſich nicht durch ber Übereinftimmung ber
Sprade, fondern aus ber Übereinftimmung und Einheit der Regier
rungsverfaſſung. Aber jelbit für die Sicherheit eines koloſſalen
Staatsförpers ftänden mehrere diplomatiſch-politiſche Gründe der
Spracjvereinigung entgegen: divide et impera! Den ültejten
biftoriichen Beleg ftelle dafür der babyloniſche Turmbau auf.
Die lettiſche Sprache ſelbſt, die eine verhältnismäßig bebeu-
tende Literatur aufzuweilen habe, dürfte um jo weniger verurteilt
werden, da die lettiſche Nation nichts verfchuldet, jondern vielmehr
in ihrer Sprade, in moraliſcher wie in politiicher Hinſicht bisher
alles geleitet habe, was von ihr zu erwarten gewejen wäre. Das
Necht auf die Erhaltung der Sprade jei, mit dem Recht auf bas
Leben, als das erfte angeborene Bürgerrecht anzufehen. Der Über:
tritt einzelner Letlen in die deutfhe Klaſſe könne als Schluß
a minori ad potiorem ebenjo wenig beweiien, als die Majorität
ber Letten einen Beitimmungsgrund für die Deutſchen abgeben
fönne, ihre Sprache anzunehmen. Denn Sprache und Intelligenz
ber Landleute Fönne feine andre fein, als die, in der fie geboren
und erzogen worden — für den Letten die Ngrikulturfpradhe. Die
Aufhebung ber Leibeigenihaft habe ben Letten keineswegs das
Ende ihrer Gedichte herbeigeführt, jondern mit ihr hebe eine neue,
höchſt wichtige, erfreuliche Periode derjelden an. Daher auch der
Rüchblick in ihre Vorwelt feine bittere Empfindung, fondern nur
dankbare Gefühle und herzerhebende Vorfäge für ihren Nationals
geift Hervorrufen könne. Die von dem Zeitgeift Hiezu aufgeforberten
Letten beweifen ſich auch durch ihre und in ihrer Sprade wert,
für die Aufklärung und Einfiht ihrer Pflichten und Rechte als
Untertanen diejenige höhere Bildung und Weihe zu empfangen,
welche fie dereinit fähig machen wird, fid) die Freiheit einer ver:
falungsmäßigen Negierung mit Geiftesreife anzueignen. Der
Redner jchließt mit dem liberalen Ausruf: Es lebe die Sprache
und in ihr der Geift!
Literarifche Rundichau.
—
Japans Ethik.
De Kampf um die oſtaſiatiſche Vorherrſchaft lenkt Aller Augen
auf ſich. Die voreiligen Stimmen, die den ruſſiſchen Waffen
einen ſchnellen Sieg verhiefen, find veritummt. Sogar bie ruffiiche
Preſſe hat im Laufe ber zehn Ariegsmonate einfehen gelernt, daß
Rußland für bie unverantwortliche Unterihägung feines Gegners
blutiges Lehrgeld zahlen mußte. Und in Curopa fragt man
eriiaunt, worin eigentlid, dieje überraf—hende Kraft Japans liegt,
wie es in furzer Zeit eine Stufe ber Entwidlung erreichen fonnte,
die es befähigte mit einer Großmacht, wie Rußland, einen nicht
ausfichtslofen Kampf zu führen?
Es unterliegt wohl feinem Zweifel, daß unter jonit fait
gleihen äußeren Bedingungen diejenige friegführende Partei als
die ethiſch ftärfere anzuſehen ift, die ihre vitalften Intereſſen ver:
teibigt, Die in gewiſſem Sinne um Leben und Eriftenz kämpft.
Japan ift bei dieſem Kriege in wirtjchaftliher Hinſicht ſtärker
intereffiert als Rußland, das durd bie Offupation der Mandſchurei
und Befignahme Port Ärthurs Japans Einflußiphäre in China und
Korea ſchwer bedrohte. Ob Rußland diefe Erweiterung feiner
Machtſphaͤre dringend nötig hatte, mag bahingeftellt bleiben, jeben-
falls handelt es fih von Seiten Rußlands nicht um eine Verteis
digung jeiner Eriitenzbedingungen, wie bei Japan, deſſen Induſtrie
wohl ihr vornehmftes Abfaggebiet in dem Rachbarreich erblidte.
Mag aud) der rufiiche Politiker die Frage in umgekehrtem Sinn
entiheiden, aus der Tatſache allein, daß der Krieg in Japan wie
ein Nationalfrieg geführt wird, läßt ſich der Schluß ziehen, daß
hier Faktoren mitwirken, die nidt nur die hohen Sphären ber
Diplomatie berühren, ſondern dem Volke ſelbſt die Lebenswurzel
bedrohten.
Literariſche Rundſchau. 28
Es ift befanntlid eine prefäre Sade, in ber Politif von
Recht und Unrecht zu ſprechen: auf diefem Gebiet, das den Staats:
egoismus, mag er nun als Eroberer ober Verteidiger feiner Rechte
auftreten, recht eigentlich als vornehmftes Prinzip aufitellt, kaun
von Moral in gewöhnlichen Sinne nidt die Rede fein, wenn man
nit ben Bormurf alberner Sentimentalität oder gar eines lauen
Patriotismus auf fi) laden will.
Eine andre Frage foll uns hier beicäftigen, eine Frage, die
faum in das politiihe Gebiet Hineingehört, aber doch zur Beur-
teilung bes Volkes, mit dem Nußlands Armeen fid im blutigen
Kampfe meſſen, von weſentlicher Bedeutung ilt.
Welches find die ethiihen oder religiöfen Elemente, die ben
Unterbau für Japans Nufjtieg bildeten, die Japan zu dem gemacht
haben, was es heute ift: zu einem Rulturftaat, ber mit jeltener
Einmütigteit und bewundernswerter Opferbereitſchaft ſich feine
Unabhängigkeit jedem gegenüber zu verteidigen bereit ft, der fie
anzutajten wagt, nicht zu einem Konglomerat heterogenſter Elemente,
bie durch den Willen eines Einzelnen zu mwidermilligen Handlungen
geführt werden, jondern zu einem organijch gegliederten Ganzen,
dem nur das gleihe Streben feiner Hleinften Teile die nötige
Energiemenge zuführen fonnte, um fie in eine eindeutige Tat
umzujeßen.
Wir wollen dieje Frage an ber Hand eines Werkes zu beant-
mworten fuchen, das unter dem Titel „Unſer Vaterland Japan“
von Fapanern auf Initiative des Engländers Stead verfaßt wurde
und ein großartiges Sammelwerf darjtellt, das uns über das ferne
Inſelreich die intereilantejten Aufihlüffe geben fann. Der Japaner
gilt in Europa für eitel und ruhmredig, feine Wahrheitoliebe wird
bezweifelt, fo daß ein Buch, das offenbar in Europa für Japan
Stimmung maden foll, dem Mißtrauen begegnen dürfte, daß es
die japaniichen Verhältniffe in tendenziöfer Färbung fchildere. —
Wenn nun fon ein fo allgemeines Urteil ober Vorurteil, wie
das oben genannte, einer ganzen Nation gegenüber nie berechtigt
ericheint, jo entbehrt in diejem Falle das Mißtrauen wohl jeder
Grundlage: die Verfaſſer der verſchiedenen Abichnitte ı hören jener
liberal⸗ fortſchrittlichen Partei an, der Japan jeinen heut'gen Zujtand
verdanft, und wenn auch ihr warmer Patriotismus überall durch—
tlingt, wenn aud der Wunjch, fulturell dem Weſteuropäer nicht
nachzuſtehen, aus jeder Zeile blidt, jo liegt doch wiederum jo viel
ſpezifiſch Nicht:Europätfhes in ihrer Auffaſſung der tiefiten Fragen,
daß es nur ungerecht ericheinen würde, in diefem Werk nur eine
politiſche und infofern unredliche Abſicht zu erfennen. Die ruhige
und befonnene Kritif der eigenen Verhältniiie, die uns fait in jedem
KRapitel entgegentritt, jcheint eher ben Glauben zu rechtfertigen,
daß Hier das Wort doch Ausbrud des Gedantens ijt und daß die
74 Literariſche Rundſchau.
Wärme der Empfindung die Ausſagen deshalb nicht zu unglaub-
würdigen ftempelt. — Einem zweiten Einwand möchte ich bier
begegnen: wenn von Frauenerziejung, von Kunft oder von Moral
die Rede ift, jo wäre es unbillig zu verlangen, daß der Verfaſſer
ſich des eigenen Urteils in dem Sinne enthalten follte, daß er nur
von den realen Erſcheinungen diefer Gebiete reden, nicht aber feine
eigenen Wünfce äußern dürfte. Tut er das aber, fo hängen
dieſe unmittelbar mit der Kulturftufe einer beftimmten Bildungs:
tale zujammen, zu welder der Verfaſſer gehört. on dieſem
Gefichtöpunft aus wirb er aud) bie Erjdeinungen werten, bie in
einem niedrigeren Niveau entftchen, und leicht wird der Wunjd,
hier pfychologiihe Diotive zu finden, den Verfailer dazu verleiten,
aus den Dingen mehr berauszulefen, als fie in Wirtlicjfeit bieten.
Diefe Gefahr liegt aber jedem derartigen Thema nahe, und wenn
heute jemand eine chriftliche Ethik ſchreiben würde, fo wird es ſich
nit darum handeln, zu ſchiidern, welche Vorbedingungen und
Kompromifje fie fih im praftiihen Leben gefallen laſſen mußte,
fondern was fie im Grunde will, was fie von uns fordert. —
Wenn alio von japaniiher Ethik geſprochen wird, io handelt es
fid) nicht um eine Darftellung des Japaners, wie er ift, fondern
wie fein Moralgeieg ihm zu fein vorichreibt, — das bedeutfamfte
Dioment allerdings, um die Lebensquellen eines Volkes fennen zu
fernen. Wie wenig man im allgemeinen gewillt ift, den Diotiven
Japans in diejem Kriege gerecht zu werden, wie man ſich dagegen
fträubt, ben pighologiihen Gründen für die unzweifelhafte Tüch-
tigfeit der japantihen Soldaten nachzugehen, beweilt das eine
Wort, das heute in jedermanns Munde iit, das Wort, mit dem
alles erflärt wird: der Fanatismus der japaniſchen Raſſe.
Die Berechtigung diefes Vorwurfs — denn in dem Wort
„Fanatismus“ liegt ein folder — zu motinieren, dürfte ſchwer
fallen. Zum Fanatismus gehört in jedem alle Einfeitigfeit, Enge
des Urteils und Unduldiamfeit dem Andersartigen gegenüber.
Beides trifft für Japan nicht zu, es iſt heute vielleicht der tole-
ranteſte Staat der Erde, und fein Fortſchritt hat uns gezeigt, daß
ihm Enge des Urteils nicht vorgeworfen werden darf. Poſitiv
ausgedrüdt, muß der Zanatismus, um als Nafleneigentümlidjteit
bezeichnet zu werden, einen unbeugjamen, gemeinfamen Glauben
an irgend etwas zur Grundlage haben, die Haile muß an gewillen
Wertungen unumftößlich feithalten, aljo zum mindeften eine ein
heitliche Religion oder ein für die Gefamtheit bindendes Moral-
gejeg haben — aber beides fehlt ben Japanern.
Von einem deutjchen Gelehrten hörte ih die Anfiht, Japan
befige weber eine Neligion noch eine einheitlihe Moral, jeine
Weltanihdauung oder die bes gebildeten Japaners fei im wejent-
lichen eine äſthetiſche.
Literariſche Rundſchau. 76
Bas heißt im Gegenſatz zu einer ethiſchen — eine äſthetiſche
Weltanfhauung?
Wenn diefe Frage beantwortet werben foll, fo müſſen wir
von ber heutigen modernen Auffaſſung abſehen, bie dazu neigt,
die fchroffen Gegenfäge auszugleichen und beide Spiteme mit ein:
ander zu verbinden. Die äjtheltiche Weltanf—hauung verpflichtet
den Einzelnen, eine harmoniſche Nusgeitaltung feiner Perjönlichteit
anzuftreben, etwa im Sinne Goethes, während die ethiihe von
ihm ein Unterdrüden des Natürlihen, Fleiſchlichen zu gunften des
Geiſtigen, Jdeellen verlangt. Dieſer prägnante Gegenfag tritt uns
überall entgegen, wo Kunit und Moral id) berühren. Die Moral
will aus einem Naturweien ein geiftiges jchaffen, das natürliche
Material, in bibliihem inne das Fleiſch, ſoll ertötet werben,
um den Geiſt lebendig zu machen. Die Kunit, richtig veritanden,
ſchafft aus totem Material lebendige Weſen, Kunſtwerke, die nur
dann lebensfähig find, wenn ber Schöpfer dem Material Rechnung
getragen hat, jeine Natur nicht vergewaltigt hat, ſondern fie mit
feiner Jdee zum Ganzen, zum Kunftwerf verihmolzen hut. Cine
äfthetifche Weltanfchauung rechnet mit der Natur des Menſchen,
fie will dieſe Eigenart nicht verbiegen, fie will fie zur weiteten,
edelſten Entfaltung bringen, aus der Naturanlage des Menſchen
ein Runjtwert — bie Perfönlicfeit fhaffen.
So ſchafft die äjthetiihe Weltanihauung Indivibualitäten,
während die ethiſche, wenn fie ſich jemals realifieren liche, gleich:
förmige Typen hervorbringen müßte, die ſich ohne Unterichieb
einem einzigen Gejeg fügen würben.
Japan hat jeine uralte pantheiltiiche Naturreligion nicht ver⸗
geſſen und begegnet dem Naturweſen mit einer gewiſſen Ehrfurcht
— nicht nur ber Kirihblüte, fondern auch dem Meniden. Er iſt
Träger eines göttlichen Junfens, ein Teil der Offenbarung bes
Göttlihen, das fid) in der ganzen Welt manifeitiert. Diefe Auf⸗
fafiung läßt den Japaner fein Leben als Geſchenk, jeinen Körper
als Gefäß anjehen, für deifen Beitand und Inhalt er verantwortlich
iſt; Kraft, Gefundheit und Ausdauer, nicht Aſkeſe oder Ertötung
des Fleiſches, jucht er durch ftete Übung zu gewinnen. Er ift ſich
deijen bewußt, daß dem Göttlichen die tieriiche Natur des Menſchen
widerftrebt und in dieſem Sinne glaubt er an ein Böſes in ung,
nicht an den Böjen außer uns. In diefem Dualismus fieht Prof.
Inazo Nitobe, der Verfaſſer des Abfchnitts, der unjrer Darlegung
zugrunde liegt, feinen Widerſpruch. Nitobe it Chriſt und_fagt:
„Aus der pauliniichen Lehre, in der als Gefet bejteht bie Sünde
zu offenbaren, geht hervor, daf je zwingender und je bindender
das Geſetz ift, deſto augenjdeinlicer die Ende“, mit andern
Worten, die Sünde it die logiſche Konfequenz des göttlichen Geſetzes
in uns und nur durch biefen Gegenjag ijt uns eine Entwidlung
76 LEiterariſche Rundſchau.
zum Höheren, Beſſeren gewährleiſtet. Beſtände dieſe gegenſeitige
Bedingtheit nicht, fo wäre das Böſe als ein von außen hinzu
gefommenes zu betrachten, von dem wir durd) eine erlöfende Kraft
befreit werben fönnten ober welches wir aus eigener Kraft völlig
überwinden müßten. Beide Mögligjfeiten find unvereinbar mit
einer ftufenweijen Entwidlung, benn mit der Befreiung vom Böfen
wäre das Ziel erreicht und ein Gutjein gäbe es nicht mehr für
den Menſchen, ber nicht mehr die Möglichkeit Hat böfe zu fein.
Wenn Nitobe hier nicht unter dem Einfluß moderner weſteuropäiſcher
Denkweiſe ſteht und wirklich die japaniſche Auffaſſung der Doppel-
natur bes Menfchen mit. dieſem usiprudh vertritt, jo bürfen wir
um fo mehr darüber eritaunt fein, als dieſe einzige Grundlage
für die Möglichkeit einer teten Entwidlung zum Guten nicht auf
dem Wege des Chriftentums, fondern felbitändig auf Grund ber
japaniſchen Weltanſchauung gefunden wurde.
Wenn der Japaner jein Leben und jeine Fähigfeiten als
ihm verliehenes Geſchenk betrachtet, To ift foniequenter Weiſe die
Darkbarkeit denen gegenüber für ihn Pflicht, die ihm das Leben
geihenft haben. Den Eltern und Voreltern in erjter Linie fühlt
er ſich verpflichtet, und nächft ihnen dem Vaterlande, das ihm die
Möglichkeit gab, feine Fähigkeiten in Taten umzufegen. In biefen
Diomenten, der Verehrung ber Natur und dem Ahnenkult, bie
beide dem Ehintoismus entjtammen, iſt noch heute bie Grundlage
der japanijchen Moral oder der Buſhido zu ſuchen. Dieſes Wort
bedeutet eigentlich „NRämpfender Nitter Art“ und ermeiterte ſich
zum Begriff der Nitterlichfeit überhaupt, zu einer Art ungeichriebenen
Ehrenkoder für den Samurai, den Ritter, von dem in erjter Linie
Mannhaftigfeit, Vännlichfeit verlangt wurde. Da das Vuſhido
nicht in gleichem Mafe für den Kaufmann oder Arbeiter galt, jo
dürfen mir in ibm eine Art Rlaffenmoral erbliden, in der ein
ariftofratifches Element zum Ausdrud gelangte, das die ſtufenweiſe
Entwidlung der Moral bei allen Voltern begleitet hat. Ihr fehlt
der höhere Uriprung im Sinne einer Offenbarung, fie erhebt nicht
den Anſpruch abfolut zu fein, daher ift fie entwidlungsfähig. Und
mie fehr fie das war, beweilt die Tatſache, bak das Buſhido
Glemente der chriſtlichen Moral in ſich aufnahm, ohne feinen
Charafter dabei einzubüßen.
In feinfinniger Weile zeichnet Nitobe die Gegenfäge zwiſchen
Buſhido und chriſtlicher Moral, und obgleich felbit Chriit, hängt er
voller Pietät am Buſhido, und es Fojtet ihm fichtlid einen Ent-
ſchluß, dem Chriftentum uneingeichränft den Vorrang einzuräumen.
„Ih befenne, daß ich, ohne fähig zu fein es zu erklären, einen
Unterfdied empfinde zwiſchen der Liebe, die Chriftus lehrt, und
dem Mohlwollen, der Güte, die Buſhido nie aufhört zu verlangen.
Liegt «6 in ihrem inneren Charafter? Liegt e6 in dem Grad
Luerariſche Kundigau. Ki
ihrer Stärke? Liegt es barin, daß der eine demokratiſch, ber andre
ariſtokratiſch ift? Liegt es an der Art der Offenbarung? Iſt es,
weil das eine ewig weiblich, das andre ewig männlich ift? Ober
liegt es daran, daß es vom Himmel ftammend göttlich ift, und
das andre von ber Erde irdiſch ift? Ich weiß nicht, wie ich bieje
und andre Fragen beantworten fol, bie in jchneller Aufeinander-
folge aufjteigen, während meine Feder über diefe Blätter gleitet,
aber das glaube id, dag die Buſhido-Lehre, durds
drungen von dem Licht, weldes jeden Menſchen
bei feinem Eintritt in die Welt empfängt, eine
berrlidere Offenbarung der Liebe vorausjah.“
Und in den Schlußworten entjcheidet fich Prof. Nitobe noch unzwei—
deutiger für bas Chrijtentum: „Aber der Samurai ift nicht mehr
und Bushido wird dahinſchwinden; und wie fein Etolz verſchwunden
ift in dem leuchtenden Glanz einer aufgeflärten Bevölferung, fo
wird die Lehre, die wir Buſhido nennen, aufgehen in einem
größeren, höheren Moralgeſetz.“ Dieje finnvolle Gegenüberftelung
läßt den Unterihieb der riftlihen und japaniſchen Moral deutlich
hervortreten: bie lehtere iit eine durch und durd) national gefärbte
und ariftofratiich begrenzte Vorfchrift für Gefinnung und Handeln
des Japaners, während unſre chriſtliche Moral mit ihrem efoteriihen
Element nur ein fernes Ziel daritellt, das unfrem Denfen und
Tun bie Richtung geben joll und deshalb nie auf eine einzelne
Klaſſe ober auf ein einzelnes Volk beſchränkt fein fann. Wenn
wir bie einzelnen Forderungen prüfen, ſo dürfte die Berechtigung
bes jo formulierten Gegenjiges nicht bezweifelt werben.
Chriſtus forbert Liebe bein Nähten gegenüber, das Buſhido
— Wohlwollen und Mitleid. Cine gleiche Liebe für Alle gibt es
nicht und wird es nie geben: es iſt eine andre Art Liebe, die uns
mit dem fulturell Gleichſiehenden verbindet, als die, welche wir
dem niebriger Stehenden zollen, fie wird hier mehr den Charatter
des Wohlwollens annehmen, während fie im erften Falle aud) ſchon
das Gepräge bes Forderns tragen darf. Verſucht man das Gebot
Chriſti ohne jebe Einſchränkung in die Tat umzufegen, fo iſt Die
KRonfequenz eine Tolitojiche Lehre, die von dem klaffenden Wider:
ſpruch zwiſchen dem chriſtlichen Gebot und unjern irbijchen Lebeno⸗
formen erfüllt, die legteren von Grund aus verurteilt. Mag er
damit auch Recht haben, er ijt über die Kritik noch nicht hinaus—
gefommen und feine „Auferftehung” bedeutet noch nicht ein Reform-
programm, auf Grundlage deſſen das Chriftentum ohne Brud in
einer neuen Gejellihaftsordnung aufgehen könnte. Pier rechnet
der Japaner mit realen Verhältniffen, jeine Forderung entjpricht
der Gliederung der Gejellihaft in ein Oben und ein Unten unb
noch verfteht er ſich nicht zu der Idee ber Gleichheit Aller und zu
ibeellen, unerfüllbaren Forderungen. Dem Buſhido fehlt jedes
78 Literariſche Rundſchau.
eſoteriſche Element, die praktiſche und zugleich ariſtokratiche Begren⸗
zung feiner Vioral verlangt vom Japaner nie Unmöglidhes, fondern
gerade das, was im Rahmen feiner Stellung, feiner Familie und
feines Vaterlandeg möglich und erwünicht ift: äußerfte Nufopferung
feiner Perſönlichkeit im Dienjt der Pflicht, Anfpannung aller feiner
Kräfte im Dienfte feines Monarchen — und das alles, um fi
in fegter Linie feiner Vorfahren würdig zu ermeifen und feine
Ehre, die zugleich die des Vaterlandes ift, rein und unbefledt zu
erhalten. Man fieht, wie begrenzt das ganze Gebiet ifl, es be:
fchränft ſich auf Japan, auf das Vateriand und bie Heimatgenoffen
und mird zu einem Hebel von unvergleichlich ftarfer Wirkung.
Ein Naumann wäre in Japan nicht denkbar: wenn feine ehrliche
Neligiofität von ihm verlangte, fein ganzes eben mit dem Geift
bes Chriftentums zu durchtränken und er als warmfühlender Patriot,
als Heißblütiger olitifer beftänbig mit ber moralifchen Forberung
besfelben in Konflikt geriet, weil dort fein Raum vorhanden war
für Nationalitätenfrage, für politifche Intereffeniphären, für Flotten-
vermehrung und ähnlides, fo müflen mir ihm Ned)t geben. Er
309 ehrlicher als viele andre die Ronfenuenz und erflärte rundweg:
Chriftentum und Politik, oder griftlihe Ethit und die Pflicht des
Stantsbürgers haben wenig mit einander gemein, bie Rraris des
Staats: und Parteilebens fordert andre Gefege, als bie der chriſt⸗
lichen Ethit. Jopan fennt dieſen Gegenfag garnicht: Patriotismus
und alles, was dazu gehört, ift ethiich, ift moraliich, denn ber
Japaner hat feinem Monarchen und feinem Waterlande zu bienen.
Dan mag theoretifh aus bieien Verhältniflen die Konfequenz
sichen, daß das Bufhido in feiner eng-nationalen Faffung jedem
Fortschritt Hinderlich fein mußte und nur eine fonfervativ-pietätvolle
Stellung zu Thron und Etaatsidee von dem mohlgefinnten Untertan
verlangte; aber die feßten hreihig Zahre Haben uns darüber belehrt,
daß es Männern, wie Marquis Ito und andern gelang, ben
Begriff des wahren Patriotismus in dem Sinne zu vertiefen und
zu erweitern, baß nicht ber Stillftand, ſondern ber Fortichritt nad)
weſteuropãiſchem Muſter Japan allein die Zukunft fihern fonnte.
Wie jede Abkehr vom eng-nationalen zum weiten fosmopolitiichen
Standpunkt mit Gefahren verfnüpft ift, zugleid aber die einzige
Gewähr für eine Entwidlung zu freiem Menjhentum bietet, jo
mußte auch für Japan ber Schritt zur parlamentarifchen Verfaſſung
nad weiteuropäiihem Muſter ein gemagter genannt werben.
Wurde nicht durch die in das Staatsleben eingreifende Volks—
verfretung ber Glaube an das unumichränfte, durch die Götter
geheiligte Necht bes Herrſchers untergraben, wurde nicht in jedem
eingelnen, ber zu politiicher Betätigung berufen wurde, das Be:
wußtſein rege, nad) eigenem Urteil, nad) eigenem Interefle das
Ruder des Staates zu Ienfen? Das tief eingemurgelte Pflicht
Literariſche Rundſchau. 70
bewußtſein des Japaners ſcheint ihn davor bewahrt zu haben, die
Ehrfurcht vor der im Monarchen verkörperten Staatsidee ließ ihn
Das eigene oder Parteiinterefie vergeffen und im Dienft für Raifer
und Neid feine vornehmjte Aufgabe erbliden. Diefes Pflü
bemwußtfein ift jogar ftark genug, um der Stügen von feiten einer
Staatsfirche zu entbehren, die von jeher in Europa als Fundament
jedes Thrones gegolten hat. Der Gehorfam gegen bie Obrigkeit,
gegen das Staatsoberhaupt ift bei uns zu einem integrierenden
Beftandteil der Staatsreligion geworden, und überall, wo fid) dieſer
Aufammenhang zu lodern brodt, eriheint das Yerrfchertum von
Gottes Gnaben gefährdet.
Nach diefer Abſchweifung auf das politiſche Gebiet, die
geboten erſchien, um zu zeigen, welche lebendigen Kräfte das Buſhido
bier ins Leben gerufen hat und mie fehr es bazu beitrug und
wohl noch beiträgt, den unbedenflichen Patriotismus als wahrhaft
moralijhen Wert anzujehen, alfo jeden Zwieſpalt aus dem Wege
räumt, fehren wir zu ben von Prof. Nitobe erwähnten Wider:
fprüchen zwiſchen hrütlicher Ethit und Bushido zurüd. Wenn bie
hriftliche Moral eine geoffenbarte, abjolute, in gewiſſem Sinne
himmliſche it, fo muß das Vergehen gegen biefelbe einen völlig
andern Charafter tragen, als ein Verſtoß gegen das Buihido.
Der Chriſt begeht ein Unrecht Gott gegenüber, er jünbigt, und
feine Macht der Erde fann ihn von dielem Wiafel befreien. Bier
greift das Toama non der Erima, der Mechtfertigung dirett
religiös wirffam ein, uw das rote Baud ziwichen dem Wollen
und Handeln einerieits und dem Glauben zu nüpfen. An Stelle
des Begriffs „Sünde“ tiitt die „Schande“ beim Japaner: er iſt
feinen Ditmenicen, feinem Vatertande und vor allem fich jelbit
Nechenfchaft fchuldig für das, mas er tut. Ihm liegt der Gedanke
an eine Grlöfungsbebürftigfeit völlig fern, und fo fdeint aud) das
Shriftentum, fomeit das aus dem Abfchnitt hervorgeht, feinen
bogmatiichen Charakter in Japan verloren zu haben, es ift mehr
Moralprinzip, ein vertieftes Buſhido geworben.
Raftan unterfcheidet in einem geiftvollen Aufiag über das
Weſen des Chriitentums zwei Typen von Religionen: ber eine
geht von ber bee der Erlöjungsbebürftigkeit der Melt aus, der
andre von ihrer Fähigfeit beifer zu werden, und betont baher die
moraliſche Forderung. Ein Beiſpiel für die reine Form bes erften
Typus ift ber Bubdhismus, für die zweite Die Lehre des Konfuztfe.
Das Chriftentum jteht auf dem Kreuzungspunkt der beiden Ent«
widlungslinien diefer Typen und will beiden gerecht werden. Je
nad) den Strömungen innerhalb der Chrüten prävaliert bald die
eine, bald die andre Idee, und mit Hecht macht Kaftan darauf
aufmerfjam, daß das Chriftentum in der Auffaſſung Harnads
feinen Charakter als Erlöfungsreligion ſtark eingebüßt habe, die
s0 Luerariſche Rundlchan.
ethiſche Forderung aber um ſo mehr in den Vordergrund gerückt
ſei. Sobald Chriſtus Vorbild, nicht mehr Erlöfer ſei, höre das
Chriſtentum auf, feinem Doppelcharafter gerecht zu werben. Man
braucht nur an bie Phafen der Entwicdlung zu benten, bie bas
Shriftentum in Aſkeſe, Weltflucht und ähnlichen Erſcheinungen
durchgemacht hat, um auch die Gefahr, die in ber einfeitigen
Betonung des Erlöfungscharafters liegt, nicht zu überjehen. Als
ipezifiiches Element der Erlöjungsreligion muß ber Begriff „Sünde“
angefehen merben; fie ift das Attribut ber unerlöften Welt, im
Gegenfap zur Gerechtigkeit der erlöften, d. h. bes Reiches Gottes.
Bon Sünde fann baher nicht im Zufammenhang mit einer Moral⸗
iehre gefproden werben und bem Sapaner f—heint diefer Begriff
fremb geblieben zu fein.
Der Japaner hat von Indien den Bubbhismus übernommen,
aber bie religiöfen Elemente find nicht vollftänbig fein Eigentum
geworden, nur die „Methode der Betrachtung” hat der Bubbhismus
ihn gelehrt; das metaphyfiiche Clement entipradh zu wenig feiner
optimiftiichen Lebensbejahung, das Rontemplative lag feiner Natur
fern. „Der wohltätige Einfluß dieſes Lichtes Afiens, das unjre
Zivilifation erhellte, war bie Einführung der metaphyfiichen Elemente,
die uns teilweife die Löfung des Geheimniſſes unfrer Natur lehrte,
Gutes und Böſes, über Leben und Tod, Dinge, mit denen ber
praftiiche Sinn unfrer Rrieger fid wenig beidäftigte, aber auf
die jeder normale Menſch von Zeit zu Zeit, wenn er in beidaus
licher Etimmung ift, feinen Blid wendet. Wir Lönnen jagen, daß
biefe ariiche Religion unfern Sinn mehr zur Betrachtung anleitet,
während Shintoismus troß feiner Anbetung der Natur uns mehr
zum Denfen veranlaßt. Was wir aljo vornehmlich in moraliſcher
Richtung gewonnen haben, iſt die Methode der Betrachtung, ein
„modus operandi geiftiger Reife, und nicht fo jehr feine
Vhilofophie oder jein Dogma.“ Dagegen mußte die
von ejoterichen Elementen gänzlich freie Lehre des Kon-fustie dem
auf das Praftiiche gerichteten Sinn des Japaners entipreden, und
auf biefer Grundlage baute ſich die Bufhidolehre auf. Dennoch
müfjen wir vermuten, daß die Morallehre des Ghritentums in
Japan einen geeigneteren Voden finden dürfte, ale das Dogma
von der Erlöfung, und bie kurzen, oben angeführten Vergleihe
zwiſchen Buſhido und Chriftentum, die Nitobe angeftellt, recht-
fertigen dieſe Vermutung. Das Buſhido wird fih cher dem
modernen Chriftentum aflimilieren fönnen im Sinne einer allges
meinen, nicht mehr auf eine Kafte beſchränkten Moral, und wird
ſich vielleicht davor hüten, in den Fehler zu verfallen, abfolute
Begriffe aufzuftelen, die jeder Entwidlung der Deoral Hinderlich
werden fönnten. Cs ift ungemein Ichrreid, dab ein Volt, deſſen
jüngfte Vergangenheit ſich in einer Periode rapiden inneren und
Siterarifche Rundſchau. st
äußeren Wachstums abipielte, auch in den tiefften Grundlagen
feines Weſens, in feiner Weltanfhauung und in feiner Moral
diefen aktiven Trieb zur Geltung gebracht hat. Seine Welt:
anſchauung it Dank für fein eigenes Daſein, als Grundlage jeder
Tätigfeit, iſt freudige Lebensbejahung, und feine Vloral fordert
von ihm, ne Kräfte in den Dienit des Allgemeinwohls, des
Staates zu ftellen: Beides hat die finnvolle Betätigung zum Ziel,
nicht den eigenen Vorteil, wohl aber die eigene Ehre, den guten
Namen und Kuf.
In engem Zujammenhang mit bem ausgeiprodjen diesſei⸗
tigen Charakter der japaniſchen Moral jteht der Selbjimord. Das
Haratiri ericheint als eine Art Selbithinridhtung eines Menſchen,
der feinen Mitmenſchen etwas jchuldig geblieben iſt; er hat ſich
durch irgend ein Vergehen entehrt und vollzieht nun felbft die
Strafe an ſich, oder er will mit dem Tode feine Unschuld beweifen:
„ich will euch meine Seele zeigen, auf daß ihr jelbjt urteilen
get.” Nitobe jagt Sehr zu biefem für unjer Verſtändnis
fo ſchwierigen Bunft japaniihen Chrgefühls: „Es iſt die Geſchichte,
bie den blaſſen Tod verflärt; es iſt das Yeben, das der Verblidene
überitanden hat und das dem Tode die Pein und Schmach nimmt.
Wenn es nicht fo wäre, wer wollte den Schierlingsbeder mit
Pitofophie zujammenreimen, oder dad Kreuz mit dem Evangelium?
... Wir fönnen über Yeibaufidligen jagen, was Garlyle über
teligiöfe Bettelei gelagt hat, dah 6 weder eine jchöne Beichäf-
tigung war, noch eine chrenvolle, bis der Edelmut derer, die fie
übten, fie zu einer ehrenvollen machte.” Die eigentümliche Art
des Selbitmorbes beruht auf der Vorjtellung des Japaners, daB
ber Sik der Seele in der Bara, der vorderen Humpffläde, zu
ſuchen ſei. Dieſe Anfhanung hat eine gewiſſe Verwandtihaft mit
der griechiihen Voritellung von dem Sig der Seele im Zwerchfell,
und die Phyfiologie Hat uns gelehrt, daß die großen jympathijchen
ervengeflechte, die in ber Tiefe des Leibes fihen, zu unfrem
ganzen Gemütsleben in nächſter Beziehung ſtehen. Die Art des
Selbftmorbes erfordert, da fie im höchſten Grade ſchmerzhaft iſt,
Diut und fühle Überlegung und ift daher nicht fo leicht zu voll:
stehen, wie jein Leben durch einen Piſtolenſchuß zu enden. Nitobe
verteidigt den Selbftmord nicht, aber er erflärt, „daß der Tag ein
trauriger für Japan werben wird, an dem feine Söhne die Yet
ſchatzung der Ehre einbüßen follten (id) meine damit nicht Seppufu
(oder Haratiri) felbit), die dieſes furchtbare Verfahren in ſich
icjfießt.”
„Ehre iſt das einzige Band, das den Japaner mit der fitt:
lichen Welt verknüpft.“ Das Wort erfceint auf den erſten Blick
dürftig, aber wenn die Ehre nicht nur ein nad) augen hin ſauber
gehaltenes Gewand bedeutet, jondern ſich auch auf die Gejinnung
vaini che Monatafchrift 1909, deſt 1. 6
82 Siterarifche Runbfgau.
erſtreckt, jo liegt barin viel beſchloſſen. Und bie Buſhidolehre
verlangte vom Samurai, daß er fich über ſich ſelbſt Rechenſchaft
zu geben habe. „Das Gewiſſen, bei uns verftändlic unter ber Ber
zeichnung Rokoro (was Sinn, Geift und ebenfo gut Herz bedeutet),
mar ber alleinige Maßſtab für Recht und Une Aber wir
wiſſen, daß das Gewiſſen eine Macht des Bewußtieins ift, und da
das ganze Wejen von Bufhido Tätigkeit bedeutet,
fo ift uns . . . gelehrt worden, daß Gedanke und Tat ein
und basfelbe iſt.“ „Es war bie Urjache, nicht der Ausgang, bie
dem Verhalten Gerechtigkeit angebeihen lieg” — das find Worte,
die dem tiefften Sinn jeder Moral gerecht werden, baf nicht die
Handlung als folde ſMiechtweg, fondern mr in Bezug auf ihre
Motive fittlid) oder unfittlih genannt werden fann.
Durd welche Kluft ift diefe Auffaſſung von ber äußerlichen
Gefegeserfüllung des wahren Semiten, des Juben, getrennt, der
in einem flachen Phariiäertum feine Befriedigung fand. Dem
Arier wird aber aud) die japanische Wioral dürftig und äußerlich
eriheinen, weil er gewohnt ift den Mert der fittlihen Forderung
an der hödjiten nur denkbaren Stufe des Moralgeſehes zu meilen.
Diefe Stufe ift dem Japaner erreichbar, und weil fie erreichbar iſt,
hat er nicht, wie wir, die Verfuhung zu Kompromiffen zwiſchen
fültlicher Pflicht und Handlung. Dir erideint es unwahrſcheinlich,
daß ein Volt, befien ethiiche Forderung fo ganz dem pratuſchen
Bedürfnis, jo ganz dem fulturellen Wachstum Rechnung trägt,
innerlich verlogen jein foll, ein Volk, deſſen Moral den Stempel
der Ehrlichfeil an der Stirn trägt. Man braucht doch mur ar
den dritlichen Engländer zu denfen, dem es jo ungemein leicht
gelingt das, was ihin politiſch unzıwedmäßig erjcheint, als unchriſtlich
und unmoralifd) zu ftempeln! uf weilen Seite liegt mehr Merz
logenheit? Aber der Ruf des Japaners ift in Bezug auf Wahr:
heitgtiebe fein guter, und mir fcheint der Grund dafür nicht fern
zu liegen: Jedes Volk, das ſich in jahrhundertelanger Abgeſchloſſen-
heit entwidelte, deſſen oberjter Grundjag der Aufbau und die
Erhaltung des eigenen Staates war, wird bei der Berührung mit
andern Yölern id eines gewiſſen Wiftrauens nicht erwehren
Lönnen, das zugleich mit jenem Hochmut gepaart fein mag, ber im
Andersartigen das Minderwertige erblidt. Erſt fpät lernte der
Japaner fremde Kulturen mit lernbegierigen Augen anſehen, und
das Gelernte forgfam für eigene Zmede ausgeflalten. Diele ganze
Situation verlangte eine gewiffe Vorſicht und diefe Vorſicht Teint
von bem Europäer mißbeutet zu werden. Sie eriheint ihm als
Verſtecktheit, als Falſchheit, während ſie doch nur die moderne
Form für die politiiche Liſt, für den eigenen Selbfterhaltungstrieb
ift, den der hocjfultivierte Staat ebenfo nötig hat, wie der aufs
ftrebende. Ein anderes Dioment liegt dagegen in der Nejerve, die
Literariſche Rundſchau. 83
der Japaner in Bezug auf jein Gefühlsleben überhaupt beobachtet.
Man ſpricht von dem jtets lächelnden, luſtigen Völkchen, und biete
Epitheta haben dem Japaner den Ruf der Oberflächlichteit einge:
tragen. Nitobe weilt diejen Vorwurf als unberechtigt zurüd: es
fei ein weſentlicher Zug der Buſhldolehre, daß fie völlige Selbft:
beherrfhung verlange, einen Stoiziomus, der nit nur eine nad)
außen zur Schau getragene Ruhe, fondern aud) ein inneres Bewäl:
tigen ber Leidenfchaften verlangt. Diefe Forderung ift dem Japaner
fo in Fleiſch und Blut übergegangen, daß er fich nicht dazu
entichließen wird, dem fremden einen Blid in fein inneres zu
geitatten, er wird mit dem Lächeln der Höflichfeit den eigenen
Schmerz zu masfieren juchen. Das wird für Mangel an Wahr:
heitöfiebe gehalten und doch liegt in diejer Verſchloſſenheit ein
ftarfer männlicher Zug, den flüchtige Beobachter nur falſch gedentet
haben.
Aus allen dieſen Einzelheiten it erſichtlich, welche Schwierige
feiten fi dem Europäer beim Studium des Japanertums entgegen-
ftellen. Es wird ihm nur felten gelingen, in den Kern jeines
Weiens einzubringen, und bie Veſchreibumg des Gejehenen und
Gehörten wird häufig das wahre Bild fälihen und dem Weſen
des Japaners nicht gerecht werden. CEbenfo energifch verwahrt fich
Prof. Nitobe gegen das in Europa herrſchende Vorurteil, das die
japanifche Fran dorzugoweiſe als Geiihatypus fennt. Schr über-
zeugend jagt er: „Es gibt wohl faum eine irrigere Auffailung,
als den Charakter der Samurai: srauen mit dem Typ der Geijha
gu vergleichen; es war talfächlich der Gegenſah zwiichen beiden,
der den Geilhas die Dafeinsberehtigung verſchaffte, denn die
Samurai:Frau war ein gejegtes, ernftes, ja felbit jtrenges „haus:
badenes Geſchöpf“ mit fehr wenig Geſchmack für Unterhaltung
und nod) weniger für Vergnügungen, beiler bewandert in der
Poeſie des Altertums 2.” Und es ericheint aud im höchſten
Grade unwahrſcheinlich, daß die Frauen, in deren Yand doch vor
allem die erite Erziehung der Kinder lag, ſo tüchtige Maͤnner
ihrem Vaterlande erzogen haben follten, wenn fie nicht auch die
nötige ethiſche Qualififation für diefe Aufgabe bejejjen haben ſollten.
Allerdings Iheint das Verhältnis der Ehegatten zu einander nicht
jene grundlegende Bedeutung gewonnen zu haben, wie in Europa,
mo dieſes Verhältnis in ideellem Sinn den Wertmeiler für bie
Höhe der erreichten Rulturitufe beitimmt. „Das Chriftentum“,
fagt Nitobe, „lehrte, dab der Kernpunft wohlgeordneter Gejellichaft
anf dem chelichen Zufammenleben der erjten Eltern beruhte und
daß folgerichtig ein Mann Vater und Mutter verlaiien und feinem
Weide anhangen joll; eine Lehre, die an und für ſich nicht leicht
veritändlich und, wie jhon Paulus zugibt, jehr zweifelhaft in ihrer
Anmendung ift und einem unreifen Jüngling geitattet, den Willen
—*
34 Literariſche Rundſchau.
feiner Eltern mit Füßen zu treten, wenn er ſich in ein leichtfertiges
Mädchen verliebt. Chriſtus hat ſelbſtverſtändlich diefe Auslegung
nie befürwortet, aud enthalten die zehn Gebote nicht den Wortlaut
Du follft dein Weib mehr lieben, als du deinen Vater und deine
Mutter ehrft.'" Nad) der Buſhidolehre beftand „die kindliche Liebe
als die erſie aller Tugenden“, und wieder berührt ſich hier dieſe
Anſchauung mit ben Ideen des Ahnentults. Cs ift die Danlbar—
feit für das Dafein, die das Kind feinen Eltern jchuldet und aud)
bie Gattenliebe darf nicht in Konflikt mit der kindlichen Ehrfurcht
geraten. Es it nur eine Konfequenz diefer Auffaſſung, die offenbar
allen orientalijchen Volfsftämmen gemeinfom ift, daf bie Gattin
erſt die ihr gebührende Stellung einnimmt, wenn fie Mutter
geworden ift, wie denn auch Unfruchtbarkeit der Frau in Japan
a!s anerfannter Scheidungsgrund gilt. Aber and auf Diefem
Gebiet hat der weſteuropäiſche Einfluß Schon vieles geändert und
6:5 der mmgemein farfen Mifimilationsfähigteit des Japaners wird
& nicht lange dauern und die Emanzipation der Frau wird dort
bereis jene mafvolle Grenze erreicht haben, welche die übers Ziel
binausfcjiehenden Veitrebungen in Guropa erit nad längerem Hin-
und Herſchwanken feftftellen werden.
In Enropa Hat man die Nachahmungskunſt Japans oft ver
jpottet, aber wenn diefe Kunſt oder Anlage mit Aritit_ und dem
Vermögen, richtig auszuwählen, verbunden- it, fo muß man fie
wohl als die Grundbedingung jeder Selbitersiehung unfehen.
„Welche vorwärtsfcreitende Nation hätte fie nicht befeifen und
benugt? Man braucht mr zu bedenfen, wie wenig griechiiche
Kultur auf hellenifhen Boden entitand. Dir ſcheint, daß das
originelfite, d. h. das wenigft nadhahmung e Wolf die Chinefen
waren, und wir jeben, wohin ihre Originalität fie geführt hat. . .
Wir fhaudern bei dem Gedantken an unfer Schidjal in dieſem
Tannibalij—hen Zeitalter der Nationen, wären wir immer das gleiche
Driginal geblieben.” (Nitobe.)
Vor nicht langer Zeit blätterte ich in Burkhardts „Kultur—
geichichte der Griechen“ und von Seite zu Seite fteigerte fi mein
Intereſſe für die eigenartige Daritellung, ja die faft neue Beleuch-
tung der griechiſchen Geſchichte, die durch 9. . Chamberlains
„Grundlagen des 19. Jahrhunderts” auch in weiteren Kreiſen
befannt geworben iſt er zugleich fiel mir eine überraichende
Karallele auf: unwilltürlich viefen Burthardis Schilderungen des
griechiſchen Lebens Erinnerungen an die Verhältniſſe in Japan
wach. Diefe Frage follte wohl von berufener Seite eine ſorg-
fältigere Bearbeitung erfahren, denn es gibt eine Reihe interefjanter
Vergleichspunfte,
Wenn wir vom Shintoismus ausgehen, fo finden wir in
Griechen land ebenfo eine Naturreligion, eine Verehrung perfoni:
Literariſche Rundſchau. 85
fizierter Naturgewalten, die fpäter — vielleicht ſchon zu
Zeiten — einem weitverbreiteten Skeptizismus ber
gegenüber weicht und in dem jofratijhen „Erfenne dich jelbji” und
jeinem Daimonion bereits die Grundzüge der Bujhidolehre enthält.
Die Kalokagathia, die vornehmite Tugend der Griechen, war ein
ethiiches Scyönheitsgeieg, das jeinen Ausdruf in einer harmoniſchen
Lebensführung fand. Männlichteit, Tapferkeit durjten nidt den
Charakter der Zeidenichaft annehmen, fie mußten durch die Sophroſhne
(das weile Mahalten) gedämpft werden. Die erjte Pflicht galt
dem Staate, ber Bolis. Ihr Wohl jollte jein vornehimjtes Streben
fein und der Züngfing wurde in erfter Linie zum Patvioten erjoren.
Burkhardt betont es bejonders ſtark, wie wenig Die Idee der Polis
dem einzelnen, der zu ihr gehörte, feine freibeit ließ, er wurde
unfrei durd die Verpflichtungen, die ihm Staat und Gemeinde
auferlegte, und das ichlimmite, was den Griechen- treffen Tonnte,
war bie Verbannung, das hie; mit andern Worten n
Tod, denn nur in der Vaterjtadt durfte er feinen veligi
verrichten, dort jtand das Heiligtum der Hausgötter und mit dem
Veriaffen jener wurde auch das Yand jerriifen, das ihn mit feinen
Vorfahren verknüpfte. Das war derjelbe Patriotismus, derjelbe
Ahnen und Hersenfult, den Japan noch heute befißt.
Ebeniowenig wie der Japaner Fannte der Grieche den Begriff
„Zünde” und fonnte ihn in unjrem Sinne nicht kennen, wohl
aber war ihm „das Bewußtſein der Schande” ebenfo geläufig wie
jenem. Schon die homeriſchen Helden weinten vor Scham, und
die erihütternde Verzweiflung, die Mar in den Tod treibt, it mus
allen von der Schulbank her befannt. Diefes ausgeprägte Eh
gefühl läht ihm den Tod auffuchen, ja den Selbitmord, wenn fein
Stame, fein Ruf beffesft war. Werkwürdige Heifpiele erzählt uns
Burfyardt, wie ältere Menſchen ſich das Leben nehmen, weil fie
fürchten, durch Alter und Gebrechlichkeit läſtig werden. Da
jpielt ein, äjthetiiches Moment hinein, was vielleicht and dem
japanijchen Harakiri nicht fehlt, wenn Schuldloſe, um ihre Unschuld
zu beweilen, ſich den Tod geben.
Die Parallele dürfte noch interefjante Vergleichspunkte aufs
dedfen: jo das Hetärenweſen in Athen, das im Perikleiſchen Zeit
alter einem ähnlichen Bedürfnis entſprach, wie das Geiſhatnm
heute in Japan. Die geiellichaftlich enge Stellung der Chefr
ſchuf eine Mitteltellung des Weibes, der der freiere geiſtige Ver—
fehr mit Männern nicht allein geitattet, jondern zur Pflicht gemacht
wurde.
As itig und verichlagen galt der Grieche bei fremden
Völfern,. bejonders bei jeinen diplomatiihen Miffionen, und Burke
hardt bezweifelt feine Wahrheitsliebe auch dort, wo er vaterländiiche
Geihjichte ihrieb. Die Tatfaden feien von Legendenbildung und
0 Siterarifche Rundſchau.
Ruhmredigkeit durchwebt, fo daß es ſchwer fei, Tatſache und Dar-
feltung zu fihten. Das erinnert an die enropäiichen Urteile über
‚Japan.
Zum Schluh möchte id) noch auf einen wejentlichen Unter:
ſchied hinweijen, der ſich auf dem Gebiet der Kunft geltend macht.
Die antife griechiſche Kunſt fah ihre tiefiten Ideen verkörpert in
ruhenden Geſtalten, fie fand in dem harmoniſchen Gleichgewicht
der Linien und Formen den fchöniten Ausdrud. Das Drnamentale
gab auch der Darjtellung der Menſchen, nicht nur der Götter,
jenen tiefen, ftillen Wohllaut, der uns noch heute vor ben großen
Werten jener feltenen Zeit file jtehen läht. Erſt ſpäter, wohl
beeinflnft durch die Nunitbewegung in den joniſchen Städten Klein:
afiens, wandte fie fich einer vealiftiicheren Auffaſſung zu umd prägte
anjtatt der Typen Charaftere. Wer vor einem Prariteles’ichen Kopf
oder der Miloniſchen Venus fteht, wird vergeblid nad) irgend:
welchen Anhaltspunkten für den Charakter der betreffenden Gejtalten
Suchen — fie find Schönheitsideale. Ganz anders jiellte ſich der
Japaner diejem Problem gegenüber: der Menſch, den er daritellt,
das Tier, der Vogel, die Pflanze, jedes einzelne darafterifiert er
ſcharfe er gibt ihnen Stellungen und Ausdrud, die nie vollfom-
mener Nuhe entlehnt find, jondern immer ein vewehungsmoliv
enthalten. Der Vogel, der auf dem Aſte figt, jtredt ben Hals,
um nad) einem Jufekt auszuicauen oder er lift feinen Kopf tief
im Federkleid einfinfen, um ſich zum Schlaf zu rüjten. Leben
bedeutet dem Japaner Bewegung, Tätigkeit und er ficht die Natur
als eine beitänbig bewegte, und er begreift den Sinn diejer Bewer
gung, wenn ‚er in jeidenen Slickereien oder Elfenbeinſchnitzereien
Nejthen an Äſichen und Blüte an Blüte fügt, nie einen Fehlſtrich,
einen Mißgriff tut, Sondern überall das gejegmähige Walten
innerer Naturgejege durdihaut und die Erideinung in ihrem
Sinn, d. h. in ihrem Charakter verjtanden Hat. Als die eriten
japanifhen Arbeiten nad) Europa famen, da hielt man die jonderbar
verfüuzten Gejlaften, die eigenartige Zlugftelung ber Vögel für
unnatürlid,, bis die Momentphotographie uns darüber belehrte,
daß ber Japaner richtiger und ſchneller gejehen hatte, als der
Envopder, der ſich die Antworten auf diefe fünftleriihen Tragen
bisher „nur aus der Tiefe feines Gemütes konſiruiert“ hatte.
Lad wie ichmell überholte der Japaner jeinen Hineſiſchen Lehr:
meiiter in der Anwendung der Farbe: die bleichen Broncetöne des
Herbjies To fein abftufen kaun nur ein Japaner; ſeine Netzhaut
muß nicht allein auf Linien, jondern ebenjo auf farben feiner
teayieren, als die unfrige. — Xntereifant wäre es zu erfahren,
ob in der Mufit Japans auch bie Tonintervalle geringer find, uld
bei uns und ber Japaner beim Anhören einer europäiiden Secunde
vielleicht den Wohllaut einer Terze zu hören glaubt.
Literariſche Rundſchau. 8
Wie in der Buſhidolehre bie Moral den Geſetzen bes Lebens
entnommen und jeinen Bedürfniſſen angepaßt war, jo eutſprach
aud) die Kunſt dem eigentlichſten Lebenonerv bes Japaners, fie war
Charalteriſtik finnvoller Bewegung, d. h. der geiegmäßigen Tätig:
keit, die dad Bushido auch vom Menſchen verlangte. Das hödjte
Ideal war dem Japaner bie Leiſtung⸗ die Arbeit, dem Griechen
die götterähnlihe Ruhe, -— jenem das Tun, dieſem bas Sein.
Nur der Gott jelbit, Buddha, figt finnend und bemegungslos auf
jeinem Thron, ihm genügt das Sein — er fennt fein Tun —
und jo hat Japan ihn dargeitellt
So gehen icheinbar friedlich Moral und Kunft in Japan
nebeneinander her, ohne in unfruchtbarer Zwietradht, wie bei uns
in Europa, einander zu befehden, unb erft die Zufunft fan uns
zeigen, ob diefe beiden Gegenjäge im legten Grunde eins find,
wie ein jeltenes Geſchick uns die Vereinigung beider im Genie
zeigt. Das Genie iſt individuell chöpferiich, im weiteiten Einne
des Wortes Künitler, aber cs erfüllt das höchjte Geſetz der
Moral, wenn auch „jenjeits von Gut und Böle“, indem es ſich
jelbjt bejaht und dem Gefetze feines zur Welt erweiterten Achs
gehorfam iſt.
Der Weg dahin — wer weiß ob er gelehrt werden fann --
dahin, wo der Menſch das Necht bat, wieder Herr zu fein, jein
jelbjteigener, führt durch Dienſt und Hingabe des eigenen Celbft.
&s ſcheint richtiger, diefen Weg zu wählen, wenn aud manches
„Selbit“ darüber zugrunde gebt, als den umgefehrten und mit
dem „Herr jein“ anzufangen. -- Bor bald taufend Jahren fang
ein japaniiher Dichter die Strophe:
Vezwinge du zuerſt dein eignes Selbit,
Tann deine Freunde, endlich deine Feinde.
Das find deri Siege, und vereint fo Itart,
Dafı fie des Sieger Namen OHlany verleihn.
und vor hundert Jahren hörte Europa aus dem Munde feines
größten Dichters die Worte:
Doc, wenn ein Wann von allen Yebensproben
Die fauerite beiteht, fi) felbit bey
—*
Tann fan man ihn mit Secuden Andern zeigen.
Und jagen: Das iit er, das ift Tein eigen.
Dr. R. v. Engelhardt.
Ghubaromst, Nov. 1904.
Literariſche Schweitern.
Wir leben in einem Zeitalter, das der Kunſt wieber eine herr:
ſchende Stellung eingeräumt hat. Nachdem mehrere Jah
jehnte fang das Intereffe für die Naturwiffenichaft im Lori
grumde geilanden hat, it mun die Kunit in ben Mittelpunft
getreten. Cs ift, als ob fidh der Gebildete erholen wolle von all
dem Zergliedern, Trennen und Klaffifizieren, das ein entwidelter
Betrieb mit fich bringt. Er will in eins fallen, zujammenfchanen,
intuitiv den Sinn bes Ganzen ergreifen, am Gieichnis, am Vilde,
am Eymbol genug haben — kurz, fih ein wenig vom Denfen
erquicken im Gefühl.
Der lebhaft erwachte äfthetifche Trieb tritt mannigfad) in
die Erſcheinung. Cs ift nicht zu verfennen, daß er mit einem
andern, heute aufs Neue angeregten Triebe zufammentrifft, mit
dem fozialen. Der Strom, zu den ſich dieſe beiden vereinigen,
ift durch ein Echlagwort unfrer Zeit gefennieichnet: ARunft und
Volk. Wo ſich ülthetiihe und foziale Intereffen jo vermählen, da
liegt die Gefahr einer einjeitigen Üeberihägung und Ueberfpannurg
des Aefthetüchen nicht vor. Anders liegt Die Sache, wo dus
Aeſthetiſche ohne dieſen Zulammenhang mit den Intereſſen der
Gejamtheit gepflegt wird. Hier teitt das art pour Part auf.
Gewiß, man fann auch diejes Wort fo deuten, daß cs uns
berechtigt erſcheint: die Kunſt um ihrer jelbjt willen! Aber es
!äht fid) doch nicht leugnen, daß wir es hier mit einer ganzen
nicht unbedeutenden Richtung unjrer Zeit zu tum haben, deren
Tendenz wir am beiten bezeichnen mit dem Worte: Aefthetifierung
des Lebens. Alfo nicht bloß: mehr Kunſt Ins Leben, mehr Leben
in di jondern dns ganze Leben zum Kunſtwerk! Es werben
jo ſchließlich alle Yebenswerte umgewandelt zu äfthetiichen. Der
ätherische Gefichtspuntt ijt der einzige, von dem aus das Leben
zu betrachten iſt. Es bringt das nicht nur eine Vernachläffigung
der Winſenſchaft, jondern vor allem eine völlige Verachtung der
al mit ſich. Daß der eigentliche Vater diefer Nichtung
jegiche iſt, Fcheint mir kaum zweifelhaft. Die Schlagwörter
er nicht geprägt vom Yeben als Nunftwerf, von der
betiiierung uw. Aber feine Verachtung der herrſchenden
enſchaft und der driftlihen Moral, fein Eintreten für bie
Herreumoral, jür die „Blonde Beſtie“ und den Uebermenſchen
bedeutet doch nichts anderes als die Inthronifierung des äſthetiſchen
giterarifche Rundſchau. 8
Urteils. Der gewaltige Künftler Niegihe -— denn das ijt
er doch vor allem geweſen — jtellt die Genialität, die Araft,
die Herrichergewalt als das Höchite hin, mei fie ihm gefällt,
weil fie jo wunderſchön iſt. Er reißt — falt fünnte «an
jagen eine junge Generation mit fid, die ſchon angebeuteten
Zeiteinflüſſe treten Hinzu, und es entiteht jene rein äſthetiſche
Weltanſchauung, die Neithetifierung des Lebens.
Es dürfte nicht ſchwer „fein, in ber Siteratur dieſe Geſamt⸗
ſtimmung nachzuweiſen und fie braucht nicht immer ausgeſprochen
zu fein, fie fan aud als Duft über den Werten ausgebreitet
fein, wie das z. B. bei den Dichtungen des feinfinnigen Hugo
v. Hofmannsthal und der talentvollen Nicarda Huch der Fall it.
In andern Füllen verdichtet fi die Stimmung zum Gedanken.
Subermanns „Heimat“, vor allem aber Hauptmanns „Verfunfene
Glocke“ bietet ein gutes Beiſpiel.
Um feine Miſſion erfüllen zu können, muß Heinrich mit
Geſetz und Sittlichfeit in Konflift geraten, jein Weib verlaſſen
und Nautendelein freien. Was der Staatsbürger und Ehemann
verliert, gewinnt der Künſtler. Heinrich hat freilich nicht bie
Kraft, den bejchrittenen Weg bis zu Ende zu gehn, er geht unter,
aber jterbend hört er Sonnenglodentlang. Es gibt eine Möglicy-
feit, fein Leben ganz zum Kunſtwerk zu machen, unbeirrt um das
Dazwifchenfahren einer hindernden Moral, ganz äſthetiſch, ga
Künftler zu werden.
Eins freilich iſt dazu nötig: die volle ungeſchwächte Ent—
widlung des Gefühlslebens. Weg mit den Nlügeleien des Ver—
Htandes, mit der Dreſſur des Willens in einer aufgezwungenen
Moral! Heinrichs Gefühlsichen kann ſich nur frei entfalten an
der Bruft der Natur. Daher die Vereinigung mit dem Natur:
wejen Nautendelein. Diefer Punkt führt uns auf das zweite
Sharafteriftitum der literariſchen Richtung, von der wir reden.
Der reine Aeſthetiler muß das Gefühlsleben vor allem betonen
(aisthesie = Empfindung). Schauen, farbenfrob, gefunde Sinn-
tichfeit und Achnliches ind heute Schlagwörter. Won der bildenden
Runit her wirft ein Genie wie Bocklin fräftig in diefer Nichtung.
Und jo wird denn verſtändlicherweiſe die Natur befeelende, Geftalten
ichaffende, Auge und Ohr, kurz die Sinue erfreuende Phanrafie
verherrlicht. Gegenüber der Betonung des Verftandes und des
Gewiſſens die freie herrliche Phantafie. Won bier iſt nur ein
Scwitt zur Anertennung des Phantaſtiſchen, Abenteuerlicen,
Geheimnisvollen, ja Wunderbaren und Zauberhaften. Märchen-
dichtungen, wie die „Veriunfene Glocke“ und „Die drei Neihere
federn“ weifen in dieſe Richtung. Und ebenjo die dunkle Lyrik
des Eymbolismus und Impreffionismus. Dehmel, Bierbaum,
Schautal, Schlaf, Holz und viele andere haben unter dieſem
9 Siterarifeie Rundfehan.
Zeichen geichrieben. Und man irrt wohl nicht, wenn man annimmt,
dah die erfreuliche Betonung der Voltsmärden und Volkslieder,
wie fie in andern lilerariichen reifen, 5. 3. denen des Kunſt-
warts, ſo heiter erblüht it, auf einem ähnlichen Boden erwachſen
it. Die Schäpung bes Gefühlslebens bringt aud) die Märchen-
und. Wunderluft des Volkes mit fich.
Wo aber die äftheliichen Werte A und O find, wo man
ſich im Dämmerlicht des Symbolismus "bewegt, da ift es ſelbſi—
verjtändlich, daß eine Dichtung, die im hellen Mittagslicht daliegt,
die zugleid) von einem jtarfen fittlihen Pathos getragen ift, ein
heftiges Unbehagen erregt. Es ift einfach naturwibrig, daß ein
Dichter wie Shiffer auf die ganze literarifhe Gruppe, von der
mir reden, wo nicht abitoßend, jo doch erfältend und ernüchternd
wirft. Er ift ihr geiftiger Antipode. Im hellſten Sonnenſchein
eben feine Geftalten da, fie behalten nichts Schwanfendes, nichts
Dämmerhaftes, find in großen Linien gezeichnet und fo hell
beleuchtet, daß die zarten, vermwöhnten Augen des modernjten
Aefihetifers regelmäßig zu ſchmerzen anfangen, wenn fie fie
betrachten. Sie vermiiien den „Duft“, die intereiiante Linie.
Und dann das fittlide Pathos! Das iſt nun ſchon einfach uner-
Laubt. Statt der fein nuancierten Stimmung, jtatt der interefe
fanten, geheimnisvollen Fragezeichen große und fo umendlid) ein
fache Wahrheiten! Mozu die Selbſtverſtändlichkeit?
Wir wollen hier nicht darüber uwteilen. Die Abneigung
gegen Schiller follte hier nur angeführt werden als Symptom
einer Richtung, die das Aeſthetiſche zur Alleinherrichaft erheben,
das Gefühlsieben vor allem entwideln, in geheimnisvoller, phans
taftiiher Dämmerpracht fid ergehen will.
Die Entwidlung des Gefühlslebens, das Bewußtinachen des
Unbewußten, jene oft beſprochene Differenzierung und intime
Sinancierung der Empfindungen hat eine wichtige Kouſequenz, bie
Yetonung des Subjeftiven. Es ift befantt, welche Nolle in
waſrer Zeit die „Individualität“ fpielt. Schr begreiflih. Der
Intelleft muß nach objektiven, alfgemein güftigen Regeln operieren,
der fittlih gerichtete Wille fügt ſich objektiven Normen und
bandelt nad) ihnen. Das Gefühl läßt ſich nicht fommandieren.
Cs iſt oder ilt nicht, umnbefümmert um die orderungen ber
!rußenwelt. „Mir it fo“ — daran läht ſich durd die ganze
objektive Welt mit ihren Gefegen und Forderungen nichts ändern.
Es ift verftändlid, daß eine Kunſi, deren Ziel vor allem in der
äußeriten Verfeinerung bes Gefühlslebens“ befteht, jubjetioiftiich
wird. Stimmungspoelie.
Diefe literariiche Richtung iſt nicht etwas ganz neues. Viel-
mehr erinnert fie in vielen meientlihen Zügen an bie vorige
Jahrhundertwende, 1900 an 1800. Auch der Ausdruck für die
Literariſche Rundſchau oi
gegenwärtige Richtung iſt im Hinblick auf die ältere Schweſler
geprägt worden: Neuromantif. Denn es liegt in der Tat eine
frappante, wenn aud) eigenartig ſchattierte Aehnlichkeit vor mit
jener berühmten Romantik, die durch die Schlegel-Tied ins Leben
trat. Die eigentümliche Yetonung und Entwirlung des Gefülls:
lebens, bas Beilrehen, immer „aus dem Innerften zu reden“, das
Betajten und Zerfajern der eigenen Gefühle — das Unbewußte
foll ja bewußt werden — alles das find Dinge, die wir in der
älteren Homantif ausgeprägt wiederfinden. Wie jehr die Nomanz
tifer eine Poetifierung des ganzen Lebens angejtrebt haben, iſt
befannt. Friedrich Schlegels „Lucinde“ ftellt uns den freilich
mißgfüdten Verſuch einer folden Geitaltung des Lebens zum
Runftwerf dar. Die Moral wird verachtet, während die Witjen:
ſchaft für den Nomantiter eine ganz eigentümliche Ver—
bindung mit der Kunſt eingeht. Heißt es doch: „Alle Aunit full
Wiſſenſchaft und alle Wiitenihaft joll Kunſt werden.“ Endlich
der Subjeftiviomus der Nomantifer. Cs ift viel über ihn geredet
worden. Daher genüge hier die Erinnerung daran, daß nad
Friedr. Schlegel „das oberite Geſetz der Poeſie iſt, daß die Mille
für des Dichters fein Geſetz über ſich erlennt.“
So die Hauptzüge. Im einzelnen fanı man ſich mannige
fady darüber orientieren. Nihardb M. Meyer gibt im erſten
Kapitel jeiner „Deutichen Literatur des 19. Jahrhunderts“ mit
ein paar Strichen einen hübſchen Beitrag zu der beiprochenen
Parallele. Ricarda Huch blidt in ihrem wundervollen vomanz
tiich-Fongenialen Bude „Blütezeit der Romantil“ (2. Aufl.
1901) immer wieber auch auf unfre Zeit bin. Georg Tanß—
iher hat dieſem Thema eine beiondere Studie gewidmet:
„Friedrich Niegfhe und die Nenromantif” (1900).
Freilich Tönnte man jagen, daß wir ſchon manche Schritte getan
haben, diefe neue Nomantif zu überwinden. Symbolismus und
Impreifionismus machen bereits weniger von ſich reden, ein
Frenſſen erzielt die größten Erfolge, und der wandelt nicht in der
Dämmerung, jondern im hellen Eonnenlicht.
Gleichwohl iſt es vielleicht nicht überftäifie geweſen, daß ich
anf dieſe Parallele eingegangen bin. Sie drängt ſich einem auf
bei der Seftüre moderner Schriftfteller, auch ohne dal; man die
betreffenden fiteraturgeichichtlichen Bücher und Studien fennt. Auch)
iſt es mir nicht auf eine Verfolgung der Parallele in alle Einzei:
“ heiten angefommen. Wer da mehr Belege haben will für unfre
Zeit, dem jei Taubſchers Büchlein warm empfohlen ; wer ſich über
die alte Nomantif orientieren will, jei beſonders auf Nicarda Huch
verwiejen, die ihrem ſchon erwähnten Buche ein zweites über
„Ausbreitung und Verfall der Nomantif“ (1904)
hat folgen laſſen.
9” Literariſche Rundſchau.
Man könnte hier in der Tat auf wichtige und geradezu
erfiaunliche Einzelheiten eingehn, bie die Aehnlichkeit zwiſchen neuer
und alter Romantik dartın. Was ließe ſich nicht allein fagen
über die weiblich-romantiihe Empfänglichteit und Anſchmiegungs-
fähigkeit, wie ſie fid) ſowohl jetzt als vor hundert Jahren im der
Stellung zur Volfspoefie und zu fremdländiſcher Runjipoefie gezeigt
hat. Es würde uns an diefer Stelle doch zu weit führen. Denn
die Aufgabe dieſer Zeilen ift nicht geweien, die Entwidlung der
beiden Schweitern um 1800 und 1900 zu verfolgen, ſondern nur
darauf hinzumeilen, wie fie der inneren Anlage dieſer Schweftern
entſprechend jo ähnlich hat ausfallen müflen. Die verführeriih
prädtige und doch jo gefährliche Erhöhung und beftändige
Beachtung des fubjeftiven Gefühlstebens bildet den gemeinfamen
Ansgangspuntt.
Sodann aber galt es, darauf hinzumweilen, wie lehrreich ſolch
eine Wiederholung einer literariihen Richtung werden kann. Sie
‚enft unfern Blick auf den notwendigen Kreislauf in der äftheti-
ſchen Entwidlung der Menjchheit hin. Es treten dieſelben Urſachen
auf und erzeugen diejelben Wirkungen. Man fann die Nomanıik
at ihrem Sefühlsfeben, ihrem Subjektivismus, ihrer Phantaſtik,
ihrer Anpafjungsfähigfeit und der Sucht zu verbinden, zu ver-
idmelzen, wohl dem weiblihen Prinzip vergleichen. Von dem
Feminiomus der neueſten Zeit iſt Häufig die Nede gewejen. Aber
siegt nicht gerade in folder Chavakterifierung auch der Hinweis
auf das berechtigte Moment in alter ſowie neuer Romantik? Muß
aicht gerade die Lyrik aus dem Ewig-Weiblichen Nahrung gewin—
Und zeigen uns nicht die Lieder Uhlands, Eichendorffs,
Deines, vifes, wie fruchtbar ſolche romantiſche Anregung
gewefen i Mir ſcheint, bei Erwägung diejes Umftandes, wird
anfer Urteil über die romantiſche Nichtuug milder ausfallen
müſſen, als wie es Otto Harnad z. B. in feinem Eſſai
„Klaſſiker und Romantiker“ gefällt hat (Eſſais u. Studien 18
Anderjeits freilich hätten die Uebertreibungen und die
der alten Nomantiker unfrer Zeit vedhtzeitig ein warnender
gel jein jolen. Intereſſant find in der Richtung die man-
herlei Sharakterifierungen, Hinweiſe und ⸗Proben, die Tangicher
zur neuen Romantik bringt. Das find die Bahnen des fchranfen:
tojen Subjeftivismus, die Gefahren des Echwelgens im Rauſche
des Gefühls, die Ertravaganzen des Echönheitsfultus. Tangider
feot im Schlußwort mit Recht darauf noch bejonders den Finger,
‚ch nimmt fih m. E. daneben jein Echlußurteil über die Verech
tigung und die Verdienjte der Neuromantif ein wenig zu günitig
und optimiflich aus.
Endlich verdient die Stellung, die die Nomantif zu Schiller
einnimmt, befondere Beachtung. Es ijt oben mit ein paar Striden
ouerariſche Rundſchau. os
gezeichnet worden, wie ſich die Moderne zu Schiller geftellt hat,
ja ihrem ganzen Weſen nach hat ſiellen müſſen. Iſt dieſe
Etellungnahme'neu? Ganz und gar nicht. Unſer Publikum lebt
vielfah des Glaubens, daß Schiller unbeftritten ein Jahrhundert
lang geherriht habe, daß er aber der verfeinerten Piydyologie,
ben gefteigerten Kunſtanſprüchen unjrer Zeit nicht mehr genüge.
Wer auch nur ein wenig mäher zuficht, findet eine ganz andre
Sadjlage. Es iſt geradezu amüſant, wie die abfälligen Urteile
über Schiller, die um 1900 gefällt worden find, übereinftimmen
mit den ablehnenden Etimmen um 1800. Höchſtens unterſcheidet
ſich diefer neue Tadel von dem alten dadurd, daß er dody mit
etwas mehr Reſpekt ausgeiproden wird. Es iſt alfo nicht
modernſte Piychologie, der Edjiller nicht genügt, Tondern cs iſt
eine beitimmte Richtung, die fid) an ihn flohen muf. Sein
fittliher Ernſt, fein ideales Pathos, jein redneriſcher Schwung, die
Mittaghelle jeiner Zeichnung, die Einfachheit feiner Problen.e
feine Mar und ſchlicht geſchilderten Cheraltere fonuen den Roman
tifer alten und neuen Schlages nicht befriedigen. Aber es ift
doch eine jehr bemerfenswerte Tatſache, daß Schiller nicht etwa
als Anfänger oder während des KXenienfampfes (1796), fondern
auf der Höhe feineo Ruhmes, nach Vollendung feiner dramatischen
Meiſterwerke, als er tatſächlich ſchon der erfte deutſche Dramatiter
war, von der herrihenden literarifden Richtung
grenzenlos veradtet wurde. Wlan bedenke, was bas
beißt: «8 waren nicht Dutzendmenſchen, inferiore Peute, die ſich
an Ifiland und Kotzebue erfrenten und Schiller ablehnten, jondern
es waren führende Geifter, die eigentlich Schöngeiftigen Deutich:
lands, Männer, die große literariiche Verdienfte halten. Wie die
Geſchichle darüber geurteilt hat, it befannt. Trot des romanti-
ſchen Verdifts wuchs fid Schiller aus zum Licblingsdicdter, ja
zum eigentlichen Erzieher des deutſchen Volkes. Die Dichtungen
der Nomantifer wurden vergeſſen. Und fo ſcheint auc das Woͤll⸗
lein der Neuromantit, das Schiller verdunfelte, im Borübergehen
zu fein. Schillers Denkmal aber ift unverändert, und wenn
wir's anbliden, meinen wir die Worte eines alten Dichtero zu
hören:
Nun ſtehet es da
und fpottet der Jen und fpottet
Ewig gewähnter Male
Welche jchon jegt dem Auge, das ficht, Trümmer find.
Damit jei der flüchtige Hinweis auf die Stellung der
Romantik zu Schiller geſchlohen. Wen aber fpeziell dieje Frage
intereffiert, der jei naddrüdlid verwiefen auf das unlängit
eribienene Buch unſres Landsmannes, des Privatdozenten an der
Techniſchen Hochſchule zu Darmjtadt Dr. Kart Alt: Schiller
*
9 oiterariſce Wundfgan.
und die Brüder Schlegel. (Meimar, 9. Böhlaus Nadı:
folger, 1904. ME. 2.50). Dieſe wiſſenſchaftlich gehaltene, aber ,
dabei gut leobare Schrift Tann über den Eutwidlungsgang der
Schlegels, ihre wachſende Abneigung gegen Schiller und zugleich
über die Grundgedanten der Nomantit gut orientieren *.
*
Die obigen Aufzeichnungen find ſo kurz gehalten, daß fie
eine ausführlichere Begründung wicht bieten fonnten. Daher iſt
es vielleicht nicht wertlos, wenn nun als Nachwort die Beſprechung
des Homans erſcheint, der wohl beanſpruchen dürfte, der bebeu-
tenbjte ber neuromantifchen Richiumg zu fein. Sch meine Nicarda
Sud, Erinnerungen von Lubolf Ursleu dem
Füngeren (3. Aufl. 1901). Ich habe diefe Beſprechung bereits
vor einigen Jahren unter dem unmittelbaren Eindrud ber Lektüre
des Romans geichrieben, zunäcit ohne die Abſicht der Veröffent-
lichung. Meine Kenntnis der einidylägigen Literatur war damals
noch lüdenhafter als heute. Dennoch glaube ich mit der ver
ſuchten Parallele im wejentlihen das Nichtige getroffen zu haben.
Deshalb mögen die Gedanken, die unter dem frifchen Eindruck der
Zeftüre entitanden, hier eine Stätte finden, zugleidy eine Begrün—
dung bietend für die obigen Grörterungen umd eine Aufforderung
an den Lefer, zu forſchen, ob es ſich alfo verhielte. Ich würde
heute vielleicht mandes anders anfalien, laſſe aber, weil ich im
ganzen übereinjtimme, alles unverändert.
*) Bereits nadjbem ich meinen Artifel völlig abgefchlofien, jält mir ein
jüngit erichienene® Yırdh in die Hand, das id) dach menigitens erwähnen möchte,
weil «6 fi mit dem von mir behandelten Tyema berührt: Osfar Emuld,
Die Probleme der Nomanit als Örundfragen der Gegenwart. (Berfin 1904.
MI. 450.) Das Bud) ericheint als 1. Wand eines Werkes: Romantik und
Gegenwart. Cmald yält uniec Zeit für eine Zeit der Uufelbftändigfeit.
„Abhängig find wir und abhängig find unfre Probleme: von denen der Nomantif.“
US Grunpproblem erfceint ihm der Indinidualismus. Diefes findet er in
jedem einzelnen der niet Probleme wieder, die cr in feinem Bude behandelt und
Die ihn cbenfo für die Nomantit wie für die Gegenwart haratteriftiic zu ein
Ieinen: im Problem des Staats6, der Nunit, der Neligion und der Crotif,
Iedes diefer Probleme behandelt er zufamumen mit einem Repräfentanten. Tas
Stoatsproblen wird aupeilafen am Bei; Gens. das der Kunft am trabbe
daS der Religion das der Erotit an Meiit. — Dieie Meihode üit
‚Höchjt bevenflich. De ich find dieſe vier Männer garnicht charatteriftiiche
Werireier ber Nomantit, ſondern haben mr Beplehungen zu ifr. Sodann aber
it 08 irreführend, fie von einem jo einfeitigen Gejihtspunft aus zu_beiradten.
Endlich aber bringt der Gedanfe, ragen der Vergangenheit als Fragen der
Gegenwart zu behandeln, eine folde Unrube in die Arbeit, — man chaufelt
immer von 1800 zu 1000, -- dafı die Yeftüre wenig, Beiziediguug bietet. Der
erf. mag gute Abftcten haben, er weift auf fo manchen Sthaden der Moderne
hin. Aber er leider felber art einem Gebreden uniter Tage: cr hat feine Zeit.
Wieniel feuchtdarer wäre cine zuiammendängende und in die Tiefe geüende Zar
ftelfung der Probleme der Nomantit gewejen. Die Hätte dann and einen beffer
bearbeiteien Boden abgegeben für die Probleme der Öcgenwart.
Siterarifhe Rundſchau. 96
Ricarda Huchs „Qubolf Ursleu“.
Dies ift eine neue Romantik. Freilich feine Munder, keine
Zauberer und Feen kommen darin vor, nicht in eine ferne Ver—
gangenheit werden wir verjegt, und das geheimnisvolle Gebiet
des Religiöſen ſcheint der Verfaſſerin ein fremdes zu fein. Nicht
bie Requiſiten der Romantik wird man hier finden, aber ihre
Stimmung, nidt romantiſche Manier, aber romantilden Duf“.
Schönheitgetränft ift die Dichtung, allein mit dieſer romantiſchen
Schönheit hängt ein anderes zuſammen. So flar die Seflalten
angeichaut, jo beutlich fie gejeichnet find, fie behalten {chlieklich
doch etwas Ausgebachtes, und fo lebendig die Ereigniſſe vor unjer
Auge treten, bisweilen haftet ihnen etwas an, was uns nicht recht
übergeugen will. So body im „Lubolf Ursleu“ Seine dichleriſche
Schönheit, fo edel fein Stil, jo blendend feine Gleichniſſe, ſo groh-
artig und jchlicht feine Kompoſition ift, es fehlt ihm ein Eiwas,
das ich legte innere Wahrheit nennen möchte. Co bleibt hier
doch zu vieles mach, was nicht frei gewachſen und geworben,
iondern was gemacht iſt. Gewiß, Funjtvoll gemacht, fein und
geihmadvoll, aber dod) gemacht. Daher das Abentenerfiche auch
in der Pfychofogie, jenes Abentenerliche, das von ben eriten Liebes
affären Lubolfs über die unwahrjcheinliche Epifode mit Flora bis
zu ber Verhexung Gelindens durd) Gaspard und zu ihrem frei—
willigen Sturz aus dem enter immer wieder auftaudt.
Um folder Vorzüge und um folder Sprache willen, die bie
Dichtung hat, entjtcht bie eigentümliche Stellung, die wir zu ihren
Oeftalten einnehmen: dieſe Mugen, ſchönen, unglücklichen, teils
ſchwachen, teils freuelhaften Dienichen haben cs aud) uns angetan.
Wenn wir dns Buch ausgeleien, jehnen wir uns zurüd nad) den
Geftalten, die unfre Teilnabıne gewonnen. Wan will noch mehr
von ihnen hören, und das will was jagen. Aber die Liebe, die
mir zu ihnen gefaßt, hat doch etwas von der Liebe für Märchen:
geftalten und wir haben auch die entfeglidhften Ereigniſſe, die fie
betroffen, leicht ertragen Fönnen, weil cin fein ſtiliſierender
Schleier fie gemildert und uns gleichſam entrüdt hat.
Daher das Wort von der nenen Romantik. Ich lege Lein
Gewicht darauf, daß prachtvoll geſchilderte Träume auch in „Ludolf
Ursleu“ eine Nolte jpielen und daß der Held ſchließlich katholiſch
wird. Das find Einzelfeiten, die ans Homantifche anflingen,
aber noch feine Romantik machen. Nicht an Einzelheiten denke
man, fondern an das Ganze, an die Schniucht nad) Leben und
und die Flucht ans dem Leben, an die ſtarke Stimmung und die
unheimliche Schwüle, die auf allem laftet. Auch das bit
als romantiſch anfpreden, daß bei jo viel und jo ſtarkem
doch das eigentlich fehlt, was wir Gemüt nennen,
86 Literariſche Rundſchau.
„Ludolf Ursleu“ iſt intereſſant als das echte Kind feiner
Eltern, wie es gegen Ende des 19. Jahrhunderts entſtehen konnte:
die Moderne hat es gebort nachdem fie von dem Geiſt der
Nomantif befruchtet war. Hieraus erflärt fih, was die Dichtung
hat und was fie nicht hat. Alle die Formichönheit, der Stim:
mungszauber, die Feinfühligteit und gleihlam der Duft einer
wunderbar ſchimmernden tropiichen Pflanze. Aber auch der Mangel
an einfältigem Vertrauen, an Frömmigfeit und innerer Gefund:
heit. Man wird ſich nicht darüber wundern, dab Romantif und
Moderne ein jo jhönes und jo fränkliches Kind erzeugt haben.
Und deshalb wird das Kind aud) fterben müſſen. Lieben werden
es viele, befonders die feinen und ariltofratiihen Seelen. Als
Denkmal einer Epoche bleibt es intereffant und verdient mehr
Teilnahme, als ihm entgegengebradht worden. Freilid, zu den
großen und glüdlihen Kindern der Kunit, denen dauernde Jugend
Qu dem Auge leuchtet, gehört es nicht, dazu it es nicht Itarf
genug. Und deshalb iſt es doppelt notwendig, daß ihm eine
innere Geſundheit entgegengebracht werde, bie nicht in Gefahr
ſteht, ſelbſt anzufränteln.
Hermann Sreiherr von Eglon gein, gaiſer Wilhelm I. und Leopold von
Sri. Veln., Gebr. Pactel, 1904. 93 ©. mit 2 Bid. Preis M. 3.
In den Rahmen einer kurzen Piographie Leopolds von Orlich gefaht,
werben bier einige Vriefe (im ganzen 24) des Prinzen Wilheim von Preußen,
friteren Naifers Wilhelm I, an diefen mitgeteilt. Leopold von Crlic, geboren
3801, geitorben 1800 in London, erfreute fid} jeiner Zeit als wifienichaftlicher
Sorte eines gewiſſen Rufes. Er gehörte zu jenen preufiigen Milirärs,
wie aud, fein Jeitgenoffe Noon, durch Karl Ritter zum wmiffenfhaftlicen
& — der Geographie angeregt wurden; die Nefultate einer Reife nach vriciſch⸗
Indien hat cr in einer wiedergolt auigefegten Reiſebeſchreibung und einem fyiter
matiich darftellenden Werfe „Juvien und feine Regirrung” niedergelegt. Dem
zen Wilhelm it er wohl ſchon früher nafegetreten; jeit dem Jahre 1848
u feinem Tode ftand er it ihm in cimem regen Driehvedlel, in dem
vofitiiche und perfönlice Verälnifie mit freundichaftlicher Offenheit beiprodjen
wurden. Die Briefe Orlichs find nicht erhalten; mie aus den Antworten des
gen zu erfehen, enthieften fie politifcie Stimmungsberidhte aus den von ihm
bereiften Ländern, aber aud, Meinungsäuberungen und Natiläge, die innere
€. v. Schrend.
oiterariſche Runbfehen. 9
Bolitit Preußens betreffend. Die in vollem Umfang mitgeteiften Briefe des
Pringen bifden ben .mertvolfften Beftandieil deö Buches; denn fic gewähren
mannigfacgen Einblid in die Zeit von der Rüdtehr des ringen aus England
bis in die erften Jahre feiner Regentichaft und fchäkbares Material sur Beurleir
dung feiner Perjönlichfeit und poliliſchen Tätigkeit. Das Urteil: über den alten
Kaifer Wilhelm wird ja noch immer durch zwei einander enigegempirfende Ten,
denzen beirrt, einerfeil® und vor allem baburh, bafı feine Regierung mit der
ftantamännijchen Saufbahn vismarcts zufammenfällt und felbftoerftänblich niemals
iſoliert won biefer betrachtet werden kann; c8 wird darum hergebradhtermeile an
ihm von vornherein ein Maftab gelegt, der fait jeden Herricher Hein erfcheinen
liche. Anderfeits wird aber aud eine geredite Würdigung feines Berbienites
abgeftumpft durch den bygaminiſchen Rultus, der neuerbings mit feinem Namen
getrieben wird un ber in fritiflofer Apoiheoſe ale Mitribute auf ihn bäuft, die
hofiſche Rhetorit und Nunft zur Berherrlichung von Furſten erfunden. hat.
MI 68 doch eine Verunglimpfung des feplicht ehrenwerten Mannes, ber noch) jo
vielen Ichenbig vor Xugen fteht, wenn er und jeht immer micber.in fo bombaftifch
aufgeblafener Geftalt vor Augen geitellt wir! Das beite Aorreftin folder much
oben und unten ſchwantenden Beurteifung bildet bie Veröffentlichung unmittelbar
u uns fpreqender Dofumente, wie es auch biefe Briefe an Leopo id von Orlich
find. Hier tritt er uns wieder einmal entgegen mit den Eigenfchaften, die ihn
fetg verchrungswärbig magyen, dem geiunden, freitich jo gar nicht genialen, aber
aud) von feiner Dotirin verblendeten Sinn für bie Tatſachen und Forderungen
des Lebens, der anfpruchslofen Hergengüle und mafellos vornehmen Gefinnung.
Wem jene Zeiten fern gerüdt find, dem wird das Beine Vuch nic viel ſondertich
Intereffantes bieten; mer ihnen eime treue Grinnerung bewahel bat, wind ſich
auch an den Mleinen Fügen erfreuen, durch die ihr Wild hier bereichert wird.
RG.
Günther Ianfen, Nordweſideuiſche Sludien. Berlin, Gebr. Ractel, 1904.
366 S. Preis M. 5.
Unter dieſem Titel iſt eine Reihe von. hiftorifchen Auffägen vereinigt,
deren Mittelpunft das Grohherzogtum Oldenburg bildet, die. aber bei ben
wefelnden Schidfalen diefes Xandes und ben weilnerzweigten Beziehungen feiner
Dimaftie einen recht ausgedefnten Umfreis umfafien. Sie führen nad, Tänemort
und Rukfand Ginüber, mit denen Oldenburg zeitweilig vereinigt war, had
Griedjenland, deffen erfte Königin eine oldenburgifche Pringeffin war. Zum Teil
berufen fie auf- Forfchungen, zum Teil auf perfönlichen Erinnerungen des Wer
faffers, mie 3. V. das unterhaltende Stüt Autobiographie: „Das Jahr 1648
u$ der Shülerpeftive-" Janfen ift Stantsminifter feines Geimatlandes geweſen
und durd Zamilientraditionen mit jeiner Geſchichte im legten Jahrhunderi genau
vertraut, Sr tritt und alB ein feingebifdcter Mann von nicht gerade fehr ‚aus.
geprägter, ober {pmpathifcher jcriftitelerifcher Jubioidualität engegen. Sein
Wuc, bemeift wieber einmal, welche Mannigfaltigfeit des geiftigen Lebens Deutfch«
land dem politifc) verhängnispolen Keinitantenleben verdantt. Auc; das abge -
Iegene, “tille Oldenburg Üit teils vorübergehend, teils dauernd die Wohnftätte
mandyes bedeutenden Dannes geworden; im 18. Jafefunberi lebte hier der jet
von den Siterarhiftoritern micberentdertte Yelfrich Peter Sturz, einer ber geifte
volljten Profaiften feiner Zeit, im 19. Jahrhundert Julius Mofen und Abolf
Stahr. Roc, beräßintere Männer find gelegentlich in Beziefungen zu Ofbenburg
’
dB Kiterarifhe Kundlchau.
getreten, fo Graf Reinhard, der franzöfffde Diplomat und Freund Goethes
Wien von Humboldi, Herder u. a. Ein umfangreides Negiiter ermöglicht
igmelte und genaue Orientierung, ut aber des Guten eiıdas gu viel, meun- wir
4. B. eine gange Neihe griedhifer Yaınen nufgejähft finben, bloß meil Athen
einmal“ble Stadt genannt wird, in dr Pete uf. gie Men.
Sauf Hepfe, Moraliihe Ummöglicteiten. 3: Aufl. Stuftgatt, I: &. Cotta
ie 1908.
Es gibt Leute, bie Paul Heyfe ſchon jept zu den Toten geworfen haben
und über den noch in blühender" Kraft unter ung wirfenden Künjtler mit-einem
deiepren Achſeigugen hürtwvegaugehen und Hinmeggufehen ich berechtigt” glauben.
Damit geichieht dem Dichter jchwero® Unrerht. Wen auch der Dramatiter Henie
vorausſichtlich einmal vergeſſen merden wird und dem Romanſchrijtſteller fein
bervorcagender Pad gebührt, -- der Novelift veyfe it einer unfrer Weiten.
Des bereit auch jeine lepte bereits 1M01 und 1903 entitandene Hovellenjamm:
hung „Moralifche Unmöglicteiten”. Scharf arbeitet er, ıle Die Novelle «5 vers
tangt, „itarfe Silhuetten Heraus, Orunrifje, die ih mit irgend eimer auffälligen
Fingelheit dem Gedächtnis einprägen.“ freilich), Jeine Vorliebe für: ungemöhnlice
Geftatten und Brobfeme benseift er auc) bier. Es ift, al8 ob e&'bem erfahrenen
Menicenbeobadjter und „Menichenforider" (3. 244) geradeju Freude macht,
feitene Ausnahmefälle zum Vorwurf zu wählen und feine Meiiterichaft darin zu
seinen, dab er auch Diele glaubhaft macht. Und das gelingt ihn in vollem
je, dem wer fich durch das Pefuchte mander Sitnation, das gelegentlich
ende „tüdifche Spiel der Verhälttiffe” (&, 186) nicht veritimmen läht,
der wird die Feinheit der Linienführung, die zwingende Kraft, mit der felbit
ungewöhnliche Geitalien wahricheinlich gemacht werden, beroundern müffen. Dabei
verleugnet der jhöngeitsdurftige Dichter feine natürliche Scheu vor allem Häf-
tichen auch bier nicht, und auch auf diefen Band feiner Novellen pant das Wort
Adolf Sterns: „Zuit alle feine Charaltere tragen eime unveräuherliche Selbit:
atung in ihrem Wufen, die.nicht vor drrungen und Sämpfen, aber vor dem
Gemeinen bemahrt.“ Ei
1.
Ebarlotte Niefe, Die Alabuulerſtrahe. Lpz., Grunow. 1904.
Die feinfinnige Darjtellerin holſteiniſcher Zntimität, Charlotte Nieje;
hat ſich Küngit einen jo rühmlihen Namen unter den deutichen Schriftftelferinnen.
erworben, daß man ein jedes neue Bird) von ihr mit Freude in die Hand
mim. Auch in ihrem lebten Roman „Die Alabunferitraße" wird man vieles
finden, was an das Beite gemahnt, was wir diefer liebenswürdigen Dicherin
in. Wie lebendig wird vor uns. die alte Alabunferjtraße in Hamburg
nit ihren wintligen Giebelhänfern und ihren derben und doch jo warmberjigen
Menſ⸗ geſchildert; wie ſcharf verſteht es die Verſaſſerin, die charatieriſtiſchen
3 Werfonen zu exfafien, dab Diele vor ung Fleiſch uud Blur werden;
wie beweiit jo wand) treffende Bemerkung. dah ſie tief ins Menſcheuherz zu
blicken gelerut Gut; wie bligt dazwiſchen jener goldige, jait am Frig Reuter
gemabende Humor hindurch, der ums daB eben zeigt. wie es lacht und meint.
Und donn endlich die Ainberigenen! Dieje prüdtigen, gelegentlich) eingeitreuten
Genretilgen ſind jo wundesdar treu des Wirklicfein abgehaufcht und Dabei mit
olterariſche Rundichau. ob
fo catſam Griffel gezeichnet. das fie vlelleicn das kunſtlichtte find, mas und:
das Buch bietet. Ja all diefen einen und Meinften Zügen ijt Charötie Rieſe
Beifterin, ſir den Romam geofen Suls freifidy fehlt ihr die Kraft. Nict nur
dab das Broblern, die allmählidje Entfremdung zweier. Ehegatten und das Side
wiederfinden ber beiden, trop erfolgter Scheidung, nicht: Idjarf genug. heraus:
gearbeitet und dis in die Hleinften Details glaubhaft dargeitellt üft, e& verfcheninbet
fait water dem üppigen Rankenwert all- der Rleiumalere, wie ein Wil, das
man neBen der reichen Grmamentil’ des Nahmens four modh-beimestt. Much iii
au wigen, dais Die Werfaffsen doch allnwiel aus der Aumpeflümmer veritanbier
Nomanti? hersorgeholt hat ımd' den Gott „Zufall“ arg Herummumoren ichi.
Oder follte eine Niele ohne den abgenupten Romanapparat von unerwariet
begfüdenden Erbſchafien. Hinter zerbrödenen Bildern zum Vorſchein kommenden
Zeitamenten u. &. nicht ausfommen fönnen? — Trop diefer Musfiellungen
wünfcgen wir. Deen-Püchlein vecht vieke Vefer. Sie werben fiber all dem Schönen.
und Yergerfrifgpenden die gerügten Mängel vergefien unb den Gejamteinbrud
empfangen, dais ihnen bier mehr. al diode Unterhaltungslettüre‘ geboten wird.
Ru
Neuerichienene Bilcher.
Jerenias, Dr. A. Bahplonischos im Nauen Testament, Lpa. IHR
8.
8.
Bayer, Weh. DDr. S %, Girhetum und ialtit. @. Vehtrag zur Ari.
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Der Salon des Rigaſchen Sunftvereins.
Ein Rüdblie
von
Wolbemar Freiheren v. Mengden.
nn
r Salon bes Rigaſchen Kunftvereins, der am 5. Dezember
1898 feierlich eröffnet und am 21. Dezember 1904 fiill
geichlofien wurbe, hat jein Dafein in einer Mietwohnung
im Erdgejchoß des Engelmannjchen Haujes, Vafteiboulevard Nr. 9a,
ſechs Jahre fang fill gefriftet und ift gewiß nur einem verhältniss
mäßig geringen Teil ber 300,000 Bewohner Rigas befannt
geworben. Daß er aber für ben gebildeten, bildungsfähigen und
bildungsbebürftigen Teil eine nicht zu unterfhägende Rolle gefpielt
hat, ja noch mehr, daß er ein Kulturfaltor geworden, das zu
erweifen ſoll bie Aufgabe dieſes Nüdblids fein. Wehmütig, wie
einen lieben Freund, haben viele, und nicht die Schlechteften, ben
Salon aus ihrem Leben ausfKheiden fehen, — einem bewährten,
lieben Freunde will aud) diefer Nachruf gerecht werden.
Die Betrachtung der Lebensumjtände bes Rigaer Kunftfalons
führt unfern Blick zurüd zu feiner Entftehung.
Der am 22. Mai 1870 auf Initiative der Literäriſch-prak⸗
tüchen Yürgerverbindung ins Leben gerufene Kunftverein in Riga
bezwedt laut feinem am 14. Januar 1870 eritmalig und am
26. Januar 1872 mobifiziert beftätigten Statut: „die Förderung
der Kunſt jowie bie Belebung und Verbreitung des Kunfifinnes
in Riga“, und veranftaltet zur Erreichung feines Zwedes:
a) eine permanente Ausftellung der bem Verein angehörigen
Sammlungen, fowie neuefter Kunfterzeugnifie;
Baltife Menatefcrift 1005, Heft 3. 1
102 Der Salon des Rigaſchen Aunftvereins.
b) temporäre Nusftellungen von Erzeugniſſen ber Künftler aller
Nationen;
©) periobifch wiederkehrende öffentliche Hauptausftellungen von
dergl. Runftwerfen;
d) Vorträge über Kunftgeihichte und Äfthetit.
$ 5 befagt ferner: „Die Wirkfamfeit bes Vereins wird durch
keinerlei Rüdfichtnahme auf Malerſchulen oder Nationen beſchränkt,
und fol biefer Grundſatz, wenngleich den Werfen valerländiſcher
Künftter Rußlands eine befondere Beachtung vorbehalten bleibt,
namentlich bei der Auswahl der für die PVereinsfammlung zu
erwerbenden Kunſtwerke maßgebend jein.”
Wie fchwer es dem Kunftverein wurde, biefen Aufgaben zu
genügen, erhellt aus ber Gefchichte der erften 25 Jahre feines
Beitehens, über die im Jubiläumsjahr der damalige ſchriftführende
Direktor Herr dim. Ratsherr Nikolai Röpenad in einer feffelnden
und verbienftvollen Feftfchrift berichtet !.
Die größte Schwierigkeit, die dem Kunftverein bei feinem
Beftreben begegnete, den ihm vorgezeichneten Zielen entſprechend
zu mirfen, fand die Direktion in der Lofalfrage. Der bem Verein
zu Beginn bewilligte Raum im Nealgymnafium, woſelbſt die
permanente Ausftellung untergebracht wurde, genügte nur für eine
ganz furze Zeit. Schon die zu Beginn bes zweiten Gefhäftsjahres
1871 veranftaltete große Gemäldenusftellung fand in ber Aula des
Baltifchen Polytechnikums ftatt, die dank dem Entgegenfommen bes
barin heimifchen Technifchen Vereins fowohl als namentlich des
Verwaltungsrates des Polylechnikums dem Nunftverein dauernd
ein Aſyl bot. Als fi) dann im J. 1878 erwies, daß ber ber
ftäbtijchen Gemätdegallerie und den Sammlungen des Kunftvereins
im Polytechnitum zur Verfügung geftellte Raum abfolut nicht mehr
genügte, aud andre Unzuträglichkeiten immer dringender das
Bebürfnis nad einem eigenen Lofal erwiefen, dabei aber die feit
Jahrzehnten immer wieber angeregte Frage ber Erbauung eines
eigenen ftädtifhen Kunftmufeums abermals vertagt wurde, wurde
enblih am 1. Januar 1879 zur Unterbringung der gemeinfamen
Sammlungen bas Lokal im Nerfoviusihen Haufe, Todlebens
1) Beitrag zur Gefchichte des Aunftvereing in Riga, zur Feier de
1895. dem Runftverein gewidmet von Nifolai Röpenad. Riga, W.
77 Seiten.
Der Salon des Rigaſchen Kunſtvereins. 108
boulevard Nr. 4, gemietet. Mußte in jenem Zeitpunkt eine ſolche
Löfung der Lokalfrage mit größter Genugtuung begrüßt werden,
mit ben fteigenden Anfprüchen, namentlih aber mit ben ftetig
wachſenden Sammlungen von Kunſtwerken, mußten aud) die damals
hinreichenden Naumverhältniffe biefer Lolalität weit Hinter ben
befcheibenften Anſprüchen jzurüdbleiben, bie billigerweife an bie
Darbietungen des Runftvereins geftellt werben konnten und geftellt
wurden. Die permanente Ausftellung verblieb während der ganzen
Zeit von 1879 bis 1905 in biefem Lokal, wogegen ber Veran
ftaltung periobifcher, ftärfer befuchter Ausftellungen ſowohl feitens
ber Gallerieverwaltung, als namentlich des Hausbefigers ftets bie
größten Schwierigkeiten entgegengefegt wurden. Von den größeren
wurden die umfangreicheren in ber jebes Mal wieder in liebens-
würbigfter Weife zur Dispofition geftellten Aula des Polytechnikums
veranftaltet, jo die von ca. 10,000 Perſonen beſuchte Ausftellung
des KRunftvereins No. 1871, bie im J. 1875 veranftaltete Nuss
ftelung von Kunſtwerken im Privatbefig, — ebenjo fanden zwei
Ausftellungen des Petersburger Vereins für Fünftleriihe Wander:
ausflellungen Ao. 1873 und 1875 im Polytechnitum ftatt. In der
Folgezeit hat ber Kunſtverein ſich faſt zwanzig Jahre lang mit den
ganz unzureihenden Räumen bes Gallerielotals begnügt, in denen
außer der permanenten etwa zwölf von ihm und eine von ber
fäbtifchen Gallerieverwaltung (1888 ruſſiſche Rünftler) veranftaltete
Ausftellungen ſtattfanden.
Das frische Leben, das mit einer Reorganifation ber Direktion
im J. 1893 in ben Runftverein einzog, mad)te fid) aud) in feinen
Ausftellungsveranftaltungen geltend. In ben Jahren 1894 und
1895 fanden vier, größtenteils ber Initiative des ſchriftführenden
Direftors Dr. med. Baron Engelhardt entiprungene größere Aus:
ftellungen ftatt, eine von „Peteröburger Rünftlern und Nauarellifien”
und Herrn Paul v. Tranfehe in Riga zuſammengebrachte, zwei
von Gurlitt aus Berlin bezogen und eine von ruſſiſchen, polniſchen,
ſchwediſchen und baltiihen Künftlern zufammengeftellte. Die drei
erften, von denen die legtgenannte als Jubiläumsausftellung das
25. Jahr des Beſtehens des Kunftvereins feiern wollte, fanden
abermals im Politechnikum ftatt. Aber bei allem Entgenentommen
jeitens des Verwaltungsrats mußte ber Kunftverein ſich ftets mit
den Weihnachts: ober Ofterferien begnügen, da eine Überlafung
104 Der Salon des Rigafhen Kunſtoereins.
der Aula während des Semefters der Verwaltung des Polytechni-
kums allzu große Schwierigkeiten bereitet hätte.
Unerträglih wurde die Situation, als im September 1896
für die zweite von Gurlitt zujammengeftellte Kollektion fein Lokal
ausfindig zu machen war. Trotz der peinlichen Lage bes Kunft-
vereins verweigerte die Verwaltung ber fäbtijchen Gallerie ſtrikt,
ihre Genehmigung, die Ausftellung im Gallerieſaal aufzuftellen,
zu erteilen, bie Aula des Polytechnilums war nicht zu haben, und
wäre nicht die Rompagnie der Schwarzhäupter, wenn aud wider
willig, in letzter Stunde eingejprungen, der KRunftverein wäre in
die befhämende Lage geraten, mit der ſchönen Kollektion „auf der
Straße” zu bleiben. Da mußte Wandel geſchafft werden und
wurbe geichafft. Einer verbienftvollen Anregung ber „Kunſtecke“1
entjprungen, mehrfad in Heinen Verſammlungen erwogen und
beiprodyan, trat der Plan der Anmietung eines eigenen Ausſtel⸗
fungslofals für ben Runftverein auf der Generalverfammlung am
23. Ollober 1898 als Direltionsantrag an die Öffentlichkeit.
Der Antrag, „eine Lofalität in Niga als „Salon“ zu per-
manenten Ausftellungszweden zu mieten, und zur Ausführung
diefes Kommiſſums einen erforderlichen Krebit bis zum Betrage
von 2000 Rbl. pro Jahr der Direktion zur Verfügung zu ftellen“,
von Baron Engelhardt und vom Staatsrat Johannes Edardi warm
befürwortet, wurde von der Generalverjammlung mit großer
Majorität angenommen. Diefer Beſchluß wurde raſch in die Tat
umgefegt, und anı 6. Dezember 1898 der Salon mit einer großen
baltischen Ausftellung dem Publikum geöffnet. Schon auf ber
folgenden Generalverfammlung des Kunftvereins, am 8. November
1899, fonnte die Direktion berichten: „Unfer Salon hat freilich
noch nicht Zeit gefunden, uns finanziell rende zu machen, im
Gegenteil, er ift uns ein rechtes Sorgenfind gewefen und wird es
vorausfihtlih noch einige Zeit bleiben. Der Kaſſabericht wird
Ihnen in Zahlen fagen, wieviel der Salon uns eingebracht und
wieviel er uns gefoftet hat. Aber wenn aud) die legtere Summe
die erftere bedeutend übertrifft, jo braucht das doch nicht allzu fehr
uns zu befümmern. Die Tatſache, daß der Kunftverein der uner:
1) Der Rigaſche Verein „Aunftede”, cine gefellige Vereinigung von Künft:
lern und Kunſtfreünden, die ſchon ſeit michr als 10 Jahren in Higa befteht, hat
am 11. Rai 1904 die miniſterielle Bejtätigung erlangt.
Der Salon des Rigaſchen Kunftoereins. 105
träglid) gewordenen Zwangslage in der Gemäldegallerie entwachſen,
fih frei und auf eigenen Füßen hat entwideln und betätigen
fönnen, dieſe Tatfache ift erfreulich genug. Und daß unjer Kunjt-
feben, dank biejen fo günftig veränderten Verhältniffen, einen regen
Aufſchwung genommen hat, daß es uns möglich geweſen ift, im
Laufe eines Jahres fieben Ausftellungen zu veranftalten, das ver-
danken wir in erfler Linie dem Kunftjalon. Seit dem Beftehen
des Vereins hat die Diveftion nod) fein Dal über ein fo ereignie-
reiches Jahr berichten fönnen. Dafür werden am Schluß meiner
Rechnungsablage Zahlen ſprechen.“
Jawohl, Zahlen ſprechen. Auch hier können wir der Sta—
tiſtik nicht entraten, und nichts iſt beſſer geeignet, uns ein deut⸗
liches Bild der Leiſtungen des Salons zu vermitteln, als ein
rRückblick auf feine Darbietungen, feine Beſuchsfrequenz von Mit-
gliedern und zahlendem Publifum, feine Einnahmen aus Eintritte-
geldern und aus ber Perfaufsprovifion, die Beeinflufung bes
Jahresbudgets durch die Saloneinnahmen und Ausgaben, bie
Mitgliederfrequenz feit feiner Eröffnung uſw.
Aber ehe wir, freundliches Wohlwollen für den Salon bei
allen unſren Leſern vorausfegend, auf feine Darbietungen im ein:
zelnen eingehen, wobei es im Wejen der Sache und in unſrer
Abficht liegt, „gutes von von ihm zu reden umd alles zum beiten
zu fehren“, ericheint es als ein Gebot der Unparteilichkeit, auch
das anzuführen, was ſich gegen den Salon jagen läßt nnd was
auch — wir fennen unfre Feinde — gefagt worden ift.
Unfer Salon, nunmehr jeligen Andenkens, war alles andre
eher, als ein Ausſtellungslolal. Seine für eine bejcheidenfte
Familienwohnung allenfalls ausreichenden Näume mit vier Zimmern
mit je 1, 2, 2 umd 1 Fenfter zur Straße und einem ganz finfteren,
nur künſtlich zu erleuchtenden größeren Hinterzimmer konnten
feinem gerechten Anſpruch genügen, ſowohl was die Licht, als
was die Raumverhältniffe betraf. Nur wenige Wandjlächen ließen
ein Anfhauen ohne ftörende Lichtreflerwirkung zu, der zum Anjehen
eines größeren Bildes notwendige Abftand war bei der Kleinheit
der Zimmer unmöglich, endlich waren die Wandflächen und nment-
lich die Türöfjnungen für größere Bilder total unzureidend. Die
trübe Witterung, die bei uns falt den ganzen Herbſt anhält, bot in
der Hodjparterrewohnung oft nicht das nötige Licht, obgleich dieſe,
106 Der Salon des Rigaſchen Aunſivereins.
am Stadtkanal belegen, immer noch mehr Licht hatte, als es in
den Straßen der inneren Stadt der Fall iſt, wo die gegenüber
befindliche Hausmauer das Erdgeſchoß erheblich des Lichtes beraubt.
Bei der in Niga üblichen Lebensweiſe, die die Städter für zwei,
aud drei Monate, befjer Situierte oft für noch längere Zeit aus
der Stadt entführt, fann nur eine verhältnismäßig kurze Zeit als
Ausftellungsfaifon gelten, und um den Mietzins für das ganze
Jahr einzubringen, müſſen fid) die Darbietungen mehr oder weniger
drängen, was mehrfach als Mangel empfunden und gerügt worden
iſt. Aber trog all diefen Mängeln war ber beſcheidene Salon bad)
befier als garnichts.
Bei den im Salon veranftalteten Ausftellungen wurde es
als Grundjag beobachtet, einesteils einzelne Kollektionen geſchloſſen
in vorherbejtimmten Terminen auszuftellen, andernteils einzelne
Kunſtwerke, wenn dies aus irgend welden Gründen notwendig
oder wünjdenswert erſchien, auch außerhalb der Gruppe zuzulaſſen.
An geſchloſſenen Ausftellungen haben im Salon während der ſechs—
jährigen Dauer feines Beſtehens 47 ftattgefunden !.
Beraten wir fie nad) den Ausftellungsgegenftänden, jo
Inden wir, daß neben ben jelbftverftändlich bei weitem vorherr-
ſchenden ca. 35 reinen Gemälde-Ausftellungen, 4 Ausftellungen
kunſtgewerblicher Arbeiten ftattgefunden haben, und ferner 1 Aus:
ftellung von Erlibris und Plakaten, 1 Ausjtellung von graphiichen
Kunſtwerken, darunter namentlih Erlibris, 1 NAusftellung von
orientalifhen Teppichen, mehrere Darbietungen künſtleriſcher Photo:
graphien (Präraphaeliten, Rembrandt, Amateurphotographie),
1 Ausftellung von Gypstopien nad Skulpturen von Baron
Clodt, 1 Austellung von deforativer Malerei, 1 Austellung ver
ſchiedenartiger Neproduftionen von Werfen Andrea bel Gartos,
1 Ausftellung ſüdamerikaniſcher Landſchaftsbilder, 1 Ausftellung
von Neproduftionen nad) Handzeihnungen alter Meifter, 1 Aus:
ftellung von Kopien und Reprodultionen von Meiſterwerken ber
italienischen und ſpaniſchen Nenaiffance, endlih 1 Ausftellung
fünftlerifcher Arbeiten früherer Schülerinnen von Frl. Elije von
1) Drei diefer Darbietungen verdankt der Sunfiverein der Vermittlung
des am 8. Dftober 1899 miniftericll beitätigten baltifcjen „Bereins zur Förderung
der Aunitintereffen durch Wanderausftellungen“: die Beersburger und Baltifche
Kolteftion, die Ausftelung der Münchener Luitpold » Öruppe und die zweite
Bolländifche Ansitellung.
Der Salon des Rigaſchen Kunſtoereins. 107
Jung-Stüllng. Die Gemäldeausitellungen waren meijt Gruppen:
tolleftionen, hier oder auswärts zufammengeftellt, teils, in 18
Fällen, Sonderausitellungen eines oder zweier Künftler, in denen
20 Künſtler ausftellten.
Was die Herkunft ber Erponate betrifft, jo war es ſiets
das Beftreben der Direktion des Kunftvereins, im Salon Dannig
faltiges zu bieten. Betreffend bie Frage, ob der Nigafche Kunft-
verein insbeſondere die Aufgabe hat, das Publitum auch mit
Runftwerken nicht einheimiichen Uriprungs befannt zu maden, ift
es von befonderem Antereife, an ber Hand bes oben zitierten
Ropenackſchen Beitrages zur Geſchichte des Kunſtvereins ſich deilen
zu erinnern, wie ber urjprünglide, im J. 1845 entjtandene Plan
der Begründung eines Kunſtvereins in Niga einen jolden für
Liv, Ejt: und Kurland ins Auge faſſen und „nur einheimiſche,
in den Baltifhen Provinzen geborene oder lebende Künftler berüd-
ſichtigen“ jollte. Die bis zur Vejtätigung des heutigen Kunſtvereins
vorgenommenen Abänderungen: einesteils die Beſchränkung des
Vereins für Livr, Eſt- und Kurland auf einen Rigaſchen Verein,
andernteils die ftatutenmäßige Feilftellung, dab „keinerlei Rüdficht«
nahme auf Malerichulen oder Nationalität des Künftlers” gelten
jolle, waren alſo wohl überlegt und vorbedacht. Die Zeiten und
Gefihtepunfte find hoffentlich längſt überwunden, die im I. 1845
ber Direktion des in der Bildung befindlichen Kunſtvereins bie
Hand führten, als fie auf eine Münchener Ausftellungsofferte zu
antworten beliebte: „jelbjt wenn die Veftätigung der Gtatuten
erfolgte, würde ſich die Wirkſamkeit des Vereins ftatutenmäßig nur
auf Leitungen jolher Künftler ausdehnen, die in den Oſtſeepro⸗
vinzen geboren find oder in denfelben leben, mithin würde die
Direktion des Kunftvereins als folde auf die Vorſchläge der
Dündener Herren Maler wahrſcheinlich nicht eingehen. Gold
rüdftändige Anfihten und Geſchmacksrichtungen find Hoffentlich)
jegt, ein halbes Jahrhundert fpäter, nicht mehr anzutreffen.
Es iſt natürlid, daß die Beſchaffung einheimiſcher Ausftel,
lungen in allen Fällen bedeutend leichter fiel. Nicht allein der
Fortfall der Transport und Verfiherungsfoften, oder doch deren
geringere Höhe, vor allem die perjönlice Bekanntſchaft mit den
einheimifchen Künſtlern und ihren Werfen, ſpricht für deren Bevor
zugung, — insbejondere die Schwierigkeit, ohne Vertrauensperjonen
108 Der Salon des Rigaſchen Aunftvereins.
fchöne und wertvolle Erponate von auswärts zu erhalten, erſchweren
die Beſchaffung ausländiſcher Kollektionen; fo hat auch die Direk
tion bes Runftvereins nicht immer eine glüdlihe Hand gehabt.
Wiederholt find auswärtige Kollektionen, die hohe Transportkoften
erheiſchten, eingetroffen, die die Erwartungen bitter enttäufchten.
Da galt es immer wieder zu verjuchen, alle privaten Beziehungen
auszunußen, um ber vornehmiten Aufgabe eines Kunftvereins in
der Lage bes Rigaſchen zu genügen: das Publitum über das auf
dem Laufenden zu erhalten, was in ben Rulturländern, wo reges
Runftleben pulfiert, die Geifter bewegt, die Kunftfreunde erfreut.
Trobdem haben neben 10 einheimischen Gruppen-Ausftel:
lungen auch 13 auswärtige ftattgefunden, davon 7 ausländifche.
Die einheimiſchen waren:
1. Große Baltiihe (136 Werfe von 15 Künitlern, vorherrs
ſchend Wilhelm Purmit). II. (Wiemer, Rihard Müller, Alerandra
v. Sivers, Elfe Rudolff, Otto Lindenberg.) III. (73 Werke von
Johann Walter, Johann Lieberg, Julius Maderneef, Richard
Sarring.) IV. (114 Werke von Eva Margarethe Schweinfurth,
Martha und Anna Hellmann, Frida Neumann, Thella Stahl,
Hildegard Haken.) V. (75 Werke von 60 teils Petersburger, teils
Baltiihen Künſtiern), 4 kunſtgewerbliche Ausftellungen und eine
Ausjtelung früherer Schülerinnen von Frl. Elife v. Jung.
Die auswärtigen waren:
I. Internationale Kollektion aus Petersburg (Maljawin,
Cionglinsty, Alerander Bénois, Levitan, Nefterow, Purwit,
Järnefelt, Ruſtſchitz, Repin, Lagarde, Aman Jean, Menard, Hans
Hermann, Dill, Bartels). II. eine von Gurlitt bezogene Kollektion
Eeibl, Hoffmann, Ury, Klinger, Kunz, Thoma, Wengel, Moras,
Leiſtilow. Harburger, Langhammer, Brandenburg, Dettmann,
Schweninsfi, Crane, Skarbina, Schoebel, Erter, Hartmann,
Niethe, Sperl, Horodam, Feuerbach, Hermann, Thiem, Lilljefors,
Keller, Reutlingen, Uhde, Baer, Bürgel, Hendrit, Vrancaceio,
Hellen, Zimmermann, Rabes, Ankarkrona, Alvarez, Kaifer, Engel).
III. eine Petersburger und Mostauer Kollektion (Sarring, Purwit,
Levitan, Pajternad, Wasnezow, Winogradow, Iwanow, Maljutin,
Marie Düder, Nepin, Serow, Perepletſchikow, Morig). IV. eine
BVetersburger Kollektion (Ader, Balat, Werander Benvis, Alerander
Benois Konsky, Albert Benois, Bras, Levitan, Serow, Lanceray,
Der Salon des Rigaſchen Kunſtoereins. 109
Stepanow, Somomw, Baron Roſen). V. eine finnländifche, von
Profeſſor Tikkanen zujammengebrachte Kollektion (31 Werke von
15 Rünftlern). VI. eine holländiſche Gruppe (71 Werte von 51
Künftlern). VII. eine von Keller und Reiner bejorgte Kollektion
(19 Werke von 13 Künftlern, darunter Leffer, Ury, Slevogt,
Liebermann, Hendrich, Leiftifom, Mackenſen, Vogeler, Hofmann).
VII. eine zweite finnländifhe Gruppe, zufammengeftellt mit Hilfe
von Arel Gallen (56 Werfe von 13 Künftlern, darunter Blomſiedt,
Albert Edelfelt, Arel Gallen, Eemil und Pekka Halonen, Järnefelt,
Weiterholm). IX. eine von ber Mündyener Luitpoldgruppe herr
geiandte Kollektion (95 Werte von 40 Künftfern). X. eine von
Keller und Reiner bejorgte Kollektion (19 Werke von 17 Künftlern).
XI. eine zweite holländiihe Kollettion (54 Werke verfchiedener
Rinitler).
Die Sonderausftellungen verteilen fih folgendermaßen:
13 einheimifche: Siegfried Bielenftein 2 Mal, Wilhelın Purwit
2 Mal, Bernhard Borderdt 2 Dial, Jan Nojenthal, Johann Walter,
Eiede, Baranowoky, Gerhard Baron Rofen, Friedrid Mori,
Martha Unverhau, Karl Kahl, Mar Wulfahrt, Eva Dargarethe
Borderdt-Schweinfurtf, — und 7 auswärtige: Saſcha Schneider,
Ludwig Schenermann, Ludwig v. Hofmann (nebft einigen Werfen
von Walter Leiftitow), Arel Gallen, Ludwig Dettmann, Arnold
Bocklin, Hans Thoma.
Da die Ausftellungen nicht immer den Abfichten der veran-
ſtaltenden Bereinsdireftion entſprachen, ift nur zu begreiflich. Der
hier zur Verfügung ftehende Raum dürfte nicht genügen, um alle
vergebfichen Verſuche, alle geſcheiterten Borverhandlungen und
enttäufchten Hoffnungen zu erwähnen. An biefer Stelle fei aber
nicht verſchwiegen, wie ſchwer dem Rigaſchen Kunſtverein die
Beſchaffung ruffifcher Kunfterzeugniife gemacht wird. Wieder und
wieder hat die Direktion ſich an die verſchiedenen Kunftvereinigungen
in Petersburg und Moskau, an die Akademie ber Künjte, an rul-
ſiſche Muſeen, an einzelne ihr perfönlid) befannte tunftfreundliche
Würdenträger in ber Nefibenz gewandt. Die finanziellen Mih-
erfolge, die erfahrungsmäßig jtets der Erſchließung eines neuen
Bildermarkts vorausgehen, haben die ruſſiſchen Vereinsleitungen
jo gründlich abgejchredt, daß ber Schaden in abjehbarer Zeit nicht
wieder gut zu madjen iſt. Namentlich verhält fih die Leitung des
110 Der Salon des Rigaſchen Aunftoereins.
Nufiiihen Wanderausftellungsvereins, dem mir einige fehr ſchöne
Ausitellungen in Riga zu verdanken gehabt haben, feit Jahren,
und neuerdings auch der „Bund ruffiiher Künftler“ in Moskau,
auf alle Einlabungen des Rigaſchen Kunftvereins ablehnend. Es
fei daher hier feſtgeſtellt, daß der auffallende Dlangel an Dar:
bietungen ber in ſchönſter Entwidlung begriffenen nationalruſſiſchen
Kunft in den legten Jahren nicht dem Kunjtverein und nicht der
biefigen deutſchen Gefellichaft aufs Schuldfonto zu jegen iſt. An
redlichen, häufigen Verſuchen hat es nicht gefehlt. Auch find auf
ben drei vorbenannten Petersburger und Moskauer Ausftellungen
im Salon Bilder für im ganzen ca. 1100 Rbl. verfauft worben.
Das mag für Petersburg wenig fein, für Niga ift es viel.
Ziehen wir nod) die im Galleriejaal veranftalteten Aiwaſowsky-
Ausitellungen, die dafelbit vom öſterreichiſchen Kunfthänbler Galvagni
ausgejiellten itafienifhen und ſpaniſchen Gemälde, den Napoleon:
Cyelus von Rex, die ſüdamerikaniſchen Landidaftsbilder von Augujto
Ballerini in Betracht, jo läßt ſich eine noch kosmopolitiſchere Aus-
wahl der Exponate faum denken. Vermißt werden darin nur bie
nordiſchen Länder, namentlid) die hochſtehende jfandinavifde Kunſt,
ein Dlangel, dem, nun da er erfannt it, hoffentlih in Zukunft
abgeholfen werben wird.
Gehen wir nun auf die Beſuchsfrequenz ein. Der Salon
wurbe im Ganzen! von 12,000 Mitglievern des Kunſtvereins?
und 34,000 zahlenden Perfonen, alſo im Ganzen von 46,000
Perſonen bejucht. Die Eintrittsgelder ergaben brutto ca. 11,000
Rubel. Die Tagesfrequenz beträgt ungefähr 8 Mitglieder und 22
zahlende Beſucher, zulammen 30 Perfonen täglich, die Brutto:
einnahme 7 Rbl. Viel weniger günftig ftellt ſich das ſcheinbar
glängende ftatiftiiche Ergebnis aber bei der Unterſuchung der Frage
nad) ber (Frequenz der einzelnen Nusftellungen, wobei e8 niemanden
Wunder nehmen wird, daß aud) die beiten einheimifhen Ausitel-
tungen, gegenüber ben ausländiſchen, recht ſchlecht abſchneiden.
Das Beftreben, bei auswärtigen Kollektionen, deren Beihaffung
ſtets Eoftipieliger ift, nur Erſtklaſſiges kommen zu laſſen, während
1) Ich gebe ınd im Folgenden ſteis möglichft abgerundete Zahfen.
infofern etwas zu veräudern, als nad) einer beitehenden
Vereinbarung die Mitglieder des Wanderausitellungsvereius für die von diejem
Rerein beichafften Wusitellungen dielelben Vorzüge genieben, wie Mitglieder des
Runitoereind.
Der Salon des Rigafchen Aunſtoereins. m
bei einheimiihen Künitlern der Wunſch, den Künftler zu fördern,
aud) bei geringerer Dualität feiner Produktion mitbefiimmend iſt,
bietet faum eine genügende Erflärung für die Erfheinung, daß
die auswärtigen Ausſtellungen jo fehr viel beſſer befucht wurden,
als die einheimiſchen. Vielmehr beweiſt dieſe Tatſache überzeugend
den in unſrem Publikum vorherrſchenden Wunſch, die Werte der
in aud in Riga vielfach gehaltenen ausländiſchen Kunſtzeitſchriften
oft genannten und allgemein befannten Künftler durch eigene
Anfhauung fennen zu lernen.
Am beiten befucht waren die Purwit-Ausftellungen, jowohl
die von diefem großen baltiihen Künftler gelieferten Sonderaus-
ftellungen, als aud) die Kollektionen, an benen er hervorragenden
Anteil Hatte. Die Purwit - Ausftellung vom 3. Dezember 1900
bis 8. Januar 1901 wurbe an 36 Tagen von 2217, aljo täglid)
von durchſchnittlich 60 Perfonen befugt, die vom 16. Januar bie
26. Februar 1904 an 42 Tagen von 3240, aljo täglich durch-
ſchniulich von 81 Perfonen, die große Baltiiche Ausftellng vom
6. Dezember 1898 bis 17. Januar 1899 an 43 Tagen von 2688
Perjonen, alfo täglid) durchſchnittlich von 62 Perfonen; bei biejer
legteren, der Salon: Eröffnungsausftelung, deren überwiegender
Teil aus Purwit-Werfen bejtand, fiel aud) die Zugfraft bes neuen
Salonunternehmens ins Gewicht. Auf die befonderen Gründe des
hervorragend ftarten Beſuchs Purwitſcher Ausjtellungen fommen
wir an andrer Stelle noch zurüd.
Es folgen in der Beſuchsfrequenz, wobei wir nad) der Tages:
frequenz ordnen, weil bie allgemeine Frequenzziffer durch ungün-
ftigen Zeitpunft (Sommer) ober allzu kurze oder allzu lange Dauer
der Ausjtellung beeinflußt fein Tann.
Ludwig v. Hofmann . . . . im Ganzen 2077, täglich 73 Perf.
Arnold Böclin (nur bisher unver:
tauft gebliebene, unvollendete
und Zugendwerke) m m 1855, 68%
Saſcha Schneider (7 Kartons) ir Paz 1 2012, 29 5,
Hans Thoma. . . » — 10 „6 „
Petersburger Snterntionate Aus:
Rellung. - co em A A
Ludwig Dettmaın . » > 2 un u VE, 45
Axel Salen. oo 2 ven BI. 2 „
112 Der Salon des Rigaſchen Kunftvereins.
Dann erft folgen:
Bernd. Vorcherdt u. Frau B. Schweinfurth i. ©. 1114, tägl. 40 Berl.
Münchener Luitpoldgruppe . . » „ 1208 „ 36 „
Holländer (I. beilere Sendung, April 1901) „ 1061 „36 „
Baron Nofen und Friedrih Morig . . „ 1068 „ 33 „
Petersburger und baltiſche Künftler . . „ 991 „33 „
Bernhard Borherbt und Jan Nofenthal. „ 1116 „ 32 „
Holländer (II. Sendung, März 1904) . „ 1082 „ 32 „
Keller und Neiner (II. Koll. Febr. 1902) „ 704 „29 m
Finnländer (I. ſchlechtere Koll. an 1901) „821 „ 27 „
Martha Unverhau. . . » „ 6a u u
Keller und Reiner (II. Koll. Nov. 1903) „ 690.26 „
Walter Sarring, Lieberg, Maderneel,
Rofenthal . . . . „568.235
Frau Schweinfurth, Hellmann a u. u.
Stahl, Haken Neumann . . . » — —
Siegfried Bielenſtein allein. .. Pe mr
Finnländer (II. beſſere Koll.! Sommer 1902) „ 119 „2 u
Müller, Wiemer, Fr. v. Siwers . . . „u 568 „ 22 „
Johann Walter . . . ren 99 21,
Gurlitt:Nolletion . 2. » ar AO ER
Petersburger und Moskauer Mater ee 3 „18 „
Ludwig Scheuermann, Dünden . . - m ar,
Siegfried Vielenflein und Karl Winkler. , 68 . 1a.
Karl Kahl . . - E „38 „17 „
Benois-Koll. aus Peterst. (Sommer 10) ir IR
Mar Bulfahtt. 2 02. Pa :: Eure
Siede und Baranwsy . ... „. 4sc 8%
Suchen wir aus biejen gaben ei einen allgemeinen Überblid
zu gewinnen, jo finden wir, daß das Publifum den auswärtigen
Darbietungen mit einer allgemeinen Frequenz von 1172 Perſonen
und einer Tagesfrequenz; von 40 Perfonen, gegenüber den eins
heimiſchen mit 107-4 Perfonen und einer Tagesfrequen; von 31
Perſonen, unzweifelhaft den Vorzug gibt, ebenfo ben Sonderaus:
ftellungen mit 1126 Perjonen, täglich 41 Perfonen, gegenüber den
1) Diefe Kotleftion, eine der bernorragenbiten Darbietungen des Salons,
tum allmählich zur Yufftellung, und zu ungünitiger Zeit, daher ihre bebauerlic)
und unerwartet ſowache Vejuchsfrequeng.
Der Salon des Rigafchen Kunſtvereins. 118
Gruppentolleftionen mit 1120 Perſonen, täglih 30 Perjonen.
Der Durchſchnittsbeſuch der vier Funftgemwerblichen Ausftellungen
betrug 855 Perfonen, täglich 31 Perfonen.
Werfen wir zum Schluß diejer Betrachtung noch einen Blick
auf die Schwankungen der Befuchsfrequenz; im Salon in ben
6 Jahren feines Beſtehens:
1899: 1468 Mitgl. 1895 Nichtmitgl. Summa: 6363
1900: 1458, 3540 „ "4998
1901: 1920. 4 4474
2115 „ 529 „ „7354
217 „ 84H, „ 11,010
1679 u 5009 „ „678
Täglich :
1899: 7 Mitgl. 22 Nichtmitgl. Summa: 29
1900: 7 „17, 24
10:1 un Bon 36
1902: 9 „ 1, „2%
1208: 9 0, 070. 86
1904: 7 TE —
Zieht man die beſondere Zugkraft der den Rigenſern noch
ganz neuen Einrichtung einer ſtändigen, häufig wechſelnden Gemälde:
ausftellung im erſten Salonjahr in Betracht und würdigt man die
Schwierigkeiten, die ſich im Kriegsjahr 1904 der Beſchaffung her
vorragender Kunftwerfe aus dem Auslande entgegenftellten, die es
auch bedingten, daß in dieſem legten Salonjahr nur eine aus:
ländiſche Bilberfollektion, die minderwertige holländifche, zur Aus—
ftellung gelangte, jo ergibt die Überſicht der allgemeinen Beſuchs-
frequenz eine ftetige Steigerung. Findet diefe auch Hinfichtlich ber
Mitglieder eine Erklärung in dem Anwachſen der abjoluten Mit:
gliederzahl des Runftvereins — vor Eröffnung des Salons ca. 300,
im legten Salonjahr ca. 500 —, fo beweilt die Zunahme der Zahl
der zahlenden Beſucher um fo mehr die Verbreitung des Intereſſes
an den Darbietungen des Salons.
Wenden wir uns nun dem finanziellen Nejultat zu, das das
Salonunternehimen dem Kunftverein gebracht hat. Das Vermögen
bes Kunftvereins betrug bei Begründung des Salons 4591 Nbl.
und betrug zum 1. Oltober 1904 — 1883 Nbl. Cs hat ſich jomit
in dieſer Zeit freilid) um ca. 2700 Nbl. gemindert; cs haben aljo
114 Der Salon bes Rigaſchen Aunſtoereins.
die warnenden Stimmen, bie auf ber Generalverjammlung am
23. Oftober 1898 aus der Anmietung bes Salonlokals erwachſende
pefuniäre Verlufte befürdteten, Recht behalten. Aber gewiß hat
auch die andre Auffaffung nicht minder Hecht behalten, bie die
Aufgabe des Kunſtvereins nicht in ber Anfammlung und Ver:
größerung feines Kapitalvermögens, jonbern in der Vermittlung
fünftlerifcher Anregung, in der Darbietung von Kunftausftellungen,
unbehindert durch äußere, die Selbitändigfeit des Vereins beengenbe
Feſſeln erblicte.
Die Salonmiete betrug 1100 Rbl. jährlich.
Wir finden in den Jahrestaffaberichten folgende Poften, die
fi, was zu beachten ift, nur auf ben Salon beziehen:
Einnahmen: Ausgaben: Berluft:
1898/1899 2148 R. 60 8. 3336 R. 40 8. 1187 R. 80 K.
1899/1900 1170 „ 20 „ 2483 „ 97 „ 1313 „ 77,
1900/1901 2197 „48 „3244 „23 „ 1046 „ 80,
1901/1902 1735 „ 51 „ 22109 u, 98, 484 „47.
1902/1903 2783 „ 68 „ 3970 „ 30 „ 1186 „ 32 „
1903/1904 2368 „ 24 „ 2860 „ 59 „402 „35.
Während aber die Gefamtverluftfumme aus
bem Salon für 6 Jahre. © 2 2 2 2020. 5911 N. 50 8.
betragen follte, beträgt bie Rapitaleinbuße aljo weniger als bie
Hälfte, ein Beweis bafür, daf bie Rafenvermaltung des Runit«
vereins imftande geweſen ift, auf andrem Mege, d. h. durch ander-
weitige wachſende Einnahmen, den Schaden zum Teil einzubringen.
Eine abermalige Vergleihung der Zahlenergebniife bei
Berechnung der Bruttocinnahmen aus den einzelnen Ansftellungen
würde wieder recht intereſſante Rejultate ergeben. Wir wollen
indeffen unfre Leſer nicht ermüden und begnügen uns hier mit
einigen Durchſchnittszahlen: 17 baltiſche Ausftellungen ergaben
eine Durchſchnittotageseinnahme von 6 Rbl. 17 auswärtige Aus—
ftelfungen ergaben eine durchfchnittliche Tageseinnahme von 8 Ab.
82 Kop. Korrigieren wir dieſe Statiflit, indem wir bei ben
tiſchen Ausftellungen die zwei Purmwit-Ausftellungen, deren größere
Beſucherzahl zum Teil auf andre, als auf fünftleriiche Intereſſen
zurüdzuführen ift, und bei den auswärtigen Ausftellungen bie
ganz mißglücte und wertloje Scheuermann:Ausftellung und die
Der Salon des Rigefhen Aunſtvereins. 115
den ganzen Sommer (1900) über, in ber saison morte ausge
ftellte Benois:Rolleftion aus Petersburg fortlafien, fo ergibt ſich
folgendes Refultat: 15 baltiſche Ausftelungen brachten eine Durch-
ihnittstageseinnahme von 4 Rbl. 18 Kop., 15 auswärtige Aus:
ftellungen braten eine Durchſchnittstageseinnahme von 9 Rbl.
73 Rop., aljo faſt 2'/s mal fo viel. Kann angeſichts diefer Zahlen
dem Kunftverein der Vorwurf gemacht werben, er vernadjläffige
die einheimifhen Künftler gegenüber den auswärtigen ?
Nach dem Beiſpiel ausländifher Kunftvereine erhebt auch
der Rigaſche beim Verkauf von Kunftwerfen aus feinen Ausftel-
lungen eine Provifion, und zwar in ber in Deutfchlanb meift
üblichen Höhe von 10 pCt. Die Statifti diefer Vereinseinnahme
unterliegt den größten Schwankungen, und ift nicht geeignet,
beftimmte Schlußfolgerungen zuzulaſſen. Bei der Schägung, bie
unfre einheimifchen Künftler bei uns genießen, einem ausge:
ſprochenen baltiſchen Lofalpatriotismus einerfeits, — dem Umjtande
anderfeits, daß die Preife ohnehin anipruchsvoller ausländischer
Künftler durch die Verfaufsprovifion bes vermittelnden Kunit-
hãndlers meilt noch erhöht werden, und dem meilt ganz unber
gründeten Mißtrauen gegenüber ausländischen Ausftellungspreifen
überhaupt, fällt die Verfaufsftatiftif für unfre einheimischen Künftler
ungleich günftiger aus, als für die auswärtigen.
Geben wir num einige wenige Zahlen zur Illuſtration ber
Frage, ob die Ausfiellungen im Salon nur dem Kunſtverein zugute
gefommen find, ober ob aud) bie ausitellenden Künftler ihren
Vorteil dabei gefunden haben. Auf der zur Eröffnung des Kunſt—
Salons veranftalteten Ausstellung baltiicher Künſtler, die dem Kunſt-
verein eine Bruttoeinnahme von 805 Rbol. bradte, wurde für
1547 Rol. verkauft, alſo faft für ben doppelten Betrag; davon
entfielen auf Herrn Wilhelm Purwit, dem das Hauptverdienft am
Erfolge der Ausftellung gebührt, 840 Rbl., alfo mehr als bie
Gefamteinnahme des Runftvereins. Im Ganzen hat Purwit auf
biefer und auf jeinen zwei Sonderausftellungen (feine Beteiligung
an ber Internationalen, an ber Velersburger und Moskauer und
an ber Petersburger und Baltifhen Ausftellung zählen hier nicht
mit), die zujammen dem Nunftverein eine Bruttoeinnahme von
2250 Rol. braten, für 2750 Rbl. verfauft. Won andern ein
heimiſchen Malern verkauften ;
116 Der Salon des Rigaſchen Aunſtoereins.
Baron Gerhard Rofen: für 680 Rbl. (die gefamte Bruttoeinnahme
aus ber von B. R. und Moritz im November 1902 veranftal-
teten Ausftellung betrug 267 Rbl.).
Karl Kahl: für 550 Rbl. (Bruttoeinnahme feiner Ausftellung:
80 Rbl.)
Bielenftein: für 510 Rbl. (Bruttoeinnahme feiner 2 Ausftellungen:
250 Rbl.)
Bernhard Borderdt: für 330 Rbl. (Bruttoeinnahme feiner mit
Jan RofentHal und mit Frau B. Schweinfurth veranftalteten
Ausftellungen: 495 Rbl.)
Frau Borderdt-:Schweinfurth: für 225 Nbl. (Bruttoeinnahme ber
von ihr mit Heren B. B. veranftalteten Ausftellung: 250 NbL.)
Frl. Martha Unverhau: für 325 Rbl. (Bruttoeinnahme ihrer
Ausftellung: 152 Rbl.)
Johann Walter: für 290 Rbl. (Davon 118 Rbl. auf feiner
Sonberausftellung, die dem Sunftverein 220 Nbl. brutto ein
brachte.)
Karl Windler: für 280 Rbl.
Richard Sarring: für 83 Rbl.
Um den den Ausftellern erwachfenden Vorteil zu würdigen,
iſt ferner zu beachten, daß eine große Anzahl von Verkäufen ſich
nicht auf der Austellung, fondern erjt jpäter realifiert, ein Vorzug,
der in Niga ausjchlieflidh den einheimiſchen Künſtlern zugute
fommt. Es ift nicht felten vorgefommen, daß Verkäufe unmittelbar
nad Schluß der Ausftellung perfett wurden, — folde find hier
natürlich nicht berüdfichtigt, — es iſt freilich auch oft vorge:
kommen, baß die Künftler bereits verkaufte Bilder ausftellten, aljo
nicht zum Verkauf, fondern zur Anſicht oder Reklame.
Ehe wir weiter gehen, jeien hier nod) zum Vergleich bie
von einigen Sonderausftellungen auswärtigen Urfprungs erzielten
Verkäufe regiftriert. Es verfauften:
Ludwig v. Hofmann für 1225 Rbl. bei einer Bruttoeinnahme von
508 Rbl.
Ludwig Dettmann für 400 Nbl. bei einer Brutloeinnahme von
435 Rbl.
Hans Thoma für 360 Nbl. bei einer Bruttoeinnahme von 435 Rbl.
Yevitan für 250 Rol.
Der Salon des Rigafchen Kunftvereins. u7
Diefen Zahlen gegenüber hat e8 nicht viel auf fi, menn
einzelnen weniger glüdlihen Ausftellern feine nennenswerten Verr
lãufe gelangen, wie Diorig, Rofenthal, Siede, Baranowsty.
Denfelben Zahlen gegenüber fann aber wohl auch die Auffaſſung
nicht aufrecht erhalten werden, als hätte ber Rigaſche Kunftverein
der felbftlofen Hilfe ber ausftellenden baltischen Maler jeine Fort-
erifteng zu banfen. Im Gegenteil, es ift nur gerecht anzuerkennen,
daß bie Künftler Rigas ebenfofehr dem NKunfiverein für bie Mög-
lichkeit, unentgeltlich deſſen Ausftellungslofal zu benugen, zu Dank
verpflichtet find, wie biefer ihnen für die Beteiligung an ben von
ihm veranftalteten Ausftellungen.
Es erübrigt am dieſer Stelle auf die vom Kunſtverein durch
Beichaffung auswärtiger Kunftwerfe den Künftlern gebotene Ans
regung, auf die ben ausflellenden Porträtmalern zugeführten Beftel-
lungen feitens des Salonpublitums, auf die von ber Leitung bes
KRunftfalons gegebene Anregung zu Atelierftunden ber Künſtler,
die mande Veftelung veranlaßt, manden Bilderfauf eingeleitet
haben, hinzumeifen; es fei auch z. B. an Folgendes erinnert: Nach
einer befonders erfolgreichen: Ausftellung Purwitſcher Arbeiten im
Salon berichtete die Schriftleitung bes Vereins darüber nach
Berlin, und Purwit, welcher gerade damals über bie Miete
eines Privatlofals in Berlin zu Ausftellungszweden verhanbelte,
wurde durch eine Einladung der Kunſthandlung Keller und Reiner
überrafht. Die von ihm daraufhin nad) Berlin gefandte Kollektion
bahnte ihm dann den Weg zu ben bebeutenditen Kunftftädten und
Ausftellungen Deutfchlands und Frankreichs, auf denen er feitdem
zu ben befannteften Ausftellern gehört. Dies fei hier nicht als
Verdienſt angeführt, jonbern nur erwähnt, um zu zeigen, baß bie
Zeitung bes Kunjtvereins ftets bereit ift, ihre Pflicht zu erfüllen,
den einheimiſchen Rünftlern jebe in ihrer Macht liegende Forderung
zuteil werben zu laſſen.
Hat der Salon infofern ben an ihn billigerweife zu ftellenden
Erwartungen genügt, als er an feinem Teil dazu beigetragen hat,
die Bekanntſchaft zwiſchen Dialer und Publitum anzubahnen und
zu entwideln und Verfaufsgelegenheiten zu vermitteln, jo hat jeine
Zeitung dieſe Verpflichtung noch weiter faſſen zu müffen geglaubt.
Außer den geſchloſſenen Gemäldeausftellungen haben im Salon
immer wieber aud andre Gegenftände Aufitellung und Beahtung
Baltifde Monatafgrift 1006, Heft 2
118 Der Salon des Rigaſchen Kunſtvereins.
gefunden: plaftifche Werke, Keramilen, Kupferftihe, Photogravüren,
die erfte künſtleriſch veranftaltete Austellung von Teppichen,
2 Erlibris- Ausftellungen, die Lehrausftellung für die Jugend,
mehrere Ausftellungen künſtleriſcher Photographien, endlich bie
4 Tunfigewerblihen Ausftelungen, die bem aufmerfjamen Beob-
achter einen beutlihen Aufſchwung des lokalen Kunſtgewerbes
zeigten, der ſich auch in der fteigenden DVerkaufsftatiftit barftellt.
Es murbe im Jahre 1899 (März) für 90 Rol. verfauft, 1902
(Dezember) für 591 Rbl., 1903 (Dezember) für 659 Rbl., 1904
(Dezember) für 500 Rbl. Hier fei auch an bie ſchönen im I. 1900
ausgeftellten Goldplafettarbeiten franzöſiſcher und deutſcher Künſtler
erinnert.
Endlich ift es dem Salon als Verbienft anzurechnen, ba er
oft jungen, aufftrebenden Dilettanten bie erſte Möglichleit bot,
mern aud in äußerlich kenntlicher, beſcheidener Form, öffentlich
auszufiellen; namentlich haben einige junge Maler letlifher Natio-
nalität hieraus Nuten gezogen und hoffentlih eine moraliſche
Stüge und Grmunterung zu fleißigem MWeiterarbeiten gefunden,
To Johann Sehtilter, Alexander Strahls, Johann Selting.
Wir kommen hiermit zu einer Frage, die in unjrem Lande und
unfrer Stadt als eine brennende, aud hier nicht umgangen werden
Tann, — zur nationalen. Daß hier in Riga nationale Gegenjäge
beftehen, wird niemand leugnen, ja, ihre Aktualität ift zur Zeit
bie allergröhte. Die Zeitung bes Aunftvereins, deſſen Gtatut ihr
ausbrüdlic bie Bevorzugung irgend einer Malerihule oder Nation
unterfagt, hat ſich hinſichtlich ihrer Ausftellungen ftets auf ben
Standpunkt zu ftellen bemüht, daß die Kunſt internalional: ift.
Auch ift fie ſich Hinfihtlic ihres Publikums ihrer Verpflichtung
voll bewußt, als Vertreterin bes einzigen beſtehenden Kunftvereins
und Inhaberin bes einzigen Ausitellungslofals allen vorhandenen,
wahrhaft fünftleriihen Bebürfniffen entgenzulommen, und den
Bewohnern Rigas, ohne Rüdficht auf ihre Nationalität, Fünftlerifche
Anregung zu bieten. Wohl feiner Zufammenfegung megen —
denn über 90 pCt. der Vereinsglieder find deutſcher Nationalität
— gilt der Kunftverein aber ben andern mit Recht als deutſcher
Verein. Mit melden Ralamitäten bie Direftion des Kunftvereins
bei Beſchaffung wertvoller ruffifcher Kunſterzeugniſſe zu fämpfen
hat, ift oben gezeigt worden. Wereinsglieber ruſſiſcher Nationalität
Der Salon des Rigaſchen Kunftvereing. 119
find kaum vorhanden, bie ruffiihen Kataloge müſſen zu jeber
Ausftellung gebrudt werden, aber eigentih unnüger Weiſe,
ba fie faft garnicht verlangt werben. — Etwas anders liegt
bie Sache mit den Letten. Der Salon hat bei der häufigen
Veranfialtung von Gemäldeausftellungen lettijcher Dialer meift
viel Publikum lettifcher Nationalität angelodt. Jedoch bie Haltung
dieſes Publifums im Salon, nody mehr aber bie Tatjache, daß
die Beſucher und angeblichen Bewunderer 5. B. Purwitſcher Erponate
geflifentlih dem Salon fern blieben, jobald ein Künſtler andrer
Nationalität, und wäre es ein Bödlin oder Thoma, zu Worte
fam, liefern den betrübenden Beweis, daß ihre Beſuche des Salons
feineswegs ihrem Kunftintereffe, fondern nationalen Belleitäten
und landsmännifder Eitelfeit entiprangen.
Die Direltion des Kunftvereins, zu ber jahrelang Wilhelm
Purwil gehörte, die eine große Anzahl Iettifcher Künftler wiederholt
zu Ausftellungen eingeladen hat, ben Verein, deſſen lettiiche Mit-
gliederzahl aber nicht 5 pCt. erreicht, fann der eventuelle Vorwurf
der Vernachläſſigung lettiſcher Intereffen nicht treffen. Solange
bie örtliche ruſſiſche und lettiſche Preſſe ihre Fulturfeindlihe und
verftänbnislofe Behandlung diefer Frage nicht ändern, ift eine
Änderung des 3. 3. beitehenden Zuftandes trog aller Berfuche
feitens des Kunſtvereins freilich nicht zu erwarten.
Wenn es ein oft zutreffendes Urteil if, von einem Manne
zu jagen, er jei mehr wert, als die Summe feiner Leiftungen, fo
fann das mit noch höherem Recht von einem Inſtitut gejagt
werben, das ein lebendiger Faktor im Leben einer Gefellichaft
geworben. Die Leiftungen laffen ſich eben nicht aufzählen. Bei
ber feierlichen Eröffnung des Salons äußerte der hiezu geladene
damalige liolänbifche Gouverneur Surowzew zum Schreiber biefer
Zeilen, es jei nicht das erfte Dial, daß er eine Gemäldeausftellung
fehe, fchon ein Mal in feinem Leben, in Tiflis, habe er das Vers
gnügen gehabt, eine ſolche zu befichtigen. Da erfcheint bie Ans
nahme wohl nicht allzu unmahrfcheinlih, das unter ben 46,000
Beſuchern des Salons eine nicht geringe Anzahl nicht einmal in
der glüdlichen Lage des Gouverneurs Surowzew gemejen iſt,
fih ein zweites Dial im Leben in einer Gemäldeausftellung zu
befinden. Und wenn aud nur eine Meine Anzahl von wirklichen
Kunjifreunden, dank dem Salon, der Kunſt zugeführt worden iſt
120 Der Salon des Rigeſchen Runftoereing.
und in ihm Genuß und Belehrung gefunden hat, fo ift damit
viel gewonnen.
Die mittelbare Einwirkung bes Runftfalons auf das große
Publitum läßt fih an manderlei Zeichen erweifen. Sehen wir
von bem Aufichwung ab, ben das innere Vereinsleben gewonnen,
von ber zunehmenden Mitgliederzahl, in welches Verdienſt der
Salon fi zudem wohl mit ber Einrichtung der Vortragsabende
zu teilen hat, von ber dank den Darbietungen des Salons ermög-
lichten, nad) vielen vergeblichen Verfuchen in früherer Zeit im
3. 1901 einftimmig befchloffenen Erhöhung bes Mitgliebsbeitrages
von 3 auf 5 Rubel, von ber wiederholten Weiterſendung hiefiger
Salonausftellungen nad Mitau, einmal auch nad Helfingfors, —
banf feinen erfolgreiheren und häufigeren Veranftaltungen hat das
allgemeine Intereſſe am Nigafhen Runftverein in Stadt und Land
in breiteren Schichten Boden gefunden. Der vormals nur einem
beſchränklen Kreife befannte Verein findet nun gebührende Erwäh—
nung in unfrer Preſſe fomohl, als gelegentlich auch in ber aus:
ländifhen, bem Derein ift ferner im J. 1903 die Gnabe einer
Taiferlihen Schenkung durch Allerhöchften Befehl vom 19. Dezember
1902 zuteil geworben.
Dem erftarften Runftverftändnis und Kunftbebürfnis ift es
mohl aud zu verbanfen, wenn die Rigafche Stabiverorbnetenver-
fammlung im J. 1904 zwei für das Kulturleben ber Stadt über:
aus wichtige Beihlüffe gefaßt hat:
Die im I. 1871 aus dem Schoß bes Kunſtvereins erfimalig
ergangene Anregung zur Begründung einer Zeichenfchule, bie in
ber Folge immer wieber und wieder zur Sprache gebracht worden
mar, ift endlich einer gedeihlichen Löfung zugeführt worden, indem
die Stabi nunmehr die am 15. Januar 1873 von Frl. Elife von
Yung-Stilling begründete, Durch ben Tod ihrer Gründerin verwaifte
Zeichenſchule als ftäbtiiche Kunſtſchule übernahm.
Wenige Wochen fpäter, am 22. November 1904, beſchloß
bie Stabtverordnetenverfammlung mit ber ausbrüdlichen, in der
Verſammlung ausgejprodenen und veröffentlichten Motivierung,
daß der Kunftverein ein foldhes Vertrauen fich durch feine bisherige
Tätigkeit verdient habe, ihm die Auaftellungsjäle im neuerbauten
ftäbtifhen Mufeumsgebäude nebft einigen erforderlichen Vereins:
Der Salon bes Rigaſchen Kunſtoereins. 121
räumen zu überlaffen, und übertrug ihm bamit die Führung im
Kunſileben der Stadt.
So hat ber Salon als Vorläufer des Runftmufeums auch
in höherem Sinne gewirtt und ben fünftigen, größeren Dar-
bietungen bes Ausftellungslofals im Muſeum ben Boden bereitet.
Der Meine beſcheidene Salon am Bafteiboulevard wird nad) wenigen
Jahren vergeſſen fein, aber was er gewirkt, wird nicht verloren
gehen. Man fann dank ihm in Riga nicht mehr ohne ein Aus—⸗
Nellungslofal leben. Und je höher unfre Kulturanfprüche werben,
um fo reicher wird unfer Leben.
Anmerkung des erfafecs. Cine tünftferiice Würdigung der Ausfiels
Tungsobjefte habe ic) mie mit Abficht verfagt. Wem die bier gebotenen Angaben
nicht genügen, der findet in den aufbewahrten Katalogen weitere Anpaltöpuntte.
Eine Sammlung diefer Kataloge werde id) in der Wibliothel der Gefellfchaft für
Geſchichte und Altertumstunde der Oitferprovingen niederlegen.
A
Am Kamin
Bas du mir, Hramme, d06 altes eräpraı
Wie du mid fefig mad, wie du mid quäff!
Was id In Aſche gefunken nermelnt,
Fahr du an — und es jußelt und weint!
Sadenden Mundes, mit trüben Bria
Grüßt meiner Jugend Beh und Gfük .. .
Sangfam verfodert sqeit auf Shell —
Beh” mit den Shatten, alle Zeit!
Eduard Fehre.
Gin Eangesleben.
Bon
Helene von Engelhardt - Fapn.
I
User eines aindes Ziege
War auf Alderweihen Shwingen
Einf ein Engel Hingelogen
Unter dettem Harfenkfingen.
Kinderaugen Seherangen!
Bon dem Himmelsglan, umwoben,
Hat das Kind die Bfide Aaunend
Zu der Sißlgelaft erhoben.
And am güfd’nen Saltenfpiele
Bries entzüct fein Auge fangen,
Jaudjend redt’s die Rleinen Armden,
Maß der Harf? empor zu fangen!
And mit ew’ger Sieb? im Antfik
Beugte id gar hord und Finde
Soues fel’ger Simmelsbote
3u dem armen Erdeukinde;
Breitet aber'm Afeinen Aöpfgen
Segnend aus die Sifberfhwingen,
Sandt, die Sippen ihm Berüßrend:
„Was du febfl, das ſotta du fingent«
*) Es find juſt. 35 Jahre her, fit Helene von Engelhardts
Name zum erften Mal in der heimifchen Preffe erwähnt wurde, im fchruar 1870:
ur vorher, zu Weihnachten, war ihr erftes Yücylein „Worgenrot” erfchienen.
Baur’ ift übe Name alferwärts bei uns gefannt und man weiß ihre Lieder zu
idägen. — Wenn wir gerade jept unfeen Sefern biefe neuen Werje umirer Tichterin
bringen dürfen, fo ift uns das eine beiondere Freude. Cie find wie eine poetildhe
Konfeliion, die der rüdjcpauende Wlid an diefem Sebensmeitenftein ihr auf die
Lippen gedrängt. Die Red.
Ein Sangeseben.
u.
Taufend Adendröten fauken,
Taufend Worgenfonnen Loßten, —
S6lafend In der jungen Seele
Sag das Wort des Hlmmelsboten.
Dog almäprih Mohn die Rebet
Bor dem Hand des Morgenmwindes,
And wie dämmerndes Erwaden
Hegt fid’s In der Biruf des Alndes.
Fremde, unverdaud'ne Kräfte
FÜpft es nah Entſat lung ringe:
Adnungsvoft Begeßrt’s nah Worten: —
Was es feßte, wall” es fingen!
Seine Träume wurden Sieder —
Seine Wounen — feine Tränen —
Seiner Klndfeit un und Shmergen —
Seiner Jugend Gfüd und Sehnen — —
Shönfeltstrunk’ue Shafeusfrende — —
Wanderfaßrt in Wind und Sonne ..
Sturm und Kampf und Hefdengröhe — —
Sit und Glanz und Sieheswon:
Was fein glüßend Herz Begeißert,
Mupt’ im Liede wiederkfingen:
Deun oB feiner Wiege raufßten
Sarfenfhlag und Engelstäwingen!
II.
Siunend mit gefeihten Lochen
Über Geröffihwelhe Bfätter
Säritt ein greifer Sangesmeiher,
Eitd umtodt von Sturm und Weller.
Schritt dahin — auf wunden Frühen,
Schritt dahin — auf Dunkeln Bergen...
Sehnend HoB er feine ride,
Sang ein Sied dem Licht entgegen. — —
„Greifer Torte fo riefen Stimmen,
„Träumf du noch mit weißen Haaren?
WITR du Beut noch Lieder Augen,
Sich, und wund, und (Amerjerfaßren?1s
123
124
Ein Sangesleben.
And es wandte Ai} der Alte,
Dandie fäßelud Ad zur Menge,
And empor, wie Jeimfih Jaudien,
Stiegen feiner Harfe Klänge:
„os des Sedens Befle Kräfte
36 and Rämfend aufgerieen:
Alte Kämpfe üderdanernd
3M mir eine Kraft gedfieben!
Sordert nicht, daf mir Im Ziufen
Meiner Keder Born verfe
Engefsharfen, Sifderfäwingen
Haufaten üder meiner Wiege!
mein Ange Tränen meinet,
10’s froß zum Licht erfebe — —
Bis die Sonne mid Befdelnet,
WMup i6 fingen, was id fedel
Wis ich felön auf Sifderfäwingen
Einf entrüht der armen Erde,
Anders feßen, anders fingen,
Andre Sonnen grüfen werder ·
du welder Veiſe könnten die riefengrohen Gemei
Lirlauds geteilt werden?
Bon
P. Franz Rechtlich: Gubmannsbad.
u
m Reformationsfefte 1901 wurde ein Flugblatt in der
r deutſchen Gemeinde verteilt, welches in jeinem legten
Abſchnitte von „unerträglihen Zuftänden“ handelte.
Dort wurden 5000 Seelen als Norm für die Größe eines Kirch-
ſpiels angejegt und an dieſer Norm bie beftehenden Firdlichen
Verhältniffe gemeffen. In Anfehung legterer müſſe man — heißt
es im Flugblatt — „das Angefiht vor Schmerz verhüllen, weil
es bei uns noch viele Kirchſpiele mit 8, 10, 12, 15, ja jogar 20
Taufend Seelen gibt, die von einem einzigen Paſtor bebient
werben. Diefe Pfarren müßten unbedingt geteilt werben, unb
zwar iſt jedes Jahr Verzögerung — Verſchlimmerung. Wenn ber
Staat verlangt, daß ein Lehrer nicht mehr als 60 Kinder unter
richte — eine fehr gerechte Forderung —, wie kann bie Kirche
zulaſſen, daß ein Paſtor 300 Konfirmanden unterrichtet. Ich
würde mein Kind aud) nicht eine einzige Stunde einer folden
Lehre beiwohnen laſſen.“ Dieje Worte des Flugblattes beziehen
ſich auf jämtlihe 5 Konfiftorialbezirfe Rußlands. Seitdem uns
nun bie „Mitteilungen unjres Generalfuperintendenten über bas
Kirchenweſen 1902” nebft dem Verzeichnis fämtlicher Gemeinden
zugegangen find, ift ein jeber von uns in ber Lage, die kirchlichen
Verhältniffe Livfands daraufhin zu unterfuchen. Das Refultat
diefer Unterfuchung iſt aber ein erjhütternbes: Unter ben 145
Gemeinden Livlands finden fih 57 Gemeinden, die über 8000
126 Teilung der Sandgemeinden Livlands.
ober volle 8000 Seelen enthalten, das find fait 40 pCt., die nach
den Worten des Flugblattes unbedingt geteilt werden müßten
Dann gibt es weitere 30 Gemeinden, deren Geelenzahl bereits
über 5000 gejtiegen ift und bie fomit aud) bereits über bie Norm
Hinausgegangen find. Wenn wir endlich die Normalgemeinden
zählen, bie 5000 volle und unter 5000 Seelen enthalten, jo hat
Livland deren bereits 58, das find genau 40 pCt. Cs find mithin
nur ?/ ber Gemeinden Liolands normale, überjehbare Gemeinden,
ebenfalls >/s find Niefengemeinden und "/s befinden fih auf ber
Grenze beiber. Bei den auf der Grenze befindlichen ift natürlich
die Frage disfutabel, ob fie alle unbedingt geteilt werden müßten
oder nicht. Die Einen werden es nicht einjehen, daß Gemeinden
von 8000 Seelen geteilt werden müßten, während die Andern
bereit$ Gemeinden von 7000 und 6000 Seelen für teilungs-
bedürftig erflären werben. Ich glaube aber, daß man mir ohne
Widerſpruch zugeben wird, daß 10,000 Seelen für einen Paſtor
zuviel find, als daß er an ihnen in ausreichender Weife Seelſorge
treiben und Zucht üben könnte. Ic habe es jedes Mal wie eine
Ironie empfunden, wenn in den Zeitungen vom „Seeljorger” ber
Raugeſchen Gemeinde ober der Darienburger Gemeinde geſchrieben
ftand. Sehen wir uns nur die Sprengel einzeln an. Da fteht
ber Rigaſche Stadtiprengel vornan, da er die abnormſten Ver:
hältnine aufweilt: die 14 Kirchengemeinden Rigas enthalten
228,000 Lutheriihe Seelen, d. h. bie Durchſchnittsgröße ber
Nigafchen Stadtgemeinden beträgt 16,000. Diejes Nefultat wird
durch das unheimliche Anwachſen ber lettiihen Gemeinden hervor
gerufen, unter denen St. Gertrud mit 52,000 und St. Johannis
mit 42,000 Seelen obenanftehen. Da es fi) hier um eine Groß⸗
ftabt handelt, deren Verhältniſſe mir fremd find, fo enthalte ih
mic) eines Urteils darüber, wie man diefem Niejennotftand wirfiam
begegnen fönnte. Nur meine ich, daß es burdaus noch nicht
genügt, daß an St. Gertrud 5 und an St. Johannis 3 Paſtoren
angeftellt find, da in den fettiihen Gemeinden dieſer Kirchen
13--14,000 Seelen auf einen Paſtor fommen.
Wir wenden uns jegt zu den 9 Landiprengeln, als zu unfrem
eigentlichen Thema. Unter dieſen ift ber Dörptſche Sprengel der
ſchwärzeſte, denn hier beträgt die Durchſchnittsgröße der Gemeinden
fait 9500, obſchon ſich darunter eine Univerjitätsgemeinde mit-
Teilung der Sanbgemeinden Liolanbs. 127
1000 Seelen befindet. Allerdings iſt hier die Hohe Zahl durch
das ungefunde Wachſen zweier Stabtgemeinden hervorgerufen:
St. Marien mit 20,000 Seelen und St. Petri mit 17,500 Seelen.
Außerdem enthält der Dörpiſche Sprengel noch 3 Niefengemeinden:
Torma-Lohufu mit 16,000, Kodbafer mit 10,600 und Marien:
Magdalenen mit 10,400 Seelen, ſämtlich Pfarren mit Filialen,
bei denen die Pfarrteilung leichter zu bewerfitelligen wäre.
Danach ift der Fellinſche Sprengel ein fehr ſchwarzer Sprengel,
da feine Durchſchnittsziffer faſt ebenſo hoch ift, wie im Dörptiden:
9400 Seelen pro Gemeinde. Er enthält 6 Gemeinden, bie einer
Teilung dringend bedürftig find: Fellin-Land ohne Köppo 15,300,
Helmet 14,000, Pilliftfer 12,400, Groß-Iohannis 12,000, Ober:
pahlen 12,000 und Tarwaſt über 9000 Seelen.
Ferner ift der Werrofche Sprengel ein fehr ſchwarzer Sprengel,
da bie Durchſchnittsziffer 9000 Seelen beträgt. Hier find 9 Ger
meinden teilungsbedürftig: Nauge mit 20,100 Seelen, daraus
müßten 4 Gemeinden gebildet werben; bann Pölme mit 16,100,
daraus müßten 3 Gemeinden entitehen; ähnlich Wendau mit
14,000 und Neuhaufen mit 13,000, dann Rappin 11,400, Anzen
11,000, Ranapäh 10,100, Ramby 10,000 und Odenpäh mit 9200
Seelen.
Endlid) ift der Wallſche Sprengel ein fehr ſchwarzer Sprengel,
denn die Durdichnittsgröße der Gemeinden beträgt 9000, und er
enthält 7 Niefengemeinden, von benen eine in 5 Gemeinden zer:
Idlagen werben müßte: Marien-Vlagbalenen ohne Seltinghof
25,000, Schwaneburg 16,000, Smilten 11,500, Tirjen 10,500,
Trifaten 9300, Palzmar 9100, Oppelaln 9100 Seelen.
Im Wolmarſchen Sprengel finden fi) ſchon etwas normalere
Gemeinden, ba fie im Durchſchnitt 7000 Seelen groß find, immers
hin find auch hier 3 Niefengemeinden: Süd-Nujen 12,000, Salis—
burg 11,800, Nord-Rujen 10,000 Seelen.
Im Wendenſchen Sprengel beträgt bie durchſchnittliche Größe
der Gemeinden 6300 Seelen, immerhin find aud hier 5 Niefen-
gemeinden: Ronneburg 10,400, MWenden-Land 10,300, Neu-Pebalg
9400, Seßwegen 9000, Lubahn 9000 Seelen.
Im Nigajchen Landfprengel iſt die Durdjchnittsziffer ber
Gemeinden 5600, und es findet fid) hier nur eine Niefengemeinde:
Schlock mit 12,600 Seelen.
128 Zeilung ber Sandgemeinden Livlands
Im Pernaufhen Sprengel haben die Gemeinden im Durd-
fchnitt 5400 Seelen, doch find in meinem Sprengel noch 3 ſchwarze
Buntte erfennbar: Pernau⸗St. Elifabeth 17,000, Halliit 11,700
und Saara 10,000 Seelen. Die Eliſabeth-Gemeinde jollte ſchon
längft geteilt werben, allein man ijt dort erſt jomeit gefommen,
daß dem Abjunkten die Landgemeinde als felbftändiges Arbeitsfeld
zugeteilt ift.
Der idealfte Sprengel Livlands ift der Defelfche, in welchem
nur eine ©emeinde, Kiellond, mit 7600 Seelen als bas normale
Maß von 5000 überjchreitend erjdeint.
Nachdem wir fo einen Überbfid gewonnen haben, treten wir
an bie hiſtoriſche Frage heran, wie es denn zu biefem unerquid-
lichen Zuftande gefommen ift, daß die lutherifche Kirche Livlands
ihren weiteren Wusbau hat zum Stillftand fommen laſſen, nachdem
fie einmal gegründet war. Diefes erllärt fih vor allem aus
ihrer Verfaſſung als Landeskirche. Die Fundierung ber Pfarren
mit Sand und bie Sicherftellung der Pfarreinnahmen durch die
obrigkeitlich beftätigten Regulative haben in älterer Zeit nad) Gottes
Vorſehung der lioländiſchen Kirche eine feite Nechtsgrundlage ver:
tiehen. Dank und Ehre gebührt allen den Gliedern ber livländiſchen
Nitterfgaft, die in den Gründungsjahren einen bebeutenden Land-
befig der Kirche geftiftet haben; ebenfo den Männern, bie alles
Land als der Iutheriihen Kirche fteuerpflichtig erflärt und dadurch
die lutheriſche Kirche zur Landeskirche gemacht haben. Ja, damals
find große Opfer der Kirche dargebracht worden, während in ber
Folgezeit dieſe Form ber Opfermilligfeit ganz aufhörte.
Die eriten Schwierigkeiten erwuchſen bem Lanbesfirchentum
im J. 1845; von Bedeutung war fobann auch die Beftimmung,
daß orthodore Landinhaber zu feinerlei Abgaben für die lutheriſche
Kirche herangezogen werden dürften. Vor allem aber wurde bie
lutheriſche Kirche an ihrem weiteren Ausbau dadurch gehindert,
daß Neubauten oder größere Umbauten lutheriiher Kirchen von
der Zuftimmung bes orthodoren Biſchofs abhängig gemacht wurben.
Ein weiteres Moment bildete die Inhibierung der ſtädtiſchen
Kommunen, zum Unterhalt ber Iutheriihen Kirchen beizufteuern.
Die Gouvernementsregierung wiederum hat durd den Modus und
die Handhabung der Repartition bei Kirchſpielsbauten manchen
formaliſtiſchen Hemmſchuh geihaffen. So haben manderlei gejeg:
Teilung ber Landgemeinden Livlands. 129
liche Beftimmungen die lutheriſche Kirche an der Entfaltung ihrer
Kräfte gehindert.
Abgefehen von äußeren Gründen haben nod viel ſchwerer⸗
wiegende innere Gründe biefe Unbeholfenheit der livländiſchen
Kirche hervorgerufen. Da ift vor allem die Tatſache zu fonftar
tieren, daß bie Lutheraner Livlands ſich deſſen nicht bewußt find,
daß es ihre Chriftenpflicht fei, ihre Paftoren und bas ganze
Kirchenweſen zu erhalten. Dan hört ganz allgemein die Rebensart:
„ber Bauer will nicht zahlen.“ Ja, das ift leider bisher auf ber
ganzen Linie der Fall gewefen und ber Dualismus der Höfe und
der Bauerſchaft hat es mit ſich gebracht, daß die Bauerſchaft nad
Möglichkeit neue Anforderungen von fi) auf die Höfe abzuwälzen
gefucht hat, und umgefehrt. In einer eſtniſchen Zeitung habe ich
freitich gelefen, daß das Volt deshalb berechtigt fei, mancherlei
Anforderungen an jeine Paſtoren zu ftellen, weil es fie ja bezahlt.
Aber mit diefer Bezahlung ift es fo traurig beftellt, baf die meiften
Paftoren Hungers jterben würden, wenn fie nur auf bie freiwil
ligen Zeitungen ber Yauergemeinden angewiefen wären. Es wäre
wohl jehr erwünjdt, wenn die nationale Preſſe die Lofung aus:
geben würde, daß ber Bauernftand in erfter Linie die Erhaltung
feines Kirchenwefens auf ſich zu nehmen verpflichtet fei, denn das
Verlangen nad größeren Rechten würde auf diefe Weile gewiß
feine Befriedigung finden, wenn man zuerft die Pflichten erfüllt,
aus benen jene Rechte fliehen. Wenn es alfo nad) der Lehre
Jeſu und jeiner Apoftel unbeftreitbare Pflicht der Gemeinden ift,
ihre Prebiger materiell zu erhalten, jo fragt es fih, warum ber
baltiſche Bauer jo unluſtig ift, biefe Pflicht zu erfüllen. Bon
alters her war aber ber foziale Unteridied zwiſchen dem Bauer
und feinem Prediger ein Haffender. Während der leptere vielfach
geſellſchaftlich mit dem Gutsherrn rangierte, jtand der Bauer in
unterwürfiger Stellung entblößten Hauptes vor dem Kirchenherrn,
wie fie den Paſtor, entſprechend der Bezeichnung Gutsherr, titu:
lierten. Darum war der Paftor in ben Augen des Bauern ber
reiche Dann, jo daß ber Bauer mehr auf die Unterftügung bes
Paftors angewiejen zu fein glaubte, als umgekehrt, wie das nor:
male Verhältnis geweien wäre. Diefes Verhältnis beftcht leider
vielfach auch heute noch, wo ber Paſtor als Inhaber des Baftorats:
gutes vielen Gemeindegliedern als Pachtherr gegenüberfteht. —
180 Teilung der Sanbgemeinden Liolands.
Das find Feine gefunden kirchlichen Verhältniffe: bie livländiſchen
Paftoren haben ſich badurd) von der Nachfolge des armen Lebens
Jeſu weit entfernt. Das ift zwar hiitoriich geworben, hat auch
mandes Gute mit fid) gebracht und den Paſtorenſtand fozial
gehoben, aber ein geiftlicher Segen ift es nicht, weder für die
Paſtoren noch für ihre Gemeinden. Die Apoftel des Herrn erklärten
dem Lahmen (Act. 3), ber ihre materielle Hilfe beanjpruchte:
„Sold und Silber haben wir nicht.” Da war es natürlich eine
felbftverftändfiche Pflicht der chriſtlichen Gemeinde, ihnen Speife,
(Matih. 10, 10) und Lohn (Luc. 10, 7) darzureihen. Ja, in ber
apoſtoliſchen Gemeinde hatten fie alle Dinge gemein. Es ift gut,
wenn wir uns deſſen bewußt werben, wie weit wir vom apojlo:
liſchen Vorbilde abgefommen find. Es ift ja einerfeits nicht ſchrift⸗
mibrig, wenn die Diener am Worte jo geftellt find, daß fie fich
nicht in Händel der Nahrung zu flechten brauchen, allein anderjeits
iſt es ein Verderb, wenn die Kirche und ihre Diener reich find.
Es ift nicht gut, daß wir einige Landpfarren mit Jahreseinnahmen
befigen, wovon bei mäßigen Anſprüchen wohl auch zwei Familien
exiſtieren fönnten. Sole Pajtoren follten mit Freuden auf eine
Pfarrteilung eingehen und ſich deſſen getröften, daß Gott ihren
Ausfall mit geiftlichem Segen decken wird. Ja, es iſt ein ſchreiendes
Mifverhältnis, wenn der Hirte leiblic alles vollauf hat und die
‚Herde geiltlich darbt und verfümmert. Nur dann darf ber Hirte
jein Einfommen mit gutem Gewifjen verzehren, wenn er feiner
Gemeinde fein fann, was er foll, nämlich Hirte und Seelſorger.
Wenn er fi aber jagen muß, daß fein geiftlicher Einfluß durch
bie abnormen Größenverhältniije ganz unterbunden ift, fo dürfte
er wegen ber jdiweren Verantivortung in einer folden Situation
nicht verbleiben und die Pfarreinfünfte ruhig weiter beziehen.
Was ift das für ein Knecht, der ſich für die Bearbeitung einer
verabrebeten Ackerflãche feinen vollen Jahreslohn zuhlen läßt, dieſe
Aderflähe aber nur zum Teil und ſchlecht bearbeitet. Ja, wir
müffen Mittel und Wege fuchen, unfer Arbeitsfeld fo einzurichten,
daß wir es aud bearbeiten fönnen. Ich bin überzeugt, daß bei
gutem Willen mande Pfarrteilungen durch uns Paſtoren vorge
nommen werben Fönnten.
Wir müſſen aljo fonftatieren, daß es gerade die reichdotierten
Pfarren find, die den Bauer unwillig machen, das Kirchenweſen
Teilung ber Sandgemeinden Liolands. 181
zu erhalten. Ferner aber liegt auf unfrer Seite bie Verfäumnis
vor, daß wir vielfach die Bauern nicht zum Beiftenern für kirchliche
Zwecke erzogen haben. Ja, das fann nicht geleugnet werben, daß
für alle möglichen wohltätigen Zwecke KRolleften veranftaltet worden
find, aber die Initiative zur Selbſihilfe ift ganz abhanden gefommen.
Wenn irgend etwas gebaut oder neue Schulen gegründet ober
neue Arbeitskräfte angeftellt werden jollten, jo fchrie die Gemeinde
zuerſt nad) ber Unterftügungsfaffe und dann nad) der Landes- und
Nitterfaffe. Unſre großen Gemeinden müſſen für ihre häusfichen
geiftlihen Bebürfniffe voll und ganz auffommen, und dazu foll
jedes fonfirmierte Gemeindeglied angehalten und erzogen werben,
bie kirchlichen Laften zu tragen. Dieje Forderung Tann geftellt
werden, benn ber Bauernſtand ift nicht mehr jo arm, wie etwa
vor 40 Jahren, als er noch um feine Eriftenz fämpfte. Durch
Gottes Gnade haben wir hier in Livland einen arbeitfamen und
zum Teil recht wohlhabenden Bauernftand, der knechtiſche Sinn ift
vielfach einem überfpannten Eelbjtbewußtfein gewichen, wie es ftets
bei jungen Völkern in ihrer Sturm und Drangperiode zutage Iritt.
Diefes erwachende Selbitbewußtfein follte von der lutherischen Kirche
klug benugt werben, um die neuen Kräfte dem Evangelium bienft-
bar zu machen. Hier ift für die ftrebjamen Gebildeten, die aus
dem Bauernftande hervorgehen, ein Feld der Tätigkeit dargeboten,
wie e8 nicht Schöner und begeifternder gedacht werben kann, nämlich die
Neuorganifation der livländifchen Kirchen nah geſund evangeliſchen
Grunbfägen. Zu biefer Arbeit möchte ich alle Stände Livlands
aufgerufen fehen, Hoch und Niedrig, Reid) und Arm, Deutfcher,
Eite und Lette, fie alle jollen bei diefer Arbeit in den Wettbewerb
eintreten, und benen, bie die größere Selbjtverfeugnung und die
größere Opfermwilligteit betätigen, foll der Siegespreis. zuteil werben,
ja dieſe werben bie Krone der Gerechtigkeit erlangen, die der Herr,
ber gerechte Richter, am Tage feiner Erjejeinung geben wird.
Es find aber auch äußere Nötigungen vorhanden, die uns
zur Pfarrteifung drängen, das ift die Schwierigkeit der Pfarr
befegung in ben Niefengemeinden. Die Skandale, die bei biejer
Gelegenheit vorgefommen find und die Lutherifche Kirche mit
Schmach bededt haben, follten uns doch veranlafjen, die Urfachen
derfelben zu erforichen. Bei ber Beſehung Eleiner und armer
Pfarren find feine Skandale vorgefommen, und Fönnen feine vor
132 Zeifung der Landgemeinden Sinlanbs.
kommen. Cs handelte ſich jebes Mal um Riefengemeinben, und
zwar um gutbotierte Riefengemeinben. Wie kommt es, daß bie
Zahl der Bewerber um folde Pfarren eine fo große if? Wie
fommt es, baß ſich viele bereit finden, das große und ſchwere
Kreuz einer Niefengemeinde auf fich zu nehmen, wo man fih als
gewifjenhafter Menſch zu Schanden arbeiten müßte? Ich fann es
mir nur erflären durd den Wunſch, materiell fichergeftellt zu
werden. Wir leben in einer Zeit, wo die Bauergemeinben Paftoren
ihrer Nationalität bevorzugen und Die Kandidaten deutſchen Blutes
nach Möglichfeit fern zu halten ſuchen. Dies ift ein Zeichen geftei-
gerten nationalen Selbftbewußtfeins, und mir können folches
begreifen, aber wir beflagen ben Schaden, den bie nationalen
Inftinkte ber Kirche zufügen. Wer trägt nun Verlangen, in eine
national geipaltene Gemeinde hineinzulommen, wo der Paſtor
deutſchen Blutes beim Gros jeiner Gemeinde verſchloſſene Herzen
vorfindet und wo der Paftor eſtniſchen oder lettiſchen Blutes gerade
bei den einflußreichiten Leuten bes Kirchſpiels verſchloſſene Herzen
vorfindet. Ich behaupte, wer das Herz auf bem rechten led hat,
wird fi auf folde ungemütliche Pfarre überhaupt nicht berufen
laſſen, fo daß ſolche Rirhipiele von ihrem Hohen Pferde herab-
fteigen und ben Glauben aufgeben müßten, als ob es das größte
Glüd wäre, dort Paſtor zu werben.
Hier wende id) mid; befonders an meine jungen Vrüber,
Vikare, Adjunkten und Kandidaten, und fordere fie auf, ſich für
ſolidariſch zu erklären, daß fie ſich nicht auf valant werbenbe
Riefengemeinden berufen laſſen, es jei denn, daß fie einmütig von
beiden Parteien gewählt werden und daß ihr Arbeitsfeld derartig
abgegrenzt würde, daß fie den geiftlihen Anforderungen genügen
tönnen. Wenn wir die ſchweren Schäden unfrer Kirche empfinden,
und bie Goftesgerichte, die über fie ergehen, zu Herzen nehmen,
fo müſſen wir den Ruf nad) einer neuen Art von Kandidaten
ertönen laijen, die da genügfam find und mit Meinen Pfarr
einnahmen ſich begnügen, die da arm fein wollen, bamit bie
Gemeinden geiftlih rei) würden, denn fie find leider furdibar
arm an geiftliher Erkenntnis. Das zeigen uns heute noch Die
vielen Miſchehen und der herrichende Materialismus, ber ſich durch
diefe Fälle ſynptomatiſch Fund tut. Ja, hier rufe ih Euch auf
zum Konfurrenztampf, Ihr deutſchen, eſtniſchen und lettiſchen
Zeifung der Landgemeinden Siolanbs. 133
Amtsbrüber: „Laßt uns Fonkurrieren in ber Anfpruchslofigleit bes
Lebens, in ber Willigfeit, ſchwach dotierte Pfarren zu übernehmen,
bann ift bie Schwierigkeit ber Pfarrteilungen zum größten Teil
überwunden. Wie groß ift dafür bie innere Befriedigung, an
einer Heinen Gemeinde arbeiten zu Fönnen, wo man einigermaßen
das Gefühl hat, geiftliher Leiter und Berater feiner Gemeinde
zu fein. Ja, ih fann nur Gottes Freundlichkeit gegen mich
rühmen, baß er mir eine Heine und arme Gemeinde anvertraut
hat, hat er mich doch überaus gefegnet auf meiner jogenannten
Hungerpfarre. Darum rate ich meinen jungen Brüdern, bie. nod)
feine Pfarre haben: Bittet ben Herrn, daß er euch gnäbig
jet und euch eine Heine Gemeinde anvertrauen möchte, wo ihr
wirklich als Geiftlihe arbeiten könnt und nicht als bloße Kultus:
beamte ben ſchweren Kirchenwagen in ben alten Geleifen weiter:
ſchiebt.
Wir find uns über die Gründe Mar geworden, warum es
in Livfand ſchwierig ift, Pfarren zu teilen; dennoch aber könnten
Mittel und Wege gefunden werben, die uns einen weiteren Auss
bau der livländifchen Kirchen ermöglichen. Dffiziell anerkannte
Pfarrteilungen werben wir möglicherweife nicht zuftande bringen,
darüber wollen wir uns von vornherein klar jein. Aber etwas
ähnliches, was in Nordlivland, beifpielsweife bei Sellin und Köppo,
oder in Süblivland, beifpielsweife bei Lemjal und Katharinen,
geihehen ift, Tann in Hundert andern Fällen ebenfo geſchehen.
Nur ſollen wir nicht wähnen, daß wir mit den bisherigen Hilfs-
mitteln biefe große kirchliche Neform verwirklichen werden, benn
nad) den bisherigen Anjchauungen wollte bie Einzelgemeinde ihre
Neuorganifation immer nur auf Koften der Gefamtkirhe vornehmen
und wagte ſich nicht früher an die Pfarrteilung heran, als bas
nötige Fundationskapital vorhanden war. Wollten wir nad) diefer
alten Methobe diefen Riefennotitand befeitigen, fo hätten wir allein
für Livfand 10 Unterftügungsfaffen nötig. Ich berechne, daß
gegenwärtig, abgefehen vom Rigaſchen Stadtiprengel, alfo in den
neun Landfprengeln, auf einmal 50 neue Kicdjpiele gegründet
werden müßten: im Werroſchen zwölf, im Waltidien elf, im
Dörptjhen neun, im Fellinſchen fieben, im Wendenſchen fünf, im
Pernauſchen vier, im Wolmarſchen drei, im Rigaſchen Landſprengel
eins; in Deſel wäre feins nötig. Zur Fundation von 50 Land
Baltifcie Wonatafgrift 1905, Heft 2.
134 Teilung der Landgemeinden Livlands.
firdfpielen wäre aber bei ben mäßigften Anfprüden ein Kapital
von ca. 2 Mill. Rbl. erforderlich. Und innerhalb ber nächften
20 Jahre müßten meitere 50 Neugründungen von Kirchſpielen
ftattfinden, wenn wir auf normale Verhältniffe herausfommen
wollen. Soll aber auf bem Wege folider NKapitalifierung das
Kirchenwefen reorganifiert werben, jo werben wir im Schneden-
fchritt vorwärts fommen, während der Notftand uns mit Riejen-
fchritten über ben Kopf wachſen würde, Daraus ziehe ich nun bie
Folgerung, daß ber bisherige Modus bei Pfarrteilungen radikal
verlaffen werden muß, wenn wir aus bem Notftande heraus und
nicht immer tiefer hineinfommen wollen. Die neuen Mittel aber,
die uns zum Ziele führen fönnten, wären: ber Grundſatz ber
Selbfthilfe und die freiwillige Selbſtbeſteuerung. Unter dem
Grundfaß ber Selbfihilfe verftehe ich Dies, daß eine Niefengemeinbe,
die eine Teilung unter Beihilfe der Geſamtlirche vornehmen möchte,
energiſch angehalten werben foll, ſich felbft zu helfen. Ich habe
Veranlaſſung gehabt, auf ber Generalverfanmlung bes Norbliv-
ländifchen Bezirkskomitees darauf Hinzumeifen, daß die Unter
ftügungsfaffen » Kolleften beim Volfe unbeliebt geworben find,
meil das gefammelte Geld im Lande ſelbſt verwandt wird. Die
Landgemeinden geben gern, wenn ihnen bie geiftliche Not ber
Glaubensbrüber im fernen Rußland gefdildert wird, aber wenn
fie erfahren, baf fie zum Unterhalt einer Nadbargemeinde zahlen
follen, die vielleiht wohlhabender iſt, als fie ſelbſt, fo wollen fie
von der Unterftügungsfaffe nichts mehr wilfen. Und was jpeziell
Norblivland anlangt, jo hat es z. B. im Jahre 1900 2225 Rbl.
mehr verausgabt, als es kollektiert hat. Das ift ein ungefunder
Zuftand, denn unfre fompaften Iutherifhen Gemeinden follen doch
die lutheriſche Diafpora im weiten Rußland unterftügen unb nicht
noch dazu bie Überſchüſſe andrer Bezirkskomitees aufbrauchen.
Wenn alfo die Unterſtützungskaſſe hier im Lande ihre Kolleften
nicht ganz unmöglich machen will, fo foll fie wohlhabenden Gemeinden
bie Unterftügung verweigern, „fie dadurch zwingen, ſich ſelbſt zu
helfen. Den Gemeinden aber, die fie bisher unterftügt hat, ſollte
fie nach jedem Triennium die Subvention verringern, je nad
Berückſichtigung der fonfreten Verhältniffe. Die Leiter der Bezirks
fomitees der Unterftügungsfaffe würden bei der Erziehung ber
Gemeinden zur Selbfthilfe eine weſentliche Rolle jpielen, denn
Zeilung der Sanbgemeinben Siofanbs. 185
folange eine Gemeinde ganz gemütlich auf fremde Koften leben
fann, wozu foll fie ſich ſelbſt anftrengen. Ja, wir werben es auch
nicht vom betreffenden Amtsbruber erwarten Fönnen, daß er eine
Verminderung jeiner Subvention felbft beantragt, denn wenn bie
eigene Gemeinde folches erfährt, fo wird fie über ihren Paſtor
erbittert fein, daß er neue Laften feiner Gemeinde auferlegen
möchte. Ich fann in biefer Sache aus Erfahrung ſprechen, da id)
nad) Möglichfeit mid) bemüht habe, meine Gudmannobachſche
Gemeinde zur Selbfihilfe anzuleiten, damit fie für den Fall, daß
bie Unterftügungstafle ihr einft die bisherige Subvention entzieht,
durch die freiwillige Gelbftbeftenerung den Ausfall felbft zu beden
imftande jei. Es find aber viele in meiner Gemeinde, bie es mir
nicht glauben, daß die Unterftügungsfaile einmal aufhören könnte,
uns zu fubventionieren. Diefe fönnen von ihrer ſchädlichen Mei—
nung nur dadurch geheilt werden, daß ein Vertreter der Unter:
ftügungsfaffe es ihnen duch eine Tat far macht, nämlich durch
Verringerung der Subvention und durch die Anfündigung, daß
wieder nad) einer Reihe von Jahren eine weitere Verringerung
ftattfinden werde. Wenn auf folde Meife Summen freiwerben
follten, dann wäre id) nicht dagegen, baß fie bei der Teilung ber
Riefengemeinden mithelfen. Denn wenn aud der Grundfag feſt⸗
gehalten werden muß, daß bie Riejengemeinden mit ihren Rieſen—
träften fid) jelbft helfen, jo wollen wir uns doch nicht verhehlen,
daß folches nicht gleich zu Beginn ber Pfarrteilung gefchehen wird,
da fie noch garnicht zur Selbftbetätigung erzogen find. Zu Beginn
der Pfarrteilung alfo möge immerhin die Unterftügungsfaffe ange-
rufen werden, damit Kirche und Paftorat fchneller aufgebaut
werben. Nach den Gründungsjahren aber follten bie Leiter der
Unterftügungstaffe durch Verfagen der Subvention die Gemeinden
zur Selbftbetätigung zwingen. Das Hauptmittel aber zur Reor—
ganifation unfres Kirchenweſens wäre die Erziehung der Bauer—
gemeinden zur freiwilligen Selbftbeiteuerung. Letztere ift ja in
ben Stäbten feine neue Sache mehr, und fie bewährt fih an
manchen Orten ausgezeichnet. Will nun etiva jemand behaupten,
daß eine ſolche Selbſtbeſteuerung höchitens bei Gebilbeten denkbar,
bei Bauern aber eine Unmöglichkeit jei, fo muß ic) dem entſchieden
widerſprechen. In Zintenhof und in Gudmannsbach ift fie ein
geführt worden und berechtigt zu der Hoffnung, daß fie fi, ein:
156 Zeitung ber Sanbgemeinben Siolanbs.
bürgern werbe. Natürlih muß das Bedürfnis von ber Bauer
gemeinde Mar erfannt werben, dann werden fie ſchon zahlen.
Aber in einer Gemeinde, wo der Paftor eine große Pfrünbe hat,
wäre es natürlid) ausſichtslos, bie freiwillige Selbftbefteuerung
einzuführen. Erſt mit dem Moment, wo eine Gemeinde einer
bisherigen Einnahmequelle plöglih beraubt wird, oder wo eine
neue geiftliche Hilfskraft angeftellt werden foll, oder namentlich,
mo ein Teil ber Gemeinde ſich als felbjtändiges Kirchſpiel kon—
ftituiert, wird mit diefer Selbftbefteuerung einzufegen fein, wobei
das Sprüchwort „Aller Anfang ift ſchwer“ fi) oft in unangenehmer
Weife geltend machen wird. Nehmen wir beilpielsweife eine
Normalgemeinde von 5000 Seelen, bie gegründet werden foll,
und fuchen wir uns anfchaulich zu maden, wie diefe 5000 Seelen
für ihre kirchlichen Bedürfniffe auffommen follen. Da erhebt ſich
zuerfi die Frage, wie man den Hauptpoften der Yahreseinnahmen
des Paftors zufammenbefonmmen fönnte. In der Gudmannsbach—
ſchen Gemeinde find wir vom Grundfag ausgegangen, daß bie
männliche konfirmierte Vevölferung das Kirchenwefen zu erhalten
verpflichtet fei. Es ließe fid) aber auch dagegen nichts einwenden,
wenn fämtliche mündige Gemeindeglieder, jei es männlichen, fei
es mweiblihen Geſchlechts, zu einer jährlichen Kirchenſteuer heran—
gezogen würden. Doch da die männlichen Seelen bie leiſtungs—
fähigeren find, fo Läht fih auf dieſer Bafis leichter eine Berech⸗
nung aufftellen. Es fommen nämlid) nad) meiner Berechnung auf
100 Gemeindeglieder 30 Tonfirmierte männliche Seelen, es macht
bei einer Gemeinde von 5000 Seelen 1500 Steuerzahler aus.
Wenn wir nun foweit kämen, daß jebes männliche fonfirmierte
Gemeindeglied durchſchnittlich 1 Rbl. jährlich beiträgt, dann wäre
das Problem gelöft. Ich fage durchſchnittlich, denn wenn bie
Selbftbefteuerung wirklich eine freiwillige fein fol, fo werden wir
es nie erreichen, daß jeder einzelne zahlt, ſondern nur ein Bruchteil
berfelben wird feine Chriftenpflidt erfüllen und zahlen. Wenn
wir uns die Verhältniſſe der ſchottiſchen Freikirche daraufhin an-
fehen, fo werden wir jogar bort, bei den geradezu idealen Ders
bältniffen, die Beobachtung machen, daß nur Y/s der Kommunikanten
für die Erhaltung der Kirche Opfer bringt. Aber diefer Bruchteil
tut es fo reichlich, daß nicht nur alle Bebürfniffe befriedigt, fondern
aud die Miffion — äufßere wie innere — fraftvoll betrieben
Teilung der Landgemeinden Livlands. 187
werben fönnen. — In meiner Gemeinde, wo die freiwillige Selbft-
befteuerung erft feit zwei Jahren befteht, find Gaben von 1 Rbl.
und 50 Kop. die häufigften, es fommen aber auch Gaben von
5 und 10 Rbl. und anberfeits Gaben von 10 und 15 Kop. vor.
Wen es intereffiert, der möge erfahren, dab die Gudmannsbachſche
Gemeinde in zwei Jahren 270 Rol. an freiwilliger Selbjtbefteuerung
aufgebradt hat. Sie ift aber nur halb fo groß wie eine Normal⸗
gemeinde und hat zwei jchwere Jahre hinter fi. Vor allem aber
hoffe ich, daß ji) das Geſetz fenffornartigen Wachstums in biejer
Sache herausftellen wird, wenn anders die Sadje richtig angefaßt
und gejund organifiert it. Denn man fann auch durd einen
gewiſſen moralifden Zwang gleih von vornherein eine ziemlide
Höhe ber Kirchenabgaben erzielen, dod) wird ſich in dem Falle
fein jenffornartiges Wachstum herausjtellen. Wenn wir in biejer
Sade von der Erfahrung andrer lernen wollen, fo jtellt uns die
Miſſion Hier reichliches Material zur Verfügung. Syſtematiſch
zufammengefaßt finden wir es im 5. Bande ber Warnedichen
Miffionslehre, wo im 46. Rap. die finanzielle Selbjtunterhaltung
der heidendrijtlihen Kirchen behandelt wird. Auch hier Fonftatiert
Warned, ganz wie bei uns, daß das Hindernis zur Erreichung
firhlicher Selbftändigfeit zuerft in einer Verihuldung der Diffon
jelbft befteht, die es in den Anfängen verabfäumt hat, die einge—
borenen Chriften an eine geordnete finanzielle Selbftleiftung zu
gewöhnen. Die Frage ift eben brennend auf allen älteren Miſſions-
gebieten, denn es ift nicht möglid, wenn Voltsfirchen entjtehen
follen, daß fie nad) wie vor durd) die Liebesgaben der jendenden
Cheiftenheit aufrecht erhalten werben. Darum erteilt der ergraute
Miffionstenner Warned in Bezug auf die Erziehung zur kirchlichen
Eelbftunterhaltung den Miifionaren drei Natjchläge, die mutatis
mutandis auf uns ihre volle Anwendung finden: 1) verjucht fie,
2) verfucht fie fofort von Anfang an, und 3) verfucht fie mit
feftem Willen.
Ich bin der Anficht, daß gerade an diefer Frage die Zukunft
der Kirche Livlands hängt, denn wenn ber livländiiche Bauer es
nit einfehen follte, daß er verpflichtet fei, das Kirchenweſen zu
erhalten, und wenn wir es nicht zujtande bringen, normale geift
liche Arbeitsgebiete zu ſchaffen, ſo wird die Erfaltung der Volks—
moſſen ftetig zunehmen unb zu einem Abfall führen, der einjt den
138 Zeifung der Landgemeinden Siolanbs.
Hirten der Kirche die Augen öffnen wird, — aber dann wird es
zu fpät fein. Über den Modus der Pfarrteilung ließen fid) noch
mandjerlei Ratſchläge erteilen. Den Anfang mit ber Teilung
einer Niefengemeinde lönnte man am beften bei einer Neubejegung
der Pfarre maden. Wenn der Kirchenvorſtand noch nicht die
Einſicht von der Notwendigkeit der Teilung befigen follte, jo müßten
die vozierten Kandidaten ber Neihe nach die Annahme der Vakation
von ber Zufage ber Teilung abhängig machen und jo auf dus
Kirdhipiel einen Drud ausüben. Der vozierte Paſtor fönnte dann
fofort beim Antritt einen ober zwei Adjunkten zu Hilfe nehmen,
mit biefen feine Pfarreinnahmen teilen und mit ber Erziehung
der Gemeinde zur Selbſtbeſteuerung fofort einfegen. Ich habe
vor der (Generalverfammlung des Nordlivländihen Bezirke:
fomitees über dieſe Sache folgende Thefe aufgeitellt: Bei der
Belegung von Riejengemeinden follten diejenigen Bewerber bevor-
zugt werden, bie zu einer Pfarrteilung bereit und mit geringeren
Einnahmen zufrieden find. Gerade die legten Worte wurden von
den Amtsbrüdern damals jtarf belacht. Jetzt, feit dem Erſcheinen
des 5. Bandes ber Diiffionsiehre, bin ich in der Lage, obige Theſe
durch ein Zitat aus Warned zu ftügen: „Soll die Selbjtunter-
haltung durchgeſetzt werben, fo iſt ein joldyer Zehrftand unentbehrlich,
der mit dem Verftänbnis für bie Notwendigfeit derfelben bie groß-
herzige Genügjamfeit verbindet, mit einem Gehalt zufrieden zu
fein, das im Verhältnis zur finanziellen Leiſtungskraft ber von
ihm bedienten Kirchen fteht, eine Forderung, die zu dem allge:
meinen finanzöfonomiihen Grundſatz der Proportionalität der ver-
langten Leiftung zur vorhandenen Leiftungsfähigfeit erhoben werden
muß.” Der livländifche Paftor muß aljo von feinem hohen Pferde
herabjteigen, um ein volfstümlicher Dann zu werden, damit bie
gejhilberten Normalgemeinden feinen Unterhalt beftreiten können
und wollen. Wenn aljo der Paftor einer Niefengemeinde ſich mit
der nötigen Anzahl von Adjunkten verſehen hat, fo joll er fie in
der Peripherie feines Kirchipiels zu poftieren verſuchen. Bei Filialen
und bei bereits vorhandenen Bethäufern ift das leicht zu bewert-
ftelligen, da dann nur ein Quartier für den Adjunkten zu beichaffen
wäre. Hat fih nun die um bie Filialkirche herumwohnende Bevöl—
terung mit dem jungen Paſtor eingelebt und ihn womöglich lieb:
gewonnen, fo verfuce ber Ortspaſtor feinen Adjuukten zeitweilig
Zeitung der Landgemeinden Siolands. 130
zurückzuziehen. Die Folge davon wird in der Negel ein um fo
ftärferes Begehren dieſer Bevölferung nad) dem Adjunkten fein.
Den Leuten wird man dann erklären, daß fie den Adjunkten nur
dann jtändig für fi) haben können, wenn fie bie Verpflichtung
übernehmen, ben Unterhalt besfelben wenigitens teilweiſe zu ber
ftreiten. Ich proponiere diejes Verfahren nicht im Sinne eines
Scheinmanövers, um etwa nur auf den Geldbeutel zu brüden, bin
vielmehr der Anficht, da man denen, die hartnädig am Alten
feithalten wollen, die reichlichere Wortverfündigung entziehen, ja
event. Kirchipiele eingehen laſſen foll, wo die Leute nicht Vernunft
annehmen. Denn warum fol etwa die Unterftügungs- oder Pfarr
teilungsfaffe bleibend gewillen gleihgültigen Gemeinden das
Kirchenweſen unterhalten, damit ein Freiidludertum großgezogen
werde zum Schaden armer Gemeinden, die bie Unterftügung mit
Recht beanipruchen fönnen. Indeſſen die Zurüdziehung einer
paftoralen Wrbeitstraft von einem bereits befepten Poſten darf
nicht kutzerhand geſchehen, ſolch ein folgenidhwerer Entihluß darf
nur nad einer fangen Gebuldszeit und reiflichfter Erwägung gefaßt
werben, denn auf dem meuzubejegenden Poften wird zuerit das
Bedürfnis nach dem Worte Gottes wenig vorhanden fein. Wenn
aber die Leute das Wort Gottes liebgewinnen, dann wird ihnen
fein Opfer zu jchwer fein, um den Segen des reinen Evangeliums
ſich zu erhalten. Mit Geduld alfo und mit einer freundlichen
Behandlung des Volkes dürfte man wohl in den meilten Fällen
zum Ziele fommen, da uns bie Verheißung gegegeben ift, daß
Gottes Wort nicht leer zurücdtommen fol. Wo aber eine ganze
Gemeinde fortgeiegt und hartnäckig Gottes Wort geringihägt und
ſich fomit nicht des ewigen Lebens wert achtet, da ſoll ſchließlich
der Prediger des Evangeliums den Staub von feinen Füßen jhütteln
zu einem Zeugnis über fie. Hat nun ber Ortspaftor feinen Ad:
junften von einem Punkte jeines Kirchipiels zurückgezogen, fo Toll
er ihn anderswo zu pojtieren verfuchen, wo bie Leute danfbarer
find und bie auf fie verwandten Koften durch erhöhte Selbjtbetäti-
gung zurüderftatten. So werden bier und da neue Kirchſpiele
entitehen und neue Herdfeuer geiftlichen Lebens die Glaubenswärme
wieder anfachen. Dann wird die geiftliche Not ein Enbe haben,
daß Kranke es nicht wagen, ihren mit Amtsgeſchäften überhäuften
Baitor zu ſich rufen ıı laifen, und daß junge Lente wie eine Herde
140 Teilung der Landgemeinden Livlands.
Schafe, ja mandesmal wie eine Räuberbande konfirmiert werben,
ohne daß eine eingehende individuelle Behandlung derfelben möglich)
gewefen wäre. Sind dod) ſchon Stimmen laut geworden, die die
Ronfirmandenlehre in den Riefengemeinden abichaffen mödjten, ba
ber Satan unter einer fo großen Schar geicäftiger ift, feinen
böfen Samen auszufäen, als ber Paftor guten Samen. Dieſe
Zuſtände enthalten ben ftärkiten Anſporn, diefe monjtröjen Niefen-
gemeinden zu teilen. Der Gegen normaler geiſtlicher Arbeitsfelder
wird fid) dann in jeber Richtung geltend machen, wir werden nicht
mehr über fehlendes Gemeindebewußtſein zu Magen brauchen, ber
Paſtor wird den Mittelpunkt feiner Herde bilden und es wird
jedes Glied feinem Einfluß erreichbar fein, ja ein Steigen ber
Slaubenswärme im ganzen Lande wird die unausbleibliche
Folge fein.
Gudmansbach, Juli 1903.
RR
Inmitten.
Dos in der Smmet, aber Häßer uoch,
Biel Höfer Neigt des Wenfhenherzens Wonne.
Tief if der Adgrund, ader tiefer noch,
Biel tiefer Rlaft des Menfhenheriens Qual.
Himmel und Abgrund! Yinter, üder dir
Zieht Ad ein fämaler Bergpfad Pin: — das Leben.
Eduard Fehre.
Im Rigaer Gymnaſium
amd anf der Dorpater Univerität 1939 —62.
Von
TH Pezold.
u
Fertenoetitite, durch ben Tob meines Vaters bebingt, führten
mid) 1859 nad Riga, wo ic, der Obhut meines Oheims
anvertraut, im Gymnaſium, dem einzigen, das damals dort vor-
handen, - meine Schulbildung vollenden jollte. Die Stabt hatte
zu jener Zeit noch durchaus ihr altes ſchlichtes Gepräge, die
monumentalen Baulichfeiten von heute, wie das Theater, die Gilden:
häufer, bie ftändige Dünabrüde fehlten, dagegen ftand die alte
ſtädtiſche Autonomie noch in vollem Flor und gab es eine Gejell:
ſchaft fcharf ausgeprägten örtlichen Charakters, deren männliche
Jugend, von wenigen Polen, Litauern, Juden abgefehen, — in
der Secunda des Gymnafiums, wo ic eintrat gab es fonderbarer:
meije feinen. einzigen Rufen, — die Gymnaſiallklaſſen füllte,
dem Schulganzen ein durchaus beutich-bürgerliches Gepräge auf⸗
drüdend. Der Kontraft Rigas mit Petersburg war felbftverftänd:
licherweiſe bamals noch unendlich größer als heute und mußte hier
das baftifhe Stillteben dem zur Zeit jo erregten Refibenztreiben
gegenüber auch dem jungen und unreifen Antömmling in hohem
Grade auffallen. Was die Schule betrifft, jo kann ich nicht jagen,
daß das Nigaer Lehrerfollegium von damals, wenn man bie ein
zelnen Perfönlichkeiten in Betracht zieht, befondere Vorzüge vor
dem der Petersburger Petriſchule aufzuweilen gehabt hätte, — die
Pädagogen beifpielsweije, denen ber deutſche und Geſchichtounterricht
anvertraut mar, ftanden in Petersburg ungleich höher, in ber
Mathematif und im Neligionsunterricht mochte fein weſentlicher
Güteunterfchied zu verzeichnen fein, in den alten Spraden war
12 29. Pebold, Erinnerungen.
Niga allerdings in mancher Hinfiht überlegen. Bei alledem war
wohl an legterem Orte ganz ungleid mehr fittliher Schulernſt
vorhanden, und biefer refultierte, wie mich dünkt, in höherem
Grade noch aus ber Beihaffenheit ber Schüler, als aus der der
Lehrer. Die Jugend wird immer ein treues Abbild deſſen fein,
was die Eltern find, wie das Werden die ftreng bedingte Folger
ericheinung bes Gewordenſeins, und die Mehrheit der Petersburger
Schuljugend war eben, wenn id) mid) fo ausbrüden darf, nicht
ſowohl geworden, als gemacht. Die Sage kleidet die ſittlichen
Mächte, die den Menſchen durchs Leben begleiten und feine Schritte
lenfen, gern in die Geitalt von Feen und Schugengeln, in Wirt:
lichkeit find es die feftgefügten Traditionen des Elternhaufes, die
nicht ſowohl bewußtermaßen den Menſchen machen, als fein Werden
behüten, und Niga hatte in dieſer Hinfiht jeine großen Vorzüge.
Der deutſche Petersburger Handwerker, nachdem er die Heimat
verlajjen und ſich zuvörderft weiblich in der fremden vuffiihen
Welt Herumgetummelt, konnte ſich ſchwerlich nad) eigenem Geſetz
entwideln, mit andern Worten, fonnte ſchwerlich werben, und
mußte fi, wohl oder übel, von den taufenderlei Dingen machen
laſſen, die zufälig am ihn herantraten. Und wenn er dann zu
Geld gefommen und behufs fünftigen Univerfitätsftubiums fein
Söhnchen in die Petriſchule ſchickte, ſo gab er ihm wohl nur in
jeltenen Fällen die Fähigfeit des Werbens mit, und das Söhnchen
war eben genötigt, fi) wohl oder übel damit zu begnügen, daB
er weiter gemacht wurde, eine Mühmaltung, deren fih am Bor:
mittag bie Scaufenfter des Newski-Proſpelts, am Nachmittag
vielleiht irgend ein Balagan, am Abend das Ballet gern und
mit einer gewiſſen Gewiilenhaftigfeit unterjogen. Jeder Menſch
wird zum Teil, zum Teil wird er gemadt, mir aber will es
iceinen, als hätte der alte Nigenfer, wenn er jung war, mehr
Anwartſchaft für das Werden, ber Petersburger mehr für das
Gemachtwerden beſeſſen, und baß in eriterem, jofern es, wie un:
ftreitig in dem damaligen Riga, auf im ganzen gelunder Bafis
erwuchs, eine beſſere Vorbedingung für das Gedeihen der Schule
vorlag, wäre wohl faum zu bezweifeln.
Den Poſten eines Oberlehrers der Geſchichte und Geographie
am Nigaer Gpmnafium hatte damals ber ſchon fehr betagte R.
inne, ein herzensguter Dlann, der aber, wie man mir jchon vor
meinem Eintritt in die Schule erzählt, die Marotte hatte, immer
wieder, mochte es nun pailen ober nicht, auf das Marburger
Neligionsgeipräh zwiſchen Luther und Zwingli zurüdzulommen,
25. Bepold, Erinnerungen. 188
ein Umftand, der geradezu etwas krankhaftes an fich hatte und
bei dem, wie id) glaube, Niga jelbjt entftanımenden K. auf gewiſſe
einer älteren Zeit angehörige Konflikte zwiſchen den beiden vor
herrſchenden Konfeffionen ber Stadt hätte hindeuten können, wenn
biefer Deutung nicht bie Herrſchaft des, Fonfejfionellen Reibungen
jo wenig zuneigenden Nationalismus in dem älteren Riga zu wider-
ſprechen jchien. Die Schüler hatten ſich bei derartigen Wieder:
holungen daran gemöhnt, der Sache eine praftiiche Seite abzu-
gewinnen, man nahm in aller Ruhe jeine mathematiſche Aufgabe,
feinen deutſchen Aufjag vor und der arme K., ber in feinem Eifer
über Luther und Zwingli nidts davon merkte, dozierte in gutem
Glauben, daß man ihn wirklich anhöre, ben vier nadten Wänden.
K. wurde jehr bald nach) meinem Eintritt in die Schule penfioniert,
ihm folgte als Lehrer der Geſchichte und Geographie ein junger
Randidat ber Hijtorie T., feiner Herkunft nad) Ejtländer und daher
kraft des damals ungemein regen Antagonismus der Provinzial
geifter von den Schülern anfangs nicht ohne ein gewiſſes Miß—
trauen und Übelwollen aufgenommen. Soweit ih T. kennen
lernte, glaube ich nicht, daß ihm gerade eine hervorragende Lehr—
befähigung zu eigen war, dennoch wirkte er durd den Kontraft
mit feinem Vorgänger und durch das Intereſſe, das fein Gegen
ftand bei der Mehrheit der Schüler naturgemäß wachrufen mußte.
Van fing an mit geipannter Aufmerkjamteit feinem Vortrage zu
folgen, und wer in überlieferter Weile es nicht laſſen Fonnte,
während T's Unterrichtsſtunden ſich nad wie vor mit Präpara-
tionen für den deutſchen oder Mathematiklehrer zu befallen, ber
hatte es ganz fierlid mit der Majorität feiner Mitſchüler zu tun,
denn das baltiihe Selfgovernment wurde in ſolchem Falle auch
in ber Schule gewiſſenhaft erefutiert, da wo guter Ton und ſchul—⸗
gemäßes Verhalten durd die Situation ſelbſt geforbert ſchienen.
Ein jtämmiger Paſtorenſohn vom Lande, K., jo etwa jiebzehn: oder
achtzehnjährig, erhebt fih in aller Gemächlichkeit von feinem Platz
und geht gelafjen, als ob es eben garnicht anders fein fünne,
dur den ganzen Klafjenraum auf einen von der alten, üblen
Gewohnheit auch jept nicht laffenden Mitſchuler zu, bemächtigt ſich,
ohne irgend Widerftand zu finden, feiner nicht hingehörigen Hefte
und Bücher und jtapelt fie, mit gleidyer Ruhe wieder zurücgelehrt,
vor feinem eigenen Pult auf. Als er dem verblüfiten Blid T's
begegnet und eine Motivierung unumgänglich, folgt diefe denn
aud in K's phegmatiſch-gelaſſener Weile: „Entichuldigen Sie,
Herr T., die Heine Störung, es ift das eine alte ſchlechte Gewohn—
144 Tb. Pehold, Erinnerungen.
heit, die wir felbft bald abftellen werden.” T. war ug genug,
mit blogem Stillihweigen zu antworten, und dem reuigen Sünder
wurden in der nmächitfolgenden Unterrichtspaufe gegen das aus:
drückliche Verſprechen, daß er ſich fünftig in der Geſchichtsſtunde
nicht hingehöriger Beichäftigung enthalten werde, feine Hefte und
Bücher wieber zugeftellt.
Wie K., jo zählte auch unfer Lateinlehrer W., von ben
Schülern gemeiniglih „ber alte Spieß“ genannt, zu ben recht
bejahrten Herren, was übrigens feinem gewiſſenhaften und gründ-
lichen Unterricht kaum auzumerfen war. Cine Objervanz indeß,
die wohl faum von W. jelbft herrühren mochte und bie mir jeine
Unterrigtsftunden in hohem Grabe verleidet hat, möchte ich hier
als auf notoriſchem Unverſtande beruhend hervorheben, die nämlich,
daß bie zwei Abteilungen, in welde die Klaſſe zerfiel, injofern
verfchiedene Berücfichtigung zu finden pflegten, als der aus den
vorgerücteren Schülern zufammengefegten erften Seftion aus
ſchließlich das Recht der eriimaligen mündlichen Überfegung bes
iateiniſchen Autors zuftand, während die zweite ſich auf möglichſt
getreue Wiedergabe des jo Vorüberfegten und von W. jelbjt Kor:
rigierten zu beichränfen hatte. Ob eine derartige, dem mechaniſchen
Wiederkauen in verhängnisvoler Weile Rechnung tragende An-
ordnung ſich Damals auf das Rigaer Gouvernementsgymnafium
beichräntte oder überhaupt in den Staatsgymnafien üblid) war,
weiß ich nicht, auf jeden Fall mußte fie dem Kopfe eines erklärten
Jugend: und Bildungsfeindes entiprungen fein, denn fie lähmte
ganz offenbar bei den weniger Vorgerüdten den guten Willen und
die Luft am alt-Haffiihen Unterricht. Die jo häufig bemäfelte
Bebeutung des Latein als Bildungsmittel dürfte gerade darauf
beruhen, daß feine ftiliftiihen Schwierigkeiten bei Wahl des abä-
quaten Ausdruds in der Mutterſprache dem MWillen und ber
Vhantafie eine ähnliche Triebkraft verleihen müſſen, wie etwa der
mechaniſche Drud fie dem als Fontaine aufmwirbeinden Quell vers
leiht. Auf diefen insbeſondere gerabe dein willens: und gedanfens
ftarten Latein innehaftenden Segen mußte nun der Schüler während
feiner ſich mindejtens auf ein Semeſter erftredenden Zugehörigkeit
zur zweiten Abteilung verzichten, er gemwöhnte fid daran, aus-
ichließlih mit dem Gedächtnis zu arbeiten, und hatte, wenn er in
die erfte verfegt wurde, ein gut Teil jener Luſt fid) in fpontaner
Weife quafi ſprachbildneriſch zu betätigen eingebüßt.
Dem Individuellen bei weitem mehr Rechnung tragend war
der Unterricht unjres NReligionslehrers, des waderen Baftor-Diafonus
25. Pepold, Erinnerungen. 145
J., einer ftattlihen Erſcheinung mit einem Gefihtstypus, ber dem
des Doktor Martinus in feinen jpäteren Lebensjahren, als Frau
Ratharinas Kühe und Keller von Kurfürft, Ritter und Bürgers—
mann reichlich verfehen war, etwas ähnlich ſehen mochte. J's
Lehrbuch war die damals approbierte Chriftlihe Religionslehre
von Kurz, ein wenig ſcholaſtiſch und mit mandjerlei philoſophiſchem
Aufpug, wie das ja dem Zeitgeihmad entfprah und deren nicht
immer gleich einleuchtende Säge feitens der ja allzeit rationaliftiich
angehauchten Schufjugend manden Widerſpruch wachriefen, welchen
fi) ber gute J., der eigenen dialeltiſchen Überlegenheit wohl
bewußt, auch recht gern gefallen lieg und in gepiemender Rede
und Gegenrebe mit den reiferen Schülern fieghaft zu widerlegen
verftand.
Wohl die bedeutendite Perfönlichkeit im gefamten Lehrerfolleg
des damaligen Nigaer Gymnaſiums war der Lehrer der ruffiichen
Sprade und Literatur Sch., und doch glaube id), daß bei allem
Glauben an die unifizierende Miſſion Rußlands und einer nicht
unbeträchtlihen Lehrbefähigung diefer Pädagoge, was den Effekt
feiner Mühwaltung anbetrifft, ganz weſentlich in Richtung der
Steigerung bes baltischen Sonderbewußtfeins gewirft hat. Es
machte fi eben die Parabel vom Mantel des Wanderers und
vom Winde in feiner Art zu verfahren bejonders geltend. Sch.
gab unftreitig vortrefflihen ruſſiſchen Unterricht, wenn er aber,
wie beijpielsweije hier erwähnt fei, auf fein Gtedenpferb: bie
Konfrontation des ruſſiſchen und deutſchen Sprihworts fam und
anläßlich der Kritit diefer naiven Schöpfungen ber Volfsmoral
unb bes Volfsverftandes die jclichte Folgerichtigkeit ruffiicher Denk:
weile beutfchem Halb: und Unverjtand gegenüber hervorhob, fo war
die Wirkung der von ihm ſelbſt angeitrebten gerade entgegengefegt.
Sch., der noch dazu in Moskau, der Hochburg für das Streben
nach genuin:organifcher Entwicklung Rußlands ftudiert hatte, hätte
aus der damals ſchon zu nicht unbeträchtlichem Umfang anges
wachſenen ruſſiſchen Literatur, die nad) Grimm’s und Savigny's
Vorgang den Begriff des Organiihen auf das Voltsleben anzıız
wenden gelernt, wiſſen müjlen, welche Rolle das anthropomorphis
fierende Element von jeher und überall in Mythologie, Voltsgefang
und Sprichwort geipielt; dennoch konnte er dem Kitzel nicht wider-
ftehen, biefem Clement, fofern es im beutfchen Sprichwort fich
geltend macht, mit ziemlidy billigem Spott zu begegnen und 5. B.
der deutſchen Diorgenftunde, die ja befanntlidh Gold im Munde
tragen fol, allen Ernftes den Prozeß zu maden. „Aber, erbarmen
148 25. Pehold, Erinnerungen,
Sie fi, feit wann hat benn die Morgenftunde einen Mund?”
unb mas dergleichen Dinge mehr waren.
Beruhte Weſen und Charakter der deutſchen Schuljugend
Petersburgs, ſoweit ich fie aus der Petriſchule kennen gelernt
hatte, auf ganz ungemein bisparaten Einflüffen, fo trat, mindeflens
mas bie oberen Klaſſen betrifft, bei den Schülern des Nigaer
Gymnoſiums eine gewiſſe Einheitlichfeit des Sinnesweile zutage,
bie, dem bedeutendſten ſtädtiſchen Zentrum baltiſchen Lebens ent—
ſprechend, als die ſpezifiſch bürgerlich baltiſche zu bezeichnen wäre.
Im großen Ganzen glaube ich nicht zu viel zu ſagen mit der
Behauptung, daß hier neben einer gewiſſen, dem Baltentum nun
einmal tief eimvurzelnden Neigung zu derbem Lebensgenuß, doch
ein gefunder fittlicher Geift vorwaltete, welden aufrecht zu erhalten
ſich namentlich die Söhne des Nigaer Literatentums und Patriziats
angelegen fein ließen, was augeſichts der zahlreichen Gelegenheiten
zur Verführung, die gerade das damalige Niga bot, ſchwer genug
ins Gewicht fiel. Der Geift kameradſchaftlicher Kontrolle, deſſen
hinſichtlich der eigentlichen Schule bereits Erwähnung geſchehen,
beichränfte fich eben nicht auf bieje leßtere, und war aud, was
das Verhalten der Schüler außerhalb derfelben betrifft, nicht ohne
fegensreihen Einfluß, den Eltern, Vormündern und der Schul-
obrigfeit, die doch nicht überall ihr wachſames Auge haben fonnten,
gar mande Sorge abnehmend. Diejen kameradſchaftlichen Geiſt
zu fördern bezwedte u. a. aud) eine Verbindung unter den Schü:
lern der oberen Klaſſen, bie freilich nach Schülerart ſich allzufehr
in Nachãffung ſtudentiſchen Weſens gefiel, doch aber meines Glau—
bens mehr Gutes als Schlimmes gezeitigt hat. Ein wohlwollender
geiftlicher Herr, zu den Spigen ber damaligen Nigaer Paſtoren—
Schaft zähfend, hatte uns, wohl ber eigenen Jugendjahre in jovialer
Weiſe gedentend, aus freien Stüden eine recht ftattlihe Räum—
lichkeit zu gebote geitellt, die im alten romantiſchen Riga unweit
des Herderplapes am Domesgang gelegen, eine ganze Waffen:
fammer ſtudentiſchen Nüftzeugs in ſich ſchloß, über was alles wir,
ohne jede Einmiſchung in unfer Tun und Treiben, nad) freiem
Ermeſſen verfügen fonnten. Sid hier in den Freiftunden, die
nicht gerabe der häuslichen Arbeit gewidmet waren, nach Herzens:
luſt auszutummeln, war ein Hochgenuß, freilich nur denjenigen
Schülern zugänglich, bie von den eigentliden Stiftern in den
harmlojen Bund aufgenommen waren. Es verfteht fid) wohl von
ſelbſt und war durdaus der baltischen Art jener Tage entſprechend,
daß das Politiiche bei unjern Gejprächen fo gut wie gar feine
75. Pehold, Erinnerungen. u
Rolle fpielte. Don ben großen Dingen, die ſich im Innern des
Reichs vorbereiteten und von denen aud) bie beutihe Schuljugend
Petersburgs nicht ganz unberührt geblieben war, mußten wir
damals in Riga fo gut wie garnichts; es wurde wohl bisweilen
mit Sympathie oder Antipathie, wie eben die Beſchaffenheit bes
Elternhaufes derartiges bedingte, der Jtaliener und ihrer Einheit
beftrebungen gebacht, doc waren das Ausnahmen und fand nächſt
ben Burfchenidealen des uns allen ja nahe bevorftehenden Dorpat,
das Literariſche an erfter Stelle, welches durch das eben damals
aud von den Schülern feſtlich begangene Scillerfeft wie durch
einen Leſeabend mit verteilten Nollen, an dem viele der jungen
Genoſſen ſich beteiligten, ſich eines ziemlich eifrigen Kultus erfreute.
Ans Ungeſunde grenzend, aber freilich tief in den damaligen bals
tiſchen Verhältniffen begründet, war ber Feuereifer, mit dem alles,
mas das Dorpater ſtudentiſche Rorporationsleben betraf, von biefer
Nigaer Jugend als das A und O menſchlicher Glückſeligkeit ger
priefen, ja angebetet wurde, lauter Dinge, deren Herrlichfeit ihre
Antizipation in allmonatlid wiederfehrenden Sympofien fanden,
welche in irgend einem ber Stadt benachbarten Etabliffenent von
beionderen eftordnern arrangiert, uns in Tabaksdampf, Burſchen-
lieb und Bierſeidel ſchon die unfägliche Geligkeit des fünftigen
Dorpater Treibeng wie eine Fata Morgana vors Auge zauberten.
Derartige Genüffe waren im Grunde ziemlich befdeibener Art,
wie fie denn nie mehr als etwa einen Nubel pro Kopf zu ſiehen
famen. Einer gefeftigteren Natur mögen fie nichts geſchadet haben,
verhängnisvoll aber dürften fie für den allzu Impreffionabeln und
den Graltierten allerdings geweien fein, wie mir denn ein Fall
in trauriger Grinnerung geblieben ift, wo ein reichbegabter Jüng-
ling, deſſen Verhalten im übrigen auf der Schule ſchon einen
bedenklichen Defekt inneren Gleichgewichts verriet, als er nad)
feiner Überfieblung nad) Dorpat feine Hoffnungen, in Bälde ben
zot:blau:weißen Dedel tragen zu dürfen, enttäufcht fah, notoriſchem
Irrfinn verfiel.
* *
*
Der mohlmollend patriarchaliihe Charakter des damaligen
Dorpater Univerfilätsregiments machte ſich ſchon vor der eigent-
lihen Immatrikulation in den warmen Worten geltend, mit denen
ber Synbifus Beife uns das Nefultat der Prüfung mitteilte und
in denen der wohlwollenbe alte Kerr es nicht unterließ, einiges
an gutem Troſt und Yufmunterung an bie Adreſſe derjenigen mit
18 25. Peholb, Erinnerungen.
einfließen zu lailen, denen das Mißgeſchick begegnet war, im Eramen
einfach durchgefallen zu fein. Weniger jagte mir trog der achtung-
gebietenden Erjcheinung des damaligen Neftors Bidder die eigent-
liche Immatrikulation zu; es war furz vorher noch am Kneiptiſch
der älteren Studenten allzuviel von ber bei biefem Anlaß her:
fömmlichen Wendung: „Sie treten jet aus dem Leben der Schule
in die Schule des Lebens“ die Rede geweien, als daß, da ber
Vaſſus wirklich den Lippen des würbigen Mannes entfchlüpfte,
ſich meiner nicht ein gewiſſes Unbehagen hätte bemächtigen follen.
Über zum Denken fam Schreiber diejes in jenen erften Tagen
nad) glücklich überftandenem Aufnahmeeramen faft garnicht, der
geftalt dicht hatte die Fhantafie das Schlingpflanzengewirr ihrer
Vorſiellungen aufidießen laſſen, welde das Geftern und Morgen
verbargen, um einzig und allein das Heute ober befjer noch ben
Augenblid in ftrahlendes Hofinungsgrün zu Heiden. Derartige
Stimmungen find weber vernünftig noch fittlich, fie find einfach
jugendli, und wohl dem, der fie bei Zeiten zu überwinden ver-
fteht, ihr Gegengewicht aber follten fie, zumal für den, welden
in der ungebundenen Stubentenzeit fein fittlihendes Heim, fein
wirklich bildendes und refpefteinflößendes Philifterium an Stell
und Ort fhügend zur Eeite iteht, in einem von vornherein jtreng
geregelten und konſequent fortgeiegten Beſuch ber Hörjäle finden.
In gewiffer Hinſicht wäre ich zum Theologen nicht ganz un:
geſchickt gewefen, denn ethiihe und metaphyſiſch-theoſophiſche Pro—
bleme begleiteten mic) auf Schritt und Tritt, aber die eigentliche
Frömmigfeit, jo gut ich fie auch vom lieben Elternhaufe her kannte,
mar nicht meine Sadje. Die jog. Allgemeine Weilgeſchichte hatte
mid) auf der Schule am meiften angezogen, aber fie fam mir zu
grengen- und gejeßlos vor, ein Urwald von Baumriefen und
nieberem Gefträud, wovon lepterem vielleicht, trotz feines befchei-
denen Wuchies, eine noch wichtigere Rolle in der Ofonomie bes
Ganzen zufallen mochte, als jenen Riejen, in deren Wipfeln ber
Sturmwind des Herrn ſauſte. Auch Schopenhauers häßliches
Wort über das Geſchichtliche, welches man in den Parerga nach—
lejen mag, imponierte dem Halben Knaben weit über Gebühr.
Ein Zufall Hatte mir Roſcher's vielgerühmtes Buch in die Hände
geipielt; hier ſchien der Menſch in feiner Eigenſchaft als politiſches
Weſen doch quafi dem Geſetz unterworfen und obendrein noch
den hiſtoriſchen, und Gedichte war ja immer mein Stedenpferd
gewejen. Im Tert über dem Strich das Geſetz, und jei es auch
zuvörderſt nur das wirticaftliche, in den Anmerkungen unter dem
25. Vehold, Geinnerungen. 1
Strich, mie ein organiſch dem Leiter verbundenes Feuilleton, bie
hiſtoriſchen Belege, ober wenn ein Bild geftattet ift: dort ber archi⸗
teftonifch vollendete Aufbau, bier das rohe Geftein, aber farben«
prächtig und in feiner Mannigfaltigfeit unſäglich anziehend. So
ungefähr urteilte das Rnabenverftändnis. Zudem war die politiiche
Dfonomie ja das A und O ber Zeit, man fonnte an ihrer Hanb
mitreden, ja vielleicht gar bereinft mittun in Geftaltung der großen
Dinge, von denen mid) während meines Petersburger Aufenthalts
ein leiſes Ahnen überfommen. Wie oft hatte ich den Sag gelefen,
die Jurisprubenz lehre lebiglid) das Wie, die politiihe Dfonomie
erft das Warum, und der jugendliche Hochmut will num einmal
nichts vom Techniſchen um feiner jelbft willen wiſſen, denn hinter
diefem Techniſchen ſteckt doch immer noch etwas anderes, das
wißfenswerter und gewichtiger ift, wie hinter bem Mafchinenbau bie
Mechanik und hinter diefer wiederum Phufit und Mathematik.
Kurzum, ich war in der Wahl meines Studiums allmählich ſchlüſſig
geworden und ließ mid) als Studiofus der politiichen Ofonomie,
wie es in der Matrikel hieß, oder der Kameralia, wie das Publikum
die Sache zu nennen beliebte, inffribieren, ſpäterer Entſcheidung
vorbehaltend, ob ich denn nicht doch zum Studium ber Geſchichte
übergehen folle. Die Profeffur für ben einftweilen von mir
gewählten Wiſſenszweig befand fi damals in den Händen von
Theodor Graß, einer fehr achtbaren und fehr beadhtenswerten
Perſoönlichkeit, die, wie mich bünft, Tange nicht nach Gebühr von
unjrer heimifchen Preſſe gewürdigt worden ift und auf die deshalb
geftattet fei, hier etivas ausführlicher einzugehen.
Diefer außerordentliche Profeffor der Rameral:, Finanz: und
Handelswiſſenſchaft, wie die etwas zopfige Bezeihnung im afade-
mifchen Kalender lautete, hatte mit nichten eine im engeren Sinne
atademifche Karriere hinter fi) und war erft in reiferem Lebens:
alter zum akademiſchen Lehramt gelangt; ob er etwas nennens-
wertes, ober überhaupt etwas gejchrieben, weiß id) nicht, und den
noch glaube id, daß er das Zeug zu einem ganz vortrefflichen
atademiſchen Lehrer in fi trug und unter günftigeren Verhält:
niffen, namentlich bei größerer Anerkennung feitens der Studenten
auch trog feiner vorgerüdten Jahre ein folder geworden wäre.
Einer angefehenen Nigaer Familie entftammend und nicht ohne
Glüdsgüter hatte ſich Graß nad Vollendung feiner Studien und
langandauerndem Aufenthalt im europäifchen Weiten, zumal auch
in England, praktiſchen Zebensaufgaben, wie namentlich der Bewirt:
ſchaftung größerer Landgüter zugewendet, wobei Mißerfolge, die
Baltife Monatsfchift 1905, Heft 2. 4
150 25. Pegold, Erinnerungen.
mohl zu großem Teil ihren Orunb in dem bei ihm ganz ungemein
entwidelten philanthropiſchen Sinn und ber Hinneigung für ein
ſchlägige Erperimente gehabt haben mochten, ihn ſchließlich veran-
laßten, biefem Tätigleitögebiet Valet zu fagen und es mit dem
eines afabemifchen Lehrers zu vertaufchen, deſſen wiſſenſchaftlicher
Aufgabe Graß eine ſtark ausgefprocden filtliche beigefellte. Schon
ber breitfrämpige Hut und der einfache Schnitt der Kleidung gaben
ihm etwas vom Quäfer, welcher Eindrud durch ein gewiſſes Sid;
befcheiden im Verkehr, das bisweilen an Befangenheit grenzen
mochte, noch gefteigert wurde. Die Studenten erzählten fih, Grab
habe einmal im Kolleg als bie eigentliche Aufgabe der politiihen
Okonomie bie Verwirklihung des Neiches Gottes auf Erden
bezeichnet, und es iſt wohl moͤglich, daß er etwas ähnliches gejagt
hat, denn die Richtung, die er in jeiner Wiſſenſchaft vertrat, war
etwa Die, welche heutzutage als die fatheder-fozialiftiiche ober beſſer
noch als die chriſtlich-ſoziale bezeichnet wird, eine Richlung, die
bamal® unter ber breiten Menge, zumal aber unter ber fo fehr
vom Schlagwort beftimmten Jugend, um fo weniger Adepten finden
tonnte, als die Politit des zweiten napoleoniihen Raiferreichs den
der alten engliihen Schule entnommenen Grundſatz bes laigsez
faire, laissez aller weit über Deutfchland und Rußland hin vers
breitet hatte. Das damals ganz in Vergefienheit geratene, feit
den achtziger Jahren des vorigen Säfulums wiederum mit fo
großem Eifer gelefene und befolgte Buch von Friedrich Lift über
das nationale Syflem in ber politiihen Ofonomie bildete recht
eigentlich den Ausgangspunkt von Graß' politiich + öfonomifcher
Anſchauungsweiſe, und er bemühte ſich, wie mir ſcheint meiflens
vergebens, feine Schüler zum Studium gerade diefes Buches anzu
leiten. Was Graß in zweiter Linie anjtrebte, war tunlicjite
Gegenftänblichkeit, das Beſtreben feine Zuhörer quafi zum Sehen
der wirtſchaftlichen Prozeſſe und Vermwaltungsafte zu bringen.
Spftematif, wie fie nad) Adolph Wagners Vorgange heute noch jo
fehr im Schwange ift, eine Methode, die ſicherlich aud die Fehler
ihrer Tugenden hat, war nicht nad) Graf’ Geſchmack und entſprach
durchaus nicht feiner Geiftesanlage, die dem Schematifieren und
dem Runftwort in Art des faritativen Syſtems uſw. durchaus
abhold war. Diefer Abneigung gegen das Spftematifieren und
Schematifieren mochte es zum Teil zuzuſchreiben fein, dab es Graß
nur felten fertig friegte, ben zu behandelnden Stoff felbft in einer
recht ausfönmmlich zugemelfenen Zeit aud wirklich zu erlebigen.
In der Finanzwiſſenſchaft gelangte man etwa nur bis zur Steuer:
25. Pegolb, Grinmerungen. 151
lehre influfive und befam vom Staatsfdhuldenwefen, das ‘ber
überaus gemiljenhafte Graß aller Wahrfcheinlichfeit nad) befonberer
Betrachtung vorbehalten Hatte, nichts zu hören, dafür aber waren
die ungemein belaillierten Erxkurſe über bie verfchiedenften Ver⸗
maltungsmaterien, zu denen das Napitel von ben Staatsausgaben
Anlaß gab, nicht nur in des Wortes üblicher Bedeutung ganz
ungemein belehrend, fie zeigten einem bie Dinge auch in einer
Weife, wie das jonft vom Katheber aus nicht eben zu geichehen
pflegt; und wenn Graß u. a. über das Gefängnisweien, das er
in vieler Herren Länder durch eigene Anjchauung genau fennen
gelernt und beifen ganze Literatur er beherrichte, ſprach, jo mochte
es dem Zuhörer wohl zu Mute fein, als werde er von einem ebel
und human gefinnten Führer von Zelle zu Zelle geführt und über
die piuchilche Beichaffenheit jedes einzelnen Werbrechers wie über
die etwaigen Mittel zu feiner Beſſerung unterrichtet. Was der
Wirfung jener jo außerordentlich gewiſſenhaften und einem warmen
Herzen entquellenden Lehrtätigkeit von Graß ganz wefentlich hin
bernd im Wege ftand, war ein in dem Grade wohl felten anzu:
treffender Diangel an Nedegewandtheit, der zum Teil auf feine
natürlihe Schüchternheit zurüdzuführen war, zum Teil aber auch
aus einer übertriebenen Geiifienhaftigfeit refultierte, die allzu
ängftlih darauf bedacht war, daß jedes Mort den Begriff auch
vollftändig dede und zugleich dem Werfländuis der Zuhörer anger
paßt jei. Man fonnte von diefem Profeſſor wie von feinem
andern vorausfegen, daß er ſich gründlich, für feine Vorträge prä
pariere, und dennoch verging felten einer ohne den peinlichen
Moment, wo er inmitten einer langen Periode innehielt, um fie
mit der ftereotypen Wendung: „Meine Herren, ich Habe den Faden
verloren und muß von neuem anheben“, auch wirklich aufs neue
zu beginnen. Es war bas wohl der wefentliche Grund, weshalb
fein Kolleg von vielen gemieden und belacht wurde, die ungleich
feichterer Belehrung, wenn fie nur fliekend und ohne Stoden dem
Munde bes Profefiors entquoll, das höchſte Lob zu zollen nicht
unterliegen. Anlählid des ſoeben berührten Defelts von Theodor
Groß fei Hier einer Spene gedacht, die ein wenig an das vor-
erwähnte Beijpiel fhülerhaften Selfgovernments im Rigaer Gym:
nafium erinnert und bazu das Pifante hat, daß ber hier bie
Lofalpolizei im öffentlichen Intereſſe Ausübende jenes rejoluten
Gymnaſiaſten jüngerer Bruder war, ber fi, wie hier hinzugefügt
fei, im fpäteren Xeben durd ein hervorragendes Buch über die
bäuerlihen Verhältniffe Rußlands befannt gemacht hat, Auf ber
ge
182 Xp: Vepofb, Eritmerungen.
etſten Bank von Graf’ Auditorium pflegte ein junger Pole ober
Rufe Platz zu nehmen, wir mußten felbft nicht welcher Nationalität
er eigentlich fei, benn er ſprach nur franzöſiſch, eine Sprache, bie,
nebenbei bemerkt, in bem alten Dorpat nur von menigen ver=
ftanben, geſchweige denn gefprochen wurde. Diefem jungen, elegant
gelleideten Herrchen, von dem es hieß, daß er ein brillanter
Poſtolenſchüũtze fei, fchienen nun bes guten alten Graß' Wieder:
holungen von bereits Gefagtem fehr auf die Nerven zu gehen und
er bediente fi, um feinem Unmillen darüber Ausdrud zu geben,
eines nicht eben ſehr rüdjichtsvollen Mittels, welches barin beftand,
dah er das Gummiband feiner für die Rollegenhefte beftimmten
Mappe in gewifien Intervallen ſtramm an fich zog, um es dann
wieder auf ben harten Dedel zurüdjchnellen zu laſſen, ein Zeit:
vertreib, der, wie ſich leicht benfen läßt, unfer aller Mißbilligung
und dann und wann einen verlegenen, firafenden Bli des guten
Brofeffors zur Folge hatte. Aber die Nemefis follte zum Glück
den Frevler fofort ereilen. Raum hatte Graß den Hörſaal ver
laſſen, als auch ſchon ber Meine K. mit energiſchem Schritt auf
ben übermütigen Geden zuging und ihm in berber deutfcher Rebe
laut und allen verncehmbar das Flegelhafte feiner Handlungsweiſe
vorhielt. Eine Forderung auf Piftolen war natürlich die Folge,
ob fie wirklich zum Duell geführt, erinnere ich mic nicht mehr,
auf jeden Fall war ber Übeltäter ſeildem aus Graß' Auditorium
jpurlos verſchwunden und zugleich ein warnendes Beifpiel ftatuiert
für alle, die, mit ben Dorpater Bräuchen unbefannt, ſich fünftig
ähnliches hätten herausnehmen fönnen.
Es muß für den guten Graf eine überaus betrübende Wahr:
nehmung gemwefen fein, troß rebfichiten Bemühens feine irgend
nennenswerte Zahl von Schülern um ſich verfammeln zu können,
denn — und das war ber eigentliche Kern und Stern biejes hoch-
achtbaren Mannes — er glaubte wirflih an feine Sache, eine
Sache, die leider Gottes jo oft lediglich Gedanlenequilibriſtil oder
Mittel in der Hand des Parteiftrebertums if. Graf war durch
und durch Balte, die große Politit zog ihn wenig an und mag
für feine weſentlich innerlihe Natur und zu Gewiſſensſtrupeln
neigende Neflerion etwas beängftigenbes gehabt Haben. Defto feiter
baftete er am Kreiſe derjenigen gemeinnügigen Aufgaben, bie bas
Selfgovernment in Provinz, Landſchaft, Gemeinde zu erfüllen
vermag und nicht mur techniſch wohl ausgerüftete, ſondern vor
allem auch human gefinnte Selbftverwaltungsmänner für bie lofalen
Aufgaben in Stadt und Land heranzubilden, mochte ihm für die
79. Pehold, Erinnerungen. 153
baltischen Lande als eine um fo gewichtigere Miffion erjcheinen,
als es hier die mannigfaltigen Antagonismen zu überwinden galt,
bie der damals noch im großen Ganzen ziemlich latente Raſſen—
gegenjag bedingte. Es lag im Weien ber Sache, daß einem ber
artigen Streben perjönlie Fühlungsnahme zwischen Lehrer und
Schüler in erfter Linie als wünſchenswert erjdeinen mußte, und
Graß unterließ nicht, eine ſolche nach Kräften anzubahnen. In
feinen kameraliſtiſchen Praktitum, wo es fid) vorzugsweile um
volfswirtfchaftlihe Fragen der baltifchen Heimat handelte, fand er
Gelegenheit, am gemütlichen Teeliſch feinen Studenten aud) innerlich
näher zu treten, und mandjen von ihnen hat er nicht felten auf
feiner ſtudentiſchen Burg jelbit aufgeiuht. Cs war viel Lebens:
ernjt, viel Liebe und Treue in diefem Dann, der doch nur felten
Anerfennung fand und an dem ein großer Teil derjenigen, denen
er mit jo großem Wohlwollen begegnete, doch mit einem menn:
gleich gutmütigen Lächeln zur Tagesordnung überzugehen pflegte.
So weit ic) ermeſſen fann, waren es nur jehr wenige und unter
ihnen vor allem der obenerwähnte K., die Graß im ipäteren Leben
die ſchuldige Dankbarkeit bewahrt haben.
Es gab eine Zeit, wo man dem alten Dorpat nachſagte,
eine vortrefflihe kameraliſtiſche Schule gemacht zu haben, und neben
Philologen und Medizinern waren es vorzugsweile Rameralifien,
die, von ruffifchen Univerfitäten dahin gefhidt, dort ihre Ausbils
bung vollendeten. Theodor Grab aber fann als der legte eigent:
liche Kameralift Dorpats gelten, denn dieſe Richtung mit ihrer
ins einzelnſte gehenden Betrachtung der konkreten Ericheinungswelt
war body ſehr verjchieden von der Behandlungsweiſe fpäterer
Dorpater Dfonomiften. Ein weſentliches Bindeglied, das Grab
mit manden unter den legteren verband und ihn von den älteren
Rameraliften unterjchied, war Das lebendige Verjtändnis für den
geſchichtlichen Entwidlungsgang der Dinge, ein Verftändnie, das
ihn, bei aller jonftigen Verſchiedenheit, Roſcher und feiner Schule
in gewillem Sinne näherte.
Gine Unterredung mit 8. P. Bobjedenoszem im 3. 1985.
3" Jahre 1885 Hatte ein baltijher Edelmann eine Unterrebung
mit 8. P. Pobjedonoszem, dem Profureur des Heil. Synods,
über eine frage ber Gemiflensfreiheit. Den Ausgangspunft
bildete die Lage der SKonvertiten, doch wurden im Laufe des
Geſpräches aud) allerlei andre Materien berührt. Die Unter
tebung wurde unmittelbar danach ſchriftlich in ruſſiſcher Sprache
firiert und ift dann natürlich auch andren an ber Frage interej:
fierten Kreiſen in Abichriften zugänglid geworden. Wir teilen
fie nachftehend in einer wortgetrenen Überjegung mit.
* *
*
3. Ich habe die Ehre mid) Ew. hohen Erzellenz vorzuftellen
und Sie zu bitten, Ihre Aufmerffamfeit geneigteft auf unfer
bebrängtes Gebiet zu richten. Durd die Aufhebung des Aller:
höchften Befehls vom 19. März 1865 ift eine jchwierige Lage
geihaffen, vornehmlich für unfre Bevölterung, die in den legten
20 Jahren fih gewöhnt hat an den Befiß der Gewifjensfreiheit,
die feit altersher auf der Juſel Oeſel wie in allen Baltiſchen
Gouvernements bejtand. Wir find bereits einmal in einer ähn-
lichen bedrängten Lage geweſen, haben die Sittenlofigfeit gefehen,
die wilden Ehen, den Unglauben, die eine unausbleibliche Folge
nechtung ber Gewiſſen find. Alles das haben wir in ben
ger Jahren unfres Jahrhunderts durchlebt, bis dem zulept
durch ben Allerhöchiten Befehl vom 19. März 1865 ein Ende
gemadjt wurde, und darum wende ich mid an Ew. hohe Ercellenz
mit der ergebenflen Bitte, uns Ihre einflußreihe Mitwirtung zu
gewähren zur Befeitigung des Gewiſſenszwanges, der durch die
Aufhebung bes Alerhöchiten Befehls vom 19. März 1965 wieder
eingeführt it.
Eine Untersedung mit R. P. Pobjebonosgem. 155
P. Im dieſer Hinfiht fann ich Ihnen feinerlei Hoffnungen
machen, weil durch die Aufhebung des Alterhöchiten Befehls vom
19. März 1865 nur das allgemeine Neichsgefeg wiederhergeftellt
it, das für ganz Rußland die Einforderung von Reverſalen bei
Schließung gemifchter Chen feitiegt, und weil beshalb für die
Valtiſchen Gouvernements feine Ausnahme gemacht werden fann.
Endlich ijt dieſes Geſetz ein kirchliches, das auf dem Beſchluß eines
oefumeniichen Konzils beruht, jo daß die weltliche Gewalt es auf⸗
zuheben ober abzuändern fein Recht hat.
3. Aber ſchwerlich Hat doch das oefumeniide Konzil eine
Beitimmung über Neverfale bei Schliefung gemifchter Chen
getroffen ?
P. Nun, nit über Neverfale, aber es hat die Chen mit
Andersgläubigen verboten, wie ja aud) bie fatholifdje Kirche ſoiche
Ehen night zuläßt.
3. Dann verbieten Sie doch die Schließung gemifchter Chen,
wenn ihre Zulafiung, fei es aud) mit Reverſalen, eine tatſächliche
Verlegung der Beftimmungen des vefumenijhen Konzils bedeutet.
P. Nun, das kann man doch im unfrer Zeit nicht mehr
tun, aber mögen doch die Lutheraner feine Nechtgläubigen mehr
heiraten. Überhaupt liegt gar fein Grund vor, ſich fo aufzuregen-
die Bewegung zur Orthodorie ijt eine temporäre Bewegung, fie
wird von jelbft wieder nachlaſſen. Die Leute aus dem einfachen
Volk gehen ja nicht deshalb von einem Glauben zum andern über,
weil jie bie Dogmen ber einen ober ber andern Lehre höher
ſchätzen. Es ift eine fulturelle Erſcheinung, bier wirfen pſychiſche
Einflüſſe mit, der Reiz im der proteftantiihen Kirche Hymnen zu
fingen u. dal. _
3. Da ic) feine religiöſen Fragen berühren möchte, jo will
id) nicht darüber rechten, was etwa vorzuziehen wäre, Hymnen zu
fingen, wie Sie fid) auszubrüden geruhten, oder — aber id) erlaube
mir noch einmal auf die bejtehende Tatſache hinzuweiſen, daß die
dur Orthoborie Übergetretenen ihrem Wunſche Ausdruck gegeben
haben und noch geben, wieder zur evangelijchen Kirche zurliczu-
tehren, und daß die Unmöglichkeit ihren Wunfch zu befriedigen
jenen traurigen Zuftand ber bebrängten Gewiſſen und bes zer—
rütteten Familienlebens erzeugt, der in jeder Hinficht verderblich
it. Zudem iſt das Recht der Gewifjensfreiheit ein altes Net
des Yaltiihen Gebiets, 6 beitand fihen vor feiner Vereinigung
mit Rußland, und wenn id auch weiß, daß man uns jeden Hin
156 Eine Unterrebung mit X. P. Pobjebonoszem.
weis auf die Konditionen, unter denen die Einverleibung Oeſels
ftattfand, zum Vorwurf macht, fo ift es doch unzweifelhaft, daß
mir nicht irgendwie vom ungefähr ruſſiſche Untertanen geworben
find, fondern daß dieſes auf Grund bes Nyftädter Friedesvertrages
gefchehen ift, und daher berufe ich mic auf jene durch eidliches
Verfpreden Naifer Peters d. Gr. befräftigten Beftimmungen, bie
ſchon vor 160 Jahren dem Baltiſchen Gebiet das Recht der
Gewiijensfreiheit gewährleiiteten, ein Recht, das fie auch während
der verjloffenen Regierung genoffen haben. Wenn in einem wohl:
geordneten Staate die Gefege durch geheime Befehle nicht aufge:
hoben werden können, jo liegt nunmehr, wo dieſer Befehl bejeitigt
ift, feinerlei Hindernis vor, jenes alte Necht der Gewiflensfreiheit
wieberherzuftellen, jonft erjcheint die letzte Aufhebung als eine
ebenfo verderbllche Maßregel, wie das einſt die Aufhebung des
Edilts von Nantes war.
P. Was war nicht alles vor 160 Jahren! In den fetten
35 Jahren ift vieles Unzuträgliche gefhehen; man fann das nicht
alles erhalten, fondern muß es im Gegenteil befeitigen. Der
Allerhöchſte Befehl vom 19. März 1865 war eine Kränfung für
ganz Rußland. Sie müſſen fi daran erinnern, daß Sie unauf
löslich zu Rußland gehören, und daß in Rußland die orthodore
Kirche die herrſchende iſt. Der Adel und die Pajtoren verteidigen
den lutheriichen Glauben mit Fanatismus, treiben aus politiichen
Gründen Propaganda und verfolgen janatiih ben orihoboren
Glauben. Ich erinnere mid), daß, als id) vor einigen Jahren in
Hapſal war, der dortige Paſtor, ein Idiot, ein totaler Idiot, vom
orthodoren Glauben als einem Hundeglauben jprad).
3. Es ſcheint mir nicht glaublih, daß irgend ein Luther
raner, geſchweige denn ein Paltor, fi) derartig über einen
chriſtlichen Glauben Hat äußern fönnen, weil das dem ganzen
Geiſte des Protejtantismus wiberfpricht, ber ſich durch laubens-
duldung auszeichnet. Aber jelbjt wenn auch irgend ein Paflor,
wie Sie jelbjt fagen, ein totaler Jdiot, ſich einen folhen Ausfall
erlaubt haben jollte, ſo kann man doch aus der Handlung eines
Einzelnen nicht die Schlußfolgerung ziehen, dab Fanatismus und
Verfolgung der Orthoboren in den Valtiſchen Gouvernements für
den Adel darakterijtiich find. Ich kann Ihnen verfidern, daß in
den legten 20 Jahren auf der Injel Dejel in kirchlicher Hinſicht
volljtändige Ruhe geherricht hat. Beim Abſchluß ber Arrende—
Tontrafte auf den ber Nitterichaft gehörigen Gütern ift es 3. B.
niemand in den Sinn gefommen, banad) zu fragen, welden
Eine Unterredung mit R. P. Pobjebonoszem. 157
Glaubens die Pächter jeien. Würde der Adel mit Fanatismus
und aus politifhen Gründen das Luthertum verteidigen, fo würbe
er fiherlich einen Unterſchied zwiſchen orthodoren und lutherischen
Pächlern machen. Indeſſen fann id) Ihnen verfichern, daß id)
pofitiv nicht weiß, wie viele von den bäuerlichen Arrendatoren
zum einen ober zum anbern Vefenntnis gehören; unb aud) auf
den Privatgütern verhält man fi) ebenjo. Auch von meinem
eigenen Gute weiß ich nicht, wie viele von ben 48 Pächtern
Lutheraner und wie viele Orthodore find.
P. Sie ſprechen von ſich und ich glaube Ihnen vollfommen;
aber nicht alle verhalten fid) jo. Mir find auch aus Defel Fülle
von Verfolgung zur Orthodorie übergetretener Perſonen befannt.
3. Ich bin nicht beifer als andre, und wenn id) in meinem
Namen jprad), fo geihah das deshalb, weil ich der Verwaltung
der ritterſchaftlichen Güter nahe jtehe und mir alfo, wenn die
Nitterichaft einen Unterſchied zwiſchen den bäuerlichen Pächtern
nad ihrem Glaubensbefenntnis machte, ſolches befannt fein müßte.
Was aber die Fälle von Verfolgung Rechtgläubiger anlangt, fo
lann ich Ihnen kühnlich verfichern, daß das eine abſcheuliche Vers
lãumdung it. Zeigen Cie mir einen Fall. Ich wiederhole Ew.
Ere,, es iſt eine Verläumdung, wenn man Ihnen von joldyen
Füllen berichtet. Ich weiß, daß Klagen vorgekommen find, aber
diefe Klagen find ebenfo unbegründet wie z. B. die Klage des
orthodoren Priejters, der 3 Werft von mir wohnt, daß angeblich
der Paſtor des Kirdipiels, in dem mein Gut liegt, zwei zur ortho-
doren Kirche gehörige Perfonen getraut habe. Der Bräutigam
wie die Braut hatten dem Paſtor fchriftliche Zeugnifie von zwei
verſchiedenen Paftoren vorgeitellt, daß fie Kutheraner feien, und
deshalb hat er fie auch getraut; folglich iſt diefer Paſtor ganz
im Recht. Ich begreife aber, daß gerade dieſer Fall dem ortho—
doren Priejter äußerft unangenehm war, weil der Bräutigam vor
feinem Übertritt zum Luthertum Lehrer an der orthodoren Schule
war. Wenn wir uns jo fanatiid) mit der Propaganda beichäf-
tigten, jo müßte diefer Lehrer belohnt werden. Indeſſen weiß ich
pofitiv nit, wo dieſer zum Luthertum übergetretene Lehrer
geblieben iſt.
P. Nun ja, auch zur Orthodorie treten Lutheraner aus
innerer Überzeugung, aber verlangen, daß dort eine Gmonatliche
Friſt zur Vorbereitung eingeführt werde, das ift unnüg. Ich habe
auch Tiefendaufen und Schulg — Sie haben doch dort bei ſich
fo einen Superintendenten, nicht? — davon geiproden. Würde
188 Eine Unterrebung mit R. P. Bobjebonoszem.
man uns beide jept über die Dogmen eraminieren, weiß Gott,
welche Nummer man uns ftellen müßte. Cs genügt, baf fie ihren
Wunsch zum Übertritt tundgeben, nun, fo hindert fie nicht. Wenn
jemand von der Orthodorie zum Luthertum übergeht, jo verfolgen
wir ihn ja aud) nicht. Wen verfolgen wir denn? Niemand ver-
folgen wir dafür, daß er übertritt.
3. Aber Sie verfolgen bie Paſtoren, die jolde zum Abend:
mahl annehmen ober ihre Kinder taufen.
P. Ya, die Pajtoren muß man verfolgen, weil fie damit
eine gefegmwibrige Handlung begegen.
3. Wie fönnen fie denn von der Orthodorie zum Luthertum
übertreten, wenn Sie dafür den Paftor verfolgen, wenn Sie ihnen
die Vröglichleit nehmen zum Abendmahl zu gehen. Darin liegt ja
das ganze Elend.
P. Ja, das weiß ih num nicht, wie fie da übertreten follen.
Mögen fie in die Iutherifche Kirche gehen, wenn ihnen das gefällt;
aber ihnen den Übertritt geitatten, das fönnen wir nicht. Da hat
der General Nichter mir zwei Bittfchriften aus dem Wendenſchen
Kreiſe übergeben wegen Erlaubnis zur lutheriſchen Kirche zurüd-
zufehren. Gott weiß, wer die dort gejchrieben hat; foriht man
nad), fo erweilt es fi, daß die Vittjteller von einer Eingabe
ihrer Bitte nichts willen. Aber einerlei, felbjt wenn es wirkliche
Bitten wären, fo iſt es durdaus unmöglich, ihnen ben Übertritt
vor ganz Rußland zu gejtatten. Erbarmen Sie fid, was wäre
das für ein Veilpiel, da würdet ihr alle übertreten wollen. Wenn
Sie aber dort Unglauben befürchten, jo haben Sie ja aud) Sekten,
die Baptiſten ulm. Das beweift, daß die lutheriihe Kirche bie
religiöſen Bebürfnifie nicht befriedigt.
3. Auf Dejel gibt es Gott fei Danf weder VBaptiften noch
andre Selten; baß aber die Geftenbildung ein Beweis für die
Nicytbefriedigung ber religiöfen Bedürfniffe fei, läßt ſich doch nicht
fo unbedingt behaupten; auch in ber orthodoren Kirche gibt es
ja den Raslol und verjchiebene Selten, wie die Sfopzen, bie
Springer uſw.
P. Für mid iſt es volllommen verftändlich, weshalb der
Abel den lutheriſchen Glauben jo hartnädig verteidigt, er bilbet
für Sie ein Kulturelement, Sie wünſchen die Bevölferung als ein
Ganzes, ungerteilt zu erhalten. In Ihnen iſt viel Gutes, das
muß man anerfennen; Sie figen alle auf Ihrer Scholle und Sie
verteidigen Ihre Rechte und Sitten, das verdient alle Achtung.
Aber immerhin bilden Sie einen Zeil Rußlands und deshalb
Eine Unterrebung mit K. P. Pobjedonozem. 159
mũſſen bei Ihnen dieſelben Einrichtungen jein wie im übrigen
Rußland. Die Baltiihen Provinzen bilden ja eine vollftändige
Anomalie, wie fie in Europa nirgends eriftiert. Gehen Sie, was
Frankreih, was Preußen mit den einverleibten Teilen gemacht
haben, fie haben alle Sondergefege vernichtet und alle Provinzen
unter dem ganzen Stante gemeinfamen Gejegen vereinigt. Bei
Ihnen aber gelten unendlidy verfchiedene Sekten, jede Stadt hat
ihr bejonberes Gefeg. Der Staat darf ſolch ein Amalgam von
Gejegen nicht dulden, es ift notwendig das zu befeitigen. Ein
Sejeg muß für ganz Rußland gelten und für alle jeine Gebiete.
3. Preußen hat den Staat in der Tat dur allgemeine
ſtaatliche Gefege geeinigt, aber das hat ja ſchon längſt Geltung
auch bezüglich des Baltiſchen Gebiets. Die Geſetze von ſiaatlicher
Bedeutung, wie über die Steuern, die Wehrpflicht, die Gouver-
nementsregierungen uſw., find in den Baltiihen Provinzen dier
felben, wie in ben übrigen Gouvernements. Nur die Gejege, die
eine rein lofale Bedeutung Haben und die Gelbitverwaltung
betreffen, unterideiden fi ein wenig, gemäß der geſchichllichen
Entwidlung der einzelnen Orte, jowohl von einander wie von
denen der inneren Couvernements. Und ſolche Unterichiede finden
ſich auch in Preußen, auf das Sie fid berufen. Die Kreis: und
Provinzialinftitutionen in Oftpreußen find ganz andere als die in
Hannover, und von beiden unterſcheiden ſich wiederum die in der
Rheinprovinz und in Heſſen-Naſſau. Indem wir Die in lofalen
Verhältniffen und in ber geſchichtlichen Entwidlung begründeten
Befonderheiten der Gejege, die nur eine lofale Bedeutung ohne
ieden Schaden für ben Staat befigen, zu erhalten wünſchen,
erfennen wir vollfommen an die Untrennbarfeit vom Reiche. Und
diefe Verbindung wurde audy ganz richtig geftärkt, als unter Raijer
Nikolai Pawlowitid die beiten Kräfte der Baltiſchen Provinzen
in den Staatsdienft gezogen wurden. Wenn dieje Perfonen dann
in die Heimat zurüdfehrten, fo hielten fie die Verbindung mit den
Staatsinftitutionen aufrecht, fie vereinigten uns mit dem Staat,
indem jie beilen gedachten, daß fie mit ihrem Blut und ihrer
Arbeit im Dienfte des Herrſchers und des Staates gejtanden
hatten. Sept eriftiert fold) eine vereinigende Verbindung nicht —
fie iſt geſchwunden. Das hat I. Samarin bewirkt, indem er einen
durch nichts gerechtfertigten Yutagonismus hervorrief.
2. Je nun, Samarin, — wenn nidt er, dann hätte eben
ein andrer die Frage angeregt, weil fie auf einmal eine zeitgemäße
geworben war. Cie willen felbft, dab die Nationalitätsfrage in
100 ine Unterrebung mit R. P. Pobjebonosjem.
ganz Europa plöglich ein andres Ausjehen erhielt, fo hat fie ſich
aud im Baltifhen Gebiet zugefpigt. Cie ſprechen von der Politik
des Kaiſers Nikolai Pawlowitſch — fie ift heute nicht anwendbar.
Nehmen Sie z. B. die Bauernfrage, fie hat ja alles im Staate
verändert; bei Ihnen jedoch, ba figt fie allein noch mit bem feus
dalen Recht und man tut mit den Bauern, mas man will. Über
haupt herrſchen bei Ihnen vollitändig der Adel und die Paſtoren.
3. Der Übel herrſcht nicht, aber er Hat tatſächlich ben
vorwiegenden Einfluß in allen Fragen der Selbitverwaltung bes
Gebiets, und mir fcheint in einem fonjervativen Staate joll es
aud) fo fein. Nehmen Sie dem Adel diefen vorwiegenden Einfluß,
wem werden Sie ihn denn einräumen? Bürger in weiterem
Sinne gibt es da nicht, mit Ausnahme ber „Bürger“ in den
Städten Riga und Reval, teils auch in Mitau und Dorpat.
Wollen Sie denen den vorwiegenden Einfluß geben?
P. Ad was „Bürger“, ber vorwiegende Einfluß foll beim
Adel bleiben, jedoch nicht bie Herrſchaft. Bei Ihnen herrſcht der
Adel, das iſt die Herrihaft eines Standes über alle andren.
Gewählte Richter, Abminiftration, Polizei, alles ift in den Händen
des Abels, und fo erhält eine ftänbifche Einmütigfeit die Herrichaft
der jtändiichen Intereſſen überall aufrecht, und dies eben muß
unbedingt vernichtet werden. Alles das muß in bie Hände ber
Regierung übergehen.
3. Wenn Sie es für notwendig halten, ben vorwiegenden
Einfluß bes Adels aufrecht zu erhalten, fo wird es unumgänglich
fein, ihm bie erfte Stimme bei allen Wahlen zu fihern; bie An—
wendung bes MWahlprinzips bei allen Inftitutionen ift aber mit
ihnen allen fo verwachſen, daß man es jchwerlid wird aufgeben
Tonnen. Die Vernichtung alles Bejtehenden wird ber allgemeinen
Verfolgung entipredhen, die man jept über die Eingeborenen des
Baltifchen Gebiets ergehen läßt.
P. Wo ift die Verfolgung, ich bitte Cie? Da hat ber
eine dies, ber andre das getan — id) würde fie entlailen, aber
fie bleiben im Dienft, niemand verfolgt fie. Um jedoch zu der
Frage zurüdzufehren, von der wir ausgingen, fo wiederhole ich,
daß es nicht möglich ift, das Gefeg von dem Reverſal vor ber
Trauung aufzuheben, das wäre eine Beleidigung für ganz Ruß—
land. Es jollte dod) leicht erſcheinen den Kalender abzuändern,
den alten Stil durch den neuen zu erfegen, aber willen Cie, das
fönnte eine allgemeine Revolution hervorrufen. So kann aud) die
Verlegung diejes Geſehes ebenjolhe Folgen haben. Es beruft
ine Unterrebung mit 8. P. Pobjebonatzem. 181
auf der Beftimmung eines oekumeniſchen Konzils und muß feine
volle Geltung haben, da aud) überhaupt alle Gelege für alle
Gebiete Rußlands die gleichen fein müſſen.
3. Alfo, Ercellenz, Sie einverleiben bie Dafe Merw, ver
fprechen ihr Wahrung der Befenntnisfreiheit und bringen fie dann
zut Orthoborie mit Hilfe des Strafgeſetzbuchs.
P. Wie fönnen Sie fih mit der Oaſe Merw vergleichen?
3. Ganz im Einklang mit der von Ihnen geäußerten Ans
fit von ber Gleichheit ber Gejee für alle Gebiete Rußlands;
das Normalreglement ber politiihen Entwicdlung, das Normal»
reglement für das Gewiſſen und bie Neligion iſt das gleiche für
die Daje Merw wie für das Baltiſche Gebiet.
P. Sie haben feinen Grund, haben feinen Grund, fi
mit ber Dafe Merw zu vergleichen.
3. Cw. hohe Ercellenz, ich habe mir nicht mit der Hoffnung
gefhmeichelt, daß ich die herrichenden Vorurteile werde zerftreuen
fönnen; ich habe meine Pflicht erfüllt, indem ich Sie in Anſpruch
genommen habe. Wir haben auch das jchon erlebt, daß man uns
fagte: Man hätte rechtzeitig damit einfommen follen. Und des—
halb habe ich es für meine Pflicht gehalten, Sie von den unver
meiblichen Ralamitäten in Kenntnis zu ſetzen; für die Folgen aber
fonnen wir feine Verantwortlichfeit auf uns nehmen.
3
Fiterarijche Rundfchau.
—
Die Grundlagen der Hebbelſchen Tragödie.
D- iſt Tragit? Cine vielumſtrittene Frage, anders beantwortet
zu verſchiedenen Zeiten und von verichiedenen Individuen,
anders auch häufig von derſelben Perſönlichleit in ihren verſchie-
denen Entwidlungsftabien und in ihrer künſtleriſchen Theorie und
Fraris. So verfchieden aber aud die Antworten ausfallen mögen,
in dem einen, wonach gefragt wird, jcheinen alle einig zu fein.
Die Frage nach der Tragik ift eine Frage nach der Weltanfchauung.
Eben deshalb fällt ihre Beantwortung fo veridieden aus, anders
bei ben Griechen, anders bei Shafeipeare, bei Goethe, bei Schiller;
benn die Meltanfhauung ändert ſich mit den Zeiten und Mer:
hältniffen, ja jedes einzelne Individuum hat im Grunde genommen
feine eigene und ganz befondere, die fih faum mit der irgend
eines andern in allen Punkten deckt. Gilt es aljo feitzuftellen,
welche Auffaffung ein Dichter vom Tragiſchen hat, jo gilt cs, feine
Weltanfchauung feitzuftellen — feine Weltanfhauung in einem
weſentlichen Punkt, nämlid in dem, in weldem Verhältnis das
Individuum zum Univerfum, der Einzehwille zum Weltwillen fteht,
wie weit der Einzelwille frei oder im MWeltwillen gebunden iſt;
denn darum handelt es ſich am legten Ende in jeder echten Tra—
gödie. Sold eine Feititellung ift in feinem Falle leicht, und fie
wird um fo jchwerer, je reicher und vielgeftaltiger die Dichternatur
ift, Die in Frage fommt. Erſchwert wird fie auch in dem Falle,
wo wir die Weltanjchauung des Dichters nur im Bilde, d. h. im
Spiegel feiner Dichtung, nicht aus theoretiihen Ausführungen
fennen lernen fönnen. &iegen leblere vor, fo gelingt e$ ficherer,
felbjt wenn Theorie und Praxis fid nicht immer deden. So find
wir über die Weltauſchauung Schillero und feine Auffafjung des
Tragiſchen vollfommen orientiert. Anders liegt es ſchon bei Goethe,
der eine viel fompliziertere Natur ift und feine theoretifchen Anz
ſchauungen mehr gelegentlich, nicht ſyſtematiſch zufammengefaßt gibt.
Siterarifige Rundfefeu. 188
Noch ſchwieriger geftaltet ſich die Unterfuchung bei Shakeſpeare,
da er uns feinen Buchſtaben Theorie, an dichteriſchen Erzeugnifien
aber eine ſolche Mannigfaltigkeit hinterlafien hat, daß aus biejer
Vielheit und Vielgeftaltigfeit mit Sicherheit die Einheit zu gewinnen
faum möglich ericheint. Daher gehen denn aud die Anfichten
über die Weltanſchauung Shafefpeares weit auseinander. Die
einen fehen in ihm den Dichter proteitantifcher Willensfreiheit
»ar Zoynr. die andern — fo z. B. Mar Marterfieig in feinem jüngſt
erichienenen großen Werk „Das deutſche Theater im 19. Jahr⸗
hundert” — halten ihn für den größten und jirengften Verkünder
menſchlicher Willensunfreiheit. Ebenſo weit abweichende Meinungen
find hinſichtlich der griechiſchen Tragifer zu fonftatieren.
Ein Dichter, der neuerdings wieder zu befonderen Ehren
fommt, iſt Friedrich Hebbel. Seine Dramen gewinnen auf ber
deutſchen Bühne immer mehr an Boden, und die gelehrte Kritik
hat fi daran gemacht, ihn zu ergründen. Sein Geiltesverwandter
und Nachfolger, Ibſen, hat ihm bie Bahn gebrochen. Kin Fremder
mußte fommen, um ben Deutichen über einen ber ihrigen bie
Augen allmählich zu öfinen. Der Prophet gilt nichts im eigenen
Valerlande, namentlich wenn dieſes Vaterland ein deutſches üt.
Von Hebbel gilt wie von feinem andern deutſchen Dichter
das Wort: Wer zum Verftändnis feiner Dichtung fommen will,
muß fi mit feiner Weltanfhauung vertraut wmaden. Denn
eritens iſt feine Weltanihauung eine ſcharf ausgeprägte und eigens
arlige, und zweitens ijt alle Hebbeljche Dichtung der bewußte und
oft zum Schaden des Aunftwerfs gewallfame Verfuch, dieje feine
Weltanfhauung zu verfinnbildlihen und dadurch zu veranjchaus
lien. Dennod war Hebbel feineswegs in erfler Linie Philoſoph
und erjt in zweiter Dichter. Im Gegenteil, der Dichter it e6,
der in ihm den Philojophen, joweit er überhaupt dieſen Namen
verdient, welt. Wohl ſucht er ſich ſyſtemaliſch mit Philofophie
zu befchäftigen, aber es bleibt bei den Verfuchen und Anläufen,
fie bringen jein Gehirn gar bald, wie er felbit erzählt, „in einen
Zuftand, ber mit der Drehlrantheit der Schafe die bedauerlidjite
Äehnlichkeit hat“, und er jchleudert feinen Hegel und Scelling
zu Boden und tritt fie ergrimmt budjftäblid mit Füßen. Die
wiffenfchaftliche Philofophie bleibt ihm ein verſchloſſenes Buch, „ein
blinder Gaul“. Seine Weltanfhauung iſt Erlebnis, das Produtt
feiner Beanlagung und Erfahrung, und fie kommt ihm plöglich
und intuitiv zum Bewußtjein. Dann baut er fie aus, modelt an
ihr umher und preßt mit ftarrer Konfequenz fi und die Welt in
fie hinein, um dann mit berjelben flarren Konfequenz fein ganzes
Dichten ihr dienſtbar zu maden, indem er immer neue Spiegel
bitber von ihr zu entwerfen fucht.
Und wie jieht nun diefe Hebbelſche Weltanihauung aus?
164 Literariſche Rundſchau.
Obgleich er ſich fein ganzes Leben lang abmüht, ihr dih⸗
teriſche Geftaltung zu geben, gewinnen mir ein ſicheres Bild von
ihr nicht ſowohl aus feinen Dichtungen, fondern aus jeinen Vor—
reden, Tagebüchern und Briefen, in benen er unablälfig beitrebt
iſt, fie theoretiſch auseinanderzufegen. Freilich, auch hier muß
man zu lefen verftehen, muß man Entwidlung, Wandel und vor
übergehende Stimmung unterſcheiden. Immerhin aber gelingt es,
zu feiten Nefultaten zu tommen. In der Dichtung felbft bleibt
in dieſem Punkt das Können Hinter dem Wollen zurüd. Wir
glauben dem Dichter nicht, jo eifrig er uns auch durd Dichtung
und Kommentar zu überreden ſucht. Die Probe auf das Erempel
ergibt uns ein andres Reſultat als ihm jelbit.
Ein junger Philologe, Franz Zinfernagel, hat neuer-
dings in einem Werk „Die Grundlagen der Hebbelſchen Tragödie”*
mit Verftändnis und viel Sorgfalt den Verſuch gemacht, bie Welt
anſchauung Hebbels in ihrem Entjtchen und ihrer Entwidlung bis
zu ihrer Spipe feitzuftellen, um dann zu prüfen, wie weit es dem
Dichter gelungen it, ihr überzeugenden Ausdruck in feiner drama—
tiſchen Produktion zu geben. Das Wert Zinternagels gibt uns
die Anregung zu folgenden Ausführungen.
Schon früh empfindet Hebbel fein eigenes Leben und das
der Menſchheit als eine große Diſſonanz, und dieſe von ihm überall
wahrgenommene Diffonanz zeitigt in ihm die Idee des Dualismus.
Der Dualismus ift ihm die legte, höchite, die Grundidee. Nun
fehlt Hebbel gänzlich das Verantwortlichfeitsgefühl und damit das
Vewußtſein der Sündhaftigleit. Und dieſes Manko in ſeiner
Natur führt ihn bei feiner dualiſtiſchen Auffaſſung der Melt, im
Gegenfag zu ber gleichfalls bdualiftifchen chriftlihen Anfhauung,
notwendig und geraden Meges zum Peſſimismus. Kampf, enb—
tofer Kampf iſt alles Leben. Und in welchem Verhältnis jteht in
diefent Kampf der Einzelne zum Ganzen, das Individuum zum
Univerfum? Aus dichteriſcher Intuition heraus empfängt Hebbel
plöglic und entwirft er fein Weltanſchauungobild. Der MWeltprozeh
entjteht badurd, daß ſich das Individuum, feines Uriprungs vers
geilend, in unbegreiflicher Freiheit vom Univerfum losreißt und
nun in unabläfligem, fruchtlofem Kampf gegen das Univerſum
ſteht, bis es enblid von diejem wieder verfhlungen wird und
zurückſinkt in das allumfaljende Element, aus dem es fam. Dieſer
Prozeß ift ohne Anfang und ohne Ende, er ift, wie Hebbel fagt,
„die Rontinuation des Schöpfungsaftes, eine ewig werbende, nie
fertige Schöpfung, die den Abichluß der Welt, ihre Eritarrung
und Verſtockung verhindert.” Der Weltwille bedarf diefes Pro:
zeſſes, um fich zu verwirklichen und zum Bewußtſein zu Fommen,
*) Berlin, Georg Heimer, 1904. 188 ©.
Literariſche Rundſchau. 165
und fucht doch unabläffig, mas er ſchuf, zu zerſtören. Anderſeits
ftrebt das Geichaffene, das Individuum, rajtlos in das Al zurüd,
und fucht ſich doch wiederum, getriben von feinem Individual
egoismus, ber ihm als Erbteil des Univerfalegoismus wurde, als
es ſich vom ALL losriß, in unabläſſigem Rampfe als Individuum
zu behaupten. Es unterliegt aber ununterbroden in diefem Kampfe,
da feine Freiheit unr eine fcheinbare ift, da es im Grunde genom⸗
men immer opponierend, immer doch nur ben MWeltwillen vollzieht,
bis es feine Miffion erfüllt hat und ins Univerfum zurückehrt.
Der Menſch alſo ift unfrei im meiteften Sinne, und das, was
mir Gefdichte nennen, iſt ein Produkt von Naturgejepen. Es ift
Mar, daß bei einer ſolchen Weltanfhauung fein Raum für Ideen
wie Gott und Sittlicjfeit ift. Und doch operiert Hebbel fort:
während mit ihnen, indem er einfach Univerfum, Notwendigkeit,
Beltwillen, Gott, fittliche Idee identifiziert, und dann ohne Bedenten
den öden Himmel feiner Naturnotwenbigfeitstehre mit allen Sternen
einer theijtichen und ethiichen Weltbetrachtung ſchmückt. So gelingt
es ihm aud) in fein Syitem eine Schuld hineinzubringen, die doch
wieder eigentlich feine ift. Sie beruht in der Maflofigfeit, mit
der fi) das Individunm gegen den Weltwillen durchzuſehen ſucht.
Aber da der Egoisinus, ſich zu behapten, wie gejagt, ein Erbteil
it, das das Individuum als Bedingung feines individuellen Seins
aus dem Univerjum mitbefan, fo fann es dafür nichts, daß es
ihn zur Geltung bringt, ja, je ſtärker es ihn betätigt, um jo deuts
licher bekundet es feinen Urſprung, um jo vorzüglicher it es alſo
im Grunde genommen. Und fo fommen wir ſchließlich dahin, daß
wir ſagen: Je gottwibriger, um fo gottähnlicher. Das wäre
Lucifer_in Hebbelicher Auffaſſung. Und in der Tat fagt Hebbel,
daß „fd das Göttliche gegen Bott auffehnt, weil es feines:
gleichen iſt.“
Aber befriedigt den Dichter diefe Art der MWeltbetrachtung?
Keineswegs. An einer Stelle heißt es: „Ich frage: wozu bie
Ueberhebung? wozu diefer Fluch der Kraft? Nur wenn fie dadurch
geiteigert, wahrhaft veredelt würde, würde ich mich damit aus:
gefögnt fühlen. Unb doc) fönnte man jelbit dann noch fragen:
wozu ift biefe Orabation nötig? Warum dieſe auffteigende Linie,
die jeden höheren Grad mit fo unfäglihen Schmerzen erfaufen
muß?” Das Bedürfnis nach Erlöfung macht fich geltend, und
die glaubt Hebbel ſchließlich in der Nefignation gefunden zu haben:
„Wenn der Menſch fein individuelles Verhältnis zum Univerfum
in jeiner Notwendigkeit begreift, fo hat er jeine Bildung vollendet
und eigentlich aud ſchon aufgehört Individuum zu fein, denn der
Begriff diefer Notwendigkeit, die Fähigkeit, ſich bis zu ihm durch-
zuarbeiten, und die Kraft, ihn feilzuhalten, Löjcht allen unbered-
tigten Egoismus aus und befreit den Geift vom Tode, indem er
Baltifche Monatsfcheift 1905, Heft 2 5
186 Sterarifge Rundſcau.
biefen im weſentlichen antizipiert.“ Diefer Gedante gewinnt immer
größere Macht über Hebbel und wird von ihm in fein Spitem
gebracht, obgfeidh er da nicht hineingehört, nicht hineinpaßt. Hier
ift die Inkongruenz in bem Hebbelſchen Weltanfchauungsbilbe.
Wenn ber Menſch, aus der Naturnotmendigfeit entiprungen und
felbft ein Stüd von ihr, naturnotwendig gegen den Weltwillen
anfämpfen muß, wie foll er dahin gelangen, von dieſem Kampfe
aus eigenem Antrieb abzulalien? Ja, wie fann er, wenn Oppo—
fition gegen den MWeltwillen die Bedingung feines Dafeins als
Individuum ift, wie fann er dann aud nur, folange er als Inbis
vibuum noch eriftiert, den Gedanken fallen, vom Kampfe abzu:
ftehen? Heißt das nicht, die MWillensunfreiheit in das Gegenteil
umbiegen und damit das aufgeführte Gebäude mit eigener Hand
wieder zerflören?
Ich vermiſſe in den Ausführungen Zinfernagels ben beut-
lihen Nachweis, daß der Kreis des Hebbelichen Weltanfhuungs-
bildes nicht geichlofjen iſt. Er gemönne aber dieſe Gefchloffenheit,
wenn Hebbel nicht über ber einen Gigenfchaft bes Inbividuums
die andre vergäße. Das Individuum hat als Erbleil aus bem
Univerfum nicht nur die Eigenfchaft erhalten, fid) behaupten zu
wollen, fondern auch die andre, zum Univerfum zueüdzujtreben,
und jeine Aufgabe ift es, in diefem Miderjtreit den Ausgleich zu
finden, fo zu finden, daß der Univerfalegoismus in ihm den Indi—
vibualegoismus überwindet. Hebbel fieht den Dualismus nur in
dem Verhältnis des Individuums zum Univerfum, er ijt- aber
ebenfo wirffam im Individuum ſelbſt, ja er hört dort in demſelben
Augenblid auf, fobald er hier überwunden ift. Es iſt jenes Manfo
in Hebbels Natur, das Fehlen des Schuldbemußtjeins, das ihn
behindert, dies zu erkennen und dem andern Ich in bem Indie
vibuum, das dem Umiverfum zujtrebt, in feinem Syſtem bie
gebührende Geltung zu geben. Hier und da blitzt bei Hebbel dieſe
Erfenntnis wohl auf, aber fie ift micht ſtart genug, um ihn von
feinem Pelfimismus loszureißen, und anderfeits vermag er doc
auch wieder nicht, fid) auf feiner ausfid)tslojen peſſimiſtiſchen Höhe
zu haften. &o fommt das Fremde in fein Spilem, bie Verbin,
dung von flarrer Naturnoimenbigfeit, die jeden freien Willen aus-
ſchließt. und Selbfterlöfung, die auf freiem Willen beruht, und
unter diefer Inkongruenz jeiner Weltanjhauung leidet auch feine
dramatifche Produktion.
Denn alle feine Dramen find, wie ſchan betont wurde, Ver:
ſuche, feine Weltanfhauung zu verfinnbilblichen. Er will in feinen
Dramen zeigen, wie das Leben die Schuld mit Notwenbigfeit aus
ſich erzeugt, wie alfo die Schuld in Wirllichfeit feine Schuld ift,
und wie der Menſch, frei jcheinend, doch unfrei iſt. Sein Freund
Bamberg fchreibt an ihn, als er „Verodes und Mariamne” gelefen:
Siterarifhe Rundſchau 187
„Ih glaube, je länger Sie dichten werben, deſto mehr werben
Sie bie Unfhuld in der Schuld baritellen.” Das ift durchaus
zutreffend für Hebbels Art. Er geht meift genau den umgekehrten
Weg wie die Grichen. Dieje verfegen ben Helden in eine Zwangs⸗
fituation. Er muß die ſchwere Tat voflführen, die ihn ins Vers
berben reißt (Orejt, Debipus, Antigone), und weil er muß,
erſcheint er ſchuldlos. Die Kunft des antiten Dichters aber bejteht
nun darin, die Handlung jo zu führen, dab dem Zufchauer doch
ur Gewißheit wird, der Held jtürzte legten Endes trog der Zwangs-
tuation nicht durch diefe ins Verberben, ſondern durch ſich felbit,
jeinen Charafter. Der antite Dichter ſucht alſo in ber Unſchuld
die Schuld zu erweiſen. Hebbel dagegen geht in den meilten
Fällen von dem „ſcheinbar ſchuldig“ aus und ſucht durch den
Verlauf der Handlung ein „doch nicht ſchuldig“ darzutun. —
Zinfernagel weiſt an mehreren feiner Dichtungen nad), wie ihm
das feinesiwegs immer — ich möchte fagen, eigentlich nie — über
zeugenb gelingt, mie der unbefangene Lefer das Gegenteil von
dem heraushört, was Kebbel in Dichtung und beigegebenem Kom-
mentar oft jchreiend zu beweilen fucht. So heißl es bei Zinfer-
nagel u. a. über „Maria Magdalena“: „Ihn (Hebbel) trieb fein
innerftes Bedürfnis, jede fittlihe Schuld in dem Fehltritt Klaras
ausjumerzen. Er wollte nadjweifen, wie das Leben ohne inneren
Anteil des Individuums die Schuld mit Notwendigkeit aus fich
ſelbſt erzeuge, und glaubte feine Abſicht dadurch zu erweiſen, daß
er einem tatfächlichen Fehltritt berechtigte fittliche Botive unterjchob.
Wir aber mögen uns noch fo fehr quälen, dem Dichter auf dieſem
Wege zu folgen, es wird uns jchwerlich gelingen. Wir werden nie
aufhören, in Klara eine Schuldige zu ſehen, alle Verwirrung ber
Motive wird uns über ihren Fehltritt nicht hinwegtäuſchen. Der:
felbe Mangel an fittlichem Gefühl, der uns in der Konzeption ber
„Öenoveva” überraichte, fällt auch Hier wieder unangenehm auf.
Wie ihm dort Siegfried als der ſchuldigſte erſchien, ſo hier Meiſter
Anton. Aber jeltfam genug: all dies Sonderbare offenbart uns
nur der Kommentar, den uns ber Dichter gibt. Nichts in ber
Dichtung ſelbſt verrät uns eine Spur von des Dichters Intentionen.
Ein Bild göttlicher Gerechtigkeit entrollt fih uns. Wir fehen die
einzelnen Gejtalten Schuld auf ſich laden und fie büßen. Nein
Shidjal Tann trog aller Furchlbarfeit gerechter fein alo das,
welches über dieſe Menfchen hereinbricht. Kein Dichter hat mit
wuchtigerer Kraft in den Geftalten jeiner Aunft die Welt zurecht:
gerüdt, als gerabe Hebbel in jeiner „Maria Magdalena“.
In feiner Schlußbetrachtung jtellt Zinfernagel den Theoritifer
Hebbel über den Dichter. Er meint, Hebbel habe — theoretiich
— „eine Runftform geihaffen, die völlig in der Richtung unirer
modernen, die Schranten des menſchlichen Willens refigniert aner:
dr
168 oiterariſche Rundſchau.
Tennenden Weltanſchauung liegt“, und er habe — wieder theoretiſch
— „ben Weg gemwiejen, auf dem das Drama unfrer mobernen
Beit ſich einzig und allein entwideln Fann."
Ich möchte im Gegenfap zu Zinfernagel glauben, Hebbels
dramaliſche Theorie ift anfechtbar, weil fein Weltanjhauungsbilb
nicht gefchloffen iſt. Der Dichter in Hebbel war joniel ftärfer als
ber Theoretifer, daß er häufig inſtinktiv gegen die jo eifrig vers
fochtene Theorie und Weltanidauung das Richtige traf. Hebbel
fagt felbft, das Drama fei Daritellung des Lebensprozeſſes; ber
Lebensprozeß aber ift ein ſehr fompligierter, für den Menſchen
niemals Mar zu erjhauender. Niemals ijt geleugnet worden, daß
der Mille des Menſchen Schranfen Hat, ebenfo wird nie geleugnet
werben, daß der Menſch innerhalb gewilfer Grenzen frei ift und
beshalb ber Verantwortlichfeit unterliegt. Die Grenzen zwiſchen
„frei“ und „unfrei” auf feinen Gebieten können durd) willen:
KR tliche Forſchung verſchoben werben, niemals aber wird bie
ifenihaft die Frage von „frei“ und „unfrei” rejtlos lafien,
denn das wäre gleihbebeutend mit der Löjung des Lebensrätiels.
Diefe Löfung gibt fo oder jo allein der Glaube, wo aber ber
Glaube anfängt, da Hört die Wiffenfhaft auf. Das Drama ift
bie Darftellung des Lebensprozeſſes, nicht, wie ihn Die Wiſſenſchaft
analgtifch zergliebert, fonbern wie und foweit ihn die Seele bes
Künftlers jynthetijh in feiner Ganzheit erſchaut — erſchaut ganz
ohne Wiſſenſchaft in der Lebenserfahrung und im Glauben.
Lebenserfahrung lehrt beides, das „frei” und das „unfrei”, ber
Glaube entfcheibet fi für das eine oder andre. Der wirkliche
Dichter, der das ganze reiche Leben gibt und nicht nur ein mageres
Erempel zu einer Theorie, wird in feiner Dichtung auch immer
das „frei“ und „unfrei” zugleich darſtellen und feinen Glauben
über den Zufammenhang von Freiheit und Unfreiheit nur wie
durch einen Schleier durchſchimmern laſſen.
K. Stavenhagen.
A
Idealismus und Realismus
in den geiftigen Strömungen der Gegenwart.
Unter den deutſchen Philojophen der Gegenwart nimmt
Euden eine ganz befondere Stellung ein. Geht das Hauptſtreben
der erfteren vor allem dahin, die in den pofitiven Willenfchaften
bewährte erafte Diethode aud) auf die philofophiiche Forihung
anzuwenden, mit ihrer Hülſe die einzelnen Erfenntnisgebiete
genauer durchzubilden und einem ftreng wiſſenſchaftlichen Betriebe
juuführen, fo betont Euden im Gegenfag dazu als vornehmfte
und dringendfte Aufgabe einer hilofophie der Gegenwart, bie
neue Grundlegung einer Weltanfhauung, in der Webergeugung,
daß unfer Kulturleben nicht nur einzelne Probleme in Hülle und
Fülle enthalte, fondern daß es aud, und ganz bejonders als
Ganzes, einer energiihen Nevifion und einer gründlichen Erneue—
rung bebdürfe. Die Voranftellung dieſes allgemeinen Problems
findet fi in fait allen bisher veröffentlichten Arbeiten Eudens.
Der Erweis und Ausbau eines neuen Lebensſyſtems, eines felb:
ftändigen, weltumfpannenden Geifteslebens bleibt der flete Mittel-
und Zielpunft feiner Forihung. In fraftvoller, energiſcher Weife
bringt er die Notwendigfeit eines jolden immer wieder dem
modernen Menſchen zum Bewuftjein und fordert ihn auf, den
Kampf um jeine geijtige Gelbfterhaltung aufzunehmen und eine
Entfcheidung für oder wider zu treffen. Nicht abitrafte Ideen
und ausſchueßlich theoretiſche Geſichtspunkte dienen ihm dabei als
Ausgangspunft und beilimmende Fuftoren, jondern auf das Ganze
des Lebens felbjt und die in ihm hervortretenden geiftigen Ten:
denzen ift vielmehr fein Hauptaugenmerk gerichtet. Hier klärend
zu wirken, einen allumfailenden Zufammenhang aufzufinden und
damit den Grund zu einer dharafteriftiichen Weltanſchauung zu
legen, läßt ev ſich wie in feinen früheren Werfen (befonders: „Die
Einheit des Geiiteslebens in Bewußtſein und Tat der Menſchheit“
und „Der Kampf um einen geiltigen Lebensinhalt“), jo ganz
befonders in feiner neueften Veröffentlichung: „Geiſtige Strömungen
der Gegenwart“ ! angelegen fein.
1) Leipzig 1904, Weit u. Ro. 3. umgearbeitete Aufl. 898 S. Preis M 8
170 Literariſche Rundſchau.
Auch dieſes Buch wendet ſich wie feine früheren (außer den
genannten find hier noch zu erwähnen: „Die Lebensanfdhauungen
ber großen Denker“ und „Wahrheitsgehalt der Neligion”) an alle
Gebildeten und verdient im beiten Sinne des Wortes zeitgemäß
genannt zu werden. Im wahrhaft univerjaler, hiſtoriſch-kruiſche
Weiſe werben mir Hier über die tiefiten Beſtrebungen ber Zeit
und über bie fie bewegenden Fragen auf allen Gebieten orien-
tiert. Alle Probleme, die in irgend einer Form unjer Leben
beherriden, zieht er in den Kreis feiner tiefgründigen Unter
ſuchung; überall tritt aus dem Streit widerjpredender Meinun:
gen, aus dem Schwanfen zwiichen entgegengejegten Beftrebungen
das eine Grundproblem zutage, ob das Leben und Streben bes
Dienichen lediglich die Bewegung der Natur fortführt, oder ob in
ibm eine nene Stufe der Wirklichkeit auffteigt.
Von der eminent praftiichen Bedeutung dieſes Buches für
jeden ernſt Strebenden iſt der Schreiber diejer Zeilen aufs tiejlte
durdidrungen. „Tua res agitur“, heißt es auch hier. Hoffentlich
gelingt 8, aud den Leſer davon zu überzeugen, ihn zu einer
näheren Beihäftigung mit der Philofophie Eudens anzuregen,
wenn wir im im folgenden verjuchen, ihm ben Gedanfengehalt
eines jo bedeutenden Buches zu übermitteln, oder vielmehr nur
einen Teil jeines Gedanfenreihtums, der fid in einem furzen
Referate nicht erſchöpfen läßt: Euckens Ausführungen über Stel-
ung und Bebeutung des Jbealismus und Nealismus in den
geiftigen Strömungen der Gegenwart.
Eine große Verworrenheit, eine ftarfe Unficherheit über tete
und gemeinjame Ziele, agt Euden in der Einleitung, ift ein
Merkmal unfrer Zeit. Dieje verworrene, unfichere Lage erſcheint
zwar zunädft als Wirfung der geſchichtlichen Ueberlieferung, die
uns mit grundverfciebenen, ja entgegengefepten Strömungen
umfängt, Veſonders hat das 19. Jahrhundert die eingreifendjten
Bandlungen durchgemacht, die bein aller äußeren Zurüddrängung
uns innerlich nod) feithalten und nad) wiberjireitenden Richtungen
ziehen. Aber die Schuld an dieſer Verworrenheit trägt deshalb
nicht die Geſchichte, jondern unſre Unfelbjtändigfeit ihr gegenüber,
unfer Mangel am Sonentration und geiliger Ueberlegenheit
Dabei ift, bei aller Zerrilienheit und Ziwieipältigfeit das Bew:
fein von der Unhaltbarfeit der älteren anthropijtiichen Denkweiſe,
die den Menſchen als den Mittelpunlt des Als und die Wirklich
feit als ein Reich menſchenähnlicher Größen anfah, in der mober-
nen Menſchheit lebendig geworden und damit iſt zugleich ein
glübendes Verlangen nad) einem weiteren, gehaltvolleren Sein,
ein heißer Dinjt nad) einem Leben mit der Unendlichkeit und
Wahrbeit des Als erwacht. In dieſer Lage eröffnen ſich zwei
Moglichkeiten, die uns ein einziges Entweder — Ober vorhalten:
Literariſche Rundſchau. 171
Führt die Bewegung gegen das Beharren beim Bloßmenſchlichen
dazu, den Menſchen als ein bloßes Naturweſen zu begreifen und
all jein Tun dem Rahmen der Natur einzufügen, und damit alles
auszeihnend Menſchliche als einen verderblihen Wahr auszus
treiben? Oder befagt jene Bewegung das Aufiteigen einer neuen
geiftigen Welt, eine nene Stufe der Wirklichkeit, deren Aneignung
und Ausbildung von innen her beim Menſchen erfolgen muß?
Trog der Unerlählicpfeit ber Entiheidung für dieſes oder jenes,
zeigt die Zeit infolge jener Schwäche des Einheitsjtrebens ein
Schwanfen bald hierher, bald dorthin und einen Mangel energie
iher Gegenwirfung gegen das Kleinmenfdjliche, ein Sinfen des
Lebens ins Profane, Ordinäre, eine innere Verarmung inmitten
überftrömenden Neihtums an der Peripherie des Lebens. So
befinden wir uns in einer jdweren geijligen Krife, die Folge und
Ausdrud einer weltgeſchichtlichen Lage it. An Verjuden, diejer
chaotiſchen Lage eine einheitliche Gejtaltung des Lebens und der
Wirklichfeit entgegenzufepen, fehlt es nicht. ber das Streben
zur Einheit geitaltet ſich meiltens jo, daß die einzelnen Gebiete
die Sache an fid) reißen und das Bild vom Sanzen lediglid nad)
ihren bejonderen Erfahrungen entwerfen; ihr Gebiet wird ihnen
zum beherrſchenden Mittelpunft der Wirklichkeit. So bildet ſich
die Religion, die Kunſt, jo erzeugt die foziale Bewegung eine
bejondere Weltanjdaı namentlid erweitern ſich die Natur
wiffenfchaften oft zu einer umfailenden Philojophie. Die dadurch
entjtehenden eigentümlihen Durchblicke fünnen jedod immer nur
zeitweilig befriedigen, da ihr viel zu nappes Maß der Wahrheit
der Dinge gegenüber nur zu bald erfannt wird. Dabei verkehren
fich oft die Teilwahrheiten mit ihrer Weberipannung zur Gejamts
wahrheit in Unmahrbeit Und jo zeigen uns jene ‘arlialbewegungen
in ihrem Widerftreit mit einander, daß ſich von den einzelnen
Punkten her nichts ausrichten läßt, daß es eine der Verwirrung
überlegene Einheit zu fuchen gilt. Das läht fi) jedod nicht
erhoffen ohne eine Erhebung über das Ganze der Zeitlage und
ein Ergreifen neuer Anfünge. Es gilt daher eine Berufung von
der bloßen Zeit an das Ewige, was die Zeit trägt, vom bloßen
Menſchen an die überlegenen Gewalten, die den Menſchen über
ſich felbit hinausheben, indem fie ihm ein geiſtiges Sein verleihen.
Für dieſes Ziel der Vertiefung des Yebens und der Erneuerung
der Kultur hat jeder nach dem Maße jeines Könnens zu wirken.
Um feiner Aufgabe alljeitig gerecht zu werden, will der Verf.
fo vorgehn, daß er die der Zeit charakleriſtiſchen Haupttendenzen,
foweit dahinter Yebensbewegungen aus dem Ganzen jtehen, heraus:
hebt, un uns zu einem Bilde der Jeu jeneit der Gegenfäge zu
verhelfen. Dabei wird die Unterjuhung zeigen, daß ein und dag:
felbe Hauptproblem durch alle Vianigfaltigfeit wirft und überall
ı2 Literarifche Rundſchau.
um das Ganze gefänpft wird. Die einzelnen Strömungen und
der in ihnen ermittelte Lebensprozeß follen hierbei ftets an der
Frage geprüft werden, ob fie ein jelbjtändiges Geiftesleben über-
haupt ermöglichen und was fie dafür leiften. Gerade hier bürfte
zugleid) mit der Einficht in die Eigentümlicjleit der Zeit eine
Befreiung von ben Irrwegen ber Zeit erreichbar fein. Um die
geiltige Art der Gegenwart heller zu beleuchten und abzugrenzen,
ſoll die geſchichtliche Betrachtung herangezogen werden. Dabei
leitet die Hellere Beleuchtung deo Tatbeitandes an der Hand ber
Geſchichte ſchon eine kritiſche und abjolute Behandlung ein. Nicht
nur die Behandlung ber Gegenwart, fondern aud die Geſchichte
als Ganzes verwandelt ſich bei Aufdeckung des in ihr wirkſamen
Lebensprogeiies in ein Problem und unterliegt der Frage nad
ihrer Wahrheit. Erſt dieſe Verwandlung der Geſchichte in bie
Entfaltung eines zeitlojen Geins ermöglicht es, ihrem Ganzen
irgend weichen Sinn abzugewinnen. So foll die Behauptung der
Zeit an dem weltgeichichtliden Stande der geijtigen Evolution
geprüft werben. Hat die Geſchichte mehr Tiefe und Geiſt
erjchlofien, als jene, jo wird das Streben notwendig über fie
Hinausgetrieben. Auf dieſe Weife it die Hiftorijche Kritik nicht
bloß zurücjdauend, fondern auch) produktiv, und vermag die
Weiterbewegung, die fie fordert, ſeibſt zu fördern. — Wohl ift
fid) der Verfaifer der Gefahren und Schranten des von ihm ein-
geichlagenen Verfahrens voll bewußt; insbejondere empfindet er
aufs jtärffte die Unfertigfeit der hier dargebotenen Gedankenwelt,
wie e8 ja nicht anders jein kann, wo wir mitten im Streben und
Suchen jtehen und es nene Ausblide zu gewinnen gilt. Aber die
Ueberzeugung, daß der reis der Möglichkeiten nod nicht erſchöpft
ift, und wir nicht zu bloßem Epigonentum verdammt find, läßt
ihn trog aller Unfertigfeit getroſt ans Werk gehn.
Der Gegenjag zwiſchen Jbealismus und Nealismus liegt an
der Frage, ob der Menſch mit feinem ganzen Leben und Streben
ein bloßes Stüd ber natürlichen Welt, ober ob er biejer Welt
innerlid überlegen it und ihr gegenüber ein neues Neich aufzu—
bauen vermag. Je nachdem die Antwort fo oder jo ausfällt, ge-
ftaltet fich das Leben vom Größten bis zum Stleinften, im Denfen
wie im Handeln, grundverfdieden und fchließt alle Vermittlung
aus. Erſt das 19. Jahrhundert hat bem Idealismus, der bis
dabin faſt ausſchließlich das Kulturleben beherrichte, ein eigenes
Lebensſyſtem des Nealismus entgegengeießt. Solches Unternehmen
ihöpjt feine Hauptfraft aus der Tatjade, daß die unmittelbare
Melt in ihrem netürlichen Dafein der Vienichheit unendlich mehr
geworden iſt, daß fie einen viel reicheren Inhalt entwidelt hat,
als je zuvor. Zur Steigerung der nächſten Wirklichkeit verbinden
fi im 19. Jahr). die mannigfachften Bewegungen und Erfolge
Literarifche Rundſchau. 173
auf allen Gebieten des Lebens. Nun zuerft gelangt beionders die
Macht der materiellen Zebensbedingungen zu deutlicher Anfchauung
und voller Anertennung. In ſolchen Leitungen wächſt aud) ber
Träger der Arbeit, die Menjchheit, und zwar die Menſchheit, wie
fie leibt und lebt, nicht wie fie in der Verklärung burd eine
Sedanfenwelt erſchien. Und da fie alle praftiihe und eihiſche
Beteiligung des Menſchen an ſich zieht, jo iſt es fein Wunder,
wenn fie zum Gegenjtand der Verehrung und des Glaubens wird.
So ift e8 ein Verlangen nah Wahrheit, ein Durjten nad) echter
Wirklichkeit, das hier alle Lebensbewegung trägt und treibt, wobei
alle älteren ibealiftijchen Lebensgeftaltungen für immer zu verjinfen
iheinen.
Aber die ganze Wirklichkeit des Menſchen könnte das
realiſtiſche Syſtem nur werden, wenn alle jelbjtändige Innerlichfeit
mehr und mehr vernichtet, und der Menich gänzlich in ein Merk:
jeug der Arbeit verwandelt wäre. Statt deſſen hat ber Fortgang
der Arbeit deutlich genug gezeigt, daß der Menſch nicht in die
bloße Arbeit aufgeht. Schon die Leidenihaften des Kampfes uns
Dajein zeigen deutlich genug, daß hinter ber Arbeit empfindende
und mollende Weſen voller Glücsdurjt jtehen. Außerdem ent:
mwidelt die Arbeit immer nur einen Teil der menſchlichen Kräfte
und zwar einen um jo fleineren, je mehr jie fi) differenziert.
Solcher Verziht auf den ganzen Menſchen muß dem Realismus
gleichgültig jein, denn ihm entipringt alles Leben ja erit aus ber
Berührung mit der Umgebung; ber wirkliche Menſch aber empfindet
ihn als einen ſchmerzlichen Verluft. Alſo ift in ihm mehr wirkſam,
als ihm der Nealismus zuerfannt.
Weiter richtet die Arbeit den Menſchen auf die Leiftung
und damit alles Sinnen nad) außen. Das Streben nad) Wirkung
und Anerkennung muß immer mehr den ganzen Menſchen abſor⸗
bieren und alles jelbitändige Seelenleben unterdrüden. Doch wir
empfinden bie tatjäd)lide Zurüddrängung des Imnenlebens als
peinliche Leere, die uns die Vefriedigung an der Arbeit raubt und
alle ihre Erfolge jeelijch in die Ferne rüdt. Überbliden wir dabei
das Dienjcenleben als Ganzes, fo entipricht jener fortichreitenden
Verwandlung des Dajeins in Arbeit ein Zurüdtreten eines geiftigen
Lebensinhaltes und einer gemeinfamen Geifteswelt. Damit aber
geht ein Stüd Leben verloren, und zwar dasjenige, das aller
übrigen Betätigung erſt den rechten Wert zu verleihen ſcheint,
das umentbehrlih iſt zu einem Zelbjtwerte, einer Seele alles
Lebens. Co erweit fi) nicht nur der einzelne Menſch, fonbern
aud die Menichheit mehr, denn ihre Arbeit.
Daß das alles nicht Erwägungen grüblerifcher Neilerion,
jondern vielmehr Ertebniffe, Erfahrungen ber Menchheit find,
zeigt fih in dem Auffommen und Umficgreifen einer tiefen Uns
17 Literariſche Rundſchau.
zufriedenheit, einer peſſimiſtiſchen Lebensſtimmung tro aller glän—
genden Triumphe ber Arbeit. Der Fehler in der Nedinung des
Realismus bejteht eben darin, daß er die Seele eliminieren wollte,
dieſe fi) aber nicht eliminieren läßt, die Verneinung felbjt hat
die Seele wieber ftarf hervorgetrieben. Daß aber das Verlangen
nad) voller Wirklichteit des Lebens eine ſolche Macht im Nealismus
erlangt hat, lag daran, daß die überfommenen ibealijtiihen Lebens
formen eine folhe Wirklichteit vermiflen ließen und feinen ficheren
Boden mehr im Geſamtweſen des Menſchen hatten. Es waren
ſolcher vornehmlich zwei: eine religiöſe, die zu uns vom Chriſten⸗
tum, und eine künſileriſche, die vom Griechentum her wirkt.
Die religiöe Lebensgeftaltung mit ihrer Erhebung von ber
Zeit zur Ewigfeit, von allem Außenleben zu einer reinen Innerlichkeit,
behauptet trog aller Verdunflung eine große Wirkung und bleibt
jelbft bei Direfter Ablehnung die unentbehrliche Vorausiegung der
modernen Kulturarbeit. Ihre unmittelbare Nähe und fichere
Überzeugungstraft aber hat jie für den mobernen Menſchen ver-
toren, jhon deshalb, weil zwiihen der überfommenen Geſtalt der
Neligion und der mobernen Gedanfenwelt eine tiefe Kluft ent-
ftanden üft; mehr aber noch deshalb, weil fie dem modernen Mens
ſchen nicht mehr in berfelben Weile aus eigenen Erfahrungen herz
vorgeht, wie dem Chriften der alten Zeit. Ihr entiprang die
Wendung zur Religion aus ftärfiter Empfindung menſchlicher Ohn-
macht und aus einer Erfahrung unüberwindlicher Schranfen und
Widerjprühe. Der Neuzeit hingegen iſt ein jugendlides Kraft—
gefühl, ein ſtarker Lebensirieb eigentümlich; ihr verwandelt fich
die Welt in eine unermehlihe Aufgabe, in deren Bearbeitung der
Wenſch felbjt wächſt. _Bielleiht mag aus der Kraftentfaltung
fetbft jchließlicdh eine Erfahrung der Ohnmacht hervorgehen, aber
einftweilen herrſcht das Vewußtſein der Stärke, und es fehlt zu:
gleich ein eigener, unmittelbarer Antrieb zur Religion. Damit
droht fie ihre zwingende Kraft und Wahrhaftigfeit zu verlieren.
Noch ftärfer ift die Gefahr eines Unmahrwerdens beim fünftle:
riſchen Jdealismus. Er fuchte die Welt nicht von einem überlegenen
Standort her, jondern durch ein in ihr gelegenes Wirfen zu voll-
enden. Die in der Berührung von Seele und Welt erfolgende
GSeftaltung jhien mit ihrer Formgebung alles zu harmoniſchem
Ebenmaß zu verbinden. In der Tat hat die künſtleriſche Lebens-
form mit jolder Leiftung das menſchliche Daſein gehoben und
ihre Unentbehrlichkeit zur geiftigen Durchbildung bes Lebens vollauf
erwiejen. Aber bedarf es nicht einer bejonderen Naturbegabung,
um hier den Echwerpuntt des Lebens finden zu fünnen? Muß
ferner nicht ein Menſch, ein Volk, eine Zeit eine Tiefe der Seele
befigen, um jie in jene GSejtaltung hineingulegen? Wer fie nicht
bejigt, dem ſinkt jenes fünjtleriihe Leben leicht zu einer Tändelei,
Literarifhe Rundſchau. 175
einen unwahren Sceinleben. Wird endlich bie Kunft den Ans
ſpruch behaupten fünnen, die ſchweren Verwicklungen und bie
unheimlichen Abgründe des menſchlichen Dajeins von fih aus zu
heben und im Licht und Freude zu verwandeln? Und wenn fie
es nicht kann, jo wird leicht die Neigung entjtehen, das Dajein
nad; Kräften ins Schöne zu malen, zu idealifieren. Das erwedt
den Widerjprud des Wahrheitsiinnes, deſſen Dolmetid ber
Realismus wird. Noch augenicheinliher ift fein Necht, gegen den
landläufigen Idealismus, der das Allgemeine der Richtung feit-
hält, ohne es irgend näher zu bejtimmen unb zu begründen. Er
begeiftert ſich für alles „Höhere“ und preijt das „Gute“, „Wahre“,
„Schöne“, ohne fid) über ihren Inhalt Rechenſchaft zu geben.
So iſt es verjtändlid, daß die überfommenen ibealijtiichen
Lebensformen dem neuerwachten Wahrheitsbrange nicht genügen.
Ob freilich der Nealismus ihn ebenio glücklich befriedigt, wie er
ihn euergiſch vertritt, das iſt eine andre Frage. Die Verfettung
des Tuns mit der fichtbaren Umgebung, in der bem Realismus die
Wirflichleit des Lebens bejteht, ergibt zwar Leijtungen, nicht
aber damit Erlebniffe, uud um folde kann es ſich doch nur hau—⸗
dein, wo Wirklichkeit für den Menſchen entftehen ſoll. Zum Er:
lebnis wird die Leiſtung erit, wenn fie auf eine Einheit zurück-
bezogen und von einem Ganzen des Seelenlebens umjpannt wird.
Ein foldes Ecelenleben aber fann der Realismus aus feinen
Mitteln unmöglid) aufbringen und doch bedarf er deijelben für
feine eigene Zebensgeftaltung aufs dringendfte ; denn erit unter der
Vorausjegung eines Subjefts ber Erfahrung, das zu den Dingen
in Beziehung tritt, läßt ſich dartun, daß die Weltumgebung für
den Menſchen weit mehr bedeutet, als der Durdjchnittsidealismus
zugeſtand. Dann aber wird tatjüchlid der Realismus von einer
Gedanfenwelt des Idealismus umjpannt. Auch in anderer Be:
ziehung zeigt ſich das; fo jehen wir z. B. bei Comte, dem größten
Philoſophen des Nealismus, daß er die Schäden der Zeit durdaus
im Sinne des dealismus empfindet und fie jo tief faßt, daß
ohne eine Möglichfeit durchgäugiger Erneuerung alle Gegenwirkung
verloren jdeint. Was er aber im Sinne des Realismus als
Heilmittel bringt ift höchft dürftig; von zufammenfaflenden Formeln
und Veränderungen in ber äußeren Organifation des Menfchen
wird jene Ummälzung erwartet. Der Widerfpruch zwiſchen der
Größe der Aufgabe und der Kleinheit der Mittel ijt dabei doch
ju handgreiflid).
Sollte nun eine derartige zwielpältige Welt die Bedürfniſſe
des Geiſteslebens jamt dem Verlangen nad) Wahrheit voll
befriedigen fönnen? Das läßt ſich nur erwarten von einem
neuen Idealismus, der den Wahrbeitsgehalt des Nealismus be-
jonders in zwei Punkten anerfennt. Einmal wird er im Gegeniug
176 Luerariſche Rundſchau.
zu den älteren Formen bes Idealiomus die nächſte Welt mit
ihren Verwicklungen nicht von ſich fehieben, fondern mit voller
Mannaftigfeit in den Kampf mit ber Unvernunft bes Dafeins
eintreten. Denn daß der Lebensprozeß ſich nie von ber Welt
zurüdziehen darf, das hat der Realismus mit Recht zur Aner-
tennung gebracht.
Diejes mutigere Eintreten in ben Weltfampf ift aber ohne
eine durchgehende Kräftigung nad innen nicht möglid. Die
vollere Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens, bie der Realismus
mit Recht fordert, kann nicht von draußen zufallen, jondern ver
langt vor allem eine Weiterbewegung im Innern. Die Geiftigfeit
barf nicht einen bloßen Zuwachs, eine Bereicherung eines vor-
handenen Seins bilden, fondern das Sein felbft muß in volles
Leben verwandelt werden. Das aber fann nur geſchehen, wenn
unter Abhebung von aller bejonderen Tätigkeit eine allumfaljende,
in ſich ſelbſt ruhende Tätigfeit entfteht und eine eigene Wirt
feit entwidelt. Ohne eine joldhe Vertiefung der Tätigkeit bis zum
legten Grunde wird immer eine jlarfe Kluft zwilden einem
dunfeln Sein und einer abgelöften Tätigfeit bleiben, die das
Leben unwahr macht, indem fie das Eingehen des ganzen Wejens
in das Wirfen verhindert. Zum Aufbau einer neuen Welt gegen:
über der ſichtbaren fann alte geiftige Tätigkeit nie gelangen, wenn
fie nicht mehr bedeutet, als eine Gigenichaft, ein Streben des
bloßen Denfchen. Denn dann könnte fie ſich der Abhängigkeit
und der Widerſprüche der menſchlichen Lage nie entwinden.
Ohne eine dem bloßen Menden überlegene (Seifteswelt
fehlt daher dem Idealismus aller Halt. Ein Mufbau einer Welt
von innen ber ilt nicht möglich ohne eine Teilnahme an einer
übermenfhlihen Ordnung der Dinge, einer neuen Stufe der
Wirklichfeit. Damit erjt wird bie Forderung Platos erfüllt, daß
die Größen und Güter der neuen Welt unabhängig von allem
Mögen und Meinen ber Menſchen gelten, ba nicht fie ihre Wahre
heit vom Menſchen erhalten, fondern daß ſich die Wahrheit feines
Lebens nad der Teilnahme an ihnen bemißt. Mit der Preis:
gebung biefer Überzeugung mußte jelbit das Streben nad) Wahrheit
jufammenbrechen.
J Auch der Begriff des Guten iſt undenkbar ohne eine
Überlegenheit gegen alle menfchlihen Zuftände. Damit tritt zu
gleich der Hauptgegenfag deutlicher hervor, der durch alles menic-
lide Handeln geht und keinerlei Abſchwächung duldet. Entweder
findet Die geiltige Entwidlung nur der menſchlichen Wohljahrt
halber jtatt, oder das menſchliche Leben gewinnt nur einen vechten
Sinn, wenn es der Verwirklichung einer in ſich jelbji gegründeten
Geiſteswelt dient, entipredend der Überzeugung Kants: „Wenn
die Gerechtigfeit untergeht, jo hat es feinen Wert mehr, daß
Literariſche Rundſchau. 17
Menſchen auf Erden leben“. Jene Denkweiſe richtet alles Streben
nad) außen, macht es abhängig und unficher; bei dieſer allein
fann innere Freiheit und Seitigfeit beitehen. Bei folder Gegen-
wart einer neuen Welt im Menſchen bildet fih ein weiter Abftand
zwiſchen feinem unmittelbaren Befinden und den geiftigen Möglich»
feiten feines Weſens, den zu verhüllen nicht im mindeiten zur
Aufgabe werden kann, wo das Geiſiesleben die Anerkennung jeiner
Selbftändigfeit gegenüber dem bloßen Menden gefunden hat.
Solange jenes allein auf den Menfchen geftellt jchien, lag bie
Terfuhung nahe, biejen in möglichſt günitigem Lichte erjcheinen zu
laſſen, ihn fünftlich zu heben. um die „Ideale“ zu reiten.
Gegenüber einem folchen unmahren Idealismus hat der
Realismus mit der unverblümten Hervorfehrung aller Schwäche des
Menſchen und der Unvernunft der menſchlichen Lage volllommen recht.
Nur dann gerät ex ins Unrecht, wenn er das zur Leugnung alles
echten Geifteslebens wendet. So geſchieht es heute beſonders oft
bei der Erklärung geſchichtlicher Vorgänge. Dan zeigt, wie wenig
auch große Ummälzungen, felbft religiöje Schöpfungen, wie das
Chriftentum und bie Reformation aus rein geiftigen Beweg⸗
gründen hervorgegangen, wie allezeit kleinmenſchliche Intereſſen,
ſelbſtiſches Glücverlangen bei der Menſchheit ausichlaggebend
waren. Dieje realiftiiche Seite der Bewegung ift durchaus anzu—
erfennen, aber gerade dadurch ericheint die in jenen Schöpfungen
wirkſame geiftige Macht nur noch größer. Die Menden wollten
jene nit, und doch mußten fie ſchließlich ihnen Huldigen. Sie
wollten ihren eigenen Vorteil, aber warum mußten fie fid immer
den Schein geben, jenes Große feiner felbft wegen zu wollen? Je
Heiner in bem allen der bloße Menſch fich zeint, deito größer er:
ſcheint die Dadht bes Geiltes, die trop aller Widerilände der
Geſchichte einen geiftigen Inhalt und ben einzelnen Epochen einen
unterjcheibenden Charakter verleiht.
So gewährt die Anerfennung eines jelbftändigen Geiftes-
lebens dem Idealismus eine Vefeftigung gegen den Realismus.
Es handelt fih bei ihm um ben Aufbau einer neuen, allein
echten Wirklicleit; infofern muß er jubftantieller Idea
lismus fein. Diefer Aufbau erfolgt zwar im Bereich) des menid-
lichen Dafeins unter bejonderen Bedingungen und Erfahrungen,
nur muß das Befondere der einzelnen Erfahrungen in ein Ganzes
der Erfahrung eingetragen und von da aus berichligt werden.
Anfofern muß der Idealismus univerfaler Art jein. So
gewiß endlich das Geiltesieben als tieffter Kern unferes eigenen
Wefens in unjerm Sein angelegt fein muß, zu vollem Befig ge—
langt es erſt durch die Aufnahme in unjer Wollen. Dazu bedarf
es einer unabläjfigen Tat. Infofern muß der Jdealismus einen
ethiſchen Charakter tragen,
178 Lutrariſche Rundſchau.
Natürlich können ſolche Begriffe und Erörterungen nie ein
lebendiges Sein erzeugen ober auch nur entwerfen. Nur durch
neue Gntfaltungen, bie den Tatbeitand erhöhen, find Stodungen
des Yebens, wie wir fie heute erfahren, zu überwinden. Crit bann
wird, für den Menfchen ſchwerlich ohne ſchmerzliche Erfchütterungen,
wieber ein lebendiger und fonfreter Idealismus erftehen, den mir
heute nur fajtend fuchen.
El. v. Hente.
>
ID
Hans Stutz, Bismards Bildung, ihre Quellen und ihre Kuferungen,
Berlin, 6. Reimer. 1904. M. 3.
„Bismard3 Bildung” — ein vielverheißender und verlodender Titel, denn
wenn ung auch Bismard vor allem als Mann der Zat, als virtuofer Beherriher
tealer Mächte berwundernsiwert it, der Zauber der genialen Perfönlispfeit drängt
und boch immer wieder die Frage nad, der Gcdanienwell auf, der dieſe Taten
entfprungen find.
Den Beitrag, den Prug in feinem Bude zur Löſung dieſer Frage gibt,
begeichmet er jelbit als einen Verſuch: „ES iſt cin Berfuch und will und fan
zur Zeit nicht mehr fein, als ein folder. Denn noch liegt für die Beantwortung
der damit geitelften Frage das nötige Material nicht entfernt vollitändig vor, das
aber, mas vorliegt, it in feinen einzelnen Bejtandteilen fehr ungleichmertig.”
Diefe Gründe U zu wenig oder zu viel. Dah ein Hiftorifer,
ich ci te Aufgabe geitellt hat, mit ungleichwertigem
Material arbeiten muß, iſt nur ſelbſtverſtändlich; und ebenfo wird ja auch jeder
Hitorifer, der ſich mit jüngft verfloffenen Zeiten beſchäftigt. mit der Wahrſchei
Tichteit reden müffen, daß jein Material weiterhin noch vervolitändigt wird.
Aber die Schwierigteiten, mit denen Prug es zu tum hat, fünnen doch weder
in der Dürftigfeit nod) in dem geringen Wert der Quellen Liegen. Über welche
geichiehtiche Perfönticpteit haben wir denn ein reicheres und cin wertvollere
Queltenmaterinl, als das in Bismards Reden und Vriefen, in den Gedanten
und Erinnerungen” und der Waffe von Berichten ihm Napeitehender enthaltene?
Wenn mir auch auf viele und wichtige Ergänzungen hoffen dürfen, daran fan
man do nicht zweifeln, da; an feinem Charafterbilde, wie es jet vor ung
fteht, im weſentlichen ſich dadurch nichts verändern wird. Aber anderſeits kann
gern zugeſtanden werden, daß die inneren Schwierigteiten einer ſolchen Aufgabe
bedeitende find, die nicht bloj; die Sammlung eines umfafjenden, weit zerjtreuten
Materials erforoert, ſondern vor allem aud) eine fongeniale Fähigkeit des Rach -
empfindens, und wir fönmen es daher niemand verargen, wenn er ſich hier mit
einem blofen Werfut begnügen will. Sehen wir alfo zu, was hier im Nahmen
einer ſoichen Stiyge geboten wird, welches Jiel der Verfaffer fid geftett und
wie weit er es erreicht dat.
Siterarifge Rundſchau. 17
Das Wort „Bildung“ faht Prut in dem lanbläufigen Sinne als einen
„tifernen Befland“ von Aenntniffen und Anfchauungen, der in den Lehriahren
in Haus und Schule, auf der Univerfität und in der Verſuchszen der Berufßr
tätigteit erworben wird und der dann in den Jahren ber Heife einen in der
Hauptfach abgefchloffenen Veſih bildet. Die Bildung Bismards fol num in
ihrem Umfang und ihrer Eigenart „durd) die Zufammenftellung ber von Pismard
gebrauchten Zitate, Bilder und Anfpielungen” dyuralterifiert werden. Mir fehen
alfo, dab der Vegriff der Bildung ſowohl als der Umkreis beffen, was der Zitel
ihre Hußerungen“ nennt, von vornherein eiwas eng genommen ift. In ber
Hauptjagye Tiefert uns Prug denn auch) cinen Zitatenjhng aus Pismard, nad
Tuellen geordnet, zum Teil im Anfchluh an Büchmanns „Geflügelte Worte”
und Hofimanns von Fallersicben „Unire volfstümlichen Licder." Mo ihn diele
Gewährämänner im Stich laffen, tut er unfichere Tritte, und gelegentlich zitiert
er auch fic ungenau, fo wenn er 3. 2. (S. 56) als Dichter des Liedes „Morgen,
morgen, nur nicht heute“ Cheiftian Weite anftatt Cprütion Felir Weihe nennt,
wie der Siteraturfundige weiß, zwei wohl zu unterfcpeibende Perfonen. Dänfiger
find die Irrtümer, die Prug auf eigene dand begeht. Unter den Vergleichen,
die Bismard dem Sagenfreife der Pcrafles entiehnt Habe, zählt er auch den
Ausdrud „Profruftesbeit“ auf (S. 70 f.). Eine Anfpielung auf die „Haben
vom Ayfihäufer" fühe Prug (S. 114 f) auf das „Ihlanbiche” Gedicht „von
dem im Kyffhäuſer ſchlafenden Kaiſer Friedrich” zurüd; gemeint iſt natürlich
das Rüderiche „Der alte Barbarofiu". Die Worte: „Gefährlich it es deshalb,
den Schanfwirt zu reizen" bejeichne Pruy (S als die Parodie einer
Stelle aus dem „Handichuh”! Cine gelegentliche Yuherung Vismards „Le roi
samuse“ nennt Prub (S. 173) cine Anfpichung auf das befannte Serideſche
Drama; ftatt „Scribe" Lics „Victor Qugo”! Wand) andere Zumeilungen von
itaten find mindeitens zweifelhaft. Der Ausdrud „materin peccans“, der ais
technifcher philoſophiſcher Ausdrud angeführt wird (S. 23), gehört heute doch
wohl dem mediziniichen Sprachgebrand) an; „protium affectionis*, Das unter
den „Wendungen, die feinem befonderen Wiffensgebiet eigentümlic, zugchören“,
genannt wird (&. 86), hätte feine Stelle unter den technifchen juriftilchen Aus«
drüden erhalten follen..
Die Zufammenftellungen der Zitate werden durch Betrachtungen des
Autors über den Bildungsgang und Umfang und Miehtung der Bildung
Vismords verbunden, Vetramtungen, die ſich im allgemeinen auf der Gedanken,
höhe der Feuilletons bewegen, die Adolf Kohut und Genoffen zu 1Djährigen
Geburts: und Todeöiagen ufio. unjern Zageblättern Kiefern. Durch zweierlei
indeffen unterfcheiden fie fich von jenen Feuilleton, und nicht zu ihrem Lorteil.
Dos it zunächit cine oft zutage treiende Philiftrofiät, die gelegentlich
ger an den Ton von Viedermehers großer Literaturballade ftreift. So zitiert
Prug (S. 100) einen Brief vom 6. Juni 1850, in dem Vismard von feinen
Khalif Omarjdien Gelüften zur Zerftörung der Bücher außer dem chriftlichen
„Koran“ ſprich und die Bucdruderkunft „des Antichriits angerlefenes Rüitzeug”
nennt, und fügt ängitlid begütigend hinzu: „Wie jo mande ihm damals ent»
fahrene Äußerung darf man auch diefe, zumal fie Halb ſcherzend gelan iſt, nicht
zu ernft nehmen.” Wen glaubt Prut belehren zu müffen, da; man cine „halb
icherzenb“ geiane Huberung „nicht ernft” nehmen mühe, und mer mödte ſich
foldhe Arafılprüde, die Vismard „mit der ipm eigenen überftürzten Cfienherzig:
feir" (Prug) ausaeiprochen, gern verwäfern Iafien! Ein andermal zeigt ſich
Prug um Bismards fitlihe Aeputotion beforgt. Er fügt: „Don modernen
180 oiterariſche Rundſchau.
franzofiſchen Dichtern ſcheint ihm Beranger beſonders zugeſagt zu haben“, Aufert
aber jegleich guch die Vermutung oder hoffnung, daß er „an eingelnen feiner
Lieder Anftoh” genommen habe (S. 172). Mas gehen uns denn bier, bei den
Höchft harmloſen Berangerzitaten Bismards, feine „loderen Lieder" an?
Das zweite Unterfceidungszeichen der Pruhſchen Proſa bildet der Stil.
I bin weit davon entfernt, die Sprache der Jonrnaliftif mit ihrer oft Tieberlichen
und oft affeftierten Nachahmung der bequemen Umgangsſprache als Mufter aufzur
Helfen, aber immerhin hat fie den Vorzug, dafs fie für Auge und Ohr leicht vers
ftänotich ift. Ein fo papiergeborner Stit dagegen, wie ihn Pruß fdhreibt, if
lüclicherweife auch in der wiffenichaftlicgen Literatur jelten geworden. Süße von
der Länge und dem verzwidten anatomifwhen Bau eines Ichthyoſaurus fommen
bei ihm Häufig vor; das Auge vermag ja wohl vor und zurücgreifenb die
Sapglieder zufammenzulefen, am Ohr würden fic unverftanden vorüberraufhen.
Dur) ein tiefercs Eindringen in bie Sache zeichnet ſich das lehie Rapilel
„Bismarts hiſtoriſche Anfhauungen” aus, in dem Brut fich auf dem Boden
feines Spezialfaches bervegt. Nicht ganz überzeugend aber iſt bier das, mas
über die Gfeichgültigfeit Vismards gegen die alte Gedichte gelagt it. Prut
meint, daß Bismard der römiſchen Geſchichle nur „kiſtoriſche Anekdoten” ent»
mommen habe; doch ſchon feine eigenen Anfünrungen ftimmen nicht ganz zu
biefer Behauptung, vor allem aber in auffaltenderweife unerwähnt geblicben, dab
Bismard mehrfach, ſich in Parlamentsreden auf Mommiens römifdhe Gefchichte
berufen hat. Mommfen zitiert er als Aronzeugen gegen die Freihandelspnlitit
feiner freifinnigen Parteigenoffen, jo am 8. Jan. IN85, wo er von der Schilnc«
rung fprict, die cin Mommfen nach 2000 Jahren vom Niedergang der dem ſhen
Sandwirtfchaft machen würde, und am 14. Febr. 1585, mo cr ich für die Bes
Hauptung, daß die Latifundienbildung durch den Ruin der Landwiriſchaft, duch
zu mohlfeite Preife begünftigt werde, auf Mommfen beruft.
R. Girgenfohn
die Minimal» und Marimal» Beitimmungen über den
bänerlihen Grundbeit in Livland.
Von
Alegander Tobien
——
nier allen Produktionsmitleln, die dem Menſchen zur
Betätigung feiner Arbeitskraft verliehen find, iſt ber
or Boden ber widhtigfte. Weil der Boden ein Probuftions-
faktor monopoliftiiher Art, d. h. nur in beſchränktem Maße vers
fügbar ift, geftaltet fi das Problem feiner Verteilung um fo
ſchwieriger, je mehr bie Zahl derer wächſt, die auf die Nukanıven-
dung dieſes wichtigften Probuftionsmittels angewieſen find, oder
aber Anſpruch erheben. In Zeiten forticreitender Entwicklung
eines Volles gewinnt das Agrarrecht, das die Bodenverteilung
regelt, immer höhere Bedeutung, zumal die politiihe Verfaſſung
ber Staaten im wejentlihen auf ihrer Agrarverfaſſung beruht.
Je ſchärfer die Wecjielbeziehungen zutage treten, bie zwiſchen dem
Agrarreht und allen übrigen, die Volkswohlfahrt bebingenden
bürgerlichen Rechtsverhältnifien beftehen, um fo gefährlicher find
Eingriffe der Gejeggebung in hiſtoriſch ausgebildete Befigver-
hältnifje *.
Seitdem die franzöſiſche Nationalverfammlung in der Nacht-
figung vom 4. Auguft 1789 den Grundſatz des unbefchränften
Grundeigentums proflamiert und die Napoleoniiche Gejeggebung
dieſes Prinzip weit über die damaligen Grenzen Frankreichs zur
2) Gin Zeil digſes Auffapes wurde vom Berfaffer der Kaiferlichen Livl.
Gemeinnüpigen und Ofonomildien Sogielät in ihrer öffentlicen Siyung vom
21. Januar (5. Febr.) 1905 vorgeiragen.
®) Dr. 9. Seite, „Die Verteilung des Grundeigentums im Zufammen,
Hang mit der Gefchicjte der Gefepgebung und den Volfgzujtänden.” Berlin 1858,
Si»
Baltifce Monatajchrift 1005, Heft 3. 1
182 Minimum und Marimum beim Bauergrundbeſit.
Geltung gebracht Hatte, ift die Frage: ob unb miemeit bie Der:
äußerlichfeit und Teilbarfeit bes Grundeigentums zu beſchränken
ober aber zu förbern feien, eine ber michtigiten jozialpolitiichen
Probleme geblieben!, Am lebhafteften wurde hierüber um bie
Mitte des 19. Jahrhunderts geitritten®, und als Ergebnis ber
vielen Erörterungen fann nad Roſcher die Anficht als bie damals
vorherrſchende betrachtet werben, daß eine Miſchung von großen,
mittleren und Meinen Gütern, wobei bie mittleren überwiegen,
das national und wirtfchaftlich Heilfamfte Verhältnis fei?. Dieſe
Größenbegriffe find freilich Teineswegs feftfichende, benn zweifellos
vermag bie geometrijche Flädhenausdehnung an ſich fein Ariterium
für die Einteilung der Güter nad Größenklaſſen abzugeben.
Im allgemeinen barf jebod; gefagt werden, daf als große
Güter ſolche zu gelten haben, deren MWirtichafter fchon mit ber
bloßen Direflion bes Betriebes vollauf beichäftigt ift, während als
Güter mittlerer Größe diejenigen bezeichnet werben können, bei
denen ber Befiger nicht ausſchließlich durch Die Leitung des Be
triebes in Anfpruc) genonmen wird, fondern an ben auszuführen:
ben Arbeiten fih unmittelbar ſelbſt beteiligt. Von Heinen Gütern
dagegen ſpricht man gewöhnlic dann, wenn fie der Negel nad)
ausfchließlih von dem Wirt felber und befien Angehörigen bear
beitet werben und gerabe hinreichen, um dem Cigentümer einen
ausfömmlihen Unterhalt zu ſichern. An biefe reiht fih ber Par—
gellenbefig, auf denen landwirtſchaftliche Tagelöhner, Kleinhand-
werfer zc. zu figen pflegen, deren Unterhalt durch den Ertrag bes
Grundftüdes nicht fihergeftellt ift.
Je nach Klima, Bodenbeſchaffenheit und Lage find natürlich
die als große, mittlere und feine Güter geltenden Grundftüde
ganz verfchiebenen Umfanges, und bie Mafregeln, die in einzelnen
Staaten im Sinne einer zwedmäfigen Yobenverteilung getroffen
murben, bifferieren baher erheblich in ihren Größenbeſtimmungen.
Zwar find in den meiften Staaten Europas alle Teilbarfeits-
befepränfungen befeitigt, feitbem die franzöfifche Nevolution das
Prinzip ber Freiheit bes Grumbeigentums zur Herrſchaft bradjte,
allein vereinzelt gibt es doch noch Vorſchriften aus älterer Zeit,
bie gegen bie Dobilifierungsfreiheit gerichtet find. Zu biefen
1) Bruno Hildebrand, „Die foziale Frage der Verteilung des Grund»
Eigentums im klaſſiſchen —— Jahrbücher für Nationalöf. und Statiſtik.
18. She, 1869. 1. .
Roſcher, „Nationalöfonomif des 1derbauch.” 13. Aufl, bearbeitet
von Heinrich Dade. Stuttgart 1903, Dr. Karl KON „Die Parı
gelenwirtfchaften im Königreich Sadhfen." Tübingen 1903, ©.
”) Rofher-Dade a. a. D. ©. 28.
Winlimum und Maximum Beim Bauergrundbefit. 183
gehören bie Beftimmungen, welche die Verkleinerung ber einzelnen
Grundftücparzelen unter ein gewiſſes Maß verbieten, nicht etwa
um eine Befiggerfplitterung zu verhüten, fondern um zu verhindern,
daß die landwirtfchaftlid genugten Parzellen unter eine Nrealgröße
finfen, bie eine rationelle Beftellung erichweren !.
Sole Voririften über Barzellenminima haben ihren
Wert dort, wo Streubefig vorherriht, d. h. wo nicht geſchloſ⸗—
ſene Höfe die Negel bilden, fondern wo die ein Befiptum
bildenden Grundſtücke zerftreut und im Gemenge mit Parzellen
liegen, bie verſchiedenen Eigentümern gehören.
Don weit größerem Intereffe für uns find diejenigen weſt⸗
europäifchen Vorjchriften, die darauf abzielen, durch Beſtimmung
eines Befipminimums mittlere Güter, in der Hauptſache
Bauergüter, vor einer unwirtſchaftlichen Zerftüdelung zu bewahren.
Beſtimmungen biefer Art find am fhärfften in Baden ausge
bildet, wo gegen 5000 Bauerhöfe des Schwarzwaldes im J. 1888
ſchlechtweg als geſchloſſen erflärt worden find. Der Hof darf nur
in jeinem ungeteilten Beflande von einem Inhaber auf den andern
übergehen, und Abtrennungen von Parzellen find nur in befon-
deren, vom Gefeg vorgefehenen Fällen geftattet ?,
Im Königreih Sachſen, in Sadjen- Altenburg, Schaumburg.
Lippe unb Lippe-Detmold, in Neuß ä. £., Echwarzburg-Sonbers-
haufen und in Medlenburg finden ſich Verordnungen, bie das
Zerftüceln von Landgütern unter ein gewiijes Minbeftmaß vers
bieten *.
Unter all biejen, die freie Teilbarfeit einfchränfenden Ber
ſtimmungen ift für uns von bejonderem Intereſſe das für das
Königreih Sachſen erlaſſene Gejeg vom 6. November 1843.
Ebenſo wie bei uns bilden dort Nittergüter, d. h. mit befonberen
Vorrechten ausgeftattete Landgüter, und geichlofiene Bauergüter
das Fundament ber politiihen Verfaſſung. Trogdem in Sachſen
?) Dr. 4. v. Miastowstn, „Das Erbredt und bie Grundeigenluma.
verhiäftniffe im Deutfchen Heid.“ 1. Abt., Leipzig 1882, &. 115 (Band IX
der Schriften des Vereins für Sogialpaliit).
>) Abolf Bucenberger, „Agrorweien und Agrarpolitif”, 1. Band,
Leipzig 1882, ©. 154; Miastowsli a. a. D. IL, ©. 186, 387; BYucen«
berger, „Das Bermallungsredt der Landwirtichaft und die Mlege der Land
wirtigaft fm Grobberjogtum Baden", S. 006 fi. 1887. Georg Roc, „Die
gefeplich geichloffenen Yofgüter des badiichen Schwarzwaldes.“ 4. Band 1. Yeit
der Voltömietich. Abhandlungen Badilcer Hochfculen. Tübingen 1900,
>) Bucenberger a. a. D. ©. 155; Dr. Karl Namroth, „Die Bir
fhräntungen der Parzellierungsfreibeit in Sacıjen, Sadfen-Altenburg und Mürt«
—*** Jahrbücher für Rationalöfon. und Statilit, 3. Folge, 8. Bd., 1894,
©. 72
1
184 Winimum und Magimum beim Bauergrunbbefig.
Inbuftrie und Handel vorherrſchen und ber Aderbau nad) der Zahl
ber Perfonen, denen er Beſchäftigung gewährt, weit in ben Hinter
geund fritt !, fo it man doch befliien, den Bauerſiand vor Zer—
brödelung zu bewahren und bie Rittergüler, „den Herd ber Kultur
für das platte Land“ °, in ihrem Beſtande und in ihren Vor—
rechten? zu fchügen.
Wie in Livland, nahm aud in Sachſen zu Beginn der 40er
Jahre des 19. Jahrhunderts eine Periode agrariicher Neformen
ihren Anfang, die bort jedoch, im Gegenfag zu Livland, eine
durchgreifende Negulierung ber Grumdfteuerverhältniffe zur unmits
telbaren Folge hatte. Als die Reform ber Grundfteuer Sachſens
vor 60 Jahren ins Auge gefaßt worben war, mußte ſich die
ſächſiſche Regierung mit der Frage befchäftigen, ob die bisher in
Geltung gewefenen Verbote zu weitgehender Teilung der Landgüter
aufrecht zu erhalten feien oder nicht“. Der fähliihe Landtag
entſchied ſich für die Aufrechterhaltung, jebod zeitgemäße Ausge-
ftaltung der alten Teilungsverbote, nicht etwa weil vorhandene
ſchlechte Zuftände zu bejeitigen waren, fonbern weil für die Zukunft
einer gefunden Grumbbefigverteilung die Wege geebnet werben
follten. Das in diefem Sinne ausgearbeitete, am 30. November
1843 erlafjene Gefeg unlerſcheidet „Nittergüter” und „übrige
Grundftüde”. Von einem Rittergut darf auf einmal oder nad)
und nad nur foviel abgetrennt werben, daß */s des Steuerwertes,
nad Ausichluß des Wertes der Gebäude, beim Stammgut ver—
bleiben. Diefer Beſchränkung find auch die „übrigen Grundftüde”
unterworfen, foweit fie als geſchloſſene gelten, benn neben ben
geichlofienen gibt es fog. „walzende” Grunbftüde, die dem Geſetz
vom I. 1843 nicht unterliegen. Für die Nittergüter find feinerfei
Ausnahmen von dieſer Hegel zugelaſſen, während für bie „übrigen
Grundſtücke“, d. h. den Kleingrundbefig, dann weitergehende Tei-
lungen eingeräumt werden bürfen, wenn es gilt zum Zwecke bes
Betriebes einer Handelsgärtnerei, zur Erbauung neuer Wohnungen,
zur Anlage von Yabrifen fleinere Parzellen abzuzweigen. Über
die Zuläffigfeit der Ausnahmen haben die Verwallungsbehörben
zu entideiden.
In Livland ift der land» und forftwirtihaftlih genupte
Boden dem freien Verkehr in einem Maße entzogen, wie abgefehen
von unfrer Nachbarprovinz Ejtland und der Inſel Defel in feinem
Lande der Welt,
9 28.35. — °) Mamroth a. a. O. ©. 76.
3) Dr. ofmann, „Die Nittergüiter des Königsreichs Sachſen.“
Dresden-Blafewig 1901. — *) Wamroth a. a. D. ©. 74 ff.
Minimum und arimum beim Bauergrundbefit. 185
Der beliebigen Veräußerung des Hofslandes fteht die pro-
vinzialrechtlich beſtimmte Minimalgröße der Nittergüter entgegen!,
und wenn dieſe auch für unſre Verhältniſſe niebrig, d. h. auf nur
900 Lofftellen — 335,14 Hektar Gefamtareal bemeſſen iit?, jo gibt
es doch unter den 701 Nittergütern 53, die das zulälfige Mindeft-
maß bereits erreicht und daher als geichloifene Güter zu gelten
haben. Rechtlich gebunden, d. h. unverfäuflic, find ferner bie
Hofs- und Quotenländereien der Nitterjchaftsgüter, ber Fideifom:
miffe und aller Paitoratsländereien ®,
Vor einem Jahrzehnt durfte über die Quotenländereien ber:
jenigen privaten Nittergüter, die nicht fideilommiſſariſch gebunden
find, frei verfügt werden. Das proviſoriſche Duotengefeg vom
18. Februar 1893 beichranft jedoch bie freie Verfügung aud)
über dieſe Ländereien, indem es ben Verfauf von Stüden der
Quote nur dann erlaubt, wenn die zu veräußernde Parzelle die
Größe von 10 Talern nicht überlteigt und der Käufer weder
Eigentümer nod) Pächter eines Banerlandgeiindes ijt*.
Die ftrengen Schugmittel, die das große Gebiet des Bauer-
landes bem freien Verkehr entrüden, verbieten dem Gutsherrn
das Bauerland anders zu nutzen, als durch Verpachtung oder
2) et. 602 des Provingialrechts III. Teil.
2) In Gftland muß jedes Sittergut mindeftens 150 Deffätinen Hofes:
Aderland nebit den entipregenden Wiefen und Weiden umjafien; auf der Jujel
Sefel_ ift das Windeftmaß eines Nittergutes auf 120 Lofitellen Ader i
Hofsfeldern feitgelegt, wozu noch 4 Dejeliche Hafen Bauerlandes gehören mi
in Nurland dürfen Kittergüter nur foweit geteilt werden, daf in jedem alle
das dem Yauptgut verbleibende Stammland für eine Wusjaat von mindejtens
30 Tigetwert = 629g Pektoliter Hoggen hinreihe; Art. 601, 603 und 616
des Provinzialrechts ILL. Teil.
5) Die Bauerländereien der Nitterfgaftsgüter durften bis zum Erlab des
Alerhöciten Befehls vom 3. März 1886, der den Verfauf vorläufig inbibierte,
verfauft werden (gl. W. v. ieferipfy, „Die Yivl. Bauerverordnung”, I. Hälfte,
Petersburg 19W, ©. 18, und E. v. Bodisco, „Die Eitl. Bauerverorduung",
Neal 1904, S. 60, Anmert. Die Yauerländereien der Zibeifommißgüter
dürfen verfauft werden, wenn die Alerhöchite Erlaubnis hierzu erlangt it (Art.
887 des Provinzialrehts ILL. vgl. Vodisco a. a. D. ©. WW; ferner:
Patent der Liol. Gouvernementsreg. Ar. 103 vom J. 1806 und Nr. 3 vom J
1870 u. a.). Die Bauerländereien der Paftorate jind zur Zeit unverfäuflich
(Gefeg für die evang.chutheriiche Kirche in Auhland, Sammlung der Neichsgelepe
Band XI Zeil I, Ausg. v. 1896, rt. 715 und rt. 857 des Yrovinzialredts
III. Zeit), doc Hat der fivl. Sandtag vom J. 1899 ihren Verkauf beichlofien,
injofge weijen ein Entwurf von Negeln für den Werfauf diefer Ländereien am
15. Sehr. 1900 dem livl. Gouverneur zur Exwirtung ftaatlicher Genehmigung
Übergeben wurde; DIS hierzu ift die Erlaubnis zum Verkauf mod) nicht erteilt
worden. (fie des Yiol. Kantratollg. Yr. 27/3.)
% Kieferigty a..a. 0. ©. iv Ejtlaud und die Inſel Oeſel find
ägnlice Bejtimmungen erfafien. die is Werfügungsredit über die Quote, dort
„Secitel” genannt, wejentlich beicränten; vgl. Vodisco a. a. D. ©. 14.
186 Minimum und Maximum beim Bauergrundbefig.
Verkauf, wobei das Vertragsobjeft nicht unter eine Mindeſtgröße
geteilt werben darf (Minimumgefeg) und Pächter wie Käufer
Glieder einer Landgemeinde fein müſſen“. Der bäuerliche
Eigentümer hingegen ift weit weniger behindert, denn er darf fein
Grundſtück jelbft bewirtihafien, natürlich auch verpachten und vers
taufen, und ift beim Verkauf, nicht aber bei ber Verpachtung an
das Teilungsverbot des Minimumgeſetzes gebunden *.
An dieſen Einfhränfungen des freien Verfehrs findet bas
geltende Geſetz noch fein Genüge, denn es jegt bem bäuerlichen
Grundeigentum auch eine obere Grenze, indem es vorjchreibt , daß
niemand innerhalb eines Gemeinbebezivfes mehr als einen Hafen
Bauerlandes zu eigen haben dürfe. Alle diefe rechtlichen Qualifis
tationen, Beichränfungen und Verbote entziehen fait */s bes Bejtandes
der livländijchen Nittergüter und Paftorate dem freien Verfehr s.
In Livland gibt es 701 Nittergüter, von denen 7 ber liv—
livländiſchen Nitterichaft, 18 livländijhen Städten gehören und
79 fibeifommilfariich gebunden find. Sonach haben wir 104
techtlich gebundene Nittergüter, zu denen noch 100 Paſtoratswidmen
zu zählen find, und 597 ungebunbene Rittergüter. Alle Ritter-
güter und Paftorate umfaſſen 9,399,312 Lofitellen — 3,492,786
Hektar Gefamtareal. Hiervon find, dank den vieljahen Rechts-
befchränfungen, denen einerfeits die 25 Güter der Korporationen
und die 79 Fibeifommißgüter, anderjeits bie 3 rechtlich geidhiedenen
Bodenfategor Hofsland, Quote und Bauerland aller Ritter
güter und Paitorate unterliegen :
unverfäuflich: 1
. zur Zeit od) unverfäuflich:
. bedingt verfäuflich:
. frei verfäuflich:
Gal. die Beilage.)
zwwr
) Col, Bauerverorbnung vom 13, November 1800, $ 3 und 101.
BU - NUUS —X
4333 fiehe weiter unten.
*) Wir behandeln Gier mur die rechtlichen Ver!
Äfeihterdings nicht befhaffen. Diele Tatiache findet wohl darin ihre Erklärung,
dab die Mgrarordmung auf den Tomänengütern nicht Durd die für die Ritter:
gi {tenden Gefede, ſondern durch zahlreide Speyialverordnungen geregelt üt,
Die einen häufigen Wechſet in der Kubungsweile der domanialen Yündereien
zumege gebracht Haben. — Die tedht verworrenen Geſche und Verordnungen über
die Agrarordnung auf den Tominengüteru findet man, feider in wenig übere
fühtlicher Doritelung, bei Kielerigfg, „Die Sivländilche Veuerverordnung” x.
3. NXRTIE fi. (Nahträge) und ©. 2 fi.
Minimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 187
Wenngleid) das Gefüge der rechtlichen Hemmniſſe, bie ben
Bodenverfehr einengen, tief in das Wirticaftsieben Livlands
eingreift und einen bureaufratiichen Sontrollapparat notwendig
macht, deſſen Injtanzenzug kennen zu lernen allein ſchon ſchwierig
genug iſt, wird wohl kaum jemand in Livfand für die Beſeitigung
aller dieſer Schranten eintreten wollen.
Das Mindeftmah der Nittergüter iſt notwendige Voraus—
fegung der ſtaats- und privatrechtlihen Vorrechte, die den Ritter:
gütern eigen find. Zu den Vorzügen ftaatsrechtlicher Natur gehört
das Recht der Landſtandſchaft, d. h. die Lanbtagsfähigkeit, während
das ausſchließliche Recht des Branntweinbrandes und der Bier:
brauerei, fowie das Recht der Anlage von NKrügen und das
Abhalten von Märkten auf dem Gebiete des Nittergutes! bie
privatrechtlichen Vorredte ausmachen. Wiewohl ſonach die noch
heute beftehenden Vorrechte der Nittergüter, namentlid im Vers
gleich mit der Vergangenheit ?, nicht erhebliche find, ift die Minimal⸗
größe der Nittergüter dod, und zwar im Intereſſe der Land—
Ntandjchaft, unbedingt aufrecht zu erhalten.
Die ftrengen Schugmittel, die das große Gebiet des Bauer:
landes jeit 50 Jahren umgeben und die Eigentumsredhte der
Gutsherren fo fehr beihränfen, daß im Grunde nur nod von
einem gutsherrlichen Obereigentum am Bauerlande die Rede fein
kann, — diefe Schugmittel bilden jo fehr das Weſen unjrer Agrar—
verfailung, daß ihre Aufhebung eine vadifale Anderung bedeuten
würde. Freilich, der „rote Strich“, wie wir jagen, ber „Leihes
zwang”, wie man in Deutſchland die Verpflichtung ber Gutsherren
nannte, ben als Bauerland ausgejdiedenen Teil der Nittergüter
lediglich bäuerlier Nugniegung yu _überweilen, dieſes eigenartige
Rechtsverhältnis ift in Wefteuropa längſt befeitigt ? und bejteht
im Often von uns, im Innern Rußlands, nicht in ber ausichließe
lichen Strenge wie in Liv und Ejtland und auf der Infel Dejel‘.
) Provingialrecht. Zeil IL, Art. 883,
Grundeigentümers, mit Wusnahme des
Brof. Dr. Karl Erdmann, „Syitem des Privatreıhts der Oitieeprovingen Sivs,
Eſt. Kurland“, 2. Band, Riga 1801, ©. 28 fi; M. Stillmart, „Beitrag
zur Lehre nom Jagbrerht“, Yalt. Monatsicriit 45. Band, 1809, 2. 135 fi.
®) Wler. Tobien, Die Hgrargeiebgebung Yiolands im 19. Jubrhundert“,
1. Band, Berlin 1809. ©.
%) Fuchs, „Vauernbefreiung” im Wörterbud) der Boltswirtfcaft, hrsg.
son Prof. Dr. v. Stiter, 1. 8., Jena 1808, 27 fi; Deinrid Brunner,
„Der Leihegwang in der deutfcgen Mgrarpoliif”, Wede zur Gedächinisieier König
driedrich Wilhelm III. Berlin 1887.
‘) Der Urt. 165 des Ablöjungsgeiepes vom 19. Febr. 1801. lieh die
— Möglictet yu. vah Bausen nat Tilgung de8 auf Ihrem Sandantel
Die Jagd iſt ein Recht jedes
mers von Banerlandftellen. Bgl.
158 Minimum und Marimum beim Bauergrundbefig.
Und bennod) werden wir, bie wir für die Kontinuität der Ent
wiclung einzuftehen gewohnt find, nicht geiwillt jein, den „roten
Strich“, weil er einſchränkend wirft, zn verwiſchen.
Ganz anders jedod) als mit. ben gejeplichen Beftimmungen
über bie Unantaftbarfeit bes Bauerlandes würden wir mit bem
Quotengefeß von 1893 verfahren, wenn uns bie Macht zuftünde;
denn dieſes Geſetz, das unvermittelt in das Gefüge unfrer ſelbſt-
geichaffenen Agrargejege hineingezmängt worden iſt, entbehrt der
Berechtigung völlig!. Die Staatsregierung bejchäftigt ſich baher
zur Zeit mit einer Umwandlung diejer fruchtlofen und zugleich
ftörenden Beitimmungen, die wir am liebjten fpurlos verſchwinden
fehen würden.
Eine mittlere Stellung ift dem Minimumgeſetz zuzuweiſen,
deffen geidjichtliche Berechtigung ebenjowenig wie feine Neform-
bedürftigfeit bezweifelt werben fann.
Vorschriften, die darauf abzielen, die Bauerhöfe vor einer
zu weit gehenden Teifung zu fhügen, find mehr ald 200 Jahre
alt. Schon die ſchwediſchen Agrargefege beitimmten, daß fein
Gefinde weniger als 26 Hafen zähle? Da nun der Hafen in
ſchwediſcher Zeit in 60 Taler geteilt wurde ?, war 1/s Hafen Te
Talern gleich. Auch im berühmten Aicheraben « Nömershofichen
Bauerrecht, das Karl Friedrich Baron Schoulg im I. 1764 zur
ruhenden Betrages der Ablöfungstapitalfcpuld, die Ausfceidung der von ihnen
erworbenen Sandparzelle aus dem verdande des emeindebefites erzwingen
Tonnten; das ausgejcjiedene Landftüd durften auch Perfonen erwerben, Die der
Bauerngemeinde nicht angehörten. Das Oje vom 14. Deyember 1803 verbietet
zwar im allgemeinen den Perfauf von Zeilen des Vauerlandes an Perjonen,
die nicht Ofieder der Bauergemeinde find, läht jedoch Die Ausnahme zu, dan
mit Genehmigung des Minilters des Junern Stüde bes Bauerlandes zu gewerbs
lichen Zweden jedermann verfauft werden dürfen, Dr. Johannes v. Neuhler,
„yur Öelhichte und Kritit des bäuerlicen Gemeindebefiges in Nuhland“, 3. Teil,
Petersburg 1897, ©. 207. Derielbe: „Die erften Schritte zur Sicherung des
bäuerlichen Orundbefiges und insbefondere jur Organtfation des emeindebefißes.“
Yalt. Wocenfeift 1894, ©. 501 fi. Wladimir Or. Simfpowitid, „Die
etögemeinfchaft in Ruhland.“ Jena 1808, ©. 386 ff. Derfelbe: „Tie
Bauernbefreiung in Rubsland.” Handwörterbudz der Staatswiffenfchaften 2. Bo.,
dena I6ON, ©. 200
% Ale. Tobien, „Memorial über die Quotenfrage*, Balt. Monatsicır.
45. Bd., 1809, ©. 358 fi. 9. v. Brocder, „Zur Quotenfrage in Livland“,
Riga 1808.
2) Sönigl. Reviſions Inftruktion vom 7. Febr. 1687, $ 7 u. 8; Reviſions ·
memorial vom 30. Jan. 1688, $ 16 u. 18 in Guftau Johann v. Buddens
brods „Sammlung der Seiete, welche das heutige Kol, Sandrecht enthalten“,
Riga 1821, II. Zeil, ©. 1214, und fiehe aud) Aitaf v. Tranfehe-Rofened,
„Sutsherr und Yauer in Sioland im 17. u. 18. Jahrh.“ Strahburg 1890, &.61.
®) Yler. Tobien, „Lie Agrargejeggebung Lidlands im 19. Jahrhundert.”
©. 60.
Minimum und Marimum beim Vauergrundbeſih. 189
Hebung ber wirtſchaftlichen und rechtlichen Lage feinen Bauern
verlieh, finden wir die Veftimmung, daß bei Teilung des Gefinbes
im Erbgange unter die Nutznießer die Erbportion nicht weniger als
Haken oder 7 Taler groß fein bürfe!. Die Vauerverorbnung
vom 3. 1804 jegte die Minimalgröße eines Bauerlandgefindes
auf 6 Taler feit*, während die mit ben alten Polizeiverboten
brechende liberafe Yauernerorbnung vom I. 1819 (ediglic) vor:
ihrieb, daß bei Teilung eines Grundftüdes unter Erben jedem
wenigſtens 12 Lofitellen Ader zufallen müflen. Das in vielen
Beziehungen zu ben beichränfenden Normen der Bauerverordnung
vom J. 1804 zurüdfehrende Agrargefeg vom J. 1849 verbot
jegliche Teilung unter das Mindeſtmaß von "/ı Hafen oder 6°,
Taler, gleihviel ob es fih um Hofe: oder Bauerland, um Ber:
pachtung ober eigentümliche Übertragung handele‘. Als zeitweilige
Ausnahme von biejer Beſtimmung wurde die Vildung von fog.
Xostreiberjtellen in der Minimalgröße von 5 Lofitellen aderbaren
Landes zugelaiien®.
In der heute nod) geltenden Bauerverordnung vom J. 1860
finden wir die 1849 geihaffenen Vorſchriften mit eingen Abände—
rungen wieder. Die Minimalgröße ift auf "/s Hafen oder 10 Tuler
erhöht®, gilt jedoch nur für Bauer, nicht aber auch für Hofsland.
Das Gefep begründet das Verbot weiterer Teilung damit, daß
%s Hafen das Minimum für das felbjtändige Beſtehen einer auf
Land figenden Familie bilde?, verfährt jedoch in diefer Hinficht
nicht fonfequent, denn das Verbot, daß das Bauerland niemals,
weber zum Zwed ber Verpachtung noch zu dem ber eigentümlichen
Übertragung in Grundftüde, die Heiner als Y/s Hafen find, par-
zelliert werden dürfe, richtet ſich nur gegen den Gutsheren ale
Eigentümer bes Bauerlandes. Iſt aber nicht ein Gutsherr, fondern
ein andrer Eigentümer des Bauerlandes, jo gilt das Minimum—
4) „Afcgeradenfges und Nömershofides Bauerrecht. gegeben von Karl
Zriedrih Schouls im I. 1764 nad, Chräjfi Geburt“, in deutisher Überfegung
ahgedrudt in Reinhold Johann Ludwig Samfon v. Dimmelltierns „Hi
rülcher Werfuc) über die Wuflicbung der Yeibeigenfchaft in den Ditieeprovingen in
bejonderer Beziehung auf das Herzogtum Lioland.“ Beilage zur Wocenfchrift
„as Jutand“, Jahrg, 1838, Spalte 169, Yuntt 5.
®) Yauerverordnung vom 20. Febr. 1804, $ 58, Buntt 1.
%) Yaierverordnung vom 20. Wär, 1819, $ 418.
#) Eivl. Agrar: und Bauerverorduung vom d. Juli 1849, $$ 130 u. 255.
5) $$ 140 ımd 616-618.
%) Tiefe Erhöhung ift einer direlten Einwirkung des Generalgouverneurs
Fürften Suworow zuzufgreiben; vgl. Wler. Tobien, „Veiträge zur Geichigte
der liof, Ygrargeieggebung“, Balı. Wonatsfahr. Br. 20, Sabg. Ised, ©. MUT.
) 1860 $ 1
190 Winimum und Marimum beim Bauergrundbefig.
geleg nur für ben Fall des Verkaufs, nicht aber für ben ber
Verpagtung!. Das Gefeg geilattet alio auf bereits durch
Verkauf abgelöften Bauerhöfen bie Bildung von Pachtſtellen, bie
weniger als ?/s Hafen groß find, wiewohl es ausbrüdlid; hervor
hebt, daß Grundftüde diefer Art die Selbftändigfeit einer Land:
wirtſchaft treibenden Familie nicht fihern®. Ausnahmen von ber
Hauptregel läßt das Gefeg dann zu, wenn ein Bauerlandftüd zur
Errichtung ftäbtifcher MWohnhäufer verkauft wird und wenn es ſich
um bie Anfiedlung von Lostreibern handelt. Solden Leuten darf
auch ber Gutsherr von dem Bauerlande Parzellen zumeifen, deren
Umfang gefeglich nicht normiert ift?, die baher Heiner als !/s Hafen
fein fönnen. Hervorgehoben mag nod) werden, daß zur Errichtung
tommunaler Vaulichkeiten, wie Schulen, Grundftücde ohne Rüdficht
auf das Minimum ausgefdhieben werden bürfen* und baß, ba das
Teilungsverbot nur freiwillige Veräußerungen trifft, unfreimillige
Veräußerungen, wie z. B. Erpropriationen von Bauerland, giltig
find, aud) wenn das Objeft weniger als Haken wert ijt®.
Diefe den freien Grundſtückverkeht weſentlich heimmenden Vor—
ſchriſten wurden bald nachdem Die Bauerverordnung vom I. 1860
in fraft getreten war, heftig angegriffen. Damals regte es ſich
bei uns allenthalben auf wirtſchafllichem, wie auf geiftigem Gebiet.
Die alte Frohne Hatte 1865 aufgehört zu eriftieren, die Freigebung
des Rechts zum Erwerbe ber Nittergüter war auf die Tagesord:-
nung gejept, die Landgemeindeordnung in Angriff genommen
worden; Stabt und Land hatten allen Grund auf eine unferen
Bebürfniffen entſprechende Juſtizreform hoffen zu bürfen. . Die
geiftig lebhafte Strömung jener Zeit trat namentlih in der
erweiterten Publizijtit zutage. Der 1859 begründeten „Baltifhen
Monatsjchrift” waren 1863 das meifterhaft vom heute noch leben-
3.0.1849 $ 258, BR. 0.1800 $ 228. Der maßgebende $ 223
EU lautet: „Dem Eigentümer eines Bauergrunditüdes fteht Die
Spofition über dagjelbe zu und fann er e& mad) belieben gang oder teils
weiſe verkaufen oder verpachten, inſoſern nur der alienierte Zeil micht Heiner
als das für ein Vauergrundftüt überfaupt vorgeicriebene Minimum von
3/4 Haten it." Dito Müller, „Die fivländ. Agrürgeichgebung“, Niga 1802
&. 56 u. 82 nimmt irrtümlich an, daß au dem bäuerlichen Cigentümer vers
boten fei, jein Grunbftüd in Stüden, die Heiner als Ys Hafen find, zu verpadhten.
2) 8.8. v. 1860 3 114.
% 2.2. v. 1800 $ 114, Anmert, u. $$ 559 fi.
4) Patent vom 4. Juni 1805 Ar. 118.
5) Müller a. a. D. ©. 56.
) Yubligiert ift die lvl. Vauerverordnung vom 13. November 1890 am
10. Januar 18U1, aber in fraft trat fie erit am 24. Juni 1863, nachdem die
deutfape, lettifihe und eſtniſche Überfeyung von der lidl. Gouvernementszegierung
orröffentlicht worden war. (Patent 1863 Nr. 58).
Winimum und Marimum beim Vauergrundbeſit. 191
den Profeſſor Karl Schirren geleitete „Dorpater Tageblatt” unb
die von Profeſſor Auguft v. Bulmerineq begründete „Baltifche
Wochenſchrift“ gefolgt !.
Das in jenen Tagen vielumftrittene Thema des Perfonen
bürgerlichen Standes zu gewährenden Befigrechtes an Nittergütern
gab Veranlajlung zur Behandlung ber Frage, ob die durch das
Warzellierungsverbot beſchränkte Nugungsmweife der Bauergüter noch
zeitgemäß fei. Man war um fo geneigter fih Zweifeln über den
Wert diefer Feilel hinzugeben, als zu Beginn der 60er Jahre eine
bedenkliche Aus wanderungsluft das Landvolk erfaßt hattet, —
As Erſter gi der heute noch unter uns lebende Hermann
v Samjon mmelftiern das Dlinimumgefeg in der Bal—
tifhen Monatoſchrift an ?, indem er nachzuweiſen ſuchte, daß die
Freigebung des Grumbftüdverfehrs an fih nur Vorteile bringe
und feinerlei Nachteile mit fih führe. Das Minimumgefeg wolle
verhindern, daß den Eigentümern zu fleiner Grundftüde aus ihrem
unzulängligen Befigtum Schaden erwachſe. Wiewohl im einzelnen
Fall Mißgriffe gejchehen könnten, jei es doch im hödjiten Grade
unwahrigeinlid, daß die bäuerliche Bevölferung ſich maſſenhaft
auf die Parzellierung des Bodens verlegen würde, wenn dieſe
nicht Vorteil brächte, ebenjo unwahriceinlid, wie daß die Gewerb⸗
treibenden eines Landes fi) anhaltend einer nicht lohnenden Fabri⸗
fation hingeben würden. Anderſeits begünjlige der völlig freie
Vodenverfehr die Heranbildung eines fehhaften Tagelöhnerftandes,
deſſen Exiſtenz für die Landwirticaft immer motwenbiger werbe.
— Ähnlich äußerte ſich zur jelben Zeit der ſpäter als Proſeſſor
des Baliiſchen Polytechnilums verſtorbene Jegör von Siveras
Raudenhof.
Nachdem Samſon und Sivers die Aufhebung des Minimum—-
gefeges zur öffentlihen Disfuffion gebracht hatten, blieb Diele
Trage mehrere Jahre hindurch ein oft behandeltes Thema. Mit
dem Frühling 1868 jollten die legten Überbleibfel der Frohnpacht
aufgören rechtlich zu bejtehen® und hierdurch wurde ein erhöhtes
1) Siehe Näheres in Julius Edardt, „Livländiiche Sräbtingsgedanten,
und Aler. Tobien, „Nüdblid auf die Guer Jahre“, —33* ſoneis ſaift
13. Band, 1866, 5. 200 ff. und 39. Band, 1802, ©. 121
2) Ute des Iivl. Sandratstollegiung Ar. 4
ds Kivländifden Landtags
) 9. ». Samfon, „Ad deliberandum
von, 1804”, Baltife Monatsjcrift 11. Band, 1805, S. 360 it., und Über Die
Greibeit, * Vertehrs mit Orundllüden“ cbenda 12. Band, 1805, &. 38 f}
) Jegör v. Sivers, „Die Teilung des bäuerlichen Orundbefiges. Cin
Wort zum Nachdenfen.“ Higa 1865.
5) Pate ninom 14. Dat 1805 Mr, 54.
192 Minimum und Marimum beim Vauergrundbeſih.
Bedürfnis nad) freien Knechten und Tagelöhnern wachgerufen.
Diefes Bebürfnis glaubt man am beiten durch Anfiedlung von
Arbeiterfamilien befriedigen zu fünnen, und verlangte, Die Gejep-
gebung folle den Weg Hierzu durch Befeitigung des Minimuns
geſetzes anbahnen. Im folhem Sinne ſprach fih die Livländiihe
Gemeinnügige und Dfonomifche Sozietät in ihrer Sigung vom
17. Januar 1868 einftimmig aus! und das Organ der Sopietät,
die Baltiſche Wochenſchrift, trat in einer Neihe von Artikeln aus
ber deber ihres damaligen Nebatteurs Hermann v. Samfon lebhaft
für den Sozietätsbeſchluß ein ?.
Um zum Ziele zu gelangen, bedurfte es aber vor allen
Dingen der Mitwirfung des Landtages. Schon im J. 1865 hatte
Jegoͤr v. Sivers-Raudenhof der Nitter- und Landidaft die Nufe
hebung des Minimumgeſetzes vorgeichlagen? und vier Jahre ſpäter
waren Hermann v. Samfon-Urbs und Peter v. Sivers : Nappin
mit Anträgen gleichen Inhalts hervorgetreten*. Allein der Landtag
fehnte alle diefe Vorſchläge mit der Motivierung ab, daß die im
Gefeg vorgejehene Schranke der Parzellierung fih nur auf das
Bauerland beziehe, die freier Teilbarkeit offen ftehenden Hofs—
Ländereien aber hinreichen, um Landarbeiter in geuügender Zahl
anzufiedeln, und praftiic-politiihe Erwägungen eine Abänderung
der fürzlid) herausgegebenen Banerverordnung verböten®. Der
unterdeß fich immer mehr geltend machende Arbeitermangel, den
die Auswanderungsluit der Lanbbevölferung fteigerte, vermehrte
jedoch anfehnlid die Gegner des Minimumgeſetzes, und als im
3. 1872 Guido v. Samjon:Kawershof den völlig freien Boden—
verfehr abermals im Landtage zur Sprache bradjte®, ging ber.
Landtag auf den Antrag injofern ein, als er eine Kommillion aus
3 Berfonen bildete, die alle aus ber Vejeitigung des Minimum:
gefeges folgenden Konſequenzen, jowohl in Bezug auf die hypothe—
fariiche Belaftung, wie aud auf bie Siderftellung der Neallajien
und Grundfteuern ins Auge fallen follte. Die aus den Kreisbepus
tierten Edward von la Trobe-Pajusby, Guido v. Samfon-Kawershof
3) Balt. Wochenſchrift 1808 Ar. 14, Sp. 206; „Zur Tagelöhnerfrage“
ebenda Ar.
2) „Über die Freiheit des Vobenverfehrs", Val. Wocenjcht. 1809 Ar. 1;
„Dualififation des Bodens“, 1870 Ar. 33/34, Sp. 424; „Nochmals über das
Bininum, 1572 0, 077, Sp. A; „Ommer maß über Minimun a, a. D. Sp. IH
3) Alte des livl. Yandratstollegiumd, Band Lit. B, 258, Lot. I, ©
%).a..a. D. ©. 187 und 294.
3) Yandtagsregeh vom 11. Sept. 1805 und vom 24. März 1869, a. a. O.
©. 127 und ©. 302.
%) Anteag vom 12. Mai 1872, Ate Sitt. B, 268, Vol. IL, S. 11 fi.
Minimum und Magimum beim Bauergeundbefig. 198
‚und Alfred Baron Engelhardt beitehende Kommiſſion jtattete einen
eingehenden Bericht ab!, der bem Februar-Landiage bes Jahres
‚1877 vorgelegt wurde. Die Rommijfion befürmortete die Auf
hebung bes Minimumgefeges warm, da fie in ihr eine für das
wirtſchaflliche und fittlidie Leben ber Landbevölferung fegensreiche
Maßregel erblidte. Um jedoch foweit als möglich den Befürd-
tungen über ungünftige Folgen völliger Barzellierungsfreigeit zu
begegnen, beantragte fie eine bejchränfte Teilungsbefugnis in
dem Sinne, daß entweder die von einem Bauerhof abgefeilte
oder bie in der Hand des Veräußerers zurücbleibende Parzelle die
Größe von mindeftens 10 Talern aufweifen müſſe?. Unüberwind-
liche Schwierigfeiten rechtlicher ober kreditwirtſchaftlicher Natur,
bie ber Neform etwa entgegenjtünben, erkannte bie Rommilfion
nit an und ſchlug vor: die durch Befeitigung des Dlinimum-
gefeges hinfällig werdenden Beſtimmungen der Bauerverordnung
über Die Anfiedlung jog. „Lostreiber"? aufzuheben. S
Die Rommijfionovorichläge riefen im Landtage eine jehr leb-
hafte Meinungsvericiedenheit hervor, wobei Glieder der Kreis:
beputiertenfammer für bie Nommiljionsvorichläge, Glieder der
Landratsfammer gegen fie eintraten. Die Mehrzahl der Kreis
deputierten hatte eine Anderung der Rommilfionsvorihläge in dem
Sinne beantragt, daß auf je 10 Taler Kaudivert die Ablrennung
nur einer Parzelle bis zum Maximum von 4 Lofitellen geftattet
fei, wobei jedod das nachbleibende Stammgrundſtück mindejtens
10 Taler groß bleiben müfje*. Hiergegen war wohl mit Hecht
eingewandi worden, daß dieſe Beſchränkung eine mechaniſche fei,
die weder nach wirtichaftlihen Gefegen zweckmäßig bemeffen, noch
den örtlichen Bedürfniſſen angepaßt werben fönne und daher leicht
dahin führen werde, die von der Aufhebung des Minimumgeſetzes
erwarteten Vorteile zu vereiteln?.
Gegen die Kommiffionsvorfcläge hatte fid) die Rammer ber
Landräte einmütig erklärt, und zwar namentlich deshalb, weil
die Erleichterung ber Parzellierung die Ableiftung der Firchlichen
Reallajten in Frage jtelle und die Aufbringung der öffentlichen
Grundlaften und Grundfteuern erſchwere. Für diefen Gefichts:
9) Als Wanuſtript im Juli 1875 gebrudt, der genannten Alie S. 14a
einverleibt.
%) Kommiffionsbericht betreijend Aufgebung des Magimum und Pinimum
der Größe bäuerlicher Orundjtüde. S. 8 und S. 20.
3) $$ 551-546 ber Yauerverordnung von 1300.
4) Landtagseejeh vom }. 1877, ©. 02.
3) Sentunent des Kafjadeputierten 9. Baron Tiejenhaufensgnzcem und
des Areisdeputierten 2. Baron MeycndorifsNamlau.
19 Minimum und Marimum beim Bauergrundbeftß.
punft mar namentlich bie Beſtimmung des Provinzialredhts! maß:
gebend, daß bei Teilung eines reallaftpflichtiigen Grunbftüds bie
Nealfaft dann auf allen Teilen haften zu bleiben habe, wenn ber
Berechtigte nicht in die Teilung der auf dem Grundſtück ruhenden
Laft willige. Eine folhe Einwilligung von feiten der Kirche zu
erlangen hielt das Landratsfollegium für unwahrſcheinlich, weil die
Teilung der pflichtigen Grumbjtüde die regelrechte Ableiftung der
Neallajten gefährde, die folibarifche Verhaftung der Parzelleneigen-
tümer für bie ganze Neallaft aber in vielen Fällen undurchführbar
fei, da griechifch:orthodore Grundftüdbefiger von ihr ausgenommen
werden müßten?
Dem Vedenken der Landräte ſchloß fidh der Landtag an und
lehnte die Anträge anf Mobifizierung des Minimumgejeges mit 96
gegen 61 Stimmen mit der Begründung ab?, baf bie Ummand-
fung ber kirchlichen Reallaſten noch nicht entſchieden ſei und mög-
lichexweiſe dur) die Aufhebung des Pinimumgefeges präjubigiert
merden Fönnte; daß ferner die Frage wegen Ableiftung ber auf
dem Boben ruhenden öffentlichen Lafien feitens der Barzellenbefiger
noch feine Löſung gefunden habe, daß anderjeits aber die umfang:
reichen Hofslänbereien grofj genug feien, um zur Zeit bem Vebürfnis
nad) Anfieblung von Landarbeitern zu genügen.
Seitdem ift ein Menjdenalter dahingegangen und der Yandtag
hat ſich nicht veranlaßt gejehen, auf die vor fait 40 Jahren auf
geworfene Frage ber Freiheit des Bodenverfchrs zurücdzufommen.
— Das nädjfte Jahrzehnt war eine Periode lanbwirtichaftlichen
Gebeihens; der Bauerlandverfauf nahm, bank den förberlichen
Maßnahmen ber Rreditfozielät, einen erfreulihen Aufihwung*;
die Preife landwirtſchaftlicher Erzeugniffe ftanden relativ hoch, an
Arbeitsträften mangelte es nicht, jo daß weder die Gutsbefiger
noch die Großbauern ein Bedürfnis empfanden, Yandarbeiter durch
außerordentliche Dlittel an ſich zu feileln. Überdies waren bie
Bauerhöfe erſt fürzlich in erheblichem Maße durch Verkauf abgelöft
morben, ober im Vegriff, in bänerliches Eigentum überzugehen,
weshalb ber heute zutage tretende begünftigende Einfluß des bäuer-
lichen Erbrechts auf die Nealteilung der Bauerhöfe ſich noch nicht
3) Provinziaftecht TIL. Zeit, %trt. 1304.
?) Aommilfionsbericht S. 13 und 14.
3) Yandiagsrejeh ». 11. Febr. I877, Alte Litt. B, 258, Vol. II, S. 153.
4) Baron Hermann Engelhardt, „Zur Geſe der Pol. adeligen
Giterteeeifogieit“, Niga Ju,
»)
Do Wtaele, v2 vonduitlnaft in Aucland“, Min 1899. &. 04:
E. Baron CampenbaujensLoddiger, „Ein Müdblid auf die Getreidepreile”,
Yalt. Wocenfarift 1904, Ar. 52.
Trnimum und Markmum beim Bauergrunbbefit. 105
in nennenswerter Weife geltend gemadjt hatte. Dieſe Verhältniſſe
haben fih im legten Jahrzehnt weſentlich verändert und feinen
zu einer Nevifion bes Minimumgefepes zu drängen. In jebem
Fall wird eine formale Ergänzung der bezügligen Beſtimmung
erfolgen müſſen, denn bie Grenze, bis zu der ein Bauerhof geteilt
werden barf, ift befanntlih in einen Bruchteil des Mertbegrifies
„Halen“ ausgebrüct und biefer veraltete Maßjtab für bie Be-
Inftungsfähigfeit des Yobens mit fommunalen und ftaatlicen
Auflagen! mird durch bie im Gange befindliche Neufhägung ber
Liegenfchaften befeitigt werden müſſen?.
Ebenjo wie das Königreich Sachſen vor 60 Jahren? ift aljo
Livland gezwungen infolge einer Grunbdfteuerreform feine gejeg:
lien Teilungsverbote wenigitens einer formalen Prüfung zu unter:
diehen. Es fiegt jeboch der Gedanfe nahe, in biefem Anlaf zu
erwägen, ob biejenigen Vorausfegungen, bie vor fait 50 Jahren
zur Formulierung des heute geltenden Minimumgefepes führten,
noch zutreffen und die Erhaltung dieſes Kindes der Frohnzeit und
der Unjelbftändigfeit des Bauerſiandes noch weiter wünfdenswert
erſcheinen laſſen, ober ob nicht vielmehr die rechtlichen und wirt:
ſchafilichen Lebensbedingungen umfres Lundvolls und die Bebürf-
niffe der auf Heranziehung von Yandarbeitern angewiefenen Guts—
und Bauerwirticaften auch eine materielle Nevifion des Minimum—
gefeges erheijchen.
Zunäãchſt gilt es ein Bild von ber Gliederung unfres bäuers
lien Grundbefiges zu gewinnen.
Eine genaue Gruppierung aller 24,897 Bauerlandgefinde ift
zufegt im J. 1892 burchgeführt worben, wobei ſich ergab, daß:
1274 ober 5,12 °/o weniger als 10 Taler umfahtent,
12,213 „ 490% 10-20 Taler groß waren, und
11,800 „ 45,1% mehr als 20 Taler aufwiefen.
24,887 ober 100,00
1) Zobien, „Die Agrargefebgebung Livlands . ic. S. 69 ff.
2) Derfelbe. „Die Rotmendigfeit einer Reform der liot. Grunbftenern
und das Gefch vom 4. Juni 1901”, Yalt. Mochenfcht. 1902, Ar. 8.
®) Siehe oben &. 181.
4) Die verfchwindenb geringe Anzahl Bauerhöfe, die das geicpliche Minimum
nicht erreiden, cntftammt der Zeit vor der Geltung des heute mahgebenden
Gefeges. Die Bauerverordnung vom 13. November IH murbe_ vom Senat
am 10. Jumi 1861 veröffentlicht, rat jedoch laut Patent vom 7. Juni 1863
Pr. 53 erit am 24. Juni 1803 in rait. Alle bi8 dahin vorhandenen Bauerhöft,
die das Minimum von 10 Zalern nicht einhielten, durften meiter beſtehen;
$ 114 der 3,8. 1860.
196 Minimum und Marimum beim Bauergrundbefig.
Faſſen wir die Gliederung unfres bäuerlichen Grundbeſitzes
näher ins Auge, jo wäre von den allgemein giltigen Erfahrungs
fägen auszugehen, baß als große Bauergüler ſolche zu gelten haben,
deren Wirtfchafter ſchon mit ber bloßen Leitung bes Betriebes
vollauf beſchãftigt ift, während als mittlere Bauergüter diejenigen
bezeichnet werden Lönnen, bei denen ber Vefiger fi an den aus:
zuführenden Arbeiten felbit beteiligt, als Heine Bauergüter dagegen
diejenigen, Die in ber Negel ausichließlih von dem Wirt felber
und deſſen Angehörigen bearbeitet werden und gerade Hinreichen,
um durch ihren Ertrag dem Eigentümer einen auskömmlichen
Unterhalt zu gewähren.
68 liegt auf der Hand, daß die Heinen Bauergüter, alfo
diejenigen Gefinde, die einer bäuerlichen Familie die Führung ihrer
Eriftenz fihern, für das Landvoll die widtigften find und bie
Grundlage einer gefunden Agrarorbnung bilden.
Wie groß muß mun ein folder Bauerhof bei uns in Liv—
land fein? 3
Ein Gutachten!, das der cheimalige Präfident der Dlono—
mifchen Cozietät, Landrat Eduard v. Oettingen-Jeniel,
dem Gouverneur von Livland General Sinowjew auf deſſen Ville
im Mai 1895 überreichte, führt den Nachweis, daß die Selbſtän—
digfeit und das wirtidaftlide Gedeihen einer bäuerliden Familie,
bejtehend aus dem Wirt, jeiner Frau und 4 Kindern verſchiedenen
Alters, bei unferen flimatiihen und ökonomiſchen Verhältniſſen
durch einen Hof gewährleiftet wird, der bie Kraft zweier Pferde
in Anfprud) nimmt und daher etwa 40 Lofitellen Ader?, 24 Lof⸗
ſtellen Wiefe und 50 Xofitellen Weide, im ganzen 114 Lofitellen
im Landwert von ca. 20—2+ Talern umfaflen muß ?.
Jenem Gutachten zufolge, deſſen Veweisführung kaum be
zweifelt werden dürfte, it ein halb jo großer Bauerhof, der aljo
dem Landwert von 10 bis 12 Talern gleichläme, nur dann
öfonomijch ausreichend, wenn ſich dem Wirt die Möglichkeit des
Nebenverdienftes, etwa durch Fuhrenleiftung, darbietet. An ſich
gewährleiftet aljo ein Gejinde im Landwert von 10 Taler die
landwirtfhaftliche Selbftändigfeit ihrer Nupnicher nicht,
und die Schöpfer unſres Minimumgefeges, die den Zweck vers
folgten, die bäuerlihe Familie durch Bodenbefig allein fiher zu
jtellen, taten von dieſem Gejichtspunft aus wohl daran, die Größe
2) Eine livländijche Lofitelle =
#) Tag Öutachten des Yandras uszuge abger
drudi in 9. d. Brocder, „Zur Duotenfeage in Kivland", S. 63 ff.
3) Ate des andratstollegiums &it. B, Nr. 14, Bol. XIL, Fol. 14-149.
—— *
v. Dettingen
Dinimum und Marlmum beim Bauergrunbbefig- 197
von 10 Talern ala das Mindeſtmaß eines bäuerlichen Grundftüds
zu firieren. Die naturgemäße Folge diefer Beftimmung ift nämlich
die, daß Vauerhöfe, die weniger als 20 Taler umfaſſen, nicht
geteilt werben dürfen, weil font ber eine Teil Meiner werben
würde, als 10 Taler, was eben geſetzlich unftatthaft ift. Da nun
von allen Bauerlandgefinden 13,487 fleiner als 20 Taler find
(fiehe oben), müſſen alle dieſe als geſchloſſene Bauerhöfe gelten,
deren Zerftüdelung verboten if, es fei denn, daß bie von ihnen
abgetrennten Parzellen mit andern Vauerhöfen vereinigt werben.
Von diefen 13,487 Geſinden erreichen, wie wir fahen, 1274 das
Minimum von 10 Talern nicht, während 12,213 einen Landwert
von 10-20 Talern haben. In Wirklichkeit wird ber Neinertrag
diefer 12,213 Gefinde ein erheblich höherer fein, als er nad) dem
regiftrierten veralteten Talerwert erſcheint, und wir werben in ber
Annahme nicht fehl geben, daf dieje Höfe, welche die faft genaue
Hälfte aller Bauerlandgefinde ausmachen, die wichtige Kategorie
ber feinen Bauergüter bilden, bei denen das Gedeihen ihrer
Wirtigaft durd den Bodenerirag allein fihergeftellt ift. Die
andre Hälfte aller unjrer Bauerlandgefinde, nämlich 11,400, gehört
der Klaſſe ber mittleren und großen Bauergüter an, und zwar
dürfen 8342 Gefinde, die 20—30 Taler groß find, den mittleren
und 3058, bie mehr als 30 Taler landwirtſchaftlich genuhlen
Landes umfaffen, den großen Bauergütern beigegählt werben.
Als Ideal der Eigentumsverteilung wird jener Zuſtand
bezeichnet, wo Befiggrößen der verſchiedenſten Abitufungen vertreten
find, und zwar fo, daß die landwirtſchaftlichen Anweſen, die eine
ausfömmliche wirtfchaftliche Zebensweife und demenlſprechend eine
fefte fogiale Stellung ſichern, vorherrfhen!, jedoch Eleinfte Land⸗
ftellen reicjlid; vorhanden find, damit die Landarbeiter, deren bie
größeren Betriebe neben dem Hausgefinde unbedingt bedürfen,
nicht landlos feien.
Eine Eigentumsverteilung dagegen, die nur felbjtändige
Grunbeigentümer aufweilt, kleinſte Landſtellen jebod) vermifien
läßt, entfpriht, nad) dem Urteil Gadjverftändiger, felbft den
Interefien ber größeren Befiper Feineswegs, ſondern überträgt bie
fozialen Gegenfäpe, bie das ftädtifche Leben fo häufig vergiften,
auch auf das flache Land. Es ijt in Weſteuropa immer mehr
der Grfahrungsfag zur Anerkennung gelangt, daß es unbedingt
notwendig fei, ben auf Arbeit in fremden Dienften angemwiefenen
1) Bol. hierüber Bucjenberger, „Agrarwefen und Agrarpolitif”, S. 420;
Beh. v. d. Goly, „Agrarmelen und Hgrarpolitit“, 3, Aufl. Jena 1904. S. 154 ff.
Baltige Monatäfceift 1905, Seft 3. 2
198 Minimum und Darimum beim Bauergrunbbefig.
ärmeren Elementen auf bem Lande die Möglichfeit des Grund⸗
befigerwerbes zu gemähren, um ben Zanbarbeitern in arbeitslofer
Zeit einen Nüdhalt zu bieten, in guten Jahren in ihnen bie
Hoffnung auf weiteres Vorwärtsfommen zu befeben und bamit ein
wahrhaft fonfervatives Selbftgefühl in den Nreifen bes ländlichen
Proletariats wachzurufen!.
Auch in Livland Hat ſich bieje Notwendigkeit in ben legten
Dezennien immer mehr geltend gemacht. Der Zug der Landbevöl:
ferung zur Stabt, unter dem Weſteuropa jo ſchwer leidet, hat
aud bei uns einen, namentlid in den Jahren 1898 und 1899
lebhaft empfundenen Mangel an Landarbeitern hervorgerufen, der
ebenfo bort wie hier vielfach öffentlich behandelt worden ift?,
Wenn nun aud in Livland neuerdings bie Landflucht ber
Arbeiter nicht mehr fo ſtark wie früher zutage tritt, weil bie
Induftriefrifis, in ber wir uns befinden, die Städte weniger
angiehend ericheinen läßt, wie vor 5 Jahren, fo fann doch der
Arbeitermangel in ber Landwiriſchaft bei erneutem Nufblühen
ftäbtifchen Gewerbebelriebes ſich wieber fühlbar machen.
Es würde ben Rahmen meines Themas überfchreiten, mollte
ich bier bie vielbehandelte Zanbarbeiterfrage, ihrer Bebeutung
entfprechend, eingehend erörtern. Unbeftritten ift, baß ber Fortzug
ber Sandarbeiter nad) ben Städten, wie in Wefteuropa® fo auch
bei un, zeitweilig einen epidemifchen Charakter angenommen hatte
und wiebergewinnen fann. Wird auch dieſe Bewegung oft durch
reale Motive geleitet, fo liegt ihr doch gewiß vielfach der Geift
der Unruhe und Unbefriedigung zugrunde, ber ebenfo wie in anbre
Volkslaſſen aud unter die Landarbeiter gefahren if. Um mit
den Worten eines ber auf dieſem Gebiet erfahrenften Dtänner
Deutfchlands, des Freiherrn v. d. Golf zu reden, ift biefe ſogiale
Epibemie in der Gefchichte der Völker nichts neues. „Wie fie
gefommen ift, jo pflegt fie aud allmählich zu verſchwinden; um fo
raſcher, je ſchneller und gründlicher den tatfächlihen Mißſtänden,
bie bei ihrer Eniftehung mitgewirft haben, Abhilfe geihafft wird.”
Zu den Maßregein, die geeignet erfcheinen, die Lanbarbeiter
ihrem Beruf zu erhalten, ift an erjter Stelle die Schaffung ber
Möglichleit des Erwerbes einer Heinen Zanditelle zum Eigentum
zu rechnen. Gehört die Mehrzahl der Landarbeiter zu ben Grund»
befigern, dann ftehen ihre Interefien denen ber Großbauern und
1) Goly a. a. D. ©. 155.
2) Balt. Wochenſchr. 1898, Ep. 517 u. 537; 1809, Sp. 240 u. 370.
2) Golg u.a. 0. ©. 150. — ) Golg.a. a. D. ©. 156.
Ninimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 199
Großgrunbbefiger viel näher, als ben Intereſſen aller übrigen
Erwerbs: und Berufoklaſſen, und fie find alsdann weit unzugäng-
liher den trügeriſchen Lodungen ftäbtiihen Wohllebens und den
gefährlichen Verheißungen fozialpolitiicher Propaganbiften!.
Dan wird nun vielleicht der Meinung fein, daß menigftens
die rechtlidhe Möglichleit des Erwerbes Heiner Landſtellen in
Livland genügend gefichert fei, weil bas fälſchlich immer noch
ſchobfrei genannte Hofsland und bie Quote zur freien Verfügung
flünden, da auf diefe beiden Bobenfategorien, im Gegenjag zum
Bauerlande, das Minimumgejeg feine Anwendung findet. In ber
Tat find auf denjenigen Nittergütern, deren Umfang die provin-
zialrechtlich vorgefehene Mindeſigröße von 90 Lofſtellen überfchreitet,
— und das it bei weitaus ben meiften Rittergütern der Fall, —
Hofslänbereien wohl genügenb vorhanden, um Landarbeiter dauernd
anzuftellen, und aud) bie Quote, wiewohl vielfad; an Grohbauern
verfauft ober verpachtet, bildet ebenfalls einen namhaften Land-
fonds, ber zur Anfiebfung von Landarbeitern dort verwandt werben
fann, wo foldes wirtſchaftlich begründet ift. Allein dieſe Tatſachen
find feineswegs fo beruhigend, baf die Frage überflüifig wäre,
ob nicht auch bas Bauerland durd) Einfchränfung oder Befeitigung
bes DMinimumgejeges ber dauernden Anfiedlung von Lanbarbeitern
mehr und vor allem befier, als bisher, dienſibar gemacht werden
müfle?
Vor allem fei daran erinnert, daß nicht nur der Ritterguts⸗
befiger, fondern aud) ber Großbauer Landarbeiter für feinen häufig
recht umfangreichen Betrieb in erheblicher Zahl braucht. Diefe
bäuerlichen Zanbarbeiter aber auf dem Hofslande oder auf der
Quote anzufiedeln iſt vielfah um fo weniger angezeigt, als bie
topographiich entfernte Lage der Bauerhöfe vom Hofstompler ben
wirtſchaftlichen Nugen einer folden Anfiedlung auf Hofsland für
die Großbauern illuforiih machen würde. Bisher iſt man meift
befliſſen gewejen das Problem der Beſchaffung genügender Arbeits:
träfte für die Landwirtſchaft lediglich vom Standpunkt der Ritter:
gutsbefiger aus zu behandeln. Dit Unredt jedoch, denn ber
Bedarf der 25,000 auf Bauerland errichteten Wirtſchaften an
Landarbeitern ift gewiß in Summa nicht Meiner, fonbern wohl
größer als der Bedarf unfrer 900 Nittergüter, Domänengüter und
Paftorate zufammengenommen.
Von diefem allgemeinen Standpunkt aus fann aber die
Landarbeiterfrage nicht durch ben Hinweis auf das verfügbare
2) Golg a. a. O. ©. 108.
2
200 Winimum und Marimum beim Bonergrundbeflg.
Hofsland, wie es früher oft geſchehen, Furzerhand erledigt werben.
Es muß vielmehr mit befonderer Schärfe bas Problem ins Auge
gefaßt werben, wie die dem Großbauern notwendige Anechtsbevöls
kerung zu Eonfolioieren wäre,
Rechtlich fieht der Anfieblung von Landarbeitern auf dem
Bauerlande als Pächter nichts im Wege, da das Gele bie
Verpachtung von Parzellen bes Banerlandes, die weniger als 10
Taler groß find, zwar bem Rittergutsbefiger, nicht aber dem
bäuerlichen Eigentümer verbietet, Wer nun ber Anficht if, daß
in ber rechtlichen Möglichleit, Pächter auf Bauerland werben zu
können, ben Sandarbeitern alles das geboten ift, was vernünftiger:
meife von ber Gejeggebung zu ihren Gunften verlangt werben
darf, der wirb an unfrem Minimumgefeg Genüge finden, bas
zwar nicht das Parzelleneigentum, wohl aber die Parzellenpadıt
auf Bauerland zuläßt. Allein es muß body bie Frage geprüft
werben, ob nicht ber Parzelleneigentümer auf Bauerland eine
größere Sicherheit für die Stabilität unfrer Landarbeiterverhältnifie
bietet, als der Parzellenpächter.
Die Anfihten darüber, ob bie in Well: und Oft: Europa
gleihermaßen brennende Arbeiterfrage zweckmäßig durd Verkauf
von Grundftüden oder durd bloße Verpachtung an Arbeiter zu
Löfen fei, find noch ſehr geteilt.
Roſcher Hält die Zwergpächter, d. h. die Pächter Heiner
Landparzellen, für weit ſchlimmer als Zwergeigentümer, weil ſie
viel heimatloſer, viel eher durch einen Unfall ins Elend geſtürzt
werben, als jene?, Auch bie bekannten Agrarpolitiker Buchen-
berger und v. d. Goltz geben dem Grundeigentum unbebingt
den Vorzug? vor der Pacht. Andre vertreten dagegen bie Mei-
nung, daß ber Eigentumsbefig in Gegenden, wo es an Neben:
verbienft fehlt, den Arbeiter zu fehr an die Scholle binde und,
ftatt ihn felbftändig zu machen, nur mehr in eine Abhängigkeit
von dem Arbeitgeber bringe, die beiden Teilen gleid) läftig werden
Tönne!, Daher fei die zwedmäßigfte Löſung ber Arbeiterfrage in
der Arbeiterpacht zu fuchen®, weil fie dem Arbeiter die freiere
1) Bauerverordnung von 1860 $ 223.
2) Rofcer, „Nationalötonomit des Aderbaucs", ©. 669.
%) Bucenberger a. a. D. ©. 568; Gola. a. D. ©. 157.
4) Dr. Dito Maabe, „Die vollswirtfcaftliche Bedeutung der Pacht“,
Berlin 1891, ©. 76 und 91.
3) Georg Stieger, „Bur Landarbeiterfrage”, Jena 1808, &. 24 fi.;
Prof. Dr. Otto Gerlad, „Die andarbeiterfrage in den öftfichen Provinzen
Trrufens*, in der geitfift’fhr Sopiahuffenfuf 3. Jahrg. Heft 7. 1900,
©. 54.
Ninimum und Rarimum beim Bauergrundbefig. 201
Bewegung fichere und ein nicht gebundener Arbeiter dem miber-
willigen und deshalb unzufriedenen vorzuziehen feit.
Wie verfcieden nun auch die zahlreichen deutſchen Agrar
politifer, Die ſich über die Lanbarbeiterfrage und deren Löſung
vernehmen ließen, das wichtige Problem der Sehhaftmachung ber
Arbeiter beurteilen mögen, in 3 Punkten find fie faſt alle einig:
1. Innerhalb des Guts — ober, wie wir jagen würden,
Hofbezirts, — ift die Verleihung von Grundeigentum nicht zweck-
mäßig, weil ſich das Rleineigentum nur im engften Zuiammenhang
mit bem bäuerlichen Grundeigentum und ber Bauergemeinde als
tebensfähig erwieſen hat?. Daher ift auf dem Yofsfompler die
Pacht dem Grundeigentum im Intereſſe beider Teile vorzuziehen.
2. Innerhalb bes Gebiets ber Landgemeinden foll ber Kern
aus felbftändigen kleineren ober größeren Vauerhöfen beitehen, an
den ſich Arbeiteritellen unlehnen, die im Eigentum der Nugnieher
befinblich find. f
3. Eine zmwedmäßigere Anderung der Hinderlichen Geſetze
hat innerhalb der Bauergemeinde einer Stufenfolge von Grund⸗
eigentümern den Weg zu ebnen, die es ermöglicht, daf der Knecht
um Häusler, der Hiusler zum Nleinbauern und diefer zum Boll:
bauern aufzufteigen imftande fei. Und diefen Kategorien der Land-
bevöfferung muß die Möglichkeit gewährt werden, ihre Stellen
zum vollen Eigentum erwerben zu fünnen ?,
Ausdrüdlic fei jebocd betont, daß die in Deutichland auf
dem Gebiet der Agrarpolitit zutage getretenen Beſtrebungen nicht
darauf abziefen, daß ein jeder Landbewohner fein eigenes Heim
auch wirflich habe, fondern darauf, daB jedem bie rechtliche Mög.
lichfeit geboten werde, fid) Grundeigentum zu erwerben t.
Denn wenn aud) heute vielfady die Behauptung aufgeftellt
wird, daß der den Lanbarbeitern eigentümliche Hunger nad)
Grundeigentum vollfommen gejtilt werben müſſe, jo iſt, abgejehen
von der Unmöglichkeit alle Yandarbeiter zu Grundeigentümern zu
machen, nicht zu verftehen, weshalb gerade nur der Landarbeiter
) Brofefior Dr. Rar Sering, „Die_iunere Kolonifation im öjtlihen
Deutfcjland“, Yeipzig 180%, Band LVT der Schriften des Bereins für Sozial
politit, ©. 146 und 148.
2) Sering a. a. D. ©. 137 u. 14; Goly, Agrarweſen. S. 107.
*) Bucenberger ©. &.43.' Goly. „Die Yandarbeiterirage im
norböftlicen Deuticland utunft der Londbeoölterung", Göt-
148. Dr. Wrid Dinge, „Die
Weslenburg", Noftod 1894, &. 95 ff.
Sol, „Die ländlide Arbeiterilaſſe und
der preußiiche Staat“, Jena 1893, ©. 215.
202 Minimum und Marinmum beim Bauergrunbbefit-
und nicht aud) jeber andre Menſch Anſpruch auf dieſe angebliche
Grunbbebingung des Lebensglüces erheben bürfe?.
In Wefteuropa ſucht der Staat die Anfiedlung der Land-
arbeiter zu fördern; man ift jedoch weit entfernt davon, zu wünſchen,
dab irgend ein Zwang ausgeübt werde, und alle ſtaatlichen Ver—
ſuche, die aud nur dem Scheine nad) darauf Hinausliefen, in die
Grundbefigordnung Momente des Zwanges hineinzubringen, würden
zweifellos fcheitern?. Nur das Zufammenwirfen ber Arbeitgeber
mit den flaatlihhen Organen wird ins Auge gefaßt, jedes einfeitige
Vorgehen aber als unheilvoll unbebingt verworfen ®.
Ähnlich wie in Weſteuropa, namentlid) in Deutichland, drängt
auch in Livland die Entwidlung der Landarbeiterfrage dazu, die
rechtlichen Hinderniffe, die dem Erwerbe von Grundeigentum ent:
gegenftehen, zu befeitigen ober einzufchränfen. Nehmen wir bie
Erfahrung Deutſchlands zur Richtſchnur, fo müßte bei uns die
Anfiedlung von Pächtern auf dem Hofslande und die Anfähig-
machung von Eleinen Grundeigentümern auf dem Bauerlande
gefördert werden. Da der Verpachtung des Hofslandes feinerlei
Hinderniffe rechtlicher Natur entgegenjtehen, bliebe nur zu erwägen,
ob das den Erwerb von Grundeigentum am Bauerlande einſchrän—
fende Minimumgejeg aufzuheben oder abzuändern wäre? Wollte
man das Minimumgefeg gänzlich befeitigen und den Grundftüc:
verfehr völlig freigeben, wie es in Kurland ber Fall ift, fo würde
die Gefahr, da unfre Bauerlandgefinde zu Zwerggütern herab:
fänfen, um fo mehr entftehen, als das bäuerliche Erbrecht eine
Gleijteilung des Wertes der Grumdftücde unter bie Miterben
geftattet. Aber jelbft wenn das ſehr mangelhafte Bauererbrecht
Livlands reformiert würde, worauf fpäter zurückzukommen fein
wird, bürfte die Vefeitigung des feit 200 Jahren eingebürgerten
Minimumgeſetzes nicht rätlich erſcheinen. Die „Mobilifierungs-
freiheit” ift, wie Buchenberger richtig jagt, „wie alle Freiheiten
eine zweifchneidige Waffe und fann von der Bevölkerung nur dann
ohne Nachteil ertragen werden, wenn der allgemeine Zuftand der
Bildung auf dem flachen Lande jene Tugenden der wirtichaftlihen
Vorſicht, der Bedachtnahme auf die Zukunft, der Vorjorge auch
für die fommenden Generationen zur Neife bringt, welde lehren,
von der Freiheit einen maßvollen Gebraud) zu maden‘.“ Ob
unfer Landvolk ſchon die Tugenden der wirtidaftlihen Vorſicht
3) Stieger, „Zur Sandarbeiterfrage" S. 22.
2) Sering aa. 0. ©. 14.
2 Sol, „Die Linblige Urbeitetiafie” x. ©. 200.
9 Suche nberger an. D. S. HN.
Winimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 203
erworben habe, dürfte doch füglich zu bezweifeln fein, und bie
beionnenen Elemente im Bauerftiande würden die radikale Fort:
ſchaffung des Dinimumgefeges ſicherlich nicht gutheißen. Cs kann
ſich ſonach meines Erachtens nur um eine zeitgemäße Reform
biefer gefeglichen Beftimmung handeln, wobei an die fommifjariichen
Vorihläge anyufnüpfen wäre, die bem Landtage vom 9. 1877
eingereicht wurden. Jene Vorfchläge befürworteten eine beſchränkte
Teilungsbefugnis in dem Sinne, daß entweder bie von einem
Bauerhof abgeteilte, oder die in der Hand des Veräußerers zurüc-
bleibende Parzelle bie Größe von mindeftens 10 Tulern aufweien
mühe. Der Landtag trug damals Bedenfen, auf diefen Vorſchiag
einzugehen, weil die Erleichterung der Parzellierung das Aufbringen
der öffentlihen Grundlaften und Grundfteuern erſchweren würde
— und es blieb beim Alten. Heute jedoch dürften dieje Einwände
nicht mehr ins Gewicht fallen, da die in Angriff genommene
Grundfteuerreform, die ja den äußeren Anlaß zur Revifion des
Minimumgefepes gibt, aud) dazu nötigt, die bisher übliche Erfül-
lung der Realfajtenpflicht neu zu regeln.
Dem Vorſchlage vom Jahre 1877 möchte ich mich grund-
fäglih anjdließen, der darauf hinausläuft, das Minimumgeſetz
nicht zu befeitigen, aber doch im Jutereſſe eines erleichterten
GSrundflücverfehrs umuformen, und zwar bergeflalt, daß ein un:
antajtbares Stammgrundftüd, groß genug, um an fid) die Eriftenz
einer Bauerfanilie zu gewährleiften, lets erhalten bleibe, ba die
Größe diefes Stammgrundjtücds überjteigende Plus aber beliebig
geteilt werben dürfe.
BZunädjt wäre zu bejtimmen, wie groß das Stammgrundftüd
fein muß. Die Rommiffionsvorfchläge vom J. 1877 bemaßen den
Landwert des Stammgrunditüds, in Anlehnung an ben Wortlaut
des geltenden Gejeges, auf 10 Taler. Id) glaube jedoch, gejtüg:
auf das mitgeteilte Gutachten des Yandrats v. Dettingen: Serie
befürworten zu jollen, daß nicht 10, fondern 20 Tuler die Örenje
zu bilden hätten, vor der die Teilungsbefugnis Halt zu machen
habe. Die Folge einer ſolchen Beſtimmung wäre heute die, daB
etwa die Hälfte aller unfrer Bauerlandgeſinde als geichlofiene,
d. h. als folhe zu gelten hätten, von denen feine Paryelle abge:
zweigt werden dürfte. Vorausfichtlic wird jedoch die Zahl der-
jenigen Bauerhöfe, die lediglich die Größe des Stammgrundſtücks
erreichen, alio als geſchloſſene behandelt werden müßten, nad
Beendigung der Grunditeuerreforn geringer werben, da der Lande
wert der Bauerhöfe zweifellos gejtiegen ift, mithin die mittleren
204 Minimum und Marimum beim Bauergrundbefig.
und großen Bauerhöfe, die Parzellen abzugeben vermögen, anſehnlich
zugenommen haben, während die Zahl derjenigen Bauerhöfe, bie
in die Kategorie der geſchloſſenen neu einzureihen wären, kaum
ſehr groß jein bürfte.
Ich empfehle alfo: nad) wie vor einen Typus Meiner Bauer-
güter durch ein Teilungsverbot vor Atomifierung zu jhügen, dieſen
Typus aber fo zu geitalten, daß er zweifellos im landwirtſchaft⸗
lien Betriebe allein die Grundlage feiner Lebensfähigfeit finde.
Das Größenmaß wird daher, nad) unfren heutigen Wortbegriffen,
faum unter 20 Taler zu firieren jein, in Zukunft jedod in Steur-
rubeln ausgedrüdt werden müſſen, da der Begriff Taler dem
Ausiterben überantwortet ift. Nad den bisherigen Ergebnifien
der im Gange befindlichen Bodenbonitierung wird vorausſichtlich
1 Taler — 6 Stenerrubeln fein. Der Landwert des Stamm:
grundſtücks wäre mithin für die Zufunft auf etwa 120 Steuer:
rubel zu bemeffen, d. ). auf eine Wertgröße, die ficerlic die
landwirtſchaftliche Lebensfähigfeit garantiert, da die in Angriff
genommene Schägung der Liegenfchaften vorfihtig zu Werke geht
umd den Neinertrag der Grundftüde eher zu niedrig als zu hoch
bemißt.
Iſt in dieſer Weile für die Erhaltung des fleinen bäuer-
lichen Grundbeſitzes gejorgt, fo darf meines Erachtens unbedenklich
die freie Pargellierung des außerhalb ber Grenze des Stamm-
grundftücds verfügbaren Bodens zugeftanden werden. In diejer
Beziehung dem freien Verkehr Echranfen auferlegen zu wollen,
halte ich nicht für empfehlenswert. Etwa vorzujchreiben, da von
jedem Stammgrundſtück nur jo und fo viele Parzellen abgezweigt
werden dürfen, käme einer öden Schematifierung glei), die ſich
das öfonomifche Leben ſchlechterdings nicht gefallen läßt. Die
Beſtimmung über Zahl und Größe der Parzellen aber etwa in
jedem eingelnen Fall von abminiftrativer Einfiht abhängig zu
machen, wäre gänzlid) verfehlt, weit eine folhe Maßnahme bedeuten
würde, daß die Verwaltung beſſer wiſſe, als der Landwirt felbjt,
wie zwechmäßig im einzelnen mit feinem Grundftüd zu verfahren
jel!. Das durd) den Ausbau unjres Eifenbahuneges und unſrer
Chauſſeen im Fluß befindliche Verfehrsweien ruft hier und dort
eine Nachfrage nad) Heinen Parzellen hervor, die von der Adminie
ftration ſchwerlich vorausgefehen, überwacht und geregelt werden
fann. Daher ift meines Erachtens der ungehinderten Parzellierungs-
freiheit in ben vorgejchlagenen Grenzen unbedingt der Norzug
1) Bucenberaer a. a. ©. ©. 40.
Vinimum und Marimum beim Bauergrunbbefig- 205
vor einer abminiftrativen Negelung des Parzellenabverfaufs einzu
räumen.
So empfehlenswert num auch diefe Maßnahmen im Interefie
eines erleichterten Grunbftüdverfehrs find, jo wäre mit dem Schug
ber Stammgrundſtücke durch ein polizeilides Teilungsverbot noch
nicht das erreicht, was zur Sicherſtellung unfres Bauerſtandes
notwendig ift. Mehr als durch merfantile Spekulation wird ber
Berteilungsprogeß, dem der Grund und Boden nad unb nach
anheimfällt, burd) das Erbrecht gefördert, und es ift baher das
Zufammenhalten der Befigeinheiten im Erbgang erftrebenswert.
Teilungsverbote allein fihern diefen Zufammenhalt nit, es muß
als Korrelat ein Inteſtaterbrecht gefchaffen werben, das die unge:
teilte Vererbung der Bauergüter an einen Erben herbeizuführen
traghtet. Eine hefebliche Maßnahme dieſer Art it für Livland
um fo wünfchenswerter, als unfre Bauerverordnung zwar ben
männlichen Erben ein Vorzugsreht am Naturalbefig ber Immo-
bilien gewährt, leider aber nur eine Gleichteilung bes Wertes ber
Grundſtücke zwiſchen Brüdern und Schweſtern kennt!. Beſieht
nun eine bäuerliche Familie aus vielen Köpfen, fo wird der Hof
durd) Exbforberungen über feinen Ertragewert veridulbet, oder
die Erben teilen fi in ihn ideell, weil das Dlinimumgefeg die
Nealteitung verbietet. Da num aber ber Bauer das Rechtsinftitut
des Eigentums zu ibeellen Teilen oder das Miteigentum meiſt
nicht verjteht, werden in Wirklichfeit die ibeellen Anteile in reale
umgewandelt und damit Zuftände geihaffen, die durch das Mini—
mumgejeg verhütet werden ſollten?. Zwar jteht das Minimums
geſetz der Ausicheidung der einzelnen Teile aus der Hypotheken⸗
einheit entgegen und nur das ideale Eigentum der Parzelle darf
forroboriert werden, alfein die Nealteilung wird tatjächlie dad)
vollzogen, und es entjtehen wirtſchaftlich getvennte Teiljtüde ver-
fchiedener Befiger, bie mur zwangsweile hnpothefariich vereinigt
bleiben. Die Sadjlage führt, abgefehen von wirtfchaftlichen Unzu—
träglichfeiten, zu rechtlichen Wirrniffen mancherlei Art, namentlich
auf dem freditwirticaftlichen und dem ſteuerrechtlichen Gebiet,
weit der für die Zahlung der Hypothekenzinſen und Grundfteuern
haftende Eigentümer fi, dank der mitunter großen Zahl von
Miteigentümern, Häufig nicht feilftellen läßt.
1) Yauerverordnung von 1880, $ 1000.
*) Nobert Schöfer, „Aus dem Gebiet des baltiſchen Brivatrets und
des Bivilprogefies“, Walt. Wonatsichr. 30. Band, 1802, &. Bd. Derjelbe:
„Über dae loländifche Bauerprivatredit“, ebenda 54. Band, 1902, ©. 1 ff.
206 Binimum und Marimum beim Bauergrunbbefig.
Um bie Hieraus hervorgehenben Mißſtände zu heben, müßte
das bäuerliche Erbrecht ſelbſt zweckmäßig abgeändert werden, wobei
vielleicht die in Ejtland geltenden Bejtimmungen vorbilblid jein
tünnten. Dort find die männlichen Erben weit begünftigter als
in Livland, weil fie zwei Teile aus dem Nachlaß an unbemeg-
lichem Vermögen erhalben, die weiblichen Erben dagegen nur
einen Zeil, und zwar in Gelb, nicht aber in natura!,
Eine ſyſtematiſche materielle Abänderung des bäuerlichen Erb:
vechts wird aber jetzt kaum durchführbar und wohl aud nicht
empfehlenswert fein, da unfer bäuerliches Privatrecht überhaupt jo viele
Dlängel aufweift, daß es von Grund aus reformbebürftig erſcheint?.
Und menn an bie Nevifion bes bäuerlichen Privatrechts
gegangen werben joll, dann läge es nahe, bie ganze livländiſche
Bauerverordnung zu revidieren, denn aud) ihre agrarrechtlichen
Beltimmungen, bie in ber Hauptſache ben Schug des Bauerland-
pächters begweden, find von der Entwidlung unjrer Agrarverhält-
niſſe längſt überholt und genügen heute, wo fait 90 pCt. des
Bauerlandes verkauft find, nicht mehr. So ſehr aber aud Die in
vielen Stüden veraltete, von neueren Bejtimmungen durchlöcherte
Bauerverorbnung einer grünblihen Durchficht und Ergänzung
bedürftig ift, fo darf doch faum gehofft werben, baß ein neues
Gejeg bald an die Stelle treten werde. Unterdeß aber machen
ſich die üblen Wirkungen des bäuerlichen Erbredts immehr mehr
geltend, und es ift tief zu bedauern, daß die Bemühungen des
kivländifhen Landtages um die Einführung eines bäuerlichen
Anerbenredts in Lioland bisher rejultatlos geblieben find.
Bereits im J. 1893 beantragte Nlerander v. Stryf-Palla
in einer eingehenden, ber Nitterfhaftsrepräfentation übergebenen
Dentihrift?, bem Vorbilde Deutſchlands zu folgen und das dort
zur Anwendung gelangte fog. bäuerliche Anerbenrecht* auch bei
uns zur Geltung zu bringen. Dieſes Sonderrecht bezwedt bie
ungeteilte Vererbung ber Bauergüter an einen Erben, ben Ans
erben, durch ein entiprechend gejtaltetes Intejtat:Erbredt, d. h.
dur ein Erbrecht, das dann einzutreten hat, wenn ber Eigen
tümer eines bäuerliden Grundſtücks ohne Hinterlafjung eines
1) G. v. Bodisco, „Die eftlänbifche Bauerverorbnung vom 5. Juli 1856
und die die Baueroerordnung abänderuden und ergänzenden Gefepe und Berords
nungen“, Reval 1904, S. 202, Art. 1163; ogl. Wrel v. Gernet, „Gelhichte
und Syitem des bäuerlien Agtatrechts in Eitland”, Neval 1901, ©. 178.
%) Shöler aa. D.
®) Alte des
+) %gl.
wirtfchaft, 089,
il. Sandratstollegiums Ario 421, Sit. B, Bol. I, Fol. 60 ff.
ering, „Ländliches Erbrecht” im Wörterbud) der Voits⸗
om liter, I. Band, ©. 658 ff.
Winimum und Marimum beim Bauergrundbefig. 207
giltigen Teitaments ftirbt. Das Anerbenrecht will das Bauergut
in ber Familie ungeteilt erhalten, weil es aus wirtſchaftlichen
und politiihen Gründen wünſchenswert it, daß ein innerlich
gefunder, leiftungsfähiger und nicht hochverſchuldeter Bauerftand
bejtehe und gebeihe. Auf das Weſen des Anerbenrechts hier näher
einzugehen gebricht es uns an Zeit. Es fei nur hervorgehoben,
daß der von einer ritterſchaftlichen Kommiſſion ausgearbeitete Ent-
wurf eines gefeplichen bäuerlihen Anerbenrechts für Livland, dem
Gouverneur im Dezember 1895 behufs Erwirkung ſiaatlicher
Beftätigung überfandt, bisher aber leider von ben ftaatlichen
Drganen noch immer nid)t erledigt worden ift.
Wird das Minimumgeſetz in dem von mir befürworteten
Sinne reformiert und ber Entwurf bes Anerbenrechts beftätigt,
fo gewinnen wir fräftig wirfende Schupmittel, die das Stamm:
grunbjtüd, den Meinbäuerlihen Vefipitand, das Rückgrat einer
gejunden Agrarordnung vor unheilvoller Zerjplitterung ſchühen.
Auf der andern Seite gewährt die unbefchräntte Teilbarkeit des
außerhalb der Stanmgrunbftüde frei verfügbaren Wobens bie
Möglichkeit, daß die aus verſchiedenen Berufstlafien zufammen-
gejeßte, unbeſitzliche Landbevölferung leichter als bisher in den
Eigentumsbefig eines Meinen Grundftüds gelangen fann. Hier
durch wird die Entitehung einer, für die Geftaltung gefunder
ſozialer Verhältniffe wichtigen, Stufenleiter von dem kleineren
Srundbefiger bis zum Großbauer gefördert, die Zahl der in ihrer
wirtſchaftlichen Eriſtenz Geſchühten, mit ihrer Lage Zufriedenen
erhöht, dadurch die Menge ber zu propagandiſtiſchen Bewegungen
Geneigten vermindert! und endlich die Zunahme ber Benölferung
des fiachen Landes belebt und ber verhängnisvolle Zug jur Stadt
unterbunden.
Es erübrigt noch furz die Frage zu erörtern, ob auch unjre
Beſtimmung über die Marimalgröße des Buuerlanbbefiges
einer materiellen Anderung bebarf. Die Zeitfegung einer oberen
Grenze für das bäuerlige Grundeigentum in ber Geflalt „eines
Hafens“ iſt weit jünger als das Plinimumgefeg, denn wir finden
das Verbot, daß das bäuerliche Grundeigentum eines Einzelnen
innerhalb einer Gemeinde die Größe von einem Hafen überſchreite,
zum erften Dal in der Agrarordnung vom Jahre 1849%. Diefe
Beitimmung wurde damals im Zufammenhang mit der Regelung
des Yauerlandverfaufs getroffen, weil der Landtag befürdtete, daß
3 Golf, „ — und Agrarpotitit· ©. 114 ff.
88 258 u. 257 der Siol, Agrer · und Vnueroeroronunn v. 9. Juli 1849,
208 Winimum und Marimum beim Bauergrunbbefig.
ſtädtiſche Kapitaliften fih auf den Erwerb von Bauerland legen
und ben Bauerfiand, ben die Agrarverordnung mit allen Mitteln
zu erhalten ſich beftrebte, depoſſedieren fönnte!" Diefe Befürd:
tungen haben fi bisher als grundlos erwiefen und werden wohl
auch fobald feinen Nährboden finden, denn ſtädtiſche Kapitaliften
werden aus fozialen Gründen dem Erwerb von Rittergütern ben
Vorzug vor dem Ankauf von Bauerhöfen geben, und bis die
Induſtrie darauf ausgeht, dermaßen auf dem flachen Lande Fuß
zu fallen, daß bie Anhäufung von Bauerland in gewerblichen
Händen zu beforgen wäre, dürften viele Jahrzehnte vergehen. Über:
dies jteht der Aufſaugung des feinen Grundeigentums durch das
große, die in Grofbritannien, in Medlenburg und in Dftpreußen
zur Zatifudienbildung geführt hat, bei ung der „rote Strich“ ent
gegen, der das Bauerland zu einem bäuerlichen Geſamtfideilommiß
geltaltet hat und die Verſchmelzung von Bauerland mit Hofsland
verbietet. Bauerland aber etwa allein aufzufaufen und daraus
ein Rittergut zu bilden, auch das verhüten die Gejege, denn zum
Vegriff eines Nittergutes gehört in erfter Linie ein Dlinimal-
bejtand von Hofsländereien®. Somit wäre allo bie Marimal-
beftimmung über das bäuerliche Grundeigentum eigentlich entbehrlid,
allein für ihre Vejeitigung ſprechen anderſeijs feine zwingenden
Gründe, und ein Antrag, ber die Aufhebung dieſer immerhin
mehr als ein halbes Jahrhundert beftehenden Schranfe in Bor
ſchlag brächte, würde ben Verdacht erregen, als ſollte die Schutz⸗
wand, mit ber unfer Bauerland umgeben ift, in kapitaliſtiſchem
Intereſſe burdlöchert werben. So erideint denn lebiglid die
formale Revifion des Marimumgejeges in Anlaß der Grundfteuer-
reform rätlich, und es wäre an die Gtelle der objolet werbenden
Größenbeftimmung „ein Hafen” ein entiprechendes Wertmaß, in
Steuerrubeln ausgedrüct, zu jegen. Da, wie wir jahen, ein Taler
wahrſcheinlich 6 Steuerrubeln gleich fein wird, fo hätte man das
Dlarimum jtatt auf 1 Hafen oder 80 Taler, etwa auf 480 oder
500 Steuerrubel zu firieren.
Ich bin am Schluß.
Wird, meinem Vorfchlage entiprediend, das Minimumgeſetz
materiell geändert, fo haben wir ber Freiheit im Bodenverkehr,
‘die von vielen als der fiaatsöfonomiih und privatwirtichaftlich
90 sen, „Ad deliberandum des Livl. Landtags von 1864”
0.0.8.8 Dr. Hermann Levy, „Entftehung und Hüdgeng des
— Großbecebes In England, Werıln 1001: Wiastomsrt, "Das
Grbragy, und die Grundeigentumserteilung“ sc, I. Band, &. 9 fi. und 34.
3) Urt. 600 des Provinzialeedjts LIE. Teil.
Winimum und Marimum beim Bauergrundbeftg. 209
beite Zuftand gepriefen wird, nur ein ſehr geringes Opfer gebracht.
Mit Neid werden die Anhänger des entfellelten Grundbefipes
auch ferner auf das uns benachbarte Rurland bliden, : mo nach
erfolgter Ablöfung des Bauerlandes durch Verlauf, der Grundftüde
verfehr ſich ungebunden entwideln kann. Kurland kennt nur eine
gejegliche Dlinimalgröße der Nittergüter!, aber weber ein obliga-
loriſches Minimum, noch ein Dlarimum für Yauergüter, vor allem
aber nicht einen „roten Strich“, der über den Zeitpunkt der voll-
zogenen Ablöfung des Bauerlandes hinaus wirkſam bleibt. Iſt
das Bauerland einmal abgelöft, jo darf es vom Gutoherrn zurück⸗
erworben und mit dem Hofslande beliebig verſchmolzen werben.
— Ganz anders in Livland. Hier ift der Bauer im Grundſtück-
verkehr weit unbehinderter als der Gutsherr, denn er darf wohl
vom Gutsherrn Hofsland erwerben und in jeder Beziehung frei
nugen, aber umgefehrt darf der Gutsherr von dem ihm gehörigen
Bauerland auch felbft dann nicht beliebigen Gebrauch machen,
wenn es bereits den Ablöfungsprozei durchgemacht hat und aus
dritter oder vierter Hand zurüderworben wird.
Wollten wir jedoh den Verſuch wagen, die kurländiſche
Freifeit im Bobenvetlehr auf Yivland zu übertuagen, fo würde es
einen Sturm der Entrüflung unter jenen irregeleiteten Agrar—
politifern ber Tagespreije und der Flugſchriften geben, die ihre
Angriffe merkwürdigerweife mit Vorliebe gegen Livland richten,
wiewohl hier den Bauern ein Agraridhug gewährt wird, wie, . mit
Ausnahme Eitlands und Defels, nirgendiwo. Angriffe dieſer Art
werden wir jedoch um fo eher, nad) wie vor, mit Öleihmut
ertragen, als in neueſter Zeit ruſſiſche Gelehrte, bie fid ber
fritifch-vergleichenden Methode bedienen, nicht aber befliſſen find,
einfeitig die Mängel unfrer Agrarverfaifung herauszufinden, zu
dem Ergebnis gelangt find, da; das Gedeihen des livländiſchen
Bauerſtandes offenſichllich und in erfter Reihe den Agrargefegen
zu danken if. Eine ſolche objektiv wahre Anſicht finden wir in
einem fürglic erfchienenen umfangreihen Drudwerf vertreten, das
alle jene Unterfuhungen fritiih beleuchtet, die auf Eaiferlichen
Befehl im ganzen Reich 1902 veranftaltet wurden, um die Gründe
des Notjtandes der ruſſiſchen Landwirtſchaft Harzulegen ?.
?) Vrovingialrecht Teil TIL, rt. 016. Die noch heute in Aurland gel,
tenbe Bauerverordnung vom J. 1817 verbietet im Art. 123 nur: Bauerhöfe bei
Erbteilungen unter cin beitimmtes Windeitmaß zu parzellieren, umterfagt aber
nice beficige Teilungen in andrer Deranlafjung. .
2) (I. Nomen»): „Pycexan mrermrennia n wpeersanerno. Kpurn-
geexifl anaıaı TIYAOR» WÜETIN Komimerußk 0 MYIRAAXI CEALCKO-ROBAH-
ergennoß mposmuaennoern“, Mocksa 104, 5. 64 ff.
210 Minimum und Marimum beim Bauergrundbeftg.
Wie fi aber auch immer die Beurteiler unjrer Agrarver⸗
faſſung vernehmen lafjen mögen, wir find deſſen gewiß, daß die
Livländifche Ritters und Landſchaft, die Schöpferin unfres Agrar:
rechts, unbeirrt burch Zob oder Tadel und ungeadhtet der Schwier
rigfeiten, bie ihr eine eiferjüchtige Bureaufratie in den Meg legt,
die fivländifche Agrarverfaſſung, bie, mie jedes menfchliche Wert,
ihre Schwächen hat, weiter ausbauen wird, ſtets eingebent bes
Wahlſpruchs unſres bebeutendften Agrarpolitifers, Hamilfars von
Fölferfahm :
„Nicht die Rechte, welhe jemand ausübt, fondern
Pflichten, bie er ſich auferlegt, geben ihm den Mert.“
Beilage.
bie
on dem Geſamtareal (9,309,312 Zofitellen = 3,492,788 Heltar) der
fittergüter und der Paftorate in Cioland find:
1. unverfäuflid:
1. die Hofsländereien:
Lofft. Geſamtareal Heltar
a. der 45 allodialen Privat » Nittergüter, deren
Umfang daS provinzinleeihtlich vorgelchriebene
Windeftmaß von 900 Sofftellen nicht erreicht = 20,080
b. der Zeit der Hofsländereien von 54) ailodialen
Prival-Kittergüteen, der durch das Dindejtmah
u
11,032
von 900 Lofit. begrenzt wird (00 £ft- mal 540) = 494,100 = 183,608.
2. die dofs · und Cuotenländereien:
der der Hol. Mitterfchoft gehörigen 7 Güter
der den lipl. Städten gehärigen IB Güter
ber. 100 Paftorate
Schulen x. .
der 70 Zideifommihgüter .
erer»
U. zur Zeit nod unverläuflig:
Die Bisher noch nicht verfauften Dauerländereien
der 7 Ritterfhaftsgüter —*
die Vauerländerelen der Yaftorate, Schulen ı
Eu
3.218
28,936
v
»
»
Winkmum und Magimum beim Bauergrunbbefig. au
II. bedingt verfäuflic
. die bisher noch unverfauften Quotenlänbereien
der 597 allobialen Privat-Rittergäter . . . 4226.220 = 158,012
da8 gefamte abgeläjte, oder noch nicht ahgeläfte
Bauerland ber 676 privaten Rittergüter (bie 79
Fibeifommißgüter eingefchloffen) und der 18
Stadigüter . . . = 3,581,881 = 1,330,945
Die vor dem Jahre 1886 verfauften Bauer:
länbereien der der Nitterfejaft gehörigen 7 Güter
Loſſt. Geſamtartal Heltar
IV. unbedingt vertäuflich
. da8 unverfaufte Hofland ber allebialen 549
Privot-Hittergüter, das das Mindetmah ber Ritter,
güter (900 Lojft.) überfteigt, und zwar: 3,048,541
&offt. minus 494,100 off... 0... . = 3154,41 = 1,172,190
(Siehe oben 1b.)
die verfauften Hofslänbereien aller 701 Nitter«
ger ..
ie eanfen Duotenländereien aller 7OI Witte
güter
195,81 = 71,50
Ans Tiefen zu Tiefen.
Nut das, was aus den Tiefen ward geboren,
Zu Tiefen fleigi es wieder. Was der Aünflfer
Aus fAmerzerrifnen, Fihtverhfärten Stunden
Seſchafen aus dem Argrund feines Welens:
Aur das wird dir ein Bfeidend Eigentum.
In liefgefeime Shmwingung fehl es feis
Die Seele dir, und traumhaft jllferl’s nadz
Anmiderheßfih zwingt’s did mehr und mehr
In feinen Bann, — Bis du zufehl es (pürf,
Dapı es ein Stüh geworden von dir feld.
Eduard Fehre.
die Urfahen des Berfals der Reformation in Rolen*,
Bon
Dr. A. v. Aurnatoweti.
— —
he Behandlung kirchengeſchichtlicher Stoffe hat meiſt Prekäres
an ſich. Die Stellungnahme des Kirchenhiſtorikers zur
Ronfeffion, ober chriſilichen Religion überhaupt, feine
nationale, oft durch eine gewiſſe fonfeifionelle Rirchlichfeit in die
Erſcheinung tretende Eigenart dürfte mehr oder minder bie Odjel-
tivität der Darftellung beeinfluffen. Während die Geſchichts-
wiſſenſchaft, geftügt auf Soziale, lebendige Hilfsmittel, heute in
hohem Anſehen fteht, wird ber „Kirchengeſchichte“, die als wichtiger
Zweig bes gejamten „Geſchichtswiſſens“ einen erhöhten Platz ein-
nehmen follte, noch immer nicht das gebührende Intereſſe geichentt.
Doppelt undanfbar wird die Aufgabe des Kirchenhiſtorikers
fein, wenn er bie Geſchichte einer Fonfeffionellen Partei ſchildert,
die einft im Staatoleben feines Volkes eine Nolle gejpielt, die
gleihfam als Angelpunkt der Frage des Seins oder Nidtfeins
des nationalen Stantsgebanfens angefehen werben darf, — die
Heute auf den Ausiterbeetat gefeht, bahinvegetiert, ein Stein bes
Anftoßes und des Argerniſſes für die noch immer Vielen, über
deren geiſtigen Horizont es geht, Nationales von Konfelfionellem
zu unterfd;eiden, — dann fteigt der vom Egoismus diktierte Gedanke
in ihm auf, ob es nicht beffer wäre quieta non movere.
Diefer, jeglicher freien Forſchung und aller Wahrheit tots
feinde Grundfag Hat, ich ſage leider, tiefe Wurzeln gefchlagen in
der polnifch » evangelifpen Geſeliſchaft, die mur ganz vereinzelt
*) Vorgelegt einer cvangelifchreformierten Paftorenfonferenz zu Riga am
25. Auguit 1904,
Verfall ber Reformation in Polen. 213
Männer hervorbrachte, die mit Liebe und mit Ofjeftivität fih mit
der Vergangenheit ihrer fonfelfionellen Kirche beſchäftigten, —
fonft waren es Ausländer und Angehörige fremder Kirchengemein-
ſchaften, die das bradjliegende Feld polniſch-evangeliſcher Rirchen-
geſchichte nach ihrer Eigenart und nad ihrem fpeziellen Bebürfnis
bearbeiteten und verarbeiteten. — Erſt in jüngfter Zeit erwachte
innerhalb der polnifch = evangelifhen Kirche das Bebürfnis, bie
Geſchichte ihrer Vergangenheit kennen zu lernen, und id; glaube
das Erwachen biefes Bedürfniſſes als ſchönes und verheißungs-
volles Zeichen eines Erwachens von einer hundertjährigen Lethargie
begrüßen zu bürfen, denn fobald die Frage „Was waren und
bedeuteten wir einſt?“ laut wird, darf man auch erwarten, daß
diefelbe Geſellſchaft felbfibewußt ſich wird zu jagen willen, was
fie jegt ift und einſt zu bedeuten haben wird inmitten ihres
Landes.
In feinem Lande Europas, vielleicht mit Ausnahme Spaniens,
wo die Inquifition das ihre gelan, ift die Reformation bes 16.
Jahrhunderts fo fpurlos und völlig zugrunde gegangen, wie in
den Ländern, welde einft die „Nepublit Polen“ ausmachten.
Hochſtens 10 bis 15, durch katholiſche Miſchehen in ihrer evan-
gelifhen Eriftenz gefährdete polniſche Adelsfamilien und 12—15
Taufend litauiſche Bauern find alles, was von ber einſt jo mächtige
Wellen fchlagenden Reformation in Polen übrig geblieben. Das
Übrige, was ſich heute „polnifd:evangeliih” nennt, find polonifierte
auslänbifhe Clemente, vor allem deutſcher Provenienz, bie ſich
nach der befannten deutſchen Eigenart der neuen Heimat jchnell
affimilierten und in der zweiten Generation ſchon national polniſch
fühlten.
Fragen wir uns jeßt, wie fam es, daß die reformatorifche
Idee, die im 16. Jahrhundert dreiviertel des polniſchen Gefamt-
adels umfaßte (reformiert) und in den Stäbten zu hoher Blüte
gelangte (lutheriſch), die befruchtend auf Schrift und Drud wirkte
und die erfte Glanzperiode der polniſchen Literaturgefhichte inau-
gurierte, wie fam es, fragen wir, daß diefe Bewegung fo völlig
dahinfchwand? Könnten wir nicht vielleicht fchon in der Entftehung
Keime des Verfalls finden? Diefe Frage führt uns zu der nad)
der Art der Ausbreitung der Neformation in Polen.
Baltife Monatafchrift 1906, Heft 3. 3
a4 Verfall der Reformation in Polen.
Polen, „das zu allen (scil. religiöfen) Neuheiten geneigtefte
Sand”, wie ein alter Chronift ſich ausdrüdte, war von jeher ein
Tummelplatz ſchwärmgeiſteriſcher und feftirerifher Gemeinichaften.
Fratricellen und Flagellanten fanden neben Waldenfern unb den
überall ausgeitoßenen Juden gaftlihe Aufnahme. Das Polen der
Piaſten und Jagellonen war tolerant, „die hochentwickelte ftändifche
Freiheit fand auf religiöfem und kirchlichem Gebiet fo ihr
Gegenbild.”
Als in Böhmen das Verlangen nad) einer nationalen und
Volfsfiche die große Bewegung bes Huffitismus zeitigte, griff
diefe auch nad) Polen herüber, und obgleich die nationalen
Gegenfäge bier nicht vorhanden waren, gewann doch der Huſſi-
tismus viele Anhänger. 1435 taten ſich einige Dagnaten, Abraham
Zbasfi, Spytef von Melsztyn und Johannes Strasz zu einer
politifdereligiöfen Konföderation zufammen, bie ver-
ſchiedene Mißftände ber königlichen und vor allem hierarchiſchen
Gewalt befeitigen wollte. Der König Wladislaus Jagiello ſoll
felbft einen Hang zur Lehre des Hus gehabt haben, was wir
jebod wollen dahingejteflt fein laſſen. Das Bedürfnis einer ſtaat—
lichen und kirchlichen Reform wurde aud in Polen, wenn auch
nicht in dem Maße wie im Weſien, empfunden. Der liber baro
Johannes Oſtrorog jtellte dem Reichslage von 1459 eine Neform-
fehrift vor, in ber er unter andrem für bie völlige Unabhängigkeit
der Föniglihen von der päpftlicen Gewalt eintrat, ja leplerer
fogar jegliches Recht, ſich in flnatlicye Angelegenheiten zu miſchen,
abiprad. Und wie Oftrorog fo empfanden fait alle mahgebenden
Elemente Polens. Die Unabhängigkeit des Staates von der Kirche
und die Bildung einer nationalen Kirche waren bie leitenden
Ideen des feinem Ende entgegengehenden 15. Jahrhunderts.
Die Reformation des 16. Jahrhunderts fand in Polen einen
vorbereiteten Boden. Ihr wandten ſich vor allem die Magnaten
und ber großgrundbefigliche Adel Kleinpolens und Litauens zu.
Es war hier die Lehre der ſchweizeriſchen Neformatoren, die ſtark
und fchnell um fi griff, während in Grofpolen und Preußen
vorwiegend die Iutheriiche Lehre Wurzel faßte.
Die Motive, die wir bei der Ausbreitung der Neformation
in Polen zu ſuchen haben, find leider nicht immer religiöje
gewejen; religife Momente jpielen in ber erften Generation, bie
Verfall der Reformation in Polen. 215
ſich ber neuen Lehre zugewandt, beinahe eine untergeorbnete Rolle,
obgleich damit nicht gefagt fein will, daß viele fih ans wirklicher,
tiefer Überzeugung ber evangeliſchen Kirche zugewandt Hatten.
Modefade wird es vor allem geweſen fein, die ber Refor—
mation den Eintritt in Polen erfeichterte.
Der rege geiftige Nustaufd) zwifchen Boten und dem Weiten,
die zahlreich auf ausländiſchen Univerfitäten Studierenden brachten
& mit fi, daß die Neformation in Polen „modern“ wurde, ein
Umftand, der beweift, daß gerade die Kreife, die die Mode mits
machen können, Grofgrunbbefiger und Stabtpatrizier, ſich berjelben
zuwandten. In Mafovien, wo der Großgrundbefig fehlte und nur
ber Feine, ungebildele Landadel zahlreid, ausgebreitet Icbte, blieb
der Katholizismus in voller Kraft.
Dogmaliſche Streitfragen bejdäftigten im 16. Jahrhundert
die Gemüter, und wie im 3. Jahrh. n. Chr. auf den Märkten
Griechenlands die Lehre vom Logos auch von verhältnismähig
einfachen Leuten ventiliert wurde, fo dachte jegt auch dev polnische
Landedelmann über Mbiquität nnd Perfonenlehre nad, fih in
einichlägigen Büchern feiner Zeit Aufihluß Holend. Das lag jo
in ber Zeit.
Die reformatorifche Idee konnte nad) alledem in Polen nicht
allzu tiefe Wurzeln gefchlagen haben, was aud) beweift, daß die
polnifchen Magnaten von dem Grundfag: eujus regio ejus religio
nur Außerft vereinzelt Gebrauch machten.
Die evangelifhe Kirche Polens war im Werben begriffen,
und nod) hatte fie nicht Zeit gehabt in ber neuen Heimat warm
zu werben, als ein gefährlicher Feind in ihrem eigenen Lager
eritand, der Socinianismus, ober wie er in Polen genannt wurde
— ber Arianismus.
Bedeutende Soeinianer, wie Stancarus, Blandrata, Pelrus
Gonefius machten (vor allem) der reformierten Kirche großen
Abbruch. In Wilna, diefem Zentrum der polnifch-reformierten
Kirche, trat ber Prediger ber Gemeinde Czechowicz nebſt mehreren
vornehmen Gemeindegliedern zum Socinianismus über. Viele
reformierte Kirchen, wie in Viala, Brzesc Litewsfi, Morby, Zast
u. v. a. wurden in focinianifde umgewandelt, viele Magnaten:
familien hatten id) der Lehre des Socinus zugewandt. Anſtatt fich
innerlich zu feitigen und der römiſchen Kirde Trop zu bieten,
3*
216 Verfall der Reformation in Polen.
befchäftigten ſich evangeliſche Synoden mit Angelegenheiten ber
Arianer, polemifierten gegen fie, zeriplitterten auch ihre Kräfte in
gegenfeitiger Bekämpfung. Freilich hatte das im 16. Jahrh. noch
nicht fo traurige Folgen: das Magnatengeſchlecht der Radziwills,
vor allem der Wilnajche Wojewode Nikolaus Radzimill, genannt
der Schwarze, hielt feine mächtige Hand über der reformierten
Kirche, alle Über: und Eingriffe des Katholizismus erfolgreich
abwehrenb.
Dem durch mehrere fi befehdende Denominationen ger
ſchwächten Proteftantismus in Polen entitand bald ein neuer Feind
in dem nad) Polen eingeführten Jefuitenorden, ber 1570 feine
erfte Schule in Wilna gründete und durch feine befannte Propa-
ganda bald das Erziehungswefen, zuerft das öffentlige, in jeine
Hand befam.
„Geleitet von ber Erfenutnis, wie wichtig für die römiſche
Kirche ein fiheres Herrſchaflsgebiet zwiſchen dem proteflantifchen
Deutfchland und dem ſchismatiſchen Nußland fei”, einheitlih und
vorzüglich organifiert, fand diefer, nur zum Kampf gegen ben
Proteftantismus ins Leben gerufene Orden, leßteren zerfplittert
und uneinig vor, ein Umftand, ber ihm jein Wirken wefentlich
erleidhterte. Wenn alfo die Tätigfeit der Jefuiten in erfter Reihe
daran ſchuld war, daß die Reformation in Verfall geriet, fo muß
anderſeits der polnijche Proteftantismus reumülig an die eigene
Bruft ſchlagen und befennen: die eigene Schwäche und Zerfplit-
terung habe den Jeſuiten die Arbeit erleichtert.
Als ber letzte Jagellone auf polniſchem Thron, Sigismund
Auguft, 1572 jeine Augen ſchloß, war die proteflantifhe Partei
«oder wie fie in Polen genannt wurde „bie Diffidenten“) noch fo
mächtig, baf fie beim mum folgenden Wahltönig Heinrich Valois
eine Beſtätigung aller ihrer religiöfen Freiheiten und Privilegien
durchſetzen konnte. Nah dem mur wenige Monate regierenden
Valois, wurde der Fürft von Siebenbürgen Stefan Batory, für
ben Thron Polens gewählt, ein Mann, dem die Nepublit ihre
legte Glanzperiode verdankte, der glücklich in feinen Kriegen, auch
für die Volfsbildung Sorge trug, ſich hier leider vollftändig ber
Jeſuiten bedienend. Er gründete Jefuitenfollegien in Niga, Pologt,
Grodno u. v. a., freilich nicht ohne auf Wiberjtand bei ben
Diffidenten zu ftoßen.
Verfall der Reformation in Polen. ar
Intolerant darf man Batory nicht nennen; einen Blandrata
neben anderen Dijfidenten bei fi habend, hielt er dem ihm zu
religiöfer Intoleranz anipornenden Zefuiten das Mort entgegen,
„nicht über die Gewiſſen, fondern über fein Volk wolle er herrichen“.
Seine Vorliebe für die Jefuiten läßt fih daraus erflären, daß
diefer Orden ihm durch feine ausgezeichnete Organilation und
Ordnung Achtung einflößte und er durch ihn auch feinem Volke
ben Geift der Ordnung und der Geſehesachtung einzuflößen ger
dachte. Die Brüder von der societas Jesu verftanden es auch
ausgezeichnet, durch ſchöne Vorträge, die fie vor dem König hielten,
wie 3. B. „de potestete et dignitate regia*, in ihm den JIrr—
tum, als feien fie die Träger des monarchiſtiſchen Gedanken und
Zertörer der Anarchie, aufrecht zu erhalten. Gejtügt durd bie
Huld des Königs, waren die Jeſuiten imilande, mit den ger
lehrtejten Männern ihres Jahrhunderts ihre Kollegien zu befegen,
ich nenne nur Namen wie Starga, Brand, Fabricius, den Portugifen
Vega u. v. a., die den Kampf mit den Diffidenten aufnahmen,
die nicht mehr über ſolche bedeutende Prediger wie zur Jagellonen-
zeit verfügten. — Der mühlam zujtandegelommene „Consensus
Sendomiriensis 1570*, ber gleichſam eine Union ber Evangelijhen
in Polen war, worin fie ſich gegenfeitig Schuh und Unterftügung
fiherten, aljo politiich und religiös, bejtand nur dem Namen nad).
Der geijtige Urheber des „Consensus* Johannes a Lajco war
ſchon längft tot, ohne die Vereinigung erlebt zu haben ; ihm folgte
bald, 1565 der mächtigſte Protektor der evangelijchen Sache, der
wilnajche Wojewode Nikolaus Nadzimill, der Schwarze. Trog der
Ermahnungen, bie ber Varer auf feinem Sterbebette an feine
Söhne gerichtet, treu ihrem Glauben zu bleiben, traten dieſelben
in die katholiſche Kirche zurüd, und wenn der Vater viel Mühe
und Koften verwandt, die erſte polniſche Bibel überjegen und
drucken zu laſſen, jo ſcheute der Sohn feine nod) größeren, fie zu
verbrennen umd zu vernichten. Komplete Gremplare der „Breiter
Bibel” find heute eine bibliographiſche Seltenheit.
Wenn während ber Negierung Vatorys auch hin und wieder
Verfolgungen ber Diffibenten vorfamen, fo wurden fie jedesmat
mehr oder minder vom Könige geahndet und 1581 den 26. Cept.
erließ der König aus jeinem Feldlager bei Pſkow ein Edikt,
welches jegliche Verfolgung der Tiffidenten aufs jtrengjte unter-
218 Verfall der Neformation in Polen.
fagte. — Es war dies das letzte Toleranzebift eines polniichen
Königs.
Trotz heftigem Wiederftande der proteftantijden Parteiger
noffen, an deren Spige Zborowski jtand, wurde im Auguſt 1587
ber „Jeſuitenkönig“, wie er ſich mit Vorliebe nennen lieh, Sigis:
mund III. Waja zum König von Polen gewählt. — Die Regie—
rung dieſes Königs kann als eflatantes Beiſpiel dafür dienen,
wie weit herunter die Jeſuitenherrſchaft ein blühendes Land bringen
fan. Polen, eine freie Adelsrepublit, nahm jegt in ſich papiftiich-
jefuitifche, und dadurch abfolutiftijche Elemente auf, trat aljo in
einen Gegenfag zu feiner eigenen Idee, und wurde jo ein Widers
ſpruch in ſich jelbft; und das rächte ſich, rächte ſich fo furchtbar,
daß das ganze poluiſche Staatsweſen mit Naturnotwendigkeit
zugrunde gehen mußte, denn die Weltgeſchichte duldet feine
Stantengebilde, die in ſich ein Widerſpruch, ihrer Beflimmung
nicht entiprechen.
AS Sigismund III. während des berühmten Aufruhrs des
Zebrzydowsti 1605, der ein Protejt gegen das herrſchende politifche
und veligiöfe Syſſem war, den Proteftanten die Hand zu Ver-
föhnung reichen wollte, — er hat es damals nicht aus Neigung
für die Proteftanten, vielmehr von ihnen in die Enge getrieben
getan, — da hielt ihm fein Beichtvater, der Jejuit P. Skarga
das Wort entgegen: er jolle es nicht tun, wenn auch das Bater-
land darob zugrunde ginge, das himmlische Vaterland würde ihnen
doch erhalten bleiben. — Cigismund II. fhlug damals den
Aufſtand nieder; aud das irdiſche Vaterland war geretiet, —
doch nur ſcheinbar: wir ftehen am Anfang des Endes der
Geſchichte Polens und inmitten des Niederganges der reforma-
toriſchen Idee.
Hierauf begannen religiöſe Verfolgungen. Wir können an
dieſer Stelle auf die Eingelfeiten nicht weiter eingehen. Die Ver:
folgungen find immer gleichartige geweien und unterideiden ſich
auch wenig von den in anderen ändern; wir fonftatieren bier
nur: große und häufige Verfolgungen fanden ftatt, die in Polen
deshalb um fo ſchwerer getragen wurden, als anderswo, weil hier
der polniiche biffientiiche Edelmann von dem ihn ganz gleichſtehen—
ben fatholifhen Standesgenoſſen Verfolgungen erlitt, und dies in
einem Lande, das Üch ſtolz Nepnbhif
Verfall der Reformation in Polen. 219
Die Zahl der Evangelifchen ſchmolz gewaltig zufammen,
wieberum ein Beweis, daß die Reformation nur (oje Wurzeln in
Polen gefaßt und die Volfsjeele unberührt gelaffen hat. Inner:
lich ſchwache fielen ab, die Einen verlodte Hohe Karriere, bie von
jegt ab Diffidenten verfchloffen blieb, Andere wurden infolge von
Miſchehen dem väterlichen Velenntnis untreu. Jejuitentoll
jefuitiiche und focinianiihe Hauslehrer trugen das Ahrige bei,
Reihen der Evangelischen ſtark zu lichten. Voller Sorge be
ſchãftigte fid eine Synode zu Wilna 1611 mit der Frage: woher
nehmen wir Prediger? Die ſchwere, ja gefahrvolle Lage des
Proteſtantismus in Polen ſchreckte die jungen Kandidaten von dem
damals mit Selbftaufopferung verbundenen Predigerberufe zurüd.
Diefer Mangel brachie es aud mit ſich, daß jeder erite Beſie, der
ſich zu dieſem „dornenvollen Amte“ meldete, aufgenommen wurde,
oft ungebildete, untaugliche Menſchen, die vom evangeliſchen Be:
fenntnis feine blafje Ahnung hatten, — zum großen Nachteile der
proteftantifchen Kirche.
Eine bis jegt entichieden zu wenig gewürdigte Talſache, die
aber für den Niedergang der Neformation in Polen von aller—
größter Bedeutung war, finden wir in der Verlegung der
Negierung und der Nejidenz von Krakau (Stleins
polen) nad Warſchau (Majovien).
Der Jefuitenfönig fühlte fh wohler unter feinem maſoviſchen,
rein katholiſchen Landadel, als in dem von diſſidentiſchen Groß
grundbefigern bewohnten Kleinpolen. Maſovien wurde jegt Stüge
und Zentrum der Regierung Sigismund IIT., wodurch die Diili:
denten geſchwächt wurden.
1622 jtarb ismund III, bis zufegt mit der Bekehrung
der Diſſidenten beſchäfligt, taub für ihre Klagen und Velchwerden.
Obgfeid) fid) vieles unter jeiner Negierung in Lande gelodert hatte,
obgleid) er die Anwartidaft auf die Throne mächtiger Nachbar:
reihe (Schweden und Rußland), dank jeinem religiöfen Fanatismus,
verfcherzt hatte, — er ging ruhig zu Grabe, es war ihm gelungen
die Reformation aufzuhalten, ja noch mehr, mindejtens die Hälfte
des bijjidentiichen Adels der römifchen Kirche wiederzugewinnen.
Nicht einen Fontinwierlichen Bericht über den Verfall der Re—
formation in Polen will ich hier geben; ich ſchreite darum zur
nähjten Urſache ihres Fulls.
220 Verfall ber Reformation in Polen.
Sigismund III. folgte fein Sohn Wladiflaus IV., unter
deſſen Regierung bie Lage der Evangeliihen bie gleiche blieb.
(„Colloquium Charitativum Thoruniense 1644*.)
1648 folgte dieſem fein Bruder, ber Kardinal Johann Nafimir.
Unter deſſen Regierung müſſen wir ein neues Moment des Ber
falls der polnischen Neformation hervorheben. 1655 brach der
polniſch⸗ſchwediſche Krieg aus; ein Teil der Titauifch-polnifchen
Magnaten, darunter ber reformierte Janusz Radziwill, ſchloß ſich
den Schweden an, hauptſächlich aus dem Grunde, um Schub vor
der vordringenben moffowitiihen Macht zu fuchen, denn von der durch
triegeriſche Mißerfolge geihwächten Nepublit war nichts mehr zu
erwarten. Zu den auf ſchwediſche Seite Übergetretenen gehörten
feineswegs bloß Protejtanten, ſondern aud) Katholiken, auch Hatten
bie Evangeliſchen ſich abjolut feiner bejonderen Proteftion der
Schweden zu erfreuen, die gleichermaßen fatholiihe wie evan-
geliiche Befigungen zerftörten. Der Krieg endete für Polen glüd-
lich; weniger glücklich jedoch für die polnischen Proteftanten, die
als Urheber des Krieges angefehen, den Sündenbod ftellen mußten.
Der Friede zu Oliva 1660 brachte ihnen nichts. Die „pax dissi-
dentium* war in Vergeljenheit geraten. 1668 wurde ein Edikt
erlaffen, worin der Übertritt zur ebangeliſchen Kirche verboten, ja
mit ber Verbannung bejtraft wurde.
Dan beihuldigt oft die polniſchen Proteftanten, mit aus:
lãndiſchen Mächten landesverräteriihe Beziehungen gehabt zu
haben. Doch iſt dies ungeredt. Im Zeitalter der Gegenrefor-
mation, wo politifche und religiöje Motive eng verbunden, über
den nationalen ftanden, wo Philipp IL. feine Armada ausfandte,
und die englifhen Katholiken deshalb noch keineswegs als Landes:
verräler bezeichnet wurden, — in diefem Zeitalter muß auch der
polniſche Proteftantismus mit demjelben Maße, wie die im Weiten,
in der Minorität ſich befindenden religiöjen Parteien — feien es
Katholiken oder Proteſtanten — gemeflen werden. Won ihren
offiziellen Negierungen im Stich gelaflen, waren die polniſchen
Evangelijchen auf fremden Veiſtand angewiefen. Vielen Nutzen
hatten fie von auswärtigen Interventionen nie gehabt. „Der
übermähtige Zwang der politiicen Verhältniſſe Hinderte jebes
mirfiame Eingreifen“. (Molf).
Verfall der Reformation in Polen. ꝛei
Soviel über die Haupturſachen des Verfalls der Reformation
in Polen. Die fählifiche Zeit bringt feine neuen Momente, ber
Niedergang dauert fort, unaufhaltfam verringerten ſich die Ge—
meinden und die einft jo mächtige Neformation mußte es erleben,
daß in manchen Gemeinden „der Pater am Grabe des legten
feiner Gemeindeglieder fand“. Was von der gemeinen Refor-
mation in Polen übrig geblieben, wirb in althergebradhter Art und
Weiſe von der Wilnaſchen Synode, der Nepräfentantin dieſes
großen Erbes der Reformation, verwaltet. Ob fie diejen Reit,
der die Feuerprobe der Verfolgungenüberitanden, zu erhalten willen
wird, muß die Zukunft beweilen.
Zum Schluß falle ic) das Gejagte in drei furze Theſen:
1. Die reformatorijche Idee hatte in Polen nur oberflächliche
Verbreitung gefunden, die Vollsſeele blieb unberührt.
2. Die Zerfplitterung der polniſchen evangeliſchen Kirche in ſich
befehdende Denominationen, jhwächte die Einheit derjelben und
erleichterte dem Jefuitismus den Sieg.
3. Unglüdliche politifche Ronftellationen verfepten ber Neformation
in Polen den legten Echlag.
N
Nein Lied,
Ur ich grüßefnd meines Weges ging,
Stand ein Fenfler ofen an dem bege,
KHörr iG eine weiße Mädhenflimme,
Die mein Lied Hinausfang in den Abend.
Seife faufhend Nand ih MIT am Fenfer,
War es do, als wär Ih fängfi geflorden
And as zöge meines Sedens Seele
Qt der Stimme, die mein Lied Alnausfang.
Ko. Freymann.
Fiterarifche Rundichau.
gs
Zur Geidjichte des Lehnswejens in Livland.
[8 erites Heft des achtzehnten Bandes der von ber Geſellſchaft
für Gedichte und Altertumskunde der Oftjeeprovinzen heraus:
gegebenen „Dlitteilungen aus der livländiichen Gedichte” erichien
zu Ende bes Jahres 1903 der erjte Teil einer groß angelegten
rechtsgeichichtlihen Arbeit, bie „Qur Gejdidte des Lehns-
wefens in Zivland“ betitelt ift und Aftaf d. Tranjeher
Roſeneck zum Verfaſſer hat.
Wenn wir es als befremdlich bezeichnen, daß die baltifche
Preſſe von einer fo bedeutenden wijlenfchaftlidjen Leiftung bisher
feine Notiz genommen hat, fo wird vorausfigtlid, eingewandt
werben, baß_ die Veſprechung fadhoiifenfchaftlicher Nrbeiten Füglich
den Fachzeitjchriften überlaſſen bleiben muß. Dielen Einwand
fönnen wir jedoch mu jofern gelten laſſen, als dabei die eigent-
ficpe wiflenfhaftliche Kritik in Frage kommt und dem bergeftalt
eingeichränften Zugeftändnis folgt der Selbftvorwurf auf dem Fuße,
daß wir unfre einzige Fachzeitſchrift, die Dorpater „Zeitſchrifi für
Nechtswilienihaft” und deven Fortjegung, die „Dorpater juriftiihen
iudien", dem befannten großen „Grab der Willenfhaft“ haben
verfallen laſſen. Unter ſolchen Umftänden ift es wohl erſt recht
Sache ber Preſſe, ihre Lefer auf die Früchte baltiſcher Wiſſenſchaft
aufmerfiam zu machen. Solder Früchte gibt es ja nur noch
wenige, unb daß uns folde überhaupt noch bejchert werden, ijt
doch wahrhaft herzerfreulich.
Die vorliegende Arbeit führt uns freilich weit ab von alle-
dem, was heute die Geiſter bewegt und vielfach) verwirrt. Das
aber iſt ficherlich fein Schade, vielmehr dürfte es ſich in Zeiten
der Unraft und politischer Erregung vorzüglich empfehlen, dem
Gemüt yeitweilig in wienfhaftlicer Einkehr einen Nuhepunft zu
bieten. Weltflucht bedeutet das noch fange nicht! Seltjanerweile
jedod will „ber Parteien Gunjt und Haß“ Ipegiell den Gegenjtand,
Literariſche Rundicau. 223
der uns hier beſchäftigen foll, nicht unbedingt als einen folden
Nuhepunft anerfennen. Denn wo volltommene Unwiſſenheit oder
das noch gefährlichere Halbwiſſen ihrer inftinftiven Abneigung
gegen alle mittelalterlihen Gebilde Ausbrud geben wollen, da
lautet das Wort, das für die fehlenden Begriffe zur rechten Zeit
ſich einftellt, wohl unfehlbar „feudal”. Ebenfo muß das arme
Wort herhalten, wo irgend ein Prog dem egenjtande feines
ſtumpfſinnigen Behagens gern den Auſtrich der Vornehmheit geben
möchte. Auch hier berühren ſich die Gegenfäge.
Die uns nunmehr gebotene Unterfuhung der geſchichtlichen
Entwidlung des Lehnsweſens in Livland iſt jo breit und tief an:
gelegt, daß fie in dem vorliegenden Hefte nicht wohl zum Abjchluß
gebracht werden konnte, fie erjchöpft aber dad, indem fie bie
Geſchichte des „Mannlehens“ oder Nitterlehens bis zum Untergang
der politiſchen Setbftändigfeit des Landes erledigt, den wichtigiten
Teil, ja im Grunde alles, was man, wenn von Lehnrecht die Rede
iſt, geineiniglich ins Auge zu faſſen pflegt. Bon dem in Ausſicht
geitellten zweiten Teil, der ſich mit dem Lehen zu minderem Necht,
ohne Mannſchaft, beichäftigen joll, dürfen wir uns die Aufhellung
eines bisher sönig vernachläffigten Gebiets unſrer Nechtsgejchichte
verſprechen. Das gilt aud) vom dritten, abſchließenden Teile, der
aus der Gejchichte des Lehnsweſens die polniüche, fchwebifhe und
ruſſiſche Periode behandeln wird, und zwar, wie es in der Natur
der Sache liegt, hauptſächlich in öffentlich-rechtliher Beziehung.
Meiſt, begnügt man ſich mit einer oberflädlichen Kenntnis des
ibeinbar epüodenhaften Wiederauffebens der Lehnrechtöfrage zur
geit der berücjtigten SHüterreduftion Karls XI., aud) weiß man
ſich allenfalls des Ukaſes oder Manifejts vom 3. Mai 1783, als
des Abſchluſſes diefer mehrhundertjährigen Geſchichte, zu erinnern.
Ein Ufas mußte es natürlich fein, denn ein folder bezeichnete
nunmehr im Rechtsleben Anfang oder Ende aller Dinge.
An dem jept vollendeten Teile fei zunächſt bie in logiſcher
Zolgerichtigteit gegliederte Dispofition, auf die bei ber Darftellung
von Nechtsverhältnifien natürlich befonders Gewicht zu legen it,
rühmend hervorgehoben. Diefer Vorzug wi durd) Seitenüber:
ichriften noch mehr zur Geltung gelangt fein. Cie halten dem
Leſer das jpezielle VBeweisthema, auf das man fid) bei vielfacher
Gliederung des Stoffes andernfalls erft befinnen muß, erwünjchter-
maßen bejtändig vor Augen.
Von überfommenen YLehrmeinungen hat ji) der Verfaſſer
vollfommen frei zu halten gewußt und demgemäß jeine Arbeit
durchweg auf eigene Quellenforihungen gegründet. Die Polemit
gegen frühere Anſchaumgen war unter ſolchen Umftänden in vielen
Eingelfragen unvermeidlich, aber dem Leer wird durch gewiffen:
haftes Anführen der Quellen, deren Wortlaut in wichtigen Zülen
E22 Literariſche Rundſchau.
eingeſchaltet iſt, regelmäßig die Möglichkeit geboten, ſelbſt zu prüfen.
Die meiften Schriſtſteller pflegen der Polemik ein fanftes Hinweg-
gleiten über wiſſenſchaftliche Gegenjäge vorzuziehen und ſich mit
der Begründung ber eigenen Anjchauung zu begnügen, nicht felten
jedoh zum Schaden der Sade, indem der Leſer fich gelegentlich
garnicht jo recht beifen bewußt wird, hier oder dort an einem
wiilenfchaftlijen Scheidewege angelangt zu fein. Dem wird durd)
Segenüberjtellung von Theje und Antitheje am wirkfamften vor-
gebeugt; daraus folgt die Notwendigkeit der Polemikl von ſelbſt.
Nächſt dem forgfältigen Quellenſtudium und der ausgiebigen
Benutzung der neueren rechtsgeſchichtlichen Literatur Deutſchlauds,
erjheint als Vorzug ber Arbeit der überall beobachtete enge
Zuiammenbang der politiſchen und vor allem ſozialpolitiſchen
Geſchichte des Landes mit den zu behandelnden Gebieten der
Neditsgejchichte. Gleich die im Abjchnitt „Allgemeines“ gebotene
Überfiht, für die der auswärtige Leſer bejonders dankbar fein
wird, ftellt die Arbeit unter dieſen Gefichtspunft. Wie gauz anders
entwidelt fi nicht gegenwärtig die Eniſtehung der jogenannten
Jungingenjhen Gnade von 1397, jenes für die weitere Ausge-
ftaltung des Lehmechis jo bedeutungsvollen Privilegs, feitdem fie,
wie gehörig, aus den politiichen Vorgängen ihrer bewegten Zeit
abgeleitet worden it.
Dasselbe gilt von dem befannten Silveſterſchen Gnadenrecht
von 1457 und vollends von den fegten, unter dem Drud der für
die Machtftellung der geiftlichen Landesherren verhängnisvollen
konjeifionellen Wandlungen, den Prälaten von ihren Lafallen
abgerungenen Zugeftändnifjen.
Vorzüglich diefe Abjchnitte wird auch der Nichtfahmann mit
Vergnügen und Vorteil lefen. Unter den Nechtsinjtituten, die
durch v. Tranfehe eine weſentliche Klärung erfahren haben, fei
das Gejamthandrecht befonders hervorgehoben. Es beanſprucht in
der Geſchichte des Lehnrechts injofern erhöhtes Antereffe, als in
der gegen die Gefamthandfamilien innerhalb der Ritterſchaft des
[3 ſifts Niga 1523 in Lemſal zuſtande gefommenen Einigung
u. a. ein „Proteſt gegen die Bedrohung durd die, einen pluto-
fratiihen Charakter annehmenden Gejamthandfanilien, alfo gegen
die Anhäfionsfraft des Kapitals und gegen die Gefahr einer
materiellen und fogialen Differenzierung der Nitterfhaft” erblidt
werben fann. Während fonft regelmähig die Vajallenichaft durch
gemeinfames Inlereſſe ihrem Lehns- und Lanbesherrn gegenüber
ſolidariſch verbunden erjcheint, erbliden wir hier eine bedeutende
Gruppe der Ritterſchaft in doppelter Frontſtellung. Durd ein
andres Nechtsinftitut, die Weiterverlehnung oder Afterleihe, war,
wie man von vornherein meinen jollte, die Gefahr einer „Differen-
gierung“ erft recht nahe gelegt. Die Alajfe der ftervajallen war
Siteranifche Rundſchau. 2
wenig befannt und beachtet. Sie ift eigentlich erſt durch v. Tranfches
Studie „Die Afterlehen in Livland“ (im „Jahrbuch für Genealogie,
Heraldik und Sphragiftit” 1896 und 1899) in unfre Rechtsgeſchichte
eingeführt worden. Obgleih nun das Nedlsverhältnis zwiſchen
Vaſall und Aftervajall in jeder Hinfiht dem zwiſchen dem oberen
Lehnsheren und Vajall analog war, hat gleichwohl, wie v. Tranfehe
fonftatiert, ein Sozialer Niederfchlag fo wenig ftattgefunden, daß
uns nicht wenige Glieder der angejeheniten und mädtigiten Adels:
geichledhter unter den Aftervafallen begegnen. Mer die Gefchichte
der jtändifchen Entwiclung der baltiihen Ritterſchaften bis in die
neuere Zeit hinein forgfältig verfolgt, der wird ſich kaum dem
Eindrud verſchließen können, daß die glückliche Vermeidung einer
Differenzierung innerhalb der forporativen Verbände in uraltem
Rechtsboden wurzelt, an den ja wohl auch unfer Landtägliches
„Virilſtimmrecht“ erinnert. Keinen geringen Anteil am einheits
lichen Charakter des fivländifhen Lehnredts und der damit
jufammenhängenden feiten Fügung der vajalliichen Verbände wird
man der Abwehr des Eindringens dienſtrechtlicher Normen beizu-
mefjen haben. Im Gegenfag zu der von E. Schilling in feiner
befannten Studie „Die Ichn: und erbrehtliden Satzungen bes
Waldemar » Erihiden Rechts“ vertretenen Anſchauung hat von
Tranjehe, wie uns ſcheint, überzeugend nachgewieſen, daß eine
Verquidung lehn: und dienſtrechllicher Normen Hier feineswegs
ftattgefunden hat, daß vielmehr das altlivländiſche Lehnrecht durch:
aus auf ſächſiſchem Lehnrecht beruht, wobei in deifen Ausgeitaltung
ſchon früh die Neigung zu landrechilichen Normen hervortrilt.
Entfprechend dem Xrbeitsplane mußte fid v. Traniche im
mwejentlichen auf die eigentliche Ichnrechtliche Entwiclung beichränfen.
Und doch ift durch die vorliegende Studie unſre Kenntnis auch
darüber hinaus in mehrfacher Beziehung erweitert worden, u. u.
in beirefj der Behördenverfaffung und des Initanzenzuges. Den
Sandtag in der Eigenfdjaft einer hödjften Infiang binnen Landes
lernen wir jegt erit als einen Ausſchuß von 21 Nichtern Fennen.
Damit läßt ſich fhon etwas anfangen, zumal da wir erfahıen,
daß dieſe Oberinſtanz in landtagslofer Zeit mindejtens alle drei
Jahre zufammentreten jollte. Den älteren Nedytöhiftorilern war
auch das unbekannt.
Möge es v. Tranfche gelingen, feine ſchöne Arbeit jo durch—
zuführen, wie fie geplant if. Wer bie livländiiche rechtsgeſchicht-
liche Literatur Fennt, wird gern anerfennen, daß in ihr das uns
jebl gebotene Bud) als die weitaus bedeutendite willenjhaftliche
Leiſtung an erjter Stelle ſteht.
9. v. Bruiningt.
Über Wolynskis „Der moderne Idealismus
und Rußland.
orte — Morte — Worte — ein Meer von Worten! Und hin
und wieder wie lanzende Kähne auf wogenden Wellen — hier
ein Gedanfe — dort ein Gedanke! Aber immer wilder entbrennt
das Meer — die Kühne ſchlagen um — uud der eier, der dem
fchwanfen Gedanfenfahn vertraute, greift ind Leere. Dennoch
wird das Bud) Wolpnof’s* Aufichen erregen, denn bie eins
verſchwommene, indefjen feineswegs feichte Myftik wird der Moderne
jufagen. Cs lohnt daher der Mühe, den Gedanfengang Wolynsfis
darzulegen. Es iſt nicht leicht, denn was Molynsfi gibt, iſt
Dffenbarungsphilofophie, angewandt auf bildende und bidhtende
Kunft, modernen Ndealismus und Aufland. Hören wir: Körper
und Scele des Menden bilden in unteilbarer Vereinigung bie
menschliche Perfönlichkeit. Im Zwieſpalt mit diefen beiden Ele:
menten trägt der Menjc ein drittes in ſich — den Geiſt. Diefer
Geiſt entjpricht dem ſolraliſchen Dämon, feine Huferungen (z3. B.
das Gewiſſen) find dem perjönlic-egoiftiihen Element entgegen—
gelept. Die Perfönlichleit ift ubjettiv, der Geift objettiv. Dem
Unterfchied zwiſchen Cele und Geifl entipricht in der Nantihen
Mhitojophie der Unterjchied zwifiien Vernunft und Yerftand (sich.
ud) Körper und Crele ftehen im Gegenfaß zu einander. Beide
aber find begerricht vom egoiftifchen Willen. Sn feiner förper-
lichen Ausdrucsform ftrebt der Wille nad Vefrievigung feiner
unerfättlihen Gelüfte, er iſt grob und gewaltfam, in feiner
feeliichen Ansdrucsform unterdrüdt der Wille den Körper, er ver«
achtet die Nealität, iſt aber nicht weniger egoiſtiſch. Der Wille
in Seele und Körper hängt am „Ich“, aud die Seele mit allen
ihren Feinheiten gehört der finnlichen Welt an. Der Geift indeſſen
entſtammt der maß: und grenzenlojen Welt und vermittelt uns
ihr Verfländnis, ex ft unperfönlich, univerfell und ideal, wie Die
Welt, aus der er kommt. Die Berührung des Menſchen mit ber
überfinnlichen Welt durch den Geift wirft auf jeine körperlich-
feeliiche Individualität, indem es fein Denfen umgeftaltet. Aus
dem empirifchen wird ein ideales Denfen, den realen Bildern der
Gegenftände ftellt der Menſch die ivenlen Urbilder gegenüber.
+) A. 8. Wolynsti, Der moderne Idealigmus und Rußland. Frantf.
a. M. Lit. Anit. 1905.
Literariſche Rundſchau. 87
Das Verftändnis der Melt vollzieht fih nun in zwei Phafen.
In ber erften Phaje fieht der Menſch den Zwiejpalt ber realen
Bilder und des Urbildes, biefer Zwiepalt erfheint iragiſch und it
die Wurzel des Pejlimismus. In der zweiten Phaſe fieht der
Menſch die Bewegung des Bildes zum Urbilde, der Zwieſpalt
ſchwindet und in der Ertaje des Geiſtes ficht er die Bewegung
als vollzogen, das Bild zum Urbilde geworben. Sold eine
efftatifche Durchgeiftigung des Denfchen zeigen 5. B. bie Märtyrer,
nicht allein die chriſtlichen, jondern auch die der Wiſſenſchaft. In
den idealen Urbildern alles real Erijtierenden bdenfen, bedeutet —
idealiftifch denfen, fein eigenes ideales Urbild verwirklichen, und
zur Qerwirflidung der idealen Urbilder des Lebens überhaupt
beitragen, bebeutet — idealiſtiſch fein.
Die ganze menschliche Tätigkeit kann in eine theoretifche und
praftifche eingeteilt werden, — fünftlerifches Schaffen und folide
Arbeit, wiilenfchaftliches, philofophiiches und religiöfes Denten.
Wiſſenſchaftliches Denken iſi bie Erforſchung der körperlichſeeliſchen
Welt, philoſophiſches Denken iſt das Denfen des menſchlichen Verz
ſtandes über den Geiſt und die Welt durch metaphyſiſche Ideen
des Geiftes, das einheitliche Denfen über Menſch und Welt ift
das religiöfe Denken, weldes von dem unmittelbaren Empfinden
der Gottheit ausgeht. Durch das Prisma der Gottheit betrachtet,
zeigen ſich die Ericheinungen bes Lebens in konkreter Deutlichfeit
auf mpftilchgrenzenlofem Hinlergrunde, die finnliche und überjini
liche Welt, welde das profane Denten f—heidet, eriheinen im
religiöfen Denfen verſchmolzen. Diefe Kraft gewinnt das myſtiſch-
religiöfe Denken Hauptjählic durch den Begriff Golgathas, durch
„bie Idee ber freiwilligen Areuzigung des perfönliden „Id“ im
Namen des Geijtes, der Beraufhung an der Gottheit, der Meta—
phpfit, der himmliihen Wahrheit, die in die nüchterne Welt der
Lebensbeziehungen durch das Blut Golgathas hinabfteigt." Doch
unterliegt das myſtiſche Denten der Kontrolle der Vernunft.
Diejes nun, das myſtiſche, veligiöfe Denken, das Erfaſſen ber
Welt aus der Empfindung der Gottheit heraus it das Ziel und
wird das Nejultat der modernen ibealiftiihen Woge jein. Obwohl
nun Rußland hinter den bejtändigen wiſſenſchafllich philoſophiſchen
Errungenschaften Europas bedeutend zurüdgeblieben üt, „ut es
unmöglich nicht zu fehen und zu fühlen, daß gerade in der ibea-
liſtiſchen Bewegung Rußland eine wichtige Nolle fpielen wird.
Bei der Abwvelenheit, alter fultureller Aufihichtungen fann_ der
ruſſiſche Menſch in vieler Hinſicht in einer günftigeren Lage fein“
(sie), In der Kunſt treten die großen Rontrafte der empiriihen
und ber myſtiſchen Welt nod) greller als im Leben jelbft hervor.
Die Kunft an und für fih unterftreicht diefen Zwieipalt, bie
höchfte, geiftige Kunft aber verjöhnt ihm, jie fdhreitet von dem
228 Llterariſche Rundſchau.
Empiriſchen zum Realen fort, „von ben realen, körperlich-ſeeliſchen
Vildern der umgebenden Melt zu den flammenden Urbilbern ber
Wirflichfeit in ihren neuen, friſchen, edlen Verförperungen.“
Die Darftellung der Dinge in ihren Urbildern durch die bildende
Aunſt bezeichnet Wolynsfi als Ikonographie, welche das Weſen
der Dinge darftelt. Dielen Anforderungen entfpredjien die
Kunſt der italienischen Nenailfance und die öſtlich-byzantiniſche
Honographie „mit der herrlichen Variante des grichijch- bpzantinijchen
Schaffens auf dem Gebiete der ruſſiſchen Heiligenmalerei”. Beide
haben den Höhepunkt ihrer Entwidlung erreiht. In ber metas
phnfiichen Darftellung der Welt erfcheint indeffen die byzantiniiche
Ilonograppie vollendeter und tiefer. Doch ift aud fie in ihren
Formen befcränft. Die neue Kunft, die neue moderne Ikono—
graphie wird die ganze Welt vergöttlichen, — eine Syntheſe der
realijliichen Malerei und der Fonographie im engen Sinne des
Wortes. Diele Eyntheie in das Etreben der modernen Malerei
mit all ihrem Impreffionismus und ihrer Defadenz. Sie leidet
noch unter dem Subjeftivismus, fie fteht in der eriten Phaſe,
dem Zwieſpalt zwiſchen Bild und Urbild, aber — all dies it
heilig - ilt die Ronvulfion des entftehenden fünftleriichen Idealismus.
Wenn die idealiſtiſche Malerei zur Ilonographie hinneigt, „ſo
muß und ſoll die lünſtleriſche Literatur zu einem geiwiffen neuen,
göttlichen Worte werden, in dem alle Wahrheiten, die irdiſchen
und die himliſchen, alle Wiederſprüche der menschlichen Geſchichte,
alle ihre tragiichen Zwiefpätte mit ihren ihriſchen Köfungen gegeben
find“. Das Velreben der Literatur zum göttlichen Worte zu
werben fällt befonders beim Etubium der modernen Literatur auf.
„Sie juht den neuen Menden unter dem Weſen des neuen
Geiſtes“. Ihre Krankheitserſcheinungen rühren daher, daß fie den
Individualismus, die Herrichaft des ſeeliſch-körperlichen noch nicht
überwunden hat, auch fie it noch in ber erjten Phaſe, aber fie
wird den Individualismus abftreifen. In ihrer Selbſtanalyſe ber
gegnet die Defadenz dem Empfinden der Goltheit, daher die Um—
fehr zum Idealismus. Es folgen Beifpiele, zuerſt Niepiche :
„Wirklich, was ift die ganze Philoſophie Nigiches anders, als ein
flammender Traum vom Uebermenfden, vom neuen Menſchen“.
Er ſucht ihn indeh fehlerhaft in der Richtung eines Ultraindivi—
dualismus. „Aber diefes Suchen felbit, diefer kraukhafte Etel
aegen das Alte, Abgelebte, gegen den alten Körper und die alte
Seele, die Hrundpfeiler einer jeden Ned)tgläubigleit im Xeben,
macht ihn zum echten Philoſophen der neuen Geldichte.
Auc, die duſſiſche Yiteratur ift mit dem Suchen der neuen
Vlenjden, der nenen Schönheit beihäftigt. Yon den folgenden,
zum Teil recht feinfinnigen, Beipredungen will id) nur einen
Sa herausheben: „Unwillfürtic; jagt man fich, das Tolftej ein
Sitererifge Rundſchau. 22
ruſſiſcher Luther fei, vielleicht nod ein größerer und tieferer, ale
der deutfche Luther 20.” Wolynski ſchließt mit der Ausficht auf
ein neues freies Gottesreich, in weldem es feine Beleidigten und
Beleidiger mehr geben wird. „Es weht ein neuer, neuer Geilt,
und auch Rußland, ein febendiger Teil des lebendigen Europas,
eilt . . mit verheißendem Blick voran’. —
Genug! Uebergenug von diefem umgefehrten Niepiche!
Genug von einer Philofophie, bie im freienden Wirbel un:
gezähfter Spfteme geboren, nur allzufehr den Cinbrud eines
Findelfindes hervorruft! Die Auflöfung des Dualismus durch
einen Trealismus it mir allerdings neu, übrigens wäre es
mit dem Willen ein Quartualismus. Welh eine Unter
Ichägung bes alten Dualismus, der ein Dualismus nicht
etwa der Wolynskliſchen Seele und bes Körpers, fonbern bes
Geiſtes und des Körpers ift! Und bie Seele jelbft, wenn fie
nicht dem grenzenlofen Reiche, nicht dem Geifte entitammt ilt,
woher ift fie und welche Bedeutung hat fie? Iſt fie nicht mehr
als der Begriff des Egoismus, der Geilt aber des Altruiomus?
Fit diefe Philoſophie, welche die Rernfragen umgeht, nicht mehr
als eine Paraphrafe des Wortes: Und Gott ſchuf den Menfchen
ſich zum Bilde? ft die förperlich-feeliihe Individualität ſinnlich
und vergänglich ? It aud) die Seele Körper? Wie, wenn fie
nicht Geift, fondern Körper ift, wenn fie ber finnlichen Welt ans
gehört, wie kann der Geift auf fie wirten? Wenn aber in uns
der Geift das ewige Element üt, die Seele aber finnlid und ver
gängli, ift die Seele in diefem Falle nicht nur Attribut des
Körpers und ber Geift die eigentliche Seele? Alles diefes und
taufendmal mehr werden wir willen, wenn die neue Erbe und
der neue Menſch entitanden find. Dann werben wir aud willen,
moher wir fommen und wohin wir gehen, was Molynsfi zu er:
örtern nicht für nötig befunden hat. — Und die Künjtler werden
fie uns ſchaffen, dieſe neue Welt! Sie werden jo lange bie
Welt burd) das Prisma der Gottheit betrachten, bis die Melt
ganz und gar vergöttlicht ijt! Jawohl — das werben fie tun,
die heiligen Künjtler der Moderne! — Wenn mir die Gottheit
die Wahrheit böte in der einen Hand und in ber anderen das
ewige Suden der Wahrheit, ich würde das Suden wählen, To
etwa fagt Leffing. Das ift Wolpnstis Gejhmad nicht!
Der Gefährte der Unflarheit ift die blinde Ueberhebung, bie
Ueberſchãtzung des menſchlichen Geiftes im allgemeinen, des Volks:
geiftes im befonderen. Blinde Ueberhebung und maßloſe Ueber—
freibung! Jeder Größenunterfcjieb verihwimmt vor bielen_pro-
phetichen Augen! Aus welchem Grunde follte Tolftoj ein ruſſiſcher
Luther fein? Wei Wolynjti nicht was Luther getan hat? —
Er hat das Mittelalter aus den Augein gehoben!
Beltifcie Monatsferift 1005, Heft 3. 4
20 Lutrariſche Rundſchau.
Aber mir iſt, als wäre ich dieſer Art des Philiſophierens
und dieſem Idealismus ſchon einmal begegnet; eine ſtockende, aber
unendlich beharrliche Stimme klingt mir in den Ohren. Ich
erinnere mich bes Worfalles, es war in Dorpat im NReftaurant
Kudramzew. Ein junger ſchmächtiger Mann, im grauen Stubenten-
tod hielt einen älteren beleibten Herren am Rnopflod und redete
heftig auf ihn ein: „Das Princip“, fagte er, „verftehen fie, das
Prinzip — das Prinzip ift das Grundlegende — verftehen fie —
das Grundlegende !"
„Warum vegen fie fi auf Aafi Porfiritih”, fagte der
ide Herr „wir wollen lieber einen Schnaps trinken !"
„Das Princip”, wiederholte ber Stubent „das Princip ift
das Grundlegende — verftchen fie, das Grundlegende !”
Sollten wir dieſe Jdenliften nicht fennen und ihre neue
Erbe, diefe Jbealiften, die in einem Aemzuge von WVienſchenrechten
und rembflämmigen reben? — Ich bredie ab — den Neit bes
Artikels ftreicht den Fremdſprachigen fowiejo ber Zenfor.
Karl v. Freymann.
Wolynski's „Buch vom großen Zorn“.
„Die Haarfarbe ſcheint bei Doſtojewsli bem Grade ber
Intenfität bes perjönlichen menfchlichen Elements zu entſprechen,
und fozufagen dem Grade feiner Offenheit für regenerierende,
gnabenvolle Einwirfungen des Himmels. . ." Ich las anfangs
in aller Nuhe über diefen Cap hinweg. Rach einigen Plinuten
verfpürte ich ein Unbehagen, ich jtand auf und ging ein wenig
bin und her, dann fegte ich mich wieder und verfüchle zu lefen,
aber die Buchſtaben blickten mich fo jonderbar ſchwarz und gleiche
förmig an und fie fhienen mir feinen Sinn zu geben. Ih fah
auf und überlegte. Sollte wirklich Doftojewsti — — — —
Der Stachel des Satzes ſaß mir im Fleiſche. Doch verjuchte ich
wider den Stachel zu löfen. Ach was, dachte ich in ralionaliſti-
ſchem Leichtfinn, aus welchem Grunde follte wohl diefes der Fall
fein? Nad einer halben Stunde begriff ich, daß id) den Sag
von ber Haarfarbe nicht ungeftraft gelefen hatte. Er ſaß tief im
Fleiſch und bohrte, ex bohrte fl aber fhmerzhaft. Die Frage,
ob bei Dojtojewsti die Haarfarbe dem Grade der Intenfität des
oiterariſche Rundſchau. 21
perſonlich⸗ menſchlichen Elements entipräde, begann für mich bren-
nend zu werben. Die Lölung der frage aber ermies fich fo
Ähwierig, daß ich mit Cap, Stachel und ungelöfter Frage zu Bett
ging. Dir träumte, mein Haar wäre ſchwarz und ein boshafter
ſchwarzer Teufel jtieße mich mit einer langen, langen Dfengabel
in den jdmärzeften Pfuhl der Hölle. Haarfarbe, Haarfarbe, Haar:
farbe! rief er hoͤhniſch und beugte ſich ſchabenfroh über ben Rand
des Höllenpfuhls. Diefer Traum fiimmte mid) dod bedenklich.
Ic äußerte meine Zweifel einem guten Freunde, den ich zufällig
auf der Straße traf. „Blöbfinn”, fagte er kurz und betrachtete
mid) mißtrauijch von der Seite. Abwarten, dachte ih. Und ich
hatte recht. Als ic) ihm nach einigen Tagen abermals begegnete,
am er haftig auf mid) zu. „Weißl du“, fagte er, „ich habe mir
deine Bemerkung von vorhin überlegt; es ift doch jehr wohl möglich,
daß bei Doftojewsti die Haarfarbe” — „Siehft du“, entgegnete
ich triumphierend. - Es war wie mit Marf Twains Licde vom
grünen und voten Schein; feit ich den Sak weiter gegeben, war
mir die Bedeutung der daarfarbe gleichgültig geworden. Aber
Wolynsfis Sag wandert nun wohl auf meine Reichnung.
Wer fid) über diefen Sag näher orientieren will, findet ihn
in Wolynsfis „Buch vom großen Zorn“*. Diejes Wert enthält
die kritiſche Unlerſuchung dreier Doftojewstiiher Romane (Teufel,
Idiot, Schuld und Sühne) und gibt an der Hand diefer Nomane
eine Kritif der Aunft Doftojewstis. Ein weiterer Band über das
Neich der Karamaſows wird demnächſt gleichfalls in beuticher Über
fegung eriheinen. (Literatifche Anftalt, Franfurt a. M.) Die
Geſchichte des Satzes habe ich nicht zum Scherz erzählt.
Die Fritiiche Analyje Wolpnftis ift reich an ähnlic, qualvollen
Säpen und Behauptungen, fie ift iharf, aber von der Art der
Schärfe, die leicht ſcharlig wird. Wolynsfi faßt die Darftellungs-
weile Doftojewsfis als fnmboliidhmyftifche. Doftojewsti zeichnet
„nicht mit einfach fünftlerifchen, fondern mit fünftleriich ſymboliſchen
Zügen.” Um Doftojewsti zu verftehen, bedürfen wir eines Er—
forichens jeiner Gedanken, „jozufagen vermittels des Fleiſches
feiner Helden, weil diefer Künftler ſelbſt, bei der erſtaunlichen
Höhe jeiner Aufſchwünge, in die Abgründe des Lebens durd) bie
beweglihen Linien und Formen des Fleiſches in ihren launen-
haften Verknüpfungen und ihrem myſiiſch-ſinnlichen Spiel ſchaut.
Eine ſolche ift die ſymboliſche, man fann wohl fagen, apofalyptiiche
Schreibart Doftojewstis. . . .” Wolynsfi will ben Begriff des
Symboliihen nicht in der Bedeutung der Erhebung des Veſon—
deren zum Allgemein menſchlichen verltanden willen, fonbern als
eine Art fonventioneller Zeichen, die einen gewiſſen Gedanfen des
*) 4. 2. Wolynsti, Das Bud vom großen Zorn. Frantſ. a. M.
giter, Anftalt. 1905.
r
232 Alterariſche Runbfgau.
Künftlers ſymboliſieren. Die Schreibart Doftojewsfis ift — „nicht
die echt fünftleriihe Schreibart, die die Ideen in bildlichen und
plaftiihen Formen wiedergibt, in natürlichen, nicht angefpannten,
die von dem Künftler nicht förmlich erfunden find und geradezu
das Leben felbft abbilden, fondern eine wiſſenſchaftlich-phifophiſche
Chiffre, die man erraten, in die Sprache der gewöhnlichen Vor:
ftellungen und Begriffe mit Hülfe der logiſchen Analyfe überfepen
muß.” — Von diefem Gedanken ausgehend, dechiffriert Wolynsti
Zug um Zug die Doflojewstiihe Darjtellung. Cr verfällt dabei,
wie leicht ertlärlich, im einzelnen der Ueberfreibung. Cr faht
Einzelheiten als ſymboliſch, die nicht ſymboliſch find. Er ſucht
der Darftellung eine ſymboliſch⸗myſtiſche Deutung zu geben, auch
dort, wo fie nicht myftißchzjgmbolifche Offenbarung, nicht Zeichens
ſprache, fondern naturgemäße Pſychologie iſt. Ein Beiſpiel für
viele: wenn Stawrogin, aus tiefen Gedanfen erwachend, be
harrlih und neugierig nad einem in der Ede bes Zimmers ihn
verblüffenden Gegenftande hinſchaut, fo bezeichnet Wolynsfi diefe
gebanfenvolle Zerjtreutheit als erjtandeshypnofe, und benupt
diefen Vorgang als Beleg dafür, daß Stawrogin ein Verfiandes-
hypnotiler fei, ein Menſch, der ausichlieglid unter dem Einfluß
des abftraft formellen Denkens ſteht und feiner Beeinflufjung
durch Gefühl und Geift zugänglich ift. Es iſt aber fein Beleg,
denn dergleichen fann jedem pajjieren. Die Definition ber Dofto:
jewskiſchen Daritellungsweile, wie fie Wolynsfi gibt, ift zwar
geiſtreich und treffend, indeilen nicht fo erfhöpfend und in allem
zutreffend, daß ſich auf ihrer Grundlage eine in allen Einzelheiten
fehlerloje Unterſuchung aufbauen liche. Allerdings ift Doftojewsfis
Kunst ſymboliſch. Von der Idee ausgehend ſchafft Doſtojewski
die Welten feiner Nomane, und die Figuren dieſer Romane find
vor allem Jdeenträger. Doch iſt die geitaltende Kraft Doftojewstis
jo groß, fo fehr felbit feine Verftandestätigfeit überragend, daB
die Jdeenträger unter feiner Hand zu lebendigen Menfehen werden,
bie von Fleiid) und DVlut find, und feine Chiffern. Ihre ſym⸗
boliſche Bedeutung erhalten fie erjt durch ihr Zufammenmirken,
dadurch, daß fie ſich allefamt nad) den Geſetzen einer Welt bewegen,
deren Geſehe ber Idee entiprechen, die dieje Welt aus dem Nichts
hervorbradhte. Cs ift daher fehlerhaft, fie einzeln genommen al
Shiffern zu betrachten, in ihrer Welt find es Menden. Die
Auftafung Wolynsfis wäre demnach) zu eng. — Diefelbe Enge
erzeugt einen weiteren Fehler: Die einzelnen Perfonen, jogar die
einzelnen Nusiprüche der Berfonen überjatten in Wolynskis Aufz
fallung das Gefamtbild. Er ficht Erleuchtungen, Offenbarungen
mpjtifchfymbolifcher Natur in Einzelausfprüchen, die nicht fo und
nicht einmal jo beabfichligt erſcheinen, und er wirft durch dieje
Uebertreibung geheimnisvoller als der Tert, den er Fommentiert.
Literariſche Rundſchau. 233
Cr ſucht die Vorftellung zu erweden, als berge fi hinter den
geheimnisfchwwangeren Gedanken Doftojewstis, außer dem Geheim-
nisvollen, das wir ahnen, nod) ein weit tieferes, weit unergründ:
ficheres Geheimnis, welches wir auch nicht ahnen. Aber biefer
Supperlativ des Geheimniffes gehört Wolynsfi allein, und er zer-
rinnt ihm unter den Händen. Wie vorauszujchen, denn in ber
Kunjt Doftojewstis birgt ſich das ewige Geheimnis des Lebens,
unb biefes in eines, feiner Steigerung fähig und gerade geheim:
nisvoll genug.
In der fritifchen Analyfe des Doftojewstijhen Dichtens bis
zu feinen geheimften Triebfedern fortichreitend, gelangt Wolynski
dazu, als den innerjten Kern biefer Dichtungsweile den Gegeniag
zwifchen Gut und Böje, zwilhen Himmel und Hölle zu bezeihnen.
Und das ift in der Tat fehr richtig. Doftojewsti ift Dualift. Er
ift fo ſehr Dualift, daß er feinen Anjtand nimmt den Gegenjag
zwiſchen Gut und Böſe, den er in der Brujt des Menſchen vors
findet, zum Ausgangspunkt feines gefamten Denfens zu machen.
Ju genialer Logif ergänzt er diefen Gegenjag durch Himmel und
Hölle, denn der MWiderjtreit zwiſchen Gut und Böſe ergibt nur
dann einen flaren Sinn, wenn ihm ein wirklicher realer Himmel
und eine tatſächliche Hölle entſprechen. Doftojewsfi glaubte an
Himmel und Yölle in Sinne der heiligen Schrift, und biefer
Slaube gibt feiner Tragit die furdtbare Wucht, die Hölle feiner
Schriften, die nicht von diefer Welt ift, it das padende Geheimnis
Doftojewsfiiher Kunit. Wolyusfi dagegen glaubt nicht an Himmel
und Hölle, zum mindeften nicht an die Hölle, Sondern an dem
Gegenfag des geifligen und perfänlichen jeelifchen Glementes im
Menden, was etwas weſentlich anderes ift. Der auf der Bafıs
einer realen Hölle und eines realen Himmels geihaffene Gegenjag
Doſtojewskis erjcheint ihm daher verzerrt, die Auffaſſung felbit —
dogmatifch, ftarr, in byyantiniichen Vorurteilen befangen. Er
teilt die Auffaſſung Doftojewstis nicht, er will und fann fie nicht
teifen, aud nicht einen Augenblid lang, auf dem Boden der Rritif.
Wolyusfi fieht daher die Geftalten Doſtojewolis nur von einer
Seite und fie eriheinen ihm unproportioniert. Die Doftojewstiiche
Dichtung endigt ihm gegen die Negeln aller Kunſt in Disharmonie
und entbehrt der künſtleriſchen Einheit. Dies iſt aber nicht der
Fall, jobald wir den Widerſpruch gegen die Anfhamung, aus der
diefe Kunft entitanden ift, aufgeben. Das Umgefehrte ift ſodann
der Fall. Wenn die Welt aus Himmel und Hölle bejteht und
dem Zwiſchenreich der Erde, fo iſt der Gegenjap zwifden Gut
und Böje real und unlösbar, und die irdiſche Harmonie würde
die Harmonie des Ganzen zerſtören. Wolynsfi aber ift trotz feines
Hbealismus, trog Symbolismus und Myitif ein Optimiit und
Hationaliit und ein ernithafter Hölenglaube erſcheim ihm abjurd
234 Literariſche Rundſchau.
und findiid. Da er an Doſlojewskis Verſtand und Genie nicht
zweifelt, jo bleibt ihm mur ein Ausweg: die Auffaſſung Dofto:
Jewskis zu Doftojewsfis größerer Ehre zu forrigieren. Und ob—
gleich von dielem Gefichtspunfte betrachtet die Beftalten Doftojewsfis
zwar übernienfchlich groß, aber proportioniert eri—heinen, obgleich
aus dieſer Auffafiung her der Geift bes Grenzenloſen in die Merfe
Doftojewstis gedrungen ift, vollzieht Wolynsfi die Korrektur, mit
jachter Hand, doch er vollzieht fie. Im einem alle ift die Koreftur
ſehr fihtbar. Doftojewsfi jagt über Stawrogins Erziehung:
„Stephan Trofimowitſch verftand es, in dem Herzen jeines Freundes
(Stawrogins) die tiefiten Eaiten zu berühren und ihm bie erſle
noch unbeftimmte Empfindung einer ewigen heiligen Sehnſucht
hervorzurufen” . Hierzu bemerkt Wolynefi: „Das ift es eben,
daß diefe „ewige, heilige Sehnſucht· Stawrogin fremd iſt —
Stimme des Geiſtes, die Stimme des Himmels im Menſchen ſelbſt“.
— Molynsti fann die ewige Sehnſucht in einem durchweg Gott:
loſen nicht zulafien, Doftojewsfi der an Himmel und Hölle glaubt,
fann den Gottverlaffenen, trog diefer ewigen Sehnjucht, vom
Böfen übermannt zu Grunde gehen laſſen. So trägt zum großen
Gegenſatz des Guten und Böjen der Kommentator noch jeinen
eigenen, geringeren Gegeniag in ben Tert.
Id bin den Beleg für Wolynsfis optimiſtiſch gefärbten
Nationalismus ſchuldig: Nach Wolynskis Anſicht kann fein Menſch,
in dem noch das Sireben nach dem ewigen lebendig iſt, durch
Selbſtmord endigen und große Menſchen bejahen ſtets das Leben.
— Wir denken dabei an Kleiſts ſtillfeierliches Grab in ungeweihter
Erde. — Mit dem Maßſtabe, den ein durch myſtiſche Be
emporgehobener, im Grunde aber vrationaliftiicher Optimismus
erzeugt, kann Doftojewsfi nicht gemeſſen werben, denn er iſt tiefer.
Ich möchte nicht den Eindrud hervorrufen, als dächte id)
gering von Wolynslis Nönnen. Doflojewsti ift der Slönig eines
weiten Neidjes; was zwiſchen Simmel und Erde ift, und ein wenig
mehr gehört feinem Schaffen. In diefem Reiche weiten der
Sonnenjchein und das Graufen nahe bei einander, in Schlucht
und Abgrund waltet ein beflemmendes Duntel fo wollen wir
an der Hand Wolynstis in dieies Dunkel hinabjteigen. Keine
Sonne trägt unfer Führer in feiner Nechten, fondern eine ſchwäͤhlende
Fackel; bisweilen wenn der Wind den Rauch zur Seite treibt,
jehen wir Far, bisweilen Ichlagen uns Naud und Qualm feiner
myſtiſchen Philoſophie ins Geſicht und wir erfennen nichts mehr.
— Aber es in eine Fadel, die er trägt, und fein Gtearinlicht.
Karl v. Freymann.
Über Uriprung und Eutwicklung des Dramas,
„Im Material und in der Art ber Nachahmung untericheiden
fie fich, das Ziel aber iſt beiden gemeinjam.“
Dbiges Wort jtammt von Plutarch, und befanntlich hat
Leſſing den Vorderfag als Motto für feinen Laofoon gewählt.
Er läßt den Nachſatz fort, weil es ſich bei jeinen berühmten
Unterfuhungen im Xaofoon in der Tat zunädft nur um ben
Unterjdied zwiſchen den beiden Kunſtreihen, der räumlichen (Plaſtit,
Malerei, Architeftonit) und zeitlichen (Tanz, Poeſie, Muſik) nad)
Material und Art der Nachahmung handelt. Aus diejen Unter:
ſchied des Malerials und der Art der Nachahmung ſucht Leifing
die unterigheidenden Vierlkmale und die verihiebenen Aufgaben
der beiden Runfigruppen nachzuweilen. Dabei atgeptiert er ohne
weiteres die Meinung der Alten, daß alle Kunft Nachabnung üt,
ohne fid) auf eine Unterfuchung barüber einzulailen, mas unter
folder Nachahmung eigentlich zu verjtehen ſei. Diefe Unterlaffung
führt ihn zu einem Endrejultat, das wir heute als ein zu äußer-
liches doch nicht mehr ganz gelten affen wollen. Er jagt: bie
eine Kunitreihe ahme Körper, die andre Handlungen nad).
Käme es auf bie bloß äußerlihe Nachahmung, auf bie
möglichft deutliche äußere Aehnlichteit an, jo mühte die Photor
graphie das vollendetfie unter allen malerijhen Kunſtwerken fein.
Und dody ziehen wir die wirklich künſtleriſche Darftellung aus
freier Hand der Photographie vor. Unzweifelhaft iſt, daß das
Dioment ber rein äußerlichen Aehnlichkeit auf der primitivften
Kunſiſtufe feine geringe Rolle fpielt. Schon die Erkenntnis „Dies
ift das“ löſt Hier älthetiihe Freude aus. Aber bald macht ſich
ein Anderes geltend. Man beobachtet ebenjo bei den Kunjtübungen
von Naturvölfern wie von Rindern, daß Nachahmungen abweihenditer
Art den wohlgelungenjten nicht felten vorgezogen werben. Es iſt
oft nur ein Zug an bem fonjt ganz unähnlichen Gebilde, der an das
Original erinnert, biefer Zug iſt aber ein beſonders harafterijtiicher.
Es ift der, an bem die Seele des Beſchauers den Gegenjtand
erfaßte, der ihr gewiſſermaßen jein eigentlidjites Wejen offenbarte
und den fie in der Nachahmung feitzuhalten jucht, um die Erins
nerung an das Weſen des Gegenitandes bei fih und andern zu
weden. Die älthetiiche Freude beruht alfo aud hier auf der
Aehnlichteit, aber nicht mehr auf der äußeren, körperlichen, ſondern
der inneren, jeeliihen. Und je weiter und höher fid die Kunſt
236 Literariſche Rundſchau.
entwidelt, um fo mehr ſpielt dieſes Moment des charakteriſtiſch
Seelifhen eine Rolle. Ale Kunft ift daher im Iegten Grunde
nit Nahahmung von Körpern und Handlungen, ſondern von
Seelenleben durch Körper und Handlungen. Damit wird ber
zweite Teil des oben zitierten griechiſchen Wortes, den Leffing
fortließ, atzeptabel: „Das Ziel aber ift beiden (Runftgruppen, ber
räumlichen und zeitlihen) gemeinjam”, benn das Ziel bedeutet:
Darftellung von ſeeliſchem Leben.
Jedes Kunſtwerk hat nad) dieſer Auffaſſung von dem Weſen
ber Kunſt ein boppeltes Element, ein objektives und ein fubjeltives.
Der Künftler fucht das MWefen feines Gegenftandes zu ergründen
und barzuftellen, er ſchöpft aus ihm heraus, und ſoweit ift er
objektiv; anderſeits aber trägt er doch auch wieder fein Weſen,
feine Auffaſſung in den Gegenftand hinein, und ftellt dann dieſes
fein Weſen in dem Kunftwerk bar; ſoweit ift er fubjeftiv. Cs iſt
Seele des Gegenftandes und Seele "des Künftlers, Die uns jedesmal
im Nunftwer geboten wird. Ebenſo tritt aud ber Laie mit
objektiv:fubjektivem Crfenntnisvermögen dem Kunftwerk gegenüber,
und je mehr fid) diejes mit dem des Stünftlers bet, um jo mehr
Verftändnis findet das Kunſtwerk. Der Künftler hat aber meilt
viel ſchärfere feelifche Augen als der Laie, und fo mwirb das
Runftwert auch in feinem rein objektiven Element häufig vom
Laien nit erfannt und verworfen, bis nad Jahr und Tag —
es hat zumeilen ſchon Jahrhunderte gedauert — ein Sehender
Tommmt, ber dann auch den Blinden bie Augen auflut. „Das
Wort faſſet nicht jedermann, fondern nur bie, denen es gegeben
iſt.“ Das Wort kann aud) ein Kunſtwerk fein.
Der Reiz der Außenwelt wirkt als ein Seeliſches auf die
Seele des Menfchen, und das Kunſtwert ift das Echo, in dem fie
biefen Reiz auslöft und zurüdgibt. Das Ziel aller Kunſt it
dasjelbe, und auch der Ausgangspunkt aller Kunſt ift derjelbe. Aber
auch die Darftelungsmittel feinen — jo verjdieden fie im Lauf
einer ſchier endloſen Entwidlung geworden — urſprünglich bier
felben gewejen zu fein. Die Gebärbeniprade, Pantomime, it,
wie Wilhelm Wundt in feiner „Völkerpfychologie“ dartut, nicht
nur als bie Urform der Sprache das ältefte Darfiellungs- und
Verjtändigungsmittel und deshalb die Grundlage aller Kultur,
jondern aud die gemeinfame Mutter aller Künjte. In ihr
ihlummern wie im Keim alle fünftlerifchen Anfänge, und aus ihr
löjen fid) allmählich bie einzelnen Künjte 106 und wandeln ihre
gefonderten Bahnen. Das merkwürdige aber iſt, daß fie auf
ihrem Höhepunkt ſich wieder nähern und zur Einheit, aus der fie
hervorgingen, zulammenzufchließen fcheinen, jo in der griechiſchen
Tragödie, wo zur Erzielung der Gelamnıtwirfung bie poetifchen,
mufitalifchen, ordeftijden, bildneriichen, malerijhen und ardjitef-
Literariſche Rundſchau. 237
tontihen Elemente harmoniſch zufammenflingen, fo als Ideal er-
ftrebt, wenn aud nicht volllommen erreicht, in dem „Wortton-
drama” von Richard Wagner.
Dramatiichen Charakter aljo haben bie Anfänge aller Kunſt
und auf eine dramatiiche Spige läuft wieder alle Entwidelung
der Kunſt heraus. Die Anläffe aber, bie die Pantomime als
Verftändigungs: und Kunftmittel erſt verftändlih machten, waren
fogialer Art. Das, was alle gemeinfam und gleihartig in Luſt
und Schmerzen empfinden, fam durch die Pantomime zum Aus:
drud und wurde veritanden, weil es eben gemeinjam und gleid):
artig empfunden wurbe. Und fo zeigt die dramatiſche Kunft ſchon
in ihren erften Anfängen ein joziales Gefiht. Sie beruht ſchon
bier auf dem Gemeingefühl, fie wird durch basfelbe, und fie
wãchſt mit ihm aus Meinem Keim zu einem gewaltigen Baum, fie
ändert fi mit ihm, und fie jhrumpft zufammen und wird nur
fünftlih) über Waſſer gehalten, mo dieſes Sozialempfinden un:
deutlich wird.
Das dramatiſche Agens aber, das die theatraliſche Schau:
ftellung erjt zum bramatiichen Spiel, zum Drama macht, erſcheint
erſt in dem Nugenblid, wo in diefem alle beherrſchenden Gemein:
gefühl eine Spaltung der Art eintritt, daß fid einzelne Perfonen,
Gruppen oder ganze Stände gegen das bisher Giltige aus Leiden:
ichaft, oder um einer meuen, höheren, aus einer tieferen Ethik
herausgeborenen @erechtigfeit willen auflehnen. Jetzt wird bie
Szene zum Tribunal, in bem das pro und contra erörtert und
das Verdikt von den zuſchauenden Volkogenoſſen gefällt wird.
Das Publitum aljo it der Richter, es wirkt als folder mit, daß
die Beranftaltung ihren Zwed erreiche. Cs bejeitigt durch jeinen
Wahrſpruch den Zwieipalt. Man hat immer wieder gelagt, Kunſt
habe mit der Moral nichts zu tun, und bas trifft ſicher zu, ſoweit
es ſich dabei um die philiftröfe Alltagsmoral handelt. Aber wie
das Geimeingefühl im Weſentlichen auf der Uebereinftimmung in
ethifchen Fragen beruht, fo iſt gerade bie Erörterung ethiſcher
Fragen im höchſten Sinne das Lebenselement der bramatiichen
Volkskunſt. Dieje dramatiiche Volkokunſt lebt und flirbt mit dem
Intereſſe der Menge für folde Fragen. ie hängt an ber ſittlichen
‘Brobuftionstraft des Volfes und wird durd) fie erit Weltanfchauungs:
und damit Cwigfeitsfunit. Freilich gehören auf bie Bühne ber
Voltstunit nur foldhe fittliche Fragen, die die ganze Maſſe ber
wegen; ſonſt Hört der Kontakt zwiichen Bühne und Publikum auf.
Ferner erhellt, daß trob des fid geltend machenden Neuen bas
Gemeingefühl jo ftart_ fein muß, daß in Mezug auf die Ent:
icheidung über bie erörterten Fragen bei_der großen Mehrheit
fein Zweifel auffommen kann; im andern Fall würde der Spruch
fein Voltsipruch jein.
238 Literariſche Rundſchau.
Selten und immer nur vorübergehend werden in der Ent⸗
wicklung ber Völker dieſe Bedingungen, die für eine Volkabühne
im wahren Sinn des Wortes notwendig find, eintreten. Die ſich
miberftreitenben fittlihen Tendenzen, bie ber Xebensobem bes
nationalen Dramas find, folange das Volt national d. h. aus
dem Gemeingefühl heraus enticheibet, führen nur zu bald eine
dauernde Spaltung und Zerklüftung herbei, die Sfepfis und
Gteihgültigfeit für fittliche PWrobleme zeitigen, und bamit ift bem
nationalen Drama ber Tobesftoß gegeben.
An Stelle der Voltefunft tritt Gefellihaftstunft oder gar
die Kunft literariicher Cliquen und faufmännijchen Spekulanten
tums, die dem Volk fremd und gleihgiltig it. Das Drama, das
auf jeiner Höhe als Volkskunſt Ewigfeitsprobleme behandelte und
Weltanichauungstunft war, wird der Tummelplag für Kurioſitäten,
Tagesfragen, klingende Phrajen oder ber Diener bes Einnentigels.
So läuft die Geſchichte der dramatifchen Kunſt der Geſchichte
der Völfer parallel, und wer fie darftellen will, nach Urjache und
Wirkung darſtellen will, der muß ſie aus dem Gang der ganzen
weitverzweigten ſozial⸗ethiſchen Entwickelung darzuſtellen ſuchen.
In dieſem Sinne hat Mar Marterſieig eine Geſchichte bes
beutjchen Theaters im 19. Jahrhunderts geſchrieben“. Es ijt das
ein hervorragendes Yud, ein monumentales Wert, in dem ein
geradezu ungeheurer Stoff in bewundrungswürdiger Weile ges
jammelt, gelichtet, gruppiert und mit Meifterfchaft darftellend ver
arbeitet worben ült.
Dit einer gewiſſen Wehmut gedenft man beim lejen biejes
Buches daran, daß der Verfaller, eine fünftleriiche Rapizität allers
erjien Nanges, einmal ber Leiter unjerer baltiihen Bühne war
und bier — dem Anjturm einer furziihtigen Kotterie, deren Ber
ftrebungen mit Kunft nichts gemein hatte, weichen mußte. Viel—
leicht wird eine Geicichte des rigiichen Ctabtihenters dereinit
fonjtatieren, daß mit biejem Moment der Verfall des rigiiden
Theaterweſens begann.
K. Stavenhagen.
*) Mar Marteriteig, Dos beutihe Theater im 19. Jahrhundert.
Eine tulturgeiichtlice Daritelung. Leipzig, Breitfopf u. Härtel, 1904. 135 ©.
Preis N. 1.
Bom Tage.
Briefe vom Embach.
l. Februar 1905.
De Arbeiterbewegung. die in Niga weitere Dimenſionen annahın
und nod) immer nicht ganz zur Ruhe fommen will, hat ſich
bei ums in Norblivland auf ziemlich enge Grenzen bejchränft.
Weber die Maffe der Streifenden, noch Umfang und From der
Erzeſſe haben die im einigen Kreijen gehegten ſchweren Befürch-
tungen gerechtfertigt. Die Teilnehmer am Ausftand oder an der
ohne Arbeitseintellung verſuchten Überrumpelung der Arbeitgeber
zweds Erzwingung günfliger Arbeits: und Lohnbedigungen find
zu trennen von jener durch auswärtige Emiffäre haranguierten
Menge in der Mehrzahl halbwüchfiger Nowdies, welde die dra-
matiſche Ausgeftaltung der Situation durch Skandalmachen, Feniter:
und Laterneneinwerfen 2c. ſich angelegen fein ließen. Polizei und
Koſaken waren zum Schug der öffentlichen Ordnung auf dem Plug.
Zu Zufammenftößen ift es nicht gekommen. Selbit diejenigen
Elemente unter den Arbeitern, denen es nicht um Jufzenierung
von Kravallen zu tun war, die vielmehr Lediglich ihre Unzufriedens
heit zum Ausdrud zu bringen juchten, jpielten mehr oder weniger
die Nolle von Marionetten in einem Stüd, das fie nichts anging
und deifen Fäden von fremden Händen regiert wurden. Die Vers
quidung mit fozialiftiihen und anardiftiidhen Tendenzen ſpricht
für die Mache außerhalb des Landes und außerhalb ber Kreiſe
der arbeitenden ejtnifhen Vevölferung. Zwar würde ber Umjtand,
da die Eaat nicht einheimiſcher Provenienz, fondern Import ift,
an der Tatjadhe, daß fie nun einmal mitten unter uns ift, nichts
ändern. Aber, foviel man fehen kann, hat fie feinen Boden
gefunden und ift garnicht aufgegangen. Cs beitehl ein Untenfihieb
zroiichen dem gelegentlichen Operieren mit halbverjtandenen jozias
Bom Tage.
iftiihen Schlagwörtern und dem bewußten Betätigen einer ſozia—
liſtiſchen Gefinnung. Erſteres hat gelegentlich des Streits hier
und da fid) geltend gemacht; letzteres iſt entfchieben als ganz ver:
ſchwindende Ausnahme unter unſrer Arbeiterbevölferung zu ber
traten. Immerhin hat ber Gebanfe ber Solidarität zwiſchen
den Arbeitern Livlands und denjenigen im inneren Rußland bei
biefem Anlaß Triumphe gefeiert, die in mehrfacher Nüdficht jehr
nachdenlich ftimmen müflen. Dan vergegenwärtige fih den Zur
ftand, der eintreten würde, wenn zur Zeit ber bringendften Iand-
wirtfhaftligen Arbeiten die Lanbarbeiter einen allgemeinen
Ausftand organifierten. Die Folgen wären garnicht zu ermeilen.
In Sübweitrußland, in Polen ꝛc. wird mit dieſer Möglichkeit für
das laufende Jahr gerechnet. Daß die Bervegung dann die
Grenzen ber Oftfeeprovingen überjpringen würde, ift fehr wahr
ſcheinlich.
Doch dies iſt Zukunftsmuſik, wenn auch keine anmutige.
Mitten in die augenblickliche Situation führt ung die Betrachtung
ber Vorgänge an ber hiefigen Univerfität. Schon längft geben ja
nicht· baltiſche Studenten den „akademiſchen“ Ton an, ber bie
Mufit macht. Ob er baburd) gewonnen, jteht bahin. Tatſache it,
daß bie eingeborenen Elemente, bie auf ein Viertel ber geſamten
Studentenſchaft reduziert find, in jeder Hinſicht gänzlich in den
Hintergrund gebrängt worben find, einen Staat im afabemifhen
Staat formiert haben und, wie die Verhältniffe nun einmal liegen,
froh fein müffen, wenn jie ungeſchoren bleiben und in ihrer ſchon
ftart verfümmerten Freiheit nicht noch mehr beſchränkt merben.
Diefe Neferve gegenüber den eingemwanderten Kommilitonen iſt
ihnen jüngſt von ruffiiher Seite tadelnd vorgehalten worden.
Allein, abgefehen von der Erwägung, daß die Verſchiedenheit ber
beiden Gruppen denn doch zu groß ift, um eine intime Annäherung
dentbar zu machen, — wäre eine ſolche überhaupt wünjdenswert?
Die Maſſe drüdt, und es ift nicht anzunehmen, daß bie ruhigen,
loyalen Anfhauungen der baltiiden Studenten jänftigend auf den
wilden Fanatismus der Übrigen einwirken könnten. Es läge im
Gegenteil die Gefahr vor, daß bie zerfegenden Anfichten der ruf-
ſiſchen Intelleftuellen auch unfre Jugend ergriffen. Mit einer
Anglieberung in dieſer Nihtung dürfte aud) der begeiftertfte Unis
formift faum fpmpathifieren. Was unjre Studenten im übrigen
von ihren Kommilitonen lernen follten, ijt nicht abzufehen. Viel⸗
leicht bie Fähigkeit, für eine Idee bis zur Siebehige ſich zu bes
geiftern. ..... Das wäre ſchon etwas. Cine fleine Anwärmung
Bom Tage. zu
der in ben Nonventsquartieren herrſchenden Temperatur fühler
Blafiertheit und Langweiligfeit fönnte nit vom Übel fein.
Ein eigentümliches Bild bot die große, von den nichtlorpor
rellen Studenten berufene Derfammfung, die zur Frage ber
eventuellen Schlieung der Rollegia Stellung nahm. In der alten
Univerfitätsaula, wo einjt ein erlefenes Publifum den mufifalifhen
Dffenbarungen goltbegnabeter Rünftler lauichte ; mo eine Atmoiphäre
der Würde und Wohlanftändigfeit herrfchte, die jebe ftilwibrige
Störung als Profanierung empfinden ließ; mo gefeierte Univerfitäte-
lehrer in gefälliger Form die Refultate ihrer Forſchungen einem
weiteren Kreife von Gebildeten vermittelten und die Achtung vor
dem Redner bie leifefte Veilallsäußerung verbot — in benielben
Räumen brängte ſich jegt eine turbulente, aufs äußerſte erregte
Menge junger Leute, ſchwirrten in leidenſchaftlicher Rede, bie vor
dem ftärkjten Ausdrud nicht zurüdichrat, die Dialelte von ganz
Rußland durcheinander. Der äußere Verlauf der Verſammlung
ift in allgemeinen Umriffen aus den Zeitungen befannt. Das
Typiſche und Intereſſante an diefer Veriammlung, ober, wie Die
ruſſiſche Bezeichnung lautet, „Sochodka“ war die Glut der Ber
geifterung, die völlige Hingabe an die Idee der ſchrankenloſeſten
politiihen und perſönlichen Freiheit. Dan hatte die Empfindung,
diefe jungen Männer würden imftande fein, für ihre Überzeugung
gegebenenfalls ihr Leben zu laſſen. Mit alademiſchen Zragen
freilich hatten die heftigen Neden nichts zu tun, die ben hohen
Saal durchbrauſten. Nur äußerlich und loſe blieb der Zujammen-
bang mit bem einzigen Punkt der Tagesordnung, der eventuellen
Schließung ber Rollegia gewahrt. In diejen Nahmen ließ ſich
eben alles preffen. Mit rein afademifchen Angelegenheiten hatte
eigentlich auch die Frage ſelbſt nichts zu ſchaffen: die allgemeinen
öffentlichen Verhältnifie hatten den Auschlag zu geben, und fie
waren es, die den Gegenftand der Erörterungen bildeten. Eine
politifche Verfammlung unter afademifcher Aegide. Es ift befannt,
daß die Studenten zu dem gleichen Nefultat gelangten, wie einige
Tage vorher ihre Lehrer in der Sihung des Univerfitätstonfeils:
daß es ihnen nämlich angeſichts der Aufregung, Die das ganze
öffentliche Leben beherrihe, nicht möglich fein würde, ſich mit den
Wiſſenſchaften zu befallen.
Auf der Studentenverfammlung war eine Schrift ber im
Chargirtenfonvent vertretenen ſtudentiſchen Verbindungen verleſen
worden, bie aljo damit aus ihrer jog. Reſerve heraustraten. Der
Tezt ift ja auch in die Preife gelangt und dadurd für die Die:
42 Bom Tage.
kuſſion freigegeben worden. Tas Schriftftid nimmt notgebrungen
Stellung zu Verhältnifien, denen feine Abjender innerlich völlig
fern ftchn. Die afademifche Freiheit, die fie meinen und bie in
vergangenen Zeiten hin und wieder bei ung zu finden gewefen,
ift eine andre als diejenige, welche die heutigen Wortführer des
hiefigen Stubententums auf ihre Fahne geichrieben haben. Mit
ſolchen Beftrebungen hat das bultiihe Studententum nichts zu
Ichaffen und will es nichts zu ſchaffen haben. Es liegt in der
Natur der Sache, daf die Schrift einerjeits nicht alles ausſprechen
fonnte, was zu bemerfen geweſen wäre, und daß anderjeits das
Wenige, was fie enthielt, dem Mißverſtändnis ausgeſetzt war.
Das ift denn auch nicht ausgeblieben. Es iſt behauptet worden,
bie forporellen Studenten hätten ſich bereit erklärt, bie Kollegia
zu befuchen, wenn fie die Sicherheit hätten, daß fie gegen even»
tuelle Angriffe ihrer ftreifenden Rommilitonen geichügt werden
würden — im praftifchen Fall etwa durch Militär. Das ift ihnen
natürlid) garnicht eingefallen. Sie Haben im Gegenteil erflärt,
daß fie bereit fein würden, die Vorlefungen zu befuchen, wenn
dies ohne Zuſammenſtöhe nad) irgend einer Richtung hin möglich)
fein würde. Bon einem Schup durch Koſaken oder etwas Ähnlichem
üt nigends bie Rebe. Eine derartige unfollegiale Stellungnahme
und Erklärung ift dem Chargiertenfonvent ſelbſiverſtändlich garnicht
in den Einn gelommen. Cs ift vielleicht nicht nur Böswilligkeit,
die diefen Paſſus in dem betr. Schriftftüct jo falid interpretiert
hat. Die Fafjung desfelben ift in der Tat recht unglüdlih. Die
bei uns beliebte Manier, diejenigen Ausdrüde ängſtlich zu um:
gehen, welde die Sadye mitleidslos auf den Kopf treffen würden,
Hat bei der Nedaftion der Stundgebung mitgefpielt und ihrer
Klarheit und Verftändlichfeit geſchadet. Der fraglide Say ift fo
aflgemein und andentend gehalten, da — wie naturgemäß fofort
geihehen — Alles und Xedes heransgelefen werden Fonnte.
Die Zeiten, da eine geheimnisvolle Vieldentigfeit der Alten als
der politifchen Weisheit letzter Schluß bewundert wurde, follten
auch bei uns dod) endlich einmal überwunden jein.
Was die in der Kundgebung aufgeftellte Behauptung an:
langt, daß cs lediglich) die Wiſſenſchaft fei, die den Studenten am
Herzen liege, fo richtet fie ſich jelbjt. Wenn dem wirklid jo wäre,
dann hätten die jtudentijchen Verbindungen nicht den leiſeſten
Schimmer von Griftenzberehligung. Denn mit der Wiſſenſchaft
haben dieje weniger als nichts gemein. Cs find vielmehr Ver:
einigungen, deren Mitglieder der Pflege der Gefelligfeit und
*
Bom Tage. 43
Ramerabfchaftlichfeit, der Hütung bes guten Tones, ber Iegafen
Erledigung von Chrenhändeln und der Betätigung vermanbter
Interefien leben. Dies find die Formen, in denen fiudentifcher
Geift, ohne in das politiihe Fahrıwaffer, der Domäne ber ruffiihen
Stubenten, geraten zu müſſen, aud) außerhalb der Fachſtudien zur
Geltung gelangt.
Vielleicht wäre es am beiten gewejen, die ganze Kundgebung
zu unterlajen, zumal feine zwingende Notwendigfeit zu ihr hin-
drängte. Einen entfceidenden Einfluß auf die Entwidlung ber
Dinge kann dieje Erflärung einer verſchwindenden Minderheit
unter feinen Umftänden haben. Die einzige Folge find Mikvers
fändnifje gewejen. Zwar werden wir unter ihnen nicht zuſammen⸗
brechen, denn das Herumtappen in einem Nebelmeer von Dik-
verftändniffen hüben und brüben ift uns allgemad) zur zweiten
Natur geworden. Immerhin ift ein unfreundliches Echo unerfreur
lich für den, ber es gut gemeint hat.
Im Zufammenhang mit der in Rebe jtchenden Angelegenheit
iſt cuffifcherfeits darauf hingewieſen worden, daß dank ber Erlaub-
nis des Farbentragens die Forporellen Studenten geneigt feien,
mit ber Regierung durch Did und Dünn zu gehen, und ſchon aus
diefem Grunde ein Sympathiſieren mit freiheitlichen, oppofitionellen
Beſtrebungen perhorresgieren müßten. In Wirflichleit beſteht
zwiſchen dem einen und bem andern ſchlechterdings fein Zus
fammenhang. Die Erlaubnis des öffentlihen Farbentragens ift
den Korporationen entzogen worben, ohne baf fie irgend eine
Veranlaſſung zu diefer Mafregelung gegeben hätten. Sie ift ihnen
wiedergegeben worben, ohne daß fie ſich irgend welcher Verbienjte
in diefer Nichlung bewußt gewejen mären. Die Entziehung ihrer
Rechte beruht auf einem Millfür:, ihre Neftitnierung auf einem
Gnadenaft. Weder in dem einen, noch im andern Fall haben
unfere Studenten das Geringfte dazu getan. Ihre prinzipielle
Stellung fonnte hierdurch feineswegs erfdüttert werden, und dieſe
verbietet eben eine öffentliche Beteiligung an der Erörterung
politiiher Tagesfragen. Daß bie MWicderheritellung des Farbens
tragens in ben betreffenden Kreiſen lebhafte Freude erregte, wird
jeber verftehen, der als Jüngling eine farbige Müpe getragen.
In dieſer Stimmung nüchtern zu erwägen, ob in Anbetracht all’
beffen, was hinter und vor uns liegt, der Feitjubel eine innere
Berechtigung habe, kann einem aftiven Studenten nur derjenige
zumuten, ber felbjt nie jung gewefen. Wohl aber dürfen wir die
Verordnung hinnehmen, wie fie gemeint war — als einen freund:
4 Som Tage.
lihen Schein in bunter Zeit. Durch hämifche Nandbemerfungen
brauchen wir uns unfere freude hierüber nicht verfümmern zu
lajlen. h
Es ift viel von Studenten und jtubentifhen Angelegenheiten
Die Rede gewefen. Warum auch nidt? Sind fie bod ein Teil
von uns. Und befier ift es wahrhaftig, diefe Dinge offen zu ber
ſprechen, als jie ber Sphäre des Klatſches zu überlaifen. Nein
ftubentifche Angelegenheiten gehören gewiß nicht vor das Forum
der Offentlichleit. Sie follen dort erledigt werben, wo fie hinge-
hören. Hier handelte es ſich aber um eine nur jcheinbar afader
mifche Frage.
F.
>”
Im nad!
—
Bermit — zerbrochen — in den Blütenjahren,
Zur Maienzeit dem Siechtum preisgegeben —
Was tar für ihm, für ihn das Leben?
Ein Wint hinab zu finftern Todesſcharen.
.
Er aber ringt fich auf in mächt'gem Willen,
Durchmiht die Weiten bis zur fernften Berne
Und holt herab fich alle Sterne;
Ihr Licht muß feines Herzens Sehnſucht ftillen.
*
Ein Riefe wächtt er, und es finft bie Schwere,
Das Siechtum weicht — ihm wintet ew'ger Friede;
Sein Leben wird zum Siegesliede,
Und was er fang, ift tieffte Menſcheitslehre.
*
Mir nacht ruft er, verflärt von Morgenftrahlen,
Mir nach, mein deutſches Volt, willft du gefunden!
Ich Habe deinen Grund gefunden ?
Und Teite dich an deinen Idealen.
A. Stavenhagen.
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Stiller im Spiegel der Zeiten.
Fefſpiel
zu Schillers hundertjährigem Tobestage 9. Mai (26. April) 1905.
Son
Erich von Schrend.
(Gelangt am Rigaer Stadttheater zur Aufführung.)
Perfonen.
1.
Gregorio, Gymnaſiolproſeſſot a. D.
Anjelmo, Maler.
Die Zeit.
1:8
Goethe.
deintich Meyer, Profeffor an der Beicjenafademie in Weimar.
Ehriftiane Lulpius.
III.
darry.
Eid, | Duarlaner,
Aroed,
Andere Quarianer als Darfteller der Rütliſzene (Melchthaf, Baumgarten, Wintelried,
Meier von Sarnen, am Pühel, Sewa, von der Zlüc, Stauffadser, Reding,
auf der Mauer, im Hofe, Konrad Hunn, Ulrich der Schmied, Weiter,
Walter Fürft, Röffehmann, der Sigrft, Auoni, Werni, Ruodi u. a.).
Einige Setundaner. N
W.
Veinric), Bürgermeifter einer gröheren Stabt.
Der Genius der VPoeſie,
ie
Di ragen.
Die Religion,
einzig.
Gregorio,
Anfehmo.
Die Zeit,
Männer, Frauen und Kinder.
Die Zeit der dandlung iſt der 9. Mai (26. April) 1905.
Bermertet find außer Digtungen Schillers:
Goethe, Epilog zu Schillers „Glode“,
Goethe, Fragment aus der „Ahilleis”.
Goethes Gefpräde mit Edermann.
9. Voß jun, Grinnerungen an Goethe und Schiller.
Mörike, Kantate zue Enthullung des Schilerdenimals („Dem heitern
Himmel . . .").
G. 3. Meyer, Schillers Beitattung („Ein ärmlich biiter brennend . . ").
Die verwerlelen, größtenteilß mörtlich angeführien Dichterworie find fo
dabtreidh und fo eng mit dem Teri verbunden, da von nführungspeichen ſteis
Abftand genommen it.
Erſte Szene.
Die Bühne iſt ge Gin vorderer ſchmaler Raum ift dem Publilum gegen»
über offen. Er üit wie eine altertümlice Wirts ſtude hergerichtet. Ganz rechts
ein Ti mit Stühlen. Eine Kanne Wein mit Gläfern fteht darauf. Den
Hintergrund bildet ein Vorhang. Es treten auf Gregorio, ein etwa fiehjige
jäbriger Gymnafialprofejjor emeritus, und Anfelmo, ein Nünitler, etwa
47 Jahre alt. Sie jegen fidh am dem Tiſſch und fcenten fih Bein ein, find in
lebhaften Gefpräch begriffen.
Gregorio. Daß ich das erleben jollte, ich hätte es nimmer
geglaubt. Er war der erflärte Liebling, nicht eines Standes,
nicht einer Gruppe, einer Klaſſe, — ber Liebling des Volles. Was
wir alle empfanden, ftärfer oder ſchwächer, bewußt oder unbewußt,
er hatte es auszufprechen verfianden, und unfer tieftes Sehnen
war nicht ſuumm mehr. Das Volk hatte feinen Spreder. Unfre
verborgenjten Schäge hatte er aus dem Schachte gehoben. Wir
meinten für immer. Aber es find nicht mehr viele, die noch jo
empfinden.
Anjelmo. Cs it eine andere Zeit.
Gregorio. Das iſt's, was mid) fränft. Wer von uns
hätte gedacht, daß Schiller ein Mann einiger Jahrzehnte jein follte.
Er Hatte große Worte gerufen wie in die Ewigkeit hinein, man
hat faum angefangen, fie in Leben und Tut umzufegen, und man
it jein fchon müde. Man glaubt über ihn hinaus zu fein. Das
iſt die neueſte Errungenjchaft. O wie anders war es, als wir feinen
hundertiten Geburtstag feierten! Wie anders 1859 als 1905!
Anfelmo. An Feiern fehlt es aud) heute nicht. Raum
eine Anitalt, faum ein Verein will zurüdbleiben. Es find Unter-
nehmungen ins Werk gelegt, fo zablreih und glänzend wie nad)
nie. Und die Flut der Feitfchriften ift eine Sturmlut.
Gregorio. Und doc iſt's was anderes als 1859. Du
taunſt dich deſſen nicht erinnern, du warjt damals ein unmün—
biges Rind. Ich febte meine frifcheiten, meine beiten Jahre. Cs
war damals nicht eine Sache des Anſtandes, Echilkerfeite zu ver:
anjtalten, es fam aus ber tiefiten Seele. Es wurden nicht her—
gebrachte Schlagworte wiederholt, an die nur die Hälfte glaubt,
fondern der Mund ging über, wes das Herz voll war. Nicht
20 Scjilier im Spiegel der Zelten.
fremde Worte wurden nachgeſprochen, es gab jeber fein Cigenftes.
Und alles ftrömte zufammen in einen Grundakkord: die Nation
feiert ihren Dichter. Das iſt's heute nicht.
Anfelmo. Was ihr Schillerenthuſiaſten aud haben wollt!
Freilich, es find andre Gedanfen, andre Ideale, andre Stimmungen
aufgefommen amd Haben viele ergriffen, Aber ein gut Teil hat
ja noch bie alte Begeifterung.
Gregorio. Das ifl’s, was ich fage: ein Teil. Cs brödelt
ab. Immer mehr und mehr, was kann ſchließlich nachbleiben?
Unjre Jugend iſt angefränfelt, fie hat feinen Schwung, fein Feuer.
Sie ftredt fi nad; einer neuen Kunft, und es iſt eine Scheinfunit.
Was fünnen mir von der Zufunft Hoffen?
Anſelmo. So follteit du nicht reden, Und du würdejt
es nicht, wenn bu mod; mit der Jugend lebteft. Du hajt dich zu
früh zurücgezogen, hättejt noch Schulmeiiter bleiben follen. Ich
feh’s in meinem Fach, in ben bildenden Künften: da gibts Kampf
um eine neue Schönheit und neue Kunft. Wir wachen über die
Alten hinaus. Und dad — ein Dürer, ein Rembrandt, folde
Meiſter jterben nicht.
Gregorio. Du gehit mit vollen Segeln, id) bin nicht
zuverfihtlich geftimmt. Mir will's oft ſcheinen als wirften unjre
größten Dichter nicht redt mehr. Die Jugend will andre Nahrung.
Und jo friften wir Schillers Dafein kümmerlich in den Schulen,
aber was tun unfre Jungen und Mädchen felber, ihn fennen zu
fernen? Was geihieht aus eigenem Antrieb? Was ift Edhiller
unfern Gebildeten? Cine Neihe von Bänden, im Bücherſchrauk
aufgeftellt. XHübich eingebunden, aber verftaubt.
Anfelmo. Und wenn es fo wäre, wie du ſchilderſt, wir
dürften nicht Magen. Hat nicht jede Zeit ihre eigenen Gedanken,
muß fie alſo nicht ihre eigenen Worte finden, ihren eigenen Sprecher
haben? Wenn Schiller nicht mehr recht wirkt, num jo iſt er eben
nicht mehr für unfre Zeit. Er hat eine große Miſſion erfüllt,
und wir banfen’s ihm alle. Er erfüllt jie noch weiter, aber in,
fleineren Kreiſen als früher. Es gibt zunehmende Lichter und
abnehmende. Das it aud der Größeren Schickſal. Das iſt die
natürliche Entwicklung.
Gregorio (eſtig. Nein, das ift fie nicht. Mas ift natür—
tiger, als daß-das Grohe bleibt? Und was it unnatürlicer, als
daß man fid) vom Großen abfehrt und dem Kleinen zumenbet?
Anjelmo. Vergiß nit, Daß aud das Bedeutende ver-,
braucht werden fann.
Stiller {m Spiegel ber Zelten. 21
©regorio (immer heftiger werbenb). Das ijt eben der Grunb-
irrtum. Nicht Schiller ift verbraudt, aber wir find verbraudt.
Ein frühzeitig alterndes Geſchlecht kann feinen jugendlichen Idea:
lismus nicht mehr aufnehmen.
Anfelmo (it aufgeitanden, hat beiden Wein eingeſchenkt. Er klopft
Gregorio auf die Schulter und lächelt). Ich fühle mid jo alt nicht,
und ein-„Tell”, ein „Wallenftein“ packen mich noch heute. Vielen
geht's anders, und die wmeiften brauden eine andre Sprude.
Dan foll feine Zeit nicht ſchelten, man foll auf fie achten und
fie fennen lernen. Etr fegt ſich wieder.)
Gregorio. Ich glaube fie wohl zu kennen. Ich habe bie
Zeichen der Zeit verfolgt, und fie find trübe. Ic hoffe wenig.
Wauſe.)
Anjelmo. So lebſt du wohl ſtark in der Vergangenheit?
Gregorio (iebhait). Das tue ih. Und welder Tag wäre
dazu mehr angetan, als ber heutige. Ich bin ganz in Weimar
und ganz in der alten Zeit. Heute vor hundert Jahren. Ich jehe
mid in Weimars engen Gaſſen, id) trete in Schillers Haus, die
teuren Züge noch einmal zu fehen, ehe der Tod fie entitellt. Die
beſcheidenen Dachſtübchen! Ta das Sopha, wo Schiller und
Goethe häufig zujaminengefeiien, ins Geſpräch verfunfen. Nun
öffne ih die Tür zum Schreibzimmer, fachte, ſachte, denn das
ranfenbeit it ja da hineingetragen aus ber Schlaflammer. Da
liegt er, noch atmend, noch fühlend für die Seinen, ein legter
Abſchied. Auch das Schöne muß fterben! O wie habe ich heute
dieje Augenblide mit dem geliebten Dichter durchlebt!
Anjelmo. Solche Tage verbinden uns feſter mit unjern
großen Toten.
Gregorio. Das erlebe ich heute. Es iſt ein dunkles
Band, das ſolch ein Todestag fnüpft, aber ein feſtes. Mir iſt's,
als wäre id bei Schillers Begräbnis. Eine falle Mainacht.
Mitternacht iſt vorüber, da tönt die Totenglode, und der Meine
Zug naht. Der ſchmuckloſe Sarg, von den paar freunden ge:
tragen. Nochtigallen fingen ben Abichiebsjang, und ber duftende
Flieder endet feine legten Grüße. Kalt und unfreundlich legt ſich
den Trauernden der nächtliche Wind um Die Glieder. Das war
Schillers Beftattung.
Anjelmo. Fand feine firdliche Feier ftatt?
Gregorio. Dod, aber erſt am Tage nad) dem Begräbnis.
Es war eine große Verſammlung, und der Generaljuperintendent
32 Schiller im Spiegel der Zeiten.
ſprach. Aber die Tränen der größeren Kinder Schillers und das
heitere Lächeln feiner Kleiniten, der faum Einjährigen, rührten bie
Anwefenden mehr als bie Worte des Predigers. Dir. it es fait,
als ob ich dabei gemejen.
Anfelmo. Gic fo lebhaft in die Vergangenheit verjegen
zu fönnen, bas ift aud ein Glüd.
Gregorio. Aber fein volles. Ich wollte, ich könnte bie
großen Augenblide einer fernen Zeit nicht nur benfen, nicht nur
empfinden, ſondern fchauen, ſchauen. Wir helfen nad mit unfrer
Phantaſie, aber wir find nicht wirklich drin. Und mancher unter
und gehörte doch mehr in eine entſchwundene Zeit hinein. Was
gäbe ich drum, fönnte ich nur einmal in Goethes Stube treten
und ihn jehen und reden hören. Er jpräde über Schiller, wie alle
in Weimar vor hundert Jahren. Aber er war doc der Einzige,
der ihm ganz zu würdigen verftand. Weniges fpricht fo für bie
Größe Schillers, als der Eindrud feines Todes auf den gewaltigen
Freund. Goethe unter dieſem Cindrud, er war wie ein Himmel
nad) Sonnenuntergang. Diefen Himmel mödte id nur einmal
hauen.
Anjelmo. Es ift uns verfagt.
Gregori So unerbittlich, wie den Schleier der Zufunft
zu lüften. Wir fönnen nur ahnen, und id) ahne nichts Gutes.
Bir können uns nur zurüdfehnen, — und id) bin nicht befriedigt.
Der Augenblic aber entſchwindet, wir fühlen ihn faum, wir fennen
ihn nicht.
Dreifach ift ber Schritt der Zeit:
Zögernd kommt die Zufunft Hergezogen,
P feitjchnell‘ift bas Jept entflogen,
Ewig ftill fteht die Vergangenheit.
Keine Ungeduld beflügelt
Ihren Schritt, wenn fie verweilt,
Reine Furcht, fein Zweifeln zügelt
Ihren Lauf, wenn fie enteilt.
Keine Reu, fein Zauberfegen
Kann die Stehende bewegen.
Keine Neu, kein Zauberfegen
Kann die Stehende bewegen.
Es tritt ein kurzes Siillſcwweigen ein. Beide greifen gedanfenvoll nach ihren
Gläfern. Es ift Dunkel geworden. Ploblich ericheint die Zeit, eine Frauen
geftalt in weitem ‘ wallendem Gewande. Sie ift mit einer Sandubr gelhmüdt
und Hat in der Wechten einen goldenen Stab.)
Sgiller im Spiegel der Zeiten. 258
Die Zeit. Und doch, wenn ſich in diefer Hand ber Stab,
Hochſt Föniglich regiert, beginnt zu regen,
Quiflt neues Leben aus ber Zeiten Grab,
Ja aud) die Stehende muß ſich bemegen.
Und mas mit Windesflügeln von uns geht,
Der Augenblid, das Jetzt, es muß verweilen.
Was fi nur zögernd naht, im Nahen fteht,
Die ſcheue Zukunft, mir muß fie fi) eilen.
Vernehmt, ih bin die Zeit, und meinem Wink
Erfdeint was war und wird, entichleiert jedes Ding.
Und dieſes Sjepters Schnelle Wundermacht,
Ihr ſollt fie heut mit frohen Augen merken,
Die Fülle der Geftalten joll heut ſacht
Des Zweiflers ſchwachen Glauben freudig ftärten.
Was groß und mächtig war, von neuem treibt
In jugendlicher Kraft es friihe Sproſſen,
Vorbei! ein dummes Wort; was lebt, das bleibt,
Und was da ftirbt, hat Leben nie genofien.
Iſt auch ein ewig Fluten um uns her,
Die Großen jtehn wie Felfen in dem Meer.
(Zu Gregorio.) Du Ihauteft trüb in die Vergangenheit,
Die ſich dem Sehnſuchtoblick nicht will entrollen,
Glaubſt nicht an beine, nicht an fünft’ge Zeit,
Vermißt ein kräftig Fühlen, feftes Wollen.
Du fennft mid) nun, darum fo folge mir,
Zu hellen Bildern will ich dich geleiten,
Was war und ift und wird, das zeig ich bir:
Den großen Mann im Spiegel ber drei Zeiten.
Und bift du recht geftimmt, did) lehrt der Geift,
Was wirtungsfräftig, was lebendig heißt.
Drum auf nad) Weimar! Es find hundert Jahr,
Daß dort ein Großer ans ber Welt gegangen,
Was er den Freunden, was dem Freund er war,
Ihr dachtet dran mit jehnendem Verlangen.
Ihn Schaut ihr nicht, er geht zu früh hinab
Ins dunkle Reich, wo Schalte wohnt bei Schatten,
Doch was er üt, ſinkt wicht mit ihm ins Grab,
Sein Geift wirft, wie er lebte, ohn’ Ermatten.
Ein großer Zeuge deſſen bleibt nicht aus:
Auf, folget mir in unfres Goethe Haus!
(Sie bewegt ihren Stab und berſchwindet.)
254 Schiller im Spiegel ber Zeiten.
Zweite Szene.
Der Vorhang geht auf. Man fieht Goethe in feinem Arbeitszimmer in einem
Sehnftuhl fügen. Das Zimmer hat rechts ein Feniter. Diefem gegenüber an
der Wand ein Bild Schiller. Das Zimmer it einfach, nur mit einigen Antiten
geihmüdt. Goethe beficht Aupferſtiche.
Goethe (achdenklich). Das ift heute ber achte Tag, daß fein
Übel fo ſchlimm geworden. Wie heiter begegnete er mir noch am
erften Mai auf dem Wege zum Theater. Aber ba brad) aud) bie
Krankheit fo plöglih und gemalttätig herein, wie e8 niemand
erwartet hatte. (Paufe) Und id) bin aud) ans Zimmer gefeſſelt.
Es find böje Tage. Dazu quält mich der Gedanke, daß man fi
ſcheut, mir die volle Wahrheit über Chillen zu jagen. Heute ſähe
ich gern einen freund, bem ich voll vertraute, und mit dem ich
mid) ganz ausjpredyeu lönnte. (oeihe greift wieder nad) den Kupfern
und beginnt fie zu befehen. Nach kurzer Zeit legt er fie beifeite.) Es fehlt
mir heute das ruhige Gemüt, diefe Schönheiten aufzunehmen.
Es Hopft.) Herein !
(Frofefior Heinrih Meyer tritt auf.)
Meyer. Guten Abend, Herr Geheimer Nat.
. Goethe. Der liebe Freund Dieyer! «Steht auf, drüdt Meyer
ſeht herzlich beide Hände.) Guten Abend, mein lieber Profefjor. Cs
ift eine Freude, Sie zu ſehen. (Plöplig ſehr ernft.) Bringen Sie
Nachtichten von unferm Freunde? Lebt Schiller?
Meyer. Noch lebt er.
Soethe. Wir müſſen auf alles gefaßt fein. Erzählen Sie
mehr. (Sie jegen fh.)
"Weyer. ESdiller Hat geftern viel phantafiert. Gegen Abend
wacht er von feinen Fieberphantafien auf, er fühlt ein lebhaftes
Bebürfnis, bie Sonne zu jehen, man öffnet den Vorhang und
gewährt ihm den Anbfid der untergehenden Sonne. Da tritt
feine Schwägerin herzu und fragt, wie es gehe. Er antwortet
freundlih: „Immer beſſer, immer heiterer.“
Goethe. Es it wie ein Lihlblid aus glücklicher Zeit.
Wie hat er die Nacht zugebracht?
Meyer. Er hat viel phantafiert, namentlih über den
Demetrius. Und dann hörte man ihn ausrufen: „Du von-oben
herab, bewahre mich vor langen Leiden!” Gegen Morgen hat er
die Befinnung verloren und unzuſammenhängend geſprachen,
meiftens Latein. Als die Schillern feinen Kopf in eine bequemere
Lage bringen will, da erfennt er fie, lädelt fie an und küßt fie.
Sqhiller Im Spiegel ber Zeiten, 236
Soethe. Das ift immer nod ber alte Schiller. Sein
Körper mag bahinfranfen, jein Geiſt nicht.
Meyer. Meil jeine Liebe fo ftark iſt, it das Scheiden jo
ihwer. Vor ein paar Tagen ließ er ſich jein jüngites Kind
bringen. Er wandte fi mit dem Kopfe um, nad dem Kinde zu,
faßte es an der Hand und fah ihm mit unausfprechlicrer Wehmut
ins Geficht. Die Scillern erzählte, e8 wäre gewejen, als ob er
das Kind habe jegnen wollen. Dann fing er an bitterlich zu
weinen und ſteckte den Kopf ins Kiſſen und winfte, daß man das
Kind wegbringen möchte. Da mag er gefühlt haben, daß er
eigentlich noch nicht aufhören mühte, diefem Kinde Vater zu jein.
Goethe. Es iſt Hart, jehr hart. Leiden iſt die Beſtim—
mung aller. Wo aber eine Natur befonders zart organifiert iſt,
damit fie feltener Empfindungen fühig jei und die Etimme der
Dimmliſchen vernehme, da ift fie im Konflitt mit der Welt und
den Elementen nur allzuleicht verlegt, wo nicht zerftört. Das ift
Schillers Schickſal. Ich kenne ihn nicht anders als leidend.
Meyer. Erinnern Sie fid, Herr Geheimer Rat, des Her
ſuches, den wir Schillern im Dftober 1791 in Jena machten?
Goethe. Unfer Freund war damals überaus elend. Ich
glaubte, er lebte feine vier Wochen mehr.
Meyer. Sein Geficht glich dem Bilde des Gefreuzigten.
Es prägte fih mir tief ein, denn ich jah es damals zum erften Dial.
Wer hätte zu jener Zeit hoffen dürfen, daß ihm die Jahre feines
bedeutendſten Schaffens noch bevorftänden! Und doch war es fo.
Goethe. a, auch Schillers Natur hat eine gewiſſe Zäheit.
Aber es iſt hier noch etwas anderes im Spiele. Schiller hätte
bei jeiner Kränklichkeit nimmer jo viel heruorbringen fönnen, wenn
er nicht ganz und gar von einer Idee beherricht wäre, es ijt die
Idee der Freiheit des Geiites. Cie gab ihm aud) die Kraft, den
ſchwächlichen Körper zu beherrſchen und fid) zu erneuten, immer
großartigeren Leiftungen anzufpannen. Ic fürdhte aur, es wird
die Idee der Freiheit ihn ſchließlich getötet haben.
Meyer. Wie ijt das zu veritehen?
Goethe. Es ift diefe Idee, die ihn. zu übermenjclichen
Anftrengungen getrieben hat. Der Körper follte ihm nichts anhaben
können. So zwang er fih auch an jolden Tagen und Wochen
zu arbeiten, in denen er nicht wohl war; jein Tulent follte ihm
zu jeder Stunde gehorchen und zu Gebote jtchen. Es ift das ein
Yauptunterjchied feiner Arbeitsweile von der meinigen. Ich dichtele
nur, wenn mir danad) zu Mute war, er tut ſich Gewalt an.
258 Sthiller im Spiegel der Zeiten.
Deyer. Liegt in feiner Natur nicht überhaupt etwas
GSewaltfames?
Goethe. Durdaus. Wie überhaupt bei den Menſchen,
die nad) einer vorgefaßten Idee Handeln. Daher ift aud ein
forgfältiges Motivieren bis ins Einzelne ber Dichtung nicht feine
Sade. Er greift in einen großen Gegenitand fühn hinein, er
fieht auf das Ganze, auf die Gefamtwirfung, und da geht er denn
freilich fiher vorwärts, von der Idee getrieben. Schillers eigent-
liche Produftivität liegt im Idealen, und es läßt fic jagen, daß
er fo menig in ber deutfhen als einer andern Literatur feines
gleien hat.
Meyer. Ja, und die große Wirkung feiner Werke hängt
zuſammen mit feinem großartigen Charafter.
Soethe. Ohne Zweifel. Schiller erideint eben immer,
ob er handelt oder bichtet, im abfoluten Beſitz feiner erhabenen
Natur; er ift fo groß am Teetiſch, wie er es im Staatsrat geweſen
fein würde. Nichts geniert ihn, nichts engt ihn ein, nichts zieht
den Flug feiner Gebanfen herab; was in ihm von großen An-
fihten lebt, geht immer frei heraus ohne Nüdjicht und ohne Be—
denfen. Das ift ein rechter Menſch, und fo follte man aud) fein.
(Während dieſer Worte find die Strahlen der untergehenden Sonne auf das
Bild Schillers gefallen und haben es vergoldet. Der Sonnenſchein dauert an.)
Was Habe ich doch dieſem Freunde alles zu banfen! Denn fo
verſchieden unfre beiderfeitigen Naturen auch find, fo gehen unjre
Richtungen doch auf eins; weldes denn unfer Verhältnis jo innig
gemadjt hat, daß im Grunde feiner ohne den andern leben Tann.
Das ift jegt mehr als ein Jahrzehnt, daß wir all unfre dichteriſchen
Pläne und -Gedanfen austaufchen. Ich fühlte mid von neuem
jung und friſch werben, als er mein Freund wurbe, und er erlebte
etwas Ähnliches. Was die poetifhe Kultur der Deutſchen dadurch
gewonnen, das läßt ſich noch nicht abjhägen. Aber, will's Gott,
jo gibt's eine Ernte, deren Früchte nie ausgehn. Daher hat aud
der alte Streit feinen Zwed, wer größer jei, Schiller ober ich:
die Leute follten ſich freuen, daß überhaupt ein paar Kerle da
find, worüber fie ftreiten fönnen.
Meyer. D, es will einem das Herz abbrüden, dag ein jo
{herrliches Band jo früh zerihnitten werben foll.
Goethe. Das Schichſal ift umerbittlih und ber Menid
wenig. (Mad) einem Heinen Stidfgweigen.) Aber das Band wird nicht
jeriöjnitten, es fann gar nicht zerichnitten werden.
(Ehrikiane erfgeint an der Tür.)
Schiller im Spiegel der Zeiten. 257
ChHriftiame (ohne Goethe anzufehen). Darf ich Herrn Hofrat
Meyern auf einen Augenblick herausbitten.
Mener (mit einer Berbeugung gegen Goethe). Ich Lehre zurück
ab.)
(Goethe allein. Er bleibt einen Augenblick figen. Dann ſteht er auf und geht
ein poarmal auf und ab. Vor Schillers Bild bleibt er fichen. Im jelben
Augenblidt verfchwindel der Sonnenitrahl plöplich. Das Zimmer wird dämmerig.)
Goethe (aedankenvoll). „Untergehend fogar iſt's immer bie:
felbige Sonne.” Das ift ein großes Wort der Alten, wie gemahnt
mich's an Scillern. Mir ift heute fo eigen zu Mute. Ich habe
nicht leicht einen Tag gedrüdter verbracht, als gerade biejen.
Aber es liegt doch ein ftarker Troft im Gebanfen an ben menſch⸗
lichen Geift, der fortleuchten muß wie die Sonne. Wenn ich das
erwãge, wie anbers erfcheint mir der Tob. Cr läßt mid) in völs
liger Ruhe, denn id; habe die feite Überzeugung, daß unfer Geift
ein Wejen ift ganz unzerjtörbarer Natur, es it ein Fortwirkenbes
von Ewigkeit zu Ewigkeit, es ift ber Sonne ähnlid, die bloß
unfern irbifchen Augen unterzugehen fdeint, die aber eigentlich
nie untergeht, fondern unaufhörlich fortleuchtet.
Goethe hat fich wieber in jeinen Lehnſtuhi gelegt. Chrigtiane tritt ein. Sie ift
verwirrt und hat ein uncubiges, verjtörtes Mejen, meidet es, Goethe anzufchen.
Sie mach ſich an einem Schrant zu fhaffen. Goeihe ficht fortwährend nad,
ihr hin. Im Zimmer ift es ingwiſchen duntei geworden.)
Goethe. Es ift finfter, wir müffen Licht haben.
¶Chriſtiane geht zu einem Nebentifdh und zündet eine Lampe an. Sie ftcht mit
dem Nüden zw Goeihe Darauf jtellt ſie die brennende Inmpe auf den Zifch,
ohne Goethe anzufehen.)
Goethe. Sie meidet meinen Blid, es will mir nicht recht
gefallen. (Kaufe) Wo dod) der Meyer jein mag? Er wollte zu
mir zurüdfehren, und nun ijt Chriftiane allein hier. Er ift forte
gegangen, ohne ein Lebewohl zu fagen. Ich merke es, Schiller
muß ſehr frank fein. (Paufe) Es hat mic, lange nichts fo erregt,
wie biefes Verfhwinden Meyers.
(83 tritt wieder eine Paufe ein, während melder Goethe die Chriſtiane ſcharf
anficht. Darauf redet er fie mit Entichiedenfeit an.)
Nicht wahr, Schiller ift Heute fehr krank?
(Spriftiane wirft fich auf einen Stufl, ſtüht das Gefict in die Hände und
ſchlucht laut auf.)
Goethe (ie. Er ift tot?
Ehriftiane. Sie haben es jelber ausgeſprochen.
Goethe Llangiam). Er ift tot.
(Ex wendet ſich ab, bededt ſich die Augen mit den Händen und weint. Bald
Hat er fich gefaßt und fpricht wieder ruhig und feit.)
258 Sghiller im Spiegel der Zeiten.
Als mid im legten Winter bie Krankheit jo heftig gepadt hatte,
da dachte ich mic) jelber zu verlieren, und num verliere ich einen
Freund und in bemfelben die Hälfte meines Dafeins. Cr hinter
läßt ein großes Vermächtnis. (Baufe) Wann Hat er ausgelebt?
Chriſtiane. Schon vor einigen Stunden, es war um
fünf Uhr. Nun ift es ſchon befannt in der Stadt. Id war anf
der Strafe, da war's ben Leuten anzujehen, daß was geſchehen ift
in Weimar. Ich habe ſelbſt geringe Leute weinen fehen, den Frifeur
und Varbier und den Logenfchlieger im Theater.
Goethe. Es werben viele weinen. Ja,
Wehmut ergreift mid, und die Seele biutet,
Daß Irdiſches nicht feiter fteht, das Schickſal
Der Menſchheit, dns entſetzliche, jo nahe
An meinem eignen Haupt vorüberzieht.
Es find Schillers Worte, ich hatte nicht geglaubt, dab ich fie auf
ihn würde anwenden müfjen. Aber Gott fügt es, wie er es für
gut findet, und uns armen Sterblichen bleibt weiter nichts, als zu
tragen und uns emporzuhalten, fo gut und jo fange es gehen will.
(Baufe- Goethe ergreift einen Band Schillerſcher Gedichte, der auf dem Tiſch
Tiegt, blättert darin und Heft für fic.)
Da lefe ich wieder jeine Nänie. Es hat dod niemand eine fo
ergreifende Klage über den Tob des Schönen geſprochen, wie
Schiller ſelber. „Auch das Schöne muß fterben” — —
(Die Nührung überwältigt ihn, jo daß er abbricht und Chriſtiane das Buch gibt.
Diefe lieſt mit feiter Stimme.)
Chriftiane. Auch das Schöne muß fterben! Das Dienfchen
und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Bruft rührt eo des ſihgiſchen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrſcher,
Und an der Schwelle nod), ftreng, rief er zurüd fein Gefchenf.
Nicht ftillt Aphrodite dem fchönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib graufam der Eber gerigt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unfterbliche Mutter,
Wenn ev, am ſtläiſchen Tor fallend, fein Scidjal erfüllt.
Aber fie fteigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe, da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene ftirbt.
Auch ein Klaglied zu fein im Mund der Geliebten, ift herrlich,
Denn das Gemeine geht Hanglos zum Orkus hinab.
Scilfer im Spiegel der Zelten. 259
Goethe. Ja, fo weit nur ber Tag und die Nacht reiht,
fiehe verbreitet
Sich dein herrlicher Ruhm, und alle Völker verehren
Deine treffende Wahl des furzen rühmlichen Lebens.
Köfttiches haft du ermählt. Wer jung bie Erbe verlafjen,
Wandelt auch ewig jung im Reiche Perjephoneias,
Ewig erſcheint er jung den Künftigen, ewig erfehnet.
Stirbt mein Vater bereinft, ber graue, reilige Neftor,
Wer beflagt ihn alsdann? und jelbit von dem Auge des Sohnes
Wälzet die Träne ſich faum, die gelinde. Xöllig vollendet
Liegt der ruhende Greis, ber Sterblichen herrliches Mufter.
Aber der Jüngling fallend erregt unendliche Sehnſucht
Allen Künfligen auf, und jedem jlirbt er aufs neue,
Der die rühmlihe Tat mit rühmlihen Taten gekrönt wünfcht. .
(88 entiteht eine Paufe. Goethe reicht Cheiftiane die Hand, fie beugt ſich teif-
nehmend zu ihm, er ftreichelt ihr Haar und fagt:) Geh, mein gutes Kind,
forge fürs Hauswejen. Ich will ein Etündchen allein fein.
(Shriftiane ab. Gocthe verfinft in Nachdenfen. Man hört aus der Ferne cin
dumpfes Glodengeläute. Goethe fährt zuerit auf, finnt noch einen Augenblid
und fpridht dann das Folgende langfam, wie gerade Dichtend, mit feinen Paufen.
Das Läuten verfaltt allmählich, während er iprict.)
Da hör’ ich ſchreckhaft mitternädht'ges Läuten,
Das dumpf und ſchwer die Trauertöne jchwellt.
Iſt's möglih? Soll es unfern Freund bedeuten,
An den fid) jeder Wunſch geflammert Hält?
Den Lebenswürb’gen joll der Tod erbeuten?
Ad! wie verwirrt jold ein Verluſt die Welt!
Ad! mas zerflört ein folder Rih den Seinen!
Nun weint die Melt, und follten wir nicht weinen ?
Denn er war unfer! Mag das jtolze Mort
Den lauten Schmerz gewaltig übertönen !
Er mochte ſich bei uns im fihern Port
Nad wilden Sturm zum Dauernden gewöhnen.
Indeſſen ſchritt jein Geift gewaltig fort
Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen,
Und Hinter ihm in weienlojem Scheine
Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.
Es glühte feine Wange rot und röler
Von jener Jugend, die uns nie entfliegt,
Von jenem Mut, der, früher oder ipäter,
Ten Wiverfiand der jtumpfen Welt befiegt,
260 Schiller im Spiegel der Zeiten.
Von jenem Glauben, ber ſich ftels erhöhter
Bald fühn hervordrängt, bald gebuldig ſchmiegt,
Damit das Gute wirke, wachſe, fromme,
Damit der Tag dem Edlen endlich komme,
Auch manche Geiiter, die mit ihm gerungen,
Sein groß. Verdienft unwillig anerkannt,
Sie fühlen fih von jeiner Kraft durchdrungen,
In feinem Kreife willig fejigebannt :
Zum Höchſten hat er fi) emporgeſchwungen,
Mit allem, was wir fhägen, eng verwandt.
&o feiert ihn! Denn, was dem Dann das Leben
Nur halb erteilt, foll ganz die Nachwelt geben.
Vorhang.)
(Sobald der Vorhang gefalten, ertönt Glodengeläute, eiwa wie bei einem Begräbnis
aus einer Dorflirche. Die vordere Yühne bleibt noch dunfel. Sobald das Geläut
verftummt, wird es heller, und es ericheint die Zeit.)
Die Zeit. Ein ärmlich büfter brennend Fadelpaar, das Sturm
Und Regen jeden Augenblick zu löſchen droht.
Ein flatternd Bahrtuch. Ein gemeiner Tannenfarg
Mit keinem Kranz, dem färgiten nicht, und fein Geleit,
Als brähte eilig einen Frevel man zu Grab.
Die Träger hafteten. Ein Unbefannter nur,
Ton eines weiten Diantels Fühnem Schwung ummeht,
Schritt diefer Vahre nad). Der Menfchheit Genius war's.
(Baufe.)
Und es verging die Zeit. Der Trauer Stunden,
Wie ſtark fie ſchmerzten, wurden überwunden.
Der gute Genius aber, der geichritten
An Schillers Sarge, blieb in eurer Mitten,
Er führt euch ftets aufs neue zu dem Meiſter,
Veredelt und erhebt in ihm die Geilter.
Starb Schiller gleich, jo ward gegeben
Im deutihen Haufe ihm ein neues Leben:
Der Tell, die Jungfrau und ber Wallenftein,
Als Hausgenofien zichen fie da ein.
Die Brunhild und Kriempild in alten Zeiten,
Sieht man Britanniens Königinnen ftreiten.
Don Carlos, der Marquis, ber Brüder Braut,
Geſtalten find es, jedem fo vertraut.
ALL feine Lieder leben ftets aufs neue
Bon Freiheit, Frömmigkeit und Freundestreue,
Schiller im Spiegel der Zeiten. 261
Bon mut’gem Nitterfampf, von jartem Lieben,
Balladen find’s, die ewig jung geblieben.
Und mit der Glode ahnungsvollem Läuten
Durchs ganze Leben mag er eud) begleiten.
Ja, feines Geiſtes Kraft läßt Herzen flammen
Und fhmiedet wie zur Kette fie zulammen,
Und zu des Himmels ewig heller Wahrheit
Erhebt er fie mit feines Geijtes Rlacheit,
Läßt fie das Schöne, Wahre, Gute jehen,
Und auch die Jugend Tann ihn ſchon verftehen.
Und es bewährt ſich fo durch hundert Jahr,
Wie cht die Perle jeiner Dichtung war.
Drum wendet nun von der Vergangenheit,
Die id) euch wies, den Blick auf eure Zeit.
Führt ich eud) ein in Weimars Hohe Welt,
So ſeid zu unjern Kleinen nun geftellt.
Hab des Vergangnen Tor ih eud) entriegelt,
Seht, wie er ſich in Knabenherzen ipiegelt,
In heitern Knaben aus ber Gegenwart,
Die forglos blicken auf des Lebens Fahrt.
Und wer die jungen Herzen höher ſchwellt,
Zum Spielen anzieht und im Spiel gefällt,
Wer Mut und Liebe nährt, wer Sehnfucht wedt,
Daß fühn der Knabe ih nad) Taten ſtreckt,
Wer jtill verborgen Lebensfräft'ge Saat
Zum Wachstum in die jungen Herzen tat,
Wer jtets aufs neu dem Guten Zünger wirbt,
Der tat ein Werk, das nie und nimmer ſtirbt.
(Die Zeit tut einen Schwung mit ihrem Stabe und verſchwindet.)
Dritte Szene.
Einen Angenblic ift alles ſtil. Darauf Uncube, es ertönt aus dem Hintergrunde
folgender Gejang:
Drum friſch, Kameraden, den Nappen gezäumt,
Die Bruft im Gefechte gelüftet!
Die Jugend braufet, das Leben ſchäumt,
Friſch auf, eh’ der Geift noch verbüftet!
Und feget ihr nicht das Leben ein,
Nie wird euch das Leben gewonnen fein.
Battifce Monatsiheift 1905, Heft & 2
202 Stiller im Spiegel der Zeiten.
(Der Refrain mirb vom Chor erft lauf, dann Teifer, enblich aus ber Ferne
gelungen. Sobald die Zöne verhaltt find, geht der Vorhang auf.
ftürmen drei Quartaner hinein: Harry, Erid, Arved.)
Harry. So, die Terlianer find glüdlic fort.
Erid. Und wir Quarianer haben das Wort.
Arved. Was für ein Liedchen jangen fie vor?
Erich. Weißt du nidt, 's war ber Soldatenchor
Aus bem Lager bes Wallenftein,
Übten fid) das zu morgen ein.
Arved. Möchte bei uns nur alles gut gehn
Und wir morgen das Nütli veritehn.
Daß wir's uns jelber ausgewählt,
Mir dabei doch am beiten gefällt.
Harry. Und wenn die Jungens ſich morgen blamieren,
Heißt es, ben Ordnern ſie ſchlecht parieren.
Erich. Ja, wir ſind dann an allem ſchuld!
Harry. Und wir übten mit vieler Geduld,
Da doch an Schillers Todestag
Niemand gerne zurüditehn mag.
Wollien es aud nicht ſchlechler machen,
Als die Quintaner ihre Sachen.
Eric. Denkt doc, was die fih ausgedacht:
Führen die Glocke auf mit Diacht,
Selber fah ic}, wie fie die proben.
Harry. Nun, das ſcheim mir doch jehr zu loben.
Erid. Hielt mir beinah den Bauch vor Laden.
Arved. Glaub nicht, daß ſie's jo übel machen
Erid. Solde Knirpſe, drei Käſe hoch,
Preiſen der Liebe Glück und Jod,
Hoffen, daß ewig grünen bliebe
Ihnen die Zeit der erſten Liebe.
(Eric und Harry lachen laut auf, Aroev bleibt ernit.)
Arved. Ad, um fih an Schiller zu freun,
Braucht man nod) gar nicht groß; zu Tein.
Harry. Wahr it's, als Onfel die Räuber gelefen,
Bin id) auch mal dabei gewejen,
Hab jo hinten im Dunfeln geſeſſen
Und die Welt um mich rings vergeffen.
Und als id) Franzens Traum vernommen,
Da hab id) Gänfehaut befommen.
Erig. Wil’s foum glauben, ift das fo ſchaurig?
Lebhaft
Schiller im Spiegel der Zeiten. 283
Arved. Weißt du, bie „Jungfrau“ machle mid) traurig,
Hab im Theater fie mal gefehen,
Konnte alles famos verftehen.
Und was jo feltfam, id) bild’ mir's nicht ein,
Daß es fo ſchön war, traurig zu fein.
Denn dba war mir das Herz fo voll,
Wußt' nicht, wo ich mid) laſſen foll,
Tät alle Menſchen nod einmal fo lieben,
Weiß nicht, was mic) dazu getrieben.
Erich, wir hatten doch oft geitritten,
Hatt es noch ungern jüngft gelitten,
Daß du mir Schillers Gedichte genommen,
Die id) damals zu Weihnacht befommen.
Aber nun Hat mich's nicht mehr gefränft.
Erich. Und dann Haft du fie mir ja geichentt.
Arved. Ja, nun war mir's am liebften jo.
’s fam nur deshalb, ich war fo froh,
Hätte did) damals umarmen önnen.
Erid. Ad, Hans Wunderlich bift du zu nennen.
Harry. Doc) was ſchwatzt ihr, verliert die geit,
Die Sekundaner find gar nicht weit,
Um halb acht fie ſchon aufmarfchieren
Und bie Braut von Meffina probieren.
Seht, daß die Zeit nicht nuplos vergeht
Und uns morgen das Rütli mißrät.
Auft nach Hinten:) Iſt nun beifammen die ganze Schar?
Stimme von hinten. Nein, eo fehlen noch immer ein paar.
Harry. Weiß nicht wer da fo tröbelig.
Erich (gu Harry). Find'ſt du nicht, Arved iſt wunderlich.
Arved. Was ſoll ih machen, es rührte mich.
Nur wenn ich Schiller geſehn und gelejen,
Ir mir fo jeltfam zu Mut geweien.
Eric. Feiner Dichter, das it ja wahr,
Solche gibt's alle paar hundert Jahr.
Gab man neulich den Wallenftein,
Wollt’ für mein Leben gern da hinein,
Hätte mein Taſchengeld gern gelafjen,
Aber den Eltern wollt’ es nicht paſſen.
Immer noch es mid) Fränfen tut.
Harry. Schad't nichts, der Tell iſt ebenjo gut.
Und nun fpielen wir jelber den Tell.
Pr
204 Stiller im Spiegel der Zeiten.
Stimme von hinten. Nun fehlt niemand.
Harry. Heran denn ſchnell!
Jungens, fangt an mit dem Probieren!
Und wir — wollen fie lontrollieren.
(Ex zieht ſich mit den beiden andern Jungen hinter eine Auliffe zurüd. Die
Pühne Bleibt einen Augenblid Icer. Darauf beginnt daS Spiel. Die Spieler
find einfach toftümiert. Sie fürn aus Schillers „Wilgelm Tell” die
2. Szene bes 2. Altes auf.)
Methißat, Banmgarien, Winkefried, Meier von Sarnen, Burkhart
am Bühel, Arnofd von Sewa, Afaus’von der Ffüe und noch vier andre
Fandfente, alle bemafinet.
Melchthat (noch Hinter der Szene).
Der Bergweg öffnet fich, nur frifh mir nad.
Den FeIS erfenn' ich und das Kreuplein brauf;
Wir find am Ziel, hier ift das Nünli. (Treten auf mit Windlichtern.)
Winkefried. Yard!
Sema. Ganz Icer.
Meier. 'S ift noch fein Sandmann da. ir find
Die Erften auf dem Pla, wir Unterwaloner.
Melhtfal. Wie weit ift's in der Nacht?
Baumgarlen, Der Feuerwächter
‚Vom Sclisberg hat eben zwei gerufen. (Man hört in der Ferne läuten.)
Meier. Still! Sord!
Am Büßel. Das Meitenglödiein in der Waldlapelle
Aingt heil herüber aus dem Schopberland.
Bon der Flüc. Die Luft ift rein und trägt den Schall jo weit.
Methtdal. Gehn einige und zünden Neisholz an,
Dah e5 Ioh brenne, wenn die Männer fonımen. (Zwei Sandleute gehen.)
Sewa. '3 ift eine fchöne Mondennacht. Der Sce
iegt ruhig da, als wie ein ebner Spiegel.
Arm Bäßel. Sie haben eine leichte Fahrt.
Windefried (zeigt nad) bem Sec). Sa, fept!
Seht doribin! Scht ihr nichts?
Meier. Was denn? — Ja, wahrlich!
Ein Regenbogen mitten in der Nacht!
Werhlfat. Cs Üt das Licht des Mondes, das ihn bildet.
Fon der Stue. Das ift cin jellfom wunderbares Zeichen !
€8 Icben viele, die das nicht geichn.
Sewa. Cr ift doppelt; febt, cin bläfferer ficht drüber.
Baumgarten. Cin Haden fährt jochen drunter weg.
Meldet. Dos ift der Stauffacer mit feinen Aal,
Der Biedermann läht fi nicht lang erwarten.
(Geht mit Baungarsen nach dem Ufer.)
Meier, Die Urner find es, die am Längften fäumen.
Am Büßel. Sie müflen weit umgehen durchs Oebirg,
Dapı fie deS Yandvogts Kundfcaft hintergehen.
(Unterbeffen Haben die zwei Landleute in der Mitte des Plnges cin Feuer
angezündet.)
elchthal (am Ufer). Wer iſt da? Gebt das Wort!
Siaufſa cher (von unten). Freunde des Landes.
Schiller im Spiegel ber Zelten. 205
eben nach der Tiefe, den gommenden entgegen. us dem Kahn fteigen
lan fader, Iief Meding, Sans auf der Mauer, Jörg Im Hofe,
Konrad Hunn, Alrih der Schmied, Jo von Weller und nad) drei andıe
Landleute, gleichfalls bewaffnet.
Me (rufen). Willtommen!
(Indem die übrigen in ber Tiefe verweilen und ſich begrüßen, kommt Meldithaf
mit Stauffacher vorwärts.
Welätaf. D Herr Stauffader!_ Id hab’ ihn
Geſehn, der mich nicht wiederfehen fonnte!
Die Hand hab’ ich gelegt auf feine Augen,
Und glühend Rachgefühl dab’ ich gelogen
Aus der erlofchnen Sonne feines Vlids.
Stauffader. Sprech nicht von Rade. Nicht Geſchehnes rächen,
Gedrohtem Übel wollen wir begeguen.
— Segt fagt, was |br im Unterwaldner Land
Geſchafft und für gemeine Sad" geworben,
Wie die Landleute denten, wie ur jelbit
Den Ctriden des Verrats entgangen jei.
Melhthal. Durch der Surcı jurchtbares Gebirg,
Auf weit verbreitet üben Eijesfelder
Bo mur der heifte Cämmergeier frädht,
Gelange’ ich zu der Wpentrift, wo fid,
end mit der Oetker Mil,
Die in den Runfen, [häumend miederquillt,
Au den einfamen Senmhütten fehrt' id) ein,
Wein eigner Wirt und Gait, bis dab ih am
Zu Wohnungen gejellig lebender Menſchen.
— Erjcollen war in diefen Tälern ſchon
Der Ruf des neuen GreuelS, der gefchehn,
Und fromme Ehrfurcht ſchaffte mir mein Unglüd
Vor jeder Pforte, wo id wandernd Hopite.
Entrüftet fand ich diefe groden Seelen
Ob dern gewaltfom neuen Negiment;
Denn jo mie ihre Aipen fort und fort
Diefelben Kräuter nähren, ihre Brunnen
Sleichförmig fliehen, Wolten jeibit und Winde
Den gleichen Strid unwandelbar befolgen,
&o hat die alte Sitte bier vom Ahn
Zum Enfel unverändert fort bejtanden.
Picht tragen fie verwegne Neucrung
Im altgewohnten gleichen Gang des, Lebens.
— Die harten Hände reichten jie mir dar,
Bon den Wänden langten fir die vojt'gen Schwerter,
Und aus den Mugen udiges
Gefühl des Wuts, als ic) die Nam
Die im Gebiry dem Sandmann heilig find,
Den eurigen und Walter Fürits. — Was euch
Recht würde dünfen, ſchwuren fie zu tun,
Eud) ihwuren fie dis in den Tod zu folgen.
- iger unterm heil’gen Scyiem
Des Gaftredts von Gehöfte zu Gehöfte. —
Und als id fam ins heimatliche Tal,
Wo mir die Velten viel verbreitet wohnen —
WS ıdy den Water fand, beraubt und blind,
nannte,
206 Schiller im Spiegel der Zeilen.
Auf fremder Stroß, von der Barmherzigkeit
Mildtät'ger Menjchen lebend —
Stauffader. Herr im Himmel!
Melqidat. Da weint" ich nicht! Nicht in ohnmädt'gen Tränen
Goß id) die Kraft des heilen Schmerzes aus,
In tiefer Beuft, wie einen teuren Schab,
Verichloß ich ihn und dachte mur auf Zaten.
Ic) roch durch alle Krümmen des Gebirge,
Kein Tal war jo veritedt, id jpäht' es ans;
Bis am der Glaſcher eisbededten ‚u
Erwartet‘ ich und fand bewohnte Hütten,
Ad überall, wohin mein Fuß mich trug,
Zand ic) den gleichen Hal; der Tyrannei;
Denn dis an diefe feyie Grenze jelbit
Belebter Schöpfung, wo der jlarre Boden
Aufhört zu geben, raubt der Wögte Geiz —
Die Herzen alle dieles biedern Wolts
Errege' ich mit dem Stachel meiner Worir,
Und unfer find fie all mit Herz und Mund.
Stauffader. Großes habt ihr in Furzer Fri
Melhtßat. 34) tat noch mehr. Die beiden
Hofberg und Sarnen, die der Sandmann fürdhter;
Tenm Hinter ihren elfenwälten chiemt
Der Feind fic leicht und jhädiget das Sand.
Dit eignen Xugen woll' ich e$ erfunden;
Iap war zu Sarnen und bejah die Burg.
Stauffader. hr wagtet euch 6iß in des Tigers Höhle?
Mekhtäat. Ju) war verkleidet dort in Pilgersiradt,
34} ja den Yandvogt an der Tafel jdmelgen —
Urwilt, ob id mein Herz bezwingen Tann;
34 jab den Feind, und ich erihlug ihn nicht,
Stauffader. ZFührwahr, das Glüd war eurer Nühnheit Hold.
(Unterdefjen find die andern Landleute vorwärts gekommen und nähern fich
den beiden.)
Doch jego fagt mir, wer die Freunde find
nd die gerechten Dänner, die euc) jolgten?
Macht mid) befannt mit ihnen, dal) wir uns
Autraufidy nahen und die Herzen Öffnen.
Der tennte euch nicht, Yerr, in den drei Yanden?
30) bin der Meier von Sarnen; dies hier it
Mein Scweiterfohn, der Struth von Wintelried.
Stauffager. Ihr nennt mir feinen unbefannten Namen.
Ein Winfelried war's, der den Drachen flug
Im Sumpf bei Weiler und fein Leben lich
dielem Straub.
Windotried. Das war mein Ahn, Herr Werner.
Methithal (zeigt auf zwei Sandleuter.
Die wohnen hinterm Wald, find Mofterleute
Vorm Engelsberg. —- Xhr werdet fie drum nicht
Verachten, weil fie eigue Leute find
Und nicht, wie wit, frei fiyen auf dem Erbe —
Sie lieben’s Sand, find fonit auch wohl berufen.
Staugacher (zu den beiden). Gebt mir Die Yand. CS preije ſich, wer feinem
Mit jeinem Yeibe pflihtig ift auf Erden;
Doch Neblicteit gedeiht in jedem Stande
Meli
Schiller im Spiegel der Zeiten. 267
Honrad Hunn. Das iſt Herr Reding. unſer Altlandammann.
eier. Ja tem” ibm wohl, er it mein Wiberpart,
Der vun ein altes Exbftüd mit mie redtet,
— Herr Reding, wir jind Feinde vor Gericht;
Hier ind wir einig. (Schüttelt ihm die Hand.)
Stauffaher. Das ijt brav geſprochen
Winkefried. Hört ihr? Sie fommen. Hört das Horn von Uri!
Glechts und lints ficht man bewaffnele Männer mit Windlichtern die Felſen
herabſteigen).
Auf der Mauer. Sept! Steigt nicht felbit der fromme Diener Gottes,
Der würdige Pfarrer mit herab? Mic fceut er
Dis Weges Mi und das Graun der Nacht,
Ein treuer Hirte für das Volt zu forgen.
Baumgarlen. Der Sigrüt folgt ihm und Herr Walter Fürft;
Doch nicht den Tell erbli' ich in der Menge,
Barter Fürt, Aöfelmann, der Borrer, Pelermann, der Sigrift, Auoni,
der Hirt, Wernl, der Zügen, Mmodl, der Filher und noch fünf andere
Landieute . Mile zufammen, dreimmddreihig an ver Zahl, treten vorwärts und
itellen jich um das Auer.
after Fürf. So müfjen wir auf unferm eignen Erb’
Und väterlicjen Boden uns verjtohlen
Bufammenfcpleichen, wie die Mörder tun,
Und bei der Nacht, die ihren jchwargen Mantel
Nur dem Xerbreen und der jonnenjdheuen
Werfcwörung leihet, unfer gutes Recht
Uns holen, das doch Tauter it und Har,
Gleichwie der glanzvoll_ofine Schoß des Tages.
Werätäat. Lahrs gut fein. Was die dunkle Nacht geiponnen,
Soll frei uud fröhlich an das Ligt der Sonnen.
Höpefwmann. Hört, was mir Gott in& Herz gibt, Eidgenofien!
Wir jtehen hier ftatt einer Sandsgemeinde
Und tönnen gelten für ein ganes Lolt,
So faft uns tagen nad) ben alten Yräuden
Des Lands, wie wie's in rubgen Zeiten pflegen;
Was ungefeylid) ift in der Berjammlung,
Entjcnuldige die Not der Zeit, Dod Colt
Sit überall, wo man das Heiht verwaltet,
Und unter feinem Himmel ftehen wir.
Stauffader. Wohl, lajıt uns tagen nad) der alten Sitte;
Iſ es gleich Nacht, jo leuchtet unſer Recht.
Wielötbat. Jit gleid) die Zahl nicht voll, Das Herz it bier
Des ganzen VoltS, die Weiten jind Jugegen.
Konrad Hunn. Sind audı die alten Buͤcher nicht jur Hand,
Sie jind in unse Herzen eingefehricbe
Nöpefmann. Wohlan, jo jei der King
Auf der Mauer. Der Landesamman
Und feine Waibel ftehen ihm zur
Sigrit. Cs jind der Völler dreie. Welhem nun
Gehüßers, das Haupt zu geben der Gemeinde?
Meier. Ulm diefe Chr’ mag Schuys mit Uri
i zurüd.
Wettgaf. Wir jtehn zurüd; wir fund die Zlehenden,
Die Qilie deiſchen von den mädy'gen Freunden.
208 Schiller im Spiegel ber Zeiten.
Staugaqher. So nehme Uri denn das Schwert; jein Banner
‚Sieht bei den Nömerzügen ung voran.
Bafier Für. Des Schwerte Ehre werde Schwwnhz zuteil
‚Denn feines Stammes rühmen wir ung alle.
Aöpefmann. Den deln Meitftceit lat mich freundlich jchlichten:
Schwys joll im Nat, Uri im ‚Felde führen.
Wafter Fürfl (reicht dem Stauffacer die Schwerter). So nehmt !
Stauffaner. Nicht mir, dem Alter jei die Ehre,
Im SHofe. Die meijten Jahre zählt Ufeicd, der Schmied.
Auf der Mauer. Der Mann ift wager, doch nicht freien Standes;
Kein cigner Mann fann Richter jein in Schwup.
Stauffader.. Sıcht nicht Herr Neding hier, der Atlandemmann?
Was fucen wir noch einen Würdigern?
Waffer Für. Cr jei der Ammann und des Tages Haupt !
Wer dazu jtimmt, exebe feine Hände.
(Alle Heben die rechte Hand auf.)
Beding (tritt in die Mitte). Ich fanın die Hand nicht auf die Vücher Legen,
So ichwör' ich droben bei den ew'gen Sternen,
Dahı ich mich nimmer will vom "echt entfernen.
(Man richtet Die pwei Schwerter vor ihm auf, der Ring bildet fich um ihn ber,
Sauoyy hält die Mite, reits jtellt fic Uri und links Unterwalden. Gr fteht
auf jein Scylahtichwert geitägt.)
Was iſt's. daS die drei Vlter des Gebirgo
Hier an des Sces unwirtlichem Geftabe
Zufammenfügrte in der Gciiterfiunde?
Was foll der Inhalt fein des neuen Bunde,
Den wir hier unterm Sternenhimmel, ftiften?
Stauffaher tritt in den Ning). Wir fiften feinen neuen Bund; es it
Ein uraft Bündnis nur von Läter Zeit,
Das wir erneuern! Miffet, Eidgenojfen!
Ob uns der Ser, ob un die Berge Icheiden,
Und jedes Bolt fich für fich jelbit regiert,
So find wir eines Stammes doch und Bluts,
Und eine Heimat ijt%, auß der wir jopen.
Winßefried. So it es wahr, wies in den Liedern lautet,
Daß wir von fern her in, das Land gewallt?
D, teill3 ung mit, was kuch davon befannt,
Doh fid) der neue Yund am alten ftärke.
Stauffaßer. Hört, was bie alten Hirten id, erzählen.
— 68 war ein grodes Bolt, hinten im Lande
Nach, Mitternacht, das litt von jchwerer Zeurung.
In diefer Not bejchlof Die Sandsgemeinde,
Dei je der zehnte Würger noch dem LoB
Der Wter Sand verlafie. — Das geichah!
Ann zogen aus, wehflagend, Männer und Weiber,
Ein großer Heerzug, nad) der Mittagsionne,
akit dem Schwert jic) {chlagend durch das deutiche Land,
wis an das Hochland diejer Waldgebirge,
Und cher nicht ermübete der Zug,
Bis dab fie famen in das wilde Tal,
Wo jest die Huotta zwichen Wiefen rinnt. —
Nicht Menfcenfpuren waren hier zu fehen,
Nur eine Hütte ftand am Ufer einjam,
Ta fah ein Man und wartete der Fähre —
Toy heftig wogete der See und war
Nicht fahrbar; da beiahen fie das Land
Schiller im Spiegel der Zeiten.
Sich näher und gewahrten ſchöne Fülle
©es Holzes und entdedten gute Brunnen
im lieben Vaterland
Da befchloffen fie zu bleiben,
Erbaueten den alten Zleden Schwnp,
Und hatten manden jauren Tag, den Wald,
Mit weit verichlunguen Wurzeln auszuroden. —
Drauf, ats der Boden nicht mehr Ömügen tat
Der Zahl des Bolfs, da zogen fie hinüber
Jun (waren Berg, ja, 6i8 ans Weihland Gin,
Wo, Hinter em’gem Cifeswall verborgen,
Ein anderes Bolt in andern Zungen jpricht.
Zen Fleden Stanz erbauten fie am Nernwald,
Den yleden Altorf in dem Tat der Reub —
Dody blieben fie des Urfprungs jtets gedent;
Aus all den fremden Stämmen, die jeitdem
Ju Mitte ihres Sands fidh angejieelt,
Finden die Schwyger Männer fidh deraus,
68 gibt das Herz, das Blur fich zu criennen.
(Heicht lints und dechis die Hand Ein.)
Auf der Mauer. a, wir find eines Derens, eines Wluts!
Ale (fic die Hände
Teijend).
Wir find ein Volt, und einig wol'n wir handeln.
Stauffader. Die andern Wölfer ragen fremdes Joch,
wönelmaun. mi
Werälhat. Was drüber it, üit Merkmal eines
Stauffager.
Sie haben fic dem Sieger unterworfen.
&8 tcben jelbit in unfern Sandesmarten
Der Safjen viel, die fremde Pflichten tragen,
Und ihre Anedtichaft erbt auf ihre Kinder.
Doc; wir, der alten Schweizer edhter Stamm,
Wir haben jteis die Freibeit und bewahrt.
unter gürften bogen wir das Knie,
Freiwilig wählten wir den Schirm der Raifer,
So fteht's bemerkt im Kater Sriedrichs Brief.
Stauffaher. Denn berrenlos ift auch der Freie nicht.
Ein Oberhaupt muß jein, ein höciter Achter,
Wo man das Hecht mag Icöpfen in dem Sireit.
Drum haben unjre Väter für den Boden,
Den fie der alten Wildnis abgewonnen,
Die Ehe’ gegönnt dem Kaifer, der den Herrn
Sich nennt der deutſchen und der welſchen Erde,
Und, wie die andern Freien feines Neichs,
Sin ipm zu edelm Waffendient gelobt;
Tenn diefes ift, der Freien eing’ge Pflicht,
Das Neid zu [cirmen, das fie Jelbit beichiemt.
folgten, wenn der Heribann erging,
Dein Neichspanier und [chlugen feine Schlagen.
Nach Weiichland zogen fie gewappneı mit,
Die Römerkron’ ihm auf das Yaupt zu jeben.
Daheim vegierten jie id) fröhlid) felbit
Rad) altem Brauch und eigenem Gejey;
Der höchfte Blutbann war allein des Kailers.
Und day ward beitellt ein großer Graf,
Der haue feinen Siy nicht in dem Yande.
Wenn Hlurfhuld tom, jo rief man ihm herein,
wählten wir des Neides Schuß und Schirm;
echts.
209
270 Sgiller im Spiegel der Zeiten.
Und unter offnem Himmel, ſchliht und Kar,
Sprach) er das Het und one Furdt der Meniden.
Wo find hier Spuren, dab wir Anechte find?
Sit einer, der e8 anders weiß, der red
3m Hofe. Mein, jo verhält fih alles, wie ihr fprecht,
Gewaltgerrjchaft ward nie bei und geduldet.
Stauffader. Dem Kaifer jelbit verlagten wir Gehoriam,
Da er das Redit zu Gunit der Waffen bog-
Denn al8 die Seute von dem Gotteshaus
Einfiebeln und die Ap in Anfprud nahmen,
Die wir beweidet feit der Väter Zeit,
Der bt berfürgog einen alten Brief,
Der {gm die herrenloje Wüfte fdentte —
Denn unfer Dajein hatte man verhehlt
Da fprachen wir: „Exihlichen it der Brief!
Kein Kaifer farın, was unfer ift, verichenfen
Und wird ung Steht verjagt vom eich, wir
In unfern Bergen aud) des Heichs entbehren.
— ©o ipraden umfre Väter! Sollen wir
Des neuen Jodes Schändlichfeit erbulben,
Grleiden von dem fremden Knecht, was uns
In feiner Macht fein Kaifer durfte bieten?
— Wir haben dielen Boden uns erichaffen
Durdy unfrer Hände Fleih, den alten Wald,
Der jonft der Yären wilde Wohnung war,
Zu einem Sig für Menfchen umgewandelt;
Die Brut des Drachen haben wir getöt
Der aus den Sümpfen giftgeichwollen ftieg;
Die Nebeldede haben wir gerrifien,
Tie ewig grau um diefe Wilonis Ging,
Den harten Fels geiprengt, über den Abgrund
Dem Wandersmann den fidern Steg geleitet;
Unier üt durd) taufenbjäßrigen Befig
Der Boden — und der fremde Herrenfnedht
Soll tommen dürfen und ung Ketten jchmieden
Und Schmad) antun auf unjrer eignen Exde?
Hit feine Hilfe gegen folchen Drang?
(Eine große Bewegung unter ben Sandfeuten.)
Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht.
Wenn der Gedrüdte nirgends Net fann finden,
Wenn unerträglich wird die Laft — greift er
Dinauf getroften Mutes in den Himmel
Und holt herunter feine ew’gen Hedhte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und ungerbredjlich, wie die Sterne jelbit —
Der alte Uritand der Natur fehrt wieder,
Wo Denfd) dem Menfchen gegenüberfteht —
Zum legten Mittel, wenn fein andre mehr
Verfangen will, it ipm das Schwert gegeben —
Der Güter Höchftes Dürfen wir verteid'gen
Gegen Gewalt. — Bir jtehn für unjer Land,
Wir ftchn für unfre Weiber, unfee Rinder!
Ale (am ühre Schwerter [clagend). Wir ftehn für unfee Weiber, unſre Rinder!
Höffelmann (wit in den King).
Eh ihe zum Schwerte greift, bedenft es wohl!
Ihr könnt es friedlich mit dem Kaiſer ſchlichten.
men
Schiller im Spiegel der Zeiten. a
Es koftet euch ein Wort, und die Tytannen,
Die euch jet jhwer bedrängen, ſchmeichein euch.
-- Exgreift, was man euch oft geboten hat,
Trennt ud) von Heich, erfennet witreids Hohei
Auf der Mauer. as jagt der Marrer? Wir zu Citreich ſchwören!
Am Büßel. Hört ihn nicht an!
Winfefried. Das rät uns ein Verräter,
Ein Feind des Landes!
Weding. Ruhig, Eibgenoffen!
Sera. Wir Öftreidh huldigen, nad) older Schmac!
Bon der Slüe. Wir und abtrogen laſſen durch Gewalt,
Dos wir der Güte weigerten!
Meier. Dann wären
Wir Sflaven und verdienten es zu je
Auf der Mauer. Der fei geitohen aus d
Wer von Ergebung fpridt au „iterreich!
— Sandammann, ic, beitche drauf, dies fei
Das erite Sandegejeh, das wir bier geben. 2
Werätdal. So jeis. Wei von Ergebung fpricht an Üftreich,
Sol rechtlos fein und aller Ehren bar,
Kein Landmann nehm’ ihn auf an feinem feuer.
Alte (heben die vechte Hand auf). Air wollen es, das jei Geſetz!
Weding (nad) einer Paufe). &s it's.
Aörfelmann. Jet jeid ihr_frei, ihr ſeid's durch dies Geſeh
Nicht durch Gewalt foll Üjterreich ertragen,
Bas 8 durd, freundlich Werben nich erhielt —
Ion von Weller. Zur Tagesordnung weiter!
Neding. Cidgenofien !
Sind alle janften Mittel auch verfucht?
wWielfeicht weiß 8 der König nicht; «8 it
Wohl gar fein Wille nicht, was wir erdulben.
Auch diefes Lehte follten wir verjuden,
Exit unire lage bringen vor jein Ohr,
Eh" wie zum Schwerte greifen. Schredlic immer,
Au) in gerechter Sache, ift Gewalt.
Gott hilft nur dann, wenn Menſchen nicht mehr helfen.
Stauffader (gu Konrad Hunn). Run it's an euch, Vericht zu geben. Hebet!
Konrad Hunn. ch war zu Rpeinfeld an bes Raifers Pfalz,
Wider der Vögte harten Drud zu flagen,
Den Brief gu holen unfrer alten Sreibeit,
Den jeder neue König ſonſt beitätigt.
Die Voten vieler Städte fand ic, dort,
Vom famwäb'fcen Lande und vom auf des Rheins,
Tie all’ erhielten ihre Pergamente
Und fehrten freubig wieder in ihe Sand,
Bid, euren Boten, wid man an die Näte,
Und die entlichen mid mit loerem Zroft:
„Der Kaifer babe diesmal feine
„Er würde jonft einmal wohl an uns denfen.“
— Umd als ich traurig durd) die Säle ging
Der Königsburg, da jah ich Derzog danſen
Ju einem Geler weinend ftehn, um ihm
Die edeln derrn von Wart und Tegerfeld.
Die riefen mir und ante: „Delft euch felbit!
„Öerechtigfeit erwartet nicht vom König.
„Beraubt ex nicht des eignen Bruders Rind,
Recht der Schweizer,
a2 Schiller im Spiegel der Reiten.
„And binterhäft ihm fein gerechtes Exbe?
„Der Yerzog jleht ihn um jein Mütterlicks,
»Er habe feine Jahre voll, e8 wäre
un Zeit, aud) Sand und Leute zu regieren.
»Wos ward ihm zum Beicheid? Ein Kränglein jegt" ihm
„Der Kaifer auf: daS fei die Bier der Jugend.“
Auf der Mamer, ir haha aehöc. Mei und Gerchtigteit
Erwartet nicht vom Raifer! Helft euch) jelbit!
Heding. Nichts anders bleibt und übrig. Rum gebt Hat,
Wie wir e& Mug zum fropen Ende lei
after Hürft (tritt in den ing). Abtreiben wollen wir verfahten Zwang;
Die alten Rechte, wie wir fie ererbt
Von unfern Vätern, wollen wir bemahren,
Nicht ungezügelt nach dem Neuen greifen.
Dem Kaijer bleibe, mas des Kaijers
Wer einen Yeren hat, dien” ihm pflichtgemäß.
Meier. Ich trage Gut von Diterreich zu Lehen.
after Fürt, he fahrer fort, Oftreih die Bfticht zu leiften.
doſt von Weiler, iteure an die Herrn von Rappersweil.
Walter Für. Ihr fahret fort, zu zinfen und zu ftenern.
Möpfelmann. Der großen Frau zu Zürid, bin id) vereidet
Walter Fürft. hr gebt dem Kloiter, mas des Kofters ült.
Stauffader. Ich trage feine Zehen, als des Neid.
Walter Für. Was jein muß, das geſchehe, doch nicht drüber.
Die Vögte wollen wir mit ihren Knedhten
Werjage und die feiten Cahläfer brete
Dod), wenn e& jein mag, ohne Blut.
Der Kaifer, datz wir notgedrungen nur
Der Ehrfurdit fromme Pflichten abgeworfen.
Und fieht er uns in unjern Schranfen bleiben,
Vielfeicyt befiegt er itaatöllug feinen Zorn!
Denn billge Surdht ermedet jid) ein Bolt,
Das mit dem GScmerte in der Bauft fih mäbigt.
Weding. Doch lafjet Hören, wie vollenden wi
ES fat der Feind die Waffen in der Hand,
Und nicht fürmahr in Frieden wird er weichen.
Stauffader. Cr wird's, wenn er in Maffen ung erblidt;
Wir überrafchen ihn, eh" er ich rültet.
Meier. In bald geiprochen, aber [dhwer getan.
Uns ragen in dem Land zwei jeite Schlöffer,
Die geben Schirm dem Feind und werben furchtbar,
Wenn uns ber Rönig in das Sand folt" fallen.
Hoßberg und Sarnen muß, bepwungen fein,
Eh’ man ein Schwert erhebt in den drei Sanden.
Stauffaßer. Säumt man jo lang, jo wird der Feind gewarnt;
Bu viele find’s, die das Geheimnis teilen,
Meier. In den Waldftätten find’ ſich fein Verräter.
Höfekmann. Der Eifer auch, der gute, fann verraten.
Walter Für. Sciebt man es auf, jo wird der Twing vollendet
In Mltorf, und der Vogt befejtigt fi.
Meier. Ahr denft an eud.
Sigrihl. Und ibe feid ungeredit.
Meier (auffahrend). Wir ungerecht! Das darj uns Uri bieten!
Heding. Bei eurem Cide, Hub!
Meier. a, wenn fihh Scuoyy
Verftept mit Uri, müffen wir wohl ſchweigen.
ehe
Stiler im Spiegel ber Zeiten. 273
Reding. Jh muß euch weiſen vor der, Sandegemeinde,
Dafı ihe mit beft'gem Sinm den Frieden ftört!
Siehn wir nicht alle für diefelbe Sache?
Winkefrled. Wenn wir's vericicben big zum Zeit des Deren,
Dann bringt’s die Sitte mit, dab alle Saffen
Dem Vogt Gefyente bringen auf das Schloß.
&o fönnen jehen
i ig in der, Burg verfammeln,
Die führen heimlich, fpig'ge Eiſen mit,
Die man gefhwind fann an die Stäbe fteden,
Denn niemand fommt mit Waffen in die Burg.
Zunädjt im Wald Hält dann der grofie Haufe,
ind, wenn die andern glüdlich fich des Tore
Ermächiget, fo wird ein Horn geblafen,
Und jene breien aus dem Hinterhalt.
So wird das Schloß mit leichter Arbeit unfer.
Merhtfaf. Den Robberg übernehm' ich zu eriteigen,
Denn eine Dien' des Schloffes ift mir Hold,
Und leicht betör' ich zum nächtlichen
Behud) die fhmwante Leiter mir zu reichen;
Bin ich droben erft, sich" ig die Freunde nach.
Reding. Jit's aller Wille, daß verichoben werde?
(Die Mehrheit erhebt die Hand.)
Stanffader (zäpt die Stimmen). Es ift ein Mehr von zwanzig gegen zwolf!
Walter Fürfl, Wenn am beitimmten Tag die Burgen fallen,
So geben wir von einem Berg jum andern
Das zeichen mit dem Naud! Der Yanditurm wird
Aufgeboten, fcmell, im Hauptort jedes Sande
Denn dann die Wögte fegn der Maffe
Glaubt mir, fie werden ich des Streits begeben
Und gern ergreifen friedliches Gelcit,
Aus unfern Yandesmarfen zu entweichen.
Stauffaher. Nur mit dem Gehler fürdt' id) jhmeren Stand,
Surgibar ift er mit Reifigen umgeben;
Nicht ofme Blut räumt er das geld, ja, jelbit
Verteicben bleibt er furchtbar mod, dem Land.
Schwer if's und fait gefährlic zu honen.
Baumgarten. Wo's halsgefährfich it, da ftellt mich bin!
Dem Tell verdank id mein gerettet Yeben.
Gern fehlag' igs in die Schanze für das Land,
Mein Chr" Gab ic, beicjügt, mein Herz befricbigt.
Heding. Die Zeit bringt Kat. Erwartet’s in Geduld,
Man muß dem Augenblid auch was vertrauen.
—— Doch jeht, indes mir nächtlic hier noch tancn,
Stelt auf den höcften Bergen fon der Morgen
u glüg'nde Hochwacht aus. — Kommt, faht uns ſcheiden,
18 de8 Tages Leuchten überrafeht.
Ballen art. Sorge nicht, die Nacht weicht langſam nı3 den Tälern.
(Aue haben unwillfürlich die Hüte abgenommen und betrachten mit flilfer
Sammlung die Morgenröte.)
Aöfelmann. Bei dieſem Licht, das uns zuerſt begrübt,
Von allen Völfeen, die tief unter uns
Scapwer atı nd wohnen in dem Cualm der Städte,
Lahl uns den Eid des neuen Bundes ſchwören.
ar Schiler im Spiegel der Zeiten.
— Nir wollen fein ein einzig Volt von Brüdern,
In feiner Rot ung trennen und Gefahr.
(Ade fpredjen e& nach mit erhobenen drei Fingern.)
— Bir wollen frei fein, wie die Väter waren,
Eher den Tod! al8 in der Ancchtfcjaft Icben. (Wie oben.)
Wir wolen trauen auf den hächften Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menſchen.
(Wie oben. Die Candleute umarmen einander.)
Stauffader. Jet gee jeder feines Weges fill
Au feiner Freundfcaft und Genofjame.
Der Hiet it, wintre rubig feine Herde
Und werb’ im Stillen Freunde für den Bund.
— Was no bis dahin muß erduldet werden,
Erdulber'8! Laht die Rechnung der Tyrannen
Anmwachfen, bi8 ein Tag die nlgemeine
Und die befondre Schuld auf einmal zahlt.
Begähme jeder die geredite Mut
Und {pare für das Gange feine Rache;
Denn Raub begeht am allgemeinen Gut,
Der felbit ſich hilft in feiner einnen Sache.
(Während die Spieler in der gröhlen Orbnung abziehen, ftürzen die drei Qnartaner
und mit ihnen ſchon Sehundaner hinein. Alle klalſchen und rufen Taut: Bravo.)
Erich (zu Arved). Brav war's, gefiel's dir ebenfo?
Arved. Herrlich, herrlich! Ich bin fo froh!
( Mäbrend Arved den Erich umarınt, immer neue Schundaner auf bie Bühne
ftrömen, und das Orcheiler mit einem prachtvollen Schwunge einieht, fällt der
Vorgang.)
Die Zeit (mitt auf).
Aus junger Anaben frohbewegtem Munde
Vernahmt ihr ſchwerer Dinge leichtes Spiel,
Und heiter zeigten fie zu guter Etunde
Eud) eines jtarfen Volkes ernſtes Ziel.
Doch aud) von unſrer Jugend gab es Runde,
Und was darin von Herzen kam, gefiel,
Daß an das Schöne ihren feiten Glauben
Des Zweifels jpige Hämmer nicht zerflauben.
Die Jugend hat den Glauben, doch es laden
Sie taufend Stimmen lodend in die Welt,
Cie gaufeln blauen Dunſt und bringen Schaden,
Wo ihr Veirug dem Herzen, adı, gefällt.
Drum gilt’ im Meer des Schönen nen zu baden,
Damit die Seele ſich geſund erhält,
Und aud) den Mann die Dichtung noch beglüdte,
Die einft den Knaben aus der Welt eultrückte.
Was wird die Zukunft bringen? Bange Frage,
Die in mand) frommes Here traurig Mingt.
Stiller im Spiegel ber Zeiten. 275
Statt froher Hoffnung ift es herbe Klage,
Die aus bes Zweiflers Munde zu uns bringt.
Drum diefer Stab aus eurer Zeit euch trage
Hin zu ber Zukunft Pforte, die ba fpringt,
Sobald mein mädtig Zauberwort ergangen:
Da mögt ihr Offenbarung felbft empfangen.
(Die Zeit bewegt ihren Stab und verſchwindet.)
Vierte Szene.
Der Vorhang gebt auf. Dan ficht ein gefhmadvoll cingerichtetes Zimmer.
An den Münden Gemälde. Rechis cin enfter, das verhängt ift. Lints cin
Zifh mit Büchern und Schreibntenfilien. Daneben ein hoher Lehnftuhl. Auf
dem Zifch brennen zroci beruntergebrannte Kerzen. Auf dem Lehnituhl fipt der
Bürgermeifter Heinriß. Er hat auffallende Hpnlichfeit von Grigorio, it aber
viel jünger und Ihöner. Er it cinfadh, aber mit Geſchmag gefleidet.
Es iſt Nacht.
Heinrich. Wie habe ich mich auf dieſen Tag gefreut, und
nun er anbricht, bangt mir. Was hat es für Arbeit und Sorge
gegeben, bis dieſer Augenblid erreicht ift und wir unfer Volksyaus
eröffnen. Es hat lange gedauert, da die Saat gereift il. Tas
mar body ſchon am Anfang unſres Jahrhunderts, daß die been
auffamen von Kunſt und Volk. Van ift Schritt vor Schritt
vorwärts gegangen, und der Weg war weit. Nun neigt ſich das
zwanzigfte Jahrhundert bem Ende zu, und der bejcheidene Anfang
hat einen herrlihen Fortgang genommen. Wie haben fid die
Stätten gemehrt, da die Künfte ein Heim gefunden aud fürs
Voll. Nun find es nit mehr einzelne Diufeen und Theater in
den großen Ctäbten, es ſprießt und wädjt allenthalben. Ja,
Kampf und Arbeit hat's freilich gegeben, bis auch wir fo weit
gelommen. Aber es ift gelungen, die Willigfeit der Menge ift
nit erlahmt, das Haus ftcht errichtet, und jede edle Kunſt foll
bort Pflege finden. Schon höre ich die Oratorien, die dort vor
Tauſenden von Arbeitern gegeben werden, ich ſehe die Volksſchau—
fpiele, id) wandle in der Halle großer Meilter.
Und auch ich Hab nicht gefeiert. Ich bin rüftig Dabei geweſen,
manch ſchlafloſe Nacıt hat's mic; gefojtet. Aber es ift dod mas
dabei herausgefommen, und das Vertrauen des Volfes iſt mir ein
ſchöner Lohn. Ich darf es mir geftehen: nicht mein Amt, meine
Stellung, ſondern diefes Vertrauen hat mid) zum Nebner des feſt—
lichen Tages bejtimmt. Stolz darf id es fagen.
273 Stiller im Spiegel der Zeiten.
Und dennoch bangt dir? Dennoch bangt mir.
Wohl jteht das Haus gezimmert und gefügt,
Doch ad) — es wanft der Grund, auf dem wir bauten.
Ein anbres ift’s, der Kunſt ein Haus zu bauen, ein anbres,
ſtill und ſietig der Kunſt zu dienen, der großen und echten. Wird
die Menge das fönnen? Und wenn nicht, was nüßt all unire
Mühe? Ich bin, weiß Gott, mein Tage fein Kopfhänger geweien,
aber das Geſpenſt unfrer Zeit Hat auch mich geichredt. Mir iſt's
manchmal, als fähe ich's leibhaft mit biefen meinen Augen: eine
gleißende Frauengeſtalt mit ſtolzem Gang, üppigen Lippen und
verführerifgen Augen. Aber mit freder Stirne und läjternder
Zunge. Sie trägt eine Zadel, die erregt einen Brand von der
Erde bis in ben Himmel, und jterben joll daran alle göttliche und
menſchliche Autorität, mur das Ich foll bleiben und der Genuß
Und will man das Heer diefes Weibes zählen, jo iſt's Legion.
D, es gibt Stunden, da will’s mich dünfen, daß die guten, fricd-
lichen Mächte entflohn find auf immer und der alte Gott gejtorben.
Wird auf ſolchem Boden nicht aud die Kunſt erftiden müſſen?
Fortichritt, Foriſchritt, wie weit Haft du uns gebraht! Was gäbe
id) um die fefte Zuverficht, dah du uns die alten Ideale der
heiligen Ordnung. der hohen Kunft, der ewigen Neligion nicht
rauben fannjt! Un ein Zeichen, daß fie nod) walten in unjrer
Mitte. O daß ich fie heraufbeſchwören könnte und fie nimmer
von uns wichen !
Ja, wer das erlöfende Wort fände für unfre Zeit, wer bie
Macht hätte, fortzureißen und zu erheben! Cs müßte gewaltig
geredet werben zu dieſem Geſchlecht, fie würden’s vernehmen.
An einem Felttag wie morgen, ad), da drückt's mid, dab fein
Größerer fprehen fann als ih. Wie wird mein armer Mund
ein Wort der Kraft finden, Funken fprühend, die in Taufenden
zur Flamme werben.
(Gr fpringt auf und geht zum Vordergrunde.)
(Sehr lebhafi) D wär uns ein Prophetenmund verliehn,
Daß feine Zunge, dröhnend Erg geworden,
Das Volt zur großen Wahrheit machtvoll rief!
Wir brauchen Wahrheit.
Jeyt gib uns einen Menfhen, gute Vorſicht —
Du haft uns viel gegeben. Schenke uns
Den ſelt'nen Dann mit reinem, offuem Herzen,
Wit Hellem Geiſt und unbefangnen Augen,
Der uns fie finden helfen kann — id) ſchütte
Schiller im Spiegel der Zeiten. a7
Die Loſe auf; laß unter Taufenden
Den Einzigen mid) finden!
(Er hält inne. Darauf in ganz verändertem Tone.)
Doch fill, mein Herz, die Großen find entflohn. (Gr fept fi.)
Beſcheide dich und horche auf ben Wint,
Den bir ein guter Geift, das Volk zu weilen,
Zur rechten Stunde häufig hat gegeben. — —
Doch nun genug der einfam ftillen Zwieſprach,
Der müde Leib verlangt ein Stündden Ruhe!
(Gr fepläft ein. Aus dem Hintergrunde ertönt eine fanfte, einfchmeichelnbe Muſik.
Hierauf erſcheint der Genius der Zoefle, im Arm eine Leier.)
Genius. Mid Hält fein Band, mich feſſelt feine Schranke,
Frei ſchwing ich mich burd alle Räume fort.
Dein unermeßlid, Neid) iſt der Gedanke,
Und mein geflügelt Werkzeug ift das Wort.
Was fi bewegt im Himmel und auf Erden,
Was die Natur tief im Verborgnen fchafft,
Muß mir entchleiert und entfiegelt werben,
Denn nichts beichränft die freie Dichterfraft;
Doch Schön’res find’ ich nichts, wie fang ich wähle,
Als in der fhönen Form — die ſchöne Seele,
(Der Genius trilt zum Schlafenden und berüßet feine Lippen. Mährend defien
fpriht er:)
Du ftehft in des größeren Herren Pflicht,
Du gehorchſt der gebietenden Stunde.
Wie in den Lüften der Sturmwind fauit,
Man weiß nicht, von wannen er fommt und brauft,
Die der Quell aus verborgenen Tiefen,
So bes Sängers Lied aus bem Innern fallt
Und wedet ber dunkeln Gefühle Gewalt,
Die im Herzen wunderbar jchliefen.
(Er geht ab. Aus dem Hintergrunde ertönt ein Gefang:)
Beſchwichtigend naht euch, ihr guten Gewalten
Und ftärket bem Guten die Zuverfidt;
Ob mächtige Kräfte die Feinde entfalten,
Ihr bleibt, ihr ſeid da, ihr entſchwindet ihm nicht!
(Eine Zrauengeftolt mit einem Palmenzmeige tritt auf, die friedliche Ordnung
darftellend.)
Die Ordnung. Sieh mic) hier, die Segenreiche,
Sieh die Ordnung, die das Gleiche
Frei und leicht und freudig bindet,
Baltiftje Monatafceift 1908, Heft 4 3
278 Schüler im Spiegel der Zeiten.
Die der Städte Bau gegründet,
Die herein von den Gefilden
Nief den ungefell’gen Wilden,
Eintrat in ber Menſchen Hütten,
Sie gewöhnt zu janften Sitten,
Und bas teuerfte der Bande
Wob, den Trieb zum Vaterlande.
Meinen Pfad begleitet Segen,
Taufend fleiß'ge Hände regen,
‚Helfen fid) in munterm Bund,
Und in feurigem Bewegen
Verden alle Kräfte fund.
Meifter rührt ſich und Gefelle
In der Freiheit hei’gem Schub;
Jeder freut ſich feiner Stelle,
Bietet dem Verächler Trug.
Arbeit ift des Bürgers Zierde,
Segen ift der Mühe Preis:
Ehrt den König feine Würde,
Ehret uns der Hände Fieih.
(Sie neigt ihren Palmenzweig gegen den Schlafenden und get in ben Hinter
grund. Pieranf tritt eine Frauengeftalt auf, die Aumft darftellend. Sie hat
ein buntes und fihönes Gewand. In ber Hand eine Statuelte.)
Die Kunſt. Wie fhön, o Menſch, mit deinen Palmenzweige
Steht du an des Jahrhunderts Neige
In edler ftolzer Männlichkeit,
Mit aufgefchloßnem Sinn, mit Geiftesfülle
Voll milden Ernfts, in tatenreiher Stille,
Der reiffte Sohn der Zeit.
Beraufcht von dem errungnen Sieg,
Verlerne nicht, die Hand zu preifen,
Die an bes Lebens ödem Strand
Den weinenden verlaßnen Waiſen,
Des wilden Zufalls Beute, fand,
Die frühe ſchon ber künft'gen Geiſterwürde
Dein junges Herz im Stillen zugefehrt
Und die befledende Begierde
Von deinem zarten Yufen abgewehrt,
Die Gütige, die deine Jugend
Im hohen Pflichten ſpielend unterwies
Und das Geheimnis der erhabnen Tugend
In leichten Nätfeln dic) erraten lieh.
Schiller im Spiegel ber Reiten. 279
Im Fleiß Tann dic die Biene meiftern,
In der Gejdidlichkeit ein Wurm bein Lehrer jein,
Dein Wiffen teileſt du mit vorgezognen Geiltern,
Die Kunft, o Menſch, haſt bu allein.
Nur durch das Morgentor des Schönen
Drangſt bu in ber Erfenntnis Sand.
An Höhern Glanz fi zu gewöhnen,
Übt ſich am Reize der Verftand.
Was bei dem Saitenflang ber Muſen
Mit fühem Beben did) durchdrang
Erzog die Kraft in deinem Bufen,
Die fich dereinft zum Weltgeift ſchwang.
Was erfl, nachdem Jahrtauſende verfloilen,
Die alternde Vernunft erfand,
Lag im Symbol des Schönen und des Großen
Voraus geoffenbart dem kindiſchen Verſtand.
(Sie geht in den Hintergrund. Eine Frauengeſtalt tritt auf, die Ketigion
darftellend. Sie ift äuberft ſchlicht gelleidet, nur mit einem Stern gelhmüdt,
den fie auf dem Haupte trägt.)
Die Religion. Drei Worte nenn’ ih euch, inhaltſchwer,
Sie gehen von Munde zu Munde;
Doc) ftammen fie nicht von außen ber,
Das Herz nur gibt davon Kunde.
Dem Menfchen ift aller Wert geraubt,
Wenn er nicht mehr an die drei Worte glaubt.
Der Menſch ift frei geihaffen, iſt frei,
Und würd’ er in Ketten geboren,
Laßt euch nicht irren des Pöbels Geichrei,
Nicht den Mißbrauch rajender Toren!
Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Menſchen erzittert nicht!
Und die Tugend, fie ift Fein leerer Schall,
Der Menſch fann fie üben im Leben,
Und ſollt' er auch ftraucheln überall,
Er fann nad) der göttlichen ftreben,
Und was fein Veritand der Verfländigen fieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.
Und ein Gott ift, ein Heiliger Wille lebt,
Wie aud) der menſchliche wanke;
Hoc über ber Zeit und dem Raume webt
Lebendig der höchſte Gebante,
3*
280 Schiller im Spiegel der Zeiten.
Und ob alles in ewigem Wechſel kreiſt,
Es beharret im Wechſel ein ruhiger Geijt.
Die drei Worte bewahret euch, inhaltichwer,
Sie pflanzet von Munde zu Munde,
Und fiammen fie gleich nicht von außen ber,
Euer Innres gibt bavon Kunde.
Dem Menſchen ift nimmer fein Wert geraubt,
Solang er noch an bie drei Worte glaubt.
(Sie reicht ben beiden andern Geftalten bie Hände, und fie gehen, wie grühenb,
einmal um Heineich herum und dann ab, während aus dem Hintergrunde fol
gender Belang crlönt:)
So halte den Glauben an gute Gewalten,
Es wachſe dem Guten bie Zuverfiht;
Ob mächtige Krafie die Feinde entfalten,
Wir bleiben, wir find, wir entſchwinden bir nicht !
Heinrich (erwacht). Wie herrlich hat der Sorgenlöfer Schlaf
Die fummervolle Seele leis beſchwichtigt
Und von ber Stirn bes Unmuts jchwere Falten
Dit fanften Händen freundlich, mir geglättet.
Ein Genins hat die Lippen mir berührt,
Der Glaube ift ins Herz zurüdgefehrt,
Daß uns die guten Mächte nicht verlafen,
Die Friede dringend uns zum Höchſten leiten.
Ich bin bereit zu jedem großen Werke,
Das Aug’ ift heil, der Mund ift aufgetan,
Das Ohr vernahm die Bolfchaft, die zu bringen.
Löſch aus das Licht der Nacht, der Tay ift da.
(Gr loſcht die Lichter aus, geht zum Fenfter, ſchlagt den Vorhang zurück und
öffnet das jenfter. Ein Strom von Licht flutet herein.)
Sei mir gegrüßt, du glängend Taggejtirn,
Das Licht und Luft zu neuen Taten gibt,
Wie jubelnd ſchlägt mein Herze dir entgegen!
Ein Strom von Glück quillt friſch mir durch die Adern,
Und wo ich eben ned) im Dunkein zagte,
Da ftellt fih mir fo duft- und lichtumfloſſen
Nun eine Welt von Wundern vor das Auge.
Mi Freuden blid ich auf das Volkshaus drüben
Und ahne drin, gleichwie in blauer Ferne,
Erfüllung meiner Hoffnungen und Wünſche.
(Er lehnt ſich aus dem Fenfter.)
Doch ſeh ich richtig, wo nod) jüngit die Säule
Der Büfte aus des Volkes Hand erharrte,
Stiller im Spiegel der Zeiten. ad
Da ift der Plaß beſebt.
(Er fieht genauer Hin und fährt Iebhaft fort.)
Ich täuſch mich nicht.
Sie find es, unſres Schillers traute Züge,
Das Volt Hat ihn zum Helden felbit erwählt,
In ihm ehrt es die alten großen Güter.
(Mon hört aus der Ferne Stimmengemirr.)
Und wogenartig hör ih’s näher braufen,
Da nahn fie felbft in buntem Feſtgedränge,
Dit Krängen und mit Zweigen ausgerüftet.
Wie heiter jung und alt zujammenftrömen,
Die frohe Stunde würdig zu begehn.
Schon find fie da, fie haben mic, erblidt,
Sie jhwenten ſchon die Mügen, wehn die Tücher,
Sie mahnen mic, die Feier zu eröffnen,
Schon drängen fie fih um den teuren Dichter.
Und Feitesflänge höre id von fern.
(Er lehnt ſich aus dem Fenfter und Iran laut zur Menge. Diefe veritummmt
völlig.
Mitbürger, Freunde, Dank euch, taufend Dank!
Mie macht mic eure Freube doppelt froh,
Wie bin id) ſtark und glücklich, euch verbunden,
Wie treibt’s mic), an des treuen Volles Spige,
Den großen Zielen jugenblid) entgegen !
(Er tritt vom Fenſter zurü, in die Mitte der Bühne. Bas Folgende fpricht er
freudig bewegt, anfangs finnend, zum Schluß ebhaft.)
Die Zeichen der Zeit bedenfe,
Wem Kummer das Herze plagt,
Gen Diorgen die Blicke er lenke,
Woher es noch immer getagt.
Und ſchopfe neues Vertrauen
Zu mul'gem Vorwärtsgehn,
Wer nur verfteht zu ſdauen,
Der wird aud) Wunder fehn.
Und wo ihm Alter geſchwanet,
Da fprießen die Knoſpen aufs neu,
Wo Wanfelmut er geahnet,
Ta ſchlagen die Herzen treu.
So ward ber Zweifel bejchworen,
Er war nicht wohlgetan,
Was echte Kunſt geboren,
Zieht ewig die Herzen an.
2u2 Schiller im Spiegel der Zeiten.
Drum auf zum feitlichen Kreife,
Wo man Großes und Schönes genieht,
Da jei denn in feitlicher Weiſe
Der Große noch einmal begrüßt!
(Während er raſch abgeht, fällt der Vorhang. Aus dem Hintergrunde ertönt
Mufit, die feierlich anfgwilt. Darauf hört man folgenden Gejang:)
Es reden und träumen die Menſchen viel
Bon beijern fünftigen Tagen;
Nach einem glüdlihen, goldenen Ziel
Eieht man fie rennen und jagen.
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
Doch der Menſch hofft immer Verbeſſerung.
Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
Sie umflattert den fröhlichen Knaben,
Den Jüngling lodet ihr Zauberſchein,
Sie wird mit dem Greis nicht begraben;
Denn bejchließt er im Grabe den müden Lauf,
Nod am Grabe pflanzt er — die Hoffnung auf.
Es iſt fein leerer, ſchmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Toren.
Im Herzen fündet es laut fih an:
Zu was Beilerm find wir geboren;
Und was die innere Stimme fpricht,
Das täujcht die hoffende Seele nicht.
Fünfte Szene.
Der Vorhang geht auf. Man ſieht von Lorbeerbäumen umgeben Schillers Büfte.
Wänner, Frauen und Kinder ftehen in dichter Schar herum. Die Männer
Halten Sorbeerzweige, die Frauen und Stinder Blumen. Kart an der vaſte jteht
Helnrih, einen Sorbeerfrang in der Yand.
Heinricd; (zur Bülte gewandt).
Dem heitern Himmel enger Kunſt entjtiegen,
Die Jüngerſchar begrüßejl du,
Und aller Augen, alle Herzen fliegen,
O Herrlicher, div zu!
Frauen (fingen). Des Lenzes friihen Segen,
DO Meifter bringen wir,
Vetränte Kränge legen
Wir fromm zu Füßen bir.
Männer (fingen). Der in die deutfche Leier
Mit Engeljtimmen fang,
Stiller im Spiegel der Zeiten. 288
Ein überirdiich Feuer
In alle Seelen ſchwang;
Der aus ber Muſe Blicken
Selige Wahrheit Ins,
In ew’gen Weltgeihiden
Das eigne Weh vergaß;
Frauen (fingen). Ad, der an Herz und Eitte
Ein Sohn der Heimat war,
Stelt fich in unfrer Mitte
Ein Hoher Fremdling dar.
Der Geſang bricht plöpfich ab.)
Heinrid. Doch jtille! Horch! — Zu feierlichen Lauſchen
Verftummt mit eins der Feiigelang: — —
Wir hörten deines Adlerfittichs Raͤuſchen
Und beines Bogens jiarten Klang!
(Einen Yugenblic ift alles ſtil. Darauf nähert ſich deinrich der Büfte Schillers
und jpricht:
Selig, welchen die Götter, die gnädigen, vor ber Geburt ſchon
Liebten, welden als Kind Venus im Arme gewiegt,
Welchem Phöbus die Augen, die Lippen Hermes gelöfet,
Und das Siegel der Macht Zeus auf die Stirne gebrüdt!
(Wei den lehten Worten befrängt Heinrich die Vüſte. Im felben Augenblic—
werfen alle ihre Zweige und Blumen vor die Vüfte Lautes Hufen erfhaltt.)
Alle. Heil! Heil! Schillers Andenfen! Heil! Heil!
(®orto und Anfefimo find aufgeitanden; Gregorio, ſichtlich gerührt, Hat Anfelmo
die Hand gebrüdt, fie haben ſich der Büite genähert. Wenn ale ſich berupigt
Haben, ruft Öregorio laut :)
Gregorio. Er lebt fort, ungeritört —
Anfelmo. Unvergefjen!
(Wäbrend der Iepten Worte ift die Zeit, aus dem Hintergrunde tommenb, durch
die Menge geſchrinen. Sie ſiellt ſich ganz vorn hin, neben die Büſte gegenüber
Yeinric, und fprigt die Syptnworte, zum Publifum gerichtet:)
Die Zeit. &o bleibt er uns, der vor fo vielen Jahren —
Schon hundert find’s! — von uns ſich weggekehrt!
Wir haben alle fegenreih erfahren,
Die Welt verdankt’ ihm, was er jie gelehrt;
Schon lüngit verbreitet ſich's in ganze Scharen,
Das Eigenfte, was ihm allein gehört.
Er glängt uns vor, wie ein Komet entſchwindend,
Unendlich Licht mit feinem Licht verbindend.
(Wärend der Vorhang füllt, feyt das Orcheſter prachtvoll ein.)
— —,
die Kun als Guangelium bei Sthiller.
Ein Efiay
von
Dberfehrer cand. theol. E. Kröger.
—
Motto: Ernſt ift das Leben,
heiter inn die Runit.
5 hoher ſittlicher Ernſt und reinſte Freude einander nicht
ausichließen, zeigt uns ein Blick auf die Religion. Hier
tritt uns, wie ein Regenbogen auf dunkeln Wolfen, dus
Evangelium als eine beglücende Macht entgegen, als die „frohe
Boiſchaft· von bem Andruch eines neuen Tages nach langer Nadıt.
Wie aber einem Paulus und Luther, fo iſt es allen großen
Befreiern — auch Schiller — heiliger Ernft damit gewefen, ben
Menſchen zum wahren Glück zu verhelfen. Da nun Glüd ohne
Freiheit nicht recht denkbar ift, fo ſieht bei Paulus, Luther, Schiller
auch die Idee der Freiheit im Mittelpunkte ihrer Lebensanſchauung,
und wie bei Luther von der „Freiheit eines Chriſten—
menſchen“, fo barf bei Schiller, wie wir fehen werden, von der
Freiheit eines Mufenjüngers geredet werben. Denn
es wäre eine äußerſt einfeitige Veurteilung, wollten wir ben
Begriff der Freiheit bei Schiller vorzugsweife politifch faflen, wozu
uns der Don Carlos mit ber Gejtalt eines Marquis Poſa ober
Wilhelm Tell ein Recht zu geben ſchiene. Wie Luther ijt Schiller
vielmehr tief davon durchdrungen, daß Glück und Freiheit etwas
rein Innerlicyes bedeuten:
Es iſt nicht draußen, dort ſucht es der Zor,
Es ift in dir, du bringft e$ ewig hervor.
„Der Glüdfeligfeitstrieb ift ber Trieb der Triebe“, jagt
Feuerbah, und Schopenhauer meint offenbar dasſelbe, wenn er
Die Kunſt als Evangelium bei Schiller. 285
von dem „Willen zum Leben” ſpricht. Diefem Triebe nad) Glück
und Leben entſprechend fehen wir den Menſchen wie jedes andre
Lebeweſen die Freude dem Schmerz, die Luft ber Unluſt, bie
Freiheit der Gebundenheit, die Heiterkeit dem Ernſt, kurz — das
Glück dem Unglüd vorziehen. Was ift nun aber Glück? Offenbar
in erſter Linie Freigeit, Unabhängigfeit von Zwang und Bebürfnis
finnlicher und geiftiger Art, aljo Wunjclofigkeit, ein Zuftand, in
bem wir weber förperlid) noch geiltig zu etwas genötigt werben
und doch auf beide Arten tätig find, um uns als volle, ganze
Menſchen zu fühlen.
Diefem Glüdstrieb fommt das wirkliche Menſchenleben nur
unvollfonmen entgegen.
Des Lebens ungemiſchte Freude
Ward feinem Jrdifchen zu teil.
Dazu ift es mit feinen ſchwierigen Aufgaben und unberedienbaren
Wechſelſällen zu ernft. Den Einzelzweden des Dafeins entſprechen
auch nur Eingelfräfte im Menſchen, die, einfeitig angeipannt, andre
Kräfte ungenugt, brad) liegen und verfümmern laſſen. Dieſe
Einfeitigfeit wird vom Menden als Drud und Einengung
empfunden, die ihn düſter jtimmt und fein rechtes Olücksgefühl
auffommen läßt.
Machtig, felbit wenn eure Sehnen rubten,
Neiht das Leben euch in feine Fluten,
Euqh die Zeit in ihren Wirbeltang.
Dazu fommt die Abhängigkeit des Menſchen von Schidjal und
Natur; auch die luft zwifhen Neigung und Pflicht ſcheint oft
unüberbrüdbar :
Kein Erſchaffner hat das Ziel erflogen;
Über diefen grauenvolen Schlund
Trägt fein Rachen, keiner Brüde Bogen,
Und fein Anfer findet Grund.
Es iſt aber oft nicht etwa ein Mangel an Erkenntnis, was
den Menſchen hindert, feine ſittliche Veltimmung zu erreigen, —
denn „es iſt div geſagt, Menſch, was gut iſt“, — fondern vor
allem eine Verfehrung des Willens, wodurd die Kraft zum Guten
gelähmt und ber Weg zum wahren Glück verfperrt ſcheint. Der
Menich fühlt ſich ohnmächtig, als ein Sklave und Nnecht feiner
Triebe, wie joll er frei werden? Iſt der Zwiejpalt ein fo tiefer,
dann reicht Die bloße Kenntnis des Geſetzes nicht mehr aus; unfre
26 Die Kunft als Evangelium bei Schiller.
Gefinnung wird bamit nod) nicht umgewandelt. Dazu bedarf es
einer Erneuerung unfres Wejens, ber Kern unhrer Perfönlichkeit,
Herz und Gemüt, muß für das Gute gewonnen werben. Dem
bloß gebietenben ftarren Geſetz als foldem wohnt aber feine
gewinnende, erwärmenbe Kraft inne. Unſer Herz bleibt verſchloſſen
und falt. Perſönliches Leben ann ſich auch nur an perfönlichem
Leben entzünden, und das gejchieht durch das Evangelium. Damit
betreten wir ben Boben ber Religion.
Somohl bei Paulus wie bei Luther bedeutet das Evangelium
mehr, als der unmittelbare Wortfinn „frohe Botſchaft“ zu beſagen
ſcheint: es ift micht bloß die Verfündigung eines neuen Lebens,
jondern dieſes neue Leben ſelbſt, das Hereinbrechen einer andern
Welt mit Beweiſen des Geiltes und der Kraft, die den Menſchen
zu ſich emporhebt, beglücdt und dadurch frei macht. Dieſe Freiheit
des Evangeliums erideint aber als Aufhebung bes Gefeges durch
Verwandlung feines Inhalts in Geiſt und Leben, d. d. in per
föntiche Araft, wie fie in Chriftus ſich offenbart.
Das Gefep vermag das mwiderjtrebende Menſchenherz von ſich
aus nicht zu gewinnen. Won Dojes bis Kant hat bie Ner-
fünbigung des Gefepes mit feinem ſiarren „du ſollſe!“ mohl Un-
ruhe, aber feinen Scelenfrieden gebracht.
Bwiſchen Sinnengläd und Seelenfrieden
Vleibt dem Wenſchen nur die bange Wahl,
heißt es zu allen Zeiten für den unter dem Gejeg Stehenben.
Er empfindet dieſes als eine jtrenge Feſſel, wo nicht als eine
richtende Macıt. Denn das Gejep forbert ja nicht bloß Leiftungen
und Werke, fondern Gefinnungen, wie fie dem gewöhnlichen
Menſchen durdaus fern liegen. Auch berghoch aufeinanbergehäufte
Leiftungen machen noch feinen guten Menſchen. „Und wenn ic
alle meine Habe den Armen gäbe — und hätte der Liebe nicht,
fo wäre id nichts“. So durdhaut ein Luther, wie einjt vor
ihm ein Paulus, den ımlösbaren Knoten der Gejepesreligion,
indem er den Sag umfehrt und jagt: der Menſch braude feine
Werte, um felig zu werben, er müſſe vielmehr erjt jelig fein,
damit die Werle aus ihm Hervorgingen, wie gute Früd)te aus
einem guten Yaum.
Was hindert den Menſchen mum mehr oder weniger zu
allen Zeiten, dem von Vernunft und Gewiſſen vieleicht jelbft
Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 387
gebilligten Gejege Folge zu feiften? Wohl der dem Menichen mit
jedem Lebewefen gemeinjame „Wille zum Leben“ und ber damit
verbundene Durit nad) Glück, den wir oben mit Feuerbach den
Trieb der Triebe nannten. Wäre die Sinuenwelt die einzige, jo
bliebe dem Denfchen faum etwas übrig, als dieſer alle jeine
Affekte zur Verfügung zu ftellen und mit Fauft zu rufen:
Aus diefer Erde quillen meine Freuden
Und diefe Sonne ſcheinet meinen Leiden!
Um nun bie Allgewalt der natürlichen Lebenstriebe mit den
ausjchließlic, auf die Sinnenwelt gerichteten Affekten zu brechen,
beißt es noch jtärfere und nachhaltiger wirfende Affefte ins Feld
zu führen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Dieſes geichieht burd das
Evangelium, durch die Eröfinung einer anderen Welt, durch das
Aufjleigen einer neuen Mirklichleit perjönlicen Lebens aus unge:
ahnien Lebenstiefen. Die Sinnenwelt mit den dazugehörigen
Affeften verichwindet feineswegs vor jener, aber fie tritt in deren
Dienſt und liefert bloß Farben und Vilder zu Stimmungen, vie
auf die neue Welt bezogen, ſich ihrerfeits zu Oefinnungen erweitern
und vertiefen. Dieſe Haben ihr eigentliches Heim in jenen Seelen:
tiefen, die wir als den Eiß der innigiten, allem ſinnlichen Jutereſſe
entHobenen Affekte: Glaube, Liebe, Hoffnung, mit dem Ausdrucd
Gemüt bezeichnen. Dieſes bedeutet den Kern des perfönlichen
Lebens und den einzigen Durchbruchspunkt für jene neu auf
Hteigende Welt, die das Evangelium verfündigt: „Made dich auf,
werde Licht! Denn bein Licht fommt und die Herrlichkeit des
Herrn geht auf über dir!" Dieſes Licht, von den tiefjten Geiſtern
der Vorzeit bereits geahnt und aus der Ferne geſchaut, offenbart
ſich erſt in voller Klarheit in der Eriheinung Chriſti, die unter
der Anechtichaft des Gejeges finfter und kalt gebliebenen Herzen
erleuchtend und erwärmend, wie die Sonne die fie umfreifenden,
an ſich lichtlofen Himmeloförper. Und bei Paulus heißt es im
2. Korintherbrief: „Der Gott, welder ſprach: Aus der Finfternis
ſoll leuchten das Licht! iſt es, der e6 in unjern Herzen tagen lieh
zum strahlenden Aufgang der Erfenntnis von der Herrlichkeit
Gottes im Antlige Chriſti.“ „Wir alle aber, die wir uns von
der Herrlichteit des Herrn bejpiegeln laſſen, werden in dasſelbige
Bild verwandelt von einer Marheit zur andern, als von bem
Herrn bes Geiftes aus.” „Der Herr ijt der Geilt, und wo Geiſt
288 Die Kunft als Evangelium bei Schiller.
des Herrn iſt, da ift Freiheit!" Es iſt, als wenn der Apoftel
erit dem Bilde Chrifti in Wahrheit bie Wirkung zugefteht, welche
die Hellenen von bem berühmten Zeusbild des Phidias zu Olympia
ausfagten:: es vereinige in feinem Ausdruc bie höchfte Macht mit
der hödjften Güte, und niemand fönne mehr unglüdlid werben,
ber biefes Bild geihaut. Im edit helleniſcher Meile faßt hier
Paulus das Schauen als ein Beipiegeltwerden, ein myſtiſches Eins-
werben des Schauenden mit dem Geſchauten.
Damit hat der unftillbare Trieb des Menjchen nad) Glück
und Leben einen überſchwänglichen Inhalt gewonnen, in einer
allem finnliden Sein enthobenen Welt des Gemüts, in einem
Neid) Gottes, einem Wandel im Geift. Die Unruhe der an die
Sinnenwelt gebannten animalifchen Affefte ift aufgehoben in den
Frieden, höher als alle Vernunft; das felbftiihe Olicsverlangen
iſt verſchlungen von jener Seligteit, bie ben Sieg in allen Kämpfen
behalten muß. Erweiſt ſich jo das Evangelium als eine beglüdende,
ja befeligende Macht, jo iſt der tote Buchftabe zu Tebendigem
Geift geworben. Der im Gejep bloß verfündete Wille, das
„Wort“, ift Fleiſch, d. h. perſönliches Leben geworben in CHriftus,
dem „Erſtgeborenen unter vielen Brüdern.“ In feinem Herzen
iſt das Geſetz zuerft aufgehoben, und zwar in doppeltem Sinne,
d. h. einerfeits als toter Buchſtabe vernichtet, anderfeits feinem
Inhalte nad) erhalten und bewahrt als Iebenipendende Macht.
Söttlicher und menschlicher Wille find in Chriftus eins geworben,
wie jeine Jünger eins werben follen mit ihm durch Glaube, Liebe,
Hoffnung, indem fie fein Bild in ihr Herz aufnehmen oder, wie
Paulus fagt, ih von jeinem Bilde bejpiegeln laffen, um in das-
felbe Bild verwandelt zu werden von einer Klarheit zur andern.
Dadurd werden fie ans Knechten Freie: das Gefeg wird ver-
ſchlungen vom Evangelium. Deun das Evangelium ift ja nichts
anders als das in der Perfon Chriſti erfüllte, d. h. Geift und
Leben gewordene Gefeg der Freiheit. Der freie Wille aber giebt
ſich ſelbſt das Geſetz.
Um nun jene im Evangelium ſich erſchließende neue Melt
dem Menſchen jeeliich nahe zu bringen, fein ganzes MWejen davon
gu erfüllen, bedarf es intuitiver Änſchauumgen, wefenerhöhender
Stimmungen; die ja mehr als alle bloßen Begriffe auch gelinnungs
verebeind zu wirken vermögen. Dieje Stimmungen jdafft jene
Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 2
Religion und Kunſt gemeinjame Geelenfraft, die wir Phantafie
nennen. In ben Propheten und Palmen, in den Neben Chriſti
wie bei Baulus wallet eine machtvolle, weltumfpannende Phantafie,
melde in den ſtimmungsvollſten Bildern jene unfichtbare Welt
wie in einem Spiegel erſchauen läßt. Das fein Auge gefchaut,
das ewige Licht, im farbigen Abglanz zu veranfchauliden, haben
zu allen Zeiten Dialer und Dichter — was fein Ohr gehört, Ton:
fünftler zu erahnen gewetteifert.
Sind wir nun aber berechtigt, von einem „Evangelium“
auch dort zu reden, wo es fid, wie in dem meiten Reiche ber
Kunft, keineswegs nur um die phantafievolle Gejtaltung rein
religiöfer Ideen und Stimmungen handelt? Vielleicht doch.
Der Kunft die ihr gebührende Stellung als einer felbitänbigen
Lebensmacht für die Folgezeit erobert zu haben — in Kunſtwerk
und Aunitlchre — iſt in erfter Linie das Verdienſt unferer Klaſſiker,
insbefondere Schillers, fo dah feine eignen Worte für ihn felbft
mie für Goethe gelten: „Die Gipfel der Menſchheit werden
glänzen, wenn noch feuchte Nacht in den Tälern liegt.”
Danad) hat die Kunſt nicht die Aufgabe, „die Menſchen zu
befjern und zu befehren“ ; auch läßt fie uns nicht „erkennen, was
die Welt im Inneriten zufammenhält.” Ihr Zweck liegt vielmehr
in ihr felber: die Menſchen zu beglüden und badurd) frei zu machen.
Wenn Goethe jagt: Alles, was unjern Geift befreit, ohne
uns die Herrſchaft über uns felbit zu geben, fei vom Übel — fo
kann man ebenjo gut jagen: Alles, was unfern Geiſt befreit, ohne
uns bie Herrihaft über uns felbft zu rauben, iſt ein hohes Gut, ein
Glüd, ein Evangelium. Sollte ſich die Kunſt auch wie die Religion
als eine beglüdende und befreiende Macht erweijen durch Eröffnung
einer andern Welt, fo wäre der Ausdrud „Evangelium wohl
nicht zu hoch gegriffen, obwohl cs in der Kunſt nicht wie in ber
Religion unmittelbar auf eine Veredlung der Gefinnung, eine
Länterung des Willens, fondern bloß auf Beglückung abgejehen it.
So nennt Sdiller jelbft das Schöne und die Kunſt einen Gegen:
ftand, „der mit dem beiten Teil unfrer Glüdjeligfeit in einer uns
mittelbaren und mit dem moralischen Adel der menjchlichen Natur
in feiner jehr entfernten Verbindung itcht." Das foll
beißen: Trachtet vor allem nad) der wahren Schönheit, jo wird
euch auch anderes von ſelbſt zufallen !
20 Die Aunſt als Evangelium bei Schiller.
Die Kunft ein Evangelium zu nennen, berechtigt uns folgen-
der Ausſpruch Goethes: „Die wahre Diihtung (Kunſt!) fündet fih
dadurch an, daß fie als ein wellliches Evangelium burch innere
Heiterkeit, durch äuferes Behagen und von ben irdiſchen Laften zu
befreien weiß, die auf uns ruhen; daf fie uns in höhere Regionen
erhebt und die Irrgänge des Lebens zurücläht”. Freude und
Freipeit find hier für Goethe die echten Gaben der Dichtung, wor
für wir ohne weiteres aud) „Runft” jegen dürfen. Damit ftimmen
folgende Worte Schillers fachlich im Weſentlichen überein, obwohl
er das Wort „Evangelium“ nicht direlt nennt: „Alle Kunſt ift
ber Freude gewidmet, und es giebt feine höhere und feine ernli-
Haftere Aufgabe, als die Menſchen zu beglüden. Die rechte Kunſt
iſt nur diefe, welche den höchſten Genuß verſchafft. Der höchſte
Genuß aber ift die Freiheit des Gemüts (der Seele!) in dem
lebendigen Spiel aller feiner Kräfte.” Alſo fein Zweifel: bie
Kunft ift ſowohl für Goethe als auch für Schiller eine beglücende
und befreiende Macht, ein Evangelium, und dieſes damit ein
Grumdbegriff der ganzen Äſthetit Schillers. Und zwar jteht aud)
bier die Idee ber Freiheit im Mittelpunkt des Ganzen, wie bei
Paulus und Luther. Der wahren Kunſt ift es „Ernſt damit, ben
Menjcen nicht bloß in einen augenblicklichen Traum von Frei:
heit zu verfegen, jondern ihn wirklich und in der Tat frei zu
machen.“ Ob in ähnlider ober aber in ganz anderer Weile, wie
die Neligion, foll die weitere Unterfudung ergeben.
Auch Schiller fragt fich: wodurd) wird unjere Freiheit inner:
halb ber gegebenen Wirklichkeit auf Schritt und Tritt bedroht?
Wodurch anders, als daß unſere Wünſche und Neigungen ent-
weder auf etwas für uns Unerreichbares gerichtet find, oder aber
mit unfern Pflichten in Widerftreit geraten Daher flagen wir
mit Fauft: „Entbehren jollit du, ſoüſt entbehren!” Es find bie
zwei Seelen in unjerer Bruft, „die eine will fi von der andern
trennen!” Wie ift dieſer Zwieſpalt zu befeitigen? Im inne
Schillers zunädjit dadurch, dah in der Seele des Menſchen „eine
Kraft erwedt, geübt und ausgebildet” wird, die ihn befähigt bie
„sinnliche Welt, die ſonſt nur als ein roher Stoff auf uns iaſiet,
als eine blinde Macht auf uno drüdt, in eine objeftive Ferne zu
rüden, in ein freies Werk unferes Geiftes zu verwandeln“. Ins
dem fo die ganze ſinnliche Eriheinungswelt mit ihrer mafliven
Die Aunft als Goangeltum bei Schiller. 201
Greifbarfeit in bloßen Schein, in ein bloßes Bild verwandelt
wird, foll zugleich damit allem ftofflichen Begehren der Boden ent-
zogen werben. Diefes geſchieht tatſächlich allemal dort, mo bie
künſtleriſche Phantafie tätig iſt, fei es nun in ber wirklichen ober
in einer bloß vorgefiellten Welt. Denn die Phantaſie befigt die
Fähigkeit das Sinnliche, Körperliche zu befeelen, und wieberum
das Eeelijche, Geiftige zu verfinnliden und zu verförpern. Damit
teiht fie dem Toten Leben, dem Unbewegten Bewegung, dem Ger
bunbenen, Gedrüdten Freiheit. „Freiheit in ber Erfgeinung“ ift
denn auch für Schiller das Kennzeichen aller Schönheit und Kunſt.
Danach iſt das Kunſtwerk lebende Geftalt oder gejtaltetes Leben,
mobei von der ftofflichen Exiſtenz irgend welcher Art volljtändig
abgefehen wird. Schon Kant definiert als ſchön alles dus, was
durch feine bloße Form gefält, d. h. als reiner Schein auf
uns wirft.
Wenn wir uns z. B. an einem Flammenbilde weiden, fo
kommt bie Frage nad dem Etoffe, der da brennt, für ben
feſſelnden Eindrud bes Schaufpiels als ſolchen garnicht in betracht.
Wie etwa beim Sonnenuntergang oder einem Norblicht handelt es
fih um etwas in feinem Cinne bes Wortes Greifbares. Ebenjo
ift jedes Kunftwert etwa einem Negenbogen, einer Yata Morgana
ober einer Vifion, einem Traumbild vergleichbar.
Einige Beifpieie mögen noch die Eigenart der Fünftlerifchen
Phantafie veranſchaulichen, deren Wefen das deutſche Wort Ein-
bilbungstraft am befien dartut. Denn jede Kunſt mutet ung zu,
uns etwas einzubilben, d. h. fo zu machen, als ob. .......
In ber Arditeftur bilden wir und ein, die Säulen hielten
freiwillig das Dad), die Pfeiler ftrebten mwirflid empor u. a.
In der PBlaftit ſchauen wir den Marmor an, als ob er lebte; in
der Malerei die Fläche, als wäre fie peripeftiviih. In der Dich—
tung bilden wir uns oft ein, bie Scheidewand zwilhen Natur
und Geijt fei nicht mehr vorhanden, ſodaß wir jene gleichſam
in Mitleidenicaft ziehen mit unferen menfchlichen Affeften. Im
Drama ſehen wir die einzelnen Rünfte zu reicher Geſamtwirkung
vereinigt. Die Kuliſſen erfdeinen uns als maſſive Bauten, mögen
fie aud) noch fo jehr zittern. Herrn fo und jo jtellen wir ung
ats Wallenftein, Frl. jo und fo als Maria Stuart vor uw.
Die dargeftellten Erlebniife empfinden wir mit wie wirkliche, ob:
22 Die Kunft als Evangelium bei Schilern
wohl alles nur „geipielt” und im Bilde erfdeint. In der Mufit
tritt dasfelbe ein, nur daß wir ftatt zu ſchauen zu hören glauben.
Die einzelnen Töne als folde hört der Unmufifalifche ebenfo wie
ber Mufifaliice. Aber nur diefer verbindet das Einzelne zu einem
Ganzen umd leiht den Tönen eine Seele, daf fie zu jauchzen und
zu Hagen Sheinen, was fie an ſich doc) nicht tun.
Indem die künſtleriſche Einbiloungstraft uns befähigt, eimas
als reine Form d. h. ohne Nüdjicht auf feine Erijtenz auf uns
wirfen zu laffen, erregt fie in uns, nad) dem Worte Kants, ein
unintereffiertes Wohlgefallen. Natürlich foll uns das Kunſigebilde
„intereifieren“, aber wir follen dabei nicht „intereffiert“ fein.
Diefes find wir immer dort, wo wir irgend etwas um feiner
Eriftenz willen wünfchen oder begehren. Die künſtleriſche Phantafie
aber entrüdt uns, wie Schiller jagt, in jene „heitern Regionen,
mo die reinen Formen wohnen“, wo alle Affefte zwar im reger
Tätigkeit fein fönnen, jedoch ohne etwas wirklich zu wünſchen
ober zu begehren, weder etwas Sinnlihes noch etwas Siltliches.
In der Kunjt verhalten wir uns nur ſchauend,
Mic man die Sterne ficht, wie man den Mond ſich befchaut,
Sich an ihnen erfreut und innen im ruhigen Vuſen
Nicht der entferntefte Wunſch ſie zu befigen ſich zent. Goelhe).
Ein deutlicher Beweis, wie fehr das Künſtleriſche bloß im ber
Form Liegt, iſt die ſchrankenloſe Bewunderung der poeliſchen
Scjönheiten der Bibel aud) von ſolchen, für bie der Inhalt mit
feinem ganzen religiöfen Pintergrunde kaum vorhanden. Ich
erinnere nur an Heinrich Heine.
In wiefern erweift ſich num aber die Kunft als ein Evan-
gelium in einer ber Neligion aud nur ähnlichen MWeife? Mir
fönnen antworten: durch Aufhebung des Gefeges, d. h. durch
Freiheit, wobei wir allerdings im Auge behallen müſſen, daß dieſe
in ganz anderer Weife zuftande fommt, als in der Neligion.
Hier war der Juhalt des Geſetzes durch die Kraft des Evangeliums
zum Gegenftand einer „freien Neigung” geworben, die aus nicht
Willigen Willige madt; damit war das Gele felbjt ala toter
Yuchftabe aufgehoben. So fagt aud) Schiller: „Hält man ſich
an den eigentlichen Charakter des Chriftentums, fo liegt er in
nichts anderem als in der Aufhebung des Geſetzes, des Kantſchen
Imperativs (du ſollſt), an deifen Stelle das Chriftentum eine
Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 293
freie Neigung gelegt haben will." In der Runft ift bas
Geſetz auch aufgehoben, nur in anderer Weile, und zwar
dadurd, daß alle wirklichen Objekte, ſowohl finnlicher als geiftiger
Art, als Stoff in Fortfall geraten. Denn wo es feine Welt mehr
gibt, auf bie wir ſchädigend oder förbernd eimvirfen können, ift
auch nicht mehr von Übertretung die Rede; wo aber feine Über:
fretung möglid), ba ift aud) fein Gefeh. Diefes ift alfo mit bem
Stoff zugleich aufgehoben.
Aufgelöft in zarter Wedhfelliche,
Im der Anmut freiem Bund vereint,
Rufen hier die ausgeföhnten Triebe
Und verfchwunden ift der Feind.
Nicht im Xeben, wohl aber in der Kunſt find wir daher be
rechtigl von einem „Jenſeits von Gut und Böſe“ zu reden, fofern
beides nicht inhaltlich, ſiofflich, fondern mur als Form, d. h. als
Schein in Frage fommt.
Im Reiche des Schönen verhalten wir uns alfo weder bes
gehrend noch wollend, fondern nur ſchauend und ſchaffend. Lepteres,
jofern wir vermittelt unfrer Phantafie die vom Künftler ins Leben
gerufene formwollendete Gejtaktenwelt unfrerjeits nachſchaffen. Denn
wir empfangen dabei fo, wie wir felbit hervorgebradjt hätten,
während der Künftler fo Hervorbringt, wie unfer Sinn zu empfangen
trachtet (Schiller). Diefes Nachſchaffen geſchieht dadurch, daß
wir mit dem Künſtler den Stoff überall nur ſoweit gelten laſſen,
als er bereits reine Form geworden, d. h. als ſchönen Schein,
unabhängig von ſeiner mehr oder weniger ſinnlich ober geiftig
greifbaren Eriftenz. Damit derſchwindel der Stoff allerdings nicht
tatſächlich, aber er ſcheint in feiner Erdenſchwere aufgehoben
und iſt dadurd) in einer Welt, wo der Schein alles bedeutet,
auch tatjählih aufgehoben. Diefe Aufhebung des Stoffes durd)
die Form veranſchaulicht Schillers anmutiges Gedicht „der Tanz”,
mo es u. a. heißt:
Sch ic, flüchtige Schatten, befreit von der Schwere des Leibes ?
Schlingen im Mondlict dort Elfen den luftigen Reihn?
Schönheit war ja nad) Schiller „Freiheit in ber Erſcheinung“.
Indem nun bie Einbildungskraft dem an ſich Maſſiven, Schweren,
Gebundenen Freiheit und Leichtigkeit leiht und damit den Stoff
nicht nur formt, fondern zu einen lebenden Gebilde verwanbelt,
Baltifhe Monatsrrift 1005, Heft & 4
2 Die Kunft als Evangelium bei Schiller.
ift jener durch die „ſiegende Form” ſcheinbar vertilgt, d. h. jeber
Selbftändigfeit beraubt.
Aber dringt bis in der Schöneit Sphäre,
Und im Staube bleibt die Schwere
Mit dem Stoff, den ſie beherrſcht, zurüd.
Nicht ber Moffe qualvoll abgerungen,
Schlant und Teicht, mie aus dem Nichts entfprungen,
Steht das Bild vor dem entzüdten Blic
Aue Zweifel, alle Kämpfe ſchweigen
In des Sieges hoher Sicherheit;
Ausgeitoßen hat es jeden Zeugen
Menichticher Bebürftigkeit.
Indem die Phantafie das Körperliche befeelt oder das
Seelifche verkörpert, verfegt fie Sinne und Geiit zugleih in Wirk:
ſamkeit und erzeugt dadurch jene harmonifhe Stimmung, die wir
als Freiheit empfinden.
Beim Genuß des Schönen verhalten wir uns zwar ſchaffend,
doch zugleich auch betrachtend: beibes fällt Hier zulammen. Denn
indem mir nachjichaffen, ſchauen wir und freuen uns am Spiel
unfrer Einbildungskraft, jo daß alle Stimmungen und Affefte, welche
wir felbft unfern Geftalten geliehen, auf uns wieder zurücwirfen
und babei jenes an fi) fo zwedloje und dod) jo wohltnende Ab⸗
und Aufwallen der Gefühle, jenes Gleichgewicht der Stimmung
erzeugen, die jebem Spiel eigentümlich it. Wir weiden uns
mit ganzer Seele an einem Reich der Schatten und Träume, das
mir unter Leitung bes ſchaffenden Künftlers felbft hervorgezaubert
haben. Denn
Der allein befigt die Mufen,
Der fie trägt im warmen Bulen;
Dem Vandalen find fie Stein.
Damit geniefen wir in vollen Zügen jene Freiheit, von der
Schiller jagt, fie wohne nur im Neiche der Träume.
Wenn Schiller die in der Kunſt herrſchende freie Stimmung
eine fpielende nennt, fo muß man ſich vergegenwärligen, mas bas
Spiel im gewöhnlichen Leben bedeutet. Allen Spielen, die dieſen
Namen verbienen, ijt mit dem Kunſtgenuß ein unintereſſiertes
Wohlgefallen an zwedlofer Rraftentfaltung gemeinfam, und wie
das Kunſtwerk jo bejteht auch jedes Spiel bloß für die Phantafie,
für die Einbildungstraft. Die meiften Spiele bedeuten Echein-
fämpfe: man bildet ſich nämlich abfichtlich ein, es ſei wirllich etwas
Die Aunft als Evangelium bei Schiller. 205
daran gelegen, daß ber eine Teil den andern befiegt — etwa ben
Ball weiter wirft, mit feinem Pferde fchneller rennt als der andere
ufm. — um dann alle Kräfte auf dieſes bloß eingebilbete Ziel
hin in Bewegung zu jegen. Den äußern Scheinkämpfen entipredhen
bie innern ber Affefte und Gefühle, bie wir im Kunſtgenuß frei
ſpielen laſſen, wobei oft bie Luftgefühle erfl durch Unluflgefühle
hindurch die Oberhand gewinnen, d. h. ſich burchfämpfen müſſen. Den
Scheinfämpfen im Tanz, im Drama und in ber Muſik entſpricht
auf feiten des Zuſchauers ober Hörers bie ganze Stufenleiter ber
Affelle, mit benen er jene Rampfbewegungen mitempfinben begleitet.
Wenn die Kunft nad) Schiller die Aufgabe hat, der Menfch-
heit ihren möglicjit volljiändigen Ausdruck zu verleihen, jo bedeutet
das zugleich, da wir im Runftgenuß dazu berechtigt find, alles
das nachzuerleben, was ein Fauft in titaniſchem Übermenſchentum
im wirklichen Leben erftrebt, wenn er ausruft:
Was der ganzen Menſchheit zugeteilt üft,
WÜL ich mit meinem innern Selbſt genichen!
Mit meinem Geift das Höchſte und Tieffte greifen,
or Wohl und Weh auf meinen Vuſen häufen,
Und jo mein Selbit zu ihrem Selbit erweitern. —
Seit Ariftoteles fpricht man bekanntlich von einer Reinigung
der Affefte im Drama. Es fheint aber, daf in jeber Kunſt übers
Haupt von einer Neinigung ber Stimmungen und Gefühle gerebet
werden fann, indem das Schöne „den Strom ber jtodenden
Empfindung flutend nacht” (Geibel).
Lieben, Hafjen, Fürchten, Zittern,
Hoffen, Zagen bis ins Mart —
Kann das Leben zwar verbittern,
Aber ohne fie wär's Dunrf!
ruft ber Dichter Lenz in der Sturm: und Drangperiode aus. Im
wirklichen Leben jollen wir allerdings Haushalten mit allen Gefühlen
und Leidenſchaften, weil fie uns leicht unfrei machen. In der
KRunft hingegen können wir allen menſchlichen Etimmungen und
Affekten freien Lauf laſſen, unbeichadet unjrer Freiheit, weil dieſe
dann ja fein wirkliches Begehren, Wollen, Fürdten ꝛc. in ſich
fchliegen, fondern als „Scheingefühle” bloß zum Spiel in Bewegung
gelegt und damit auf eine Scheinwelt bezogen werden, bie wir
felbft hervorbringen halfen.
r
296 Die Kunft als Evangelium bei Schiller.
Aber der, von Alippen eingefchloffen,
Wild und ſchaumend fich ergoffen,
Sanft und eben rinnt des Lebens Fluß
Durch der Schönheit file Schattenlande.
Wo die reinen Formen wohnen, da ift auch bie ganze
Stimmung eine reine, weil völlig freie.
Aber in den beiten Regionen,
Wo bie reinen Formen wohnen,
Rauſcht des Jammmers früher Sturm nicht mehr. . . .
Lieblich, wie der Iris Farbenfener
Auf der Donnerwolke duft'gem Tau
Schimmert durch der Wehmut büfteen Schleier
Hier der Ruhe heitres Blau.
Durch die reine Form bes Kunſtwerks iſt die Seele ſelbſt
reine Form geworben und hat teilgenomen an jenem Ideenreiche
Platos, welches Schiller in feinem ſchon mehrfad angeführten
Gedichte „das Ideal und das Leben” (früher „das Neich der
Schatten”, „das Reich der Formen“ betitelt) poetiſch im Auge Hat,
wenn er fagt:
Aber frei von jeder Zeitgemalt,
Die Geſpielin feliger Naturen,
Wandelt oben in des Lichtes Fluren
Gotilich unter Göttern die Geſtali. (d. h. die reine Form)
Jugendlich von allen Erdenmalen
Frei, in der Vollendung Strahlen
Sahwebet hier der Menfchheit Götterbild,
— — Wie fie ftand im himmlischen Gefild,
Ehe noch zum traur'gen Sarlophage (dem Körper)
Die Unfterblicpfeit herunterſtieg.
Diefe reine Form foll der Menſch auch im wirklichen Leben
zu wahren juden:
Wollt ihr jhon auf Erden Göttern gleiden,
Frei fein in des Todes Neichen,
Brechet nicht von feines Gariens Frucht!
An dem Scheine mag der Did ſich meiden. . .
Doch betont Schiller: es erfordere noch einen ungleich höheren Grab
der ſchönen Rultur, in dem Lebendigen (Wirklichen) felbit nur
den ſchönen Scjein zu empfinden.
Die bisher verfuchte Charakteriftit follte dartun, daß bei
aller formalen Übereinftimmung, wie fie ſich in den Begriffen:
Freude, Freiheit (Aufhebung des Gejeges!), Eröffnung einer andern
Die Kunft als Evangelium bei Schiller. 97
Welt fundgibt, das religiöſe Evangelium eines Luther und das
fünjtleriihe Schillers zwei ganz verſchiedene Welten bedeutet, bie
ſich nicht einfach ineinander ſchieben oder für einander fegen laſſen.
Schon desmegen nicht, weil die Welt der Religion eine im Glauben
erfahbare wejenhafte Wirklichkeit (objektives Leben), die Kunjt da
gegen nur eine von ber Phantaſie geihaffene Scheinwelt (jubjet-
tives Leben) offenbart. Und wenn aud) die Neligion eine hadh-
gradige Beteiligung der Phantafie nicht entbehren kanu, jo verhält
ſich diefe, die doch in der Kunſt unumſchränkt herricht, hier mehr
dienend. Die religiöfe Phantaſie ſchaffi ihre Bilder in eriter Linie
zur Verdeutlichung und Veranihautichung überſinnlicher Wahız
beiten, wobei der Gefidhtspunft der Schönheit zuüdtritt.
In der Kunft iſt die Freude, die Beglückung mehr eine Ver
ftinmtheit des ſittlich indifferenten Gefühls, ein blofes Gleichge⸗
wicht der Stimmung, ein „heiteres Vehagen“. In der Neligion
dagegen vertieft ſich die Innerlichleit des Gefühls zur Jnnigfeit
des Gemüts — Glaube, Liebe, Hoffnung! — die Stimmung
zur Geſiunung, die bloße Betrachtung zum energiichen Wollen,
das heitere Behagen zum Geelenfrieden, „höher als alle Vernuft“.
Der Befreiung von der Alltagsprofa entipricht hier die Errettung
des Selbit, ber Perfönlicleit, durch die Erlöfung von dem Übel,
von Sünde, Schuld und Tod. Der Vegriff des unmittelbaren
zeitlichen Glücks wandelt und vertieft jich zu dem des ewigen Heils,
der Wonne und Seligfeit.
Wenn Schiller jagt: „Ernit iſt das Leben, heiter iſt bie
Kunſt“, jo steigert fich jener Ernſt in der Neligion um fo mehr,
als es ſich dabei um ein wirkliches, nicht bloß geipieltes Leben mit
Verücfichtigung aller wirklichen Leiden, Schmerzen und Kämpfe
des Dafeins handelt. Denn obwohl das religiöje Evangelium als
eine beglücende, ja befeligende Wucht empfunden wird, jo ijt die
damit gewonnene Freiheit dod nur eine ſittliche, ohne Rückſicht
auf ſinnliches Behagen, zumal in der Neligion auch Gejtalt und
Schöne nur ſinnbildliche Bedeutung haben. Ich jagte „nur
ſittliche“ mit Anſchluß an Schiller, wenn er ſchreibt: „Mit dem
Angenehmen, mit dein Guten, mit den Vollfommenen (Nefigiöien)
iſt es dem Menden nur ernſt; aber mit der Schönheit ſpielt
er.“ Und weiter: „Der Wenſch ſoll mit der Schönheit nur
298 Die Aunſt als Evangelium bei Schiller.
ipielen, und er foll nur mit ber Schönheit ſpielen.“ Alſo
nicht mit dem Sittlid.Religiöfen.
Wir würden aber fehlgehen, wollten wir in den bisher
ſtizzierten helleniſchen Stimmungen, für melde bie „reine Form“
das Enticheidenbe, den ganzen Schiller wiederfinden. Das Hellenen«
tum Schillers wird vielmehr in deutlicher Weile von andersartigen,
mehr ober weniger romantifchen Stimmungen durchkreuzt, bie wir
mit Heinrich Heine „nazareniſche“ nennen fönnen, wohurd das
„Evangelium“ des großen Kunſtapoſtels etwas Schwebendes erhält.
In feiner Schrift über Börne äußert Heine, daß ſich bie
Menſchen aller Zeitalter nad) ber Grundrichtung ihres Weſens in
zwei Oruppen ſcheiden ließen: in fogenannte Nazarener und Hellenen.
Zu den eriten rechnet Heine alle diejenigen, welchen eine mehr
oder weniger weltflüchtige, finnenfeinbliche, tiefernite, „vergeiftigungs-
füchtige" Betrachtungsweiſe eigen; zu ben Hellenen dagegen alle
weltfreudigen, lebensheitern, „entfaltungöſtolzen“ Naturen. Damit
treten die Bezeichnungen Nazarener und Hellenen weit über ben
Rahmen hinaus, wie er geſchichtlich betrachtet die ſemitiſchchriſtliche
Geiftesart einerfeits, das Griechentum andrerfeits umfaßt. Es
handelt ſich vielmehr um immer wieberfchrende Geiftestypen gegen:
fäglicher Art. So jehen wir auf helleniidem Boden einen Plato
mit feiner grundfäglicen Nbwendung von ber ihm umgebenden
Wirklichkeit und feinem Aufſchwung zu einer unſichtbaren Ideen—
welt — nazareniiche Stimmungen nicht verleugnen. Dagegen ver:
förpert Ariftoteles mit feinem ganz auf das Diesjeits gerichteten
Foridjergeift das ipezifüich „Hellenijche” Naturell.
Der mehr oder weniger weltflüchtige Ernft der nazareniihen
Stimmung findet fi naturgemäß am meiften ausgeprägt bei den
ın Gemittern, vor allen bei den führenden Geiſſern ber
ion: fo bei den altteflamentlihen Propheten und Pfalmiiten,
jo im chriſtlichen Zeitalter bei einem Paulus, Auguftin, Luther.
Dagegen erſcheint die finnenfreubige, auf eine harmoniſche
Geftaltung der gegebenen Welt gerichtete helleniſche Grundflimmung
als die eigentlich künſileriſche.
Dem Nazarener eriheint eine Welt des Geiftes, womöglich
— wie bei Blato und allen Vertretern des Idealismus — ein
Ideenreich als die mahre Heimat der Seele, der Leib dagegen mit
Die Aunſt als Evangelium bei Schiller. 208
jeiner Bannung an die Sinnenwelt ein Kerfer aus weldem jene
Erföjung erjehnt.
Diefe Zwiejpältigkeit it nun dem Hellenen von Haus aus
fremd; ihn kennzeichnet vielmehr jene reine Einfalt, die ohne einen
Bruch mit der gegebenen Natur, deren Kräften bie richtige Bahn
weift, ſodaß es nicht mehr heißt Weltverneinung, jondern Welt:
verflärung. Ach erinnere an Homer, Sophotles, Raphael, Diozart,
Goethe. Bufammenfaffend können wir fagen: wo der Nazavener
nad) Ideengehalt, ftrebt der Hellene nad) Form.
Wenn ſich auch eine große Anzahl von Geftalten anführen
täßt, in welchen ber eine oder andre diefer beiden Typen fid) mehr
oder weniger rein ausprägt, wie etwa im Auguſtin oder Luther
der Nazarener, in Mozart und Goethe der Hellene, jo dürfen wir
doch nicht außer Acht laffen, daß es z. B. auf rein fünjtleriihem
Gebiete Typen giebt, bei welchen trog alledem eine nazarenijche
Grundſtimmuug mächtig durchbricht, wie etwa bei Äſchylus, Dante,
Michel Angelo, Beethoven, Schiller — Heinerer Geiſter wie
Kiopitod nicht zu gedenfen. Bei allen dieſen ift eine finnenfeind-
liche Stellungnahme naturgemäß ausgeſchloſſen, ba fie ſonſt übers
haupt feine Rünjtler wären; doch iit ihmen allen ein mächtiges
ſittliches Pathos gemeinfam, das fi hier und da zur veligiöfer
Höhe fteigert. Die Sinnenwelt mit ihrem ganzen Reichtum an
Leben und Gejtaltungen fommt dabei weniger um ihrer ſelbſtwillen
in betracht, als um deſſentwillen, was fie für bie Welt bes Geiftes
bedeutet als Verförperung von Ideen. Die damit gegebene
Stellung zur Natur ift e8 befanntlid, was den „naiven“, d. b.
mitten in der Natur jtehenden Dichter und Künftler vom „jentir
mentalen“, d. h. von Ideen auegehenden unterfcheidet, wie etwa
Goethe von Schiller felbit, den Hellenen vom Nazarener. Schillers
fo vielfach ausgejprodjene elegiſche Sehnſucht nad) einem ver—
torenen Paradieſe, einer goldenen Zeit, feine für ein Neid) des
Ideals unmittelbar werbende flammende Begeifterung — das alles
atmet eine durchaus religiös gefärbte Stimmung, welde ben Dichter
ſelbſt als einen Priefter und Propheten, ihn im ebeljten Sinne als
einen Prediger am Gvangelium der Mahrheit und Schönheit er=
ſcheinen läßt. Danach wäre Schiller ein Hellene mit nazareniſchen
Stimmungen, wie etwa Klopſtock ein Nazarener mit hellenifchen.
Es find zwei Seelen in Schillers Dichterbruſt, die ſich nicht jo
300 Die Aunft als Evangelium bei Schiller.
ohne weiteres ineinanderjchieben lafjen. Die eine Hält ſich —
echt künſtleriſch — „an die Welt mit Mammernden Organen“ und
findet in der fittlid gleichgiltigen, rein äjthetiihen Stimmung der
ewig heitern olympifchen Götterwelt das Ideal des Glüds ver-
förpert. Die andere Seele hebt ſich gewaltfam „zu den Gefilden
Hoher Ahnen“, zu ben tiefernften fütlic-religiöfen Stimmungen der
großen Nazarener, für welde das berühmte Wort eines der größten
von ihnen gilt: „Unſer Herz ift unruhig, bis es Ruhe findet in
„Dir“. Dies findet ſich vieleicht am deutlichſten ausgeprägt in
Schillers vollendetftem und tieffinnigitem Gedicht „Das Ideal und
das Leben“, wo das Jdeal bald als die reine Form der Antike,
bald — wenn auch künſtleriſch vermittelt — als ein Reich ſittlich
religiöjer Ideen erſcheint. Damit eröffnet uns ber Dichter einen
Ausblid in zwei Welten: in eine äſthetiſch- unperſönliche und eine
ſitilich perſonale, die fid) beide wohl nebeneinanderftellen, aber
ſchwerlich organic; verbinden laſſen, bie Ideenwelt Platos einer-
jeils, die Kants andrerſeits. Die erfte eutjpricht der küuſtleriſchen
Grundanſchauung der Griechen, die zweite ber fittlic-religiöfen bes
hriftentums. Im der einen tut ſich vor uns die ganze Schein:
welt bes Olymps auf mit ihrer heitren Schöne, in der andern
glauben wir wie aus bämmernder Ferne den Mann zu ſchauen,
der auf dem Berge jaß und das Volk lehrte. Es ill der Gegen:
fa einer verjunfenen, nur noch poeliſch lebendigen und einer neu:
auffteigenden wejenhaften Welt. Denn in der Zertrümmerung der
bloß äfthetifchen Jdeenwelt Platos und dem Aufbau einer neuen
ittlid-perfonalen liegt ja gerade die weltgeſchichtliche Größe Kanıs
des Philoſophen, beiien begeifterter Jünger Schiller war.
Jener zwiefache Ausblick fenngeichnet am eheften die Doppel-
natur Schillers und bedingt feine Vlittelitellung zwiſchen äſthetiſcher
uad jittliher Freiheit, zwiſchen künſtleriſchem und religiöjem „Evan-
gelium”. Er ift eben im einer Perſon Künftler und Prophet,
Hellene und Nozarener, dazu einer der größten Denker, fo daß
eines dem andern oft den Rang jtreitig macht. Daher der nicht
felten unruhige Wechſel zwiſchen dem Rhetoriſchen des prophetiſchen
„Sängers“ und dem Echtpoetiſchen des helleniſchen Künſtlers, den
Schiller bekanntlich am glänzendſten in Goethe verkörpert ſah.
So hören wir oft bei Schiller den erhabenen Ernſt des Lebens in
das heitere Spiel der Dichtung hineinflingen:
Die Kunſt als Evangelium bei Schiller. 301
Wie wenn auf einmal in bie Kreiſe
Der Freude mit Gigantenfcheitt,
Geheimnisvoll, nach Geiſterweiſe
Ein ungebeures Schiedfal titt;
Da beugt ſich jede Erdengröhe
Dem Fremdling aus der andern Welt,
Des Jubels nichtiges Getöfe
Lerftummt, und jede Laroe fällt.
Sein Schaffen wird zugleich beherrſcht von dem Ernſt des
Gewiſſens wie von bem Spiel der Phantafie:
Wie mit dem Stab des Götterboten
Veherrſcht er das bewegte Ders;
Er taucht es in das Neid, der Toten,
Er hebt es ſiaunend himmelwäris
Und wiegt es zwiſchen Ernit und Spiele
Auf ſchwanker Leiter der Gefühle.
Wie der Ideenwelt Kants, fo fehlt aud) der Schillers ber
bewußte refigiöie Hintergrund; aber wie von jenem grofien Geilt,
fo gilt aud) von dieſem: nicht er hat die Ideen, fondern die
Ideen (d.h. die objektiven unſichtbaren Lebensmächte) Haben iyn.
Beide ſchöpften fie, ohne co zu willen, lebendiges Wailer aus
dem Strom religiöfen Lebens, den einft Luther wieder flutend
gemacht, und der, wenn auch in beicheidenen Grenzen, aud) das
18. Jahrhundert, wie alle Zeiten, durchrauſchte. Wie fehr aber
den „bewußten” Schiller die Neligion zur Kunſt geworben,
zeigt feine Beurteilung des Chriftentums, bas in feiner „reinen
Form“ Darjiellung ſchöner Sittlidjfeit oder die Menſchwerdung
des Heiligen, und in dieſem Sinne die einzige „äſthetiſche
Religion" jei. Wir dürfen aber nicht vergeilen, daß für
Schiller jelbjt die reine Form eine Scheinwelt bedeutet, bie den
Grundbegriff der hriftlihen Neligion aufheben würde, wenn der
Hellene, der Künftler Schiller der ganze wäre. Denn eine „äſthe⸗
tiſche Religion“, entipräche etwa der kalokagathia dem „Schön:
guten“ der Griechen, eine Anſchauungsweiſe, die mit der Welt
Platos jteht und fällt. Das Chriſtentum fragt aber befanntlich
nicht nad) Geftalt und Schöne und dürfte in feinem Weſen wohl
vom greifen Goethe tiefer erfaßt worden fein als „die Ehrfurcht
vor dem, was unter ums ij.“
Der Künjtler Schiller verſchwindet naturgemäß hinter feinem
Werte, aber jeine große Perſönlichkeit verlieren wir nicht aus den
302 Die Kunft als Coangelium bei Schiller.
Augen, wenn er als prophetiiher Sänger und Seher eine höhere
Welt des Geiftes nicht nur begeifternd verfündet, jonbern fie in
dem Gefinnungsabel feines eignen Weſens felbit offenbart, jo daß
ein Goethe von ihm fagen mußte: „Das war ein rechter Menſch,
fo follte man a uch fein! Ihm war eben biefe Chriſtustendenz
eingeboren: er berührte nichts Gemeines ohme es zu veredeln.“
Somit haben wir neben dem mehr ober weniger künſtleriſchen
Evangelium jeiner Werte zugleid eine Art fittlich:religiöfen, ber
glüdenden und befreienden Evangeliums in feiner erhabenen
Verfönlichfeit. „Er war ein Baum, gepflanzet an ben Mailer:
bãchen, der feine Frucht bringet zu feiner Zeit, und feine Blätter
welten nicht.” Trog ber hundert Jahre jeit feinem frühen
Dinſcheiden
ſchwebt er uns vor, wie ein Komet entſchwindend,
Unendlich Sicht mit feinem Licht verbindend.
Und je mehr wir die farbenreihe Bilderwelt Schillers gegen
jenes „ewige Licht“ halten, deſto durchſichtiger wirb fie, und
durch „der Dichtung Schleier” leudtet uns die Welt ber Ideen
entgegen, „wie durd des Nordlichts beweglide Strahlen
ewige Sterne ſchimmern.“
Ar
Niht wie die Wellen des Meeres.
Von
Karl v. Freymann.
Des, Menſchen Taten find Gedanten, wißt,
Sind nicht wie Meeres blinbbewegte Wellen.
(Waltenfteins Tod, 2. Aufzug, 3. Auftritt.)
icht wie die Wellen des Meeres wäre unjer Leben? Wer
dieſe Worte prüft, muf; glauben oder verwerfen. Ih
prüfe mein Leben und id verwerfe. — Wenn meine
Gedanken die Grenzen des Konfreten überfchreiten, jo beginnen fie
zu wirbeln. Es iſt fein Denken mehr, jondern ein toller Schnee:
flodentang. Es erſcheint mir nicht, als ob meine Gedanken Beſtand
hätten. Mit jedem neuen Tage verichiebt fid der Ansgangspunft
meines Denfens, mein Heute fteht meinem Gejtern fremd gegenüber.
Meine Gedanfen find Einfälle, die feine Summe ergeben. Eie
gleichen ben Rlängen der Holsharfe, Wind, Wetter und Zufall find
die Muſikanten, fie ſpielen ohne Tert und Noten. Wahrlich, meine
Gebanfen find wie die Mellen des Meeres, blind und bewegt
vom Winde.
Ein loſe gefnüpftes Gewebe ſchweben meine Taten in ber
Luft. Sie bilden eine Kette von Augenblidshanblungen, Glas-
perlen am bünnen Faden meines Ich gereit, fünnen fie fo und
aud) anders fein. Wenn der Tod den Faden durchſchneidet, rollt
das Spielzeug auseinander. Daß ic) überhaupt handle, entbehrt
des (rundes, aber obgleich id weiß, daß meinen Taten nicht ein
Groſchen abjoluten Wertes zukommt, bin id) dennod) beitrebt fie
durch eine zweckloſe Geichäftigfeit zu vermehren. Aber foviel ihrer
auch jein mögen, auch fie ergeben feine Summe. Sie gleichen
den Wellen des Meeres.
304 Nicht wie die Wellen des Meeres.
Tas Facit meiner Überlegung ift die Lebensweisheit eines
moquanten Lächelns. Die Sinnloſigkeii meines Lebens ift zu einem
vielverjprechenden und nichtsfagenden Lächeln gefroren. Zu meiner
Genugtuung lebe ich inmitten einer Geſellſchaft, wo taufend Köpfe
das gfeihe Erempel mit eben derfelben Löfung angeitellt haben,
und das Lächeln, welches ich jelbft Lädhle, grüßt mich von den
Geſichtern meiner Bekannten. — Welch ein entfeplides Unglüd
wäre es, als Enthufiaft unter diefen Leuten geboren zu jein —
ber einzige Narr unter fo vielen Geſcheiten! Ein Idealiſt und
Schwärmer würde in unjrem Lande mehr Aufjehen erregen, als
ein Menſch, der barhaupt über die Straße geht. Ich aber fühle
mich wohl in unjver Mugen Augurengejellichaft.
Die Beten unter uns leben jenem müden Lächeln. Sie
haften ſich nicht für ewig. Cie beginmen ihre Tage mit einem
nachläffigen Achfelzuden, und wenn fie ein Symbol ihres Lebens
in dem Bilde eines Gottes aufitellen würden, fo wäre es ein
Geficht, dem die Augen fehlen. Unter den Einfluß dieſes leeren
Geſichts Haben- wir es verfernt an das zu glauben, was wir tun,
ober zu glauben, daß wir etwas anderes wären, als etwa ein
ſchwimmender Kork auf der blind bewegten Fläche des Meeres.
Der Lebensweg jedes Deutichen führt an ber Geftalt Schillers
vorüber und viele fchlagen bei biefer Begegnung die Augen zur
Erde. Wenn ih heute an ihm vorübergehe, jo will ich ihm ins
Geſicht ſehen.
Zwiſchen zwei Welten ſtand Schiller und ſeine Werke fallen
in unſer Leben ein Schatten der Welt, die jenſeits des Todes
liegt. Sein Dichten iſt der Schatten einer Welt, die ich täglich
und ſtundlich verleugne.
Es wäre kindiſch, wollte id) mich vor dem Schatten eines
toten Dichters fürdten. Seine Poefie ift nicht mehr als ein
wenig Druckerſchwärze und id bin wirklich. Wirklich bin id, von
Fleich und Bein geihaffen, geboren, getauft und erzogen, und wenn
id) begraben werde, fo werden die Schollen handgreiflider Erbe
über meinen Sarg poltern. Kommt hervor aus eurem papierenen
Grabe ihr Veftalten des Scheines — id) werde euren Anblid
wohl ertragen!
Und vor meinen Augen ziehen die Schiffe der Grieden
Nicht wie die Wellen des Meeres. 305
heimmärts von Troja. Über den Rand der Schale fließt ber
perlende Wein, während ber Sieger dem Befiegten zutrinkt. Goldig
gelb bligen feine Tropfen auf dem dunklen Laube. Ruhevoll ift
das Schickſal der ſonnigen Hellasföhne und Freude und Leid einen
ſich in ewiger Schöngeit. — Dit dem Grauen feiner Taten ringt
Franz Moor, unvernidtbar wie das Grauen empfindet er feine
Taten, in zähneknirſchender Augſt fühlt er fid) als Träger bes
Ewig-Böfen und er betet: ich habe mid) nie mit Kleinigfeiten ab»
gegeben. — Den fengenden Blid zur Erde geheftet fteht Don
Garlos vor mir, — zögernb und prüfend, ben Schritt des Lebens
aus den freifenden Sternen lejend, wandelt Wallenjtein die Bahn
des Todes, finfter ift die Stirn des Dlannes, der mit dem unab-
änderlihen Scidfal zu Nate geſeſſen. ..
Die Geftalten drängen ſich zu mir in enblofer Neihe und
wollen nicht weichen — und jede von ihnen ein Zeuge aus jenem
Zeben und feine unter ihnen, die nicht erfüllt wäre vom Hauche
der Ewigkeit. Lauter Menſchen, die nicht jterben fünnen, un
fterblich aus dem Nichts erſchaffen! Jeder einzelne von feinem
Schöpfer begabt mit einer unjterbli—hen Seele. In das grunbloje
Leben hineingeftellt, den Grund des Lebens in ſich tragend.
Iſt mein Leben ein Poſſenſpiel, jo fann ich mit diefen Leuten
zuſammen nicht fpielen! Cie verderben mir meine Nolle! Ich
fann nicht lächeln in einem Spiele, das für die Cwigfeit geipielt
wird. Ic) will abtreten fönnen, wenn ber Vorgang fällt, und es
ſoll fein, als wäre nichts geweſen. Aber ich ſehe es wohl, dieje
Helden werden nicht abtreten — Die Breiter der Bühne zittern
unter ihrem Tritte.
Das Spiel wird Eruſt — id will nicht hinüber in die
Emwigfeit mil dem faden Lächeln des Poſſenhelden! Wenn das
Leben Ernſt it, will ich aufhören zu lächeln! Ich will nicht
daftehen unter den Unfterbliden ohne Seele! — Lieber will ic)
glauben! Ich will die nichtige Altagserfahrung verleugnen und
an die Welt Edjillers glauben, die ewig fittlide Welt Schillers
und feiner Menſchen, die nicht vom Zufall regiert werden, ſondern
vom Golte, der in ihnen wohnt. Nichts andres aber iſt diefer
Gott, als die Kraft der Vegeifterung, und nichts andres ift uns
die Seele Schillers, als eine lodernde Flamme dieſes ewigen
Feuers.
806 Nicht wie die Wellen des Mieres.
Oh! das ein Funfe nur auch in uns erglimmen mürbe,
denn wir fiehen dahin an unfrem irodenen Rechnen! Unire
Arbeit iſt Häßlih und unfre Freuden find ein abgejchmadies
Luftigtun. Und jeder Tropfen Schillerſchen Blutes und jeber
Hauch feines Geiftes iſt uns ein Urteil der Vernichtung.
Längſt find wir es falt durds Leben zu gehn ohne Ziel
und ohne Sache. Uns dürfte danach, an eine Sache zu glauben
und im Drange ber Begeifterung zu ſchaffen, uns verlangt danach,
daß ber Geiſt Schillers wieder mächtig werde in den Enfeln
feiner Zeit. Auf daß auch mir es begreifen, daß wir fein Spiel:
ball der Lebenswellen find, fondern wagende Menſchen!
Shiller und Lin
Vortrag”
von
Bernhard A. Hollander.
it dem gefamten deutſchen Volfe weit über die Grenzen
des Deutfchen Reiches hinaus rüften fih aud bie
Deutfchen unfres battifchen Heimatlandes das Andenfen
Schillers am Hundertjährigen Gedenftage feines Todes zu ehren.
Freilich drücken gerade augenblicklich mandherlei ſchwere Sorgen bie
Gemüter nieder und halten uns davon jurüd, uns ganz zu vers
fenfen in die Gedanfenwelt unſres großen Dichters, aber wenigitens
den kurzen Stunden, bie der Grinnerung an ihn geweiht jein
follen, mag gleihjam als Motto vorangeitellt fein bie Mahnung:
Werft die Angit des Irdiſchen von euch!
liehet aus dem engen, bumpfen Leben
In des Ideales Reich!
Mehr als irgend wo anders tut es hier bei uns not, daß
mir uns aus ber Wirrſal der Zeit erheben zu ber geiſtigen Höhe
der großen Männer unjres Volkes. Dort atmen wir, entrüdt ber
ſchwulen Luft, in der wir unfer Alltagsleben zu führen genötigt
find, wie in reiner Bergluft erleichtert auf. Dort gewinnen wir
den rechten Ausblid auf die legten Ziele und Zwede aller unfrer
Arbeit und Mühe, und mehr als jemals tritt an uns die Forde—
rung heran, Die geiftigen Waffen zum Rampfe für die Erhaltung
unfres Vollstums zu holen von jenen Männern, zu denen wir als
*) Der Vortrag erſcheint hier in eiwas ermeitertem Umfange. Es iſt mir
ein dringendes Bedürfnis, an diejer Stelle meinem lieben ‚Freunde, dem Stadt«
Bibtiongefar Nik. Bujch einen warmen Tanf auszufpreden für die entgegens
fomınende Lichenswürdigleit, mit der cr mir die Schäße der ihm unteritelften
Vibliorgefen zugänglich gemacht Hat.
308 Schiller und Sioland.
zu den Führern und Bahnbrechern echten deutſchen Volkslebens
bemwundernd emporichanen. Wir dürfen Die uns drohende Gefahr
einer geiftigen Iſolierung nicht unterihägen, daher haben für uns
die Gedenktage unfrer deutſchen Geiftesheroen eine erhöhte Bedeu
tung, und unjre Schillertage müffen das aud) für uns geltende
Wort: „Er war unſer“ erweitern zu dem Gelübde: Er foll es
immer bleiben! Ja, Sciller war und ift unfer. Wie er
uns Älteren ein Begleiter geweien iſt auf allen unfren Lebens
wegen von unfrer Jugend Tagen an, jo laijen feine unvergäng-
lichen Dichtungen auch unfrer Kinder Herzen höher ſchlagen. Daher
iſt es wohl erklärtich, daß ſchon oft die Frage aufgeworfen worden
ift, ob nicht auch bei des Dichters Lebzeiten Beziehungen zu unfrem
Heimatlande ober deren Söhnen vorhanden gewefen feien, denn
wir hoffen, daß er uns durch jolche menſchlich näher gerüdt werde.
An Beantwortungen diefer Frage fehlt es nicht gänzlich, aber
bisher hat noch niemand den Verſuch gemacht, das recht zerftrente
Diaterial zufammenzufaffen. Gerade au diefem Orte und in unſrer
hiſtoriſchen Geſellſchaft, die fi die Erforihung der baltiichen
Vergangenheit zum Ziel ihrer Arbeit geitellt hat, mußte aber an
einem Schiller-Gedenktage an die Löfung diefer Aufgabe heran-
getreten werben.
Schillers Wiege hat in einem Teil Deutſchlands geftanden,
mit dem Livland weniger Berührung gehabt Hal, als mit den
norddeuiſchen Ländern, daher hat er während feiner ganzen Jugend-
zeit faum irgend welche Beziehungen zu Perfonen baitiſcher Her
funft gehabt. In die hohe Karlsihule find wohl Söhne baltiſcher
Ehelleute eingetrelen, aber fie waren alle jünger als Schiller !,
und nur einer, Johann v. Bendendorff, der fpäter ruffiicher General
geworden ift, war ein halbes Jahr mit ihm zugleich Rarlsfchüler,
hat aber laum mit dem fünf Jahre älteren, am Ende feines
Studiums tehenden Kameraden in Verbindung geflanden. Ver—
1) 2, aloe werden folgende Ballen genannt: Cuftan Nenbots
v. Merlai (21. Sept. 1781 6i6 19. gebruar 1782), Johann vo. Bendendorfi
(19. Juli 1780 bis 19. Dez. 1781), Eberhard und Georg Wilhelm v. Gobr
(4, Sem, 1702 bis 14. Sep. 17), o- Auneing (28. April 1703), Na
Otto und Karl v. Lipdart (12. Juli 1792), Georg
pri Johann Junmanuel Sreibere 0. Ingern»Sternberg
bis 19. Febr. I Vgl. weiteres bei Th. Schön, Anger
hörige adeliger Gefchlechter aus Kur-, Yin: und Eitland in Württemberg. Jahrbuc)
für Genealogie, Heraldıl und Sphragiitit 1903. Mitan 1905.
Esiller und Livland. 308
folgen wir aber bie Einflüffe, Die fih auf die Entwidlung bes
jugendlichen Dichters während dieſer Epoche geltend machten, dann
begegnen wir bem Namen eines Mannes, der aud für unfre
Heimat eine Bedeutung gewonnen hat. Es war Friebrid
Marimilian Klinger, ber Didter von „Sturm und Drang”,
der nach manchen Wandlungen in feinem Schidjal und in feiner
Lebensführung von Kaiſer Alexander 1. zum Kurator ber neuen
Univerfität Dorpat ernannt worben war und als folder faſt
1Y/e Jahrzehnte (1803-—-17) gewirkt hat. Freilich nennt Wilhelm
Peterfen, der Jugendfreund Schillers!, unter den Lieblingsfchrifte
fiellern, die auf feinen Ausdrud, jeine Sprache und Darjtellungsart
eingewirft haben jollen, den Namen Klingers nicht, aber fein Ein:
ſluß ift unverkennbar und wird von Schiller ſelbſt beftätigt. Im
3.1803 ſchreibt er an Wilhelm v. Wolzogen: „Sage dem General
Ringer, wie jehr ic ihn ſchäze. Er gehört zu denen, welde vor
25 Jahren zuerft und mit Kraft auf meinen Geift gewirkt Haben.
Dieſe Eindrüde der Jugend find unauslöfglih?.” Klinger wird
gewiß über diejen Gruß des von ihm hochgeſchätten Dichters auf-
richtige Freude empfunden haben. Zwei Jahre Ipäter vernahm er
mit tiefer Rührung die Nachricht vom frühzeitigen Tode Schillers ?.
Zwei Jahre nad Abfolvierung ber Karloſchule entzog ſich
der Negimentsmebilus und Dichter „der Näuber“ dem unerträglich
gewordenen Druck, der auf ihn ausgeübt wurde, durch die Flucht.
Es folgte eine jchwere Zeit voller Enttäufchungen, erfüllt vom
Ningen nad) eigner Vervolltommnung und Aulämpfen gegen äußere
Not, aber aud) wiederum vericönt durch Beweiſe eher, opfer-
williger Freundſchaft. Eine edle Frau, Henriette von Wolzogen,
hatte dem Heimatloſen eine Zufluchtsftätte im frieblihen Bauerbach
geboten und ihm bie Diöglichfeit ruhiger Arbeit gewährt. Freunde,
die er ſich allein durch jeine Dichtungen gewonnen, hatten ihm
Freundfchaftsgaben gefandt und ihm fpäter in felbftlofer Weiſe
die Wege nad) Leipgig und Dresden gebahnt. Nicht unerwähnt
dürfen gerade in dieſen Tagen bie tiefempfundenen Worte bleiben,
die Schiller damals (1784) an Frau von Wolzogen richtete. Er
ihrieb ihr*: „So ein Geichen? von ganz unbelannten Händen —
3) Zul. Sartmann, Scilers Jugendfreunde. „1004. &; 190. —
3. Jonas, Schillers Briefe, VIL ©. — 3 9. ». Bradel im
— 1805, &p. Dt. Zat 1, ©, 100.
Baltifhe Monatslchrift 1906, Heft 4. 5
310 Schiller und 2ioland.
dur nichts, als die bloße reinfte Achtung hervorgebraht — aus
feinem andern Grund, als mir für einige vergnügte Stunden,
die man bei Leſung meiner Produkte genoß, erkenntlich zu fein —
ein jolches Geſchenk ijt mir größere Belohnung, als der laute Zu
fammenruf der Welt, die einzige fühe Entihädigung für taufend
trübe Dlinuten. -- Und wenn ich das num weiter verfolge, und
mir denfe, daß in ber Welt vielleicht mehr ſolche Zirkel find, bie
mid) unbefannt lieben, und fid) freuen, mich zu fennen, daß viel:
feiht in 100 und mehr Jahren — wenn aud) mein Staub ſchon
lange verweht it, man mein Andenfen ſegnet und mir nad)
im Grabe Tränen und Bewunderung zollt — bann, meine
Teuerſte, freue ich mich meines Dichterberufes und verföhne mich
mit Gott und meinem oft harten Verhängnis.” Es ift uns ein
ſchöner Gebanfe, dab es aud in unferm Heimatlande an ſolchen
„Zirkeln“ nicht gefehlt hat — jeit dem J. 1765 haben bie
Schiller hen Dramen ihm trene Anhänger in Niga ermorben —
und daß fein Andenfen auch heute noch bei uns gefegnet wird.
Zu den bitterfien und ſchwerſiten Prüfungen, die Schiller in
biefen Jahren durdhzumadyen hatte, rechnete er die Unmöglichfeit
feinen pefuniären Verpflichtungen Frau von Molzogen gegenüber
nachzufommen. Die befle Zeit feines Lebens fei ihm dadurch ver-
bittert, mandje Stunde zu einer Darterjtunde geworden. Als er
ben Don Carlos vollendet hatte, jollte das von den Theatern zu
erwartende Gelb zur Tilgung der ichwer auf ihm laſienden Schuld
benupt werben, daher die befonders eifrigen Bemühungen, jein
neues Werk an verfchiedene Theater zu verfaufen!. Das brachte
ihn aud in Verbindung mit Eigfried Gotthilf Rod:
Edarbdt?, ber damals mit Meyrer an ber Spite des Nigafchen
Theaters ftand und es zu einem wahren Kunftinftitute emporge—
hoben hatte. In Dresden halte er im Frühjahr 1787 perfönlic)
den Kauf mit Schiller abgeſchloſſen und follte für 100 Neichstaler
das Manujfript erhalten. Schiller hatte, wie er fdreibt?, eine
zweifache Edition fürs Theater entworfen, eine in Iamben, bie
andere in Proja. Diefe nicht für den Drud beftimmte Bearbei-
tung ertlärt Echiller für das Befte, was er „in Nüdfiht Heatra-
liſcher Wirfung (ohne Hilfe von Speftafel und Operndeforation)
1) Dal. z. B. Briefe I. ©. 368 f., 334, 350. — 2) Vol. über ihn die
„Düuftsierte Beilage" der Rig. Nundihau 1905 Ar. 1. — 3) Briefe 1, 334.
Schiller und Linland. su
hervorgebracht habe.“ — Es ift dieſe Äußerung um jo intereffanter
für uns, als das von Koch erworbene Danuffript des Don Karlos
in Proſa noch heute anf unferer Stabtbibliothet als ein teures
Vermächtnis unferes Dichterfürften aufbewahrt wird. Beſonders
wertvoll iſt es aber, weil Schiller bas Perfonenverzeichnis und
einige Rorrefluren mit eigner Hand eingelragen hat. Am Schluß
diefer Bearbeitung bezeugt Narlos die Unſchuld der Königin und
gibt ſich felbft den Tod.
Leider müſſen wir aus feinen Briefen! erfehen, daß ber fo
gelbbebürftige Dichter ungefähr ein Jahr auf das Honorar hat
warten mühen. In dem einzigen uns erhaltenen Edjreiben, das
Schiller in der Don Aarlos-Angelegenheit am 1. Juni 1787 an
Koch ſelbſt richtete, finden wir übrigens eine Heine, halb im Scherz
gehaltene Anfpielung auf eine Licbesaffaire, die damals vorüber:
gehend Scjiller in Aniprud genommen hatte?. Ihn hatte damals
die junge Gräfin Henriette von Arnim bdurd) ihre Majfiiche
Schönheit gefeflelt, aber unerfreuliche Familienverhältniffe und
wohl auch das Verhalten ber jungen Dame felbſt veranlaßten Schiller
die Beziehungen abzubredien. Es war etwa ein Monat jpäter,
daß er Rod) ſchrieb · „Als wir uns hier von einander trennten,
ift mir von einem Mädchen, das Sie gefehen haben, ber Kopf fo
warm geworben, daß ich Ihre Adreffe in Berlin darüber vergeffen
habe. Wir find ja allzumal arme Eünber, und Sie werden ja
mohl aud an die Zeit zurüddenfen, wo Eie von einem paar
Augen aus dem Konzept gebracht wurden. Alſo verzeihen Eie
mir.” Nach dem Ton des Vriefes zu urteilen, muß dem Dichter
die Trennung nicht ſehr ſchwer gefallen fein. Es dauerte aud)
nicht allzu fange, dah ihm vom Schidfal die Fran zugeführt wurde,
die ihm fein Leben lang eine treue Gefährtin fein follte. Doch
um das Glück eines eignen Hausftandes zu gewinnen, bedurfte er
einer geſicherten Stellung, wie fie ihm ein öffentliches Amt dar⸗
bieten fonnte: Schiller wurde Profefjor der Philojophie in Jena,
ſollte aber Geſchichte vortragen.
) Briefe I, &. 300; VII,
wird auger Nod) auch Bondini als
3 f. Im dem Segifter zu den Briefen
ufpielbirefior in Kiga bepeichnet. Cinen
fofcpen hat es m. M. nicht gegeben. Die Namen Yondini und Koch aus Riga
fieen. wohl in einem Beicle neben einander al jolhe, Die den Don Karlos
erworben haben, aber nur Ieyterer war aus ga.
#) Briefe I, ©. 344. DO. Harnad, Schiller, 2. Auft, 1905, S. 154 f.
*
312 Schiller und Piofand.
Wenn bie Arbeit am Don Karlos wohl die Veranlaffung
mar, daß Schiller ſich in die Gejchichte bes niederländiſchen Frei
Heitöfrieges verjenfte und als Hefultat feiner Studien uns fein
glänzendſtes Geſchichtswerk darbot, fo famen aber aud) dieje Studien
wieder feiner dichteriſchen Produktion zu gut. „Die Leidenjdaften
des öffentlichen Lebens, die Kämpfe um ber Menſchheit große
Gegenftänbe, um Herrihaft und um freiheit, jene mächtigen
Schickſalswandlungen, die über Bölferleid und Völfergröße ent:
fcheiben, boten feinem dramatiſchen Genius den natürlichen Boben !."
Es hat viel Verlodendes an fih, den Spuren bes Hiſtorikers
Schiller zu folgen und zu beobachten, wie er mit feinem Ber-
ſtändnis und weitem Blick die Vorgänge von weltgeſchichtlicher Ber
deutung ins rechte Licht zu rüden wußte. Wir baltijchen Hiftorifer
fönnen aud) viel von ihm lernen, indem wir immer mehr dahin
ftreben, auch unjre Provinzialgefdichte von einem großen univerfal-
geihichtlihen Gefichtspunfte aus zu bepandeln. Heute müſſen wir
uns aber eine Vertiefung in ſolche Gedanfengänge verfagen, ber
Hiftorifer muß vor dem Profeſſor Schiller in Jena zurüdtreten.
Jena — weld) ein eigentümlicher Zauber ummeht doch biejen
Namen! Welch ein buntes Bild entfaltet ji vor unfern Augen,
gebenfen wir des Jena, in dem nun Schiller feine Wirkſamleit
beginnen follle! Cs war eine Stätte hervorragender wiſſenſchaft-
licher Arbeit, regen geijtigen Sirebens, aber aud ein Tummels
plag froͤhlichen burfdjifojen Treibens und echter, oft überjdäumen:
der Jugendluft. Wir verfichen wohl die Mahnung jenes würdigen
Paſtors: „Dein Eohn, id würde dody nad) Jena gehn." Wir
Balten? fühlen uns aber vielleicht ganz bejonders zu Jena hinger
sogen, benn noch find bei uns die Traditionen nicht erlofchen an
jene Zeit, in der beim Mangel einer eigenen Hochſchule neben
Königsberg namentlid die Saale-Stadt unfern Vätern ihre Tore
gaftlich öffnete. Noch erinnert man ſich deffen, dab manche ftudens
tifchen Gebräude fid) gerade von Jena her zu unjerm Embad-
Athen verpflanzten. „Eingerechnet bie Rurländer” — erzählt ein
alter Jenenfer aus Livland vom J. 1797° — „waren wir unjer
N) Treitjchke, Deutfche Gejichte im 19. Jahıh. 1879, ©. 201. —
2) Im Jabre 1899 Hielt Mit. Bufch einen Vortrag „über die Beziehungen ber
Balten zur Univerfität Jena in den beiden Icpten Jahrzehnten de$ vorigen Jahrs
yundert5”, in deffen Manuffript cr mir freundlichit Cinficht geftattet Yat. —
) Jenaer Studentenleben 1797-98 in „Erzählungen meines Örofvaterd“ von
Qui. Edardt). 1883.
Stiller und Livland. 813
80-90, und id kann verfihern, daß wir feine üble Rolle jpielten.
Im Trinken taten es uns die Pommern zuvor, im übrigen aber
hatten wir feine Meifter." Von anderer Seite wird ben jungen
Livländern uachgerühmt, daß fie ſich vor den übrigen Mufenföhnen
durch Feinheit und Adel des Venehmens auszeichneten!. Mehrs
fach haben fie führende Nollen in der Burſchenwelt gefpielt, aber
aud) in der wiſſenſchaftlichen Arbeit, die fie ſpäter im Dienfte des
Heimatlandes vermerteten, ſich betätigt. An Anregung dazu fehlte
es nicht, denn in den Aubitorien der Univerfität lehrten damals
nicht wenige hervorragende Gelehrte. Zu ihnen gehörten auch zwei
angefehene Balten, der Mediziner Juftus Chriftian v. Loder
und der Chemiter Alexauder Nikolaus v. Scherer.
Scherer war damals nod) recht jung; erit im J. 1794
eröfjnete er als 23jähriger Dr. der Philofophie feine alademiſche
Laufbahn”. Ceine Vorlejungen, die er in Jena hur furze Zeit
hielt, aber ſpäter als Bergrat in Weimar fortjepte, follen recht
befucht gewefen fein, doch fcheint er feines Eharatters wegen bei
Schiller wenig Gnade gefunden zu Haben, Am 31. Juli 1798
ſchreibt dieſer an Goethe: „Dei Scherern, den id) geitern ſprach,
ift mir eine Bemerkung wieber eingefallen, die Sie mir voriges
Jahr über ihn machten. Es iſt eine ganz gemütloje Natur, und
fo glatt, daß man fie nirgends faſſen kann. Bei jolhen Naturellen
iſt es recht fühlber, daß das Gemüt eigentlich die Menfchheit in
dem Menſchen macht, denn man fi), ſolchen Leuten gegenüber, nur
an Sachen erinnern, und das menſchliche in einem: jelbft ganz und
gar nirgends hintun [fan]. Scheiling ift doch fein folder Dienich,
dent ich.” Wie weit Schiller bei diefer Charafterifierung Recht
hatte, entzieht fid meinem Urteil; ich möchte nur bemerfen, daß
Scherer in Dorpat und namentlich in Petersburg als Mademifer
eine recht verdienftwolle Tätigfeit entfaltet hat. Ein Biograph
fagt von ihm, daß er viel gearbeitet und gekämpft habe und daß
er fid durch feine natürliche Heftigfeit und unbiegjame Etreitfucht
1) Biltor Hehn. Karl Peterfen. Valt. Monatsiche. Bd. IT. 1880. —
2) Scherer ift ITTI in Petersburg geboren, befuchte die Rigaſche Domfchule und
ftudierte in Jena zuerit Theologie, dan Raturwifienfcaften. Nachdem er in
Jena und Halle afademiich tätig geweien, wurde cr 1804 Yrofefior der Chemie
an der meubegründeten Univerjität Dorpat, von wo cr bald wach Petersburg
berufen wurde. Sr üit er als ordentlicher Wademifr am 16. Oftober 1824
geitorben. Bgl. Nede-Rapiersty IV, &. 53 und Ally. deutſche Biograppie %b. 31.
— 3) Briefe V, ©. 413.
314 Schiller und Livland.
viel Feinde gemacht habe. Hatte Scherer es hiernad) jedenfalls
nicht verſtanden, ſich das Wohlwollen jeines berühmten Kollegen
zu erwerben, jo jdeinen mir auch die Beziehungen Schillers zu
Loder eigentlich nicht das Gepräge einer befonderen Herzlichleit zu
tragen. Freilich bin id) bei der Beurteilung derjelben zumeiit an-
gewieſen auf flüchtige Briefnotigen, eine direlte Korreſpondenz ſcheint
nicht ſtattgefunden zu haben. Dan gewinnt aber doch den Eindruck,
daß zwiſchen ben beiden Profeiforenfamilien wenigftens ein durchaus
freundſchaftlicher kollegialer Verkehr jtattgefunden habe. So jchreibt
Schiller wiederholt von feinen Beſuchen im Loderſchen Haufe und
bei jedem Anlaſſe werben freundliche Grüße überfandt. Wer war
aber Loder? Wie wenige Nigenfer wird es geben, denen diejer
Name mehr ift als blojer Rauch und Schall? Und doch gab es
eine Zeit, wo man bei uns ſtolz war auf diefen Sohn unferer
Vaterſtadt.
Loder iſt 1753 in Riga geboren. Sein Vater war der an—
geiehene hochgelehrte Rektor des Lyceums und Diafonus an ber
Iafobi-Rirche, Johannes Loder. An dem vom Dater geleiteten
Juftitute erhielt Loder feine erſte treffliche Schulbildung. Darauf
itudierte er in Göttingen und wurde Profefjor der Anatomie und
Chirurgie in Jena. Hier hat er 25 Jahre lang (1778—1808)
gewirkt und wurde ein berühmter Diann. Mit andern Profeſſoren
verlieh oder im I. 1803 Jena und ſiedelte nad) Halle über.
ALS diefes aber von den rangofen befeßt wurde, ging er nad)
Königsberg. wo er Leibarzt der föniglihen Familie wurde. Im
I. 1809 fehrte er nad) Rußland heim und hat noch viele Jahre bins
durch in Moskau in ſegensreicher Weile gelehrt und gewirkt.
Ausgezeichnet von der Negierung und hochgeehrt von Ruſſen und
Deutfchen, ift Loder als Greis von über 80 Jahren gejtorben!.
Garlieb Mertel, der ihn 1797 in Jena beſuchte, ſchildert Loder
als einen Mann, der mit dem vieljeitigiten Wiſſen und tiefem
Studium feiner Wiſſenſchaft noch eine fait jugendliche Lchhaftigfeit
im Spreden und Handeln verband. „Dabei war fein Benehmen
das eines in feiner Gejellichaft geihliffenen Weltmannes und edel:
finnig, jeine Unterhaltung geiftvoll —- und ſein Haus das glän-
gendjte in Sena.” Hier jammelten fid die berühmten Gelehrten,
3) Sl Dee Yiogralie I; 10. — 3) „Darfekungen und Charet.
teriftiten" ILS. 90. Simene S. 34.
Schiller und Livland. 315
die „den Hohen Ruf dieſes Stäbichens veranlaßten“ und unter
denen Loder nach Merkels Urteil der geiftreichlte, gebildetite und
liebenswürdigite war. Im diefem gaftlichen Hauje, in dem aud.
gerade Livländer ftets freunbliche Aufnahme fanden, werben ſicher
manche unferer Landsleute mit Schiller in Berührung gekommen
fein, wie auch, beiläufig bemerkt, Garlieb Merkel hier zuerjt mit
Soelhe zufammengetroffen ift — eine Begegnung, die allerdings
für die fpäteren Beziehungen dieſer beiden Männer verhängnisvoll
geworden iſt. — Mir befigen in unferer Stadtbibliothek ein wohl
nur wenig befanntes Büchlein, das ein verdienter vigafcher Schule
mann, Heinrid Karl Laurenty!, dem von ihm hodwer-
ehrten Loder zu deſſen 50jährigem Doftorjubiläum im Jahre 1828
gewibmet hut. Obgleich drei Jahrzehnte feitdem vergangen waren,
daß er unter Loders Proreftorat immatrifuliert worden war,
ſchildert er doch mit noch jugendlicher Vegeifterung, wie er „Augens
und Ohrenzeuge geweien jei des großen, ſiels wachienden Ruhms,
der allgemeinen Liebe, des ungemeiienen Beifalls, wodurch jein
Verdienſt in jeder Sphäre feiner vielfachen, rafilofen igleit
als Arztes, Naturforſchers, alademiſchen Lehrers, Schriftſiellers,
Vorſiehers der Univerſität belohnt wurde.” Er hat oft in feinem
Hörſaal neben Jünglingen auch Männer von jehr bedeutenden
Namen gejehen, und es iſt befannt, daß auch Goethe damals oft
ſchon am frühen Morgen durch den Schnee in die Vorlefungen
wonderte?. In dem Büchlein Laurenty’s hat mid) aber ein Ab—
fehnitt befonders gefefielt; er ift der Erinnerung an bie erfte
Piccolomini: Aufführung in Weimar am 30. Ian. 1799 geweiht.
Ich kann es mir nicht verfagen, ihn hier wieberzugehen :
„An jenem feſilichen Abend, als die erite Daritellung von
Schillers Piccolomini (damals noch ungedrudt alle Gemüter auf
Die glorreiche erjte Ericheinung hoch jpannend) in Weimar gegeben
wurde, umfaßte der nicht jehr beträchtliche Umfang des Theaters
in leicht überjehbarem, ent erleuchtetem Haume fait ohne Ausnahme
abi in gu
Nachdem er
a und Göttingen und fam IS1U als — nach Yitauen.
1 in Rurland Yehrer geweſen war, hat er von 1820-38 am
Rig. Gymnaſium als wiſſenſchaftlicher Lehrer und Dberichrer der Geſchichte und
fateinijcgen Spracie gewirkt. Wede-tapieräfy TIL, ©. 23. efidte des Gow.
Gymnajiums. 1888. — *) (dasdı), Eräplungen meines Grobuauis. &. 18.
316 Stiller und Lioland.
alles, was damals in einer felten reichen nnd glüdlichen Zeit
Beimar, Jena, Gotha, die ganze Umgegend diejer Gtädte —
Großes, Ausgezeichnete, Geift: und Kunſtreiches, Gelehrtes und
Treffliches an Lebenden beſaßen. Nicht Auguftus, nicht Efte
und nicht ber ſiolze Ludwig fahen je fo glängenden Hof
um fi) verfammelt, als Karl Auguſt, ber wahrhaft beutiche,
feines Namens werte Mufaget, an diefem Abend. Dieſes reiche,
febensvolle Bild muß ficher in dem Gemüt jedes unbemerkt
Schauenden, die Bedeutung ber einzelnen Gejtalten und des
Ganzen zu fallen nur einigermaßen Fähigen in der Gegenwart
ein erhebendes, unvergleichliches Gefühl erregt und eine freudige,
unverloſchliche Erinnerung hinlerlaſſen Haben. Dod) wen auch, wie
mid) da, das wiederholte ernfte überſchauen, die freudige Betrach-
tung jener bewunberungswerten Reihe vor dem Aufzug des Vor
Hangs und in ben Zwifhenaften angelegentlich beichäftigt hat, der
mühte dennody ein Virtuos in der Memonik fein und viel mehr
leijten fönnen, als Eimonides, der Erfinder jener Kunſt felbft .. .,
wenn er nad) fait 30 Jahren aus dem Gedächtnis ein Verzeihnis
jener Berühmten liefern wollte, ohne im Zuviel oder Zuwenig
beträchtlich zu fündigen. Doc) will ich derſuchen, einen Entwurf,
einen Schatienrih des Gemäldes zu geben, feft überzeugt, dab wohl
in meiner Umgebung, unter den Lejern dieſer Blätter mehr als
einer fein werde, ber jenen Abend dort mit mir feierte und fo
meine füdenhafte Darftellung zu ergängen, zu verbefjern vermag.
Was aber an jenem hellgejtirnten Himmel, am Logen:
firmament, Sterne der erften, zweiten und dritten Größe waren,
mag Jeder nad) Maß und Art feiner aſtronomiſchen Kenntnis ſelbſi
beurteilen. Dort, wo, wie am wahren Sternenhimmel, alles
Leuchtende, große und Heine Lichter, bunte Reihe machte, friedlich,
und aufprudjolos, alle von eimer Zentralfonne der Freude und
Feſtlichteit höhern Glanz empfangend, dachte Niemand an folde
Nangordnung. Daß nun die eigentlihen Sonnen, die gefeierten
Häupter und Glieder des Weimarſchen Fürftenhaufes, hier ohne
Ausnahme alle erihienen — Eine’, alles mild befebende, er
leuchtende, erfreuende, war damals nod) nicht an jenem Horizont
1) Wohl die Großfürftin Maria, die 184 als neue Erbpringeffin in
Weimar ihren Einzug hielt und der zu Ehren Sıhilfer „die Quldigung der
Künite” als Zeit
Schiller und Livland. 317
aufgegangen, zwei find glorreich untergegangen — daß jede derfelben
von einem befondern Nimbus leuchtender Trabanten umringt war, barf
nicht erft bemerkt werden. Im Focus ber Mittelloge fand neben dem
Stuhl der regierenden Herzogin, der Netterin ihres Landes, Schiller,
der König und Wirt bes Feſtes, häufig und freundlid) von der eblen
Fürftin begrüßt, viel mit ihr im Gefpräch, fait verlegen fcheinend,
immer und überall, wenn und wohin er auffah, fo vielen Bliden zu
begegnen, hödjit jelten fo fihtbar Vielen. In ber Nähe des großen
Herzogs, von ihm ausgezeichnet, als Leibarzt, Liebling und Ne:
präfentant ber Univerfität, der Gelehrten, Loder, in der Blüte
und auf ber Höhe bes Lebens. Herder und Wieland, wie
unähnlid) einander, gepaart durch Freundſchaft und gleihe Gunft
der Herzogin-Mutter Amalia, der Weimar den Anfang jeines
poetiichen Olanges durch jene verdankt, in ihrer Umgebung. Unter
den fürftlihen Eternen meine id aud) Dalberg, damals Coad-
jutor von Mainz, und den genialen und guten Ernit Auguſt,
Erbherzog von Gotha, den vorlepten Fürft feines Etammes
und Landes, geichen zu haben. Beide gehörten gewiß bahin als
geiftweiche Schriftfteller und gelichte Fürften. Jean Paul Fr.
Richter, ftill verborgen, doch von Vielen freudig begrüßt und
aufgeſucht, ſchien eine ſellene Erjdeinung hier zu fein, wie ber
ſchon alternde Ariftippus — Th ümmel, der fübliche. Vom deutſchen
Parnafjos waren nad hier anwejend: AM. Schlegel, 8.
Tied, Gries, die Dufen A. Jmhoff Fr. u. Wolzogen,
Soph. Mereau-Vermehren und Falk, weniger als
Dichter, als, was dod) gewiß eben fo viel wert ijt, als vortrefflicher
Maijenvater berühmt. Und Goethe? Der war nidt am
Himmel zu finden, fondern auf Erden — d. h. im Parterre, didht
an den Parfet:subselliis der Studenten — alfo ganz gefondert
von dem Glanz des Hofes, auf feinem Lehnftuhl, feinen Eohn auf
dem Schoß haltend, ſichtbar heiter den hohen Triumph feines
Freundes mitfeiernd, und nur zumeilen, wenn die Schaufpieler es ihm
nicht recht machten, fein Vihfallen halblaut äußernd. Da auch
war er ein großer und erfreulicher Ruhepunkt ber gebfendeten, er⸗
müdeten Blide, und nicht übel jagte Einer damals, Goethe oben
ſuchend und unten findend: „Weil er doch nirgend unter feines
Gleichen figen kann, fo gift es ihm gleich, wo er figt, wenn aud)
unter Greti und Pleti.“ Unter welchem Ehrentitel — denn jo
318 Sqiller und Lioland.
hießen ja die Trabanten bes poetiſchen Königs David — ber
Wigling wahrjdeinlih uns Studenten verftand. — Nod waren,
Schillers Jet mitzufeiern, von Jena gefommen jeine ſchwäbiſchen
Landsleute: der ehrwürdige Gries bach, zugleich fein Hauswirt,
der geiftreihe Paulus, ber geniale Schelling, und wohl
feiner fehlte der Jenaer Choragen und Meiſter, ben fehr gelehrten,
doch jtets in feinem Haufe verſchloſſenen, um die poetiſche Melt
wenig fi fümmernden Gruner ausgenommen. Es war ein
Feſt, zu ſehen und zu hören, wie bie Commilitonen im Partet ſich
umſchauend, einer dem andern die Anmwefenheit jeiner Idole und
liebfien Lehrer bemerfbar madjend, begeiftert leije zuriefen: ieh
da! mein Hufeland! Dein Start! Unfer Loder! Da
mein Feuerbach! Dort Fichte! Und mie viele freuten ſich,
die Oberpriefter aus Hellas und Latium, Shüß, Jacobs,
Boettider, Eichſtädt da vereint zu jehen. Unter den
Rommilitonen jelbft war mandyer ſchon damals geijlig ausgezeichnet,
wie der Tag und Nacht über Entdeckungen brütende, jdon bes
rühmte Phyfiler Nitter, wie Koſtner, Froriep, Winkel:
mann, Brentano, Trorler, Schelver, Ait, Krauſe,
Panſner. Doch wer vermag, wie gefagt, nad) 30 Jahren eines
ſolchen Pantheons und Pandämonions — im guten Einn, benn
böje Geiſter Habe id nicht bemerft — Katalog volljtändig zu
liefern. Wer fönnte die deos minorum gentium aus allen
Tempeln und Fafultäten alle merfen und aufzählen, die doch auch
alle ihre Anbeter hatten. Mer fönnte aud) mandyen trefflichen
Diann, des Mitzählens wert, nicht vergeffen, von jo viel Glanz
geblendet. Freute ſich doch mander, ben Schöpfer feines ger
liebten Ninaldini aud) da zu fehen; nos poma natamus!
Auf der Bühne jelbit eridienen in den Hauptrollen, derfelben
würdig, Graff, Shall, Vohs, Dem. Jagemann. Die
Studien und Proben hatte Goethe geleitet.
Und wie mag dem gefeierten Schiller zu Mute geweien
fein an jenem Abend, bei den oft wiederkehrenden, gewaltig
raufhenden Stürmen des Beifalls, des Entzüdens, vor jolden
Beugen, von ihnen ausgehend, von ihnen erneuert, geleitet! [Es
folgt ein längeres Gedicht.)
Gewih verließ an jenem Abend jeber Jüngling den geweißten
Tempel der Kunſt, — jdied von dem Feite des Hochgenuſſes jeder
Schiller und Livland. 319
freubetrunfen, begeiftert und fühlend, er fei gewachſen plöblich,
um viel, an Mut und Kraft, entſchloſſen, num auch zu verfuchen,
was jein Flug zu erreichen, feine Edjultern zu tragen vermöchlen,
um einjt vielleicht in ſolcher Reihe eine würdige Stelle einzunehmen,
vielleicht joldhen Triumph zu feiern!”
Der Abend endete übrigens, wie ber begeijterte Laurenty
weiter berichtet, mit einem feinen Etrife der Jenaer Wagenlenter,
die des langeu Wartens müde ſich weigerten beim friichgefallenen
Schnee die Heimfart anzutreten. „Durd) biefen Rutichertrog wäre
denn beinahe eine umjäglide und heilloje Unordnung in den ge
lehrten Studien des folgenden Tages entitanden, denn fait alle
Kutheder wären ohne Lehrer und die Hörjäle leer von Zuhörern
geblieben.” Loder aber ſehle die Fahrt dad) durd und gebot
feinem Wagentenfer, „das zu fein und zu tun, was er jelbjt, freir
lich in andern und höhern Negionen, war und tat, nämlid) der
der erjte zu fein und die Bahn zu brechen.“ Ihm folgte daun
die ganze fröhliche Karawane.
Ich muß geftehen, mir hat diefe Schilderung viel Freude
bereitet und id) kann es mir nicht anders vorjtellen, als daß der
Verfafler als Lehrer gewiß auch oft der aufhordenden Jugend im
Nig. Gymnaſium aus dem reihen Schay feiner Grinnerungen von
jenen Tagen erzählt haben wird, die er in Weimar und Jena hatte
erleben dürfen. Welde reiche Anregung mußte aber damit dem
heranwachſenden Geſchlecht in Niga geboten werden!
Die Verehrung, die Laurenty für Schiller hegte, wurde von
der ganzen Studentenſchaft geteilt. Das „Bivat“, das man ihm
am Tage feiner Antrittsvorlefung gebracht hatte, leitete in beiter
Weiſe die jtets freundlichen Beziehungen zu den Jenenfer Burſchen
ein. As Schiller zum erjten Dal nad Jena kam, erklärte er!:
„Daß die Studenten hier was gelten, zeigt einem der erſte An:
blid, und wenn man fogar die Augen zumadte, könnte man
unterjceiden, daß man unter Stubenten geht, denn fie wandeln
mit Schritten eines Niebefiegten.* Wie j—hon aus diefer Äußerung
hervorgeht, hat Schiller ben burjchifofen Übermut ber Jenaer Studenten
damals — und fo hat er es auch jpäterhin getan — mit einem gewiſſen
überlegenen Humor betradjtet, und wenn er aud) den allgemeinen
2) Briefe T, ©. 401.
320 Schiller und Lioland.
Stubentenangelegenheiten fein beſonderes Intereſſe widmete, To
mußte er doch die Herzen der Jugend für fid) zu gewinnen. Hatte
Schiller ſchon durch feine Werke die Begeifterung der Jugend
erwedt, jo vermochte er fie auch gerade im gefelligen Verkehr durch
hinreißende Liebenswürdigfeit zu gewinnen. Noch aus feinen legten
Lebensjahren ſchildert Heinrich Voß der Jüngere eine Feitlichfeit, an
ber er teilgenommen, und ſchreibt von Sciller!: „Du glaubft nicht
und fannft es aud gar nicht begreifen, wie liebenswürdig der
Mann war, wie ein Jüngling von zwanzig Jahren, fo ausgelaſſen
fröglid, fo unbefangen in feiner Freude, fo offen, teilnehmend.
Der Champagner fepte ihn gerade in die Stimmung, in der er
das Lied an die Freude muß gemacht haben. Ein ſolches Wohl:
wollen und inniges Freundidaftsgefühl, eine ſolche Treuherzigleit
fannjt Du Dir gar nicht vorjtellen. — — — Ich wollte, daß ich
Dir eine gewiſſe Miene von Schiller beichreiben fünnte, die ihm
in herzlichen Augenblicken eigentümlid it und den Abend gar
nicht verliej. in eignes Gemiſch von Schalthaftigkeit, Wohlwollen
und das mit unendlicer Anmut verbunden. Vod) wer bejdreibt
fo etwas!” Wenn Voß einmal erklärte: als Dichter liebe er ben
Mann, aber als Menſch jei ihm Schiller noch unendlich lieber, —
fo fand das Wort bei allen denen, bie ben Dichter in feinem Fumilien-
freife näher getreten waren, einen Widerhall. Dieſes Glück ijt
aud zwei jungen Lioländern: Guſtav VBehaghel von Ablersfcon
und Karl Graf zuteil geworben.
Guſtav Behaghel von Adlerstron war feineswegs
eine befonbers hervorragende Perfönlicjfeit, und fein Name ift, wie
Dberlehrer 9. Diederichs, der alle ihn betreffenden Nachrichten
ſorgfältig gelammelt hat, wohl richtig hervorhebt?, nur deshalb
der Vergeffenheit entriffen worden, weil „ein günjtiges Geſchick
ihn zeitweilig mit einem Unjterblien in Verührung gebracht Hatte.“
Adlersfron, ber 1767 auf dem liol. Gute Friedrichehof geboren
it, war im ruſſiſchen Militärdienfte bereits zum Kapitän der Garde
avanciert, als er 1788 auf einer Neife in Deutſchland deu Ent-
ſchluß ſaßte, feine bisherige Laufbahn aufzugeben und fi mit
wiſſenſchaftlichen Studien zu beichäftigen. Während er 1Y/2 Jahre
13°, Soctbe und Schiller in Briefen von Heinrich Voß dem jüngeren“,
drag. von Dr. Yuns Gerhard Gri. Leipzig. Necam. — *) „Ein Yioländer
aus Scillers Sreundeskreife.” Riga 1901.
Schiller und Lioland. 321
in Jena, mo er den Namen Le Bon annahm, lebte, war er nicht
nur ein eifriger Zuhörer Schillers, fondern wurde aud) ein treuer
Freund des Haufes, der während einer ſchweren Erfranfung bes
Dichters ſich jo eifrig am der Pflege beteiligte, daß die ganze
Familie ihn liebgewann. Als er fpäter nad) Stuttgart überficdelte,
hat er dort auch mit den Eltern Schillers in freundſchaftlichem Ver⸗
tehr geftanden. Ablerskron jah in Schiller fein Mufter und feinen
Meifter, er nennt ihn den Wohltäter feiner Seele und kann nicht
Worte genug finden, um Schiller und feiner Gattin zu banfen,
daß fie ihn ihrer Freundfhaft gewürdigt hätten, aber aud für
Karoline, die Schwägerin Schillers, hatte er eine ſchwärmeriſche
Neigung gefaßt. Als er auf feinem jpäteren Lebenswege, ben
wir Hier nicht weiter verfolgen können, von mandem Mißgeſchick
betroffen wurde, da fand jeine treue Anhänglichfeit Vergeltung.
Schiller und die Seinen bemühten fi eifrig darum, ihm eine
Stellung zu verfhaffen. So hat er ihn z. B. aud) jeiner Freundin
Charlotte Kalb als Hofmeiſter für ihren Sohn empfohlen (1793).
Aus der Anftellung wurde nichts, aber Charlotte Kalb hatte doch
lebhaftes Intereife für den jungen Kivländer gewonnen unb er:
fundigte ſich noch 1—2 Jahre jpäter nad ihm. Da Adlersfron
ſich in Deuiſchland nicht halten Fonnte, fehrte er zu Fuß in die
Heimat zurüd. Hier föhnte er fid) mit feiner Familie, mit der
er fi überworfen hatte, aus und Irat in den Landesdienjt. Sein
weiteres Leben iſt in Wohlſtand und Behagen verlaufen und erſt
im hoben Alter von 75 Jahren it er im 3. 1842 in Friebridss
hof geitorben. Leider haben wir gar feine Nachrichten darüber,
ob er auch von ber Heimat aus bie alten Beziehungen zum
Schillerſchen Haufe unterhalten habe.
Adlerokron wurde geiftig bei weitem überragt von Karl
Gotthard Graf, ber 1786—90 in Jena Theologie jtudierte,
aber viel mehr Hinneigung zu fünftlerijhen Beſchäftigungen hatte,
als zu feiner Wiffenfehaft, der er fid nur außerem Drude folgend
gewidmet Hatte. Dan hatte die auf die freie Entfaltung ber
Perſonlichteit gerichtete Geijtesbewegung ber Sturm: und Drang:
periode in Pivland noch nicht erfaßt. „Daß es ein von Gtand
und Beruf unabhängiges, rein fünftterii—hen Veitrebungen aus
ſchliehßlich fi) widmendes Dafein geben könne und dürfe, blieb den
Männern in Amt und Würden, dem Adel und den Patriziern
677 Schlller und Livland.
ber Stäbte hier fange unbegreiflich!." Auch in das Leben bes
zum Künſtler geborenen, aber zu einem paftoralen Beruf gedrängten
Graß war badurd) ein Zwiefpalt Hineingetragen, bi er ben mann-
haften Entſchluß fahte, die bereits angetreiene Pfarre aufzugeben
und feinem inneren Berufe zu folgen. Vielleicht hängt es doch
mit biefem feinem Entwidelungsgange zuſammen, daß er in feinem
Charakter und in feinem Wirken etwas unftät geweſen fein foll
und daß er dazu neigle, feine Kräfte in zu verſchiedene Richtungen
zu zerſplitiern.
Es iſt unmöglid, Einzelheiten aus dem Leben dieſes
intereffanten Mannes, den Grotthuh „als einen der vornehmiten
Vertreter ber klaſſiſchen Literaturepoche in den balliſchen Provinzen”
bezeichnet, Hier anzuführen®, aber daf er deſſen wohl wert wäre,
geht ſchon aus Schillers Urteil über ihn hervor. Am 10. April
1791 fchrieb Diefer an Körner’: „In eben diefem Sommer werde
ich Dir noch einen andern jungen Dann ſchicken, der did als
Künftler intereffieren wird. Es iſt ein Livländer, Namens Graf,
der ſich einige Jahre in Jena aufhielt, um da Theologie zu
flubieren. Darin hat er es nun nicht weit gebracht, aber deſio
weiter im Zeichnen und Landſchaftomalen, wozu er ganz außer:
ordentlich viel Genie befigt. Goethe hat ihn Fennen lernen* und
er verficherte mir, daß er die Anlage zu einem vortvefflichen
Maler in ihm finde. Im vorigen Sommer machte er eine Erkurfion
in die Schweiz, von wo er ganz begeiftert zurüdfam. Cr wid
Dir einige Schweizerlandfchaften zeigen, die er aus der Erinnerung
binwarf, vol Kraft und Leben, obgleich nichts weniger als ausger
führt. Dabei Hat er große Talente zur Poeſie, wovon Du im
nächften Stück der Thalia eine Probe leſen wirft. Er ift ein
herzlich attachirtes Wefen, wo es ihm wohl it, fein Auferliches
verrät in jebem Betracht das Genie."
Nicht ohne Intereiie ift es, dah Schiller in diefem Briefe
von ber ſich im Wort und Bild äufernden Begeiſterung ſpricht,
bie Graß für die Echweiz hegte. Der erite Band ber „Neuen
1) (Diederichs), Briefe von Karl Grab, dem Maler und Dichter. Kiga 130h.
— 2 Xgl. über ihm Allg. deutiche Biographie Bd. IX. Siners, Deutihe
Dichter in Rußland. Verlin Neumann, Baltjde Maler und Vild-
Hauer des 19. Jahrhunderis. Higa 1902. Fr. Vienemann jun., Aus Tagcı
büdhern und Briefen des Malers Karl Graf. Vain Mon.
®) Briefe IT, S. 142. — 9) Vgl. die Schilderung des Veſuches. den Grab bei
Goeihe made, bei Vienemanı a. a. D. &. 288.
Säller und Sioland. 923
Thalia” (1792) brachte zwei Gebichte „eines jungen Malers”, in
Karl Graß erfennen: „Der Rheinfall” und „Erinnerung
weis”. In dem leßleren preift ber Dichter voller
Enthufiasmus die Schönheit und Freiheit „des Landes ber Telle
und ber Winkelriede“. Sollte Schiller, als er viele Jahre fpäter
von neuem auf die Schweiz und ihren Nationalhelden hingelenft
wurde, fih nicht auch erinnert haben ber jugenblich begeifterten
Schilderungen feines Freundes Graß?
Grab hatte bereits 1786 Schiller in Dresben fennen gelernt
und mar fpäter um feinetwillen länger, als er beabfidhligt hatte,
in Jena geblieben. Er wurbe mohl bald, ebenfo wie Ablersfion,
ein echter Hausfreund ber Schillerjchen Familie nnd hat an Leid
und Freude berfelben Anteil genommen. Auch er hat, wie bie
andern Freunde, bei der Pflege des leidenden Schillers, „der wie
ein Sofrates auf feinem Aranfenbette mit mir auf Wiederſehen
anftieß und mich bis ins Innerite dadurch bewegte,“ manche ernfte,
aber aud) erhebende Stunde durchlebt, die ihm unvergeßlich blieb,
und auch er hat es freudig bezeugt, daß Schiller in nachhaltigiter
Weile fein ganzes Leben beeinflußt Habe. Man braucht nur die
Briefe zu leien, die Graß zum Teil noch nad) jahrelanger Trennung
an ben Dichter und beien Gattin richtele, um zu begreifen, welch
ein mächtiger Zauber von dieſer Perfönlichfeit ausgegangen fein
mu. — Bald nachdem er Abſchied genommen Halte, um in die
Heimat zurüdzufehren, fchrieb er (3. Juni 1791): „Ich fühle
e8 mit gerührtem Herzen, wie viel id) Ihnen zu danken habe, und
wie von Ihnen erwärmt und ermuntert meine Seelenkräfte höher
ſich zu heben jirebten. Daher fann ich jagen, daß Ihr Verluft
mir unerſehlich iſt, weil nie ein Menſch bas über mich vermochte
und das in mir wirfte, mit diefem hohen Gefühl für jede Ver-
eblung mich bejeelte, wie Cie, teuerfter Hofrat. Daher werde ih
aber auch nie die Stunden vergeſſen, in melden id, wenn auch
furdtfam, Ihnen nahte, und die Wehmut, die mic) ergriff, als
ih zum legten Mal auf dem Stuhl gelehnt Sie fumm betrachtete,
wird noch oft mein Auge feuchten.” Und als er in Libland
ſchwere Gewiſſenskämpfe durchzumachen hatte, da wandte er fi
(1795) wieder an jeinen Freund und bat ibn’: „Wenn es Ihnen
1) „Charlotte von Schiller und ihre Freunde”, LIL Yo, 1865,
— Na D. ©. 10.
324 Stiller und Livland.
nicht zu viel Zeit raubt, fo antworten Sie mir nur etwas, das
auf mein zufünfliges Leben Beziehung hat. Cs wird ein Feuer
funfe meiner Seele ſein.“ Voller Begeifterung erflärt er ihm:
„Sie vermögen unendlid) viel über mid) und meine Liebe für
Sie ift eine Art Schwärmerei. .. Ich werde und fann Sie nie
vergefjen. In ber Geſchichte meines Geiftes und Herzens und
meiner ganzen Humanität komme id) immer auf Sie zurüd.” —
Diefe Worte waren feine leeren Phraſen; fie famen aus einem
übervollen Herzen, und die warme Empfindung, die fie hatte laut
werben Iaffen, blieb unaustifgbar. Noch 9 Jahre fpäter ſchrieb
Graf (1805) an Charlotte Schiller!: „Es iſt doch für mic) gewiß
und ausgemadht, daß feines Menſchen Worte und Gebanfen jo
fühlbar meine Seele — leider fann ich nicht fagen meinen Geift
— aufgeregt hätten, wie die feinigen [Cdjillers]. Hätte ein
lebendigerer Funfe in mir aufgeregt werben lönnen, jo hälte es in
feiner Nähe geſchehen müſſen. — — — Aus biefer Liebe und
unbegrenzten Achtung für Schiller fann ich's mir aud) erklären,
warum ich nie Bedenken getragen hätte, mit allen meinen Blöhen
vor iller zu erſcheinen. Selbſt mein Todesurteil hätte mich
aus feinem Munde nicht erſchreckt,“ Und wie herzbewegend ift bie
Rlage, in die Graß ausbricht, als er die Nachricht vom Tode
Schillers erhalten hatte?: „Ich bin ftumm und meine Bruſt iſt
wie der lauflofe Stein. Die Welt ift mir verödet und jo gleich:
gültig, daß ich mitten unter der Unruhe der Menſchen beinahe
furcht· und gebanfenlos umherwandle. .. Sie willen, wie ich
ihn liebte, und jelbjt meine Klage um ihn wird Ihnen tröſilich
fein. Rann man etwas anderes fun als Elagen, daß aud) das
Vortrefflichfte hienieden nicht dauern fann? Aber fanft und
melodifch ſei die Klage um ihn, deſſen Seele fo ganz Harmonie
war. Entweihung feines Andenfens bünft mid) jede zu laute
Äußerung des Schmerzes über fein Worübergehen.” Eine wehe
mütige Freude bereitele es Graßz, daß er furz vorher einen Brief
Schillers erhalten hatte, der mit den Worten ſchloß: „Ich ums
arme Sie mit der herzlichſten Liebe und jehe einem Worte bes
Andenkens mit Sehnſucht entgegen.” Ihm erſchien es fo, als
kämen diefe Worte aus einer andern Welt herab. Diefer Brief
a. a. O. S. 18. — 2) 4. 4. O. Sr
Schiller und Lioland. 325
Schillers vom 2. April 18051 bemeift, mit welcher Treue und
welchem teilnehmenben Herzen er bie Schickjale feiner Freunde ver-
folgte. Da er meines Wiffens bei uns nod wenig befannt iſt,
möge er hier im Wortlaut folgen:
„Wie jehr fürdte ich, mein werter, teurer Freund, daß mein
langes Stillſchweigen auf Ihre lieben Briefe, die von einem fo
werten Andenfen begleitet waren, Ihnen eine feltfame Meinung
von mir mödjle beigebracht haben. Aber da ich Ihr Paket mit
der Zeichnung erhielt, war ich gefährlich krank und meine Frau
lag eben in Wehen, fo daß ich für alles andere unfähig war.
Und fo war es leider auch den größten Teil bes Winters, unter
deſſen Strengigfeit meine ſchwache Natur bald erlegen wäre. Yeht
mit eintrelendem Frühjahr fömmt bie Heiterfeit und ber Lebensmut
zurüd, und fo wie die Erbe ber Sonne, öffnet ſich auch die Seele
der Freunbfhaft wieder.
Ich fange alfo damit an, Ihnen aufs herzlichite für Ihr
Andenfen an mid, für Ihr fortdauerndes Vertrauen zu mir zu
danken. Wahrlich, Ihr Andenfen ift immer frifh und febenbig
unter uns, und innig rührt es uns, daß auch Sie unſrer benfen.
In diefer Zeit hat fich freilich viel bei uns verändert, mein Haus
it lebendig geworben, und Sie würden ſich wundern, wenn Sie
meine Söhne fähen, davon der älteite jeht bald zwölf Jahr alt ift.
Viel Freude habe ich in diefen 12 Jahren erlebt, wiewohl
aud) viel durd) Krankheit gelitten, aber der Geift ift doch immer
frilch geblieben.
Ihre Zeichnung hat uns einen fehr angenehmen Beweis
Ihrer Fortihritte in der Kunſt gegeben, und gewiß würde es nur
von Ihrem beharrliben Willen und von ber Entfdiedenheit Ihres
Sntfchluffes abhängen (dev jept noch zwifchen Poefie und Dialerei
hin und her zu ſchwanken fcheint), es in ber Kunſt zur Mleifter-
{haft zu bringen. Cine fCöne Phantafie belebt Ihr Wert, es hat
Geift und Anmut, und vielleicht mangelt es ihm weniger an den
höheren Eigenjchaften, welche die Natur allein gibt und der Fleiß
nie erwirbt, als an gewillen mechaniſchen, die fih durch anhaltende
Übung erwerben Laffen. Ic faun von Ihrem Gedichte ohngefähr
das mänliche in Mbficht auf bie poelilchen Forderungen jagen,
Seele und Gefühl atmet darin, wie es in allem ber Jall jein
wird, was Sie maden. Aber der Sprache fehlt es an Beltimmt«
heit, Sicherheit und Korrektheit und dem Ganzen noch die legte
Sand. Ihr Aufenthalt in Ztalien, der Ihren malerischen Fort:
ichritten günftig ift, wird Ihren poetiſchen Arbeiten nachteilig fein,
!) Briefe VIL, S. 222. Pienemann gibt an (S. 307), daß er verloren
gegangen ei. Es war damals diefer Yand der Briefe gm noch nicht befannt.
Baltifhe Momatafcrift 1005, Heft & 6
326 Stiller und Sioland.
meil Cie in bdiefer Entfernung mit unfrer Dichterfprahe nicht
wohl gleihen Schritt Halten fönnen, die in beftändiger Geftaltung
und Umftaltung begriffen it. Ich würde alfo, wenn ich mid) in
Ihre Seele vertepte, raten, Ihre Partie zu ergreifen, unb entweber,
wenn Sie in alien bleiben, ganz und ausicdhliegend der Land:
ſchaftsmalerei fich hinzugeben, oder wenn zu der Poefie die Nei-
gung ftärfer ift, Italien zu verlaflen und in Deutichland beutiche
Poeſie zu treiben. Zwiſchen beiden aber, glaube id, müffen
Eie eine Wahl treffen, weil fonohl die Malerei als bie Poeſie
ihren Mann ganz fordert, und bier feine Teilung möglich ift.
Faſſen Sie bald Ihren Entſchluß, und unwiderruflich, denn das
Leben hat einen furgen Lenz und bie Kunft iſt unendlich.
Laſſen Sie mid willen, ob ich Ihren „Fels von Felfenftein“
etwa zum Drud in den Gottaifdien Kalender geben darf, an bem
auch id arbeite. Ich denke, baf; man gern ein annehmliches
Honorar dafür bezahlen wird,
Mie gern, mein lieber Freund, verfegte ich mich zu Ihnen
unter Ihren ſchönen Himmel, in Ihre herrliche Natur und an Ihr
eigenes liebendes Her), wenn ber Körper fo leicht den Wünſchen
folgen fönnte. Aber ein unermeßlicher Raum liegt zwiſchen uns
und ic fann mit meiner Geſundheit feine ſolche Probe machen.
Id) umarme Sie mit der herzlicien Liebe und fehe einem
Worte des Andenfens von Ihnen mit Sehnſucht entgegen.
Ewig der Ihrige
Schiller.
Außer Behaghel von Adlerskron und Karl Graß wird nur
noch gelegentlich von lehterem ein Noltbeck als Beſucher des
Schillerſchen Hauſes genannt!. Es muß das Nikolaus Bern
hard von Nottbed, ber in jenen Jahren in Jena Medizin
ftubierte und fpäter als Arzt in Nußland gelebt hat?, gewefen
fein. Auch Garlieb Merkel, der 1796 nad) Jena gefommen
war, hat damals als Überbringer eines Briefes von Karl Graß,
Schiller aufgeſucht und dann fpäter noch einmal dieſen Beſuch
wiederholt. Er ſelbſt hat über dieſe einzige perſönliche Berührung,
die er mit dem großen Dichter gehabt Hat, im 9. 1812 in ben
„Skizzen“ und im 9. 1840 in ben „Darftellungen und Charak-
teriftifen” Vd. II. Bericht eritattet. Das erſte Mal fand Merkel
Schiller frank, erjhöpft und mißlaunig, beim zweiten Bejud vers
brachte er mit ihm eine halbe Stunde im lebhaften Gefpräd in
feinem Garten. Diefe einfache Tatfahe gibt Merkel in den
) Bienemann a. a. ©. ©. 300. — 2) Nede-Napiersty, III, S. 320.
Schiller und Liofand. 37
„Skizzen“ Weranlaffung zu einer, wenn aud nicht einwandfreien,
fo doch fehr anerfennenden Charafterifierung des Dichters, während
er 28 Jahre jpäter die Gelegenheit nicht vorübergehen laſſen kann,
ohne recht gehäffige Bemerkungen gegen Schiller und Goethe ein
zuflechten. Auch hier bemahrheitet fid, was ſchon im 9. 1887
ein Kritifer ausſprach!, daß die früheren Niederfchriften Merkels
unbefangener find, während bie fpäteren immer ftärfer alle Schatten»
feiten feines Wefens fundtun. Erſt im zweiten Bericht fieht ſich
Merkel gemüßigt, die körperliche Erſchöpfung Schillers in Zu:
fammenhang zu bringen mit feiner unregelmäßigen Lebensart, mit
nãchtlichem Rartenipielen, Begeifterung durd Wein ıc. Trotzdem
verwahrt er fi) gegen ben Vorwurf, er habe eine feinbfelige Ge
finnung gegen Schiller gehegt, unb erklärt, daß er ben Dichter
bewundert habe, daß aber der Menih ihm gleichgültig gemefen
fei. Wie anbers dachten doch alle diejenigen, bie unter bem Zauber
bann der Perfönlicfeit Schillers geitanden Haben! Wie mwurbe
doch gerade der Menſch Schiller von jo Vielen und mit Recht
geliebt! — Ueber Merkels Stellung zu den Geiftesheroen feiner
Zeit ift bereits fo häufig geſchrieben worden, daß ich mir wohl
erlauben darf, über dieſes unerquidliche Thema an dem heutigen
Gedenftage Hinmweggugehen, zumal die Zeit e8 nicht erlaubt, basfelbe
auch nur einigermaßen erfhöpfend und in einer beiben Teilen ger
recht werdenden Meife zu behandeln. Wie irreführend das Urteil
über Schiller in dem Merlel'ſchen Kreife war, bafür nur einen Beleg.
In demfelben Jahr (1804), in dem Schiller jchreiben fonnte®,
daß „felbjt Merlel, der immer mit mir im Streite lag, ben Tell
mit vollen Baden angefündigt habe?“, bulbete biefer — es war
menige ‘Donate vorher — in der von ihm herausgegebenen Zeit
ſchrift „der Freimüthige ober Ernft und Scherz” eine —dt ge
zeichnete Anzeige ber Schillerſchen Gedichte, in welder ber Dichter
in möglicjft falſcher Weiſe beurteilt und als Einer, ber den Höhe
punft feines Nuhmes längft überfchritten habe, bezeichnet wurbe*.
1) Higafehe Zeitung 1897, Mr. 93. — 2) Briefe VIL ©. 170. —
®) Zol. die in der Zat „von Enthufiasmus erfüllte“ Rritit im „Sreimütigen“
1804, Rr. 135. — 4) 1804 I: — Februar, Rr.20, 21, 24. In der Nr. 66
efen wir folgende Bemerkung: „Man dat von vielen [häfbaren Seiten her dem
Redakteur verbindliche Sacyen über die Beurteilung Schillers und ein paar andere
mit „—.” umercnte Muffe gefag, weil man Ihn für den Befafer ber
felben So angenehm ihm auch) eine folde Bermedjstung üt, fo glaubt er
dos) feinem Freunde die Ertlärung jquldig zu fein, daß man fi ist. Herr
o*
338 Schiller und Sinland.
„Auch Schiller verliert” — jo heißt es bafelbft — „menn man
ihn- mit ſich ſelber, — das Jept mit dem Einft vergleicht. Schon
im 9. 1795 fing die Blüte feines Geiftes an zu melfen, mit
jebem neuen fanfen einzelne Blätter, und nun! — Es liegt am
Zage, daß Schiller ſich von dem Augenblid an, wo er feinen
Ruhm völlig gegründet fah, zu vernadjläffigen anfing, feſt ver-
trauenb: man werbe nunmehr felbft feine Fehler preifen, wie benn
auch wirklich von einigen Zeitfchriften lächerlicher Weife geſchehen
iſt.“ Wer Schiller nur einigermaßen fennen gelernt hat, wird
eine folhe Beurteilung bes rafılos vorwärts jirebenden unb bis
äufept an fid) arbeitenden Dichters nur als ein Ruriofum betrachten.
Was foll man aber dazu jagen, wenn Frau Karoline Herder das
mals gerade an Merkel ſchriebi: „Wie hat fid ber Freimüithige
unter Ihrer Hand gehoben! Das Urteil über Schiller ift wahr,
das fagen auch fogar feine Anhänger: Wer ift dieſer Dann voll
Geift und Verſtand?“
Auch mit zwei in unſerm Heimatlande oft genannten Frauen
ift Schiller, wenn auch nur in flüchtige Berührung gefommen.
Im 3. 1802 machte er „in der Komödie“ die Velanntichaft der
anmutigen Herzogin Dorothea von Kurland, nachdem. er
fait ein Jahrzehnt früher mit ihr bereits Grüffe ausgetaufcht
hatte?, Er bezeichnet fie als ein jehr „angenehmes und reigendes
Geſchöpf.“ Weniger ſympathiſch ſcheint ihm bie Schwefter ber
Herzogin, Elife v. d. Nede, gewelen zu fein, die er übrigens
perſonlich kaum gefannt haben wird, obgleid fie im J. 1788
allerbings 2 Tage in Weimar war. Sie war damals mit ihrem
bisherigen Freunde Yavater in Folge ihrer Schrift über Caglioftro
ganz auseinandergefommen und hatte mit ihm einen heftigen
Briefwechfel gehabt. Schiller urteilt über benfelben in recht
ſcharfen Worten?. Ein Jahrzehnt fpäter unterzieht er fich offenbar
nicht mit großer Vegeiterung ber Arbeit, ein „voluminöfes Schau
ſpiel“, das ihm Elife v. d. Rede „mit der Plenipotenz zu ftreichen
—dt. iſt din junger Mann von ausgezeidäneten Talenten, ber in Sachſen Icht.”
— Tiefer 2. Jahrgang des „greimütigen" (1804) foll in Deutfchland nur fchmer
anfauzeiben a: So erflärt 3. B. Roberjtein (Grundriß der eich. ber beutfchen
©. 2508, - 2 z a ihn fich nicht verihaften
Ant, Aut Baltifche Aufturftubien
®) Briefe IL, ©. 148,
289.
B ©. 3
153. Bol. Nadel, Elife o. d- iede. 1oo2. 1
Sqiller und Lioland. 329
und zu zerftören“ zugejandt hatte, für die Horen umzuarbeiten.
„Daß jo moralijhe Perfonen“ — jcreibt er Goethe! — „ſich
ung Kegern auf Onade und Ungnade übergeben, bejonders nad) dem
fo lauten Xenien-Unfug, iſt immer eine gewiſſe Satisfaftion.“ —
Nod eine andere Werfönliceit, die zu Kurland in Beziehung
treten follte, hat Schiller in jenen Jahren kennen gelernt. Es
war der von der Herzogin als Profeſſo der Geihichte in Mitau
angeftellte Friedrid Schulg, der in Aurland aud eine
politiſche Nolle geipielt hat. Er wird von Aug. Seraphim als
ein geiftreiher, aber uniteter und lüderlicher Mann bezeichnet.
Schillers Urteil ftimmt mit dem Eeraphims ganz überein. Er
nennt ihn einen Menden von Kopf, jatiriihem Beobachtungsgeiſt
und vieler Laune, einen amüjanten Geſellſchafter und gewanbten
Vielſchreiber. „Schultz weis“ — To ſchreibt er einmal, „sehr
unterhaltende PBartifularitäten von dem Aufruhr in Paris zu ere
zählen, gebe der Himmel, daß alles wahr ift, was er fagt! Ich
fürchte, er übt ſich jept im Worlügen jo lange, bis er die Sachen
jelbft glaubt und dann läßt er fie drucken?.“ — Über einen
weiteren jungen Gelehrten, den Profeijor Karl Morgenftern,
der 1802 in unſer Land berufen wurde, um an ber neubegründeten
Univerfität Dorpat eine erfolgreiche Tätigfeit zu beginnen, liegt
ein allerdings nur ſehr gelegentliche Urteil Schillers vor. Er
nennt ihn eine feinem fpez. Kollegen „Woltmann ähnlihe Natur,
auch jo fofett und elegant in feinen Begriffen, und ber die philo:
ſophiſch kritiſche Kurrentmünze ganz gut inne hat.”
Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ift, alle nennenswerten
Berjönlichfeiten aus umferer Heimat ausfindig zu machen, die
zu unferm Digterfürfien in Veziehung geitauden haben. Doch
mir fag and nicht an abfoluter Vollitändigfeit; es war mir nur
eine Freude gerade heute hinzuweiien darauf, dab auch Balten der
Perſon und dem Herzen Schillers nahe geftanden haben und
daß mande Söhne unjeres Landes, heimgefehrt aus der Ferne,
aud) hier die Liebe für Schiller, die ſchon durch feine Werke wach-
gerufen war, nod) weiter gepflegt und verbreitet Haben.
% Briefe V, ©. 209, 318. — %) Briefe LS. 431; II, 352; III, 01,
115 uiw. Wgl. über Schaly ein gümtigees Urteil bei Nede-Napiaatn IV,
S. 141, und Dannenberg, Zur Ode und Ctariinf des Öpmmaiiums zu
Mitau. 1875.
330 Schiller und Lioland.
Im 3. 1785, alfo 3 Jahre nad) der erften Aufführung der
„Räuber“ in Mannheim, haben die Nigenfer zum erften Dial ein
Schillerſches Schaufpiel, „Rabale und Liebe“, kennen gelernt. Die
Zuftände im damaligen Riga find bei Gelegenheit des Herber-
Gedenktages (1903), deſſen eier noch unvergefien iſt, mehrfach
geichildert worden, fo daß ich hier nur darauf hinweiſen will, daß
in unferer Vaterjtadt der richtige Nährboben, auf dem das Intereſſe
für die großen Dichter des deutſchen Mutterlandes ſich entwideln
und emporwachſen konnte, durchaus vorhanden war. „Die Teil-
nahme an ben geiftigen Bewegungen Deutfchlands war in ben
leitenden Rreifen von Stadt und Land erwacht.“ Die Gefellichafts-
freife, in denen Herder feinem eigenen Zeugnis gemäß bie glück-
lichjten Stunden feines Lebens verbracht hatte, beitanden nod.
Allerdings war in ben 1/e Jahrzehnten feit feiner Abreife (1769)
mandjer Wechſel in ben PBerfonenverhältniffen vorgefommen, aber
gerade am Ende des Jahrhunderts traten nicht wenige geiltig
hervorragende Männer in den Dienſt unferes Gemeinwejens. In
einer wahrideinlih nad Berlin gerichteten Nig. Theater-Korres
ſpondenz v. 3. 1788 heißt eo freilich: „Hier weiß man im ganzen
genommen von der Güte des Flachſes und des Getreides mit
weit fihererm Geſchmack zu urteilen, als von ber Güte ber Stüde
und bes Spiels, und ift in der Literatur des Danfes und ber
Maſten weit bewanberter, als in ber Literatur bes Theaters.
Gtüdlihe Menihen!!“ Gin foldes Urteil war aber ſicher ein⸗
feitig und verbifien und fann jedenfalls nur für einen Teil des
Nig. Publifums zutreffend gemefen fein. Die Geſchichte des Rig.
Theaters belehrt uns eines Beſſeren.
Im 3. 1782 war das nene Theater im Haufe der Muffe
an ber Rönigfiraße, das man dem Geheimrat Baron Vietinghof
zu verdanken hatte, mit ber Aufführung von Emilia Galotti
eröffnet worbden*. „Eine Direktion, bloß aus Liebe zur Kunſt,
uneigennügig, aus eigenen Mitteln die ſchwerſten Opfer bringend,
ein Yublifum, enthufiaftiich für das neue Inftitut intereffiert, ein
Schaujpielerperfonal, aus Individuen beftehend, welche don bie
Zierden der bedeutenditen Bühnen Deutſchlands ausgemacht hatten
3) Ein eingelnes Blatt in der Bibl. der Gef. j. Geſch. u. Altertumstunde.
— 4) riedrig Biedert, Geichite des Theaters zu Wiga 1700-1827 im
Almanach für Freunde der Scaulpielfunit auf d. 3. 1829. Yiga 1828.
Schiller und Lioland. 331
— mas fonnte ba noch fehlen?” Und als Baron Vietinghof, der
zwei Jahre lang das Theater jelbjt geleitet hatte, bie Direktion
den Scaufpielern Meyrer und Koch-Eckardt übergab, fam man
ihnen von allen Seiten mit Unterjlügung entgegen. „Unter glüd:
licheren Auſpizien“ fo jagt der Gefdichtsfhreiber des Theaters —
„bat hier nie wieder eine Direktion ihr Werk begonnen. Schiller,
Goethe, Iffland traten in diefer Zeit als dramatiſche Schriftfteller
und Mozart als Komponift auf. Mit weld einer Dienge von
dramatiſchen und muſikaliſchen Meiſterwerken wurde jegt die deutſche
Bühne beichenft ! Nein Wunder, daß die fon erwachte Neigung
zur Schaufpieltunit beim Publikum endlich in enthuſiaſtiſche Liebe
ausbrach.“ Schiller gegenüber iſt dieſe Liebe nie erfaltet. Zum
Beleg dafür fei es mir geitattet, hier einige freilich etwas trodene
Daten in betreff der Aufführungen Schifleriher Dramen an unfrem
Theater anzugeben?. Wenn einzelne Schaufpiele erſt ſpät ober
längere Zeit hindurch nicht auf die Bühne gefommen find, fo ver:
mute id dabei äußere Hinderniſſe, die im Cinzelnen allerdings
ſchwer nachzuweiſen find.
„Kabale und Liebe" wurde 1785 zweimal aufgeführt
und dann mit ziemlich vegelmäßigen Unterbredhungen im Ganzen
106 Mal bis zum 9. 1902. "
„Die Räuber“ wurden am 28. und 29. Dezember 1786
zuerſt aufgeführt. Won 17941808 fehlten fie auf dem Repertoir,
find aber doc) am meiften von allen Schillerſchen Stüden, 116 Dal
aufgeführt worden.
„Die Verſchwörung bes Fiesko“ it im J. 1787
(2. Februar) 5 Mal, im Ganzen bis 1900 — 30 Mal zur Dar-
stellung gebracht worden.
„Don Karlos“ wurde zuerjt am 9. November 1787 und
dann am 10. November „auf lautes Begehren“ nodmals gegeben.
Nach mehreren Wiederholungen in den Jahren 1787—88 blieb er
auffallenderweife von der Bühne fern bis zum Todesjahre des
Dichters (1805), in dem er viermal aufgeführt wurde, um dann
erjt nad) längerer Unterbredung vom I. 1832 an regelmäßiges
Nepertoirftüct zu werben. Er ijt bis 1905 im Ganzen 75 Mal
gegeben worden. An die Grwerbung des Danuffripts zum „Don
1) Rach den Aufzeichnungen im Zfeater-Arhiv.
332 Schiller und Lioland.
Karlos“, von ber ich früher berichtet habe, erinnert die Mitteilung
an das Publitum a. d. I. 1787: „Da mir biejes Meiſterſtück
nicht anders al mit Aufwendung beträchtlicher Koften haben
erhalten fönnen, jo wird das hachgeehrte Publitum ben erhöhten
Preis bei jedesmaliger Aufführung zu erlegen ſich gütigit gefallen
laſſen.“
„Maria Stuart“ iſt am 30. April 1803 zuerſt aufger
führt und dann im felben Jahr 8 Mal — jo oft wie fein andres
Drama — wieberholt worden. Es iſt bis 1904 im Ganzen 108
Mal gegeben.
„Wallenfteins Lager“ kam zuerft am 13. April 1811
auf die Bühne und wurde in dieſem Jahr und 1812 — 5 Mal
gegeben, dann aber fange Zeit hindurd) nur in einzelnen Jahren
(1824, 1833, 1842), bis es von 1852 an regelmäßig vorfommt.
Im Ganzen ift es bis 1903 50 Dal gegeben worden.
„Die Biccolomini“ find am 31. Oftober 1813 zuerit,
dann aber nad) einmaliger Wiederholung bis 1868 garnicht mehr,
bis 1903 im Ganzen 19 Mal aufgeführt worben.
„Wallenfteins Tod“ iſt vom 14. November 1813 an
bis 1903 49 Dial gegeben worben.
„Die Braut von Mejfina“ ift vom 9. Dezember 1813
an mit ziemlich regelmäßigen Unterbredungen — nur von 1818
bis 1827 und von 1829—40 find längere Lüden — im Ganzen
40 Dal aufgeführt worden (bis 1904).
„Die Jungfrau von Orleans“ iſt vom 27. Mai 1814
an bis 1905 77 Mal gegeben worben.
„Turandot“ wurde zum erſſen Mal 1820, dann erſt
1869 wieder aufgeführt und ift bie 1893 im Ganzen 18 Wal,
ſeitdem aber nicht mehr gegeben worden.
„Wilhelm Tell“ iſt zuerſt unter dem Titel „Tells
Geſchoß und Geßlers Tod“ am 27. November 1821 auf bie
Bühne gefommen und ift mit einer Unterbrechuug in den Jahren
1827—59 im Ganzen 58 Mal aufgeführt worden.
„Das Lied von ber Glode*, dramatiſch-mimiſch ein-
gerichtet von Goethe, wurde am 12. Dezember 1822 aufgeführt
und bis 1896 — 22 Mal wiederholt.
Schiller und Livland. 333
„Demetrins“ wurde am 25. und 28. Dezember 1823
und am 1. Februar 1824 gegeben und wird erjt jegt wieber von
neuem zur Aufführung vorbereitet.
Von allen ben zahlreichen Kotzebueſchen und Ifflandſchen
Stücken, die zur Zeit Schillers nod die Bühne in Deutichland
und auch bei uns beherrihten, habe ich in bem neueren Repertoir
unfrer Bühne nur zwei entdecken können: „Menſchenhaß und
Neue“, welches zulegt 1873, und die Ifflandſchen „Jäger“, welche
1885 gegeben worden find.
So wie die Aufführung eines neuen Schillerſchen Stüdes
ein Ereignis war, fo riß man ſich geradezu um die neu anger
tommenen Gremplare eines jeden jeiner Werke. Das Manuffript
des „Don Rarlos“ ging. wie Merlel erzählt, raſch, faum von
einer Hand zugeſchlagen, in eine andere; er habe es nur auf eine
Nacht, die größtenteils dabei durchwacht wurde, erhalten. Und
ein Dorpater Muſenſohn jchreibt im J. 1804°: „Mit Deinem
Schillerſchen Tell kommſt Du zu jpät. Geitern befam ihn ein
Student von Hartmann aus Riga zugeididt, aber er war auch
feines Lebens nicht froh, alles bejtürmte ihn, alles wollte den Teil
leihen, doch id) und meine Stubenfameraden waren die Sieger,
wir befamen ihn vom Beſitzer geliehen. Gejtern Abend alſo,
nachdem die Kollegia geichlofien waren, verjammelte ſich eine
Menge von Stubenten bei uns und einer (a6 den Tell vor; er
hat uns viel Vergnügen gemacht.“
Das Geiprädh über Schiller und feine Bedeutung geitaltete
ſich oft im ben geiftig angeregten Kreiſen Nigas zu förmlicen
Debatten. So mußte Merkel? einmal in dem fog. „Propheten
Hub“, einer Geſellſchaft junger Literaten, bie fid) beim Schaufpieler
Grohmann zu verſammeln pflegte, mit diejem darüber disputieren,
wer größer fei: Voltaire oder Schiller. Merkel trat für fein „ver:
ehrtes Diufterbild* Voltaire ein und ging natürlich feiner Mei—
nung nad als Sieger aus dem Nedefampf hervor. Don einer
andern Debatte erzählt uns (1792) der damalige Hofmeiiter, nad):
herige Profeſſor Kranfe?. Er traf beim Konreftor Brotze zum
erjten Mal mit feinem fpäteren Fremde Karl Graß zufammen.
2) Weite, Tarftdiungen und, Churaferititen I 1830. ©, 140. —
9) Auufrierte Beige der ig. Bnjg. 1001, & 8. — u.a. D. & 110 fie
— 5 Yatr, Man, N. 9. 52. ©. 83.
334 Sqhiller und Lioland.
Auch hier berührte das Geſpräch gleich das literariſche Gebiet.
„Schiller war“ — ſo berichtet Krauſe — „ſein Ideal, Herder und
Goethe paſſierten jo nebenbei. Dies reizte mic), der ich auf beide
in manden Sachen mehr hielt, und wir gerieten in heftigen Streit.
Der alte Broge hatte fein Gaudium an der Hepe.” — Ich denke,
daß biefe paar Beifpiele uns dod ein Bild davon geben, mit
welchem regen Intereſſe man fid bier die aus Deutichland dar-
gebotenen geiftigen Schätze anzueignen ſuchte. An und für fid)
von feiner großen Bedeutung, charakterifieren ſolche Meine Züge
vielleicht doc) die damalige Situation in Riga’.
Und als die Nachricht vom Tode Schillers die Beſten unjres
Volles tief erfchütterte, da wurde au in unfrem Lande ber Ver—
huft tief empfunden, und man bemühte fi, das Anbenten des zu
früh Dahingefchiedenen zu ehren. Im Oftober 1805 erließ ber
Shriftiteller Rudolf Zacharias Beder in Gotha einen
Aufruf?, in dem er ben Vorſchlag machte, aus ben Beiträgen der
deutfhen Schaubühnen für die Nachkommen Schillers ein Landgut
zu kaufen, das feinen Namen tragen und aud zur Pilege ber
Erinnerung an ihn bienen follte. Der Nigaer Theaterdireltor
I. Meprer machte fid) fofort an die Realifierung diefes Planes
und fündigte zum Beten biefes Zwedes bie Aufführung des Don
Karlos in einem warm geſchriebenen Zirkular an?. Nachdem er
darauf hingewiefen, baß „ber deutſche Dichter, auf welchen feine
Nation vor allem ftolz jein durfte, der jeben Deutjchen, der für
?) Dan war in Livland auch fehr bafd darauf bedacht, die Shilerfcen
Ditstungen burd Übertagungen unfren Iettilden Sandesgenoffen zugängtic zu
machen. So wurde bereits 1804 daS „Lied an die Zreube“, 1826 die „Blode”,
„Der Zauder“, „Das Müden aus der Fremde” ins Leitifche überfegt uf.
Deute find die meiften Schilferjgen Dramen und gahfreiche Balladen und Gedichte
in Tettifchen Überfegungen vorhanden.
In tenifper Sprade aufgeführt wurden zum erften Mal „Die Räuber“
1885 in Mitau. Dos Migafche Yenifche Theater Hat dann bisher nod, folgende
Dramen in Spene geleht:
„Rabale und Liebe . . . zum erften Mul 1989.
Die Rluber . 0... nn 180.
A Die Jungfrau von Orleans" un IND.
„Dario Stuart” . nm 1BBT.
„Don Carlos". . 0... „1000.
Über die eftnifchen Überfepungen Schillerſcher Dichtungen find uns im Augenblic
die nötigen Daten nicht Jur Yan.
g) 2at, ent Bü, Seiler Intimes aut, feinem Sehen x. 1908.
2 ®) Dasfelbe üt in der Sammlung von Iheaterzettein in der Bibl.
der er ji Geſch u. Altertumstunde enthalten.
Stiller und Livland. 385
das Große, Wahre und Schöne Gefühl hat, jo unzählig oft er
wärmte*, jegt nur noch in feinen Werfen und in dem Dank ber
Welt und Nachwelt lebe, jagt er weiter: „Ich würde an einem
Publikum, wie das rigiihe, ein Verbrechen begehen, wenn ich
diefem edelmütigen Publikum die Veranlaſſung rauben wollte,
nicht nur feine Hochjhägung Schillers öffentlich zu bezeugen, ſondern
auch einer Unternehmung beizutreten, welde bie ſchöne Kunſt,
welche bie Menſchheit ehret.” Die Aufführung fand gegen
beliebiges Entree ſtatt, das ganze Unternehmen aber fceiterte in
Deutſchland an manderlei Yindernifien. Unfere Bühne ließ es
ſich auch fpäterhin angelegen fein, das Andenken an ben großen
Toten durch befondere Aufführungen am Tobestage zu ehren. ©
wurde im 3. 1811 bie vom Grafen Chr. E. Bengel! verfaßte
„Schillers-Feier, feinen Manen durd) feinen Geift,” bie vorher nur
ein Mal in Negensburg am 1. Febr. 1806 aufgeführt war, zur
Darftellung gebracht. Vorher bereitete ein Werehrer des Dichters
durch ein „Programm“* auf den Inhalt des Werkes, das nur in
Abſchriften furfierte, vor. Unſerm Geſchmack würde dasjelbe wahre
ſcheinlich kaum mehr zufagen, der Verfafler des Programms aber
nennt es ein, „genialiſch ausgeführtes Kunſtwerk.“ „Es iſt das
Ganze” — jo fagt er — „ein aus dem innigſten Vertrautjein
und aus der nädjften Geiſtes Verwandtſchaft mit bem großen Dichter
hervorgegangenes Gento in dramatiſcher Form, ein biographiſches,
poetifches Muſſiv-Gemãlde vom Leben und Wirken unjeres Dichters
aus dem unerſchöpflich veichen Nachlaſſe Schillers und namentlich
aus jeinen vermiſchten Gedichten und aus feinen dramatiſchen
Werken.“ Der Gebanfe, die Aufführung jährlich zu wiederholen,
wurde nicht realifiert.
Wenig befannt iſt es, daß unjer Heimatland
fig rühmen fann, das ältejte Denkmal zu befigen,
das Schiller zu Ehren errichtet worden it. Wohl
wurde gleich nad) dem Tode des Dichters im feiner Geburtoſtadt
Marbach der Gedanfe erörtert, ihm ein Denkmal zu jegen, aber
erft 1830 iſt auf der Schillerhöhe in Volkſiädt die Danneder’iche
Büſie aufgeftellt und 1839 zum erjten Mal in einer Stadt, in
1) Bengel, geb. 1767, war damals Winifter in Baden,
3) @gl. dasielbe in der Vibliotget der Geielic. für Ceſchichte und Aliet-
tumstunde.
336 Schiller und Livland.
Stuttgart, ein Schillerdenkmal enthüllt worden!. In unſerm
Lande iſt bereits 1813 von Frau Wilhelmine v. Helwig,
geb. v. Helwig auf der Inſel Pucht (Schloß Werder) dem
Andenken Schillers eine 1,28 Met. hohe Gedenkjäule geweiht
worden?. Die Säule trägt die Infchrift:
DEM ANDENKEN FRIEDRICH VON SCHILLER
TEUTSCHLANDS ERHABENEN DICHTER UND
LIEBLING DER MUSEN GEWIDMET 1813.
Auf der andern Seite ftehen die Worte:
Die Dichtkunst reicht dir ihre Gütterrechte,
Schwingt sich mit dir den ewgen Sternen zu,
Mit. einer Glorie hat sie dich umgeben,
Du schufst fürs Herz, du wirst unsterblich leben.
Bon jener Zeit an ift die Verehrung für Schiller nicht ers
loſchen wenn aud) die Flamme ber Vegeiflerung, ähnlich wie in
Deutſchland, mitunter nur langſam fortbrannte, dann aber wieder
Hell emporloderte. Oro war ber Enthufiasmus auch bei uns in
dem berühmten Schillerjahre 1859. Die politiſchen Verhältuiſſe
geltalteten bie Erinnerungsfeier an den Dichter zu einem „National:
fefte, wie Deutichland noch feines erlebt Hatte” Wir nahmen
regen Anteil an ben Schickſalen des Mutterlandes, aber bie Ver:
hältnifje unjeres eigenen Landes, bie jih damals befonders freund-
lich zu geftalten jdienen, trugen wohl befonders dazu bei, daß bie
Feſtlichteiien mit frifhem Mut und fröhliden Herzen gefeiert
werben fonnten. — Wenn bie Sciillerfeier, zu der wir uns jept
rüften, wohl einen ernjteren Charakter tragen wird, fo liegt das
nicht nur in der Verſchiedenheit ber Veranlaffung: Geburt und
Tod des Dichters, begründet, fondern aud) in den fo weſentlich
anbersartigen Zeitumftänden damals und jept. Trogbem aber
nen wir hoffen, dah bie Frucht der Gebenffeier eine gefegnete
fein werde. Theobald Ziegler hat einmal gejagt!: „Das
Schillerfeſt war ein Bekenntnis des deutſchen Volfes zum Jdealis-
mus und damit zu allem Beſten und Höchſten, was in ihm febte
und zu Luft und Licht emporbrängte. Dieſer Schillerſche Idealismus
J Bal. über Stiller Dentmale 8. Wenige, Den Manen Seller, 1906.
Grnit Müller a. a. ©. ©. 238 fi. — 2) Nach einer Kebensmwürdigen Mitteitung
des Yan 8. 0. Yoemis ef Mlnar, ver augenblidlich für die eitauricrung
des Dentmals Sorge trägt. — 9) Ziegler, Die geiltigen und fozialen Strör
mungen des 19, Jahrhunderts. 1889. &. 971.
%
Stiller und Sioland. 837
mar aber in feinem tiefiten Kern als fittliher durd; und dur
gefund, war männlich ſtark; die Herkunft vom kategoriſchen
Imperativ Kants hatte ihm geflählt, „bas Gebiet ber Männer-
fämpfe im öffentlichen Leben” war diefem Dichter des Wallenjtein
und des Wilhelm Tell nicht verichloffen, und fo lag im Befenntnis
des Volles zu ihm ber Appell an ben Willen des beutfchen Volles,
etwas wie ein männliher Entihluß und mie der Anfang zu
feäftiger Tat.”
Heute tritt an und bie Frage heran, ob auch mir bereit
find, ein folches Befenntnis zum männlich ftarfen Jdenlismus eines
Schiller abzulegen, wie es unfere Väter vor einem halben Jahr:
hundert getan haben. Können wir es, dann brauchen wir an
unferer Zufunft nicht zu verzagen, bann wird fein raftlojes Streben
aud uns und der Zufunft unferes Landes zu gute fommen, dann
‚gilt auch uns das Wort:
Seine durchgewachten Nächte
Haben unfern Tag erhellt.
fiterarifche Rundfchau.
Ey
Schillers Seelenabel.
Sorsen, bie den 100. Tobestag Schillers mit einer Feier ftiller,
andächtiger Erinnerung begehen wollen, fei ein Bud) empfohlen,
das zwar nicht ausdrüdlih auf den bevorftehenden Gedenktag
Bezug nimmt, aber doch wohl nicht zufällig kurz vor ihm erichienen
it: Frip Ionas, Schillers Seelenadel. Cs hat fih eine
ähnliche Aufgabe geftellt, wie die im gleichen Berlage erfchienenen
Goethebreviere Wilhelm Bode's, nämlich ein Bild der Perfön-
tichfeit Schillers aus jeinen eigenen Äußerungen und benen ihm
Nabeftehender zuiammenzufügen, das an fommentierendem Veiwert
nur foviel enthält, als zur Cinheitlihfeit und Anſchaulichleit des
Bildes erforderlich ift. Im der Darfiellung des inneren Lebens
bat Jonas feine Hauptaufgabe geichen, wie dieſes im perfönlichen
Verfehr, im Kreiſe der Familie und ber Freunde ſich offenbarle;
auch die Werte Schillers betradtet er vor allem als Quelle zur
Kenntnis des Menſchen, der hinter ihnen ſteht. Die Eigenart
Schillers faßt Jonas Hödjit treffend in zwei Worte zuſammen:
Willenskraft und Freiheitsdrang. „Alle andern Dinge
müffen; des Menſchen ift dus Wefen, welches will.“ „Diefes Mort
aus Schillers Abhandlung über das Erhabene trifft in den Mittele
punft feines eigenen Denfens und Handelns.” Wie es im Leben
und Schaffen Schillers, wie es in feinen Hauptdichtungen fich
bewährt, hat Jonas im einleitenden Kapitel in Kürze fliggiert.
Die folgenden ausführligeren Kapitel gehen vom äußeren
Leben aus, um immer tiefer ins Innere zu dringen und dann
wieder mit einem Ausblid auf die Werfe zu enden, in benen
Schiller aus der Tiefe ſeines Gemütslebens an die Außenwelt
trit Die „äußere Erfcheinung und der Eindrud der Perfönliche
teit” iſt der nächſte Gegenftand feiner Schilderungen. Daß auch
*) Berlin, Mittler und Sohn. 1904.
Siterarifche Rundſchau 339
bie äußere Erſcheinung in einem bem Seelenabel Schillers gewid-
meten ¶ Buche eingehende Erwähnung findet, ift mohlberedtigt.
Die Übermacht der idealen Perfönlichfeit in Schiller hat fi doch
auch barin gezeigt, wie alles Unfchöne und Unbeholfene, das bie
Natur ihm in die Wiege gelegt, durch die Energie des geiftigen
Lebens, wenn auch nicht überwunden, doch durchleuchtet und verflärt
wurde. So fonnte er aud) äußerlich denen, bie ihm nahe ftanben,
als Idealgeſtalt erjcheinen, in deren Gefihtsbildung und Körpers
haltung fie ein Spiegelbild feines Seelenlebens erkannten. Während
feine Eriheinung auf Fremde wohl gar einen abftoßenden Eindrud
machte, war es für den Bildhauer Danneder eine Quelle fünft-
leriſcher Freuden, als er die Koloſſalbüſte Schillers ſchuf. Auch
im geſeliſchaftlichen Verlehr erſcheint Schiller Fernſiehenden in
einem ganz andern Lichle, als den Vertrauten. Die Gabe, ſich
leicht und anmutig mitzuteilen, war ihm verfagt, und fchon feine
Rränflichfeit zwang ihn, feinen Umgang auf einen fleinen Kreis
zu beichränfen. Wer ihn nur oberflählid) fannte, Fonnte wohl
den Eindrud einer falten Natur gewinnen, wie Jcan Paul, ber
ihn „den felfigten Schiller“ nennt und von ihm jagt, er ſei voll
Ebeifteine, voll ſcharfer, ſchneidender Kräfte — aber ohne Liebe.
Seine Freunde aber fühlten ſich gerade durch die Wärme feines
Herzens unmiderftehlih an ihn gefeilelt. „Du marmer Mann“,
redet ihn Danneder in einem Yriefe an, und Heinrich Voh fagte
von ihm: „Das ift bie fortdauernde Stimmung feines Gefühle:
Liebe und Hingebung für jedes mitfühlende Herz.” Cinjtimmig
find die Urteile über die reiche geiftige Anregung, die Schiller
in Geſprächen zu geben wußte, die durchdringende geiftige Schärfe,
ben Flug der Gedanfen, den nichts herabzieht, die Fähigkeit, alles
in bie Spradje der Ideale zu erheben. Goethe fühlte fi durch
die Geltalt Chrifti an den dahingeſchiedenen sreund erinnert:
Jedes Auftreten von Chrütus, jede feiner Äußerungen gehen
dahin, das Höhere anfchaulid zu machen. Immer von dem
Gemeinen fteigt er hinauf, hebt es hinauf. — — Ich will nicht
zu fagen unterlaffen, was mir gerade einfällt. Schiller mar aber
diefe Chriftustendenz eingeboren, er berührte nichts Gemeines, ohne
es zu veredeln.“
Das nãchſte Kapitel behandelt die äußeren Lebensumftände
Schillers. Cs trägt die Überfhrift „Not und Sorge”. Von feinen
Zünglingsjahren an war Schiller in peinlihe Geldforgen verwidelt,
und niemals, aud) nicht in ben Tagen feines Kudmes hat er fid)
in materiell unabhängiger Lage befunden; in weitgehendem Piafe
bat er bie Unterftügung hochherziger Freunde annehmen müllen.
Aber nie hat er ſich dadurch heräbziehen laſſen, ftets, bei aller
Dankbarkeit, feine Freiheit und feine Würde bewahrt. In der
Zeit, wo Edjiller den Höhepunkt jeines Glüdes erreicht glauben
310 Literariſche Rundſchau.
durfte, als eine feſte Stellung es ihm ermöglicht Hatte, ben
Zebensbund mit Charlotte von Zangefeld zu fchlichen, da traf ihn
jene tüdijche Krankheit, die ihn dann in den legten vierzehn Jahren
nicht mehr verlajien hat. Sein größtes Werk hat der Geiſt in
faft beftändigem qualvollem Kampfe dem Körper abringen müilen.
Wie in Not und Sorge ſich Schillers Willengftärte und Freiheils-
drang ftählten, fein Seelenadel ſich zu milder Hoheit länterte, fo
find fie aud) mit Recht als Züge in fein Charafterbild eingetragen
worben.
Tiefer in das Innenleben führen uns bie folgenden Seiten,
die der „Freundſchaft“ und der „Liebe“ gewidmet find. Es hat
wohl faum ein andrer jo viel in der Freundſchaft empfangen und
fo viel zu geben gewußt, wie Edjiller. An ihr hat fich fein Ge:
mütsfeben am reichiten entfaltet. Drei Freunde fanden ihm
bejonbers nahe: Körner, Wilhelm v. Humboldt und Goethe. Wie
in jedem dieſer Freundſchafioverhäll— der Austauſch von Ger
fühlen und Gedanken fi) eigenartig geitaltete und wie jedes ihm
in feiner Eigenart wertvoll war, hat Jonas in feinfinniger Charal-
teriftit ausgeführt. Auch die Yiebe war Schiller im weſentlichen
eine Art idealer Freundſchaft. Das naive Liebesgefühl oder
wenigitens der naive Ausdrud biejes Gefühle war ihm fremd.
Aber das Ideal der Liebe, das ihm von jeher vorſchweble, war
das höchjte und reinfie. Cr eriehnte eine Seelengemeinfhaft, die
bie verbundenen Scelen zu immer höherer ervollfommnung
emporfürte. Und dieſer Wunfch ift ihn in vollftem Make erfüllt
worben. In Charlotte von Langefeld erhielt er eine Lebensge-
fäbrtin, zu der er jagen durfte: „Unerihöpflich it in ihren Öe-
falten die Liebe, und die unſrige glüht in dein ewigen, ſchönen
Feuer einer ſich immer mehr veredelnden Seele.“ Mie würdig
Charlotte feiner war, das zeigen nicht bloh die Aeußerungen
Schillers und feiner Freunde über fie, dus zeigen vor allem die
Worte, in denen fie nad Schillers Tode fein Bild niederlegte,
wie es vor ihrer Erinnerung jtand. Sie erſcheint hier mit jenem
hellſehenden Scharfblik der Liebe begabt, von dem Kingsley einmal
ihön gefagt hat, daß er den geliebten Menihen ſchon auf Erden
To fehe, wie er einjt in der Cwigfeit vor dem Auge Goltes ſiehen
erde.
„Auffafſung der Natur” und „Religiöfe Anſchauungen“
bilden das Thema der folgenden Kapitel. Die Naturpocfie jpielt
bei Schiller eine untergeordnete Rolle. Jonas erklärt das zu⸗
treffend aus feiner dichteriſchen Eigenart, hat aber doch wohl nicht
ganz Recht, wenn er dieie Gigenart mit der der des fentimenta-
liſchen Dichters nad Schillers Definition ſchlechthin identifiziert.
Die Naturpochie, wie etwa in Goethes Lied „An den Mond“, iſt
ja gerade ein Produft der jentimentafiiden Aultur; dem naiven
Literariſche Rundſchau. 841
Dichter, Homer z. B., ber ſelbſt Natur iſt, iſt fie fremb. In
feinen Naturfchilderungen iſt nur ſinnliche Anſchaulichkeit, feine
Stimmung, feine Bejeelung. „Empfindſamkeit für die Natur“
dagegen nennt Schiller ſelbſi unter den Charakterzügen des Senti-
mentalifchen. Aber allerdings iſt das richtig, dab die mächlig
ergreifende Schönheit der Naturpoefie Goethes auf der Verſchmel⸗
zung des Naiven mit dem Sentimentaliſchen beruht, darauf, ba
in ihr ein naiver Dichtergeift einen fentimentalifchen Stoff geitaltet.
Bei Schiller dagegen, dem tel der handelnde Vienſch der eigent-
liche Gegenftand der Dichtung war, tritt gerade in der Auffaffung
und Darjtelluug der Natur das Naive gänzlich hinter dem Sentir
mentalijhen, die Anihauung hinter der Neflerion zurüd. Hier
ericheint ihm alles Vergänglide nur als ein Gleichnis und die
Ausbeutung dieſes Gleichniſſes als Aufgabe der Dichtung. Da
aber, wo es gilt, einer bedeutenden Handlung auch einen bebeu-
tenden Schaupla zu geben, wie im Wilhelm Tell, bewährt Schiller
auch der Natır gegenüber die naive Geftaltungsgabe, in der er
felbjt das eigentliche Neunzeihen bichteriicher Genialität fah. —
Das Rapitel „Neligiöfe Anſchauungen“ zeigt uns einerfeils Die
tiefreligiöfe Grundlage Schillers und anderjeits feinen Gegenſatz
gegen die beftehende Religion und Kirche. Ueber feine religiöfen
Anschauungen hat fih Schiller in feiner Gedanfentyrif und jeü
pbilofophiichen Schriften jo beftimmt ausgeiproden, dak Jonas
bier nur die Aufgabe hatte, Velanntes überfichtlich zulammenzur
ftellen. Much hier find es die am Eingang genannten Grundzüge
in Schillers Seelenleben, die vor allem hervortreten: Willensftärte
und Freiheitsdrang, der unbedingte Glaube an die Willensfreiheit,
„an die Freiheit des Menden, aus ſich jelbft heraus der Voll:
fommenpeit zujtreben zu fönnen“, eine Ueberzeugung, deren lebendige
Vertörperung Schiller jelbft war.
Die legten Kapitel find dem Schaffen Schillers gewibmet.
Zunägjit wird bie „Arbeitsweile” geicildert, die verzehrende Energie,
die ihn zu fortwährender Tätigkeit, zu immer erneuter Umgejtal-
tung bes Geichaffenen trieb. Die Werke, die, von der Perjon
des Echöpfers gewiſſermaßen losgelöſt, jet ein eigenes geifliges
Dafein führen, betradhtet Jonas nur nad) einer Ceite hin, in
dem Schlußlapitel „Sprade und Stil”, wohl mit etwas zuviel
philolog ſtiliſtiſchem Detail. Aber mag uns das eine oder andre
in diefem Buche vielleicht entbehrlich (deinen und anderes vielleicht
wieder fragmentariſch, jein Hauptziel hat Jonas jedenfalls erreicht;
er hat ein gutes Volfsbud) geſchaffen, das, ohne Verflahung und
ohne Ueberichwänglidhteit, in die Tiefe dringen und doch Mar und
verjtändlich, das Bild des Dichters vor uns erneuert, der, bei all
feinem Ruhm, doch in vielen ien dem Epigonen merkwürdig
und unverdient fremd geworden ft. Möge es in unfrer Zeit, in
Baltifije Monatsfcheift 1906, Heft & 7
=
32 Siterarifhe Rundſchau.
ber jo oft prinzipien- und zieffofe Rritiffucht ſich mit bem Namen
ber Freiheit dedt, zur Erwedung des Gefühls beitragen, bas
Schiller, feines Verhaͤltniſſes zu Goethe gedenfend, in den Worten
ausfprad, „dab es dem Vortrefflichen gegenüber feine freiheit
gibt, als die Liebe.”
8. Girgenjohn.
Zwei Schiller - Biographien.
Mer bat geſagt: Goethe dichtete, was er lebte; man fönnte fügen:
Schiller lebte, was er bichtete. Neih und glücklich find die
Verhältnifie, in die Goelhe hineingeboren wird, und in denen er
lebt, überaus glüclic) und reich ift auch feine Veanlagung. Wohl
fehlen aud) jeinem Leben die Schmerzen nicht, aber es find bad)
meift Schmerzen, die er ſich als ivrender Meuſch ſelbſt geſchaffen
bat. Wie anders das alles bei Edjiller! Cngbegrengt, innerlic
und äußerlich, iſt das Feld, auf bem er fid) in jeiner Kinderzeit
bewegt, armelig und eingezwängt find feine Jünglingsjahre, ein
einziges Schmerzenslager iit fein Dannesalter. Aud) in jeiner
geiftigen Beanlagung erſcheint er weit weniger derſchwenderiſch
von ber Natırr ausgeftattet, als fein großer Nivale und Freund.
Und nun das Cchauipiel! Goethe wählt wie ein Lebenbiger
Organismus, wie ein Baum, ber in frudibares Erdreich gefeht
wurde umd immer verzweigtere, mannigfaltigere Sprofien treibt,
er wächſt an und aus ſich jelbit, faſt unbewuht; Schiller entwidelt
ſich wie ein bewußt entworfenes und auf dem Plan hingeftelltes
Runftwert. Bei dem einen treibt die Naturanlage, bei dem andern
ſchafft die Macht des Willens. So wird der eine Lyrifer und
Epifer, ber andere Dramalifer, und fo lebt und fingt der eine in
ber Freiheit, in die er gejlellt wurde, Natur, während der andere
aus dem Zwange heraus fi die Freiheit eıft eroberl und dann
fie lebt und fie verherrlicht.
Wer ift gröher? Goethe hat bereits auf dieſe Frage bie
allein moͤgliche Antwort gegeben. Aber wer ift der Dann unfrer
Zeit? Da hat man immer wieber auf Goethe gewielen, Schiller
fdjien abgetan. Ich glaube, Goethe ift ihr ‘Wrophet gemejen,
Schiller wird ihr Arzt fein. Er muß es werden, wenn anders
das deutſche Volt auch in Zufunft gedeihen fol. Cs muß —
zunächſt auf fünftlerifchem Gebiet — wieder Edillers Glaube all:
gemein werden: „Alles, was der Dichter uns geben fann, ift
Luerariſche Rundſchan. 343
feine Individualität, Dieie muß es aljo wert fein, vor
Welt und Nahwelt ausgeitellt zu werben.” Leben
muß der Deutihe wie Schiller wieder Poeſie, große Poeſie
dann wird er fie auch wieder dichten fönnen, und lebt er fie erſt
wieder, jo wird er groß fein, auch ohne fie zu dichten. So wird
Schiller nicht nur auf literarifchem Gebiet, jondern ganz allgemein
der Wegweiſer jeines Volles. Zurüd zu Scilier! Wohl iſt er
der Dichter der Jugend, aber nicht jo wie man wähnte, weil er
dem Mann — dem heutigen Dann — nichts mehr zu bieten hätte,
fondern in dem inne, daß für die Jugend der Beſte, das Aller:
böchite num gerade genug üt. In diefem Sinne fprudelt_ au
heute noch für das reifere Alter aus Schillers Werten eine Quelle
lebendigen Waſſers. Das Haben die Veiten und Größten unfrer
Zeit_bewiefen, Fürſt Bismard erbaute ſich in jeinen fegten Jahren
an Schiller, der adıtzigjährige Weite, ber Gröhten einer, Ichöpfte
aus den Werfen des Vierzigiährigen Weisheit. Won allen Werten
Stiller aber ijt das größte —- fein Leben, iſt eim marine az det,
ein Werf für die Ewigfeit. Überaus reizvoll iſt es, Goethes Leben
nachzugehen, auch (ehrreidh wird es fein in den Einzelheiten. Wer
vermöchte aber diefer wunderbar fompfigierten, gewihlermapen natur:
notwendigen Ganzheit als Banzheit nadhzuleben? Schillers Leben,
geworden aus der Macht des Willens, ift und bleibt uns ein
ewiges Lorbild.
Daß Schiller in dieſem feinem größten Werk, feinem Leben,
wieber aftuell wird, beweilen die zahlreichen Neunuflagen ältererer
Sähillerbiographien und in jüngjter Zeit erfdhienene, zum Teil noch
nicht einmal vollendete neue Darftellungen feines Lebens. Unter
den neueren möchte ich als ein Buch eriten Nanges den „Schiller“
von Karl Berger* hervorheben. Das Wert ift berechnet auf zwei
Mtarfe Bände. Bisher ift um der erſte erfchienen, der mit der
Berufung Schillers nad) Jena, alio jeiner erften Dichterperiode
abfchlieht. Feine Krint, und jchöne Daritellung gehen hier Hand
in Hand. Das Werk Hat in gleichem Dafe Glanz und Fülle,
Wie faum in einem andern find hier Leben und Dichten in licht:
volle Beziehung gebracht. Durdichtig lar erfcheint Die Belprechung
der Dichtungen, zumal der Dramen. Wunderbar nahe aber tritt
uns die Perjon, der große einzigartige Menſch Schiller.
Es ſei geſtattet zum Schluß einige Worte aus der ſchönen
Einleitung des Vergerſchen Buches herzuſeßen. Berger weiſt auf
die Madıt Hin, die Schillers. — auf Goethe ausübte.
Es war „wie ein neuer Fruͤhli— fagt Goethe felbit. Dazu
ichreibt Berger: „Diefe verjüngende Lenzeofraft dann heute nad
jeder aus geiftigem Verkehr mit Zuhiller für fich gewinnen, aus
Karl Berg ilfer, fein geben und feine Werte. Band J.
Wüngen, 6.9. Yet, 105. 00 & Anis U. 6.
34 Literarifche Rundſchau.
beifen Leben und aus deſſen Werfen. Diefe Kraft heißt: er:
trauen in das deal, Glaube an die geiftigen Mächte in uns, die
uns zu Herren der Verhältniffe und der Natur, auch der eigenen
machen, die uns das ruhige, fihere Gefühl innerer Überlegenheit
in allen Lebenslagen geben können; die Zuverſicht ferner, daß die
Stärke der menſchlichen Seele einer unermehlihen Steigerung
fühig, daß eine Menjchwerdung nad) dem göttlichen Urbild unfer
feptes Ziel und möglich jei. Wer möchte nicht gerade der heutigen
Seneration ſolche Energien, foldpe Erhöhung der Sebensgiele wünjchen,
jem Gejchlehte, das einerjeits vielfach nod) in materialiſtiſcher
Befangenheit überall nur Zwang und Notwendigkeit zu jehen und
an ſitnicher Freiheit und ſittlicher Verantwortlichfeit zu verzweifeln
allzu geneigt ift, während andererieils gerade heute die Ahnung
eines neuen, das fommen will, bie Zeit in allen Tiefen erregt.”
K. Stavenhagen.
„Vom Edimmer der Vegeifterung verklärt, ſieht Schillers
Geftalt vor uns. Die Dankbarkeit feines Volles Hat ihn zur
Idealgeſtalt erhoben, wie es zuerft jein großer Freund im „Epilog
zur Glode” gelan hatte. Er glänzt uns vor wie ein Nomet ente
ichwindend, Unendlich Licht mit feinem Licht verbindend. In
diefem Lichtmeer verihwinmen die individuellen djarakterifliicen
Züge, und wenn fie aus den hiftoriihen Quellen, die uns vor-
liegen, wiederernenert und feſtumriſſen emportauchen, fo erideinen
fie wohl _fremdartig und überraſchend.“ — Mit diefen Worten
begiunt Otto Harnad jeine Schillerbiographie*, deren 1. Auflage,
1898 erfdjienen, bereits in 5000 Eremplaren Verbreitung gefunden
hat. Nun liegt uns das ſchöne Buch in neuem Gewande, vers
befjert und mit reicherem Bildſchmucke verjehen in 2. Auflage vor.
Aber diefelben Worte leiten dao Werl ein, befonders charalieriſche
Worte. Denn diefe Worte zeigen uns, wie es dem Biographen
gerade anf jenes „Dubividuelle” angefommen ift, das fo leicht im
allgemeinen Gange verjdnindet, der jid) um Schillers Namen
gelegt bat. Schillers Jventisnus, Schillero Pathos, Schillers fitt:
licher Ernft, das find die Vorftellungen, bie jedermann geläufig
find, und die ſich wie ein Schleier über feine Geftalt gebreitet
haben. Der Schleier it alöngend, aber er läht die verhüllten
Formen nicht deutlich und greifbar genug bervorireten. Es üt
on mandem jo gegangen, dab die gefülligen aber uninterefjanten
Falten dieſes Schleiers ihnen die Teilnahme genommen haben für
die herrlichen und marfigen Züge, die darunter find.
*) Otto Harnad, Sciller. Mit 10 Bitdn. und einer Seroigrif.
2. verbefi. Aufl. vrin., Ernſt Hofmann u. Ko. As S. Och,
Literarifche Rundſchau. 345
Otto Harnad zieht den Schleier weg, er zeigt ein individuelles
Bild. Wenn jo mander überrajcht und befremdet ift, fo ift das
großer Gewinn. Frage und Verwunderung find ja bekanntlich
Anfang der Weisheit. Und daß man in viel höherem Maße, als
etwa vor 10 Jahren, nad) Schiller fragt und über ihn zu faunen
wieder anfängt, läht ſich nicht leugnen. NYarnads Biographie aber
ift für ſolche der bejte Führer. Ich muß mit großem Dant
bezeugen, daß jeiner Zeit die 1. Aufl. biejes Werkes mir den
individuellen Menſchen Schiller jdenfte, den Mann des hohen
Selvitgefühls, dabei mit den realen Verhältnifien prattiſch rechnend
und fie beherrſchend, den ausgeipradhen männlidien Charatter, dem
das Verfländnis für die Frauenfeele erit fpät aufgeht, ben heiteren
Sefellihafter — furz den Denfchen mit all feinen Vejonderheiten,
der nicht durch allgemeine Schlagworte zu bezeichnen ift, fondern
unter Goethes Wort fällt:
Wer tiefer ſieht, geiteht ſich frei:
&s üft was Anongmes dabei.“
Es ſoll natürlich bier nicht geleugnet werden, daß aud
andere Xiograpbien Diejes indivibuelle Bild vermitteln fönnen,
aber diefe tut’6 ficher, und das fei ihr zum Nuhme gejagt.
Und aud) zu Schillers Werten wird fie ein engeres Vers
hältnis bei den Leſern anbahnen. Dtto Harnack iſt gewiß ein
Krititer, der etwas Nongeniales mit bem Dichter hat, mie wir
das ja von einem gutem Nritifer ſtels verlangen müſſen. Tas
ſchliehn aber eine jtrenge, jo manches verwerfende Aritif nicht aus.
Und daß Harnad eine ſolche nicht ſcheut, zeigt fein beinahe hartes
Urteil über die „Jungfrau von Orleans“ nd „Fiesto“. Es it
aber unferer Zeit mit folder Kritit hundertmal mehr gedient als
mit einfeitiger Verhimmelung. Gewiß, in die Schule gehört die
Reitit gar nicht oder doc) nur in alferbeicheibenftem Mabe. Weh
uns, wenn wir und eine altfluge, überweile und kritiſche Jugend
heran erziehen. Ganz anders aber fteht es mit den Erwachlenen :
fie werden gerade durch die Rritif hindurch mit erneutem Intereſſe
an Eshiller herangehn. Und da ein jo ausgeiprochener Schiller:
freund wie Harnad die Kritit nicht ſcheut, wird vielen Lejern dus
Zutrauen zu ihm ſtaͤrlen: es jteht aljo doch nicht jo, daß Schiller
nur gelobt und in den Himmel erhoben werden darf!
Die neu eridjienene 2. Aufl. hat manchen Zujap erfahren,
namentlich bei Veſprechung der äjthetiihen Schriften Exjillers.
Sie ijt im gangen fall um 2 Drudbogen jtärfer als die erite.
Die Bereicherung, die das Wert an Bildniſſen Schillers aus allen
Lebensaltern gefunden hat, iit jeht erfreulich. Dögleich die Bio:
graphie auf den gründlichjten Etudien beruht und auch den Lejer
zu fieferem Exfaflen Echillers anleitet, muß fie doch fnapp genannt
werden. Für eine ausführliche Analyſe der Dichtungen ij fein
346 Literariſche Rundſchau.
Naum vorhanden, desgleichen verſagt ſich der Verfaſſer bie Mit-
teilung mancher Schilleraneldote. Aber an der Hervorhebung kleiner
harafteriftiiher Züge fehlt es trogdem durdaus nicht. Und im
ganzen tut uns gerade eine ſolche knappere Edjillerbiographie not.
Das 6.—8. Tauſend der Harnack'ſchen Edhillerbiographie
sieht mit biefer 2. Auflage in die Welt. Wie viele von diejer
ftattlihen Anzahl werden in’s baltiihe Land fommen? Wir be:
gehen in dieſen Tagen bie feierlihen Gedenkfeſte. Sie bringen
weihevolle Stunden, bergen vielleicht fhöne Erinnerungen. Aber
nicht mehr? Könnten fie nicht Anreger werben, daß auf bie
geräufdvollen Scillertage folgte ein Edjilferfommer mit ruhiger
Vertiefung? Folgten Schillerjahre, in denen ung der Große ohne
Schleier wieder nahe träte? Ich glaube wir haben manches nad-
zuholen.
E. v. Schrend.
sqitters Sämtlide Werke. Sätular- Ausgabe in ſechtzehn Bänden.
Stuttgart und Verlin. J. ©. Cotta Nacht. -— 4. Band. Don Carlos.
Hrög. von Nic. Weibenfels. — 6. Band. Dlaria Stuart. Jungfrau von
Orleans. Hrsg. von Julius Peterjen. — 9. 10. Vd. Überjehungen 1. 2.
Hrög. von Albert Köfter. — 14. 15. Band. Hütorije Schriften 2 3.
Hrsg. von Kid. Felter.
Zu feinen hiſtoriſchen Dramen hat Schiffer meilt ſeht mannigfaltige
Quellen bemupt, jo dab die Kommentatoren genug damit zu hun haben, diefe
Anlehnung im Ganyen und im Einzelnen nad) wie
und warum Schiller auch wohl von der Tradition abweicht.
tungen und Aumerlungen zu den drei vorfiegenden Stüden geben ausfüh
Bericht über des Dichters Verhältnis zu feinen hiſtoriſchen Grundlagen und die
Verwertung derjelben. Auher diefem Einblid in die Vorſtudien und die Werfitatt
des Dichters gewähren aber die Einleitungen auch fritifce Winfe, wonach der
dramatiche Wert der Stüde zu beurteilen ift. Bom Don Carlos uud ber
Jungfrau von Orleans (wie noch viel mehr von den drei Proſadramen Schillers)
gilt daS durch lange Erfahrung bejtätigte Urteil der Borrede zu Band 6
(S. XNVIID: „Gerade in dem Mangel an pfychologifcher Motivierung liegt
nicht die Schwäche, fondern die Macht des Motivs, und Schillers Dichtung
bewährt ſich in dieſem Punfte als ein auf die Bühne berechuetes Gtüd. Auch
die Hingabe an die poctifche Geitalt, an den fortreihenden Schwung der Gedanken
und der Sprache läht die Yedenten nicht auffommen.“ In der Tat trägt die
Literariſche Rundſchau. 347
Darftellung auf der Bühne über alle Zmeifel Hinmeg, melde man gegen die
Bahrfheinlichleit fo mander Wendungen in Schillers Dramen hegen fann.
Auch der politiſche und patriotiſche Gehait und die entfprechende Wirkung
der Stüde ift gebüßrend gewürdigt, wie z. B. die Jungfrau von Orleans mit
„leifer Zronie” den Erfolg gehabt hat, „bah die politifche Wirlung des Stüdes
ſchuhlich gegen Zranfreic) zur Geltung kam' / und zwar nit nur 1813,
fondern auch noc) 1870. ferner aus Don Carlos* ſpricht der ganze Schiller:
„der Teibenfcaftlic, empfindende Menfch, der freiblidende Hiftorifer, der Philoſoph,
der die Glücfeligteit des Menfchengefchledhts ermog.” Gier ſtehl ja Schiller auf
feinem tosmopolitiicen Höhepunkt. Maria Stwart aber, noch vor dem
Don Carlos zu Bauerbach ins Auge gefabt, it 18 Jahre fpäter „die planvollfte
dramatifche Dichtung Schillers geworden.”
Stillers Überfegungen find befanntlich meilt dramatiider Art,
innerhalb dieſes Rahmens freilich von fehr verfciedenem Weſen und Gehalt.
Zunäft Macbeth und Turandot, freie Umdichtungen, da Stiller ſich
weber in die gigantifche, aber dramatifche Anappheit Shafcipeares, noch in bie
geiftreiche, aber wilffürficie Scltfamfeit Goyzis zu fügen vermahte. — Da bot
fit, alfo dem Herausgeber Gelegenfeit, eingehend alte die Uingeftaltungen nadıyu«
weifen, durch welche der Dichter fih von den Originalen entfernt hat. Tas
wichtigite it zufammenhängend in den Ginleitungen dargelegt, während einzelne
Füge in den Anmerkungen analgfiert werden. Ale Abänderungen Teyen Zeugnis
ab von Schillers Bühnenkenntnis und stechmif; hat cr doch dem einheimijden
Toeater zugfräftige Bühnenftüde geliefert und damit wenigitens dem angenblic»
icjen Mangel an guten deutfchen Dramen abyeholjen, wenn audı fpätere Gene,
tationen den Macbeth wenigiteng licher in einer geireueren uͤberſchung ſchäben
mögen. Zuramdot dagegen hat nachweislich durch Schillers Pearbeitung
bedeutend gewonnen; auch flammen aus bifem Stüde Schillers Llaffiche
Rätfel, deren fhöner Form wir es verdanfen, dafı dieſes geiftreiche Spiel ſich
fait als eigenartige Dichtung bei uns eingebürgert dat.
Aus Zeiten, wo der Dichter „in Leiden bangte, Fümmerlich genas“,
itammen die beiden Luftfpiele, weiche er Picard nabildere: Der Paralit
und Der Reife als Onkel, leichte Ware, weiche allenfalls einen heitern
*) Eine eroünichte Veiqabe der Anmerkungen zum Don Carlos bildet
der Yauerbader Entwurf der, Ipaniicen Familientragödie und die urjprünglice
Faffung der eriten Syene zwifchen dem Prinzen und Domingo aus der Aheinithen
Thalia vom März 1785. Überhaupt bot dieſes Drama den reichiten Änlaß zu
intereffanten Bemerkungen, 3. 8. (Einleitung S XNNVI) zu dem Qinweis auf
„d0S. porireffliche Necblatt” Hathan, Iphigenic, Don Carlos: „durd) alle drei
ffneitet das Yumanitätsideal”; diefe drei Dramen bezeichnen zugleich „den Übers
gang von der Prola zum fünffübinen Jambus; der fr das Drama unfrer
Haffıfegen Siteralurperiode jaratteriiiche Vers gelangte vumit zur Serrichaft."
Endlic) ft «8 cine glüdfiche Beobachtung, dab im dritten At des Nathan jomohl
wie des Don Carlos „eine große Zoeenfjene in den Mittelpuntt des Stüdes
gerhct“ Ät; ohne zweifel Yar Leifings Borhilo auf Schiller gewirkt. Und
{S..XXXIX) „ein Meifterwert dramatither Poctic, die unwiperitchlich in ihren
Yanın yiept“, ii die Syene des Prinzen mit der Eboli, „eine Ipannende Tragodie
für fidh.”
348 Literariſche Rundſchau.
Abend ſchaffen mochten. ES war chen nur Kranfenbefchäftigung. welche fonit
verlorene Tage und Wochen zu bemupen muhten. Einem ähnlichen Intermezzo,
einer „Schmerzenseit“, entiprang die Überfegung von Nacines Phaedra,
Schillers Schwanengefang, den cr nut furze Zeit überlebte. „Er übte hier mehr
Zurüdhaltung und fam dem Ideal einer Überfegung näher." Aber felbit durch
die glänzendſle Bearbeitung war die franzöſiſche Tragödie bei den Deutichen nicht
wieder zu beleben." Auf bieje lehte Überfegung folgt in Vand 10 die ber Zeit
mach erfte, bie Mmarbeitung von Guripives‘ Iphigenie in Aulis; ihr
Verhältnis zum Original iſt in der Einleitung erörtert, während bie Anmer«
tungen „andh eine Heihe von Nealerläuterungen, die wohl bei jhwindenber Hafr
fifiger Vildung dem heutigen Leſer erwünfcht fein werden", entalten. An diefes
„auf ein empfinbfames weibliches Publikum” beredhnete Unternehmen fchloh jich
im jelben Herbit 1788 die Hälfte der Phönizierinnen des Curipides
der Tepte dramatifche Verſuch vor dem Walfenftein und der vollen Reihe eigener
Entwürfe.
Während der Nefonnaleijenz nach ber fchmeren Aranfheit 1791 übertrug
Swillet bie beiden Wer von Virgils Wencis (2 und 4) in adtyeilige
Strophen, deren millfürlice Varialionen an Wiclandg Handhabung der Stanze
erinnern. Cine intereffante Zugabe bilder eine Jugendarbeit Schillers in Hera
metern, die Übertragung des Sturmes auf dem Tytrhener Meer. (Nirg. Ken. T,
2. 34-106.)
Der erfte Band Hiftoriihe Schriften üt noch nicht erichienen;
os fehlt alſo noch die Einleitung dazu. In ven beiden vorliegenden Bänden
find emihulien Der Abfall der Niederlamde (nebil den befannten
feineren Epifoden) und Der dreißigjährige Krieg. Die Anmerfungen
Dazu nehmen einestcits Bezug auf Schillers Verhältnis zu feinen Quelten, teils
anf Abmeihungen der gegenwärtigen Faffung nom früheren Lerie; auch fehlt es
nicht an Nachträgen ans der urſprünglichen Form, welde der lettien Hedaftion
fehlen. So gewinnen wir einen Einblid in Schillers Verfahren als Hiltoriker,
wozu freilich eine zufammergängende Ergänzung durch die Ginleitung vorande
gefegt werben muß *.
R S.
*) Veim Abichlui vorftebender Pefpreihung Ingen uns noch wicht fäntliche
16 Bände der Sälularausgabe vor, die im Hai n. St. voljtändig vorliegen jolle.
Sieben Tage unter dem Siugelregen der Japaner.
Erinnerung an die Vorpoftengefechte bei Siungiotſchong
(7.14. Juni 1904 a. St.)
Ton EM.
an jemand von den verwöhnten Mefteuropäern über
die Mandſchurei etwas lieit, jo ſchüttelt er fid größten:
teils vor Entjegen und gedenft mit Bedauern jener,
die gezwungen find, dort ihr ganzes Leben zugubringen:
er weiß; dabei aber nicht, wie wenig fein ganzes Vedauern hier
am Plage iſt. Es mag dort vor dem Bau der Oſtchineſiſchen
Bahn wohl nicht ſchön gewejen fein, doch Heute ift die Dandfcurei
ein Xand mit allem Komfort Weitenropas und reich an Natur:
ichönheiten, die von Europa nicht übertrofjen werden. Darum ift
es auch nicht wunderfih, wenn man von Menſchen hört, die nur
auf 3 Jahre dorthin gegangen find, aber dann doch nicht mehr
zurüdfchren wollen.
Unfer Standort Siungjötihöng, am gleichnamigen Flüßchen
gelegen, 4 Werft von der Ljaotong-Bucht und umgeben von
Hohen malerifchen Vergen, wurbe nicht umfonft die Mand-
ihuriie Niviera genannt, wo gar aud das Noulette mit
feinem nervenfigelnden Nollen nicht fehlen durfte; es wurde bei
unferm Eskadronsſchef, Rittmeifter W., häufig genug gehandhabt.
Und wie friedlich, lebten wir dort, ſelbſt nad) dem Ausbruch des
Krieges. Dit den umwohnenden Chinefen und den Einwohnern
der Stabt lebten wir fogar recht freundidaftlih, und der Tifans
guan (Gouverneur), jowie der chineſiſche Estadronschef jahen ſaſt
täglich mittags oder abends bei uns. ud) der Chunchuſen wegen
brauchten wir uns nicht zu fürdten, da die Chineſen uns jedesmal
vor ihrem Erſcheinen warnten, che fie nod) einen Plan ausführen
Baltifde Monatefceift 1906, Heft 5. 1
350 Unter dem Augelregen der Japaner.
fonnten, der dann immer vereitelt murbe. Überhaupt waren wir
feit davon überzeugt, daß die Japaner nicht bis zu uns vordringen
werben, fo daß wir, das heißt ein Ramerad und id, unfere Zimmer
plünderten, um alle Wände der großen Veranda unfrer Wohnung
mit Teppichen zu behängen, eine Hängematte dort anbrad)ten, einen
großen Divan aufjtellen liefen, um dort der Hihe wegen zu
nãchtigen. Auch was den wirtſchaftlichen Teil unſres Lebens betraf,
richteten wir uns ganz häuslich ein. Wir fanften ſechs friſch
milchende Kũhe, und mein Burfde, ein deutſcher Rolonift, ber ben
Hangvollen Namen „Iheobor” führt, fpielte den Farmer, meltte
die Kühe, ftellte die Milch zum Sauerwerben auf, bie allen vor
trefilih mundete. So gingen einige Moden hin. Mir hörten
nur von Durdreifenden, baß die Japaner bei Tafnfhan gelandet
feien, um nad) Norden vorzudringen. Dann Fam bie Nachricht,
daß wir ben Süden räumen, was mit großem Ärger unb mit
Trauer aufgenommen wurde. Fajt gleichzeitig mit dieſer Botichaft,
traf Seutnant Jelkin unb Unteroffiier von Aramer, ein
Nigenfer, von ben Primorichen Dragonern ein, welde in einem
fleinen cinefiichen Boote (da der Süden ſchon abgejchnitten war),
nad) Port: Arthur gelangt waren und von bort chiffrierte Depeichen
an General: Abjutant Auropatfin von General Stöffel
zurückbrachten. Die von ihnen überbrachten Nachrichten waren für
uns ſehr wenig erfrenliher Natur. Seit biefen Tagen war unier
Esfabronschef von einem unheimlichen Dienjteifer befallen. 300
Chineſen mußlen antreten, um nad) meiner Anweiſung eine hohe
Schanze nebft Graben um bie Rafernen herum aufzumerfen, wobei
mir mein breimonatlices Kommando bei ben Baranowitſcher
Sappeuren jehr zu fatten fam. Außerdem murben mir täglich
und vor allem nächilich allarmiert, vorderhanb nur zur Probe.
Unfre Leute erreichten die Fertigkeit, in 10 Minuten nad dem
erften Signal marjchfertig auf gefattellem, mit Gepäd beladenem
Pferde anzuiprengen.
So vergingen nod) einige Wochen, bis eines Abends unfer
gemütliches Abendbrot durd das Erfcheinen eines chineſiſchen
Geiftlichen niit glattrajiertem Kopfe und einem Neifebündel in der
Hand geftört wurde. Wir wollten ſchon unfren Ordonanzen den
Befehl geben, ihn wieder an bie friſche Kuft zu erpebieren, und
ihnen einen Rüffel erteilen, weil fie die vorderen Türen geſchloſſen
hatten, als diefer vermeintliche Bonze uns in gebilbeter ruſſiſcher
Rede anfprad), fich feines Roftiims wegen entfguldigte, um einen
Schnaps nebft Imbiß bat und fid; als Fürt Gantimurom,
Unter dem Augefregen ber Japaner. a5
Reſerveleutnant ber Schügen aus Port-Arthur, vorftellte. Unſre
Freude und unfer Gelächter waren natürlich groß. Weniger Freude
mag mwohl der Kamerad beim Paſſieren der feinblichen Vorpoſten
empfunden haben; doc ber Umſtand, daß er ber Sohn eines
Burjatenfüriten ift, daher nad) jeinem Grterieur den Ghineien
gleicht, daß er auch das Chineſiſche fließend ſpricht, war ihm jehr
zuſtatten gefommen.
In derjelben Nacht Fam aud die Nachricht, daß unſre
Koſalen bei Wafangkou zwei Esfadronen ber feinen Gelben voll:
ſtändig aufgerieben hätten. Das war die Sübel-Attade ber
fibirifchen Kofafen am 17. Mai, mobei zum erjten Mal während
dieſes Krieges bie Pifen in Arbeit genommen wurden, die ſich
als außerordentlich taugliche Waflen erwiejen. Trotzdem ober
vielmehr eben deshalb, ſprachen bie Japaner ihre Meinung über
bie Waffe dahin aus, dal; fie vollfommen infommentmähig wäre,
denn es fam in biefem Gefecht vor, daß ber Major, ber die
2 Eskddronen führte, unjren Leuten in gutem Ruſſiſch zurief:
„Süd, ihr abgeriffenen Yundeföhne, wohin wollt ihr mit euren
verfluchten Stöden!" Der Major wurde von unjren braven
Jungen, welche mit dem Hufe „Nimm dic) in acht, Euer Wohl-
geboren" anfprenglen, aus Anerfennung für fein gutes Ruͤſſiſh,
auf zwei diejer Stöde geipieft und aus dem Eattel gehoben; bie
eine Pife war durch das Auge gedrungen, die andere durch ben
Bauch. Es war derfelbe Offizier, der vor 2 Jahren von Japan
mac; Blagoweichtjhense zu den Schügen fommanbiert war. Doch
mit dem Ausdrud „abgerifien“ hatte der Mann mehr oder weniger
Recht. Dan mu es den Japanern lajfen, die fleinen Kerls find
immer wie aus dem Ci gepellt, jo da unfre Leute oft einen
recht merflichen Gegenſatz zu ihnen bildeten.
Während weiter im Süden der Krieg im vollen Gange war,
To begann es jept auch bei ung lebhafter zu werden. Cs trafen
2 Esfadronen Primorſcher Dragoner ein, welde die Dörfer am
Strande, 4 Werft von uns, beſetzlen. Auch ein Marineleutnant
K. N. wurde hergeichidt, der von einem verfallenen Turm aus auf
vorbei fahrende Schiffe Signole zu richten hatte. Auch erhielten
mir Nachricht, dab 15 Werft von uns fi eine fouragierende
japanifche Patrouille, 18—20 Mann jtark, gezeigt hatte. Ich
wurde mit 10 Koſaken ausgejandt, um diejes Gerücht zu Ton:
troflieren. Auf der 2often Werſt fübsweitlih fand ich einige Arben
(dinefijche große zweirädrige Karren) mit Stroh beladen und einige
verdächtig ausfehende Chinejen, die id) durch 2 meiner Leute nad)
1
852 Unter dem Augelregen der Japaner.
Haufe eskortieren ließ. Auf mein Befragen antmorteten bie
Chinefen, daß „Ipen” wohl geitern bagemejen jeien, aber mieber
fortgeritten wären. Da ich nur Befehl hatte, 20 Werft zu reiten,
fo mußte ich wieber umfchren. Später erwies es fi, daß bie
Chinefen im legten großen Dorfe Ortafon die Japaner unter
Führung eines „feinen Kapitäng”, b. h. eines Unteroffizier, ver:
fiedt hatten. Wieder floffen die Tage ruhig und friedlich dahin.
Wir wurden zur MiltärsFeldpoften verwendet, daß heißt wir ver-
banden durch Poften unſrer Sotnja das Korps bei Wafangfon
mit ben Norden. Von Süben famen immer beunruhigendere Nach:
richten, während von Norden her Privatbriefe und Glückwunſch-
telegramme unfre Poflenfetten pajlierten.
Mitten unter diefen unfren friebliden Befhäftigungen platzte
eine japaniſche Bombe am 26. Mai recht früh am Morgen in der
Nähe unfrer Kaſerne und mahnte uns deutlih an den Arieg.
Sofort fattelte die Solnja und wir ritten im Trab zum Strande,
aus welcher Richtung dieſer ungebetene Gaft gekommen war. Am
Meere verftedten wir unfre abgeſeſſenen Leute und die Pferde
hinter den Hügeln und wir Offiziere kletierlen den Hügel hinauf.
Leider maren wir in weißen Kilteln und müſſen baher den
japanifchen Dlarineoffizieren der 4 Areuzer, die 4 Werft vor ber
Bucht lagen, ein gutes Ziel geboten haben; denn fofort ging eine
Granate über unfre Köpfe. Wir lichen ums nicht weiter ftören
und fo hoffen die Herren noch 3 Granaten ab aus den elfzölligen
Kanonen, die nur das geringe Reſultat hatten, mich an der Hand
zu ftreifen, jedoch ohne dal bie Hand aud) nur einen Tag nicht ger
brauchsfähig geweſen wäre, und ein Pferd im Werte von fechzig
Not. zu töten. Uns belehrie aber dieſes kleine Intermezzo, daß
ein dunkler Chafifittel im Ariege zwedentfprechender ift als ein
weißer. Rührend war c6, wie nad) der zweiten Granate ein alter
Rofat auf mich zutrat und mid zur Fenertaufe beglückwünſchte,
babei mußte ich einen tiefen Schlud aus feiner Felbflaihe fun, nach
altem Koſalenbrauch.
Unfre Station wurde damals 2 Tage lang bombarbdiert,
doch fügten bie Granaten nur den armen Manbicu (Chinefen)
Schaden zu; benn die Abſicht war wohl den Bahnhof und bie Kaſerne
zu treffen, doch fielen alle Granaten in ein Chinefendorf, bas bicht
beim Bahnhof lag, jo daß wir der Meinung waren, daß in den
Quabraten der Japaner (nad melden fie ſchoſſen) ein Meiner
Fehler geweſen fein muß. Trotz des ſehr ftarfen Schießens er⸗
reichten fie nicht ihren Zwed. Sie hemmlen auf feine Minute
Unter dem Rugelregen ber Japaner. 853
den Zuzug der Truppen und Artillerie nach Wafangfon, was ja
augenideinfid ihre Hauptaufgabe und ihr Veftreben war. Die
Züge famen ebenfo regelmäßig wie ſonſt an, nur langfamer, damit
feine hohe Dampfwolfe den Meg bezeichnen und dem Feinde ein
gutes gewünfchtes Ziel bieten fünne. Cbenfo wie fonjt fchlenderten
wir zur Station, um frische Nachrichten aus der fernen Heimat
durch Briefe oder alte Zeitungen zu erhalten. Von lepteren ber
famen wir leider ſehr wenige zu Gefiht und mußten froh fein,
wenn ein durcreiiender Kamerad oder Korreipondent uns ein
uraltes Eremplar, das ihm ſchon zu anderen Zwecken gedient, wie
3. ®. um eine gebratene Ente darin einpumideln uſw., aus Liebens:
würdigfeit überließ.
So vergingen wieder einige Tage, wo bie einzige Abwechs-
lung die durdfahrenden und durchmarſchierenden Truppen waren,
als am 2. Juni morgens mid) mein Gsfadronschef nad) Süden
abfommandierte, die Feldpoitznfette zu fontrollieren. Ich ritt am
frühen Morgen aus und wunderte mid) ſchon unterwegs über die
vielen Depejden, die mir entgegenfamen, aud hörte id) bald
ftarfen Ranonendonner. Ich beidyleunigte daher joviel als möglich
meine Nevifion und fam gegen Abend in Wangtfialing an, wo
ich Hörte, daß bei Wufangfou eine größere Schlacht im Gange fei.
Das meldete id) jofort nad) Ciungjötihöng und befam die Vor
ſchrift bis auf weiteres in Wangtiialing zu bleiben. Am nädjten
Tag gegen Mittag hatte ih alles in Wangtfialing erledigt und
machte mid) mit meinem Trompeter auf, um mir die Schladpt aus
nädjter Nähe anzujehen. Wir famen gerade auf den linfen
Flügel an, als den Japanern das Pulver ausgegangen war und
General Gerugroß das Kommando zum Bajonettaugriff gab und
man ſchon nach der Muſit rief um vorzugehen. Da fprengte eine
Drbonanz auf ichweißbededttem Pferde an General Gerngroß heran,
ber felbjt am Halſe blutete, ſich aber nicht verbinden lieh, über:
reichte einen Befehl des Generals Baron Stadelberg und fofort
bliefen alle Trompeter und Eignaliften das Eignal „Zurüd“. Co
mußten wir mit jehr ſchwerem Herzen zurüd nad Wangtfialing.
Gern tat es niemand, aud waren die Verlujte auf dem Nüd-
marſche größer. Herborheben möchte ic) hier noch das heldenhafte
Aufleren und Verbinden der Verwundeten unter dem ſtärkſten
Kugelregen durch Frau dert Woronow, der Gemahlin des
Kommandeurs der Primorichen Dragoner.
As ic) wieder auf der Station Wangtfialing anlangte, war
fie zu einem großen fliegenden geldlazaret umgewandelt. Cs waren
354 Unter dem Nugelregen ber Japaner.
ſchon viele Verwundete vorhanden und einige Operationen hatte
befonders Prof. v. Zöge-Manteuffel vorgenommen, und immer
neue Neihen von unverbundenen Soldaten und Offizieren trafen
ein. Sehr gut und eraft arbeitete auch die Kolonne vom Stall:
meifter Sr. Mojeftät Rodſianko, der nur baltijche Ärzte hatte.
Es wurde fieberhaft verbunden. Die ganze vorige Nacht hatten
bie Schweftern und Ürzte nicht geichlafen, jondern Die immer neu
anfommenden Scharen von Verwundeten abgefertigt. Leider ver-
Ipätete der Sanitätszug, und viele mußten in einfahen Waggons
und Plattformen (die di mit Stroh belegt waren) weggebracht
werden, damit für die Nachtommenden Play geihajft würde. Es
war ein Bild, das man nicht fo leicht vergißt, diejer Verbandplag
auf dem Bahnhof mit den Bergen im Hintergrunde, auf beven
vorderſien ſchon tiefe Gräber für die gefallenen Kameraden gegraben
waren. Erhebend war es anzujehen, mit welcher Aufopferung
unfre Kameraden gepflegt, doch auch mit weld) ſioiſcher Ruhe die
größten Schmerzen ohne Klagen und Stöhnen ertragen murben.
Gegen Abend traf endlich der mit Ungeduld erjehnte Canitätozug
ein und mit ihm unjer fommandierender General ber Grenzwache,
Generalleutnant Tichitfehagew, welder mir fofort befahl, die Feld:
pojtenfette einzuziehen und mit den Kojafen nad) Siungjötihöng
abzureiten. Auf dem Wege dorthin überholte id) den Profeſſor
v. Böge-Mantenffel und den Prinzen YVourbon. Beide Herren
wußten noch nicht, wo fie ihr Haupt niederlegen follten. Darauf:
hin forderte ich fie zu mir auf und verſprach ihnen fie nad) dieſem
beißen Tage mit ſaurer Milch zu erfriichen, auch ein faltes Bad
fonnte id den Herren in Ausficht ftellen, da meine Douche nad)
funktionierte und eine Badewanne vorhanden war. Was für eine
Wohltat Baden und reine Wäſche it, dus kann nur der verfiehen,
den bie Umftände ein Mal gezwungen haben, wochenlang in Nleidern
zu fchlafen. Leider fonnten ſich die Herven der Nube nicht lange
bingeben, da jie ſchon am nächſten Tage fort mußten und ich in
derielben Nacht einen Nefognosgierungsritt auf der rechten Flante
am Wieere vorjunehmen hatte. Ich fonjtatierte bald, baß bie
Japaner langfam MWangtfinling beſehten und unfre Pollen am
Deere bedrängten. Denn id) traf ſhon bald den Unteroffizier
Poljafow von der 43. Zolnja wit feinen Kommando, mworunter
and) ſchon Vermundete waren, der in der Nahe von Wangifialing
geitanden.
Ich ritt daher retour, um über alles Gefehene und Ge
hörte (mas man mebenbei geſagt ſehr auseinanderhalten muß,
Unter dem Augelregen ber Japaner. 355
da die Chinefen uns oft nicht ſehr geneigt find) Meldung abzu-
ftatten. Ich fand unjer liebes, ruhiges Ciungjötihöng in ein
tiefiges Felblager umgewanbelt, fo dah es ſchwer war den Weg
hindurchzufinden. Auch fand id) ſchon den Befehl vor, daß alle
Truppen bie Station räumen jollten, bis auf 3 Sotnjen von
unfrer Abteilung, bie nun unter dem jtirfjten Druck der Japaner das
Recht haben follten, die Station zu verlaifen. Wir zogen alfo 3 Sotnjen
ftart, unter Kommando des DOberjtleutnants Tſchewjakinoki, auf
Vorpoften. Unterwegs trafen wir die andern, ſchon nah Norden
Truppenteile. Wir fölen auf der 5. Wert jühlih von
öng 3 Cofadronen der Primotſchen Dragoner ab, die
ung glüdjelig den Wlag überliehen, da fie ſchon ganz nervös von
den jlaflofen Nähten und den ewigen Neibereien und Geplänfeln
mit den Japanern waren.
Vor uns, im Nücen und in der Flanke des Yeindes, war
nur noch ein jtarfes Aufklärungspifett unter Oberleutnant Baron
Prittwig von den 4. Kofaten. Von ihnen liefen alle zwei Stunden
immer beunruhigendere Nachrichten ein. Auch in der Front wurden
wir immer mehr gedrängt, und um dem Feinde nicht unjre Lage
zu verraten, konnte natürlich von Abkochen nicht die Rede fein
und wir mußten uns daher mit etwas Brot ober Zwiebad und
falten Konjerven begnügen.
So rüdte der Abend des 7. Juni heran. Schweigend und
abgejpannt lagen wir neben unfren gejattelten Pferden, als wir
es auf der vorderen Poſtenkette krachen hörten. Unjer ‚zwei, meine
Wenigfeit und Leutnant Poltorapfy wurden fommanbiert, mit je
10 Dann die Vorpoſtenlelte an den gefährdeiiten Stellen zu ver:
ftärfen. Wir famen nod) zur rechten Zeit, denn wir fahen gerade,
wie eine Gofadron Japaner unfer Zentrum durchbreden wollte
und hörten dabei auch gleichzeitig auf der dechten Flanfe ſchiehen
Wir fahen jelbitverjtändlid im Augenblid ab und ein paar Salven
waren nicht ohne Eifeft. Das gute Schießen fiel uns leicht, da
die Diltangen vor unſrer Linie abgemeſſen waren und wir fomit
die Entfernung ganz genau abſchäben fonnten. Daher liefen die
Feinde es beim Verſuch bleiben und drangen nicht ernftlic vor.
Doch leider wiederholten fie dieſes Manöver die ganze Nadıt, To
daß von Schlaf unter diejen Umftänden nicht bie Nede jein fonnte.
Kaum graue der Morgen, als wir ſchon den Befehl des Generals
Samſonow erhielten, in dem er uns ftrift befahl, bis zur Station
Siungjötjöng zurüczugehen. Um Leutnant Baron Prittwig
ſollten wir uns nicht fünmern. Langjum, immer wieder beſchoſſen
356 Unter dem Augelregen der Japaner.
von den anrüdenden Japanern, gingen wir über den Fluß, dicht
vor Siungjötihöng. Hier berief Oberflleutnant Tichewjafinsli die
drei Eotadronschefs und alle Offiziere zu ſich und teilte ihnen mit,
daß 1 Oberoffizier mit 30 Mann hierbleiben müffe, um den Nüd-
zug der 3 Sotnjen zu deden, jo wie unfre 3 Göfadronen den
Nüczug des ganzen Korps des Generals Baron Stadelberg bis
jegt gedeckt hatten. Cr wandte ſich an uns Oberoffiiere und
fragte, wer wohl gewillt jei zu bleiben. Natürlich wollten es alle.
Daher lojten wir und zu meinem Glück traf mid dag Los. Ich
fuchte mir 30 alte Koſaken aus und blieb frohbewegt zurüd, war
es doch die erjte größere und ernſtere Aufgabe, die mir während
des Krieges zuficl. Das erjte war, daß id) meinen Wachtmeijier
Petrow mit 4 Diann auf das andre Ufer fandte als vorgeſchobenen
Bolten, der von einem fleinen Hügel aus die gange Gegend über:
jehen ſollte. Selbſt richtete ich mich häuslih ein, d. h. ich ließ
die Dauer der einen Fanſe nad) Süden einjchlagen, jtellte die
Pferde mit 5 Mann Hinter die Fanjen und lag num mit den
andern 20 Dann rauchend Hinter der halbzerſtörten Mauer, die
ih nun als Wall benugen wollte.
Bir tonnten ruhigen Blutes dem Feinde entgegenfehen, da
die Diftanzen vor unfrem improvifierten Wall wiederum ganz genau
abgemefjen waren und unfre rechte Flante durd Leutnant Baron
Prittwitz geibhügt war. Wir brauchten aud nicht lange zu warten,
als der Wachtmeijter Petrom mit feinen Leuten heranjprengte
und mir meldete, daß ihm auf dem Fuße eine ruſſiſche Aufklärungs-
patrouille der Koſaken (femntli an ihren PBifen) und hinter dieſen
ein Negiment (d. h. 3 Eofabronen, da die Japaner nid)t wie bei
uns ſechs haben) Japaner folge. Ich itellte jeden meiner Leute
an feinen Play und wartete mit jtarftlopfendem Herzen der Dinge,
die da kommen jollten. Alsbald ſprengte die Patrouille in guter
Drdnung heran, mit einem ſchlanken Offizier an der Epige; dus
war, wie ic) fogleich exfannte, Oberleutnant Yaron Prittwig von
den Gmdeulanen; er vief uns zu, daß die Japaner ihm auf den
Ferſen jeien. Kaum war er hinter dem Gijenbahndamm vers
idwunden, als aud) ſchon die Vorhm der Feinde anjprengte. Ich
ließ fie ungefchoren, da id) gerne mehr auf einmal mit ein paar
Salven niederjireden wollte. Bald famen aud) die 3 Esladronen
in mufterhafter Ordnung, wie auf der ‘Barade, im jcharfen Trab
angeritten. Da fie doch niemand mehr in Siungjöticöng anzu-
treffen hofften, jo ritten fie wicht in Schlachtordnung. Ich ließ
fie auf 1400 Schritt heranfommen, gab daun die erjie Salve.
Unter dem Kugelregen der Japaner. 357
6 Pferde mit Neitern gingen fopfüber. Darauf fepten fie ſich in
Galopp und ic) brachte nur noch zwei Salven an. Dann hatten
fie die |chügende Stadtmauer erreicht und es dauerte nicht lange,
bis wir auch ihre Schüſſe in die rechte Flanfe befamen. Ich
tommandierle num „an die Pferde”, wir jagen auf und ritten mit
Sejang ab, was der Feind uns jehr verübelte, da er uns durch
Ehinefen jagen ließ, es wäre unfein angefichts des Feindes, der
drängt von ihm, zu fingen. Uns nahm jofort der jchüßende Eifen-
bahndamm auf, dennoch hatte id) zwei Verwundete und 3 ange:
ſchoſſene Pferde. Im ſchlankem Trabe holte id) die Unjrigen ein,
die auf der 5. Werft abgejeffen waren mb ſich aus dem Dorje
Tee holen ließen. Ich hatte mich kaum gemeldet, als wir ſchon
aus dem nächſtliegenden Dorfe beſchoſſen wurden. Der Oberj-
feutnant kommandierte jofort die eine Esfadron in die Feuerlinie
und ein paar gutgezielte Salven genügten, den Feinden zu zeigen,
daß fie es nicht mehr mit einer Batrouille zu tun haben. Nebenbei
bemerkt, fieben die Japaner nicht unſre Salven, da fie nur das
wilde Schnellfeuer fennen. — Unterdeſſen war es ſchon Mittag
geworden und wir ließen uns in diejem Dorfe häuslich nieber,
d. h. in genau abgemejjenen Entfernungen wurde zwiſchen zwei
Pflöden ein Sirick ausgezogen und jeber der 4 Züge der Esfadron
band die gefattelten Pferde, immer Kopf gegen Kopf, an. Die
Leute zündeten Lleine, zum Feinde Hin abgeblendete Feuer an und
tochten in ihren Heinen Feldkeſſeln ihr frugales Vlittagsbrot.
Während des Mittagefiens wurde auf japaniſchem Pferde,
deffen Sattel ganz blutig war, ein Chineje eingebracht, der jedoch
fließend rujfiich fprad. Nachdem er feinen Strohhut mit daran-
bhängendem Zopfe abgenommen, erfannten wir in ihm den Trom—
peter Woltow von der 6. Esfadron des Primorſchen Dragoner-
regiments. Er war als Spion vor zwei Tagen abgeſchickt und
das Pferd eines von meinen Leuten erſchoſſenen Japauers rettete
ihn, da er ſonſt gefangen und wohl nad) dem Feldgejeg gehängt
worden wäre. Cr jtärkte fi bei unjrer Esfadron und ritt dann
jeelenvergnügt zu den Eeinen. Unterdefen hatte mein Burſche
einen Daulbeerbaum im chineſiſchen Garten ausfindig gemacht,
war hinaufgeflettert und warf uns die wohlſchmedenden Beeren
herunter. Während wir die Beeren auflajen, fielen wieder Schüſſe
und «6 mußten zwei Züge abfommandiert werden, um bie Japaner
aus dem mächiten Dorfe zu vertreiben. Unfer Csfabronschef
meinte, eine befjere Mujif zum Deſſert könne man ſich garnicht
wünfgen. Leider war an dieſem Nachmittag an Erholung für
358 Unter dem Augelregen ber Japaner.
mid) nicht zu benfen, denn durch Wolkow Hatten wir erfahren, daß
die Japaner viele Arben in der Stadt Eiungjöticöng gemietet
hatten und an das Meer ſchickten. Ich mußte daher wieder aufs
fipen und auf die rechte Flanke reiten, um von ber Bergſpitze zu
beobadjten, was fie mit ben Arben am Meere wollten. Kaum
war ich auf einen hohen Berg hinaufgeflettert, als eine Granate
über unfre Köpfe ging und 60 Schritt hinter uns liegen blieb.
Zum Glück frepierte fie nicht, und da wir feine Artilleriſten zum
Entladen hatten, befahl ich eine Grube zu graben und lich durch
vier Mann die Granate vorfihtig aufheben und hineinlegen. Von
diefem Berge aus fah ich auch, woher bie Granate gelommen war.
Es lagen wieder einige Kreuzer in der Bucht und 8 große Trans:
poriſchiſſe entluden Proviant auf die Arben aus der Stadt.
Bis zur anbredhenden Dunfelheit mußte ich auf meinem
Poften bleiben und fehrte dann hundemüde ins Biwak zurüd.
Das Proviantladen war natürlid dem General Samjouow gemeldet
worden und er befahl mit Dlorgengrauen zwei Esfadronen in Zava
(jedermann vom andern 3 Schritt entfernt, die Hinterreihe von
der Vorberreihe 6 Schritt, in ausgezogener Front) vorzureiten,
um zu erfahren, wie ftarf die Belegung von Siungjötihöng fei,
d. b. wir jollten den Feind zwingen, fid zu entwideln und feine
Streitfräte fonjtatieren. Um Y/4 Uhr morgens waren wir marſch-
bereit und ſchwärmten aus. Schon nad) den erjten Schritten jahen
wir feindliche Neiterpatrouillen, die in wilder Flucht in der Nic
tung nad Siungjötfhöng bdavoneilten. Wir ritten in guter
Ordnung im Schritt weiter. Bald wurden wir von mörderiſchem
Kleingewehr⸗ und Maſchinengewehrſeuer empfangen. Ich ließ fofort
meine zwei Züge abfigen und eröjjnete in einem Wäldden ein
Salvenfener auf herausreitende vier Esfadronen Japaner, die dus
Feuer annahmen, abjigend auch ihrerjeits uns beſchoſſen und ji
dabei langfam auf die Stadt zurüdzogen. Dadurd) waren die vier
vor uns liegenden Dörfer frei geworden, da auch von deu Bergen
die 10 Dajdinengewehre nad) der Stadt zu abgefahren waren.
Ich ſchicke davon Meldung und befam den Vefehl mit 5 Koſaten
die rechte Flanfe zu vefognoszieren. Nach 2 Werjt gelangte ich
in eine tiefe Schludt; von dort aus jah id, daß die eine der
Gofadronen der Heinen Gelben abgeſeſſen war und die Pferde
unter ſchwacher Bedeckung ftanden, während die übrige Mannſchaft
wohl zu Fuß einen Umgehungsverjud) unfrer rechten Fiante durd)
die Berge machte.
Deine Anficht beftätigte fih, da ich aufihauend im Weiten
Unter dem Augelregen der Japaner. 350
auf den Berghöhen die marſchierenden Leute jah. Schnell verjtedte
ich meine paar Leute in der Schlucht und fprengte jelbft in rafender
Eile zu meiner Eskadron zurüd, um Verftärtung herbeizuholen
und die abgejeifene Eskadron des Feindes zu vernichten. Ich
befam noch 25 Mann, die ſich freiwillig gemeldet hatten und ritt
in beſchleunigtem Tempo retour. In der Schlucht empfingen mich
die Leute mit der beruhigenden Nachricht, daß die fleinen Japaner
nod) da feien, doch fah ich durch das Fernglas, daß das Dorf
parallel mit uns von einer feindlichen Eskadron beſetzt worden
war, mas naturgemäß nicht zur Erleichterung unfrer Lage beitrug.
Dennod) ließ ich raſch entichloffen meine Leute abfigen und ſchlich
mit ihnen die Schlucht hinauf, durd) ein Gebüſch gededt, bis auf
500 Schritt von den Tee trinfenden Japanern mit der Eskadron
veiterlofer Pferde. Mir gaben 8 Salven ab und richtelen natur:
gemäß mit unfren 23 Slinten ein Majienblutbad befonders unter
den Pferden an, doch auch ca. 25 Japaner blieben tot oder ſtark
fädiert auf dem Plage. Leider kounte ich niemand aufnehmen,
da die feindlide Esfabron, auf die id) ſchon vorher mein Nugens
merf gerichtet hatte, heranjprengte. Ich ließ 20 Mann auffigen
und mit den übrigen 10 gab id) zwei Salven auf die anveitende
Estadron. Dann ritten wir, durch) di hlucht gedeckt, in ſchlankem
Trabe davon, nicht Galopp, denn «6 ijt jonderbar, daß der Mienſch
bei jchneller Gangart nicht mehr Herr feiner Nerven ift und aus
dem Galopp ſofort in Karriere verfällt. Der Oberjtleutnant T.
Hatte diefem Vanöver aus dem Fernglafe zugefehen und begrüßte
mid) mit (autem Hurra. Ebenſolche Dvation wurde uns von feiten
der Sotnja zuteil. Auch die Chinejen begrüßten mich mit freund-
lichem Lächeln, da id) fie durch meine acht Salven für einige Tage
mit. frifchem Pferdeſieiſch veriehen hatte.
Unterdeifen war eo auch ſchon Spätnahmittag geworden und
Pferde und Leute ermattet von den Strapazen der legten Tage.
Daher befahl der Dberitleutnant unire Gefadron in die nahe
Neferve zur Erholung auf einen Tag, um den Pferden zugweiſe
die Sättel abzunehmen und dadurd) die Möglichteil zu geben, die
Nüden fi ein wenig erholen und aud die Mannidaft etwas
ſchlaſen zu laſſen. Sofort braden wir auf und ritten auf die
Bofitionen von Pitfivo, wo wir in der Nähe im Dorfe Samfi
den General Samjonow mit feinem Stabe, den Primorſchen Dras
gonern und den 4. Kojafen vorfanden. Den ganzen Abend war
&8 uns vergönnt, uns zu erholen, welde Zeit wir jofort benußten,
uns reine Wäſche anzuziehen und von Kopf bis Fuß zu waſchen.
300 Unter bem Nugelregen ber Japaner.
Doc) mußten wir um 2 Uhr nachts wieder in die Sättel, um den
Vorpojtenesfadronen zu Hilfe zu eilen. Der Feind hatte fid die
dumfle Nacht zum Überfall ausgejucht. Der Mond ging. in jenen
Nächten um 12 Uhr unter und erft gegen 4 Uhr dämmerte ber
Morgen. Wir famen noch zur rechten Zeit, um eine ſchneidige
Säbelattade der Japaner abznvehren. Wieder entfprach dieſe
Attade nicht den neueſten Lehrbüchern der Taktit, da dort gejagt
it, dab es heute nicht mehr vorfommt, daß Kavallerie ineinander
hineinreitet, jondern der eine ober der andre muß vorher durch
den Anprall wenden. Wir ritten ganz ordentlid) ineinander hinein
und hatten viele Verwundungen, bejonders der Hund, denn da
unfer Säbelgriff ohne Korb, jo itt die Jauft ungefhügt, und der
Feind, der jede leinigfeit zu feinen Gunften ausnutzt, nahm auch
bier naturgemäß bie Gelegenheit wahr, jo viele wie möglich ohne
Mühe fampfunfähig zu machen durch Abjchlagen ber Finger. Noch
eine jegr Ichlane Art dem Gegner viel Echaden zuzufügen, ohne
dabei felbit in große Gefahr zu geraten, lernte id) Jierbei fennen.
Die Japaner warfen ſich nämlich mit Vorliebe wie tot von den
Pferden, und ſchlugen, am Boden liegend, die Fellelgelenfe der
tuffiichen Pferde mit dem Säbel durd. Sie fönnen es mit
Sicherheit tun, da ja ein Pferd befanntlid nur im höchſien Note
fall auf einen liegenden Menfcen tritt. Gegen Diorgen fehrien
wir mit einigen Verwundeten zurüd und legten uns ſchlafen. —
Am Morgen, den 10. Juni, wurde ich zum General Samſonow
befohlen, um mündlich den Bericht über den Hinterhalt vom Tage
zuvor abzujtatten. Der General fragte mid) ſcherzend, ob es mir
als Kavallerijt nicht ſchmerzlich geweſen wäre, fo viele Pferde
nieberzufnallen? Ich mußte ihm alles genan erklären, und vor
allen, warum es mir unmöglich war, einige ber Pferbe abzufangen.
Bei ihm traf ich aud) meinen früheren Bekannten, den einen
Drdonnangoffizier des Generals, Nittmeifter Prinz Bourbon. Bei
dem verbrachte id) den Reſt des Tages und er revanchierte ſich
großartig für das Abendbrot mit fanrer Milch in Siungjötihöng,
denn er hatte die verſchiedenſten Ronjerven mit. Auch lernte ich
bei diejer Gelegenheit den Negimentsfameraden des Prinzen kennen,
den Stabsrittmeifter Tretjafow von den Grodnoſchen Gardehufaren.
So verlebte id) den Tug in Üppigfeit, denn fo gut zu eſſen hutte
in ſchon lange nicht befommen. Abends, wie id) einen Meinen
Spaziergang durch das Dorf machte, traf ich den Nigenjer von
Gramer, Unteroffizier im Primorſchen Dragonerregiment, der mir
freubeftrahlend erzählte, dab ev für das Depejhenbringen nad)
Unter dem Rugefregen ber Japaner. 801
Port Arthur und zurüd mit Leutnant Jellin das Soldatenkreuz
4. Klaſſe des heil. Georg erhalten. Leider war das Kreuz bisher
mod) nicht eingetroffen, was ihm großen Nummer bereitete. Doch
tröftete ich ihn, da er ja im Tagesbefehl gejtanden, alfo feiner
Sade ſchon fiher war. Auch lief mir am felben Abend ein
zweiter Rigenfer in den Weg, Freimiliger Strenge aus bemjelben
Regiment, mit feiner unvermeidlichen Harmonifa unter dem Arm,
mit der er uns ſchon öfter die Zeit verfürzt hatte. Aud er
erzählte mir mit Stolz, dab er einen jelbftändigen Aufklärungsritt
gemacht, der gut abgelaufen war. Xeider fonnten wir den Abend
nicht zufammen verbringen, da die Dragoner weiler ab in einem
Waldchen ſtanden und die Freiwilligen abends bei ihren Esfabronen
fein mußten. So verſloß diejer Tag ohne Störung.
Des Morgens ganz früh mußten wir wieder auf die Vor—
poften. Dir fiel das Los zu, auf der linfen Flanke einen vorge:
ſchobenen Bolten einzunehmen. In der Nähe (1500-2000 Schritt)
von uns war eine Tränfe des Feindes. Ich hatte nur 12 Dann
bei mir und ſollte nur Obacht geben auf die Japaner. Daher
Tieß id) fie die Pferde ruhig tränfen und verhielt mid) mit meinen
Leuten ganz fill. Dod leider verriet uns gegen Mittag bus
Wiehern eines unfrer jungen Pferde, und eine Cofadron ritt an,
um uns aus unfrem Verjted zu vertreiben. Die Infanterie über-
ſchulleie uns unterdeffen mit Kugeln (es iſt ja befannt, daß japa-
niſche Kavallerie ſich nie von ihrer Infanterie auf weiter wie
4 Werft entfernt), doch ohne Schaden anzurichten, da wir durch
Gebüfd) gedeft waren und fie die Entfernung nicht genau ab-
ſchahen konnten. Daher ſchlugen die Kugeln jämtlic) vor uns ein,
zum größten Gaudium meiner Leute. Wir zogen uns dann auf
unfre Vorpojtenlinie zurüc und nahmen in der Nähe einer Kumirnja
(chineſiſches Bethaus) Aufitellung, an ber eine Vergitraße vorbei-
führte. Id Hatte mid) eben etwas zum Ausruhen hingeitredi,
als mir der Poſten einen Zug Chinejen meldete. Dur das
Fernglas erfannte ich eine Schar chineſiſcher Mädchen und drauen
mit Rindern auf dem Rücken und an der Brujt, welche ji uns
näherten. Ich lich fie bis an uns heran, hielt fie dann an und
fragte, was und wohin fie wollen. Es waren alles weibliche Wejen
zwiſchen 12 und 30 Jahren. Sie jagten, daß ſie vor den Jupanern
in die Dörfer flüchteten, die noch von den Ruſſen befegt feien, da
fie fonft von den Japaneın aufgegriffen ud für 15 Nbl. pro
Kopf (ausgezahlt an die Angehörigen) in den Train geſiecki worden
wären. ie baten mid), fie paſſicren zu laſſen und ich ſchickte fie
2 Unter dem augelregen ber Japaner.
daher unter Vededung ins nächſte große Dorf, mo fie von Vers
mandten ober Freunden mit großer Freude empfangen wurden.
Bald darauf mußte ic) zur Verftärfung des Nebenpoſtens
vor, der von einer halben Eskabron Japaner attadiert wurde.
Dabei ſchoß ich mit dem Nevolver einen Japaner vom Pferde,
der ſich zu weit vorgewagt, oder befier gefagt deſſen Pferd durch
gegangen war und ihn zu nah an uns herangebracht hatte. Nach:
dem die halbe Esfabron gewendet und ihre Toten und Verwundeten
in der Eile aufgelejen, außer dem von mir Erfegten, ba er zu
nah an unſrer enerlinie lag, gingen wir heran und ſahen zu
unfrenm großen Erſtaunen, daß es garnicht ein Dann, jondern ein
Knabe von ungefähr 12 Jahren war. Wir beerdigten ihn mit
allen militäriihen Chrenbezeugungen und machten uns dann an
das Verbinden unfrer Verwundeten, beren es dieſes Dial, Gott
fei Danf, nur zwei leichte gab. In der Nacht injpisierte unjer
Oberſtleutnant unſre Poitenfette und forderte mid) auf, nachdem
er bei mir etwas laumarmen Tee getrunfen, ihn zu begleiten.
Es dämmerte ſchon, als wir, nur von unſren Reilknechten und
einem Trompeter begleitet, aufs freie Feld, das zwiſchen uns und
dem Feinde fag, heransfamen. Wir wollten gerade in das Dorf
Safon hineinreiten, das unſter Meinung nad) von einem Auge
der Primorſchen Dragoner unter Yeulnant D. befegt fein mußte,
als uns ein Kugelregen empfing, und ich hatte jegt Gelegenheit
die Raltblütigleit unjres Oberjtleutnants zu bewundern, ber im
Schritt umfehrte, und dem Feinde immer die Seite zeigend,
damit wir feine Schülfe in den Nüden befämen (eine Verwundung,
bie nicht jehr hochgeidjäpt wird), ruhig ins mächite Dorf abritt,
welches jegt von dem aus Ealou vertriebenen Zuge des Leutnants
D. befegt war. Sonderbarer Weife hatten die feinen Gelben
feinem von ung Schaden zugefügt. Im Dorfe, wo wir beim
Kameraden D. einen fleinen Imbiß einnahmen, beſtehend aus
Radieochen, grünen Zwiebeln und Zwicbad, hie; mid) der Oberfl-
feutnant 15 Mann auswählen und unfre linke Flanfe hinunter:
reiten, und dann in füdöftlicer Nichtung weiter, bis id auf den
großen Weg von Siungjöthöng wach der Feitung Cijang käme,
um zu fonjlatieren, ob viele feindliche Truppen und weiche Waffen-
gatlungen am meilten dorthin ziehen. Ich machte mich ſofort auf
und fam am Nachmittag in die Nähe diejes großen Weges; es
dauerte fo lange, da es beſchwerlich wur, dur die Berge dorthin
zu gelangen, troß der Ausdauer der Fleinen mandſchuriſchen
Pferden, die in der Ebene VO— 100 Werft täglich one Überan:
Unter dem Augelregen ber Japaner. 383
ftrengung maden fönnen, was ihnen fein Vollblutpferd nachmacht.
Auch durften wir feine eigentlichen Wege benugen, fonbern nur
auf Fußpfaben vorbringen, um weniger ber Gefahr ausgelegt zu
fein, von Spionen ober Patrouillen entdedt zu werben. Ich vers
ftedte nun Mannfchaft und Pferde in einer durch Gebüfch gebedten
Rumirnja auf einer Bergipige und fonnte nun mit Muße durch
das Fernglas bie vorbeiziehenden Japaner zählen, ohne von ihnen
in meinem Verfied bemerft zu werden. Ich fah gerade, wie zwei
feindliche Rompagnien das Dorf mir gegenüber befegten, um bort
wahrſcheinlich abzutochen und zu nächtigen, als ein Polten mic)
darauf aufmerfiam machte, daß von unſrer Seite eine Csfadron
nahe. Ich befam einen großen Schred, da ich dachte, daf es eine
feindliche fei, doch fofort beichrten mich die Pilen, dab es unire
Leute waren. Ich ſchickte iofort einen Dann entgegen, um dem
Esfabronschef zu melden, daß er nicht weiter Fönne, da er ſoſort
von zwei Kompagnien beſchoſſen würde. Der Chef muß biefe
Warnung nicht richtig verflanden haben, denn er rilt ruhig weiter.
Einige Minuten darauf wurde cr von einem mörberiichen Klein:
gewehrfener empfangen und mußte wenden. Um jeinen Nüdzug
zu deden, beſchoß ich von meinem Verjted aus die Rompagnien
und erreichte e8, dah fie unſte Numienja zu beſchiehen aufingen,
doch ohne Schaven, da fie uns micht jahen und wir von den
Steinmanern gut gededt waren. Die abreitende Esladton hatte
unterdeilen den nädjiten hohen Berg erreicht und beichoh nun
erfolgreich Das Dorf mit den zwei japaniichen Rompagnien. Diejen
Moment benupte ih, um unbemerkt mit meinen Leuten zu ver—
ſchwinden und jchloß mich jofort der Eskadron an. Da jtellte ſich
denn heraus, daß meine Warnung nicht veritanden worden und
ber Kommandeur den Befehl vom General Samſonom hatte,
gerade das Dorf, welches ſchon von zwei Kompagnien bejept mar,
einzunehmen und von dort aus gleich mir die Weobachtung des
großen Weges zu übernehmen, da ja im Quartier des Generals
nicht befannt fein konnte, wo id mit meinen 15 Mann jtede.
Zu unfrer großen Freude hatte diefe Eskadron mur ein Pferd ver:
loren, und der Rofat hatte fogar den Sattel mit (Sepäd gerettet.
Gleich darauf erreichte mid) der Vefehl des Oberftleutuants, zur
Eotnja zurüdjufehren, da vom Quartier des Senerals eine Colnja
kommandiert worden, meine Aufgabe auszuführen. Der Zufall
hatte es gewollt, dad; ich mit ihr zufammengetroffen. Spät in der
Nacht traf ih im Biwak ein. Wir hatten den ganzen Tag nichts
in den Magen befommen und befamen auch jegt nicht einmal Tee,
34 Unter dem Nugelrsgen ber Japaner.
da die Japaner fo nahe herangerückt waren, da; man fein noch fo
Meines Feuer aumachen fonnte. Wir jhnallten alfo bie Band
tiemen enger, zündeten uns ein Pfeifen cineſiſchen Tabads an,
der uns an die Kinderzeit gemahnte, wo man noch Nofenblätter
tauchte, gaben den Pferden etwas Gerſte und Stroh und legten
uns zum Echlummer nieber.
Es dämmerte erjt, als ich von meinem Esfadronschef geweckt
wurde mit ber Nachricht, daß cin Unteroffizier Popow von der
Kompagnie aus der Gefangenjchaft retourniert ſei. Er mar
bei Wafangfou gefangen worden, war einige Tage von den
Japaner ſchlecht gefüttert im Biwak gewejen, bis er vor einen
Japaniichen General geführt wurde, der ihn über einzelnes aus-
fragte, und da er feine befriedigende Antwort erhielt, feiner Uns
gebung einige japaniſche Worte fügte, und jelbft mit der Suite
fortging. Sofort führte man den armen RPopow in eine andıe
Barafe, die eine Schwiede war, band ihm die Hände feit und jtach
ihm glühende Nadeln in die Gelenke, um ihn zu Wusjagen zu
bewegen. Doc da er ſtumm blieb (er fonnte auch wirklich nicht
unfre Artillerie-Bofitionen bezeichnen), fo wurde er mit den laibierten
Händen wieder abgeführt. Doch bezengte auch er, daß, folange
ausländijche Vlilitäragenten zugegen find, die Japaner ſeht menjch-
lich mit ihren Gefangenen umgehen. Doc) beitwitt er auf dus
bejtimmteite, dah es verfleidete Chunchuſen gewefen feien, ſondern
es feien reguläre japanifde Truppen gewejen. Dasjelbe beftätigte
ja auch nachher der von den Japanern mißhandelte Rofafenleutnant
Tokmarow, über den ich Ausführlidres in der Nr. 399 deo „Berl.
Tagebl.” brachte. Glüclicherweife entfam Popow feinen Beinigern,
wurde von den Chineſen verjtekt und mit Yebensmitteln verjehen
und gelangte zu uns, von ıo er ins nächite Feldlazaret abgefertigt
wurde, da jeine Hände ſchredlich ausfahen.
Während wir noch über dieſe Graufamfeiten ſprachen und
den MWunjc äußerten, lieber tot als verwundet und gefangen in
die Hände unfreo Gegners zu fallen, fam der Befehl, da 3 von
uns mit je 20 Dann vorreiten jollten, je einer redjis, Linfo und
geradeaus. Hinler uns jollten 3 njen in Yava folgen, um
den Feind wiederum zu zwingen, jeine Kräfte zu entwideln, da
wir Verdacht hatten, da er Veritärfung erhalten habe. Daher
bradjen wir drei auf, meine Wenigfeit auf der linfen Zlante,
Leutnant P. vor dem Zentrum den Eiſenbahndamm entlang und
Yeutnant T. auf der rechten Flanfe am Meere entlang.
Unter dem Rugeleegen ber Japaner. 365
Bald ftieß ic auch in den Bergen auf eine größere Ab»
teilung Japaner, die ich auf eine ganze Esfabron tarierte. Doch
irrt man fid öfter, da fie über das freie Feld oder eine Schlucht,
felbft wenn fie ſich unbeobachtet wähnen, immer in Heinen Trupps
von 3-5 Mann hinüberjprengen. Diefe feindliche Abteilung
retirierte, fo mie fie meiner anfichtig wurbe. Ich meldete dieſes
Zufammentrefien und nahm die Verfolgung auf. Nachdem ich
ihnen bereits ſtundenlang gefolgt war, ſah ich von einem hohen
Berge aus, daß bie vermeintliche Esfadron nur eine ftärkere Aufs
Märungspatrouille von 30-35 Mann war. Meldele alſo biefen
Irrtum, und jah auch bald zu meiner Nechten eine Patrouille
meines Rameraden von ben Primorfchen Dragonern, bes Leutnants
Nilſchitz (ein ferbifcher Wlanenoffizier, der in Rußland Dienfte ger
nommen und ſchon das Georgenfreuz erhalten), welcher auch bieje
30 Mann verfolgte.
Bir Hatten uns die ganze Zeit nicht gejehen, da Berge uns
trennten, doch müllen die Feinde den Kameraden eher erblicdt
haben, weil fie fo ſchnell vor mir zurüdwichen. So kamen wir
bis an den hohen Zelstegel mit einem Denkmal, welcher von ben
Chineſen die „Iteinerne Jungfrau“ genannt wird, woran ſich eine
hinefische Legende fnüpft, Die auf ein Haar der Sage von ber
Heldenmutter Niobe gleicht. Da fing es mir an aufzufallen, daß
bie japaniſchen Dragoner ihr Tempo verlangjamten und ich machte
meinen Kameraden darauf aufmerkſam. Der ſchlug nun einen
Umgehungsverfuch vor, ritt nad) Weiten ab und ich ritt in alter
Richtung vorwärts, bis mir einige 800 Schritt vor mir ein Ger
büfch auffiel, das früher, joviel ich mid) erinnern fonnte, nicht
dort geftanden. Kaum waren bie roten Holen ber japanifchen
Ravalleriften hinter diefem Gebüjch verſchwunden, als es dort von
grauen Beinkleidern ber japaniſchen Infanterie zu wimmeln
begann. Wir wurden von drei Seiten auf einmal beſchoſſen. Ich
fieß fofort meine Leute abfigen, die Pferde hinter ein einſam⸗
ftebendes Haus verfteden, die Leute ſich Hinlegen und ein paar
Salven als Antwort geben, um vor Allem zu verhindern, daß fie
zur Attade auf mein Häuflein Dienfchen vorgingen. Beim Abfigen
merfte id), daß ber eine meiner jungen Soldaten am Schenfel
ſtart verwundet war und befahl ihm, nicht abzufigen jondern bei
den Pferden zu bleiben. Dod hörte er nicht, fondern kroch in,
bie Feuerlinie (da er nicht mehr gehen fonnte) und meinte, er
müffe ſich doch erſt revandjieren. Leider fonnten wir nur 3 Salven
anbringen, von denen bejonders eine brillant jaß, da fie gerade
Baltilde Monaterhrift 1905, deſt 5. 2
388 Unter dem Rugelsegen ber Japaner.
einichlug, als ber Feind zum Bajonettangriff vorgehen wollte, und
ben fchügenden Wall, der fich Hinter dem verdächtigen Gebüfch ber
fand, verlafien Hatte. Wir ſaßen fchnell auf, warfen bie Ver—
wundeten auf ihre Pferde und ritten nach Meften ab, auf ein
Dorf zu, wo ich ben Leutnant Nilſchitz zu treffen hoffte. Diefe
Seite war auch außerdem bie einzige, wohin ich mich wenben
Tonnte, da mir der Rückzug durch eine abgefefiene halbe Esladron
abgefchnitten war. Kaum mar ich im Dorf, als mir feitwärts
durch bie Heinen Gäßchen eine Menge Rothoſen bemerften, bie
verzweifelte Anftrengungen machten, zu uns zu gelangen. Unſre
Lage wurde mehr wie fritiih. Jetzt waren wir nur noch durch
einen Häuferfompler getrennt, ala mir mein Zugunteroffigier Gurin,
ein in ben verfchiebenften Abentenern ergrauter Koſal, zurief, daß
wohl feine Rettung und das Befte wäre, in einem ber Höfe ab-
zufigen und fein Zeben fo teuer wie möglich zu verfaufen. Go
fprengten wir in ben nächſten Hof, um biefe Abficht auszuführen,
als fchnell nach einander zwei Salven, die ja nur ruffiiche fein
Tonnten, bei ben SJapanern einfchlugen. Die Verwirrung bes
Feinbes benugend, ritt ich, eine Hinterthür bes Gehöfts benupend,
bie ins freie Feld führte, in ber Richtung der Salven davon.
Natürlich ſchoſſen mir bie feinen Gelben nad), doch maren wir
gerettet und Gott ſei Dank ohne Tote und mit nur 5 Ver—
munbeten unb einigen bleffierten Pferden. Wir ritten über ben
Eifenbahndamm und trafen bort meine Kameraden PB. und
Niffhig, die mir burd ihre gulgezielten Salven aus ber
Klemme geholfen.
Auf unfrem rechten Flügel war aud ſchon ein hübſches
Handgemenge im Gange, bas leider für uns mit einem Rüchuge
enbete, da der Feind in großer Übermacht war. Wir onftatierten
12 Batallione, 12 Eskadronen und ca. 4 Batterien, außerdem bie
au den Batallionen gehörenden Mafchinengewehre. Diefe große
Übermacht beruhigte einigermaßen unſren eben erſt eingetroffenen
Regimentsfommanbeur Oberſt von Winning, der ungern mit
feinen 3 Esladronen (halbes Kegiment) zurückging. Bon ihm
befam ic) Vorihrift auf den Feind zu achten und dort zu bleiben,
mo ich war. Da Leutnant Nikihig denfelben Befehl erhielt, fo
ließen wir uns in einem Wäldchen nicder. So gingen einige
Stunden hin und wir wurden nur von Zeit zu Zeit von einigen
Rugeln der Zapanern begrüßt, bie wahricheinlich zeigen follten, daß
die Feinde unfer Verſteck erraten. Auf einmal merften wir große
Bewegung in dem Dorfe vor uns und 2 Gefabronen ritlen in
Unter dem Rugelregen ber Japaner. 387
Schlahtorbnung heraus, wahrfcheinfih um uns zu vertreiben und
zu fehen, was hinter unſtem Rüden vorging. Wir liefen unjre
Leute zufamentreten und beſchoſſen den Feind, unfren 2 Trompeten
befahlen wir unaufhörlich umherzureiten und balb Hier, balb ba
Signale zum Sammeln zu blafen, bamit der Feind getäufcht würde
und benten follte, daß eine größere Macht das Wäldchen bejeht
Halte. Der Feind lieh ſich aud) wirklich durch biefes Scheinmanöver
täuſchen und zog ſich mit Verluften zurüd, wir aber hatten Ruhe
bis zum Abend, wurden dann abgelöſt und kehrten jeder zu feinem
Regiment zurüd.
As id) mic, beim Regimentstommandenr meldete, fagte er
mir viel Schmeichelhaftes über meinen gelungenen Hinterhalt vom
9. Juni, und teilte mir mit, daß General-Adjutant Ruropatlin es
Sr. Majeftät gemeldet. Außerdem überreichte er mir etwa 15 Briefe
aus der Heimat (wir befamen auf Vorpoften felten Briefe, doch
mern Schon, dann gleich in größerer Anzahl) und ein Päckchen von
meiner Mutter mit einigen Hemden und Chofolade. So endete
ber Tag, ber fo ſchlimm zu werben drohte, prachtvoll! Auch die
andren hatten Briefe aus der Heimat erhalten und daher verlief
das Abendbrot, wozu Kamerad Tretjafow die meiften jeiner Kon-
ferven geopfert, ſehr luſtig, trop mangelhaften Veiteds, da mur
3 Gabeln und ebenfoviel Meſſer aus dem eleganten Neceijair T.'s
und einige finnifche Meier und Holzlöfel vorhanden waren. Cs
wurde viel geſcherzt und gelacht, aud gab PB. mein heutiges
Abenteuer zum beiten, in ftart humoriftii‘er Färbung, worauf
id mein Glas falten Tee erhob und meinte, ich fönne mich jeht
mit Recht als Dlitglieb der „unjterblihen“ Sotnja betradhten.
Unfre Sotnja war nãmlich fhon in größeren Schlachten im chineſiſchen
Kriege aktiv geweſen umb hatte immer wenig Verlufte zu ver:
zeichnen. Unfer Kommandeur erwiderte lachend, daß es wohl bie
faufende Nummer unfrer Esladron fei, die uns Glück bringe —
wir führen nämlih die ominöfe „Nr. 13“, das muß alfo doch
wohl nicht jo durchaus eine Unglüdszahl fein.
Der Abend wurde erjt recht urgemütlich, denn Tretjakow
griff noch tiefer in feine Satteltaſche und holte eine Flaſche guten
alten Cognac hervor. Nun konnten wir uns nod ein feines Glas
fteifen Grog brauen. Während unfres Beilammenfeins wurde ber
Nittmeifter Tretjalow zu General Samſonow gerufen, und über:
brachte bald darauf unfrem Regiments-Rommanbenr Oberft von
Winning den Befehl des KRorpstommandeurs, Generals Baron
Stadelberg, daß er mit feinem halben Reiter-Regiment auf Siung:
*
368 Unter dem Rugelrsgen der Japaner.
jötihöng vorrüden folle, als Vortrab ber beiden Negimenter bes
Generals Samfonom, um biefen Ort, wenn möglich, wieber einzu
nehmen, unb zwar follten wir ſchon um 1/23 Uhr losreiten. General
Samfonow mollte um 3 Uhr mit den andren aufbreden. Oberft
v. Winning wurde vom Stabsrittmeifter T. noch perſönlich gebeten,
ihm die eine Vorhutpatrowille zu geben, der Oberft war bamit
einverfianben, zum Unglüd T.’s, ber, feiner Kurzfichtigleit halber,
bei diejer Affaire aud) blieb, zerhadt von den Japanern. Mir
gab er wieber die Aufflärungspatronille bes linken Flügels, und
legte mir ans Ger, auf einen etwaigen Umgehungsverfudh des
Feindes zu achten; Oberleutnant P. ritt im Zentrum (weil wir
beibe doch ſchon zufammen gearbeitet hatten und das Terrain gut
fannten) und ber Stabsriltmeiſter T. auf der rechten Flanke.
Da wir drei ſchon um 2 Uhr aufbrechen follten, legten wir
uns fofort nieder, um dod noch ein paar Stunden Ruhe, oder
wenn möglich, Schlaf zu genießen. In der Dämmerung medte
mid) punft Y/2 Uhr der Unteroffiier und ich ließ meine Leute
vom vorigen Tage antreten, erflärte ihnen umjre Yufgabe und
ritt frohgemut los. Als der Morgen eben graute, famen wir an
ber „Iteinerne Jungfrau” an, trafen dort einen Chinejen und
fragten, ob „Ipen“ in ber Nähe jeien. Er bejahte und zeigte auf
das nächte Dorf. Kaum waren wir dort hineingeriften, als meine
erften Vorreiter Schüfe abgaben und ich einige Japaner mit
Hühnern unter dem Arm flüchten ſah. Es waren ihrer 15 Diann,
3 davon blieben auf dem Plage, der vierte, ſchwerverwundet,
murde fofort von zwei feiner Kameraden aufgehoben, einem dritten
über die Schulter geworfen mit fo gewandtem und ſchnellem Griff,
daß es unbedingt vorher eingeübt gewejen fein muß, und flüchteten
in bie Berge. Wir konnten uns aber nicht länger mit ihnen bes
Ichäftigen, da wir in ber rechten Flanke beſchoſſen wurden, von
einer abgeſeſſenen Aufflärungspatrouille der Japaner. Wir mußten
nun aud) abfigen und hinter Gräbern verjtedt verfuhen den Feind
(d. h. bie Patrouille der Japaner) zu vertreiben. Das dauerte
einige Stunden, da fie in der Übermadt waren und gerne an
mir vorüber wollten, um zu fehen, was die Unirigen hinter mir
treiben. Zu gleicher Zeit hörte ich auch in ber Gegend bes Eifen-
bahndammes ftarfes Schiehen, und ſchloß daraus, daß dort Kamerad
P auch ſchon mit dem Feinde in Fühlung gefommen fe. Da
fi das Schießen immer mehr näherte, fo zog es mein Gegner
vor, ſich zurüdzupiehen. Ich verfolgte ihn, fam dabei über einen
hohen Bergrüden und ſah durch das Fernglas zu meinem Er—
Unter dem Rugelregen ber Japaner. 3
ſtaunen, daß die Schlucht ca. 2 Werft von meinem Standpunfte
von Infanterie und Artilferie wimmelte, welche nad) norb-öftlicher
Richtung marſchierten. Es mar fofort klar, daß es ſich hier nur
um einen Umgehungsverfuch Handeln fonnte, und ich wollte eine
Eſiafette an ben Negimentsommandeur fhiden, als id) unter mir
einen japaniihen NKavallerieoffizier dahiniprengen jah, nur von
2 Soldaten begleitet, welder augenſcheinlich eine Botſchaft nach
der Stadt Siungjötichöng zu bringen hatte. Sofort ſchnitten meine
Leute ifm den Weg ab unb umringten ihn. Der Offiier, der
ſich in der Nähe als Secondeleutnant von etwa 19 Jahren erwies,
fuchtelte wild mit dem Säbel um ji, als ich heranritt, meinen
Leuten bedeutete von ihm abyuftehen und ihm japaniſch, Damané“
zurief, d. h. „ergeben Eie ſich“. Dod er antwortete jo etwas
wie „je ne veux pas“ und gleih darauf kreuzten ſich unfre
Sübel. Doch focht er fehr jonderbar, er fuchtelte immer nur mit
der Klinge und verfuchte zu ſtechen. Ich traf ihm quer durch das
Geſicht und befahl dem Kojaten Maslow fein Pferd am Zügel zu
nehmen, um ihn zum Werbandplag zu bringen. Doch da er ſich
verwundet auch noch zur Wehr ſehen wollte, jo mußte er nieder⸗
gemacht werden. In demfelben Augenblid befamen wir von links
und von vorne einen Hagel von Nugeln. Mein Pferd brach jofort
zufammen und ich felbft befam einen Knieſchuß, aud) ber linke
Arm verfagte (audy Folge eines Schußes.) Gleich darauf hörten
mir aud) den Schladtruf: „Banſai“ und „Tarraba“ und über
mich ging eine Eskadron hinüber. Dennod gelang es meinen
braven Jungens mich herauszuhauen und auf ein freies Pferd zu
werfen. Wir ritten nun hinter den Berg und jaßen ſchnell ab
(d. h. meine Leute, ich ſelbſt konnte nicht) und beichoflen mit
Schnellfeuer den herannahenden Feind, der jegt wohl meinte, duß
er es mit herbeigeeilter Infanterie zu tun habe und ſich langiam,
feine Verwundeten wmitnehmend, zurüdzog. Wir Hatten 4 Ver:
wundete außer mir. Ich ſchickte fie zum Verbandplag, ſelbſt wollte
id) dem General Samſonow über den Umgehungsverjudh Meldung
eritatten. Dabei mußte id) ein freies Feld pailieren und wurde
fofort von den Japaner beſchoſſen. Die Müpe murde mir vom
KRopfe gerifien und ich fühlte einen Schlag auf den Wiagen und
war nun überzeugt, baß ih einen Vaudyichuß weg habe. Nadpher
aber erwies es ſich, daß der Säbelgriff die Kugel aufgehalten.
Mein Knie brannte und ſchmerzte ſtark, aud) floh das Blut reichlich.
Da hörte ih hinter mir (von den Vleinen war id) noch 11/e--2
Werft entfernt) Pferdegetrappel, drehe mid um und jehe einen
0 Unter dem Rugelregen ber Japaner.
japaniiden Leutnant mit 2 Mann mid) verfolgen. An dem
ſchwankenden Sig im Sattel muß er wohl erkannt haben, daß ih
idhwerverwundet bin und wollte mid, wohl gefangen nehmen. Im
erſten Augenblid war ich zu apatiih, um etwas zu benfen und
ritt ruhig im Meinen Trab weiter, bis mid einige japanijde
Schimpfworte aufrüttelten. Ich hörte, wie ber Verfolger mich, mit
den bianfen Säbel fuchtelnd, anſchtie: „Kakoe koi inu“ (ieh?
fill, Hund!) Diefe fein ausgewählte Anrede vertrieb mir fofort
jedes Gefüfte auf eine nähere Befanntfhaft mit ihm. Ich Hielt
nun das Pferden an und wartete mit bem gejpannten Revolver
in der Hand, bis ber ſchon freubig erregte Herr (ber glaubte, ich
habe angehalten, um mich zu ergeben) auf ungefähr 50 Schritt
heranfommen, dann ſchoß ich zwei Mal furz nacheinander unb ber
junge Dann fiel rüclings vom Pferde, id fah nur noch, wie feine
beiden Wegleiter abiprangen, wandte mein Pferd und ritt, ſo ſchnell
das Tierchen laufen konnte, davon. Doch nod) eine Kugel, viel:
leicht eine von den abgejeilenen Begleitern des japaniſchen Leutnants,
erreichte mein Pferd, Diejes jtolperte, und ich viel fopfüber aus
dem Eattel, wurde aber gleich darauf von einer Koſakenpatrouille
aufgelefen und befam ein frisches Pferd, auf dem ich ben General
Samfonow auffuchte und mid bei ihm als verwundet abmeldete,
nachdem ich ihm den Umgehungsverfuch der japaniihen Infanterie
und Artillerie gemeldet. Leider Hinderte mi ein Ohnmachtsanfall,
in Folge jtarfen Blutverluſtes und langen Neitens nad der Ver:
wundung, die Antwort Sr. Grellenz zu hören. Ws ic zu mir
tam, hatte id) das niederfchlagende Bewußtſein, jept für einige
Monate fampfunfähig zu fein, und nur die Hoffnung, bald wieder
hergeitellt aufs neue in bie Reihen meiner Kameraden eintreten
zu können, gab mir neuen Lebensmut.
AR
Bedigte
von
Eduard Fehre.
Bon einem Sommer,
Das war ein alter Herrenfig !
Einſt Hatten Seivenichleppen
Sin jimmerndes Parkett geitreift —
Nun brödelten bie Treppen;
Das Dedenbild, gefallen war's
Der firengen Zeit zur Beute — —
Des Sommers, ben id) dort verlebt.
Woht dent’ ich fein mod) heute.
Der Gartenpart! In farb'gem Tan
Sprangen der Sonne Lichter,
Im Strauchwert Halb verborgen, quolf
Die Himbeer dicht und dichter.
Der Linde Blüten Iodten an
Der Bienen frope Schwärme,
Und alles was da lebte, ſwien
Getaugt in Sicht und Wärme. . .
Bu Ende ging ein fhwüler Tag,
Die Sonne war im Sinten;
Der Garten wollte nod vor Racht
Die lehien Strahlen trinten.
Da haben Hänge ſeltſam fremd
Der Bruit fih mir entrungen;,
Da hab’ ich — jelber fahı” id’s laum —
Bein eriteß Sieb gefungen.
Gedichte.
Der Garten.
Du Garten hinterm Haufe,
Der meine Kindheit fah,
Die fiegft du traumperfunfen
Im Sonnenicimmer da!
Dir dedte oft den Himmel
Ein graues Einerli —
Doch über dir, mein Garten,
Leuchtet ein ewiger Mai!
Gang leiſe narrt die Bforte —
Seh’ ich und hör" ich vet?
Ihr Bäume, Lauben, Berle,
Ihr lebel und ihr fpredt!
Bon goldnem Laden Halt es,
Bon frohen Liedern klingt’,
Bon Zauberblumen dufters.
Bon Wärgen raunt und fing’®. . .
Schweiterlein.
Sqhweſterlein, Schweiterlein!
Wie gingft du fräß zur Ruh’!
Wars doc) blauer Frühlingstag:
Sonne über den Wegen lag;
Seren fangen — aber du
Scloffeit IL die Augen zu.
Scweiterlein, Schweiterlein!
Was ift mit dir geihehn?
Brüder und Schweitern famen zuhauf —
Aber dic, wedi niemand auf.
Sollen fie wieber nad) Haufe gehn,
Lerche nicht hören, Sonne nicht fehn?
Einem Frühvolleudeten.
Die Luft durdfcmirtt' ein Pfeil
Du janteft hin gu frühen Schlaf
Sie brad) dir an, die lange Radıt,
Noch eh’ die Ernte eingebracht.
er traf;
Bedigte 378
Den Ader, der dir anvertraut,
Wie Haft du reulich ihn bebaut!
Dir fahen reiche Frucht erbiahn
Aus deiner Hände beidem Mühn. . -
’s üt eine Zeit, bie Manner braucht!
Du haſt für ſolche Zeit getaugt.
Ein Freier, feiner Clique Stlan — —
Die Luft durdicwiret ein Pfeil: er traf. . -
Blüte und Frucht.
Die bald vermeht der Frühlingstraum!
Vereinſamt ſchweigt der Garten.
Kur wenige Frühe trägt der Baum —
Hundert der Blüten eritarrten. © . .
Spätlanb,
Des Sommers Glut, du falbes Laub,
Hat lange über Dir geglommen —
Run ſiniſt du, eines Hauces Raub:
Dein Spätherbft it herangefommen.
Doc stil! Im Maienfonnenblid
Wird fid) Die neue Anofpe weiten —
Ergieb dich drum in dein Gefchid,
Das Feld der Zufunft zu bereiten!
Nur jelten...
Weiß nichts von Luft, weiß nichts von Leide
Beit inter mir liegen fie beide, beide.
Die Bogen kamen lüngft zur Ruß”,
Und Gifesrinde dect fie zu. - -
Rur felten — — fpät nad Mitternacht,
Wenn ich mein Tagewert vollbragt
Und müb und matt
Gefunten auf die Sagerftatt:
Gedigte.
Tritt vor mich Hin eine hohe Beftalt,
Von langem jchwarzem Schleier ummaltt,
Wit Flügeln gewoben aus Duft und Glanz,
Im Haar den Immorlellentrang —
Und fireidt mir über bie Stiene Find,
Als wär’ ic) ein armes, franfes Kind,
Und raunet Leife
Diefe Weile:
‚Haft du denn ganz und gar vergeffen,
Dahı du mein beſtes Teil bejefien?
Nur fromme Sage
Sind jene Tage,
Da du des Menfohtums quälende Fragen
Wit heiligen Ernit in der Seele getragen;
Da du dem Hersichlag nadıgefpürt,
Der ſich in allem Leben rührt;
Da dir bei Morgen» und Abendſchein
Des Meeres Welle, der ftille Hain
Ihr Urgefeimnis zugerauſcht;
Da du mit Sternen Grüße getauſcht
Und — weißt du noch? — zu Wonn’ und Dual
Yeib traf auch did) der Liebe Strahl.
Da Haft du gejauchtt, da haft du gebebt — —
Da haft du gelebt!”
Und ſchaut mid) an mit trautem Blid:
„Rennit du mich noch? Ich bin’s, das Glüd!“
Und fehnend fahr’ ich dann empor:
Gin Yapnenicheei trifft rauf mein Ohr;
Durchs Fenfter briit ein matteß Rot — —
Gerz, lebſt Du noch? Herz, biſt bu tot?
Das alte und dad neue Haus,
Im Worgendämmerfcjein
Mid) ſprechen hör’ ich laut:
„Das alte Haus fält ein,
Ein neues wirb gebaut.“
Das war im Fibelbuc,
Mein eiſtes Lefeftüd —
Wie dünft’ ich da mic, klug
In jungen Bauens Blüd!
Gedigte. 35
„Das alte Haus fült ein —
Ein neues wird gebaut!"
In Sturm und Welterfgein
Ref ich die Loſung laut.
Ic warf, was morf& und welt,
Mit rauher Yand Hinaus.
Aus ftärterem Gebält
Erftand ein neues Haus. . -
Des Lebens Haus wird alt,
Schon zittert leil' der Grund;
Auch ihm — wer weih, wie bald? —
Kommt eine fepte Stund’.
Ein Abenddammerſchein..
Dann aber ruf’ ichs laut
»Da8 alte Haus fiel ein —
Ein neues jteht erbaut!"
Aus einem alten Tagebuch.
Aufgeihnungen des Fräulein Wirike von Stryt a. d. Haufe Palla *.
u ä
%o. 1748. Den 1. Januari.
Das alte Jahr ift hin, ein neues tritt herein,
Ad) laf mid, Hödhfter Gott, auch neu und beffer fein
In diefem neuen Jahr. Zub mic die Sünde fliehen,
Lob mid) in Deinem Lob nur jugen mein Vergnügen.
Nichts Gutes wohnt in mir, das iſt Dir Herr bemußt,
Ach ändre doch daS Herz, reiß jelbjt aus meiner Bruft,
Was Dir zumider it. Ad lab mid Dir nur leben
Und gänglic) fterben mir, la meine Seele jtreben
Rad) Deiner Gnad und Huld. Erfalt id) dieſes nur,
So wunſch ich weiter nichts, ich Hab alsdann bie Aur
Bu meinem emgen Wohl. Nun Gott, Du tannit e8 geben.
So wohne denn in mir und faf; mic, in Dir Ichen.
Ic bitte ferner auch, erbarmungsdoller Gott,
Nimm biefeß ganze Haus, Allmächtiger Zebaoth,
In Deinen itarten Schug; ah uns fein Unfal rühren,
Und was uns jept betrübt, daraus wollſt Du uns führen.
Erhalt uns allejommt in Deiner Gnad und Huld.
Ach ſteh uns fräftig bei, ach ſchent uns doch Geduld,
So uns viel Ruhen ſchafft in allem Sreuz und Plegen.
Herr, wenn Du mas auflegit, jo belf auch ſelber tragen.
Sieb, doß wir uns mit Ernſt um unfer Heil bemühn
Und uns von Deinem Geijt zum Guten laſſen zieh.
Zah Deine reine Lehr noch ferner bei uns blühn
Und alle Heuchelei von unfrer Grenze flichn.
Beſchutz das ganze Land, erhalt den edien Frieden,
Ein jeder fei vergnügt mit dem, was ihm beidjieben.
*) Das Manuftript diefes in kulturgeſchichtlicher Hinſicht nicht unintereje
fanten Tageduhes befindet fih auf dem Gute Pala in Yivland.
Aus einem alten Tagebuch 377
Freytag den 1. Januar. Die liebe Mama hat biefe
Nacht ſchlaflos zugebracht und befindet ſich auch recht übel. Wir
fangen alfo das neue Jahr fehr betrübt an. Gott helfe uns
weiter. Bruber Berend feine Reife nach Narva iſt, weil bie liebe
Mama ſich ſo ſchlecht befindet, nachgeblieben. Sander ift hingegen
heute nach Narva expediret worden.
Montag den 4. Heute hat uns der Herr Paſtor Ucke
das Heil. Abendmahl gereicht. Der Allerhöchſie gebe, daB wir es
würbiglid möchten empfangen haben, daß es zu unferer Seelen
Heil gedeihen möchte.
Mittwod den 6. als Heil. II Ränge. Recht früh
machten wir uns auf und fuhren nad) Sarenhof, in dem bafigen
Krug erhielten wir die Nachricht, dab die Herrſchaft jänmtl. nach
Kudding verreifen würde, die Taufe des Jüngitgeborenen Söhnchens
des Herrn Rillmeiſters Eſſen beizuwohnen. Wir hielten aljo alle
drei Confilium und beſchloſſen endlich, daß Bruder. Berend vorbei
nad Dorpat fortfegen, wir aber einfehren follten, was auch geſchahe.
Wir fanden Ihnen alferfeits ganz reileferlig. . . Indeſſen hatten
wir doc das Vergnügen, Ihnen eine Stunde und was darüber
zu Iprechen, auch unterichiedl. koſtbare Zeuge und Estoffen zu ſehen,
die der Here Ordnungsrichter d. Boch aus Dorpat gebracht, aus
welchen feine Tochter, die verlobte Braut des Herrn von Platers,
ſich zwei Kleidung wählen follte. Ihr Mahl war auch ganz gut,
denn zum Brautlleid hatte Sie ſich auserlefen ein franz. Estoffe,
weißer Grund mit allerhand farbigte Ranfen, und zur Adrienne
roth Greset, weldjes vermuihlich mit Silber bejegt wird ꝛc. Die
verwittibte Fran v. Cronmann trafen wir auch allda an, welde
uns veriprad, mit uns zu fommen. Wie Sie alle nad Kuddin,
las ich den Ueberbleibfel von unferer Geſellſchaft die Predigt vor,
worauf wir aßen, Thee drunfen und fodanı zu Hauſe fuhren,
allwo wir en compagnie der Fr. v. Cronmann vor einer Elunde
glüdlich angekommen find.
Donnerstag d. 7. Der Kerr Paltor Ude gab an
Mama von einer Diedipin, die der Tormaſche Paſtor Eijen labo—
riret. eil. Tropfen, dieſes wollte Schweſter Ann-Lieschen heute
Morgen Mama eingeben, indem Sie aber in dem Löffel tröpfelt,
ſchlug das Feuer von dem babeiftchenden Lichte in dem Glafe und
zerbrach es in hundert Stüde. Co iſt doch ſonderbar, daß bie
378 Aus einem alten Tagebud).
1. Mama fein Mebizin genießen fann, indem allerhand Fatalitäten
ihr daran hindern.
Frentag d. 8. Bruder Verend kam aus Dorpat nad)
hauſe. Er hat fi) graulich Laden zum Kleid ausgenommen, desgl.
ponforoth Griset zur Wefte, mit gülbner Spige bejegt. Der
Schneider hat auch angefangen heute darauf zu arbeiten.
Sonnabend d. 9. Die Frau Orbnungs-Richterin Reh—
Binder ift zu Haufe gefommen mit einer großen Suite von Gäſten,
Ihre Mutter die Sanbräthin und beren Töchter, Schwieger-Gohn
und ꝛc., welche ſich heute hier gemeldet, daß fie morgen her
fommen wollen.
Sonntag d. 10. Gegen den Gottesbienft famen unfere
Säfte hier an. Näml. bie Fr. Landrätin Eſſen mit Ihre brei
Töchter, die Fr. Ordnungs-Richter Nehbinbern, die Fr. Aſſeſſorin
Wrangeln und die Frl. Efien, besgl. Ihr Sohn ber Lieut. Eſſen
und Schwieger-Sohn der Aſſeſſor Wrangel. Sie blieben hier bis
Abend, das Frauen-Zimmer fuhr früher weg, die Cavalier fpeiften
aber noch den Abend hier.
Montag d. 11. Gegen Abend famen die beiden Brüber
Guſtav und Otto unvermuthlich hier an und verurſachten dahero
befto größere Freude.
Donners:tag d. 14. Heute find wir befchäftigt, uns zur
der morgendigen Reife zum Jahrmarkt zu prepariren.
Freytag d. 15. Hente um 8 Uhr ging unfere Reife nach
Dorpat vor fih. Die I. Mama blieb mit Schwefter Beatchen zu
Haufe. Im der Iggaferſchen Poftirung fpeiften wir und hielten
uns eil. Stunden dar auf. Um 4 Uhr trafen wir hier in Dorpat
ein, bie erfte Vifite, fo wir befommen, iſt von einer fehr fieben
Freundinn, nämlich die Majorin Sievers, gleich darauf fam auch
ber Herr Major Sievers und ber Hufarenmajor zu uns. Ihnen
folgten ber Lieut. Mündhaufen, der Vereuter Weberg und ber
Aſſeſſor Paikul von Türbfal, welde, ba fie Thee getrunfen, zum
L’ombre:Spiel ſich jegten; fie fpeilten ben Abend bei uns und
ſchieden um 12 Uhr.
Sonnabend b. 16. Sobald wir uns angefleibet hatten,
gingen wir nad dem Marft und handelten in Alopfens und
Fürftenau Bude. Nachmittag waren wir wieder mit Cronmanns,
die Gavalier gingen barauf nad dem Markt. ... Um 7 Uhr
Aus einem alten Tagebuch. 879
aber wurden mir von dem Herrn Major Sievers und feiner
Frauen, die bei uns waren, in fein Quartier gebracht, ohnerachtet
wir uns ſchon abgekleibet hatten. Wir zogen uns alfo in Eil
wieber an und gingen dahin. Die Major Maltig und den Bereuter
Meberg fanden wir dort vor. Der Schatten-Spieler, ber auch
ſchon gejtern bei uns ayirt hatte, wurde hingebracht. Wir fpeiften
darauf zu Abend. Wie groß war unfere Bewunderung, da mir
mährend dem Eſſen eine Mufifanten:Bande eintreten fahen, melde
auf Antrieb des Majoren Sievers von Herrn Weberg dahin ber
ftellt waren? Gedachter Herr Weberg wurde darauf zu Herrn
Lieut. Mündhaufen gejandt, ihm und feine Gemahlin zum Tanz
zu invitiren. Wie biefer bie vier Frl. von Albediel da gewahr
mird, nöthigt er fie auch und fie erſchienen alle. Darauf ging
ber Ball an, welcher bis 2 Uhr in der Nacht währte. Wir waren
recht vergnügt und gingen auch recht vergnügt auseinander.
Donnerstag d. 21. Heule reißlen wir aus. ....
Eronmann und feine frau famen auch aus der Stadt eine halbe
Stunde nach uns im Kruge an, da trafen wir den Aſſeſſor Gülden-
fchmibt mit feinem Sohne. Wir ſpeiſten jufammen, trunfen Thee
und fuhren jodann unfere Straße, bis wir nun endlich hier in
Valla angelangt und herzlich vergnügt find, die Jahrmarfts-Zeit
hinterlegt zu haben.
Sonntag d. 24. .. . Meilen der Major Sievers mit
feiner Gemahlin ganz aus Livland aus und nad) Finnland teilt,
auch fobalb nicht zurücfommen möchten, fo nahmen wir von ihnen
beweglicen Abfchied und wünjchten auf ihrer weiten Neife viel
taufend fältiges Glüd.
Sonntag d. 31. Heute it ein betrübler Tag vor uns
geiwejen, indem bie Abreife von Bruder Guſtav noch im Andenten,
und vor's andere reifete auch Ottchen weg, welcher von uns gleich
mie auch wir von Ihm, recht ſchmerzl. Abſchied nahm. Der Aller:
Böchfte nehme fie beide in feinen allmächtigen Schun und gebe uns
nimmer andere als gute Nachricht von Ihnen.
Donners:Tag d. 4. Febr. Vormittag fam die Nitter-
ſchaftohauptmãnnin Stafelberg in Begleitung der Frau Drdnungs:
richterin von Nehbindern angefahren, wir empfungen Ihnen und
gaben Ihnen alle Merkmale, wie angenchin uns Ihre Visite wäre.
380 Aus einem alten Tagebud.
Sie jpeilten hier, trunfen auch Koffée und Thee und fuhren
fobann meg. ...
Sonntag d. 7. Heute marſchirte das Narviſche Regiment
aus fein bisheriges Quartier nah Riga.
Mittwod d. 10. Februar. Weil die Frau v. Plater
von Faldenau ſowohl als ihre Mutter Schweiter Anlischen haben
bitten laſſen nach Falfenau zu fommen, fo hat bie liebe Diama
erlaubt dahin zu fahren, wohin ich ihr begleiten werde. Morgen
haben wir &. ©. entſchloſſen die Reiſe anzutreten.
Donners-Tag d. 11. Um 9 Uhr fuhren wir von bier
ob, mir funben einen weiteren Weg, als wir uns vermutheten.
Kajafer, Elliſtfer, Saadjerw und das Ehlſche Pajtorat mußten wir
paffiren und um 4 Uhr langten wir in Faldenau an. Wir fanden
ſchon allerfeits beim Theetiſch, die Wirthin, die Frau v. Platern
empfung uns, die Frau Landräthin Yudbergin und ihre unver:
heirathete Tochter, desgleihen ihre Schweſter die Fräul. Pinter
fanden wir da, melde fid) über unſere Anfunft herzl. freuten.
Der Herr von Plater fam ſodann aud und grüßle uns. Die
Fräul. erzählten nun fodann von ihrem Vergnügen, fo fie auf der
Sarenhofihen Hochzeit genoffen. Die darauf folgende Nacht habe
id) ganz fchlaflos zugebradyt, denn es waren bar eine gar große
Menge Ratzen und Mänfe, die fo dreijte waren, daß fie auch auf
dem Bette krochen, welches verurjachte, daß ich aus Furdt vor fie
meine Augen nicht zuthat.
Freitag d. 12. Der Lieut. Krüdner von Werber war
geftern Abend nad Faldenau gefommen, er wollte nad) Mittag
reifen und faß aud ſchon im Schlitten, als des Herrn v. Plater
von Koenhof fein Bedienter hinfam und feine Herren und jungen
Frauen anmeldete, desgl. deren Eltern, den Ordnungsrichter Bock
und die Frl. Wilhelmine Bod, wie aud) den Herrn Landrath de
la Barre und feine Töchter und Schwiegerjohn, den Major von
Ungern; hierauf rejolvirte Krüdner zurüdzubleiben. Um 5 Uhr
tam diefe Euite an, es wurde mit einem Dal alles lebhaft, da
hörte man nichts als fingen, laden und jchergen, womit man for
lange continwirete, bis ein jeder ſich zur Nuhe legte. Es wurde
in der Stube ein jogenanntes Vraßbeite aufgemacht, worauf fid)
die Frl. und aud) die Frau Landr. Budbergin und ihre Tochter,
unjere Wirthin legten. Der Wirth fam und flörte uns in unferer
Aus einem alten Tagchuch. 81
Ruhe, indem er mit einer großen Peitiche par raillerie uns
droßte, auch von feiner Schwiegerin die Dede abriß. Endlich ging
er weg und wir fchliefen ein.
Sonnabend d. 13. Den Morgen, wie wir faum erwacht
waren, fam jchon ber Major Ungern ein und machte uns allerhand
Polen. Wir befamen feine Zeit uns anzufleiden, und «8 ging
alles in der größten Eile. Um 8 Uhr reifte der Landr. la Barre
mit feiner Familie weg und wir folgten ihnen fogleih, nahmen
aber einen ganz anderen Weg, als fie, indem fie nach bem rigifchen
und wir nad) Haufe reiften. . . -
Freytag d. 19. Heute wurde wegen einen Diebitahl von
Branntwein eine große Inquifition gehalten und die Schuldigen
mit Ruthe beitraft. . . -
Sonntag b. 21. Früh Morgens befamen wir einen Zu:
fpruch von Herrn Reenhorn, der uns die Beſſerung feiner Frau
Schweſter verfiherte. Auch kam die Kommiſſairin Prens von
Nennal her.
Mittwoch d. 24. Schweſter Annlieshen und ich fuhren
nach Sarenhof, es waren da vor uns ber Herr Kandr. Gtafelberg
mit feiner Gemahlin, besgl. der Herr Nittmeifter Liphard mit
feiner Gemahlin, legterer fpielte Karten mit den Orbnungsrichter
Bock und deſſen Schwiegerjohn Plater, die übrigen faßen beim
Cofféetiſch, an welden, wie wir jie ſämmtlich gegrüßt hatten, wir
uns auch fegten. . . .
Donners-Tag d. 25. Wir jpielten den Vormittag
Karten, den Nachmittag bejuchten wir die junge Platern in ihrem
Schlafzimmer. Den Abend jpielten wir L'hombre.
Freytag d. 4. Diefen Abend befand ich mid bejonders
ſchwermüthig, welches id) auch Schweiter Ann-Lieschen entdeckte,
die Nacht ſchlief ich aber doch gut.
Donners-Tag d. 10. Den heutigen Tag bin id) recht
wohl und zufrieden geiwefen, wir waren bie Sarenhofihen hierher
vermuthen, fie blieben aber aus.
Mittwod b. 16. Morgen werden wir mit ber lieben
Mama nad) Dorpat reifen... . .
Donners:Tag d. 17. Wir braden um 10 Uhr von
hier aus nad Dorpat und famen um 5 Uhr nad) der Stadt.
Unfer Quartier war bei dem Scujler Poſſes. .. Auf bem
Baltifche Monataigeift 1008, Heft 5. u
382 Aus einem alten Tagebuch.
Markte entitand ein graufamer Tumult von den Grenadiers des
Waroniſchen Regiments. Unterſchiedliche Perfonen, als die Raths-
verwanbterin Peufer, ber Cammerir Planert, ber Handſchuhmacher
Friedrich wurden entfeglich von ihnen zugerichtet, inbem man fie
als todt nad) hauje getragen, andere aber, als der Aſſeſſor Nennen»
fampf, der Imfpector Rehan mußten gleichfalls derbe Schläge
bavontragen. Um 8 Uhr legte ſich biejer Aufitand durch Vermite
telung bes Second-Majoren dieſes Regiments. Das Graufamfte
bei biefer Sache war, daß die Soldaten ohne Strafe blieben, ja
nod von ihren Driften mit 7 Faß Bier und 1 Faß Brandtwein
tecompenfiret wurden.
Freytag b. 18. Bruder Berend beſuchte den Majoren
Naundorf und fuhr mit ihm nad) Tedhelfer zu den Grafen Romans
Hoff, der vormals von ihm ein Freund geweſen und ſich aud) jetzo
nicht anbers bezeuget. . . .
Sonnabend db. 19. Der Doctor Paulfohn mar zur
Mahlzeit gebeten und er verſprach Midicamenten zu verorbnen. . .
Der Major Naunborf befuchte uns und verhörte unterſchiedlich die
über die Woroniſchen Soldaten ihre Exceſſe flagten, gab ihnen auch
endlich Salisfaclion durch dem, daß er zwei von ben Urhebern
nachdrückl. abftrafen lieh. Nach der Mahlzeit beſuchte uns. der
Paſtor Plajchnid und unterhielte uns mit feine fo geiftreihe als
erbaul. Discurfen zwei Stunden, währender Zeit fam bie Frau
Ordnungsrichterin Rehbinder unvermuthl. nach Dorpat und jtieg
bei uns ab, fie war jego jo wie allemal uns recht angenehm und
mir waren recht vergnügt.
Sonntag d. 20. Um 9 Uhr gingen wir nad) der Kirchen.
2... Die S. T. Nehbindern war ſchon den Morgen früh von uns
gereifet. ...
Dienstag d. 22. Wir jollten ausreifen, aber das Wetter
war nicht darnach, alfo muften wir mod dieſen Tag einbleiben.
Nach der Mahfzeit gingen wir nad) die Kirche, denn ber teutfche
Küfter wie Vater unferer Wirthin wurde begraben. . . .
Mittwod d. 23. ... Um 10 Uhr fuhren wir mit die
Frau von Nehbinder aus ber Stadt, unterwegens befuchten wir
die Glashütte zu Warrol, welche gewiß fünftli genug it. Wir
ſchieden aus der Frau von Nehbinder Gefellfchaft und trafen um
5 Uhr gut und wohl zu Haufe. Allhier erfuhren wir das Unglüd,
Aus einem alten Tagchuch. Er
fo bier in unferer Abweſenheit pajfiret, daß ſich nämlich ein Bauer
Edro Peter erhangen und zwar in der Hofes-Heu-Scheune. Gott
erbarme fid feiner Seele.
Donners-Tag d. 24. Heute Habe ich angefangen zu
mebiciner, Gott wolle feinen Segen zu biejem Gebrauch geben.
Der Herr Paftor fam um 9 Uhr den Morgen hierher, wegen der
unglüdlichen Leiche ih) mit uns zu beſprechen; es wurde rejoloiret
einen Expreſſen nad) Dorpat zu ſenden und die Sade den Nichter
zu übergeben.
Mittewoch d. 6. April. Vom Landgericht fam Order
megen ben unglüdl. Selbft: Mörder, aus ber Heufchenne heraus
und in den Wald begraben zu fallen, welches auch fofort ins Wert
geftellet wurbe.
Dienstag d. 19. Meine Mebizin, fo der 9. Paſtor Ufe
verorbnet und zurecht gemacht, erhielt id) heute, welches ich um
12 Tage zu brauden anfangen muß. Die liebe Mama befiel
diefen Abend jehr ſchwer Fran.
Mittewod d. 20. Die ganze Nacht ift bie liebe Mama
ſehr ſchwach geweſen und heute Morgen noch unveränbert, daher
wir um 5 Uhr nach dem H. Paſtor geſchickt haben, der ihr das
Heil. Abendmahl reichen ſoll. Um 8 Uhr kam der Prieſter, er
fand aber die licbe Mama leider wegen Leibes-:Schwachheit in
ſolchen Umftänden, daß er ihr die Heil. Communion nicht reichen
konnte. Der Herr Ordnungsrichter Nehbinder mit feiner Gemahlin
famen her. . . Gegen Abend fuhr der H. Paitor weg mit Ver:
ſprechen, morgen frühe wieder hier zu fein. Die gute Freunde
aber von Kockora und Alagkiwwi blieben hier und wachten die
Nacht.
Donnerstag d. 21. Heute früh kam ber Herr Paftor.
Der I. Gott gab Gnade, daß die liebe Mama, welche noch immer
frank auf einer Art ift, das Heil. Abendmahl bei völligem Ver
ftand und Andacht empfing. Gott laß es ihrer Seelen zum Heil
und Wohl gereihen. Der S. T. Ordnungsrichter fuhr mit feiner
Frau weg, Nachmittag fuhr auch der Priefter nad) Haufe. Tiefen
Abend wurde die liebe Mama jo ſchwach, daß wir alle Augen:
Blid ihren Tob befürdteten.
Freytag d. 22. Die Nacht ift die liebe Mama fehr
ſchwach gewefen und den Morgen früh gleichfalls, jedennoch refol-
8
33 Aus einem alten Tagebuch.
vireten wir uns nad; Doctor Paulfohn zu fenden. Aber ad, wie
famen uns doch ſolche Meinungen in Einne, ba wir fie dod) ſchon
leider mit bem Tode ringen fahen. Um 8 Uhr fand ſich endlich
der vor uns jo unglüdl., vor ber von uns fo gelieblen Patientin
aber felige Moment ein, daß der I. Gott die Seele unjrer lieben
Mutter zu fi nahm und ihr von allen Schmerzen befreite und
zweifelsohne fein herrl. Erbe theilhaftig machte, uns Nachgebliebenen
aber in einen Wehmuthsvollen Zuftand nachliek. Gott richte uns
auf und fei unfer Troft und Beiftand in unjerem ganzen Leben.
Wir fandten ſogleich nad) Rodora und aud nach dem Priefter, fie
famen unb fegten ihre Gonbolen; mit vieler Aufrichligkeit ab.
Die Frau Orbnungsrichterin Nehbinder nahm darauf mit ber Frau
Fähnrichen Gronmann die Beſorgung der Eeligen Veritorbenen,
ihren Körper als auch font Anftalten zu madyen, auf ſich. Nach—
mittag fam der H. Reenhorn her, der Paltor fuhr wieder weg.
Sonnabend d. 23. Unſere lieben Nachbarn find noch
bier. Die Frau von Cronmann fuhr gegen Abend nad Haufe,
ihr 9. Sohn fam aber mit feiner Gemahlin wieder her.
Sonntag, b. 24. Cronmann und feine Fran fuhren weg,
ihre Mutter aber fam wieder her, die Briefe zum Begräbniß
wurden gefehrieben. Die Beerbigung foll am 2. Mai fein, an
die Brüder nad) Reval fchrieb von unfere betrübte Umftände, doch
melbete noch (nicht?) von ihren Tod.
Montag d. 25. Der Orbnungsricter Nehbinder fuhr mit
feiner Gemahlin nach Haufe.
Dienstag d. 26. Der Herr Ordnungsrichter Nehbinder
fam Vormittag mit feiner Gemahlin wieder ber, dagegen fuhr
gegen Abend bie Frau dähnrichen Tronmann nad) Haufe. Der
9. Paſtor Ufe war hier and) anf etlihe Stunden, der Sarg fam
aus Dorpat und die liebe Leiche wurde von die gute Freunde
eingejargt.
Mittewohen d. 27. Heute Morgen reifete der Ord—
nungsridter nad) Haufe, feine Gemahlin aber blicb bei uns.
Nachmillag wurden jtarfe Präparatorien zum Begräbnif; angefangen
zu machen. Ein Lieut. vom Perm. Dragoner: Regiment, Waller:
mann Namens, fam her. H. Reenhorn, welcher hier viel Mühe
gehabt und fid wie ein rechter Freund, glei) wie aud) bie andern
Nachbarn, fich bezeiget, fuhr gegen Abend weg, mit Verfprechen
Aus einem alten Tagebuch 385
bald wiederzulommen, ber Lient. fuhr aud) heute Abend meg.
Nach dem Abendeffen fuhr die Frau Ordnungsrichterin nad) Haufe
und bie Tochter, die Frl. Charlotta fam wieder her.
Donners-Tag d. 28. Die Frau Drdnungsr. kam Vor—
mittag wieder her und ihre Tochter fuhr nach Haufe, ben Abend
fpät fam der H. Orbnungsrichter Rehbinder mit feinem Schwager
Lieut. Eifen zu uns, und wie wir ben Abend jpeifeten, traf die
Frau Fähnrihen Eronmannin bier ein.
Freptag d. 29. Vormittag ritt der H. Orbnungerihter
nad) Haufe. Yon Teyfiz befamen wir auf unfere betrübte Noti«
fication eine aufrichtige Condulence, gleicherweiſe aud auf unfere
Invitation eine Veriprehung, daß der 9. Ordnungsrichter Bock
mit jeinem Sohn und Schwiegerfohn Plater, ſich zum Begräbniß
einfinden wollen. Nachmittag fuhr die Frau Ordnungsr. Rehbinderin
mit ihrem Bruder Eſſen nad) Haufe.
Sonnabend d. 30. Nachmittag fam bie Frau Orbnungs:
richterin Nehbinder mit ihrem Bruder Eſſen wieder her, fie fuhr
aber wieder am Abend nad) dem Tiſche wieber nad) Haufe. Herr
Reenhorn fam den Abend wieber her.
Sonntag d. 1. Mai. Nach dem Efjen fam die Frau
Lieut. Reiher zu uns, fuhr aber den Abend wieder weg, mit
Verfprechen morgen wieberzufommen. H. Neenhorn fuhr auch
nad) hauſe.
Montag d. 2. Mai. Morgen ijt ber betrübte Tag, an
welchen das Leihen-Begängniß geſchehen ſoll. Heute aber ver—
muthen wir die Gäſte hierher. Den Morgen gang früh Fam
die Ordnungsr. Rehbinderin zu uns, Nachmittag kam ber Herr
Ordnungor. Rehbinder, welcher zum Priſtav erbeten wurde, ſodann
tamen die Lieut. Reiher und dann der 9. Aſſeſſor Cronmann mit
feiner Gemahlin hierher, wie auch der junge Baron Roſen aus
Gaiter, 9. Reenhorn folgte dieſen und dann der Gapitain Bubben-
brod mit jeiner Gemahlin. Um 7 Uhr fam endlid die große
Suite, nämlid) der 9. Ordnungsr. von Bock mit feinem: Sohn
und Schwiegerjohn, wie aud des lepteren Bruder Plater von
Falkenau und der Rittmeiſter Effen, um ',38 Uhr famen die Herren
von Stohge nebſt den Lieut. Neiher, jie condulirten uns jämmt:
lid) zu uuſerem großen Verluſt. Gronmann mar jehr frant und
mußte fih zu Bette legen.
388 Aus einem alten Tagebuch.
Dienstag d. 3. Cronmann befinbet fid recht frank, Daher
mußte er nad) Haufe reifen. Um 16 Uhr fam der Lanbrath
Stadelberg von Glliftfer her. Ueber ber Mahlzeit, welche früher
angerichtet war, famen die beiben Offizier vom Permſchen Dragoner-
Regiment, ber Gapitain Neiher und ber Lieut. Wajlermann. Um
1 Uhr waren fie alle fertig nad) der Kirche zu fahren. Die Leiche,
welche in ber jeligen Diama eigenen ehemaligen Schlafsimmer lag,
wurde von benen dazu erbetenen Trägern herausgetragen, welche
8 an ber Zahl waren. Nämlich der junge Bock unb ber junge
Nojen, jodann der Lieutenant Wafjermann und ber Lieutenant Reiher,
dann der Herr Neenhorn und der junge Kerr v. Sfohge, bann
der Lieutenant Carl v. Plater, dann der ältejte Herr v. Stohge ;
voraus (. . . vor ihnen) ging ber 9. Priſtav von Mehbinder,
hinter ber. Leiche gingen Bruder Berend mit Orbnungsr. Bock,
Landrarath Stadelberg mit Nittmeifter Eſſen, Capitain Neiher,
Leutnant Eſſen mit Plater von Falltenau. . . Diefe formirten ben
ganzen Zug und wurden mit viel hundert Thränen von uns bes
gleitet bis an ber Thüre. Die Leiche wurde auf dem Trauer
wagen gelegt und ſodann fuhren fie fort. Gott laſſe Diele liebe
Leiche, welde, da jie noch von der edlen Seele bemwohnet wurde,
vor ums jo große Sorgfalt gneheget, in ihrem Grabe in Nube
liegen, bis fie dermaleinjt wieder auferteht und das ihr bereitete
Meich ererbet. Der Leichen Tert iſt befindl. im Evang. Math.,
6 Cap.: Selig find die da hungert und bürftet nad) der Geredhtig-
feit, denn fie jollen gefättigt werden. Weldes von bem H. Paſtor
Ute vortreffl. ausgeführt worden. Um 6 Uhr waren fie alle zu:
rüd, da fie den Coffee und Confeeturen zu ſich nahmen. Um
8 Uhr gingen fie eſſen, die Offizier fuhren den Abend wm
11 Uhr weg.
Mittewoden d. 4. Heute ift ein Jeder beſchäftigt weg-
zufahren, zum Effen blieben feine mehr als die Nachbarn und
Reiher und feine Frau, die beiden Sfoghen und Lient. Eſſen. . .
Donners:Tag d. 5. Der H. Lieut. Neiher fuhr nad
Hauſe . . . nun find wir wieder allein und im Stande unjern
betrübten Gebanfen nachzuhängen.
Eounnabend d. 7. Früh um 6 Uhr fam unjer Wetter
der Fähnrid Wilhelm von Stryk unvermuthlid, hierher. Weilen
Bruder Berend feine Wirthſchaft auf Alt-Allatztiwwi beſuchen und
a
Aus einem alten Tagebuch. 387
einrichten will, fo hat er ſich entichloffen heute dahinzureiien, ung
mitzunehmen und ſich einige Zeit dort aufzuhalten. Unjer Wetter
reiſet mit, um 10 Uhr fuhren von Palla ab, welches wir Gottes
allmädtigen Schutes empfahlen. Auf Kockora fehrten wir ein,
allıwo wir aud) zu Mittag ipeileten. Schweiter Ann Lieshen
hatte ehr große Kopfſchmerzen. Nadmittag fuhren wir von da
weg und famen nad einer Stunde hier in Alt-Allagfivwi an, wo
wir von ben hiejigen Werwalter Sander empfangen wurben.
Es ift hier noch alles in Unordnung, es wird aber bald. ordentlich,
fein, das Gebäude ift ziemlich geräumig, die Gegend aber fo ſchön
als es fein fan, das Häuschen liegt auf einen Berg, den Peipuſi
ann man jehen, drei Bäche aber liegen unter die Fenſtern, Fleine
und große Berge und Hügeln fieht man hier die Diengde, wo,
runter der alte Schloj-Verg ber größte. Man findet hier die
Rudera von einer alten Feſtung. Neu: Allapfiwwi liegt ungefähr
300 Schritt auf einem großen Berge von uns, welches unfere
Gegend einen jchönen Anjehen giebt. Wir ergögen uns mit
Spagier- Gehen. Bruder Bernd ging mit dem Vetter nad) Neu:
Allagfivwi, nachdem wir uns bei der Gronmannihen Familie
melben laffen und diefe hierauf uns insgejammt. zur Abendtafel
invitiren lajle, weil Schweiter Ann Lieschen frank it, fo blieben
wir Schwejtern zurüd, zu malen es aud) nöthig thut eo hier etwas
nad der Ordnung einzurichten. ®
Sonntag d. 8. Schweſier Ann Lieschen it Gottlob beijer
Sobald wir uns angefleidet halten, giugen wir nad) Neu llag:
tiwwi. Wir mußten einen Fleinen Ummeg nehmen, auf der Kirche
und der hiefigen Mühle zu, welches 1 Ruſche Werſt ausmacht,
weilen wir gerade über ben Weg nicht gehen konnten. Die Frau
Reiher empfing uns auf dem halben Wege, wie auch die junge
Frau von Cronmann und deren Gemahl. Wir gingen folgendes
weiter und im Haufe, wo uns die MWirthin, die verwittibte Frau
Fähnriin Eronmann, empfing. Nach dem Gottesdieuſt kam der
Herr Paſtor Ufe aus der Kirche dahin, das Dittagsmahl mit ung
einzunehmen, nad Tiſche aber fuhr er nad Hauſe. Wir fpeijten
noch ben Abend allda und famen ſodann in unjere Appanage.
Montag d, 9. Die Allahkiwwiſchen werden heute hier
paſſiren. Vor dem Mittagseſſen tamen jie hierher, ſpeiſten hier
und blieben aud) den Abend-Eſſen hier und gingen ſodann nad) Haufe.
388 Aus einem alten Tagebuch
Dienstag d. 10. Es ift graufam ftürmiic Wetter, dem
ohngeachtet fuhr Schweſter Beatchen nah Palla, um bie dafige
Wirthſchaft zu überfehen. Unfer Vetter ritt von uns weg nad)
feinem Haufe im Pernaufgen. Schweſter Beatchen kam ben Abend
wieder zurüd.
Mittwod d. 11. Wir find nah Neu-Allapfimmi zum
Mittags-Eſſen genöthigt worden, wohin wir aud) um 11 Uhr
gingen, um 2 Uhr famen wir wieber zurüd. . .
Donners-Tag d. 12. Nahmittag gingen wir nad)
Neu⸗Allatzliwwi, wir funden die Frau Fähnrichen meinend bei
einem geiftlichen Bud) figen, wir blieben bei ihr. Es gewitterte
ftarf. . . Die Frau von Cronmann und ihr 9. Bruder ſpeiſten
bier... . hernach fpielten wir Brett. . .
Sonnabend b. 14. Heute früh ſchickte die Frau von
Eronmann ihren Wagen nah mir, wie id nad Neu-Allapfimmwi
hin fam, fo fuhr fie mit mir nad) einen Hoflager, jo ihr gehört,
Ninnat Namens. Diefes Beigut reiht an den Peipujl. Cs iſt
nicht weiter bebaut als mit einer Niege, Viehſtall und Klöte, auch
ein Krug, die ruſſiſche Bauern aber Haben ihre Hüttchens als eine
Schlabodde an den Strand gebaut, es find da aud) hiefige Bauern,
die Ruſſen haben aud) ihre Kirche all da. Wir waren da vier
Stunden, die Frau von Gronmann ließ fiſchen, es wurde aber
nichts gefangen. ... Morgen werden wir nad) Palla alle reifen,
es gefällt uns zwar hier auch regt gut, die bafige Wirthſchaft
aber will auch Nachſicht Haben.
Sonntagd. 15. ... Auf Kockora trunfen wir alle zu:
fammen Thee und beurlaubten uns jodann aus der Geſellſchaft.
Wir fanden, dem Höchſten fei Dank, Palla im vorigen Stande,
worinnen ber liebe Gott es erhalten wolle.
Mittewoch d. 18. Meil Schweiter Ann Lieschen ſich ſchon
eine ganze Zeit her übel befindet, fo reifte Schweiter Beatchen
Nudmittag nach Koddafer mit dem 9. Paſtor wegen ihrer Krant:
heit zu ſprechen. Sie kam bald zurüd und bradjte einige Pulvern,
wovon jie eines gleidy einnahm.
Donuners-Tag d. 19, als am heil. Himmelfuhrtstage.
An Bruder Adam ging heute ein Brief mit der Poſt weg, worin
ihm das Abjterben der lieben jeligen Mama fund gethan wurde.
Aus einem alten Tagebuch. 389
Freytag d. 20. Heute Abend fam ber Schufter Poſſes
aus Dorpat hierher.
Montag d. 23. Heute Morgen fuhren wir, Echwefter
Ann Lieschen, Bruder Berend und ich nad Allatzliwwi, zuvor
aber ſchafften wir den Schuſter Poſſes nach der Stadt. Wir
ſpeiſten zu Dlittag auf Kodora, gleid) darauf fuhren wir nad
Alt⸗Allatzliwwi, allwo wir uns um die Umftände der bafigen
Wirthſchaft ertundigten. . .
Dienstagd. 24. Mittewoch d. 25. Nachmittag mo
wir uns nichts weniger als eine vornehme Viſite vermuthen waren,
ſchickte die Frau Landr. Stadelberg ihren Bebienten her und ließ
fih melden, nad) einer halben Stunde fam fie auch jelber her.
Wir ließen die Fran Ordnungsr. Nehbindern auch nöthigen, fie
tam aud), fuhr aber den Abend jpät wieder nad) haufe, mit Ver:
ſprechen morgen wieber zu fonımen.
Donners:-Tag d. 20. ... Nach der Mahlzeit fuhr bie
Frau Landräthin Stadelberg von uns weg, deren Erempil bie
©. T. Nehbindern folgte.
Sonnabend d. 28. Ten Abend waren wir ausfpaziert
längs dem Felde, da wir zurüctehrten friegten wir einen ganz
unvermutheten Befuch von H. Zeumern vom Genſel, welder her:
gefommen bie Heil. Pfingitferien hier zu paſſiren.
Sonntag d. 29, als am Iften heil. Pingittage. Wir
fuhren ſämmtlich, 9. Zeumern mit eingejchloffen, in die Kirche und
nachdem wir bei dem Paſtorath bei der Frau Paſtorin ausge
ftiegen, auch all da die andern Eingefahrten diejes Kirchſpiels ab:
gewartet, gingen wir in die Kirche und höreten die jehr erbauliche
Predigt des 9. Paſtor Ule mit andächtiger Aufmerkſamkeit an.
Daranf wollten wir Jeder nad) Haufe fahren, wir wurden aber
von dem H. Paltor und Fran Pajtorin allefammt zur Tafel da
behalten. Danad) zog ein Jeder feine Straße,
Sonnabend d. 4 Juny. Wir haben heute gebabet.
Sonntag d. 5. Der Kadı Jahn wurde geitern vom Hofe
demittiret und auf Land geieget. . . Klein-Johann wurde nad
Sarenhof gejandt, weil wir vernahmen, daß der Ordnunger. Bock
gefommen und den Landmeſſer mit fi hätte, der bie Grenze
zwilhen Sarenhof, Kudding und Palla reguliren jollte, hiervon
fol Johann uns die Gewißheit holen.
3 Aus einem alten Tagebuch
Montag d. 6. Johann kam zurüd mit der Nachricht,
baß bie Grenziheidung vor ſich gehen Toll, zu dem Ende Bruber
Berend ſich nad) dem Serofchen Kruge begeben foll, mo die Andern
auch Diorgen fein werben. Nachmittag kam bie Frau Orbnunger.
Dienstagd. 7. ... Nachmittag kam Johann zurüd
und bejtellete Fiihe nadı dem Kruge, dann folgte Peter, welder
Beitzeug, Gofide und Thee und beren Geräthihaft von hier
dahin brachte.
Mittewoch d. 8. Heute früh bradte Johann Bier und
Brod nad) Tuhha, allwo die H. Landmeijers heute ſpeiſen werben,
bie Frau Orbnungsr. Rehbindern ſchickte her und ließ bitten man
mödjte die hiefige Bade-Stube higen, fie wollte mit ihre Kinder
fi) beffen bedienen. Die Frau Ordnungsr. wird nicht heute her-
tommen, weil fie von Koddafer Nachricht erhalten, daß die Frau
Baftorin frank geworben und fie dahin muß. on Koddafer fam
jego ein Kerl mit der Nachricht, daß der liebe Gott die Frau
Paftorin Heute Morgen mit einem jungen Eohn entbunden.
Donners-Tagd. 9. ... Nadmittag fuhren Echweiter
Ann Lieshen und ich nach Roddafer zu die Fran Paftorin zur
Gratulation, wir legten biejes bei beiderjeits Eltern ab. Die
Frau Fähnrichen Cronmann fam auch dahin und gleich darnach
aud) die Frau Ordnungsr. Rehbindern. Wir fuhren den Abend
nad Haufe. Der 9. Nittmeilter Eſſen kam mit dem Landmeſſer
und Bruder Berend hier zu ſpeiſen und zu nächtigen.
Me
Um die ivläudiihe Voltsjgule*.
Bon
K. von Freymann.
r ſittliche Einfluß gemeinſchaftlichen Bäumepflanzens und
populär-moralifcher Nebelbilder auf die heranwachſende
Jugend ift im jüngſter Zeit vielfad) beftritten worben.
Selbft diejenigen fahmännifchen Kreife, denen noch unlängit Bäume:
pflanzen und Nebelbilber als das A und D aller Pädagogik
erſchienen, ſind von ber Unfehlbarkeit dieſer Mittel nicht mehr
überzeugt. Die Schülerfireits der legten Monate maren ber
Bankrott diefer Pädagogit und bes offiziellen Schulgebanfens, die
Unbitbung des ruſſiſchen Bauern bofumentierte von jeher bie Ohn-
macht des bureaufvatiichen Voltsbildungsmweiens. Heute pfeifen
bas öffentliche Geheimnis unferer Staatsſchule die Spagen vom
Dache, und jeder empfindet die Ironie bes Schidjals, weldes
diefer Schule des Scheines das Symbol der Nebelbilder in die
Hand gegeben Hat. In ihrem ganzen Weſen einem außerhalb des
Unterrichts liegenden Zwede dienend, war fie als Bildungsanitalt
in der Tat nicht mehr als ein Blendwert. Der jtaatlihe Unifor:
mierungsgebanfe, welcher die treibende Kraft diefer Schule war,
ftefte ihr im Innern des Reiches das Ziel der MWohlgefinntheit,
an den Grenzmarfen das Ziel der Verjhmelzung aller Sonder-
formen mit den formen des Neichsinnern. Im Innern bes
Reiches im gewiſſen Sinne Fonfefjionell und national, war fie an
den Grenzmarfen konfeſſionslos und antinational. Während fie
im Innern des Neiches nie über eine allzu große Lebenskraft ver:
=) Diefem Auflag liegen die „Uta des lioländiſchen Sandratstolegiumg
betreffend: Bauerihulen” (1894-1901) zugrunde,
892 Um bie fioländifde Volkaſchule.
fügte, verdoppelte fi) ihre Araft an den Grenzmarken, wo fie
zugleich mit dem Staatsgedanfen der panſlaviſtiſchen Herrſchafts-
idee diente. Der burenufratiihe Charalter war ihr im Innern
des Reiches und an den Grenzmarken in gleicher Weile eigen-
tümlid. Der Natur der Dinge entiprechend zeigten die niederjten
Schulformen die ausgeprägteiten Tendenzen, ber beengehalt ber
Staatsſchule mußte im Efementarunterriht am jdärfiten hervor
treten. Mit dem: Prinzip des bureaufratiichen, konfeſſionsloſen
und antinationalen Elementarunterrichts war es ber livläudiſchen
Landvolkoſchule bejtimmt zu fümpfen und in biefem Kampfe zu
unterliegen.
Auf dem Boden der Selbjtverwaltung in jahrzehntefanger
gemeinfamer Arbeit der gejamten Bevölkerung erwachſen, war die
livlandiſche Landvolkoſchule ein jeitgefügter lebendiger Organismus,
der mit dem Leben und Wejen des ganzen libländiſchen Selbit-
verwaltungsförpers aufs engite verfnüpft war. Unter ben Gliedern
biefes Körpers aber war es vornehmlich die Landeskirche, ber ſich
die Bauernſchule in natürlich hiſtoriſcher Entwicklung angeſchloſſen
Hatte. In lüdenfofer Fortentwiglung war hier der urjprünglice
Zujammenhang zwiſchen Kirche und Schule gewahrt worden. In
Verwaltung und Leitung befand fid die Schule in natürlicher
Abhängigkeit von der lutheriſchen Kirche. Das Kirchſpiel und die
Kirchengemeinde, die natürlidie Einheit des Landlebens, war auch
die wichtigfte Einheit des Volkoſchulweſens. Die Schuleinheit des
Rircjipiels umfaßte die niederen Gemeindeichulen und die ihnen
übergeordnete Parohialfcule. Im ganzen {waren es in den 80er
Jahren fajt 1100 Landvolksfchulen mit 1400 Lehrern und Lehrerinnen,
jo daß auf eine Schule im Durchſchnitt 45 Schüler entfielen. Der
Unterhalt der Gemeindeſchulen war Pflicht der betreffenden Bauer⸗
gemeinden, der Unterhalt der Parochialſchule lag als Reallaſt auf
dem Grund und Boben des Kircjipiels. Das örtliche Verwaltungss
organ war die Kirdjpielsichulverwaltung, bie unter dem Vorfig des
vom Kirchſpiel defignierten Kirchenvorſtehers, aus dem Ortspaſtor,
dem Parochialſchullehrer und einem von ſämtlichen Kirchenvormündern
und Schulälteſten erwählten Kirchſpielsſchulälteſten gebildet wurde.
In diefem unfompligierten Körper waren alle Elemente des Kirch-
fpiellebens, joweit dieſes mit dem Leben der lutheriihen Kirchen—
gemeinde identiſch war, enthalten, und waten das geijtliche und
Um die Tioländifde Vollsſchule. 808
weltliche Element, die wirtichaftlihen und die Schulinterefien im
engeren Sinne, das beutjche und nationale Element zu gleichen Teilen
vertreten. Der den Bauern im täglichen Leben gewohnte - und
vertraute Begriff des Rirchipiels ermöglichte der bäuerlichen Bevöl-
ferung eine bewußte Teilnahme an der Verwaltung. Der Kirch—
jpielsfchulverwaltung entiprady in Zufammenfegung und Weſen in
in der höheren Einheit des Kreifes die Kreislandichulbehörbe, in
legter Inſtanz für das ganze Land die Oberlandfculbehörde *.
Indem jtels ein Teil der niederen Verwaltungsglieder in dem
höheren Verwaltungsförper Aufnahme fand, konnte mit der Wahrung
des direlten Zujammenhanges der Höheren und niederen Jujtanzen
das Zirkular- und Vorfgriftsweien zu gunjten ber perſönlichen
Wirkſamleit zurüdtreten. Der Schwerpunkt fiel in die dem Schul
leben am nächjften ftehende Kirchſpieloſchulverwaltung, und biefe
Verlegung des Echwerpunftes in bie Heinjte Yerwaltungseinheit
gab der Volksfchule die denkbar breitefte Bafis. Wie der Bau
der Schulverwaltung in lepter Hinſicht auf das Leben ‚der örtlichen
; Bauergemeinde gegründet war, fo ruhte der Unterricht felbit auf
bem weiten Fundament des bäuerlichen Haufes. Die unterite
Stufe der Vollserziehung bildete der von Schullehrer und Paftor
überwachte häusliche Unterricht, dem ſich die Gemeindeſchuie un
mittelbar anſchloß. Cine weitere Fortbildung bot die Parochial-
ſchule für diejenigen Rinder, welde die Parochialſchule nicht ber
fuchten: der in jedem Jahre regelmäßig wicderfehrende Repetitions⸗
unterricht an den Gemeindeſchulen. Der Beſuch der Gemeindeidhule
und ber häusliche Unterricht waren obligatoriih). Das Ziel des
Unterrichts war bie Vorbereitung zum Gemeindeleben und zur
Konfirmation, zur Wirffamfeit in ber geiltigen und praftijcen
Lebensiphäre des Bauern; den Weg aus diefer Yebensiphäre hinaus
in die ritterfcpaftlihien Yehrerjeminare und die jtäbtilche Rreisichule
bot die Parochialſchule.
In den Formen des Volkoſchulweſens iſt bis heute fein
Wedjel eingetreten — ber Geift, der die Formen beſeelte, ilt
getötet worden. Das djarakteriftifche Dierfmal der livländiichen
*) Die Kreisandfaulbchörde beitand: aus dem Cberfischenvorjtcher, zwei
weltlichen von der Hiuericaft, und zwei geitlichen vom Provingialfonfiitorum
ernannten Revidenten, auch zwei Kiccipielsiculälteiten. Die Cberlandichulbehöue
beitand aus: deu d Oberlirdienvorjtchsen, dem Oencrultuperintendenien und eincın
von der Hitteriajt ernannten Schulrat.
891 Um die liolandiſche Vollsſchule.
Voltsihule war die Dreiheit von Haus, Schule und Kirche,
untrennbar verbunden durch bie unzähligen Lebensfäden einer
gemeinfamen Arbeit und eines gemeinfamen Denkens. Dieſelbe
Sprache und biejelben Gebete, die im Haufe der Bauern geſprochen
wurden, ſprach und lehrte die Schule, fie war daher national und
fonfeifionell. Die beiden Eigenjhaften bedingten einander. Denn
die Aultur der Ejten und Letten mar von proteftantifchem Geiſte.
Aus diefem Grunde war die lutheriſche Geiſtlichkeit der berufene
Leiter ber Vollsſchule, und aus diefem Grunde wäre eine konfeſ-
fionslofe Schule nichts andres gewejen, als eine Schule ohne
Lebensanfhauung. Ein ruſſiſcher Publigift hat unlängit erfannt,
daß der hohe Stand der livländiiden Landvoltsbildung fein Ver—
dienft ber deutſchen Kulturarbeit, jondern allein der lutheriſchen
Kirche gewejen wäre — nehmt es, wie ihr wollt! Es iſt feinem
von uns eingefallen, feine Kultur vom Glauben zu trennen.
Durch den Allerhöchſten Befehl vom 28. November 1885
murben bie livländiihen Landvolfsichulen dem Miniſterium der
Xolfsaufklärung unterftellt. Der Vefehl war dem Kurator des
Dörptichen Lehrbezirls Kapuſtin perjönlih mitgeteilt worden und
war ohne ein feftes Programm als ein allgemein vorbereitender
Schritt erfolgt. In der Faſſung, in welcher ihn der Gouverneur
Sinowjew dem Landratstollegium übermittelte, war als Ziel des
Erlaſſes die Vereinheitlihung der Aufſicht über die Lehranftalten
und bie einheitliche Leitung des Unterrichtsweſens bezeichnet. Eine
höchſt unbeftimmte Erläuterung, die nicht mehr als die Abſicht
einer Änderung bejagte, und auch dieſes nicht, wenn die beab-
fihtigte Anderung als durch den Neilortwechfel vollzogen aufge:
faht wurde. Der Miniftersgehilfe Fürſt Wolkowoky ſprach von
einem bloßen Reſſortwechſel, von anderer Zcite hieß es, daß
der Aurator Rapuftin beauftragt wäre, feine Vorſchläge zur
Regelung der neugeidaffenen Beziehungen zu unterbreiten. Der
Rurator felbjt fprad) dem Landrat v. Dettingen gegenüber von einem
Neorganifationsprojeft, das er in den nächſten 14 Tagen abzu—
fehließen gedenfe, er offenbarte in diejer Unterredung einen großen
Ideenreichtum, indeſſen nur eine geringe Kenntnis der beitehenden
Vollsſchulverhältniſſe. Die Ausarbeitung des Neformprojeftes
unterblieb einftweilen. Dem Kurator war zwar die Tendenz der
Reform, nicht aber ihr Weſen ar. In der Überzeugung, daß
Um bie Tolänbiide Voltsſchule. 305
das Staatsprinzip die unmittelbare Verfügung der Staatsgemalt
über bie Schule in allen Zweigen und zu jedem Zwecke erforbere,
hatte er den Wunſch, einen biefem Prinzip entipredhenden Zuftand
in Livland herbeizuführen, ohne den Weg recht zu überbliden
und ohne recht zu willen, an welchem Punkte des gefchloffenen
Selbftverwaltungsförpers er ben Hebel anjegen follte. Er begriff
nad fürzer Orientierung, daß er einem fomplizierten Organismus
gegenenüberjtand, deſſen Funktionen ihm fremd waren. Die in
engem Anfchluß an das Leben erlangte Formenfülle wiberjegte
fih der papierenen Kanzleiherrſchaft. Bei der Ablöfung bes
Selbftverwaltungsprinzips durch das bureaukratiſche Prinzip mußte
es überaus flörend empfunden werben, daß der Gedanke einer
Vereinfachung ber Lebensformen zur größeren Bequemlichfeit des
feitenben Beamtenperfonals den Schöpfern dieſes Organismus fern-
gelegen halte. Der Kurator beklagte ſich über die Menge ber
Kirdjipielsihulverwaltungen, er fönne fie unmöglich durch feine
AInfpeftoren beauffichtigen laſſen und wünfde ihre Zahl zu vers
ringern. Indeſſen ber Hinweis des Landmarjdalls, dab gerade
in den örtlichen Schulverwaltungsförpern die Seele einer gebeih-
fihen Entwidlung des Volkoſchulweſens zu fuchen ſei, ließ ihn
von biefem Wunſche Abjtand nehmen. Der Oberlandiculbehörbe
überjandte der Rurator den Entwurf eines Neformprojelts, das,
abgejehen von dem radikalen Bruch mit allem Bejtehenden, in den
einzelnen Beftimmungen rein zufälligen Charaters war. Schwerlich
maß jelbft der Kurator diefem Entwurf einen praftiihen Wert zu.
Um ſo ausgeſprochener betonte er im Prinzip Die unbedingte
Miachtbefugnis der ſtaatlichen Organe und das Aufhören jeder
Sonberjtellung der livländiſchen Volksſchule, als Konſequenzen des
Allerhöchſien Willens. Er bejtritt den fonfefjionellen Charakter der
Volksihulen mit ber Begründung, daß fie nicht Kirchenſchulen
wären. Nach der Art ihres Unterhalts und ihrer Verwaltung
firierte er ihren Charakter als ben Landſchaftoſchulen bes Keiche-
innern entſprechend, und erflärte fie durd den Reſſortwechſel allen
Gefegen und Vorſchriften unterworfen, die für das Neichsinnere
erlaſſen waren. Durch perfönlices Eingreifen in die Wirfungs-
Iphäre der Oberlandſchulbehörde bemühte er ſich dieſer Auffaſſung
Geltung zu verſchaffen. Er genehmigte kraft ſeiner Mactvollfoms
menheit die Unwandlung der Neu-Schwaneburgſchen Siltas Semeinbes
896 Um die liolandiſche Volksſchule.
ſchule in eine zweiklaſſige Miniſterſchule mit ruſſiſcher Unterrichts-
ſprache in ber 2. Klaſſe, obgleich dieſer Alt bie Aufhebung der nad)
den geltenden efegen zu Recht beitehenden Gemeindeſchule involvierte.
Auf Grund des für das Reichsinnere erlaſſenen Zirfulars vom 10. Nov.
1879 wurde ber Oberlandidulbehörde eine Anfrage über die polis
tifche und moralifche Zuverläjfigleit der Lehramtsfandidaten zur
Pflicht gemacht. Das ber Oberlandſchulbehörde zuitehende Eras
minationsreht aber murbe auf cin moralijches Prüfungsrecht
beſchränlt. Es fiel fomit der Oberlandichulbehörde die wenig
danfbare Rolle einer doppelten Buchführung zu.
Die Neformpläne des Kurators gewannen feſtere Geftalt,
nachdem er ben Gedanken einer Neufchöpfung aufgegeben und ſich
für den weniger koſiſpieligen Weg einer feinen Zweren ente
Iprechenden Umwandlung des Selbjtverwaltungsförpers entidieden
hatte. Dem Avelsfonvent vom April 1886 lag ein Schreiben des
Kurators vor, welches einen vorläufigen Entwurf ber zur Erfüllung
des Allerhöhften Willens notwendigen Maßnahmen enthielt. Das
Projeft war nach den Worten des Nurators mit möglichiter
Schonung ber beftehenden Schulverwaltung entworfen. Es ftatuierte
die Mitgliedſchaft des Volfojehuldireftors in der Oberlandſchul-
behörde, der Volksichulinjpeftoren in den KRreislandfchulbehörben,
außerbem follte in diejen Behörden die Negierung durd) ein zweites,
vom Gouverneur ernanntes Glied vertreten fein. Falls die Negie:
rungsvertreler eine vom Diajoritätsbei—hluß der Behörden abweichende
Meinung vertraten, entſchied bezüglih der Kreislandſchulbehörden
der Kurator, bezüglich der Oberlandjdjulbehörde der Dlinifter der
Vollsaufflärung, cbenjo follten Rlagen gegen ſämtliche Behörden,
auch die Rirchipielofhulverwaltungen, direft durch ben Kurator oder
den Dlinifter entſchieden werden — ein Inſtanzenweg, der die Kreis:
landſchulbehörden und die Oberlandfgulbehörbe außer Kraft ſetzte.
Die Machtbefugniſſe der Selbjtverwaltungsorgane wurden gemäß ben
praftifchen Konſequenzen des Projekts auch dem Kurator und feinen
Snipeftoren übertragen, wobei durch den erwähnten Inflanzenweg
in jebem einzelnen alle den Negierungsorganen das Übergewicht
gewahrt war. Die fonfeijionelle Frage war als belanglos offen
gelaffen, die Spradenfrage war nicht berührt. JIudeſſen die Auf
hebung des obligatoriichen Unterhatts für die Parochialſchulen,
welche ihre Eriftenz in ‚Frage ſiellte und die örtlichen Mittel zu
Um bie linländifge Voltsſchule. 37
Neugründungen frei machte, ſowie das Recht ber Ummandlung der
Gemeinde: in Miniſterſchulen auf Wunſch der Gemeinden oder einer
am Unterhalt der Schule beteiligten Perſon, verrieten, wie biefe
Frage entihieden werden jollte. Die Oberlandſchulbehörde kritie
fierte das Projeft dahin, daß es wohl beftimmt fein fönne, die Art
an die Wurzel des livländiihen Volksfhulmwefens zu legen. Den⸗
nod riet die Oberlandfchulbehörde um ber Sache willen auch unter
ben ſchwierigſten Umftänden auf Zeitung und Unterhalt der Volks-
ſchule nicht zu verzichten, folange nur ber innerlich fonfeffionelle
Charakter, die Mutterſprache und die Möglichkeit einer ehrenamt⸗
lien Wirkſamkeit gewährleiftet wären. Yon ber Erhaltung bers
felben Grundprinzipien hatte die Paftorenfonferenz in Dorpat bie
Diitarbeit der Paftoren an der Volkoſchule abhängig gemacht.
Die Ritterſchaft konnte in dem Schreiben des Rurators bie
Garantie einer gedeihlichen Entwiclung des Volksſchulweſens nicht
erbliden. So beichlo der Adelsfonvent in der Erwägung, daß
Die Vorſchläge des Kurators bie radikale Umgejtaltung des Volfs-
ſchulweſens bedingten, da der konfeffionelle Charakter der Volks:
ſchule nicht verbleibe und der Schwerpunft der Verwaltung in die
Negierungsorgane verlegt werde, in ber Erwägung ferner, daß es
den Anfchein gewinnen könne, als ob die Ritterichaft felbft bie
Hand biete, das Volk feiner Sprade und jeines Glaubens zu
berauben, dem Aurator zu erwiebern, daß fie auf feine Intentionen
nicht eingehen könne. Sie vertrete nad) wie vor die Auffaſſung,
daß die Volkoſchule in ihrer jegigen Organijation dem Wohl und
Segen bes Landes gedient, und vermöge es nicht einzujehen, wie
durch einen Reſſortwechſel die bejtehenden Gejege, Verorbnungen
und Inftitutionen unzwedmäßig und veränderungsbedürftig geworben
feien. Sie hoffe daher, daß der Kurator, dem die ſittliche und
intelleftuelle Entwidlung des Volles am Herzen liege, feinen Ein
fluß zur Erhaltung des Vejtehenden geltend machen werbe. Cine
organische Veränderung ber Volfsihule müßte die fernere Mit:
arbeit ber Ritterſchaft für alle Zukunft in Frage jtellen.
Die Ablehnung ber Ritterſchaft blieb nicht ohne Wirkung auf
ben Kurator. Er fragte, ob das Schreiben das Ultimatum der Ritter:
ſchaft enthalte. Gr erklärte fih zu neuen Vorſchlägen bereit unb
verſprach bis auf weiteres feine Schritte in legislativer Hinſicht zu
tun. Im September desfelben Jahres ſchien der Kurator feinem
Baltifhe Monatafärift 190, Heft 5.
398 Um die Koländiide Volksſchule.
Neformprojeft endgültig entfagt zu Haben. Er meinte, er molle
fi) Zeit nehmen und hoffe in ein bis zwei Jahren fid ein ein-
gehendes Urteil über die Lolfsihulen zu bilden. Inzwiſchen
handele e8 fi darum, mit den beftchenden Organen einen vers
föhnlihen modus vivendi zu finden. In der Tat hatte ſich durch
die fortgefegten Eingriffe des Kurators in bie Machiiphäre ber
Oberlandſchulbehörde eine Neihe von Konflifien ergeben, bie eine
Terjtändigung wünfchenswert eriheinen ließ. Überdies hatten bie
Inſpeltoren Meves und Orlow bie Herbitmonate zu einer Inſpeltions⸗
reife benußt, bie ben herrſchenden Gegenfag in die breiteften Schichten
getragen hatte. Mährend der Schnlinfpeftionen, die meift mit Um
gehung ber örtlichen Schulbehörden und ohne deren Willen ftattfanden,
Hatten fich die Infpeftoren Änderungen zu guniten einer Verftärfung
des rulfiihen Sprachunterrichts erlaubt. Ihre Änderungen wurden
allerdings gleich nach ihrer Entfernung durch die örllichen Schul-
autoritäten wieder zurechtgejtellt, nicht jo leicht aber lieh ſich der
verfegende Cindrud ihres unerwarteten Erſcheinens verwiſchen.
Vielfach beihmwerten fih die Schulverwaltungen über das Bor:
gehen ber Inſpektoren, ein Paſtor ſandte der Oberlandſchulbehörde
fchriftlich feine Weigerung, die Inſpektoren als Kollegen zu afjepz
tieren.
Die fremde Gewalt, die fih zwiſchen die Schule und ihre
Xerwaltung gedrängt hatte, hatte eine allgemeine Ungewihheit und
Unſicherheit der Stellung ber Voltsfchulautoritäten im Lande hervor
gerufen. In Sachen der Eillagemeindeichule hatte die Oberland:
ſchulbehorde gegen die Befigergreifung des Immobils zwecks Eröff-
nung ber Miniſterſchule remonſtriert, und es ift vielleicht bezeich⸗
nend für die Stimmung des Kurators, daß cs ihn Wunder nahm,
wie man um einer Schule willen jo viel Lärm machen könne.
Die Oberlandjhulbehörde und der Kurator verfehrten faſt aus—
ſchließlich auf dem Beſchwerdewege durch den Minifter der
Vollsaufllirung oder auf adminiftrativem Wege durch den Gou—
vernetir, da bie Oberlandſchulbehörde nach ihrer Aufſaſſung der
beftehenben Rechtsverhältniſſe ſich nicht in der Lage fah, ben
Weifungen des Aurators Folge zu leiften. Der dringende Wunſch
des Aurators, fi) mit der Oberlandfchulbehörde in Relation zu
fegen, war daher zeitgemäß. Es ſchien, als ob eine Einigung zu-
Nande fommen würde. Am 28. September fonferierten der Land-
Um die livlandijche Voltsſchule 3
marſchall, der Präfes ber Oberlandfchulbehörde und der Kurator
über die fchwebenden Fragen. Im Zufammenhang mit der Silta-
gemeindeſchule fam die Frage der Miniſterſchulen überhaupt zur
Beſprechung. Der Landmarjhall und ber Präjes der Oberland»
ſchulbehörde Hatten gegen die Gründung von Miniſterſchulen im
allgemeinen nichts einzuwenden, nur dürfe fie nicht auf Roten ber
bereits geſetzlich beſtehenden Schulen geſchehen. Der Kurator blieb
bei der Meinung, daß die neue Schule die alte erjegen jolle.
Zum Schluß einigten ſich der Präſes ber Oberlandidulbehörbe
und ber Kurator, da eine allgemeine Negelung ber Beziehungen zur
Zeit nicht möglich fei dahin, in jebem einzelnen Falle Vereinbarungen
zu treffen. Am Tage darauf wurde der Siltaſche Gemeindelehrer
ohne vorhergehende Ankündigung und ebenfo ohne Willen der Ober-
landſchulbehörde gewaltfam mit jeiner Familie und feinem Mobiliar
egmittiert, am 1. Oftober durd) den Inſpektor Speſchkow feierlich
bie Miniſterſchule in jenem Lokal eröffnet. — Es lag nicht in der
Abſicht des Kurators oder nicht in feiner Macht, den vereinbarten
modus vivendi aufrecht zu erhalten. So dauerte ber Kriegs
zuftand fort. Gin Zuftand der Verfügungen und Erfaffe, während,
wie die Oberlandſchulbehörde in vielfachen Schreiben betonte, „Die
auf Grundlage der bejtehenden Gefegbeitimmungen herrſchende
Ordnung nod) feiner legisfativen Aufhebung oder Heform unter:
gogen worden." Die Kreierung (durch Reichsralsgutachten vom
12. Jan. 1887) eines Volkoſchuldireltors und vier neuer Inipek-
toren, denen bie Landſchulen „aller Benennungen” unterjtellt wurden,
ſchuf in dieſem Zuftand feine Änderung.
Die Einführung der ruffiihen Unterrichtoſprache auf dem
Wege einer ſchritiweiſen Verdrängung der alten Volkfchule durch
die Minifterihule, konnte nur fehr langfam vor ſich gehen. So
war der Rurator genötigt ben Umweg abzufürgen. Cr fnüpfte in
dieſer Angelegenheit an die bereits pendente Lehrerfeminarsfrage
an. Am 27. Januar 1885 hatte er der Nitterfchaft Die Heors
ganifatiou der Ritterſchaftlichen Seminare auf der Grundlage des
Kurolſchen Lehrerfeminars vorgeſchlagen, die Ritterſchaft hatte in
deſſen nad) dieſem Statute fein Verlangen getragen. Im Juli
1886 erſuchte ber Kurator die Oberlandſchulbehörde den ruſſiſchen
Sprachunterricht in den Lehrerjeminaren foweit zu verflärfen, daß
die Abjolventen der Anftalt fähig würden, den Unterricht u den
400 Um bie liolandiſche Voltsſchule.
Vollsſchulen ruffiih zu erteilen. Im November ftellte er biejelbe
Forderung als Bedingung eines Weiterbeftchens ber Seminare.
Auf den Hinweis der Oberlandſchulbehörde, daß folange ber Unter-
richt in ben Volksſchulen im eſtniſchen und lettiſchen erteilt werbe,
ben Lehrern eine jolde Kenntnis nicht von Nöten fein könne,
antwortete der Kurator, daß der Gemeindefhule allerdings die
Mutterfprahe belaffen werben müſſe, ber Unterricht in ben
Parochialſchulen aber in der ruffiihen Sprade zu erteilen jein
werde. Obgleich anzunehmen war, daß ber Kurator einen fo
eindeutigen und folgenſchweren Ausſpruch nicht gänzlich auf jeine
Hand getan hatte, bewog die Wichtigleit der Sache den Landmar«
ſchall, dem Staatsfefretär Deljanow bie ſchädliche Wirkung dieſes
Scrittes und feine überflüffige Härte darzulegen. Diefe und alle
übrigen feit langem ſchwebenden Fragen, fanden ihre überrajchende
Löfung in den temporär ergänzenden Regeln vom 17. Mai 1887.
Die temporären Negeln verrieten eine nahe Verwandſchaft
mit den Maßnahmen vom April 1886. Durch die Negeln waren
die den Maßnahmen innewohnenden Möglichleiten verwirklicht, die
in ihnen enthaltenen Unklarheiten zu bewußtem Dualismus gefteigert,
die von dem Kurator geübte Praris des willkürlichen Eingriffes
legalifirt. Der Tualismus und das Fehlen jeder feften Kompetenz:
beftimmung entſprechen dem Zweck des Gejehes, bie unumfchränfte
Machtvollkommenheit der Negierungsorgane mit ber Ausnugung der
örtlichen materiellen und geiftigen Kräfte zu vereinigen. Cine
Charafteriftit des Gefeges geben im welentlichen Die nachſtehenden
Beſtimmungen. Behufs einer gemeinfamen Verwaltung ber Voltsr
ſchulen durch die Negierungs: und Selbftverwaltungsorgane traten
in die Oberlandichulbehörde der Direktor der Vollsſchulen, in die
Kreisihulbehörden die Volfsichulinipektoren als fländige Glieder ein,
ebenfo in jede diefer Bchörden ein zweites vom Kurator ernanntes
Glied des Unterrichtsreilorts. Der Einfprud eines Regierungs—
repräfentanten inhibierte die Mojoritätsbeidüffe und überwics fie ber
übergeordneien Inſtanz. Klagen gegen die Behörden gelangten an
den DMinifter ber Vollsauftlärung. Den Imipeftoren fiand bie
vorläufige Anftellung und Abſetzung der Lchrer zu, welde ben
Zufpeftoren diveft umterftellt und zu unweigerlicher Grfüllung der
infpeftorialen Anordnungen verpflichtet waren. Die Inſpekloren
waren ferner berechtigt von ſich aus Verbeiferungen und Un
Um bie livlandiſche Vollsſchule. 401
derungen im den Schulen vorzunehmen. Die den Eelbjiver-
mwaltungsbehörben zugeitandenen Beſtätigungsrechte waren praktiſch
ohne Bedeutung, da die vorläufigen Verfügungen durch feine Zeit:
grenze beichränft waren. Die Umwandlung von Parochial- und
Gemeindeſchulen in Minifterfhulen erfolgte auf Wunſch ber Ger
meinde oder einer am Unterhalt der Schule beteiligten Perſon.
Der Unterhalt der neuen Schule erfolgte in derjelben Weiſe, wie
der Unterhalt der Schule, an deren Gtelle fie trat, erfolgt war.
In den zwei unteren Klaſſen der Gemeindeſchulen murde ber
Unterricht je „nad Bedürfnis“ in lettiſcher, eſtniſcher oder ruſſiſcher
Spradye erteilt, für bie dritte Klaſſe der Gemeindeſchulen und die
Parochialſchulen war die ruſſiſche Unterrichtsſprache obligatoriſch.
Die ftändifchen Organe waren verpflichtet, die Tätigkeit des Voils⸗
ibutdireftors und jeiner Jufpeftoren in jeder Weiſe zu fördern.
Die Nitter- und Landſchaft, die im Juni 1887 verfammelt
war, mußte zu ihrem tiefem Bedauern der Überzeugung Raum
geben, daß die neuerlaifenen Regeln alle und jede Hoffnung auf
eine fernere fruchtbringende Teilnahme der Ritter: und Landicaft
an der Verwaltung des Volisihulwefens ausſchloſſen. Cie erkannte
in bem neuen Gejege cin das Volksſchulweſen in feinen Grund»
feiten erichütterndes Prinzip, weldes die feitherigen Leiter des
livländiſchen Volfsihulwejens ſich anzueignen füglich nicht ver-
mödten. Die Lahmlegung ber elbjtverwaltungsorgane, die
Trennung der Schule von Haus und Kirche und die Verbannung
der Volfsfpragen aus der Schule, mußten jedes Intereſſe ber
NRitter- und Landſchaft an der foldergeftalt entnationalifierten Schule
vernichten. Der Landtag verfügte die Schließung der ritterichaft:
lien Lehrerfeminare in Walt und Dorpat und beauftragte den
Landmarſchall: dem Minifier der Volksaufllärung zu deflarieren, daß-
die Ritterſchaft auf ihr durch die betreffenden Paragraphen des
Provinzialrechis gemährleiftetes Necht, am der Errichtung, Erz
haltung und Verwaltung ber Yandvolfsiculen Teil zu nehmen zu
verzichten ſich genötigt jehe, und folglid deu Minifter erjuche ers
wirken zu wollen, daß in Ergänzung der emanierten Regeln die
fattiſch lahm gelegten Organe der Yandjdulverwaltung förmlich
aufgehoben würden. Am 20. Juli überreichte der Landmarſchall
dem Minijter der Volfsaufflärung die Dentſchriſt der Nitterichaft.
Die Dentigrift betont die ſchwere Nränfung, die durd) bie Ein:
102 Um die livlandiſche Vollsſchule.
führung ber ruſſiſchen Unterrichtsiprache in die Schule eines Volfes,
das fich als ſolches fühle, der bäuerlichen Bevölkerung zugefügt
werde, und fhloß mit der Bitte um Liberierung ber Nitter- und
Landichaft von ber Verwaltung. Der DMinifter ber das furze
Vegleitchreiben ſogleich durchleſen Hatte, fagte, er begreife bie
Ritterſchaft und diefen Schritt nicht. Die Angelegenheit dien
ihm Sorge zu bereiten, und nad) längerem Befinnen fragte er:
„Was joll ich feiner Majeftät vorſchlagen?“ Der Landmarfdjall
erflärte dem Miniſter, wie bie Nitterfchaft ſich wohl bewußt jei,
daß diefer Schritt mit vielen übrigen in fyftematiihem Zufammen-
hange jtände, indefien — wenn ©. Majeftät Kenntnis erhalte von
der Tragweite des gegen die Nitterichaft eingehaltenen Verfahrens,
ſo hoffe jie von Seiner Gnade Nemedur zu erhalten. Der Dlinijter
verfprad) daraufhin die Denkfchrift vorzulegen.
In jeder Beziehung übertrafen die temporären Negeln bie
Erwartungen ihrer Schöpfer. Soweit ſich diejes aus dem Rund»
idreiben des Auratord vom 6. November erjehen läßt, war er
über das neue Geſetz der Meinung geweien, „daß feine Anwendung
feine Schwierigfeiten bereiten fann, wenn man die Sade wie fie
wirklich ift anfieht, ſich nicht vermeintliche Hinderniſſe ſchafft und
nit künſtlich Schwierigkeiten hervorruft. Es iſt nur nötig, ſich
dem Gefeg und denjenigen Interelen von hervorragender Wichtige
feit gegenüber, bie es berührt, mit Achtung zu verhalten, es ijt
nur nötig, alles der Schule Fremde zu befeitigen und das eine
Ziel im Auge zu haben: die ſittliche und geiflige Entwiclung
ber Kinder, welche die Eltern mit Vertrauen in die Schule ſenden.“
In jeinen Wirkungen unabhängig von ber Anficht des
Kurators, hatte das neue Gefept eine Stodung des Volfjdjullebens
zur Folge gehabt. Die Oberlandſchulbehörde hatte den Beginn des
Unterrichts in den Parochialſchulen bis zum äußerten jtatthaften
Termin hinausgeſchoben, da fie feine Möglichkeit jah dem Gefepe ge:
mäß den Unterricht in einer Sprache erteilen zu laſſen, die weder Lehrer
uoch Schüler verftanden, im übrigen hatte fie ſich darauf beſchränkt
jeden Konflitt mit den Negierungsorganen zu vermeiden. Die
örtlichen Edyulautoritäten ſchlugen vielfad) den Ausweg der Schul«
ihliegung ein, 32 Parochiaiſchulen waren aus ben veridiedeniten
Motiven, zumeiſt aber in Beſorgnis um das Eigentum ber
Kirche an den Schulen, und im Hinblid auf die Forderung
Um die lidlandiſche Vollsſchule. 408
der ruſſiſchen Unterrichtsſprache geſchloſſen worden. Auch bie
Kinder, welche die Eltern mit Vertrauen in die Schule ſenden,
begannen weniger vollzählig zu erſcheinen. Durch wiederholte Er—
laſſe, deren erregter Ton unter andrem eine Jujurienklage der Ritter—
ſchaft bedingte, ſuchten ber Gouverneur und Kurator die Schulverwid-
lungen zu regeln. Die durch das neue Geſetz geſchaffene Frage
des Eigentumsrechtes an den Parochialſchulen bemühte ſich der
Gouverneur dadurdy zu präjudizieren, daß er den Ordnungsrichtern
vorſchrieb, den Parochiallehrern Reverſale des Inhalts abzunehmen,
daß fie im Amt eines Kirchſpielsſchullehrers ftehend, die Gebäude
und Ländereien der Schule namens der Schulverwaltung, nit aber
namens der Kirche oder einer Privatperſon befähe Im
Weigerungsfalle follten ihnen Gebäude und Ländereien abgenommen
und einem Gliede der Schulverwaltung überwiefen werden. Diejer
Verjuh die ſchwierige Nechtsfrage gewiſſermaſſen durch den
Schiedoſpruch der Parochiallehrer zu loſen, ſcheiterte an der faſt
einmütigen Weigerung der Parochiallehrer den Nevers zu unter-
geigmen und der Rirdfpielsjculuerwaltungen bas ihrer Anficht
mad) der Kirche gehörige Land zu übernehnien.
In vieler Hinſicht war der Gouverneur eine zwar neue, .aber
weſentliche Erſcheinung des Schullebens geworden. Er ſehle auf
abminijtrativem Wege Lehrer ein und verhinderte auf demfelben
Bege ihre Abfegung. Die Druderci, in der die Oberlandſchul-
behörde den Landtagsichluß in Sachen des Volkoſchulweſens hatte
druden laſſen, wurde geſchloſſen, die übrigen Drudereien erhielten
Weiſung für die Oberlandſchulbehörde nicht ohne Zenjur zu drucken.
Ebenſo waren der Volfsihuldirektor und die Inipeftoren in- fieb
hafter Tätigkeit; fie jepten Lehrer ein und Lehrer ab, ohne di
durch den ruhigen Gang des Schulweiens weſentlich zu fördern.
Eine Folge ihres Gifers war das Auftreten von Lehrern mit
Gage ohne Amt, und mit Amt ohne Gage. Dem einzigen
Verſuch, der gemacht wurde, die ruſſiſche Unterrichtsiprade prafz
tiſch durchzuführen, bereitete die gänzliche Verjtändnislofigfeit der
Schüler ein jepnelles Ende. Die Negierung jah ſich genötigt zu
paftieren, der Gouverneur verzichtete auf jein Neverjalverfahren
und trat wieder in den Hintergrund, der Kurator erklärte, daß
feine Reform mit einem Schlage durchgeführt werden könue; durch
einen minifteriellen Erlaßz wurde die Einführung der rujfihen
404 Um die livlãndiſche Volksſchule.
Sprache in jedem einzelnen Falle dem Ermeſſen des Kurators an:
Heimgeftellt und die endgültige Durdführung des Prinzips auf
drei Jahre Hinausgefchoben. Zugleich wurde die Eröffnung fümt-
licher Parochialſchulen anbefohlen. Danach) ſehzte ſich der gewaltige
Mechanismus des Volkoſchulweſens langjam wieder in Bewegung
nad dem Gefeg ber Beharrlichteit, nach welchem er ſich während
der ganzen Zeit in aller Ruhe in den Orten bewegt hatte, wo bie
Inſpektoren nicht hinfamen, und ihre Schriftjtüde als unverſtänd⸗
lich bei Seite gelegt wurden.
Hunbertfünfzig Inſpektoren wären, — nad) ben Worten des
Kurators, — nicht im ftande die Arbeit der Volfsfhulverwaltung
ohne die ſtändiſchen Organe zu leiften. Gegenüber den Lebensan ⸗
forderungen des Schulorganismus ‚hatten ſich die geringen bureaus
tratiſchen Kräfte als unzureichend erwielen. Nachdem die tem⸗
porären Negeln jede Machtbefugnis der Eelbiiverwaltung vers
nichtet hatten, fah fi) die Bureaufratie außer ftande das Erbe
anzutreten. Es galt daher durch einen Konpromiß den jtörrigen
Selbftverwaltungsförper gefügig zu machen, und der Nurator ber
mühte fi abermals und aus vollfter Überzeugung um eine Ver:
Töhnung. Die Liberierung der Nitterfchaft von der Mitverwaltung
des Schulwejens, meinte er, würde einen unmögliden, das Schul-
weſen ſchädigenden Zuſtand ſchaffen. Schon das verflofiene Jahr,
während deſſen die Ritterſchaft der Volkoſchulverwaltung fernges
ſtanden, müſſe als ein verlorenes Jahr betradytet werden und das
Schulweſen ſei bedeutend unter das frühere Niveau herabgejunfen.
Er lehnte jede Verantwortung für das Zujtandefommen der tem-
porären Regeln ab, und verſprach, da das Geſetz jo bald nicht ab-
geändert werben könne, eine Handhabung bes Geſetzes, die in der
Prarxis alle Bedenklichteiten befeitigen würde. In Petersburg jelbjt
berrichte in den maßgebenden Kreifen des Miniſteriums der Wolfe:
aujflärung eine gewiſſe Ratlofigfeit, die Antwort auf das Geſuch
der Ritterſchaft wurde hinausgeſchoben. Der Landmarſchall drang
auf eine Abänderung der temporären Negeln und die Aus
arbeitung eines befinitiven Gefegeo mit Berüdjihtigung ber ritter-
ihaftlihen Vorſchläge. Indeſſen jo allgemein vie Unvolllommen-
heit der temporären Regeln zugegeben wurde, ebenjo allgemein
war der Wille den getanen pritt nicht zurüczutun. Offiziell
fand diefer Wille dahin jeinen Ausbrud, da man die Wirkung
Um die liolänbiide Vollsſchule. 405
ber temporären Negeln genau zu beurteilen im fanbe fein müſſe,
ehe ein befinitive® Gefep entworfen werde. Won biefer Wirkung,
wie fie ſich nach dem Ablauf der erften ftürmifchen Zeit zu äußern
begonnen hatte, konnte fi) der außerordentliche Landtag vom
Dftober 1888 an der Hand des Berichts ber Oberlandſchulbehörde
überzeugen. Laut biejem Bericht bedingte das Geſetz bie abfolute
Gefeplofigteit und beichränfte die Madjtbefugnis der Selbjiver-
weltungsbehörben auf genau das Maß, welches der Kurator und
feine Untergebenen ihnen zugejtehen mollten. Zu irgend einer
pofitiven Arbeit waren fowohl die jtändiihen Behörden, wie die
Negierungsorgane, allerdings aus verſchiedenen Gründen, unfähig.
Es bejtand nicht mehr als der Schein ber alten Ordnung, der ge
ſchont wurde, um unter der alten Flagge mit neuer Ware zu
jegeln; die Organe der Gelbfiverwaltung dienten nur dazu durch
ihren guten Ruf bie neue, Eonfejlionsloje Sprachſchule und deren
Verwaltung zu deden und das Xandvolt über die vollzogene
Umwälzung zu täuſchen. — „Die livländiſche Landvolkoſchule,
welche die Ritterſchaft und Geiſtlichteit als kirchliche Anſtalt bes
gründet und geleitet haben, ſie exiſtirt nicht mehr.” —
Angefichts diefer traurigen Erfüllung feiner Vorausjicht un
in der Erwägung, daß das Geſuch der Nitter- und Landfchaft um
Liberierung von ber Verwaltung nod) immer unbeantwortet war,
beauftragte der Landtag den Landmarſchall dahin zu wirten, bak
die temporären Hegeln durch ein definitives Gefeg erjegt würden,
welches eine gedeihliche Mitarbeit der Ritterſchaft und ber Geijt«
lichteit ermögliche. Die Antwort, die auf dieſes Geſuch erfolgte,
beließ der Nitterfchaft die Lajt einer fremden Zweden dienenden
Voltoſchule und die Hoffnung auf eine beijere Zukunft. Cs wurde
ihr mitgeteilt, daß ihre Teilnahme an ber Voltsihulverwaltung
auch Fünjtighin nicht anders als auf Grundlage der durch das
Beleg vom 17. Mai fejtgefegten Negeln erhalten werden könne,
daß fie aber, wenn fie rechtzeitig ihren Wunjch einer meiteren
Teilnahme äußern follte, jeiner Zeit mit den Nitterfhaften der
Gouvernements Ejt- und Kurland zur Teilnahme an der Aus—
arbeitung eines definitiven Gejeges aufgefordert werben würde.
Durch diejen Beſcheid und die Ablehnung ſämtlicher Eigentums: und
Rechisllagen in Sachen den Volleſchulweſens war der Negierung der
materielle Beſiaud der neuen Volkoſchule ſoweit geſichert, daß die
406 Um die livlãndiſche Vollsſchule.
Negierungsorgane ſich ausichlieglih der Fruchtbarmachung dieſer
Schule für ihre Zwecke widmen fonnten. Die Wirkſamkeit und Das
Intereije der Injpeftoren richteten fi vornehmlich auf die Hebung
der ruſſiſchen Sprachtenntnis und die Einbürgerung der Vorſchrifts-
mäßigen Gejinnung in der Volksſchule. Nicht immer wurden ba:
bei aud die nächitliegenden übrigen Intereſſen der Schule berüd:
ſichtigt. Ein treffendes Beiipiel hierfür bieten die Sommerfurje,
deren Beſuch zweds Grlernung der ruſſiſchen Sprache den Lehrern
zur Pflicht gemacht wurde, und die, in die Erntezeit fallend, das
Brot der Lehrer in gleicher Weiſe wie den Nepetitions- und Haus-
unterricht ſchmälerten. Dieſer konnte, als dem Programm ber
neuen Schule gänzlid) fernitehend, die Sympathie der Kegierungs-
organe nicht beanfprucen. Die Veurteilung des pädagogiiden
KRönnens der Lehrer aus denjelben Gefichtspunften hatte die.Ab-
jegung der alten Lehrer, und das Auftreten junger, vielfach unge:
ſchulter Kräfte zur Folge, tropdem begann dauf den maſſenhaften
Verabichiedungen der Lehrermangel chroniſch zu werden. Der Eins
Muß der jtändiihen Schulautoritäten wurde zu Gunjten eines
direften Verfehrs der Inſpeltoren mit den Schullehrern zurückge-
drängt ; der Neligionsunterriht auf die Rolle eines Nebenfadres
berabgedrüdt und gelegentlich, trogdem jeine Leitung offiziell der
lutheriſchen Geijtlichfeit verblieben war, von den Jnipektoren in
etwas befremdlicer Weile infpigiert. Wo nad die Beziehungen
der althergebrachten Tradition fortwirften, war ein Einfluß des
Predigers auf den Lehrer und den Religionsunterricht vorhanden,
dod war er rein perjönliher Natur. Das Wahlreht der Ger
meinden wurde von einigen Inſpeltoren berüdjichtigt, von andren
je nad) Belieben auch unberüdjichtigt gelaflen. Die Kreislandidul:
behörden und die Oberlandiulbehörde erfuhren mur gelegentlich
von den Plänen und Handlungen der Negierungsorgane, da die
Iujpeftoren, jeitdem,ihre Schriftitücte translatiert und gelefen wurden,
und nachdem sie fih über ihr Wirfungsgebiet im großen unb
ganzen orientiert hatten, mit ihren Schreiben zurüdhaltender ge⸗
worden waren. In manchen Fällen mußte die Löſung des Bandes
zwiicen Scpulverwaltung und Schule von den Jnipeltoren jelbit
als itörend empfunden werden. Ein Juipeftor beklagte ji) bei
der Kıeislundihulbehörde, dab zahlreiche Lehrer ohne jegliche Legiz
timation unterriteten. Die Behörde beauftragte die Schulver-
Um die liolandiſche Vollsſchule. 407
waltungen, berartige ungefegliche Zujtände nicht zu bulben, doch
erklärten ſich diefe außer jtande ſolchen Unfug zu befeitigen, ba
fie nicht einmal erfuhren, wer als Lehrer berechtigt fei, noch auch
die Mittel bejühen, folche zu bejeitigen. Es läßt ſich bezweifeln
ob bei der großen Zahl der den Inſpektoren unterftellten Schulen,
dieje felbjt eine genaue Kenntnis ber von ihnen angeftellten Lehrer
befajen. Im jeben Falle waren die Inſpektoren gänzlid außer
ftande eine die Grenzen des Unterrichts überjteigende Kontrolle
über bie Schulen zu führen, welche in den langen Inipeftionspaufen,
nachdem ben örtlichen Schulautoritäten die Macht genommen, und
nur der Schein geblieben, tatſächlich ohne jede Auffiht waren.
Die Schulverjäumniffe nahmen erſchreckende Demenfionen an und
machten ben obligatorifchen Schulgwang zur Phrafe, ebenfo be:
gannen die Gemeinden, der altgewohnten Kontrolle entrüdt, die
Subfijtenzmittel der Schule zu ſchmälern, mit jteigender Tendenz
je mehr das Intereſſe der Gemeinden an ber Edjule erfaltete,
und feine Autorität, auch nicht der Inſpektor, war im jtanse
ſolches zu hindern.
Auf den Allerhöchſien Entiheid vom Februar 1889, betref⸗
fend das Geſuch der Rilterſchaft um Abänderung ber temporären
Regeln, hatte ber Landtag vom März 1890 beſchloſſen, zunädjit
feine Schritte zu unternehmen, da die Nitterichaft die Unmöglide
feit, unter ber Herrfchaft der temporären Negeln an der Verwal:
tung in erſprießlicher Weife teilzunehmen, bereits fonitatiert und
deklariert habe. Doch wurden die Oberfirdenvorjteher beauftragt,
den Entwurf eines definitiven Gejepes für die Verwaltung des
Voltsihulwejens als Vorlage für den nächſten Adelskonvent aus-
zuarbeiten. Der Entwurf, welder dem Adelstonvent vom Januar
1891 vorlag, ſuchte die Anſprüche der Regierung mit der Möglich:
teit einer ehrenamtlichen Wirtjamfeit zu vereinigen. Die unmit-
telbare Leitung und Kontrolle der Schulen follte den Schulverwals
tungen wieder übertragen werden, da die birefte Aufſicht der
Schulen durd) die Injpeftoren ſich bei ihrer geringen Zahl als
undurdführbar erwiejen hätte. Den Jnjpeftoren jollte dagegen ein
weitgehendes Aufſichtsrecht über die Wirtfamfeit der Selbtver:
mwaltungsorgane zugeſtauden werden. Dem Keligionsunterricht
follte die gebührende Stellung eingeräumt, die Mutterſprache bes
Sandvolfes in allen Parochial- und Gemeindeihulen als Unter
408 Um bie livlandiſche Vollsſchule.
richtoſprache verbleiben, bei der Erlernung ber Reichsſprache nach
Maßgabe der vorhandenen Kräfte. Das Wahlrecht der Gemeinde
follte betont, der obligatoriiche Unterricht durch zweckentſprechende
Maßnahmen wieder realifiert werden. — Der Landmarſchall wurde
beauftragt, eine Einigung mit ben Nachbarprovinzen auf Grund
des Entwurfs anzuftreben und gemeinfam mit ihnen, oder allein
mit den Organen ber Staatsregierung, in Verhandlung zu treien.
Nachdem der Landmarſchall fi mit den Vertretern der Nitter-
ſchaften von Et: und Kurland in Einvernehmen gefegt hatte, über:
gab er die auf Grundlage des Entwurfs ausgearbeitete Dentichrift
dem Kurator Lawrowstij zur Begutachtung. Der Kurator wollte
die Angelegenheit bis nach der Semitwoeinführung, die damals
mie heute in ber Luft jchwebte, verſchieben. Der Landtag vom
Februar 1893, dem ein fo gemächliches Verfahren nicht wünfchens:
wert erſcheinen fonnte, beauftragte ben Landmarſchall, eine baldige
Prüfung der ritterjhaftlihen Vorſchläge zwecks eines definitiven
Volksſchulgeſetzes zu veranlafien, mit ber Begründung, daß bie
Ritterſchaft die Verantwortung für den vapiden Verfall der Volks:
ſchule nicht länger tragen könne. Am 11. November übergab der
Landmarjhall das Diemoire in diefer Angelegenheit dem Minifter
der Volfsaufllärung und nahm mit dem Departementschef Anitſchlow
darüber Rũckſprache. Doch waren die Auslaſſungen beider über
den Gegenftand fo wenig ſachlicher Art, daß ſich aus ihnen über
ihre Stellung zum NReformprojeft nichts entnehmen ließ. Auch
der Kurator hatte mittlerweile ein Neformprojelt ausgearbeitet und
es dem Minifterium ber Volfsaufflärung zugleich mit bem ihm
feinerzeit übergebenen Projekt der Ritterſchaft überfandt.
Im Herbft 1895 trat darauf im Dlinifterium der Vollsauf-
Märung unter dem Vorſih des Petersburger Kurators Rapuflin
eine Kommiſſion zujammen, der das Projelt Lawrowskijs zur
Beprüfung übergeben wurde. Am 19, Dezember wurde das von
der Kommiſſion überarbeitete Projekt im Auftrage des Minifters
des Innern dem refidierenden Landrat zur Begutachtung überfandt.
Diejes Projelt war in allen Punkten eine Verfhärfung der tem:
porären Negelm Indem es ben konfeſſionellen und nationalen
Sharalter der Schule bis auf den legten Schein zeritörte, und
nicht einmal dem Neligionsunterricht unzweibentig bie Mutterſprache
beließ, drüdte es zugleid die ſtändiſchen Kräfte auf das Niveau
Um bie liolandiſche Vollsſchule. 409
eines bloßen Handlangerdienjtes hinab, und nahm gleichwohl bie
materiellen Dittel derfelben in verſchärflem Maße in. Anſpruch.
Es wurde daher der Landmarſchall vom Landtage des Februars
1896 beauftragt, mit allen Mitteln für das Yusarbeiten eines
neuen Projefts unter der Hinzuziehung ritlerſchaftlicher Delegierter
zu wirken, indem der fonfeffionelle Charakter, ber Unterricht in
ber Mutterſprache, wenigftens in den Gemeindeichulen, und ein
mafigebender Einfluß der Nitterfhaft, ber Landgemeinden und ber
Geiftlichfeit auf die Verwaltung der Voltsihulen gewährleiſtet
würbe.
Wie ſchwerwiegende Gründe es waren, welde bie Sorge
der Ritterſchaft um die Sache der Volkoſchule nicht ermatten lieh,
möge bie gleichzeitige Bittjhrift der Eculälteften von Fellin-Land
veranſchaulichen. In ihr heißt es: „Dit Herzihmerzen müflen wir
zuſehen, wie die Volksihulen, welche mit jo großen Opfern feitens
des Volles unterhalten werden, mit jedem Jahre fi verfchlechtern.
Obgleich die Schulkinder mit bitteren Tränen ihre Bücher benegen,
fo fönnen fie doch feinen Nutzen aus benfelben ziehen, weil bie
Sprache der Schulbücher ihnen fremd ift und der Lehrer fie in
einer unverjtändlichen Sprache unterrichtet. In feinem Lehrgegen-
ftande fönnen die Kinder ſolche Fortichritte machen wie früher.
An Stelle der früheren regelmäßigen Auffiht von feiten der
Schulverwaltung der örtlihen Autoritäten der früheren Organir
jation, erſcheint jegt nad) Jahren der Schulinipeltor zur oberfläch-
lichen Nevifion der Volloſchulen und verlangt mit der größten
Strenge mehr und mehr ruffüch. Raum hundert Tage im Jahre,
abzüglich der Kirchen: nnd Kronsfeiertage, beſuchen unſre Rinder
die Schule; die 11jährigen Kinder müſſen drei Winter die Schule
beſuchen. Solchen Rindern iſt dringend nötig die Mutterſprache
beizubringen, bevor der Lehrer einen ſyſtematiſchen Unterricht ans
fangen kann, aber jegt fordert der Volfoichulinipeftor, man darf
bie Kinder mur in ruſſiſcher Sprache Ichren! Nach dem Echluß
des Unterrichts fehren fie in bie Familien zurüct, wo ruſſiſch
weder verjlanden nod) geiproden wird, und vergeilen die wenigen
auswendig gelernten ruſſiſchen Vokabeln und Phraſen und ver»
ftehen weder ruſſiſch noch die Mutterſprache, noch jonft was.
Unfer Volt läßt ſehr gerne die Ninder fremde Sprachen
lehren, befonders aber die ruſſiſche Sprache, fie iſt in Zukunft ben
210 Um die liolandiſche Vollsſchule.
Kindern notwendig, aber mit ſolcher Strenge und auf Koſten
andrer Lehrgegenſtände und der allgemeinen Bildung, wie es
gegenwärtig in unfren. Schulen projekliert wird, das iſt unſren
Eltern und unſrem Volke unauoſprechlich ſchwer und traurig, und
das Volk drüdt feine Unzufriedenheit gegen die Schulen auf ver:
ſchiedene Weile aus: z. B. — Die Ninder werben unregelmäßig
zur Schule gejchiet, die Beiträge zur Erhaltung der Schulen
zahlt man ungern und äußerit unregelmäßig, die Gagen der Schul
lehrer werben unaufhörlich herabgefegt, die Schulen werben ge:
ſchloſſen, die Liebe verſchwindet und die Schule wird in Zwangs-
maßregeln umgewandelt, und all das Kefultat in nächſter Zukunft
ift: Mangel an guten Schullehrern und Kafterhaftigteit der jungen
Generation. ...“ (Zitiert nad dem Translat, 18. Feb. 1896).
Das Schreiben ſchließt mit der Bitte um Einführung ber
Mutierſprache und einer evangeliſch-lutheriſchen Schulobrigteit. —
Am 17. Mai 1896 wurde das ritterſchaftliche Memorial mit der
ausführlichen Kritik des Gejegentwurfes, und mit gleichzeitiger
Mitteilung des Landtagsihluffes, dem Gouverneur zur Vorftellung
an den Minifter des Innern zugeſandt. Mittlerweile war bereits
das Reformprojelt in den Atten des Miniſteriums der Vollsauf-
Märung verjunfen, das Memorial der Nitterichaft aber verblieb,
ſoweit es ſich Fonftatieren lich, bei den Aften des Gouverneurs.
Die Qualität des Lehrermaterials war jeit dem November
1885 ftelig gejunfen, endlich wurde durch einen minifteriellen Er:
laß vom April 1897, welder die Altersgrenze der Lehrer von
21 auf 17 Jahre Herabjegte und ihren Vefähigungsnadhweis allein
auf die Kenntnis der ruſſiſchen Sprache beſchränkte, der nad) und
nad) eingetretene Tiefitand offiziell fanktionirt. Diefer Erlaß ber
wog die Nitterichaft unverzüglich alle zu Gebote ftehenden Mittel
in Anwendung zu bringen, um an Allerhöchſter Stelle für die Dar-
ſiellung der in Vetreff der Volloſchule geichaffenen Zuftände Gehör
zu finden. Im Auftrage des Adelsfonvents vom Mai 1897 über
reichte darauf ber Landmarſchall Sr. Diajeftät die Suplik der Ritter
und Landſchaft, welde bie Vitte einer Eriegung ber temporären
Negeln burd) ein definitives Gefeg, mit ben leitenden Grundſäten bes
fonfefiionellen Charakters, der Mullerſprache und der Ermöglichung
einer mugbringenden Tetlnahme der Selbjtverwaltungsorgane, aus-
drüchte, jowie, daß die gegenwärtigen geltenden temporären diegeln
Um die liolandiſche Vollsſchule. al
von 1887, welche bie religiöszfittliche Erziehung des Volles nicht
ficherfteflten, die livländiſche Ritterſchaft der Mögligfeit, an ber
Verwaltung teilzunehmen, beraubten. Der Landmarſchall fand am
1. November bes Jahres Gelegenpeit, Sr. Majejtät in gejonberter
Audienz bie Bitte der Nitterfchaft auszufprechen. Am 10. Dezember
1897 wurbe bem Landmarſchali durch den Dirigierenden der Kanzlei
Sr. Majeftät der Allerhöchſte Entſcheid übermittelt, — das Geſuch
der Nitterfchaft ohne Folge zu Laien.
Nachdern dergeftaft ber Rillerſchaft dort, woher fie fo lange
Zeit die Hülfe erhofft hatte, feine Hülfe geworden, beſchloß ber
Landtag vom März 1898 ſchweren Herzens abermals um bie
Liberierung von ber Verwaltung nachzuſuchen, und die Oberfirhen-
vorjteher und Kirchenvorſteher, denen ein tätiges Intereſſe an ber
Volkoſchule nicht mehr zugemutet werben fonnte, aufzuforbern, ſich
im Verein mit der Geiftlicdjfeit um die Förderung bes Haus und
Konfirmationsunterrichts in jeder Weije zu bemühen.
In einer zweiftündigen Unterredung fegte ber Landmarfchall
dem unlängit ins Amt getretenen Minifter der Volksauftlärung
bie Lage der libländiſchen Volkoſchule und den Wunſch der Ritter⸗
haft, von der Verwaltung diejer Volkoſchule befreit zu werden,
auseinander. Mit dem Hinweis auf Armenien und Polen begrün-
dete der Minifter die Unmöglichfeit, von den feither vom Staate
vertrefenen Grundjägen abzumeichen, meinte aber gleihwohl, daß
die Liberierung der Nitterihaft von der Teilnahme an der Volle:
ſchulverwaltung ſchwerlich Tonzediert werden könne. Auch im
Oktober und November des Jahres gelang es dem Landmarſchall
nicht, eine definitive Antwort zu erlangen. Der Gejegentwurf von
1895 war wieder aus den Alten erjtanden und auf jeiner Grund«
fage beabfichtigte der Minifter ein neues definilives Gefeheoprojelt
ausarbeiten zu laſſen. Cr wollte Sr. Majeftit die Frage zur
Entfcheiung vorlegen, ob es nicht zwectmahig wäre, bei der Ab-
faſſung des Projekts ritterichaftliche Delegierte hinzuzugichen. Das
Geſuch um eine formelle Befreiung der Hitterfihaft von der Teils
nahme der Voltsihulverwaltung wurde der Landmarichall gebeten
bis zur Fertigitellung des Gejeges zu veridieben. Im Juni 1900
war die Geſetzlommiſſion in Tätigkeit. Cine fonfidientielle Ber
ratung, mit den Vertretern der baltischen Ritterſchaflen war in
Ausfidt genommen, auch war der Kurator Schwarz beauftragt,
412 Um bie liolandiſche Boltsigule.
das Projeft zit ben Vertretern der Ritterſchaften zu beipreihen.
Die Meinung des Kurators ging dahin, daß es unter ben bejter
henden Verhältnilien am zwedmäßigiten wäre, wenn bie ritter-
ſchaftlichen Organe aus der Verwaltung ausfdieden.
Der neue Gefegentwurf trug in gleicher Weife wie die tem-
porären Regeln und das Gejegesprojeft von 1895 den bereaufra-
tiſchen, konfeſſionsloſen und antinationalen Stempel, und unterichied
fi) von feinen Vorgängern lediglich durch den ſchärſeren Ausdruck
diefer Tendenzen. Auch biejes Projeft blieb indeſſen in ben Alten,
und die 1893 erweiterten und Lobifizierten temporären Regeln
herrſchten nach wie vor.
Während all dieier Zeit waren Volfsihuldireftoren und Ins
fpeftoren, deren Zahl langiam geftiegen war, in der Pilege der
Landvolfsfhule nicht ermattet, wie wir Diejes aus nachſtehendem
Zirfular vom 1. März 1901 entnehmen fönnen, in dem eo heißt:
Punkt 6. Die Schulmufeen müſſen jedes Jahr vervollftändigt und
die Reichsſprache beingemäß gründlicer gelernt werben. Beſonders
muß die veraltete Überjegungsweije ganz abgeſchafft und nur die
natürliche Lehrweife benugt werden, dabei muß darauf Gewicht
gelegt werben, daß das Kind ſich vom eriten Betreten des Schul
zimmers an an das lebendige Ruſſiſch gewöhnt. Für die Sauberleit
der Schulzimmer muß beſonders Eorge getragen werden. Der
Lehrer muß den Infpektor rechtzeitig davon in Kenntnis jegen,
wenn er feine Stelle wechſeln will. Berichte über feine Befoldung
muß der Lehrer jedes Jahr dem Gemeindebevollmächtigten ſchrifllich
einreichen und dabei für die Erhöhung feiner Gage felbit Sorge
tragen. Dazu darf er aber feine gefegwibrigen Mittel anwenden,
fondern muß fid) nad) den örtlichen wirtſchafilichen Verhältniffen
einrichten. (Düna⸗gig. vom 1. März 1901*.)
Gleich der livländiihen Landvolfsihule liegt heute auch ber
Gebdanfe einer allmächtigen Bureaukratie, dem fie im Kampfe
unterlegen it, in den legten Zügen — bie freie Entfaltung des
Lebens ift auf der Tagesordnung. Am 22. April 1905 ift dem
Präfidenten des Miniſierkomilees Staatsjefretär Witte die Dents
ſchrift der Livl. Nitterihaft, betreffend die Vollsſchule, überfandt
*) Gingelne leuiſche und eſtniſche Blätter, ſowie die „Rihit. Wedomofti”
Gaben ſich in leyter zeit um die Verbreitung einer Renntiis des jepigen Wolls:
ichufwelens verdient demacht. c$ ft Daher ein näheres Eingehen auf dieſe Frage
faum vonnölen,
Um die Koländifeie Voltaſchule. us
worden. Die Denkichrift ſchließt mit den Worten: „Noch einmal
macht bie lioländiſche Nitterihaft im vollbewußten Intereffe bes
Reiches wie auch der gefeglich ihrer Fürforge anvertrauten engeren
Heimat, unter Vorjtellung des herrſchenden Notfiandes in ber
Volkserziehung, fih mit der Bitte an die Staatsregierung um
Wiederaufrichtung ber Lebensbedingungen der evangelifch-Iutherifchen
Landvolfsihule: Gewährung der Schule als kirchliche Einrichtung,
Gebrauch ber Multeriprade ald Unterrictömittel und fommunafe
Verwaltung des Volksſchulweſens in gemeinfamer Mitarbeit ber
Ritterichaft, Geiftlifeit und Verlrelung bes Bauerftandes.”
3
Wattife Monatäftzift 1908, Heft b. 5
Zum Memoire der Ndelömarfhäle vom Rovenber v. J.
We bekannt, hatte die Verſammlung der Gouvernements-Adels-
marſchãlle, die vom 15.—20. November v. I. in Moskau
tagte, auch über bie innere Tage des Reiches beraten und bie
Majorität die Ausarbeitung eines Memoires beſchloſſen, wobei fie
ſich im Allgemeinen von benfelben Motiven leiten lieh, bie auch
Fürft Trubetzkoj in feinem befannten Briefe an ben Minifter des
Innern vom 2. Deyember ausgeſprochen hat. Dieſes Memoire,
zu bem nad) und nach 22 Adelsmarſchälle ihre Unterfchrift gaben,
murbe dem Minifter des Innern überreicht und gleichzeitig auch
den übrigen noch fehlenden Adelsmarſchällen zur event. Mitunter
zeichnung überfandt. Dei der Bebeutung folder politischen Aftionen
wird es von bejonberem Jnterefje jein, das Antwortichreiben fennen
zu lernen, das der livländijhe Landmarſchall am 7. Dezember 1904
an ben St. Petersburger Adelsmarſchall, den Grafen Gudowitſch
gerichtet hat und das er dann am 15. Dezember auch dem Diinifter
bes Innern mitteilte. Das Schreiben lautet:
Hochgeehrter Graf!
Ihr am 2. Dezember in meine Hände gelangtes Schreiben
nebſt Beilage enthält fo wichlige und ernfte Angelegenheiten, daß
ich bereits mittels Telegramm vom 3. Dezember mir Zeit erbitten
mußte, und erft jept imitande bin, Ihnen meine Meinung mitzus
teilen, welde, wenngleih nicht auf einem Nuftrage ober einer
Inftruftion der Liv. Ritterſchaft beruhend, dennoch den Intens
tionen derfelben entſprechen dürfte.
Die Wirfungen des übermäßig angeipannten bureaufratiichen
Spftems haben fid) in Livland, — gleihwie in den übrigen Teilen
des Reiches, — in unheilvoller Weije geltend gemacht, bie feit
altersher geſchulten Kräfte der Selbſiverwaltung lahmgelegt, fowie
Zum Memoire der Adelsmarſchalle. 415
die heranwachſenden jüngeren Elemente zurücgeftoßen, und endlich)
das gegenfeitige Vertrauen zwiſchen ber Regierung und ben Regierten
erfchüttert. Die dem bureaufratiihen Syitem innemohnende Sucht
der Neglementierung und der Uniformität hat insbefondere ſchwer
auf Liviand gelajtet und zerflörend gewirkt, weil gute und fegens»
reihe Elemente, bie jeit früheren Zeiten eriftierien, erſtickt
worben finb.
Diefe traurige Lage ber Negierung befannt zu geben halte
ich für eine Pflicht jedes Gouvernements:Adelsmarjchalls, und in
dieſer Pflicht fühle ich mich vollftändig einig mit meinen Kollegen,
die aus verfchiedenen Teilen des Reiches ihre Stimmen zu erheben
für gut befunden haben, um in dieſer ernten Zeit ber tiefgehenden
Bewegung feinen Zweifel darüber auflommen zu laſſen, dab der
Abel bes Neiches nicht beifeite zu treten gelonnen iſt, ſondern
es für feine heilige Pflicht erachtet, als Erfter darauf hinzuweiſen,
was dem Wohle des Volkes dienen fann.
Diefe hohe Aufgabe des Adels befteht hauptfächlih in ber
Erziehung aller Bevölferungsichichten zur Selbjtverwaltung, begin»
nend mit der gewiffenhaften und treuen Arbeit im Gut und im
Dorfe und aufiteigend bis zur Verwaltung aller provinziellen
Bebürfniffe, und bis zur Wahrung deffen, mas das Wohl ber
Provinz erheiſcht. Das ift ein großes Gebiet, das vollftändig zu
beherrichen jehr große Anforderungen an die uneigennügige und
geſchulle Arbeitsfraft aller Beteiligten flellt. -— Hierin liegt der
Kernpunkt jeder weiteren Entwicdlung.
Die provinzielle Selbjtverwaltung muß vollftändig angepaßt
fein den Bebürfniffen des Landes, und fie mn über ein aus:
reichendes Material perfönlicher Kräfte zur Ausübung der öffent
lichen Verpflichtungen verfügen, bamit eine feite und gefunde
Unterlage für bie Gejamtorganifation des Reiches geſchaffen werbe.
Um diefen Anforderungen zu genügen, gehört fi der Erlaß
von Gefegen, welde die provinzielle Selbftverwaltung in ihrer
Wirkſamteit unterftügen, ihr freien Spielraum gewähren, damit fie
innerhalb der ihr vom Gejeg gewährten Grenzen felbjtändig ihre
Funttionen erfüllen könne, und vor allem, damit fie geichügt fei
vor einer Vevormundung und vor willfürlihen Eingriffen feitens
der Regierungsorgane.
Unter Veobachtung dieſer allgemeinen Grunbfäge Tann allein
eine gefunde Verwaltung ſich entwideln, und ich fühle mich darin
einig mit Ihnen und Ihren Kollegen. Als Hindernis dürfte dabei
nicht angefehen werden, daß veridiedene Teile bes Reiches eine
gefonderte Entwidlung genommen haben, bie, — unbeſchadet ber
Reichseinheit, — aud) eine bejondere Form der Selbjtverwaltung
erheifchen. Noch mehr, dieje Eigenarten müljen zur lebendigen
Geftaltung des Reichsganzen beitragen, weil die Uniformität der
*
46 Zum Wemoire ber Adelsmarſchalle
Tod jedes jelbftändigen Kulturfortfhritts iſt. Ganz befonders
muß betont werben, dah der Ausbau ber provinziellen Selbſtver-
maltung, ber Schuß berfelben vor unberedhligten abminiftraliven
Eingriffen und die Ausftattung ber Selbjtverwaltungsorgane mit
den nötigen Machtvolllommenheiten zur felbjtändigen Erfüllung
ihrer Obliegenheiten, unerläßlid erideint, um gelunde Zuftände
zu Schaffen.
Denn in Vorftehendem das politifch-abminiftrative Gebiet
umgrenzt ift, das einer bringenden Neform bebarf, fo gibt es noch
allgemeine Rechte, deren Verwillichung mit ber Sehnfucht bes
Voltes zufammenfällt, — das ift die freiheit des religiöfen Ger
mifjens, ein Poltulat, welches außerhalb aller politiihen Erwä—
gungen liegen müßte unb längft als reif anzujehen ill, — ber
Schutz ber Perfon durch Gefepe, welche die Beamten in private
rechtlicher und frimineller Hinficht durch richterlihen Sprud für
ihre amtlichen Handlungen haftbar machen, und endlich bie Frei»
heit der Lehr: und Lernſprache, welche, unbeichadet der Anforde
rungen, die bie Reichsſprache ftellt, den Eltern geftattet, ihre
Kinder in der Mutterſprache zu erziehen.
Hier wäre die Grenze defien, was von der Staatsregierung
erbeten werden könnte; was jenfeit® liegt, berührt bie Pflichten
der oberiten Staatsgewalt: ber eigentliche und hauptlächlichite
Dirfungstreis des Adels, der fi bewußt ift feiner Aufgaben und
feiner Kraft, die provinzielle Selbitverwaltung, als Trägerin eines
meiteren Staatsausbaues, ſegensreich zu führen, und von biejer
Erfenntnis geleitet ſich ſelbſt die Grenze jeiner Wünſche ſetzt, —
und bort das allgemeine, autoritäre Neidhöprinzip, von bem auf
Grund der Traditionen und auf Grund ber großen Verantwortung,
melde ihr bes Reiches Wohl auferlegt, erwartet werben muß, daß
es bie Jnitiative zu richtiger Zeit ergreifen wird.
ſch bitte Sie die Ditunterzeichner der von Ihnen dem
Herrn Minifter des Innern übergebenen Denkſchrift, ſowie auch
bie Teilnehmer ber allgemeinen Moskauer Abelsverfammlung von
diefer meiner Darlegung in Kenntnis zu fegen, und beehre mic)
binzuzufügen, daß bei meiner bevorfiehenden Anmelenheit in der
Nefidenz ic) bem Herrn Dinifter des Innern von dieſem Schreiben
Mitteilung machen werbe.
Genehmigen Sie uſw.
(Folgt bie Unterfchrift.)
Bemerkungen zu U. Zobien’s Aufſaß über die Minimal-
und Marimalbeilimmungen des bäuerlihen Grundbeiges
in Livland.
3" Märgheft diefer Monatsichrift hat Alerander . Tobien die
Minimal- und Darimalbejimmungen über den bäuerlichen
Grundbeſitz in Livland in jeilelnder und anregender Form einer
Kritit unterzogen, in wieweit fie bei ber bevorftehenden Grund:
fteuerreform in Livland reformbebürftig jeien. Der Verfafler wendet
fid haupiſichuch gegen bie Beftimmungen der fivländijchen Bauer-
verordnung von 1860 OPEL. 114 u. 223), welche bie Teilung eines
Bauerlandgrundftüdes in Parzellen, die den Tarwert von Ys Hafen
= 10 Tulern nicht erreichen, verbieten. Hiergegen ſchiägt er vor,
das zu firierende Minimum eines Bauerlandgrundſtückes nur auf
das Stammgrundftüc zu beihränfrn, den Überſchuß aber zur
beliebigen Parzellierung freisugeben. Da es fid hier um eine
wichtige Frage der agraren Entwilung unires Bauernftandes
Handelt, jo jei es mir geitattet, zumal ich unter einer großen
Bauerſchaft lebe, zu dieſer Frage, vom Gejichtspunfte der vealen
Verhältnifie aus, Stellung nehmen zu bürfen.
Tobien hat in jeiner Abhandlung hauptſächlich bie Frage
der Anfiedlung von Yandarbeitern auf dem Banerfande ins Auge
gefaßt, und id) fann dieſem Gedanten umfomehr beiftimmen, als
die jüngfte Vergangenheit wohl gezeigt hat, daß den Ausführungen
Tobiens über ein ſich bildendes landiſches Proletariat die erniteite
Aufmerffamfeit zuteil merden muß, zumal gerade die in den
Bauerwirtſchaften übliche Hnltung von jog. Sammerlingen (Saifons
arbeitern, die gewöhnlid nur für das Sommerhalbjahr engagiert,
im Winterhalbjahr auf den fid gerade bietenden Lerbienit anger
wiejen find) leicht zu ſolchen Mißſtänden führen kann, bejonders
wenn im Winter keinerlei Arbeitsgelegenheit vorhanden ift. Jedoch
418 Bemerkungen zu A. Zobiens Auflag.
aud in einer andren Beziehung unferes bäuerlichen Lebens find
die bisherigen Bejtimmungen über das Minimum hinderlih. Wie
befannt hat ſich die hauptiächlihe Ablöfung des Bauerlandes in
Livland während einer Zeit landwirtſchaftlichen Gebeihens dieſer
Provinz abgeipielt, wodurch nicht nur dieſe Ablöfung ſich vers
hältnismäßig ſchnell vollzog, ſondern auch in weiterer Folge, ber
fördert durch die Gunft der Zeiten, eine Generation wohlhabender
Grundeigentümer entftand. In ben jüngiten Zeiten aber, wo ſchon
eine neue Seneration ala Erben diefer erſten Käufergeneration an
die Stelle getreten it, macht fi eine immer jtärfer werbende
Verſchuldung der Bauerlandgrundjtüde geltend, veranlaßt durch
Erbteilungen und verihärft mod durch eine Reihe von ſehr uns
günftigen Erntejahren.
Um fid den hieraus entjtehenden Kalamitäten möglichjt zu
entziehen, glauben folde verfchuldete Sleingrunbbefiger vielfach
beffer zu fahren, wenn fie die Mirticaft in eigener Regie auf:
Löjen, ihr jämtliches landwirtſchaftliches Inventar verfaufen und
igre Grundftüde auf Geld- oder Halbfornpadt vergeben, wobei
wohl der Gebanfe maßgebend ift durch den nicht unbebeutenden
Erlös für das verfaufte Inventar vielleicht die läſtigſten Schulden
abſtoßen zu fönnen. In den meilten Fällen behält num ein folder
Kleingrunbbefiger foviel Land zurüd, als er mit einem Pferde be:
arbeiten kann. Der in Pacht vergebene Teil des Grundjtüdes
wird nun nicht auf lüngere Zeit verpachtet, wogegen burdaus
nichts einzuwenden wäre, fondern meiftenteils auf nur ein Jahr,
wodurch biejer Teil bes Grundſtückes ein Objeft des Meijbotes
je nad) den betreffenden Ernte: und Preisfonjunfturen wird und
dur den hierdurch verurfachten bejtändigen Wechſel der Pächter
bald vollftändig beterioriert ift, da ſchon im mohlverftandenen eigenen
Intereffe und gezwungen durch das Umfichere feiner Zukunft der
jeweilige Pächter bejtrebt ift den größtmöglichen Nuten mit dem
geringiten Aufwande aus der fremden Scholle zu ziehen. Kommen
nun ſchlechte Zeiten und finden fid entweder feine Pächter für
das ausgejogene Sand mehr, ober zu jo unvorteilhaften Ber
dingungen für ben Veliger des Grundſtückes, daß biejer feinen
Verpflichtungen nicht mehr nachkommen fann, fo wird er fein
ererbtes Grundſtück mohl aufgeben müflen. Käufer für ein foldes
Grundjtid fann aber nur ein fapitalfräftiger Mann fein, nicht
nur weil ber Raufpreis bes Grunditücdes und bes erforderlichen
Inventars einen Aufivand von Taufenden von Nubeln beanſprucht,
jondern weil in einem folhen Falle der Verluſt einer mehrjährigen
Bemerkungen zu X. Tobiens Aufſat. 419
Rente und der Aufwand für Nemeliorationen zu tragen iſt, To
daß ber Kreis der Käufer ein fehr begrenzter ift. Meiſtenteils
find diefe Käufer wohlhabende Grundeigentümer aus der eigenen
Gemeinde, da dieſe vielfad) die Hauptgläubiger find. So ent
widelt fih ganz allmählig ein Prozeß der Auſſaugung, weldem,
wenn ihm aud) Grenzen dur die Beflimmungen über das
Marimum in der Vauerverordnung gezogen find, dad) Bedenken
Sozialer Natur entgegenitehen müßten, umfomehr als. unfere Agrar-
gelepgebung nicht dahin intendierte, daß eine zahlreiche Klaſſe
ſolcher Großbauern entjtände, fondern daß ein Bauernjtand geſchaffen
würbe, der im wahren inne bes Wortes ein Landbauer ift und
der durch feiner Hände Arbeit ſich und feiner Familie eine geficherte
Eriftenz ſchafft.
Betrachten wir den oben angegebenen Fall, daß der Inhaber
eines bäuerlichen Grundftüds nur einen Teil jeines Landes zur
Eigenbewirtihaftung ſich vorbehält, fo joll dieſer Teil des Grund»
ſtückes dem Befiger und feiner Familie den Lebensunterhalt ge:
währen, während der andre Teil dazu dienen ſoll. für Zins- und
andre Gelbverpflichtungen aufzukommen. Griteres wird, wenn der
vorbehaltene Acer nicht zu Mein ift und da es gewöhnlich ber
befte Boden iſt, wohl fait immer ber Full jein, ob aber lepteres
nad) den oben dargelegten Puchtverhältnillen den Grunbbefiger,
aud für alle Zukunft, bezüglid feiner Verpflichtungen ſicherſtellt,
iſt mehr als zweifelhaft. Jit es daher num nicht einleuchtend,
daß es in foldem Falle, fowohl für den bäuerlichen Grundbeſiher,
als aud) für die in praxi bereits alienierten Teile des Grund:
ftüdes beſſer wäre, wenn dieje aud) faktiſch abgelöft werben könnten.
Nicht nur würde hierdurch ber betrefiende Grundbefiger bares
Kapital fid) beſchaffen fönnen, um feine Verpflichtungen abzuftoßen,
ſondern er würde auch bei Verkauf kleinerer Parzellen einen viel
höheren Preis für fein Land erzielen können, als bei Verkauf bes
Geſamtgrundſtückes, umjomehr als ber Kreis der Intereilenten ſich
naturgemäß vergrößern würde. Daß eine immer mehr jteigende
Nachfrage nad Kapitalanlagen in Grund und Boden bei der
landloſen Vevölferung vorhanden iſt, beweilt fchon der Umjtand,
daß die Bildung fleiner Siedlungen, ſog. Flecken oder Hackelwerke,
auf dem flachen Lande immer mehr zunimmt, eine Erſcheinung,
die für unire Landwirtſchaft dasjelbe bedenkliche Moment hat, wie
ber Abzug der landiſchen Vevölferung in die Städte, da auch die
Bewohner diejer Siedlungen, welche vielfach in der Nähe der Eiſen—
bahnitationen liegen, ſich bald der Landwirtſchaft zu entfremden
1 Bemerkungen zu A. Tobiens Auffat-
pflegen. Hierbei muß auch des Umftandes Ermähnung geichehen,
daf derartige Gieblungen aud auf das Bauerland überzugreifen
beginnen, welcher Umftand, da nad) ben bereits zitierten Bes
ftimmungen unfrer Bauerverordnung über das Minimum ſolche
höchſtens eine Lofitelle (0,90 Hektar) große Parzellen nur auf
Zeitpacht vergeben werben können, für die Erbauer von Häuſern
auf ſolchen Parzellen in Zukunft zu den gefährlichiten Ronfequenzen
bei Befigwechfel im Dauptgrundftüd führen fann.
So reformbebürftig jomit, nach den oben dargelegten Fällen
aus dem praltiiden Leben, die Beitimmungen unſrer Bauerver:
ordnung hinfichtlich des Minimums bäuerlichen Befiges fein mögen,
und fo jehr ich daher mit Tobien in dieſer Beziehung überein«
ftimme, fann ich jedoch nicht umhin, mid; gegen den Vorſchlag
Tobien’s, das Minimum des bäuerlichen Grunbbefiges, entgegen
den Beitimmungen ber livländifhen Bauerverordnung, auf das
doppelte Maß, d. h. auf 20 Taler Landwert feitzulegen, aus:
zuſprechen.
Tobien ſtützt ſich hierbei auf ein Gutachten, das ber ehe
malige Bräfibent der Dfonomifden Sozietät, Landrat Eduard v.
Dettingen zu Ienjel, auf Bitte des verjtorbenen Gouverneurs von
Livland General Sinomjew im I. 1895 verfaßt hat und das ben
Nachweis führt, daß bie Selbftändigfeit und das wirtſchaftliche
Gedeihen einer bäuerlichen Familie von jede Köpfen durch ein
Grundftüd von im Ganzen ca. 114 Lofitellen Areal mittleren
Bodens im Landwerte von ca. 20 Talern am beiten gewährleiſtet
wird. Gegen das hier gewonnene Nefultat kann um jo weniger
etwas eingewanbt werben, als es übereinitimmt mit dem, wenigitens
für Norblivfand, tupiihen Bauerlandgrundftüd, das fogar in Folge
der fait durchgängig niedrigeren Taration an Landareal größer üt.
Jedoch muß hierbei im Auge behalten werben, daß zur Zeit, in
der biefes Gutachten verfaßt wurde, die öfonomiiden und ſozialen
Grundlagen ber Landwirtichajt in einem großen Teile Livlande
andre waren, als fie es heute find. Damals hatte ber ftarke in«
induftrielle Aufſchwung Rigas ſich nod nicht bis weit hinein in
das flache Land durch den bald darauf eintretenden Abſtrom von
Arbeitskräften bemerkbar gemadıt ; noch waren bie Eijenbahnlinien
von Walk nad Bernau, Fellin, Neval, Marienburg, Stodmanna
hof nicht erbaut worden und daher Arbeitskräfte für die Land—
wirtſchaft reichlich und billig vorhanden.
Infolge der durq die Eifenbahnen erleichterten Freizügigkeit
iſt häufig mander bäuerliche Grundeigentümersfohn nicht mehr
Bemerkungen zu U. Tobiens Aufab. aa
gewillt in alter patriarchaliicher Weile bem Vater koſtenlos bei der
Bewirtihaftung des Grundftüdes Arbeitsdienite zu leiten, zumal
wenn er nicht der zukünftige Erbe it und Stellungen mit höherem
Gehalte und leichterer Arbeit in ben Gtäbten ober auf den Eijen-
bahnen zu finden find. Zur Bewirtihaftung eines bäuerlichen
Grundftüdes von 20 Talern Landwert find incl. Tierhaltung
mindeftens vier Perjonen erforderlich. Stehen dem Befiger eines
ſolchen Grunbftintes feine arbeitsfähigen Familienglieder zur Ver
fügung und iſt etwa jeine Frau durch Meine Kinder an einer
Arbeitsbetätigung verhindert, fo mũſſen drei bezahlte Kohnarbeiter
ober Arbeiterinnen gehalten werben. Zieht man hierbei in Be—
tracht, daß ber Lohn der von den Bauern fait ausnahmslos ge:
haltenen unverheirateten Arbeiter (wenigitens in hiefiger Gegenb)
um fait hundert Prozent geſtiegen ift, jo liegt es auf der Hand,
daß der für eine ſolche Wirtſchaft errechnete berfanh faum aus ⸗
reichen dürfte, dieſe Ausgaben zu decken. Dieſes wird auch viel-
jach als Grund angegeben, daß ſich ber früher beſchriebene Modus
ber Verpachtung immer mehr ausbreitet und zwar gerade auf
größeren bäuerfihen Grunditüden, die naturgemäß bei der Eigen-
bewirtichaftung gagierter Arbeitskräfte nicht entbehren dürften.
Indem ich mic) nun wieder ber frage des Feitjegung des
Minimums bäuerlihen Grundbejiges zumwende, jo muß zunächſt
nad der von Tobien gegebenen Tabelle über die Größe ber
bäuerlichen Grundjtüde konſtatiert werden, daß es doch in Livland
1274 Grunbjtüde unter dem Landwerte von zehn Talern gibt,
eine Zahl, welche, trogbem dieſe Grundſtücke nur 5,12 pGt. der
Geſamtſumme ausmaden, durch ihre relative Größe dafür ſpricht,
daß ſolche Grundſtücke ihre Lebensfähigfeit erwiefen haben. Daß
die im Landwerte größeren Grundftüde überwiegen, liegt meiner
Anſicht nad nicht nur in ihrer eine günjtigere öfonomifche Grund«
lage gemwährenden Größe, fondern weit eher in ihrer Hiftoriichen
Eutwidlung begründet. Während der Frohne war jeder Nupnieher
eines bäuerlidhen Grundſtücks bejtrebt, eine möglichſt große Anzahl
von Arbeitern auf jeinem Grunditüde nod) den Gehorch für das
Nittergut zu leiten hatte; mithin hatte ber Frohnbauer gegenüber
den heutigen grundbefiglihen Bauern das doppelte an Arbeitern
und Arbeitstieren zu unterhalten, und diejer Umſtand ſchloß es
fait aus, daß fich Wirtfchaftseinheiten bilden fonnten, die nicht
mindeftens einer größeren Familie die Eriftenz ermöglichten. Die
Tatſache, daB es unter den heutigen Verhältniffen durchaus mög:
lich ift, auf Grundſtücken unter 10 Talern cine geſicherte Eriftenz
122 Bemerkungen zu A. Tobiens Aufſah
zu führen habe id) auf meinem Gute f. 3. ſ. beftändig unter den
Augen. on bem Hofeslande bes Gutes Abia find in den ſechtiger
Jahren des vorigen Jahrhunderts 26 KHofeslandparzellen durch
Verkauf in bäuerlice Hände übergegangen, von denen bie einjten
einen Landwert von fünf Talern haben, bei einem Areal von
ca. 50 Loſſtellen. Trogdem nun diefe auf minderwertigem Boden
(verbrauchten Bufchländereien) feinerzeit fundiert worden find und
ihren Befigern feinerlei Nebenverdienjte durch bie Nähe größerer
Waldfomplere 2c. gewähren founten, find fie fait ausnahmslos
ſchuldenfreier Beſih (menigitens dem Hauptgute gegenüber) der
weiten Generation.
Nach dem oben bargelegten glaube ich wohl die Berechtigung
zu haben, mich jtrift gegen die Vorjchläge Tobien's ausipreden zu
dürfen, das bisherige Minimum des bäuerlichen Grundbejiges,
noch weiter zu erhöhen, indem ich hierbei mir erlaube die Dieinung
zu vertreten, daß es angebrachte und dem bänerlichen Verftändnis
angepaßter fei, bei ber bevorftehenden Grundſteuerreform das
Minimum des bäuerlichen Grundbefiges nicht nach dem Tarwerte
feitzuiegen, ſondern, nad Analogie der Beilimmungen unjres
Provinzialrechts für die Dlinimalgröße der Nittergüter, im Areal
zu beſchränken. Als jolches würde id) 60 Lofitellen vorzuſchlagen
mir erlauben, wobei ber Acker mindejtens ein drittel, = 20 Lofr
ftellen, umſaſſen müßte.
Hierbei fann ich nicht umhin aud) das proviſoriſche Quoten
geleg von 1893 in meine Betrachtungen hineinzuziehen, da meine
Darlegungen vielleicht geeignet fein fönnten, die praktiſche Der-
wertbarfeit besielben für unjre agraren Verhältniſſe zu unter
ftügen. Wenn Tobien in feinem Aufiage eine möglichite Vers
miſchung verfdiebeufter Grundbefigtupen als Ideal der Eigentums:
verteilung bezeichnet, fo ftimmen mit ihm hierin auch Die ber
deutendften Autoritäten Wefteuropas auf agrarem Gebiete überein.
Auch ic) glaube das Gedeihen der von mir oben angeführten
Heinen verfauften Hofeslandparzellen gerade dem Umſtande zu:
ſchreiben zu müllen, daß fie mitten unter den größeren Bauerland-
grundftücen verteilt liegen, wobei id) nur himweije auf die dadurch
gegebene Diöglichfeit des Sichergänzens zwiſchen Kleinbauer und
Großbauer, einerjeits durch Arbeitshilfe, anderfeits durch verbeflerte
Adergeräte. Das Gefeg von 1893 bezwedt aber gerade das
Gegenteil, indem es dieſe Nleinbetriebe möglichſt auf eine Land—
fategorie, bie Quote, beichränfen will. Welche Folgen aber eine
von ähnlichen Geſichtspunkten geleitete Landverteilung für die
Vemerkungen zu A. Tobiens Auffap- 428
bãuerliche Vevölferung in den inneren Gouvernements gehabt hat,
braucht Hier nicht weiter erörtert zu werben. ebenfalls muß
fonitatiert werben, daß dieſes Gejeg bisher hier feine praftiiche
Erfolge erzielt hat, was um jo weniger wunder nehmen kann,
als frühere Verſuche nad) dieſen Gefichtepunften einen Teil der
Domänenländereien zu verteilen, als jog. Seelenländer, in jeder
Beziehung unbefriedigende Refultate ergeben haben.
Gfeichzeitig möchte id) noch hervorheben, daß das Gejeg von
1893 in einer Beziehung leider hemmend in unfre agrare Ent
widlung eingegriffen hat. Aus ber von Tobien am Schlufie
feines Aufſahes gegebenen Tabelle erfieht man, daß in Livland
außer 208,703 Xofftellen Quotenland noch 198,621 Lofitellen
Hofesland meiftenteil® in bäuerlichen Befig übergegangen find.
Eine Addition ergiebt, daß fomit die Summe diejer beiben Poften
faft gfeich ift dem unverfauften Quotenlande. Nachdem nun durch
das Gejeg von 1898 ber Verlauf ber Quotenlänbereien ben bes
fannten Beichränfungen unterworfen worden, wird dieſes mohl
aud) auf das Hofesland bezüglich feiner Verfäuflihfeit zurüdger
wirft haben und ſomit einen fich vollziehenden Ausgleich zu
Sunjten des Kleingrundbefiges, zum mindeflen in ber Zeit jeiner
Geltung, verhindert haben.
Charles v. Stadelberg.
Abia, April 1905.
3
Von Tage.
Briefe vom Embad.
is Mai 1905.
Win in unfrer Stadt ber Streif ſih giemlich zahın gebübrbete
und, von einigen unvermeiblien Ausjcjreitungen abgefehen,
in den gehörigen Grenzen blieb, haben ſich auf dem ſlachen Lande
Zuftände entwicelt, auf die der Name „Streit” von Nechtswegen
nicht mehr angewendet werden follte. Es ijt unglaublich, welch
eine Verwirrung der Begriffe bei einem Teil der Landbevölferung
Viab gegriffen bat. Cin abfoluter Mangel an Rechisgefühl läßt
dieje Leute nicht nur jchwer oder garnicht zu erfüllende Forderungen
aufftellen — er verleitet fie aud) zu Drohungen und Gemalttätige
teiten, ja ſelbſt zu direft verbrecheriichen Handlungen. Eine all-
gemeine Unficherheit herricht im Lande, die ſich hier und da in
gerabezu anarchiltiihe Formen kleidet. Unwillkürlich bräugt ſich
die Frage auf, ob hier überhaupt noch eine Obrigkeit waltet, bie
für Ordnung und Schug eintritt, ober ob jenen zügellofen Ele
menten das Feld überlaſſen werden fol.
Selten iſt der Urfprung einer Bewegung fo klar nadzu:
weifen gemejen. Selten hat e& ſich ereignet, daß fie To gejahr-
drohenbe Dimenfionen annehmen fonnte, ohne aus den gegebenen
nationalen oder jozialen Tiefen emporgewachlen zu fein. Die Tat:
fahe muß feitgeitellt werden, daß den Vorgängen, die jih in
unfven Provingen und fpegiell in unfrer Gegend abipielen, diele
nationale oder foziale Bafis durdaus fehlt. Es handelt fich einer-
feits um eine fünftlid) hervorgerufene Erregung, für welde Agir
tatoren, die mit unſren provinziellen Verhältniifen meiſt nichts zu
tun haben, bie Verantwortung tragen ; anderfeits lediglich um Die
Wirtung des Echos, das von ben Ereigniſſen im Innern Ruß:
lands zu uns herübergetragen wird. Nicht in den Zuſtänden bei
uns zu Lande ijt alfo die Schuld und die Erklärung für das zu
ſuchen, was wir in der legten Zeit durdlebt haben. Auch nicht
Bom Tage. 425
der kleinſte organifche Zufammenhang beiteht zwiſchen ben allge:
meinen baltischen Xgrarverhältniiien und dem Auffladern einer
gegen alle Orbnung fi auflehnenden Empörung. Cs ift vielmehr
alles Mache, alles auf Zwecke zugeichnitten, denen unfre Bauern
vollftändig fremd gegenüber ftehen und deren Kenntnis fie bedeutend
ernüchtern würde — jdon weil die erſtrebten Ziele mit ihrer
Wohlfahrt und der eventuellen Beijerung ihrer Lage garnichts
gemein haben. Die Formen, in denen der fog. „Streit“ ſich bisher
bewegt hat, find meift derart, daß es durdaus verfehlt ift, in
feinen Vertretern eine gleihberechtigte Partei zu erbliden, mit der
man unter Umjtänden paftieren fann. Es liegt im Intereſſe des
eſiniſchen Voltes felbit, daß jene Unruheſtifter von ihm abgejondert,
daß bie einen mit den andern nicht zujammengeworfen werden.
Die Bauernſchaft als jolde ift mit den Anjtiftern der Tumulte
durdaus nicht zu identifizieren. Zwar gehören die Schuldigen ihr
an, doc) darf die Yauernchaft als Gejamtheit nicht verantwortlich
gemacht werden. Eine ſoiche reinlihe Scheidung entipridt den
Tatfahen und muß den ruhigen Elementen unter der Landbe ⸗
völferung ſympathiſch jein. Damit fallen aber aud) alle fentimens
talen, pieudopolitiichen Erwägungen, die nur zu ſchwächlichen und
halben Dlahregeln führen fönnen. Da die etwa vorhandenen
nationalen und jozialen Gegenjäge nicht den Ausgangspunft bilden,
werden fie auch von der Art, wie die Unruhen beurteilt und bes
handelt werben, tatſächlich nicht berührt. Nichts iſt fulicher als
die Annahme, daß derjenige, der für die enorgiſche Bekämpfung
des grafjierenden Unweſens eintritt, an der Verihärfung jener
Gegenfäge arbeite. Wenn dem jo wäre, dann dürfte fonjequenters
weile fein eſtniſcher Dieb eingeiperrt, fein ejtniicher Verbrecher
abgeurteilt werden. Dann jtände die ganze Verweltungsmajchine
il. Schon jept herrſcht in den von den Agitatoren beſchwahten
reifen des Landvolts vielfach die Anficht, die Regierung billige
ihre ungefegliches Vorgehen, ja fie ſtehe auf die Seite der Un
ruheftifter. Wenn man ſieht, weld ein geringes Maß von
Schneidigfeit die Erefutivorgane bei der Bekämpfung ber Unruhen
aufwenden, dann kann das Entjtehen und das hartnädige Fort:
leben folder Anfhauungen feineswegs wunder nehmen.
Die Angegriffenen ſelbſt find in einer höchit prefären Kage. Der
einzelne Gutsherr ober Verwalter ift eben nicht imftande, nach—
drũcklich und mit Erfolg die Zumutungen einer zu Allem fähigen
Menge abzulehnen. Cs ift daher dringend notwendig, daB in
irgend einer Form eine Einigung herbeigeführt wird, die einerfeits
gegenfeitigen Schuß verbürgt, anderfeits ein Maximum für die
etwaigen Zugeftändniffe feitiegt, über das ſchlechterdings nicht
Hinausgegangen werben darf. Cine einheitliche Negelung für bie
ganze Provinz erſcheint nicht realifierbar, weil die agraren Ver
226 Som Lage
hältniffe in den einzelnen Teilen bes Landes zu weit von einander
abmeichen. Durchaus möglich aber und bei einigem guten Willen
ganz entſchieden durchzuſehen wäre eine Vereinbarung ber Einges
feflenen eines jeden Kreiſes für fih. ‚Sie haben bie gleichen
KRontrafte mit den Landarbeitern; ihre Beziehungen zu den Leuten
ruhen im wefentlihen auf der gleichen Bafis — furz, es märe
nicht zu ſchwierig, auf diefer gemeinsamen Grunblage ein energiiches
Vorgehen in Szene zu ſeten. Tie Schwäche bes Einzelnen —
fie fei entichulbbar oder nicht — wirft mit dem Schwergewicht
eines Präzebenzfalls auf die ganze umliegende Gegend und zieht
Ronfequenzen nad) fi, bie bei verjländiger, ſyſtemoliſcher und ein:
helliger Marjchroute vermieben werben fönnten. Wie bie Ber-
hältnijie im Augenblick bei uns liegen und angefidts der nächſten
Bufunft, müßte ſich die Durchführbarfeit einer fo abfolut notwens
digen Maßregel von felbit veritehen. Was ber einzelne etwa
opfert, verſchwindet vor dem gemaltigen Vorteil, den die Allge-
meinheit bavon hätte und ber dem Einzelnen doch wieder zugute
fäme. Hier wäre eine Gelegenheit, einen Beweis von Stärke zu
geben, der über die traurige Veranlafjung hinaus nad) Außen und
Innen Frucht tragen dürfte.
Die erfle Vorausjegung beim Anfajlen ber ganzen Frage
ift die Mare Einfiht in den Urjprung und das Weſen ber Be
megung. Sobald vorfichtige Polilik getrieben, hier nicht verlegt,
dort nicht angejtoßen werden joll, — dann ift jedes weitere Mort
überflüifig. Von einer Zuipigung innerer Gegenfäpe darf bort
feine Rede fein, wo cs fich einfah um Aufrechterhaltung ber
öffentlihen Ordnung und um den Schug von Xeben und Eigen-
tum handelt. Die Leute, gegen die man ſich wendet, fönnen
natürlich nicht als die Vertreter ihres Volkes gelten, und werden
nicht als folche bekämpft. Cs iſt die Geieplofigfeit, bie Willkür,
das gemeingefährlihe Verbrechen, das befämpft werden muB. . .
* ”
*
In der legten Zeit hat der „Poſtimees“ bie politifchen
Münfche feiner Partei veröffentlicht. Cie bilden ein buntes Ge-
mijch radifafer und nationaler Färbung. Im einzelnen ſoll hier
nicht auf fie eingegangen, ebenfowenig ber Verſuch unternommen
werden, ben berechtigten Kern aus der üppig wuchernden Um—
hüllung herauszuſchälen. Nur die interefjante Tatſache fei kon—
itatiert, daß dies Programm der eſtniſchen radifalen Partei aud)
infofern lebhaft an das der entipredhenden Iettifdhen Gruppe ere
innert, als die Eriſteng eines beutihen Elements im Lande voll
ſtändig ignoriert wird. Cs ift einfad) nicht ba. Das ift natür-
lich fer bequem, aber fortgeichafft wird dies Element dadurch denn
doc) nicht. In der Tat: eine Löſung von verblüffender Einfachheit!
Bom Tage. [24
Nur ſchade, daß hiftorifch gewordene Zuftände durch eine Feber-
ftrich nicht vernichtet werben fönnen. Die eftnijche Intelligenz, die
das baltifche Deutichtum zum Tode verurteilt, wird nach wie vor
mit biejem zu rechnen haben. Möglich, daß fie einmal in bie
Lage fommt, ihre Haltung gerade in biefer Frage als politiihen
Fehler zu bedauern. Vielleicht wäre es Hüger vom „Poſtimees“
gewefen, die Veröffentlichung dieſer „Wünſche“ zu unterlafien.
Wie es ſcheint, hat er ihre Publizierung für feine journaliftifche
Pflicht gehalten. — — —
Die Unfihten über die Pflichten der Preſſe gegen bie
Offentlichleit find eben verſchieden. Ich bin ber Meinung, daß
unfre deulſche Zeitungen ihrerfeits nicht übel daran täten, ihr
Arbeitsfeld weniger ängitlic zu befchränfen. Gegenftände, die
in weiten reifen lebhaft beiprodyen werben, erwerben dadurch ben
Anſpruch aud von ben Zeitungen beadjtet und durch fie ber öffent-
lichen Dioluſſion zugeführt zu werben. Zumal wo es fih um
öffentliche Dinge handelt. Ich Habe diesinal etwas beftimmtes im
Auge. Seit einiger Zeit wird allgemein behauptet, und zwar von
Perſonen, denen eine gewiſſe Orientiertheit zugetraut werden barf,
daß der Plan beitehe, auf den biefigen Domanlagen, in ber Nähe
der Muine und des fleinen Erfriihungshänschene — mit andern
Worten: im ſchönſten und befuchteiten Teil der Anlagen — den
Neubau einer Mlinit aufzuführen. Die Zeitungen haben bisher
darüber geichwiegen. Und dach it hier zweifellos die Veranlaſſung
zu einer öffentlichen Beiprechung gegeben. Nicht nur jeder Yürger
unfrer Stadt, nicht nur jeder, der als atademiſcher Bürger die
ſchönſten Jahre feines Lebens in ihren Mauern verbracht hat, —
ich möchte jagen: jeder Sohn unſrer Provinzen, der je zu
der allen Domruine geftanden und in ben jchalligen Gängen ger
manbelt, deren prädhjtiger Schmud fie ift, muß es als eine Dlins
derung jeines moraliſchen Vefiptums empfinden, wenn er hört, daß
biefe während eines Jahrhunderts jorglam gepflegten Anlagen aufs
pielätlojelte eingeengt, ja geradezu zerflört werden follen. Was
lich vom ganzen fog. „Dom“ nah? Dan er
widert: ein kliniſches Gebäude dient der Wiſſenſchafi, feine Aufr
führung liegt im wijenfchaftlichen Intereſſe, es ift daher billig,
bdiefem wiſſenſchaftlichen Intereſſe andre etwa entgegenjtehende
Interefien unterzworbnen. So ill die Sache nun feineswegs
anzufehen.
Eine init dient gewiß der Wiſſenſchaft. Daß fie aber
gerade dort erbaut werden joll, wo ſie andre, durchaus gleichber
rechtigte Jutereſſen aufs Ichwerite fhädigt, daran kann der Wifjens
ſchaft garnichts gelegen fein. Der einzige Geſichtspunkt, der dafür
angeführt werben fann, it ein rein finanzieller: die Koften für
den Yaugrund fallen fort, da er ſchon jept der Univerfität gehört.
28 Bom Tage
Dadurch wird die Situation mit einem Schlage geklärt. Dieſes
Erfparniffes wegen foll uns die nächſte Umgebung der Ruine felbit
verbaut, der beliebtefte und — menigitens innerhalb ber Stabi —
fo gut wie einzige Spazierweg verfümmert werden. Wahrlich ein
Zeichen, mit welcher Nüdfichtslofigfeit und mit welchem winzigen
Aufwand von Verftändnis für die Jmponderabilien unfrer Heimat
bei uns vorgegangen wird. Sollte das Projeft zur Tat werben,
bann wäre es das glängenbite Bravourtüd jener am grünen Tiſch
dominierenden Yureaukratie, der in der lepten Zeit fo viele frennb-
liche Worte gewidmet worden find. Schon mandyes ift ja bei uns
vorgefommen, was einen mit gelindem Graufen erfüllen fonute.
Ich erinnere nur an die Krönung ber Domruine mit dem —
freilich gotiſch filifierten! — hölzernen Aufbau im Dienfte ber
Waſſerleitun Die Sache ſieht ſchauderhafi aus und das herz
menbet ſich m angeſichts dieſer Verunſtaltung des ehrwürdigen
Doms im Leibe um. Und doch läßt ſich der Mißbrauch und bie
äfthetijhe Mikhandlung des alten Mauerwerks vom praftifchen
Standpunkt aus gewillermaßen rechtfertigen. Es wurden nicht
nur bedeutende Geldmittel eripart, jonbern bie wichtige Einrichtung
hätte wahrſcheinlich unterbleiben müffen, wenn man auf dies Aus:
funftsmittel verzichtet hätte. Davon ift jegt nicht die Rede. Die
Klinik wird auf jedem Fall gebaut, ber finanzielle Aufwand mag
geringer oder bedeutender fein. Und fie fann natürlich auf jedem
beliebigen Plag in der Etabt gebaut werden, während in jenem
Fall die Brauchbarkeit des Baues von jeiner Lage und vor allem
von feiner Höhe abhing — Erwartungen, die bei dem projeftierten
kliniſchen Gebäude nicht ins Gewicht fallen. Es wäre eine ftarfe
Leiftung bureaufratiicher — fagen wir: MWeltfremdheit, wenn der
Plan in ber beabfihhtigten Weile realifiert würde. Vielleicht wird
der Zeitpunkt Hierfür durd die auf dem ganzen Reich laflenden,
ſchweren Zuftände hinausgeichoben, in denen größere Ausgaben für
andre als Ariegsjwede fi) von felbjt verbieten. CErmogen aber
wird das Projeft in ben betreffenden Kreifen icon feit einiger
Zeit. Es ſchwebt drohend über uns, und Alle, denen bie Ers
haltung des „Doms“ am Herzen liegt, fönnen nicht nachdrücklich
genug ihre Stimmen erheben, um, wenn irgend möglid, die Vers
wirklihung diefes verderblichen Anſchlags auf feine Integrität zu
verhindern. u
Im Spiegel der Preffe.
April / Mai.
12. April.
ie „Peterburgsfija Webomofti” erflären die Gleichgültigkeit der
& ruffiichen Geſellſchaft gegegenüber den vielfahen Reformprojeften
der leitenden Organe für ein Zeugnis ber politifchen Neife dieſer
Gefelichaft. _Dielem Ausipruche liegt wohl der Gebante zugrunde,
daß bie ruffiihe Gefellihaft, die augenblidlihe Handhabung refor-
matorifcher Ideen für Spiegelfechterei haltend, ein erneutes Er—
eignis, welches das jegige reformatorifche Spiel wieder in Ernſt
vermanbele, abwarten will, um auch ihrerfeits den geziemenden
Ernft aufzuwenden. Tas Dißtrauen, weldes bie ruſſiſche Gefell-
Ächaft der Regierung entgegenbringt, überträgt fid) auf jede refors
matorifche Technik, die, ohne mit dem alten zu brechen, bauen will.
Diefe Technik ift durch den Gebrauch der Regierung zu der ruffiichen
Gefellihaft unbelannten Zweden biskrebitiert. Die Diokreditierung
ber fogenannten ſchrittweiſen natürlichen Fortentwiclung ift bis dur
Perhorreszlerung jeder Art von Orbnungspartei gebiehen, und im
Gegenfag zu den Ausführungen der G. T.Artikel des „Nig.
Tagebl.” iſt es unter biefen Umftänden feine Empfehlung, zu
den ftaatserhaltenden Elementen zu gehören. Auf weite Sympathie
bat allein das uneingefchräntt liberale Schlagwort zu rechnen.
In der uns feindlih gelinnten ruſſiſchen Preſſe, die auch im
Wechſel ber Strömung an bem Gedanken des Panflavismus
feftgehalten hat, verbindet fih daher Liberalismus und Deutfchen:
Haß in ebenjo zwangloſer Weife, wie fih ben Ausführungen
des G. T-Artifels gemäß Sozialismus und Nationalismus in
der eftnifchelettifchen Preffe verbunden hatten. In den „Birfdheiwyja
Wedomoſti“ ift eine Feuilletonreihe erſchienen, welche das Land
ber reaftionären Baronenherrichaft jhildert. Die „Now. Wremja”
bemerkt anläßlih der hiefigen Bauerunruhen, daß bie deutſche
Preſſe, nicht ohne Grund, dieſer Frage ungemefjene Spalten
weihe. Die baltifhen Deutſchen fegten alle Hebel in Bewe⸗
gung, um die Negierungsgewalt zur Schwädung ihrer oeſahr·
Baltifhe Monataſaniſt 1906, Helt 5
430 Bom Tage.
lichften Gegner, ber Eften und Letten, benugen zu fönnen.
Vorübergehende Erfolge laffen fie die Einnahme der alten Pofitionen
erwarten. Der politiiche Schachzug wäre indeſſen nicht weitfichlig
genug angelegt, bei aller Mühe werde es ihnen diesmal nicht
gelingen, die Neform der örtlichen Selbſtverwaltung zu bintertreiben
ober in eine Scheinreform zu verwandeln. Werde doch gerade bie
Einberufung der Volfsvertretung mit den übrigen Segnungen auch
den Tod bes beutihen Separatismus bringen. Der „Riſhskij
Weſtnik“ ift von dieſer Anſchauungsweiſe beeinflußt, fein Vorlämpfer⸗
tum für bie Intereffen eines ruffiichen Beamtenpublifume ift biejer
Tendenz nicht hinderlih. Cr ftellt die Deutihen als reaflionär
und undulbfam, als Polizei, Partei: und Gewalimenſchen bar, er
erhebt den Vorwurf der Untätigfeit gegen die livländif—hen Selbit:
verwaltungsorgane unb den der Hariherzigfeit gegen die deuiſche
Preſſe. Den Grund der Bauerunruhen jieht ev im ber mwirt-
ſchafilichen Zage, ben Grund der mihlichen wirtichaftlichen Lage
in ber Zanblofigfeit der Bauern und der Lieblofigfeit der Deutfchen.
Den Vorwurf der Hartherzigfeit und des Polizeifyftems erhebt in
verftärktem Maße die eftnifche Preſſe. Auch fie ficht den Grund
der Unruhen in der wirlſchaftlichen Lage. Sie verurteilt bie ftatt-
gehabten Verbrechen, ebenjo aber die Haltung der deutfchen Prefie,
welche nichts als auf Polizei und Gewalt gejtügte Ruhe fennt
und fennen will. Noch ausgeprägter ift die Betonung des wirt:
ſchaftlichen Grundes in der leiliſchen Preffe, die in jedem einzelnen
Falle darauf hinweift, daß Unruhen nur unter der fchlechtgeftellten
bäuerlichen Bevölkerung ftattgefunden haben, die Zurüdführung der
Volfserregung auf die Wirffamfeit beirunfener Arugsbrüder zu:
rückweiſt, und die Verquidung ber Unruhen mit ber nationalen
Frage in ber deutjchen Preſſe höcjft unfiatthaft findet. Die ruffifche
Preſſe und die Petition der lettiſchen Intelligenz geben dem Adel
und ber Landjcaftsverwaltung an den bölen Verhältniſſen die
größte Schuld, umd find nicht gewillt, ihnen eine auf das Wohl
des gefamten Landes geridhtele Tätigkeit in Xergangenbeit,
Gegenwart oder Zukunft zuzugeſtehen Die Landesvertretung wird
von ihnen nicht als ſolche anerfannt. Landesvertretung, Deutſch-
tum und deutfche Preſſe find ihnen identiich, und nicht eben der
befte und zur Herrſchaft berufene Teil der Einwohner Livlands.
”
Das Intereffe der ruſſiſchen Reſidenzpreſſe an baltiihen
Fragen und Verhältniffen, welches einige Zeit ganz erloſchen war,
ift neuerdings wieder erwacht und zwar veranlaht durch bie Bauer-
unruhen im Zufammenhang mit den Gerüchten über bie bevors
ftehende liberale Verfafiungsreform des livländifhen Landtages.
Bom Tage. 4i
Darin ift die ganze ruffiihe Preſſe einig, daß hierzulande
Reformen bejonders notwendig find, einige ber größeren Blätter
haben es fogar für notwendig gehalten, ihre Berichterftatter hiers
ber zu fenben, um über bie biefigen Verhältniffe aufgeklärt zu
werben, bamit ber Boden für rufſiſche Reformen und Verbefferungs-
vorfchläge gewonnen werbe.
Einer ber ruffiichen Berichteritatter, ein gewiſſer derr Alf,
ber feine mangelhaften Renntniffe geididt unter leichtem Wig zu
verbergen judjt, fommt in allen jeinen Ausführungen zu den
widerſprechendſten Nefultaten, die einzige Löſung aus allem Wider⸗
ſprüchen bes baltifchen Lebens eriheint ihm die — Semſtwo.
Seine Gemwährsleute find neben dem livländiſchen Gouverneur,
den er gerade in großer Beforgnis über die Angriffe, welche feine
Bauerfomifjare erfahren Haben, vorfindet, junge Kelten, bie eimas
ruffiid) rabebredjen. Ueber ben Wohlitand hierzulande gerät er,
Herr Alf, in große Verwunderung; er meint, ein ruffiiher Guts-
befiger werde gern mit einem Bauernwirt hier taufchen. Die
Sadfenntnis auch des einfahen Mannes fept ihn in nicht geringes
Erftaunen. Laut klagt er über die Fülle verſchiedener Lebens—
formen, bie von dem rujfiihen Gleichhelisideal allerdings weit ent-
fernt ift, und die alle feine Bemühungen, fih zu orientieren, zu
Schanden macht.
Im „Rühstij Weſtnik“ wird das Projeft der Landtagsreform
beiprodyen; er fann ſich mit der Heranziehung ber Rleingrunbefiger
zum Landiage nicht befreunben, da bei 780 Rittergütern und 219
Gemeinden der Schwerpunkt had) wie vor beim Großgrundbefig
bleiben würde. Der „Balt. Weitn.” meint, bem wäre leicht abzu-
helfen, man braudjt nur die Stimmen ber Einzelgemeinden bei
ihrer Verfhmelzung zu fonfervieren. Die Lettiihe Preſſe ift mit
dem „Riſhok. Weftnif“ einig, daß es vor allem auf eine Betei-
tigung der nichtbefigenden Intelligenz ankommt. Hierher gehört
auch der f.-1.Artifel in der „St. Pet. Ztg.“: „Landtag ober
Verfammlung von rundbefigern?”, der in verfürzter daſſung
ohne Kommentar aud in dem „Balt. Wehjtnefis” erſchien.
Der „Balt. Wehſtneſis“ bringt in dem Artifel: „Die
baltifche Selbftverwaltungsreform” angeblid das im Schoße ber
ritterfchaftlichen Kommiſſion diskutierte Reformprojeft: Danad) wäre
die -Selbftverwaltungseinheit 3—5 zufammengezogene Kirchſpiele,
mit einem Konvent an der Spitze, in welchem alle Großgrunbber
figer und alle Gemeinden vertreten find; dieſer Konvent beſchickt ben
Landtag, die Hälfte der Landtagsvertreter müſſen Großgrundbefiger
fein. Der Vorfig im Landtage bleibt dem Großgrundbefig (bem
Landmaſchall) erhalten, ausführendes Organ bleibt das Lanbrats-
tollegium im alten Beftande, neue Landräte werden abwechſelnd
aus dem Großgrundbefig und dem Rleingrundbefig gewählt. Zum
or
2 Som Tage.
Schluß heißt es wörtlich: „Ter Gedanke ift uns ſympatihſch, daß
die Reform auf einer Grundlage ausgeführt werben joll, die fich
ſchon in unjerm Lande vorfindet. Dennoh muß man fi) der oben
vorgeſchlagenen Heorganifation ber Selbjiverwaltung ſiark wider-
fegen, weil erjtens dem Kuechtsausſchuß gar feine Stelle ange
miefen, mie es ebenfo in unfrer jepigen Gemeinbevermaltung ber
Fall ift, zweitens die Rompetenz des Landtages und des Lanbdrats-
follegiums nicht klar gefaßt ift; der größere Teil der baltiihen Ein-
woßner Tann fih) mit derartigen Heformen niemals begnügen. Zum
Schluß fei noch zu erwähnen, daß das Heformprojeft, an dem eben
gearbeitet wird, jo wichtig für unfer Land iſt, daß es darum nicht
irgendwo im Geheimen verhandelt werden darf, vor einer Heinen
Bahl von Nepräjentanten. Falls die Vergrößerung der ritter-
Ähaftlichen Kommiffion aus gemiifen Gründen nicht möglich ift, fo
wäre es jebenfalls ſehr erwünicht ihre Gedanfen und Erwägungen
zur Veiprechung zu publizieren. Es müßte doch endlich die Zeit
vorüber fein, mo man von einer Kommiſſion alle Weisheit erhofft.
Zum Schluß fei die in den rujfiiden radifalen Ylättern ver-
öffentlichte Petition von 200 Zeiten erwähnt. Sie enthält folgende
8 Punkte: 1) Die Lage der lettiſchen Preſſe betr. 2) Ver:
fammlungsfreiheit. 3) Schulfrage. +) Lettiſche Sprache. 5) Auf:
hebung des Landtages. 6) Aufhebung der bäuerlichen Aufſichts-
behörbe. 7) Geſchworene und gewählte Friedensrichter. 8) dabrik—
arbeiterfrage.
Der Riſhsl. Weſtnik“, welcher zuerit der Petition einen
längeren Artikel wibmet, ift bejonders mit Pt. 5 einverftanden.
Die übrigen Forderungen find ihm aber für's erſte zu ertrem
rabifal und aud national.
*
19. April.
Der Allerhöchfte Erlaß vom 18. Februar des Jahres erfüllte
die ruſſiſche Geſellſchaft mit der Erwartung einer unmittelbar ber
vorjtehenden Zeit der Freiheit und des Glüdes, — ein in gewiſſem
Sinne goldenes Zeitalter and ihr greifbar deutlich vor Augen.
Die Monate, die ſeildem verfloiien find, haben die Erwartung nicht
gebämpft, jondern gejteigert. Die Ungebuld des Wartens ift durch
die Furcht vor dem Fehlſchlagen der bereits in Fleiſch und Blut
ber Geſellſchaft übergegangenen Heffnung erhöht worden. „Die
Gefahr bes Zögerns — periculum in mora”, ſchreibt ber „Weftnit
Jewropy“, „wird mit jedem Tage Harer empfunden, immer zweifel⸗
lojer wird 6, daß die Ruhe dem Lande weder durd die Tätige
feit materieller Rräfte, doch durch die Anwendung der gewohnten
bureaufratiidhen Mittel gegeben werden Fann, weder durch halbe
Vom Tage. 488
Schritte, die niemand befriedigen, noch durch Verſprechungen, bie
allzufange unerfüllt bleiben.“ — Halbe Schritte alſo werben
niemand befriedigen. Das Rab der hofinungsvollen Glücksmaſchine
ift am toten Punkt angelangt, die Gefahr, daß dieſes Nad ftille
ftehe und zurüdfalle, erfüllt die ruſſiſche Gefellihaft mit nervöfer
Haft; diefe Gefahr beherricht die Köpfe und beftimmt die Richtung
und das Maß des ruffiihen Liberalismus. Unter ihrem Einflufie
ftehen auch die Parteibildungen. Die Preſſe rechnet mit dieſer
Stimmung als mit einer Tatfade. Nach den Ausführungen
Schipows in ber „Rusj“ vom 15. April wünichen fo manche Vertreter
eines endgültigen Bruches der ruſſiſchen Staatsftruftur, Dielen
Bruch weniger in der Hofinung, einer Sicherſtellung der Volker
interejjen in nächſter Zukunft, als weil ein folder Bruch bie
Wiederkehr der alten Zeiten unmöglich machen würde — die befannte
Triebfeder ber vaditalen Nevolutionspartei in Frankreich oder vielmehr
der Stachel, mit ber fie den ſaumſeligen Liberalismus eilig vor
ſich hertrieb. Das Schredbild der Vergangenheit verfehlt auch
auf den ruffiichen Liberalismus jeine Wirfung nicht. Jede konſer—
vative Stimme läuft Gefahr mit dem Wunſche einer rüdläufigen
Nadbewegung identifiziert zu werden. Allerdings erheben fid) auch
in der ruffüihen Gefellihaft fonjervative Stimmen, doch ift es zu
beachten, daß es bereits eine Grenze des Konſervativiomus gibt,
deren MWeberfchreitung den einmütigen NAbiceu ber gefamten
ruſſiſchen Geſellſchaft hervorruft -— dieſe Grenze aber iſt fehr hoch
gezogen. Hält es doch fogar der „Riſhskij Weſinik“ für angebracht,
mit diefer Anichauung zu rechnen. Auch er jpricht voll Abſcheu
von den Reaklionären, melde die Nückehr zu ben Zeiten des
„Domojtroi“ oder zum mindeiten ben jeudalen Zeiten ber Leibeigen
ſchaft fordern. Hierher gehören nach der Parenthefe des „Riſhokij
Weitnit“ die „Mostowffija Wedomoſti“ und die Mehrzahl der
biefigen deutſchen Blätter. — Auch dieſes bleibe in Parentheie,
— Eine Antwort der „Rusj“ an Umarow leugnet einen Geſinnungs ·
unterſchied zwiſchen Nadifalismns und Liberalismus in der ruſſiſchen
Gefellihaft. Zwiſchen den Radikalen und Gemäßigten eri
fein wefentlicher Unterichieb der Ueberzeugung, jondern allein eine
Verichiebenheit des Wärmegrades bei gleichen Ziele. Die Anhänger
der Novemberminderzahl wären, wie es weiter heißt, schwerlich
zahlreicher geworden, es wäre beachtenswert, daß die Novemberz
refolution der Landidaftövertreter in Petersburg allen Landſchafts-
verhandlungen nit als Maximum, fondern als Minimum zus
grunde gelegt worden fei. Der Jonrnaliftentag in Petersburg hat
nad) dem „Weitnit Jewropy bas allgemeine, geheime Stimmrecht
für die einzige zuläffige Verhanblungsgrundfage erklärt. Diefes iſt
Die Vorbedingung jeder Verftändigung, gemiilermaßen die vor-
läufige Legitimationsfarte jeber liberalen Tentweile.
134 Bom Tage.
Der Fürft Trubegfoj und bie Landfchaftsvertreter haben fid) zur
Beurteilung ſtaatlicher Fragen für infompetent erflärt. Ihnen
antwortet Oolowin in ber „Rusj” vom 14. April: Mit weldhem
Rechte haben ſich diefe und jene Landſchaftsvertreter während des
Novemmbers in Petersburg verfammelt und wollen ſich jet im
April in Moskau verjammeln? Sind diefe Fragen nicht müſſig?
It es jegt die Zeit, ih mit folden Fragen zu befafien? Cs
wäre die Pflicht jedes Bürgers nicht zu ſchweigen, jondern laut
feine Meinung über die Maßnahmen zur Abwehr der dem Staate
drohenden Gefahr zu äußern, da er bieje Gefahr nah und klar
vor fid) fieht. Die Novemberverfammlung in Petersburg habe ſich
nicht felbit den Namen einer Allanbjcaftsverfammlung beigelegt,
jondern ihn fraft ihrer Refolutionen, die ganz Rußlands Schmerzen
Worte verliehen, erhalten. — In kurzem: er meint das Recht
der Nufer im Streite.
Unter biefen Umftänden ift es von Interefie, das Partei-
programm Schipows fennen zu lernen, bas fi etwa an ber
Grenze des gebulbeten Konfervatiomus befindet. Schipom ift
fonjervativ. Jedes Volt und jeder Staat haben nad feiner
Ueberzeugung ihre eigene Geſchichte und ihre eigenen Ent
widlungsgeiege. Daher fei es fehlerhaft Inftitutionen, bie dem
einen Volke billig find, ſchlechthin auf ein anderes zu übertragen,
und zu hoffen, daß fie ihm recht fein werben. — Diefen Fehler
begingen die Konſtitutionaliſten Rußlands. Cine Konftitution würde
Ruͤßland weber das gehoffte Glück nod die Sicherrung ber anger
borenen Menſchenrechie bringen. Kein Bruch mit dem Prinzip
der Selbjtherrichaft, welcher der Idee des ruſſiſchen Staates wider:
fpreden würde! Das Neue joll dem hiſtoriſchen Leben bes ruſſiſchen
Volles entnommen werden, feine Revolution, fondern eine Refor-
mation fein. Die ruſſiſche Geſchichte gewähre in der Tat eine der
Konftitution gleichwertige Einrihtung --- den freien Zutritt zum
Zaren! Zu diefem Behufe wäre der jehige Neiherat durch ge»
wählte Volfsvertreter zu erjegen. Die Kompetenzen desjelben finb
den Worlamentsfompetenzen der Tonflitutionellen Staaten entfprechend.
Auch, der Wahlmodus müßte den gefchichtlihen Zufammenhang mit
dem vuffiichen Leben wahren und die Wahl der Vertreter müßte
ſich an die bereits vorhandenen Landſchaftsinſtututionen anſchließen.
Die Semjtwo ift aber reformbebürftig. Der Schwerpunft ber
lotalen Selbftverwaltung wird darum in die allſtändiſche Gelbfte
verwaltungseinheit verlegt. In zwanglojer Stufenfolge von der
Kreis zur Ooupernementsfemftmo ift die Brüde zum Reichsrat
geſchlagen. Dabei wird nad und nad) durd den Wahlmodus
das zur Grundlage genommene territoriale Prinzip eliminiert unb
ichließlih zur Stärkung des fonfervativen Prinzips dem boben-
Bom Tage. 435
jtändigen Bauern die Mitgliedfchaft auch im Neidysrat durch ent-
festenbe Diäten ermöglicht.
Die Verkündigung der Olaubensfreigeit wird von allen
Zeitungen als ein At hochherziger Menſchenliebe gefeiert —
dinfichtlich der Hochherzigfeit it die Wreife einig. Im übrigen
mißt der freifinn dem Manifeit nicht allzuviel“ Bedeutung
zu. Die „Nuffija Wedomofti” urteilen: „Wenn wielleicht
irgend jemand überzeugt gewejen iit, daß die projeftierten Dlahr
nahmen Nußland von dem Wege der Rechtloſigkeit und der Wille
für auf den Weg bes Rechtes und der Freiheit führen würden,
fo wird mad) wie vor dieje Illuſion durch die Tatſachen des fort:
ſchreitenden realen Lebens zunichte gemacht. So verhält es ſich
wenigitens mit der heute jo laut verfünbeten Glaubensfreiheit.”
Im Anfhluß hieran werden einige dem Manifeft wideripredhende
Üebergrifie einzelner Lofalgewalten angeführt. Der Refrain diejer
böfen Lieder aber iſt — feine DManifelle, fonbern Garantien! —
feine Gnadenerlaffe, jondern die lacht! — Im Gegenfag zu all’
diefem befindet ſich der Landhauptmann des dritten Bezirks des
Koraliſchen Kreiſes im Gouvernement Drel. Diejer hat in feinem
Zirtular in bündiger Weile die Uriahen ber Zeitgährung aufge:
dedt: Alle Unruhen fommen vom Teufeld’
Unfre nationale Preſſe jegelt teilweiſe ungeachtet ber legten
Vorkommniſſe munter im radifalen Fahrwaſſer weiter. Wenn auch,
die „Nig. Awiie” es für gut befand, bei der Deoavouierung der
Tettiidjen Petition dieſen „adifalismus der fettijchen Sutelligenz“
zu leugnen, jo iſt unter Naditalismus, mit den Mugen dieſes Blattes
gefehen, nur die ertreme Form diefer Geiſtesrichtung zu verjtehen.
Die Petition der 200 Letten hat num die Runde durch alle
Blätter gemadht. Bei den deutichen Blättern muß man zwiſchen den
Artifeln unteriheiben, die vor und nad) der Desavonierung durch
die „Nig. Awiſe“ geichrieben find. Anfangs legte die deutſche Preiie
der Petition eine zu große Bedeutung bei; fo ſchrieb die „St. ‘Bet.
Zig“: „An den baltijchen Deutſchen wird es daher liegen, ben
eventuellen ſchlimmen Folgen dieſer Petition vorzubeugen, und,
indem fie die gegen fie jelbjt erhobenen ungerechten Anjchuldigungen
zurüdweiien, auch jene unzweifelhaften Rechte ihrer Heimatgenoffen
zu vertreten, die von den 200 genannt werden, aber durch die
Nachbarkhaft der andern Forderungen välig lompromiiert werben
müſſen.“ — Nachdem aber bie „Rig. Awiſe“ die Autorſchaft der
lettiſchen Intelligenz beſtritlen, machte ſich ein Umſchwung in der
Beurteilung geltend ; i ilte j i
rungen jehr ſympathiſch, nur die Schilderung der Agrarverhältniiie
und der Tätigkeit des Landtages fand fie wiſſentlich falſch darz
130 Bom Tage.
geitellt. Die radikalen lettiſchen Blätter (Deenas Lapa und Ball.
Weftn.) nahmen gleich Notiz von biefer Beſprechung, mit ber
„Rig. Awiſe“ geriet die Rundſchau in einen Wortitreit, es handelte
ih dabei um die Behauptung der „Rig. Awiſe“, das lettiſche
Volt fei nicht radikal und revolutionär. Die Rundſchau glaubte
dies fo verjtehen zu müllen, daß es unter ben Letten gar feine
Naditalen gebe. Am DOfterfonntag erſchien dann ber G. T.-Artitel
im „Nig. Tageblatt”. Hier wurbe bie geringe Yebeutung - der
Petition nachgewieſen, der lettiſch-ruſſiſche Radikalismus gehörig
beleuchtet und auch der Abwehr einzelner Angriffe zuerjt einige
Zeilen gewidmet.
Der in der lettiſchen Petition Hervorgetretene Radikalismus
hat auch in einigen eſtniſchen Blättern ſich bdofumentiert. So
jchreibt in der „Teataja“ ein Herr Tamm aus Rußland: „Er freue
fi) über den Revaler Sieg nicht als fanatifcher Nationalpolitifer,
fondern weil eſtniſch und fortichrittlich gefinnt bei uns zu ande
ein und dasſelbe bedeute.” Und ber „Postimees“ kommt zu dem
Schluß, daß die Deutiden nicht liberal feien, wenn auch das
Gegenteil die „Rev. Ztg.“ verſichere und behaupte, denn der Grund⸗
ton des baltischen Programms fei ein auf geichichtlicher Grundlage
ftehender, das Reich aufrecht erhaltender Liberalismus. Die ruffiihe
Semftwo tue mehr für bie Volksbildung, als der eſiländiſche
Landtag. Ihr Deutſchen, ruft er, feid erzlonfervativ. Ihr wider:
ftrebt allen Neuerungen, bie auf Hebung ber Lage ber breiteren
Volfsihichten abzielen und habt nur eure engen Privatinterefien
im Auge.
Die deutiche Kulturarbeit bei ben Letten wird in der „Deenas
Lapa“ in einem längeren Artifel einer gründlichen Unterfuhung
gewürdigt. Hier handelt es ſich wohl in eriter Linie um eine
Yuseinanderfegung mit der deutſchen Preſſe, um dieſer gründlich
die Luft zu nehmen, mit der Vergangenheit zu prahlen. Dieje
Abficht zufammen mit dem radikalen Doftrinarismus des Verfaſſers
geben ein ganz entftelltes Bild unfrer Vergangenheit. Zum Schluß
meint der Verfaſſer, daß es jegt nicht an der Reit jei zu prahlen
und miteinander zu rechten, jondern ben Forderungen der Zeit
nachzukommen. Derjelbe Ton erklingt aud in dem Artifel des
„Olewit“: „Was fie eritreben.“ Im Anichluß an eine baltiihe
Korreipondenz im „Berliner Xofalanzeiger” meint er, das ber Libe-
ralismus der Deutichen nicht von weitem her jei, daß fie nod) im
Grunde nad) ben Ausführungen der „Düna-Ztg.“ auf die Stellung
des Lehrmeiſters prätenbieren.
„Was in der Vergangenheit zwijhen den hiefigen Völkern
und den Teutfchen vorgefallen iſt, beswegen darf weiter fein Groll
gebegt werben, fo dafi mir der Vergangenheit wegen Freunde jein
fönnten, wenn nur bie Gegenwart gegenfeitige Liebe und Achtung
Bom Tage. 437
zuläßt. Wir mülen in unfrem gegenfeitigen Verhältnis baran
denten, daß es weder uns noch den Deutjchen möglich war, unjre
Vorgänger zu wählen, fo daß ein feindliches Wefen der Vorfahren
wegen Verjtodtheit wäre. Weber ber Chriſtenglaube noch der Mare
Bluͤck bes gebilbeten Menſchen geitatte eine Feindfchaft auf dieſer
Grundlage. Wenn aus dem früheren Feinde ein mahrhafter
Freund geworden ift, ob durch die Zeit oder den Einfluß befonderer
äußerer Ereigniiie, jo darf man fein Gerz nicht verſchließen.“
Allerdings mahnt auch er zur Vorjicht. Vielleicht wirb jegt
Komödie geipielt? Vielleicht wollen die. Deutſchen nur Flickwerk
bei der bevorftehenden Landtagsreform? Um aber die Bebürfnifie
des Volkes zu befriedigen, wäre ein Gebäube erforderlich, das auf
ganz neuer Grundlage jteht.
Die in legter Zeit vielfach angegriffenen Bauerlommifjare,
ſoweit fie im Auftrage des Gouverneurs handelten, merben im
„Risk Weſtnik“ warm verteidigt. Die lettiſche Preſſe bringt
ſowohl die Angriffe als auch bie ruſſiſche Verteidigung, aber ohne
Kommentar.
Schließlich wäre noch der geiſtliche Feldzug gegen die Bauer:
unruhen in Rurland zu erwähnen. Den warmen Bielenfteinfchen
Aufruf: „Lettiſches Volk erwache“ bringen die lettiichen Blätter,
nur bie „Tehwija“ wagt es babei ſchüchiern den verehrten Herrn
Bajtor aufmerffam zu machen, daß nicht das ganze lettiihe Volt
an ben Unruhen. |duld fei, jondern der Sozialismus, ber dasfelbe
vergifte. dierher gehört aud) das Sendſchreiben des furländif—en
Generalfuperintendenten Pand, das allerdings zum größten Teil
nur aus Bibeljtellen beiteht.
* *
26. April.
Die Reformeinfälle Schipows, — die Zentrallandicaftsver:
faffung und der volfstümliche Reichsrat, finden feinen Beifall, den
Meiſten ift zu wenig, Wenigen zu viel des Guten: Der „Now.
Wrem.“ mipfällt das. Projeft aus einem höchſt eigentümlichen
Grunde — fie möchte den Reichsrat nicht miſſen. Wenn, urteilt
die „Now. Wrem.“, die Volksvertreter ben Reichsrat erjegen, jo
iſt der Neichsrat weg, und wenn der Neichsrat weg ift, wer wird
nachher die Obliegenheiten des Reichsrats erfüllen, das Reich bes
raten und die Reſormprojekle leſen? Beſſer iſt es, die Volksber⸗
tretung berät das Neid und der Reichsrat die Volksvertretung.
Wenigen, wie gefagt, bringt das Schipowſche Programm zuviel
des Guten. Die „Most. Web.“ halten Schipow gleid) den übrigen
Konititutionaliften für einen Nevolutionär, mit der die
monarchiſch gefinnte Partei der „Moot. Wed.“ feine Gemeinihaft
488. Bom Tage.
Haben fann. Ihrerſeits jtellen fie das monarchiſtiſche Programm
auf, deſſen einzelne Punkte nicht weſentlich und eben ſchlechthin
monarchiſch und ein negativer Wunfchzettel find. Im Zus
fammenhang mit ihren Beftrebungen aber erwähnen fie einer
Partei der Adelsmarjhälle, deren Programm fie bereit find zu
unterfhreiben, und mit denen jie allein in ber Motivierung des
Programme nicht übereinftimmen. Diefe Motivierung, die den feiten
Willen einer Aenderung bes alten Negimes verrät, hebt die Partei
der Adelsmarſchälle aus dem bureautratiſch monarchiſchen Rahmen
der „Most. Wed.“ heraus. Und diefer fonfervativen Partei, die
ſich mehr durch ihre Gefinnung als durch ihr Programm von den
Anhängern der „Most. Wed.” unterfceibet, gehört augenscheinlich
der offene Brief eines rufjichen Edelmannes an. Der Schreiber des
Briefes teilt mit: Im November vorigen Jahres fand in Moskau
eine Verfammlung einiger Adelsmarichälle jtatt, in der die Petition
des Grafen Trubepfoj von vier Adelomarfdällen unterzeichnet
wurde, eine zweite Reſolution, die von 13 Adelsmarſchällen unter
zeichnet wurde, zu unterzeichnen erlaubte ihm fein Eid nicht. Da
mals drang er auf die Einberufung einer außerordentlichen Adels:
verjammlung, welche indeilen die Adelsmaricjälle für überflüſſig
bielten. Das Gejeg verjtattet ben ruſſiſchen Ebelleuten ein Zus
fammentreten nur auf den Ruf der Adelsmarfdhälle, die Einber
rufung der Adelsverjammlungen erwartet er von ben Adels:
marſchällen, die ſchwerlich berechtigt find ohne Einwilligung der
Edelleute Nefolutionen zu fallen und zu veröffentlichen. Er ſchreibt:
In Rußland wohnen taujende von Edelleuten auf ihren Gütern,
die ſchlecht von dem unterrichtet find, was bei uns vorgeht. Jeder:
mann fagt feine Meinung, nicht der Adel. Der hiltoriich natürliche
und der erite Stand Nußlands verharrt bie jept fatenlos. So
frage id) meinen Abelsmarfgall: wird diefer Zuitand nad)
lange dauern? Und id frage weiter mit bem Rechte des Chdel-
mannes: Können bie Adelsmarfcälle druden und veröffentlichen
ohne die Einwilligung und die Sanftion des Adels? Ich frage
weiter: Hat der Adel feine Marſchälle bevollmächtigt, von eins
ander abweichende Nefolutionen zu verfündigen? Was Hat fie
davon abgehalten, wenn fie übereingefommen waren ſich privatim
zu verfanmeln, die Adelsverfammlungen ganz Aublands einzu
berufen? Ich warte mit den übrigen des lang erwarteten Tuges,
der uns die Möglicleit gibt, zugleich und im Uebereinjimmung
mit allen Adelsverfammlungen, als die legten in ber Weihe, die
Meinung des eriten Etandes, der Ebdelleute zum Ausdruck zu
bringen! — Der Ton diejes Briefe erinnert ein wenig an die
Gejtalten Turgenjews. — —
Nackt und bloß, wie der Menſch zur Welt kommt, ift ihm
doch cin hohes Gut angeboren — das allgemeine, geheime, gleiche
Dom Tage. 488
unb birefte Wahlrecht. Das mag in mander Beziehung unbequem
fein, aber es iſt fittli. Dieſer Meinung find die „Birſh. Wed.“
und der ruſſiſche Echriftitellerbund, deſſen Rejolutionen in der
„Rusj“ veröffentlicht find. Der Schriftftelerbund beſchloß, das
allgemeine Wahlrecht ohne Untericieb der Nationalität, des
Glaubens, der Bildung und des Geſchiechtes, Freiheit jeder Kultur⸗
entwicklung und Antonomie aller frembftämmigen Völfer, die Bil-
bung eines Agrarfonds zum Auffauf des privaten Grundeigentums
und feines allmählichen Nebergangs in ben Befi ber Nation, und
in die Nugnießung ausjclielic der Lanbarbeiter, die politijce und
wirtſchaftliche Befreiung des Proletariats und die Vergeſellſchaft-
lichung aller Produktionsmittel. — Stets find Voltsbeglüder freis
gebig mit den Menſchenrechten gewejen, aber biejes ijt vielleicht
mehr — plaudite amici!
Die in der „Et. Pbg. tg.“ veröffentlichte Artifelferie unter
dem Titel: „Die baltijche Preſſe und wir vom Lande“ enthält,
neben einer zutveffenden und fahgemäßen Schilderung der revolu-
tionären Bewegung auf dem Lande an der Hand der eftnifchen Preſſe,
Hauptfächlid, here Angriffe gegen die deutiche Preil. Cie
habe die Bewegung nicht richtig erfannt, weil fie nur vom
nationalen Standpunfte aus urteile und überhaupt feine Fühlung
und fein Verftändnis für das Land befige. Diefer Angriff üt
wohl daran Schuld, daß der Artifel wenig Beachtung von den
deuiſchen Blättern erfahren. Die „Nev. Zig.“ und die „Dünas
tg.“ allein haben die undanfbare Aufgabe der Verteidigung übers
nommen. Die „Rev. Ztg.“ damit, daß fie dem Verfajler einen
Irrtum, die Prefie jei eine Großmacht, nachzuweiſen beftrebt iſt.
Die „Düna-Ztg." holt zweds Verteidigung die glänzende Vers
gangenheit der deutſchen Preſſe hervor. Beide Blätter weilen den
Gedanten, fie hätten wenig Fühlung mit den ritterſchaftlichen
Selbjtverwaltungsbehörden, weit von fi. Die beite Würdigung
brachte die „Nordlivl. Ztg.“ — Die „Nihst. Wed.” begrüßen ben
Artitel als ein Novum in der deutichen Preſſe, er ift ihnen eine
Gewähr für das Erwachen neuer Etrömungen in ber deutſchen
Geſellſchaft, dafür, daß in den leitenden Kreiſen die nationale Frage
in den Hintergrund getreten, da fie für die Beurteilung ber neuen
jogiaten Probleme und Neformideen nicht ausreicht.
Die in dem „Poſtimees“ veröffentlichten Wünfche der Eſten
an das Miniſterkomilee find nicht beideidener, als die ihrer rabi-
falen lettiihen Brüder, nur die gehäjligen Angriffe gegen den
baltiſchen Adel fehlen; fürs erfte it der Wunſchzeltel noch nicht
abgeichidt, da mod) die nötigen Unterichriften fehlen. Hierher ger
hört wohl der Aufiag des „Poſtimees“: „Warnung vor Irre—⸗
führungen und Irreführern“, eine Animierung zu Petitionen.
40 Bom Tage.
Die Wünſche der Ejten haben beim „Riſhsk. Weſin.“ einen
Entrüftungsfturm hervorgerufen. Er identifiziert dieſelben mit
denen ber dentich-lutheriichen Kreiſe, die fi ja aud immer allen
heilfamen Reformen widerfegten. Die Verfaſſer der Wünſche
wollen den Einfluß der Abminiftration in der Geftalt des Gouver⸗
neurs, der Bauerfommiljare, der Voltsichulinfpeftoren befeitigen.
Mir wollen dabei bio. bewerten, fügt er hinzu, daf diefer Antrag
zu einer Zeit geftellt iſt, wo gerade das ganze Dftieegebiet banf _
der aufopfernden Tätigfeit gerade dieſer Organe, die ihre amtliche
Stellung dabei aufs Spiel jegten, vor ſchweren Eridütterungen
bewahrt ift. Solche Petitionen, find wirklich imftande die Auf-
merfjamleit ber Negierung von ben wirklichen Bedürfniſſen der
Bevölterung abzulenten. Someit ber „Rifhst. Weftn.“. — Bu der
jog. Petition der fettifhen Smtelligenz ift jegt eine Petition des
KRavershofichen Lanbwirtichaftlihen Wereins getreten, veröffentlicht
in der „Beterb. Awiſes“, fie wiederholt dasjelbe radiale Programm
und. rüdt ‚nur die agraren. Parteiforderungen mehr in den
Vordergrund.
Zu den VBauernunruhen in Livland jdhreiben die „Ruſſt.
Webom.“: „Ungeachtet der materiellen Folgen dieſer Streits, iſt
ihre fittliche Bebeutung für die Arbeiterklafle dieſes Gebiets ent-
iceidend. Diefer Streit führt unabwendlic) zur Bildung ſiarter,
richtig organifierter Verbände der Landarbeiter. Diefe werden
offen oder geheim fein, je nad) dem allgemeinen Lauf ber Dinge
in Nußland. In jedem Fall find die Arbeiterverbände des Oftjee-
gebiets auch jegt ein Machtfakior, mit dem die Regierung ernitlich
rechnen muß. Das Selbftbewußtjein der Angehörigen der arbeiten:
den Klaſſe iſt erwacht und hat fich zu laut und offen ausgefproden,
um es jept noch mit Nepreijalien und verſchwommenen Ver:
ſprechungen erftiden zu können. Der Arbeiteritand des Gebiets
verlangt offen und fühn biefelben Neformen, welche das denkende
und freiheitsliebende Rußland eritrebt. Man ann bieje mächtige
Bewegung nicht ignorieren, die Augen fließen und ihr Entftehen
einem Häuflein böswilliger Agitatoren zujchreiben: das wäre ein
unverzeihlicher Fehler, eine unerlaubte politiiche Taktlofigfeit, die
nur zu neuen Schwierigfeiten und Verwicklungen bes öffentlichen
Lebens bieies Gebiets führen würde. Die Aıbeiter jelbft find
offen in die Arena des öffentlichen felbitändigen Lebens getveien,
feine Gewalt wird fie zum Meichen bringen. Die Arbeiterbes
wegung wird im Gebiet unabwendlich wachen und ſich ausbreiten,
unabhängig davon, wie fi) Die übrigen politifchen Parteien zu ihr
verhalten werden. Wenn diefe Bewegung in der Gegenwart öfters
ausartet, einen rein fonipirativen Charakter trägt und fich im
Kampf mit den Hinderniffen auf Schritt und Tritt erihöpft, fo
find die ‚Arbeiter hieran am, wenigften Schuld, weil fie ja am
Bom Lage. [Mi
meijten an einem frieblichen Verlauf bes öffentlichen Lebens ins
tereffiert find.”
Mir erſcheint diefer Artifel in mehr als einer Richtung ber
beutfam, bie Furcht vor politifchen Taktlofigfeiten und der Wunſch
bier ..eine organifierte Yandarbeiterichaft zu fehen, wie fie meines
Willens noch nirgends geglüdt ift, da die Organijation der Land-
arbeiter wenigitens bis jeht wie cs ſcheint aus inneren Gründen,
die in der Art diefer Arbeit und dem Lanbleben liegen, jdeitert,
beden bie nahen Beziehungen des Verfailers zu ber hieſigen Ber
wegung auf und werfen ein gutes Schlaglicht auf den Zufammens
hang ber ruffiichen Arbeiterbewegung zu den analogen Vorgängen
in ben Dftjeeprovinzen.
Die Gründe, die zu den Bauernunruhen bier geführt haben,
werben in allen Blättern eifrigit biofutiert. Die rujliiche und bie
letliſch eſiniſche Preſſe ſucht die Urſachen in den ungenütgenden
Anechisverhäitniſſen, den niedrigen Löhnen ꝛc., die deutiche Preſſe
bloß in der ſozialdemokratiſchen Agitalion unter den Landleuten.
Es gibt auch vermittelnde Anfihten, wie ein Brief aus Groß«
geundbefigerzRreifen, den der „Walgus“ veröffentlicht, beweiit, ber
beide Urjadyen zugibt.
Der „PBoltimees” bläſt jchon im zwei Artikeln zum Nüdzuge.
In dem eriten „an die Yandarbeiter”, fagt er, daß im Lergleich
zu früher in der Lage bes Lanbarbeiterjtandes in jeder Beziehung
ein großer Fortichritt zum Beſſeren zu fonftatieren jei. Man rede
oft in legter Zeit von ungünftigen Wohnungsverhältnifien der
Sanbarbeiterfepnft; dieſe Frage fpiele auf dem Lande nicht bie
wichtige Nolle wie in der Stadt. Die Gefindesinhaber durchleben
eben eine ſchwere Notlage, man fönne darum nicht mehr für bie
Arbeiter tun, als hier und da beſſere Koft, befjere Behandlung,
hier und da mehr Sonntagsruhe und noch etwa Dies und jenes,
das wäre aber aud) fajt alles, was man fofort tun fünnte. Sicher
iſt, daß unfre Gefindesinhaber zur Zeit unvermögend find, höhere
Löhne zu zahlen, Der Artitel ſchließt: „Wenn die Yandarbeiter
zur Beſſerung ihrer Yage etwas zu unternehmen gedenken, jo mögen
fie nüchtern abwägen, was und auf welche Weije ſolches zu tun ſei.“
Sbenfo in einem zweiten Artitel: „Nur ein wenig davon,
was wir zu fagen hätten.” Hier jagt das genannte Watt, dafı die
Uebertreibung der Unruhen durd die deutſchen Blätter politiihen
Zwecken dienen joll. Das joll man bedenfen und ſich davor hüten,
durch Unruhen und Gewalttaten ben deutſchen Politifern und
Zeitungen die Möglichfeit zu geben, dank ihres Konfervativiomus
Die Freundfhaft der Regierung zu gewinnen. Cs fei zu befürchten,
daf es den Dentfchen gelänge, die Negierung zu einem Schuß
bündnis mit ihrer fonjervativen Nüdjcrittlichfeit zu bewegen.
Dann kämen ſchwere Tage für unfere Heimat. Der Artifel
42 Vom Tage
ichließt mit ben Morten: „Auch der geringfte Arbeiter, ber legte
Knecht müßte bedenken, daß er nicht allein in der Welt, ſondern
Glied des Ganzen ift, daß jein wirklicher Vorteil mit dem Vorteil
des Volfes und Landes eng zuſammenhängt und daß er dem Uns
glüc nicht entrinnt, in das feine Handlungsweife das Ganze ger
ftürzt hat.”
Schließlich meint noch ein Rorrefpondent der Pariſet „Temps“,
wie die „Birſh. Web.“ zitieren, dah die Urſache ber Bauerunruhen
in Rußland bie mangelhafte Volkoſchule jei. Das Volkoſchulweſen
konne ſich nicht entwickein, weil die Aominiftration jede landſchaft⸗
fihe und private Initiative verhindere. Wie joll dieſes un—
wiſſende und ungebildete Volt, fragt er, fremdes Eigentum achten,
wie foll es nicht den Legenden von höheren Befehlen, melde
die agraren Verbrechen billigen tollen, glauben — dieſen Legenden,
welde die Agitatoren mit bekannter Abficht unter ihnen verbreiten.
Wenn wir an der Hand der letzten Enquete der Knechts—
löhnung von 1599 — 1900 das Bild ber Unruhen in Livlanb ber
trachten, fo können wir feiiftellen, daß die Gebiete des niedrigeren
Lohnftandes, die Strandgegenden und der Pernan-Fellinfche Kreis
des eſtuiſchen Xivlande, nicht die der Unruhen find, fondern
gerade die Umgebung der Städte, wo das Niveau ber Löhne am
bödften war, vorzugsweife von den Unruhen heimgefucht wurben ;
das dürfte wohl für fremde Einflüfe, die hierher am leichteften
dringen fonnten, ſprechen.
Von wirtſchaftlichen Frogen wird meben ber Ranbarbeiter:
frage auch bie der rationelljten Grundbeſitzverteilung in den
lettifchen Blättern behandelt. In einem Aufſatz des „Balt.
Wein.” unter dem Titel: „Wieviel_ Land braucht der Land:
mann?” fommt der Verfailer zu dem Schluß, daß der Landmann
30 Cofftellen braucht, ein mehr oder weniger ift vom Uebel. Diefe
allerdings überrafchend einfache Löſung der beften Grundbefigver-
teilung wird nicht ohne Widerſpruch hingenommen; die „Deen.
Lapa“ bringen in einem Auflag über den landwirtſchaftlichen
Groß: und Kleinbetrieb, der eine gute Vekanntichaft des Verfafiers
mit ber einfhlägigen Literatur verrät, den Nadweis ber Veredhti-
gung des Großbetriebes, zeigen auf welchen Gebieten der land-
mirtfchaftlichen Kultur die eine Form der andren überlegen, ob-
gleich bei uns zu Lande auf vielen großen Gütern die Viehzucht,
die Domäne des Kleinbetriebes, höher fteht, ala bei den Ge
findeswirten.
Die eftnijhe Preife wiederholt nocd) den Auf ber Ruſſen
nad) Landverteiiung an die Landlofen; zu dieſem Zweck wird die
Ausdehnung der Tätigfeit der Yaneragrarbant auf die Oftfee:
provingen befürwortet, ob das Rrebitfgiiem wirflid billiger und
vorteilhafter ift, würde dann bei der Konkurrenz zutage treten.
Som Tage. 443
8. Mai.
Wenn jede Idee eine Macht ift, mit ber Geſchichte und
Zeben zu rechnen gezwungen find, weld eine Macht repräfentiert
ein Jorenfpftem, das in möglichfter Vollzähligfeit alle Ideen ver:
einigt ? Augenſcheinlich die Summe aller Kräfte, die ben einzelnen
Feen innewohnen.
Diefe Erwägung ift man verſucht den Refolutionen bes
Petersburger Schriftitellerfongreffes zugrunde zu
legen, der e8 für gut befunden hat, jämtliche zeitgemäßen Ideale auf
feine Fahne zu jchreiben. Die Ideen Die im Laufe bes verflol«
jenen Jahrhunderts in den Köpfen der Nitter vom Geifte geboren
murben, die trag jahrzehntelanger erbitterter Nämpfe nirgends voll
verwirklicht wurden, fondern überall im Kompromiffe eritidten —
fie alle find unter bem Banner des Petersburger Schriftftellerbundes
zum imponierenden Ideenkompler vereinigt. In ganz Nußland
werben heute Programme entworfen und Plattformen gezimmert,
wie ber techniſche Ausdruc für dieſe Tätigkeit lautet. Unter ihnen
ift die Plattform bes Zournaliftentages zweifellos die breitefte:
Im paradiſiſchen Staude der Unſchuld jtchen auf ihr die Gedanken
nationaliftiiher uud fozialiftiicher Nichtung nebeneinander und tun
ſich nichts. Eine Friedfertigfeit, die um fo paradifiicher ift, als
nur bie fräftigiten Cremplare der Gattung einer Aufnahme in
das Spftem gewürdigt find und die Auswahl nad) dem Grunbfag
erfolgt zu fein fcheint, daß es weniger darauf anfommt, worin die
Gedanten radikal jind, als daß fie radikal find. Diefer Grundſatz
ift bei näherer Betrachtung weniger befremdlih, als es den
Anſchein hat.
Der Wunfch, alle radikalen Waller auf eine Mühle zu feiten,
erklärt ihn zur Genüge. Denn in der Tat find die rabifalen
Elemente der verihiedenften Richtung durch das gemeinſame
Jutereffe an einem Brud) mit den beitehenden Verhältnifien ver:
bunden und für den Augenblid veripricht eine Vereinigung ber
Schlagworte fait denjelben Dienjt zu leiften, wie eine reale Vers
bindung der lebendigen Ideen und Jutereſſengruppen — die
Schlagworte haben dabei den Vorzug der größeren Verträglichkeit
und Sanblicjfeit. Und mit den Worten Tolitojs zu reden: „Dan
muß vereinigen, es üt Zeit zu vereinigen“, jvll nicht der Vruch
mit dem Beſtehenden auf ungewiſſe Zeiten verſchoben werden. —
Die öffentliche Meinung ift träge geworden und bedarf an manchen
Orten der Nachhilfe. In Tiraspol, einer ruheliebenden Stadt,
muß nad) dem Bericht der „Now. Wrem.“ die ganze öffentliche
Meinung von einigen wenigen Korreipondenten bejorgt werben,
die Einwohner bringen es höchſtens zu einem gelinden Staunen
über den rapiden Rulturfortfchritt. In der Nedaktion der „Most.
Wed.“ ift ein monarchiſches Bureau errichtet worden, wo bie
444 Bom Tage
Gtieder biefer Partei nad) Pofllarten gezählt werben. Cine Poft-
farte mit Namen, Stand und Adrefje — und ber flaatserhaltende
Art ift vollzogen. Irgend welche Parteiverjammlungen find als
ungeſetzlich nicht in Ausficht genommen.
In den Spalten ber „Most. Web.” äußert „ein ſchlichter
Ruſſe“ feinen Unmwillen über die Freiheitsbeftrebungen ber Intels
ligenz, ein Mitarbeiter bäuerlichen Standes weiſt darauf hin, daß
dem Bauer ſchon aus wirtſchaftlichem Grunde eine unumſchränkte
felbfiherrliche Gewalt unentbehrlich fei, da feine Eriftenz ohne zeits
meilige Gnadenerlaſſe nicht denkbar wäre. Er verweilt baher ber
Intelligenz ihr müffiges Gerede über Volfsrepräfentation und
Ronftitutionalismus. Auch in der nationalprogreiiiven Partei
Schipows ift nach dem „Dir Boſhij“ der Maſſe des Volkes ein
gefährlicher Gegner erftanden, fie ift eine Partei des Großgrund:
befiges, Die ihre wirtichaftliden Intereffen niemals verleugnen und
mit ber Freiheit nie Ernft machen wird. In romantijcher Ums
hüllung birgt ihr Programm die Formel Afafows und Aatkoms:
dem Zaren bie Kraft der Herrſchaft — dem Volle die Kraft
der Meinung!
Wohin fih ber Blick des Schriftitellerfongreffes wandte,
überall ſah er die einft geſchloſſene Phalang ber Freiheit in zügel-
fojer Differenzierung begriffen. Cs galt daher diejenigen, denen
die Freiheit und allein die Freiheit am Herzen lag, unter einem
Banner zu fcharen, alle aber, die neben der Freiheit noch andern
fonfreteren Göttern dienten, dem Bund ber Freiheitstämpfer fern«
zuhalten. Der „Bostimees“ konnte den Nachweis eines ausſchließ-
lichen Freiheitsbienftes unter allen Umftänden nicht erbringen, fein
Freiheitsdrang verfagte bei der „ubijeb” und ber freien Liebe,
— beide eridienen ihm nicht liebenswert. In feiner Weife aber
konnten die deutſchen Vlätter dem Kongreß als Bundesgenoſſen
eriheinen. Ihr Freiheitsideal war das des Bundes nicht. „Ihr
Fortichritt”, Heißt es in der „Rusj“ vom 23. April, „mündet in
dem Gedanfen, daß cs ſchön wäre, in bie baltiſche Heimat heil
und ganz die Nultur des beutichen Vaterlandes zu überteagen.
Das ilt ein enger Fortichrittsbe: as iſt der Fortjcritt
des baltifchen ‘Feubalismus, für den bie ruſſiſche Gelellihaft feine
Sympathien fühlen kann. Die rujfiiche Preſſe hat weder Grund
nod Anlaß, die Vertreter einer fo engherzigen und unzureichenden
Auffaſſung auf ihren Tag zu laden. Geduld, Maß und Diplomatie
find die Ratſchläge der deutjchen Preſſe, die in der Tat nicht mit
der tiefen Weberzeugung der ruſſiſchen Geſellſchaft übereinftimmen,
daß nur durch jehnelle, umfaſſende einſchneidende und enticjloffene
Reform des geſainten Staatsbaues Rußland gerettet werden fönne.
Auch die Semſtworeform wird dieſer Preſſe als radifal und
utopiſtiſch erſcheinen. Noch hundert Jahre Geduld, Maßhalten
Bom Tage. . 445
und Verhandeln der Letten und Eſten mit dem baltiſchen Feuda—
liomus — ift dieſes Programm fortihrittlih oder ift es —
reaftionär !”
Auch die Programmlofigkeit wurde in beimjelben Artitel der
beutfchen Gefellihaft zum Vorwurf gemacht, und es ift in ber Tat
in einer Zeit, wo jedermann fein Programm hat, nicht opportun,
ohne Programm einherzugehen. Ein WMißverfländnis hat uns
mittlerweile zu einer Art Programm verholfen. Die „Nordlivl.
Zig.“ veröffentlichte eine Denkichrift der eftländiihen Ritterſchaft
von 1870, gerade zur Zeit, wo das Programm: und Petitionsver-
fallen an der Tagesordnung war, ihre Veröffentlihung murbe
baher von vielen für das lang erwartete Programm ber Deutfchen
genommen. Die „Riſh. Web.“ haben an biejes Programm, das
gewilfermaßen geipornt und geitiefelt aus den Aften eritanden war,
Betrachtungen über die Unfruchtbarkeit des baltiſch-politiſchen Ge—
danfens gefnüpft. Und der Tat, fie hätten ja jo Unrecht nicht,
wenn das, was im jener Denfihrift von 1870 gejagt war, Die
politifhen Gebanfen der daltiſchen Deuiſchen von 1905 erichöpfte.
Indeſſen — diefe Veröffentlihung war fein Gedanke, fondern ein
Einfall.
Nod immer ftehen wir im Zeichen der Petitionen. Das
Organ ber fogialbemofratiichen Partei, die „Pelerb. Awiſe“, Hat
brei veröffentlicht: bie Petition ber letliſchen Intelligenz, die
Petition bes Kavershofihen Landwirtſchaftlichen Vereins und der
Odenſee⸗Fehtelnſchen Gemeinde. Der „Poſtimees“ fammelt noch
immer die Wünſche ber Eften und wird nicht müde, immer von
neuem zu fleiigem Pelitionenfchreiben anzuregen. Leider jteht
die jelbftändige Erfindungsgabe in feinem Verhältnis zu ber Zahl
der Nefolutionen.
Die Akten der Petition ber lettiſchen Intelligenz ſcheinen
noch immer nicht geſchloſſen, bie Angriffe auf ben baltiihen Adel
Haben zu zwei Entgegnungen in der „Seterb. Big.” geführt, bie
erfte, W. R. N. gezeichnet, ftammt aus Kurland, die zweite aus
Livland, dieſe Hat wieder eine Erwiberung in einem B. H. H. ge
zeichneten rtifel deſſelben Blattes gefunden. — Serr B. H. H.
glaubt ber letuſchen Petition Feine geringe Bedeutung beilegen zu
dürfen, weil fie, in den ruffiihen Blättern aller PBarteirihtungen
verbreitet, die öffentliche Meinung der ruffiichen Geſellſchaft bes
einfluffen wird. Dann kommt er auf den Wert dieſer Meinung
für uns zu ſprechen und auf die Wege, die wir einfchlagen müſſen,
um fie zu gewinnen. Ich bin weit entfernt diefen Teil feiner
Ausführungen zu beanftanden, nur glaube id, daß die Mege, bie
er uns meilt, nicht neu find, und wie weit fie gangbar, jteht dahin.
Baltifche Momatafchrift 1006, Heft b. 7
[777 Bom Lage
Unfre beutfche Preſſe ſchenkt Herrn B. H. H.s Ausfühe
rungen uneingeichränftes Lob, und klagt babei, baß fie von ber
ruſſiſchen Preſſe totgeſchwiegen wird. Diefe Klage will ich blog
regiftrieren. Die Petition ber Letten haben nur der „Siyn
Dtjeticheftwa” und die „Birſh. Wedom.“ gebradt; dieſe beiden
Blätter Tann man wohl laum als die Vertreter aller Parteir
richtungen auffaflen. Ich würde Herrn B. H. H. vorfchlagen, den
Artikel: „Die ausgeſchloſſenen Valten“ in der „Rusj” vom 28,
April aufmerffam zu lefen; nad) biefem werben unfre Blätter
mohl gelejen, aber um die Eympathien zu gewinnen, wäre es nölig
fi ein recht radikales Programm anzulegen, an fertigen Schematen
iſt eben fein Mangel, fonjt heißt es unerbittlih: „Die baltifchen
Deutſchen ſehen ben Wald vor lauter Bäumen nit. Ihnen ift
nicht zu helfen! — Cs wäre zwedlos geweſen Leute mit ſolchem
Horizont auf ben Petersburger Kongreß und in ben allgemeinen
ruffiichen Verband zu faden. Gering mag die Courteifie fein, es
fommanbdiert eben der falle gejunde Verftand.” — — —
Die ruffifche Agrarfrage ift in den legten Tagen wieber afut
geworden. Die Goremyfinſche Konfereng fol diefe und bie mit
ihr zufammenhängenbe Frage ber Vergrößerung des bäuerlichen
Befiges Löfen. #
Bei der Frage nad) ber beften Grundbefigverteilung gehen
zuffiihe Ngrarpolitifer von ber Vorausfegung aus, baB jeder
Arbeiter, der feine Arbeitstraft im Landbau zu betätigen wänfcht,
ein Stüd Land zur freien Verfügung erhalten fol.
Diefe Idee liegt der ruſſiſchen Gemeindeverfaſſung zu Grunde,
die, wie befannt, bei der fteigenden Bevöllerungszahl nolwenbig
dazu geführt hat, daß die Landteile der Bauern ſchließlich unmirt-
ſchaftlich Hein geworden find. Um diefem Agrarübel zu fieuern,
wird in ber „Now. Wrem.“ "vorgeichlagen, zum Hofigftem über«
zunehen, wie es fich von felbit in dem Weichſelgebiet und ben ans
grenzenden litauiſchen Gouvernements bildet. Die notwendige
Folge wäre aber Aufhebung des Gemeindebefiges und Anerkennung
des bäuerlichen Privateigentums an Grund und Boden. Dann
müßte fi) der ruffifche Agrarpolitifer von der oben gemannten
Borausfegung Iosfagen und fi mit einer landloſen Bevöllerung
ausföhnen, die neben der lanbbeiigenden als ihr notmendiges
Rorrelat befteht.
Im Anfchluß hieran dürfte es von Intereſſe jein, das agrare
Programm der Eonjlitutionellen Partei, das am 28. und 29. April
in Mostan beraten wurde, fennen zu lernen. Es fordert eine
große Agrarreform, verzichtet im Nugenblid auf die Nationalifierung
des Grundes und Bodens, weil es praktiſch undurchführbar fein
bürfte. Den Landmangel der Bauern will es befeitigen, unb ba
bie bisherigen Mittel, Rolonijation und Baueragrarbanf, nicht ver»
Som Tage. “u
ſchlagen, burd) Anfauf bes nötigen Bodens durch den Staat und
Zuteilung zu den Sandteilen der Bauern. Der Ankauf der Private
güter bürfte auf feine großen Schwierigkeiten ſtoßen, da ja bie
meiften tief verjchuldet find. Um dieſe Maßregeln durchzuführen
mären Landverteilungsfommiffionen zu bilden, aud) müßten bie
bäuerlichen Pachtverhältnifte geſetzlich geregelt werben.
Bei den „Most. Webom.“ hat diejes Progranım wenig Beir
fall gefunden; fie Schreiben: „Wahrhaftig, die Gedanfenarmut
unfrer gegenwärtigen ruffiichen Intelligenz iſt groß. Dabei wie
unlogifd : einmal wollen fie bas Land den Grunbbefigern nehmen,
dann wieder die Landanteile der Bauern zum Gegenſtand bes
freien Verkehrs madren — damit dieſe wieder in bie Hände der
Auffäufer geraten.” — — —
Die baltiihe Selbjiverwaltungsreform wirb in ber lettifchen
Preſſe auch weiterhin einer eingehenden Unterjuhung gewürdigt.
Das rufjiihe ceterum censeo in Bezug auf die Semjtwo findet
immer weniger Anklang. Die „Nig. Awiſe“ jchlagen vor, deu
Mittelweg zwicen ben Forderungen der Nadifalen und ber Konfer⸗
vativen zu wählen, den nenen Landtag auf dem Prinzip des
Grundbefiges zu bafieren. Die „Balt. Weſtn.“ ſchwankt zwiſchen
der verbeijerten Semjtwo und dem verbejjerten Landtag. Von der
Semjtwo, wie fie fid) der ruſſiſche Fortfchritt denkt, willen wir
zu wenig, um darüber zu urteilen, für den Ausbau des Landtages
ſpricht das Injtitut des Kirchjpielsfonvents, das leicht zu einer ger
funden Selbjtverwaltungseinheit entwickelt werden kann, welche
wir gerade bei der Semſtwo vermiſſen. Es fommt aber nad) der
Meinung des Blattes darauf an, mie weit in der neuen Landes
vertretung die Intereifen der Pächter und Arbeiter ſich vertreten
finden. Die „Peterb. Mvije” lehnt natürlich das ganze Reform
projeft ab, der „ariſtokratiſche Duft“, der an ihm klebt, ift ihr
zu Itarl.
PB.
3
Soziale Verhältnife in Finnland.
Eindrüde und Betrahtungen
von
Th. Pethold.
nn en
er in ber guten Jahreszeit, jo etwa im Sommer uder
Früherbft, nad) Helſingfors kommt, ber far . fich,
wenn er in einem Hinterhaufe Wohnung gen ımmen
und aus feinem Fenſter hinausblickt, bisweilen eines Anblicks
erfreuen, wie er fi außerhalb Finnlands im Zentrum einer
großen Stadt wohl faum irgendwo bieten bürfte. Soeben hat
man bas jommerheiße Straßenpflafter, hat man bas Geflingel des
eleftrifchen Tram und Gedränge des flanierenden oder geſchäftig
bin und her eifenden Publitums Hinter fich gelaffen, um es ſich
in fühler und jtiller Häuslichleit bequem zu maden, und benft
vielleiht, wenn man ans geöffnete Feniter tritt, den Genuß frifcher
Luft mit dem Anblid eines fimpeln großftäbtiihen Hinterhofes
erfaufen zu müſſen, — aber wie groß und erfreulich ift ba bie
Überraſchung. Denn was man vor fid) hat, ijt der ungebrodhene
Granit, die Steinwildnis des finniſchen VBobens, wie fie ſich urs
wüchſiger und kraftſtrotzender auch tief im Lande drinnen nicht
zeigen könnte; gewaltige Blöde, auf deren Riſſen und Spalten
bie blaue Olodenblume im Winde ſchaukelt, wie auf Goldgrund
auf einem Teppich grellgelber Blütenfterne gebettet, eine milde
Flora, anmutiger und lieblicher, als die in Finnland fo jehr
gepflegte Gartenkunſt fie zu Schaffen vermöchte, und wenn ein
warmer Luftzug fie ftreift, voll würzigen Aromas. Vor biefem
Geftein mit feinem wilden Blumenzauber hat die ſtädtiſche Yauwul
Baltife Monatafchift 1905, deſt 6. 1
459 Soziale Berhältniffe in Finnland.
wohl ober übel Halt machen müflen; man hat hier ganz ungemein
viel, ganz ungemein grokartig und modern gebaut, und doch, mo
ber Erfolg bie Koſten eben nicht deckle, wohlweislich innegehalten
und fi beichieben, folange ber Preis von Grund und Boden
nicht diejenige Höhe erreicht, die Spreng- und Wegſchaffungsloſten
ermöglichte.
Sich in Symbolen zu ergehen und bei ihnen zu verweilen,
ift nicht nad) jedermanns Geihmad, und mande bürften faum
mit meinem Vergleiche zufrieden fein, aber fo oft ih Helfingfors
auffuche, erfcheinen mir jene allmählid) immer mehr von der Bild-
fläche verfhwindenben Hinterhöfe finnifches Granits als eine Art
Sinnbild und Gleichnis für den alt überlieferten Gejellihaftsfiatus
des Landes, ber, wenigen nur redt wahrnehmbar und vor der
fieghaften Mobernität im fteten Weichen begriffen, body die Grund»
Tage alles wirklich Gefunden abgegeben hat, was bieje leptere in
ihrer Entwidlung zu leiften vermochte. Dem Durchſchnittsſchlag
der Beſucher will Finnland und vor allem Helfingfors als eine
Art Prototyp der Mobdernität ericheinen. Die Touriſtenwelt pflegt
den hiefigen Hotels alles nur erdenkliche Lob zu ſpenden, es jei
alles da fo ungemein modern, bequem unb fomfortabel; ber
commis voyageur preiſt die gelhmadvollen und Iururiöfen Eta:
lagen an ben Schaufenftern; der fremde Jugenieur ift höchlich
erbaut über die Präzifion des finnländijchen Eifenbahnbetriebes
und die ben beiten wefteuropäifchen Muftern in nichts nachſtehende
Ausnugung der Elefirizität; ber Arditeft hat feine helle Freude
an ber in unglaublich rafhem Tempo forlichreitenden Bautätigfeit;
der Sopialpofitifer enblich lobt den Finnlänber höchlich bafür, baf
er ber rau reichlicher als anderswo Mittel und Wege an bie
Hand gegeben, um ſich eine ſelbſtändige Eriftenz zu fchaffen, und
Tourift, Arditelt, Ingenieur, Sozialpolitifer und wie fie fonft noch
alle heißen mögen, die modernen Menſchen, bie hierher nach Helfinge
fors fommen, vergeſſen in Hundert Fällen gegen einen, daß ſich
hinter jener vor aller Welt ſich entfaltenden Wirklichkeit der
„Moberne” eine andre Wirklichfeit verbirgt, bie, hier und da zwar
verwillert und zerbrödelnb, wie jener Öranit des Hinterhofes, doch
den Nährboden abgegeben hat und zu gutem Teil noch heute ab—
gibt für die dur den Flugſamen aus dem Weiten dem Boden
Finnlands einverleible Modernität. Wer fönnte fie alle nennen,
Sopiale Berhältniffe in Finnland. 4
die Mächte des Beharrens und ber Zrabition, die noch auf biefem
Boben murzeln: Volksbrauch, Volksgeſang und Bolkspoefie, die alte
ftändifche Ordnung mit ihren Landtagen, die lutheriſche Kirche mit
igrer eigenartigen Verfaſſung, ben Bauerftand mit feinem zähen
Konfervativismus.
Was hier als Mobdernität und überlieferte Mächte einander
gegenübergeftellt wurbe, es üft, zwar nicht in allen Stüden, aber
doch im mejentlichen ber die Weltgefchichte immer und überall
bewegenbe Gegenfag bes bemofratifchen und ariftofratiihen Prinzips.
Dan weiß aber, daß jede gefunde Entwicklung auf Ausgleich und
Rompromiß beruht, nad) des alten Goethe, dem mandje ben Sinn
für das Weltgefcichtliche abſprechen wollen, allbefanntem Worte:
„Älteftes bewahrt mit Treue, freundlich aufgefaßt das Neue.”
Unb fo werben fi benn mohl auch Modernes und Überliefertes
zu Erſprießlichem einen fönnen, wenn und fofern beide willens
und imftande find, fid) gegenfeitig zu durchdringen, jedes Beite
willfährig eines aus des andern Hand entgegenzunehmen. Nach
leidiger Menſchenart jpielen hier Leidenfchaft und Egoismus be:
kanntlich die Holle ber Spielverderber, wem aber die ſchöpferiſche
Kraft des Lebens nicht gänzlich unbekannt ift, dem dürfte auch das
Vertrauen auf bie Zeit und ihre ausgleihende Wirkſamkeit nicht
abgehen. Der wenigftens jcheinbar unüberbrüdbaren Gegenjäge
gibt es in Finnland freilich vieleicht mehr als ſonſtwo; es ſei
geftattet, fpäter ihrer zu gebenfen und ben Lefer zuvörderſt auf
ein Gebiet finnländiihen Lebens hinzuweiſen, wo Mobernität und
Tradition fi willig die Hand reichen.
Ameritanifchen Urfprungs unb durchaus unter dem Zeichen
der Mobernität ins Leben gerufen ift bie in Finnland von Jahr
zu Jahr mehr Raum gewinnende fog. Samjfola oder Gefamtichule,
eine Schule, in der Knaben und Mädchen von den unterften Schulz
tlaſſen an bis zur Univerfität ober dem Betreten bes praktiſchen
Lebens den Unterricht gemeinschaftlich und gemäß im weſentlichen
gleihen pãdagogiſchen Grundfägen genießen. Auf diefem Schulgebiet
mun zeigt fi) in Finnland eine überaus erfreuliche Durhbringung
des Neuen durch das Alte, und anderswo, wie z. B. in Frankreich,
mo bie Vergärtelung des heranwachſenden Geſchlechts befanntlich
eine typiſche Erſcheinung des Familienlebens abgibt, würbe eine
derartige Schule gewiß nicht die gleiche Frucht tragen. Strenge
452 Soziale Verhältniſſe in Finnland.
Zucht im Haufe, zumal den Kindern gegenüber, war, als die erfie
Samifola das Licht des Tages dort erblidte, im alten Finnland
eine typiſche Erſcheinung und fie bildet recht eigentlich die uner-
läßliche Vorausfegung eines berartigen Schultypus, welcher zugleich
ein etwas von den fittlichen Gepflogenheiten bes ftrengeren und
in feiner Zebensführung und Weltanſchauung nüchterneren Familien»
Iebens älteren Datums nur durch andere Mittel zu bewerffielligen
imftande ift. Nach faft einfiimmigern Zeugnis, welches das Urteil
bes irgend Lebenserfahrenen ſicherlich erhärten wird, bewahrt jene
Samftola, bei aller Unbefangenheit im Verkehr der beiden Ger
fchledter mit einander, die Jugend am beflen vor vorzeiliger
iebelei und vor ben im mobernen Leben nun einmal überall
zutage tretenden erotiſchen Einflüflen, einer Grotit und Liebelei,
deren Pflege, gewiß ohne es ſelbſt zu wollen, unfre höheren und
mittleren Geſellſchaftoſchichten durch Kinderbälle und Dekollet& leider
To oft Vorſchub leiſten. Man täufche fid) darüber nicht, bie vor-
zeitige Entwidlung bes Geſchlechtotriebes pflegt recht eigentlich, bie
Klippe zu fein, an der fo oft gerade die phantafiebegabten Veran:
Tagungen, die dichteriſch und gemütlich reich ausgeftattete Perſön—
licpfeit in einer Zeit fcheitert, wo Wille und Urteil noch fo gut
wie garnicht vorhanden find und daher von eigentliche Zurech⸗
nungsfähigleit nicht wohl die Nede jein kann. Für den Anaben
egiftiert der verführerifche Reiz des Weibes an fi faum, was auf
ihn verführerifch wirft, pflegt der befondere Aufpug des Weibes
zu fein, und das Wort „dem Keinen ijt alles rein“, welches
befanntlih fo gern gebraudt wird, um eine Diskujfion über dieſe
unliebfamen Dinge furzweg abzuſchneiden, fann im Grunde nur
fo ange ftihhalten, als die indisfrete Frage: „Aber wo ift denn
der Neine?” verpönt bleibt. In der Samſtkola aber tritt das
junge Mädchen ohne allen phantafieerregenden Apparat in ſchlichter
Häuslichfeit dem Knaben und Jüngling entgegen, und zwar in
einem Betäligungsrevier, das in erſter Stelle der Arbeit und ihrem
Ernft gewibmet ift. Alles phantafieerhigende Grübeln liegt fern
ab, die Gewohnheit läht den Anaben überhaupt mit andern Blicken
auf das Mädchen fehen, als ſonſt wohl in dem ſchon etwas herans
gereiften ter gang und gäbe, und find einmal die fritiichen
Lebensjahre überjtanden, ift das Urteil gereift, der Wille geſtärkt,
nun, ich denfe, daß Männlein und Fräulein auf dem einmal
Soziale Berätniffe in Finnland. 453
betretenen, zwar nüchterneren, aber würdigeren und beiiere Anwart⸗
ſchaft auf Erdenglüd gebenden Pfade eine gute Strecke weiter
tommen werben.
Gegen die Berechtigung bes jungen Mädchens, neben ber
männlichen Jugend Univerfitätsftudien obzuliegen, find, von allem
andern abgejehen, auch vom moralifhen Standpunkt aus Bebenfen
erhoben worden, die jedoch, was Finnland betrifft, um fo leichter
ins Gewicht fallen dürften, als lange ſchon bevor die Samitola
ſich hier zu einem allverbreiteten Schultypus geftaltet hatte, ber
finnländiſche Student in einer jo harmlos unbefangenen Weiſe mit
den Töchtern bes Landes zu verfehren pflegte, wie fie anberswo
mohl zu ben Seltenheiten gehören mag. Dem Finnländer, ins—
beionbere aber dem Finnländer ſchwediſcher Herkunft, haftele von
alteröher ein jtarf entwidelter Sinn für Familienleben und Häus ⸗
tigkeit inne, ein Einn, dem es weſentlich zu verdanfen ift, daB
man ſich jo außerordentlid) wohl und behaglid im Skandinaviſchen
Norden und in Finnland felbjt an Orten fühlte, die, wie das
Wirtshaus, Hotel oder gar der Bahnhof, font nicht eben Stätten
bejonderer Gemütlichleit zu fein pflegen. Es ift hier überall bie
orbnende Hand ber Frau zu jpüren, und aud) das Studentenleben
in Helfingfors und auf den ſchwediſchen Univerfitäten ift ſtets weit
davon entfernt geweien, weiblicher Beeinfluiiung aus dem Wege
zu gehen. Zumal die Doktor- und Viagifterpromotionen hatten ſich
hier zu wahrhaften Familienfeiten geitaltet, an denen alle weib—
lichen Angehörigen des Promovenden, jamt der ihnen naheſtehenden
Damenwelt Anteil nahmen, ein Brand), der Heutzutage leiber jehr
im Schwinden begriffen zu fein ſcheint. Man fuhr mit blumen-
geſchmückten Karoffen zufammen durd die Stadt, beim üblichen
Feiteflen wurde bunte Neihe gemacht und es war eine weibliche
Hand, bie dem jungen Gelehrten den Doltorhut oder Lorbeerkranz
darreihte. Man fieht, daß es chen feine allzu breite Kluft zu
überwinden galt, als mit der Zuerkennung bes akabenifchen
Vürgerrehts das junge Mädchen im Helſingforſer Auditorium
neben dem jungen Dane Plag nahm.
Die Samſtola und der gemeinſchaftliche Beſuch der Vor—
leſungen konnten nicht ermangeln, der wechſelſeitigen Beeinflufiung
beider Geſchlechter ihre gang bejondere dharafteriftifche Richtung
aufjuprägen Nomute man dem Heljingforier Studenten auch
1 Soziale Verhältniffe in Finnland.
früher nicht eigentlich nadjfagen, daß er mehr als etwa der Deutiche
den altüblichen Kneipgewohnheiten nachging, jo jpielten doch der
heiße Grog und falte Punſch hier früher eine ganz unbeträchtliche
Rolle, und dürfte das Abftinenzlertum, das heute unter ben finne
lãndiſchen Studenten jo ſehr verbreitet iſt, auch zu großem Teil
auf die gleich zu berührende Beteiligung ber afabemif—hen Jugend
am Gemeinfeben bes Landes zurüczuführen fein, ein gut Teil
davon, zumal aber die erjte Anregung bazu, iſt ficherlih auf
Rechnung weiblicher, Einflüſſe zu ſchreiben. Und wie die Aftiva
Mäßigkeit und georbnetere Lebensgejtaltung bei ber männlichen
Jugend auf Weibliches zurüddeuten, fo verdankt die weibliche ihre
oft bewunderungswürbige Nüjtigfeit in förperlihen Übungen unb
die damit zujammenhängende Friſche und Gefundheit den männ-
lichen Einflüffen, die ihr auf der Samjlola und Univerfität zugute
gekommen. Dan gehe nur in ben Helfingforfer Kaiſanemi-Park
und jehe fi) den zum großen Teil von jungen Mädchen geübten
Nuberiport an, wie er auf einem jtillen Meeresarm, ber biejen
Park im Norden begrenzt, von jtatten geht. Den bunten Filzhut
feemännifd) verwogen auf jonnverbrannter Stirn, führen bie jungen
Wilingerinnen, je ſechs und fechs auf einem Boot, ihre wirklich
nicht leichten Nuberjtangen mit einer Kraft und Präzifion, wie fie
der beftgeihulten Marinemannjhaft Ehre machen würde, während
ein fünfzehnjähriger Backfiſch, gelaflen und nicht ohne eine gewiſſe
Wichtigkeit im blühenden Kindergeſicht, den verantwortliden Poften
am Steuerruder einnimmt. Nicht ohne Grund hat Finnlands
hervorragendfter Maler, Edelfeld, in Genre und Landidaft, wie
mid) bünft, bedeutender als in der Hiſtorie, ſich als Sujet mit
Vorliebe die jungen Mädden Finnlands beim Rudern auserforen,
zumal auf jtillem Landſee und in der Tagesitunde, wo das herein.
brechende Zwielicht den Gegenfag von zielbewußter Tatkraſt und
träumeriihem Dämmerfdein jo ſchön hervortreten läßt.
Was dem jtubierten Balten, wenn er nad) Finnland kommt,
in hohem Grade auffallen muß, ift die hier allenthalben zutage
tretende Unbefangenheit, ja Vertraulichkeit, die man im Verhalten
der unteren BVolfsklaffen zur ſtudierenden Jugend wahrzunehmen
in der Lage it. Die Mehrheit der Yeliingforier Studenten
refrutiert fi) eben aus jehr beſcheidenen geſellſchaftlichen Kreifen
und zu diefem Umjtande kommt noch cin anbrer, bei weitem mehr
Soziale Verhältnifje in Finnland. 455
ins Gewicht fallender hinzu. Das, was wir Deutiche wohl das
Sinnige, der unintereffierten Rontemplation und Neflerion Zuge:
mandte zu nennen pflegen und was mährenb unjrer klaſſiſchen
Literaturperiode als eine Eigengeit bevorzugter Geiſter galt, pflegt
dem mobernen Finnländer in der Negel ebenfo fern zu liegen,
wie jene Art geiftigen Ariftofratismus, der, unbefümmert um das
momentane Zwedliche, jein „Ich“ auch infofern vor feindlichen
und widerwärtigen Berührungen auszuhüten jtrebt, als dieſe ihn
in Rontaft mit dem Gemeinen, das Wort hier feineswegs in
feiner übeljten Bedeutung gebraucht, zu bringen drohen. Der
moderne Finnländer ift durch und durch Praftifer und als folder
ſchon in der Jugend dem örtlichen Zwedleben zugewendet, mug
diefes auch hier und da äjthetifch veranlagte Naturen zurüdichreden.
Im Durchſchnitt genommen pflegt er feine Studienzeit länger aus—
zudehnen, als das anderswo der Braud), aber man würde ſich
fehr irren mit der Annahme, daß er num aud wirklich dieſe
Studienzeit, vom fameradjdaftlihen Treiben abgelehen, ganz dem
Hörfaal oder der häuslichen Arbeit widmete. Der hiefige Student
unterbricht fie wohl auf Monate, ja auf Jahre, um auf jeine
Weiſe und foweit feine Kräfte reihen, zu Nup und Frommen des
Volkes oder Staates zu wirfen, denn überall, zumal in dem uns
fultivierten Norden Finnlands, findet ſich Arbeitsgelegenheit und
überall fann man ja fein Scherflein beitragen, um jenes Wohl
wirtlich ober vermeintlich zu fördern, und es ijt bei weiten nicht
immer der flingende Lohn des leidigen Geldes, es iſt in eriler
Linie der Patriotiemus und aud wohl der Hang, ſich möglicjft
früh an praktiſchen Aufgaben meilen zu fünnen, was bie Veran
laſſung zu ſolchen Erfurfionen abgibt. Der Philologe oder der
Nalurwiſſenſchaft Befliſſene unterbricht jeine Univerfitätsjtudien,
um zeitweilig da oder dort als Hilfslehrer an irgend einer Mittel:
ichufe zu wirfen; der Namerafijt wird auf jeinen Wunjd hin einer
Gefängnisverwaltung oder einem Zollanıt attadiert; der Zurift
— man ſchlage einmal das Yeljingjorjer Hufvudſiadoblad vom
14. Dai e. auf — ließ ſich früher wohl — man höre und ſtaune
— in die Zahl der einfachen Konjtabler aufnehmen, um vom
Weſen der Polizei und ihren ehwaigen Mißſtänden fi) eine recht
deutliche Vorftellung zu maden, ein Umftand, ber das oben
Geſagte wohl begreiflicher machen dürfte, als es manchem Leſer
456 Soziale Berhäftniffe in Finnland.
zuerſt erfcheinen mag. Dan fieht, an Etelle jenes Hauslehrertums,
das der zeitweilig aus dem alten Dorpat ſcheidende baltiſche
Student jo gern zu ergreifen pflegte, gibt es hier eine zahlloje
Menge wenn aud nur beſcheiden remunerierter Voften, bie noch
vor allendlicher Beendigung feiner Studien ben Helfingforjer Stu
benten in alle nur irgend erdenklichen Lebensverhältniiie und bis-
meilen in die entlegenjten Winkel des Landes führen.
Eine andre, gleichfalls dem praftiihen Leben und feinen
Aufgaben zugewandte Tätigkeit, die er mit Vorliebe auffucht, ob-
gleich er Hier nicht immer auf Nemuneration rechnen fann, it
die in den zahllofen Vereinen, die ber Volfsbildung ober andern
philanthropiichen Zmweden dienen; da werden Vorträge an ſog.
Vollsuniverfitäten gehalten, Kaffen im Inlereſſe aller nur irgend
benfbaren Aufgaben verwaltet, Reden im Sinne der Enthaltjantfeit
von geiltigen Getränfen an bie Volksmenge gerichtet ober wird
das Feftordneramt bei Volksfeiten und Beluftigungen übernommen.
Bisweilen geht man wohl auch jeine eigenen Wege, ohne daß ein
Verein mit feinen Mitteln hinter einem ſtände. So durchquert
der Helfingforfer Stubent wohl Finnland von Süd nad Nord,
von Oſt nah Wet, um Flora und Fauna zu erforſchen, Sprich:
wörter und Lieder zu fammeln, oft aud bringt er einen ganzen
Scap örtlicher Volkstrachten mit heim, die er in den verjchiedeniten
Teilen des Landes aufgejpürt und käuflich eritanden hat, wie denn
ein jpeziell zum Behufe finnländiiher Koftümkunde in Helfingfors
errichtetes und noch heute. fi immer mehr bereiherndes Muſeum
feinen Beftand an bäuerlihen Trachten wefentlich derartiger ſtuden -
tiſcher Mühwaltung verbantt. Es mag bei ſolchen Streifzügen
nicht ohne finnomanifche Propaganda abgehen, die dem Helfing-
forfer Studiojus um fo leichter fallen muß, als er jid) gemeiniglich
ganz als Kind des Volkes und nicht als junger Herr zu fühlen
und zu geben pflegt, ein Umſtand, der natürlicerweife. jeine Popu—
larität ganz ungemein jteigert.
Nichtung und Fülle jenes großen Stromes, den man als bie
jogiale Entwicklung eines Landes bezeichnen kann, werden befannt-
lich durch unzählige Quellen und unzählige Widerjtände beitimmt,
und ich glaube die Bedeutung ber Frauenemanzipation finniſchen
Schlages nicht eben zu überſchähen, wenn id) in ihr eine jener
Quellen ſehe, aus denen eine darafteriftiiche Eigentümlicjfeit des
Sogiale Berfäftniffe in Finnland. 457
geiellichaftlichen Lebens in Finnland fließt, das ungemein humane
Verhalten nämlich ber befigenden und politiſch maßgebenden Kreije
dem eigentlichen Wolfe gegenüber. Es foll hier ja keineswegs
überjehen werden, daß die nationalen Gegenſätze, der Antagonismus
von Schweden: und Finnentum, bei dem zufehends zunehmenden
Erftarfen des lepteren, die doch nod) immer Wohlhabenheit und
Intelligenz in hervorragendem Mahe vertretenden ſchwediſchen
Bevölferungsbeitandteile, insbefondere der größeren Stüble, zu
ſozialen Kongejfionen drängt, und dod dürfte jeder Kenner ber
hiefigen Frauenivelt und ihrer Veltrebungen zugeben müſſen, daß
jene Frauenwelt, ganz unabhängig von dem eben erwähnten Drud,
ſoweit ihre Stellung und Mittel es geitatten, das ihrige an fozialer
Beihilfe zu tun feineswegs unterläßt. Daß die nächſten Jahrzehnte
die Mühmwaltung, die unter den Namen der Sozialreform von
Staat und Gefellihaft Wefteuropas in Angriff genommen. ift,
energiſcher noch als bis jetzt geichehen, fortjegen werben und daß
eine zwingende Notwendigfeit hiefür vorliegt, darüber werden wohl
nur verhältnismäßig wenige unter ben Gebildeten ſich einer Täu—
ſchung hingeben fönnen, und als einer ber wichtigiten Bundes»
genojien für alle einſchlägigen Beitrebungen will mir die Frau
der Zufunft erjcheinen, deren Einjag bei dem großen Wert, außer
der Güte und Barmherzigkeit, vor allem noch jener Sinn für das
Einzelne und ‚Individuelle fein dürfte, welcher der mehr in Bauſch
und Bogen und im gewilfen Sinne dod immer fcablonenhaft
arbeitenden Männerwelt nicht in gleichem Maße innezuwohnen
pflegt. Ein unerlahliches Erfordernis, um ſich an biefer großen
Aufgabe zu beteiligen, bleibt hier freilich für das Weib die Kenntnis
des Lebens, wie es ſich im größeren Stil zu entfalten pflegt, und
jene Bildung, die allein hier die Direltive zu geben vermag.
Ungemein darakteriftijh für Finnland if, daß hier ein
Frauentypus, dem man .in Wejteuropa und Nußland nod) recht
häufig begegnen fann, offenbar im Ausſterben begriffen iſt, ber
Typus der Dame nämlid, deren gejamtes Wünſchen und Tun
darauf herausläuft, ein Idol für die Männerwelt abzugeben.
Das flärkere Vorwalten der Mittelllafjen, die allgemeine Gepflogen-
heit einen Beruf zu ergreifen, ‚vor allem das rings umher vajtlos
arbeitende Zwedleben drängen eben jenen Tnpus der Dame zurüd.
Statt feiner jehen wir hier, immer mehr und mehr bie werktätige
458 Soyiale Verhältnifle in Finnland.
Frau, die Frau, welche durch eigene Erfahrung ober durch bie
Erfahrung ihrer Nädjftftehenden und Freunbinnen Kenntnis ge:
nommen hat von dem Pflichtleben bejdeideneren und größeren
Stils, und der allgemeine Bildungsbrang bringt es mit fid, daß
dabei Vernunft, und oft jehr viel Vernunft und richtiges Ver-
ftänbnis mit im Spiele ift. Wer fi von biefer Tatſache über-
zeugen will, dem rate id) die auf alle Gefellihaftstreije ſich
eritvedende und eine unglaubliche Fülle von Aufgaben in ſich
fallende Tätigfeit bes hiefigen Martha-Vereins zu jtubieren, was
leicht durch Lektüre der jährliden Rechenſchaftsberichte dieſes
Vereins geſchehen kann. Schon ber bloße tägliche Augenſchein
beiehrt uns über das humane Verhalten ber hieſigen Hausfrau
ober Zadeninhaberin ihren Untergebenen gegenüber, und wer von
ihnen etwa durch Veranlagung und Erziefung weniger humanen
Zweckleben zugeneigt fein bürfte, auf bie übt auf die Dauer Beiſpiel
und Ürteit ber gefamten Umgebung eine Art moralifhen Zwanges
aus, der fie ſich der allgemeinen Eitte und Gepflogenheit fügen läßt.
Die häufig, um nur ein Geringes heranzuziehen, ift es mir hier
begegnet, daß ich auf meine beim Vermiſſen eines befannten
Geſichts unter ben aufwartenden Mägden und Verkäuferinnen
erfolgte. Frage von ber Hausfrau oder Inhaberin des betreffenden
Ladens die Antwort befam: „DO, die habe ich für einige Woden
aufs Land geihiet, damit fie ſich dort erhole, denn fie fränfelte
leider ſchon fange.“
Was ſoeben in betreff kleinerer und individuellerer Der
hältniſſe herangezogen, es gilt in gleichem Maße für die Arbeiters
verhältnifie größeren Stils, deren Ordnung dem Staat, ber
Kommune oder individualifierter Zweckgemeinſchaft obliegt. Der
Ladenſchluß, für die verſchiedenen Geſchäfte auf verſchiedene Tages-
itunden fallend, erfolgt hier durchſchnittlich zu einer bedeutend
frügeren Zeit als anderswo; die Vorbereitungen für eine Alters-
und Invalidenverjiherung bilden joeben den Gegenſtand febhafter
Diskuffion in einem: zu dieſem Behuf miebergejepten Komitee, und
es dürfte für den ferner Stehenden nicht ohne Intereffe fein, die
Art und Weije kennen zu lernen, in ber derartige Angelegenheiten
hier gemeiniglih behandelt werden. Bor wenigen Tagen wurde
bier feitens zweier Vereine, dem der Handelsgehülfen und der
Geichäftsbedieniteten, eine Petition an die örtliche Handelsgilde
Soziale Verhaͤltniſſe in Finnland. 459
gerichtet, in ber die beiden Vereine, unter Hervorhebung bes ihnen
wohl befannten Gemeingefühls und Wohlmollens ihrer Prinzipale
und auf das VBebürfnis der Gehilfen hinmweilend, abends an ben
zahlreichen Fortbilbungsvorträgen finniiher und ſchwediſcher Zunge
teilnehmen zu fönnen, um einen auf alle Gefcäftszweige dieſer
Art auszudehnenden Ladenſchluß für fieben Uhr nachmittags buten.
Nach längerer Debatte ging die Gilde bedingungsweile auf das
Anſuchen ein, ber Ladenihluß für fieben Uhr nachmittags wurde
einitweilen für ein Jahr, mit Ausſchluß ber Weihnachtszeit, ben
Gehilfen zuerfannt und zugleih ein aus ben hervorragenbiten
örtlichen Gejdäftsmännern zujammengefegtes Komitee niebergeiegt,
das ſich anheiſchig machte, durch moralijche Einwirkung auf die
eventuell renitenten Kollegen in Nichtung ihres freiwilligen An:
ſchluſſes zu wirfen, mas, da bie Mitglieder des Komitees eben
die angejehenjten faufmännifchen Firmen ſchwediſcher und finnifcher
Zunge an Stelle und Ort vertraten, an einem jpäteren allgemeinen
Infraftjegen jenes Veſchluſſes nicht weiter zweifeln läßt.
Auch der perfönliche Verkehr zwiſchen Herrſchaft und Dienftz
boten, Arbeitgebern und Arbeitern, wie überhaupt der oberen
Geſellſchaſtoſchicht, ſobald diefe in Berührung mit ber unteren
fommt, nähert ſich in Finnland einer Vertraulichkeit, wie man fie
bei uns in ben Baltijhen Provinzen nur jehr jelten antreffen
dürfte, und man fann mohl mit Nedht hinzufügen, daß in der
Regel der kleine Mann hier durdans nichts von jener Dreijtigfeit
und jenem zubringlichen Wejen babei an ben Tag zu legen pflegt,
wie es leider jo oft bei bem entiprechenden Verfahren bei uns zu
bemerfen ift. Hier und da begrüßen ſich wohl ein Stubent und
ein einfacher Arbeiter mit freundlichem Händedrud auf der Straße,
es find eben Verwandte, ober fie haben in irgenb einem Verein,
der ja jedermann bier zugänglid, vorher Betanntihaft gemacht.
As ich vor einigen Jahren aus einer Art jugendlicher Bewun⸗
derung für die derbe Plaſtik Bürgerſcher Dichtung des Dichters
ehemaliges Heim in dem Göttingen benachbarten Altengleien auf-
ſuchte, hatte ich Gelegenheit in einem Kreije jugendlicher Neferen-
dare und Ausfultanten, lauter ehemaliger Göttinger, Aufnahme zu
finden, bie eben im Begriff waren, ſich über die Autorſchaft der.
Unterſchrift von Klinferfuß’, des berühmten Aſtronomen, Bildnis :
„Es irrt der Menſch fo lang er ſtrebt“ zu jtweiten, wobei cinige-
480 Soziale Berhältnifie in Finnland.
ber übrigens fehr freundlichen und in ihrer Jurisprudenz gewiß
wohl beſchlagenen Herren auf Uhland, andere auf Heine rieten.
Ein junger Mann, deſſen Obliegenheiten in dem übrigens urgemüt:
lichen Wirtshaus fi nur wenig über die eines gewöhnlichen
Kellners erheben mochten, fchlängelte fich dabei in äußerfter Ber
fangenheit rund um einen überaus firamm und felbjtbewußt brein-
ſchauenden Jünger des höheren preußiihen Staatsdienftes, ber bei
der Disfuffion durdaus auf feinem Heine beharrte und dem ihn
umfreifenben Trabanten hin und wieder einen freundlich verlegenen
Blick zuwarf. Als bie Herren nad dem üblichen Frühfchoppen
ſich wieder aufs Amt begeben hatten, teilte mir ber foeben nod
Hart Vebrüdte nicht ohne Stolz mit, der Herr Neferendar, neben
dem ich joeben geſeſſen, jei fein leiblicher Bruder, dem gewiß,
bank feiner glänzenden Fähigkeiten, eine gute Karriere bevorjtehe,
und, fügte er mit beionderer Lebhaftigfeit Hinzu, „es mird ganz
gewiß Heine geweien jein, das fünnen Sie mir don glauben.“
Diefe alte Geſchichte iſt mir in Finnland mehr als einmal in den
Sinn gefommen.
Die friedliche Rückeroberung Finnlands durch das auch ful-
turell immer mehr Raum gewinnende genuine Finnentum muß
wohl uns Balten als ein. Prozeß erjdeinen, ber uns nicht eben
anheimeln fann, und dieſe Nüceroberung liegt fo ar zutage, daß
jedes Sichhinwegtäufhen über fie zu ben Illuſionen zu zählen ijt.
Längit Schon ift nichts mehr von jener früheren: Gepflogenheit des
Finnen, wenn.er es zu Vermögen und Bildung gebracht, für einen
Schweden gelten zu wollen, jpürbar, und wer die faihionabeln
Stadtteile von Helfingfors verläßt, um fi in den ganz umver-
hältnismäßig umfangreicheren Nevieren ber Stadt, die der Fremde
nur jelten. betritt, umzufehen, hört fait ausſchließlich und allein
ſinniſch ſprechen, und fann, wenn man fid, in ſchwediſcher Sprache
verfländigen will, in zehn Fällen gegen einen, fiher jein, nicht
verjtanden. zu werden. Mie eine Art trogiger Gerausfo.derung
gegen. bas früher allgewaltige Schwebentum ragt ſchon jeit ein
paar Jahren das finnijche Theater dem älteren Kunſtmuſeum
Finnlands gerade gegenüber, ein wirklich gigantiiher Bau, ein
wenig ans Eyflopenhafte erinnernd und in feiner robujlen Ge
ſGioſſenheit wohl auf ein Jahrtaufend derechnet. Sollte der Tempel
der mimifhen Kunft nad) Richard Wagner wirklich das Zentrum
Soziale Berhäftniffe in Finnland. 41
fein, in dem alle Künſte, harmoniſch vereinigt, durch ihre Gejamt-
mirfung jenes zarov «' aradov ber Griechenkultur einem zu jungem
Selbftbewußtfein fommenden Volke einzuflößen hätten, nun, fo
würde ber Sinne ſicherlich mit den Unfummen, bie er für feinen
Theaterbau ausgegeben, ſich feiner Verjchwendung ſchuldig gemacht
haben; ob aber und inwieweit die Perle ber genuin finnifchen
KRunft der Großartigkeit ihres Gehäufes entiprehen bürfte, ja,
darüber wagt Schreiber biefes ſich fein Urteil beizumefien. Ein
Gutes mindeftens fann dem langjährigen und noch fange nicht zu
Ende geführten Antagonismus zwiſchen Schweden: und Finnentum
in Finnland mit vollem Recht nachgeſagt werden, und das ift, daß
dieſer Antagonismus dem Lande eine ganz ungemein rührige
ſoziale Geſchichte geſchenkt hat, die die von Haus aus vielleicht
etwas trägen Volfsgeifter gewaltiam aufrüttelte und, wie mir
fcheinen will, die gegenwärtige Kultur Finnlands im Bunde mit
ber Wiederbelebung der Landtagstätigfeit in den fechziger und dem
ungewöhnlichen materiellen Aufſchwunge in den fiebziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts recht eigentlich) zuwege gebracht hat.
Dem Wetteifer auf dem Gebiete ſozialer Tätigfeit, welder ganz
wejentli als eine Folgeerſcheinung jenes Antagonismus zu ber
trachten ift, entipricht nun namentlich das Daß der Anteilnahme
aller Geſellſchaftsklaſſen am Wohl und Wehe der Gefamtheit,
welche Anteilnahme, je nad) dem politifch:nationalen Standpunkt
bes Einzelnen, ja allerdings oft von einer Art Fanatismus diltiert,
in bie Jrre gehen kann, im Großen Ganzen genommen jebod das
bürgerliche Bewußtfein in hohem Grade geitärft und gereift hat.
Es fei hier nur auf ein der jüngften Vergangenheit angehöriges
Beiſpiel hingewiefen, weldes zwar bei uns ſehr verſchiedene Ber
urteilung finden wird und das ic), ohne irgendwie Partei ergreifen
zu wollen, lediglich als charakteriſtiſch für die Art anführen möchte,
in der jet, da die Wogen bes Parteifampfes in Finnland wieder
höher zu gehen beginnen, dieſer Rampf geführt wird. Ganz vor
furzem, ich glaube es war noch im Mai, hatte fich in dem fleinen
finniſchen Städtchen Rajana, wo ſich ein Volloſchullehrerſeminar
mit finniſcher Unterrichtsfpradhe befindet, das Folgende zugeiragen.
Die fogenannte fonjtututionelle Partei der Spelomanen und
Jung: Finnomanen hielt in dem Orte ein Meeting ab, an dem
der örtlide Seminardireftor, ohne eine Einladung erhalten zu
462 Soziale Verhältnifie in Finnland.
haben, teilzunehmen fi) gemüſſigt fühlte, obgleich er zur fonjerz
vativen Partei der Alt-Finnomannen oder jomelarianer, wie fie
nad ihrem Prehorgan jet hier genannt werben, gehörig. faum
auf einen befonders wohlwollenden Empfang feitens der Verſam—
melten rechnen konnte. Was vorauszufehen war, gefchah, denn
der übrigens vielleicht jehr tüchtige Pädagoge wurde ausgeziſcht,
wichtiger aber war, daß er bei ber Gelegenheit ſechs von jeinen
Seminariften in ber verpönten Verfammlung antraf und ihnen
allen das consilium abeundi erteilte, was zur Folge hatte, doß
ſaͤmtliche Seminariften ihren Austritt aus dem Inftitut erflärten.
Bei uns zu Lande würde man von einer Ähnlichen Sache wohl nicht
viel Aufhebens machen, anders hier, wo der freiwillige Austritt
jener Seminariften und das Verhalten bes Direflors in ber
liberal⸗ſvekomaniſchen und jung-finnomaniichen Prefje und Gejell-
ſchaft einen Sturm ber Entritung ober ber Bewunderung wach-
tief, der an bie berufenen Böltinger Sieben und den König Georg
Auguft von Hannover erinnern kann. Cine ganze Woche lang
murde ber Fall in den beiden Helfingforfer Zeitungen eingehenditer
Behandlung unterzogen, ein von hunderten Volfsfhullehrer beiuchtes
Meeling in Helfingfors legte feierlich) Proteit ein gegen das Ver—
fahren des Direktors, eine ähnliche Proteſtäußerung kam von Hangö
und bie Seftion der fogenannten Ojfterbottninger unter ber hiefigen
Studentenſchaft beglückwünſchte Durch ein Telegramm bie Semina-
riften für ihr ſtandhaft patrioliiches Verhalten.
Eine der in Petersburg zur Stunde jo häufig tagenden Ver
fammlungen, in denen der rufiiiche Hadifalismus jeinem Glaubens
befenntnis und feinen Defideraten Ausdrud gibt, hat ſich jüngfihin
in der Richtung ausgeſprochen, man folle ruſſiſcherſeils den Finn:
ländern die Öejtaltung ihrer eigenen Dinge durchaus anheimgeben,
vorausgejegt, daß die fünftige Nepräfentation des Landes auf dem
allgemeinen, biveften und geheimen Wahlrecht beruhen würde.
Dan fieht, jenem Radikalismus iſt die heutige ſtändiſche Ver—
faſſung Finnlands ebenfo wenig fympatpifh, wie es ihm früher
das ariftofratijche Selfgovernment der Baltiſchen Provinzen war.
So fehr hier nun auch früher die alte jrändiihe Orbnung in ihrer
tulturfördernden Bedeutung, wenn aud nur anbeutungsweije, ge:
würdigt wurde, daß ihr nod) eine fange Dauer bejdieden fei,
dürfte doch mehr als fraglich erſcheinen. Dem gewaltig ſich
Soyiale Berhältniffe in Finnland. 463
reckenden und jtredenden Körper bes Sozialen will, mie mic
bünft, das ſtramm zugefchnittene Gewand bes überfommenen
heimifchen Staates mit feinem Stänbetum, das ber Dlobernität
fo fehr widerſpricht, nicht mehr ganz entipredien. Zieht man bie
Familienvertretung bes zwar ſehr Teiltungsfähigen, aber zufolge
feines nur ſehr mäßigen Landbefiges namentlich örtlich wenig
bedeutenden Adels, das nad) ber Kommunalfteuerpfficht bemeſſene
Pluralitätsfiimmrecht der ftäbtifhen Bürgerfchaft und den Wahl:
modus, wie er bei Priefter und Bauer vorhanden ift, zieht man
das alles in Betracht, jo wird deutlich, daß im Grunde nur ein
fehr Meiner Teil ber Bevölferung an ber Bildung des Gefamt:
willens, wie er auf bem Landtage, wenn aud unter ftänbifchen
Formen, zum Ausdruck kommen fol, partizipieren kann. Stellt
man biefer Tatjahe ben ftarfen Pulsichlag öffentlichen Lebens,
bie Interejfen, Auſprüche und Beftrebungen, mit einem Wort bass
jenige gegenüber, was wir hier bei Ermangelung einer andern
Bezeihnung ſchon mit dem etwas ſchulmäßig lautenden Terminus
„sozialer Faltor“ bezeichnen müfjen, fo dürfte es ziemlich deutlich
fein, daß bie alte ſtändiſche Vertretung über kurz oder lang hier
einem auf andrer Bafis errichteten Vertrelungsmodus Plag machen
mird. Was in betreff des lepteren, man möge ihm durch einen
Zenfus und indirefte Wahlen einen noch jo fehr fonfervativen
Intereſſen Rechnung tragenden Charakter geben, zu ſchwerwiegenden
Bebenfen Veranlaffung geben muß, wäre wohl die Frage, in wie⸗
meit durch einen berarfigen Schritt bie fpaltenden Gegenfäge
zwiſchen Finnen: und Schwebentum ausgeglichen, gefteigert oder gar
im Sinne der Alleinherrfcaft jenes erfteren entichieden würden,
denn bei bem alten ſtändiſchen Vertretungsförper war, folange der
Wahlmodus der Städte intaft blieb, wenigitens Parität zwiſchen
beiden Stämmen gefihert, indem bem finnomanijchen Bauer- und
Prediger, oder wie man hier fagt, Priefteritande der ſwekomaniſche
Abel und das fwelomanifche Bürgertum die Wage hielten. So
mandje Bejorgnis fid) bei derartigen Fragen geltend machen mag,
einen Troft fann man dem ſchwediſchen Element in Finnland
geben: das finniſche nämlich, fo jehr es auch bisweilen das
örtliche Schwedentum prinzipiell zu negieren liebt, ift, fofern es
zu Bildung und Wohlitand gefommen, durch eine fange Geichichte
fo durch und durch in Lebensgewohnheiten, Glunbe, Staats und
464 Soziale Verhältnifie in Finnland.
Rehtsanihanung von ſchwediſchen Fermenten durchdtungen und
gelättigt, daß wenn einmal bie völlige foziale Gleichheit beiber
Elemente, aus denen das Volk Finnlands ſich zufammenjegt, ber-
maßen zur Gewohnheit geworden iſt, daß biefe fi) als altera
natura ausweilt, das Defiderat des friedlichen Neben und In—
einander wohl zur Wirklichfeit werden dürfte.
Beitere Gedanken zur Binerteilung in Livland.
Don
9. Riekhoff, Paitor zu Torgel.
m Febrnar-Heft diefer Monatsihrift ijt ein Vortrag von Paftor
RechtlichGudmannsbach über die Pfarrteilungsfrage erſchienen.
Ein jeder Leſer wird ſchon vorher den berührten Notjtand unfrer
Zanbesfirhe gefannt haben, liegen doch die Tatfahen jedem
Landeskinde täglich vor Augen. Cs ift eine förmliche Reife von
einem Paftorat zum andern. Auf das livländijhe Durchſchnitts-
firchipiel entfallen nicht weniger ald rund 350 Duabrat:Kilometer,
ein Slächenraum, an den mander deutſche Kleinſtaat nicht herans
reiht. Derjelbe Flähenraum umfaßt in Preußen jtatt einer ca.
10, in Sachſen 20 Parochien uſw. Freilih haben Skandinavien
und Finnlond noch manche ausgedehnte Parochien, aber in dieſen
Ländern iſt entweber die Vevölferung noch ſehr dünn gefät, ober
es arbeiten bei größerer Seelenzahl mehrere Geiftlihe, manchmal
45, an einer Gemeinde. Bei uns trifft Beides zur
fammen: ber riefenhafte Umfang mit der riefen»
haften Seelenzahl. Die Livländiihe Kirche hat in biefer
Beziehung einen Weltrekord erreiht. Nur bie von aller Welt
abgejdjiebenen und aus biefem Grunde nicht zum Vergleich geeig
neten Wolgakolonien können ſich mit Livland meſſen, ebenfo ein
Zeil der wirklihen Diafpora in Rußland — durhaus nicht die
ganze, — wiederum fein Vergleihspunft. Neben die ganze übrige
evangeliſche und auch die katholiſche Kirche geftellt, Hat die livlän—
diſche demnach die wenigiten geiſtlichen Kräfte. Je mehr nad
Oſten, um fo ſchlimmer wird es bamit, denn die Führung haben
der Werroſche, Dorpater, Fellinihe und Wallſche Kreis. Nur bie
Inſeln bieten ein erfreulicheres Bild, Unſre Schweiterprovingen,
Eitland und namentlid) Kurland, find ſchon etwas beifer verforgt,
Baltifge Monatafteilt 1005, deſt 6. 2
408 Bur Porreifung in Livland.
dennoch bleibt die kirchliche Rieſengemeinde als erſchreckendes
Charakleriſtilum ber ganzen baltiſchen Erbe beſtehen.
Wenn alſo der Ruf zur Abhilfe aus Livland zuerſt ertönt
ift, war das ben Verhältnifen entiprechend, boch ift es eine fo
große Angelegenheit und Aufgabe, daß fie durchaus alljeitiger
Befprehung bedarf, wenn fie werben folle. Deshalb möchte ich
in biefem einige ergänzende Bemerkungen zu Paſtor Rechtlichs
Ausführungen bringen, mit dem ich mid) in allem Weſentlichen
natürlich eins weiß. Was ich vorbringen will, iſt in der Haupt»
fache basfelbe, worüber ich mid) auch fchon auf Synoden auszu-
ſprechen Gelegenheit gehabt habe. Die weiteren Bemerkungen
follen ſich beziehen I. noch auf den Notftand felbft, II. auf jeine
geſchichtlichen Urſachen, III. auf feine Abhilfe.
IL Beitere Bemerkungen zum Notſtand ber
Riefengemeinden.
Hier möchte ih verfuchen Marzulegen, baf der Notſtand
noch um ein Stüd größer ift, als bisher gezeigt
mworben. Ich darf zugleich fagen, daß es auch in dem nun
folgenden Punkte zu einer völligen Werftändigung zwiſchen Paftor
Nehtlih und mir gekommen ift. Weshalb nun ift der Notftand
noch ein Stüd größer, als gezeigt worden? Weil es nicht angeht
5000 Seelen ſchlankweg noch für eine Normalgemeinde zu erklären.
Diefe Zahl bezeichnet gewiß nur bie äußerte Norm, während das
wirklich Normale erſt in der Lage von 3000 beginnt, noch weiter
Binunter liegt dann das Ideale. Auf das Ideal fann man, ob:
wohl mit Wehmut, verzichten, aber vor der Forderung des Nor:
malen gibt es fein Nusmweichen. Bricht fi alfo in Livland all-
maͤhlich die Überzeugung Bahn, daß bie Fünftaufendgemeinde feine
Heine Gemeinde, fondern vielmehr die eben gewordene Niefen-
gemeinde ift, wird es ebenfalls Far werden, daß ſchon eine ſolche
fo bald als nur irgend möglich geteilt werben muß. Dann jedoch
mädjit ber Prozentſatz der teilungsbedürftigen Pfarren Livlands
noch um ein beträchtlides; der Notjtand ijt, wie gejagt, noch
größer, als bisher gezeigt worden.
Wie aber nun, wenn die hier aufgeitellte Norm bisfutabel
wäre? Wenn andre, wie Paſtor Rechtlich andeutet, der Meinung
find, daß aud 7000-8000 Seelen nod von einem Paſtor feel:
forgerifch bebient werben fönnen, andre 5000 für feine übermäßige
Aufgabe halten — womit will Schreiber diefes das von ihm
genannte Maß als das einzig richtige erweiſen? Gibt es über
Bur Pferrteifung in Siolanb. 187
haupt ein einheitlich geltendes Maß? — Num, ein bis auf bie
Seele genau beftimmbares felbitverftänblidy nicht, aber doch eine
ungefähre Richtſchnur, wie bei allen Dingen. Wo ift aber jetzt
der ftringente Beweis, baß gerade zwiſchen 3000 und 5000 ſich
das Übergangsftadium von Normalem zum Unnormalen befindet,
ober mit andern Worten, daß von 3000 Seelen an aufwärts bie
feelforgerijhe Arbeit auf Schwierigkeiten zu ſtoßen beginnt? —
A priori einen ſolchen Beweis auszurechnen ift gewiß ſchwierig
und dazu undanfbar, da derartige Voranſchläge nur wenig Glauben
finden. Aber die Erfahrung muß mohl gelten, — eine jahres,
jahrzehnte:, ja jahrhundertlange Erfahrung? Und nun erſcheint
als Erfahrung ber ganzen evangeliſchen Kirche eben bie oben
angeführte Norm. Deshalb muß fie richtig fein. In Deutſchland,
um mit unfrem geiftigen Wutterlande anzufangen, fteht die durch-
ſchnittliche Seelenzahl — für ganz Deutichland gerechnet — eher
unter 2000 Seelen pro Pfarrer, als darüber. Ein unbedeutender
Reſt von Parochien in Dftpreußen, bie an unfre Verhältnifje ger
mahnen, ift Veratungsgegenftand ber legten preußiichen General:
ſynode geweſen. Dlan hat mit herzbeweglichen Worten bie fofortige
Verkleinerung derfelben verlangt. Faſt die Hälfte davon waren
Gemeinden von nur 5000 Seelen, nad} unjrer Redeweiſe geiprochen.
Alfo fieht man dort bei 5000 bie marimale Grenze
des Mögliden bereits überſchritten. Wenn ferner
in ben großen Induftriegentren urplöglic ebenfalls Niejengemeinden
entjlanden find, jteht man auch bort nicht der Tatſache indifferent
gegenüber. Ohne das Ziel der Pfarrvermehrung aus den Augen
zu laffen, hilft man ſich nur einjtweilen mit bem Inſtitut ber
inneren Miſſion. Dieſes die deutſche Auffaſſung unfrer brennenden
Frage. Auf anglofähfifhem oben (England, Schottland,
Nordamerika, Auftralien) finden wir durchgängig noch Fleinere
Gemeinden, als auf deutſchem, jedoch aud in den ſkandi—
naviſchen Ländern (Schweden, Norwegen, Finnland) kommen
weniger als 3000 Seelen auf einen Geiftlihen. Der Biſchof
von Finnland Guftav Johannjon hat die Güte gehabt, mic über
dortige Verhältniffe zu orientieren. Unter andrem heißt es in. dem
betreffenden Schreiben wörtlih: „Bei uns iſt man der
Meinung, daß ein Pfarrer niht die GSeeelforge
bejorgen fann, wenn die Parodie mehr als 3000
Einwohner hat!”
So ift es denn eine Erfahrung aller, daß bie Normal-
gemeinde ſich zwiiden 2000—3000 Seelen befindet. Haben wir
Pr
468 Bur Pfarrtelung in Siofand,
es aber mit einer Zebenserfahrung aller zu tun, bürfen mir bie
ſelbe unbebenflih aud a priori annehmen? Wird es fernerhin
durch Gottes Gnade zu bedeutender Vermehrung ber geiſtlichen
Kräfte und damit zu ausgebehnterer Seeljorgemöglichleit für den
Paſtor bei uns fommen, wirb nicht weniger unfre eigene Erfahrung
immer enticiebener der allgemeinen recht geben? An Anzeichen
für die wachſende Erkenntnis fehlt es ſchon jept nicht. Diele
gewichtige Berjönlichfeiten unter unfren Lanbpajtoren verlangen
feit längerem Heranziehung von Laienhelfern für die paftorale
Arbeit, gewiß doch nur, weil fie merken, daß die eigene Kraft
nicht genügt. Es find darunter auch ſolche Geiſiliche, melde
Gemeinden von 5000 Seelen vorſtehen. Dies ift nun doch bie
Einficht, daß ſchon ein ſolches Kirchſpiel mehr nötig hat, als einen
einzigen Paſtor. Cs fcheint nur ber beſchriebene Weg fein gang
barer, was ſchon daraus erſichtlich, daß die betreffenden Männer
fo wenig Schule machen. Die an fich jo löbliche Abficht hat aber
ein „Aber“! Wird in einer größeren Stadt ſolch ein Helferbienit
organifiert, finden ſich nicht nur leichter paſſende Helfer, jondern
unter ber Anzahl der Paſtoren immer auch folde, die durch fpeziell
organifatoriiche Begabung geeignet find, die Seele ber ganzen Ein-
richtung zu werben. Unter der unmittelbaren Führung dieſer
vermögen dann auch die übrigen Brauchbares hervorzubringen.
Wie anders verhält es fi) auf bem Lande? Die Zjoliertheil des
einzelnen Predigers, die bei uns ftets außergewöhnlidy groß bleiben
wird, bringt es mit ſich, daß jeder für ſich ausgejprodhener Orga
nifator jein müßte, wenn ber Helferdienſt gedeihen joll. Weil
aber eine ganze Kirde von Paſtoren dieje befondere Gabe nie
befigen wird, gehört es meines Erachtens einfach zu den phyſiſchen
Unmöglijfeiten, daß ein für unfre Niefengemeinden genügender
Diofonat über ganz Livland Verbreitung finden follte. Deiner
Meinung nad) iſt dies der einfache Grund, weshalb jene Männer
nicht Schule machen, obwohl es ihnen gewiß nicht an Anjehen
und Anerkennung fehlt. Es hat auch, wie wir fahen, feine andre
evangelifhe Landestirhe bei entjtchenden Niejengemeinden den
Diafonat, ſondern immer nur bie Pfarrteilung ins Auge gefaht.
Natürlich fol damit nicht behauptet werden, daß ein jeder Helfer
dienſt verpönt wäre. Auch in der Normalgemeinde wird der Paſtor
immer Helfer haben müſſen. Er wird aber dort die Hauptarbeit
perjönlih ausführen, jo dak für die Helfer nur Ergängungsarbeit
in Frage fommt. Beides iſt forreft. Ganz anders in der Rieſen⸗
gemeinde, hier müßte wegen Nichtlönnens auf Seiten des Predigers
Zur Pfarrteilung in Livland. 469
die Hauptarbeit den Helfern verbleiben, der Paſtor hätte gleichlam
nur ein biſchöfliches Aufiihtsamt. Allein, da lag ja ber. Fehler!
Ein jeder trene Chrift mag bei genügender Vorbildung ein guter
Seelenhirte werden, zum höheren Auffichtsbeamten jeboc gehört
eigentümliche Veranlagung.
Hiemit darf wohl das Kapitel über den Notitand geſchloſſen
werben. Derfelbe iſt alſo, mit dem Maßſtabe aller übrigen Kirchen
gemeilen, nod) etwas größer, als nad) den bisherigen Schilderungen,
ber Dialonat aber bietet fein paſſendes Remedium. Wir brauchen
für jeden Full die nötige Zahl von Paſtoren und Kirchen. Es ift
gut fo, wenn wir uns jofort anfangs die ganze Notlage vergegen
wärtigen. Nur wer die ganze Gefahr überblidt, rüjtet ſich voll.
Endlich) geht e8 aus rein organifatorifhen Gründen nicht an, das
Land zuerft in Kirdjipiele von 5000 Seelen zu teilen, "um dann
jpäter einmal vielleicht auf 3000 überzugehen. Die kirchlichen
Mittelpunfte mũſſen doch bei dem einen Plan ganz anders gewählt
werden, als beim andern. Wie will man fie denn fpäter ver-
jegen, da wir doch wohl feine fliegenden Kirchen und Pajlorate zu
bauen gedenfen?
U. Beitere Bemerkungen zu ben geſchichtlichen
Urfaden des Notjtandes.
Beſondere Wirkungen haben auch befondere Urſachen. Die
außerordentlich betrübende Erfdjeinung, daß das livländiſche evan-
geliſche Volt nach vierhunbertjähriger Entwiclung kirchlich nod jo
überaus ungenügend verjorgt ift, muß aud eine außerordentlich,
traurige Geſchichte Hinter jih haben. Nun, von den drei baltiſchen
Provinzen hat Livland als Lieblingsfpielball der Völker die ſchwerſte
Vergangenheit. Es wird aber in dieſem Zufammenhange erfordert,
im befonderen darzulegen, welde Schädigung das kirchliche Leben
durch die allgemeine Lage erlitt. Paſtor Rechtlich Hat den geſchicht⸗
lichen Teil nur kurz berührt, deshalb möchte ich eine etwas eins
gehendere Beleuchtung verſuchen.
Kaum war die Neformationsfirde notdürftig organifiert,
entlud ſich auf diejelbe ſchon der wilde, ſinnloſe Polenfturm.
Gottes Gnade verkürzte, wie immer, auch dieſe Zeit äußeriler
Bedrängnis, dennod) lagen icon unzählige Kirchen in Aſche und
Staub. &s folgte num die jhediiche Zeit, wahrlid) wie heller
Sonnenſchein nah dem Gewitter! Selbft feit und warm im
lutheriſchen Glauben jtehend, hatte die ſchwediſche Negierung ein
170 Zur Pfarrteifung in Sioland.
Herz für unfre Wunden. Sie begann fofort mit bem Wieber-
aufbau der zerfiörten Kirchen und Neuinftallierung ber Geiſtlichen.
Sie machte fi aber aud an den Weiterausbau der Kirche. Sie
ſchuf die Regulative und Grundgefege einerjeits, anberfeits jedoch
aud) neue Kirchen und Pfarren. Nach Buſch find in ſchwediſcher
Zeit nicht weniger als 20 Kirchen gebaut, wo früher feine waren,
und 19 Pfarrteilungen ins Wert gefeßt. Das war bamals fein
geringer Progentfag. Danach unterliegt es wohl feinem Zweifel,
daß fie es ſich angelegen fein ließ, unfre Verhältnifie nach der
eigenen, ber Norm Schwedens, zu gejtalten. Aber die gegebene
Zeit war zu kurz, um das gefegnete Werk zu vollenden, es blieb
ein begonnene. So ift denn der Grund, daß unfre kirchliche
Entwidlung zum Stillftande kam, rein hiſtoriſch betradtet
eben die Kürze der Ehmwedenregierung. Da in der
nachſchwediſchen Zeit, obwohl fie ſchon doppelt jo lang geworden,
nur 7 neue Kirchen (gegen 20) gebaut und 14 Pfarrteilungen
(gegen 19) bewirkt find (alfo nur 3'/, refp. 7 verhältnismäßig),
ift biefer Beweis wohl erbracht. Doc) ift noch manches an inneren
Gründen zu nennen. Die nachſchwediſche Zeit des 18. Jahrhunderts
fülten allgemeine Armut infolge ber vielen ſchweren Rriegsläufte,
Xeibeigenihaft und ſchließlich auch der Nationalismus, — drei
Verbündete, gegen die es menſchlich geredet fein Nuflommen gab.
Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts freilich verzogen ſich die
Wolfen rajd eine nad) ber andern. Ein neuer wirtſchaftlicher
Aufſchwung machte ſich bald bemerkbar, das Jod der Leibeigen⸗
ſchaft fiel, von ber Kanzel verſchwand die übe DVernunftpredigt
allmählich, das einzige und allein debenjpendenbe Evangelium fam
von neuem zu Ehren. Dennod) jehen wir auch dann noch nicht,
daß das filtierende Pfarevermehrungswerf mieder in Angriff
genommen wäre. Was waren die Gründe?
Ein andauernd anormaler Zuftand pflegt ſchließlich Apathie
gegen denjelben hervorzurufen. Auch bei verbeijerten Verhältnifen
dauert 8 dann meijt immer eine Zeit, ehe fih der Menſch aus
der Apathie weden läßt. Dieje allgemeine Urſache wird gewiß
auch mitgewirkt haben. Allein es zeigen fid) noch bejondere Ur—
ſachen. Auf Seiten des Volfes find es die von Paſtor Rechtlich
geltend gemachten Gründe. Gar zu wenig perſönliches Verhältnis
zum entfernten, unerreichbaren Prediger, der, wie es ſich bei
Riejengemeinden von felbjt ergibt, in die Ericheinung bes einzelnen
nur dann tritt, wenn er ihn wegen ſchwererer oder ſchwerſter
Delikte vor ſich zitiert, ein oberjter Direktor der Kirchenpolizei.
Zur Pfarrteilung in Siofand. az
Dazu ift er in den Augen bes Voltes ſchwer reich, endlich mehr
ober weniger aud) ein Frember, der wenigitens im 18. Jahrhundert
taum jeine Sprade verfteht. Es wurden ja damals die Prediger
noch meijt bireft aus dem Auslande berufen. So viel Gründe,
fo viel Grade der Erfältung gegen den Paitor im Vollsherzen.
Wahrlich, es it fein Wunder, wenn vom Bolfe feine Jnitiative
zur Baftorenvermehrung ausging, fein Wunder, wenn ein Bolt,
das nichts beileres geichen, den Fehler zu jehr in den Perfonen,
ftatt in den Inftitutionen juchte, ja noch heute teilweiſe in biejem
Irrtum befangen ift.
Allein, weshalb fehlte die Initiative zunächſt aud) auf Seiten
ber führenden Kreiſe? Meder auf dem Lundtage, nod unter den
Näcjftintereifierten, den Paftoren, ertönt ein energifcher Wedruf.
Zt es, zu Anfang wenigftens, die oben erwähnte eingetretene
Apathie? Iſt es für die Gutsbefiger aud ber Umjtand, daß fie
die Prediger, die meift rege in ihren Häuſern verkehren, perſönlich
nit vermiſſen? Sind es von außen tommende Hemmniffe, die
die Schaffensfreudigfeit lähmen? Sind es andre Pflichten und
Aufgaben, die von der Bfarrteilung abziehen? it es unfre Volts-
ſchule, die zu gründen war und tatjädlid in anbauernder Arbeit
geſchaffen wurde? Da in der Tut die livländifhe Volks—
fſchule das Lieblingsfind des 19. Jahrhunderts genannt werden
darf, ift es wohl möglich, daß ihretwegen zum ‚großen Teil der
Weiterbau an der Kirche länger aufgeihoben wurde, als es gut
war. ebenfalls ijt die Tatſache bezeichnend, daß nad) genügender
Ausgeftaltung der Schule in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
die Pfarrvermehrungsidee doch ſchließlich wieder mehr hervortritt.
63 wird der Pfarrvermehrungsfond gegründet. Mehrere Pfarr:
teilungen entwideln fih. Alfo es jdeint, daß, wenn
aud nad langem Warten, unjre Kraft doch end—
lid für das große Werk frei geworden iſt. Nad
einem Anfangsftabium der eriten zaghaften Schritte im legten
Abſchnitt des verfloffenen Jahrhunderts wird die volle Arbeit ſich
nun gewiß entfalten fönnen. Das erſte Menihenalter des neuen
Jahrhunderts wird auf kirchlichem Gebiet der Pfarrteilung in erjter
Linie gehören dürfen. Noch viele andre Webingungen jcheinen
erfüllt, mod) viele andre Keime bereits zu jprießen. Im Folgenden
wird davon mehr die Rede fein. An diejer Etelle will id) nur
mod) auf das jüngjte große firdhliche Ereignis, die uns gewährte
©laubenofreiheit hinweilen. „Laſſet uns wirken, folange es Tag iſt!“
Die näcjte Aufgabe aller aber, die für unire teure Kirche und
472 Zur Pfarrteilung in Lioland.
unfern Herrn Jeſus Chriftus wirken wollen, ift, über Mittel und
Wege zur normalen Organifation ber livländiſchen Kirche nachzu—
denfen. Es ift bie rechte Stunde! Je mehr guter Nat gelucht
wird, um fo beffer. Daher bitte ih meine nun folgenden Bemer-
tungen zur Abhilfe fachlicher Prüfung unterziehen zu wollen.
II. Weitere Bemertungen zur Abhilfe.
Paſtor Rechtlich fordert zur Abhilfe zweierlei: auf der einen
Seite größere Genügiamfeit der Paitoren, auf ber andern freie
willige Selbftbejteuerung der Gemeinden! Zunädjt ift der erftere
Wunſch nicht unberedtigt. Die verhältnismäßige Weite
unfrer Verhältniiie hat eine relative Großartigfeit unſres allge
meinen Lebenszujchnitts erzeugt. Der Ruf zu größerer Einfachheit
ift daher wohl für alle gebildeten Stände mehr oder weniger
berechtigt. Nicht zum imindeften hat er Geltung für die Land-
paftoren. Die Einzigartigfeit unfrer Pfarrwidme, verbunden mit
der ftarfen perſönlichen Beteiligung des Geiftlihen an ihrer Ver:
maltung, maden ihn nicht nur in ben Augen des Landvolkes
zum großen und reichen ‘Manne. Auch bei ganz objektiver Beur⸗
teilung behält er diefen Anſtrich und in vielen Fällen nicht ohne
folide Unterlage, denn wir haben faktiih eine Reihe über bas
Mia des Notwendigen ertledlih hinausgreifender Pfrünben.
Vorjtellungen von livländiſchen Landpfarrern mit Miniftergehältern
von 10—12,000 Rubeln entjtannmen ja natürlich der Phantafie,
aber es gibt dod ein paar Pfarren, die an 5000 Rbl. Netto
Einnahmen tragen, und eine Anzahl ſolcher, die fi um 4000
bewegen, jedenfalls zum Schaden der Gemeinden, wo es ſich um
große Kirchſpiele handelt. Freilich muß ebenfo nachdrücklich gejagt
werben, daß die Mehrzahl der Paftorate gegenwärtig nicht mehr,
als zur beſcheidenen Lebensunterhaltung gerabe nötig ift, abwirft.
Von 108 Landpfarren, über die mir bie Angaben zu gebote jtehen
— und das find fait alle —, tragen 60 weniger als 2500 Rol.
Netto ein. Diele Paftoren kämpfen fogar, fobald die Frage der
Kindererziehung an fie herantritt, mit der Eriftenz. Das Schlimme
aber it, daß aud) in ſolchen Fällen der Schein des großen Pfründen-
inhabers vielfad) bleibt. Auch in ſchwachen Pfarren gibt es häufig
größere Ländereien, aud) auf joldjen muß der Paſtor feinem aus—
gebehnten Bistum zuliebe oft 3—4 Pferde halten, wie ſoll da
das Volk ihn von jeinem beifer fituierten Nachbarn unterſcheiden?
Meines Erachtens wäre num ein Doppeltes anzujtreben, um
die Geftalt des livländiſchen Paſtors von dem Unpafjenden zu
Zur Parrteilung in Sioland. 473
befreien. Zunächft müßte allerdings bie gar zu große Ungleichheit
ber Einnahmen allmählich befeitigt werden zu gunflen eines Ein—
heitsfages, der dem gegenwärtigen Durchſchnitt nahe kommt. Über
die Art, wie das geichehen könnte, laſſe ich mid) an biefer Stelle
nicht weiter aus, Sobann mühte barauf hingewirkt werben, daß
unfer Baftor mit ber Verwaltung der Pfarrwidme
nichts mehr zu fhaffen hätte. Außer einem Landftüd
im Umfange eines kleineren Gefindes, welches durch einen Knecht,
der zugleich Kutſcher ift, bewirtichaftet werden fann, follte er nichts
in Händen haben. Alles übrige Land müßte vom Kirchſpiel jelbjt
verwaltet wenden, womit id aber nicht Tagen will, daß der Kon
vent in feiner jegigen Geitalt die pailende Gemeindevertretung
wäre. Diefe beiden Ziele müßten jtetig bis zur Erreichung ver
folgt werden. Soviel fünnte getan werden, um der (Forderung
größerer Einfachheit entgegen zu fonımen.
Was ift es num aber mit ‚der Forderung der Selbfibes
hewerung? Wir jehen jegt beutlic, dah wir zur Pfarrteitung
weit mehr bedürfen, als größere Genügſamkeit der Waftoren.
Welche Kräfte könnten da nun wirkſam gemacht werden? Iſt die
freiwillige Selbitbefteuerung der Gemeinden eine folde Kraft —
und zwar die ausihlaggebende? Cs gibt bereits viele Kicchen-
törper, die mit dieſem Mittel der Erhaltung allein ausfommen!
England, Schottland und Nordamerika jtehen hier an der Epipe,
jedoch auch unfre lutheriſchen Diafporagemeinden in Rußland haben
nit wenig durch diefes Prinzip geleiftet. Selbſt livländiſche
Städte haben von ber Not gedrängt die Selbftbeftenerung einge:
führt, und mit gutem Erfolge. Soviel ijt jedenfalls daraus zu
erjehen, da dieje Art der Kirdenerhaltung aud auf lutheriſchem
Boden möglid) ift. Nein prinzipiell betradıtet iſt die freiwillige
Selbjtbeiteuerung ber Gemeindeglieder natürlih der beite Erhals
tungsmodus. Sie jihert der Kirche die Unabhängigkeit und jtimmt
alfein zum Geifte des Neuen Tejiaments. Sonach müßte fie eines
der Entwidlungsziele aller kirchlichen Gemeinfchaften bilden.
Grundjäglid einen Zwangsbejteuerungsmodus vorziehen iſt aljo
ohne Frage vom Übel. Wenn es bei uns Anhänger desielben
gibt, mögen fie noch bedenfen, was fie von der Regierung an
Stelle unfrer bisherigen Negulative verlangen müßten, um bie
unaufidiebbare Pfarrteilung ins Leben zu rufen. Bei Verwendung
des Zuſchuſſes aus den Pfarrländereien hätte, je nad) der Größe
und Güte berfelben, eine Gemeinde von 3000 Seelen immer noch
ein jährlicheo Budget von 2000—-3000 Rol. zu bewältigen, um
4 Zur Parrteifung in Siolanb.
die Kirche und ihre Diener nebft ben Gebäuden zu erhalten. —
Glaubt man nun eine ftaatlide Zwangsbejteuerung zum Beiten
unſrer Kirche in dieſer Höhe erportieren zu fönnen? Dir aller:
dings ſcheint biefe Möglichfeit fait ausgeſchloſſen. Deshalb geſelle
id) mid nicht nur aus prinzipiellen Gründen, fondern auch wegen
praftifher Bedenken, zu denen nod) manche andere, als das
genannte fommen, den Rufern nad) der Selbftbefteuerung zu.
Gegen bie GSelbftbejteuerung wird nun in erſter Linie
angeführt werden, daß eben unfer Landvolk ganz und gar nicht
daran gewöhnt ift, etwas freiwillig für die Kivche zu tun. Paſtor
Rechtlich und id, wir jelbjt haben ja dieje Tatſache erwähnt.
Dan wird fagen: in ben deutſchen Gemeinden unſrer Städte hat
die Gewohnheit, für kirchliche Amtshandlungen größere Afzidenzien
auszuwerfen, Die Gemeindeglieder zu weitergehender Selbftbeiteuerung
gut vorbereitet. Deshalb ging es damit vorwärts, als die Not:
wendigfeit herantrat. Auf dem Lande dagegen iſt eitel ungepflügtes
Land in diefer Beziehung, was joll da wachſen? Wir leugnen
nun, wie erjichtlid, teineswegs, daß unfer Landvolk hierin noch
ungepflügtem Lande gleicht. Es wird darum gewiß mehr oder
weniger Zeit und Geduld erforberlid fein, um bie Grasbede
mürbe zu maden. Das joll uns aber nicht von der Arbeit ab
halten, wenn wir anders nur nit überhaupt an unfrem Volke
verzweifeln müjlen. Hiezu ift aber ganz entidieden feine Veran
lafjung! Gewiß haben aud) die Ejten und Ketten ihre großen
und kleinen Fehler, allein wer wollte behaupten, daß fie feine
entwidlungsfähige Race wären? Gerade die Gegenwart überzeugt
uns vom Gegenteil. Wird ber gährende Moſt aud) mandesmal
unbequem, fo zeugt er doch von werbendem Wein. Iſt aber ber
Betätigungstrieb auf allen Gebieten erwacht, darf mit Sicherheit
angenommen werben, daß ebenfalls ber Trieb zur kirchlichen Aktie
vität ſchon lebendig geworden ift. Die rege Beihäftigung der
nationalen Preſſe mit den einichlägigen Fragen bejtätigt dieſe
Annahme ohne weiteres. Es müſſen nur die Hinderniſſe hinweg:
geräumt werden, dann wird der Trieb hervorbrechen und es wäre
dod) jammerſchade, wenn wir gerade die Zeit des jungen Triebes
für die kirchliche Selbjterhaltung ungenügt vorübergehen ließen.
Das Haupthindernis, das vor allem abgeidafft
werden muß, ift die Niejengemeinde ſelbſt. Sie üt
gegenwärtig der Hauptfaftor zur Erftidung des aktiven Gemeinde
lebens. Sie läßt fein Gemeindebewußtjein, fein perfönlices Ver—
hältnis zum Paſtor auffommen — die Grundbedingungen der
Zur Pfarrteilung in Livland. 476
Selbfterhaltungswilligfeit. Die Teilung hat dieſe letztere zur
Vorausfegung, aber fie fördert dieſe ebenfo fehr. Ferner wird
eine den Verhältnifien und der Aufgabe entiprediende Gemeinde:
organifation nad) erprobten Mujtern als andre Stüge ber Selbit-
bejtimmung zu ſuchen fein. Selbitverfiändlid) werben wir in
mandem wohl aud ein Übergangsftabium durchzumachen haben.
Wo zum Beilpiel die Wirte durdy die alten Negulative ſiark
belajtet find, wird man, folange dieſe noch gelten, mehr oder
weniger nur bie Gemeindeglieder zur Selbitbeiteuerung heran:
ziehen, welche nicht Wirte find. Es wird alfo Altes und Neues
zunãchſt noch nebeneinander bejtehen. Das ſchadet nichts! Uner—
läßlich iſt nur, daß allen erwachſenen und felbjtändigen
Gemeindegliedern ihre Pflicht, an der kirchlichen Unterhaltung
teilzunehmen, nahe gebracht wird. Freilich werben dann ebenfalls
aud) die Rechte allmählid) ſich etwas verſchieben.
Wenn id) fomit der Selbtbejtenerung entſchieden das Wort
geredet habe und von ihr Vedeutendes erwarte, fann ich dennoch,
nicht an dieſem Punkte ſchon ftchen bleiben. Ich glaube, daß
bieje beiden Mittel — relative Genügſamkeit der Paſtoren und
Selbjtbefteuerung — die Anſprüche zunädit doch nidt
voll befriedigen werden. Für ein Deal, wie in Schott:
fand, wo fattiih die Selbjtbefteuerung alles macht und zwar in
fait (ururiöjer Weiſe, wird eine Landesfirche, die zum erften Dial
in dieſer Hinſicht ſich movieren will, nod nicht reif fein. Um fo
weniger dürfen wir folde janguiniide Hoffnungen hegen, als bei
uns nicht nur Erhaltung des Beſtehenden, fondern durch die all
meine Teilungsnotwendigfeit geradezu Gründungsarbeit in Frage
fommt. Unjre Yufgabe iſt nit nur ungewohnt, fondern
auch ungewöhnlid!
Deshalb bin ich ber Überzeugung, daß vorerjt für eine jede
alte wie neu zu gründende Pfarre ein gewifjes Firum der
Einnahmen unerläßlic jein wird. Das Fehlende nur wird
von der Selbfibejteuerung erwartet werden dürfen. Wenn id nun
danach Umſchau halte, woher dieje für uns unumgänglich ſcheinende
Ergänzung hernehmen, glaube id) zu jehen, daß Gott aud) dafür
gejorgt hat. Wie es Gottes Zeitung ift, dah die Fühigfeit der
Gemeinde zur Selbittätigfeit ſich undemerft vorbereitet hat, erblide
ich auch darin Gottes Fürjorge, da er uns ein bedeutendes
Kirdenvermögen für diefe Tage erhalten hat. Das ift aber
nun wiederum unjre mit andern Ländern verglichene unverhältniss
mäßig große Pfarrwidme. Hat dieſe und die Art ihrer Verwal:
476 Zur Pfarrteifung in Siolanb.
tung im Verlauf der Geſchichte auch einigen Schaden gebracht,
erſcheint fie jegt bod) wiederum als rettende Yand, denn id; meine
mit Nechtlich, daß wenn auch nicht anders, fo doch bei Neubefegung
zu großer Pfarren, bie Einfünfte aus den Ländereien als ein
grunblegendes Firum unter foviel Paftoren, als notwendig find,
verteilt werben fünnten. Das Kirchſpiel beruft in dem Falle eben
gleich mehrere Paſtoren. Es fagt einem jeden Prebiger den auf
ihn entfallenden Anteil des Pfarrwidmenertrages als feites Gehalt
zu, ebenſo die Intraden eines bei jedem Paftorate befindlichen
tleineren Grundftüdes plus Wohnung. Gleichzeitig organifiert bas
Kirchſpiel aus eigener Initiative die Selbftbejteuerung und verweiſt
die anzuitellenden Geiftlihen für ihre weiteren Bebürfniffe auf
diefe. Iſt jo der Untergalt der verfdiebenen Pajtoren einigermaßen
gefiert, fönnen fie fofort ihre Tätigkeit beginnen. Mögen auch
nicht alle von ihnen gleich zu Anfang ein eigenes Paitorat und
Kirche befigen, eine etwas hergerichtete Mietwohnung oder ein
Schul⸗ oder Bethaus tun es für die erfte Zeit ebenfalls. Es sieht
eben ferner ganz feit, daß eine Gemeinde normaler Größe, wenn
fie fid) erft daran gewöhnt hat, einen eigenen Paſtor zu haben
und zu erhalten, nicht früher ruhen wird, als bis auch die eigene
Kirche nebſt Paitorat entitanden ift. Wo der Paftor feiten Fuß
gefaßt hat, kommt das Übrige wohl fpäteftens in einem Menſchen-
alter von jelbft, während das Umgefehrte durdaus nicht Regel üt.
Mo eine Filialfirhe erbaut ijt, verlangt die Gemeinde deshalb
noch lange nicht Paftorat und eigenen Prediger, quod exempla
docent! Wie viele Filialen gibt es nicht bei uns feit Jahrhun—
derten, die nicht die geringften Anftrengungen in biefer Richtung
gemacht haben. Iſt man erſt geordneter pajtoraler Pflege ent-
wöhnt, geht es auch fo: bloß Filiale, blog Stieftind zu fein.
Man iſt dann ſchon zu abgeftumpft, um biefes recht zu empfinden.
Darum glaube id, daß bei fommenden Pfarrteilungen gerade die
alten Filialen trog ber vorhandenen Gebäude mehr Schwierigkeiten
bieten werben, als völlige Neugründungen. Ganz ohne Beweiſe
Scheint dieſe Meinung auch nicht mehr bazujtehen. Deshalb ift
fiher, daß es die Sache vom verkehrten Ende anfallen hieße, wenn
man aud in Zukunft bei Einrichtung neuer Pfarren in erſter
Linie nad Kirche und Paftorat rufen würde, in ber Dleinung,
vor Sicherſtellung diefer garnicht an die Teilung gehen zu dürfen.
Auf diefem Wege würde die Sache überhaupt meift ad calendas
graecas vertagt werben, weil ſich gleich im Beginn der Unter:
nehmer die Verzagtheit bemädjtigen würde. Biel mehr Mut wird
Zur Pfarrteilung in Lioland. 477
man beweiſen, wenn die ſchier unerreichbar erfcheinenden Pflichten
als unaufichiebbare gelten. Man beginnt dann in guter Zuverficht
mit dem Leichteren zuerſt, und fiehe, burd Gottes Gnabe wird
Später auch das Unmögliche möglich! Die ſchottiſche Freikirche iſt
durchweg ſo gegründet worden, daß zuerſt nur die Paſtoren da
waren. Später erſt erwuchſen dem jept fruchtbar gemochten Boden
bie Paſtorate und Kirchen und dieſes Wahstum war ein wunderbar
fröhliches.
Wir müfen nun von dieſem notwendigen Seitenjprung
wieder auf den Weg zurüdtommen. Cs war von ber Verteilung
ber Widmeneinkünfte als Fira für die einzelnen Prediger die Rede.
Diejes erſchien als erfie Grundlage der Pfarrteilung unvermeidlich.
Deshalb muß dieſes Fundament auch ftarf genug jein, d. h. ich
meine ein jebes Firum dürfte nicht weniger als 1000— 1200 Rbl.
betragen, außer Wohnung und dem felbftbewirticafteten Gejinde.
Es müßte aljo, wenn die Teilung vor ſich gehen joll, die Widme
wenigſtens fo viele Taujende aufzubringen imftande jein, als dus
Kirchſpiel Beiftlihe braucht. Diejes Ziel muß irgendwie erreicht
werben.
Am Ziele, oder ganz nahe dabei, befinden fich bereits 22
teilungsbedürftige Gemeinden unfres Landes ohne Dejel, das ilt,
da nur die Kiefengemeinden mitzählen, fajt der vierte Teil. Eine
weitere Neihe von Pfarren hat annähernd das Erforderliche, doch
viele find auch nod) weit, manche jehr weit dahinten. Wie fönnten
womöglich alle auf die Norm gebracht werden? Es gibt, jo viel
ich fehe, zwei Wege, die dahin führen, und jeder muß betreten
werden. Der eine heit „zeitgemäße Vlelioration der
Pfarrländereien!“ Für dieſen Gedanfen ift auch Pajlor
Warres:Wendau im verfloffenen Jahr auf der Provinzialſynode
eingetreten. Das Zeichen „Melioration“ iſt über dem ganzen
Lande aufgegangen. Man wird es deshalb grunbjäglich nicht
befremdlich finden, wenn die Korderung auch für Paſtorale aus:
geſprochen wird, um jo weniger, als a priori anzunehmen, daß
bier in dieſer Beziehung noch weniger geſchehen ift, als auf Gütern.
Ein kurzer Hinweis wird für legteres den Beweis liefern.
Wenn in einem jo Meinen Yande, wie Livland, die Menge
des Neinertrages von der Xofjtelle des Gejamtarcals zwiſchen
50 Kop. und 5 Nbl. ſchwankt, obwohl die Pacht pro Lofitelle Feld
nur geringe Abweichungen aufweift, iſt co unmöglid, das nur auf
günftigere oder ungünſtigere landwirtfchaftlide Lage zu ſchieben;
es muß hier auch die bejfere oder ſchlechtere Ausnuzung des Landes
478 Zur Pforrteilung in Lioland.
eine bedeutende Rolle jpielen. Die nähere Beichäftigung mit der
Art der Landverteilung und «behandlung auf unfren verſchiedenen
Paſtoraten bejlätigt bieje Annahme.
Unfer liegendes Kapital ift alio durch rationelle Behanpl:
des Bodens vergrößerungsfähig. In welchem Maße dieſes zu
Läßt ſich natürlich nicht für jeden Drt genau vorher beftimmen,
nur im allgemeinen fcheint gewiß, daß durd die Melio—
ration viele neue Pfarren als teilungsfähige
zu ben bisherigen hinzufommen würden. Es muß
daher zunächſt dafür geforgt werden, daß die einzelnen Wibmen
von pajjenden Kommilfionen auf ihre Dieliorationsfähigfeit genau
unterſucht werden, die zweite Frage wird dann die Art der Melios
rierung bilden.
Allein, gejegt nun aud den Fall, daß alle livländiſchen
Paftorate wefentlich zu verbeifern wären, was gewiß nicht zutreffen
wird, wäre ein Verſuch zur Pfarrteilung immer noch nicht allent-
halben möglich. Cs find eben unfre Bfarrländer dod gar
zu ungleihmäßig. Es gibt nidt nur große, ſondern auch
ganz Heine Widmen. Die größeite befipt an Hofesland, das ju
für die Melioration in erfter Linie in Betracht kommt, gegen
3000 liol. Zofitellen. Daneben aber ftehen ſolche, die ſich in den
eujten Hunbertern bewegen, einige find aud) ganz ohne Hofsland.
Ebenſolche Verichiedenheiten zeigt das Bauerland. Die geringen
Widmen finden fi nun häufig gerade in den großen und größten
Kirchſpielen. Es liegt auf der Hand, daß hier feine Melioration
etwas für die Pfarrteilung austragen wird. Hier hilft nur ein
einziges Mittel, und weil es das einzige iſt, kann es nicht unge
mannt bleiben. Es it die Vergrößerung der unger
nügenden Widmen.
Man möge über diefen Ausſpruch nicht erichreden. Damals
in der erjlen Gründungszeit haben ſich hochherzige Perſonen zu
vielfach wirklich bedeutenden Landjtiftungen bereit finden laſſen.
Die Gründungsarbeit ift dann aber durch die Ungunft der Vers
hältniffe unterbrochen worden. Jept joll und fann fie fortgeführt
und beendet werden. Dazu gehört dann doc) auch die Fortführung
und Beendigung damals unvollendet gebliebene Landichenfungen,
damit fid) der Landbefig der Kirchſpiele doch wenigitens annähernd
ausgleide. Die gar zu große Ungleichheit desjelben ift eben ein
bedeutendes Übel und Hindernis. Aber. wird man hierauf viel-
leicht evwi, „Was bedeutete Land damals und was iſt es jetzt?“
Gewiß. Iſt aber der Wert des Landes jept nicht ein viel höherer,
ig
Hur Porrtelfung in Siofand. 479
hat das Land eben aud für bie Kirche einen entſprechend höheren
Wert. in Meineres Landſtück bietet ihr jegt basfelbe, mic ein
um fo größeres damals. Hielt man damals in mander Parodie
eine Stiftung von Taufenden Lofftellen für nötig, werben wir
jegt mit Hunderten ausfommen. — Und nod ein weiterer Um-
ftand, der heutige Schenkungen weſentlich erleichtert! Damals im
Anfange der Gründung wollten ſich die Stifter das Patronatsrecht
refervieren. Deshalb mußten fie die ganze Stiftung auf bie
eigene Schulter nehmen. Neue Patronate erftrebt jegt wohl nie-
mand, es ijt deshalb nicht mehr erſte Vorausfegung, daß bie
Kirchenländereien in den Grenzen eines einzigen Gutes belegen
find. Einem jedem Gute des Kirchipiels wäre es heute unber
nommen, ihre noch ungenügende Widme ergänzen zu helfen.
Der im legten Abſchnitt ausgeſprochene Gedanke kommt
gewiß unvermittelt, bennod wird man, das darüber Geſagte
zufammenhaltend, wohl einiehen, daß er fein phantajtiicher ift.
Sit er aber im Plane des Ganzen gleich notwendig, wie zeitgemäß
zugelpigt, wird er nicht in Dunſt vergehen. Gott wird auch
biefem Geſtalt und Wirklicfeit geben, da er für feine Kirche
gewiß neue Liebe und Opferfinn wirken wird.
Damit hätte ich nun in der Hauptſache auch alles gefagt,
worin meiner Überzeugung nad) die Möglichfeiten unjrer Pfarr:
teilung ſchlummern — in dem allmähliden Breden
mit dem Pfründenjgitem, in der freimwilligen
Selbfibeitenerung ber Gemeinden, in ber Melio—
ration ber Pfarrländereien und in ber Vergrör
Berung ber ungenügenden Widmen.
Zum Schluß noch einige Worte über unſre hierher gehörigen
NRaffen. Es find das „die Unterſtühungskaſſe für die evang.-luther
riſchen Gemeinden Rußlands“ und der „Bfarrvermehrungsfond”, der
zwar aud) von den Bezirksfomitees der erfteren verwaltet wird, aber
von ihr doch völlig gefondert ift. Zunächft möchte ich bemeifen,
daß die Unterftügungsfafie ſelbſt für unire Pfarrteilung nur wenig
in Betracht fommt. Infolge der Beitimmung, daß die Hälfte
ihrer Einnahmen dem Zentralfomitee in St. Petersburg zuiteht,
iſt es eo ipso ſchon feine Landeskaſſe. Bei unfern Landgemeinden
iſt fie auch durchaus nicht als ſolche, jondern nur als Untere
flügungsfaiie für arme fettiiche und eftnijche Gemeinder der Dia:
fvora populär. Darum dürfen die nad Petersburg gelangten
Gelder garnicht anders als für die Diajpora Verwendung finden.
Wir dürfen fie eigentlich unter feinen Umſtänden für unfre eigenen
40 Bur Poreteifung in Riofand.
Bedürfniſſe zurüctverlangen, wie das vielfach geſchehen ift, mit der
uns rechtlich gehörenden Hälfte ift aber jo wenig anzufangen, daß
es bei einer jo großen Frage, wie ber livländiſchen Pfarrteilung,
nicht mitfpricht. Für diefen Zweck braudjen wir eine Kaſſe, bie
eigens bafür vorhanden ift; bas ift num allein ber Pfarr—
teilungsfond, nur diefer wird daher eine Rolle fpielen. Cs
fragt fi nur, melde ihm zugeteilt werden fol. Sch meine feines:
falls biefe, ein Niefenfapital zu gründen, aus deſſen Zinfen dann
bie ganze livländiſche Kirche zu erhalten wäre. Das wäre ein
ganz verfehltes Unterfangen; ich Nüge wieder Paſtor Rechtlichs
Gedanken. Hälte ein grokes Kapital unfrer Kirche Rettung und
Ruheliſſen werben joflen, wäre ber Anfang mit bem Sammeln
mindeftens vor einem Jahrhundert zu machen gewejen. Sept, wo
das Feuer ſchon ans allen Offnungen hervorſchiägt, ift es zu fpät
für Feuerlöſchmittel zu folleftieren. Das Haus iſt längſt nieber-
gebrannt, ehe bie Kollefte reicht. Kapitalien wachſen allerdings
Schließlich ins Rieſenhafte, aber es ift ein jehr fpäter Termin, wo
dieſes Tempo einjegt. Auch ijt das Interejle für Nolleften, die
erit Kindern und Sindesfindern zugute fommen follen, ohnehin
viel zu gering, um etwas Großes hervorzubringen. Die Rettung
brächte dann eben nur die Zeit, die endlos lange Zeit, die auch
einen Kopefen zuguterlegt zu Millionen macht. Da jedoch eine
folche Rettung für uns feine wäre, ſpreche id) mich unbedenllich
gegen alle Verſuche aus, die die Kapitaliſierung der Pfarrteilungss
faile fo zur Daupthoffnung bei unfrer Aufgabe madjen wollen.
Die Hauptpfeifer der Pfarrteilung bleiben bie Hiftorifd) gegebenen:
Melioration ber Widmen, Vergrößerung der ungenügenden Widmen,
Selbitbeiteuerung! Die Kaſſe hal nur ergänzende Arbeit. Cie
muß zunädjt für die Fälle eintreten, wo der eine ober ber andre
dieſer Faktoren trop aller Mühe durch irgend welche Umftände nicht
zur Wirkung gelangen faun und doch Teilung unerläßlid) üt.
Es wäre zweitens jchön, wenn fie aud bei Paſtorats- und Kirchen-
bauten eine Beihilfe zu bieten vermöchte. Es wäre jomit alters
dings wünjhenswert, wenn ih Beltand um das Zehnfache erhöht
würde, denn das gegenwärtige Kapital von 100,000 Nbl., oder
etwas darüber, bedeutet für ein ganzes Land und die geſchiidetien
Aufgaben doch gar zu wenig. Ich erkläre mich deshalb wohl ein-
verjtanden, wenn als Cinleitungsuftiva für die ganze Pfarrteis
hungsarbeit eine allgemeine Sammlung mit einem derartigen Ziele
vorgenommen würde. Es wäre das freilich aud ſchon ein hoch—
geitedies, allein ſcheut man ſich vor diefem, wie mag man dann
Zur Pfarrteilung in Siofand. 481
an bie Aufbringung des Hundertfachen denken, mas für bie
gefamte Pfarrteilung, wenn man von ben oben vorgeichlagenen
Dingen abfieht, wohl aufginge. Das mag ſich ein jeber nad
rechnen.
Und nun fomme bes Herrn Kraft über unfre Meinungen
und Gebanfen, über unfre Entfhlüffe und Taten, dann wird ſich
alles Mären und alles machen. Vor feiner Stärke iſt auch das
Große und Unerhörte ein Rleines, ja nur eine feine Kraft bes
Allmäctigen genügt für das Allerhöchſte. Unjre livländiichen
Kirchen haben in letztes Zeit Unglaubliches, ja faft Einzigartiges
erlitten. Sollte diejes vorzeitige Anticriftentum an Heiliger Stätte
nicht ein neuer Stachel für uns werben, dafür Sorge zu tragen,
daß unfre Völker die ewigen Güter ber Kirche in bem Maße
genießen Fönnten, wie die übrige evangelifhe Welt?
—
Baltifche Monatafchift 1908, Helt 6. 3
a3 lettiſche Boltslied*,
—
jie lettiſchen Vollslieder find größtenteils ein Erbe aus
5 grauer Vergangenheit. Von Mund zu Mund, von
Geſchlecht zu Geichleht übertragen, haben fie fi bis
zum heutigen Tage erhalten. An gelehrten Männern, die dem
Gebäghtnis ſchriftlich Hätten zuhülfe fommen fönnen, mangelte es
unfrem Wolfe, und erft in fpäteren, neueren Zeiten begannen
Männer andrer Nationalität ſich für das Volfslied fremder Völfer
zu intereffieren. Man hat daher allen Grund anzunehmen, daß
viele Voltsgefänge, namentlich zu der Zeit, ba der Übergang vom
Heibentum zum Chriftentum ftattfand, verloren gegangen find.
Danach ift unfer ererbter Lieberfchag ein fo großer, wie ihn nur
jelten ein anbres Volk hat.
Die erften als ſprachliche Beiſpiele gebrudten Volfslieberchen
finden fi) in der lettifhen Grammatif des alten Stender
(Braunjhweig 1761). Ein lebhaftes und erfolgreiches Sammeln
der lettiihen Volkslieder beginnt mit dem 19. Jahrhundert. Da
find ehrenvoll zu erwähnen Guftan v. Bergmann, Paitor zu
Rufen, der zwei Sammlungen „Lett. Sinn: und Stegreifs Gedichte“
(1807 und 1808) erfcheinen ließ, und Sr. Daniel Wahr, Paſtor
zu Palzmar, der im Jahre 1807 eine Sammlung Palzmarſcher
Lieber herausgab. Erft 36 Jahre jpäter (Mitau 1843) erfchien nach
obigen Meinen und nur in wenigen Erempfaren herausgegebenen
*) Nachftehende Abhandlung bildet. eine teils mehr ober meniger freie
und verfürzte Miedergabe, teils wörtliche Überfegung der Einleitung, die
Chr. Baron zu der von ihm und 9. Wiffendorff herausgegebenen,
urtmehe in zwei Bänden fertig vorliegenden monumentalen Sammfung Ictifcher
Volfslieder, „Latwju dainos“ (Mita 1804 f.) geldrieben at. Rad dem Urteil
von Rafter Dr. X. Bielenftein in feiner Selbftbiographie (3. 339) it «8 das
Befte, a8 über das Tettifhe Volfstieh gefcpricben worden ift. Die Ned.
Das lettifche Vollslied. 483
Sammlungen das hochbebeutjame Werk des Paitors Büttner
zu Rabillen unter dem Titel: „Latweeſchu lauſchu bjeefmas un
finges.” Es enthält 2854, in allen Gauen Leitlands gejummelte
Lieder, und Paftor Büttner ftellt fih als ein verftänbnisvoller
Kenner, Beurteiler und Ordner dar. Auch in ſprachlicher Hinficht
Tann man ſich auf feine Terte vollftändig verlajien. Das alles
bat er freilich nicht allein erreicht; fein Hauptmitarbeiter war
Ulmann, Paſtor zu Gremon, der jpätere Profefior und Neftor
in Dorpat. Schon feit bem Jahre 1830 fammelte lepterer Volfs-
lieber, regte auch andre dazu an und übermittelte das Gefammelte
ben Händen Büttners, ber übrigens nur die Hälfte davon in fein
Bud) aufnahm. Die andre blieb als Manuffript liegen. Büttner
hatte vor allen Dingen das deutſche Publifum im Auge und
berücfjichtigte daher viele Lieder nicht, die für bie Letten felbit
und die Sprachforſcher von Bedeutung gewejen wären. — Nach
diefer bedeutfamen Arbeit Büttners trat ein längerer Stilljtand ein.
Nur Paſtor Bielenſtein, der chrenvoll befannte Erforicher der
fettiihen Sprade und Ethnographie, hörte nit auf im ftillen
lettiſche Lieder zu ſammeln.
Endlich fam die Zeit, da die Letten ſelbſt Hand ans nationale
Werk zu legen begannen. Die erfle Anregung dazu gab ber un-
vergeßlihe Chr. Waldemar in ben bamaligen „Peterburgas
Awiſes“ und als erfte Sammler betätigten ſich, wenngleih in
beichränften Grenzen, Neumann, der eine Sammlung Suͤhrsſcher
Lieder druden ließ, ımd Spobgis, ber in Wilna eine Samm:
fung aus der Stockmannshofſchen Gegend herausgab. Neue Anz
tegung brachte die große eihnographiſche Ausftellung in Moskau
im 3. 1867. Mit Feuereifer machte fid) an die Arbeit Brih w—
Temneefs (Treuland), der als Mitglied der kaiſerlichen natur
wiſſenſchaftlichen, anthropologiſchen und ethnographiſchen Geſellſchaft
Lettland bereiſte, manche Landbewohner auch zum Sammeln an—
ſpornte, und als Frucht ſeiner Bemühungen wurde ein ſchönes
Buch, welches 1118 Volkolieder enthielt, von obiger Gefellfchaft
herausgegeben. (Es erichien in ruſſiſchen Lettern, mit ruſſiſcher
Überfepung und mit ruffiichen Erklärungen. — Im 9. 1874
faßte die Lettiſch-literariſche Geſellſchaft den Beſchluß,
zum Gedächtnis ihres 5ojährigen Beſtehens cine neue Sammlung
herauszugeben, in die die von Paftor Vielenftein wie auch von
484 Das letilſche Vollslied.
Büttner geſammelten Lieder Aufnahme finden ſollten. Sie war
auf vier Hefle mit 9—10,000 Liedern berechnet; es erſchienen
jebod leider nur zwei (1874 und 1875) mit 4793 Liedern. Alle
obigen Sammlungen aber drangen, da es an billigen Ausgaben
fehlte, wenig ins lettifche Publitum und bie jüngere Generation
entfrembete fi) mehr und mehr den fchönen Volfsliebern. Seichle
Überfegungen aus fremden Literaturen ober nad) fremdem Mufter
verfertigte Gedichte verdarben mehr und mehr deren Geihmad.
In Berüdfihtigung deſſen regte im Jahre 1878 wiederum
Waldemar in Moskau und mit ihm Brihwſemneeks eine Neu:
befebung bes lettiſchen Vollsliedes an. Sie brachten Gelbopfer
dar zur Herausgabe eines Buches, weldes die ſchönſten, für das
größere Publitum pailendfien Lieder enthalten follte. Wenn es
zur Ausführung dieſes Vorhabens aud nicht fam, fo war doch
das Interefje dafür von neuem angefadht worden und biefes erwies
fih in dem Sammeleifer, der jih in allen Schichten ber Bevöl—
ferung bemerfbar machte. Bon allen Seiten jtrömten Liederfamm:
lungen ben Herren Baron und Brihwſemneeks zu, das Material
wuchs riefengroß an unb mit ber Abſchrift und vorbereitenden
Arbeiten verging manches Jahr. Als fi) beim Rigaſchen lettiſchen
Verein eine wiſſenſchaftliche Kommiſſion und beim Neuen lettiſchen
Verein eine Abteilung für Literatur gebildet hatten, nahmen fih
biefe der Sache an und allmählich und ganz naturgemäß wurben
fie die Zentralftellen für die Sammlung, Bearbeitung und Heraus:
gabe des Materials. Hauptfächlid, aber hatten fie nod) zu fammeln,
und als einziges Werk, welches das Publitum erfreute, erſchien in
jener Zeit der ſchöne Liederkranz, gewunden vom jtrebfamen Wolfe
genofien Aronu Matiſs, welchen er zum dritten Sängerfeit dem
lettiſchen Volle darbrachte („Diuhfu tautas dfeefmas”, Riga 1888).
Mit Weglaffung mander, wenn auch intereſſanter Einzel
beiten, ſei endlich des wichtigen Umftandes gedacht, der die Heraus:
gabe des gewaltigen geſammelten Materials ermöglichte. Im
Januar 1892 überrafchte mich (Baron) nämlich ein freundliches
Schreiben des Herrn Wiſſendorff in Petersburg, der mir feine
Beihilfe bei ber Herausgabe anbot und damit bie finanziellen
Schwierigkeiten bejeitigte. Zugleich überlichen die wiſſenſchaftliche
Kommiffion und die Literaturableilung mir ihre reihen Samms
lungen. Nachdem Herr Wiſſendorff noch) die feinigen, gejammelt
Das lettifhe Vollslich. 485
von den von ihm ausgejandten Reiſenden Ludis und Robert Behrfin,
mir übermadt hatte, ftanden mir zur Verfügung über 150,000
Lieder, unter denen ſich freilich viele Barianten und Wiederholungen
befinden, die jedoch, gejammelt in ben veridhiebenjten Gegenden,
bes ſprachlichen Intereſſes nicht entbehren. Ausgeſchieden wurden
bei der Herausgabe nur Lieder anjtögigen Inhalts, wie fie zuweilen
bei Hochzeitsfeiern und zu Johannis gejungen wurden, Lieder, die
nicht den Stempel der Echlheit tragen und endlid) die weit ver-
breiteten ſenlimentalen deutichen Lieder und Romanzen in ſchlechter
lettiſcher Überjegung, wie fie unſre Sanbichönen von ben deutſchen
Jungfern in den Höfen, dazu angereist durch bie bejonderen,
neuen Dielodien, ins Volk gebracht Haben.
* *
*
Aus dem oben Gefagten geht hervor, daß wir ſchon im
Beſitz mehrerer Liederſammlungen find. Eine jede geht von einem
bejtimmten Gefihtspunft aus, hat ein befonderes Ziel; eine jede
bat daher aud) ihre befondere Ordnung und Einteilung. Das
bezieht ſich freilid noch nicht auf die von Stender, Bergmann und
Wahr gejammelten Lieber, denn erflerer nahm, wie ſchon früher
bemerft worden, nur einzelne in feine Grammatif als ſprachliche
Veiſpiele auf, leptere verfügten nod) über ein zu Meines Material,
um an irgend eine Einteilung gehen zu fönnen. Sie nahmen in
ihre Sammlungen Xieber auf, wo und wann fie fie fanden, ohne
irgend einen Plan dabei zu verfolgen.
Büttner, im Befig eines recht großen Liederſchahes, iſt
ber erjle, der nad) einem bejtimmten Plan arbeitete. Sein Haupt:
augenmerf war, das deutſche Publifum mit dem bis bahin wenig
befannten lettiſchen Volfslicde, deijen Geijt, Cigentümlicjfeiten und
Schönheiten vertraut zu machen; als zweites Ziel ſchwebte ihm
vor, den Sprachforicern einen reinen lettiihen Sprachquell zu
eröffnen; als drittes endlich, den Leiten jelbft den nad) feiner
Meinung einzigen geiftigen Schab, der durd die Ungunft der
Zeiten verloren zu gehen drohte, zu erhalten. Schon zu feiner
‚Zeit fei an vielen Orten das Volfslied faſt ganz verftummt. Die
Erreichung auch diejes noch nicht jehr weit geitedten Zieles war
feine leichte. Einerſeits fand jo mundes Lied, das für den
186 Das leiiſche Vollslied.
Sprachforſcher von Bedeutung geweſen wäre, keine Aufnahme, weil
es nicht dem Geſchmack der deutſchen Leſer entſprochen hätte,
anderſeits trat auch wieder das Entgegengeſetzte ein, d. h. den
Sprachforſchern zuliebe wurden Lieder aufgenommen, die die Leſer
langweilten oder zurückſchreckten. Da Büttner ſein Hauptziel, das
Intereſſe der Deutſchen für das lettiſche Volkslied zu erwecken,
nicht aus dem Auge ließ, ſo ordnete er die Lieder nicht nach
dem Inhalt, ſondern brachte Die ſchönſten in bunter Reihe.
Eine Ordnung wurde nur eingehalten je nad) der Gegend, aus
der fie ftammten, und wenn aus einer eine veihere Sammlung
eingefandt worden war, wurden die Lieder auch nad) dem Inhalt,
Tauf:, Hochzeits:, Begräbnislieder 2c., zufammengeftellt. Jedenfalls
hat Büttner feinen Zweck erreicht. Er hat es verflanden die
ſchönſten Lieder auszuwählen und feine Sammlung macht noch
immer den allerbeiten Eindrud. Zu bedauern iſt, dab ein großer
Teil jeines Manuffripts, weil jeinen Abfichten nicht entipredhend,
nicht gedrudt worden und daher wohl verloren gegangen ift.
Nach Büttner ift der erſte Vearbeiter und Ordner der let:
tiſchen Volfslieder Sprogis, der ein umfangreiches, ſtreng abge:
grenztes Rlaffififationsiyftem in 5 großen Abteilungen mit Kleineren
Unterabteilungen zufammengeftellt hat. Aber es ift leichter ein
Orbnungsinftem mit genauen Unterabteilungen hinzuftellen, als die
eigenfinnigen Lieder in fie einzufügen. So finden fid) in den drei
eriten Abteilungen Lieder, die in ganz andere hineingehören, und
forſchen wir nad den Gründen, warum fie nicht mit dem Klaſſi—
fifationsfyftem übereinftimmen, warum Begriffe wie Eiche und
Linde, Habicht und Nebhuhn, die in dem Liede erwähnt werden,
dennoch deffen Überjhriften nicht jein dürfen, fo find fie nicht
fchwer zu finden. Sie bilden eben nicht den eigentlichen Juhalt
des Xiedes, fondern dienen bloß zur dichterifhen Vergleichung, als
poetijches Bild. Das eigentliche Objekt, das befungen wird, ift
der Menfch in irgend einer Lebenslage. Lieder, die ganz eigentlich
die Natur zum Objekt haben, find fehr gering an Zahl, und aud
diefe mußten andern Abteilungen, 5. B. den Kinder: und Wiegen:
liedern, den Fabel: und Hirtengedichten eingefügt werben.
Um Mißverſtändniſſen vorzubeugen, müſſen an diefem Orte
jedoch noch einige Worte gejagt werben. Tatſache it, daß in den
lettiſhen Voltaliedern bie Natur und ihr Leben, die verihiedenen
Tas lettiiche Voltslied. 47
Naturereigniife fo verftändnisvoll und darafteriftiich geſchildert
werben, daß bie Lieber aud) gerade in diefer Hinfiht würdig
eriheinen, als Hilfsmittel zur Erforſchung des Volfsgeiftes zu
dienen. Aber das iſt eine bejondere Aufgabe. Wer die Anſchau—
ungen ber Zeiten über die Natur ergründen will, welde Eigen
ichaften fie dieſem ober jenem Tier, diejem ober jenem Baum
zugeſchrieben, wie fie deren Natur und Wefen mit der menſchlichen
Natur und dem menjhlihen Sinn in Zufammenhang und Bezug
gebracht haben, welchen Eindrud die Natur auf fie gemacht hat,
der muß zu dieſem Ziwed fid) das nötige Material ganz befonders
zufammenfuden. Finden wird er es reichlich, wenn aud als
Nebenſache erwähnt in einem Liede, welches ganz eigentlich ein
Tauf⸗, Hochzeits-, Beerdigungs: uſw. Lied it. Und vergeblich,
wird dieſe Arbeit für den Forſcher auch nicht fein, benn fie wird
ihn ſehr fördern in dem rechten Verftändnis ber Lieder, in ber
Würdigung des Zujammenhanges, den fie mit dem Bolfsleben
gehabt haben. Ähnliches läßt ſich von den mythologiſchen Liedern
fügen. Auch jie find durchaus nicht jo felbftändig und von dem
Leben der Leute unabhängig, daß fie fid) leicht von andern Liedern
ablöſen und in eine befondere Abteilung bringen ließen. Außer
einigen einigermaßen felbftändigen Liedern, die auf Sonne, Mond,
Götterföhne, Sonnentöchter Bezug haben, gehören in biejelbe
Kategorie, die mythologiſchen, auch verichiedene Feier- und Feitlieder,
Lieder, die an Ehrentagen wie bei der Arbeit gelungen wurden.
Desgleihen finden ſich viele Luime- (Diahra) Lieder zerftreut in
allen andern Abteilungen, in welche fie aud) naturgemäß mehr
hineingehören. Der Ordner einer Liederfammlung fann daher
den Erforfhern der Dipthologie, Ethnologie und Sprache ihre
Arbeit nur durd) bejondere am Ende des Buches angebrad)te
Hegifter, nicht aber durch ein ſtreng eingehaltenes Rlaffifitations:
ſyſtem erleichtern.
Diejelben Mängel, und zwar in mod) größerem Maße wie
in dem Buche des Orbners Sprohgis, finden fid in der von der
wiſſenſchaftlichen Kommiſſion herausgegebenen Samm—
lung. Brihwſemneet (Treuland) wandte ſich mit ſeiner
Liederſammlung an das ruſſiſche Publikum im allgemeinen und
an die ruſſiſchen Ethuographen im beſonderen. Er verfolgte wohl
zweierlei Ziele. Einerſeits, indem er gleich Büttner die ſchönſten
488 Das lettijche Vollslied.
Volkslieder in ſeine Sammlung aufnahm, wollte er Leute fremder
Nationalität mit der Schönheit und Bejonderheit der lettiiden
Muſe bekannt maden, anderfeits wollte er der Ethnographie dienen.
In beiderlei Hinficht hat Brihmſemneek feine Abſicht wohl erreicht
und wir bedauern nicht den Mangel eines fünftlihen Klaffifitas
tionsfyitems, das diefer nur hinderlich Hätte fein können.
Nod) weniger ift von einem Klaſſifikationsſyſtem in ber
Sammlung des Aronu Matifs die Nede. Es beiteht nur in
Überichriften kleiner Liedergruppen, bie größtenteils in bunter Reihe
einander folgen. Mit um jo größerer Liebe ijt die Sammlung
für das letliſche Wolf felbit bearbeitet, dem er die allerihönften
Lieder bdarzureihen weiß. Wenn auf irgend etwas, jo ſagt er
ſelbſt, fann das lettiſche Volk auf feine Volfslieder jtolz fein, die
fo ſchön, fo tief, jo bilder: und fehrreidy find, daß die andern
Nationen fie faum erreichen.
So viel von den Sammlungen, bie gebrudt worben find vor
dem Erfcheinen unfres Buches. Cine jede von ihnen, geleitet von
einer beftiimmten Abficht, hatte eine ihr angemellene Ordnung und
wählte aus der Fülle der Lieder bie für fie paffenditen aus. Sie
alle betrachten gewiijermaßen das Leben des Volkes einfeitig, idea:
lifieren das Leben. Das Volk jelbft aber hat fein geiftiges und
geitliches Leben in feinen unzähligen Liedern weit vollftändiger,
freier, unverhüllter dargeitellt und eine vollftändige Samm-
lung muß feinem Beiſpiel folgen. Nichts darf als unnüg und
unwürdig angejehen werden, was das Voll, als zum ganzen
Leben gehörig, uns in jeinen Liedern aufbewahrt und vor Augen
geftellt hat. Daher wünfden wir eine Sammlung, die fo voll-
ftändig wie nur irgend möglich ift, nicht tauſend und ein paar
tauſend, fondern 20 taulend und mehr Lieder mit allen ihren
verſchiedenen Varianten aufzuweiſen hat. je
Unfer Vorgänger in diejer Hinficht it der Verein let-
tifber Freunde, der im 9. 1874 alle feine, oder richtiger
gejagt, Paſtor A. Bielenfteins gefammelte Lieder, ca. 10,000 an
ber Zahl, herauszugeben begann. Das Ordnen nad) Gruppen
übernahm Paſtor K. Ulmann. Die Sammlung erfhien nur
zur Hälfte. Ein Yauptvorzug bejteht darin, daß der Ordner einfach
dem menihlihen Leben ſich anzuihließen ſucht, indem er deſſen
charakteriſtiſchſten Seiten, hervorragendſten Geſchehniſſe aufzufuchen
Das Lettifche Boltslieb. 489
ſtrebt. Das Volkslied bezieht ſich eben auf irgend ein Moment
im menſchlichen Lebenslauf oder im ſozialen Leben. Ein Fehler
dagegen iſt, daß Ulmann, indem er bie Lieder in bejondere Abtei—
lungen bradjte, zu wenig deren Gehalt und Bedeutung abwog, zu
wenig darauf Rückſicht nahm, zu welder Zeit, an weldem Ort,
unter welden Verhältnifien fie gejungen worden find.
Indem wir auf die Fehler und bie Vorzüge obiger Samm-—
fung und deren Ordnung hier nit näher eingehen, wollen mir
nur noch in Kürze fagen, welche Hauptgrunbfagen bie unfrige hat,
damit fie gleich einem großen Gebäude fih auf ihnen frei und
ftattlich erheben könne. Diefes Fundament kann nur fein das
Leben des Volkes in materieller und geiftiger Hinfiht. Das lehrt
das feine Lieber jingende Volk jelbil. Ein jebes Liedchen fteht in
einem realen, feſten Zujammenhange mit dieſem Volksleben; es iſt
zu fingen zu feiner Zeit, an feinem Ort, in einem beftimmten
Lebensfalle. Das auf diefen Grundlagen zu erbauende Gebäude
muß daher nad) einem lan, der dem Volfsleben gebührend auge:
paßt ift, eingeteilt werden, damit es einem warmen Mohnhaufe,
nicht einem Diufeumszimmer gleiche. Die Hauptabſchnitte und
Hauptabteilungen werben folgende fein:
I. Der menſchliche Lebenslauf, das Familien: und Ver—
wanbtihaftsieben. 1) Die Kindertage. Geburt, Taufe, Erziefung
und Lehre. 2) Das heranwadjiende Kind. Eltern und Kinder,
Bruder und Schweiter. 3) Das Jünglingsalter, die Zeit der Liebe.
4) Verlobung und Hochzeil. 5) Das Leben unter andern Völfern.
6) Das eheliche Leben. 7) Tod und Beerdigung.
1. Das Zufammenfeben der Leute im meiteren Sinne des
Wortes und ber fogiale Standpunft.
II. Arbeiten und Beſchäftigungen. 1) Allgemeine Häusliche
Arbeiten. 2) Arbeiten, die fih nad) den Jahreszeiten richten.
IV. Feſte und Feiertage, zu feierude Lebensmomente. Mytho—
logiſche Lieder.
V. Allgemeine Lieder ohne beitimmte Hingehörigfeit.
Das wird die Yauptordnung fein, eine jede Abteilung wird
aber in viele Meine Unterabteifungen zerfalen, dazu nötigt die
Dlannigfaltigfeit und Fülle des Materials.
* *
*
490 Das lettiſche Voltälied.
In die Abteilung „über Lieder und Geſang“ find Diejenigen
Volkslieder aufgenommen, in denen bas Volf felbjt direkt oder
indireft bezeugt, daß Lieb und Gejang eines feiner höchſten geiftigen
Güter, fein Shugengel an allen Orten und in allen Dingen
fei, der es vom Mutterihoß an in allen Lebenslagen, bei der
Arbeit, in Freude und Leid, in guten und böfen Tagen geleitet;
der Schugengel, der es fräfligt in der Tugend, ftraft, fobald es
von ihr abgewichen ift; der den Xafterhaften beſſert, fi des
Schwachen erbarmt und ihn freunblid auf ben rechten Weg zurüds
bringt — furzum fein Begleiter ift bis zu ber Stunde, da man
ihn ins fühle Grab. fenft. Wollen wir das Volfstied recht ver
ſtehen und mit Herzensfreude und Erhebung fein genießen, To
müffen wir uns auf jenen Standpunkt des Voltes jtellen, in feine
Gefühle und Anſchauungen, fein Herz und feinen Geijt vertiefen.
Es iſt demnach die Aufgabe dieſer Abteilung, den Leſer auf alle
nachfolgenden vorzubereiten. Wir wählten dieſen Weg, weil wir
den Lefern nicht unfre fubjeltiven Gedanken und Anſchauungen
aufdrängen wollten. Der Mund des Xolfes ſelbſt möge ein
gerechtes, ungetrübtes Zeugnis von den Zeiten, da Lied und
Gefang noch im Wolf feine ungeihmälerte Kraft dartat, ablegen.
Diefes Zeugnis gewinnt nod an Bedeutung, wenn wir in fpäteren
Zeiten bie Lieder gewiſſermaßen vernachläſſigt, ja veradhtet jehen.
Das Volt felbft, als ob es fich ihrer jhämte, begann auf fie wie
auf etwas Törichtes zu bliden und jtellte ihmen geiftliche, auf
Gott bezüglige Lieber gegenüber. Das war der natürliche Einfluß
bes «hriftlihen Glaubens, der alles, was an die heidniſche Ver-
gangenheit erinnerte, befämpfen mußte. Die Zeiten Haben, Bott
fei Danf, zu gunften des chriſtlichen Glaubens entidieden, aber
aud der ethiſche Gehalt der Volfslieder hat mit ber Zeit alle
Vorurteile überwunden und von neuem fönnen wir ungejtört
deren Schönheiten genießen, Freude und Erhebung aus ihnen
ſchöpfen.
Aber noch ein anderer Grund trug zur Schmälerung der
Bedeutung bes Wolfsliedes bei. Die äußeren Orundlagen bes:
jelben, das Volfsleben und der Kulturftandpuntt änderten ſich
allmählich mit der Zeit. Der Fortfchritt in der Entwidlung und
Bildung in materieller und geifliger Hinſicht ſtimmte nicht mehr
mit den früheren einfacheren und engeren Aulturformen überein.
Das leitiſche Vollslied. 401
Die neuere Kultur jtieß allmählich die alte beiſeite, ftellte ſich an
beren Stelle, was jelbitverjtändlih nicht zu beklagen ift. Aber
in der erften Zeit des Kampfes pflegt man nur die ſchwache Seite
des Gegners in Betracht zu ziehen und erſt, wenn bie Leibenichaft
im Abnehmen ift, beginnt man deſſen gute, lobenswerte Eigen-
ſchaften zu würdigen. Solch ein Los wurde aud) den Volksliebern
zuteil. Ein großer Teil von ihnen erwies ſich als veraltet, aber
indem man den guten Kern aus ihnen herausſchälte, jtellten ſich
die beften ibealen Veftrebungen des Dienfchen, bie ebelften und
tiefften Gefühle, die niemals veralten, vor Augen. Co nehmen
beilpielsweife unfre Jungfrauen wohl niemals mehr eine Mahl:
mühe in die Hand, dieſe ſchwere Arbeit wird jegt von Wind:,
Waſſer⸗ und Dampfmühlen bewerfitelligt. Deſſenungeachtet ver-
lieren unſre Mahllieder, die jo ſchön den Wert der Arbeit preifen,
die Faulheit tadeln, die Ausdauer und die Heiterkeit des Geifics
auch bei ſchweren Verrichtungen empfehlen, in dieſer ihrer eigent-
lichen Bedeutung nicht ihre Kraft, fondern behalten fie für alle
Zeiten und in allen, auch den entwidelijten Verhältniſſen. Und
ſolch einen unvergänglichen Kern finden wir in allen unfern Bor
bildern, und er ift gehüllt in einfache, aber herzliche und bedeu-
tungsvolle Worte, die das Herz tief berühren. Das iſt bie Eigen:
tümlichfeit des echten Volksliedes.
Dieje lobenswerten Eigenjhaften unjres Bolfsliedes haben
ſchon längſt die Aufmerfiamfeit hodhgebildeter Männer fremder
Nationalität auf fie gelenkt. Ich gebenfe bloß Herders, Berg:
manns, Ulmanns, Katterfelds und ganz bejonders Büttners, dieſes
fo feinen Kenners unfrer Volkslieder. Endlid haben ſich unire
eigenen gebildeten Volksgenoſſen für fie erwärmt und fo famen
fie wieder zu den ihnen gebührenben Ehren, was uns nur zum
Segen gereihen kann. — Büttner, der bejonders die Schönheit
unfrer Volkslieder hervorhebt und fie mit funkelnden Tauperlen
vergleicht, jagt wohl auch einmal (Latw. Awiſ. 1890): „Mande
von diefen Tautropfen bleiben ohne Glanz und Echönheit, man
mag fie anſehen von welder Seite man wolle. Manche Gleichniſſe
Find ſchief, ohne irgend einen poetiichen Wert. Wo ein jeder, dem
es einfiel, ein Lied dichtete, fann man nicht erwarten, daß es jedem
gleihermaßen gelingen werbe, nicht jeder befigt dichteriſches Fein:
gefühl.“ Dazu wäre nur zu fagen. daß in dieſem Nusipruc dag
492 Das Iettifche Volkslied.
Wort „Volkslied“ nicht richtig gebraudt it. Zum Vollsliede
fann nur ein ſolches werden, welches durch eine lange Volfszenfur
gegangen und endlich vom Volke als fein allgemeines Eigentum,
ganz abgejehen von feinem Verfailer, anerfannt worden ift. Wenn
das Lied feinen gefunden Kern hatte, fo verfiel es ber Vergeſſen⸗
heit. Der Olanz des Tautropfens, fein Schimmer in verjchiedenen
Farben, hängt von dem Standpunft ab, welden ber Beſchauer
einnimmt. Wie bas Volfsleben jelbit, jo find aud) die Volkslieder,
welche diefes wieberfpiegeln, jehr vieljeitig. Es genügt nicht fie
nur nad) ihrer Schönheit zu beurteilen. Das recht verfiandene
Volfsleben, deſſen Schickſal, Herz und Geift geben ihnen das rechte,
volle Licht, und der fie beurteilt, nimmt nur dann einen richtigen
Standpunft ein, wenn er fi bie Volfsgefühle in ben Augenblicken,
bei den Ereigniſſen und Verhäftniffen zu eigen macht, da das Volf
feine Lieder jang; wenn er teilnimmt im Geifte an denjenigen, bie
bie Lieder fangen und hörten. — Sold) ein Stanbpuntt ijt größten-
teils Leuten fremder Nationalität ein fremder, ungewohnter; jo
mauches Lied, das jeinerzeit Sängern und Hörern bie Augen
feuchtete oder ihr Yerz in Freude ſchlagen ließ, betrachten fie fühl,
ja verächtlich. Auch wir felbjt im Wandel der Zeiten find gewiſſer⸗
maßen remdlinge im eigenen Haufe geworden, auch wir müſſen,
um zur Gemütlichkeit zu gelangen, uns erft in ihm einleben. Die
oberflächlich betrachteten Lieder reden aud) zu uns eine fremde
Sprade; je ernftliher wir aber uns in fie vertiefen, mit ihnen
befreunden, deſto mehr ziehen fie uns an und feſſeln fie uns.
Aneinandergereihte Lieber (Dſeesmu wirkne
Fafı alle unfre Volkslieder find kurz, bejtehen nur aus zwei län-
geren Zeilen, die man auf bie Hälfte zu teilen und in vier furzen
geilen zu fchreiben pflegt, weil foldes dem Auge wohlgefälliger
ift und ein jo geſchriebenes Lied mehr dem heutigen gleicht. Jedoch
möchten wir gern längere Lieder fehen, und freuen uns, wenn wir
zuweilen auf jolde mit ſechs ober acht kurzen Zeilen jloßen. Doch
auch diefe find nad) unfrem heutigen Geſchmack furz und ber
Gefang muß zum Leidweien der Sänger und Hörer bald ver:
ſtummen. Längere ſchöne Lieder erzählenden Inhalts gibt es nur
äußerjt wenige. Auch das Volt empfand mit der Zeit dieji
Diangel und mit der Veränderung der Lehensverhältniife ver-
ſtummten allmählich) die alten furzen Lieder. Daher hat man ſich
Das lettiſche Volkslied. 498
nicht darüber zu wundern, daß durch Vermittlung der Hofesmädchen
und Hofesjungfern viele längere, frembartige Liebeslieber ſich bei
uns einjchlichen. Sowohl dem Inhalt wie ber Sprache nad jehr
mangelhaft, hatten jie doch den Vorzug, daß man fie zu jeber
Zeit und an jedem Ort fingen und ber Geſang lange Zeit fort-
gejegt werden fonnte. Außerdem war bie Dielodie neu und nicht
fo einfach wie die früheren Voltsfieder. Aus folhen Gründen
nahmen unfre Dorf: und Gefindesichönen das Umfraut gern bei
fih auf. — Die mehr gebildeten Letlen wie auch andre Letten
freunde beadhteten anfangs das Volstieb wenig. Entweder über:
fegten fie deutiche Lieder oder ſchmiedeten felbit einige feichte nad)
fremdem Mufter und in ſchon befannter Melodie zufammen. Die
murden denn auch in der Schule den lettiſchen Rindern gelehrt.
Im Volle konnten fie nicht Wurzel fallen, zu ſehr gehörten fie
einem fremden Gejhmad an, zu wenig waren fie poetiich anzichend.
Nur vereinzelte, bejonders vom alten Stender im Vollogeſchmack
gedichtete Lieder fanden beim Volke Beifall.
Es fam endlich die Zeit, da bie gebilbeten etten den ver-
nadjläffigten Volfstiedern ihre Yeachtung zu ſchenken anfingen und
einige von ihnen ſich für fie enthufinsmierten. Aber gewöhnt an
längere Runftlieder, erſchien ihnen deren Kürze unbegreiflih. Wie
fam es, daß der bewundernswerte dichteriſche Geiſt, der fo un—
endlich viele ſchöne und poefievolle Liederchen geſchaffen hatte, ſich
nicht auch im längeren Liedern offenbart hat? Man nahın an,
daß er es wohl vermochte und daß bie früheren längeren Lieder
mit der Zeit zu ben jegigen kleinen zerbrödelt feien. Dan meinte,
daß längere Lieber ſchwerer im Gedächtnis feilzuhalten und ſich
fortpflanzend von Mund zu Mund in Mleinere Teile zeriplittert
feien, von denen ber cine hier, der andre dort fid) im Volke
erhalten habe. Das ſchien aud) aus dem Inhalt der Lieder her:
vorzugehen. Ein und dasfelbe Thema war vielen Liedern gemeinfam,
nur wurbe es bald von ber einen, bald von der andern Seite
betrachtet und behandelt. Indem man nun dieſe Lieder zu einem
Strauß zufammenwand, hoffte man zu einem großen Liede zu
gelangen. Auch die Sängerinnen fdienen diefe Idee zu befüre
worten, denn fingend fahten fie gern die Lieder zu einem Strauß
zuſammen und mandesmal ganz geididt und ſachgemäß. Solche
Liederfiränße hat die Schriftabteilung des Mitauſchen lettifchen
44 Das lettiſche Vollslied.
Vereins in ihrer erſten Sammlung 1890 herausgegeben. Nicht
immer aber gelang fold ein Zuſammenreihen ber Lieder, und
zuweilen, wenn nicht mit großem Gejchid vorgenommen, war das
Refultat — ein heillofer Wirrwarr. Im großen ganzen fann
man ihm baher nicht das Wort reden. Fragt man aber nad) der
Xeranlafjung, mie bieje aus dem Munde der Vorjängerinnen
ſtammenden und von ben Liederſammlern aufgeſchriebenen Lieder:
fträuße entitanden find, fo iſt fie folgende: Eine rechte Sprecherin
oder Vorfängerin muß Tauſende von Liedern im Kopf haben, und
zwar fo georbnet, daß fie im jedem Falle nad) Erfordernis das
für ihm paſſende Lied oder den für ihn paſſenden Liederitrauß zur
Hand hat, wie es denn aud in einem Liede heißt: „nod) hat fie
das eine nicht beendet und ſchon fiehn ihr 9 andre im Einn.”
Während die älteren Mädden und die Frauen zu gegebener Zeit
und am rechten Ort die Lieder jangen, wurden fie von den mit-
fingenben jungen Mädchen gelernt; da das aber nicht genügte, fo"
waren bejonbere Zeiten unb Arbeiten bejlimmt, bie zur Erlernung
ber Lieber dienten, jo im Sommer beim Hüten des Viehs, im
Winter beim Spinnen oder andern Handarbeiten. Der Inhalt
der Lieder war ein überaus bunter, aber um dem Gedächtnis zu
Hilfe zu fommen, wurden fie äuferlid), befonders durch ein wich
tiges Wort im Liede, mit einander verbunden. Ram beifpielsweije
im Liede das Wort „Eiche“ vor, jo folgten mehrere auf biefen
Baum bezügliche Lieder. Beſonders „Kranz“, „Pferd“, „Braut“,
„Gerede der Leute” zc. waren Morte, bie ein Band zu den nad:
folgenden Liedern bildeten. Sie wurden auf biefe Weife in einem
AKorbchen“ (wahzelite) aufgefpeidert, zu einem „Rnaul” aufge:
wunden. Zu rechter Zeit aus biefem Gefäß zu ſchöpfen, dieſen
Knaul abzuwideln, war eine befondere, ſchwierige Kunſt, die nur
von den allerbejten Sängerinnen gelernt werben fonnte. Im Grunde
jedoch, noch einmal jei's gejagt, behalten die fleinen Liederchen
ihre Selbſtändigkeit, fie mögen noch jo ſehr mit andern zu einem
größeren Ganzen verbunden fein. Ein jedes hat jeinen bejtimmten
runden Kern, ber umhüllt ift von einer glatt anliegenden runden
Form, und nur ein wahrhafter Dichter kann der Urheber eines
folchen fein. Sie find aud nicht Splitter früherer größerer Lieder,
ſondern felbjtändige, den früheren Yebensverhältnifien angepaßte,
für fie gedichtete. Wir find auch nicht das einzige Volf, das joldye
Dos lettiſche Vollslied. 406
beſitzt, denn alle ſlaviſchen Völkerſchaften ſind ebedfalls reich an
ſolchen kurzen Volksliedern. In grauer Vergangenheit, damals
als fie noch mit den Nachbarvölkern zu fämpfen hatten, werben
bie Letten wohl aud) im Befig längerer epiſcher Gelänge geweſen
fein. Nicht Frauen, fondern Männer werben naturgemäß fie
gefungen haben, benn in ihnen handelte es ſich nicht um tägliche
und häusliche Dinge, jondern um längjt vergangene Zeiten, um
bie Toten und Kämpfe berühmter Vorfahren. Dit dem Hierher-
tommen der Deutjchen, mit der Unterjohung und Knechtung ber
Letten hörte bie Pflege ber epiſchen Gefänge auf und Anklänge
an fie haben fid vielleicht in unfren Sagen und Erzählungen
erhalten. Auch einige epifche Hochzeits-, Kriegs: und mythologiſche
Lieder haben ſich Iebensträftig erwiejen, denn wenigitens einige
Bruchſtücke diefer leben nody im Gedächtnis des Volkes fort.
* ’
*
In neuerer Zeit ift der Gefang ber Volkslieder ſehr felten
geworben, ja in einigen Gegenden ift er fait ganz verflummt.
Anders war es in ber Vergangenheit, der große Liederſchatz legt
Zeugnis davon ab, daß in grauer Vorzeit die Letten große Sänger
und Würdiger des Gefanges waren. Noch unſre Väter und
Großväter, richtiger gejagt Mütter und Großmütter, haben weit
mehr gefungen, und bie meijten Lieder und Nachrichten über den
Volfsgefang erhalten wir von uralten Leutch Im nachſtehenden
mollen wir in Kürze von ben wichtigiten Gi en reden.
Früher hatte jede Jahreszeit, jedes Felt, jeder Chrentag, die
Arbeits: und Crholungszeit ihre befonderen Lieder, aber auch ihre
befondere Gejangsmeije, bejonderen Melodien. Nach der Jahres»
zeit wurde vornehmlich unterichieden :
Die Jubellieder (Gamilefhann), Sobald die warme
Früglingsfonne und die weichen Wejtwinde die weiße Schneedecke
vom Angeficht des Mütterdens Erde genommen hatten, die Natur
aus dem Winterichlaf erwacht war, die Lerchen jubeld ſich zum
Himmel ſchwangen, erjchallten auch Jubellieder an allen Orten
aus ber Menſchenbruſt. Dieje erſten Jubelnden waren Hirten,
befonbers Schnihirten, denen fpäter ſich auch die Ninderhirten
gefellten. Gejubelt wurde übrigens den ganzen Sommer hindurd-
496 Das lettiſche Volkalic.
Chorlieder mit Brummftimmen (Notafchana). Die
Erbe hat ſich mit friihem Grün bededt, die Bäume haben ihre
duftenden Blätter entfaltet. Nun ftrömen auch aus ben benach—
barten Gefinden an ſchönen, lauen Frühlingsabenden die jungen
Mädchen herbei und fammeln fich auf dem ſchon in alter Zeit bazu
auserfehenen Hügel. Schon längft war die Sehnjucht in ihnen
erwacht, wieder einmal in größerer Schar zufammenzufingen. Wohl
wiſſen fie auch, daß ſolche Abendlieder weithin ſchallen und weithin
die Leute ergöen. Und wahrlich, mit ihren ſchönen Liedern und
mit ber gewandien, deutlichen Ausſprache ber Worte liefen fie
weithin die Mare Frühlingsiuft erzittern, erjdütterten fie jo mandes
Menſchenherz. Dancer Züngling lauſchte entzüdt dem Gefange
und erfah fi aus dem Schwarm ber ſchönen Sängerinnen die
Braut. Daß er wohl daran getan hat, bezeugt fo manches Liedchen,
welches eine gute Sängerin auch als tüchtig in allen Arbeiten,
als tugendfam im Wandel preiſt. Diefe Gefänge wurden geübt
vom Beginn bes Frühlings bis zur Zeit, da fid) die Natur völlig
entfaltet hatte.
Wie wurden bieje Lieder gejungen? Man erwählte zwei
ber beften Sängerinnen, die eine mit einer hohen, bie andre mit
einer tiefen Stimme, welche imftande waren, bie Worte laut und
deutlich beim Gefange auszufpredhen. Alle andern Sängerinnen
ſprachen bie Worte nicht mit, fondern begleiteten fie nur mit
Brummftimmen. Am meiften hing von der Sängerin mit der
hohen Stimme ab, denn biefe mußte laut, ar, weithinſchallend
fein. Außerdem war dieſe Sängerin hauptſächlich die Trägerin
der Melodie und auf deutliche Ausipradhe der Worte hatte jie
insbefondere acht zu geben. Traf das alles zu, dann war biefe
Art des Gejanges eine der ſchönſten, denn fie erinnerte an mehrs
ftimmigen Gelang. Leider wird er fajt garnicht mehr erefutiert.
Die Lihgolieder (Lihgoſchana). Der Sommer mit
feiner Blütenpracht ijt gefommen, Blumen allüberall, die Noggen-
felder wogen gleich einem See. Das ift die Zeit der Lihgolieder,
die fih bis zum Tage Peter Paul, da der Iepte Rudusfchrei
gehört wird, hinzieht. Der Rrauttag, der Johannis-Abend und
Johannis:Tag werden befonders durd) fie ausgezeichnet, an ihnen
werden die Lihgolieder im engeren Einne des Wortes, die Johannis:
lieder gefungen. Die Lipgogeiege werden jegt nicht mehr jo ſtreng
Das lettiſche Volkslied. 497
wie früher eingehalten, man hört Lihgolieder bald zu biefer, bald
zu einer andern Zeit und in einigen Gegenden erichallen fie bis
zum Eintritt fälterer Abende.
Wie werben die Lihgolieder gelungen? Die Schar der
Sängerinnen ermählt aus ihrer Mitte die Anftimmerin, die nicht
allein eine fehr hohe, klare Stimme haben, fondern auch über
einen großen Liederfchag verfügen muß. Dieſe beginnt jedes Lied
und fingt allein den erſten Vers; dann fallen alle andern ein,
indem fie nicht allein benjelben Vers fingen, jondern auch ben
zweiten, den fie dann wiederholen. 3. B.: Die Anftimme fingt
allein: Lihlinſch lija ſahlu deenu, lihgo, lihgo! Alle zufammen
fingen:
Lihtinſch lija fahlu deenu, lihgo, lihgo!
Lihlinſch jahru wakara, Lihgo!
Lihtinſch jahnu wakara, lihgo!
Die Anſtimme fingt: Jahna behrni nomirkuſchi, lihgo, lihgo!
Alle fingen: Jahna behrni nomirkuſchi, lihgo, lihgo!
Jahna ſahles laſidami, lihgo!
Jahna ſahles laſidami, lihgo!
(Deutſch: Es regnete am Krautlage, lihgo! lihgo! Es regnete
am Zohannitage, lihgo! lihge! Dinchnaht wurden bie Johannis:
finder, lihgo! lihgo! Eiſammelnd Johanniskraut, lihgo!)
Geſang bei den Feldarbeiten. Nach dem Peter—
tage beginnt bie Zeit ber ſchweren Feldarbeiten, bie Heu, die
Getreideerntezeit, die vieler andern anjtregenden Arbeiten. Jede
Arbeit hatte ihre auf fie bezüglicen Lieder. Mit Gefang ging
man zum Heuſchlage, zum Felde, fingend lehrte man zurüd. Auch
die Erholungspaufen wurben durch Geſang verfüßt, ja, wenn die
Arbeit es zuließ, wurde aud während diefer gelungen. So ver
ging der ſchöne Frühling, fo ber Föftlihe, wenn auch arbeitsreiche
Sommer, bis zur Beendigung aller Arbeiten im Herbit, kurzum,
Gefänge verfdiedener Art begleiteten und idealifierten jegliche
Arbeit.
Lieder bei Abenbmahlzeiten. Es fommt der Gerbit,
ber Winter mit feinen mancherlei häuslichen Arbeiten heran. Auch
diefe werben durch befondere Geſänge verſchönt. Im einigen
Gegenden, wo die Velten nicht in weit auseinanderliegenden
Baltifäie Monatsfdeift 1005, Heft 6. 4
408 Das Tettifhe Boltalied.
Gefinden, ſondern in Dörfern wohnten, richteten die Mädchen
fog. Abendmahlzeiten (malarajhana) aus. Sie verfammelten ſich
am Sonnabend in einer Badſtube und jedes brachte etwas mit,
das eine Fleilh, das andre Grüße, das dritte Mildy zc., je nach—
dem was ein jebes von feiner Wirtin hatte erbitten fönnen. Aus
foldem Material bereiteten fie bann die Abendmahlzeit, zu ber
nicht felten die Wirtin und mande Jünglinge erſchienen. Nach
bem Abendefjen wurbe bann gefungen und unter fröhlichen Scherzen
mit den jungen Leuten verlief ber Abend aufs befte.
Außer obengenannten Liedern, die mehr ober meniger an
die Jahreszeit gebunden waren, gibt es noch eine Menge allger
meinen Inhalts, bie zu jeber Zeit gefungen werben Fonnten, und
wenn in befonderem Maße, wie aus Obigem hervorgeht, das
weibliche Gefchlecht den Gefang pflegte, fo ftanb das männliche
ihm doch durdaus nicht fern, fondern beteiligte ſich reichlich
baran. Dan pflegte zu jagen, der Jüngling hat ſich feine Braut
erjungen. In der Nacht beim Pferdehüten ließ er jein Lied weit—
hin erfchaflen, fein Pferdchen (famelinu) wußte er ebenjo zu preiſen
mie bas Mädchen fein Kränzchen (mainadfinu). Unter den Liedern,
bie gerade ben jungen Leuten in den Mund gelegt waren, finden
fid) viele, bie durch ihren ſchönen poetifchen Gehalt Hervorragen.
Hervorgehoben feien die Lieder, welche gefungen wurden bei
Felteffen und Gelagen, an denen in gleicher Weile
fih Frauen und Mädchen, Männer und Jünglinge produzierten.
Zuweilen fangen fie alle gemeinfam, lieber aber führten fie gleihfam
einen Sängerfrieg auf, indem cine Partei gegen bie andre fang.
So ftellten fih als Gegnerinnen einander gegenüber die Frauen
und die Mädchen. Beſonders angezeigt waren ſolche Parteien,
wenn bei Verfammlungen, Gemeinfchaftsarbeiten, feitlichen Gele
genheiten, befonbers Hochzeiten, fid) Gäfte aus verschiedenen Dörfern,
Gebieten, ja jogar aus einem andern Gouvernement eingefunden
hatten. Da fiellte fich ein Haufe dem andern gegenüber und man
begann einander zu befingen. Das geſchah ftreng nad} der Orb:
nung. Erft wenn die eine Partei ihr Lieb beendet Hatte, fang
bie andre antwortend das ihrige und fo immerfort abwechſelnd.
Mangel an pafienden Liedern trat nicht ein, man mußte nur
die rechten anzumenden willen. Darin waren aber die Hauptan-
ftimmerinnen Meifterinnen, Lied gegen Lieb Happte, als wäre es
Das leitiſche Vollslied. 499
für biejen Fall ganz befonbers gebichtet. Welche Partei die beften
Anjtimmerinnen hatte, die behielt die Oberhand, wurde Siegerin,
unentſchieden blieb ber Kampf, wenn beide Parteien glei gute
hatten. Defjenungeadhtet war biefer Wettftreit nicht die Hauptſache,
von größerem Gewicht war der Reichtum an Liedern, die Schönheit
ber Stimmen, das richtige Singen. — Leichteres Spiel hatten die
Sängerinnen, wenn fie nicht alle Gäfte zugleich, jondern einen
nad dem andern zu befingen Hatten, obgleich fie auch dann
‚zuweilen bittere Antwortsfieder zu hören befamen. Mädchen
ermählten zum Objeft ihrer mafitiöfen Lieber befonders gern bie
Zungen, einerlei ob fie folde Strafe verdient Hatten oder nicht.
Vielleicht auch nach dem Sprichwort: „Was fich liebt, nedt ſich.“
Tifhlieder der Männer. In einigen Gegenden
beſtand folgende Sitte: Zwölf auserlefene Sänger fegten ſich um
einen eichenen Tifh, auf den der Wirt einen großen, mit Bier
gefüllten Spann jtellte, der die At:Kanne genannt wurde, weil
er an einer Seite ein Aſtloch hatte, durd weldes man das Bier
in Kleine Trinkgefäße fließen laſſen fonnte, Alle Gefäße waren
auch aus Eichenholz. Ein jeder der zwölf Männer mußte nun ber
Neihe nad) 12 Lieber fingen, die alle von ber Eiche hanbelten.
Die anbern begleiteten den Gefaug. Nachdem er die 12 Lieder
beendet hatte, leerte er jein Trinfgefäh und alle andern taten des=
gleichen, auf fein Wohl trinfend. Darauf fang der zweite, der
dritte ufw., bis zufegt auch der zwölfte feine 12 Lieder gelungen
Hatte, die Eihe mithin 144 Mal bejungen worden war. Das
Lied, weldes einer ſchon gejungen hatte, durfte ein andrer nicht
mehr anjtimmen; wenn er es aber dennoch tat oder nicht imſtande
war 12 Lieder von der Eiche zu fingen, jo mußte er mit Schmach
den Ehrentijch verlaflen und ein andrer trat an feine Stelle, um
in dem NRundgejang mit neuen 12 Eichenliedern barzutun, daß er
folcher Ehre würbig fei.
Unanftändige Lieder, Lieder ber Unehre, wurden nur auf
Hochzeiten, feltener zu Johannis geduldet. Da fie eine uralte
zjeremoniale Bedeutung hatten, verlegten fie das Keuſchheitsgefühl
weniger. Sie wurden ftets nur von Männern und Frauen, nie:
mals von jungen Mädchen gefungen. Andere Lieber, die uns
jegt ordinär und anftößig eiſcheinen und don jungen Mädchen
daher ungern gejungen werden, waren es in damaligen rohen
500 Das Iettifche Voltslied.
Zeiten durchaus nit. Manche von diefen find fogar ganz poetiſch
und weiſen bem flüchtig auf fie Blickenden ein ganz harmlofes,
unfdulbiges Geficht entgegen.
Zum Schluß fei bemerkt, daß bie andre Tonkunft, die inftrus
mentale, nur von Dlännern gepflegt wurbe. Schon Fleiner Hirten
liebfter Zeitvertreib war Flöten und Hörner aus Ninde zu ver—
fertigen, auf denen fie dann nad) Herzenslujt fid) übten. Das
beliebtefte Saiteninftrument der Zeiten in früheren Zeiten war bie
Zither, deren Klänge in den Volfsliedern hoch gepriefen werden.
Dulkurgeſchichlliche Miszellen.
—
Eine Bittſchrift von Ao. 1699.
Prod. Riga d. 17. Martii 1099.
Erläuchteter, Hochwohlgebohrner Herr Graff, König. Raht,
Feldmarfyall nnd General Gouverneur,
Gnäbigiter Herr.
Die unter ungehlic viel andern Ew. Erl. Hochgr. Excellence
meitgepriefenen Heroiſchen Tugenden hervorleuchtende Liebe und
experience in denen Mathematiſchen wiſſenſchaflen, durch welche
ſich vormahls Griechenland und ſelbſt das Stoltze Rom bey der
gantzen weldt formidabel gemachet und Numa Pompilius,
Empedocles und Seipio über andre Helden ihrer Zeit, in admi-
ration gefegel, encouragivet und verträftet mid) demüptigt fuß-
fälligen Mechanicum auch, daß wie vormahls Archimedes am
Marcello, Vitruvius an Vitellio ihre fonderbahre Mecoenates
gehabt, ich ebenfalls bey Ei. Erl. Hodgr. Exeell. einen gnädigen
Patronum und Schug Herren finden werde. Ich muß geilehen,
daß meine gringe connoissence, der Lortreffligfeit obiger wellt
berühmten Künftler bey weiten nicht das waſſer reichet, iedoch da
id) durd) viele speculation und fait gänglihe ruin meiner ſelbſt
eignen Haabfeeligfeit nah 20-Nähriger unterfuhung ein nicht
gringes Kunſt-ſtück und Handgriff der Mathematique, das per-
petuum mobile nehmlich, deſſen Nugen und Fruchtbarkeit die
übrigen Theile derſelben, wo nicht gäntzlich Über trifft, ihnen
dennoch gar nichts nachgiebet, erjonnen, und joldes fünfitig in
völliger faubern perfection, jo wohl Ihrer Königl. Maytt. als
aud) Ew. Ext. Hochgr. Excellence, vor augen ftellen will, als
502 Aulturgeſchichtliche Miszellen.
lebe ber gewiſſen Zuverfict, da Em. Erl. Hodjgr. Excellence
reifffinnige experience felbft judieiren wird, wie dieſes Kunit-
Stücks vortreffliher Nugen fi) nidt allein in der Civil und
Militair Architeetur, fondern aud) in allen andern in vita Civili
bey Nriegs: und Friedens Zeiten höchſtnöhtigen wiſſenſchaften
extendire. Zu geſchweigen andere fo wohl in Mechanieis als
Statieis Hydrotechnieis und uhrwerden höchſt nöhtige willen:
ſchafien, die mir bisher die Mikgunft benachbahrter Höffe barzu-
zeigen verhindert hat und id) mit der Zeit zu jonderbahrem Nutzen
und contentement Ew. Erl. Hochgr. Excellence vorjtellen will.
Dem nad jo falle Ew. Erl. Hochgr. Excellence id) in unter:
thänigjter submission hiemit fußfällig an, fie geruhen mir unter
dem Schutz Ihrer Königl. Maytt. und gnädiger Schirm haltung
Ew. Erl. Hochgr. Excellence als dem Water diejes Baterlandes,
nad) arth jenes Chananeischen weibleins die brohfamen, die von
andrer reihen handwerfer und Künftler Tiſche fallen, durch meinen
unermiedeten Fleiß und Handarbeit, auf hiefiger burg: Freyheit mit
auf zu jamlen, gnädigjt zu verjtatten, in regard daB doch ohne
dem die fonderbahren Künftler laut aller orten Schragen und
gewohnheit von denen andern handwerds zünfften separiret und
befreyet zu fein pflegen. Vor welche fonderbahre Gnade id) Lebens
lang Gott den allmächtigen umb reiche Belohnung anzuflehen nicht
ermieden werde, der id) in aller unterthänigfeit verharre
Ew. Erl. Hodgr. Excellence
demühtigit Fußfälliger Diener
Johann Biermann.
Bon Tage.
Briefe vom Embad).
u Juni 1905.
De Chroniſt hat zwei hochbedeutſame Regierungsmaßnahmen zu
I vergeichnen. Die Wirtuig der einen erftredt fih auf das
ganze ruffiiche Reich, die der andern ift auf die baltischen Provinzen
bejchränft. Bei beiden handelt es ich um die Erweiterung der
den fog. Fremdſtämmigen zugemeilenen Rechte. Mährend das
Toleranzedift die Lage ber fremden Konfejiionen nad neuen
Geſichtspunkten regelt und ihr Verhältnis zur griechiſch-orthodoren
Staatsfirhe einigermaßen verſchiebt, eröffnet der Beſchluß des
Dtinifterfomitees, die deutſche Unterrichtsſprache in den Privat
ſchulen der Oftjeeprovingen wieder zuzulaiien, der deutſchen Bevöl⸗
terung unſrer Heimat die Ausficht, ihren Kindern eine beutjche
Erziehung gewähren zu fönnen. Zwei Tatfahen von — man
follte meinen — epochemachender Wichtigkeit! Anffallenderweife
aber hat die zunächſt anffladernde Stimmung lebhafter Freude
und Genugtuung einem jtarfen Pejlimismus Plag gemacht, der,
auf zahlreiche trübe Erfahrungen gejtügt, die Hoffnungen auf das
denkbar tiefite Niveau hinabdrüdt. Der Beichluß, betreffend die
Privalſchulen, bedarf nod) immer der taiſerlichen Betätigung; die
Einzelheiten des Eriaſſes über die Olaubensfreiheit befinden ſich
nod) im Stadium der Nusarbeitung und Kommentierung feitens
der hierzu eingejepten Kommiſſion. Beide ſchweben aljo fürs erſte
in ber Luft. Beide Fragen find nicht endgültig erledigt, vielmehr
allen möglichen Echwanfungen und Wenderungen unterworfen.
Die ruſſiſche Bureaukratie fümpft offenbar auf Yeben und Tod
gegen den humaneren Geiſt des faiferlichen Erlaifes. Wie fie jich
zu demfelben jtellt und in welcher Richtung ſie ihn zu interpretieren
geneigt ilt, das hat ber Generalgouverneur von Waridau, Herr
Marimowitih, mit vollendeter Offenheit und Harmlofigfeit der
Welt verfündet. Seiner Anffaiiung nad ift der Erlaß dahin zu
erklären: ihr dürft jegt übertreten, — aber guade euch Gott,
0. Vom Tage.
wenn ihr es tut! Es gibt ‚gewiß wenige unter feinen Kollegen,
die nicht Bebenfen trügen, in den überwältigend ſtaatsmänniſchen
Ton dieſes Aftenjtüdes einzuffimmen; aber ebenfo gen ſehr
wenige, die nicht bereit wären, ihm grundſätzlich beizupflichten. —
Aud) die Rommillion, die mit dem Ausbau der Gejepesbejtim:
mungen betraut ift, wird es ſich fraglos angelegen fein laffen, für
bie gute Sadye ber Unbuldjamfeit in Glaubensjadhen zu retten,
was zu retten iſt. In den Augen des Fanatifers ift das Vater
land in Gefahr, wenn die Polizei der heiligen Prärogative beraubt
wird, dem Staatsbürger vorzuichreiben, was er zu glauben und
was er nicht zu glauben hat. Daf die Beftrebungen folder Ele:
mente ben faiferlichen Intentionen direft entgegenarbeiten, iſt eine
Erkenntnis, über die jene felbft mit einem geiltigen Saltomortale
hinwegſetzen.
In anbetracht dieſer und vieler ähnlichen Erwägungen it
die Stimmung gerade bei mus, wo die fonfeifionelle Frage ſchon
feit längerer Zeit auf eine gerechte Yöfung unabweisbar hindrängt,
nicht allzu gehoben. Auch die Privatichulfrage ift nicht dazu
angetan, ungefeilte Freude zu erweden. Wir wollen davon ab:
feben, daß bie ganze Sache ungewiß und die Allerhäcfte Entjcei-
dung noch nicht gefallen it. An und für ſich iſt es gewiß ein
Sewian, dab dad Recht der Eltern, beim Unterricht ihrer Kinder
die Mutterſprache anzuwenden, prinzipiell anerkannt wird. Der
praftiicen Durchführung dürfte fi) jedoch mandes Hindernis
entgegenjtellen. So joll das Abiturienteneramen in ruſſiſcher
Sprache und an einem jtantlihen Gymnaſium abfolviert werden.
Hit es ſchon unter normalen Verhältnifien ein gemwagtes Experi:
ment, in einem jo fritiihen Nugenblid fremde Lehrer, die ber
Entwidlung des Schülers nicht gefolgt find, über deſſen Echidial
entiheiden zu laſſen, jo wird die Schwierigkeit natürlich noch
erhöht, wenn ber ganze während der Schulzeit aufgenommene Lehr:
ftoff von Eraminanden in eine andre Sprache übertragen werden
foll. Hoffentlich gelingt ber Verſuch trogbem zu beiderfeitiger
Zufriedenheit. Die Befürchtung indeß liegt nabe, daß nicht alle,
die gern von der Vergünftigung des deutſchen Unterrichts Gebrauch
wachen würden, hierzu in der Lage fein werden. Denkbar wäre
65, dab mit der Zeit eine andre Negelung ber Angelegenheit ver-
fucht würde, etwa in der Form, daß die üler in deutſcher
Sprache eraminiert, nebenbei aber einem Kolloquium zur Prüfung
ihrer Nenntnifje im iuffiſchen unterzogen werden. Damit fönnten
beide Teile — Regierung und Publifum — fid) zufrieden geben,
und die ganze Frage gewönne ein fowohl praftiiheres als auch
geredhteres Anfehen.
Im Zufammenhang mit der Zulaſſung ber deutſchen Unter:
richtoſprache in Privatanftalten iſt jofort die Frage der Berechtigung
Bom Tage. 505
eſtniſch⸗ reſp. lettiihiprachiger Schulen in ber Preſſe zur Diskuſſion
gelangt. Unjre Zeitungen haben dieſen Beitrebungen einmütig
ihre Sympathie ausgeiproden. Die Zukunft muß lehren, ob ber
Gedanke lebensfäyig und durchführbar ift. Natürlich mißfällt die
in der Nejolution des Dlinifterfomitees enthaltene Konzejlion an
das Deutfchtum in ben baltiſchen Provinzen denjenigen ruſſiſchen
Bolitifern, benen Hegieren und Ruſſifizieren in den Grenzgebieten
ibentifche Begriffe find. Die liberalen Blätter können nicht gut
dagegen auftreten, wenn anders fie ihre prinzipielle Stellung nicht
Lügen jtrafen wollen. Dagegen hat bie „Nowoje Wremja“ nicht
gezögert, ihrem Mißfallen unzweibentigen Ausdrud zu geben.
U. a. bringt fie in ihrer Nummer vom 29. Mai d. I. eine Kor-
reipondenz aus Riga unter dem Titel: „Die erfte baltifhe Rontre:
reform.” Die Enticheidung in der Schulfrage wird hier als Ins
tonfequen; gegenüber bem bisherigen 2Ojährigen Worgehen der
Negierung bezeichnet. Im Anſchluß daran erfährt die Stimmung
in den baltiichen Provinzen, der freiere Hauch, der durch das
baltiide Geiftesleben gehe, eine eigentümliche Würdigung. Die
hiefigen Journalijten jeien ganz aus dem Häuschen geraten. Zei—
tungen, die jid) ſonſt auf Nachdruck beſchränki hätten, brächten
plöglich jpaltenlange, ſelbſtändige Artifel mit neuen politiihen
Bedanfen. Das alles beweife, daß aud) diesmal wieder die nenen
Ideen, gewiilermaßen die Befreiung der Geiſter, aus Often ger
tommen fei: „ex oriente lux!* Das wirft geradezu komiſch.
Alſo die „neuen“ Ideen in Sachen der Verfafiungsreform uſw.
ftammen direkt aus Ojten? Sollten die Verhältniſſe nicht eher jo
liegen, daß all diefe Ideen, die uns keineswegs unerwartet fommen,
ſchon lange herangereift waren, und zwar auf heimiſchem Boden
und in heimifcher Luft; daß aber durch das gewaltfame Nieber-
haften jeder Bewegung, vor allem durch die Zenſur, bie erſt in
allertegter Zeit in verjtändnisvollerer Weiſe gehandhabt wird, ihre
öffentliche Erörterung — garnicht zu reden von ihrer Umfetzung
in die PBraris — hintangehalten wurde? Ueber den Import von
Ideen aus dem Dften fönnen wir freilich quittieren. Mit der
Wohlfahrt unfres Landes haben fie aber ſchlechterdings nichts zu
ichaffen. Es find die Ideen der Zügellofigfeit und Anardie, die
durch eine gewiſſenloſe Agitation von Often in die Kreiſe unjrer
Land- und Arbeiterbevölferung hineingetragen worden find und
unfre Heimat in innere Wirren gejtürzt haben, die jie bis dahin
nie gefannt hat. Eine jonjtige Befruchtung unfres Geijteslebens
durch die öftlide Ideenwelt läht ſich nicht nachweiſen.
Nach der weiteren Darſtellung des Rigaſchen Korreſpondenten
der „Nomoje Wremja” verlangen „hie Deutichen eine deutjce
Autonomie, die Yetten eine lettiihe, die Eſten eine eſtniſche; nur
die Ruſſen verlangen nichts.“ in bewegliches Bild ruſſiſcher
508 Vom Tage.
Selbſtentäußerung und Beſcheidenheit: Die Ruſſen ftehen in den
Oſtſeeprovinzen traurig und machtlos abfeits. Cie fehen, wie bie
Andersgläubigen und Andersftämmigen ein Privileg um das andre
erhalten, und es bleibt ihnen nichts übrig, als ber heiße Wunid,
ihre eigene Neligion und ihr eigenes Vollstum vor ber drohenden
Ueberflutung gerettet zu fehen! Neu iſt bie Entdedung, daß bie
Deutſchen eine deutſche Autonomie verlangen. Alles, was bisher
über die geplante Verfaffungsreform in bie Deffentlichfeit gedrungen
iſt, zeigt Mörlich, daß der ganze Entwurf auf dem Fundament
einer alle einheimiſchen Nationalitäten umfaſſenden Organifation
ruht. Selbft bei den Verhandlungen der Provinzial: und Kreis:
tage foll völlige Spradenfreiheit herrihen, d. h. jeder in jeiner
Mutterſprache reden dürfen. Was will man eigentlich noch mehr?
Mögen“, ', jo ungefähr ſchreibt der Gewährsmann der „Now.
Wremja“ , „bie baftiichen Journaliften von einer Neorganifation
auf deutſcher Baſis träumen; die Männer, die im praftiichen Leben
ſtehen, denlen nicht daran.“ Wenn mit ber „beutihen Baſis“
das Iguorieren der eſiniſchen und lettiſchen Elemente gemeint ift,
dann fann der Herr verfidert fein, daß auch die baltiſchen Jour-
naliſten „nicht daran denfen.” Ein Blid in jede beliebige Zeitung
hätte den KRorreiponbenten jehr bald hiervon überzeugt. Aber das
wäre natürlich ein jehr unbequemes Eingeftändnis und paßt ihm
ſozuſagen nicht in den Kram. Angeſichts eines ſolchen Vorgehens
wird man unwillkürlich an das Wort eines baltiſchen Hiltorifers
erinnert: „Seit einem Menſchenalter und länger bringen wir bie
Hälfte unfrer Tage damit hin, nichts Hängenswertes zu begehen,
die andre mit dem Nachweiſe, nichte Hängensmwertes begangen
zu haben.” . . .
As ein Symptom des unfre Geſellſchaft betreffenden Peili-
mismus, von dem oben die Nede war, zugleich des mangelnden
Vertrauens zur Zukunft und wohl auch zur eigenen Kraft iſt ein
Beſchluß der legten Generalverfammlung des hiefigen Handwerker
vereins anzufehen. Es handelte fih um den Erſatz des im vorigen
Jahr niedergebranniten Sommertheaters, jpeziell um die Alternative:
Holz oder Steinbau. Die Verfammlung bat ſich in ihrer Majos
vität für einen Holzbau eutſchieden. Das iſt aufs lebhafteite zu
bedauern. Sollte die deutſche Gefellichaft wirklich nicht imftande
jein, die Mittel für ein dauerndes, würdiges Thentergebäude aufs
zubringen ?_ Leider ſcheint das Verſtändnis für die Bedeutung
eines im Dienfte der Kunſt jtehenden Inſtituts noch nicht alle
Kreiſe durchdrungen zu haben. Die banauſiſche Auſchauung, daß
ein Theater ein Vergnügungslofal fei, das feine ernftere Aufmert:
ſamkeit verdiene und hinter „gediegeneren“ Gegenjtänden zurü
zutreten habe, läßt ſich auch unter dem gebildeten Publitum nicht
volljtändig ausrotten. Erſt die unzureihende finanzielle Unter—
Bom Tage. 507
ftügung rückt die Gefahr nahe, dab das Theater auf dies Niveau
hinabſinkt. Es follte eine Ehrenpflicht jein, für die Eriftenz eines
wirklich guten deutſchen Theaters zu forgen. Die erfte Bedingung
hiezu ift die Schaffung von Näumlichkeiten, an denen nicht der
Fluch der Alltäglichfeit und Trivialität haftet. Es ilt ein Unter
ſchied, ob edle Kunſigenüſſe in einer Umgebung geboten werben,
die an und für fi) erhebend wirkt, oder ob diefe Umgebung eine
Stimmung hervorruft, die den Darbietungen eines gewöhnlichen
Vergnügungsetablifiements Fongenial ift. Das Theater in jeiner
Eigenſchaft als Kultur- und Bildungsfaftor wird nicht genügend
erfannt. Das liegt am Publikum ſelbſt. Daran ift garnicht zu
zweifeln. Die Bemühungen der verichiedenen Theaterdireftionen,
die jeit Jahren unjre Stadt befuchen, haben reblich das ihre getan,
dies Vorurteil zu zeritrenen. Um fo deprimierender wirft ber ent
fagungsvolle Beſchluß des Vereins, als unfre eſtniſchen Mitbürger
im Begriff itehen, ſich ein anjpruchsvolles Theatergebäude zu er-
richten mit dem ein mehr oder weniger ad hoc erbautes Sommer:
theater in feiner Weife fonkurrieren fann. Die deutſche Geſellſchaft
sollte ſich ſtark genug fühlen, um auch auf dieſem Gebiet ihre
Opferfreudigkeit zu zeigen. Alle möglichen Bedenfen — in erſter
Linie finanzielle — haben fie veranlagt, ſich einen Vorzug zu ver⸗
ſagen, auf den fie vollen Auſpruch hat und den fie ſich ſelbſt
ſchuldig if. Bei vielen andern Gelegenheiten hat der Handwerfer«
verein ein tiefes Verjtindnis für feine Aufgaben bemwiefen und
durdaus auf der Höhe der Situation geftanden. Es wäre unges
recht, zu behaupten, daß er nun plötzlich von jeiner Höhe hinab:
geftürgt ſei. Xeugnen läßt ſich aber nicht, daß Beſorgniſſe den
Sieg davongetragen haben, die nicht etwa ignoriert, wohl aber
mit vereinten Kräften aus dem Wege geräumt werden mühten.
Daß es unjrer Gefellihaft feineswegs an Opfermut fehlt,
dafür liefert fie ja fortwährend glänzende Belege. Neben den vers
jchiedenen Vereinen, die vorzugsweiſe gefelligen Zwecken dienen und
die ganze Sfala vom ziwanglofen Beieinanderjein bis zum vor-
nehmiten Kunjtgenuß umfpannen, bejteht in unfrer Stadt ein
Imftitut, das, äußerlich auf dem kameradſchaftlichen Prinzip aufz
gebaut, ein praftiihes Ziel verfolgt, das tief in unier Leben ein:
ſchneidet. Ich meine bie Freiwillige Feuerwehr und ihre felbjt-
verleugnende Tätigkeit im Dienjte des Gemeinwohls. Nod in den
legten Tagen hat ein Mitglied dieſer ehrenwerten Geſellſchaft die
treue Arbeit zum Beſten feiner Mitbürger mit dem Tode befiegelt.
Interefjant iſt es, in Anbetracht der heutzutage in unfrer Heimat
vorherrſchenden Verhãltniſſe, die imponierende Einigkeit zu beob⸗
achten, die im Kreiſe der Feuerwehr zuhauſe iſt. Hier gibt es
feinen Klaſſenhaß und feinen Raſſenhaß. Dieſe Männer tun ohne
überflüffige Redensarten ihre Pflicht, indem fie beilen eingedent
508 Bom Tage.
bfeiben, was fie eint, demjenigen aber, mas fie trennen könnte,
die Tür verfhließen. So bieten fie ein jchönes Bild einmütiger,
freudiger Wirkiamteit auf der gefunden Grundlage des Zujammen:
ſchluſſes aller Bürger, denen es mit dem Wohl der Stadt Ernit
it und die nicht gejonnen find, in diefen Tagen allgemeiner Ver:
begung die Idee, in deren Dienſt fie ſich freiwillig geftellt haben,
im Stid zu lajjen. — Dies ift ein Beweis, daß ein BZufammen-
wirfen aller Bevölferungstreife zu einem gemeinnügigen Zwed in
der Praris ſehr wohl bei uns durchführbar ift. Wir haben daher
allen Grund, in dieſer Beziehung nicht ganz ohne Hoffnung in die
Zufunft zu bliden. Wenn ert die Herrichaft der Phraje gebrochen
und jeder an feine tägliche Arbeit zurücgefehrt ift, dann läßt ſich
manches Nüpliche leiten — mit einander und für einander. —
Unfre Freiwillige Feuerwehr ift ein Zeugnis für bie überwältigende
Kraft des Gemeinintereiies und des Gedanfens der Solidarität
aller Heimat: oder Stadtgenoffen gegenüber den Tendenzen egoiſti—
ſcher Separierung der einzelnen, in unſrer baltiihen Heimat ein-
geſeſſenen Nationalitäten.
Zum Schluß möchte ich einen Fehler berichtigen, den mein
voriger. Brief enthält. Auf dem „Dom“ foll nicht eine Klinik,
fondern ein Gebände für Hörfäle, Laboratorien 2c. aufgeführt
werden. An dem Gefihtspunt der Verumglimpfung der Dom
anlagen und der Domruine ändert biefer Unterſchied natürlich nichts.
Das Stadtamt wird die erforderlihen Schritte tun, um die Aus-
führung des Planes womöglich zu verhindern. ud) die Tages
preife hat ſich ſeitdem mit der Angelegenheit beſchäftigt *.
Eine kurze Antwort auf den I. Brief vom Embach.
Es fei mir hier gejtattet auf einiges, was bie Rorrefpondenz
vom Embad, enthalten im Märzheft der „Walt. Monatsichrift“,
anbetrifft, eingehen zu dürfen, namentlich in Bezug auf die Beur-
teilung und die Aeußerungen über das afademijche Leben und die
Geiſtesſirömungen in den Korporationen. Den in Dorpat jIudie-
renden baltiihen Studenten wird ein Vorwurf der Unregjamfeit
des geiftigen Lebens gemacht, welder als zu ſchroff Dingeftellt
»)
npwüiden ift von fompelenier Seite Die Ertlarung abgegeben worden,
dab einitweilen am die Errichtung vieles Gebäudes aus finanziellen Gründen
migyt gedacht werden fönne. Die Ned.
Bom Tage. 508
werben muß. Im Anichluß an eine Schilberung der Begei-—
iterungsfähigfeit bes nicht-baltiichen Studenten der Embachſtadt
im allgemeinen wird der freundliche Wunſch ausgeſprochen,
dab eine Beine Anwärmung der in ben Konventsquartieren herr⸗
ihenden Temperatur fühler Blafiertheit und Langweiligkeit nicht
von Uebel jein würde. Wenn diefer Cap wirklich ein Bild des
augenblidlichen geitigen Lebens gäbe, fo könnte man mit Recht
die Frage aufwerfen, ob nicht die Bedeutung des engen Zufam-
menjchluiies junger Denichen, bie, wie ausgebrüdt worben ift,
„der Pflege der Geielligkeit und Rameradidaft, der Hütung des
guten Tones, der legalen Erledigung von Ehrenhänbeln und ber
Betätigung verwandter Intereſſen leben“, dod) eigentlich eine fehr
geringe jei. — Auf diejes fei erlaubt Folgendes zu bemerfen:
Da ſich die forporelle Studentenihaft fait ausichlieklih aus bal-
tiſchen Kreifen rekrutiert und in allem mit dem baftifchen Lande
eng verwachlen ift, fo muß es als eine natürliche Erſcheinung
angefehen werden, wenn die Strömungen der Geſeliſchaft und des
Landes in ihr ſich mehr ober weniger wiederjpiegeln. Herrſchte
im Lande eine flarfe Depreffion, jo mußte dies ſelbſtverſtändlich
aufs eindrudsvollie auf junge Gemüter eine —J ausüben.
So hat es denn aud) Zeiten gegeben, wo ähnliche Empfindungen
auf die Entwidlung mancher einen nicht bedeutungslofen Drud
ausübten. — Von einem eriflierenden Charafterzug der Blafiertheit
aber fann überhaupt nicht die Rede fein.
Wenn der Verfafler des Artikels gleichfalls die Frage gelöit
zu haben fcheint, weshalb die baltiſche Studentenſchaft in das
politifche Fahrwaſſer der ruffiihen Kommilitonen nicht hineinzur
geraten brauche, jo iſt dieſe Art von Löfung zu einfad und darf
wohl nicht als dem wirklichen Grunde entipredend angefehen
werben; bie von feiten des Ch! CI veröffentlichte Rundgebung
hat von den außerhalb des Ch! E! ftehenden, nicht kraß radilalen
Elementen der Stubentenjchaft richtiges ‚Vertändnis gefunden.
Wie Schreiber diefer Zeilen genau befannt, iſt das wichtige und
bei dieſer Frage nie außer Acht zu laſſende Moment, daß ein
aktives Eingreifen in die Löſung politiicher Probleme aus dem
Grunde nicht Sade der baltiihen Studentenichaft fei, weil
diefe Frage älteren, erfahrenen und das Vertrauen der Geſellſchaft
geniefenden Männern überlaffen wirb, total richtig gewürdigt und
anerkannt worden. Das Vertrauen auf die Tätigkeit älterer Per:
fönlichfeiten ift der Grund, weshalb die Politik in das Studenten
leben nicht aftiv eingreift, und nicht derjenige, daß Korpo—
rationen ſich nur mit der Pflege von Geielligfeit und Hütung des
guten Tones befaljen.
Ferner habe nad) Anficht des Herrn Korreſpondenten das
Schrifiſtück notgedrungen Stellung zu Verhältniſſen genommen,
310 Bom Inge.
denen jeine Abjender innerlich völlig fern ftehen. Nun ift es
jedoch von feiten bes Ch! C! richtig zu betonen, daß er einen
ganz beftimnten Teil der Stubentenjchaft vorftelle und deshalb in
alfgemeinzftudentifchen Angelegenheiten fi) auch zu äußern habe.
Wenn rulfiicherfeits barauf hingemielen worden, da banf der
Erlaubnis des Farbentragens die korporellen Studenten geneigt
feien, mit ber Negierung durd Did und Dünn zu gehen, jo iſt
aud von derjelben Seite in für die allgemeine Studentenſchaft
überaus maßgebenden Kreifen bald nad) Reitituierung des Farben:
tragens die Meinung verbreitet worden, die baltiihe Stubenten-
ſchaſt hätte ihren Standpunkt ber Politik ‚gegenüber verändert.
Es muß alſo wohl die Kundgebung als berechtigt angejehen
werben; fie wurde zubem wie von ber Univerfitätsobrigfeit jo auch
von der jonjtigen Studentenihaft direkt erwartet.
Weiterhin wird der Faſſung ein Varwurf der Unflarheit
gemacht, fie als abſichtlich gewollt hingeftellt und dabei eine quafi
abfichtlic gewollte Unprägifion als faliche politiihe Weisheit ver-
urteilt. Den Vorwürfen gegenüber möge bemerkt jein, dahß an
eine abfichtlich gewollte Unpraͤziſion und jelbige noch aufgefaßt als
politiiche Weisheit garnicht gedadt worden und weder in der
Faſſung noch jonſt irgendwie dem ähnliches herauszuleſen it. —
Dann wird noch weiter gemeint, daß die Schrift durch das Betonen
lediglich der Wiſſenſchaft ſich ſelbſt richte, da die ſtudentiſchen Ver—
bindungen mit der Wiſſenſchaft weniger als nichts gemein hätten.
Der Verfailer des Artikels vertritt eben die Anficht, daß Korpora-
tionen bloß Geſelligleitsvereine jeien; es Tann aber auch bie andre
Anſicht vertreten werden, daß die in Dorpat eriftierenden ftuben:
tiſchen Verbindungen ohne das Fundament der Wiſſenſchaft über
haupt nicht denkbar feien, es jei denn, man ftudiere in Dorpat
einfach Rorporationsleben. Derartige Erjdeinungen find im Aus:
lande bekannt: die jungen Menichen find 2-4 Semeſter Korps:
brüber, verlafen dann das Korpsleben ganz und beſchäftigen ſich
auf einer andern Univerfität nur mit dem Studium. Dorpat
fennt derartiges nicht. — Der Ch! E! hätte auch dann nur bie
Berechtigung, die Korporationen in Fragen, die nur auf das
Gefelligfeitsleben derjelben Bezug haben, der Univerfitätsobrigfeit
gegenüber zu vertreten.
Der Grund, welhalb zu einer Erwiederung gefchritten worden,
beiteht darin, dab Werfafler dieſer Zeilen dic Empfindung hatte,
der Artifel vom Embach fönnte gleichjalle zu Mißverjtändnifen
Anlaß geben, was ja in jedem Fall ſchade wäre, denn, mit den
Worten des Herin Norreipondenten der Valtiichen Monatsichrift:
immerhin ift ein wufreundliches Echo unerjreulid für den, der co
gut gemeint hat.
BEER
Bom Lage. u
Nachwort.
Zu der kurzen Antwort auf meinen erſten Embachbrief möchte
ich bemerken, daß ich dem baltiſchen Studententum nicht den Vor—
wurf mangelnder geiſtiger Negamfeit habe machen wollen. Was
den von mir behaupteten Zug von Blafiertheit anlangt, jo wäre
der Ausdrud „Mübdigfeit“ vielleicht trefiender. Leber das Vors
bandenfein diefes Zuges läht ſich gewiß ftreiten. In jebem Fall
mürbe ich folhe Stimmungen, wie der Herr Einſender es aud) tut,
aus der allgemeinen Ctimmung in Lande erflären.
Aus welhem Grunde das baltifche Studententum ſich nicht
mit Politif befaßt, habe ich nicht erörtert, vielmehr nur erwähnt,
daß es ſich fo verhält. Am allerwenigiten madje ich ihm daraus
einen Vorwurf.
Ich bin ber Anficht, daß unjer geiftiges Leben und damit
dasjenige des baltiihen Studententums mit den Beltrebungen ber
ruffiichen Intelleftuellen, feien dies nun Studenten oder andre
Glemente, nichts zu jhaffen habe. Daher das Unvereinbare zwiſchen
üben und drüben und daher aud das ganz naturgemähe Mih:
glüden der Aeußerung des Chargiertenfonvents zu Fragen, die
angeblich einen akademischen, tatſächlich einen ruſſiſch-politiſchen
Charakter an fih trugen.
Was die ſiudentiſchen Verbindungen betrifft, fo bleibe ich
dabei, dal; fie als ſolche mit der Wiffenfhaft nichts gemein haben.
Daß das einzelne Mitglied wiſſenſchaftlich arbeiten kann und foll,
iſt jelbjtverftändlich, ändert aber an jenem Faftum nichts. Um
der Wiſſenſchaft willen ift wahrhaftig fein Menſch in eine Korpo—
ration eingetreten. Cin um jo beijeres Zeichen ift es für den
einzelnen wie für Die betreffende Rorporation, wenn tüchtige
Männer aus ihr hervorgehn, die den Nachweis liefern, daB das
Eine das Andre keineswegs ausſchließt.
F.
Im Spiegel der Preffe.
18. Mai.
„Dos gefchriebene Gefeg muß dem Leben vorausgehen, jeinen
Weg beleuchten, nicht aber hinter’ ihm zurücbleiben. Im entgegen:
gefeglen Falle wird es feinen Einfluß haben und feine Achtung
genießen.“ (Birih. Wed.) Wenn es num ſchwer ift, das Geſetz zu
einer fo unbilligen Hurtigkeit zu bewegen, fo ift es doch minder jchwer,
dem Leben durch Rejolutionen und „Plattformen“ den Schmand
vorwegzuihöpfen. — Zwei neue in jhärfiter Konkurrenz mit ben
Wegen der Voriehung gearbeitete „Plattformen“ find fertig — die
„Plattform“ des Bundes der weiblichen Gleichberechtigung und des
allruffiihen Bundes ber Techniker und Ingenieure. Sogleih nach
ber Fertigftellung der „Plattform“ find beide Vereinigungen in den
„Bund der Bünde” "eingetreten, ber fic) die Vereinigung aller
radifalen Strömungen zur Aufgabe gejtellt hat. Der Frauenbund
hat die Organifation eines Bundes aller Arbeiterinnen in Nusficht
genommen, beim Bunde der Tednifer und Ingenieure blieb bie
Regelung ber männlichen Arbeiterverhältnite vorbehalten, das
itantlich_politiihe Leben Nußlands regeln beide in freiem Wett
eifer. Der Bund der weiblichen (leichberedhtigung fordert bie
fofortige Einberufung einer fontituierenden Verjammlung auf
Grundlage des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahl-
rechts, ohne Unterſchied der Nationalität, des Glaubens und des
Geſchlechts, die bürgerliche und politiiche Gleichberechtigung der
Frauen auf allen Gebieten der öffentlichen und ftaatlihen Wirt:
famfeit, die Teilnahme der Frauen an allen Mohltaten der fünfs
tigen Agrarreformen und die gemeinfame Erziehung der Rinder
beiberlei Geſchlechts in den Echranftalten jeden Grades. — Ter
„Siewernyj Kraj“ ift ſehr für eine unverzüglide Anteilnahme der
Frauen an ben politiihen Nechten, da fich bei längerem Zögern
der Unterfchied des politichen Niveaus der Männer und Frauen
ſchnell vergrößern würde; die „Ruoj“ dagegen rät dem Bunde ſich
mit Geduld und viel Energie zu wappnen. Der Bund bir
Ingenieure und Techniker tut es gleich dem Frauenbunde in
ftaatlicher Beziehung nicht unter dem allgemeinen direkten Wahl-
recht ohme Unterfchied des Glaubens, der Nationalität und des
Bom Tage. 518
Geſchlechts. Als Kampfmittel zur Durchführung feiner‘ Ideen
wählte der Bund die Boyfottierung derjenigen Perſonen und Inſti—
tutionen, bie ben Zielen des Bundes zumiderhandeln. Cinzelnen
Ingenieuren, die von ihren Arbeitgebern entlaſſen worden waren,
wurben in derfelben Sigung Unterjtügungen aus der Bundeskaſſe
bemilligt. Um 6 Uhr abends wurde die Verfammlung aus von
bem Bunde unabhängigen Gründen geichloffen, bie Veranlafjung
hierzu war der Wunid des Gaftwirts, die von dem Bunde der
Ingenieure und Techniker gebrauchten Stühle zu andern Zwecken
zu benugen. Da in diefem Falle das Gebot des Galtwirts tatz
ſächlich dem Leben vorauseilte, fo fand es allgemeine Achtung.
Bei dem Verſuche, fi in den taufenbfältigen Schattierungen
unfrer öffentlichen Meinung zurechtzufinden, fönnte ber oben-
erwähnte Slaubensfag der „Virſh. Wed.“ als das innere Merkmal
des gemäßigt radifalen Flügels dienen, ein gutes äußeres Merkmal
wäre das Wahlrecht ohne Unterfchied des Geſchlechto, während
das gewöhnliche allgemeine Geheime beſſer als Merkmal einer
fortſchrittlich liberalen Gefinnung zu verwerten wäre, die Liberalen
ohne das allgemeine Geheime fielen füglich unter den Begriff der
KRonjervativen, die nicht einmal Eonjtitutionell, fondern nur beratend
gefinnten Ronfervativen unter den Begriff der Reaktionäre, wo fie
gezwungen wären ſich mit der abjolutiftiich-renftionären Partei der
„Most. Wed.“ im furchtbaren Anäuel unauflösbarer Widerfprüche
zu verwideln; aber dieſe legte Partei iſt fo reaftionär, daß fie
eigentlich feine Partei mehr iſt, fondern eine freiadminiftralive
Vereinigung zur Aufhebung ‚der Barteien und aller liberalen Ber:
fügungen und Gefege. Ihre Wirfj ift nad) den Ausfüh—
rungen Kanſchins notwendig, da Polizei, Armee, Geiftlichfeit und
Beamten ihre Obliegenheiten zur Wahrung des abſolutiſtiſchen
Prinzips nicht mehr zu erfüllen imftande find. Die Partei nennt
fid) die monarchiſche, — Frankreich hat eine monarchiiche Partei
und feinen Monarden, Rußland, das einen Monarchen und eine
monarchiſche Partei Hat, ift nad der Anfidht der „Most. Med.”
beiler daran, das Beſtehen einer monardiiden Partei zur Ver—
hütung etwaiger monardjlofer Zeiten ift logiicher und zeitgemäßer,
als eine monarchiſche Partei gewiſſermaßen nad Tiſche. Schon
jegt ift der Zuftand Höchft unerquidlic. „Wie foll ih“, heiht es
in einem Briefe der „Most. MWed.“, „in der Geſellſchaft meiner
Belannten fagen, dab id) Monardift bin, daß id) ein Ruſſe bin
und ein rechtgläubiger Chrift, wenn mid) ſogleich ein frecher Jude
überjchreit, der die Konftitution fordert — was werbe ich für einen
Monarchiſten abgeben in der Anarchie.”
So haben fi) denn die treuen Untertanen unter dem
ſtürmiſchen Gebahren der Intelligenz feufzend an das Rolf
gewandt, als den altbewährten Hort des Reiches. „Im Laufe
Baltifcie Monatsfchift 1906, Heft 6. 5
514 Dom Lage.
weniger Monate, meinen die „Most. Wed.“, ift die einft fo voffs-
liebende und volkstümliche Intelligenz über dieſes Volk anbrer
Anficht geworden, die Intelligenz läuft vor dem Wolfe davon und
verſteckt ſich vor ihm, fie ſchreit über feine Dunkelheit, Unwiſſen⸗
heit, Wildheit und Barbarei, fie rettet das Volk nicht mehr von
adminiftrativem Drud und polizeiliher Gewalttat, im Gegenteil,
fie ruft nach ftrengen adminiftrativen Maßnahmen, fie will ſich
felbit gegen das Volk bewaffnen und drängt bie Polizei zum
fhärfften Vorgehen, um ungeftärt vom Wolfe die Revolution zu
machen.“ Ihre Hoffnung ift nicht mehr das Volt, fondern das
Ausland und die Engländer — befonders bie Engländer. Kauf-
mannigaft und Bauer haben fi) als vorzügliches Material zur
monardiftiihen Propaganda erwiefen, barum heißt es weiter:
Gebt uns billige, der Konkurrenz gewachſene Zeitungen, öffnet bie
Spalten ber Prefle den erdentitammten Kräften des Volkes und
unfre gut ruffiiche Sache wird unerhörte Hefultate haben.” —
Auch die freie abminiftrativ:monarchifche Partei ift zur Propaganda
der Tat übergegangen.
Die „Birfh. Wed.” behaupten, daß die monardjiftiihe Partei
im Bunde mit den Dunfelmännern und Meſſerhelden ſtehe: Im
Shitomir erklärten die Mefjerhelben (Hooligans), daß fie Studenten,
Intelligen, und Juden totichlügen, da dieſe gegen Nirde und
Staat und überhaupt — Eozialiften wären. — Die böfe Formel,
bie Radikalismus und Judentum vereinigt, ift gefunden, und nicht
allein von ben „Most. Med.“, auch liberale Blätter beginnen
vom jüdiſchen Radilalismus zu reden.
Im Ortchen Juſow aber, im Zefaterinfchen Gouvernement,
murbe ein Keller voll Broflamationen gefunden; die Proflamationen
brauchten nicht vernichtet zu werden. Die Polizei verjah fie mit
dem ſchlichten Vermerf: „von den Juden“ und verteilte fie unter
das Voll. So ift die Sache der Freiheit bucjtäblid) geftempelt
worden.
Unter dem Titel „Privilegien und Verfaſſungsreform“ bringt
die „Düna-Ztg.” einen längeren Artifel, der zum cerflen Mal in
Umriffen ein Bild eines Neformprojefts aus den Rreifen baltifcher
Edelleute gibt. Der Verfaſſer (v. S.) unterſucht bie Privilegien
der Nittergutsbefiger und fommt zu bem Schluß, daß eigentlich
die noch bejtehenden Reſte berjelben von feiner materiellen Bedeu-
tung find, und das wichtigſte Privileg, allein über die Verwendung
ber Zandespräftanden zu beraten, durch die in Rede jtehende Neform
befeitigt werben fol.
Am eingehendften ift biefer Artifel in der „Teenas Lapa“
beiprochen worben; fie wendet ſich befonders gegen die Säge, bie
Bom Tage. 515
Tettifcheeftnifche Intelligenz fheine nach ihrem Verhalten. zu ben
Unruhen ber legten Zeit noch nicht reif zu fein, an ber Bejpredung
von Reformfragen teilzunehmen, und der Adelsfonvent jei allein
Tompetent zu entfcheiden, was eine eigentliche Neform und was
eine Pfeudoreform genannt werden fann. Die Ausführungen
Herrn v. ©., daß feine materieflen Privilegien mehr beitehen,
juchte fie im einzelnen zu entkräftigen. Daneben weit das Blatt
auf die von Herrn v. S. übergangenen Privilegien hin, die dem
Adel und dem Großgrundbefiß nach ruſſiſchem Neichsredht zuftehen,
baf; auf privatrechtlichem Gebiet bei den Raufverträgen mit bem
Kleingrundbeſitz ſich die Gutsbeſitzer wichtige Vorrechte gewahrt
haben, und dann, daß die Höfe von den Gemeindelaſten eximiert
ſeien, ſpeziell an den Ausgaben für Schule, Armen: und Invaliden—
verſorgung nicht teilnehmen.
Die „Rigas Awiſe“ lehnt von vornherein jede Diskuſſion
über die Verfallungsreform ab, ihr ertrem nationaler Standpunkt
ſchützt ſie vor jedem Kompromiß. will nicht das freiwillig
gebotene Geringere, um nicht das Größere, das ſie von ber
Regierung erwartet, in Frage zu ſtellen. Nur äußere Umſtände
fönnen den Konvent zu Neformen gedrängt haben, daher fol man
nicht diefe Neformen, die bloß ritterihaftlidhe Interejien im Auge
haben, begünftigen, zum Schaden ber einzig heilfamen Reformen,
die die Regierung verwirklichen kann, Neformen, die das Jntereſſe
des Landes, d. h. des lettiſchen Volkes vertreten.
Diefe Stellungnahme des gouvernementalen lettiſchen Blattes
it der ruffiichen Preffe eine Gewähr dafür, daß eine Einigung
zwiſchen den Letten und Ejten einerjeits und den Deutichen nicht
moglich iſt. Die eſtniſch-⸗lettiſche Volfskraft, jchreibt die „Nom.
Wremja“, entfaltet fih täglich und jtündlich, fcon haben bie
Deutichen viele Pofitionen verloren, find aus vielen Stabtverwal-
tungen verdrängt worden. Jetzt fangen die Deutſchen an Schutz
bei der öffentlichen Meinung Rußlands zu fuchen, bald werben fie
ſich von der alten Anjchauung losfagen, da ihre Pofitionen im
Gebiet hauptjächlid durd) uns Nuten bedroht find. Dann wird
der Moment eintreten, wo wir Ruſſen wieder als die Vertreter
ber Gercchtigfeit eingreifen werden, aber nicht mehr zu gunſten
der Eften und Letten, wie bisher, jondern zu gunften der Deutfchen.
Es ijt eben unfre Aufgabe, in den Grenzmarfen im Kampfe der
Nationalitäten die Schwächeren zu jtügen. —
Durd) unjere Blätter ging vor furzem bie Notiz von dem
Erſcheinen einer neuen eftnijchen ſozialiſtiſchen Zeitichrift „Der
Fortfchritt” in der deutſchen Reſidenz. Die Mai-Nummer, die
mir eben vorliegt, enthält das Programm berfelben. „Forticritt,
Wahrheit und Tugend ftehen höher als alle Geſetze und Keligionen“,
lautet die Parole der Zeitfhrift; fie bedeutet: „Unfre Zeitfchrift
—*
516 Bom Tage.
nimmt zum Ziel ihrer Beitrebungen und zum Maßſtab ihres
Wirkens den Fortichritt, die Mahrheit und bie Freiheit, welch
feßtere in natuͤrlicher Weife ans der Entwidlung der Kultur
gejhichte und aus der geiltigen Natur des Menſchengeſchlechts ſich
ergeben. . . .” Weiterhin heißt es: „AU unfer politiihes und
wiſſenſchaftliches Streben wird fi) gründen auf eine natürliche
Moral oder Lehre vom Guten, mit deren Syitem wir unfre Leſer
fernerhin von Grund aus befannt machen werben. Alle Pro:
gramme, Pläne, Verbeiferungen und Neformen, die fih auf das
Gemeinweſen und die Politit beziehen, müſſen auf moraliſchen
Grunbfägen und Verbefferungen bafiren. Unfre Moral aber trägt
feine veligiöfe Färbung, fondern fie iſt die Sprache der Naturgefege
von der geiftigen Natur des Menſchen jelbit.”
Es ift verfrüht, nad) diefer Einleitung das Blatt ein fozias
Niftifches zu nennen, man warte die Naturgefege ab, die es von
der geiftigen Natur des Menſchen abzuleiten gedentt.
238. Mai.
Die Ereignifje der legten Zeit haben bie Parteienbildung in
Rußland beichleunigt. Die Gruppierung des rechten Flügels, durch
die befannte Aktion des Fürften Trubepfoj eingeleitet, iſt zur Zeit
nach ben „Bird. Webom.“ elma folgende: Gam retts fiehen
Gringmut und der Stab der „Most. Weboı dann folgt ber
„Grafhbanin“ mit dem Fürften Meſchtſcherskij, hieran ſchließt ſich
die ruffiiche oder national-progreffive Partei des Grafen Scheremetjew,
dann folgt Trubepfoj mit feinen Anhängern, den 22 Adelsmar-
fchällen und ihrem Programmadıer Schipow — ihr Organ iſt die
„NRowofti bnja“; weiter linfs jtehen Golowin und Golisgn mit
ihrem Anhang und die fog. „ehrlichen Konfervaliven“, von denen
man nur weiß, daß fie feine Gemeinschaft mit dem ganz rechten
Flügel der Adelspartei haben wollen. — Zufammengehalten wird
die ganze Adelspartei durch den gemeinjamen Wunſch, organiſche
Reformen zu verwirfliden, dabei jtreng auf geſetzlichem Boden.
Die „Birſh. Wed.“, die eigentlic wenig Grund haben, das Lob
der delspartei zu verfünden, erkennen dieſen Neformeifer an;
anläßlich der agraren Frage fagt fie: „Zur Ehre der Edelleute
fei es gefagt — die Mehrzahl it für eine unaufjdiebbare Befrie-
Bigung des bäuerlichen Kandhungers!”
Ein Reformeifer, der jet ganz Rußland befeelt, genügt nicht,
um bie Rechte von den übrigen Parteien des Reiches zu trennen,
jondern ihre nationale Färbung. Beltimmend hiefür ift einmal
die Tradition Moskaus als Zentrum der Mdelspartei, der
ſchroffe Gegenjag zum liberalen burcaukratifchen Petersburg. Als
Bom Tage. 517
Beleg hiefür zitiere ich folgenden Paſſus aus dem Briefe bes
befannten Edelmanns Pawlow an den Herausgeber der „Nowoje
Wremja“: „Organiſche Umwandlungen — als Ausflus organifcher
Forderungen des ruffiidhen Landes, um es zu heilen von allen
freinden Prinzipien, die das 18. Jahrhundert und das regime
imperial bureaucratique in unſer Leben getragen, die unſern
zariſchen und volfstümlichen Weg verunitaltet, zum Ziel desfelben
die Konftitution gefegt — find aber etwas anderes als Reformen
im Geijte diejes regime imperial bureaucratique, von dem der
Petersburger Liberalismus ebenſo jet wie früher träumt! —
Dieſe liberalen ngeipinfte Petersburgs find ein untrüglides
Symptom der geiftigen Erfranfung unfrer intelligenten Gefelljcuft
und bilden den Hauptgrund ſchadenfroher Hoffnungen unfrer Japano-
philen, wie derjenigen der ganzen Erde!” . .
Das Petersburger Blatt, die „Birſh. Wedom. “, erfennen
Mosfaus Vorherrigaft an: „Wirflid, Mosfau wird immer mehr
zum Zentrum des ruiliichen politiſchen Gedankens. Hier iſt die
politiſche Plattform für die Beziehungen der Ruſſen und Polen
ausgearbeitet und feitgejegt worden. SHier haben fid) der Bund
der Bünde, die wichtigiten Kongreſſe und Organifationen zuſammen⸗
getan. Hier iſt der Sig der ganzen rechten Oppofition, die Anz
hänger Scharapows, Schipows und Scheremetjews, die alle auf
Bott und ihre Kräfte vertrauend, das Allumfaffende zu erfaiien
hoffen und vor allem die Aufgabe der ruſſiſchen Staatsordnung
entgegen dem Erfahrungsiag der Weltgeichidhte auf dem Boden
rufliiher Eigenart zu lölen gedenfen.”
Zu den beiden Merkmalen, Reformeifer und nationaler Eigen:
art, kommt als drittes der Gegenjap und Nampf mit den revo
Intionäven Parteien des Meiches hinzu. So ſchreibt ber „Mir
Boſhi „Alle politiſchen Gruppen der Rechten ſind eins in einem
rührend ähnlichen Motiv: dem Kampf mit den Unruhen, revolu—
tionären Strömungen x. Die Einen verlünden „Ihlagt fie auf
den Kopf“, andre raten zu bewafinetem Widerjtande, andre wieder
zu „geleplichen Mitteln“, einige begnügen ſich mit „unverjö
licher Stimmung“. Weiter folgen als Mittel: Semofij
politische Reformen ufw. In den Mitteln kann man natürlich auss
einandergehn. .. Es ſcheint, als ob alle Schattierungen der Nechten
bloß für die Unruhen da find und weil dieſe eriftieren. Darum iſt
aud die Rechte in ihrer angenblicklichen Bildung als politische
Kraft durchaus nicht ernit zu nehmen, jie erſcheint jogar lächerlich
in der Rolle einer getreuen Oppofition zu den Unruhen. ... Die
heutige Nechte iſt durch die Unruhen und für dieſe entilanden.
Scjon aus diejem Grunde allein jollte fie danfbar jein und weniger
färmen. Aber wir haben uns ſchon zuwiel mit ihr befaht, da ja
nicht einmal die nächſte Zukunft ihr gehört.”
518 Vom Tage.
Co hätte aljo der „Mir Boſhij“ die unbegueme Rechte
mitfamt den Unruhen von der Liſte geſtrichen. —
Die lettiſche, deutſche und rujfiiche Preiie hat von der in
der „Voliiſchen Monatsicrift” veröffentlichten Antwort des lin:
ländiihen Yandmarihalls an den Grafen Gudowitſch jofort Kenntnis
genommen. Die leiuſche und deutiche Preiie begnügen ſich mit
der Yıiedergabe des Briefes, die „Deenas apa“ hebt hervor, daß
die livländiſche Nitterichaft nad) dieſem Briefe ſich nicht mit Fragen,
die das ganze Neid betreffen, beichäftigt habe. Dieſe Tatſache
bringt fie in Zufammenhang mit der offiziellen Vlitteilung, da
die baltiihe Zelbjtverwaltungsreform auf Initiative der Nittericaft
in Angriff genommen it. Die „Nihsk. Wed.“ und ihr getreues
Echo der hanin“ in der „Nomwoje Wremja“ meinen, daß die
fivländifche Nitterichaft in der Frage der Selbjtuerwaltungsreform
bejonders geididt verfahren fei, aus dem Briefe des livl. Land-
marichalls glauben fie entnehmen zu fönnen, „dab dunch weils
Maßhalten in ihren Wiünfhen“ fie ihren alten Wunſch, die Jui—
fiative der baltiihen Selbjtverwaltungsreform zu ergreifen, erreicht
habe. Anfnüpfend bieran meinen fie, daß das ritterichaftliche
Heformprojeft augenjdeinlic noch nicht feititche, da nad den
deutichen Zeitungsnadricten (Tüna-dtg. und Nordlivl. Ztg.) eine
progrejjive Partei mit der fonfervativen um die Verrichaft ringe;
die „Rusj“ meint, daß die progreſſiven Stimmen jedenfalls nur
‚gang vereinzelt jein fönnen. Die „Nihst. Wed.“ machen vor allem
für ihren Gedanken Propaganda, daß die im öffentlichen Leben
wirfenden Glieder des lettifdyeitniihen Voltes entweder zu den
Beitrebungen des Neformprojefts hinzugezogen werden oder wenig:
ſtens getrennt ein jelbjtändiges Projeft ausarbeiten mühlen, dann
wäre die Negierung iflande, das ritterfcaftliche Projekt beiier
beurteilen zu fönnen. —
Das Programm des Herrn v. S. hat eine Ewiederung in
der „Norbliot. Zig.“ gefunden, hier wird die Vertretung der Nicht
beiglichen, darum Wahl der bäuerlichen Delegierten für die Bezirks:
verbände durch die Gemeindeverfammlung und Heranziehung der
Kändtichen Sutelligenz gefordert, die Vertretung des neuen Yandı
tanes durd) die Nitteridaft wird verworfen. Die lettiihe und
ruſſiſche Preſſe erklären ſich mit dieſem Projelt für einverfianden,
auch in der „St. Pet. Ztg.“ iſt von einem Anhänger dieſes
grojetts, einem Kern y, ein Artifel erfhienen; hier wird aller:
dings das Haupfgewicht nur auf die Beteiligung der Jutelligenz
zweds Lölung politiicher Fragen gelegt, in der Weiſe des F.-Lr
KRorveipondenten diejes Blattes.
Vom Tage. 510
Im „Rig. Tagebl.“ befämpft Herr ©. v. V. gleichzeitig
Herrn v. S. und den Herrn ber „Norblivl. Ztg.” — es handele
fi beim ganzen Neformprojett nicht um einen politiihen Körper,
fondern bloß um eine Steuerverwaltung, was beiden Herren un:
befannt fdeine. Von einem Dlitvertretenfein „aller Welt“ könne
feine Nede fein, aud) auf der Vaſis einer Cinfommenfteuer jei
das nicht möglid, da dieſer im provinziellen Haushalt niemals
eine zentrale Stellung zutommen lonnte.
Scliehlih hat in bie Tisfufiion der Landtagsrejorm ein
Vertreter des geiftlichen Standes eingegriffen und für die Betei—
tigung feiner Amtebrüder plaidiert.
Den Vorwurf mangelnden Konfervatismus hat fi das
Projeft des Herrn v. ©. in einer d gezeichneten Zuſchrift ber
„Düna-Ztg.“ zugesogen. Ser wird vom Schirrenihen Standpunft
aus der Grundbejig als einzige Vorausſebung politischer Beteiligung
gefordert, im Gegeniag zur Präſtandenleiſtung. Auch iſt ber Ver:
faijer geneigt Kleingrundbefig und Großgrundbeiig in der Landes-
verwaltung jänberlid zu j—eiden, etwa nad) dem Vorichlage des
Herin ©. v. B. Für gelonderte Fandtage und Bauerntage ift
aud in der „Et. Vet. Zig.“ Herr ©. eingetreten, um Hader und
Zwiefpalt, Verſchärfung nationaler Gegenji i
gemeinjane Arbeit würde dann in den vereinigten ritterfchaftlichen
und bäuerlichen Auoſchüſſen ſtattfinden, wo bei der bejchränften
Anzahl den Gliedern Gelegenheit geboten würde, ſich gegenfeitig
kennen und lieben zu lernen.
Die vielverſprechende Judenfrage ift in enger Verbindung
mit der Frage der Fremdjtämmigen dem panilaviftiid-jlawophilen
Ideentreiſe in überrajcend einfader Weije entjtiegen, indem bie
in Rußland mwohnenden Hebräer den Fremdſtämmigen zugezählt
wurden. Nachdem laut der „Now. Wr.” der „Sſyn Stjetſcheſtwa“,
laut dem „Siyn Otjetſcheſtwa“ die „Now. Wi den hebräijden
Urfprung des ruſſiſchen Nadifalismus an feiner Abneigung gegen
die hebräiii jedelungsgefege entdedt Hatte, bejtritt ein Artikel
der „Now. Wem.” die Stimmberedhtigung der Hebräer, nicht als
Menſchen, jondern als Ruſſen und redhtgläubige Chriften. Ja, die
Neputation des allgemeinen geheimen Wahlvechts jelbit wurde
durd die Behauptung, daß ſich bei den Wahlen in der Provinz
doch hauptſächlich nur Juden einftellen würden, weſentlich geſchmälert.
Aus der „Nowoje Wremja” fiel der Gedanke in die Hände der
„Post. Wed.“, die ihn in einer glüdlidien Nombination mit der
Autelligenz und den altbenährten japaniichen Diillionen der ftaats-
erhaltenden Propaganda der Tut übermittelte. Xeptere verteilte
520 Vom Tage.
ihn in der populären Form bes Plakats für ein Geringes unter
das Volt, wobei ihn der Polizeimeifter von Jufow erhaſchte und
ihm zur_bequemeren Handhabung in epigrammatifcer Kürze in
feinen Stempel ſchneiden ließ.
Die parallel mit den Hebräern erörterte Frage der übrigen
Fremdſtämmigen war indefjen noch nicht ftempelreif und bie An:
ſchaffung eines Stempel mit der analogen Aufidrift „von den
Fremdjtämmigen“ wurbe von der Kanzlei des Polizeimeijters in
Jufow bis auf weiteres nicht für notwendig erachtet. Dagegen
it and) diefer Gedanfe bereits in den „Most. Med.” angelangt.
Die vadifalen Bünde und Parteien, mit denen bie Stempelung
ber Judenfrage begonnen hatte, haben in allen Refolutionen und
„Plattformen“ ein menjchliches Nühren, wie mit den Juden, fo auch
mit den übrigen Fremdflämmigen gezeigt, dem Begriff der bürgers
lichen Freiheit die Autonomie und freie nationale Entwicklung aller
frembftämmigen Wölterihaften auf den hiftorifch geworbenen
Grundlagen ihrer Kultur einverleibend.
Leider dürften die Segnungen der radifalen Anſchauungs-
weife bei der praftiihen Durchführung ihrer Grundjäge für die
fremdftämmigen Völferjchaften ohne Bedeutung fein, da die Radi—
falen zunächſt eine ausgibige Reform auch des fremdjtämmigen
Volfslebens nad) dem Prinzip des MWahlrechts ohne Unterichied
der Geſchlechter in Ausficht nehmen, wobei den Fremdjtämmigen
nur fpärlidie Ueberreſte des hiſtoriſch Gewordenen zur weiteren
Pflege ihrer nationalen Eigenart verbleiben dürften. Ohne Echo
verhallend erklingt unter diefen Umitänden die Stimme Alexej
Woroſchins in der „Nusj”: „Deine lieben ruffiichen Brüder, iahl
ab, id) bitte euch, von eurer efenden und unverftändlihen Torheit
der Ausrottung und Ecjuhriegelung ber Fremdftämmigen — nie
mand werdet ihr ausrotten! Alles Starke, das eure Befürd-
tungen wedt, findet fein Leben, dasjenige aber, was in dieſem
Starfen euch ſelbſt zum Halt dienen fönnte, wird, den Dornen
gleid) euch ins Fleiich dringend, euren Leib zerreißen, und auf
biefem Dornenlager werdet ihr, glaubt mir, weit entfernt fein,
Sieg oder audy nur Ruhe zu finden, von ber jtündliden Erwar—
tung irgend eines plöglicen Greigniifes beunruhigt. Kein Verftand
ift darin, jondern eitel Blindheit und Schaden. Die fremde Indie
vidualität unterdrüdend geht ihr auf Meſſern einher, weit werdet
ihr auf diefem Wege nicht gehn.“
Bom Tage. 21
10. Juni.
Die abjolutiftifihe Partei hat, Schritt vor Schritt den Ereig-
niſſen bes politijhen Lebens folgend, den Weg von den grund:
legenden Vorausjegungen ihres Beftehens bio zu den legten Kon—
fequenzen diejer Grundfäpe zurüdgelegt. Sie wollte beharren und
ift genötigt zu reorganifieren. Seit den Zeiten Karamſins und
darüber hinaus, ſeit den erjten Negungen des rufjiihen Staats:
gedanfens ruht Nußland auf ber unteilbaren Dreiheit — Volto«
tümlichfeit, Nechtgläubigfeit und Selbſtherrſchaft. Dur dieſe
Dreiheit und ſomit durd) das Wejen des Staates ſelbſt it alles
Neformieren dem Staate verberblidh, denn jebe Eriheinuug bes
ruſſiſchen Lebens ift aus einer diefer Wurzeln erwachſen, deren
organiiche Verbindung alle Eingelreform vereitelt. „Daher find
den Feinden Rußlands alle drei Prinzipien gleid) verhaft und
die Neformbewegung richtet fi) gegen die Orundlagen des rujfüchen
Reiches und auf die Aufhebung des ruſſiſchen Staates.” Mo
immer die Feinde des alten Regimes den Spaten anfegen, bedrohen
fie das Leben der Wurzeln Rußlands. Die Liberale Intelligenz
führt Rußland der Vernichtung entgegen. „An die Etelle ber
zariſchen Selbſtherrſchaft wird die Despotie der parlamentarijchen
Mehrheit, d. H. der radifal-frembjtämmigen Intelligenz und der
jüdijchen Geldherrſchaft treten, an bie Stelle der Rechtgläubigfeit
— nichts! Denn alle Religionen werden gleichberechtigt ſein und
feine führend! An bie Stelle bes ruffiichen Volfsgeiltes werben
alle übrigen Volksſtämme treten, denen Nußland nicht gehört und
bie dennody gemeinfam mit der murzelloien und finnlofen Intel
ligenz Nußland Ienfen werden! Das duffiſche Volt aber wird, auf
feine ethnographijchen Grenzen beichränft, an der Führung bes
Zandes allein durd) jene Intelligenz beteiligt jein, folglid) von der
Leitung und Verwaltung des Landes gänzlich ausgeichloffen und
feiner politifhen Nechte verluftig fein... . Augenicheinlic wird
durch dieſe Reform Rußland jeines ftaatlihen Gebantens und
überhaupt jedes Sinnes beraubt und nichts mehr — als ein leerer
Schall!" (Most. Wed.)
Das find die Früchte der Intelligenz, die ein Frembförper
im ruſſiſchen Staat ift, erwachſen und genährt auf dem Boden
bes weltenropäijchen Imperialismus. Soll Nußland genejen, jo
heißt es mit dem Übel der Intelligenz auch den Grund des Übels
zu bejeitigen. „Entſchieden und feit müflen wir der Politif des
Imperialismus entjagen und zur patriardaliihen Form ber Selbit:
hertſchaft zurückkehren, die der Struktur des ruſſiſchen Lebens ent:
ſprechend und natürlid) it.” (Most. Wed.) Der imperialiftiihe
Staat gelangt, mit ber Beſchränkung bes jelbftherrliden Willens
durch die Minifter beginnend, unrettbar zur Konjtitution, mit der.
22 Vom Tage.
die Auflöfung des Staates felbft beginnt. Rußland aber ift aller:
dings beim Miniſterſyſtem, aber noch nicht bei der Konjtitution
angelangt, daher iſt es noch Zeit mit dem Imperialismus zu
brechen und den patriarchaliſch volfstümlichen Staat in feiner ur:
ſprůnglichen Neinheit wieder herzuitellen. Co jteht denn „unter
den Neformen, deren das heutige Rußland nad) der Meinung der
monardiiden Partei bedarf, eine größere Feſtigung der unum-
ihränft monarchiſch jelbfherrlihen Gewalt obenan.“ Cs täte vor
allen Dingen not, den Staat im Staate das Juſlizreſſort aufzus
heben und bie Teilung der Gewalten zu beieitigen. Aus der
Aſche des Imperialismus wird vermittels folder und ähnlicher
Neformen der Phönir des ruſſiſchen Staates neu erſtehen und ſich
body über feine Feinde erheben! Wer aber bürgt für den Sieg
der guten Sache, wer wird den Jmperislismus zermalmen und
die Unmtriebe der Intelligenz zu Schanden madjen, wer ijt der
Heros der Abjolutiften? Und wir erhalten zur Antwort — das
ruſſiſche Volt! —
Hunderttaufende von Köpfen find, wollen wir anders der
radilalen Preſſe Glauben jdenfen, augenblidlih in Nußland mit
der Verwirklichung der jozialiitiihen Ideale beidäftigt, mit der
Nealifierung diefer Ideale nicht allein, fondern ebenjo mit ihrer
Ergänzung und Erweiterung. Zum Ruhme Rußlands wird die
Löſung der Aufgabe alle Erwartungen weit übertreffen, und wenn
die Sozialdemokratie des Wejtens ein goldenes Zeitalter Hat ſchaffen
wollen, jo wird jedenfalls das Zeitalter des ruſſiſchen Radikalismus
um vieles goldener und, jozujagen, ein unerhört goldenes Zeitalter
fein. Nur das weitgeftecte Ziel lohnt der Mühe, und der ruffiiche
Radilalismus ift in der mühevollen Arbeit der Selbftorganijation
begriffen. Nach dem Referat des „Mir Bolhij” beginnen ſich
bereits feit einigen Monaten Perfonen der verſchiedenartigſten
Berufe zu profeifionalen Genoſſenſchaften zuſammenzuſchließen.
Proſeſſoren, Lehrer und Voltoſchullehrer, Advokaten, Ingenieure,
Aerzte und Schriftſteller, Pharmazeuten, Veterinäre, Handwerker
und Techmter die Frauen aller Berufe vereinigen fi} zu politiich-
profefjionaten Verbänden. Einzelne dieſer Genojlenidhaften find
mod) örtlid) beſchränlkt, viele find bereits zu allruſſiſchen Bünden
geworden. Als Viufterprogramm diefer Bünde fann im politiid-
hogialer Yinfiht das Programmı des allruffiüchen Bundes der Tech
nifer und Ingenieure, das wir bereits erwähnt haben, dienen.
Alle allruſſiſchen Genoſſenſchaften, ſchreibt Archeſchow in
„Naſcha Shisnj“, find aus Ortoögruppen entjtanden und haben
fid) vermittels alleulfifcher Delegiertenverfammlungen und dur
die Tätigfeit provinzialer Zentralbureaus endgültig organifiert.
Gemeiniam iſt ihnen allen — die Errichtung einer vorläufigen
politijgen „Plattform“, als erſte und nädjitliegende Aufgabe,
Bom Tage. 523
und das Veitreben, die Neafifierung dieſer „Plattform“ mit den
Wiitteln ihres pratifcen Berufes zu erreichen. Die Annahme der
politiihen „Plattform“ mit allen in ihr enthaltenen Freiheiten legt
jedem Gliede die moraliſche Xerpflichtung auf, nad) Moöglichteit
die in der Einigungsformel enthaltenen Ideen in jeiner unmiltel-
baren praftiichen Tätigkeit zu_verwirkliden. Landau im „Ziyn
Otletſcheſtwa“ definiert die profeffionalen Bünde als „das Surrogat
einer freien Geſellſchaft“, die tatfächlic die Freiheit ſchafft und
die gewvaltige Arbeit einer gefellicaftlichen Wiedergeburt vollzieht.
Nach den Auslaffungen des Profeſſors Viiljufow it der negativ:
feittiche Teil der Bundesplattformen vollftändig gleihlautend, ihr
volitiicher Schalt nicht weſentlich verfchieden, erjt bei den ſachlichen
Einzelheiten beginnt die Meinungsverſchiedenheit. Es lönnen daher
die Glieder der profeſſionalen Bünde nicht beanſpruchen, unmit-
felbar die reorganifierte Gefellichaft zu vepräfentieren, uud nichts
mehr als eine Vrücke zur Echaffung des fozialitiichen Staates
bilden. Dementipredend bezeichnet Profeſſor Miljutow als die
Aufgabe der Bünde — „die bis dahin untätigen Elemente zur
Artivität zu bewegen.“ Während die Bünde ſelbſt nichts mehr als
der Eauerteig find, der langjam in die paljive Maſſe hinabdringt,
iſt die endgültige Verwirklichung des radifalen Programms einer
andern und größeren Kraft vorbehalten. Wer aber, fragen wir,
wird den Bau der morichen Gefellichaft zerfhmettern, der Cache
der Gleichheit, der endgültigen Vereinigung der Männer und
Frauen und der geredten Verteilung von Arbeit, Macht und
Genuß zum Siege verhelfen? Und wir erhalten zur Antwort —
das ruſſiſche Volk!
In der Verteilung der deutjchen Geſellſchaft Hat ſich bei
der ruſſiſchen Preffe ein Umſchwung vollzogen. Die alte An:
ſchauung, der man überall begegnete, die baltiichen Deutichen feien
allen Reformen abhold, die nicht die Rückkehr zur Wergangenbeit
ermöglichen, findet immer weniger Boden. Vor allem fonftatieren
die rufitihen Blätter eine neue Strömung, die ſich in ben deutſchen
Tagesblättern äußert. So ſchreibt ein Rorrefpondent der „Now,
Wremja“: „Es ift ſchwer zu jagen, was im Augenblid in den
Spalten unferer Tagesblätter ſich entwidelt. Bis vor kurzem faſt
ganz ohne eigene Artifel nur auf den Abdrud angewieien, find
diefe Zeitungen plöglih voll von jelbjtändigen Leitartifehn und
Auffägen über Neformen für das Titieegebiet. Hierher redinet | die
rufiiiche Preſſe die Aufläge über die Yandlagsreform, bie Die:
fujfion in der Batronatsjrage, endlich haup! lich die Schulfrage
im Zufammenhang mit dem von der „DünazZtg.“ angeregten
524 Vom Tage.
Gedanken der Parität. Die Anihauung daß das Erlernen der
tettiichen und eſtniſchen Sprache als notwendig von der beutichen
Gejellfchaft erachtet wird, hatte die ruffiſche Preife jehr überraicht.
Die Möglichfeit einer nationalen Einigung nod bis vor
furzem von der gefammten ruffiichen Preife als unmöglid) hin-
gejtellt, wird jetzi befonders von der „Nühst. Wedom.“ immer
mehr in den Kreis ber Betrachtung gezogen.
„Es ift Mar“, ſchreiben die „Riſhokija Wedom.“, „daß bie
baltiihen Deutſchen ernithaft mit den veränderten Verhältniſſen
im Gebiet und dem Machen der eftniich-lettiicen Kulturkraft zu
vedhmen anfangen. , . . Vielleiht find diefe neuen Strömungen
in der deutjchen Geſellſchaft unvermeidlih und jogar garnicht
ungünftig für geregellere Beziehungen zwiſchen den Grenzmarken
und dem Heide. . . .
Das freiere Spiel der geſellſchaftlichen Kräfte nad Be:
feitigung des abminijtrativen Drudes, weldes jegt den neuen
ruſſiſchen Auſchauungen fonform der Gefellichaft zugeitanden werden
muß, wird in Zukunft eine nationale Einigung nicht mehr ver:
hindern fönnen. Da drängt fi den ruſſiſchen Blättern unwill:
fürlid) der Gedanke auf, daß eine Verdrängung des ruſſiſchen
Elements zu befürdten ill. Die „Niſhöt. Wedom.“ fallen in die
bittere Klage ein, daß gerade bie ruſſiſche Bureaukratie in erſter
Linie die ruſſiſche Geſellſchaft bier in den Grengnarken vernichtet
babe, jo daß jetzt wo im ganzen Gebiet alles eine rege Tätigkeit
entfaltet, die ruſfiſche Gejellihuft tatenlos verhartt.
Die „Now. Wremja* jcreibt: „Obgleid die Zahl ber
ruſſiſchen öffentlihen Organijationen im Oftieegebiet bedeutend
gewachſen war, iſt dennoch ber geſellſchaftliche Geiſt vollitändig
geihwunden. Die Formen find da, aber ihnen fehlt das Leben.
Die ruſſiſche Gefellihaft eriftiert ſozuſagen nur auf dem Papier,
nicht in Wirklichfeit. In dem Augenblid, wo fie ihre Stimme
erheben müßte als Gegengewicht allen möglichen fremditämmigen
Umtvieben, zeigt es ſich, daß dieſe Geſellſchaft garnicht eriftiert.
Und wir haben nichts, was wir den realen ortseingefejlenen Gejell:
ichaftsfräften entgegenjtellen fönnen, die in letzter Zeit unter dem
Einfluß neuer Strömungen zum Leben erwadıt, die Reorgauiſation
aller Beziehungen des Djtjeegebiets ihren Anfhauungen gemäß
verlangen.
Die Polemit zwiſchen der deutichen und lettiſchen Preſſe
wegen der Banerunruhen auf dem Lande it in legter Zeit ver:
ſtummt, nachdem die Unruhen immer mehr einen antifirdlichen
Charakter angenommen haben. Die Kirhenjchließungen durd das
Konfiftorium und ber Appell an die Gemeinden zur Celbithülfe
gegen die Unruhejtörer hat in der „Rig. Awiſe“ und einigen
Bom Tage. 525
anberen fettijchen Blättern ein Echo gefunden. Die „Beterb.
Awiſe“ bringt ebenfalls einen hierher gehörigen Artifel mit ber
Veberfrift*: „Fort mit der Politit aus der Kirche.” Hier heikt
es: „Wir find bereit, wir rufen jedem Letten zu: ort mit
der Politit aus der Kirche! Rührt das Heiligtum nicht an, laßt
zum geringjten einen Ort des Friedens übrig, wo die Müden fich
ftärfen und erholen fönnen von den Stürmen des Lebens. Aber
wir willen aud, daß dieſem Nuf nur dann wird Folge geleiftet
werden, wenn Ihr deutſche Herren Euch fosfagt von der bisherigen
Ordnung, die Kirche als politiiche Arena zu betrachten. Wollt
Ihr das? — Wir zweifeln. Ihr wollt noch mit den alten
Mitteln die Kirche und die Perfon des Predigers jhüpen. Ihr
liebt Schelle und Strafen, Ihr jeht nur das Heil in Nagaifen,
Schwertern und Flinten, wir dagegen glauben daß beſſer die Kirche
und ber Prediger durd) die Licbe und das Vertrauen der Gemeinde
geihügt wird. Wenn Ihr dasjelbe wollt, jo find wir auf dem:
felben Wege, dann wird unfrer Arbeit das Gebeihen nicht fehlen,
wollt ihr dagegen nicht, fo find unfre Wege geidieden, dann Fünnt
Ihr_ über uns läftern joviel Ihr wollt, wir werden bei unfrer
Auffaffung und unfrer Ucberzeugung bleiben.“
Das „Nig. Tagebl.” plädiert für Schliefung der Kirchen
auch vor dem Ausbrud von Rirchenjtörungen, damit Gefundheit
und Leben der Pajtoren nicht von der Laune roher Tumultanten
abhängig bleiben und für fleine Soldatenpifetts, die mit jtrengiten
Voll machten ausgeitattet den jonntäglichen Gottesdienjt zu bewachen
haben. Die ruflische Preſſe hält diefe leptere Maßregel aus rein
praftiihen Gründen für nicht durchführbar, bedauert, daß die
deutfden leitenden Kreife nur für Gemaltmahregeln find. Cs
wäre interefjant die Meinung der deutihen Preſſe darüber zu
vernehmen, warum es die deutlichen Paſtoren nicht verjtanden haben,
im Verlauf einiger Jahrhunderte die Liebe der Bevölkerung zu
erwerben, fo daß ſie jept ihre Verteidigung übernehmen fönnte.
Es ift beachtenswert, dab ſolche Unruhen in orthodoren Kirchen nicht
vorgefonmen find. Soweit die ruſſiſche Preſſe.
Der „Poflimees“ widmet einen längeren Artifel der mit
der proflamierten Glaubensfreiheit verbundenen Uebertrittsfrage.
Er meldet, daß die geijtlihen Oberen der cvangelifchen Kirche den
Berchluß gefaht hätten: Der Uebertritt zum evangelifden Glauber
fofl vermittel® Polizei geichehen. Wie man hört, Habe bir
lutheriſche Kirchenobrigfeit um ſolch eine jondeiliche Ordnung und
polizeiliche Vermittlung beim Glaubenswechfel in der Befürchtung
#) Diejer Ariitel iſt vom Nedaktcur der „Baljs*, Paftor emer. Olaws
aeichrieben; die Redattion der „Peterb. Awiſe“ fügt hinzu, daf der Artifel vom
Sigafehen Zenfos einer Iwiigen zeig geitricen fi. Mald darauf crjchien
dieſer Arrifel dennoch gleichzeitig im „Walt Wepitn.“ und im „Balis".
528 Vom Tage.
gebeten — man fönnte „Oben“ doch meinen, bie evangeliſche
Kirche arbeite darauf los, Menſchen aus der Stantsfirhe wegzu—
locken. Man hat fich jonit in Wahrheits- und Getitesfragen von
ber Menſchenfurcht nicht jo augenſcheinlich leiten laſſen.
Wenn das Salz der evangelifchen Kirche tatfählih dumm
geworben ilt, Heißt es weiterhin, jo möge man mit firdli—en
Dingen die Ordner des bürgerliden Yebens nicht beläftigen — fie
haben ohnehin viel zu ſchaffen. —
PB.
Baltijge Chronik.
September 1904 — September 1905.
1. Sept. Die Ernennung des Fürften Sſwjätopolk-Mirſti zum
Minifter des Innern wird von der gefamten ruſſiſchen Preſſe
mit großer Sympathie beſprochen, bie ſich immer mehr
fteigert, je häufiger ber Minifter in Anfprahen und bei
Interviews feinen liberalen Anfhauungen Ausdrud giebt.
Ende Auguft erklärt ber neue Minifter einem Dlit:
arbeiter des „Echo de Paris”, er werbe fi) an das Mani—
feft vom 26. Febr. 1903 (f. Balt. Chr. von dem Datum)
halten, werbe fi) aber „bei feinen Handlungen von einem
wahrhaft liberalen Geift durchdringen” laſſen; er erklärt fich
für einen „entſchiedenen Anhänger ber Selbftverwaltung”
und will den Semitwos möglichſt umfaflende Befugniſſe
zumeifen, jomeit es fi um die Schule, die landwirtſchaft⸗
lichen Interefjen, das Straßen: und Eifenbahnmwefen u. a. m.
handelt. Für ben Parlamentarismus indeifen fei Rußland
„nicht reif“. Hinſichtlich der Toleranz gegen nichtorthodore
Chriſten und Juden äußerte der Minifter: „Ich perhorres-
ziere alle religiöfen Verfolgungen und befürmworte größts
mögliche Gewiljensfreiheit, aber mit gewiſſen Vorbehalten.”
Den Juden gegenüber will er ſich fehr wohlmollend zeigen
und das Los der armen Juden verbefiern.
Als der Fürft ſich nad) der am 10. Sept. vollzogenen
Enthüllung des Denkmals für bie Naijerin Katharina II.
am 11. von ben Beamten und den Vertretern ber Stände
und Berufsgenofjenihaften in Wilna verabidiebete, hielt er
Eindruck machende Aniprahen an die Prefvertreter und an
bie Juden. In ber erfteren erfannte er ben „enormen“
Nugen einer den tatfählihen Bedürfniſſen der Bevölkerung
dienenden Preffe an, und befonders ber Provinzialprefie;
auf die Adreſſe der Juden erwiderte er u. a., er hoffe,
langjam aber fiher einer glücklichen Löfung ber Jubenfrage
I
Baltiſche Chronit 1904/5.
fih zu nähern, da er das Glüd haben werde, nahe dem
Quell der Gerechtigkeit zu ſtehen.
Nah der Denkmalsmweihe Hatte der Minifter eine
Unterredung mit dem Vertreter ber amerikaniſchen „Afjociated
Preß“, Howard Thomſon, in der er in Abrede ftellte, ſchon
jegt ein feftes Programm zu haben, ebenfalls fein Der:
trauen zur Semftwo auoſprach und Hinfihtlid ber Juden
als jeinen ernftlihen Wunſch bezeichnete, ihnen die meit-
gehendfte Wahl der Epiftenzmittel und Arbeit zu über:
laſſen. Als Grundprinzipien feines Minifteriums nannte er,
unter Bezugnahme auf das Manifeſt vom 26. Febr. 1903,
Toleranz und Dezentralifation.
Beim Empfang ber oberften Beamten des Minifteriums
am 16. Sept. fagte Fürft Sfwjätopolf-Mirsfi u. a.: „Die
abminiftrative Erfahrung hat mich zu der tiefen Überzeugung
geführt, daß die Fruchtbarkeit der Negierungsarbeit auf
einem wahrhaft mohlwollenden und einem wahrhaft ver-
trauensvollen Verhältnis zu ben fommunalen und ftändis
chen Inftitutionen und zur Bevölkerung überhaupt beruht.
Nur unter diefen Arbeitsbebingungen läßt ſich gegenfeitiges
Vertrauen erzielen, ohne das ein bauernder Erfolg im
Staatswefen nicht erwartet werden Tann.”
Gleich darauf äußerte er einem Korreiponbenten bes
„Berl. Lokalanzeiger“ gegenüber über die Nationalitäten-
frage: „Für mid) gibt es feine Nationalitäten und Anders
gläubige in unfrem Vaterlande, für mid) find bas alles
Ruſſen. Wie fehr fie alle gute Ruffen find, hat ber jegige
Krieg gezeigt. Lutheraner, Juden, Diufelmänner, alle, alle
ziehen hin, um ihr Leben einzufegen für die Ehre bes Vater—
landes. Soll man da noch von Juden und Armeniern
reden? Ihnen allen foll und muß Gerechtigkeit zu teil
werben, find fie doch alle Ruffen. . .” Und über die Preß—
verhältniffe fagte er u. a.: „Die Luft ift dort recht erftidend
und bit. Die Prefle ift eine meiner größten Aufgaben.
Hier tut Wandel wirklich not. Freilich darf man ſich die
Löſung diefer Aufgabe nicht in unbefchränfter Preffreiheit
denfen. Das ift nicht möglid. Doc vorwärts müfjen wir,
bovon bin id) tief durchdrungen. ..“
Derartige wieberholte für die Offentlichkeit beftimmte
Kumdgebungen riefen nicht nur in der Preſſe, fondern auch
in ſtãdtiſchen und landfchaftlihen Selbjtvermaltungsorganen
die lebhaftejten Gegenäußerungen hervor. Die Moskauer
Stadtduma begrüßte den Minifier, der der Selbftvermaltung
fein Vertrauen ausgeiprochen hatte, am 21. Sept. mit
einem Telegramm, in dem cs hieß: „In der Verbindung
Baltifche Chronit 1904/5. 3
ber Negierungstätigfeit mit ber öffentlichen Meinung ſieht
die Moskauer Kommunalverwaltung ben einzig richtigen
Weg zum Wohle des Volkes ...“ und mit ähnlichen Kund—
gebungen ber Zuftimmung wandte fid) eine große Neihe von
Städten und Semſtwos an ihn.
Den Worten des Minijters folgten bald Taten. Eine
ber eriten war bie Aufhebung des Zirkulärs des Minifters
Plehwe, das den weiteren Anſchluß von Landihaften an
die allgemeine landihaftlihe Organilation zur Ausrüftung
von Sanitätsfolonnen für den Krieg verboten hatte.
1. Sept. Windau. Die Stabtverordnetenverfammlung wählt den
Stadtverorbneten Paul Schult, dem der Gouverneur von
Kurland bie Betätigung als Stadthaupt verfagt Hatte, zum
Vorfigenden jämtlicher ſtädtiſchen Kommiſſionen (11 an der
Zahl). Der Gouverneur bejtätigt auch diefe Wahl nicht.
1. Sept. Nige. Ein von der Stadtverwaltung nad weſt⸗
europäifhem Muſter begründetes Bureau für Arbeitsnach-
weis tritt ins Leben. Es iſt zunächſt für gelernte und
ungelernte Arbeiter, Handwerker und Dienjtboten beider
Geſchlechter beftimmt.
1. Sept. Die Ejtländiihe Bauerverordnung vom 5. Juli 1856
1. Sept. Für die adminiftrative und
und bie bie Bauerverordnung abändernden Gejege und Ver
orbnungen erfcheinen im Drud in einer von Eduard v. Bodisco
bearbeiteten Ausgabe.
richtliche Organifation
der Kolonie auf den Kronsgütern Hirſchenhof und Helfreichs—
hof im Wendenfchen Kreife Livlands wird ein am 31. Aug.
Allerhöchit beftätigtes Reichsratsgutachten publiziert. Die
Kolonie bildet einen Gemeindeberichtsbezirt. Der Vorjigende
des Gemeindegerihts muß nicht nur ruſſiſch, jondern auch
deutſch und lettiſch leſen und fchreiben können. In der
Geſchäftsführung und für die Abfaſſung ſchriftlicher Akte
iſt neben der ruſſiſchen Sprache die deutiche zuläffig, aller
dings nur bis zum Erlaß befonderer Bejtimmungen. Bei
ber Enticheidung von Streitigkeiten der Koloniften hat ſich das
Gemeindegericht nicht nach der livländiihen Bauerverorbnung,
fondern nad) dem Provinzialredht zu richten. Das Schul:
wejen der Kolonie ſoll allmählich nad den für das Liv:
ländijche Landſchulweſen geltenden Beitimmungen organifiert
4 Baltifdie Chronit 1904/6.
werben, doch fol in den eriten brei Jahren die Kaffe ber
Kolonie nicht mit neuen Nusgaben für die Schule belajtet
werben. Als Mutterſprache der Schüler wird das Deutiche
anerfannt ; foweit ber Unterricht in ben übrigen Landſchulen
lettiſch ober eſtniſch erteilt wirb, foll er hier deutſch erteilt
werben. (Regierungsangeiger Nr. 201.)
2. Sept. Jurjew (Dorpat), Die Stabtverordnetenverfammlung
beichließt, eine 6. Stabt-Elementarjhule zu gründen und
bemwilligt für fie 2000 Rbl. jährlich und 500 Rol. einmalig;
die Schule foll dem Gedächtnis der Geburt bes Grokfürften-
Thronfolgers gewidmet fein. — Der Stabtverordnete Tönis-
jon beantragte, daß das Stadtamt in Zufunft einen
genaueren Rechenſchaftsbericht vorftellen folle. Die Prüfung
des Antrages ſoll einer Kommilfion überwieſen werben, für
die Tönisfon vier eſtniſche Stadtverordnete proponierte, da
die von anderer Seite in Vorſchlag gebrachten Herren,
Tönisfon, NRofenthal, v. Bröder und Lieven einer Partei
angehörten, die nad) Tradition, Bildung und Anfhauungs:
weile fo weit von feinem Standpunkt und demjenigen
anderer Stabtverorbneten entfernt ftände, daß er darauf
beftehen müſſe, aud Herren einer andern Richtung in ber
Kommiffion zu jehen. Tönisfons Randidaten werben abge:
lehnt.
Alfo aud) bei Kommiffionsberatungen, bei denen erfahrungsgemäh
bisher fachliche Gründe aein den Ausfchlag gegeben haben, da hier dod
eine gang andre Prüfung der Materie möglich ift, ais in großen Ber:
fammlungen, glaubt Zönisfon nicht mit dem Gewicht der von ihm vorzu:
bringenben Gründe allein durchdringen zu fönnen! Das ift für ihn
begeichnend, aber für die Qualität feiner Gründe nicht ſeht fchmeichelhaft.
3. Sept. Zum Kollegen des Minifters der Volfsaufklärung wird
der Geheimrat Iwan Karlowitſch Renard ernannt, ber
diefen Poſten zu Zeiten bereits interimiftiich verfehen hat.
3. Eept. Zum Präfidenten des Rigaſchen Bezirksgerichts ift der
bisherige Präfident des Kiſchinewſchen Bezirksgerihts Klopow
ernannt worden.
4. Sept. Die Banerfommifjare des Waltſchen Kreifes haben den Gemeindever«
waltungen vorgefchrieben, die Beoölferung auf jede Weile zum Abonne:
ment auf daS Bauerjournal des Fürften Meichtichersfi „Freundesworte”
Dr rfträfija Rei) angetan. (ib. Hoi)
Valtiſche Chronit 1904/5. 6
4.—5. Sept. In Werro findet bie landwirtſchaftliche Ausſtellung
der fünf in der Umgegend der Stadt beſtehenden eſtniſchen
landwirtſchaftlichen Vereine ftatt. Sie iſt in dieſem Jahre
ſchwãcher beſchickt als ſonſt, namentlich an Pferdes und Vieh:
material. 2000 Beſucher.
6. Sept. Neval. Zum Präfidenten bes eſtländiſchen landwirt⸗
ſchaftlichen Vereins wird an Stelle bes zurüdtretenden
langjährigen verdienjtvollen Präfidenten Landrats v. Grüne
wald⸗ Orriſaar Herr v. Samjon-Thula gewählt.
6. Sept. Betreffend die Kompetenzen der Gouvernementsbehörden
für bäuerliche Angelegenheiten jept ein am 6. Juni 1904
Allerhöchſt beftätigtes Reichsratsgutachten in Abänderung des
Art. 13 der am 17. April 1893 Allerhöchſt beftätigien
Regeln für die Oounernementsbehörden für bäuerliche Ange:
legenheiten in ben Dfteegouvernements feit: Die Ent-
fcheibungen der Gouvernementsbehörden für bäuerliche Ange:
legenheiten gelten als endgiltig in folgenden Sachen:
1) Zuerfennung von Unterftügungen feitens der Gemeinden
an unbemittelte Ocmeindeglieder und Gewährung von Ver-
günftigungen bei ber Zahlung ber Gemeindeabgaben; 2) Aus-
gabe und Nüderftattung von Verpflegungsdarlehen aus den
Gemeindemagazinen; 3) Honorierung der Gemeindebeamten,
die gemäß Wahl oder mietweife bienen, falls das Honorar
durch ben Gemeindeausichuß feitgelegt wird; 4) Beitimmung
der Zahl der Gemeinderichter durd den Gemeindeausſchuß
ober den vereinigten Gemeindeausihuß, Honorierung des
Vorfigenden und ber Beifiger des Gemeindegerihts, Aus:
reichung von Fahrgeldern an ben Vorfigenden, Repartition
der Ausgaben für den Unterhalt der Präfidenten und der
Kanzleien der Oberbauergerichte auf die Gemeinbefteuer-
jahler; 5) Ausreihung und Abnahme von Aufenthalts:
ſcheinen; 6) Beahndungen, die gemäß $ 24 der Land-
gemeinbeorbnung vom 19. ebruar 1866 vom Gemeinde
ältejten auferlegt werden; 7) Veitreibung von Gemeinbes
fteuern und Magazinrückſtänden; 8) Verlegungen der Wahl:
ordnung; 9) Entlafjung von Gemeindegliedern und ihre
Zufchreibung zu anderen Gemeinden; 10) Veahndungen, die
von den Bauerfommifjaren gemäß $ 34 ber Landgemeindes
# Beige Ciront 1045
orinung Gemeindebermten zuferieıt werden und Beiticsurg
ans Earjebung der Gemeindehesmtern vom Amt, Üerzade
berielgen una der Güsher bes Bemeindezusiäutes zı die
Amt — Iwie Beiummunger m mi rer Bublkırise
im ber Gelegismmlung in Arıfı gerreten. ı Regierungsangeiger
Br. 262.
a. Sest. Kiga. Lie Ermennanz bes Brofurzurs des Bleskan⸗
ſchen Bezirksgeriäts Chrihiansmiig zum Profureur bes
Rigaichen Berirtsgeriäts an Stele des an ben Peters
burger Appeljof als Brofureursislege veriegten Heñe wird
yubliziert.
10, Sept. Heval. Uuj den am Ih. Sest. geiälsiienen Sep
temberfigungen des Ritteriaftlihien Ausigufes in u. a.
beiglofien worden, in Sachen ber unteritügungsbebürftigen
Familien einberufener Reierviften für jeden Kreis drei Kom-
miffionen zu bilden, bie unter bem Vorfig bes betreffenden
Rreisbeputierten tagen Sollen.
11. Sept. Auf ber Generalverjommlung bes Dephatavereins in
Heval kommen nieberträhtige Angriffe des „Teataja” gegen
die Taubftummenanftalt zu Fennern zur Sprache, die die
in ber Anjtalt zur Anmenbung fommende förperliche Züchti-
gung zum Ausgang nehmen. Der Präfident des Vereins,
Baron Hoyningen-Quene zu Zelle, erklärt, der Verein fei in
fo unmürbiger Weile von einer anonymen Zuſchrift im
„Teataja“ angegriffen worden, daß für das Direktorium
eine Bolemif ausgejcloiien war und nur der Weg ber
Ariminalllage offen blieb. Der Präfident führt ferner aus,
daß jene eſtniſche Korreſpondenz zunächſt die nationale Seite
der Taubitummenanftalt in ben Vordergrund geitellt habe.
Tatfählih ilt aber nichts an dem Wohltätigkeitsinſtitut
national, al die national-eitniihen Rinder, die dort aus
hilfsbebürftigen Weſen oft zu Ernährern ihrer Familie
geworben find. Auf das Erziehungsmittel ber körperlichen
Züchtigung kann die Anſtalt nicht verzichten, doch bleibt jede
derartige Züchtigung ein Ereignis in ber Anjtalt, das allen
befannt wird. Zeugnis für die Liebe und Geduld, die in
Valtiſche Chronit 1904/8.
der Anſtalt herrſchen, gibt bie herzliche Fröhlichteit ber
Kinder und das ſichtlich gute Verhältnis zwiſchen Kindern
und Direktor.
Die Generalverfammlung votiert dem Direktor Hörſchel⸗
mann und feiner Gemahlin Danf für die Liebe und Gebulb,
mit der fie ihres Amtes walten. (Rev. Beob.).
11. Sept. Ein Allerhöchſter Befehl ernennt ben Rommandierenden des Wilnaſchen
Wilitärbeziets Generalabjutanten Grieppenberg zum Befehlshaber einer zu
bildenden 2. mandjgurifcen Armee.
13. Sept. Der Herausgeber des eftnifchen Wochenblattes „Olewik“,
Koppel, Hat die Erlaubnis erhalten, fein Blatt zweimal
wöchentlich erſcheinen zu laffen.
15. Sept. Walt. Der St. Petersburger Appellhof verurteilt
die Walkſche Stadtverwaltung, dem ehemaligen Stadthaupt
v. Dahl die ihm nad dem früheren, inzwiſchen von ber
jetigen lettifch = eftniichen Stabtverorbnetenverfammlung aufs
gehobenen Penfionsftatut zufommende Penfion von 400 Rbl.
jährlich, geredjnet vom Tage feiner Amtsniederlegung mit
ben Projeßloſten auszuzahlen. (Nordlivl. Ztg.).
Als die jegige Stadtverwaltung ans Ruder fam, war
fie vor allem bejtrebt, dem bisherigen langjährigen Stabt-
Haupt v. Dahl bie Penfion, die er laut bem fläbtifchen
Venfionsftatut zu erhalten hatte, zu entziehen. Zu biefem
Zweck ſcheute die Stadtverwaltung nicht bavor zurüd, bas
Venfionsftatut ganz aufzuheben, wobei ala Grund der Bor:
wand diente, daß bie Stabt nicht im Stande fei, die im
Penſionoſtatut feilgefegten Penfionen zu zahlen. Da diefer
Aufhebung des Penfionsftatuts in betrefi des bisherigen
Stadthaupts von der Stabtverwaltung rückwirkende Kraft
beigelegt wurbe, mußte Herr v. Dahl den Klageweg beſchreiten,
um zu feinem Recht zu gelangen (f. Balt. Chr. vom 26. Oft.
und 29. Nov. 1902).
15. Sept. Jurjew (Dorpat). Das hiefige Nronsgymnafium begeht
fein 100jähriges Beſtehen. Am Abend des 14. findet in
der St. Johannisfiche ein beuticher Feſtgottesdienſt ftatt,
eine einbrudovolle Feier, an ber der größte Teil bes Lehrer-
folegiums nit dem Direktor an der Spike, das Gros ber
Schüler und die deutſchen Kreife der Stadt teilnahmen.
10
Valtiche Chronit 1904/6.
Die Stadtverordnetenverſammlung ſchreitet ſodann zur
Abſtimmung über die Lage des neuen Marktplates, über
die man ſeit mehr als einem Jahr (vgl. Balt. Ehr. 1903,
Mai 23.) nit hat einig werden Fönnen, da jeder Stabt-
verorbnete ben Markt bei feinem Immobil haben möchte.
Es wird über neun Pläge abgeflimmt und bie erforberliche
Zweidrittelmajorität fällt jhließlih auf einen an ber Peri-
pherie ber Stabt gelegenen ftädlifhen Plag, der erſt durch
ben Antauf des Jerumſchen Grundſtücks vergrößert werden
muß, aber Trogdem nicht ausreicht, um ben Diarfiverfehr
aufzunehmen; es muß daher für ben Handel mit Holz und
Heu ein zweiter Marktplatz beim ftädlifhen Krankenhaus
eingerichtet werben. Die Verwirklichung dieſer Marktanlage
mirb der Stabt auf 20,000 Abt. zu jtehen Tommen.
Diefes Projekt ift von der Mehrzahl der Stadtverord⸗
neten bevorzugt worden, obwohl der Stadt im Zentrum ein
geeigneter Pla unentgeltlich angeboten wurde, deflen Her-
richtung der Stadt nicht mehr als 3000 Rol. gekoſtet hätte
(Rig. Rundſchau Nr. 220 u. a.). Der Beihluß der Stabt-
verorbnetenverfammlung ſchädigt die Gefhäfts: und Haus:
befiger ber inneren Stadt, bie größten Steuerzahler, in
unerhörter Weife, und bie gelamte Cinwohnericaft bes
Zentrums ber Stabt erfucht den Gouverneur um Aufhebung
des Beichluffes. Nach einer von dem Gliede der Gouver-
nementsbehörbe für ftäbtijhe Angelegenheiten Tſchulkow
vorgenommenen Lofalbefichtigung erfolgt am 10. Dezember
eine Verfügung der Behörde, durch die ber Beſchluß ber
Stabtverorbnetenverfammlung vom 17. Sept. aufgehoben
und dem Stabihaupt vorgeſchrieben wird, die Marktplapfrage
ber Stadtverorbnetenverfammlung in Verbindung mit ben
zu dieſer Materie eingereihten Beſchwerden bes Kirchen:
vorftehers Dahlberg, ber Walfjchen Einwohner G. Bohl,
O. Raue, K. Stafomanow u. a. und der bes Aler. Bohl
nochmals vorzulegen. Die Aufhebung des Beſchluſſes ber
Stadtverorbneten ift erfolgt, weil zur Verlegung des Markt:
plages nad) der von ihnen gewählten Stelle ber Anfauf von
drei Grunbjtüden erforderlich ift, von bem in dem betr. Beſchluß
überhaupt nicht die Rebe ift. (Walk. Anz. Nr. 2, Jan. 1905.)
Saltiihe Chronit 1904/5. u
Am 21. Januar 1905 ſtimmt die Stadtverordneten⸗
verfammlung wieder über bie vorgeſchlagenen Markipläge ab
und wiederum erhält ber am 17. Sept. gewählte Ort bie
meiften Stimmen (20 gegen 10).
Der „Walt. Anz.” bemerkt zu dieſem Beſchluß: „Somit hat alfo
lebieres Projeft die nötige Majorität erlangt, unbefümmert um die Bes
ſchwerden und bie gerechten Münfde eines großen Teils der fläblifchen
Einwohner. Diefe Wajorität iſt dadurch zuftande gefommen, da ber
Zeil der Stadtverordneten, deren Immobilien in ber
Näge bes Stabifrantenhaufes belegen find, ihre Stimmen, bewogen durch
das Zugefländnis eines Holz, und Hrumorftes, wie auch einer Etrafe
zur Pebdel, durch melde zu ihren Häufern die Zufuhr
direkt geleitet wird, bem lebleren Projelt zumanbte.”
Die Penfionsaffaire Dahl wie die Marktplatzwahl
jeigen, jebe in ihrer Art, wie unfähig bie ejtniichelettiche
Stadtverwaltung ift, mit ihren moraliſchen und Verjtandes-
qualitäten die wahren Interefien ber Stadt zu erfennen und
zu vertreten. — So wird fid) Walt mit ber Zeit zu einem
livlãndiſchen Abdera auswachſen fünnen. Immerhin auch,
ein Ruhm.
18. Sept. Der „Teataja“ und nad; ihm ber „Riſhſkij Weſtnik“
beichäftigen fich feit einiger Zeit mit bem Werfuch, ihre Leſer
glauben zu maden, man gehe in Livland darauf aus, bie
Frohne wieder herzuſtellen. Die „Rigafhe Rundſchau“
(Mr. 210) führt mit Recht die Darftellung diefer Blätter
auf Unkenntnis der Verhältniife und Gefepe und auf Ten-
denzlügen zurüd. Speziel auf dem vom „Zeataja” ange
führten Gute Woifel könne es fi) um die vom Geſetz
unterfagte Frohne auf Bauerland nicht handeln, da dort das
Bauerland bereits verkauft ift; es fei anzunehmen, daß die
frohnenden Bauern die jogenannten Landknechte feien, deren
ganzer Zwed betanntlich darin befteht, gegen Nupung einer
Landparzelle auf dem Hofe Arbeit zu leiften. Die „Rigaſche
Rundſchau“ führt daran anfnüpfend aus, daß es bei ben
jegigen ſchwierigen Gelb- und Erwerbsverhältnifien oft im
Intereſſe der Pächter ebenſowohl als der Verpächter liegen
Tönnte, in gewiſſen Fällen die Geldpacht in Naturalfeiftungen
zu verwandeln, um Nüdftände zu vermeiden. „Welches
ur
12
Valtiſche Chronit 1904/8.
Geſchtei“, fragt ſie, „würde aber wohl ber „Teataja“
erheben, wenn ſeine Perhorreszierung der „Frohne“ mit
einer maſſenhaften Exkluſion der rückſtändigen Pachten
beantwortet werden würde?!
20. Sept. Die „Nordliol. Zig. (Mr. 211) referiert über eine Artifelferie des
Tönisfonfcgen „Bostimees“ unter dem Titel: „Gibt es eine
Berföhnung?, die zu dem Schluh Tommt, daf die eſtniſche Partei
ſchwerlich mit den leitenden beutfchen Areifen mirflich zu einem Roms
promiß gelangen fan, ſolange an der Spihe der beutfejen Areife folche
Perfonen verbleiben, welche den natürlichen ‚ortfcheitt mit Gewalt aufzu-
Halten ſuchen, damit nur die Macht und Gewalt in ihren Qänden der -
blieben.
Dazu bemerfie bie „Rorbl. Zig.", dai von den Eiten und Lelten
in Wolt, nachdem fie ſich durch ein Bündnis den Sieg gefichert Hatten,
nicht ein einziger Deutfcher in bie Stabivertretung gemäblt worden ſein
mährend in der Univerfitätsitadt die deutfche Kandidatenlifte ſteis aud)
Eiten, darunter Vollsmänner wie Örenzftein und Hermann enthalten habe.
Eine fharfe Abſage an das „fogialdemofratifche” eftnifhe Blatt
erläft darauf Arnold v. Tideböhl in der „Rordl. Big.” Nr. 212, indem
x darauf hinweift, dab die Fonfervativen Wähler, wie eine Umfrage
ergeben Habe, den bloben Gedanten an eine Wiederholung des Kompro»
miffes vom 3. 1902 mit Entfchicenfeit perhorresjieren.
Die mit aufeichtig verlönlichen Tendenzen von ben deutſchen
Wählern bei den Iekten Wahlen betriebene Kompromihpolitif hat in der
Tat nicht die gewünjchten Früchte gezeitigt. Die unfruchtbare, nörgelnde
prinzipielle Oppofition des „Sortfhrittsmanns“ Tönisfon trägt die Schuld
daran, ohne für das Mohl der Stadt cimas geichaffen zu Haben.
22. Sept. Ein Zirfular des Gouverneurs von Lioland an die
Kreischefs vom 26. Auguft e. sub Nr. 1120 wird in ber
„Livl. Goud.-Ztg.” publigiert, laut welchem in Zukunft bie
Anlage neuer Anfiedlungen auf Hofslänbereien der Ritter
güter und der Wiederaufbau folder Anfieblungen nach ver-
heerenden Bränden ufw. nur nad) Plänen geftattet it, bie
von der Bauabteilung der Livländifhen Gouvernements-
regierung beftätigt worden find. Gleichzeitig follen von den
Gutsbefigern, auf deren Gütern Ynfiedlungen (leden,
Hafelwerfe u. dergl.) beſtehen, Bebauungspläne einverlangt
werben. Das Zirkular ftügt fih auf $ 231 des Bauuſtaws
(Ausg. v. 1900), nach dem die Pläne von Anfieblungen ber
präventiven Beftätigung durch den Gouverneur unterliegen.
Baltiſche Chronit 1904/5. 18
Durd) dieſe Verordnung wird auch eine gewiſſe Kontrolle
über die Bebauung des an die Städte angrenzenden landiſchen
Terrains hergeftellt, das faktiſch ſchon ſtädtiſch befiebelt iſt
und auch die Vorteile ber Stadt genießt, ohne daß bie von
dem Grunbeigentümer willkürlich angeordnete Bebauung den
Sanitäts:, Feuerſicherheits- und Verkehrsanforderungen einer
Stadt angepaßt wäre. In Jurjew (Dorpat) find die miß-
lien Folgen folder Anfieblungen bereits mehrfach empfunden
worden, namentlich die dem Stadtgebiet durch fie drohende
Fenersgefahr. Natürlicd) wäre es angezeigter, die Baupoligei
hier der Stadtverwaltung und nicht der ſchwer zu erreichenben
Gouvernementsregierung in Niga zuzuweiſen.
23. Sept. Libau. Das Libauſche Lazarett des Noten Kreuzes
tritt die Reiſe nach dem Kriegsihauplag an. Als Oberarzt
fungiert Dr. P. Relterborn, als Ärzte die DDr. Vogel, Fall
und Janfowsli, als Inſpektor Ude. Das Perfonal befteht
ferner aus 8 Schweitern und 15 Ganitären.
24. Sept. Die „Livl. Gonv.-Ztg.” (Nr. 103) publigiert ein am
6. Juni 1904 Allerhöchſt beftärigtes Neichsratsgutachten in
Sachen der Entihädigung der Nittergutsbefiger Livlands für
den Derluft des Handels mit den im 9. 1900 monopoli-
fierten Getränfen. Die Kategorien ber entſchädigungsberech ⸗
tigten Krugsbefiger werden normiert und inſoweit erweitert,
als eine Entfhädigung aud für diejenigen Arüge gezahlt
werden foll, in denen der Getränfehandel in ber Zeit vom
1. Juli 1898 bis zum 23. April 1900 aus von ben Kruge-
befigern unabhängigen Gründen eingejtellt werben mußte.
Bisher waren nur die Krüge in Rechnung gezogen, in denen
bis zum 28. April 1900 der Handel mit Branntwein ꝛc.
beftanden hatte.
24.—26. Sept. Reval. II. eſtländiſcher Ürztetag, beſucht von
47 Ürzten. Außer wiflenichaftlihen Fragen beſchäftigte den
Ürztetag auch die Lage des landiſchen Sanitätswelens.
Dr. Kupfer Kuda erjtattete einen Kommiſſionsbericht über
die Neorganifation bes Sanitätsweſens auf dem Laube,
Dr. v. Nottbed-Weißenftein behandelte die Impffrage. Zur
Ausarbeitung und Prüfung von Volfsihriften über Fragen
der Vollshngiene wurde eine Kommiſſion wiedergeiept, eine
1 Baltifcje Chronit 1904/5.
andre zur Bearbeitung ber Frage ber Gründung eines Vereins
zur Belämpfung der Tuberfulofe.
25. Sept. Ein Allerhöchſter Befehl wird publigiert, durch ben
dem mit dem Kommando des Gendarmenkorps betrauten
Kollegen des Minijters des Innern unter Oberleitung bes
Minijters das geſamte Polizeiwefen unterfiellt wird. Zum
Miniſterkollegen für das Polizeiweſen wird der jtellvertr.
KRabinettshef Sr. Maj. Generalmajor Nydjewsti ernannt,
welde Ernennung am 29. Sept. befanni gemacht wird.
26. und 27. Sept. Neval. Ihre Mojejtäten der Kaiſer und bie
Raiferin mit dem jungen Großfürjten:Thronfolger jtatten in
Begleitung des Generaladmirals Großfürjten Alerei Aleran-
drowitſch, der Miniſter des kaiſerlichen Hofes und der Marine
u. a. Würdenträger dem vor Neval anfernden 2. Geſchwader
ber Flotte des Stillen Ozeans einen Belud) ab. Am 26.
um 10 Uhr morgens trifft der faijerlihe Zug auf dem
Bahnhof ein, in deſſen Saal die Stände und Vertreter der
Abminiftration und Kommunalverwaltung den Majejtäten
ihre Vegrüßung darbringen. Der Nitterfhaftsyauptmann
bemerkt in feiner Anſprache, daß der ejtländiiche Adel ſtolz
darauf jei, daß die Söhne der Heimat aud) in diefem Kriege
in ber Flotte und Armee berufen find, Kaijer und Vaterland
zu dienen. Im Namen ber Stadt Neval überreicht das
ftellv. StadtHaupt E. Hörſchelmann, im Namen der Bauer
haft eine Abordnung von Älteſten mit wenigen Worten
Salz und Brot. Ihre Majeſtäten begeben ſich ſogleich auf
die Yacht „Standart“, von wo aus die zum Geſchwader
gehörigen Schiffe befichtigt werden. Am Nachmittag des 27.
bejuchen Ihre Majejtäten die orthodoxe Kathedrale und die
Nitter: und Domlirde, wo Sie von Paſtor Winkler mit
einem Segenswunfd) empfangen werden. Am Abend begaben
ſich die Allerhöchften Herrichaften auf den Bahnhof, wo Sie
ſich von den dort verfammelten Wertretern bes Landes, ber
Stadt und der Negierung verabichiedeten und alsdann nad
Pelersburg zurücklehrten.
28. Sept. Jurjew (Dorpay). Das Friebensrichterplenum ver—
handelt über eine für die Stadtverordnetenwahlen nicht
unmelentlihe prinzipielle Froge. Der Art, 24 ber Städte
Ballifhe Chronit 1904/6. 15
orbnung bejtimmt u. a., daß denjenigen Perſonen, melde
ftäbtifhe Immobilien im Eigentum ober febenslänglichen
Befig innehaben, das Wahlrecht bei den Stadtverordneten-
wahlen zuiteht. Die Grundbuchabteilung hatte nun in einem
ſpeziellen Falle die Übertragung eines ſtädtiſchen Immobils
zu febenslänglichem Befig an eine dritte Perfon verweigert,
weil im oftfeeproninziellen Privatrecht eine berartige Über-
tragung nicht vorgefehen fei. Die dagegen vom Rechtsanwalt
Sſudakow vertretene Beſchwerde betonte, daß das hieſige
Privatrecht die von Reichsgeſetz ſtatuierte Form der Beſitz⸗
übertragung keineswegs ausfchließe, doch ſprach ſich das
Friedensrichterplenum im ſelben Sinne aus, wie die Grund:
budabteilung. Gegen dieſen Beſcheid wird eine Rafjations-
beſchwerde an den Dirigierenden Senat eingereicht. (Nordl.
tg. vom 30. Sept.)
Im der Saftifcgen Preſſe weiſen mehrere Juriften die Zuläffigfeit
der in Frage ftehenden Übertragung zu lebenslänglichem Befig nad),
u. 0. auch eine Autorität wie Prof. Dr. Engelmann in einer Zuichrift
an die „Norbliol. Big.” 1
Da es ſich in ensu um bie Übertragung des Befipes an einem
Immobil auf die Gattin des Eigentümers handelt, fo fucht der „Poste
mes“, der eine ausſchlaggebende Vermehrung der deuticen Wahlftimmen
fürditet, dieſes Verfahren als ioyal zu dißfrebitieren. Mit vollem Hecht
macht dagegen Profefor Engelmann in der erwähnten Zuſchrift geltend,
das jeder Yausbefiper berechtigt jei, auf gefeplichem Wege ſich den größte
möglien Einfluß auf die jtädtifen Wahlen gu ſichern
23. Sept. Der Hofmeifter Stürmer, befannt durch feine Nevifion der Twerſchen
Lundfepaftsvermaltung, wird als Direltor des Departements für allgemeine
Angelegenheiten im Winifterium des Innern durch den Gouverneur von
Chartow Batazgi erjept.
29. Sept. Neval. Ein neuerbauter Flügel der hieſigen Filial-
fire des Püchtigichen orthodoren Klofters wird durch ben
Prieſter Joann Sfergiew aus Kronftabt geweiht.
30. Sept. Auf Defel wird ein von den Landgemeinden begrün-
detes und für ihre Rechnung zu unterhaltendes Leproforium
eröffnet. — Der Gouverneur aus Lioland ſpricht in ber
„Libl. Gouv. Ztg.“ (Nr. 116) dem Oeſelſchen Bauerkommiſſar
Sander ſeinen Dank aus, da die Idee zu dem Leproſorium
und die Förderung und Überwachung ihrer Ausführung ihm
allein angehöre.
Baltifcje Chronit 1904/5.
für den afademifchen Beruf ausgebildet worden feien. Der
Minifter ſchloß mit dem Wunſche, daß die jegigen Univer-
fitätslehrer ihr Beites daran fegen mögen gemäß der früheren
Höhe ihres Amtes zu walten! — Am Abend empfing ber
Minifter im Konventsquartier ber Ejtonia die Chargierten
ber ſtudentiſchen Korporationen unb eröffnete ihnen im Aller:
böchften Auftrage, daß Se. Majeflät der Raifer ihnen Aler-
guädigft geftattet habe, die Farben mieberum öffentlich zu
tragen. (Diele Verordnung wird fpäter in Nr. 114 ber
Libl. Gouv.tg.“ vom 25. Oft. publiziert.)
Am 7. und 8. Oft. weilt der Diinifter in Riga, wo er im Poly:
technikum die Vertreter des ſtudentiſchen Chargiertenfonvents
durch eine bejondere Anſprache auszeichnet, er jpridt von
dem guten fameradidhaftlihen Geift in den Korporationen
und von ihrem günftigen Einfluß auf die wiſſenſchaftlichen
Studien ihrer Glieder, und bemerkt, daß die Haltung der
Rigaſchen Studentenverbindungen mit bejtimmend gemejen
ift für die MWiedergewährung des Farbentragens an die Dor-
pater Korporationen. Am 9. iſt der Dlinijter in Mitau und
am 10. in Libau.
Die deutſche Baltifhe Preffe nimmt, wie die gelamte gebildete
Geſellſchaft der Provinzen, mit großer Freude die Nachricht auf von der
den Studenten gewährten Beredtigung, die Farben wieder tragen zu
dürfen. Auch ruffiice Blätter (. Virſhew. Webom.”) äußern ſich zuftims
mend zu biefer Entfhliehung. — CB handelt ſich zwar mur um eine
Kongeffion in etwas Äußerlichem, aber der Minifter hat doch auch den
Geiſt der Korporationen gelobt, und deſſen Grundlage ift beutjch-protes
ftantifch.
Am 7. Oft. abends bricht im Konventshaufe der „Livonia” Feuer
aus, das bald gelöfct wird. Der Feuerigaben ift zweifellos auf
Branbftiftung zurüdzufüßren, doch bfeibt der Täter unermittelt.
4. DM. Riga. In der Stabtverordnetenverfommlung gibt Stadt-
rat Dr. Heerwagen auf eine Interpellation bie Auskunft,
daß das Stadtamt noch nit zum Bau bes ſtädtiſchen
Sanaroriums für die Opfer ber Krieger in Kemmern (ſiehe
Balt. Chr. 1904 Febr. 9.) habe ſchreiten fünnen, da es noch
feinen Plag in Kemmern für diejen Zwed habe erwerben
föunen. Im Mai habe es die erforderlichen Schritte beim
Domänenminifterium und der Kurortverwaltung getan, aber
Baltifcje Chronit 1904/5. io
noch feine Antwort erhalten, nad) mehr als 5 Monaten! —
Die Stadtverorbnetenverfammlung beſchließt, dem Stadt:
Rranfenhauje einen Kredit von 20,000 Rbl. zur Aufnahme
und Verpflegung vom Kriegsſchauplatz evafuierter Militärs
(50 Soldaten und 5 Offiziere) anzuweiſen.
In Saden des Kemmernſchen Sanaloriums teilt das Siadthaupt
der Stadtverorbnetenperfammlnng am 8. Nov. mit, bab der Domänens
minifter den Berfauf des von der Stadt gewünfchten Grunbjtüds genehmigt
habe. — Die Verzögerung diefer Angelegenheit ift der Semmernfchen
Kurortverwaltung ugufchreiben, die dem patriotifcen Unternehmen der
Stadt merhvürbigerweiie Hinderniffe bereiten zu müffen glaubt. Grit
das Gutachten einer auf Erjuden des Domänenminifteriums vom Gou ⸗
verneur von Livland eingeſehten Spezialfommilfion bradite die Suche
um Abſchluß
5. Oft. Riga. In Gegenwart einer zahlreihen Verſammlung wird der Grund ⸗
ſtein zum jtattlicen Neubau des evangelifhen MarienDiafoniffenvereins
gelegt.
6. Oft. Neval. Die Stadtverordnetenverfammlung bewilligt auf
ein Geſuch des Gouverneurs von Ejtland weitere 1000 Rbl.
für die Heilung franfer und vermundeter Soldaten und
erhöht den Krebit zur Verpflegung von Neferviftenfamilien
von 2000 auf 4000 Rbl. — Die Verfammlung beſchließt
ferner dem Edelmann ©. v. Peetz den zwiſchen der Karti-
pforte und dem Neuen Markt belegenen ftäbtiihen Platz von
740 Quadratfaden zur Erbauung eines deutſchen Theaters auf
Grundzins zu vergeben und zwar im weſentlichen unter ben
gleichen Bedingungen, unter welchen dem Verein „Eftonia“
am 2. Juni ein ſtädtiſcher Play für ein ejtniiches Theater
überwiefen wurde (ſ. Balt. Chr. 1904 Juni 2). Herrn
v. Peetz wird anheimgegeben, bis zur gerichtlichen Zus
zeichnung des mit ihm abzuſchließenden Grundzins-Rontrafts
diefen Kontraft anderen Perfonen oder einem Verein zu
übertragen. Der Play füllt an die Stadt zurück, wenn er
im Laufe von 6 Jahren nicht einem in gefeplicher Grund-
lage beftehenden Verein zugezeichnet worden iſt. — Ein
Gefud der I. Zufuhrbahn:Gejellichaft um grundzinsliche
Konferierung eines Grundftüds wird abgelehnt, da fid) die
bei Gründung der Felliner Bahn auf bie Geſellſchaft gefegten
Hoffnungen nicht erfüllt Haben und die Tätigfeit der Ge:
felichaft den Handel und die Induftrie in Stadt und Land
Baltife Chromif 19045.
miferablem Zuftande befindlichen Nebenmege zu behandeln
hätte. — In der Frage des Honorars ber Gemeindebeamten
beſchloß die Konferenz die Gouvernementsbehörde für bäuer-
liche Angelegenheiten um bie Verboppelung ber jehr niedrigen
Normen (Patent der livländ. Gouvernementsregierung vom
2. Dez. 1868 Nr. 130) anzugehen. (Nach den Referaten
bes „Rift. Weſin.“)
9. Of. Windau. Die Privatfnabenfhule 1. Ordnung, bie die
Stadtverwaltung interimifiid bis zu ber im Mugufl 1905
zu erwartenden Eröffnung einer Kronsrealſchule ins Leben
ruft, wird durch Anfprachen eines orthodoren Priefters und
des Paſtors Aleinenberg geweiht und alsdann eröfinet. Das
Lehrperfonal befteht aus lauter Nuffen, mit Ausnahme des
Direktors TH. Nederle, bisher Lehrer der alten Sprachen
in Grodno, und zwei Damen, die im Franzöfifhen unters
richten.
10, Oft. Der eſtniſche landwiriſchaftliche Verein in Jurjem (Dorpat) beſchließt
auf Antrag feines Präjes Tönisfon, im Januar oder Februar nächſten
Jahres einen Kongreß der eſtniſchen landwirtſchaftlichen Vereine zu verans
italten. Die Beleiligung der eitländifchen Vereine wurde als ſeht
ſche nsweri bezeichnet, aber darauf hingedcutet, von „gepnerifcher Seite
werde man dann bemüht fein, dem Kongreh eine politiiche Färbung beir
äulegen und feiner Genehmigung Schwicrigfeiten zu machen, die dann
nicht vom Gouverneur, fondern vom Landwirtihaftsminiiter abhängt.
Es murde daher dem Vorſtand anheimgegeben, den Kongreß je nach den
ſich ergebenden Schwierigfeiten mit oder ohne Heranpichung Eſtiands
einzuberufen.
10. Oft. Cine Erderfhütterung. deren Zentrum in Norwegen liegt, wird um
die Mittagszeit aud an vielen Punkten der Oftfecprovingen veripürt.
12. Oft. Vom Konfeil der Jurjewſchen Univerfität wird dem
Dr. med. Paldrod die einmal verfagte venia legendi als
Privatdozent erteilt. (S. Balt. Chr. 1904 Jan. 20.)
14. Oft. Libau. Die Stadtverordnetenverfammlung beſchließt auf
Antrag des Stadtamts, als einzige von den baltischen, dem
Miniſter des Innern Fürften Sſwjatopolk-Mirſkij tiefempfuns
denen Dank in Anlaß des von Sr. Durchlaucht ausgeiprodenen
Vertrauens zu den Kommunalinjtitutionen auszubrüden.
14. Oft. Bernau. Eine auf dem Plap vor dem Gymnaſium
neuerbaule griedjijch:orthodoge Kirche wird vom Erzbiſchof
Agathangel eingeweiht.
Balttfeje Chronit 1904/5. es
15. Oft. In dem Marienburgſchen Brandſtifterprozeß verwirft
der Dirigierende Senat die eingereichte Raffationsflage und
beftätigt das vom Rigaſchen Vegirfsgericht und vom Peters
burger Appellhof gefällte Urteil, dod wird die Strafzeit auf
Grund des Gnadenmanifeftes vom 11. Auguft um ein Drittel
verfürzt. (&. Balt. Chr. 1903 Oft. 2 und 1904 Mai 10.)
15. Oft. Nad) dem „Perfonal ber Jurjewſchen Univerfität” beträgt
die Zahl ber Studierenden 1909 (mit Ausnahme der Phar⸗
mazeuten) gegen 1849 im Vorjahre. Die Zahl der Stu-
denten ber Theologie it von 145 auf 165 geftiegen, bie ber
Studenten in ber hiſtoriſch-philologiſchen Fakultät von 181
auf 188, in der phofifo:mathematiihen Fakultät von 294
auf 351; die mebizinifhe Fakultät hat wieder eine Abnahme
zu verzeichnen von 733 auf 726, aud die Zahl ber Juriften
ift gefallen, von 490 auf 478.
Aus dem Innern bes Neiches fiammen 1404 Stu
dierende, gegen 1396 im Vorjahre. Die Zahl der aus den
Dftfeeprovingen gebürtigen Stubenten ijt wieder, wie in ben
legten Jahren, regelmäßig geftiegen, und zwar von 447 auf
498. Aus Livland ftammen 326 (gegen 294), aus Eftland
82 (gegen 73), aus Kurland 90 (gegen 80).
Evangeliſcher Konfeſſion find 508 (gegen 461), griechiſch⸗
orthodorer 1170 (gegen 1157), römiſch-katholiſcher 64 (gegen
72), Juden gibt es 137 (gegen 132).
Die Zahl der Pharmazeuten beläuft fih auf 79 (gegen
94); davon ſtammen aus den Oftfeeprovinzen 40 (gegen 52),
aus dem Innern des Reichs 39 (gegen 42). Evangelifch-
lutheriſcher Konfeifion find 36 (gegen 46), griediic:orthodorer
8 (gegen 9), römiſch⸗katholiſcher 22 (gegen 24), moſaiſch find
12 (gegen 15).
Diefen Zahlen ſtellt die „Rordf. gig.“ die einſchlägigen giſfern
aus dem Jahre 1800 entgegen, in welchem die Univerfität Dorpat mi
1812 Studenten die hödhfte Frequenz erreichte. Damals ftammten aus
Livland 648, aus Aurland 319 und aus Gftland 144 Studierende,
zuſammen alfo 1411. Selbft mit Einfluß der Pharmazeuten ift die
Zahl der jchigen baltifchen Studierenden mehr als doppelt jo gering als
vor 14 Jahren. Die Zahl der Theologen betrug damals 284, jet
18. Oft. Zum Neformationsfeit ftattet die Unterftügungsfaile ber
evangelijch = lutheriſchen Kirche Rußlands den Jahresbericht
51
27.
28.
felgene j= Berir gebucht habe, beh fie
ion giebt Mänce. Tas Zrugramerhir ergebnis
Greriemrums. Le ber Beolarzise Dir Berreitigung Shenmens fhriftlih
wiertligen wid, wir der Brageh vonaz. Mech beiklicht Das Gericht,
Scheman azi freire
Oft. Heval. Der erfie in Reval erbaute Dampfer, ein
Leuchchi „Wultihur“ von 415 Toms Mafterverdrängung,
läuft vom Stapel.
. Ct. Riga. Nach Fertigitellung der Fump- und Faitungs-
anlagen auf Bellenhof beginnt die Verforgung des BWafler-
leitungsneges ber Stadt mit dem bort gewonnenen Grund-
mwafler. Riga ift nun mit einem Mailer von vorzüglicer
Qualität verforgt. Für die Anlage waren 3 Millionen Rbl.
angeriejen morben, doch gelang es der Ztabtverwaltung
429,000 Rbl. von dieſer Summe zu eriparen.
Ct. Ball. Die Stadtverwaltung verfept bie Bäume einer
alten, ber Stadt zur Zierde gereihenden Allee aus ber
Plesfauerftraße nad dem neuzugründenden Stadtpark und
entrüftet Durch diefen Vandalismus die Bewohner der Stadt.
Die bee mit dem neuen Stadtpark wird auch als eine ver-
fehlte bezeichnet, denn er liegt jo weit von der Stadt eni-
fernt, daf er nie zu einer Erholungsftätte der Bevöllerung
werden fönne. Außerdem verurſacht jeine Anlage der Stadt
bedeutende Koſten; die Ausiheidung eines Aders aus dem
Stadigute Ohſelshof bedeutet allein ſchon eine Einbuße von
120 Abt. an Pachtgeldern (f. „Nordt. Big.“ v. 31. Oft.)
DE. Riga. Das Perfonat des Rigaſchen Polytechniſchen
Inftituts gibt die Zahl der Studierenden auf 1675 an.
Von ihnen find 850 lutheriſcher Konfeſſion, 365 orthoborer
und 230 vömifh-tatholifher; Juden gibt es 165. Der
Lehrlörper befteht aus 21 Profeſſoren, 6 Abjunkt-Profeitoren,
29 Dozenten und 15 Afiftenten,
Baltifche Chronik 1904/5. 7
29. Oft. Eine bemerkenswerte Aenderung in ber Praris des
Juſtizminiſters befteht darin, daß die Unterfuchungsrichter
wieber in ihren Stellungen „beftätigt“ werben.
Einem beftätigten Unterſuchungsrichter fommen alle Prävogative
eines Richters zu: er darf nicht verfept werden, darf ohne feine Einwil-
ligung nicht auf einen anderen Boften berufen werben und fann feine
Stellung nur durch richterlichen Spruch verlieren. Er iſt daher bedeutend
jelbjtändiger, namentlich der Profuratur gegenüber, als ein jog. ,ſtell-
vertretender“; Die fepteren gehören daher zu den normalen Erjgeinungen
in Rußland. Veſtätigte Unterfudungsrichter gab es nur im den erften
Jahren nach der Ginführung der Juftigreform. Dann wurden fie auf
den Ausfterbeetat geſehi umd zu Beginn des Jahres 1904 gab es in ganz
Aubland ihrer nicht mehr als ca. 10, während bie Zahl der „jtelh
tretenden“ ungefähr 1500 beizug. Mit dem Herbit d. J. hat das Ju
minifterium wieder begonnen, Unterfucungsridhter zur Allerböditen
Beitätigung vorzuifelfen, und nun gibt es jchon gegen 100 beitätigter.
Ein weiteres Anwachſen der Zahl ift wahrſcheinlich. (Düna-Ztg. Nr. 240.)
31. Okt. Goldingen. Die neuerbaute lettiſche Kirche wird durch
den Generalfuperintenbenten von Kurland geweiht. Seit ca.
350 Jahren benugten die beutiche und die fettiihe Gemeinde
gemeinfam bie deutſche Stadtlirhe. Der Initiative des vers
itorbenen deutſchen Paftors Raeder ijt die Sammlung eines
Fonds von 35,000 bl. für den lettifhen Kirdenbau zu
danfen, zu dem die furländiihe Nitterfchaft 10,000 Rbl. und
das Kirhfpiel 7000 Rbl. hinzufügten, während bie Stabt
den Grunbplag bergab. Der Bau wurde im J. 1899 nad
den Plänen des Nigafhen Arditelten Dr. W. Neumann
begonnen.
31. Oft. In Warſchau wird bei der katholiſchen Allerheiligentirche auf bem
Gribnyplat eine ſozialdemokratiſche Demonitration veranitaltet, zu deren
Unterdrücung Militär aufgeboten wird. Bei einem Zujammenftoß gibt
das Militär eine Salve ab, durch die 9 Demonftranten getötet, 20 ver«
wundet werden. Schon in den vorhergehenden Wochen waren vereinzelte
Temonitrationsverfude gemacht worden.
1. Nov. Riga. Die „Nigas Awife* des Herim Meinberg weiſt (Nr. 247)
nachdrũclich auf die bevoritefenden Stadtverordnetenwahlen
hin. Sie Lonftatiert, daß in der og. Einmütigfeitsfrage unter den Letten
jeit den lehten Wahlen eine bedeutende Veſſerung eingetreten ſei. Nicht
in dem Sinne, als ob die Zwielracht der Leiten unter einander an und
für ſich abgenommen hätte; in mancher Hinficht fei mod) gröber
geworden ais jrüher. Aber dieſe Zwietradht berühre nicht die Frage der
Stadtwahlen. Ale perſonlichen Interefien, alle jogialen Differenzen
nr
BValtifche Ehronit 1904/6.
müßten zurüteeten, ſobald es bie erfolgreiche Durdjführung bes Kampfes
gegen das Deutfchtum erfordert. Bei den Icptoerfloffenen Wahlen tonnten
mod; die Seiten über „Rompromiffe“ im eigenen Rager ftreiten. Das fei
jegt unnötig, die Eintracht unter den fettijchen Wählern fei jet genügend
gefiert.
Sehr berechtigt iſt im diefen Sägen die Konftatierung der zu -
nehmenden Scheibung ber Geifter unter den Selten. Daß diele Scheidung
vor ben Sigdiverordnetenwahlen jegt noch halt macht, erideint wohl
glaublich, in Zukunft wird aber ber fozial vorgefehrittenere Teil ber Seiten
zu der Erfenntnis fommen, dab eine Stadt wie Riga ſich gerechterweiſe
nicht auf nationaliftiicer Vaſis verwalten Läht.
2. Nov. Den „Pelerburgffija Wedomoiti” des Fürften Uchtomski wird aus dem
Nordivejtgebiet über das alte Kapitel won den Hinderniffen gelchrieben,
die „Andersgläubige” zu überwinden haben, wenn fie in der Heimat im
Arons · oder Kommunalbehörden Stellung ſuchen, und dabei folgendes
Veifpiel angeführt: Zu einer Kreisjtadt wurde Fürzlid das Amt eine
StadtHaupts valant. Unter den Kandidaten befanden ſich eine Reihe von
Gutsbefigern mit Univerfitätsbildung und Männer von Ehre; beftätigt
ader wurde ein ganz obffurer, fait zu den Analphabeten gehürender
Gemüfegärtner — nur weil er orthodor war. Kann ein ſolches Syſtem,
io fragt das Blatt, ein Syftem, daS alle anftänbigen Leute ignoriert,
ar weil fie Katholiten find, in einem Gebiet, das längit aufgehört Hat
„zu meutern“, mehr als Ärgernis und Grbitterung bervomufen ? !
(Düna-dtg. Nr.
Und erft in einem Gebiet, das nie angefangen hat zu meutern?!
6. und 7. Nov. Werro. eier des 100-jährigen Beſtehens einer
griechifch-orthoboren Kirche in Werro. Der Erzbiſchof Aga-
thangel und zahlreiche Priefter Tommen zu bem Fefte nad)
Werro. Auf einem Abendeffen, das der Ortsgeiftlice Sepp
veranftaltete, verlas der Bauerfommijlar bes 2. Werroſchen
Diftritts Milhardt Namens der VBauergemeinden feines
Diftrifts eine Adreſſe an den Erzbiſchof, in ber die Bauern
ohne Unterjcied der Konfeſſion, Orthodore und Lutheraner,
ven Wunſch ausdrüden, ihrer Sympathie für das freudige
Greignis im Werroſchen orthodoren Kirchipiel durd bie
Stiftung eines Cvangeliums an bie Kirche Ausdruck zu
geben. Der Wunic der Bauern erfreute den Erzbiſchof
ſehr, er dankte dem Bauerkommiſſar und bat den Gemeinden
feinen Segen zu übermitteln.
7. Nov. Riga. Während des Gottesdienftes werden in der
lutheriſchen Nohannis: und Panlskirche wiedernm ſozialdemo—
Baltifche Chronit 1904/58. 3
featifche Proffamationen ausgeworfen. Es gelingt der Polizei
einige von ben Übeltätern in flagranti abzufaſſen.
7. Nov. Ju Petersburg find über 100 Vertreter der Landſchaſtsverwaltung aus
alten Gouvernements zur Veratung ber innerpofitiichen Sage zulanmen«
gefommen. — Es verlautet, der Minifter des Innern werde auch einen
von den Rommmalverwaltungen von Sſaratow, Moskau u. a. in Ans
regung gebrachten Kongreß aller Stabthäupter geitatten, der für das
tommende Jahr projeftiert wird. — Amm 5. November hatte der Minüter
Siwjatopoll: Wirsti aud eine Abordnung der Zioniften empfangen und
ihnen mitgeteilt, dab den Zioniften feine Hindernifje mehr in den Weg
gelegt werben würden.
8. Nov. Wenden. Bei dem Transport ber Nefruten auf der
Eifenbahn nad) Riga kommt es auf den Stationen diesmal
zu groben Ausichreitungen, Demolierung ber Buffets, Fenfter
x, wie es auch anderwärts in dieſem Jahr beobadıtet
werben fonnte.
8. Nov. Riga. Die Stabtverordnetenverfammlung beſchließt, eine
ſche Kunftichule zu errichten, die wie alle derartigen
Inſtitute dem Minifterium des Kaiferlichen Hofes unterſtellt
fein ſoll; der Statutenentwurf wird afzeptiert und der Ans
fauf des Inventars der Zeichenfhule des 7 Frl. v. Jung
für das Juflitut befhlofien. — Ferner beihlieht die Ver-
jammlung bie Baupolizei als ein jelbftändiges Erefutivorgan
aus dem Bauamt auszuiceiden und für die Leitung desjelben
einen neuen Stadtratpoften, den achten, zu ſchaffen.
8. Nov. An der Jurjewfchen Univerfität wird ber Aſſiſtent ber
pſychiatriſchen Univerſitätsklinik Luiga zum Doftor dev Medizin
promooirt. In der Einleitung zw jeiner Diijertation: „Die
Fürforge für die Geiftesfranfen im baltiſchen Gebiet“, ver:
tritt Luiga die Anficht, dab die Irrenfürſorge in den bal-
tijchen Gouvernements nicht nur hinter derjenigen Weite
europas, jondern aud hinter derjenigen Jnner-Rußlands
weit zurüdgeblieben fei. „Die Schuld hieran trage die
„höhere“ Geſellſchaft, der Adel, die Geiftlichkeit. Die Lage
der Geiftestranfen der Bevölkerung“, ſchreibt Luiga, „war
im 18. Jahrh.) nicht ſchlechlter als die der Gefunden, aus
dem einfadhen Grunde, weil eine ſchlechtere Lage nicht
denkbar it“ uſw. (Vgl. Balt. Monateſchr. 1904 Heft 6,
ao Valuiſche Chronit 1004/5.
vom Juni, wo dieſe Schrift bereits einer ſachkundigen, wohl⸗
verdienten Kritik unterzogen worden war.)
Nachdem ſchon ein ruſſiſcher Profeſſor Jaropfi, als
ordentlicher Opponent, dieſe Darſtellung als parteiiſch be—
zeichnet hatte: die Verdienſte des Adels um das Volk ſeien
größer, als der Doktorand zugebe; die Behauptung, in den
inneren Gouvernements fei für die Bildung und die Kultur
des Volfes jtets mehr gethan worden, als in den balliſchen,
tönne ſchwerlich bewiejen werden, — nahm Prof. Dr. Dehio
das Wort und erklärte, daß die in der Einleitung ausger
ſprochenen Beſchuldigungen feinen wiſſenſchaftlichen Wert hätten,
ſondern nur politiihen und fozialen Hader zwiſchen Nationen
und Ständen wachrufen ober verihärfen fünnten. Cs ſei
eine Schande, daß der Doktorand das alte Katheder, das
feit 100 Jahren ausschliehlid zur Verteidigung ber Mahrs
heit und wiſſenſchaftlicher Tatſachen bejtimmt war, zu einer
Tätigfeit mißbraude, die nie und nimmer in den Aftusjaal
der Univerfität gehöre.
Der Poftimees:Nedakteur Tönisfon wandte ſich aus
der Rorona wider alle atademiſche Gepflogenheit mit Anz
griffen gegen Prof. Dehio, was ihm vom Dekan verwiefen
wurde, und nötigte dann den Doftoranden zu der Erklärung,
daß er bei feiner Darftellung bleibe. Den Ausführungen
Prof. Dehios ſchloß fih Prof. Körber an. — So find denn
die verleumderiſchen Irrtümer, die unter der Approbation
der Jurjewſchen Univerfität in die Welt geididt werden,
nicht ohne Proteft geblieben.
10. Nov. Dorpat. Die Neihenberg:Diellinfche Heilanſtalt und
Pflegerinnenſchule begeht ihr 1Ojühriges überaus ſegensreiches
Veftehen. Die Anftalt hat 3--4000 Aranfe verpflegt und
134 Pflegerinnen aufgenommen, von denen nur Y/ıo ben
Kurſus nicht abjolviert hat. Möge dieſer Erfolg dazu beie
tragen, aud in anderen baltifchen Städten den gebildeten
Frauen das Gebiet der beruflichen Rranfenpflege zu eröffnen
und dieſe ſelbſi dadurch auf ein angemefleneres Niveau
zu heben.
10. Nov. In Sachen der ſtaatlichen Mäßigkeitskuratorien ift vom
Finanzminifterium die Erläuterung erfolgt, das dieſe Kura—
Baltiſche Chronit 1904/56. 3
torien nur zu folden Maßnahmen greifen bürfen, die un-
mittelbar im gegebenen Moment zur Xerringerung ber
Trunkſucht beitragen; Maßnahmen aber, die nur mit größerer
ober geringerer Wahrſcheinlichkeit in der Zukunft eine folche
Wirkung haben fönnen, gehören nicht in das Programm ber
Kuratorien. (Kurl. Gouv.-Ztg.)
10. Nov. Die Kurländiihe Gouvernementsregierung macht in
der „Kurl. Goub.-Ztg.“ bekannt, daß den Wirten von Krons-
gejinden durch das Gnadenmanifeſt vom 11. Auguft c. mur
die bis zum 1. Januar 1904 angelaufenen Rüdftände ber
Austaufszahlungen erlaffen worden find und zwar nur dann,
wenn fie bis zum 30. Juli 1904 nod nicht bezahlt waren.
Diefe Bekanntmachung iſt duburd) veranlagt worden,
daß viele Wirte ſich unter Berufung auf das Manifeft
weigern, die Ausfaufszahlungen für das 1. Halbjahr 1904
zu leilten. Es will eben den Bauern nicht einleudhten, daß
nur ben ſchlechten und fäumigen Zahlern dur das Dlanifeft
Vorteile zugewandt werben.
11. Nov. Der Verkehr auf der neuerbauten über Mitau führen
ben Strede Tudum:Kreugburg ber Diosfau-Windau-Rybinsfer
Bahn wird eröffnet und damit die bivefte Linie Moskau—
Windau.
12. Nov. Reval. Der neue eſtländiſche Generalſuperintendent
D. Lemm trifft nad) erfolgter obrigkeitliher Beftätigung in
Reval ein und übernimmt die Amtsgeſchäfte. Die feierliche
Introduktion findet am 12. Dezember in der Nitter- und
Domkirche jtatt. — Zu ber am 16. Nov. beginnenden Herbſt⸗
juribif des eftländiicen Ronfifloriums melden ſich nad) längerer
Zeit wieder einmal zwei Kandidaten zum Ronfiflerialeramen.
12. Nov. Eine betrübende Etſcheinung nennt das eftnifhe Blatt „Mudifed“
von ihrem fopialpofiifcen Standpuuft aus die Tatſache, dab ber
Nationalitätenhader auch ſchon in den Schulen unirer
Univerfitätsitadt ſich zu einer brennenden Frage entwidle: „Sogar die
Zöglinge der unteren laſſen, obgleich ihnen der Begriff der Nationalität
taum aufgegangen jein fan, berichten mit großem Eifer, wieviel Eſten,
Hufen oder Deutfche fie in der Mafie Haben, wie ſtoig und feindlich fie
füch gegenüberftehen, mit welchen Schimpfuamen ſie fich gegenfeitig ber
denten ıc. Wenn «8 jo weiter get und die Meinen Nationaliften einmal
groß werden, fo wird der Natiomalitätenftreit wohl alle übrigen Fragen
82
Valtiſche Chronit 1004/5,
zu Grabe tragen. Anftatt dieſen Drang in vernünftiger Weile zu
mähigen, [deinen einige Lehrer ſich aftio an der Sache zu beteiligen,
woburd) bie Kinder mur noch mehr aufgereigt werben. Es ift nicht gut,
wenn ſchon dos Kind auf der Schulbanf im Nächiten nicht einfach den
Menſchen, fondern den Angehörigen eines andern Bollstums erbliden
lernt. Wenn bei den Eiten noch vor kurzem die Berleugnung der eigenen
Herkunft eine Alltagsſache war, während jet an Stelle deſſen das Prunten
mit feiner Abſtammung tritt, jo beweift daß ein mangelhaftes
Berftändnis für die Grenzen des nationalen Ber
mwußtfeins. . .“ Im den Ländern mit mehrfach gemiſchter Bevöl-
ferung iſt allzu lebhaftes Rationalitätsbemußtjein wie ein böfer Geiſt,
der Feindſchaft jät und feinen Frieden walten läßt. Oft diskutiert und
tampft man in Bagatellen, mährend der gemeinjame Feind der Sirei-
tenden mittlerweile feine bejonderen Ziele ungeftört verfolgen kaun.
(Rev. 319.)
Aud) wer den Notionalitätsbegeifi höher ftelt, als das eſtniſche
Blatt mit feinem internationalen Standpunkt, wird die Bereitigung
feiner Ausführungen anerfennen müffen.
15. Nov. Reval. Der ritterſchaftliche Ausſchuß hat die ber
Nitterfchaft gehörenden Gebäude der früheren Poſtſtationen
Nunafer in Harrien umd Söttküll in ber Wied als Ver—
pflegungsftationen für bie Yufnahme vermundeter und franfer
Krieger zur Verfügung gejtellt.
18. Nov. Libau. Die Stadtverordnetenverfammlung beichließt auf
Antrag bes Stabtverordneten Dreyersdorff beim Dirigierenden
Senat Beſchwerde zu führen über die Verfügung der kur—
lãndiſchen Gouvernementsbehörbe für ftäbtifche Angelegenheiten
vom 7. Nov. c. sub Nr. 44, durch welde das Verfahren
gegen das ehemalige Stadthaupt 9. Abolphi in Sachen der
Eröffnung eines Kontos ber „Libau-Hafenpother-Eifenbahn”
eingeftellt worden iſt. Cs handelt ſich in der Sache weient:
ih darum, ob Adolphi dafür zu belangen fei, dab er als
Stabthaupt dem -Eijenbahnunternehmen, deſſen Nupen für
die Stadt von der Stadtverorbnetenverfammlung bereits an-
erfannt worden war, vor ber offiziellen Betätigung einen
Kredit auf die Stadikaſſe eröffnet hatte. Die Gouvernements-
behörbe, ber das Material zur Prüfung überwiefen worden
war (Balt. Chr. 1903 Febr. 20), hat das Verfahren eins
geitellt, da, aud) wenn eine Rompetenzüberjchreitung Adolphis
vorliegen follte, eine Verfolgung derjelben durch ein ins
zwiſchen erichienenes Gnadenmanifeſt niedergeihlagen werde.
Baltlfeje Chronit 19045. 3
Die Gefhäftsleitung Abolphis in Sachen der Straßenbahn,
bie gleichfalls zur Prüfung vorgejtellt worden war, hat die
Souvernementsbehörbe in Ordnung befunden.
In der Stadtverorbnetenverjammlung vertritt der St. V.
Dreyersdorfi den Standpunft, das jeber, der für die Weber:
gabe des Materials an die Gouvernementsbehörbe geitimimt
habe, ſich nunmehr logiſcherweiſe für die Beſchwerde über jie
entfcheiden müſſe. Der St.V. Hejmowski befämpft die
Beichwerdeführung ſchon aus formellen Gründen: nad)
Art. 85 der Städteverorbnung darf die Stabtverordneten-
verfammlung nur über folde Entideibungen ber Gouver-
nementsbehörbe beim Genat Beihwerde führen, durd die
ein Beſchluß der Stadtverordnetenverjamimlung als ungejep-
lich aufgehoben worden it. Im gegebenen Falle hat nun
die Gouvernementsbehörde feinen Beſchluß ber Berfammlung
aufgehoben, jondern im Gegentheil der von ber Verſammlung
erfolgten Anregung zur Prüfung der Angelegenheit entiprodyen.
Mehr als die Anregung ftehe der Stadtverorbnetenver-
jammfung in diefer Sadye nicht zu, da bie Entſcheidung über
die effektive Heranziehung der Stadthänpter zur gerichtlichen
Verantwortung für Amtsvergehen laut Art. 148 ber Städte
ordnung ausſchließlich der Gouvernementsbehörde zukommt.
Der Antrag Dreyersdorff wurde mit 29 gegen 18
Stimmen angenommen.
19. Nov. Reval. Der Dirigierende Senat trifft die endgiltige
Entſcheidung in der Nevaler Gottesfaftenfrage. Der Nevaler
Nat hatte am 5. Dezember 1877 bejchloffen aus dem in
feiner Verwaltung befindlichen „Gottesfaften“ die Güter
Zohannishof und Kautel und ein Kapital von 48,300 Rbl.
zum Velten der Nevaler ſtädtiſchen Kirchen, der St. Nilolai-,
St. Olai-, St. Johannis, St. Michaelis und der Heiligen:
geiſt Kirche anszujchreiben und dieſen Kirchen als Eigentum
zu übergeben, indeſſen die Güter Nehhat, Fäht und Koitjärw
als jtädtiiches Eigentum anzuerkennen, da ber „Gotteskaſten“
auch zu Schul: und Wohltätigfeitsgweden bejlimmt war.
Diefer Beichluß wurde jedoch von ejtländiicen Gouverneur
und vom Minifter des Innern aufgehoben, weil das ges
Saltifäe Chronit 190475.
famte Vermögen bes „Gotteslkaſtens“ ſtädtiſches Eigentum
und nicht zu kirchlichen Zweden verwendbar wäre.
Die genannten fünf Revaler Kirhen flagten gegen
bie Stadt, die jo Eigentümerin des Gottesfajtens geworben
war, auf Herausgabe bes ihnen zufommenden Teils am
„Öottestoften“ beim eſtländiſchen Oberlandesgericht, bei dem
aud die Nevaler katholiſche St. Petri-Pauli-Kirce uner⸗
warteterweile Aniprüde auf einen Teil des Gotteskaſtens
geltend machte. Das Oberlandesgericht entichieb am 2. Nov.
1889 dahin, daß die genannten Güter mit Ausnahme von
Koitjärm und eines Teils von Fäht den Kirden zu über:
ie Kapitalien des „Gotteskaſtens“ aber und das
irw nebjt jenem Teile von Fäht der Stadt zu be
laſſen feien und es außerbem legterer anheimzuitellen jei,
von ben Kirchen aus ben Einnahmen der ihnen übergebenen
Güter einen Erfag zu verlangen zu Ounſlen ber ſiädtiſchen
Wohltätigfeitsunftalten, foweit deren Ausgaben nadhweisbar
aus den Einnahmen der Güter bejtritten worden waren;
zugleich wurden Die Anſprüche der fatholijchen St. Petri—
Pauli-⸗Kirche abgewiejen.
Gegen dieſe Entſcheidung appellierten an ben Senat:
die Stadt Reval, die lutheriſchen Nevaler Kirchen, bie
tatholiſche St. Petri⸗Pauli-Kirche und ber Profureur bes
Nevaler Bezirksgerichts, der als Nachfolger bes früheren
Gouvernementsprofureurs bie Zuerfennung bes gejammten
„Gotteskaſten“: Vermögens an bie Stadt verlangte.
Die am 19. Non. c. erfolgte Senatsenticeibung be-
fteht nun in folgendem :
Der Proteft des Prokureurs wird ofne Folgen gelaffen,
und ebenfo iſt die Klage der fatholiihen St. Petri-Pauli-
Kirche abgewieien worden. Im übrigen find die Güter
Iohannishof, Kautel und ein Teil des Gutes Fäht (ent:
ſprechend dem früheren Dorf Hirmen), ebenſo auch die
Ropitalien und außerdem mod) breiundfiebzig jtädtiihe Grund:
zinsbefiplichfeiten als „gemeinfames Eigentum” der Stabt
Neval einerjeits und ber St. Nifolais,
Vlichaelie:, St. Johannis: und der Heiligengeiſt-Kirche
andererjeits anerkannt worden, die Güter Koitjärw, Nehhat
Baltfde Chronit 1804/5, s
und der übrige Teil bes Gutes Fäht aber als ausfchließliches
Eigentum ber Stabt Neval.
Die Entfceibung ber Frage im Senat ift alſo im
Weſentlichen ebenfo ausgefallen wie bie bes Revaler Rats
und dadurch die von der Abminijtration verfuchte Beraubung
der Iutheriihen Revaler Kirchen verhindert worden.
20. Nov. Die Ernennung des Direlt des Departements für
direfte Steuern im Finanzminifterium wirll. Staatsrats
Goutler zum Kollegen bes Minifters bes Innern mird
publiziert.
20. Nov. Dem „Baltijas Weftnefis” ift diefer Tage ein er
meitertes Programm betätigt worden, das ihm wieber bie
Diöglichkeit, Leitartifel und Feuilletons zu bringen, gewährt,
bie ihm feit dem Dezember 1903 genommen war. (Balt.
Chr. 1903 Dez. 27.)
Das Blatt danft den Leſern, die ihm trohdem treu geblieben
waren, und fhleift fofort die Alinge gegen die „Aigas Amife" :
„Zugleich mit uns wurde auch einer andern Zeitung (. Deenas
Lapa· ) die Feder aus der Hand genommen und die allein verblichene
fonnte mit ſchiecht derhehlier Genugtuung verfündigen, ba fie nun bie
einzige fei, die größere Rechte behalten habe und da fie bemgemäß um
fo eifriger den Leiten den „rechten Weg“ weilen werde. Mit bemunderns:
werter Ronjequeng blicben jedoch die Leiten taub ſolchen Hinweiſungen
gegenüber."
21. Rov. Die Petersburger vereidigten Rechtsanwälte improvifieren, da ihnen
das Gerichtsgebaude zu dieſem Fed verweigert wird, im Stadthauſe eine
Verſammlung anlählich des 40jährigen Beſtehens der Gerichtsinftitutionen
Kaifer Aleronder II. und faffen eine ſeht weitgehende Relokution, die fich
mit den gefamien inneren Verhäftniffen Rußlands bejchäftigt.
22.Nov. Riga. Die Stabiverorbnetenverfammlung beftätigt einen
Vertrag mit dem Aunftverein, durch den fie dem Runftverein
gewiſſe Räume für Vereinsgwede und bie Ausitellungsfäte
im newerbauten Runftmufeumsgebäude auf 10 Jahre über-
läßt, während ber Verein ſich verpflichtet, feine Aunftichäge
mit ben Sammlungen ber Stadt gemeinfam im Muſeum
aufzuftellen und Ausftellungen und Vorträge zur Hebung
bes Runftverjtänbniffes zu veranftalten. — Die Verfammlung
befchließt, daß die Stadtverordnetenwahlen im nächſten Jahre
vom 13.—-18. März vollzogen werden jollen. — Die Ver-
ſammlung beſchlieht ferner eine Beſchwerde beim Senat
Mut Peine mm €
ı x Re I
die Reolution
Zeibzerde zu führen.
Se Grunditeuerreform
werben bieler Tage von bem „Kiisitij Weitnik“ in ebenio
bak Die Initruftion für bie Lonbihägung von dem Landrats-
follegium „im Geiſte ber Intereñen der großen Grundbejiger
unb zum offenbaren Aachteil der feinen“ entworfen fei,
unb verherrlidt ben Einfluß bes früheren Rameralhofspräi
benten Waſſiljew auf bie Abänderung der Jnitruftion. Nach
der abgeänberten Inſtruttion werde jegt die Schäpung voll-
sogen, aber von Leuten ohne Spezialfenntniffe, und Vertreter
ber Wanern würden gewöhnlich nicht hinzugezogen ober zur
Holle ftummer Zuſchauer verurteilt; die Schägungsarbeiten
trügen baher einen „Ipaßhaften“, „komiſchen“, „vaubeville-
artigen“ Charakter.